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Full text of "Die griechische und lateinische Literatur und Sprache"

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DIE KULTUR DER GEGENWART 
TEIL I ABTEILUNG VIÜ 



DIE GRIECHISCHE UND 
LATEINISCHE LITERATUR 

UND SPRACHE 



VON 



U. v.WILAMOWITZ-MOELLENDORFF • K. KRUMBACHER 
J. WACKERNAGEL • FR. LEO '• E. NORDEN • F. SKUTSCH 




1905 
^ BERLIN UND I^IPZIG 
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER 



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PUBUSHED JULY 15, 1905 

PRIVILEGE OF COPY-RIGHT IN THE UNITED STATES 

KESERVED tnn>ER THE ACT APPROVED MARCH 3, 1905, 

BY a G. TBUBNEK LEIPZIG. 



ALLE RECHTE, 
EINSCHLIESSUCH DES ÜBERSETZimOSRBCHTS, VORBEHALTEN. 



INHALTSVERZEICHNIS. 

L DIE GRIECHISCHE LITERATUR UND SPRACHE. 

Seite 

I. DIE GRIECHISCHE LITERATUR DES ALTERTUMS . . 1-236 
Von ULRICH von WILAMOWITZMOELLENDORFF. 

Einleitung 1—4 

A. Hellenische Periode (ca. 700—480). 

I. Das ionische Epos 4 — 16 

II. Das Epos im Mutterlande 16—19 

in. Elegie und lambus 19—24 

IV. Lyrische Poesie 24 — 32 

V. Ionische Prosa 32 — 35 

B. Attische Periode (480—320). 

I. Die Literatur aufierhalb Athen» 35—43 

IL Attische Poesie 43—55 

III. Ionische Prosa 55— 60 

IV. Attische Prosa 60—81 

C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). 

I. Hellenismus 81 — 93 

II. Prosa 93—125 

III. Poesie 125—144 

D. Römische Periode (30 v. Chr. — 300 n. Chr.). 

I. Klassizistische Reaktion 144-152 

II. Die Dynastieen von Augustus bis Severus Alexander 152—164 

III. Die neuklassische Literatur 164—192 

IV. Die Zeit des Zusammenbruches 192—197 

E. Oströmische Periode (300—529). 

I. Das christliche Ostrom 198—202 

II. Das Ausleben der Literatur 202—223 

Schlußbetrachtung 323 — 229 

Literatur 230 — 236 



VI InhaltsveReichnis. 

Saite 

2. DIE GRIECfflSCHE UTERATUR DES MITTELALTERS. 237-285 

Von KARL KRUMBACHER. 

Einleitung 237—239 

I. Mischchaiaktcr der byzantinischen Kultur 239—251 

II. Sprache 251—254 

III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios 254—267 

IV. Die dunkeln Jahrhunderte (650 — 850) 267 — 269 

V. Das Wiederaufleben der Bildung 269—273 

VI. HochrenMssance und Humanismus (12.-15. Jahrhundert) 273—277 

VII. Die Volksliteratur 278—281 

VIII. Die Tfirkenzeit (1453— 1821) '. 281—282 

SchluBbetrachtung 282 

Literatur 283—285 

3. DIE GRIECHISCHE SPRACHE 286-312 

Von JAKOB WACKERNAGEL. 

Einleitung 286—290 

I. Die griechischen Mundarten 290—295 

II. Die älteren Gemeinsprachen 295—298 

in. Die hellenistische Gemeinsprache 298—305 

IV. Fortleben des Griechischen in andern Sprachen 305—310 

Literatur 311— 312 



n. DIE LATEINISCHE LITERATUR UND SPRACHE. 

I. DIE RÖMISCHE UTERATUR DES ALTERTUMS . . . 313-373 

Von FRIEDRICH LEO. 

Einleitung 313—316 

A. Repablikaniscbe Zeit (ca. 250—43 v. Chr.). 

I. Von den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit (ca. 250 — 100 

v.Chr.) 316—326 

IL Sullanisch-cäsarische Zeit (ca. 100—44 v. Chr.) 326—343 

B. Augnsteische Zeit (43 v. Chr.— 15 n. Chr.). 

I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. Chr.) 343-35° 

II. Zweite Hälfte (ca. 13 v. Chr.— 14 n. Chr.) 3SO— 354 

C. Kalserzeit (15 n. Chr.— 6. Jahrhundert). 

I. Bis Hadrian (15 n. Chr. — Mitte des 2. Jahrhunderts) 354-3^6 

IL Spätere Kaiserzeit (Mitte des 2. Jahrhunderts — 6. Jahrhundert) . . . 366—371 

Literatur 372—373 



Inhaltsverzeichnis. VII 

_„__ Saits 

DIE LATEINISCHE LITERATUR IM ÜBERGANG VOM 

ALTERTUM ZUM MITTELALTER 374-4n 

Von EDUARD NORDEN. 

Einleitung 374—378 

I. Italien 378—387 

II. Afrika . . .• 387—396 

III. Spanien 396 — 398 

IV. Gallien 398 — 402 

V. Die Propaganda der irischen und angelsächsischen Mönche .... 402 — 404 

VI. Die karolingische Renaissance 404 — 407 

VII. Mittelalter und Renaissance, ein Ausblick 407 — 410 

Literatur 411 

DIE LATEINISCHE SPRACHE 412-451 

Von FRANZ SKUTSCH. 

Einleitung 412—413 

I. Die uritalische Sprache. Ihre Stelltmg im Kreise der indogerma- 
nischen Sprachen 413—417 

II. Die dialektale Gliederung des Italischen 417—419 

III. Die sonstigen Sprachen der Apenninhalbinsel und ihr Verhältnis 

ztun Lateinischen 419 — 421 

IV. Das älteste Latein bis zum Beginn der Literatur 421—423 

V. Schrift- und Umgangssprache. Plautus 423—428 

VI. Geschichte des lateinischen Stiles 428—437 

VII. Die gesprochene Sprache 437 — 441 

VIII. EinfluB des Lateinischen auf andere Sprachen 441—445 

IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Alterttmis 445 — 449 

Literatur 450—451 

Register 452—464 



DIE GRIECHISCHE UTERATUR DES ALTERTUMS. 

Von 
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorit. 

Einleitung. Die griechische Literatur ist die einzige unserer Kultur-steUnacood 
weit, die sich ganz aus sich selbst entwickelt hat; sie hat eine Fülle nicht ^'«™'™* 
nur vollkommener Kunstwerke, sondern fest ge^hlossener Kunstformen Aui^be. 
und Kunststile hervorgebracht, durch die sie Grnadlage und Vorbild der 
europäischen und mancher außeretu'opäischen Literaturen geworden ist. 
Die griechische Literatiu* ist das Gefäß, das die Fundamentalwerke aller 
Wissenschaften enthält oder enthalten hat, denn die Wissenschaft über- 
haupt ist von den Hellenen in die Welt gebracht Diese unvergleichlichen 
Vorzüge, die doch am letzten Ende relativ sind, beeinträchtigen die absolute 
Würdigimg der griechischen Werke und ihrer Verfasser. Denn es hält 
schwer, ein Werk, das zwei Jahrtausende lang vorbildlich gewesen ist, so 
zu sehen, wie es sein Urheber einst hingestellt hat, und in diesem einen 
ringenden, strebenden, irrenden Menschen zu sehen, fällt noch schwerer. 
Nichts trübt ein Menschenbild so stark wie die Apotheose, imd nichts 
erscheint den Zufälligkeiten des Werdens so sehr entrückt wie ein 
klassisches Kunstwerk: die Erhöhung ist in beiden Fällen nur um das 
Leben feiL Homer ist aber eigentlich schon in dem Momente klassisch, 
wo er uns bekannt wird, und klassisch ist die griechische Literatur mn 
Christi Geburt schon genau so und in demselben Sinne wie vor hundert 
Jahren, als ihr geschichÜiches Studium beginnt: es ist nicht älter. Goethe 
steht zu den Griechen nicht wesentlich anders als Vergäll und Horaz, die 
mit Cicero die erste klassische Literatur in anderer Sprache auf der 
griechischen Basis erschaffen. Durch die Vermittelung dieser Tochterliteratur 
beherrscht die griechische den Okzident auch in den langen Zeiten, 
während diesem die Kenntnis der Originale abhanden gekommen ist, und 
als sie seit dem 15. Jahrhundert bekannt werden, sieht man sie zimächst 
immer noch wesentlich mit den Augen der Römer, oder doch der Grriechen 
aus römischer Zeit, die in demselben Banne des Klassizismus stehen. Als 
dann Winckelmann mit zielbewußter Energie auf die echten Griechen 
zurückzugehen wagt und für die Skulptur eine geschichtiiche Entwickelungs- 
linie zu ziehen unternimmt, als dann die nächste Generation dies auf die 
Literatur überträgt, steigert sich nur die absolute Wertung der klassischen 
Originale. Denn da man noch gar nicht über die geschichtlichen Kennt- 
nisse verfügt, den Werdeprozeß des griechischen Volkes, seiner Geschichte 
und seiner Erzeugnisse zu verfolgen, so identifiziert man die Entstehung 

Dm Kultur dir Groihwart. I. 8. i 



2 Ulrich von Wilamowitz-Moellbndorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

der griechischen Literatur und ihrer Gattungen mit dem absolut Normalen 
und Natürlichen, ergänzt die Lücken der geschichtlichen Kenntnis diu'ch 
philosophische Abstraktionen, und was bestimmte konkrete Bedingungen 
und individuelles Wollen und Können bedeutender Menschen erzeugt hat, 
wird zu dem Produkte immanenter Naturgesetze. Die Gattungen der 
griechischen Poesie und Kunstprosa, Epos, Elegie, Ode, Tragödie, Komödie, 
Epigrramm, Historie, Dialog, Rede, Brief erscheinen als Naturformen der 
redenden Künste. Darin stand man noch im Banne der antiken Theorie. 
Die Crriechen haben eine wirkliche Geschichtswissenschaft nicht erzeugt, 
ihr Denken war darauf gerichtet, aus der Beobachtung Regeln zu ab- 
strahieren und mit diesen Abstraktionen zu wirtschaften, und so betrachten 
sie jene Gattungen, die bei ihnen historisch geworden waren, in der Tat 
als begrifflich präexistent; wer zuerst eine Tragödie macht, der erfindet 
sie nicht, sondern er „findet sie als erster", wie sie sagen. Wohl erkennt 
man Vorstufen an, aber dann sind das Unvollkommenheiten, die vergessen 
werden dürfen: der entscheidende Moment ist, wo die Gattung „ihre eigene 
Natur erreicht". Von dem Moment ab, wo die Tragödie diesen Pimkt 
erreicht hat, kann man in Ewigkeit nur in dieser Form Tragödien machen, 
imd deren Wert bemißt sich danach, wie g^t oder schlecht sie der Idee 
der Tragödie entsprechen. Aus dieser Anschauung heraus kamen die 
Modernen zu maßloser Oberschätzung der Finder oder Erfinder, oder 
besser der klassischen Werke, imd zu einer Unterschätzimg von allem 
Späteren, ganz so, wie man den antiken Piuisten folgend die ganze 
Sprachentwickelung seit Demosthenes für Entartimg hielt Es sah wirk- 
lich oft so aus, als hätte die griechische Literatur mit Alexander auf- 
gehört Noch ungerechter war es, wenn aus den Werken der späteren 
Zeit das bevorzugt ward, was dem Klassischen am nächsten zu kommen 
schien, also gerade die bare Imitation. Es fehlt noch sehr viel daran, 
daß die Philologen auch nur im Prinzip anerkannt hätten, daß geschicht- 
liches Verständnis und geschichtliche Würdigung jedes Werk und jeden 
Schriftsteller zunächst in seiner Zeit und nach seinem Wollen erfassen 
muß, also von den Werturteilen der Späteren ebenso absehen wie von 
getrübter historischer Überlieferung oder sekundären Textgestaltungen. 
Von Schulmeistern, die die Literatur mit den „Schulautoren" identifizieren, 
wer Schulautor ist aber nach dem Reglement, am liebsten dem engsten 
bemessen, schweigt man füglich: es ist eine naive Anmaßung, wenn diese 
Ignoranten sich als Philologen aufspielen. Aber die griechische Literatur- 
geschichte steht überhaupt noch in ihren Anfängen, wie das bei ihrer Jugend 
nicht anders sein kann; eine Darstellung, die von dem Klassizismus auch 
nur prinzipiell absähe, ist überhaupt noch nie versucht Sie kann auch noch 
gar nicht geschrieben werden. Erst müssen doch die erhaltenen Werke 
verstanden sein, also auch die Kunstformen und Kunstprinzipien, nach 
denen sie verfaßt sind, ehe man sie genetisch begpreifen und ihre Ge- 
schichte schreiben kann. Und die Einzelpersönlichkeiten der Schriftsteller 



Einleitung. 3 

müssen erfaßt sein, ehe man sie in einen gfeschichtlichen Zusammenhang 
einordnen, also ehe man ihnen ein Urteil sprechen darf. Aber für den 
weit überwiegenden Teil der erhaltenen Literatur ist damit kaum ein An- 
fang gemacht Und ehe man sie zu verstehen sucht, muß man die Werke 
haben; für ganze große Massen der Literatur besitzen wir aber nur un- 
zulängliche, für andere, wie die christlichen Schriftsteller vom 4. Jahr- 
hundert ab, auch unzugängliche Texte. Diese zu beschaffen ist die 
griechische Philologie, die freilich in allen Kulturländern nicht eben zahl- 
reiche wirklich leistungsfähige und leistungswillige Arbeiter hat, eifrig 
und mit Erfolg bestrebt Ferner aber sind gerade aus den bedeutendsten 
Perioden nur zu viele Werke verloren, die es nach Kräften herzustellen 
gilt, soweit das nicht, wie gerade bei allem Besten, ganz hoffnungslos 
ist: dafür ist viel geschehen, aber immer noch ist nicht einmal die Frag- 
mentsammlung abgeschlossen, die doch nur der erste Schritt ist; für die 
Literaturgeschichte ist der zweite, die Verfolgung der Nachwirkung, fast 
noch wichtiger. Ferner ist die griechische Literatur allumfassend: es geht 
in ihr nicht an, sich auf die „schöne Literatur" zu beschränken (ein Be- 
griff, zu dem die Griechen kein Analogon haben) und die Produktionen 
der SpezialWissenschaften auszuschließen. Nun kann aber die medizinische, 
astronomische, mechanische Literatur ohne Verständnis dieser Wissen- 
schaften nicht verstanden werden: hier ist ein Zusammenwirken verschieden 
vorgebildeter Forscher erforderlich, an dem es lange gefehlt hat, aber 
Gott sei Dank nicht mehr fehlt Die Kultur des 21. Jahrhunderts wird 
hoffentlich mitleidig auf das geringe Maß unserer heutigen Kenntnisse 
herabschauen und manches unserer Urteile berichtigt haben: aber ganz 
sicher wird sie ihrer Zukunft noch mehr zu tun überlassen, als sie uns 
gegenüber auch im günstigsten Falle voraushaben wird. Wohl kann das 
Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit gegenüber einer solchen Aufgabe 
dadurch nicht beschwichtigt werden, daß zurzeit überhaupt nur eine un- 
zulängliche Lösung möglich ist; aber es gilt ja wohl von dem Lesenden 
so gut wie von dem Schreibenden, was H. Taine einmal gesagt hat, der 
recht zu lesen und zu schreiben verstand: le plus vif plaisir d'un esprit 
qui travaille consiste dans la pensde du travail que les autres feront plus tard. 
Es hat sich nicht anders machen lassen, als daß je nach dem vor- 
handenen Materiale die Behandlung sehr verschieden ward. Denn es geht 
weder an, durchgehends die erhaltenen Werke in den Mittelpunkt zu 
stellen, so daß der Zufall der Erhaltung mehr oder weniger über die Be- 
deutung entschiede; noch ist die Forschung überall dahin gelangt, die 
treibenden Kräfte hinreichend zu überschauen, so daß sich ein historischer 
Faden finden ließe, an dem man alles einzelne aufreihte. Das einzige 
Prinzip, die Gattungen gesondert zu verfolgen, könnte allenfalls eine Ein- 
heitlichkeit gewähren: aber gerade dies würde vollkommen in den antiken 
Schematismus zurückfuhren. So ist hier der Versuch gemacht, mit Ver- 
zicht auf das künstlerisch allein Befriedigende, jede Periode so zu be- 



4 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

handeln, wie es dem Stande unserer Überlieferung und unseres Wissens 
gemäß erschien. Wem dabei die klassische Zeit gegen die spätere zurück- 
gesetzt erscheint, der bedenke nicht nur die Summe des Erhaltenen und 
die Länge der Zeiträume, sondern auch, deiß nur zu lange die umgekehrte 
Ungerechtigkeit geübt worden ist 

Die Perioden sondern sich von selbst durch die großen geschicht- 
lichen Einschnitte. Die erste ist die hellenische, etwa von 700 bis auf 
die Perserkriege, an die die attische ansetzt, abgegrenzt um 320 durch 
den Tod von Alexander, Aristoteles, Demosthenes. Redet man vom 
4. Jahrhundert, so umfaßt das also nur 80 Jahre, und das fünfte auch: 
die Blüte Athens ist kurz. Dann kommen die drei hellenistischen Jahr- 
hunderte, voneinander abgeg^renzt etwa durch 222, Anfang des Polybios, 
133, Anfang der römischen Revolutionszeit, 30, Erobenmg Alexandreias. 
Die Unterschiede der drei Jahrhunderte sind fühlbar genug; aber gerade für 
diese Periode hat sich die Darstellung von der geschichtlichen Abfolge 
ganz lösen müssen. Die vierte, römische Periode bis Konstantin ist die, 
von der sich das meiste wissen läßt Auf sie müßte als letzte die ost- 
römische folgen, bis zum Einbruch des Islam und dem Bildersturm, denn 
da erst reißt die Kontinuität ganz ab, oder wenigstens bis 529, der 
Schließimg der platonischen Schule, denn die justinianische Zeit hat schon 
ein reiches neues Leben. Indessen die Kenntnisse des Berichterstatters 
und auch die Ökonomie der Dsirstellung erlaubten nur einen Ausblick auf 
das Ende der hellenischen Literaturgattungen. Es ist das insofern auch 
berechtiget , als das Altertum in Wahrheit mit dem Untergange der Reichs- 
verfassung und der Reichsreligion gestorben ist 



A. Hellenische Periode (ccu 700 — 480). 
I. Das ionische Epos. Darin, daß der Anfangstermin um 700 an- 
Homer gesetzt worden ist, liegt bereits, daß Homer außen vor der ersten Periode 
(vor 700). jjy stehen kommt, als das fertige Produkt einer früheren Zeit, von der 
wir keine Geschichte besitzen. Die Odyssee (die im Altertum mit Recht 
immer in zweiter Linie steht und danach hier behandelt wird, lediglich 
uia*. als Komplement der Ilias) hat um 700 ihre gegenwärtige Gestalt freilich 
noch nicht gehabt, aber auch von ihr war das Beste da; die Ilias war im 
wesentlichen so, wie wir sie lesen, vorhanden, damit also ein wunder- 
bares Werk, die Grundlage der gesamten gfriechischen Literatur. Ein 
erzählendes Gedicht, doch mit so viel direkter Rede, daß die Griechen es 
nie als bloß erzählend haben gelten lassen, viele Tausende von Versen 
umfassend und doch so einheitlich in der Handlung und Haltung, daß 
ein Wille eines Mannes es so gestaltet haben muß, abwechselungsreich 
im Stoffe und doch ganz von vornehmer ernster Haltung, oft getragen 
von dem tiefsten Mitgefühle des Dichters imd doch ohne je dessen Person 
hervorzukehren, in unerschöpflicher Btmtheit, den Hörer diurch Himmel 
und Hölle führend, und weit über diese schöne Erde mit Hochgebirge 



f A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). I. Das ionische Epos. 5 

und Pflanzgarten, mit dem Getier des Waldes und den vertrauten Ge- 
nossen des Menschen, mit Regensturm und Stemgefunkel, und noch 
lieber über jenes immer neue, schwarze, purpurne, violette, blaue, graue, 
weißschäumende Meer des Südens, und doch in der Tiefe der Menschen- 
seele das Zentrum findend, die reicher und bewegter ist als das südliche 
Meer. Ein Bild des Lebens, das Unzähligen ein Vollbild scheinen durfte. 
Die Entstehung dieser Epen, der lange Weg, den das Dichterhandwerk 
vorher zurückgelegt haben muß, wird uns immer ein Geheimnis bleiben; 
die Versuche, ihn durch die verkehrte Annahme einer in der Entwicke- 
lung des Menschengeschlechtes spontan auftretenden Volksepik zu erläutern, 
sind gescheitert Ungemein wertvolle Analogien liefert allein das romanische, 
speziell das altfranzösische Epos (von dem germanischen wissen und haben 
wir zu wenig); namentlich für die Umbildung der historischen Stoffe: es 
sollte einmal ein Kenner beider Literaturen die Parallele durchführen. 

Ilias und Odyssee waren um 700 nicht die einzigen Gedichte Homers; 
die Thebais mindestens war ihnen ebenbürtig, und neben ihnen stand eine 
umfängliche Literatur, die auch durch die ganze erste Periode die Haupt- 
masse der literarischen Produktion ausmachte, das Epos. Es kann ernst- 
haft nicht bezweifelt werden, daß die Schrift zur Hilfe des Gedächtnisses 
schon um 700, also für die Ilias, angewandt ward, wohl auch als Hilfe von 
dem konzipierenden Dichter; aber das Publikum genoß alle Literatur nur 
mit dem Ohre. Es gab einen Stand von Dichtem und Rezitatoren, 
Rhapsoden, die Verfasser und Verbreiter des Epos, die Träger alles weit- 
liehen Wissens. An der Tafel der Großen und in den Hallen der Märkte 
erzählten sie, was ihnen die Muse eingab, Überlieferung, die sie frei 
formten, auf daß sie wieder Überlieferung würde. In diesem Epos war den 
Griechen vom Beginne ihrer Geschichte mitgegeben eine zweite Welt der 
Phantasie, die ihnen im farbigen Abglanze Vergangenheit und Gegenwart 
ihres Lebens zeigte und bewahrte, und eine feste Form, in der sie aus- 
sprechen konnten, was sie verlangten, cdlerdings in dem festen Stile, der 
ihnen zugleich mitgegeben ward. Sie sind diesen StU anderthalb Jahr- 
tausende nicht müde geworden. 

Der Inhalt gibt sich als die alte Geschichte des Volkes, und ohne inhaii. 
Frage befindet sich die Summe der lebendigen geschichtlichen Erinnerung 
darin. Aber alle Personen und Ereignisse sind in die Zeit weniger Gene- 
rationen und an wenige Stätten ihres Handelns zusammengerückt, offenbar 
durch bewußte Dichterkunst, und zu der Gegenwart, die in unbestimmter 
Entfernung von jener Heldenzeit liegt, führt nirgend eine Brücke herüber. 
Ein Reich von individuell ausgestalteten, ganz und gar menschlichen 
Göttern ist mit dem der Helden verbunden. Heimat der Götter und der 
nationalen Helden ist die Balkanhalbinsel von Pierien und Dodona abwärts, 
während nördlich schon am Axios Feinde wohnen, und so in ganz Asien. 
Und doch sind hier die Gedichte entstanden und von hier verbreitet 
Der Gegensatz der Gegenwart zu der alten Zeit wird so stark empfunden, 



6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorft: Die griechische Literatur des Altertums. 

daß in vielem ein längst überwundener Kulturzustand festgehalten wird 
und der Dichter im Gleichnis, wo er aus sich spricht, Dinge erwähnt, die 
seine Helden nicht kennen dürfen. So etwas zeugt von langer, raffinierter 
Übung der Poesie, nicht durch einen Menschen, sondern durch einen Stand, 
ven. Die Form ist ein Langvers, der ehedem gesungen war, nun, um be- 
quem gesagt zu werden, durch eine Cäsur zergliedert wird; so sind auch 
die, welche ihn vortragen, Rezitatoren, die einen Stab in der Hand halten, 
aber ihre Standesgenossen, von denen sie erzählen, sind Sänger und be- 
gleiten sich mit der Laute. So zeugen die Dichter selbst von der Ver- 
änderung, die aus den gesungenen Liedern das Epos erst wirklich ge- 
schaffen hat Der Sangvers war für lange Gedichte unbequem; man hat 
außer anderen Freiheiten den Ersatz jeder Doppelkürze durch eine Länge 
und die Verkürzung auslautenden langen Vokailes vor vokalischem Anlaute 
gestattet, beides dem Maße ursprünglich zuwiderlaufend, das zweite dem 
g^echischen Ohre so häßlich, daß es später nicht nur in fast aller anderen 
Poesie, sondern auch in der Kunstprosa verpönt imd auch im Hexameter 
aufs äußerste beschränkt worden ist Der homerische Hexameter erkauft 
seine Biegsamkeit und Ausdrucksfähigkeit wirklich um eine recht läßliche 
Behandlung des Maßes; er läßt der künstlerischen Vervollkommnung noch 
sehr viel Raum. Aber während der beiden ersten Perioden hat man sich 
höchstens noch mehr gehen lassen als Homer. 
Mundart. Die Sprache ist das Ionisch Kleinasiens, aber nicht nur in der Alter- 

tümlichkeit, die man gegenüber unseren viel jüngeren anderen Denkmalen 
erwarten muß, sondern mit Erhaltung sehr viel älterer Bildungen, die nur 
die Tradition der Dichter aus langer Übung bewahrte, imd neben denen 
sie nicht selten die jüngeren Formen ihrer Zeit verwenden. Enger als 
auf das asiatische Ionisch können wir zurzeit diese Sprache nicht imi- 
grenzen, und man kann auch gar nicht daran denken, daß die Sprache 
eines Ortes ihre Unterlage wäre; es ist vielmehr die älteste Gemeinsprache 
der Hellenen, minder ein Produkt der Kirnst als das einer geschichtlichen 
Entwickelung, aber nun allerdings so g^t wie ein Kunstprodukt, da es in 
der Übung einer Kunst und ihren Erzeugnissen allein lebt Der Dichter 
hat die Menge synonymer Wörter und gleichberechtigter Formen ohne 
Frage ebenso lernen müssen wie den Stoff, den er in Verse setzte. Nun 
befinden sich in den Formen, und gerade in den ältesten Versreihen und 
Formeln, unverkennbare Äolismen, d. h. Spracherscheinungen, die zum Teil 
den äolischen Mimdarten gemeinsam sind, also auch dem Thessalischen, 
der Heimat Achills und nach etlichen alten Überlieferungen auch Homers 
oder seiner Ahnen; zum Teil sind sie aber innerhalb des Aolischen erst 
in Asien entstanden. Daß wir sie vorwiegend aus Lesbos kennen, liegt 
an der Überlieferung, über die wir zufällig verfügen; mit Lesbos bringet 
keine Überlieferung das Epos oder Homer in Beziehung; erst spät taucht bei 
einem lesbischen Gelehrten ein obskurer Epiker Lesches aus Lesbos auf; 
Alkaios und Sappho aber zeigen die Einwirkimg unserer ionischen Gedichte. 



A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). 1. Das ionische Epos. 



Dagegen stammt Homer nach der Überlieferung, die sich genauer Prüfung 
als die einzige ergibt, aus Smyma und ist ein Aoler; um 700 war Smyma 
bereits ionisiert: diese Überlieferung ist also älter, was sich übrigens all- 
seitig bestätigt. Im Hermostale und nördlich davon hatte das Hellenentum 
besonders früh und besonders tief ins Land hinein Fuß gefaßt; die Phryger, 
Lyder, Myser haben es dann zum Teil zurückgedrängt; von Süden her 
haben die lonier den alten äolischen Boden okkupiert Hier ist die Heimat 
Homers, hier sind die Vorbedingungen für die Sprache und auch die Verse 
des Epos gegeben, denn seine lyrischen Verwandten treffen wir in der 
lesbischen Lyrik. 

Homer trägt einen guten Menschennamen; ohne alle Frage ist er ein Homer ab 
Mensch gewesen und ein Dichter dieser Gegend, um 700 ist er bereits ^*'*°"- 
der große Dichter mehrerer Epen. Auch die Griechen, die nicht e für a 
sprachen, haben ihn immer Homeros genannt, obwohl er Homaros ge- 
heißen hat, wenn er ein Äoler war. Dann lag seine Lebenszeit so weit 
zurück, daß der Äoler so ionisiert war wie sein Epos. Oder aber er 
war lonier und nur die Erinnerung an die Herkunft des Epos hat ihn 
äolisiert: dann hat er nicht an den ältesten, sondern an den jüngsten 
Teilen der Ilias AnteiL Sowohl wenn er den entscheidenden ersten Schritt 
tat und statt der Leier den Stab ergriff, d. h. den rezitativen Vers und 
das gesagte Epos erfand, wie wenn er den letzten tat und unsere Ilias 
verfaßte {niederschrieb, wie ich mich nicht scheue zu sagen), hat er Großes 
geleistet Garantieren kann man freilich nicht, daß er die Erhaltung seines 
Namens überlegener geistiger Kraft verdankt Es mag menschlich sein, 
nach dem Sterblichen zu fragen, dessen Name den reichsten Dichterlorbeer 
der Welt träg^ und zu wünschen, daß er ihn verdiente. Schließlich ist es 
doch nicht so sehr wichtig, denn die Dichter des ionischen Epos haben zwar 
zum Teil von eigenem Empfinden sehr viel in ihre erzählenden Gedichte 
hineingelegt, aber deis Charakteristische für dieses Epos ist, daß die Personen 
der Dichter ganz und gar verschwinden. Daher der einheitliche Stil, der 
nicht nur zu der Annahme des einen Verfassers verführt hat, sondern zu 
dem schwerer beg^reiflichen Wahne, hier Volkspoesie zu sehen, wo alles 
Kimst ist, und wo dem Stande der Dichter (Sänger gibt es nicht mehr, und 
es ist irreführend, von Liedern zu reden) als Publikum zunächst gar nicht 
das Volk entspricht, sondern wieder ein Stand, die Könige oder Herren, 
die das Volk unter sich nicht stärker verachten können, als Homer es tut 
Die Odyssee zeigt ja, wem die Dichter vortragen. 

Das Epos ist höfisch. Diese kriegerische Phantasie, dies Heroentum, d„ Epot 
ja diese Götter sind durchaus adlig. Ein Volk, das seine Acker bebaute, 
würde die Ackergötter nicht vergessen, die freilich keine Zeit haben, 
auf den Olymp zu steigen. So primitiv ein Kultus ist, ein Kirchenjahr 
und seine Feste zwingt ihm die Natur auf. Nichts davon bei Homer; 
die Ilias kennt freilich überhaupt keine Jahreszeit und kein Wetter; 
erst der zweite Teil der Odyssee zeigt hierin einen bemerkenswerten 



hOfiwh. 



8 Ulrich von Wilahowiiz-Moellenoorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Fortschritt, aber zur rechten Ausnutzung kommt das fruchtbare Motiv 
auch da nicht Der Bauer ist fromm; die homerische Gesellschaft ist 
so vorurteilslos, man muß fast frivol sagen, daß sie aus der heiligen 
Hochzeit des himmlischen Ehepaares ein Schäferstündchen macht Wenn 
die Dichter noch &n die reale Existenz von den Personen Hephaistos 
und Ares geglaubt hätten, wären sie nie auf die Metonymie dieser 
Namen für Feuer und Mord verfallen. Der Kontrast zwischen der 
homerischen Behandlimg der Götterwelt tmd dem Glauben des Mutter- 
landes ist ungeheuer. Homer trägt die Schuld, daß der Rationalismus die 
Götter als Phantasmen der Dichter fassen konnte und die kynische und 
christliche Polemik in seinen Göttern die des griechischen Volkes zu treffen 
wähnte. Ebenso steht es mit dem Staate: diese selbstherrlichen Männer 
sind innerlich nicht durch die Religion gebunden, und die sich regende 
Moral, die aibi6c, hat wenig Gewalt: am allerwenigsten bindet sie ein 
Staat Offenbar entspricht das den Zeiten der Völkerwanderung, die einst 
die Hellenen über das Meer trug, und ein stabiles Staatswesen scheint in 
lonien wirklich nie zustande gekommen zu sein. Die Telemachie, die für 
das alte Epos nicht zählt, gibt von dieser Anarchie unfreiwillig ein Spiegel- 
bild. In der Vorzeit, von der doch das Epos erzählen will, als die Herren 
von Mykene ihre Burg oder gar die von Knossos ihren offenen Palast 
bauten, muß es ganz anders ausgesehen haben. Und nicht nur der Heer- 
bann Spartas, auch die Ritterschaft von Chalkis und Athen ist auf die 
Subordination freier Männer geg^ründet Die Menschen, die Homer 
schildert, und nach denen wir uns die Dichter zu denken haben, streben 
auf die rücksichtslose Entfaltung der Individualität hin, auf Archilochos 
und Hekataios und Herakleitos: aber sie haben diese Freiheit noch nicht 
erreicht Wer ehrlich ist, nichts Späteres in die Ilias hineinträgt, muß 
doch auch zugeben, daß nur in wenigen Partieen die Charakteristik sich von 
dem meisterhaft erfaßten Typischen zum Individuellen erhebt Von einem 
Charakter des homerischen Achilleus oder Odysseus zu reden, ist natürlich 
überhaupt eine Torheit, da ja verschiedene Dichter dieselben Helden ver- 
schieden auffassen; wie in jeder Hinsicht, so auch hier verschließt der 
Wahn der Einheit den Zugang zu dem Schönsten, was die Epen enthalten. 
EiiiiwH und Später, als das Epos im Mutterlande rezitiert wird , kann man niu- 

"^Y^^ *" eine beschränkte Anzahl Verse auf einmal vortragen, zumal in Agonen, wo 
mehrere Rhapsoden hintereinander auftreten. Die Gedichte des Hesiodos 
h2dten sich in diesen Grrenzen; auch in der Ilieis kann man einzelne solche 
Gedichte unterscheiden, die die passende Länge und Abgeschlossenheit 
zeigen, wie die Dolonie, die Gesandtschaft an Achilleus, Hektors Lösung. 
Ehe die Sitte der Agone bestand, durfte der Umfang gewiß weit größer 
sein; aber unsere Epen sind unbedingft für einen einzigen Vortrag zu lang. 
Und doch sind sie eine Einheit gewesen, als imsere Überlieferung von 
ihnen beginnt: Hesiodos hat doch die Ilias gelesen. Folglich hat nicht 
die Rücksicht auf die unmittelbare Wirkung des einen Vortrages sie hervor- 



A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480,. I, Das ionische Epos. n 

gebracht, sondern das stoffliche Interesse an dem Zusammenhange der Er- 
zählung. Das ist ein sekundäres Interesse. Wir kennen die nächsten 
Etappen: es gab ein jüngeres Epos, die kleine Ilias, das alle die Abenteuer 
bis zur Heimfahrt der Achäer erzählte; zuweilen hängte man es geradezu 
an unsere Ilias an. Ein anderes Epos enthielt, was vor der Ilias liegt, und 
dessen Vorrede ist eigentlich auf den ganzen Troischen Krieg berechnet. 
Man kann nicht wohl bezweifeln, daß das Repertoire der Rhapsoden um 
500 so die ganze Geschichte umfaßte. Wir kennen die weitere Stufe, 
daß man die metrische Form aufgab, um die ganzen Geschichten knapp 
zusammenzufassen. Daraus ergibt sich von selbst, daß das Riesenepos 
eine Zusammenfassung von kleineren Gedichten ist, die dem Zwecke des 
Einzelvortrages wirklich genügten. Die Motive, die jetzt die Ilias zu- 
sammenhalten, sind also das späteste (abgesehen von den Einlagen in das 
fertige Gedicht), und es kann auch kaum etwas Nichtigeres geben als 
die Sendung des Patroklos, die jetzt allein die Patroklie anknüpft Der- 
selbe Prozeß mag sich in kleinerem Umfange schon vorher vollzogen 
haben und auch in unsere Ilias solche kleinere Komplexe aufgenommen 
sein, wie anderseits einzelne Gedichte später in das große Epos ein- 
gefügt sind. Das Alter und die Erhaltung der verarbeiteten Gedichte 
konnte verschieden sein, und nichts schützt uns vor der Möglichkeit, daß 
das Gedicht selbst in seinen verschiedenen Teilen verschieden erhalten ist. 
Hier ist nicht der Ort, eine Analyse der Ilias vorzutragen, am wenigsten, 
wenn man eine in petto hat: aber um so nachdrücklicher muß betont 
werden, daß seit 700 im wesentlichen unsere Ilias bestanden hat (einschließ- 
lich der Dolonie und der Lösung des Hektor), und daß sie sehr wohl das 
Werk eines Dichters heißen darf, mögen wir auch nicht allzu hoch von 
ihm denken, sehr viel geringer als von den Dichtem vieler seiner Vorlagen, 
die zum Teil längst richtig ausgesondert sind. 

Nicht die Interpretation seines Werkes, sondern vorgefaßte Hypothesen 
operieren mit einer prästabilierten Urilias, wie schulmeisterliche Rück- 
sichten (denn Homer büßt es schwer, daß er seit 700 v. Chr. Schul- 
schriftsteller ist) eine moralische Idee, Schuld, Strafe, Versöhnung in die 
Ilias oder gar Treue in die Odyssee hineinwerfen. Immer wieder muß 
Homer sich gefallen lassen, in Meteorosophie umgesetzt zu werden, w^ie 
von Metrodoros von Lampsakos (um 400 v. Chr.), oder als bare Historie 
aufgefaßt zu werden, wie von den antiken Kindern, oder moralisch oder 
unmoralisch ausgedeutet zu werden. Ein Chaldäer ist er ja auch im Alter- 
tum schon einmal gewesen. Das beweist nur immer aufs neue, daß die- 
jenigen gesünderen Sinn zeigen, die ihn geradezu als einen Poeten, ich 
möchte sagen, zeitlos fassen, weil sie sich einfach seiner Poesie hingeben- 
Von da aus ist der Weg zu den lösbaren Problemen der Interpretation nicht 
verschlossen. Zenodotos und Aristarchos, Gottfried Hermann und Lach- 
mann, zu denen ich jetzt Chr. G. Heyne zähle, zu denen F. A. Wolf nicht 
gehört, haben diesen Weg beschritten, der allein dem Ziele näher führt 



lo Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

lüot and iiiou. Die Dias vereinigt die Helden von ganz Hellas vor Ilios,- der Troer- 

stadt am Hellespont Unter der hellenischen Stadt am Hellespont, die 
sich seit dem 7. Jahrhundert Ilion nannte, haben sich die Trümmer einer 
goldreichen kleinen Burg aus dem Anfang des zweiten Jahrtausends ge- 
funden, die man zunächst sofort für die Stadt Homers ausgab: wehe dem, 
der gegen den Schatz des Priamos skeptisch blieb. Jetzt redet niemand 
mehr so, aber der Frontwechsel wird möglich verschwiegen. Jetzt werden 
auf Homers Ilios die Mauern einer viel weniger reichen, aber wohl- 
befestigten Burg bezogen, die etwa in das Ende des zweiten Jahrtausends 
gehören mag. Später ist der Ort nur von armen Barbaren bewohnt ge- 
wesen; nion ist erst eine Crründung der Lyderzeit Genau das hatte die 
antike Forschung ermittelt, und es schickte sich, die erfreuliche Ober- 
einstimmung zu konstatieren, statt sich zu gebärden, als hätte man 
etwas Neues entdeckt Weiter ist bei der ganzen Schliemann-Dörpfeld- 
schen Grabung für Homer nichts herausgekommen. Also hat Ilion wüst 
gelegen während der ganzen Blütezeit des Epos, und es entzieht sich 
zurzeit imserer Kenntnis genau wie der des Altertums, was der historische 
Kern der Kämpfe um Ilios gewesen ist; die Barbarennamen Priamos, 
Paris, Pergamos zeugen für reale Klampfe mit Barbaren: aber wer 
garantiert, daß sie in Ilios fester sitzen als Achilleus, der am Spercheios 
zu Hause ist, und Diomedes, der die Burg von Theben brach, im Achäer- 
lager? In unserer Ilias kämpfen sogar schon die Helden der dorischen 
Inseln vor der Südwestecke Asiens samt ihren festländischen Gegnern. 
Poetenwille hat das Meiste und Beste auch an dem Stoffe getan. Wer 
darf bestreiten, daß Hektor und Andromache und Astyainax mit ihren 
redenden Namen Poeteneriindung sind? Es ist eine starke Verkennung, 
daß die historische Tradition oder gar die ihr zugrunde liegenden Fakta 
das Beste wären. Der Geist des Dichters ist es, der sie durchseelt Die 
Sage mochte berichten, daß Achilleus unter den Troern gräßlich gewütet 
hätte, als ihm sein Wagenlenker erschlagen war. Das tat sie doch erst 
auf Crrund der poetischen Übertragiing des thessalischen Achilleus in das 
Skamandertal; und ein historisches Faktum ist der Tod des Patroklos von 
Opus schwerlich. In die Region der unsterblichen Poesie hat diese Helden 
und ihre Leiden aber erst derjenige freischaffende Geist erhoben, der 
Achilleus zu Zeus um des Freundes Leben vergeblich bitten, der ihn, grau- 
sam wider seine Natur, dem Lykaon mit wahrhaft tragfischen Worten den 
Tod geben ließ, und dann weiter unter den Troern wüten, nicht im Hoch- 
gefühl des Siegers, sondern in der Gewißheit, daß ihm nur noch Tage zu 
leben beschieden war. Dieser Dichter ließ ihn entsprechend dem alten 
Kriegsrecht den Hektor den Hunden zum Fräße werfen: er schuf diese 
Sage. Der Dichter, der dies umwarf und die Versöhnung mit dem Greise 
Priamos erfand, schuf die schönere Sage : denn seit seinem Gedichte gilt ja 
dies als Sage und als Geschichte. Vixere fortes ante Agamemnona: auch 
vor Homer haben verschiedene Dichter an dem Stoffe imd an der Form 



A. Hellenische Periode (ca. 7oo--48o> I. Das ionische Epos. 



tt 



gearbeitet, wer weiß, wie viele Menschenalter. In unseren Epen erbt die ^M 

anbrechende hellenische Zeit den Arbeitsertrag einer langen Periode. H 

Seit einigen Jahren kennen wir einiges von der bildenden Kunst, die Homer und s» 
in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends in den Gegenden herrschte, '""'**^'" ''""'■ 
die Homers Helden als Heimat führen, namentlich in Kreta. Es ist eine 

Kunst von sehr bestimmtem Stile, sehr eigentümlich, dem Oriente gegen- ^1 

über so frei, wie die der Griechen des 7. Jahrhunderts durchaus nicht ist ^M 

Ist Homers Kunst wohl mit dieser vergleichbar? Die naive Unwissen- ^ 
schaftlichkeit ist natürlich gleich bei der Hand und identifiziert diese reiche 

Kultur mit der Homers; das ist nur petitio principii. Selbstverständlich ^m 

muß man die Häuser und Waffen und Gräber Homers mit denen vergleichen, ^M 

die man nun im Originale besitzt. Dabei ist herausgekommen, daß die ^M 

Grabsitten Homers andere sind; daß seine Menschen sehr viel kümmer- ^M 

lieber wohnen; daß er die Freskomalerei der kretischen und tirynthischen ^M 

Wände und die Mischwesen der Inselsteine nicht kennt; aber Erinnerungen ^M 

an die Sitten der Urzeit fehlen nicht, und wie sollten sie fehlen, wo doch ^M 

in den Helden selbst und ihren Geschichten solche Erinnerung vorhanden ^M 

ist Es hat sich gezeigt, daß der Panzer des Agamemnon die Kunst etwa ^M 

des 8. Jahrhunderts voraussetzt, dagegen der Achilleusschild nur auf die ^M 

Dekorationsweise jener alten Zeit zurückgeführt werden kann. Der Dichter ^M 

hat nicht etwa ein wirkliches Kunstwerk vor Augen (um das zu erkennen ^M 

braucht man nur die Nachahmung, den Schild des Hesiodos, zu vergleichen, ^M 

der wirklich ein Kunstwerk beschreibt); aber er muß doch Stücke gesehen ^M 

haben, die in der Weise jener alten Kunst dekoriert waren. Das lehrt ^M 

nur nicht viel. Denn er traut seiner Zeit und irdischen Handwerkern so ^M 

etwas gar nicht zu, und daß Werke jener alten Zeit, Schmuck- und Beute- ^M 

stücke sich bis ins 8. oder g. Jahrhundert erhalten konnten, ist gar nicht ^M 

unglaublich; auf Kreta verweist dieser Dichter direkt Also wenn die Ilias ^| 

in dem, was sie beschreibt, beiden Perioden angehört, so entspricht das ^M 

nur ihrem Inhalte und ihrer Heimat: lonien hat ja gerade die vorgriechische ^M 

Kunst fortgesetzt ^M 

Die Hauptfrage stellt sich anders. Das Grundprinzip der kretischen ^M 
Kunst steht zu der hellenischen in scharfem Gegensatze. Sie ist ^M 
malerisch, illusionistisch: sie wagt mit erstaunlicher Kühnheit wieder- 
zugeben, was sie sieht, das Gesamtbild auffassend, das vor ihren Augen ^_ 
liegt, nicht das einzelne herausbildend. Dagegen der geometrische Stil, ^M 
der sie ablöst, fängt ganz von vorne an, kindlich, ungeschickt, aber voll ^M 
ernsten Strebens, sich über alles Rechenschaft gebend. Man kann gar ^M 
nicht verkennen, daß von der Dekoration der Dipylonvasen und ihren ^M 
Vorläufern, die noch lediglich mit regelmäßigen Ornamenten operieren, ^M 
eine gerade Linie der Entwickelung bis zu dem Parthenon mit allem seinem ^M 
Schmucke führt; zu den Fresken Polygnots nicht minder. Wir finden die- ^M 
selbe Kunst in dem strengen Aufbau der attischen Tragödie; sie beherrscht ^M 
die griechische Metrik nicht minder wie die Periodisierung der griechischen ^M 



12 UUUCH VON Wuamowitz-Mqbli^ndorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Kunstprosa; es ist die Stilisierung, die wir spezifisch klassisch -hellenisch 
nennen. Gehört nun Homer zu der vorhellenischen Kunstart oder zu der 
geometrischen, die zu seiner Zeit in Übung war? Der Aufbau des Epos 
im ganzen darf nicht herangezogen werden, denn das hat gar nicht als 
Ganzes gewirkt oder wirken wollen, sondern die ganzen Kunstwerke, die 
nur scheinbar Teile sind. Da lese man einmal die Kämpfe, die im Labda 
der Ilias erzählt werden, schematisiere sich den Aufbau von Agamemnons 
Aristie zu der des Diomedes und Odysseus: man wird eine Strenge der 
Tektonik finden, die geradezu unübertrefiFlich ist Man lese das Gedicht 
von Hektors Tod (es beginnt <J> 526 und ist sehr gut erhalten): wie da drei 
Reden, von Priamos, Hekabe und Hektor vor dem Kampfe stehen, drei 
Reden, von Priamos, Hekabe, Andromache dahinter, das ist eine Symmetrie, 
die kein Giebelfeld übertrifft 

Die Gleichnisfälle des Epos zeigt uns, was die Menschen damals mit 
besonderer Teilnahme schauten. Das ist in erster Linie die elementare 
Natur; davon kann die bildende Kunst kaum etwas wiedergeben. Dann 
sind es die wilden Tiere, eben die, mit denen die lonier auf der Jagd 
zusammenstießen. Dieselben Tiere zeigen uns die bemalten Tongefaße, 
aber nicht die der kretischen Kunst Die Stierjagden der Becher von 
Vaphio usw. fehlen bei Homer, und noch bezeichnender ist, daß die Fische 
und Schmetterlinge und Polypen, an denen die kretische Kunst Freude hat, 
bei Homer ebenso fehlen wie in der hellenischen Ornamentik. Und vollends 
die Blumen. Es ist ein höchst merkwürdiger Mangel der homerischen 
Welt, daß sie zu diesen gar kein Verhältnis hat Der junge Fruchtbaum 
im Obstgarten, die verschiedenen Waldbäume werden in ihrer Eigenart 
vom Gleichnis verwandt, aber Rose und Veilchen, Hyakinthos und Krokos 
dienen nur zur Farbenbezeichnung (außer daß sie zum Beilager von Zeus 
vmd Hera einmal emporsprießen); einmal zeiget ein Gleichnis den Mohnkopf; 
man kennt noch nicht einmal Kränze. Ganz langsam entwickelt sich dann 
die Freude an der Blume; aber bei Sappho fällt sie doch noch auf, ebenso- 
sehr als etwas Weibliches wie als etwas Poetisches. Und naturalistische 
Wiedergabe von Laub und Blüten scheint sogar erst im Verlaufe der 
hellenistischen Zeit von der bildenden Kunst angestrebt zu sein. Dagegen 
sehe man die illusionistische und doch im edelsten Sinne omamentale Ver- 
wendung der Blumen in der kretischen Kunst Das offenbart Gegensätze, 
die tief in der Sinnesart wurzeln. Gewiß wird sich bei genauerer Be- 
obachtung auch manches finden, das Homer eben als lonier mit der 
vorhellenischen Kunst gegen die spätere teilt, die wesentlich vom Mutter- 
lande bestimmt wird: aber das wird die zeitliche xmd örtliche Fixierung 
dieser Poesie nur bestätigen. 
HomeiiMber Wir nennen die epische Poesie erzählend, und sie ist ja auch 

^'' insofern fast überall rein erzählend, als sich der Dichter ganz verbirgt 
Nur der Dichter der Patroklie oder doch fast nur er geht damit schon 
einen wichtigen Schritt weiter, daß er mit bestimmten Kunstmitteln ein 



A. Hellenische Periode (ca. 700— 480). 1. Das ionische Epos. 



13 



bestimmtes Ethos erzeugt; er antizipiert durch eigene Zwischenbemerkungen 
den Ausgang, und er redet den Patroklos in bedeutenden Momenten direkt 
an. Was im ausgearteten Epos eine Figur ist, die Apostrophe, ist hier 
bei ihrem ersten Auftreten noch von ganz individueller Wirkung. Auch 
in der Kunst des Erzählens sehen wir die Geschicklichkeit wachsen. 
Während meistens nur geradlinig erzählt werden kann, so daß das zeitliche 
Nebeneinander in ein Hintereinander verwandelt werden muß (zuweilen 
sehr unbeholfen, am meisten zwischen der Rede Agamemnons, nachdem 
Menelaos gesiegt hat, und dem Schusse des Pandaros, den der Dichter 
unmittelbar darauf erfolgft denkt), kann z. B. die Dolonie ganz vorzüglich 
den Szenenwechsel vornehmen. Ganz allgemein gilt aber, daß die direkte 
Rede der eingeführten Personen einen so großen Teil der Erzählung ein- 
nimmt, daß den Alten die Verwandtschaft mit dem Drama immer für 
Homer charakteristisch war. Dieser große Vorteil erwuchs einmal aus 
der Naivität der Sprache, die noch gar kein Denken kennt, sondern nur 
ein „zu sich selbst Sagen"; aber aus der Not macht der Dichter eine 
Tugend: sein Vorgang wird den Monolog der Tragödie erzeugen. Stark 
wirkt dazu auch die Unpersönlichkeit des Vortragenden. Das hat dann 
dazu gefuhrt, daß der ganze Hauptteil der Erzählung einem Mithandelnden 
in den Mund gelegt ward, wie dem Nestor in dem selbständigen Gedichte, 
das im zweiten Teil von Labda steht (von den Kritikern gröblich verkannt), 
dem Nestor und Menelaos in der Telemachie. Das gipfelt in den Apologen 
des Odysseus, die ein Vorbild für alle Epik wurden, ja darüber hinaus: ihr 
Dichter ist der Archeget des Ichromanes. 

Zu den Theorien, die uns auf der Schule aus Lessing eingeprägt 
werden, gehört, daß Homer ein großer Dichter wäre, weil er nur erzählte, 
nicht schilderte. Das ist zutreffend, wenn Lessing die Schönheit der 
Helene in der Wirkung auf die troischen Greise hoch über die Personal- 
beschreibung Angelicas bei Ariost stellt. Nur hat er die Gattungen der 
Poesie ganz abstrakt gefaßt, und wir werden an dem weiblichen Schön- 
heitsideal, das der liebenswürdige Plauderer seiner raffiniert sinnlichen 
Gesellschaft zeichnet, unsere Freude haben und es nicht mit den Signale- 
ments der spätgriechischen Romane zusammenstellen, die in Wahrheit aus 
den Signalements der Akten stammen, wie sie die Papyri zeigen, also einem 
Publikum gefallen durften, das beständig von den besonderen Kennzeichen 
seines eigenen Leibes Zeugnis ablegen mußte. Ob Homer die Fähigkeit 
besessen hätte, ein solches Signalement zu machen? Man kann sich doch 
nicht verhehlen, daß er namentlich von dem Aussehen seiner Frauen gar 
nicht imstande gewesen ist, ein sinnliches Bild zu entwerfen. Sah etwa 
der bildende Künstler seiner Zeit bereits so genau? Individuelle Er- 
scheinung (von der Karikatur abgesehen, die Thersites bereits erfährt) hat 
wohl überhaupt erst die neue Komödie und die hellenistische Poesie auf- 
gefaßt Jedenfalls hätte die Purcht vor dem Schildern keinen Hinderungs- 
grund abgegeben, denn daß der Schild des Achilleus verfertigt wird, hat 



14 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

keine andere Bedeutung, denn als Fonn der Anreihung. In dem ana- 
phorischen „er machte« liegt wenig Poesie, imd gerade von dem Cranzen 
des Schildes erhalten wir kein Bild, so wenig wie von seinem Werden. 
Wir bekommen eine Schilderung der einzelnen Szenen, und der Dichter 
hat die Freude, uns zu sagen, was die Menschen und Tiere machen, die 
er beschreibt. Lessing verkannte, dafi das Epos ja die einzige Art des 
Ausdruckes seiner Zeit war, imd da diese sich an einem schönen Panzer 
oder Schilde vergnügte, freute sie sich auch an der Beschreibung. Die 
Griechen haben die Beschreibung des gestirnten Himmels bei vielen 
Dichtem vor Arat und dann bei diesem als ein echtes poetisches Kunstwerk 
gelten lassen; Piaton allerdings wählte die Fiktion eines Weltschöpfers, 
imi die Schilderung des Zustandes zu beleben: er ist ein Beleg und aller- 
dings auch ein Beweis für das, was Lessing abstrakt richtig empfand. 
Der Schiffskatalog ist in die Hias, die er voraussetzt (daher ein wichtiger 
Zeuge für ihren damaligen Bestand) erst eingelegt und will die homerische 
politische Geographie, also ein gutes Stück Geschichte lehren: das ist 
unweigerlich didaktische Poesie, einerlei, ob wir diese theoretisch gelten 
lassen. Er imd die Katalogpoesie Hesiods und seiner Nachfahren sind 
vollkommen gerechtfertigt für ihre Zeit, denn die Belehrung konnte damals 
in gar keiner anderen Form erfolgen. Die Bedeutung der poetischen 
Form war gerade darum so hoch, weil sie nicht niu- als Poesie wirken 
wollte und wirkte, weil das prodesse et deUctare so ernsthaft genommen 
ward, daß auch einmal das erste vorwiegen durfte. Ob es später angemessen 
war, dieselbe archaische Form zu wählen, ist etwas anderes. Für die 
Griechen ist Homer auch als Didaktiker vorbildlich geworden. 

Endlich was wäre die Dias ohne die Gleichnisse? Es gibt einzelne 
ihrer Dichter, die sie gar nicht handhaben, namentlich wenn die Reden 
überwiegen, oder die Manier setzt nur ein paar als Putzmittel auf, wie die 
Telemachie; aber im ganzen gehören sie zu dem festen Stile. So sind sie 
mit ihm vererbt, und man sieht bei den Nachahmern (Apollonios verfährt 
darin ganz so wie Goethe und dieser wie Apollonios), wie sie, weil es 
eben zum Stile gehört, auf die Gleichnisjagd gehen oder öfter niu" die 
homerischen sinnreich oder frostig variieren. Die originalen Dichter 
haben sie angewandt in erster Linie, um die Stimmung zu geben, die 
namentiich die Naturbilder einem Volke unmittelbar vermittelten, das so 
ganz mit der Natur lebte wie die Griechen. Nur gottbegnadete Dichter, 
nicht eben viele, haben nachher dies Naturgefühl besessen. Wie bringt 
der Erzähler es fertig, die Stimmung des siegreichen und des geschlagenen 
Heeres zu schildern? Er malt eine sternenklare Nacht, in der der Hirt 
bei seiner Hürde sich gesichert fühlt vor reißenden Tieren und Dieben; 
und er malt das aufgewühlte Meer, das mit schwarzen Wogen den See- 
tang gegen das Ufer wirft Wie schildert er die Stimmung der Achäer 
und der Troer, als plötzlich die frische Schar des Patroklos einbricht? 
Er malt, wie vom Hochgebirge, das den loniem immer vor Augen lag. 



iellenische Periode (ca. 700 — 480). 



ionische Epos. 



»3 



eine schwarze beschattende Wolke plötzlich weggeblasen wird, so daß die 
Kuppen und Alpen im hellen Scheine sichtbar werden; und er malt, wie 
plötzlich am Himmel die verderbliche Gewitterwolke aufsteigt Das ist 
kein äußerlicher Putz: darin liegt mehr als in allen rhetorischen Schlacht- 
beschreibungen oder psychologischen Analysen: aber empfinden wird es 
nur, wer das Naturgefühl mitbringt, kein Kind und kein Großstädter. Die 
Künste aller Imitatoren haben Ähnliches nicht erreicht Dagegen kann 
man voraussehen, wie sich diese Bilder als echteste Lyrik absondern 
werden: zu Sappho und den Liedern des Dramas fuhrt dieser Weg. Nicht 
minder vollkommen sind die Bilder aus der Tierwelt, freilich fast alle ins 
Erhabene stilisiert Man wird nicht mehr daran erinnert, daß es noch nicht 
lange her war, da die großen Götter in Tiergestalt umgingen; aber wohl 
deutet es voraus, auf die Tierbilder der Orakelpoesie, auf die Tierfabel 
der lonier, auf die ionische Beobachtung der Tiere, ihres Charakters und 
ilirer Lebensweise, die bei Aristoteles unsere Bewunderung erregt. Dies 
Volk, das die Natur so mitfühlend betrachtete, hatte sie in göttlichen 
Personen beseelt: es sollte auch die echte Naturwissenschaft erschaffen, 
deren Wurzel die Beobachtung ist 

Das Epos ist heroisch; es verschmäht die niedere Bevölkerung; der 
edle Schweinehirt der Odyssee ist am Ende ein geraubtes Königskind, 
und der böse Ziegenhirt ist dazu bestimmt, in grausamster Weise Sklaven- 
tod zu leiden; Thersites ist der Demagoge, den der adlige Herr mit 
dem Stocke zur Räson bringt In solchen Szenen darf ein wenig Derb- 
heit und ein wenig grelle Zeichnung angewandt werden; sonst ist die 
höfische Sitte sehr zu spüren. Der späte Schwank von Ares und Aphrodite 
ist äußerst gewagt, aber die Dezenz des Ausdruckes läßt auch hier nichts 
zu wünschen übrig. Im stärksten Gegensatze steht die Ungeniertheit der 
Novelle bei Herodot; der Traum der Mandane wäre bei Homer ebenso un- 
möglich wie in einem athenischen Prosabuche. In der Tat hat die homerische 
Dezenz auch ihre Vorbildlichkeit für die ernsterhabene Poesie und die Prosa 
Athens. Aber es kann die Nebenströmung nicht gefehlt haben; auch vor 
Archilochos und Hipponax müssen ihresgleichen gewesen sein. Und da die Rurirtke* Ep«. 
epische Form die einzige Kunstform war, mußte sie sich am Ende auch 
dieser Stoffe bemächtigen. Wir wissen von einem solchen Epos, das noch 
Aristoteles dem Homer beigelegt hat, und das noch Kallimachos bewtmdert 
hat Dann ist es dem Vorurteil der homerischen Dezenz zum Opfer ge- 
fallen. Es war der Margites, den ein kolophonischer Dichter vor 700 
verfaßt hatte, der aller Wahrscheinlichkeit nach Melesigenes hieß. Man 
kann nur sagen, daß der Held eine Charakterfigur war, ein Nichtsnutz, 
der alle Künste nur halb versteht; der Name sagt, daß er sich mit wildem 
Elan auf alles mögliche gestürzt hat und sich natürlich überall blamiert 
Von den Zoten, die nicht fehlten, ist noch ein Schatten da. Auch hier 
noch kein Individuiun, aber wohl die Vorstufe zu der Herausarbeitung 
von Charaktertypen, die schließlich in dem attischen Lustspiel das Funda- 



i6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische LJteratur des Altertums. 

ment der modernen Charaikterkomodie werden sollte. Und die Form 
des Margites, die Einmischung iambischer Trimeter unter die heroischen 
Verse, beweist einmal die Existenz dieser volkstümlicheren Maße, zweitens 
die Unzulänglichkeit der epischen Form, sobald eine andere Stilisierung 
notwendig ward. Vor allem lehrt der Margites, daß wir nicht vergessen 
sollen, es hat neben Homer eine volkstümliche Dichtung gegeben — nur 
läßt sie sich nicht mehr kennen. Diese Unterströmungen werden wir zu 
allen Zeiten anerkennen, aber sie können uns niemals wirklich greifbar 
werden, und sobald einmal etwas hervortritt, wird es sofort künstlich 
stilisiert Das ist das Charakteristische der griechischen Literaturgeschichte. 

n. Das Epos im Mutterlande. Die Rhapsoden waren fahrende Leute 
wie Ärzte und Seher und Handwerker, die als Berufsstände neben den engen 
politischen Gemeinden standen, in denen die Geburt das Bürgerrecht gab, und 
sie genossen herumziehend eines Schutzes durch Gewohnheitsrecht So sind 
sie schon früh über die Inseln in das Mutterland gekommen, haben mit dem 
Epos die Literatursprache hinübergebracht und verbreitet, und mit dem Epos 
brachten sie dessen Götter und Heroen, brachten sie die Nahnmg der 
Phantasie in der Fülle des Stoffes und erweckten das Gefühl für kunst- 
mäßige Rede, für Poesie. Sie haben sich in den Zentren der Kultur 
während der hellenischen Periode bald festgesetzt, in Sparta, Argos, 
Korinth, Delphi. Dort gab es überall Geschichten, der ionischen Sage 
vergleichbar, die nach der Formung durch Dichterkraft verlangten. Der 
Herrenstand, soweit er gebildet genug war, Homer zu verstehen, verlangte 
die Taten und Namen seiner Ahnen, der Gründer seiner Städte und 
Staaten ähnlich verherrlicht zu sehen; er verlang^te, die heroischen Ge- 
schichten durch seine Heroen belebt zu sehen, wie einst der Rhodier 
Tlepolemos und der Lykier Sarpedon in die Ilias gekommen waren. 
Ging das nicht wohl an, so hatten eben Herakles umd Telamon Dios auch 
einmal belagert und bezwungen. Die Thebais spielte im Mutterlande 
selbst; sie bot der Umarbeitung noch viel leichtere Handhaben, und das 
alte homerische Gedicht ist unter diesen zugrunde gegangen. Wir haben 
stofflich sehr viel von diesen festländischen Epen, aber die Form war 
ausgeartet: die Dichter von Korinth und Sparta vermochten die fremde 
Rede nur unvollkommen nachzubilden. So hat sich von ihnen nichts er- 
halten als ein paar leere Namen. Glücklicherweise ist die Ilias von fest- 
ländischen Überarbeitungen frei geblieben. Die Odyssee hat ihre letzte 
Gestalt aber erst hier erfahren, nicht vor dem 7. Jahrhundert, vielleicht 
erst zu Solons Zeit, und was der letzte Ordner dazu getan hat, ist an Er- 
findung imd Ausführung gleich minderwertig. 
Homeriiche Wenn die Rhapsoden an den Götterfesten vortrugen, schickte es sich, 

Hymnen, (jaß sic der heroischeu Erzählung eine Huldigung gegen den Gott voraus- 
schickten, dem das Fest galt Wie es nahelag, hat sich daraus hie und 
da ein Gedicht entwickelt, das von den Taten, namentlich von der Geburt 



A. Hellenische Periode (ca. 700—480). II. Das Epos im Mutterlande. 



17 



des Gottes statt von einem beliebigen Abenteuer vor Ilios oder Theben 
handelte. Wir besitzen in den sogenannten homerischen Hymnen ein 
Buch eines Rhapsoden, das neben vielen kurzen Proömien an verschiedene 
Götter (eins darunter an Hestia: das sang er, wenn er am Herde eines 
Privatmannes niedersaß) eine Anzahl ausführlicher Gedichte enthält, ver- 
schiedener Herkunft und Zeit. Darunter ist jetzt in einen großen Hymnus 
an Apollon verarbeitet das schöne Gedicht, das ein blinder Sänger aus 
Chios auf Delos an der Panegyris des Gottes vorgetragen hat, spätestens 
zur Zeit des Archilochos. Ursprüaglich hatte er auch seinen Namen ge- 
nannt, aber den hat man beseitigt, damit er Homer sein könnte; so ist 
der zu seiner Blindheit gekommen, von der übrigens im Altertum viel 
weniger Wesens gemacht wird als heute. Dies ist das älteste Stück der 
Sammlung; aber auch in anderen wird recht Altes zugrunde liegen; die 
Überarbeitung ist hier sehr viel tiefer gegangen als in der Ilias oder 
scheint uns doch so, da die alexandrinische Grammatik diese Gedichte 
verachtete, weil sie für ihre Auffassung unhomerisch waren. Jedes der 
größeren Stücke hat einen besonderen Reiz, und nicht nur historischen; 
aber da nicht nur die Verfasser, sondern auch Ort und Zeit der Entstehung 
im Dunkel bleiben, kann die ganze Gattung nur mit in das allgemeine 
Chaos gerechnet werden, die Rhapsodenpoesie der hellenischen Periode, 
die wir wohl oder übel homerisch nennen. 

Es mag um das Jahr 700 gewesen sein, daß der Bauernsohn Hesiodos HmIoJ» 
aus Askra am Helikon den Stab des Rhapsoden ergriff. Er stammte '■"" '""' 
zwar aus asiatischem Aolerblute (sein Vater war erst eingewandert) und 
hatte zu seinem Bergdorfe kein Heimatsgefühl; aber die homerische 
Weise, die er von den Rhapsoden erlernte, war ihm doch innerlich auch 
nicht genügend. Er ward zum Epiker nicht um Geschichten zu erzählen, 
sondern um das auszusprechen, was ihm das Herz schwer machte. Der 
erste Dichter auf europäischem Boden war ein Antipode Homers, dcUTim 
ist er bei geringer sinnlicher Gestaltungskraft allein aus der epischen Zeit 
erhalten geblieben. Er nennt uns selbst seinen Namen und erzählt die 
Vision, die ihn aus dem engen Hirtenleben zum Dichter berufen hat. Er 
grübelte über dem Widerspruch, in dem die bunte lustige Götterwelt 
Homers zu der finsteren Ungestalt seiner heimischen Götter stand. Wer 
waren die echten Musen, die aus den olympischen Häusern, oder die 
um den Born auf dem Gipfel des Helikon im Nebel tanzten? oder waren 
sie dieselben? Waren das keine Götter, die um ihn walteten, der Eros, 
den seine Herren in der Stadt Thespiai, zu der Askra gehörte, als einen 
Steinkegel verehrten; die vielen Dämonen, die in der Erde wohnten und 
die Schätze der Tiefe dem arbeitsamen Ackerer gewährten? Homer 
wußte von allen solchen Göttern nichts, kaum von der Erdmutter, der 
Hauptgottheit Böotieus. In Böotien war Poseidon, der als Roß umgeht, 
der Herr des Landes; sein Hufschlag hatte die Quelle des Helikon er- 
stehen lassen; schwerlich kam Zeus gegen ihn auf, der bei Homer der 

0|> KULTVB OI> GlOUlWAKt. LS. 3 



i8 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorff: Die griechische Uteratur des Altertums. 

Götter und Menschen Vater war. Darüber hatte er \'iel gesonnen; die 
heimischen Musen hatten ihm mm Klarheit gegeben: die Crötter hatten auch 
ihre Geschlechter und hatten ihre Geschichte. Ordnung mußte in die ver- 
wirrende Mannigfaltigkeit kommen; die Erde und der Eros waren Urgötter, 
aber jetzt war das Reich von ihnen übergegangen an ihre Kinder und 
Kindeskinder, die Götter Homers. Und das erzählte er dann: er schuf 
den Hellenen die erste Theogonie, die erste von vielen, und sie selbst 
liegt uns (und lag dem Aischylos und dem Pindar) nur in späterer Ober- 
arbeitung vor: aber von dem Gedanken haben sie nicht gelassen, soweit 
sie an Göttern überhaupt festhielten, die Weltentstehung und die Götter- 
entstehung zu erzählen. So abstrus es ist, großartig ist es doch. Dem 
Dichter der Theogonie geht der Begriff der Entwickelung auf, er faßt sie 
als die Deszendenz eines Geschlechtes: seine rechten Nachfahren werden 
die Personen fallen lassen, aber Mythologeme werden auch sie immer nur 
hervorbringen. 

Hesiodos sollte noch weit Grrößeres leisten. Sein Bruder betrog ihn 
um sein Erbgut; die Richter in Thespiai waren bestechlich und er bekam 
sein Recht nicht Da fragte er sich, ob denn auch bei Gott kein Recht 
wäre, imd seüi Glaube half ihm: das Recht, das hier unten zu kurz konunt, 
hat droben einen unbestechlichen allmächtigen Herrn: der ahndet Eid- 
bruch und Gewalt Das unrechte Gut gedieh dem Perses nicht Wie 
gedeiht dem Menschen das Leben? Durch nichts als durch redliche 
Arbeit Das sah Hesiodos ein, und der fahrend gewordene Bauemsohn 
w^ard innerlich warm bei dem Gedanken, wie der Bauer jahraus jahrein 
schafft und schwitzt, wie aber nach den sauiren Wochen auch die frohen 
Feste kommen, und wie köstlich beides ist, Arbeit und Fest Da schrieb 
er das Gedicht, das man „die Werke" nennt: man sollte es „die Arbeit" 
nennen. Es ist kein wohldisponiertes Gedicht; die Gedanken und Gefühle 
des eigenen Herzens ringen sich nur mühsam empor. Daher ist es so 
sehr viel leichter, es zu zerreißen oder auch zu verbessern, als den Gängen 
und Sprüngen des Hesiodos zu folgen: hat man doch wahrhaftig sogar 
hier den individuellen Menschen verkannt, um es zu homerisieren. Gewiß, 
die Kunst verhält sich vielfach zu der Homers, wie die Bauemhütte, in 
der neben der von der Feldarbeit gekrümmten Frau nur noch der Zugstier 
als Gefährte lebt, zu dem Herrenhofe des Alkinoos. Aber nicht ohne 
Grund haben schon die lesbischen Lyriker auf dieses Gedicht angespielt, 
hat es der Jugendunterricht rasch herangezogen und Kallimachos seine 
Süßigkeit gelobt Mit dem Spruche „Arbeit ist keine Schande" hat sich 
die griechische Bürgerschaft über das Phäakentum erhoben, und auf den 
Spruch von dem breiten Wege der Gemeinheit und dem schmalen der 
Mannestugend hat nicht nur Sokrates, sondern auch die alte Christenheit 
gebaut (in den „Zwei Wegen", einem Teile der sogenannten Apostellehre). 
Wie Hesiod den dürren Sommer und den schneidenden Winter schildert^ 
das ist nicht das homerische Gleichnis: da ist die Natur vom Bauern- 



A. Hellenische Periode (ca. 700—480). III. Elegie und Jambus. 



19 



Standpunkte angesehen, aber mit denselben hellen Augen, und neben dem 
Stimmungsgehalt hat die Realität auch ihren Wert Wieviel der köst- 
lichen Sprüche Hesiods Eigentum sind, ist nicht zu entscheiden (nXeov 
f\iiic\j navTÖc gehört ihm, und das ist kein Allerweltssprichwort): die 
Präzision der griechischen Gnome tritt bei ihm vorbildlich in die Er- 
scheinung. Es ist klar, daß die Spruchpoesie nicht von einem Menschen 
erfunden ist; die Gnome löst sich auch nicht aus dem Epos aus wie das 
Naturbild des Liedes, sondern wird in das Epos hineingezwungen: aber 
für die Griechen ist Hesiodos der Vater sowohl der Gnome wie der Tier- 
fabel geworden, weil sie beides bei ihm zuerst kennen lernten. 

Das ganze Altertum hat dem Hesiodos noch ein Epos zugeschrieben, 
den Frauenkatalog; wir sind nicht berechtigt, das anzuzweifeln. Im Gegen- 
teil, der Katalog, der mit dem ersten Menschen anfing, zu dem ersten 
Hellenen fortging,' dem Vater der drei Stämme, in die man in Asien sich 
gewöhnt hatte, die Hellenen zu zerteilen, und so Ordnung in das Stamm- 
und Völkergewirr brachte, ist so recht im Sinne der Theogonie; der Ver- 
zicht auf den Schmuck der bunten Geschichten auch. Das war freilich 
rein didaktische Poesie, in gewissem Sinne der erste Versuch einer Welt- 
geschichte. An alles das hat sich dann eine kaum übersehbare Masse 
von Zusätzen und Nachahmungen angeschlossen, ein gutes Teil der inhalt- 
lich reizvollen, formell geringhaltigen Epik des Mutterlandes während der 
Jahrhunderte sieben und sechs. Nur die Anknüpfung an die Kataloge 
macht den Unterschied gegen die homerische Poesie jener Zeit, die ja 
auch im Mutterlande blüht Von dem Gegensatze einer homerischen und 
einer hesiodischen Dichterschule zu reden ist also ganz verkehrt; das 
geringe Gedicht über den Schild des Herakles, das wir allein besitzen, 
ist sogar ausgesprochen homerisch, obwohl es hesiodisch heißt, weil es 
•eine Eindichtung eines Kataloggedichtes war. Der ganzen Epik des 
Mutterlandes hat die Weihe echter Kunst gefehlt: erst in der Umbildung 
durch die Lyrik, eigentlich erst durch das Drama haben die köstlichen 
Stoffe Dauerbarkeit erhalten, wenn auch die fünf Bücher Kataloge, die 
sich als hesiodisch behaupteten und in einem kleinen Kerne auch waren, 
viel länger gelesen worden sind als die homerisierenden Epen. Diese hat 
schon zu Anfang der hellenistischen Zeit nur der Gelehrte gelegentlich 
eingesehen: von Hesiods Katalogen mehren sich die Bruchstücke in den 
Papyri der späten Kaiserzeit. 



in. Elegie und lambus. In lonien kam ein neuer Aufschwung in 
die Dichtung durch die steigende Bildung der herrschenden Stände, und 
die Zuckungen der unaufhörlichen politischen Streitigkeiten werden dazu 
wesentlich beigetragen haben. Die gebildeten Männer, die Führer der 
Gemeinde oder der Partei, wurden es müde, sich von anderen etwas vor- 
dichten zu lassen. Ihre eigenen Taten imd Pläne waren ihnen wichtiger 
als die ihrer Ahnen. Sie durften sich zutrauen, selbst in poetischer Form 



20 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

zu reden, und sie bedienten sich der Macht, die die Beherrschung der Form 
verleiht, um die öffentliche Meinung zu bestimmen. Der Vergleich mit den 
Troubadours der Provence drängt sich auf, und Hipponax steht gut als 
Jongleur daneben. Nun war dazu der epische Stil unbequem; man mußte 
ihn auf die lebendige Rede abtönen. Die alte Begleitung durch die Leier 
war schon aufgegeben; die Saitenmusik hatte aber überhaupt einen Kon- 
kiurenten erhalten in den Blasinstrumenten (wir sagen Flöten, obwohl sie 
eher Klarinetten sind), die die Griechen allgemein von den Pbrygem imd 
Lydem übernahmen, so daß hinfort der Flötenspieler bei keinem Opfer, die 
Flötenspielerin bei keinem Gelage fehlen durfte, während Homer die Flöten 
nur bei Barbaren kennt Diese Musik brachte eine totale Veränderung 
des musikalischen Betriebes mit sich. Das Saiteninstrument hatte der 
Dichter selbst geführt, sich selbst begleitet und die Töne improvisiert 
Jetzt blies ein anderer eine Weise, festbestimmt, damit sich der Sänger 
danach richten konnte; dieser Musikant aber war eine untergeordnete 
Person: er wußte seine kleine Anzahl Töne; auf die mußte der Dichter 
sich einrichten. Ohne Frage gab es für die rituellen Akte, Opfer, Bitt- 
gänge, Begräbnisse, Hochzeitszüge, zu denen auch die Spende gehörte, 
mit der die Gelage begannen, feste Flötenmelodieen und entsprechende 
Liederchen, nicht in dem heroischen, rezitativen Maße, sondern in anderen, 
volkstümlichen, die längst bestanden hatten, ehe die Flöte und selbst ehe 
die homerische Dichtung aufkam. Natürlich war einzeln auch der Hexa- 
meter hierfür verwandt, seit es ihn gab; wir haben ein paar Gedichte der 
Art in der volkstümlichen Lebensbeschreibung Homers. Unter diesen 
Maßen war eine kleine Strophe, ein Hexameter als Vorgesang voraus, 
dann zwei Stollen, je ein katalektischer daktylischer Trimeter, die aber 
vor der Zeit unserer Zeugnisse zu einem Verse verwachsen und demnach 
verschieden behandelt waren; der Vers ist, weil er in der Totenklage 
(Elegos) vorkeim, Elegeion benannt worden, was über seinen Charakter 
nichts aussagt Neben ihm stand der iambische Trimeter, der schon im 
Margites begegnete (S. i6), und andere iambische Maße. Das lambeion 
ist benannt nach seinem Vorkommen in rituellen Spottgedichten, die eben 
lamben hießen, besonders die, welche an den Demeterfesten von den Weibern 
rezitiert und improvisiert wurden. Wir dürfen auch den trochäischen Tetra- 
meter zurechnen, müssen aber alle diese Maße noch sehr frei und kunstlos 
behandelt denken. Sie nun griffen die Männer auf, die in sich das Zeug 
zum Dichter fühlten, und indem sie sie mit Geist und Kunst adelten, zur 
Sprache im wesentlichen die gebildete Volkssprache nahmen, aber aus 
der epischen, die ihnen ja keine fremde war, bereicherten, schufen sie die 
neue Gattung. Zunächst nannte man diese ebenfalls nur Verse, lm\; später 
sagte man Elegie und lambus, doch so, daß die beiden immer beieinander 
und als rein gesagte Verse zum Epos gehörig blieben. Denn wenn auch 
die Elegie Flötenbegleitung hatte, die auch beim lambus denkbar ist, war 
das doch dem Dichter unwesentliches Beiwerk: er sang nicht eine feste 



A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480"). III. Elegie und lambus. 



21 



VrchUocbos 
(um 6sn), 



Melodie, geschweige daß er eine erfand. Daher denn auch alle diese 
Maße bald für die älteste Lesepoesie verwandt worden sind, für die Auf- 
schriften von Weihgeschenken und Grabsteinen, das Epigramm. Ganz wie 
das Epos wurden diese Gedichte bald von den Rhapsoden vorgetragen 
und von den Kindern in der Schule gelesen und gelernt. 

Die Griechen haben als den Erfinder oder Vollender des lambus und 
der Elegie den Archilochos von Faros betrachtet (datiert durch die totale 
Sonnenfinsternis vom 6. April 648, die er erwähnt); sein Ruhm rückt ihn 
fast neben Homer. Was ihn so hoch erhob, war die rückhaltlose Gewalt, 
mit der er seine Persönlichkeit einsetzte und die Poesie als Waffe ge- 
brauchte: man konnte sich nicht genug tun, von ihrer Gefährlichkeit zu 
erzählen. So viel sieht man auch noch, daß er kein Mittel scheute; die 
Derbheit geht bis zur Unflätigkeit, der Angriff bis zum Schirapfen: aber 
man begreift, daß der trotzige Gegensatz zu der homerischen Dezenz den 
Griechen, die im Banne des Stiles zu stehen pflegen, mächtig imponierte. 
Es war einer, der sich nicht kopieren ließ; selbst Horaz ist daran ge- 
scheitert. Wir könnet! über die Poesie nicht selbst urteilen; doch sagt 
die Tatsache genug, daß die kleinen privaten Angelegenheiten eines 
Bastards von Faros, der keineswegs in hervorragender Stellung an der 
Besiedelung von Thasos und den Kämpfen mit Nachbarn und Barbaren 
teilgenommen hat, offenbar aber nie auf einen grünen Zweig gekommen ist, 
ziemlich tausend Jahre lang, erst dem ganzen Volke, dann gerade den 
Geschmackvollsten kein geringeres Interesse abgewonnen haben als der 
Völkerkampf der Ilias. Beurteilen können wir wenigstens die formale 
Kunst. Archilochos hat in der Behandlung des Distichons die Vollkommen- 
heiten der hellenistischen Behandlung vorweggenommen und den lambus 
und trochäischen Tetrameter sofort in die kanonische Form gebracht: man 
muß sagen, es gibt keine höhere Vollkommenheit. Dabei nirgend etwas 
Schwülstiges, Verstiegenes, immer die wirkliche Rede des Lebens, immer 
jene Einfachheit und Verständlichkeit, wie sie nur etwa Aristophanes er- 
reicht; die alte Komödie hat überhaupt viel von ihm gelernt, aber die 
Feinheit seines Verses gar nicht angestrebt. Daß wir den Archilochos 
nicht mehr besitzen, liegt wohl an seiner Obszönität; die Schule konnte 
ihn nicht gebrauchen. Die Fragmente sind so spärlich, weil er so leicht 
verständlich blieb, denn er war ein lonier, und zwar von den Inseln, deren 
Mundart dem Attischen noch viel näher stand als das asiatische Ionisch. 
Die Grammatiker fanden wenig zu tun; Sittensprüche waren auch nicht 
auszuheben. Fälschungen später Zeit des Altertums haben glücklicherweise 
keinen Schaden gestiftet, imd plumpe Schweinereien, die wohl erst die 
Renaissance auf seinen Namen gestellt hat, sind sogar noch ungedruckt, 
was kein Schade ist. Aber der Verlust der Originale ist unschätzbar. 

Was wir sonst von Dichtern dieser Art wissen und an Versen be- semooM« 
sitzen, ist gering. Der samische Staatsmann Semonides, ein Zeitgenosse '*" '*'*' 
des Archilochos, ist berufen wegen eines lambus gegen die Frauen, grobe 



2 2 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

und ziemlich salzlose Spöttereien ohne Reize der Form. Man muß sich 
erinnern, daß die Weiber eben bei der Gelegenheit, die durch eine 
mythische lambe verherrlicht wird, ihre saftigen Schimpfreden losließen: 
da ist ein männlicher lambus gleichen Kalibers entschuldbar. Moralische 
Betrachtungen desselben Mannes sind interessanter, aber alles doch ntir 
historische Rarität 

Hipponu Hundert Jahre später hat sich auf den Gjissen von Ephesos ein Poet 

(am im), herumgetrieben, der sehr wehleidig um einen Rock bettelt, weil er so 
bitterlich fröre; wenn er ihn nicht bekommt, wird er schimpfen; das ver- 
steht er. Er mischt lydische Worte in sein Griechisch und läßt einen 
halben daktylischen Hexameter plötzlich für einen halben iambischen 
Trimeter eintreten. Und doch ist dieser Hipponax ein Klassiker geworden, 
und für unsere Sprachkenntnis ist es jammerschade, daß er als der späteste 
Verlust gebucht werden muß, den die griechische Poesie erlitten hat. 
Tzetzes hat ihn noch im 12. Jahrhundert besessen. Vermutlich ist uns 
wirklich auch Poesie verloren gegangen, realistische Szenen des Lebens; 
wenigstens hat ihn darum die hellenistische Poesie, selbst Kedlimachos, 
geschätzt und nachgeahmt Sicher hat er für seine verzerrten Bilder mit 
glücklichem Griffe das Maß geschaffen, indem er für das letzte Metrum 
des Trimeters, das Archilochos ganz rein zu halten gelehrt hatte, eine 
disharmonische Form wählte, die in volkstümlichen Versen an erster Stelle 
zugelassen war. Der Hinkiambus ist seitdem kanonisch: so seltsam stark 
dominiert bei den Griechen die Autorität einer gelungenen Vorlage. 

uifflnemot Wie wir von den drei Isimbographen eigentlich selbst kein Urteil 

(am 600). gewinnen können, so wäre es auch Selbsttäuschung, wollte man sich ein 
Bild von Mimnermos nach ein paar Dutzend tadelloser und frischer 
Distichen machen, die jene Lebenslust und Genußfreude atmen, tun 
derentwillen Solon ihn zurechtweist Für diesen ist es ein bedeutender 
Zug, daß er daran mahnt, wie die geistige Leistungs- und Genußfähigkeit 
dem Grreise bleibt, der seine Jugend nicht auf das Genießen verbraucht 
hat, das gemein macht Daß Mimnermos in dieses aufgegangen wäre, 
folgt keineswegs. Wenn der berühmte Athener ihn anredete, war er kein 
Flötenspieler, sondern ein Mann von geachteter sozialer Stellung, wie er 
denn auch als ein Bürger von den Großtaten einzelner Kolophonier redet 
Die Alexandriner haben seine Gedichte, oder doch ein Buch, mit dem 
Titel Nanno versehen, nach einer Flötenspielerin, die also als Adressatin 
hervortra.t So ward dies Buch Vorbild für ihre und dann für die xuis 
allein bekannte römische Elegfie, die sich irgendeinen wahren oder fiktiven 
Hetärennamen als Objekt der erotischen Poesie wählt Daß Mimnermos 
zu Nanno sich verhielte wie Antimachos zu Lyde oder Goethe zu Faustine, 
folgt daraus mit nichten, und wenn auch, so hat diese Liebe weder seine 
Seele noch seine Poesie ausgefüllt 

soioD Solon von Athen hat sich tun die Herrschaft beworben, hat seine 

(Aichon 594). Politik vor den Freunden und der Nachwelt vertreten, hat seine reife 



A. Hellenische Periode (ca. 700—480). III. Elegie und lambus. 23 

Lebensweisheit niedergelegt in Elegieen und lamben. So war auch diese 
Gattung fertig von den loniern herübergenommen, und der stammverwandte 
Athener bediente sich dieser Ausdrucksform für eben das, was Perikles 
mit gesprochener Rede, Demosthenes neben dieser mit geschriebener 
besorgte. Die hohe imd reine Seele Solons spricht glücklicherweise noch 
in einigen Gedichten zu uns; er dankt es dieser seiner Muse, daß sein 
Gredächtnis überhaupt erhalten blieb und wenigstens dies eine Bild für 
Aristoteles und für uns licht und scharf sich aus dem Nebel einer Zeit 
abhebt^ die nur novellistische Überlieferung erzeugte. Aber unverkennbar 
hat seine Poesie noch etwas Unfreies imd Konventionelles im Ausdruck; 
es ist doch nicht die Muttersprache, die er redet Die attische Kürze und 
Präzision erreicht wohl der lonier Archilochos, aber nicht der Athener 
Solon. Archilochos war Dichter, Solon Staatsmann und Denker: nur für 
jenen war die poetische Form dem Inhalte wirklich adäquat 

In Sparta gab es zu Piatons Zeiten Elegieen, die in altertünüicher Tyrtaio« 
Weise zur Musik vorgetragen wurden, den Junkern die kriegerischen und '"" ^^^ 
politischen Tugenden einzuprägen. Der Verfasser gab sich in einigen als 
Feldherr im zweiten Messenischen Kriege, für den diese Gedichte die 
einzigen wirklichen Zeugnisse sind und den sie auf die Zeit des Archi- 
lochos etwa datieren. Man nannte diesen lakonischen Elegiker Tyrtaios, 
und er galt meist (ob in Sparta, steht dahin) für einen Fremden, obwohl 
er als Spartaner redete. Für jene Zeit kann man eine solche Bürgerrechts- 
erteilung nicht undenkbar nennen. Poesie, die so überliefert wird, moderni- 
siert sich und erleidet allerhand Umgestaltung; die erkennt man auch in 
den Resten, und gerade die jetzt berühmtesten, wirklich auch schönen 
Stucke stammen ofiTenkundig weder aus Sparta noch aus dem 7. Jahr- 
hundert Aber es bleibt des Echten genug, um die Tatsache zu sichern, 
daB die Elegie, freilich mit sehr vielen Homerismen, die ein lonier ver- 
mieden haben würde, und nicht ohne ungewollte Beimischungen aus der 
heimischen Sprache (die übrigens Hesiod auch nicht vermieden hat) als 
Mittel der Mahnrede auch in Sparta verwandt ist: Import wie das Epos, 
aber wie dieses dafür wirksam, allen Hellenen eine gemeinsame Sprache 
und Kultur zu verschaffen. 

Das zeigt noch viel klarer das Elegieenbuch, das unter dem Namen xheogo» 
des Theognis von Megara auf uns gekommen ist, denn in ihm ist der 
Anteil dieses Mannes weder poetisch noch historisch das Wichtigste. Der 
megarische adlige Emigfrant g^bt seinem geliebten Knaben allerdings die 
Lebensregeln, die ihn sein Stand und sein Leben gelehrt hat; sein Horizont 
ist eng und seine Moral die eines überwundenen Standes. Die elegische 
Form ist dem Megarer doch nicht natürlich, und, statt um Neues und 
Eigenes zu ringen, behilft er sich mit dem Konventionellen. Da er noch 
die Perserkriege erlebt hat, gehört er eigentiich in die folgende Periode; 
aber er ist eben ein Nachzügler. Sein Buch ist uns überliefert mit vielem 
fremden Gute durchsetzt, und dessen Anhänge, ursprünglich ähnliche Bücher, 



24 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Alterturas. 

sind Zusammenstellungen von Gedichten oder Versreihen sehr vieler Ver- 
fasser, unter denen die berühmten Namen, Mimnermos 2. B. und Solen, 
sich auch befinden, ohne hervorzustechen. Moralisches und Erotisches 
steht nebeneinander. Man hat es passend einem Kommersbuch ver- 
glichen, denn gesammelt sind diese Verschen, um beim Mahle von den 
Zechbrüdern zur Flöte rezitiert zu werden; ein großer Teil ist auch so 
entstanden. Es sind Verse darunter noch des 7. Jahrhimderts, aber auch 
Produkte der Sophistenzeit, köstliche Perlen und Trivialitäten, diese nament- 
lich von moralisierendem Inhalt, meist über alten Leisten geschissen. 
Besonders merkwürdig sind Stücke, in denen Mädchen reden. Man kann 
sie den weiblichen Teilnehmerinnen der S}rmposien auch zutrauen; aber 
manche werden den Mädchen in den Mund gelegt sein. Das Ganze gfibt 
ein lebendiges Bild des gesellschaftlichen Lebens; man muß nur die Vasen- 
gemälde hinzimehmen; das Beste, das Individuelle, ist nur fast immer ver- 
blaßt oder übermalt Diese Spruchpoesie des Symposions ist die Vorstufe 
des hellenistischen Epigramms. Wir nennen so etwas Lyrik, den Alten 
sind es im\. Dies muß man sich ganz klar machen: erst daan versteht 
man die alte Poesie, wird dann aber auch für alle neuere einen freien 
Blick gewinnen, den die Schultheorie uns trübt 

skoUra. rV. Lyrische Poesie. Man sang damals bei den Symposien auch den 

Rundgesang; man war sicher, daß, wenn das Myrtenreis herumgegeben 
ward, die Zecher alle ein Lied auf einen der volkstümlichen Töne improvi- 
sieren konnten oder doch eins auswendig wußten, ganz wie sie es mit den 
elegischen Verschen taten. Das waren die Skolien, von denen wir aus 
Athen eine kleine Sammltmg besitzen, reich an schönen politischen Tönen, 
aber auch Huldigungen an einzelne Götter, Erotisches, Gmomisches, alles 
wahrhafte Volkslieder, aber in der Verskunst und der Diktion, oft auch 
im Inhalte nur Nachklänge der Lieder von großen Dichtem des Ostens, 
und niu" diese haben eigentlich in der Literatur eine Stelle. 

Zahllos müssen die ionischen Liederdichter gewesen sein, die zu 
den verschiedenen zum Teil sehr komplizierten Saiteninstrumenten ihre 
Stimme erhoben haben, und die Liebe hat in diesen Liedern eine Haupt- 
rolle gespielt, üppig und heiß, so daß dem Ionischen schon zu Aristo- 
phanes' Zeit der Nebensinn des Lasziven anklebte. Aus der ganzen Schar 
hat sich nur ein einziger Mann erhoben, der die Gattung geadelt hat 
Anakreon Anakreou von Teos ward von der Persermacht aus seiner Heimat ver- 

(um 5»o). jjjgjjß^^ j^jjgj. gj. blieb ein Ritter, der an den Höfen der Adligen Thessaliens, 
bei den Peisistratiden und bei Polykrates von Samos, dessen Katastrophe 
er erlebte, als Standesgenosse verkehrte. Die Statue, die ihm auf der 
attischen Burg zu Perikles' Zeiten errichtet ist, stellt ihn in vornehmer 
Nacktheit stehend dar: so sang man nicht beim Mahle. Was die zer- 
stümmelten Reste erkennen lassen, ist ein Spiegelbild des üppigen Lebens 
der Tjrrannenhöfe, das uns auch die athenische bildende Kunst des aus- 
gehenden 6. Jahrhunderts greifbar darbietet Die Lieblinge des Polykrates 



A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). IV. Lyrische Poesie. 



25 



begegnen uns; die Huldigungen des Dichters machten den Tyrannen im 
Ernste so wenig eifersüchtig, wie etwa Heinrich IV. von Frankreich auf 
Malherbe eifersüchtig ward, wenn er seine Geliebten ansang. Aber auch 
derber Spott fehlt nicht, daneben anmutiges Schäkern und Tändeln, vereinzelt 
ein politischer Zug oder eine Huldigung an einen Gott, die aber immer 
eine menschliche Spitze hat. Getragen ist alles von unverwüstlicher Anmut 
und Lebenslust: man kann dem lockeren Vogel nicht grollen, und die 
Selbstironie, mit der er seine grauen Haare erwähnt, macht ihn nur 
liebenswürdiger. Sprache und Verskunst sind von archilochischer Voll- 
kommenheit, nur daß die Kraft fehlt. Denn von jenem loniertume ist 
freilich etwas darin, das sich in seiner Schönheit selbst entwürdigt, nicht 
ohne das zu empfinden, wie die Myrrha Sardanapals bei Byron. Ein 
Klassiker ist Anakreon sofort geworden; seine metrischen Erfindungen 
tönen schon bei Aischylos nach; aber die einst so ganz momentanen Trink- 
und Liebeslieder konnten sich nicht im lebendigen Gebrauche halten, als 
die Sprache archaisch klang und manche ihrer Worte nur aus dem Wörter- 
buche verstanden werden koimten. Man modernisierte, man vergröberte 
sie, man verflachte den Inhalt durch die Verallgemeinerung, man ebnete 
den Gang der wogenden Rhythmen. Und so ward Anakreon ein Typus, 
der Grreis, der das Lieben und Trinken nicht lassen kann, weil er nichts 
anderes versteht, und er ward der Träger einer flauen, klassizistisch glatten 
gefiihlsleeren TrinldjTik. Das Liederbuch später Zeiten, im ganzen ohne 
Frage erst römischer, nicht unter dem Namen Anakreons (denn dessen 
echte Gedichte standen damals noch in den Bibliotheken, wie sie die 
alexandrinischen Philologen gesammelt hatten), sondern als Anakreonteen, 
Gedichte in seiner Weise, überliefert, ward im 16. Jahrhundert bekannt, 
gerade als in Frankreich zur Zeit Ronsards die Wogen der Gräkomanie 
hoch gingen imd die Stimmung diesen kaum noch halbgriechischeii 
Tändeleien entgegenkam. So ward der falsche Anakreon Vater einer 
nun auch schon verblaßten modernen Poesie. Heutzutage können die 
Anakreonteen als Schiboleth dienen: wem diese matte Limonade nicht un- 
ausstehlich ist, der soll nicht nach dem hellenischen Weine greifen. 

Neben den Liedchen Anakreons sang der athenische Zecher solche Aik«ioi 
von Alkaios von Lesbos, obwohl sie nicht nur um ihres fremdartigen '"■" '*""' 
Dialektes willen niemals gleichhoch geachtet worden sind. Der Lesbierin 
Sappho Lieder paßten nicht für das Gelage: aber die konnte der Jüngling 
auswendig; daß sie die unvergleiclüiche Dichterin wäre, hat niemand 
bezweifelt, solange ihre Werke bestanden, die erst im 6. Jahrhundert 
n. Chr. verkommen sind. Beide Dichter waren Zeitgenossen Solons. Von 
Alkaios, dem hochmütigen Adligen, der sich gegen die bürgerlichen 
Tyrannen verschwört, vor ihnen fliehen muß, sie beschimpft, sich schließ- 
lich auch einmal verträgt, wissen wir genug, ein Bild der Persönlichkeit zu 
gewinnen. Seine Poesie wirklich zu schätzen, reichen weder die kümmer- 
lichen Reste noch die Nachbildungen hin; auf der des Horaz beruht sein 



26 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Ruhm, der heute größer ist als im Altertum. Ehrlicherweise kann man 
nicht sagen, daß diese Poesie einen bedeutenden Eindruck machte, so gern 
wir die unmittelbaren unverkünstelten Äußerungen seiner Stimmungen und 
Leidenschaften vernehmen würden, und so groß der Gewinn für die Sprach- 
kenntnis wäre, 
sappbo Dagegen Sapphos Kunst ist kenntlich, und man kann nur mit Piaton 

(um ««). jjjg 2ehnte Muse, also ein Überirdisches, in ihr erkennen. Der Wohllaut 
der Verse, die einen sehr viel größeren Formenreichtum zeigen als bei 
Alkaios, die Einfachheit und Treffsicherheit des Ausdruckes, den der 
lesbische Dialekt nicht gar so sehr trübt (Lesbisch klingt nie wie Patois; 
Lakonisch und Böotisch immer), die reiche Skala der Töne, vom burlesken 
Spott auf die großen Füße eines Brautführers und der Schalkhaftigkeit 
eines Backfischchens bis zum Erzittern der seelischen Leidenschaft xmd dem 
verhaltenen Schluchzen der Verlassenheit, von dem Orgiasmus der Adonis- 
klage bis zum stillen Frieden der Mondnacht und der Siestastimmung 
des südlichen Sommermittags — all diese wahrhaft goethische Lyrik hebt 
Sappho über alle ihre männlichen Genossen ; nur Archilochos mag in seiner 
Art gleichgroß gewesen sein. In griechischer Rede gfibt es Vergleichbares 
(außer in Piatons Prosa) nur vereinzelt im hellenistischen Epigramme, und 
in der weiten Welt ist es überhaupt recht spärlich anzutreffen. Aber das 
ist nicht die Hauptsache. Das ist die Frau, die hinter und über diesem 
Blütenduft und -Schimmer ihr reines Haupt erhebt, so hoch und so rein, 
daß die menschliche Gemeinheit nicht müde wird, mit ihrem Schmutze 
danach zu werfen. Wir sind es gewohnt, daß die Menschen verhöhnen, 
was sie nicht verstehen. Sappho, aus vornehmem Hause von Eresos 
(Nachkommen aus ihm haben in Alexanders Heer hohe Stellungen inne-^ 
gehabt), nach Mytilene verheiratet, durch die Revolutionen eine Weile 
vertrieben, hat dann an der Spitze eines weiblichen Vereins gestanden, 
der der weiblichen Göttin Aphrodite diente; aus Milet und von fernen 
Inseln kamen junge Mädchen zu ihr, ihr Handwerk zu lernen, das Musen- 
handwerk. Wenn sie zurückkehrten, traten sie in die Ehe; Sappho erzählt 
von einer, die nach Lydien verheiratet war, also an einen hellenisierten 
Asiaten. Wen der moderne Ton nicht schreckt, mag dsis immer ein 
Mädchenpensionat nennen. In Athen war so etwas unmöglich, in Milet 
wohl auch; schwerlich zum Segen der dortigen Frauenwelt. Die Schülerinnen 
Sapphos haben den Göttinnen Blumen gepflückt, Reigen getanzt, Lieder 
gesungen. Die Meisterin lehrte sie. Sie machte ihnen auch die Lieder 
für ihre eigenen Ehrenfeste, ihre Hochzeit Gelegenheitspoesie ist das, 
und da eine Frau für weibliche Gelegenheiten dichtet, ist der Umkreis 
sehr eng. Es ist schon eine Ausnahme, wenn solche Gelegenheitsdichtung 
zu ewiger Bedeutung durch die Form geadelt wird. Hier tritt etwas 
Höheres hinzu: Sapphos Seele weht durch diese Verse. Zwischen Mann 
und Weib kennt jene Zeit nur fleischliche Liebe; auf diesem Grunde mag 
in der Ehe ein herzliches Vertrauensverhältnis oft genug erblühen, das die 



Ä. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). IV. Lyrische Poesie. 



»7 



Grriechen dann Freundschaft nennen. Dagegen der Zug von Seele zu 
Seele findet sich nur in dem Verkehre zwischen den Angehörigen desselben 
Geschlechtes; oft genug ist er tief und echt auch bei den Männern, obwohl 
da der allgemeinen Sitte gemäß die fleischliche Sinnlichkeit nirgend ganz 
fehlen kann. Hier, wo die „reine Frau mit dem milden Lächeln", wie Alkaios 
sie nennt, die selbstbewußte Dienerin der Göttin, die Lehrerin und Meisterin 
zu ihren Schülerinnen redet, deren Seelen sie selbst erst zum geistigen 
Leben erweckt hat, wo also jeder unlautere Gedanke nicht nur eine 
Blasphemie, sondern eine Dummheit ist, wirkt die Sprache des heißen 
Liebesgefühles fi-eilich wie ein Klang aus einer anderen Welt, aber aus 
keiner irdischen. Ein Mann darf gar nicht wagen, das ganz verstehen 
zu wollen; er verstummt und horcht in Andacht der Offenbarung einer 
Weiblichkeit, die darum göttlich ist, weil sie ganz Natur ist Es ist noch 
keine zweite Sappho gekommen, und wenn sie sich emanzipieren, wird es 
höchstens eine Sappho der Komödie oder eine Grillparzersche werden, 
deren es so schon genug gibt 

Alkaios und Sappho haben für die Griechen selbst allein die äolische 
Literatur repräsentiert, die mit ihnen erlischt. Die Sprache lebt noch eine 
Weile als abwelkender* Dialekt; die zu allen Zeiten zahlreichen literarischen 
Talente der asiatischen Äolis bedienen sich der ionischen, dann der attischen 
Literatursprache; man mokierte sich nur über den Akzent, den selbst 
Theophrast, ein engerer Landsmann Sapphos, zeitlebens nicht los ward. 
Und doch hat die gesamte festländische Lyrik nie verleugnen können, daß 
sie ebenso eine äolische Vorstufe gehabt hat, wie wir das dem Homer 
ansehen. Hier führt eine verläßliche Tradition auf Lesbos, und ein wenig 
kann man von dem historischen Zusammenhange erschließen. 

Während die lonier den Hexameter und damit das rezitative Epos Kithwodie, 
aus dem alten äolischen Liedmafle schufen, hat in Lesbos die Musik die 
Herrschaft behalten und demgemäß sich weit vervollkommnet loniens 
Rhapsodie erhielt die äolische Schwester, die Kitharodie. Da blieb der 
Sänger, der sich selbst begleitete, und natürlich sank mit der Macht der 
Melodie die Bedeutung des Textes. Lesbische Kitharoden zogen hinüber 
neben den ionischen Rhapsoden und unvergessen ist geblieben, daß 
Terpandros von Antissa etwa zur Zeit des Archilochos in Sparta auftrat 
und mit seinen Weisen, strenggeschlossenen mehrteiligen Musikstücken, 
die damals und noch lange musikalisch feinfühligsten Ohren entzückte. 
Er galt als Begründer der klassischen hellenischen Saitenmusik, und diese 
Kunst der Kitharodie blieb durch die ganze attische Zeit die vornehmste 
Gattung des Einzelgesanges. Terpandros hatte als Unterlage homerische, 
also allgemein bekannte Texte gewählt, die natürlich für diesen Zweck 
zurechtgeschnitten und erweitert wurden ; auch dabei blieb es zunächst Wir 
kennen Namen seiner Weisen, wir kennen Musikemamen genug, sowohl von 
Lesbiem, die immer wieder zuzogen, wie von Peloponnesiern. Wir be- 
greifen, daß die Flötenmusik nicht zurückstehen wollte, also auch wirklich 



2K Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Litentw des Altertums. 

kunstmäßiger Einzelgesang zur Flöte aufkam, den namentlich Argos, die 
Rivalin Spartas, aber auch Delphi pflegte: die musikalische Wiedergabe 
der heiligsten Geschichte Delphis, wie der Gott durch die Überwindung 
des Drachens die heilige Stätte in Besitz nahm, war eine Aulodie. Im 
Leben eines Volkes hat ja die Musik niemals eine so große Rolle gespielt 
wie bei den Hellenen dieser Zeit Aber wir hören die Weisen nicht mehr, 
und es ist eitel Spiel, über sie etwas wissen oder gar urteilen zu wollen. 
Ganz und gar unklar ist es, wie das Zusammenwirken von Saiten- und 
Blasinstrumenten aufgekommen ist und beschaffen war, das wir doch bei 
Pindar antreffen; kenntlich ist nur, daß die Führung dann bei der Flöte 
ist. Wir wissen, daß die Musik, wo sie Herrin war, die Poesie zur Magd 
machte; es wird also umgekehrt wohl nicht anders gewesen sein. Die 
Lesbier brachten natürlich, wenn sie ihre Weisen allerorten lehrten, auch 
Texte mit, und an denen müssen sich die Dichter gebildet haben, die n\m 
im Mutterlande aufkamen, denn ihre Gedichte zeigen in vielem äolische 
Versformen, und die Rede ist in gewissen Stücken äolisch abgetönt, 
während andererseits die homerische Sprache Wörter und ganze Phrasen 
lieferte und für den poetischen Ausdruck überhaupt maßgebend blieb. 
Die Unterlage aber ward die von den ganz lokalen Besonderheiten befi-eite 
Sprache, die nun das Mutterland außer Athen und Euboia beherrschte, 
die dorische, wie man sie nannte. Was die Dorer von eigener Poesie 
und Metrik besessen hatten, war darin aufgegangen; wir erkennen nur 
unsichere Spuren. So bildete sich allmählich neben der epischen eine 
lyrische Gemeinsprache, die wieder nirgend gesprochen ward, nur eine 
literarische Existenz führte, aber allgemein verstanden ward- Dies Ziel 
war am Ende des 6. Jahrhunderts erreicht Von den Zwischenstufen ist 
nur eine ein wenig kenntlich. 
Aikmu Die alexandrinische Philologie besaß Gedichte eines spartanischen 

i»or 600?). Lyrikers, Alkman, den sie noch in das 7. Jahrhundert rückte. Man hatte 
seine Lieder auch in Athen gesungen, und dem verdankten sie ihre Er- 
haltung. Aus den Gedichten selbst entnahm man einiges über seine Person 
und die Zwecke seiner Dichtung. Er war von lydischer Herkunft, aber 
ganz hellenisiert, offenbar als Erwachsener in die Sklaverei geraten, 
aus der ihn seine Kunst befreite. Es gab neben ihm in Sparta auch 
lydische Flötenspieler, die, wie meistens, geringer Achtung genossen. Er 
spielte die Laute, sang auch wohl dazu (wir haben ein solches Stück in 
Hexametern) und verfaßte vornehmlich Lieder für weibliche Chöre. Denn 
es gab in Sparta weibliche Genossenschaften, die bestimmte Kulte be- 
sorgten, aber auch sonst mit Gesang und Tanz auftraten. Diese Institution 
muß man auch an anderen Orten voraussetzen (nur an keinen ionischen, also 
auch nicht in Athen), und wir kennen denn auch in Argos, Tanagra, Sikyon 
Dichterinnen, und auch Alkman erwähnt sie aus Sparta; alle haben nur 
lokale Bedeutung besessen. Daß wir wenigstens eine Probe von Alkmans 
Mädchenliedern haben, danken wir dem ersten wichtigen Papyrusfund, der 



A. Hellenische Periode (ca. 7cx)— 480). IV. Lj-rische Poesie. 



29 



schon vor 50 Jahren gemacht ist Die Poesie ist ganz und gar Gelegen- 
heitsdichtung, daher voll persönlichster Anspielungen, die Sprache schwierig 
da sie dialektisch i.st und nicht rein, sondern aus den oben angegebenen 
Ingredienzien gemischt So merkwürdig es ist, so anmutig durch die 
frische Lebenswahrheit, fehlt doch vor allem die Einheitlichkeit und die 
Originalität des Stiles zu sehr, als daß von wirklichem Kunstwert ge- 
sprochen werden dürfte. Der sehr beträchtliche historische Wert liegt 
vor allem in der Form. Wir sehen zum erstenmal eine gfroße metrische 
Komposition, gebaut mit Stollen und Abgesang, wie es die kleineren, aber 
ganz gelungenen Gebilde der Lesbier (z. B. die sogenannte sapphische und 
alkäische Strophe) auch sind. Hier sind die Teile viel umfangreicher: wir 
sind bereits auf dem halben Wege zu den zwei Strophen und der Epode, 
die wir bei Pindar antreffen. Die einzelnen Glieder der Strophe sind noch 
viel einfacher, aber die Mischung von Daktylen und Trochäen zeigt sich 
doch bereits, die eben wieder für Pindar charakteristisch wird. Da die 
Lakedaimonier zwar zu .singen und zu hören, aber nicht zu dichten ver- 
.standen, hat keiner der Ausländer bei ihnen einen Nachwuchs erzeug?. 
Damit ist ihre eigene Kultur gerichtet 

Man mag sich hiernach wohl ein Bild machen, wie sich die chorische choriKheLyrüT 
Lyrik entwickelt hat: es ist und bleibt schemenhaft und hypothetisch. Da- 
gegen was sie um 500 war, läßt sich einigermaßen vorstellen. Es ist 
Sitte, zu den Götterfesten, ordentlichen und außerordentlichen, zu den 
Feierlichkeiten, die das Leben in jede vornehme Familie bringt, nament- 
lich Siegesfesten aller Art, aber auch so oft sich sonst eine Gelegenheit 
bietet, Chöre zu stellen, die Reigen schreiten und dazu Lieder singen, im 
Kulte wohl oft; ältere, aber am liebsten neue, sonst für die Gelegenheit 
verfaßte. Von Sängern und Tänzern gab es mancherorten, z. B. in Athen, 
Gilden. In diese Kategorie gehören auch die Jungfrauenchöre, deren eben 
Erwähnung geschah; sie waren für viele Kulte obligatorisch, traten aber 
auch sonst auf Daneben war die musische Bildung der Jugend vieler- 
orten stark genug, um die Aufgaben der Tänzer und Sänger zu erfüllen: 
so tat es z. B. der junge Adel Aiginas. Die Dichter und Komponisten 
dagegen sind Männer, die das Handwerk, das sehr hoch im Werte steht, 
gelernt haben und gegen Bezahlung, Ehrensold, Geschenke, wie man es 
nennen will, au.szuüben pflegen. Neben den berühmten Namen hat es 
natürlich Lokaldichter ziemlich allerorten gegeben, deren Ruhm nicht 
über die Nachbarschaft reichte, deren Werke nicht über den Tag lebten, 
wie es heute mit den Polterabendgedichten geht Die Ausbildung des 
Chores leitete der Dichter, wenn er zugegen war. Aber es kam nicht 
selten vor, daß er das Lied aus der Feme schickte, also ein anderer Chor- 
meister eintreten mußte. Dann lag also eine Niederschrift des Textes und 
der Noten vor; die Notenschrift war bereits aus der Buchstabenschrift 
abgeleitet; sie bezeichnet die Tonhöhe sehr genau; die Dauer zu be- 
zeichnen war nicht nötig, so lange die quantitierende Poesie auch die 



30 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur. des Altertums. 

Musik beherrschte. Die Gedichte waren alle Gelegenheitsgedichte; im 
Killte wiederholte sich indessen oft die Gelegenheit zu ihrer Auffuhrung, 
und das Publikum war interessiert genug an der Dichtung und der 
Musik, die Lieder durch die Wiederholung zu erhalten und zu ver- 
breiten, wenn sie gefallen hatten. Offenbar konnte die musikalische Kom- 
position ohne weiteres auch von einem einzelnen Sänger vorgetragen 
werden, und der große Apparat der Begleitung war nicht unbedingt 
nötig. Die metrische Form ist eine Fortentwickelung dessen, was bei 
Alkman und den Lesbiem einerseits, den loniem anderseits vorlag, höchst 
kunstvoll, bis zur Unübersichtlichkeit: die Tragödie erreicht eben dadurch 
Höheres, daß sie vereinfacht Das Konventionelle der Sprache geht sehr 
weit; wenn schon der Epiker einen reichen Apparat klangvoller Beiwörter, 
Umschreibungen, Übergangsformen zur Verfügung hat, so ist der Lyriker 
noch viel besser gestellt; er hat mit seiner Technik gelernt, den Ausdruck 
für die sehr häufig wiederkehrenden Gedanken und Begriffe zu variieren 
und zu schmücken. Das klingt nicht nur voll, sondern neu, während es 
doch nur die Übung des Handwerks ist, das nun einmal bei den Hellenen vor- 
züglich geübt zu werden pflegt Es ist des Individuellen in der Sprache 
vermutlich noch viel weniger, als es uns bei unserem geringen Material 
erscheinen muß. Kaum anders steht es mit dem Inhalte. Die Anlässe der 
Gedichte mußten einen Kreis von Gedanken und Stimmungen immer wieder 
hervorrufen, die dann der Dichter nur sinnreich und klangvoll variierte. 
Aber es geht weiter. Wenn die Anschauung des Standes, dem diese Poesie 
angehörte, die des Adels war, der damals in Hellas dominierte, so lag 
darin, daß die Taten der Vorfiihren des einzelnen oder der Stadt tmd 
Landschaft, für die das Gedicht bestimmt war, oder die Legenden 
des Heilig^tiuns, in dem es gesungen werden sollte, Erwähnung heischten. 
Man war eben gewohnt, die Gegenwart in die heroische Vergangenheit 
zu projizieren. Damit kam ein Stück Erzählung in die Tanzlyrik, wenn 
auch die Geschichten bekannt waren, also Andeutungen genügten. Er- 
zählung war aber auch das Epos, das den Grund aller poetischen Dar- 
stellung bildete. So tritt in diese Dichtung das erzählende Element als 
etwas kaum Entbehrliches, und das Publikum freut sich an ihm, ohne viel 
zu fragen, wie notwendig für diese Gelegenheit die Erzählung ist; noch 
viel weniger begehrt es (wie die lonier) neuen Erzählungsstoff. Daraus 
ergabt sich als ein wichtiges Ingfrediens die dvu-ch den Vortrag beim 
Reigen modifizierte epische Erzählung; daß Homer die Grrundlage des 
Stiles ist, zeigft sich namentlich in der Bewahrung der direkt eingeführten 
Reden. Unvermeidlich bildeten sich dann bestimmte Formeln der Über- 
gänge von der konkreten Veranlassung des Gedichtes zu der Erzählung 
und umgekehrt, oft mit einem allgemeinen Satze, und auch da ward die 
Variation das Hauptstück der Kirnst; der Gedanke ist selbst bei Pindar 
nicht selten ganz flach. Oft genügt bei den bekannten Stoffen eine An- 
spielung mit Hervorhebung einzelner Züge, ein Einzelbild statt der Er- 



A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). IV. LjTische Poesie. 



31 



Zählung. Es ist zuweilen, als stünde diese Lyrik zur Heldensage wie die 
Epik zur Natur: die Herakles und Achilleus sind hier, was die Löwen und 
Stürme bei Homer sind. Das schöne Naturbild ist dagegen fast ganz ver- 
schwunden; wie denn alles den Stempel einer engen ständischen Kultur 
trägt. Die höfische Kunst des Mittelalters vergleicht man nicht ohne Grund; 
die hesiodische Katalogpoesie gehört ganz dazu, stammt ja auch aus der- 
selben Gesellschaft und in der Masse auch derselben Zeit. Von Bakchy- 
lides besitzen wir auch schon Gedichte, die ohne jede Andeutung einer 
bestimmten Gelegenheit nichts als erzählen, im Anschluß an zum Teil noch 
nachweisbare epische Vorlagen, also erzählende Gedichte, vorgetragen 
von einem tanzenden Chore, nur hierdurch lyrisch, da man sonst nach 
unserer Terminologie episch sagen müßte, so daß der Name Balladen 
passend ist, passender als der antike, Dithyramben, der aus viel späterer 
Sitte stammt. Es scheint, daß diese Gattung in Westhellas aufgekommen 
ist Dorthin war nämlich das Epos überhaupt nicht gedrungen, wohl aber 
sang man im 5. Jahrhundert in Athen erzählende umfangreiche Gedichte, 
nannte ihren Verfasser Stesichoros und hielt ihn für einen großen Dichter. siMichoro« ' 
Die Person lag ganz im Nebel der Sage; bald machte man ihn zu einem '"" '*°'*' 
Sohne des Hesiodos, rückte ihn also in unbestimmte Vorzeit, bald betrachtete 
man ihn als einen Bürger von Himera, einer ionischen Stadt, und ver- 
setzte ihn in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts, was die Gelehrten 
akzeptiert haben; bald meinte man, er wäre ein italischer Lokrer gewesen, 
aus der Zeit der Perserkriege; damals hat Lokri wirklich eine berufene 
Musikerschule gehabt. Ein Urteil über die Poesie, die eben des persön- 
lichen Elementes entbehrte, haben wir nach keiner Richtung. 

Ein Teil dieser Gedichte ging auch auf den Namen des Ibykos von ibykof 
Rhegion, auch einer ionischen Stadt, der dadurch historisch festgelegt ist, ^"^ '^"'' 
daß er mit Anakreon am Hofe derselben Tyrannen auftrat und auch 
Knabenlieder verfaßte. Auch er und seine Poesie liegen ganz im Nebel. 
Gerade weil so unendlich viel von der griechischen L>Tik geredet worden 
ist, muß scharf betont werden, wie wenig wir haben und wissen. 

Die Dichter, deren Werke wir lesen, sind die spätesten, tätig, als 
diese chorische Lyrik, der einzige vollkommene Ausdruck des hellenischen 
Rittertums, vor der Sonne der athenischen demokratischen Poesie bereits 
verblich. Sie gehören zeitlich erst in die folgende Periode und dürfen 
aus ihr nicht herausgerissen werden, aber nur als Personen. Die Gattung, 
die mit ihnen zugleich ihren Gipfel und ihr Ende erreicht, ist ein Erzeugnis 
früherer Zeit, ein höchst eigentümliches Gebilde der Poesie, das so wenig 
erneuert werden konnte wie die Gesellschaft, deren Ausdruck es war. 
Horaz hat sich auch dadurch als der treifsichere Kunstrichter erwiesen, 
daß er das Pindarisieren mit Ernst und Spott abgelehnt hat. Die es in 
modernen Zeiten probiert haben, sind denn auch kläglich gescheitert 
Ronsard hatte wenigstens den Pindar gelesen; Klopstocks Griechisch und 
das ziemlich aller Deutschen seiner Zeit langte höchstens dazu, mühselig 



32 Ulrich von Wilmhowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

an der Hand der lateinischen Übersetzung ein Gedicht zu buchstabieren. 
Als Goethe den Versuch machte, sich durch eigene Nachdichtung diesen 
fremdartigen Stil klar zu machen, geriet er mit sicherem Instinkte auf 
das einzige Gedicht der Sammlung, das nicht von Pindar ist, mit leichter 
fließenden Versen und ohne individuelle Gedanken. Dann hat er mit 
Recht liegen lassen, was er nicht verstand. Die meisten taten so als 
fänden sie, was Horaz in Pindar gefunden hatte, erklärten das ihnen Un- 
verständliche für die Entzückimgen einer wolkenstürmenden Begeisterung, 
verkannten also ganz den konventionellen, verstandesmäßig geübten Stil, 
und so ist die moderne „Ode" von allen Wechselbälgen des Klassizismus 
das Ungriechischste. 

V. Ionische Prosa. lonien ist an dieser ganzen Poesie imbeteiligt; 
es fehlt ihm der Adel und sein Sport und seine disziplinierten Männer- und 
Jungfrauenchöre; es fehlt aber auch die ganze Sinnesart lonien ist über 
diese Phase der Entwickelung längst hinaus: seine Ritterzeit lag vor Homer. 
Gerade als sie ihre Freiheit an Lyder und Perser eingebüßt haben, ist der 
Einfluß der lonier auf die Asiaten am stärksten: Dareios hat einen griechi- 
schen Leibarzt, und die Bauten von Persepolis und Susa zeigen, daß die 
Kunst bereits ostwärts flutet Aber auch lonien erfuhr Befruchtung durch 
die ältere Kultur, und jetzt noch wertvollere, als sie etwa die Malerei und 
andere Dekoration zeigt Und wieder, wie einst, da Kadmos von Milet die 
phönikischen Zeichen zu der vollkommensten Buchstabenschrift aus- 
gestaltete, bewährt sich die Überlegenheit des ionischen Geistes. Milet 
lernte von der Astronomie der Babylonier, wohl auch von der Rechenkunst 
derselben und der der Ägypter, und mit Thaies erfolg^te die entscheidende 
Wendung des Hellenentums zur Wissenschaft Für sie genügte die Aus- 
drucksfahigkeit der poetischen Form nicht Zwar hat man versucht, wie 
weit man mit dem Epos käme, und namenüich die Himmelsbeschreibung 
und die praktische Astronomie, für Schiffahrt und Landbau, hat zu mehreren 
Gedichten geführt, die sich zum Teil in M3rthologie verliefen, immer noch 
anmutige und geschichtlich wirksame: daß der Himmel in seinen Bildern 
griechisch geblieben ist, stammt am Ende daher, daß diese lonier ihn ein- 
geteilt haben. Auch das philosophische Epos Westgriechenlands stammt 
von hier, da der Kolophonier Xenophanes es dorthin bringt; er flieht wie 
Anakreon vor den Persem, aber seine Wirksamkeit reicht in die nächste 
Periode. Die wahrhaft entscheidenden Männer erkannten, daß dieser Weg 
falsch war. Wissenschaft braucht die „kahle" Rede, die uns nicht „auf 
den Flügeln des Gesanges" erhebt, sondern „zu Fuße geht", wie die 
Griechen es ausdrücken. So schuf lonien die Prosa. 
Anasimmadro« Anaximaudros konstruiert ein Modell des Universums, was man später 

(um SSO). gj„g „Sphaera" nannte, als die Kugelgestalt des Hinunels und der Erde 
anerkannt war, und schreibt dazu den Xötoc, den Sinn erklärend. Hekataios 
von Milet zeigt die Lage der Länder, Meere und Flüsse, indem er sie auf 



A, HcUenischc Periode i'ca. 700—480). V. Ionische Prosa. 



»3 



(am 500). 



eine Metallscheibe einzeichnet, und schreibt dazu den Xötoc, seine Geo- 
graphie. Wir können die ungeheure Leistung des ersten selbst nach der 
Seite des Gedankens nur unvollkommen schätzen. Bei Hekataios sehen 
wir noch die unermeßliche Fülle von Einzelbeobachtungen, die sich auch 
auf der fremden Völker Sitten und der fernen Länder Erzeugnisse er- 
strecken. Aber literarisch haben wir von diesen Büchern keine Vor- 
stellung. 

Ionische Inschriften zeigen uns Prosasätze, wo das Mutterland Verse Herakwioi 
macht; da begreifen wir, daß Herakleitos von Ephesos seine Weisheit 
(•fvu)^^. wie man damals sagt) in prosaischen Sprüchen niederlegt; zwei 
Menschenalter vorher hatte Phokylides von Milet noch Verse gewählt. 
Nicht nur weil der Denker noch nicht gelenkig genug ist, um eine Schluß- 
reihe vorzuführen, wählt er diese Form, die wir gnomisch nennen, ge- 
schweige daß er beim Aphorismus bliebe, weil er nur Späne zu liefern 
imstande wäre, nicht aus ganzem Holze zu schnitzen: es ist durchaus 
künstlerisches Wollen dabei, überraschend viel sogar; er weiß nichts von 
Rhetorik und FigTiren, imd er wirkt mit beidem. Die Sprache und der 
Klang gewinnen sogar Gewalt über ihn, so daß sie den Sprung der Ge- 
danken dirigieren. Subjektiv und individuell, ganz wie bei Archilochos, 
erzeugt er sich einen Stil sofort in unübertrefflicher Vollkommenheit: aber 
diese Prosa ist nicht wie der lambus befähigt, eine Gattung zu werden. 
Nur die Keime zu den Hauptmitteln der griechischen Kunstprosa sind 
schon hier vorhanden: es ist noch ein wichtiger Schritt bis zu Gorgias, 
aber nur ein Schritt. 

Hekataios hat auch ein Buch geschrieben, das Erzählung gab, aber 
der Vater der Geschichte ist er damit noch nicht geworden. Nichts führt 
darauf, daß der milesische Staatsmann die Ereignisse seiner Zeit oder die 
Chronik seiner Stadt geschrieben hätte, wie immer wieder behauptet wird. 
Die Chroniken der ionischen und äolischen Städte, die allerdings auf alten 
Aufzeichnungen beruhen, sind erst viel später literarisch geworden, die 
Milets noch unter dem mythischen Namen Kadmos. Was Hekataios 
schrieb, war die Geschichte der Heroenzeit, mag er auch seinen eigenen 
Stammbaum mitgeteilt haben, also die Genealogfieen der alten Geschlechter 
weit herab verfolgt, und er schrieb mit der ausgesprochenen Tendenz, die 
poetische Geschichte räsonnabel zu machen, den Sauerteig der Wunder 
auszufegen und nur zu geben, was passiert sein konnte. Dabei verzichtete 
er durchaus nicht auf die Ausdrucksformen des Epos, direkte Rede ein- 
geschlossen. Nur die Tendenz ist an diesem Genealogieenbuche etwas Be- 
sonderes; sonst hat es viele seinesgleichen gegeben, und es lehrt, daß wir 
die Umsetzimg der Epen in erzählende Prosa bis in das 6. Jahrhundert 
hinauf datieren müssen. Das war etwas für die Zukunft ungemein Wichtiges, 
so natürlich der Prozeß auch erscheinen mag. Diese Umsetzung hat sich 
auf Homer imd Hesiod im weitesten Sinne erstreckt, und wo das stoff- 
liche Interesse überwog, die Verse bald verdrängt 

Di« Kultur uch U«o«iwart. I. 8. 3 



Hekseiloi 
(um 500) 






34 Ulrich von Wilamowitz-Moexx£NDORFf: Die griechische Literatur des Altertums. 

pharekydet. Sehr viele solcher Bücher sind später auf den Namen Pherekydes 

gegangen, und man hat schon im Altertum versucht, gleichnamige Ver- 
fasser zu unterscheiden. Da sollte dsis adlerälteste Buch eine Götter- 
geschichte sein, die in eben dem Sinne kosmogonische Spekulation enthielt 
wie die hesiodische Theogonie, aber eben darum nicht mehr als diese in 
die Geschichte der Philosophie gehört Seit sich ein Fetzen des Buches 
gefunden hat (die Archaisten der Kaiserzeit hatten es voi^eholt), liegt 
auf der Hand, daß es Mjrthologie im antiken Sinne ist, Märchenerzählung, 
imd sich qualitativ von den vielen ionischen Erzählungen der Heldensage 
gar nicht unterscheidet, die wir bei den Grammatikern lesen, meist bis 
auf das Gerippe epitomiert, aber zuweilen auch mit den naiven Reizen 
ionischen Plaudems. Jene Kosmogonie sollte ein Syrier Pherekydes ver- 
faßt haben, die vielen Bücher Heldensage ein Athener Pherekydes, ein 
Buch über die armselige Insel Leros ein Lerier Pherekydes: damit dürfte 
die Person und der Name auf den Wert des Homer imd Hippokrates 
reduziert sein. An den Verfassern solcher Bücher liegt selbst dann nichts, 
wenn sie gesichert und datiert sind (wie wir einen Milesier Anaximenes 
noch aus dem Ende des 5. Jahrhunderts kennen), geschweige, wenn ein so 
berühmter Name wie Simonides vorgeschoben wird, aus dem man wieder 
einen obskuren Namensvetter des Keers macht Aber diese Literatur, 
die nicht auf der Höhe steht, aber um so mehr in die Breite geht, ist 
ungemein bedeutsam. Es liegft an der Überlieferung und der griechischen 
Betrachtungsweise, daß die Literaturgeschichte des Altertumes auf derartiges 
zu wenig Rücksicht nimmt Und doch kann man füglich nicht bezweifeln, 
daß in solchen imscheinbaren Büchern z. B. die Tragiker ihre Stoffe zu 
suchen nicht verschmäht haben. 
Novelle. In dieselbe Klasse gehört die Tierfabel, an der sich schon damals 

die Schulkinder ergötzten (geknüpft an den Namen Aisopos, der so viel 
und so wenig Realität hat wie Homer und Pherekydes), gehören die Novellen 
vom Leben des Homer und vom Tode des Hesiod, gehört stofflich sehr 
viel von dem, wjis wir bei Herodot oder in den Politien des Aristoteles lesen. 
Das Epos war das Gefäß für den gesamten Unterhaltungsstoff der früheren 
Jahrhunderte gewesen; es gab noch keine andere Gestaltung der Tradition: 
jetzt war lonien, aber eben nur lonien, so weit, in Prosa erzählen zu können: 
so wird der alte Stoff in der neuen Form erzählt, durch die ausgebreitete 
Weltkenntnis imd den Austausch mit fremden Völkern imgemein bereichert 
Wir nennen das nicht mehr Sage, gar Heldensage, sondern Geschichte, 
Novelle, Roman, Legende, was beliebt Der Name sei gleichg^tig, wenn 
man nur begriffen hat, daß jede Zeit einen solchen Schatz besitzt, von 
dem sie verliert, den sie vermehrt Lebt er auch mündlich, gelangt er 
auch nur hie und da einmal zu künstlerischer Festigung, so liefert er doch 
das Kurant der Bildung, das von Hand zu Hand geht Wir haben keine 
Vorstellimg von den Erzählern, die man voraussetzen muß, da die Menschen 
doch nicht lasen; sie schließen aber Bücher keineswegs aus, im Gegen- 



B. Anscke F^iiade '4S0 — 3aD> L Dir liwiw arfolafc Alkeas. jj 

teil, ohne die würden sie so wcoig^ bestriten, vie in der sophistisdiai 
Zeit in Athen die möndfidica Vorträge ohne die Literatur bestanden 
haben. Der Obergang Tom Epos zar Historie and znm Romane, der erste 
Schritt auf dem Wege, der ▼on Homer m Diktys, m Psendo-Kalfistbenes, m 

Syntipas führt, ist von den loniem des 6. Jahrhonderts bereits getan. Für 
die Weltliteratur ist das wichtiger als alle neun oder xehn Lyriker. 



B. Attische Periode (480 — 32o)l 
Die Wettmo oarch ie der Perser hatte lonien, den HeDespont, die Inseln 
bereits in Besitz; es sdiien nur eine Frage kurzer Zeit, daß ihr Hellas erl^^ 
Aber beim ersten Zusammenstofie blieb die Demokratie Athens, die sich 
nnder die Mißgunst der Nachbarn eben konsoUdieit hatte, siegreich, und als 
das Hellenenland unter Spartas Führung die Invasion des Xerxes zurück- 
geschlagen hatte, war es Athen, das die Befreiung loniens durchführte und 
bald zu der Gründung einer Herrschaft über das Ägäische Meer fortschritt. 
Das gesteigerte hellenische Xationalgefuhl führte zu scharfiem Gegensatze 
gegen das Ausland, das sich nun auch entschieden abschloß; die siegreiche 
athenische Demokratie, die ihrer inneren Freiheit die Abwehr der äußeren 
Knechtschjift dankte, hielt sich für unüberwindlich und begaim zunächst 
Hellas unter ihrer Herrschaft einen zu wollen. Das endete mit dem Sturze 
Athens; aber in demselben Momente, wo die Hellenen Asiens den Persern 
wieder ausgeliefert wurden und Sparta über Athen triumphierte, war die 
geistige Einigung Griechenlands eine vollendete Tatsache: attische Sprache 
und Literatur war zugleich panhellenisch. Das 4. Jahrhundert, politisch 
nur eine Zeit der Zersetzung, diente dazu, die außerattischen, etwa noch 
überlebenden Kulturkräfte zu resorbieren und der attischen Kultur ihre 
lokale und politische Farbe zu nehmen, so daß Alexander dieser neuen 
panhellenischen Kultur die Welt erobern konnte. In dieser Periode sterben 
also alle außerattischen Gattungen der Literatur völlig ab; Athen erzeugt 
die neuen und vollkommensten Fonnen der Poesie und erzeugt die Formen 
der Kunstprosa, die hinfort für die absolut vollkommenen gelten. loniens 
ältere und reichere Kidtur allein geht nicht ganz in sie auf, soifdem tritt 
nur eine Weile zurück, zumal da Asien im 4. Jahrhundert wieder persisch 
ist; nach Alexander wird sie von neuem die Führung übernehmen, aber 
freilich in der attischen Literatursprache. 



I. Die Literatur außerhalb Athens. Betrachten wir zuerst, was simonW». 
außerhalb Athens noch lebt. Da ist das Vornehmste die chorische Lyrik. t"'~4«»i 
Aus dem 6. Jahrhundert bis über die Perserkriege reicht die Tätigkeit 
des Simonides von Keos (556 — 468, die Jahre sind ausnahmsweise sicher), 
neben dem sein NefiFe Bakchylides steht (tätig etwa von 4go — 450), also 
lonier aus dem euböischen Kulturkreise, der ganz zu den Tendenzen des 
festländischen Adels steht, darum auch zuerst von Athens Demokratie 

3* 



36 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

tinterworfen wird. Simonides ist als Person wohl zu fassen; der fahrende 
Dichter, der kaum anders zu den Königen, Tyrannen, Junkern und Demo- 
kratieen steht als später die Sophisten, als Stimmführer der öffentlichen 
Meinung von allen umworben und seiner joumaUstischen Macht sich voll 
bewußt, ein klangvolles Echo fremder Ansprüche und Stimmimgen, durch 
seine persönliche Kunst dennoch der Würde nicht entbehrend, sehr welt- 
läufig, witzig, des eigenen Vorteils niemals vergessend. Wie seine eigene 
Häßlichkeit in Kontrast zu der wohlgepfleg^en Schönheit der Junker steht, 
die er besingt, bleibt der lonier unter den Dorem ein Fremder; im stillen 
wird er sich als etwas Besseres vorgekommen sein. Aber seine Dichterkunst 
können wir nicht mehr schätzen. Daß man ein Gedicht liest, in dem mit 
spitzer Dialektik ein moralischer Satz hin und her gewandt wird, an den 
ein Protagoras ansetzen kann, daneben ein Bruchstück, in dem mit höchst 
künstlichen Versen ein ganz unvergleichliches Stimmungsbild der Danae 
im Kasten entworfen wird, so zart tmd weiblich, so weich und ionisch, 
wie es selbst einem Athener kaum gelungen ist, reicht wohl dazu, den 
poetischen Gegensatz zu Pindar ebensogp'oß zu empfinden, wie er in den 
Persönlichkeiten ist, aber wie dürfte man das eine oder das andere 
generalisieren. Nur so viel zeigt sich: in Simonides ist uns ein wirklicher 
Dichter verloren. Die Epigramme auf die Persersiege, die seinen Namen 
bei den Modernen tragen, gehen ihn gar nichts an; gerade ihre Schlicht- 
heit kontrastiert mit allem, was authentisch von ihm ist Das 6. Jahr- 
hundert, in dem er seinen Stil gebildet hat, freut sich an btmtem 
Schmucke; das 5. sucht in seinem Krafigefühle schlichte Männlichkeit 
Die Mode, wie man sich kleidet und Haar und Bart trägst, ist dafür 
äußerst bezeichnend. 
Bakchjiide. Der Neffc, den uns ein freundliches Geschick vor wenig Jahren zurück- 

(t nach 450). gegeben hat, ist keine Persönlichkeit; es hält auch schwer, in seiner 
Technik zu erfassen, was ihm eigentümlich ist Das Dichten wird ihm 
leicht, eine rasche Improvisation ergibt anmutige Verse und Gedanken; 
aber sie tragen nichts von jenem Stempel, der dem Momentanen die 
Ewigkeit verleiht Und in den Künsten seiner Erzählung und Stilisierung 
merkt man oft die Manier, das Malen mit fertigen Farben, wo denn die 
leere „Schönheit" nicht fehlt Der Versuch, tief zu werden, mißlingt regel- 
mäßig. Aber die Nacherzählung epischer Geschichten verleugnet den 
lonier nicht; das geht nicht nur flott und mit geschickter Einführung 
direkter Reden, sondern es ergeben sich bunte, bewegte Bilder. Wenn 
gute Verse und hübsche Gedichte einen Dichter machten, so stünde 
Bakchylides gro& da: so fällt der Schatten des Pindaros imd Aischylos 
auf ihn, die seine Zeitgenossen waren. Solche Talente genügen ihrer 
Zeit, aber den Besten ihrer Zeit tun sie nicht genug. An Bakchylides ist 
das Wertvollste, daß er ims zeigt, was Pindar konnte und nicht konnte. 
Pindaros Pindaros von Theben, geboren, als Athen noch weit tmter seiner 

(t nach 446). Heimat rangierte, Sohn eines altadligen Hauses, also diu-ch die Geburt 



B. Attische Periode (480—330). I. Die Literatur außerhalb Athens. 



37 



bestimmt, Turnsiege zu erringen, nicht zu besingen, ward gleichwohl nach 
Athen geschickt, die Musik zu lernen, muß also wohl durch besondere 
Begabung diesen auffallenden Schritt erzwungen haben. In den Kreisen 
seiner Standesgenossen tritt er schon ganz früh auf, begründet aber auch 
schon früh sein besonderes Verhältnis zu dem delphischen Apollon. Gottes- 
dienstliche Lieder haben die Masse seines Nachlasses gebildet. Die Zeit 
der Krisis, da seine Stadt auf seiten der Perser ficht und fast der Ver- 
nichtung anheimfallt, was er aus der Feme mit ansieht, macht ihn zum 
Manne. Es gelingt ihm, sich der Hellenensiege zu freuen, ohne der Heimat 
die Treue zu brechen. Er sieht dann auch den Westen, kehrt heim und 
lebt noch 30 Jahre als eine Macht des Geistes, ein Stern von eigenem 
Lichte. Er darf persönlich zu Tyrannen und Demokratieen Stellung nehmen; 
er sendet seine Lieder nach Akragas und Rhodos, Makedonien und Kyrene. 
Er verachtet die gewerbsmäßige Lyrik des Siraonides und fiihrt aus 
Eigenem einen Chor auf, die schrecklichen Vorzeichen einer Sonnenfinster- 
nis zu bannen. Hätte ihm ein lonier gesagt, das ginge ganz natürlich zu 
und die Sonne wäre ein Ball von geschmolzenem Metall, so würde er 
das für töricht und gottlos gehalten haben. Als er stirbt, ist seine Kirnst 
tot. Nachfolger findet er nicht, aber ein Klassiker der Nation war er 
längst und ist er geblieben, obwohl seine ganze Sinnesart der helle- 
nistischen Zeit kaum weniger fremdartig sein mußte als uns. Pindar war ein 
Böoter; der Ausdruck in der konventionellen Sprache ward ihm schwer; 
die Rede zu gliedern, die Gedankenverbindungen durch die reichen 
Partikeln der griechischen Sprache klar zu machen, gelang ihm nicht 
Die konventionellen Umschreibungen hängen oft ziemlich schlotterig. 
Auch seine Verse erreichen kaum je den schmeichelnden Wohlklang des 
Bakchylides; für manche sonst allgemein anerkannte Wohllautsregeln 
scheint er gar kein Ohr gehabt zu haben. Das Erzählen ist seine starke 
Seite nicht; die direkten Reden charakteristisch abzutönen, hat er wohl 
gar nicht angestrebt Seine Rede ist fast immer feierlich und fremdartig, 
was nicht verhindert, daß sich stockprosaische Aufzählungen bei ihm 
finden und arge Trivialitäten. Und doch ist er einer der wahrhaft Großen, 
wenn anders eine große Seele und das höchste Streben auch eines Dichters 
Größe bedingt: Dichter war er, weil er nur so zu seinem Volke und zu 
der Menschheit reden konnte. Er hat immer etwas zu sagen, mehr als er 
sagt, und jedes Ereignis sieht er von der Warte des apollinischen Pro- 
pheten: jeder Glückwunsch wird ihm zu dem delphischen Gruße „Mensch, 
erkenne, was du bist"; jeder Erfolg schließt die Mahnung an die Ritter- 
ptlichten in sich; er erzählt keine Geschichte, sie diene denn dazu, des 
Himmels Macht und Gnade zu offenbaren. Auch seine weltlichen Lieder 
sind die eines geistlichen Dichters. Und er hat keine Furcht gekannt vor 
irgend etwas, was irdisch ist; darum konnte er Gott fürchten. Es ist eine 
arge Verkennung, wenn man an die adlige Gesinnung der Turner oder 
Tyrannen glaubt, weil er sie besing^: aber sein Glaube adelt noch heute 




38 UuucH VON WnjiMOWiTZ-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 



WuthelUs. 



Cenopfaanes 
1- nach 480). 



Parmenides 
t nach 460). 



die mit Recht versinkende Welt, in der er ein Ideal von Religion und 
Politik, Herrenpflicht und Dichterpflicht aufrechthalten wollte, das deshalb 
nicht niedrig ist, weil wir es nicht teilen und in Aischylos und seinem 
Athen etwas Höheres kennen. Für uns ist Dantes politisches tmd religiöses 
Ideal auch etwas Fremdes, Überwimdenes, und ntu- durch die ICraft histo- 
rischer Phantasie vermögen wir in seiner Welt zu atmen. Gewiß ist der 
Thebaner als dichterische Potenz nicht wert, dem Florentiner die Schuh- 
riemen zu lösen: aber ist es nicht schon ein Großes, daß man immer 
wieder an Dante denkt, wenn man Pindar charakterisieren will? 

Neben und nach Pindar stellen Nordgriechenland imd der Peloponnes 
keinen Mann mehr, der für das geistige Leben des Volkes von Belang 
wird, es wären denn einzelne, die ganz in die athenische Kultur auf- 
gingen. Die Feinde Athens, Sparta und Korinth, scheiden ebenso aus, wie 
das demokratische Argos, und wenn Epaminondas auf zwanzig Jahre Theben 
zu politischer Macht bringen kann: geistiges Leben hat auch er nicht 
erwecken können. Wohl aber hat es ein Sonderleben in Westhellas ge- 
geben, das erst von den Römern zertreten ist; das ist viel bedeutender 
gewesen, als seine Dokumente ahnen lassen. Hätten wir das Zivilgesetz- 
buch des Charondas von Katana, das auch im Osten weithin rezipiert 
ward, so würden wir über die Grrundlage sowohl des hellenistischen wie 
des römischen Rechtes vermutlich recht anders urteilen. Die ionischen 
Kolonieen waren die eigentlich produktiven, und wenn die achäischen mit- 
tun, so sind sie gerade nachweislich von Asien beeinflußt 

Der flüchtige Xenophanes von Kolophon war Rhapsode geworden (S. 32); 
im Westen, wo diese Kunst neu war, hat er sich mit ihr sein Brot verdient. 
Wie in diesem merkwürdigen Kopfe als strenger Rationalismus der einzige 
wirkliche Monotheismus erwachsen ist, der je auf Erden existiert hat, wie 
die moralischen Bedenken den Rezitator Homers zu dem heftigsten Gegner 
der homerischen Mythologfie werden ließen, danach fragen wir hier nicht 
Beidem lieh er Ausdruck in den Formen des Epos, das er vortrug, und 
hat so seine eigene Propaganda gemacht Seine Sillen, Spottgedichte in 
der Form des Margites, sein Lehrgedicht, seine Elegieen sind frisch imd 
leicht verständlich in den alten Formen gehalten; aber nur die Gedanken 
haben unverwüstlich weitergewirkt, die Gedichte selbst drangen nicht in 
weite Kreise. 

Parmenides von Velia, der ihm auf der Bahn des Lehrgedichtes wie 
in der Philosophie folgt, vermag dagegen nicht mehr für seine tiefen Ge- 
danken in der Poesie adäquaten Ausdruck zu finden: seine Verse werden 
so hart und hölzern, wie es wenige auf Grriechisch gibt; der Versuch, die 
strengen Fäden der begrifflichen Spekulation mit poetischem Schmucke 
zusammenzuwirken, ist mißlungen. Der Erhabenheit des Denkers, der 
Probleme stellt, an deren Lösung die Menschheit verzweifeln muß, hat die 
Ehrfurcht der Größesten gehuldigt: das Gedicht ist außer Fachkreisen 
nie gelesen. 



B. Attische Periode (480—320). 1. Die Literatur außerhalb Athens. 



39 



Sein Schüler Zenon geht folgerichtig zur ganz scharf dialektischen 
Prosa über, die in den geringen Resten attisch ist, also modernisiert: den 
Stil beurteilt man am besten nach der platonischen Nachbildung im Parme- 
nides: es ist gar kein Stil mehr, sondern dem mathematischen Beweise 
möglichst angeähnelt. Formeln würden ihm noch lieber gewesen sein als 
Wörter. Daran sieht man, daß diese Schriftstellerei nicht von künst- 
lerischen Rücksichten erzeugt ist, sondern von der Wissenschaft, und nicht 
im Leben, sondern in der Schule. 

Im Anschlüsse an Parmeaides ist um 450 Empedokles von Akragas 
dazu gelangt, ein philosophisches Lehrgedicht zu schreiben. Er war 
politisch tätig gewesen und wandte doch nicht die künstlerische Prosa an; 
er war Arzt und schrieb nicht die wissenschaftliche: immer noch erschien 
die epische Form zur Wirkung in die Weite am geeignetsten. Und die 
formale Kunst hat auch erreicht, daß seine Philosophie, obwohl sie wenig 
original und tief war, zu einer dauernden Macht gelangte und das Gedicht 
selbst bis in späte Zeit Leser fand. Darunter war Lucretius, der außer 
dem eigenen Talente und (was sein Bestes ist) der eigenen Glaubens wärme 
seine Wirkung wesentlich der Nachahmung des Empedokles dankt In 
diesem ist so viel bewußte Kunst im Versbau, in Redefiguren und Klang- 
wirkungen, daß die feine Kritik des Aristoteles von Rhetorik redet. 
Homer wird nicht abgeschrieben, aber wohl gibt er z. B. das Recht, 
durch Verswiederholungen teils eindringlicher, teils bequemer zu reden. 
Die Personifikation gestattet der Naturphilosophie ein buntes m3rtholo- 
gisches Kleid umzulegen. Im ganzen kommt doch kein einheitlicher 
Eindruck heraus; die persönliche Anrede (von Hesiod und der Elegie 
übernommen) belebt wenig; man merkt zu oft die raffinierte Tätigkeit des 
Aufputzens höchst prosaischer Gedanken. Poetisch von ungleich höherer 
Vollendung und von jener schwülen Schwärmerei, die den Verstand durch 
Gefiihlsdämpfe narkotisiert, ist das andere Epos des Empedokles „von der 
Sühnung", besser sollte man .sagen „von der Erlösung", das er selbst in 
dem Ornate eines Sühnpriesters als Prophet und Seelenarzt im Peloponnes 
rhapsodiert hat, die Schicksale der Seele offenbarend, die zur Buße der 
Sünden aus ihrer himmlischen Heimat verstoßen durch die Strudel der 
Leiblichkeit gejagt wird, bis sie sich durch Askese gereinigt hat; die 
Vegetarier sollten es zu ihrer Bibel machen. Der Haupttrumpf ist, daß 
der Redende selbst entsühnt und so des künftigen Einganges in die Voll- 
endung gewiß ist: er ist Gott geworden. Hier bietet sich uns eine aller- 
dings imponierende Probe der sonst fast ganz verschollenen Propheten- 
poesie, die man nicht nach ihren spätesten und ausgeartetsten Pro- 
dukten beurteilen darf. Die jüdischen und christlichen Sibyllen sind 
in Form und Inhalt ebenso absurd wie langT\'eilig, aber gerade die 
wirkungsvollen Züge in ihnen stammen aus älterer Sibyllenpoesie, und so 
bietet auch die ägyptische Zauberliteratur Stücke, die der alten Weise 
folgen. Die Sibylle führt den Namen einer Seherin aus dem asiatischen 



ZanoD (»chreibt 
vor 460) 



Empedokles 
(um 450). 



Orakelpo««ia. 




40 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Erythrai, die ohne Zweifel eine geschichtliche Person der homerischen 
Zeit ist, aber verschollen; Spruchsammlungen wie die ihre hat es unter 
anderen Namen zahlreich gegeben. Dazu gehören auch die Orakel der 
Götter, vor allem die delphischen, deren wir echte nicht wenig seit dem 
6. Jahrhundert besitzen. Diese Poesie, deren Gnmdlage homerisch ist \md 
bleibt, aber in centomäßige Imitation erst in der Kaiserzeit versinkt, ist 
zimi Teil von hoher Vortrefflichkeit, imd die Umschreibungen tmd typischen 
Wendungen oder Gleichnisse (wie die Einführung von Tieren, Wolf, Stier, 
Drache) haben die erhabene Rede noch in Lyrik und Tragödie stark 
beeinflußt Auch auf diesem Gebiete haben die Griechen von Homer 
ausgehend einen festen Stil erzeugt und ein Jahrtausend festgehalten. In 
den eschatologischen Konzeptionen und Kompositionen der Christenheit 
wirkt dieser Stoff und Stil nach, ganz wie die grundverwandte religiöse 
Phantastik der orphischen Kosmogonieen, sogar auch im Okzident, durch 
das Mittelalter hindurch und besonders stark in der Renaissance. Wie merk- 
würdig ist es, daß derselbe Empedokles die vier Elemente aufbringt und 
so die vier Säfte der sogenannten hippokratisch-galenischen Humoral- 
pathologie erzeuget, die bis tief in das 19. Jahrhundert herrscht, und daß 
wir bei Dante und Giordano Bnmo und Angelus Silesius Fäden auf- 
zeigen können, die auf ihn und die Eleaten zurückfuhren. Er teilt freilich 
das Schicksal mancher großer Anreger unter den Hellenen, daß sie viel- 
leicht am stärksten wirkten, wo selbst ihr Name vergessen war. 

PythagoiM Empedokles der Dichter war Uterarisch durch Parmenides bestimmt; 

(t um 500). jjgj. ^2t und der Prophet erhielt die Anregung aus der Kultur Groß- 
Griechenlands, die an den Namen des Pythagoras von Samos geknüpft 
wird: auch hier wieder war es ein ionisches Samenkorn, deis in den 
achäischen Pflanzstädten aufgegangen war. Deren müssen sehr viel mehr 
herübergekommen sein. Namentlich die wissenschaftliche Medizin, die mit 
der Natiurbeobachtung und Philosophie immer zusammengeht, kann ohne 
Verbindung mit Asien (Knidos, wie es scheint) gar nicht gedacht werden; 
sie hat eine itaUsch-sizilische Schule gebildet, die der ionischen mindestens 
ebenbürtig ist Das älteste medizinische Buch, das sich überhaupt erhalten 
hatte (ionisiert, doch so, daß das ursprüngliche Dorisch durchschimmert), 
Aikmaion Stammte von einem Achäer aus Kroton, Alkmaion, und ein Krotoniat 
(um soo). ^j^j. Leibarzt des Dareios. So war denn hier eine Schriftsprache ent- 
standen, die in den achäischen Städten und in dem spartanischen Tarent, 
wie es scheint, gleichermaßen geschrieben ward. Das Ionische, das Pytha- 
goras mitbrachte, hat sich nicht behauptet; das war für die Erhaltung 
dieser Schriftwerke verhängnisvolL Denn daß die esoterische Schul- 
disziplin der p)'thagoreischen Bruderschaft die Publikation verboten hätte, 
könnte ja erst für die Zeit gelten, wo die politische Macht der Brüder 
zerstört war. Die mathematische, musikalische, medizinische Forschung 
ist nicht nur ununterbrochen getrieben, sondern auch verbreitet worden. 
Wo wirkliche Wissenschaft einmal erfaßt ist, die ztir Fortarbeit ungezählter 



B. Attische Periode ;48o— 320". I. Die Literatur außerhalb Athens. 41 

Generationen bedarf, da hört die Geheimniskrämerei auf: man verbirgt 
nur, was das Licht nicht verträgt Literarisch treten eigentlich nur zwei 
Personen hervor, Philolaos von Kroton, der tun 400 die p3rthagoreische PhUoUo» 
Physik und Metaphysik vorträgt, und Archj'tas, der jüngere Zeitgenosse (♦""«*») 
Piatons, der seine Heimat Tarent zum ersten und letzten Male auf eine (um 360). 
politisch achtungswerte Höhe bringt, aber nicht nur nicht als politischer 
Schriftsteller wirkt, sondern in seinen wissenschaftUchen Werken selt- 
sam unberührt von den Fortschritten der darstellenden Kunst geblieben 
ist So büßen die „Italischen Musen", wie Piaton sie nennt, schwer, daß 
ihnen eigentlich ntu: Urania, die Muse des Parmenides, gnädig gewesen 
ist Ntir in der Welt der abstrakten Gedanken haben sie weitergewirkt; 
in der Schärfe der Formeln, wie sie das mathematische Lehrbuch des 
Eukleides zeigt, werden wir die Bedeutung des pj'thagoreischen wortiosen 
Denkens nicht verkennen. 

Aus der sophistischen Periode haben wir ein paar Stückchen dorischer 
philosophischer und rhetorischer Prosa, die inhalüich ganz unselbständig 
sind, sprachlich so viel beweisen, daß der Sieg der attischen Schriftsprache 
starke dorische Ansätze zerstört hat Die Schriftstellerei des Sokratikers 
Aristippos von Kyrene ist ganz problematisch; wohl möglich, daß jene 
Produkte zu der Masse gehören, die seinen Namen ohne Berechtigung 
trug. Seit dem i. Jahrhundert v. Chr. bedient sich die Fabrikation angeb- 
lich alter pjrthagoreischer Schriften der dorischen Mundart, aber künstiich 
und ungeschickt : doch hat die Wissenschaft dieses Gebiet noch viel zu 
wenig angebaut 

Neben der Philosophie hat das Westhellenische auf einem sehr ver- puy*kra 
schiedenen Gebiete eine dauernde Wirkung ausgeübt, aber wieder ohne "°"* "'"*»• 
Werke von dauerndem Kunstwerte zu erzeugen, obwohl Epicharmos und 
Sophron selbst in den Bibliotheken der ägj'ptischen Landstädte der Kaiser- 
zeit gestanden haben. Hier ist nun einmal die Wurzel rein dorisch. Die 
Spartaner haben sich daran ergötzt, daß sich Leute auskleideten und 
ihnen karikierte Tjrpen des Lebens voragierten. Korinthische Gemälde 
zeigen uns ungeschlachte Rüpel; Wanst und Gesäß und natür- 
lich der Phallus sind ins ungeheure entwickelt, sie hopsen und tanzen, 
einzeln finden sie sich in Situationen, die auf eine bestimmte Handlung 
deuten. Es sind offenbar keine Menschen, sondern irgendwelche 
Kobolde. Daß man in Megara Geschichten aufführte, Dramata, steht 
auch fest Auch aus Theben hören wir von Improvisatoren, cGeXovTai, 
und die böotischen Vasengemälde liefern höchst drastische Travestieen 
heroischer Geschichten. Aber daraus geworden ist erst etwas in den 
Pflanzstädten. Für Unteritalien zeugen wieder die Vasenbilder; da sehen 
wir eine Bühne mit ihren Akteurs schon Ende des 5. Jahrhunderts. 
Unzweifelhaft hat sich dieses niemals literarisch gewordene Spiel auf 
die empfänglichen Samniten und Campaner übertragen, und insofern 
ist die oskische und römische Atellane ein Nachkomme der megarischen 



42 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Dramata; im 3. Jahrhundert trägt ein Poet, den ein Forscher über die 
Volksdialekte anführt, den italischen Namen Blaesus und stammt aus 
Capri. In Tarent hören wir auch den alten Namen jener Kobolde, 
Phlyakes, der es ausspricht, daß sie Dämonen der strotzenden Naturkraft 
waren, phaUische Wesen, die seit der Rezeption des Dionysos in dessen 
Gefolge geraten waren; doch hängt dieses Spiel keineswegs am Dionysos- 
dienste, soviel wir wissen, überhaupt nicht am Gottesdienst Daß wir von 
den Phlyaken etwas wissen, liegt daran, daß um 300 Rhinthon von Syrakus 
in Tarent das Spiel vornehm machte: die m3rthologische Travestie ist bei 
ihm zur literarischen geworden, und die Sprache wird bereits als Patois 
Epichamo» empfunden. Auf dem Grrunde dieser Volksposse hat Epicharmos aus dem 
(um 480?) si2iiischen Megara ein künstlerisch geformtes Spiel erbaut und ist der 
Archeget der Komödie geworden, wie Homer der der Tragödie: das ist 
das Urteil Piatons. Ein paar der Spiele, die auf seinen Namen gingen, 
bezogen sich auf Ereignisse aus der Zeit Hierons; Megara war durch 
Gelon zerstört So hat die antike Wissenschaft den Epicharm in diese 
Zeit gesetzt, obwohl Aristoteles ihn für viel älter gehalten hatte. Aber 
manches selbst von dem Teile seines Nachlasses, den die Philologie an- 
erkannte, muß beträchtlich jünger sein, da es die platonische Philosophie 
berücksichtigt; die Sprüche, die auf seinen Namen gehen und ihn am 
meisten populär machen, sind vollends ganz unsicher. So hat auch hier 
ein berühmter Name eine ganze Gattung in Beschlag genommen. Wir 
haben eigentlich keine Vorstellung von diesem Drama. Es konnte eins 
ganz und gar getanzt werden, doch mit sehr simplen Rh)rthmen, ohne 
besondere Melodie. Meist war es nur Rezitation der archilochischen Masse, 
Trimeter und besonders Tetrameter; ihr Bau ist nicht fein; die Sprache 
einfach syrakusanisch, schlicht und gut, ohne besonderen Wortschmuck. 
Es fehlt nicht an Proben von lebhaftem Dialoge, aber Schilderung und 
Erzählung überwiegen. Und es gibt zu denken, daß einmal „Land imd 
Meer" miteinander stritten, indem jedes aufzählte, was es dem Menschen 
an Genüssen für den Gaumen lieferte, eine andere Bearbeitung dieses 
selben Stoffes die Musen als Fischweiber bei der Hochzeit des Herakles 
einführte.' Das Mythologische war also Nebensache. Aber ein Prototyp 
jener cuficpiceic oder conflictus erscheint, die sich in vielen Gestalten durch 
all die Jahrhunderte bis in die Renaissance ziehen. Der Typus des Be- 
trunkenen, des Pairasiten, des Bauern zeiget sich; daneben die populärsten 
Heroengestalten, Herakles und Odysseus travestiert Aber die Neugfier, so 
stark sie gereizt wird, läßt sich nicht befriedigen. 
sophroD Noch bitterer ist es, daß wir von Sophron von Sjrrakus nur einen 

(nm 430). Schatten kennen. Vermutlich wäre nicht einmal sein Name aufbehalten 
geblieben, wenn nicht Piatons Vorurteilslosigkeit das Buch von seiner 
sizilischen Reise mitgebracht hätte (wie das des Philolaos); die Pedanten 
haben ihn danmi verketzert, denn prosaische Skizzen in dem unverfälschten 
bäuerischen Sjrrakusanisch paßten durchaus nicht in die Schulästhetik. Aber 



Attische Periode (480 — 320). IL Attische Poesie. 



43 



wir dürfen dem Dichter der sokratischen Dialoge glauben, daß es Poesie 
war. Nun war das Buch einmal da und gehörte in der hellenistischen 
Zeit zur alten Literatur, so daß man es, wenn auch überwiegend aus 
literar- oder sprachgeschichtlichen Interessen, las. Für das Publikum 
mußte es erst umstilisiert werden, durch Theokrit und Herodas. Sophron 
der Mimologe ist einer aus der Schar der Lustigmacher gewesen, die 
im Westen zu Hause waren und von da in Scharen herüberkamen, 
Luftspringer, Possenreißer, Pantomimen (was wir so nennen) und der- 
gleichen, Jongleurs im alten und neuen Sinne. Offenbar steckt bereits 
etwas Italisches in diesem Treiben; solche Banden hat Italien ja noch im 
18. Jahrhundert über die Alpen geschickt Dies einzige Mal sind solche 
Improvisationen aufgezeichnet worden, in denen ein geschickter Sprecher 
Szenen des Lebens in realistischer und chargierter Wiedergabe der Wirk- 
lichkeit vortrug. „Die Damen beim Frühstück", „die Greise", „die 
Zauberinn^n", „Bauer und F"ischer". Diese „Nachahmung", der Mimus, hat 
nie aufgehört, das niedere Volk zu belustigen; in beständigem Wechsel 
blieb sie immer dieselbe. Ohne Frage hat sie eine sehr bedeutende Rolle 
gespielt, aber immer unterhalb der eigentlichen Literatur und des Interesses 
der tonangebenden Gesellschaft 




II. Attische Poesie. Als der Knabe Pindaros nach Athen auf die 
Musikschule kam, war dort durch den Kunstsinn des Hipparchos musika- 
lisches und literarisches Interesse geweckt; aber die fremden Dichter waren 
nach seiner Ermordung fortgezogen. Für die hellenische Literatur hatte 
Athen bisher noch weniger bedeutet als für die hellenische Geschichte; eine 
attische Literatur bestand vollends gar nicht Denn Solon, als Gesetzgeber 
und Weiser eine Figur von anerkanntem Ruhme, war als Dichter doch 
nur einer von vielen, und bedient hatte er sich der ionischen Formen. 

Pindar hat an den Dionysosfesten Athens vermummte Chöre tanzen 
und singen sehen; das war wohl etwas ausgebildeter und reicher als an 
anderen Orten, aber qualitativ durchaus nichts Besonderes und wieder gar 
nichts Attisches. Am Kelterfeste im Januar kamen sie in allerhand phan- 
tastischer Auskleidung, namentlich in Tiermasken, als Pferde, Vögel, 
Wespen, Frösche; der Führer hielt eine Ansprache an das Volk, der Chor 
sang Ernstes und Lustiges; schließlich zogen sie unter Führung des Flöten- 
spielers ab, in dem lustigen Zuge, den man Komos naimte und den die 
Zecher als Abschluß privater Gelage in vielen Nächten zum Unbehagen 
friedlicher Schläfer ausführten (Anakreon wird zu Hipparchos' Zeiten im 
Komos z. B. zum Hause des Harmodios gezogen sein); an dem Hauptfeste 
des Dionysos im Blumenmonat .schloß ein solcher Zug das allgemeine 
Trinktest ab. Die Gesänge zum Komos waren Komödien. An dem neuen 
Frühlingsfeste des Dionysos, das Peisistratos gestiftet hatte, ging es etwas 
vornehmer zu: da traten im Gottesdienste selbst Chöre von Böcken oder 
Satyrn, den Dienern des Gottes auf, auch sie sehr burlesk aufgeputzt, und 



AttUche« 




44 Ulrich vo.v Wil.\mowitz-Moellf.ndorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

neben ihnen ein „Antworter", uTroKpiTTJc, der ionische lamben sprach. Diese 
Satyrchöre waren nichts Attisches, sondern der Lesbier Arion hatte in Korinth 
zur Zeit der dortigen Tyrannis das volkstümliche Kostüm für die Sänger der 
Dionysoslieder übernommen. Es ist unverkennbar, daß die Tiergestalten 
der Lenaeen im Grunde kein anderes Wesen haben als die Halbtiere der 
Dionysien; die Phlyaken oder Rüpel von Korinth und Tarent sind auch 
nichts anderes. Der lambus war auch etwas Fremdes, nicht minder 
ionisch jetzt als zu Solons Zeit; daß der Sprecher aus einer fremden 
Person heraus redete, war nichts Neues: das gab es sogar schon bei Archi- 
lochos. Aber die Vereinigung der so disparaten Gattungen war der Ein- 
fall des Thespis aus dem attischen Bergdorfe Ikaria, das eigene Dionysien 
hatte und noch heute Dionyso heißt. Er war mit seinen Gefährten auf 
dem Wagen herumgefahren, wie es einst der Gott getan hatte, und sie 
hatten ihre Spaße getrieben. Da der „Bocksgesang«, die Tragödie, Beifall 
fand, war er in die Festordnung der neuen Dionysien aufgenommen. 534 
ist er dort zum ersten Male aufgeführt, ob von da ab regelmäßig, ahnen wir 
nicht; keinesfalls ward die Erfindung als etwas Epochemachendes angesehen. 
Hundert Jahre später waren Tragödie und Komödie abgeschlossen. Es 
war entschieden, daß diese spezifisch attischen Gattungen die hellenische 
Poesie ebenso krönten wie das attische Reich den Höhepunkt der helle- 
nischen Geschichte bildete, das zur selben Zeit starb wie die Tragödie mit 
Sophokles und Euripides; auch die Komödie hatte bereits ihre Blüte hinter 
sich. Aber in den attischen Dramen besaß die Nation eine poetische 
Literatur, die schon an Volumen alles Ältere übertraf, und mehr noch dixrch 
Lektüre eds durch Wiederholung des Spieles auf anderen Bühnen beherrschte 
die Tragödie wirklich die ganze Nation. Auch das war ein ungeheurer 
Fortschritt Die Sprache verleugnete zwar ihre Herkunft aus den zwei 
fremden Stilen keineswegs, aber die attischen Dichter hatten beide so ab- 
zutönen gewußt, daß das Ganze harmonisch und attisch war. Schon um 450 
hatte der Chier Ion, nicht viel später der Arkader Aristarchos dies Attisch 
schreiben gelernt Der Inhalt war derselbe wie in den panhellenischen 
Gattungen Epos und chorischer Lyrik, die Heldensage, freilich inner- 
lich ganz neu gemacht; aber nur dadurch, daß die Kontinuität aufrecht- 
erhalten war, konnte die attische Tragödie ihre panhellenische Geltung 
erringen. Erhabene Stilisierung (ciroubaia) forderte der Hellene von seiner 
Poesie: das war das Vermächtnis Homers. Dieser Charakter ward in der 
Tragödie noch gesteigert; tragische Rede ist für Piaton künstlich erhaben 
und stilisiert Indem das alte burleske Spiel der Satyrn auf den homerischen 
Ton gestimmt ward und den homerischen Inhadt erhielt, ward die Tragödie 
in Wahrheit erst sie selbst Das ist das Werk des Aischylos von Eleusis: 
dadurch ist er der andere Homer der griechischen Poesie geworden. 
AiMhyio» Aischylos war Dichter, Schauspieler, Chormeister von Metier; in dem 

(t45'>) Stande ist er und seine Deszendenz geblieben. Aber die Demokratie ließ 
auch dem Chormeister die Ehre, für das Vaterland in Reih und Glied zu 



B. Attische Periode '480—320:. II. Attische Poesie. 



45 



fechten und auch die, den Ruhm ihrer Taten auf dem heimischen Tanz- 
boden und vor dem Zwingherm von Syrakus zu verkünden. Welch ein 
Vorzug vor Pindar und Bakchylides. Der attische Dichter ist kein Fahren- 
der mehr, er hat Anteil an dem Ruhme, den er besingt Als Aischylos 
bei Marathon seinen Bruder neben sich fallen sah, hatte er im Geiste die 
geniale Tat seines Lebens bereits vollbracht, das Bocksspiel zur Tragödie 
umgeschaffen; aber noch hatte er das Publikum nicht gewonnen: erst 
sechs Jahre später hat er den Preis erhalten. Die innere Weihe zu dem, 
was ihn als religiösen Dichter neben imd über Pindar stellt, empfing er 
auch erst durch die Kämpfe, in denen er wie sein Volk erfuhr, daß Gott 
bei den Mutigen und den Freien ist, die der Knechtschaft des Leibes ent- 
gehen, weil sie die Freiheit der Seele besitzen: des Leibes Leben mögen 
sie dann frohen Mutes in die Schanze schlagen. So erhob er sich zu 
einer höheren freieren Frömmigkeit als Pindar. Aber ein volles Kunstwerk 
hat er doch erst in dem letzten Jahrzehnt seiner Tätigkeit schaffen können. 
Wohl hatte er durch Heranziehung eines zweiten Sprechers den Dialog 
und damit das Drama erst geschaffen; aber der Dialog trat noch ganz 
zurück vor den Chorliedem und der epischen Erzählung, und diese beiden 
standen noch unvermittelt nebeneinander. Wohl war dadiu-ch, daß drei 
(mit den SatjTn vier) Chöre hintereinander auftraten, die Dramatisierung 
einer Geschichte erleichtert; aber das erzielte nicht die Einheit der Hand- 
lung, sondern wirkte ihrer straffen Führung auf ein Ziel entgegen. Der 
Schauplatz war nur unvollkommen in den Bereich der Illusion gezogen. 
Die Zeit hatte überhaupt noch gar keine auch nur relative Realität Da 
macht das Auftreten des jungen Sophokles Epoche, der gleich im ersten 
Gange den alten Meister überwindet (468). Er fügt den dritten Schauspieler 
hinzu; der Schauplatz wird durch die Errichtung einer festen Hintervvand 
fixiert; die Geschichte wird wirklich in Handlung vorgeführt; die Chorlieder 
grenzen Akte ab, und die Dehnbarkeit der Zeit wird auf diese Zwischenakte 
beschränkt Von all dem weiß Aischylos selbst noch vollen Nutzen zu 
ziehen. Jetzt erst dramatisiert er die Ilias und schöpft die echte Tragik des 
homerischen Achilleus aus. Jetzt erst schafft er die Orestie, die ihn uns 
allein als einen Dramatiker zeigt, der keinen über sich anerkennt Nun 
ist jedes einzelne Drama wirklich eine abgeschlossene Einheit, und die 
trilogische Vereinigung steigert wohl die Wirkung eines jeden, aber sie 
bedingt sie nicht, es ist vielmehr der Kontrast der Stilisierung, den wir 
bewundern, bewußte Kunst Hier sind die Charaktere nicht mehr typisch, 
sondern individuell, ja das Höchste, was das Drama allein geben kann 
und nur so selten gibt, ist erreicht: wir sehen die innere Entwickelung, 
die Peripetie und die Katastrophe sich in den Seelen der Menschen voll- 
ziehen. Daß es dem Rationalistenauge unbemerkt bleibt, ist nur in der 
Ordnung: das sieht ja nicht in die Seele, 

Sophokles hat bald eine Anzahl Konkurrenten erhalten; als Aischylos sopiMkie« 
abtrat, den Euripides, und fast 50 Jahre sind die so sehr verschiedeneu '* ***' 



46 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Dichter nebeneinander tätig gewesen, bis dann der neunzigjährige Sophokles 
noch um Euripides die Trauertracht anleg^te. Wir hören nichts von persön- 
licher Berührung, sie konnten sich auch schwerlich lieben; aber Euripides 
hat namentlich zuletzt auf Sophokles stark gewirkt Das Umgekehrte 
können wir nicht nachweisen, aber es hat ohne Zweifel in ihrer Jugend 
stattgehabt. Insofern hat es eine Berechtigimg, daß man gemeiniglich so 
tut, als bestünde ein zeitlicher Abstand zwischen ihnen. Während Euripides 
nur Dichter ist, aber mit imgestillter Begfier alle Anregungen aufeucht, 
die das regsamste Jahrhundert bieten konnte, man möchte fast sagen 
als Gelehrter, ist Sophokles dem politischen Leben zugewandt. Die 
ästhetisierende Betrachung, die ihn vor loo Jahren zur Inkarnation des 
damals geträumten Hellenentumes machte, legte dem keinen Wert bei, 
daß er die höchsten Verwaltimgsstellen, und zwar in kritischen Zeiten, 
eingenommen hat Die Antigone ist mit der frischen Lebenserfahrung 
eines Staatssekretärs des Reichsschatzamtes geschrieben. Mag er auch 
nach dem Urteil eines Zeitgenossen nur so viel politische Fähigkeit 
besessen haben wie ein ordentlicher Durchschnittsathener: seine beiden 
dionysischen Genossen haben auch so viel nicht besessen. Ein anderes haben 
wir jüngst gelernt: er hat einen neuen Gott in Athen eingeführt, den 
Asklepios, ohne Zweifel weil er ihn glaubte; er hat Träume gehabt und 
danach gehandelt, er ist zum Heros nach seinem Tode erhoben worden: 
auch dies hätten die beiden anderen nicht gekonnt Vom ersten bis zum 
letzten Tage ist ihm die Gunst seines Publikums getreu geblieben, um die 
Euripides fast immer vergebens gerungen hat, geflissentlicher als es bei 
Sophokles kenntlich ist Nach ihrem Tode hat sich das freiUch umgekehrt; 
Sophokles rangiert mit Aischylos unter den Klassikern: Euripides ist zu 
allen Zeiten eine lebendige Macht, „der Tragiker", der mit Homer wett- 
eifern kann; kein dritter tritt je hinzu. Von ihm haben wir Bände imd 
Blätter der Gesamtausgabe seiner Werke, von den beiden anderen nur 
eine karge SchulauswahL Von Aischylos zu Euripides geht eine gerade 
Linie der Entwickelung, freilich erst von dem Aischylos der letzten Zeit 
Sophokles steht beiden ferner, wie er denn schon seine Dialogverse nach 
einem ganz anderen Prinzip baut Weil er seines Tages am meisten im 
Sinne des Publikums schuf, ist er für uns weitaus der schwerste. Wir haben 
ein Selbstzeugnis, er hätte erst die Nachahmung des Aischylos, dann das 
Verkünstelte in seiner eigenen Begabung überwinden müssen, bis er die 
rechte Haltung des Stiles traf. Das Künsteln an der Sprache, nicht 
ohne Gewaltsamkeit und Übertreibung ist er in Wahrheit nie los ge- 
worden; von der Rhetorik, die bei Euripides in g^tem imd bösem zu 
wirken beginnt, hat er nichts, aber an die Wagnisse des hellenistischen 
gelehrten Stiles erinnert vieles. Wir haben das treffende Kimsturteil, daß 
er wie Pindar neben den hinreißenden ganz matte Partieen hätte. Bei seiner 
ungemeinen Fruchtbarkeit ist es begreiflich, daß er häufig nur das Epos in 
die neue Form umsetzte (wie Shakespeare die Biographieen Plutarchs), xmd 



B. Attische Periode (480 — 320). II. Attische Poesie. 



47 



Neuerungen der Handlung hat er überhaupt gar nicht gesucht, wenn er auch 
natürlich nicht vor ihnen zurückschreckt; der Philoktet ist ein Beispiel, 
aber in ihm ist auch der Einfluß des Euripides sehr fühlbar. Die Tatsachen 
nahm er hin, wie er ja ein gläubiger Bekenner der herrschenden Religion 
war; was er wollte, war, ihnen die innere Wahrheit und Glaublichkeit zu 
verleihen: er schuf aus seiner Menschenkenntnis die Elektra, die zum 
Muttermorde kommen konnte, den die Götter guthießen, und dementsprechend 
eine Mutter, die diesen Tod verdiente. Er schuf den Aias, der den Ver- 
lust der Ehre nicht verwindet, obwohl er sich keines Verstoßes gegen sie 
bewußt ist, und neben ihm verschieden nuanciert die Charaktere der 
politischen Welt, in die ein solcher Aias nicht paßt; aber zu dieser Um- 
gebung gehört auch eine Athena, die den Aias in Ehrlosigkeit und Tod 
treiben darf. Auch Antigene, die für das ewige Recht gegen die Polizei- 
vorschriften der Willkür eintritt, ist doch die wilde Tochter aus wildem 
Stamme: sie würde sonst den Heroinenmut nicht haben, den kein Athener- 
mädchen besaß. Für Sophokles war es eine erhebende Offenbarung der 
göttlichen Allmacht, wenn der unschuldige Ödipus dem entsetzlichsten 
Lose anheimfiel und dann wieder als verbitterter Bettler im Tode erhöht 
ward. So bietet diese Bühne das Bild des Menschenlebens in hundert 
Lagen, an Hunderten von Personen, ganz wie es sich dem Betrachter 
Sophokles darbot. Das wollte, das konnte er seinem Volke geben. Über 
diesen Menschen aber stand nicht strafend und lohnend ein Richter der 
sittlichen Verantwortung, sondern eine Welt von übermächtigen Gewalten, 
deren Haß und Liebe niemandem Rechenschaft schuldete, am wenigsten den 
Menschen. Menschenwille und Menschenfreiheit fand ihr Ziel an dem un- 
begreiflichen Belieben der Gottheit, in das der Fromme sich ergibt, was er 
auch leide. Dabei drängt Sophokles seinen Glauben nicht im entferntesten 
auf; er wirkt durch die Geschichten, wie er sie darstellt; aber der Drama- 
tiker, der uns das, was er geschehen läßt, glaublich machen muß, wird 
mehr als ein anderer Dichter durch das bestimmt, was er glaubt. 

Euripides ist in erster Linie schaffender Dramatiker. Er macht sich die Euripidet 
Stoffe viel mehr als er sie übernimmt; darin reicht ihm selbst Shakespeare '^ ***" 
nicht das Wasser. Denn die Heldensage, wie er sie findet, genügt ihm nie: 
immer dichtet er nicht nur die Charaktere, sondern auch die Handlung 
um. Und er geht weiter: er greift neue Stoffe auf (wir wissen es von 
einem Dorfmärchen) und überträgt sie nur auf die bekannten Namen. Und 
er sucht sich in der alten Fabel Probleme, an die diese nicht von ferne 
gedacht hat Bei Homer hat der König der Winde sechs Söhne und sechs 
Töchter: die müssen einander freien, ebenso notwendig wie daß Kain und 
Abel ihre Schwestern nehmen. Es ist eine Nebensache, für die ein Vers 
genügt Aus dem macht Euripides eine Tragödie, die das Problem der 
Geschwisterliebe behandelt Das „drame ä th^se" ist überhaupt seine 
Erfindung. Denn Wcis ihn interessiert, ist wohl auch der merkwürdige 
Fall, daß sich aus ganz bestimmten Voraussetzungen und bei durchaus 



48 UuucH VON Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

rationellem Verlaufe ein Resultat ergibt, das aller gemeinen Wahrschein- 
lichkeit zuwiderläuft; aber noch viel mehr liegft ihm am Herzen, was solche 
Konflikte und solche Resultate hervorruft. Das ist ihm die Leidenschaft, 
die erst im Menschen alle widerstrebenden Mächte überwinden muß, und 
wenn sie Kopf und Herz unteijocht hat, den Kampf mit allen Hindernissen 
aufnimmt, die die Gresellschaft errichtet hat, um den Eigenwillen des 
einzelnen zu bändigen. Diese Konflikte des einzelnen mit den Verhält- 
nissen (irpdy^axa) sind nicht etwa tragisch im Sinne Schillers: die Demo- 
kratie der Sophistenzeit hat nichts gemein mit einem FreiheitsbegrifF, der 
unter dem Absolutismus gewachsen ist Der Tyrann der eiuipideischen 
Menschen ist noch viel weniger das Fatum der Braut von Messina (man 
keimzeichnet das Ungriechische dieses Popanzes am besten durch das 
lateinische Wort): das ist vielmehr der Nomos in allen Nuancen des Be- 
griffes, die er diu-ch die Sophisten erhält: zum Nomos gehören der Staat imd 
der Götterglaube und die Sätze der anerkannten Moral ebenfalls. So wird 
jeder reale Klampf wider einen Nomos zu dem dialektischen um seine Be- 
rechtigung. Daß der einzelne unterliege, ist keineswegs notwendig: die 
Albernheit, in dem Untergange des Helden das Charakteristische eines 
„Trauerspieles" zu sehen, mußte den Athenern ganz fem liegen: was geht 
sie diese alberne Übersetzung von Tragödie an? Daß der Dichter mit 
seiner Ansicht über den absoluten oder relativen Wert eines Nomos hervor- 
träte, ist ebensowenig notwendig: er g^bt das Bild der Welt, und deren 
Lauf zeug^ immer zugleich für und wider die Theodicee. Wenn Aristoteles 
dem Euripides neben dem berechtigten Tadel, daß er es mit der Ökonomie 
seiner Dramen oft gar läßlich nehme, das Lob zollt, der am meisten 
tragische Dichter zu sein, so denkt er an die patholog^che Wirkung auf 
die Zuschauer, die er allerdings geflissentlicher als Sophokles erschüttern 
und rühren wilL Aber das sind gerade Partieen, die uns minder sympathisch 
sind, und in denen seine höchste Kunst, individuelle Menschen zu bilden, 
stark zurücktritt Wie seine Menschen, ist er selbst am größten, wenn er 
nicht dem Nomos folgt, sondern in Konflikt mit ihm gerät 

Während wir von Sophokles keine Ahnung haben, wie er vier Dramen 
für eine Vorstellung verband, kaimi eine Ahnung, wie anmutig er zu 
scherzen wußte, imd auf Grund von nur sieben Stücken mit Widerstreben 
allgemeine Urteile wagen, übersehen wir die Entwickelung des Euripides 
leidlich, staunend über den Unermüdlichen, Unbefriedigten, der noch in 
seinem letzten Jahre die Bakchen ganz aischyleisch stilisiert imd als 
Kontrast die aulische Iphigeneia bis dicht an das bürgerliche Drama herab- 
stimmt Wir besitzen ein Satyrspiel, wenig geeignet, von der Gattung 
eine Vorstellung zu geben, da Euripides nicht viel Humor vmd gar keine 
naive Lustigkeit besitzt (bezeichnenderweise ist die Figtir am gelimgensten, 
in der er das konventionelle Heroentimi der Tragödie parodiert), aber es 
g^bt zu seiner Ch£irakteristik ein wichtiges Komplement Wir sehen, daß er 
in den Stücken, die er für den dritten Platz berechnete, auf starke Einzel- 



B. Attische Periode (480—320). II. Attische Poesie. ^g 

effekte aus ist, auch sinnlich szenische, dagegen komplizierte Verwicke- 
lungen dem ermüdeten Verstände seiner Zuschauer nicht mehr zumutet. 
In allem offenbart sich, daß Euripides vor allen Dingen Dramatiker ist. 
Die Bühnenwirkung hat er immer im Auge, und die verfehlt er auch nie; 
man muß nur seinen Intentionen folgen und muß natürlich seine Bühne 
und sein Publikum voraussetzen. Diesem Effekte hat er freilich manches 
geopfert, das uns Lesern höher steht; daher der Widerwille unserer Roman- 
tiker, die das Publikum verachten, und ihre Potenz in der Erzeugxmg 
kielkröpfiger Lesedramen erschöpfen. Aber Goethe diktierte noch am 
22. November 1831 in sein Tagebuch: „Ich las hernach den Ion (dessen 
Schlegelsche Verballhomung er einst patronisiert hatte) des Euripides 
abermals zu neuer Erbauung und Belehrung. Mich wundert's denn doch, 
daß die Aristokratie der Philologen seine Vorzüge nicht begpreift, indem 
sie ihn in herkömmlicher Vornehmigkeit seinen Vorgängern subordiniert, 
berechtigt durch den Hanswurst Aristophanes. Hat doch Euripides zu 
seiner Zeit ungeheure Wirkungen getan, woraus hervorgeht, daß er ein 
eminenter Zeitgenosse war, worauf doch alles ankommt. Und haben denn 
alle Nationen seit ihm einen Dramatiker hervorgebracht, der nur wert 
wäre, ihm die Pantoffeln zu reichen?" Das war sein letztes Wort über 
das Drama überhaupt 

Die Tragödie, wie sie Sophokles und Euripides hinterlcissen, hat spaicrc 
weiter keine Entwickelung mehr. Ihre Mitstrebenden, unter denen es '■""b*'"' 
gewiß an eigenartigen Talenten nicht gefehlt hat, haben sie vollkommen 
in den Schatten gerückt; bei ihrem Tode ist nach allgemeinem Urteil 
die tragische Bühne verödet Wohl werden noch jahrhundertelang eine 
Unzahl neuer Stücke geschrieben imd aufgeführt, aber alle halten sich 
in Stoff und Form wesentlich an die nun festgestellte Gattimg. Nichts 
entsteht daher, was mehr als ephemeren Erfolg hätte, und was ein wenig 
von dem Typus abzuweichen wagt, hat nicht einmal den. Die Führung 
ist durchaus bei der Schauspielkunst; die Regisseure verfassen gelegentlich 
auch selbst neue Stücke, die kaum je literarisch werden. Die Rhetorik, erst 
die des Gorgias, dann die des Isokrates, bemächtigt sich eine Weile des 
tragischen Stiles; zum Glück entscheidet sich dem gegenüber der Geschmack 
des Publikums für die alte Poesie, und die Festordnungen müssen für diese 
Raum schaffen. Vermutlich haben einzelne Alexandriner ganz artig gespielt 
(bei ihnen ist wenigstens die Tendenz kenntlich, aus Romantik zu der alten 
Tragödie und zum Satyrspiel zurückzukehren); aber das kam kaum über 
den Salon hinaus. Die Stücke, die von den Römern im 2. Jahrhundert aus 
dem Repertoir der damaligen Schauspielerbanden übersetzt sind (Eintags- 
fliegen, um die das literarische Publikum der Griechen sich nicht 
kümmerte), zeigen nichts als Übertreibungen alter Motive, wie Iliona, 
Chryses, Dulorestes. Und doch mußte eigentlich das euripideische Drama die 
Fesseln des tragischen Nomos sprengen. Seine Menschen waren innerlich 
keineswegs mehr Heroen, und die Verwickelungen der Leidenschaften, die 

DiK KULIUR DIR GkGBHWART. 1 i. 4 



50 Ulrich vom Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

er zeigte, waren noch viel weniger heroisch. Wozu noch diese Masken? 
Die Götter waren ihm zuletzt vorwiegend nur Maschinen, gfut dazu, die 
Geschichte, die er frei erfand, gewaltsam in das alte Gleis zurückzuleiten. 
Der Chor war ihm oft unbequem: so schöne Lieder er ihm auch gab, diese 
Lyrik kam dort kaum zur rechten Geltung, und für seine Handlung war ein 
stummer Akteinschnitt sehr viel passender, wie diesen denn bald die 
Komödie einführte. Die Arien, die er aus dem neuen Dithyrambus herein- 
nahm, waren sehr wirksam, aber sie denaturierten das Dramatische. Dagegen 
war die Beschränkung in der Zahl der Schauspieler ein Hemmnis, das gar 
keine Berechtigung mehr hatte ; wir sehen ganz zuletzt Sophokles sogar einen 
vierten zuziehen; auch aus dem 4. Jahrhundert liegt ein Beispiel der Art vor. 
Aber die Ästhetik dekretiert noch bei Horaz die heilige Drei, und Seneca 
hat sich daran gehalten. Die epische Erzählung, wie Euripides sie aller- 
dings virtuos in den Botenreden kultivierte, konnte sich auch nur durch 
die Macht der Konvention halten. Moderne Schauspielkunst, die das 
Epische verkennt und auch nicht episch zu sprechen versteht, agiert sie 
pathetisch und verdirbt dadurch ganz ihre Wirkung. Es ist ja deutlich, 
worauf alles hinzielt: auf ein ernstes Schauspiel, für das weder Tragödie 
noch Komödie der rechte Name ist, auf eine Wiedergabe der schweren 
inneren und äußeren Probleme des Lebens, in dem der Dramatiker und 
sein Publikum selber stehn, man könnte sagen auf Ibsen; aber den Vers 
und die Stilisierung, die der Vers mit sich bringt, würde ein Grieche nie 
aufgegeben haben, und nur durch diesen wird dem Versinken in die stil- 
lose Pöbelhaftigkeit vorgebeugt, die jetzt wahr zu sein vermeint, wenn sie 
gemein ist, die Prosa gar zur Dialektimitation degradiert und in unartiku- 
lierten Lauten den Ausdruck der Gefühle sucht „Verstohlen borgt er aus 
der Umgangssprache", so lobt Aristoteles die euripideische Diktion: so 
geht ein Dichter vor, der die Muse achtet, die nicht in der Gosse, sondern 
im Himmel zu Hause ist Die rechten Erben der vollendeten Tragödie 
waren einerseits der Dialog Piatons, anderseits das Lustspiel Menanders. 
Um so gewaltiger und dauernder war der Einfluß der klassischen Tra- 
gödien. Der Wahn, die Schaubühne zu einer moralischen Anstalt machen 
zu wollen, wird immer wieder durch diese Werke und ihre Wirkung 
hervorgerufen, obwohl diese zu ihrer Zeit in unwiederbringlichen Bedin- 
gungen beruhte, dem noch nicht lesenden Publikum, der räumlichen Enge 
der Kultur, der nationalen Heldensage. Die spätere Wirkung auf die 
antike Welt aber hat die Unfruchtbarkeit und den Autoritätsglauben vieler 
Generationen zur Voraussetzung, die sich von den Klassikern beherrschen 
lassen. Da teilt sich die Tragödie mit Homer in die Herrschaft über den 
Jugendunterricht; die euripideischen Sentenzen ersetzen die alte Elegie; 
die zahlreichen Aufführungen in den Theatern, deren bald jede Kleinstadt 
eins haben will, erschüttern die Herzen des ganzen Volkes und erfüllen 
die Phantasie mit grandiosen Bildern einer immer mehr über das Mensch- 
liche gesteigerten Idealwelt So geht es bis in die frühere Kaiserzeit, 



B. Attische Periode (480 — 320). IT. Attische Poesie. 



5« 



und als später die Tragödie in der Schule und auf der Bühne zurücktritt, was H 

dem Homer zu statten kommt, fällt es bezeichnenderweise mit der Verrohung ■ 

der Sitte und des Geschmackes zusammen. Aber immer noch schöpft die H 

Literatur aus dem unergründlichen Borne sowohl Motive wie Charaktere. H 

Noch die Byzantiner nennen den Roman ein Dramatikon und das Volkslied, I 

wohl zuerst das erzählende, ein Tragudion. 

Komische Chöre scheinen schon bald nach den Perserkriegen ein- Aiia Komödie, 
gefuhrt worden zu sein; aber das Spiel blieb zuerst so wenig literarisch 
wie vorher, als es von Dilettanten veranstaltet wurde; es kam hinzu, dciB 
sich eine Komödie der alten Art nicht wohl ohne starke Umarbeitung 
wiederholen ließ. So haben die antiken Philologen, die schon früh der 
Komödie besondere Sorgfalt angedeihen ließen, nur wenige Stücke ge- 
habt, die über den Anfang des Peloponnesischen Krieges hinaufreichten. 
Damals war unter dem Einflüsse der längst gefestigten Tragödie die sehr 
seltsame Kunstform erreicht, die wir in den wenig jüngeren ersten Stücken 
des Aristophanes finden. Da stammt aus der Tragödie (die auch für die 
Sprache immer den Hintergrund abgibt, von dem sich das Komische be- 
wußt, oft parodisch abheben will) gleich die Regel, daß dem Auftreten des 
Chores ein Akt in reinem Dialogmaße vorausgehen muß, der im wesent- 
lichen der Exposition dient Am Ende findet sich noch der Komoszug, 
aber er beginnt umgestaltet zu werden; doch bleibt es dabei, daß das 
Abtreten der Schauspieler und des Chores ausdrücklich angegeben wird, 
was die Tragödie schon überwunden hatte. Das alte Hauptstück, die 
Anrede des Volkes und das Festüed, erscheint nun als eine besondere 
Wendung des Chores an das Volk, Parabase; ihr Platz zu machen, muß 
die Bühne sonst leer gemacht werden, und dadurch scheidet sich das 
Stück in zwei Hälften mit sehr verschiedenem Tone. Zwar kommt fast 
regelmäßig noch eine zweite Parabase, wenn auch verkümmert: offenbar 
hat man durch die Verdoppelung den Umfang der Stücke auf den der 
Tragödie bringen wollen. Aber vom ersten Aufh-etcn des Chores bis zur 
ersten Parabase pflegt das meiste in Tanzrhythmen gehalten zu sein, mit 
lebhaftester Aktion sei es des Chores gegen eine Person (was das Ursprüng- 
liche sein wird), sei es zweier Personen, deren eine der Chor unterstützt 
In dieser Partie ist die Maske des Chores das eigentlich Treibende: mit 
ihr zusammen konzipierte der Dichter seine Fabel. In dem Aufbau ist 
noch kenntlich, daß er die Gliederung der Parabase mehrfach wieder- 
holt, Lied und Rezitation zur Flöte, für die nur hier die Responsion auf- 
gegeben ist Hinter der Parabase überwiegt das Dialogmetrum; der 
Chor oder wenigstens seine Maske tritt ztirück; es reihen sich zwanglos 
und ohne viel Motivierung lustige Szenen aneinander, hervorgerufen durch 
das Zutreten einer neuen Person: die Szenen heißen danach Epeisodien 
und machen die Komposition wirklich episodisch. Man ahnt, daß einst zu 
dem Tanze und Gesänge des phantastischen Chores die Improvisationen 
einzelner Phlyaken traten: diese, nicht etwa die tragischen Antworter, 

4* 



52 Ulrich von Woamowitz-Moeixendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

sind die Ahnherren der komischen Schauspieler. Das zeig^ das verwandte 
Kostüm, insbesondere der riesige Phallus, der zu imerschöpflichen Spaßen, 
in Situationen und Worten, Anlaß g^bt Denn der Ton ist durchgehends 
das vollkommene Gegenteil der tragischen Wohlanstandigkeit; es regiert 
eine kräftige gesunde Zote, an der Götter und Menschen ihre Freude 
haben müssen, sie seien denn Mucker oder Beghinen, denn es res^ert 
nicht der Barbar gegen die aufgedrungene Zivilisation, wie im Ghrobianis- 
mus, noch die Lüsternheit, die Schwester der Galanterie: die Lysistrata 
greift ein Motiv auf, das sich trotz aller Heuchelei eines verlogenen 
Anstandes immer wieder hervorwagt, weil es tief in der Natur der Ge- 
schlechter vrarzelt; aber so natürlich wie von Aristophanes wird es nie 
wieder behandelt werden. Und geadelt wird alles durch die unübertre£f- 
liehen Verse, die immer frische und in ihrer Ungezwimgenheit wahrhaft 
klassische Sprache, durch die klangvollen Lieder, die (wo nicht tragische 
Parodie vorliegt) jene einfachen ionischen Maße haben, die unserem Ohre so 
viel wohllautender sind als die der chorischen Lyrik. Aristophanes gibt in 
ihnen Stimmimgsbilder der elementaren Natur, die an Zartheit der Empfin- 
dung imd Schmelz des Ausdruckes im Altertum unerreicht sind. Schließ- 
lich ist die Hauptsache jene Anmut, deren Lieblingssitz nach Piaton die Seele 
des Aristophanes war. Es versteht sich ganz von selbst, daß Illusion der 
Wirklichkeit imd Probabilität der Handlung schlechthin hier nichts zu 
suchen haben. Dasselbe Haus des Hintergrundes kann ohne weiteres das 
Verschiedenste bedeuten: wäre es nicht beschämend, so müßte es wie eine 
aristophanische Posse wirken, wenn die pedantischen Erklärer ihre Logik 
und Konsequenz dem Aristophanes oktrojrieren. Sie haben es auch fertig 
gebracht, in der politisch moralischen Tendenz oder auch der literarischen 
Kritik das Wesentliche zu sehen, die allerdings den Reiz mancher Dramen 
erhöhen, aber von mehr als einem Dichter gar nicht angestrebt worden 
sind. Sie haben in den Hanswurstiaden tiefe Sozialpädagogfik gesucht und 
die Dichter beurteilt, als wären sie Aischylos und Pindar oder wollten 
es sein. Sie haben entdeckt, daß es im Wesen der Komödie gelegen hätte 
politisch konservativ zu sein. So schwer ist es, Poesie als das zu nehmen, 
als was sie sich gibt, Possen also als Possen. Wer den Phedlus, das 
Symbol des Dionysos, nicht ehrt, ist die Komödie nicht wert Als die 
Dezenz nicht mehr duldete, daß man ihn zur Schau trug, verloren die 
Possen ihre gesimde Harmlosigkeit, tmd als das Kraftgefiihl der großen 
Zeit dem Elend gewichen war, und selbst imi die Lippen der praxitelischen 
Götter ein Zug der leisen Wehmut sich legte, da waren der gaukelnden 
Phantasie die Flügel geknickt Die Welt konnte nur einmal die schönen 
Jugendträume und mit ihnen die schrankenlose Ungebundenheit des 
demokratischen Athens ertragen: eine solche Jugend kommt nicht wieder. 
Deurum hat es nur einmal die aristophanische Komödie gegeben; von 
ihren klassizistischen Imitationen alter und neuer Zeit braucht man nicht 
zu reden. 



B. Attische Periode (480 — 320). II. Attische Poesie. 



53 



Wir lesen und bewundem nur noch Aristophanes, also erntet er den Anitopii».,« 
Ruhm, der der Gattung zukommt, mit; wenigstens für uns ist sein indi- '""'* *'' J""^- 
vidueller Stil so wenig kenntlich, daß niemand selbst einer Versreihe an- 
merken kann, ob er sie verfaßt hat oder einer seiner Genossen. Die 
Komödie ist ohne Frage erst auf die Höhe gekommen, als die beiden 
blutjungen Leute Eupolis und Aristophanes kurz nach Perikles' Tode auf- 
traten; der Olympier hatte diese Preßfreiheit mit Recht bedenklich ge- 
funden und vergeblich zu zügeln versucht. Eupolis, der dem Aristophanes 
mindestens ebenbürtig war (politisch durchaus nicht in dem Sinne kon- 
servativ wie dieser), hat ihm bald das Feld geräumt, da er in einer See- 
schlacht fiel. Kralinos, den die beiden als Herrscher der komischen Bühne 
vorfanden, starb noch früher. Er darf nicht der Aischylos der Komödie 
heißen: das verbietet Epicharm, dessen Einwirkung auf Athen sicher ist; 
wohl aber hat er von Archilochos (den er auch zum Helden einer Komödie 
machte) die persönlich- aggressive Polemik übernommen, auch das Ein- 
setzen seiner Person. In dem letzten Stücke, das ihm kurz vor dem Tode 
noch einmal den Sieg über die anmaßliche Jugend gab, spielte er sich 
selbst, verklagt von seiner Ehefrau Komödie, die er vor der Dame 
Bouteille (TTurivri, das ist in Athen Fremdwort) gröblich vernachlässigte. Neben 
diesen beiden hatte Aristophanes nur Rivalen, die sich mit ihren Aspirationen 
in tieferen Sphären hielten, während er allerdings zu der Tagespolitik fast 
alljährlich Stellung nahm und sein persönlicher Angriff, selbst wenn das 
Stück nicht gefiel, recht gefährlich ward, wie das Sokrates erfahren hat Er 
ist denn auch am Ende seines Lebens von seinen Gemeindegenossen für 
den Rat präsentiert worden; hoffentlich hat er nicht selbst auf praktisch- 
politische Einsicht Anspruch erhoben. Für seinen Dichterruhm wäre es 
vielleicht vorteilhafter gewesen, wenn er nicht bis ziemlich zum Antialkidas- 
frieden tätig geblieben wäre, also unter Umständen weiter dichtete, die 
für seine wahre Muse weder innerlich noch äußerlich mehr Raum ließen. 
Seine Grazie hat ihn fi-eilich nicht verlassen, aber die beiden letzten Stücke 
beweisen doch, daß die Komödie wie die Tragödie den Fall des attischen 
Reiches nicht überleben konnte. 

In der Schätzung der Mitlebenden standen gleichberechtigt mit den iMthyrambot.' 
tragischen (d. i. Satyr-) und den komischen Chören (d. h. die im Festzug 
gehen), die kyklischen, d. h. die im Kreise tanzen. Das war die alte 
chorische Lyrik, für die noch mehr Kulte außer dem des Dionysos offi- 
zielle Gelegenheit boten; die Tänzer und Sänger sind aber zu Anfang und 
vielleicht sehr lange Dilettanten geblieben. Die Flötenbläser, auf die so 
viel ankam, daß die „Chorpfeifer" (xopaOXai) in den Siegerinschriften immer 
mit genannt werden, waren niemals, die Dichter selten Athener. Dagegen 
haben Simonides und Bakchylides, einmal auch Pindar (was ihm über- 
schwengliche Ehren eintrug) für diese Chöre gedichtet Nur das dionysische 
Lied, das ursprünglich in der Ekstase durch den Gott gesungen werden 
sollte, also die Bindung durch die wiederkehrende Melodie, die Strophik, 



54 Ulrich vom Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 



Philoxenos 
(t 38"). 



Kläwndlc. 



Timotheos 
(t gegen 357). 



nicht kannte, führte zunächst den Namen Dithyrambos. Aber als die Ent- 
faltung der Musik dazu Fortschritt, alle Lieder durchzukomponieren, über- 
trug sich dieser Name auf die Gattung; so redet Aristoteles. Gegen Ende 
des 5. Jahrhunderts schreitet man dazu fort, neben die Chorlieder Soli ein- 
zulegen, und das Spiel erhält dann etwas Opernhaftes. Die mythische 
Erzählung hatte immer wesentlich den Inhalt gebildet; das eine Gedicht, 
d&s wir besitzen, die lo des Bakchylides, gibt nichts als sie; es ist allerdings 
besonders armselig. Jetzt ward das belebt Philoxenos von Kythera fand 
z. B. am Hofe des Dionysios I. das glückliche Motiv des verliebten Kyklopeu, 
das dann von seinen Kollegen variiert ward, ganz wie die Medea des 
Euripides. Es beweist, daß auch eine scherzende Behandlung wie im 
Satyrspiel statthaft war. Die Sprache war zunächst die der chorischen 
hynk, also im Grunde dorisch; die Dichter waren auch überwiegend 
dorischer Herkunft; aber sie wandelte sich in der Richtung auf die tragischen 
Chöre; man erwartete nur einen beträchtlich reicheren künstlicheren Auf- 
putz. Gewiß dürfen wir den Spott der Komödie über ihre Auswüchse 
und die Feindseligkeit der pythagorisierenden Musiktheorie nicht zur 
Richtschnur nehmen. Was die Griechen vier Jahrhunderte lang entzückt 
hat, wird nichts Geringes gewesen sein; aber es fehlt uns, wenn wir ehrlich 
sind, jede Vorstellung von dem ausgebildeten Dithyrambus des 4. Jahr- 
hunderts und erst recht von dem der hellenistischen Periode. 

Eine ähnliche Wandelung erfuhr die Kitharodie, immer noch die vor- 
nehmste Gattung des musikalischen Vortrages. Wenn die chorische Musik, 
in der die Flöte dominierte, den Dorern gehört, so bleibt hier die Führung 
den Asiaten. Den wichtigsten Fortschritt macht Phrynis, ein Landsmann 
des Terpandros, um die Zeit der Perserkriege: er geht vom heroischen 
Hexameter zu reicheren und freieren Rhythmen über, was die Ausdrucks- 
fähigkeit ungemein steigern mußte, aber bedingte, daß er sich seine 
Libretti selbst anfertigte. Doch sind die Dichter unter den Kitharoden 
immer Ausnahmen, und auch für sie ist die ausübende Kunst das Wichtigste. 
Seit wir ein längeres Stück des Milesiers Timotheos besitzen, der eigent- 
lich der einzige klassische Kitharode blieb (tätig schon so früh, daß 
Euripides seinen Einfluß erfuhr, und noch tief in das folgende Jahrhundert), 
können wir die Gattung erst schätzen. Es war eine musikalische Leistung, 
die allem modernen Virtuosentume überlegen ist. Der Solosänger, in 
diesem Falle zugleich der Dichter, begleitet sich selbst auf der Laute; er 
singt ein langes, durchkomponiertes Lied: insofern ist es Lyrik. Aber der 
Lihcüt ist Erzählung; es war ja ehedem das Epos und verleugnet seine 
Herkunft nicht Und noch weit über Homer hinaus ist die Einführung 
der direkten Rede gesteigert: im Gesänge mußte es ganz dramatisch 
werden. Dabei ist die Sprache keineswegs das billige Geklingel italie- 
nischer Libretti, sondern in der Wortfügung zwar platt, aber in der Wort- 
wahl durch den Schmuck der Komposita, Metaphern und dergleichen über 
alles Maß verkünstelt; das Epos hat auch hier mehr beigesteuert als die 



i 

I 



i 



B. Attische Periode (480 — 320). III. Ionische Prosa. 



55 



Lyrik, doch wird unter der ausgleichenden Kraft des tragischen Liedes, 
und da z. B. Timotheos selbst auch Dithyramben verfaßte, der Unterschied 
allmählich so verwischt, daß wir außerstande sind, einem Bruchstücke 
anzusehen, aus welcher Gattung es stammt In den Versmaßen über- 
wiegen, wie in den Soli des Dramas, die ionischen Formen; doch wird 
auch hier Ausgleichung eingetreten sein. Timotheos ist mehr gelesen 
worden als die Dithyrambiker, und in den Theatern hat er sich wie sie 
die ganze hellenistische Zeit über gehalten: aber wir müssen zugestehen, 
daß er den Untergang verdiente, dem er verfiel, seit die Aufführungen in 
der Not der großen Revolution eingingen. Diese Poesie konnte es nicht 
vertragen, daß ihre Musik verklang; die des Pindar konnte es. Der 
Schluß auf den umgekehrten Wert der Kompositionen liegt nahe, aber es 
ist verwegen, ihn zu ziehen, und vor allem ist es gänzlich müßig. 

Daß die gebildete Gesellschaft Athens, nicht bloß die Dichter, die Epign 
alten Formen der gesprochenen Poesie anzuwenden verstand, aber auch 
die Dichter gelegentlich Elegieen und lamben machten, versteht sich von 
selbst; ebenso ist es natürlich, daß die Aufschriften der Weihgeschenke 
und Grabsteine aDmählich neben dem Bestreben, durch knappste Sachlich- 
keit einen monumentalen Charakter zu erzielen, auch latentes Gefühl 
erhalten und so stärker wirken als später, da sie es auch aussprechen. 
Dies alles gilt als Nebenwerk, obwohl wir gar manche Perle finden, wie 
uns die billigen Weih- und Grabreliefs oft mehr gelten als die aufdring- 
liche Tempeldekoration. Überall aber wird der Stil der Gattung streng 
innegehalten; das scheint den Griechen selbstverständlich; am deutlichsten 
wird es, falls einmal derselbe Poet sich auf vielen Feldern versucht 
Da ist ein Talent zweiten Ranges, Ion von Chios, als Mensch keine lon von cw«» 
unbedeutende Erscheinung ; er hat Perikles und Sophokles gut gekannt (t g'-K«< *")■ 
Der dichtet Tragödien, Dithyramben, Elegieen, er schreibt Prosa, eine Ge- 
schichte seiner Heimat, deren Stil wir nicht kennen, einen philosophischen 
Traktat, der mit dem pythagorisierenden Inhalt die italische Dürre über- 
nimmt, und er schreibt Memoiren in dem freiesten Plaudertone: erst hier 
ist er ganz lonier, und kein Perikles oder Sophokles, kein Athener und 
kein Westhellene hätte ihm das nachmachen können, er antizipiert den 
Hellenismus um anderthalb Jahrhunderte, wo sie es doch kaum mit so 
anspruchsloser Grazie geleistet haben. 



III. Ionische Prosa. Überhaupt ist es die Prosa, in der lonien 
sein Übergewicht wahrt, obwohl es sonst ganz in den Bannkreis Athens 
gerät, gerade auch in der Sprache, denn schon um 400 ist die äußere 
Sprachform der Urkunden fast ganz attisch. Ungehemmt geht die erzählende 
Prosa weiter, von der in der vorigen Periode die Rede war (S. 34), und 
nun wird auch manche Stadtgeschichte geschrieben. Auch Nichtionier AnUocbo. 
wie der Chronist Antiochos von Syrakus bedienen sich dieser Literatur- *'°^' 

HelUoikot 

spräche. Ein sehr fruchtbarer Schriftsteller ist der Lesbier Hellanikos, (u™ *•»). 



1 



56 Ulrich von WiLAMOwn-z-MOELLENOORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 

der die Bearbeitung auch peloponnesischer alter Chroniken ebenso liefert, 
wie in den Troika eine Geschichte von Bion, die wirklich nur Roman 
heißen kann; aber über die Form können wir nirgend urteilen. Erhalten 
Herodotos hat sich nuT Herodotos, weil er in Athen und für Athen schrieb. Die 
(t gegen 4»9) große poUtische Stimmung des perikleischen Kreises hat ihm, der als 
Untertan der Perser den Orient bereist hatte, alle Punkte gewiesen, 
von denen aus sich die Schilderungen von fernen Ländern und ihre 
Geschichte mit der Erzählung der Perserkriege in eine Einheit rücken 
ließen. Athen hat auch sein Ionisch abgetönt; zuweilen und nicht 
zum Vorteil wirkt sogar die Rhetorik ein. Er selbst hat eigenüich 
weder politisches Verständnis noch historischen Sinn noch eine feste 
und reine Weltanschauung, pendelt vielmehr zwischen Rationalismus und 
Aberglauben, und die ionische Wissenschaft ist ihm vollends fremd ge- 
blieben: dafür war er der Rasse nach eher Dorer und Karer als lonier. 
So ist er denn am liebenswürdigsten, wenn er erzählt, was er gesehen 
hat und den helläugigen Schilderungen fremder Kultur treue Berichte 
über fremde Traditionen und allerhand sehr menschliche Novellen beifügt 
Seine ersten vier Bücher werden nie veralten, gesetzt auch, die Er- 
schließung Asiens berichtigte alles einzelne, wie sie es in Ägypten getan 
hat, dessen Beschreibung übrigens durch einen vorlauten Rationalismus 
getrübt wird, der in Wahrheit von Hekataios stammt Denn was Herodot 
die „Darlegimg seiner Erkundung" nennt, schließt die Erkimdung aus 
Büchern keineswegs aus; er hat es aber vorgezogen, über diese Vor- 
gänger einen Schleier zu werfen, wie er denn durchaus nicht ohne Be- 
rechnung zu reden und zu schweigen versteht Über die alte griechische 
Geschichte gibt er ntir unzusammenhängende Novellen (ganz wenig über 
Athen; wunderbar, wie wenig dem Perikles und Sophokles an ihrem 
Solon gelegen war; die Kroisosnovelle ist nicht athenisch), und im Crrunde 
steht es kaiun anders mit der Erzählung von den Perserkriegen, wo leider 
die Möglichkeit ausgeschlossen ist, ihn zu berichtigen. Vermutlich glauben 
wir ihm inwner noch zu viel, und namentlich die scheinbar pragmatische 
Verknüpfxmg der einzelnen Geschichten hat kaum mehr Wert als in den 
Metamorphosen Ovids. So verdient Herodot persönlich wohl schwerlich 
den ganzen Ruhm seines Werkes, der vielmehr der Gattung zukommt 
Aber der Ohrenschmaus, den diese ionische Mythologie gewährt (wie 
Piaton sie nennen würde), ist doch ein im verlierbarer Gewinn, und die 
Welt wird seiner nicht satt werden, so wenig wie der Geschichten des 
Alten Testamentes. 

Aber ein Höheres ist doch, so wenig Aufhebens davon gemacht zu 

werden pflegt, daß die ionische Sprache nun reif ist, Beobachtungen und 

Gedankenreihen schlicht und sachlich vorzutragen, ohne zu stammeln und 

ohne zu deklamieren. Die Lehre des Parmenides fand auch einen 

Meiüsos samischen Vertreter, Melissos (der seine Heimat gegen Perikles, den 

(um 440). Schüler des Anaxagoras, verteidigte); es hat ihm wohl noch Mühe ge- 



B. Attische Periode (480—320). III. Ionische Prosa. 



57 



macht, seine Prosa zu schreiben, und den Späteren mußte sie rauh 
klingen; aber sie ist doch knapp und klar, ohne zur Formel zu erstarren. 
Noch in höherem Grrade gilt das von Anaxagoras, und bei ihm, der in Anai«gor»» 
Athen lebte, während die Tragödie den Gipfel erstieg und die Rhetorik '^ "'^'* "'' 
sich ausbildete, kann die Schlichtheit nur gewollt sein. Aber den ganzen 
Reichtum dieser schriftstellerischen Fähigkeiten enthüllt uns erst die 
Schriftenmasse, die unter dem Namen des Hippokrates in die alexandri- 
nische Bibliothek gekommen ist und uns zum besten Teile vorliegt. Sie 
muß uns die ganze wissenschaftliche Literatur der lonier ersetzen. Der 
Name Hippokrates hat genau so viel zu bedeuten wie Homer und Phere- 
kydes; ob von dem Koer Hippokrates, des Thessalos Sohn, den Piaton Hippokra«« 
bewunderte, auch nur ein ausgearbeitetes Werk darin ist, wird hoffentlich '^ ""'' *'"^ 
die Forschung ermitteln, die noch in den ersten Anfangen steht Jener 
Hippokrates hat am Ende des 5. Jahrhunderts in Nordgriechenland prakti- 
ziert, zuletzt in Thessalien, wo er starb und sein Geschlecht die Kunst 
fortsetzte. Die dorische Insel Kos hat für seine Schriftstellerei so wenig 
zu bedeuten, wie der dortige Asklepioskult für seine Wissenschaft Die 
erhaltenen Schriften stammen außer Bagatellen alle aus der Zeit 440 
bis 340. Da sehen wir vor allem das wissenschaftliche Lehrbuch in unüber- 
trefflicher Vollkommenheit, z. B. in dem chirurgischen Hauptwerke. Welche 
Arbeit des Denkens, welche sprachliche Schulung gehört dazu, die Knochen- 
brüche und Verrenkungen und dann die chirurgischen Operationen zu be- 
schreiben wie dort, oder die einzelnen Krankheiten durch ihre charakteristi- 
schen Symptome unterscheiden und erkennen zu lehren, wie es in dem Werke 
über die Krankheiten geschieht Noch ist es nicht geleistet, aber offenbar 
muß sich erkennen lassen, daß bereits eine ganz scharfe Terminologie aus- 
gebildet ist Das kann das Griechische (oder vielmehr Ionische) schon so 
früh, zweifellos für viele Teile der Naturwissenschaft Das Latein hat es zu 
einer Terminologie überhaupt nur in der Jurisprudenz gebracht; die modernen 
Sprachen bringen es zu keiner, es sei denn, sie borgten bei diesen beiden: 
sie brauchen Kunstwörter, Surrogate, statt der lebendigen, unmittelbar be- 
zeichnenden, die das griechische Formgefühl nicht erfijidet, sondern findet 
Dies sind Lehrbücher für Fachleute; es fehlt auch nicht an solchen, die 
sich an die Laien wenden, z. B. das umfängliche Werk über die Diät (die 
gesunde Lebensweise). Das Buch zum Lesen ist also da: Herodot hatte 
noch lediglich auf das Vorlesen gerechnet; aber das Lehrbuch des Anaxa- 
goras war so begehrt, daß es für eine Drachme auf dem athenischen 
Markte zu kaufen war. Damit war eine Straffheit der Disposition und 
eine schriftstellerische Ökonomie gefordert, von der die Historiker noch 
keine Ahnung hatten. Zahlreich sind auch in der hippokratischen Samm- 
lung die Vorträge vor einem Laienpublikum, um so vortrefflicher, je 
weniger sie von der Rhetorik infiziert sind. Auch die gnomische Stili- 
sienmg, z. B. nach Heraklit, ist keineswegs ein Vorzug. Die Aphorismen 
enthalten zwar goldene Sätze, die zum Teil noch heute fliegende Worte 



58 Ulrich von WILAM0wnz-M0ELLE^fDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 



sind (wenn auch Bismarck an Hippokrates nicht gedacht hat, als er sein 
ijiiicta non movere lateinisch zitierte); aber sie sind ein Florilegium, das zu den 
wirklichen Büchern steht wie unsere Theognissammlung zur alten Elegie. 
Reden wie die von der alten Medizin, der Methode (tt. t^x^Ic), der heiligen 
Krankheit, sind in ihrer Schlichtheit so eindringlich und so anmutig, wie 
man sich nur die Wissenschaft popularisiert wünscht Die mit Recht be- 
wunderten Epidemien, unter denen sich das einzige sicher echt hippo- 
kratische befindet, sind Aufzeichnungen zum eigenen Gebrauche, Tagebuch- 
notizen, erheben also keinen literarischen Anspruch. In ihnen und noch 
mehr in dem seltsamen Büchlein über die „Ausstattung der Arztstube" 
gibt es manchmal nicht einmal Sätze, sondern nur knappe Merkworte für 
den an ihrer Hand zu improvisierenden Vortrag. Auch dies hat der 
aristotelische Nachlaß mit dem hippokratischen gemein. Schon ein Blick 
in diese Sammlung genügt, das schädliche Vorurteil zu zerstören, das ein 
perverser Schulunterricht erzeugt, die „Alten" hätten ohne Phrasen und 
Künsteleien gar nicht reden können. 

Es ist ein Glücksfall, daß wir durch die Medizin so viele Zeugnisse 
für die ionische wissenschaftliche Prosa besitzen; wir danken es erst der 
Naivetät, die all dies auf den einen berühmten Namen schob, dann dem 
archaisierenden Autoritätsglauben, der borniert genug war, die ältesten 
Lehren der Medizin für kanonisch zu halten, weil die ältesten Werke der 
Poesie kanonisch waren. Eine ähnliche Verirrung des Urteils hat den 
Unglücksfall verschuldet, der uns um die Krone der ionischen Prosa ge- 
bracht hat Weil dem Spiritualismus der letzten Periode des Altertums 
Demokritoi Dcmokrit als Materialist ein gefährlicher Ketzer war, ist er ganz ver- 
(t 37« )• schollen oder höchstens als Etikett für Zauberbücher geblieben {die sympa- 
thetischen Kuren des modernen Aberglaubens hängen von diesem Demokrit 
ab). Die urteilsfähigsten Stilkritiker haben ihn dem Piaton an die Seite 
gestellt, und so viel lassen die Bruchstücke erkennen, daß er die Sprache 
wirklich ebenso vollkommen beherrschte, und daß er auch die höchsten 
stilistischen Aspirationen hatte. Aber wer könnte Piatons Kunst aus 
einzelnen Sätzchen ahnen? Demokrit ist noch viel vollkommener verloren 
als Archilochos; darüber dürfen etliche zierlich gerundete Gnomen (noch 
immer die altionische Kunstform) nicht täuschen. Von den Resultaten 
seiner Wissenschaft ist viel durch die peripatetische Schule gerettet, aber 
immer in die fremde attisch -sokratische Weise umgesetzt Immerhin 
gelangt man einigermaßen dazu, den großen Forscher zu würdigen. Die 
Literaturgeschichte muß sich dagegen bescheiden, den Verlust des einzigen 
Künstlers zu konstatieren, der vielleicht neben Platoii rangieren könnte. 
Es lag in der Entwickelung der Sprache, daß danach die ionische Prosa 
erlosch; Nachzügler wie der ausgezeichnete Schilderer Indiens Megasthenes 
und vollends die künstliche Imitation zählen nicht Erst nach Piatons 
Tode führt Aristoteles das rein wissenschaftliche Lehr- und Lesebuch in 
die attische Literatur hinüber, nicht ohne daß es im Wortschatze der 



I 



B. Attische Periode (480 — 320). III. Ionische Prosa. 



S9 



wissenschaftlichen Terminologie, der Fähigkeit, alles mit den bezeichnenden 
Wörtern (KÜpiai X^£eic) zu sagen, die Herkunft aus lonien bekundete. 
Die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles und die Pflanzen- 
geschichte des Theophrast, die stilistisch wohl noch höher steht, werden 
von der antiken Stillehre gar nicht gerechnet. Daraus sollen wir ab- 
nehmen, daß diese Stillehre unzureichend ist Die wissenschaftliche Prosa, 
die nichts sein will als der in Worten fixierte Gedanke, ist eine Kunst- 
form, die freilich kein Rhetor lehrt und die sich durch Imitation nicht 
lernen läßt, aber darum nicht minder ein Höchstes der Redekunst: auch 
sie quillt unmittelbar aus der Seele wie das echte lyrische Gedicht Auf 
diesen Gipfel erhebt sich das schriftstellerische Können eines Volkes am 
spätesten, denn es geht dem Volke wie dem einzelnen Menschen, dem 
(wie Piaton sagt) als reifem Manne die Wissenschaft das wird, was dem 
Kinde das Märchen und dem Jüngling die hohe Poesie war. Daß man 
auf Griechisch jede Wissenschaft denken und aussprechen kann, immer 
mit gleicher Freiheit, als gehörte sie dieser Sprache an, bedeutet noch 
mehr, als alle die unvergleichlichen Kunstformen der griechischen Poesie. 
Das Latein ist eine wissenschaftliche Sprache erst geworden, als es längst 
nur noch eine gelehrte Sprache war, und es erscheint formlos, sobald es 
nicht rhetorisch stilisiert ist. Bei uns redet Leibniz noch ganz ungefüge, 
wenn er sich des Deutschen bedient, Winckelmann und Lessing schreiben 
bewußt rhetorisch, bei Herder kommt es über Künsteln und Kunstlosig- 
keit zu gar keiner reinen Wirkung. Erst durch Goethes Farbenlehre 
erreicht das Deutsche diesen Gipfel: es wird eine Kultursprache erst, als 
die Wissenschaft deutsch denken kann. Daß diese Prosa dabei noch lange in 
ungeschlachter Formlosigkeit befangen blieb, zeigen uns die Klagen der 
Franzosen und Engländer über die Unverständlichkeit der wissenschaft- 
lichen deutschen Bücher, deren Gedanken sie doch nicht mehr entbehren 
konnten. Daran mag man ermessen, daß es dieselben olympischen Musen 
waren, die einst den ionischen Rhapsoden gelächelt hatten, und die jetzt 
dem ionischen Sophisten zur Seite standen. 

Sophist, d. i. jetzt „Gelehrter" viel eher als „Weiser", nennen sich sophuten. 
die zahllosen Leute, die ein Gewerbe daraus machen, herumzuziehen und 
in Vorträgen all das Viele und Verschiedene zu verbreiten, das die ionische 
Wissenschaft oder „Historie" (ganz wörtlich gleich Wissenschaft) zusammen- 
gebracht hat. Diese Vorträge verdrängen die der wandernden Poeten aus 
dem Interesse der bildungsdurstigen Jugend. Sie sind immer noch auf 
momentane mündliche Wirkung berechnet; die Aufzeichnung ist etwas 
Akzessorisches. Die Sophisten stammen gar nicht alle aus lonien, aber 
ionisch ist immer noch die Literatursprache, und nur allmählich, aber schon 
in der letzten Zeit des Perikles dringt die Mundart des herrschenden Stammes 
ein, obwohl die Athener in dieser Schar an Zahl und Bedeutung ganz 
zurücktreten. Die Literaturgeschichte muß von den großen Verdiensten 
schweigen, die sich diese Männer um die Verbreitung der Bildung er- 



6u Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

werben haben: ihr Werk ist es, wenn Alexander sagen kann, daß der 
Hellene unter den Barbaren wie ein Mensch unter Tieren erscheine. Und 
wenn sie überwiegend nur fremde Gedanken verbreiten und recht viel 
flaches und eitles Aufklärertum sich breit macht, so sind doch auch geist^ 
volle Anreger unter ihnen, und selbst positive Leistungen fehlen nicht 
Protagon! Protagoras von Abdera hat in der Greschichte der Philosophie Anspruch 
(t om 4I5)- auf einen Ehrenplatz: die Angriffe Piatons leisten allein schon dafür Grewähr. 
Hippias Und Hippias von Elis hat durch die VeröfiFentlichung der olympischen 
(om 400). Siegerliste einen Sinn für geschichtliche Forschung bekimdet, der von 
der platonischen Schule noch nicht gewürdigt ward. Aber literarische 
Werke, die sich neben der attischen Philosophie und Rhetorik des 4. Jahr- 
hunderts hätten behaupten können, sind freilich von keinem einzigen 
hervorgebracht 

IV. Attische Prosa. Die Athener schlugen die Schlachten und 
regierten das Reich: bei ihnen mußte eine Prosarede aus dem politischen 
Leben der Demokratie hervorgehen, deren Grnmdfeste die Gesetze Solons 
waren. In den parlamentarischen Versammliuigen ward Protokoll geführt; die 
Anträge waren schriftlich einzureichen; die Beamten berichteten von auswärts 
schriftlich an ihren Souverän, das Volk oder vielmehr seinen Ausschuß, den 
Rat Das mußte eine Kanzlei- und Gesetzessprache ergeben, und wirklich ist 
die juristische und politische Terminologie der Griechen spezifisch attisch, 
und ein Gesetz oder ein Ratsprotokoll Athens ist als Schriftwerk nicht 
minder kunstvoll, präzis und klar als eine hippokratische Krankheits- 
geschichte. Man vergleiche die Gesetze und Senatsbeschlüsse der römischen 
Republik, um das Vorurteil loszuwerden, daß Roms juristische Diktion 
eigenes Gewächs wäre: es gibt nirgend eine unbehilflichere Weitschweifig- 
keit Ganz ebenso mußte die Debatte den Staatsmann zur Beredsamkeit 
erziehen; bezeichnenderweise ist Themistokles der erste, an dem sie hervor- 
Perikies gehobcu wird. Sie ist die Waffe des Perikles. Der Höhepunkt seines 
(t 4»9)- Lebens ist die Rede, die er im Auftrage des Rates zur Feier des Toten- 
festes nach der Niederwerfung des samischen Aufstandes gehalten hat 
Indem zu einer solchen Feier nicht ein Chorgesang bei Sophokles bestellt 
und keine Musik, kein Tanz veranstaltet wird, sondern der beredteste 
Staatsmann auf einer Rednerbühne zum Volke sprechen soll, ist der fireien 
Rede der Adelsbrief erteilt Von nun ab sagt man auf attisch „Redner", 
um den praktischen Staatsmann zu bezeichnen. Aber Perikles schrieb 
seine Reden noch nicht auf, und sein Können dankte er nicht dem Rhetor, 
dem Redelehrer, der den Namen des Redners erben sollte. Der einsame 
Denker Anaxagoras hatte seinem Geiste die Tiefe verliehen, und in seinen 
Metaphern und Gleichnissen, die im Gedächtnisse der Hörer hafteten, 
klang die hohe Poesie der Zeit nach. Literarisch ist die Staatsrede noch 
lange nicht geworden, tmd auch die politische Gelegenheitsschrift, die 
freilich mit Perikles' Tode auftritt, und deren selbst die spartanischen 



S. Attische Periode (480—320). 



61 



Staatsmänner seit Lysandros nicht entraten mögen (natürlich durch fremde ■ 

Literaten), erhebt stilistisch noch keine Ansprüche. ' 

Literarisch ist die Gerichtsrede geworden, und es wäre gut, wenn die Gcrichtsndc 
Philologen sich etwas mehr überlegten, wie seltsam es ist, daß ein so 

untergeordnetes Genre im Altertum überhaupt zur Literatur gerechnet M 

werden konnte, freilich nur eine kurze Zeit Hervorgerufen hat es natür- ■ 

lieh das Bedürfnis. Die Untertanen Athens mußten dort ihre Sachen ■ 

persönlich führen, die fremden Kaufleute ebenfalls; sie mußten sich ■ 

also entweder selbst die Sprache und die Kenntnis des Rechtes aneignen ■ 

oder die Rede eines Sachwalters auswendiglemen; auch von den Bürgern | 

zogen viele diesen Weg vor. So kam es, daß sich eine Advokatur ■ 

bildete, die sehr viel Geld brachte und bald das Sprungbrett in die Staats- I 

Verwaltung ward. Das erzeugfte auch das schriftliche Plaidoyer, obwohl ■ 

sonst das ganze Gerichtsverfahren in unbegreiflicher Weise ganz mündlich I 

blieb, so daß nicht einmal das Urteil schriftlich ausgefertigt ward. Diese ■ 

wirklich gehaltenen Reden zu verbreiten, lag häufig im Interesse der ■ 

Parteien, nicht zum mindesten der Unterlegenen; sie ließen sich auch als I 

Vorlagen in ähnlichen Fällen brauchen, und davon war nur ein Schritt ■ 

zur Anfertigxmg von Musterreden; die Theorie mußte ja so wie so mit der I 

Praxis mindestens Hand in Hand gehen. Der erste Advokat, der es zu ge- " 
rechtem Ruhme brachte, den wir zum Glücke auch noch lesen, war Antiphon Antiphon 
von Rhamnus, ein vornehmer Mann aus der konservativen Fronde, die '^ *"'' 

nach dem Tode des Perikles gegen die radikale Regierung immer stärker m 

hervortrat Er hat denn auch einen Teil seiner Gerichtsreden in politischem ■ 

Interesse veröffentlicht, zuletzt seine eigene von Thukydides bewunderte I 

Verteidigungsrede, die leider ganz verloren ist. Aber Antiphon war auch M 

Redelehrer und hat sowohl wirkliche wie fiktive Reden als Musterstücke V 

veröffentlicht; wie es geht, ist dann viel Fremdes unter seinen Namen ■ 

getreten. Das Echte allein ist wirklich bedeutend. Wohl ist die Sprache m 

archaisch und borgt bei dem einzigen vornehmen Attisch, das es gab, der ■ 

Tragödie. Wohl merkt man, daß selbst dieser Techniker das Disponieren ■ 

noch nicht gelernt hat; aber ein großes Talent, juristische Schärfe, dialek- ■ 

tische Gewandtheit, starke verhaltene Leidenschaft sind unverkennbar, und m 

der Hörer glaubt, daß das strenge moralische und religiöse Pathos echt m 

seL Die modischen Mätzchen der äußerlichen Stilmittel fehlen noch fast ■ 

vollkommen: gerade darin liegt der Hauptvorzug. Mit Recht hat die I 

antike Kritik in Antiphon das Muster des Thukydides gesehen. ■ 

Erst als das Reich zerstört ist und die Reaktion der Dreißig nieder- ■ 
geworfen, beginnt Lysias sein Advokatenhandwerk. Sehr ungern; er war i.y»i" ■ 
der Sohn eines reichen Syrakusaners, der über Thurii nach Athen ein- ^* """ ^ '^ 
gewandert war und in der ersten Gesellschaft Zutritt erhalten hatte. Lysias 

war demgemäß mit der besten sophistischen Bildung ausgestattet und hoffte ■ 

durch die siegreiche Demokratie, der er sich angeschlossen hatte, in das H 

Bürgerrecht und die Staatskarriere zu gelangen. Gegen die Oligarchen, H 



^^^^V 62 UUUCR VON WlLAMOwrrz-MOELLENDORrF: Die griechische Literatur des Altertums. 

^^^^H die ihm den Bruder getötet und sein Gut konfisziert hatten, erfüllte ihn 
^^^^B ehrlicher Haß; er schrieb für die radikale Partei schon in der kritischen 
^^^^B Übergangsperiode. Aber die besonnenen Männer der Versöhnung weigerten 
^^^^B ihm d£is Bürgerrecht. So ward er Advokat, vornehmlich für die Radikalen; 
^^^^B sein Gewissen gestattete ihm aber ebensogut, die diametral entgegen- 

^^^^B gesetzten Tendenzen zu vertreten, wenn ein Angeklagter dieser Partei klug 

^^^^B genug war, seine geschickte Feder zu gewinnen. Die alten Kunstrichter 
^^^^1 bewundern daher seine Ethopöie, denn es ist wahr, er weiß den Ton der 
^^^^B gekränkten Unschuld, des harmlosen Biedermannes ebensogut zu trefifen, 
^^^^B wie den des Ehrabschneiders und des Wirtes einer eleganten Spielhölle. 
^^^^H Nur wahres Ethos, wie Antiphon oder Demosthenes, hat ein Mensch von 
^^^^H solcher Moral selbstverständlich nicht: wie würde er über die biederen 

^^^H Schulmeister lachen, die seine gepfefferten Reden als gesunde Knaben- 

^^^^B kost ins Harmlose umgedeutet haben. Und doch hatte Piaton ihn alsVer- 

^^^H treter der perversen Klügelei herausgegrifFen und in dem Mangel an 

^^^^F Disposition eine seiner Hauptschwächen getroffen. Lysias zieht, wo er 

^^^P pathetisch werden will (z. B. gerade in der Rede über den Tod seines 

^H Bruders), alle Register der Modekunst; aber das steht ihm nicht In der 

^H schlichten, weder zerhackten noch eigentlich periodisierten Sprache leistet 

^H er sein Bestes und wirklich etwas Gutes. Man hat ihn als echtesten 

^H Attiker angesprochen, mit Unrecht: da ist syrakusisches Wesen, gerade 

^H in dem Gelungensten dem Sophron verwandt In der kleinen Sammlung, 

^*^ die seinen Namen trägt, bergen sich noch mehrere gleichzeitige Redner 

: Andokidu verschiedener Art; von Andokides, in dem eine vornehme athenische Familie 
I (t n»ch 392). unrühmlich endete, haben wir drei geschichtlich sehr wertvolle Reden; 
L es gibt auch noch einiges andere, so daß man von dem, was man 

konnte und versuchte, eine gute Vorstellung hat Davon reicht freilich nichts 
an Lysias heran; aber auch er ist weder an sich noch durch seine Fort- 
wirkung für die Literaturgeschichte wahrhaft bedeutend. 
Tbukydidc« Um die Wende des Jahrhunderts ist aus dem Nachlasse des Thuky- 

(t nach 403) (jjfjes (jei- Torso des einzigen Geschichtswerkes erschienen, das Athens 
große Zeit hervorgebracht hat, von ebenso singulärer Bedeutung wie die 
Geschichte, die es erzählt Und doch war, wie man schon an Lysias 
sieht, die Form desselben eigentlich schon veraltet; denn Thukydides, der 
sich zum attischen Adel zählen durfte, hatte den Plan ein Menschenalter 
vorher gefaßt, als er noch darauf rechnete, an dem Entscheidungskampfe, 
der Helleis unter Athens Herrschaft bringen würde, selbsttätig mitzuwirken. 
Es war ganz anders gekommen; er hatte aus der Verbannung mit ansehen 
müssen, wie der Krieg sich bis ans Ende des dritten Jahrzehnts zog und 
mit der Zerstörung des Reiches, der Niederwerfung des verarmten und 
menschenleeren Athens schloß. Aber er war an seinem politischen Urteil 
nicht irre geworden und schrieb das Werk trotz allem in dem Sinne seiner 
Jugend. Das gibt ihm seine tragische Erhabenheit, der man sich gefangen 
geben soll, gesetzt auch, man wollte das politische Urteil verwerfen. Er hielt 



I 



Anisclie Puiode (480—390). IV. Attische Prosa. 63 

aber auch den Stil und die Kunstmittel fest, die er vor seiner Verbannung 
gelernt hatte, und so schrieb er in Antiphons Art, die dem neuen Gie- 
schlechte archaisch klang, und verschmähte den gorgianischen Klingklang 
nicht, der mm schon außer Mode war. Und die Künste gelingen ihm 
nicht einmal, da seine tiefen Gedanken ihm schwer von der Zunge fließen 
und Flitterkram einem so ernsten Gesichte übel stehL Nicht der wird 
dem groQea Schriftsteller gerecht, der sich die Bewunderung solcher 
Schwächen abringt, sondern der dem ernsten Denker, auch wo er stammelt, 
zu folgen sucht und die Verirrungen nicht verkennt, sondern entschuldigt, 
indem er sie geschichtlich begreift, gerade so, wie das Werk nicht voll- 
kommen, sondern erbärmlich wäre, wenn es, wie seine unphilologischen 
Bewunderer versichern, von seinem Verfasser in der Gestalt zur Veröffent- 
lichung bestimmt gewesen wäre, die es bei der Herausgabe erhellten hat 
Thukydides war ganz und gar ein Kind der Sophistenzeit wie Herodot, 
dessen Werk ihm Vorbild war, auch wo er sich im Gegensatze zu ihm 
fühlte; aber er war ein athenischer Staatsmann. Sein Horizont reichte so 
weit, wie ein solcher die Welt übersehen mußte, nicht weiter. Da war 
der ionische Reisende stark im VorteiL Von der Größe der Gegenwart 
sind beide gleichermaßen überzeugt, aber Thukydides zieht die Folgerung, 
daß alles Frühere nicht so gar wissenswert wäre, was mehr dem Staats- 
manne als dem Historiker ansteht Seine Einleitung ist großartig durch 
den Bruch mit der konventionellen Schätzung der Heroenzeit und auch 
der Perserkriege, aber es ist nichts verkehrter, als darin historische Wissen- 
schaftlichkeit zu sehen. Er hat gar nicht geforscht, wie es denn in der 
Vergangenheit wirklich ausgesehen hätte, sondern er akzeptiert die ratio- 
nalisierte Tradition und gibt nur eine Wertschätzung aus allgemeinen, 
allerdings sehr klugen Erwägungen. Erforscht hat er dagegen mit aller 
Energie und WahrheitsUebe die Geschichte seiner Zeit, die er erzählt, 
und hier bewährt sich das politische Urteil, das mit den realen Kräften 
und den individuellen Personen operieren kann. So etwas hatte es noch 
nicht von ferne gegeben. Thukydides hat erreicht, daß Perikles in maje- 
stätischer Überlegenheit vor uns steht und der typische Demagoge Kleon 
als der Affe des Perikles. Auch ohne die latente Trauer, die in dem 
fühlenden Leser sich zu einer lauten steigert, würde die Erzählung von 
dem Untergange der athenischen Expedition vor Syrakus durch ihre An- 
schaulichkeit ein Stück Erzählung sein, das keine Vergleichung zu scheuen 
hätte. Nur die großen Reden retardieren die Erzählung und lassen das 
Gefühl erkalten. Seltsam, wie das altepische Vorbild den Herodotos und 
gar den Thukydides im Banne hielt Damit war besiegelt, daß die antike 
Historiographie dies bedenkliche Sclimuckmittel nicht mehr loswerden 
koimte. Thukydides hat sich auf seine Reden besonders viel zugute 
getan; sie sind es, denen er den modischen Figurenschmuck anhängt 
Selbstverständlich hat dann der sklavische Klassizismus in ihnen das 
Höchste gesehen, während die Techniker der Rede mit Fug und Recht 




tA Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

bedenklich waren. GewiB bemüht sich Thokydides, indem er den Sprechern 
das in den Mund legt, „was für den Moment angemessen war", die 
leitenden Motive und Stimmungen zu Worte zu bringen, und er hat seine 
Leute gewiß oft etwas Tieferes sagen lassen, als sie selber imstande waren. 
Aber es bleibt doch Unnatur imd Unwahrhaftigkeit; wir würden ihn selbst 
viel lieber hören als einen obskuren Demagogen oder einen namenlosen 
Gesandten. Hinzu kommt, daß er in der Ethopöie wirklich den Lysias 
nicht entfernt erreicht Er bemüht sich kaum und nie gelingt es ihm, 
die Rede nach den Charakteren abzutönen; wirklich beredt wird nicht 
einmal sein Perikles. Thukydides war eben kein Redner, Gott sei Dank: 
so hat uns doch ein politischer Denker den Peloponnesischen Krieg er- 
zählt Gleich nach ihm bemächtigen sich die Schönredner der Historie 
und behaupten in der Folgezeit, da die Literaten den Ton angeben, das 
Feld. Seine wahrhaften Nachfolger sind die Staatsmänner, die nebenher 
die Geschichte ihrer Zeit, schrieben, wie gleich Philistos, der bedeutende 
Minister des Dionysios L, von dem wir leider stofflich wenig besitzen, und 
nichts, nach dem wir seine Kunst schätzen könnten. Aber solche Männer 
pflegen die stilistische Künstelei zu verachten oder auch wohl wirklich 
geringe schriftstellerische Vorzüge zu besitzen. Daher eignen sich ihre 
Werke nicht zu Stilmustem, und eine Zeit, in der der Rhetor den 
Ton angab, ließ sie verkommen. Als Stilmuster ist auch Thukydides 
erhalten worden, sozusagen eils Präraphaelit, weil der extreme Archaismus, 
dem Piaton zu üppig war, sich an der eckigen Strenge seiner Reden 
delektierte. Seine stilistischen Nachahmer, Sallust, Cassius Dio, Prokop, 
haben seines Geistes keinen Hauch verspürt; die modernen Historiker, die 
ihn mit Ranke vergleichen, auch nicht Comines, Macchiavelli, de Thou 
und dann die politischen Memoirenschreiber ließen sich am ehesten ver- 
gleichen ; aber die Renaissance verdirbt diu'ch das Vorbild der rhetorischen 
römischen Historie die eingeborene Kraft selbst eines Macchiavelli, der 
sonst viel Thukydideisches in der Seele hat So wird dieser ebenso wie 
Herodotos ein Einzelstem der Geschichtsschreibung bleiben, dessen Licht 
nimmer verlischt 
Rhetorik. Die Theorie der Rede, die sehr bald den Anspruch erhob, die Meisterin 

2iller literarischen Produktion und die Trägerin aller Bildimg zu werden, 
und die in der Kaiserzeit wirklich diese Herrschaft erringt, soll zuerst in 
Sjrrakus ausgebildet sein, für die Gerichtsrede, in den Wirren der Demo- 
kratie, die auf den Sturz der Tyrannis des Hieron folgte. Das erste Lehr- 
buch, einem Korax oder Teisias zugeschrieben, blieb, wie das bei den 
Griechen so geht, die Grrundlage, so viel sich auch ansetzte und umsetzte. 
So können wir getrost mit einem Lehrbuche der demosthenischen Zeit 
operieren, das ein Betrüger der hellenistischen Zeit dem Aristoteles zu- 
geschrieben hat, die Modernen dem Anaximenes. Die Hauptteile einer 
Rede werden unterschieden; die Hauptgesichtspunkte aufgestellt, von denen 
man die Sache betrachten müßte, um die Argumente zu finden, die ver- 



^ 



V B. Attische Periode (480—320). IV. Attische Prosa. 65 

schiedene Haltung (cx^Ma) erörtert, die für dies und jenes angemessen wäre 
(tö TTpcnov). Man bekommt von dem, was für die inventio geleistet ward, 
einen guten Begriff, wenn man Reden des Thukydides und Euripides schema- 
tisiert Diese bestätigen, daß die Anordnung und Verknüpfung der einzelnen 
Gedanken noch ganz kunstlos blieb. Aus einer ganz anderen Gegend, 
vom Bosporus, also aus Reichsstädten, aber auch aus dorischem Gebiete, 
stammten Thrasymachos und Theodoros, die in Athen, also in attischer 
Mundart, zuerst mit großem Erfolge die Theorie ausbauten und lehrten. 
Thras)miachos muß hochbedeutend gewesen sein: das zeigt die Schärfe, rh™).u*<:ho. 
mit der ihn Piaton angreift ; Theophrast, der berufenste Kritiker, bezeichnet ^'""'* '"" '^*''' 
ihn als das erste Muster des besten Stiles, der für den Peripatetiker der 
Mittelweg zwischen Lysias und Gorgias ist. Er hat das psychologische 
Moment, die Berechnung der Wirkung auf die Affekte der Hörer, stark 
betont; er hat die einzelnen Gedanken formal zu einer Einheit zusammen- 
zuschließen gesucht, also die Periodenbildung angestrebt; sein ist die folgen- 
schwere Anregung, mit der Poesie darin zu wetteifern, daß ihr Grund- 
prinzip, die Quantität der Silben, auf die Prosa übernommen ward, jedoch 
streng im Gegensatze zur Poesie, so daß die Wiederkehr des festen 
Maßes und überhaupt die in der Poesie üblichen Quantitätskomplexe streng 
gemieden werden. Das ist der Prosarhythmus, in dessen Wesen es liegt, 
daß er verdorben wird, sobald man ihn irgendwie in ein festes Schema 
preßt (die Annahme einer Responsion macht ihn geradezu widersinnig), 
und der in der Tat ein künstlerischer Fortschritt über die ionische und 
alle archaische Rede ist Den stärksten Anlauf nahm auch hier ein lonier, 
Gorgias, aus dem sizilischen Leontinoi, der sich aber der attischen üorgi« 
Mundart bediente, wenn auch, ähnlich wie in der Tragödie, einer ioni- '"" ""'' 
sierenden. Er ging nicht auf die Gerichtsrede aus, sondern auf den 
Vortrag, wie ihn die ionischen Sophisten übten; aber er erstrebte 
geradezu die Konkurrenz mit der Poesie, von der er auch die „schönen 
Wörter" und den Ersatz der schlecht und rechten Bezeichnung der 
Dinge namentlich durch die Metapher übernahm. Er zerlegfte den Ge- 
danken in antithetische Glieder, suchte diese so ziemlich gleichlang zu 
machen und womöglich durch die Assonanz oder den Reim zu verbinden. 
Wir dürfen solche Produkte wirklich kaum noch Prosa nennen. Diese 
Künste waren zuerst so mühsam und wirkten auf das Ohr so bezaubernd, 
daß der Inhalt zu kurz kam, aber zu kurz kommen durfte. Ein begabter 
Tragiker wie Agathon, ein Thukydides haben sich diesem Zauber nicht 
entzogen. Es konnte nicht ausbleiben, daß der Reiz sehr riisch verflog, 
sobald sich herausstellte, daß alles, was nur Mache ist, sich sehr bald 
lernen läßt Aber die Anregung blieb, und immer wieder hat das Stil- 
prinzip, statt voller Periodisierung lauter kurzatmige Glieder zu bilden, 
seine Verehrer gefunden (wie eben heute wieder), und die Klangwirkung 
statt der Quantität, der Reim als Bindemittel, ist schließlich so ziemlich 
in aller modernen Poesie zur Herrschaft gelangt Denn Thrasymachos, 

UlB KuLIl'« DEK GtGUlWAKT. I. 0. 5 



66 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

der Dorer, und Gorgijis, der lonier, vereinigen sich, um die attische 
Kunstprosa zu gründen, die über alle Wechsel der Zeiten und Stile hin 
in ungebrochener Kontinuität herrschend geblieben ist, solange Griechisch 
kunstmäßig geschrieben ward, also zweitausend Jahre, die durch die 
lateinische Kunstprosa aber auch den Okzident reden und schreiben ge- 
lehrt hat. Frankreich hat den Primat in dieser schwersten Kunst des 
Prosaschreibens dadurch errungen, daß es diese Schule ganz durch- 
gemacht hat, allerdings indem es dann die Fesseln der Imitation sprengfte. 
i»okr»t« Der athenische Mann, der die formale Bildung des Verstandes durch 

(«6— ««)• die Redekunst mit vollem Bewußtsein als die einzig wahre Menschen- 
erziehung gepredigt und geübt hat, der wirklich den Ruhm (oder vielmehr 
die Schuld) beanspruchen kann {und beanspruchte), der König der Rhetorik 
zu sein, den die allgemeine Bildung als ihren Ahnherrn verehren sollte, 
ist Isokrates. Ausgerüstet mit der Schulung, die das 5. Jahrhundert einem 
bemittelten Athener aus gutbürgerlicher Familie gewähren koimte, hat 
er zuerst auch die Advokatur versucht, aber bald gelassen, nicht weil er 
zum persönlichen Auftreten zu schüchtern war, wie er angibt, denn das 
hatte er nicht nötig; es fehlte ihm vielmehr die juristische Begabung 
ganz, die Ethopoeie und der Humor des Lysias auch; er war auch zu red- 
lich für dies Handwerk. Die erhaltenen Reden verleugnet er, aber sie 
tragen den Stempel seiner Mache und sind vortrefflich, nur nicht als 
Plaidoyers. Wohl nicht ohne bewußte Abrechnung mit der Sokratik, die 
er entstehen sah und von der er den klangvollen Namen Philosophie für 
seine Unterweisung borgte, trat er mit dem Ansprüche der Sophisten auf, 
die Jugend allseitig tüchtig zu machen, und hat unter immer stärkerem 
Zulauf über fünfzig Jahre gelehrt, bis zur Schlacht von Chaironeia, Eine 
nicht gerade sehr große, aber doch ansehnliche Reihe von Musterreden hat 
er daneben ausgehen lassen, die wir alle besitzen, als Kunstwerke von 
der gleichen Vollendung wie die Dialoge Piatons. Es ist ziemlich 
einerlei, welche Einkleidung sie zeigen, denn der Stil ist derselbe und 
aus allen Masken redet Isokrates, am besten natürlich, wenn er aus 
eigener Person spricht {nur nicht von der eigenen Person, sonst muß 
man sich vor der Stärke des Eigenlobes die Nase zuhalten). Mehr als 
einmal hat der Journalist höchst geschickt die Unterströmung der 
momentanen Politik so vor das Publikum gebracht, daß er es fortriß. 
Den Ruhm, dem zweiten Seebund Athens und der unitarischen Politik 
König Philipps den Weg bereitet zu haben, [kann dem Isokrates niemand 
nehmen; daß er ein redlicher Patriot war, sollte man ihm auch zugestehen; 
rechts und links schreiben zu dürfen, hat er als Journalist als sein gutes 
Recht betrachtet Er hat auch einem recht zweifelhaften Kleinkönig ein 
Manifest an seine Untertanen verfaßt und an ebendiesen einen Regenten- 
spiegel gerichtet, der in verschiedenen Zeiten des Absolutismus immer 
wieder umgearbeitet worden ist: Gibbon hat gar einen seiner trivialen 
Moralsprüche gewagt mit dem Evangelium Jesu zusammenzustellen. Aber 



B. Atäscbe Periode 'ASo—yxt). IV. Attisdife Prosa. 



67 



Isokrates hat keinen Gedanken ausgv-^rochen (es sei denn über seine 
Kunst), der ihm eigen gewesen wäre, und am glücklichsten ist er, wenn 
er Gemeinplätze behandelt. Wer's mit Voltaire hält, mu8 allem, was 
er gfeschrieben bat, die Existenzberechtigxuig abstreiten, denn unstreitig^ 
gehört alles zum genre ennuj-ant W^tz und Humor ist ihm ebenso wider 
die Natur wie der Ernst der \Vissenschaft, und das ^Individuelle können 
ja die Hohenpriester der allgemeinen Bildung niemals vertragen. Aber 
einen Stil hat dieser Athener geschafiFen, so vollkommen wie der 
dorische TempeL Was die ältere Rhetorik lieferte, waren tastende 
Versuche, oder sie gfingen nur das Omamentale an. Isokrates, der 
Vollender der Periode, bedient sich aller dieser dekorativen alten Zierate, 
des Rhjthmus und der Assonanz, der Antithese und der Symmetrie der 
Glieder, aber er baut einen jeden Satz zu einem in sich geschlossenen 
harmonischen Ganzen aus. Die antike Kritik hat eine solche Periode 
passend mit einem Gewölbe verglichen, dessen Steine durch ihre kunst- 
reiche Fügung einander stützen und tragen. Aber auch die einzelnen 
Sätze, so umfänglich sie sind, vereinigen sich wieder zu einem größeren 
Gefüge, und indem eine Summe solcher Satz- und Gedankenkomplexe 
nicht ohne elegante Fugung und Omamentierung aneinandergereiht werden, 
so daß die Ordnung dem Hörer zum Bewußtsein kommt, stellt sich auch 
die Rede als ein Ganzes dar. Es ließ sich das gar nicht machen, ohne 
daß die Gedanken bewußt gedreht vmd gewendet wurden, bis sie sich in 
eine solche Form fugten, wobei es ohne etliche hohle Füllstücke selten 
abging. Es mußten auch Schemata gefunden werden, die mindestens den 
Schein eines logischen Fortschrittes erweckten. Gewiß haben die Schüler 
Beträchtliches für ihre Fähigkeit zu denken gelernt, wenn sie anordnen 
mußten „Behauptxmg, Begründung, Ausführung der Begründung, Schluß«, 
wobei die Ausführung z. B. auch in der Form eines Bildes oder einer 
.\nalogie sich geben ließ. Dann konnte etwa ein Einwurf folgen, wieder 
in solcher Vierteilung, und dann die Widerlegung des Einwurfes und so 
weiter. Man beginnt sich eben jetzt darüber klar zu werden, daß die 
Fähigkeit zu denken und sich auszudrücken größer war, als das Latein 
noch allgemeine Bildungssprache war und die Schüleraufsätze sich in 
solcher Chrienform bewegten. Der Ausdruck im einzelnen, Wortwahl und 
Wortfügung, Rhythmus und Klang, durfke es mit der gleichzeitigen Poesie 
ganz wohl aufnehmen, gerade weil er sich ängstlich davor hütete, in das 
Poetische zu verfallen. Isokrates ist aber auch ohne Frage der Ansicht 
gewesen, die in der Kaiserzeit herrschend ist, Poesie wäre nur eine unter- 
geordnete Gattung der Beredsamkeit. Denn er hat mit den alten Dicht- 
gattungen bewußt gewetteifert Wenn er eine Lobrede auf Euagoras 
schreibt, so ist das ein Enkomion: die Prosagattung erbt den Namen aus 
der Lyrik, der doch ein Lied zum Festzug bedeutet Auch die Gnome 
im Sinne des Moralspruches hat Isokrates gepflegt, mehr um mit Theognis 
und Solon zu rivalisieren, als mit Heraklit Die Heldensage und Historie 

5* 



JLRICH VON WttAMOwrrz-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 



hat er in seinen Festreden behandelt, nicht ohne an die Tragödie zu 
erinnern, ja er hat in seine letzte Rede eine Art Dialog eingelegt, es mit 
Piaton aufzunehmen, wie denn seine Verteidigungsrede (die Antidosis) der 
Welt zeigen sollte, wie sehr er dem Sokrates überlegen wäre. Sie zeigt 
denn auch unfreiwillig die Hohlheit seines Wesens in mitleidloser Schärfe. 
Man darf wohl sagen, daß es eine entscheidende Probe auf das Verständnis 
griechischer Kunst ist, ob man für den Zauber der isokrateischen Rede 
empfänglich ist: denn die Stilisierung, das Technische, ist es, wodurch sie 
klassisch wird. Man muß dann aber ebenso sagen, daß es eine Probe 
für das Urteil über Kunst überhaupt ist, ob man dieser Kunst die Existenz- 
berechtigung zuerkennt: denn diese Schönheit ist absolut leere Form, leer 
an Inhalt, leer an Seele. Wo wäre bei Isokrates ein sinnliches geschautes 
Bild, ein ursprüngliches Gefühl, ein Wort, das man nimmer vergäße? 
Wenn er geworden wäre, was er wollte, was er so ziemlich in der 
herrschenden Theorie und Praxis der Kaiserzeit geworden ist, der Lehr- 
meister hellenischer Bildung, so müßten wir die unsere sorglich vor diesem 
Kontagium bewahren. So aber, die Poesie und Wissenschaft der Hellenen 
vor Augen und im Herzen, mögen wir Modernen, zumal wir Deutschen, 
zur Formlosigkeit nur zu geneigt, recht Beherzigenswertes daraus ent- 
nehmen, daß die vollendete Herrschaft der Form es wagen darf, Poesie 
und Wissenschaft in die Schranken zu fordern. 

Dieser rhetorische Stil, der für jede Aufgabe erhabener Art gleich an- 
gemessen schien, hat sofort die Herrschaft erlangt; die zahlreichen Kon- 
kurrenten des Isokrates sind schon bei seinen Lebzeiten ganz in den Schatten 
getreten. Wir haben nur von Alkidamas aus dem äolischen Elaia etwas, 
und das erhöht nur die Schätzung sowohl der Theorie wie der Praxis 
des Isokrates. Selbst Aristoteles sah sich veranlaßt, die rhetorische Aus- 
bildung mit in den Unterrichtsplan seiner Schule aufzunehmen. Indem er sie 
auf die Basis der Logik stellte, deren Schöpfer er war, hat er sie zur 
Wissenschaftlichkeit erhoben; aber in der Praxis stand er stärk unter dem 
Einflüsse des Isokrates. Nicht nur, daß er eine Anzahl von dessen Reden 
offenbar als Musterstücke im Gedächtnisse seiner Schüler voraussetzt: er 
schreibt für das große Publikum sehr viel mehr isokrateisch als platonisch. 
Das hat der Athenerstaat gelehrt. Die Historie hatte Isokrates selbst als 
die vornehmste Aufgabe für den hohen Stil seinen beiden begabtesten 
Schülern gewiesen, und Ephoros und Theopomp haben für die nächsten 
Jahrhunderte vielen den Herodot und Thukydides ersetzt. Ihre Werke 
imponieren schon durch den Umfang: sie haben zuerst die Teilung in 
Bücher schon durch ihre Verfasser erfahren, für die Ökonomie der Schrifl- 
stellerei ein sehr wichtiger Fortschritt 
Ephoro« Ephoros von Kyme wollte den Hellenen ihre ganze Geschichte 

<t MC jjo). erzählen, und einigermaßen ist er ihr Livius geworden; mit dem hat er 
überhaupt einige Verwandtschaft. Der Strich zwischen mythischer und 
historischer Zeit, den er zog, der Standpunkt im Mutterlande, bis zu den 



B. Attische Periode J480— 320). IV. Attische Prosa. 



69 



Perserkriegen im Peloponnes, dann in Athen, ist bis auf die allemeueste I 

Zeit herrschend geblieben. An Herodot und Thukydides können vnr | 

kontrollieren, wie Ephoros inhaltlich sich einem Gewährsmanne anschließt, J 

obwohl er auch hier einzelnes nachträgt Man darf nicht sagen, daß er I 

das Geschäft der StofiFsammlung nachlässig besorgt hätte; er hat sogar I 

eine Darstellung der Geographie gegeben (es ist eine schlimme Ver- I 

Säumnis, daß dies Buch noch nicht wieder hergestellt ist). Aber wenn I 

man nicht den ilachen Rationalismus dafür gelten läßt, besitzt er kaum I 

ein Interesse an der Ermittelung der Wahrheit und keine Kritik. Er hat ■ 

auch keine praktische politische Tendenz; nur fordert natürlich die I 

Geschichte von Hellas panegyrischen Ton, und auch die Tatsachen muß 1 

man danach modeln: der Rhetor hat die Freiheit des Tragikers. Nichts I 

deutet darauf, daß er den Versuch gemacht hätte, die Bilder einzelner I 

Personen plastisch herauszuarbeiten. Es würde vermutlich eine ziemlich 1 

langweilige Lektüre sein; aber die Wort- und Satzfügung würde mindestens 1 

ein sehr überlegtes Wollen zeigen: Ephoros hat fein über den Rhythmus I 

geschrieben. 

Bei Theopompos von Chios sieht das anders aus. Er stand im poli- Tbcopompos 
tischen Leben, hatte die weite Welt gesehen, war journalistisch vielfach (t »«cb j«o) 
tätig und schrieb daher mit ausgesprochener Tendenz. Erst führte er die 
Erzählung des Thukydides bis zum Zusammenbruch der spartanischen Herr- 
schaft in Asien (für das der Chier das gebührende Interesse hatte): 
darin lag ein berechtigtes Urteil und eine Kritik sowohl des Thukydides 
wie des Xenophon. Dann fand er den richtigen Standpunkt für die Zeit- 
geschichte, indem er sie die philippische nannte und seinen Helden 
gleich im Eingange einführte und charakterisierte. Kritik trieb er sogar 
geflissentlich in retrospektiven Exkursen, und das Bild manches Stciats- 
mannes hat dauernd die Züge getragen, die er ihm gab. Und doch war 
auch er kein Historiker; seine Kritik war die eines Advokaten, und 
stilisiert hat er alles nach dem Belieben und mit dem Gewissen eines 
Rhetors. Dabei trug er mit grobem Pinsel auf, und wer nur die grellsten 
Töne anwendet, wird am ehesten monoton. Daß er mit dem kitzligen 
Schauder der moralischen Entrüstung besonders das Skandalöse pflegte, 
machte ihn doch nicht einmal amüsant, denn die rhetorische Mache ver- 
langte nun einmal, sich in Allgemeinheiten zu bewegen. Das ist das 
isokrateische Erbe, das beiden gemeinsam ist. Endlose Schlachtgemälde 
hat Ephoros entworfen: sie sind alle ziemlich über eins, und historisch 
brauchbar sind sie alle nicht. Pol3'bios ließ die Seeschlachten gelten, weil 
er von denen nichts verstand; sie sind in Wahrheit ganz desselben Kalibers. 
Endlose Charakteristiken von Menschen und Völkern hat Theopomp ge- 
liefert: man könnte sie dreist auf die Antithese gute und schlechte Menschen 
verteilen. Dieser wollte nun gar tief sein und den Piaton übertreffen, da 
er die Sokratik zu hassen als Rhetor verpflichtet war, und sie bei Philippos 
anzuschwärzen persönliche Veranlassung hatte. Daher legte er mytho- 



70 UuucH VON WiLAMOWiTZ-MoELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 

logfische Dichtungen ein und versuchte sich an einer Utopia. Er wollte 
auch mit der ionischen Erdkunde wetteifern und flocht allerhand Natur- 
wunder ein, wie er denn den Rationalismus des Ephoros nicht teilte. 
So hat er es in der Tat erreicht, die Leser zu fesseln, und sein Haupt- 
werk war zum gfrößten Teile noch im 9. Jahrhundert vorhanden. Wir 
haben, abgesehen von dem unschätzbaren stofflichen Verluste, zwar schwer- 
lich ein großes Kunstwerk verloren, aber nicht nur ein Werk, das jahr- 
hundertelang dafür galt und als solches wirkte (hat doch Trogus seine 
Weltgeschichte nach ihm Philippicae historiae benannt), sondern auch das 
Werk eines geistreichen Menschen: die rhetorisierte ionische Historie. 

Auiimenes Über die eingelegften Reden dieser beiden Isokrateer haben wir kein 

("■» HO) Urteil; wohl aber ist dieser Tage bekannt geworden, wie es einer der 
minderwertigen Konkurrenten der isokrateischen Theorie und Historie damit 
gehalten hat Der Brief des Philippos vmd die Gegenrede des Demosthenes 
stammen in Wahrheit aus dem Geschichtswerke des Anaximenes von 
Lampsakos. Jenen hatte er auf Ghrund der originalen Depesche der 
königlichen Kanzlei verfertigt, unter Beseitigung von Detail, das ihm 
imwesentlich schien, und Umsetzung in seinen Stil Den großen Redner 
aber wollte er auch im Stile wiedergeben, schrieb also Stücke aus publi- 
zierten Reden zusammen und erreichte so allerdings den Klang; zur 
Sache sprach Demosthenes dann freilich eigentlich nicht, aber die All- 
gemeinheiten taten ihre Wirkung. Die Entdeckung wird für die Historiker 
und Redner noch mehr Früchte tragen: wie nahe sich beide im Stile stehen, 
liegt nun zutage. Anaximenes gehörte zu den Publizisten, die Alexander 
als sein literarisches Bureau nach Asien mitnahm; seine Taten zu be- 

Kaiiisthroi-» schreiben hatte er aber in erster Linie den K^llisthenes beauftraget, den 
(t 3»7)- Neffen des Aristoteles, der unter diesem archivalische Studien getrieben 
hatte, auch schon eine Zeitgeschichte verfaßt Die Alexanders schrieb 
er im unerquicklichsten salbungsvollen Bulletinstile, bis er in eine Hof- 
kabale verwickelt den Freisinnigen zu spielen versuchte und elend za- 
gende g^ng. Sein Oheim hat von ihm gesagft, er wäre ein vorzüglicher 
Redner, es fehlte ihm nur der gesunde Menschenverstand. Es ist zu 
beherzigen, daß er ihn gleichwohl als Prinzenerzieher und Historiker 
empfohlen hat 

Gerichtiredc. Nicht aus der Schule des Isokrates hervorgegangen, aber ohne sie 

nicht denkbar ist die praktische Beredsamkeit Athens, deren Glanz den 
Zusammenbruch des athenischen Staates mit einer so leuchtenden Aureole 
umgeben hat, daß sich der Nachwelt das Verhältnis der Macht und des 
Rechtes zwischen Makedonien tmd Athen vollkommen verschoben hat 
Neben den drei großen Rednern Aischines, Hjrpereides, Demosthenes 
besitzen wir noch eine ansehnliche Zahl von Werken benannter und 
unbenannter Redner der Zeit, so daß wir das Verdienst der einzelnen 
gegenüber dem der Gattimg völlig abschätzen können. Es kostet einige 
Überwindimg, die Miasmen dieser sittlichen Fäulnis einzuatmen (es sei 



B. Attische Periode (480— jao). IV. Attische Prosa. 



7» 



denn, man läse nur Worte), denn juristische und moralische Gerechtigkeit 
scheint nur als schöne Redensart zu existieren. Advokaten und Parteien 
sind einander wert, jeder darf jedem jede Gemeinheit zutrauen und ins 
Gesicht schleudern; mit den Herren Richtern macht man eine Ausnahme, 
aber das ist Redensart Die Schamlosigkeit der Verleumdung, die Ver- 
pestung der Phantasie, die Grobheit der Lüge übersteigen fast das Maß 
des Vorstellbaren. Dieser Staat und diese Gesellschaft haben das Existenz- 
recht verwirkt, nicht weil die Menschen wirklich durchgehends so ver- 
worfen gewesen wären, aber wohl, weil sie diese Institution der Selbst- 
entwürdigung duldeten oder vielmehr hochhielten. Aber auch in dem 
Sumpfe dieser Gesellschaft und dieser Beredsamkeit sind Blüten ge- 
wachsen, deren Duft und Farbe vergessen lassen, wo ihre Wurzel ist 
Aischines ist in der Verwaltimg hochgekommen, von der er wirklich 
fachmännische Kenntnisse hat; publiziert hat er nur drei Reden in eigener 
Sache. Er hat mehr literarische Bildung als die beiden anderen, aber 
auch bei ihm geht sie nicht tief; daher prunkt er gern mit ihr. Ebenso 
geflissentlich trägt er die Moral der Väter, konservative Gesinnung und 
athenischen Patriotismus zur Schau. Er konnte das alles besitzen und 
dabei überzeugfter Vertreter einer makedonerfreundlichen Politik sein. 
Verkauft hat er sich dem Philippos ebensoviel und sowenig wie 
Demosthenes dem Harpalos, obwohl sie beide fremdes Geld genommen 
haben: man soll sie beide an dem Maßstabe der Moral ihrer Zeit und 
ihres Standes messen. Aber vor den athenischen Geschworenen durfte 
Aischines seine politische Gesinnung nicht bekennen, er mußte heucheln, 
und so ist seine Stellung von vornherein schief. Auch wird der Appell 
an Freiheit und Vaterland immer mächtiger wirken als die Pose der 
Tugend und Besonnenheit Geradezu anwidern müssen die hämischen 
und hinterhaltigen Angriffe, mit denen er Demosthenes wegen des Uaheiles 
von Chaironeia zu stürzen trachtete, obwohl dieser schon jahrelang mit 
Erfolg und Selbstverleugnung daran arbeitete, den Schaden wett zu machen. 
Darüber vergessen wir, daß Aischines gegen Ktesiphon juristisch ganz im 
Rechte war, und gönnen ihm, daß er nach Rhodos entweichen und Rede- 
lehrer werden mußte. Aber in der Gesandtschaftsrede liegen die Sachen 
genau umgekehrt: und da ist es nicht die Kunst, sondern das echte Ethos 
der gekränkten Unschuld, das ihm die Überlegenheit sichert Aber auch die 
Kunst ist geradezu vortrefflich: die Erzählung der Gesandtschaften nach 
Makedonien und in der Kranzrede etwa die von den delphischen Er- 
eignissen haben in der griechischen Literatur nicht ihresgleichen. Die 
detaillierte und immer anschauliche Darlegung der Tatsachen suggeriert 
dem Hörer durch die sorgsam abgewogene Farbengebung unwillkürlich 
das Urteil: das versucht Demosthenes gar nicht, schon weil ihm die 
Ruhe fehlt Und während dieser jeden Gegner, den er charakterisieren 
will, zu einem ganz unvorstellbaren Popanz macht, hat Aischines in der 
Gesandtschaftsrede von Demosthenes selbst bis in die kleinsten Züge ein 



' nach _;jo) 



72 Ulrich von Wilamowitz-Moeij^ndorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Bild entworfen, das gewiß verzerrt ist, aber nicht nur ein mögliches 
Charakterbild, sondern ohne Frage ähnlich. 
Hyp«r»idr» Hypereides und Demosthenes waren beide in der Advokatur hoch- 

tw— j»i) gekommen, und der erstere ist eigentlich dabei geblieben, auch wenn er 
zuzeiten mit wenig Einsicht und Geschick an der Staatsleitung teilnahm; 
er wünschte das viele Geld, das er zu machen verstand, mit Behagen und 
ohne Skrupel zu genießen. Es bekam seiner Kunst ebenso schlecht wie 
seiner Person, als er den geistig überlegenen Parteigenossen in der 
harpalischen Sache vor Gericht zog, noch mehr, als er den Gefallenen des 
Lamischen Krieges eine hochtrabende Lobrede hielt. Dagegen das 
Plaidoyer hat er ganz auf die Höhe gefuhrt, deren es fähig ist, gerade 
weil er sich von jedem Versuche fernhielt, es in die Region des Er- 
habenen zu fuhren, also nicht eine Prügelei als Haupt- und Staatsaktion 
behandelte, wie es Demosthenes in seiner Rede wider Konon tut 
Hypereides ist wahrlich alles andere als ein Dilettant oder Improvisator; 
geht man ihm auf den Grund, so staunt man über die kunstvolle An- 
ordnung und Verknüpfung der Gedanken: es ist sehr nützlich, Lysias zu 
vergleichen. Aber er gebärdet sich, als spräche er nur so von der Leber 
weg; alle äußerlichen Kunstmittel der Thrasymachos, Gorgias, Isokrates 
verschmäht er. Man sieht ihn vor sich, wie er mit eleganter Nonchalance 
den Philistern auf den Richterbänken imponiert, leise schmunzelnd, wenn 
es ihm gelingt, sie gründlich zu düpieren. Und wenn er eine Sache zu 
führen hat, die juristisch vollkommen hoffnungslos ist, wo sein Klient 
nur mit seiner kolossalen Dummheit auf das Mitgefühl der Herren Richter 
spekulieren kann, wie in der letztgefundenen Rede gegen Athenogenes, 
da ist er vollends in seinem Elemente. Etwas Humor muß man freilich 
selbst besitzen, um ihm nachzukommen. Es ist ganz in der Ordnung, daß 
die Schulrhetoren ihn beiseite warfen und die attizistischen Wortklauber 
daran Anstoß nahmen, daß er Vulgarismen aufnahm; wir kennen ihn daher 
nur aus antiken Büchern, die um so nachdrücklicher für seine dauernde 
Beliebtheit bei dem Lesepublikum zeugen, wohl auch bei den praktischen 
Advokaten. Für ein freieres Urteil wirkt gerade durch den Kontrast zu 
seinen Genossen der spiritus Grat'ae ienuis Camenae in ihm besonders 
wohltuend. 
Denioubene. Der Geist dcs Dcmosthcnes ist ein ganz anderer. Kein Hellene 

(J84-.12I) j^^^ diese Glut der Leidenschaft, die nur heißer brennt, weil sie durch 
die Strenge der äußeren Haltung, die anerzogene ciuqtpocüvti nieder- 
gehalten ist Seine Rede ist eine sehr komplizierte Maschine, nur ge- 
naueste Kenntnis und gespannteste Aufmerksamkeit kann sie bedienen, 
aber die bewegende Kraft ist allein ein unbändiger Wille, und was in 
dem Hörer erzeugt werden soll, ist wieder Wille, Entschluß, Tat Die 
Worte an sich können um der Form w^illen sehr oft wie Isokrates klingen, 
und doch ist innerhalb derselben Stilgattung kein größerer Gegensatz 
denkbar. Jenem dienen auch die Taten nur zu Worten, hier wird das 



B. Atäsclie Periode (480— jaoX IV. Attkcbe Prosa. 



73 



Wort selbst zur Tat. Für seine literarische Gröfie kommt nichts darauf 
an, daß er als .\dvokat von einer Partei zur anderen übersprang und daA 
er die Gepflogenheiten der Parlamentarier seiner Zeit übte, um /ur Macht 
zu kommen. Auch die Berechtigung seiner Politik ist dafür unwesentlich. 
Aber daß er an die Größe .\thens und der Demokratie glaubte und für 
sein Ideal lebte und starb, ist sehr wesentlich, denn es gibt seinen Reden 
den Stempel des echten Gefühles und läßt die nur zu häßlichen Menschlich- 
keiten vergessen. Was ihn zum Klassiker macht, sind nicht die Erzeug- 
nisse seiner Advokatentätigkeit, so vorzügliche darimter sind, sondern aus- 
schließlich seine Staatsreden. Es ist aber notwendig, daß man sich klar 
macht, was diese sind. Bisher hatten die Staatslenker Athens nur durch 
das Wort gewirkt; noch der \-ielbewunderte Kallistratos hatte nichts von 
seinen Reden veröffentlicht Es gab auch neben Demosthenes einfluß- 
reiche und sehr beredte Staatsmänner, die an das Niederschreiben gar 
nicht dachten, wie Demades, den Theophrastos, der beide gehört hatte, 
über Demosthenes stellte. Eigentlich ist dieser auch der einzige geblieben, 
der solche Staatsreden publiziert hat; ein paar Nachzügler dienen höchstens 
als Folie. Vergleichen möchte man nur den Aristoteliker Demetrios von 
Phaleron, einen ausgezeichneten Staatsmann, den Cicero als Redner immer 
bewundert hat; aber er ist verschollen. Es ist also etwas geradezu Neues 
gewesen, als Demosthenes in den fünfziger Jahren Reden vor das 
Publikum brachte, die sich gaben, als hätte er sie vor dem Volke ge- 
sprochen. Gesprochen wird er wohl in dem Sinne haben, aber wirkliche 
Reden sind sie dennoch alle nicht Auch im athenischen Parlamente gab 
es eine Tagesordnung, an die der Redner gebunden war, luid auch dort 
mußte man seine Anträge formulieren. Die Debatte verlangt Beziehungen 
auf die Vorredner und Vorlagen. Wohlgerundete Perioden und die pein- 
lichst temperierte Wortwahl sind nicht geeignet, eine tausendköpfige 
Menge zu bewegen. Aischines erzählt uns auch, daß Demosthenes vor 
dem Volke ganz anders sprach. So ist denn diese Rede in Wahrheit 
Pamphlet; die Engländer können das verstehen und benennen, weil sie 
ein wirklich parlamentarisches Leben haben. Diese Pamphlete stehen der 
Publizistik des Peloponnesischen Krieges und den vorgeblichen Staatsreden 
des Isokrates viel näher als dem Plaidoyer. Wir haben uns zu denken, daß 
sie in den tausend Klubs, in den Hallen und Gymnasien .\thcns vor- 
gelesen wurden, sobald sie erschienen, denn laut muß man sie auch heute 
lesen: den Vortrag hat Demosthenes selbst das Wichtig.ste an der Rede 
genannt Seine Schriften entsprachen in Tendenz und Wirkung seinem 
lebendigen Worte: aber als Schriften waren sie neu stilisiert. Das brachte 
mit sich, daß er nicht zu dem souveränen Pöbel der Pnyx zu reden 
brauchte, sondern zu dem idealen Volke der Athener. Tn der Kranzrede 
(die man immer zu den Staatsreden gerechnet hat) führt er seine Sache 
gleichsam vor den großen Ahnen zugleich und vor der Nachwelt So ist 
denn auch der Gegenstand, über den er spricht, niemals bloß ein kleiner 



j^ UuucH VON WiLAMOWiTZ-MOELLENiK)RFF: Dic griechische Literatur des Altertums. 

Punkt der Tagesordnung, und er braucht sich um keinen Präsidenten zo 
kümmern. Er spricht immer über die ganze politische Situation; gilt es 
einmal einer speziellen Frage, wie in dem üblen Handel des Diopeithes, 
so hängt die ganze Politik daran. Für uns hat das den Nachteil, daß wir 
nur äußerst schwer erfassen, wohin er mit den möglichst allgemein ge- 
haltenen Wendungen im konkreten Falle zielt: aber es ist doch diese 
Stilisienmg, durch die erreicht wird, daß es auch uns zimiute wird, als 
hinge Freiheit und Vaterland daran, daß geschähe, was der Redner fordert 
Dieser Stil ist ganz und gar Kunst; daher haben die Rhetoren es wirklich 
fertig gebracht, ihn nachzumachen; von Aristeides z. B. hat es Reiske ge- 
sagt, dem wir glauben dürfen. Thukydideische Gedankentiefe fehlt; ein 
Menschenkenner war er nicht, imd voll von all den Vorurteilen, die einem 
attischen Advokaten anhaften mußten, der von Wissenschaft keine ent- 
fernte Ahnung je empfangen hatte. Und doch diese einzige Wirkung. 
Da hat das Beste gewiß der individuelle Mensch getan; aber ohne die 
bei der Studierlampe durchwachten Nächte hätte er nicht geschaffen, was 
auch nach Jahrtausenden noch packt Die erlernte Kunst, Gedanken und 
Worte zu finden und zu stilisieren, hat auch das Ihre dazu getan. Aber 
von der formalen Seite aus kommt doch keiner zu seinem wirklichen 
Verständnis; Knabenkost ist er vollends nicht Politische Bildung setzt 
der Politiker voraus; daher ist für uns Deutsche Bismarck zu lesen die 
beste Vorbereitung, der die Redner verachtete. 

Rhetorik und allgemeine Bildung schienen der Herrschaft sicher zu 
sein. Sie würden sie nicht behauptet haben, denn die ionische Wissen- 
schaft war noch nicht infiziert und die Individualität ward durch Alexander 
wieder frei. Aber das Entscheidende war doch, daß neben Isokrates der 
größte Athener, der größte Hellene, gestanden hatte, der größte als Denker 
n«ton und als Dichter. Piaton hatte der Welt den wahren Weg der Menschen- 
(4»7— 3<7)- bildung gezeigrt: die Erziehung zu einer freien Persönlichkeit durch die 
Wissenschaft, und er hatte Werke verfaßt, die rein als Kunststücke denen 
des Isokrates gleichwertig waren, an echtem Kunstwerte die vollkommenste 
Prosadichtung heute noch sind, also wohl bis zum jüngsten Tage bleiben 
werden. Ihr Stil war gewissermaßen geir kein Stil, denn er war immer 
wieder anders. Es ließ sich alles in ihm sagen, was ein Hirn denken 
und ein Herz fühlen kann, und es ließ sich in jeder Tonart sagen, tragfisch 
und komisch, pathetisch und ironisch. Stil war es aber doch, bewußter 
Stil, keineswegs die Rede, die zu Fuß geht, wie sie die ionische imd 
italische Wissenschaft anwandte, aber auch keine Rhetorik, sondern eben 
Poesie. 

Auf den Knaben Piaton hat sein Oheim Kritias, der Tyrann, stark 
.eingewirkt, der sich als erster Athener dilettierend in den verschiedensten 
Gattungen der Poesie und Prosa versucht hat Er hat in den „Politieen" 
viel mehr die verschiedenen Formen des sozialen als des politischen 
Lebens geschildert; er hat „Homilieen", d. h. Unterhaltungen geschrieben, 



B. Attische Periode (480—320). IV. Attische Prosa. 



75 



ethischen Inhaltes; er hat eine tragische Tetralogie gedichtet, die unter die 
Werke des Euripides geraten konnte. Piatons dramatische Begabung zog 
ihn ebendahin; daß er die poetischen Formen beherrschte, verstand sich 
in diesem Kreise von selbst Im Epigramme hat er noch als Greis den 
unmittelbaren Ausdruck der Empfindung gefunden. Daß er den Oheim 
sich so an dem Vaterlande vergreifen sah, daß ihm selbst jede politische 
I^ufbahn verschlossen ward, aber der Widerwille gegen die Demokratie 
ebenso imauslöschlich sich einprägfte wie der Abscheu gegen die Tyrannis, 
waren Eindrücke der Jugendzeit, deren Bedeutung man sehr hoch anschlagen 
muß; aber unmittelbar bestimmen sie seine Schriftstellerei nicht Kritias 
verkehrte mit Sokrates wie mit den anderen Sophisten; so hörte Piaton 
ihren Disputen zu und ergötzte sich daran, wie die attische Ironie den 
Dünkel der Ausländer auf den Sand setzte. Da sagte er dem Heroentume 
der Tragödie zugunsten der Gegenwart Valet, den Versen zugunsten der 
Prosa; es reizte ihn, diese Redeschlachten in poetischem Abbilde fest- 
zuhalten. Führerin mußte zunächst die Komödie sein, und wenn er sie 
später aus moralischem Rigorismus verdammen mußte: an ihrem Witze 
hat er zeitlebens so starkes Gefallen gefunden, daß er dem Aristophanes 
die Wolken vergeben hat Von Nachahmung konnte keine Rede sein, 
wenn auch die Anregung (durch Eupolis) kenntlich ist Als echter Poet ver- 
legte er gleich in seinem ersten Hauptwerke die Szene zeitlich und örtlich 
außerhalb seiner persönlichen Erfahrung und gab dem Sokrates in Pro- 
tagoras einen Gegner, der ihm selbst nur literarisch bekannt war. Nun 
kam ihm die Zeit der Erweckung. Er sah, wie die Welt den Gerechten 
von sich stößt, dieser aber trotz Unrecht und Tod Frieden und Heiterkeit 
der Seele bewahrt. Er lernte, daß der Zweifler, der sich zeitlebens ver- 
gebens bemüht hatte, die Tugenden begrifflich zu fassen, die Tugend 
als eine immanente Realität besaß. Daraus erwuchs ihm die Aufgabe, 
diesen Widerspruch und diese Lösung gleichermaßen zum Ausdrucke zu 
bringen, das labyrinthische Suchen der Dialektik, und daneben die Ver- 
körperung der gesuchten sittlichen Vollkommenheit in der Person des 
Sokrates: der Tapfere war da, einerlei, ob die Tapferkeit noch zu suchen 
blieb. Das Unbegreifliche, hier war's getan. Dies potenzierte sich in 
dem Unrecht, das der Gerechte leiden mußte, zu dem Triumphe des 
Besiegten. Damit war ein Stoff gegeben, erhaben wie nur eine Tragödie. 
Zu deren Abschlüsse bedurfte er schon aus künstlerischen Gründen einer 
Mythologie. Er fand sie in der orphischen Eschatologie, die er durch das 
Feuer seines eigenen reinen Glaubens läuterte. Damit hatte er in der 
Sokratik ein neues Evangelium verkündet; er hatte aber auch dem 
athenischen Staate, oder vielmehr dem ganzen Reiche dieser Welt ab- 
gesagt Jahre des Wandems folgten. Als er heimkehrte (387), war er 
voll von den Eindrücken, die er in den pythagoreischen Bruderschaften 
empfangen hatte. Sein Volk traf er in der tiefsten Emiedrigomg, gerade 
nach dem Antialkidasfrieden. So bannte er seine Tätigkeit in den Winkel 



yö Ulrich von Wilamowttz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

der Akademie und beschied sich, wenn auch schweren Herzens, in dem 
freien Zusammenschlüsse der Schulgenossen den Grundstein zu einem 
künftigen Reiche der Gerechtigkeit zu legen: den Grundstein zu dem 
Reiche der Wissenschaft hat er wirklich gelegt, und das überdauert alle 
irdischen Reiche. Auch das literarische Getriebe der Sophistik war ihm 
ganz widerwärtig geworden. Der mathematische Beweis, der mit seinen 
Formeln und Figuren gerade und sicher zur ab.soluten Wahrheit führt, 
ließ ihm das Scheinwesen der Rhetorik doppelt verÄ'erflich erscheinen, 
deren Ansprüche er aufs höchste gestiegen fand. Alle Schriftstellerei, 
auch die eigene, erschien ihm nur noch als ein Spiel gegenüber dem 
reinen Denken und Untersuchen. Aber die Lust zu spielen war nur leb- 
hafter geworden, das Können ausgereift; jeden Ton und Stil konnte er 
nun treffen, steigern, parodieren. Seinem Bedürfnis nach Anschaulichkeit 
genügte nicht einmal die dramatische Form, weil sie doch nur durch das 
Ohr wirkte: so führte er jetzt mehrfach einen Erzähler des Dialoges ein, 
der den Effekt der Worte ergänzend schildern konnte; aber der Vorteil 
ward durch zu viele leere „sagte er" u. dgl. erkauft, so daß Piaton den 
Versuch aufgab, zumal seine späteren Werke keine so lebhafte Aktion mehr 
enthielten. Am richtigsten wäre es gewesen, wenn er dann zur Lehrschrifb 
übergegangen wäre. Denn im Laufe der Jahre seiner Schulleitung kam 
ihm doch der Drang, nicht bloß zu widerlegen und poetisch zu spielen, 
sondern die eigenen ernsten Gedanken zusammenhängend zu entwickeln. 
Aber er hatte die Form des Gespräches, der Untersuchung statt der Lehre, 
so entschieden als die einzig berechtigte bezeichnet, daß er nicht zurück 
konnte; er konnte auch von der Poesie nicht lassen. So versuchte er 
verschiedene Auswege. Einmal gab er den Dialog in Wahrheit auf und 
ersetzte ihn durch Einzelvortrag, den aber alle Mittel der künstlichen 
Stilisierung, namentlich in WortAvahl und Wortfügung, zur Poesie im 
Gegensatze der Rhetorik machen sollten; wenn er mit dieser z. B. die 
Vermeidung des Hiatus teilt, so stammt das eben in beiden aus der 
Poesie. Es war ein Versuch, der zwar von dem, was die griechische 
Sprache und die platonische Kunst vermag, den höchsten Begriff 
gibt; aber die Konstruktion des Weltalls und gar den Bau des mensch- 
lichen Körpers in lauter Bildern und Metaphern zu beschreiben, war 
doch ein Mißbrauch (Timaios). Eine mythologische Dichtung, der Kampf 
des Gottesreiches mit dem Reiche der materiellen Macht, ist diesem Stile 
angemessener (Kritias); aber sie ist liegen geblieben; schwerlich hätte Piaton 
eine Geschichte erfinden können. Der andere Weg war, die Dialogform zu 
bewahren, aber den künstlerischen Schmuck im wesentlichen aufzugeben. 
Aber die Dürre der logischen Zergliederung (Sophistes, Politikos) oder gar 
die zenonische Formelsprache (Parmenides) oder auch die Nachbildung 
der Schuldisputation mit ihren endlosen Rekapitulationen (Philebos) sind 
künstlerisch unbefriedigend ausgefallen. Sein letztes Jahrzehnt hat Piaton 
mit erlahmender Kraft und Lust an der stilistischen Gestaltung, aber mit 




77 

dnloipscko Weise 

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iihr Leben In 

[Voltaire nnd 
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'"geworden ist; sein Seil «ird 
ist es bei Goethe nnd bei nxtoo. Es gete 
Pai^ele mit cäaesB ei aiy n Kniffrirr za chaiakterisieren, so fein H. Taine 
gesa^ hat, er male oocieggiesk, oder wie er jüngst mit Praxiteles ver- 
gfichea ist: das ziriit allrafcilH für Procagoras imd L\-sis, nimmermehr 
für Theaetet and Fhaidros, Ae wieder untereinander schon ganz ver- 
ftehifA^ smd. Die hOdende Knnst der Griechen geht wohl in keinem 
einzelnen über jene VortreffBchkeit hinaus, in der Techne zugleich 
Kunst und Handwerk ist: eine Künsderindividuaütät wie Michel Angclo 
oder Rembrandt haben die Grie<^ien schwerficfa besessen (es sei dena 
imter den Malern, die wir nicht kennen); sie waren ja auch von der 
modernen Schätzung oder Übersc h ä tz t mg der Künstler weit entfernt Auch 
ihre Literatur dankt ihre Vortrefflichkeit nicht zum mindesten dieser EigM^ 
Schaft, die den Wert des Literaten herabdrückt. Aber in Platons Werken 
wenigstens haben wir ohne Frage eine jener absolut höchsten Leistung«», 
die ganz individuell sind. Für ihn war der Dialog das einfach Natürliche^ 
wie es für seine ganz Gott und der Wissenschaft hingjegebene Person 
(deren Zauber doch einen Aristoteles, einen Eudoxos, einen Herakleides 
ganz im Banne hielt, solange der Meister lebte) das Natürliche war, dafi 
er sie ganz und gar zurücktreten ließ: welch ein Gegensatz zu Herokht 
und Parmenides, Paulus und Augfustin, Dante und Goethe. Für uns, die 
wir ihn gern ganz kennen, gern auch im Schlafrock und in der Hof- 
tracht sehen möchten wie Goethe, Ist das sehr bitter: aber er hat es so 
gewollt; er bietet uns ja sogar die Sonne seiner Wissenschaft nur im 
farbigen Abglanze des Dialoges. Glücklicherweise gibt er sich darin 
immer ganz wie er gerade ist Aber eine solche individuelle Kunst nach- 
zuahmen ist eigentlich ein Widersinn. Äußerlich kopieren kann man wohl 
eine ihrer .\usdrucksformen, weil sie so charakteristisch ist Darum Ist es 
recht, daß die mikroskopische Stilanalyse in den unechten Dialogen nichts 
Unplatonisches findet: der Geist kommt nicht unters Mikroskop: die 
Briefe freilich werden auch eine formale Prüfung nicht bestehen. Aber 
der Dialog nach Piaton war eigentlich ein Unding, selbst bei ihm nur 



/ 



78 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorfp: Die griecfaische Literatur des Altertnms. 

subjektiv entschuldig^, als er nicht mehr sokratisch war. Und doch ist er 
für die antike Literatur eine Gattung geworden, die der Historie oder auch 
der Tragödie und Komödie ebenbürtig gehalten und geübt ward. Grewiß 
sind dadurch viele schöne und lesenswerte Werke entstanden, auch in der 
antikisierenden Imitation der Neuzeit, die freilich zmneist von Nachahmern, 
Cicero oder gar Lukian, mehr beeinflußt war. Es ist denn auch in der 
Ordnung, daß der Klassizismus Verfall darin sieht, wenn wir keine Dialoge 
mehr schreiben. Als ob wir noch welche hielten, als ob die Vermischung von 
Wissenschaft und Poesie noch irgendwelche Berechtigimg hätte. Der 
wahre Nachfolger des Piaton ward Aristoteles auch dadurch, daß er vom 
Dialoge zu der Lehrprosa loniens überging. Wohl hatte auch ihn zuerst 
das Vorbild seines Meisters verführt; er hatte auch den Dialog veKucht, 
mit geringer poetischer Kraft und starken Konzessionen an die Rhetorik, 
wirksame Werke, aber doch nur Nachahmung: er konnte Besseres. Auch 
die eigene Schule Piatons hat sich vom Dialoge abgewandt, schon Xeno- 
krates, imd die beiden bedeutendsten Erneuerer der Akademie, Arkesilaos 
tmd Kameades, haben damit Ernst gemacht, nur zu forschen imd zu dis- 
putieren, ohne zu schreiben. Der Fortschritt der Philosophie hat sich 
nicht mehr in Werken dieser Form vollzogen, mag sich auch selbst Epi- 
kuros dem übermächtigen Vorbilde gebeugt und sogar ein Symposion 
verfaßt haben. Dafür hat der Dialog sein Gebiet weit über die Philosophie 
ausgedehnt, und dazu halfen ihm geringere Geister, die durch Piaton an- 
geregt sich neben ihm versuchten. Uns sind sie leider fast ganz unkennt- 
lich, und wir müssen zufrieden sein, daß Xenophon, den wir allein be- 
sitzen, wenigstens im An- und Nachempfinden groß gewesen ist; er hat 
es auch an Piaton geübt, aber Antisthenes und Aischines standen nicht 
gar so hoch über ihm. 
AaüMiiene« Aus Antistheues einen Denker imd Schrifteteller von eigener Bedeutung 

(etwa 440-370). ^y machen ist eins der luftigsten Wahngebilde, die sich die Philologie 
des letzten Jahrhunderts geschaffen hat, rein aus blauem Dunste, denn 
das Altertum weiß nicht das mindeste davon, und die einzige von ihm 
eriialtene Schrift, eine Deklamation, die freilich wenig taugt, mußte athetiert 
werden. Er war schon Sophist, als er sich mit Leidenschaft an Sokrates 
anschloß, und so erhielt das Moralische in der Schule, die er nach dessen 
Tode auftat, eine große Bedeutung; aber darauf hielt ja Isokrates prinzipiell 
auch, während Antisthenes auch Rhetorik lehrte und Homer erklärte (sein 
Schüler ist Zoilos, der durch zum Teil ganz witzige Homerkritik in Ver- 
ruf gekommen ist). Zu seiner Schriftstellerei gehörte auch der sokratische 
Dialog in Konkurrenz zu Piaton, aber keineswegs ausschließlich. Ge- 
schrieben hat er viel; gelesen ist er wenig. Der theoretische Kynismus 
eines Sophisten, der Honorar nimmt, kann für das praktische Leben keine 
Bedeutung haben. Die gewinnt er erst durch Diogenes, der als Hund 
auf die Gasse geht und die Leute anbellt; die Diogeneslegende stellt das 
Verhältnis der beiden ganz zutreffend dar. 



B. Attische Periode (480—330). IV. At&stite Prosa. 



79 



JMV 



Aischines von Sphettos, ein treuer Verehrer des Sokrates, der sich .*•.-**•• 
ziemlich kümmerlich als Advokat durchgeschlagen ru haben scheint, bis "T 
ihn Dionysios IL an seinen Hof berief, hat ganz ohne philosophische 
Aspirationen lediglich als anmutige Lebensbilder sokratische Dialogfe ge- 
schrieben, mit der allerfireiesten novellistischen Erfindung: die Armut des 
gerechten Staatsmannes Aristeides und der ästhetische Salon der geist- 
vollen Kurtisane Aspasia sind Erfindungen von ihm, die noch immer 
^nelen so reizend sind, daß sie sie für Wahrheit halten. Sokratische 
Dialoge hat noch mancher geschrieben, wirkliche Schüler, wie jener lieb- 
liche Knabe Phaidon von Elis, den Piaton unsterblich gemacht hat, und 
ein Heer von Nachahmern, die für die Nachfrage des Publikums zeugen. 
So figurieren die „Sokratischen Reden" (Dialog sagt er noch nicht) in der 
Poetik des Aristoteles neben den Mimen Sophrons als Poesie in prosaischer 
Form. Nicht ganz ohne seine Schuld vergessen die Modernen meistens, 
daß diese ganze Gattung in Wahrheit erst von Piaton geschaffen ist 

Xenophon, heimatberechtigt in demselben Dorfe wie Isokrates und xcMpho« 
auch ziemlich gleich alt, hatte die letzten Jahre des Sokrates gar nicht '^ ""^ ^"* 
in Athen gelebt, kannte also seine Verklärung im Tode nur von Hören- 
sagen. Zur Feder griff er erst nach 386, als er als abgelohnter 
Parteigänger Spartas auf einem geschenkten Landgute bei Olympia 
saß; auf vieles in ihm trifft die Charakterisierung als Major a. D. am 
schärfsten zu. Er hatte Veranlassung, seine eigene Vergangenheit vor 
dem Publikum in ein gutes Licht zu setzen und tat das in einem Pseudo- 
nymen Berichte über den Zug der Zehntausend, der, soweit er schlicht 
erzählt, des gewollten Eindruckes nicht verfehlt; man darf aber den 
Zweck der Selbstapologie nicht außer acht lassen. Im Interesse Spartas 
ergänzte er den Torso des Thukydides bis zu dem Triumphe Spartas im 
Frieden des Antialkidas; die Nachahmung des großen Vorbildes ging weit 
über seine Kräfte, und als er später fortschrieb, gab er sie auf, geriet 
aber, da er durchaus nicht disponieren kann, in arge Unübersichtlichkeit 
Er besitzt eine entschiedene politische Überzeugung und ein gutes mili- 
tärisches, gar kein politisches Urteil, Aber selbst das Militärische muß 
sich sozusagen in der Sehweite des Beobachters halten, wenn er gut be- 
richten soll. Allenfalls eine Feldschlacht, aber keinen Feldzug kann er 
anschaulich machen, schon weil ihm nie aufgegangen ist, daß man eine 
Zeichnung nach einem festen Maßstab durchführen muß: ihn bestimmt 
zufällige Kenntnis und persönliches Interesse. Er griff dann zu dem 
sokratischen Dialoge, vermutlich als letzter von denen, die Sokrates 
gekannt hatten. Es verdroß ihn nicht minder, den firommen Biedermann, 
als den sich der Eiron ihm gegeben hatte, als Gottesleugner verurteilt, 
wie als einen Kerl, der spekuliert, verherrlicht zu sehen. So schrieb er 
eine Verteidigung gegen die ganz sophistische Anklagerede, die ein 
Rhetor zweiten Ranges, Polykrates von Athen, eigentlich gegen den 
Gorgias des Piaton gerichtet hatte; diesem gegenüber hat er ohne Zweifel 



8o Ulrich TO^^WBuSowS^Mokixeitoorff: Die griechische Literatur des AjIcrtamsT 

sich bemüht, die reine Wahrheit zu sagen. Dann aber gab er das Ideal- 
bild des Sokrates; er fühlte sich dazu durch die Dialoge des Platou, 
Antistlienes, Aischines berechtigt; daß er in Abhängigkeit von ihnen 
geriet, lag in seiner Begabung. Dabei ist ihm ein durchaus anmutiges 
Buch gelungen, Sokrates beim Weine unter Personen (darunter sein 
Ankläger Lykon), die er auch gegen Angrifl'e, hier der Komödie, 
rehabilitieren wollte. Daß dieser xenophontische Sokrates kein anderes 
Moralisches zu geben weiß, als was sich immer von selbst versteht, darf 
nicht hindern, das Menschliche anzuerkennen, das uns hier an Sokrates und 
noch mehr an seiner Umgebung anheimelt Sein Sokrates muß auch über 
allerhand praktische Dinge sich verbreiten, Landwirtschaft, sogar Kriegs- 
wissenschaft. Das ist alles ganz xenophontisch, klingt also noch besser, wenn 
die sokratische Maske wegbleibt So repräsentieren Bücher wie das über 
Pferdezucht für das Attische einen literarischen Fortschritt; aber das konnten 
damals auch andere und werden es schlichter und darum besser gemacht 
haben. Denn Xenophon hatte auch an der Rhetorik gekostet und gewöhnte 
sich einen gewollt naiven Stil an, der nicht selten ins Kindische fällt Seine 
Ambition ging noch höher. Er probierte ein Enkomion auf seinen ver- 
ehrten König Agesilaos, direkt nach Isokrates; er stellte zur Abwechslung 
statt Sokrates den Simonides in den Mittelpunkt eines Dialoges (wo denn 
klar wird, daß er nicht einmal versucht zu individualisieren). Endlich schrieb 
er, durch Ktesias angeregt, den historischen Bildungsroman von Kyros. 
Daß man das nicht für etwas Kühnes und Neues halte, sei daran erinnert, 
daß Herodoros von Herakleia in ähnlicher Tendenz eine Geschichte des 
Herakles geschrieben hatte. Das Buch ist sehr ermüdend; breite Strecken 
nimmt der sokratische Dialog mit geringer Abtönung ein; daneben Nove- 
letten im Stile des Ktesias, an denen Wielands Empfindsamkeit sich 
erbaut hat, und geschichtliche Belehrung über Vergangenheit und Gegen- 
wart Asiens, die oft seltsame Widersprüche hineinträgt. Daß so etwas 
geschrieben ward, und zwar für die breiten Leserschichten (denn die Stimm- 
führer lehnten den ganzen Mann ab oder ignorierten ihn), ist uns vor allem 
wichtig, weil es für die Weite der Literatur zeugt, von der uns keine 
Spuren geblieben sind. Wir würden ganz andere Vertreter der Unter- 
haltungsliteratur ausgewählt haben, aber dankbar müssen wir den Rhetoren 
der Kaiserzeit doch sein, die ims den gesamten Nachlaß des Xenophon 
als Muster der Naivetät gerettet haben. Wählen würden wir in erster 
Hcrakkidt» Linie den Herakleides aus Herakleia am Pontos, der, lange Jahre der 
(t Mci« 310)- vornehmste Genosse Piatons, eine Weile sogar sein Vertreter, bald nach 
dessen Tode in die Heimat zurückkehrte, als er bei der Wahl zum Schul- 
haupte durchfiel. Die wissenschaftlichen Verdienste des Mannes gehen uns 
hier nichts an, so groß sie auch sind, sowohl in den Naturwissenschaften, 
Astronomie und Physiologie, als auf philologischem Gebiete, Geschichte der 
Musik und Literatur, sogar Etymologie. Aber die historischen Dialoge, in 
denen er bis auf Pythagoras zurückgriff und das Dramatische, die Zahl 



J 



C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). I. Hellenismus. 



8r 



der Unterredner und die Ausmalung des Hintergrundes und des zeitlichen 
Kolorits weit über Piaton hinaus führte, haben nicht nur stofflich den 
nächsten Jahrhunderten ungemein viel geboten, sondern auch den Dialog 
als Prosadichtung gerade bei seinen bedeutendsten Vertretern, Cicero imd 
Plutarch, wesentlich bestimmt. 

Der Geltung des Herakleides ist besonders Aristoteles verderblich .vriituieie» 
geworden; die beiden konnten sich nicht verstehen und offenbar nicht *~^"' 
leiden. Daß Aristoteles nicht in der Schule Piatons, aber wohl in Athen als 
selbständiges Schulhaupt seine letzten zwölf Jahre wirken konnte, daß er 
nicht nur durch wissenschaftliche und populäre Werke, sondern noch viel 
mehr durch die Lehre, die er selbst und nach seinen Lehrschriften die 
Schüler verbreiteten, das Gesamtgebiet der Wissenschaften und ihre Methode 
bestimmte, daß er auf platonischer Grundlage fortbauend die ewigen 
Formen auch in der Literatur aufsuchen lehrte und historisch verfolgte, 
wie und durch wen sie in die Aktualität eingeführt wären, daß er endlich 
die Rhetorik in den wissenschaftlichen Unterricht aufnahm, hat die ganze 
Zukunft bestimmt, weit über das Altertum hinaus. Auch die philologisch- 
historische Forschung muß sich freilich von Aristoteles emanzipieren, wie 
es einst die Naturwissenschaft getan hat: erst wenn sie sich ganz frei 
fühlt, kann sie seine Bedeutung wirklich würdigen. So groß er auch als 
Schriftsteller ist: geküßt hat ihn die Muse nicht, und die Neuplatoniker 
haben fein den Piaton öeToc genannt, den Aristoteles bainövioc. 



I- 



C, Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.)- 

L Hellenismus. Alexandros der Makedone eroberte als Herzog 
der Hellenen den Orient und bestieg als König der Könige und Erbe der 
Weltherrschaft den Thron des Kyros oder auch des Ninos. Dadurch 
erhielt die hellenische Kultur eine unendliche Expansion. Es verschlug 
nichts, daß sich politisch das Weltreich nicht hielt, sondern in eine 
Anzahl Königreiche spaltete, denn die Weltkultur umspannte nicht 
nur diese, sondern reichte weit über ihre Grenzen. Auch Bithyner 
und Kappadokier, Karthager und Italikcr hatten nur insoweit Kultur, als 
sie unter hellenischem Einflüsse standen, und selbst die Partherfürsten, die 
erste und bedeutendste Macht, die von der nationalen Reaktion gegen das 
Hellenentum emporgetragen ward, mußten den Philhellenismus bekennen, 
sobald sie zur Macht gelangten. Mithradates Eupator, in seiner Physiog- 
nomie und seinem Wesen ein asiatischer Sultan, hat sich gar als Befreier 
der Hellenen geriert. Darin liegt, daß diese Kultur unabhängig ist von 
der politischen Herrschaft. Diese hatten ja auch nicht die Hellenen 
errungen, sondern die Makedonen; aber gerade sie waren selbst 
schon durch Philippos hellenisiert worden und sind ganz in dies Volkstum 
übergegangen. So wird es zunächst auch nicht als eine Gefahr für das 
Hellenentum empfunden, als Rom die Herrschaft über den Westen erringt 

Dil Kultur uih Gioimwari. LS. i> 



82 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; Die griechische Literatur des Altertums. 



und bald bestimmend in den Osten übergreift. Sollten die Latiner sich 
nicht ebenso hellenisieren? Sie ließen sich ja gern hellenische Ahnen 
geben und als Hellenen zu den isthraischen Spielen zulassen. Es kam 
anders. Rom nahm begierig die hellenische Kultur auf, aber es wahrte 
seine Sprache, machte sie in Italien zur herrschenden und die italische 
Nation zur Herrin auch der Orientalen. Bitter bekamen die Grriechen es zu 
spüren, daß seit 1 90 ihre Königreiche nur noch von Roms Gnaden existierten, 
und wenn ein Land unter die Herrschaft des Senates geriet, so warf sich 
ein Schwann von Blutsaugern darauf, die italischen Kaufleute und Kapi- 
talisten; die verstanden ihr Geschäft, saigner a blanc. In der Not begrüßte 
man den Kappadokier Mithradates als Retter und beschleunigte damit 
den wirtschaftlichen Untergang; die römische Revolution vollendete ihn; 
den Orient überrannten die Parther. Die Zerstörung ist ' so furchtbar 
gewesen, daß der Untergang der letzten makedonischen Dynastie in 
Ägypten in voller Wahrheit für die ganze Kultur ein Ende bezeichnet 
Dcis sieht nicht nur der Rückschauende, das war den Mitlebenden völlig 
bewußt 

Diese Periode ist der Hellenismus; den Namen hat ihr J. G. Droysen 
gegeben, der ihr Wesen und ihre Bedeutung zuerst und lange allein 
richtig erkannt hat. In Alexander krönt sich die hellenische Geschichte 
das 3. Jahrhundert ist der Gipfel der hellenischen Kultur und damit der 
antiken Welt, die Zeit, die der modernen allein vergleichbar ist Mögen 
die ewigen Gedanken früher gedacht, die ewigen Kunstwerke vorher 
geschatFen sein: durch die Ausgestaltung der Wissenschaft ebenso wie 
durch die Weltherrschaft gewinnen beide erst die Macht, auf die Ewigkeit 
hin zu dauern und zu wirken. Und in den vier Menschenaltem von Ale- 
xander bis Antiochos Megas, von Aristoteles bis Eratosthenes, bringt das 
g^echische Volk eine so ungeheure Menge bedeutender Menschen hervor, 
daß der Abfall danach vielleicht eine physische Notwendigkeit war. Bis zur 
mithradatischen Zeit fehlt es dann immer noch auf einzelnen Gebieten nicht 
an bedeutenden Gestalten, obwohl kaum etwas entsteht, was zugleich neu 
und groß wäre, und die Poesie schon verrinselt Die cäsarische Zeit kann 
auf keinem Gebiete mehr einen auch nur einigermaßen bedeutenden 
Griechen aufweisen. Der Strom, der mit Alexander die Welt überflutete, 
scheint versieget: aber die Welt hat er befruchtet für alle Zeit 

Das wahrhaft Große des Hellenismus ist seine Wissenschaft; auf allen 
Gebieten, namentlich in den Naturwissenschaften, den theoretischen und 
den angewandten, lernen wir alle Tage mehr, daß die Kaiserzeit bereits 
Verfall ist Daneben ist es die Ausbreitung der Gesittimg, die Hebung 
des allgemeinen Bildungsniveaus, die besonders wichtig ist Uns gehen 
hier die Gedanken der Weisen, die Forschungen der Gelehrten, die Kon- 
struktionen der Techniker, die Entdeckungen und Erfolge der Ärzte nichts 
an; wir können hier die Entfaltung des inneren geistigen Lebens nicht ver- 
folgen; aber wo die Ausbreitung und auch die Breite der Literatur mit 



C HeüesistiKbe Periode C3ao— 3o v. OuX L HrHmiiMSL 



«3 



das Wichtigste ist, kann nicht unbesprochen werden, was hierfür erst die 
Möglichkeit schafft 

Alexander verlegt den Schwerpunkt aus Europa na<^ Asien. Make» küm 

dooien ist nie ein Kulturzentrum geworden; Adien blieb es durch die 

Philosophie, die an einem Hofe nicht gedeihen kann; aber die letzte 

Dichtgattimg, die Athen erzeugte, fast noch zu Alexanders Lebzeiten, das 

Lustspiel, hat schon einen engen lokalen, man muß sagen epichorischen 

Charakter. Von den Königshöfen hat der von Babylon und Antiocheia 

durch die Hellenisierung der Semiten für die Zukunft ungemein wichtiges 

gewirkt; er gründet oder besiedelt in Mesopotamien, S\Tien, Palästina die 

Städte, aus denen schon im 2. Jahrhundert eine Menge führender Männer 

hervorgehen; aber von seinem besonderen Wesen wissen wir so gut wie 

nichts, und keiner der Seleukiden bestimmt unmittelbar oder mittelbar auch 

nur einen Teil des geistigen Lebens der Nation, keine Fürstin gibt auch 

nur eine Mode an. Das geschieht in Alexandreia, und so |>ervers es ist, 

die Literatur oder die Kunst des Hellenismus alexandrinisch zu nennen, 

so kommt doch ungemein viel von dort, und es wird sich auch eine 

alexandrinische Sonderart erkennen lassen. Aber um die Mitte des 

2. Jahrhunderts hat das durch die Schuld der Regenten und das Erstarken 

des Ägyptertums ein Ende. In Sizilien hält sich zuerst noch die Eigenart, 

da es niemals unter attische oder makedonische Herrschaft geraten ist; 

es produziert nur überhaupt wenig für die Gesamtkultur, und sobald die 

Römerherrschaft beginnt, geht es wie im griechischen Italien: das geistige 

Leben ist ab und tot So bleibt als wahres Zentrum der Kultur die 

asiatische Küste, ihre alte Heimat In ungebrochener Kontinuität, im- 

gehemmt, aber auch nicht stark gefordert durch die Fürsten, auch nicht, 

als in Pergamon ein Thron steht, entwickelt sich das ionische Wesen 

weiter. So dürfen wir sagen, obwohl gerade das Lokalionische schwindet 

und Rhodos, der allerwichtigste Ort, sogar mit Absichtlichkeit an seinem 

Dorertum festhält Denn es ist der Geist loniens, der sich ja auch den Äoler 

Homer und den Dorer Hippokrates gewonnen hatte. Aber gewahrt soll 

freilich der dorischen Insel der Ruhm bleiben, daß sie der hellenischen 

Wissenschaft eine Freistatt geboten hat, als die ägyptisierten Ptolemäer 

sie von sich stießen, daß Poseidonios aus dem syrischen Apameia und 

Hipparchos aus dem bithynischen Nikaia sich dorthin zogen, wo auch dem 

Römer die griechische Bildung sich auf dem Boden darstellte, der sie 

gezeugt hatte: dem Boden einer freien Bürgerstadt Es hat eine tiefe 

Bedeutung, daß ein Rhodier, Panaitios, den neuen Herren der Welt den 

Kodex ihrer Pflichten geschrieben hat (übersetzt von Cicero de o^/iais). 

Trotzdem sich schon jetzt innerhalb des Hellenismus lokale Differenzen ii«>ii«oum«-~ 
bemerken lassen und ohne Zweifel noch viel stärkere hervortreten werden, '''"*' 
ist der Eindruck der Kultur sowohl in ihren äußeren Formen als in ihrem 
gjmzen Geiste einheitlich, viel mehr als z. B. in der Kulturwelt der euro- 
päischen Barockzeit, selbst wenn man von England absieht; sie ist eben 

6» 



$4 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

wirklich eine Weltkultur. Dazu tut ziemlich das Wichtigste die Sprache, 
und auch sie zeig^ in ihrer Entwickelung dieselbe Einheitlichkeit Die 
vorige Periode hatte das Attische in der Literatur fast vollkommen zur 
Herrschaft gebracht, und diese Literatursprache, die sich von dem vulgären 
Dialekt der Athener bereits stark unterschied, ward schon durch Philippos 
die Sprache der königlichen Kanzleien und des internationalen Verkehrs. 
König Dareios und König Alexandros, beide nicht einmal Hellenen, haben 
attisch korrespondiert Wohl haben die Städte und Bünde von Hellas 
im inneren Verkehre, zum Teil auch untereinander, ihre Volksdialekte 
geschrieben, von denen mancher erst jetzt zur schriftlichen Fixierung kam; 
wohl hat sich namentlich ein Dorisch gebildet, das trotz mancher Diffe- 
renzen im einzelnen denselben Typus zeigt, und in Syrakus hat ein 
Archimedes selbst wissenschaftliche Gegenstände in ihm behandelt Aber 
jetzt war das nur eine Marotte des großen Gelehrten. Alle diese 
patriotischen Velleitäten (für die wir aus gframmatischem Interesse 
nicht dankbar genug sein können) sind für die Literatur ganz ohne 
Belang. Es ist überall nur die Farbe und der Besatz am Gewände der 
Sprache epichorisch, das ganze Gewebe und der Schnitt sind dieselben, 
hellenistischen. Dialektdichtung bedeutet schon um 300 dasselbe, was sie 
heute ist lonier verfallen nie und nii^end darauf, eine Urktmde oder 
einen Brief ionisch zu schreiben; sie, die wirklich eine Literatursprache 
besaßen, sind bereits vollkommen zum Attischen übergegangen; die 
Mundart Anakreons läßt sich nur noch in niederer Dialektdichtung an- 
wenden, und das tun am ehesten Dorer wie Kallimachos und Herodas. 
Das Ionisch der Elegie ist jetzt die temperierte homerische Kimstsprache; 
man kann diese auch dorisch temperieren, wie es Theokrit von Syrakus 
und Kallimachos von Kyrene tun: rein syrakusanisch oder k3rrenäisch 
könnten sie in ernsthafter Poesie nicht reden. Dieses Verhalten der 
Dialekte wäre unbegreiflich, wenn nicht die gebildete Rede eben 
Literatursprache wäre und zu dieser das Ionische ungemein viel beitrüge, 
so daß im wesentlichen nur gewisse Sprachformen, Aussprache und Schrift 
etlicher Vokale, und ganz wenige Flexionen attisch geworden waren; 
dagegen der Wortschatz und auch nicht weniges in der Aussprache und 
Flexion stammte eigentlich aus lonien, war aber nun allgemein hellenisch. 
Es ist richtig, daß Aristoteles in seiner wissenschaftlichen Prosa dem 
Hellenismus schon nahe kommt, eben weil er da auf der ionischen Prosa 
baut Man muß sich nur ja nicht etwa denken, die Griechen hätten schon 
feste Sprachregeln, eine Grammatik gehabt, als die Expansion ihrer 
Sprache überall Lehrer des Griechischen nötig machte. Man hatte die 
Grundlage einer vollkommenen reichen Literatursprache; das ionisch- 
attische Sprachgebiet durfte diese als die veredelte Sprache ihres Mundes 
betrachten, und so redete, lehrte, schrieb man diese. Dieses selbe Griechisch 
lernte der Makedone und Bithjmer und Karer und Syrer imd Ägypter 
und Italiker. Es hat sich denn auch während der ganzen hellenistischen 



C. KeUenistisdie Periode (320—30 ▼. Chr.). I. Hellenismus. 



S5 



Periode ungezwungen weiter entwickelt, und daß es das allerorten im 
wesentlichen gleich tut, zeugt dafür, daß die ganze Welt ein Kulturgebiet 
war vmd der literarische Verkehr seine Fäden über die ganze Welt spann. 
Die ältere Schicht der griechischen Lehnworte des Lateinischen hat 
dorischen Klang: seit der Senat und die Feldherren griechisch schreiben 
müssen, bedienen sie sich nur der Literatursprache; gerade weil die Senats- 
kanzlei so schlechtes Griechisch schreibt, liefert sie die wichtigsten Doku- 
mente. Man kann die ganze Sprachentwickelung Entartung nennen, denn 
gewiß, in der raschlebenden Zeit geht der Prozeß rasch vonstatten, den wir 
nach allen Analogieen erwarten. Die Sprache schleift sich ab, der Formen- 
reichtum schwindet, die Feinheiten im Gebrauche der Casus Tempora 
Modi werden nicht mehr empfunden, Umschreibungen verdrängen die 
kernige Einfachheit, man braucht immer mehr Worte und konventionelle 
Phrasen. Dafür ist die Ausdrucksfähigkeit unumschränkt; es ist nicht mehr 
mühsam, zu reden und zu schreiben: die gebildete Sprache besorgt das 
Schwerste auch für den Halbgebildeten. Zu den Klassikern, als die man 
die Schriftsteller des 4., keineswegs auch die des 5. Jahrhunderts ansieht, 
hat man dasselbe VerhälmLs wie alle Kulturvölker heutzutage zu den 
ihren; man bildet sich an ihnen, weil sie gut geschrieben haben, aber 
man fühlt sich nicht an sie gebunden. Dies ist alles völlig gesund, und 
jenes Griechisch, in dem sich jeder Gedanke, auch ein neuer, den kein 
Grieche gedacht hat, jede Technik, jede Spekulation ohne weiteres aus- 
sprechen läßt, ist erst das Hellenistische. Es ist dem Französischen der 
Jahrhunderte 17 und 18 noch überlegen, neben dem doch das Latein der 
schweren Wissenschaft stand. Aber freilich, ein Mangel haftet ihm an, 
der die Wage wieder hoch emporschnellt Die Poesie schreibt in keiner 
Gattung, die nicht epichorisch ist (wie selbst das Lustspiel Menanders), 
eine lebendige Sprache; jeder Dichter muß sich an die der Gattung halten, 
in der er dichtet, immer die einer riemlich fernen Vergangenheit. Das 
hat nicht nur bewirkt, daß die Dichtung der Zeit, so viel Witz, Geist und 
Geschmack sie auch besaß, nie recht volkstümlich werden konnte und 
nach 200 in Künstelei oder öde Manier verfiel: hieran liegt es auch, daß 
das Hellenistische so stockprosaisch ist, so unanschaulich und zerfließend; 
denn nur die Dichtung, die immer frisch aus der Quelle der volkstüm- 
lichen Rede schöpft, führt der Sprache neues Blut zu; was statt dessen 
in der rhetorischen Retorte zusammengebraut wird, hat nur die Lebens- 
kraft des Homunkulus. Es ist zwar gewiß, daß in der Tiefe auch eine 
volkstümliche Poesie bestcmden hat; aber der Künstler ist ausgeblieben, 
der diesen Bestrebungen Zutritt in die von der Welt anerkannte Literatur 
erstritten hätte. Das ist verhängnisvoll geworden. 

Der Bruch, den die Hellenen unter Augiistus mit ihrer nächsten Ver- ■£ct%taT«tip 
gangenheit vollziehen, führt dazu, daß sie ihre Sprache um ganze drei ''"' ''-""™"" 
Jahrhunderte zurückschrauben und die gesamte hellenistische Prosa ver- 
leugnen. Die Poesie entgeht dem, nicht allein, aber doch vornehmlich, 



86 UUUCH VON WiLAMOwrrz-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 



weil sie die alten Formen nicht gesprengt hatte. Das hat zur Folge, daß 
die hellenistische Literatur mit geringen Ausnahmen verloren geht, die 
alle nicht um ihres Kunstwertes willen erhalten sind. Wir wissen jetzt, daß 
dies Geschick unverdient war; aber wir vermögen wohl die Gedanken der 
Philosophen zurückzugewinnen, inhaltlich auch manches andere; in den 
Spezial Wissenschaften ist diese Aufgabe kaum angegriffen, aber in weiter 
Ausdehnung lösbar. Dagegen verlorene Kunstwerke der Rede lassen 
sich nicht herstellen. So ist der Literarhistoriker gezwungen, sich in 
Allgemeinheiten zu bewegen; er hat Hunderte von Schriftstellemamen, er 
weiß, daß ein großer Teil der späteren Literatur nicht nur inhaltlich von 
hellenistischen Büchern abhängt, mag er sie auch verleugnen, und doch 
kann er von den Werken, ja auch von den Stilen kein klares Bild ge- 
winnen. Die Bruchstücke sind meist stilistisch entstellt, und auch die 
unversehrten helfen nicht viel: bei Alkaios oder Anakreon lehren schon 
ein paar Zeilen Wichtiges; für einen Phylarchos oder Eratosthenes würden 
selb.st ein paar Seiten kaum etwas helfen. Und doch geht es unmöglich 
an, sich auf das Erhaltene zu beschränken. Dabei kommt .solche Torheit 
heraus, wie, daß die Griechen nach Xenophon nur noch in Polybios einen 
bedeutenden Historiker haben sollen und dann gleich Livius auftnarschiert, 
der gar keiner gewesen ist Die Tatsache muß klar werden, daß eine 
Kultur und Literatur, der Gegenwart vergleichbar, einmal bestanden hat, 
eine Welt umspannend, so daß ihr trotz der verschiedenen Sprache 
eigentlich die lateinische dieser Jahrhunderte ganz, die semitische mindestens 
zu einem guten Teile angehört Die noch viel wichtigere Tatsache kann 
ohne tieferes Eingehen auf die Wissenschaften überhaupt nicht klar gemacht 
werden, daß der Hellenismus einen neuen Aggregatzustand der Menschheit 
repräsentiert, wie sich J. G. Droysen ausgedrückt hat. Dazu hat die Durch- 
dringung der frischen hellenischen und der alten orientalischen Kulturen 
sehr viel getan, für beide Teile. Gerade wenn ein Volk zur nationalen 
Reaktion aufgestachelt wird, darf die Einwirkung dessen, gegen das es 
reagiert, nie gering geschätzt werden. 
■Aieiandros Beginnen wir damit, zu sehen, wie der König, der die Welt in 

(K8mjj36— jijj.jjgyg Bahnen zwang, sich zu dem literarischen Wesen gestellt hat. 
Alexandros nahm ein ganzes literarisches Bureau mit. Da war nicht 
nur die Kanzlei, der die Ausfertigung der Staatsschriften zufiel, da 
waren nach griechischem Sprachgebrauche Historiker und Rhetoren, 
nach dem unseren Publizisten, deren gewandte Federn für die Be- 
arbeitung der öffentlichen Meinung nötig waren. Da war aber auch 
ein Stab von Fachgelehrten und Technikern; denn der König wollte 
das Reich sofort wissenschaftlich erschließen, das er zu erobern 
auszog. Es fehlten auch Dichter nicht, die vielleicht die Taten des 
neuen Achilleus verherrlichen sollten (ein etwas veralteter Gedanke), 
aber auch praktische Aufgaben erhielten, denn die poetische Form war 
für vieles herkömmlich und wirksam. Ein gutes Epigramm hielt auf 



C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). 1. Hellenismus. 



87 



dem Steine das Gedächtnis eines großen Augenblickes fest; auf dem 
Papiere flog es leicht von Hand zu Hand über die Erde. Über die Tages- 
ereignisse wurde ein genaues Journal geführt, die Ephemeriden, im Haupt- 
quartier und ebenso von den detachierten Generalen und Statthaltern, 
und von diesen kamen die Berichte regelmäßig an den König; auch die 
Gelehrten berichteten über die Ergebnisse ihrer Forschungen. Eine regel- 
mäßige Korrespondenz unterhielt die Verbindung mit der Heimat Der 
König selbst gab die wichtigsten Nachrichten der Welt in der Form von 
Privatbriefen kund, die er an seine Mutter nach Hause richtete. Das 
persönliche Regiment ward in der Form höflicher Briefe geübt, deren 
also täglich Dutzende oder Hunderte ausgingen. Überlegen wir einmal, 
was das alles für die Literatur bedeutet Jene Journale und Berichte 
und Akten und Staatsschriften und Briefe sind noch nicht Literatxir; aber 
sehr vieles davon ist nicht nur dazu bestimmt, verbreitet zu werden, 
sondern es ist von literarischem Werte, erstens, weil die Menschen nun 
alle zu schreiben gelernt haben, so daß oft selbst bewußte Kunst hinzu- 
tritt, zweitens, weil hochgebildete Menschen gerade in solchen kunstlosen 
Aufzeichnungen oft ihr Bestes liefern. Und die ganze Zeit hat Ver- 
ständnis und Freude am Individuellen, sie sieht mit Wonne die gewaltigen 
Männer, und so kommt auch so etwas an die ÖfFentlichkeit. Es wird 
Literatur, und der griechische Formensinn macht sofort aus den Erzeug- 
nissen des praktischen Bedürfnisses neue literarische Gattungen. Der 
Brief und das Hypomnema seien vorläufig als solche hingestellt Im 
Grunde freilich ist alles dies nichts anderes als die freie ionische Prosa 
war, von der in der vorigen Periode geredet ist. 

Aristoteles, der als Fürst des Wissens ebenbürtig neben dem Könige .'Vratoteiet 
steht, zeigt in seiner Schriftstellerei das Gegenbild. Er hat Verse gemacht " *"■'"'■ 
und Dialoge geschrieben; er fährt fort, für das Publikum in gewohnter 
Weise stilistisch gefeilte Bücher ausgehen zu lassen; aber seit er in der 
eigenen Schule doziert, tritt Neues dazu. Die Vorträge, die er sich aus- 
arbeitet, genügen ihm als Unterlage der mündlichen Rede, die gewiß auch 
als Rede wirken will, aber doch um zu lehren, nicht zu überreden, appellierend 
auch wohl an das Herz, aber grundsätzlich auf den Verstand. Das ergibt 
wieder eine formlose, ganz individuelle Niederschrift, ein Hypomnema. Und 
was die Schüler nachschreiben, ausarbeiten, anderen zum Lesen und Ab- 
schreiben geben, will dasselbe sein, wird doch etwas anderes, aber auch das 
ist Hypomnema. Mancher nimmt es nicht nur nach Hause, sondern hält 
später selbst auf Grund davon Vorträge, macht es zu seinem Eigentume 
und drückt ihm mehr oder weniger tief den Stempel des eigenen Geistes 
auf. Für viele Forschungen bedarf der Gelehrte Material; das sammelt 
sich in der Bibliothek der Schule an, Aufzeichnungen aller Art, Berichte, 
Kopien alter Urkunden; auch aus Asien von Alexanders Gelehrten kommt 
manches herüber. Dieser Besitz ist Schuleigentum, ihre Mitglieder he- 
nutzen ihn. Es kann eine ausgearbeitete Darstellung daraus werden, wie 



88 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Theophrasts Pflanzengeschichte; es können für bestimmte Fragen Ex- 
zerptenreihen zusammengestellt werden, die als solche publiziert und mit 
Interesse gelesen werden. Wir haben z. B. Exempel raffinierter Finanz- 
operationen, wissen von einem vielgelesenen Buche, Exempel von geschickt 
opportunistischer Politik. Naturwissenschaftliches und Literaturgeschicht- 
liches der Art ist viel erschienen, ebenso Urkundenpublikationen. Es 
erwächst so eine ganze Literatur, die rein stoffliches Interesse bietet, ohne 
Hervortreten einer schriftstellerischen Person. Andrerseits kann ein Schrift- 
steller, dem es nur auf die Gedanken ankommt, ungemein viel produzieren, 
wenn die Anforderung an die stilistische Kunst herabgestimmt wird. 
Dabei mag sich der eine in professorenhafte Formlosigkeit verlieren, wie 
Chrysippos (und auch bei Aristoteles macht sich nicht selten ein zer- 
fahrener Kathederstil unerfreulich bemerkbar); es kann sich auch für die 
Verehrer und Schüler das Individuelle eines geliebten Meisters ganz 
ungezwimgen geben, wie bei Epikuros. Es sind geistig nicht unfruchtbare 
Zeiten, in denen die schönste Literatur die ist, die nicht zur schönen 
Literatur gehört Was ist in Deutschland während der fünfziger und 
sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erschienen, das auch als Kunst- 
werk Bismarcks Frankfurter Berichte vmd Briefe überragte? H. Taine las 
Mommsens schmucklose Hermesaufsätze mit Bewunderung, während ihm 
Frejrtags Kunst gering erschien. Vermutiich würden wir auch die Briefe 
des Königes Antigonos Gonatas und die physikalischen Untersuchungen 
des Straton von Lampsakos über Timaios und Hekataios von Abdera 
stellen. 
▼«fbnituBK Es war eben die Saat aufgegangen, die Sophisten und Philosophen 

dar BUdai«. ausgestreut hatten. Die Bildung, das weite geistige Interesse und die 
Aufnahmefähigkeit reichten so weit, wie Hellenen über die Erde verstreut 
waren. Auch von denen, die nicht Literaten von Profession waren, be- 
saßen viele die Fähigkeit zu beobachten und zu denken und das Be- 
obachtete und Gedachte auszusprechen. Es ist nur recht, daß die Fürsten 
zuviel zu tun haben, als daß sie selber schriftsteilem. Als Ptolemaios 
Philopator und der letzte Attalide für Literatur und Wissenschaft dilettan- 
tisch tätig sind, besiegeln sie den Niedergang ihrer Häuser. Wenn Pyrrhos 
über Kriegswissenschaft schreibt, so ist er da Fachmann; er war nur 
Militär, zum Könige fehlte ihm das Beste, und gerade er kokettierte mit 
soldatischer Verachtung der Bildung. Ptolemaios I. hat zwar den Bericht 
über Alexanders Feldzüge unter seinem Namen ausgehen lassen, und sein 
ist gewiß die Wahrheitsliebe und die Initiative, das Archiv des make- 
donischen Generalstabs zu erschließen; er hat natürlich auch selbst so 
etwas erzählt wie „hier soll Ptolemaios dem Könige das Leben gerettet 
haben; er war aber gar nicht dabei"; aber das Ganze erhob keinen lite- 
rarischen Anspruch, und auf die redigierende Feder kam bei einem solchen 
Werke das wenigste an. Von dem makedonischen Feudaladel konnte man 
literarische Bildung wirklich nicht erwarten. Es ist bezeichnend, daß 



C. Hellenistiscbe Periode (330 — 30 v. dir.)- L Hdlenismos. 



89 



PVivatbriefe nach Alexcuider nur von Antigonos Gonatas publiziert worden 
sind, der, in Athen erzogen, auch der einzige Fürst von ausgesprochenem 
philosophischen Bekenntnis ist Aber Empfänglichkeit und oft auch Ini- 
tiative haben Kunst und Wissenschaft bei den meisten Fürsten gefunden. 
Die Widmung wissenschaftlicher Werke ist in dieser Zeit noch keine leere 
Form, und das Buch über die Sandzahl, das Archimedes an den Kron- 
prinzen von Syrakus richtet, würde heutzutage kaum ein Standesgenossc 
Gelons studieren. In dieser Weise greifen auch die Fürstinnen ein, die 
nach makedonischer Art politisch eine bedeutende Rolle spielen. Nicht 
nur Poeten huldigen der Arsinoe Philadelphos, auch der Physiker Straton 
durfte an sie schreiben. Doch fehlen weibliche Briefe ganz und gar. 
Epikur schreibt an seine Freundinnen in Lampsakos, Themista und Leon- 
tion, erzählt auch mit scherzhaftem Pathos, welchen Ausbruch der Be- 
geisterung ein Brief dieser geistreichen Gattin des Metrodoros her\orgerufen 
hatte; aber diese Frauenbriefe scheinen nicht publiziert zu sein, vermutlich 
weil die Gemeinheit das Andenken Leontions schamlos beschmutzt hatte- 
Auch die alte dorisch -äolische Frauenpoesie hat nur noch am Anfange in 
Nossis, Anyte, Moiro Vertreterinnen an der Peripherie des Helleneutums und 
in dem zurückgebliebenen Arkadien. Vereinzelte dichtende oder gelehrte 
Frauen bereichem das Bild um keinen wichtigen Zug und sie scheinen nun 
emanzipiert Das konnte kaum ausbleiben, da die weibliche Erziehung 
sowohl auf Rhetorik wie auf Philosophie gemeiniglich verzichtete. Das 
machte sich schon in der attischen Periode fühlbar und wird in dieser 
Zeit, die der Frau wenn nicht rechtlich, so doch faktisch unendlich viel 
mehr Freiheit brachte, sehr viel empfindUcher. Natürlich spielen sie in 
den ausübenden Künsten, Musik und Tanz aller Art, eine glänzende, aber 
ephemere Rolle; als Schauspielerinnen nur in untergeordneten Gattungen; 
das eigentliche Drama blieb ihnen verschlossen: mit den attischen Gattungen 
dauerte das attische Vorurteil. 

Unter den Männern beteiligt sich jeder Stand. Schon die griechischen 
Marineoffiziere Alexanders unterscheiden sich darin von den makedonischen 
Marschällen. Der Bericht des Nearchos über Indien, der des Androsthenes 
über eine Erkundigungsfahrt im Per.sischen Meerbusen sind uns inhaltlich 
gut bekannt, und sie sollten darum nicht tiefer als Herodots Beschreibung 
von Skythien rangieren, daß in ihnen die Märchen fehlen, ihre Beobach- 
tungen aber noch heute für die Botanik von praktischem Werte sind. 
Timosthenes, Admiral des zweiten Ptolemaios, hat ein großes Werk über 
Häfen ausgehen lassen, das auf lange hin den Schiffern denselben Dienst 
leistete, wie jetzt die englischen Seekarten; natürlich fußte es auf den 
alten ionischen Portulanen. Aber von solcher, praktischen Zwecken die- 
nenden Literatur hier auch nur annähernd eine Vorstellung zu geben, ist 
schlechterdings unmöglich. Man sehe nur, wenn einmal ein späterer Ge- 
lehrter etwas Literatur zitiert, etwa Varro über die Landwirtschaft oder 
Vitruv über Architektur, welche Fülle sich da zeigt Spezialitäten, wie 



go Ulrich von WilamowitzMoellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

die rationelle Fütterung der Schafe, der Anbau der aus Medien impor- 
tierten LuzetTie, die neuen Geschützkonstruktionen, finden sofort in der 
Literatur Bearbeitung, ja ein alter Imker greift zur Feder, der jahrzehnte- 
lang auf einer der Inseln seine Bienen gezüchtet hatte. Kochbücher gibt 
es schon zu Piatons Zeit, bezeichnenderweise aus Syrakus: auch das 
wächst sich zu einer Literatur aus, an der ebensowohl gebildete Arzte, 
wie Gourmands und emporgekommene Sklaven teilnehmen: noch heute 
nennt der Grieche den Zwieback nach einem Barbaren Paxamos, der im 
I . Jahrhundert ein sehr reiches Rezeptbuch verfaßt hat, 
Bucbwe»en. Für das Hervortreten einer solchen Schriftstellerei ist Bedingung, dafl 

außer einem aufnahmefähigen Publikum auch ein leistungsfähiges Buchwesen 
d2isteht; für die Erhaltung der Literatur die Existenz von Bibliotheken. Beides 
hatte schon die Akademie Piatons in ihren engen Kreisen angestrebt; sie 
vertrieb die Werke der Schule, und wir haben gesehen, daß Piaton den 
Sophron und den Philolaos nach Athen brachte; auch die Gedichte des 
Antimachos hat er sammeln lassen. Dies Vorbild wirkte; zufällig hören 
wir von einer Bibliothek, die sein Hörer, der Tyrann Klearchos, in dem 
abgelegenen Herakleia anlegte: da sitzt denn auch dauernd ein besonderes 
geistiges Leben. Am wichtigsten ward dann Alexandreia; aber man stelle 
sich dessen Bibliothek nur ja nicht als die einzige vor: einzig ward nur 
der Großbetrieb der Wissenschaften in ihr, und daß sie für die Erhaltung 
der Literatur von unvergleichlicher Bedeutung ward, dankte sie dem Vor- 
sprung, den der Buchhandel Alexandreias haben mußte, weil das Land 
allein das Papier erzeugte. So ist denn das dritte Jahrhundert epoche- 
machend für das griechische Buch, das sich bis zum Ausgange des Alter- 
tums nicht wesentlich geändert hat Das Handwerkliche daran vermag 
mit unserer T)rpographie sehr wohl zu rivalisieren. Illustrationen forderten 
nicht nur die mathematischen und technischen Bücher. Wir besitzen noch 
die Bilder chirurgischer Operationen in einem Hippokrateskommentare des 
I. Jahrhunderts, und Krateuas, der Leibarzt des Mithradates, konnte einer 
Beschreibung der offizineilen Pflanzen sehr detaillierte Abbildungen bei- 
geben, die wir ebenfalls besitzen, beides freilich in späten verdorbenen 
Umzeichnungen. Es steht außer Zweifel, daß schon im j. Jahrhundert 
Geschichtsbücher, die dem breiten Publikum die Heldensage erzählten, 
illustriert wurden; ein obszönes Bilderbuch der Art, wie Aretino und Giulio 
Romano eines gemeinsam gemacht haben sollen, ging unter dem Namen einer 
Elephantis (vermutlich war das ältere Buch unter dem Namen Philainis 
gleicher Art), und das Gedichtbuch des Dioskorides hat mindestens zier- 
lichen Vignettenschmuck getragen. So ging die Verbindung von Bild- 
kunst und Dichtkunst, von der wir auch in dem Wandschmuck manche 
Spuren haben, in das Buch über. Ja, ein Dichter wie Theokrit ver- 
schmähte es nicht, die Inschrift, mit der er einst die Pfeifen einer Syrinx 
geschmückt hatte und die dementsprechend in der Zeilenlänge den Pfeifen 
entsprach, im Buche so nachbilden zu lassen, daß sie das Bild des Gegen- 



1 



C. Hellenistische Periode (330 — 30 v. Chr.). 1. Hellenismus. 



9« 



Verkehr. 



Standes durch die Schriftgrenzen lieferte: was denn sofort ein Nachahmer 
für die Form eines Altars aufgriff: diese Spielereien, die sogencinnten 
Technopaegnien, entsprungen einem hellenistischen Scherze, haben dann 
in der Kaiserzeit die Würde einer Gattung erhalten, die auch in modernen 
Zeiten ihre Verehrer gefunden hat. 

Nicht ganz auf gleicher Höhe stand der Buchhandel: die Reichspost uunmscbtr" 
des Königs Dareios hat keine Nachfolge gefunden. Und doch besteht ein 
commercium litterarum über die zivilisierte Welt; Archimedes trägt Sorge, 
daß seine Entdeckungen in Alexandreia bekannt werden, Apollonios von 
Perge schreibt in Alexandreia für die Kollegen in Pergamon. Die Kunst- 
urteile flattern in zierlichen Epigrammen über die Welt, die Aussprüche der 
athenischen Weisen will man ebensogut allerorten erfahren, wie die Er- 
folge der Diplomatie oder der Waffen. Die bildungsdurstige Jugend reist 
auch weit über alle Lande, ebenso wie die Verwaltungsbeamten und die 
Berufsoffiziere und vollends die Scharen der fahrenden Leute, die jetzt 
zum Teil sehr respektabel sind, wohl gar, wie die Schauspieler, durch inter- 
nationale Verträge geschützt. Freilich reisen nur Männer; vielleicht hat 
nichts das weibliche Geschlecht so sehr zurückgehalten, wie sein Haften 
an der heimischen Scholle. Man darf danach fragen, wie sich diese Welt 
ein Surrogat der Presse geschaffen hat. 

Die offiziösen Federn fehlten nicht; aufler den Kanzleibeamten hielt 
sich jeder Hof Literaten, und so sehen wir, daß 2. B. nach dem riesigen 
Festzuge, mit dem Ptolemaios 11. den Kultus seines Vaters inaugurierte, eine 
genaue Beschreibung erschien, die wir in einer Bearbeitung von Kallixeinos 
von Rhodos {60 Jahre später) zum Glück noch besitzen. Lynkeus von 
Samos, der Bruder des Duris, hat nicht nur selbst detaillierte Be- 
richte über Galadiners au.sgegeben, die eine Maitresse des Demetrios 
Poliorketes, Antigonos Gonatas als Kronprinz, und andere Notabilitäten 
gegeben hatten, sondern empfing auch von einem Korrespondenten aus 
Makedonien einen entsprechenden Bericht: selbst so etwas brachte es 
zu dauerndem literarischen Leben. Eben.so lesen wir die Beschreibung 
des Riesenschiffes, das Hieron von Syrakus erbauen ließ, von einem ge- 
wissen Moschion: sie soll der Welt den Eindruck einigermaßen über- 
mitteln, den die Zuschauer empfangen hatten. Beigefügt ist das Epigramm 
eines Hofdichters über denselben Gegenstand: das zeigt die andere Art, 
mit der Stimmung gemacht ward. Verse verbreiten ebenso den Ruhm 
des neuen Leuchtturmes von Alexandreia, wie den eines neu erschienenen 
Werkes, z. B. des Stemgedichtes von Aratos, Verse machen Reklame für 
ein neu erfundenes Trinkgerät, das in der Weltstadt ausgeboten wird. 
Noch in den Krisen, die der Schlacht von Kynoskephalai (ig?) folgen, 
spielen die Epigramme eines peloponnesischen Dichters Alkaios eine Rolle, 
und die Historiker haben daher Veranlassung, solcher Verschen zu ge- 
denken. Woraus wir übrigens auch abnehmen sollen, daß sie über 
Thukydides hinaus etwas zugelernt hatten: ein modemer Historiker könnte 



Q2 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

doch nicht von Kleon handeln, ohne auf Aristophanes Rücksicht zu 
nehmen. Die Verbreitung durch den literarischen Vertrieb ist nicht die 
einzige. Die offiziellen Kriegsberichte wurden nicht sowohl literarisch als 
sozusagen auf dem Verwaltimgswege weitergegeben; das hat ein so er- 
haltenes Stück aus dem Syrischen Kriege des Ptolemaios HL gelehrt 
Ganz wesentlich ist zu rechnen mit der Steinpublikation an Orten leb- 
haften Verkehrs. Hannibals Rechenschaftsbericht bei der lakinischen Hera 
hatte damals nichts Befremdliches; Briefe von Fürsten an befreundete 
Städte, wie wir einen von Antigonos an die Skepsier besitzen, konnten 
gemeiniglich auf eine solche dauernde Publikation rechnen: aus solchen 
Aufzeichnimgen bauen wir ja die Greschichte urkundlich wieder auf. 
Eben daß die Machthaber sich um die öffentliche Meintmg bemühen, 
zeigt, daß sie eine Macht ist, xmgebunden an die oft verschobenen 
Grenzen der Königrreiche. (rar nicht selten tun die Könige an den all- 
gemein besuchten G^tterfesten ihren Willen kund, durch Anschlag oder 
durch Gesandte. Dieser persönliche Verkehr ist überhaupt von großer 
Bedeutung; schon die Sendboten, die z. B. zu den Soterien nach Delphi 
laden und durch alle Welt ziehen, sind Organe der Vermittelung, die 
Festdeputierten ebenfalls. So haben diese gottesdienstiichen Veranstal- 
tungen, die religiös nichts als leere Formen sind, doch einen idealen Inhalt: 
das Gemeingefühl der Kultureinheit spricht sich in ihnen aus, jetzt viel 
mehr als an den Olympien der pindarischen Zeit Und wenn man sieht, 
wie ein ziemlich geringer Ort, Magnesia am Maeander, gegen Ende des 
3. Jaihrhunderts zu einer neuen Stiftung die Könige tmd die Städte der 
ganzen Welt laden kann, von Susa bis Sjrrakus, wie die ganze Welt zum 
Aufbau des durch Erdbeben zerstörten Rhodos Beisteuern leistet, so muß 
man anerkennen, daß Könige und Städte die übei^eordnete Einheit des 
Hellenentums anerkennen; Hellene ist ja auch im Rechte ein Begriff. 
Dies mußte nachdrücklich betont werden, denn in dem einheitlichen 
Kaiserreiche Roms ist davon keine Rede mehr. Da hilft in der Not nur 
der Kaiser, da erfahrt ntir der Senat von der Staatsverwaltung einiges, da 
existiert auch das commercium litterarum nicht einmal zwischen den 
Philosophen: Plutarch, Dion, Epiktet haben jeder ihren engen Kreis für 
sich. Erst die Christenheit schafft sich wieder einen Leib mit lebendigen 
Gliedern. 

In dem geistigen Anüitze des Hellenismus sind zwei Hauptzüge, die 
miteinander unvereinbar scheinen. Das eine ist die Freude an der 
Repräsentation, dem Pomp imd Schmuck, der erhabenen Pose: darin 
liegt das, was wir an ihm barock nennen dürfen. Daneben aber steht die 
intimste Freude an der weltverlorenen Stille, dem Frieden des engen 
natürlichen Kreises, am Feinen, Kleinen, Reinen. Die Marmorhallen des 
alexandrinischen Palsistes, der Riesentempel von Didyma und der rhodische 
Koloß haben den Freundschaftsgarten des Epikuros, die kölschen Land- 
häuser, in denen Theokrit verkehrt, die Studierzimmer, in denen Kalli- 



C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). 11. Prosa. 



93 



machos dichtet und Archimedes forscht, neben sich. Dem entspricht im 
literarischen Leben der rauschende Stil, der am liebsten über die ganze 
Welt hintönen will, und die Schlichtheit, die von der Wahrheit, um die 
sie rin|rt, einem empfänglichen Freunde, man kann auch sagen dem 
unbekannten nacharbeitenden Kollegen, berichtet, und das Raffinement 
des ganz intimen Kunstwerkes. In Wahrheit wurzelt beides in der be- 
freiten Individualität, die sich je nach den Lebenszielen sehr verschieden 
äußert. Eine solche Zeit wird weder einen Pindar noch einen Aristophanes 
hervorbringen, weder einen Piaton noch einen Isokrates, aber in Über- 
zahl Menschen, die wert sind, gekajint zu werden, weil sie sich auch in 
ihren Werken persönlich geben. Aber nur wenige von den Tausenden 
kennen wir, auch sie nur von fem: um so dringender ist die Pflicht der 
Gerechtigkeit, auf das verlorene reiche Leben hinzuweisen. 



IL Prosa. Von den Gattungen der Prosaliteratur ist nun das wissen- 
schaftliche Lehrbuch durchaus anerkannt, das sich nach der Disposition des 
Verfassers in viele Bände gliedern darf. Epikur kann sein Hauptwerk über 
die Natur endlos ausdehnen und daneben noch zahlreiche andere schreiben; 
die Stoa ist noch viel fruchtbarer. Die gelehrten Gepflogenheiten stellen sich 
ein, namentliche Zitate, Belegstellen, persönliche direkte Polemik, die sich 
bisher zu verbergen und Namennennung zu meiden pflegte. Bis zu welcher 
Formlosigkeit das getrieben werden konnte, zeigt das in einem Papyrus 
erhaltene Stück des Chrysippos über negative Aussagen: es bestätigt die 
alte Kritik, daß von manchen seiner Bücher kaum etwas übrigbhebe, 
wenn man die Zitate striche. Auch bei seinem Nachfolger Diogenes von 
Babylon wird eine Masse von Belegen, zum Teil höchst zweifelhafte, ge- 
häuft, um einen sozusagen historischen Beweis zu liefern. Ganz toll wird 
es, wenn Philodemos von Gadara, dessen literarischen Nachlaß die herku- 
lanische Villa erhalten hat, nun so gegen Diogenes schreibt, daß er z. B. 
im zweiten Buche seines Werkes über Musik die Meinungen des Diogenes 
reproduziert, um sie im vierten zu widerlegen. Auf diese Weise ließ 
sich die Kontroverse ins unendliche spinnen und die Bücher schwollen 
schneeballartig an. Dabei macht Philodem schriftstellerische Ansprüche, 
denn er vermeidet den Hiatus und verliert sich in riesige Perioden. Seine 
Polemik in ihrer Grobheit und Kleinmeisterei ist nicht nur unerfreulich, 
sondern auch geschmacklos; kaum traut man ihm seine zierlichen Epi- 
gramme zu. In den Philosophenschulen hat sich die Sprache in eine be- 
stimmte Terminologie zwingen lassen, womit schon Aristoteles, nicht 
immer glücklich, den Anfang gemacht hat. Das geht dann in allen Schulen 
weiter, am ärgsten in der Stoa. Man braucht die Kunstworte nicht schön 
zu finden: wissenschaftlich liegt doch darin ein großer Fortschritt, und es ist 
wichtig, weil diese Termini zum Teil in die allgemeine Rede eingedrungen 
sind und der Attizismus sie nicht alle vertreiben konnte, aus der philo- 
sophischen Prosa nun schon gar nicht Manches davon dauert in der 



Lehrbuch. 



Epikuros 
(t 170)- 



Chnsippo« 
(t >o,). 

Diogvnv» 
TOD Babylon 
(t n*ch «54). 

Fhilodemos 
(um 50). 



04 Ulrich von Wh-amowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

modernen Rede, ohne daß man daran denkt Es ist ja die Terminologie, 
durch die unsere Wissenschaften noch heute von ihrer Herkunft Zeugnis 
ablegen müssen, leider oft, wie in der Grammatik, in perversen lateinischen 
Übersetzungen. Griechisch sind sie besonders in der Mathematik geblieben, 
die für alle Lateiner zu hoch war. Und da ist auch wenigstens ein Grund- 
Kukieidet buch erhalten, die Elemente des Eukleides, und daneben noch manches 
<iim 300). jj^(jgj.g ^auch etwas Astronomisches von seinem älteren Zeitgenossen Auto- 
lykos). Gewiß dankt Eukleides nicht nur den Inhalt, sondern auch die 
unübertrefflich strenge Form der langen Praxis, die bis in die Schule des 
Pythagoras zurückweist; da die Schule Piatons die nächste Etappe ist, 
darf man diese Ergänzung der Dialogpoesie nie außer acht lassen; die 
strenge mathematische Logik ward als täglich Brot gereicht; Philosophie 
war Geometrie. So gibt es denn nichts, was die griechische Sprache als 
die Muttersprache der Wissenschaft so deutlich zu erkennen gäbe, wie 
die Schlichtheit der mathematischen Bücher, die gewollt ist und in der 
Selbstbeschränkung die Meisterschaft zeigt Höchst charakteristisch ist es, 
in den Büchern des Apollonios von Perge zu sehen, wie der Verfasser 
seine wissenschaftlichen Darlegungen in der mathematischen Schulsprache 
hält, in den Geleitbriefen, die als Vorreden dienen, dagegen die elegante 
Rede des damaligen Briefstiles ebenso sicher handhabt Hier herrscht 
also wirkliches Stilgefühl, das Stoiker und Epikureer leider oft vermissen 
lassen. Eine gleiche Kürze, sichere Terminologie und bewußte Selbst- 
bescheidung haben die Grammatiker besessen, wenn wir von einem so 
.\riitarcbcM treffUchen Nachfolger wie Aristonikos auf Aristarch schließen dürfen. Nur 
(uin 160). ijjg gjg nicht zu lesen verstehen, verachten die alten Schollen, und wenn 
man sagt, die Anmerkung hätte der Antike gefehlt, so gilt das nur 
für ausgeführte Werke: w£is ist denn die Randnotiz anders? Die Aus- 
gabe mit kritischem Apparat ist sicher, also wohl auch die Ausgabe mit 
Anmerkungen eine alexandrinische Erfindung. 
HypüinMma. Eine solche Ausgabe nennt man Hypomnema, mit demselben Namen, 

der uns' oben sowohl für die Akten der Archive wie für die Kollegien- 
hefte der Professoren und Studenten begegnete. Er besagt eben an sich 
nichts weiter, als daß dies lediglich zur Hilfe des Gedächtnisses auf- 
gezeichnet ist. Das ergibt also eine Literatur, die gar keine literarischen 
Ansprüche erhebt Daß sie keine literarischen Vorzüge besäße, ist 
damit keineswegs gesagt, denn die gibt es auch ohne rhetorische Stili- 
sierung. Hat doch Cäsar seine historischen Bücher eben Hjqiomnemata 
{commentarii , das ist ein gutes Ühersetzerwort) genannt, und Cicero war 
Stilkenner genug, diese zwar nackt, wie er sagt, aber unübertrefflich 
zu finden. Die Ethik und Politik des Aristoteles wird doch mancher 
nicht geringer einschätzen, obwohl beide in einigermaßen chaotischem 
Zustande aus den Papieren des Verfassers ediert sind. Die Masse der 
hyporanematischen Literatur ist ganz unübersehbar gewesen. Nament- 
lich in der Bibliothek von Alexandreia sind die Schätze der Vergangen- 



J 




95 

beit naeh den miwtMJiJirtM i G>siihls|iwilr»m «ttsgcaogen wonlen; 
KalfisiMfaos, der den Katalog xa. tmmdben batte, hat das offenbar gaas 
fiannätig in <Se Wege gleitet, and ariien sönen namhaften Schülern, 
Istros, Philostephaaos, Henoppos, zahbeiche Handlaitger beschäftigt. 
Das Lexikon, sowohl als Wörterfau^ aach für einzelne Schriftsteller oder 
Dialekte, wie als biogia|ilBsdies, geognqifaisches, mythologisches Namen* 
buch, ist eine Exfindoag' Aeser Zeit. Samnttange n von Sprichwörtern, 
Anekdoten, Xatnrme ikn üidigk e iteu , Bltimeolesen aus Dichtem und 
Prosaikern hat es lahlVw gegeben. Diese ansprachsktse Misiiellanliteratiir 
hat ganz besonders der al^emetnen RiTdimg ein rei<dkes und bequ«Des 
Material zugeführt; man soll es nicht gänzlich verachten, so armselig es in 
dürren Namenkatalogen auftritt. Natüriich konnte es dann wieder stilistisch 
au^^eputzt werden; aber als Uterarische Form wird das H>'pomnema eben 
durch seine Formlosigkeit charakterisiert. 

Das Hypomnema "«"faB* auch das, was wir Akten und Urkunden crtwW«. 
wjf^mt^ und nicht in der BibUothek, sondern im Archive aufbewahren. 
Diesen Teil der Literatur kennen wir dank den Steinen und Papyri besser 
als irgendeinen anderen. Man wird den Verordnungen der Ploleroier 
und den Geschäftspapieren ihrer Beamten nicht absprechen können, dafi 
sie in jeder Weise zweckentsprechend sind; Kanzlistenschnörkel stellen sich 
zwar allmählich ein, aber der Grieche und selbst der Ägj'pter, wenn er 
griechisch an seinen König schreibt, steht ihm immer menschlich frei gegen- 
über. Die devot ersterbende Kriecherei vor der allerhöchsten Person und 
den hohen Vorgesetzten ist erst ein Erzeugnis des späten, insbesondere dt*s 
christlichen Kaisertums. Ebenso kann man nicht sagen, dafi die Krank» 
heit der Sprache wahrnehmbar wäre, die bei uns als Juristendeutsch unaus. 
rottbar ist. Wohl aber ist auch hier ein fester Stil; man möchte ihm eher 
etwjis mehr terminologische Präzision wünschen. Was für die Öffentlich- 
keit geschrieben wird, strebt nach feierlicher Würde, wo denn freilich 
dem barocken Zeitgeschmacke Rechnung getragen wird. Das gilt nament- 
lich von den Ehrenbeschlüssen auf Stein, deren wir zahllose besitzen, also 
von der offiziellen Sprache der Freistädte. Grundlegend ist die attische 
Kanzleisprache, die wir ja aus dem 4. Jahrhundert gut kennen, und die 
so präzis imd klar ist wie die der ägyptischen Akten. Der auf Stein 
publizierte Beschluß ist in Athen immer ein Auszug aus den Protokollen 
von Rat und Volk, die Publikation also etwas Akzessorisches. Formal 
bleibt das so, allein der Konzipient rechnet nun immer mehr mit clor 
Steinpublikation, die zur Regel geworden ist, und da dringt di-nn 
die barocke Breitspurigkeit ein. Gemeiniglich ist der ganze Ehron- 
beschluß ein ungeheurer Satz, den nur versteht, wer die stereotype 
Struktur von vornherein übersieht. Aber es ist unverkennbar, daß dies 
mm schön sein will, und gibt man die Gattung und den Stil einmal zu, 
so muß man auch anerkennen, daß das Ziel erreicht wird. Gar nicht 
selten geben die Motive eine geschickte Erzählung, und gar sinnreich 



^ VuaCM vov MiBJkitomnx-iloaLXMDOKrr: IXe grifriiwrfae Utenar des Ahertmns. 

werden täcbt aar in Adien, sondern amch an allen leidlich gelnldeten 
Orten die Ehrungen and Lob^irädie noandett. Sollten die lateinischen 
Elogien, zu deren Herstellnngf die Acadi^nüe des Inscriptions gestiftet ist, 
»ollten auch die lateaüscben Tabnlae gratnlatoriae, irie äe unsereiner in 
einem stilistxsdi **reag normierten und damra immerhin der deutschen 
FormkMigfceit vorznzidienden Latein gelegentlich verfassen mofi, iräUich 
YiSAaer raagiereat 
Bfici«. Erfreulich kontrastiert mit diesem Bombast der Brief, und die Könige 

vericehren sowohl mit dem Auslande als auch mit ihren Untertanen nur 
in dieser Form, kurz, einfach, höflich, mit geschickter Schattierung. Der 
Chef ihrer Privatkanzlei muflte immer ein literarisch ganz vernerter Mann 
sein. Isokrates ist zum Glück nicht damit durchgednu^ien, selbst den 
ein£achen ^npfehlungsbrief schulmäfiig zu periodisieren. Auch hier hat 
ihn Aristoteles korrigiert, dessen Schule das Wesen des Briefstils fein 
charakterisiert hat, und bezeichnenderweise sind Aristoteles selbst und 
sein Schüler Alexander die ersten Menschen, deren Korrespondenz (darunter 
auch Schreiben ihrer Adressaten und verwandte Anlagen) gesammelt und 
ediert worden ist Zu ihnen trat dann Epikuros und sein Kreis. Es gab 
also auch in der griechischen Literatur etwas, das man mit Ciceros Briefen 
gern vergleichen möchte. In der Praxis des Lebens haben sich rasch feste 
Formeln gefunden, deren die Masse bedarf, auch wenn sie ganz Persön- 
liches äußern will, und es ist ebenso belehrend wie genufireich, den Wandel 
des Stiles und die Grradunterschiede der Bildimg an den unscheinbaren 
Dokumenten zu verfolgen, die uns der Zufall in Ägypten beschert Bereits 
Epikuros hat sich des Briefes auch zur Darlegung seiner Lehfe bedient, 
bald um eine wirklich gestellte Frage zu beantworten, bald ab bequeme Ein- 
kleidung. Wie sollte auch nicht die direkte Ansprache, die nach der Elegie 
und dem lambus auch in der Prosa bestand (manches in der hippokratischen 
Sammlung und die alte attische Schrift über die Verfassimg hat diese 
Form), in den Brief lunsetzen, seit der Schriftsteller für Leser schrieb? 
Das konnte geschehen, indem sich die Anrede eigentlich niir auf eine 
Einleitung oder auch nur eine Widmung erstreckte; die Schriften Ciceros 
illustrieren das, und selbst in dem strengsten Lehrbuche ist es dauernd 
IjojVjehalten, noch im Almagest des Ptolemaios. Es konnte aber auch die 
Rücksicht auf den Adressaten die ganze Haltung bestimmen. Wenn 
Ark<-«ii«<,« ArkcsilaoH, der Stifter der mittleren Akademie, prinzipiell nichts publi- 
'*''■ /,i«!rto, aber an Eumenes von Pergamon schrieb, so hat er gewiß die 
üattungsgrcnzcn streng innegehalten. In der wissenschaftlichen Literatur 
i'oUnioo .sehen wir z. B. bei Polemon von Uion, einem der ausgezeichnetsten 
(um mo), j^oijalforscher, daß er die persönliche Adresse sowohl nach der Seite 
der Widmung verwandte wie auch zu scharfer direkter Polemik gegen 
den längst verstorbenen Timaios, wo sie doch nur Einkleidung war. 
Das war der Brief auch schon in den oben erwähnten Dinerbriefen 
de« Lynkeus. Sehr früh hat sich die Tagespolemik auch der unlauteren 



iellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). 11. Prosa. 



97 



Waffe des gefälschten Privatbriefes bedient; gerade weil allen Parteien 
auf die Autorisierung durch berühmte Personen so viel ankam, lag die 
Versuchung nahe genug, sich das benötigte Zeugnis selbst zu beschaffen 
oder auch eins, das einen unbequemen Gegner diskreditierte. Derartiges 
birgt sich unter dem Namen des Demosthenes, Isokrates, Piaton, ver- | 

fertigt aus sehr verschiedenem Sinne, aber fast alles noch in der Zeit, in 1 

der so etwas aktuell wirken konnte, weshalb es immer noch die Urteils- 
losen täuscht. Sehr viel harmloser war es, Größen der Vergangenheit 
Briefe unterzuschieben, und in den zwei Fällen, wo wir die vorliegenden ^m 

Briefe mit Sicherheit in die hellenistische Zeit hinaufverfolgen können, ^M 

sind es gar Barbaren, der Inder Kalanos imd der Skythe Anacharsis. Da ^M 

war also gar keine Mystifikation beabsichtigt. Aber es kann sehr wohl | 

sein, daß diese literarische Form schon sehr viel weiter ausgebildet war I 

und der Roman in Briefen oder das Charakterbild in Briefen keineswegs 
erst in der Kaiserzeit aufgekommen ist. 

Von den großen Gattungen war den Philosophen der Dialog gegeben, oiaioj. ' 
und die Autorität Piatons hat auch zu allen Zeiten Nachfolge erzeugt, 
vorwiegend unter Philosophen und für philosophische Dinge; insbesondere 
über die Liebe schickte es sich, in der Form von Phaidros und Symposion 
zu handeln. Es bedienen sich der Dialogforni aber auch andere Gelehrte, 1 

sogar Eratosthenes; auch ein namhafter Arzt, Herakleides von Tarent, tierakieidn 
hat ein Symposion verfaßt. Merkwürdig und reizvoll w^ird vieles gewesen "°" '^"•■' 
sein, aber daran ist kein Zweifel, daß erst Cicero Kunst\verke im Sinne 
des Piaton und des Pontikers Herakleides hervorgebracht hat, und der 
erreichte es durch den Anschluß an diese Muster der klassischen Zeit j 

Um so charakteristischer ist die ausgeartete Form des Dialoges, die Diauib«. 
auch im Namen sich als seine niedere Schwester kennzeichnet, die Diatribe. 
Sie ist mit dem identisch, was die Peripatetiker den kynischen Stil nennen. j 

Diogenes von Sinope, der Gründer des Kynismus, hat die Umprägiing der 
kursierenden Ansichten und Werturteile literarisch durch die Parodie be- J 

trieben, wie das nahe lag, und seinen Tragödien hat sein Schüler Krates I 

von Theben, eine weit vornehmere Erscheinung, höchst witzige elegische 
und epische Parodieen nachge.sandt. Diogenes gerierte sich im Leben als 
ein potenzierter Sokrates, und so lag es nahe, den platonischen Dialog ins 
Kynische umzusetzen. Das sehen wir noch in den zahllosen Apophthegmen 
und Geschichten von Diogenes, und wenn sich auch bestimmte größere j 

Szenen erkennen lassen, Diogenes auf dem Sklavenmarkt, Diogenes in 1 

Olympia, Diogenes predigt über das Glück des Bettlers im Gegensatze 
zu dem des Großkönigs, Diogenes und Alexander, so gehört es sich nur, 
daß kein geschlossenes Kunstwerk herauskommt wie bei Piaton, sondern J 

eine allerdings überreiche Fülle witzigster Situationen und Sprüche. Es J 

verschlägt wenig, daß wir das fast nur in der Vereinzelung oder in Reihen ^1 

von Apophthegmen finden: eben diese Charakterisierung eines Menschen 1 

durch eine Sammlung seiner Witze ist die rechte kynische Parallele zu 

Du KuLTim DU Gegeswakt. Lt. 7 J 



W q8 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Apophthctro:.. dcR Memorabilicn Xenophons. Das Apophthegma wird aber überhaupt 
fast eine Redegattung, entsprechend der alten poetischen und prosaischeti 

^^_^ Grtiome, oft auch ein Epigramm in unserem Sinne. Der Grrieche bildet 

^^H auch den Witz, das Bonmot, die sententia {nicht als Sentenz, sondern im 

^^H Sinne des Rhetors Seneca) zur Kunstform aus, und die Philosophen sind 

^^H darin Virtuosen. Anders aber wird das klingen, wenn die Jünger der 

^^H Schule sich beim Nachtmahl um den Meister scharen, anders auf dem 

^^H Markte, wo nur der Muttenvitz Kurs hat. Da ist der Kyniker in seinem 

^^H Elemente, der von positiver Philosophie kaum etwas zu bieten hat, und 

^^H vor dem die Schriftstellerei höchstens als Niederschlag der mündlichen 

^^H Rede bestehen kann. Aber er ist nicht der einzige. Menedemos von 

^^m Eretria (der nichts publizierte), Stilpon von Megara, Bion vom Borysthenes 

^^ treiben es ähnlich und vertreten ganz andere Schulen oder stammen doch 
I Bion aus ihnen. Den Bion pflegt man jetzt nach Horaz als den Erfinder oder 
I (um aSo). Vollender der Diatribe anzusehen, aber man sollte gerade hier keinen 

K einzelnen nennen, und wenn, so haben die Kyniker den Vortritt. Was 

I die Diatribe ist, ergibt sich ganz von selbst, wenn man sich solch einen 

I Volksredner denkt. Er würde vielleicht ein wirkliches Gespräch fuhren, 

I wenn die Leute, die er haranguiert, zu antworten TÄÖißten. So redet er 

■ wohl direkt auf sie ein, aber die Antworten muß er sich selbst geben. 

■ Der Dialog ist nur noch rudimentär vorhanden, in Selbsteinwürfen und 
I Selbstantworten; aber die Lebhaftigkeit ist nur gestiegen, weil die Höf- 

■ lichkeit verschwunden ist So wird eine Art skurriler, zuweilen auch 

■ pathetischer Predigt daraus. Rs ist immer ethische Ermahnung und ganz 

■ praktische Moral, immer auch eine Kritik der Gesellschaft und ihrer Vor- 
I urteile, Umwertung der geltenden Werte. Aber die Belustigung überwiegt 
I leicht, schon durch die Übertreibung, und allerhand Nebenwerk belebt 

■ und überwuchert wohl auch die Deduktion. Da gibt es die Fabel, die 

■ ;Vnekdote, den Sinnspruch, den man auch gern parodiert, das Gleichnis 
I (von Ariston geradezu als eine Literaturgattung ausgebildet, die nament- 
I lieh Plutarch veranschaulicht), da kondensiert sich die Kritik oder Be- 
I lehrung gern in einem Paradoxon, da wird die volkstümliche Weise der 
I durchgeführten Antithese, Mensch und Tier, König und Bettler, Protzen- 

■ diner und Bettelsuppe, Armut und Reichtum, angeschlagen; die Allegorie 

■ ist auch beliebt, und so sehen wir mit Behagen eine Menge Motive und 

■ Formen, die die vornehme Literatur gemeiniglich verschmäht. Im Originale 
Tel« lesen wir freilich wieder fast nichts; Teles von Megara, von dem wir 

(um j^c). wenigstens etwas haben, ist ein geringer Nachahmer. Indessen tritt hier 

■ die abhängige Literatur so stark ein, daß unsere Vorstellung klar genug 

■ ist. Horaz hat seine Satiren ja selbst Diatriben (übersetzt Sermonen) ge- 
I nannt, und die Moralisten der Kaiserzeit, Seneca, Plutarch, Dion, dann 
I auch Lukian, hängen auch formell sehr stark von dieser Literatur ab. 

■ Mußten doch selbst die vornehmen Philosophieen um des Erfolges willen 
I sich in das grellbunte und nicht sehr anständige Gewand der bionischen 



C, Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). II. Prosa. 



99 



(t »jj)- 



A ristOD 
von Chios 
(um 360). 



Satire kleiden. Selbst bei dem einzigen aus der exklusiven alten Aka- Kraaior 
demie, der in weiteren Kreisen Leser fand, bei Krantor, finden wir eine (♦"'»?<>)• 
breit ausgesponnene Allegorie. Bei dem ernsten Stoiker KJeanthes be- Kieintb«» 
gegfnen uns Verschen, sehr gelungene zum Teil, in denen sich seine 
Lehre kondensiert, bald Parodie einer bekannten Tragikerstelle, bald die 
gemeine Form der komischen Sentenz, auch ein volkstümlicher Dialog 
zwischen Vernunft und Leidenschaft. Selbständige Stücke sind das nicht: 
sie werden erst verständlich, wenn er in dem Diatribenstil, der ja so 
viel von Parodie lebte, in den Vers übersprang. Auch bei Ariston, der 
mehr Kyniker als Stoiker war, ist ein solches Beispiel nachgewiesen. 
Da haben wir den Gipfel der gewollten Stilmischung. Weil Varro in 
den Satiren, die er menippeisch nannte, Verse und kynische Prosa mischt, 
weil es Seneca in der Apokolokyntho.sis und dann noch mancher Römer 
bis auf Boethius Con.soIatio ebenso hält, endlich weil rudimentär sich 
dasselbe bei Lukian findet, erschließen wir, daß Menippos von Gadara in Meoippo« 
seinen kynischen Satiren diese Weise ausgebildet hat, und manche skurrile '™ '*"'' 
Erfindung, wie die horazische Nekyia, dürfen wir durch solche Kombination 
auf ihn zurückführen. Aber direkt fehlt uns wieder alles: es fehlt uns die 
Anschauung einer interessanten Gattung, über die wir uns daher des 
Urteils enthalten müssen. Mi.schung von Prosa und Vers ist an sich nicht 
unerhört. Das alte Volksbuch vom Streite des Homer und Hcsiod gibt 
prosaische Erzählung, aber die Helden reden in Versen: das tun sie, weil 
sie Dichter sind. Ahnliches gibt es mehr, aber es bleibt immer ein 
qualitativer Unterschied gegenüber dieser Vermischung; da wäre es vor- 
schnell, sich auf noch fernere Analogieen zu verlassen. Ganz in metrischer 
Form, im Anschlüsse an Xenophanes und die rhapsodische Parodie, hat 
Timon von Phleius, der übrigens auch einen Dialog und Elegieen verfaßt 
hat, in höch.st ergötzlicher Weise ähnliche Szenen behandelt, wie wir sie ** "" "''' 
dem Menippos zutrauen können, einen Fischfang, in dem die Fische 
Philosophen waren, eine Nekyia, die das platonische Vorbild nicht ver- 
leugnete. Man sieht, daß die römische Satire nicht nur den Inhalt in der 
hellenistischen Literatur vorfand. Wie würde Horaz gelacht haben, wenn 
man ihm mit dem Lobe des Quintiliaii gekommen wäre, sattra tota nostra 
csi. Römisch ist an ihr nur der Name, und den verschmähte er. Aber 
den Ruhm hat er wirklich verdient (er, nicht schon LuciUus), den fremden 
bunten Stoff mit echt kün.stlerischem Gefühle geformt zu haben, sehr viel 
hellenischer als seine hellenistischen Vorbilder. Und doch zeigt sich der 
Reichtum der griechischen Literatur auch darin, daß sie eine Zeit erlebt 
hat, der solche geistreiche Stillosigkeit ebenso entsprach, wie der früheren 
die klassische Formenstrenge. 

Die Beredsamkeit, die Herrin des 4. Jahrhunderts, tritt literarisch B<.rea»Mnk«it. 
stark zurück, einmal, weil in einer Zeit der gewaltigen Taten der Wert 
des Wortes sinken muß, dann, weil das Lesebuch stark an Terrain ge- 
wann, vor allem, weil die Philosophie bis tief in das 2. Jahrhundert hinein 

7* 



Tiinoo 



lOO Ur.RlCH VON WiLAMOWiTZ-MoELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 

SO hoch dastand, daß die alte Feindin ihren Anspruch auf die Jugend- 
bildung nicht aufrechterhalten konnte; aufgegeben hat sie ihn nie. Die 
Staatsrede als Form der Publizistik gab es in den Königreichen nicht; 
auch die Reform in Sparta ist nicht durch Reden, sondern durch quasi- 
historische Abhandlungen über die alte Verfassung tind Sammltmgen von 
Exempeln alter Spartanertugend verteidiget worden. Die Städte und 
Staatenbünde von Hellas haben eine parlamentarische Beredsamkeit nicht 
mehr erzeugt (ein paar attische Nachzügler sind bedeutungslos). Prosaische 
Hymnen und Enkomien erscheinen freilich unter den Veranstaltimgen der 
gfroßen Feste; aber diese pompöse Behandlung konventioneller Stoffe hatte 
nicht höhere Bedeutung als die Dithyramben tmd Tragödien, die man 
daneben aufführte. Wir kennen im Auszuge eine Rede auf Herakles 
Matru von Matris aus Theben; aber da ist gerade der äußere Schmuck weg- 
'^'^*'" ''' gefallen, der interessieren würde, weil der Verfasser zu den später be- 
sonders hart beurteilten Stilisten gehörte. Die Gerichtsrede konnte natür- 
lich nirgend entbehrt werden, wo mündliches und öffentliches Verfahren 
galt; aber sie sank aiif ihren gebührenden Rang. Bezeichnend ist, daß 
die eigentlich juristische Seite den Praktikern (Pragmatikern, wie man 
sagte) überlassen ward, der Redner also lediglich die zweckmäßige Aus- 
gestaltung zu besorgen hatte als „Oberredungskünsüer*'. Daß es zu 
keiner wirklichen Rechtswissenschaft kam, war damit besiegelt Im 
2. Jahrhundert erstarkt die Rhetorik wieder, was mit der Macht des demo- 
kratischen Rhodos zusammenhängt, dem zahlreiche Städte untertänig 
waren; die autonomen Gemeinden Asiens unter pergamenischer oder 
römischer Oberherrschaft beteiligen sich auch daran, und bald bewirbt 
sich die Rhetorik um die Bildung der römischen Herren. Schon Gaius 
Gracchus hat die allerbedenklichsten Künste der griechischen Afterkunst 
nicht verschmäht (er ließ sich von einer Flöte den Ton angeben, in dem 
er einsetzen wollte); seitdem ist die Ausbildung der römischen Jugend ein 
Gewerbe, das dem Rhetor G«Id imd Ehre bringet, und vor künftigen 
Staatsmännern läßt sich die Konkurrenz der Philosophie leichter aus dem 
Felde schlagen. Daher eine Erneuerung des Kampfes zwischen Isokrates 
und der Sokratik; die Plülosophie kann sich nicht anders helfen, als indem 
säe die praktische Schulung des Redners auch übernimmt; aber der Sieg 
ist ihr nicht geblieben. Aus diesem Kampfe ist als die köstliche Frucht 
die Praxis und die Theorie Ciceros erwachsen; seine griechischen Lehrer 
weinten mit Recht um den Ruhm ihres Volkes, als sie den Lateiner 
hörten, der es unternehmen durfte, mit Piaton und Demosthenes zu rivali- 
neren. Und doch weiß und beweist gerade er (wie übrigois alles, was 
vir von älterer römischer Beredsamkeit besitzen), daß die lateinische Kultur 
und Literatur ein TeU der hellenistischen ist. Nach ihm ist es hier wie 
dort um jene gegenseitige Durchdringung der rhetorischen und philo- 
$0|)iii$chen Bildung geschehen: seine Größe steiget nur ^wie die vtMd H(vaz 
und VergU), wenn man sie in die griechische Entwickelui^ einordnet. 



C Hdkmstiscte lyriotfe (jao— jo t. Cht.]i. IL Prosa. 



lOI 



Cicero hat übrigfens die Redner, bei denen er gelernt hatte, niemals preis- 
gegeben, während er die Lehrbücher verachtet, seit er bei den Philo- 
sophen der Akademie Besseres gefunden hat. Sein Lehrer Moloo muA 
aach eine interessante Person gewesen sein; er ist nicht nur in wichtigeo *"" "** 

politischen Verhandlungen aufgetreten, sondern war ein Rufer im Streite, J 

einmal der Rhetoren gegen die Philosophen, dann als einer der ersten I 

antijüdischen Schriftsteller. Damit erfahren wir, daß in Rhodos neben | 

Panaitios und Hipparchos und ebenso neben Poseidonios, Dionysios Thnut 1 

und Timachidas, also neben Philosophie, Naturwissenschaft und Grammatik, 1 

auch in ihrer Art ebenbürtige Rhetoren und Journalisten g^estanden haben. I 

Was sie konnten, erfahren wir nicht. 1 
Die Theorie der Rede, soweit sie mit der Logik zusammenhingt, Rh*«««. I 

hatte Aristoteles wissenschaftlich fundiert; die Stoiker bauten daran weiter, I 

ohne doch für die Praxis Ersprießliches zu erreichen. Von beiden wollten I 

die Rhetoren lernen, und namentlich als Chrj'sippos der Welt durch 1 

seinen Dogmatismus und seine scholastische Spitzfindigkeit imponierte, 1 

auch darin nicht zurückbleiben. Ihr Unterricht war wohl schon früher 1 

von der Praxis, die den nun veralteten sizilisch- attischen Handbüchern I 

entsprach, zu derjenigen fortgeschritten, die dann bis weit über das Ende I 

des Altertums in ungebrochener Kontinuität dauert Die Schüler lernten I 

das System imd versuchten sich praktisch zuerst an dem Nacherzählen I 

von Fabeln imd Geschichten, dem Umsetzen von Gedichten in Prosa, dem I 

Aufsatze über irgendein allgemeines Thema (z. B. ob man heiraten soll) 1 

oder einen Spruch, gingen dann zu einer Rede aus bestimmter Person I 

und Situation fort (z. B. was konnte Zeus sagen, als er Phaethon atif dem I 

Sonnen wagen sah), schließlich zur Behandlung eines fiktiven Rechtsfalles I 

(wobei die betreflfenden Gesetze im Thema angegeben wurden, so wahn- I 

schaffen wie der Rechtsfall selbst). Die Anmaßung ging also so weit, 1 

daß der Unterricht alle und jede Prosa umfassen sollte; der philosophische 1 

Traktat erschien ak ein Anfängeraufsatz, imd den Gipfel bildete die I 

Gerichtsrede: schamloser kann nicht zugestanden werden, daß der Inhalt 1 

ganz und gar Nebensache ist, die formale Bildung aber zu allem be> I 

fähigen soll. Schwerlich wird es zu hart sein, wenn man die ganze Arbeit I 

als weggeworfen bezeichnet, die ununterbrochen bis ins 5. Jahrhundert 1 

n. Chr. auf den Um- und Ausbau dieser Theorie verwandt ist. Die Philo- I 

logie freilich darf nicht ruhen, bis sie von den erhaltenen oder zunächst I 

herstellbaren Systemen der Spätzeit (Minucian, Hemiogenes, Alexander 1 

Numenius usw.) über Quintilian und die zuverlässigeren griechischen Reste I 

zu der maßgebenden hellenistischen Theorie emporsteigt, die uns wieder I 

direkt nur in lateinischer Bearbeitung vorliegt. Wir sind infolgedessen I 

genötigt, den Rhetor, der gerade Autorität war, als Cicero lernte, so zu I 

behandeln, als wäre er ein großer Gesetzgeber und gehörte ihm die I 
radikale Umbildung der alten Techne; es kann aber sehr wohl sein, daß 
Hermagoras von Temnos (also so gut wie ein Pergamener) damit zu viel ii-rni««ofw 



102 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Ehre erwiesen ist und, wie meistens, das 3. Jahrhundert bereits die 
wichtigsten Gedanken erzeugt hat: die Stasis, d. h. die Vorfrage, „worauf 
baut sich das Problem auf, das zu behandeln ist", ist sicher eine ältere 
Entdeckung, und sie ist auf die Gerichtsrede berechnet. Auch Timaios, 
Matris und Hegesias, die Stilmuster dieser „Modernen", gehören ins 
3. Jahrhundert. So viel muß man diesem rhetorischen Unterrichte un- 
bedingt zugestehen, daß er turmhoch über der pädagogischen Impotenz 
steht, die unseren Knaben durch den deutschen Aufsatz samt seinen Dis- 
positionen die Fähigkeit zu denken und zu schreiben nur darum nicht ver- 
schneidet, weil er bisher noch nicht die zentrale Stelle in dem „nationalen" 
Unterrichte errungen hat. 

Von unbestreitbar hohem und dauerndem Werte ist die andere Seite 
der rhetorischen Theorie und Praxis, die sich auf den Ausdruck erstreckt, 
die Stilistik. Scherer hat in seiner Poetik über die Form der Prosa 
nichts Besseres zu geben gewußt, als ein kümmerliches Exzerpt aus der 
Lehre dieser griechischen Rhetoren. Das Beste stammt natürlich auch hier 
von der Philosophie. Theophrast bat in seinem Buche über den sprach- 
lichen Ausdruck auf dem Boden des wunderbar feinen aristotelischen Buches, 
das wir jetzt als drittes der Rhetorik lesen, ein festgefügtes System erbaut, 
namentlich durch die Anerkennung verschiedener Prosastile: damit war 
für Gorgias und Lysias, Piaton und Thukydides nebeneinander Raum ge- 
wonnen. Dann hat die Grammatik sich von den Kunstmitteln der Poesie 
Rechenschaft gegeben, aber schon ganz früh z. B. auch den Demokritos 
berücksichtigt Aber auch die Rhetoren haben in der Beobachtung der 
von ihnen so genannten Figuren des Gedankens und des Ausdruckes 
ungemein viel Feines gefunden, da.s auch für die Praxis von Wert war. 
Das gleiche gilt \'on der Wortwahl und Wortfügung. Das erste stellte 
den Schriftsteller vor die Frage, ob er schlicht oder geschmückt schreiben 
wollte, vulgär und neologisch oder nur mit anerkannten und edlen 
Wörtern. Dies bereitet den späteren Kampf zwischen attisch und hellenisch 
vor, ist aber mit nichten dasselbe, und namentlich sollen wir uns hüten, 
allein den „akademischen" Stil, der den Klassikern folgt, als berechtigt 
anzuerkennen. In der Wortfügung sind die Gegensätze ähnlich. Die 
periodisierte Rede ist dieser Zeit als die korrekte und klassische über- 
liefert, und sie behauptet diesen Vorrang; die Kanzlei und der gebildete 
Brief, Polybios und Poseidonios wenden sie an. Aber es war doch nicht 
verwerflich, wenn nicht nur die Diatribe, sondern auch die Gerichtsrede 
daneben eine Komposition in lauter kurzen Sätzen, meist antithetischen, an- 
wandte; wie sich denn schon bald nach 300 in Athen sogar ein Praktiker 
fand, Charisios, der sich auf Lysias zu berufen wagte. Auch in Asien haben 
es viele so gehalten; wie es scheint, auch der Prügelknabe der strengen 
neg«iias Stilisten, Hegesias von Magnesia am Sipylos, der sich sogar an einem Ge- 
(um j}..). Schichtswerke versuchte, nach den Proben allerdings ein unglaublich ab- 
surder Ge.selle, doch hat schon ein Schüler des Aristoteles, Klearchos, ein 



C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.j. II. Prosa. 



10; 



.SO geziertes Griechisch geschrieben, daß man die Rhetoren nicht allein 
schelten darf. Auch dieser Gegensatz geht durch die ganze Folgezeit, 
und daß man nicht von asianischer Perversität rede: Verehrer diese.^ 
kommatischen Stiles sind Seneca und Tacitus; ein achtungswerter 
griechischer Vertreter ist leider wohl nicht aufzutreiben. Zu der Wort- 
fugung gehört ferner die Vermeidung des Hiatus, die immer leichter ward, 
da die Sprache selbst unter dem Einflüsse der Poesie und Kun.stprosa 
der Hiatusscheu Rechimng trug. Dazu gehört endlich Rhythmus und 
Reim. Der Reim scheint sich nirgend über die Bedeutung eines gelegent- 
lich anzubringenden Schmuckmittels erhoben zu haben; dagegen ist die 
Rhythmisierung des Satzschlusses so weit getrieben, daß man geradezu 
von gebundener Rede sprechen darf. Zwar haben sich viele Schrift- 
-steller dem nur so weit hingegeben, wie es schon früher galt, daß sie 
bestimmte, an die häufigsten Versschlüsse mahnende Quantitätskomplexe 
mieden und umfängliche und klangvolle Wörter ans Ende stellten; wer 
Demosthenes studiert hatte, erzielte auch durch Dissonanz besondere 
Effekte. Aber die Redner zumal sind dazu gekommen, nur noch ganz 
wenige und noch dazu verwandte Schlüsse gelten zu lassen. Wer sein 
Ohr dazu erzogen hat, die Quantität zu hören, wird sich dem geradezu 
melodischen Eindrucke nicht entziehen, und wer noch itaUenische feier- 
liche Kanzelrede, etwa im Gesü, gehört hat, wird auch dem halb 
singenden Falle der Stimme am Satzende, der musikalischen Wirkung 
der Prosarede, die Existenzberechtigung nicht abstreiten. Die Prokla- 
mation des Königs Antiochos von Kommagene, die auf dem Nemrud Amioch« voo 
Dagh an dem Grabheiligtume seines Geschlechtes steht, schelte man "^r^^,'*"?' 
bombastisch: im Stile und im Klange, in der Wortwahl und im Rhythmus 
steht sie mit den Skulpturen, dem Aufbau, der Tendenz und Gesinnung 
der ganzen Anlage in einer ebenso voUkonmienen Harmonie, wie die 
Perioden Bossuets mit dem Schlosse und dem Parke von Versailles. Die 
attizistische Reaktion hat auch diesen allerdings weder tiefen noch 
schweren Künsten für die Griechen ein Ende gemacht. Dagegen sind 
Cicero und Seneca auf diesem Gebiete ganz einig: der kadenzierte Wort- 
schluß ist der lateinischen Prosa eigentlich niemals wieder abhanden ge- 
kommen. So kann in einer sekundären Literatur klassisch werden, was 
in der originalen als Ausartung des Klassischen erscheint. Dieselbe 
Rhetorik, die der lateinischen Kunstprosa den Rhythmus übermachte, hat 
später den Reim kultiviert, der über die gesamte moderne Poesie die 
Herrschaft erringen sollte, obwohl er uns in der griechischen Prosa überall 
unausstehlich klingt. 

Die Geschichtschrt-ibung war als die vornehmste Gattung der Kunst- nutoiie 
prosa von der Rhetorik aufgestellt, und auch Aristoteles hatte sie in diesem 
Stile behandelt. Den großartigsten Stoff bot die Gegenwart; das Interesse 
für die Vergangenheit ward von der romantischen Zeitstimmung belebt: 
so ist massenhaft Geschichte geschrieben worden, in sehr verschiedener 




I04 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Form. Der eine Typus war der ionische, der sich in Asien gehalten 
hatte, weil dies persisch war, während in Athen die Rhetorik neue Bahnen 
Kieaiu wies. Besonders die persische Geschichte des Ktesias von Knidos hat 
(schreibt um 390). gj^j^ in der Gunst des Publikums so lange wie Theopompos gehalten. Er 
hatte als Leibarzt des Artaxerxes n. den Orient gut kennen gelernt und 
eröffnete den Griechen die Zauber- und Märchenwelt noch ganz anders 
als Herodot Es war ihm freilich auch vorwiegend van Fabulieren und 
Überraschen zu tun. Die Parteinahme, entschieden gegen die nationalen 
Tendenzen des Herodotos, entsprach der Weltlage, in der er schrieb, imd 
wenn sie den späteren Partieen seines Werkes auf die Dauer geschadet hat: 
von den Wundem von Babylon, von Semiramis, Sardanapal, Kyros haben 
sich die Griechen immer gern imponieren lassen. So haben denn auch andere 
lonier die Geschichte des Perserreiches imter den Nachfolgern des Arta- 
xerxes II. geschrieben. Alexanders Geschichte setzte das ganz natürlich fort, 
Kidurchos Und Kleitarchos, der die meistgelesene Alexandergeschichte verfaßte (Cicero 
(am 300). Yig^^ ijui noch gern gelesen), war der Sohn Dinons, eines jener Geschicht- 
schreiber der Perserzeit Er selbst wanderte nach Alexandreia aus; um 
so weniger interessierte ihn das eigentliche Helleis oder hemmten ihn die 
neuen ästhetischen Theorieen. Wie der große König Nachfolger der Achä- 
meniden wird, sein persönliches Heroentum und dann die Wunder, die 
auf dem Zuge entdeckt werden, das wird mit gfrellen Farben gemalt, um 
zu imponieren und zu unterhalten. Weder historische Forschung noch 
ängstliche Wahrheitsliebe, noch pragmatische imd psychologische Wahr- 
heit oder Wahrscheinlichkeit wird angestrebt, wohl aber Stoffreichtum, 
Abwechselung und überhaupt ionische Buntheit Übertrieben wird im 
Guten imd Bösen. Das Buch hat im breiten Publikum einen starken 
Erfolg gehabt, wie Ktesias auch, obwohl es höheren Anforderungen 
nach der künstlerischen Seite schwerlich besser genügte als nach der 
historischen. Es reizte aber zur Überbietung, und ein so dankbarer 
Stoff wird immer wieder im Geschmacke der Zeit behandelt Es brauchte 
nur jemand sich eine Sorte psychologischer Entwickelung zurecht zu 
machen, etwa daß Alexander diu-ch die Erfolge verdorben wäre, so ließ 
sich ohne weiteres eine neue Geschichte fabrizieren. So etwas nahm 
Curtius Rufus zur Unterlage seines Buches, das lediglich als Unter- 
haltungslektüre geschrieben ist Inhaltlich gehört es ganz in die spätere 
hellenistische Zeit; formell eigentlich auch. 

Sehr viel höher als der Typus, den Kleitarchos vertreten mag, 
steht die Geschichte, die nach aristotelischem Rezepte geschrieben 
wird, bestimmt mit der hohen Poesie, Epos und Drama (die für 
diese Theorie einander ganz nahe stehen), zu wetteifern. Vertreter 
Duri. dieser „tragischen" Historie mag der Samier Duris sein, von dessen 
(t nach 2to). umfangreicher und einflußreicher Darstellung der Zeitgeschichte wir im 
Auszuge des Diodor wenigstens eine sehr packende Partie lesen, die 
afrikanische Expedition des Agathokles. Da ist unleugbar großes Talent 



C. Hellenistische Periode '320—30 v.Chr.". II. Prosa. 



X05 



für dramati.sche Komposition; auch da.s Retardieren durch phantastische 
Schilderung (beim Zuge des Ophelas von KjTene nach Karthago) kommt 
noch in dem Auszuge zur Geltung. Kleinmalerei der Umgebung, des 
Kostümes, der Stimmung hebt die Bilder der Hauptakteure hervor und 
liefert den Hintergrund der schaurigen Peripetie. Duris hat nicht nur bei 
den Tragikern, .sondern auch bei den Regisseuren zu inszenieren und zu 
kostümieren gelernt. In der Zerstümmelung kann das kleinlich scheinen, 
aber wer im Plutarch den Sturz des Demetrios Poliorketes dem Duris 
nacherzählt liest, der muß zugestehen, daß diese Erzählerkun.st der psycho- 
logischen Vertiefung nicht entbehrte. Gleichen Schlages ist der Athener 
Phylarchos gewesen, dem die beiden königlichen Revolutionäre Spartas rhyUrcb» 
es verdanken, daß man aus Plutarch ein sympathisches Bild von ihnen '^ ""*■ ""'■ 
mitnimmt, das sein milder Pin.sel nur etwas verwLscht hat. Auch hier 
die Absicht, p.sychologische Wahrscheinlichkeit und stärkste Affekte zu 
erzielen, auch hier Preude an der Kleinmalerei, dabei eine ausgesprochene 
und rücksichtslose politische Tendenz. Dieser und dem Effekte wird frei- 
lich die Wahrheit skrupellos geopfert. Phylarchos hat auch einzelne kleine 
Geschichten erzählt, die er selbst „m3'thische", also Märchen nannte: 
histori.sche Novellen neben dem historischen Romane. 

Der Wahrheit zu dienen ergriff auf Veranlassung des Königs 
Antigonos Gonatas ein ausgedienter General und Staatsmann die Feder, 
Hieronymos von Kardia, der in Asien und Europa in immer steigenden Hioronymotl 
Stellungen die Diadochenzeit durchlebt hatte. Das makedonische Archiv ** "''' ''"'■ 
hat ihm zur Verfügung gestanden, und seinen vorzüglichen Infor- 
mationen entsprach sein Sinn für das authentische Detail. Ihm ver- 
danken wir es, daß die nächsten zwanzig Jahre nach Alexanders Tod uns 
verhältnismäßig so gut bekannt sind; die zahlreichen inschriftlichen Funde 
haben den Eindruck der absoluten Glaubwürdigkeit bestätigt, den die 
Auszüge machen. Und es war eine Zeit, in der sich schwer zurecht- 
zufinden ist, überreich an Aktionen und bedeutenden Personen. Wenn es 
■die Aufgabe der Geschichtschreibung i.st, zu sagen, wie es wirklich ge- 
wesen ist, .so kann kein anderer neben Hieronymos um den ersten Platz 
konkurrieren. Daß er nicht so ohne Ethos erzählte, wie es bei Diodor 
scheint, zeigt der Eumenes Plutarchs; denn wenn auch die Kunst der 
isolierenden Behaiuilung ganz diesem gehören wird, so mußte ihm doch 
das glaubliche und anziehende Heldenbild gegeben sein; hier schrieb 
Hieronymos allerdings mit persönlicher Sympathie. Seine Zurücksetzung 
■durch die Kunstrichter ist ein bedauerliches Zeichen dafür, daß die Griechen 
■die reine historische Wahrhaftigkeit nicht zu schätzen verstanden und sich 
lieber amüsieren oder gruseln wollten. 

Der eigenen Meinung nach war Timaios von Tauromenion ein nm.Jo. 
Forscher und ein Darsteller, wie es keinen anderen gab, und das muß '* "'^'' **^^ 
man ihm lassen, Mühe hat er sich mit beidem genug gegeben. Er hat 
es auch erreicht, daß er noch vor Ephoros, dem er sich verwandt fühlte 



lo6 Uuucw VON WiLAMOwrrz-MOELLEjrooRiT: Die griechische Literatur des Altertums. 



und verwandt war, in der Schätzung der nächsten zwei Jahrhunderte 
rangierte. Für die Römer zumal, Cato, Varro, Cicero ist er der Haupt* 
historiker gewesen. Dann brachte ihn sein allerdings unerfreulicher 
Stil um diese Geltung, aber stofflich hat er weiterhin noch sehr viel 
bedeutet. Sohn eines kleinen sizilischen Stadtherrn, den Agathokles 
vertrieb, hat er wenigstens vom Westen einiges selbst besucht, dann 
aber bald in Athen ganz still seiner Lebensaufgabe sich hingegeben, 
die Geschichte Siziliens von Anbeginn bis zur Gegenwart zu schreiben. 
Die höchst ausführliche Geographie des Westens, die er in seinen ersten 
Büchern gab, war eine breite und sehr wertvolle Grrundlage. Ihm ist es 
zu danken, daß die Entdeckungen des Pytheas von Massalia allgemein 
bekannt wurden; er hat von der ganzen italischen Küste die für die 
Italiker selbst maßgebende Schilderung entworfen, nicht ohne eine Menge 
mythische Traditionen zu überliefern oder zusaminenzuklittern. Die römische 
Aneassage, die landläufige Didosage gehören dazu. Er schrieb dies und 
dann die alte Geschichte Siziliens in großer Ausführlichkeit mit kritisch- 
polemischen Exkursen; die Größen der Literatur, Pythagoras und Empe- 
dokles spielten eine Hauptrolle. Kein Zweifel, daß er auch hier wichtiges 
Detail gerettet hat, und wie amüsante Nebendinge Platz fanden, zeigt 
z. B., daß der hübsche Schwank, den unser altes Gedicht, der Wiener 
Meerfahrt, behandelt, noch bei ihm zu lesen ist. Allmählich gab es mehr 
wirkliche Geschichte zu berichten, und die Akteurs wurden greifbarere 
Gestalten, Hieron, Gelon, dann die Dionyse. Leider waren sie Tyrannen, 
und Timaios zwar Tyrannensohn, aber in Athen zum Vertreter des gewöhn- 
lichen demokratischen Kredo geworden. So baute er denn in lieblicher 
Gradation von dem guten Tyrannen Gelon über die bösen Dionyse sich 
den Weg zu dem Unmenschen Agathokles. Dazwischen standen die 
demokratischen Zeiten, auf die mit einiger Mühe Licht gesammelt ward, 
in der letzten aber bildete der ganz unvergleichliche Tugendspiegel 
Timoleon das lichte Gegenbild zu dem Teufel Agathokles. Den Timoleon 
können wir aus Plutarch wieder einigermaßen schätzen: auch dieser war 
einem solchen konstitutionellen Musterknaben sehr geneigt, aber diesmal 
hat sich keine glaubhafte oder auch nur interessante Figur daraus machen 
lassen. Offenbar lag die Begabung des Timaios nicht nach der Seite der 
Menschenkenntnis; seine mangelnde Lebenserfahrung ward in keiner Weise 
durch philosophische Vertiefung ersetzt Er hat den ganzen Haß des 
Rhetors gegen die Philosophen, und hinzu kommt eine ganz kindische 
Frömmelei, falls er das wirklich ernst gemeint hat, was er in der Hinsicht 
schrieb, und jener philiströs -moralische Maßstab, der sich an den Leiden 
der Bösen und Gottlosen besonders delektiert; daß dann auch die Er- 
zählung durch W^underglauben getrübt ward, war unvermeidlich. Die 
Forschung des Timaios war höchst achtungswert; Polybios zeigt, wie wenig 
er von solchen Dingen versteht, wenn er sich über die archivalischen 
Studien lustig macht; die Philologen Alexandreias haben ganz anders 



C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Oir.) 



frosa. 



107 



geurteilt und der ttmäischen Bevorzugung der Olympiadenrechnung erst 
zur Herrschaft verholfen. Aber mag er selbst den Aristoteles zuweilen 
treffend berichtigen: sicher ist man doch bei ihm nie; es hilft eben aller 
gute Wille nicht, wenn der Historiker mit der Philosophie, d. h. der wahren 
Wissenschaft die Fühlung verliert Die Form war nach allen Regeln der 
Rhetorik ausgearbeitet; pikante Wendungen, die nur zu oft albern wurden, 
sollten den Brei würzen; große Reden waren eingelegt; was den Attizisten 
darin vulgär klang, wird oft durchaus moderne Eleganz gewesen sein. 
Aber das waren nur ornamentale Künste, die poetische Kondensierung 
und Steigerung der Erzählung und die Schöpfung wirklicher Charakter- 
figuren muß gefehlt haben. 

Unter dem Einflüsse des Timaios steht auch Polybios; seine erregte PoiyWo? 
Polemik beweist nur, daß er sich von gewissen Seiten energisch abgestoßen '''*""'>• 
fühlte; gegen die machte er um so energischer Front, als die Geltung des 
maßgebendsten Historikers allgemein war. Den Phylarchos haßte er 
aus politischer Gegnerschaft; Thukydides war für diese Zeit archaisch; 
so sind ihm nur noch Ephoros und Theopompos Klassiker; Ephoros und 
Timaios, das harmonierte gut Den Hieronymos nennt er gar nicht 
Und doch hatte er mit diesem gemein, daß er auch kein Literat von 
Beruf, sondern für das militärisch -politische Leben erzogen und begabt 
war. Er würde freilich keine Weltgeschichte geschrieben haben, wenn er 
als Erbe seines Vaters die Politik von Megalopolis oder die des achäischen 
Bundes zu leiten bekommen hätte. 

Ein brutaler Eingriff Roms riß ihn aus dieser Enge; aber die Ver- 
bindung mit dem Hause des edlen Siegers von Pydna führte ihn durch den 
langjährigen Aufenthalt in Rom und den Verkehr mit den leitenden Männern 
der Aufgabe zu, das Eintreten Roms unter die Großstaaten darzustellen. 
Das Endziel seiner Darstellung war zuerst die Unterwerfung Makedoniens 
gewesen; die Geschichte, die er erlebte, und an der er zuletzt wieder per- 
sönlich teilnehmen durfte, verschob es bis zu der Katastrophe seiner engeren 
Heimat Das verbreitete Urteil ist, daß Polybios ein ausgezeichneter 
Historiker wäre, aber ein langweiliger Schriftsteller; viele sagen auch, ein 
kunstloser. Dies ist nun ganz verkehrt. Er hat mit der allerpeinlichsten 
Sorgfalt stilisiert, seine Scheu vor dem Hiat geht noch über Isokrates. 
Solche endlosen Perioden fließen nicht von selbst aus der Feder, und 
wenn uns die Geschwätzigkeit oft unerträglich dünkt, so kann doch nur 
ein mit Mühe durchgeführtes Stilprinzip diese gleichmäßige Fülle erzeugen. 
Wenn die Staats.schriften der Zeit, die wir auf den Steinen antreffen, 
ähnlichen Wortschatz und ähnliche Pleonasmen zeigen, so hat nicht 
Polybios Kanzleistil geschrieben, sondern die Kanzleien auch nach der 
modischen Eleganz gestrebt Die Langeweile mindert sich auch, wenn 
man über die Weitschweifigkeit rasch hinliest; nicht einmal die eingelegften 
Reden sind alle leeres Stroh. Anderseits mindert sich die Wertschätzung 
des Gelehrten. 




io8 Ulrich von WilamowitzMoellendorft: Die griechische Literatur des Altertums. 

Polybios war durch seine Vorbildung und seine Stellung in der Welt 
ganz vorzüglich berufen, die Geschichte seiner Zeit zu schreiben, etwa 
vom zweiten Makedonischen Kriege an. Da verfügte er über die besten 
persönlichen Informationen und kannte die Schauplätze; er hat auch nicht 
nur in peloponnesischen, sondern auch im römischen und rhodischen 
Archive gearbeitet Er brachte ein ausgereiftes und zutreffendes Urteil 
über die treibenden Kräfte und über die Ziele mit, denen die Geschichte 
durch das Schwergewicht der Dinge mit innerer Notwendigkeit zustrebte. 
Die Menschen seiner Zeit verstand er und seine Liebe galt den Besten, 
Freilich kam der Orient und auch Ägypten etwas zu kurz; daß er Welt- 
geschichte schrieb, war von vornherein ein Fehlgriff; aber was er g^ut 
erzählen konnte, war wirklich das Wichtigste, und er hat den Erfolg 
verdient, daß ziemlich alles, was wir von dieser Zeit wissen, ihm verdankt 
wird. Er ist der Historiker der echten Römergröße, Livius der der ge- 
logenen. Und so ist denn auch alles, was von seiner Geschichte des 2. Jahr- 
hunderts übrig ist, voll von wahrem Leben. Auch daß er nach dem Vor- 
bilde des Ephoros ein ganzes Buch der Geogfraphie gewidmet und die 
Kenntnis des Westens aus Autopsie bereichert hat, ohne die Ökonomie 
der Erzählung zu zerstören, ist ein Vorzug; daß seine Bildung ihm nicht 
erlaubte, die mathematische Geographie eines Eratosthenes imd die Ent^ 
deckungen des Pytheas zu begfreifen, und er sich doch nicht dabei be- 
schied, Tatsächliches zu geben, zeigt freilich schon den Mangel an 
wissenschaftlicher Durchbildung. Diese mußte sich überall fühlbar machen, 
wo der Historiker auf ältere Überlieferung angewiesen war. Er ging 
aber an sein Werk, den Timaios vor Augen, den er als bekannt voraus- 
setzen durfte (wie koimte er sonst den Pyrrhoskrieg beiseite lassen); an 
den mußte er irgendwie anknüpfen. Mit Recht sah er im hannibalischen 
Kriege die eigentliche Heroenzeit Roms; ihn mußte er seinen Landsleuten 
erzählen, die nur die Darstellung des Sosylos aus Hannibals Hauptquartier 
kannten, da wohl Karthago, aber noch nicht Rom mit dem griechischen 
Publikum gerechnet hatte. Das schob seinen Anfangstermin stark hinauf. 
Ephoros verführte ihn dazu, Weltgeschichte zu schreiben; von Timaios 
nahm er die Oljmipiadenrechnung, und so geriet er auf das unselige anna- 
listische Zerreißen der Erzählung unter beständigem Wechsel des Schau- 
platzes. Den eigentlichen Anfang machte der hannibalische Krieg; aber 
bis zum Ende des Timaios blieb doch noch eine Lücke, die höchst un- 
vollkommen mit einem unübersichtlichen Mittelding zwischen Erzählung 
und Übersicht verkleidet ist In sehr timäischer Weise häufen sich auch 
weiterhin die Exkurse, Polemik, Kritik, militärisch-politisches Räsonne- 
ment, und in rechter Dilettantentonart verbreitet der Schriftsteller sich 
alle Augenblicke über das, was er tun will, warum er's tun will, und gar 
über seine pragmatische Methode. Urteilslose Leute reden ihm denn 
auch nach, daß er eine besondere besessen hätte, und fabeln von einem 
Fortschritte der Geschichtswissenschaft. Ganz im Gegenteil; Geschichts- 



C. HcUenistiscbe Periode !jao — 30 v. Chr.). U. Prosa. 



IQ9 



forscher ist er nur weniger gewesen als selbst Timaios. Er hat für die 
Zeit, die vor seiner Erinnerung lag (die für peloponnesische Dinge durch 
mündliche Tradition und Urkunden bis dahin reichte, wo Arats Selbst- 
biographie aufhörte), mit publiziertem und geformtem Materiale gearbeitet 
und nur in der Auswahl und Gestaltung sein Urteil bewiesen. Wo er 
etwas so Ausgezeichnetes hatte, wie für die ägyptischen Dinge unter 
Philopator (ein deutliches Zeichen, wie Kostbares für uns spurlos ver- 
schollen ist, denn wir wissen nichts über die Herkunft), da ist auch bei 
ihm alles lebendig: den hannibalischen Krieg so zu erzählen, daß das 
Genie des Karthagers und seine Tragik, die Unüberwindlichkeit der lati- 
nischen Eidgenossenschaft und ihres Bürgerheeres episch oder dramatisch 
wirkte, dazu hat sein Talent nicht entfernt gereicht. Im wahren Sinne ist 
er so wenig Künstler gewesen als Forscher. Bescheiden ist nur der Platz, 
der ihm eigentlich in der griechischen Literaturgeschichte zukommt Aber 
er schrieb von Rom: der große Gegenstand hat sein Werk allein von 
allen dieser Periode erhalten. Und wie groß ist das Glück, daß ein red- 
licher Mann die Fähigkeit und die Gelegenheit zugleich besaß, das Ge- 
dächtnis der Scipionenzeit zu erhalten. 

Dem Fortsetzer des Polybios ist es nicht so gut geworden; die römische i'o»eidoiiio» 
Revolutionszeit erweckte bei den Griechen nicht mehr dasselbe Interesse, '^ ""' *'*■ 
und die Römer schrieben nun schon ihre Geschichte selbst, Poseidonios, 
der aus seiner Heimat, dem syrischen Apameia, das Verständnis des 
Orients mitbrachte, auch wohl die Neigung für die Stoa Zenons und für 
religiöse Mystik und Wunderglauben, fühlte sich doch ganz als Hellene: 
die letzte wirkliche Freistadt Rhodos war die Heimat seiner Wahl, 
und an Piaton bildete er sich zu dem philosophischen Schriftsteller, dessen 
machtvolle, wenn auch barocke Kunst in mannigfachen Brechungen auf 
uns wirkt, am stärksten durch Cicero. Bewundem muß man seine Tätig- 
keit auf ziemlich allen Gebieten des Wissens, wenn sich auch die Mängel 
des Enzyklopädikers fühlbar machen. Auch als Historiker rangiert Posei- 
donios hoch über Polybios, an den er nur äußerlich ansetzte. Die paar 
Seiten, die den athenischen Tyrannen, den er Athenion nennt, und die 
Verkommenheit der damaligen Kekropiden geißeln, haben an Schärfe und 
Humor bei jenem nichts Vergleichbares. Die wirklichen Ursachen der 
sizilischen Sklavenkriege zu verstehen, mußte man die Gesellschaft mit 
philosophischem Auge betrachten können, und der Forscher aus Apameia, 
der nach Polybios den Westen bereiste, verstand Naturwissenschaft genug, 
um den Ozean und seine Gezeiten zu beobachten, und lieferte von den 
Kelten eine Schilderung, die mit hippokratischer Diagnostik ihre Eigenart 
herausfand; ihm gelang die Unterscheidung der Gennanen, deren taciteische 
.Schilderung auf dem Boden dieser poseidonischen erwachsen ist, wie er 
denn auch dem Eroberer Galliens nicht nur für sein Buch die Grundlage 
gegeben hat, sondern jeden Dienst geleistet, den der Mann der Tat von 
einem gelehrten Werke erwarten kann. Ob freilich der Philosoph die 




I lo Ulrich von Woamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 



diplomatischen Verhandlungen und die militärischen Ereignisse so gut 
verstanden hat, wie der achäische Staatsmann, das muß dahinstehen; poli- 
tisch unterwarf er sein Urteil (nur nicht das moralische) dem der Heimat 
seiner Wahl: trotz allem stand er wie Rhodos treu zu der Oligarchie. 
Auch an dieser Einseitigkeit hegt es, daß er nicht in dem Sinne der 
Historiker seiner Zeit ward wie Polybios; aber der Verlust, den wir in 
seinem Geschichtswerk erlitten haben, ist ohne Zweifel gleich groß nach 
der künstlerischen wie nach der stofflichen Seite. 
Lok.1- Neben dieser Reihe von Werken universaler Richtung und zahlreichen 

gescbichteo. geringeren Darstellungen der Zeitgeschichte (wie denn die Feldherren 
Roms auch darin es den hellenistischen Königen gleich tun, daß sie sich 
Hofhistoriographen halten, noch Pompeius und Antonius; Cäsar hatte es 
nicht nötig) hat eine schier unübersehbare Menge von Spezial- und Lokal- 
geschichten gestanden, sehr verschieden je nach der Bedeutung ihrer 
Orte und auch ihrer Verfasser, eine unerschöpfliche Fundgrube für Wissen 
jeder Art, und lange nicht alle ohne künstlerische Aspirationen. Eine 
Geschichte von Rhodos führte von selbst in die große Politik; mit einer 
Nymphu solcheu setzt sich Polybios auseinander. Nymphis von Herakleia am 
(um ajo). pQ^tQs^ jjgj. iß (jej. Diadochenzeit eine Weile die Geschicke seiner Heimat 
leitete, mußte in ihrer Geschichte auch recht viel von den großen Mächten 
berichten. Zufällig besitzen wir einen Auszug aus einer späteren Be- 
arbeitung der herakleotischen Chronik von einem gewissen Memnon und 
staunen über den Reichtum und die Reinheit dieser Quelle. In Argos 
führte die älteste Geschichte unmittelbar in das Epos zurück; eine prosaische 
Nacherzählung der oben berührten Art, noch unter demselben Verfasser- 
namen wie das Epos (Hagias), war das erste; aber die Fortsetzung mußte 
zum mindesten die peloponnesische Geschichte umfassen. Wir wissen von 
mehreren Bearbeitungen; es ist sogar einmal von einem gewissen Deinias 
der Versuch gemacht, den Lokaldialekt für diesen Stoff anzuwenden, ein 
interessantes und nicht unberechtigtes Experiment. 

Die attische Chronik wurzelte in Aufzeichnungen, die durch sakrale 
Rücksichten hervorgerufen waren, und hatte daher in vielem einen selt- 
samen Charakter, mehr antiquarisch als historisch. Doch war, seit sie im 
4. Jahrhundert zu literarischer Bearbeitung kam, auch ein Bestandteil 
novellistischer Tradition darin. Für die Gegenwart pflegte man sich auf 
knappe urkundliche Notizen im peinlichsten Chronikenstile zu beschränken, 
i'biioehoro. Noch der letzte und namhafteste Bearbeiter, der Seher Philochoros, hat 
(t *6t). pj, jjjj, gjj seine Lebenszeit heran so gehalten; diese muß, nach dem Umfang 
des Gesamtwerkes zu schließen, anders behandelt gewesen sein, doch 
spielte sein Beruf stark hinein, und schon das gab dem Ganzen jene 
Färbung, die auch uns mehr Chronik als Geschichte ist. Dagegen was 
wir von den ionischen Stadtgeschichten wissen, ist ganz und gar 
novellistisch und nimmt sich in schlichter und selbst in gezierter Prosa 
besser aus, als in der elegischen Form, die ihm die gelehrten Dichter gaben. 



C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). II. Prosa. 



tu 



Den Umfang dieser lokalen historischen Produktion kann man sich gar 
nicht groß genug vorstellen, und gewiß ist es nicht nur für unsere ge- 
schichtliche Kenntnis bedauerlich, daß all dem nur eine ephemere Existenz 
beschieden war. 

Formell kaum, inhaltlich vom höchsten Werte waren die Geschichts- 
bücher, in denen Barbaren ihre Traditionen weltbekannt machten, sei 
es, daß sie bisher noch gar keine Literatur gehabt hatten, wie die 
kleinasiatischen Völker (aber auch von den Hellenen z. B. Kreter und 
Ätoler), sei es, daß sie eine um Jahrtausende ältere Literatur in die 
Weltsprache umsetzten. Ganz neu war dieser Prozeß nicht; der Lyder 
Xanthos hatte schon zu Herodots Zeiten über Lydien geschrieben; aber 
es bleibt doch einer der größten Erfolge der Alexanderzeit, daß der 
babylonische Priester Berossos, der ägyptische Manethos und der karische 
Apollonios den Griechen den Ausblick in fremde Kultur und in eine 
zeitliche Ferne eröffneten, von der sie keine Ahnung gehabt hatten. 
Auf die Griechen war das berechnet; den Königen widmeten die 
Priester ihre Werke. Übersetzungen, wie sie die Juden von ihren 
heiligen Büchern und dann auch von erbaulicher Unterhaltungsliteratur 
und sogar von geistlichen Liedern verfertigen, sind nur von dem Bedürf- 
nisse der Volksgenossen diktiert, die bereits lieber Griechisch lasen. Wohl 
aber haben auch Juden solche Bücher wie Manethos verfaßt, und 
sie müssen uns als Beispiel für alle anderen solchen Lokalgeschichten 
dienen. Ein Gelehrter der cäsarischen Zeit, Alexandros Polyhistor, hat AiM»odro» 
die vorhandene historische Spezialliteratur über viele Barbarenvölker ''"'J''''»"^ 

^ (um 30). 

exzerpiert, und das Interesse der Christen hat die Exzerpte über die 
Juden gerettet. Wir sehen da den einen treuer, den anderen leichtherziger 
die biblische Geschichte umsetzen; der Glaube, uralte göttlich wahre jadLcbe 
Tradition zu besitzen, steigert das Selbstgefühl und verhindert nicht, die "'*""■'•• 
Geschichten je nach Bedarf und Neigung aufzuputzen; das Bestreben, 
hellenischen Ruhm zu annektieren, Musaios etwa mit Moses gleichzusetzen, 
Abraham die Astrologie erfinden zu lassen und dergleichen, wechselt mit 
der geflissentlichen Hervorkehrung des Gegensatzes und dem üblichen mono- 
theistischen Hochmut. Obgleich von den nationalen Aspirationen der Has- 
monäerzeit hier nichts zu finden ist, begreift man eher die antijüdischc Be- 
wegnng, die gegen 100 v.Chr. vorhanden ist, als den ungemeinen Erfolg der 
jüdischen Propaganda. Jene nationale Bewegung hat die beiden Geschichts- 
werke erzeugt, die als die Makkabäerbücher in der christlichen Bibel stehen. 
Es weht in beiden derselbe Geist im Guten und Bösen, wissentliche und un- 
wissentliche Unwahrheit und Fälschung, erschwindelte Zahlen, anschau- 
liche Schilderung und glühender Patriotismus. Das erste Makkabäerbuch 
ist zwar aus dem Aramäischen übersetzt, aber das eben ist das Wesent- 
liche, daß die Sprache so wenig ausmacht: jüdisch ist auch das zweite; 
aber diese Kultur ist ganz offenbar zweisprachig gewesen, wie denn 
auch die Erzählung eine sehr viel stärkere Durchdringung der Nationen 



112 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

zeiget, als den späteren Juden und den meisten Theologen genehm ist Und 
mindestens die Sünden dieser Greschichtschreibung, gerade die Grreuel- 
szenen im zweiten Makkabäerbuche, die am stärksten gewirkt haben, 
könnten in jeder schlechten hellenistischen Geschichte ebenso stehen. Die 
Einfügung gefälschter Aktenstücke ist zwar den Juden ganz besonders 
geläufig, aber die Griechen verstanden das auch. Es versteht sich von 
selbst, daß die nationale literarische Tradition von den Paralipomena 
(der von Luther so genannten Chronik) her auch wirksam ist: gerade die 
Mischung der Nationen ist ja das Wichtige für diese tieferen Schichten 
des Hellenismus. 
KSmUche Alexandros Polyhistor hat auch ein Buch über Rom geschrieben, dessen 

Hhtoric. (jeieiij.sainkeit wahrscheinlich der Äneis zustatten gekommen ist Er muß 
auch die Fabius Pictor und Grenossen ausgezogen haben, und diese kann 
man wirklich nur in eine Reihe mit den übrigen Barbaren stellen, die ihre 
Heimat der zivilisierten Welt bekannt machen wollen. Nur standen sie 
viel ungünstiger, da Rom nur eine ganz kümmerliche Überlieferung besaß; 
um so stärker drang die griechische Fabel ein. Das ward nur ärger, als 
man Lateinisch zu schreiben anfing imd selbst der Grriechenfresser Cato 
nach dem Muster der kticcic Origines schrieb. Das Übertragen von 
griechischen Sagen (Rhea Silvia ist ja die sophokleische Tjrro) imd Herodot- 
novellen, das Schwelgen in Blut und Notzucht, die tugendhaften Freiheits- 
helden und die frevelhaften Junker, Tullia, Lucretia, Verginia, Tarpeiji, 
das ganze falsche Pathos, an dem sich die Menschen von der Renaissance 
bis zur Revolution erbaut haben, stammt ja in Wahrheit aus den schwindel- 
haften Historien der hellenistischen Zeit Den Schwindel muß man brand- 
marken; aber was so stark gewirkt hat, muß doch eine Potenz gewesen 
sein. Und wenn wir jetzt nicht mehr Livius statt Polybios sagen, so sollen 
wir den namenlosen Romanschreibem auch ihr Recht lassen, die den 
Römern ihre alte Geschichte verfertiget haben. 

Die Kompilationen des Alexandros Polyhistor gaben die Summe der 
geschichtlichen Tradition für viele unhellenische Völker, aber in dicken 
Spezialwerken, viel zu gelehrt für das große Publikum. Das Bedürfnis, 
sich über die Weltgeschichte zu unterrichten, hatte schon früher be- 
quemere Lesebücher hervorgerufen. Zuerst hatte die Wissenschaft das 
unentbehrliche Gerüst einer Chronologie von mehr als epichorischer Geltung 
geschaffen. Timaios war darin bahnbrechend gewesen; in strengster 
stoithenei Wissenschaftlichkeit hatte Eratosthenes, auch mit Heranziehung des baby- 
■ "" ''*'• Ionischen Materiales, das übrigens gar nicht hoch hinauft'eichte, natürlich 
auch des ägyptischen, die Chronologie begründet, die seitdem im wesent- 
lichen grilt, und auch die unvermeidliche Gewalttat gewagt, solche Punkte 
wie den Fall von Ilios zu fixieren, und die alten Königs- und Beamten- 
listen auszugleichen: er nahm an, daß die Gelehrten sich über den Grad 
der tatsächlichen Wahrheit nicht täuschen würden. Der Wert seiner 
Zahlen pflegt jetzt für die alte Zeit zu hoch, für die spätere (seit etwa 



C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). 11. Prosa. 



"3 



: 



600) zu gering veranschlagt zu werden. Als im Jahre 144 der bedeutendste 
Grranimatiker der Zeit, ApoUodoros von Athen, einen Abriß einer Welt- 
chronik (freilich nur einer hellenischen) in iambischen komischen Trimetern 
herausgab, glaubte er gewiß nicht, etwas Wissenschaftliches zu leisten, 
obwohl er keineswegs unselbständig war wie Arat oder Nikandros. Für 
den Verfasser der gelehrtesten stoischen Götterlehre und eines historischen 
Kommentars zum homerischen Schiffskatalog (ein Thema, das dringend 
nach Neubearbeitung verlangt) war dies eine Kleinigkeit. Er berech- 
nete es auf die gebildeten Landsleute, denn er zählte nur nach attischen 
Archonten und berücksichtigte die Literatur unverhältnismäßig. Aber 
erreicht hat er, daß wir durch seine Vermittelung besonders Zuverlässiges 
über die Resultate der solidesten Grammatik erfahren. Denn die metrische 
Form, von ihm gewählt, weil der Vers die Zahlen und Namen sicherte, 
hat so sehr gefallen, daß sein Werk gern gelesen ward (für die Römer 
zu Ciceros Zeit als Autorität), freilich bald in Prosa umgesetzt, weil die 
Archontenliste außer Gebrauch gekommen war. Wichtiger noch war, daß 
jetzt das iambische Lehrgedicht neben das hexametrische trat, namentlich 
für geographische Stoffe, wo es auch viele Namen zu sichern galt. Wieder 
einmal erfindet ein glücklicher Wurf den Griechen (hier auch den Römern) 
eine Gattung, die bis ans letzte Ende des Altertums gepflegt ward; die ein- 
zelnen Erzeugnisse dürfen hier unbesprochen bleiben. 

Etwa zu derselben Zeit schrieb in Alexandreia ein Knidier Aga- 
tharchides eine Weltgeschichte in zwei Abteilungen, Asien (mit Afrika) 
und Europa, von der wir kaum mehr als die wichtige Tatsache ihrer 
Existenz kennen. Wohl aber haben wir beträchtliche Reste einer Spezial- 
schrift von ihm über das Rote Meer, unschätzbar nicht nur durch die 
reiche geographische und ethnographische Belehrung (das erwartet man 
so wie so bei einem Griechen), sondern auch durch die gelehrte Form- 
losigkeit, mit der sich eine Vorrede über ganz disparate Dinge, nament- 
lich stilistische Polemik gegen Hegesias, verbreitet, übrigens gescheit und 
amüsant. Inwieweit Agatharchides Rom berücksichtigt hat, sehen wir 
leider gar nicht; bei ApoUodor haben wir solche Spuren erst in einem 
vierten Buche, in dem er später die Zeitgeschichte nachtrug, was aber 
mindestens einige Berücksichtigung auch für das Hauptwerk beweist 
Aber damit die römische Geschichte synchronistisch neben die grie- 
chische träte, mußte doch erst der Osten annektiert sein. Diodoros 
aus dem sizilischen Agyrion ist nicht der einzige gewesen, aber der er- 
folgreichste. Die „historische Bibliothek", die er zusammenstellte und 
bis zu Cäsars britannischem Zuge herabführte, war ein Buch, jeder eigenen 
Wissenschaft entbehrend, reine Kompilation, flüchtig und urteilslos, aber 
ungemein praktisch und nützlich. Gauz mit Recht nahm die griechische 
Gelehrsamkeit keine Notiz von ihm, aber Leser hat er doch immer ge- 
funden: wie würden wir es sonst haben- Wir sollen den Versuch aufgeben, 
bei dem Verfasser philosophische Überzeugung zu suchen; höchst zu- 

Dw KutTU» UKH CuiKNWAItT. l. B. 8 



ApoUodor 
(t n&ch iio). 



Agittharchidcs 
(um xzo). 



1 14 UuucH VON WiLAMOWiTZ-MoELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 

treffend hat man sein Buch vielmehr mit Webers Weltgeschichte ver- 
glichen, die auch die Spuren der Verfertigung mit Kleistertopf imd Schere 
nicht verleugnet imd doch für die Verbreitimg geschichtlicher Kenntnis 
segensreich gewirkt hat Diodor hat übrigens keineswegs in dem Sinne 
abgeschrieben wie Weber oder sein Zeitgenosse, der Polyhistor, sondern 
stilistisch dem Granzen eine einigermaßen gleiche Färbung gegeben, wenn 
auch zum Glück die Vorlagen auch formell unter dem dünnen Firnis seiner 
farblosen Rede durchscheinen. Sehr viel höher steht der Hofgelehrte und 
Niioiao» peripatetische Hofphilosoph des Königs Herodes, Nikolaos von Damaskos, 
(t um chri.ti jjgj. noch in diese Periode gerechnet werden muß. Von seiner vielbändigen 
Weltgeschichte haben wir noch beträchtliche Reste aus den ersten Büchern, 
die besten Belege dafür, wie die ältesten Geschichten Asiens und Griechen- 
lands ganz zum modernen Romane wurden; schade, daß die Christen und 
Juden von seiner palästinischen Archäologie nichts erhalten haben; man 
kann sich denken, weshalb. Derselbe Mann lieg^ für die Geschichte 
seines Herrn der Darstellung des Josephus zugrunde, und wir dürfen nach 
Maßgabe der im Original erhaltenen Stücke die Farblosigkeit der Dar- 
stellung dem Bearbeiter zuschreiben: die Erzählung in ihrer Psychologie 
und in ihrem Aufbau liefert immer noch mehr als bloß eine Fülle von 
Tatsachen: wer Calderon den Stoff Herodes und Mariamme geliefert 
hat, der ist auch als Historiker kein unwürdiger Nachfahr der Peri- 
patetiker. 
Biographie. Bis ZU dem Gründer der Schule, ja über ihn hinaus bis auf Piaton 

müssen wir zurückgreifen, tun die Genesis einer der merkwürdigsten 
Literaturgattungen zu erfassen, die der Hellenismus mit Vorliebe kultiviert, 
die Biographie. Sie ist nicht vom Individuum ausgegangen, der Be- 
schreibung des Lebens, das ein bestimmter realer Mensch gelebt hat, 
sondern von dem Bios, der Art zu leben; der einzelne war dafür nur 
ein Exempel. Piaton hatte in den Gesetzen die Stufenleiter der mensch- 
lichen Lebensformen bis zu der städtisch -staatlichen Siedelung verfolgt, 
wie auch wir wohl von Hirtenleben, Jägerleben usw. als Kulturperioden 
reden, und im Staate die Psyche des t)T)ischen Menschen in den ver- 
schiedenen Gesellschaftsformen geschildert Piaton hatte aber auch in 
seinem Kritias den Versuch begonnen, in einer Dichtung den Kampf 
zweier Völker darzustellen, die zwei entgegengesetzte Bioi repräsentierten. 
Aristoteles hatte im Anschluß an die alten ionischen „Barbarensitten" vmd 
dergleichen empirisches Material in Menge gesammelt; er beobachtete ja 
auch den Bios der Tiere. Damit war das Problem der Kulturbeschreibung 
und Kulturgeschichte gestellt Nach der empirischen Seite haben die 
Historiker dafür in imgebrochener Kontinuität gesammelt; es sei an den 
Bios der Kelten durch Poseidonios erinnert (S.109): das ist die vollkommene 
Erfassung einer Volksindividualität Allgemeine Kulturgeschichte hat die 
Spekulation der Philosophen oft und sehr geistreich gezeichnet (man liest 
das wohl am liebsten in der epikureischen Beleuchtung bei Lucrez), imd 



C. Hellenistische Periode (320—30 v, Chr.). IL Prosa. 



H5 



schon ein unmittelbarer, allerdings besonders selbständiger Schüler des | 

Aristoteles, Dikaiarchos von Messene (Verfasser auch von besonders ge- nikaiarcho« 
schätzten Dialogen), hat den Bios, die Kulturgeschichte, von Hellas, zum *""' ^"°*' 
Gegenstande eines Werkes gemacht. Es ist bitter, daß man von einem 
solchen Buche kaum mehr sagen kann als, es war einmal, und sehr un- 
gerecht, daß wir von einem Zeitgenossen Dikaiarchs, dem Kyprier 
Klearchos, sehr viel mehr aus einem Werke über Bioi besitzen, gewiß Kiearcho« 
interessante Beobachtungen und Tatsachen, aber der Mann ist in Wahrheit '"" ^°°' 
weder Historiker noch Philosoph, und dazu ein unerträglicher Stilist. 
Natürlich hat die Betriebsamkeit der folgenden Jahrhunderte die Kenntnis 
der alten Kultur stark vermehrt; aber sie haben es wohl unter Kategorieen, 
Luxus der alten Zeit, Einfachheit, Tracht, Trinksitte und dergleichen ge- 
ordnet, zu einer Zusammenfassung ist es dagegen nicht gekommen, und 
geschichtliches Urteil fehlt ganz. Auch der Idealbilder eines Bios auf 
anderen als den hellenischen Grrundlagen sind noch viele gezeichnet, rein 
als Dichtung schon von Theopomp (S. 6g), dann im Anschluß an die indische 
oder ägyptische oder skythische faktische oder hypothetische Welt; auch 
dies wesentlich nur in der Zeit der Diadochen. Ägypter und Hyperboreer 
hat Hekataios von Abdera bearbeitet, die Ägypter mit achtungswerter Lokal- lUkauio« 
forschung. Längst, schon in der Sophistenzeit, hatte man nach moralischen *""" ''"'■ 
Gesichtspunkten die Lebensziele unterschieden und danach den Bios der 
Genußsucht, der Habsucht, des Ehrgeizes aufgestellt, denen die Philosophie 
als ein neues höheres Ideal gegenübertrat; aber auch dies Ziel des tugend- 
haften Lebens konnte in der Vita activa und contemplativa gipfeln, Be- 
griffen, die aus der peripatetischen Schule stammen. Dikaiarchos wich 
eben darin von seinem Lehrer ab, daß er dem tätigen Leben den Vorzug 
gab. Da lag es nahe, daß man diese Lebensarten in typischen Vertretern 
darstellte. Rein als Allegorie lesen wir das bei Dion von Prusa, der 
älterer kynischer Weise folgt In gewissem Sinne waren Sokrates und 
Diogenes Tj^ien des wahren Weisen. Es mag wohl sein, daß der Kyniker 
Onesikritos, im Leben Kapitän in Alexanders Flotte, seinen König als oncikriioi 
das Ideal des ehrgeizigen oder des tätigen Lebens gefaßt hat (keineswegs '"" ^"'' 
um ihn zu erniedrigen); jedenfalls stellte er ihm in den indischen Weisen 
die Bedürfnislosigkeit gegenüber. Derartiges wird in sehr vielen Stilen 
versucht sein, je nachdem historische oder fiktive Träger gewählt wurden 
und je nach der verschiedenen Wertschätzung. Es gibt ein paar sehr 
langweilige und daher sehr wenig gelesene umfängliche Bücher, die in 
größter Ausführlichkeit diesen Stoff behandeln. Der Jude Philon, der phUoo 
nach seiner ganzen Art noch für diese Periode verwendbar ist, hat die'*"*'^'*'''''^"* 
Erzväter als Träger von Bioi verschiedener Weisheit gefaßt, das Leben 
Josephs als das des vollendeten Politikers, das des Moses als des Aus- 
bundes aller Tugenden, König, Gesetzgeber, Priester, Prophet. In unseren 
Augen sind das historische Tendenzromane, denn obwohl die biblische 
Tradition dem Philon Offenbarung ist und seine Allegorie ihm erlaubt, 

8» 




Ii6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorkf: Die griechische Literatur des Altertums. 

jede gewünschte Ausdeutung in diese hineinzulegen, scheut er sich doch 
keineswegs vor zweckdienlicher Umformung imd Ergänzung der Ge- 
schichten. Seine Gestaltungskraft ist nur ganz gering, und die Heiligkeit 
der Tradition hemmt ihn auf Schritt und Tritt, so daß die Lektüre eine 
starke Überwindung kostet Daß er auf den Gedanken gar nicht kommt, 
so nahe es bei Joseph lag, eine Entwickelung seines Helden zu schildern, 
darf man ihm nicht verübeln: daran pflegt die antike Biographie fast nie 
auch nur zu denken. 

Gleichzeitig mit dieser im Grrunde philosophischen Biographie, die 
wir nur zu wenig kennen, entstand die Darstellung davon, wie ein be- 
stimmter berühmter Mann, ein Lebenskünstler, die Aufgabe des Lebens 
Arfatoienos gelöst habe. Wieder ist ein Aristoteliker der Pfadfinder, Aristoxenos von 

(um 330). Xarent, den man sehr mit Unrecht meist nur als Musiktheoretiker rechnet 
Er hatte die Verbindung mit der pjrthagoreischen Schule nie gelöst; eines 
seiner Werke über diese war das Leben des Stifters, während ein anderes 
den pythagoreischen Bios nicht ohne reiches geschichtliches Material 
schilderte (Dämon und Phintias stammen daraus). Pythagoras war der 
Weise, der Wundertäter, der Erlöser der Menschheit Ungemein wirksam 
ist dieses Bild geworden; es wird uns noch später begegnen. Es muß 
wirklich ein sehr reizvolles Buch gewesen sein; aber unentwirrbar liegen 
für uns Dichtung und Wahrheit durcheinander. Wenn nur nicht Aristoxenos 
zu Ehren seines Ideales mit hämischer Bosheit ein Zerrbild des Sokrates 
danebengestellt hätte, wieder in der Form eines Bios. Damit war die 
Gattung gegeben. Zahlreiche Schriftsteller, meist Peripatetiker, suchen 
nun die verblaßten Bilder der alten Dichter und Weisen, auch wohl der 
Tyrannen, aufzufrischen; das Volksbuch vom Leben Homers konnte ihnen 
chamaiieon dcu Weg weiscn. Es ist ebenso verkehrt, Bücher, wie sie Chamaileon 

(um s8o). ^Qjj Herakleia (vermutlich von seinem Landsmanne Herakleides angeregt) 
z. B. über Simonides geschrieben hat, als lügenhaften Schwindel zu brand- 
marken, wie alles für bare Münze zu nehmen. Den wahren Simonides 
wird er uns freilich nur insofern zeichnen, als die Tradition einzelne Züge 
gerettet hatte, die wir versuchen mögen, besser zusammenzuordnen; ge- 
lingt es, so danken wir es doch seinen Bemühungen. In gleicher Art, 
aber mit ungleich reicherem Materiale ist solche Sammelarbeit dann in 
Hermippo» Alcxandreia getrieben worden, namentlich von Hermippos, dem Schüler 

(um joo). (jes Kallimachos, und wenn wir »ms über Bosheit und Klatsch und Fabel 
oft äi^em, die er uns berichtet, sollen wir nicht vergessen, daß es für 
die Wahrheit vermutlich ersprießlicher war, er gab alles Erreichbare, 
als wenn er versucht hätte, Kritik zu üben imd z. B. über Hermias von 
Atameus nur eine Partei hätte zu Worte kommen lassen. Der neue 
Kommentar des Didymos, der dies Exzerpt erhält, hat durchaus bestätiget, 
daß er nur biographischen Rohstoff, aber ungemein wichtigen zuseimmentrug. 
Wie den Apophthegmen der alten Berühmtheiten die der Gegenwart 
entsprechen, so sind wenigstens in den Philosophenkreisen auch die Bioi 



C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). 11. Prosa. 



117 



der lebenden Meister von pietätvoller Hand beobachtet und aufgezeichnet 
worden, leider nur vereinzelt, denn wa.s Antig-onos von Karystos, selbst 
gar kein hervorragender Mann, anspruchslos und treu von den athenischen 
Philosophen des 3. Jahrhunderts erzählt, hat so intimen Reiz wie weniges 
sonst Wenn Polybios schon, ehe er nach Rom ging, ein umfängliches 
Buch über Phtlopoimen geschrieben hat, so darf man diese Erscheinung 
wohl verallgemeinern. Vermutlich auch nur für unsere Kenntnis sind 
Selbstbiographieen und Memoiren spärlich. Die des Pyrrhos darf man nur 
als die Edition der königlichen Hypomncmata, also als Akten, betrachten; 
die des Ptolemaios Euergetes 11. wagt man nicht zu definieren. Aratos von 
Sikyon hat als Selbstbiographie die Geschichte seiner politischen Tätig- 
keit geschrieben, zur Rechtfertigung, die er sehr nötig hatte. Ahnliche 
Tendenz hat eine Anzahl Römer der Revolutionszeit im Alter zum Schreiben 
gebracht, Scaurus und Sulla; der Freund des Poseidonios, Rutilius, schrieb 
seine Memoiren sogar griechisch: das war also eine anerkannte Gattung. 
Auch Literaten werden sie öfter gepflegt haben, wenn es Nikolaos von 
Damaskos tat. So wird es an interessantem Materiale für den Historiker 
nicht gefehlt haben; nur denke man nie und nirgend an Bekenntnisse; wie 
der hellenistische Men.sch in solchen Dingen empfand, kann man an Cicero 
lernen, der doch auch an Redlichkeit die meisten übertrifft. Wirklich 
vertraute Korrespondenzen, wie er sie mit Atticus führte, sind damals von 
Grriechen schwerlich gefuhrt, sicherlich nicht veröffentlicht 

Es konnte nicht ausbleiben, daß so kostbarer Stoff von geschickten 
Literaten zusammengearbeitet und gefonnt ward. So hat noch im 3. Jahr- 
hundert Satyros von Alexandreia Biographieen von Staatsmännern (z. B. 
Philippos IL, Alkibiades), Dichtern und Philosophen verfaßt Wie das 
dann durch viele Hände geht, kennen wir namentlich aus der Philosophen- 
biographie. In arger Entstellung und Verdrehung lesen wir es bei Cornelius 
Nepos, der doch, wo er aus eigener Anschauung schrieb, den Atticus 
hübsch zu porträtieren wußte. Gewiß war das Material bereitet, waren 
auch die Typen aufgestellt; Biographieen wie die Suetons waren ge- 
schrieben, so daß er sich nur an die Vorbilder zu halten brauchte, die er 
in der Vorrede namhaft machte: aber Plutarche vor Plutarch wird es 
kaum gegeben haben. 

Hier muß nun schließlich noch eine Frage behandelt werden, die 
durch falsche Formulierung zu vielen schiefen Urteilen Anlaß gibt, wie 
es mit dem griechischen Roman steht. Die modernen Bezeichnungen 
Roman und Novelle (die in den modernen Literaturen selbst verschiedene 
Geltung haben) sind hier mehrfach gebraucht, um dem Leser kurz 
anzudeuten, wie er sich etwa das betreffende Schriftwerk zu denken hätte. 
Aber wenn wir auch viele griechische Bücher mit einem solchen Prädikate 
belegen: was diese nach der Absicht ihrer Verfasser und Leser sein 
wollten und sollten, wird damit in keinem Falle gesagt Wenn man bei 
einem fremden Volke nach einer Literaturgattung sucht, die es begrifflich 



Aatlgonot von 

Karyltot 
(t n»ch US). 



Ära tot 
(171— HJ). 



Satyroi 
(um 230}. 



ROBUU. 



n8 UlbU-'H von Wii.amowitzMoki,i,f.ndorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

nicht Mfßkannt hat, »o darf das nichts anderes sein, als daß man sich 
diinnch umsieht, durch welche anderen Gattungen die entsprechenden 
litorarlHchen Bedürfnisse befriedigt worden sind. Die homerischen Rhapso- 
den hnstuton ihrer illiteraten Zeit vollkommen auch das, was heute 
dio Beilage der Zeitung und die Leihbibliothek dem Publikum leistet, das 
weiter kaum etwas liest Die Menschen verlangen von der Literatur, daß 
Hie ihren Stoff hunger stille, ihren Wunsch, sich aufzuregen und amüsieren 
xu IftMPn, erfülle: es drängt sie nach der KdOopOi; tuiv toioütuiv iraOtifidTiuv. 
Durum wird ihnen Menschenschicksal erzählt, das die Naiven als real nehmen, 
dio anderen als möglich, oder auch als die Wirklichkeit ihrer Träume und 
Wünsche. In diesem Sinne kann man also sagen, daß der griechische Roman 
mit Homer anfängt Aber so meint man's mit der Frage nicht Die 
meisten gehen ganr naiv so vor: unsere Unterhaltungsliteratur besteht 
vorwiegend aus erfundenen Greschichten, die das Leben schildern, inner- 
halb de.ssen wir stehen, oder doch einen Ausschnitt daraus, und ganz 
besonders Liebesgeschichten; hatten das die Griechen auch? Oder aber 
man fVagt nach der Herkunft der „Liebesgeschichte" (wie sie die 
Griechen einfach nennen), die in der Kaiserzeit als Grattung besteht 
und auf den modernen Liebesroman bestimmend gewirkt hat Das 
»weite ist eine philologische Spczialfrage untergeordneter Bedeutung; der 
ernten antwortet man am besten, indem man die Griechen die Gegen- 
frage erheben läßt, „wir lesen die Dialoge des Herakleides und Menippo.s 
die KonuHÜen Menanders, die Mimiamben des Herodas, die Elegieen des 
Kallimachos, die Alexandetgeschichte des Kleitarchos und Onesikriios 
wo habt ihr so etwas?« Es gilt also in Wahrheit diesen Unterschied 
klariustellen. Da ist die Hauptsache, daß bei den Griechen, selbst in 
dieser ihrer wissenschaftlichsten Zeit, der Gegensatz zwischen wahr und 
erfunden lange lücht so stark war, wie ihn selbst das Volk jetzt dunkel emp- 
findet. Wir verlangen von der Geschichte L'rkundlichkeit, Wahrheit Selbst 
der histwrische R<Mnan stellt zwar frei erfundene Ereigfnisse und Personen in 
den Mittelpunkt, aber die überlieferten Figuren, die er einführt, und die 
gaiue Un^gebunjjT wnd den Hintergrund seiner Fabeln sucht er mit ernster 
Arbeit nH>5fUchst streitg historisch zu gestalten, es sei deon. die Zeit wäre 
sv> tVn» uttd frvmd, daß er süe wissenschaftliche Wahrheitskritik bei dem 
lest^r nicht ru furchten braucht Dies galt bei den Griechen aügeoiein. 
wtfil eine kvoatrvklUwvnde Kenntnis iticht verbreitet war. Nichts hinderte. 
Alexander mit einer AnxauVKtenkömgirt in Verbinduref zu bringen. eir.ea 
iivHt \Hier einen Säutier in ihm zu zeigen, die Hochzeit mit Rhoxane. die 
ui WAhchett im wU4ea A^^hanistaa ssaccfiuxd, mit allem PS?ctp aoszusttcvc 
wi*" er etwa tur die der Berwuke paßte. D» Ißstorie d*r hell^TÜsöscfaiea 
iC<«t est die Tochter der ioaischen. und diese die Tochter des Epocs. Di"? 
V»*schichte. die wir so »mrwtt. ;£sterta$ gaa: öjlsrwchtisr dier?*Ib*a öretea 
UBB6>iichfj«^, wie die mvAische. die tur das Volk asch Geschichte war. 
Ks SS« etae ^ptai aocweetdi^ Kocse<ia*as. ca6 die aecec Motiv* -ä»i 



C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). 11. Prosa. 



IIQ 



Stimmungen sich weiter in diesen Rahmen der Historie fugten. Sie hatte 
längst nicht nur die Geschichten der vornehmen Personen novellistisch 
ausgestaltet: die Beispiele in der Solon-Novelle, überliefert oder erfunden, 
sind paradigmatische Dichtung, Atys und Adrestos auch, und die sind frei 
erfunden. Selbst Xenophon kann Araspes und Panthea einführen, eine senti- 
mentale Liebesgeschichte. Das ist die milesische von Antheus und der Frau 
des Phobios auch, und es ist nur Zufall, daß wir sie jetzt in einer Elegie des 
Ätolers Alexandres lesen, denn der entnahm sie irgendeiner milesischen 
Chronik. Was Wunders, wenn die Römer der sullanischen Zeit als schlüpfrigen 
Roman „Milesische Geschichte" eines gewissen Aristeides lasen und über- 
setzten, so daß wir dann diesen Titel für solche Literatur verallgemeinert 
antreffen. Die Milesierinnen hatten das Renommee einer bestimmten 
perversen Erotik schon im 5. Jahrhundert; die Lesbierinnen das einer anderen; 
Sybaritische Geschichten erzählte man sich nach der Zerstörung der Stadt 
als Exempel von sinnlosem Luxus; Abdera erhielt das Renommee, das 
jetzt an seinem Namen hängt, ebenfalls nach seinem Verfalle in der helle- 
nistischen Zeit Wer kann noch fragen, wo die Matrone von Ephesos 
herstammt? Der Orient hatte schon dem Herodot den Schatz des 
Rhampsinit beigesteuert, der sogar schon viel früher in ein homerisches 
Epos eingedrungen war. Und welchen Schatz alter Geschichten, den 
griechischen ganz analog, besaßen nicht Semiten und Ägypter, Phryger 
und Lyder? Wenn die zeithche Priorität entschiede, hätten sie den 
Griechen den Roman übermittelt; Piaton schiebt ja Ägypter vor, um von 
seiner Atlantis zu erzählen. Und wenn ein Verständiger auch für selbst- 
verständlich hält, daß die Menschen sich das Erzählen so wenig von 
einem fremden Volke beibringen lassen wie das Sprechen, so fliegt doch 
der Erzählungsstoff in unbegreiflicher Weise über alle Lande wie der 
Unkrautsamen. Der Streit, ob die Novellistik der späteren Inder, Perser, 
Türken und dann der Okzidentalen dieser oder jener Nation eigentümlich 
sei, ist im Grunde gegenstandslos. Die sie überliefern, haben Anspruch 
auf die Geschichte, denn sie haben sie sich zu eigen gemacht, aber über- 
nommen haben sie sie alle: ihre Heimat ist der hellenisierte Orient. 
Grriechisch sind sie in dem Sinne, wie die Kultur den Namen verdient, in 
der die Griechen herrschen und der Welt das Gefäß liefern, in dem sich 
alle Traditionen sammeln. Jenseits des Hellenismus .stammt gewiß sehr 
viel aus der älteren, namentlich semitischen Welt; aber auch ganz und 
gar historische Personen der alten Griechenzeit haben sich fast bis zur 
Unkenntlichkeit umkostümiert. In den sieben weisen Meistern stecken 
schließlich die sieben Weisen, deren Versammlung am Hofe des Kroisos 
sogar schon .vor Alexander in einem Buche fixiert war. Für den Orient 
ist ja vor allen Dingen Alexander selbst das Zentrum eines Sagenkreises 
geworden, und er ist auch über den Orient zu den Okzidentalen gelangt. 
Es wäre eine Torheit, die Tierfabel oder besser den Apolog für „Er- 
findung" von Hesiod oder Äsop zu erklären: es gibt keinen schöneren 



I20 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

als den über Abimelech (Richter 9); die Ägypter hatten die Fabel 
schon längst vor Abimelech: und doch ist die spätere, die moderne 
Fabel äsopisch. Die „vergleichende Literatiirgeschichte" muß lernen 
mit dem Hellenismus zu rechnen, der auf eine Weile den Gegensatz 
zwischen Orient und Okzident aufhebt, ein See, der die Ströme der 
Sonderkulturen in sich aufnimmt: als die Gewässer sich wieder teilen, 
rückläufig in die alten nationalen Betten, können sie sich doch nicht in 
die alten Bestandteile sondern: für sie ist der hellenistische See die Quelle 
geworden. 

Dies gilt von dem Stoffe; von der Form nur insofern, als es einzelne 
Erzählungen sind, die verschieden gestaltet werden können; die spezifische 
Bezeichnung Novellen kommt ihnen nur dann zu, wenn sie schlichte Prosa- 
erzählung bleiben, und dann erscheinen sie immer frischgeformt Aber in 
der Vereinzelung haben sie keine Konsistenz; daher treten sie gern gruppen- 
weise in einen Rahmen, ein benannter Erzähler oder auch mehrere gegen- 
einander werden eingeführt; für manches, namentlich die Aufreihung von 
Abenteuern, eignet sich die Icherzählung. Dadurch tritt also eine Stili- 
sierung hinzu, die sich vererben kann. Da ist es bedeutsam, daß 
alle diese Formen schon das Epos kennt; in den Kyprien tröstete 
Nestor den Menelaos, dem Helena entführt war, mit anderen Weiber- 
geschichten; diese Form der Anreihung zur Parallele liebt auch die 
Ljrrik; die Weisen bei Kroisos wurden schon genannt; außer den Apo- 
logen des Odysseus gab sich die Beschreibung der Wunder des Nordens 
als Selbsterzählung des Aristeas von Prokonnesos. Das setzte sich ohne 
weiteres in Prosa um. Noch im 4. Jahrhundert hat Antiphanes von Berge 

ReiMroman. einen Reisebericht gegeben, über den Leute wie Polybios unmöglich als 
Lügenwerk schelten könnten, wenn ihn nicht viele ernst genommen hätten; 
er erzählte ähnlich dem Freihetm von Münchhausen von einem so kalten 
Lande, daß die im Winter gesprochenen Worte erst im Sommer klängen, 
wenn die ausgestoßene und sofort gefrorene Luft auftaute. Später hat 
ein gewisser lambulos, also ein Semit, einen Ichroman, Abenteuer auf 
dem Indischen Ozean und seinen Inseln, verfaßt, von dem wir zufällig 
hören, weil der Bericht, der auch wirklich tatsächliche Kenntnisse ver- 
wertet, als ernsthafte Geo- und Ethnographie von Diodor ausgezogen ist 
Dem steht es parallel, daß die Novellen am liebsten sich an die Historie 
angliedern und in ihrem Rahmen hie und da erscheinen, also auch be- 
sonders gern historischen Trägem angeheftet werden. Ganz entsprechend 
steht es mit den umfänglichen Erzählungen, denen man dann den Namen 
Roman zu geben pflegt (ob das berechtigt ist, sei hier nicht gefragt). Da 
hat um 250 ein Rhetor Myron von Priene die Geschichte des ersten 

HutoriKher Messcuischen Krieges erzählt, die dann in die Geschichtsbücher eindrang, 

*'°°*°' wo sie noch heute zu stehen pflegt Es war alles so gut wie ganz freie 

Dichtung, viel mehr noch als Ivanhoe, ganz ohne Fre3rtagsche Archäologie 

und Tendenz; die Moderhetorik durfte sich frei gehen lassen. Ohne Frage 



C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.^. IT. Prosa. 



121 



hatte Rhianos trotz seinen feinen Versen viel besser den echten Ton ge- 
troffen. Das erotische Element finden wir bei Myron nur in einer hoch- LiebMro«mii. 
pathetischen Szene, die ohne Zweifel mit sagenhaften Motiven wirtschaftet; 
da aber die Liebesnovellen so zahlreich waren und die ionischen Ge- 
schichten nicht minder füllten wie das Drama und das Epos, wie hätten 
sie nicht auch in solchen Büchern Platz finden sollen, die uns beliebt 
Romane zu nemien. Wirklich hat sich ein Papyrusblatt aus einer helle- 
nistischen Geschichte gefunden, die Ninos und Semiramis gaaz als senti- 
mentale Licbesleute einführte. Umarbeitungen der Heldensage mußten 
fortwährend mit erotischen Motiven wuchern: Achilleus und Polyxene als 
Brautpaar, Troilos und Briseis als Liebespaar sollten das hinreichend 
illustrieren. Die Geschichte der „Braut von Korinth" spielt ursprünglich 
in frühhellenistischer Zeit und ist keinesfalls erst in römischer ersonnen. 
Die Geschichte, die wir „vom kranken Königssohn" nennen, ist ganz früh 
gar in die hellenistische Geschichte eingedrungen und hat Antiochos L 
zum Helden erhalten. Der Liebesroman ist nicht erst dadurch entstanden, 
daß jemand darauf verfiel, die Abenteuer statt an derEntfühnmg Medeasoder 
der Heimfahrt des Odysseus an dem Faden aufzureihen, daß ein Brautpaar 
getrennt wird, bis sie sich am Ende kriegen. Ganz so gebaut war der 
bändereiche Roman noch nicht, den ein gewisser Antonius Diogenes ver- 
faßt und „Wunder jenseits Thule" benannt hat (wir besitzen nur einen 
knappen Auszug); aber unter den Schicksalen der Helden und Heldinnen 
nahm doch die Liebe einen sehr breiten Raum ein, daneben fabelhafte 
Geographie und wundersame authentische Kunde über Pjthagoras und 
andere Weise der Vorzeit, auch eine Höllenfahrt. Die Einkleidung war 
auch ein viel gebrauchter Kniff, angebliche Entdeckung eines alten 
Manuskriptes in dem Grabe der Helden. Da der Verfasser das Bürger- 
recht von einem Antonier erhalten hat und spätestens unter den Flaviern 
als historische Quelle benutzt wird, gehört er ziemlich sicher noch in 
die allererste Kaiserzeit und muß durchaus zur hellenistischen Literatur 
gerechnet werden; daß er durch die Zusammenklitterung von Stoffen 
sehr verschiedener, aber nirgend unbekannter Herkunft eine neue Gattung 
geschaffen hätte, ist gar nicht zu glauben; in der Vorrede verwies er 
selbst auf Antiphanes. Hundert Jahre früher bearbeitete ein gewisser 
Dionysios, Lederarm zubenannt, Partieen der Götter- und Heldensagen, 
z. B. eine angebliche libysche Mythologie, aber auch die Argofahrt; in 
der Diadochenzeit schrieb Euhemeros von Messene seine „heilige Ge- 
schichte", die rationalistische {die Griechen sagen pragmatische, mit dem- 
selben Worte, das Polybios anwendet) Umsetzung der Göttersage in 
Menschengeschichte; auch in diesen beiden Fällen ist das ernst genommen 
worden, und man redet noch heute von Euhemerismus, obwohl der Mann 
gar keine neue Methode erfand. Euhemeros wird allerdings tendenziös auf- 
klärerisch geschrieben haben; Dionysios, der Grammatiker war, wohl nur 
zur Unterhaltung; aber Diodor hat auch ihn gläubig exzerpiert. Roman 



122 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

müssen wir alles dieses nennen, oder wie sonst, wenn wir mit der modernen 
Gattung operieren wollen, 
jodiiche Wie nennen wir endlich die Erzählungen der jüdischen Unter- 

^"*"''°*"'° haltungsliteratur hellenistischer Zeit? Steht der Ahasver des Buches 
Esther oder der Nabuchodonosor des Buches Daniel anders zu der Historie 
als die orientalischen Könige in den griechischen Erzählungen? Und 
Judith mit ihrer blutigen Selbsthingabe konnte doch wohl ohne weiteres 
in einer Novellensammlung wie der des Parthenios Platz finden. Und 
wenn die Einführung eines göttlichen Reisebegleiters auch zu stark 
für ein „polytheistisches" Publikum gewesen sein dürfte und das erbau- 
liche Element hier einen sehr starken Sondergeschmack hat: die ganze 
Fabel des Buches Tobit könnte bei Antonius Diogenes stehen. Damit sollen 
diese Bücher gewiß nicht ihrem Volke entrissen oder auf hellenistische 
Anregung geschoben werden: sie gehören nur zur hellenistischen Literatur, 
und da wäre es seltsam, nur den Beisassen der Alexandriner erfundene 
Greschichten, Romane zuzutrauen. Es kommt hinzu, daß ein jüdischer 
Tendenzroman gleich in griechischer Sprache verfaßt ist, der Brief 
Aristeabrief des Aristcas; auf der einfaltigen Erfindung dieses Juden beruht am 
(Anfanir de» iet2ten Ende der Glaube an die Inspiration der griechischen Bibel und 
ihrer Übersetzimgen. Literarisch ist das recht ungebildete Buch ganz 
und gar ein Roman, nar daß die Liebe keine Rolle spielen kann. Die 
Briefform ergibt Erzählung in erster Person. Die Beschreibung Jeru- 
salems und seiner Herrlichkeit ist ganz phantastisch, als gälte es einem 
Zauberland; Indien oder Äthiopien mit weisen Priestern und fremdartigem 
Kultus könnte es ebensogut sein. Der König, der die Weisen über 
alles mögliche befragt und triviale Moral zu hören bekommt, könnte 
ICroisos vor den sieben Weisen oder Alexander vor den Indem ebenso- 
gut sein; wie denn blasse Moral hellenischen Ursprungs in Ägypten auf 
den Namen Amenophis übertragen vorkommt, und eines der ältesten römi- 
schen Bücher, angeblich von Appius Claudius, sie auch wiedergab, so daß 
die Weisheit des jüdischen Salomo wohl nicht ohne Grrund so farblos 
hellenistisch klingt. Der Aristejisbrief stammt aus dem Anfang des i. Jahr- 
hunderts, sprachlich wegen der hohen stilistischen Aspirationen, die ein 
Plebejer macht, in hohem Grade belehrend. 

All diese Geschichten konnten in gewollter Schlichtheit (wie es von 
Diogenes heißt) oder bombastisch (wie offenbar Myron) oder pretiös (wie 
der Ninosroman) erzählt sein: immer gehörten sie zu der ernsthaft ge- 
haltenen Prosa, ihre Absicht war zu imponieren oder zu rühren; die 
Nachahmung ging, mit den Grriechen zu reden, nach der verschönernden 
Satirischer Scitc. Gab es auch einen roman comtque? Ein direktes Zeugnis für 
Roman, jjjgse Periode ist wohl nicht vorhanden, und davon ist wahrlich keine 
Rede, daß Gargantua oder Don Quichote oder Tristram Shandy hellenische 
Ahnen hätten. Aber Äsop kann doch den Anspruch erheben, dem Pfaffen 
Amis und Till Eulenspiegel manche ihrer Streiche vorgemacht zu haben; 



C. Hellenistische Periode (320—30 v. Gir.). II. Prosa. 



123 



einzelne Liebesschwänke un.serer Gesamtabenteuer reichen so weit zvirück, 
und das Motiv des diable boiteux, die geheime nächtliche Visitation der 
Menschen in ihren Kammern, stammt aus der menippischen Satire. 
Das macht stutzig-, und wer in Rechnung ziehen kann, in wie engen 
Grenzen sich das hält, was wir aus der hellenistischen Zeit kennen, wird 
auf diesem Gebiete nicht leicht in den Erzeugnissen der frühen Römerzeit 
Neubildungen anerkennen. Auf ein anderes Problem führen die Satiren 
des Petron. Dem Dichter soll wahrlich seine Originalität nicht verkleinert 
werden; sein Buch wird so hoch über allen griechischen Vorlagen ge- 
standen haben wie Ciceros Dialog vom Redner über den rhodischen 
Rhetoren und Vergil über Nikander. Es wird dadurch geadelt, daß der 
Römer auf die griechische Boheme, der homo urbanus auf die Talmi- 
bildung der Augustalen, der Weltmann auf Rhetoren und Poeten herab- 
sieht. Aber daß das picarische Element des Romanes ebenso griechisch 
ist wie der Zorn des Priapos, die Matrone von Ephesos und der Schiff- 
bruch, lehrt der Augenschein und bestätiget die Analyse. Mit vollem 
Rechte hat man auch in einem bemalten Friese der casa Fnrncsma die 
Illustration eines ähnlichen Schelmenromanes gefunden, der dadurch min- 
destens an den Ausgang des r. Jahrhunderts v. Chr. gerückt wird. Aber 
man fragt vergeblich, wie ein solcher komischer Roman ausgesehen hat, 
und wo er herstammt. Die Historie versaget dafür; die kynische Manier 
hat gewiß viel Verwandtes, und Petron hat die Mischung von Vers und 
Prosa als menippische Satire empfunden. Aber das reicht nicht entfernt 
hin, zumal die moralische Tendenz gänzlich fehlt Man verlangt nach 
etwas Gemeinsamem, einer übergeordneten Gattung, auf die sowohl die 
kynischen wie die einfach komischen Lebensschilderungen zurückgingen. 
Das weist uns von einem Unbekatmten zu einem anderen, mißlich genug; 
aber wir dürfen den Abweg in das H^'pothetische nicht scheuen, wo die 
Bedeutung der Sache im umgekehrten Verhältnisse zu unserer Über- 
lieferung steht 

Es handelt sich hier um jene Poesie (die ja nicht durchaus an metrische voiksiümiicbe 
Form gebunden ist) unterhalb des Niveaus der gebildeten literarischen ^"*'''''' "'"' 
Gesellschaft, an deren Existenz oben erinnert ward (S. 85). Die feinen 
Dichter verschmähen es durchaus nicht alle, für sie tätig zu sein, wenn sie 
auch lieber das Niedere so in ihre Weise transponieren, wie Theokrit die 
Volkslieder der Hirten und die Mimen Sophrons. Die Gesellschaft hat 
auch mehr Gefallen an der derben Kost, als sie immer zugibt. Die 
offiziellen Programme der Musikfeste bei den Tempeln geben diesen 
Spielen kaum Zulassung {wenn auch z. B. in Delos sogar Taschenspieler 
und Marionetten vorgesehen sind), aber sie geben doch der ganzen 
fahrenden Gesellschaft vortreffliche Gelegenheit, sich vorzustellen, und 
für manches wird sich auch Theater und Odeum geöffnet haben. Da 
sind die oben erwähnten Lustigmacher aus dem Westen (S. 43), die. 
wenn sie reden, so etwas wie sophronische Mimen vorgetragen haben 



Sänger. 




^^^^m 124 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; Die griechische Literatur des Altertums. 

^^^^H müssen, aber auch Clowns, Bauchredner und dergleichen stellen. Da 

^^^^1 sind die Sänger und Sängerinnen, die nach verschollenen Dichtern 

^^^^B L\^sioden, Simoden oder ähnlich heißen, die Rezitatoren von Sotadeen 

^^^H und lamben, die Mimologen, Ethologen, Biologen, Kinaeden (die singen) 

^^^^1 und Kinaedologen (die sprechen; die Wortbildung macht den Unterschied 

^^^^^ der Vortragsart überall deutlich), also Rezitatoren von Poesie und 

^^^^^ Prosa. Neben diesen sehr weltlichen Gesellen erhebt sich der Areta- 

^^^^1 ' löge, der die Wunder seines Gottes anpreist; freilich wird er sofort zum 

^^^^1 Kinaedologen, wenn dieser Gott die große Mutter ist, wenigstens in den 

^^^^V Augen der Ungläubigen. Es haben auch wirklich dramatische Possen 

^H nicht gefehlt, gespielte Mimen, deren genauen Namen ein Vorsichtiger 
r Sopitroi nicht wird bestimmen wollen. Ein Kyprier Sopatros hat sie in Alexandreia 
^B '"" '*"'■ Phlyaken genannt; aber er dichtete auch in feinen Trimetern, noch feiner 

^H als Rhinthon (oben S. 42), war also ebensowenig Volksdichter. Vorstellbar 

^H ist uns das alles im einzelnen nicht; noch viel weniger gelingt es, alle 

^^ Namen mit besonderem Inhalte zu füllen. Nur wenn einmal ein Dichter 

[ SoudcM als Person sich heraushebt, lichtet sich das Dunkel etwas. So hat Sotades 
(t ror 170). ^.Qjj Maroneia unter Ptolemaios II. das nach ihm benannte Versmaß aus 

I den Liedern, die es in mannigfachen Verbindungen enthielten (namentlich bei 

^^m Sappho), genommen und stichisch und rezitativ gemacht, ganz in derselben 

^H Weise wie Phalaikos den Hendekasyllabus, Kallimachos den Galliambus 

^H .schufen. Seine Gedichte, sehr derb und nicht selten parodisch, können 

^^M im Grunde nicht anderer Art gewesen sein als die lamben und nanient- 

^H lieh Hinkiamben, die nur von vornehmeren Dichtern gepflegt wurden. 

^H Die Sotadeen wurden zu einer Gattung, an der die Unanständigkeit 

^H haftete; der Vers, in der Tat sehr bildsam, bürgerte sich namentlich in 

^"^ Ag3^ten ein und ward für allerhand verwendet, auch ganz Ernsthaftes; 

I Heroda» noch der Bischof Areios hat ihn für geistliche Lieder gebraucht. Herodas 

I (um »46) ^ijijgj. dessen Heimat und Person sich nur sagen läßt, daß der Name 

^^L lonien ausschließt, die Gedichte genau in dieselben Gegenden wie die 

^H Theokrits gehören) hat unter Ptolemaios III. den Hinkiambus für Bilder 

^H aus dem niederen Leben verwandt, die er demnach Mimiamben nannte. 

^H Das war eine Umsetzung in der Weise Theokrits, der ihm auch 

^H vorlag; der Dorer hatte sich mühselig das verschollene Ionisch des 

^0 Hipponax angelernt und würde sehr verstimmt werden, wenn er 

T erführe, daß man ihn für einen Naturalisten hielte. Aber wenn er die 

^K Monologe oder Dialoge rezitierte (ihn gespielt zu denken hat Sinn, 

^H wenn Theokrits Adoniazusen auch gespielt sind), mußte es freilich 

^H mit greller Komik geschehen, denn ihm fehlt die veredelnde Kiuist 

^H ebenso wie der echte Realismus. Den Stoff, aus dem Leben der Mile- 

^^ sierinncn, von Kos und Rhodos, muß ihm ein wirklicher ionischer Mimus 
tjonucbe Lieder, geliefert haben. In den Liedern der Lysioden usw. lebt das „ionische 

I Lied" fort, das schon Aristophanes als lasziv verschreit und nachahmt 

^^^^H Wir haben eine unschätzbare Probe in dem sogenannten Grrenfellschen 



C. Hellenistische Penode (320—30 v. Chr.). iff. Poesie. 



125 



Liede; ein verlassenes Mädchen zieht nachts vor des Geliebten Tür und 
sucht ihn zu beschwören. Töne echten Gefühles fehlen nicht; damit konnte 
eine Chansonettensängerin schon Furore machen. lonismen zeugen für 
die Herkunft Das Versmaß schlägt die Brücke von den tragischen Arien 
zu den plautinischen Cantica, und diese allein würden die Existenz von 
gespielten Possen beweisen, auch wenn nicht die Analyse von Stücken 
wie Casina und Stichus dazukäme. Also Plautus hat so etwas nicht nur 
gespielt gesehen, sondern Libretti gelesen. Auch den dramatischen Mimus Mimui. 
der Kaiserzeit, der nun wirklich diesen Namen führt, darf man nicht erst 
damals in feste Form gebracht glauben; woher wäre der lateinische denn 
gekommen, der in ciceronischer Zeit beginnt? Mit Philistion, der aus Asien 
unter Augustus den griechischen Mimus in Rom importierte und jahr- 
hundertelang ein bekannter Name für die Gattung blieb, wie Sotades für 
die Kinädologie, so daß auf ihn wie auf diesen auch moralische Sentenzen 
gestellt werden, können wir nichts anfangen, da wir in Wahrheit gar 
nichts von ihm haben: das aber liegt auf der Hand, daß er ein Vollender, 
kein Erfinder war. Dieser Mimus aber war aus Prosa und Poesie ge- 
mischt: das zeigen die zwei Stücke der Antoninenzeit, die uns Oxy- 
rynchos geschenkt hat, das eine die Rede eines Mimologen, als Monolog 
einer eifersüchtigen Frau stilisiert, das andere ein Spiel vieler Personen, 
sogar mit einer Art Chor; wie die zerstörten Verse zeigen, ist der Text 
verwildert, also viel älter, die Sprache läßt den Barbaren barbarisch 
reden (man merkt, wo Plautus sein Karthagisch hernahm), im übrigen 
ist sie für ihre Zeit gar nicht ungebildet, nichts von Patois. Ob Petron 
die Nachahmung der Vulgärsprache selbst erfunden hat, muß also noch 
offen bleiben. Seine Mischung von Vers und Prosa hat hier aber eine noch 
bessere Analogie gefunden als in der kynischen Weise. Endlich muß 
man die karikierten oder auch nur typisch stilisierten Figürchen hinzu- 
nehmen, die uns in Stein, Bronze, Ton erhalten sind, die alten Vetteln 
und hübschen Mädelchen, die Dickwänste und ausgemergelten Dünnbeine, 
die plumpen und die verschmitzten Sklaven, die Nubier, Lustknaben, 
Pädagogen, Redner, Schauspieler. Das ist die Gesellschaft Petrons. Das 
Mosaik des Dioskorides, dessen Zugehörigkeit zu den Tonfiguren er- 
wiesen ist, stellt geradezu eine solche Musikbande dar. So erkennen wir 
wohl, wenn auch nebelhaft, eine Sphäre, aus der mit dem komischen 
Romane viel anderes hervorgehen konnte, ein Element, das der Grieche 
ethologisch, biologisch nannte, dessen Wesen wir ahnen, das uns stark 
reizen muß, schon als Gegengewicht gegen die repräsentative Maske, die 
der Hellenismus anzunehmen liebt; aber wir können alles nur ahnen, 
kaum im Nebel sehen. 



III. Poesie. Von diesem Grenzgebiete zwischen poetischer imd prosa- 
ischer, mündlicher und schriftlich fixierter Dichtung steigen wir endlich 
empor zu den anerkannten Gattungen der Poesie; aber über die Tragödie 



t.yrilL 



126 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

und die gesamte musikalische L5rrik (von der uns Steine und Papyri ge- 
schichtlich höchst interessante Reste beschert haben) dürfen wir hinweg- 
gehen; weder in dem Fortfahren in den alten Geleisen, noch in archmstischen 
Versuchen (die namentlich auch dem Satyrspiele galten) ist etwas Dauerndes 
erzielt worden. Die Plejade um Ronsard hat zwar ihren Namen von einer 
Siebenzahl hellenistischer Tragiker, aber es charakterisiert nur die Gräko- 
manie der französischen Renaissance, daß sie diesen Nanien in einem 
obskuren Winkel auftrieb, und wir wissen von den ihrerzeit vielbewunderten 
Dichtem um Sositheos und Philiskos wenig mehr als Ronsard. Sie waren 
vielleicht sehr geistreich, aber sie waren Epigonen: daß die hellenistische 
Dichtung überhaupt epigonenhaft wäre, wird zwar oft gesagt, kann aber 
nur behaupten, wer sie weder historisch noch poetisch zu begreifen ver- 
steht So viel wenigstens hofft diese Darstellung zu erreichen, daß die 
konventionellen Vorstellungen von dem Wesen des „alexandrinischen Zeit- 
alters" in ihrer vollkommenen Nichtigkeit erkannt werden. 
Lustspiel. Athen hat noch eine G«.ttung der Poesie geschaffen, die letzte, aber 

in ihrer Wirkung der Tragödie fast ebenbürtig, das bürgerliche Lustspiel, 
wie wir die menandrische Komödie nennen wollen, da in ihr vom Komos 
gar nichts mehr ist; die Lustigkeit gehört freilich auch nicht unbedingt 
dazu. Die Welt befliß sich der äußeren Wohlanständigkeit immer mehr, 
und die freie Fröhlichkeit ging in der gedrückten Zeitstimmung des 
4. Jahrhunderts verloren. Dabei g^ng die Produktion neuer Komödien 
immer fort, und sie haben sich auch als Bücher lange gehalten, während 
die gleichzeitige Tragödie rasch verkam. Vielleicht war sehr viel Reiz- 
volles darunter (namentlich die Reste des Antiphanes verraten ebenso viel 
Witz wie Grrazie), aber wir haben doch von der Komödie zwischen 
Aristophanes und Menander keine klare Vorstellung, und es geht nicht 
an, die Travestie der mythischen Stoffe und die Parodie des erhabenen, 
namentlich des dithyrambischen Stiles, die in den Bruchstücken häufig ist, 
als spezifisches Kennzeichen anzusehen, da solche Stücke auch im 5. Jahr- 
hundert zahlreich gewesen sind und das einzige in Übersetzung erhaltene 
(der köstliche Amphitryon) aus der menandrischen stammt Einen ganz 
anderen Typus zeigt der plautinische „Perser", dessen Original älter als 
Alexander war, eine derbe Bedientenposse; sie leitet gut von der späteren 
aristophanischen Weise etwa zu Diphilos hinüber. So haben denn auch 
die Grammatiker diese Komödie der Zwischenzeit die mittlere genannt, 
ein Name, der weder zeitlich noch begrifflich gefaßt mehr als einen 
relativen Inhalt hat Es hat eben die Grrammatik diese vielen Hunderte 
von Dramen höchstens für sprachliche oder antiquarische Zwecke ex- 
zerpiert; erst Menander war wieder ein Klassiker der Schule. Daß die 
Byzantiner ihn (im 7. Jahrhundert frühestens) verloren haben, gleichzeitig 
mit Sappho und Alkaios, ist fast unbegreiflich; das haben vielleicht 
minder die Pfaffen verschuldet als die Schulmeister, denen er zu leicht 
schien; Lykophron war für sie ergiebiger. Den Gegensatz zu Aristophanes 



C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). III. Poesie. 127 

macht gleich das Kostüm, das nun im wesentlichen dem des Lebens ent- 
spricht; nur die Chargenrollen tragen karikierte Masken. Ob der Phallus 
eines Tages durch die Festordnung verboten ward, ob er allmählich auf 
immer weniger Personen beschränkt ward (die Bewohner des Hades in 
den Fröschen haben ihn schwerlich getragen), mag zweifelhaft sein. Die 
Dichter werden auch immer noch sehr Verschiedenes und sehr verschieden 
gedichtet haben, fehlte doch selbst nach dem Untergang der athenischen 
Freiheit das Politische nicht durchaus; aber geschichtlich bedeutend ist 
nur das bürgerliche Lustspiel, und in ihm ragft Menander so stark über Meundros 
alle Konkurrenten und Nachahmer empor, daß er in demselben Sinne wie (J*»— '«') 
Aristophanes mit der Gattung identifiziert werden darf. Wir besitzen 
immer noch allein die lateinischen Bearbeitungen, aber seit den letzten 
Jahren wenigstens einige Blätter der Originale, so daß wir nun den Stil 
kennen, in den wir Plautus und Terenz zu retrovertieren haben. Terenz 
übersetzt mit geflissentlicher Treue, aber das Urteil Cäsars bleibt be- 
stehen, daß er nur ein halbierter Menander wäre, weil ihm die vis 
comica fehlte. Plautus ist ein Stern von eigenem Lichte; er hat den 
Menander in das Aristophanische, besser das Epicharmische umgesetzt, 
freilich für ein ungebildetes Publikum, aber ein itedisches, imd deis 
italische Wesen hatte den Griechen Epicharm und Sophron nicht das 
Schlechteste geliefert Der breite Strom seiner Rede, die FormenfSlle 
seiner Verse, sein faschingmäßiges lautes Lachen und Hopsen würde 
vermutlich den vielen auch heute besser gefallen als die vornehme Eleganz 
der Originale. Aber Horaz würde über die vielen den Kopf schütteln, 
und Cäsar sagte nicht tacta est alea, sondern zitierte den originalen Vers 
Menanders, und Moli^re ward erst zu dem größten Komiker, den die Welt 
besitzt, als er die Verskomödie über die Römer und Italiener hinaus auf 
den Ton der verlorenen Originale stimmte. 

Das Lustspiel ist die Tochter der euripideischen Tragödie, nicht als 
Parodie, wie die Thesmophoriazusen von euripideischen Motiven leben, 
sondern weil es den notwendigen Schritt tut und die Menschen der Gegen- 
wart ohne mythische Vermummung einführt. Das gfriechische Drama hat 
im Wechsel der Generationen den Weg zurückgelegt, der den großen 
Dramatiker imserer Tage von der nordischen Heerfahrt zu Nora und 
Gabriel Borkmann geführt hat Damit ist, wie Piaton forderte, die 
begrifflich nichtige Spaltung in Tragödie und Komödie beseitigt; von der 
Absurdität, zwischen beiden ein „Drama" zu stellen, ganz zu schweigen. 
Komisch, zum Lachen reizend, braucht dann freilich die Komödie nicht 
mehr zu sein. Das menandrische Original der Cistellaria ist es auch 
nicht mehr gewesen als der Misanthrope. Die Captivi, deren Original 
nachmenandrisch war, wirken geradezu durch pathetische Motive; der 
Knecht opfert sich aus Edelmut für den Herrn, der Vater schlägt 
ahnungslos den Sohn in Ketten. Menander zeigt die unverbesserliche 
Menschentorheit nicht in der Verzerrung des Hohlspiegels, die durch die 



128 Ulrich von WilamowitzMoellendorft: Die griechische Literatur des Altertums. 

Übertreibung versöhnt, auch nicht mit der Moral predigenden Rhetorik 
der Satire, sondern mit dem resignierten Lächeln des überlegenen 
Humors. Das ist freilich seine Eigenart, und man soll es bei Diphilos 
und Philemon nicht suchen. Denn er war gesättigt von der Bildung seiner 
Zeit; .sein Auge sah mit jener theophrastischen Schärfe, die das Charakte- 
ristische der Spezies an dem Menschen so sicher herausfand wie an der 
Pflanze. Seine gefli.ssentliche Verfolgung des Aberglaubens {da ist er von 
Tendenz nicht frei) verrät, daß er sein Jahr mit Epikuros zusammen ab- 
gedient hat. Wenn nur das Leben, dessen getreues Spiegelbild er liefert, 
nicht so eng und kleinbürgerlich gewesen wäre, die Menschen so ganz ohne 
Idccde, einzig auf gemeinen Genuß in der Jugend, auf gemeinen Gewirm im 
Alter bedacht. Es ist wahr, auch die Welt, die Augier, Dumas, Sardou 
zeigen, ist nur ein enger Ausschnitt; auch hier fällt es schwer, die Per- 
sonen der einzelnen Dramen auseinander zu halten, und ihr geistiger und 
sittlicher Horizont ist nicht weiter oder reiner als in dem Athen Mcnanders. 
Aber diese Komödien sind nicht auf die Ewigkeit berechnet, sondern jede 
Gegenwart soll sich selbst den Spiegel vorhalten. Daß die späteren Griechen 
das trotz Menauder nicht getan haben, sondern das attische Philistertum 
ihnen ebenso notwendig zur Komödie zu gehören schien wie das Heroentum 
zur Tragödie, darin offenbart sich die schlimmste Beschränkung ihrer Be- 
gabung. Um so höher steigt das Verdienst des „Erfinders" der Gattung. 
Das sind freilich im Grunde Sophokles und Euripides. Denn der drama- 
tische Bau ist eben der der .späten Tragödie. Schon die Exposition 
wird ganz in ihrer Weise gegeben; gerade die unkünstlerische Manier, 
daß gleich eine Person das Notwendige dem Publikum erzählt, kehrt 
oft wieder, und es geht so weit, daß sich der Träger dieser Erzählung 
als ein besonderer Herr Prologus von den Personen des Dramas absondert. 
So geht es dann weiter in dem Redekampfe, dem Monologe, dem a parte 
Reden, der Einfuhrung neuer Personen bis zu dem oft überhasteten und 
erzwungenen Schlüsse. Geblieben ist auch die Freude an der Sentenz, 
nicht nur dem einzelnen allgemeinen Spruche, sondern der moralisierenden 
Abschweifung. Das hat den Griechen ganz besonders gefallen; die Römer 
wußten nichts Rechtes damit anzufangen {Plautus hat so etwas nicht selten 
zu unausstehlichen Cantica gedehnt); den Modernsten erscheint es ganz 
undramatisch. Gewiß, in das naturalistische Prosadrama gehört die Sen- 
tenz nicht: aber ist nicht unser Gedächtnis voll von den Sprüchen unserer 
Klassiker? Es muß nur die Weisheit sein, die von der goldenen Wolke 
erhabene Sprüche tönen läßt. Man kann nicht leugnen, daß die griechische 
Manier selbst bei Euripides und Menander zuweilen auch der Plattheit 
das Wort gegeben hat. Ob in den Zwischenakten Tanz und Musik eintrat, 
ist ungewiß und ohne Bedeutung. Das Drama selbst rechnete, von Ein- 
lagen abgesehen, die wir ebensogut zulassen, nur mit der Rezitation, und 
die Versmaße sind auf die des späten euripideischen Dialoges beschränkt 
In der Sprache hingegen ist das Lustspiel völlig original, oder, wenn man 



I 



^ 



C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). III. Poesie. 



IJ9 



will, es hat die Bahnen des Aristophanes nicht verla.ssen. Diese ganz 
unvergleichliche Kunst, die in der Übersetzung verloren geht, auch nur 
zu empfinden, erfordert eine Vertrautheit mit der Sprache und dem Stile, 
die sich nicht viele aneignen: man sieht's an dem Ergänzen der zerrissenen 
Papyri. Es scheint ganz einfach die Rede des Lebens, jedes einzelne 
könnte so in Prosa gesprochen werden: aber den Naturalismus bändigt 
nicht sowohl der Vers, der sich scheinbar ganz von selbst einstellt, 
als das Kondensieren, die Sicherheit, die nie mehr als das Notwendige sagt 
(was zuzeiten ja recht viel sein darf): es ist eben darum alles natürlich, 
weil es nicht naturalistisch ist Wie die Nuancierung der Personen darum 
so fein sein muß, weil der Typen so wenige sind, so erfordert die Rede 
die sorgfältigste Schattierung, da sie fast immer in derselben Fläche liegt 
Die zweite Szene des Georgos, die erregten Rufe des Polemon in der 
Perikeiromene haben doch erst ans Licht gebracht, was all die eleganten 
Sentenzen nicht zeigen konnten, daß Menander ein Stilkünstler war, 
der mit Archilochos und Piaton rangiert Daß Rom in der Zeit des 
Polybiüs so etwas nicht einmal anstreben konnte, ist nur natürlich; 
aber diese stilistische Vollkommenheit, die durch Kunst die lautere 
Natur erreicht, besaß selbst das Französisch der Zeit Ludwigs XIV. 
noch nicht 

Das heroische Epos war beim Anfange der attischen Periode in Wahr- Kpoi. 
heit tot gewesen; die Nachzügler beweisen es am besten. Es versuchten 
sich mehrere an Theseiden und Herakleen, denen Aristoteles den Mangel 
an Einheit vorwirft. Einige Beachtung hat nur Panyassis gefunden, ein i-iny»».« 
älterer Verwandter Herodots, und der war mindestens ein halber Karer <■"" <5°> 
und behandelte mit Vorliebe Sagen seiner hellenisierten Landsleute. 
Choirilos von Samos versuchte es mit dem Stoffe der Perserkriege, der choiriio. 
modernen Geschichte statt der heroischen, aber auch sein Erfolg war nicht '""■ *""'• 
von Dauer. Am meisten gefiel die Parodie des Epos, die gegen Ende des Parodi«. 
5. Jahrhunderts sogar unter die offiziellen Festspiele aufgenommen ward. 
Man belustigte sich au der Übertragung des feierlich epischen Stiles auf 
möglichst disparate Gegenstände, und ein athenisches Symposion des aus- 
gehenden 4. Jahrhunderts, nicht ohne persönliche Spitzen (von Matron aus 
dem lakonischen Pitana), i.st auch amüsant, wenigstens im Verhältnis zu 
einem ähnlichen Machwerk im dithyrambischen Stile, das auf den Namen 
des Philoxenos gestellt ist Aus diesen parodischen Agonen stammt am 
letzten Ende der Froschmäusekrieg, der die Ehre gehabt hat, Homer ii,tr»cbon.xo. 
zugeschrieben zu werden, was für ein relativ hohes Alter zeuget; ein ■"•'^>'i'- 
anderer Autorname, Pigres, beruht auf falscher Kombination. Das Gedicht 
hat an sich sehr geringen Wert, ist auch im Altertum kaum beachtet 
worden; die Grammatiker haben nicht eiimial einen festen Text gemacht, 
so daß die beispiellose Verwilderung ein besonderes philologisches 
Interesse erweckt Aber seit dem 10. Jahrhundert ist es in Aufnahme ge- 
kommen, da das Mittelalter die Tierfabel so überaus liebte; das hielt auch 

Du KutTvn on CioiMWAiiT. LI. 9 



ijo Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 



Arcbcltratof 
(am jjc.) 



Aatimachos 
^^vo und sputer). 



Euenot 
(um 4<)o). 



noch in der Renaissance an, und so hat dieser Homer eine Weile stärker 
gewirkt als die Ilias. 

Auch das Lehrgedicht findet keine Pflege mehr, außer in einer 
Weise, die zwar durchaus mcht parodisch gemeint ist, aber doch für 
unser Gefühl leicht so scheint Archestratos von Gela teilte in demosthe- 
ni.scher Zeit zwei Freunden die Ergebnisse seiner gastronomischen Studien 
mit, die sich so ziemlich über die ganze Welt erstreckten. Dem Sikelioten 
mißfiel es, daß man bei den athenischen Symposien das Essen als Neben- 
sache behandelte. Er liebte ein Diner im engsten Kreise und dazu lauter 
perfekte Delikatessen; wo es das feinste Mehl gab, hatte er ebensogut 
erforscht wie die Heimat der zahllosen Seefische, die damals am meisten 
geschätzt wurden, und welches Stück von jedem das beste war. Das 
trägt er in epischer Form, aber in unverkünsteltem Plaudertone vor, so 
daß die sparsam aufgesetzten homerischen Lichter guten Effekt machen. 
Er hat durchschlagenden Erfolg gehabt; noch nach hundert Jahren war 
sein Gedicht (dem er natürlich keinen Titel gegeben hatte) zum Entsetzen 
der Moralisten in aller Händen, und Ennius mußte es übersetzen, damit 
der Geschmack der römischen Offiziere nicht zu sehr hinter dem ihrer 
griechischen Kameraden zurückstünde. 

Wenn man überhaupt das Epos ernsthaft erneuen wollte, so blieb 
für die griechische Anschauung, der nun einmal mit der Gattung auch 
Vers und Sprache gegeben war, kein anderer Weg, als die ausgeleierte 
Manier zu verlassen und durch bewußte Kunst dem echten Homer nahe 
zu kommen. Darin liegt, daß diese Nachahmung den Homer als Hinter- 
grund ebenso voraussetzt wie die Parodie; der Dichter aber wird mit 
Notwendigkeit Sprachkenner und bald Sprachforscher. Diesen Weg hat 
Antimachos (um 400 und weiter tätig) von Kolophon beschritten, und wie 
er aus einem Hauptsitze der homerischen Poesie stammte, war er kühn 
genug, mit einer Thebais geradezu die Konkurrenz mit einem Epos 
Homers aufzunehmen. Über das Ergebnis haben wir kein eigenes Urteil; 
vermutlich war es wenig erfreulich; aber die Bahn war eröffnet, und 
daher interessierte sich Piaton für diese Ansätze zu einem neuen Stile. 

Mit der Erneuerung des Epos geht die von lambus und Elegie Hand 
in Hand, da beide ja zu derselben Gattung gehören. Die Elegie war 
formell nicht minder verwahrlost als das Epos, wie z. B. die Reste des 
Sophisten Euenos von Paros zeigen. Auch hier setzte Antimachos ein; 
der Stoff war wieder Heldensage, wenn er auch dichtete, um sich über 
den Tod seiner Geliebten Lyde zu trösten, was die für die Elegie erforderte 
subjektive Färbung gab. Ohne Zweifel hat es in lonien während des 
4. Jahrhunderts nicht wenige Dichter dieser Art gegeben; aber auch 
die Namen, die wir erfahren, sind uns kaum mehr als Namen. Das gilt 
von Erinna, die schon in frühestem Alter als Jungfrau starb, und deren 
episches Gedicht, die Spindel, bewundert wegen seiner eleganten Form, ims 
gar nicht vorstellbar ist. Sie stammte von der kleinen Insel Telos, unweit 



C. Hellenistische Periode (330—30 v. Chr.). III. Poesie. 



13« 



Rhodos, {die Gedichte für das kostbare Grrabmal ihrer Gespielin Baukis, 
die wir von ihr haben, sind dorisch), und die südlichen dorischen 
Städte, ganz in die ionische Kultur aufgenommen, spielen seitdem eine 
große Rolle. Aus Rhodos stammte Simias, auch als Lyriker für den sinii«i 
Kultus tätig, der sich rühmen kann, den Buchtitel „Symmikta", „Vermischte '""" ■''*' 
Gedichte", erfunden zu haben (das hieß hier elegische, epische, lyrische); 
aus Kos Philitas, dessen an seine Gattin Bittis gerichtete Elegieen in der pwiiu. 
augusteischen Zeit geschätzt waren. Uns sind sie ganz dunkel, wichtig ("'" J""'' 
aber, daß bei Simias und ihm das philologische Interesse schon neben 
dem literarischen steht: beide sammeln Glossen, d. h. verschollene Wörter, 
vielfach, aber nicht ausschließlich für die Erklärung der alten Dichter. 
In der nächsten Generation ist Zenodotos von Ephesos, der große 
Textkritiker, nur noch nebenher Dichter. Hoffentlich taugten diese 
Elegieen melir als die Leontion des Hermesianax von Kolophon, Horm«tUoai 
aus der wir zufällig ein längeres Stück besitzen. Da birgt sich ''"° ""*• 
nichtiger, mit scheinbarer Gelehrsamkeit spielender Inhalt in un- 
harmonischer Form, und nur die philologische Hilflosigkeit kann es ent- 
schuldigen, daß die Gräkomanie der Schlegel sich für so etwas be- 
geisterte. Soviel sich erkennen läßt, sind auch die zahlreichen Gedichte 
des Euphorion von demselben Schlage gewesen, deren historische Be- Euphorioo 
deutung nicht gering ist, da sie zu der Ausbildung der gelehrten römischen *''* '''* 
Elegie stark mitgeholfen haben und bei Nonnos und seiner Schule mehr 
aus ihnen stammen wird, als wir nachweisen können. Euphorion soll am 
Ende seines Lebens in Antiocheia tätig gewesen sein, würde uns also 
vermuthch über dies Zentrum der syrischen Kultur etwas verraten können, 
von der wir so schmerzlich wenig wissen. Seine Heimat war Chalkis, und 
an einen Landsmann hat er sich nachweisüch sehr stark angelehnt, jenen 
Lykophron, dessen Alexandra gemeiniglich nur gescholten wird, dafür Lykoptron 
aber in den Poetiken eine besondere Gattung repräsentiert, das Mono- <J°° "»* »«*"'>• 
drama. Die Sache bekommt ein anderes Gesicht, wenn man sich die j 

Mühe nimmt, das Gedicht zu lesen, keine kleine Mühe, dankt es doch ^i 

seine Erhaltung eben seiner Unverstand lichkeit. Weil man so viel rare ^H 

Vokabeln lernen muß und eine reiche Übersicht der troischen Sagen er- ^H 

hält, ist es in der Kaiserzeit zum Schulunterricht herangezogen worden, ^| 

freilich nicht als Drama oder Monodrama, das ist nur Erfindung des ^H 

nichtsnutzigsten Byzantiners. Lykophron war freilich Tragiker, und natür- ^H 

lieh spürt man das in dem iambischen Gedichte, aber zu einem Drama ^H 

wird es niclit dadurch, daß es die Rede eines Boten wiedergibt: es ist ^| 

ein lambus, wie die Rede des Zimmermannes Charon bei Archilochos. ^H 

Daher treffen wir in der Sprache lonismen und Vulgarismen; doch drücken ^H 

ihm weder diese noch die tragischen Reminiszenzen den Stempel auf. ^H 

Das tut der feierlich dunkle Orakelton, auf den der Dichter alles ge- ^H 

stimmt hat. Was ihn reizt, ist das Verhüllen des Gedankens durch alle ^H 

Sinnesfiguren, die es gibt, der Stil des Griphos, für den wir kein Wort ^H 



132 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

haben; denn es handelt sich nicht um ein Rätsel, sondern die einfachen 
Begriffe und Gedanken sind nur unter künstlicher Hülle verborgen. Es 
ist im Grunde nichts anderes als die ins Ungeheure gesteigerte Metapher, 
und Ansätze liefern Epos, Drama, gorgianische Rhetorik; die späte Lyrik 
mehr als Ansätze. Mit dem sHle colto, dem style pricieux, dem Euphuis- 
mus mag man es parallelisiereh: es ist die barocke Übertreibung des 
hohen klassischen Stiles. So unausstehlich die Monotonie wird: wer sich 
überhaupt darauf einläßt, wird bald ihre narkotisierende Wirkung spüren; 
es ist doch Stil darin. Dabei ist das, was Lykophron sagen wollte, 
einfach und groß: „der weltgeschichtliche Hader zwischen Asien und 
Europa ist durch Alexander versöhnt" Es ist der Friedensgedanke des 
Weltreiches, dem er noch Ausdruck gibt, als die Realisierung schon 
unmöglich geworden ist Schade, daß eine ganz überzeugende Deutung 
seines letzten Rätsels noch nicht gefunden ist, denn da muß eine besondere 
Pointe stecken. Daß die Römer als Herren Italiens und zugleich als Nach- 
kommen der Troer auftreten, dankt Lykophron dem Timaios; das Interesse 
dieser Partie (die von allen mißverstanden werden mußte, die nicht das 
ganze Gedicht lasen, seinen Lesern keine Schwierigkeit bereitet) ist also nur 
akzessorisch, als ältestes und reichstes Exzerpt eines wichtigen verlorenen 
Buches. 

Ein anderes Gedicht, das man jetzt nur aus geschichtlichem Interesse 
lesen kann, und das seine ganze Bedeutung, auch die geschichtliche, allein 
Arato» der poetischen Form dankt, ist das des Aratos. Gleich beim Erscheinen hat 
es durchschlagenden Erfolg gehabt und bald zahllose Nachahmer gefunden, 
darunter keinen geringeren als Eratosthenes, so daß man eine besondere 
Muse für die astronomische Dichtung erfand; von drei lateinischen Über- 
setzungen haben wir Reste; was das okzidentalische Mittelalter vom 
gestirnten Himmel gewußt hat, dankt es mittelbar oder unmittelbar dem 
Arat, und selbst der Orient hat von dem vornehmsten hellenistischen 
Astronomen, Hipparchos, nur ein Jugendwerk erhalten, weil es den Arat 
erklärte. Und doch hat Stimmungswert fast nur die Vorrede, in der der 
fromme Dichter sich zu dem Glauben an einen allweisen, gütigen Welt- 
schöpfer und Weltregenten bekennt, aus stoischem Sinne, wie der König, 
der ihm den Auftrag gab, den Himmel zu beschreiben, und im Anschlüsse 
an Kleanthes, der als junger Genosse des stoischen Kreises das Tisch- 
gebet, den Hjrmnus an Zeus, verfaßt hat, den wir besitzen und Arat nach- 
ahmt: in Form und Inhalt gleich erhaben, ein viel zu wenig gewürdigtes 
Kleinod wahrhaft religiöser Dichtung. Das übrige ist bei Arat nichts 
als epische Paraphrase eines streng wissenschaftlichen Buches von Eudoxos, 
dem Freunde Piatons, und einer theophrastischen Abhandlung. Der Dichter 
verfügt über keine eigenen astronomischen Kenntnisse, geschweige Be- 
obachtungen. Alles macht also der Stil, und dieser ist ganz entfernt von 
lykophronischen Grriphen, im Gegenteil, sein Reiz liegt darin, daß alles 
edel und episch, aber schlicht und geradezu ausgesprochen wird. Ganz 



(um 276). 



C. Hellenistische Periode (320 —30 v. Chr.;. III. Poesie. 



133 



sparsam kommt ein weaig homerischer oder besser hesiodischer Schmuck, 
Fabehi und Bilder; Glossen sind fast ganz vermieden. Wir können ja 
fragen, was soll das, denn wir haben und lesen keine solchen Gedichte. 
Der Erfolg gibt die Antwort Arat hat zahllose Menschen wirklich be- 
lehrt, seine Darstellung hat ihnen den StoflF mundgerecht gemacht Er 
ist der Nachfolger der Sterngedichte des 6. Jalirhunderts : auch bei ihm 
ist der epische Stil die allgemein verständliche Ausdrucksform. Seine 
Absicht ist, wichtiges Wissen seinem Volke mitzuteilen, und die Ab- 
sicht hat er erreicht. Auf dem Gegensatze von Prosa und Poesie soll 
man eben wie auf allen Abstraktionen nicht reiten, wenn man die 
konkreten geschichtlichen Erscheinungen begreifen will. Eine älmliche 
Erscheinung, die Verschronik des Apollodoros, ist uns oben (S. 113) be- 
gegnet Wie Kalliniachos dem Arat sofort gehuldigt hat, so werden wir 
ihn zwar meinethalben keinen Dichter nennen, aber doch einen Künstler 
und den Vertreter einer ganz gesunden, volkstümlichen Kunst Wenn 
aber ein ähnliches Ziel in der Weise angestrebt wird, daß die Ausdrucks- 
furm nicht nur unerquicklich für uns (viel mehr noch als Lykophron), 
sondern unverständlich für das griechische Volk, also nur mit neuer Er- 
klärung genießbar ist, so hört Lob, ja so hört Entschuldigung auf. Das 
gilt von der Dichterei des Xikandros von Kolophon. Wir haben von ihm Nik»D<iro» 
zwei Gedichte über Mittel gegen Vergiftung verschiedener Art, mühselig "" ''"' 
zu lesen, leidliche, aber charakterlose Verse, dunkele, nicht einmal mehr 
korrekte Sprache; der Inhalt ist nichts als Paraphrase eines sehr achtungs- 
werten Spezialforschers über Gifte, des Apollodoros. Und wenn das Gedicht 
verständlich wäre, der Inhalt ginge doch nur den medizinischen Spezialisten 
an, und der Dichter selber verstand nichts von dem, was er in Verse 
brachte. Nikander hat auch in demselben unerträglichen Stile über den Land- 
bau geschrieben, Vergil aber, der ihn benutzt hat, war (ganz abgesehen 
von seinen eigenen poetischen Vorzügen) geschmackvoll genug, statt des 
nikandrischen den aratischen Stil zu wählen. Von einem mythologischen 
Epos Nikanders, das dem Ovid für die Metamorphosen stofflich recht 
viel geliefert hat, können wir formell nichts wissen: kein Zweifel, daß 
auch hier das Verdienst der reizvollen Erzählung allein dem Römer ge- 
hört, der an den guten hellenistischen Vorbildern des 3. Jahrhunderts ge- 
bildet war. Nikander zeigt uns gerade, wie sehr auch die Dichtung des 
2. Jahrhunderts schon heruntergekommen war; die Künstelei mag sich io 
Kolophon freilich in dauernder Tradition erhalten haben. Übrigens scheint 
Nikander einen älteren Namensvetter zu haben, der im ätolischen Delphi 
tätig gewesen ist; die Sache ist noch unerledigt 

Von dem heroischen Epos, das die Zeitgeschichte oder die Archäo- 
logie einer einzelnen Stadt oder Landschaft behandelte, hat es immer 
ephemere Erscheinungen genug gegeben; Alexander nahm selber Dichter 
seiner künftigen Taten mit Wir lesen auf den Steinen, wie Dichter in 
eine Stadt kommen und dafür Ehren und Lohn einheimsen, daß sie deren 



134- Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

alte Sagen imd alten Ruhm verherrlicht haben. Die Kxinstrichter iti 
Alexandreia schätzen das wenig, aber gerade daher nimmt es zu, als sie 
nicht mehr den Ton angeben. Die römische Literaturgeschichte muß sich 
damit abfinden, daß die Annalen des Ennius ebenso wie seine anderen 
Poeme von der griechischen Literatur abhängen und keineswegs von 
Homer, wenn er auch auf dessen Seele Anspruch erhob, weil er Hexa- 
meter machte. Genau ebenso dichteten ein gewisser Demosthenes aus 
Bithynien und ein gewisser Theodotos aus Sichern die Archäologie 
ihrer Heimatsorte, und wenn Manius Glabrio sich für den Preis seiner 
Heldentaten den Ennius hielt, so hatte Antiochos Megas zu dem ent- 
sprechenden Zwecke einen Simonides. Lediglich darin, daß er lateinisch 
schrieb, liegt das nationale Verdienst des Ennius: die römische Ur- 
geschichte ist nicht in höherem Grade national als die von Bithynien 
und Samarien. Aus dieser Menge der historisierenden Epiker muß nur 
Rhiano. einer genannt werden, der Kreter Rhianos (der Name stammt von 
(n™ «jo) (Jen vorgriechischen Kretern), der sich bemüht hat, einer ganzen Anzahl 
bisher von der Poesie stiefmütterlich behandelter (weil unzivilisierter) 
Volksstämme in Hellas eine heroische Geschichte zu schafiFen, in jener 
Opposition gegen die großen Monarchieen, die politisch in den ätolischen, 
achäischen, kretischen Bünden sich ausspricht. Eines dieser Gedichte, die 
Messeniaka, hat sich lange erhalten und scheint auch wirklich amüsant ge- 
wesen zu sein. Es erzählte die heroisierten Taten eines Räuberhauptmannes, 
des Aristomenes, der um 500 auf seiner Feste Hira den Spartanern lange 
widerstanden hat. Es ist wichtig, daß wir hier den Roman in Versen 
neben dem Roman in Prosa anerkennen können und müssen. Das 
Gedicht würde uns vermutlich sehr viel anziehender sein, als das einzige 
ganz homerisch gehaltene Epos, das Erfolg gehabt hat, dafür aber auch 
einen ganz überwältigenden: so viel vermochte immer noch der populäre 
Aroiiooio» Stoff. Apollonios von Rhodos ist für die Argonautensage wirklich der 
(j6o u. «puter). nachgeborenc Homer geworden; es schadete ihm wohl persönlich, daß die 
alexandrinische Kritik seinen Versuch ablehnte; er mußte aus seiner 
Heimat Ägypten nach Rhodos übersiedeln, aber er erlebte noch, daß das 
Publikum ihm den Sieg zusprach und Gelehrte sich um seine Erklärung 
bemühten. Dann ist dais Gedicht immer gelesen worden, mehrfach in das 
Lateinische übersetzt, und hat auf Vergil stark gewirkt. Die Vergleichung 
mit Vergil zeig^ am besten, was an ihm ist, denn ihr Verhältnis zu 
Homer, inhaltlich und formell, ist im Grunde dasselbe. Sie fällt ganz zu 
Vergils Gunsten aus; aber das venverfende Urteil des Kallimachos würde 
auch die Aneis treffen, und prinzipiell hat er auch der gegenüber recht. 
Was dem Apollonios vor allem fehlt, ist die poetische Potenz: er gehört 
zu denen, die meinen, die Musen müßten kommen, wenn man sich nur 
mühte, sie zu rufen. Für seine Handlung können wir uns gar nicht 
interessieren, für seine Menschen kaum, und so oft man ihn durchliest, »^s 
bleibt kein Vers, kein eigentümlicher Ausdruck im Gedächtnis, und tut es 



C. Hellenisiische Periode (320—30 v. Chr.'. III. Poesie. 



135 



ein Gleichnis (die er geflissentlich ausputzt), so geschieht es mehr, weil es 
gesucht, als weil es gefunden ist. In dem Stoffe, den er übernimmt, sind 
ja reizvoUe Geschichten: darum hat ihm eben Theokrit zu Gemüte geführt, 
man solle diese einzeln ausarbeiten, statt ein langes Gedicht ohne Einheit, 
mit einer schleppenden Exposition und ohne Schluß zu machen. Die 
ganze Verkehrtheit dieser zwitterhaften Poesie kann man daraus ab- 
nehmen, daß in seiner Fabeldichtung die Donau ruhig mit einem Arme 
in das Adriatische Meer geleitet wird, aber daneben die erste Hindeutung 
auf den Rhein und den Bodensee vorkommt, weil er auch die modernste 
Geographie benutzt hat Der philologischen Arbeit, die auf die Homer- 
imitation verwandt ist, und der hi.storischen Gelehrsamkeit werden auch 
seine Gegner Achtung gezollt haben, denn das trieben sie auch in ihren 
Versen; aber das i.st es gerade, was uns auch an ihnen kalt läßt. 

Das große Epos hat Kallimachos vor allem mit dem groQen Buche Eidyuu. 
gemeint, wenn er dies ein großes Übel nannte. Er hat im Gegensatze 
dazu die Parole ausgegeben, die dann durch das ganze Altertum klingt 
(wenn auch oft angefochten), „klein aber fein". Was er abwies, war sowohl 
der verkünstelte Stil des Antimachos, wie der zerflossene der Homeriden. 
Und wenn Homer selbst als unantastbare Größe bestehen blieb, so ward 
der Nachahmung um so entschiedener der Krieg erklärt Für Griechen 
war da.s eine gewaltige Kühnheit, und doch ist in den eigenen Versen 
des Dichters von Homerimitation genug zu finden. Denn die ionischen 
Gattungen, Epos, Elegie, lambus, blieben ja bestehen: nur der Geist der 
Behandlung wollte bewußt ein anderer .sein. Kallimachos war Sprach- 
forscher, Gelehrter, er holte verschollene Wörter aus allen Ecken der 
hellenischen Volkssprache und aus der alten Poesie. Der geborene Dorer 
aus Kyrene, dem das Ionische angelernte Literatursprache war, und der 
unterweilen auch Aolisches versuchte, warf dem Epos nicht nur mit feiner 
Berechnung der Klangwirkung hie und da ein mundartliches Gewand 
über: er sucht den Anklang an homerische Wendungen, an bestimmte 
homerische Stellen, um damit Stimmung zu erwecken, meist zum Kon- 
traste. Der Gegensatz von Romantisch zu Klassisch sagt viel; aber man 
muß mindestens auch die Gelehrsamkeit zur Romantik rechnen, und dann 
bleibt immer noch, daß Kallimachos und seine Geistesverwandten keines- 
wegs aus der trivialen Gegenwart in mondumglänzte Zaubernacht und ein 
frommes Mittelalter zurückstreben, sondern sich modern fühlen, auf der 
Höhe einer großen Gegenwart mit Königsschlössern und Großstadtlärm, 
pompöser Repräsentation und allen raffinierten Genüssen. 

Die moderne klassizistische Philologie wußte lange mit diesen Pro- 
dukten nichts Rechtes anzufangen, und da der Sinn fehlte, stellten sich die 
Kunstworte ein, Epyllien, Idyllien, oder man kam auch mit dem klassischen 
Kanon, und wenn ein Hymnus nicht homerisch klang, wohl gar in 
Distichen war, so bekam er eine schlechte Note. Was sind aber auch 
diese Gedichte, für die mit den alten Namen so wenig gesagft ist wie mit 



136 Ulrich von Wilamowitz-Moellendortf: Die griechische Literatur des Altertums. 

neuen? Eidos oder Idyll, d. i. kleines Eides, „Gattung für sich", ist schließ- 
lich der beste, weil er nur sagt, man solle keinen suchen: wirklich 
passend ist nur der Spezialtitel, wie ihn die Tragödie aufgebracht hat 
Man weiß sofort, was die Gedichte sind, sobald man frag^, wie wurden sie 
vorgetragen. Es ist alles Rezitation. Man muß sich den Dichter vor dem 
Publikum stehend und sprechend denken; er könnte auch vorlesen. Das 
I*ublikum kann eine große Festversammlung sein; wir wissen von solchen 
Vorträgen aus den Inschriften. Da wird z. B. der Gott des Festes seine 
Verherrlichung finden, der auch der regierende oder verstorbene König 
sein kann. Aber wenn er will, kann der Dichter auch an Werkeltagen 
seine Kunst exhibieren, „aufzeigen", wie die Griechen sagen, ganz wie es 
die wandernden Sophisten taten. Und er kann es in dem kleinen Kreise 
der Genossen, in der Philosophengfilde Athens, der philologischen 
Alexandreias, im Salon einer Dame der Welt oder Halbwelt tun. Solche 
Vorträge werden am liebsten kurz sein; dadurch heben sie sich von den 
rhapsodischen des Epos ab, aber natürlich ist das nur relativ, und in dem 
Wesen von Gredichten, deren jedes eine Gattung für sich ist, liegt es, daß 
ihnen auch keine Länge vorgeschrieben ist Ob vollends der Dichter 
später einmal eine Anzahl in einem Buche zusammenfassen wird, das ist 
zunächst Nebensache; aber im Grrunde ist doch der moderne Zustand 
erreicht, die Lesepoesie. 

Aus einer ganz unübersehbaren Fülle besitzen wir nur sechs Hymnen 
des Kallimachos und die Sammlung der sogenannten Bukoliker, die eine 
Theokritos Anzahl geringerer Nachahmer mit Theokrit vereinigt, bis an den Anfang 
(t&U( .80—260)- des I. Jahrhunderts herab. Theokrit aus Syrakus hat ein lebhaftes Heimats- 
gefühl und verleugnet seine Rasse nicht, aber angesiedelt war er, nachdem 
er Alexandreia in den Jahren 274 — 70 besucht hatte, in Kos, das zu dessen 
Dependenz gehörte, natürlich nicht, ohne mit Asien und Rhodos Verkehr 
zu pflegen. Versuche, äolische Lieder zu dichten, vermutlich im Anschluß 
an Asklepiades, hat er zum Glück aufgegeben und seine ästhetische Über- 
zeugung wohl nicht ohne Einfluß des Kallimachos gewonnen. Oft tragen 
seine Gedichte persönliche Adressen wie die Elegie, und in seinem 
schönsten Gedichte gfibt er ein verklärtes Abbild der kölschen engen 
Kreise, in denen er sich wohl fühlte. Weltruhm strebte er nicht an und 
hat er erst gefunden, als Vergil ihn nachahmte, aber nicht überwand, wie 
den Nikander und ApoUonios. Und dann hat gerade dieser Weltruhm 
die Züge des Theokrit völlig verzerrt Ihm ist's nicht eingefallen, die 
Bukolik, die Schäferpoesie, die idyllische Dichtung in die Welt zu setzen. 
Mit dem Roman des Longxis hat er so wenig gemein, wie mit dem Pastor 
fido oder Gesner oder A. Ch6nier. Seine Hirten haben, selbst wenn sie 
Maske sind, einen höchst natürlichen Bocksgeruch Er malt wahrlich eher 
wie Teniers als wie Watteau. Wenn er eine Gattung durchaus erfunden 
haben soll, so müßte es die sein, die Kallimachos auch kultiviert, die 
Umsetzung der verschiedensten althellenischen lyrischen Gattungen in die 



C. Hellenistische Periode fjao— 30 v. Chr.». HI. Poesie. 



«37 



episch-rezitative Art, Wer festhält, daß Theokrit auch in den Mimen 
Epiker ist, wie das die antike Stillehre tut, der hat den Schlüssel zu 
seinem Verständnis. Er greift nach einer pindarischen Erzählung vom 
kleinen Herakles, er nimmt den verliebten Kyklopen des Philoxenos auf, 
um einem Jugendgenossen die allzu ernsthafte Verliebtheit zu vertreiben, 
er erzählt von Helenes Hochzeit, um die Hymenäen der Sappho und die 
Jungfrauenlieder des Alkmaii neu erklingen zu lassen. Man kann an Uhlands 
Erneuerung der provenzalischen und deutschen Lieder denken. So griflf 
der Syrakusaner auch zu den Mimen seines Landsmannes Sophron. Die 
mußten sich stark umfri.sieren, um dieser feinen Gesellschaft zu genügen; 
ganz selten nur blieb es bei der Zeichnung des Lebens; die Zauberinnen 
erhalten sentimentale Liebe.sklage zum Komplement; der Jüngling, den 
verschmähte Liebschaft in den Kriegsdienst treibt, muß dem Kriegsherrn 
von Kos huldigen; wir hören nicht nur die Bürgerfrauen plaudern, sondern 
auch das modische Lied, das die Königin zum Adonisfeste vortragen läßt. 
Der volkstümliche Wettge.sang der Hirten und das schwermütige Volks- 
lied vom Tode des reinen Daphnis (einer Figur wie Hippolyto.s) bringt 
auch in die.se Mimen die Lyrik. Schließlich treibt er diese Vermischung 
so weit, daß er selbst als Ziegenhirt auftritt und seine Genossen in ähn- 
licher Maske. Aber wie dies Gedicht nur den Rahmen für zwei Gesänge 
etwas voller als gewöhnlich ausgestaltet, so schafft die Maskerade nicht 
eine neue Gattung. Für ihn selb.st ist das „Lied der Kuhhirten" eben der 
Kuhreigen, eine Melodie, der man verschiedene Texte unterlegen kann, 
und die er wie viele andere Lieder episch nachbildet Weil diese Nach- 
bildung besonders gefiel, ließ sich theokritisch dichten mit bukolisch 
dichten umschreiben; aber Hirtengedichte und Idyllen in modernem Sinne 
sind die Gedichte .seiner Nachfolger auch längst nicht alle, und die besten 
am wenigsten. Für Vergil und durch ihn für die Nachwelt hat der 
Grammatiker Artemidor, indem er um 70 v. Chr. die Sammlung „buko- 
lischer Musen" veranstaltet hat, eine Gattung erfunden: für die Griechen 
überhaupt nicht Theokrit hat auch für Götterfeste Epen verfaßt, ein 
.schulmäßig rhetorisches für die Ptolemäen; er hat im Gegensatz zu 
ApoUonios einzelne Szenen der Argonautensage ausgeführt Die Kunst ist 
überall die gleiche, auch wo sie naiv scheint, ganz bewußt, wesentlich 
Ge.staltung alter Motive, darin unserer Romantik nahe kommend, zumal 
durch die Anlehnung an das Volkslied; aber alles, was er nimmt, rückt 
*r in seine Sphäre, die Welt, in der er zu Hause ist, nicht archaisierend, 
sondern modernisierend; dabei muß der Hirtensklave empor-, der Heros 
herabgerückt werden. Zu Hause aber i.st er in der kleinbürgerlichen Welt 
der Griechenstädte, die unter dem Schutze des Königtumes ihre Wein- 
gärten bauen, ihre Gymnastik treiben, ins Theater gehen Musik zu hören, 
und einen Fonds alter geistiger Kultur besitzen, so daß sie mit der 
klassischen auch die moderne Poesie würdigen, zu der die Anregung 
freilich von außen kommen muß, wie ihre Geschicke überhaupt in den 



ijS Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 



K&UimacboB 
nach 345). 



Zentren des großen Lebens be.stimmt werden. Theokrit konnte in der 
Tat nicht verstanden werden, ehe nicht die Lokalforschung uns das Bild 
seiner Umgebung wieder geschenkt hatte. 

Kallimachos saß im Zentrum; seine Sphäre ist die Großstadt, der Hof, 
die Akademie der Wissenschaften, die Bibliothek. Da gibt es nur künst- 
liche Parks, Dünen statt der Berge, Wasserleitungen statt der Quellen; 
die Götter der Hellenen sind da so fremd wie die hellenischen Menschen; 
die Vergangenheit der eigenen Nation redet zu ihm nur aus den Büchern, 
und Hellas kennt er von einer Studienreise wie Goethe Italien. Seine 
Heimat Kyrene war selb.st afrikanisch -exotisch: sie prädestinierte ihn 
zum Dichter Alexandreia.s. Mit bitteren Entbehrungen hat er sich empor- 
gearbeitet; die Gelehrsamkeit nährte ihn. Er katalogisierte die Bibliothek 
mit aristotelisch -enzyklopädischem Interesse, aber rein rezeptiv, soweit er 
nicht für seine Poesie etwas verwandte, und da ward ihm die Gelehrsam- 
keit ofl genug schädlich. Er hätte einen Lykophron übertrumpfen können 
(hat sich auch einmal mit so etwas versucht), aber die platonisch- aristote- 
lische Kunstlehrc hatte sein Urteil gereift: so ward er der große Dichter 
seiner großen Zeit Wir können seine Lieder, lamben, Elegieen eigentlich 
nicht schätzen; da er die Lyde des Antimachos scharf tadelte, muß er es 
anders als dieser gemacht haben, aber inhaltlich erzählte auch er alte 
Geschichten, wenn auch nicht bloß heroische, und die verschollenen 
Wörter ärgern uns ebenso wie die entlegenen Mythen. Von dem Epos 
Hekale wissen wir genug, um die stark „idyllische" Haltung und daneben 
die kühnste Phanta.stik zu erkennen; agierten doch zum Teil Vögel. Die 
Ironisierung der alten Sagen, mehr noch im Stile Voltaires als Ariosts, 
ist überhaupt seine Force. Wenn er in solcher Stimmung vor den ge- 
lehrten Kollegen demonstriert, wo Zeus in Wahrheit geboren ist, so sind 
nur diejenigen die Pedanten, die den Schalk nicht merken: sollte er 
etwa Gottvater als Baby an den Zitzen einer kretischen Geiß ernsthaft 
nehmen? Natürlich wird er vor dem großen Publikum die Epiphanie seines 
heimischen Gottes ganz mit der pompösen Feierlichkeit wiedergeben, die 
seine Zeit für solche Feste verlanget. Wie er es dabei erreicht, in seiner 
Rezitation die ganze Zeremonie vorzuführen, darunter den Gesang eines 
Knabenchores, wie er die Stimmung einer Gemeinde trifft, die, von Fasten 
und Wachen ermüdet, auf der Straße einer Prozession entgegensieht und 
sich derweil erbauliche und grauliche Geschichten erzählt (die er durch 
realistische Ausmalung wieder ironisiert), dieses Rivalisieren der er- 
zählenden Poesie mit einer dramatisch fortschreitenden Handlung erzielt 
Effekte, die dann die antike Poe.sie oft und gern nachahmt, nie erreicht; 
in anderen Sprachen gibt es kaum etwas Vergleichbares. Gewiß ist das 
eine sehr raffinierte Kunst, verständlich nur aus ihrer Umgebung und im 
Zusammenhang zugleich und Gegensatze mit der älteren klassischen 
Poesie. Kaviar für das Volk ist es; wer keinen Gaumen dafür hat, 
mag sich an die Klassiker halten; aber was ihm nicht schmeckt, soll 



C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). III. Poesie. 



139 



er nicht ungenießbar schelten: der Dichter hat es ja nicht für ihn zu- 
bereitet. 

Und doch, auch bei Kallimachos kommt das Allerbeste erst in der Epignn.«. 
un.scheinbarsten Dichtung heraus, im Epigramm. Er ist nicht der Erfinder, 
auch nicht der Vollender dieser Grattung, aber ihr vollkommenster Meister. 
In diesen Gedichtchen, die nur ausnahmsweise mehr als sechs Zeilen 
haben, beschwert ihn die Gelehrsamkeit nicht, hemmt ihn keine Konven- 
tion, er darf vollkommen modern, darf ganz er selber sein. So ist denn 
dies der rechte Ort, von der Gattung zu handeln, die wir allein durch alle 
Jahrhunderte verfolgen können, zumal unser an sich schon reicher Bestand 
alljährlich durch die Inschriften vermehrt wird. Die Anthologie, die uns 
handschriftlich überliefert ist, stammt in ihrem Hauptstück aus dem 
10. Jahrhundert und enthält noch Zeitgenössisches: die Tradition ist in 
1500 Jahren nie abgerissen. Epigramm ist Aufschrift; in sehr großer Aus- 
dehnung ist es das immer geblieben, als Weih- und namentlich als Grab- 
epigramm; auch Kallimachos hat viel für den praktischen Zweck gedichtet, 
und das bleibt so durch alle Jahrhunderte. Das Christentum hat im Orient 
allerdings die private Grabschrift bald zurückgedrängt, aber Weih- 
epigramme an Kirchen, Klöstern, Brücken und Schlössern gfibt es z. B. in 
Syrien noch zahlreich, bis die Araber kommen. Wir haben gesehen, daß 
der Vers zuerst nur darum gewählt ward, weil er die einzige Ausdrucks- 
form war, die Stil hatte, und erst allmählich mit Redeschmuck verziert 
ward, noch später das latente Gefühl aussprach, zum Ethos das Pathos 
fügen lernte. Es gab sich dann ganz natürlich, daß man nicht bloß auf 
einen Grrabstein oder unter ein Weihgeschenk die Veranlassung schrieb, 
sondern auf einen Todesfall oder einen Sieg ein Gedicht machte, aber in 
jener monumentalen Form, die immer noch die Länge und den Stil be- 
dingte. Wir haben bei Theognis die Spruchdichtung kennen gelernt, die 
kleinen Elegieen, die der Zecher zur Flöte rezitierte oder improvisierte, 
und die alles enthalten konnten, was Situation und Stimmung eingab oder 
ertrug. Auch diese Sitte blieb; mehrere Epigramme des Kallimachos 
geben sich als vorgetragen im Zecherkreise, und das braucht nicht Fiktion 
zu sein. Aber auch das entwickelt sich weiter; der Dichter kann in dieser 
Form auf alles und jedes sein Gedichtchen machen, zumal seit er ein 
schreibender Dichter ist, der gelesen werden will. So wird das Epig^ramm 
geradezu das, was die moderne Theorie (deren Verkehrtheit uns hier nicht 
zu kümmern braucht) das lyrische Gedicht nennt. Es gestaltet sich dem 
Dichter ein inneres oder äußeres Erlebnis zum Gedichte, der Eindruck, 
den eine Gegend auf ihn macht, ein schwüler Mittag, eine Sturmnacht, 
aber auch ein Menschenschicksal, ein Buch und vor allem jede Regung 
seines Herzens; hier kann sich Galanterie und Bosheit gleichermaßen 
äußern, hier erst gibt es eigentlich die ganz individuelle Liebespoesie. 
Die monumentale Inschrift, die für die Ewigkeit gesetzt ist, und 
das Impromptu eines flüchtigen Momentes haben sich in derselben 



140 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Form zusammengefunden: was da herauskam, mußte wohl für alles ge- 
nügen. 

Vielleicht bietet die japanische Poesie die vollkommenste Analogie, 
die sich jeihrhundertelang in Credichtchen von fünf kurzen Zeilen bewegt 
haben soll Wir mögen am ehesten das Sonett vergleichen, wie es in der 
italienischen Literatur seit Petrarcas Tagen bis auf die Gegenwart an- 
gewandt wird; auch die Sonette der Pamassiens würde der Ghrieche ohne 
weiteres als Epigramme begrüßen und be wundem, wenn auch nicht als 
Epigrramme des besten Stiles, der den künstlichen Wortschmuck ver- 
schmäht. Die Sonette Shakespeares würde er schwerlich bewundem, aber 
Epigramme wären sie ihm auch; sind doch zwei davon Übersetzungen 
eines ganz unbedeutenden griechischen Stückes der Anthologie. Im ganzen 
ist doch das Sonett immer noch zu künstlich, zu kompliziert, aus der 
Lyrik abgeleitet und für Aufschrift und Inschrift zu lang. Michel 
Angelo hätte sich in dem schlichten Epigramm vollkommener aussprechen 
können. Bewundernswert ist auch hier die Kongenialität Goethes. Erst 
tändelt er in bloßer Nachahmung, ob er gleich manche seiner ersten Epi- 
gramme auf Stein schreibt Seine Elegieen bleiben auch zuerst bei der 
römischen Form. Aber Euphrosyne und Alexis sind wert, der hellenistischen 
künstlichen Elegie oder Epik (was ja dasselbe ist) verglichen zu werden: das 
sind Eidyllia. Und sein venetianisches Epigrammenbuch kann uns am ehesten 
den Reichtum eines hellenistischen solchen Buches veranschaulichen. Da- 
bei hat er die Vorbilder kaum von fem gekannt Wie anders Lessing, 
der an die Herausgabe der Anthologie dachte, aber in Theorie und Praxis 
bei dem martialischen Genre stehen geblieben ist Gewiß, es lieg^ auch 
eine Beschränktheit darin, daß sich die Grriechen jahrhundertelang eigent- 
lich auf diese eine knappe Form beschränken, ihnen also das Lied fehlt 
Aber ist das Lied zum Lesen denn nicht erst recht eine unnatürliche 
konventionelle Form? Paßt das Versmaß von „Über allen Wipfeln" für 
die Inschrift an der Wand? Jene Beschränkung ist doch die der Meister- 
schaft Man verzeiht es den Römern gern, wenn ihre Versuche, solche 
Epigramme nachzubilden, lange gänzlich mißlingen; man bewundert Catull, 
der sich über die Härte seiner Disticha nicht getäuscht haben kann und 
daher ein Maß aussucht, das zwar Phalaikos durch Normalisierung eines 
alten lyrischen Verses zu einem epigrammatischen umgeformt hatte (auch 
Theokrit hat es einmal angewandt), das aber der feine Instinkt der 
Griechen als ungeeignet für diese Form ablehnte. Dem Catullus wird 
der Hendekasyllabus ein ganz willig gehorchendes Instrument; er setzt 
nicht eine Kunstübung und Bildung von Jahrhunderten, eine von tausend 
Konventionen und Rücksichten gebundene Gesellschaft voraus wie die 
hellenistische und die moderne: daher sind seine Gedichtchen ungleich ver- 
ständlicher als die griechischen Epigramme. Dann kommt die Liebes- 
dichtung der Properz und Ovid. Was ist sie? Die meisten versicheöi, 
Nachbildung der elegischen Liebesgedichte der Alexandriner. Und wo 



C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.". III. Poesie. 



141 



sind die? Man muß sie sich erfinden, weil man die Vorbilder übersieht, 
die man besitzt. Diese ganze Elegie ist erwachsen aus dem Epigramm, 
dessen Kürze imnachahmlich war, zumal als die Rhetorik eindrang, und 
die auch unwesentlich schien, da ja ihre beiden Bedingungen, die Auf- 
schrift und der Trinkspruch, nicht mehr galten. Zumal wenn man sich 
ein Buch Epigramme vorstellen kann, wie es die Samier und die Alexan- 
driner boten, wird die Nachahmung z. B. im ersten Buche des Properz 
unmittelbar einleuchten. Bewundere denn jene Verbreiterungen, wer mag. 
Wer von Kallimachos kommt, wird leicht den Geschmack an dem ge- 
wässerten Weine verlieren; und oft ist er statt des Wassers mit übelen 
Würzen versetzt 

Die elegische Form, in der allbekannten epischen Sprache wurzelnd, 
im Epigramme von alters her dem allgemein literarischen und selbst dem 
epichorischen Dialekte zugänglich, war dem Griechen so leicht, daß hier 
wenigstens die Volkstümlichkeit dauernd erhalten blieb; forderte doch das 
Bedürfnis Epigramme auf jedem Dorfkirchhofe. Natürlich bewegt sich 
diese Massenproduktion in der Nachahmung der Muster, aber die Dichter 
von Profession werden doch durch die Arbeit für den praktischen Gebrauch 
immer wieder zur Natur und Einfachheit zurückgeführt, und die Verbindung 
der poetischen Aufschrift mit dem künstlerischen Schmucke des Grabes 
wird auch auf den Stil des Gedichtes von Einfluß. Nicht das Buch, sondern 
das Steinmonument hat dazu geführt, auf demselben Grabe mehrere Ge- 
dichte anzubringen, in dekorativem Parallelismus oder um eine Fläche zu 
füllen: das ist schon bei Erinna nachweisbar; wir besitzen aber auch 
solche Monumente. Damit war die Handhabe zum Variieren desselben 
Motives gegeben, das später eine so weite Ausdehnung erhielt. In der 
ersten hellenistischen Zeit, der höchsten Blütezeit der Kunst, hat dieses 
dekorative Moment auch auf die Wahl der Versmaße eingewirkt; die 
.sogenannten Technopägnien sind so entstanden (S. 90). Damals griffen 
die Dichter (namentlich Theokrit) überhaupt noch zu allen rezitativen 
Maßen; aber bald hat das elegische Distichon die Alleinherrschaft er- 
halten (daher ist Elegeion zu elogtum, als Grrab- und Ehreninschrift, 
dann zu (*logi' geworden; das Lob ist auch im Wesen römischer Zusatz). 
Diese Beschränkung kann man allerdings nur als Symptom des Verfalles 
betrachten, und im Distichon selbst konnte die Vollkommenheit, die Kalli- 
machos erreicht hatte, wohl bewahrt, nicht übertroffen werden. Wem 
einmal klar geworden ist, wie das griechische gute Distichon die Wörter 
und .Satzglieder in den beiden Versen verteilt, dem klingen alle Nach- 
bildungen roh oder geziert und das vielbelobte Distichon Ovids wie ein 
unausstehlich monotones Geklapper. Dem Schlegelschen Mu.sterverse, der 
von dem aufsteigenden und niedersinkenden Strahle eines Springbrunnens 
redet (sehr fein für Ovid und Schiller), würde er gern eine Charakteristik des 
wahren Distichons entgegensetzen, das seine logischen Einschnitte nicht an 
den metrischen Ruhepunkten haben mag: aber das ginge nur auf Griechisch. 



1^2 ULRICH VON WlLAMOwrrzMOELLENDORFr: Die griechische Literatur des Altertums. 



Jener Fortschritt, daß das Epigramm der Ausdruck eines momentanen 
Gefühles ward, trat ein, sobald der Mensch Fähigkeit und Neigung besafi, 
sich frei zu äußern. Das ist nicht erst in dieser Periode der Fall. Piaton 
namentlich hat manchmal ein Gefühl und ein Urteil rasch in einen läß- 
lichen und daher reizvollen Vers gekleidet, und die Pietät seiner Jünger 
bewahrte mit flüchtigen Tändeleien auch so Rührendes wie die Klage um 
Dion, und so Feines wie die Charakteristik Sapphos und des Aristophanes. 
Die Philosophieprofessoren überschätzen den Kollegen Piaton, wenn sie 
ihm solche Allotria nicht zutrauen, weil sie selbst über so etwas erhaben 
sind. Aber solche Improvisationen machen nicht Epoche. Das tat das 

Askirpiad». Gedichtbuch des Asklepiades von Samos. Die Insel muß bald nach ihrer 
(um .90) ggf-j-eiung von Athen (321) eine Zeit der üppigen sinnlich und geistig an- 
geregten Blüte erlebt haben, wie es scheint unter der Leitung des Duris; die 
Parallele zu dem Hofe des Potykrates drängt sich auf. Über eine Anzahl 
von Dichtern und Dichterinnen (Hetären) ragt Asklepiades hervor als der 
Anakreon des Epigrammes. Er klagt zwar über Weltschmerz, trotz seinen 
21 Jahren, aber er ironisiert sich selbst und bleibt frisch und elastisch; 
Wein und Mädchen füllen seine formvollendeten imd ungezwungenen Verse; 
aber auch literarische Urteile gibt er ab, wie er denn dem asklepiadei- 
schen Verse den Namen nur geben konnte, wenn er die lesbischen Lieder 
in diesem Maße nachahmte; dagegen kann man von keinem seiner 
Epigramme sagen, daß es auf einem Steine gestanden haben müßte. 
So war die Bahn frei: die Studentenlyrik in der epigrammatischen Form 
tritt neben die gelahrten Wälzer der ernsten Professoren. Da ist ein 
gewisser Poseidippos, Nachahmer des Asklepiades, der in Athen Stoiker 
werden soll, aber bald dem Flausch des Kleanthes Valet sagt, sich mit 
Rosen kränzt und aus dem kleinen Athen über Kypros und Syrien nach 
Alexandreia zieht Eben in den Jahren, wo auch Theokrit dort war, hat 
er sein Buch herausgegeben — dann verschwindet er für uns, sei es, 
daß er verkam, sei's, daß er ins Philistertum übertrat Auf ihn hat Kalli- 
machos noch nicht gewirkt, der dann mit der Weise des Asklepiades die 
alte Tradition der Aufschrift und die Kunsturteile Piatons vereinigt Theo- 
krit macht vorwiegend wirkliche Aufschriften, höchst eigentümlich und 
schön, und so gibt es der Talente viele das ganze 3. Jahrhundert lang 
(besonders zierlich Dioskorides, dessen Büchlein um der Illustrationen 
willen oben (S. 90) zu erwähnen war), und schwillt auch der Umfang 
des Epigrammes allmählich an, dringt dementsprechend reicherer Schmuck 
ein: die Leichtigkeit und Verständlichkeit und die Verbannung alles Füllsels 
hält sich in dieser Schule, wenn man von Schule reden darf. Sie herrscht 
in Agrypten und Asien. 

L«onida. Eine ganz andere Weise kam von Westen: Leonidas von Tarent, der 

(atiK »H »95) f^^ pyrrhos auch in Dodona dichtete, ist ihr Haupt Er steht zu Kalli- 
machos etwa wie Euphorion. Wortgepränge, Neubildungen, Gelehrsam- 
keit, die bis an den Griphos streift, wird gesucht; dafür sind Weih- und 



Poieidippos 

(dichtet stfo bis 

ayo) 



C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). 111. Poesie. 



»43 



Grabepigramm zximeist nur Fiktion; das echte Impromptu ist fast ver- 
schwunden. Man hat den Eindruck, als würde bereits dem Epigrammatiker 
ein Thema gestellt, wie es später üblich war. Obwohl die gesunde Kritik 
nicht ausblieb und auf den Steinen zumal diese Künstelei sehr selten ist, 
hat die Weise des Leonidas doch stark auf die Epigrammatik Syriens und 
Phönikiens eingewirkt, die uns für das Ende des 2. und das i. Jahrhundert 
am besten bekannt ist; da sie nach Rhodos und Umgegend übergreift 
und von da später nach Rom, darf sie als die führende Poesie der Zeit 
gelten. Antipatros von Sidon und die beiden Gadarener Meleagros (der 
auch kynische Satiren wie Menippos schrieb) und Philodem (der Epikureer, 
dessen Philosophika wir nicht loben konnten, S. 93) sind die Hauptvertreter. 
Sie verfassen auch Aufschriften für die Steine (Proben sind erhalten) und 
umfassen alle Gattungen; aber die Einfachheit ist verloren, und die immer 
gleiche metrische VortrefFlichkeit kann die Manieriertheit der Sprache nicht 
verhüllen. Im Grunde haben sie eben nichts Rechtes mehr zu sagen, und 
wenn der Liebesfrühling wie der der Natur immer neue Lieder fordert, 
das Grab, das die Liebe birgt, auch, so sollten doch die Töne, in denen 
sich die ewigen Giefühle äußern, neu sein, und vor allem, sie sollten nach 
dem Herzen Idingen: das ist nur noch ganz vereinzelt der Fall. Denselben 
Eindruck macht alles, was wir sonst von der Poesie aus den Zeiten des 
Polybios, Poseidonios, Cicero besitzen: so tief wie der Archias, den Cicero 
verteidigt hat, steht übrigens kaum ein anderer. Es ist der raffinierten, 
sinnlichen Kunst gewiß manches Prachtstück gelungen, wie der Adonis 
des Bion von Smyma; epische Erzählung, den Balladen unserer schwäbischen 
Dichter mehr als ebenbürtig, wie das Gedicht von Herakles bei Augeias, 
das die Modernen für verstümmelt halten, weil sie einem Griechen nicht 
gestatten, sprungweise zu erzählen. Der Isishymnus von Andros (aus der 
Zeit Sullas etwa) ist unschätzbar in seiner aufdringlichen Pracht, durch 
die der- Eindruck der erhabenen Offenbarung einer Allgöttin erzielt werden 
soll. Ein laszives Gedichtcheu des Philodem durfte immer noch den catul- 
lischen Kreis entzücken. Aber im ganzen drückt auf allem die Inhalt- 
losigkeit der Imitation; die Bukoliker zeigen das erschreckend deutlich. 
Auch unter den Hofdichtern des Augustus und der anderen Großen seiner 
Zeit (und der Epigrammatiker gehört zu einem vornehmen Hofhalt wie 
der philosophische direcieur de la conscience) ist kein wirkliches Talent; 
bei den meisten, auch dem weitaus geschicktesten Krinagoras von Mytilene 
geht sogar die Kunst des Versbaues stark bergab, die dann auf immer 
verloren ist Der Dichterkreis, der in den lateinischen Priapea zu uns 
spricht, besitzt sehr viel mehr frische Grazie, obgleich er zum Teil über- 
setzt Und so denn überhaupt Diese Griechen, Philodem an der Spitze, 
und dann Parthenios von Nikaia, der, soviel wir sehen, dem Stile des 
Euphorion folgt, haben nur noch die Mission, der werdenden römischen 
großen Poesie Handlangerdienste zu leisten. Diese aber schwingt sich mit 
frischer ICraft über das Hellenistische zum Klassischen. Das ist ihr unsterb- 



Dic (ihönlkitcbe 

Schule 

(ijo— 60). 



Kiihymnus 
(vor 64). 



Krinagonu 

(tSUj 

45 — 1 n. Chr.l. 



l'arthenio« 
(um 50 V. Chr.). 



144 Ulrich von Wiu\howitz-Moelleni>ORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 

licher Ruhm; aber es sollte sich von selbst verstehen, daß die Nachwirkung 
der unmittelbaren Lehrer nicht fehlen kann. Bei Vergil und Tibull (der 
doch mit Absicht und Erfolg der althellenischen Elegie zustrebt) gibt 
das jeder zu: die Aufgabe, bei Horaz die epigrammatischen Motive zu 
verfolgen, ist noch nicht gelöst Dazu muß freilich die hellenistische 
Poesie erst selbst verstanden werden, womit es leider noch gute Wege hat 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). 

I. Klassizistische Reaktion. Mit dem Untergange des Hellenis- 
mus ändert sich die Grundlage unserer Literaturkenntnis, muß sich also 
auch die Behandlung ändern. Während der radikale Umschlag des Gre- 
schmackes die Prosa der letzten drei Jahrhunderte vor Christus so gut 
wie ganz und auch die meiste Poesie dem Untergange geweiht hat, ist aus 
den folgenden dreien an griechischen Büchern lediglich dem Volimien 
nach mindestens doppelt so viel erhalten als an lateinischen von Plautus 
bis Lactantius. Schwerlich wird ein bedeutender Schriftsteller dieser Periode 
ganz verloren sein, wenn auch zurzeit die Rekonstruktion von vielen 
kaum begonnen hat Auch in die tieferen Schichten des literarischen 
Lebens gestattet die christliche Literatur, nicht allein, aber vorwiegend, 
einen Einblick, deren in jeder Hinsicht verwerfliche Absonderung min- 
destens im Prinzip aufgegeben sein dürfte. Übrigens hat die sonst für 
die literarische Schätzung fast ganz unfruchtbare Behsmdlimg durch die 
Theologen (die Philologen verschmähten aus klassizistischem Dünkel das 
„biblische Griechisch") doch einen großen Vorteil: sie scheidet die 
Sprachen nicht, weil eben das Christentum „katholisch", universell ge- 
wesen ist wie das Weltreich. In der Tat ist dessen Kultur einheitlich; 
nicht nur die griechischen und lateinischen, sondern mindestens auch 
die syrischen Bücher gehören eigentlich alle zusammen, und wohl noch 
manches andere. Die griechische Literatur ist keineswegs die der griechi- 
schen Untertanen Roms, auch nicht die der Osthälfte des Reiches, deren 
Geschäftssprache griechisch ist, sondern die weitaus größere Hälfte der 
Literatur des doppelsprachigen Weltreiches, und in ihr hat die Hauptstadt 
gerade während der ersten Zeit einen so dominierenden Einfluß, wie ihn 
niemals eine der hellenistischen Städte gehabt hatte. Auch der Wille 
oder Geschmack der Kaiser hat sehr viel stärker eingewirkt als irgend- 
ein griechischer König. So kann die Darstellung hier im Gegensätze zu 
der vorigen Periode im wesentlichen die zeitliche Abfolge einhalten. Nur 
eine zusammenfassende Betrachtung muß doch vorausgehen, eben die der 
radikalen Umkehr in Sprache und Stil. 
AHiiUmu». Selbstverständlich hatte man nie aufgehört, die attischen Prosaiker 

zu studieren, weil sie vortrefflich und insofern vorbildlich waren. Aber 
an Reproduktion, an Nachahmung hatte niemand gedacht Wir finden 
das auf dem Gebiete der Skulptur schon im 2. Jahrhundert v. Chr. in den 



D. Römische Penode (30 v. Cht. bis 300 n. Chr.). I. Klassizistische Reaktion. i^^ ^^M 

sogenannten neuattischen Reliefs; das entspricht aber dem attischen Stile, ^H 

den Tragödie und Komödie immer verlangten: das hellenistische Athen, ^H 

soweit nicht Fremde dort philosophieren, zehrt bereits allein vom alten ^H 

Erbe; es spielt dafür auch in der Weltentwickelung keine Rolle. In der ^H 

Poesie waren freilich die alten Gattungen und Formen, auch die sprach- ^| 

liehen, kanonisiert; nur der Geist war ein modemer. Die Grammatiker ^| 

mochten ähnlich auch über den alten und den neuen Stil in der Prosa ^H 

urteilen; aber das waren Werturteile, wie sie der Franzose oder der ^H 

Deutsche von Geschmack heute ebenso aussprechen kann. Der Klassi- ^| 

zismus, den wir in der ciceronischen Zeit sein Haupt erheben sehen, ^H 

mit seiner fanatischen Feindschaft gegen alles, was wir spezifisch helle- ^H 

nistisch nennen, ja gegen alles, was nicht ganz streng und einfach scheint, ^H 

so daß selbst Piaton befehdet wird, ist etwas ganz anderes. Er kommt ^H 

aus dem Gefühle heraus, daß der Hellenismus abgewirtschaftet hat, die ^| 

Klassiker aber nicht, vielmehr ihre ewige Bedeutung gerade jetzt be- ^H 

währen. Rom, das nun seine eigene Rede und Dichtung zu klassischer ^H 

Höhe führt, mußte diesem Gefühl erst zum lebhaften Ausdrucke, mußte ^H 

dann der Tendenz, zurück zu den alten Mustern, zum Siege verhelfen. ^H 

Man kann die Bedeutung dieses geschichtlich vollkommen begreiflichen, ^H 

von den besten Leuten bewirkten und doch geradezu verhängnisvollen ^H 

Bruches mit der Geschichte nicht hoch genug schätzen. Jeder Fortschritt, ^H 

jede Entwickelung ist damit prinzipiell negiert. Das gilt für alle Gebiete, ^H 

politisch, historisch, ästhetisch. Daher widerstrebt es dem modernen ^H 

Wesen, das mit jenen Begriffen vielleicht übertriebenen Kultus treibt, von ^H 

Grund aus; innere wahre Sympathie kann hinfort nur erwecken, was im ^H 

Widerspruch zu dem herrschenden Kredo der „Welt" emporwächst, denn ^H 

nur dieses ist gewachsen: die ganze griechische Literatur ist hinfort etwas ^H 

Gemachtes. ^H 

Deis gilt vor allem von der Sprache. Indem sie mit Gewalt attisch AuiiutUci.« 
gemacht wird, ist ihr jede Verjüngung durch die lebendige Volkssprache ^p""^*" 1 

versagt: dafür kann sie allerdings in der gelehrten und gelernten Form ^J 

unbegrenzt dauern; sie tut es ja noch heute. Natürlich konnte sich ^H 

die Umkehr nicht mit einem Schlage vollziehen; es waren etliche Gene- ^H 

rationen nötig, bis die Schulen der ganzen Welt das korrekte Attisch ^H 

lehrten; aber die Abkehr von der hellenistischen Manier geht überraschend ^H 
schnell, und wenn der Mechaniker Heron (durchaus ein Banause, dessen H*roo 
Bestes von seinen hellenistischen Vorlagen stammt) unter Claudius noch '""■ ** "' *''"*' 
ganz vulgär schreiben kann, so würde das unter Traian schon unmöglich 

sein. Wer sich deutlich machen will, wie gewaltig der Abstand der Stile J 

ist, der lese einmal nebeneinander die Sammlung Liebesnovellen, die Par- ^H 

thenios für Cornelius Gallus, also etwa um 40 v. Chr, verfaßt hat, allerdings ^H 

in sehr pretiös hellenistischer Prosa, die absichtlich das Rhetorische meidet ^H 

(wer hypomnematische Formlosigkeit in ihr findet, keimt die hellenistische ^M 

Manier wenig), und die erschreckend inhaltsleere, aber ganz soi^am stili- ^H 



Uli KULTim DEK GiCENWAKT. L 8. 



to 



146 Ulrich von Wilamowttz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

sierte Schrift über die Pflichten des Feldherm, die ein gewisser Onesandros 
um 50 n. Chr. an den Konsulat M. Vinicius gerichtet hat, attisch periodisiert 
{an Xenophon kein Gedanke), lüatuslos, ohne Kadenzen. Erreicht ist die 
Rückwälzung der Sprache durch die angestrengte Arbeit der Grammatik, 
die nun einen gelehrt sprachlichen Unterricht mit Lehrbüchern und Lex.iken 
nicht ohne zusammenhängende Forschung erteilen mußte und immer 
schwerere Arbeit bekam, je mehr die zurückgestoßene Vulgärsprache nun 
verwilderte. Das Grundbuch aller Grammatik, das um 100 v. Chr. Dionysios 
Thrax in Rhodos verfaßt hatte, diente noch durchaus der Vorbereitung für 
die Lektüre der alten Schriftsteller: jetzt hieß es die Menschen ebenso 
altertümlich reden und schreiben lehren, ihnen den Dual beibringen, 
Flexionen, die Aristarch bereits im Homer als merkwürdig bezeichnet hatte, 
den Optativ, der schon im 2. Jahrhundert n. Chr. aus der Volkssprache 
verschwunden ist: mit all dem werfen die Literaten je länger desto lieber 
um sich. Schon unter Augustus schreibt Tryphon ein Onomastikon, also 
ein Verzeichnis der guten Wörter; er schreibt auch über Syntax. Gute 
Wörter sind damals noch Wörter, die überhaupt aus der klassischen Zeit 
belegt sind; dafür gab es schon ältere Sammlungen, z. B. von Aristophanes 
von Byzanz, die aber zur Entscheidung von Echtheitsfragen angelegt waren. 
Seit Hadrian steigert sich der Klassizismus zum Archaismus; die alte 
Komödie muß jetzt besonders herhalten. Die Parodieen des damaligen 
Fanatismus übertreffen kaum die Wirklichkeit: der Attizist des Athenäus, 
der beim Diner einen Leckerbissen vorübergehen läßt, wenn er nicht den 
echt attischen Namen samt einem lexikalischen Belege erfährt, ist ganz 
glaublich. Man muß bei Phrynichos lesen, wie diesem Gecken Meuander ein 
zweifelhaftes Griechisch schreibt, daneben auch welche Barbarismen er den 
Größen des Tages aufmutzen kann. Die Forderung ist stärker, als wenn 
man den Italienera heute zumutete, kein Wort zu brauchen, das nicht vor 
dem Sturze der Republik Florenz belegt wäre. Es geht dann noch weiter: 
die Sucht nach dem Alten verführt dazu, das Poetische, weil es alt ist, 
in die neue Prosa aufzunehmen, erst aus den attischen Dichtern (die 
Tragödie beuteten gewisse Leute schon im 2. Jahrhundert aus), dann gar 
aus den alten Lyrikern. Allerdings geht neben dieser Richtung, für die 
Philostrats Gemälde und Himerios, der Lehrer Julians, genannt seien, eine 
streng attische, die von den besten Stilisten, Aristeides, Lukian, ganz be- 
sonders noch im 4. Jahrhundert von Libanios und seiner Schule, mit Erfolg 
vertreten wird. Und natürlich protestieren immer maßvollere Leute gegen 
die Übertreibungen: aber gerade sie, Plutarch z. B. und Galen, sind doch 
von dem Hellenistischen viel entfernter als der Klassizist Dionysios von Hali- 
kamaß, weil dieser noch in ihm erzogen war. So viel hat die Schule 
ausgemacht. Au den volkstümlichen Schriften ist Ahnliches zu bemerken; 
man vergleiche etwa die Martyrien der Christen von Lyon und des Poly- 
karp mit Paulus und dem Wirbericht der Apostelgeschichte. Freier steht 
nur die wissenschaftliche Sprache, die von alter Terminologie durchsetzt 



I 




H 



_M 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). I. Klassizistische Reaktion. i^y 



Stil. 



ist Im 3. Jahrhundert, als die Zersetzung der gesprochenen Rede des Volkes 
schon sehr weit geht, bahnt sich dann die ganz und gar konventionelle 
■Gemeinsprache an, die seitdem bei den meisten Griechen (wenn sie nicht 
«twas ganz Rhetorisches schreiben) herrscht, aber doch keineswegs mehr 
rein attisch ist. Man gewinnt durch die Praxis wohl ein Gefühl für die 
sprachlichen Unterschiede, aber wissenschaftlich erfaßt ist diese ganze Ent- 
wickelung noch längst nicht Kein Wunder: vor 30 Jahren konnten die 
angesehensten Sprachkenner einem farblosen späten Machwerk wie 
der apollodorischen Bibliothek nicht einmal ansehen, daß das nicht helle- 
nistisch wäre. Jetzt schwanken sie in der Ansetzung von Schriften der 
Kaiserzeit um Jahrhunderte, was hoffentlich der nächsten Generation ebenso 
unbegreiflich sein wird wie uns die Blindheit unserer Vorgänger. 

Dies die Wortwahl; sie ging wesentlich den Grammatiker an; die AiüiistUcher 
Wortfügung, der Stil ist das Reich des Rhetors, und der war und blieb 
der führende Mann. Der Betrieb des Unterrichtes ändert sich nicht 
wesentlich {vgl. S. loi); auch die Lehre von der Erfindung und Disposition 
bleibt im Grrunde dieselbe; der Versuch, ein ganz starres, angeblich 
klassisches Schema der Gerichtsrede aufzuzwingen, mißlingt; das versuchte 
bezeichnenden,veise in Rom der Lehrer des Augustus, ApoUodoros von 
Pergamon. Es handelt sich also wesentlich um den Ausdruck, und da ja 
Nachahmung der Alten die Parole ist, kämpft man nach Überwindung 
des Hellenistischen (in Rom sagte man als Gegensatz zu attisch eine 
Weile asianisch) um die Auswahl unter den Klassikern: die Anweisung 
zur Imitation ist zugleich die zur Lektüre. 

So entstehen die kritisch-ästhetischen Schriften über einzelne Klassiker 
und die zusammenfassenden Übersichten der für die allgemeine und spezielle 
Bildung des klassizistischen Rhetors notwendigen oder empfehlenswerten 
Lektüre. Die Modernen haben diese Rhetorenlehre, die ihnen namentlich 
in der gefälligen Bearbeitung Quintilians entgegentrat, nur zu lange als 
maßgebende Grundlage der griechischen Literaturgeschichte behandelt, süikriHjch» 
und noch immer werden die epigrammatisch zugespitzten Kunsturteile ^^ ""''*• 
weitergegeben, die bei jenen Rhetoren und auch heute nur zu oft nicht 
nur eigenes Urteil, sondern auch eigene Kenntnis ersetzen. Ein Glück, 
<laß über die Dichter zumal die Grrammatiker und schon vor diesen die 
erste Generation der Peripatetiker die Losungsworte ausgegeben hatten. 
Ein größeres Glück, daß die peripatetische Lehre, namentlich des Theo- 
phrast, die auch die hellenistischen Rhetoren nicht vergessen hatten, nun 
erst recht zur Geltung kam: sie erkannte mehrere Stilgattungen an und 
schlug wenigstens jenen engen Attizismus nieder, den Cicero für das Latein 
■durch die Lehre und noch erfolgreicher durch die Tat überwunden hatte. 
Die attischen Redner wurden erst jetzt als solche musterhaft (selbst ein 
Andokides und Isaios); das Interesse des Schulredners und seiner fingierten 
Oerichtsreden fixierte die Zehnzahl, in der diejenigen vereinigt wurden, 
von denen es Gerichtsreden gab, so daß die für die Stilgeschichte Wich- 



148 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

tigsten, Thrasymachos und Gorgias (freilich auch keine Athener) draußen 
blieben. An den Rednern mußten nun die Rhetoren beweisen, ob sie 
mehr verstünden als Worte zu machen: die Kritik der chaotisch vor- 
liegenden Schriftenmasse und die historische Forschung über die Per- 
sonen und ihren Nachlaß war zumeist noch zu leisten. Sie haben nach 
der literargeschichtlichen Seite gar nichts getan; ob sie etwas geben und 
was, hängt ganz von der alexandrinischen Arbeit der kallimacheischen 
Schule ab. In den Fragen der Echtheit kommen sie über subjektives 
Meinen nicht hinaus, imd wenn sie etwas Richtiges finden, danken sie 
das lediglich dem allerdings hochentwickelten Stilgefühl. Die gleich- 
zeitige Grrammatik verstand es freilich auch nicht besser, wie Did3rmos 

UioD7>ios von zeigt Damit ist über Dionysios von Halikamaß abgeurteilt, der uns 
"*('t5^™** allein die Theorieen des römischen Klassizismus der augusteischen Zeit 

30-« V. Chr.). vorträgst Es ist ein hohes Lob, daß er im Grunde dieselbe stilistische 
Überzeugung vertritt wie Cicero, und wir sind ihm für die Erhaltung von 
ungemein viel Wichtigem zu Dank verpflichtet; seine Schriften über die 
attischen Redner und über die Wortfügung sind auch eine nicht niu: be- 
lehrende, sondern gefallige Lektüre. Aber das Beste in allem gehört 
nicht ihm; einem Thukydides und Piaton steht er, selbst wenn man die 
beschränkt stilistische Betrachtungsweise zugibt, trotz allem Dünkel 
geradezu hilflos gegenüber, und mit dem Versuche, nach dem neuen 
klassizistischen Rezepte Geschichte zu schreiben (das Rezept war im 
eirunde das alte der isokrateischen Schule), hat er nur das unausstehlichste 
Geschichtsbuch zustande gebracht, das in griechischer Sprache existiert; 
wie denn überhaupt die Versuche dieser Kritiker, etwas Eigenes zu produ- 
zieren, vöUig gescheitert sind. Selbst als Lehrer imd Deklamatoren be- 
kamen sie nicht die Führung. Leider bleibt ims der Mann nur ein Name, 
der die Schulpraxis des Hellenismus mit dem neuen Stile versöhnt zu 

Theodoros haben scheint, Theodoros aus Gadara, der in Rhodos lehrte, also an dem 

(anwr A "^ tÜs) einzigen Orte, der noch als Zentrum dieser Bildung in Betracht kam, und 

der Rom gegenüber die Tradition erhalten konnte. Ein Schüler von ihm 

Die Schrift hat das schönste stilkritische Buch der Griechen verfaßt, die Schrift über 
oTfj'l'chr) ^^ Erhabene (das Pathetische trifft besser zu), die, aus Verlegenheit auf 
die Namen des Dionysios oder des Longinus getauft, unter dem letzteren 
berühmt geworden ist Sie wendet sich gegen den Sikelioten Cäcilius, 
einen offenbar höchst energischen, kenntnisreichen und betriebsamen Rhetor,, 
der aber ein allzu fanatischer Attiker war, so daß seine Bücher ver- 
loren sind. Die Gegenschrift hat ihren Stoflf zum überwiegenden 
Teile von ihm übernommen, aber sie führt von sich aus ins Feld» 
was man bei einem Griechen so selten findet, das Gefühl für das Ur- 
sprüngliche, Unbewußte, das Naturgroße: das hat der Mann bei keinem 
Rhetor gelernt; philosophische Bildung ist unverkennbar. Er hat denn 
auch das bittere Gefühl, in einer verkümmerten epigonenhaften Welt zu 
leben: der Weltfrieden des Kaiserreiches ist für diese freie Grriechen- 



D. Römische Periode (30 v. Oir. bis 300 n. Chr.). I. Klassizistische Reaktion. 14g 



Herraogenei 
(um 170). 



Seele nur der eines Käfigs, wie für die seines jüdischen Zeitgenossen 
Paulus. 

Aus dem Ende des 2. Jahrhunderts, also als das Hochgefühl der 
klassizistischen Restauration dicht vor dem Zusammenbruche am lautesten 
ist, stammt das höchst lesenswerte Buch des Hermogenes von Tarsos 
über die „Ideen", wie er (nach Isokrates, beileibe nicht nach Piaton) 
die Formen oder Gattungen des Ausdruckes benennt (das Buch von 
der Methode der besten Form, die er beivötiic nennt, gehört auch 
dazu). Dies System muß einmal sorgfältig erläutert werden, denn nicht 
ohne Grund haben spätere Philosophen danach Rhetorik lehren mögen; 
es wird auch den besten Schlüssel abgeben, um dahinter zu kommen, 
welche Wirkung die Stilkünstler mit den oder jenen Ausdrucksformen 
bezweckten, und zugleich, was sie bei ihnen empfanden, wenn sie 
sie bei den Klassikern zu bemerken glaubten. Die Charakteristik der 
wichtigsten Prosaiker folgt ja auch hier, und zwar vorwiegend aus 
selbständiger, allerdings ganz ungeschichtlicher Auffassung. Hermogenes 
(den Philostrat mit unglaubhafter Bosheit behandelt) ist kein bloßer Nach- 
beter, so sehr ihn das Prinzip der Nachahmung der Muster beherrscht, 
aber gerade darum nicht ganz leicht zu verstehen. Auch aus dem 
praktischen Schulbetriebe sind wenigstens ein paar sehr belehrende Bücher 
erhalten, die Progymnasmen eines gewissen Theon, die von der Weite 
der Lektüre in diesen Anfängerkursen der Rhetorik während des i. Jahr- 
hunderts n. Chr. ein sehr günstiges Bild geben, und aus dem Anfang des 
4. Jahrhunderts Anweisungen für die damals praktisch geübten Reden 
unter dem Namen des Menander, von dem nur der größere Teil herrührt; 
die anderen sind von Genethlios, etwas älter, aber alles ziemlich gleicher 
Art und aus derselben athenischen Schule. Der Einblick in ein ganz 
leeres Schnitzelkräuseln ist an sich abschreckend: aber gerade darum ge- 
winnt man hier die Unterlage für das geschichtliche Urteil. 

Der Klassizismus mußte notwendig die Formen der Prosa, die in der Orkiarutionm. 
klassischen Zeit ausgebildet waren, als allein berechtigt ganz ebenso kanoni- 
sieren, wie das für die Poesie längst galt. Da die Rhetorik die Führung 
hatte, überwog die Rede im Sinne des Isokrates. Die Schuldeklamation 
nahm tatsächlich immer die Haupttätigkeit der Leute in Anspruch; 
aber erst im 2. Jahrhundert publiziert man so etwas in Massen und mit 
dem Ansprüche, das Übungsstück (fieX^TT)) wäre schon Literatur. Wenn 
Herodes Attikos eine politische Rede (t^voc cujjßouXeuTiKÖv) herausgibt, um 
die Larisaeer gegen Archelaos von Makedonien aufzureizen, so sollte deus 
eines römischen Senators, der die Tagespolitik Athens und Griechenlands 
ganz wesentlich selbst macht, unwürdig sein: aber sein allerdings be- 
sonders starker Archaismus achtete seine aktuellen Reden demgegenüber 
gering. Was Wunder, daß ein Lesbonax mit Thukydides in Ansprachen 
vor der Schlacht konkurriert, ganz ohne kenntlichen historischen Hinter- 
grund; der Anschluß an Thukydides ergibt die allgemeine Situation. Man 



Thcon 
(l. Jahrh.). 



MrnandtT 
(um JM)). 



Briefr. 



150 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorft: Die griechische Literatur des Altertums. 

muß sich eben an die Denkart der Leute gewöhnen, denen eine Gegen- 
schrift gegen die Leptinea wirklich mit der Rede des Demosthenes gleich- 
wertig zu sein schien; an der konnten sie sich wieder und wieder ver- 
suchen. Schließlich sind die Rhetoren so weit gesimken, auch ihre Pro- 
gyninasmen, die für einen Theon noch auf der Stufe von Primaner- 
aufsätzen stehen, zu publizieren. Selbst Libanios hielt sich dazu nicht für 
zu gut Mit Reden aus einer bestimmten historischen Situation und PersoQ 
heraus täuschen zu wollen, lag ihnen natürlich fem: dazu waren sie schon 
viel zu eitel. Aber die Gefahr dieser Täuschung lag nahe; haben doch 
modernste Historiker den Herodes zu Thrasymachos gemacht. Es kann 
sehr wohl sein, daß eine Anzahl Fälschungen, die wir so betrachten, von 
Haus aus gar nicht so gemeint war, z. B. Reden auf Demades' und 
Aristogeitons Namen, die es früher notorisch nicht gegeben hatte, und die 
nun auftraten. Doch ist auch früh gefälscht worden, in Asien die 
Urkunden der Klranzrede, in Rhodos die Aischinesbriefe. 

Der Brief war eine Gattung, die durch echte und noch mehr angebliche 
klassische Produkte geheiligt war und um ihrer praktischen Unentbehrlich- 
keit willen in der Schule immer gepflegt werden mußte. Daher werden die 
Briefe aus gegebener Situation und Person heraus erst ein Exerzitium, dann 
eine Literaturgattung, und wieder spielt das in die Fälschung hinüber, ohne 
daß die Scheidung immer reinlich durchzufuhren wäre. Fälschung waren 
z. B. sicher die schon vor Plutarch verbreiteten griechischen Brutusbriefe; 
von denen auf den Namen der sieben Weisen und ähnlicher Männer der 
Urzeit (jetzt zum Teil in den Dialekten verfertigt) kann man es kaum glauben 
(vgl. die Belege aus hellenistischer Zeit S. 97). Um 200 sind Leute wie 
Alkiphron und Alian so weit, unter eigenem Namen ganze Bücher von Briefen 
zu edieren, die Parasiten, Hetären, Bauern und dergleichen verfaßt haben 
sollten, unglaublich albeni, wenn nicht, wie bei Alkiphron zuweilen, schöner 
helleni-stischer Stoff übernommen ist So mögen die Leute auch nicht alle 
einen Trug beabsichtigt haben, die ganze Briefsammlungen ausgehen 
ließen, von Hippokrates, Chion, Themistokles, die wir geradezu Romane 
in Briefform nennen müssen, oder die auch die Charaktertjrpen Herakleitos 
und Diogenes statt im Apophthegma in dieser Form darzustellen versuchen. 
Dazu gehören die Phalarisbriefe, noch aus dem Anfange des 4. Jahr- 
hunderts, die selbst damals niemand als bare Münze nehmen konnte. 
Diese ganze Briefliteratur fordert dringend eine zusammenfassende Be- 
handlung. 

Gattunjen der Aber der Rhctor strebte denn doch danach, seine Kunst auch im 

^^^''' Leben zu zeigen. Die Gerichtsrede war es, auf die sein Unterricht ab- 
zielte; er selbst trieb dieses Handwerk und erzog zu ihm. Aber in die 
Literatur ist sie trotz dem Kultus der Attiker kaum eingedrungen; hier 
scheinen auch die Fälschungen zu fehlen. Zxur Staatsrede gaben die Frei- 
städte Asiens mit den Konflikten ihrer Eitelkeit und noch mehr die 
Provinziallandtage Gelegenheit; zur Festrede die heiligen Tage der Götter 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 3c» n. Chr.). I. Klassizistische Reaktion. j 5 j ^H 

und Kaiser; Kasualreden an Personen, zum Geburt.stage, zur Hochzeit, zur ^M 

Totenfeier und sonst kommen allmählich immer mehr in Aufnahme; eben ^| 

darüber belehrt Menander; es sollte einmal jemand den ganzen Nachlaß ^H 

der Literatur, aber auch der Byzantinerzeit, nach diesen Kategorieen ordnen. ^H 

Hier ist es besonders, wo die Rede ganz in der Weise des Isokrates ^M 

(S. 67) und über ihn fortschreitend den Wettkampf mit der Poesie auf- ^M 

nimmt: Aristeides nennt schon eine Klagerede Monodie. Der Titel ist ^M 

noch für eine Rede auf den Fall Konstantinopels verwandt worden. Daß ^H 

die Historiographie dem Rhetor zufällt, war auch isokrateische Tradition. ^U 

Dagegen der Dialog gehörte eigentlich dem Feinde, dem Philosophen. ^| 

Das Lehrbuch wie die ganze belehrende Gattung (tJvoc bibacKaXiKÖv) ^| 

lag seinem Wesen nach als etwas Kunstloses unter dem Niveau des ^M 

Rhetors. Aber da nun die rhetorische Erziehung die allgemeine war und ^1 

die künstliche Sprache allein dem gebildeten Geschmacke Genüge tat, so ' 
erfuhr allmählich fast jedes Literaturprodukt die rhetorische Stilisierung, stuiiicrung de« 
Galens medizinische Fachschriften zeigen es am deutlich.sten. Ja es kommt "J'i'"""'*"»- 
dahin, daß die ganze hj-pomnematische Literatur {S. 95) ihrem Wesen ent- 
fremdet und stilistisch aufgeputzt wird, so daß die unerträglichsten Fratzen 

herauskommen. Die sieben Weltwunder waren einst in ein paar Zeilen ^M 

aufgezählt worden, damit die Kinder sie lernten. Es war verzeihlich, ^H 

wenn sie jemand in ein Epigramm brachte, wie die neun Lyriker oder ^| 

die sieben Weisen mit ihren Sprüchen: das entspricht den gereimten ^M 

Genusregeln. Aber nun macht ein gewisser Philon ein rhetorisches ^M 

Schmuckstück daraus: eine wirkliche Beschreibung der Kunstwerke, die ^M 

er nie gesehen hat, beabsichtigt er gar nicht Ein Rhetor Polyainos H 

widmet den Kaisem Marcus und Verus eine aus billigen Büchern zu- ^M 

sammengestoppelte Sammlung von Kriegslisten: die unausstehliche Ziererei ^M 

seiner Rede ist das einzige, was er dazu tut; in Wahrheit hat er gar kein ^M 

sachliches Interesse. Den Gipfel der Abgeschmacktheit erreicht auch hier ^H 

Alian (er war aus Praeneste und nie auf griechischem Boden gewesen) mit ^H 

seiner „Bunten Geschichte", wenn's nicht etwa vor ihm Favorin (aus Arelate, ^M 

aber in Athen tätig) getan hatte, dem er den Titel entnahm. Das ist das H 

Schicksal, dem der Wissensschatz der hellenistischen Periode verfallt. Die ^M 

Journalisten verschneiden den alten schweren Stoff, den die Gelehrten mit H 

saurer Arbeit einst gewoben hatten, zu den Läppchen ihrer Essays imd H 

Artikelchen und bilden sich ein, er gehörte ihnen, weil sie ihm von sich ein ^M 

paar Flitter und Schleifen aufsetzen, wenn's Glück gut ist, einen Simili- ^M 

brillanten. Das verachtet und ignoriert man, solange die Werke der echten ^M 

Gelehrsamkeit zugänglich sind; aber hier müssen wir noch froh sein, daß H 

uns in der Entstellung gar manches erhalten ist; zuverlässiger steckt es ^M 

aber immer in den formlosen Exzerpten der Scholiasten. Der Gramma- ^M 

tiker taugt mehr als der Rhetor; er schreibt wenigstens anspruchslos ab. ^M 

Die hellenistische Rhetorik hatte mit den Künsten des Klanges, rhyth- Rhythmon. 

mischen Klauseln, Reimen, Hiatuslosigkeit besonders starke Effekte erzielt; ^^ 



152 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

gegen sie richtete sich die Polemik ganz besonders scharf; aber da mochte 
das Publikum offenbar nicht gleich umlernen, und Isokrates und selbst 
Aristoteles hatten doch auch im Grunde Ähnliches gebilligt So finden 
wir die Rhythmen während des i. Jahrhunderts noch mehrfach, in der 
Schrift über das Weltall, der über das Erhabene, besonders stark bei 
Chariton. Aber die strengere Richtung dringt durch; unter den Flaviern 
sind die alten Klauseln wohl verklungen. Den Hiatus vermied, wer in 
Isokrates und Demosthenes das Höchste sah; das ergab also dasselbe 
Resultat wie die Fortführung der hellenistischen Praxis. Wer sich archa- 
istisch den älteren Attikem zuwandte, suchte ihn geradezu auf. So 
gehen zwei Richtimgen dauernd nebeneinander her: aber die Hiatusscheu 
der Sprache nimmt doch ab; die Schule hat ihn nicht mehr verboten. 
Dauernd halten sich auch wie zuvor die beiden Haupttypen der stilisierten 
Rede, die periodisierte und die kommatische; die erste geht mit dem 
Attizismtis, insofern sie den wahrhaft größten Klassikern nachstrebt; aber 
die zweite konnte sich auf die alten lonier (die nie wie die Dorer als 
bloße Dialektschriftsteller gegolten haben, so daß auch von den Archaisten 
viel Ionisch geschrieben wird) und die ältesten Attiker berufen. Es hat 
aber in ihr, zimial wenn sie die Ausgleichung der Glieder und die Klang- 
wirkungen von Assonanz und Reim anstrebte, wohl mehr von der klin- 
gelnden Rhetorik sich gehalten, gegen welche die klassizistische Reaktion 
zuerst zu Felde gezogen war. Schließlich dürfte es diese Richtung ge- 
wesen sein, die den Übergang zu dem neuen akzentuierenden Principe 
vermittelte, dessen Aufkommen ein Hauptsymptom für das Ende der 
wirklich griechischen Literatur ist Doch in jene Periode greifen wir 
noch nicht über. Nehmen wir vielmehr wieder in der augusteischen Zeit 
unseren Stand, nunmehr die drei Jahrhunderte zu durchmessen. 

luiior und IL Die Dynastleeu von Augustus bis Severus Alexander. 

(30 v.Chr. bi» ^^^ römische Revolution zerstört die Grundlagen des Hellenismus 
68 n. Chr.). duTchaus. HuT letzter Akt ist geradezu seine Überwindung durch das 
Römer- oder besser Italikertum. Man soll das dem Horaz glauben: der 
lüg^ nicht Denn Antonius ist auch darin der getreuere Nachfolger Cäsars, 
daß er ein hellenistischer König werden will, imd die Hand der letzten 
legitimen Erbin eines makedonischen Reiches soll ihm die Legitimität 
geben. Augustus dagegen ist ganz wirklich der Vorkämpfer Italiens und 
des Lateinertiuns. Ihm opfert er Sizilien, Illyrien, die Donauprovinzen, 
Afrika, wo doch das Griechentum tief eingewurzelt war. Er versucht, 
lateinische Städte auch im Osten zu gründen (was später unterbleibt), und 
wahrt dem Heere die lateinische Sprache. Aber im Osten muß er doch 
das Griechentum anerkennen, ihm nicht nur die Geschäftssprache lassen, 
sondern selbst dafür eine grriechische Kanzlei gründen. Ägjrpten regiert 
er vollends als Nachfolger der Ptolemäer, als König. Daß die Reichs- 
verwaltung sich ganz und gar an die hellenistische anschließen mußte. 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). II. Von Äugustns bis Alexander. 151 

war unvermeidlich; das gilt auch für das amtliche Schriftwesen, Hypomne- 
mata und Briefe. Der Übergang von den ungefügen Senatsbeschlüssen zu 
dem Briefe des Imperators ist überaus bezeichnend; natürlich hatten die 
römischen Feldherren seit Hamininus oft griechisch an Griechen geschrieben; 
aber wenigstens für unsere Kenntnis ist erst jetzt ein individueller Stil 
bemerkbar. Wenn also ein Brief des Antonius so ganz anders stilisiert 
ist als einer des Aug^stus, so scheiden sich eben die Zeiten. Für Antonius 
war Hegesias noch ein Stilmuster: Augustus ist Attizist. Seiner Sinnesart, 
die in Rom einer romantischen Restauration des alten Glaubens und der 
alten Sitte zustrebte, entsprach der Klassizi.smus durchaus; seiner Politik 
war es auch genehm, daß die Hellenen ihrer Weltherrschaft vergaßen und 
den Sinn den Zeiten ihrer engen Kleinstaaterei zuwandten. So kommt 
von Rom das Losungswort und hallt durch die Welt; es wird um so 
mehr befolgt, je tiefer die griechischen Landschaften gesunken sind. 
Athen ist ganz verfallen, Alexandreia gedemütigt; selbst seine Grammatiker 
und Arzte siedeln nach Rom über; doch zeigt Philon, daß der Attizismus 
hier nicht leicht eindrang, ganz wohl nie. In Asien residierte der Kaiser 
oder ein Vizekaiser wiederholt; es hat sich am schnellsten aus dem Elende 
erholt, und Rhodos hat auch in der Beredsamkeit die Kontinuität aufrecht- 
erhalten. Insofern das Reich römisch -gfriechisch ist, sind Rom und Asien 
die Brennpunkte der Ellipse. In der ersten Hälfte von Augustus' Regie- 
rung überstrahlt der Glanz der klassischen römischen Poesie alles; aber 
dann beginnt er schon zu verbleichen, und der g^echischen Epigrammatiker 
hat auch der Kaiser nicht entbehren wollen; er gab auch an seinen 
römischen Spielen griechische Vorstellungen: die Säkularspiele sind ganz 
klassizistisch wie die Ära Pacis, aber sie sind die Fortsetzung der helle- 
nistischen gottesdienstlichen Repräsentationen. Aus Asien kam der 
^tragische Tanz", der sich in Rom zum „italischen" ausbildet, das heroische Pamomimn», 
Ballett, für die Römer der Ersatz der tragischen Spiele. Es hat bewirkt, 
daß nicht nur keine römische Tragödie aufkam, sondern auch die griechische, 
mochte sie auch zur Vorführung gelangen (was im 2. Jahrhundert noch viel 
geschah), vereinzelt auch ein klassizistischer Nachahmer sich versuchen (wie 
Plutarchs Freund Serapion), eigentlich nur noch in der Lektüre wirkte. Aus 
Asien kam noch unter Augustus der griechische dramatische Mimus (S. 125), Mimm. 
von nun ab das Surrogat des Lustspieles, dem es sonst ganz wie der Tra- 
gödie ging. 

Die Wissenschaft war, von der lokalrömischen Archäologie und der 
Rechtswissenschaft abgesehen, ganz und gar griechisch, und leider ist es 
mit ihrer Rezeption durch die Römer nicht so vorwärts gegangen, wie man 
hoffen durfte: Griechen waren eben überall vorhanden, wo man sie haben 
wollte, und jedermann verstand sie. Aber so weit ging selbst die Bildung 
der leitenden Mäimer nicht, daß für die Weltkarte des Agrippa die 
elementarsten Grundsätze der physikalischen Geographie berücksichtigt 
worden wären. Statt, wie sich gebührte, neue Punkte auf dem Erdball 



^T^IJLIUCH VON WiLAMOWlTZ-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 



Strmbon 

(ca.68 — jo 

n. Chr.). 



Pbiloiophir. 



festzulegen, ward das Gradnetz des Eratosthencs ganz ignoriert. Und doch 
lebte in Rom Strabon von Amaseia, der wahrhaftig selber zu wenig Ver- 
ständnis für Eratosthenes und Hipparchos bekundet hat, aber er oder der 
Grammatiker Aristonikos oder hundert andere hätten doch den rohen 
Empirismus berichtigen können, der mit dem Straßennetze ein noch viel 
unvollkommeneres Erdbild lieferte als die altionischen Pörtulanen. Strabon 
ist von der ernsten griechischen Wissenschaft so wenig gerechnet worden 
wie Diodor; sein Geschichtswerk war auch der Form nach nur Kompila- 
tion, aber seine Geographie, so wenig eigene Forschung in ihr steckt, so 
bedauerlich es ist, daß er für Griechenland nur an der homerischen Vor- 
zeit Interesse nahm (dafür allerdings in Apollodoros die rechte Schmiede 
aufsuchte), so viel wir von seinem Ruhme abziehen würden, wenn wir 
Artemidoros von Ephesos lesen könnten, der hundert Jahre vorher die Erde 
beschrieben hatte: sein Buch ist doch eine durchweg erfreuliche und sehr be- 
lehrende Lektüre. Der Grieche hat für das Charakteristische jedes Landes 
und auch für den gegenwärtigen Zustand offenes Verständnis, ist wunderbar 
gut auf dem Laufenden und gibt scharf umrissene Bilder: was ist dagegen 
Mela oder Plinius. Auch die schlichte sachliche Rede ist hoch erfreulich: 
es sollte ein Lesebuch sein und ist es geworden. Ebenso braucht nur an 
die schon oben (S. i lo und 114) genannten Memnon und Nikolaos erinnert 
zu werden, damit man die Geschichtschreibung der Zeit nicht nach dem 
Rhetor Dionysios beurteile, gegen den Livius freilich sowohl ein Historiker 
wie ein Poet ist. Es ist aber unverkennbar, daß der Historiographie der 
Klassizismus nicht günstig war; dazu hätte es einer wirklich historischen 
Forschung auf dem Gebiete der alten Geschichte bedurft; aber man las 
die histori.schen KJas.siker und schwor auf ihre Worte. Reichsgeschichte 
aber ward so wenig geschrieben wie Ptolemäergeschichte. Aus dem 
Alexandriner Timagenes, der sich auf sein keckes Mundwerk viel zugute 
tat, hätten die Modernen nicht einen Welthistoriker von Einfluß und Be- 
deutung machen sollen. 

Mit der strengen Philosophie mußte es ähnlich gehen. Die Pro- 
duktion neuer Gedanken hat aufgehört, das Interesse an der Geschichte 
der Philosophie und dem Studium ihrer Klassiker sich vorgedrängt, und 
die Zusammenfassung aller Einzelvvi.ssenschaften in der Enzyklopädie 
der neun oder sieben freien Künste bedeutete die Verflachung aller ein- 
zelnen. Das war das Erbe der unmittelbaren Vergangenheit. Da sehen 
wir denn, wie die peripatetische Schule mit Andronikos von Rhodos auf 
eine esoterische Pflege des Aristoteles ablenkt; auch für Piaton (durch 
Derkyllidas und dann Thrasyllos) und selbst für Demokritos (auch durch 
Thrasyllos) geschieht Ahnliches. Die erste Rolle spielt die Stoa: da wirkt 
die imponierende Hinterlassenschaft des Poseidonios. Schüler von ihm 
wie Eudoros und Asldepiodotos, aber auch Sotion, sind für die Verbreitung 
wirksam und liefern die Verbindung zu Seneca. In anderer Weise wichtig 
ist, daß Areios Didymos das Ohr des Kaisers hat. Seine Stoa gravitiert 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). 11. Von Augustus bis Alexander. 155 

mehr nach der stoischen Akademie des Antiochos, und eine klassizistische 
Philosophie, die mit Abschleifung der Schul^egensätze eine allg-emeine Welt- 
anschauung des gebildeten Menschentumes den weltbeherrschenden Römern 
liefern sollte, war eigentlich auch das Ideal Ciceros gewesen. Auch in 
der religiösen Färbung posidonisch ist eine Schrift über das Weltall, die 
sich doch Aristoteles nennt und durch den falschen Namen gerettet worden 
ist Ihre Sprache hat noch viel Hellenistisches, auch in den Klauseln der 
Sätze: man darf sie ganz besonders für die Charakteristik dieser Zeit ver- 
wenden. Auch auf einen klassischen Namen gestellt ist das „Gemälde" 
des sogenannten Kebes; sokratischer Dialog der äußerste Rahmen; das 
fiktive Gemälde eigentlich eine Prosopopöie, wie sie längst Mode waren 
und immer wieder Beifall fanden; die Ausdeutung soll tiefe Philosophie 
sein. Uns scheint alles frostig und banal; aber es hat so stark gewirkt, 
daß sogar die bildende Kunst sich daran versucht hat, die Fiktion des sehr 
wenig plastisch veranlagten Verfassers nachzuschafFen. War doch auch die 
Renaissance für solche AUegorieen ungemein empfänglich: welches Glück 
hat nicht die sogenannte Calumnia des Apelles gemacht, im Grunde eine 
Prosopopöie ähnlichen Schlages, die Lukian reproduziert hatte. Der neu- 
pythagoreische Mystizismus hatte auch schon eine Generation früher sich 
stärker geregt: gerade er fand bei den Römern Anklang, und es ist sehr 
merkwürdig, daß ein asketischer Neupj'thagoreer Sextius Niger als grie- 
chischer Schriftsteller über Botanik der Folgezeit ganz wesentlich das 
Material bereitet. Für die Zoologie tat das Alexandros von Myndos, wie 
es scheint, ohne Wissenschaftlichkeit und mit viel Fabelei; aber der Ein- 
fluß, den er übt, kommt dem des Niger gleich. 

Vergessen darf auch die Grammatik nicht werden, von deren zahl- Grammaiik. 
reichen Namen wenigstens einige genannt seien, Aristonikos, der uns die 
Schärfe Aristarchs am reinsten wiedergibt, die Theoretiker Trj'phon und 
Ptolemaios von Askalon, Theon, der die hellenistischen Dichter des 
3. Jahrhunderts durch seine Ausgaben in die Reihe der Schulklassiker 
einführt und dadurch erhält, und endlich Didymos, der Kompilator der 
alexandrinischen Schätze aller Art Gewiß trifft sein Beiname „der 
Mann mit dem eisernen Sitzfleisch" auch insofern zu, daß er mit dem 
Gehirne wenig arbeitete; aber das hat der neu entdeckte Demosthenes- 
kommentar doch gelehrt, daß wieder ein lateinisches Buch, dem man es 
nicht zutraute, in der Form ganz von dem griechischen Vorbilde abhängt: 
der Cicerokommentar des Asconius ist nach diesem Demostheneskommentar 
gearbeitet Das nimmt dem Asconius nichts von seinem Werte, denn er 
arbeitet aus den Quellen, während DidjTuos kompiliert; erst wenn wir 
statt Didymos Hermippos sagen, gelangen wir in die Region, die inhalt- 
lich und formell Griechen und Römern der Kaiserzeit gleichermaßen 
die Wege gewiesen hat 

Die Literatur, die lediglich alten Stoff bequem präpariert darbot, muß 
ganz ungeheuer gewesen sein; doch sei nur noch ein Name genannt, 



1^6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

weil er Rom als Kapitale der griechischen Bildung' besonders g^ut illustriert 
juba Der Berberprinz Juba ist als Kriegsgefangener in Rom aufgewachsen; der 
(t 23 n. Chr.?). jj^£ j^^j gjpjj seiner angenommen, ihn mit einer Prinzessin verheiratet imd 
ihm eines der kleinen Königreiche mitgegeben, die Augustus als PufiFer 
gegenüber den Barbaren zu errichten liebte. In dem wilden Mauretanien 
baute sich Juba seine Residenz, und deren Reste bei Cherchel bekunden 
durch die Kopieen altattischer Statuen den korrekten Greschmack des Herrn. 
Schriftstellerisch hat er über allerhand Materien der griechischen Anti- 
quitäten geschrieben; die Geschichte des griechischen Theaters von dieser 
Hand geschrieben zu finden, ist einigermaßen spaßhaft. Er hat auch über 
sein Land geschrieben, nicht ohne stark zu fabulieren. Und eine Ver- 
gleichung griechischer und römischer Sitten demonstrierte z. B. dem Plutarch 
die hellenische Rasse der Römer: daß das ein Berber leistete, ist wahrlich 
ein Zeichen der Zeit 

Von dem Leben in der Provinz wissen wir noch zu wenig; es wird 
sich noch vielerorten zeigen lassen, daß die hellenistischen Überlieferungen 
hier nur langsam dem Losungsworte wichen, das aus der Hauptstadt kam. 
Am stärksten mußte Alexandreia widerstehen, wo schon der ägfjrptische 
Einschlag der Kultur mit dem reinen Attizismus imvereinbar blieb. Wo 
wir, wie in dem sogenannten dritten Stile der pompejanischen Malerei, 
sicher alexandrinische Herkunft anerkennen, ist denn auch ein erfreuliches 
Fortleben des Hellenistischen vorhanden, und kaum kann man zweifeln, 
daß das üppig sinnliche, phantastische Wesen, das in der neronischen 
Zeit hervorsprudelt, in Alexandreia samt den Vorstädten Eleusis und 
Kanopos zu Hause ist Wir müssen uns für diese Periode mit einem 
Phiion feierlich ernsten Vertreter Alexandreias begnügen, dem Juden Philon, den 
(t nach 41). ^jg Christen, fast als gehörte er zu ihnen, erhalten haben. Mit den 
Fanatikern von Jerusalem hat er freilich wenig gemein; im Gregenteil, 
dies Judentum, so hochmütig er auch darauf pocht, daß sein Volk das 
auserwählte wäre, mußte dahin führen, wo sein Neffe Tiberius Alexander 
angelangrt ist, der im Heere des Titus vor Jerusalem kommandiert hat 
Auch Philon ist mehr als ztu- Hälfte hellenisiert Er treibt nur jenes 
unerfreuliche Spiel, Aas die christlichen Philosophen von ihm erben, alle 
Gedanken von den Crriechen zu entlehnen, auch die wissenschaftliche 
Dialektik und die abscheuliche Allegorie, und dann das hellenisierte, also 
denaturierte Judentum gegen die Griechen auszuspielen. Dabei setzt er 
mit Berechnung zwei verschiedene Masken auf, so daß man ihm einen 
Teil seiner Werke hat absprechen wollen. Für seine Landsleute verbirgst 
er sorgfältig die Herkunft seiner Lehren und gibt alles als eine Art 
Kommentar zur Thora, der homiletischen Exegese präludierend. Für das 
große Publikimi spielt er den Gelehrten, der sich mit aller Literatur ver- 
traut zeiget, und bedient sich der Formen der philosophischen Schrift- 
stellerei, Essay, Dialog, Bios (von dem S. 115 die Rede war). Der Stil 
ist überall der gleiche, erhaben, schönrednerisch, wohlperiodisiert, an 



D. Römisclie Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). II. Von Augustus bis Alexander, i :^ 

Worten überreich, von Attizismus kaum die ersten Regungen, die Etappe 
zwischen Poseidonios und Plutarch, die man sich konstruieren würde, nur 
ermüdet die Monotonie entsetzlich. Nichts Jüdisches darin, nichts Vul- 
gäres, aber auch kaum etwas Individuelles; wie denn Philon durch seine 
eigene Philosophie durchaas nicht verdient hat, daß er erhalten blieb, 
kein Gedanke, daß er den Paulus oder das Johannesevangelium oder den 
Neuplatonismus beeinflußt hätte. .Schließlich hat ihn die Judenhetze unter 
Gaius noch zu einer sehr wertvollen und viel lebendigeren Schriftstellerei 
veranlaßt, der publizistischen Vertretung des Judentumes. Gegenüber dem 
nichtsnutzigen Bengel auf dem Thron mit seiner Göttlichkeit und gegen- 
über den demagogischen Hetzern erscheint Philon trotz der Halbschlächtig- 
keit seines Wesens feist ehrwürdig, und das Urteil dieses Zeitgenossen über 
das Regiment des Tiberius wiegt alle perfide Kunst des Tacitus auf. 

Die Allegorie und andere Irrgänge der Dialektik, auch einige Stil- Pauius 
mittel (wie die ungefüge Häufung von Nomina), hat Paulus mit Philon '^ "■*>■ 
gemein. Es gab also in der jüdischen Schule von Tarsos eine ent- 
sprechende Tradition, wie denn die seit langer Zeit ganz hellemsierte 
Hauptstadt Kilikiens auch in Poesie und Grammatik nach Alexandreia 
gravitierte. Hellenische Bildungselemente hat aber Paulus direkt nicht 
aufgenommen. Die gefälschten Pastoralbriefe und die Reden der Apostel- 
geschichte gehen ihn nichts an. Gewiß ist der Hellenismus eine Vor- 
bedingung für ihn; er liest nur die griechische Bibel, denkt also auch 
griechisch. Gewiß vollstreckt er unbewußt das Testament Alexanders, 
indem er das Evangelium zu den Hellenen bringt; aber er ist aus ganzem 
Holze geschnitzt, er ist Jude, wie Jesus ein Jude ist Daß aber dieser 
Jude, dieser Christ griechisch denkt und schreibt, für alle Welt und doch 
zunächst für die Brüder, die er anredet, daß dieses Griechisch mit gar 
keiner Schule, gar keinem Vorbilde etwas zu tun hat, sondern unbeholfen 
in überstürztem Gesprudel direkt aus dem Herzen strömt und doch eben 
Griechisch ist, kein übersetztes Aramäisch {wie die Sprüche Jesu), macht 
ihn zu einem Klassiker des Hellenismus. Endlich, endlich redet wieder 
einer auf griechisch von einer frischen inneren Lebenserfahrung; das ist 
sein Glaube; in ihm ist er seiner Hoffnung gewiß, und seine heiße Liebe 
umspannt die Menschheit: ihr das Heil zu bringen, wirft er freudig sein 
Leben hin; frisches Leben der Seelen aber sprießt überall empor, wohin 
ihn sein Fuß trägt Als einen Ersatz seiner persönlichen Wirkung schreibt 
er seine Briefe. Dieser Briefstil ist Paulus, niemand als Paulus; es ist 
nicht Privatbrief und doch nicht Literatur, ein unnachahmliches, wenn auch 
immer wieder nachgeahmtes Mittelding; es ist aber doch artig, daß man am 
ehesten noch Epikuros (S. 96) mit Paulus vergleichen kann. Ihm war ja 
alle Literatur Tand, jede künstlerische Ader fehlte ihm: um so höher 
muß man die künstlerischen Wirkungen schätzen, die er gleichwohl erzielt 
Was sollte ihm und seiner Welt all das bedeuten, was wir Kunst und 
Wissenschaft nennen und als das Höchste des Menschlichen, oder vielmehr 



^^^V 1^8 Ulrich VON Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

^^^H höher als etwas nur Menschliches schätzen? Er schöpfte ja ein gutes 
^^^H Teil seiner Kraft aus dem Wahng-lauben an den nahen Weltuntergang. 
^^^H Aber in der hellenischen Welt der konventionellen Form, der glatten 
^^^H Schönheit, der Gemeinplätze erquickt diese Formlosigkeit, die doch den 
^^^H Gedanken und Empfindungen ganz adäquat ist Oder welche Stilisierung 
^^^H könnte den intimen Reiz des Philipperbriefes erhöhen? Paulus offenbart 
^^^H der Welt für alle Zeit, daß der Mensch Gott auch auf anderem Wege 
^^^H finden kann, als es die Hellenen getan und gelehrt haben. Gewiß ist 
^^^H Kunstlosigkeit absolut kein Vorzug; es rangiert die Geister, daß Paulus 
^^^H für Piaton nie Verständnis hätte haben können, weil Wissenschaft und 
^^^H Kunst außer seinem Horizonte lagen, wohl aber Piaton frei genug war, 
^^^H eine echt religiöse Persönlichkeit und unstilisierte Herzlichkeit der Rede 
^^^H zu würdigen. Aber ebenso muß man zugeben, daß Piaton sich so ganz 
^^^H niemals hätte selbst geben können, nicht nur weil dem künstlerisch 
^^^H Durchgebildeten die Formlosigkeit wider die Natur ist, sondern weil er 
^^^H em Hellene war; dieses künstlerische Wesen ist eben die spezifisch helle- 

^^^H nische Natur. Sie müssen dichten, wenn sie ganz sagen sollen, was 
^^^H sie leiden. Auch für ihre bildenden Künste ist das zugleich der Vorzug 
^^^H ihres Adels und die Schranke ihres Könnens. Jetzt war die l'lugkraft 

^^^"^ des hellenischen Genies erschöpft; der Stil war Manier geworden. Die 

^H ganze griechische Literatur des Klassizismus wird dadurch gerichtet, daß 

^H die Nachahmung der Klassiker nur auf lateinisch in Cicero, Horaz, Vergil 

^B neue Klassiker zeugte, die griechische Sprache dagegen, wenn sie un- 

^H mittelbar aus dem Herzen kommen sollte, ganz imkünsüerisch sein mußte, 

^B wie sie es bei Paulus, Epiktet, Plotin ist Dann ist auch das vorbei. 

Gaiu» bu Nero. Die lange Regierung des Augustus hatte zum Segen für das Reich 

eine Fortsetzung in demselben Sinne gefunden; aber es war das Regiment 
eines Welt und Menschen verachtenden Greises. Auch die griechische Welt, 
die doch nicht unter den Katastrophen gelitten hatte, von denen das Kaiser- 
haus und der Adel heimgesucht waren, atmete auf wie an einem Frühlings- 
morgen, als der Knabe Gaius auf den Thron kam. Den reizte es, die Macht 
zu genießen wie einst den Ptolemaios IV., den neuen Dionysos. Man durfte 
wieder liederlich und lustig sein; die Kleinkönige, die Tiberius mitleidlos 
kaltgestellt hatte, hüpften auf ihre Thrönchen, und der Mob von Alexandreia 
durfte die Juden verprügeln. Der Übergang des Prinzipats auf Claudius 
änderte daran nicht viel: regierten doch seine grieclüschen Kammerdiener. 
Und Nero entwickelte sich bald zum Haupte der lustigen Liederüchkeit 
Von seiner philosophischen Erziehung war ihm nur die Neigung für das 
Griechentum geblieben, die zu der Komödie der isthmischen Befreiung 
der Hellenen führte: seine Proklamation i.st ganz in ausschweifend rhyth- 
mischer Prosa verfaßt, die damals bei den Griechen eigentlich schon nicht 
mehr Mode war. Nero ist selbst der artifex, d. h. der dionysische 
Technit: erst in der Rückübersetzung kommt die Pointe heraus. Er erneuert 
musikalischen und schafft poetische Konkurrenzen; der Kitharode 



D. Römische Periode (30 v. Clir. bis 300 n.Chr.). II. Von Augustus bis Alexander, ijq 

und Chorpfeifer kommen wieder auf. Um verlorene Kunstwerke brauchen 
wir gewiß nicht zu weinen, aber historisch ist es sehr bedauerlich, 
daß wir von der griechischen Poesie so wenig wissen, die unter diesem 
Patron erwachsen ist Das Grriechentum fühlte sich merklich empor- 
gehoben; es ist mehr dahinter als das Legitimitätsgefühl, das die falschen 
Neros hervorrief; selbst ein Plutarch hat dem Muttermörder nicht ganz 
die Sympathie geweigert. Und anmutig wird die Liederlichkeit immer 
noch gewesen sein, Stil muß sie gehabt haben: das lehren die Wände 
Pompejis mit der schrankenlos spielenden Ornamentik und der wirkungs- 
vollen Buntheit des letzten Stiles. Wir haben wohl nur im Epigramme 
einige literarische Belege. Bis auf Gaius kennen wir das sehr gut, da 
wir reichliche Auszüge aus einer Sammlung besitzen, die damals ein recht 
untergeordneter Poet, Philippos aus Thessalonike, veranstaltete, wie solche 
Leute es zu machen pflegen, besonders weitherzig gegen die eigene Muse. 
Es verrät sich in bedenklicher Weise das Vordringen der Rhetorik, wie 
in der Poesie des Ovid, und eine große Anzahl Dichter sind zugleich 
Rhetoren. Die Produktion geht jetzt so vor, daß dem Epigrammatiker ein 
Thema aufgegeben wird; oft führt das zur beschreibenden Dichtung, öfter 
galt es nur, ein gegebenes Motiv zu variieren. Die Verskunst sinkt; 
Improvisation dürfte nicht selten gewesen sein. Besser wird das unter 
Xero gewiß nicht, an den ein gewisser Lucilius direkt Verse richten darf; 
aber das Epigramm Martials ist bereits da, mit dem Heischen nach einer 
witzigen Pointe {die Martial freilich besser zu finden versteht) und dem 
persönlichen oder scheinbar persönlichen Angriffe, der dann dem Epi- 
gramme des Okzidents, dank Martial, bleibt, und endlich dem Aufsuchen 
des Schmutzes, je ekelhafter desto lieber; auch darin ist Martial Meister 
geblieben; die Griechen sind im Grunde noch unreiner, sind lange nicht 
so witzig, aber ein Vorzug bleibt ihrer poetischen Tradition, die den 
Grobianismus nie gekannt hat: die unflätigen Wörter sind so gut wie ver- 
pönt In dem dramatischen Mimus werden sie nicht gefehlt haben, und der 
erfreute sich des lebhaftesten Zuspruches, der griechische wie der latei- 
nische ; er hält sich tief in die christliche Zeit hinein. Auch der tragische 
Pantomimus dient immer mehr dem sinnlichen Reize. Die gemeinen 
Menschen- und Tierschlächtereien der Arena muß man hinzunehmen; sie 
dringen auch in den griechischen Osten, wenn auch unter Protest der 
besseren Gesellschaft Diese Atmosphäre voll von Blut und Wollast, von 
maßlosem Glanz und tiefster Entvdirdigung der Menschen, drückt auf die 
Welt: es ist sehr verkehrt, wenn man meint, durch Beseitigung vieler 
einzelner Fabeln die grelle Beleuchtung der Moralisten und Christen wesent- 
lich dämpfen zu können. Renan hat in seinem AnHchrist das Bild der Zeit 
getroffen, nur zum Teil zu sehr mit ihren Farben gemalt Woher wären auch 
sonst die machtvollen Rufer nach einer Umkehr und Einkehr erstanden? 
Woher der Umschlag in die entgegengesetzte Unnatur der Askese? Eben 
in Neros Zeit erscheint nach drei Jahrhunderten wieder ein Kyuiker, 



i6o Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Demetrios; er predigt in den Bädern Roms und Seneca sucht ihn auf. 
Aber gewiß, noch ist Genußfähigkeit vorhanden, der Taumel eines frischen 
Rausches, das Gefühl des Glanzes, der Überfülle, der Sicherheit des 
Weltfriedens, der Weltkultur. Auch den Verirrungen fehlt es weder an 
Majestät noch an Grazie. 
Die Fiavicr Die Bürgerkriege des Dreikaiserjahres machten dem Taiunel ein 

(69—96)- fürchterliches Ende. Auf die legitime Dynastie aus Götterblute folgen die 
plebejischen Flavier. Sie haben es nicht erreicht, bei den Grriechen die 
sehr lebhafte Antipathie zu überwinden. Vergebens steigerte namentlich 
Domitian die poetischen Wettkämpfe und schwärmte Titus für einen 
schönen Faustkämpfer von Weltruhm, da die Athletik sich aus archaistischer 
Rückkehr zu den althellenischen Tumspielen zu einem von allen Griechen 
leidenschaftlich geliebten Schauspiele herausgebildet hatte. Höfische 
lateinische Poeten, wie Statins und Martial, ließen sich wohl heranziehen, 
ein tüchtiger Rhetor wie Quintilian war gefügfig; aber die öffentliche 
Meinung blieb oppositionell, und die Regierung empfand das so peinlich^ 
daß sie einzuschreiten versuchte. Die Griechen erlebten nun einmal die 
Unterdrückimg des freien Wortes; Ausweisungen aus Rom, Verbannungen, 
Leibesstrafen sollten die Literaten und Philosophen mimdtot machen. Die 
Leidenszeit ist gerade den Besten gut bekommen. Es ist sehr merk- 
würdig, daß Plutarch in dem weltentlegenen Chaironeia sich während der 
Zeit Domitians ebenso schweigend verhalten hat wie Tacitus. Offenbar 
harmonierte die Opposition in der römischen Beamtenschaft ganz mit dem 
hellenischen Widerwillen gegen „den Tyrannen". In besonders lebhafter 
Weise hat die Tradition den göttlichen ApoUonios von Tyana als Träger 
dieser Empfindungen herausgeputzt: er opponiert als Hellene, als Freiheits- 
freund und als Philosoph. Auch bei dem Sturze Domitians haben die 
verschiedenen Schichten der Bevölkerung mitgewirkt, imd es ist vor- 
bedeutend, daß das Grriechentiun wieder ein Gewicht in die Wagschale 
Die Dynastie wirft. Kaum ist der Bann gebrochen und ein Regiment eingesetzt, das 
f,^'-f*T ^^l?®™®^'^ ™* Jubel begrüßt wird und ja wirklich fast ein Jahrhundert 
ungestörter Entwickelung der Welt gewährt hat, so sprudelt der Born 
der Literatur mächtig auf. Wie nahe sich die Gedanken bei Römern und 
Griechen berühren, zeigt, daß Tacitus die Germanen, Dion die Sk)rthen 
schildert: man sollte den Parallelismus nicht übersehen, so verschieden 
auch der kynische Prediger und der Senator ihre Aufgabe gelöst haben. 
Niemals ist der Zusammenhang der griechischen xxnd. lateinischen Produktion 
so eng. Favorin von Arles, Musonius von Volsinii gehen ganz in die 
griechische Literatur über; Sueton ist griechischer und lateinischer 
Crrammatiker ; Julius Vestinus gehört dem alexandrinischen Museum und 
der kaiserlichen Kanzlei an; Minucius Pacatus g^äzisiert sich zu Eirenaios 
für seine griechischen Bücher; Plutarch lernt so viel Latein, daß er 
lateinische Werke für die Biographieen von Römern benutzen kann. Aber 
der Erfolg ist, daß die römische Literatur so gut wie versieget: die 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bfs 300 n. Chr.). n. Von Augustus bis Alexander. 1 6 1 

griechische erlebt dem Umfange und dem Erfolge nach einen Aufschwung, 
der es verzeihlich macht, wenn den Zeitgenossen die schönsten Tage der 
Erfüllung angebrochen zu sein .schienen. 

Die Dynastie, die mit Nerva beginnt, ist auch in der ganzen Politik 
eine Einheit. Traian war noch ganz Römer, Soldat, Regent; die Be- 
schützung der Philo.sophen , soweit sie nicht politisch wirkten wie Dion, 
überließ er seiner Frau, die sich zur Schule des Epikur bekannte. Hadrian 
aber, des.sen Tendenzen für die Nachfolger bindend sind, macht sich 
nicht nur .selbst die griechischen Epigramme, wenn er den Helikon be- 
sucht oder im mysischen Bergwalde einen Bären erlegt: er gibt der 
Reichspolitik in bewußtem Gegensatze zu Augustus und Domitian eine 
starke Wendung nach der griechischen Seite. Er fühlt sich als Herr des 
Reiches, und mit dem Primat der Italiker ist es zu Ende. Im höheren Ver- 
waltungsdienste, der mit dem Militärdienst verwachsen ist, rücken Griechen 
wie der Bithyner Arrian bis zum Statthalter einer Provinz auf; selbst über 
das Exerzierreglement widmet ihm ein Grieche Alianus ein Buch. Gerade 
weil er die Mitherrschaft des Senates illusorisch macht, zieht er Griechen 
hinein: dem athenischen oder asiatischen Rhetor winkt die Aufnahme in 
den Reichsadel. Piu.s geht in der Verhätschelung noch weiter: wie er an 
griechische Gemeinden schreibt, sollte wirklich kein Kaiser sich aus- 
drücken. Die Inspektionsreisen Hadrians und seine Freigebigkeit kommen 
zwar allen Provinzen zastatten; aber dem Osten doch mit Vorliebe, und 
die hellenische Überschwenglichkeit kann sich in dem Kultus des 
„Olympiers" nicht genug tun. Er ist in der Tat persönlich Herr der Welt; 
auch sein Geschmack beherrscht sie. Er ist Archaist; das Uraltertum 
Ägyptens hat ihm wohl den größten Eindruck gemacht, und Ägyptisch 
wird Mode. Er erweckt in Athen die musische Konkurrenz der Phylen 
zu neuem Leben; ihn reizen die Mysterien und Orakel, und so beginnt 
dieser alte Spuk von neuem. In der Literatur kommt nun die attizistische 
Bewegung auf ihren Höhepunkt: der Purismus bringt es bald dahin, 
wirklich zu schreiben wie vor 500 Jahren, und damit nicht genug, selbst 
ein Arrian versucht sich auf ionisch und eine Hofdame der Sabina ver- 
ewigt sich auf dem Memnonskolosse in der Mundart Sapphos. So ver- 
derblich wie für das Lateinische wird das nicht, weil dort der Archaismus 
von den wirklichen Klassikern abführte; aber die Fähigkeit zu jedem 
Fortschritt wird doch auch hier abgeschnitten, und immer breiter wird 
die Kluft, die das Volk von der dünnen Schicht der Gebildeten trennt. 
Unvermeidlich war, daß die Hauptstadt sich noch stärker hellenisiert, als 
es schon luvenal beklagt: die starke Christengemeinde muß so gut wie 
ganz als griechisch angesprochen werden. Die vornehmste literarische 
Verherrlichung des Reiches, die es überhaupt gibt, ist die Rede, die 
Aristeides von Smyma unter Pius auf Rom in Rom gehalten hat, und 
noch unter Pertinax hat ein griechischer Rhetor in Rom vor dem Kron- 
prinzen die Festrede gehalten, die als die „Rede auf den König" unter 

Du KL'LTUB du G«CKtWART. LS. II 



^ 162 Ulrich von WilamowitzMoeixendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

^H den Werken desselben Aristeides steht (dies ist noch eine Entdeckung von 

Bp Th. Mommsen). Aber Rom gibt nicht mehr die entscheidenden Impulse. 

^^ Die Rhetorik, die sich wieder als die Herrin der Welt betrachten darf, 

^H hat ihr Zentrum in Asien, die Philosophie in Athen, wo ihre Schulen nun 

^H geradezu kaiserliche Institute sind, die Naturwissenschaften, soweit sie 

^H noch existieren, und die Grammatik in Alexandreia. Die bedeutendsten 

^m Ärzte, wie Galenos, ziehen wohl nach Rom um der Praxis willen imd 

^H lehren dann auch dort theoretisch; aber die Hauptsitze der wissenschaft- 

^H liehen Tradition sind doch im Osten. 

^H Natürlich strömt alles, was parvenieren will, nach Rom, um womög- 

^H lieh die kaiserliche Protektion zu erlangen; dort einmal aufgetreten zu sein, 

^H ist ein brennender Wunsch aller Literaten. Der philosophische Wander- 

^H prediger Cassius Maximus von Tyros hat vor die Sammlung seiner Reden, 

^B die wir besitzen, „gehalten in Rom" gesetzt, obwohl der Inhalt darauf 

gar keine Beziehung hat und er sie vielerorten gehalten haben wird. 
Aristeides, reichbegütert und seßhaft in Asien, zieht mit der äußersten 
Anspannung seines siechen Leibes dorthin; Lukians Nigrinus hat dadurch 
etwas mehr inneren Gehalt als seine meisten Essays, daß er der bitteren 
Enttäuschung über sein römisches Auftreten Luft macht. Lukian illustriert 
überhaupt sehr gut das Literatentum einer Zeit, die alles wieder auf den 
mündlichen Vortrag berechnet: gebürtig am äußersten Ostrande des Reiches 
kann er in einer Causerie vor griechischem Publikum von gallischen 
Eindrücken berichten. So ziehen auch Schauspieler und Athleten des 
griechischen Ostens nicht nur ins Rhonetal (das eine starke griechische 
Bevölkerung hatte), sondern bis nach Spanien; sie haben sich als eine 
„ökumenische" Genossenschaft konzessionieren lassen. Am besten aber wird 
der Zusammenhang des ganzen Reiches und die beständige Wechsel- 
wirkung seiner Teile durch die Organisation illustriert, die sich eben jetzt 
die Christengemeinden zu geben geschäftig sind. Die Prophetinnen des 
inneren Phrygiens erschüttern den Frieden der Brüder in Rom, Lyon, 
Karthago, und schon der Brief verkehr setzt das beständige Reisen von 
Brüdern voraus. Für andere Kreise, deren Wohlstand und Bildung dazu 
reicht, ist das Reisen nach den denkwürdigen Stätten aufgekommen, d. h. 
also nach dem Osten. Für Ägypten zeugen die Inschriften des Memnon- 
kolosses; für andere Gegenden haben wir wenigstens noch ein paar Vertreter 
i'cricgeieii. der modischcn Ortsbeschreibungen, die sehr zahlreich waren: sie müssen nun 
auch die alten Lokalchroniken und Geschichten ersetzen, deren nur noch 
wenig in Versen, weniger in Prosa geschrieben werden {z. B. von Arrian 
über seine Heimat Bithynien). Am detailliertesten ist die Schilderung des 
Bosporus von einem gewissen Dionysios; das ist nur stilistisch aufgeputzt 
die alte tüchtige Küstenbeschreibung. Am effektvollsten im Zeitgeschmacke 
ist das Buch über das syrische Hierapolis, das unter Lukians Werke ver- 
schlagen ist Der Verfasser trifft nicht übel den herodoteischen Ton, 
den sein Ionisch anstrebt, und verrät doch unter der Maske der treu- 



D. Römische Periode (30 v, Chr. bis 300 n. Chr.). II. Von Augustus bis Alexander. 163 

herzigen Gläubigkeit, daß er nur von denen ernst genommen werden will, 
die so „gute" Menschen sind. Für uns eine unvergleichliche Fundgrube 
unschätzbaren Wissens ist die Beschreibung Griechenlands von Pausanias; 
aber danach darf ihn niemand beurteilen, weil er das selbst nicht wilL 
Daß er außer der Lokalarchäologie so viel schöne Dinge zu erzählen 
weiß (all das, was wir auf einer griechischen Reise überschlagen und er 
aus dritter Hand nimmt), daß er sich so fromm und so patriotisch und so 
archaistisch gebärdet, so naiv herodoteisch die Fiktion persönlicher Er- 
kundigung durchführt, und daß dabei der Stil so zerhackt und verzwackt, 
so edtbacken und muffig ist, daß man die hochmoderne Mache gleich 
herausschmeckt, das soll bewundem oder wenigstens empfinden, wer ihn 
mit seinem Maßstab messen will. Es ist eines der bezeichnendsten, also 
auch unerquicklichsten Erzeugnisse einer kemfaulen Zeit; er schreibt aller- 
dings erst unter Comniodus, als die guten Zeiten vorbei sind. 

Die schweren Kriege unter Marcus, die große Pest, die schlechte n« Djumö« 
Wirtschaft des Commodus und dann die verheerenden Bürgerkriege , von ^°' ^""" 
denen namentlich die Katastrophe von Byzantion weithin über griechische 
Landschaften Elend brachte, offenbarten nur zu bald, daß der Wohlstand 
und die Sicherheit des Reiches unterhöhlt waren. Noch einmal kam eine 
Dynastie empor; aber der Afrikaner Severus erkaufte sich den Thron, 
indem er den Soldaten das Reich opferte und die Heereszucht daran gab. 
Das Heer ist von nun an Träger der Barbarei, und die Regenten gehen 
aus ihr hervor. In Rom ist der Verfall überall zu spüren; wenn in 
Griechenland fast jedes Dorf Ehrenbasen für Severus zeigt, so hat sie 
die Furcht vor dem Zerstörer \'on Byzantion errichtet Der Afrikaner 
fühlt sich zu den Syrern hingezogen: von jetzt ab liegt der zweite Brenn- 
punkt der Ellipse nicht mehr in Asien, sondern in Antiocheia, wo schon 
Verus einige Jahre residiert hatte. Baalbek und später Palmyra sind die 
Monumente dieser neuen Mischung von Orientalischem und Römischem, 
in Rom die Caracallathermen und der Sonnentempel. Griechisch redet 
freilich auch dieses Neuorientalische noch, obwohl daheim die syrische 
Literatur in Edessa sich zu emanzipieren begannt und bald die Sassaniden 
mit frischem nationalen Impulse drohend die Hand nach den Grenz- 
provinzen ausstrecken. Die Kaiserin lulia Domna läßt sich von dem 
athenischen Rhetor Philostratos das Leben des heiligen Wundertäters 
Apollonios von Tyana widmen, der über alle Barbarenweisheit triumphiert; 
Caracalla bietet zu einem Partherzuge ein lächerliches Hilfskorps von 
Spjutiaten auf und spielt gern Alexander den Großen; der Archaismus 
glaubt noch originaler zu werden, wenn er über das Attische hinaus 
die Wörter der Poesie heranzieht, mit der er wetteifert. Aber das 
ist alles nur Tünche. Innerlich hat zuerst das neuhellenische Wesen 
die Kraft Italiens zerfressen: jetzt bereitet sich der Zwiespalt vor, 
dessen Ergebnis die Trennung von Orient und Okzident ist; die grie- 
chische Hälfte wird von den Orientalen, die römische von den Gennanen 



164 Ulrich von Wilahowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

barbarisiert Das hat innerlich viel früher begonnen, als es äußerlich in 
Erscheinung tritt 

Der Triumph HL Die ueuklassische Literatur. Vielfach wird die Zeit von 

dei ArchaUmoi. ^j^^ Flaviem bis Severus die zweite Sophistik genannt, im Anschluß 
an das Buch des Philostratos, das sich ßtot co<piCTwv nennt, aber nur 
noch den Namen mit dem hellenistischen Bios gemein hat, da die 
dürftigen, wie der Zufall sie bot, ziisammengerafiPben Notizen von jeder 
wirklichen Charakteristik der Personen und auch ihres Stiles weit ent- 
fernt sind; die meisten von ihnen werden freilich auch kaum einen 
individuellen Charakter besessen haben. Und überhaupt ist das Jahr- 
himdert denn doch zu reich, als daß der Hörsaal eines Rhetors den 
richtigen Augenpunkt für seine Betrachtung geben könnte. Ist ihm doch 
nicht einmal zu Bewußtsein gekommen, was auf dem Crebiete der Rede- 
kunst wirklich geleistet war. Der Klassizismus steht im Zenith seiner 
Bahn; es ist erreicht zu schreiben wie die Klassiker: kein Wunder, daß 
man sich für klassisch hält Sein Gott kann dem Aristeides im Traume 
sagen „du bist Demosthenes xmd Piaton zugleich". Wenn man einmal 
das formale Prinzip zugibt, daß die wohlgewählten und wohlgesetzten 
Worte alles machen, hat der selbstgefällige Träumer recht Der alte 
Streit zwischen Isokrates und Platon-Aristoteles scheint zugunsten der 
Rhetorik entschieden. Wieder hat das Aristeides begriffen und aus- 
gesprochen: sein umfänglichstes Werk ist dazu bestimmt, Piatons Gorgias 
zu überwinden. Er tut das in Perioden, die ganz demosthenisch dahin- 
rollen, in fast ganz klassischer und keineswegs ärmlicher Sprache. Lukian 
wird sich bald rühmen, auch den philosophischen Dialog kongenial zu 
beherrschen, und er wird ihn gegen die Philosophen wenden. Wir sollen 
und können es erreichen, daß wir die innere Unfreiheit dieser Imitation 
durchschauen; ein harter Richter mag sagen „ich finde keine Spur von 
einem Geist, und alles ist Dressur". Aber selbst dieser müßte gerecht 
sein und die Dressiu- bewundem. Jahre mühsamer Arbeit haben den 
Aristeides seine gfroßen Reden gekostet wie einst den Isokrates; Jahr- 
zehnte des Studiums xmd der täglichen Übimg waren nötig, damit eine 
Improvisation wie die Monodieen auf Smyma oder Eleusis gelingen 
konnten. Wohl leisten wir es nur mit Überwindung, die großen Reden 
durchzulesen; viel Lukian hintereinander erregt noch stärkere Übelkeit; 
den Schuldeklamationen gegenüber wird den meisten auch der g^te Wille 
versagen. Aber niemals (man könnte ja eigentiich nur den neulateinischen 
Ciceronianismus vergleichen), niemals ist die formale Technik der Prosa- 
rede, eingezwängt in die engen Schranken einer fremd gewordenen Sprache, 
mit gfrößerer Vollkommenheit geübt worden: und daß die heutigen 
Griechen von der Imitation nicht loskommen können, ohne ihre Kultur 
aufzugeben, ist zwar unter Augustus im Prinzip entschieden worden, aber 
die Lehrmeister der Byzantiner waren die Rhetoren dieser Zeit (Hermo- 



D. Römische Periode (30 v. Qjr. bis 300 n. Chr.). III. Die ncuklassische Literatur. 165 



genes und Nachfahren), und ihre Vorbilder waren Aristeides und Lukian. 
Man überlege sich auch, was denn das Griechentum ist, das in der 
Renaissance wirksam wird, an das die Aufklärung appelliert, ja das noch 
bis in unsere Tage für sehr viele die Vorstellungen beherrscht: die 
„Helden" Plutarchs, die „Frömmigkeit" des Pausanias, die „Mythologie« 
der Göttergespräche Lukians. Gewiß, mitleidlos muß man die Autorität 
dieses Scheinwesens zertrümmern. Was sind alle gemachten Blumen und 
alles destillierte Parfüm gegen die echten Kinder des Frühling.s. Aber 
wie gut nachgemacht war, was so lange täuschen konnte, sollen wir auch 
anerkennen. 

Aristeides ist von der Philologie eigentlich noch nicht entdeckt, ab- ArbteW«« 
gesehen von den Verirrungen seines Asklepiosglaubens, und doch fordert '^ ****'' "°'" 
er eine Monographie. Er ist allerdings nicht so leicht zu verstehen wie 
Lukian und hat bei den Klassikern gelernt, die persönlichen Spitzen 
durch Verallgemeinerung zu verhüllen. Dafür ist er kein Journalist wie 
Lukian, den niemand als Person ernst nimmt, sondern eine Macht Es ist 
nicht seine Zunge, es ist er selbst, dem der Landtag von Asien und 
Kaiser Marcus das Ohr leihen und gern folgen. Er i.st für die Festgemeinde 
an den Isthmien und sonst der erbauende und erhebende Redner, und 
diese Reden darf niemand vergessen, der die christlichen Festpredigten 
des 4. Jahrhunderts bewundert Ernst ist's dem Manne mit seinem Glauben, 
der in seiner Widerwärtigkeit und seiner zähen Energie ein Reflex seines 
Wesens ist; ernster noch mit seiner Kunst: gegen deren Mißbrauch findet er 
auch Worte gerechten Zornes. Jede Vergleichung mit den Rhetoren, von 
denen wir Proben haben, Herodes, Polemon, Lesbonax, auch mit den 
Pseudepigraphen unter seinem Namen beweist seine Überlegenheit Zwar 
nicht sein Panathenaikos, aber wohl seine Rede auf Rom dürfte durch 
einen Kommentar, der Inhalt und Form gleich zur Geltung brächte, auf 
eine Höhe gehoben werden, die an den Panegj'rikos des Isokrates min- 
destens nahe heranreicht 

Ist Aristeides gerade darum der vorzüglichste Vertreter der ganzen oion 
Zeit, weil ihre Krankhaftigkeit in ihm ebenso kulminiert wie ihre Kunst, 
so verkehrt man um so lieber mit den Moralisten, deren Gesinnung durch 
Leiden oder Schweigen gestählt war. Dion von Prusa ist als Rhetor für 
uns der erste strenge Attizist, wenn er's auch noch nicht ganz erreicht 
Die Bekehrung zur Philosophie, die durch ein längeres Untertauchen in 
die tieferen Volkskreise gestärkt ward, durch das er sich dem Tyrannen 
entzog, hat ihn zur Sokratik und noch mehr zum Kynismus geführt, aber 
seinen Stil nicht wesentlich geändert. Es war doch immer Rhetorik, was 
er in den Dienst der traianischen Regierung stellte (für uns als der be- 
redteste Vertreter des kynischen Monarchismus), womit er zu Hause eine 
übrigens ziemlich erfolglose Beglückerrolle spielte (die Reden lassen 
einigem Zweifel Raum, ob er ganz nach seinen Worten zu handeln wußte), 
und womit er in vielen Griechenstädten zur Eintracht und Einkehr mahnte. 



(t nach iii). 



l66 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Nur soweit sie praktisch ist, hat seine Philosophie eigenen Wert, weil er 
für das niedere Volk ein Herz gewonnen hat und sich ein wenig als 
kynischer Arzt der Seelen fühlt. Seine Predigten über die unerschöpf- 
lichen Themen Sokrates und Diogenes sind Reproduktion; ebenso die in 
ihrer Art gelungenen Allegorieen und Prosopopöieen (darunter eine Um- 
kleidung der altstoischen Physik unter dem Namen Zoroaster, die immer 
wieder für persisch oder für mystisch-religiös ausgegeben wird); im 
Grunde ist auch die berühmte Jägernovelle ein Stück der „kynischen 
Weise". Aber ihre Frische zeugt von dem warmen Herzen Dions, sogar 
mehr als von seinem Erfindergeschick. Es war gesunde Kost, die er dem 
Volke gab, und er gab sie im ganzen in einer Form, die dem Volke ver- 
ständlich war: das schloß den gelehrten Schmuck der Reminiszenzen imd 
die Beziehung auf tiefere philosophische Kenntnisse aus, um derentwillen 
wir heute lieber nach Plutarch greifen. 
piutarch Die beiden Zeitgenossen scheinen sich nie berührt zu haben; sie 

{c».4o— i»o). }^^^g,j gjj,jj auch schwerlich angezogen, denn dem Plutarch ist alles 
Kynische antipathisch. Ob er zu Traian, dem Beschützer Dions, Be- 
ziehungen gehabt hat, ist sehr fraglich. So ernsthaft er die Unterordnung 
unter Rom seinen Landsleuten ans Herz legte und so sehr er sich be- 
mühte, das Römertum zu verstehen, er fühlte sich doch ganz als Grieche: 
von ihm selber erfahren wir nicht, daß er das römische Bürgerrecht besaß, 
und erst die Inschriften haben seinen vollen Namen kennen gelehrt Er 
lebte in bescheidenem Wohlstand in Chaironeia, seiner winzigen Heimat- 
stadt, an der Seite einer geliebten und sogar aus Liebe geheirateten Frau 
und im Kreise geistig angeregter Freunde; Athen, das er oft besuchte, 
und in dessen geistigem Leben er, als Ehrenbürger und alter Herr der 
akademischen Schule, gewiß mit den Ton angab, schützte vor Verbauerung. 
Die weite Welt, Alexandreia und Rom, die er als Jüngling besucht hatte, 
konnte ihn ebensowenig fesseln, wie die epideiktische Halbphilosophie, 
obwohl er auch diese geübt hatte; aber auch die mathematische Bildung, 
die er sich auf der Universität erworben hatte, war ihm nur eine schätzens- 
werte Propädeutik, und ist er auch immer Platoniker geblieben, so war 
ihm das mehr die allgemein hellenische Religion. Er war nicht Attizist 
in den Vokabeln, aber das alte Grriechentum war ihm genau so das 
Paradies gesunderer, schönerer, freierer Menschen wie den Humanisten, 
die sich vom i6. — 1 8. Jahrhundert an ihm begeistert haben. Die richtige 
Stellung zur Welt des Tages, vornehmlich zum Römertume zu gewinnen, 
halfen ihm Poseidonios und Polybios. Es war nicht seine Lehre, sondern 
seine harmonische Persönlichkeit, die der Lehre Gewicht gab, was so 
viele Griechen und Römer {besonders Verwaltungsbeamte) in sein gast- 
liches Haus führte. Auf die Anregung von außen griff er am liebsten in 
seine Bibliothek und seine Zettel und schrieb über irgendeinen Gegen- 
stand der praktischen Moral einen Essay, an dem ihm eigentlich nur die 
Kunst und das Ethos gehörte: aber eben dieses machte die Lesefrüchte 



D. Römische Periode (30 v. Qir. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 167 

dem Adressaten und uns genießbar. Es ist diese Moral, durch die er 
Montaigne unentbehrlich war, zumal er den unpraktischen Rigorismus der 
Seneca und Musonius vermied, vor allem den Widerspruch zwischen 
Leben und Lehre. Daneben versucht er sich am Dialoge, seine eigene 
Umgebung einführend, die uns wirklich in greifbaren Personen entgegen- 
tritt, aber auch historische Personen aus großer Zeit, die Befreier Thebens, 
oder die sieben Weisen, diese nach einer alten Novelle. Auch Biographieen 
hatte er manche geschrieben, darunter, wohl noch in flavischer Zeit (da 
er über Vitellius nicht herabging; die beiden erhaltenen Stücke sind auch 
noch ganz unfrei), die der römischen Kaiser, die des Pindar, des Krates, 
auch eines phokischen Räuberhauptmannes: diese drei aus Lokalpatriotismus. 
Da hat ihm denn einer der Freunde und Helfer Traians, Sosius Senecio, 
den Anstoß zu seinen großen Parallelbiographieen gegeben, dem Werke, 
das zurzeit seinen Ruhm wesentlich begründet; im Altertum war das anders. 
Die Tendenz, Griechen und Römer als einander ebenbürtig zu erweisen, 
entspricht dem traianischen Regimente; beide Nationen hatten die Mahnung 
nötig. Wie Plutarch dieser Tendenz dient, ist des Vorbildes Polybios 
würdig. Diesem folgte er gleich in dem ersten Paare, Epaminondas 
und Scipio: denn den Freund und Helden des Polybios als edelsten 
Vertreter des Römertumes konnte er nur von jenem empfangen wie nur 
der Böoter den Epaminondas an die erste Stelle rücken konnte. Dem 
ist denn eine Menge Paare gefolgt, allmählich auch solche, die gar nicht 
als Muster gelten .sollten und konnten, wie Antonius und Demetrios (ein 
besonders schönes Buch}. Die Verkoppelung ist manchmal äußerlich, wie 
bei Lysandros und Sulla, weil beide Athen zerstört haben, Agesilaos und 
Pompeius, weil beide ruhmlos in Agj^pten gestorben sind, oft selbst- 
verständlich {Romulus — Theseus, Numa — Lykurg, Alexander — Cäsar), 
zuweilen ganz geistreich, wie die revolutionären Könige Spartas und die 
Gracchen oder Sertorius und Eumenes. Was uns befremden kann, ist 
die Ausschließung der hellenistischen Könige und der römischen Kaiser; 
aber da er die letzteren schon behandelt hatte, gab es für jene kaum die 
Parallelen; sonst hätten z. B. Ptolemaios Philopator zu Xero, Antiochos 
Soter zu Augustus ganz wunderbar gepaßt. Freilich kann man nicht 
sagen, daß die abschließende Vergleichung der verbundenen Charaktere 
irgendwie Bedeutendes sagte (sie ist daher in den Handschriften oft 
fortgelassen), und manche römische Biographie ist in Wahrheit nur 
ein auf das Persönliche gerichteter Auszug aus einem oder mehreren 
Geschichtswerken: aber das bleibt doch, daß das Individuelle fast immer 
sich zu einem interessanten Vollbilde abrundet Es sind wirklich Bioi in 
dem peripatetischen Sinne, dem der Mensch das Interessante ist; sein Wesen, 
nicht sein Tun. Wer diese Bücher auf die Tatsachen hin liest, muß sich 
oft ärgern; mit Recht wird er sagen, daß Plutarch kein Historiker war; 
aber das wollte er auch nicht sein. Er war auch kein Dichter wie sein 
Zeitgenosse Tacitus. Auch diese beiden haben sich nicht berührt, weder 



i68 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

persönlich noch literarisch. Sie würden sich auch nicht verstanden haben. 
Forscher waren sie beide nicht, sondern formten bereits geformten Stoff. 
Daß Plutarch sich bemühte, neben den besten Historikern womöglich auch 
authentische Zeugnisse für das individuelle Wesen seiner Helden zu finden, 
ist kein persönlicher Vorzug: dafür war er Grieche und besaß philo- 
sophische Bildung; natürlich bediente er sich dazu der Vermittelimg der 
alexandrinischen Biographen; aber wer ihn auf den Standpunkt der 
Exzerptoren herabdrückt, dem ist er noch nicht mehr als eine Greschichts- 
quelle. Tacitus war ein Römer jener Art, die von einem Gräculus und 
einem Literaten keinerlei Belehrung annahm. Das schied die Menschen. 
Gewiß ist der der Größere, den wir lesen wie einen Tragfiker. Der andere 
hat einem Shakespeare den Stoff und die Charaktere (auch diese) für 
große Tragödien geliefert; an ihm hat sich der ganz alte Goethe manchen 
stillen Abend erbaut, dem die rhetorisierte Historie mit ihren Staatsaktionen 
und pragmatischen Maximen zeitlebens unausstehlich war. Etwas Kleines 
ist das auch nicht Die letzten Jahrzehnte seines. Lebens wohnte Plutarch 
in Delphi und bekleidete dort ein hohes geistliches Amt Da ward sein 
frommer, aber freier Geist auf die schiefe Bahn gedrängt, eine Religions- 
übung, die doch nur als ehrwürdige überlieferte Form noch erträglich war, 
innerlich irgendwie beleben zu wollen. Der Mystizismus des Poseidonios 
gewinnt immer mehr Gewalt über ihn, imd so verkündet er uns in merk- 
würdigen Dialogen die unerfreuliche Dämonologie, die wir dann nicht nur 
in der neuplatonischen Schule, sondern in allen Religionen der Zeit die 
Sinne imd die Sittlichkeit gefährden sehen. Er konnte noch über die 
Verlcissenheit der Orakel schreiben, sah sie aber doch schon in unheim- 
licher Weise wieder das Orakeln aufnehmen und hatte nicht den Mut, dem 
Zauberspuk energisch abzusagen, weil auch dieser ihm ein Erbe der großen 
Vergangenheit zu sein schien. 

Plutarchs schriftstellerische Art ist eigentlich überall dieselbe, es sei 
denn, er folgte einmal eng einer streng wissenschaftlichen Deduktion (z. B. 
in den Abhandlungen von der ethischen Tugend und den beiden größeren 
gegen Epikur). Lange wohlgeformte Perioden rollen in gleichartigem 
ruhigem Zuge, ohne monoton zu werden, dahin; feine Gleichnisse, Zitate 
und Anekdoten werden eingestreut (er sammelte all so etwas offenbar in 
Zettelkästen), die liefern für neue Gedanken den Anhalt und ersparen, plötz- 
lich einspringend, oft die Mühe der Gedankenverbindimg. Man hat den Ein- 
druck, als reflektierte ein unerschöpfliches Gedächtnis dies und jenes Bild, 
das in ihm aufsteigt. Lebhafte Erregung, auch wo sie im Dialoge an- 
gestrebt wird, pflegt zu mißlingen, wie jeder laute Scherz; aber auch ver- 
haltene Stimmung bringt es nur selten zu einer Stärke, die uns innerlich 
ergriffe. Wir hören einen milden, klugen Grreis lehren, erzählen, plaudern, 
dessen Auge rückwärts blickt, vorwärts nur, wenn es zugleich jen- 
seits ist, in gesättigtem Gottvertrauen. Die Jugend, die zu handeln hat, 
wird den guten Alten gern anhören, aber etwas ungeduldig: wer ihr 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 160 



Epikiet 

(lehrt 

CA. go— 120). 



Handeln bestimmen soll, der muß kräftiger mit Peitsche und Zügel 
regieren. 

Als ein solcher Zuchtmeister lebte, wieder in einem ganz anderen 
Kreise, der phrj'gische verkrüppelte Sklave oder jetzt Freigelassene eines 
kaiserlichen Freigelassenen, Epiktetos in dem augusteischen Nikopolis bei 
Aktion. Zu ihm zog von Ost und West eine Jugend, der es um sittliche 
Erziehung zu tun war, und die Passanten auf dieser Durchgangstation 
des Weltverkehres hörten sich den seltsamen Prediger auch gern an. Wir 
verdanken der Treue des Bithyners Arrian, der die stenographischen 
Nachschriften vieler Vorträge unverändert ediert hat, daß auch wir den 
Epiktet reden hören. Wie es mit solcher Moral geht, man darf nicht 
zuviel hintereinander lesen, denn sie hat das Recht, sich zu wiederholen, 
und es ist eben wirklich lebendiges Wort, das Wort eines rhetorisch gar 
nicht Gebildeten, dem nur der Mund von dem übergeht, des das Herz 
voll ist. Die plebejische Sprache des täglichen Lebens redet er, nur 
innerlich geschult von den .Stoikeni, deren Doktrin er gelernt hat und 
bekennt, ohne daß sie doch dcis Wesentliche wäre, selbst für seine Schüler, 
wie denn die Berührung mit der kyni.schen Diatribe auch keine literarische 
ist. Dies ist eben überhaupt nicht Literatur. Die Spekulation hat ihn wohl 
innerlich befreit, aber jene Gymnastik des Denkens, durch die Platon zur 
Wissenschaft erzieht, ist dem Epiktet nicht mehr Selbstzweck, kaum noch 
Mittel, denn auf Wissenschaft geht er gar nicht aus. Er steht der Welt 
weder mit kynischer noch mit christlicher Verneinung gegenüber: er steht 
aber außer ihr, weil er sich als Bürger im Reiche Gottes fühlt, und zu 
solchen will er seine Schüler machen, durch individuelles Erleben, durch 
Umdenken (aber die laeTävoia wird nicht zur Reue) und durch die persön- 
liche Liebe zu Gott. Schwerlich gibt es einen Christen der alten Kirche, 
der der wirklichen Lehre Jesu, wie sie bei den Synoptikern steht, so nahe 
käme wie dieser Phryger. Der Auszug aus seinen Unterhaltungen, das 
Encheiridion (Katechismus, können wir sagen), ist gar nicht einmal sehr 
geschickt gemacht, und doch ist es ein Buch, das zu allen Zeiten Kraft 
und Trost gespendet hat: es könnte und sollte auch heute volkstümlich 
sein. Das Tagebuch des Kaisers Marcus nimmt man dann passend hinzu. Marcu« 
Der Schüler Frontos, der sich aus den lateinischen Primitiven hatte Vokabeln ^* '*"' 
ausziehen müssen, konnte offenbar nur Griechisch schreiben, wenn er aus 
der Welt der heuchlerischen Konvention entfloh und in seinem Kämmer- 
lein die ungeschminkte Wahrheit suchte. Man merkt aber doch, daß er 
nicht seine Muttersprache schreibt; es kreuzen sich literarische Reminis- 
zenzen mit dem gewöhnlichen Konversationsgriechisch. Der innere Adel 
des Verfassers verleiht dem Büchlein, das gar nicht literarisch sein wollte, 
seinen ewigen Wert: der aber ist so hoch, wie ihn kein stilisiertes Buch 
seines Jahrhunderts beanspruchen darf. 

Auch Arrian ward in der gesunden Schule Epiktets zwar für die ArrUn 
innere Wahrhaftigkeit gewonnen, aber der praktischen Tätigkeit keines- '^ "^ '"^ 



lyo Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Wegs entfremdet Er brachte es im Reichsdienst bis zum Statthalter von 
ICappadokien, stand dem Hadrian offenbar nahe, nahm bei dessen Tode 
den Abschied, zog nach Athen, widmete sich der Schriftstelle rei, betätigte 
sich aber auch im Kommunaldienst — das mutet uns alles höchst modern 
an. Aber seine Schriftstellerei zeigt ein anderes Bild. Niemand hat die 
attizistischen Marotten so weit getrieben. Er nennt sich selbst Xenophon 
den Jüngeren, wenn er ein Jagdbuch schreibt, nimmt ebendaher den 
absurden Titel Anabasis für seine Alexandergeschichte, deren Wirkung 
auch durch die Mätzchen gesuchter Naivität stark beeinträchtigt wird. 
Das Buch über Indien schreibt er gar ionisch. Dabei besitzt er eigentlich 
keine schriftstellerische Begabung. Daß der gediente Offizier militärische 
Dinge besser wiederzugeben versteht als der delphische Priester, und daß 
der Verwaltungsbeamte in der Diadochenzeit, die er dem Hieronymos 
nacherzählt, für so etwas wie die Satrapieen Verteilung ein Interesse hat, 
sind große Vorzüge, aber eben keine formalen. Wie sollten wir dem nicht 
dankbar sein, der uns im Gegensatze zu aller Romantik die Auszüge aus 
Ptolemaios, Nearchos, Megasthenes erhalten hat: den Menschen wollen wir 
preisen, den Schriftsteller werden wir am besten vergessen. Leider sind 
seine parthische Geschichte, seine Diadochengeschichte und die seiner 
Heimat Bithynien noch in den allerletzten Jahrhunderten des Mittelalters 
zugrunde gegangen. 

loiephu» Nur das Interesse der Christen hat die Geschichtswerke des losephus 

(t nach 90- erhalten, der in der Reihe der Koryphäen keinen Platz beanspruchen 
kann; aber die Historiographie braucht sich wenigstens seines ersten 
Werkes, der Geschichte des jüdischen Krieges, durchaus nicht zu schämen. 
Es hat der Person des losephus geschadet, daß er ein Verräter schien, 
was er schwerlich war (ein überzeugter Jude ist er immer geblieben), 
und daß er als offiziöser Historiograph, um den Titus von der ab- 
sichtlichen Zerstörung des Tempels weiß zu brennen, die Geschichte 
wissentlich gefälscht hat Man braucht aber deshalb keineswegs an- 
zunehmen, daß er an Wahrheitsliebe unter der Menge der Historiker 
stünde, und die unerfreulicheren Umgestaltungen, die wir durch Ver- 
gleichung des jüdischen Krieges mit dem späteren Werke, der Archäologie, 
konstatieren, gehen auch über die Gepflogenheiten der gewöhnlichen Er- 
zähler schwerlich hinaus. Er besaß wohl bessere Bildung, als er sich 
geflissentlich den Anschein gibt; aber Literat war er doch erst durch die 
Not geworden, und die attizistischen Lichter (z. B. die lächerliche 
Thukydidesimitation gleich in der Einleitung) kontrastieren grell mit dem 
matten, zerflossenen Griechisch, das ihm natürlich ist Trotz allem ist der 
jüdische Krieg wohl disponiert, und die Berichterstattung, die an Detail 
nicht spart, steigert die Spannung und erschüttert in dem grausigen Schluß- 
bilde der Zerstörung. Dies Können dankt er den hellenistischen Tradi- 
tionen; er konnte gar nicht anders, als sich an Nikolaos bilden, dem er 
in dem zweiten Werke so vieles nacherzählt, was wiederum, schon durch 



I 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassisclie Literatur. 1 7 1 

die Fülle der Details, fesselt. Sonst ist die Archäologie unerquicklich: da 
muß nur zu oft allerhand Schwindel die Lücken füllen oder die biblische 
Überlieferung mundgerecht machen; Gelehrsamkeit und Kritik soll man 
von einem Menschen dieser Herkunft und Stellung nicht verlang-en. Daß 
er sich auch darum bemüht hat, zeigt die Streitschrift wider Apion. Aber 
beobachten konnte er: da.s zeigt der jüdi.sche Krieg. Es ist sehr schade, 
daß wir Tacitus nicht vergleichen können, der den losephus verachtet zu 
haben scheint: der Historiker würde vermutlich Anlaß haben, ihm das zu 
verdenken. Ohne Frage ist eine solche Spezialschrift nicht mehr als Roh- 
material, wenn der Historiker ein Poet sein soll, wie das von der rhetorischen 
Theorie anerkannt war: er gestaltet dann aus dem Rohstoffe sein Kunst- 
werk, wie der Tragiker aus dem breiten Epos in Vers oder Prosa, der 
auch die Masse Namen und Taten beiseite wirft. Die Geschichte als 
Wissenschaft wird darum doch nach dem primären Berichte greifen; es ist 
kein Zufall, daß die lateinische Literatur kein Geschichtswerk von der Art 
des losephus enthält außer Cäsar, der nur ein Hypomnema schreiben 
wollte (oben S. 94}, und Ammian, der ein Grieche ist und in die griechische 
Entwickelung gehört. 

Da nach Tacitus die Römer überhaupt versagen, so daß nicht einmal 
die Taten Traians einen Berichterstatter fanden, der ihr Gedächtnis be- 
wahrte, so war es ein Glück, daß Griechen in die Reichsverwaltung ein- 
traten und so Interesse an der Reichsgeschichte gewannen. 

Zwar die römische Geschichte des Alexandriners Appian, die den AppUn 
Griechen die Eroberung derWelt durch die Römer erzählen wollte (auch noch '* ""'' '*"'' 
Traians Taten erzählte), war noch eine bloße Nacherzählung, für die ältere 
Zeit (aus der wir das meiste besitzen) sehr oberflächlich und unanschaulich, 
aber wenigstens in dem Abschnitt über die Bürgerkriege von unleugbarer 
Wirkung. Von der kommt das Beste auf seine Vorlagen (die wir nicht 
benennen können, und die man unter den Primärquellen nirgend suchen 
soll), aber nicht allein. Appian versteht zu erzählen und zu gruppieren; 
er ist zwar ganz unmilitärisch, aber für das Persönliche hat er Interesse. 
Archaismen setzt er oft in lächerlicher Weise seiner marklosen Rede als 
Schönheitspflästerchen auf. Die Rhetorik hat ihn zum Glück nicht an- 
gefressen. Vergleicht man ihn mit Florus, wozu die Disposition Ver- 
anlassung gibt, so hebt ihn das ungemein; wenn sein Buch lateinisch wäre, 
würde er ein berühmter Mann sein. 

Sehr viel höhere Aspirationen hatte Cassius Dio, der zwar die bithy- c»Miu« dio 
nische Heimat und den Namen mit dem Philosophen Dion gemein hat, aber ' ***^''" '^'' 
nicht nur ganz unphilosophisch ist, sondern diese Abneigung auch zur 
Schau trägt. Zum Historiker brachte er die Befähigung aus dem Ver- 
waltungsdienste mit; er hat unter der Dynastie des Severus loyal und 
ohne Servilität gedient und ist freiwillig unter Alexander ausgeschieden. 
Seine Darstellung der Zeitgeschichte möchte man nach den erhaltenen 
Proben gern lesen: es redet ein ehrlicher kenntnisreicher Beobachter 



1^2 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

in der Art, wie sich die alte römische Annalistik in der Kaiserzeit 
umgestaltet hatte, imvergleichlich besser als die elende Rhetorenarbeit 
eines gewissen Herodian, der unabhängig von ihm die Geschichte von 
Commodus bis Grordian schrieb, inhaltsleer und langweilig. Aber der Ver- 
such, eine vielbändige römische Geschichte zu verfassen, ist im Grunde 
doch gescheitert Wie langweilig das Buch ist, spürt man am besten an 
den Partieen, deren Inhalt immer wieder zum Lesen reizt Wenn es jemand 
fertig bringt, daß der Sturz der römischen Republik keinen Eindruck macht, 
und wenn man übersättigt an der raffinierten Kunst des Tacitus sich fast 
nach langweiliger Sachlichkeit gesehnt hat und doch von Dio rasch enttäuscht 
wird, so ist das Urteil gegeben. Er wollte keinen Roman schreiben; das war 
recht; die persönliche Psychologie lehnte er ab; dazu reichte es auch nicht 
bei ihm. Das Detail schien ihm unwürdig, gemäß der Rhetorenlehre, die 
auch seinem Stile verderblich geworden ist Denn dieser Mann der 
politischen Praxis schreibt doch schon ein ganz totes Grriechisch; er hat 
mit Auszügen aus Thukydides reichlich ebenso wichtige Vorarbeit zu 
leisten gemeint, wie mit denen aus den Historikern, die er zugnmde 
legte (an Primärquellen, wie sie Plutarch suchte, hat er nie gedacht; es 
ist schon löblich, daß er wenigstens Livius nahm). Und ganz in Rhetoren- 
art bildet er sich ein, mit trivialen Sentenzen die Würde tmd den Nutzen 
der Historie zu erhärten. Die Reden sind stilistisch imgenießbar, aber 
inhaltlich, wenn man die Manier einmal zugabt, auf gleicher Höhe mit der 
Erzählung. Er hat auch nur Aberglauben, keine Religrion, und beiuteilt 
die menschlichen Dinge mit jener banalen Überlegenheit, die man bei 
den Roturiers a. D. ebenso oft findet wie leider auch bei einer Sorte 
zünftiger Historiker. Und doch hat das Werk des Dio großen Segen ge- 
stiftet Er gab den Griechen, die zu Romäern werden sollten, die Ge- 
schichte Roms und ist in der Tat der Livius für Byzanz. Und er gab 
den Anstoß, daß im Anschluß an ihn und so weiter ziemlich zusammen- 
hängend bis Mauricius die Reichsgeschichte geschrieben worden ist 
Lokbn Lukianos von Samosäta, der von seiner Mutter vermutlich mit einem 

"*' ' syrischen Namen gerufen war, in seinen attizistischen Dialogen sich als 
• Lykinos einführt (die Titiani machten sich damals zu Titaniem, und der 
Philosoph Kronios wird wohl Satuminus geheißen haben), der dvirch die 
ganze Welt gezogen ist, in Antiocheia einer Maitresse des Verus huldigt 
wie Diderot der Pompadour, in Athen die zünftigeil Philosophen xmd 
Rhetoren im Neglig6 belauscht, in Oljrmpia als Weltreporter die große 
Kirmes besucht, auf der die ganze Gesellschaft Althellas spielt, in Rom 
hinter die Kulissen der gproßen Bühne guckt, auf der der Reichsadel 
agiert, in dessen Salons er sich zu seinem Leidwesen meist niu* auf der 
Hintertreppe einschleichen kann, der Journalist, den alle lesen imd hören 
mögen, aber niemand ganz als seinesgleichen anerkennt, dessen boshafter 
Witz denn auch an allen sein Mütchen kühlt, wie sie es alle verdienen, 
und der am Ende in Ägypten in einem staatlichen Bureau unterkriecht, 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chx.). III. Die neuklassische Literatur. 173 



1 



r 



weil er klug genug gewesen Lst, den StJiat und alles, was dazu gehört, 
allein ganz ungeschoren zu lassen: dieser Lukian hat es verdient, daß er 
der gelesenste griechische Schriftsteller der Kaiserzeit jahrhundertelang 
gewesen ist Scheidemünze ist dazu da, durch die meisten Hände zu 
gehen; aber man pflegt zu ihr kein Edelmetall zu nehmen. Dem Sprach- 
forscher macht es ein lukianisches Vergnügen, diesem Attizisten die Ver- 
stöße gegen die korrekte Imitation aufzumutzen, die er selbst an anderen 
witzig geißelt, und denen er doch selbst nicht entgeht. Es sind im Grunde 
doch nur Kleinigkeiten: sein formales Talent ist um so bewundernswerter, 
da er den Schweiß, der an seinen Essays in den verschiedensten alten 
Formen klebt, niemals spüren läßt Auch was er an Motiven und Stoffen 
entlehnt hat, weiß er sich ganz zu eigen zu machen; es fehlt uns aller- 
dings das Material zur Kontrolle, namentlich für die kynische Satire, 
deren Erneuerung er sich mit Recht zur besonderen Ehre rechnet 
Freilich hat er gerade in ihr den Ton merklich herabgestimmt; eine 
Schärfe, wie sie Oinomaos von Gadara (wenn er wirklich aus der Heimat 
des Menippos und Meleagros war) in der „Entlarvung des Schwindels" 
gegen die Orakel und zugleich gegen den stoischen Determinismus 
richtete, war ihm doch zu gefährlich, das Philosophische daran auch zu 
hoch. Für ihn war ein konsequenter Kyniker auch ein Narr, nur mit 
anderer Kappe, wie alle Menschen, die ernsthaft an etwas glaubten. Da 
nun aber in seiner Zeit die Verirrungen des Glaubens und dazu die 
Heuchelei ebenso ungeheuer waren, wie unter dem Deckmantel der 
Würde und Ehrbarkeit (Marcus saß auf dem Throne) nur zu viel wüste 
Sittenlosigkeit steckte, so freut man sich aufrichtig an dem lustigen 
Gesellen, der dreist genug diesen Mantel lupft. Man muß nur nicht mehr 
verlangen, als ein Journalist leisten mag, noch dazu einer, der sich keine 
Tür für immer verschließen will. Den kleinen Winkelpropheten Alexander 
von Abonuteichos durfte er abschlachten ; auf den unbedeutenden Professor 
Polydeukes ein Pasquill loslassen, die olympischen Götter nach Belieben 
travestieren, die doch nur noch für das Ballett und die Kinderstube 
Personen waren: die mächtigen Götter, Asklepios, den ägyptischen Hermes, 
Sabazios, Christus, Mithras und vor allem Hadrian und die anderen 
Kaiser hütet er sich wohl anzugreifen. So täuscht er über das heiße 
Ringen seiner Zeit um Glauben, wie er über die eigentlichen Zeit- 
krankheiten täuscht; er versinkt unrettbar in Gemeinplätze, wenn er auch 
nur ein literarisches Problem wie die Geschichtschreibung ernsthaft be- 
handeln soll, und kaum je wird ein Buch von ihm nicht langweilig, sobald 
es einigermaßen Buchlänge bekommt: aber das ist alles eigentlich nicht 
seine Schuld. Der Journalist lebt vom Tage für den Tag; dieser steckt 
selbst ganz tief in dem c(in( seiner Zeit: er ist ja Lykinos; aber er weiß, 
daß es cani ist, und es kitzelt ihn immer, den Freimut zu üben, den er 
sich gern in dem Wahlnamen Parrhesiastes beilegt, und ein bißchen tut 
er's ja auch. Natürlich hat er keine eigenen Gedanken; Geister, die stets 




1^4 Ulrich von WoamOWITZ-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 



verneinen, sind im Grunde dumm: aber wer unter ihnen zur Spezies 
Schalk gehört, hat nun einmal das Vorrecht, selbst im Himmel von Zeit 
zu Zeit Zutritt zu finden. 

Zwei Männer der Wissenschaft aus dieser Zeit haben einen be- 
rühmten Namen und gewaltigen Einfluß lange behauptet und haben das 
Beste ihres Ruhmes verloren, sobald man die wahre griechische Wissen- 
ptoiemaioi schaft keimen lernte, denn sie waren auch nur Männer ihrer Zeit, Ptole- 
(t um i6o). jj^^Qg (jgp Astronom und Galenos der Arzt. Der erste bleibt ein Mann 
der exakten Wissenschaft, auch wenn man sein Lehrbuch der Astronomie 
nicht mehr Almagest nennt, was nach schwarzer Kunst klingt, und wenn 
der griechische Bürger aus Ptolemais in Oberägjnpten nicht mehr die 
Krone trägt, mit der ihn RafFael gemalt hat. Gewiß, seine Geographie 
ist Kompilation, und Fehler sind genug darin; Ideen hat er nicht hinzu- 
gebracht. Aber er verstand doch noch die mathematische Grundlage, die 
nicht nur für Agrippa, sondern auch für Strabon zu hoch war; und wie 
stark man gerade bei diesem Versuche des einzelnen alexandrinischen 
Gelehrten empfindet, was die Reichsregierung mit organisierter Arbeit 
hätte leisten sollen: es ist immer das Erbe der griechischen Wissenschaft, 
das hier ein letzter wirklicher Gelehrter so zusammenfaßt, daß der Schatz, 
sei's auch für viele Generationen so gut wie vergraben, aufbewahrt bleibt, 
bis in besseren Tagen der rechte Mann ihn finde und mit ihm wuchere. 
Als die Renaissance von diesem Bilde der Weltkugel erfahrt, bringt diese 
Erkenntnis bald den Kolumbus nach Westen auf den Weg, um Indiens 
Küste zu suchen. Auch die Astronomie hat sich in ihrem Besten als 
übernommenes Gut erwiesen: Hipparchos und die große Reihe seiner 
Vorgänger sind die Sterne von eigenem Lichte: aber Ptolemaios verstand 
sie doch und fixierte ihre Lehre, und zwar in dem schönen strengen 
Stile der Wissenschaft, ohne rhetorische Mätzchen. Man empfindet dcis, 
wenn man etwa von Kleomedes posidonische Astronomie in der Mode- 
sprache, gar mit theologischer Salbung, vorgesetzt bekommt. Das alexan- 
drinische Museum, das Demetrios von Phaleron einst für Ptolemaios I. 
im aristotelischen Sinne gegründet hatte, beweist immer wieder einmal 
durch einen einzelnen Forscher, daß es die ernste Wissenschaft, sei's 
auch als Glut unter der Asche, zu bewahren wußte. Es ist eine Lücke, 
der Forschung wohl mehr als der Überlieferung, daß die Kontinuität der 
alexandrinischen Schule noch ganz im dunkeln liegt Die Kraft hat dem 
Ptolemaios freilich wie dem Galen eine strenge philosophische Schulung 
(hier die aristotelische) verliehen. Und doch ist selbst er nicht frei von 
der Krankheit seiner Zeit: er hat auch ein Handbuch der Astrologie ge- 
schrieben. 

Galenos schreibt schön, schreibt hiatusfreie Perioden; die dürren 
Partieen, Aufzählungen, Rezepte, scheinen in diesem Stile deplaciert. Er 
schreibt über alles, nicht bloß über seine Medizin in allen ihren Teilen, Hand- 
bücher, Spezialschriften, Polemik, Hippokrateskommentare ; er schreibt auch 




D. Römische Penode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassischc Literatiir. 175 



philosophische Abhandlungen, vom logischen Katechismus für Anfänger 
bis zur Naturphilosophie, und sogar über gframmatische Spezialitäten. Er 
schreibt über die Dinge, die ihm besonders am Herzen liegen, zwei-, 
dreimal und mehr; und seine Person liegt ihm ganz besonders am Herzen. 
Die Worte fließen ihm so reich und so leicht, daß er immer eine Weile 
fortreden kann, klangvoll und zusammenhängend, und sich unterweilen erst 
besinnen, was er sagen will. Er kann einmal klar und kurz sein: dafür hat 
er seine logische Bildung; er kann ein andermal amüsant und anschaulich 
werden (z. B. wenn er aus der eigenen Praxis mit Bosheiten gegen die 
Kollegen erzählt; das Buch über die Prognose an Epigenes sei als Probe 
genannt); dafür hat er die gute stilistische Bildung; aber im ganzen rächt 
es sich, daß er ein Schönschreiber sein will und ein Vielschreiber ist 
Und der Glaube an seine Bibel Hippokrates ist eine der schlimmsten 
Manifestationen des Archaismus. Aber durch beides noch mehr als durch 
seine fachmännische Tüchtigkeit (die einmal unparteiisch untersucht werden 
muß) hat er erreicht, daß er als die Autorität des Altertums gegolten hat, 
was er keinesfalls verdiente; die nächsten Generationen werden sicher 
aus seinen Kompilationen manchen älteren Forscher hervorsteigen sehen, 
der ihm mindestens ebenbürtig ist. Zum Glück ist er auch nicht der 
einzige erhaltene Arzt und liefert selbst das Material, eine Anzahl seiner 
Vorgänger inhaltlich zu rekonstruieren. Die Medizin hat bis auf diese 
Zeit und wohl noch etwas länger wirklich noch ernsthafte und fruchtbare 
Arbeit geleistet: wer dereinst ihre Geschichte schreiben wird, zu der 
jetzt die ersten Bausteine allmählich gebrochen werden, dem fällt das 
schöne Los zu, den Siegeszug griechischer Wissenschaft auf Grund eines 
Materiales zu schildern, wie es so reich für kein anderes Gebiet zur Ver- 
fügung steht. Wir kennen jetzt schon in Rufus von Ephesos einen auf- 
fällig frischen Schriftsteller, xmd in Soranos von Ephesos {der zum Teil 
in lateinischen Übersetzungen und Auszügen, sogar bei Tertullian, vor- 
liegt) einen Mann, dessen philosophische und grammatische Bildung dem 
Galen mindestens gleiclikommt; beide gehören in die traianische Zeit 
Aus einem anderen Grunde darf Aretaios nicht übergangen werden, der 
inhaltlich wohl nur die Lehre seiner Schule reproduziert, die übrigens 
an sich wertvoll ist. Aber dieser Kappadokier hat sich darauf kapriziert, 
ein möglich dialektisches Ionisch zu schreiben, viel dialektischer als die 
meisten Hippokrateer : so ist das Buch sprachlich sehr merkwürdig; es 
harrt allerdings noch der Verwertung und muß auch dazu erst einmal 
wissenschaftlich ediert werden. 

Die Grammatik war für eine solche Zeit eine unentbehrliche Lehrerin 
und Helferin für jedermann: man konnte ja ohne sie weder die Klassiker 
lesen, die man nachahmen wollte, noch überhaupt die eigene Schrift- 
sprache lernen und üben. Da galt es nicht nur das alexandrinische Erbe 
zu bewahren, sondern durch Lektüre und Etymologie und Verfolgung der 
Analogie die Korrektheit festzustellen und zu erhalten, in Aussprache, 



Aretaios 

(wohl noch 

I. Jihrh). 



^^^^^^176 Ulrich von WilamowitzMoeluendorff; Die griechische Literatur des Altertums. 

^m Orthographie, Wortwahl, Flexion und Syntax. Gewaltige Arbeit ist ge- 

leistet: die „allgemeine Lehre von der Aussprache" (das ist so ziemlich 
Herodian die „katholischc Prosodie") des Herodian registriert eine unübersehbare 
'"" ■'"' Masse von Tatsachen und bringt sie auf Regeln; sie beherrscht uns noch 
L heute, wenn wir den griechischen Texten die Zeichen der Betonung zu- 

^^- setzen (doch ist unsere Sitte nicht älter als dcis 9. Jahrhundert, in vielem 

^^1 sogar in nichts als der trägen Tradition begründet). In der Orthographie 

^^M können wir Herodian immer mehr durch authentische Zeugnisse kon- 

^^B trollieren: im ganzen sind seiner unheimlich konsequenten historischen 

^^B Orthographie doch nicht viele positive Fehler nachgewiesen. Auch hier 

^H wollen wir die Dankbarkeit gegen den Vermittler nicht vergessen; aber 

^V mehr als Vermittler ist Herodian nicht, und was Wissenschaft an der 

^^ antiken Grammatik ist, war in besseren Zeiten gewonnen. Nicht anders 

I steht es mit seinem Vater Apollonios, der durch die Übertragung seiner 

^^ Doktrin auf das Lateinische, die Priscian vornahm, sehr viel stärker als 

im Original gewirkt hat. 
Atbenaio» Die Dankbarkeit zwingt, dem Naukratiten Athenaios auch ein 

'*'*" '™'' Wort zu gönnen: wenn uns die eine Handschrift seines Werkes nicht 
- durch eine Gunst des Zufalles erhalten wäre, könnten wir eigentlich gar 

I keine Literaturgeschichte, wenigstens der hellenistischen Zeit, unternehmen. 

I Und erhalten wären die kostbaren Auszüge, die er zum Teil wirk- 

I lieh selbst aus den Schätzen der alexandrinischen Bibliotheken gemacht 

I hat, keinesfalls, wenn er nicht so geschmacklos gewesen wäre, sie in der 

I Form von Tischgesprächen vorzulegen, angeregt zunächst durch das so 

I betitelte Buch Plutarchs (selbst wieder vorbildlich für Macrobius), am letzten 

I Ende durch Piaton, den er sklavisch kopiert, obwohl er ihn im Grunde 

I nicht ausstehen kann; ein Symposion des Didymos hat er nicht gekannt: 

I wie die Typik der Gattung die Griechen bis zur baren Absurdität be- 

I herrscht, zeigt er auf das schlagendste, und zugleich, wie seine Zeit 

I überall eine mehr oder minder poetische Stilisierung verlangte. Die 

P Sachlichkeit genügte ihr nicht, wie ihr ja auch die Wahrheit nicht genügte. 

PhiiMophio. Die Philosophie, die in den staatlich dotierten Schulen Athens gelehrt 

L ward, brachte nichts von Belang hervor; daß Favorin mit der Skepsis des 

I Karneades zu spielen versuchte, hatte keine Bedeutung, denn er war ein 

I Blender, der eine Weile lebhafte Sympathie und Antipathie weckte, bis 

I seine Charlatanerie herauskam. Im übrigen gehörte Philosophie zur all- 

I gemeinen Bildung, und es entspricht dem Klassizismus, daß sie für die 

I Einführung in die anerkannten Meister Sorge trug. Die dogmatische Stoa 

I hat keinen namhaften Vertreter; aber schon die Polemik, daneben auch 

I die überall fühlbare Benutzung (sehr stark bei Origenes) beweist, daß die 

strenge Richtung des Chrysippos die Oberhand gewonnen hatte. Der 
Asp«ios, Peripatos hat in Aspasios den ersten einer endlosen Reihe trivialer Er- 

(sogeTisÜ), klärer, in Adrastos und Alexandres von Aphrodisias sehr achtungswerte 

t!m"'irf°' Exegeten; Adrastos wirkt auch außerhalb der engen Schule. Den Piaton 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.,. 111. Die ncuklassische Literatur, i^y 



erklärt in Pergamon sehr erfolgreich ein gewisser Gaius; wir kennen seine 
Vorträge durch einen Schüler Albinus; um die Exegese, namentlich des 
Timaios, bemühen sich auch Männer anderer Schulen und Richtxmgen. 
Der Piatonismus eignete sich seinem ästhetischen Werte nach am meisten 
zu der Religion der Klassizisten, wozu ihm freilich seine Wissenschaftlich- 
keit genommen werden mußte. In diesem Sinne vertritt ihn der Wander- 
prediger Maximus aus Tyros, seinem Wesen nach durchaus Rhetor, wie 
er denn auch aus anderen Schulen {z. B. von Dion) nimmt, was ihm wirk- 
sam scheint. Seine EUietorik klappert, erzielt aber zuweilen nicht geringe 
Effekte. Dabei bereitet sich immer mehr die Umgestaltung des Platonis- 
mus zu seiner letzten Phase vor, in der er noch einmal die Doppelkraft, 
die dialektische und die religiöse, bewähren sollte. So betrachtet, rückte 
Piaton immer ganz nahe mit Pythagoras zusammen; aber es gab doch 
noch eine pythagoreische Gemeinde, die freilich kaum in die Breite wirkte. 
Merkwürdig, daß der namhafteste Schriftsteller des 1. Jahrhunderts aus 
dem fernsten Westen stammt, Moderatus von Gades, der des 2. aus dem 
oberflächlich hellenisierten Osten, Nikomachos von Gerasa. Die massen- 
haft erhaltene dorische Literatur unter fabelhaften Namen kann und wird 
ztmi Teil älter sein (wie der sogenannte Okellos sicher hellenistisch ist, 
ein interessantes Buch, aber nicht mehr in originaler Form erhalten); aber 
das Erkünsteln der Doris paßt in die archaistische Geistesrichtimg: auch hier 
harrt wieder eine Literaturmasse noch der Exegese und der geschichtlichen 
Einordnung. Epikurs Schule war uns bis vor kurzem stumm. Jetzt lesen 
wir an der Wand des GjTnnasiums von Oiooanda, einer lykischen Klein- 
stadt, die Traktate, mit denen ein gewisser Diogenes die Seelen seiner 
Landsleute zu retten gedachte, der in Rhodos der epikureischen Gemeinde 
vorstand, aber auch mit den Genossen in Hellas Beziehungen unterhielt. 
Die Weisheit ist altbacken, die Unbildung stark; aber wieder zeigt sich 
deutlich, daß der Glaube an wenige Leitsätze und der Kultus des Stifters 
und seiner Worte gerade dieser Schule den Stempel der religiösen Ge- 
meinde am stärksten aufdrückt Der Kynismus schließt alles Schulmäßige 
aus; dafür erzeugt er Individuen, und neben sehr vielen hohlen Gesellen, 
die durchaus auf die Gasse gehören, auf der sie nicht minder Schwindel 
treiben als all die Andersgläubigen, die sie befehden, steht doch auch 
der schon erwähnte Oinomaos, der ganz ernst zu nehmen ist, steht der 
würdige Nachfahre des Krates Demonax, dessen anziehendes Lebensbild 
wir besitzen (wahrhaftig nicht von Lukian), steht der seltsame Peregrinus, 
der, durch alle Religionen irrend, nirgend den Frieden fand imd sich 
daher für den Tod des Kalanos entschied. Seine Schriftstellerei scheint 
die gewöhnliche kynische Diatribe gewesen zu sein. 

So ist auch hier rege Tätigkeit nach allen Seiten, aber ohne Tiefe 
und Originalität; die Rhetorik ist dieser Philosophie wirklich überlegen. 
Nur ein Werk ist zu nennen, das durch Inhalt und Form die wiederholte 
Lektüre reichlich lohnt, die Schriften des Sextus, dessen Name Empiriker 

OlS KOLTD« DUt GSOBKWART. I. t. 12 



.\lbmu9 
(um 15«.). 



Maximus 
von T>rus 
( um i(k>). 



l>iD;(cnos 

lon (Jinoanda 

ti. }.ilirl>.). 



Oiuomaos 
U. Jahrh.?). 

Porecrinii« 
(t ■<>«). 



Saat II • 
(uejcn «oo). 



^1 178 Ulrich von Woamowitz-Moellekdortf: Die griechische Literatur des Altertums. 

H den Arzt dieser sehr achtungswerten Schule verrät, wie er denn auch nur 
H darum die Polemik gegen die Medizin fortgelassen haben kann, als er 

H seine Bestreitung aller Dogmatik auf die enzyklopädischen Wissenschaften 

H ausdehnte. Seine Person verschwindet sonst ganz und gar; seine Skepsis 

H ist gewiß Reproduktion, mehr noch der Lehren des Kameades als 

H der änesidemischen; selbst die Form klingt oft beinahe hellenistisch. 

H Aber er beherrscht seinen Stoff, er kann denken, und es ist ihm um 
H die Sache zu tun. Ein Schriftsteller, der nicht posiert und den Leser 
H zwingt, seine Gedanken zusammenzunehmen, dafür aber auch mehr als 

H Scholastik bietet, ist in dieser Zeit eine wahre Erquickung, und nicht 

H nur in dieser Zeit Wer in die hellenistischen Wissenschaften eindringen 

H will und lernen, wie man etwa bei Kleitomachos und Philon disputiert 
B hat, tut gut, Sextus vor Cicero zu lesen. Die nüchterne Schulprosa 
des Empirikers wird ihm oft die Sache klarer machen als der Künstler 
des Stiles. 
Artemidor Einen Traumdeuter wird man in dieser Reihe nicht erwarten; aber 

(ura 170) jj^g ^aj. damals eine anerkannte Kunst, die an den Stoikern sehr vor- 
nehme Eideshelfer hatte, wie denn auch stoische Spuren in der Theorie 
unverkennbar sind. Demnach hat Artemidoros von Ephesos (oder 
Daldis, wie er sich lieber nannte) auf einen Platz in dieser Reihe 
vollen Anspruch. Denn sein Buch ist gut geschrieben; es ist voll 
von documcnis humanis, denn in dem, was die Leute träumen, 
offenbaren sie uns ein gut Teil von dem, was sie hoffen, und 
wie sie leben. Vor allem aber ist Artemidor ebenso abschließend ge- 
worden wie Herodian und Ptolemaios: auch von ihm aus wird die 
Forschung sowohl aufwärts den "We^ finden bis in die Zeit des Sokrates, 
die auch für diese Kunst den Grrund legte {wir besitzen sogar selbst noch 
eine kurze Übersicht in einer hippokratischen Schrift) und ebenso ab- 
wärts bis auf die Traumbücher, die heute noch ihre Gläubigen finden. 
Gern würde man neben Artemidor das Handbuch einer anderen sehr 
i'oicmoB problematischen Wissenschaft, die Physiognomonik des Polemon von 
(.im iji). Laodikeia, stellen, die nur in lateinischer und arabischer Bearbeitung 
erhalten ist. Denn dieser Sophist, dessen Deklamationen an Absurdität 
kaum zu übertreffen sind, hat hier wirklich, einerlei, wie viel er über- 
liefert bekam, nicht nur sehr scharfe individuelle Beobachtungen, zuweilen 
höchst boshafte, vorgetragen: er erreicht es wirklich auch ohne Schatten- 
risse, Physiognomieen zu zeigen. Mit etwas Geist und Phantasie behandelt, 
müßte eine Vergleich ung mit Lavater- Goethe höchst anziehend gemacht 
werden können. Man wundert sich oft, wie die sogenannte römische 
Kunst (d. h. die griechische Kunst dieser Zeit, denn Griechen sind die 
Künstler) im Porträt und gerade dem realistischen so Vorzügliches leistet: 
Polemon, der nicht der einzige w^ar, lehrt diesen Zug in dem Geiste der Zeit 
verstehen. Die Menschen waren ja so eitel; sie taten wohl, als wären sie 
Zeitgenossen der Klassiker, aber von der klassischen Gesinnung, die sich 



4 




D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 17g 1 

mit einem anikonischen Porträt begnügte, waren sie weit entfernt Nur 1 

ein Plotin ließ sich nicht porträtieren. 

Doch genug der Personen, die das literarische Leben der Zeit reprä- Poeiie. 
sentieren sollen, die für Gibbon die Glaazzeit des Altertums war. Wohl 
hat man recht, von Glanz zu reden; beherzigen wir aber, daß in dieser j 

Reihe kein Dichter ist So viel wir deren durch ihre Werke oder durch 1 

Nachrichten kennen, so sehr die kapitolinischen Spiele und die erneuerte 
Phylenkonkurrenz in Athen und manche offizielle Veranstaltung sonst die 
Produktion anstachelten, so gern auch selbst Arzte, Grammatiker, Astro- 
logen sich der metrischen Form bedienten, ist doch niemand dagewesen, ' 
der, absolut genommen, hier genannt zu werden verdiente. Die Poesie 
war eben nur eine untergeordnete Gattung der Beredsamkeit, wie es 
Tacitus den Moderedner aussprechen läßt Als sein Gott es einmal be- 
fiehlt, kann Aristeides auch in der oder jener Gattung dichten; er legt dem 
nur keinen Wert bei. So empfand man wenigstens, daß für wahre Poesie i 
die Imitation nicht hinreicht Selbst das Epigramm war nun eine ganz 1 
konventionelle Stilgattung, auch in ihm mochte kaum jemand mehr eine 
unwillkürlich hervorquellende Empfindung festhalten, wenigstens keine 
ernste. Sobald jemand sich einer poetischen Form bedienen wollte, 1 
redete er in toter Sprache: da erstarb ihm alles Individuelle, Spontane 
auf den Lippen. Das ist der Fluch der selbstgewählten Sklaverei, die 
Nemesis für den Kultus der Form, den die Griechen getrieben haben. 
Sie meinten das Symbol der Ewigkeit zu fassen, wenn sie eine ab- 
geworfene Schlangenhaut aufnahmen und konservierten. 

Relativ entbehren die Dichtungen, die sich trotzdem erhalten haben, 
■des Interesses keineswegs; wenn sie lateinisch wären, würden sie hoch- 
berühmt sein oder doch zu den Zeiten der Heinsius und Burmann gewesen 
sein; jetzt hat die Philologie bei den meisten kaum ihre erste Pflicht ge- 1 

tan. Da hat unter Hadrian ein Alexandriner, Dionysios, eine Erdbeschreibung nionyiio. 
in recht guten Versen abgefaßt; geographische Gedichte hatte es bereits *'"° "*' 
massenhaft gegeben: dies hat sich noch Eingang in die Schule verdient, 
ist kommentiert und in das Lateinische übersetzt worden. Es ist noch ge- 1 

lehrt, spielt Versteck mit Akrostichen und setzt Leser voraus, die Ent- j 

lehnungen aus dem nun längst klassischen Kallimachos mit schmimzelndem 1 

Verständnis erkennen und zu der Abwechselung von den abgegfrifFenen I 

Homerismen Bravo sagen. Die Künstelei des Akrostichons war sehr alt; Akrojücii» 
bis ins 5. Jahrhundert hinauf können wir sie verfolgen. Sie herrschte '*"«'"«''"■ 
in den „echten Sibyllinen", die die Fünfzehnmänner Roms bewachten, 
und kommt danach bis in die christlichen hinein vor. Wann die noch 
schwierigere und gänzlich absurde Kunst aufgekommen ist, Hexameter J 

und Pentameter aus Buchstaben bestehen zu lassen, die, nach dem Zahl- \ 

werte genommen, dieselbe Summe ergäben, ist noch zu ermitteln. Geübt 
hat sie z. B. Nikon, der Vater Galens, und von einem gewissen Leonidas aus j 

Alexandreia haben wir eine ganze Menge Epigramme der Art; auch Tech- 



i8o Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; Die griechische Literatur des Altertums. 

nopägnia (S. 91) machte man jetzt wieder. Hadrian schwärmte seiner 
Neigung für das Abstruse gemäß für Antimachos: das brachte den wieder 

Marceiiui cmpor. Die gelehrten Gedichte, die Marcellus von Side für Herodes Atticus 

(um 15")- verfaßt hat, dürften diesem Geschmacke entsprechen; bei dem Lyriker 
Mesomedes, der uns als Repräsentant der erneuten Lyrik wertvoll ist, 
zumal wir zu zwei Stücken die Melodie besitzen (an sich ist er ganz ge- 
ring), ist ein Antimachosvers nachgewiesen. Inhaltlich berührt sich Mar- 

oppian cellus dcr Pamphyler mit dem Kilikier Oppian; beide dichten über die 
der Kiiikier pjg^j^g^ auch ein längst abgegriffenes Thema, an dem sich ja auch Ovid 
in der verzweifelten Langeweile von Tomi versucht hat Offenbar war 
die Poesie in dem Kulturkreise von Sjrrien und Ag3rpten dauernd in leb- 
hafterer Übung geblieben als in der asiatischen Sphäre. Oppian mag 
ja selbst auch Netze gestellt vmd Angeln ausgeworfen haben, im wesent- 
lichen bringet er alten Stoff in Verse, und er borgt ihn aus den bequemen 
Kompilationen, zu denen die Naturwissenschaft herabgesimken war, z. B. 
von Alexander von Myndos (S. 155). Es ist bezeichnend, daß infolge der 
Äiian Quellengemeinschaft manches bei Alian in der Tiergeschichte wiederkehrt 

(um 220). jjigggj. Pränestiner, der griechischen Boden nie betreten hat, spielt sich in 
unausstehlicher Fratzenhafdgkeit sowohl auf den naiven Altgfriechen wie 
auf den pharisäisch frommen Altgläubigen auf. Der eine Sophist frisiert 
den Stoff als Epos, der andere als Kuriositätensammlung: das Vorgehen 
ist ganz analog. Wie sehr die Rhetorik das Fundament ist, können bei 
beiden Oppianen die direkten Reden lehren: man wird direkt auf die 
Schulthemen gestoßen „was mochte N. N. in der imd der Situation wohl 
sagen". Weil dieser Oppian korrekte Verse baut, eine Vita hat, zitiert 
wird imd wenigstens noch unter Marcus lebt, geht das Urteil von Mund 

Oppian zu Mund, er taugte viel mehr als ein anderer Oppian, der aus Apamea 
von Apamea ^jr^ Oroutes Stammt und ein Epos über die Jagd dem Caracalla dediziert hat 

(um 210). "■ » o 

Es ist wahr, Sprache und Vers entfernen sich bei diesem noch weiter von 
der Regel; Poesie ist auch hier nicht anzutreffen, aber es herrscht doch 
sehr viel mehr Abwechselung und zuweilen Anschaulichkeit: der Jagdsport 
war damals wirklich Mode, und die Tierhetzen der Arena entzückten alle 
Welt; so ist doch diese Muse nicht bloß Reminiszenz. Dieser Oppian wird 
einmal den Ausgangspunkt büden, wenn die Entwickelung des epischen 
Stiles verfolgt wird, der schließlich in Nonnos kulminiert Auch zur 
römischen Dichtung, Nemesianus, gehen von der griechischen Fäden hin- 
über, die eben in dieser Periode ganz dominiert Auch die Ljniker, Florus, 
Annianiis, Severus, sind von der gleichzeitigen Dichtimg der Griechen beein- 
flußt, wie jetzt ägyptische Papyrusfetzen zeigen; es ist noch nicht an der 
Zeit, das zusammenfassen zu wollen, doch ahnt man Erfreulicheres, Volkstüm- 
licheres. Für die Schule gemacht und sofort in die Schule gedrungen (wir 
besitzen eine Niederschrift auf Wachstafeln aus Palmyra) ist die Bearbeitung 
Habrioi äsopischer Fabeln in Choliamben durch einen gewissen Babrios, aus dem 
(um 220). syrischen Kulturkreis der severischen Dynastie, für die Byzantiner ein 



D. Römische Periode (30 v. Chi. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 1 g i 



vielgelesenes Buch, vor sechzig Jahren erst wieder aufgefunden; aber 
Lafontaine hätte nichts aus ihm lernen können. Merkwürdig ist cdlein, 
wie der Verfasser, dem Griechisch wohl eine mühsam erlernte Sprache 
war, die quantitierende Metrik mit ängstlicher Sorgfalt betreibt, mehr 
skandierend als hörend, und wie doch, hier zuerst für unsere Kenntnis, der 
Akzent einzuwirken beginnt 

Die Prosadichtung läßt sich auch in dieser Periode schlecht aus- 
sondern. Wenn Plutarch imd Cassius Dio das Leben eines Räuberhaupt- 
mannes schrieben oder Plutarch weibliche Heldentaten zusammenstellte, 
Lukian rührende Freundschaftsgeschichten imToxaris, Gespenstergeschichten 
im Philopseudes, so befriedigten sie alle dasselbe Bedürfnis des Publikums 
wie die Liebesgeschichten, die von den Philologen allein Roman genannt 
werden, selbst aber sehr verschiedener Art und Herkunft sind. Ohne 
Frage kommt neben ihnen ganz besonders die Neubearbeitung der Helden- 
sage in Betracht, die ja immer noch im Jugendunterricht einen breiten 
Raum einnahm; gerade die Halbgebildeten wollten brennend gern erfahren, 
wie es eigentlich vor Ilios zugegangen wäre, was Helene fiir eine Nase 
gehabt hätte, und wie stark Homer schwindelte: es ist dieselbe Neugier, 
die jetzt die Schweineställe des Eumaios sucht. Da hat denn der authen- 
tische Bericht eines Augenzeugen, Diktys von Kreta, Epoche gemacht, i'iktjt 
der unter Nero in seinem Grabe gefunden und schleunigst in modernes *" J-^'"'' '1 
Griechisch übersetzt ward. Das Buch wird also kaum sehr viel später 
als Nero fallen. Wir haben durch die byzantinischen Auszüge und 
die lateinische freie und kürzende Bearbeitung gerade von der Form 
eine ungenügende Vorstellung; nur machte sie ohne Zweifel beträcht- 
liche Ansprüche. Auch der Inhalt enthält Gelehrsamkeit: die Gattung 
lebte eben in nie unterbrochener Kontinuität seit Dionysios Lederarm 
und Heilanikos, eigentlich seit Homer. So hat es denn neben Diktys 
massenhaft Ähnliches gegeben, nicht einmal nur pseudonym: denn Kephalion 
unter Hadrian ist wohl ein wirklicher Mensch. Nur nahm von so etwas 
die gebildete Gesellschaft keine Notiz. Die Bedeutung liegt in der Geltung, 
die Diktys durch die lateinische Bearbeitung auf den Okzident, er und 
seinesgleichen in der nächsten Periode im Orient erlangen; als die Ge- 
lehrten um Photios die Studien des Altertums aufnehmen, lassen sie 
dies Zeug fallen. Der Heroikos des Philostratos beweist übrigens, daß 
auch in höheren Kreisen Empfänglichkeit genug für den StofiF war; 
es mußte nur ein stilistischer Kitzel hinzugetan werden und etwas Spuk- 
haftes dem Aberglauben schmeicheln. Ganz parallel der Heroensage, 
die eben auch Geschichte war, steht die Alexandergeschichte, deren 
Held seit seinem Tode auch der Sage angehörte. Der alexandrinische 
Alexanderroman, der griechisch, syrisch, armenisch, koptisch, lateinisch \ic«»nd«t- 
ganz oder in Stücken vorliegt, manchmal in mehreren Bearbeitungen, "^'"'*''' 
bietet selbst uns wichtiges historisches Material: ihn nach Komposition 
und Sprache zu schätzen, ist die Forschung noch nicht weit genug. Als 




i82 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 



Eroiiker. 



Apolloniot 
voo Tyroi 
(4. Jahrb.) 



Cbariton 
(am 707). 



Volksbuch ist er unschätzbar: sein Alexander hat noch einmal die Welt 
erobert 

Auch die erotischen Erzählungen haben ihren Hauptwert in der Nach- 
wirkung, erst auf die nächsten Jahrhunderte im Osten, durch Vermittelung 
der Byzantiner auch auf die Liebesdichtung des Okzidentes: der Einfluß wird 
sich als unvergleichlich stärker herausstellen, als man zurzeit weiß, zumal 
diese Erzählungen sicherlich auch in die semitischen Literaturen übergegriiFen 
haben. Unmittelbar wirken sie dann bekanntlich seit der Renaissance ganz 
ungeheuer: Hieliodor erzeugt eine unübersehbare Nachkommenschaft, und 
noch Paul et Vtrgmte wären ohne Daphnis und Chloe nicht denkbar. Man 
wird gleichwohl nicht bedauern, daß uns aus der Menge solcher Produkte, 
die den Byzantinern vorlagen, nur wenige erhalten sind. Den Lesern 
schlug unter der Herrschaft des Mönchtumes etwas das Gewissen, und sie be- 
ruhigten es mit der Fabel, dieser oder jener der Verfasser wäre hinterher 
fromm und Bischof geworden. Auch früher nimmt die vornehme Literatur 
von diesen Produkten keine Notiz; was ebensowenig beweist, daß man 
sie wirklich unbeachtet ließ, wenigstens die Frauen und die Männer gleicher 
Bildung. Der Okzident hat nur ein Buch behalten, die Geschichte 
des ApoUonios von Tyros, die so recht beweist, was der Zufall ver- 
mag, denn sie verdient ihren Erfolg mit gar nichts. Sie ist zwar keine 
Übersetzung, aber wohl Bearbeitung eines griechischen Buches aus 
dem syrischen Kulturkreise: der König Antiochos, auf den ein altes, 
in hellenistischer Zeit besonders beliebtes Sagenmotiv übertragen ist (die 
Liebe des Vaters zur Tochter), war ursprünglich natürlich ein Seleukide. 
Grriechisch haben wir für fast alle Gattungen Repräsentanten; nur der 
fabulierende Reiseroman fehlt, und die Parodie Lukians liefert dafür 
keinen Ersatz. 

Vielleicht noch in neronischer Zeit, sicherlich nicht viel später, hat 
Chariton von Aphrodisias die „syrakusische Liebesgeschichte" geschrieben, 
die großen Beifall fand: wir haben Fetzen eines Exemplares aus einem 
Landstädtchen Ägyptens. Der Verfasser war nur Kanzlist in dem Bureau 
eines Sachwalters; Homer und ein wenig Menander liefern ihm die poetischen 
Lichter, die er aufsetzt Seine Technik ist, die Ereignisse ziemlich kurz zu 
erzählen, aber die Personen ihre Gefühle in direkter Rede äußern zu lassen, 
homerisch dramatisch. Sein Stil ist jener kommatische, den man vielleicht 
asiatisch nennen kann (oder besser ionisch), verziert noch ganz und gar mit 
den hellenistischen Rhythmen, für die Chariton in Wahrheit das leuchtendste 
(wenn auch bisher unbemerkte) Beispiel ist Die Fabel ist in die klassische 
Zeit verlegt; gleich der Eingang imitiert Herodot: so ist der Einfluß des 
Klassizismus wohl zu spüren; aber das Ziel ist noch längst nicht erreicht: 
darin liegt der Wert des Buches. Übrigens verdient es auch die Lektüre, 
mindestens soweit es in lonien spielt, weil es von dem dortigen Leben 
Zeugnis gibt: Milet und Priene erscheinen durchaus in dem Verhältnis zu- 
einander, das uns jetzt die Ausgrabungen zeigen. 



I 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 183 



Longua 
(Kegcn 200.'). 



Ganz anderen Charakter tragen die äthiopischen Geschichten des Heiiodor 
Heliodoros von Emesa, die zwei Jahrhunderte und mehr jünger sind. Dem **'**" ^''°'' 
Syrer ist Delphi ebenso ein halb fabelhaftes Terrain wie das Land der i 

reichen weisen Athiopen. Hier soll sich der Leser an Bildern von 
Pracht und Herrlichkeit, erhabener Tugend und frommer Weisheit, 
wundersamer göttlicher Fügung erbauen. Feierlich stolziert die Rede 
in faltigem, buntem Gewände. Eine Weile folgt man nicht ungern; dann 
wird's zu eintönig. Das Buch stellt sich zu den Schilderungen fremder 
Sitten xmd Völker mindestens so sehr wie zu den Liebesgeschichten. 
Dagegen Erotik und neben der unvermeidlichen Tugend der Helden AchiiiemTiUoi 
auch recht laszive ist das beste Element bei dem Alexandriner Achilleus (»»"^js»')- 
Tatios, der sich daneben in den verschiedensten sophistischen Künsten, 
Beschreibung von Bildern und Landschaften, der prosaischen Wiedergabe 
eines Liedes und dergleichen versucht. Die wirre Fabel und die nichtigen 
Charaktere kommen dagegen nicht in Betracht Schwerlich gestattet die 
Sprache lond die Ungeniertheit, das Buch unter der Herrschaft der Mönche 
entstanden zu denken; es mag aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts 
stammen; aber das ist auch nur geraten. 

Auch für den Hirtenroman des Longus haben wir noch kein sicheres 
Datum, wenn auch das Ende des 2. Jahrhunderts glaublich ist Sicher ist 
dagegen, daß der Verfasser die Insel Lesbos gar nicht kennt und das 
gleiche seinen Lesern zumutet Eine ferne Erinnerung an die lesbischen 
Dichter hat ihn dazu geführt, das Wunschland der Pastorale diesmal 
dorthin statt nach Arkadien zu verlegen; die äolische Poesie ist ihm ganz 
fremd. Seine Hirten stammen aus der hellenistischen Bukolik, die er nun 
wirklich in die Weise transponiert, die den Schäferspielen des Rokoko 
entspricht. Naivität, die immer zierlich bleibt, nichts von bäurischer 
Plumpheit, gerade so viel Kindlichkeit, daß sie den lüsternen Kitzel ver- 
hüllend erhöht, die Naturschwärmerei des Salonmenschen (doch sieht der 
Vogelfang im Schnee nach wirklicher Erfahrung aus), die göttliche Inter- 
vention des Theaters. Für griechische Anforderungen ist auch hinreichend 
viel Sentimentalität darin. Man wird in der Schätzung des Verfassers 
unsicher, weil das Buch für uns ganz vereinzelt dasteht, muß ihm aber 
zugestehen, daß er, ohne lang zu werden, seine Maskerade gut durch- 
geführt hat So versteht mau, daß ein Buch, zu dem ihre eigene Literatur 
so viel Parallelen bietet, bei den Romanen dauernd Verehrer findet; aber 
man bedauert, daß Goethe die gänzliche Unnatur nicht durchschaut hat 
Der Stil, das muß man sagen, ist dem Inhalt ganz konform. Gleich in 
der Vorrede bimmeln die antithetischen Satzgliederchen wie die Glöcklein 
schlohweißer Schäflein an rosa Bändchen. Quantitierende oder akzen- 
tuierende Rhythmik scheint nicht beabsichtiget 

Das sei genug von diesen Erotikern, zumal sonst nichts in voUstän- Xcnophon 
digrer Fassung erhalten ist An der „ephesischen Geschichte" eines '"^ "'° '' 
Xenophon, von der ein umfänglicher Auszug vorliegt, ist am interessan- 



184 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

testen der Titel, denn das Buch ist noch in der Weise der „milesischen 
Geschichten" benannt, und der Verfasser hat den Namen dessen aufgegrifiPen, 
den er wegen Araspes und Panthea als Ahnherrn seiner Gatttmg be- 
trachtete; der Wahlname ist öfter verwandt worden. 
DerEfeiroman Weitaus am amüsantesteu ist der komische Eselroman gewesen, der 
(am 90?). ujjs jjyj. Jq einem Auszuge, der über die Sprache kein Urteil mehr gestattet, 
und in der Bearbeitung des Apuleius vorliegt, der ihn ganz imigestaltet 
hat. Man erkennt sicher, daß der Verfasser aus wirklicher Kenntnis auch 
der Gegenden ein Bild des Lebens geben wollte, das seinen Wert ganz un- 
abhängig von der drolligen Fabel hatte, die viel älter war. Die Geschichte hat 
ein festes Lokal, von Hypata an der Othrys durch die Berge, die heute wie 
damals voll Klephthen steckten, bis in das Amphitheater von Thessailonike; 
die Hexe von Hypata führt einen Namen, der singxilär ist, aber auf den 
Steinen von H3rpata wiederkehrt Vor allem aber ist der Held, wenn 
man den vereselten Gesellen so nennen darf, ein Römer aus der Kolonie 
Paträ: den hat ein Grieche so gezeichnet, der die antirömische Stimmung 
der fla vischen Zeit teilte; in sie wird er gehören, und er blieb mit Absicht 
anonjrm. 
Clementinen. Der christliche Roman der Clementinen hat den geringsten Wert in 

seiner aus der Komödie stammenden Handlung, wie sich die früh ge- 
trennten Eltern und Kinder schließlich zusammenfinden, die hier Prinzen 
sein müssen, wie gerade der Plebejer es gern hat Übrigens liegt er nur 
in der ärgsten Entstellimg vor, wie sie ein Volksbuch erleidet Die lehr- 
haften Einlagen gehen uns hier nichts an; der Kampf des Petrus mit dem 
hellenischen Grrammätiker Apion ist in Wahrheit ein Stück jüdischer 
Polemik, gewürzt von dem Hasse gegen den Wortführer der Antisemiten, 
gegen den ja auch losephus geschrieben hat (S. 171); der Aristarcheer 
war wirklich ein Charlatan gewesen, das dürfen wir zwar nicht den Juden, 
aber dem Kaiser Tiberius glauben. Das Interessanteste kommt in unseren 
späten Fassungen nicht melir ganz heraus: der Zauberer Simon und seine 
Begleiterin Helene. Das ist etwas viel Besseres als alle griechischen 
Romane, das ist wirkliche Sage, der schließlich etwas Reales zugrunde 
liegt Wirkliche Sage, wenn nicht gar Historie ist wohl auch die merk- 
Thekia. würdige Geschichte von der pisidischen Frau (erst später Jungfrau) Thekla, 
die um der Predigt des Paulus willen alles verläßt, die den Löwen be- 
kehrt und tauft, der sie zerreißen soll, und als erste Blutzeugin des neuen 
Glaubens erhöht wird. Aber auch diese Geschichte lesen wir nur entstellt 
im Rahmen eines öden Wanderromanes, immerhin noch des ausgehenden 
2. Jahrhunderts, „den Taten des Paulus", wie ja auch Simon in den „Taten 
des Petrus" überwunden wird. Aber der christliche Wanderroman stammt 
nicht aus der alten hellenischen Literatur, sondern ist ein neues Gewächs: 
da muß erst der Boden betrachtet werden, aus dem es hervorging. 
Rcr.giü.0 Eine volkstümliche religfiöse Bewegung ist schon seit dem Sinken der 

BewcgunB. helleuischen Macht, der politischen wie der geistigen, bemerkbar, also seit 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Litemtur. 185 



I 



dem Ausgange des 2. Jahrhunderts v. Chr. Daraals kommt auch die Astro- 
logie in ihrem ersten Hauptbuche zur literarischen Fixierung, auf die 
äg^-ptischen Fabelnamen Nechepso und Petosiris getauft, seitdem bis tief 
in die christliche Zeit, gegen die Renaissance zu sogar mit steigendem 
Glauben, immer neu bearbeitet, auch in Versen. Nach dem Zusammen- 
bruch des Hellenismus und der augusteischen Restauration schwillt das 
Sehnen nach einem neuen Glauben immer mächtiger an und berührt 
hundert Jahre später auch die höheren Kreise. Der Klassizismus hat 
auch wider Willen dazu mitgearbeitet Da er ganz fernen Idealen der 
\'orzeit zugewandt ist, immer mehr eine fremde Sprache spricht, sich eine 
Kultur schafft, zu der nur eine fast gelehrte Vorbildung den Zugang er- 
öffnet, so kann die breite Masse des Volkes mit dieser Kultiu- kaum 
Fühlung behalten, geschweige Nahrung aus ihr ziehen. Was die V^olks- 
schule darbietet, ist kaum mehr als Homer, etwas Heldensage, Fabeln, 
Anekdoten und triWale Moralsprüche, Die Frauenbildung geht in den 
höheren Schichten zwar weiter, aber nicht tiefer; nur in sehr kleinen 
Kreisen wird ihnen eine innerliche Teilnahme an geistigen Dingen möglich. 
Die AusschUeßung von dem rhetorischen Unterrichte macht es ganz un- 
möglich, daß eine Frau tätig an der Literatur teilnähme; jetzt gibt es 
nicht einmal mehr emanzipierte Damen (vgl. S. 89); es fehlt aber auch 
gänzlich an naiv unkünstlerischen Schriftstellerinnen. Daher kommt die 
Hingabe der Frauenwelt für jede Religion, die auch ihnen die Seele zu 
befreien verspricht. Das Christentum hat diesen wichtigen Schritt über 
das Judentum hinaus sofort getan, hat auch Prophetinnen, aber natürlich 
keine Schriftstellerin hervorgebracht Die neuen Religfionen kamen fast 
alle von den Barbaren, wirken aber alle erst in die Weite, wenn sie 
griechisch reden, also auch die ursprünglich in anderen Sprachen ver- 
faßten heiligen Bücher übersetzen. Bei Gesängen und liturgischen Stücken 
hat das den Übelstand, daß die wirksame Form verloren geht, wie bei 
den Psalmen, und doch der Ausdruck der übersetzten Liturgieen auch auf 
die Neubildungen Einfluß gewinnt: es sieht dann genau wie eine rheto- 
rische Figur aus. Die alten Griechenkulte nehmen seit der plutarchischen 
Zeit die Konkurrenz mit den Zudringlingen auf; die Mysterien und Orakel 
greifen zu ihren alten Mitteln. Das ist vergebens, denn sie sind unbedingt 
an die alten literarischen Formen gebunden. Selbst der Asklepioskult 
verwendet entweder alte rituelle Lieder, darunter eines von Sophokles, 
oder bewegt sich in reiner Reproduktion; wir haben manche Proben; ein 
Gedicht eines gewissen Ariphron aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. wird das 
Gratias klassizistischer Mahlzeiten. Ein Hymnenbuch unter dem Namen 
Orpheus, das spätestens in dieser Zeit endgültig redigiert ist, bleibt ebenso Orpiü.cii. 
leer für Erbauung wie für Poesie. Nicht die neuen Orakel, sondern die '""""" 
alten des delphischen Gottes erfahren die Polemik des Oinomaos (S. 173). 
Nur eine Orakelsammlung theosophischen Inhaltes, die sogenannte chaldä- 
ische, hat durchgeschlagen, aber nur in philosophischen Kreisen. Von 



i86 Ulrich von WilamowitzMoellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

den rituellen und liturgischen Büchern der Religionen mit Ausnahme des 
Christentumes wissen wir noch gar nicht einmal, wieviel wir besitzen, denn 
eben erst wagen beherzte Forscher den Sprung in diese schlammige Tiefe, 
in der es doch Perlen zu fischen gibt Das siegreiche Christentum hat 
begreiflicherweise selbst das Gedächtnis seiner Konkurrenten auszulöschen 
gesucht Die merkwürdige Ausnahme, daß die heiligen Bücher der 
Honnettache ägyptisch-griechischcn Hermesreligion bestehen blieben (eines sogar in 
schrifken. lateinischer Übersetzung), harrt noch ihrer Erklärung. Während des 2. Jahr- 
hunderts zumal hat sich das Christentum in Asien, Syrien und Ägypten 
vielfach mit anderen Religionen vermischt, und es ist wesentlich dem 
Einflüsse des Westens (in dem der Boden für diese Gewächse fehlte) zu 
danken, daß es diese Mischbildungen in der Hauptsache abstieß (niu: auf 
den Kultus haben sie gleichwohl stark gewirkt, da die reine Lehre Jesu in 
Wahrheit den Kultus ausschloß): so sind es gerade die Ketzerbestreiter, 
Eirenaios von Lyon und Hippolylos von Rom, denen wir sehr wider ihre 
Absicht die Kenntnis ihrer Gegner verdanken. Seit kurzem tritt für diese 
und andere Religionen die Überlieferung Ägyptens in den Papyri ein, 
allein vielfach in Überarbeitungen, so daß die originale Form selbst der 
Gedanken kaum je erhalten ist. Auch da ist die Forschung noch in der 
Periode der Entdeckungen. Immerhin ahnen wir eine reiche und keineswegs 
verächtliche, zuweilen auch poetisch ergreifende Literatur, liturgische, lehr- 
hafte, erzählende. Wir treffen die epische griechische Hymnenform, wir 
treffen daneben neue Rhythmen, denn auch hier greift das geistliche Lied 
nach vertrauten weltlichen Melodieen. Die Prosa zieht alle Register, um mit 
erhabener Lobpreisung den Gott zu locken : überall wirkt der platonische Stil 
nach, wo sie Erhabenheit anstrebt. Zahlreich sind die Visionen, und nicht 
selten mahnt ihre Allegorie an die Prosopopöie der Popularphilosophie. Selir 
beliebt sind Kosmogonieen, und für sie bemüht man den alten Pherekydes 
(S. 34) nicht minder als Moses und Babylonier und Ägypter. Welt- 
untergang (den schon Poseidonios ausgemalt hat) und Weltgericht (für 
das Piaton manches bot) sind ganz besonders beliebt, zumal wo das 
Jüdische prävaliert: die Zerstörung durch Titus mußte von selbst auf die 
durch Antiochos zurückweisen, die das Danielbuch erzeugt hatte. Aber 
'Apokaiypwm. Selbst in der Johannesapokalypse, in der doch der jüdische Haß gegen 
das Weltreich am hellsten lodert, stecken auch Züge des hellenischen 
Mythos, wenn auch ihr besonderer literarischer Wert (wie der der 
sympathischeren Esdrasapokalypse) gerade darin beruht, daß sie von der 
Kunst und der Rede der „Welt" gar nicht infiziert ist 

Im ganzen sehen wir jetzt nur eine grandiose, aber wüste Masse nebel- 
haft wallen und wogen, aus der sich allmählich fester umrissene Gestalten 
erheben, denen damit freilich nicht wenig von dem originalen Reize verloren 
geht. Denn immer noch geschieht das so, daß die Formen der geltenden 
gebildeten Schriftstellerei Macht gewinnen, und damit stellen sich auch nicht 
nur Umformungen der neuen Konzeptionen, es stellen sich auch die alten 



i 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 187 



Gedanken und Bilder ein. Wie sollte es anders sein? Es werden doch 
immer die relativ Federgewandten sein, die die Feder fuhren, die relativ 
Gebildeten, die das chaotisch Gefühlte und Geschaute formen und fixieren. 
Nun vollends in einer Zeit, die formell auf das höchste interessiert, aber 
durchaus an altbefestigte Regeln und Traditionen gebunden war. Mochte 
ein einzelner Gebildeter für sich den Widerwillen überwinden, den ihm 
die Formlosigkeit der heiligen Bücher zuerst bereitete: werm er schrieb, 
und erst recht, wenn er für die Menschen seiner Bildungssphäre schrieb, 
konnte er nicht nur nicht das eigene Können verleugnen, er mußte es 
anstreben, denen, die er gewinnen wollte, jenen ersten Widerwillen zu 
ersparen. Wir müssen besonders dankbar sein, daß wenigstens ein Teil 
der christlichen Schriften in ihrer originalen Formlosigkeit erhalten blieb; 
daß die Christen die griechische Bibel des Judentumes mit übernahmen, 
war mindestens für ihre Literatur kein Segen, weil es doch eben eine 
Masse rohester Übersetzungen war. Die hermetischen Schriften lesen 
wir in einer Form, die zunächst ganz wie mystische Philosophie klingt, 
zum Teil sind es rhetorische Kunststücke in kaum verständlichem Schwulste 
(sie harren noch der Erklärung), und doch hat sich in ihnen ein altes 
Stück entdecken lassen, das sich unmittelbar mit dem Hirten des Hermas »crm». 
berührt, und dieses christliche Buch, geschrieben von dem Bruder des *"'" ''"*■ 
römischen Bischofs Pius um 150 n. Chr., ist auf das Volk berechnet und 
wirklich volkstümlich geworden. Es ist ein Rätsel für jeden, der die 
Scheuklappen der biblischen Gräzität oder der christlichen Literatur- 
geschichte trägt, denn überall wirken die hellenistischen Traditionen. Wer 
es aber einmal mit wirklicher Kenntnis des literarischen und religiösen 
Getriebes analysieren wird, aus dem es hervorgegangen ist, wird Auf- 
klärung nach allen Seiten bringen. Dabei wird natürlich herauskommen, 
daß der Verfasser von Eigenem nicht eben viel zu bieten hatte, und daß 
seine Visionen ganz in demselben Sinne Literatur und Imitation sind wie 
die Höllenbilder Plutarchs. Und wie sollte sich der Genius der Zeit, der 
die führenden Geister beherrscht, bei den Halbgebildeten verleugnen? Es 
ist unvermeidlich, daß die christlichen Schriften, die zwischen der ersten 
quellfrischen Originalität und der vollendeten Kxmst liegen, einen halb- 
schlächtigen Charakter tragen. Nicht sie, sondern der Prozeß, den sie 
illustrieren, ist das Wichtige; wobei allerdings mitgerechnet werden muß« 
daß die kühnsten und originellsten Geister als Ketzer ausgestoßen worden 
sind. Schon in den Bearbeitungen des Evangeliums, die in den Kanon 
gekommen sind, beginnt die Ausmerzung barbarischer Formen und 
Wendungen, treten andererseits rein mythische Stücke zu, als solche von 
unvergänglichem Werte. Nach beiden Richtungen gehen die späteren 
Umarbeitungen weiter, geraten aber bald ins ganz Absurde. Nur der 
Verfasser des Johannesevangeliums wagt, den historischen Stoff aus der juh»nne^ 
Kraft seiner Poesie mit dem Geiste zu durchdringen, der ihm der Geist ■"»"«""""• 
der Wahrheit war, vor der jede Wirklichkeit als ein wesenloser Schein 



i88 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

verblaßt Es ist durchaus glaublich, daß er literarisch ganz außer Zu- 
sammeahang mit der Methode steht, die einst ähnlich mit der Greschichte 
des P3^hagoras, Sokrates, Diogenes, Alexander verfahren war (und 
Apollonios von Tyana hatte eben erst wieder das Leben des Pjrth^^oras 
in ganz ähnlicher Tendenz geschrieben): die Sinnesart und auch die Be- 
rechtigung des Verfassers werden doch erst durch diese Analogieen ganz 
verständfich. Die Originalität seines Denkens rückt ihn noch in die erste 
Klasse der altchristlichen Autoren; aber die berechnete Stilisierung und 
Erfindung machen doch einen merklichen Unterschied gegen Paulus, und 
die rhetorische Form des Prologes ist ohne das Vorbild der Heraklit- 
sprüche kaum begreiflich. 
itriefc. Paulus hatte durch seine Briefe ganz absichtslos der Gemeinde eine 
literarische Form geschaffen. Sie bis zu den Osterbriefen der alexan- 
drinischen Patriarchen und weiter herab zu verfolgen, zu zeigen, wie 
sie trotz aller Berührung mit der sophistischen Briefliteratur doch 
ihre Eigenart nicht verliert, muß eine reizvolle Aufgabe sein. Zunächst 
hielt man sich teils an das Vorbild, indem man die Nach- und Umbil- 
dungen auf den eigenen Namen des Paulus schob, teils hängfte man nur 
äußerlich ein paar stilistische Floskeln und einen möglichst klangvollen 
Namen an die oder jene Abhandlung und erzeugte so einen angeb- 
lichen Brief, wie deren eine Anzahl in den Kanon gekommen ist, 
danmter gar eine rhetorisch disponierte und mit rhythmischen Klauseln 
verzierte Abhandlung, der sogenannte Hebräerbrief. Wie befremdend den 
Leuten, die rhetorische Erziehung erfahren hatten, diese paulinische Weise 
cicmeiMbricf War, Zeigt der Brief des Clemens von Rom an die Korinther, der mit 

(um 90). aiign Mätzchen der gesprochenen Rede, Symmetrie der Glieder, Reim 
und Assonanz einsetzt, dann mehr paulinisch zu werden versucht und ein 
ganz chimärisches Aussehen bekommt Clemens hat allerdings, ganz wie die 
Dion und Aristeides, wenn sie in Gemeindestreitigkeiten eingreifen, das 
Bestreben, alles Persönliche möglichst unter Allgemeinheiten zu bergen; 
aber es liegt doch nicht bloß darin, daß die leere Redseligkeit so stark 
mit der Gedankenfülle des Paulus kontrastiert Wem das Herz voller ist, 
wie Ig^atius von Antiocheia, kommt dem Paulus eher nahe. Der Ketzer 
Ptolemaios, der an eine Frau, Flora, über ein dringendes Problem schreibt, 
schlägt sie alle miteinander: der verdient neben, wenn nicht vor Plutarchs 
Brief an seine Frau zu rangieren. 

Die älteste Gemeinde hatte einen schlichten Bericht besessen, den 

ein Reisebegleiter des Paulus aufgesetzt hatte, ein Stück von edelster 

Wirkung, weil es gar keine literarischen Ansprüche erhob. Wir können 

es noch als eine ganz singulare Perle schätzen, denn große Stücke 

Apo5tci. stehen kaum entstellt in der sogenannten Apostelgeschichte. Man sollte 

jfcscbichte. ^^^■^ ^^^ üblcu Nameu abgewöhnen: Geschichte wollen die Acta so wenig 
sein wie die Res gestac divi Augnstt. Es werden die Taten berichtet, in 
denen sich die überirdische Mission eines Heros offenbart hat; bei einem 



D. Römische Penode (30 v. Gir. bis 300 n. Gir,), III. Die neuklassischc Literatur. 180 



Gotte würden es äpcTai sein. Wir besitzen auf Stein die „Taten des 
Herakles"; vergleichen mögen wir die Legende des heiligen Franciscus. 
Der Kompilator der Acta bearbeitet diesen Stoff allerdings bereits mit 
allen Künsten der gemeinen Historie, insbesondere erfindet er die großen 
Reden seiner Helden, Stephanus, Petrus, Paulus, die er natürlich seinen 
Lesern so wenig zumutete für authentisch zu halten wie Tacitus und 
losephus. Es ist aber wichtig, daß er schon Petrusreisen vorfand: der 
bescheidene und wahrheitsliebende Reisebegleiter des Paulus hatte mit 
seinem Tagebuche auch ahnungslos eine neue Gattung der Literatur ge- 
schaffen, die bald ins ungemessene anwuchs, übrigens sehr rasch neben 
dem belehrenden Zwecke die erbauliche Unterhaltung anstrebte, also den 
lehrhaften Reiseromanen der Griechen immer näher trat Aber weder 
die sogenannten apokrj-phen Apostelgeschichten (zu denen die oben- 
erwähnten Acta des Paulus und die des Petrus gehören), noch die apo- 
kryphen Evangelien halten sich, sobald die griechische Bildung zur Herr- 
schaft im Christentume kommt, außer eben in den Kreisen unterhalb der- 
selben. 

Eine andere neue Gattung entstand in den sogenannten Martyrien. Muttyrieo. 
Bei dem Gemeinsamkeitsgefuhle, das die christlichen Brüder über die 
Welt hin verband, war es natürUch, daß Berichte über die Verfolgungen 
weithin Interesse erregten; der Heroenkultus der Blutzeugen stellte 
sich auch bald ein, eben weil die Zeit an den Kultus der Personen 
gewöhnt war. Auch hier war der schlichte Bericht ohne literarische 
Aspiration das erste, wie ihn das Schreiben der Gemeinde von Lyon über 
die Verfolgung unter Marcus zeigt. Aber es mußte sich eigentlich sofort 
der Wunsch gebieterisch einstellen, daß der lediglich leidende Held etwas 
täte, und daß sein Sieg trotz dem leiblichen Untergange hervorträte. Es 
fehlte auch nicht ganz an Analoga; Märtyrer hatte das Judentum seiner- 
zeit auch gehabt, das zweite Makkabäerbuch erzählte davon mit der 
ganzen hellenistischen Lust an grellen Farben. Und Märtyrer hatte auch 
der Antisemitismus; es ist ein witziges Spiel des Zufalles, daß gerade Be- 
richte über solche Martyrien, die jüngst ans Licht getreten sind, den 
christlichen ältester Zeit besonders nahe stehen. So bildet sich die neue 
Uterarische Form aus, die den Helden mit den Worten Sieger bleiben, 
ganz übermenschliche Qualen erdulden und schließlich seine Erhöhung 
in die Göttlichkeit nicht ohne das Eingreifen von Mächten jener Welt 
finden läßt Zuerst ist das noch ziemlich bescheiden; aber die Grundzüge 
der Gattung sind da, die berufen war, das Hauptstück der erbaulichen 
Unterhaltungsliteratur des späteren Christentumes zu werden. 

All dies hielt sich noch in den Kreisen der Brüder, und auch die 
verhältnismäßig schwer gelehrte Ketzerbestreitung durch Eirenaios, einen 
sehr federgewandten Mann, kann an die Gebildeten der Welt nicht 
denken; aber gleichzeitig versuchten doch einzelne hinüberzuwirken. 
Man nennt die Gruppe dieser Scliriftsteller Apologeten, ein Name, der Apuiogcuo..^ 




igo UuucH VOM WiLAMÖwrrz-MOELLENDORrr: Die griechische Literatur des Altertums. 



nur zutrifft, wenn man hinzunimmt, daß die beste Verteidigung ini Angriff 
besteht. Denn die Bestreitung des Hellenentumes bildet den Kern ihrer 
Reden, und sie besorgen das nicht einmal aus eigenen Mitteln, sondern 
leben von der jüdischen und noch mehr, wenn auch vielleicht mittelbar, 
der kynischen Polemik; dazu bedienen sie sich skrupellos aller Rhetoren- 
künste. Insbesondere der Syrer Tatian ist ein widerwärtiger Geselle. 
Leider ist Meliton von Sardes nicht erhalten; was Eusebios mitteilt, deutet 
auf einen Mann von Bildung, Haltung und Einsicht Ehrliche Gesinnung 
Jmtin und ernstes Streben ist bei dem geborenen Samaritaner Justin anzu- 
{um 165). erkennen; er ist der ungeschickteste, aber achtungswert auch darum, daß 
er wirklich so etwas wie Beweise versucht. Er hat sogar für die Über- 
windung des Judentumes die vornehme Form des Dialoges angewandt, der 
er nicht gewachsen war, aber auch da arbeitet er mit redlichem Be- 
CeUu». mühen. Die erste antichristliche Polemik, die ein Platoniker Celsus in 
schlichter Form und versöhnlichem Sinne schrieb (die Zeit bleibt inner- 
halb 180 — 230 zu fixieren), war diesen Angriffen der Verteidigung in 
jeder Hinsicht überlegen, am meisten an echter Frömmigkeit Trotz 
alledem beweist sowohl diese Polemik eines ernsten Mannes, wie die auf 
die Gewinnung der Welt abzielende Schriftstellerei der Apologeten, daß 
das Christentum allein von allen neuen Religionen befähigt war, die Welt 
zu erobern. 

Um 200 gibt es dann wirklich schon christliche Schriftsteller für ihre 
Zeit ersten Ranges, sowohl im Westen wie im Osten. Der ohne Frage 
originellste Lateiner zwischen Tacitus und Augustin ist Tertullian, be- 
zeichnenderweise ein Advokat, der denn auch für die Wahrheit ein 
Advokatengewissen hat und für die Wissenschaft nur ein Advokaten- 
verständnis, ein so unbändiger Zelot, daß er's auf die Dauer in der Ge- 
ciemcn. nieinde nicht aushielt Der Grieche (wahrscheinlich Athener) Clemens ist 
(t vor jii). gjjj Philosoph, ein Mann des Friedens, den weder das Martyrium noch 
das Ketzerverfolgen reizt; es ist nicht wunderbar, daß die Kirche ihn 
nicht als Heiligen heroisiert hat, wunderbarer, daß er der Verketzening 
entging. Gewiß teilt er die Schwächen seiner Zeit; das meiste seiner 
Wissenschaft ist geborgt und an seiner Rhetorik nur zu viel falscher 
Putz, aber man gewinnt ihn lieb, je mehr man mit ihm verkehrt. Auch 
darin spiegelt er die Widersprüche seiner Zeit wider, daß er innerlich 
mit Celsus, den er ignoriert, viel eher sich verständigen müßte als mit 
Tatian, den er ausschreibt Was er anstrebt, ist die Bekehrung der Hellenen 
zum Christentum und die Erziehung der Christen zu gebildeten Menschen, 
die das Erbe ihrer eigenen Väter nicht zu verleugnen brauchen. Dazu 
ist das Mittel die Gründung der christlichen Schule in Alexandreia, die 
bald unter Origenes den gesamten enzyklopädischen Unterbau mit den 
besten griechischen Schulen gemeinsam haben sollte, und in einer Philo- 
sophie gipfelte, die ganz christlich, aber eben doch Philosophie war. Der 
Paedagogus des Clemens, ein praktisches Handbuch der Ethik, das bis auf 



4 



4 



D, Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur, igi 

die Betten und die Schuhe und das Benehmen bei Tisch hinabsteigt, ist 
für diese Schüler berechnet: das Schulg-ebet, das sie sangen, hat Clemens 
am Schlüsse beigefügt. Wie begreiflich, ist seine Doktrin von den 
Grriechen geborgt; der Stoiker Musonius (S. 160) ist vielfach wörtlich 
kopiert. Auch Piatons Gesetze sind ihm immer ganz im Gedächtnis. 
Aber ist nicht der Gedanke etwas Großartiges, Praktisches, und ist es 
recht, daß ein solches Buch kaum gelesen wird? Zu seiner christlichen 
Philosophie hat Clemens nur die Materialien geliefert, oder vielmehr die 
moderne Form gewählt, die das strenge Lehrbuch durch die Misch- 
form des sorgfältig stilisierten und aufgeputzten Miszellanbuches ersetzte. 
Um so deutlicher tritt die unzulängliche Verarbeitung des fremden Gutes 
ans Licht; aber es ist ein schweres Unrecht, wenn die Philologie bloß 
den alten Goldadern nachgeht und den Clemens behandelt, wie die 
Irrlichter des Goethescheu Märchens den vierten König. Das Ideal des 
wahren Gnostikers, das Clemens nicht nur entwirft, sondern mit dem es 
ihm heiliger Ernst ist, verdient einen Platz ganz nahe dem wahren Redner, 
den Cicero gezeichnet hat: es ist das höchste Bildungsideal seiner Zeit 
Eine Apologie schrieb Clemens nicht, sondern stellte folgerichtig den 
Protreptiken zur Philosophie einen Protreptikus zum Christeatume gegen- 
über, freilich nicht ohne das tote Material der sogenannten apologetischen 
Polemik aufzunehmen. Hier nun macht er alle Künste der Mode mit, 
den Attizismus, der mit Dualen, sogar des Verbmns, um sich wirft, die 
Häufung paralleler Glieder, am liebsten dreier, die rollenden Perioden, ja 
selbst die Erregung orgiastisch bezaubernder Leidenschaft. Das kann 
eher abstoßen als anziehen: aber das schien damals das Höchste; keiner 
konnte es besser, und es ist doch ein anderer Glaube dahinter als bei 
Aristeides oder gar Philostratos, dem Biographen des Apollonios. Diesen PhUo»tr»tM 
am Hofe des Severus angesehenen attischen Schönredner möge man '"" ""'' 
unmittelbar neben ihm lesen. Der tut nur so, als glaubte er an den 
Propheten; sein Herz spricht niemals mit. Es liegt ihm auch jede Polemik 
gegen die Christen fern, die bald von den beiden kämpfenden Parteien 
hineingelegt ward. Er schreibt einen Roman, der diesmal nur erbaulich 
statt lüstern ist Er hat in den weder gruseligen noch erbaulichen Spuk- 
geschichten seines Heroikos wohl eher das getroffen, was für seines- 
gleichen eine Sorte klassizistischer Religion war. Aber er verarbeitete 
eine Literatur von und über Apollonios, die sich mit den Evangelien und 
Apostelgeschichten so gut und schlecht vergleichen läßt, wie der 
pythagorisierende Weltbekehrer mit Jesus und Paulus. Der Wundermann 
von Tyana hat ohne Zweifel Briefe verfaßt, wenn auch bisher das Echte .Apoiionius von 
aus dem Nachlasse nicht gesondert ist; er hat auch selbst geschriftstellert ,, ^^'"", 
und das Leben seines Ideales Pythagoras ziemlich in gleichem Sinne wie 
Philostratos das seine als erbaulichen Roman verfaßt Daß er sich selbst als 
Wundertäter und Halbgott gegeben hätte, ist nicht erwiesen und imwahr- 
scheinlich: aber die Sache, die sich diesen Mann als Heiland aussuchte 



igz Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

und sein Evangelium von einem Philostratos schreiben ließ, wjur verloren, 
wert, daß sie zugrunde ginge. 

IV. Die Zeit des Zusammenbruches. Mit dem unrühmlichen 
Sturze der severischen Dynastie bricht das Reichsregiment tatsächlich 
zusammen. Als man bald darauf den tausendsten Geburtstag Roms 
inmitten von Bürgerkrieg und Verfall feiert, durften die Christen darin 
mit Genugtuung ein Zeichen des Endes sehen; die anders empfanden, 
mochten weinen: das Zeichen der Zeit konnten sie auch nicht verkennen. 
Wenige Jahre, da erliegt ein Kaiser den Gothen, ein anderer wird 
Sklave des Persers. Von allen Seiten her überschreiten Barbaren den 
Grenzwall, und wo er etwa gehalten oder wiedererobert wird, ge- 
schieht es durch Barbaren als Legionare. Zenobia, die eine Weile die 
Kaiserkrone tragen darf, führt noch einen griechischen Namen und hält 
sich einen athenischen Hofjphilosophen (den imverdient berühmten Longiii): 
ihr Palmyra ist doch weit ungriechischer als das Cäsarea des Herodes. 
Verschont bleibt von den zerstörenden Kriegen keine Landschaft, wird 
doch sogar Alexandreia schwer heimgesucht, aber am glimpflichsten 
kommen noch die syrisch-phönikischen Küsten fort, die denn auch für die 
Erhaltung der Bildung am meisten tun. Der schwerste Schlag ist, daß 
nicht nur die ganze Balkanhalbinsel, sondern auch Asien von den Gothen 
in Grund und Boden verwüstet wird: der Fluch, der an dem Namen 
der Wandalen und Gothen des 5. Jahrhunderts zum großen Teile imverdient 
haftet, kommt denen des 3. nur zu sehr zu. Olympia und Delphi 
hören auf zu existieren; Athen hält sich nur durch Selbsthilfe; der Ver- 
teidiger war zugleich der Historiker der Zeit, Dexippos, der nur leider 
dem allerärgsten Archaismus ergeben war. Der blühende Städtekranz an 
der asiatischen Küste sinkt in Trümmer; die wenigen nicht überrannten 
Städte haben sich zur Hälfte selbst vernichtet, indem sie aus den rasierten 
Vororten hastig einen Mauerring errichteten; wie es in ihrem Landgebiete 
aussah, kann man sich danach denken. Hinfort dominiert das asiatische 
Binnenland. Wie vollkommen die staatlichen Behörden versagten, lehren 
am besten die Schreiben des Bischofs von Pontos, Theodoros, der sich 
urcgorios als Christ Gregor nannte und den Beinamen Wimdertäter trägt. Hier 
'iTTroT' ^^^^ ^^ "'^^* ^^^^ andere Wunder, als daß er mutig und pflichtbewußt 
ausharrte und die Zügel seiner Gemeinden in der Hand behielt Mit Fug 
und Recht trat also die als Kirche organisierte Christengesellschaft an die 
Stelle des versagenden Reiches. So ist denn der alten Kultur die Mög- 
lichkeit der Existenz genommen; es fehlen ihre materiellen Voraussetzungen, 
es fehlen vor allem die Menschen. Sie war ja ein künstlicher Bau; das 
Volk, das sich immer wieder erneut, hatte kaum etwas gemein mit ihr. 
Die Mühle der Rhetoren klappert natürlich weiter, namentlich in Athen 
und Syrien, der Schulunterricht hört nicht überall auf, auch in der wissen- 
schaftlichen Form, die wir am besten durch die Christenschule des Origenes 



D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Oir.). IV. Die Zeit des Zusammenbruches, ig j 



I 



kennen. Aber die Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 3. Jahr- 
hunderts ist doch beinahe ein leeres Blatt, und ihre wenigen großen 
Namen lehren in ihrer Vereinzelung am besten, daß das Ende da ist. 

Höchst merkwürdig ist, daß in der Stille des alexandrinischen Museums DiophMU!« 
die Mathematik nicht nur die Kontinuität bewahrt, sondern gar in dem '■"" '*"'' 
Arithmetiker Diophantos einen produktiven Kopf besitzt, für dieses Gebiet, 
wie die Sachverständigen versichern, geradezu den bedeutendsten Mann 
des Altertumes. Ein beherzigenswerter Beweis, wie unabhängig die reine 
Spekulation von der allgemeinen geistigen Zeitströmung bleibt. Einen 
Boden, aus dem der schöpferische einzelne erwachse, muß es freilich 
geben, und er fehlt auch hier nicht. Pappos, der hochverdiente mathe- fippot 
matische Kompilator, gehört in dieselbe Schule und Zeit, und eine statt- *■"" "'"^ 
liehe Sammlung arithmetischer Aufgaben in epigrammatischer Form hat 
ein gewisser Metrodor, angeregt durch Diophantos, verfertigt oder doch Metrodoroi 
gesammelt (Lessing hat sich ein wenig für sie interessiert); auch ihre '"^ ^'"'' 
poetische Technik ist ganz unverächtlich und beweist, daß auch in dieser 
Hinsicht Alexandreia die beste Tradition aufrechthielt. 

Der mathematischen Denkart scheint die Spekulation des Plotinos pioHu 
ganz fern zu stehen, da sie durch und durch metaphysisch ist, und '''' ''"'' 
doch ist er eine verwandte Erscheinung, denn auch sein Denken be- 
wegt sich in der vollkommenen Abstraktion, und die Welt, die ihn 
umgibt, ist ihm ebenso unwesentlich. Er stammte aus Alexandreia und 
gehört dorthin, wenn er auch seine Tätigkeit in Rom geübt hat. Man 
kann schwerlich leugnen, daß seine Philosophie auch den Stempel trägt, 
daß der wissenschaftliche Gedanke am Ende seines Lebens bei den 
Hellenen stand. Von der Naturbeobachtung und Forschung waren die 
lonier ausgegangen, und auch später, als die Sokratik den Menschen in 
die Mitte der Untersuchung zog, hatte die Beobachtung des Lebens immer 
wieder der Abstraktion frischen Stoff zugeführt. Selbst wenn die Philo- 
sophie den wahren Adel schrankenlosen wissenschaftlichen Forschens 
verlor, blieb sie immer magistra vitac, sie lehrte leben. Für Plotin ist die 
Welt und das Leben im Grunde ganz irrelevant, zufällig, ja hinderlich, 
wie der Körper, in den die Seele gebannt ist. Hienieden ist er ein 
Fremder; so war sein Leben, so sind seine Bücher, die eben dadurch so 
ganz persönlich, so wahr und um so rührender sind, als doch die Person 
des Schreibers ganz zurücktritt. Man mag ihn einen Mystiker nennen, 
dessen Stärke in dem Empfindungsleben der eigenen Seele und in der 
Feinhörigkeit für ihre halb unbewußten Regungen liegt. Indessen nicht 
nur die schneidend scharfe Dialektik, auch die keusche Schweigsamkeit 
über sich selbst läßt doch diese Bezeichnung unzutreffend erscheinen. Er 
hat immer noch mehr mit Piaton gemein als mit Augustin, den man nur 
als Gegensatz mit ihm zusauTmenbringen kann. Seine Schriftstellerei ist 
gar nicht darauf aus zu bekehren; wie er im Leben nicht um zu lehren, 
sondern um zu forschen, mit den Freunden disputierte, so tut er es mit 

Du Kultur oxk Gigenwakt. L 8. 1 1 



IQ^ Ulrich von Wilamowttz-Moellemmsft: Die griechiscbe Litetatnr des Altettnms. 

sich in seinen Aufsätzen, die er ohne die Absicht der Publikation hinwirft; 
er denkt mit der Feder. Die Tradition des Dialog- und Diatribenstiles 
wirkt wohl nach; nichts häufiger als die Form der Frage; aber alles 
Künstlerische, ja alles Sinnliche, man möchte sagen, alles Köipeiliche 
der Sprache ist verschwunden. Wie unheUenisch wird nicht ein solches 
Buch; und doch liegt noch das Abendrot der scheidenden keuschen Charts 
darüber, die Hingabe allein an das Objekt, die einst die lonier wissen- 
schaftlich schreiben lehrte, und zugleich die Heilig^img jener himmlischen 
Muse, die dem Farmenides und Flaton das Reich des ewigen Seins offen- 
barte, vor dem aller bunte Schimmer des Werdens Tand ist Nur im 
reinen Äther der Gedankenwelt kann die Seele Plotins atmen. Was änd 
dem alle Genüsse dieser Welt, auch die reinsten und geistig^sten, der die 
Seligkeit der Vereinig^ung mit dem Ewigen, mit Gott gekostet hat, das 
innere Erlebnis eines Augenblickes, der gleich der Ewigkeit ist Kein 
größerer Kontrast als diese stille selige Seele in dem Mord und Brand, 
der über die Welt tobt, dem Hexensabbat all der neuen Grötter, und der 
schellenlauten Torheit der Rhetorik. In dieser Welt war auch für die 
Seele des Hellenentumes keine Stätte mehr; aber sie hatte Gott geschaut: 
die Zeit konnte und kann ihr nichts mehr anhaben. 

Wem Plotin einmal etwas zu Herzen gegangen ist, der weiß, welche 
Sünde und welche Torheit es ist, wenn man die Menschen dieser Zeit in 
Böcke und Schafe, Chiisten und Heiden sortiert Sein Zeitgenosse, der 
Christ Origenes, beweist dasselbe; ihn hat schon zu Lebzeiten der Haß 
der christlichen Unbildung aus seiner Heimat Alexandreia verjagt, himdert 
Jahre nach seinem Tode hat er die Obhand in der Kirche bekommen und 
schließlich unter lustinian durch seine Verketzerung der griechischen Kirche 
das Urteil gesprochen, daß der Logos aus ihr entwichen war: Mohammed 
origeaes kounte kommen. Für die hellenischen Philosophen seiner Zeit war Origenes 
(t 234)- gJQ geachteter Kollege, der nur eine andere Doktrin vertrat; es konnte 
damals ein Christ sehr wohl einen wissenschaftlichen Lehrstuhl einnehmen 
und nicht nur von Christen gehört werden, wie wir z. B. von einem Schüler 
des Origenes, Anatolios, wissen. In der Tat kann die Metaphysik des 
Origenes ganz g^ut als eine besondere Form des damaligen Piatonismus (nur 
mit sehr vielem aus der Stoa versetzt) gelten, die freilich eine esoterische 
und exoterische Lehre unterscheiden mußte: anders hatten es die Stoiker 
auch nicht gehalten, die den Staatskult verteidigten und die Theogonie des 
Hesiod nach der Methode ausdeuteten, die er von ihnen übernahm. In 
erster Linie war für ihn bestimmend geworden, daß er, um den Unterricht 
an der Katechetenschule zu leiten, Grrammatik studiert hatte: so kam er 
zu seinem wissenschaftlichen Werke, der Herstellung eines urkundlichen 
Textes des Alten Testamentes, das seinesgleichen selbst in der helle- 
nistischen Grrammatik nicht hat: das steht aufrecht, und sein Ruhm kann 
nie verbleichen, während seine philosophischen Spekulationen längst ab und 
tot sind und die seiner Verketzerer nur noch das Leben von Grespenstem 



¥ 



» 



D. Römische Periode Tjo v. Chr. bis 300 n. ChrA r\'. Die Zeit des Zusunmenbruches. i^^ ^^H 

führen. Der Erklärung des also gesicherten Textes galt seine unermeßliche | 

Produktion von Kommentaren. Von diesen heißt mindestens ein sehr großer 
Teil Homilieen; es sind Lehr\'orträge, deren bescheidener Name „Unter- ^^_ 

haltungen" den Verzicht auf oratorische Wu-kung ausdrückt; er stammt aber ^H 

aus der Rhetorik; Philostrat nennt seine Gemäldeschilderungen so, die sich 1 

auch an einen Kreis von Lernenden wenden; deren Sclüichtheit ist freilich I 

raffinierte Künstelei, und der Name Homilie ist gerade ganz klassizistisch, J 

da er von dem entlegenen Kritias (S. 74) stammt Origenes hat aber ^^| 

seine Vorträge wirklich ganz so gehalten, wie ein Forscher und Lehrer, ^^M 

der nur an die Sache denkt; es ist die Improvisation eines wohlvorberei- ^^| 

teten Professors, von Stenographen fixiert und dann vom Autor für die | 

Publikation durchgesehen, w^odurch sich die Massenhaftigkeit der Produk- 1 

tion erklärt. Was so herauskam, war von einem geschriebenen Kom- I 

mentar nicht wesentlich verschieden. Literarischer Wert ist nicht erreicht, 1 

aber auch nicht angestrebt Wenn die Sprache etwas Individuelles haben I 

sollte (was zu untersuchen ist), so muß es im Hintergrunde liegen; seine ^J 

eigene Person stellt der vielgeliebte und vielgehaßte Mann sicherlich nicht ^m 

ohne Überwindimg zurück. Das Ethos des Gelehrten ist es, das dem 1 

Origenes am besten steht; nach der Polemik gegen Celsus darf man ihn 1 

nicht beurteilen. Den Menschen würden wir wolü liebgewinnen, wenn 1 

seine Korrespondenz erhalten wäre: für diesen zeugt am beredtesten die J 

schöne Abschiedsrede des Gregor von Pontus, durch und durch rhetorisch, ^H 

aber das erfreulichste Erzeugnis der damaligen Rhetorik. ^^ 

Was er für die Wissenschaft getan hat, griechisch zu reden als Porph/riM ' 
Grammatiker und Kritiker, ist auch das Bleibende in dem Wirken des '""— '••J''*'* 
Malchos von Tyros, der erst als Student den semitischen Namen mit 
Porphyrios vertauschte. In der Homererklärung, der Philosopheugeschichte, 
der Chronologie der Diadochenzeit operieren wir stark mit dem Materiale, 
das er uns überliefert; viele Generationen hat ein Kompendium von ihm 
in die aristotelische Logik eingeführt. Das Werk Plotins hat seine Pietät 
allein gerettet, und die Vorrede über Plotins Leben liest man gern neben 
dem Panegyrikus Gregors auf Origenes. Die richtige Datierung des Daniel- 
buches zeugt dafür, daß er aus der Interpretation wirklich historische 
Schlüsse zu ziehen vermochte, etwas sehr Seltenes zumal in jener Zeit 
Sie kontrastiert um so greller mit der Kritiklosigkeit, die aus den Orakeln 
der Griechengötter Philosophie destillierte; aber des Widerspruchsvollen 
ist in dem seltsamen Manne sehr viel, der wahrlich eine Biographie ver- 
dient: die Philologie hat aber noch nicht einmal seinen Nachlaß zusammen- 
gebracht, der noch jüngst durch ein umfängliches Ineditum, über die Be- 
seelung des Embryons, bereichert ist Trotz allen Vorzügen kann der 
repräsentative Mann seiner Zeit die Krankheit seiner Zeit nicht verleugnen; 
die Last des Autoritätsglaubens nimmt seinem Urteil die Freiheit, und seine 
Gelehrsamkeit ist überwiegend Reproduktion. Dabei geht sogar die 
stilistische Persönlichkeit verloren: sowohl in dem Stücke seiner Philosophen- 

>3* 



ig6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

geschichte, das wir haben (dem Leben des Pythagoras), wie in der Streit- 
schrift gegen den Fleischgenuß, ja sogar in dem Abriß praktischer Moral, 
den er an seine Frau richtet; nicht aus Unvermögen schreibt er einfach 
ab, sondern weil das Formgefühl erstorben ist, aus Widerwillen gegen die 
rhetorische Formspielerei, die den Inhalt verloren hat, aber auch weil ja 
jeder schriftliche Ausdruck fremd und angelernt war. 

Porphyrios wird von den Christen ungern ohne einen Ausdruck des 
Abscheues genannt, weil seine Schrift gegen das Christentum der gefähr- 
lichste Angriff war; man hat später mit ihr auch alle Gegenschriften unter- 
gehen lassen, die immer noch zu viel von dem Gifte enthielten. Und doch 
EuMbioi hat er den Christen den größten Dienst erwiesen, indem er den Eusebios 
(t 340). yQjj Cäsarea, also einen Landsmann, zu seiner wissenschaftlichsten Schrift- 
stellerei nicht nur veranlaßte, sondern neben Origenes ihn auch wissen- 
schaftlich am stärksten anregte. Wer in Porphyrios den Vertreter des 
Griechentumes einmal schildern wird, das trotz allem den Untergang ver- 
dient, dem es verfällt, wird gut tun, ihm in Eusebios den Vertreter des 
Christentumes entgegenzustellen, das zu siegen verdient, trotz allem. Denn 
seine Gelehrsamkeit ist noch viel mehr Reproduktion, und sie ist noch 
viel unkünstlerischer, da ganze Werke einfach Exzerpte sind und sich 
auch so geben; das Schreiben besorgte der Kopist, der Verfasser strich 
nur in den Büchern die auszuhebenden Stellen an und schrieb die Ein- 
und Überleitungen. Auch als Gelehrter hält Eusebios weder mit Porphyrios 
noch mit Origenes die Vergleichung aus. Aber die Kirchengeschichte, die 
er auf Grund der Bibliothek des Origenes (die in Cäsarea durch die Pietät 
des Paraphilos erhalten war) zusammenstellt, ist eine weit vornehmere und 
wirksamere Widerlegung des Porphyrios, als eine Gegenschrift sein könnte: 
sie gibt einfach das Gericht der Geschichte, und wir wollen dem Verfasser 
dankbar sein, daß er die Urkunden sprechen heß. Wer den Verlauf der 
griechischen Literaturgeschichte übersieht, muß aussprechen, daß dies 
Werk seiner ganzen Anlage nach ihren künstlerischen Prinzipien und 
Traditionen zuwiderläuft. Aber es ist ein schweres Unrecht, daß dieses 
Buch nicht zu den allgemein bekannten gehört: ein wissenschaftlicher 
Unterricht in der Theologie müßte seine Interpretation dicht neben die 
des Evangeliums und des Apostels stellen. Von der sachlichen Bestreitung 
des Porphyrios ist auch das große Werk diktiert, in dem der Beweis der 
evangelischen Lehre geliefert werden soll, dem die Weisheit der Hellenen 
zur Vorbereitung dient: so stellte sich dem Eusebios die Entwickelung der 
Philosophie dar, im Anschluß an Origenes. Hier steht's nun freilich so, 
daß berechtigterweise nur die Auszüge gelesen werden, die in dem ersten 
Teile kunstlos zusammengestellt sind. Den imposantesten Beleg seiner 
Wissenschaftlichkeit hat Eusebios endlich durch die Chronik geliefert, nicht 
allein durch die Auszüge oder die Umnenge von Daten, die er uns allein 
gerettet hat, oder auch durch das Zusammenfassen von Orient und Okzident 
(obwohl keine Spur davon ist, daß eine Chronik gleichen Umfanges vor 



D. Rflmischc Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). IV. Die Zeit des Zusammenbruches, igy 



I ihm je gemacht wäre), sondern vor allem, weil er ein denkender Chronologe 
war, der im Grunde den mythischen Teil bis Abraham als solchen 
anerkennt und den kindischen Zahlenspielereien des Chiliasmus keine 
Konzessionen macht. Es war eine starke Verirrung, den Ruhm, den 
er verdient, auf den kaum halbgebildeten Africanus zu übertragen, der, amc»bii» 
gebürtig aus Jerusalem, am Hofe der edessenischen Christenscheichs *"" '"' 
(die sich durch gefälschte Briefe eine besondere Würde verfertigten) und 
der severischen Kaiser wohlgelitten war und nur gelegentlich ein gutes 
Buch auszog, auch einmal (wie in betreff der Susannanovelle) einen guten 
Einfall hatte. Ganz ebenso dient sowohl die Chronik wie die Ostertafel 
des Hippolytos von Portus nur dazu, die persönliche Bedeutung des Hippoirte* 
Eusebios zu heben; von seinen Nachfolgern ganz zu schweigen, die auf '*''"''' 
die Weltära zurückgriffen. Eusebios ist dann dem Constantin nahegetreten; 
er hat dazu mitwirken müssen, die siegreiche Kirche in den Dienst eines 
christlichen Herrn zu fugen, und die Gehässigkeit, mit der sich die Par- 
teien unter den Siegern sofort befehdeten, hat ihm schwere Stunden ge- 
macht. Gerade daher wird eine Biographie von ihm noch viel interessanter 
sein als von Porphyrios; es ist auch viel mehr Stoff dazu vorhanden. 
Wir haben ja die verschiedenen Fassungen der Kirchengeschichte, 
die ihm die Rücksicht auf den Hof bei einer neuen Auflage abnötigte. 
Das Christentum verhinderte Constantin nicht daran, seinen Sohn umzu- 
bringen, und dann mußte der Name des Crispus in der Kirchengeschichte 
so gut radiert werden, wie einst unter Caracalla der Name Getas. Nach 
der Moral ihrer Zeit hat man die Menschen zu beurteilen, und es ist eine 
schreiende Ungerechtigkeit, wenn das Buch über Constantin das erste 
ganz verlogene genannt worden ist. Wer die „Reden auf Constantin" 
für Geschichte oder Biographie hält, versteht von der griechischen 
Literatur gar nichts, deren erster Grundsatz ist, daß die Gattungen über 
den Stil entscheiden. Die Rede gibt eben ein Idealbild; hier sind des 
Libanios Grabrede auf Julian, Gregorios auf Basilios oder auch gegen 
lulian am nächsten zu vergleichen. Gewiß ist in ihnen allen viel, was 
unseren Wahrheitssinn verletzt; die ranzige Salbung des Hofbischofs ist auch 
unausstehlicher, als wenn ein gallischer Rhetor in sein Posaunchen stößt, und 
bei Libanios vollends versöhnt die Treue und der Mut, sich zu dem über- 
wundenen Manne zu bekennen. Eusebios ist auch wirklich ein schlechter 
Rhetor. Schließlich aber ärgert uns das Buch doch vornehmlich, weil es 
ein Mann geschrieben hat, den wir dafür zu gut finden; es tut uns leid, 
^^ unsere Achtung vor seiner Person herabzustimmen. Er hat es eben 
^B erfahren müssen, daß die siegreiche Kirche und der christliche Ab- 
^^ solutismus die Ehrlichkeit und Wissenschaftlichkeit nicht mehr duldeten, 
die er von Origenes überkommen hatte. Auch Eusebios ist noch zu 
I hellenisch: die neue Zeit kann seinesgleichen nicht mehr brauchen. 

c 




igg Ulrich von Wilamowitz-Moellemdorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

E. Oströmiscbe Periode (300 — 529). 

I. Das christliche Ostrom. Das römische Reich war um die 
Mitte des 3. Jahrhunderts in Trümmer gegangen. Das Reich, das Diocle» 
tians Barbarenfaust aus diesen Trümmern bildete, war ein anderes, und 
die Spaltung in Ost und West ist bestehen geblieben, auch wenn eine 
Weile derselbe Herr hier wie dort gebot Die Hauptsache war, es 
gebot ein Herr unumschränkt, über Knechte, wie einst der Perser- 
könig; aber das Joch drückte jetzt viel schwerer, denn unter dem König 
stand die Beamtenhierarchie, schlimmer als je in Ägypten. Freie Ge- 
meinden und freie Menschen gab es nicht mehr; der Bürger war zum Unter- 
tan degradiert Nur die Organisationen, die sich die Brüdergemeinden 
der Christen aus eigener Kraft geschaffen hatten, widerstanden dem bru- 
talen Gewaltakte, der auch ihre Freiheit ersticken wollte, selbst die Frei- 
heit ^er Gewissen. Constantin entnahm daraus, daß ihr Gott mächtiger 
wäre als alle anderen, auch als die Götter, die in dem Imperium des 
römischen Volkes walteten; er wandte sich dem mächtigen zu und errang 
die Herrschaft Ohne Frage ist seine Toleranz für alle Teile ein Segen 
gewesen; das 4. Jahrhundert sieht Wohlstand und Gesittung steigeiL Aber 
biild schlägt die Toleranz in eine viel schlimmere Tyrannei des Gewissens 
um, in der denn auch das geistige Leben allmählich erdrosselt wird. Die 
Christengemeinden ziehen sofort den Monarchen in ihre häuslichen Streitig- 
keiten hinein; er präsidiert der Versammlung, die eine metaphysische 
Streitfrage durch Majoritätsbeschluß entscheiden will, imd er hilft die 
Majorität machen. Wohl wird damit der erste Schritt auf der Bahn getan, 
die den absoluten Kaiser auch zum Herrn der griechischen Kirche 
machen sollte; aber zunächst ist der Erfolg, daß der Kaiser in den Ver- 
sammlungen der Bischöfe auf Männer von eigenem Willen und eigener Macht 
stößt; er findet ein Parlament, wie es der Senat längst nicht mehr gewesen war. 
Innerhalb der Kirche gibt es wieder parlamentarisches Leben, Parteien und 
Parteiführer, Pamphlet und Presse, und daß sich die Parteikämpfe nicht 
um politische, sondern um dogmatische (früher hätte man gesagt „philo- 
sophische") Gegensätze drehen oder zu drehen scheinen, hebt die Ähnlich- 
keit nicht auf. Schwer, aber schön wird die Aufgabe des Historikers 
sein, der in schwerlich naher Zukunft die wirkliche Geschichte des 4. und 
5. Jahrhunderts schreiben wird. Die Vorbedingung ist, abgesehen von der 
Erfassung einer ganzen Reihe von Personen, die eigentlich erst zu ent- 
decken sind, daß die unnatürliche Scheidewand zwischen Kirchen- 
geschichte und Reichsgeschichte gefallen sein muß. Diese besteht aber 
schon in den zeitgenössischen Darstellungen, denn die Autorität der 
Kirchengeschichte des Eusebios erzeugt Fortsetzungen, die recht achtbar 
und auch lesbar sind. Wieder geben sie oft im Gegensatze zu der 
griechischen Weise Aktenstücke, und solche liegen auch sonst in kaum 
übersehbarer Fülle vor. Briefe und Gelegenheitsschriften kommen massen- 



Peiiode (joo— pq). L Du dirädidtt Östron. 



log 



halt dazu: so läBt sich die Aufgabe des Historikers dieser Zeit vid thbr 
mit der des modernen als der des alten Historikers vergleichen. Freilich 
haben sich die Sieger meistens bemüht, den Überwundenen, den nun das 
Brandmal des Anathemas trai^ auch tot der Nachwelt mundtot zu machen; 
die Moral des Kampfes steht kaum über der von Demosthenes und 
Aischines, und es ist noch widerlicher anzuhören, wenn dem Nächsten im 
Namen Gottes die Ehre abgeschnitten wird. Die Reichsgeschichte wirtl 
zunächst noch nicht von Christen geschrieben, aber sie bewahrt auch 
später die antike Tradition; die Rhetorik dominiert, die Mitteilung von 
Dokumenten in authentischer Form ist selten, weil sie dem Stilgesetze zu- 
widerläuft (es seien denn Orakel, also Verse), der Schriftsteller denkt an den 
Effekt, den er erreichen will, in erster Linie. Eunapios von Sardes (den wir 
zum größeren Teile nur durch Zosimos, einen matten Kompilator, besitzen) 
ist in seiner Geschichte (einer Fortsetzung des Dexippos, S. loi) nicht ganz 
so gfeziert gewesen wie in den Biographieen von Philosophen und Rhetoren, 
die noch dazu ziemlich inhaltsleer sind, und in den Taten seines Heidon 
Julian erhielt seine Geschichte einen großen Stoff; Julians Leibarxt 
Oribasios hat ihn in echter Pietät zu dem Werke veranlaßt; ein Mann, 
dem wir auch für eine riesige medizinische Kompilation zu Danke ver- 
pflichtet sind. Aber unausstehlich wirken doch die welken Blumen der 
archaistischen Erudition, die Eunapios überall einflicht, die leeren Sentenzen 
und der geborgte Flitter der Rede. In allem scheint Olyrapiodoros sein 
Nachfolger gewesen zu sein; übrigens hat auch der arianischc Kirchen- 
historiker Philostorgios, der, wie seine Glaubensgenossen überhaupt, hohe 
rhetorische Aspirationen hatte, geographische Exkurse eingefügt 

In diese Reihe gehört Ammianus Marcellinus aus Antiocheia durchaus, 
trotz der lateinischen Sprache, die der Militär gelernt hat und der aus- 
gediente Militär in Rom zu schreiben versucht Aber hier hat einmal 
das Studium lateinischer Vorbilder erhebend gewirkt. Daß er Tacitus 
vor Augen hatte, gab ihm die Krafl, Charaktere zu zeichnen; durch die 
Historieu Sallusts kam er auf die Weise von dessen Vorbild Poseidonios 
und gab in breiten Exkursen ein Bild sämtlicher Landschuften des Reiches, 
Daß in ihnen vorwiegend sehr billige Erudition geboten wird, muH man 
seiner Zeit und Bildung zugute halten, ebenso wie das beinahe uimiögliche 
Latein: er hat doch das erste Geschichtsvverk seit Tacitus geliefert, zu 
dessen Lektüre man gern zurückkehrt. Ihm gleichgekommen ist keiner 
der Späteren, aber sie leisten Unverächtliches, und die Qualität sinkt 
durchaus nicht Die vielbelobten Berichte des Priscus über seine Reise 
zu Attila stehen keineswegs allein. Das große Publikum pflegt eine ge- 
wisse unbestimmte Vorstellung zu hegen von den höchst heldenmütigen 
LGothenkönigen Totila und Teja, und anderseits von einem verfaulten 
Byzantinertume mit einer potenzierten Messalina, der Theodora, und dem 
mißhandelten Verdienste Belisars: das ist am letzten Ende eine doch nicht 
geringe Wirkung des Prokopios, wenn auch diese Vorstellungen am 



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200 Ulrich von 



40wrrz-M0ELLENO0RFF: Die griechische Literatur. des Altertums. 



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Syriicbe 

Literatur. 

Bardesanrs 

(um iBo), 



Epbrem 
It J7J) 




Stärksten berichtigt werden, sobald man seine Bücher liest Es ist doch 
nichts Kleines, dciß sich die gar nicht mehr hellenische, aber hoch- 
bedeutende Zeit lustinians wesentlich dank seiner Darstellung in geschicht- 
lichem Vollbilde darstellen läßt Sein Griechisch war ihm freilich kaum 
weniger fremd als dem Ammian sein Latein; das steigert sich noch bei 
Agathias, und Simokatta ist gar ein Ausbund von Fratzenhaftigkeit 

Die Scheidung der Reichshälften riß die Kultur auseinander; schon 
im 4. Jahrhundert spürt man, daß sogar die Kirche Roms sich von dem 
Orient emanzipiert, zu ihrem und des Okzidentes Heile wird sie immer 
lateinischer: nur so konnte sie sich die Freiheit der Entwickelung be- 
wahren, die im Osten durch das Kaisertum erstickt ward. Wohl aber 
empfand auch sie die Gefahr, daß die Bildung sinken mußte: daher die 
umfassende Übersetzertätigkeit durch Ambrosius Rufinus Hieronymus. 
Dasselbe geschah auch auf anderen Gebieten, namentlich durch Meuius 
Victorinus und seinen Kreis. Die wissenschaftlichen Handbücher, die 
gerade bei den Griechen galten (sowohl theoretische für den Unterricht, 
als auch praktische z. B. für die Heilkunst an Mensch und Tier), aber 
auch belehrende Poesie (durch Avien) und historische Unterhaltungsliteratur 
(Alexanderroman, losephus' jüdischer Krieg, Dictys, Dares) werden so dem 
Westen erhalten. Wie der Antiochener Ammian in Rom die griechische 
Historiographie in lateinischer Sprache übt, so bringt um 400 der 
Alexandriner Claudian die Poesie seiner Heimat, sowohl die mythologische 
wie die interessantere über Stoffe der Zeitgeschichte, nach Ravenna und 
wird der letzte geistreiche Dichter in lateinischer Sprache. Noch viel 
mehr ist die letzte Pheise der africanischen Dichtung ein Ableger der 
griechischen. Die wirren mythologischen Poeme des Dracontius werden 
erst verständlich, wenn man sie zu der nonnischen Schule stellt; die 
Epigrammatik des Luxorius gehört zu Palladas und dem Silentiar Paidus, 
Corippus vollends ist lateinisch nur in der Sprache: er vertritt uns die 
historische Epik der Griechen, die bis auf karge Reste und etliche Namen 
wie Soterichos verschollen ist, und die später Georgios der Pisidier, aber 
nicht mehr in klassischer Form, fortsetzt; er bedient sich bereits des 
byzantinischen Zwölfsilblers, der aus dem iambischen Trinieter hervor- 
gegangen ist. 

Die Syrer von Edessa hatten schon gegen Ende des 2. Jahrhunderts 
ihre eigene Sprache zu schreiben begonnen und sogleich in Bardesanes 
einen bedeutenden Philosophen hervorgebracht, der seinen heimischen 
Namen beibehielt, syrisch in Prosa und Versen schrieb, aber die griechische 
Bildung, die er beherrschte, durchaus nicht preisgab; so gab es seine 
Werke auch auf griechisch. Umgekehrt scheint Eusebios, obwohl Bischof 
des ganz griechischen Cäsarea, die syrische Übersetzung seiner Haupt- 
werke selbst angeregt zu haben. Zwei Menschenalter später wirkt in 
Edessa der Syrer Ephrem, in nahem Kontakte mit den Führern der 
griechischen Orthodoxie. Ephrem ist durch Übersetzung seiner zahlreichen 



i 



I 



Schriften, auch der Gedichte, von so andauernder Wirkung, daß man mit 
Recht die Frage aufgeworfen hat, inwieweit auch formell die neue 
liturgische Poesie durch die syrische Metrik beeinflußt worden sei; die 
Lösung steht noch aus. 

Während hier das Auftreten der Volkssprache, die bisher vom Grie- 
chischen niedergehalten war, zwar ein Vorbote davon ist, daß Kirche und 
Volk von Syrien sich von den Hellenen emanzipieren werden, aber die 
Kultur dadurch keine Einbuße erlitt, bringt das Aufkommen der ägyp- 
tischen Sprache zugleich der griechischen ICultur des Landes den Tod: 
denn abgesehen von der „Stadt" (wie Alexandreia technisch gegenüber 
dem „Lande" heißt) ist das ägyptische Christentum durchaus bildungs- 
feindlich. Die Erhaltung höchst wertvoller altchristlicher Literatur durch 
die Kopten beweist am besten, daß sie das Hellenische verschmäht haben. 

Übersetzungen aus dem Lateinischen scheint es kaum noch zu geben. 
Tertullian mußte für griechische Ausgaben seiner W^erke sorgen, wenn sie auf 
weitere Kreise der durchaus griechischen Kirche wirken sollten: Augustin 
kommt dem Osten kaum zur Kenntnis. Aus älterer Zeit hört man ge- 
legentlich von einer Übersetzung der beiden Bella von Sallust; die vierte 
Ekloge Vergils kann Eusebios in einer gar nicht üblen Übersetzung 
zitieren; später nichts dergleichen, denn die Benutzung der Äneis, die 
z. B. bei Triphiodor zutage liegt, wird aus dem Originale stammen. Das 
Studium des Lateinischen ward in Konstantinopel emsig betrieben, 
und schon die Tätigkeit des I^ctantius in Nikomedeia bezeugt, daß 
die Kaiser bei der Reichsteilung nicht vergaßen, für die lateinische 
Bildung ihrer Beamten zu sorgen. Die romanisierten Donaulandschaften 
waren ja beim Osten geblieben; gerade sie stellten sehr viele Offiziere, 
also auch Kaiser, so daß der Hof und die Regierung lateinisch waren 
und bleiben sollten. Das hält sich bis in das 6. Jahrhundert, bis zum 
Corpus iuris und der Grammatik des Priscian von Konstantin opel; geht 
doch sogar die Überlieferung mancher erhaltener lateinischer Autoren 
auf diese Schule zurück. Kein Wunder, daß einzeln auch Griechen jetzt 
lateinische Werke benutzen, wenn sie sich für den Staatsdienst der Sprache 
bemächtigt haben, wie das am ausgedehntesten in der seltsamen Schrift- 
stellerei des Lyders Laurentius geschieht, der beweist, wieviel gelehrtes 
Material in der Zeit lustinians für jedermann parat lag, und wie wenig 
man mit ihm anzufangen wußte. Auch früher schon, wohl im 4. Jahr- 
hundert, hat ein freilich in keiner Weise zu fixierender musikalischer 
Kompilator, Aristides Quintiüanus, Ciceros Staat gelesen und zitiert So 
wird denn auch gerade die griechische Sprache seit Diocletian sehr stark 
von lateinischen Wörtern durchsetzt, und nur Ziererei enthält sich ihrer. 
Die kaiserliche Kanzlei ist lateinisch, die griechischen Ausfertigungen 
also lediglich Übersetzungen wie in der Republik, nicht unter dem Prin- 
zipat Nun hatte sich aber in der Zeit des schlimmsten Verfalles ein so 
vertrackter und schwülstiger Stil der Geschäftssprache bemächtigt, daß es 



Koptische 
Literatur. 



LAureotiot der 



(um 560). 



L 



202 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

geradezu widerwärtig ist, sich durch dieses Gestrüpp hindurchzuarbeiten. 
Das wird dann in das Griechische übersetzt und nimmt sich da noch un- 
glaublicher aus: es ist die einzige Stilform, die aus dem Latein herüber- 
gekommen ist Für das diocletianische Edikt und seine Nationalökonomie 
paßt es am Ende ganz gut; in den Hirtenbriefen Constantins erregt es 
schon eher Befremden, daß aber lulian in seinen Erlassen Kauderwelsch 
reden muß, enthüllt grell die Zerklüftung der ganzen Zivilisation. 

Konttantinopei. IL Das Auslebeu der Literatur. Die Pflege des Lateinischen 

und was damit zusammenhängt, also namentlich das Recht, ist das 
einzige, was die neue Hauptstadt bis auf lustinian zu dem geistigen 
Leben des Reiches beiträgt Daß das Prunken mit Gold, Edelsteinen 
und Seide am Hofe am aufdringlichsten ist; daß dort die grünen und 
blauen Jockeys und die nunmehr aus christlicher Dezenz mit einem 
ganz kleinen Schürzchen bekleideten Balletteusen erster Qualität sind 
und beide Kategorieen die idealen Bedürfhisse der Offiziere und 
Regierungsbeamten ausreichend befriedigen, einerlei ob diese Illyrier, 
Germanen oder Isaurier, Arianer oder Orthodoxe sind, versteht sich von 
selbst Das Wertvollste, die neue Kirnst, wird aus dem Osten importiert, 
so auch das Hofzeremoniell der neuen Monarchie; auch die Redner, deren 
der Hof bedarf, holt er sich aus der Fremde; es bekomutnt aber den 
TbemUtios meisten übel. Doch hat sich von Constantius bis Theodosios dort Themi- 
(t nin 390). ^^j^^ gehalten, allerdings nicht nur als Redner, sondern vorwiegend als 
Beamter, ohne daß hiervon in seinen Werken viel zu spüren wäre. Er 
hat zwar die Moderhetorik gepflegft, aber aus der aristotelischen Philo- 
sophie (der er durch sehr praktische Paraphrasen der Hauptwerke treff- 
liche Dienste leistet) so viel Haltung bewahrt, daß er, ohne sich zu ent- 
würdigen, den verschiedenen Kaisem dienen kann; er hat auch seinen 
hellenischen Philosophenglauben bewahren dürfen und repräsentiert eine 
achtungswerte Bildung. Immerhin spürt man den Abstand der Zeiten, 
wenn man seine Reden an Theodosios mit denen Dions an Traian, seinem 
Vorbilde, vergleicht 

Wie es begreiflich ist, daß die künstlich geschaffene Stadt, die nur 
ein barbarisiertes Hinterland hatte, den Ton in Sachen des Geistes und 
Geschmackes nicht angeben konnte, so gilt dasselbe von den meist ganz 
bildungslosen Kaisem. Constantin freilich hat nicht nur die entscheidende 
Wendung in Sachen des Glaubens getan, sondern ist selbst am Ende 
seines Lebens immer mehr ein David im Stile der Chronika geworden; 
nur ließ er Hirtenbriefe und eine Prediget statt Psalmen ausgehen. Dem 
entspricht es, daß seine Nachfolger die herrschende Glaubensform be- 
stimmen; Theodosios L dankt seiner Orthodoxie allein den Namen des 
Großen. Aber für die Literatiu- kommt nur lulian in Betracht, der früher 
Sophist als Kaiser war, und Konstantinopel ist weder der Schauplatz 
seiner Taten noch der Nährboden seiner Bildung. 



E. Oströmische Periode (300—529). II. Das Ausleben der Literatur. 



203 



So kommt in Europa nur noch Athen in Betracht wegen der Uni- Atheo. 
versität, die bis zur Verwüstung Griechenlands durch Alarich den ersten 
Rang als Bildungsstätte für Rhetorik und Philosophie behauptet, denn 
hier war die Kontinuität seit der hadrianischen Neugründung der Stadt 
niemals unterbrochen. Wenn es ein Fortschritt war, daß die Rede von 
dem quantttterenden zum akzentuierenden Prinzip überging, so gebührt 
Athen dieser Ruhm, und es war wenigstens modern. Modem war aber 
auch eine arge Verwilderung des Geschmackes (obgleich auch da die 
Kontinuität von Polemon zu Philostratos, von dem zu Himerios unverkennbar HimeriOT 
ist), und gerade was in ihnen ungesund ist, haben lulian, Gregor, Basilios *"'" •'^"'' 
sich von der Universität geholt. Von den Professoren ist uns durch 
Proben noch Himerios bekannt — wer ihn kennt, weiß, was albern ist, 
um auf ihn zu übertragen, was Cicero von dem Asianer Hegesias sagt. 
Daneben steht die Philosophie; doch ist von dieser nicht nur Epikur ganz PMioiophi«. 
vergessen, unbegreiflicherweise auch die Stoa (das Rätsel ihres Ver- 
stummens erheischt dringend eine Lösung); der Kynismus, der ja nicht 
Lehre, sondern praktische Betätigung der erkannten Wahrheit war, hatte 
noch Vertreter, aber in den Hauptstädten: er muß den Schwindel des 
Lebens sich gegenüber haben, den er negieren und bekämpfen will. Der 
Piatonismus hatte schon unter Porphyrios die aristotelische Logik mit in 
seinen Unterricht gezogen, so daß der Gegensatz dieser beiden Schulen, 
obwohl er in der Theologie fortleben sollte, nicht stark ins Gewicht fällt 
Wenn die Aristoteliker sich von der Dämonologie fern halten, so bleiben 
sie darum in dieser Zeit, die auch von der Wissenschaft nur Befriedigung 
des religiösen Bedürfnisses sucht, für die weiten Kreise machtlos, aber 
um so wertvoller ist es, daß doch eine Schule dauernd bestehen bleibt, 
die mindestens im Prinzip für alle Behauptungen den Beweis verlangt. 

Der Piatonismus dagegen verirrt sich immer weiter von der Wissen- iimwicbo. 
schafl fort Das ist vor allem die Schuld des lamblichos aus dem '^ """ ""' 
syrischen Chalkis am Libanon, der auch in seiner Heimat gelebt zu haben 
scheint, Schüler des Porphyrios (schwerlich persönlicher) und des Christen 
Anatolios (S. 1 94). Bei diesem konfusen Denker ist wohl noch von Wissen, aber 
nicht mehr von Wissenschaft etwas zu finden. Selbst das Kompilieren besorgt 
er unreinlich und maßlos ungeschickt; als Schriftsteller hat er nicht einmal 
dem Eunapios genügt, und in der Tat vermag er nicht, ja er versucht 
kaum, die Seele des Lesers zu packen. Aber Geister zu bannen verstand 
er und erreicht hat er, aus all den chaotischen religiösen Neubildungen 
des Orientes, der Dämonologie der hellenischen Mystiker und allerhand 
Stücken einerseits von Wissenschaft, anderseits von barem Schwindel 
jenes Zwitterding von Religion und Philosophie zusammenzubrauen, das 
sich als die Theologie aller der Kulte und Religionen darstellte, die sich 
von dem Christentume in ihrem Besitzstande bedroht sahen. Seine Adepten 
nennen ihn den Göttlichsten im Superlativ zu dem göttlichen Piaton: sich 
und ihrer Sache sprechen sie damit das Urteil, lulian hat nicht nur an 



204 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorft: Die griechische Literatur des Altertums. 

diese Theologie, sondern auch an die Wunder dieser Geisterbanner geglaubt 
Übrigens ist es bezeichnend, daß während der entscheidenden Zeit, im 
4. Jahrhundert, das so reich an christlichen Talenten ist, kein einziger 
namhafter Mann in diesem Hauptlager seiner Gegner aufgetreten ist, und 
daß die Zauberer und Wundertäter zwar in dem bedeutungslosen alt- 
hellenischen Teile Asiens, aber noch nicht in Athen zu finden sind. 

Das ändert sich im 5. Jahrhundert; da ist die platonische Schule Athens 
die feste Burg der Philosophie, zu der alle Anhänger des nun schon 
überwundenen Glaubens der Väter aufschauen. Aber wie ärmlich sieht 
es in dieser Burg aus. Die Schule sieht sich gezwungen, neben der 
Philosophie den rhetorischen Unterricht zu übernehmen (wir besitzen z. B. 
von Syrian einen Kommentar zu Hermogenes), so daß auch diese alte 
Feindschaft begraben ist, um das Vätererbe zu retten. Ja selbst die 
Grammatik, also was vorher allgemeine Bildung war, fällt nun den Philo- 
FroUi» sophen zu. Proklos erklärt Hesiodos und schreibt (d. h. schreibt ab) die 
(t 4«5)- Chrestomathie, so etwas wie eine literarhistorische Übersicht der klassischen 
Poesie, die uns auch in den kargen Auszügen höchst wertvoll ist, gerade 
weil der Philosoph nichts Eigenes dazugetan hat - Er macht auch Hymnen 
für den Gottesdienst, den sie jetzt üben dürfen und mögen: Einkleidungen 
seiner Dogfmen in die konventionelle Hymnenform. Seine philosophische 
Schriftstellerei, einerlei ob in der Form des Kommentars, der die Er- 
klärung des Schriftwerkes ganz aus den Augen verliert, oder des Lehr- 
buches, hat kaiun noch stilistische Aspirationen: es ist für so ziemlich alles, 
was sich in dieser Periode Philosophie nennt, bezeichnend, daß es die 
Wirkung auf das große Publikum gar nicht mehr anstrebt; schon von 
lamblichos gUt das. Das recht ansprechend und geschickt geschriebene 
saiiiutiD» Büchlein des Sallustius über die Götter gibt schon dadurch seine Herkunft 
(um 360). ^yg jjgjjj praktischen Kampfe Julians zu erkennen: es sollte ein positives 
Komplement zu der Schrift des Kaisers gegen die Christen sein. 

So ungenießbar die meisten Produkte des Neuplatonismus sind xmd 
so windig die Spekulation ist, die sich tmterfängt, die Wolken zu ballen, 
weil sie den festen Boden der Wissenschaft unter den Füßen verloren hat, 
es liegft doch ein milder abendlicher Schimmer über dem Untergange der 
platonischen Grründung, nicht das flanunende Rot, das das königliche Ge- 
stirn im Sinken ausstrahlt (wie B3Tons Manfred sie scheiden sieht), aber 
wohl der kühle, Wehmut weckende Glanz, der an das Versunkene erinnert, 
aber ohne die Hoffnung einer Wiederkehr zu wecken: es ist nur Zeit, zur 
Ruhe zu gehen. Man empfindet das, wenn man das Leben des Proklos 
M»rino. von Marinos liest Reicher an scharf getroffenen Zügen und lebendigem 
(um 490). jjetail, freilich auch an tollem Wunderglauben und (was in dieser Sphäre 
DaniMkios fast erquickend ist) an Bosheiten ist das Leben des Isidoros von Damas- 
(•«» 5»9)- jjjQg ^(j^ immer noch nicht, wie es kann und sollte, aus den Exzerpten 
hergestellt ist). Dieser gehört zu der letzten Schar, die, aus dem Reiche 
der Romäer fliehend, bei den Mazdaisten Glaubensfreiheit suchten. 



E. Oströmische Periode (300—529). II. Das Ausleben der Literatur. 



205 



AreopAgita 
(um 500). 



als lustiiiian die Schule schloß und ihr Vermögen konfiszierte. Wissen- 
schaftlich hoch über ihm steht der treffliche Simplikios, der Aristoteles- simpUkio« 
erklärer, dem die Welt nie genug für die Erhaltung der Bruchstücke '"" *''^ 
von Parmenides, Empedokles, Anaxagoras, Melissos, Theophrast, Eude- 
mos u. a. danken kann. Diese Bücher lagen, seit Jahrhunderten un- 
gelesen, immer noch in der Schulbibliothek: in zwölfter Stunde fand 
sich ein braver Mann, der sie aufschlug. Aber für solche Bücher und 
solche Männer war kein Platz mehr in diesem christlichen Staate, dessen 
Herr das Anathema gegen Origenes schleuderte. Dennoch bezwang er 
den Neuplatonismus nicht: die Erhaltung so vieler seiner Schriften ist 
nur denkbar, wenn im stillen immer noch dieser Glaube Anhänger fand, 
wie er denn in den folgenden Jahrhunderten mehrfach sich regt und in 
der Renaissance unter dem Namen Piatons mächtig hervorbricht. An der 
Kirche aber hat er sich gerächt, indem er in den Schriften des angeblichen 
Areopagiten Dionysios sog£ir die Legrionen der Dämonen lamblichs in die uionyiio» 
Heerscharen des Christenhimmels überführte. 

Zu den vielen ungelösten Problemen, auf die man stößt, wenn man 
von dem Geistesleben der hellenistischen Welt sich eine geschichtliche Vor- 
stellung bilden will, gehört es, wie in dem Antiocheia, das man sich viel 
eher als das Zentrum ausschweifendster Phantastik und eines wilden Syn- 
kretismus denken möchte, wie ihn nicht eben weit davon lamblichos treibt, 
ein besonnener, nüchterner, ja geradezu attisch -klassischer Sinn aufkommen 
konnte. Er offenbart sich unverkennbar in der antiochenischen Bibel- 
erklärung; es steckt etwas davon in der Stellung der Syrer zu den neuen 
Dogmen der Kirche, noch bei Nestorios, Er ist das Charakteristische in 
dem Stile der Prosarede, dessen einflußreichster Vertreter und Lehrer 
Libanios ist. Er ist nur ein Rhetor, und da er bis zur Ermüdung von Libani« 
sich und seinem Handwerk redet, auch seine Deklamationen über alles '■''^"•"•J* 
mögliche der Nachwelt überliefert hat, von denen viele das Niveau des 
trivialsten Schulaufsatzes nicht überragen, so kann man leicht zu einem 
sehr absprechenden Urteil kommen. Es drückt ja auch auf allem, was er 
macht, eine Atmosphäre von Bücherstaub, Phrasendunst und Langerweile. 
Aber der Mann hält doch die nähere Betrachtung aus. Er besaß Treue 
und er besaß Mut. Seine Ideale und seinen Helden lulian hat er niemals 
verleugnet, und als der Aufstand der Antiochener die Existenz der Stadt 
in Frage stellte, hat er seine ganze Person für sie eingesetzt Er hatte 
nichts als seine Kunst, aber dieser haben auch die Gegner die Achtung 
nicht versagt, und so ist er wirklich eine geistige Macht gewesen. Man 
spürt es in seinem Verhalten zu den kaiserlichen Beamten und in seiner 
unübersehbaren Korrespondenz, deren Ausdehnung, so viel des ganz Leeren 
darin ist, doch so viel beweist, daß Fäden des geistigen Lebens aus der 
ganzen Welt in seiner Studierstube zusammenliefen. Was er macht, ent- 
spricht seinem Wesen, pedantische, phantasielose Arbeit, alles über einen 
Leisten, aber akkurat und solide. Es bedeutet nicht wenig, daß er die echte 



2o6 Ulrich von WilamowitzMoellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

attische Weise, unbeirrt durch den Beifall, den die neuen Kadenzen und 
Reime fanden, aufrechthielt und den Byzantinern Musterstücke schuf, die 
wenigstens die Haupttugenden der Prosa, Einfachheit und Klarheit (leider 
nicht auch Kürze, die doch das Lehrbuch auch forderte) zeigten und 
lehrten. Freilich hatte seine Sprache mit der des Lebens kaum noch einen 
Zusammenhang, und die Aneignung des korrekten Wortschatzes erforderte 
ein beständiges Studium der attischen Vorbilder, wie man es ihn selber 
deutlich treiben sieht: er hat der Nachwelt das Format seines Hand- 
exemplares von Thukydides anvertraut Der Kreis dieser Klassiker ist er- 
schreckend eng, und was er bei ihnen sucht, dasselbe, was er seinen Schülern 
zu geben hat: formale Bildung. Denn etw2is Moral gehörte zwar auch 
dazu, nach der Auffassung des rhetorischen Unterrichtes, die ja seit Iso- 
krates galt und nun gegenüber den Christen doppelt nahe lag; aber was 
er da gibt, geht wirklich nicht über das, was unsere Schüler in ihren 
Aufsätzen auch vorbringen; der Vorzug, den mystischen Spuk zu vermeiden, 
so hoch wir ihn schätzen werden, ist doch negativ, und dadurch sind seine 
Reden auf Götter vollends leer und beweisen, daß diese Götter konven- 
tionelle Phrasen sind, wie die Helden der griechischen Geschichte, die in 
anderen Schulthemen auftreten. Es ist gewiß nicht in der Ordnung, daß 
ein redlicher, aber beschränkter und aller Originalität barer Schulmeister 
darum, weil er korrekt und verständig zu schreiben versteht, ein großer 
Schriftsteller sein soll, und gar, weil er ein braver Mann und ein guter 
Schulmeister ist, die Welt belehren und das geistige Leben dirigieren. 
Aber diese Schätzung der Rhetoren hat nun einmal unter den Hellenen 
seit Isokrates gegolten; sie hat unter den Byzantinern und überall, wohin 
die lateinische Bildung der Kaiserzeit kam, noch genug Verwirrung ge- 
stiftet und Scheinwesen hervorgerufen. Libanios ist der letzte große 
Rhetor, und dieses Platzes ist er nicht unwürdig. 

Die große Zeit seines Lebens waren die zwei Jahre, da lulian in 
Antiocheia Hof hielt, der Rhetor auf dem Kaiserthrone, der die alten 
Ideale zu neuer Macht emporzuführen versuchte. In den langen bitteren 
Jahren, die Libanios nach dem jähen Sturze lulians noch leben mußte 
und den Zerfall der Welt ansehen, in der er allein atmen konnte, war 
vielleicht das Bitterste, daß sein talentvollster Schüler, lohannes, seine 
eigene Kunst wider diese Welt wandte. Diese beiden Männer müssen, so 
eng sich diese Skizze auch ihre Grenzen zieht, einigermaßen charakterisiert 
werden, und neben ihnen fordert Grregor von Nazianz einen Platz, der als 
fanatischer Christ mit Chrysostomos zu lulian und Libanios, aber als Schrift- 
steller zu Libanios und Chrysostomos im Gegensatz steht Schon das zeigt, 
daß die religiöse Partei nicht den Ausschlag geben darf. Diese vier sind 
Menschen, die darauf Anspruch erheben dürfen, als ganze Menschen ge- 
würdigt zu werden, 
lulian Der Sieger von Straßburg, der wenige Jahre darauf die römischen 

(Kalter 360-63). "^^^fgQ y^j. Ktesiphou führt, und dessen Erfolge die Kapitulation lovians 



E. Oströmische Periode (300—529). 11. Das Ausleben der Literatur. 



207 



und die Schlacht von Adrianopel zur Folie haben, hat es nicht verdient, 
mit Friedrich Wilhelm IV, als Romantiker auf dem Throne der Cäsaren 
verglichen zu werden: die Vergleichung hinkt auf beiden Beinen. Gerade 
was dem sehr viel geistreicheren und geschmackvolleren Preußenkönige ganz 
fehlte, die Kühnheit des Entschlusses, die Überhastung in seiner Durch- 
führung, der Glaube an den eigenen Beruf, eine aus den Fugen geratene 
Welt wieder einzurichten, wird für lulian immer wieder Sympathie wecken. 
Wie ein Meteor steigt er auf, bringt Bestürzung und Verwirrung in die 
Welt und verlischt nach dritthalb Jahren wie ein Meteor, so daß die 
Frage an das Schicksal stehen zu bleiben scheint: was hätte er erreichen 
können? Das macht ihn zu einer tragischen Erscheinung, wenn der Erfolg 
auch unzweifelhaft bewiesen hat, daß er kein Held für eine Tragödie ist. 
Der gottlose Jubel, in den Gregor bei seinem Falle ausbricht — so gott- 
los, wie eben nur ein Priester jubeln kann — , und der Schmutz, in den 
selbst Chrysostomos noch greift, um sein Andenken zu besudeln, beweisen 
am besten, daß die Christen zur Furcht alle Ursache gehabt hatten. Warum 
hätte auch die rohe und abergläubische Menge einem siegreichen Kaiser 
zu Gefallen nicht von dem Braten essen sollen, den die Hekatombe 
weißer Ochsen für sie abgegeben hätte? Wenn er gesiegt hätte, so wäre 
eben der Apollon von Daphne ein stärkerer Gott gewesen als der heilige 
Babylas: jetzt war er ein Teufel, und das Totengebein des anderen tat 
Wunder. Wer in dem Lanzenstoße, der den zweiunddreißigjährigen Kaiser 
hinraffte, nicht das Werk des parteiischen Christengottes sieht, der wird 
mit Rührung auf den Sterbenden blicken, der keineswegs wie ein 
knirschender Lucifer mit einem „du hast gesiegt, Galiläer" zur Hölle 
fährt, sondern mit der Ergebung dessen stirbt, der sich in Frieden 
mit dem Gotte weiß, der derselbe ist, welche Namen ihn auch nennen. 
Aber gerade die unparteiische Betrachtung kann nur Verurteilung für 
den Versuch haben, die verwirrende und unreine Theosophie des 
lamblichos mit dem Staatskultus zu verbinden, der längst eine ana- 
chronistische Fratze war. Und vollends der Versuch, das großartige 
soziale Wirken der Christengemeinden durch den alten nationalen Staats- 
gedanken zu überbieten, dessen eine nun leere Fomi die Reichsreligion 
gewesen war, beweist die innere Überlegenheit der Kirche. Weder die 
Philosophie noch die Politik dieses Kaisers gewinnt bei näherer Be- 
trachtung. Aber die Selbstgefälligkeit seiner bald hohenpriesterlichen, 
bald kynischen Pose, die Oberhebung, zugleich Alexander und Diogenes 
sein zu wollen, die Eitelkeit des Schönredners, dem das Bravo der 
Professoren süßer klingt als das Hurra seiner Soldaten, ja selbst das 
Zwiespältige und Fahrige seines Wesens (Grregor hat es mit dem Scharf- 
blick eines aus der gemeinsamen Studentenzeit bewalirten Hasses gut zu 
treffen gewußt), all das darf dem Menschen die menschliche Achtung nicht 
nehmen, dem doch eine tiefe Sehnsucht nach dem Echten und Reinen 
(nicht dem Schönen) das Herz erfüllte. Wenn seine nackte Seele dem 



^ 208 Ulrich von Wilamowttz-Moellendorff: Die gnechische Literatur des Altertums. 

^B Totenrichter des platonischen Gorgias auch viele Striemen und Schwielen 

^B der Sünde gezeigt haben wird: die der Heiligen, Gregor und Chrj'sostomos, 

^H haben es nicht minder getan. Aber verdammt wird der gerechte Richter 

^f keine von ihnen haben, denn alle drei gehören zu den Auserwählten, die 

r Gottes Sache über die eigene stellen; darum hat das Leben auch allen 

dreien die bitterste Enttäuschung gebracht. 

Der Schriftsteller lulian rangiert freilich tief unter den beiden Gegnern; 
aber das wird dadurch aufgewogen, daß er der erste Kaiser seit Cäsar 
ist, der als Schriftsteller ernst genommen werden muß. Die Verschen der i 

Nero und Hadrian sind Spielerei, und Marcus schrieb nur für sich. lulian * 

dagegen führt seine Sache auch mit der Feder: er ist sein bester Publizist 
wie Friedrich der Große. Dazu gehört ein Teil seiner Reden und Briefe; 
wirkliche Privatbriefe, gesammelt von der Pietät, die ihm über das Grab 
treu blieb, treten dazu, und zuweilen liefern sie einen anheimelnden Zug, 
wie wenn er bei der Verschenkung eines Landgutes der seligen Jugend- 
tage gedenkt, die er dort verträumt hat. Auch die Reden an seine Götter 
(voll von mehr qualmendem als brennendem Glaubensfeuer) und die stilistisch 
am sorgfältigsten gefeilte, aber ziemlich oberflächliche Bestreitung der 
Christen (die wirklich schneidenden Waffen wird Porphyrios geliefert 
haben) gehören zu dieser Publizistik. Es kitzelte den Sophisten aber, 
auch seine persönliche Sache möglich unkaiserlich vor den Antiochenem 
zu führen und gar an den Saturnalien kynische Witze über seine Vorgänger 
I auf dem Throne zu reißen, die taktlos gewesen wären, gesetzt, er hätte 

den Witz Lukians besessen. Nun fehlt ihm der wie seinem ganzen Jahr- 
I hundert, und so bringen ihn diese leider am meisten gelesenen Bücher leicht 

^ auch um den Ruhm, den er beanspruchen kann. Freilich besaß er überhaupt 

weder die Kraft noch die Freiheit, sein Ethos trotz den Spielereien einer 
' unwahren Rhetorik zum Ausdrucke zu bringen. Man muß erst den 

Kaiser aus Ammian, den Rechtgläubigen aus Libanios, den Teufel aus 
Gregor kennen gelernt haben, ehe man den Menschen auch in seinen 
■ Worten findet 

Gregor von Grcgorios War damals ein besonders verbreiteter Name : er stammt 

t^'^^'i '^^^ ^^"^ Dämonenglauben der Zeit, denn wer seinen Sohn so nannte, 
stellte ihn unter den Schutz der YP*i"fopoi, der Engel, wie einst einen 
Dionysios unter den des Dionysos. Daher brauchte man ein Distinktiv, 
und die Griechen haben diesen Gregor den Theologen zubenannt, um ihn 
mit dem Verfasser des pneumatischen Evangeliums zu parallelisieren, der 
ebenso zubenannt ward. Wir nennen ihn nach seiner Heimat Nazianzos, 
und wenn wir seinen Bischofssitz Sasima wählten, so wäre das ein anderes 
obskures Nest aus Kappadokien. Beide Beinamen sind charakteristisch. 
Denn Gregor hat der griechischen Kirche die Mysterien der Christo- 
logie, um die damals der Streit am wildesten tobte, in der endgültigen 
Form offenbart, nicht für den Verstand, sondern für das Gefühl. Der 
zweite mahnt daran, daß nun die einst besonders übel beleumdete Landschaft 



ämische ftriode (300—529)! 



Cusleben der Literatur. " 



209 



Grofir 



i 



Kappadokien den ersten Platz im geistigen Leben Asiens einnahm. Der 
hellenische Küstensaum kommt eben gegenüber dem einst barbarischen 
Innern gar nicht mehr in Betracht. Gregor aber ist nur der vornehmste 
einer ganzen Anzahl von Kirchenlehrern und Rednern dieser Gegenden 
und darf sie hier allein repräsentieren. Denn sein Namensvetter Gregor, Gregor 
den man nach seinem Bistum, dem kleinen Orte Nyssa in Kappadokien '"" ■'^*"' 
nennt, ist zwar auch ein fruchtbarer und einflußreicher Schriftsteller von 
unleugbarem Talent und nicht geringer Bildung, der außer Rede und 
Homilie auch die dogmatische Streitschrift und sogar den Dialog kultiviert; 
dieser (über die Seele und die Auferstehung) und die Kasualredeii, zumal 
wenn sein Herz beteiligt ist (wie immer, wenn sein Familiengefuhl erregt 
ist), bereiten dem Leser oft einen kaum getrübten Genuß. Aber er gehört 
doch in die zweite Reihe, wie er selbst es gefühlt hat. Dahin drängte ihn 
das glänzendere Rednertalent des Nazianzeners und die Herrschergestalt 
seines älteren Bruders Basilios, des Erzbischofs von Cäsarea. Dieser Studien- Ba»iiio» der 
genösse, AutoritäLsfreund und nicht immer bequeme Vorgesetzte des Na- 
zianzeners verdankt seineu Beinamen der Große der in der Tat großartigen 
organisatorischen Tätigkeit, die den Gottesdienst und die Verwaltung der 
Kirche ordnet und auch das fremde Element des Mönchtumes einzufügen 
versteht Dazu ist ihm die Rede ein Mittel, und er beherrscht sie voll- 
kommen; auch seine zahlreichen Briefe sind in erster Linie Dokumente 
seiner praktischen Tätigkeit und seiner diplomatischen Versatüität. Der 
Vorkämpfer im Ketzerstreit, der unbeugsame Kirchenfürst, der welt^ 
kluge Politiker überwiegt durchaus den Schriftsteller. Gregor von 
Nazianz ist dagegen eine beschauliche Natur, der in der Enge länd- 
licher Abgeschiedenheit am wohlsten ist So ist ihm denn das Regieren 
schon in der Heimat nicht sonderlich geglückt, und die Rolle des 
orthodoxen Bischofs in der arianischen Hauptstadt hat er zwar mit selbst- 
verleugnender Hingabe durchgeführt, aber daß der Sieg seiner Sache 
nicht ohne das Opfer seiner Person gelang, bereitete ihm eine Enttäuschung, 
die er nie verwunden hat Seine Begabung war eigentlich eine lyrische; 
die Stimmung, die ihn beherrscht (und das ist bei seiner Regsamkeit und 
Reizbarkeit eine sehr wechselnde), treibt ihn; ihr sucht er einen möglichst 
vollen Ausdruck zu geben. Da ward ihm verhängnisvoll, daß seine Zeit, 
dem Naiven und Unbewußten ganz entfremdet, nur die künstliche Stilisierung 
der Rhetorik anerkannte, und daß die Rhetorik, die er in Athen gelernt hatte, 
nicht nur den Unterschied zwischen Poesie und Prosa prinzipiell negierte, 
sondern auch eigentlich nur F"ortissimo zu spielen wußte. So hat er es 
denn getrieben, vollkommen, aber in dem korruptesten Stile. Es gibt weder 
einen griechischen noch einen lateinischen Redner, der die Tugenden und 
I^^ster in annähernder Stärke besäße, die Cicero asianisch nennt Nach 
einer Festpredigt Gregors, etwa zu Weihnachten oder Ostern, mußte dem 
Hörer zumute sein, wie einem in die Korybantenweihen Aufgenommenen. 
Der Redner ist schon außer Atem, ehe er anfängt; die Interjektion ist der 



Du KULTUK DIR GSOENWAKT. L 8. 



M 



2IO UuuCH VON WoAMOWiTZ-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 

wichtigste Redeteil, der Ausruf die vorwaltende Satzform. Es soll den 
Eindruck machen, als bräche das Gefühl mit elementarer Gewalt hervor; 
allein dieses elementare Gefühl spricht in Reimen. Einige dialektische 
Finessen der dogmatischen Theorie klingen wie feine Flötentöne in dem 
Pauken- und Trompetenkonzert. Auch die Kriegstrommel wird gerührt 
und bald über die zur Strecke gebrachten Heiden, Juden und Ketzer 
Halali geblasen. Das Finale sucht dann die Ekstase des Einganges noch 
zu überbieten. Natürlich gibt es Reden von ruhigerem Gange, in denen 
die Betrachtung und Gedankenentwickelung neben der Entfesselung des 
Gefühles aufkommt; aber die Manier bleibt doch im Grunde dieselbe. Die 
Sprache ist ebenfalls immer ins Erhabene gesteigert; nicht im entferntesten 
eine Hinneigung zu dem Volkstümlichen, sondern die Suche nach dem 
Ungewöhnbchen und Packenden macht sie unrein und buntscheckig. Aber 
das muß man zugestehen: der Redner hat die Kraft, den Hörer in seine 
Gewalt zu bringen, den Sinn gefangen zu nehmen. Unter die gold- 
strotzende Kuppel einer mosaikbunten byzantinischen Kirche, in der die 
schwelenden Öllampen ihr Licht auf Weihrauchwolken werfen , paßt dieses 
Pathos so vollkommen, wie das Ethos der ruhigen Verstandesklarheit des 
Perikles auf die nackte Pnyx unter den freien Himmel Athens. 

Dieser selbe Gregor ist der fruchtbarste und merkwürdigste Poet dieser 
Periode; es ist eine Schmach, daß die Philologen noch nicht einmal für 
eine einigermaßen lesbare Ausgabe seiner Gedichte gesorgt haben; wenn 
er kein Kirchenvater, sondern ein schäbiger Poetaster wäre, der einen 
abgestandenen mythologischen Stoff breitträte, wie Quintus, oder gar ein 
Lateiner wie Silius, hätte er sie längst Es ist wahr, der Rhetor be- 
handelt die Poesie als minderwertige Schwester der Rede. Die Verse sind 
inkorrekt; die Sprache wimmelt von Reminiszenzen und Banalitäten, doch 
sollte gerade dies dem Philologen das Interesse steigern, denn z. B. die 
Rücksicht auf den Wortakzent ist durch die lebende Rede hervorgerufen. 
Hat doch Gregor als erster, von dem wir wissen, sogar ganz akzentuierte 
Gedichte eben für das Volk verfaßt; daneben auch etliche anapästische und 
anakreontische Stücke für den Gesang. Alles, was im Grunde nur die alten 
Formeln ein bißchen christlich umgemodelt reproduziert, also z. B. die 
zahlreichen Grabschriften, oder was nur den Wert der Paraphrase oder 
der Memorierverse hat, ja auch die langen moralischen Paränesen, für 
die er den lambus anwendet, ist an sich ziemlich geringhaltig und für den 
Dichter wenig bezeichnend. Aber eine Selbstbiographie in Versen ist 
wahrlich etwas Rares; in der Form der Rede tritt eine von Libanios dazu; 
vorher scheint nichts wirklich Vergleichbares existiert zu haben; und was der 
Hellenismus etwa besessen hat (S. 117), ist uns verloren und war dem 
4. Jahrhundert längst aus den Augen gekommen. Hinzu tritt eine große 
Zahl namentlich elegischer Gedichte, die freilich unter harter Schale eines 
konventionellen Stiles doch individuelles Leben in verschiedenen Stim- 
mungen widerspiegeln: wie lange war es nicht her, daß so etwas in 



strSmische Periode (300 — 529). II. Das Ausleben der Literatur. 



211 



(t 407) 



griechischen Versen niedergelegt ward? Das führt nicht nur formell auf 
das zurück, was die Elegie und dann das Epigramm in ihren besten Zeiten 
gewesen waren. Und ist der poetische Wert, da die Form unbefriedigend 
bleibt, unendlich geringer, so hat doch der Mensch des 4. Jahrhunderts 
n. Chr. sehr viel dringender das Bedürfnis, sich mit sich selbst zu be- 
schäftigen, und so fordert Gregors individuelle Poesie die Vergleichung 
mit Augustins Konfessionen heraus, wenn sie sie auch nicht aushält, da 
Augustins Natur sehr viel reicher und tiefer ist Doch ist beiden auch 
das gemein, daß recht viel Rhetorik und bewußte Selbstbe Spiegelung 
in Rousseaus Manier dabei ist; am Ende ist Gregor im Grunde der 
naivere. 

Johannes, den man leider mit dem schon bei Dion von Prusa (von lohinnei 
dem er geborgt ist) absurden Namen Chrysostomos nennen muß, ist als *'''^°*'°"°' 
Mensch und als Schriftsteller den beiden eben Behandelten noch weit 
überlegen, eine wahrhaft große Erscheinung. Auch ihn pflegt man zu ver- 
gessen, wozu die Übermasse seiner erhaltenen Werke, mindestens der 
Form nach Predigten, beiträgt; es werden sie wohl nur sehr wenige 
Menschen diu"chgelesen haben; leider ist der Plan einer kundig vor- 
genommenen Auswahl über den ersten Band nicht hinausgekommen. 
Welch ein Stoff für eine Biographie. Ein Mann des Wortes, der doch 
durchaus praktisch in der Welt wirken will, wie Demosthenes. Ihm 
ist die Religion weder Philosophie noch Zauberei; Spekulation und 
Mystik und all der Spuk, der damals die Sinne umnebelt, sind für ihn, 
auch soweit er an ihnen Anteil nehmen muß, durchaus Nebensache. Seine 
Religion ist eine lebendige, sittliche, Leben und Sittlichkeit zeugende 
Kraft; die Kirche ist ihm eine Organisation, die Schäden der Gesellschaft 
durch die sittliche Gesundung des Einzelnen zu heilen, und sich selbst traut 
er zu, Führer bei diesem Werke sein zu können. Es konnte nicht aus- 
bleiben, daß er die Ketzer und andere Feinde seiner Gemeinde bekämpfte, 
denn sie störten seine Kreise; er geht dann mit den Worten bis zum 
äußersten (das Fasten der Juden ist Völlerei, die ketzerische Jungfrau 
rangiert unter der Hure), aber er hat auch da immer bestimmte praktische 
Zwecke. Die orthodoxe Kirche mit ihren Lehren und Gebräuchen war für 
ihn gegeben als der einzige Grund, auf dem das Heil für den Menschen 
möglich wäre, daher die Verwerfung aller, die auf diesem Grunde nicht 
standen: diese Beschränktheit teilten fast alle Leute seiner Zeit; sie diffe- 
rierten nur in dem, was sie orthodox nannten. Aber helfen wollte er den 
Menschen nicht durch richtiges Meinen oder durch Zaubermittel, sondern 
durch Erziehung zur Sittlichkeit: das tat kaum ein anderer in seiner Zeit 
Und betätigen sollten die Menschen ihre Sittlichkeit im Leben, das er keines- 
wegs ertöten wollte. Das Mönchtum war für ihn bereits etwas Gegebenes; 
er hat es auch in einer sehr merkwürdigen Schrift gepriesen, aber man muß 
die gleich merkwürdige über das Predigeramt (Priestertum, sagft er ganz 
attisch, wie er auch das Mönchsein am liebsten Philosophieren nennt) 

14* 



212 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 



dazunehmen, die sehr geschickt die Bedeutung des eigenen Berufes zu 
erheben versteht. Ein solcher Mann redlichsten und ernstesten Strebens 
wird nun plötzlich nach Konstantinopel versetzt, in eine Welt voll Wollust, 
Blut und Barbarei, über der nur der dünne Schleier der kirchlichen 
Heuchelei und die Politur der Großstadt lag. Er erfährt das Kontagium 
des Hofes und seiner Weiber; der Neid der geistlichen Konkurrenten 
lauert auf jede Unbesonnenheit, und ein Reformator kann nie vor scharfen 
Mitteln zurückschrecken. So erfolgt die Katastrophe, Sturz und Triumph 
und wieder Sturz, auf den dann der gerechtere Triumph folgt, durch un- 
gerechtes Leiden, und endlich ein Tod, der zwar Verklärung bringt, aber 
die Bittemisse und Enttäuschungen schwerlich ganz wettgemacht hat. 
Wahrlich eine Tragödie der Art, die zwar nicht der Tragiker, wohl aber 
der Historiker schreiben kann, ganz wie die lulians. 

Und ein solcher Mann des praktischen Lebens ist ein beinahe puristi- 
scher Attizist. Sein Lehrer Libanios hat die Überlegenheit des Schülers mit 
bitterem Gefühle gesehen, aber eigentlich sollte er stolz sein, denn dieser 
Schüler hat des Meisters Lehre kräftiger in die Tat umgesetzt als dieser 
selbst. Alle Hellenen seines Jahrhunderts, mögen sie auch noch so über- 
zeugte Anhänger der platonischen Akademie sein und auf Piatons Stuhle 
sitzen, sind barbarische Stümper gegen diesen syrischen Christen, der es 
noch in höherem Grade als Aristeides verdient, mit Demosthenes stilistisch 
verglichen zu werden. In den Homilieen, deren Lektüre natürlich rasch 
ermüdet, stimmt er seine Kunst auf das Verständnis seiner Hörer hinunter. 
Lauter ganz kurze Sätze, Frage und Antwort, Beispiele, zuweilen aus dem 
Leben, viel historische Belege, hier natürlich aus den Geschichten 
der griechischen Bibel, das alles erinnert stark an die Diatribe: aber 
mit ihr besteht kein Zusammenhang, denn überall dominiert das reine 
Attisch. Das Verständnis der Schrift, über die er handelt, und zAvar 
das wirkliche, kein allegorischer Schwindel, wird nicht vernachlässigt, 
aber die moralische Wirkung ist doch die Hauptsache. Man muß 
die Kommentare des Proklos zu Piaton danebenhalten, damit man er- 
kenne, wer in Wahrheit der Erbe des sokratischen Geistes ist. In den 
großen Reden, die zum Teil nur Redeform haben (ganz wie es Libanios 
hielt), aber überwiegend wirkliche Reden sind, im wahrsten Sinne des 
Wortes Gelegenheitsreden, schwellen die wohllautenden Perioden an, 
reicher wird der Schmuck, aber nirgend etwas von dem Geklapper der 
Reime oder Kadenzen, nur ganz sparsam die Rede, welche Leidenschaft 
weckt, wohl aber die überlegene Kunst dessen, der die Seele nicht über- 
rumpeln oder faszinieren, sondern Kopf und Herz zugleich gewinnen will. So 
ist dieser attische Stil nicht ein bloß angelerntes Kunstmittel, es ist der har- 
monische Ausdruck einer attischen Seele. Wie so etwas möglich ist, mag 
erklären, wer den ganzen Maim aus seinem Werden einmal begreiflich 
machen wird: daß es ist, kann auch die flüchtige Bekanntschaft aussprechen 
und dem Klassiker huldigen, der hier einmal zugleich ein Klassizist ist. 



: 



E. Oströinische Periode (300 — 529). 11. Das Ausleben der Literatur. 



213 



I Nicht etwa, weil seine Bedeutung ihn dazu berechtigte, oder weil ein synoin. 
Zusammenhang obwaltete, soll in dieser Reihe noch Synesios von Kyrene ^"^ *°°^ 
auftreten, sondern weil er so gut als Letzter sich ausnimmt. Schon darum, ^m 

weil er Philosoph ist und Bischof wird, nicht durch eine Metanoia, sondern H 

in harmonischer Entwickelung, illustriert er die Einheit der Kultur, freilich H 

als Ausnahme, und eben als Letzter. Dem Gefühle, daß die alte Welt H 

versänke, gibt er selbst ergreifenden Ausdruck, als die Berbern die H 

kyrenäische Pentapolis verwüsten und die elende Reichsregierung dem ^M 

herzhaft auf seinem Posten ausharrenden Bischof keine Hilfe leistet Am ^M 

Altare des Christengottes beklagt er den Untergang der Kultur und rühmt ^M 

sich eines Adels, der bis auf Herakles hinaufreicht. Er macht lyrische ^M 

Hymnen für den neuen Gottesdienst und liest Sappho dazu. Die ^M 

bestialischen Mönche, die seine Lehrerin Hy'patia zerreißen, darf er nicht ^M 

offen bekämpfen; versteckt tut er es genug, und man sieht, er hat mit ^M 

ihrer Naturwidrigkeit nichts zu tun: sein Christentum und seine Philosophie ^M 

verw^ehren ihm nicht, an Weib und Kind zu hängen, was bei den Größeren ^M 

fehlt, Hellenen und Christen. Er hat offene Augen für das Leben um ihn ^M 

und ein fühlendes Herz für den Jammer und die Ungerechtigkeit seiner ent- ^M 

setzlichen Zeit Darum ist er nicht ein spekulierender Philosoph geblieben, ^M 

wie sie in dem Athen saßen, dessen Verfall er auch mit nüchternem ^ 

Blicke sieht, sondern ist in den praktischen Dienst der Kirche getreten, 
die nicht bei Metaphysik und Zauberei stehen blieb. Dieser gereicht es 
zur Ehre, daß sie diesen Mann duldete, der den Zusammenhang mit dem 
Hellenentume hochhielt. Es ist auch für Dion von Prusa wertvoll, daß er 
diesen Mann in seiner praktischen Moral gestärkt hat; als Charakter 
dürfte Synesios noch höher stehen. Der Kunstwert seiner Werke ist ^M 

freilich nicht hoch, und am erfreulichsten sind die kunstloseren Briefe. ^M 

Denn die Reden schwelgen in den modischen Kadenzen, und gerade die ^| 

Klagen um den Untergang Kyrenes mußten seiner Zeit viel mehr wie ge- ^M 

bundene Rede klingen als die quantitierend gebauten Hymnen. Immerhin ^M 

ist die „Ägyptische Rede", ein Bericht und zugleich ein Gericht über Er- • ^M 
eignisse der Zeitgeschichte in der Form eines Mythos, eine literarische H 

Form, für die nicht leicht Vorbilder zu finden sein werden (die gewiß H 

nicht gefehlt haben), während die neuere Zeit Analoga genug liefert 

Die neue Kunstform der Prosa, von der sich allein die Antiochener Akiootaierend« 
mit strenger Konsequenz fernhalten, scheint sich in der athenischen Schule ''"*** ""*^'*"*" 
allmählich gebildet zu haben. Gegen 400 ist sie vollkommen aus- 
gestaltet Sie beruht darauf, daß der Akzent, der ursprünglich rein musi- 
kalisch war, also die Tonhöhe allein anging und daher für alle gesag^te 
Poesie und alle Prosa nicht in Betracht kam, sich in den Akzent der 
modernen Sprachen gewandelt hatte, also die stärker betonte Silbe lang, 
alle unbetonten kurz machte. Damit verschob sich die alte Quantität der 
Silben, so daß die quantitierende Poesie, die man gleichwohl noch zu 
bauen fortfuhr, in ihrem Rhythmus für das Ohr gar nicht mehr vemehm- 



21 A UuuCH VON WiLAMOwrrz-MOELLENDORFF; Die griechische Literatur des Altertums. 

bar war. Die Aussprache der Vokale, die dem heutigen Grriechisch schon 
beinahe gleich war, ist viel weniger wichtig als diese fundamentale Ände- 
rung; die Ansprüche der neugriechischen Eitelkeit und die Unwissenschafk- 
lichkeit ihrer europäischen Patrone darf die Anerkennung nicht verhindern, 
daß die Prosa eines Gregor oder Synesios ihre beabsichtigte Wirkung erst 
dann ausübt, wenn man sie neugriechisch ausspricht, ganz wie die alte 
Poesie und Prosa nur durch streng quantitierende Aussprache zur Geltung 
kommen: wer wirklich Griechisch kann, wird ohne Mühe die Aussprache 
anwenden, die sich gebührt, wie das der Romanist am Alt- und Neu- 
französischen übt Es war an sich ein durchaus gesundes Prinzip, dem 
Leben sein Recht zu geben und den alten quantitierenden Rhythmus der 
Satzschlüsse durch den akzentuierenden zu ersetzen. Allein man hat sich 
an dem Klange berauscht und ist ganz ähnlich, wie seinerzeit Gorgias, 
in die Unart verfallen, die Rede in lauter kleine Glieder mit ähnlicher 
Kadenz zu zerhacken, und man hat, ganz anders als die hellenistischen 
Kunstredner (S. 103), einen hüpfenden, daktylischen Gang gewählt Der 
Doppeldaktylus ist die beliebteste Form des Schlusses geworden: ein un- 
leidlich singender, am Ende stark fallender Ton wird dadurch erzeugt, 
gegen den eine nicht minder streng kadenzierte Rede wie die gleich- 
zeitige lateinische ernst und gemessen klingt, zumal diese neuen Klauseln 
schließlich alle und jede Prosa überwuchern. In der Poesie hat man zu- 
nächst dem Akzente nur so weit Rechnung getragen, daß bestimmte Silben 
der quantitierten Verse betont oder unbetont bleiben mußten; das fing bei 
Babrios an (S. 130); es hat allmählich den Trimeter und Pentameter erobert, 
deren alter Rhythmus durch die Betonung der vorletzten Silbe ganz zerstört 
ward; in der nonnischen Schule greift es auch auf den Hexameter über. 
Das geht dann in der byzantinischen Kunstdichtung weiter. Während Metho- 
dios von Olympos in einem Hymnus seines Symposions (S. 220) quantitierende 
Verse zu bauen versucht, aber mit den ärgsten Verstößen, weil eben 
die Quantität nicht mehr gefühlt ward, und uns so eine wertvolle Probe 
von dem gibt, was sich die Kultpoesie der Halbgebildeten erlaubte, hat 
Gregor bereits rein akzentuierte Gedichte zu machen gewagt Das hätte 
zu einer neuen gesunden Metrik führen können. Aber es ist anders ge- 
kommen: das Band mit der alten Poesie sollte ganz zerrissen werden und 
dafür ein neuer Versbau aus der alten Kunstprosa entstehen. Das scheint 
paradox; in Wahrheit lag es ganz nahe, da ja die Kirchengesänge, auf- 
gebaut auf den prosaisch übersetzten Psalmen (S. 185), in der Form Prosa 
waren. Jetzt war die Prosa gebundene Rede geworden: es war nur 
nötig, die Silbenzahl der einzelnen Glieder zu binden, dann waren wirk- 
liche Verse da, Verse, wie wir sie bauen, in denen der längst angestrebte 
Parallelismus der Gedanken zu strenger Responsion gesteigert war. Das 
Klangmittel des Reimes war seit Gorgias bekannt und in der Rhetorik 
seiner Richtung beliebt: auch hier war nur der letzte Schritt nötig, 
es zu fixieren und zum Bindemittel der parallelen Glieder zu erheben: 



■ E. Oströmische Periode (300—529). II. Das Ausleben der Literatur. 215 1 

dann war die moderne Form der Poesie da. Beides ist in der Kirchen- I 

poesie geschehen, die dann diese neue Form, die höchst kunstreiche Ge- 
bilde erzeugfte, in den Okzident übertrug. Das alles fallt außerhalb dieser 
Betrachtung, zumal, irgend etwas Bedeutendes von den Griechen dieser 
Periode noch nicht hervorgebracht ist. Aber die geschichtlich ungemein 
wichtige Tatsache mußte hervorgehoben werden. Sie ist erst vor wenigen 
Jahren entdeckt, und die Durchforschung der spätgriechischen Prosa unter 
diesem Gesichtspunkte steht erst in den Anfängen. 1 

Ganz besonders streng und zum Teil in Verbindung mit dem alt- g»». 
hellenischen Wohllautsprinzip der Hiatusvermeidung ist die neue Prosa in 
einer Schule fortgeführt worden, die gegen Ende des 4. Jahrhunderts in 
dem alten Philisterlande mit der Hauptstadt Gaza erblüht ist, um dann 1 

bis an die Araberzeit hin zu dauern. Gaza ist zum Zentrum eines geistigen 
Lebens geworden, das durch den Sieg des Christentumes nicht gestört 
ward. Über diesen sind wir durch das Leben des streitbaren Bischofs I 

Porphyrios unterrichtet, das sein Diakon Markos geschrieben hat, ein Mirko, der 
Buch, das mancher lieber lesen wird als die Reden und Briefe der Pro- /^"''°" 

' (um 420). 

kopios und Chorikios. Doch scheint eben dieser Prokop derselbe zu sein, Prokopioi 
dem die reichste Sammlung von Bibelerklärungen der älteren Kirchen- f"" <*°)- 
lehrer verdankt wird, die in den sogenannten Kettenkommentaren erhalten ^^°"'"°* 

' c> ^uni 500). 

ist, eine kompilatorische Leistung von höchstem stofflichen Werte. Ganz 
in der alten Weise gehört zu der Rhetorik die Poesie, denn es macht 
keinen wesentlichen Unterschied, ob eine Hochzeit durch eine Rede des 
Chorikios oder Anakreonteen des Johannes gefeiert wird, ob Chorikios lohann« von 
ein mythologisches Gemälde oder Johannes {schwerlich ein anderer als .„^""^v 
der Anakreontiker) eine Weltkarte in Hexametern beschreibt. Alles ge- 
schieht so gut, wie man es auf dem Grunde dieses senilen Klassizismus 
verlangen kann. Ohne Zweifel sind auch die grammatischen und wissen- 
schaftlichen Studien dem Können der Zeit entsprechend gepflegt worden. 
Ein gewisser Aneas hat sich sogar nicht ohne Geschick an einem philo- Äne« 
sophischen Dialoge versucht; ein Gedicht eines Timotheos über wunder- '"'" ^°°*' 

Timotheos 

bare Tiere ist durch den Stoff bemerkenswert; es ist verloren, aber („„ ^„y 
inhaltlich läßt sich viel gewinnen, da es stark gewirkt hat. Selbst mathe- 
matische Studien scheinen nicht gefehlt zu haben: Eutokios, der Erklärer Euiokiot 
des ApoUonios von Perge, ist aus Askalon. '""" '°°' 

Gaza konnte zu einer solchen Bedeutung nur gelangen, weil es nahe AkMndreu. 
genug bei Ägypten lag, um die alte Kultur Alexandreias aufzunehmen, 
und Alexandreia selbst immer mehr den hellenischen Traditionen ent- 
fremdet ward. Gewiß ließ sich die Wissenschaft, die dort nun über ein 
halbes Jahrtausend ihren festesten Sitz gehabt hatte, nicht rasch ent- 
wurzeln; bis zur Araberzeit bezieht Konstantinopel Literaten aller Art aus 
Ägypten; für die Medizin ist hier dauernd der Hauptsitz, es gibt immer 
noch Mathematiker und Astronomen, auch Philosophen, wie den unentbehr- loUnn«« 
liehen, aber unausstehlichen lohannes Philoponos, der die aristotelische ^."^"''""r 



1 

4 



2i6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Philosophie im Dienste der Kirche gegen die Neuplatoniker wendet, aber 

auch auf anderen Gebieten der Erudition sein Wesen treibt Die Grram- 

matik ist noch lange vorwiegend alexandrinisch; aber alles macht den 

Oto» und Orion Eindruck des Verkümmernden. Die Grammatiker Oros und Orion, der 

(nach 400). Astronom Theon sind im Grrunde armselige Kompilatoren, imd der 

Hjrp«tia, Märtyrertod Hypatias darf nicht dazu verführen, von der Wissenschaft, 

Tochter de» ^jjg gjg lehrte, allzu hoch zu denken: aber er offenbart in entsetzlicher 

Theon ' 

(t 415). Deutlichkeit, daß das alexandrinische Christentum die Bildtmg gemordet 
hat: es ist schön, daß die Philosophin durch die Dichtung eines frommen 
Christen verklärt worden • ist Nur auf dem Gebiete der Poesie ist nicht 
nur eine starke Regsamkeit entfaltet, sondern wenigstens eine Blüte von 
seltsamem narkotischen Diifte gewachsen. 
Epigiammatik. Ziemlich überall können wir wahrnehmen, daß das Epigramm noch 

immer sein bescheidenes Leben führt Das meiste sind freilich nur 
Variationen alter Themata, und selbst was leidlich gelingt, hat nur den 
Wert von Papierblumen. Aber zuweilen g^bt es doch ein Bildchen des 
Lebens, und ein jeder derbe irdische Ton erfreut in der Literatur einer 
Zeit, die sich in die Wolken und Himmel zu verlieren pflegt, seien es 
auch die Verse aus dem öffentlichen Abtritt zu Ephesos, die jüngst ans 
Licht gekommen sind. Der Art g^ibt es einiges von dem Alexandriner 
Paiudu Palladas; Zierlicheres aus der iustinianischen Zeit, in der der Historiker 
(um 4CO). Agathias die Epigramme der letzten Crenerationen nach dem Vorbilde des 
Philippos (S. 159) sammelte. Aber die Kultur des iustinianischen Kon- 
stantinopel bleibt außerhalb dieser Betrachtung, und erst recht die noch 
lange nicht versiegende spätere Epigrammatik. 

Die Papierfetzen, die jetzt aus dem Sande Ägyptens auferstehen, be- 
ginnen uns deutlicher als die zerstümmelte Tradition zu zeigen, daß in 
Ägypten, wo die Rhetorik niemals etwas Großes bedeutet hat, die Poesie 
lebhafte Pflege fand. Wir haben Reste von Gedichten theologischen In- 
haltes, Epen über Ereignisse der Zeitgeschichte (Kämpfe mit den Völkern 
des Sudan, die Oberägypten ebenso überrannten wie die Berbern Kyrene), 
verschiedenes Mythologische. Alles ist dem Verständnisse erst unvoll- 
kommen erschlossen; aber man sieht doch bereits, daß die hellenistische 
Trjidition hier lebendig blieb. In der übrigen Welt war man inuner mehr 
in die bare Homerimitation gesunken: der Dichter, mit dem der Schul- 
unterricht begann, war für immer breitere Massen der einzige, den sie 
kannten. So zeigen es die massenhaft erhaltenen Grrabepigramme der 
Steine seit dem 2. Jahrhundert Gregors Lektüre umfaßt auch z. B. Klalli- 
machos, aber von der feinen Technik hat er nichts. 

In traiudger Weise prostituiert sich das kindisch gewordene Greisen- 

Quintu. von alter des heroischen Epos in den Posthomerica des Quintus aus Smyma. Er 

(m'"^}). *®*^* ^'® trivialen Abrisse der Heldensage, die in der Schule gelesen wurden, 

in homerische Verse um, und das öde Nachplappern müßte einschläfern, 

wenn nicht zuweilen die Albernheit so stark würde, daß man lachen kann. 



E. QstTöoBtscbe Periode .'>»— 5*9). 0. Uu Ausleben der Lketanr. 



»n 



wenn etwa dem £ur>-pyIos das Ehebett von Paris und Helene als Fremden- ^M 

bett zugewiesen wird, weil es das breiteste war, oder die Kämpfer bei den ^M 

Leichenspielen des Achilleus sich einen Schurz umbinden, weil sie sich vor ^M 

der anwesenden Thetis genieren. Was soll man zu dem Gleichnis sagen: ^| 

Neoptolemos kam in das Zelt seines toten Vaters, wie ein junger Löwe ^M 

seinen erschlagenen Vater in der Höhle sucht und nur Knochen von ^M 

Pferden und Ochsen findet. Es ist ein beschämendes Zeichen für die ^^| 

Urteilslosigkeit des Klassizismus, daß Schwab dieses Poem seiner Nach- ^^H 

erzählung der Sagen zugrunde legen konnte. Die Philologie hat freilich ^H 

auch erst im Anfang des ig. Jahrhunderts die armselige Nachahmung des ^^ 

Apollonios in den Argonautika des angeblichen Orpheus durchschaut, der Oryw»" 

lang« für echt episch gehalten war; umgekehrt ist noch vor nicht gfar '^'»°~^^* 

langer Zeit ein homerischer H\-ranus in diese Spätzeit versetzt worden. ^m 

Alan beherzige, was das heißt: als ob Jordans Nibelungen in die Zeit der ^H 

Edda oder Alpharts Tod Simrock zugeschrieben würde. Daß bei grie- fl^H 

chischen Gedichten solche Mißgriffe möglich sind, liegt aber noch mehr ^^M 

als an dem ungenügenden Stilgefülüe der Philologen an der Macht der ^M 

konventionellen epischen Sprache, die aller Zeit zu spotten scheint ^j 
I Unter dem Namen des Orpheus verbirgt sich ganz gegen die Absicht Orvii««' utbik^ 

des Verfassers ein Gedicht über die geheimen Kräfte gewisser Steine (ein («J*'"'»)- 
Aberglaube, der in der hellenistischen Zeit irgendwoher aus dem Osten 

eingedrungen ist und nun weit verbreitet das ganze Mittelalter hindurch ^M 

gilt, wert genauerer Verfolgung). Der Verfasser mag seinen Namen zu ver- ^M 

bergen Grund gehabt haben, aber er beklaget aus eigener Person den ^H 

Verfall von Tugend und Frömmigkeit, huldigt dem Hermes und geht auf ^M 

einen hohen Berg, um dem Helios zu opfern. Man hört nicht ungern etwas ^H 

von dem Treiben und der Stimmung der Altgläubigen; entstanden dürfte ^^H 

das Gedicht in Asien gegen Ende des 4. Jahrhunderts sein. Die Sprach- ^^^| 

fehler und das Ungeschick der Durchführung einer Fiktion, die ersonnen ^H 

ist, um die Monotonie der Aufzählung zu mildem, steigern nur das Inter- ^M 

esse an einem Versuche, etwas individueller zu dichten. Zwei kleine ^H 

mythologische Poeme aus dem troischen Kreise von den Ägyptern ^| 

KoUuthos und Triphiodoros, die schon die nonnische Form zeigen, sind rripi<io.iotot 

zugestandenermaßen das Lesen nicht wert; dagegen erfreut sich seltsamer- '^ J*'"''>- 

... K'jllttlhoi 

weise das Gedicht von Hero und Leander immer noch emes gewissen („„, ,^). 
Renommees, das ein Nachahmer des Nonnos verfertigt hat, der den Namen 
des vorhomerischen Sängers Musaios entweder trug (man griff damals Mu.aio4 
manchmal auf solche Namen zurück) oder vorschob. Der unverwüstliche '"*'"' *"'* 
Stoff, der immer wieder die Dichter reizt, ist ganz ohne Gefühl und 
Erfindsamkeit abgehandelt. Weder des Meeres noch der Liebe Wellen 
rauschen darin, sondern nur die Hexameter rollen ihren monotonen Gang, 
einerlei, ob sie Sehnsucht oder Sturm schildern wollen. Es mag sein, 
daß dieser Versbau einen Leser zunächst befangt; aber dann wende 
j er sich zu dem Meister und doch wohl auch Erfinder, Nonnos von Pano- soano» 

I (um 40«), 



2i8 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 



polis, dem letzten Stilkünstler der Hellenen. Die grandiose Konzeption, 
wie der Gott der Ekstase, Dionysos, die Erde seinem Glauben selbst er- 
obert, ist in den Grundzügen älter als der Alexaoderzug, aber ganz früh 
muß dieser sich in dem des Dionysos gespiegelt haben; er hat die Inder 
als die letzten Gegner des Gottes geliefert Unverkennbar hat die ganz 
verschollene Dichtung am Seleukidenhofe stark eingewirkt Die bildende 
Kunst, noch römische Sarkophage und selbst byzantinische ornamentale 
Reliefs, bezeugen uns den Reichtum der Motive ebenso wie die Popu- 
larität dieses Sagenkreises, aber außer ein paar Namen und geringen 
Resten wissen wir fast nichts über seine ältere poetische Ausbildung. 
Das läßt die Dionysiaka des Nonnos ohne Zweifel originaler erscheinen, 
als sie sind, erhöht aber ihre relative Bedeutung. Die merkwürdige 
Behandlung aber gehört dem Dichter an. Er ist offenbar innerlich 
ergriffen von dem dionysischen Taumel und steckt tief in dem Zauber- 
wesen der Zeit; so führt er uns noch einmal all die Kinder der helle- 
nischen Phantasie in einem letzten wilden Tanze vor, die strotzende Leib- 
lichkeit der homerischen Götter und die Schemen der theologischen 
Abstraktionen, die vermenschlichten Sterne und Quellen und Bäume, auch 
die Helden der Tragödie und die sentimentalen Hirten der Bukolik. In 
der Disharmonie dieser Erscheinungen liegt ein ungesimder, aber darum 
nicht unwirksamer Reiz; bald reckt sich eines in ungeheure, gestaltlose 
Größe, bald wirbelt eine chaotische Masse durcheinander, bald belauschen 
wir eine intime Szene in traulich menschlicher Enge. Man spürt wohl, 
daß es nicht mehr die lebendigen Wesen sind, sondern nur ihre für eine 
klassische Walpurgisnacht auferstandenen Schatten. Aber sie haben Blut 
getrunken, und für diese Nacht kosten sie den Becher der heißen Lebens- 
lust bis auf die Neige. Alles zieht in demselben rasenden Taumel dahin, 
alles folgt den tollen Weisen, die der Dichter auch uns aufspielt, daß wir 
selbst uns in die schwärmende Schar versetzt glauben. Das bewirkt die 
Monotonie dieser neuen Hexameter, die klingen wie das dionysische Tam- 
burin, das die Mänade zu ihrem ekstatischen Tanze schlägt Es ist 
Mißbrauch, diese Form auf alles mögliche anzuwenden, wie es einst die 
Hexameter Homers vertrugen; Nonnos hat damit selbst den Anfang 
gemacht, als er sich zum Christentum bekehrte und das Johannesevangelium 
in diese Hexameter umsetzte. Aber für Dionysos passen die Verse. Sie 
sind so widernatürlich wie diese Poesie, denn sie nehmen auf den Wort- 
akzent namentlich am Schlüsse Rücksicht, ohne daß er doch Bindemittel 
würde, und sie behandeln die Quantität, die fxir die Aussprache gar nicht 
mehr existiert, so, als wäre plötzlich wieder die Doppelkonsonanz (muta 
cum liquida) zu der längenden Kraft gekommen, die sie mehr als ein 
Jahrtausend früher verloren hatte. Dazu dann die Vorliebe für den 
Daktylus, für die weibliche Cäsur {dies beides Steigerungen der alexan- 
drinischen Art) und das Schwelgen in neuen Wortbildungen und Zu- 
.sammensetzungen : diese Verse haben von allen griechischen die meisten 



E. Oströmische Periode (300—529). II. Das Ausleben der Literatur. 



219 



Silben und die wenigsten Worte. Ein widernatürliches Kunstprodukt, 
kann man sagen; aber Kunstprodukt ist die Rede des Grregor und die 
des Chrysostomos auch. Sie lehren alle, was die Kunst auch wider Natur 
und organische Entwickelung vermag, und erst die ästhetische Theorie 
kaan wahrhaft befriedigen, die ihre Gesetze aus der Summe der Erschei- 
nungen abstrahiert und keinem Dinge, das existiert, darum das Existenz- 
recht abstreitet, weil es nach ihren Gesetzen nicht existieren dürfte. 

Diesen Versuch, die abgestorbene epische Poesie zu galvanisieren, 
mag man der Nekromantie vergleichen, in der die Ägypter von alters 
her Meister waren. Einst hatten sich die Hellenen bewundernd vor der 
lu-alten ägyptischen Kultur gebeugt und ihren Göttern gehuldigt; sie hatten 
selbst ihren Hermes ägyptisiert, damit er zu Isis, Osiris und Sarapis träte, 
imd dieser Hermes hielt noch am längsten dem Anstürme des neuen 
finsteren Dämons stand, der nun als ein neuer Set-Typhon in Ägypten 
aufstand. Nicht das fruchtbare Niltal war seine Heimat, sondern die Wüste; 
er zog über das Land und über die Stadt, er brach alle Tempel, er riß die 
Blumenkränze und Fruchtschnüre des heiteren reichen Lebens in Stücke und 
zertrat jede Menschenwürde, jedes Erbe des Prometheus. Das war das 
Mönchtum, nicht das des heiligen Benedikt oder der Gallus und Columban, .MBnchmm. 
auch nicht das Basilios des Großen: der heilige Antonius ist sein Vater, dessen 
künftige Größe sich in dem Knaben dadurch verriet, daß er nicht Lesen 
und Schreiben lernte; vermutlich hat er auch eine Aversion gegen das 
Waschen gehabt; vor den Menschen floh er, und die Teufel besuchten 
ihn in der Wüste häufiger als die EngeL Sein Leben von Athanasios i.st 
ein unschätzbares Dokument für die Sinnesart und den Bildungsgrad, den 
der Sieger des nicänischen Konzils besaß oder wahrscheinlicher aus Rück- 
sicht auf die Verehrer des Antonius zu besitzen vorgab. Hier ist nicht 
der Ort, die Berechtigoing zu erörtern, die selbst den widerwärtigsten 
Orgien der Askese gegenüber den Orgien der Fleischeslust zugestanden 
werden muß; es liegt dem gebildeten Menschen am nächsten, diese Krank- 
heit der Seelen so ironisch zu behandeln, wie es Anatole France meister- 
lich getan hat; aber damit wird man dem tiefen und wahren Gefühle nicht 
gerecht, das die Menschen zu der Weltverleugnung und Selbstvemeinung 
trieb: auch das war Religion, und vor jeder Religion geziemt sich, Ehr- 
furcht zu haben und erst nachempfindend zu verstehen, ehe man verdammt: 
verdammen wird man dann wohl diese Religion, aber niemals die gläubigen 
Seelen. Nur das muß hier konstatiert werden, daß erst diese Phase des 
Christentumes der Henker der Kultur und Wissenschaft geworden ist. In 
Alexandreia hatten Clemens und Origenes den erfolgreichen Versuch ge- 
macht, die neue Religion mit dem Erbe der alten Kultur auszustatten. 
Auf ihren Schultern standen sowohl die Kappadokier wie die Antiochener. 
Aber Alexandreia hatte bereits den Origenes selbst ausgestoßen, Atha- 
nasios und vollends dann Kyrillos haben sich mit bestem Erfolge bemüht, 
seinen Geist aus der Kirche zu vertreiben. Die Überflutung der Welt ' 



^^V 220 Ulrich von Wilamowitz-Moeu.endorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

^^H durch das Mönchtum ist ein weiterer wichtiger Schritt auf diesem Wege; 
^^m der Bildersturm ist der letzte, und in ihm reißen die letzten Fäden des 
^^H lebendigen Kulturzusammenhanges. Es war schon ein bedenklicher Schritt 
^^H abwärts, als Basilios seine Reden über das Sechstagewerk an die Stelle 
^^H des platonischen Timaios setzte: bald schöpften die Menschen ihre natur- 
^^H wissenschaftlichen Kenntnisse aus dem Physiologus und beseitigte Kosmas, 
^^H der Indienfahrer, solches heidnische Greuel wie die Vorstellung von der 
^^H Kugelgestalt der Erde, die ja klärlich der geoffenbarten mosaischen Wahr- 
^^H heit widersprach. 

^^H Es war eine unvermeidliche Konsequenz, daß die illiteraten heiligen 

^^H Mönche Ägyptens dem Koptischen, die Syriens, die sich bald den 
^^H Ägyptern zur Seite stellten, dem Syrischen zu der Vorherrschaft über 
^^H das Griechische verhelfen mußten. Eigentlich hätte sich auch eine neue 
^^H griechische Volkssprache und Volksliteratur bilden müssen: aber da ist 
^^H der seit vier Jahrhunderten herrschende Klassizismus zu mächtig ge- 
^^H wesen. Das ist für ihn noch ein höherer Triumph als all die großen 
^^B Werke, die er hervorgebracht hat. Die Kirche nimmt wohl den neuen 
I Geist auf, der zu dem hellenischen in bewußtem unversöhnlichen Gegen- 

I satze steht, aber die sprachliche archaistische Form behält sie bei, nicht 

W nur für die Predigt, sondern auch für die neue Unterhaltungsliteratur der 

I Heiligenleben und die liturgische Poesie. Sie kann also auf die alte Gram- 

I matik und Stilistik, also auch auf die klassischen Vorbilder nicht ganz ver- 

zichten. Es war früher der Versuch gemacht, die hellenische Poesie durch 
Apoiiinari. chrisüiche in den alten Formen zu ersetzen. ApoUinaris von Laodikeia 
" ^'°' hatte sich in allen möglichen Gattungen versucht, sogar pindarische christ- 
liche Oden soll er verfertigt haben. Das erntete zuerst überschwengliches 
Lob; aber diese Zwitter hatten keine Lebensfähigkeit; freilich verfiel der 
Verfasser auch der Ketzerei. Nur die Paraphrase der Psalmen ist er- 
halten, ohne doch in den kirchlichen Gebrauch oder gar ins Volk ge- 
drungen zu sein (an einen anderen ApoUinaris zu denken, ist kein Grund), 
ein fleißiges, aber lebloses Produkt wie die Metaphrase des Johannes- 
evangeliums von Nonnos. Erhalten ist auch das Gastmahl der Jungfrauen, 
Meihodio» mit dem Methodios von Olympos dem Symposion Piatons ein Gegenbild 
'* ^"' zu schaffen sich vermaß: ein lächerliches Denkmal von Impotenz und Ge- 
Areio« schmacklosigkeit Sehr viel geschickter griff Areios nach volkstümlichen 
(t «*)■ Maßen für seine Kirchenlieder, und der verleumderische Haß, mit dem 
es ihm Athanasios vorwirft, beweist, daß er einen Erfolg hatte, wie er die 
Päpstlichen an den geistlichen Liedern Luthers und den Psalmen Marots 
ärgerte. Aber dieses Ketzerwerk erschien natürlich schlimmer als der Greuel 
der Heiden. So hat man sich denn wohl oder übel damit abfinden müssen, 
einen Rest von hellenischer Wissenschaft und etliche klassische Werke in 
der christlichen Schule zu behalten. Das Lexikon, das den Namen des 
Chrisüiche heiligen Cyrill (auch wohl den des heiligen Athanasios) trägt, gibt einen 
schuiiektarc. Einblick in diesen Schulbetrieb. Der Titel besagt nicht, daß diese Männer 



I 



J 



strömische Periode (300—529). 



las Ausleben der Literatur. 



221 



die Glossen gesammelt hätten, sondern daß ihre Werke in der Schule 
auch gelesen wurden. Man findet darin Glossen außer natürlich zur Bibel 
von christlichen Schriftstellern zu Clemens Protreptikos (vielleicht auch zu 
anderem von ihm) und zu Reden und Gedichten Gregors: zu diesen Werken 
besitzen wir auch Scholien, die eben auch für Schulerklärung zeugen. 
Von Klassikern sind Homer und Euripides glossiert; natürlich hat man 
antike Schulausgaben, recht triviale, herangezogen. Die Ausschließung des 
Menander ist bezeichnend: die Heroen konnte man eher dulden als die 
Menschen. Die Prosaikerlektüre, die natürlich mit den Rednern begann, 
wird in dem Lexikon nicht deutlich; aber wenn die Forschung den Lehr- 
plan und Lehrgang der frühbyzantinischen Schule erst einmjil ernsthaft 
untersucht hat, wird sich sehr viel ergeben, sowohl für die Basis der 
byzantinischen Bildung wie für die Grammatiker und nebenher für die 
Erhaltung und Textgeschichte der antiken Schulschriftsteller. Bisher ist 
noch nicht einmal ein Anfang gemacht; das Lexikon des Cyrill ist sogar 
noch ungedruckt. 

Diese Unüberwindlichkeit der antiken Sprache und des rhetorischen 
Stiles hat das lebendig gesprochene Grriechisch nicht zur Entfaltung kommen 
lassen. Wo wir etwas davon spüren, wie z. B. in der antiochenischen 
Chronik des Malalas, steht es dem merowingischen Latein parallel. Zu 
der Palingenesie, die dcis Latein in der Herrlichkeit der romanischen 
Sprachen erlebt, gibt es nicht einmal Ansätze. Die byzantinische antiki- 
sierende Prosa versteht freilich die Reproduktion der klassischen Vorbilder 
sehr viel besser als das mittelalterliche Latein, ist darum aber auch ganz 
des eigenen Lebens bar: sie hat keine Entwickelung. Wie sehr Byzanz 
von dem hellenischen Geiste entblößt war, sieht man an dem, was es den 
Slawen übermittelt. Während die Syrer und durch diese \omehnilich, 
aber auch direkt, Araber und Armenier namentlich wissenschaftliche Werke 
des Altertums übernehmen und sogar über Spanien in den Okzident bringen, 
kommt direkt von Byzanz kaum etwas dahin. Erst als die Franken das byzan- 
tinische Reich zertrümmern, holen sie sich die Bücher, aus denen Aristo- 
teles für die dominicanische Scholastik, Galen für die Schule von Salerno 
zu neuem Leben erstehen. Gleichwohl wird es für die Weltkultur nicht 
unwesentlich gewesen sein, daß der ganz bewußte, seines Zieles und seiner 
Wege sichere Stil der klassischen Rede bei den Romäem niemals in Ver- 
gessenheit geraten ist. 

Aber es kann gar nicht anders sein, als daß die .Sympathie des 
modernen Menschen sich allein dem zuwendet, was im Gegensatze zu der 
Sklaverei der Tradition an neuem Leben sich regt, einerlei, wie formlos es 
sei; in der Literatur muß es bei den Griechen freilich immer die Fesseln 
der alten Sprache tragen. Da sind vor allem die Geschichten der Heiligen 
zu nennen, in die von alten Novellen und Märchenstoffen, ja von Götter- 
geschichten genug eindringt, so daß sie viel bunter und reicher werden, 
als was die Historia Lausiaca des Palladios doch schon merkwürdig genug 



ByianliiiUchcr 



OrK-ntal'ischa 
Kultur, 



PalUdio« 
(um ioo). 



222 



JIÄICH VON WILAMO 



}RFF: Die griechische Literatur des Altertums. 



von den ägyptischen Anachoreten erzählt Schon für diese Literatur ist 
die Überlieferung in koptischer, syrischer, armenischer Sprache gar nicht 
zu entbehren. Das Orientalische stellt sich wieder als eine vielsprachige 
und doch einheitliche Kultm-welt dar, wie sie es vor Alexander gewesen 
war. Auch die alte Grenze des Römerreiches gegen Persien hat ihre 
Bedeutung verloren, gehen doch sogar die Religionen, Christentum und 
Lehre Manis, hin- und herüber. Dies orientalische Wesen hat Byzanz 
gleich von seiner Gründung stark beeinflußt, und durch seine Vermittelung 
dringt viel davon nach Europa. Es ist ein ganz gewaltiger Fortschritt 
für das geschichtliche Verständnis nicht nur des Mittelalters, sondern auch 
des Altertums, daß in jüngster Zeit auf dem Gebiete der bildenden Künste, 
namentlich der Architektur und Ornamentik, dieses orientalische Wesen 
scharf erfaßt ist, so daß das Byzantinische, Arabische, Romanische sich 
als Sprossen desselben Baumes darstellen, dessen Wurzeln bis tief in die 
römische Periode und über sie hinaus verfolgt sind. Dabei hat sich heraus- 
gestellt, daß für die bildende Kunst dasselbe gilt, was die Geschichte der 
Literatur oder besser die Geschichte des geistigen Lebens längst wußte 
oder wissen sollte, daß Rom und Italien den hellenistischen Orient niemals 
innerlich beherrscht haben, vielmehr dort die hellenistische Tradition auch 
außerhalb der Reichsgrenzen fortwuchs und wucherte. Wie sie das Über- 
gewicht gewann, das kann niemandem zweifelhaft sein, der den Wandel von 
der augusteischen zur hadrianischen, severischen, constantinischen Zeit 
überdenkt. Ohne alle Frage ist dieses neue Orientalische neben dem, was 
die katholische Kirche Roms bewahrte und überlieferte, die wichtigste 
Grundlage der mittelalterlichen Kultur. Es bringt auch von antikem Erbe 
sehr viel, Erzählungsstoffe aller Art, auch wohl literarische Formen, selbst 
Nachklänge der halb oder ganz dramatischen volkstümlichen Dichtung der 
hellenischen Zeit (S. 125), die man mit einem Namen nur Mimus nennen 
kann, obwohl jeder Name viel zu eng ist Dies Orientalische im ganzen ist 
ein Analogon zum Hellenismus, der ja auch keineswegs auf den Bereich 
der griechischen Sprache beschränkt war. Aber eben die Sprache, und 
nicht sie allein, beweist, daß das Hellenische hier nur noch ein Ingrediens 
von vielen ist, mag auch der „doppelgehömte" Ammonsohn die noch 
immer vornehmste Heldengestalt geblieben sein: in seiner Sage lebt die 
Erinnerung an die Weltherrschaft, die er dem Hellenentum erstritten hatte. 
In der römischen Kirche dauert das iinpcrium Romanum; in der 
byzantinischen Kirchen- und Literatursprache dauert die klassizistische Tra- 
dition der attischen Rhetorik; der Geist des Hellenismus redet, wenn auch 
mit fremder Zunge, durch die volkstümlichen Erzähler und Spielleute, aber 
auch durch die Ärzte imd Elfenbeinschnitzer und Miniatoren. Auch die 
philosophische Tradition der Neuplatoniker verschwindet niemals ganz, 
mag sich auch ihre Mystik und Dämonologie verstecken müssen. Aber 
das köstlichste Erbe des echten Hellenentumes war doch die Glut, die 
unter der Asche schlummerte, bis die Menschenseele sich wieder nach 



Schluflbetrachtung. 



'■23 



Licht und Freiheit und Schönheit zu sehnen begann: da schlugen die 
Flammen wieder empor, und der hellenische Eros übernahm wieder sein 
Mittleramt zwischen Erde und Himmel, 



I 



Schlußbetrachtung. Ein Jahrtausend und mehr haben wir durch- Aiigemeiiio 
messen, eine ganze Weltperiode, deren Inhalt die hellenische Kultur ist j^^''"*^'°^^^_^ 

Nun ist es erlaubt, rückschauend einige allgemeine Fragen aufzuwerfen, Liier»tur. 
die sich die Griechen selbst nicht stellen konnten. Ihnen war ihre Literatur 

die Literatur überhaupt, deren Formen die Formen, die es allein gab, die « 

also allein möglich schienen. Sie hätten sich vielleicht durch geschieht- ■ 

liehe Erforschung der anderen Völker und ihrer Literaturen zu freierem H 

Urteil erheben sollen; aber sie haben das nicht getan, wie ihre Grammatik ■ 

auch nur einige Ansätze gemacht hat, über die eigene Sprache hinaus- ■ 

zusehen. Für uns nun ist die Möglichkeit der Vergleichung gegeben, da ■ 

uns andere Kulturen und Literaturen zur Verfügung stehen. Das führt zu H 

der Frage nach dem spezifisch Hellenischen und dann weiter, inwieweit H 

dieses spezifische Wesen durch die Rasse oder durch die örtliche Grund- ^B 

läge, Boden und Klima des hellenischen Landes, bedingt ist Die '^^M 

philosophische Betrachtungsweise, die H. Taine auf die englische Literatur ^^M 

angewandt hat, zwingt hinfort jeden, der nicht am einzelnen haften bleibt, ^^M 

sich diese Fragen zu stellen: aber er ist des großen Vorgängers nicht wert, ^^M 

wenn er wähnt, daß sich notwendig eine analoge Antwort finden müßte. ^H 

Seit Alexander ist die hellenische Kultur ökumenisch, also auch ihre ' 
Erscheinujig in der Literatur. Für diese Jahrhunderte macht also Rasse ökumonuihet 

und Landschaft nichts Entscheidendes aus, denn Menschen ganz ver- " '"' ■ 

schiedener Herkunft greifen bedeutend ein; die Zentra liegen zum größeren m 

Teile auf nichthellenischem Boden. Das eben ist die Bedeutung dieser I 

Kultur und Literatur, deiß sie gar nicht mehr national ist Es ist keine I 

andere Kultur, der die römischen Klassiker angehören, und die lateinische H 

ist nur die unverhältnismäßig bedeutendste, nicht die einzige freradsprach- I 

liehe Produktion innerhalb des Helleaismus. Eben darum kann diese ^B 

Kultur nicht mit einer einzelnen der modernen parallelisiert werden, ^^M 

sondern nur mit der allgemeinen, die alle unsere Kulturvölker umspannt ^^H 

National hellenisch sind nur die Formen der Literatur, die aus der früheren ^^H 

nationalen Zeit übernommen sind, und deren Kanonisierung, die in dem ■ 

Klassizismus der augusteischen Zeit vollendet wird, samt der gleichzeitig ■ 

proklamierten Rückkehr zur attischen Sprache hat freilich, wie wir ge- ^^B 

sehen haben, den Untergang des Hellenentunies unvermeidlich gemacht, ^^M 

sie führt aber notwendig von den Nachahmungen der ökumenischen zu V 

den Erzeugnissen der nationalen Zeit zurück, in denen die alten und ■ 

neuen Klassizisten daher mit einem Scheine von Berechtigung die ■ 

griechische Literatur allein sehen. ■ 

Der Ursprung der griechischen Literatur liegt an der asiatischen Atüfch 
Küste, in der Heimat Homers. Hier sind die poetischen Formen ge- "" "'"*' ^— 



224 



E-MoKLLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 



funden, die allein durch alle Zeiten gelebt haben, Epos, Elegie, lambu.s; 
hier ist auch die erzählende und wissenschaftliche Prosa zuerst geübt 
worden. Aus Asien kommt die Literatur nach dem Mutterlande, das fiir 
sie Tochterland ist Was da etwa war, geht spurlos unter; viel wird nun 
einfach in den überlieferten Formen, auch den sprachlichen, produziert; 
das bedeutendste Neue, die chorische Lyrik, bringt es zu keiner dauernden 
Wirkung: erst als Athen diese Tanzlyrik zur Tragödie, das dorische Drama 
zur Komödie umschafFt, entsteht ein dauernd wirksamer Besitz des ganzen 
Griechen Volkes. Auch die bedeutenden literarischen Ansätze der West- 
hellenen (bedingt dadurch, daß das Epos dort nicht die Grundlage war) 
wirken auf die Dauer nur in dem, was in die attische Literatur übergeht 
oder diese anregt. Und auch im Westen sind es fast ausschließlich 
lonier, zugewanderte, wie Pythagoras und Xenophanes, oder aus den 
dortigen ionischen Pflanzstädten, Stesichoros, Parmenides, Gorgias; Akragas, 
die Heimat des Empedokles, ist wenigstens auch von Asien gegründet. 
Somit muß das Urteil lauten, daß alle die Stämme der Einwanderer, 
die wir nach den Dorern nennen, an der ökumenischen Literatur un- 
mittelbar keinen Teil haben, denn nur Athen, das fast wie eine ionische 
Insel auf dem europäischen Kontinente liegt, kommt in Wahrheit neben 
Asien in Betracht Aber ebenso werden wir nicht umhin können, in dem, 
was das attische Wesen spezifisch von dem asiatischen unterscheidet, 
europäische oder geradezu dorische Einflüsse anzuerkennen. Der 
Parthenon ist ein dorischer Tempel, Pheidias hat in Argos gelernt, die 
Wurzel des Dramas ist peloponnesisch, und ohne seine unteritalischen 
achäisch-dorischen Erfahrungen hätte Piaton den Unterricht der Akademie 
nicht mathematisch, d. h. wirklich wissenschaftlich gemacht. Das attische 
Autochthonentum bedeutet historisch nur, daß die Landschaft von den 
dorischen Einwanderern nicht erobert war: die Kultur Athens hat ihre 
Suprematie gerade dadurch, daß sie die reichsten Anregungen von allen 
Seiten aufgenommen, dann aber freilich aus eigener Kraft zum Klassischen 
gesteigert hat. Das geschieht in den wenigen Generationen von Aischylos 
bis Epikuros. Und schon vor diesem ist durch Alexander der Schwer- 
punkt wieder aus Athen nach Asien zurück verlegt; die hellenistische 
Periode ist in ihrem Wesen die Fortsetzung des loniertumes, und wenn 
der Attizismus dagegen eine erfolgreiche Reaktion im attischen Sinne ist, 
so haben wir gesehen, daß auch während der Kaiserzeit Athen und das 
griechische Mutterland die geringste Bedeutung haben und dann im 
Orientalischen das Hellenistische auflebt. So erkennen wir in der 
griechischen Literatur nicht eine, sondern zwei Seelen, die attische und 
die ionische, wie wir sie nennen wollen, dem Sprachgebrauche der Asiaten 
folgend, nach dem Stamme, der die Kultur der übrigen Stämme an der 
asiatischen Küste aufgesogen hat. 

Tragödie, Komödie, Lustspiel, Dialog, Rede: das sind die attischen 
Gattungen, die höchsten und vollkommensten Off'enbarungen der klassischen 



Schlußbetrachtung. 



225 



Griechenschönheit Unverkennbar ist, was sie von dem Asiatischen, 
Ionischen scheidet, eben das, was sie klassisch macht Der strenge und 
keusche Adel der schönen Form, die große Tektonik, die das Ornament 
im Zaume hält und dem Logos des Kunstwerkes dienstbar macht, die 
Unterordnung des subjektiven Beliebens unter das Gesetz, ein Gesetz, das 
nur das dynamisch Vorhandene zur Entelechie führt Die Formen, die 
Gattungen sind Ideen, die mit einer so überzeugenden Natürlichkeit in 
die Erscheinung treten, daß sie gefunden, nicht erfunden zu sein scheinen. 
Der Sinn für Harmonie und Ebenmaß ist so groß, daß es den Athenern 
für selbstverständlich gilt, die Kugelgestalt wäre die schönste, vielmehr 
die absolut schöne. Es herrscht eine Sinnesrichtung, die mit Notwendig- 
keit dazu führt, daß die regelmäßigen Körper in Piatons Timaios eine 
uns so befremdende Rolle spielen, daß die Gedanken der Demokratie mit 
rücksichtsloser Logik durchgeführt werden, daß der vollendete Mann der 
ist, der in allem nur dem Logos folgt. Alle Willkür, alles Unbewußte, 
alles Verschwommene soll verbannt sein. Der Intellekt ist der rein gött- 
liche Teil der Seele. So erzeugt Athen die unvergleichlichen Typen der 
Vollkommenheit, die klassische Kunst. Aber wenn das auch durch eine 
Selbstbeschränkung erreicht wird, die zu bewundern man nicht müde 
wird, so ist es doch etwas Beschränktes, und der regelmäßigen Körper 
sind nicht nur wenige, sie werden auch nur durch den Logos gefunden. 
So kommt denn aus dieser Sinnesart auch die geistige Richtung, die im 
Klassizismus herrschend wird, der sich bei der Nachahmung bescheidet, 
weil das Vollkommene nun einmal gefunden ist, und die hohle Re- 
produktion ist nie widerwärtiger, als wenn der Manierismus das Klassische 
reproduzieren will. Man mag diesem Prinzipe noch so stark wider- 
sprechen und dem Fortschritt, dem Individuum noch so sehr sein Recht 
wahren: die Größe dieser Weltanschauung (denn es ist viel mehr als ein 
ästhetisches Empfinden oder Urteilen) soll man würdigen, ehe man sie 
verwirft Die erhabenste und reinste Offenbarung der göttlichen Schön- 
heit ist der ewig neue Wandel der himmlischen Gestirne droben, ewig 
derselbe : dem entspricht die Offenbarung des Schönen in absolut voll- 
kommenen Werken, in deren Anschauung das Sehnen der Seele, dcis 
Schöne zu schauen, ewig seine volle Befriedigung findet. Die Eudämonie, die 
aus der reinen Vollkommenheit strahlt, teilt sich der Seele des Beschauers 
mit: das Ziel ist erreicht „Verweile doch, du bist so schön"; das Wort 
der Erfüllung des höchsten Wunsches braucht nicht gesprochen zu werden: 
die Idee hat sich offenbart und Pandora scheidet nicht mehr. 

Zu dieser klassischen Vollendung erhebt sich das Hellenentum Asiens 
kaum je, und dann nur in kleinen Kunstwerken, die der vollkommene 
Ausdruck einer Individualität sind, die sich auch unbewußt geben kann, 
wie Sappho in ihren Liedern. Selbst Homer, obwohl den der antike und 
moderne Klassizismus in eine Reihe oder gar über die Athener gerückt 
hat, muß mit geblendetem Auge betrachtet werden, wenn Ilias und gar 



MuL Kultur Dm Gioinwakt. I. i. 



'5 



226 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

Odyssee als Ganze für vollkommene Kunstwerke gelten sollen. Aber 
allerdings ist der epische Stil und die epische Sprache, die ja durchaus 
Kunstsprache ist, dem attisch-klassischen Wesen am meisten verwandt 
Obwohl am Anfange der Entwickelung für uns stehend, ist dies ja auch 
in Wahrheit die Frucht langer Übung und Bemühung, in ihrem Werden 
uns ganz unerkennbar; Homer gehört eben eigentlich noch vor die 
hellenische Periode: es steckt noch viel von der mutterländischen Art in 
ihm, geometrischer StiL Wir haben gesehen, daß das Epos zwar ionisch 
ist, aber ebenso erwachsen aus dem Zusammenwirken verschiedener Stänune, 
wie das ionische Volkstum es damals schon war, wie es das asiatische 
und dann das hellenistische ward. Dafi der Mensch Homer und Sappho 
und Terpandros und noch Ephoros und Theophrast und Kleanthes Äoler 
gewesen sind, beweist, daß dieser Stamm ganz besonders viel zu der 
Kultur beigetragen hat, die in Asien entstand; Hippokrates und Hero- 
dotos sind dorischen Blutes, und Rhodos hat sogar besonders lange 
sein Dorertum bewahrt Das alles hindert nicht, daß dies asiatische 
Hellenentimi eine einheitUche Kultur hat, und lonien hat nun einmal 
literarisch die Führung, und sein ist oder wird bald die Sprache. Für 
unsere Kenntnis wenigstens kommt auf die einzelnen Ingfredienzien sehr 
wenig an, aber darauf kommt alles an, daß es eben kein autochthones 
Volkstum ist, die Rasse nichts Wesentliches (wieviel Barbarenblut steckt 
nicht gerade in den loniem), sondern daß sich die Splitter zahl- 
reicher zertrümmerter Stämme und Völker in diesem neuen Volkstum 
zusammengehmden haben, das erst allmählich durch den Gegensatz zu 
den Barbaren des Hinterlandes sich auf sich selbst besann, aber auch 
gegen die Barbaren niemals in Rassen- oder Kulturdünkel sich ab- 
geschlossen hat Der Bruch mit der Vergangenheit, mit den angestammten 
Göttern und Vorfahren ist die Vorbedingxmg dieser Kultur. So ist die 
Sinnesart der lonier, so ihre Literatur. Von vornherein ist hier alles weg, 
was nach einer Heimatskunst röche, die sich nationalistische Borniertheit 
oder überreizte Blasiertheit ersehnt (wie groß und doch wie begrenzt der 
Wert der Dialektpoesie ist, könnte sich jeder sagen: soll es in der 
bildenden Kunst anders sein?). Empfänglichkeit für alles gibt die KraA, 
auf alle Welt und alle Zeit zu wirken. Darum kommt aus lonien die 
erste Form der hellenischen Gemeinsprache, die epische, und dann die 
letzte, die hellenistische. Homer gibt das erste Weltbild, danach kommt 
die Weltkarte und die Weltgeschichte und die Tierfabeln und Novellen, 
die aus allen Weltgegenden erst in die ionische, dann in die hellenistische 
ErzählerUteratur zusammenkoounen, um dann über alle Völker und Zeiten 
zu flattern. Endlich gründen lonier das Reich der Wissenschaft, das 
gfrenzenlose und ewige, zu dem keine Rasse und kein Staat das Bürger- 
recht verleiht Die Muse ist im Himmel zu Hause, und wenn den 
Hesiodos die Muse seines heimischen Berges zum Dichter weiht, so wird 
er inne, daß sie die olympische ist 



SchluQbetrachtung. 



227 



Aber in diesem ionischen Wesen kann wohl das Individuum gedeihen, 
dagegen fehlt die Kraft und auch der Wille zum Zusammenschluß, zu 
Ordnung, Gesetz, Harmonie. Selbst die Wissenschaft hat ihre Organisation 
und daher ihre Dauer erst in Athen gefunden. Wie die selbstherrlichen 
Männer Homers ertragen auch die Aoler und lonier, die dem Subjek- 
tivismus Luft schaffen, keinen wirklichen Staat; Rhodos hat mehr Zucht, 
aber gerade das findet in der Literatur keinen Widerklang. Dagegen vermag 
der Aöde, der Rhapsode, der Sophist sich an fremdem Tische und unter der 
Fremdherrschaft ganz wohl zu fühlen, und schon Herakleitos ist einer der 
Philosophen, die für die Mitarbeit an den Werkeltagsgeschäften der Ge- 
sellschaft nur Hohn haben. Das Ducken unter das Joch des Midas und 
Kroisos zeigt denselben Sinn wie die Fügsamkeit unter Rom; die Elasti- 
zität des unverwüstlich überlegenen Geistes ist auch in allen Jahrhunderten 
die gleiche. Erst als ihm die Flügel der geistigen Freiheit geknickt 
werden, ist's um ihn geschehen. So ist denn auch der Charakter seiner 
Literatur. Unbegrenzt ist ihre Ausdrucksfdhigkeit; sie fiigt sich allem, 
dem Weisheitsspruche und dem Gassenhauer, dem schlichten Plaudertone 
und der amphigurischen Poetenziererei, dem Stammeln des Halbgriechen 
und dem Geklingel des Rhetors. Man könnte ihr zutrauen, alle Stile zu 
versuchen, und es liegt auch nicht an der Sprache, wenn das nicht ge- 
schieht. Aber die Ausdauer fehlt, die ein Ganzes zur Vollendung bringt. 
Man begnügt sich selbst in den kräftigsten Zeiten mit einem Chaos wie 
die großen Epen und die Geschichte des Herodotos, in denen die Schön- 
heit des einzelnen den Blick von der Betrachtung des Ganzen zurückhält 
Wie soll das anders sein, wo in dem Staate und der ganzen Gesellschaft die 
arge Misere der Umgebung immer hingenommen werden muß, auf daß die 
bedeutenden Einzelmenschen Raum zur Entfaltung haben. Solange das 
Charakteristische einer solchen Individualität oder auch das Naive, das sich 
^anz unbefangen gibt, für die formelle Vollendung entschädigen, kann das 
sogar dem klassischen Stile, dem bewußten und gehaltenen, gleichwertig sein. 
Aber es droht die Formlosigkeit und eine andere Manier, als die klassi- 
zistische, aber auch Manier und erst recht öde: die Rhetoren, nicht bloß klassi- 
zistische, haben für diese Verirrungen des Stiles ein scharfes Ohr und scharfe 
Worte gehabt; die bildende Kunst loniens liefert interessante Parallelen. 

Wer nach dem Wesen der griechischen Literatur fragt, muß mit 
diesen beiden Typen rechnen: daß sie keinen einheitlichen Charakter hat, 
ist eben das Wesentliche, ihr Vorzug und zugleich ihr Fluch. Damit ent- 
spricht sie ihrem Volke und seiner Geschichte. Vermutlich wäre sie aber 
sonst nicht eine Weltliteratur geworden, so wenig wie ein nationales 
Athenertum die Weltkultur hätte gründen können. Damit ist unsere Frage 
dahin beantwortet, daß die Parallele mit einer in sich geschlossenen 
Literatur wie der französischen oder englischen so wenig gezogen werden 
kann, wie mit einer wesentlich von fremden Mustern und fremder Kultur 
abhängigen, wie die lateinische und bis vor 150 Jahren die deutsche. 



2 28 Ulrich von WiLAMOwrrz-MoELLEifDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 



Iiulivlduum und 
Volk. 



Dem staatlichen Wesen entspricht selbstverständlich das literarische; 
Athen ist ein StJiat und versucht, Griechenland zu einem zu machen; 
lonien und Hellas kommen zu staatlicher Ordnung nur unter fremder 
Herrschaft, aber gedeihen nur, solange sie munizipale und bürgerliche 
Freiheit haben. Die Natur des Landes hat gewiß das Ihrige dazu getan, 
daß an dem Küstensaume Asiens kein wirklicher Staat aufgekommen ist, 
die scharf abgegrenzte Landschaft Attika sich bereits früh zu einer für 
Hellas bedeutenden Einheit zusammenschloß. Wer auf der Burg von Athen 
steht und die edlen strengen Berglinien vor Augen hat, in der reinen 
Luft und dem schimmernden Sonnenlicht, dem drängt sich die Analogie 
der attischen Formenstrenge in Dichtung imd Rede auf Allein diese 
Bergformen und dieses Licht sind keineswegs auf Attika beschränkt, und 
vor allem, sie dauern: wie sollte es zugehen, daß nur in wenig Menschen- 
altern die Athener in ihrem Wesen und den Idealen ihrer Kunst durch 
diese Natur ihres Landes bestimmt worden wären? Von 300 v. Chr. bis 
heute ist in Athen und gar durch Athener Klassisches nichts. Geschmack- 
loses nur allzuviel ans Licht gebracht worden. Unattischer, unklcissischer 
als das heutige Athen kann wirklich nicht gut etwas sein. Also die 
Mutter Erde kann für die attische Poesie und Kunst so wenig verantwort- 
lich gemacht werden wie das kekropische Autochthonentum. 

Mit der Natur loniens wird es denn wohl ähnlich stehen, und Lesbos 
hat die Sappho nicht zur Sappho gemacht Der griechische Boden zeugt 
gewiß die griechischen Götter allein wieder, wie er sie einst gezeugt hatte, 
soweit sie poetische Verkörperungen der Eindrücke sind, die empfäng- 
liche Seelen aus der Natur dieser Erde und ihres Lebens geschöpft hatten. 
Aber diese Seelen stammten nicht von der Erde: sie hat sie nicht gezeugt, 
sonst würde sie ihresgleichen heute wieder zeugen. 

Noch eine letzte Frage; Ist die Entwickelung der griechischen Literatur 
organisch, vollzieht sie sich mit typischer Notwendigkeit? Mit geschichtlicher. 
Notwendigkeit vollzieht sie sich, insofern wir ihr Werden verstehen, sobald 
uns die bedingenden Faktoren leidlich bekannt sind; aber je mehr sie das 
sind, desto weniger kann von einem typischen Verlaufe die Rede sein. 
Man hat ihn ja auch mit Vorliebe in den vorattischen Zeiten kon.struiert, 
von denen es noch keine Geschichte im eigentlichen Sinne gibt. Eines 
aber erkennen wir auch da: diese ganz aus sich erwachsende Literatur 
wird von keinem Volke gemacht, so wenig wie von einem Gotte, sondern 
einzelne gottbegnadete Menschen machen sie; ihr Wollen und ihr Können 
ist's, das am Ende auch das Volk bezwingt. Solange die Dichter nur 
das Bedürfnis befriedigen, ein Kultlied oder ein Hochzeitslied machen, Ge- 
meingefühl aassprechen , des Publikums Willen erfüllen, sind sie Hand- 
werker; es ist ein .Segen gewesen, daß das die griechischen Dichter in so 
weitem Sinne geblieben sind, aber sie mü.ssen noch etwas anderes sein, 
wenn sie für uns noch wirklich etwas sein wollen. Niemand hat dem 
Ai.schylos befohlen oder suggeriert, das Bocksspiel zur Tragödie um- 



Schlußbetrachlung. 



22g 



zuschafFen; mühsam hat er sein Publikum zu sich emporgezogen. Piatons 
Dialog ist ganz und gar seine eigene freie Schöpfung: der hat sogar an 
ein Publikum gar nicht gedacht. Die Staatsrede des Demosthenes ist 
auch eine Waffe, die er sich schmiedet. Da wird es mit Homer nicht 
anders stehen, essi popoU Grect eratio quelF Omero, sagte Vico: wir 
haben dankbar anzuerkennen, wie viel wir durch diese Betrachtungsweise 
gelernt haben; aber daß das Epos seine Dichter ganz in den Schatten 
stellt, wird daran nichts ändern, daß die Muse in den Seelen einzelner 
Menschen die Schaffenskraft erweckte. Diese haben nicht nur dem Epos, 
sondern ihrem Volke von ihrem Geiste mitgeteilt. Man kann den Spruch 
Vicos mit ebenso viel Recht umkehren: Homer hat das Griechenvolk gemacht, 
zum mindesten gilt das von der griechischen Literatur. Und so geht es 
weiter: die großen Männer machen nicht nur die Literatur und die Geschichte, 
sie machen das Volk. Solange es solche Männer gfibt, geht es vorwärts; 
es ist bezeichnend, daß gerade in der Zeit, die das verhängnisvolle Zurück 
zum Losungsworte nimmt, die Klage ertönt „es werden keine großen 
Talente mehr geboren". Selbst in den Zeiten aber, wo die Manier und die 
Konvention und gar die bewußte Nachahmung herrschen, erstehen immer 
noch einzelne, die wider die Tendenz ihrer Zeit, ja wider die eigene 
Tendenz, ihren Werken den frischen Reiz einer Persönlichkeit verleihen: 
sie sind es immer, die am meisten gewirkt haben und noch wirken. Wie 
reich an solchen sind noch die ersten vier christlichen Jahrhunderte; viel- 
leicht wird mancher meinen, reicher als der Hellenismus; aber das liegt 
nur an unserer Überlieferung. Wir müssen uns notgedrungen für lange 
Zeiten mit Allgemeinheiten behelfen, weil wir die Personen nicht mehr 
fassen können; aber das kann daran nichts ändern, daß die griechische 
Literaturgeschichte wie alle Geschichte, mindestens die des Geistes, ge- 
macht wird durch die einzelnen, die Grroflen. Der Genius eines Menschen 
bringt aus sich Werke hervor, denen erst die Nachwelt den Wert von 
Offenbarungen einer ewigen Idee beilegt. Es ist wahr, daß das Kunstwerk, 
losgelöst von seinem Erzeuger, ein Sonderleben fuhren kann und Keime 
enthält, die Größeres wirken, als er ahnte: denn gerade in der wirklich 
schöpferischen Produktion liegt immer selbst für den Schaffenden ein Ge- 
heimnis. Aber wenn auch unbewußt, lag es doch in seiner Seele: der 
Schöpfer muß allezeit größer sein als seine Werke, und ihn zu verstehen, 
ist darum wohl noch ein Höheres, freilich auch Schwereres als das Ver- 
ständnis dessen, das er schuf So verdienen auch die großen Athener, 
daß man ihr Wirken, ihre Person, entkleidet von dem kljissischen Nimbus 
individuell und geschichtlich zugleich, erfasse, soweit es eben möglich. 
Dann lernt man mählich begreifen, was der Genius wollte und wie er 
wirkte , aus seiner Zeit auf seine Zeit. Wie er aber in die Welt gekommen 
ist, das soll unser Rationalismus nicht erklären wollen: deis bleibt das Ge- 
heimnis Gottes. 




Literatur. 



Was die Geschichte der griechischen Literatur anstreben muß, was ihr erreichbar ist 
und wie weit das Erreichte dahinter noch zurückbleibt, das ermißt man am besten an dem 
Teile, der es bisher am weitesten gebracht hat; dabei ergibt sich auch der Grund dieses 
Vorsprunges ohne weiteres. Schon vor 50 Jahren konnte Eduard Zeu^r die Geschichte der 
Philosophie in zusammenhängender Darstellung bis lu Ende, sagen wir, bis zum Schlüsse 
der athenischen Schule verfolgen. Gilt das Werk auch zunächst den Systemen und den Ge- 
danken, so sind doch die Schulen und die Personen keineswegs vergessen: daß nur eine 
Seite des geistigen Lebens herausgegriffen ist, schadet bei der Philosophie am wenigsten, 
weil dieser bei den Griechen die Führung zufällt; immerhin wird es mindestens seit dem 
2. Jahrhundert v. Chr. sehr fühlbar. Die Auflagen von Zellers Werk zeigen die Fortschritte 
der Forschung auf dem Gebiete , wo sie am glücklichsten gewesen ist. Nimmt man dann noch 
ein paar Bücher hinzu, die Fragmente der Vorsokratiker von H. DiELS (1903), die 
Epicurea von H. Usener (1887), die vorbildliche Sammlung des Nachlasses eines der 
hellenistischen Schulhäupter, der eben H. V. ARNIM die Fragmenta stoicorum veterum 
(seit 1902) folgen läQt, und die fast vollendete akademische Sammlung der Aristoteles- 
kommentarc (seit 1882), so drängen sich ohne Zweifel noch Wünsche genug auf die Lippe, 
aber auch für ihre Erfüllung ist die Bahn frei , und es gibt wirklich von der griechischen 
Philosophie eine Geschichte, wie sie für alle anderen Teile der Literatur noch sehr lange 
fehlen wird. Gewiß liegt sehr viel daran, daß ein geschlossenes Gedankensystem sich eher 
wiederherstellen läßt, als ein Geschichtswerk oder ein Poem. Dem entspricht es, daß J. LlPSIUS 
die Manuductio ad philosophiam stoicam schon 1604 hat schreiben können, Gassendi 
1649 die Lehre Epikurs erneuern. Allein der günstigere Stand der Überlieferung kommt doch 
auch stark in Betracht. Über die Lehrmeinungen der Philosophen ist uns eine sehr reiche 
Zusammenstellung in mehreren Brechungen erhalten, die man jetzt vereinigt und geordnet 
in den Doxographi von Diels (1879) findet; für die Verfolgung der Gedanken war also 
immer das Gerippe gegeben. Zum Abschluß war diese Doxographie unter Augustus gelangt; 
den Grund hatte Theophrast gelegt. Beides ist höchst bezeichnend. Selbst die Philosophie 
hat also mit der Zeit des Augustus einen Strich gemacht, und obwohl sie nicht stillstand, 
ist doch ihre Geschichte niemals fortgesetzt worden. Auch uns fehlt noch die rechte Ein- 
sicht in die Entwickelung von Poseidonios zu Epiktet und Galen , von Antiochos zu Plutarch 
undFavorin. Eins aber konnte niemals eintreten; der Klassizismus mochte die philosophischen 
Werke der hellenistischen Zeit ebenso dem Untergange weihen wie alle hellenistische Prosa : 
die Gedanken der Epikur, Girysipp, Kameades konnte er nicht auslöschen wollen, und schon 
dadurch war die Philosophie davor bewahrt, dem klassizistischen Priniipe gemäß die Jahr- 
hunderte nach Alexander zu verleugnen. 

Das gilt auch von der biographischen Tradition über die Philosophen. Hier besitien 
wir die Kompilation des Diogenes Laertios aus dem 3. Jahrhundert (eine Ausgabe fehlt, aber wie 
sie zu machen ist, zeigen die Probestücke in Diels' Fragmenta poetarum philosophorum 
(1901), und wie man das Buch zu benutzen hat, der für die Methode solcher Forschung vorbild- 
liche Artikel vonE.ScHWARTZ in WiSSOWA 's Realenzyklopädie). Diogenes liefert uns den Nieder- 
schlag der hellenistischen Biographie; die Schulgcschichte ist verschieden weit hcrabgeführt, 
aber doch mindestens bis tief in die hellenistische Zeit; für die römische bot selbst die Stoa 
nur einige Namen (jetzt verloren), keine wirkliclien Biographieen r der Klassizismus hatte 
auch hier seine Wirkung getan. Der Glücksfall, daß für Akademie und Stoa Werke des 
Philodemos aus Herculaneum hinzugetreten sind, hat nicht nur Ergänzungen gebracht, sondern 



UuucH VON Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 231 




deutlich gezeigt, wie in der cäsarischen Zeit dieselbe Tradition wie bei Diogenes, nur noch 
sehr viel reicher bestand. 

Ziemlich gleich gut sind wir über die zehn attischen Redner unterrichtet , da die Lehre 
der augusteischen Zeit, die eben diese lehn aussonderte, in reichhchen Auszügen der 
späteren Kaiserzeit, daneben in den rhetorischen Schriften des Dionysios von HalikamaB 
vorliegt Dafi Cicero das Urteil seiner rhodischen und akademischen Lehrer gibt, gestattet 
für einiges über den Klassizismus hinaufzukommen. Deutlich sieht man, daB, soweit eine 
geschichtliche Entwickelung erkannt ist, dies nur den ältesten Peripatetikem verdankt ward. 
Das Ergebnis ist also dem ganz analog, das sich bei den Philosophen zeigt; aber hier ist 
der Hellenismus ganz preisgegeben, und die Doktrin der augusteischen Zeit hat dement- 
sprechend das moderne Urteil ganz überwiegend beeinflußt : noch die neuesten Bearbeitungen 
(R. Jebb, Attic Orators', 1880, und F. BLASS, Die attische Beredsamkeit', 1898) 
halten sich in ihrem Gleise. Erst E. NORDEN. Die antike Kunstprosa (1898), hat die 
Gesamtentwickelung der stilisierten Prosa zu verfolgen versucht. 

Für die übrige Literatur bot sich der modernen Forschung zunächst die biographische 
Tradition in dem Lexikon des Suidas (9. Jahrh. n. Chr.), dessen betreffende Artikel Auszüge 
aus dem biographischen Lexikon des Hesychios lUustris (6. Jahrh. n. Chr.) sind; man 
kontrolliert den Abfall, wenn man die philosophischen Artikel mit Diogenes vergleicht, der 
ganz dieselbe Tradition, nur drei Jahrhundertc früher bietet. Am Hellenismus hatte man in 
jener Spätzeit kein Interesse mehr, daher erscheinen nur noch wenige Schriftsteller, und 
deren Viten sind besonders unzuverlässig; für die Kaiserzeit gab es keine Tradition ; Bücher- 
titel lieferten wohl die Kataloge, aber für die Personen der Schriftsteller muß Hesych oft 
gestchen, daO er nicht einmal eine annähernde Zeitbestimmung kennt. Hilfe leisten nur die 
biographischen Einleitungen zu den Scholien der Schulschriftsteller, zu denen jetzt aufier den 
Klassikern ein paar hellenistische Dichter gehören. So haben wir für Aratos noch eine Vita 
aus der Zeit des Diogenes Laertios, und sofort bietet sich auch eine ähnliche FüUe. Natür- 
lich hängt alles an dem Alter und der Qualität der kommentierten Ausgabe , die sich erhalten 
hat. Werden einmal die Gewährsmänner etwas reichlicher angeführt, wie im Leben des 
Sophokles, so zeigt sich, daß alles Brauchbare aus der alexandrinischen Biographie des 
kallimacheischen Kreises oder von den älteren Peripatetikem stammt. Also überall zeigt 
sich ein Strom der Tradition, der nach 200 v. Chr. kaum noch Zuflüsse aufnimmt. Die Er- 
kenntnis dieser Einheit ist sehr wichtig; es ist nun unerlaubt, die Kompilatoren wie verschiedene 
Autoritäten gegeneinander auszuspielen. Die Forschung hat vielmehr ganz wie bei der Text- 
kritik zunächst die Aufgabe , das wirklich Überlieferte festzustellen. Erreicht sie aber einiger- 
maßen die Angaben der alexandrinischen Biographie, so ist es gar nicht aussichtslos, diese 
Überlieferung daraufhin anzusehen , was man damals wissen konnte und woher. Die Ein- 
sicht in die wirklichen Urkunden, die es gab oder geben konnte, und in das literarische 
Getriebe mit seinen Novellen und ätiologischen Fabeln kann und muß der Forscher für die 
literarischen Gebiete so gut wie für die politische Geschichte besitzen; dann wird er vielleicht 
sehr oft zu einem rein negativen Ergebnis kommen, aber um so deutlicher wird sich das 
Probehaltige abheben, und aus dem Reflexe der Fabeln ersieht man auch Wichtiges, sobald 
man ihre Herkunft und Art verstanden hat. Das Ergebnis ist für die antike Biographie 
keineswegs sehr ungünstig. Leider fehlt noch ganz eine bequeme Zusammenfassung des bio- 
graphischen Materiales; verständige Anordnung der Testimonia könnte sehr oft implizite die 
Recensio der Überlieferung liefern. 

Wenn schon die Biographie sich fast nur um die Personen der klassischen Zeit kümmert, 
»o ist die Doktrin von den Gattungen vollends ausschließlich auf das Klassische gerichtet, 
einmal weil sie von den Peripatetikem stammt (nur in einzelnem erweitert durch die Forschungen 
der Alexandriner, z. B. des Eratosthcnes für das Drama), dann weil der Klassizismus sie 
uns überliefert. Horaz' Ars poetica fußt auf dieser ästhetischen Theorie; die Modernen 
haben noch lieber das befolgt, was Quintilian als Anweisung zur Lektüre für den angehenden 
Redner gibt, sie aber als Literaturgeschichte behandelten. Die damals schon abgegriffenen 
Kunsturteile, die auch oft in Epigrammen auftreten, sind unzähhgemal von den Modernen 



232 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorft': Die griechische Literatur des Altertums. 

wiederholt und breitgetreten worden, die sich am Ende wirklich einbildeten, sie wüßten 
etwas von Stesichoros oder Panyassis. Auch die antike Poetik harrt noch ihrer Bearbeitung', 
die passend die Chrestomathie des Proklos mit den parallelen Brechungen in den Schollen 
2U der Grammatik des Dionysios, in den Glossen der Etymologlka und allen Schoüen, auch 
viel aus den Lateinern (i. B. Diomedes), vereinigen wird. 

Die Modernen konnten gar nicht anders, als auf Grund dieser Überlieferung von den 
Einzelpersonen ausgehen und in der Weise der Alten die Überlieferungen zusammentragen; 
es fehlte auch die Freude am Klatsch und der üblen Nachrede nicht. Geschichtliche Würdigung 
wird man nicht verlangen. Einen Einblick in diese Art der Behandlung gewährt das groQe 
Uictionnaire historique critique von P. Bavle (i.A. 1697), das zwar nur in scheinbar 
«ufallig ausgewählten Artikeln die Griechen berücksichtigt, aber die Polyhistorie ebenso trefl- 
üch illustriert wie die Kritik oder besser Skepsis und die Medisance. Unentbehrlich noch beute 
und ein imponierendes Denkmal von Fleifl und Wissen ist die Bibliotheca Graeca von 
JOHA>fN Albert Fabricius, 14 B.^nde, vollendet 1728; die Neubearbeitung von Harless, 
12 Bände, vollendet 1819, macht das Original nicht entbehrlich und der veränderte Geist 
der Zeit vertrug diese Behandlung nicht mehr: es ist überhaupt ein Verkennen sowohl der 
Kunst, die in jedem guten Buche steckt, wie der Pietät, wenn so oft ein großes Werk der 
Wissenschaft durch Flickarbeit modernisiert wird. Der Wert von Fabricius' BibUothek liegt 
nicht nur in der Fülle von literarischen Nachweisen, Auszügen und Abdrucken: weil sie vor 
dem modernen Klassizismus entstanden ist, berücksichtigt sie die ganze Literatur; darin soll 
das neue Jahrhundert auf das achtzehnte zurückgreifen. 

Vorbildlich durch die Zusammenfassung des Materiales für eine Gattung ward Gerhard 
VOSSIUS' De historicis Graecis (1624), die Erneuerung durch Westermann 1838 war frei- 
lich ein Anachronismus; eine wirklich wissenschaftliche Einführung in dies Gebiet bietet jetzt 
C. Wachsmuth, Einleitung in die alte Geschichte (1895). Eine historia critica 
oratorum Graecorum gab erst 1767 David RUHNKEN als Beilage zu seinem Rutilius Lupus; 
er umfaßte auch die hellenistischen Redner, aber nicht die der Kaiserzeit, für die noch heute 
die entsprechende Arbeit fehlt. Mit einer historia critica ähnlichen Stiles eröffnete A. Meineke 
noch 1 839 seine großartige Sammlung der Komiker. Für die Dichter, soweit sie Epigrammatiker 
sind (das sind ja die meisten), ist immer noch die Grundlage, was Fr. Jacobs im Xlll. Bande 
seiner Anthologie zusammenstellte {1814), noch im Anschlüsse an die Analecta poetarum 
Graecorum von PH. Bkunck, aus denen oder ihren N.ichahmungen (wie G.MSFORDS 
Poetae Graeci minores) gerade die Männer der werdenden neuen Philologie ihre Kennt- 
nis der Poesie schöpften. Es ist ganz dem Stande und den Bedürfnissen der Wissenschaft 
entsprechend, daß Fr. Susemihl in seiner Geschichte der griechischen Literatur in 
der Alexandrinerzeit (1891) im wesentlichen StofTsammlung gab. Ein solches Buch ist 
es, was wir für die Kaiserzeit zunächst bedürfen. 

Die .'\nregTing zu einer neuen und tiefen Behandlung der Geschichte nicht der Schrift- 
steller, sondern der Literatur hat Chr. G. Heyne gegeben, minder in seinen Büchern als in 
seinen Vorlesungen. Es ist freilich nichts Geringes, dafl er sich Themen stellte wie De 
genio aevi Ptolemaeorum (1763), dem sich P. E. Müller, De gcnio aevi Thcodo- 
siani (Kopenhagen, 1797) schon im Titel anschließt, her^'orzuheben, weil das 19. Jahrhundert 
die Zeit der reichsten Überlieferung ganz links liegen ließ. Aber bei HEYNE in Göttingen hörten 
F. A. Wolf, die beiden Schlegel , W. v. Humboldt, und das Große , was sie hervorbrachten, 
verleugnet den Göttinger Ursprung nicht, soviel auch Weimar und Jena beigesteuert haben. 
F. A. Wolf wußte das historische Problem der homerischen Gedichte, das in der Luft lag, 
zu formulieren und gab so einen gewaltigen Anstoß ; die \'erwertung der alexandrinischen 
Kritik, also der Philologie der Griechen, war sein größtes und eigenstes Verdienst. Sonst 
war seine Unterscheidung einer äußeren und inneren Geschichte der Literatur kein glück- 
licher Gedanke, und seine Durchführung in der Griechischen Literaturgeschichte von G. Bern- 
HARDV ist ziemlich wirkungslos geblieben. Die beiden Schlegel brachten vor allem die 
Kenntnis der modernen Literaturen hinzu. So oberflächlich sie sind, haben die Vorlesungen 
August Wilhelms über die dramatische Literatur der allgemeinen Bildung auf lange die 



Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 233 




Schlagwörter geliefert. Sehr viel tiefer, oft wirklich genial sind die ersten Arbeiten von 
Friedrich Schi.ecei, (die man nicht in den gesammelten Werken , sondern in der originalen 
Form benutzen muß, wie sie MlNOR wieder abgedruckt hat). Von ihm stammt im wesent- 
lichen die Vorstellung von einem organischen Leben, Wachsen und Welken der Literatur, 
für das die griechische das Hauptexempel ist, und demgemäfl die allgemeine Beurteilung 
der Gattungen und Epochen. So bekommt die la einer bloßen Registratur erstarrte Poetik 
neues Leben, und das Bild des Alterturas, das bisher Sapplio und Ovid, Aristophanes und 
Lukian noch so liemlich auf einer Fläche zeigte (so durchaus bei Wieuvnd), bekommt Tiefe 
und seine Gestalten Körperlichkeit. Freilich setzt an diese Spekulation auch dieselbe Ver- 
flüchtigung des konkreten Wissens durch die Spekulation an, die sich in der Naturphilosophie 
breit gemacht hat: Proben dieser Verirrungen können H. Ulrici, Geschichte der helle- 
nischen Dichtkunst (183s), H. Th. RöTSCHER , Aristophanes und sein Zeitalter (1827) 
sein. Wilhelm v, Humboldt erreicht es, das Leben des Volkes in allen Äußerungen, Sprache, 
Dichtung, Staat, Religion, als eine Einheit zu erfassen und übermittelt diese tiefste Erkenntnis 
an F. G, Welcker. Darum geben Weixkers Arbeiten, einerlei welchen Gegenstand sie 
behandeln, immer die Beleuchtung eines einzelnen durch das Gesamtlicht dieser Erkenntnis; 
darum belehren sie immer, auch wenn die Einzelaufstellungen die Probe nicht bestehen. 
Sein eigenstes Verdienst ist, daß er die Sage, den gemeinsamen Inhalt ziemlich aller 
klassischen Poesie, als eine solche lebendige Offenbarung des Volksgeistcs zu begreifen und 
zu verfolgen gelehrt hat: Homer, Aischylos, Pindar wurden nun erst geschichtlich und daher 
auch in ihrem persönlichen Werte faßbar. Die Würdigung der einzelnen griechischen 
Stämme und Landschaften, aus denen allmählich das griechische Volk geworden ist, hatte 
Otfried Müller bereits der Geschichtswissenschaft zugeführt, als er mit leichter Hand 
seine Geschichte der griechischen Literatur bis auf Alexander hinwarf (1840), 
die ihm zu vollenden nicht mehr vergönnt war. Weder an Tiefe noch an Weite des Blickes 
mit Welcker vergleichbar (offenbar war seine Kenntnis anderer Literaturen beschränkt;, 
besaß er die glückliche Rasch heit, ein Bild fertig zu malen; das Buch war lesbar: so hat es 
denn einen ungeheuren Einfluß geübt, namentlich im Ausland (es war zuerst englisch 
erschienen) und übt ihn noch. Dann wartete man jahrzehntelang und wartet noch, gleich 
als ob es möglich wäre, auf d;is Buch, das die schwere Gelehrsamkeit von F.*bricil'S 
mit den Erkenntnissen unserer Klassiker und Romantiker vereinigen soll, Von diesen 
besaß Th. Bergk, der Schüler Gottfried Herm.\nns, bei aller Gelehrsamkeit und 
allem Scharfsinne herzlich wenig; sein künstlerisches Vermögen war gering; daher ist von 
dem, was er von seiner ungemein voluminösen Literaturgeschichte fertiggebracht hat 
(4 Bände, doch nur der erste von ihm selbst herausgegeben), fast nur die philologische 
Einzelarbeit von Belang. Die verbreiteten, öfter aufgelegten Handbücher von M. undA.CROISET 
in Frankreich , von J. P. M.^H.AFFV in England , von W. Christ in Deutschland fassen vor- 
nehmlich den Stoff, wie er in unübersehbarer Einzelarbeit beschafft ist , gruppierend , sichtend, 
urteilend zusammen. Die politischen Historiker haben bei den Griechen die Literatur niemals ganz 
beiseite lassen können; bei den neuesten, Eduard Meyer und J. Beloch, erscheint ihre Ge- 
schichte gemäß dem veränderten Standpunkte der historischen Betrachtung wesentlich anders 
und richtiger als zuvor. Beloch behandelt auch einen Teil des Hellenismus ; ihn hatte auch 
Th. Mommsen in seiner Geschichte der römischen Republik zum Teil berücksichtigt. Es 
«eigt sich deutlich, daß heute wie vor 50 Jahren dieser Boden noch nicht hinreichend be- 
reitet ist, so daß, wer ihn nur gelegentlich einmal betritt, sich wirklich kaum orientieren 
kann. Dagegen sind auch die literarischen Bilder, die MOMMSEN im 5. Bande entwirft, von 
der Meisterhand eines Kenners gezeichnet. 

Im ganzen sind es nicht die Literaturgeschichten, die die Etappen des Fortschrittes 
markieren, und selbst neue Gesichtspunkte findet man nur bei der Einzeluntcrsuchung. Es 
mag sein, daß das sehr lesbare Buch von Coi.'.\T, La porfsie Alcxandrine (1882) vielen 
eine Vorstellung \on dem gegeben hat, was damals für alexandrinisch galt (es war die Lehre 
O. Jahns und seiner Schüler) : ein wirklicher Fortschritt geschah damit nicht. Den hatte der 
Herstellungsversuch eines Gedichtes, C. DlLTHEY, De Callimacbi Cydippa (1863) ergeben. 



234 Ulrich von Wilamowitz-MÖellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 

das an Naeke, De Callimachi Hecata (1845) anknüpfte. Und die Interpretation ein- 
xelner hellenistischer Gedichte wird am besten weiterhelfen. Verstehen lehren ist eben 
das Hauptgeschäft der Philologie. Aber wir sind selbst noch vielfach bei der Vorarbeit 
und müssen erst das Material zusammentragen. Was da zu tun ist, wie es zu tun ist, 
mögen einige Beispiele lehren. Die astrologische Literatur war bis vor kurzem noch so gut 
wie unbekannt: daher hat Franz Cumont mit einer Anz<ihl Genossen zunächst einen Cata- 
logus codicum astrologicorum angegriffen (Brüssel, bisher 5 Bände, der letzte 1904), 
eine Menge Ineditahat sich gefunden, und wie GroQes für Mittelalter, Kaiserzeit und Hellenis- 
mus sich ergeben hat und ergeben wird, läßt sich nach einer Probe wie ¥r. BOLL, Sphaera, 
(1903) crmessen. Es liegt auf der Hand , daß die gesamte naturwissenschaftliche Literatur in 
ähnlicher Weise aufgearbeitet werden muß, und für die Ärzte ist daxu auch Hoffnung. Immer- 
hin ist genug von ihnen bekannt, um den nächsten Schritt zu gestatten, die einzelnen 
Personen und Schulen auszusondern. Nach beiden Seiten hat M. Wellmann mit der 
Fragmentsammlung der griechischen Ärzte (Bd. I, 1901) und der Pneumatischen 
Schule (1895) erfolgreich den Anfang gemacht. Das Großartigste ist, was A. Harnack für 
die altchristliche Literatur ins Werk setzt; er leitet die kritische Ausgabe ihres gesamten 
Nachlasses bis zum Nicaenum und hat in je zwei Bänden erst die Überlieferung und den 
Bestand (1893), dann die Chronologie (1897 u. 1904) dieser Scbriftenmasse dargestellt. 
Diese Werke faßt ein Titel, „Geschichte der altchristlichen Literatur bisEusebius", 
zusammen; das klingt noch etwas nach der Weise des Apologeten Aristeides, der die Christen 
den Griechen als eine andere Rasse entgegenstellte: eine Geschichte der christlichen Literatur 
dieser Jalirhunderte hat im Grunde genau die Berechtigung wie eine Geschichte der katho- 
lischen Literatur seit dem Tridentinum. Aber es ist wesentlich Schuld der Philologie des 
19. Jahrhunderts, daß die Einheit des geistigen Lebens so wenig anerkannt ist: auf dem 
Boden von J. A. Fabricius wäre das nicht möglich. 

Eine zweite Aufgabe der Forschung ist das Auslösen der Originale aus späten Ver- 
arbeitungen: hier blüht die Hoffnung namentlich für die hellenistische Literatur. Muster 
sind, wie J. Bernays aus Porphyrios den Theophrast über Frömmigkeit (1866), 
B. Niese (Rhein. Mus. XXXIl, 306) Apollodors Kommentar zum Schiffskatalog 
aus Strabon gewonnen hat. So große Massen sozusagen verbauter alter Steine gibt es 
nicht häufig, aber inhaltlich hat das Quetlensuchen in den späten Historikern doch nicht 
wenig ergeben; es muß nur die Indivjduahtät des erhaltenen Schriftstellers zuerst erfaßt sein 
und dann die Verfolgung der Tradition niemals mit dem Aufsuchen der unmittelbaren Vor- 
lage vermischt werden. Es gibt eben keine mechanisch verwendbare Methode. Wie ver- 
schieden man es anzufangen hat, zeigen die Artikel Appian, Cassius Dio, Diodor, 
Diogenes, Dionysios von Halikarnaß von Ed. Schwartz in Wissowa's Real- 
enzyklopädie. 

Für die Restitution poetischer Werke hat Welcher zwar die Benutzung des Sagen- 
stoffes gelehrt, aber wie ein bestimmter Dichter ihn in der Form einer bestimmten Gattung 
gestalten konnte oder mußte, keineswegs. Erst wenn man zu dem Stoffe die Kenntnis der 
Kunstform hinzubringt und sieht, daß sie sich vertragen, kann man hoffen, wenigstens den 
Schatten einer Tragödie zurückzugewinnen. Das führt auf ein anderes .\rbeitsfeld , dessen 
Anbau auch der Literaturgeschichte reichen Ertrag verspricht, auf die Stilanalyse, die bald 
zur Stilgeschichte, zur Geschichle der Formen und Gattungen wird. .'Vuch wenn man die 
geschichüichen Folgerungen ebenso wie die textkritischen ablehnt, muß man an Zielinski'S 
Gliederung der altattischen Komödie (1885) die Wahl des Themas als sehr glücklich be- 
zeichnen, und das Buch hat starke Anregung gebracht. So muß die Metrik und der Prosarhyth- 
mus, die Rhetorik, soweit sie die innere Form der späteren poetischen und prosaischen Werke 
beherrscht, und daneben die naiv oder gewollt der künstlerischen Stilisierung entbehrende 
Prosa erst an den einzelnen Werken und Schulen erfaßt, dann aber geschichtlich verfolgt 
Zusammenhang und Entwickelung erkennen lassen. Wir brauchen z. B. für die chorische 
LjTik und für das Epigramm eine Topik, wie sie Fr. Leo in der römischen Komödie und 
Elegie zu verfolgen gelehrt hat. Wir haben von der literargeschichtlichen Forschung, wie 



Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 235 

sie auf anderen Sprachgebieten betrieben wird, x. B. von Scherer und seinen Schülern, 
unendlich viel zu lernen. BewuBte Kunstiibung, Regel und Mache herrscht nur zu sehr bei 
den Griechen: das bietet den Vorteil, daß das Konventionelle faßbar sein muB. Freilich 
noch viel wertvoller ist immer das Individuelle: liebevolles Versenken in einzelne Personen 
ist wie das Schwerste so das Fruchtbarste. Der Philologe soUte es häufiger so machen , wie 
H. V. Arnim, der von seinem Dion sowohl den Text (1893) wie die Biographie (1898) ge- 
geben hat. Auf solche Aufgaben ist in der obigen Darstellung mehrfach hingewiesen. Es 
nützt mehr, zu zeigen, was gefordert wird, als das Geleistete zu loben. 



Im folgenden nenne ich nur hie und da ein Buch , das mir vielleicht aus zufälligem, 
subjektivem, aber immer aus einem bewußten, wenn auch unausgesprochenen Grunde 
nennenswert erschien. Woran jeder denkt, worauf auch der Anfänger von jedermann ge- 
stoßen wird, das wird er hier nicht suchen, und Warnungen, die eigenüich am alier- 
notwendigsten wären, sind unstatthaft. 

S. j. Altfranzösisches Epos: Pio Rajna, Origini dell' epopea francese (1885). 
S. 13. Kunst des Erzählens in der Ilias: Hedwig Jordan, Der Erzählungsstil in den 

Kampfsrenen der Ilias. Zürcher Dissertation (1904). 
S. 15. Margites: Fr. Marx, Rostocker Index lecttonum (1889/90). 
S. 24. Skolien: R. Reitzenstein , Epigramm und SkoUon (1893). 
S. 33. Gnome: H. DiELS, Herakleitos griechisch und deutsch, Einleitung (1901). 
S. 67. Isokrates' Chrienform ; L. Spengel, Isokrates und Piaton, Abhandlungen der Münchener 
Akademie (1856). — Periodisierung; G. Kaibel, Stil und Text der TloUttla 'A9i\valtav 
des Aristoteles (1893) S. 81 flg. 
S. 70. Anaximenes : P. WENDLAND , Hermes 39. 

8.71. Aischines und Demosthenes: I. Bruns, Das literarische Porträt (1896) S. 561 flg. 
S. 83. Panaitios: E. Schwartz, Charakterköpfe (1903); doch dieses Buch und die Fünf 
Vorträge über den griechischen Roman (1896) von demselben Verfasser gehören zu 
denen, die eigentlich gar nicht genannt werden dürften, weil jeder sie lesen sollte. 
S. 107. Polybios: O. CuNTZ, Polybios und sein Werk (1902). 
S. 114. Biographie: Fr. Leo, Die griechisch-römische Biographie (1899). 
S, 123. Petron: R. Heinze, Hermes 34.— Fresken des Hauses bei der Farnesina: C. Robert, 

Hermes 36, 364. 
S. 124. Volkstümhche Erzähler und Sänger: H. REICH, Der Mimus, Bd. I (1903). 
S. 126. Lustspiel: Fr. Leo, Plautinische Forschungen (1895) Kap. III und IV. 
S. 134- Apollonios und Vergil: R. Heinze, Virgils Epische Technik (1903). 
S. 159. Paulus' Briefe: A. Deissmann, Bibclstudien (1895) S. 187. 
S. 167. Plutarchs Biographieen : C. Michaelis, De ordine vitarum Plutarchi (1875). 
S. 174. Ptolemaios: Fr. Boix, Studien über Claudius Ptolemaeus (1894). 
S. 178. Stoisches bei Artemidor: W. Reichardt, De Artemidoro (1894). 
S. 184. Theklageschichte in älterer Form vor Aufnahme in die Paulusakten: P. CORSSEN, 
Neutestam. Zeitschr. IV, 22 und Gott. Gel. Anz. 1904, 102. — Die Einwände von Hamack 
(Sitz.-Ber. der Berliner Akademie der Wissenschaften 1905 S. 4) umgehen die von Corssen 
für die Hauptsache angeführten Gründe; übrigens nimmt Hamack selbst eine ältere 
Thektageschichte an. 
S. 185. Neue Orakel: W. Kroll, De oraculis Chaldaicis (1894). 
S. 186. Religiöse Bewegung: A. Dieterich, Abraxas (1891); Nekyia (1894); Mithrasliturgie 

(1903). — R. Reitzenstein, Poimandres (1904). 
S. 189. Martyrien; J. Gekfcken, Die ApoUoniusaklen Gott. gel. Nachr. (1904). — A. Baxjer, 

Heidnische Märtyrerakten. Archiv für Papyrusforschung I. 
S. 193. Plotin: R. EUCKEN, Die Lebensanschauungen der großen Denker (4. A. 1902). 
S. 194. Christentum und Hellenismus: P. Wendland, Christentum und Hellenismus in ihren 
literarischen Beziehungen (1902). 



236 UuucH VON WiLAMOwrrz-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums. 

S. 195. Porphyrios: Lucas Holstenius, De vita et scriptis Porphyrii (1655), hier genannt, 
weil es für seine Zeit eine große Leistung war und weil es • immer noch nicht ent- 
behrlich gemacht ist 

S. 200. Historisches Epos: F. CintiONT, Notes sur deux firagments ^piques. Revue des ^tudes 
anciennes. Bordeaux (1902). S.36. 

S. 204. Proklos' Chrestomathie: O. Immisch in der Festschrift für Gomperz (1903). . . 

S. 209. Gregorios von Nyssa: J. Bauer, Die Trostreden des Gregorios von Nyssa in ihrem 
Verhältnis zur antiken Rhetorik. Marburg 1902. 

S. 2 1 5. Akzentuierende Prosa und Poesie : Wilhelm Meyer , Anfang und Ursprung der griechi- 
schen und lateinischen rhythmischen Dichtung (1885); Der akzentuierte SatzschloB in 
der griechischen Prosa (1891); Fragmenta Burana (1901) S. 148. 

S. 216. Oros: R. Reitzenstein, Geschichte der griechischen Etymologica (1897) S.207. 

S. 222. Wiederbervortreten der orientalischen Kultur: J. Strzygowski, Die Schicksale 
des Hellenismus in der bildenden Kunst Jahrbücher f. klass. PhiL 1905, wo die 
älteren Arbeiten des Verfassers angefiihrt sind. 



p 



DIE GRIECHISCHE LITERATUR 
DES MITTELALTERS. 

Von 
Karl Krumbacher. 

Einleitung. Bei der vergleichenden Nebeneinanderstellung der über 
iioo Jahre umfassenden altgriechischen Literatur und der wiederum über 
iioo Jahre füllenden byzantinischen Schriftstellerei, als deren Grenzscheide 
etwa die Zeit Konstantins des Großen (324 — 337) anzunehmen ist, kann 
die letztere schwer bestehen, und wer sie unmittelbar nach der alten 
Literatur im gleichen Rahmen schildern soll, hat einen harten Stand. Die 
alte Literatur gleicht einem mannigfaltigen Bergland mit gewaltigen 
Riesengipfeln, unermeßlichen Fernsichten, rauschenden Wildbächen, tief- 
grünen Seen und blumigen Wiesenmatten; das byzantinische Schrifttum 
ist wie ein weit ausgedehntes, einförmiges Flachland, nur selten durch 
anmutige Höhenzüge und schattige Waldberge unterbrochen, nur wenig 
belebt durch trag hinfließende Ströme, die von den Quellen des Hoch- 
landes genährt werden, aber vielerorts versumpfen oder in unwirtlichen 
Steppen sich verlieren. Doch ist es ein Trost für den Wanderer und den 
Führer, daß der Übergang von der einen Landschaft zur anderen nicht 
plötzlich geschieht; wie schon innerhalb des herrlichen Bergbezirkes 
manche Odflächen begegnen, die Nähe der einförmigen Ebene ankündend, 
so sind in das weite Niederland da und dort lockende Berglandschaften 
und erquickende Oasen versprengt 

Die byzantinische Literatur ist das vornehmste Zeugnis und der wich- 
tigste Ausdruck des geistigen Fortlebens der griechischen Nation vom 
Ausgang des Altertums bis an die Schwelle der neueren Zeit Daß es 
eine solche Literatur gibt, ist in erster Linie dem römischen Staate zu 
danken, der nach der Abtrennung und Auflösung der westlichen Reichs- 
hälfte schnell gräzisiert wurde und dem Griechentum noch ein Jahrtausend 
lang eine schützende imd nährende Heimstätte geboten hat Neben dem 
Staate ist es die christliche Kirche, die das oft in seiner Existenz be- 
drohte hellenische Volkstum kräftig gestützt und in ihm die Bedingungen 
eines geistigen und literarischen Lebens teils erhalten, teils neugeschaffen hat 

Die Bedeutung der griechischen Literatur des Mittelalters ruht in 
erster Liiüe auf der Seite, die bis jetzt noch am wenigsten erkannt und 
gewürdigt ist, dem ästhetischen, inhaltlichen, literar- und sprachgeschicht- 
lichen Werte ihrer Denkmäler; dann auf den tiefgehenden Einflüssen, die 
von ihr auf orientalische, slawische und andere Völker gewirkt und an 



«38 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



mehreren Orten ganz neue Kulturen begründet haben; endlich auf ihrem 
engen Zusammenhange mit der altgriechischen Literatur und Sprache, für 
die bei den byzantinischen Nachfahren mannigfaltigste Bereicherung und 
Belehrung zu erholen ist 

Um das Wesen der byzantinischen Literatur und ihre welthistorische 
Bedeutung zu erfassen, müssen wir zuerst auf die beliebte Vergleichung 
mit anderen Literaturen, besonders mit der altgriechischen, verzichten 
und statt dessen uns bemühen, die byzantinische Zeit aus sich selbst 
heraus zu studieren. Wir werden uns der zahllosen Veränderungen bewußt 
werden, die sich in den politischen, religiösen und materiellen, in den 
sprachlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen der griechischen und 
gräzisierten Welt seit der alexandrinischen Zeit vollzogen haben. Durch 
sie ist eine neue Kultureinheit geschaffen worden, nicht ein Anhängsel 
oder eine Fortsetzung des Altertums, sondern ein eigenartiges selbständiges 
Gebilde. Es bedarf noch eingehender Forschungen, um diesen gewaltigen 
luid äußerst komplizierten Organismus in seiner innersten Beschaffenheit, 
seiner wechselvollen Lebensdauer und seinen mannigfachen Fortwirkungen 
auf die Gegenwart zu erkennen. 

Eine g^roße zeitgeschichtliche Tatsache liegt vor uns: zwischen dem 
katholisch -protestantischen, romanisch-germanischen Abendlande, das, mit 
seinen außereuropäischen Abzweigungen, als die einzige wahre Keim- und 
Heimstätte der modernen Kultur gut, und dem nichtchristlichen Orient 
besteht eine halb europäische, halb asiatische, religiös größtenteils durch 
das griechisch-orthodoxe Bekenntnis, national durch die zwei Endpunkte 
Griechisch und Slawisch charakterisierte Kultiu-welt, in deren Kreis trotz 
der nationalen oder religiösen Differenz auch die Rmnänen und Albanesen, 
Kopten und Syrer, die Armenier, Georgier und sonstigen christlichen 
Kaukasusvölker gehören. Das romanisch- germanische Abendland hat die 
christliche Kultur seit vier Jahrhunderten über den amerikanischen Kon- 
tinent ausgebreitet; die gräkoslawische Welt ist sich heute der Aufgabe 
bewußt, in ähnlicher Weise den nahen und fernen Osten zu befi-uchten. 
Und nach weiteren vierhimdert Jahren wird vermutüch der geschichtliche 
Betrachter die merkwürdige Tatsache überblicken: die von der äheren, 
lateinischen Periode des römischen Kaisertums ausgegangene romanisch- 
germanische Kultur hat Amerika erobert, und zwar ursprünglich Germanen 
den Norden, Romanen die Mitte und den Süden, dann aber das stärkere 
germanische Element auch große Teile des Südens; die aus der jüngeren 
griechischen Periode des Kaisertums erwachsene gräkoslawische Kultur 
hat, ihrer weit späteren Ausgestaltung gemäß, auch später eingesetzt mit 
ihrer weltgeschichtlichen Kulturmission, dann aber, freilich unter ganz 
anderen Bedingungen und in anderer Weise als früher ihre romanisch- 
germanische Schwester, einen großen Teil des asiatischen Festlandes 
erobert, und zwar die Slawen und die ihnen politisch angegüederten 
kleineren Völker den Norden und Teile des Mittellandes von Asien, die 



I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur. 



239 



den Romaoen analogen südlichen Bestandteile dieses Kulturkreises, be- 
sonders die Griechen und Armenier, größere Gebiete von Kleinasien. 
Im Gebiete des Stillen Ozeans (Mandschurei, Philippinen) berühren sich 
die nach Westen und nach Osten gedrungenen Ausstrahlungen der im 
römischen Reich begründeten Kulturen und schließt sich der von der 
ewigen Stadt ausgegangene, nun den Erdball umspannende Ring. So 
wird das römische Reich, die folgerichtigste und folgenreichste politische 
Schöpfung der Weltgeschichte, die seinem nationalen Dualismus ent- 
sprechende Doppelaufgabe erfüllt haben, die höchste Kultur der Mensch- 
heit immer weiter nach Westen und nach Osten hinauszutragen und so 
nach seinem eigenen Untergang den größten Teil des Erdkreises nach- 
wirkend zu veredeln. Wunderbar triebkräftig sind die im alten und neuen 
Rom geborenen Lebenskeime; immerdar fortwachsend und neuzeugend 
haben sie eine unbesiegbar starke, durch Christi Lehre vergeistigte 
Menschenbildung hervorgebracht, die nun lehrend und lernend, herrschend 
und duldend die Völker der Erde umschlingt. Freilich bleibt noch ein 
gewaltiger Rest übrig: Außerhalb der römisch- christlichen Kultureinheit 
stehen noch die Bekeimer des Islams, die Völker Indiens und die gelben 
Rassen. Wie es dereinst mit ihnen sein wird, das liegt jenseits der 
kühnsten Vermutung. 

Der gräkoslawische Kulturkreis, dessen welthistorische Bedeutung das 
eben entworfene Zukunftsbild nur unsicher andeuten konnte, ist aus der 
griechisch- byzantinischen Bildung geboren worden, wie die westliche 
Kultureinheit aus der lateinisch -römischen Bildung. So hat die Spaltung 
des römischen Reiches bis auf den heutigen Tag allsichtbar nachgewirkt, 
im guten wie im schlimmen Sinne. Durch sie sind die ungeheuren 
intellektuellen und materiellen Kräfte des damaligen Erdkreises in zwei 
selbständig wachsende und wirkende Komplexe zerlegt worden, und so 
konnte sich neben und nach dem lateinischen Westen, der sich längst um 
das römische Zentrum zu einem geschlossenen Kulturgaozen konsolidiert 
hatte, nun auch der Osten, der ohne die Gründimg eines eigenen poUtischen 
und kulturellen Mittelpunktes vermutlich bald verkümmert und von den 
Barbarenstümien zerbröckelt worden wäre, kräftig entwickeln und seine 
eigene Kulturaufgabe erfüllen. Anderseits ist durch jene Teilung der 
Keim zu dem unseligen und für die einheitliche Ausbildung einer christ- 
lichen Weltkultur verderblichen Gegensatz zwischen West- und Osteuropa 
gelegt worden, an dem wir noch lange kranken werden, wenn auch die 
Hoffnung einer schließlichen Versöhnung in weiter Feme leuchtet. 



I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur. Was dem vom 
klassischen Altertum kommenden Betrachter das Verständnis der byzan- 
tinischen Kultiur und der aus ihr erwachsenen Literatur in der Regel lange 
erschwert, ist der Mangel jener geschlossenen Einheit und jenes organischen 
Wachstums, wodurch die alte griechische Bildung sich so einzigeirtig aus- 



240 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



zeichnet. Die oströmische Zivilisation ist das Ergebnis einer langdauernden 
Mischung verschiedener Elemente, und sie kann nur durch eindringende 
Analyse derselben verstanden werden. Die drei konstituierenden Elemente 
sind Griechentum, Römertum, Christentum; dazu kommt als eine in 
mannigfacher Weise und nach Zeit und Ort sehr verschiedenartig wirkende 
Ingredienz der orientalische Einfluß. 
Griechentuni. Als Konstantin der Große am n. Mai 330 die neue Hauptstadt am 

Goldenen Hom einweihte, dachte er gewiß nicht daran, dadurch die latei- 
nische Staatssprache zu gefährden, und auch bei der endgültigen Teilung 
des Reiches im Jahre 395 blieb sein lateinischer Charakter vollauf ge- 
wahrt Die Macht der Verhältnisse war aber stärker als die Institution. 
Die geringe Zahl lateinisch sprechender Menschen im Osten, das starke 
Vorwiegen der Griechen in der neuen Hauptstadt und in den zentralen 
Provinzen, der hohe Stand der griechischen Bildung, der seit dem Phil- 
hellenen Hadrian in offiziellster Weise anerkannt war, und die dominierende 
weltsprachliche Stellung, die sich das Griechische längst errungen hatte, 
führten naturgemäß zur allmählichen Gräzisierung des Ostreiches. Der 
letzte große Akt der lateinischen Tradition im Reiche war die Kodifizierung 
des Rechtes durch Kaiser Justinian (527 — 565). Es ist aber bezeichnend, daß 
der geistige Leiter dieses Riesenwerkes, Tribonian, ein Kleinasiate war, und 
daß die Novellen Justinians zum Teil schon griechisch abgefaßt sind. Mit 
seinem zweiten Nachfolger Tiberios (578 — 582} besteigt ein echter Grieche 
den Kaiserthron, und im 7. Jahrhundert erscheint die Gräzisierung des 
Staates an Haupt und Gliedern im großen und ganzen abgeschlossen. Zwar 
bietet in den drei folgenden Jahrhunderten der Hof noch ein buntes Bild; 
neben Griechen treffen wir Isaurier, Armenier usw.; aber sie sind immer- 
hin nach Sprache und Bildung Griechen. Ebenso wird das ganze Staats- 
und Kirchenwesen, die Justiz und Verwaltung, die Armee und Marine 
wenigstens in ihren oberen Organen gräzisiert Vollständig griechisch er- 
scheinen Staat und Kirche freilich erst in den letzten fünf Jahrhunderten 
des Reiches unter den Komnenen und Paläologen, ein Ergebnis, das teils 
durch die Abbröckelimg der nichtgriechischen Reichsteile, teils durch innere 
Konsolidierung des Griechentums erreicht worden ist. Dem modernen 
Mitteleuropäer können die nationalen und sprachlichen Verhältnisse des 
oströmischen Reiches im Höhepunkt seiner Entwickelung, also etwa im 
12. Jahrhundert, durch nichts klarer gemacht werden als durch einen Ver- 
gleich mit dem Zustande der österreichisch-ungarischen Monarchie etwa 
vor vierzig Jahren: Hof, Beamtentum, Wohlstand und Bildung deutsch 
oder wenigstens deutsch gebildet und deutsch sprechend, die Hauptstadt 
Wien und einige Provinzen deutsch, deutsche Inseln allenthalben auch 
in den nichtdeutschen Provinzen; hier aber trotz den deutschen oder 
germanisierten Beamten und Offizieren und der offiziellen Alleinherr- 
schaft des Deutschen eine breite, lebenskräftige Unterschicht fremder 
Volksstämme. 



I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur. 



241 



P 



Durch die Anerkennung- der herrschenden Stellung des Griechischen im 
oströmischen Reiche als einer unbestreitbaren Tatsache wird eine andere 
Tatsache nicht aufgehoben: daß die nationale und sprachliche Einheitlich- 
keit, wie sie dem alten Imperium zugfrunde lag und wie sie im westlichen 
Reichsteile auch später noch herrschte, im Ostreiche niemals bestanden 
hat Mit dem Aufgeben des Lateinischen hat das Reich seine nationale 
und sprachliche Seele aufgegeben, und dafür ist nie mehr ein voller Er- 
satz geschaffen worden. Im Westen war Hand in Hand mit der allmäh- 
lichen gewaltsamen Ausdehnung der römischen Herrschaft auch die latei- 
nische Sprache in den neuen Provinzen innerhalb und außerhalb Italiens, 
in Spanien, Gallien und Afrika, eingeführt worden, und um die Zeit der 
Teilung des Reiches bestand hier eine kompakte lateinische bzw. latini- 
sierte Masse. Im Osten ist die Latinisierung, wenn man von den Vlachen 
(Rumänen) absieht, nicht durchgedrungen und auch nie ernstlich versucht 
worden. Als nach der Ablösung des Westreiches das Lateinische als 
Staatssprache allmählich zurücktrat, fand sich zwar im Griechischen ein 
vollgültiger Ersatz; aber für den Gedanken, nun etwa den Osten ähnlich 
zu gräzisieren, wie finiher der Westen latinisiert worden war, fehlten die 
historischen Vorbedingungen, namentlich die allmähliche, durch eigene 
Kraft errungene Angliederung der nichtgriechischen Reichsteile an ein 
griechisches Zentrum. In den ersten Jahrhunderten konnte der Gedanke 
einer systematischen Gräzisierung schon deshalb nicht Wurzel fassen, weil 
an der Fiktion einer allgemeinen lateinischen Staatssprache festgehalten 
wurde. Außerdem besaßen einerseits die Griechen nicht die rücksichtslose 
Volkskraft und die politische Tüchtigkeit, durch die den Römern die Assi- 
inilierung fremder Stämme gelang, und anderseits standen ihnen vielerorts 
zäh konservative orientalische Kulturen gegenüber. So blieb denn die 
Grräzisierung auf ein bescheidenes Maß beschränkt; das einzige größere 
Beispiel ist die Gewinnung der nach Mittelgriechenland und in den Pelo- 
ponnes eingewanderten Slawen; außer ihnen sind nur unbedeutende und 
selten genauer nachweisbare Splitter fremder Völker mit dem Griechentum 
verschmolzen worden, wie die als Eroberer oder Kaufleute nach dem Osten 
gekommenen Italiener und Franzosen, da und dort Albanesen, Vlachen 
und Reste untergegangener Barbarenstämme. Aber die meisten nicht- 
hellenischen Völker, die für längere oder kürzere Zeit in den Bereich des 
griechischen Reiches gehörten, die Kopten, Syrer, Araber, Armenier, 
Georgier, Bulgaren, Serben, Albanesen und Vlachen behaupteten die Eigen- 
art ihrer Nationalität und vor allem ihre Sprache. Hier liegt ein tief- 
gehender Unterschied zwischen dem Westreiche und dem Ostreiche. Be- 
sonders deutlich und folgenschwer offenbart er sich in der Christianisierung 
der Provinzen. Im Westen erfolgte sie mit dem Werkzeuge der latei- 
nischen Sprache, selbst bei den nicht romanisierten Germanen, und das 
Latein behauptete sich auch im Gottesdienste, im Verkehr von Staat und 
Kirche, im Unterrichte und zu einem großen Teil auch in der Literatur. 

Du KCLTVR DEK GiaiMWAIIT. LS. |6 



2A2 Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 

Ganz anders im Osten. Obschon das Griechische, die Sprache der heiligen 
Bücher, ältere und bessere Ansprüche auf den Titel einer allgemeinen 
Kirchensprache besaß als das Lateinische, hat es sich im Osten niemals 
zu einer ähnlich dominierenden Stellung emporgeschwungen wie das Latei- 
nische im Westen. Die heiligen Bücher wurden im Osten früh in die 
Nationalsprachen wie Syrisch, Koptisch, Armenisch, Georgisch, Gtstisch, 
Bulgarisch usw. übersetzt, und ebenso wurden der Gottesdienst und die 
Predigt in diesen Sprachen gehalten. Eine tiefeinschneidende Wirkimg 
dieser Sonderentwickelung war, daß sich mm bald mit gewissen Völkern 
gewisse dogmatische und disziplinare Sonderheiten verbanden und so teils 
neue Kirchen, teils Ansätze zu ihnen hervortraten. VgL die koptischen 
Nestorianer, die syrischen Monophysiten, die armenische Kirche usw. 
Nichts anderes als eine Folge dieser Verquickung von Nationalität und 
Kirche ist schließlich die in der neueren und neuesten Zeit geschehene 
Begründung der slawischen Teilkirchen. Auch die größte und folgen- 
schwerste kirchliche Trennung, die der griechischen Kirche von der römi- 
schen, ist viel weniger aus dogmatischen Differenzen, als aus der sprach- 
lichen und nationalen Verschiedenheit erwachsen. 
Römertam. Das vmgeheure Gefüge, durch dessen Festigkeit das byzantinische 

Reich den furchtbaren Stürmen der Perser, Araber, Seldschuken, Slawen, 
Normannen, Franken, Türken und anderer Völker so lange widerstehen 
konnte, ist römische Arbeit Das gesamte Staatswesen, die Technik und 
die Grvmdsätze der äußeren und inneren Politik, Gesetzgebtmg \md Ver- 
waltung, Heer- und Flottenwesen lag als ungeheures Ergebnis theore- 
tischer Studien, praktischen Sinnes und reicher Erfahnmg fertig da, als der 
ösüiche Reichsteil selbständig wurde; und so sehr die Gfriechen sich hier 
bald als Herren im eigenen Hause fühlten, dieses unschätzbare Erbstück 
aus dem lateinischen Westen haben sie, trotz einzelner Änderungen in der 
Verwaltung (Themenverfassung) und anderen Teilen des Staates, prin- 
zipiell niemals angetastet Der Staatsgedanke war imendlich viel stärker 
als das nationale und sprachliche Sonderbewußtsein. So übernahmen die 
Griechen denn natürlich auch den Namen Römer — im Deutschen werden 
diese „Römer" zur Differenzierung gewöhnlich mit der griechischen Form 
Rhomäer genannt — imd gebrauchten fortan ihren alten glorreichen Namen 
„Hellenen" im verächtlichen und feindseligen Sinne von den „Heiden". 
So stark ist der Name „Rhomäer" mit dem mittelalterlichen Griechentiun 
allmählich verwachsen, daß er die Stürme der Türkenzeit überdauerte und 
noch heute, aus einem politischen Terminus zu einem ethnographischen 
Namen geworden, die übliche volkstümliche Bezeichnung der Grriechen 
geblieben ist 

So wunderbar fest und fein war die Struktur des römischen Staats- 
gebäudes, daß ein so eminent unpolitisches Volk, wie die Grriechen im 
Altertimi gewesen sind und heute sind imd sicher auch im Mittelalter 
waren, es im Laufe vieler Jahrhunderte nicht emsüich zu beschädigen 



I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur. 



243 



vermochte. Es scheint, daß viehnehr die Schule des staatlichen Organis- 
mus das unpolitische Volk politisch erzogen und für große, weitausblickende 
Staatsaufgaben fähig gemacht hat Denn niemals weder früher noch 
später mehr haben die Griechen politisch eine so große Rolle gespielt, 
wie in der byzantinischen Periode — eine Tatsache, die, nebenbei bemerkt, 
allein schon die seltsame Abneigung oder Gleichgültigkeit der Neugriechen 
gegen ihr Mittelalter besiegen sollte. Die Fortwirkung der alten römischen, 
nun in griechisches Gewand gekleideten Tradition im gesamten öffentlichen 
und privaten Leben der Byzantiner und die Art, wie die herrschenden 
griechischen und orientalischen Menschen sich mit der ihnen innerlich 
fremdartigen Staats- und Rechtsordnung abfanden, wie sie sich ihr an- 
schmiegten und wie sie mit ihr operierten, gehört zu den interessantesten, 
freilich auch zu den am wenigsten aufgeklärten Seiten der inneren Ge- 
schichte von Byzanz. Mannigfache Spuren hat das Römertum in der 
griechischen Sprache der byzantinischen Zeit hinterlassen; denn dieses 
Grriechisch wimmelt von notdürftig gräzisierten lateinischen Wörtern, be- 
sonders für die Begriffe des Rechtes imd der Verwaltung, während für 
das Heer- und Flottenwesen sich vielfach griechische Ausdrücke ein- 
bürgerten. In der Literatur freilich, besonders in den ganz auf der antiken 
Technik beruhenden Gattungen der Geschichtschreibung und Rhetorik 
(Reden, Briefe, Essays usw.) macht sich früh das Bestreben geltend, alle 
lateinischen Wörter, die man als barbarisch betrachtete, auszumerzen und, 
vielfach auf Kosten der Deutlichkeit und Genauigkeit, durch griechische 
zu ersetzen. Ein besonders merkwürdiges Zeugnis des römischen Ein- 
flusses ist — um wenigstens ein konkretes Beispiel zu nennen — die Ver- 
drängung der griechischen Wörter für Haus durch das lateinische hospittum 
(öffTTiTiov, öaniTiv, cfniiiv, örnTi) „Unterkunftshaus, Herberge, Quartier" mit 
einem Bedeutungsübergang, der im französischen maison aus matmo „Nacht- 
lager, Station" ein belehrendes Seitenstück hat. 

Weit stärker als alle Wandelungen und Neuerungen in der Philosophie chrfiieniumr 
und Literatur, im Staats- und Gerne indewesen, in den gesellschaftlichen 
und materiellen Verhältnissen der Bevölkerung hat die Weltreligion Christi 
auf das innere Wesen des Griechentums eingewirkt und hier eine mächtige 
Umgestaltung hervorgebracht Der neue Glaube war freilich einerseits 
schon auf heidnischem Boden durch die Zusammenfassung der Völker im 
römischen Reich, durch die Zerbröckelung des alten Götterglaubens und 
durch die sittliche Fäulnis der Gesellschaft, dann durch die humane Lehre 
der Stoa und die mystische Richtung des Neuplatonisraus wirksamst vor- 
bereitet worden, anderseits kam das Christentum dem hellenischen Heiden- 
tum bei aller prinzipiellen Ablehnung durch Anpassung an heidnische Ge- 
bräuche und Vorstellungen, späterhin durch reiclüiche Verwertung der im 
Arsenal der antiken Literatur aufgespeicherten Geisteswaffen mannigfach 
entgegen. Aus dieser Vermählung des Christentums mit dem hellenischen 
Altertum wird ein großer Teil der byzantinischen Kultur verständlich. 

i6» 



244 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



ÜrienUIUcbc 
Elemente. 



Immerhin blieben bedeutende heidnische Reste übrig, in der Literatur 
heidnische Vorstellungen und Ausdrücke, in den Seelen heidnische Art. 
Daß öfiFentliche Unsitte, gegen welche die Kirchenschriftsteller so oft, wohl 
auch mit starken Übertreibungen, zu Felde ziehen, durch das Christentum 
nicht beseitigt werden konnte, ist natürlich; aber sehr auffällig ist doch, 
daß die Lehre des Heilandes in den herrschenden Kreisen so wenig in die 
Tiefe drang und die offiziellen Sitten so wenig zu mildern vermochte. Welche 
Vorstellung vom wahren Christentum mußte ein Konstans U. (642^ — 668) 
haben, der dem gelehrten Maximus Confessor, weil er sich zu der (übrigens 
schon im Jahre 680 durch ein ökumenisches Konzil bestätigten) Lehre von 
den zwei Willen in Christus bekannte, die Zunge an der Wurzel aus- 
schneiden und die rechte Hand abhauen ließ (662)? Oder die herrsch- 
süchtige Kaiserin Irene, die ihren eigenen Sohn blenden ließ (797), und 
alle die Urheber der wüsten Palastmorde, Verstümmelungen und Blen- 
dungen, von denen die Annalen des 10. imd 1 1. Jahrhunderts erzählen? 
Diese titanenhaften Blutmenschen mahnen uns mehr an das trotzige Herren- 
geschlecht, das in grauer Vorzeit in den düsteren Mauern von Mykene 
hauste, oder an christusfeindliche orientalische Despoten, als an die edle 
Lehre der Menschenliebe und Menschenwürde, der Entsagung und Auf- 
opferung. Neben ihnen treffen wir in jedem Jahrhundert leuchtende Bei- 
spiele christlicher Tugend, edelster Hingebung und unerschütterlichen 
Heldenmutes, Männer, wie Johannes Chrysostomos (s.S. 211), Theodoros 
von Studion (759—826), Nikolaos Mystikos (852 — 925) u. a. Byzanz ist 
in seinem praktischen Christentum wie in so vielen anderen Beziehungen 
ein Land der schärfsten Gegensätze und kann nur durch vorsichtigste Kom- 
pensation richtig beurteilt werden. 

Der Orient ist mit der Geschichte der Griechen seit einer weit älteren 
Zeit verbunden als das Römertum und Christentum, und seine Wirkungen 
auf das äußere und innere Leben reichen in Tiefen hinab, die sich der 
objektiven Untersuchung entziehen. Innige und matmigfaltige Wechsel- 
beziehungen zwischen Hellas und Orient lassen sich seit dem mykenischen 
Zeitalter nachweisen, und wenn der orientalische Einfluß in den Jahr- 
hunderten der mächtigsten und selbständigsten Entfaltung des griechischen 
Geistes unter Attikas Führung zurücktrat, so beginnt sein Wirken mit 
erneuter Kraft, seit durch Alexander den Großen die fernsten Gebiete 
bis nach Turkestan imd Indien erschlossen worden waren. Die von den 
Griechen besetzten asiatischen und afrikanischen Provinzen wurden zwar 
blühende Pflanzstätten des Hellenismus, aber die Griechen kamen hier in 
ganz anderer Weise, als früher in den Gemeinwesen des Mutterlandes, in 
Berührung mit den regsamen Menschen und den alten Kulturen des Orients, 
imd indem sie durch ihre Verbreitung über Asien und Afrika zu Kosmo- 
politen und ihre Sprache zu einer Weltsprache wurde, erfuhren sie gleich- 
zeitig die starken und mannigfaltigen Einflüsse des Bodens, den sie be- 
setzten. Hauptsitze hellenischer Bildung waren die Weltstädte Alexandria 



i 



I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur. 



«45 



und Aotiochia, außerdem Gaza in Palästina, Berytus in Phönikien, Tarsos 
in Kilikien, Xanthos in Lykien, Käsarea, Ankyra, Nikäa und Niko- 
media, weit nach Osten vorgeschoben als äußerstes Blockhaus des Helle- 
nismus Seleukia am Tigris. Insbesondere ist es der Südostwinkel der 
Mittelmeerküste, Ägj-pten, Palästina und Syrien, wo griechische und 
fremde Art innig verwuchsen und ein neuartiges hellenisch-orientalisches 
Menschentum zubereitet wurde. 

Die griechischen Kolonien in Ägypten und Kyrene überragen in der Ägypten umi 
alexandrinischen und römischen Zeit an Kraft und Fülle der literarischen •^j'™"" 
Produktion alle anderen Gebiete. Die Blüte der alexandrinischen Literatur 
in den ersten drei Jahrhunderten vor Christus ist schon oben (S. 8i — 144) 
geschildert worden. Aber auch in der römischen Zeit bis zur Eroberung 
Alexandrias durch die Araber herrschte in Ägypten, begünstigt durch den 
materiellen Wohlstand des Landes, ein merkwürdig reges wissenschaft- 
liches und literarisches Leben. Die Reihe der ägyptischen Philosophen 
dieser Zeit eröffnet, sehr bezeichnend für den Mischcharakter der griechisch- 
ägyptischen Kultur, der Jude Philon aus Alexandria (S. 156); später 
wurde Ägypten Heim- und Pflegestätte des Neuplatonismus; der Gründer 
dieser letzten antiken Philosophie, Ammonios Sakkas (etwa 175 — 242), war 
ein Ägypter, ebenso sein Schüler Plotinos (S. 193). Nicht weniger blühen 
andere Wissenschaften; die Astronomie vertritt der glänzende Name des 
Ptolemaeos (S. 174); die Mathematik pflegen Männer wie Pappos (S. 193), 
Diophantos (ebd2u) und Theon (S. 216); die Geographie der christliche 
Kosmograph Kosmas, der Indienfahrer (S. 220); die sprachlichen und 
literarhistorischen Studien die Grammatiker ApoUonios Dyskolos (S. 176) und 
Herodian (S. 176), der Lexikograph Julios Polydeukes (S. 173) und der 
Verfasser des Sophistenmahles Athenaeos {S. 176); die Geschichtschreibung 
Appian (S. 171), Olympiodor (S. igg) und, kurz vor der arabischen Invasion, 
der späte Nachzügler Theophylaktos Simokattes (erste Hälfte des 7. Jahrb.); 
den Roman, eine in Ägypten vielleicht geborene Gattung, Achilleus Tatios 
(S. 183) u.a.; die Poesie die letzten Wiedererwecker des Kunstepos wie 
Nonnos (S. 217), Triphiodoros (ebda.), KoUuthos (ebda.), Claudian (S. 200) 
und Epigrammatiker wie Palladas (S. 216) und Christodoros. Eine staunens- 
werte Triebkraft bewährte der ägyptische Boden unter dem Zeichen des 
Christentums. Söhne Alexandrias waren die Kirchenväter Origenes (S. 194), 
Dionysios (3. Jahrh.) und Athanasios, der große Bekämpfer und Besieger 
des Arianismus (S. 219), und auch Anus (S. 220) selbst, endlich Kyrillos 
(S. 219); auch der Begründer der christlichen Chronographie, Sextus lulius 
Africanus (S. 197), ist mit Alexandria eng verbunden, ebenso Synesios (S. 213). 
Aus Ägypten stammt endlich der einflußreiche asketische Lehrer Johannes 
Klimax (etwa 579 — 649). Einer |der wichtigsten Bestandteile der byzan- 
tinischen Kultur, das Einsiedler- und Klosterleben, mit der zugehörigen 
Literatur, ward in Ägypten geboren, um dann in Palästina und Sjoien seine 
typische Ausbildung zu erfahren. 



246 



Karl Krxthbacher: Die griechische Literatiir des Mittelalters. 



Palästina und 
Syrien. 



Palästina und Syrien, seit alter Zeit und besonders in der alexandri- 
nischen Periode durch lebhaften Wechselverkehr mit Ägypten verknüpft, 
haben durch griechische Besiedelung in ähnlicher Weise an der griechischen 
Kultur teilgenommen wie Ägypten; doch fällt der Höhepunkt des geistigen 
Aufschwunges hier in eine viel spätere Zeit, ins 3. — S.Jahrhundert n.Chr., 
wenn auch schon früher einzelne angesehene griechische Schriftsteller aus 
diesen semitischen Gebieten hervorgegangen sind wie die Historiker 
Posidonios von Apamea (S. 109), Nikolaos von Damaskos (S. 114) und 
die Verfasser der heiligen Schriften des Neuen Testaments, unter denen 
Paulus (S. 157) durch weiten Blick und originale Kraft wie auch durch 
sein Alter an der Spitze steht Antiochia gewann durch seine Rhetoren- 
schule (Libanios, S. 205) und seine christliche Exegetenschule {Johannes 
Chrysostomos , S. 211, Theodoret von Kyros, etwa 386 — 458, u.a.) im 
4. und 5. Jahrhundert großen Einfluß auf das griechische Geistesleben. Aus 
Antiochia stammt außer dem Sophisten Libanios und dem großen Kirchen- 
vater Johannes Chrysostomos der Lehrer der Rhetorik Aphthonios (4. Jahrb.). 
Später wirkten hier Johannes Malalas (S. 22 t und S. 265), der als Begründer 
einer neuen Literaturgattung, der christlichen Weltchronik, eine unüber- 
sehbare Wirkung auf das Mittelalter ausgeübt hat, und ein zweiter Histo- 
riker namens Johannes (7. Jahrb.). Außer Antiochia war als Bildungsstätte 
Gaza von Bedeutung; hier blühte im 5, und 6. Jahrhundert eine Rhetoren- 
schule, aus der fruchtbare Schriftsteller wie Chorikios (S. 215), der Exeget 
Prokopios (ebda.) und Aeneas (ebda.) hervorgegangen sind. 

Außer den schon genannten Männern von Antiochia und Gaza stammen 
aus dem syro-palästinischen Gebiete noch zahlreiche andere bedeutende 
Autoren der Kaiserzeit, wie die jüdischen Historiker losephus Flavius 
(S. 170) und lustus von Tiberias (Anfang des 2. Jahrh. n. Chr.); die Ge- 
schichtschreiber Herodian (S. 172), Zosimos (S. 19g), Prokopios (S. 199), 
Eustathios von Epiphania (Anfang des 6. Jahrb.) und Johannes von Epi- 
phania (Ende des 6. Jahrb.), der Begründer der Kirchengeschichte Eusebios 
(S. 196) und der letzte griechische Kirchenhistoriker Euagrios (536 — c. 600); 
der geistreiche Essayist Lukian (S. 172); die Neuplatoniker Maximos (S. 177) 
und Porphyrios aus Tyros (S. rgs) und Jamblichos (S. 203); die Romanschreiber 
Jamblichos und Heliodor; der vielseitige Apollinaris von Laodikea (S. 220); 
die Verfasser von Heiligenleben Kyrillos von Sk)rthopolis (c. 514 — c. 560) 
und Johannes Moschos (c. 550 — 619); der als Dichter und Hagiograph be- 
währte Patriarch Sophronios von Jerusalem {f 638); endlich im 8. Jahrhundert 
der letzte griechische Kirchenvater Johannes von Damaskos (s. S. 268). In 
Syrien und Palästina liegen endlich die Anfänge der ästhetisch wertvollsten 
Gattung des byzantinischen Schrifttums, der griechischen Kirchenpoesie. 
Romanos (s. S. 259), ihr gewaltigster Vertreter, ist in doppeltem Sinne mit 
Syrien verbunden: er stammt aus Syrien, und ein echter Syrer, Ephrem 
(S. 200), diente ihm als anregendes Vorbild. In Palästina dichteten Johannes 
von Damaskos und sein Adoptivbruder Kosmas (8. Jahrh.). 



I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur. 



247 



Etwas weniger fruchtbar an geistigen Kräften als die Südostecke der KieiMiien. 
Mittelmeerküste erweisen sich die von zahlreichen griechischen und halb- 
griechischen Städten durchsetzten kleinasiatischen Provinzen. Aus Bithynien 
entstammen die Redner Dion Chrysostomos (S. 165) und Himerios 
(S. 203), die Geschichtschreiber Arrian (S, 169) und Dion Cassius (S. lyr) 
und der Attizist Phrynichos (S. 146); aus Paphlagonien der Redner 
Themistios (S. 202); aus Pontus der Geograph Strabon {S. 154) und 
der Kirchenschriftsteller Gregor der Wundertäter (S. 195); aus der klein- 
asiatischen Äolis der Historiker Agathias (S. 200); aus Pisidien der 
bedeutendste Jambendichter der byzantinischen Zeit Georgios Pisides 
(S. 200); aus Phrygien der Stoiker Epiktet (S. 169) und der Aristoteles- 
erklärer Alexander von Aphrodisias (S. 176); aus Mysien der Rhetor 
Aelios Aristides (S. 165) und der Mediziner Galenos (S. 174); aus 
Ephesos der Romanschreiber Xenophon (S. 183); aus Lydien der Sophist 
und Historiker Eunapios von Sardes {S. 19g) und der Antiquar zur Zeit 
Justinians Johannes Lydus (aus Philadelphia, S. 201); aus Karlen der Chrono- 
graph Phlegon von Tralles (2. Jahrh.) und der Historiker Hesychios von 
Milet (6. Jahrb.); aus Kappadokien der Wundennann Apollonios von Tyana 
(S. 191) und die drei großen Kirchenväter Basilios (S. 209), Grregor von 
Nyssa (S. 209) und Grregor von Nazianz (S. 208); aus Lykien (Xanthos) 
der Neuplatoniker Proklos (S. 204); aus Kilikien der Rhetor Hermogenes 
(aus Tarsos, S. 149), der Philosophenbiograph Diogenes Laertios (wohl 
3. Jahrh.) und der Dichter Oppianos (S. 180). 

Diese Namen bedeuten den weitaus größten und gelesensten Teil der 
griechischen Literatur der ersten acht Jahrhunderte n. Chr. Das wird uns 
völlig klar, wenn wir die Gegenprobe machen und uns erinnern, wie es 
in denselben Jahrhunderten im europäischen Griechenland mit der Bildung 
und Literatur bestellt war. Den großen afrikanischen und asiatischen 
Bildungsstätten steht hier nur eine einzige gegenüber, Athen, das sich, 
durch den Adel seiner glorreichen Vergangenheit und die Fürsorge der 
Kaiser, als Sitz der Sophistik und Philosophie bis in den Anfang des 
6. Jahrhunderts behauptete, um dann bald zur bedeutungslosen byzantinischen 
Landstadt herabzusinken. Dazu kam als großer neuer Brennpunkt geistigen 
Lebens Konstantinopel. Doch hatte die Hauptstadt des Ostreiches, in der 
alsbald Griechen und fremdrassige Menschen aus allen Teilen der Oiku- 
mene zusammenströmten, keinen einheitlichen und ursprünglichen Charakter; 
außerdem neigt sie von Anfang an nach Asien, an dessen Schwelle sie 
liegt, und kann daher nur in bedingtem Maße für das europäische Griechen- 
land in Anspruch genommen werden. Dem Mangel einer größeren Zahl 
lebenskräftiger Bildungszentren entspricht denn auch die geringe literarische 
Betätigung des europäischen Griechentums in der Kaiserzeit. Eine wahr- 
haft bedeutende Erscheinung von tiefgehender und nachhaltiger Wirkung 
ist hier nur Plutarch aus Chäronea (S. 166). Außerdem sind zu nennen 
einige Vertreter der so schwer zu definierenden oder diurch ein modernes 



Das curopäiicbo 
Grlcchentaad 



248 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des MitteJalters. 



Wort auszudrückenden Gattung der Sophistik, wie Herodes Atticus aus 
Athen (S. 149) und die Philostrate aus Lemnos (S. 191), endlich der Historiker 
Dexippos aus Athen (S. 192) und die schöne Philosophentochter und nach- 
mahge Kaiserin Eudokia, ebenfalls aus Athen {5. Jahrh.). Bald aber be- 
ginnt infolge der Konzentrierung aller Kräfte in der Hauptstadt das geistige 
Leben in den europäischen Provinzen fast ganz zu veröden. Wie schon 
Eudokia in ihrem späteren Leben mit Konstantinopel verbunden erscheint, 
so sind auch die wenigen bedeutenden Autoren, die das europäische 
Griechenland bis zum 8. Jahrhundert noch hervorbringt, meist Kinder der 
Hauptstadt: die Theologen Leontios von Byzanz (c. 485 — c. 543) und 
Maximus Confessor (etwa 580 — 662) und die Historiker Menander Protektor 
(2. Hälfte des 6. Jahrh.) und Theophanes von Byzanz (2. Hälfte des 6. Jahrb.). 
Der einzige Provinziale unter den Literaten dieser Zeit ist der Historiker 
Petros Patrikios aus Thessalonike (etwa 500 — 565). 

Wenn man aber mit Rücksicht auf das Doppelgesicht von Kon- 
stantinopel die hauptstädtischen Autoren von der europäischen Gruppe 
trennt und für sich betrachtet, so wird ersichtlich, wie verschwindend 
gering die geistige Regsamkeit und Schaffensfreude des europäischen 
Griechenlands mit seiner alten eingesessenen Bevölkerung gegenüber 
den größtenteils erst seit der alexandrinischen Zeit erschlossenen und be- 
siedelten Gebieten von Asien und Afrika gewesen ist Soll das Verhältnis 
in der heute beliebten Sprache der Zahlen ausgedrückt werden, so mögen 
die letzteren etwa 90 "/o» die europäische Gruppe kaum 10% der gesamten 
Produktion beanspruchen. 

Wo liegen die letzten Gründe dieser gewaltigen Überfiügelung des 
europäischen Griechentums durch das afrikanisch -asiatische? Wohl 
weniger in der geistigen Erschöpfung oder Altersschwäche des ersteren 
— Begriffe, die sich auf das Völkerleben nicht recht anwenden lassen - — 
als vielmehr teils in dem höheren Wohlstande und der verfeinerten Lebens- 
führung der neuen Städte des Ostens und Südens und ihrer durch große 
Aufgaben, besonders durch den regen Handelsverkehr gesteigerten Energie, 
teils aber gewiß auch in der belebenden Infiltration des dortigen Griechen- 
tums mit fremden Volkselementen. Ägypten und Syrien mit Kleinasien 
sind für das autochthone Griechentum eine Art Amerika geworden, wo 
Hunderte von blühenden Städten aus dem Boden schössen, wo die in den 
dürftigen Heimatsbezirken beengten und lahmgelegten Kräfte ein un- 
absehbares Feld zur Betätigung fanden und nicht nur an materieller Kraft 
über das Mutterland emporwuchsen, sondern sich bald auch der Pflege 
der höchsten geistigen Güter widmeten. Dabei ging freilich von der 
feinen Eigenart und Ursprünglichkeit in Sprache, Literatur und Kunst, 
in Sitten und Gebräuchen viel verloren, ähnlich wie sich auf manchen 
Lebensgebieten Amerika von dem alten aristokratischen England abhebt 
So können die volksbiologischen Prozesse in der Ausdehnung des Helle- 
nismus und in der amerikanischen Entwickelung sich gegenseitig be- 



I. Mischcharakter der byzantinischen Kuhur. 



249 



leuchten und aufklären. Auch auf eine andere heute aktuelle Frage des 
Völkerlebens wirft der Hellenismus des Ostens und Südens einiges Licht, 
die Frage der Rassenmischung. Die oben angeführten Tatsachen zeigen, 
daß die neuerdings so kräftig stigmatisierte Mischung von Indogermanen 
und Semiten doch unter gewissen Verhältnissen ganz erfreuliche Früchte 
zu zeitigen vermag. Namentlich scheinen die Syrer, die sich unter dem 
Zeichen des Christentums mit japanischer Schnelligkeit und Energie ent- 
wickelten und ihren Einfluß nach allen Seiten, selbst bis nach Zentral- 
asien und China ausdehnten, längere Zeit ungemein befruchtend auf das 
griechische Geistesleben gewirkt zu haben. 

Da nun jeder Schriftsteller das Kind seiner Heimat ist und durch 
seine Jugendeindrücke und seine Umgebung notwendig beeinflußt wird, so 
läßt sich mit Sicherheit schließen, daß diese ganze ägyptisch-syrisch-klein- 
asiatische Literatur die Spuren ihres Ursprunges nicht verleugnen wird. 
Selbstverständlich ist das bei Nationaljuden wie Philon und Joseph, höchst 
wahrscheinlich und ziemlich allgemein anerkannt bei dem esprit isra^lite 
Lukian, bei Syrern oder Halbsyrern wie Tatian und Malalas, bei dem 
phantastischen und überschwenglichen Ägypter Thcophylaktos .Simokattes 
u. a. In Wahrheit geht der orientalische Einschlag in das geistige und 
physische Lebensgewebe des byzantinischen Griechentums viel weiter und 
viel tiefer, als die genannten landläufigen Beispiele ahnen lassen, und 
wenn er auch oft schwer zu erkennen und überzeugend nachzuweisen ist, 
so wird doch eine mit der nötigen eindringenden Kenntnis der grie- 
chischen und der orientalischen Kulturen geführte Untersuchung hier 
sicher überraschend neue und mannigfaltige Tatsachen der Orientalisierung 
des Griechentums aufdecken. 

Der von Ägypten — Palästina — Syrien — Kleinasien gebildete, gegen 
Europa konvergierende Halbkreis hat mit seinem orientalisierten Wesen 
auch das alte Griechentum in Europa erobert, so daß die gesamte byzan- 
tinische Kultur einen orientalischen Charakter erhielt Dieser Charakter 
hat sich eigenartig fortentwickelt, auch nachdem seine wichtigsten Ur- 
sprungsgebiete, zuerst (um 640 n. Chr.) Syrien und Ägypten, viel später 
— das entscheidende Jahr ist 1071 — die kleinasiatischen Provinzen dem 
Griechentum verloren gegangen waren und die griechische Bildung und 
Literatur sich immer mehr unter den Schutz der Hauptstadt und in einige 
ihr benachbarte Provinzen zurückgezogen hatte. Übrigens fehlte es auch 
in dieser späteren Zeit nicht an mannigfachen Wechselwirkungen zwischen 
Orient und Okzident Nur daß nun an Stelle der ägyptisch -syrisch- 
persischen Einflüsse arabische, seldschukische, armenische, türkische traten. 

Wenn wir die wesentlich aus der Literatur gewonnene und auf sie orienuiismut 
bezügliche Erkenntnis mit der anderen in der jüngsten Zeit erreichten ,'"u^h^''K*^j 
Erkenntnis verbinden, daß auch das Sondergebiet der byzantinischen 
Kunst im weitesten Umfange von orientalischen Vorbildern und orienta- 
lischem Geschmack (Flächendekoration, Gitter- und Netzmotive, Ära- 



250 Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 

besken usw.) abhängig ist, dann gelangen wir immer deutlicher zu der 
Einsicht, daß die byzantinische Kultur zwar auf griechisch-römisch-christ- 
licher GiTundlage ruht, aber viele Jahrhunderte lang von orientalischen 
Elementen durchsetzt worden ist und durch sie ein eigenartiges Creprag'e 
erhalten hat 

Der eng bemessene Raum erlaubt nicht, hier den orientalischen Zügen 
der spätgriechischen - byzantinischen Gesamtkultur im einzelnen nach- 
zugehen. Doch seien einige an der Oberfläche liegende Erscheinungen 
von allgemeiner Bedeutung hervorgehoben, wie in der heidnischen Zeit 
das Hereinwogen orientalischer Kulte (Mithras) und moigenländischer 
Denkweise, wie sie sich in den schwärmerischen Lehren des Neupytha- 
goreismus und Neuplatonismus verrät; in der christlichen Ära das Säulen- 
heiligentum, eine echt orientalische Form der Askese, die im Abendlande 
niemals Fuß zu fassen vermochte, ebensowenig wie das „Narrentum um 
Christi willen«, später die ganze mehr spekulative xmd besdiauliche, als auf 
praktische Betätigung in Unterricht und Seelsorge gerichtete Art des 
byzantinischen Klosterlebens, gewisse Erscheinungen der mystischen Hesy- 
chastenbewegTing auf dem Athos, manche Eigentümlichkeiten des Hof- 
und Staatswesens wie die Auffeissung des Kaisertums als einer mysteriösen 
Macht, der Gegensatz brutaler Volksleidenschaft und grausamster De- 
spotie, die hieratische Grandezza, das Eunuchentum, die blutigen Palast- 
revolutionen und das unheimliche Intrigenspiel, der starre Formalismus 
im Leben wie in der Literatur, die Beliebtheit orientalischer Erzählungs- 
stoffe, orientalische Formen in der Einkleidung der mittelgriechischen Sprich- 
wörter usw. Am wenigsten wurde die Sprache selbst — wenn man vom 
orientalischen Kolorit des Stiles mancher Werke absieht — vom Hauche 
des Ostens berührt. Während das byzantinische Griechisch z. B. von 
lateinischen Wörtern wimmelt, ist die Zahl der in der christlichen Ära 
eingedrungenen orientalischen Lehnwörter viel geringer, als man nach 
dem Maße der sonstigen orientalischen Einflüsse erwarten sollte. Erst in 
der Zeit der völligen Auflösung des oströmischen Staates (seit dem 1 3. Jahr- 
hundert) wurden Wörter einer Orientsprache, der türkischen, in ziemlich 
großer Zahl ins Grriechische aufgenommen. 

Jetzt wird auch klar, warum die aus Byzanz entsprossenen Kulturen, 
besonders die der Südslawen und Russen, so orientalisch aussehen. Das 
starke asiatische Element im russischen Staats- und Volkswesen, das 
scharfsichtige einheimische und fremde Beobachter in der jüngsten Zeit oft 
hervorgehoben haben, rührt nicht erst von heute und gestern, nicht von 
dem durch die Ausdehnung des Reiches verursachten häufigen Kontakt 
mit Völkern des mittleren und östlichen Asiens, sondern von dem byzan- 
tinischen Untergrunde, auf dem vom lo. Jahrhundert bis zum Anfang des 
18. Jahrhunderts die russische Kultur erwachsen ist. 
Samtige fremd« Außer den orientalischen Elementen, die das ganze byzantinische 

lemente. \Y^esen in unzähligen Adern durchdringen, sind die Einflüsse des romani- 



II. Sprache. 



251 



sehen Westens zu beachten, die namentlich von Venezianern, Genuesen 
und Franzosen ausgingen und sich in der Einführung des Feudalismus in 
den eroberten Herrschaften, in den fränkischen Bestandteilen der Sprache, 
in fränkischen Stoffen der poetischen Literatur usw. äußerten. Sehr un- 
erheblich sind die germanischen und slawischen Kultureinflüsse. Germa- 
nische sind deutlich erkennbar wohl nur im Heerwesen, wo die germa- 
nischen Soldtruppen und Führer auch im Osten längere Zeit eine gewaltige 
Rolle spielten; im späteren Mittelalter haben die Kaiser eine skandina- 
vische Leibwache {Warangen) gehalten, die man mit den deutschen Lands- 
knechten in Italien oder der Schweizer Garde des Papstes vergleichen 
kann. Die Einwanderung der slawischen Stämme äußerte ihre Wirkung 
vornehmlich auf die ethnographische Gestaltung der Balkanhalbinsel, die 
Ausbildung der Dorfgemeinde und wohl auch die Ackerbaugesetzgebung. 
Die griechische Sprache blieb von germanischen und slawischen Elementen 
so gut wie vollständig frei, und ebensowenig haben die Germanen und 
Slawen, wie es bei ihrem niedrigen Kulturstande natürlich ist, in der 
Literatur und Kunst erkennbare Spuren hinterlassen. An Nachhaltigkeit 
und Intensität sind die abendländischen Einflüsse mit den orientalischen 
nicht zu vergleichen; das meiste von ihnen ist in der neueren Zeit — 
wenn man von den romantischen Resten fränkischer Bauten absieht — 
spurlos verschwunden, während sich der orientalische Grundcharakter 
behauptet hat. 



U. Sprache. Über die Sprache des griechischen Mittelalters 
herrschen, wie man oft bemerken kann, irrige oder unklare Vorstellungen 
nicht bloß in den weiteren Kreisen, sondern auch unter Männern, die auf 
den eng benachbarten Gebieten des Altertums oder des abendländischen 
Mittelalters eine wissenschaftliche Ausbildung erfahren haben. Eine Auf- 
klärung ist daher angebracht. Der größte Teil der griechischen Literatur 
vom Ausgang des Altertums bis an die Schwelle der neueren Zeit ist in 
einer Sprache abgefaßt, die in der Hauptsache identisch ist mit der schon 
im alexandrinischen Zeitalter aus der attischen Literatursprache unter Bei- 
mischung mancher Neuerungen und Vereinfachungen entstandenen litera- 
rischen Gemeinsprache (Koind). Sie ist der sprachliche Ausdruck des Koint. 
über die engen Grenzen der alten Heimat hinausgetretenen kosmopolitisch 
gewordenen Griechentums, die literarische Form des Griechischen als Welt- 
sprache. 

Der natürliche Entwickelungsgang wäre gewesen, daß diese Schrift- 
sprache den unaufhaltsamen Veränderungen und den sprachlichen Neu- 
schöpfungen im staatlichen, religiösen und gesellschaftlichen Leben Rechnung 
getragen hätte. Das geschah auch in manchen Schriftwerken; allgemein 
aber ist das Prinzip der parallelen Entwickelung der Sprache der Literatur 
und der Rede des Lebens nicht durchgedrungen. Daran trägt die Hauptschuld 
das ungeheure kanonische Ansehen der attischen Literatur und eine daraus 



I 

« 



2SZ 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



AttitiMDu«. erwachsene literarisch-sprachliche Bewegung', der Attizismus (S. 144). Sein Be- 
gründer, der beschränkte Rhetor Dionys von Halikarnaß, der unter Kaiser 
AugTistus in Rom griechische Sprache und Literatur dozierte, fand mit 
seiner Lehre von der Alleingültigkeit der attischen Darstellung, die dem 
Ahnenstolz der Griechen schmeichelte, allgemeinste Anerkennung bei Zeit- 
genossen und Späteren. Die von ihm ausgegebene Parole des engen An- 
schlusses an die Klassiker wurde in den ersten Jahrhunderten der Kaiser- 
zeit mit allerlei Nuancen weitergebildet, und selbst die maßlosesten Über- 
treibungen vermochten sie nicht ad absurdum zu führen. Die meisten, die 
als Schriftsteller etwas auf sich hielten, folgten der von den Attizisten 
durch theoretische Lehren und praktische Vorbilder — hier oft nicht ohne 
bedenkliche Entgleisungen — festgestellten Norm. 

Andere freilich verhielten sich ablehnend und zogen eine freiere, den 
Tatsachen der Uirigangssprache näher stehende Sprachform vor. Außer- 
dem ergaben sich durch den verschiedenen Bildungsgrad der Schreibenden, 
durch die besonderen Bedingungen des Stoffes, durch die Rücksicht auf 
ein bestimmtes Publikum usw. mannigfache Schwankungen. Die freiere, 
volksmäßige Richtung wird in den ersten christlichen Jahrhunderten nament- 
lich durch die Verfasser der heiligen Schriften des Neuen Testaments, 
durch apokryphe christliche Bücher, durch Inschriften, durch Privatbriefe 
auf Papyrus usw. vertreten. Im 6. Jahrhundert hat der Chronist Johannes 
Malalas, im 7. Jahrhundert der Heiligenbiograph Leontios von Neapolis, im 
g. Jahrhundert der Chronist Theophanes, im i o. Jahrhundert sogar ein kaiser- 
licher Schriftsteller, Konstantinos Porphyrogennetos, der „niedrigen" Sprache 
weitgehende Konzessionen gemacht. Es hatte öfter den Anschein, als sollte 
sich die Sprache der Literatur vom hemmenden Zwange der altertümlichen 
Formen befreien und aus der frisch pulsierenden Rede des Alltags die 
Kraft zu neuem Leben schöpfen. 

Die frohe Hoffnung ward vereitelt durch eine neue konservative 
Reaktion. Seit dem Ausgang des 9. Jahrhunderts nahm die Pflege der 
altgriechischen Sprache und Literatur einen mächtigen Aufschwung, der bis 
zum Falle des Reiches andauerte (S. 269). Durch diese humanistische Be- 
wegung wurden die Ansätze zur Ausbildung einer modernen Schrift- 
sprache, die vom 6. — 10. Jahrhundert hervorgetreten waren, nicht nur ver- 
schüttet, sondern die Literatursprache wurde sogar noch melur als früher 
in die verderblichen Bahnen des Archaismus zurückgeleitet So kommt 
es, daß die angesehenen Autoren im 12. — 1 5. Jahrhundert „klassischer" 
schrieben als im 9. oder 10. Jahrhundert. Die Literatursprache wurde ein 
künstlich zum Altertum zurückgeschraubtes, mumienhaftes Gebilde, in 
welchem die grammatisch-logisch-rhetorische Schulung den unbefangenen 
schöpferischen Trieb immer mehr zurückdrängte. Anderseits entfernte sich 
die lebende Sprache stetig vom Altgriechischen. Durch diese doppelte 
Bewegung wurde der Gegensatz zwischen Schrift- und Volkssprache, der 
in früheren Jahrhunderten teils an sich weniger scharf gewesen, teils durch 



n. Sprache. 



353 



zahlreiche Kompromisse gemildert worden war, zu einer unüberbrückbaren 

Kluft Im 12. Jahrhundert tritt die vom Altgriechischen und mithin auch 

von der herrschenden Literatursprache in Formenlehre, Wörterbuch und 

Syntax sehr erheblich abweichende Volkssprache, nachdem sie viele Jahr- voiiu»prache. 

hunderte lang ein fast verborgenes und wenig beachtetes Dasein geführt 

hatte, mit größeren poetischen Werken in die Literatur ein. Seit dieser 

Zeit herrscht bei den Griechen eine wahrhaftige Doppelsprachigkeit: neben 

der im großen und ganzen auf altgriechischem Material beruhenden halbtoten 

Hochsprache, der byzantinischen Koin6, wird in einzelnen Werken eine 

Sprache gebraucht, die aus der Rede des Alltags schöpft, wenn sie auch in 

vielen Dingen noch lange von der Schul- und Kirchensprache beeinflußt wird. 

Eine ähnliche Doppelköpfigkeit in Sprache und Literatur hat auch in den 

romanischen Ländern eine Zeitlang bestanden: als die aus dem Volkslatein 

erwachsenen Nationalsprachen wie das Italienische und Französische zuerst 

literarisch verwendet wurden, trat das trotz mancher Anpassungen an die 

Bedürfnisse der Zeit doch allmählich zur toten Sprache herabgesunkene 

Latein nicht mit einem Male zurück; wie bei den Griechen vermochte 

auch hier die Volkssprache zuerst nur in die Poesie einzudringen, während 

sich in der Prosa zunächst noch das Latein behauptete. Bei den Romanen 

siegten aber schließlich die vulgären Nationalsprachen auf der ganzen 

Linie, während bei den Griechen auf den meisten Literaturgebieten die 

traditionelle Altsprache die Oberhand behielt 

Noch einmal schien es, als solle die lebende Sprache endlich in die 
ihr so lange verkümmerten Rechte eingesetzt werden. Das geschah unter 
ähnlichen Umständen, wie der erwähnte Versuch im 6. — lo. Jahrhundert 
Wie damals das Hervortreten der volksmäßigen Diktion vermutlich im 
Zusammenhang mit dem Zurückweichen der antiken Schulbildung und 
unter dem Einfluß fremder, nicht in der klassischen Tradition befangener 
Männer (Malalas) geschehen war, so hat wiederum nach dem Falle des 
Reiches durch das Sinken der altgrammatischeu Bildung und durch das 
Beispiel eines literarisch und künstlerisch hochstehenden fremden Volkes, 
der Italiener, die Volkssprache einen vielverheiflenden Aufschwung ge- 
nommen, besonders in Kreta {i6. — 17. Jahrhundert) und später (18. Jahr- 
hundert) auf den jonischen Inseln. Aber auch dieser letzte Anlauf wurde 
durch das Obsiegen der gelehrten Partei im 19. Jahrhundert zurückgeworfen. 
So erscheint die Geschichte der griechischen Schriftsprache von der alexan- 
drinischen Zeit bis auf die Gegenwart als ein Kampf zwischen den An- 
sprüchen der Überlieferung und den Rechten der fortschreitenden Zeit, 
zwischen der toten Schulgrammatik und der Beweglichkeit des Lebens. 
In dem schillernden Bilde dieses Kampfes sind drei große Phasen deutlich 
erkennbar. Dreimal ist — von den zahllosen kleineren Schwankungen 
abgesehen — der natürliche Entwickelungsgang der Schriftsprache durch 
romantisch -klassizistische Gegenströmungen im großen Stile unterbrochen 
worden: im Altertum durch den Attizismus (i. Jahrhundert v.Chr. bis 3. Jahr- 



2 CA Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 

hundert n. Chr.), im Mittelalter durch die humanistische Renaissance unter den 
Komnenen und Paläologen (ii. — 15. Jahrh.), in der Neuzeit endlich durch das 
Obsiegen der archaistischen Richtung bei der Ausbildung der neugpriechischen 
Schriftsprache (19. Jahrh.). Durch diese vom Leben abgekehrte Erstarrung 
in alter Tradition hat das griechische Schrifttum seit den ersten Jahr- 
hunderten der Kaiserzeit immer mehr einen aristokratischen, unpopulären 
Charakter erhalten. Zur rezeptiven und noch mehr zur produktiven Teil- 
nahme an der Literatur wurde infolge der zunehmenden Veränderungen 
der natürlichen Sprache ein stetig wachsendes Maß gelehrter Studien nötig, 
dessen Bewältigung bald nur noch bevorzug^ten Kreisen möglich war. 
Vermutlich liegen die tiefsten Gründe dieser von der abendländischen 
Entwickelimg so sehr verschiedenen starrkonservativen Art nicht bloß in 
der unantastbaren Geltung der alten Literatur und der Alleinherrschaft des 
Klassizismus im Schulunterrichte, sondern auch in der orientalischen 
Färbung der byzantinisch- neugriechischen Volksseele (s. o. S. 244). Ein ähn- 
liches Festhalten an den alten Formen in Sprache und Literatur beobachtet 
man auch bei den Arabern, Syrern, Türken, Armeniern, Chinesen und 
anderen Orientvölkem. 

IIL Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (324 — 641). 
Zur leichteren Orientierung mag die griechische Literatur von Konstantin 
dem Großen bis auf den letzten Paläologen in einige Abschnitte geteilt 
werden. 
Übergang.- Als eine Übergzmgsperiode im vollsten Sinne des Wortes erscheint 

penode. ^j^ 2eit von Koustautiu bis auf Heraklios (324 — 641), Einerseits wirken 
in diesem Zeitravune in der Literatur wie auf anderen Kulturgebieten noch 
wichtige Faktoren des Altertums mächtig fort, anderseits erhebt sich etwas 
ganz Neues und Stärkeres, die christliche Lehre und die auf ihr beruhende 
Geistesbildung tmd Literatur. Die alte heidnische und die neue christliche 
Welt sind durch tausend Fäden verknüpft. Die allmähliche Umformung 
der heidnischen Gesellschaft in eine chrisüiche ist ein unendlich mannig- 
faltiger Prozeß gewesen, der in seinen feinsten psychologischen Ver- 
ästelungen wohl niemals völlig aufgeklärt werden wird- Die christliche 
Kultur übernahm die reiche Bildung des absterbenden Heidentums, und 
christliche Stoffe wiirden ohne Bedenken in heidnische Gewänder gekleidet 
Die großen Kirchenlehrer machten ihre Studien zusammen mit den heid- 
nischen Jünglingen bei heidnischen Professoren und folgten in ihrer Schrifti- 
stelletei den Regeln und Vorbildern der heidnischen Grammatik, Rhetorik 
imd Philosophie, nicht, wie man hätte billig erwarten sollen, der schlichten 
und volksmäßigen Darstellung der heiligen Grundbücher des Christentums 
selbst Orthodoxe und Häretiker wetteiferten miteinander im gelehrten imd 
schönrednerischen Aufputz der Darstellung, ohne den sie sich und ihre 
Sache nicht durchsetzen zu können wähnten. Kein griechischer KLirchen- 
vater hat sich zu dem goldenen Satze des Augustinus empoigeschwtmgen: 



IIL Die Literatur von Konstantin bis Hcraklios (324 — 641). 



255 



„Mögen uns die Grrammatiker tadeln, Avenn uns nur das Volk versteht" 
(Melius est reprehendant nos grammatici quam non intelligant populi). 
Auch die christliche Poesie blieb lange in den verknöcherten metrischen 
und sprachlichen Formen der alten Literatur befangen, obschon sie sich 
dadurch der Wirkung auf die weniger gebildeten Kreise der Gemeinde 
begab. Die wichtigste geistige Brücke zwischen Heidentum und Christen- 
tum bildete offenbar die platonische Philosophie und die eigenartige mit 
orientalischer Mystik und überschwenglicher Spekulation versetzte Fort- 
bildung derselben, der Neuplatonismus, dessen Ideen und Formen bei den 
meisten christlichen Lehrern nachwirkten. 

In den ersten drei Jahrhunderten durch die staatlichen Verfolgungen xiieoiogtoch 
niedergedrückt und beengt, durch sie aber auch geläutert und gestählt, '*'°**' 
hat das Christentum, nachdem es zur offiziellen Religion erhoben war, 
im 4. Jahrhundert eine Literatur erzeugt, die an Reichtum und Origi- 
nalität nie wieder erreicht worden ist Bei diesem urgewaltigen Auf- 
schwung wirkten teils positive Momente mit, wie der wohltätige Schutz 
des Staates, der eine freie Entfaltung aller Kräfte und ungebundene 
Äußerung durch Wort und Schrift gestattete, teils auch negative, die 
gerade in idieser Zeit emporwachsenden und die Einheit der Kirche be- 
drohenden häretischen Bewegungen, besonders der Arianismus. 

Der Frühlingshauch der Schaffensfreude und der künstlerischen ICraft Dm 
ist in der ganzen christlichen Welt zu verspüren, vom äußersten Osten <■!»'"'»"*«"• 
(Edessa), wo der größte syrische Kirchenvater Ephrem wirkt, bis in die 
westlichen Provinzen, wo Ambrosius und später Augustinus die Sitten- 
lehre des Heilands verkünden. Nirgend aber hat sich das Hochgefühl 
der neuen Zeit so fruchtbar im literarischen Wirken geäußert, wie bei 
den Griechen. Für die griechische christliche Literatur ist das 4. Jahr- 
hundert das klassische Zeitalter, wie es die attische Blüte für die heid- 
nische Literatur gewesen ist Sehr bemerkenswert ist, daß die hervor- 
ragenden griechischen Kirchenschriftsteller dieser großen Zeit ausnahmslos 
aus Afrika und Asien stammen. Älinlich überwiegen unter den lateinischen 
Kirchenvätern die Afrikaner (TertuUian, Cyprian, Aniobius, Lactanz, 
Augiistin). Offenbar sind es die von orientalischen Elementen durchsetzten 
Provinzen, die in der kirchlichen Literatur die Führung übernahmen, bei 
den Griechen vollständig, bei den Lateinern größtenteils. 

Der scharfsinnige Athanasios aus Alexandria übenA'indet durch seine 
siegreiche Bekämpfung des Arianismus die größte der kirchlichen Einheit 
drohende Gefahr. Der gelehrte Eusebios aus Palästina begründet durch 
zwei unschätzbare Werke die neue literarische Gattung der Kirchen- 
geschichte. Antonios, der fromme Einsiedler, dessen Ruhm durch Flau- 
berts phantasiereichen Roman bis in die unfrommsten Kreise gedrungen 
ist, stiftet mit seinem Schüler Pachomios in Ägypten das griechische 
Klosterleben. Kyrillos von Jerusalem erläutert in seinen Katechesen in 
glänzender Weise die Geheimnisse des Christentimis. Eine merkwürdige 



256 



rÄRL KRUMBACHER : D!e griechische Literatur des Mittelalters. 



Johannes 

Cfatysoitomo!» 

(t 407)- 



Erscheinung ist Synesios von Kyrene {-j- ca. 413), der in seiner Person den 
schwierigen Übergang von Plato zu Christus darstellt, übrigens immer 
mehr Heide als Christ gewesen ist, obwohl er einige Jahre vor seinem 
Tode unter seltsamen Konzessionen an seinen Glauben und seine Stellung 
als Ehemann zum Bischof gewählt wurde. Im Mittelpunkt der geistigen 
Bewegung des Jahrhunderts stehen die drei großen Männer aus Kappa- 
dokien, Basilios, der scharfsinnige Dogmatiker und gewaltige Kirchenfürst, 
sein Bruder, Gregor von Nyssa, der philosophisch gebildete Verteidiger 
des Christentums, und Gregor von Nazianz, bedeutend als Meister der 
christlichen Beredsamkeit, weniger glücklich in seinen übermäßig ge- 
künstelten Dichtungen. Der fruchtbarste und zugleich rein menschlich 
anziehendste Kirchenlehrer des Jahrhunderts war Johannes, der wie früher 
der heidnische Sophist Dion aus Prusa (s. S. 165} wegen seiner schönen 
Sprache den vollklingenden Beinamen Chrysostomos {Goldmund) erhalten 
hat. Seine glänzende Darstellung bewährt sich in der kaum übersehbaren 
und durch manches unechte Beiwerk noch vermehrten Menge von Schriften 
zur Erklärung der heiligen Bücher, zur Verteidigung des Christentums, zur 
Askese, vor allem in seinen Predigten, in denen er alle Weltlust, die 
Putzsucht der Frauen nicht minder als die Vergnügungen des Theaters 
und Zirkus, vom Standpunkt der strengsten Sittenlehre aus verdammte. 
Sein heldenmütiger Kampf gegen den allgewaltigen Hofeunuchen Eutropios 
und die Kaiserin Eudoxia, seine wiederholte Absetzung und Verbannung, 
endlich sein tragisches Ende haben den unerschrockenen Kirchenredner für 
alle Zeiten zum typischen Vertreter des Gegensatzes zwischen dem echten, 
heiligmäßigen Priestertum und dem Intrigenspiel einer grundsatzlosen und 
bösartigen Hofkamarilla erhoben (s. S. 211). 

Auf allen Gebieten der kirchlichen Literatur, mit einziger Ausnahme 
der Kirchenpoesie, ist im 4. Jahrhundert die höchste Vollendung, auf 
mehreren eine endgültige und für die ganze Folgezeit maßgebende Aus- 
gestaltung erreicht worden. Bemerkenswert ist u. a., daß damals sowohl 
der später in mannigfachen Formen sich wiederholende Kampf zwischen 
der geistlichen und weltlichen Macht in Chrysostomos sein erstes Vorspiel 
gefunden hat, als auch, im direkten Zusammenhang mit diesem Kampf, 
die ersten Ansätze zur Trennung von Rom und Byzanz hervorgetreten 
sind. Die Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts, vor allem die drei Kappa- 
dokier und Johannes Chrysostomos, beherrschen das geistige Leben der 
griechischen Kirche und der aus ihr abgeleiteten slawischen Kirchen bis 
auf die Gegenwart, und ihre historische Bedeutung kann nicht hoch genug 
angeschlagen werden. 

Dagegen ist der absolute inhaltliche und formale Wert dieser Literatur 
oft überschätzt worden. Sicher ist, daß ein großer Teil der theologischen 
Literatur dieser wie der folgenden Zeit für uns nur noch ein wissen- 
schaftliches Interesse hat, namentlich die apologetischen Schriften gegen das 
Heidentum und die dogmatisch-polemischen Werke, die sich auf längst 



J 



III. Die Literatur von KonsUmtin bis Heraklios (324 — 641). 



257 



aufgegebene Sondermeinungen beziehen. Auch die exegetischen Schriften 
mit ihrer allegorischen Sucht und ihrer spitzfindigen Grübelei und die 
den Bedingungen des modernen Lebens oft widerstrebenden asketischen 
Bücher dürften heute selbst in kirchlichen Kreisen wenig Leser finden. 
Am nächsten steht uns die Predigt. Aber ihre Wirkung auf uns wird 
durch die Form sehr beeinträchtigt. Diese griechischen Predigten sind 
Erzeugnisse der damaligen Moderhetorik mit all ihren blendenden Vor- 
zügen, aber auch all ihren Fehlern, ihrem pathetischen Schwulst, ihrer 
gefallsüchtigen Wortkünstelei und ihrer für uns zeitsparende Menschen un- 
erträglichen Redeseligkeit. 

Wenn aber der größte Teil dieser so viel gepriesenen und so wenig 
gelesenen Literatur trotz des Aufwandes von Scharfsinn, Gedankenfülle 
und schönreduerischer Kunst dem heutigen Geschlechte so fremdartig er- 
scheint, so muß sie zur richtigen und gerechten Würdigung als Erzeugnis 
ihrer Zeit betrachtet werden. Es ist zu bedenken, daß die Verteidigung 
des Christentums gegen das Heidentum und seine imponierende Wissen- 
schaft, die subtilen Streitfragen der Dogmatik, die detaillierte Erklärung 
der heiligen Schriften und das weite Gebiet der praktischen Seelenpflege 
damals teils durch den ungeheuren Gegensatz zur absterbenden antiken 
Welt, teils durch den Reiz der Neuheit und die Gelegenheit, aus dem 
Vollen zu schöpfen, in einem ganz anderen Maße im Mittelpunkte des 
geistigen und sittlichen Lebens standen als heute und das Denken und 
Fühlen der christlichen Gemeinden mit einer Intensität beherrschten, von 
der die saturierten und blasierten Menschen unseres Alltags sich kaum noch 
eine Vorstellung machen können. Die religiösen Fragen müssen damals 
die Herzen bewegt und erregt haben wie etwa heute die allerheftigsten 
sozialen oder nationalen Kämpfe. Und wenn uns die Form der griechischen 
Kirchenliteratur nicht recht zusagen will, so dürfen wir nicht vergessen, 
daß wir modernen Mitteleuropäer für die zum Ohre sprechenden Künste 
— Gesang und Musik ausgenommen — ohne jedes feinere Empfinden sind 
und außerdem die Sprache der Urtexte meist nicht unmittelbar genug ver- 
stehen, um die Schönheiten der Darstellung zu würdigen. Der Grieche 
berauschte sich, ähnlich wie heute noch der Italiener, an den farbenreichen 
Bildern und Vergleichen, am abgerundeten Bau der Perioden, an der feinen 
Rhythmik und dem sorgfältig ausgearbeiteten Tonfall der Satzschlüsse, 
ähnlich wie wir eine gut vorgetragene Arie oder Symphonie genießen. 
Für ihre Zeit und ihr Publikum haben die g^echischen Väter des 4. Jeihr- 
himderts wohl das Höchste erreicht Aber die Versuche, ihre Werke wieder 
zu beleben, dürften vergeblich sein. Immerhin hat der Vorschlag, aus- 
gewählte Stücke in der Schule zu lesen, eine gewisse Berechtigung, in- 
sofern das Prinzip durchgeführt wird, alle großen Zeitalter der Griechen 
und Römer in einigen Proben vorzulegen. Am besten würde sich 
solche Lektüre zur Erfrischung und Vertiefung des Religionsunterrichtes 



eignen. 

Du Xi'LTt'K DIU Gecbkwart. L 8. 



17 



^58 



Karl Krcmbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



u»ter»chied der Sehr merkwürdig ist, wie stark und deutlich sich der uralte Gegensatz 

°Lr\" ""'' ^^^ griechischen bzw. griechisch- orientalischen und der lateinischen Seele, 
trotz der alle Völkerunterschiede überbrückenden Idee des Christentums, 
auch in der kirchlichen Literatur zeigt. Der Grieche neigt zu theoretischer 
Spekulation und läßt sich, wofür wir noch im tiefen Mittelalter tj^jische 
Beispiele finden, von der eingewurzelten Lust an spitzfindiger Dialektik 
leidenschaftlich beherrschen; der Lateiner erblickt das höchste Ziel in den 
praktischen Aufgaben des Priestertums und der realen Ausgestaltung des 
christlichen Lebens. Der Grieche erquickt sich in seiner beschaulichen 
orientalischen Sinnesart an maßlosen Längen; der Lateiner strebt bei aller 
Sachlichkeit nach Knappheit des Ausdruckes. Teils aus der Herrschaft der 
rhetorischen Schablone, teils aus orientalischer Geringschätzung des In- 
dividualismus stammt die byzantinische Vorliebe für abstrakte Allgemein- 
heit und glattkorrekte Objektivität, durch die das konkrete Erlebnis imd 
die subjektive Stimmung zu unserem Leide so häufig unterdrückt werden; 
der Lateiner scheut bei aller Wahrung der römischen Dignität doch vor 
der realen Einzelheit nicht zurück und läßt oft stark persönliche Noten 
durchklingen. Etwas so allgemein menschlich Interessantes und ewig Junges 
wie Augnstins Bekenntnisse besitzt, soweit ich sehe, die griechische 
Kirchenliteratur nicht. 

Dm s.— 7. Jahr- Die Kirchc hat die „Reihe von guten Tagen", wie es scheint, nicht 

hundert. g^j ertragen können. Bald nach der herrlichen Blüte des 4. Jahrhunderts 
beginnt schon die nachmals bei den Byzantinern so beliebte Arbeits- 
weise der Exzerptoren und Sammler, die frommbescheiden die geistigen 
Erzeugnisse der Vorfahren in bequemen Rubriken aufspeichern. Unter 
Verzicht auf den inneren Gedankcnzusammenhaiig der alten Werke wird 
ihr Inhalt in sogenannten Kettenkommentaren (Katenen) und Blütenlesen 
verzettelt, die nun gar manchem die Lektüre der Originalwerke ersetzen 
und ein eitles Scheinwissen befördern. Selbständige Produktion wurde 
— auch das ist wieder bezeichnend für den spekulativen Grundton der 
östlichen Christenheit - vornehmlich durch dogmatische Sonderansichten 
hervorgerufen, besonders die der Monophysiten (5. bis 6. Jahrhundert), 
die nur eine Mischnatur in Christus annahmen, und die der Mono- 
theleten (7. Jahrhundert), die nur einen Wülen in Christus anerkannten. 
Gegen die ersteren kämpfte u. a. Leontios von Byzanz (6. Jahrhundert), 
gegen die letzteren Sophronios von Jerusalem und Maximus Con- 
fessor (7. Jahrhundert). Ein erschreckendes Licht fällt auf deis rasche 
Sinken des wissenschaftlichen Sinnes in den theologischen Kreisen durch 
die Tatsache, daß die kirchliche Geschichtsclireibung schon im 6. Jahr- 
hundert mit der verdienstlichen Darstellung des Euagrios abschloß und 
erst im 14. Jahrhundert durch den vereinzelten Nachzügler Nikephoros 
Kallistu Xanthopulos, der übrigens seine Darstellung nur bis zum Jahre 6io 
führte und in der Hauptsache einfach die alten Werke kompilierte, zu 
einem kurzen Scheinleben erwachte. 



III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (324 — 641). 



asQ 



Die einzigfe kirchliche Literaturgattung, die erst nach dem 4. Jahr- Kirchenpoe.ic 
hundert emporwuchs, ist die Kirchenpoesie. Während in der kirchlichen 

Prosa die grammatischen und rhetorischen Formen einfach aus der heid- h 

nischen Literatur und der heidnischen Schule übernommen wurden, hat H 

die Kirchenpoesie mit der Vergangenheit völlig gebrochen und ein neues fl 

Formprinzip eingeführt, die Rhythmik. Die ganze altgriechische Metrik fl 

beruhte auf der Länge und Kürze (Quantität) der Silben. Im Laufe der U 

Zeit waren aber in der lebendigen Sprache die alten Quantitätsunterschiede H 

verloren gegangen; die Vokale wurden nun mit gleicher Länge gesprochen, H 

und den Klang der Sprache beherrschte niu* noch der Akzent. Aus der ■ 

musikalischen Quantitätssprache war ein modernes Konversationsidiom ge- ■ 

worden. Infolge dieser tiefgreifenden phonetischen Veränderung in der ■ 

natürlichen Rede konnte die antike Quantität nur noch auf gelehrtem ■ 

Wege durch äußerliche Nachahmung der alten Dichter als Grundlage einer ■ 

metrischen Form benützt werden. So war es denn ganz natürlich, daß an ■ 

ihre Stelle der Akzent gesetzt wurde. Mächtig angeregt wurde diese H 

umwälzende Neuerung durch das Beispiel der SjTer, die schon eine auf ■ 

dem Akzent beruhende Dichtungsform besaßen. Bei den Griechen haben ■ 

teils rigorose Bedenken der konservativ-mönchischen Kreise, teils das H 

schulmäßige Festhalten an der veralteten antiken Metrik die freie Ent- H 

faltung einer für die liturgische Praxis brauchbaren Dichtung längere Zeit H 

verhindert Zwar hatte schon Gregor von Nazianz, nachdem er sich in H 

den verschiedensten antiken Maßen versucht hatte, zuletzt die Unverträg- ■ 

lichkeit der alten Formen mit der lebenden Sprache erkannt und in zwei H 

Gedichten das rhythmische Prinzip angewandt; aber zur reicheren Ent- B 

Wickelung kam die rhythmische Kirchendichtung, nach einigen nicht I 

deutlich genug erkennbaren Anfängen im 5. Jahrhundert, doch erst im fl 

6. Jahrhundert. H 

Der größte und fruchtbarste Vertreter dieser neuen Gattung der H 
griechischen Literatur ist Romanos aus Syrien (6. Jahrh.). Ursprünglich Romanos 
Diakon in Berytos (Beirut) kam er unter Kaiser Anastasios L (491 — 518) (*!»*"'')• _ 

nach Konstantinopel und erhielt dort nach einer Pannychis in der Bla- ■ 

chemenkirche durch ein Wunder die Gabe der Hymnendichtung. Also ■ 

spiegelt sich in der frommen Legende die geheimnisvolle Inspiration, die I 

ein nächtlicher Gottesdienst in der Palastkirche mit dem berückenden Gold- I 

glänze ihrer die heiligen Geschichten verkündenden Mosaikbilder, mit ■ 

ihrem die innersten Seelenkräfte lösenden Gesang und der hj-pnotisierenden ■ 

Wirkung flackernder Kerzen und dämmerigen Weihrauchduftes, auf die ■ 

durch Askese und Betrachtung vorbereitete Seele des Dichters ausgeübt I 

haben mag. Weiteres über sein Leben ist uns leider nicht bekannt Die I 

Hauptzeit seiner dichterischen Tätigkeit fällt erst in die Regierung Justinians. ■ 

Romanos hat nicht nur die damals bestehenden oder damals begründeten ■ 

Kirchenfeste, sondern auch eine große Zahl der Heiligen des ganzen I 

Jahres durch umfangreiche Lieder verherrlicht Bei einer so erstaunlichen fl 

■ 



26o Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 

Fruchtbarkeit ist es natürlich, daß der Dichter sich nicht überall auf den 
Höhen der poetischen Vollendung bewegt Manche Gedichte ermüden 
durch die trockene Umschreibung der Biographie des gefeierten Heiligen 
oder durch den etwas aufdringlichen lehrhaften Ton und die unpoetische 
Polemik gegen dogmatische Irrlehren; nicht selten stören unser Empfinden 
allzu behagliche Wiederholungen und Breiten. Wenn man diese teils 
atis den geistigen Strömungen der Zeit, teils aus der Bestimmung der 
Lieder erklärbaren Schattenseiten anerkennt, kann man den hohen Vor- 
zügen der Dichtung des Romanos um so rückhaltloser gerecht werden. 
Seine besten Werke sind durch freien und hohen Gredankenflug, edles 
Feuer der Begeisterung und ebenmäßige Komposition ausgezeichnet 
Die Sprache ist einfach und leicht verständlich; in der Formenlehre 
ist Romanos modern und wagt Vulgarismen, die in der Kunstprosa 
verpönt waren; im Wortschatz ist er natürlich stark von den heiligen 
Scluiften abhängig, aber frei von archaischen Raritäten. Bei aller 
Schlichtheit des sprachlichen Rohstoffes ist die Darstellung in einem über- 
raschend hohen Grade beeinflußt von der alles Denken imd Schaffen der 
Byzantiner beherrschenden rhetorischen Geschmacksrichtung. Sie verrät 
sich in der mannigfachen Wendung und Beleuchtung desselben Gedankens, 
in der Anpassung des Inhaltes an das Wortgefüge, in der Vorliebe für 
Bilder und Vergleiche, Antithesen, gleichgebaute Satzglieder und Asso- 
nanzen, vor allem im geistreichen Spiel mit ähnlich klingenden Wörtern 
imd Formen. Romanos läßt sich aber durch die bequemen Mittel der 
schönrednerischen Technik nicht zum leeren Wortprunk verführen; er macht 
sie, ähnlich wie Shakespeare, seinem Denken und Fühlen Untertan und 
benützt sie mit meisterhafter Leichtigkeit zur plastischen Herausarbeitung 
der Gedanken und zur Steigerung der künstlerischen Wirkung. Manche 
Strophen, besonders Proömien, sind durch völlige Harmonie des Inhaltes und 
der Form ausgezeichnet, so straff gehämmert, daß kein Wort imd keine Silbe 
zu viel ist, dvurchsichtig wie Kristall und von lapidarer Größe des Tones. 
Romanos ist der einzige Byzantiner, der den eigenartigen Wohlklang, die 
feine Geschmeidigkeit und den von zahllosen Geschlechtem erarbeiteten 
Denkgehalt der griechischen Sprache noch einmal in Werken künstlerischer 
Vollendung zum Ausdruck gebracht hat Genial ist das Geschick, mit 
dem der Dichter den Stoff dramatisch zu beleben weiß. Manche Lieder 
bestehen aus formlichen Dialogen, was wohl mit dem Vortrag durch zwei 
sich gegenüberstehende Chöre zusammenhängt So ist ein Ersatz für das 
in* der byzantinischen Zeit gänzlich fehlende ernste Drama geschaffen 
worden. Alle Vorzüge dieser noch so wenig gewürdigten Dichtungen 
werden gekrönt durch die einzige Vollendung des Versbaues. Mit der 
selbstverleugnenden, keinen Aufwand von Zeit und Mühe scheuenden Sorg- 
falt des weitabgewandten Asketen hat Romanos seine Lieder zu wunder- 
samen Kunstwerken der Rhjrthmik ausgestaltet Für das Lob der hohen 
^heimnisse des Christentums, der mächtigen Gestalten des Alten und 



III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (334 — 641). 



a6s 



Neuen Testamentes, der Heiligen und Märtyrer schien ihm nur die ebenso 
kühn angelegte, als mannigfaltig gegliederte und fein ziselierte Form um- 
fangreicher Gesänge genügen zu können. Es hat das unrhj'thmische 
Geschlecht der modernen Gelehrten mühsame Studien gekostet, um die 
unerwartete Durchbildung dieser metrisch -musikalischen Technik nach und 
nach wenigstens mechanisch aufzudecken. Eine metrisch -musikalische 
Kunst ist es. Denn die peinliche Beugung der Worte unter die Gesetze 
einer komplizierten Metrik war auf den streng ausgebildeten Vortrag der 
Sänger berechnet und ist ohne ihn nur mangelhaft verständlich. Hier 
lieg^ leider die Seite des Dichters, die uns Barbaren so gut wie ver- 
schlossen ist Die alte Kirchenmusik ist den Griechen selbst verloren ge- 
gangen, und alle die gelehrten Versuche, sie aus den musikalischen Hand- 
schriften wieder zum Leben zu erwecken, haben noch zu keinem klar 
überzeugenden Ergebnis geführt 

Romanos hat eine neue poetische Gattung und einen neuen poetischen 
Stil geschaffen. Aus dem oben Gesagten ergibt sich freilich auch, daß 
die Eigenart dieses Künstlers der Übersetzung widerstrebt. Vermöchte 
man auch alles übrige nachzubilden, wie wäre es möglich, die unvergleich- 
liche Tonmalerei, den sinnlichen Reiz der griechischen Sprache, die Fülle 
geistvoller Wortspiele und die musikalische Wirkung des rhythmischen 
Versbaues zu erreichen! Doch sollen wenigstens zwei kleine Proben hier 
stehen. Das Vorlied des Gesanges zum Theophanienfest (die heil, drei 
Könige) lautet im Versmaß des Originales: 

'Gireqpdvric crjjitpov 

ri]i oIkouh^vi) 

Kai TÖ q}iiic CDU, Ki)pte, 

i<p' i^inäc iv imfydiica 
ijUvoOvTac ci.- 

TÖ CpÜlC TÖ dlTpÖClTOV! 

Zu deutsch: 

Bist erschienen heute uns 

Erdenbewohnem , 

und dein Licht, o Herrscher du, 

hat sich ergossen 

über uns, die in Erleuchtung 

dich preisen stets; 

du kamst, erschienest, 

das Licht, das Unnahbare! 

Das jüngste Gericht, dessen großartige Schilderung in der Apoka- 
lypse so viele Künstler begeistert hat, besinget Romanos in einem gewaltigen 
Hymnus, der also anhebt: 

Wann du nahest, o Gott, 

Zu der Erde in Glorie 

Und zitternd liegt vor dir die Welt; 

Wann der Strom vor des Richters Thron 



262 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



TJrtpnlDg und 

Quollen der 

Kirchenpoesio. 



erliefening. 



ofanlitoratur. 



Geschlcht- 
tchreibung. 



Seine feurige Woge wälzt; 

Des Schicksals Buch geöffnet wird 

Und kundbar wird, was einst die Nacht verbarg, 

Dann errette mich 

Aus der unstcrbliclicn Flamme, 

Richter ohne Fehl, 

Gib, daß ich steh' mit den Frommen 

Zu deiner rechten Hand. 

Die Keime der griechischen Kirchenpoesie liegen im Orient. Daß sie 
durch althebrätsche und syrische Vorbilder ihre wichtigste Anregung er- 
fahren hat, kann heute als sicher betrachtet werden. Romanos selbst hat 
aus den metrischen Homilien des syrischen Kirchenvaters Ephrem {f um 
373) zahlreiche Motive übernommen. Als Quellen für die Stoffe dienten 
ihm vor allem das Alte und Neue Testament, Heiligenbiographien und für 
seine polemischen Exkurse dogmatische Schriften. Romanos ist aber nach 
dem Satze verfahren: „Je prends mon bien oü je le trouve" und hat seine 
Quellen selbständig verarbeitet; nichts wäre unrichtiger, als nach den kürz- 
lich gegebenen Nachweisen der Abhängigkeit von Ephrem ihm den Ruhra 
eines originalen Dichtergenies schmälern zu wollen. Wie lange die Hymnen 
des Romanos die griechische Liturgie beherrschten, ließ sich bis jetzt nicht 
genauer feststellen. Sicher ist aber, daß sie etwa seit dem g. Jahrhundert 
diu:ch das Aufkommen einer anderen, technisch viel komplizierteren Lieder- 
art, der sogenannten Kanones, allmählich aus der liturgischen Praxis ver- 
drängt wurden. So kommt es, daß sich in die allermeisten der Tausende 
von liturgischen Gesangbüchern, die in den Sammlungen griechischer Hand- 
schriften liegen, nur wenige elende Fragmente des Romanos gerettet 
haben; die schönsten H}'Tnnen wurden bis auf zwei Strophen beiseite ge- 
worfen. Eine glückliche Fügung hat aber gewollt, daß wenigstens an ein- 
zelnen Orten die alten gottesdienstlichen Bücher, die ausschließlich Hymnen 
bergen, noch längere Zeit im kirchlichen Gebrauch blieben. Das geschah, 
soweit wir sehen können, in Patmos, in einigen Athosklöstern und in 
Grottaferrata. Nur dieser zufälligen lokalen Ablehnung der neuen Liturgie- 
ordnung verdanken wir es, daß einige ehnvürdige Handschriften auf uns 
gekommen sind, die eine größere Anzahl vollständiger Werke des Romanos 
und anderer Hymnendichter atifbewahren. An Reichtum des Inhaltes und 
Korrektheit der Texte steht unter ihnen obenan der Doppelkodex der alten 
Klosterbibliothek in Patmos. 

Die prosaische und poetische Literatur der Kirche drückt der Über- 
gangszeit vom 4. — 7. Jahrhundert ihren weithin sichtbaren, neuartigen 
Stempel auf. Viel weniger originell und interessant ist die profane Schrift- 
stellerei dieser Periode. Die Geschichtschreibung, die fruchtbarste Gattung 
der Zeit, wird in den alten Geleisen fortgeführt; zuerst von Heiden, dann 
von Christen. Ein Prokop unterscheidet sich nur durch eine ziemlich 
oberflächliche christliche Färbung von Zosimos, dem letzten heidnischen 
Historiker. Weder Prokop noch seine nächsten Vorgänger und Nach- 



III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (324 — 641). 



263 



folger haben an der altüberlieferten Regel, wie man Geschichte schreiben 
soll, etwas Wesentliches geändert. Keine neue Technik, keine neue 
kritische Methode und selbst — trotz der christlichen Weltanschauung — 
keine prinzipiell neue Auffassung, aber auch kein ersichtlicher Nieder- 
gang und kein offener Abfall von der bewährten Tradition hat das Ge- 
samtkolorit der zeitgeschichtlichen Darstellung geändert. In Einzelheiten 
der Dar.stellung folgten viele fast sklavisch den anerkannten Mustern Herodot 
und Thukydides, zuweilen auch dem Polybios. Allgemeine Norm war aber 
der stark rhetorisch gefärbte Historien.stil, der sich seit einem Jahrtausend 
ausgebildet hatte und nun für den Geschichtschreiber nicht bloß formu- 
lierte, sondern auch dichtete und dachte. Trotzdem fehlt es nicht an au.s- 
geprägten Persönlichkeiten und individueller Auffassung. Die Gleichartig- 
keit mancher Werke ist nur äußerlich und erstreckt sich nicht auf den 
Kern. Was die Wahl der Stoffe betrifft, so wird die alte Sitte fest- 
gehalten, die Darstellung da zu beginnen, wo der Vorgänger aufgehört 
hat. In -solcher Weise haben die Griechen über zwei Jahrtausende, von 
den Logographen und Herodot bis auf Laonikos Chalkondyles, den Zeit- 
genossen Mohammeds II, die Chronik des Ostens fortgeführt. 

Die Wiedergeburt des griechischen Geistes in der Kaiserzeit und der 
Niedergang des Westens kommt in der Ge.schichtschrcibung besonders 
deutlich zum Ausdruck. Schon im 3. Jahrhundert übernimmt die Führung 
in der Darstell img der römischen Geschichte ein Grieche, Dioo Cassius 
(S. 171). Seit der Gründung von Konstantinopel wird die Geschichte des 
Reiches, obschon sein lateinischer Charakter bis zum 6. Jahrhundert 
gewahrt blieb, größtenteils von Griechen (wie Eunapios, Olympiodoros, 
Priskos, Malchos, Zosimos u. a.) geschrieben. Der einzige bedeutende 
Historiker dieser Zeit, der lateinisch schrieb, Ammianus Marcellinus aus 
Antiochia (S. igg), war seiner Abstammung nach ein Halbgrieche. Die 
Geschichte des Justinian, der uns durch sein Corpus iuris doch noch wesent- 
lich als Lateiner erscheint, wird voniehmlich von Griechen geschildert. So 
ist der politisch- nationalen Entwickelung des Reiches die Sprache seiner 
Geschichtschreibung erheblich vorausgeeilt. 

Als Sekretär des kaiserlichen Generalissimus Belisar hat Prokopios Prokop 
aus Käsarea in Palästina (vgl. S. 19g) Justinians gewaltige Kriege gegen die °" ""'' 
Vandalen in Afrika, gegen die Goten in Italien und endlich gegen die 
Perser im fernen Osten gesehen und sie in einem uns vollständig über- 
lieferten Werke erzählt Der große Vorzug des Prokop, den er mit Poly- 
bios teilt, daß er als Begleiter und Berater eines bedeutenden Feldherrn 
an den politischen und militärischen Ereignissen persönlich Anteil nahm, 
ist seinem Werke sehr deutlich zugute gekommen und genügt allein, ihn 
über die meisten übrigen Geschichtschreiber der byzantinischen Periode 
emporzuheben. Einen seltsamen Nachtrag zu dieser Kriegsgeschichte bildet 
das berühmte und berüchtigte Büchlein, das jetzt gewöhnlich als Geheim- 
geschichte bezeichnet wird. Es ist eine verbitterte und bösartige Anklage- 



204 



Karl Kruhbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



Weltchronikfln. 



Schrift gegen das Kaiserpaar. Aus dem bekanntlich nicht einwandfreien 
Vorleben der Kaiserin erzählt der Verfasser jene teils sentimentalen, teils 
pikanten Anekdoten, denen Theodora die dramatischen und romanhaften 
Darstellungen ihrer Person in der neueren Zeit und ihre heutige fast un- 
heimliche Popularität verdankt. Die Geheimgeschichte ist — trotz aller 
von idealen Gemütern vorgebrachten Bedenken — sicher ein Werk des 
Prokop, und eine gesunde Kritik hätte die Echtheit niemals anzweifeln 
dürfen. Nur müssen wir uns bescheiden, daß die äußeren oder inneren 
Beweggründe, die den Verfasser zur Ausarbeitung dieser Kehrseite seiner 
historischen Medaille bewogen haben, unserer Wißbegierde wohl für immer 
verborgen bleiben werden. Natürlich ist das Pamphlet zu Lebzeiten des 
Kaisers nicht veröffentlicht worden. Wie um das hier verübte Unrecht gut 
zu machen, vielleicht um eine Verstimmung in den Hofkreisen zu beschwich- 
tigen, schrieb Prokop zuletzt einen Panegyrikus auf den Kaiser in der Form 
eines Berichtes über die unter seiner Regierung in allen Teilen des weiten 
Reiches ausgeführten Bauwerke. Indem er alles, was irgendwo aus Staats- 
mitteln gebaut wurde, als selbsteigenes Werk des Kaisers hinstellt, streut 
er ihm in maßloser und fast komisch wirkender Weise den Weihrauch der 
Schmeichelei. Übrigens ist das Werkchen, wenn man von der unerfreulichen 
Einkleidung absieht, durch reiche topographische und finanzwirtschaftliche 
Nachrichten als Quellenschrift von großer Bedeutung. Trotz mancher für 
uns nicht recht verständlichen Widersprüche in seinem Charakter ist Prokop 
der bedeutendste Historiker der frühbyzantinischen Zeit. Er behauptet für 
das Zeitalter des Justinian eine ähnliche Stelle wie der mit ihm in mancher 
Hinsicht vergleichbare Polybios für die Zeit der Ausbildung der römischen 
Weltherrschaft. Über allen Zweifel erhaben sind das hohe Maß seiner 
literarischen Kenntnisse, die Gründlichkeit seiner selbständigen Information, 
die Schärfe seiner Beobachtung, sein aufrichtiges Streben nach Objektivität 
und die Klarheit seiner Darstellung. 

Neben den zeitgeschichtlichen Darstellungen, deren Autoren in der 
Regel unmittelbar an das Werk eines Vorgängers anknüpfen, stehen die 
Weltchroniken, deren Verfasser die ganze Weltgeschichte von der Schöp- 
fung bis auf die eigene Zeit in voiksmäßiger, oft spießbürgerlicher Weise 
erzählen. Die Wurzeln dieser neuen Gattung reichen wenigstens bis ins 
I. Jahrhundert v. Chr.; denn ihr Vorbild und Urbild ist, wenn ich nicht 
irre, die Universalgeschichte des Diodor. Bei ihm finden wir schon die 
mechanische Einschachtelung des geschichtlichen Stoffes in Jahresabschnitte, 
die in der Chronikenliteratur z. B. bei Synkellos und auf die Spitze ge- 
trieben bei Theophanes wiederkehrt. Wie Diodor seine ersten Bücher 
der Urgeschichte der orientalischen Völker und der sagenhaften Zeit der 
Grriechen widmet, so wird in den byzantinischen Chroniken die Schöpfungs- 
geschichte und die älteste Geschichte der Juden und anderer Völker 
vorausgeschickt. Endlich ist die den Chronikern eigene oberflächliche Art 
der Kompilation, die Lust am anekdotenhaften Detail und die Unfähigkeit, 



III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (334 — 641). 



a65 



aus dem Unwesentlichen das Wichtige herauszuheben, bei Diodor sehr 
deutlich vorgebildet. Eine weitere Entwickelungsstufe auf dem Wege zur 
christlich -byzantinischen Weltchronik bezeichnet die leider verlorene 
Chronik, die der gräzisierte Jude Justus von Tiberias, die Geißel seines 
verräterischen Landsmannes Josephus Flavius, im Anfang des 2. Jahr- 
hunderts n. Chr. geschrieben hat; sie begann, wie uns Photios berichtet, 
mit der Erzählung des Moses. Was in der späteren Zeit neu hinzukam, 
ist wesentlich nur der christliche Grrundton. Das Judentum hat also hier 
wie auf manchen anderen Gebieten die Vermittelung zwischen Heidentum 
und Christentum übernommen. Vorstufen der in der byzantinischen Zeit 
häufigen kurzgefaßten Abrisse der Weltgeschichte sind das „Kurze Ge- 
schichtsbuch" des Kephalion (2. Jahrhundert) und die summarische Welt- 
geschichte des Dexippos (3. Jahrhundert). Dem 3. Jahrhundert gehört auch 
der Begründer der christlich-byzantinischen Chronologie an, der Presbyter 
Sextus lulius Africanus. 

Wissenschaftlich und literarisch stehen die Weltchroniken auf einer 
niedrigen Stufe. Mit besonderer Vorliebe werden Teuerungen, Seuchen, 
Erdbeben, Kometen imd andere Wunderzeichen gebucht Die alte Mythen- 
geschichte wird zu christlich -apologetischen Zwecken verwendet. Der 
groben Auffassung des Stoffes entspricht die von der vornehmen alter- 
tümlichen Diktion der Zeitgeschichten stark abstechende schlichte, volks- 
mäßige Sprache, wie sie übrigens schon im 5. Jahrhundert auch der Ver- 
fasser einer Zeitgeschichte, der Ägypter Olympiodor, gewagt hatte. Als 
Publikiun der Chroniken sind offenbar die weiteren Kreise, besonders 
die Tausende von frommen Klosterbewohnern gedacht. So wenig nun 
die Weltchroniken vor einer strengeren Kritik bestehen können, so haben 
doch gerade sie, nicht die mit Herodot wetteifernden zeitgeschichtlichen 
Werke, den mächtigsten Einfluß auf die historische Literatiu- der von 
Byzanz abhängigen Völker, besonders der Slawen und Orientalen, aber 
auch der Abendländer, ausgeübt. Die ganze ältere südslawische und 
russische Annalistik ist stofflich und in der Darstellungs weise von byzan- 
tinischen Chronisten wie Malalas, Georgios Monachos u. a. ausgegangen. 
In der echtesten Form erscheint der Tj'pus der populären byzantinischen 
Weltchronik in dem ältesten uns erhaltenen Werke der Gattung, der 
Chronik des Johannes Malalas aus Antiochia (6. Jahrhundert). Dieser m»uu« 
notdürftig hellenisierte Syrer ist in seinen Kenntnissen, seiner Auffassung """^ "^ 
und Darstellung von einer Grrobheit, wie sie früher in der griechischen 
Literatur lücht vorkommt. Sein Werk ist ein richtiges Volksbuch, 
von einem völlig naiven, aber wißbegierigen Mann, der manches alte 
Buch gelesen, aber oft nicht recht verstanden hat, für gleichen Geistes 
Kinder geschrieben. Der Brennpunkt der Weltbegebenheiten ist für den 
wackeren Chronisten seine geliebte Vaterstadt Antiochia. Von den Dingen, 
die über sie hinausgehen, hat er die seltsamsten Vorstellungen. Den 
Herodot hält er für einen Nachfolger des Polybios, Cicero und Sallust für 



266 



Karl Kri'mbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



Ven. 



römische Dichter; die uralte Landschaft Karien hat nach ihm ihren Namen, 
weil der Kaiser Carus sie unterworfen habe usw. usw. Als Zeugnis der 
volkstümlichen Unterströmung im byzantinischen Kulturwesen hat das Werk 
einen eigenartigen Reiz. 
Frofcnpoeiif. So gründlich und grundsätzlich wie die liturgische Poesie hat die 

übrige Dichtung der Byzantiner mit der antiken Vergangenheit nicht ge- 
brochen. Zwar erscheinen auch in der nicht für den Gottesdienst be- 
stimmten Poesie allerlei Neuerungen: stofflich die Beiziehung religiöser 
Vorwürfe, formal der dem Akzentprinzip angepaßte und dadurch wieder 
lebensfähig gemachte durchweg zwölfstlbige und auf der vorletzten Silbe 
Der poiitiKbe betonte Trimeter und der sogenannte politische (d. h. bürgerliche, gewöhn- 
liche) Vers, ein aus zwei Kurzversen (8 und 7 Silben) bestehender Fünf- 
zehnsilber (wie „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter"), 
der schon im 6. Jahrhundert auftritt und sich mit unerhörter Zähigkeit 
durch das ganze Mittelalter hindurch bis auf den heutigen Tag als Lieb- 
lingsmaß der Volkspoesie erhalten hat. In der frühbyzantinischen Zeit 
sind es zwei alte poetische Gattungen, die mit Fleiß und Liebe und öfter 
auch mit Glück gepflegt wurden : das eposartige Gedicht und das Epigramm, 
Nonno. Der Hauptvertreter des ersteren ist Nonnos aus Ägypten (vgl. S. 217). 

(uiD 400). j^ ^gj. -^rgjjj seiner Stoffe, in denen die Extreme sich berühren wie in 
seinem Lebenslauf, verkörpert er, ähnlich seinem Zeitgenossen Synesios, 
den Übergang vom Heidentum zum Christentum: als Heide schrieb er ein 
großes phantastisches Epos über den Zug des Gottes Dionysos nach Indien, 
als Christ eine wortreiche metrische Bearbeitung des Evangeliums Johannis. 
So hat sich Nonnos von den abgesungenen antiken SagenstofFen neuen, 
dem Ver.ständnis und der Teilnahme seiner Zeit näherliegenden Stoffen 
zugewandt, dem er.st in der alexandrinischen Zeit au.sgebildeten Sagen- 
komplex vom Zuge des Dionysos und einem heiligen Buche der Christen- 
heit Ebenso wagt Nonnos auch in der Form sich vom Schulzwang frei- 
zumachen. Er hat den alten daktylischen Hexameter durch allerlei 
Änderungen dem akzentuierenden Charakter der lebenden Sprache an- 
zupassen versucht. Freilich konnte das Experiment nicht gelingen, und 
so ist denn dieses berühmte antike Maß in der byzantinischen Zeit nur 
noch selten angewandt worden. Wie sehr der Hexameter der damaligen 
Sprache widerstrebte, beweisen recht deutlich die ungelenken Holperverse 
der Kaiserin Eudokia (5. Jahrhundert), 

Epigramme. Erfreulich bekundet sich seit dem 4. Jahrhundert der Aufschwung des 

Griechentums zu einer sich wieder selbständig fühlenden Kulturmacht auf 
dem buntbeweglichen Gebiete der epigrammatischen Poesie. Mit kleinen 
Spielereien verbanden sich umfangreichere elegienhafte, beschreibende 
und historische Gedichte. Mächtig ragt hervor ein Mann, der in der 
ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts unter Kaiser Heraklios an der Sophien- 

Georgio. kirchc das Amt eines Diakons und Archivars innehatte, Georgios aus 
(etwa 600-^) Pisidien. Er ist auf dem Gebiete der Poesie der wichtigste Vermittler 



rV. Die dunkeln Jahrhunderte (650 — 830). 



267 



zwischen dem ausgehenden Altertum und dem Mittelalter; einerseits erscheint 
er als der letzte Ausläufer der Schule des Nonnos, anderseits bildet er das 
meist bewunderte und eifrigst nachgeahmte Vorbild für die seit dem q. Jahr- 
hundert wieder auflebende byzantinische Dichtung. Den Stoff liefern dem 
Pisides teils politische Ereignisse seiner Zeit, wie des Heraklios Feldzug 
gegen die Perser, sein endgfültiger Sieg über Chosroes und der Angriff 
der Avaren auf Konstantinopel im Jahre 626, teils theologische Streit- 
fragen, wie die Häresie des Severus von Antiochia, den Pisides noch be- 
kämpfen zu müssen glaubte, obschon er schon hundert Jahre früher (536) 
verdammt worden war, teils auch allgemeine theologische und moralische 
Vorwürfe. Das Hauptwerk dieser Art ist ein großes philosophisch -theolo- 
gisches Lehrgedicht über die Erschaffung der Welt (Hexaemeron), ein in 
der kirchlichen Literatur häufig behandeltes Thema. Elegischen Charakter 
trägt eine poetische Betrachtung über die Eitelkeit der Welt. Dazu 
kommen ein Hymnus auf Christi Auferstehung und zahlreiche Epigramme 
auf Heilige, auf Kunstgegenstände, auf eine vom Patriarchen Sergios ge- 
stiftete Bibliothek, auch auf recht unpoetische Themen wie die Podagra, 
die übrigens auch noch andere Byzantiner zu dichterischen Ergüssen be- 
geistert hat. Pisides hat richtig gefühlt, daß der Hexameter trotz der 
von Nonnos versuchten Anpassung dem Lautwesen der natürlichen Sprache 
widerstrebte; so hat er denn dieses Maß, natürlich in der von Nonnos 
geprägten modernen Form, nur in einem einzigen Gedichte („Auf das 
menschliche Leben") angewandt; alle seine übrigen Werke sind in der 
neugeregelten Form des jambischen Trimeters abgefaßt. 



IV. Die dunkeln Jahrhunderte (650 — 850). Die Übergangszeit vom 
Altertum zum Mittelalter hebt sich aus der gesamten Lebensgeschichte des 
griechischen Volkes eigenartig hervor. Ein reges geistiges Leben und eine 
erstaunlich reiche literarische Tätigkeit liegt hier vor uns, von früheren 
und späteren Perioden deutlich geschieden durch die merkwürdige Mischung 
alter und neuer, heidnischer und christlicher Elemente. Sie wirken teils 
durch feindlichen Zusammenstoß anregend, teils durch friedliche Vermählung 
befruchtend. Rein äußerlich betrachtet sind es zwei Faktoren, die den 
eminenten literarischen Aufschwung her\'orgcrufen und gefordert haben: 
die Erhebung des Christentums zur herrschenden Religion und die poli- 
tische Erstarkung des Griechentums durch die Lostrennung und eigenartige 
Fortgestaltung der östlichen Reichshälfte. Im gesamten geistigen Leben 
dieser Zeit gärender Kraft erscheint allerdings der christliche Charakter 
als das wichtigste Merkmal und die kirchliche Abteilung der Literatur als 
die bedeutendste; aber auch dem profanen Schrifttum, sowohl dem heid- 
nischen als später dem christlichen, sind die günstigen Lebensbedingungen 
und die allgemeine Regsamkeit zugute gekommen. 

Nim folgen dunkle Jahrhunderte: ein fast plötzlicher Verfall der 
nationalen Bildung und der Literatur, ein ähnlicher Bruch mit der Ver- 



268 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



Johannes 

von Ddmaskos 
t ^of 7SA)- 



gangenheit, wie er, nur viel länger und gründlicher, im Abendlande ge- 
schehen ist. Die Senkung erstreckt sich von der Mitte des 7. bis zur 
Mitte des q. Jahrhunderts. Die Gründe dieses unerwarteten Niederganges 
sind noch nicht genügend aufgeklärt Wohl sicher aber haben die äußeren 
Verhältnisse des Reiches mitgewirkt: die notwendige Konzentrierung aller 
Kräfte und Mittel gegen die furchtbaren neuen Reichsfeinde, die Araber, 
Bulgaren und Slawen; der Verlust der geistig regsamen Provinzen Afrika, 
Palästina und Syrien; der ewig dauernde rohe Kriegszustand; endlich die 
dem Klosterwesen und damit den Pflegestätten der Bildung verderblichen 
Wirren des Bildersturmes. Die profane Literatur verstummt fast vollständig 
und auch die kirchliche Schriftstellerei bleibt hinter der Fülle und Origi- 
nalität der früheren Jahrhunderte zurück. Um so bemerkbarer ragt aus 
der dürren Öde ein Mann hervor, der auf die ganze Folgezeit einen un- 
ermeßlichen Einfluß gewonnen hat, Johannes von Damaskos. Er lebte in 
der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts in seiner Vaterstadt Damcbskos als 
einfacher Priester im Sabbaskloster. Damals waren die dogmatischen 
Kämpfe in der Hauptsache abgeschlossen, die Lehre der Kirche von den 
Konzilien festgestellt und von den Vätern erläutert, die heiligen Schriften 
in ausgiebigster Weise kommentiert. So konnte denn die Aufgabe eines 
rechtgläubigen Theologen in dieser Zeit nicht die eines Neuschöpfers oder 
Bahnbrechers sein. Zwar geht Johannes zu weit, wenn er in christlicher 
Bescheidenheit sich rühmt „Ich werde nichts sagen, was von mir ist"; 
aber mit einiger Einschränkung könnte dieser Satz den meisten seiner 
Schriften vorgesetzt werden. Den Weltruhm des Johannes begründet ein 
groß angelegtes Lehrbuch der christlichen Dogmatik, die „Erkenntnis- 
quelle". Nach einer philosophischen Einleitung, die auf aristotelischen 
und neuplatonischen Ideen ruht, erklärt Johannes die christliche Glaubens- 
lehre zuerst in negativer Weise durch Vorführung imd Widerlegung von 
100 Häresien, dann positiv, indem er — gleichsam als Gegengift — in 
100 Kapiteln die wichtigsten Tatsachen der Dogmatik darlegt. Das Material 
hat Johannes mit staunenswerter Belesenheit aus den Konzilsakten und 
den Kirchenvätern geschöpft, aber durch übersichtliche Anordnung und 
scharfsinnige Systematisierung zu einem eigenartigen Denkmal seines 
Geistes verarbeitet Die „Erkenntnisquelle" hat sich als Standardwerk 
der griechischen Theologie bis auf den heutigen Tag behauptet. Auch 
in seinen asketischen und exegetischen Schriften beschränkte sich Johannes 
wesentlich darauf, geistige Errungenschaften der Vorfahren zur Nutznießung 
für Zeitgenossen und künftige Geschlechter praktisch zusammenzufassen. 
Völlig original hat er nur da geschaffen, wo er keine Vorgänger haben 
konnte: in der Bekämpfung der neuen Sekten. Wie die theologische 
Literatur des 6. und 7. Jahrhunderts ihre Anregungen vornehmlich aus der 
Polemik gegen die Monophysiten und Monotheleten geschöpft hatte, so 
waren es im 8. Jahrhundert die Manichäer (Paulikianer) und später die 
Bilderstürmer, außerdem die neue Weltreligion, der Islam, die den Johannes 



V. Das Wiederaufleben der Bildung (9. — 1 1 . Jahrhundert), 



369 



auf einen Kampfplatz riefen, wo er mit neuen Waffen streiten mußte. Das 
höchste Ansehen hat ihm seine glänzende Verteidigung der Bilderverehrung 
erworben. Derselbe gelehrte, verstandesmäßige Grundzug, den die Prosa- 
schriften des Johannes offenbaren, verrät sich auch in seinen Dichtungen. 
Sie bezeichnen deutlich eine gelehrte Reaktion gegen die einfachen popu- 
lären Lieder des Romanos (s. S. 259). An ihre Stelle setzte Johannes eine 
neue Art von Gesängen (Kanones), die durch Künstlichkeit der Form aus- 
gezeichnet, aber arm an echter Empfindung sind. Daß sie wegen ihres 
komplizierten Baues und ihrer altertümlich gesuchten Mandarinensprache 
nie Gemeingut des Volkes werden konnten, kümmerte ihn nicht; er wendet 
sich an hochgebildete Leser. Wie selten solche aber waren, wird daraus 
ersichtlich, daß die Gedichte des Johannes später durch zahlreiche gelehrte 
Kommentare erläutert wurden. Das tat ihrem Ansehen keinen Eintrag; 
unnatürliche Künsteleien und grammatische Dunkelheiten haben auf das 
grübelnde Geschlecht der Byzantiner immer eine geheimnisvolle Anziehung 
ausgeübt; ein Gedicht, das ohne Scholien verstanden werden konnte, wurde 
nicht leicht für voll genommen. 

Mit Johannes hat die kirchliche Literatur der Grriechen nicht ihren 
Abschluß gefunden. Seit dem g. Jahrhundert nimmt die Produktion wieder 
einen mächtigen Aufschwung, und in der langen Reihe kirchlicher Autoren 
bis zum Untergang des Reiches treffen wir noch manche anziehende Er- 
scheinung. Hohe Beachtung verdienen die mächtige philosophische Be- 
wegung, die im 11. und 12. Jahrhundert die theologische Welt ergriff, und 
die eigenartige mystische Strömung, als deren edelste Wortführer Symeon, 
der „neue Theologe" (11. Jahrb.), und Nikolaos Kabasilas (14. Jahrh.) er- 
scheinen. Was aber doch die griechischen Kirchenschriftsteller der ersten 
acht Jahrhunderte von denen der Folgezeit scheidet, ist eine große und 
für die Abschätzung ihrer Bedeutung wichtige Tatsache: die ersteren ge- 
hören der gesamten christlichen Kirche an und haben dadurch im höchsten 
Sinne des Wortes weltgeschichtliche Bedeutung, die letzteren sprechen nur 
noch als Zeugen des vom Westen sich mehr und mehr abschließenden 
Sonderlebens der griechischen Kirche und der byzantinischen Kultur. 
Johannes von Damaskos nimmt an diesen beiden großen Abteilungen der 
griechischen christlichen Literatur Anteil: er schließt die erste, indem er 
ihre Errungenschaften zusammenfaßt und systematisch verarbeitet; er er- 
öffnet die zweite, indem er ihr das Grundbuch der christlichen Lehre dar- 
bietet Er steht wie ein Brennspiegel zwischen den zwei Perioden, der 
die Strahlen aus der ersten in sich versammelt und sie auf die zweite 
wiederum verteilt 



V. Das Wiederaufleben der Bildung (9. — 1 1 . Jahrhundert). Die 
gewaltigsten und folgenschwersten Tatsachen in den beiden dunkeln Jahr- 
hunderten sind der Niedergang der griechischen Kultur im Süden und 
Südosten infolge des Verlustes von Ägypten imd Syropalästina an die 



^^o 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



Univcnität in 

Kofutantlnopc I 

(Wj)- 



PhoÜo« 
(etwa 830 — 69;) 




Araber und die wachsende Konzentrierung des geistigen Lebens in der 
Hauptstadt Nun bewährte sich die Gründung des großen Konstantin von 
Jahrhundert zu Jahrhundert immer deutUcher. Konstantinopel wurde das 
wahre Bollwerk der christlich- griechischen Zivilisation für ein Jahrtausend; 
von hier aus wurden ihm zum Ersatz für die Verluste im Süden und Süd- 
osten neue Pflanzstätten griechisch-cliristlichen Geistes im Norden und 
Nordosten bei den Slawen und Kaukasusvölkern gewonnen. Die Erziehung 
der Slawen zum Christentum und zur Bildung begann im g. Jahrhundert 
mit der energischen Tätigkeit der Missionäre Kyrill und Method, die die 
heihgen Schriften in die altbulgarische Sprache übersetzten. Für das Ge- 
lingen dieser großen Kulturmission, die in ihren letzten Ausläufern den 
Fall des Reiches weit überdauerte, war es bedeutungsvoll, daß um die- 
selbe Zeit die Bildung und das literarische Leben in Byzanz selbst einen 
neuen Aufschwung genommen haben. Durch das sechste ökumenische 
Konzil (680) war die dogmatische Entwickelung der Kirche in der Haupt- 
sache abgeschlossen worden, und mit der endgültigen Beilegung des 
Bilderstreites (843) hatte sich auch die letzte dunkle Wolke am Horizont 
des kirchlichen Lebens verzogen. Der hochbegabte Reichsminister Bardas 
errichtete (863) in Konstantinopel eine Hochschule für Philosophie, Natur- 
wissenschaften und Philologie, die für die Hebung der nationalen Bildung 
von größter Bedeutung wurde. Nun begannen die Gemüter sich wieder der 
großen, zwar durch die Religion geschiedenen, aber durch Sprache und 
Blutsgemeinschaft verbundenen Vergangenheit zu erinnern. Zu einem völlig 
unbefangenen Verkehr mit den gefürchteten „Hellenen" (d. h. Heiden) kam 
es zwar nicht mit einem Male. Noch lange sieht man da und dort die 
Flammen des alten Hasses gegen die eigenen Vorfahren emporflackem; 
aber schon treten aus den Reihen der rechtgläubigen Geistlichkeit selbst 
überlegene Männer heraus, die das Altertum von einem wissenschaftlichen 
Standpunkt aus betrachten und ohne religiöse Bedenken auf die hier auf- 
bewahrten geistigen Schätze hinweisen. Während noch Romanos in einer 
leidenschaftlichen Strophe den Homer, Pythagoras, Plato, Demosthenes 
und Aratos zusammen in den Abgrund schleudert, werden diese großen 
Namen Jetzt endlich ohne Verbalinjurien genannt. Die grobkörnige Polemik, 
mit der noch im 12. Jahrhundert Michael Glykas in seiner volksmäßigen 
Chronik gegen die Heiden losfährt, ist em vereinzelter Anachronismus. 
Unter den Gebildeten war das Verhältnis zum Altertum längst freund- 
licher und fast ganz objektiv geworden. Wie man schon ein Jahrhundert 
vor Glykas selbst in streng kirchlichen Kreisen über die alten Heiden 
denken durfte, lehrt uns der fromme Metropolit Johannes von Euchaita 
(11. Jahrhundert), der in einem schönen Epigramm bei Christus für Piaton 
und Plutarch Fürbitte einlegt: „denn beide sind nach Sinn und Art deinem 
Gesetz aufs engste verbunden." 

Ein großer Kirchenfürst, Photios, Patriarch von Kons tantin opel (etwa 
820 — 897), hat im 9. Jahrhundert mit genialem Blick systematisch auf die 



V. Das Wiederaufleben der Bildung (9. — 1 1 . Jahrhundert). 



271 



ungeheuren Schätze des Altertums hingewiesen, die so lange unbeachtet in 
Kammern und Kellern gemodert hatten. Dazu war es höchste Zeit. Der größte 
Teil der alten Schriftwerke war teils schon verloren, teils verschollen. Einen 
näheren Zusammenhang mit dem geistigen Leben der Zeit hatten nur noch 
wenige Werke, vor allem die öden grammatischen und rhetorischen Hand- 
bücher, dazu eine Auswahl alter Dichter, Historiker und Redner, alle aber in 
immer kleineren Portionen für die bescheidenen Bedürfnisse des Schul- 
unterrichtes zugeschnitten. Da hat nun Photios eingegriffen wie ein litera- 
rischer Columbus. Er hat, was von alter Literatur noch da war, zu einem 
großen Teil geradezu neu entdecken müssen; gar manches „alte Buch vom 
Ahn ererbt" hat er dem Untergang entrissen. Die helle Freude des Eindens 
und nicht minder die zähe Ausdauer des Suchens leuchtet aus seinen Be- 
richten deutlich hervor. Er erzählt von den alten Büchern so freudig und 
frisch, wie wenn es sich um literarische Novitäten handelte. Über alles 
Gelesene führte er sorgfältig Buch und verfaßte so gegen 300 literar- 
geschichtliche Essays, die zu dem Sammelwerke „Bibliothek" vereinigt Bibliothek, 
sind. Die einzelnen Skizzen sind ziemlich schablonenhaft angelegt; auf eine 
mehr oder weniger ausführliche Inhaltsangabe, mit der sich zuweilen No- 
tizen über das Leben des Autors verbinden, folget eine fast stets nur auf 
die sprachliche Form bezügliche, oft recht schulmeisterliche Kritik. Die 
Auswahl der von Photios besprochenen Werke war zum Teil durch Zufall 
bedingt; daß aber die alten Dichter und Philosophen fast vollständig fehlen, 
daran trägt wohl der stark realistische Charakter des Verfassers schuld; 
daß allgemein bekannte alte Autoren und viele christliche Schriftsteller 
nicht genannt werden, erklärt sich aus dem Zwecke der Sammlung, die 
vornehmlich auf unbekannte und vergessene Werke hinweisen wollte und 
keinerlei Vollständigkeit anstrebte. Die „Bibliothek" des Photios i.st das 
wichtigste literarhistorische Werk des Mittelalters und für uns von un- 
schätzbarem Werte diu-ch die Erhaltung authentischer Nachrichten über 
zahlreiche ganz oder größtenteils verlorene Autoren der alten Literatur. ^ 

Die welthistorische Bedeutung des Photios liegt jedoch weder in diesem " 

Buche noch in seinen übrigen profanen oder kirchlichen Schriften, in denen 
er oft merkwürdig unselbständig i.st, sondern in seiner Tätigkeit als Kirchen- 
fürst. Er hat den kirchlichen Gegensatz der Griechen und Lateiner, der 
sich schon seit dem 5. Jahrhundert wiederholt gezeigt und allmählich immer 
mehr verstärkt hatte, zur unversöhnlichen Schärfe angefacht, und die 
definitive Trennung im Jahre 1054 war nur die letzte äußere Besiegelung 
der schon seit Photios bestehenden Entfremdung. 

Leider ist es Photios durch seinen energischen Hinweis auf die alten 
Literaturschätze nicht gelungen, ihrem fortschreitenden Untergang Halt zu 
gebieten. Zahlreiche, eminent wichtige Werke, besonders geschichtliche, 
die er noch gelesen hat, sind in der Folgezeit verloren gegangen. Dem 
hätte nur durch eine rechtzeitig unternommene und systematisch durch- 
geführte Vervielfältigung der seltenen alten Exemplare gesteuert werden 



2^2 Karl Krumbacher: Die g^echiscbe Literatur des Mittelalters. 

können. Es ist ein Schüler des Photios, der feinsinnige und gelehrte Erz- 

Areihas bischof Arethas von Käsarea (f nach 932), der auf solche Weise und 

(+ nach 9J2). (juj-gij erläutcmde Tätigkeit viel Grutes gewirkt hat Wir haben noch 

mehrere auf seine Kosten hergestellte, dtu"ch Genauigkeit ausgezeichnete 

Abschriften profaner und kirchlicher Werke, unter denen der berühmte 

von Clarke aus Patmos nach England entführte Platokodex hervorragt. 

Sanuneiiäügkeit Die vou Photios Und Arethas ausgestreuten Keime trugen viel- 

"hmdCTt' faltige Frucht Das ganze 10. Jahrhimdert beherrscht eine rührend 

eifrige, freilich oft auch sehr mechanische und einseitige Betriebsamkeit 

in der Sammlung und zweckdienlichen Zubereitung des geistigen Erbes 

Koniuntin Por- der Vorzeit Kaiser Konstantin VII Porphyrogennetos (913 — 959) selbst 

"'"'«mT'" ^°^ ^°''*°' ^^^^"^ ^^ ^ ^*® Zwecke des Hofes und der Staatsver- 
waltung eine ganze Reihe kompilatorischer Werke teils verfassen ließ, 
teils selbst verfaßte. Die bedeutendste der auf Befehl des Kaisers veran- 
stalteten Sammlungen ist eine gewaltige, aus der ganzen historischen 
Literatur zusammengestellte, nach Materien geordnete Enzyklopädie der 
Staatswissenschaft, von der wir leider nur einige Abschnitte besitzen. 
Anders angelegt, aber ebenfalls vornehmlich aus alten Quellen geschöpft 
sind drei Werke, denen der Kaiser selbst seinen Namen geliehen hat: 
über die Reg^ierungskunst und besonders über die Prinzipien der äußeren 
Reichspolitik, über die militärische und administrative Einteilimg des 
Reiches, endlich über das Zeremonienwesen des byzantinischen Hofes. Den 
von Konstantin Vn gegebenen Anregnungen verdanken wir vermutlich auch 
die von Symeon Metaphrastes natürlich nur nach stilistisch-rhetorischen Ge- 
sichtspunkten ditfchgeführte Neubearbeitung der alten Heiligenlegenden. 
Schon vor Konstantin entstand die herrliche Sammlung der alten Epigramme, 
deren einzige unschätzbare Handschrift den Stolz der Heidelberger Bibliothek 
bildet (ein Teil jetzt in Paris). Eine merkwürdige, besonders durch literar- 
historische Nachrichten wichtige Ergänzung der Sammelwerke dieses 
fleißigen, aber unkritischen und unproduktiven Jahrhimderts bildet eine Art 
Konversationslexikon, das ein unbekannter Mann mit dem imgriechischen 
suidu Namen Suidas aus älteren Büchern oberflächlich und sorglos zusanmien- 
(vor 976). gestellt hat 

ij. Jahrhundert Wenn das 9. und 10. Jahrhimdert durch die Wiederentdeckxmg imd 

Sammlung der alten Literaturwerke, durch die mechanische Herstellung 
von Exzerpten, die Ausarbeitung von Wörterbüchern und anderen Hilfs- 
mitteln des Schulbetriebes charakterisiert und als eine Zeit der schul- 
mäßigen Vorbereitimg betrachtet werden muß, so erscheint das 1 1. Jahr- 
hundert als die erste Zeit der Ernte. Ein Staatsmann ist es, der die Summe 
der gelehrten Studien der Vorväter und die ganze Bildung seiner eigenen 
Zeit in sich vereinigte und in mannigfaltigen Schöpftmgen zum Ausdrucke 

Michael Pteiioi brachte, Michael Psellos (10 18 — 1078?). Ursprünglich Advokat, dann Professor 

(1018—1078?). jjgj. Philosophie, eine Zeitiang Mön'ch, endlich in verschiedenen Hof Stellungen 

tätig, zuletzt Premierminister und Allgewaltiger im Staate, schriftstellemd 



VT- Hochrenaissance und Humanismus (13. — 15. Jahriiandfeit). 



«73 



auf den Gebieten der Philosophie, Xatumrissenschaft, Philologie, Geschichte, 
Jurisprudenz, Rhetorik und Poesie, repräsentiert er wie kein anderer in 
der bunten Skala seines Lebens wie in der Allseitigkeit seiner Geistes- 
bildung das in allen Farben der Vergangenheit schillernde Byzantinertum. 
Menschlich nimmt er das größte Maß von Nachsicht in Anspruch, das man 
einem unter verschiedenen Regierungen und unter ewig schwankenden 
Verhältnissen beschäftigten Hof- und Staatsmanne gewähren mag. Durch 
Umfang des Wissens, durch Schärfe der Kombination und souveräne Be- 
herrschung der Form ist Psellos der erste Mann seiner Zeit; er ist für das 
1 1. Jahrhundert in ähnlicher Weise Signatur wie Konstantin Porphyro- 
gennetos für das 10. und Photios für das 9. Jahrhundert. Verhängnisvoll 
bezeichnend für das Wesen der bj'zjmtinischen Bildung ist es freilich, daß 
die stärkste Seite dieses starken Mannes doch die sprachliche Form ge- 
wesen ist, für die er sich kein geringeres Vorbild als Piaton gewählt hat. 
Zur Ehre des Psellos muß aber gesagt werden, daß er den Plato auch 
inhaltlich zu schätzen wußte und das Wagnis durchführte, die platonische 
Philosophie aus ihrem langen Winterschlafe zu erwecken und sie sogar 
über das von der Kirche sanktionierte System des Aristoteles zu erheben. 
Mit der Philosophie und dem Studium des Altertums nimmt seit dem 
II. Jahrhundert auch die Geschichtschreibung, die im 9. und 1 o. Jahrhundert 
auf trockene Annalistik beschränkt gewesen war, einen höheren Flug, und 
Psellos hat sich auch an ihr durch eine wertvolle Darstellung seiner eigenen 
Zeit beteiligt. Die Epigrammatik erreicht mit zwei der liebenswürdigsten 
Erscheinungen der byzantinischen Periode, Christophoros von Mytilene 
(etwa 1000 — 1050) und Johannes von Euchaita (etwa loio — 1070), eine an- 
sehnliche und des alten Ruhmes dieser Grattung würdige Höhe. 



VI. Hochrenaissance und Humanismus (12. — 15. Jahrhundert). 
Zur völligen Entfaltimg gelangt das literarische Leben im 12. Jahr- 
hundert unter der machtvollen Herrschaft der drei Komnenen, die dem 
Reiche eine letzte kurze Glanzperiode sicherten. In vier gproßen Werken 
werden die Geschicke des oströmischen Reiches zur Zeit der Kreuzfahrer 
nach dem bewährten Vorbild der alten Geschichtschreibung dargestellt. 
Hier beteiligte sich auch eine Frau. Die Alexias (vollendet 1 148), in der die 
hochgebildete Kaisertochter Anna Komnena die Taten ihres Vaters Alexios Ann« Komu.'» 
erzählte, hat von jeher ein allgemeines Interesse erregt und ist mit unserer ('"*i-"«»> 
Literatur dadurch eng verbunden, daß eine deutsche Übersetzung in 
Friedrich Schillers „Allgemeiner Sammlung historischer Memoires", Jena 
1790, erschienen ist. Unter den Kirchenfürsten, die in dieser Zeit mehr- 
fach in den Dienst der profanen Literatur traten, ragen durch Originalität 
der Persönlichkeit und der Schriftstellerei besonders hervor Michael Ako- 
minatos, der Metropolit von Athen, und Eustathios, der Erzbischof von 
Thessalonike, beide auch dadurch merkwürdig, daß sie fem von der 
längst alles Uterarische Leben in sich vereinigenden Hauptstadt wirkten 



Um Kultur uut GvouiwAitT. L & 



18 



274 



Karl Krumracher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



und uns endlich wieder die geistigen Zustände der Provinz kennen 
lehren. 

Eututhios Eustathios (•{- um 1192) ist den Philologen bekannt durch seine dick- 

(t um 1191). leibigen Homerkommentare, die neben Massen öder Weisheit auch manche 
Perle und sogar Aufschlüsse über die Volksdichtung seiner Zeit enthalten. Er 
war aber viel mehr als ein belesener Scholiast und ein trockener Stuben- 
gelehrter. Wenn wir die übrigen leider noch immer wenig bekannten 
Schriften des Eustathios lesen, lernen wir eine sehr eigenartige, äußerst 
sympathische Persönlichkeit kennen. In anschaulicher Weise schildert er 
uns die Eroberung seiner treuen Stadt Thessalonike durch die Normannen. 
In Reden an die Kaiser berührt er zeitgeschichtliche Vorgänge und macht 
praktische Vorschläge z. B. über die Versorgung der Hauptstadt mit Trink- 
wasser. Mit einem erquickenden Freimut, durch den er sich manch heim- 
tückischen Gegner schuf, kämpft er gegen die Korruption und die geistige 
Versumpfung des Klosterlebens. In edler Entrüstung mahnt er z. B. die 
Mönche, die herrlichen Schätze ihrer Bibliotheken nicht zu verschleudern: 
„O, Du Unwissender, was machst Du die Klosterbibliothek Deiner Seele 
gleich? Weil Du aller Kenntnisse bar bist, willst Du auch aus dieser alle 
Bücherschränke wegräumen? Laß sie doch ihre Schätze behalten! Nach 
Dir wird wieder ein Kenner oder Freund der Literatur kommen." Kultur- 
geschichthch interessant ist ein Essay, der nachweist, daß die Priester un- 
recht daran tun, sich des ihnen vom Volke erteilten, noch heute üblichen 
Titels Papäs (= russisch Pop) zu schämen. 
Michael Des Eustathios Schüler und Freund Michael Akominatos (etwa 1 1 40 — 1220) 

Akominatus jg^ durch dic Warm empfundene Schilderung, die ihm Gregorovius in 
ii+o— uio). seiner Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter gewidmet hat, jetzt in 
weiteren Kreisen bekannt. Unter seinen zahlreichen Schriften, wie Homi- 
lien, Reden, Briefen und Dichtungen, verdient hohe Beachtung eine jam- 
bische Elegie auf die Stadt Athen, die „erste und einzige Klagestimme 
über den Untergang der alten erlauchten Stadt, welche auf uns gekommen 
ist". Grregorovius übersetzt die ersten Verse also: 

Die Liebe zu Athen, deß Ruhm einst weit erscholl, 
Schrieb dieses nieder, doch mit Wolken spielt sie nur 
Und kühlt an Schatten ihrer Sehnsucht heiße Glut. 
Denn nimmer , ach , und nirgend mehr erschaut mein Blick 
Hier jene einst im Lied so hochgepries'ne Stadt. 

Auf den meisten Literaturgebieten, auch ganz abgelegenen und ver- 
schollenen, herrscht in der Komnenenzeit reges Leben. Der Geschmack 
an der erotischen Erzählung, die lange verpönt gewesen war, erwacht 
Romane, wieder, und die süßliche, unwahre Gattung des griechischen „Romans", 
unter dem man sich alles, nur keinen modernen Roman vorstellen muß, 
wird um vier freilich denkbarst übel geratene Spätgeburten bereichert 
Andere versuchen sich in der poetischen Satire und in Dialogen nach dem 
Dtana. Vorbilde des unsterblichen Lukian. Selbst ein Drama, „Das Leiden Christi", 



VI. Hochrenaissance und Humanismus (12.— 15. Jahrhundert). 



«75 



ist in dieser Zeit gewagt worden, ein aus Versen alter Dichter mosaik- I 

artig zusammengesetztes Machwerk, das freilich nur zu deutlich beweist, I 

wie sehr den Byzantinern das Verständnis und die Voraussetzungen für I 

ernstes Theaterwesen abhanden gekommen waren. I 

In den letzten Jahrhunderten des Reiches unter den Herrschern aus HomanUmu« 
dem Hause Palaeologos hat das Studium des klassischen Altertums und 

die auf ihm ruhende literarische Tätigkeit an Vertiefung und Mannigfaltig- I 

keit noch gewonnen. Der gelehrte Attizismus wird noch deutlicher betont I 

als selbst in der Komnenenzeit, und die Tatsachen der zeitgenössischen I 

Sprache und Kultur werden demgemäß noch schärfer zurückgewiesen als I 

je. Während man, um ein bezeichnendes Beispiel anzuführen, bisher trotz I 

des sprachlichen Purismus die christlichen (römischen) Monatsnamen ge- I 

braucht hatte, geht der Historiker Pach>'meres im Anfang des 14. Jahr- I 

hunderts schon so weit, dem Archaismus zuliebe die nur einem Gelehrten 1 

verständlichen attischen Monatsnamen (z. B. Gamelion) anzuwenden. Be- 1 

fördert wurde diese einseitige Richtung auf das hellenische Altertum und 1 

die Abwendung vom realen Leben der Gegenwart durch die nunmehr voll- 1 

endete Gräzisierung des Hof- und Staatswesens und den nahezu voUstän- I 

digen Verlust der nichtgriechischen Landesteile. Seit der WiederaufHchtung I 

des Thrones in Konstantinopel (1261) erscheint das oströmische Reich als I 

ein rein griechisches Gebilde, ein althellenisch gefärbtes Humanistenreich, I 

und die deutlichsten Charakterzüge der byzantinischen Bildung und Literatur I 

vom 13. — 1 5. Jahrhundert sind die leidenschafthche Hingabe an die kirch- I 

liehen Streitigkeiten und das traumhafte Zurückleben in die große, ferne J 

Blütezeit des Altertums, I 

Durch den byzantinischen Humanismus ist der westeuropäische Huma- 1 

nismus, wenn nicht erzeugt, so doch nachhaltig befruchtet worden. Infolge l 

der wachsenden Unsicherheit der politischen Verhältnisse im Osten wan- I 

derten griechische Gelehrte mit ihren Bücherschätzen nach Italien und 1 

verbreiteten dort die erste Kenntnis der altgriechischen Sprache und 1 
Literatur. Trotz dieses unleugbaren Zusammenhanges ist der byzantinische 

Humanismus von dem italienischen nach seiner Entstehungsweise, seinem 1 

Gesamtcharakter und seiner Wirkung auf das nationale Leben erheblich 1 
verschieden, und eine Gleichung oder Vergleichung beider erheischt allerlei 

Vorbehalt. In Byzanz ist der Zusammenhang mit dem Altertum, den schon J 

das Fortleben des Staates sicherte, niemals gründlich abgebrochen worden, 1 

und das kulturelle Ackerland hat niemals so lange brachgelegen wie im 1 

Westen; daher sind die antiken Samenkörner hier nicht so üppig in die 1 

H2dme geschossen wie in Italien, wo sie auf einen frischen jungfräulichen 1 

Boden fielen. Dazu kommt, daß die Antike in Byzanz gerade durch die I 

ununterbrochene Tradition, die seit dem g. Jahrhundert einen neuen Auf- I 

Schwung nahm, immer mehr in eine äußerliche Dressur zu grammatischer 1 

Korrektheit und dumpfem Wissenskram ausartete, während man bei der I 

Wiederbelebung des Altertums im Westen viel mehr den tiefen Gehalt und 1 

18* I 



276 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



die ewige Schönheit der gpriechischen Kultur beachtete. In Byzanz waren 
die Lernenden heranwachsende Jünglinge, in Italien gereifte, welterfahrene 
Männer. „Anders lesen Knaben den Terenz, anders Hugo Grotius." Im 
Westen fand die antike Befruchtung durch die glückliche Mischung 
italischer und germanischer Menschen einen fruchtbareren Nährboden als 
im Osten, wo teils weniger vorteilhaft zusammengesetzte Mischrassen, teils 
unvermischte und dadurch entkräftete einheimische Volksteile die ethno- 
graphische Basis bildeten. Vor allem aber war der Osten durch den 
Niedergang der politischen, soziaden und materiellen Verhältnisse dem 
Westen gegenüber stark im Nachteil. In Italien fiel die Wiederbelebung 
des Altertums in eine Zeit, in der unter dem Schutze blühender Gemein- 
wesen ein wohlhabendes Bürgertum groß wurde und eine allen geistigen 
Anregungen zugängliche neue Gesellschaft erstand; im Osten erreicht die 
gelehrte Rückkehr zum Altertum ihre höchste Steigerung in einer Periode, 
in der durch das unaufhaltsame Vordringen der Seldschuken und Türken 
eine Provinz nach der anderen dem christlichen Machtbereiche und damit 
der Möglichkeit einer höheren Kultur verloren ging und auch die noch 
erhaltenen Gebiete unrettbar der Verarmung und Zerrüttung preisgegeben 
waren. Im Westen bildete das Studium der Antike eine wohltätige 
Ingredienz für die aus dem urkräftigen christlich-mittelalterlichen Barbaren- 
tiun emporwachsende neue Kultur; im Osten trifft die intensive Tränkung 
mit antiker Weisheit ein greisenhaftes, hinsterbendes Geschlecht. Im Westen 
eröffnet die wiederbelebte Antike ein jugendkräftiges Zeitalter, an dessen 
Spitze sich Dantes Riesengestalt erhebt; im Osten beschließt die Rück- 
kehr zum Altertum eine müde, altertümlich gespreizte, künstlerisch er- 
schlaffte Zeit, das byzantinische Mittelalter. 

Aus der inneren Verschiedenheit des byzantinischen und italienischen 
Humanismus erklärt es sich auch, daß jeder Versuch mißlingen mußte, auf 
der literarisch -philosophischen Grundlage des griechischen Altertums eine 
Versöhnung der durch die kirchlichen Streitigkeiten auseinandergefallenen 
g^echischen und romanischen Welt anzubahnen. Die gemeinsamen Momente 
in der Verehrung des Altertums wurden selbst in den engsten Gelehrten- 
kreisen verschiedenartig aufgefaßt und waren nicht imstande, die viel 
stärkeren religiösen und nationalen Gegensätze der breiten Volksschichten 
auszugleichen. 

Auf die literarische Schaffensfreude und Schaffenskraft hat der inten- 
sivere Betrieb der Altertumsstudien immerhin auch bei den Byzantinern 
eine günstige Wirkung ausgeübt Es ist merkwürdig, wie fruchtbar an 
geistig regsamen und selbst bedeutenden Männern diese letzten Jahr- 
hunderte gewesen sind, obschon der staatliche Organismus immer mehr 
einschrumpfte und offensichtlich seinem Zusammenbruche entgegenging. 
Außer der Geschichtschreibung, die sich bis zum Ende der byzantinischen 
Tage auf einer ansehnlichen Höhe erhielt, wurden namentlich die Theo- 
logie, die Philosophie, der schöngeistige Essay und der literarische Brief, 



VI. Hochrenaissance und Humanismus (12. — 1 5. Jalirhundcrt). 



277 



diese beiden freilich meist inhaltsleer und seelenlos, von einigen auch 
die Poesie gepflegt. Auf dem theologischen Gebiete dominieren in recht 
unerfreulicher Weise die mit südländischer Leidenschaft geführten Kämpfe 
für und gegen die Wiedervereinigung mit der römischen Kirche. In der 
Profanliteratur tritt wiederholt eine erstaunliche gelehrte Vielseitigkeit 
hervor, die alle Gebiete des men.schlichen Wissens in der Axt von 
Leibniz zu umspannen strebt. Die Hauptperson, für die Paläologen- 
zeit ähnlich typisch, wie etwa Psellos für das 11. Jahrhundert, ist Nike- 
phoros Grregoräs (f um 1360), der ein großes Geschichtswerk über die 
Zeit von 1204 — 135g abfaßte, sich mit persönlichem Opfermut an den 
theologischen Kämpfen der Zeit beteiligte und außerdem noch Zeit fand, 
auf den meisten übrigen Gebieten der byzantinischen Wissenschaft zu 
glänzen. Deis schönste Zeugnis seines Weitblickes und seiner geistigen 
Selbständigkeit ist der Plan über die Verbesserung des Kalenders, den er 
im Jahre 1325 — also dritthalb Jahrhunderte vor Gregor XTTT — dem 
Andronikos 11 Palaeologos unterbreitete. Der Kaiser trug Bedenken, die 
Reform durchzuführen, weil es zu schwierig sei, die übrigen Völker zu 
ihrer Annahme zu bewegen. Es ist eine seltsame Ironie des Schicksals, 
daß die Griechen, von denen mithin die Kalenderreform zuerst geplant 
war, später, als sie von Rom aus wirklich durchgeführt wurde, ihren 
Beitritt venveigerten. An Gediegenheit des Wissens, an Schcirfsinn, 
an idealer Begeisterung und Festigkeit des Charakters steht Ghregoras 
den größten Männern der abendländischen Renaissance ebenbürtig zur 
Seite. 

Wahrhaft ergreifend ist es, zu sehen, mit welcher Pflichttreue die 
Byzantiner noch mitten im Zusammenbruche ihrer alten Herrlichkeit die 
Darstellung ihrer Lebensgeschichte fortgeführt haben. Drei nach Bildung 
und Charakter sehr verschiedene Männer haben den heldenhaflen Todes- 
kampf des griechischen Kaisertums und das ungestüme Wachstum des 
jungen Osmanenreiches in stattlichen Werken erzählt: Dukas (f etwa 1470), ein 
Verwandter der Kaiserfamilie dieses Namens, Georgios Phrantzes (1401 bis 
etwa 1480) und Laonikos Chalkondyles (+ etwa 1470). Alle drei haben den 
Schauplatz der geschilderten Ereignisse und einen Teil dieser Ereignisse 
selbst durch eigenste Anschauung kennen gelernt Dukas diente dem genue- 
sischen Podesti in Phokäa als Gesandter am türkischen Hofe. Phrantzes war 
Sekretär Kaiser Manuels II und geriet bei der Eroberung Konstantinopels 
in türkische Gefangenschaft Chalkondyles aus Athen hatte in Griechen- 
land Gelegenheit, die Kämpfe der fränkischen und griechischen Herrscher 
unter sich und mit den Türken zu beobachten. In seiner Darstellung 
ist Dukas von volkstümlicher Schlichtheit und Frische, Phrantzes sucht 
einen Mittelweg zwischen der Umgangssprache, der Dukas folgt, und 
dem künstlichen Archaismus, Chalkondyles wandelt in den Fußstapfen 
des Thukydides und Herodot und wird dadurch dunkel und schwer- 
fällig. 



Kikephoro« 

Greform« 

(t um 1360). 



]>ukaj 
(t etwa 1470). 

t^hraoUrt 

(1401 bii etwa 

MÄo). 

Laonikos 

Chalkondyloft 

(t etwa i^joy 



278 Karl Kkumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 

Vn. Die Volksliteratur. Trotz aller äuBerea Erfolge krankt das 
byzantinische Literatnrwesen an einem stetig wachsenden unheilbaren Übel: 
ihm fehlt die zeugende Frische des Lebens und die ursprüngliche Kraft der 
Natur. Dadurch, daß die nationale Bildung seit dem 9. Jahrhundert wiedenmi 
ganz prinzipiell zu den alten Formen zurückkehrte, während gleichzeitig 
die lebende Sprache unaufhaltsam weiter schritt, entstand zwischen Lite- 
ratur und Leben eine KJuft, die keine Vermittelung mehr zuließ (vgL 
S. 252). Nach verschiedenen einzelnen Ansätzen (in Sprichwörtern, Akkla- 
mationen usw.) wurde die griechische Umgangssprache seit dem iz. Jahr- 
hundert in größeren Werken angewendet Sie bilden die volksmäßige 
Kehrseite der byzantinischen Literatur, und ihre Kenntnis ist zimi tieferen 
Verständnis des nationalen Geistes der Byzantiner unerläßlich. Wie bei 
den Romanen ist die Volkssprache auch bei den Mittelgriechen zuerst in 
der Poesie erprobt worden. Die Stoffe dieser von der alten Tradition durch 
Sprache und Metrum (den politischen Vers; s. o. S. 266) so stark verschiedenen 
dichterischen Versuche sind äußerst mannigfaltig. Zuerst hat man in der 
Hauptstadt ein Gemisch von Umgangs- und Schulsprache, wie es scheint 
unter dem ermutigenden Beifall der Hofkreise, in Mahn-, Lob- und Bitt- 
gedichten angewendet Später treffen wir Liebesgedichte, märchenhafte 
Erzählungen, Orakel, religfiöse Sentenzen, Gebete, Auszüge aus den heiligen 
Schriften, Heiligenleben usw. Eine Gruppe für sich bilden große epische 
Dichtungen, in denen antike Stoffe wie die trojanische Sage und die 
Alexandergeschichte behandelt werden, und Versromane über mittelalter- 
liche und zvmi Teil sogar abendländische Erzählungsstoffe, z. B. die aus 
Frankreich stammenden Geschichten von Floire und Blanceflor und von 
Peter aus der Provence und der schonen Mag^uelonne. Recht merkwürdig 
sind einige Tier- und Pflanzengeschichten, wie eine Bearbeitung des Phy- 
siologus, eine Vierfüßlergeschichte und ein Vogelbuch, beide mit satirischer 
Tendenz, mehrere Nachahmungen der Geschichte vom Reineke Fuchs; 
in Prosa abgefaßt sind zwei Parodien des byzantinischen Hof- und Titel- 
wesens: das Fischbuch und das Obstbuch. 

Ganz eigenartig und echte Kinder des byzantinischen Bodens sind 
mehrere sagenhafte und historische Dichtungen, in welchen Taten be- 
rühmter Helden und geschichtiiche Ereignisse besungen werden. Wir 
finden einen Zyklus von Liedern, die sich auf den Fall von Konstantinopel 
und den Tod des letzten griechischen Kaisers beziehen; eine andere Gruppe 
betrifft die Eroberung von Trapezunt; eine dritte den geheimnisvollen Bau 
der Brücke von Arta. An Alter und Bedeutung behauptet die erste Stelle 
der Akritenzyklus. 
Digenh Digenis Akritas ist der Held einer Dichtung, die man als das National- 

epos der Byzantiner bezeichnen kann. Die Verteidigung der weit vor- 
geschobenen Südostgrenzen wurde um so wichtiger, je mehr sich das Schwer- 
gewicht des Reiches nach den kleinasiatischen Provinzen verschob. Die 
ununterbrochenen Kämpfe, die in Kappadokien und Mesopotamien im 



VII. Die Volksliteratur. 



«79 



lo. und ii. Jahrhundert gegen Sarazenen, Seldschuken und andere Feinde 
geführt wurden, bilden die historische Grundlage der Akritaslieder. Der 
Held heißt Digenis, d. h. zwiegeboren, weil sein Vater ein Muselmann, 
seine Mutter eine Christin war. Der Beiname Akritas (von dkra — Grrenze, 
also eigentlich „Grenzer") ist der byzantinische Ausdruck für die tapferen 
Verteidiger der gefährdeten Grenzgebiete, die man etwa mit unseren früh- 
mittelalterlichen Markgrafen vergleichen kann. Um diesen Digenis, der 
sicher als historische Person zu denken ist, hat sich ein Kreis von märchen- 
haften Heldenliedern gebildet, mit denen aus der westeuropäischen Literatur 
das Rolandslied und die Romanzen des Cid wohl am nächsten verwandt 
sind. Die ursprünglichen Fonnen der Digenislieder sind verloren. Wir 
besitzen aber neugriechische Volkslieder aus Trapezunt, Kappadokien und 
Cypern, in denen Episoden der Sage erzählt werden. Sogar in die Volks- 
dichtung der sarmatischen Steppen ist der DigenisstofF, vermutlich durch 
südslawische Vermittelung, übergegangen und dort in mehreren Bearbei- 
tungen verbreitet Doch hätten alle diese Reste nicht hingereicht, um 
eine genauere Vorstellung von jenen alten Digenisliedern zu gewinnen, die 
wir voraussetzen müssen. Da wurde vor etwa dreißig Jahren durch einen 
glücklichen Zufall im fernen Trapezunt eine aus dem i6. Jahrhundert 
stammende Handschrift entdeckt, die eine literarische Bearbeitung der 
Digenisgeschichte enthält. Später tauchten noch andere Handschriften auf: 
in Grottaferrata bei Rom, in Oxford, auf der Insel Andros und in der 
Bibliothek des Escurial. Was in diesen jetzt größtenteils durch den Druck 
bekannt gemachten Handschriften steht, sind nach Umfang (ca. 3000 bis 
5000 Verse), Inhalt und Sprachforni stark abweichende literarische Be- 
arbeitungen der Digenisgeschichte, die aber doch in den Hauptpunkten 
auf ein Original zurückweisen; ein Kodex enthält eine prosaische Nach- 
erzählung. Alle Handschriften stammen aus später Zeit, dem 15. — 17, Jahr- 
hundert, und wir müssen uns klar bewußt bleiben, daß nichts von dem, 
was uns heute an literarischen Digenistexten vorliegt, in seiner sprach- 
lichen Form mit Sicherheit über das 15. Jahrhundert hinauf gerückt werden 
kann. Dagegen ist der Urtypus, nach den geschilderten Zuständen und 
vorausgesetzten politischen Verhältnissen, erheblich älter und geht wohl 
ins 13., vielleicht sogar ins 1 2. Jahrhundert zurück. Gemeinsam ist allen 
poetischen Fassungen — der Prosatext ist noch nicht veröffentlicht — die 
schulmäßig belehrende, religiöse und moralisierende Tendenz; sie tritt aber 
in einigen Texten stärker, in anderen schwächer hervor. Mehrere Be- 
arbeiter haben, um das Werk den Forderungen der Schule und Kirche 
anzupassen, Zitate aus den alten Dichtem und den heiligen Schriften, 
pedantische Belehrungen und Sentenzen eingefügt und die offenbar ur- 
sprünglich ziemlich freien erotischen Episoden retuschiert Von den Be- 
arbeitern stammen außer den Verbindungsstücken zwischen einzelnen Liedern 
vermutlich auch einige breit ausgesponnene religiöse Einlagen und größere 
Teile der Liedkeme selbst, vielleicht sogar ganze Episoden. 



28o 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



Wenn einmal alle Texte publiziert sind, wird die große Aufgabe zu 
lösen sein, das verwandtschaftliche Verhältnis der Bearbeitungen festzu- 
stellen, dadurch die Frage nach den ursprünglichen Bestandteilen des Epos 
zu klären und endlich die alten Lieder aus der Umwucherung durch das 
schulmeisterliche Beiwerk herauszuschälen. Schon jetzt lassen sich mehrere 
Lieder und Liedkrei.se erschließen, wie: die Geschichte der Eltern desDigenis, 
die Kindheit des Helden, seine Heldentaten auf der Jagd, .seine Liebes- 
werbung und Vermählung, die Episode der verlassenen Braut, deren 
Lockungen Digenis unterliegt, der Kampf mit dem Drachen, dem Löwen 
und den Räubern, die durch den Alexanderroman beeinflußte und viel- 
leicht nicht ursprüngliche Episode der Amazone Maximu, die Digenis mit 
dem Schwerte bezwingt, um dann selbst von ihrer Schönheit bezwungen 
zu werden, die Erbauung des märchenhaften Schlosses am Euphrat, der 
Tod der Eltern des Digenis, der frühzeitige Tod des Digenis und seiner 
Gattin. Es muß aber zum Schluß kräftig betont werden, daß die Scheidung 
zwischen den ursprünglichen Liedern und den Zutaten der literarischen 
Bearbeiter noch wenig gefördert ist 
ProtMchrifton. Nach ihrem Stoffe und Leserkreise, aber nur teilweise nach ihrer 

sprachlichen Form gehören zur volksmäßigen Literatur einige weitver- 
breitete Prosaschriften wie der weltberühmte geistliche Roman Barlaam imd 
Joasaph, dessen Fabel aus der Lebensgeschichte des Buddha entnommen 
ist, das auch aus Indien stammende, in alle mittelalterliche Literatiiren 
übergegangene Buch von den sieben weisen Meistern, in der mittelgriechi- 
schen Bearbeitung „Allerschönste Geschichte des Philosophen Syntipas" 
betitelt, und der mit ihm verwandte Fürstenspiegel Kaliiah und Dimnah, 
dessen Heimat ebenfalls in Indien zu suchen ist. Rein volkssprachliche 
Prosadenkmäler sind die im 1 2. und i j. Jahrhundert verfaßten griechischen 
Gesetze von Jerusalem und Cypern, einige Chroniken, Hausarzneibücher, 
Sprichwörtersammlungen und zahllose Übersetzungen hochgriechischer 
Werke. 

Trotz der glücklichen Wahl mancher Stoffe und trotz mancher Einzel- 
erfolge ist die in der Volkssprache abgefaßte Literatur bei den Griechen 
immer das Aschenbrödel der Nation geblieben und ist im Wettbewerb 
mit der älteren vornehmen Schwester, der gelehrten Literatur, unterlegen. 
Die Hauptschuld daran trägt die ununterbrochene Fortführung der alten 
Sprache in Staat, Schide und Kirche. Dadurch, daß sich die Tradition 
der formalen Bildung ausschließlich auf der Antike aufbaute, wurden die 
Neuerungen der lebenden Sprache wie auch die neuen und fremden Elemente 
in den Stoffen, im Volkscharakter, in der künstlerischen Auffassung tisw. 
nach Kräften verdeckt oder unterdrückt. Die Volksliteratur ist es, in der 
die lebendigen Unterströmungen zutage traten: die tiefgreifenden Um- 
wälzungen in der Sprache, die neuen metrischen Formen und die Durch- 
setzung der griechischen Welt mit orientalischen Erzählungsstoffen, An- 
schauungen und Geschmacksrichtungen. Orientalischen Ursprungs ist 2. B. 



VIII. Die Türkenzeit (1453— iSai). 



381 



außer den drei eben erwähnten Prosaerzählungen die Versgeschichte vom 
Armen Leon. Außerdem verrät sich orientalischer Einfluß in zahlreichen 
einzelnen Zügen der Schilderung und des märchenhaften Beiwerks, recht 
deutlich u. a. in mehreren Versromanen und im Digenis, dessen Doppel- 
charakter schon durch seine Abstammung von einem heidnischen Syrer 
und einer christlichen Griechin angedeutet ist. 



VTTT. Die Türkenzeit (1453 — 182 i). Durch den Fall des oströmischen 
Reiches (14.53) wurden die zuletzt immer dürftiger gewordenen politischen, 
gesellschaftlichen und materiellen Grundlagen der nationalen Bildung und 
der literarischen Tätigkeit fast vollständig vernichtet Nur die kirchliche 
Organisation blieb bestehen und fristete unter dem Schutze der neuen 
Machthaber ein ärmliches Dasein. Der Kirche ist es denn auch zu 
danken, daß unter der kulturfeindlichen Türkenherrschaft dürftige Reste 
der alten Bildung erhalten blieben. Hierfür wirkten die geistlichen Schulen 
in Konstantinopel, Jaonina, auf dem Athos und in Patmos. Die besten 
gelehrten Kräfte suchten und fanden außerhalb des türkischen Macht- 
bereiches ein Feld der Tätigkeit, indem sie althellenische Bildung, be- 
sonders die platonische Philosophie durch Wort und Schrift verbreiteten. 

Wenn man von den Werken der mit Italien verbundenen Grriechen, 
die in den Kreis des abendländischen Humanismus gehören, absieht, so 
erscheint das griechische Literaturwesen in der Türkenzeit trotz der vielen 
Namen als treues Spiegelbild der traurigen und ärmlichen äußeren Ver- 
hältnisse. Auf dem theologischen Gebiete ist es vornehmlich der alte Streit 
mit den Lateinern, der mit den tausendmal wiederholten Argumenten fort- 
geführt wurde. Unter den profanen Gattungen behauptet den Vorrang vorerst 
noch immer die Geschichtschreibung. Kritobulos (um 1470), ein vornehmer Kntoboio« 
Grieche aus Imbros, der sich schnell mit den Türken aussöhnte, erzählte *"'" '^'°* 
im Stile des perikleischen Zeitalters die Taten des Sultans Mohammed 13. 
Die Folgezeit hat nur noch dürre, volksmäßige Weltchroniken hervor- 
gebracht, das 16. Jahrhundert die des Manuel Malaxos, das 17. die des 
Dorotheos von Monembzisia. Erfreulich sind die kraftvollen Ansätze zu 
einer auf der natürlichen Sprache ruhenden neugriechischen Literatur, die 
im 16. und 17. Jahrhundert auf Kreta, im 18. Jahrhundert auf der Hepta- 
nesos hervortraten. Sie sind durch die kunstsprachliche Reaktion im 
19. Jahrhundert wieder vernichtet worden; doch hat sich in der Poesie die 
Volkssprache bis auf den heutigen Tag behauptet So ist denn das sicht- 
barste geistige Erbteil, das die Neugriechen aus der byzantinischen Zeit 
übernommen haben, die Doppelköpfigkeit ihrer Sprache und Literatur. 
Die Versuche zur Ausgleichung dieses Dualismus in der Volksseele werden 
wohl noch lange im Mittelpunkt der griechischen Kulturarbeit stehen. Von 
der gedeihlichen Lösung dieser Lebensfrage hängt es ab, ob die Grriechen 
dereinst noch einmal eine Literatur erzeugen werden, die diesen Namen 
verdient 



282 Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 

Ich glaube und hoffe, sie werden diese Literatur hervorbring'en. Nahezu 
zwei Jahrtausende haben Attizismus, Archaismus und Rhetorismus, ver- 
hängnisvolle Erbstücke der Vorfahren, die frische Entfaltung eines neuen 
und eigenartigen Schrifttums gehemmt Es war natürlich, daß das viel- 
geprüfte und geistig verarmte Volk, nachdem es sich durch heldenmütige 
Kämpfe aus der Türkenbarbarei befreit hatte, zunächst einfach auf die 
verstaubten Formen seiner Vergangenheit zurückgfriff. Heute aber sollten 
die literarischen Allongeperücken, d. L klassizistische Unnatur, altertüm- 
liche Dunkelheit und gezierter Bombast, endlich abgeworfen werden. Es 
ist die Zeit gekommen, daß weitblickende starke Menschen das mannig- 
faltige fruchtbare Leben der Cregenwart in sich fassen und \mbeirrt durch 
verknöcherten und verknöchernden Formelkram im harmonischen Einklang 
mit dem Denken und Fühlen der Nation zum Ausdruck bringen. So wird 
das schöne neue Hellas sich seine Literatur imd seine nationale Bildimg 
erringen und den Völkern zurufen können: Tretet eini Auch hier sind 
Götterl 

Schlußbetrachtung. Die welthistorische Bedeutung der byzanti- 
nischen Bildung und Literatur kann nicht bezweifelt werden. Die griechi- 
schen christiichen Oströmer haben über tausend Jahre das geistige Erbe 
des Altertums gegen die wütenden, von allen Seiten losstürmenden An- 
griffe der Barbaren gehütet Sie haben eine eigenartige mittelalterliche 
Kultur geschaffen und die Schätze der alten heidnischen und ihrer eigenen 
christlichen Literatur allen Nachbarvölkern mitgeteilt: den Syrern, den 
Kopten, Armeniern, Georgiern, Arabern, den Bulgaren, Serben, Russen 
und Rumänen; sie haben sogar den Mördern ihres politischen Lebens, den 
Türken, wertvolle Stücke ihrer Bildung, besonders ihrer rechtlichen und 
staatlichen Einrichtungen hingegeben; sie haben durch ihre Lehre eine 
neue, riesengfroß in die pulsierende Gegenwart hereinragende Kultur er- 
zeugt Sie haben endlich, im langen schmerzvollen Todeskampfe, die 
Schätze der althellenischen Weisheit und Kunst auf den sicheren Boden 
des Abendlandes verpflanzt imd dadurch die westiichen Völker, wie früher 
die des Ostens und Nordens, mit reichen Bildungskeimen befruchtet 

Die Nachkommen der Byzantiner besitzen keine politische Macht, und 
die künftigen Geschicke der einst vom oströmischen Staate eingenommenen 
Länder werden nicht von den Grriechen bestimmt werden. Dafür aber 
haben die neuen Hellenen die gfroße und dankbare Pflicht, im Südosten 
als Pioniere der europäischen Bildung und christiichen Gesittimg zu dienen 
und bei der geistigen und materiellen Regeneration des uns nächsüiegenden 
Orients in der ersten Linie mitzuwirken. Mögen sie dieser weitausblicken- 
den Aufgabe in einer ihres ruhmreichen Namens würdigen Weise gerecht 
werden! 



Literatur. 

DaB die Zeit von Konstantin bis Justinian, obwohl sie schon oben S. 198 fr. eine so 
vortreflliche Darstellung gefunden hat, auch von mir flüchtig skizziert worden ist, geschah 
im Einverständnis mit v. Wilamowitz-Moellendorff. Denn ebenso wie er bin ich der 
Ansiebt, daB die Übergangsperiode eine doppelte Betrachtung, zuerst vom antiken, dann 
vom mittelalterlichen Ufer aus, erfordere. Der Januskopf dieser aus alten und neuen 
Elementen gemischten Zeit müßte eigentlich immer und noch viel eingehender, als es hier 
geschehen konnte, von zwei Seiten aus studiert werden. 

I. Die systematische Aufdeckung und Erforschung der byzantinischen Literatur beginnt 
mit den großen Ausgaben der byzantinischen Historiker, die im 17. Jahrhundert unter den 
Auspizien Ludwigs XIV durch gelehrte Franzosen wie Du Cangk , Combefis , Maltrait u. a. 
veranstaltet wurden („Pariser Corpus"). Das 18. und 19. Jahrhundert beschränkten sich 
zunächst, im .Anschluß an diese Riesenarbeit, auf weitere Veröffentlichung historischer 
Quellen und auf die Untersuchung und Darstellung der byzantinischen Geschichte (im 
i8. Jahrb. Gibbon; im 19. die Deutschen Fallmerayer, Tafel, Hopf, Gelzer; die Franzosen 
BUCHON, Rambaud, ScHLiniBERGER, DiEHL; die Engländer Finlay imd Burv). Eine 
philologische Arbeit im größeren Stil hat allerdings das 18. Jahrhundert hervorgebracht: der 
größte Teil des byzantinischen Schrifttums ist durch des Fabricius Bibliotheca graeca be- 
kanntgemacht worden (s. S. 232). Aber der weite Gesichtskreis, der in diesem gelehrten, 
leider durch seine Formlosigkeit abschreckenden Monumentalwerke herrscht, verengte sich 
durch das Aufkommen des Klassizismus so sehr, daß von nun an sowohl die einzelnen 
Forschungen wie die Sammelwerke und allgemeinen Darstellungen meist vor willkürlich 
gesteckten Grenzen Halt machten. Im großen und ganzen hat die griechische Philologie im 
19. Jahrhundert die Byzantiner nur insoweit beachtet, als sie bei ihnen Reste und Ergänzungen 
der alten Literatur vermutete. Demgemäß blieb auch die Veröffentlichung, Verwertung und 
Beurteilung der byzantinischen Denkmäler meist auf dem engherzigen und kurzsichtigen 
Standpunkt des Klassizismus befangen. In diesem Sinne wurden denn einzelne Teile der 
byzantinischen Literatur auch in mehreren Gesamtdarstellungen der altgriechischen Literatur 
berücksichtigt; am besten, aber mit Beschränkung auf die Poesie, in der Geschichte der 
griechischen Literatur von G. Bernhardv (vierte Bearbeitung in 3 Teilen, 1876 — 1880). Zu 
einer umfassenden Erforschung der byzantinischen Literatur um ihrer selbst willen, zum 
Studium der Schriftwerke aus der Sprache und den Dingen ihrer eigenen Zeit heraus und 
zu ihrer Beurteilung im großen Zusammenhange der griechisch -slawisch -orientalischen Kultur 
des Mittelalters kam es erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Eine geschichtliche Dar- 
stellung der auf die byzantinische Literatur gerichteten Studien, die am besten in den 
Rahmen einer Geschichte der mittel- und neugriechischen Philologie gefaßt würde, fehlt 
noch. Einen Ausschnitt behandelt Cn. DiEHL, Les dtudes byzantines en France, ,,Byz. Zeit- 
schrift" 9 (1900) I — 13. 

j. Den ersten Versuch einer zusammenfassenden Darstellung der byzantinischen Literatur 
als Ausdruckes der oströmischen Kultureinheit wagte K. Krumbacher, Geschichte der 
byzantinischen Literatur, München 1890. 2. Aufl. 1897 (in der 2. Aufl. ein Abschnitt ,, Theo- 
logie", bearbeitet von A. Ehrhard, und ein Abriß der byzantinischen Kaisergeschichte von 
H. Gelzer). Das Stoffliche und Bibliographische ist hier ziemlich vollständig zusammen- 
gebracht; dagegen ist der geschichtliche Zusammenhang erst für einzelne Gebiete untersucht, 
und für die Aufhellung der inneren Beziehungen wie für die schärfere Charakteristik einzelner 
Gattungen, Perioden und Personen bleibt noch das meiste zu tun. Viele wichtige Texte sind 
nur fragmentarisch oder ungenügend, viele an unzugänglichen Orten, viele noch gar nicht 
veröffentlicht. Eine Unzahl einschneidender literarhistorischer und biographischer Fragen 
harren noch der Prüfung. Die Spezialforschung hat ein unübersehbares Arbeitsfeld vor sich. 



284 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



Der Veröffentlichung solcher Einzelarbeiten dienen jetzt mehrere periodische Organe: die 
„Byzantinische Zeitschrift", herausgegeben von K. Krtjmbacher, Leipzig iSgiff. (bis 
jetzt 14 Bände). Dazu als Ergänzung für umfangreichere Arbeiten das „Byzantinische 
Archiv", herausgegeben von K. KRUMB.^CHER, Leipzig iSgSflf. (bis jetzt 3 Bände). Nach 
dem Vorgang der ,,Byz. Zeitschrift'' gründete die russische Akademie der Wissenschaften ein 
ähnliches Organ ,,Vizantijskij Vremennik" (d. h. Byzantinische Zeitschrift), Petersburg 
1894 ff. (bis jetzt II Bände). Außer diesen Spezialorganen kommen in Betracht die Byzan- 
tinisch-slawische Abteilung des Jahrbuches der historisch -philologischen Gesellschaft in 
Odessa, die Nachrichten des russischen archäologischen Instituts in Konstantinopel und zahl- 
reiche theologische , historische und philologische Zeitschriften , in denen byzantinische Dinge 
gelegentlich berührt werden. Die L'bersicht über die sehr zerstreute Literatur wird jetzt 
erleichtert durch die der ,,B>'z. Zeitschrift" und dem ,,Viz. Vrem." regelmäßig beigegebenen 
bibliographischen Notizen. Man gewinnt aus ihnen eine überwältigende Vorstellung von der 
mannigfaltigen und emsigen Arbeit, die heute auf diesem früher unbeachteten oder ver- 
achteten Gebiete um sich gegriffen hat. Wer aber näher zusehen kann, wird etwas ent- 
nüchtert. In Wahrheit sind wir lange nicht so weit vorwärts gekommen, als man nach den 
lawinenartig anschwellenden Massen der neuesten Kleinliteratur erwarten sollte. Wenn so 
viele wohlgemeinte Beiträge unzulänglich oder wertlos sind und so viele mühevolle Arbeiten 
einfach neu gemacht werden müssen , so ist daran größtenteils die mangelhafte Vorbereitung 
der Forscher schuld. Nichts ist verfehlter als die übliche stillschweigende Annahme, daß 
eine normale Schulung in der klassischen Philologie, in der alten Geschichte oder in der 
christlichen Tlieologie zur gedeihlichen Arbeit auf dem byzantinischen Brachland befähige. 
In Wahrheit erheischt diese Arbeit eine ganz eigenartige Vorbildung, besonders eine ein- 
gehende Beschäftigung mit der mittel- und neugriechischen Sprache, mit der Metrik, Epi- 
graphik und Geschichte der Byzantiner und mit der griechischen Theologie. Wer sich 
byzantinischen Studien im weiteren Umfange widmen will , wird auch — besonders wegen der 
zahlreichen einschlägigen russischen Publikationen — der Kenntnis einer slawischen Sprache 
nicht entraten können und sich endlich den Ergebnissen der benachbarten orientalischen 
Philologien (besonders der sjTischen, arabischen und armenischen) nicht verschließen dürfen. 

3. Die schon in der Literaturübersicht S. 230 ff. zitierten Werke, die in einzelnen 
Partien auch für die byzantinische Literatur in Betracht kommen , werden hier nicht wieder- 
holt. Ich beschränke mich wesentlich auf die Anführung einiger Bücher von allgemeiner 
Bedeutung. Außerdem werden mehrere Schriften zur Begründung oder Erklärung im Texte 
ausgesprochener Behauptungen genannt. 

S. 241. Christianisierung im Osten und im Westen: Paul Fredericq, Les cons^quences 
de r^vang^lisation par Rome et par Byzance sur le d^veloppemcnt de la langue matemelle 
des peuples convertis. Bull, de l'Acad. roy. de Belgique, Classe des Icttres 1903, S. 738 ff. 
FTr. Cumont, Pourquoi le latin fut la seule langue liturgique de l'Occident? Mdlanges PAUL 
Fredericq, Bruxelles 1904, S. 63ff. 

' S. 242. Themen Verfassung: H. Gelzer, Die Genesis der byzantinischen Themenverfassung. 

Leipzig 1899 (Abhandl. d. k. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften, Band XVIII). 

S. 249. Den Einfluß des Orients auf die frühchristliche und byzantinische Kunst hat 
J. Strzvgowski nachgewiesen. Vg!. besonders seine Bücher: Orient oder Rom, Leipzig 
1900; Kleinasien, ein Neuland der Kunstgeschichte, Leipzig 1903; den geistvollen Artikel: 
Hellas in des Orients Umarmung, in der ,, Beilage zur (Münchener) Allgemeinen Zeitung" 
vom 18. — 19. Februar 1902 (Nr. 40 — 41) und den S. 236 zitierten Aufsatz. 

S. 250. Mithraskult; F. CUMONT, Les myst^res de Mithra. 2. Aufl. Paris 1902. (Deutsch 
von H. Gehrich, Leipzig 1903.) 

S. 250. Säulenheilige: H. DELEHA'i'E, Les stylites. Compte rendu du 3" congr&s scicnti- 
fique international des catholiques, Bru.telles 1895, S. 191 — 232. 

S. 250. Orientalische Form des mittelgriechischen Sprichwortes: K. Krumbacher, Mittel- 
griechische Sprichwörter, München 1893, S. 2iff. (Sitzungsberichte der k. bayer. Akademie 
der Wissenschaften. 1893, Band II). 



Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters. 



285 



S. 251. Koine: A. Thumb, Die griechische Sprache im Zeitalter des Hellenismus, Stras- 
burg 1901. Vgl. oben S. 83 f. 

S. 253. Eine Geschichte der griechischen Doppelsprachigkeit vom Altertum bis auf die 
Gegenwart gibt K. Krumbacher, Das Problem der neugriechischen Schriftsprache, München 
1902, wo auch sonstige Literatur angeführt ist. 

S. 255. Theologische Prosa: Für die ältere Zeit (bis zum S.Jahrhundert) kommen einige 
patrologische Werke in Betracht, besonders O. Bardenhewer, Patrologie. 2. Aufl. Frei- 
burg i. B. 1901. Eine ausführlichere Darstellung gibt O. Bardenhewer in seiner: Geschichte 
der altkirchlichen Literatur (bis jetzt Band I u. II), Freiburg 1902— 1903 (bis zum Beginn des 
4. Jahrhunderts reichend). 

S. 258. Hauptschrift zur byzantinischen theologischen Literatur: A. Ehrharo in Krum- 
BACHERS Gesch. d.byi. Lit. 2. Aufl. 1897, S. 1 — 218. — Die wichtigste Sammlung von Texten 
der griechischen Theologen ist die von dem französischen Abb^ MiGNE herausgegebene 
Patrologia, Series Craeca, 161 Bände, Paris 1857 — 1866. 

S. 261. Metrik der Kirchenpoesie : W. CHRIST et M. ParaNIKAS, Anthologia graeca car- 
miniun christianorum , Leipzig 1871. Wilhelai Meyer, Anfang und Ursprung der latei- 
nischen und griechischen rhythmischen Dichtung, München 1885 (Abhandl. der k. bayer. 
Akademie der Wissenschaften. I. Cl. XVll. Band, ü. Abteil.), Dazu die unten zitierten 
Arbeiten von K. Krumbacher. 

S. 261. Einen Teil der Lieder des Romanos veröffentlichte zuerst der gelehrte Kardinal 
J. B. PrrRA in seinen: Analecta Sacra Spicilegio Solesmensi parata, 1, Paris :876. Eine 
Gesamtausgabe wird seit 20 Jahren vorbereitet von K. Krumbacher. Über eine Reihe von 
Vorfragen wie über die Metrik, Textverderbnisse und besonders über die Handschriften 
handeln desselben Schriften: Studien zu Romanos, Umarbeitungen bei Romanos, Romanos 
und Kyriakos, Die Akrostichis in der griechischen Kirchenpoesie, die in den Sitzungsberichten 
der Münchener Akademie 1898, 1899, 1901, 1904 erschienen sind. 

S. 261. Die Übersetzung der ersten Strophe ist von mir, die der zweiten von J. L.JACOBI 
(„Zeitschr. f. Kirchengesch." 1882, S. 226). 

S. 262. Ephrem als Quelle des Romanos; Wilhelm Meyer, Carmina Burana, Berhn 
1904, S. 149 ff. THO.MAS Wehofer, Untersuchungen zur Apokalypse des Romanos. Als 
Ms gedruckt (1902). 

S. 263. Eine Gesamtausgabe der b)'zantinischen Historiker und Chronisten wurde unter 
Ludwig XIV in Paris begonnen und später fortgesetzt (1648 — 1819), (Pariser Corpus). Die 
ganze Sammlung wurde auf Anregung B. G. NlEBUHRS mit einigen Nachträgen wiederholt, 
Bonn 1828 — 1878 (Bonner Corpus). Eine Reihe von Autoren stehen jetzt auch in der 
Bibltotheca Teubneriana. 

S. 263. Prokop: FELIX Dahn, Procopius von Caesarea, Berlin 1865. 

S. 270. Photios: J. Hergenröther , Photius, Patriarch von Konstantinopel, Hl Bände, 
Regensburg 1867—1869. 

S. 272. Konstantin VII Porphyrogennetos : A. Rambaitd, L'empire grec au dixiime 
si^le. Constantin Porphyrog^nöte , Paris 1870. 

S. 272. Michael Psellos: Carl Neum.\nn, Die Weltstellung des byzantinischen Reiches 
vor den Kreuzzügen, Leipzig 1894, S. 81 ff. 

S. 273. AnnaKoranena: Carl NEUMANN, Griechische Geschichtschreiber und Geschichts- 
quellen im 12. Jahrhundert, Leipzig 1888, S. I7fl. 

S. 275. Humanismus in Byzanz: Carl NEUMANN, Byzantinische Kultur und Renaissance- 
kultur, Berhn 1903. Dazu die Bemerkungen in der „Byz. Zeitschr." 13 (1904) 275!.; 7Jof. 

S. 276. Vgl. A. Wächter, Der Verfall des Griechentums in Kleinasien im 14. Jahr- 
hundert, Leipzig 1903. 

S. 278. Volksliteratur: K. Dieterich, Geschichte der byzantinischen und neugriechischen 
Literatur, Leipzig 1902. 



DIE GRIECHISCHE SPRACHE. 

Von 
Jakob Wackernagel. 

11» Griechisch« Einleitung. Die Geschichte der gp-iechischen Sprache können wir mit 
''"* Hilfe der ältesten Literaturdenkmäler und durch richtige Würdigung' der 
Sprache. Mundarten bis ans Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. zurückverfolgen, ihre 
damalige Beschaffenheit und Verbreitung annähernd feststellen. Noch 
weiter zurück führt uns die Vergleichung mit anderen Sprachen. Schon 
den Sprachgelehrten des Altertums waren die Ähnlichkeiten zwischen 
Grriechisch und Latein aufgefallen. Übereinstimmungen, wie die bei ge- 
wissen Verwandtschaftsneunen, z. B. lat pater gr. pater „Vater", lat mOter 
griechisch mundartlich mätir „Mutter«; wie die bei den Zahlwörtern, z. B. 
lateinisch und griechisch tri- „drei" (in Zusammensetzungen), lateinisch imd 
griechisch octo, oktö „acht", mußten sich nicht bloß dem Grelehrten, sondern 
jedem, der die Kenntnis der beiden Sprachen vereinigte, aiifdrängen. Zu 
entsprechenden Beobachtungen mußte man späterhin von anderen Sprachen 
Europas aus gelangen. Aber man vermochte die Erscheinimgen nicht 
befriedigend zu erklären. Erst die im Ausgang des 18. Jahrhunderts er- 
folgte Erschließung des Sanskrit ermöglichte eine wissenschaftliche Lösung 
der Frage. Seit Friedrich Schlegel und Franz Bopp weiß man, daß 
Griechisch und Latein beide einer großen Gruppe von Sprachen angehören, 
die man mit dem nicht ganz geschickten, aber bis jetzt nicht durch 
Besseres ersetzten Namen „indogermanisch" bezeichnet Freilich von einer 
engeren Verwandtschaft gerade des Griechischen und Lateinischen inner- 
halb dieser großen Sprachengruppe kann heute nicht mehr die Rede sein. 
Die zahlreichen speziellen Übereinstimmungen beider Sprachen im Wort- 
schatze beruhen auf Entlehnung seitens der Italiker; und die paar 
Fälle, wo die zwei Sprachen im Gegensatz zu allen verwandten im 
Formenbau zusammengehen, beruhen wahrscheinlich, zum Teil nachweislich 
auf Zufall. Will man das Griechische einer engeren Grruppe innerhalb der 
großen indogermanischen Sprachfamilie einordnen, so darf namentlich (ab- 
gesehen von zahlreichen sehr auffälligen Übereinstimmungen mit dem 
Armenischen) die Zusammengehörigkeit mit den Sprachen Westeuropas 
überhaupt: den italischen, keltischen, germanischen, betont werden. Wie 
diese hat d£is Griechische in zahlreichen Wörtern einen Kehllaut gegenüber 
einem Zischlaut der anderen verwandten Sprachen. So in he-katon „hundert" 
ein k wie in lateinisch centum imd britisch cant gegenüber indischem satatn, 
avestischem satem, litauischem szimtas. 



Einleitung. 



287 



Im ganzen nimmt das Griechische eine isolierte Stellung ein. Eine 
tiefe Kluft scheidet es von den anderen indogermanischen Sprachen, die 
im Altertum auf der Balkanhalbinsel gesprochen wurden. Nur das Make- 
donische bildet möglicherweise eine Brücke, und auch dieses vielleicht nur 
infolge nachträglicher Volksmischung, d. h. insofern als hier griechische 
Sprache früh in den Mund thrakisch-illyrischer Barbaren geriet Eine 
Menge sprachlicher Besonderheiten ist allen denen, die sich in historischer 
Zeit Hellenen nannten, gemeinsam und in dieser Zusammenordnimg bei 
keinen anderen Indogermanen wiederzufinden. Zwei charakteristische 
Lautersetzungen lassen sich gleich an dem oben erwähnten Worte für 
„hundert" Iwkatott aufzeigen. Die erste Silbe ist Ausdruck der Einheit; 
sie entspricht kraft gemeingriechischen Ersatzes von s- durch einen Hauch 
dem alten Stamme sevi-, der einst in den indogermanischen Sprachen zum 
Ausdruck der Einheit diente und in der ersten Silbe von lateinisch 
singularis enthalten ist Dagegen dem -kat- der zweiten Silbe von. hekalon 
entspricht in den verwandten Sprachen meist ein Lautkomplex, worin dem 
/-Laut ein Nasal vorangeht In der Grundsprache wurde hier ein Laut 
gesprochen ähnlich dem en in deutsch reiten, und solchen Laut haben 
alle Griechen durch a ersetzt Daneben hat das Griechische das Jod ein- 
gebüßt, so daß dem lateinischen jugtim (deutsch Joch) griechisch sygon, 
dem lateinischen jccur „Leber" griechisch hepar entspricht. Es hat im 
Unterschied vom Latein sich auf wenige Formen des konsonantischen 
Auslauts beschränkt und gibt unter Verzicht auf lu-sprünglichen freien 
Akzent innerhalb eines Wortes immer einer der drei letzten, unter bestimmten 
Bedingungen einer der beiden letzten den höchsten Ton. Nimmt man zu 
diesen und einigen weiteren hauptsächlich die Konsonanten betreffenden 
lautlichen Eigentümlichkeiten einige Neuerungen der Formenbildung, wie 
die Vereinfachung des Kasussystems beim Nomen (kraft deren die Griechen 
unter anderem des im Latein lebendig gebliebenen und weiter ausgebreiteten 
Ablativs entbehren), oder den Ausbau des Infinitivs zur Unterscheidung der 
Tempora und der sogenannten Genera Verbi, nebst einigen sonstigen ver- 
balen Neubildungen, so hat man etwa das beisammen, was man als sicher 
gemein- oder urgriechisch bezeichnen kann, und ist man im Besitz der 
äußerlichsten Merkmale, um einen beliebig kurzen Text sofort als grie- 
chisch oder nichtgriechisch zu erkennen. 

Nicht beabsichtigt ist bei dieser Aufzählung sprachlicher Neuerungen 
der Eindruck, als ob das indogermanische Erbteil bei den Griechen be- 
sonders starken Umgestaltungen ausgesetzt gewesen wäre. Im Gegenteil 
liefert das Grriechische unter allen indogermanischen Sprachen vielleicht 
das treueste Abbild der Muttersprache. Zum Teil verdankt es diese Stellung 
dem günstigen Stande seiner Überlieferung. Unter den Schwestersprachen 
hat nur das Indische ältere Denkmäler aufzuweisen. Aber auch wenn 
man das Grriechische des 3. Jahrhunderts v. Chr. mit dem Latein eben 
dieser Zeit oder das um die Wende der Zeitrechnung gesprochene mit 



Besonderheiten 
des 

(■iriecbischcn. 



AUertamlichkcil 

des 

Griechischen. 




288 



Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 



dem für diese Zeit erschließbaren Germanischen vergleicht, stellt es sich 
als dem Alten treuer geblieben heraus. Und hierauf beruht ein großer 
Teil der Vorzüge, die man etwa, hingerissen von der Schönheit griechischer 
Sprachkunstwerke, den Lauten und Formen des Grriechischen schlechthin 
(nicht bloß bestimmten Ausgestaltungen des Griechischen) nachgerühmt hat. 
Ererbt ist z. B. der Wohllaut, den es durch den vielfarbigen vokalischen 
Klang und das Fehlen der häßlichen Laute f und ch vor dem Latein und 
dem Deutschen voraus hat, dessen wir allerdings infolge der hergebrachten 
falschen Wiedergabe der Aspiraten qp d. i. ph (z.B. in Philosopfws) und %^.\- kh 
(z.B. in Charori) durch y"- undc/;-Lautenicht völlig gewahr zu werden vermögen. 
Deis Griechische hat diesen Wohllaut freilich gesteigert durch die Ver- 
minderung des konsonantischen Bestandteils der Wörter im Aus- und auch 
im Inlaut. Ebenso stammen aus der Grundsprache andere etwa dem 
Griechischen gutgeschriebene Vorzüge: die Ableitungs- und Zusammen- 
setzungsfähigkeit der Nomina und die hiedurch bedingte Mannigfaltigkeit 
in der Bildung der Personennamen; ferner die Feinheit, die in der Unter- 
scheidung von Aktiv und Medium, von Imperfekt und Aorist liegt. All 
diese Dinge sind fast ebenso im Rigveda (zum Teil auch, mit noch feinerer 
Durchführung, in den slawischen Sprachen) zu treffen. Das Eigentümliche 
am Griechischen ist im Grunde nur, daß die ererbten Ausdrucks- und 
Bildungsmöglichkeiten zwar allseitiger verwertet sind als im Latein, aber 
maßvoller und darum wirksamer als im Altindischen. 
SriechUch in Die hellenischen Stämme hatten, als sie sich in ihren historischen 

der Wanderieit. •^Qjjj^gjj^gjj niederließen, eine lange Wanderzeit hinter sich. Aber die 
Treue, womit sie das Alte wahrten, läßt darauf schließen, daß sie keine 
ihr echtes Volkstum umstürzenden Geschicke durchgemacht und sich fremde 
Volkselemente entweder wenig beigemischt oder eher mit glücklicher 
Energie gänzlich assimiliert hatten. Diese Selbstbehauptung kennzeichnet 
die Grriechen auch in ihren geschichtlichen Sitzen. 
SprachtD der Nicht bloß in den Gebieten, wo sie nach eigener Überlieferung in 

»itein Bewohner (j^g Erbe älterer barbarischer Einwohner eingetreten und deren Beherrscher 

GnecbcnUnds. 

und engste Nachbarn geworden sind, wie an der Küste Kleinasiens, 
sondern auch auf den Inseln des Ägäischen Meeres und (trotz des An- 
spruches der Arkader und der Attiker auf Autochthonie) überall im fest- 
ländischen Hellas, haben einst vor den Grriechen andere, und zwar wohl 
durchweg nicht-indogermanische Stämme gesessen. An mehreren Punkten 
ist das Barbarentum bis in geschichtlich helle Zeiten lebendig geblieben. 
Besonders klar sind diese Verhältnisse auf Kreta. Wenn es in der 
Odyssee von dieser Insel heißt: 

Es wohnen, 
Dort unzählige Menschen und ihrer Städte sind neunzig: 
Völker von mancherlei Stamm und mancherlei Sprachen, 

so haben dies die Funde der letzten Jahrzehnte vollauf bestätigt Inschrift- 
lich sind uns daselbst Reste einer völlig verschollenen Sprache entgegen- 



Einleitung. 



289 



I 




getreten. Zahlreiche kretische Ortsnamen sind ungriechisch, zum Teil nach- 
weislich karisch. Ebenso viele Personennamen. Im übrigen Grriechenland 
bilden die Ortsnamen das sicherste Zeugnis einstiger nichtgriechischer 
Bevölkerung. Die bekanntesten Bergnamen, der des Pamassos, der des 
honigreichen Hymettos haben kaxische Endung. Daneben ist an dem un- 
griechischen Ursprung mancher Göttemamen nicht zu zweifeln. Den Kultus 
des Himmelsgottes zwar und damit den Namen Zeus haben die Griechen 
aus der Urheimat mitgebracht und durch ihre Wanderzüge durch gerettet 
Aber im übrigen haben sie nach der Einwanderung offenbar zahlreiche 
Kultstätten und damit Kulte und heilige Namen von den älteren Be- 
wohnern übernommen. 

So weit, auf Ortsnamen und auf Göttemamen, erstreckt sich der sprach- UngemurhthoU 
liehe Einfluß der Autochthonen. In den sonstigen Wortschatz scheint aus ^" ^ 
ihrer Sprache so gut wie nichts eingedrungen zu sein. Wohl ist die 
Etymologie der griechischen Sprache noch viel weiter im Rückstand, als 
der Fernerstehende vielleicht denkt Und auch bei fortschreitender For- 
schung werden wohl immer Wörter übrigbleiben, die man weder als ererbt 
noch als von den Grriechen selbst neu gebildet wird nachweisen können. 
Aber wir haben gar keine Anhaltspunkte, um mehr als ganz vereinzelte 
Entlehnungen aus der Sprache der Ureinwohner anzunehmen. 

Überhaupt gehört Sprödigkeit gegenüber Entlehnung zu den bezeich- Äuer» 
nendsten sprachlichen Eigenheiten der Griechen, Im schärfsten Gegensatz '"»"'•''*"•'• 
zu den Lateinern, die, soweit wir zurückblicken können, vom Reichtum 
der Griechen zehren, haben diese selbst ihr Ausdrucksbedürfnis fast ganz 
aus eigenen Mitteln bestritten. Alle Begriffe des persönlichen Lebens, 
des Familien- und Staatslebens haben sie griechisch benannt; die Termino- 
logie der Künste und Wissenschaften ist rein national. Am ehesten noch 
ist Einfluß fremder Sprechweise in den Kolonialgebieten zu erkennen, 
gerade so wie deis Englische in Indien und am Kap manche entliehene 
Ausdrücke enthält, die einem Bewohner Londons oder Oxfords unverständ- 
lich sind. Der Jambograph Hipponax aus Ephesos verwendet das lydische 
Wort für „König". Die Kyrenäer bezeichnen nicht bloß das afrikanische 
Produkt, das sie reich machte, das Silphion, wie billig mit afrikanischem 
Namen, sondern auch den Silphionwäger. Und ganz besonders haben sich 
die verschiedenen griechischen Stämmen angehörigen Besiedler Italiens 
und Siziliens dem fremden Einfluß geöffnet Nicht bloß, was man ja leicht 
versteht, ihre Gewichts- und Münzbezeichnungen lehnen sich ganz an die 
dort einheimische Weise an; bei ihren Dichtem und in ihren Urkunden 
begegnet man lateinischen Wörtern wie campus, panis, rogus in kaum 
veränderter Gestalt Aber die Hellenen des Mutterlandes haben fast nur 
von außen zugekommene Gegenstände der äußeren Kultiu- ausländisch 
benannt Dies freilich von jeher. Bei Homer sind z. B. fast alle Metall- 
namen derartigen Ursprungs. Das Wort für Gold (chrysosj ist semitisch, 
das für Silber (argyros) über Kleinasien zugewandert, die für Blei (molibdos) 

Du KlLTUR DEJl CixnMWUlT. I. 8, ]Q 



>go 



Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 



später« 
Fremdwörter. 



und Eisen (sidcros) wohl iberisch bzw. kaukasisch. Wenn einzig das 
Erz einen echtgriechischen Namen führt (clialkos), so folgt daraus, daß 
die Griechen nur dieses Metall kontinuierlich besessen haben. Dem ent- 
spricht es, wenn bei Homer der linnene Rock, der Chiton, ungfriechisch 
benannt ist, und wenn nach Homer als Semitismen unter anderem die 
Buchstabennamen und gewisse Ausdrücke für Gewicht und Münze be- 
gegnen. So mna oder mnc „die Mine", das mit dem ersten Wort des 
Danielschen Mene Tekel identisch ist, während freilich für den umfassen- 
deren Begriff Talent und für die TeilbegrifFe Drachme und Obolos echt- 
griechische Ausdrücke gewählt wurden. Und wie wir die Wörter Peitsche 
und Knute dem solche Waffen liebenden Osten verdanken, so der Athener 
sein gleichbedeutendes maragna. 

Auch mit Alexander und dem Hellenismus trat in der Ablehnung des 
Fremden nur insofern eine Wendung ein, als sich nun viel mehr Anlaß 
bot, Dinge fremder Länder und Völker zu benennen, und als weiterhin 
die Barbaren und besonders die Römer immer mehr anfingen griechisch 
zu reden und zu schreiben und dabei ihre Sprachgewohnheiten auf das 
erlernte Idiom übertrugen. Aber freilich durch die römische Herrschaft 
und das, Wcis sie in der Kaiserzeit im Gefolge hatte, die Völkermischung 
und die weit verbreitete Zweisprachigkeit der Gebildeten und wohl auch 
der Geschäftsleute, wurde das Griechentum stärker infiziert. Begriffe des 
Alltags und des öffentlichen Lebens werden nun immer mehr lateinisch 
benannt Auch die Personennamen reden eine deutliche Sprache. Eine 
Menge orientalischer und römischer Namen wird mit griechischer Endung 
in Gebrauch genommen. Sprachgeschichtlich am lehrreichsten sind solche 
wie Herodianos, Christtanos , wo auf griechischen Stamm eine lateinische 
Endung {-iafios wie in lateinisch Ca-esarianus) gepfropft ist Auch sonst 
finden wir für Schöpfung griechischer Wörter lateinische Bildungselemente 
verwandt; selbst innere Sprachform und Wortfügung zeugen von jener 
Einheit griechisch-römischer Kultur, welche die Kaiserzeit charakterisiert 



Spaltung L Die griechischen Mundarten. Das Griechische tritt ims zu- 

iD Mundirten jj^^hst in scharf ausgeprägter mundartlicher Spaltung entgegen. Wo 
große Ebenen von Nomaden bewohnt werden, pflegt die Sprache weithin 
einheitlich zu sein. Es fehlt da an natürlichen Grenzen, an festen Zentren. 
Durch das beständige Wandern kommt jeder mit jedem gelegentlich in 
Kontakt So bei den Steppenvölkern Innerasiens; so bei den Arabern. 
Umgekehrt bei den Griechen. Hier mußte die unendliche Gliederung des 
Landes, da überall Gebirgszüge und Meere teils trennten, teils auch 
wieder verbanden, der mundartlichen Vielförmigkeit ganz eigentlich rufen; 
man vergleiche die Vielsprachigkeit des Kaukasus. In gleichem Sinne 
wirkte der zum Teil aus gleicher Ursache entsprungene politische Parti- 
kularismus. Die Vielheit von Mundarten bestand ungemindert und un- 
verwischt bis tief in die Zeiten hinab, da man schrieb und Urkunden in 



I. Die griechischen Mundarten. 



igt 



Wcsrn der 
oiundArtlicbrn 
Abweichunfen. 



Stein und Erz verewigte. Sie kamen auch in der Literatur zu Wort, hier 
freilich zu Anfang selten ungemischt; immerhin hatten z. B. die Lieder 
der Sappho und des Alkaios durchaus äolischen, die des Archilochos und 
des Anakreon durchaus ionischen Klang. Und so sind uns die Dialekte 
Griechenlands viel besser bekannt als diejenigen des alten Italien und 
haben eine größere geschichtliche Bedeutung als die deutschen oder gar 
die französischen. 

Nicht irgendein allgemeines Griechisch, vielmehr die besondere Mund- Mundarten 
art ihrer Stadt oder Landschaft nahmen die Griechen auch auf den Kolo- ""'''" '^'''"''''■" 
nisationszügen mit. So sprach man auf Kypros, das in grauer Vorzeit von 
der vordorischea Bevölkerung des Peloponneses Besiedler empfangen hatte, 
dasselbe Griechisch wie in Arkadien, in Korkyra dasselbe wie in Korinth. 
Und in der Chalkidike, am Pontus, in Süditalien und Sizilien hausten 
lonier und Dorer mit gerade solcher sprachlicher Divergenz nebeneinander 
wie im Mutterlande. Neapel in Karapanien verrät seinen Ursprung aus 
dem ionischen Chalkis noch in der Kaiserzeit durch die Form gewisser 
Ausdrücke des öffentlichen Lebens. 

Die Mundarten gehen hauptsächlich in den Lauten und hier besonders 
in den Vokalen auseinander. Dehnungen und Kontraktionen führen bei 
den einzelnen zu verschiedenen Ergebnissen. Die lonier und Attiker ersetzen 
altes ä durch g, die Eleer altes c durch j; dem lateinischen mätt'r stellen daher 
jene meter, diese mäiär gegenüber, gerade wie lateinisch cantätus franzö- 
sisch zu chante wurde, und wie anderseits der Name der Sueben in dem 
der Sclnvaben fortlebt Innerhalb des Konsonantismus ist die variierende 
Behandlung des / und gewisser ursprünglicher Konsonantengruppen be- 
merkenswert lonier und andere machen aus altem vikati „zwanzig" 
eikosi, wie die Franzosen das / von lateinisch natio als s sprechen; und 
lateinischem qvah'or „vier" antwortet äolisch pessyres, ionisch tcsseres, attisch 
tettares. Unter den Wortformen zeigen das Pronomen und der Infinitiv die 
zahlreichsten Abweichungen. Offenbar war der Infinitiv, worauf auch das 
Zeugnis der verwandten Sprachen führt, urgriechisch noch nicht auf eine 
bestimmte Bildung fixiert. — Im einzelnen war Grad und Art der mund- 
artlichen Varietät durch verschiedene einander kreuzende Momente be- 
stimmt, denen die landläufige Einteilung in Aolisch, Ionisch und Dorisch 
nur sehr unvollkommen gerecht wird. Zum Teil waren geographische 
Berührungen wirksam. Das Attische hatte Beziehungen nach Nordwesten 
zum Böotischen, nach Osten zum Ionischen. Die lonier KJeinasiens 
wiederum berührten sich in einigem mit den nordwärts von ihnen wohn- 
haften Aolem. Daneben wirkten die alten Wanderungen nach, am deut- 
lichsten in der Sprachgemeinschaft der dorischen Staaten, aber auch in 
anderem. Das Arkadische z. B. war am nächsten dem Ionischen und 
Attischen, weiterhin auch dem Aolischen und Thessalischen verwandt, von 
den Sprachen der Umwohner geschieden: man weiß nun, daß der durch 
das Arkadische vertretene Dialekttypus einst auch in den Küstenland- 

19» 




292 



Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 



Schäften des Peloponneses herrschte und erst durch die Einwanderung der 
dorischen und ätohschen Stämme zurückgedrängt und aus dem ursprüng- 
lichen Zusammenhange herausgerissen wurde. Wiederum die mundart- 
Uchen Verhältnisse Thessaliens erklären sich daraus, daß, nachdem von 
Westen her der Stamm der Thessaler eingebrochen war, er zwar im 
nächstgelegenen Teil des Landes den von ihm mitgebrachten Typus des 
Griechischen wenigstens annähernd durchsetzte, aber weiter nach Osten 
hin die Sprache der Unterworfenen völlig annahm. Femer kann man 
auch bei den Griechen die Beobachtung machen, daß durch Veränderung 
der Wohnsitze und durch Kreuzung von Volksstämmen die sprachliche 
Entwickelung beschleunigt wird. Böotien bestätigt durch seine Sprache 
die Überlieferung, daß es einmal seinen Herrn gewechselt hat: es besitzt 
die buntscheckigste Mundart und zugleich die phonetisch modernste. Und 
die lonier Asiens sind, wie in allem anderen, so auch in der Sprache den 
übrigen Grriechen voran. Sie haben zuerst von allen den af-Laut, das 
sogenannte Digamma, aufgegeben und sich wenigstens ein halbes Jahr- 
tausend früher als die Athener den Zopf des Dualis abgeschnitten. 
Atti.ehcr Die wirkliche Gestaltung des Sprachlebens bis in seine feinen Schattie- 

Duiekt. rungen kennen wir für die Zeit der altmundartlichen Spaltung weitaus am 
besten in Attika dank der Fülle literarischer und inschriftlicher Über- 
_ . lieferung. Nach dem, was sich hier sicher feststellen läßt, können wir 
uns unter gewissen Vorbehalten ein Bild von den ältesten Sprachverhältnissen 
anderer griechischer Landschaften machen, 
sprachiicbo Zunächst frappiert den Betrachter die Einheitlichkeit der attischen 

Einheit von Sprache. Einheitlich ist sie erstens in räumlicher Beziehung. Jedenfalls 
im 5. und 4. Jahrhundert wurde in ganz Attika gleiches Griechisch ge- 
sprochen, soweit überhaupt sprachliche Einheit auf irgend einem aus- 
gedehnteren Gebiete möglich ist Kein Stein überliefert irgend ein Bei- 
spiel lokaler Mundart, imd während der römische Komiker seine Hörer 
mit den Wunderlichkeiten des Lateins von Präneste unterhalten kann, weiß 
der attische, der sonst so gern sprachliche Besonderheiten seinem Spott 
unterwirft, an ländlichen Gemeinden seines Heimatgebietes nichts Ähnliches 
auszusetzen. Wer die Gesetze sprachlichen Lebens einerseits, die ursprüng- 
lichen staatlichen Verhältnisse Attikas anderseits erwägt, wird es als ge- 
wiß betrachten, daß ehemals in Marathon anders gesprochen wurde als in 
Athen oder Sunion, Von einer einstigen eigentümlichen eleusinischen 
Mundart zeugen gewisse sakrale Namen. Aber dies alles ist früh unter- 
gegangen. Die Auffassung Attikas als Einer Polis war nicht bloß Theorie. 
Athen war so durchaus Zentrum, daß es alle örtlichen Besonderheiten auf- 
sog. Seine Sprache war Norm für alle, die als seine Bürger galten. Die 
einzige Ausnahme dient zur Bestätigung: Oropos hat einen Sonderdialekt, 
verwandt dem von Euböa, aber es hat nur zeitenweise zu Attika gehört. 
— Nicht ganz so einheitlich, aber doch viel einheitlicher, als man erwarten 
könnte, ist das Attische in sozialer Beziehung. Die Schichten wenigstens 



Attika. 



I. Die griechischen Mundarten. 



293 




der bürgerlichen Bevölkerung waren sprachlich weniger geschieden als 
2. B. im alten Rom. Formal vulgäre Redeweise bezeugt die Literatur 
eigentlich nur für Fremde oder wo fremder Ursprung glaublich gemacht 
werden soll. Und die Sprache der Texte, die nicht aus künstlerischen 
Absichten stilisiert sind, ist, was Laute, Wortgebilde, Satüfügung betrifft, 
merkwürdig gleichmäßig. Nur an zwei Gruppen von Denkmälern, an den 
Vasen und an den sogenannten Fluchtafeln, hat die neuere Forschung eine 
Anzahl Erscheinungen nachgewiesen, welche zeigen, daß der gemeine 
Mann gewissen Lautneigungen mehr nachgab, als das Reden vor Gericht 
oder der Gebrauch selbst der komischen Bühne es zuließ. Aber viel ist 
es nicht Zudem kommen hier vielfach Fremde zu Worte, Zugewanderte 
und Sklaven. — Auch ein Drittes mag noch genannt werden. Die Sprache 
des Gottesdienstes sonderte sich zwar in Athen von der des Alltages, aber 
nur durch die Verwendung einiger weniger sonst ungebräuchlicher Aus- 
drücke und durch die gelegentliche ionische oder homerische Färbung des 
Vokalismus, wodurch die Rede Würde und Vornehmheit zu erhalten schien. 
Unverständliche oder halbverständliche Gebete und Formeln, wie sie bei 
so vielen Völkern und Religionsgemeinschaften, im Altertum bei den 
Römern zu treffen sind, kennt man in Athen (wie anscheinend überhaupt 
bei den Griechen) nicht, wenigstens picht in staatlichen Kulten. Ent- 
sprechend zeichnet sich die attische Amts- und Rechtssprache durch die 
geringe Zahl veralteter Worte aus. 

Sprachlich geschlossen wie Attika in sich war, ließ es doch auch EmflUMe' 
Grriechisch anderer Färbung bei sich einströmen. Man fand zwar seine *" "" , "" ' 

"^ arten au! Oa« 

Belustigung daran, wenn der Komiker böotische, raegarische, lakonische Aitiicho. 
Klänge auf seine Bühne brachte, aber man nahm von den näheren und 
ferneren Nachbarn und von den zugewanderten griechischen Volksgenossen 
manches an. Von den Dorem, deren Einfluß der großen Zeit Athens wohl 
vorausliegt, außer einzelnen interjektionellen Wörtern und außer Personen- 
namen besonders solche Ausdrücke, die den aristokratischen Gedankenkreisen 
entsprachen oder beim Gelage Verwendung fanden, von den loniern etwa 
Termini des Kultus, der Wissenschaft, der praktischen Heilkunst Wich- 
tiger als diese von den Alten übertrieben gewerteten Einzelentlehnungen 
sind die Einflüsse der nicht-attischen Literatursprachen. Zwar schon sehr 
früh und mit höchst bemerkenswerter Sicherheit und Gewandtheit haben 
die Attiker ihr einheimisches Idiom schriftlich zu handhaben verstanden. 
Neben den Urkunden spiegelt der lambus des Solon, wie der der Komödie, 
das gesprochene Attisch wider. Aus Aristophanes klingt es uns in un- 
vergänglicher Frische und Anmut entgegen. Aber an die hohe Poesie 
wagten sich die Athener damit nicht und anfanglich auch nicht an die 
Kunstprosa. Hier waren für sie Sprachtypen maßgebend, die bei anderen 
Griechen geprägt worden waren. Im Epigramm die sprachlich sich 
ans Epos anlehnende Elegie, in der Tragödie für die Lieder die äolisch- 
dorische Lyrik, für den Dialog ursprünglich die ionische lambik, freilich 



294 



Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 



mit starkem und wachsendem attischen Zusatz. Ähnlich die älteste Kunst- 
prosa, wie sie z. B. durch Thukydides vertreten ist Mit seltsamer 
Mischung bewegt sie sich vorwiegend in attischer Sprache, schließt sich 
aber in gewissen Fällen, wo das Ionische andere Konsonanten hat als das 
Attische, an jenes an, ebenso in der Wortwahl und Phraseologie. Aber 
schon im 5. Jahrhundert beginnt sich in der Prosa die pure Atthis durch- 
zusetzen, und im 4. Jahrhundert vermag der Attiker alles in der eigenen 
Sprache auszudrücken. 
'dm AttiKhe Das Attische dieser Zeit bezeichnet für uns, da hernach andere Ent- 

^GriMhUcirn' wickclungen einsetzen, den Höhepunkt der griechischen Sprachgeschichte. 
Eine wesentliche Eigentümlichkeit des Griechentums ist, daß bei ihm mit 
einer sprachlichen Kultur und Pflege der Sprache als Kunstwerkes, wie 
wir solche heutzutage etwa bei einzelnen romanischen Völkern treffen, 
eine eben diesen Völkern fremde Freiheit und Beweglichkeit zusammen- 
geht, vermöge deren die Gegenw^art (außer wo die Tradition einer be- 
stimmten poetischen Gattung es verlangte) nicht an die Vergangenheit ge- 
fesselt und das Individuum nicht den Machtsprüchen einer Akademie unter- 
worfen war. So sind alle Kräfte, die in der Sprache lagen, zur Ent- 
faltung gelangt und hat die sprachliche Entwickelung bis ins 4. Jahr- 
hundert nie stille gestanden. Gegenüber dem Zustande, worin uns das 
Griechische zuerst entgegentritt, finden wir es im klassischen Attisch be- 
deutend moderner, d. h. verstandesmäßiger und praktischer geworden. 
Manches Primitive ist abgestreift, — wie die vollklingende, aber unbequeme 
Bezeichnung der Abstammung durch ein Patronymikum (Aias Telamonios, 
wie noch heute im Russischen Alexander Iwanowitsch) statt durch den 
Genetiv (Timotheos [Sohn] des Konon) — oder ist auf dem Wege ab- 
gestreift zu werden wie der DuaL Die formale Unterscheidung von Medium 
und Passiv ist wenigstens für einige Tempora durchgeführt. Die Wort- 
stellung ist logischer. Es ist eine größere Fähigkeit zu generellem und 
abstraktem Ausdruck vorhanden. Der Attiker hat ein allgemeines Wort 
für Tier, was Homer noch nicht hatte; ein allgemeines für verschwägert, 
während das ältere Gmechisch wie die Grundsprache eben nur jedes ein- 
zelne Verschwägerungsverhältnis bezeichnen konnte. Von großem Einfluß 
auf die Ausdrucksfahigkeit der Sprache war die Herausbildung der Kate- 
gorie des Artikels aus dem rückweisenden Pronomen, vermöge deren ho 
basileus ursprünglich „dieser König" nunmehr bedeutete „der König" mit 
derselben Bedeutungsentwickelung, die wir in französisch le roi aus lateinisch 
ülum regem treffen und durch die unser deutscher Artikel zustande ge- 
kommen ist Damit war neben anderem die Möglichkeit zur Substantivierung 
und zum feinsten abstrakten Ausdruck gegeben. Das kommt auch der Ver- 
wendung des Infinitivs zugute, der außerdem nunmehr die modale Färbung 
des Verbum finitum wiederzugeben vermag. Die Fülle von Neubildungen 
zum Zweck der sprachlichen Wiedergabe der neuen Gedankenwelt, die zumal 
nach den Perserkriegen in Athen einströmte, kommt nur darum an letzter 



II. Die älteren Gemeinsprachen. 



295 



Stelle, weil wir nicht wissen, in welchem Maße hieran die ganze Sprach- 
gemeinschaft Anteil hatte. Dasselbe gilt von der Kunst der Periodologie. 
Es ist nicht dieses Ortes, festzustellen, wieweit die großen Stilisten 
des vierten Jahrhunderts zum gesprochenen Attisch ihrer Zeit Zusätze oder 
davon Abstriche machten, wieweit sie femer selbst sprachschöpferisch 
wirkten. Aber vielleicht darf auch die nüchterne Sprachforschung die 
Frage aufwerfen, ob nicht Plato ein Höchstes menschlichen Sprachkönnens 
darstelle. Wohlklang und Deutlichkeit, begriffliche Schärfe und poetische 
Anmut und Erhabenheit sind bei ihm in unbeschreiblicher H2irmonie vereinigt. 



P 



P 



II. Die älteren Gemeinsprachen. Gegenüber der mundartlichen spr.chiicho 
Zersplitterung macht sich bei den Griechen sehr früh ein Zug nach sprach- £'■>'«"»« ^•' 

_, GriechcD. 

lieber Einheit geltend. Wie die Angehörigen verschiedener Stämme 
einander verstanden, wenn sie in Handel oder Krieg oder an einer Fest- 
versammlung zusammentrafen, wissen wir nicht Die wesentliche Überein- 
stimmung des Wortschatzes und der Wortbiegung mußte für den gemeinen 
Mann durch die starken lautlichen Abweichungen verhüllt werden, das 
Böotische dem Kreter, das Thessalische dem Eleer fast wie eine fremde 
Sprache vorkommen. Aber die Grriechen gelangten früh in den Besitz von 
Gemeinsprachen. Es ist bezeichnend für den Gegensatz griechischer und 
römischer Kultur, einmal, daß sich in Italien die sprachliche Einigung nur 
nach Einem Zentrum hin als Latinisierung volkieht, bei den Grriechen dii- 
gegen sich verschiedene Mundarten in panhellenischer Geltung abgelöst 
haben; zweitens, und das ist noch bemerkenswerter, daß für die Latini- 
sierung Italiens hauptsächlich politische Momente bestimmend sind, An- 
nahme des Latein mit Annahme des römischen Bürgerrechtes zusammengeht, 
während die älteren hellenischen Gemeinsprachen mit staatlichen Zusammen- 
hängen durchaus nichts zu tun haben, sondern nur für die Literatur gelten. 

Gleich das älteste und wichtigste Denkmal griechischer Literatur, die Hotneniche 
homerische Dichtung, steht gewissermaßen außerhalb und oberhalb der Sprache, 
naturwüchsigen Mundarten. So wie sie überliefert ist, trägt sie ionisches 
Gewand; der für die lonier charakteristische ^-Vokal, dem die anderen 
Grriechen das ursprüngliche ä entgegensetzen, klingt uns aus jeder Zeile 
entgegen. Allein schon dies gibt uns Gewähr, daß die Gedichte, so wie 
sie vorliegen, in lonien verfaßt worden sind. Aber das Ionische ist nur 
ein Firnis, gestrichen auf eine unionische Sprache mit anderem Vokalismus, 
einem anderen Schatz von Wörtern und Formen, eine Sprache nächstver- 
wandt denjenigen Mundarten, die wir in nachhomerischer Zeit auf Lesbos 
und in Thessalien gesprochen finden. Bei den Stämmen, die zuerst in 
Thessalien saßen, dann sich als Äolier im Nordosten des Ägäischen Meeres 
festsetzten, hatte die hexametrische Dichtung ihre erste Gestaltung erhalten, 
und dies bestimmte ihren ursprünglichen Sprachcharakter. Als sich die 
lonier diese Dichtung aneigneten, dichteten sie in der von den Äoliem 
geschaffenen Sprache weiter. Nur gestalteten sie in den übernommenen 



296 



Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 



^^^H Versen und Phrasen die Wörter, die ihnen selbst mit gleichem metrischen 

^^^B Wert, aber in abweichender Lautgestalt geläufig waren, leise um, naraent- 

^^^H lieh indem sie dieselben mit dem ihnen für lang ä geläufigen t'-Laut aus- 

^^^H statteten. Sie ließen ferner allmählich immer mehr auch sonst Wörter und 
^^^H Formen ihrer Mundart einfließen, stellten z. B. neben das äolische ammes 

^^^H ,iwir" ihr hemeis, neben ptsyrcs „vier" ihr (cssares. Es ist bemerkenswert, 

^^^1 daß die Hellenen trotz ihres sicheren Stilgefühles an einer Dichtungssprache 

^^^H von so in die Augen springender und im Grunde so zufällig zustande 

^^^H gekommener Buntscheckigkeit keinen Anstoß nahmen, sich vielmehr offen- 

^^^H bar der dadurch gebotene^ Polyphonie freuten, während den homerischen 

^^^H Dichtern selbst die Vielheit begrifflich gleichwertiger, metrisch verschie- 

dener Formen willkommen sein mußte. 
üBvoiitttumiich- Hiermit ist aber die homerische Sprache nur nach Einer Richtung 

li^^hel" «Tbc charakterisiert. Nichts wäre falscher, als auf Grund des Gesagten darin 
einfach eine Mischung des lebendigen volkstümlichen Sprachgutes zweier 
^^Hb benachbarter Mundarten zu sehen. Das Epos enthält unmittelbar neben 

^^^H solchen Wörtern und Wortformen, die der Zeit seiner jüngsten Dichter 

^^^H angehören, zahlreiche weitere, die schon seit Jahrhunderten der gesprochenen 

^^^H Rede fremd waren. Und wir dürfen mit Bestimmtheit ein ähnliches Mischungs- 

^^^H Verhältnis schon für die älteren, uns verlorenen epischen Lieder voraus- 

^^^H setzen. Ferner hat das Epos den Bedürfnissen des Metrums starken Ein- 
^^^H fluß auf Wahl und Formung der Wörter gestattet Es stellt endlich 

^^^H nur einen Ausschnitt der Sprache dar, enthält nur das, was für vor- 

^^^H nehmen Mund als wohlanständig galt Wie man in ältester Zeit solche 

^^^H Dinge und Funktionen benannte, deren laute Benennung auch heute 

^^^m als unschicklich gilt, kann man erst aus späterer Literatur erschließen. 

^^^L Homer ist sprachlich viel zurückhaltender als selbst der attische Trag^er. 

^^^H Die unmittelbaren Äußerungen der Affekte sind bei ihm verpönt Inter- 

^^^H jektionen kennt er fast gar nicht; und wenn die lebende Rede, auch die 

^^^H der attischen Bühne, gern um eine Anrede oder einen Befehl dringlich zu 

^^^V machen Vokative und Imperative mehrmals aufeinander folgen läßt, so 

^P hat sich Homer selbst dieses einfache Steigerungsmittel versagt außer in 

einer altererbten Form der Anrede an den Gott Ares. 

War die homerische Sprache schon durch ihre Entstehung mundart- 
licher Beschränktheit enthoben, so war sie es noch mehr durch die Ver- 
wendung, die sie im Laufe der Jahrhunderte fand. Dank dem Ansehen 
der homerischen Gedichte wurde sie die poetische Gemeinsprache von 
ganz Hellas. An den Gebrauch des Hexameters war sie unlösUch ge- 
knüpft, hat in der hexametrischen Dichtung geherrscht von den Zeiten, 
da diese die Form abgab für die Streitlieder und die Lelirdichtung des 
Böoters Hesiod und von der delphischen Priesterschaft für ihre Orakel- 
sprüche in Gebrauch gezogen wurde, bis zu den letzten Ausläufern der 
griechischen Dichtung. Aber überhaupt jede Form der poetischen Sprache 
der Griechen enthält wenigstens einzelne Elemente, die der homerischen 



Vorbreitung der 

horoorücben 

Sprache. 



IL Die älteren Gemeinsprachen. 



297 



sprachen über»] 
haapt. 



r 



entstammen. Die Sprache des Gottesdienstes, die Namengebung steht 
unter ihrem Einflüsse. Die älteste Prosa weiß sich homerischer Floskeln 
nicht zu enthalten. Auch in der Sprache ist Homer ein Erzieher der 
griechischen Nation gewesen. 

Die homerische Sprache war Gemeingut schon zu einer Zeit, da noch Pocti»cbc Km 
überall Einzelne und Gemeinden sich im wirklichen Leben der über- 
kommenen Mundarten bedienten. Manches veraltete homerische Wort 
blieb gewiß, obgleich seit frühen Zeiten der Dichter in der Schule erklärt 
wurde, völlig unver.standen und wurde von dem, der sich selb.st dichtend 
an Homer anschloß, gemieden oder auch (zum Teil gerade infolge irrigen 
Unterrichtes) falsch verwandt. Immerhin bleibt die Leichtigkeit bemerkens- 
wert, womit der Grieche, für den die Erlernung einer fremden Sprache sonst 
kaum in Betracht kam, einen Typus von Griechisch zu genießen wußte, 
der wenigstens außerhalb loniens von der gewohnten Weise in jedem dritten 
Worte abwich. Dies gilt auch der anderen Kunstsprache gegenüber, die 
nach Homer und von ihm sichtlich beeinflußt panhellenische Geltung er- 
langte, derjenigen der Lyrik. Durch ihr leicht äolisierendes Dorisch ver- 
rät sie, wo sie entstanden ist Aber auch sie ist nicht an ihre Heimat- 
stätten gebunden geblieben. Gerade durch Dichter aus dialektisch abweichen- 
dem Gebiet, wie den Böoter Pindar, ist sie uns hauptsächlich bekannt 
Ihre Vokalfärbung: das häufige a, das gelegentliche oi {für ö ü anderer 
Mundarten) wurde, analog dem e Homers, als Charakteristikum einer be- 
stimmten Stilart empfunden. 

Eine hervorragende Bedeutung gewann vom 6. Jahrhundert ab die 
Sprache des kleinasiatischen loniens. Zunächst eine Kleinigkeit Vermöge 
der Lage ihrer Landschaft und vermöge ihrer Beweglichkeit waren die lonier 
die Hauptvermittler des morgenländischen Sprachgutes an die Griechen. 
So kommt es, daß gewisse orientalische Volksnamen, deren wir uns noch 
bedienen, ohne die Kenntnis ionischer Lautgesetze nicht begreifbar sind. 
Das medische Volk hieß in seiner eigenen Sprache Alada, entsprechend 
bei den kyprischen Griechen Madoi. Aber die lonier, weil sie überhaupt 
ä durch e ersetzten, sagten Alcdm. Das sprachen ihnen alle anderen 
Griechen nach, und so mit c spricht und schreibt nun diesen Volksnamen 
das ganze Abendland. Ferner hatten die Perser, nach ihrer Weise s in /; 
verwandelnd, den großen Strom Indiens (indisch simi/tu/i) und das ihm be- 
nachbarte Land und Volk hindu genannt Die lonier, ebenso unfähig einen 
Hauchlaut zu sprechen, wie der heutige Franzose, ließen das // weg, und 
danach sprachen die anderen Griechen und weiter die Lateiner und 
sprechen danach auch wir von Indus, Indem, Indien. 

Aber nicht bloß in einzelnen Wortformen wurde das Ionische für ioni«:h sprai 
andere maßgebend. Als Sprache des öffentlichen Lebens breitete es sich 
von den altionischen Städten südwärts aus, wurde im ursprünglich dorischen 
Halikarnaß, im ursprünglich barbarischen Karien heimisch. Die lonier 
lieferten ferner die ersten Muster für erzählende und wissensch2iflliche 



Vorherrschaft 
dcf loDWrbc^l 



der Prosa. 



298 Jakob Wackernagel : Die griechische Sprache. 

Prosadarstellung. So kam es, daß im 5. Jahrhundert, wer Prosa schrieb, 
ob er im äolischen Lesbos oder im dorischen S3rrakus zu Hause war, seine 
heimische Mundart beiseite ließ und sich des Ionischen bediente. Wir 
wurden uns nicht wundem, wenn das Ionische in dieser Periode zunehmen- 
der Berührung und zunehmenden Zusammenschlusses der Hellenen definitiv 
allgemeine Schriftsprache geworden wäre. Aber es kam anders: das nah 
verwandte und durch ionischen Einfluß ausgebildete Attische trat an seine 
Stelle. Inunerhin machte es diesem noch im 4. Jahrhundert in gewissen 
Literaturgebieten, namentlich bei den Ärzten, ernsthafte Konkurrenz. Und 
bis in die späte Klaiserzeit haben künstelnde Schriftsteller sich in ionischer 
Prosa versucht 



Litetaruche IH. Die hcllenistische Gemeinsprache. Über die Art vmd Weise, 

Attischen. 



«rmacht de» ^^ ^^^ Attischc grieclüsche Gemeinsprache wurde, haben uns die Alten 



keine ausdrücklichen Nachrichten hinterlassen. Anscheinend hat sich die 
Verbreitung auf zwei Wegen vollzogen. Einmal auf literarischem, vermöge 
der führenden Stellung, die Athen im geistigen Leben Grriechenlands ein- 
nahm. Die Vertreter der modernen Geistesbewegung, die sich in der 
perikleischen Zeit in Athen zusammenfanden, haben zum Teil zwar ionisch 
geschrieben, aber einzelne tmter ihnen im Gegensatz zur angestammten 
Sprache wie zur herrschenden ionischen Schriftsprache auch attisch. Seit 
dem Ausgang des 5. Jahrhunderts weir Athen nach dem Wort des Hippias 
von Elis das prytaneion (es Sophias, der Weisheitsherd, der geistige Mittel- 
punkt von Hellas; es war für Philosophie und Redekunst eine von überall 
her aufgesuchte Unterrichtsstätte und zugleich die Stätte, wo die vollendet- 
sten Werke der Prosa entstanden. Es versteht sich fast von selbst, daß 
die Lehrer für die Schüler, die klassischen Werke für die Nacheifernden 
auch in der äußeren Sprachform maßgebend wurden, daß die Zöglinge des 
Isokrates imd des Plato attisch schrieben und vielfach wohl auch sprachen, 
auch wenn sie in einer anderen Mundart aufgewachsen waren. 
Politische Daneben darf die Bedeutung, die das attische Reich des 5. Jahr- 

hunderts auch für die Sprachgeschichte hat, nicht übersehen werden. Die 
aufeinander folgenden Besiedelungen ehemals verbündeter Gemeinden mit 
attischen Kolonisten und die stetige Aussendung von Beamten und Be- 
satzungen ins Bundesgebiet bewirkten zusammen mit dem ausgebreiteten 
attischen Handel, daß man überall im Ägäischen Meer attisch sprechen 
hörte. Es lag für die Einheimischen nahe, dem Beispiel zu folgen. Und 
noch stärker wirkte für alle Bündner in dieser Richtung der Dienst im 
attischen Heere und in der attischen Flotte, die Nötigung, in bestimmten 
Fällen vor athenischem Gericht zu erscheinen, die Teilnahme an den Festen 
Athens. Dazu kam, daß sich für alle Bundesstädte die Form des öffent- 
lichen Lebens, die in Athen galt, und damit die attische Amtssprache als 
Vorbild aufdrängte. Die Wirkvmg von alldem tritt erst nach dem Falle des 
attischen Reiches zutage; dann aber fast sofort Wir können vom ersten 



Übennacht des 
Attischen, 



III. Die hellenistische Gemeinsprache. 



299 



<lcr OUIekie, 



Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts ab beobachten, wie im Gebiet des Ägäischen 
Meeres das Ionische als Staatssprache schrittweise vor dem Attischen das 
Feld räumt, so daß dieses hier zur Zeit Alexanders so gut wie gesiegt 
hat. Sogar in ionischen Städten, die nie zum attischen Bunde gehört 
hatten, begegnet es merkwürdig früh. 

In der Literatur wurde die attische Gemeinsprache bald allgemein Zorückweirt« 
herrschend. Es hat nicht viel zu bedeuten, daß einige Kreise der dorischen 
Welt sich dagegen sträubten, und daß z. B. noch Archimedes seine mathe- 
matischen Werke in einer Sprache schrieb, die als dorisch angesehen 
werden sollte. Im Grrunde war das nur Gemeinsprache, behängt mit einigem 
dorischen Flitter. Nachhaltigeren Widerstand leisteten die alten Dialekte im 
öffentlichen Leben. Um 200 v. Chr. z. B. finden wir ein Rundschreiben der 
kleinasiatischen Stadt Magnesia fast nur von solchen griechischen Staaten 
in der Gemeinsprache beantwortet, die ursprünglich ionisch oder in helle- 
nistischer Zeit neu gegründet waren. Alle anderen (mit Ausnahme eines 
thessalischen Städtchens) antworteten im einheimischen Dialekt, freilich 
einem schon ganz von gemeinsprachlicher Phraseologie durchsetzten. Und 
so ist es überhaupt um diese Zeit und späterhin. Vielerorts wurde die 
Mundart noch gepflegt, und besonders als interne Staatssprache und für 
Privates gebraucht Aber Kenntnis der Gemeinsprache und Anbequemung 
an sie ist überall wahrzunehmen; ohne die von ihr gebotenen sprachlichen 
Mittel vermochte man sich nicht mehr schriftlich auszudrücken. Daß noch 
in der Kaiserzeit da imd dort Mundart gesprochen wurde, ist uns bezeugt. 
Die jüngsten entschieden mundartlichen Inschriften gehören dem 2. Jahr- 
hundert n. Chr. an. Der fast völlige Sieg der Gemeinsprache auch in der 
lebendigen Rede des Alltags, der mittelst der antiken Überlieferung nicht 
zwingend bewiesen werden kann, wird uns durch die heutigen Sprachver- 
hältnisse verbürgt. Die neugriechischen Dialekte wurzeln, mit Einer Aus- 
nahme, nicht in den altgriechischen der betreffenden Gegenden, sondern in 
der Gemeinsprache. Jene eine Ausnahme wird gebildet durch das im süd- 
östlichen Peloponnes gesprochene Tzakonische, das unmittelbar auf das 
einst dort gesprochene Dorisch zurückgeht. Also nur in einem entlegenen 
Gebirgswinkel hatte sich das volkstümlich Alte behaupten können. 

Der Sieg der Gemeinsprache wurde außer durch das Vorbild der d». GriecwS 
lonier und außer durch die Literatur und die mit ihr zusammenhängenden 
Bestrebungen wohl auch bedingt durch ihre Stellung außerhalb des ur- 
sprünglichen griechischen Gebietes. In attischer Form war das Griechische 
Weltsprache geworden. Als Alexander das Griechentum nach Osten trug, 
kam ein anderes sprachliches Werkzeug gar nicht in Betracht. Schon 
Philipp hatte das Attische in seiner Diplomatie verwandt. Alexander selbst 
war attisch gebildet Die Männer der Wissenschaft um ihn sprachen und 
schrieben eben dieses Griechisch. Es herrschte, da er auszog, als Sprache 
des öffentlichen Lebens gerade in dem Teil der griechischen Welt vor, 
der Asien zunächst lag und am meisten Verkehr mit dem Osten hatte. 



AJesantlttn 



300 



Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 



Ambrcitung def Im Anschluß an Alexanders Reichsgründung gewann das griechische 

Gncchiscbcn im Sprachgebiet eine ungeheure Ausdehnung. Nicht in dem Sinn, als ob die 
von ihm eroberten Gebiete rasch und vollständig hellenisiert worden wären. 
Aber einmal waren von großer Bedeutung die zahllosen von ihm und 
seinen Nachfolgern neugegründeten Städte, durch die es in allen Land- 
schaften des Reiches bis an die Grenze Indiens griechische Sprachzentren 
gab. Ferner Hof, Verwaltung und Heer in den Diadochenstaaten. Ebenso 
die höhere Bildung. Wir dürfen annehmen, daß uia die Wende der Zeit- 
rechnung in denjenigen Teilen von Alexanders Reich, die in römische 
Herrschaft übergegangen waren, die städtischen Bevölkerungen ganz über- 
wiegend griechisch sprachen und im übrigen die Angehörigen der oberen 
Klcissen durchweg Griechisch konnten. Wie es damals und in der Folge 
mit der Verwendung des Griechischen außerhalb der römischen Grenzen 
stand, ist weniger leicht festzustellen. Die Reaktion des Morgenlandes, 
die mit der Gründung des parthischen Reiches einsetzte, wirkte selbstver- 
ständlich auch dem Gebrauch der griechischen Sprache entgegen. Immer- 
hin ist bekannt, daß am Partherhofe griechische Literatur gepflegt wurde. 
Und noch im i. Jahrhundert n. Chr. wurden im nordwestlichen Indien 
Münzen mit griechischen Legenden geprägt. Selbst die Sassaniden, durch 
die das nationale Element in Iran so mächtig zur Geltung kam, zeugen 
für die hohe Geltung des Griechentums noch im 3. Jahrhundert n. Chr.: auf 
Denkmälern ihres persischen Stammlandes brachten sie neben Aufschriften 
in nationaler Schrift und Sprache solche in griechischer an. Ahnliche Zeug- 
nisse liefern Gebiete, die niemals dauernd unter griechischer Herrschaft 
gestanden haben: ich erinnere an die merkwürdigen griechischen Inschriften 
äthiopischer und nubischer Könige aus der beginnenden und ausgehenden 
Kaiserzeit. Anderseits steht fest, daß innerhalb der römischen Grenzen 
die alten Nationalsprachen neben dem Griechischen weiterlebten. In Klein- 
asien behauptete sich das Phrygische bis tief in die Kaiserzeit; ja in Syrien 
und Ägj^ten erwies sich beim Einbruch des Islam die nationale Sprache 
als die stärkere. Das Griechische erlag hier dem Arabischen, während 
das Syrische und das Koptische den Sturz der christlichen Herrschaft über- 
dauerten: beides im auffallenden Gegensatz zu den westlichen Teilen des 
Römerreiches, wo der Latinisierungsprozeß nach einer Dauer, die nur halb 
so lang war als die Hellenisierung des Orientes, durch den Einbruch der 
Germanen nicht gestört wurde. 
Vmn der Die hellcnistische Gemeinsprache, griechisch Äöm/, wurzelt im Attischen. 

Gemi-insprachc. Aber sie hat sich von ihrer Grundlage ziemlich weit entfernt Zunächst 
durch solche innere Entwickelungen , wie sie das Attische wahrscheinlich 
auch durchgemacht hätte, wenn es auf sein ursprüngliches Gebiet be- 
schränkt geblieben wäre. Dahin gehören gewisse Lautveränderungen, so 
neben der Vereinfachung der Diphthonge ät öi zu ä ö besonders der seit 
den Zeiten des Reuchlin und Erasmus viel besprochene Itazismus, d. h. 
der Übergang von ei ? in /, von ai in «, von oi in ü (später /); er ent- 



in. Die hellenistische Gemeinsprache. 



301 



Spricht einer alten Tendenz griechischer Lautgebung-, ist am frühesten in 
Böotien, sukzessive in anderen Landschaften, doch erst in der Kaiserzeit 
allseitig durchgefiihrt worden. Durch beide Gruppen von Lautverände- 
rungen war die alte griechische Viellauttgkeit am Schlüsse des Altertums 
auf monotones Vorherrschen der einfachen, besonders der hellen Vokale 
reduziert Auch sonst verändert sich der Klangcharakter sehr stark. Der 
Akzent wird ein anderer: die ehedem mit Tonerhöhung gesprochenen Silben 
werden in der Kaiserzeit mit Stimmverstärkung, also in der Weise der 
deutschen Akzentuation gesprochen, und es kommen die dem Neugrie- 
chischen eigenen Spiranten (Laute wie das englische th usw.) auf. Weiter- 
hin wird die Funktion der Wörter und Formen modernisiert Der Gebrauch 
der Präpositionen nimmt zu als Ersatz für einfach kasuellen Ausdruck; an 
Stelle schlichter Infinitivverbindungen treten Nebensätze: in beidem wird 
einerseits etwas fortgesetzt, was schon das Attische im Gegensatz zum 
ältesten Grriechischen und dieses wieder im Gegensatz zu vorgeschicht- 
lichen Sprachzuständen aufzeigt, und werden anderseits Ausdrucksgewohn- 
heiten angebahnt, die im Neugriechischen herrschend geworden sind. Ent- 
-sprechendes im Lexikon; wir treffen frappante Beispiele von Abnutzung. 
Ein Verb, das bei den Attikern bedeutet hatte „heftig erregt sein", heißt 
nun „furchten", ein anderes geht von der Bedeutung „die Mittel zu einer 
chorischen Auffuhrung liefern" zu der allgemeinen des Ausstattens über. 
Überaus oft wird ein Kompositum angewandt, wo der Attiker mit dem 
Simplex ausgekommen war. 

Neben dieser geradlinigen Weiterentwickelung hat aber das Attische 
als Gemeinsprache solche Umgestaltungen erfahren, die auf eben dieser 
seiner Stellung als Gemeinsprache beruhen. Einmal gehört eine Gemein- 
sprache von Haus aus nicht so völlig dem Leben an, wie ein naturwüch- 
siger Dialekt Es überwiegt anfangs der schriftliche über den mündlichen 
Gebrauch. Demgemäß haftet auch der hellenistischen Sprache etwas 
Papierenes an; ich brauche nur die Rückweisungen mit „vorerwähnt", die 
Vorausweisungen mit „unten hingeschrieben" anzuführen, die ehedem 
bloß in eigentlich wissenschaftlichen Schriften und auch da nur selten vor- 
kamen, nunmehr in lästigster Wiederkehr literarische wie urkundliche Texte 
verunzieren. 

Schwerer ins Gewicht fällt ein Zweites. Verquickung des Attischen 
mit Eigentümlichkeiten anderer Mundarten haben wir schon in der attischen 
Poesie und in den Anfängen der attischen Prosa getroffen. Später hat 
^^ vorzüglich Xenophon, weil in seinen besten Jahren der Heimat fem, sein 
^B Attisch mit allem möglichen sonstigen Sprachgut, das er auf seinen Fahrten 
f aufgelesen hatte, bereichert oder verschlechtert und Plato in den Schriften 

^_ seines Alters merkwürdigen Hang für Poetisches und auch Ionisches be- 

^H wiesen. Diese Mischung, und zwar speziell die mit ionischem Sprachgut, 
^^1 wiederholt sich nun im gemeinsprachlichen Attisch. Aber sie geht hier 
^H über die Kreise der Kunstprosaisten iind bei diesen selbst weit über das 



Gcmrinaprachc 
papieren. 



lonisitTuDK 

der 

Gcmeintprikche. 



3Ö2 



Jakob Wackern acel: Die griechische Sprache. 



Unnttiscbpf 

in der 

(*t*in«intpriiche. 



Grebiet individueller stilistischer Gepflogenheiten hinaus. Sie wurzelt hier 
tiefer. Die ersten nichtattischen Griechen, die das Attische an Stelle der 
eigenen Mundart setzten, waren die lonier. Gemäß unzähligen Analogien, 
die die neuere Sprachwissenschaft aufgedeckt hat, ist solche Übernahme 
einer fremden Mundart oder Sprache fast unvermeidlich mit einer An- 
bequemung des Übernommenen an das natürlich Ererbte verbunden. Die 
attisch sprechenden oder schreibenden lonier wollten zwar attisch sprechen 
und .schreiben, übertrugen aber, ohne es zu wollen, auf d£is Neue das, was 
ihnen von ihrer eigenen Mundart her geläufig war. Sie konnten kein // 
sprechen: so ließen sie es auch in der neuen Gemeinsprache weg. In den 
Wörtern, wo der Athener ein // oder ein rr sprach, hatten sie in der 
eigenen Mundart in der Regel ein ss bzw. ein rs: nun führten sie dies 
auch in der Gemeinsprache weiter. Umfärbung erfuhren neben den Lauten 
auch die Wörter. Vom Standpunkt des Ionischen aus wurde ihr Gebrauch 
umgemodelt, ihr Bestand erweitert. In geringerem Maße wurden von 
diesen Tendenzen die Flexionsformen berührt. 

In dieser partiellen Ionisierung haben die übrigen Grriechen und die 
Barbaren die Gemeinsprache übernommen. Selbst in dem Wortschatze, 
den wir durch römische Vermittelung von den Griechen überkommen haben, 
wirkt sie nach. Wir sprechen z. B. gemäß der eben besprochenen Laut- 
ersetzung Koloss und Arsenik^ nicht, wie man nach dem Attischen erwarten 
sollte, Kolott und Arrenik. — Natürlich, daß, wenn ursprünglich dorisch 
oder äolisch oder sonst einen Dialekt sprechende Griechen die Gemein- 
sprache rezipierten, sie auch wieder ihre eigene Weise einmischten. Oder 
es konnte ihnen auch passieren, daß sie im Bestreben, sich von der Mund- 
art möglichst rein zu halten, nach der Analogie sonstiger Entsprechungen 
zwischen Mundart und Gemeinsprache geläufige Wörter so umsetzten, daß 
Unformen entstanden, z. B. mentoi „jedoch" in menton., weil man gewohnt 
war, für mundartliches endut „drinnen" gemeinsprachlich endon zu sagen, 
ganz so wie der Schweizer etwa hochdeutsch Kautscfw sagt statt Kutsche, 
weil seinem Hux hochdeutsch Haus entspricht. — Endlich traten auch im 
Munde der Bcirbaren allerlei Umgestaltungen ein. Wegen des Lautstandes 
der eigenen Sprache haben z. B. die Ägypter in griechischen Wörtern 
sprechend und schreibend d und /, p und /// durcheinander geworfen. Und 
ein fast komisches Sprachdenkmal ist die Inschrift des nubischen Königs 
Silko mit ihrem nach den Gesetzen des Koptischen konstruierten Grriechisch. 

Der lebhafte Verkehr innerhalb der hellenistischen Welt brachte es 
Gemrini räche ™'^ sich, daß, wie einst die lonismen, so auch diese sonstigen lokalen 
Einflüsse, sei es mundartlich griechischer, sei es barbarischer Natur, in 
einzelnen Wörtern Gemeingut wurden. Immerhin hat jedenfalls der nicht- 
gemeinsprachliche Untergrund sich hauptsächlich an Ort und Stelle wirk- 
sam erwiesen und die Färbung der neuen Dialekte bestimmt, in die sich 
mit einer gewissen Naturnotwendigkeit die auf so weites Gebiet verbreitete 
Gemeinsprache differenzieren mußte. Hier bildeten sich die ersten An- 



Abwricltungen 
innerhalb der 




III. Die hellenistische Gemeinsprache. 



303 



Griechisch. 



sätze ZU den mittel- und neugriechischen Dialekten. Und noch nach 
anderer Richtung waren sowohl jene letztbesprochenen Einwirkungen als 
überhaupt alle die Gemeinsprache vom Attischen scheidenden Eigentüm- 
lichkeiten nicht gleichmäßig über die ganze Gemeinsprache verbreitet- Sie 
schied sich nach Bildung und Stand der sie Sprechenden und Schreibenden 
in sehr verschiedene Formen. Das Griechisch eines Polybios oder Posei- 
donios, das der Staatsurkunden etwa Pergamons oder der ersten Ptolemäer 
steht dem Attischen verhältnismäßig nahe. Es weicht von ihm stark ab 
im Lexikon, etw2is in der Syntax; dagegen in den Flexionsformen und den 
Lauten, soweit diese in der Schrift zur Darstellung kommen, fast gar nicht 
Das Attische ist hier aus dem Ionischen mehr nur bereichert als modifiziert 
Je weiter wir aber hinabsteigen, um so unattischer und ionischer wird die 
Sprache, eventuell um so barbarischer. Der gemeine Mann erlernt Hoch- 
sprachen unvollständig und steht stärker unter dem Einfluß des Ererbten 
und des Lokalen. Wir kennen die populäre Form der Gemeinsprache vor- 
züglich aus den privaten Schriftstücken auf Papyrus, deren in den letzten 
Jahren eine so große Zahl bekannt geworden ist Wir können aber über- 
zeugt sein, daß ihr Vulgarismus von dem der lebendigen Rede noch weit 
übertrofFen wurde. 

In diesen Zusammenhang gehört auch ein Wort über die Gräzität der Bibiuche. 
Juden und Christen, die Sprache der griechischen BibeL Die Zeit ist 
vorüber, in der man sie als einen völlig für sich stehenden Sprachtypus 
auffassen zu können glaubte. Im Gegenteil muß man sie mitten in die 
griechische Sprachgeschichte hineinstellen. Speziell die Septuaginta gehört 
zu deren wichtigsten und lehrreichsten Dokumenten. Erstens als ein 
Zeugnis dafür, wie früh das Griechische bei gewissen vom heimischen 
Boden gelösten Volkselementen des Orientes Eingang gefunden hat Man 
hätte den Pentateuch nicht schon so bald nach Alexander aus dem 
Hebräischen übersetzt, wenn der damaligen jüdischen Diaspora das 
Griechische nicht vertrauter gewesen wäre als ihre einheimische Sprache, 
Sodann lernen wir aus wenig Texten so viel für die Beschaffenheit der 
mittleren Gemeinsprache, derjenigen Umgangssprache, die, ohne eigentlich 
plebejisch zu sein, doch im ganzen frei von literarischen Prätentionen und 
Überlieferungen in Schrift und Rede lebendig war. Allerdings ein reines 
Griechisch klingt uns aus keinem Kapitel der Septuaginta entgegen. Über- 
aus oft haben die Übersetzer das hebräische Original aus Ungeschick und 
Buchstabenknechtschaft Wort für Wort wiedergegeben und dadurch dem 
griechischen Ausdruck und besonders der griechischen Wortfügung grau- 
same Gewalt angetan. Das kann nicht geleugnet werden. Aber ebenso- 
wenig, daß sich gerade wieder in der Anpassung an die israelitische Be- 
griffswelt und den biblischen Stil die einzigartige Ausdrucksfahigkeit und 
Beweglichkeit der griechischen Sprache offenbart und den Übersetzern die 
Schöpfung eines höchst eindrucksvollen sprachlichen Kunstwerkes ermög- 
licht hat 




304 



Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 



AtÜxlBmufl. 



Zunächst in griechischem Gewand ist das Alte Testament in das Abend- 
land gelangt und hat in diesem den ältesten lateinischen Übersetzungen 
zugrunde gelegen. Und wenn auch Hieronymus und Luther wieder auf 
das hebräische Original zurückgegangen sind, so legen allein schon Aus- 
drücke wie Psalm und Prophet, wie Pentateuch, Genesis, Deuteronomium 
auch jetzt noch Zeugnis dafür ab, daß die Griechen einst auch auf diesem 
Gebiet zwischen Osten und Westen vermittelt haben. Und wenn wir von 
Altem und Neuem Testament sprechen, so wird dieser an sich sinnlose 
Ausdruck erst verständlich, wenn er als mißverständliche Übertragung 
des griechischen Wortes Diatheke gefaßt wird, mit dem die Urheber der 
Septuagfinta wohl auf Grrund ionischen Sprachgebrauches das Wort „Bund" 
wiedergegeben haben. 

Ebensowenig als die Septuaginta darf das Neue Testament sprachlich 
isoliert werden. Wir treffen auch hier die Umgangssprache der Zeit Sie 
ist stark mit Semitismen versetzt, wo aramäische Originale zugrunde liegen 
oder die Septuaginta nachwirkt Aber z. B. Paulus hat zwar in der Wort- 
fügung manchmal, dagegen im Wortschatz sehr wenig hebraisiert Aus- 
zuführen, was das Griechische als Sprache der christlichen Kirche bedeutete, 
fühlt sich der Berichterstatter außerstande. Nur möchte er nebenher aa 
die starken griechischen Bestandteile unseres religiösen und kirchlichen 
Wortschatzes (wozu auch Wörter wie Kirche, Priester, Almosen gehören) 
erinnern. 

Es war für die Gemeinsprache an und für sich kein Unglück, daß sie 
nichtattische Ingredienzen in sich aufgenommen hatte; das Beispiel des 
Englischen und eigentlich auch schon das der alten griechischen Literatur- 
sprachen zeigt, wie sehr die Ausdrucksfähigkeit einer Sprache durch 
Mischung gesteigert werden kann. Und daß sich die Gemeinsprache auch 
sonst vom Attischen entfernte, ist ein Zeichen des Lebens. Um so tiefer 
ist die reaktionäre Strömung des sogenannten Attizismus zu beklagen, die 
im I. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung einsetzte und in der er- 
haltenen Literatur zuerst bei dem bekannten Rhetor und Geschichtschreiber 
Dionysios von Halikarnaß zu Worte kommt Etwas ganz Singuläres und 
Unerhörtes ist er in der griechischen Sprachgeschichte zwar nicht. Archais- 
mus war der Poesie von jeher eigen gewesen. Und in der hellenistischen 
Zeit war diese mehr als je von solchem beherrscht, bei einzelnen bis zu 
völligem Verzicht auf sprachliche Origfinalität und bis zu nachzählender 
Nachahmung der Alten. Selbst der älteren Kunstprosa war ein gewisses 
Archaisieren nicht fremd gewesen. Auch darf man nicht glauben, daß 
man sich innerhalb der hellenistischen Zeit erst jetzt wieder an die großen 
Meister der attischen Literatur erinnert hätte. Diese wurden auch bis 
dahin immerfort gelesen, und gewiß hat man sich auch immerfort an 
ihnen sprachlich gebildet Das Neue und Eigentümliche der attizistischen 
Bewegung ist, daß man nun die attische Sprache als ausschließliche Norm 
bezeichnete, und daß man in jeder Art der prosaischen Darstellung, selbst 



rv, Fortleben des Griechischen in andern Sprachen. 



305 



P 



im Gespräche, Formen und Ausdrücke nicht zulassen wollte, die aus 
attischen Autoren nicht nachzuweisen waren, daß man dafür eine Menge 
längst verschollener Ausdrücke künstlich ins Leben zurückrief. Selbst der 
seit Jahrhunderten tote Dual wurde wieder aus der Unterwelt herauf- 
beschworen. Er erscheint nun nicht bloß, und zwar in steigender Häufig- 
keit, in der Kunstliteratur und liefert bei ihr das untrüglichste Mittel, 
die Herrschaft des neuen Sprachideals zu erkennen: man hat im Athen 
der Kaiserzeit daran Vergnügen gefunden, selbst inschriftliche Tempel- 
inventare mit diesem Flitter zu schmücken. 

Die Dienste, die ims die Lehrer des Attizismus durch ihre sorgsame Würdigung' 
Vergleichung älterer und jüngerer Sprache leisten, dürfen über die Per- ''" *«'«'•""» 
versität ihres Strebens nicht hinwegtäuschen. Daß sie den der altgriechi- 
schen und zum Teil auch noch der hellenistischen Zeit fremden Gegensatz 
zwischen Laut und Schrift herbeiführten, indem sie wenigstens für die 
Schrift z. B. ät bi, ei ai nach attischem Muster zu einer Zeit verlangten, in 
der man nun einmal dafür nichts anderes als ä ö, bzw. i ä zu sprechen 
vermochte, war noch der geringste Übelstand. Das Wesentliche war, daß 
nunmehr die natürliche Weiterentwickelung der griechischen Sprache für 
immer unterbunden war. Wer „korrekt" schreiben wollte, mußte nun ge- 
quält schreiben, das attizistische Handbuch auswendig wissen oder neben 
sich liegen haben. Wohl gelang es keinem, auch nur einen größeren Satz 
ohne Zutat jüngeren Sprachgfutes oder Sprachgebrauches zustande zu bringen. 
Und nicht alle Schriftsteller waren gleich strikt auf das Attizisieren bedacht: 
der Manieriertheit eines Lucian und eines Philostratos steht die simple Gräzi- 
tät eines Epiktet gegenüber. Auch ist mancher attizistische Flicken im Lauf 
der Jahrhunderte wieder ausgemerzt worden. Aber das reaktionäre Ideal 
hatte sich im Prinzip doch durchgesetzt. Das freudige Schöpfen aus der 
lebendigen Rede war dem Schriftsteller und dem Gebildeten vergällt und 
ihm der Mut zur Neubildung, zum sprachlichen Wagnis genommen. Dazu 
kam ein weiterer sehr schwerwiegender Nachteil. Neben dem mehr oder 
weniger streng attizisierenden Griechisch der oberen Klassen und der 
Literatur lief im Mimde des gemeinen Mannes ein vulgäres Grriechisch 
nebenher, als natürliche Fortsetzung der volkstümlichen Formen der helle- 
nistischen Gemeinsprache. Damit war ein greller Gegensatz zwischen der 
Schrift- und der Volkssprache und zwischen den verschiedenen Volks- 
schichten gegeben, ein Gegensatz, der durch die byzantinische Zeit hin- 
durchgeht, und den zum großen Schaden von Literatur und Volkstum auch 
die heutigen Griechen noch nicht überwunden haben. 




rV. Fortleben des Griechischen in andern Sprachen. Im bis- 
herigen ist wiederholt von Wörtern die Rede gewesen, die sich aus dem Grie- 
chischen in unser modernes Sprechen vererbt haben. Es ist vielleicht an- 
gebracht, darüber noch etwas Zusammenhängendes zu sagen. So wenig die 
Grriechen im ganzen sprachlich andern Völkern verdanken, so mächtig und 

Die Kultl'x dem CkceMWAitT. LS. ^^ 



3o6 



Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 



EmfloB dr« Grie- fruchtbar ist ihr sprachlicher Einfluß nach allen Seiten gewesen. Wohl 
ciuichen aaf die j^gjjjgg (jgj. umwohncnden Völker hat sich ihm zu entziehen vermocht Das 

Sprmcoen de« 

oweoi. Syrische ist voll griechischer Lehnwörter und hat aus dem Griechischen 
auch Mittel der Wortbildung und Gewohnheiten des Satzbaues entnommen; 
man merkt ihm an, daß es ein Jahrtausend hindurch das Griechische als 
höhere Sprache neben sich gehabt hat. Nicht in solchem Umfang und 
später als in Syrien, im ganzen erst infolge der Annahme des Christen- 
^^^ft tums, wurde griechisches Sprachgut in Armenien eingebürgert Auch die 

^^^B Sprachen des ferneren Ostens sind von solchen Einflüssen nicht frei ge- 

^^^H blieben. Zu den Indern ist nicht bloß, was mit Handel und Verkehr zusammen- 

^^^H hängt, das lateinische Münzwort Denar in der gräzisierten Form dlnilra 

^^^H gelangt Auch z.B. ihre wissenschaftliche Astronomie hat derartiges; Termini 

^^^H wie hora „Stunde", apokhma „Niedergang" braucht man nur zu hören, um 

^^^B des unmittelbaren Anschlusses an griechisches Vorbild (£(>«, iac6%l.s,fi^ und 

^ vermöge dieses sprachlichen Zusammenhangs auch eines weitreichenden 

^ Zusammenhangs wissenschaftlicher Arbeit gewahr zu werden. 

Abeodiändischf In jeder Beziehung wichtiger ist der heutige abendländische Besitz 

' "''""deT' "' *° griechischem Sprachgnt. In seinem ältesten Teile geht er auf die 
Griechifchen. Zeiten zurück, da die griechischen Kolonisten, Künstler und Handelsleute 
ihre höhere Kultur nach Italien brachten. Viele Wörter dieser Art sind 
alsdann vom Latein und den daraus hervorgegangenen romanischen 
Sprachen her auch ins Deutsche gelangt, vielfach nur dem Forscher als 
Fremdwörter kenntlich, diesem aber durch Form und Bedeutung verratend, 
wie viel Zwischenglieder ihre Entstehungsgeschichte hat. Wer würde bei 
Petn an fremden oder gar g^echischen Ursprung denken? Aber in seiner 
ältesten deutschen Form pma beruht es sichtlich, gerade so wie französisch 
petne, aui pena, d. i. lateinisch pa-na „Strafe" in jüngerer Aussprache. Und 
bei diesem pctna wiederum kann an Herkunft aus dem griechischen poine 
kein Zweifel sein. Also ein Rechtsvolk wie die Römer danken eines 
ihrer wichtigsten Rechtsworte samt dem ganzen System von Ausdrücken, 
die sie daraus gebildet haben, den Griechen. Unser deutscher Sprach- 
gebrauch aber knüpft, wie der französische, in der Verwendung des Wortes 
an den ursprünglich volkstümlich lateinischen an, in welchem das Wort 
für Strafe mit charakteristischer Bedeutungsverschiebung Ausdruck für 
Plage und Mühseligkeit geworden war. Oder, um ein ganz aktuell 
modernes Wort zu nehmen: Maschine geht im letzten Grunde auf ein 
schon zur homerischen Zeit vorhandenes griechisches Wort zurück, das in 
seiner literarischen Form michani lautete und „Kunstgriff, kunstvolles 
Werkzeug" bedeutete. Die Römer übernahmen es von einem Stamm, der 
dafür mächanä sprach, setzten diese Form gemäß den Lautgesetzen ihrer 
eigenen Sprache in mäclitna um und bevorzugten in der Verwendung des 
Wortes, das offenbar hauptsächlich durch die Techniker übertragen worden 
war, die technische Bedeutung. Auf gelehrtem Wege ins Französische 
gelangt, wanderte es von da im 17. Jahrhundert ins Deutsche. Jede 



IV. Fortleben des Griechischen in andern Sprachen. 



307 




Etappe dieser Wanderung hat an dem Worte Maschine ihre Spur hinter- 
lassen. Das seh und die Betonung des i beweist den Durchgang durchs 
Französische, das Dasein des i den durchs Latein, das a die Herkunft aus 
einer Mundart des Griechischen. Nun aber kennt unsere Sprache als 
Sprößlinge aus derselben griechischen Wurzel neben Masehinc Wörter wie 
Mechanik, Alechaniker, worin die griechische Lautform fast unverändert 
bewahrt ist. Sie stammen auch aus dem alten Rom, aber aus Zeiten und 
aus Bildungskreisen, für die der genaue Anschluß an das literarische 
Griechisch Gesetz war. Solche mehr gelehrte Entlehnung hat durch das 
ganze spätere Altertum im weitesten Umfange stattgefunden. Sie hat 
aufs neue eingesetzt im Zeitalter des Humanismus. Während bis dahin 
nur vereinzelte griechische Wörter ohne römische Vermittlung zu den 
Germanen gelangt waren, darunter allerdings so bedeutsame und viel- 
gebrauchte wie Kirche und Kaiser, begann man nun auf Grund des neu 
erschlossenen griechischen Sprachstudiums direkt aus der Quelle zu 
schöpfen. Am mächtigsten ward die.se Tendenz im 19. Jahrhundert; sie hat 
noch nicht nachgelassen. Dabei wirkt trotz zunehmenden Strebens, das Ent- 
liehene dem Original möglichst genau anzupassen, die alte hoch bedeutsame 
Vermittlerstellung des Römertums immer noch nach. Wir pflegen fast 
durchweg griechischen oder aus griechischem Material gebildeten Wörtern 
die I^utgestalt zu geben, die sie in römischem Munde erhalten haben oder 
erhalten haben würden; wir sprechen von Tragödie, nicht von Tragoidie, 
sagen Peripherie und nicht Periphereia, und nennen die Wissenschaft der 
Kinderheilkunde nicht Paidiatrik, sondern Pädiatrik. 

Deis teils aus dem Altertum stammende, teils neu erwachsene Grä- Braacbbark«« 
zisieren der wissenschaftlichen (und auch der technischen^ Sprache der ?,*'5'"'*^''T'"^ 

^ ■ * für TerraiDologie 

Gegenwart beruht auf zwei Momenten. Einmal darauf, daß alle unsere 
Wissenschaften mit Ausnahme der Rechtswissenschaft von den Griechen 
stammen und bei diesen bereits die Mehrzahl der Di.sziplinen ihre heute 
üblichen Namen, alle Disziplinen einen großen Teil der heute noch 
üblichen Kunstausdrücke erhalten haben. Ein zweites ist durch die Natur 
der griechischen Sprache selbst gegeben. Man greift, wo es für neue 
' Begriffe und Gegenstände Namen zu schaffen gilt, darum mit besonderer 
Vorliebe auf das Griechische, weil es zur Zusammensetzung und Ableitung 
aus einfacheren Wörtern mindestens ebenso gelenkig ist als das Deutsche 
und ebenso wohlklingende Gebilde liefert wie die romanischen Sprachen. 
Es ist nur zu wünschen, daß es bei dieser Neigung für das Griechische 
und überhaupt für die klassischen Sprachen bleibe. Nirgends ist der 
Purismus so abgeschmackt, als auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und 
technischen Kunstsprachen. Diese bedürfen gerade solcher Ausdrücke, 
deren Nennwert nicht durch verwandtschaftliche Beziehungen zur lebendigen 
Sprache der Gegenwart verwischt werden kann, und die ferner fähig 
sind, ohne Schwierigkeit für die Aussprache und ohne Verletzung nationaler 
Eitelkeit durch alle modernen Sprachen zu zirkulieren. Die ft-anzösischen 

20 • 



3o8 



Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 



Endehonng 

griechischer 

Wortbildaogs- 

eldsonte* 



Grischuche 

Sprach- 
wuMUChaft. 



Griechisches 
Alphabet 



Sprachforscher sind in vollem Recht, wenn sie Ablaut durch Apophonte 
ersetzen, und Ikosaeder ist ein bequemerer Ausdruck als „zwanzigseitiges 
Vieleck«. 

Nun aber haben die Grriechen nicht bloß mit dem Stoff ihres Sprach- 
gutes die Welt bereichert Sie haben alle zu ihnen in Beziehung getretenen 
Völker jüngerer Kultur zu gewandterer Verwendung ihrer eigenen Sprachen 
erzogen und sie gelehrt diese zu reicherer Bildsamkeit zu erheben. Das 
Syrische ist so gut dessen Zeuge, als das philosophische Latein eines 
Cicero und eines Lukrez. Und wenn wir die Frau eines Barons Baronesse 
nennen, aus Patron patronisteren , aus Protestant Protestantismus bilden, 
imd aus dem lateinischen pietas und Spiritus Pietist und Spiritist ableiten, 
so gebrauchen wir Wortausgänge, die mehr oder minder direkt aus dem 
Griechischen stanmien. Auch Wörter wie Materie und Qualität würden 
ohne die Grriechen für uns nicht vorhanden sein; denn sie sind zwar den 
Lauten nach lateinisch, aber bei den Lateinern teils zu ihrem philosophischen 
Begriffswert, teils überhaupt zu ihrem Dasein erst diu-ch das Vorbild von 
griechisch hyle und poiotes gelangt 

Besonders aber läßt sich dies und überhaupt eine nie aufhörende 
Nachwirkung der g^riechischen Sprache an demjenigen Zweige von Unter- 
richt und Wissenschaft dartun, deren Gegenstand die Sprache selbst ist 
Ein Wort hierüber wird diese unsere ganze Sprachbetrachtung passend 
abschließen. Unter den indogermanischen Völkern sind allein die Inder 
und die Griechen ohne Antrieb und Vorbild Auswärtiger dazu gelangt, 
eine Grammatik ihrer Sprache zu schaffen. Unbefangenes Urteil wird 
nicht anstehen, den Indem hier den Vorrang einzuräumen. An Schärfe 
und Allseitigkeit der Beobachtung und an Feinheit der Analyse sind ihnen 
die Grriechen hier nicht von ferne gleich gekommen. Die heutige Sprach- 
wissenschaft wäre ohne das Vorbild der Inder gar nicht denkbar. Aber 
eben dieses Vorbild ist erst vor hundert Jahren wirksam geworden. Bis 
dahin hat ausschließlich die griechische Sprachwissenschaft nachgewirkt 
Und in dieser ihrer starken Nachwirkung, mehr «och als in ihrem tatsäch- 
lichen inneren Wert, besteht ihre hohe geschichtliche Bedeutung. 

Die erste sprachwissenschaftliche Tat der Grriechen und ihrer ver- 
dienstlichsten eine war die Gestaltung eines eigenen Alphabets aus dem 
phönizischen. Dieses besaß keine besonderen Zeichen für die Vokale, war 
also noch nicht ganz über den Charakter einer Silbenschrift hinaus- 
gelangrt Indem die Grriechen fünf phönizische Konsonantenzeichen zu 
Vokalzeichen stempelten, waren sie das erste Volk der Erde, das völlige 
Buchstabenschrift besaß. Unabhängig vom Grriechischen ist anderswo erst 
in späterer Zeit ein konsequentes System vollständiger und gleichmäßiger 
Vokalbezeichnung entwickelt worden. Dagegen im Anschluß an die 
Griechen kam der große Fortschritt früh auch andern zugfute. Zu 
Cäsars Zeit diente das griechische Alphabet den Galliern für ihre 
keltische Sprache, offenbar unter dem Einflüsse von Massilia. Noch viel 



IV. Fortleben des Griechischen in andern Sprachen. 



309 



P 



früher wurde es Vorlage für die Alphabete der italischen Stämme und 
damit auch der Lateiner, deren Schrift auch die unsrige ist und jetzt die 
Welt beherrscht. Auch die Alphabete der Slawen und Kopten sind auf 
dem griechischen Alphabet aufgebaut, und die syrische Schrift hat gewisse 
Hilfszeichen daraus entnommen. 

Fixierung der Schrift setzt immer einen gewissen Grrad von Laut- EntwicUoai" 
beobachtung voraus. Entsprechend war mit dem griechischen Elementar-^" wiechuchen 
Unterricht seit alter Zeit die Erörterung einer einfachen Lautlehre ver- wiueiuchait. 
bunden. Dasrecren eine wissenschaftlicheWortlehre setzte erst im perikleischen ^'"'>"'°' '^'" 

* * ^ ^ (ca. 100 V. Chr.i. 

Zeitalter ein; eine Szene -der Wolken des Aristophanes führt uns die ersten 
dahin zielenden Versuche der Sophisten als Gegenstand komischer Ver- 
spottung vor. Ihre Vollendung erfuhr die Grammatik durch die Stoiker und 
durch die Philologie der hellenistischen Zeit, ihre früheste zusammenfassende 
Darstellung in dem kleinen Handbuch des Dionysios Thrax, dessen Ab- 
fassung in die Zeit um 100 v.Chr. fällt. Dieses durchaus elementare Werk, 
das als literarische Leistung nicht in Betracht fällt und nur eine trockene 
Aufzählung des damals allgemein Gewußten, keine feinere wissenschaft- 
liche Untersuchung bietet, ist eines der gelesensten Werke der antiken 
Literatur geworden. Es hat nicht bloß für alle Darstellungen der 
griechischen Grammatik selbst bis zum Beginn der Neuzeit, ja eigentlich 
bis zum Ende des 1 8. Jahrhunderts den Rahmen geliefert Es wurde auch 
andern Sprachen dienstbar gemacht Man kann bei den Lateinern seine 
Spur verfolgen. Die grammatische Darstellung des Syrischen, wie die des 
Armenischen, hat mit einer Übersetzung des Dionysios begonnen. 

Teils durch dieses Buch, teils durch sonstige derartige Literatur, teils Nachwirkan» 
auch durch direkten mündlichen Unterricht ist die griechische Grammatik *" piociu«»"«! 
im ganzen Abendland zur Herrschaft gelangt. Wohl haben die Lateiner «iiwmchaft. 
in einigem wenigen an der Theorie weiter gebaut und sind darin für uns 
maßgebend geworden. So, wenn wir zwar die ganze Buchstabenreihe 
Alphabet nennen, aber die einzelnen Buchstaben (außer den ursprünglich 
unlateinischen ^/>i-//o« zed, jod vau) nicht mit einem Vollnamen, wie Alpha, 
Beta usw., sondern einfach mit dem dadurch bezeichneten Laute benennen: 
a, be, ce, wobei die Verschiedenheit der Benennung, welche Dauerlaute wie 
/, / von Momentanlauten wie p, t scheidet, besondere Beachtung verdient 
Auch ist weder die Scholastik des Mittelalters noch die zu Beginn der 
Neuzeit erfolgte Aufschließung der semitischen Sprachen ohne Einfluß auf 
die Sprachtheorie geblieben. Und ganz neue Bahnen beschreitet diese 

Iseit Beginn des 19. Jahrhunderts. Aber von der gfriechischen Lehre 
kommen wir nie ganz los. Was unsere Jugend als Elemente der 
Grammatik lernt, ist dem Inhalt des Schulbüchleins des Dionysios noch 
auffallend verwandt In der Gliederung des Sprachstoffes, in der Reihen- 
folge z. B., die wir den Kasus und Genera des Nomens, den Personen des 
Verbums geben, und besonders in der ganzen Terminologie fußen wir 
noch immer auf den Griechen. Allerding^s sind nur wenige Ausdrücke 



310 



J.UCOB Wackernagel: Die griechische Sprache. 



der Grammatik ihrer Form nach griechisch, hauptsächlich solche, die bloß 
gegenüber griechischem Sprachstoff zur Anwendung kommen, wie Krasi's, 
Aorisi; die meisten sind lateinisch. Aber diese lateinischen Ausdrücke 
sind durchweg wörtlich aus dem Griechischen übersetzt; ein jeder stellt 
eine Frucht griechischen Sprachdenkens dar. Der Ausdruck Verbum 
wurzelt in der zu Piatos Zeit gültigen Satzlehre, und wenn wir den Sinn 
von Kasus erschließen wollen, müssen wir uns bei den alten Erklärern 
des Aristoteles Rats erholen ; das Wort bezeichnete , indem das Bild eines 
von oben fallenden und sich senkrecht oder schräg einbohrenden Stiftes 
vorschwebte, die Verwirklichung eines Allgemeinen unter besonderen Um- 
ständen. Das Ursprüngliche ist freilich oft durch Abkürzung im praktischen 
Gebrauch verwischt Wenn wir z. B. die Ausdrucksform für vergangene 
Handlung und gerade nur diese Imperfekt nennen, d. h. „nicht vollendet", 
so klingt das unverständlich. Aber ursprünglich galt der Ausdruck auch 
für das Präsens; man unterschied tch schreibe und ich schrieb als unab- 
geschlossene Gegenwart und unabgeschlossene Vergangenheit von ich habe 
geschrieben und ich hafte geschrieben als Ausdrücken der Vollendung. In andern 
Fällen haben die Lateiner schlecht übersetzt Der unsinnige Name des Akku- 
sativs, gebildet aus lateinischem accusare, als wäre er ein Anklagekasus, 
beruht auf falscher Übertragung eines griechischen Wortes, das den betreffen- 
den Kasus höchst sachgemäß als Ausdrucksform für das Bewirkte bezeichnet 
Zwei Nachteile sind allerdings mit solchem Fortleben eines wissen- 
schaftlichen und didaktischen Systems verbunden. Die Griechen schufen 
ihre Grammatik für sich selb'st, in Rücksicht bloß auf die Tatsachen der 
eigenen Sprache. Sie schufen sie femer von bestimmten philosophischen 
Anschauungen und von bestimmten Auffassungen des Sprachlebens über- 
haupt und der einzelnen Spracherscheinungen aus. Dürfen wir uns für 
nicht-griechische Sprachen und bei ganz anderer Art, zu denken und 
sprachliche Dinge zu betrachten, noch an das griechische Schema halten? 
Wir können an den ersten Versuchen syrischer und armenischer Grammatik 
beobachten, wie der Anschluß an das griechische Lehrbuch zu Gewalt- 
akten gegen die dargestellte Sprache geführt hat, und die lateinischen 
Grammatiker sind von solchen Verkehrtheiten auch nicht frei geblieben. 
Haben sie sich doch nicht gescheut, dem Latein die Regeln der griechischen 
Akzentlehre aufzunötigen und in einfach pluralischen Verbalformen des 
Latein Analogien zum griechischen Dual wiederfinden zu wollen. Auch 
wir würden, wenn das Feld ganz frei wäre, die Grammatik unserer 
Sprachen in manchem anders aufbauen und müssen uns, wo wir Sprachen 
anderer Völkerstämme und Weltteile grammatisch darstellen, möglichst 
vom überlieferten Schema losreißen. Immerhin läßt die durch die Ur- 
verwandtschaft bedingte Gleichartigkeit der modernen Sprachen mit dem 
Griechischen den Nachteil des Traditionalismus für den grammatischen Haus- 
gebrauch nicht so fühlbar werden. Und wenn wir darunter leiden, Enkel zu 
sein, so haben wir uns doch der Ahnen, deren Enkel wir sind, nicht zu schämen. 



Literatur. 



Von einer höheren wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Darstellung der grie- 
chischen Sprache kann man erst seit PHILIPP BuiTMANN (1764— 1829) reden. Bis zum 
Ende des 18. Jalirhunderts hatte die Grammatik nur die Stellung einer Hilfswissenschaft. 
Was sie zu lehren hatte, wurde in Elementarbiichem erledigt, deren Schema auf das antike 
Elementarbuch des Dionysios Thrax zurückging (oben S. 309). Daneben liefen gelehrte aber 
geistlose Zusammenstellungen äußerlich beurteilter Sprachtatsachen her. ßuttmann erkannte, 
daß die Grammatik eine geschichüiche Wissenschaft sei. Er ging von den Tatsachen der 
echten Überlieferung aus, brachte sie in Beziehung zur Geschichte von Volk und Literatur 
und wußte, wo andere nur einen Haufen von Seltsamkeiten gesehen hatten, innem Zu- 
sammenhang und geschichtliches Werden nachzuweisen. Seine „Ausführliche griechische 
Sprachlehre" (1819 — 1827) ist durch keine spätere Darstellung übertroffen oder auch nur 
erreicht worden. Stellt sie auch nicht einen solchen Markstein dar wie die Deutsche 
Grammatik von Jakob Gri.mm , so darf sie doch mit Ehren neben ihr genaimt werden. Sie 
ist aus demselben Geiste hervorgegangen. 

Der umfassendste Beobachter griechischer Sprachtatsachen, den es je gegeben hat, ist 
Christian August Lobeck (1781 — 1860); einer der schärfsten, wenn auch auf engerem 
Gebiet, Karl Wilhelm Krüger (1796— 1874). Beide entbehrten freilich des großen Blickes 
und des geschichtlichen Sinnes, der Buttmann auszeichnete, und beide (doch Lobeck noch 
weit mehr als Krüger) waren unfähig, die Geleise der antiken Theorie hinter sich zu lassen. 
Aber insbesondere Lobecks Werke, unter denen die Ausgabe des Phrynichos wohl den ersten Platz 
einnimmt, bilden eine noch unausgeschöpfte Fundgrube. — Inzwischen hatte die vergleichende 
Grammatik auf der von Buttmann gelegten Grundlage weiter bauen gelehrt. Auf ihr fuBte 
bereits Heinrich Ludolf Ahrens in seinem unübertroffenen Werke über die griechischen 
Dialekte (1839 — 1843). Der Hauptvertreler dieser komparativen Sprachbetrachtung im 
dritten Viertel des letzten Jahrhvmderts war Georg Curtius. Er hat durch seine zwar 
durchaus nicht bahnbrechenden, weder durch Gelehrsamkeit noch durch Kombinationsgabe 
ausgezeichneten, aber sorgsamen und umsichtig urteilenden Werke (bes. Griechische 
Schulgrammatik' 1852. Erläuterungen dazu ' 1863. Grundzüge der griechischen 
Etymologie' 1858. 1862) in weiten philologischen Kreisen und auch in der Schule einer 
geläuterten Spracherkenntnis Eingang verschafft. Im übrigen kam die Arbeit an der sprach- 
geschichtlichen Erläuterung des Griechischen seit 1851 hauptsächlich zu Wort in Kuhns Zeit- 
schrift für vergleichende Sprachforschung, der 1876 die Beiträge zur Kunde 
der indogermanischen Sprachen und 1892 die Indogermanischen Forschungen 
zur Seite getreten sind. 

Jetzt wird man, wenn man sich über die vorhistorischen Grundlagen des Griechischen 
und über die seine Ent^vicklung bestimmenden Gesetze unterrichten will, am besten greifen 
zu den Schriften von Kakl Brugmann (Griechische Grammatik' 1900; Kurze ver- 
gleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen 1902 — 1904) und für die 
Syntax zu denen von Berthold Delbrück (Die Grundlagen der griechischen 
Syntax 1879; Vergleichende Syntax der indogermanischen Sprachen 1S93— 1900). 
Als ein Muster von Verbindung linguistischer und philologischer Forschung auf dem Gebiet 
der griechischen Sprachkunde können die Quaestiones epicae (1892) von Wilhelm 
Schulze dienen. Eine vom Geiste der neuem Sprachwissenschaft erfüllte, die Gesamtheit 
der wesenüichen Tatsachen in geschichtlicher Abfolge vorführende Grammatik ist ein 
Desiderat für die Zukunft. 



^12 Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache. 

Ebenso fehlt es noch an einer voll befriedigenden lexikalischen Darstellung des ge- 
samten Sprachschatzes. Umfassende Sammlimgen liegen in den erhaltenen Resten der 
antiken Lexikographie und in dem von Henricxis Stephanus 1572 in Paris veröffentlichten 
Thesaurus und dessen 1835 — 1865 ebenda erschienener Neuausgabe vor; nicht bloß 
Materialsammlungen, sondern zum Teil ausgezeichnete Verarbeitung des Materials in zahlreichen 
Lexika zu einzelnen Schriftstellern, unter denen vielleicht der Index Aristotelicus von 
Hermann Bonitz (1870) die höchste Leistung darstellt. Im übrigen muB man sich vorerst 
bescheiden. Für einen Thesaurus in der Weise des jetzt von den fünf deutschen Akademien 
herausgegebenen lateinischen ist beim Griechischen aus verschiedenen Gründen die Zeit 
noch nicht gekommen. 

S. 286 ff. Über die Vorgeschichte des Griechischen und sein Verhältnis zu den Sprachen der 
Autochthonen und der Nachbarvölker orientiert am besten P. Kretschmer, Ein- 
leitung in die Geschichte der g^riechischen Sprache (1896). 

S. 298 ff. Eine befriedigende Gesamtdarstellung der hellenistischen Gräzität fehlt: den gegen- 
wärtigen Stand der Forschung skizziert A. Thumb , Die griechische Sprache im Zeit- 
alter des Hellenismus (1901). 

S. 303f. Biblisches Griechisch: A. Deissmann, Bibelstudien (1895) und Neue Bibelstudien 

(1897). 
S. 305. Schrift- und Volkssprache: K. Krumbacher, Das Problem der neugriechischen 

Schriftsprache. Festrede (1903). 
S. 307. Über das Rückgreifen auf die klassisch -g^echiscben Wortformen im humanistischen 

Zeitalter: WiLH. SCHITLZE, Orthographica. Marburg (1894). 
S. 309. Vgl. H. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und 

Römern * (1890. 1891). 



DIE RÖMISCHE LITERATUR DES ALTERTUMS. 

Von 
Friedrich Leo. 



Einleitung. Die antike Kultur ist durch das Latein in Mittelalter 
und neue Zeit herübergekommen. Die hellenistischen Völker erneuerten 
sich nicht durch germanische Mischung; der romanisierte Westen blühte 
von neuen Völkergebilden auf und die entscheidenden Epochen der Gre- 
schichte fanden die romanischen Völker im Zentrum der aufsteigenden 
Kultur. Das Latein des Mittelalters hat sowohl den Faden der Kultur 
nach der Länge fortgesponnen als die Geister jeder Zeit miteinander ver- 
woben. Die Renaissance ging keinen neuen Weg, sie ging ihn nur mit 
tausend neuen Kräften. Es war für die Geschichte der Wissenschaft von 
unermeßlicher Bedeutung, daß die Eroberung von Byzanz mit der Höhe- 
zeit der Renaissance zusammenfiel; aber die Weltkultur der folgenden 
drei Jahrhunderte blieb trotz des griechischen Einschlags lateinisch an 
Textur und Farbe. Die Sprache lebte als gemeinsame wissenschaftliche 
Sprache fort; die literarischen Gattungen und der kunstmäßige Stil der 
maßgebenden nationalen Literaturen gestalteten sich nach den lateinischen 
Vorbildern. Erst die Renaissance des i8, Jahrhunderts hat den Zusammen- 
hang mit der griechischen Kunst hergestellt. 

Es ist eine seltsame Verschlingung der Wege. Diese römische Kultur, 
die den Okzident umspannt und gezwungen und anderthalb Jahrtausende 
lang auf ihn gewirkt hat, war von Ursprung griechisch-römisch, sie war 
rezeptiv und vermittelnd, sie gab in der römischen Erscheinung abgeleitetes 
Griechentum; und als das Griechische selbst wieder erschien, fand es sich 
im eignen Hause. 

Niemand wird sagen, daß das römische Volk keine originale geistige 
Kraft hatte; aber diese, so groß sie war, gab es im Staats- und Rechts- 
leben aus. Auf allen andern Gebieten des geistigen Lebens, selbst auf 
dem der persönlichen Moral, haben die Römer eine entschiedene Neigung 
und Fähigkeit gezeigt, sich dem fremden Geiste und Gedanken anzu- 
schmiegen. Das heißt dem griechischen. Es war ein gegenseitiges Schick- 
sal, das die hellenistische Welt politisch den Römern auslieferte und den 
römischen Geist der griechischen Kunst und Wissenschaft unterwarf. 
'Griechenland besiegte seinen Sieger* so hat es Horaz formuliert und zu- 
gleich den Römern rühmend nachgesagt, daß sie, von Natur hochgesirmt 
und scharfen Verstandes, keine g^echische Form unversucht gelassen und 
selbst hier und da gewagt haben, den griechischen Inhalt durch römischen 



314 



Friediuch Leo: Die römische Literatur. 



IS Tafeln 
HS»- 450*- Chr.). 



ZU ersetzen. Einer der besten g^riechischen Beobachter römischen Wesens, 
Posidonius, erkannte in der Nachahmungs- und Aneignungskraft der Römer 
eine Hauptursache auch ihres politischen Wachsturas, 

Die fremde Einwirkung beginnt lange vor der Zeit, in der Rom, 
durch die Unterwerfung der Samniter ein für internationale Verhältnisse 
in Betracht kommender Staat geworden, zu den hellenistischen Monarchien 
und Städten in Beziehung zu treten begann. Die Einwirkung von selten 
der Griechen, die sich seit der Mitte des 8. Jahrhunderts vor Chr. an 
den süditalischen und sizilischen Küsten ansiedelten, und der Etrusker, 
die um jene Zeiten Etrurien xuid die Poebene beherrschten, die Ebene 
von Kampanien eroberten und auch nach Latiura mit Rom die Hände 
streckten, beginnt und dauert vor den Zeiten, für die es eine römische 
Geschichte gibt. Das Alphabet ist griechisch, die Sprache reich an grie- 
chischen Lehnwörtern, politische und sakrale Einrichtungen zeigen etrus- 
kischen und griechischen Einfluß, selbst das römische Landrecht hat sich 
nicht ohne Berührung mit griechischem Recht gestaltet. Die Etrusker, 
die in der Zeit ihrer Macht so ganz der griechischen Kultur und danach 
so widerstandslos dem römischen Staat und Wesen unterlagen, haben in 
die römische Religionsübung gewisse Formen eingeführt und griechische 
heilige Gebräuche, wahrscheinlich auch den Kult der kapitolinischen Götter, 
vermittelt; das Alphabet haben allein die Römer von den Griechen selbst, 
die Süditaliker und Umbrer dasselbe griechische Alphabet durch Vermitte- 
lung der Etrusker empfangen. 

Latium ist die einzige unter den italischen Ebenen, die im Besitz 
ihrer ältesten nachweislichen Bewohner geblieben ist Das verdemkten 
die Latiner den Römern; sie konnten sich wie die Athener im Gegensatz 
zu den übrigen Ebnenbewohnem des Landes als Autochthonen bezeichnen. 
An diesem Punkte erkennen wir in der geschichtslosen Zeit die militärische 
und auch, den Latinem gegenüber, die politische Kraft des noch mit den 
Mitteln eines engen Gemeinwesens seine Existenz begründenden Römer- 
volks. Der etruskischen Herrschaft hat es sich bald erwehrt. Etrusker, 
Griechen, Samniter imd Gallier haben in der latinischen Küstenebene die 
imscheinbare Volkskraft gefunden, die ihnen ein Halt gebot, die dann die 
Latiner zum Staate verband, die griechischen Ansiedlungen gegen die 
Samniter, Norditalien gegen die Gallier schützte und, nachdem sie in der 
Reihenfolge die Samniter, Etrusker, Umbrer, Griechen und Gallier unter- 
worfen hatte, ein Reich Italien herstellte. 

Es sind die Jahrhunderte, deren Überlieferung Legende ist, in denen 
die Römer das innere Gefüge ihres Staates, ihr öffentliches und bürger- 
liches Recht ausbildeten; auch die Kodifikation ihres Landrechts gehört 
noch in jene Zeit: es war das erste römische Buch, auf 12 Erztafeln ge- 
schrieben, von denen es jeder für sich abschreiben konnte. Auf diesem 
Gebiet brach der römische Geist seine eigne Bahn. Als griechische Ge- 
lehrte, die dem römischen Nachahmungstriebe nachspürten, Solonische 



Einleitung. 



315 



Gesetzbestimmungen in den 12 Tafeln wiedergefunden hatten, entstand in 
der römischen Annalistik eine doppelte Fabel: von einer Gesandtschaft, 
die das römische Recht aus Athen geholt, und von dem Epheser Hermo- 
doros, der den Römern bei ihrem Landrecht geholfen hätte. In der Tat 
handelte es sich um einzelne Rechtsbestimmungen, die durch fHedlichen 
Verkehr aus den griechischen Städten Italiens nach Rom gewandert waren. 
Ernstlich kann nicht mehr die Rede davon sein, den Römern ihre juri- 
stische Originalität zu bestreiten, Sie haben sie ihre ganze Geschichte 
hindurch bewiesen, so unzweideutig wie ihre Abhängigkeit auf allen 
andern Gebieten der Literatur und Wissenschaft. 

An ihrem Landrecht erwuchs den Römern die erste eigentlich litera- 
rische Leistung: ein Verzeichnis der Gerichtstage und der Formen des 
Zivilverfahrens, deren Kenntnis, unerläßlich für die Anwendung des Rechts, 
im Besitze des Pontifikalkollegiums war. Gnaeus Flavius, der nicht zu 
diesem Kreise gehörte, mußte das Buch nach Beobachtung und Erfahrung 
zusammenstellen, ein Buch zum Gebrauche des gemeinen Mannes und mit 
scharfer politischer Spitze gegen die patrizische Tradition. Den Gedanken 
dazu hatte Appius Claudius Caecus gegeben, ein Mann, der zuerst als Per- 
sönlichkeit unter den Römern scharf hervortritt; bis dahin macht das 
römische Volk seine Geschichte und die Männer sind nur Namen. Claudius 
hat persönliche Gedanken, die er mit demagogischer Kraft durchsetzt; 
ofiFenbar bediente er sich dazu auch der literarischen Mittel, die den 
Römern in der Zeit, da sie die Samniter imd Etrusker völlig unterwarfen 
und Pyrrhus bekämpften, unmöglich fremd sein konnten. So soll Claudius 
die erste Rede publiziert, auch die erste juristische Einzelschrift verfaßt 
und in Anlehnung an griechische Gedanken Verse geschrieben haben. 

Durch die 1 2 Tafeln war das geschriebene an die Stelle des Gewohn- 
heitsrechts getreten, die Epoche, die in der historischen oder Legenden- 
überlieferung aller griechischen Staaten einen Haupteinschnitt macht und 
im kretischen Gortyn uns noch auf dem Steine entgegentritt Als nun 
der Laie sich der Anwendung des Rechts bemächtigen wollte, da wurde 
der Priesterschaft, die bisher das sakrale und zivile Recht mit seinen 
Formen und Formeln gehütet hatte, die Gefahr bewußt und ihre kun- 
digsten Mitglieder übernahmen die öffentliche Belehrung des rechtsuchen- 
den Publikums. So löste sich das zivile vom sakralen Recht und wurde 
zu einer eignen Disziplin, zu einer selbstgewachsenen und in sich ruhen- 

Lden Wissenschaft, die nach praktischer und systematischer Ausbildung 
drängte und eine unbegrenzte Zukunft selbständiger literarischer Entwick- 
lung in sich trug. 
Wir haben hier die Geschichte der römischen Rechtswissenschaft 
nicht zu verfolgen. Aber es mußte bemerkt werden, daß das Römertum 
auf den Gebieten von Recht imd Staat seine originale Arbeit getan hat; 
und zwar das Römertum im engeren Sinne. Als das übrige Italien an 



Appiat CUudio« 
(Censor 313». 



AofHnge dar 
Kechuwtssro- 

ftCb.ilL 



3i6 Friedrich Leo: Die rdmische Literatur. A. Republikanische Zeit. 

Italiens vollzogen tind durch die Unterwerfung Italiens unter die latinische 
Sprache die geistige Überlegenheit des Römers deklariert Die größte 
Zeit der römischen Greschichte ist mit dem Eintreten sicherer historischer 
Oberlieferung vorüber. 

A. Republikanische Zeit 

L Von den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit 
(ca. 250 — 100 V. Chr.). Danach erst beginnt eine römische Literatur. Die 
Verschiedenheit von der griechischen Entwicklung springt ins Auge: dort 
ist jede Pheise literarischen Werdens ein organischer Teil der politischen 
und Kulturentwicklung der Nation; den Römern kommt die Literatur von 
außen, römische Literatur ist kein voller Begriff imd ohne das Griechische 
weder zu denken noch zu würdigen. 

Die Gattungen der gpriechischen Literatur sind aus volksmäßigen An- 
fangen allmählich in die Höhe gewachsen und durch die künstlerische Tat 
eines Mannes, den wir entweder kennen oder nicht kennen, kunstmäßig 
und literarisch geworden. Dieses organische Wachsen aus den Elementen 
kennt die römische Literatur nicht An den Elementen hat es nicht ge- 
fehlt: das italische Volk hatte Kult- und Heldenlieder, Spott- xmd Klage- 
lieder, Lieder bei Arbeit und Mahl wie das griechische, auch die rohen 
Naturformen des dramatischen Spiels. Aber es ist keine Kunst daraus 
entstanden, so wenig wie ein Drama, außer Epicharms Komödie, aus den 
Fastnachtsspielen der Dorier. 

Der Wunsch nach einer über die Volksposse hinausgehenden Bühnen- 
kunst reg^e sich, als die dionysischen Techniten aus den italischen Griechen- 
städten kommend auch dem römischen Publikum attische Tragödie und 
Komödie zeigten. Die römischen Festspiele waren vor alters nach grie- 
chischem Muster begründet worden vaid konnten szenische Spiele in ihren 
Rahmen aufnehmen. Es war die Zeit, da Psrrrhos aus Italien vertrieben, 
Tarent und die letzten freien Stämme zum Bündnis gezwungen wurden 
und Rom in gewaltigen Kriegen Sizilien eroberte und Karthago stürzte. 
In jenen Jahrzehnten füllte sich Rom mit einer niederen griechischen Be- 
völkerung: Kriegsgefangenen und gekauften Sklaven, Freigelassenen und 
handeltreibenden Bündnem. Auf Markt und Straßen hörte man griechisch 
sprechen. Aber auch in den Häusern begann bereits hier und da ein 
Vornehmer dem Vortrage eines Sklaven, der daheim die Schule besucht 
hatte, zu lauschen; und mancher hätte seinen Kindern zum Buchstabieren 
und Lernen von Recht vmd Gesetz, wie es dem römischen Knaben zukam, 
auch einen literarischen Unterricht gleich den Griechenkindem gegönnt. 
Liviai Damals lebte in Rom der Tarentiner Andronikos, der wahrscheinlich 

(txtig 24o-ao7). während des tarentinischen Krieges, d. h. vor 273, und zwar als junger 
Knabe, kriegsgefangen in das Haus eines Livius gekommen war und als 
dessen Freigelassener den Namen L. Livius Andronicus führte. Der Mann 
hat keine geringe Bedeutung für die Weltliteratur; denn er hat die Kunst 



I. Von den punischen Kriegen bis lur Revolutionszeit (ca. 250 — 100 v. Chr.). ^ij 



des Übersetzens erfunden. Diese Kunst datiert vom Jahre 240 v. Chr., 
dem ersten Auffüihrungsjahre des Andronicus. Er hat den Römern für 
ihre Bühne attische Tragödien und Komödien, für ihre Schule die Odyssee 
vermittelt. Für diesen Zweck fand er eine Sprache vor, die in Handel 
und Wandel, in Senat und Forum ausgebildet, aber für keinen kunst- 
mäßigen Gebrauch geschult und geschmeidig, in poetischer Ausdrucks- 
fähigkeit noch unversucht, selbst in ihren Formen noch nicht einem nach 
Hebung und Senkung strenge gliedernden Versgesetze anbequemt war. 
Es gab einen urtümlichen italischen Vers; den fand Andronicus als den 
Vers des Heldenliedes für die Obersetzung der Odyssee geeignet. Für 
das Drama fand er es nötig die jambischen und trochäischen Verse der 
Griechen nachzubilden; er tat es mit einer ähnlichen Freiheit wie er sie 
den Texten gegenüber als Übersetzer übte, und mit einem Erfolge wie er 
nur dem schöpferischen Formenbildner zuteil wird. 

So war mit einem Striche beseitigt was in Rom von Rudimenten der 
Dichtung vorhanden war und der Gestaltung harrte. Dafür empfingen die 
Römer das homerische Epos und das große attische Drama: die Tragödie 
des 5. Jahrhunderts und die Komödie Menanders. Epos und Tragödie 
waren klassisch und in den griechischen Ländern Gegenstand gelehrten 
Studiimis; die Komödie war in vollem Leben, So brachte Andronicus 
den Teil des Publikums, der auf ihn hörte, mit der großen Kunst der 
vergangnen Blütezeit und mit der modernen griechischen Produktion zu- 
gleich in Beziehung. 

Das Literatentum, das sich nun bildete, war nicht im eigentlichen 
Sinne römisch; wie es denn von einem geborenen Grriechen begründet 
und gleich in der gfriechischen Form eines Dichterklubs mit sakralem 
Mittelpunkt zusammengefaßt worden ist. Ein Römer, ja ein Latiner aus 
Latium ist Generationen lang in der römischen Literatiir nicht nach- 
zuweisen. Andronicus' Nachfolger und Nebenbuhler, Naevius, war aus 
einer Latinerstadt in Kampanien, Plautus ein Umbrer von der umbrisch- 
gallischen Grenze, Ennius und Pacuvius aus Kalabrien, einem Lande halb- 
griechischer Kultur, Caecilius und Terenz Freigelassene der eine gallischen, 
der andre afrikanischen Blutes, Keine Überlieferung lehrt uns so ein- 
dringlich die geistige Anziehungskraft der Eroberin Rom kennen wie 
dieses Eintreten der latinisierten Italiker und Fremden in die literarische 
Bewegung, 

Auch griechisch war dies Literatentum nicht; vielmehr ist gleich aus 
dem ersten Anstoß eine römisch-italische Strömung hervorgegangen, die 
auf eine nationale Entwicklung der jungen Literatur hindrängte. Man 
sieht deutlich, daß die Talente bereit standen und nur auf die freie Bahn 
warteten. Der Führer war Naevius, ein Mann, dessen Persönlichkeit aus 
geringen Resten und Notizen scharf hervortritt. Er bleibt in den von 
Andronicus gegebenen Formen, er bearbeitet auch attische Tragödie (zum 
Teil dieselben Stoffe wie jener, also über ihn hinausstrebend) und Komödie; 



Naeviiu 
Itlü« »35— «04>. 



3i8 



Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit. 



Plautiu 
ftätiff vor 
104—194). 



aber daneben beginnt er den Stoff für Tragödien aus der römischen Sage 
und Geschichte, für Komödien aus der italischen Umgebung zu holen. 
Er dichtet ein Epos, im altitalischen Maß wie Andronicus, aber sein 
Gegenstand ist der punische Krieg, den er als Soldat erlebt hat Dies 
sind die Hauptzüge, die eine freie Initiative in der nationalrömischen 
Richtung bedeuten. Auch eine attische Freiheit des Wortes, der die 
römische Polizei durchaus keinen Raum verstattete, bezeichnet den Mann; 
sie hat ihm Gefängnis und Verbannung eingetragen und seine Laufbahn 
als Dichter gekürzt. 

Livius Andronicus ist in Rom nachzuweisen von 240—207 v. Chr., 
Naevius von 235 — 204; in Naevius' letzter Zeit setzen Plautus und Ennius 
ein. Damals, nämlich in Plautus' und Ennius' Zeit, gab es 'Dichter wie 
Frühlingsblumen', wie eine Generation nach Plautus ein Komödienschreiber 
sagt Die Komödie war, wie bemerkt, von den Gattungen, die Andronicus 
in Rom einführte, die einzige mit der lebendigen griechischen Produktion 
der Zeit unmittelbar verbundene. Daß sie die stärkste Entwicklung fand, 
deutet auf den Zusammenhang der römischen Literaten mit der griechi- 
schen Bühnenliteratur der Zeit. Die Stärke der Entwicklung zeigt sich 
vor allem darin, daß die Komödie die erste römische Gattung war, die 
eine poetische Individualität für sich allein in Anspruch nahm. Die Griechen 
kannten das nicht anders. Sokrates zwingt am Schlüsse von Piatons Sym- 
posion nach einer durchzechten Nacht die beiden Dichter, zuzugeben, daß 
wer der Kunst der Tragödie mächtig sei auch der Komödie mächtig sein 
müsse, und umgekehrt Der importierten römischen Kunst war das kein 
Paradoxon. Aber in umgekehrter Entwicklung fordert auch hier allmäh- 
lich der Stil seinen Mann. Naevius hatte zur Komödie den stärksten 
Trieb gehabt und sie nach Gehalt imd Form starke Schritte vorwärts 
geschoben; Plautus war der erste, der sein ganzes Leben der Komödie 
hingab. 

Plautus, aus dem umbrischen Städtchen Sarsina an der gallischen 
Grenze in Rom eingewandert, ist zugleich der erste, den wir von An- 
gesicht kennen. Wir besitzen 20 Komödien von ihm, die in der Haupt- 
sache für uns die altlateinische Sprache ausmachen. Die neben ihm 
dichteten sind fast alle auch dem Namen nach verschwunden. Seine 
Stücke sind zum Teil nach Philemon, Menander und Diphilos, d. h. nach 
den Klassikern der attischen neuen Komödie, andere nach jüngeren, meist 
unbekannten, Dichtern bearbeitet Sie haben die dieser Gattung eignen 
typischen Züge der Erfindung und Charakterisierung, sind aber nach Inhalt 
und Ton außerordentlich verschieden; wie ihre Urheber und Urbilder es 
w£iren. Sehr verschieden sind sie auch der Ausführung nach. Die besten 
sind ohne Frage die dem Original ohne wesentliche Abweichung nach- 
gebildeten Stücke. Aber Plautus hat oft, wie schon Naevius, zwei grie- 
chische Komödien verwandten Stoffes ineinander gearbeitet oder ein 
Stück, indem er einzelne Szenen aus andern Stücken herübemahm, mit 




I. Von den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit (ca. 250 — 100 v. Chr.). 310 

Stoff gefüllt; denn sein Publikum verlangte nach Handlung mehr als nach 
Kunst der Ausführung. Die eignen Schritte, die Plautus bei solchen Ge- 
legenheiten tun mußte, zeigen einen sehr ungeübten Gang. Horaz, der 
die Originale kannte, hat ihn sehr scharf beurteilt; und wir können, so- 
weit das Dramatische in Handlung und Aufbau reicht, wo wir die Ab- 
weichung vom Original erkennen, nicht milder sprechen. Es geriet dem 
italischen Poeten noch nicht, die fremde Kimstform mit freien Händen 
zu berühren. 

Dagegen behandelt Plautus die Sprache als ein Meister: es ist eine 
Stilisierung der Umgangssprache, die dem Besten ihrer Art an die Seite 
tritt; eine Geschmeidigkeit der jungen Literatursprache, die auch vom 
Talent der Vorgänger, die eine so rasche Entwicklung vorbereitet haben, 
die größten Vorstellungen erweckt; die Formen von fließender Mannig- 
faltigkeit, der Ausdruck von geregelter Beständigkeit; doch nirgends ein 
papiemes Gesetz: jede Regel entspringt den in der Sprache vorhandenen 
Keimen; keine der Sprache angetane Gewalt: viele Fremdwörter, kein 
Gräzismus des Satzbaues; trotz der Fremdwörter eine aus der Tiefe 
quellende Sprachfülle; jede Stimmung findet ihren Ton, denn das bürger- 
liche Schauspiel geht durch alle Stufen von ernster Leidenschaft bis zum 
Grrotesken. 

Der sprachliche Stil läßt die 20 Stücke als das Werk eines Geistes 
erscheinen; dasselbe leistet die Stilisierung des Stoffes. Was darunter 
zu verstehen ist, läßt sich nicht leicht beschreiben oder andeuten. Die 
attische Komödie stellte das Leben von Haus und Straße dar das grie- 
chische Leben; das mußte der Römer sich bieten lassen, da er die fremde 
Kunstform übernahm; seine Poeten hatten nicht die Beweglichkeit des 
Geistes, mit der Holberg aus fremden Motiven ein nationales Lustspiel 
geschaffen hat Aber das leichte Spiel vertrug es, wenn der Dichter die 
eigne Gegenwart mit der gestalteten, die er vorfand, vermischte. An 
diese Vermischung hat Plautus seinen ganzen Witz gesetzt Im Rahmen 
der attischen Erfindung fahrt Griechisches und Römisches vorüber, das 
dem römischen Publikum im einzelnen merklicher als uns auseinander- und 
immer wieder zusammentrat und gerade dadurch im ganzen sich ver- 
wischend rascher in eine eigne neue Farbe überging. Auch wir empfinden 
den Reiz dieser schillernden und doch einheitlichen Färbung; sie ist so 
wohltemperiert, daß auch die rein attische Grundlage von der Nachwelt 
als römisch genommen worden ist Einer Übersetzung, die zunächst nicht 
literarischen Zweck hat, sondern für die lebendige Bühne bestimmt ist, 
kann man wohl ein besseres Zeugnis nicht ausstellen, als daß sie nicht 
nur Reichtum und Fähigkeiten der eignen Sprache darstellt und ver- 
mehrt, sondern auch den fremden Charakter des Stoffes vergessen macht 

Plautus nennt sich in einem Atem Dichter und Obersetzer. Wir 
würden vielleicht schwanken ihm den schöneren der beiden Namen zu 
geben, wenn wir seine Originale besäßen; aber wir sehen doch, daß er 



320 



3R1CH Leo : li" romische Literatur. A. Republikanische ZeitT 



Ca«ciliiu 

(um 195—168) 

and 

Teren« 

(->59). 



sich als Schaffender füWen konnte. Wie an seiner Sprachbehandlung 
und der Freiheit in der Behandlung des Stofflichen erkennen wir das an 
seiner Gestaltung der metrischen Formen, im einzelnen und im ganzen; 
auch hier freilich bleibt die Frage nach dem Anteil, der seinem Vor- 
gänger Naevius zufällt, offen. Plautus hat eine Fülle lyrischer Vers- 
formen, die nach griechischer Technik frei gebildet sind, während die 
Originale fast nur die einfachen Dialogmaße verwendeten. Aus den 
lyrischen Maßen bildet Plautus Lieder und Gesangszenen, die in einigen 
Stücken überwiegen, in andern nur sparsam zwischen die Dialogszenen 
eingestreut sind, während die neue attische Komödie fast ausschließlich 
aus gesprochenen Szenen bestand. Dies ist eine wesentliche Abweichnng 
von den Originalen, wesentlich für die Arbeit an jedem einzelnen Stück, 
eine für die Bühnenerscheinung der römischen Komödie gegenüber der 
griechischen sehr erhebliche Abweichung. Nun sind die plautinischen 
Lieder und Liedszenen ihrer Form nach eng verwandt mit den gleich- 
zeitigen griechischen Liederspielen, die sich in der Ausbildung ihrer 
Formen an die spätere Lyrik der eiuipideischen Tragödie angeschlossen 
haben- Wir sehen Plautus in unmittelbarer Verbindung mit der griechi- 
schen Bühnenproduktion leichten Stils seiner eignen Zeit, er ist für uns 
der Fortsetzer nicht nur der attischen Komödie, sondern auch einer 
hellenistischen Kunstübung, von der uns ohne ihn nur wenige Andeutungen 
erhalten wären. Er setzte der attischen Komödie das griechische 
Singspiel, wie es damals überall zu finden war, auf und belebte sie da- 
durch für sein Publikum in wirksamster Weise, Dem griechischen Dichter 
würde eine solche Vermischung nicht zur Freude gereicht haben; und 
uns mag sie eine Warnung sein, daß wir in Plautus nicht zu bereitwillig 
das Abbild Menanders finden. Dafür gewinnt Plautus einen neuen Zug 
von Originalität. 

Nach Plautus führte die römische Komödie griechischen Stoffes nur 
ein kurzes Leben. Caecilius starb 16 Jahre nach Plautus; an ihm rühmten 
ein Jahrhundert später die römischen Philologen, daß er die andern 
durch Trefflichkeit der Erfindung überrage; das bedeutet, er übersetzte 
vornehmlich Menander und ließ dessen Stücke als Ganzes wie sie waren, 
ohne sie mit Stoff aus andern Komödien aufzufüllen. Nach seinem Tode 
begann Terenz und dichtete nur wenige Jahre. Von ihm besitzen wir 
was die Alten besaßen; es ist alles was er auf die Bühne gebracht hat, 
sechs Komödien, von denen vier nach Menander geeirbeitet sind. Das 
jüngste dieser Stücke ist ein Vierteljahrhundert nach dem Tode des 
Plautus geschrieben; der Abstand ist außerordentlich groß. Die Entwick- 
lung der Sprache bezeugt auch ohne die deutlich redenden äußeren Zeug- 
nisse, daß anspruchsvollere literarisch angeregte Kreise dieser Produktion 
ihr Interesse zugewendet haben. Die Komödie ist attischer geworden. 
Die Literaten selbst verlangen genauen Anschluß ans OriginaL Die plau- 
tinische Form des Singspiels ist so gut wie aufgegeben. Die römischen 



I. Von den punischcn Kriegen bis zur Revolulionszcit (ca. 250 — icx> v. Chr.). 321 



p 



} 



Elemente, die den Stil des Plautus so wesentlich bestimmen, sind sorg- 
fältig abgestreift. Dabei ist der Respekt vor dem Original nicht groß: 
auch Terenz versetzt, gegen den Widerspruch der Zunftgenossen, das 
eine Stück mit Personen und Szenen eines andern; aber er tut, was 
Plautus leichthin und um das entstehende Gebilde unbekümmert tat, mit 
bewußter Kunst und einem Geschick, das unsem Blicken die Fugen ver- 
deckt. Andrerseits läßt er fort was durch zu entschieden attische Lokal- 
farbe stört; rein attisch und menandrisch sucht er die Charakterzeichnung 
in einer nach Menanders Muster erstaunlich fein berechneten Stilisierung 
der Rede herauszubringen. 

Plautus und Terenz haben, nah und fern wie sie ihren Originalen 
stehen, das griechische bürgerliche Schauspiel der Weltliteratur vermittelt. 
Menander ist früh verschwunden, seine römischen Nachfolger haben im 
4. und 12, und (5. Jahrhundert produktiv gewirkt, ihre Stoffe und der 
Einfluß ihrer Kunst erscheinen wieder bei Shakespeare und Dryden, bei 
Moliere, Holberg und Goldoni, bei Lessing und Heinrich Kleist. Freilich 
ist was hier gewirkt hat der griechische Geist, der noch mit sinkender 
Kraft eine neue Gattung des Dramas neben die Tragödie gestellt hat, 
ein wie die Tragödie nicht an Zeitalter und Schauplatz gebundenes, jeder 
nationalen Wandlung fähiges Schauspiel. Was die Römer selber daraus 
gemacht haben, steht in zweiter Linie; die Hauptsache ist, daß sie das 
griechische Kunstwerk mit voller Farbe des Lebens und Kraft der Wir- 
kung bewahrt und weitergegeben haben. 

Die entschiedene Richtung auf das Römisch-Nationale, die Naevius Kaaiui 
dem jungen Fluge der lateinischen Produktion zu geben suchte, wurde 104-169). 
nicht eingehalten. Schon Plautus folgte nur eine Strecke und machte 
diesseits der griechischen Grenze halt. Neben ihn trat, gerade um die 
Zeit, in der Naevius aus Rom verschwand, der Mann, der den Sieg des 
griechischen Einflusses auf die römische Literatur für alle Zeit entscheiden 
sollte. Es war Ennius, der im Jahre 204 im Gefolge des jungen Cato 
nach Rom kam. Er war damals 35 Jahre alt; in seiner Heimat, im kala- 
brischen Binnenlande nicht weit von Tarent, wurde messapisch und 
oskisch, griechisch und lateinisch gesprochen; kein Zweifel, daß ein junger 
Mann lebhaft strebenden Geistes dort ganz im Banne der griechischen 
Bildung stand. Als er, der eigentliche Nachfolger des Andronicus, nach 
Rom kam, war er nicht nur mit der klassischen Dichtung schulmäßig 
vertraut, sondern bewegte sich mit im Leben des modernen griechischen 
Geistes. Den einzigen Tragiker, der der hellenistischen Welt nicht wie 
ein Denkmal vergangener Größe, sondern in lebendiger Wirkung wie 
einer der Ihrigen erschien, Euripides, stellte er mit seiner Freigeisterei und 
Menschlichkeit, einen Propheten unröraischer Lebensanschauung, in den 
Vordergrund der römischen Bühne. Aus der hellenistischen Literatur 
holte er Proben der verschiedensten Art, darunter Dinge, die auch der 
Grieche für den Feinschmecker dichtete, hervor und leg^e sie dem kleinen 

Db Kultuk du Gsoshwaht. I. S. 21 -^ 



32 2 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit. 

Kreise, auf den er zählen konnte, darunter der Jugend, die er heran- 
bildete, in lateinischer Bearbeitung vor: Naturphilosophisches, rationa- 
listische Mythendeutung, heitere Lebensweisheit und Lebensgenuß. Um 
dergleichen anzufassen, mußte er ein starkes Vertrauen auf seine formale 
Kunst besitzen. Ihm verdanken die Romer den Hexameter und das 
elegische Distichon. Durch den Hexameter schob er mit einem Sehlage 
den Satumier und zugleich die Epen des Andronicus und Naevius in die 
Vergessenheit zurück imd knüpfte die Römer an das griechische Epos, 
das homerische und das zeitgenössische, an. Die Fessel der griechischen 
Form schlang Ennius nur fester und für immer unlösbar um den römischen 
Geist; aber den epischen Stoff gaben die Römer selbst Hier folgfte er 
Naevius. Wie er Tragödienstoffe aus der römischen Legende und den 
letzten Kriegen nahm, so setzte er sich als Gregenstand seines Epos, das 
ihn die letzten Jahrzehnte seines Lebens hindurch beschäftigte, die 
römische Geschichte von ihren Anfängen bis in die eigenen Tage vor. 
Dieses Gedicht ist bis auf Vergil das Nationalepos der Römer geblieben 
und war noch für Vergil das klassische Vorbild neben Homer. Es war 
ein vordeutender Ausdruck für die Verbindung des griechischen und 
römischen Wesens, die auf die Zeit der äußeren Einwirkung folgen sollte. 
GriechiKh- Ennius stand in nahem Verkehr mit den Scipionen und andern rö- 

BUdanfiverkehr.mischen Grroßen, für deren Taten und die ihrer Väter er ein poetisches 
Denkmal aufrichtete. Es gab damals schon Männer im Senat, die ein 
eignes Verhältnis zur g^echischen Literatur hatten, ja die als griechische 
Literaten römische Geschichte auf griechisch schrieben. Dennoch fiel 
damals Ennius als dem Vermittler zwischen griechischer und römischer 
Bildung eine sehr wichtige Rolle zu. Bald kamen die Grriechen selber 
und fanden in dem neuen Zentrum der politischen Weltbegebenheiten 
Bildungskreise vor, in die sie als Vertraute treten und in denen sie wie 
mit ihresgleichen reden konnten. 

Gleich nach dem hannibalischen Kriege begann Rom über Italien 
hinaus- und in die Verhältnisse der griechischen Monarchien tmd Stadt- 
gemeinden einzugfreifen. Von der Zeit an strömten Gesandte der Könige 
und Städte nach Rom, oft als Redner, Gelehrte, Philosophen die ersten 
Männer daheim. Während der Monate, die sie vor den Pforten des 
Senats harrten, teilten sie den aufsteigenden Herren der Welt von ihrer 
Redekunst, Philosophie tmd Philologie mit; die Griechen waren längst 
gewohnt, die Barbaren in die Schule zu nehmen, sie kannten längfst die 
politische Bedeutung der überlegenen Bildung. In Rom fanden sie ein 
lernbegieriges Publikum unter den Jungen und Alten. Der beste Römer 
seiner Zeit, der junge Scipio Aemilianus, kam unter den Einfluß deä 
Polybius, der daheim als Staatsmann gescheitert war und als römischer 
Staatsgefangener, da er in langjährigem erzwungenem Aufenthalt die 
Größe des römischen Volkes und Staates erkannte und in seiner Ge- 
schichte der römischen Welteroberung darstellte, einen besseren "Ruhm 



I I. \'on den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit (ca. 250 — 100 v. Chr.). 323 

erwarb als er in Megalopolis dem griechischen Kleinpolitiker geblüht 
hätte. Aemilianus wurde das Haupt eines Kreises, in dem, mit der männ- 
lichen Reife des Römertums verbunden, eine auf das Geistige gerichtete 
Lebensführung zur Erscheinung kam. Hier fand auch die stoische Ethik 
ihre erste Stätte in Rom, eine Lehre, die, durch ihre Forderung eines 
mit der Weltvernunft und der eigenen Seele, als einem Teile des Gött- 
lichen, übereinstimmenden Lebens, der altrömischen Leben.smoral einen 
völlig zutreffenden theoretischen Ausdruck zu geben schien. Den Römern 
von Scipios Art war es eine begeisternde Wahrheit, daß geistige Bildung 
auf sittlicher Grundlage aufgebaut werden muß, denn die sittliche Grund- 
lage fanden sie in der Vorratskammer ihrer häuslichen Überlieferungen. 
Seit jener Zeit zogen auch Römer in die griechischen Länder. Als 
Eroberer in Feindesland suchten sie bereits die berühmten Stätten der 
Bildung, die Denkmäler geistigen Ruhmes, die lebenden Träger viel- 
genannter Namen auf. Zu den Unterworfenen zogen Gesandte, die ihre 
Verhältnisse ordneten, ihre Streitigkeiten schlichteten. Die Statthalter 
und ihre vornehmen Begleiter wohnten jahrelang an den Hauptsitzen der 
Provinzen. Reiche Römer gründeten Handelsniederlassungen auf den 
Inseln und in den Küstenstädten. Als die griechische Welt sich an die 
römische Herrschaft gewöhnte, gewöhnte sich auch die römische Gesell- 
schaft daran, unter der Bildung, die sie suchte, die griechische Bildung 
zu verstehen und nach der alten und neuen griechischen Literatur, Welt- 
weisheit und Wissenschaft Umschau zu halten. Nun war kaum ein vor- 
nehmes Haus ohne seinen griechischen Berater. Allmählich wurde es 
Sitte, daß der junge Römer Athen und die kleinasiatischen Kulturorte 
bereiste; da lernte er bei den Rednern und Philosophen- 
Ais diese Berührungen begannen, waren auch Männer der vornehmen Pro«« 
römischen Gesellschaft in die von zugewanderten kleinen Leuten angeregte 
und unterhaltene literarische Bewegung eingetreten. Aus diesem Zuzüge 
erhob sich die römische Prosa. Es ist ein Zug organischen Wachstums, 
daß sie so weit hinter der Poesie zurückblieb; denn die Prosa pflegt 
heranzuwachsen erst wenn die Sprache in der Poesie ihrer Kraft inne 
geworden ist. Ennius' Euhemerus war vielleicht die erste Prosaschrift 
der neuen Literatur. Aber Stoff und Form der Prosa kamen aus andrer 
Richtung. 

Der Stoff der römischen Prosa ist römische Geschichte und Politik, 
römische Senats- und Gerichtsverhandlung. Sie ist durchaus politisch- 
national, national im Gegensatz zum Fremden, politisch als Waffe im 
Parteikampf. Sie ist in den Händen vornehmer Römer, die sich ihrer 
zum Zwecke bedienen und eine lediglich literarische Beschäftigung erst 
vornehmen, wenn sie ihr Teil an Taten hinter .sich haben und nur noch 
als Ratende im Senat sitzen. Dennoch ruht die römische Prosa in der 
griechischen Geschichtschreibung und Redekunst, wie die römische Poesie 
im griechischen Epos und Drama, nicht so augen.scheinlich, aber nicht 



324 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit, 

minder gewiß; nur hat vielleicht die griechische Einwirkung hier von 
primitiven Bildungen mehr zu überwinden gehabt als auf poetischem 
Grebiet 
Cato Kaum in der Geschichtschreibung. Es gab rein stoffliche Aufzeich- 

»34-149- nungen der römischen Geschichte, die fortlaufend gefuhrt und dann im 
Archiv des pontifex maximus aufbewahrt wurden. An sie hat sich das 
Epos des Ennius und die folgende Annalistik, wenigstens dem Namen 
nach, angelehnt Die ersten römischen Historiker, Männer, die gegen 
Hannibal gefochten haben, schrieben für Griechen in griechischer Sprache 
römische Geschichte. Der alte Cato, der ärgste Feind der römischen 
Philhellenie und recht eigentlich Beg^ründer der römischen Prosa, schrieb 
eine Geschichte Italiens als Geschichte des italischen Volkes imd ver- 
schwieg die Namen der vornehmen Offiziere, ganz im Gegensatz zu Ennius 
und der auf die Verherrlichvmg der Persönlichkeit gerichteten helle- 
nistischen Geschichtschreibung; aber seine Abhängigkeit von dieser tritt 
darum doch aufs deutlichste hervor. 

Die politische und Gerichtsrede hatte ohne Frage in Rom eine frühe 
Ausbildung erfahren, eine imserer Überlieferung vorausliegende Aus- 
bildung, von der wir weiter nichts sagen können; daß sie stattgefunden 
hat, folgt aus einer staatlichen und rechtlichen Entwicklung, wie es die 
römische war, mit Notwendigkeit Aber wo uns die römische Rede zu- 
erst entgegentritt, beim alten Cato selbst, der seine Reden, ein ganz 
griechisches Verfahren, als literarische Leistungen ins Publikum brachte, 
steht die Formung der Sprache unter der deutlichen Einwirkung der 
modernen griechischen Rhetorik. Diesen Einfluß finden wir schon bei 
Plautus und Terenz; kein Wunder, denn die griechische Rhetorik griff 
über die Rede hinaus in alle Poesie imd kunstmäßige Prosa hinein, sie 
ist in Rom mit der Literatur und griechischen Bildimg zugleich heimisch 
geworden. Aber in der übrigen Kunst bedeutet sie das Beiwerk, in der 
Rede die Technik. Bald setzten sich Rhetoren zur Unterweisung der 
vornehmen Jugend in Rom fest; lange vorher hatte der römische Staats- 
mann aus Büchern und persönlichem Verkehr die Lehren der griechischen 
Rhetorik aufgenommen. 

Dagegen echt römisch waren Schriften Catos zur Unterweisung seines 
Sohnes in Tugend und Hantierung der Vorfahren und ein Leitfaden zur 
Bewirtschaftung des Grutes, das einzige was tms geblieben ist, in einer 
Fassung freilich, die durch jüngere Zutaten und durch Veränderungen, 
wie sie im Gebrauch sich einstellen, der ursprünglichen Gestalt sehr un- 
ähnlich geworden ist. 
Dnnut der -In den Friedensjahren nach der Zerstörung Karthagos imd Korinths, 

Gnccheaxait. ° * 

als die drohenden Fragen der inneren italischen Politik in den Vorder- 
grund traten, war in der neuen Weltstadt ein buntes literarisches Leben. 
Jede andere Barbarenstadt wäre imter ähnlichen Umständen hellenisiert 
worden. Rom entwickelte in dieser entscheidenden Epoche seine beste 



I. Von den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit (ca. 250 — 100 v. Chr.). 325 

Fähigkeit der Aneignung wie der eigenen Gestaltung. Ein Fundament 
besaß es in der bisherigen Entwicklung seiner eignen Literatur. Die 
Tragödie setzte sich nach Ennius durch zwei lange Generationen in ge- 
steigerter Ausdrucksfähigkeit fort. Gegen die zu attisch werdende Ko- 
mödie wehrte sich das römische Publikum. Das selbsterfundene Lust- 
spiel römischen Stoffes, ganz in der menandrischen Form, trat damals an 
die Stelle der Bearbeitungen griechischer Originale; und als auch das zu 
fein und attisch wurde, drängte sich die italische Volksposse in lite- 
rarischer Gestaltung ans Licht. Die szenischen Spiele erhielten nach 
griechischem Muster einen Dichterwettkampf; nun paßten sich die Zunft- 
genossen gegenseitig aufs Handwerk, und es bildete sich eine Technik 
dieser Obersetzungsliteratur, die ihre eignen Wege gehen mußte, da sie 
nicht ihresgleichen hatte. Auf den Höhen der Gesellschaft begann man 
sich für diese Kunst zu interessieren und, wie man selbst auf ein stadt- 
römisches reines Titeln ein ähnliches Gewicht zu legen begann wie der 
Grieche auf ein reines Attisch, dergleichen auch von der Bühne zu ver- 
langen. Terenz widerstrebt in seinen Prologen dem Scheine nicht, daß 
ihm vornehme Römer beim Dichten halfen; von ihm sagte man, daß er 
auf einer Studienreise nach Asien und Athen umgekommen sei. 

Zum Kreise des Scipio Aemilianus gehörte Lucilius, dessen Name den Luciiiui 

• 1 T-»l • • ■• • < T • 1 \ T" f"™ '80—10»). 

freigewordenen Flug emer eignen romischen Literatur bedeutet. Er war 
kein Literat wie die bisherigen Poeten. Einem vornehmen Hause der 
latinischen Kolonie Suessa an der kampanischen Grenze angehörend lebte 
er als reicher Mann in Rom, innerlich und äußerlich beteiligt an der 
politischen Bewegung für und gegen die italischen Bündner, nicht minder 
bewegt von literarischen Interessen jeder Art; ein Mann von originalem 
Denken und freier Weltbildung, das heißt griechischer Bildung. Seine 
Sprache zeigte wie ein Spiegel das Nebeneinander griechischer und latei- 
nischer Elemente in der besten Bildung der Zeit; es ist die Verkehrs- 
sprache seiner Kreise, keine stilisierte Literatursprache wie die des Te- 
renz. Seine Dichtung führt weder eine vorhandene römische Produktion 
fort, noch führt sie einfach eine neue griechische Gattung ins Lateinische 
ein. Es ist die Satire. Man hat später in Rom gemeint, die Satire sei 
die freie Erfindung des Lucilius; und richtig ist, daß die in Rom und 
später in der Welt lebendig und triebfähig gebliebene Satire von Luci- 
lius stammt. Nur Stoffliches und die Anregung, seine persönlichen Mei- 
nungen in freier Betrachtung dem Publikum vorzutragen, kam ihm aus 
der griechischen, besonders der hellenistischen Literatur. Dort gab es 
vieles von ähnlicher Art, vor allem in den Kreisen der kynischen Popular- 
philosophie, im belehrenden Ton der Wanderpredigt oder mit humoristisch- 
polemischer Erfindung. Die poetische Form stammt von Lucilius selber 
her. und damit die Gattung; denn was römische Vorgänger unter dem- 
selben Titel gedichtet haben, hatte entweder nur den Titel gemein oder 
war doch ohne Wirkung geblieben. Ganz sein eigen war der Geist: ein 



326 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit. 

kühner, mit jeder Waffe des Wortes scharf treffender Witz, ein die Dinge 
und Menschen frei und von oben schauender Humor. Die Gegenstände 
waren das Leben um ihn her: eigene Erlebnisse, die römische Gesellschaft, 
der Staat, mit heftigen Angriffen auf seine und seiner Freunde politische 
Feinde; moralphilosophische Betrachtung und Erotisches, grammatische 
Erörterung und literarische Kritik. Das Epos des Ennius und die Satire 
des Lucilius gaben dem Römer zuerst das Gefühl, auf eigenem Boden zu 
stehen und selbstgewonnene Frucht zu genießen. Lucilius hatte noch unter 
Domitian, lange nachdem sein größerer Nachfolger ihn verdunkelt hatte, 
Leser, die ihn allen römischen Dichtem vorzogen. Dann ist er bis auf 
etwa 1000 versprengte Verse verloren gegangen, wohl der größte Verlust, 
der den Besitz der Nachwelt an römischer Literatur getroffen hat 

Lucilius zeigt uns, wie damals das technisch-literarische Interesse all- 
gemein wurde. Die literarischen Wissenschaften setzten sich in Rom fest, 
Rhetorik und Philologie. Griechische Freigelassene zuerst wendeten die 
kritischen Methoden auf lateinische Schriftwerke an; römische Gelehrte 
richteten die philologische Technik auf die Entzifferung der eignen 
ältesten Sprachdenkmäler und gaben der Erforschung der ältesten Rechts- 
quellen eine Grundlage durch die Untersuchung der Wortbedeutungen. 
Die erste griechische Bibliothek brachte Aemilius PauUus, der Vater des 
Aemilianus, aus Macedonien nach Rom, die zweite LucuUus aus dem Pontus. 
Bald gehörten griechisch-lateinische Bibliotheken zum Bestand jedes wohl- 
eingerichteten Hauses. 

II. Sullanisch- cäsarische Zeit (ca. 100 — 44 v. Chr.). Allmählich 
vollzog sich die Verschmelzung, aus der eine neue römisch-griechische 
Kultur hervorgegangen ist Es sind nur einzelne Zeichen dieses Pro- 
zesses, die wir hier beobachten konnten. Man muß die Unterströmung 
hinzudenken, die durch die vielen in der Masse des niederen Volkes sich 
bewegenden Griechen und Halbgriechen entstand, und bedenken, daß in 
jedem Hause wie im Treiben des städtischen Lebens sehr verschiedene 
Bildungsschichten übereinander lagen. Die römisch-griechische Kultur, in 
deren Kreise von nun an fast ausschließlich die römische Literatur sich 
bewegt, gehört der obersten dieser Schichten an; sie entfernt sich immer 
entschiedener vom ungebildeten Volke und läßt ihre Literatur und deren 
Sprache allmählich zum ausschließlichen Besitz der höheren Bildung»- 
kreise werden. 

Der gebildete Römer hat sein Volkstum beibehalten, aber er ist 
zweisprachig geworden. Er hatte den großen Vorteil, in seinem eignen 
Wesen wurzelnd in ein fremdes hineinragen zu können. Er gewinnt den 
Stolz auf die eigne geistige Leistung, aber er ist den Bildungsströmungen 
und literarischen Moden der gleichzeitigen g^riechischen Welt so gut aus- 
gesetzt wie jeder Grieche, und Rom in höherem Grade als jede griechische 
Stadt denn alles geistige Streben und Wirken richtet sich nun zunächst 



li. Sullanisch • cisarische Zeit (ca. 100—44 v.Chr.). 



3*7 



* 



auf Rom und die Römer. Man denke an die Männer, die jetzt auf dem 
Welttheater erscheinen — Sulla, Lucullus, Pompejus, Cäsar; sie sind nicht 
mehr Gräkomanen wie die Flamininus und Albinus, sie sind durchaus 
Römer, aber ebensogut helleni-stische Persönlichkeitshelden und ohne 
griechische Kultur nicht denkbar; der Gegensatz des früheren italischen 
Volkstums erscheint ihnen gegenüber in dem Bauernsohne Marius. 

Es war das Jahrhundert der Revolution, des Todeskampfes der Re- 
publik; Rom hatte das Schicksal, in diesen Zeiten der Fäulnis und des 
Zusammenbruchs seine geistige Höhe zu ersteigen. Die Kultur, die sich 
in diesen Generationen vollendete, ist es, die dann den Westen romani- 
slert und die geistige Eroberung der Barbarenwelt vollzogen hat. Die 
Spitze dieser Kultur war Cicero, 

Werfen wir zunächst einen Blick auf die römische Poesie der Zeiten, 
die das Zeitalter Sullas, Cäsars und Ciceros waren. Es ist eine aus- 
gebreitete und vielfache Produktion, Altes und Modernes, Einheimisches 
und Fremdes; jedes Talent dilettiert eine Zeitlang auf gebahnten Wegen, 
wohlgeformte Verse zu bilden gehört zu den Künsten des Weltmannes. 
Literarische Cliquen und literarische Gönner treten neben die aristo- 
kratischen Bildungskreise höherer und exklusiver Art. Aber wenig 
Bleibendes erhebt sich über das laute Treiben und über die Anerkennung 
des Tages. 

Die Zeit wurde entscheidend für die römischen Bühnenverhältnisse. 
Das importierte Drama .starb aus; die Tragödie etwa anderthalb Jahr- 
hundert nach dem Einsetzen des Andronicus. Ihr letzter Vertreter, Accius, 
war zugleich ein modemer Schriftsteller wie Ennius. Er galt noch lange 
als Vollender der Gattung. Seine Nachfolger sind vornehme Dilettanten, 
und in aller Folgezeit hat es keine andere als vereinzelte tragische Pro- 
duktion in Rom gegeben. Diese ist freilich für die dramatische Literatur 
der Welt noch wichtig genug geworden. 

In der Komödie zeigte der römische Geist mehr eigne Triebkraft. 
Er warf nicht nur, wie wir sahen, die übertragene Komödie ab, er setzte 
ein römisches Lustspiel, in dem nicht Athener und Epidamnier im grie- 
chischen Gewand, sondern Römer in der Toga auftraten, an ihre Stelle; 
und neben dieses Lustspiel, das nur im Stoffe römisch, in der Gestaltung, 
Charakterisierung und Rede so attisch wie Terenz war, trat bald die 
süditalische Volksposse, die, von altersher in ihrer ursprünglichen oskischen 
Sprachform auch in Rom lebendig, nun als latinisierte Atellana der 
großen Bühne zugeführt und literarisch gemacht wurde. Dies ist ur- 
sprüngliches dramatisches Spiel; hier wird sich der Römer der Elemente 
bewußt, die einer künstlerischen Ausbildung harrend im italischen Volks- 
leben lebendig waren. Aber über eine g^obe Zubereitung der derben 
Kost ging diese Kunst nicht hinaus. Es ist dasselbe lustige Spiel, das 
noch heute in Italien auf der Straße und in kleinen Theatern und dessen 
gleichen überall in der Welt tausendjährige Spaße zum besten gibt. 



Poesie der 

.ullanisch-rü»a- 
riscbcD Zeit, 



328 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit 

Neben die Atellane trat, gleichen Ursprungs und ähnlichen Charakters, 
auch in Rom von altersher nicht unbekannt, der aus dem griechischen 
Leben Unteritaliens stammende Mimus. Er war dort wie in Sizilien be- 
reits literarisch gestaltet worden und bot sich zu leichter Nachahmung 
dar; denn \rir sehen nicht, daß vorhandene g^riechische Mimen übertragen 
worden wären. Es war ein ausgelassenes Spiel, das nicht, wie die Atellane, 
der Karikatur zuneigte, sondern wirkliche Kopie des niederen Lebens 
bieten wollte. Daher traten die Mimen ohne Masken auf und die weib- 
lichen Rollen wurden von Schauspielerinnen gegeben: beides, die hier er- 
forderte Kunst des Mienenspiels und die Frauen auf der Bühne, machten 
bald den Mimus zum anziehendsten Bühnenspiel, jetzt imd in den folgen- 
den Jahrhunderten, wie er denn auf die Schauspielkimst und die drama- 
tische Typenbildung weithin gewirkt hat Aber zu selbständiger lite- 
rarischer Bedeutung hat er es nur selten gebracht. In Rom dichtete 
Laberius, ein römischer Ritter, literarische Mimen. Als Cäsar ihm den 
entehrenden Zwang antat, gegen den Freigelassenen Publilius, der mit 
seiner Truppe die mimische Bühne beherrschte, im Wettkampf aufzu- 
treten, sprach er vorher den erhaltenen Prolog, der zu den schönsten 
Stücken dramatischer Redekunst gehört. Publilius hat, wie es scheint, 
seine Stücke nicht veröffentlicht Eine Menge treffender Kemsprüche, 
die sie enthielten, wurde aufbewahrt und weiter gegeben. Im ganzen 
lag stets ein Hauptreiz des Mimus in der Improvisation. 

An dieser dramatischen Produktion beteiligten sich, wie wir sahen, 
auch vornehme Römer, teils als Dilettanten, teils ernsthaft dem Berufe 
hingegeben. Aber fem vom Bühnentreiben und durch keine Verfasser- 
gleichheit mehr mit ihm verbunden, entwickelte sich in diesen 2^iten eine 
lyrische und halblyrische Produktion, eine „neoterische", d. h. moderne 
Poesie, die, direkt von der modernen griechischen Dichtung abgeleitet, 
deren sämtliche charakteristische Zeichen trägt Die hellenistische Poesie 
war seit zwei Jahrhunderten eine Poesie für Grebildete. Einer der ersten 
alexandrinischen Gelehrten hatte ihr die Wege gewiesen, in den Händen 
von Gelehrten war sie geblieben. Sie verließ die gewohnten Bahnen der 
Klassizität und suchte nach entlegenen Legenden und mythologfischen 
Stoffen, aber der ganze Schatz des geprägten Poetengutes mußte dem 
Dichter für Anspielung und Schmuck zur Hand sein. Die Zeiten waren, 
wie es rückwärts gerichtete Zeiten sind, wissenschaftlich und sentimental. 
Was man von Natur und Welt wußte, konnte Gegenstand dieser Dich- 
tung werden; der Dichter mußte die Sprache für jeden erdenklichen 
Gegenstand durchsuchen und poetisch zubereiten. Wenn er Menschen- 
schicksal behandelte, so war es Leidenschaft und Liebe, die Stimmung 
Vergangenheitsgefiihl, Naturempfindung, Bildungsgenuß. Die Technik war 
so gesteigert, daß jeder Vers den Kenner als Kunstwerk zur Betrach- 
tung lud. Solche Dichtung ist lehrbar. Der Lehrer mußte Philolog und 
Dichter sein. Wir treffen jetzt öfter solche Männer in Rom; aber Epoche 



II. Su)lanisch- cäsarische Zeil (ca. 100—44 v. Chr.). 



3^9 



macht ein Römer, der ganz im alexandrinischen Sinn grammaticus und 
poeta ist. Dichter erklärt und Dichter macht, der eine vornehme Jugend 
um sich versammelt, die nach solcher Lehre und Dichterweihe begehrt, 
Valerius Cato, Er veranschaulicht uns, daß eine Übertragung dieser Art 
nicht von außen gebracht werden konnte, wie es Ennius und andere ver- 
sucht haben, sondern daß sie, nachdem sich die gleichen Kulturbedingungen 
allmählich eingestellt hatten, als ein von der gemeinsamen Kultur Unzer- 
trennliches gleichsam von selbst einströmen mußte. Es gibt jetzt auch 
in Rom Kreise, deren Lieblingsdichter ihre Studien gemacht haben müssen, 
um das leisten zu können was von ihnen erwartet wird; auch in Rom 
den Typus der gebildeten Frau, auf deren Empfindung Anspielungen und 
Gleichnisse eines gelehrten Dichters wirken. Die Kenntnis der großen 
griechischen, der älteren helleni.stischen und der berühmten Dichter der 
Zeit ist gemeinsam, Neues wird als solches begrüßt, sei es eigne Erfin- 
dung in einem modernen Stil oder nur ein Gewinn der Form durch la- 
teinische Reproduktion bekannter Gedichte. Der Sprache mußten hier wie 
bei den Griechen neue Fähigkeiten des Ausdrucks, der Wortbildung und 
Bedeutung abgewonnen, Volkstümliches in höhere Sphäre gehoben, Veral- 
tetes ausgeschaltet werden. Der Hexameter des Ennius und das elegische 
Distichon wurden in Anlehnung an die hellenistischen Regeln neu ge- 
staltet, die Versarten, die aus der klassischen I-yrik in die hellenistische 
übernommen waren, zu eignem römischem Leben erweckt; dabei erinnerte 
sich schwerlich jemand, daß viele von diesen schon bei Naevius und 
Plautus zu finden waren. 

Cicero hat sich in seiner Jugend an den Anfängen dieser Produktion 
beteiligt. In seinen höheren Jahren war sie zu einer Flut angeschwollen, 
darunter eine Menge von Namen, deren Träger im öffentlichen Leben 
etwas zu bedeuten hatten. Das überragende Talent war Catull; er ist 
uns erhalten. 

Catull zeigt uns, was auf diesem Boden gedeihen konnte. Die Samm- 
lung seiner Gedichte enthält Übertrag^ungen und Nachdichtungen be- 
rühmter griechischer Gedichte, deren Abglanz uns dadurch geblieben ist; 
eigne, aber unter Nachahmung bestimmter modemer griechischer Stileigen- 
heiten abgefaßte Gedichte, darunter die erste römische Elegie, die schöne 
Elegie an Allius; ein herrliches Hochzeitscarmen für eine römische Hoch- 
zeit in anakreontischen Liedstrophen; Epigramme vom Tage und manches 
Hingeworfene; daneben aber strömt aus dem Buche „ein Quell gedrängter 
Lieder", die Catull zu einem der ersten Lyriker der Welt machen, wie 
er der Reihe nach, bis von Archilochos und Sappho Bücher statt Fetzen 
aus der Erde steigen werden, der erste antike Lyriker ist. 

Ein solches Liederbuch, das wir in der Hand halten, gibt gleich über 
viel Persönliches Auskunft. Catulls Lieder sprechen durchaus die Sprache 
des Erlebten. Er kam aus Verona, einer kürzlich nach latinischem Recht 
eingerichteten Stadt im gallischen Lande, aus dem Hause eines wohl- 



Calull 
(»7-5«). 



330 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit. 

habenden Vaters. Cäsars Politik vereinigte das cisalpinische Gallien mit 
Italien, wie seine Kriege das transalpinische der Romanisierung öffneten. 
Catull, vielleicht keltischen Blutes, war einer der ersten von vielen, die 
nun aus jenen Gegenden nach Rom zogen und im römischen Greistes- 
leben eine Rolle spielten. Wir finden ihn dort in aristokratischen Kreisen, 
in lebhaftem Verkehr mit den Spitzen der literarisch angeregten Jugend. 
Er fiel der Schönheit und den Künsten einer vornehmen Verführerin zum 
Opfer, in deren Erlebnissen der junge Provinziale nur eine flüchtige Epi- 
sode bildete; er verschwendete an sie den Sturm seines Herzens und sang 
Genuß und stilles Glück, Enttäuschung und Zorn in Liedern, wie sie in 
lateinischer Sprache bisher nicht erklimgen waren. Jeder Ton ist sein, 
tändelnd und weich, feurig und zürnend, resigniert und mutsuchend. Die 
Bitterkeit des Affekts gegen Nebenbuhler vmd die Treulose wie auch die 
Gewalt des Angriffes im politischen T^eskampf erinnern an den jo- 
nischen lambus im Guten und Bösen. Catull und seine poetischen Freunde 
stehen mit Mut und Leidenschaft auf Seiten der Republik gegen die 
Gewalthaber. Die politische Lyrik tritt neben das Pamphlet. Wie Liebe 
und Freiheit so klingt aus Catulls Liedern Freimdschaft und Natur- 
empfindung, Freude an der Heimat, der Schmerz über den Verlust des 
Bruders, jede Stimmung des Lebens mit gleich einfacher Wahrheit. 

Catull ist jung gestorben oder doch verstummt, seine Gedichte, voll 
von Anklängen an Ereignisse und Personen, reichen über wenige Jahre. 
Lacro Ihm Und seinem Kreise gegenüber steht eine einsame Dichtergestalt, 

' Lucretius. Der Stoff seines Gedichtes ist modern, die Darstellung eines 
der philosophischen Systeme, die in der hellenistischen Welt um die 
Herrschaft üoer die Gemüter ringen; in jedem andern Betracht öffnet er 
eine von der Catullischen verschiedene Welt Ein Mann wahrscheinlich 
niederen Standes, im Besitz der griechisch-römischen Bildung seiner Zeit, 
ist er durch Vorträge der in Rom lehrenden Epikureer und durch das 
Studium von Schriften Epikurs (das eine wahrscheinlich, das andere gewiß) 
zu einem begeisterten Anhänger der epikurischen Lehre geworden. Das 
ist vielen, auch in Italien dsunals bereits vielen begegnet. Aber es ist 
etwas Einziges, daß in Lucrez dadurch ein poetisches Vermögen zu hoher 
Tat aufgeweckt worden ist. Das ist auch keinem Griechen begegnet 
Epikurs Welterklärung aus der Mechanik der unteilbaren und unvergäng- 
lichen Urkörper war das Resultat von Demokrits Naturforschung; wenn 
sie ein poetisches Element enthielt, so trat es in der scharf dogmatischen 
Vortragsweise nicht zu Tage. Sie schaltete die Existenz nach dem Tode 
und die Einwirkung der Grötter auf die Menschenwelt, und damit die 
Furcht vor übermächtiger Gegenwart und dunkler Zukimft, aus und ließ 
als Ewiges nur die ewige Materie bestehen, aus der wir entstanden sind 
und in die wir uns auflösen. Dem Epikureer war diese Naturlehre nur 
die Grundlage, auf der Epikur seine Ethik hatte aufbauen können, die 
den Menschen auf einen durch keine Leidenschaft und Unruhe beirrten, 



II. SuUanisch • cäsarische Zeit (ca. loo — 44 v. Gir.). 



331 



durch alle Mittel der griechischen Kultur erhöhten Lebensgenuß hinwies. 
Lucrez fühlte sich gerade durch die Naturlehre im Innersten ergriffen. 
Sie hat ihn offenbar aus einer Befangenheit der Anschauung, die ihn 
quälte und der er zu entrinnen trachtete, befreit, sein Auge geöffnet und 
seine Seele geklärt. Er nahm im Bewußtsein seiner poetischen Bestim- 
mung das alte Prophetenamt des Dichters auf sich und begann die be- 
glückende Lehre der italischen Welt zu verkünden. So hatten vor Jahr- 
hunderten Parmenides und Empedokles ihre Philosophie gedichtet. Aber 
alle diese altgriechischen Weltsysteme, von den jonischen Urprinzipien 
bis zu Piatons Welt des idealen Seins, sind in ihrem Kern poetische 
Konzeptionen; es war nur natürlich, wenn sich eine neue Wclterklärung 
solcher Art aus dem Geiste ihres Urhebers in poetischer Form ans Licht 
drängte. Lucrezens Gedicht läßt uns schmerzlich empfinden, daß es nicht 
Frucht aus seinen Keimen ist, daß ihm der Stoff von außen kam und 
unmöglich in des Dichters Mühle ohne Rest zerrieben werden konnte. 
Diese neue Religion trat im Gewand der Wissenschaft auf, sie mußte be- 
weisen und widerlegen, technische Ausdrücke und einen ganzen Apparat 
des Unpoetischen mitfuhren. Das war nicht zu überwinden, wenn nicht 
durch die Diktionskünste des hellenistischen Lehrgedichts, die Lucrez fern- 
lagen. Zu Hilfe kam ihm hier Epikurs Weise, seine Sätze mit Beispielen 
aus Natur und Leben zu belegen; für Lucrez sind diese Bilder ein sich 
immer erneuernder poetischer Stoff, der aus teilnehmender Beobachtung 
gestaltet den Vortrag belebt. Es ist was Goethe an Lucrez als erstes 
hervorhebt, 'was ihn als Dichter so hoch stellt und seinen Rang auf 
ewige Zeiten sichert, ein hohes tüchtig-sinnliches Anschauungsvermögen, 
welches ihn zu kräftiger Darstellung befähigt'; sodann eine Einbildungs- 
kraft, die 'das Angeschaute bis in die unschaubaren Tiefen der Natur' 
verfolgt. Das ist es, was seinen Geist und Ton erhebt, die Unschaubar- 
keit der Atome, das stets erneuerte Entstehen und Vergehen, die Unend- 
lichkeit des Raumes und der Weltenzahl, der Triumph des Menschen- 
geistes über Himmel und Hölle; aber auch die Zustände des menschlichen 
Lebens, die beobachteten um uns her und die mit der Phantasie er- 
griffenen der Vergangenheit, die Kämpfe der Seele, die Leiden des Leibes. 
Eine hohe und herbe Schönheit geht durch das Gedicht, die an Dante er- 
innert. Für uns tritt ein Reiz des Altertümlichen hinzu. Denn es ist das 
älteste erhaltene lateinische Gedicht epischer Form; auch mit der übrigen 
Kunst seiner Zeit verglichen hat es archaische Farbe, denn Lucrez konnte 
sich von römischen Vorgängern nur an Ennius anlehnen. Die Verskunst 
ist nicht unberührt vom Modernen, aber keineswegs modern. 

Das Gedicht ist dem Umfang nach vollendet, aber nicht zu Ende 
gearbeitet Der Dichter starb über der Arbeit in geistiger Umnachtung. 
Cicero nahm sich des Werkes an und publizierte es, wie es antike Sitte 
war, in seiner unvollendeten Gestalt. Der nächsten Generation war 
Lucrez ein Klassiker. In der Geschichte des europäischen Geistes hat 



332 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit. 

er dann eine doppelte Rolle gespielt: eine negative als Hauptobjekt der 
altchristlichen Polemik (einen 'Prologus der christlichen Kirchengeschichte' 
nennt Goethe das Gedicht), eine positive als Hauptquelle für die Kennt- 
nis der demokritisch - epikurischen Welterklärung, die sich nach ihrer 
Wiederentdeckung durch Gassendi als die fruchtbarste und lebenskräftigste 
aller naturwissenschaftlichen Hypothesen der Geschichte erwiesen hat. 
(iS-«). Während CatuU in seinerzeit ein modemer Dichter.Lucrez eine vereinzelte 
Erscheinung ist, gipfelt in Marcus TuUius Cicero (geboren 3. Januar 106, ge- 
storben 7. Dezember 43 v. Chr.) die Entwicklung, die der römische Geist auf 
literarischen Wegen und in der kunstmäfiigen Gestaltung seiner Sprache 
genommen hat. Cäsar selbst nannte ihn in seinem Buche über die latei- 
nische Sprache den Führer und Entdecker auf diesem Gebiet; die Zeit- 
genossen sahen in ihm zwar nicht, wie er gewünscht hätte, ihr politisches, 
aber ihr geistiges Oberhaupt und umgaben ihn mit einer Verehrung, die 
den gescheiterten Staatsmann in der letzten Katastrophe der Republik 
an die Spitze des Senates rief. In den nächsten Generationen war seine 
literarische Bedeutung bestritten, aber er wirkte unmittelbar fort und 
rang sich durch; etwa anderthalb Jahrhunderte nach seinem Tode begann 
er die Schule zu beherrschen und war von da an das Haupt der rö- 
mischen Bildung und ihrer Propaganda. Durch die Renaissance wurde 
er wieder eine Macht imd blieb es auf allen Gebieten der europäischen 
Kultur, von der Schule bis zu den Parlamenten. Kein Zeitalter hat seine 
Schwächen verkannt, so wenig es sein eignes Zeitalter tat; am schärfsten 
erkannten sie einige von denen, die ihn am entschiedensten zur Geltung 
brachten, wie Petrarca. Aber solange man die Alten las, um ein persön- 
liches Verhältnis zu ihnen zu gewinnen imd zu pflegen, so lange hob der 
Eindruck des Gesamtbildes immer wieder über Anstoß und Bedenken 
fort Denn Cicero ist nicht nur die erste, er ist auch die einzige große 
Persönlichkeit des Altertums, die uns als Schriftsteller und als Mensch 
vollkommen klar vor Augen steht, in seinen Werken, die zum g^rößten 
Teil erhalten sind, und in seinen Briefen. Erst im neunzehnten Jahrhundert, 
als die historische Forschung die Teilung der philolog^ischen Arbeit herbei- 
führte, wurde für den Einzelnen das Einzelne zum bloßen Material. Nun sah 
der Historiker der politischen Geschichte nur den Staatsmann Cicero und 
fand es unerträglich, daß ein politischer Schwächling die Wege Cäsars 
kreuzte: der Historiker der Philosophie nur den Philosophen, der seine 
Vorlagen mißverstand; der Interpret nur den Advokaten, der es mit der 
Wahrheit nicht genau nahm; und die vertrauten Briefe an den Freund 
bewiesen die Haltlosigkeit einer schwankenden Seele. Seitdem hat die 
Verwundende, wie es in der Wissenschaft die Regel ist, begonnen sich 
an ihr Geschäft der Heilung zu machen und das Bild des Ganzen wieder 
herzustellen. Wir haben gelernt (was wenigstens die Engländer nie be- 
zweifelt haben), daß auch der Staatsmann paktieren darf; wir sehen, 
daß Drumann mit Ciceros intimer Korrespondenz einen schnöden Miß- 



II. Sullanisch- cäsarische Zeit (ca. loo — 44 v. Gir.). 



333 



brauch getrieben hat. Wir verstehen, daß die philosophischen und rheto- 
rischen Schriften im Zusammenhang der antiken Prosakunst als Kunst- 
werke verstanden, daß die literarische Bedeutung der Rede gewürdigt 
werden muß; wir verstehen was es bedeutet, der Vollender der Sprache 
seines Volkes zu sein, eines Volkes, das mit seiner Sprache die westliche 
Welt kultiviert hat 

Vor allem war Cicero Redner, darauf ging seine Bildung hinaus, 
darin ruhte die Beschäftigung seines Tages, seine Tätigkeit als Politiker 
und Schriftsteller. Von Jugendversuchen abgesehen hat er erst als 
Fünfziger sich großen Aufgaben andrer Art zugewendet. Die Geschichte 
der römischen Beredsamkeit ist, wie oben angedeutet, in der römischen 
Geschichte gegeben. Mit der inneren politischen Bewegung wuchs die 
Macht der Rede, damit ihre Ausbildung, und je mehr die politische Rede 
ein Machtmittel wurde, um so gröflere Bedeutung gewann auch die Ge- 
richtsrede. Aber man muß die gesprochene Rede von der geschriebnen 
sondern, sie stehen zueinander wie Stoff und Form, jene hat ein politisches 
und juristisches, diese ein literarisches Interesse. 

Vielleicht war die größte Erscheinung in der Geschichte der römischen 
Rede Gaius Gracchus, der Urheber der Revolution gegen das Senats- 
regiment, ein Jüngling allen römischen Staatsmännern voran an Freiheit 
des Sinnes und Reichtum der Gedanken. Cicero selbst reicht ihm un- 
bedenklich den Kranz; aber 'seinen Schriften fehlt die Feile; vieles ist 
herrlich angelegt, aber nicht vollendet'. Das heißt, Gracchus veröffentlichte 
seine Reden als Pamphlete, nicht für literarische Dauer. 

Diese Pamphletenliteratur war in Rom wie in Griechenland lebendig. 
Die Athener haben sie kunstmäßig gestaltet und neben die von Natur 
literarische Prunkrede und die von Literaten ausgebildete Gerichtsrede 
gestellt. Der römische Politiker wollte nicht Schriftsteller sein solange 
er seine Kraft zum Steigen brauchte. Die Rede erschien im Publikum 
als eine Waffe im Kampf des Tages; wer nicht kämpfte, sah den Zweck 
seiner Rede erfüllt, wenn sie gesprochen war. Die beiden Redner, die 
Cicero als seine und seiner Generation eigentliche Vorläufer ansieht, 
Antonius und Crassus, haben der eine gar nicht, der andere wenig und 
skizzenhaft publiziert. Cicero dagegen hat von Anfang an die Rede so- 
wohl aktuell als literarisch behandelt. Als in seinem ersten großen 
politischen Prozeß der Gang der Sache dazu führte, daß die Anklage- 
reden ausfielen, veröffentlichte er die Reden als literarisches Kunstwerk. 
Von seinem Meisterstück späterer Zeit, der Rede zur Verteidigung Milos, 
besaß man eine Nachschrift, an der man den Unterschied der wirklich 
gehaltenen von der publizierten Rede ermessen konnte. Die künstlerische 
Ausarbeitung der Reden, die er bewahren wollte, ließ Cicero stets auf 
die Aktion folgen. Er war in gewissem Sinne der Begründer, in jedem 
Sinne der Vollender der litercirischen Rede in Rom. 

Ein Volk von starkem politischem Leben erfährt durch die Rede 



334 FUEDMCH Leo: Die rBmisdie Lhentur. A. Repobfikanisdie Zeh. 

eine besondere und eigentömfiche Eatwiddm^ seiner Sprache. Es Kegt 
in der Natar der öffentlidien Rede, daA sie auf allen Gebieten des 
menschlichen Lebens die Fäh^|keiten der Sprache hervorlocken und für 
ihre Zwecke gestalten mnfi. Die grofien and kleinen Leidensdiaften des 
Kampfes, die patriotische Empfindtn^, die Pflicht des Bürgers in der 
politischen Rede; in der Gerichta-ede alle Empfindungen, die den Men- 
schen in Handel und Wandel, in der Familie, im Verhältnis zum Staat 
bewegen, in allen Erfahrungen und Eriebnissen, die ihn veranlassen sein 
Recht zu suchen und zu verfechten; jeder Affekt und jedes Ethos des 
Lebens mu8 in der Rede einen so starken Ausdruck finden, daA sich 
Affekt und Ethos auf den Hörer übertragen. Die Kunst der prosaischen 
Erzählung ist von der Rede ausgegangen. Der ganze Vorgai^ dieser 
Entwicklui^ würde, was das Altertum angeht, im Dunkeln geblieben sein, 
wie er für (rriechenland vor dem peloponnesischen Kriege, für Rom 
während der ersten sechs Jahrhunderte seines Bestehens im Dunkeln liegt, 
wenn nicht die Rede zu einer literarischen Gattm^ geworden wäre. Sie 
zu einer solchen zu machen, dazu zwai^ den Gestaltiu^rstrieb der Crriechen 
eben jene der Rede von Natur innewohnende Kraft. Die Rede hat in 
Athen auf dem Gebiete der Prosa dieselbe Aufgabe erfüllt wie ein Jahr- 
hundert früher das Drama auf dem Grebiete der Poesie: die Aufgabe, das 
menschliche Leben mit allem Erlebten und Empfundenen sprachlich zu 
gestalten. Es war wiederum eine natürliche Entfaltung der gelegten 
Keime, dafi in Rom genau dieselbe Entwicklung stattfand: als das Drama 
seine Aufgabe erfüllt hatte, trat die literarische Rede ein imd schifte 
für die Prosakunst alle Fähigkeiten der lebendigen Sprache aus. Eine 
vollkommene Parallele gibt die Geschichte der englischen Literatur; das 
Gegenbild die der deutschen: wir haben erst durch Bismarck erfahren, 
was die Rede literarisch bedeuten kann. 

Damit ist der literarische Wert von Ciceros Redekunst beschrieben. 
Ob Cicero als Advokat immer bei der Wahrheit geblieben, ist eine für 
die Einzelinterpretation wichtige, für die Geschichte lächerliche Frage. 
Durch Ciceros Rede sah der Römer die Breiten und Tiefen seiner Sprache 
geöfEnet; und dieser Gewinn war für alle Zeiten. In Ciceros Jugend war 
der modernste, mit Schwulst und Putz überladene griechische Redestil 
in Rom Mode. Cicero hat sich rasch von ihm befreit, aber nicht die Reaktion 
mitgemacht, die bald in Rom ihren Mittelpunkt fand. Er erkannte die 
Vollendung der Kunst in Demosthenes und setzte sich das Ziel, wie jener 
jeden Stil zu beherrschen, das heifit die Sprache für jede Stimmung und 
jeden Ton zu gestalten. Darin lag zugleich, dafi er den Zusammenhang 
der Literatur mit der Sprache des Lebens sicherte, den die Poesie längst 
aufzugeben in Gefahr war und in der Folge wirklich aufgab. 

In zwei Perioden seines Lebens hat sich Cicero, ohne durch seine 
Tätigkeit in Senat und FcMvm unmittelbar dazu veranlaßt zu sein, einer 
Schriftstellerei grofien Stiles zugewendet: zuerst als er sich in seiner 



II. Sudanisch - cäsarische Zeit (ca. 100-44 v. Chr.). 



335 



Hoffnung, eine dauernde Machtstellung im Senat zu gewinnen, zum zweiten- 
mal betrogen, im Gefühl seiner höchsten Kraft beiseite geschoben und 
die Verfassung, die ihm allein die Möglichkeit zu wirken gab, in den 
Händen ihrer Zerstörer sah; dann ein Jahrzehnt später, als die Republik 
tot und auch sein häusliches Glück zu Grabe gegangen war. Er hat 
das eine wie das andre mal gezeigt, daß er in seinem Geist die Mittel 
hatte sich über das Unglück des Tages und des Lebens hinauszuheben. 

In der ersten jener beiden Perioden entstanden seine Hauptwerke 
'über den Redner' und 'über den Staat', die zugleich Hauptwerke der 
antiken Literatur sind. In den Büchern vom Redner gibt Cicero die 
Theorie der Redekunst, nicht in einem System von Regeln, sondern in- 
dem er die Anforderungen begründet, die an die Ausbildung des voll- 
kommenen Redners und an die Ausübung der Kunst zu stellen sind. Es 
ist das Buch eines unerreichten und auch der griechischen Kunst, wie 
sie seit dem politischen Ende Athens, das heißt seit fast drei Jahrhunderten, 
war, überlegnen Sachkenners, der aus den Erfahrungen seines Berufs- 
lebens das Fazit zieht Die technisch-rhetorische Literatur der Griechen 
hat nichts Ähnliches aufzuweisen. Es ist das Buch eines Römers, der, 
von nationalem Stolz erfüllt und im Bewußtsein, dem griechischen Greist 
in dieser mit römischer Geschichte und Einrichtungen aufs engste ver- 
wachsenen Kunst Widerpart zu halten, doch das vollkommenste Zeugnis 
von der Vereinigung des römischen mit dem griechischen Geistesleben 
abgibt. Denn das Lebens- und Bildungsideal, das Cicero seinem Redner 
vorzeichnet, stammt nicht vom römischen Forum, sondern aus dem Hör- 
saale der Akademie. Die in Athen entstandene Lehre, die nur die Phase 
eines langen zwischen Rhetoren und Philosophen um die Jugendbildung 
geführten Kampfes war, die Lehre, daß der Redner in der Philosophie 
wurzeln und von allem menschlichen Wissen gekostet haben müsse, um 
zur wahren Ausübung seiner Kunst zu gelangen, hat Cicero als junger 
Mensch ergriffen, sich selbst zu ihrem Beispiele gemacht, sie durch seine 
Persönlichkeit und durch die hohe Bedeutung, die in Rom der Redekunst 
in der Tat beiwohnte, mit neuem Inhalt erfüllt und durch dieses Buch 
für die Zukunft des römischen Bildungslebens zur Geltung gebracht. Für 
Griechenland bedeutete jene Lehre nicht viel mehr als allgemeine Bildung; 
für Rom hatte, was man im allgemeinen Bildung nennt, einen tieferen 
Sinn; da war es der Schritt, den die Führer des geistigen Lebens zur 
Weltkultur machten. Die Ausbildung des Redners in Ciceros Sinne be- 
deutet die Bildung eines ganzen Mannes, der mit der staatlichen Gesinnung 
des Römers die griechisch-menschliche Kultur verbindet. 

In ähnlicher Weise ruht das Buch vom Staat in griechischer Ge- 
dankenarbeit, die es fortsetzt, und ist doch ganz römisch und Ciceros 
«igfnes Werk. Plato hatte den Idealstaat erbaut, Panätius und Polybius 
hatten das Ideal in Rom gefunden; diesen Gedanken ergriff Cicero und 
entwickelte an der römischen als an der vollkommenen Verfassung die 




jj6 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit. 

politischen Gedanken, die die Summe seines öffentlichen Lebens aus- 
machten. Wir besitzen das Werk nur in Resten, die die Struktur des 
Ganzen erkennen lassen. Cicero legt seine eignen Anschauungen dem 
jüngeren Africanus in den Mund, wie im Buche vom Redner dem Lucius 
Crassus. Hier wie dort drückt er damit aus, dafi er sich als den Fort- 
setzer der von jenen Männern herrührenden Tradition betrachtet; und in 
der Tat lebte in ihm die höhere und reinere Auffasstmg des römischen 
Staates und des ganzen römischen Nationalwesens fort, die wir als die 
im scipionischen Kreise geltende aus Polybius kennen. Daß er seine 
Taten überschätzte und an seiner Kraft meist verzweifelte ehe er sie er- 
probt hatte, war seine Schwäche; daß er seine beste Kraft in den Kämpfen 
der Zeit, die keine moralische Einwirkung duldeten, nicht anwenden 
konnte, war sein Schicksal, das aber auch mit dem über Scipios letzten 
Jahren liegenden Schicksal nahe verwandt ist. 

Beide Werke haben die Form des philosophischen Dialogs. Es ist 
die von Plato gestaltete Ktmstform, die Aristoteles und seine Schüler 
in einer vom Poetischen .abführenden Richtung verändert haben imd die in 
der kynischen und stoischen Popularphilosophie nur dem Namen nach weiter- 
lebte. Cicero ist, nach kaum nennenswerten Vorgängern, der wahre Erneuerer 
dieser Kunstform; er griff auf die Peripatetiker, aber auch mit Entschieden- 
heit über sie hinaus auf Plato zurück, dessen eigentlicher Nachfolger er 
für uns geworden ist. Die meisten Schriften seiner letzten Periode haben 
diese Form. Die Szenerien und Personenkreise, die er vorfuhrt, sind zimi 
Teil ganz im platonischen Geiste dramatisch gestaltet; manches, wie der 
Traum Scipios, der aus dem Schlußteil des 'Staates' besonders erhalten 
ist, oder das erste Buch der Tusculanischen Gespräche, reicht durch reife 
Schönheit der Sprache und innere sittliche Beweg^ung in Piatos Sphäre 
hinein. Wie sicher ihn das Kunstgefuhl leitete, lehrt die Wahl der Zeiten 
in seinen beiden Werken: der 'Staat' spielt im Todesjahre Scipios, der 
'Redner' unmittelbar vor dem gewaltsamen Tode des Crassus; der 'Traum' 
muß einen tragischen Schimmer über das ganze Werk zurückgeworfen 
haben, die Einleitung des dritten Buches vom Redner, in der die schreck- 
lichen Ereignisse der nächsten Zeit gemeldet sind, übt eine solche Wirkung 
vor- imd rückwärts. 

Die zweite eigentlich schriftstellerische Periode Ciceros reicht von 
Catos bis Cäsars Tod und darüber hinaus in Ciceros letzte Tage. Bei 
Pharsalus war das Ideal seines praktischen Lebens gestürzt; als er seiner 
persönlichen Sicherheit durch Cäseirs Entgegenkommen gewiß war, ver- 
barg er sich in literarischer Arbeit. Vor allem drängte es ihn, sich über 
die Bewegung auszusprechen, die in den letzten Jahren auf seinem eigensten 
Gebiet hervorgetreten war. Eine in der griechischen Schule gegen die 
moderne Rede atifgekommene Reaktion, die nur noch die älteren attischen 
Muster gelten ließ und sich gegen Fluß und Fülle wie gegen Oberfluß 
und Überfülle der Rede richtete, hatte in Rom ihren Mittelpunkt ge- 



II. Sullanisch - cäsarische Zeit (ca. ic»— 44 v. Chr.). 



337 



fanden und sah den neuen Monarchen selbst auf ihrer Seite. Cicero 
mußte dieses Extrem so gut wie das andre verwerfen. Aber seine Natur 
vermied die nur negierende Polemik und strebte dem Positiven und 
Ganzen zu. Er schrieb zuerst eine Geschichte der römischen Redekunst 
in Dialogform, indem er die wichtigsten Persönlichkeiten charakterisierte 
und die in seiner eignen Person gipfelnde Entwicklung verfolgte. Dann 
entwarf er in einer eignen Schrift das Idealbild des Redners. Er wußte 
sehr gut, daß das keiner machen konnte wie er, und schrieb im Voll- 
gefühl der persönlichen Autorität, die denn auch seinen rhetorischen 
Schriften die Stelle an der Spitze aller rhetorischen Literatur sichert. 

Die politischen Wirren hatten auch seine häuslichen Verhältnisse ge- 
trübt; da starb seine leidenschaftlich geliebte Tochter. Er suchte das 
Gleichgewicht der Seele und fand es in der Philosophie, die ihn von 
Jugend auf beschäftigt aber bisher nur mittelbar zur Produktion angeregt 
hatte. Er vertiefte sich in die Trostschriften aller Schulen; wie immer 
trieb ihn die eifrige Lektüre dazu, selbst zu gestalten. Die Trostschrift, 
die er verfaßte, ist verloren und klingt nur in den folgenden Schriften 
nach. Dieser Anfang aber erweckte in ihm den Gedanken einer gproßen 
und zusammenfassenden philosophischen Schriftstellerei. Er entwarf einen 
Plan, der nach einer einleitenden Schrift über das philosophische Studium 
eine Reihe von Werken über die drei großen Gebiete der Erkenntnis- 
theorie, Ethik und Theologie umfaßte; und die wenigen ihm noch be- 
stimmten Jahre reichten hin, den Plan zur Ausführung zu bringen. Auf 
diese Weise konnten keine auf eindringende wissenschaftliche Forschung 
oder auf originale Gedankenarbeit gegründeten philosophischen Werke 
entstehen. Das wußte Cicero .sehr gut und sprach es aus. Was er wollte 
war dieses. Es gab, von Lucrez abgesehen, noch keine lateinisch ge- 
schriebene philosophische Literatur. Die erste Erscheinung auf diesem 
Gebiet war Ciceros 'Staat'; Epikurs Lehren hatten mehrere römische An- 
hänger ins Publikum gebracht, aber ihre Übersetzungen der griechischen 
Lehrschriften oder Lehrvorträge standen unter Ciceros literarischer Kritik. 
Leser dagegen gab es in immer steigender Zahl; und je ständiger die 
Sitte wurde, daß die jungen Römer die Universität Athen besuchten, je 
mehr auch der allgemeinsten römischen Bildung die Grundlehren und 
Schlagworte der griechischen Schulen unerläßlich schienen (es ist sehr 
hübsch zu sehen, wie Cicero 18 Jahre früher in der Rede für Murena bei 
den Geschworenen als gebildeten Männern diese Kenntnis höflich voraus- 
setzt und ihnen zugleich die trivialen Anfangsgründe vorschneidet), um so 
stärker empfand es der geistige Römerstolz dieser Zeit, und Cicero voran, 
daß dieses Gebiet noch nicht latinisiert, daß Philosophie nur in griechi- 
scher Sprache zu lesen war. Darum war aber Philosophie ein griechischer 
Besitz und es konnte .sich nur darum handeln, ihn für den römischen Ge- 
brauch zu erwerben. Das konnte durch Übersetzungen geschehn, wie es 
auch Cicero hier und da versucht hat; der Höhe seiner literarischen An- 

DlK KULTL'B DKR GnOENWAKI. [. 8. 22 



338 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit. 

Sprüche und Stellung genügte nur die kunstmäßige Formung der griechi- 
schen Gedanken. Diesen Weg hat Cicero gewählt Er bediente sich zu- 
meist der Kunstform des Dialogs, die er nach verschiedenen Richtungen 
ausgestaltete; sie war besonders geeigfnet, die verschiedenen widereinander 
kämpfenden Systeme zu Worte kommen zu lassen. Männer der römischen 
Cresellschaft, aus Ciceros Jugend und Gegenwart, Führer und Jünger der 
gfriechisch-römischen Bildungsbewegung, belehren und bestreiten einander 
in diesen Dialogen, so daß das griechische Schulgezänk sich in den ge- 
messenen Ton der urbanen romischen Gesellschaftssprache umsetzt Dabei 
ist manches Tiefgedachte verflacht, manches feine Gewebe verzettelt 
worden; man merkt deutlich, daß Cicero erst dann sich in dieser Ge- 
dankenwelt mit freier Sachkennerschaft bewegt, wenn er auf sein eigent- 
liches Studiengebiet, die akademische Philosophie, gekommen ist Aber 
er hat seinem Volke eine zusammenhängende Reihe literarischer Kunst- 
werke gegeben j eine Lektüre edelsten Stoffes in der geläuterten Form 
besten gfriechischen Stils, dessen Meister kein Grrieche um ihn her war 
wie Cicero. In der älteren christlichen Literatur erscheinen Ciceros 
philosophische Schriften als die Zeugen der griechischen Philosophie, 
gegen die sich die Polemik wendet Für uns sind sie die Hauptquellen 
der hellenistischen Systeme und darum auch materiell unschätzbar. Wir 
danken Cicero also auch, daß er, wie es in einem Briefe an den ver- 
trauten Freund heißt, 'die Sachen abgeschrieben habe, nur die Worte ge- 
hörten ihm'. Aber wir vergessen nicht, daß das in die Sprache der Ge- 
schichte umgesetzt bedeutet, die Form gehöre ihm, das heißt die Kunst, 
durch die aus dem Stoff der philosophischen Untersuchungen Produkte 
von literarischer Dauer entstanden sind. 

Wir besitzen, wie bemerkt, umfangreiche Sammlungen von Briefen 
Ciceros, djirunter die Korrespondenz mit seinem nächstverbundenen Freunde 
Atticus. Cicero war ein großer Briefschreiber, in seinen Briefen tun sich 
alle Fähigkeiten eines reichen Geistes kund und mancher in höchster Er- 
regung hingeworfene Zettel ergänzt durch G«walt und Feuer des momen- 
tanen Ausdrucks das Bild seiner vom Verstand zurecht geschliffenen Rede. 
Andrerseits ergänzen die Reden und Dialoge, die nirgends die Persön- 
lichkeit verbergen, das Bild des Mannes; und so liegt Cicero wie er war 
und wurde offen vor unsem Augen. Er kam aus seiner provinzialen Um- 
gebung in die Sphäre des Weltregiments erfüllt von altrömischen Idealen 
tmd der Größe des Senats. Sein Talent hob ihn so rasch wie sonst die 
Söhne der in der bösesten Tradition des Eigennutzes verkommenen Nobi- 
lität Als Konsul bewies er Geschick und sogar Kühnheit Als aber 
dann die positiven Mächte in Aktion traten und die Entscheidung des 
Weltschicksals mit raschen Schritten herankam, brach seine auf Ober- 
redimg und Vergleichung gestützte SteUung zusammen und er verlor 
was ihm das Beste seines Lebens schien. Nun zeigte sich wohl wo seine 
eigentliche Bestimmung lag; der unwiderstehliche Drang nach literarischer 



II. Sullanisch ■ cäsarische Zeit (ca. loo — 44 v. Chr.). 



339 



Produktion beweist es; aber der Zwiespalt war aus seinem Leben und aus 
seinem Charakter nicht mehr zu entfernen. Der Überlegenheit ging die 
Oberhebung, der Leistung die Verzagtheit, dem Wesen der Schein zur 
Seite. Das Schicksal hat diesen Zwie.spalt grausam symbolisiert, als es 
ihn in den letzten Monaten seines Lebens plötzlich mit dem Schein der 
sehnlich erstrebten Macht umkleidete, um die geliebte Verfassung und 
ihn selbst dem Todesstreich auszuliefern. 

Man kann wohl sagen, daß Cicero, dies Wort in hohem Sinne ge- 
nommen, der gebildetste Mann des Altertums war. Die römische Bildung 
hatte, wir wir bemerkten, vor der griechischen voraus, daß sie zwei- 
sprachig war. Die lateinische Sprache selbst, die noch in der Hand von 
Ciceros unmittelbaren Vorgängern und Zeitgenossen ein augenscheinlich 
sprödes Material ist, hat sich durch ihn gestaltet und entfaltet in einem 
Maße, das nur durch die Berührung eines sprachschöpferischen Geistes 
mit der höchstentwickelten Literatursprache begreiflich ist. Aber die 
Zweisprachigkeit soll nicht nur in dem Sinne verstanden werden, daß dem 
Römer beide Sprachen offenstanden, sondern in dem, daß der Römer, in 
seinem eignen Volkstum stehend, an allem geistigen Besitz der griechi- 
schen Welt lebendigen Teil hatte. Daraus entstand die im Scipionen- 
kreise erscheinende und in Cicero ausgeprägte Lebensanschauung, die das 
politische Lebensspiel und den Stolz des Weltregiments zusammenfugt 
mit der in Stoa und Akademie lebenden menschlichen Gesinnung, die auf 
das wahrhaft Bleibende und die Menschen Verbindende gerichtet ist. Man 
hört auch in Ciceros Kreise schon die epikureische Parole, der die fol- 
gende Generation gehorcht, nachdem das Herrschergefühl des einzelnen 
Römers für immer beseitiget ist: nun wird diese Lebensanschauung har- 
monischer, denn ihre nationalen Elemente fügen sich nun organischer 
mit dem Griechischen zusammen. Aber in Cicero besitzt sie noch die 
altrömische Haltung; zu seiner Überlegenheit sahen alle empor, wenn 
nicht Tagesfragen den Blick trübten. 

Cicero ist einer von denen, deren besseres Leben mit dem Tode be- 
ginnt. In jeder bedeutenden geistigen Bewegung hat er seine Wirkung 
bewährt und wird es femer tun. F"reilich ist er keine Lektüre für Kinder; 
wenigstens das Sekundanerurteil sollte in der Diskussion über seinen 
Schatten minder hörbar sein. 

Cäsar war Redner und Schriftsteller wie er es für seine Zwecke 
brauchte und ein Meister darin, wie in allem was er unternahm. Sein 
Bericht über die Kriegführung in Gallien ist von der Art der persön- 
lichen Kriegsgeschichten, die es von hellenistischen Heerführern gab; er 
ist mit politischer Absicht für das römische Publikum geschrieben, dem 
jede Phase der Unterwerfung Galliens als eine unvermeidliche Defensiv- 
maßregel dargestellt werden sollte. Die Signatur des überlegenen Geistes 
ist, daß eine solche Schrift zu einem Kunstsverk eignen Rechts geworden 
ist. Cäsars 'Commentarien' sind unvergleichlich durch ihre aus bewußtester 



CÜLUr 

(100—44). 



340 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit. 

Feder geflossene Einfachheit und Unbefangenheit des Ausdrucks; die 
goldreine Sprache mit ihrem Schein der Anspruchslosigkeit ist das Bild 
zugleich attischer und römischer Urbanität. Dabei kann man doch nie 
vergessen, daß die Schrift 'selbst ein Stück Geschichte' ist und uns den 
gewaltigsten Römer, der zugleich einer der geistvollsten war, in seiner 
Kraft imd Anmut zeig^ 
(IS^°6) Sallust schrieb zwar erst nach dem Tode Cäsars; aber er gehört mit 

Form und Gegenstand, mit Tendenz und Geist seiner Schriftstellerei in 
die cäsarische Epoche, ja in die Umgebung Cäsars, dessen Parteigänger 
er war und dessen Tod ihm die MuBe gab, seinem Talente Raum zu 
geben. Er war Attizist wie Cäsar, sein Vorbild Thukydides; er richtete 
die Spitze seiner G«schichtschreibung gegen die von Cäsar gestürzte No- 
bilität, eine nachträgliche und für das Forum der Weltgeschichte be- 
stimmte Apologie des Verfassimgsbruchs. Sallust ist der erste römische 
Historiker von allgemeiner Bedeutimg; er ist zugleich für uns der bedeu- 
tendste antike Historiker nach Polybius, von dessen Zeit bis auf Augustus 
kein griechisches Geschichtswerk erhalten ist. Das Hauptwerk Sallusts, 
das einen Abschnitt der Revolutionsgeschichte, von Sullas Tode bis zum 
Hervortreten des Pompejus behandelte, ist verloren; wir sehen aus der 
späteren historischen Literatur, daß es für die Überlieferung imd Auf- 
fassung dieser Periode maßgebend gewesen ist Wir besitzen die beiden 
kleinen Bücher über den Jugurthinischen Krieg und die Verschwörung 
Catilinas. In jenem Kriege trat zuerst die Verdorbenheit der Nobilität 
und, durch Marius den Helden der Popularpartei repräsentiert, die frische 
Kraft des niederen italischen Volkes vor aller Augen. Catilinas Anschlag 
war nur ein Zeichen von der Fäulnis des Herrenstandes; hier konnte 
Cäsar in den Mittelpunkt gestellt werden und zugleich galt es, ihn von 
dem Verdacht zu reinigen, daß ihm ein Helfer wie Catilina nicht zu 
schlecht gewesen sei. Beide Schriften wollen in einem eng geschlossenen 
Bilde das Allgemeine geben, die Strömungen und Motive, die das Schick- 
sal des römischen Staates bestimmten und bestimmen mußten. Die Per- 
sönlichkeiten treten so scharf hervor wie der Senat, das Volk, das Heer. 
In der Darstellung ist keine Tendenz zu merken, die liegt nur in der 
Wirkung des Ganzen. Sallust ist weit entfernt, Marius und Cäsar in der 
Schilderung gegen die anderen Hauptfiguren zu bevorzugen; ihnen stehen 
Sulla und Cato in vollem Lichte gegenüber; die Reihe der Charaktere, 
die normalen und abnormen Bildungen von Catilina bis Cato stufen sich 
unter politischem und sittlichem Gesichtspunkt ab und treten so zum 
Ganzen zusammen. Der Ausdruck ist von berechneter Kürze, streng wie 
die sittliche Anschauimg, die er hervorkehrt, sichtliche Anwendung rhe- 
torischer Kunstmittel ist vermieden, die Wahl der Worte bezweckt 
altertümliche Färbung, die Absicht des Stils ist in jedem Satz und 
Sätzchen fühlbar, ein rechter Gegensatz zu Ciceros freier und unmerk- 
:h hintragender Weise; aber Sallust erreicht die Absicht, wie Tacitus, 



II. SuHanisch - cäsarische Zeit (ca. loo — 44 v. Chr.;- 



34« 




der durch seine Anlehnung an Sallust diesem das größte Zeugnis ge- 
geben hat. 

In ganz andrer Art, recht als ein Gegenbild zu Cicero, hebt sich aus v»rro 
der geistigen Bewegung dieser Zeit Marcus Terentius Varro heraus. Sohn 
eines sabinischen ßergstädtchens, ein Jahrzehnt älter als Cicero, ein Römer 
von altertümlicher Art in seiner Zeit wie der alte Cato in der seinigen, 
allem modernen Wesen der Attizisten und Cäsarianer fremd, Legat des 
Pompejus im Seeräuberkriege und, fast ein Siebziger, gegen Cäsar in 
Spanien, ist er der Träger der römischen Wissenschaft geworden. Er er- 
scheint in den erhaltenen Schriften und in den Fragmenten der verlorenen 
so ganz römisch, daß man nur langsam sieht, wie auch er die äußeren 
Anregungen direkt oder indirekt von den Griechen erhalten hat. Seine 
Produktion war zum einen Teil poetisch oder halbpoetisch oder machte 
doch auf kunstmäßige Form Anspruch, zum andern Teil rein wissenschaft- 
lich. Wir besitzen von der ersteren Art die drei Bücher vom Landbau, 
in denen eine bloß stoffliche Belehrung über römische Gutswirtschaft in 
den Rahmen der dialogischen Kunstform gebracht ist. Von Ciceros Kunst 
in der Darstellung des Stoffes hat Varro gar nichts gelernt, auch nichts 
lernen wollen; aber die Einkleidungen der drei Gespräche geben frisch 
und anschaulich geschriebene Bilder römischen Lebens und zugleich in 
zusammenhängenden Stücken ein Bild des Stils, den er in zahlreichen 
moralphilosophischen Aufsätzen imd in den aus Prosa und Vers gemischten 
Satiren in des Kynikers Menippos Art angewendet hat. Die Sprache ist 
voll von Erscheinungen, die für uns überraschend sind. Er schrieb wie 
er sprach und entfernte sich beständig von den gebahnten W^egen der 
Kunstsprache; dadurch eröffnen uns seine Schriften zum erstenmal wieder 
seit Plautus den Blick in das ungehemmte Sprachleben des Tages. 

Von Varros wissenschaftlicher Produktion besitzen wir eine Gruppe 
von Büchern aus dem Werk 'über die lateinische Sprache'. Philologie 
gab es in Rom seit einiger Zeit, da griechische Freigelassene die ein- 
heimische philologische Technik auf lateinische Dichtungen anwendeten. 
Aber in den letzten Generationen hatte auch, durch die tiefergehenden 
Interessen des Scipionenkreises angeregt, wie wir an Lucilius sehen, die 
stoische Sprach- und Stillehre in Rom Eingang gefunden. Aelius Stilo, 
der ältere Freund Varros, war der wissenschaftliche Begründer einer auf 
diesem Boden ruhenden Philologie; ihm hat sich Varro angeschlossen und 
vieles von seinen Forschungen für die Nachwelt erhalten. 

Lateinische Sprache und römische Literatur und 'Altertümer' sind 
die Gebiete, die Varro vorzüglich mit unermüdlichem Fleiß in einer un- 
erschöpflichen Fülle umfangreicher Werke behandelte. Seine enzyklo- 
pädische, juristische, geographische Schriftstelle rei und was der Poly- 
histor und Vielschreiber sonst hervorgebracht hat, tritt gegen diese Werke 
zurück. Im Mittelpunkt standen die 'Altertümer der römischen Religion* 
und 'des römischen Lebens'. Auch hier ist der Einfluß der jüngeren 



342 Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit. 

stoischen Theologie kenntlich. Aber die Absicht aller dieser Bücher ist 
in erster Linie Materialsammlung, um die Äußerungen des nationalen 
Lebens zu buchen. Die 'lateinische Sprache' ist eine sehr formlose 
Materialsammlung, formloser als das Prinzip der antiken wissenschaft- 
lichen Literatur, das die kunstmäßigen Formen abwies, es verlangte. Diese 
ganze kunstlos registrierende Schriftstellerei ist nur unter dem Gesichts- 
punkte des nationalen Impulses, aus dem sie hervorgegangen ist, ver- 
ständlich. 

Panätius und Polybius haben die Größe des römischen Staates und 
Volkes gleichsam für die Römer entdeckt und wissenschaftlich nach- 
gewiesen; Posidonius ist ihnen darin gefolgft. Sie haben Leben, Geschichte 
und Institutionen der Römer untersucht, dazu bedurften sie auch des 
Verständnisses der altrömischen Sprachdenkmäler; wir sehen vor Augen, 
wie Polybius die gebildetsten unter seinen römischen Freunden antreibt, 
dem Latein der karthagischen Verträge auf die Spur zu kommen. Diese 
Anstöße sind es, die auf Aelius Stilo gewirkt haben. Er kommentierte 
die 12 Tafeln und uralte Kultlieder; das führte beständig zu antiquarischen 
Untersuchungen. Auf seinen Wegen ging Varro weiter imd strebte nach 
allseitiger Zusammenfassimg; das gesammelte Material brachte er in die 
bereiten Fächer gfriechischer Systematik: anders als Cicero, der das grie- 
chische Material übernahm imd selber ein Kunstwerk daraus machte. 
Varro wurde durch diese Arbeit auch auf die Geschichte der römischen 
Literatur geführt. Hier gelang es ihm, die bei dem Mangel jeglicher 
Forschung herrschenden dunklen Vorstellungen dtirch die Auffindung der 
maßgebenden Dokumente, indem er nach dem Muster griechischer Vor- 
gänger die Archive der Staatsbeamten imtersuchte, aufzuhellen und die 
Grundlage einer literarhistorischen Chronologie zu legen. So lieg^ es an 
seinem Gegenstande, ob er als Sammler oder als wissenschaftlicher For- 
scher erscheint. Das ihn bewegende Motiv ist die Freude am römischen 
Altertum, das Verlangen, die altrömische Welt aus den mühsam herbei- 
gebrachten Trümmern wieder aufzubauen, um in ihr das ursprüngliche 
Leben und dann die Kraft imd Blüte der eignen Nation wieder zu er- 
kennen. 

Durch diesen echt philologischen und zugleich entschieden natio- 
neilen Charakter hat die römische Wissenschaft, trotz ihrer völligen Ab- 
hängigkeit von der griechischen in allem was über das rein Stoffliche 
hinausgeht, eine eigentümliche Kraft gewonnen. Varro blieb ihr Haupt- 
vertreter; er wirkte über die augusteische Zeit hin, dann wurde er ver- 
gessen, um in der Flavierzeit mit doppelter Kraft wieder zu erstehen. So 
lange die römische Kultur dauerte, blieben seine Werke die Ftmdgrube 
zunächst für die Grammatiker und Antiquare, weiterhin aber für die Po- 
lemik der christlichen Schriftsteller. Überall auf den aus dem Altertum 
in die neuere Zeit geleiteten Pfaden begegnet man seinen Spuren, 
joritprudenz. Auch die eigentlich römische, die Rechtswissenschaft, trat in dieser 



I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. Chr.). ^^^^^^^^3^ 

Epoche unter den Einfluß der Stoa; in ihrem Anfang durch Q. Mucius 
Scaevola, den die Disziplin der stoischen Dialektik zur Systematisierung 
des Zivilrechts führte; in ihrer letzten Zeit durch Servius Sulpicius, dessen 
theoretische Arbeiten nach Ciceros Äußerung den Stempel dialektischer 
Durchbildung trugen. 



B. Augusteische Zeit 

I. Erste Hälfte {43 — ca. 14 v. Chr.). Nur die französische Revolution 
hat zwischen zwei benachbarte Zeitalter einen Einschnitt gemacht wie der 
Untergang der Republik zwischen die Zeitalter des Cäsar und Augiistus. 
Es war ein andrer Staat, trotz der republikanischen Formen, in dem ein 
Vipsanius die Kriege führte und ein Maecenas im Kabinett regierte; eine 
andre Gesellschaft, die nach einem Hof, nach Prinzen und Prinzessinnen 
aufschaute, in der ein kaiserlicher Beamten- und Offizierstand aufkam 
und Maecenas, Messalla, PoUio Musenhöfe hielten, jener weil es zur Politik 
seines Herrn gehörte, diese weil sie ihre Zeit frei hatten. Es waren fast 
alles neue Menschen, wie der Herrscher. Die letzten Zeiten der Republik 
hatten ein frühsterbendes Geschlecht getragen. Nicht nur die im Kampf 
Gefallenen, Cäsar und Cicero, die Tyrannenniörder und die Republikaner 
bei der Fahne, auch die Jugend war dahin, die Lucrez und CatuU, die Calvus 
und Caelius. Ein Weiterlebender wie Atticus fügte sich mit seinem epikurei- 
schen Sinne ohne weiteres in die neue Welt; aber Varro überlebte sich und 
seine Zeit. Das Lebensideal des Atticus wurde bestimmend für die ersten 
Männer der römischen Gesellschaft und Kultur und für die Tausende ohne 
Namen. Augxistus selbst empfahl es der Nobilität und Bildung, obwohl 
er unter epikureischer Hülle ein stoisches Pflichtleben führte und durch 
eine Verbindung stoischer und altrömischer Moral das rönüsche Leben zu 
regenerieren suchte. Die brennende Sehnsucht der italischen Welt nach 
bürgerlichem Frieden machte allmählich dem süßen Gefühl der Ruhe, der 
sicher schützenden Hand, des 'Augustusfriedens' Platz. In dieser Atmo- 
sphäre entstand eine neue Literatur. 

Die literarische Erbschaft, die das Zeitalter antrat, war die Erbschaft 
Ciceros. Er hatte die Fähigkeiten der lateinischen Sprache entwickelt 
und dem Poeten das Material bereitet. In der Prosarede war der Römer 
an das Vollkommene gewöhnt; in der Poesie schlug nun der Wohllaut 
der horazischen Ode und der Klang und Glanz des vergilischen Hexa- 
meters als etwas ganz Neues an sein Ohr. Der Zauber hat sich fast zwei 
Jahrtausende lang stets für den durch Natur und Bildung Bereiteten er- 
neuert; für die eigne Zeit war es eine Offenbarung der Schönheit. 

Am Ende dieses Zeitalters erinnert sich Ovid seiner Jugend: 'oft hat 
mir Properz seine Liebesgedichte vorgelesen; ich lauschte dem Wohl- 
klange des Horaz; Vergil sah ich nur, und TibuU mußte zu früh sterben 
als daß ich seine Freundschaft hätte genießen können.' Zwischen diesen 



XAA Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit. 

Namen nennt er andere minder klingende. Horaz in seiner Jugend stellt 
in erste Reihe außer Vergil eine Anzahl rasch verklungener. Da sollte 
Tragödie und Komödie neu erweckt werden: das blieb ohne Erfolg, 
auch der erste Epiker versagte, den man auf den Schild hob. Um die 
Zeit, da Augustus dem vereinigften Imperium die neue Verfassung gab, 
wußte man, daß Horaz und Vergil die Führer der literarischen Bewegimg 
waren. 
Horu Wieder treffen sich, wie einst Plautus und Ennius, der Nord- und 

* *" '"Süditaliener; Vergil der Sohn eines Gutsbesitzers bei Mantua im Gallier- 
lande, Horaz eines Freigelassenen aus Venusia in Apulien. Aber beide 
erhalten in Rom die römisch-griechische literarische und philosophische 
Bildung, beide suchen später in Athen die Quellen auf, Horaz im Studenten- 
alter. Da wurde er in den Entscheidungskampf nach Cäsars Tode ge- 
rissen und focht, der Libertin als Legionstribun, bei Philippi mit. In der 
Not der folgenden Jahre gab er den politischen Freiheitsdrang daran und 
bildete dafür die persönliche Freiheit seiner Individualität so siegreich 
aus, daß er allen Vorurteilen der römischen Gesellschaft und der Fretmd- 
schaft des Maecenas und Augustus gewachsen war. 

Horaz war theoretisch und produktiv der Führer, so daß der Kampf 
um die neue Dichtimg mit der Produktion eng verbunden ist; Lessing hat 
sich nicht umsonst ihm verwandt gefühlt. Er verlangte eine eigne Kunst 
für die neue Zeit; er verwarf an der alten römischen Poesie die Form- 
losigkeit, an der hellenistischen der letzten Generation den Mangel an 
eignem Gehalt. Es blieb nichts übrig und mußte alles neu geschaffen 
werden, wie Augustus eine neue römische Welt geschaffen hatte. Die 
Erneuerung demonstrierte er praktisch an der Satire des Lucilius, dem 
freiesten Erzeugnis des römischen Geistes. 

Lucilius war eine unbestrittene Größe; er war auch für Horaz eine 
Größe, der im übrigen fand, daß man Euripides statt Ennius und Menan- 
der statt Plautus lesen köime. Aber er war ihm ein Vorgänger, der 
seinen Ansprüchen nicht genügfte, der ihn zur Produktion anregte und 
den er folglich zu übertreffen, ja zu ersetzen hatte. Hier, wo er die 
eigentliche Heimat und Verwandtschaft seines Geistes fand, suchte er nach 
keiner neuen Form; nur gab er der Sprache Reinheit, dem Verse Run- 
dung, dem Gedanken Prägnanz und Maß. Dies war das Gefäß, in das er 
seine Anschauung von Welt und Menschen niederlegte, wie sie ihm aus 
Lektüre und Nachdenken, aus Beobachtung und Erlebnis erwachsen war. 
Er hatte viel erlebt, als er, noch ein Jüngling, sich diesem Berufe hingab; 
er durfte es tun, weil er die Persönlichkeit in sich fühlte, in der allein 
die Satire wurzeln kann. Diese Persönlichkeit liegt, von den frühen Pro- 
dukten bis zu der im Buche von der Dichtkunst und in der Epistel an 
Augustus erreichten Höhe, vor Augen; mit ihr haben die geistreichen 
Männer der alten imd der neuen Zeit innigen Verkehr gepflogen. Man 
muß bis zu Montaigne weitergehen, ehe man wieder einen Geist antrifft, 



I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. Chr.). 



345 




der wie Horaz den eigenen Kreis der Gedanken und Erfahrung zu einem 
allgemeingfültigen Bilde des menschlichen Lebens erweitert. 

Die Satire wendet sich an das Publikum, dem sie die Exemplare der 
Menschliclikeit vorhält, damit jeder sein Bild erkenne. In späteren Jahren, 
als die polemische Neigung zurücktrat und seine Gedankenrichtung zu- 
gleich positiver und intimer wurde, zog Horaz die Form des Briefes vor. 
Nun konnte er in seinen literarischen Betrachtungen auf eine vorhandene 
neue Dichtung, zu der seine eigne Produktion gehörte, Bezug nehmen. 

Die Satire des Lucilius traf die innerste Neigung des jungen Dichters 
in der Zeit, da seine Stimmung dazu neigen mußte, eine polemische Rich- 
tung zu nehmen. Schon vorher, in der athenischen Studentenzeit, muß 
ihn der Geist des Archilochos ergriffen haben, der auch in den politischen 
Gedichten der älteren Generation wehte. Im archilochischen lambus fand 
er eine griechische Gattung, die noch der durchgreifenden römischen 
Umbildung harrte. In dieser Form hat er, noch ein Schiffbrüchiger der 
letzten Stürme, einige Lieder gedichtet, in denen der endlose Jammer der 
Zeit wahr und stark erklingt; ein Jahrzehnt später, als Augustus dem Fluch 
ein Ziel setzte, begleitete er die Entscheidungstage von Aktium mit einem 
aus Sehnen und Zorn, Triumph und Bangen wunderbar gemischten 
lambus. 

Von hier aus giag Horaz zur eigentlich lyrischen Dichtung, den für 
den Gesang zur Leier bestimmten Oden hinüber. Er hat es später selbst 
so dargestellt, daß ihn Archilochos zu Sappho geführt habe. Die Ode 
auf den Tod der Kleopatra folgt dem lambus auf Aktium; um diese 
Zeit drängte die neue Lyrik, die er schuf, die Satire und den lambus in 
den Hintergrund. Es war mehr als ein poetisches Vermögen in ihm, 
eine Vielseitigkeit, die zu erklären die griechisch-römische Stilvirtuosität 
keineswegs ausreicht. 

Horaz verpflanzte durch seine Oden die lesbische Lyrik nach Rom, 
das heißt die Formen des Alcaeus und der Sappho, die er nach einem 
sehr strengen imd die Mannigfaltigkeit des Originals beschränkenden Ge- 
setz romanisierte. In dieser Strenge und Beschränkung findet er den nie 
gehörten Wohllaut, von dem wir .sprachen. Es ist die erste (und einzige) 
Lyrik von großem Stil und hohem Ton in lateinischer Sprache, oft ge- 
mildert durch ein Lächeln, durch einen Blick auf Kleinigkeiten des Lebens, 
durch eine persönlich läßliche Auffassung. Die Motive sind aus dem kleinen 
und großen Leben, was die eigne Seele beschäftigt, was die Freunde er- 
leben, was dem Staate frommt oder den Frieden bedroht; das Glück der 
neuen Zeit klingt wieder, aber auch die alten Wunden bluten. Es ist im 
griechischen Gewände ganz römischer Sinn nicht nur, sondern es ist das 
römische Leben dieser Epoche, Auch die Weisheit kluger Lebensfreude, 
so allgemein sie klingt, ist eine Weisheit, deren jetzt der Römer genießen 
mag, nachdem Generationen hindurch der Genuß nur ein Mittel des Ver- 
gessens war. In der Mitte steht Augustus und alle Männer, die etwas 



346 FiUEDRiCH Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit. 

bedeuten, um ihn her; auch die unpersönlichen Gedichte von Römertugend 
und -stolz haben Beziehung zu ihm. Im ganzen muß dem Leser aufFallen, 
daß an dieser Lyrik der Verstand so viel Anteil hat wie die Empfindung; 
sie zwingt eben so oft zum Nachdenken wie zum Mitempfinden. M{ui 
kann sagen, daß Horaz durch sein Gefühl allein nicht zum Dichter ge- 
worden wäre; aber die Mischung von Gefühl und Geist ist so besondrer 
Art, daß es nie ernstlich auch nur versucht worden ist, ihn nachzuahmen. 

Damit ist schon gesagt, daß Horaz trotz des griechischen Gewandes 
original ist. Von den lesbischen Dichtem hat er nur die Formen 
übertragen. Einzelne Anklänge an sie und andre, auch an Pindar und 
Bakchylides, sind nachweisbar, aber kein Gedicht, das als Ganzes über- 
nommen wäre; dagegen eine Menge, an deren Erfindung keiner als Horaz 
beteiligt sein kann. Am meisten sein eigen sind die Lieder, die am ent- 
schiedensten aussprechen was die Gemüter und die Zeit bewegt und das 
Schicksal des römischen Volkes bestimmt; da werden gewichtige Ge- 
danken von starkem Gefühl getragen. Wie die Form mit Alcaeus und 
Sappho, so verbindet ihn der Gehalt vieler Lieder eher mit Pindar. Es 
ist auch hier eine Versammlung gfriechischer Einwirkungen, die im Rom 
des Augustus gleichsam den zehnten griechischen Lyriker hervorgebracht 
hat, als welchen sich Horaz im Widmungslied an Maecenas bezeichnet 

Dabei ist er ein Künstler der Sprache, den num nie zu Ende kennt 
Der Wortschatz der Oden ist mit Absicht beschränkt, die Satiren und 
Episteln greifen tiefer in die lebendige Sprache; niemand berechnet wie 
er die Kraft xmd Bedeutung der Wörter und die Fähigkeiten, die sie im 
Satze zusammentretend entwickeln. Auch dies, der Geist der Sprach- 
behandlimg, erzeug^ immer von neuem den Reiz, den Horaz allezeit aus- 
geübt hat 
(,o-w%*'chr) Horaz dem kampflustigen und vielseitigen, der ebenso bereit ist 

seinem Genius zu folgen wie ihm zu gebieten, der als Fünfziger, in der 
Zeit da er im poetischen Briefe den vollkommensten Ausdruck seiner 
Anschauungen über Kunst und Leben findet die fortgelegte Leier wieder 
ergreift und jugendkräftige Lieder singt, ihm steht Vergil, der engfver- 
bundene Freund, als eine zartere und zurückhaltende Natur gegenüber. 
Er schreitet überlegend von einer Aufgabe zur nächsten, größeren, vor, 
faßt immer nur eine mit ganzer Kraft an und übt in jedem, auch dem 
unpersönlichsten Gedicht, durch seine menschlich anziehende Persönlich- 
keit eine reine Wirkung auf den Leser. Er war fünf Jahre älter als 
Horaz und starb elf Jahre vor ihm, 19 v. Chr. Auch er knüpfte, wie 
Horaz mit dem lambus, an die hellenisierende Dichtung an, die in seiner 
Jugend galt Die Sammlung von zehn Idyllen, mit der er zuerst vors 
Publikum trat, setzte in der Reihe der griechischen Nachahmer Xheokrits 
die Bukolik dieses Dichters fort und machte sie zu einer neuen römischen 
Gattung, der es auch an der hellenistischen Künstlichkeit nicht fehlte. 
Es sind Gedichte in der Sammlung, die sich eng an Theokrit anlehnen, 



I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. Chr.)- 



347 



andere von freier Erfindung. Vergil war selbst ein Landkind, die Hirten- 
szenerie und -Stimmung brauchte er nicht aus Büchern zu holen. Er hatte 
den Einbruch von Octavians Veteranen in den alten Besitz der nord- 
italischen Gutsbesitzer und Kolonen erlebt, und die Schrecken der Zeit 
bildeten den Hintergrund seiner Idyllen. Hier lebt noch ganz, wie in 
Horazens lamben, die Friedenssehnsucht der letzten Sturmjahre, die Italien 
aufrührten und dann erst der Ruhe eines vollen Jahrhunderts wichen; und 
die Stimmung der Gedichte ist die romantische Flucht in einen vorge- 
zauberten Zustand stillen und anspruchslosen Glückes. Sie waren dem Zeit- 
genossen wie eine Verheißung, und der neue Glanz des Verses, die kunst- 
reiche doch wie von selbst quellende Sprache, der weiche und lieblich 
spielende Ton dieser ländlichen Muse bannte die Verwöhnten und die 
Naiven in ihren Kreis. 

Danach ergriff Vergil einen größeren Gegenstand, aber ohne aus dem 
Kreise des Landlebens herauszutreten. Er stellte die Arbeit des Land- 
mannes im Gedichte dar. Das war seit Hesiod ein Gegenstand der 
Dichtung; die hellenistische Poesie hatte einen eignen Stil des didaktischen 
Gedichtes ausgebildet, der für das Alltägliche durch poetische Herrichtung 
des technischen Sprachstoffes einen bedeutenden Ausdruck verlangte. 
Vergil schuf diese Gattung ins Römische um; aber er konkurriert nicht 
mit dem griechischen Stil des Lehrgedichts, seine Absicht geht auf direkte 
poetische Wirkung, das heißt auf etwas was nicht durch fleißige Arbeit 
oder geschickte Sprachbehandlung zu erreichen war. Daß Vcrgils Georgica 
geworden sind was sie sind, liegt einzig daran, daß er das ländliche Leben 
und seine Beschäftigungen poetisch empfand. Sie waren ihm mehr als 
pflügen und pflanzen, weiden und zeideln, er sah in allem den Verkehr 
des Menschen mit der Natur, des natürlichen Menschen mit der allzeit 
Gleichen, die Mühe freundlich Lohnenden, den Genuß im Ausruhen, die 
Fülle im Bedürfnis Spendenden. Er fühlt und lebt mit den Erscheinungen 
um ihn her, mit der Welle und dem Monde, dem Acker und Weinstock, 
von ganzer Seele mit den Tieren und Menschen, so daß Lehre und Regel, 
von andern Gesammeltes und eigne Beobachtung gleichermaßen beseelt 
erscheinen. Der Lauf des Tages, der Kreis des Jahres bedeutet dem 
einen Staub und Schweiß der Arbeit, ihm ist er der Tanz der Hören. 
Der Stoff verklärt sich in der Sphäre der bukolischen Stimmung des 
Dichters imd ist doch einfachstes Leben; denn nirgends wird die Wirk- 
lichkeit verlassen, der Leser dieses Gedichtes erlebt den Zustand des 
italischen Bauern, aber in Vergils Gesellschaft. Es ist nicht wahr- 
scheirdich, daß es ein ähnliches Lehrgedicht in griechischer Sprache ge- 
geben hat. 

Die Stimmung der Zeit kam, wie gesagt, dieser ländlichen Dichtung 
entgegen, vielmehr sie trieb sie hervor. Phantasie war keine römische 
Eigenschaft; aber die Not der Zeit zwang den Sinn jener Generation in 
die Vorstellung eines von Frieden und unschuldigem Genuß erfüllten weit- 



348 Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit. 

entfernten Glückes hinein. Das Urbild solchen Zustandes gab die römische 
Vorzeit, die in Frömmigkeit, Genügsamkeit und Tapferkeit alle Tugenden 
besaß, aus denen die römische Größe hervorgehn sollte, um das weltbeherr- 
schende Rom mit Laster und Zwietracht zu überschütten. Die Reste dieser 
Vorzeit hatten Stilo und Varro erforscht und gesammelt; jetzt kam der 
Dichter, ihr Bild zu gestalten mit dem Stammvater des römischen Volkes 
in der Mitte. 

Ob Vergil je die Absicht wirklich gehegft hat, die er in den Georgica 
ausspricht, Aug^ustus' eigne Taten, das heißt die Geschichte des letzten 
Jahrzehnts, als Epos zu behandeln, darf man bezweifeln. Er wird an Ein- 
sicht in seine Kunst dem Hofe, der dergleichen wünschte, schon damals 
voraus gewesen sein. Das nationale Epos, das er zu schaffen gedachte, 
durfte den Befreier des Erdkreises nur von ferne und im Gleichnis er- 
scheinen lassen; darum wairen doch die Gedanken, die er verkörperte, 
der Gehalt des Gedichtes. Der aus dem Osten kommende, die griechische 
und römische Welt verbindende Stammesheld Roms und zugleich des 
julischen Hauses, geleitet durch die Eigenschaften, in denen das neue 
Leben des regenerierten Rom wurzeln sollte, seine Leiden und die Er- 
füllung der Aufgabe durch seine Taten: djis war der Gegenstand des 
Epos, durch das Vergil Ennius ersetzen und der italischen Zeit und Nach- 
welt geben wollte und gab was dem nationalrömischen Sinne von damals 
und der römischen Welt danach etwas Ahnliches bedeutete wie Homer 
den Grriechen. 

Das römische Epos war von Naevius an national gewesen; epischen 
Stoff fand der Römer im eignen Hause. Ennius g^räzisierte die Form und 
eihmte homerische Glanzstellen nach; die folgenden waren Ennianer. 
Vergil verleugnete den Zusammenhang mit Ennius keineswegs, er trug 
ihn offen zur Schau. Aber als Dichter war er Homeride; der Held ein 
Göttersohn, aus Troja entronnen, die Götter in helfender und hemmender 
Tätigkeit, die erste Hälfte des Gedichts eine Odyssee, die letzte eine 
Ilias. Vergil sah sich ohne Zweifel in der Reihe der griechischen Epiker, 
wie Horaz in der der griechischen Ljrriker; und ohne Zweifel war es sein 
Stolz wie der des Horaz, wie es Ciceros Stolz gewesen war, daß nun der 
römische Dichter neben die griechischen treten durfte. Diese Zeichen 
der Abhängigkeit befremden uns; aber sie sind unzertrennlich von aller 
antiken Kunst Wie Vergil so hänget das griechische Epos an Homer; 
und wir sehen nicht, daß ein Grieche oder Römer nach Homer eine 
epische Komposition von solcher Selbständigkeit hervorgebracht hätte 
wie Vergil. 

In der Ausführung, der eigentlichen Ausübung seiner Kunst, geht er 
andre Wege als Homer, xmd wir können nicht sagen, daß er sie andern 
nachgeht In solchen Teilen, die am deutlichsten Homer nacherfunden 
sind, tritt das am schärfsten hervor. Die Leichenspiele des Patroklos 
sind ein Stück Leben, die wohlbekannten Personen handeln wie es der 



I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. ChrO- 



349 



P 



Augenblick bringt, der Dichter erzählt wie es gewesen ist. Vergils 
Leichenspiele des Anchises richtet der Dichter ein; jeder Wettkampf hat 
seinen wohlberechneten Verlauf, die einzelnen greifen ineinander, das 
Ganze rundet sich ab und bekommt noch durch den Schiffsbrand einen 
unvermuteten, für die Gesamthandlung bedeutsamen Abschluß. Die home- 
rische Erzählung verläuft in gerader Linie, durch Episoden unterbrochen, 
durch Hindemisse verzögert, stets die Handlung durch Gespräch belebend. 
Vergil dichtet eine Folge dramatisch gedachter Szenen, durch eine ent- 
scheidende Wendung gestört, dann diych eine Lösung wieder in Har- 
monie gebracht; er vermeidet die Episoden und beschränkt das Gespräch, 
dafür tritt die Rede hervor. Das Zufällige und Unbedeutende wird nicht 
ausgesprochen, das Ausgesprochene gewinnt Gewicht und Farbe; die 
Empfindung ist immer hoch gespannt, jedes Erlebnis von der Art daß es 
den Affekt erregt. Die Sprache gleitet in stolzer Ruhe und läßt nur den 
schärfer Hörenden merken, daß sie tausend Kühnheiten wagt, alles Ge- 
wöhnliche und Platte scharf abschneidet, alle Sprachmöglichkeiten an- 
wendet, die dem großen .Stile dienen. Den Vers befreite Vergil von 
kleinen Regeln, die ihm die letzte Generation aufgelegt hatte, aber das 
Gesetz des Baues schrieb er um so strenger. Gegen seine Sprache und 
seinen Vers klangen Lucrez und Catull veraltet. 

Als Vergil starb, war die Aeneis äußerlich abgeschlossen, aber inner- 
lich unvollendet. Vergils Testament bestimmte, daß sie vernichtet würde, 
Auguslus hat sie gerettet. Er schenkte damit dem römischen Altertum, der 
Schule des Mittelalters, der Renaissance, der französischen und englischen 
Dichtung, der Wellbildung bis an die Grrenze des iq. Jahrhunderts einen 
Führer und Meister. Den Römern war er 'der Dichter' wie Homer den 
Griechen; Petrarca, Tasso, Milton und wie viele wären zwar auch ohne 
ihn, aber andre als sie sind. In Deutschland verblich sein Glanz mit der 
Entdeckung Homers im 18. Jahrhundert; nicht in England und Frankreich. 
Jetzt lebt er in der Schule fort, für die er zu schwer ist, wie leider alle 
gfroßen Erzeugnisse der römischen Literatur, aber durch die Schönheit 
des Klanges, die vollkommene Sprache, die hohe Gesinnung unersetzlich. 

Wir sahen, daß Vergil und Horaz beide mit ihren frühesten Dich- 
tungen an die Weise ihrer unmittelbaren Vorgänger angeknüpft haben. 
Eine wirkliche Fortsetzung fand jene neoterische Poesie in der Elegie des 
Tibull und Properz; richtiger gesagt, in der Dichtung dieser beiden setzt 
sich ebenso die griechische Elegie fort wie das griechische Epos in 
Vergil, die Lyrik in Horaz. 

Die Liebeselegie des alten Mimnermos war eine Spiel- oder Tonart 
der jonischen Elegie, die an sich weder verliebten noch klagenden Inhalt 
hatte. In der hellenistischen Poesie wurde die Elegie wesentlich Liebes- 
elegie, auch die mythischen Liebesgeschichten klangen in elegischer Form. 
Leider läßt uns die Überlieferung im Stich; wir können die hellenistische 
Elegie nur indirekt erschließen und nur das Stoffliche an ihr beurteilen. 



TibaU 

(t 19 »• Chr.) 

und 

Proper« 

(f an t5 v.Chr.!. 



jeo Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit. 

Beide, TibuU und Properz, gehen von ihr aus; Tibull verdeckt diesen Zu- 
sammenhang, Properz kehrt ihn hervor. 

Diese beiden Dichter, in denen die griechische wie die römische Elegie 
gipfelt, sind von sehr verschiedner Art. Properz ist das größere Talent, Tibull 
der größere Künstler. Properz zeigt sich in seiner ganzen Menschlichkeit, 
Tibull stilisiert die Leidenschaft Properz läßt sich vom Leben der großen 
Stadt umtreiben, seine Cynthia ist nach alter literarischer Sitte der einzige 
Name, der im Buche erscheint, aber die Gedichte besagen, deiß sie die erste 
nicht war und auch die letzte nicht; seine Stoffe reichen über Lust und 
Kummer des Liebesgedichts hinaus, in seiner späteren Zeit hat auch er 
sich in die römische Vorzeit versenkt Tibull lebt in der Stille den Be- 
schäftigungen des gebildeten Römers, seine Gedichte sind erfüllt von der 
Sehnsucht nach ländlichem Frieden, es ist eine andre Äußerung der 
idyllischen Jugendstimmung Vergils; das Glück seiner Liebe ist ohne Er- 
füUtmg, nur für andere stimmt er heiteren Ton an, es liegt in der Sehn- 
sucht und Phantasie. Diese dem römischen Geist selten gewährte Eigen- 
schaft besitzt Tibull, die Phantasie belebt ihm jedes Bild und ist der 
Nerv seiner Dichtung. Properz geht zumeist einen raschen und feurigen 
Gang, ein bestimmtes Motiv mit entschiednem Grefühl umfassend. Tibull 
läßt sich hingleiten; er hänget seinen Gedanken nach, und wohin ihn der 
Nachen trägt, da landet er. Das ist die Kunst, in der ihn keiner er- 
reicht: das Gedicht scheint zu zerfließen und wird von einer inneren Dis- 
position scharf zusammengehalten. Properz führt die g^ze Gelehrsamkeit 
der hellenistischen Elegie mit sich, manche seiner G«dichte könnten, wie 
kein andres Produkt der augfusteischen Zeit, durch bloße Übersetzung 
gfriechische Gedichte sein. Tibull würde, wenn nicht doch sein Zusammen- 
hang mit der griechischen Poesie so vielfach nachzuweisen wäre, ganz 
als nationalrömischer Dichter erscheinen, so einheimisch ist die Sinnesart 
und der Lebenskreis, in dem er sich hält; so ist er auch der römische 
Dichter, der am sichersten, der vielleicht allein völlig die Übersetzung in 
moderne Sprache verträgt 

II. Zweite Hälfte (ca. 14 v. Chr. — 14 n. Chr.). Neben dieser Blüte 
Rhetorik, der Dichtkunst erhob sich bereits in Augitstus' früher Zeit eine neue 
Macht, die aus den kleinasiatischen Städten nach Rom eingewanderte 
Schulrhetorik. Da die öffentliche Beredsamkeit unter dem neuen Regi- 
ment naturgemäß abnahm, gewannen die Schulreden über fingierte 
Themata, Gerichtsreden und Beratungsreden, einen breiten Boden. Sie 
setzten die allgemeine rhetorische Bildung, dazu einige juristische und 
historische Kenntnisse und genaue Bekanntschaft mit der herrschenden 
Poesie voraus und waren in der Form, die sie nun gewannen, nicht 
für Knaben bestimmt; es wurde eine Kunst, die von Männern jeden 
Alters und Talents, in jeder Lebensstellung geübt oder doch mit starkem 
Interesse beachtet wurde. Ein Buch des alten Seneca, des Vaters des 



n. Zweite Hälfte (ca. 14 v. Chr. — 14 n. Chr.). 



35» 



Philosophen, der Augnstus' und Tiberius' Reg^erungszeit in der Haupt- 
.stadt durchlebte, 'Erinnerungen aus den rhetorischen Hörsälen', eins der 
wenigen das volle gegenwärtige Leben darstellenden Bücher des Alter- 
tums, schildert aufs anschaulichste dies Treiben und die Berühmten und 
Unberühmten des Zeitalters mitten darin. Nun sah man was dem römischen 
Geist, und zwar nicht nur im Durchschnitt und in der Masse, gemäß war. 
Cäsars Attizismus und das ciceronische Bildungsideal waren vergessen; 
der neue Stil nahm alles gefangen. Seine Tendenz war in erster Linie die 
geistreiche Formung des Ausdrucks: klare Fassung und Folge, helle Schlag- 
lichter des Gedankens, scharf zugespitzte allgemein gefaßte Folgerungen, 
antithetische Wendungen, künstlich immer weiter geführte Variierung 
eines Gefühls, einer Beobachtung. Es kam offenbar ganz auf den Mann 
an, der ein solches Werkzeug handhabte. Wenn er Geist und Wissen 
hatte, so lag zwar die Gefahr nahe, daß er zuviel davon auf den in der 
Schulrede ausgebildeten Stil verwendete, aber es konnte eine neue 
Meisterschaft der Form ausgebildet werden, die sich ihres Gehalts nicht 
zu schämen hätte. Ein Talent ohne Tiefe mußte darauf ausgehen, mit 
geistreichem Spiel zu blenden. Unten an der Stufenleiter war ein ödes 
Virtuosentum zu erwarten, das darauf angewiesen war, mit dem durch 
Übung Erreichbaren zu prunken. 

In zweiter Linie stand die Pracht und Auswahl der Worte, der ge- 
suchte Schmuck. Hier beginnt eine für die lateinische Literatursprache 
verhängnisvolle Entwicklung, in doppelter Richtung, Einmal wurde die 
Sphäre der in der kunstmäßigen Literatur anerkannten und zugelassenen 
Rede künstlich gehoben und damit der vorhandene Abstand von der 
Volks- und Umgangssprache so sehr erweitert, daß zwischen beiden, in 
der Sprache aller Kulturvölker parallel gehenden Sprachrichtungen der 
Verkehr und die gegenseitige Befruchtung so gut \vie aufgehoben wurde. 
Zum andern lehnte sich der neue .Stil, wie es schon auf griechischem 
Boden geschehen war, an die übermächtig gewordne Dichtung an. Es 
handelte sich dabei sowohl um das Wortmaterial wie um die Anwendung 
der Wörter und die Urabiegung ihrer Bedeutungen wie um die Kühn- 
heiten des Satzbaues, die an die Stelle der von der neuen Prosakunst 
verlassenen ciceronischen Periodisierung traten. Vergil hat auf die Sprach- 
behandlung der neuen Prosa direkt so stark gewirkt wie Cicero indirekt 
auf Vergil. Dadurch verschoben sich die von Cicero scharf eingehaltnen 
Grenzen zwischen prosaischem und poetischem Ausdruck; nach kurzer 
Zeit sind sie verwischt, man nennt dieses Latein, dem die Stilgrenzen ver- 
loren gegangen sind, das silberne. 

Horaz und Vergil, Tibull und Properz sind noch frei von der modernen 
Rhetorik und ihren Folgen; bei Livius zeigen sich die Anfänge; ihre 
Herrschaft beginnt mit Ox-id. 

Livius konnte der neuen Richtung nicht freundlich gegenüberstehen; u»im 
die Einwirkungen, die bei ihm besonders in der Sprachbildung hervor — 17«. Chr.). 



352 Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit. 

treten, sind die aufgezwungnen einer herrschenden Zeitströmung. Denn 
er war Ciceronianer und erfüllte das Ideal der Geschichtschreibung, das 
Cicero aufgestellt hatte. Er stammte aus Padua, aus gallischem Lande wie 
Vergil; die ersten Teile seines Werkes entstanden gleichzeitig mit der 
Aeneis, die letzten nach dem Tode des Augxistus. Er war mit Augustus 
befreundet wie Vergil und Horaz und vertritt allein mit ähnlichem Glanz 
die Prosa der augusteischen Zeit 

Wie Vergil das Epos so schuf Livius das Geschichtswerk der neuen 
Zeit; er tat es, indem er die römische Geschichte von der Grründung bis 
auf die Gegenwart schrieb. Das bedeutete sowohl den Abschluß der 
annalistischen Geschichtschreibung der Republik als die Begründung der 
Zeitgeschichte. Livius empfand republikanisch; damit vertrug sich längst 
die Überzeugung, daß Augustus verdiente das römische Reich zu be- 
herrschen und daß Rom unter ihm seine Bestimmung vollendete. So war die 
Geschichte der jüngsten Zeit zugleich der Gipfel der Darstellung und trat als 
solcher hervor. Die ersten beiden punischen Kriege, 63 Jahre sehr aus- 
führlich erzählt, umfaßten 15 Bücher, die 35 Jahre von Cäsars bis Drusus' 
Tode 33 Bücher. Was wir von dem Werke besitzen, gehört ganz in die 
eilte Zeit, die Livius den Annalisten und Polybius nacherzählte; wir würden 
von dem Historiker ein ganz andres Bild erhalten, wenn von der Zeit- 
geschichte etwas geblieben wäre. Von dem Historiker längst vergangener 
Zeiten erwartete das Altertum keine wissenschaftliche Forschung, sondern 
kunstmäßige Darstellung. Was er zu tun hatte, wenn er hohe Ansprüche 
erfüllen wollte, war, aus dem Stoff der vorhandnen Berichte ein neues, 
den Stilforderungen der Zeit entsprechendes Kunstwerk herzustellen. Als 
historischer Gewährsmann ist Livius erwünscht wo er verlorne Teile des 
Polybius reproduziert; aus der römischen Annalistik hat er nicht die 
besten sondern die letzten Darstellungen bevorzuget, und das waren die 
unzuverlässigsten. Mit den Annalisten können wir ihn nicht vergleichen, 
wohl aber mit Polybius. Da sehen wir, daß er nach fester Methode den 
wissenschaftlichen Charakter von dessen Darstellung abstreift, die Unter- 
suchung durch Erzählung ersetzt, die Charaktere der bestimmenden Per- 
sönlichkeiten allmählich aus ihren Handlungen hervortreten läßt, nicht, 
wie Polybius, die Elemente des Charakters an den Hauptetappen ihrer 
Tätigkeit einer immer fortgesetzten Prüfung unterzieht So verschieden 
seine Quellen, so einheitlich ist seine Darstellung. Das ist es was er in 
einer Lebensarbeit von vierzig Jahren geleistet hat, unermüdlich der ge- 
waltigen Aufgabe hingegeben: ein schöner und geschlossener Aufbau der 
Geschichte seines Volkes, über die Taten und Kateistrophen der sieben 
Jahrhunderte das Licht einer vollendeten Erzählungskunst gebreitet 
Orid Livius gTaviticrt nach Ciceros Seite hin, den er noch hat sehen und 

-*i7 ■. Chr'). seine Rede hören können; Ovid, in Ciceros Todesjahr geboren, ist das 
Kind einer Generation, die die Republik nicht mehr gekannt hat ist der 
eigentlich moderne Dichter seiner Zeit, der Dichter des weltstädtischen 



II. Zweite Hälfte (ca. 14 v. Chr.— 14 n. Chr.). 



353 



Rom. Dieses Rom wird nicht mehr durch Magistratswahlen und Straßen- 
kämpfe erregt; eine Prinzenheirat bedeutet mehr als vordem der Triumph 
eines Feldherm der Republik, die Deklamation oder Rezitation eines vor- 
nehmen Dilettanten mehr als ein Staatsprozeß, in dem Hortensius und 
Cicero sprachen. Weltregierer gibt es in der Kurie noch dem Namen 
nach, aber sie entziehen sich gern auch den dringenden Verwaltungs- 
geschäften, und die Macht ist zum Geheimnis des Princeps und seines 
Kabinetts geworden. Das Volk freut sich an Sicherheit und Ruhe, Senator 
und Ritter an Reichtum, Geselligkeit, Hofgunst oder dem Streben danach. 
Rom ist längst keine Barbarenstadt, es ist nun die Metropole der feinsten 
Gesittung, der römische Literat kann sich dreist mit dem griechischen 
messen und die römische Hetäre mit der athenischen oder ephesischen. 

Das Spiegelbild dieser Welt sind Ovids Gedichte; darin liegt ihr 
materieller Reiz. Eine unbeschreibliche Leichtigkeit und Biegsamkeit 
von Vers, Sprache und Gedanken tut den formalen Reiz hinzu. Beides 
gehört zusammen: eine solche Form begehrt nach einem solchen Stoffe; 
ein Stoff wie dieser bedarf des Dichters, der ihn in die heitere Grazie 
einer solchen Form aufzulösen versteht. Ovids Liebeselegien haben nicht 
mehr den gelehrt hellenistischen Hintergrund des Properz oder den länd- 
lich idyllischen Tibulls; sie spielen in den Salons und Straßen Roms. Die 
Liebeskunst operiert mit allen Motiven der hellenistischen Elegie, aber 
sie ist wie ein Gewächs der neurömischen Gesellschaft. Die Metamor- 
phosen und Fasten fuhren Götter und Helden vor, griechische und römische, 
aber die feierliche Würde, die sonst von solchen Gegenständen unzer- 
trennlich war, ist der heiteren Helligkeit eines Festsaals gewichen, in 
dem auch die Götter am liebsten jung, schön und verliebt sind. Augustus 
mußte diese Poesie und diesen Poeten hassen. An Horaz, Vergil und 
Livius hatte er die literarischen Helfer seiner auf eine sittliche Regene- 
ration der römischen Gesellschaft gerichteten Gedanken; Ovids Dichtung 
war nicht nur diesen Gedanken schädlich, sie war vor allem dem Kaiser 
ein drohendes Symptom, daß die Entwicklung der Dinge über seine 
besten Absichten hinwegging. Er tat dem Dichter das Ärgste an, indem 
er ihn, aus dunklem Anlaß, an die Nordgrenze des Reiches, in einen 
Winkel des Schwarzen Meeres verbannte. Da blieb ihm nur, solange 
er leben mußte, die Klage um das Element seines Lebens und Dichtens, 

Ovid hat allem, was er anfaßte, eine neue Gestalt gegeben. In der 
Liebeskunst schuf er eine der neurömischen Lebens- und Denkweise an- 
gepaßte Erneuerung des didaktischen Gedichts. In den Metamorphosen 
gab er einen Zyklus unterhaltender Geschichten, die sich von der Welt- 
schöpfung her durch alle Mythologie bis zur Apotheose Cäsars fort- 
setzten; sie verhalten sich mit ihrer epischen Form zu Vergil wie Ariost 
zu Tasso. Die Fasten behandeln in elegischer Form den römischen Fest- 
kalender und alle mit ihm verbundnen Gründungslegenden, einen römisch- 
religiösen Stoff in unnachahmlich leicht und ungravitätisch fließender Er- 



Dii Kultus dkr Gioinwari. 1. 8. 



»3 



354 



Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Katserzett. 



Zählung. Auch hier waren hellenistische Dichter die Vorbilder und ihre 
Gelehrsamkeit handhabt er ohne Mühe, aber sie ist ihm nur noch Schmuck 
und ein allen vertrautes Beiwerk. Jeder Stoff ist ihm ein Objekt, seine rheto- 
rische Erfindungskunst zu zeigen. Neue Motive schillern in immer neuen 
Farben, dem verbrauchtesten gewinnt er neue Seiten ab. Von Greschichte 
zu Geschichte findet er einen kecken Übergang, den AiFekt verfolgt er in 
alle Schlupfwinkel. Von der Rhetorenschule aus erfand er eine neue 
Gattung, die Briefe mythischer Frauen, die an ihre entfernten oder un- 
getreuen Liebhaber schreiben. Die Situationen waren bekannt und ein- 
fach, aber er findet tausend Wendungen, um immer wieder die Emp- 
findungen der Einsamen oder Verlassenen in einem neuen Lichte zu 
zeigen. 

Die moderne Rhetorik ist sein Handwerkszeug, all ihre Mittel, die 
gfroßen und kleinen, die starken und schwachen, wendet er als Virtuose 
an. Sie dient ihm sowohl einer wahren Empfindung wirksamen Ausdruck 
zu geben wie mit einer gemachten zu blenden; sie wirft einen anmutigen 
Schein über den Fluß seiner Rede, hält durch die unablässige Folge ab- 
sichtlicher Wortfiguren den Verstand in Spannung und ärgert oft durch 
aufdringlichen Witz den Leser, der sich einer Stimmung hingeben 
möchte. Die Kenner unter seinen Lesern und Hörern haben ihm das 
oft gesagft, er sei in seine Fehler verliebt oder er könne nicht aufhören 
wenn er fertig sei, weil ihm noch etwas Zierliches einfalle. Aber wie 
die Kunst den Kenner befriedigte, so fand der Zeitgeschmack auch an 
den Auswüchsen sein Wohlgefallen. Ovid hat den rhetorischen Stil in 
die Dichtung eingeführt, und seitdem blieb in Poesie und Prosa die Herr- 
schaft dieses Stiles unbestritten. 



C. Kaiserzeit 

L Bis Hadrian (14 n. Chr. — Mitte des 2. Jahrhunderts). Die Poesie 
der augusteischen Zeit, wie sie den Zeitgenossen ein schönes Wunder 
war, galt auch den Nachkommen als das unbestreitbar Hohe und Große. 
In der Tat haben die Römer und das Altertum überhaupt nach Aug^stus 
nichts annähernd Gleichwertiges hervorgebracht Wenn man das Ephe- 
mere abrechnet, so waren L3rrik und Elegie mit Horjiz und Ovid zu Ende; 
unter den Nachahmern des vergilischen Epos und der horazischen Satire 
sind grroße Namen, auch beträchtliche Talente, aber keine großen Dichter. 
Wahrhaft Großes in lateinischer Sprache sollte fortan nur noch auf dem 
Gebiete der Prosa erscheinen. Was alle erstrebten und viele erreichten 
war die rhetorische Kunst und damit verbunden eine vollkommene Technik 
des Verses. Denn Poesie und Prosakunst gfingen leicht zusammen, seitdem 
der poetische in den prosaischen Stil eingebrochen und die Rhetorik in 
beiden zur^Herrschaft gekommen war. 



1. Bis Hadrian (14 n. Chr.— Mitte des 2. Jahrhunderts). 



355 



P 



Zunächst gab es überhaupt keine nennenswerte Produktion. Die ■ 

unter Tiberius und Calignla schreibenden Epigonen verdienen kaum diesen I 

Namen. F"ür die Zukunft wichtig geworden sind das Fabelbuch des H 

Phaedrus und die unter Claudius geschriebne Alexandergeschichte des I 

Curtius. Die Enzyklopädie des Cornelius Celsus war ein wichtiges Werk; ■ 

wir besitzen nur den die Medizin behandelnden Teil. Ein Talent höheren ■ 

Ranges hat es zwischen Ovid und Seneca nicht gegeben. ^ 

Seneca war in Corduba zu Hause, der alten Hauptstadt des Jen- ^"^ 
seitigen Spaniens, der Sohn eines Mannes von Geist und Bildung, dessen .."*' "«P'i': 
rhetorische Memoiren uns begegnet sind. Er wuchs in Rom auf und 
.spielte früh eine Rolle in der Gesellschaft, die ihm den Haß Messalinas 

und ein achtjähriges Exil auf dem wilden und einsamen Korsika eintrug. ■ 

Agrippina rief ihn zurück und machte ihn zum Lehrer ihres Sohnes, eines ■ 

schönen und begabten Knaben, damals im elften Jahre. Daß aus dem H 

Philosophenschüler auf dem Thron eine Bestie wurde, die den alten H 

Claudiemamen für immer befleckte, darf man dem Lehrer, der mit einer H 

Mutter wie Agrippina zu konkurrieren hatte, nicht zur Last schreiben. ■ 

Wohl aber kommt ihm ein Verdienst daran zu, daß die wahre Natur des ■ 

jungen Kaisers während seiner ersten Regierungsjahre nicht her\'ortrat; H 

denn in dieser Zeit war Seneca sein Minister und lange gab sich Nero H 

dem politischen Einflüsse des klugen Mannes hin. Vor der wachsenden ■ 

Ruchlosigkeit des Kaisers zog sich Seneca zurück und fiel ihr doch nach H 

wenig Jahren, als hoher Sechziger, zum Opfer. H 

Die Zeitgenos.sen haben ihn sehr verschieden beurteilt. Wie seine H 

Reichtümer und Ehren den Neid erregten, so sein Einfluß im Kabinett die H 

Mißdeutung; aber sein Tod gab ihm das unbestreitbare Zeugnis einer im H 

stoischen Sinne über Menschenschicksal erhabnen Seele. Daß er mehr I 

als ein Gesicht hatte, bezeugt er uns selbst durch die Satire über den fl 

Tod des Claudius, ein Büchlein voller Witz und Bosheit, zur unbarm- H 

herzigen Verhöhnung des eben vergifteten Kaisers, den auch Seneca zu H 

hassen Grund hatte, geschrieben; ein Dokument zugleich für die Moral H 

dieses Hofes. I 

Der Hauptinhalt seiner Schriften ist die stoische Moral, eine ge- U 

milderte Lehre, die den Tugend- und PflichtbegrifF dem menschlichen H 

Können angleicht und sich gegen die verwandten Lehren andrer Philo- H 

sophen, auch Epikurs, nicht verschließt. Es ist die stoische Moral, die H 

der christlichen so nahe und historisch mit ihr verbunden ist; daher ent- H 

stand später die Meinung, daß .Seneca heimlicher Christ gewesen sei, und ■ 

führte zur Fälschung eines Briefwechsels mit Paulus, an dessen Echtheit H 

Hieronymus glaubte. ■ 

Seneca behandelt Gegenstände dieser Art: vom Zorn, von der .Seelen- ■ 

ruhe, vom Glück, vom Wohltun, von der Kürze des Lebens; eine lange H 

Reihe von Betrachtungen über die philosophische Lebensführung und das ■ 

in ihr liegende Glück bieten die 'moralischen Briefe' .seiner späteren Zeit. I 

■ 



356 Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Ksüseneit. 

Ein griechischer Philosoph gibt ihm wohl meist den Faden; aber er steht 
ganz anders zu diesen Vorgängern als Cicero. Seine Absicht ist durchaus, 
den Gedankengang der Schule zu erweitem und zu variieren, persönlich 
neu zu produzieren; und es ist kein Zweifel, daß jede Seite seiner Schriften 
den Stempel von Senecas Geist imd Persönlichkeit trägt. Das ist der 
Erfolg des Künstlers mehr als des Philosophen. 

Denn in Senecas Gedanken- und Sprachbehandlung stellt sich der 
seit einem halben Jahrhundert herrschende Stil in der höchsten Entwick- 
lung dar. Es ist ein vollkommener Gegensatz zu Cicero: die Sätze in 
innerer Beziehung, ohne sichtbare Verbindung nebeneinandergestellt, die 
Perioden in Teilchen aufgelöst, jedes Teilchen mit einer stilistischen Ab- 
sicht geformt, jedes Wort berechnet; jeder G«danke künstlich hin- und 
hergewendet und hier und da, besonders zum Schlüsse, in eine scharfe 
Pointe gefaßt. Ein solcher Stil ist nur zu ertragen, wenn ein geistreicher 
Mann wie Seneca ihn handhabt; auch von ihm nimmt man nicht gern 
viel auf einmal, aber es liegt ein gfroßer Reiz in dieser Übereinstimmungf 
des scharf ausgeprägrten Gedankens mit der zugeschliffenen Form. 

Die Form der Bücher ist die des stoischen Dialogs, der als zusammen- 
hängender Vortrag vor einem gedachten Zuhörerkreise nur noch den 
platonischen Namen und in Einwürfen aus dem Publikum, die der Ver- 
fasser fingiert, einen Rest der alten Gesprächsform bewahrt; daneben die 
Episteln. Es sind die beiden Formen, die in einer andern Entwicklungs- 
linie aus derselben Wurzel Horaz anwendet. Die Abkehr von Cicero ist 
auch hierin vollständig und absichtlich. 

Dieselbe Kunst, kein tieferes Vermögen der Seele, machte Seneca auch 
zum Dichter. Wir besitzen neun Tragödien von ihm, die nicht nur als 
die einzigen erhaltnen römischen Tragödien, auch als die Ausläufer des 
griechischen Dramas interessant genug sind. Wir sahen, daß die römische 
Tragödie mit Accius aufhörte. In der augusteischen Zeit versuchten viele 
sie neu zu beleben, unter ihnen Ovid; jetzt, ein halbes Jahrhundert später, 
erneuerte Seneca, auch er nicht als der einzige, den Versuch. Es wäre 
wunderbar gewesen, wenn der neue Stil die Tragödie nicht in seinen Kreis 
gezogen hätte; nirgends fand er wie hier die Gelegenheit zu glänzenden Be- 
schreibungen, prunkhaften Reden, leidenschaftlichen Betrachtungen, nirgends 
besseren Anlaß zu tönenden Sentenzen. Seneca lehnte sich an Ovid an, nicht 
an die früheren römischen Trag^er, die er verachtete, aber er arbeitete 
direkt nach den gfriechischen Originalen, besonders nach Euripides. Er 
suchte die schrecklichsten Stoffe aus, Medea, Ödipus, Phädra, Thyestes, 
Agamemnon, und regelte ihre Behandlung ganz nach den Forderungen 
des rhetorischen Stils. Die Handlung wird auf die von Affekt und Sen- 
sation strotzenden Hauptmomente gebracht, dafür verschwinden Ethos 
und Gefühl so gfut wie ganz, es bleibt Raum für prächtige Erzählungen, 
für beschreibende Szenen, für aufregende Episoden. Den Charakteren 
wird die lebendige Existenz abgestreift und die Typen der Rhetoren- 



I. Bis Hadrian (14 n. Chr.— Mitte des i. Jahrhunderts). 



357 




schule darau.s gemacht, denen jeder Gemeinplatz im neuen Aufputz zu 
Gesicht steht. Die Sprache ist teils dem stets gespannten Pathos ent- 
sprechend voller Schwulst (der Senecas Pro.sa fremd ist), teils ganz wie 
die Prosa in witzige Sätzchen aufgelöst und durch Schlaglichter beleuchtet. 
Die Chorlieder sind vom Dramatischen unabhängig, zum Teil sehr ein- 
drucksvolle Behandlungen moralphilosophischer Sätze; in der Form Nach- 
ahmungen der horazischen Verse. 

Trotz allem Hinderlichen wirken auch diese Tragödien durch die 
Technik der Sprach- und Gedankenbehandlung. Ihr Einfluß ist bei 
Shakespeare kenntlich, für die französische Tragödie war er bestimmend; 
und Lessing hat als Fünfundzwanzigjähriger vieles ein ihnen bewundert, 
was seinem eignen Stilgefühl verwandt jvar. 

Oberhaupt ist die Nachwelt mit Seneca gut verfahren. Die Christen 
ließen ihn gelten, darum las und exzerpierte ihn das Mittelalter. Die 
Renaissance freilich nährte sich an Cicero, und für Engländer und Deutsche 
hatte Seneca immer etwas Fremdes. Aber dem französischen Geiste war 
er lieb; Montaigne hielt Vergils Georgica für das vollkommenste Werk 
der Poesie und als Prosaiker stellte er Plutarch und Seneca allen voran. 
Die französische Aufklärung war eine neue Blütezeit für Seneca, und die 
feinste französische Eloquenz von heute ist ein Abkömmling des von 
Seneca am glänzendsten ausgebildeten Stils. 

In Neros Zeit erhebt sich um Seneca her, auch unter den Anregungen, 
die nun wieder vom Hofe ausgingen, von neuem ein starkes literarisches 
Leben. Es ist bei einer Kunstübung wie diese war schwer zu bestimmen, 
üb die Talente gerade dazu ausreichen, eine schwierige Technik mit 
Meisterschaft zu handhaben, oder ob die Technik mit ihren hochgespannten 
Ansprüchen die Talente aufzehrt und ihre inneren Eigenschaften nicht 
wirksam werden läßt. Denn diese Rhetorik formt nicht nur den sprach- 
lichen Ausdruck, sie hilft auch bei der Geburt jedes Gedankens. 

Persius rhetorisierte die Satire, ungefähr ein Jahrhundert nach dem ,'*'2i'^ 
ersten Satirenbuch des Horaz. Die wenigen Gedichte geben das Bild 
eines jungen Mannes, den die stoische Moral innerlich ergriffen hatte. 
Es fehlt nicht an Tönen echten Gefühls und eines individuellen sittlichen 
Bewußtseins; wohl aber an der freien Grazie, mit der Horaz den Gehalt 
seines eignen Wesens entfaltet hatte, vor allem an der Lebenserfahrung, 
die empfangene Lehre in wahres Leben umzusetzen. Selten erscheinen 
charakteristische Einzelzüge, kaum interessante Charaktere aus der Ge- 
sellschaft; er stellt einen Satz auf und malt in allgemeinen Farben einen 
Typus aus, der die Abweichung der Welt von der Vernunft vor Augen 
stellt. Der Ausdruck ist aufs schärfste pointiert; mit besonderer Absicht 
sind, um den Stil der Gattung zu wahren, Worte aus niederer Sprach- 
sphäre gewählt. Sehr fühlbar, ja vordringlich ist die Manier, einfache 
Begriffe durch umschreibende Wendungen zu geben; dadurch wird die 
Sprache dunkel, eine recht unhorazische Eigenschaft. 



^eg Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. K^seneit. 

Lucan Lucan, Senecas Bruderssohn, rhetorisierte das Epos großen Stils. Hier 

^ *' hatte es nicht ain Vorgängern gefehlt, aber Lucan gri£F durch. Sein 
Gegenstand war der Entscheidungskampf zwischen Cäsar und Pompejus; 
die Wahl ist merkwürdig, weil sie ein Symptom für das Wiedererwachen 
des republikanischen Gedankens in der Literatur ist und ein Zeichen, dafi 
solche Gesinnung aus der G«schichtschreibung in die Poesie flüchten 
mußte. Hier kämpft der Senat gegen den Ehrgeiz des einen, Cato tritt 
wieder als republikanischer Heiliger voran; um dieselbe Zeit, da sich im 
Senat gegen Nero eine stoische Oppositionspartei regt. Lucans Epos 
strotzt von prunkvoller Deklamation der Handelnden und des Dichters; 
Redefiguren und Sentenzen sind von erstaunlicher Lebendigkeit, oft wird 
der Inhalt ganzer Gedankenreihei^ in eine zugleich antithetische und stei- 
gernde Wendung weniger Worte gepreßt. Wir verstehen die freudige 
Aufregung des Publikums, wenn ihm solche Virtuosenstücke rezitiert 
wurden. Aber es ist eine Lust des Verstandes, die Erhebung der Seele 
fehlt dem Gedicht und dem Dichter; nie hätte er eine Wirkung erreicht 
wie Vergil, als er vor Augustus und Octavia das sechste Buch der 
Aeneis Isis. 
Petron Ein Talent hat Neros Zeit und Hof hervorgebracht, das seine eignen 

Wege ging. Petron war als Neros Günstling emporgekommen, hatte aber 
als Statthalter einer Provinz mehr als gewöhnliche Fähigkeit bewiesen. 
Dann leitete er die Vergnügrungen des Hofes; man versteht was das 
sagen will; Tacitus gibt das Bild des genialen Wüstlings in brennenden 
Farben. Von seinen Feinden in die pisonische Verschwörung verwickelt 
stirbt er mit demselben Todesmute wie Seneca und Thrasea, aber mit 
der ganzen Frivolität seines Lebens. Von ihm besitzen wir spärliche 
Reste eines großen Zeit- und Sittenromans, die bei weitem das G«ist- 
und Gehaltreichste sind was aus dem Altertum von unmittelbarer Menschen- 
und Lebensschilderung gekommen ist. Petron steht mit seiner frisch- 
quellenden, durch eingestreute Verse lustig variierten Prosa hoch über 
der Rhetorik. Er schildert seinen Abenteurer von Helden aufs anschau- 
. lichste in der Icherzählung, nebst Genossen und wer ihm in den Weg 
kommt, darunter den unsterblichen Trimalchio und seine Tischgäste. Es 
sind die niederen Regionen einer entsetzlich liederlichen Welt, der un- 
gesunden Mischwelt, die in den griechischen Gegenden der Halbinsel zu- 
sammengewachsen war. Petron sieht das alles mit dem freien Blick des 
Weltkindes und läßt eine wohlgelaunte Kritik der in Rhetorik, Poesie 
und Malerei herrschenden Tendenzen darüber schweben. 
Zeit der FUvier Die pisonische Verschwörung reißt auf einmal Seneca, Lucan und 
Petron in den Tod; Persius war einige Jahre vorher jung gestorben. Die 
flavische Djmastie gewann das Reich. Aber es entstand kein Einschnitt 
wie nach der republikanischen und aug^usteischen Zeit; die Produktion 
schritt weiter auf gebahnten Wegen. 

Das Epos blühte. Zunächst wird das gelehrte m}rthologische Epos 




I. Bis Hadrian (14 n. Chr.— Mitte des S.Jahrhunderts). 35g 



rhetorisiert , ganz wie Seneca die attische Tragödie für die Empfindung 
der Zeit hergerichtet hatte. Die Argonautica des Valerius Flaccus ver- 
halten sich zu seinem Vorbilde Apollonios etwa wie Senecas Medea zu 
Euripides. Ein Talent, das über das Formale hinausreicht, ist der Nea- 
politaner Statius; er übertrifft auch größere Dichter durch Lebendigkeit 
der Anschauung, und seiner Thebais fehlt es nicht an Kraft und Schwung. 
Aber die Verkünstelung des Ausdrucks treiben diese Dichter über das 
Maß. In Lucans Nachfolge behandelt der vornehme Silius Italicus einen 
nationalen Stoff, den hannibalischen Krieg; mit dem Unterschiede, daß 
dort ein junger Feuerkopf den für die Gegenwart aufregendsten Stoff in 
Flammen setzen möchte, hier ein zur Ruhe gesetzter Konsular die An- 
nalen des Livius verwässert. 

Größere Bedeutung für die Wellliteratur hat Martial gewonnen. Er .*„'*"i^ 
war Spanier von bescheidener Herkunft und konnte auch nur ein beschei- 
denes Glück machen; es ist interessant, ihn und Statius auf diesen Wegen 
mit Horaz zu vergleichen, um die Verschiedenheit nicht sowohl der Zeiten 
als der Seelen zu ermessen. Er wurde Epigrammatiker von Beruf. La- 
teinische Epigramme hatte es seit Ennius gegeben, CatuU und sein Kreis 
imitierten fleißig dieses feinste Produkt der hellenistischen Dichtung, die 
Stilprobe für den Kenner; auf den Grrabsteinen Italiens stand das Epi- 
gramm seit Jahrhunderten. Aber in der Regel blieb es doch griechisch, 
in Rom gab es unzählige Griechen, die solch zierliche Gebilde verfertigten, 
und Römer konnten es auch. In Martial schlug die Ader des Epigramms, 
es war etwas Schöpferisches in ihm, er hat sich als Lateiner neben die 
gfroßen Epigrammatiker gestellt und die grriechische Gattung wieder in 
die Höhe geführt wie die römischen Elegiker die Elegie. Das erotische, 
das sepulkrale, das gesamte Schulepigramm kümmerte ihn nicht, wie wir 
auch an ihm wiederum sehen, daß das spezifische Talent sich von der 
Rhetorik freimacht. Er ergreift das polemisch-satirische Epigramm, aber 
nicht mit den bloß persönlichen Spitzen und Witzen, sondern es ist ihm 
das Mittel, die römische Welt und Gesellschaft um sich her zu schildern; 
wie Ovid durch die Elegie so Martial durch das Epigramm. Er wirft in 
der Tat durch tausend Streiflichter ein helles Licht auf die Menschen und 
Zustände; und es gehört wohl zur Sache, daß man an seiner Hand auch 
durch Pfützen waten muß. 

Auch die prosaische Schriftstellerei war mächtig angewachsen. Die ,f jf'"' 
nachrepublikani.sche Geschichte wurde von vielen geschrieben. Andere 
beschäftigten ihre Muße mit technischer und halbwissenschaftlicher Pro- 
duktion, Columella brachte noch unter Nero die Lehre von der I^nd- 
wirtschaft in schönen Prosastil. Die Tendenz des Zusammenfassens und 
Exzcrpierens stellte sich wie bei den Griechen ein; eine Schätzung des 
Wissens um des Wissens willen, ein Durst nach Notizen, immer begleitet 
von der dem gebildeten und für das große Publikum schreibenden Schrift- 
steller selbstverständlichen Forderung, die Notiz in kunstmäßige Sprach- 



i6o Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiseneit. 

form aufzulösen. Das umfangreichste und am eifrigsten zum Ganzen g'e- 
staltete Produkt dieser Art, die Naturgeschichte des Plinius, hat bei der 
Nachwelt einen gewaltigen Erfolg gehabt 

Plinius war auch aus dem gallischen Italien: ein tüchtiger Offizier 
und Verwaltungsbezimter, bei Vespasian und Titus angesehen, in den 
nördlichen und südlichen Provinzen des Reiches tätig, zuletzt Befehls- 
haber der Flotte in Misenum; dabei unermüdlich mit literarischen Arbeiten 
und Sammlungen beschäftiget. Er schrieb allgemeine Geschichte im großen 
Stil, ein besonderes Werk über die Kriege in Germanien; dazu ein gram- 
matisches Sammelwerk, eine Fundgrube für die Späteren. Er hinterließ 
seinem Neflfen 1 50 Bände KoUektaneen, für die ihm ein reicher Mann ein 
Rittervermögen geboten hatte. Durch den Neffen erfahren wir, wie er 
es trieb, um jede von Amtspflichten freie Stunde, darunter die Mahl- 
zeiten, die Stadtwege in der Sänfte, die Bäder zur Lektüre, zum Notieren 
und Exzerpieren auszunutzen. So entstand die 'Naturgeschichte', ein Werk, 
von dem er selbst in der Widmung an Titus sagte, kein Römer habe 
etwas ähnliches versucht und auch kein Grieche allein das Ganze umfaßt. 
Die Reihenfolge ist: Weltall und Erde, der Mensch, die Tiere, die Pflanzen, 
mit besonders ausführlicher Behandlung der Heilmittel aus Pflanzen- und 
Tierreich, die Mineralien und im Zusammenhang mit ihnen Malerei und 
Skulptur. Dem Ganzen geht ein Inhalts- und Autorenverzeichnis voraus; 
es wird nichts anderes prätendiert als daß aus einer ungeheuren wissen- 
schaftlichen Literatur das Material zusammengetragen ist. Aber die Form 
gehört ihm, und das ist auch hier wieder die Hauptsache. Die ganze 
Exzerptenmasse ist in den knappen, figfuren- und pointenreichen Zeitstil 
umgegossen und mit Betrachtungen im Sinne der Zeitmoral reichlich aus- 
gestattet Form und Beiwerk, an denen es hing, daß der gebildete Römer 
das Werk in den Kreis seiner Lektüre hineinließ, waren einer sachlich 
wissenschaftlichen Verarbeitung nicht günstig. Es ist auch kein Zweifel, 
daß es Plinius an den Kenntnissen zur Verarbeitung und auch zur Aus- 
wahl des Stoffes fehlte. Alexander von Humboldt, der ihn sehr maßvoll 
und mit klassizistischer Nachsicht beurteilt, hat doch darauf hingewiesen, 
daß er die wichtigen geognostischen und anatomischen Ansichten bei 
Eratosthenes und Aristoteles nicht zu finden gewußt hat. Den Männern, 
die in unsem Zeiten die griechischen Wissenschaften wiederentdecken, 
ist Plinius nur ein schwacher Führer. Die Wiedergabe des Stoffes ist, 
wie wir erkennen wo seine Autoren erhalten sind, sehr unzulänglich. 
Dennoch war er ein Mann, den Wissensdurst imd Beobachtungsdrang er- 
füllten und zusammen mit dem Pflichtgefühl des Amtes in den Tod trieben, 
als der Vesuv Pompeji und Herculanum verschüttete; wie das sein Neff^e 
in einem Briefe an Tacitus, als Material für dessen Zeitgeschichte, an- 
schaulich geschildert hat 

Eine Fülle sonst unbekannten Materials überliefert Plinius auch uns; 
das spätere Altertum und das ganze Mittelalter, dem die griechischen 



1. Bis Hadrian (14 n.Chr.— Mitte des 2. Jahrhunderts). 



361 



^H Quellen nicht flössen, verdankte ihm direkt und indirekt das meiste seines 

^B Wissens. Seine Autorität begann erst zu sinken, als im 18. Jahrhundert 

^H Physiologie und beschreibende Naturwissenschaften ihre eignen Wege 

^^1 fanden. 

^H Während Plinius sein Werk kompilierte, bereitete sich eine Reaktion 

^^B gegen den Stil vor, den er mit der ganzen schönen Literatur seiner Zeit 

^H vertrat. Der Kampf wurde nur von einem Manne geführt, aber der eine 

^^1 bedeutete viel. Es war Quintilian, ein Spanier wie Seneca, der wenige 

^H Jahre nach Senecas Tode als Lehrer der Rhetorik in Rom auftrat und 

^^^ als solcher jahrzehntelang die angesehenste Stellung einnahm. Im Alter 

L faßte er Lehre und Erfahrung in dem Werke von der 'Erziehung des 

^B Redners' zusammen, die Theorie nach der griechischen und römischen 

^^1 rhetorischen Literatur, die Praxis aus dem Ganzen seiner Sachkenntnis 

^^r und Lebensarbeit heraus. Hier war wieder einmal ein Mann, der das 

I Hauptinteresse der römischen Bildungswelt von innen und mit seinem 

^H ganzen Wesen ergriff, wohl wissend, welche Verflachung der literarischen 

^^ Produktion und Ansprüche entstehen muß, wenn alle Kräfte sich auf ein 

f Virtuosentum des Geistes richten. Durch solche Auffassung wurde Quin- 

tilian mit Notwendigkeit zu Cicero hingeführt, nicht nur zu ihm als dem 
größten Redner, der überall das Muster für die Lehre gab, sondern zu 
Ciceros Lebens- und Bildungsideal, wie wir es in den Büchern vom Redner 
niedergelegt fanden. Er erg^nff dies Ideal mit voller Oberzeugung und 
hat dadurch offenbar auf Generationen von Schülern starke Wirkung ge- 
übt. Dabei bedachte er nicht, und als einer positiv gerichteten, nicht 
genialen Natur mußte ihm dieser Gedanke fern liegen, daß die Bedeutung 
der Redekunst, ohne die das akademisch-ciceronische Ideal brüchig werden 
mußte, seit einem Jahrhundert unwiederbringlich dahin war. Er hat Bil- 
dung und Beruf des Redners so geschildert, wie wenn sich die Fordc- 
I rungen des Staatsmannes ohne weiteres in den rhetorischen Hörsaal über- 

tragen ließen. Dabei ist eines der erfreulichsten Werke der römischen 
Literatur entstaiiden, das einen breiten und srhwerfließendcn Lehrstoff in 
gefällige Form bringt, ohne irgend dem Gewicht der Sache zu schaden, 
in dem vor allem eine würdige, feine, freie Persönlichkeit lebendig ist, 
^^L von der man wohl versteht, daß sie Ehrfurcht und Liebe erregte; von 

^W einer Sprache, die man diesen Zeiten nicht zutrauen sollte, die zu einem 

r Streit unter den Humanisten der Renaissance geführt hat, ob Cicero oder 

^^ft Quintilian das größere Muster sei. 

^^ Wie die Reaktion auf Cicero hindeuten mußte, so mußte sie gegen 

I Seneca, als den Hauptführer der rhetorischen Zeitströmung, gerichtet 

I sein. Gegen ihn schrieb Quintilian ein eignes Buch 'von den Ursachen 

I^K der Stil Verderbnis'. Damals war Seneca in aller Händen, die ganze 

^H junge Welt ahmte seine Fehler nach; Quintilian war der Meinung, 

^^^ daß die Nachahmer schon so tief unter das Muster gesunken seien, 

^H wie Seneca unter die Klassiker; va»n lasse nichts mehr gelten, was 



Quintilian 



362 Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiserzeit. 

nach Natur aussehe. Er wies auf Cicero und neben ihm auf Vergil 
zurück. 

Quintilian hat wie gesagt auf seine Schüler gewirkt, aber nicht weiter 
hinaus auf die literarische Entwicklung. Bestimmend ist sein Einfluß für 
die Schule geworden; solange es römische Schulbildung gegeben hat, 
regierten in ihr Vergil und Cicero. Vergils Greltung war nie erschüttert, 
aber Cicero hatte lange nur in einer Unterströmung weiter gewirkt, die 
durch Quintilians Tätigkeit und Lehre mächtig in die Höhe geführt wurde. 
Der Zu den Schülern Quintilians gehörte der junge Plinius, eine lieben»- 

'(«»-iij). würdige, idealistisch gerichtete Natur, durch Vermögen und Gunst ge- 
tragen, als Sachwalter und in der Ämterlaufbahn hochgestiegen; der 
rechte Typus einer flachen, doch von ihrem Werte überzeugten Zeit- 
bildung. Seine amtliche Korrespondenz mit Trajan, in der Hauptsache 
aus der Zeit, in der Plinius als kaiserlicher Statthalter Bithynien ver- 
waltete, enthält wichtige Urkunden für die Provinzialverhältnisse , auch 
für die älteste Geschichte des Christentums, vor allem für die Person des, 
trefflichen Kaisers, über den wir aus seinen kurzen Briefen mehr Bezeich- 
nendes erfahren als aus der Prunkrede, die ihm Plinius bei Antritt des 
Konsulats im J. 100 gehalten hat. Als Schriftsteller lernen wir Plinius 
aus der großen Sammlung der an einen weiten Freundeskreis gerichteten 
Briefe kennen; denn diese Briefe sind als kleine Kunstwerke des Stils 
in der Absicht geschrieben, dem Publikum vorgeleg^t zu werden. Jeder 
Brief behandelt einen Gregenstand, einen Fragepunkt; aber Gegenstände 
des Lebens, nicht philosophische Fragen, und wenn es Fragen allgemeiner 
Art sind, so doch unter persönlichem Gesichtspunkt So lernen wir aus. 
diesen Schulprodukten das römische Leben der Zeit kennen, den Freundes- 
und Gesellschaftskreis des Plinius, vor allem das literarische Treiben, 
darin Männer wie Quintilian, Tacitus, Sueton, neben einer unerhörten Trieb- 
kraft des der Technik mächtigen, sich selbst mit hoher Kunst verwechseln- 
den Dilettantismus. 

Plinius' Brieftechnik stammt aus der Rhetorenschtile, in der sie von 
Isokrates her fortgepflanzt ist Aber das sprachlich-stilistische Muster ist, 
wie Quintilian es lehrte, Cicero, unter dessen Briefen viele rhetorisch 
stilisierte sind, auch solche, deren Adresse über den Adressaten hinaus 
ans Publikum geht Plinius ist dann für die folgenden das Muster ge- 
worden, der Führer einer breiten Briefliteratur, die in den späteren Jahr- 
hunderten im Vordergrunde der künstlichen Prosa steht, 
juren»! Wenn man Plinius hört, so gab es keine poetische Gattung, die nicht 

ca. ijo). in seinem Kreise durch Dichter ersten Ranges vertreten war. In der 
Tat hat sich ein einziger Dichter aus Trajans und Hadrisins Zeiten über 
den Schwärm der Ephemeren erhoben, Juvenal. 

Wir wissen wenig von ihm, in seinen Satiren liegt nicht, wie es bei 
Lucilius war und bei Horaz ist, Wesen und Leben des Dichters vor Augen. 
Martial redet ihn freundschaftlich an, als einen Mann in bescheidener 



I. Bis Hadrian (14 n.Chr.— Mitte des 2. Jahrhunderts;. 



363 



Lebensstellung, seinesgleichen. Er war Latiner, aus Aquinum, wo er einen 
väterlichen Hof hatte; einen anderen, wenigstens im späteren Lebensalter, 
bei Tibur. Der Stolz des Italikers auf die römische Vergangenheit, Ver- 
achtung der Fremden, besonders der Ägypter, die er aus ihrem Lande 
kennt, erfüllt ihn; überhaupt eine Bitterkeit, die auf bittere Lebenserfah- 
rungen deutet. Seine geistige Heimat war die Rhetorenschule , wahr- 
scheinlich hat er deklamiert bis er dichtete; das geschah erst spät, die 
fünf Bücher mit 16 Satiren gehören in seine späte und späteste Lebens- 
zeit. Es erging ihm wie Tacitus von sich erzählt: während der fünfzehn 
Jahre Domitians gab es kein freies Wort; Juvenals Satire bedurfte wie 
die Historie der mit Trajan beginnenden Freiheit. 

Es ist gewiß richtig, daß Juvenal, wie er selber sagt, durch inneren 
Drang zur Satire getrieben worden ist; sein Talent zu beobachten und zu 
schildern ist so deutlich wie sein natürlicher Sinn für die Nachtseiten der 
menschlichen Natur. Dieselbe römische Grtsellschaft , in der sich Plinius 
so wohl fühlt und die ihm so glänzend und vollkommen erscheint, ist für 
Juvenal ein Pfuhl des Lasters. Es ist auch richtig, daß ihn der Anblick 
der Sünde aufregt; er predigt und schilt in pathetischem Zorn, der sich 
selbst steigert; aber die natürliche Empfindung in ihm ist nicht von der 
Stärke, die einen Dichter produktiv macht. Es ist der Affekt, dessen 
Theorie zugleich mit der Fertigkeit, aus derselben Tatsache zehnfachen 
Anlaß zur Entrüstung zu holen, in der Schule gelernt wird. Diese Ent- 
rüstung ist in einigen Satiren so schulmäßig trocken, daß sie vielleicht 
den Verstand, aber gar nicht die Seele des Lesers erregen kann. 

Es ist zu Juvenals Nachteil, wenn man ihn mit Horaz vergleicht; aber 
es ist nicht unbillig. Ihm fehlen grade die Eigenschaften, die Horaz groß 
und liebenswürdig machen; sie liegen zumeist in der Persönlichkeit, wenn 
auch nicht allein. Horaz beobachtet das menschliche Leben, die Erschei- 
nungen um ihn her sind ihm nur Beispiele; er nimmt sich selber niemals 
aus, er ist allen überlegen, weil er alle versteht; man könnte nie auf den 
Gedanken kommen, daß er selber etwas von dem haben möchte, was 
andere übel mißbrauchen. Juvenal sieht nur die Gegenwart; um nicht 
anzustoßen projiziert er sie in die Zeit Domitians und Neros; wenn er 
allgemein wird, deklamiert er. Er steht immer außerhalb, und zwar als 
ein Benachteiligter, Verbitterter, ärgerlich, nicht ergriffen; darum ist sein 
Pathos nicht tragisch und der ganze Eindruck nicht persönlich. Horaz 
hat die hohe griechisch-römische Bildung seiner Zeit, er wohnt mit seinen 
Gedanken in der philosophischen Ethik, er hat den direkten Zusammen- 
hang mit der griechischen Diatribe. Dadurch bestimmt sich auch seine 
Methode: er wendet die Betrachtungsweise der griechischen Popularphilo- 
sophie auf die römischen Zustände an. Juvenal ist ein rechtes Beispiel 
für den Niedergang der römischen Bildung und dessen Ursache; er hat 
weder Lektüre noch Philosophie, seine Bildimg ist die rhetorische, die 
allgemeine Bildung. Darum sind auch seine Gesichtspunkte nicht neu, es 



j64 Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiserzeit. 

sind die unzähligemal von stoisierenden Moralisten vorgebrachten Vor- 
würfe gegen die römischen Zustände. Daher die leeren Stellen, die bloß 
variieren, deren gleichen bei Horaz nicht denkbar sind. 

Die Vergleichung, wie gesag^t, ist ungünstig für Juvenal. Nimmt man 
ihn wie er ist, so findet man ohne Frage ein starkes Vermögen, die Mittel 
der Rhetorik in neuer Weise nutzbar zu machen. Er ist darin Nach- 
folger des Persius, der aber nicht wie Juvenal die Deklamation ausspinnt 
und die horazische Form viel besser begriffen hat als Juvenal mit seiner 
gesuchten Formlosigkeit Vortrefflich hat Juvenal die scharfe Prägung 
der Sentenz oder der momentanen Wendung verstanden; die geflügelten 
Worte schwirren nur so. Darin lieget ein gutes Teil des Reizes, den er 
ausübt; femer in der Fülle von Stoff imd Anschauung, die er als Lebens- 
schilderer gibt Er hat bei der nächsten und bei aller ferneren Nachwelt 
eifrige Leser gehabt, vor allem um 'seines glühenden Unwillens gegen 
moralische Verkehrtheit' willen. Schiller stellt ihn als Muster der 'pathe- 
tischen Satire' neben Swift und Rousseau; Victor Hugo hat ihn einmal 
den größten Römer genannt Ein Übersetzer, der selbst der Formen 
kundig wäre und zu streichen verstünde, könnte ihn noch heute populär 
machen. 
TacÄu. Eine Erscheinung von wahrhafter Grröße hat diese Zeit in Tacitus 

°" "" ' hervorgebracht Er vereiniget die rhetorische Kunst der Zeit mit Kraft 
und Tiefe des Geistes und in seiner Persönlichkeit wirken die Eigen- 
schaften, die den römischen Namen g^oß gemacht haben. So überragft er 
die Schriftsteller des ersten und zweiten Jahrhunderts, die Griechen ein- 
geschlossen, als der gprößte römische Historiker neben Sallust imd über- 
haupt für uns der Hauptvertreter der künstlerischen Geschichtschreibung 
des Altertums. 

Ein glänzendes Bild des jungen Tacitus erscheint in den Briefen 
seines wenig jüngeren Freundes Plinius, der mit Verehrung zu ihm auf- 
sieht, sonst als Bildungsmensch in einer selbstzufrieden auf das Leere 
gerichteten Zeit nicht geneigt zu uneigennütziger Anerkennung fremder 
Überlegenheit Die Jugendjahre unter Nero, die Katastrophen des Vier- 
kaiseijahrs, zuletzt der Druck unter Domitians Tyrannei haben den von 
Natur ernsten imd zurückhaltenden Sinn des Tacitus nach innen ge- 
wendet Er gewann früh Ansehen als Redner, wurde Konsul unter Nerva 
und verwaltete später, das vornehmste Amt, die Provinz Asien. Von 
Trajans Anfängen bis über die ersten Zeiten Hadrians hinaus reicht seine 
Produktion, mit der er also erst als Vierzigjähriger begann; denn unter 
Domitian gab es nur die Wahl zwischen Schweigen imd einem nutzlosen, 
von Tacitus nicht gebilligrten Märtyrertum. 

Vor das Publikum trat Tacitus zuerst mit drei kleinen Büchern, die 
in rascher Folge erschienen: die Biographie seines Schwiegervaters Agfri- 
cola, der unter Domitian erfolgreiche Feldzüge in Britannien geführt hatte, 
der Dialog über die Redner, die Germania. Agfricola und Germania ge- 



I. Bis Hadrian (14 n.Chr. — Mitte des 2, Jahrhunderts). 



365 



hören zusammen in den Bereich seiner historischen Studien; die Erobe- 
rung-sgeschichte Britanniens, die ethnographische Schilderung Deutsch- 
lands weisen darauf hin, daß Tacitus mit den Vorarbeiten fiir sein Ge- 
schichtswerk beschäftigt war. Das edle und wahre Ethos des Agricola, 
das ungemeine stoffliche Interesse der Germania haben diese kleinen 
Bücher unvergänglich frisch erhalten. Der Dialog ist von andrer Art; 
keine Jugendschrift, wie man der bequemeren Auffassung wegen wünschen 
möchte, aber er spiegelt Einwirkungen und Gedanken der Jugend wieder. 
Die Fragen nach dem Vorrange von Poesie oder Beredsamkeit und nach 
den Ursachen des Niederganges der Beredsamkeit müssen den Sinn des 
poetisch begabten und als Redner glänzenden Jünglings viel beschäftigt 
haben und mußten sich jetzt wieder vordrängen, da er sich der Kunst 
zuwenden wollte, die der Poesie die verwandteste war. Die Form ist, 
sowohl in der dramatischen Szenerie mit Charakterisierung der Personen 
und Ablösung von Reden und Gespräch als in Stil und Sprache, eine 
Erneuerung des ciceronischen Dialogs. Das ist der direkte Einfluß Quin- 
tilians, nicht sowohl des Lehrers auf den Schüler, als die Anerkennung, 
daß der Dialog als Gattung den ciceronischen Stil verlangt. Zugleich 
beweist der Schriftsteller, der mehr als einen Stil beherrscht, dem Publikum 
seine rhetorische Meisterschaft. Denn Agricola und Germania tragen die 
Charakterzüge des Stiles der Zeit, wie ihn Seneca ausgebildet hat. Dieser 
Stil ist es, den Tacitus dann in seinem großen Geschichtswerke zur Er- 
scheinung bringt, persönlich gestaltet und von seinem Geiste erfüllt; da 
ist nichts von virtuosem Spiel und Glanz um des Glanzes willen: jeder 
Satz trägt das Gepräge einsamen Nachdenkens und verlangt ein solches, 
alles Entbehrliche ist abgetan, jeder Ausdruck scharf auf die Wirkung 
zugeschnitten, und die Kraft des einen Wortes hebt Lasten des Ge- 
dankens. 

Dieses Werk umfaßte, wie es zuletzt dastand, die Zeit vom Anfange 
des Tiberius bis zum Tode Domitians. Aber Tacitus hatte zuerst die 
selbsterlebte Geschichte geschrieben, beginnend mit den Wirren, die zur 
Erhebung des flavischen Hauses führten, später, als Sechziger, die Ge- 
schichte der julisch-claudischen Dynastie, so daß nun die Teile zusammen- 
schlössen. Die Historiker der Regierung des Augustus, darunter Livius, 
ließ er gelten, die der folgenden Zeiten, deren Wahrheitssinn durch die 
Tyrannei der Kaiser gebrochen war, genügten ihm weder als Zeugen der 
Wahrheit noch auch durch ihre Kunst. Er setzte seine Geschichte an 
die Stelle der ganzen Historiographie des ersten Jahrhunderts, wie Livius 
die Annalistik der Republik ersetzt hatte; Tacitus' Vorgänger sind ver- 
schollen bis auf die Namen. 

Von diesem Werke ist uns erhalten der ganze Tiberius, freilich mit 
einer großen Lücke, die zweite Hälfte des Claudius, und Nero ganz bis 
auf die letzten zwei Jahre; dann das Vierkaiserjahr und die ersten An- 
fänge Vespasians. Das ist ein übles Spiel des Zufalls; denn das Erhaltene 



j66 Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiseneit. 

ist schwer geschädigt, da sowohl der Sturz Sejans als die Katastrophe 
Neros verloren sind, in beiden Fällen die Schlußstücke eines zu gewaltiger 
Spannung gesteigerten dramatischen Aufbaus; und zum Verlornen gehört, 
wie bei Livius, die Geschichte der eignen Zeit, die den Historiker nötigte 
auch im Stofflichen original zu sein und seiner eignen Auffassung einen 
ganz andern Spielraum gab als es die Umformung des überlieferten 
Stoffes tat 

Denn auch die Geschichtschreibung des Tacitus ist Kunst, nicht 
Wissenschaft Es hat seinem Ansehn geschadet, daß man erkannte, wie 
die erhaltnen Teile des Werks in der Hauptsache das von andern Be- 
richtete neu verarbeiten und gestalten. Aber zunächst war es dies, die 
Bewährung der stilistischen Kunst, was das Publikum vom Historiker er- 
wartete. Wodurch Tacitus alle uns bekannten Vorgänger übertrifft, das 
ist ein höheres künstlerisches Vermögen, die wahrhaft poetische Klraft, 
mit der er den Hauptfig^en allmählich ihr eigenes Leben gibt die Neben- 
figfuren scharf umrissen um sie her stellt, die große Handlung der Gre- 
schichte dramatisch zusammennimmt und die ihr itmewohnende Steigerung 
heraushebt, so daß auch die Katastrophe des Verbrechers tragische Wir- 
kung übt Dies ist der Gegenstand seiner Geschichtschreibung: die Er- 
eignisse und die Charaktere; nicht die Verfassung, Reichsorganisation, 
Verwaltung, Kultur; auch die Ereignisse aus beschränktem Kreise, der 
Hauptstadt und den Kriegsschauplätzen. Wir erwarten anderes vom Histo- 
riker; aber was Tacitus bedeutet, hat ein Meister wie Ranke noch in 
seinem letzten Werk mit rückhaltloser Bewunderung ausgesprochen. 

Ardutiimus. II. Spätere Kaiserzeit (Mitte des 2. Jahrhunderts — 6. Jahrhundert). 

Das Zeitalter Hadrians sah mehr als eine Entwicklung, die für die lite- 
rarische Kultur der römischen Welt entscheidend werden sollte, teils 
vollendet, teils in unaufhaltsamem Gange. In der Flavierzeit ging neben 
Quintilians Kampf gegen die herrschende Stilrichtung her eine auf die 
altrömische Literatur zurückweisende Reaktion. Die alten Dichter waren 
vergessen, seit Horaz sie verworfen und mit den Seinen etwas Besseres 
an die Stelle gesetzt hatte; die varronische Philologie hatte nicht über 
Tiberius hinausgedauert Nun entdeckte Valerius Probus aus der aug^- 
stischen Militärkolonie Berjrtus die alte Literatur und zugleich, vielleicht 
in der syrischen Vaterstadt durch alexandrinische Lehre bestimmt, die 
alte Philologfie. Die wissenschaftlichen Ausgaben, die nun entstanden, 
fanden ein breites Interesse, weil ihnen eine verwandte Bewegung ent- 
gegenkam, die unter Hadrian ihre Höhe erreichte. Es war der sprach- 
liche Archaismus, der von dem sprachlichen Attizismus ausging, wie er 
sich in griechischen Schulkreisen unter Augustus aus dem rhetorischen 
Klassizismus, der Neubelebung der großen Attiker, entwickelt hatte. 
Dieser Attizismus übernahm die Worte und die Ausdrücke der alt- 
attischen Literatursprache und perhorreszierte das lebendige Griechisch; 



11. Spätere Kaiseneit (Mitte des 2. Jahrhunderts — 6. Jahrhundert). 



367 



der römische Archaismus begab sich mit allem Eifer in die Sprachsphäre 
des Cato und Ennius und, wenn er Umgangssprache brauchte, des Plautus; 
und wenn der rhetorische Stil des letzten Jahrhunderts ohne es zu merken 
sich von der lebendigen Sprache entfernte, so tat es der Archaismus mit 
Absicht. 

Eine Tendenz wie diese ist das sichere Zeichen der erschlafften künst- 
lerischen Kraft. Seneca und Tacitus üben-agten die griechische Produk- 
tion ihres Jahrhunderts; der Führer der Archaisten, Fronto, ist ein Typus 
der Nichtigkeit, mag man Gehalt oder Form seiner Briefe und Aufsätze 
betrachten. Von Tacitus zu Fronto ist ein jäher Sturz. Die römische 
Produktion sinkt auf das Niveau der griechischen Mittelmäßigkeit hinab 
und ziert ihre gespreizte Altertümlichkeit durch Flitter und Schwulst 
wie diese. 

Wenn die Kunst sinkt, so steigt die Wissenschaft. Die Hadrianische 
Zeit sah die Blüte der römischen Rechtswissenschaft, die sich dann bis 
in die Mitte des dritten Jahrhunderts fortsetzte; hier hat sich auch eine 
wahrhaft lebendige und ihrer eignen Kraft bewußte Literatursprache er- 
halten. Die philologische Wissenschaft fand neues Leben, indem sie, wie 
wir sahen, an Varro und zugleich von neuem an die griechische Philo- 
logie anknüpfte. Sueton, der auch im Kreise des jüngeren Plinius er- 
scheint, eine Zeitlang Geheimschreiber Hadrians, steht durch eine aus- 
gebreitete Produktion im Vordergrunde, Er schrieb die erste römische 
Literargeschichte, in der alexandrinischen Form, die jede Gattung geson- 
dert behandelte, eine Einleitung über die Ursprünge und dann eine Folge 
biographischer Abrisse gab. Dieses Buch war stets und ist, soweit es 
erhalten ist, für uns die wichtigste und meist einzige Quelle des Tatsäch- 
lichen; noch wichtiger ist durch seine Wirkung das andre erhaltne Werk 
Suetons geworden, die Kaiserbiographien. Es ist eine Folge persönlicher 
Lebens- und Charakterbilder von Cäsar bis Domitian, in derselben Form 
wie die literarischen Biographien, in derselben sachlich wissenschaftlichen 
Sprache geschrieben. Sein Gedanke war, eine biographische Ergänzung 
der historischen, die Geschichte des Kaiserreichs behandelnden Werke zu 
liefern; er war ohne Zweifel weit entfernt, mit einem Werke wie das des 
Tacitus, das er zunächst im Auge haben mußte, konkurrieren zu wollen. 
Nun ist für den Niedergang der römischen Produktion nichts bezeichnen- 
der als die Tatsache, daß Suetons Caesares das Muster für die ganze 
folgende Historiographie der Kaiserzeit geworden sind, die bald und un- 
rettbar in einen Sumpf des Klatsches, der Nichtigkeit und Unzuverlässig- 
keit versank; während Tacitus erst drei Jahrhunderte nach seinem Auf- 
treten einen Nachfolger und Fortsetzer fand. Es war Ammianus Mar- 
cellinus, ein Grieche aus Antiochien, der nach einem bewegten militäri- 
schen Leben in großem Sinne, der griechischen, nicht der längst ver- 
lassenen römischen Bahn der Geschichtschreibung folgend, die Geschichte 
von Nerva bis auf die eig^e Zeit zu schreiben unternahm. Erhalten ist 



Sueton 

(um 75— fa. ijo). 



Ammian 
(— c». 400), 



368 Friedrich Leo: Die idmische Literatur. C. Kaiseneit. 

nur die Geschichte eines Vierteljahrhunderts, von der Alleinherrschaft des 
Constantius bis zum Tode des Valens, aber das Glück ist Ammian gün- 
stiger gewesen als seinen großen Vorgängern Livius und Tacitus: das 
Erhaltne ist Geschichte der selbsterlebten Zeit, und mit seiner Bewimde- 
rung für Julian, seiner individuellen Auffassung der Personen und Dinge 
gibt Ammian, in der gesuchten und überladnen Kunstsprache der Zeit, 
eine der lebendigsten und farbenreichsten historischen Darstellungen des 
Altertums. 
Gdiittt Ein Niederschlag der literarisch-philologischen Bestrebungen der 

*. jahrhamUru). Antoninenzeit liegt in den 'Attischen Nächten' des Gellius vor, einer 
Sammlung von Lesefrüchten, zumeist in anmutig erzählte Szenen aus den 
Gelehrten- und Sophbtenkreisen gekleidet, in denen der Verfasser ver- 
kehrte. Plan und Ausführung sind im griechischen Zeitgeschmack, der 
aber jetzt ganz der römische ist; romisch archaisierend nach Stil und 
Stoff. Von augusteischen Dichtem kommt nur Vergil vor, nicht Horaz, 
nicht Seneca, dagegen Plautus und Ennius, Cato und Gracchus. Das 
Buch ist zugleich ein Spiegel der Zeitströmung, wie das Buch des älteren 
Seneca, und ein Zeugnis für den Mangel an eignen Gedanken sowohl wie 
für den Kultus der allgemeinen Bildung. 
Aniieiu Der kühnste und geistreichste Schriftsteller der Antoninenzeit ist 

Apulejus, aus Madaura in Afrika, ein allen Stilen gerechter, in allen 
Falten des Zeitgeschmacks heimischer Sophist Sein Roman von den 
Abenteuern des in einen Esel verwandelten Lucius, einem 'griechischen 
Original nacherzählt, muß jeden ergötzen, der dem bunten Spiel dieser 
Sprache, den mannigfaltigen Tönungen des Stils zu folgen vermag; 
wenigstens die erste Hälfte, denn die zweite fallt ab, besonders die selb- 
ständig erfhndnen Schlußteile. Ein ungemein komplizierter Apparat von 
Sprachkünstelei, archaischem Wortschatz, gewagten Wortbildungen und 
Bedeutungsbiegungen ist für die lustige Geschichte mit den eingelegten 
Novellen in Bewegung gesetzt. Das muß man an der Quelle genießen, 
die Übersetzungen haben den Roman nicht populär machen können. Aber 
die eine der eingelegten Geschichten, das Märchen von Amor und Psyche, 
das die alte Räubermagd der geraubten Jungfrau zum Tröste erzählt, hat 
mit all seinem Putz und Flitter, so unmärchenhaft sein G«wand ist, die 
ewige Jugend, die ihm Bildner und Dichter bis in unsere Tage hinein 
bezeugt haben. 
KsmiKhe Die römische Bildung fühlte sich in diesem Zeitalter der griechischen 

WeWiteralor. . ...... . , , , 

geistesverwandt und gleichgestimmt; woran man sich freute und was man 
hervorbrachte war von gleicher Art, das Höchste der blendende Gedanke 
und der glänzende Klang des Wortes. Hadrians Philhellenismus war der 
Ausdruck dieser geistigen Gemeinsamkeit und zog die Konsequenzen 
auch auf politischem Gebiet Rom blieb noch lange das Haupt der Welt; 
der romanisierte Westen stand nun als Hälfte der Welt dem griechischen 
Osten gegenüber. Aber der ausschließende Stolz des Italikers gegen das 



II. Spätere Kaiserzeit (Mitte des 2. Jahrhunderts — 6. Jahrhundert). 



369 



Reich und die Provinzen, die unterworfnen Ghriechen und Barbaren konnte 
nicht dauern. 

Die ehemaligen Barbarenländer Spanien, das nordöstliche Afrika, 
Gallien waren nun römisch geworden. Wir haben gesehen, wie unter 
Nero und den Flaviem besonders spanische Schriftsteller und Dichter in 
Rom selbst in der Literattir entscheidende Rollen spielen. Dann sind die 
Plinius, Juvenal, Tacitus, Sueton Italiker. Aber Fronto und Apulejus sind 
Afrikaner. Unter Hadrian wird es deutlich, daß die Provinzen jede im 
eignen Land ihre römische Kultur entwickeln, die zuletzt in jedem Lande 
zu einem eignen Volkstum geführt hat. Spanien tritt zurück; zuerst in 
Afj-ika, dann in Gallien wächst mit den gemeinsamen Zügep der griechisch- 
römischen Literatur ein selbständiges literarisches Leben auf, das hier 
wie dort die lokal italische Produktion überschattet. 

Die wichtigste, auch für die Literatur folgemreichste Entwicklung der 
Antoninenzeit aber ist das Erstarken der christlichen Bewegxing, die nun 
anfängt sich der Schriftsprache des Westens und der literarischen Formen 
als mächtiger Waffen zu bedienen und zugleich die absterbende Literatur 
mit dem Gehalt und Geist einer neuen Weltanschauung belebt Auch 
die christliche Literatur ist in griechischer Sprache entstanden und es wieder- 
holt sich in größerem Maßstabe und mit breiterer, die Welt ergreifender 
Wirkung die stete Wellenbeweg^ung von griechischer zu römischer Geistes- 
arbeit; nur daß es sich jetzt niclit um tastende und allmählich erstarkende 
Nachbildung handelt. Es gab nun eine Gemeinsamkeit des griechisch- 
römischen Kulturlebens, die durch die gemeinsam werdende Religion be- 
fördert wurde. Für das lateinische Volk wurden die kanonischen Bücher 
und andre christliche Schriften übersetzt. Sobald sich die lateinische 
Sprache des christlichen Gedankens bemächtigt hatte, entstand eine reiche 
und selbständige Literatur für den christlichen Westen. 

Ihren ersten Höhepiuikt (wie später, durch Augustinus, ihren Gipfel) 
erreicht diese Bewegung in Afrika, der Heimat des TertuUian, Cyprian 
und Lactanz. Unter diesen ist Tertullian die merkwürdigste schrift- 
stellerische Persönlichkeit. Die neue Lehre hat die Kraft und das Feuer, 
aber auch alles Böse seiner Natur, Haß und Ungerechtigkeit, zu ener- 
gischem Leben aufgerührt. Er führt den Leser in eine enge, aber be- 
ständig von Leidenschaft bewegte Gedankenwelt; er klärt ihn durch sein 
scharfes Denken auf und täuscht ihn durch Sophismen. Religiöse Ver- 
tiefung kann er nicht erzeugen, denn sein theologischer Affekt geht nur 
aus logischer Konsequenz hervor. Erstaunlich ist es, wie in ihm die 
neuen Gedanken eine neue Fülle der Sprache m Bewegung gesetzt haben. 
Das Gärende seines Wesens bringt einen schwer verständlichen Ausdruck 
hervor; vielleicht hat kein lateinischer Schriftsteller die Sprache so willkür- 
lich behandelt; aber er zwingt sie auch zu nie vernommenen Tönen. 

Es kann nicht die Aufgabe dieser Skizze sein, die christliche latei- 
nische Literatur auch nur andeutend zu beschreiben. Sie ist nicht der 

Ott KUI.TU« DI« GiGiicwAmT. L &. 



Cbriitliclio 
Literatur. 



T«rtitOian 
(um t(ko — ca.23oV 





370 



Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiserzeit 



literarische Ausdruck einer römischen, sondern ein Ausschnitt aus einer 
in sich nicht zertrennlichen die Welt umfassenden Geistesbewegung. Frei- 
lich rühmt sich die lateinische Literatur des größten unter den christ- 
lichen Schriftstellern; das ist Augustinus. Er gehört der Geschichte der 
Religion und der Philosophie an. Er hat auf Empfindungen und Gedanken 
der Nachwelt so stark gewirkt wie außer ihm in lateinischer Sprache niu: 
Cicero und Vergil; aber man braucht dies nur auszusprechen, um zu 
sehän, daß das Literarische an der Bedeutung Augustins das Geringste ist. 
chrituiche Nur langsam bemächtigte sich die Poesie der christlichen Überliefe- 

rung und Anschauung. Sobald es aber geschehen war, trug auch in der 
römischen Dichttmg das Wirksame und Lebendige den christlichen 
Stempel. Die Hymnen und Lehrgedichte des Spaniers Prudentius über- 
ragen die Masse der spätrömischen Poeten. Ihm steht der einzige Claudian, 
in denselben Zeiten um die Grenze des vierten tmd fünften Jahrhunderts, 
gegenüber, ein ägyptischer Halbgrieche wie Ammianus Marcellinus ein 
syrischer: so schließt sich der von Andronicus vor sechseinhalb Jahr- 
hunderten begonnene Kreis. Wie Ammian durch den in der griechischen 
Welt lebendig gebliebnen Sinn der Geschichtschreibung auf Tacitus, so 
ist Claudian durch eine an Ag^jrpten geknüpfte Erneuerung der griechischen 
Dichtung auf Ovid gewiesen worden und hat noch einmal den Glanz des 
ovidischen Verses und den Fluß seiner Sprache wieder erstehen lassen. 
Seine politischen Gedichte, in denen er Stilicho vmd Honorius preist, die 
Minister des Ostreichs Rufinus und Eutropius schmäht, haben das Inter- 
esse und die Energie der Gegenwart, aus der sie hervorgegangen sind. 
Alles andere trägt den abgelebten Zug, den auch Claudians Talent zu 
verwischen nicht ausreichte, der im übrigen das Gesicht der gesamten 
heidnischen spätrömischen Produktion bestimmt. Die Werke der Christen 
trägt ein sieghaftes, ziikunftsicheres Ethos; die Anhänger des Alten haben 
nur den ausgepreßten Stoff der Vergangenheit und die Formen der er- 
starrten Rhetorik. Das gilt auch von den wackeren Männern, an der 
Spitze Symmachus, die nicht mehr hofften, dem Christentum den ent- 
schiednen Sieg streitig zu machen, aber das Gut der alten Religion imd 
Weltanschauung zu retten suchten und wenigstens um die Bewahrung der 
Literatur, so daß sie nach tausend Jahren lebendig wieder erstehen 
konnte, ein anerkanntes Verdienst erworben haben. Es gilt überall, wenn 
man die christlichen mit den gleichzeitigen Produkten der alten Bildung 
vergleicht, z. B. die Dialoge des Sulpicius Severus mit den Satumalien 
des Macrobius. Es gilt von den gallischen Dichtem, voran Ausonius und 
ApoUinaris Sidonius, die zwar Christen waren, aber ganz im Banne der 
Rhetorik standen, die in ihrem Lande eine späte Blüte hatte und auch 
spezifisch christlichen Schriftstellern verhängnisvoll wurde. Wir greifen 
den Gegensatz an dem Verhältnis des Ausonius zu seinem jüngeren 
Freunde Paulinus, den das christliche Ideal im Innern ergriff, in die Ein- 
samkeit trieb und in der Tat zum Dichter machte. Ausonius bittet ihn 



II. spätere Kaiserzeit (Mitte des 2. Jahrhunderts— 6. Jahrhundert). ^ji 

in poetischen Briefen, die wir besitzen, leidenschaftlich, zuriickzukehren 
und femer wie er mit den verkommenden Resten einer vormals großen 
Kultur zu tändeln; leidenschaftlich, denn wenn die armen Götzen sinken, 
an die er glaubt, die Redefigur und das Versgeklingel, so bleibt dem 
alten Rhetor imd Poeten nichts was ihn innerlich aufrechterhält 

Doch muß hierzu bemerkt werden, daß Ausonius sich mit seinem 
Gedicht von der Mosel über die Nichtigkeit seiner übrigen Poesien er- 
hebt. Die Moseila ist nicht nur wichtig und anziehend als Beschreibung 
der Landschaft und altgermanischen Lebens, in ihr findet der Dichter 
auch neue Töne, die durch die Freude an der Natur und der jungen Kxütur 
des Landes erweckt sind. 

Ein Werk steht an der Schwelle der neuen Zeit, das mit eignem BeetMi» 
Leben aus der nicht verwelkenden Gedankenwelt des Altertums hervor- 
gegangen ist, des Boethius 'Tröstung der Philosophie'. Das Buch hat im 
Greistesleben des Mittelalters eine große Rolle gespielt und dazu mit- 
gewirkt, daß der Zusammenhang des Christentums mit dem Griechentum 
unter der Oberfläche fortdauerte. Es war im Gefängnis geschrieben von 
einem Römer, der den Willkürspruch des Gotenkönigs Theoderich er- 
wartete; hier sei es genannt als das Produkt eines nach der vergangenen 
Größe gerichteten Geistes, das den Schimmer der untergehenden Sonne 
des Altertums als ein Symbol des künftigen Aufgangs spiegelt. 



24» 



Literatur. 

Die historische Forschung auf dem Gebiete der römischen Literatur hat sich, der 
Natur der Sache gemäfi, nach der Forschung auf griechischem Gebiet entwickelt. Aber 
Untersuchungen in Welckers Stil, die sich auf das Ganze erstrecken und im einzelnen das 
Ganze umfaßten, sind ausgeblieben. Das Beste wie die Arbeiten Naekes, Madvigs, RrrscHLS 
tragen durchweg spezielleren Charakter. Wous Schüler Bermhardv machte in seinem 
'GrundriB der römischen Literatur* (1830) einen Versuch, die ganze Entwicklung nach ihrem 
geistigen Inhalt zu schildern. Geschichte im wahren Sinne, unter dem römischen Gesichts- 
winkel, bieten die literarischen Kapitel in Mommsens römischer Geschichte, noch heut un- 
übertroffen. Die eigentliche Aufgabe der römischen Literaturgeschichte, die Übertragung 
der griechischen Literatur nach Inhalt und Form, die Elinwirkung der geistigen Strömungen 
der griechischen Welt auf <Ue römische, den Zusammenhang der römischen Produktion mit 
der allmählich entstehenden griechisch-römischen Kultur einerseits und dem eignen natio- 
nalen Leben andrerseits nachzuweisen, ist noch wenig in Angriff genommen worden. Für 
die römischen Prosa ist es geschehen von £. NORDEN, Die antike Kunstprosa (1898). 
Anderes wird imten angeführt werden. 

Zur Orientierung über Material imd Forschung dienen die Werke von W. S. Teuffel 
(Geschichte der römischen Literatur, neu bearbeitet von L. Schwabe, 5. Aufl. 1890) und 
M. Schanz (Geschichte der römischen Literatur bis zum Gesetzgebungsweik des Kaisers Ju- 
stinian, 2. Aufl. 1898). Eine feine Darstellung der einzelnen Dichter und ihrer Werke gibt 
O. Ribbeck, Geschichte der römischen Dichtung 1894; Sellar, The Roman poets 1877 — 1892. 
C. Wachsmuths Einleitung in das Studiimi der alten Geschichte (1895) behandelt die römi- 
schen Historiker mit einem seltnen Grade von Übersicht über das Ganze und Eindringen 
in den Zusammenhang. Dazu für die späteren Zeiten: H. Peter, Die geschichtliche Lite- 
ratur über die römische Kaiserzeit bis Theodosius I (1897). Eine Reihe von Artikeln in 
Pauly-Wissowas Real-Encyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft (1894 ff.) sind 
von hervorragendem Wert. 

Im folgenden werden einige wichtige neuere Schriften meist allgemeineren Interesses 
vermerkt und wenige Hinweise auf Älteres gegeben. 

S. 314. Völkerverhältnisse: H.N1SSEN, Italische Landeskunde (I 1893, II 1902). Alphabet: 
TH. MOMMSEN, Die imteritalischen Dialekte (1850), A. Kirchhoff, Studien zur Geschichte 
des griechischen Alphabets (4. Aufl. 1887). 

S. 315. Entstehungslegenden der 12 Tafeln: F. Boesch, De XII tabularum lege a Graecis 
petita (1893). Älteste Rechtsliteratur: P. JÖRS, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der 
RepubUk (I 1888). 

S. 315. Appius Qaudius: Mommsen, Römische Forschungen I 301 ff. 

S. 321. Ennius: MOMMSEN, Römische Geschichte, Buch III, Kap. 14. Vahlen, Ejmianae 
poesis reliquiae (2. Aufl. 1903). 

S. 322. Aemilianus bei Polybius XXXII 8—16 (abgedruckt in Wilamowitz' Griechischem 
Lesebuch I S. 106 ff., dazu II S. 65 ff.) 

S. 327. Atellane und Mimus: A. Dieterich, Pulcinella (1897). H. Reich, Der Mimus, 
ein literar-entwicklungsgeschichtlicher Versuch (I 1903). 



Literatur. 



373 



S. 329. Catull: V. Wilamowitz, Reden und Vorträge (1901) S. 2148". 

S. 331. Goethe über Lucrez: an Knebel 14. Febr. 1821; vgl. Atueige von Knebels 
Lucrez (Wke. Bd. 41, i S. 361 ff. Weim. Ausg.; v. Biedermann t. d. Hempelschen Ausg. 
Bd. 29, S. 597). Unterhaltungen mit Kanzler v. Müller (hg. v. Burkhardt, 2. Aufl.) S. 59. 

S. 332. Würdigung Ciceros: G. Boissier, Cicdron et ses amis (1867). Th. Zieunski, 
Cicero im Wandel der Jahrhunderte, ein Vortrag (1897). Ed. Schwartz, Chaiakterköpfe aas 
der antiken Literatur (1903), S. 96 ff. Die Briefe in chronologischer Folge, hg. von TvrrjEU. 
und Purzer (2. Aufl. 1884, I 3. Aufl. 1904). 

S. 335. Bildungsideal: H. v. Arnim, Leben und Werke des Dio von Prusa (1898), 
Kap. L 

S. 336. Dialogform: Hirzel, Der Dialog (1895). 

S. 339. Cäsars Kommentaiien: Mohmsen, Römische Geschichte, Buch V, Kap. 12. 

S. 344. Sermonen des Q. Horatius Flaccus, deutsch von C. Bardt (1900). 

S. 347. E. Norden, Vergib Aeneis im Lichte ihrer Zeit (Neue Jahrb. für das klass. 
Altert. 1901, S. 249). 

S. 348. R. Heinze, Virgils epische Technik (1903). 

S. 352. Livius und Polybius: L Bruns, Die Persönlichkeit in der Geschichtscbreibung 
der Alten (1898). 

S. 358. L. FriedlXnder, Petronii Cena Trimalchionis, mit deutscher Obersetzung und 
erklärenden Anmerkungen (1891). 

S. 359. Plinius: F. MÜNZER, Beiträge zur Quellenkritik der Naturgeschichte des Plinius 
(1897). H. Bretzl, Botanische Forschungen des Alexanderzuges (1903), S. Soff. 182 ff. 

S. 360. A. v. HinfBOLDT, Kosmos II, S. 230 ff. Nissen, Italische Landeskunde I, S. 20. 

S. 361. Der jüngere Plinius: H. Pbter, Der Brief in der römischen Literatur (i9oi)- 

S. 362. L. Friedländer, luvenal mit erklärenden Anmerkungen (1895), Einleitimg. 

S. 369. A. Ebert, Allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters im Abendlande 
bis zum Beginn des XI. Jahrhunderts (2. Aufl. 1889). 



DIE LATEINISCHE LITERATUR IM ÜBERGANG 
VOM ALTERTUM ZUM MITTELALTER. 

Von 
Eduard Norden. 

HeUeniimiu, EialeituDg. „Dräuezid naht das Verhängrnis des Reiches" hatte 

*^»^n^r'' Tacitus mit banger Ahnung zu einer Zeit (ca. loo n. Chr.) geschrieben, als 
eben dieses Reich eine Ausdehnung besaß, wie nie zuvor und kaum je wieder 
nachher, und die Reichsangehörigen, von einem machtvollen Kaiser regiert, 
in sicherer und stolzer Ruhe dahinlebten. Nicht viel mehr als hundert 
Jahre später begannen die Krisen, in denen die Grnmdfesten des Welt- 
reiches erbebten; dann, nach abermals etwa hundert Jahren ein letzter 
Aufschwimg, ein Versuch, das morsche Gebäude durch neue Grundlagen 
zu stützen, freilich mit Verzicht auf die Reichseinheit; endlich der lange 
Todeskampf der Westhälfte. So erfüllte sich das Prophetenwort des 
Tacitus. Daß aber der Zusammenbruch erfolgen werde durch den wilden 
Ansturm der germanischen Barbaren xmd die stetig wühlende Propaganda 
des Christentums, hat der ernste Schriftsteller nicht ahnen können: denn 
mochte er auch der ungebrochenen Volkskraft der Horden zwischen Rhein 
und Elbe widerwillige Anerkennung zollen, so verachtete er die Barbaren 
doch im Grrunde seiner kulturstolzen Römerseele, und der neuen Religion, 
deren Ursprung ein Winkel an der Reichsgrenze war, stand der auf- 
geklärte Aristokrat ebenso gleichgültig gegenüber, wie sein Freund Plinius. 
Erst als die innerlich vermodernde Rieseneiche dem Sturze nahe war, 
dämmerte vielen die Erkenntnis, welche Mächte es seien, die unablässig 
an den ungeheuren Wurzeln sägten. Da aber war es zu spät: alle Ver- 
suche, das Alte zu halten, scheiterten an der sieghaften Stärke der neuen 
Gewalten. Eine altersgraue Kultur, die der Menschheit das Herrüchste 
in Fülle geboten, den Triumph des Geistes in Kunst und Wissenschaft, 
Staat und Recht besiegelt hatte, ward zertreten von Barbarenkraft, und 
der imerhörte Siegeszug des Geistes zerstob vor der schlichten Einfalt 
religiöser Gemütstiefe. Aber eine Kultur von solcher Größe bricht nicht 
zusammen, ohne daß aus ihren Trümmern neues Leben erblühe. Groß- 
artig wie der Kampf war auch der Friedensschluß. Als fremdartiger 
Sprößling des jüdischen Volkes, das bei Grriechen wie Römern nur 
Duldung, keine Achtung besaß, hatte das Christentum den Kampf mit der 
griechisch-römischen Zivilisation begonnen: es verließ ihn durchtränkt mit 
eben dieser antiken Bildung imd ward nun aus ihrem Zerstörer ein Er- 



Einleitung. 



375 



halter und Retter der in ihr wirkenden, wahrhaft lebenskräftigen Keime. 
Als stammfremde Eroberer traten auch die germanischen Völker in die 
antike Welt ein; sie brachten alles mit, was dem müden Römertum fehlte, 
unverbrauchte Volkskraft und frische Siegesgewißheit, aber eine Kultur 
besaßen sie nicht, und so beugten sie willig ihr Haupt vor der Geistes- 
macht des Volkes, das von ihnen mit dem Schwerte besiegt worden war. 
Dieser Sieg war eben damals entschieden, als die neue Religion jenen 
schönen Bund mit dem Hellenismus geschlossen hatte: als daher auch die 
Germanen sich zum Christentum bekannten, empfingen sie zugleich mit 
diesem die antike Bildung. Daß der Tempel unserer modernen Geistes- 
kultur sich erheben kann und muß auf der Grundlage des Hellenismus, 
daß sein Dach getragen wird von den Säulen christlicher Religion und 
nationaler Volkskraft, ist in jenen kampfdurchtobten Jahrhunderten ent- 
schieden worden, die aus der Disharmonie eine Symphonie, aus dem 
Durcheinander planmäßige Ordnung entwickelt haben. 

Die kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Zeitraumes rechtfertigt es, 
daß seiner Literatur im Rahmen dieses Werkes ein bescheidener Sonder- 
platz eingeräumt wird. Noch mehr aber als in dessen andern Teilen ist 
hier eine Begrenzung der Aufgabe nötig. Die großen neuen Gedanken, 
die jene Kulturentwicklung gezeitigt hat, liegen außerhalb des Planes 
unserer Skizze: sie gehören teils in die Kirchengeschichte, teils in die 
Geschichte von den Anfangen der neuern Literaturen. Uns geht hier dieser 
Zeitraum nur insoweit an, als durch ihn die Verbindung zwischen dem 
Ausgang des Altertums und dem Beginn des eigentlich sogenannten Mittel- 
alters hergestellt wird. Aber auch innerhalb dieser Grenzen werden wir 
uns darauf beschränken, einige besonders bemerkenswerte Richtlinien zu 
ziehen. Die bereits von Leo (oben S. 367. 370) behandelten bedeutenden 
Vertreter der Literatiu- in dieser Spätzeit — wie Ammianus, Ausonius, 
Claudianus — bleiben hier natürlich außer Betracht Im übrigen ergeben 
sich die zeitlichen Grenzpunkte aus der Aufgabe von selbst: die Mitte des 
4. Jahrhunderts — die Zeit der beginnenden Reichsauflösung und der 
ecdesia triumphans — bezeichnet den Anfang, die neue Reichsg^ndung 
durch Karl den Großen den Schluß; die Literatur vom 10. bis zum 14. Jahr- 
hundert liegt jenseits unseres Planes, doch sollen, um den Anschluß an die 
italienische Renaissance zu gewinnen, die Richtlinien auf einem einzigen 
Gebiete über die karolingische Zeit hinabgeführt werden. Auch die An- 
ordnung des Stoffes ergibt sich leicht. Eine Literaturgeschichte der unter- 
gehenden okzidentalischen Welt des Altertums muß landschaftlich gegliedert 
werden. Zwar ist auch nach der Trennung der beiden Reichshälften der 
Begriff von Rom als idealem Mittelpunkte noch immer lebendig, zwar 
sehen wir Gelehrte und Dichter Galliens und Afrikas mit ihren spanischen 
und italischen Freunden Briefe wechseln, ein Gedicht wie die Mosella 
des Ausonius flattert noch wie einst ein Horazbuch durch die Provinzen, 
gallische Rhetoren lehren in Rom, italische in Gallien. Aber eine ge- 



PUa 
dieier Skisx«. 



376 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum MQttelalter. 

sonderte Entwicklung provinzialer Literaturen ist klar erkennbar trotz 
des gewohnheitsmäßigen Stiles, der die Gattungen in Prosa und Poesie 
band, und trotz des ausgleichenden Einflusses, den das völkerverbindende 
Christentum ausübte; es kommt hinzu, da£ die verschiedenen Schicksale 
der einzelnen Provinzen auch die Literatur unterscheidend bestimmt haben. 
Innerhalb der landschaftlichen Gliederung werden wir die zeitliche Reihen- 
folge nach Möglichkeit einhalten. 
AMiterben der Bevor wir aber unsere Wanderung durch die Provinzen antreten, sei 
(riKhüchen j^ j^ ^^ ^ Verhältnis des Griechischen zum Lateinischen in dieser 

Spncne im 

wraten. Spätzeit hingewiesen. Die Kultur und Literatur des Kaiserreiches war in 
den ersten Jahrhunderten zweisprachig. Während jedoch die Griechen 
ihre vornehme Verachtung der rauhen „Barbarensprache" nie recht über- 
wanden und sich erst seit dem Wandel der Weltverhältnisse im 4. Jahr- 
himdert herabließen, sie zu erlernen — Ausnahmen der früheren Zeit haben 
ihre besonderen Grründe — , war Kenntnis des Griechischen bei dem ge- 
bildeten Lateiner schon seit dem Ausgang der Republik noch viel selbst- 
verständlicher, als für den gebildeten Deutschen der Gegenwart Kenntnis 
der französischen oder englischen Sprache. In der Zeit Hadrians und der 
Antonine schrieben Literaten wie Fronto, Apulejus und Tertullianus in 
Afrika, Favorinus in Südgallien mit gleicher Kunstfertigkeit in beiden 
Sprachen, man gab wohl auch eine Schrift zugleich lateinisch und griechisch 
heraus, damit sie auch von den Griechen gelesen werden könne; die latei- 
nische Sprache selbst wurde vom Grriechischen in Syntax und Wort- 
gebrauch stark beeinflußt Diese Verhältnisse änderten sich, als sich seit 
der Mitte des 3. Jahrhvmderts der Zusanmienbruch des Reiches vorbereitete, 
der dann nur um den Preis der Teilung in eine westliche und eine östliche 
Hälfte für kurze Zeit aufgehalten werden konnte. Die Kenntnis des 
Griechischen nahm im Okzident seit etwa 250 stetig ab; es wurde jetzt 
schon als etwas Besonderes betrachtet, wenn jemand griechisch verstand 
— „redegewandt in beiden Sprachen" begegfnet jetzt als Ehrentitel auf 
afrikanischen Inschriften — , man begann sich mit griechischen Kenntnissen 
zu zieren und zu brüsten wie Ausonius; ein so hochgebildeter Mann wie 
Augustinus verstand nach seinem eigenen Zeugnis griechisch „nur sehr 
wenig oder eigentlich gar nicht", und ein gleiches Zeugnis liegt von 
Gregor I. vor. Damals war also das Grriechische, das in den ersten Jahr- 
hunderten im Westen gelebt hatte, dort im Aussterben. Zwar wurde es 
noch von dem einen oder andern erlernt, aber dann doch fast nur mehr 
aus praktischen Rücksichten — denn das Ostreich unterhielt zu den meisten 
Ländern des Westens politische Beziehungen — , nicht wie bisher aus 
idealen Gründen als BildungsfermenL Ganz verloren gegangen ist dem 
Westen die Kenntnis des Griechischen auch im späten Mittelalter nie; in 
lebendigem Gebrauche erhielt es sich aber nur in Sizilien und Süditalien: 
so lernte Petrarca sein bißchen Grriechisch von einem Calabreser Mönche. 
Zum ersten Male also seit ihrem Bestehen war die lateinische Literatur 



Einleitung. 



377 



Itteratar. 




etwa seit der Mitte des 4. Jahrhunderts der g-riechischen Führung beraubt 
und auf sich selbst angewiesen; zum Glück war sie durch jahrhunderte- 
lange Gewöhnung und Übung innerlich stark genug, um ihren Weg nun 
auch ohne Hilfe der älteren griechischen Schwester zu nehmen, aber der 
Niedergang des Stilgefühls ist doch unverkennbar. Der fratzenhafte Stil 
eines Martianus Capeila oder Sidonius Apollinaris, die zwischen stammelnder 
Unbeholfenheit und gespreiztem Pathos hin und her schwankende Sprache 
so vieler Heiligenbiographien und MärtjTerlegenden zeigen eine durch 
keinen griechischen Zügel mehr gebändigfte Barbarei. Dagegen ist es um- 
gekehrt bezeichnend, daß zwei Schriftsteller des 4. Jahrhunderts, der Afrikaner 
Lactantius und Hilarius von Poitiers, die während ihres langen Aufent- 
haltes im Osten des Reiches in enge Fühlung mit der griechischen Sprache 
und Kultur getreten waren, den gewähltesten lateinischen Stil schreiben. 

Ein Gutes hat aber dieser Riß, der die einst so engfverbundene Kultur rber.euong»- 
spaltete, doch im Gefolge gehabt: es stellte sich als notwendig heraus, 
einige wichtige Schriftwerke griechischer Sprache durch Übersetzungen 
dem Westen zugänglich zu machen. Vor allem die Bibel. Hieronymus 
(f 420) war der gewiesene Mann, sie zu übersetzen: denn er kannte nicht 
bloß griechisch, sondern hatte außerdem von einem Juden auch hebräisch 
gelernt, als erster und für lange Zeit einziger Romane des Okzidents. 
Seine Übersetzung zeigte so feines Taktgefühl, daß sie den Ansprüchen 
der Gebildeten entgegenkam, ohne doch über das Fassungsvermögen des 
Volkes hinauszugehen: durch diese Vorzüge hat sie im Laufe der Zeit die 
älteren formlosen verdrängt und allgemeine Geltung erlangt (daher Vulgnta 
genannt). Eine bedeutende Übersetzungstätigkeit entfaltete der einstige 
Freund des Hieronymus, dann sein Gegner, Rufinus von Aquileja (f 410); ihm 
ward vor allem verdankt, daß die Geistestaten eines Origenes und Eusebius, 
die Redegewalt eines Gregorius und Basilius für den Okzident nicht ver- 
loren wurden, sondern in der Übersetzung philosophischen Sinn, geschicht- 
liches Denken, rednerische Kunst weckten und nährten. Neben Hieronymus 
und Rufinus stand, etwas älter als beide, Marius Victorinus aus Afrika, 
ein zum Christentum übergetretener hochgebildeter Mann, für Grammatik, 
Rhetorik und Philosophie interessiert; er war es, der den Piatonismus und 
die aristotelische Dialektik durch Übersetzungen nach dem Westen hinüber- 
leitete, und kein Geringerer als Augustinus bekannte, diesen Übersetzungen 
seine Kenntnis der platonischen Philosophie zu verdanken. An Victorinus 
hat etwa 200 Jahre später Boethius (f 525) seinem ausdrücklichen Zeugnisse 
nach angeknüpft und der schon zur Rüste gegangenen alten Welt noch 
einmal den Glanz griechischer Wissenschaft im Spiegelbilde gezeigt: ein 
kostbares Vermächtnis, das dem Mittelalter eine Quelle des Wissens wurde, 
und das auch für uns in den Fällen wertvoll ist, wo wir die griechischen 
Originale nicht mehr besitzen. Nach solchen Mustern entstanden vom 
6. bis zum 8. Jahrhundert anonjine Übersetzungen technischer, chrono- 
graphischer, botanischer und besonders medizinischer Schriften, teilweise 



378 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

in stark vulgärer Sprache, auch mit germanischen Worterklärungen; diese 
medizinischen Schriften wurden seit dem 11. Jahrhundert in der Ärzteschule 
von Salemo verwertet 

I. Italien. Italien blieb im 4. Jahrhundert von den Plündenmgszügen 
der Barbaren noch verschont und zeigte damals noch ein reiches lite- 
rarisches Leben. Für die Literatur ist Norditalien, wo seit Ende des 
3. Jahrhunderts Mailand die kaiserliche Residenz war, ergiebiger als die 
Hauptstadt: MaiUind, Aquileja, Vercelli, Brescia, Turin, später Ravenna 
und Pavia, weisen die meisten Talente auf. 

In dem Boden dieses Landes mit seinen sichtbaren Erinnerungen an 
die große geschichtliche Vergangenheit wurzelte der alte Glaube fester 
als in den Provinzen. So hat sich hier der letzte Akt des dramatischen 
Kampfes zwischen Hellenismus imd Christenttun abgespielt Wir verweilen 
einen Augenblick dabei, weil die Rufer im Streit auch die angesehensten 
Literaturgrößen im Italien des ausgehenden 4. Jahrhunderts waren. Eine 
Anzahl der vornehmsten altgläubigen Familien fand sich zusammen in 
dem Bestreben, die anerkannten Größen der klassischen Literatur in 
musterhaft kritischen Ausgaben der Nachwelt zu erhalten: Livius und 
Vergil, die Herolde von Roms einstiger Größe, standen im Mittelpimkte 
STimiiachns ihres Interesses. Eine dieser Familien war die der Symmachi, ihr be- 
(«m 345-403)- rühmtester Vertreter Q. Aurelius SjTnmachus. Er war Führer der national 
gesinnten Minderheit des Senates, bekleidet mit den höchsten Ehrenämtern 
der Aristokratie (Konsul 391) und g£dt nicht bloß in Rom für den größten 
Redner: sein Ruhm drang über die Alpen nach Gallien, sogar die Griechen 
Konstantinopels wissen von dem Glanz seines Namens, und selbst seine 
christlichen Gegner sprechen von ihm fast wie von einem neuen Cicero. 
Uns wird durch solchen Überschwang des Lobes der Niedergang der 
Fähigkeiten und die Geschmacksverirrung nur allzu klar. Zwar gibt 
Symmachus sich redliche Mühe, sich von den Fehlem seiner Zeit frei- 
zuhalten und erreicht auch bis zu einem gewissen Grade, wenigstens in 
den Briefen, die Zierlichkeit des jüngeren Plinius. Wenn man aber die 
Fülle des Wichtigen, das ein Mann in solcher Stellung uns von den Vor- 
gängen einer ungeheuer bewegten Zeit hätte melden können, mit dem 
Wenigen vergleicht, das wir aus seinem reichen Nachlaß wirklich lernen, 
so können wir nur mit Bedauern erklären, daß ein der nationalen Partei 
angehöriger Mann jener Zeit, mochte ihn auch das Lob der Besten triigen, 
die Prüfung bei der kühl richtenden Nachwelt nicht besteht Aber als 
Mensch tritt er uns nahe in der berühmten Denkschrift, die er im Jahre 384 
im Namen einer Partei des Senates an den Kaiser Valentinianus 11. richtete; 
er bekleidete damals die Stadtpräfektur, das höchste städtische Amt, das 
zu jener Zeit auch die Oberaufsicht über Kultus und Unterricht in sich 
schloß. In dieser Denkschrift bittet er den Kaiser um Duldung für die 
letzten, kümmerlichen Symbole der nationalen Religion. Aus dem ganzen, 



Italien. 



379 



i 



jahrhundertelang- geführten Kampfe der beiden Weltanschauungen gibt 
es nichts Ergreifenderes als diese rührende Bitte, und hier erhebt sich 
seine Rhetorik zu einem durch mannhafte Würde gemäßigten Pathos, das 
an Tacitus erinnert. Roma selbst wird redend eingeführt und bittet für 
ihre Götter: „Beste Fürsten, Väter des Vaterlandes, achtet meine Jahre, 
zu denen mich der fromme Brauch hat gelangen lassen. Ich will leben 
nach meiner Art, weil ich frei bin. Dieser Kultus hat den Erdkreis in 
meine Satzungen gefügt, diese Heiligtümer haben Hannibal von den 
Mauern, die Gallier vom Kapitol vertrieben. Ich werde ja sehen, welcher 
Art das ist, was euch neu einzurichten gefällt; doch es kränkt, erst im 
Greisenalter sich bessern zu sollen. Darum erbitten wir Duldung den 
Göttern unserer Väter. Was alle verehren, muß doch das Eine sein. Wir 
schauen auf zu denselben Sternen, gemeinsam ist der Himmel, dieselbe 
Welt umfangt uns. Was liegt daran, auf welchem Wege ein jeder die 
Wahrheit sucht? Das Geheimnis ist zu groß, als daß Ein Weg zu ihm 
führen könnte." Die wirksame Einkleidung und die ergreifenden Worte 
haben bis auf Dante, Petrarca und Cola di Rienzo gewirkt. Der Eindruck 
auch auf die Zeitgenossen war ein so bedeutender, daß der grüßte Kirchen- 
fürst des Westens, Ambrosius von Mailand, zur Feder griff, um den ge- 
fahrlichen Gegner zu widerlegen. Es ist der Siegesruf der ccclesia trium- 
pltans, mit dem er den gedämpften Klagelaut des sterbenden nationalen 
Glaubens übertönt; aber mag auch die siegreiche Sache Gott gefallen 
haben: die besiegte erregt unsere menschliche Teilnahme. Eine Ironie 
des Schicksals war es, daß Synimachus in demselben Jahre, in dem er 
den Glauben der Väter verteidigte, den jungen, damals noch nicht über- 
getretenen Augustinus, der kurz zuvor nach Rom gekommen war, für die 
erledigte Professur der Rhetorik nach Mailand empfahl. Er ahnte nicht, 
daß er ihn dadurch seiner weltgeschichtlichen Bestimmung entgegenführte: 
bald darauf (387) empfing der damals 33jährige von Ambrosius die Taufe, 
die weltliche Rhetorik streckte die längst stumpf gewordeneu Waffen 
vor der Predigt vom Kreuze Christi. 

Diese hatte im Okzident in Ambrosius einen nicht minder gewaltigen ArahrMim 
Vertreter gefunden als im griechischen Reichsteile an Basilius, Gregorius '+ ^"'• 
und Johannes, den Zeitgenossen und Vorbildern des Ambrosius, denn 
ohne diese kann sein ganzes Wirken in Tat, Wort und Schrift nicht ver- 
standen werden. Als Augfustinus getauft wurde, ertönte in der Mailänder 
Kirche der ein Jahr zuvor von Ambrosius eingeführte Hymnengesang, 
der den leidenschaftlichen Sinn des Täuflings mächtig ergriff. Daß Am- 
brosius in Hilarius von Poitiers einen Vorgänger hatte und daß dieser das 
Kirchenlied aus der griechischen Kirche, mit der er während seiner Ver- 
bannung (356 — 359) in nahe Berührung gekommen war, in die lateinische 
Galliens übertrug, darf als gesicherte Tatsache gelten. Aber erst Am- 
brosius verschaffte dem Kirchenliede, das überfromme Gemüter als zu 
sinnlich verwarfen, er selbst jedoch als wirksame Waffe gegen die Irr- 



i8o Eduard Norden : Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

lehren der Arianer schätzte, durch das Grewicht seines Namens einen 
festen Platz im Gottesdienst; die vier echten Hymnen, die sich von ihm 
erhalten haben (der sogenannte ambrosianische Lobgesang Te deum lau- 
damus ist nicht von ihm), kehren freilich, ihrer hauptsächlichen Bestimmung 
entsprechend, dogmatische Lehrhaftigkeit gelegentlich stark hervor, zeichnen 
sich aber durch Wärme des Gefühls und Wahrheit des Empfindens aus. 
Diese Töne des Herzens erklangen damals in lateinischer Sprache zum 
ersten Male seit langer Zeit wieder, wie denn der Literaturhistoriker zu 
den größten Segnungen, die das Christentum brachte, die Schöpfung einer 
an volkstümliches Empfinden anknüpfenden l}rrischen Poesie zählen wird. 
Diese Hymnenpoesie bewegfte sich zunächst noch in den Formen der 
klassischen Metrik, die Ambrosius und sein großer Nachfolger Prudentius 
mit äußerster Strenge handhabten. Dann aber warf sie seit dem 5./6, Jahr- 
hundert diese Formen als veraltet beiseite; die neue Seele verlangte nach 
einem neuen Körper. Die wichtigste Neuerung war, daß die Verse durch 
Reim gebunden wurden; doch war es anfangs noch dem Belieben des 
Dichters überlassen, an welchen Stellen des Gedichtes er reimen, an 
welchen er reimlose Verse setzen wollte, bis sich aus dieser Wahlfreiheit 
die Gesetzmäßigkeit des Reimes entwickelte. Es steht fest, daß diese 
Neuerung aus der Kunstprosa, in der sie seit alters üblich war, in die 
Poesie, die den Reim bisher nicht kannte, eindrang. Der moderne Mensch, 
dem das zu begreifen schwer fallen muß, vergegenwärtige sich, daß der 
Tonfall gehobener prosaischer Rede bei Griechen wie Römern seit Jahr- 
hunderten dem Sprechgesange nahe kam, von dem sich das älteste Kirchen- 
lied nur durch etwas stärkere Modulation bestimmter Stellen unterschied. 
Daher vollzog sich die Herübemahme des rhetorischen Kunstmittels in 
die Poesie mit Naturnotwendigkeit; durch einen Vergleich etwa der in 
Reimprosa geschriebenen Predigten Augustins mit Hymnen des 6. Jahr- 
hunderts kann sich jeder leicht davon überzeugen. Vom lateinischen 
Kirchenliede aus drang der Reim seit dem 9. Jahrhundert in die Lieder 
der modernen Sprachen ein tmd unterdrückte hier allmählich die nationalen 
Formen, z. B. im Germanischen die Alliteration. 
HMTonymna Zu derselben Zeit, da Ambrosius durch die Kunst seiner Diplomatie 

*"" 335— 4»o). jjjjjj ^jg Gewalt seiner Predigt der Kirche eine Macht schuf, vor der die 
Herren der Welt sich demütigten, arbeitete in stiller Gelehrtenklause ein 
Maim, um ihr den wissenschaftlichen Unterbau zu geben, den sie im Osten 
des Reiches bereits seit einem Jahrhundert besaß. Hieronymus stammte 
aus der Gegend des nördlichen Bosniens; da seine Vaterstadt Stridon, wie 
es scheint, zum kirchlichen Sprengel von Aquileja gehörte, mag er hier 
behandelt werden. Sein Name, sowie der seines Vaters Eusebius, lassen 
vermuten, [daß die Familie griechischer Abstammung war, und sein echt 
griechischer Forschergeist, der in der lateinischen Kirche einzig dasteht, 
kann diese Annahme unterstützen. Er wurde in Rom ausgebildet, aber 
seine Reisen führten ihn von Trier nach Bethlehem, und in Konstantinopel 



I. Italien. 



381 



gewann er unmittelbare Berührung mit der griechisch- christlichen Kultur. 
Er wurde der größte christliche Gelehrte in lateinischer Sprache, für das 
Abendland das, was Origenes für den Osten gewesen war; seine Bedeutung 
beruht in der Tat wesentlich darauf, daß er die Arbeiten eines Origenes, 
Eusebius und anderer griechischer Gelehrten nach dem Westen hinüber- 
leitete, teils bloß übersetzend, teils bearbeitend, teils in gleichem Geiste 
Neues schaffend. Diese gelehrte Tätigkeit, die wir in der Übersetzung der 
Bibel schon kennen lernten, schloß nicht aus, daß er die Ereignisse der 
großen Welt mit lebendigem Interesse verfolgte. Sein Briefwechsel ist auch 
für Nichttheologen ebenso belehrend wie unterhaltend. Er trägt seine 
kleinen Fehler und Schwächen mit liebenswürdiger Offenheit zur Schau, 
ohne sich in grüblerische Gedanken darüber zu verlieren wie der unendlich 
tiefere Augustinus. Je genauer er der Nachwelt bekannt ist, um so stärker 
schwankt, wenigstens in der Beurteilung der Theologen, sein Charakter- 
bild: während er den einen der Heilige ist, sagt Luther in den Tischreden, 
es gebe Iqeinen unter den Lehrern, dem er so feind sei wie Hieronymo. 
Aber als Gelehrter hat er ein Anrecht darauf, auch von den Philologen 
beurteilt zu werden, denen sein Fleiß eine auch für lateinische Literatur- 
geschichte sehr w^ichtige Chronik geschenkt hat Er darf universalen Ge- 
lehrten wie Varro und Sueton an die Seite gestellt werden; ihn beseelte 
der freie und wissenschaftliche Geist des hellenenfreundlichen Christentums, 
wie es Origenes vertrat. Kein christlicher Schriftsteller ist inniger ver- 
traut mit den Profanautoren als er, und die Gewissensqualen, ob ein 
Chrishanus auch Ciccronianus sein dürfe, hat er durch einen Ausgleich 
überwunden, der ihn selbst mehr befriedigte als seine strenggläubigen 
Gegner. Aber auch bei den syrischen Mönchen hat er längere Zeit in 
strengster Askese gelebt Dort irrt der in der Mitte der dreißiger Jahre 
stehende Mann, der des Lebens Süßigkeit ganz genossen, im Sonnenbrand 
der Wüste lunher; dort flicht der Gelehrte, dessen Wissen bald die 
Welt in Staunen setzen sollte, Körbe aus Binsen, hackt das Land, sät 
und begießt Pflanzen, strickt Fischemetze — und schreibt Bücher ab; 
so befiehlt er später selbst einem Freunde zu tun; es ist wohl das 
erstemal, daß den Mönchen literarische Beschäftigung empfohlen wird: eine 
für die Geschichte der Kultur bedeutsame Stelle. Dann finden wir ihn 
abermals in Rom. Dort schützte ihn Papst Damasus, der mit seinen Epi- 
grammen die Reihe der literaturfreundlichen Päpste eröffnet, gegen den 
Klerus, dessen Unwillen er durch seine sittenstrengen Mahnungen erregt 
hatte; dort lehrte er im Palaste der Marcella auf dem Aventin, ihm zu 
Füßen saßen asketisch gesinnte Frauen, von denen einige ihren Stamm- 
baum auf die Marceller, Gracchen und Scipionen zurückführten. An 
seinem Lebensabend zog er nach Bethlehem, wo er ein Mönchskloster 
gründete; hier unterrichtete er — neben seiner gelehrten Tätigkeit — die 
Söhne wohlhabender Eltern in der profanen Literatur, die er nach dem 
Muster eines Clemens, Origenes und Basilius als Grundlage der christlichen 



382 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

Bildung für nötig erachtete; er las mit seinen Schülern Vergil, die Komiker, 
Lyriker und Geschichtschreiber. Den Rhetor hat er nirgends verleugnen 
können; wer aber über ihn wegen seiner Sophismen streng aburteilt, die 
oft auf Kosten strenger Wahrhaftigkeit dem augenblicklichen Bedürfnisse 
dienen, der vergißt, daß der sophistische Lehrbetrieb, dem sie entspringen, 
darin nichts Unsittliches gefunden hat Aus derselben Wurzel erwuchs 
die schneidige Schärfe seiner Polemik: es kommt ihm nicht darauf an, 
seine Gegner „zweibeinige Esel" zu nennen. In ganz antiker Art rühmt 
er sich selbst gern xmd oft; aber er hat auch Grund dazu und darf mit 
gerechtem Stolze von sich sagen: „ich bin Philosoph, Rhetor, Gramma- 
tiker und Dialektiker, Hebräer, Grieche und Lateiner." 

Im Jahre 408 ließ Kaiser Honorius den Stilicho hinrichten, dem er 
alles verdankte. Da brachen die Westgoten, die vor diesem gewaltigen 
Heerführer nun nicht mehr zu zittern brauchten, in Italien ein und plün- 
derten Rom (410). Das drohende Verhängnis wurde durch Alarichs Tod 
hinaiisgeschoben. Honorius gab Ataulf, dem Nachfolger Alarichs, um 
Italien zu retten, Südgallien und Nordspanien preis. Die Goten rückten 
brandschatzend in das ihnen ausgelieferte Land ein (412). Der Nachfolger 
Ataulfs (f 415) Wallia wurde der eigentliche Grriinder des durch ein loses 
Bimdesverhältnis mit dem römischen Reiche zusanunenhängenden tolosanisch- 
spanischen Gt)tenstaates. Während dieser Ereignisse lebte in Rom ein 
RutiUu» Nama- vomehmer Mann, Rutilius Namatianus, der es verdient, einem weiteren 
(u^"m) I^cise bekannt gemacht zu werden. Er war ein Südgallier, lebte aber, 
wie schon sein Vater, in Rom, wo er, obwohl ein erklärter Anhänger der 
nationalen Religion wie Symmachus, die höchsten Ehrenämter bekleidete. 
Im Herbst 416 verließ er Rom, um nach seinen gallischen Gütern zu 
sehen, die durch die erwähnte Plünderung der Goten gefährdet waren. 
In seiner Heimat angekommen, beschrieb er seine Reise in einem großen 
Gedicht elegischen Versmaßes; daß es nur unvollständig erhalten ist, darf 
als großer Verlust bezeichnet werden, denn es ist eine kulturgeschichtlich 
sehr wichtige Schrift, auch poetisch eine achtungswerte Leistung; Sprache 
und Versbau sind von einer Reinheit, wie sie selbst Claudian, sein Zeit- 
genosse, nicht erreicht hat, geschweige denn die gallischen Dichter jener 
Zeit Abgesehen von der entschiedenen Begabung des Dichters, Land 
und Leute lebendig zu schildern, fesselt uns seine liebenswürdige, stark 
persönliche Art Er lebt und webt in den großen Erinnerungen Roms. 
In einem schönen Lobliede auf die Stadt, mit dem er das Gedicht eröffnet, 
weiß er das rhetorische Schema durch persönliche Züge lyrisch zu be- 
reichem und überträgt so die Wärme seines Gefühles auf die Leser; er 
verheißt der regina orbis, obwohl sie von den Barbaren geschändet sei, 
die Ewigkeit Die Wartezeit in Ostia, von wo aus er die Küstenfahrt 
nordwärts antreten wollte, verkürzt er sich damit, nach der fernen Stadt 
zu schauen; Odysseus habe sich gesehnt, seine Heimat am aufsteigenden 
Rauch zu erkennen: er erkenne Rom an dem Glänze, der über den sieben 



I. Italien. 



383 




Hügeln liege, denn in Rom habe ihm die Sonne geschienen, und heiterer 
als anderswo sei dort der Tag; nicht trocknen Auges sagt er Lebewohl. 
Die romantische Stimmung moderner Romfahrer liegt über seinen Versen, 
eine mit Wehmut gemischte Heiterkeit, die wohltuend absticht von dem 
Wahnglauben, mit dem der mittelalterliche Pilger an der Hand des 
Mirabilienbuches die heiligen Stätten scheu durchwanderte. Von hohem 
religionsgeschichtlichem Interesse sind die Ausfälle des altgläubigen 
Mannes auf Juden und Christen, mit denen er auf seiner Fahrt in Be- 
rührung kommt Der jüdische Pächter einer Villa (an der Küste gegen- 
über von Elba), wo sie hatten landen müssen, erhob ein großes Geschrei 
wegen des niedergetretenen Grases im Park und gönnte ihnen nicht das 
Trinkwasser: dafür hageln nun auf ihn die Schimpfwörter; es ist wohl die 
unverhohlenste Äußerung des Antisemitismus im Altertum seit luvenal, 
den die römischen Aristokraten damals gern lasen. Die Vorbeifahrt an 
einem Kloster {auf einer kleinen Insel zwischen Korsika und Elba), mit 
dessen Abte damals Augustinus in Verbindung stand, gibt dem Dichter 
Gelegenheit zu einer Schmährede auf die Mönche, die lichtscheuen Männer, 
die am Schmutze Gefallen fänden und am Menschenhaß. Es folgt weiter- 
hin ein zweiter Ausfall von gleicher Bitterkeit bei der Vorbeifahrt an 
einem andern Kloster. Durch solche Einlagen versteht es der Dichter, 
den Leser zu fesseln und seine Reisebeschreibung über das Zufallige und 
Persönliche zu erheben; ernst und stimmungsvoll steht dieses letzte 
nationale Gedicht am Grabe der antiken Kultur. 

Im Verlaufe des 5. Jahrhunderts verstummte die Literatur in Italien 
fast ganz, die Stürme der Völkerwanderung brausten über das unglückliche 
Land. Schließlich (476) riß Odovakar die Herrschaft über Italien an sich. 
So erfüllte sich an ihm die Prophezeiung, die ihm einst, als er aus seiner 
deutschen Heimat an der Donau nach Italien wanderte, von Severinus, 
dem Mönche eines Klosters bei Wien, gegeben worden .war: „ziehe hin 
nach Italien, zieh hin: jetzt bist du in armselige Felle gekleidet, doch du 
bist berufen, bald vielen große Geschenke zu machen." Die Lebens- 
beschreibung dieses Severinus von einem gewissen Eugippius (Abt eines LeUe« dM 
Klosters bei Neapel) mag hier kurz besprochen werden, da sie eine ^"g""* 
für die Geschichte der Zeit sehr wichtige Urkunde ist und die ganze 
Literaturgattung der Heiligen- und Märtyrerbiographien am würdigsten 
vertritt Mit einer Lebendigkeit, die der alles Individuelle unterdrückenden 
hohen Literatur der Zeit fremd ist, erhalten wir hier ein Kultur- und 
Sittenbild des nördlichen Teiles der römischen Provinz Noricum (zwischen 
der Donau von Passau bis Wien im Norden und der Mur im Süden) aus 
den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens (etwa 453 — 488). Eine Stadt nach 
der andern wird eine Beute der Rugfier, Goten, Alemannen, Thüringer, 
und Severinus, der aus dem fernen Osten eingewandert ist, steht dem für 
einea verlorenen Posten kämpfenden Häuflein der Getreuen prophezeiend 
und helfend zur Seite, eine auch den Barbaren ehrwürdige Persönlichkeit 



384 Eduard Norden : Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum nun Mittelalter. 

Der Verfasser hat die Taten und Wunder dieses Mönches mit schlichter 
Treuherzigkeit erzählt und Land und Leute mit guter Beobachtungsgabe 
geschildert Er verfehlt nicht, den gelehrten Diakon, für den er diese 
„Memoiren" aufzeichnete, auf daß dieser eine regelrechte Biographie 
daraus mache, um Entschuldigung wegen seiner Schlichtheit zu bitten; 
und in der Tat bekommt er von dem hochgelahrten Cassiodor, der ihn 
noch persönlich kannte, kein besonders g^tes Zeugnis in edlgemeiner 
Bildung. Uns ist seine beredte Einfalt und frische Natürlichkeit lieber als 
die sich weise dünkende, prunkende Beredsamkeit der Welt 
osigotache Die ersten Jahrzehnte des 6. Jahrhunderts brachten dem Reiche 

Kaiiur. wenigstens den Schein neuer Sicherheit und der Literatur eine kurze 
Nachblüte. Der große Ostgote Theoderich hatte 493 den Odovakar er- 
mordet und sich auf den weströmischen Kaiserthron gesetzt Während 
die andern germanischen Könige in Gallien, Deutschland, Spanien und 
Afrika Staaten gründeten, in denen das römische Element im national- 
germanischen aufgehen sollte, versuchte Theoderich in Italien das Um- 
gekehrte: der römische Staat und seine Kultur sollten bestehen bleiben 
und die Goten als Ackerbürger und Krieger in ihn eintreten. Er imter- 
nahm diesen Versuch, teils weil er den Glanz der römischen Kultur, die 
er bewimderte, durch die Kraft seiner Goten erhalten wollte, teils aber 
auch, weil die Verhältnisse ihn dazu bestimmten: in Italien wurzelte die 
Kultur eines Jahrtausends viel tiefer als in den romanisierten Provinzen, 
und Rom war trotz der Verlegung des Herrschersitzes nach Ravenna die 
Trägerin der Vergangenheit und im Bewußtsein der Menschen auch die 
der Zukunft. Der künstliche Versuch mußte mißlingen, aber die mächtige 
Persönlichkeit des Königs hielt die verschiedenartigen Elemente zusammen 
und verschaffte dem schwer geplag^ten Lande eine dreißigjährige Ruhe. 
Ein inneres Verhältnis zur Literatur und Kunst, wie Karl der Große, hat 
dieser Germanq noch nicht gehabt, aber es schmeichelte seinem Stolze, 
sich wie einen der alten Cäsaren als Schirmherrn einer Kultur feiern zu 
lassen, die ihm imponierte. Was bei Theoderich immerhin Ernst war, 
wurde bei seinen Nachfolgern zum Spiel; sie rühmten sich auch wohl 
ihrer Kenntnis dreier Sprachen, des Gotischen, Lateinischen und Griechischen, 
denn das Griechische war damals infolge der politischen und kirchlichen 
Auseinandersetzimgen des Gotenreiches mit Ostrom für kurze Zeit in Nord- 
italien wieder geläufig. Die beiden Sterne, die am abendlichen Himmel des 
sterbenden Reiches am hellsten glänzten — denn einen Schriftsteller wie 
Ennodius, so wichtig er für die Geschichte der Zeit auch ist, dürfen wir 
hier, wo wir nur die großen Kulturfaktoren in Rechnung ziehen können, 
Boethias fügUch Übergehen — , waren Boethius und Cassiodorius. Beide Männer 
(+ 5»4)- stammten aus altadligen Familien und waren aufgewachsen in den Über- 
lieferungen eines aiafgeklärten, bildungsfreundlichen Christentums, wie es 
damals in der Aristokratie noch den Grundton der Weltanschauung bildete; 
Boethius war vermählt mit einer Dame aus der Familie jenes Symmachus, 



I. Italien. 



385 



den wir als Vorkämpfer der alten Religion und als Herausgeber des 
Livius kennen lernten (S, 378). Wie damals, so wurden auch jetzt wieder 
mustergültige Ausgaben klassischer Zeugen der Vergangenheit veranstaltet: 
unsere besten Handschriften des Vergil und Horaz verdanken wir diesen 
Bestrebungen vornehmer Männer der ostgotischen Restaurationszeit. Die 
Bedeutung des Boethius für die Schulgelehrsamkeit des Mittelalters wurde 
oben (S. 377) bereits hervorgehoben. Daß er durch seine berühmte, im Ge- 
fängnis verfaßte „Trostschrift der Philosophie" dem Mittelcdter auch den 
menschlichen Gehalt antiker Geistes- und Herzensbildung vermachte, ist 
im vorhergehenden (von Leo, S. 371) bemerkt worden. Diese Schrift mit 
ihrer Mischung von Prosa und Vers wurde neben dem in gleichem Stile 
geschriebenen älteren Werke des Martianus Capella das Stilmuster des 
Mittelalters, das an diesem Zwitterding von Form und Formlosigkeit wie 
an allem, weis kraus und phantastisch war, seine Freude hatte, bis das 
geläuterte Stilgefühl der Renaissance wie im Inhalt so in der Form über 
Boethius auf Cicero und Piaton zurückging. 

Cassiodor ist, wenn man ihn gerechterweise im Rahmen seiner Zeit CMiiodorim 
beurteilt, eine bedeutende Erscheinung. Durch die Erlasse, die er als '+ "" ""■ 
Kanzler im Namen Theoderichs und seiner Nachfolger verfaßte, ist er die 
weitaus wichtigste Quelle für die Geschichte seiner Zeit. Großer Mut und 
ein seltenes Gefühl kunstvollen Könnens, aber auch genaue Vertrautheit 
mit den Mustern der Vergangenheit gehörte dann vor allem dazu, nach 
Tacitus und Ammianus ein Geschichtswerk großen Stiles zu wagen. Er 
schrieb, freilich wohl nicht ohne einen Vorgänger gehabt zu haben, die 
Geschichte des Gotenvolkes, mit der ausgesprochenen, ihm durch Theoderich ■ 

selbst nahegelegten Absicht, den Nachweis zu erbringen, daß es an Alter 
und Adel seiner Könige den dünkelhaften Italikern ebenbürtig sei. Der 
Verlust dieses Werkes, das 12 Bücher umfaßte, ist für uns Deutsche fast 
so unschätzbar wie der Untergang der 20 Bücher „Germanenkriege" des 
älteren Plinius. Der ganz dürftige Auszug, den noch zu Cjissiodors Leb- 
zeiten lordanis von dessen Werke machte, läßt noch die große Gelehr- 
samkeit des Originals ahnen, in dem auch griechische Historiker und 
Geographen reichlich verwertet worden waren. Dieser lordanis war 
romanisierter Gote: so ist seine Schrift das erste uns erhaltene Geschichts- 
werk, das ein Germane in lateinischer Sprache verfaßt hat Erst bei den 
Angelsachsen und Langobarden des 8. Jahrhunderts werden wir das wieder- 
finden: da sind es dann aber auch keine bloßen Auszüge mehr, wie bei 
lordanis, sondern originale Werke selbständiger Schaffenskraft Was in 
der Zwischenzeit über deutsche Geschichte geschrieben worden ist, das 
stammt nicht von germanischen Schriftstellern, sondern von römischen 
Provinzialen. 

Cassiodor hatte auch die Absicht, in Rom eine theologische Fakultät 
(wie wir das nennen würden) einzurichten, mußte aber den Plan wegen 
der kriegerischen Bedrängnisse Roms aufgeben. Doch gründete der Papst 



Du Kultur ue« GwiDiwAitT. I. & 



2S 



386 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum zum Mittelalter. 

Agapetus (535 — 536), den er für den Plan gewonnen hatte, wenigstens 
eine Bibliothek, die dann Papst Grregor I. (590 — 604) übernahm. Dieser 
Plan, zu dem Cassiodor durch das Vorbild der gleichzeitigen syrisch-grie- 
chischen Theologenschiile von Nisibis in Mesopotamien angeregt worden war, 
ist als Vorläufer der mittelalterlichen Universitätsgfründungen bemerkenswert 
Für die Geschichte der Kultur noch wichtiger ist dann aber die 
Tätigkeit geworden, die Cassiodor entfaltete, als er sich nach dem Tode 
Theoderichs und seiner nächsten Nachfolger, müde der Mitarbeit an einer 
Politik, die sich immer mehr als aussichtslos erwies, auf seine Besitzungen 
in Bruttiuim zurückzog (bald nach 540), um hier, dem Lärm der Welt und 
den Grreueltaten der Konige entrückt, in einem von ihm selbst gegründeten 
Kloster ein gottgefälliges Alter zu verleben. Während der Scheinbau 
Theoderichs zusammenbrach (555) und die Langobarden fürchterlicher als 
je die andern germanischen Biirbaren in Italien hausten (seit 568), hat 
Cassiodor es sich angelegen sein lassen, die idealen Gmter der Vorzeit für 
die Nachwelt zu retten- Getreu dem leuchtenden Vorbilde der gproßen 
Kirchenlehrer des 4. Jjihrhunderts hat er durch Lehre imd Schriften dahin 
gewirkt, daß seine Mönche, soweit ihre geistigen Fähigkeiten es ihnen 
ermöglichten, über der Betätigimg frommen Sinnes die wissenschaftlichen 
Studien nicht vernachlässigten: in der Bibliothek des Klosters standen 
friedlich neben kirchlichen Büchern weltliche. Cassiodor selbst hat für 
die Brüder einen Abriß nicht bloß der göttlichen, sondern auch der welt- 
lichen Wissenschaften (der sogenannten sieben freien Künste) verfaßt, 
sowie ein Hilfsbüchlein für Orthographie beim Abschreiben der Bücher. 
Wenn wir femer die Grundsätze lesen, die er für die Verbesserung von 
Handschriften aufstellte, so erkennen wir deutlich, daß er die Fürsorge, 
die seine weltlichen Freimde, wie bemerkt, auf die Herstellung guter 
Textausgaben verwandten, in die Klosterschule hinüberleitete. Die Be- 
deutung seiner Klosterorganisation kann man nicht hoch genug schätzen. 
Wenig mehr als 10 Jahre, bevor sich Cassiodor von den Geschäften der 
Welt zurückzog, hatte Benedictus von Nursia (in Umbrien) auf dem Mons 
Cassinus (bei Neapel) auf den Trümmern eines zerstörten Apollotempels 
das Kloster gegründet (529), das dazu bestimmt war, dereinst die Pflanz- 
stätte aller Klöster des Abendlandes zu werden. Seinem Stifter hat der 
Gedanke, wissenschaftlichen Sinn bei den Mönchen zu pflegen, durchaus 
fem gelegen: in seiner regula findet sich so wenig eine Hindeutung darauf, 
wie in den Vorschriften, die schon im 5. Jahrhundert Cassianus für die 
Klöster Galliens gegeben hatte. Daß der Benedictinerorden ein Banner- 
träger der Wissenschaft geworden ist, muß als Cjissiodors Verdienst be- 
zeichnet werden, der zwar die Regel Benedicts, wie es scheint, auch 
für sein eignes Kloster zugrunde legte, sie aber mit einer freieren Geistes- 
richtung verband: über Benedictus und Cassianus hinweg knüpfte er damit 
an Hieronymus an (s. oben S. 381). Das 6. Jahrhundert, in dessen Verlauf das 
Westreich zusammenbrach und unter seinen Trümmern die antike Kultur 



n. Afrika. 



387 



rrUcianiu 



ZU begraben drohte, ist für die Überlieferungsgeschichte der lateinischen 
Literatur des Altertums entscheidungsschwer gewesen. Wären nicht die 
Klöster dieses und der beiden folgenden Jahrhunderte nach dem Beispiele 
Cassiodors für den Schutz der Literatur eingetreten, so hätte Karl der 
Große, als er das Reich wieder errichtete, den zerrissenen Faden nicht 
wieder zu solcher Festigkeit verknüpfen können. So verdient Cassiodor 
den Ehrentitel, den ihm ein französischer Gelehrter gegeben hat: le Mros 
et le reslaurateur dt la science au VI stiele. 

Mit dem Gelehrtenkreise des Ostgotenreiches stand l'riscianus in Be- 
ziehungen, der daher, obwohl geborener Afrikaner, hier kurz erwähnt '"" '**'" 
werden mag. Er lehrte in Konstantinopel lateinische Sprache. Durch 
seine große, 18 Bücher umfassende Grammatik ist er einer der gelesensten 
Schriftsteller des Mittelalters geworden: sein Werk soll etwa in 1000 Hand- 
schriften verbreitet sein. Es ist eine zwar unselbständige, aber doch .sehr 
achtungswerte Leistung, zudem die einzige uns erhaltene lateinische Gram- 
matik, die auch die Syntax berücksichtigt Man sieht auch hieraus, wie 
viel höhere Ansprüche man im Osten des Reiches zu einer Zeit machte, 
wo der Westen sich mit dürftigen Abrissen begnügte. 



U. Afrika. Die römische Provinz Afrika, dem heutigen Tripolis, 
Tunesien imd dem östlichen Algier entsprechend, hat in der Literatur der 
Kaiserzeit jahrhundertelang eine führende Stellung eingenommen und ist be- 
sonders von Hadrian bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts tonangebend auch 
für Italien gewesen; damals war hier, wie bemerkt (S. 376), griechische 
Bildung so verbreitet wie in keiner andern Provinz des Westens. Auch 
hat keine die Fürsorge der Kaiserherrschaft in so hohem Maße genossen wie 
die schon von der Natur überschwenglich reich gesegnete Provinz Afrika. 
Karthago wird noch von einem griechischen Rhetor des 4. Jahrhunderts 
die zweite Stadt des Erdkreises neben Rom genannt; ja selbst als die 
Vandalcn sich schon zu Herren der Provinz gemacht hatten (42g), schreibt 
ein gallischer Presbyter: „dort blühen wissenschaftliche Studien und Philo- 
sophie, dort die Kunst der Rede und Erziehung zur Sittlichkeit." Den 
Bewohnern wird ein Temperament heiß wie das Klima des Landes 
zugeschrieben. Die Inschriften, die aus keiner Provinz des Westens, aus- 
genommen Italien, in solcher Menge vorliegen, geben uns ein deutliches 
Bild lebhaft entwickelten Bürgersinnes und vielseitiger Interessen, freilich 
auch einer anspruchsvollen Selbstgefälligkeit und eines gespreizten Pathos, 
das auch im Stil der Prosa und der Poesie zum Ausdruck kommt 

Von der Profanliteratur dieser Provinz ist innerhalb unseres Zeitraumes 
nur zu erwähnen das große Werk des Martianus Capeila, da es eins der 
beliebtesten Bücher des Mittelalters geworden ist. Es enthält das System 
der sieben freien Künste (Grammatik, Dialektik, Rhetorik; Geometrie, 
Arithmetik, Astronomie, Musik), aber in einer wunderlichen, oft albernen 
Rahmenerzählung, wie schon der Titel „Über die Hochzeit der Philologie 



etwa 4. jAhrh.). 



<um 



a?). 



388 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter- 

und des Mercur" zeigt Gerade dieses Nebeneinander von zuchtloser 
Phantastik, spielerischer Allegorie und dürrer Schulgelehrsamkeit sagfte 
dem Geschmack des Mittelalters zu, nicht weniger auch der aus schwül- 
stiger Prosa und schulmäßiger Poesie gemischte Stil, der, wie schon be- 
merkt, von Boethius nachgeahmt wurde. 

Ein viel erfreulicheres Bild zeigt die christliche Literatur. Keine 
Provinz des gcmzen Reiches, außer Kleinasien, gab einen so trefflichen 
Nährboden für dcis zarte Reis der neuen Religrion, das sich, gepflegt durch 
stille Arbeit, aber auch getränkt vom Strom hinreißender Beredsamkeit 
und vom Blute der Märtyrer, unter Afrikas Sonne zu jenem majestä- 
tischen Baume entwickelt hat, der die Welt beschattete. 

Die afrikanische christliche Literatur gipfelt, wie die christliche über- 
haupt, in Augustinus. Wir gehen daher, um ihn in die Gesamtentwicklung 
besser einreihen zu können, hier über die von uns gezogene Grenzlinie 
zurück und werfen im Vorbeigehen einen Blick auf die Hauptvertreter 
der chrisüichen Literatur dieses Landes vor Augustinus. 

Um den Ruhm des ersten bedeutenden christlichen Schriftstellers in 
Minüdoi FoUi lateinischer Sprache streitet sich TertuUianus mit Minucius Felix; doch 
dürfte dieser der zeitlich frühere gewesen sein, wie Tertullian zweifellos 
der größere war. Minucius Felix, der nicht lange vor 200 geschrieben zu 
haben scheint, ist der Verfasser eines Buches, das dem großen Gegensatze 
von Hellenismus und Christentum literarischen Ausdruck durch die Form 
des Wechselgespräches zwischen je einem Anhänger beider Weltanschau- 
ungen gegeben hat Nach dem Vertreter der christlichen Partei trägt der 
Dialog den Titel „Octavius". Sachlich bringt die Schrift nichts besonders 
Neues, sondern verwertet teils die von Cicero und Seneca in ihrer Be- 
kämpfung des Polytheismus, teils die von griechischen Apologeten auf- 
gestellten Gründe; aber die Kunst der Darstellung ist ungewöhnlich groß. 
An zierlicher Glätte übertrifft der Verfasser sogar den Lactantius, den er 
an klassischer Reinheit des Stilgefühles freilich nicht erreicht; dazu kommt 
eine den besten Mustern abgelernte Kunst der Charakterzeichnung und 
dramatischer Einkleidung — Ort der Handlung ist der Badestrand von 
Ostia während der juristischen Herbstferien — und ein für die Größe 
Roms und seiner Vergangenheit trotz aller Polemik begeisterter Sinn. 
Das Dogmatische ist so farblos wie kaum in einer andern christlichen 
Schrift: ist doch auch dem Verfasser das Christentum mehr eine neue 
Form der Philosophie als eine Religion. Die Schrift, die uns noch heute 
entzückt, mag unter den gebildeten Namenchristen viele Leser und Lieb- 
haber gefunden haben: für die Ausbreitung eines Glaubens, der schon 
viele Blutzeugen gefunden hatte, war das anmutige Spiel mit den Rappieren 
geistreicher Dialektik nutzlos. 

TertuUianus, ein geborener Karthager, dessen Blüte um 200 — 220 
fällt, war zum Advokaten bestimmt, und die Sophismen, die diesem 
Berufe damals eigen waren, hat er auch als Verteidiger der Religion 



TfirtaUianut 
et um »jo). 




II. Afrika. 



389 



nie verleugnen können, zu der er als Jüngling übertrat In ihm kochte 
eine Glut, die ihn selbst und andere verzehrte, da sie zu lodernd 
war, um bloß zu erwärmen: man hat gesagt, er gleiche dem heißen 
Wüstenwinde seines Landes. Leidenschaftlichkeit, die kein Maß kennt, 
ist seinem Wesen aufgeprägt; kaum ein anderer Fanatiker hat so zu 
hassen verstanden wie er; Töne der Liebe, dieser schön.sten Frucht des 
Christentums, werden fast niemals angeschlagen; darum kann man ihn 
nicht lieben, so hoch man ihn auch bewundern mag. Der Kampf gegen 
die Altgläubigen genügte ihm nicht, er griff mit derselben unerhörten 
Heftigkeit die katholische Kirche selbst an, als er in vorgerückten Jahren 
sich der Sekte der Montanisten angeschlossen hatte, deren schwärmerische, 
weitabgewandte, die strengen Satzungen christlicher Lebensführung bis 
zum Übermaß steigernde Lehre seinem ungeduldigen, unduldsamen, zum 
Widerspruch geneigften Temperament zusagte. Der Montanismus trat der 
Verweltlichung der Kirche, im Gegensatz zum hellenenfreundlichen 
Gnostizismus, grundsätzlich entgegen. Daher ist Tertuliian einer der 
wenigen, die jede Vermittlung ablehnen; er verwirft nicht bloß das 
nationale Staats- und Religionswesen, sondern auch Philosophie, Literatur 
und Kunst: „die Gelehrsamkeit der weltlichen Literatur, sagt er einmal, 
verschmähen wir, da sie bei Gott der Torheit überführt worden ist" 
Ein Glück für die junge Religion, daß so unduldsame Stimmen ungehört 
verklangen: fast um dieselbe Zeit, als Tertuliian dem Christen die Be- 
schäftigung mit der bildenden Kunst als einem Werke der Dämonen 
untersagte, hat ein christlicher Künstler in den Katakomben still und sinnig 
das Bild des Orpheus, der inmitten der lauschenden Tierwelt die Leier 
spielt, auf Christus, den guten Hirten, übertragen, ohne das Geringste zu 
ändern. Doch hat das Christentum, um durch den Kampf sich in seiner 
Eigenart zu behaupten, auch die Entwicklungsform durchmachen müssen, 
die Tertuliian am glänzendsten vertritt: er gilt mit Recht als Begründer 
einer abendländischen christlichen Theologie. Sein Stil ist maßlos, wie 
sein Wesen, er zerbricht die überlieferten Formen, statt sich ihnen anzu- 
pEissen, aber gerade darin liegt seine Größe auch auf diesem Gebiete: er 
wurde der Schöpfer einer lateinischen Kirchensprache, denn das Christen- 
txun, das in Wahrheit neu war, konnte mit dem überlieferten Bestände der 
Worte allein nicht mehr wirtschaften und bedurfte daher eines so 
rücksichtslosen, aber sprachgewaltigen Bildners, wie Tertuliian es war. 

Der Gedankenreichtum der neuen Religion offenbarte sich auch in 
der Vielseitigkeit ihrer literarischen Vertreter: wie neben dem zierlich 
plaudernden Minucius der fanatisch eifernde Tertullianus stand, so wurde 
dieser abgelöst von einer milden, ganz besonders sympathischen Persön- 
lichkeit Cyprianus war längere Zeit mit großem Erfolge Rhetor, trat dann CyprUnu. 
zum Christentum über und wirkte als Bischof von Karthago seit 248 
segensreich unter schwierigen Umständen; 258 wurde er in der Verfolgung 
des Kaisers Valerianus enthauptet In seinem Wesen war er das gerade 



<t «$8). 



390 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

Gegenteil von Tertullian: nicht genial iind gewaltsam, sondern sanften 
Gemütes und gemäßigt Seine Schriften, darunter besonders die Briefe, 
unvergleichlich wertvolle Urkunden für die Geschichte der sich festigenden 
Kirche, haben nichts von dem eigenartigen Geiste Tertullians, zeigen da- 
gegen schon durch die zahlreichen langen Anfühnmgen aus der Bibel, 
die bei Minucius völlig fehlen, bei dem unruhigen Tertullian nicht so 
stark hervortreten, einen ausgesprochen christlichen, gemeinverständlichen 
Charakter; er begnügt sich oft damit, die dunklen Gedankengänge des 
von ihm hochverehrten Tertullian in klarer Ordntmg und einfacher Sprache 
zu entwirren. Von seinem Stil sagt Hieronjnnus, er fließe süß und sanft 
dahin, wie ein ganz klarer Bach; manchmal hat dieser Stil aber vielmehr 
etwas Salbungsvolles, wie ihn denn ein späterer Autor mit Öl vergleicht. 
Eine Schrift (ad DonatumJ, in der das Dogmatische zurücktritt, bietet eine 
meisterhafte Schildenmg des Sittenverfalles, ein trotz rhetorischer Schwarz- 
malerei vortreffliches Kulturbild des gerade damals vor dem Zusammen- 
bruch stehenden Reiches und seiner verfaulenden Gesellschaft 

In der reichhaltigen christlichen Literatur dieses Landes fehlt auch 
Aniobiui deis Pamphlet nicht: die um 295 verfaßten 7 Bücher des Amobius ad- 
*°" «95)- j)grsus nationes. Er war ein bedeutender Lehrer der Rhetorik und hatte, 
wie hundert Jahre zuvor Fronto, die christliche Religion angegriffen. In- 
folge eines Traumgesichtes beschloß er überzutreten. Der Bischof weigerte 
sich, den durch seine Vergangenheit übel berüchtigten Menschen aufzu- 
nehmen: da verfaßte er seine Schrift, und mm wurde ihm sein Wunsch 
erfüllt Vom Wesen des Christentums hat er eine ganz imklare Vor- 
stellung, das Neue Testament hat er bestenfalls nur oberflächlich gelesen, 
das Alte kennt er überhaupt nicht; neuplatonische Einflüsse, wie wir sie 
später reichlich bei Augustin finden werden, treten uns in der lateinisch- 
christlichen Literatur hier zuerst entgegen. Der Ton, den der Renegat 
anzuschlagen sich erfrecht, ist pöbelhaft, ihm fehlt die sittliche Würde 
Tertullians. Die feinen und gelehrten Christen der Folgezeit haben daher 
dieses Werk, das der neuen Religion in den Augen der Gebildeten nur 
schaden konnte, entweder (wie Lactantius) stillschweigend oder (wie 
Hieronymus) ausdrücklich abgelehnt. Für den Theologen ist es fast wert- 
los, der Philologe möchte es nicht missen wegen der Zerrbilder, die der 
Verfasser von der ältesten römischen Religion und von den griechischen 
Mysterien entworfen hat, denn der Verleumdung und dem Hohn ent- 
nehmen wir manche sonst unbekannten Tatsachen, 
ijictantio» Ein Schüler des Amobius vor dessen Übertritt war Lactantius. Von 

(+ um jas). Afrika hat ihn Diocletian in die damalige Residenzstadt des Ostreiches 
Nikomedeia (in Bithynien) berufen, wo er bei der griechischen Bevölkerung 
lateinische Bildung verbreiten sollte. Hier trat er zum Christentum über 
und gab bei Ausbruch der diocletianischen Verfolgimg (303) sein Lehramt 
auf. In hohem Alter wurde er als Erzieher des Crispus, des Sohnes Con- 
stantins, nach Gallien berufen. Sein ausgezeichneter Stil, der nur in der 



II. Afrika. 



391 



juristischen Literatur der Zeit ebenbürtige Vertreter aufweisen kann, hat 
ihm seit der Humanistenzeit den Ehrennamen des „christlichen Cicero" 
eingetragen: er wollte auch durch die Vornehmheit der Sprache Propa- 
ganda für die neue Religion machen. Seine kleineren Schriften, darunter 
die geschichtlich wichtige „über die Todesarten der Kaiser, die das 
Christentum verfolgten", übergehen wir. Sein Hauptwerk sind die 7 Bücher 
„Einführung in die Lehre von den göttlichen Dingen" (Dtvinae mstifutionesj, 
ein Titel, den er in bewußter Anlehnung an die juristischen Institutionen 
wählte. In der Tat soll es nur eine Einführung sein, die eigentliche Weihe 
soll hinterher kommen. Er will ein philosopliisches Christentum begründen 
und wendet sich daher an ein hochgebildetes Publikum, sowohl der Alt- 
gläubigen, die er über diese goldne Brücke der neuen Religion zuführt, 
als auch vieler Christen selbst, die den einfachen Geist und die kunstlose 
Sprache der Religionsurkunden noch nicht zu würdigen wußten. Er be- 
rührt sich daher am nächsten mit Minucius Felix, den er rühmend nennt 
und gelegentlich benutzt, ist ihm aber an Tiefe der Auffassung überlegen. 
Wertvoll ist sein Werk auch dadurch, daß darin einige uns verlorene 
philosophische Schriften Ciceros und Senecas benutzt sind. 

Alle Genannten waren nur Vorläufer des Größeren, dem sie den Weg 
bereiteten. Ein Versuch, dem Genius des Augustinus in der hier ge- .\o«u.iinB. 
botenen Kürze gerecht zu werden, wäre aussichtslos; wir beschränken uns 'Js*""«»'- 
darauf, seine Bedeutung für die Literatur mit einigen Strichen zu zeichnen. 
Unwillkürlich fühlt man sich geneigft, seine Eigenart durch einen Vergleich 
mit Hieronymus festzustellen. Denn zu derselben Zeit, als dieser im fernsten 
Osten von seiner stillen Klause aus die christliche Welt in Staunen ob 
seiner Gelehrsamkeit setzte, wirkte Augustinus im äußersten Westen als 
Bischof von Hippo (in der Nähe des heutigen Bona). Die Lebensschicksale 
haben die beiden nicht zusammengeführt, sie waren aber auch verschiedene 
Naturen. Augustinxis war kein Gelehrter wie Hieronymus, sein Wissen ist 
vergleichsweise gering, auch abgesehen von seiner schon erwähnten Un- 
kenntnis des Griechischen; aber an die Stelle der Gelehrtennatur des 
Hieronymus hatte er zu setzen, was jenem abging: ein tiefinnerliches 
Wesen und ein reiches Gemüt; wenn jener hervorragt durch dialektische 
Verstandesschärfe, so dieser durch den Schwung seiner Phantasie. Ja, 
man darf es aussprechen: Augustinus war der größte Dichter der alten 
Kirche, mag er auch in Versen so weniges geschrieben haben wie Piaton. 
Diese beiden gehören zusammen als die größten Dichterphilosophen aller 
Zeiten, und wir wollen es uns als eine für die Geschichte der mensch- 
lichen Ideen wichtige Tatsache merken, daß Augustinus, als er irrte xmd 
fehlte und mit der ganzen Glut seiner Seele die Wahrheit suchte, in der 
platonischen Philosophie die Führerin gefunden hat, die ihn den rechten 
Weg leitete. Piaton selbst freilich hat er im Urtext schon nicht mehr 
lesen können, aber das Beste und Ewige an dessen Philosophie, die Lehre, 
daß diese Sinnenwelt nur ein dämmerhaftes Gleichnis der ewigen und 



3g 2 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum zum Mittelalter. 

daß das Böse nicht für sich bestehend, sondern nur ein Abirren vom Guten 
sei, war auch in den Büchern der Platoniker erhalten, die er in der Über- 
setzung des oben (S. 377) genannten Victorinus las, als er in Mailand noch 
schwankte zwischen Skeptizismus und christlichem OfFenbarungsglauben. 
Und wie ihn einst das Studium des Aristoteles, ebenfalls in einer Über- 
setzung-, aus den wüsten Nebelregionen des Manichäismus in die Welt des 
klaren Denkens zurückgeführt hatte, so entriß ihn jetzt Piaton sowohl dem 
Strudel der Sinnlichkeit, der ihn zeitweise zu verschlingen drohte, als der 
Nichtigkeit weltlicher Rhetorik, die er als Beruf gewählt hatte. Wieder 
siegte, wie einst zu Piatons Zeit, die Philosophie als die Wissenschaft des 
Seins über die rhetorische Scheinwissenschaft, wieder wurde Piaton, 
dessen Finger gen Himmel weist, ein Seelenretter. Wenn er jetzt seinen 
letzten großen Jünger einem Höheren zuführte, in dem der Widerstreit 
von Geist und Materie aufgehoben war, so werden wir dabei gern des 
schönen Wortes der alten griechischen Kirche gedenken, daß Gott in 
Sokrates die Keime des wahren Logos gesenkt habe vor der Erscheinung 
seines Sohnes Jesus Christus. Auch Augustinus selbst hat steh einmal in 
diesem Sinne ausgesprochen: er möchte — schreibt er in einem Briefe — 
wünschen, daß unter denen, die Christus aus der Hölle befreie, diejenigen 
seien, „mit denen wir durch unsere literarischen Studien so vertraut ge- 
worden sind, deren Beredsamkeit wir bewundem, nicht bloß Dichter und 
Redner, sondern auch Philosophen, viele auch, von denen wir keine 
Schriften haben, deren rühmlichen Lebenswandel wir aber aus den Werken 
jener kennen gelernt haben; denn abgesehen davon, daß sie nicht den 
einen Gott verehrten, werden sie mit Recht hingestellt als nachahmenswerte 
Muster der Sparsamkeit, Enthaltsamkeit, Reinheit, der Todesverachtung 
fürs Vaterland und der Treue". Von den Dichtern liebte er besonders 
Vergil, aus dem er sogar in einer Predigt Verse anführt; einmal nennt er 
ihn einen „großen Dichter, den herrlichsten und besten von allen": so 
schreibt er noch als Greis von dem Dichter, bei dessen Lektüre er als 
Knabe an tragischen Stellen geweint hatte. 

Unter seinen überaus zahlreichen Schriften werfen wir einen Blick 
nur auf die zwei berühmtesten. Die Con/essiones sind wohl das einzige 
Buch der alten christlichen Kirche, dessen Studium nicht auf den Kreis 
der Theologen beschränkt geblieben, sondern das ein Lesebuch der Ge- 
bildeten überhaupt geworden ist Im Mittelalter freilich, das für den 
irrenden Menschen Augustinus kein Verständnis haben konnte, da es in 
ihm nur den fehlerlosen Kirchenlehrer verehrte, trat es hinter den großen 
lehrhaften Werken zurück; mit um so größerer Liebe umfaßte es die 
Renaissance, die das Individuum wieder entdeckt hatte. Petrarca, dem 
man ein günstiges Vorurteil für einen christlichen Scliriftstellcr wahrlich 
nicht vorwerfen kann, hat dieses Buch mit schwärmerischer Zärtlichkeit 
geliebt, darüber Tränen vergossen und es wie ein Orakel befragt, als er 
sich auf der Höhe des Mont-Ventoux in der Einsamkeit Gott am nächsten 



11. Afrika. 



395 



fühlte; er hat es in einer eignen Schrift nachgeahmt, wie später Rousseau. 
Was fand man Be.sonderes an diesem Buch, was an ihm fesselt uns noch 
jetzt? Es ist das ewig Menschliche, das an Kraft durch die Jahrtausende 
nicht gebrochen, mit einer Unmittelbarkeit ohnegleichen aus ihm zu uns 
herübertönt. Das Innenleben keines Menschen des Altertums ist uns so 
genau bekannt wie das des Augustinus, und da es auf das ewig Mensch- 
liche eingestellt ist, so wird das Persönliche zum Allgemeingültigen; mit 
Recht hat man das Faustische dieses Buches hervorgehoben. Hoffen und 
sehnen, irren und suchen, verzweifeln und glauben, hassen und lieben — 
es gibt keine Saite im Gemütsleben des Menschen, die hier nicht tönte. 
Genrebilder von ganz intimem Reize wechseln mit erschütternden Seelen- 
gemälden. Von dem Garten in Afrika, wo der Knabe Birnen gestohlen 
hat, begleiten wir ihn bis zu dem Garten in Mailand, wo der 33jährige 
nach unendlichem Ringen in schicksalsschwerer Stunde verzichtet auf 
alles, was ihm das Leben bisher lieb und wert machte, verzichtet auch 
auf die Braut, deren Besitz er mit der ganzen Sinnlichkeit seines heißen 
Blutes begehrt; er erzählt von den Prügeln, die er in der Schule bekam, 
weil er nicht griechisch lernen wollte, wie von seiner sanften frommen 
Mutter, die mit grenzenloser Zärtlichkeit an dem Sohne hängt, und die 
sich zu sterben legt, als er ihr durch Empfang der Taufe den Wunsch 
ihres Lebens erfüllt hat Es liest sich wie ein Roman und ist doch alles 
erlebt Ein solches Buch hat es nie vorher und nie wieder nachher 
gegeben. Zwar eine Selbstbiographie hat ein oder zwei Jahrzehnte vorher 
im Osten des Reiches auch Grregorius von Nazianz {in zwei langen Ge- 
dichten) geschrieben, aber Augnstin gibt sie in Form einer Beichte und 
Rechenschaftsablage vor Gott, unvergleichlich tiefer und wahrer als jener 
große griechische Prediger. Eigentlich neue Gattungen hat die Literatur 
der alten Kirche, die mit der Apostelgeschichte begannt, nicht hervor- 
gebracht, sondern sich damit begnügt, die alten Formen mit neuem Inhalt 
zu füllen — scheinbare Ausnahmen von diesem Gesetz erledigen sich bei 
sorgfältiger Erwägung — : für die augustinischen Konfessionen läßt sich 
ein irgendwie genaues Seitenstück nicht anfuhren. Immerhin wollen wir 
nicht vergessen, daß die Analyse des eignen Ich durch eine Richtung in 
der Philosophie der ersten Jahrhunderte vorbereitet war: Seneca berichtet, 
daß er, dem Beispiel des pythagoreisierenden Sextius folgend, sich abends 
vom sittlichen Ertrage des Tages Rechenschaft abzulegen gewöhnt sei, 
und der Vorschrift Epiktcts „sprich mit dir selbst" verdanken wir Marc 
Aureis „Selbstgespräche"; diese wiederum sind, ohne daß eine unmittel- 
bare Abhängigkeit vorläge, von Augustins Soliloquia nicht zu trennen, 
einer ganz kurz vor der Taufe von ihm verfaßten Schrift, in der er sein 
Ich mit seiner Vernunft ein Zwiegespräch halten läßt. Wenngleich also 
die Möglichkeit besteht, die Konfessionen nach ihrer allgemeinsten Idee 
der Selbstbetrachtung in einen Kreis des Gefühllebens hineinzubeziehen, 
das auch in der Literatur der Antike seinen Niederschlag gefunden hat, 



3Q4 EdxtaRD Norden: Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum nun Mittelalter. 

so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß hier eine stark ausgeprägte 
Persönlichkeit die überlieferten Formen zerschlagen und ein Neues gebildet 
hat Freilich haftet auch an diesem Menschenwerk ein Erdenrest Wer 
eine solche Beichte an seinen Gott als Lese- und Erbauungsbuch für das 
Publikum herausgibt (und er nimmt öfters ausdrücklich auf Leser Bezug), 
der hat die von den Christen vielgeschmähte antike Selbstgefälligkeit 
innerlich noch nicht ganz überwunden, und ihm kann der Vorwurf nicht 
erspart bleiben, daß er „sein Herz zur Schaubühne gemacht hat". Zudem 
wirkt die Form der Beichte, durch 13 Bücher fortgesetzt, schließlich 
ermüdend und kann ohne Künstlichkeit nicht gewahrt werden: oft hören 
wir ihn nicht vor seinem Grotte bekennen, sondern seine Leser belehren. 
Die Sprache endlich, die nach unserem Gefühl in solchem Werke nicht 
schlicht genug sein kann, ist stellenweise sehr gesucht: die erhabensten 
Gedanken seines schöpferischen Geistes, die geheimsten und zartesten 
Regungen seiner leidenden Seele werden von ihm nur zu oft mit dem 
Flitterkram der Rhetorik behängt Aber diese Fehler, die er auch in 
seinen Predigten nicht vermeidet, teilt er mit seiner Zeit Als Ganzes ist 
das Werk von einsamer Grroßartigkeit und gehört zu den ewigen Besitz- 
tümern der Menschheit 

Wenn die Konfessionen den Kampf des Individuums zwischen Böse 
und Gut und den endlichen Triumph des Guten schildern, so stellen die 
später geschriebenen 22 Bücher „Vom Reiche Gottes" (de civüaie det) 
dieses Problem auf die Grundlage der ganzen Menschheitsgeschichte. 
Diesem bedeutendsten Werke der alten Kirche hat auch die griechische 
Theologie nichts Vergleichbares an die Seite zu setzen; wie im Osten die 
Fähigkeit wissenschaftlicher Forschung, so war im Westen des Reiches 
die Kraft des Aufbauens gfrößer. Den unmittelbaren Anlaß zu diesem 
Werke gab dem Augustinus die Bestürmung Roms durch Alarich (410). Da- 
mals grub die nationale Partei den alten Vorwurf wieder aus, daß an 
diesem Verhängnis, dem fürchterlichsten seit der Schlacht an der Allia, 
die Christen schuld seien, denen die alten Götter gerollten. Nie war 
dieser Vorwurf mit scheinbar größerem Rechte erhoben worden — ging 
doch dem Barbarensturm das Edikt des Theodosius, das die Tempelgüter 
einzog, unmittelbar voraus — , und es bedurfte des ersten Mannes der 
Christenheit, ihn zu widerlegen. So schließt dieses Werk die lange Reihe 
der christlichen Verteidigungsschriften ab, geht aber darin weit über sie 
hinaus, daß es auf den Trümmern des niedergerissenen Pantheon die 
christliche Kirche sich vor unseren Augen erheben läßt So xn.'ürdig und 
ernst, mit solcher Tiefe und Weite des Blickes war die alte Streitfrage 
noch nie behandelt worden. Angenehm berührt uns die trotz g^rundsätz- 
licher Ablehnung des Alten gew^ahrte Vornehmheit der Polemik: man 
merkt, daß ihm einst lieb und wert gew^esen ist, was er nun bekämpfen 
muß, und gern bezeugt er auch hier gelegentliche Gedankenharmonie 
philosophischer Denker und Dichter, wie Ciceros, Vergils, Senecas und 



11. Afrika. 



595 



vor allem Piatons, mit christlichen Lehren. Der wissenschaftlichen Sach- 
lichkeit, mit der der Polytheismus bekämpft wird, verdanken wir Stücke 
der wertvollsten Urkunden der alten Religion, deren Originale nun freilich, 
als endgültig widerlegt, der Vergessenheit anheimfielen. Augustinus unter- 
sucht in diesem Werke die alte Frage nach der Stellung des Christentums 
in der Geschichte, löst sie aber nicht wie frühere Schriftsteller hi.storisch, 
sondern spekulativ. Der Widerstreit des bösen und des guten Prinzips 
findet in dem Kampfe der civitas terrena und divina seinen Ausdruck; 
das irdische Reich ist mit dem Sündenfall in die Welt getreten und dient 
den irdischen Bedürfnissen; das Gottesreich ist das Ideal der Sünden- 
losigkeit; beide wogen auf und nieder, bis Christus das Reich Gottes, das 
seit seiner Erscheinung reiner als zuvor erstrahlt, dereinst am Ende aller 
Tage zum vollen Siege fuhren wird. Dem Altertum war der Gedanke, 
die Wirksamkeit einer Idee in der Weltgeschichte zu erweisen, unbekannt 
gewesen: er konnte auch nur auf dem Boden des christianisierten römischen 
Weltreiches erwachsen, und nur im Geiste eines Mannes, der die Kraft 
philosophischer Betrachtung mit baumeisterlicher Kunst so vereinigte wie 
Augustinus. Wenn das Wesen der Geschichtsphilosophie teleologische 
Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung ist, so darf Augustins Werk 
ein geschichtsphilosophi^ches genannt werden (der Ausdruck stammt von 
Voltaire), insofern hier zum ersten Male ein Fortschritt der Menschheits- 
geschichte nach einem bestimmten Ziele hin behauptet und dargelegt 
worden ist Bei aller Bewunderung jedoch für die Größe des Wurfes, für 
den Versuch, die Flucht der Erscheinungen einem einheitlichen Prinzip 
unterzuordnen, und für die systematische Folgerichtigkeit, mit der dieser 
Riesenbau aufgeführt worden ist, kann die Kritik auch hier nicht ver- 
stummen. Die zum Prinzip erhobene transzendentale Idee des göttlichen 
Willens läßt die in der Geschichte lebendigen Mächte außer Betracht: 
gilt doch die Freiheit des Willens, die der junge Augustinus verteidigt 
hatte, dem alten durch den Sündenfall als aufgehoben. So vermag 
denn diese religionsphilosophische Geschichtskonstruktion, wie sie nicht 
ohne allegorische Umdeutung und gewaltsame Beugung geschichtlicher 
Tatsachen zustande gekommen ist, die Probe auf ihre Richtigkeit bei vor- 
urteilsloser Prüfung nicht auszuhalten. Diesem Urteil widerspricht es 
nicht, daß der Siegeszug dieses Werkes durch die abendländische 
Christenheit fast beispiellos gewesen ist; man wird wohl sagen dürfen, 
daß außer Piaton kein Schriftsteller auf die Gedanken der Kultur- 
menschheit so bestimmend eingewirkt hat wie Augustinus durch dieses 
Werk. Noch heute ist es ein Grundbuch der katholischen Kirche. Be- 
greiflich genug: ist doch die civitas dei dem Augustinus nicht bloß das 
übersinnliche Reich Gottes, das dereinst am Ende der Dinge kommen 
wird, sondern zugleich auch die Kirche, die bereits jetzt auf jenen Zustand 
der Vollkommenheit vorbereitet; und als solche hat sie die Aufgabe, die 
ihr gegenüberstehende civitas terrena, die sündige weltliche Gemeinschaft, 



^^^^V jq6 Eduakd Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

^^^H zu heiligen und sich dienstbar zu machen. Diese zweite, reale Auffassung^ 

^^^m des Begriffes der civüas dci drängte im Mittelalter die erste, geistige in 

^^F den Hintergrund; sie wurde — von Thomas von Aquino schließlich in 

^B voller Schärfe herausgearbeitet — die theoretische Grundlage für die 

^1 Weltherrschaft der katholischen Kärche, für jene Politik, durch die die 

^H Kirche die Welt, Wissenschaft wie Leben, in sich aufnimmt und sich 

^H unterordnet. 

^1 Augustinus hat nach seiner Taufe noch über vier Jahrzehnte in seiner 

^H Heimat gewirkt, anerkanntermaßen der größte Schriftsteller der Christenheit. 

^B Aber auch ins Volk ist er hinabgestiegen durch seine Predigten. Diese 

^B sind in der Form charakteristisch durch ihre ausgebildete Reimprosa, an 

^1 deren Stillosigkeit das Mittelalter sich berauschte. Auch über die Theorie 

^^^H der Predigt hat Augustinus ein ausgezeichnetes Werk verfaßt, in engem 

^^^H Anschluß an Ciceros Schrift vom Redner. Er sollte den Einbruch der 

^^^H Barbaren in sein Heimatland noch erleben: während der Belagerung 

^^^H seines Bischofssitzes Hippo durch die dem gotischen Stamme angehörenden 

^^^r Vandalen starb er hochbetagt (450). 

Po«ne lor Zeit Aus der Zeit der hundertjährigen Vandalenherrschaft in Afrika be- 

der v»B(Uion- gitzg^ wir Zahlreiche größere und kleinere Gedichte, von denen einige 

bciTscbalt ^ " 

(4*9-s34)- sich durch formale Kunst auszeichnen; auch bieten sie als literarische Er- 
zeugnisse einer Mischkultur nicht geringes Interesse. Die Barbarenkönige 
sahen es mit Schmunzeln, wenn die lateinischen Dichter ihnen Geburtstags- 
gedichte machten oder ihre Sommerresidenzen und Bauten verherrlichten, 
doch ließen sie sie gelegentlich auch ihre rohe Kraft fühlen. Dann regte 
sich wohl das nationale Gefühl der römischen Provinzialen gegen die 
Barbaren, die hier die alte reiche Kultur zerschlugen. Ein bekanntes Ge- 
dichtchen dieser Art, wertvoll durch die germanischen Worte des ersten 
Verses (heüs und skapjam matzjan jah drinkan), lautet in deutscher Über- 
setzung: 

Zwischen dem gotischen „Heil!", dem „Schafft uns zu essen und trinken" 
Wagt sich keiner daran, die Verse richtig zu bilden. 
Denn Kalliope scheut den Verein mit dem trunkenen Bacchus; 
Schritte die Muse doch dann taumelnden Fußes einher. 

HL Spanien. Dieses Land, das im i . Jahrhundert der Literatur die 
größten Talente (so die Familie der Seneca, Martial, Quintilian), und der 
Welt zwei Kaiser (Trajan, Hadrian) schenkte, sank seit der Mitte des 
2. Jahrhunderts zu vollkommener Bedeutungslosigkeit herunter. Auch das 
Christentum brachte hier zunächst keinen literarischen Aufschwung: der 
Gegensatz zu Afrika und Gallien ist so scharf wie nur möglich. Erst vom 
4. Jahrhundert ab wurde es etwas besser {Theodosius der Große war 
Spanier), doch waren auch jetzt nicht einmal Talente zweiten Ranges in 
der Literatur zahlreich. Die Ursache dieser Minderwertigkeit mag gerade 
liegen, daß die Romanisierung in keiner Provinz so durchgreifend 




in. Spanien. 



397 



war wie in Spanien: so fehlte hier mehr als anderswo die Rassenmischung, 
die in Gallien und Afrika Literaturen landschaftlichen Charakters hervor- 
brachte. Auch lag diese Provinz dem Osten am fernsten: die Kenntnis des 
Griechischen muß hier geinz unbedeutend gewesen sein. Bis an die 
Grenze des Mittelalters hat die Literatiu" Spaniens nur einen einzigen 
großen Namen aufzuweisen — denn die Weltgeschichte, die der Presbyter 
Orosius im Auftrage des Augustinus verfaßte, ist nur durch die darin aus- 
geschriebenen, uns zum Teil verlorenen Quellen wichtig — : den Dichter 
Prudentius, den man als Liederdichter den „christlichen Horaz" nennen rmdeonui 
darf. Seine Hymnen sind nicht wie die ambrosianischen für den Gemeinde- '^ "" *'"' 
gesang bestimmt: es ist ein Liederbuch zum Lesen, mögen auch einzelne 
Lieder auszugsweise in kirchlichem Gebrauch gewesen sein. Er gibt der 
Mystik größeren Spielraum als Ambrosius. Er führt in die Lyrik die Er- 
zählung ein, verbindet sie also mit der Epik; den Stoff der Erzählungen 
entnimmt er der Bibel, wie einst Pindar dem Epos (gleichartige Voraus- 
setzungen haben hier zu ähnlicher Kunstübung geführt). Er gestaltet sie in 
gutem Sinne des Wortes pathetischer und verbindet so aufs glücklichste 
Zartheit des Empfindens mit Schwung der Phantasie. Manche seiner 
Märtyrerlegenden zeigen fireilich den Schwulst und die Roheit ihrer pro- 
saischen Vorlagen; aber einige lassen sich als volkstümliche Balladen be- 
zeichnen: diese Stücke (z. B. das Gedicht auf den heiligen Laurentius) sind 
ausgezeichnet durch erfrischende Derbheit des Ausdruckes und lebendige 
Szenerie, stellenweise auch durch Humor, sie haben auf die mittelalterliche 
Volkspoesie eingewirkt: so feiert das älteste uns erhaltene nordfranzösische 
Gedicht die heilige Eulalia, deren Martyrium auch Prudentius besingt. 
Eins seiner kleinen Epen hat dadurch kulturgeschichtliches Interesse, daß 
es wegen einer durchgeführten Allegorie — die antiken Laster kämpfen 
mit den christlichen Tugenden um die menschliche Seele — ein Lieblings- 
buch des Mittelalters bis auf Dante wurde. 

Wie in Italien, Afrika und Gallien, so brachte die germanische Be- 
setzung des Landes auch in Spanien der Literatur eine Nachblüte, die 
hier freilich nur kurz und matt war und sich erst entfaltete, seitdem die 
arianischen Westgoten zum katholischen Bekenntnis übertraten (586): denn 
erst dadurch kam das römische Element des Landes, das bis dahin unter- 
drückt worden war, zur Betätigung seiner Eigenart Die Bischöfe von 
Toledo, Saragossa und Sevilla wetteiferten durch philosophische, gram- 
matische und historische Abhandlungen in dem Bestreben, die sinkende 
Kultiir zu stützen; sie wußten sogar die germanischen Eroberer dafür zu 
interessieren: als Merkwürdigkeit sei erwähnt, daß zu Anfang des 7. Jahr- 
hunderts ein westgotischer König (Sisebut -{- 620) in guten lateinischen Hexa- 
metern über Sonnen- und Mondfinstemisse schreibt Der bedeutendste dieser 
letzten Pfeiler der Kultur war Isidorus, Bischof von Sevilla. Der Ruhm seines imdoru» 
Namens knüpfte sich im Mittelalter besonders an ein umfangreiches Werk, '^ "" ***■ 
das wir als eine Art von enzyklopädischem Reallexikon bezeichnen würden. 



398 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

Originales Wissen darf man darin freilich nicht suchen, aber schon eine 
so massige Sammlung des zerstreuten Stoffes zum Nutzen der Bildun^s- 
freunde war damals ein großes Verdienst, imd in diesem Sinne sagte ein 
Zeitgenosse von ihm: „Grott hat ihn nach all dem Unglück Spaniens er- 
weckt zur Erhaltung der Denkmale der Vergangenheit imd ihn wie einen 
Rammpfahl hingesetzt, auf daß wir nicht völlig in Barbarei verkämen." 
Nicht ohne Interesse und Rührung sehen wir diese letzten Vor- 
kämpfer der Kultur die Brosamen von der reichbesetzten Tafel der Vorzeit 
sammeln. 

RomanUiening IV. Galüeu. Hier entfaltete sich in den Zeiten des ausgehenden 
Gaiueni. ^-Itertums besonders reiches literarisches Leben. Um den Gnmd zu er- 
kennen, greifen wir etwas weiter zurück. Der südliche Teil der Provinz 
(Gallia Narbonensis) war seit ältester Zeit nächst Kampanien das gelobte 
Land des Hellenismus im Westen; in der Kaiserzeit waren die Mittel- 
punkte Massilia (Marseille), Arelate (Arles), Nemausus (Nlmes), Tolosa 
(Toulouse), Narbo (Narbonne), Vienna (Vienne). Die hohe Kultur dieser 
Gegend wirkte befruchtend auch auf die westlichen und nördlichen Teile 
des Landes, die von Cäsar dem römischen Reiche gewonnen wurden. 
Es kam hinzu, daß die Gallier sich dem römischen Wesen leicht anglichen, 
ohne doch dabei ihre Eigenart preiszugeben. Cäsar fiel die stark aus- 
geprägte Neigung und Fähigkeit zum Nachahmen auf. „Ganz Gallien, 
sagte schon der alte Cato, gibt sich eifrigst mit zwei Dingen ab, dem 
Kriegswesen und der Kunst geistreicher Rede.« So sehen wir denn die 
griechisch-römische Kultur vom Süden her sich rasch ausbreiten. In 
Lugdimum (Lyon) fand schon unter Caligula ein Wettstreit zwischen 
griechischen und lateinischen Rednern statt, und zur Zeit Trajans ist der 
jüngere Plinius stolz darauf, daß dort seine Schriften verlegt werden. Ein 
Rhetor um 150 nennt, wenn auch übertreibend, Reims das „gallische 
Athen". Seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts ist Trier, die Residenz der 
Kaiser im Westen, ein Hauptsitz der Studien, das „Rom des Nordens", 
wie es Mommsen nennt Aber das regste geistige Leben herrschte damals 
in der südwestlichen Provinz Aquitanien, vor allem in Burdigala (Bordeaux), 
auch in Pictavum (Poitiers). 

Im 2. Jahrhundert freilich vermochte Gallien mit Afrika nicht zu wett- 
eifern, das 3. war für diese Provinz in noch stärkerem Maße als für 
das übrige Reich eine Zeit tiefsten Verfalles, denn in Gallien kam zu dem 
allgemeinen Elend noch ein furchtbarer Bauernaufstand, der das Land dem 
Untergange nahebrachte. Der Segen der Reichsteilung kam dieser 
Provinz daher vor allem zugute. Im 4. Jahrhundert verdrängte sie Afrika 
aus der führenden Rolle und konnte es sogar mit Italien aufnehmen; die 
häufige, durch die Barbareneinfälle bedingte Anwesenheit der Kaiser 
förderte die Literatur. Das Christentum in griechischer Sprache wurzelte 
seit der Mitte des 2. Jahrhunderts fest in der südlichen Provinz (z. B. in 



IV. Gallien. 



399 



Vienne) und breitete sich von da aus: Lyon, auf der Grenze der südlichen 
und der zentralen Provinz, vermittelte es dem römisch und keltisch redenden 
Teil des Landes. Die Kenntnis des Grriechischen ist in dem Gallien des 
4. Jahrhunderts, als es in Afrika zu erlöschen begann, noch ziemlich ver- 
breitet: Ausonius empfiehlt seinem Enkel die Lektüre des Homer und 
Menander und prunkt in halblateinischen, halbgriechischen Versen mit 
seinem Wissen. Immerhin erkennen wir auch hier deutlich den Rück- 
gang griechischer Kenntnisse: die Professoren dieser Sprache verdienten 
nur so viel wie die lateinischen Elementarlehrer; doch sind — infolge 
der politischen Beziehungen des Frankenreiches zu Ostrom — Spuren 
g^echischer Kenntnisse noch in Klöstern des 5. und 6, Jahrhunderts nach- 
weisbar. Ein tieferes Interesse für wissenschaftliche Studien fehlt; da- 
gegen blühen die rhetorischen Studien, die die Kunst des Versemachens 
mitumfassen, hier noch mehr als im übrigen Reiche: Symmachus ver- 
schreibt sich für einen Verwandten einen Rhetor aus Gallien nach Rom. 
Über den Schulbetrieb dieses Landes im 4. Jahrhundert geben uns mehrere 
Urkunden interessante Aufschlüsse. Da ist zunächst ein Erlaß der drei 
Kaiser vom Jahre 376 über Besoldungen der Lehrer (die in Trier be- 
kommen eine Extrazulage). Ferner ein Gedichtkranz des Ausonius, der 
eine Art von Gelehrtengeschichte Südwestgalüens enthält (einige seiner 
Kollegen bekommen den Ehrentitel „Abstinenzler", was für die übrigen, 
meist in Bordeaux lebenden zu denken gibt). Endlich die Rede des 
Eumenius von Augustodunum (Autun), die wir wegen ihres Inhaltes wie 
eine Oase in der Ode galhscher Rhetorik begrüßen (gehalten 297): der 
Mann — nach unserer Bezeichnung etwa Gymnasialdirektor — bittet den 
Statthalter der Provinz, ihm bei den Kaisem die Erlaubnis auszuwirken, 
sein ganzes Gehalt zum Wiederaufbau der in den Kriegsunruhen zer- 
störten Schule zu verwenden. — Eine eigentlich christliche Literatur hat 
Gallien im 4. Jahrhundert nicht aufzuweisen. Doch gehört die im Jahre 403 
vom Aquitanier Sulpicius Severus verfaßte chronikartige Darstellung derSuipiciusSevem» 
jüdisch-christlichen Geschichte noch in diese Epoche. Dies inhaltlich " 
durch die verständige Benutzung wertvoller Quellen wie formell durch 
die Sauberkeit der Sprache gleich bemerkenswerte Werk führt uns wie 
die ebenfalls von Sulpicius verfaßte dialogartige Biographie des Martinus 
von Tours die geistige Vorherrschaft Aquitaniens in vorteilhaftester Weise 
vor Augen. Für den flatterhaften Namenchristen, Schöngeist und Tausend- 
künstler Ausonius ist der Vergleich mit diesem gebildeten Anhänger der 
neuen Religion ebensowenig schmeichelhaft wie der Vergleich mit dem 
phantasiebegabten Paulinus von Nola (s. Leo oben S. 370). 

Die Kultur Galliens brach im Anfang des 5. Jahrhunderts unter den 
furchtbaren Stürmen der Völkerwanderung zusammen. Gallien ging dem 
Reiche dauernd verloren: Burgunder, Franken, Westgoten gründeten teils 
mit Gewalt, teils mit Genehmigung der Kaiser, die sich dadurch die 
Rettung Italiens erkauften, ihre Staaten, die Hunnen vollendeten das Zer- 



^oo Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altcrtmn lum Mittelalter. 



SidoninB 
ApoUinaris 

fam 430 — 480). 



Salvianiit 
(om 440». 



Störungswerk (451). Auch hier versuchten die römischen Provinzialen ihre 
Literatur als Bollwerk der Sturmflut entgegenzusetzen. „Das einzige Ab- 
zeichen des Adels wird — so schreibt einer — in Zukunft Kenntnis der 
Literatur sein"; einem andern ist „Flucht vor den Barbaren« gleich- 
bedeutend mit dem „Standhalten bei der Fahne der Literatur". Aber was 
nützte es ihnen, äa& sie sich schüttelten vor der „schuppigen keltischen" 
oder der „flächsernen germanischen Sprache"? Der Verfall war unauf- 
haltsam und eine geschichtliche Notwendigkeit: die Zukunft gehörte dem 
Neuen. Die eigentlich christliche Literatur entwickelte sich in dem Gallien 
des 5. Jahrhunderts zu hoher Blüte; sie nahm hier, dem religiösen Leben 
entsprechend, eine asketische Färbung an. Die Kloster- und Bischofs- 
schulen, bald auch die Hofschulen an den Residenzen der Merowinger 
traten das Erbe der Rhetorenschulen an. Wer an den alten Formen fest- 
hält wie Sidonius ApoUinaris, in dem sich die Richtung des Ausonius 
fortsetzt, und der auch als Bischof von Clermont das Versemachen nicht 
lassen kann, verfallt unrettbar der Öde des Inhaltes und dem Schwulst. 
Ganz anders wissen uns christliche Schriftsteller der Zeit zu fesseln. Wie 
inhaltreich ist, um nur dieses zu nennen, das Werk des Salvianus, eines 
Presbyters von Marseille, „über die göttliche Weltregierung", verfaßt nach 
der Eroberung Afrikas durch die Vandalen {429), aber vor dem Einbruch 
der Hunnen in Gallien (451). Es ist eine große Strafpredigt über die 
verkommene Zivilisation des römischen Reiches, die Farben sind grell wie 
bei luvenal. Das Bedeutsame aber ist nun, daß er den entarteten 
römischen Bewohnern der Provinzen — Anhängern der alten wie der neuen 
Religion — die germanischen Eroberer als die sittlich vollkommeneren 
Menschen entgegenzustellen wagt: Gottes Strafgericht ist gerecht, die Bar- 
baren verdanken ihre Siege nicht bloß der rohen Kraft, sondern ihrer 
größeren Tüchtigkeit. Die alte Gegenüberstellung einer äußerlich glän- 
zenden, im Innern morschen Kultur und einer ungebrochenen barbarischen 
Volkskraft hat hier einen tatsächlichen Hintergrund erhalten; dieses bei 
Tacitus nur leise mitklingende Motiv beherrscht hier die ganze, stellen- 
weise an die Strafpredigten der Jüdischen Propheten gemahnende, 
rauschende Symphonie. Dieser Mann ist nicht blind gegen die Fehler 
auch der Barbaren — „die Goten, sagt er einmal, sind treulos, aber 
sittsam, die Alanen unsittlich, aber weniger treulos, die Franken lügnerisch, 
aber gastfreundlich, die Sachsen grausam, aber wunderbar keusch" — , 
aber ihm ist doch die Erkenntnis gekommen, daß die Zukunft den Ger- 
manen gehört. Gefühlt haben mögen das damals viele ernste Männer, 
ausgesprochen hat es, noch dazu in dieser Schärfe, keiner sonst, und 
Salvian ist sich seiner Kühnheit bewußt. Für uns aber gewinnt sein 
Werk dadurch großen Reiz und hohe kulturgeschichtliche Bedeutung. 

Wie in den übrigen Ländern des ehemaligen Reiches, so brachte auch 
in Gallien die germanische Staatengründung des 6. Jahrhunderts eine 
Mischkultur von eignem Gepräge hervor. Wie der Barbar sich gern mit 



glitzemdem Schmuck behängt, so ließen die Merowingerkönige es sich 
gern gefallen, wenn ein romanischer Dichter ihre Hochzeitsfeste oder 
Kirchenbauten in pomphaften Versen besang oder ein Prosaiker ihre in 
Krieg und Frieden gleich blutigen Taten aufzeichnete. Einer dieser Könige, 
Chilperich, der auch lateinische Verse, aber metrisch falsche, machte, ciiUperich 
prunkte sogar mit seiner Kenntnis des griechischen Alphabetes, aus dem '^ ^'*'' 
er, der Barbar, drei Buchstaben ins lateinische einzuführen befahl, ein 
wunderlicher Herr, wie der selige Kaiser Claudius, der einst Ahnliches 
versucht hatte. Ein griechischer Arzt, Anthinius, verfaßte um 520 für Aniiumiu 
einen der Söhne Chlodowechs eine Art von diätetischem Kochbuch, das '"" '"'"'• 
sehr interessant ist durch seine Sprache — das Latein ist schon auf dem 
Wege zum Romanischen — und durch einige sachliche Bemerkungen, 
z. B. regt er sich über den maßlosen Genuß von Speck auf, „diesem 
Leckerbissen der Franken". Zwei Schriftsteller dieser Zeit, beide römische 
Provinzialen , verdienen genauere Erwähnung. Grregorius, Bischof von r.rcjor 
Tours, ist berühmt durch seine große Geschichte der Franken. Daß ein '°? ^°"'" 

(+ 59JI- 

Mann in dieser gärenden Zeit, als auf den Ruinen des Alten und zum 
Teil mit ihrem Material ein neues Volkstum sich zu entwickeln begann, 
den Mut und die Kraft zu einem solchen Unternehmen besaß, verdient 
hohe Anerkennung, und wir wollen mit ihm nicht rechten, daß er es aus- 
führte ohne die Bildung, die Cassiodor, zweifellos sein Vorbild, in seiner 
Gotengeschichte gezeigt hatte. Mag er sich entschuldigen müssen, daß er 
die Geschlechter der Substantive nicht mehr scheiden, die Präpositionen 
nicht mehr mit ihren Kasus verbinden könne: wir haben allen Grund, 
ihm für eine der wichtigsten Urkunden unserer ältesten Geschichte dankbar 
zu sein, und freuen ims gerade darüber, daß er auf den pomphaften Stil 
des „gallischen Kothurns" verzichtete, den er in seinen Heiligengeschichten 
anzulegen für gut befand. Mit ihm befreundet war der Dichter Venantius 
Fortunatus, das größte Formtalent der untergehenden westlichen Kultur venandn« 
des 6. Jahrhunderts. Er stammte nicht aus Gallien — dort konnte man '''""'"*"»» 

•' _ _ (f mo 600). 

so Tüchtiges längst nicht mehr — , sondern aus Oberitalien, wo, wie be- 
merkt, die Ostgotenzeit einen bedeutenden Aufschwung bewirkt hatte. Von 
dort kam er um die Mitte des Jahrhunderts nach Gallien, wo er als 
Presbyter in Poitiers um 600 starb. Alle staunten den italischen Poeten 
wie ein Wunder an. In der Tat verdient er unsere Achtung: man muß 
es ihm lassen, daß er seine antiken Vorbilder (darunter z. B. die Elegiker 
der augusteischen Zeit) gelegentlich mit Verständnis nachgeahmt hat; 
zwei seiner Hymnen sind noch jetzt im Gebrauch der katholischen Kirche. 
Für die Kulturgeschichte seiner Zeit ist er von nicht geringer Bedeutung 
— von den Deutschen, durch deren Gebiet er auf seiner Reise von 
Ravenna ins Frankenland kam, sagt er, sie hätten „als seine Zuhörer bei 
hölzernen Bechern dagesessen und, sich den Heiltrunk bietend, so unmäßig 
gezecht, daß selbst der Zechergott Bacchus es für eine Tollheit erklärt 
haben würde" — , und über die Gedichte, die er im Auftrage der Rade- 

VtM Kin.TVii DU CnGXKWAKT, L 8, 26 




^02 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

gunde verfaßte, urteilt eine berufene Stimme so: „Das Bild, das sie bieten, 
ist nicht ohne Bedeutung und in gewisser Weise eine Verheißung für 
folgende Zeiten. Dort die thüringische Königstochter, ihrer Heimat ent- 
führt und zur fränkischen Königin in romanischer Bildung erzogen, eine 
Heilige der Kirche; hier der italische Lehrer und Dichter, ein frommer 
Priester, auf den von Franken eroberten gallischen Boden verschlagen: so 
finden wir die Überreste der versunkenen Jahrhunderte mit ihren aus der 
Fäulnis mächtig fortwirkenden Keimen und die frischen Kräfte, denen die 
Zukunft gehört, jene von diesen, diese von jenen bereits beeinflußt und 
umgestaltet beieinander" (F. Leo). 

Wenn schon Gregor von Tours in der Vorrede seines Werkes klaget, 
daß die Pflege der Wissenschaft in den gallischen Städten daniederliege, 
so brachte hier das 7. Jahrhundert mit dem kläglichen poUtischen Nieder- 
gang den völligen Verfall der Kultur. Wir ermessen den Abstand an der 
'Fredegar' Fortsctzung Gregors, die imter dem Namen des Fredegar bekannt ist: 
(6130. gQ dankenswert sie (mit ihren Erweitenmgen) für den Historiker ist, 
bekundet sie doch in der Darstellung die hereingebrochene Barbarei. 
Wenn nicht von anderer Seite Hilfe kam, so war es in diesem gelobten 
Lande der Bildung mit der Kultur vorbei. Diese Hilfe sollte kommen 
von Seiten der Kirche und des Staates. 

Irische Kultur. V. Die Propaganda der irischen und angelsächsischen 

Mönche. Irland war von Südwestbritannien aus, wo im 4. Jahrhundert 
eine fest organisierte Kirche bestand, xxm 400 christianisiert worden. Es 
blieb dank seiner Abgelegenheit von den Stürmen der Völkerwanderung 
verschont, die im ganzen übrigen Abendland die Kultur fast zerstörten, 
und in den zahlreichen Klöstern, die hier in rascher Folge entstanden, 
konnte an den Zustand der Bildung im 4. Jeihrhundert unmittelbar an- 
geknüpft werden. Die im Abendland sonst fast verlorene Kenntnis des 
Griechischen war bei den Iren so verbreitet, daß im Frühmittelalter irische 
Nationalität und griechische Sprachkenntnis feist eine Gleichung bildeten. 
Die sprichwörtliche Wanderlust der irischen Mönche wurde für den ganzen 
Gang der Zivilisation entscheidend: sie haben die antik-christliche Kultur, 
die ihnen um 400 übermittelt worden war, im 6. imd 7. Jahrhimdert in den 
südlichen Ländern, wo sie inzwischen fast verloren gegangen war, zu 
Coiomb«nu> neuem Leben erweckt Nicht lange nach jener Klage des Gregor von 
(t fi's)- Tours über die literarische Verwahrlosung des Frankenreiches gründete 
am Westabhange der Vogesen ein sehr gebildeter irischer Mönch, 
Columbanus, drei Kllöster, danmter das bekannteste Luxovium (Luxeuil bei 
Beifort). Wechselvolle Schicksale führten ihn im Jahre 613 zur Lango- 
bardenkönigin Theudelinde, die von Papst Grregor dem Großen für den 
römischen Katholizismus gewonnen worden war. In ihrem Reiche, unweit 
südlich von Pavia, gründete Columbanus das Kloster Bobbio. Den 
ungewöhnlich hohen Bildungsstand dieses Klosters beweisen die zahl- 



V. D'e Pfopigjnli der irischen und angelsächsischen Mönche. 



403 



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reichen dort gefundenen wertvollen Handschriften, die Columbanus teil- 
weise selbst aus Rom dahin brachte. Columbans Schüler Gallus, der ihm 
wegen Krankheit nicht nach Bobbio hatte folgen können, legte um 613 
den Grund zu der später nach ihm benannten Abtei St Gallen, der zweiten 
großen Fundgrube von Handschriften in der Zeit des Humanismus. 
Freilich darf nicht verschwiegen werden, daß in diesen Klöstern manche 
schöne alte Handschrift von den Mönchen bloß als Material benutzt wurde, 
um über den ausradierten profanen Text- Predigten, Konzilienbeschlüsse 
u. dgl. zu schreiben. Doch werden wir, wenn wir die Zeitverhältnisse und 
die Kostbarkeit des Pergamentes bedenken, mit den schreiblustigen Mönchen 
deswegen nicht zu streng ins Gericht gehen dürfen. 

Vor allem die irischen Mönche waren es auch, die den Alemannen, 
Langobarden, Franken und Bayern eine reiche geistliche, auf der Antike 
begründete Bildung gebracht haben. Am frühesten und nachhaltigsten 
haben sie die Schätze ihres Wissens aber derjenigen Nation mitgeteilt, 
die ihnen örtlich am nächsten wohnte, den Angelsachsen, deren 
Christianisierung Gregor der Große 593 begonnen hatte. Staunend sah 
dieses Volk, das im 5. Jahrhundert die britische Kirche vernichtet hatte, 
jetzt auf die Gelehrsamkeit seines irischen Nachbarn und eignete sie sich 
mit solchem Erfolge an, daß es seine Lehrmeister übertraf; auch unter 
ihnen verbreitete sich die Kenntnis des Griechischen. Der lateinische Stil 
dieses hochbegabten germanischen Volkes hat dadurch Interesse, daß er 
sowohl durch griechische Lehnworte stark gefärbt ist, als auch in der 
merkwürdigen Vorliebe für Alliterationen unverkennbar eine nationale Be- 
sonderheit zeigt; finden wir doch auch bei keinem germanischen Volks- 
stamm so früh wie bei diesem die Kraft, eine nationale Literatur in 
nationaler Sprache zu schaffen. Der Anfang des 8. Jahrhunderts sah hier 
in Aldhelmus und Beda zwei in ihrer Art bedeutende Schriftsteller. Beda, 
dessen „Kirchengeschichte der Angeln" eine hohe geschichtliche Be- 
deutung hat, wurde durch seine Chronik, seine theologischen, chrono- 
logischen und grammatischen Schriften neben Cassiodor und Isidor eine 
der angesehensten Autoritäten des Mittelalters, Aus diesen Kreisen, 
in denen es als selbstverständlich galt, daß klassische Bildung die not- 
wendige Voraussetzung der Theologie sei, stammte Wynfritli oder wie er 
sich als Apostel der Deutschen nannte: Bonifatius. Wir besitzen von ihm 
Briefe in schwülstiger Sprache, durchmischt mit halblatinisierten 
griechischen Worten, Spielereien in antiken Versmaßen , sogar gram- 
matische und metrische Werkchen. Doch nicht in seinen Schriften liegt 
seine kulturgeschichtliche Bedeutung, sondern darin, daß er diese auf 
wissenschaftlichem Unterbau ruhende Kultur in seinen deutschen Grrün- 
dungen eingebürgert hat. Mit hoher Bewunderung lesen wir den Bericht, 
wie Sturmius, ein Schüler des Bonifatius, in die Wildnis der Buchonia 
(Thüringer Wald) vordringt, wie er bei Hairuvisfelt (Hersfeld) Halt macht, 
dann von seinem Lehrer geheißen wird weiter zu ziehen, wie er dann 

36* 



Gallas 
'+ 635)- 



Angelsächslsi-ho 
Kultur. 



Aldhelmus 

Bcd* 

(t 7351 



Bonifatias 

(+ 7551- 



Kaltar. 



404 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

Fulda gründe^ das ihm Karhnann, der Sohn Karl Martells, als Herrscher 
über das östliche Frankenreich bestätigt Diese mit bedeutenden Sonder- 
rechten ausgestattete Abtei wurde im Verein mit Hersfeld die Rivalin von 
St Gallen in g«istig«r Bildung-, bald die Schule nicht bloß Germaniens^ 
sondern des ganzen karoliilgischen Reiches. Vor der Tür des Saales, in 
dem die Kopisten arbeiteten, stand eine lateinische Inschrift, die — gan2 
im Sinne Cassiodors — zur Vervielfältigung der Bücher aufforderte; ein 
Mönch studierte hier so eifrig Vergil und Cicero, daß man ihn im Scherz 
beschuldigte, er reihe sie den Heiligen an. 

VL Die karolingische Renaissance. Eine auch nur an- 
Jüähemd erschöpfende Darstellung dieses für die Kulturgeschichte des 
Mittelalters einzig wichtigen Zeitraumes liegt nicht im Plan dieser Skizze» 
in die nicht die vton den mittelalterlichen Völkern neu entwickelten» 
zukunftsreichen Ideen einbezogen werden können. Wir beschränken tin$ 
darauf, die Bildungselemente, die diese Periode mit der Vergangenheit 
Verbinden, in aller Kütze zu betrachten. 
KitfoUngitcho .• Karl der Große hat die Kulturbestrebungen der germanisch- christ- 
fichen Völker, wie wir sie kennen lernten, in seinem Reiche vereinigt und 
ihnen dadurch eine Bedeutimg verschafft, die ihnen in der Vereinzelung 
Fehlen mußte. Vor allen Dingen aber hat er der auf den Trümmern des 
römischen Altertuihs aufgebauten germanisch -christlichen Kultur dadurch 
einen festen Untergrund gegeben, daß er das römische Imperium, dessen 
Machtbereich immer mehr, besonders seit der Mitte des 6. Jahrhunderts, 
avif den Osten beschränkt worden war, nunmehr vom Westen a\is neu be- 
gründete. Im Glänze der römischen Kaiserwürde fühlte der Frankenkönig 
sich doch in höherem Sinne zum Schirmherm über die antike Kultur be- 
rufen als die früheren germanischen Könige, die das Imperium zertrümmert 
hatten. Ein inneres Verständnis für die einstige Größe der verfallenen 
Kultur hat keiner von diesen giehabt; der Schutz, den sie ihr angedeihen 
ließen, kam über Duldung nicht hinaus: sie ließen den allmählich und 
•unvermerkt sich vollziehenden Prozeß der Angleichung seinen Lauf 
•nehmen, nur Theoderich ging einen andern Weg, der sein Volk ins Ver- 
derfjen fährte. Karl dagegen fand in seinerh Reiche die neuen Volk- 
heiten schon vor, die Gegensätze waren ausgeglichen und aus der 
Mischimg Organismen von erstaunlicher Lebenskraft entstanden. Als ihm 
daher am W^hnachtsfeste des Jahwes 800 inmitten der römischen Vor- 
nehmen und unter den Jubelrufen des römischen Volkes die römische 
Kaiserkrone aufgesetzt würde tmd er sich so am Ziel seiner seit Jahr- 
zehnten planmäßig betriebenen Politik sah, da war er sich bewußt, nicht 
bloß das politische, sondern auch das kulturelle Erbe der Cäsaren an- 
zutreten. Wie ein neuer Augiistus machte er seinen Hof zu einer Frei- 
stätte dier Literatur, indem er (schon seit ca. 780) die größten Talente dort 
Versammelte. Wir leriiteh den großeü angelsächsischen Gelehrten Beda 



VI. Die karolingische Renaissanc«. 



405 



(f am Bnoi, 



kennen (S. 403): ein Schüler von ihm war Egbert, Erzbischof von York, 
dessen Schüler Alcuin, der „Horaz" der kaiserlichen Gelehrtenakademißv aicuIo 
ein Mann von universaler Bildung, Leiter der Hofschule und Lehrer '^ *"*'■ 
Karls selbst, für den er Lehrbücher der Rhetorik und Dialektik schrieb; 
zuletzt (796) gab ihm Karl die Abtei Tours, wo er die in Verfall geratene 
Bildung hob; sein Schüler Hrabanus Maurus wurde Abt von Fulda und 
gab dem dort durch Bonifatius eingebürgerten wissenschaftlichen Sina 
neue Nahrung. — Die Langobarden hatten einst das wankende Imperium Pauiai ducom» 
gestürzt (568), waren dann aber als letztes der germanischen Völker, im 
7. Jahrhundert, in den Kreis der christlich - römischen Kultur eingetreten: 
wir hörten schon (S. 402), daß die mächtige Königin Theudelinde im 
Jahre 612 dem Columbanus erlaubte, nahe bei ihrer Hauptstadt Pavia ein 
Kloster zu gründen; um 700 war dieses Volk trotz der Schrecknisse, die 
es noch immer über Italien verbreitete, der römisch -chrisüichen Kultur 
schon völlig gewonnen. Als dann Karl das Langobardenreich unterworfen 
hatte (774), zog er dessen zwei berühmteste Gelehrte, Paulus und Petrus, 
an seinen Hof. Paulus, von vornehmer langobardischer Herkunft, war 
schon ein berühmter Gelehrter des Klosters Montecassino — seit seinem 
Eintritt IQ den geistlichen Stand nannte er sich Paulus Diaconus — , als 
er 781 Karl kennen lernte und auf einige Jahre in das Frankenreich über- 
siedelte. \'on seinen zahlreichen Werken ist das berühmteste die Go- 
schichte der Langobarden (in 6 Büchern), die sich der Geschichte der 
Ostgoten von Cassiodor - Jordanis und der Frankengeschichte Gregors 
würdig an die Seite stellt; in der Klarheit der Darstellung und Reinheit 
der Sprache ist er dem Grregor weit überlegen und hat Mommsens be- 
wundernden Lobspruch verdient Schon vor der Geschichte seines Volkes 
hatte er auf Anregung einer langobardischen Prinzessin eine römische 
Geschichte bis auf Kaiser Justinian geschrieben mit geschickter Ver- 
wertung zahlreicher profaner und christlicher Quellen. Kaiser Karl 
widmete er einen Auszug aus einem hochgelehrten lexikalischen Werke 
des Altertums, das in ganz wenigen Exemplaren ins Mittelalter gerettet 
wurde, darunter einem, das wohl schon im 7. Jahrhundert in Montecassino 
war; in der Widmung schreibt er die bezeichnenden Worte: „Ihr werdet 
hier hauptsächlich auch die genauen Namen der Straßen, Tore, Hügel,. 
Plätze und Bezirke Euerer Stadt Rom finden." Das Kloster Montecassino, 
die Gründung Benedikts (s. oben S. 386), verehrt bis auf den heutigen Tag 
Paulus Diaconus als seinen glänzendsten Stern. Petrus von Pisa war vor 
allem Grrammatiker, Karl selbst ließ sich von ihm unterrichten. Weiteren 
Kreisen am bekanntesten ist der Franke Einhard, ein Zögling der Kloster- Einhmrd 
schule Fulda, dann der Hofschule; schließlich wurde er einer der ge- '^ **°^ 
lehrten Paladine selbst, der weitaus Jüngste in diesem Kreise, Karls 
Liebling (f 840). Seine vtia Carolt ist, wenn man sie vom klassizistischen 
Standpunkt aus beurteilt, stilistisch die beste Arbeit des Mittelalters; ja 
man darf sagen, daß ein so feiner Stil, ein so gutes Latein seit Jahrhunderten 



4o6 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

unerhört war, und daß Einhard es mehr verdient, neben seinem Vorbilde 
Sueton (s. oben S. 367) genannt zu werden, als irgendein noch dem Altertum 
selbst angehörender Fortsetzer der suetonischen Kaisergeschichte. Er ist 
durchaus ein Vorläufer der eleganten Schriftsteller der italienischen 
Renaissance, und das ist für uns leider kein Vorteil gewesen: die Nach- 
ahmung der Antike ist bei ihm so sklavisch, daß er uns Karl nicht als 
deutschen Volkskönig, sondern als römischen Augustus schildert und sich 
selbst einen „Barbaren", die deutschen Gedichte, die Karl sammeln ließ, 
„barbarische" nennt Trotz solcher Verirrungen ist seine Biographie eine 
ganz unschätzbare Urkunde. So berichtet er, was uns hier interessiert, 
daß der Kaiser sich und seine Kinder nicht nur in den freien Künsten 
unterrichten, sondern sich auch Geschichtswerke vorlesen ließ, in denen 
die Taten der Vorfahren aufgezeichnet waren. Wir können nach gewissen 
Anzeichen wenigstens vermuten, daß darunter außer Cäsar, Livius und 
Sueton auch die Germania des Tacitus war (vielleicht auch die ersten 
Annalenbücher), und gern malen wir uns in der Phantasie das Bild aus, 
wie der germanische Wiederhersteller des römischen Imperiums nach der 
Mahlzeit im Kreise seiner Vertrauten den aus Haß und widerwilliger Be- 
wunderung gemischten Worten lauscht, mit denen der stolze Römer die 
Sitten unserer Vorfahren, den Heldenruhm des Arminius schilderte. Diese 
freie Stellung zu den klassischen Autoren, die Freude des Kaisers über 
neue Funde von Schriftstellern des Altertums, deren Überbringer er 
fürstlich belohnte (so bekam einer für ein Exemplar eines lateinischen 
Grammatikers des 4. Jahrhunderts eine Abtei im Elsaß), das Interesse auch 
für antike Kunst und Inschriften verbindet in der Tat die karolingische 
Renaissance mit der italienischen. In seinen Sendschreiben an die 
Klöster betonte der Kaiser begreiflicherweise stärker den bloß relativen 
Wert der antiken Bildung: so heißt es in einer an den Abt von Fulda 
gerichteten „Enzyklika" (vom Jahre 787): „deshalb ermahnen wir euch, 
daß ihr die wissenschaftlichen Studien nicht nur nicht vernachlässiget, 
sondern mit Eifer um die [Wette betreibet, damit ihr imstande seid, 
leichter und richtiger in die Mysterien der Heiligen Schrift einzudringen." 
Das ist der Standpunkt des Augustinus, Hieronymus und Cassiodorius 
(s. oben S. 386.} 

Den hohen und freien Geist Karls finden wir wieder in seinem Enkel, 
der als Karl der Kahle den französischen Teil des Reiches beherrschte 
(840 — 877). An seiner Hofschule wirkte der Ire Johannes Eriugena, unter 
den irischen Gelehrten der hervorragendste, in griechischer Literatur sehr 
bewandert; er stellte mit einer damals beispiellosen, nur durch das Studium 
griechischer Philosophie ermöglichten Geisteskühnheit die Behauptung 
auf, daß der Vernunft die Herrschaft über die Autorität gebühre. Dem 
König gereicht es zur Ehre, daß er ihn gegen die erbitterten Angriffe 
der Kirche in Schutz nahm. Die Zeitgenossen preisen diesen König- 
wegen seines Interesses fiir die klassischen Studien. Wir besitzen die 




Vn. Mittelalter und Renaissance, ein Ausblick. 



407 



Briefe des Servatus Lupus, Abtes von Ferneres in der Diözese Sens. Er s«rv«nu Lnpo« 
ist geistesverwandt dem großen Humanisten des 15. Jahrhunderts Poggio, '+•*"• 
wie dieser begeistert für ciceronianische Eleganz und ein leidenschafthcher 
Handschriftensammler: sogar an den Papst wendet er sich, um sich 
Schriften Ciceros und Quintilians zu verschaffen, die er auf einer Reise 
in Rom (849) gesehen hatte, und in seinem Bestreben, sich möglichst 
reine Texte zu verschaffen, ist er den Humanisten sogar überlegen. 
In einem Briefe an Einhard gibt er seiner Begeisterung für die 
klassischen Studien in Worten Ausdruck, deren sich kein Humanist zu 
schämen brauchte. 

Für die Überlieferung der lateinischen Schriftsteller ist die karo- überiiofcrung 
lingische Zeit von allergrößter, in ihrem ganzen Umfange für uns kaum s^h^f^'^uer 
meßbarer Bedeutung gewesen. Viele Autoren sind uns nur in Hand- 
schriften des 8. und g. Jalirhunderts sowie der ersten Hälfte des 10. er- 
halten, und was wir nur in späterer Überlieferung haben, setzt doch diese 
Zeit voraus, in der gerettet worden ist, was die Gleichgültigkeit der voran- 
gegangenen Zeiten übriggelassen hatte. Eine deutliche Vorstellung 
davon gewähren uns die aus den genannten Jahrhunderten erhaltenen 
Kataloge der Klosterbibliotheken; in den wenigen uns erhaltenen Kata- 
logen deutscher Klöster des g. und 10. Jahrhunderts werden 2586 Hand- 
schriften kirchlicher und profaner Autoren aufgezählt, und ein Katalog 
eines französischen Klosters des 9. Jahrhunderts kann mit solchen Selten- 
heiten wie Tibull und ciceronianischen Reden aufwarten. Die auf die 
Herausgabe der alten Klassiker bedachte Tätigkeit der römischen Aristo- 
kraten des 4. — 6. Jahrhunderts (s. oben S. 378), die Klosterdisziplin Cassiodors, 
die Propaganda der irischen und angelsächsischen Mönche und der 
Klassizismus der karoüngischen Zeit bezeichnen die unter sich aufs engste 
verbundenen Hauptetappen der Überlieferung lateinischer Schriftsteller. 



VII. Mittelalter und Renaissance, ein Ausblick. Es liegt 
nicht im Plane unserer Skizze, über die karolingische Zeit hinauszugehen; 
nur die Stellungnahme der folgenden Jahrhunderte zur lateinischen Sprache 
und zu den antiken Autoren sei hier mit wenigen Strichen gezeichnet 

Die Stärke der auf die Wiederbelebung des Altertums gerichteten d« Aitettom 
Bestrebungen der Karolingerzeit ließ bald nach: das Leben der Gegen- "° ^'"*'*'*"- 
wart mit seinen ungeheuren Problemen trat in sein Recht und lenkte die 
Gedanken der führenden Männer vom Altertum ab auf neue große Ziele 
in Staat und Kirche. Das Altertum versank in nebelhafte Feme, seine 
ragenden Gestalten wurden zwar nicht vergessen, aber vom Schleier der 
Romantik umwoben; mit einem von abergläubischem Schauer nicht freien 
Gefühl betrachtete der mittelalterliche Rompilger die Stätten der Ver- 
gangenheit, die ihm sein Reisehandbuch in wunderlichen, aus Wahrheit 
und Legende gemischten Deutungen erklärte. Das Latein jedoch blieb 
nach wie vor die Sprache der Kirche und Wissenschaft, der gebildeten 



4o8 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter. 

Unterhaltung und des diplomatischen Verkehrs. Welche Rolle das 
Deutsche in den Augen der Träger kirchlicher Bildung spielte, mag man 
aus der Erzählung eines Mönches von St Gallen (Ekkehard IV., f ca. 1080) 
entnehmen: beim Bericht einer Dämonenaustreibung läßt er den Teufel In 
seiner höchsten Not „barbarisch", d. h. deutsch reden (tot tarn ictus ferre 
non sustinens barbarice clamans *au wSI mir wiT vociferavit). Während 
Karl der Große vorurteilsfrei und weitblickend genug war, germanische 
Heldenlieder aus dem Volksmunde sanuneln und aufzeichnen zu lassen, 
haben Mönche des 10. imd 11. Jahrhunderts solche wunder\'^ollen Stücke 
ältesten nationalen Heldengesanges, wie das Waltharilied, nur genießbar 
gefunden, wenn sie es in vergilische Hexameter — Gott sei es geklagft — 
xmldichteten. Es bedurfte erst mächtiger Geistesumwälzungen, bis die 
deutsche Sprache durch Laien den ihr gebührenden Rang in der Literatur 
erhielt Wie die Sprache, so blieb in den Klöstern, Schulen und Univer- 
sitäten auch der Bildungsinhalt des Altertums, wenn auch noch so stark 
verwässert, erhalten. Denn der aufs Nützliche gerichtete Sinn der Römer 
hatte schon sehr früh dafür gesorgt, griechische Wissenschaft durch schul- 
mäßige Fassung den praktischen Bedürfnissen der „allgemeinen Bildung« 
zugänglich zu machen. Aus diesen bequemen Handbüchern entwickelten 
sich die sogenannten sieben freien Künste, die Septem artes liberales. Wir 
sahen (S. 387 f.), daß gegen Ende des Altertums Martianus Capeila diese 
Lehrgegenstände in einem Werke behandelte, das dann von Cassiodor, 
Isidor, Beda benutzt wtirde. Alle diese Werke erhielten im Mittelalter 
fast kanonische Bedeutung, und das ist begreiflich genug: hier fand man 
die Weisheit, die sich die Gelehrtesten eines Jahrtausends erarbeitet hatten, 
fein säuberlich auf Flaschen gezogen imd so wohl verdünnt, daß auch 
schwache Köpfe sie vertragen konnten. Und vor allen Dingen: wie alle 
andern gelehrten Zeugnisse so fehlten in diesem System der artes auch 
die Quellen, d. h. die bösen auctores, deren profane Namen und Aus- 
sprüche manches ängstliche Gemüt hätten beunruhigen können. So kam 
es, daß artes und auctores Gegensätze wurden: die „Künste" übernahm 
die Kirche als unschädlich, ja als unentbehrliche Dienerinnen theolo- 
gischen Wissens, die „Autoren" galten ihr als verdächtig, von Dämonen 
inspiriert. 

Das ist das Bild, das man gewinnt, wenn man sein Auge auf dzis 
Allgemeine gerichtet hält Der Strom des Lebens drohte die Ver- 
gangenheit zu überspülen und zu verschlammen. Doch gab es zum Glück 
eine Unterströmung, der wir ihre Erhaltimg verdanken. Es fanden sich 
zu allen Zeiten und in den meisten Ländern der westeuropäischen Kultur- 
welt, vor allem in Frankreich, Männer freieren Sinnes, die sich der ver- 
stoßenen Autoren annahmen. Die Klöster blieben ihrer alten Bestimmung, 
die wir kennen lernten, treu: wir sehen beispielsweise Gerbert, einen 
französischen Abt von Bobbio, selbst als er dann auf dem päpstlichen Stuhle 
saß (als Silvester 11., \ 1003), sein besonderes Interesse den Reden Ciceros 



VII. Mittelalter und Renaissance, ein Ausblick. 



409 



zuwenden. Schulen freisinniger Richtung treten den Hochburgen der 
Scholastik entgegen, so seit dem 11. Jahrhundert die von Chartres, die in 
Johannes von Salisburj' (ca. 11 10 — 1180) ihren glänzendsten Vertreter hat, 
dann im 13. Jahrhundert die von Orleans: sie veiTvenden sich mutig für 
die auctores gegen die artes. Ein Erzbischof von Tours (Hildebert) ver- 
faßte ein Gedicht auf Rom, das er 1106 besuchte: über seinen vor- 
trefflichen Versen liegt der Schimmer romantischer Sehnsucht nach der 
verschwundenen Größe des alten Roms. Auch in Italien begann seit dem 
II. Jahrhundert ein freierer Geist zu wehen: ein älterer Zeitgenosse 
Dantes (Brunetto Latini, f 1294) übersetzt Reden Ciceros ins Italienische, 
Dante selbst vereinigt in sich die scholastische Geistesrichtung mit der 
klassizistischen zu einem großartigen Ganzen. 

Der Boden war bereitet, in dem der Same aufgehen konnte, den nun Das AUortum 
Petrarca (1504 — 1374) ausstreute. Er eröffnete mit der individuellen Freiheit j^^'". " 
des Genies, das keine Autoritäten gelten läßt, die neue Zeit und war sich 
dessen bewußt: „ich stehe auf der Grenzscheide zweier Zeiten und richte 
meinen Blick zugleich in die Vergangenheit imd in die Zukunft" Die 
Zeit der „Wiedergeburt" ist da: rcitascalur Homerns, dies Wort fallt schon 
bei Petrarca; die auctores triumphieren über die artes, die man hohn- 
lachend den aus der Zeit der Scholastik weiterbestehenden Artistenfakul- 
täten überließ. Doch blieb die Strafe für den Hohn nicht aus: es dauerte 
nicht lange, da wurden eben die klassischen auctores für die Humanisten 
die Autoritäten, die sie in ihrem individualistischen Drange durch den 
Bruch mit dem Mittelalter glaubten abgeschüttelt zu haben: das Joch 
Ciceros und Vergils lastete auf ihnen nun nicht minder schwer als auf ihren 
Vorgängern das des Augustinus und Thomas von Aquino. Noch schlimmer 
für sie war ein anderes. Petrarca und seine Nachfolger, die das Latein Latein ein« 
zu neuem Leben erwecken wollten, haben es in Wahrheit getötet. Denn ""* Spr»ch» 
im Mittelalter hatte es gelebt: waren doch im 13. Jahrhundert Gram- 
matiken und Wörterbücher entstanden, die es wie eine lebende Sprache 
behandelten. Mochten die Humanisten über dieses „Mönchslatein" die 
ganze Lauge ihres Spottes ausgießen, mochten sie es vergleichen mit 
einem „Schlammpfuhl, in dem sich Menschen wühlen, die man besser 
Schweine nenne", „Menschen, die man lieber schnarchen als reden höre": 
wenn sie an die Stelle des „verkrüppelten Baumes" die Blütenpracht 
ciceronianischer Sprache treten ließen, so vergaßen sie in ihrer Sehnsucht 
nach Glanz und Schönheit, daß eine Sprache, die auf bloßer Nachahmung 
berühmter Muster begründet war, nicht lebensfähig sei: in dem Kunst- 
stile fand die geschichtliche Sprachentwicklimg ihr Grab. Die Humanisten 
selbst haben, als sie das allmählich einsahen, schwer darunter gelitten; 
wir dagegen danken es ihnen, daß sie durch die Beseitigung des Lateins 
als lebender Sprache wider ihren Willen die Bahn freigemacht haben für 
eine ungehemmte Entwicklung der modernen Sprachen. Wir sind glück- 
licherweise nicht mehr so beschränkt, das Mittelalter mit den Augen der 



4IO Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum rum Mittelalter. 

Humanisten zu betrachten, die von dem Grlanz der wiedererstandenen 
antiken Welt geblendet überall anderswo nur Nacht und Chaos zu er- 
kennen vermochten: der geschichtliche Sinn, der den Männern der 
„Eleganz" und „Eloquenz" ganz und gar fehlte, bewahrt ims vor solchen 
Irrtümern. Eins aber ist und bleibt wahr. In dem großen Völkerfrühling' 
der Renaissance, in dem alles keimte, was die moderne Kultur in Kunst 
und Wissenschaft zur Entfaltung gebracht hat, in dem die Freiheit des 
Individuums verkündet xmd dadurch die Möglichkeit großartigster £nt- 
deckimgen auf allen Gebieten gegeben wurde, ist die Wiedergeburt der 
Antike die eigentlich treibende Kraft gewesen: geleitet von den Autoren 
des Altertums, erst den lateinischen, dann vor allen den g^echischen, 
ging der moderne Mensch an die Aufgaben, die ihm die neuen Welt- 
verhältnisse stellten. 



Literatur. 

AuBcr den oben von Leo (S. 372 f.) angeführten systematischen Werken seien hier genannt . 
A. Ebert, Allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters im Abendlandc bis zum 
Beginne des XI. Jahrhunderts, I' (Leipzig, 1889); doch wird in diesem, sonst verdienstvollen Werk 
die Literaturgeschichte in Biographien und Inhaltsangaben aufgelöst. Der Jesuit ALEXANDER 
Baumcartner hat ein Buch 'Die lateinische und griechische Literatur der christlichen Völker* 
geschrieben (Freiburg, 1900), das, wenn man den Standpunkt des Verfassers gelten läßt, als 
recht brauchbar zur Lektüre weiteren Kreisen empfohlen werden kann; die Darstellung reicht von 
den Anfängen des Christentums bis zu den lateinischen Gedichten des Papstes Leo XIII. und 
ist durch Proben, sowie zum Teil sehr gelungene Übersetzungen belebt. Eine vorzügliche 
Sammlung und Sichtung des Materials bietet G. Groeber , übersieht über die lateinische 
Literatur von der Mitte des 6. Jahrhunderts bis 1350, im Grundrifl der romanischen Philo- 
logie II I (Straßburg, 1902). Auch W. Waitenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittel- 
alter 1' (Berlin 1904) berührt sich in seinen Anfängen mit den Schlußteilen unserer Skizze. 
Wichtige Untersuchungen hat L. Traube, ORoma nobilis, in den Abhandlungen der philosoph.- 
philologischen Klasse der Königl. bayerischen Akademie XIX (1892} angestellt. Mit Vorsicht 
benutzt ist auch das schön geschriebene Buch von A. Ozanam, La civihsation au cinqui^me 
si&cle I. II. (Paris, 1862) brauchbar. Die chrisüich- lateinische Poesie wird in gemeinverständ- 
licher Weise von M. Manitixjs, Geschichte der christlich -lateinischen Poesie bis zur Mitte des 
VIII. Jahrhunderts (Stuttgart, 1891) behandelt. 



S. 374 f. Hellenismus und Qiristentum. Aus der groBen Literaturmasse sei hier nur dasjenige 
Werk angeführt, das die okzidentalische Literatur besonders berücksichtigt: GaSTON BoiSSIER, 
La fin du paganisme (Paris, 1891). 

S. 384 f. Ostgotische Kultur in Obcritalien: grundlegend H. USENER, Anecdoton Holderi. 
Ein Beitrag zur Geschichte Roms in ostgolischer Zeit (Bonn, 1877). 

S. 386. Benediktinerregel; L. Traube, Textgeschichte der regula S. Benedicti in den Ab- 
handlungen der historischen Klasse der Königl. bayerischen Akademie XXI 1898 S. 601 fT. 

S. 392f. Augustins Konfessionen: vgl. den schönen Vortrag von A. Harnack in seinen 
'Reden und Aufsätzen' I (Gießen, 1904) S. 49 fT. 

S. 394f. Aagahim de ch'itate dci: vgl.EiCKEN, System der mittelalterlichen Weltanschauung 
(Stuttgart, 1887) S. 142 ff.; Wundt, Ethik I 344 ff.; A. Niemann, Augustins Geschichtsphilo- 
sophie (Greifswald, 1895). 

S. 398 f. Gallische Kultur: musterhaft und zur Lektüre sehr empfehlenswert G. KAUFMANN, 
Rhetorenschulen und Klosterschulen, oder heidnische und christliche Kultur in Gallien 
während des 5. und 6. Jahrhunderts, in: Historisches Taschenbuch, herausgegeben von 
Fr. V. Räumer, 4. Folge, jo. Jahrgang (Leipzig, 1869). Derselbe geht in seiner Deutschen Geschichte 
bis auf Karl den Großen, II Bde. (Leipzig, 1881) auch auf die Literatur der Übergangszeit ein. 
Th. MOMMSEN, Apollinaris Sidonius und seine Zeit in den ,, Reden und Aufsätzen" (Berlin, 
1905) S. I32fj. 

S. 401. Venantius Fortunatus: ein lebensvolles Charakter- imd Kulturbild entwirft F.LEO 
in der Deutschen Rundschau Bd. 32 (1882) S. 414 ff. 

S. 402f. Irische Kultur; grundlegend die Arbeiten von H. ZIMMER, darunter für weitere 
Kreise am verständlichsten: 'Über die Bedeutung des irischen Elements für die mittelalter- 
liche Kultur' in den Preußischen Jalirbüchern 1887 S. 27 ff. und der Artikel 'Keltische Kirche 
in Britannien und Irland' in der Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 
3. Aufl. Bd. IG S. 204 ff. — Langobarden (S.405): F. Dahn, Langobardische Studien (Leipzig 1876). 

S. 409. Zerstörung des Lateins als lebender Sprache durch den Humanismus: J. Vahlen, 
Lorenzo Valla , im Almanach der Kaiseri. Akademie der Wissenschaften in Wien XIV (1864^. 




DIE LATEINISCHE SPRACHE. 

Von 

Franz Skutsch. 

Die Aufgabe Einleitung. Der Historiker, der es heute unternimmt, uns die 

"uit^ers G^cschichte der Römer zu erzählen, darf nicht erst da beginnen, wo zu- 
verlässige alte Berichte einsetzen. Er muß es wagen, den hellen Licht- 
kreis der Überlieferung zu verlassen und den Leser weiter zurückzuführen 
in das Dunkel vorhistorischer Perioden, in dem nur Rückschlüsse aus den 
Verhältnissen historischer Zeit hier und da eine ungleiche Erhellung 
spenden. Die Schichtung der einzelnen Völker in der Apenninhalbinsel 
zur Zeit, da in ihr eine Reihe zusammenhängender Begebnisse unserem 
Auge kenntlich zu werden begrinnt, wird mehr oder weniger sichere Ver- 
mutungen über die Wanderungen gestatten, die die Völker gerade an 
diesen Platz geschoben haben; aus den Einrichtungen des Staates und der 
Religion sondert der Blick des Forschers oftmals mit Leichtigkeit Urzeit- 
liches aus, das modernere Formen nicht bis zur Unkenntlichkeit zu über- 
decken vermocht haben. 

Andererseits wird der Historiker seine Aufgabe nicht abgeschlossen 
glauben, wenn er die Römer bis zur Höhe ihrer Entwickelimg verfolgt 
hat. Die Zersetzung des gfroßen Reiches ist seines Interesses nicht weniger 
wert als seine wunderbare Entstehung. 

Der Historiker der lateinischen Sprache darf sich sein Ziel nicht 
niedriger stecken. Auch für ihn beginnt die Geschichte der Lateiner nicht 
mit dem ältesten Sprachdenkmal, auch für ihn schließt sie nicht mit den 
Schriftstellern, die die Geschichte der römischen Literatur als letzte auf- 
zuführen pflegt Vielmehr muß auch er nach der einen Seite den Schritt 
ins vorhistorische Dunkel wagen und ihn nach der anderen Seite hin nicht 
hemmen, wenn der Zersetzungsprozeß für die lateinische Sprache beginnt 
Ja, er schreitet in die Urzeit sicherer hinein als der Historiker, da ihm 
nicht bloß das Mittel der Rückschlüsse aus den italischen Verhältnissen zu 
Grebote steht, sondern auch die Vergleichimg mit den verwandten Sprachen. 
Und der Zersetzungsprozeß anderseits hat für ihn ein um so lebhafteres 
Interesse, da er ihn schon Jahrhunderte vorher sich anbahnen und aus ihm 
wieder Sprachen hervorgehen sieht, die der stolzen Mutter würdige Töchter 
sind, — die romanischen. 

Einem Werke wie das vorliegende schien es gemäß, selbst da nicht 
Halt zu machen, sondern in einer flüchtigen Skizze wenigstens zu zeigen, 
wie das Latein auch mit seinem Tode nicht stirbt Nicht nur die alte 



I. Die uritaliscbe Sprache. 



4»3 



Kultur, sondern auch die des Mittelalters und der Neuzeit hat es so 
vielfach zum Kleide ihrer gewaltigsten Gedanken gewählt, daß davon zu 
schweigen untunlich war, obschon gerade hier dem Gegenstande nur 
der einigermaßen gerecht werden kann, der diese ganze Gedankenwelt 
durchwandert zu haben sich rühmen dürfte. 



I. Die uritalische Sprache. Ihre Stellung im Kreise der 
indogermanischen Sprachen. Viele hundert Jahre vor Beginn unserer 
Zeitrechnung wanderte von Norden her ein Zweig der indogermanischen 
Sprachgemeinschaft, der auch die Germanen, Griechen, Kelten, Slawen und 
Inder angehören, in die Apenninhalbinsel ein. Der Strom dieser Einwanderung 
hat fiir uns alle kenntlichen Spuren früherer Bevölkerungen und Sprachen 
der Halbinsel vernichtet. Höchstens die Ligurer, die noch in historischer 
Zeit um den Golf von Genua sitzen, einst aber, wie die eigentümliche 
Formung mancher Ortsnamen zeigt, bis ins Veltlin hinauf gewohnt haben 
mögen, könnten etwa ältere Einwohner gewesen sein. Aber auch den 
Ligurem sprechen wir die Möglichkeit früherer Anwesenheit in Italien 
nur darum zu, weil die Nachrichten des Altertums über dies Volk so 
dürftig sind, daß sie nicht einmal seine sichere Einordnung in eine be- 
stimmte Völker- und Sprachengruppe erlauben. 

Waren die Ligurer früher da, so hat sie doch jedenfalls der Vorstoß 
der indogermanischen Italer auf jenes engere Gebiet eingeschränkt und 
ganz Italien, wie es scheint mit Einschluß von Sizilien, in allmählichem 
Vordringen ausgefüllt. Diese älteste für uns kenntliche Einwohnerschaft 
Italiens, von der die Römer Abkömmlinge sind, redete zur Zeit der Ein- 
wanderung eine Sprache, die die Züge der alten indogermanischen Mutter 
vielfach noch mit großer Treue bewahrte, vielfach freilich charakteristische 
Eigentümlichkeiten gegenüber den anderen indogermanischen Schwestern 
schon damals entwickelt hatte oder doch bald nachher gewann. Noch 
erklang in ihr der alte indogermanische Vokalismus mit so g^t wie un- 
geschmälerter Fülle: die fünf Vokale a e i o u mit ihren Längen, die i- und 
«-Diphthonge ai ei oi au ou\ und nur das eu ging bald in ou auf. Wie 
das Latein späterhin diesen reichen von den indogermanischen Grroßvätem 
ererbten Bestand sehr zu Ungunsten des Vollklangs der Sprache ein- 
schränkte, davon wird bald zu reden sein; was die Diphthonge angeht, 
so kann sich jeder ohne weiteres davon überzeugen, der ein paar be- 
liebige lateinische Sätze liest. Auf dem Gebiet des Konsonantismus steht 
selbst das Latein der historischen Zeit noch der indogermanischen Ur- 
sprache recht nahe; es hat sogar so charakteristische Klänge wie das 
gu in que 'und' quis 'wer' aus der voritalischen Zeit des Indogermanischen 
ererbt. Im Formensystem war am konservativsten die Deklination. Das 
alte Italische hatte außer den sechs Kasus, die jedem aus seiner 
lateinischen Schulgrammatik bekannt sind, vom Indogermanischen auch 
einen auf die Frage „wo?" antwortenden Kasus, den Lokativ, über- 



Indogermaniscbe 

Einwaadrmnff 

in die Ap«tin»i> 

hjUbia»eL 



r>ie Sprache der 
Kinwanderer : 
AUertümlichea 



J 



io Volulinmaa 



Konsonantismiu 



Flexion. 



414 Franz Sklittsch: Die lateinische Sprache. 

nommen, der selbst im Lateinischen noch als rudimentärer Überrest vor- 
kommt Außer dem Singfular und Plural, die ebenfalls jeder aus der- 
selben Quelle kennt, gab es als Ausdruck der Zweiheit den alten Dual, 
der auch noch bis ins Sonderleben des Lateins hineingeragt hat; alle 
diese Formen aber erfreuten sich im wesentlichen der alten indogerma^ 
nischen Endungen ohne allzuviel Abschleifiingen oder sonstige Verände- 
rungen. 

Neuerungen in Im Gcgensatz ZU diesem Konservativismus sind, wie gesagt, auch 

^mn^Md*" ^" charakteristische Neuerungen bereits im frühesten Italischen vollzogen. 
Ak«ent Wenn die indogermanische Mutter betonte Silben im ganzen höher sprach 
als unbetonte, so ist das Italische daizu übergegangen, sie stärker zu 
sprechen; um es technisch auszudrücken: aus dem musikalischen Akzent 
ist ein exspiratorischer geworden. Es war eine Änderung, die weiterhin 
den lautlichen Habitus einzelner italischer Sprachen, besonders aber 
des Lateinischen, aufs stärkste beeinflußte. Der exspiratorische Akzent 
nämlich ist es gewesen, der die sogenannte Synkope zuwege brachte, 
das Verschwinden kurzer Voksde in der Silbe nach dem Akzent Lateinisch 
cdlidus 'warm' ist nicht erst im Italienischen zu caldo geworden, sondern 
schon die Römer kennen auch die durch eben jenen Einfluß des Akzents 
Uotuche« hervorgerufene Form caldus. — Unter den Veränderungen einzelner Laute 
heben wir als eine markante Eigentümlichkeit des Italischen die Be- 
handlung der indogermanischen sog. Aspiraten hervor. Das Indogermanische 
kannte Verbindungen von b, g, d mit einem folgenden //, die sich im alten 
Indischen imverändert erhalten haben; diese eigenartigen Laute sind im 
It£ilischen zunächst zu sog. Spiranten geworden, das bh zu f, das gh zu 
ch (wie unser deutsches ch gesprochen), das dh zu th (gesprochen wie 
englisch th in thank thtnk). So steht neben indisch bhrätar 'Bruder' 
lateinisch /rater. Das th hatten einzelne italische Dialekte noch im 
5. Jahrhundert v. Chr. bewahrt, wie die merkwürdige Geschichte unseres 
Wortes Liter zeigt: es geht auf griechisch Iura 'Pfund' zurück, xmd dies 
ist eine lautlich nicht genaue Entlehnung der vmteritalischen Griechen 
aus italisch lithra 'Pfimd'. Die meisten italischen Dialekte aber 
hatten damals das //; bereits weiter in / gewandelt, so daß in ihnen z. B. 
das Wort für Pfund li/ra klang. — In der Formenlehre zeigt das Verbum 
Form.iies. deu Stärksten Riß zwischen Gemeinindogermfinisch \md Italisch. Wohl 
ist in den Personalendungen vmd ähnlichen formativen Elementen (z. B. dem 
des Konjunktivs oder Optativs) das Alte im allgemeinen gewahrt, aber 
von den Tempora zeiget nur Präsens und Futurum das alte aus dem 
Grriechischen und anderen Schwestersprachen bekannte Aussehen; für die 
übrigen Tempora sind neue Bildungen im Werden, für djis Pzissivum die 
mit dem Charakter -r-, die wir nachher in ihrer vollsten Ausgestaltung im 

S)Titakt«ch- Latein wiederfinden {amor amarts amatur usw.). 
ttou^hkrit^*Im Schwieriger ist es, jene Urzeit auch syntaktisch und — wenn 

Uiitaiuchen. man uns das Wort erlauben will für eine Zeit, der schriftlicher Aus- 



I. Die uritalische Sprache. 



4»5 



druck Jedenfalls noch sehr fremd war — stilistisch zu charakterisieren. 
Immerhin lassen sich einzelne Züge aus der Übereinstimmung der ein- 
zelnen italischen Sprachen unter sich, aber auch mit den anderen 
indogermanischen Sprachen erschließen. Gewisse Wörtchen, die den 
modernen Sprachen in jedem Satze unentbehrlich scheinen, die uns 
gewissermaßen der Mörtel zwischen den einzelnen Steinen dünken, 
aus denen wir einen Satz aufbauen, waren überhaupt nicht vorhanden 
oder konnten wenigstens fehlen. So wußten die alten Italer nichts FeUen <1m 
von bestimmtem und imbestimmtem Artikel, wie wir auch im Latein '^™''*'*- 
nur hier und da einmal schwache Ansätze zu der reichen romanischen 
Entwicklung dieser Wortkategorie erscheinen sehen. Die Präpositionen 
waren noch eingeschränkt durch die vorhin geschilderte reiche P'üUe 
des Kasussystems: Wendungen wie „in dem Hause", „aus dem Hause", Knappboit dor 
„durch die Waffen" ließen sich daher durch ein Wort wiedergeben, 



^unmBtiicheti 
Fonnen 



wie das ebenfalls noch aus dem Lateinischen jedem Schüler geläufig 
wird. Ganz gewöhnlich fehlt beim Verbum die Bezeichnung der Person 
durch ein besonderes Pronomen, das „ich" und „du", ja für „er", 
„sie" und „es" haben sich nur sekundär in den einzelnen italischen 
Sprachen Ausdrücke herausgebildet. Noch mehr Knappheit hat das 
Verbum der italischen Urzeit und so auch das lateinische vor unserm 
deutschen dadurch voraus, daß auch die Modi im ganzen nicht mit Hilfe 
so weitläufiger Umschreibungen wie könnte, möchte, würde, sondern nach 
altindogermanischer Art durch eine einheitliche Form ausgedrückt werden. 
So kann man, wenn man das vorhin gebrauchte Bild vom Mörtel wieder 
aufgreifen will, die Struktur des ältesten Italischen gewissermaßen als 
zyklopisch bezeichnen. Daß diese Struktiir in dem historischen Latein 
noch vielfach fortdauert, haben wir schon erwähnt; sie ist es, die, nament- 
lich wo sie von Dichtern und Rhetoren als Mittel für ihre Zwecke benutzt 
wird, jene einzig knappe und markige Redeweise gestattet, in der alles 
nicht unbedingt zum Ausdruck des Gedankens Nötige verflüchtigt, der 
Gedanke selbst wie konzentriert erscheint. Portes furtunn adiuvat 'Tapfeniundde»g»amt«n 
hilft (das) Glück', /ac/«w7, non fabula 'Tatsache, nicht Fabel', oderint dum ^■»■»ruck.. 
meiuant '(sie mögen mich) hassen, wofern (sie mich nur) fürchten' und 
wieviel Sprichwörter, geflügelte Worte und Zitate aus den in der Schule 
gelesenen Autoren können als Beispiel dienen. Wie Hammerschläge, von 
denen jeder voller Wucht den Nagelkopf trifi't, klingt das odi profanum 
vulgus et arceo, und einen Übersetzer, der das empfindet, muß das 
müßige Nebenherklopfen des „ich" und „das" und „es" im Deutschen 
an seiner Aufgabe verzweifeln lassen. Und von wie vielen anderen Sen- 
tenzen im Horaz und Vergil und gar erst etwa im Tacitus wäre das gleiche 
zu sagen. 

Was den Eindruck zyklopischen Baues noch erhöhen mußte, war, daß Beiordauoc »u 
es jenem Uritalischen an der Fülle satzverbindender Partikeln gebrach, wie *'""*''" i»"- 
wir sie schon im homerischen Grriechisch und auch im späteren Latein 



^.i6 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 

entwickelt sehen. WoM hat es nicht an einem Wort für „und", „oder" 
und „aber" gefehlt, aber was von feineren Nuancierungen und Speziali- 
sierungen dieser Begriffe etwa dem klassischen Latein eigentümlich ist, 
weist sich meist schon durch seine £t3niiologie als verhältnismäßig junge 
Errungenschaft aus. In noch erhöhtem Crrade gilt dies von jenen Wörtchen, 
mit denen in der Zeit der kunstvoll sich aufbauenden Periodisierung die 
Abhängigkeit der Sätze voneinander bezeichnet wird, den „als" und „weil" 
und „da". In diesen Dingen stellt der ciceronische Stil den Gegenpol 
dessen dar, was im Uritalischen für den Satzbau gegolten haben mufi^ 
obwohl man auch im historischen Latein, wenn man wollte, noch mit 
derselben rauhen Simplizität reden konnte wie die Altvordern: wenn der 
alte Cato sagte rem tene, verba sequentur 'halte (die) Sache, (die) Worte 
(werden) folgen' d. h. 'wenn Du Deiner Sache sicher bist, werden Dir 
auch die Worte dafür nicht fehlen', so kann man sich daran, mag auch 
die Ausdrucksweise naiver scheinen, als sie ist, doch eine Vorstellung 
bilden, wie einfach der alte Satzbau war, ohne daß er an Deutlichkeit 
und selbst an Wirkung einzubüßen brauchte. 
AUitention. Endlich für ein letztes „Stilistisches", das wir jenem uritalischen 

Idiom zuschreiben, können wir ims auf die oben schon genannten Sprich- 
wörter fortes fortuna adiuvat und factum, non fabula berufen: es ist die 
Vorliebe für gleichen Anlaut benachbarter Wörter, die, auch anderen ver- 
wandten Sprachen nicht fremd, uns besonders aus dem Germanischen ge- 
läufig ist, die Alliteration, die gern noch über den ersten Laut hinausgpreift. 
Wie fest sie im Italischen wurzelte, wie zäh sie sich hielt, zeigt — um vom 
Zeugnis ältester volkstümlicher Poesie ganz abzusehen — eine Menge 
weiterer bekannter Redensarten, die zum Teil bis ins Romanische fort- 
gedauert hat, wie satis superque 'genug und übergenug', /ortunae filius 
'Glückskind', ptirus putus 'unverfälscht', cras credo 'morgen glaube ich's 
(heute nicht)', sanus salvus 'imversehrt' = altfranzösisch sauf sain, cor 
corpusque = altfranzösisch cors euer usw. Das Alter und die Bedeutsamkeit 
der Alliteration bezeugen femer z. B. nicht wenige zweiteilige Göttemamen 
wie Dea Dia, Fors Fortuna, Juno Juga, Mater Matuta und Namen von 
Götterpaaren wie Püumnus und Picumnus. Auch dieser uralten Sprach- 
eigentümlichkeit hat sich natürlich späterhin Poesie und Kunstprosa mit 
Raffinement zu bedienen gewußt 
AngebUche Die geschilderten und andere Züge schienen einem fi-üheren Philo- 

B«iie^"* imn ^°^®°8^®^^^^®*^^* ausreichend, um das Uritalische nicht bloß der indo- 
Griechischea germauischen Sprachenfamilie zuzuweisen, sondern es auch innerhalb 

and Keltischen, (jjgggg Kreises in nähere Beziehimgen zu setzen. Während die einen 
zwischen dem Italischen und dem Giriechischen ein engeres Verwandt- 
schaftsband knüpfen zu dürfen meinten, glaubten die anderen eine be- 
sonders große Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Keltischen zu erkennen. 
Diesen Annahmen gegenüber ist man heute um so skeptischer geworden, 
als die wirklich auffalligen Entsprechungen zwischen Latein und Criiechisch 



II. Die dialektale Gliederung des Italischen. 



417 



sich der fortschreitenden Forschung mehr und mehr als unursprünglich ent- 
puppten. Wir werden noch davon zu reden haben, welchen Einfluß die 
fortdauernden Beziehungen zwischen Griechen und Römern in historischer 
Zeit auf die Sprache der Römer geübt haben, wie diese sich mehr und 
mehr mit griechischen Lehnworten, Konstruktionen und selbst Wort- 
bildungen durchsetzte. Daß das alles nichts für eine engere Gemeinschaft 
in Urzeiten besagen kann, ist unzweifelhaft; was aber außerdem an beson- 
deren iVhnlichkeiten zwischen Latein und Griechisch existiert, genügt ebenso- 
wenig wie gewisse Berührungen mit dem Keltischen zum Beweis, daß das 
Latein diesen Sprachen näher gestanden habe als etwa dem Slawischen. 




n. Die dialektale Gliederung des Italischen. Die Verteilung zerfau in «m- 
einer Volksmasse über eine so ausgedehnte Räumlichkeit wie die Apennin- ""'^^' Dialekte: 
halbinsel muß — namentlich in Zeiten, wo der Verkehr über keine oder 
nur primitive Mittel verfugt, wo jeder höhere Gebirgsrücken, jeder breitere 
Flußlauf den Zusammenhang der Bevölkerung empfindlich unterbricht, und 
wo keinerlei Schriftsprache der Neigung zum Zerfall entgegenwirkt — 
zur Spaltung in Dialekte führen. Tatsächlich ist die Anzahl der (noch 
immer lange vor der historischen Zeit) entwickelten Varietäten der ita- 
lischen Sprache sehr beträchtlich gewesen. Nicht wenig davon hat Über- 
schwemmung mit späteren sprachfremden Einwanderern hinweggespült, 
von der unser dritter Abschnitt zu reden haben wird; der Rest ist uns 
großenteils nur durch eine dürftige inschriftliche Überlieferung bekannt 
— und doch können wir noch eine Fülle von Spielarten imd Spielarten 
der Spielarten unterscheiden. Hier muß es genügen gerade so viel zu 
sagen, als nötig ist, um dem Lateinischen, der einen dieser Spielarten, 
unter den Geschwistern seinen richtigen Platz anzuweisen. Von diesen 
treten zwei noch für uns besonders kenntlich hervor. Das eine ist 
die Sprache der Bewohner Umbriens, die wir aus ziemlich umfangpreichen da» UmbriKh« 
Inschriften sakralen Inhalts kennen, das andere die der Samniten, die von 
ihren Sitzen in den Hochtälern des Zentralapennins heruntersteigend im 
5. Jahrhundert Campanien sich und ihrer Mundart, die dort Oskisch ge- da» OiUKb« 
nannt ward, unterwarfen, aber auch in anderen Teilen Unteritaliens sowie 
in Sizilien Sprachdenkmäler hinterlassen haben. Das Umbrische und das 
Oskische stellen gewissermaßen die Extreme der italischen Sprach- 
entwicklung dar; wenn das letztere jene Fülle der Diphthonge, von 
der vorhin die Rede war, so unverfälscht bewahrt hat wie unter den 
anderen indogermanischen Sprachen nur noch das Griechische, so ist 
im Umbrischen ihre Vereinfachung weiter fortgeschritten als selbst im 
Lateinischen; was hier aui 'oder' heißt, ist dort o/e. Zwischen diesen beiden aie anderen. 
Polen bewegt sich die Menge der übrigen auch örtlich zwischen Umbrem 
und Samniten raitteninne liegenden Dialekte, teils dem einen teils dem Abweichuefen 
anderen stärker zustrebend. Die ganze Masse aber schließt sich in ge- ^ ^^d,, 
wissen Eigentümlichkeiten ganz entschieden zu einer Einheit gegenüber 

Du KutTua OKK GsontwAaT. L 8. 




4i8 



Franz Skütsch: Die lateinische Sprache. 



^^H dem Latein zusammen. Was in diesem qu ist, zeigft sich in jener oskisch- 

^^m umbrischen Gruppe als^.- qjtts 'wer' wird za pis, que 'und' wird z\y pe\ dasy 

^^H aber, das wir vorhin in f rater und lifra als einen spezifisch italischen Laut 

^^B erkannten, wird im Lateinischen, wenn es inmitten eines Wortes steht, zu b: 

W so heißt es zvinr /rater auch im Lateinischen weiter, aber italisches It^ra 

■ 'Pfund' wird zu libra. 

i>u LaMiniiche Im letzteu Punkt hat nicht einmal der Dialekt dem Lateinischen 

d*r u!ri^ Heeresfolge geleistet, der sonst getreulich mit ihm geht und das quis und 

L quc allein mit ihm teilt, das Faliskische. Die Tatsache ist darum von 

^^^ besonderem Interesse, weil sie zeigt, wie eng der in Rom gesprochenen 

^^B Mundart der Latiner, dem Lateinischen, die Grenzen gezogen waren. 

W Die Stadt Falerii, deren Sprache das Faliskische ist, liegt kaum sechs 

' Meilen nordwärts von Rom, aber zwischen die beiden Städte schiebt sich 

Seine »nprUog- noch ein Streifen etruskischen Gebietes. Nach den anderen Himmelsrich- 

uchen Greaiea. ^„g-g^ Stand es uicht besser. So weit wie Falerii nach Norden ist nach 

Süden das Gebiet der Volsker und ihrer Sprache entfernt Noch näher 

^^^ liegt nach Osten hin Präneste, das heutige Palestrina, dessen von den 

^^B Komikern verspottete Abweichungen vom Stadtrömischen freilich nicht 

^^H allzu erheblich gewesen zu sein scheinen; aber eine scharf einschneidende 

^^H Sprachscheide bildete jedenfalls das bald hinter Präneste aufsteigende Hoch- 

^^H gebirge. Nach Westen endlich setzte das Meer die engsten Schranken. 

^^H So schätzt man das ganze Gebiet der Latiner, die Keimzelle der welt- 

^^^ beherrschenden lateinischen Sprache, noch für die Zeit um 400 v. Chr. auf 

P nicht mehr als etwa 50 Quadratmeilen. 

Ambreitong. Wie von hier aus das Lateinische um sich gegriffen, wie es erst das 

L italische Festland imd die Inseln, dann die anderen Länder erobert hat, in 

t^ denen heute romanische Sprachen gesprochen werden, dcirüber hinaus aber 

^^1 manches Gebiet in fremdem Erdteil, das erst nachträglich der römischen 

^^B Zunge wieder abgerungen worden ist (so Nordafrika) — dies auch nur in 

^^^ großen Zügen erzählen hieße dem Historiker ins Handwerk pfuschen. Ahn- 

P liches hat nur etwa der zu berichten, der die Geschichte Englands und der 

Vertinaglug englischcn Kolonien erzählt Nur so weit soll darauf hier eingegangen 
der udmn y^erden, als es sich um die Überwältigung der italischen Brüder handelt 

luluchea Dil- ' o o 

lektc. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts können sie als unterworfen gelten, 
ihr Grebiet ist von römischen Ansiedlem durchsetzt und damit auch das 
Schicksal ihrer Mundarten entschieden. Ihre spätesten sicher datierbaren 
Denkmäler sind die Münzen, die bei der letzten vergeblichen Erhebung 
der Italer gegen Rom 90 v. Chr. mit oskischer Aufschrift imd dem Münz- 
bild des gegen die römische Wölfin kämpfenden italischen Stieres geprägt 
worden sind. Von da an sind die Dialekte aus allem offiziellen Gebrauch 
verschwunden; in privatem Verkehr, in entlegenen Gebirgswinkeln mögen 
sie noch lange vegetiert haben, aber in den modernen italienischen Dialekten 
kann man nichts auf sie zurückführen als höchstens hier und da einmal 
eine Neigung zu gewissen Laut\'erbindungen. 



ni. Die sonstigen Sprachen der Apenninhalbinsel und ihr Verhältnis zum Lateinischen. 41g 

Aber der Sieger selbst sicherte wenigstens einzelnen Worten des Enüehnongen 
oskisch-umbrischen Lexikons Dauer in seiner eigenen Sprache. Wenn * 
die urzeitlichen Verhältnisse den Zerfall in Dialekte herbeiführten, so folgte 
daraus bei zunehmendem Verkehr eine um so größere Leichtigkeit der 
Entlehnung hin und her. Für den Römer lag sie besonders nahe, wo 
ihm im Gewände der fremden Mundart eine überlegene oder wenigstens 
in Einzelheiten imponierende Kultur entgegentrat. So ist ihm eine 
Anzahl Ausdrücke auf dem Gebiete der Viehzucht von einem der anderen 
italischen Stämme zugekommen, die darin ihre besondere Stärke hatten: 
sowohl bos 'Rind' wie scro/a 'Schwein' (lateinisch wäre, wie wir oben 
gesehen haben, scroba) sind in ihrer Lautform unlateinisch, dagegen 
oskisch und umbrisch. Aber auch andere Stücke des lateinischen Wort- 
schatzes sind den gleichen Weg gekommen: rii/us 'rot', das vielleicht auch 
vorzugsweise ein Ausdruck der Viehzüchter war, neben ruber mit echt 
lateinischem b, poplna 'die Garküche' neben coquere 'kochen', wo wir das 
Verhältnis /.• qu wiederfinden, u. a. 



IIL Die sonstigen Sprachen der Apenninhalbinsel und ihr ihc ubngfo 
Verhältnis zum Lateinischen. Nicht nur die eigenen Brüder mußte sp'»^''™ 

° Italient. 

das Latein besiegen, um selbst Italien zu beherrschen. Der alten urzeit- 
lichen Einwanderung der Italer sind in späterer Zeit, teilweise schon 
im Lichte der Geschichte andere gefolgt, die Italien zu einer Musterkarte 
indogermanischer, aber auch anderer Sprachen gemacht haben, bis die 
Uniformierung durch das I^tein erfolgte. Auch von diesem Kampfe trägt 
der Cberwinder manche Spuren in Form von Entlehnungen aus den unter- 
legenen Sprachen dauernd an sich. Am wenigsten haben auf ihn die Be- 
siedler der Nordost- und der Südostecke Italiens, die Veneter und Messapier ven<.ii»cb uJ 
gewirkt, deren Zugehörigkeit zu dem indogermanischen Stamm der "•"*»"='' 
Illyrier wenigstens als wahrscheinlich gelten darf. Dagegen waren die 
zahlreichen Niederlassungen der Griechen in Süditalien und Sizilien zwar GriecUicii. 
gewiß nicht der einzige Quell, der griechische Wörter in die lateinische 
Sprache ergoß, aber jedenfalls einer der ältesten und einer, der ohne Unter- 
brechung sprudelte. Wie früh und wie intensiv die Berührung war, zeigt 
am deutlichsten wohl die Tatsache, daß Kyme oder Cumae in Campanien, 
eine Pflanzstadt von Chalkis auf Euböa, wie anderen Völkern Italiens so 
auch den Römern schon vor dem 6. Jahrhundert das Alphabet geliefert 
hat. Auch einiges aus dem Sprachschatz der Kelten, die etwa um Keitueh. 
500 V. Chr. über die Alpen drangen und nach wiederholten Vorstößen gegen 
Süden in der Poebene dauernd seßhaft blieben, ist ins Latein übergegangen. 
So namentlich eine Anzahl Ausdrücke für das Fuhrwesen, dergleichen 
noch zur cäsarischen Zeit der veronesische Dichter Catull in der römischen 
Literatur heimisch machte. 

Neben den drei indogermanischen Stämmen aber blieb auch ein ganz EtnuUwh. 
fremdartiger nicht ohne Einfluß auf die Sprache der Römer. Zwischen 

27* 



^20 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 

die italische und keltische Einwanderung fallt die der Etrusker. Woher 
dies Volk gekommen ist, würden wir sagen können, wenn wir seine 
Sprache zu irgendwelcher sonst bekannten in verwandtschaftliche Be- 
ziehung setzen könnten. Aber obwohl wir Tausende von etruskischen In- 
schriften, ja sogar ein etruskisches Buch besitzen, hat das nicht gelingen 
wollen; und was wir vom Etruskischen verstehen, reicht nur eben gerade 
hin, um mit Bestimmtheit sagen zu können: Indogermanen sind die Etrusker 
nicht gewesen. Und doch hat auch hier eine vor der römischen erblühte 
Kultur imd ein politischer Einfluß, der um 500 v. Chr. von den Alpen bis 
nach Campanien hinein sich erstreckte imd sich erst später auf das noch 
jetzt von den Etruskem den Namen tragende Toscana einschränkte, dahin 
gewirkt, daß Etruskisches sich ins Latein mischte. Freilich die Vermutung» 
dafi einzelne technische Ausdrücke auf dem Gebiete des Sakral-, des 
Kalender-, des Theaterwesens (z. "R. persona 'die Maske*) von den Etruskem 
stammen, darf mtm, obwohl sie durch die Nachrichten der Alten manche 
Stütze empfängt, nur mit äußerster Zurückhaltung wagen. Aber sicher 
steht solcher Ursprung für einen großen Teil des Namensschatzes — zum 
deutlichen Zeichen, daß hinter der Sage von den Tarquiniem, den 
römischen Königen etruskischen Stanunes und Namens, ein greifbarer 
Kern sich birgt Und wie überall, wo eine Sprache einer anderen Worte 
in gprößerer Fülle entlehnt, kamen mit den etruskischen Namen wohl auch 
manche formative Elemente, manche Endungen ins Lateinische hinüber. 

EatMn«i(« Ober solche Anleihen lexikalischer und formaler Natur ist das Latein, 

•U^T~ soviel wir sehen, nur beim Grriechischen hinausgegangen. Aus g^anz 
beg^iflichen Ghründen. Etruskisch und Keltisch, Venetisch und Messapisch 
schwanden auf dem italischen Boden vor dem Latein dahin, genau wie 
Oskisch und Umbrisch. Wohl soll es noch zur Zeit Julians des Abtrünnigen 
Opferschauer gegeben haben, die ihre Weisheit aus etruskischen Büchern 
holten, aber es war zweifellos schon eine tote Sprache, in der diese Ge- 
heimnisse fortgepflanzt wurden, genau wie das Hebräisch der Syni^ogen. 
Keltisch und Illyrisch aber lebten zwar in den Ländern jenseits der Alpen 
und des Meeres fort, aber sie hatten auch dort keine Kultur hinter ach, 
die die Römer zu weiteren Entlehnungen hätte veranlassen können. 
b««wdm Anders standen die Römer den Griechen gegenüber. Griechisch redende 

UriKkton!«. B^^'ölkerung blieb in Süditalien immer seßhaft, und das Mutterland, von 
dem sie ausgeg^angfen war, fing früh, mindestens seit dem Ende des 
4. Jahrhunderts v. Chr., auch unmittelbar mit allem Zauber einer selbst von 
den politisch überlegenen Römern fast ausnahmslos als unerreichbar 
anerkannten Sprache und Literatur auf die .Barbaren*' zu wirken an. 
Nach solchen Vorbildern scheute man sich nicht, auch Syntax und Stil in 
Rom zu modeln; und nicht einmal, sondern wieder und wieder mußte es 
sich das Latein gfe^dlen lassen über den griechischen Kamm geschoren 
zu werden. Ja man darf s£^;en, die Geschichte des lateinischen Stiles auf 
seiner Höhe und in seinem Ver&Il ist unverständlich für den, der nicht 



IV. Das älteste Latein bis zum Beginn der Literatur. 



42X 



ständig seinen Blick auf die griechischen Muster gerichtet hält, wie das 
unser Abschnitt über die Schriftsprache (VI) im einzelnen zeigen soll. Bei 
der Volkssprache kann weder von einem so bewußten noch von einem ähnlich 
weitgehenden Anschluß an das Griechische die Rede sein. Und doch zeigt 
allein schon die etymologische Analyse der auf ihr beruhenden romanischen 
Sprachen auch hier einen starken Beisatz griechischer Elemente nicht nur 
zum Lexikon, sondern auch zu Wortbildung und Syntax auf. Es wird auch 
für weiterhin folgende Betrachtungen nicht überflüssig sein, dies mit ein 
paar Beispielen zu bekräftigen. Sowohl französisch coup^ italienisch colpo 
'Schlag' wie französisch blämer (älter blasnier)^ italienisch biasimarc 'tadeln' 
gehen auf griechische Worte zurück, jenes z.\xi kolaphos 'Ohrfeige', 'Schlag', 
das wir auch aus der römischen Literatur als griechisches Lehnwort 
kennen, dies auf blasphevicin 'tadeln', aus dem wir unser blasphcmüren 
entlehnt haben. Wenn hier das ganze Wort griechischen Ursprungs ist, 
so in französisch princessc comtesse d/esse usw. die das Feminin ausdrückende 
Endung; sie lautet im Lateinischen wie im Griechischen, das sie geschaffen 
hat, gleichmäßig -issa. Syntaktisch aber wird der Römer aus dem Volke 
zum Gefolgsmann des Griechen, wenn er ihm die Präposition cata entlehnt 
und aus cata unum 'zu je einem' das Pronomen schafft, das den Italienern 
zu ciascuno, den Franzosen zu chacun geworden ist 



IV. Das älteste Latein bis zum Beginn der Literatur. Mancher Die inKhrift 
Leser erinnert sich vielleicht noch, daß im Jahr iSgg ein Inschriftfund auf *"= '°™°- 
dem römischen Forum das Interesse sogar der Tageszeitungen erregte. 
Unter einem schwarzen Pflaster, das man im Altertum für das Grab des 
Romulus gehalten zu haben scheint, fand sich eine verstümmelte Säule, 
die in etwa anderthalb Dutzend Worten einen kärglichen Inschriftrest träg^ 
Sowohl die Fundumstände wie die Altertümlichkeit der Sprachformen und 
der Schrift lassen die Annahme nicht allzu verwegen erscheinen, daß dies 
Denkmal etwa aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. stammt; jedenfalls haben wir 
hier das älteste stadtrömische Latein vor Augen. Vergegenwärtigen wir 
uns den Zustand der Sprache, den wir durch diese Inschrift kennen 
gelernt haben. Jene Lauteigentümlichkeiten, die das Latein, wie vorhin Das Latein im 
angegeben, gegen das Oskisch-Umbrische differenzieren, sind schon vor- * J»'»'^™«'"* 
banden, aber im übrigen ist der Unterschied gegenüber dem Latein, wie 
wir es auf der Schule lernen , noch ein gewaltiger. So heißt es z. B. statt 
sacer 'heilig' sakros, statt iusto 'durch den Gerechten' iovestod, statt iumenta 
'Zugvieh' touxmenta. Wie sich das im einzelnen zu den uns geläufigen 
Formen entwickelt hat, sind wir nicht in der Lage zu verfolgen, weil aus 
den nächstfolgenden Zeiten nur wenige Sprachdenkmäler und alle geringen 
Umfangs erhalten sind. Eine zusammenhängende und ausgiebige Reihe 
von inschriftlichen und literarischen Monumenten setzt erst gegen Ende 
des 3. Jahrhunderts ein; erst von da ab ist eine wirkliche Geschichte 
wenigstens des schriftlich fixierten Lateins möglich. Diese Geschichte aber 



4*« 



Fkauz Skctsch: Die lateinische Sprache. 



.Chr. 



XltMter 

•tiUstiicber Ein- 

flafl des Grie- 



chücben. 




KBn« 

de« Atudmcks. 



Skmpulositmt 
6mä Aiudmckt. 




ist im wesentlichen nur eine Greschichte der Syntax und des Stiles, denn 
die Deklinations- und Konjugationsformen haben von jenem Zeitpunkt ab 
nicht mehr so gewechselt, daß nicht, wer den ciceronischen Brauch kennt, 
ohne weiteres imstande wäre, im ganzen auch die Komödien des Plautus 
zu verstehen, die um 200 v. Chr. geschrieben sind. Die Vorgänge also, 
die dem Latein im wesentlichen die Form gegeben haben, die wir aus der 
Schulgrammatik kennen, jene schweren lautlichen Verstümmelungen, wie 
sie sakros, iovestod und touxmenta erfahren haben, dürften etwa dem 5. und 
4. Jahrhundert v. Chr. angehören. Teils in diese Zeit, teils 100 bis 150 Jahre 
später fallen auch die Beeinträchtigungen des alten bunten Vokalismus, 
von dem eingangs die Rede war: die Diphthonge werden zu einfachen 
Vokalen (/ oder 0), at wenigstens zu ae, nur au bleibt erhalten (claudo 
'ich schheße' usw.); die kurzen Vokale im Wortinnem werden alle zu t oder / 
(cädo 'ich falle', aber concldo 'ich falle zusammen', rigo 'ich richte', aber 
erlgo 'ich richte auf, canius 'der Gesang', aber concentus 'das Zusammen- 
singen'). Und so viel vokalischen Vollton auch das Latein noch nach dieser 
Schmälerung besitzt und UcmienÜich imter den Händen eines geschickten 
Stilkünstlers entfalten kann, so fallt bisweilen ein gewisser spitzer und dünner 
Klang, ziunal bei unachtsamer Behandlung, minder angenehm ins Ohr. 

In diese älteste uns einigermaßen kenntliche Periode der Sonder- 
existenz des Lateinischen fallt aber auch schon die erste stilistische Be- 
einflussung durch das Grriechische. Ob die Leute, die mit der Abfassung^ 
des Gesetzbuchs der 12 Tafeln (451/450) betraut waren, wirklich vorher 
eine Kommission nach Athen geschickt haben, um dort die solonischen 
Gesetze zu studieren, hat man ebenso bezweifelt, wie die tätige Mit- 
wirkung eines Griechen bei der Kodifikation in Rom. Was aber griechische 
Lischriftfimde der letzten Jahrzehnte sichergestellt haben, ist, daß Formeln 
und Satzformen der 12 Tafeln vielfach nach griechischem Muster gestaltet 
sind. „Wenn (jemsrnd) nachts stiehlt, wenn der Bestohlene ihn tötet, soll 
(er) zu Recht getötet sein." „Wenn (jemand einen anderen) vor Gericht 
lädt, (so) soll (dieser andere) folgen. Wenn (er) nicht folget, soll (der erste) 
einen Zeugen nehmen, dann soll (der erste) ihn (den anderen) ergreifen." 
Dieser Lakonismus der 12 Tafeln unterscheidet sich wesentlich von dem 
oben geschilderten italischen. Der letztere hinterläßt keine Unklarheiten, 
vom ersteren kann man das gleiche nur dann sagen, wenn er nicht sowohl 
auf Hörer «ils vielmehr auf Leser berechnet ist, die Zeit haben, sich zu 
überlegen, auf wen jeder der subjektlosen Sätze sich bezieht. Daß diese 
Kürze, bei der Mißdeutungen nur durch sorgsame Interpretation aus- 
geschlossen werden konnten, nicht römischem Boden entsprungen ist, wird 
um so sicherer scheinen, wenn wir hinzusetzen, daß sonst gerade römische 
Gesetzessprache schon in ihren ältesten Urkunden eine echt römische 
Skrupulosität an den Tag legt, die sich in Verhütung von Mißverständnissen 
gar nicht genug tun kann. Nicht „der Tag, an welchem das und das ge- 
schehen soll", heißt es hier, sondern „der Tag, an welchem Tage", nicht 



V. Schrift- und Umgang-ssprachc. Plautus. 



423 



„wer nach diesem Gesetze verurteilt ist, darf das und das nicht tun", sondern 
„wer nach diesem Gesetze verurteilt ist oder sein wird"; die Sprache 
bemüht sich in Fällen, wie dem letzten, deren viele vorkommen, nur ja 
alle denkbaren Möglichkeiten zu erschöpfen. So sicher diese Eigentüm- 
lichkeit auf jenem Geschick und jener Gewissenhaftigkeit der Kasuistik 
beruht, die in immer verfeinerter Ausbildung die Größe der römischen 
Juristen ausmacht, um so gewisser dürfen wir die dazu in polarem Gegen- 
satz stehende Knappheit nicht nur in Parallele setzen mit der genau ent- 
sprechenden Ausdrucksweise griechischer Gesetze wie des von Gortyn auf 
Kreta, sondern unmittelbar daraus herleiten. 

Die 1 2 Tafeln gingen jedem Römer schon in frühester Jugend in 
Fleisch und Blut über; sie wurden in der Schule auswendig gelernt, und 
das Leben sorgte dafür, daß sie dauernder Besitz des Gedächtnisses blieben. 
So wird, wer etwa des alten Cato uns erhaltene Prosaschrift über den 
Landbau (aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.) liest und den 
eigentümlich kurz angebundenen Kommandoton des Büchleins auf sich 
wirken läßt, die Vermutung nicht willkürlich finden, dciß Cato im Stil der 
12 Tafeln, d. h. ihm selbst natürlich unbewußt im Stil griechischer Gesetze 
schreibt. Nicht besser kann sich offenbaren, wie sehr das Latein in den 
Bann des Griechischen geriet, als darin, daß auch der starre Altrömer, 
der abgesagte Feind alles griechischen Wesens, ihm hier verfiel, wo er 
gewiß durchaus populär sein wollte. 



^testen Gesets- 



V. Schrift- und Umgangssprache. Plautus. Wir haben so die 
Entwicklung des Lateins etwa bis zum Jahr 200 v. Chr. verfolgt. Hier 
setzt, wie schon gesagt, eine zusammenhängende Reihe von Denkmälern 
der Sprache ein, sowohl literarischen als inschriftlichen, die sich über einen 
Zeitraum von vielen Jahrhunderten erstreckt. Ein sehr schätzbares Material 
und doch ein Material, dessen Wert, wie man allmählich erkannt hat, ge- 
rade für den Grrammatiker nur ein sehr bedingter ist Die Erforschung 
aller toten, d. h. uns nur in schriftlicher Fixierung bekannten Sprachen, 
stößt auf große Schwierigkeiten. Eine Frage z. B., die sich bei allen 
erhebt und bei keiner sich in vöUig genügender Weise lösen läßt, ist 
die nach dem Verhältnis des Schriftbildes zur Aussprache. Man lernt 
heute noch auf den meisten Schulen die Aussprache Zizero, weil wir aus 
dem Französischen, Italienischen usw. gewöhnt sind, c nur vor dunkeln 
Vokalen wie k, vor hellen aber als Zischlaut zu sprechen. Erst eine 
fortgeschrittene Forschung erschloß die Unrichtigkeit dieser Aussprache 
teils aus der griechischen Transkription des Namens (KikeronJ, teils aus 
der umgekehrten Erscheinung, daß jedes griechische k im Lateinischen 
mit c wiedergegeben wird, auch vor hellen Vokalen (griech. ktsti, lat asfa 
'Kiste"), teils aus der Lautung alter lateinischer Lehnworte im Deutschen 
(z. B. Kiste eben aus dem letztgenannten lateinischen Worte, Keller aus 
lat cellarium, Kerker aus carcer), teils aus anderen Gründer. 



Die Schrift eine 
ungenmue 

Wiedergabe der 
Sprache. 



424 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 

stüüMnmg der Wciui hier sich an einem verhältnismäßig einfachen Beispiel zeigt, 

^•■^^^^ ^ wie mühselig es ist, auch nur eine Einzelheit der Aussprache eines aus- 
gestorbenen Idioms festzustellen, so setzt doch das Latein dem Versuch, 
durch das Schriftbild zur wirklich gesprochenen Sprache vorzudringen, 
noch ganz besondere, in vielen Stücken geradezu unüberwindliche Schwierig- 
keiten en^egen. Vielleicht keine einzige andere Sprache ist für den 
schriftlichen Grebrauch so stilisiert worden wie das Lateinische. Das beginnt 
mit dem Beginn der Literatur, d. h. in eben dem Augenblick, von dem 
an wir das Latein wirklich eingehend kennen. Die Prinzipien aber, nach 
denen die Stilisienmg erfolgt, sind im wesentlichen — wie das Grund- 
prinzip selbst, dafi, was geschrieben wird, auch stilisiert sein muß — 
griechische. Nun ist vieles von diesen Prinzipien nicht blofi für den Leser, 
sondern auch für den Hörer berechnet, zum Teil, weil es aus dem rednerischen 
Grebrauch entsprungen ist, zum Teil aber auch, weil man im Altertum 
regelmäßig laut zu lesen pflegte, auch wo man nur für sich allein las. 
Grerade hierdurch hat sich der schriftliche Ausdruck, statt, wie man denken 
könnte, sich der täglichen Umgangssprache zu nähern, nur um so weiter 
von ihr entfernt Es genügt, auf das eine Stilprinzip hinzuweisen, das für 
unsere Begriffe freilich auch das allerbefremdlichste ist Schon bei den 
iasbMoadan attischeu Rednern zeigt die Rede Rhythmus, aber erst den entarteten 
RhTtiimiäenms. asiatischeu Rhetoren des 3, Jahrhunderts v. Chr. war es vorbehalten, 
diesen Rhythmus in kleinliche Regeln zu zwängen. Bereits vor Cicero 
hat die römische Prosa von diesen Regeln nicht selten Grebrauch ge- 
macht; Cicero sieht sie für seine Sprache durchaus als verbindlich an, 
in den Reden wie in den Briefen, in den philosophischen wie in den 
rhetorischen Schriften. Und nichts zeigt seine beherrschende Stellung 
innerhalb der römischen Literatur deutlicher, als daß von jetzt an nur 
die ernstesten Fachschriftsteller wie die Juristen und Männer vom Range 
eines Tacitus sich die Abweichung von dem steifen imd — wie es uns 
scheinen wiU — monotonen Regelzwang gestatten. Vier Verbindungen 
von bestimmten Versfüßen, fünf bis acht und mehr Silben umfassend, 
nehmen jetzt fast jeden römischen Satzschluß ein, ja erscheinen nicht 
nur da, wo wir einen Punkt, sondern meist auch, wo wir ein Komma 
setzen. 

Mehr braucht man eigentlich nicht zu sagen, um den abgrundtiefen 
Riß erkennen zu lassen, der das Latein der Literatur von dem Latein 
des Alltags trennte. Der Zwang der Rhythmisierung hat so gut wie der 
Zwang des Versbaus beständige Abweichungen vom naturwüchsigen Latein 
zur Folge gehabt Wortwahl, Wortformimg, Wortstellung wurden ent- 
scheidend beeinflußt, und ein Mann aus dem Volk mag manchmal recht- 
schaffene Mühe gehabt haben, um eine ciceronische Periode zu verstehen. 
F. Th. Vischer hat, um die Verschiedenheit zwischen mündlichem und schrifb- 
lichem Ausdruck scharf auszusprechen, einmal das Wort geprägt: „eine 
Rede ist keine Schreibe"; man könnte mit einer Umkehrung dieses Alis- 



V. Schrift- und Umgangssprache. Plautus. 



425 



drucks sagen, daß die Schrift in keinem Idiom so wenig wie im H 

Lateinischen die Sprache ist H 

Natürlich soll nicht geleugnet werden, daß, wie wir ja Schriftsteller I 

gefunden haben, die die Rhj'thmisierung als Stilprinzip verschmähen, so I 

manche andere überhaupt nicht nach dem Ruhme geizen, eine kunstvolle I 

Sprache zu schreiben. Indessen sind solche Leute nicht nur eine Aus- fl 

nähme in der römischen Literatur, sondern man darf wohl auch sagen, H 

daß von einem gewissen literarischen und also auch stilistischen Ehrgeiz, ■ 

jedenfalls aber von literarisch-stilistischen Reminiszenzen so ziemlich jeder H 

beherrscht wird, der den Griffel in die Hand nimmt. Ja selbst wo ein ■ 
realistischer Schriftsteller die alltägliche Aussprache und Syntax zu kopieren Petro«. I 

unternimmt, wie es heute etwa Sudermann und Hauptmann tun, zur Zeit I 

Neros Petron an einzelnen Stellen seines meisterhaften Romans getan hat, ^^| 

fließt die Quelle einerseits fürs Latein spärlich, anderseits bleibt immer ^^B 

zu fürchten, daß ungenaue Beobachtung und Karikatur vorliegt. f 

Vielleicht wird man jetzt ahnen, daß manche Urteile über die latei- Da. Latein 
nische Sprache Vorurteile nach der einen oder anderen Seite sind, aus- ''°* ^°^^ 

^ Sprache ? 

gegangen von Leuten, die der Meinung waren, wer Vergil oder Tacitus 

oder die Juristen kenne, kenne das Lateinische. Ein bis zum Überdruß ■ 

wiederholtes Schlagwort ist das von der logischen Natur des Lateins. ■ 

Jeden Grammatiker mutet es von vornherein sehr altmodisch an. ■ 

W. v. Humboldt und andere nach ihm haben das Vorurteil, daß Sprechen ■ 

und Denken identisch, Satz = Urteil, Wort = Begriff sei, für immer fl 

zerstört; wir wissen seitdem, daß Sprechen (von seiner physiologischen H 

Seite abgesehen) ein rein psychologischer Prozeß ist — in einer Sprache H 

so gut wie in der anderen. Wohl kann eine Sprache, die scharf aus- H 

geprägte Endungen und in einem Heer satzregierender Wörtchen wie H 

„weil", „als", „damit" usw. die Möglichkeit zu künstlich gegliederter Satz- ■ 

fugxmg besitzt, die Beziehung der einzelnen Worte aufeinander, die Unter- I 

oder Oberordnung der einzelnen Gedanken besonders klar ausdrücken; I 

und das Latein war in diesem Falle, denn die scharf ausgeprägten ^^H 

Endungen hatte es sich zu einem guten Teil seit der italischen Urzeit ^^B 

bewahrt, die satzregierenden Wörtchen allmählich herausgebildet Nichts- ■ 

destoweniger konnte man im Lateinischen genau so unlogisch reden wie ■ 

im Deutschen — und hat nicht weniger oft so unlogisch geredet Wer ^^B 

das bestreitet, hat nicht nur Ciceros Sprache nie mit scharfen Augen be- ^H 

trachtet, sondern vergißt vor allem, daß, wer um der logischen Ausdrucks- ^B 

weise etwa der klassischen Juristen willen von dem „logischen Latein" I 

redet, ebensogut um Lessings willen von einer eminent logischen Natur I 

der deutschen Sprache reden dürfte. | 

Aber wenn hier ein günstiges Vorurteil zu zerstören war, so kann oa» Latein 
man zum Entgelt auch manches ungünstige vom Latein abwälzen. Grill- *''" "'i'^»™' 
parzer hat einmal gefragt (XV, 159): „Fällt es jedermann so schwer als 
mir, sich eine junge Römerin zu denken, die mit ihrem Heißgeliebten 




426 



Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 



L«ideiiftchaft io 

der literarischen 

Sprach«, 



Leideiucbaft 

in der Sprache 

de* Alltags. 



von ihrer Leidenschaft — lateinisch spricht?" Er drückt etwas konkreter 
aus, was man gewöhnlich recht abstrakt die Nüchternheit der lateinischen 
Sprache nennen hört. Auch hier soll eine gewisse Berechtigung solchen 
Urteils nicht völlig bestritten werden. Um nur eins herauszugreifen: einen 
schönen Schmuck poetischer Rede pflegen Zusammensetzungen, ins- 
besondere zusammengesetzte Beiwörter zu bilden. Die indogermanische 
Muttersprache vererbte ihren Töchtern fast unbegrenzte Möglichkeiten 
solcher Bildung, und diejenigen ihrer Töchter, die in der Poesie das 
Höchste geleistet haben, sie haben auch von jenen Möglichkeiten den 
umfassendsten Gebrauch gemacht: das Griechische und das Germanische. 
Aber dem Lateinischen ist dieser schöne Zug fast völlig abhanden ge- 
kommen; nur kümmerHche Pflänzchen ringt mühselige Kunst dem Boden 
ab, der anderen Sprachen, kaum bestellt, reichste Blüten und Früchte trägt. 
Die Schuld trägt hier wirklich zu gutem Teil die unpoetische Natur der 
Römer. Kein Volkslied, kein aus dem Volk hervorgewachsenes Epos 
kräftigt die indogermanischen Keime der Wortzusammensetzung, und als 
die Übersetzung und Nachahmung griechischer Meisterwerke eine Kunst- 
poesie schafft, sind die Keime nicht mehr recht triebfähig. Freilich waren 
sie zugleich auch von den vorhin geschilderten lautlichen Verstümmelungen 
besonders schwer betroffen worden. 

Dies und Ähnliches soll nicht bestritten werden; darum aber dem 
Latein die Fähigkeit zu Ausbrüchen tiefen Gefühls und wiederum 
anderseits etwa zu zärtlicher Tändelei absprechen und meinen, daß 
himmelhoch Jauchzende und zu Tode Betrübte stumm bleiben mußten, 
wenn sie das Unglück hatten, Römer zu sein, — das kann auch wieder 
nur, wer auf einzelne Schriftsteller hin über die ganze Sprache aburteilen 
zu dürfen glaubt Gewiß ist in der römischen Literatur häufiger die ge- 
waltige Kraft leidenschaftlicher Invektive und das schöne Pathos männ- 
licher Begeisterung {man muß Ciceros Rede gegen Piso etwa lesen, um die 
erstere ganz zu empfinden; beim letzteren aber ~ wer denkt nicht an hora- 
zische Glanzstellen, die kein Schulunterricht verleiden kann, wie das lustum 
et tenacem propositi virum oder Duke et decorum est fro patria mori'i). Aber, 
wenn auch schon derlei genügen müßte, um das Latein vom Vorwurf 
angeborener Nüchternheit zu befreien, hat nicht CatuU der Liebe Leid 
und Lust mit so vollen Tönen zu singen gewußt wie die Besten anderer 
Literaturen? 

Vor allem indes: man soll auch hier, um über die Ausdrucksmöghch- 
keiten der lateinischen Sprache zu urteilen, nicht bei den klassischen 
Literaturdenkmalen stehen bleiben. Etwas von starrer Maske hat ihr Stil, 
wie wir gesehen haben, immer. Die Züge des lebendigen Antlitzes, das 
dahinter steckt, sprechen deutlicher. Das Latein, wie wir es auf der 
Schule lernen, wie wir es bei Tacitus, in der Aeneis, ja selbst in mancher 
Liebesode des Horaz lesen, mag uns immerhin etwas schwer und steif 
für Liebesgetändel dünken. Aber daß Roms Mädchen leichte und graziöse 



V. Schrift- und Umgangssprache. Plautus. 



4«7 



PUtttus ml* 

Quelle der 

rVlltaguprsche. 



Worte dafür fanden, kann man doch nicht bezweifeln, wenn man an die 
Töchter der römischen Mutter denkt Wo fließt derlei anmutiger von den 
Lippen als im Französischen und Italienischen? und sollte nicht, was die 
beiden gemeinsam haben, ererbtes Gut sein? 

Wir können die letzte Frage bestimmt mit „ja" beantworten. Daß 
wir es können, danken wir dem Manne, der zeitlich der erste ist, von dem 
uns umfassende Werke in lateinischer Sprache erhalten sind, der aber 
zugleich gerade durch seine Sprachbehandlung eine Sonderstellung unter 
allen uns erhaltenen römischen Schriftstellern einnimmt, dem Lustspiel- 
dichter Plautus (-{- 184). Plautus war nichts weniger als ein Originalgenie, 
nach unseren Begriffen kaum viel mehr als ein Übersetzer aus dem 
Griechischen, aber nicht nur keinem anderen Übersetzer, sondern selbst 
keinem Dichter — die Vorbilder des Plautus vielleicht ausgenommen — 
dürfte es wie ihm gelungen sein, in tadellosen Versen so unverfälscht die 
Alltagssprache zu schreiben. Selbstverständlich ist das nur darum möglich, 
weil die Gattung des Lustspiels eine besondere Stilisierung der Alltags- 
sprache nicht mit Notwendigkeit verlangt. Aber auch daß Plautus in so 
frühe Zeit fallt, kommt uns hier zustatten: an dem zweiten uns erhaltenen 
Lustspieldichter Terenz (tätig von 166 — 159) können wir sehen, wie mit 
dem größeren Interesse vornehmer Kreise an der Literatur auch in der 
Komödie der Ton feiner, gehaltener, künstlicher wird. Plautus allein 
fuhrt uns den Durchschnittsrömer vor, redend, wie ihm der Schnabel ge- 
wachsen ist; seine Verse haben ihn zwar, wie natürlich, auch manchmal 
zu freiem Schalten mit der Umgangssprache genötigt, sie enthalten auch 
mancherlei gräzisierende Wendung, im ganzen aber spiegeln sie das 
lebendige Latein in seiner Betonung, im Klang einzelner Worte und 
ganzer Sätze, im Wortlaut der üblichen Formeln für „Guten Tag", „Wie 
geht's?" usw. und, was mehr ist, in seiner gesaraten Ausdrucksfähigkeit 
aufs treuste wider. Und danach kann man nur sagen, es gab nichts, charmkeerisük 
was in diesem Latein seinen adäquaten Ausdruck nicht hätte finden ■*" aii"«'- 
können. Kluge Lebensweisheit und toller Übermut, Liebesschmerz, der 
am Leben verzweifelt, und reizendste Schmeichelworte, aus denen es wie 
ein perlendes Lachen noch heute an unser Ohr klingt, Vaterfreude und 
Vaterschmerz und was es sonst noch für Töne in der Skala der Empfin- 
dungen und Gedanken des täglichen Lebens gibt, alle sind sie zu hören, 
und wer diesen Dichter zu lesen versteht, ist ebenso von der Meinung 
geheilt, daß das Latein seiner Natur nach eine nüchterne, wie von der 
anderen, daß es eine eminent logische Sprache war. Wir haben hier das 
treueste und in vielem Sinne auch vollständigste Bild des wirklichen 
Lateins. Selbst scheinbare Lücken erweisen sich als genaues Spiegelbild 
der Sprache, wie sie damals war. So fehlt in der Komödie natürlich die 
Ausdrucksweise des wissenschaftlichen abstrakten Denkens. Aber auch 
diese Zufälligkeit entspricht einem tatsächlich vorhandenen Zuge des 
Lateinischen: an derlei gebrach es eben wirklich und nicht bloß bei 



428 Franz Skvtsch: Die lateinische Sprache. 

Plautus, und erst als das Interesse für griechische Wissenschaft in Rom 
den Versuch der Nachbildung hervorruft, fanget man diese Lücke bitter zu 
empfinden und nach Möglichkeit mit fremdem und heimischem Gmte zu 
füllen an. 
stuuenmc der Plautus ist, wie gesagt, unter den erhaltenen Dichtem der einzig'e, 

^b^ckl zlk^ dem die Art seiner Poesie und seine Zeit ein naives Verhalten gegenüber 
gcooMen da der Alltagssprachc gestatteten; schon seine Zeitgenossen, die sich mit dem 
"*°'^ Epos und dem ernsten Drama beschäftigen, beginnen zu stilisieren, und 
bald folg^ auch die Prosa nach. Unter der Eisdecke der Literatur ver- 
schwindet jetzt der rauschende Strom lebendiger Sprache und wird uns 
nur von Zeit zu Zeit durch eine zufällige Lücke wieder einmal flüchtig^ 
sichtbar. So erklärt sich's, dafi wir — um das Vischersche Wort wieder 
aufzugreifen — wohl eine Greschichte der römischen Schreibe, nicht aber 
der lateinischen Sprache entwerfen können. Diesem Versuch imseres 
nächsten Abschnitts mag sich in Kap. VII sodann noch einiges zur 
Charakteristik und Wertung der Umg^gssprache anschließen. 

Periodm der VL Gcschichte des lateinischen Stiles. Wie ganz und gar unsere 

^'^'*'^"''"*' landläufige Betrachtungsweise des Lateinischen die Sprache zugunsten der 
„Schreibe" ignoriert, kann nichts deutlicher zeigen als die jedermann be- 
kannten Benennungen „goldene« und „silberne Latinität". Sie beziehen 
sich einzig und allein auf den Stil, und für diesen geben sie allerdings 
eine richtige Unterscheidung und auch Wertung zweier Perioden. Wir 
verstehen unter der goldenen bekanntlich das Latein der ciceronischen 
und augusteischen Zeit, unter der silbernen seine Entwicklung im weiteren 
Verlauf des i. Jahrhunderts n. Chr. und wenig darüber hinaus, im 
g£mzen eine Zeit von nicht 200 Jahren. Wer also einen vollständigen 
Oberblick über die Geschichte des lateinischen Stiles haben will, muß die - 
Einteilung rückwärts und vorwärts ergänzen. Was der goldenen Latinität 
vorausliegt, pflegen wir als die archaische zu bezeichnen; was aiif die 
silberne folgt, werden wir weiterhin einigermaßen zu gliedern versuchen. 
Erste uteraiische I. Archaische Latinität Eine Sprache mag selbst auf den Höhepimkten 
*""^X1*" menschlichen Durchschnittlebens so leicht sich bewegen, wie wir es vor- 
hin die lateinische haben tun sehen — sie wird doch, ehe sie zu großen 
literarischen Zwecken tauglich wird, noch vieler Zustutzung xmd Vervoll- 
kommnung bedürfen. Das Latein hat das Glück gehabt, wenigstens im 
Beginn seiner Poesie gleich sehr energische Zuchtmeister zu finden. Es 
brauchte solche um so mehr, als mit der Formimg der poetischen Sprache 
die Einführung der griechischen Versmaße an Stelle des einheimischen 
ungefügen und ganz verschieden gearteten satumischen Metrums Hand 
in Hand ging. Weitaus die schwierigsten Aufgaben stellte hier der Hexa^ 
Epische Poesie, meter, Und an ihm und mit ihm hat sich die römische Dichtersprache im 
wesentiichen ausgebildet, indem, was zimächst für den Hexameter geneuert 
Ennios. War, mit der Zeit auch in die anderen Versmaße überging. So ist Ennius, der 



VI. Geschiebte des lateinischen Stiles. 



429 



bald nach dem zweiten Punischen Kriege, also nach 200 v. Chr. den Hexa- 
meter ins Latein einführte , der Vater des poetischen Stiles bei den Römern 
geworden. Da die eigentümliche Abfolge von Länge und zwei Kürzen, 
wie sie dieser Vers fordert, im Latein nicht allzu häufig ist, so bedurfte 
es mancher Neubildung, mancher Wiederaufnahme veralteter Worte, 
mancher syntaktischen Kühnheit z. B. in der Wortstellung, manches starken 
Gräzismus, um dem Mangel abzuhelfen. Ennius ist in diesen Dingen 
zum Teil sehr weit gegangen — begreiflich, da er sich selbst allein Maß 
und Regel sein mußte. Er hat z. B. sich nicht gescheut, die homerische 
Genetivendung -oiö, die schön klang und gut in den Hexameter pctßte, 
einfach herüberzunehmen und italischen Namen aufzupfropfen, obwohl die 
Römer nichts auch nur von fern Anklingendes besaßen. Dergleichen san Einflas 
barocke Auswüchse haben schon Ennius' nächste Nachfolger beschnitten ; ""' '''^°' 
aber noch ein Dichter von der hervorragenden Bedeutung des Lucrez, 
dessen hinterlassenes Werk 54 von Cicero herausgegeben worden ist, be- 
müht sich, von derlei Sonderlichkeiten abgesehen, möglichst in ennianischem 
Stil zu schreiben. Ja vieles , was Ennius gewagt hatte (z. B. der eigentüm- und di« 
liehe Gebrauch des Plurals statt des Singulars wie corpura, auch wo nur von '•'"*'" °*"*- 
einem Körper die Rede ist, weil diese Form mit ihrem lang kurz kurz so 
schön in den Hexameter paßt), ist dann von Vergil durch Übernahme in 
seinen Stil sanktioniert und so, da Vergil allezeit bewundertes Vorbild der 
poetischen Sprache bleibt, auf immer für die römische Dichtung ge- 
wonnen worden. 

Am meisten zu tun blieb zweifellos für den Satzbau. Hier ist Ennius, s«tibaa 
da der Vers auf die Periodisierung keinen Zwang ausübte, bei der alten 
Simplizität stehen geblieben; er erzählt in ähnlich einfach schlichten Sätzen, 
meist in bloßer Aneinanderreihung ohne Unterordnung, wie es die alte 
Prosa tut, und meidet auch deren Breite nicht Im übrigen ist auch sein 
StU schon von der Macht aufs stärkste beeinflußt, die die lateinische n&d Rhetorik 
Poesie je weiter hin je schwerer für uns genießbar macht: den Lehren •"' ^"■"'»^ 
griechischer Rhetoren. Nicht nur daß er ihnen zuliebe Klangspiele, wie 
sie die lateinische Sprache selbst an die Hand gab, weit über das Natur- 
wüchsige hinaus gesteigert hat, insbesondere die Alliteration, mit deren 
Hilfe er z. B. den Trompetenton in dem berüchtigten Hexameter malen zu 
dürfen glaubte at tuba icrribili sonitu taratantara dixit. Er hat vielmehr 
auch von den sonstigen berückenden imd verwirrenden Künsten jener 
griechischen Klügler Gebrauch gemacht: den auch in der sprachlichen 
Form, in Silbenzahl und Gleichklang, ausgeprägten Antithesen u.a. 

Was über seine Syntax und Stilistik gesagt ist, läßt sich im wesent- Satit»u a« 
liehen auch auf die der Prosa anwenden. Im Satzbau noch vielfach eine ge- 
legentlich bis zum Ungeschick gehende Simplizität und daneben doch 
schon das Raffinement griechischer Künstelei. Das hat in seinem Ge- 
schichtswerk und seinen Reden, die eine höhere gepflegtere Stilart zeigen 
als das vorhin erwähnte Werkchen über den Landbau, sogar der alte 



Pro«. 



^^O Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 

cato. Cato bewußt mitzumachen nicht immer verschmäht. Dann können wir 
bei den späteren Vertretern der Geschichtschreibungf und insbesondere 
vervou- bei den näheren Vorläufern Ciceros in der Redekunst, z. B. bei C. Gracchus, 
kommnimg bei verfolcTen, wie die syntaktische Einfachheit allmählich kunstvollerem Baue 
Platz macht imd so das Mißverhältnis zwischen ihr und dem rhetori- 
sierenden Aufputz sich verringert Schon jetzt beginnt die eigentümliche 
Rh>ihiiuMening RhythmisieruHg der Satzglieder, die wir vorhin berührten und als eine 
der Prot». Xachbilduug griechischer, speziell aus Kleinasien stammender Muster be- 
^L zeichneten; gewiß werden gerade diese zugleich auch im übrigen auf kunst- 

^^^^^_ vollere Periodisierung hingewirkt haben, denn auch der voll dahinrollende, 

^^^^P ja bis zum Schwulst ausartende Periodenbau war ein Charakteristikum dieses 

^ „Asianismus". 

^^Poe.ir der 2. Goldenc Latinität Wenn man diese Periode mit Ciceros Auf- 

kUuucben Zeit. s^gigeQ ^ur Höhe seines Rednerruhms, also etwa den sechziger Jahren 
des letzten Jahrhunderts v. Chr. beginnen läßt, so fällt die Grenze für die 
Poesie reichlich früh. Denn die letzten wirklich großen Dichter der 
Republik zeigen sich noch in wesentlichen Stücken als Anhänger älterer 
Lncrax. Art gerade im Sprachlich -Stilistischen, Lucrez im ganzen Verlauf seines 
umfangreichen Lehrgedichtes über die Entstehung des Alls, Catull wenig- 
stens in seinen größeren Gedichten. Lucrez baut wohl längere, wenn auch 
nicht viel elegantere Perioden als Ennius; im übrigen ist er der getreue 
c«tiiu. Nachahmer seiner Sprache in Wortwahl, Wortbildung, Wortfügung. Catull 
mit seinen gleichstrebenden Freunden aus Oberitalien ist zwar mit Erfolg 
auf größere Zierlichkeit bedacht und glaubt von der Höhe dieser Eleganz 
auf den Vater der römischen Poesie mit Geringschätzung herabblicken zu 
dürfen, und doch mißfällt auch bei ihm, gerade in den Stücken, die er als 
seine künstlichsten schätzte, die Störung des Satzflusses durch Einschachte- 
lungen, Wortverstellungen, übermäßige Länge u. a. Als vollendeter Künstler 
Veriii. und Vorbild aller weiteren auf dem Gebiet der Dichtersprache ist erst Vergfil 
zu nennen mit den im Jahre 29 veröffentlichten Georgica und der nach 
seinem Tode erschienenen Aeneis. Hier verschmilzt alles, der lateinische 
Sprachstoff mit den ihm innewohnenden Eigenschaften der Kraft und des 
Vollklangs, die griechische Kunst in seiner Behandlung, die altvaterische 
Einfachheit und die moderne Gewandtheit im sprachlichen Aufbau. Eine 
außerordentlich geschickte Mischung von Altertümlichem, kühnen Neuerungen 
und Gräzismen — das ist Vergils Sprache. Eine Mischung so geschickt, daß 
aus der anscheinend homogenen Masse vielfach nur die allerfeinste Unter- 
suchung noch die einzelnen Elemente wieder herausdestillieren kann. Das 
größte Verdienst ist dabei das um die Periodisierung im Hexameter. Die 
schwer schleppenden Sätze des Lucrez und Catull sind verschwunden, leicht 
und glatt ist der Gang der Periode , dem Gang des Verses angepaßt Und 
vergii au wie Vergil von den älteren Dichtem nahm, was ihm sprachlich geeignet 
*"iip«»re * schien, gleichviel ob sie Dramatiker oder Epiker waren, so hat er die 
uichterspnu:he. Unterschiede der Dichtgattungen, die sich in der älteren Diktion nicht 



VI. Geschichte des lateinischen Stiles. 



431 



h 



Prosa der 
klanttchan Zeit. 



unmerklich ausprägen, für die spätere Dichtersprache im ganzen beseitigt. 
Er hat der Poesie seines Volkes das Kleid gegeben, in dem sie, von 
leichten Modernisierungen und Verzierungen abgesehen, durch die Jahr- 
hunderte gefallen hat 

Eine ähnlich zentrale Stellung wie Vergil auf dem Gebiete des 
poetischen nimmt Cicero auf dem Gebiete des prosaischen Stiles ein — 
nur ähnlich freilich, denn wir wüßten keinen namhaften Dichter nach 
Vergil, der ihm gegenüber sich seine völlige Unabhängigkeit gewahrt 
hätte, aber wir kennen ganze Schriftstellerklassen in der Prosa, die sich 
mehr oder weniger bewußt von Cicero abkehren. Cicero {geboren 106 v. Chr.) Cicero. 
sehen wir in seinen frühesten Reden mit allen Mitteln des Asianismus '''^'"""•" '•" 
arbeiten, mit der geschwollenen Periode, in der manchmal mehr auf den 
Klang als auf den Sinn gesehen wird und die Worte bisweilen nur äußerer 
Abrundung dienen, mit gehäuften Figuren und vor allem durchaus mit dem 
Satzrhythmus. Der für ihn sehr segensreiche Unterricht in der rhodischen 
Rednerschule (79 — 77 v.Chr.) hat ihn gelehrt, sich hierin zu mäßigen. Nur 
der Rhj^mus spielt auf der Höhe seiner Tätigkeit keine geringere Rolle khyüunui. 
als in den Anfangen und ist dadurch außer für wenige selbständige Geister 
zu einem selbstverständlichen Postulat guten lateinischen Stiles geworden, 
das von Seneca ebenso honoriert wird wie von AugTistin, ja das ganze Mittel- 
alter hindurch von den kaiserlichen Kanzleien so gut wie von den päpst- 
lichen. Hiervon abgesehen ist Ciceros Bestreben, das Überschwengliche, voUendung de» 
Übertriebene des Asianismus auf die Schönheitslinie zurückzudrücken, ebenso i"'""««»'»- 
deutlich wie erfolgreich. Die Periode wird schön gerundet ohne Überfülle, i'eriwU. 
und für ihre kunstvolle und klare Gliederung wird mit all den Mitteln 
gesorgt, die, wie früher gesagt, die lateinische Sprache ererbt oder aus 
Eigenem neu gewonnen hatte. Der griechische Asianismus gefiel sich in WortUMonf und 
kühnen Neubildungen: auch das tritt bei dem Römer ganz zurück, w°'*"»1'L 
dem freilich, wie wir früher schon sahen, mit der Leichtigkeit der Wort- 
zusammensetzung vielleicht das wichtigste Mittel zu lexikalischen Neue- 
rungen verloren war; ja Cicero siebt auch den Wortschatz der älteren 
Literatur energisch durch und gibt Wörtern und Wendungen der Umgangs- 
sprache außer in den Briefen nicht leicht Einlaß, und selbst die Briefe 
sondern sich doch von der Umgangssprache wieder durch ihre so gut wie 
durchgängige Rhythmisierung. 

Es ist unmöglich, abweichende Strömungen, zm denen es natürlich in Ander«. 
Ciceros Zeit nicht gefehlt hat, hier nun ebenfalls in Einzelheiten zu stiie»'«»»««»- 
schildern. Den ausgesprochensten Gegensatz zu seiner Art bilden die- 
jenigen, die als griechische Muster sich nicht die Asianer erkoren haben, 
sondern etwa einen Mann wie Lysias und darum sich wohl Attiker nennen. Attiker. 
Sie suchen die Eleganz nicht wie Cicero in der Fülle, sondern gerade in 
der Schlichtheit rein sachlichen Ausdrucks, die nun freilich — nament- 
lich an Cicero gemessen — etwas nüchtern wirkt Ein merkwürdiges 
Denkmal dieses Gegensatzes ist uns noch in einem Stück des Briefwechsels 



432 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 

Bratn*. zwischen Brutus und Cicero erhalten: schon daß der eine hier durchaus 
rhythmisch, der andere durchaus unrhythmisch schreibt, kennzeichnet das 
Verhältnis dieser stilistischen Antipoden. Der größte, den man als Ver- 
csmt. treter eines solchen einfachen „Attizismus" nennen darf, ist Cäsar gewesen. 
Er ist noch peinlicher als Cicero in der Wortwahl; hatte er doch gesag^t, 
ein neues und unerhörtes Wort müsse man wie eine Klippe meiden. Und 
wenn bei Cicero die Worte den Gedanken mit üppigem Faltenwurf um- 
kleiden, sitzen sie ihm bei Cäsar knapp imd einfach an; von Rhythmus 
ist höchstens hier und da etwas zu spüren. 
Ant^dch de« 3. Silberne Latinität Sind bis hierher Poesie und Prosa getrennte 

""^h^ ^L. ^^^® gewandelt, so kennzeichnet sich die folgende Periode wie alle 
weitere Entwicklung dadurch, daß beide nunmehr Hand in Hand gehen. 
Es hat das seinen Hauptg^rund in einem Umstand, der auch sonst sich für 
den lateinischen Stil bedeutungsvoll erwiesen hat: der eigenartigen Ge- 
staltung des Jugendtmterrichts in der Kaiserzeit Zuerst vom grammaticus 
im Verständnis und in der Nachahmung der klassischen Dichter geschult, 
RiMtoraDJchaie. wltd der juuge Mann sodann vom Rhetor in den Künsten der Rhetorik 
unterwiesen; diese aber steigern sich nim um so mehr, als sie zum Selbst- 
zweck werden, da die politischen Verhältnisse eine praktische Verwendung 
der Beredsamkeit kaimi noch gestatten. Jetzt wird die Poesie ebenso 
völlig von Rhetorik durchsetzt wie die Prosa (unter den Dichtem ist Ovid 
das erste Beispiel in gproßem Stile); wir kennen Fälle genug, wo gleiche 
Themata in rhetorischer Prosa und in Versen behandelt worden sind. 

Die erste Folge davon ist eben die Ausgleichung des poetischen und 
prosaischen Stiles. Noch bei Cicero sind beide grundverschieden. Wir 
haben genug von seinen wenig glücklichen poetischen Versuchen, um 
erkennen zu können, wie sehr sie sich an Ennius anlehnen. Nicht nur 
lexikalisch ist hier nicht wenig zugelassen, was Ciceros Prosa dxirchaus 
meidet, sondern selbst die Aussprache in den Versen zeigt Abweichimg 
livka». von der in den Reden. Schon Livius aber hat nicht bloß ennianische 
Floskeln unbedenklich in sein G«schichtswerk übernommen, sondern in 
die späteren Teile vielleicht auch verg^ilische. Noch stärker gleicht seit 
der Zeit des Tiberius etwa sich Prosa und Poesie im Wortschatz aus; der 
ältere Plinius sucht z. B. in seiner Naturgeschichte der Trockenheit seines 
Stoffes ganz imgeniert mit zusammengesetzten Beiworten aufzuhelfen, wie 
sie früher nur die Dichter in gleicher Absicht künstlich geschaffen hatten. 
Pomteosta. Die zweite Folge der rhetorischen Ausbildung ist, daß der Stil in 

Poesie und Prosa jetzt durchaus auf rhetorische Wirkimg berechnet wird. 
Die Schriftsteller sind beständig auf der Suche nach überraschenden neuen 
Sentenzen, und da dies Kraut für den einzelnen nicht so gar reichlich 
wächst und die Rhetorenschule anderseits einen großen Bestand von der- 
gleichen ausbildet und zu jedermanns Gebrauch weitergabt, so soll wenigstens 
der Ausdruck überraschend, durch seine Neuheit möglichst schlagkräftig 
sein. So wird neben Alliterationen, Reimen, gleicher Silbenzahl korre- 



VI. Geschichte des lateinischen Stiles. 



433 



^ 
^ 



^ 



spondierender Satzglieder imd anderen Klangeffekten, worunter auch der 
Rhythmus natürlich seine Rolle weiterspielt, ein möglichst pointierter 
Ausdruck als wesentlich angesehen. Wie das alles bei Griechen und 
Römern längst dagewesen ist, nur eben jetzt eine nie zuvor dagewesene 
Häufung und Verstärkung erfährt, so ist auch die Sucht, Pointen in 
schlagenden Gegensätzen, Antithesen, zum Ausdruck zu bringen, alt, aber 
erst jetzt wird sie zu einer rechten Epidemie. Und wenn ein Teil der 
Schriftsteller dieser Sucht noch in der Form der voll dahinrollenden Periode 
ausreichend frönen zu können meint, so verfallen andere auf den raffi- 
nierten, aber natürlich auch schon bei den Griechen vorgebildeten Ge- 
danken, daß für Pointe und Glieder der Antithese sich kurze knappe 
Sätzchen viel besser eignen. Als berühmtester Vertreter der letzteren Art 
ist der Philosoph Seneca zu nennen, der diese Stilgattung zu solcher 
Virtuosität ausgebildet hat, dciß er damit für einige Zeit auch den modernen 
Leser fasziniert, ob er nun ethische oder naturwissenschaftliche Themen 
behandeln mag. Auf die Dauer freilich wirkt die Lektüre Senecas wie 
etiiva die eines dicken Bandes Aphorismen oder Epigramme — wie denn 
der größte Epigrammatiker aller Zeiten, Martial, wohl nicht zufällig diesem 
pointenhaschenden Jahrhundert angehören wird — ; man ermüdet beim 
Lesen, weil der Schriftsteller das Licht seines Scharfsinns nicht in ruhiger 
Flamme brennen läßt, sondern es alle Augenblicke zu plötzlichem Auf- 
flackern zwingt. Und wie der Prosaiker Seneca, so unter den Dichtem 
z. B. Lucan und Juvenal. 

Gewiß gibt es auch hier Leute, die der Mode ganz oder in manchem 
Widersland leisten. Quintilians Unterweisung in der Redekunst sucht sich 
dem ciceronischen Muster zu nähern; Tacitus in seinen großen Werken 
verschmäht im allgemeinen den Rhythmus und wählt, wo er der Antithese 
huldigt, vielfach die Worte so, daß sich entsprechende Fassung der Anti- 
thesenglieder vermieden wird; ja unsymmetrischer Bau ist bis zu einem 
gewissen Grade überhaupt sein Stilprinzip. Aber soweit wir sehen, stehen 
beide in ihrer Zeit allein. Auf die Pointe haben freilich auch sie nicht 
verzichten mögen. 

4. Die archaisierende Periode. Für die eigentümliche Gestaltung des 
Stiles seit Hadrian können von den erhaltenen Schriftstellern vier als be- 
sonders charakteristische Beispiele dienen: M. Cornelius Fronto aus Cirta, 
Erzieher des Marc Aurel, Apuleius aus Madaura, der Christ Tertullian aus 
Carthago und endlich Gellius, dessen Herkunft wir nicht kennen. Ihr Stil 
ist in vielem nichts weiter als eine Steigerung bereits geschilderter Eigen- 
tümlichkeiten: Rhythmus, Fülle bis zum Schwulst, reichster Gebrauch sämt- 
licher rhetorischen Figuren bis herunter zur Klingelei des Wortspiels. 
Aber einerseits sind die zweite und dritte Eigenschaft hier so maßlos 
imd anderseits weist der Wortschatz eine solche Fülle neugebildeter oder 
seit Jahrhunderten aus der römischen Literatur verschwundener Vokabeln 
auf, daß lange Zeit den Philologen für dies besondere Latein auch eine 

Dm Kultur dem Gbcenwakt. L 6. 28 



Seneca 
der Phiio«opb. 



Di« Dichlor. 



Vereioielt« : 

QntDtiliaa. 
Tadtiu. 




Der Sta da 

2. JmhrhuDderU. 



4^^ Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 

besondere Erklärung am Platze zu sein schien. Drei von jenen vier 
Männern stanuneo aus Afrika; den vierten ebenfalls nach Afrika zu ver- 
setzen, konnte man sich ohne Schwierigkeiten erlauben, da das Altertum 
so freundlich gewesen ist, uns über seine Herkunft im unklaren zu lassen. 
Dm IOC. So glaubte man die Eigentümlichkeit ihrer Sprache als eine Frucht 
afrikaniiche afrikanischen Bodens ansehen zu dürfen; die Hitze der afrikanischen Sonne, 
die Nachbarschaft der Semiten sollte das gezeitigt haben, was man als 
„afrikanischen Schwulst" bezeichnete. Und wenn in diesem Wortgemenge 
so viel Revenants aus Plautus und Terenz, aus Ennius und Cato erscheinen, 
so glaubte man auch das aus der Eigenart der Römer in Afrika erklären 
zu können: Afrika ist bereits durch den dritten Punischen Krieg, tun die 
Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., römische Provinz geworden; die Nach- 
kommen der damals in Afrika festgesetzten Soldaten, Beamten, Kolonisten 
hätten — so meinte man — die Sprache ihrer Väter getreuer bewahrt als 
die lateinische Bevölkerung Italiens, deren energischere Fortschritte in 
Kultur und Literatur auch die Sprache rascher veränderten. 

Aber dieser Erklärungsversuch übersieht sehr einfache Tatsachen. 
Wäre die altertümliche Färbung der Sprache bei Fronto imd den anderen 
eine Folge der friihen Kolonisiening Afrikas durch die Römer, so müßte 
die Sprache von römischen Schriftstellern, die aus Spanien stammen, ein 
mindestens ebenso altertümUches Kolorit zeigen, da Spanien schon durch 
den zweiten Punischen Krieg (206) römische Provinz wurde. Aber so viel 
auch die Pyrenäenhalbinsel zum Schatz der römischen Literatur bei- 
gesteuert hat — Seneca, Lucan, Martial stammen von dort — , keiner ihrer 
Söhne verdient den Vorwurf, sprachlich zurückgeblieben zu sein. Indes, 
auch wenn man nur die Verhältnisse Afrikas erwägt, kann man denn 
glauben, daß dort die lateinische Sprache sich durch drei Jahrhunderte und 
mehr unverändert gehalten habe? Afrika kann nicht so im ersten Anlauf 
latinisiert worden sein: dazu hat es der Arbeit von Jahrhunderten bedurft. 
Und diese Arbeit ist selbstverständlich nicht allein von den Nachkommen 
der ersten Ansiedler geleistet worden, sondern es mußte ein beständiges 
Nachströmen aus dem Mutterlande und infolgedessen auch ähnliche Sprach- 
veränderungen wie dort stattfinden. 

Eins aber ist es vor allem, was der Annahme widerspricht, die alter- 
tümlichen Elemente in der Sprache jener Archaisierer seien ein altes vom 
Vater auf Sohn und Enkel gegangenes Erbstück; der Leser, der bis hierher 
aufmerksam gefolgt ist, wird es sofort herausgefunden haben: wer jener 
Anncihme das Wort redet, verwechselt Rede und Schreibe. In der Sprache 
des Fronto, des Apuleius und der anderen ist alles andere so außer- 
ordentlich bewußt, ist alles so künstlich und künstelnd geformt, daß man 
unmöglich glauben kann, sie hätten in diesem einen Punkte das Prinzip 
der Stilisierung so weit vergessen, daß sie der Sprache des Volkes und 
der Landschaft Einfluß gestatteten. Auch diese Archaismen vielmehr und 
der arge Schwulst müssen sich aus einer Kunstregel erklären. Für den 



VI. Geschichte des lateinischen Stiles. 



435 



Schwulst braucht das gar keine wettere Erörterung mehr; es ist der alte 
Fehler des Asianismus, den wir auch in der gleichzeitigen griechischen 
Literatur gesteigert wiederfinden. Wer aber auch den Archaismus als 
eine Stiltendenz bezeichnet, der kann sich ganz einfach auf das berufen, 
was die antike Überlieferung von dem Kaiser zu berichten weiß, in dessen 
Zeiten wir die archaisierende Art begfinnen sahen, von Hadrian. Sein alter 
Biograph erzählt: „er liebte die archaische Stilart; dem Cicero zog er den 
Cato, dem Vergil den Ennius vor." Nur soll man nicht etwa glauben, 
daß der Herrscher dem Jahrhundert seinen persönlichen Geschmack auf- 
gezwungen habe. Vielmehr ist auch er wie die Literaten der Zeit nur ein 
Sklave griechischer Mode. Denn auch der griechische Stil liebte es damals, 
sich mit längst aus der lebenden Sprache geschwundenen Worten und 
Formen der alten attischen Klassiker zu schmücken. 

Eins zeigt aber deutlicher als alles, wie sehr diese römischen Alter- 
tümler vom griechischen Muster abhängen. Wie manches Stück ihrer 
Schriften kaum viel mehr als Übersetzung aus dem Griechischen ist, so 
ist auch nie die lateinische Syntax und das lateinische Lexikon so von 
Gräzismen durchsetzt gewesen wie jetzt. Bei Tertullian gibt es Sätze, die 
man, um ihre Konstruktion zu verstehen, erst ins Griechische übersetzen 
muß; und wie Voß etwa seine zusammengesetzten Beiwörter, die rosen- 
fingrige Eos, die weithinschattende Lanze usw., genau den griechischen 
nachbildet, so haben es ähnlich Apuleius und Tertullian gemacht — nur 
daß ihre Komposita für den Römer, der dergleichen aus seiner eigenen 
Sprache überhaupt so gut wie gar nicht kannte, viel barocker geklungen 
haben müssen als uns die Vossischen. 

Auch in dieser Zeit stilistischer Unnatur fehlt es freilich nicht an er- 
quickenden Oasen. Und wenigstens der größten und wichtigsten wollen 
wir hier gedenken. Daß die lateinische Sprache nicht an sich logisch 
war, wohl aber logisch denkenden Köpfen ein gutes Werkzeug, ward 
oben gesagt Logischere Köpfe hat Rom nie besessen als seine Juristen. 
Das haben sie gerade in dieser Zeit stilistischer Ungeheuerlichkeiten be- 
wiesen. Ins 2. Jahrhundert fallt die Blüte römischer Rechtsschriftstellerei, 
die Institutionen des Gaius, dies unerreichte Lehrbüchlein für angehende 
Juristen, und die meisten der Werke, aus denen dann im 6. Jahrhundert 
Justinian seine Digesten kompiliert hat, voran die Schriften Papinians (f 2 1 2). 
Überall erfreut nicht nur die Unabhängigkeit vom Zeitgeschmack, sondern 
auch positiv der knappe und scharfe echt lateinische Ausdruck, Die Juris- 
prudenz ist auch die einzige Wissenschaft gewesen, die bei den Römern 
eine im wesentlichen original lateinische Terminologie hatte. 

5. Die Spätzeit Neue Züge hat von da an der lateinische Stil kaum 
mehr entwickelt; so g^t wie alles ist Nachahmung der älteren Perioden, und 
für den einzelnen ist die Frage im allgemeinen nur, wo er anknüpfen will. 
Die Antwort fällt sehr verschieden aus. Es gibt Leute, die ciceronisch 
schreiben wollen und das verhältnismäßig nicht übel fertig bringen, wie 

28* 



Die kla**iMhai 

Jurist«! 
alt Aunabmc. 



Imitation älterer 

StilArt«o 
in der Sp&tieiL 



^36 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 

gegen 300 der christliche Apologet Lactanz; es gibt andere, wie den 
Bischof Zeno von Verona (f 380), deren höchstes stilistisches Ideal die 
buntscheckige Art des Apuleius ist; andere wieder halten sich vorzugs- 
weise an Sallust und so fort Daß dabei eine reine Imitation so gnt wie 
unmöglich ist, daß gewollt oder ungewollt sich immer noch Reminiszenzen 
an den Stil anderer mehr oder weniger klassischer Autoren eindrängen, 
ist selbstverständlich; je nach dem Grrade seiner Kenntnisse lastet auf 
jedem dieser Epigonen der Einfluß des älteren Schrifitums in verschiedenem 
zmidimeade Grade, aber er lastet auf jedem. Danach kann man den Unterschied ab- 
vencUedmbeit nehmen, der damals zwischen dem „Stil" der Literatur und der natürlichen 

von Stü ' " 

and Umgang«- Redeweise solcher Leute bestand, die sich nicht in derlei Altertümelei müh- 
»prach«. selig hineingezwängft hatten. Da die Alltagssprache natürlich seit den 
Zeiten des Plautus auch ihre Veränderungen und zwar vollkommen un- 
abhängig von der Schriftsprache durchgemacht hatte, so läßt sich denken, 
daß die Divergenz der beiden, die wir zuerst um 200 v.Chr. hervortreten 
sahen, jetzt ein Maximiun erreicht haben muß. Am einfachsten läßt sich 
das an den Flexionsformen greifen. Wer auf seinen Stil hielt, schrieb 
natürlich im 4. Jahrhundert den Akkusativ von amor noch amorem wie 
Cicero xmd wird sich wohl auch noch so zu sprechen gemüht haben. Die 
einfach-natürliche Sprache aber war damals schon längst zu jener Form 
übergegangen, die dem italienischen Wort für „Liebe" zugrunde liegt: 
amore. 

Eins muß damals noch besonders dazu beigetragen haben, den Stil 
von der Sprache zu entfernen: der Einfluß, den bei der allmählichen 
Christianisierung der Literatur die lateinischen Bibelübersetzungen gewannen. 
Man bemühte sich natürlich, das heilige Wort des griechischen Originals 
möglichst genau wiederzugeben, und so sehen wir hier in verstärktem 
Maße sich Erscheinimgen wiederholen, wie sie ims vorhin bei Apuleius 
und Tertullian begegpiet sind: teils werden griechische Worte einfach 
herübergenommen, teils in engem Anschluß an die griechischen Formen 
lateinische Ausdrücke geneuert Dem letzteren Verfahren verdanken Worte 
wie salvaior 'Heiland' ihre Entstehung. 
EinfloB des Dabei soll nicht geleugnet werden, daß anderseits gerade das Christen- 

chrMtentum». jyj^ seinen Tendenzen gemäß manches zur Popularisierung der Schrift- 
sprache beigetragen hat Um ganz davon abzusehen, daß es auf dem 
eben geschilderten Wege manchen griechischen Ausdruck auch dem Volke 
geläufig machen mußte (z. B. baptizare 'taufen', ecclesia 'Kirche', was in 
itaL ckiesa, französ. dglise weiterlebt), — das Christentum hatte weit mehr 
Veranlassung, die Sprache jedermanns zu reden, als die heidnische Literatur, 
die sich auch inhaltlich mehr und mehr vom Volke abgekehrt hatte. Dann 
aber griffen in christiichen Dingen auch solche zur Feder, denen es an 
literarischen Prätensionen jedenfalls sehr viel mehr gebrach als ihren 
heidnischen Kollegen. Ein rührendes Beispiel hierfür ist aus dem 4. Jahr- 
hundert der Bericht einer frommen Dame, die von Aquitanien nach dem. 



\^I. Die gesprochene Sprache. 



437 



leit. 



Heiligen Lande wallfahrtete und, was sie gesehen und erlebt hat, schlicht 
und naiv niederschreibt, nicht nur ohne stilistische Künstelei, sondern sogar 
mit allerlei Verstößen gegen die Syntax, ja selbst die Formenlehre der 
klassischen Zeit, wie sie der veränderte Zustand der gesprochenen Sprache 
allen aufdrängte, denen nicht in der Schule die ciceronische Regel ein- 
gepaukt worden war. Passiert doch auch diesen sogar mancher Schnitzer 
solcher Art, wie es unvermeidlich ist, wo die Gewohnheit des täglichen 
Lebens durch Konventionalitäten unterdrückt werden solL 

Gegenüber dem Hin- und Herlavieren des Prosastils zwischen der PoMie der spii- 
Fülle älterer Muster bleibt die Poesie verhältnismäßig beständig. Ge- 
schmacksschwankungen, wie sie dort etwa durch die Namen Cicero- 
Apuleius bezeichnet werden, haben hier nicht stattgefunden. Die Dichter 
der augusteischen Zeit bleiben im ganzen die Norm, der freilich auch 
hier dadurch mehr und mehr Abbruch geschieht, daß das lebende Idiom 
gegen seine Vergewaltigung immer stärker revoltiert und im Verse sich 
manchmal auf eine sehr unklassische Art Luft macht Es zeigt sich dies 
insbesondere im Verfall der Quantität Die scharfe Scheidung zwischen 
lang und kurz ist im wesentlichen durch die Wirkung des starken Akzents, 
wie wir ihn früher geschildert haben, ins Schwanken geraten, und was 
wir in vulgärer Versemacherei schon viel früher beobachten können, wird 
jetzt auch in der Kunstpoesie merklich. Meist freilich nur in gelegent- 
lichen Irrungen; aber djis Christentum, das auch hier wieder nicht zufällig 
vorangeht, stellt schon gegen die Mitte des 3. Jahrhunderts in Commodian 
einen Mann, dem es beim Bau seiner frommen Hexameter auf die Quan- 
tität kaum mehr ankommt als den deutschen Verfertigern solcher Verse. 



VII. Die gesprochene Sprache. Wir haben das Latein, wie es in Dm 
jedermanns Munde war, mit einem lebendigen Strom verglichen, der früh- '"^•'''"»"•''" 
zeitig unter der Eisdecke des Kunststils der Literatur unserem Blicke ent- 
schwindet Wir haben aber eben auch schon gesehen, wie die Eisdecke 
im Laufe der Jahrhunderte mürber und mürber wird und der Strom von 
unten immer stärker dagegen schlägt und sie hier und da bereits über- 
flutet Können wir uns wohl trotz seiner langen Verborgenheit ein Bild 
davon machen, wie er ausgesehen, wie das Alltagslatein sich im Laufe 
der Zeiten gestaltet hat? Es fehlt uns dazu nicht ganz an Mitteln. 
Plautus haben wir ja schon als eins der wichtigsten kennen gelernt, und 
daß das 3. Jahrhundert und die folgenden in dem, was vom Stand- 
punkt unserer Schulgrammatik als grober Fehler erscheint, vielfach nur 
der natürlichen von keiner Schriftsprache normierten Redeweise ihren 
Zoll entrichten, haben wir auch schon gelernt Aber auch zwischendurch 
und nebenher findet sich mancherlei, was uns über Einzelheiten der 
familiären Sprache aufklärt Wir besitzen z. B. unter den Hunderttausenden 
lateinischer Inschriften auch solche, die von Leuten ohne jede literarische 
Aspiration gefertigt sind. Auf den Mauern des 79 n. Chr. durch den 




438 



Franz Skutsch; Die lateinische Sprache. 



^^^H Vesuvausbruch verschütteten Pompeji lesen wir heute noch allerlei 

^^^B Kritzeleien, die sich wie an Sittlichkeit so an sprachlicher Kunst vielfach 

^^^H nicht über das Niveau dessen erheben, womit bei uns heute unnütze 

^^^H Hände die Wände zieren. Wer bei den Wagenrennen im Zirkus einem 

^^^H Wettfahrer den Sieg mißgönnte — meist war es wohl ein Konkurrent — , 

^^^r schrieb dessen Namen mit einigen Flüchen auf eine Bleitafel und warf 

^^P sie dann in ein Grrab; dergleichen Tafeln sind in ziemlicher Zahl wieder 

H aufgefunden worden — , und dem Grammatiker, der das Volk reden zu 

^^^^ hören wünscht, ward der Fluch zum Segen. Auch Grabschriften, heid- 

^^^B nische wie christliche, zeigen oft genug statt der schulmäßig durch die 

^^^H Jahrhunderte überlieferten klassischen Formen den Widerklang der wirk- 

^^^B lieh im Volke geläufigen. Neben den Inschriften findet, wer sucht, auch 

^^^B in den handschriftlich überlieferten Sprachdenkmälern manches Gleich- 

^^^1 artige. Von der realistischen Einführung der Volkssprache bei Petron 

^^^H war schon die Rede. Weiteres geben z. B. die grammatischen Lehrbücher 

^^^H der Römer aus. Nicht als ob irgend eins von ihnen sich ex professo mit 

^^^1 der Umgangssprache befaßte. Im Gegenteil — wo deren Formen erwähnt 

^^^H werden, geschieht es im Gegensatz zu den schriftsprachlichen, um letztere 

^^^1 als die allein gebrauchswürdigen zu bezeichnen. So verfahrt besonders ein 

^^^H Schriftchen des 3. Jahrhunderts, das in zwei Kolumnen nebeneinander links 

^^^H die korrekte, d. h. schriftsprachliche Form, rechts mit einem non eingeführt 

^^^1 die familiäre gibt Was uns hier wichtig ist, das ist natürlich gerade das, 

^^^ was der alte Grammatiker verwarf. Wenn wir z. B. lesen veiulus ('alt'), 

H non veclus, so ist uns die letztere Form außerordentlich interessant als 

H diejenige, aus der sich italienisch veccht'o, französisch vieil entwickelt 

H haben, die auf das schriftlateinische vetulus nach den Lautgesetzen nicht 

zurückgehen können. 

RekoDitniktion Mit dem letzten Beispiel aber haben wir schon eine neue imd neben 
der AUug«- piautus die umfangreichste Reihe von Zeugnissen berührt, die wir für die 

•pr^che mas deo " o t 

rom»iii«:heii Einzelheiten der römischen Alltagssprache besitzen. Angenommen auch, 
Sprachen, ^j^ß alles vcrloren wäre, was direkt von ihr Kunde gibt, so wären wir 
doch in der Lage, sie zu rekonstmieren. Gerade wie wir etwa deis Ur- 
italische in seinen wesentlichen Zügen aus dem Lateinischen, Oskischen, 
Umbrischen rekonstruiert haben, so gewähren uns die sog. Tochtersprachen 
des Lateins, Italienisch, Spanisch, Französisch und die anderen, die Möglich- 
keit, ein Bild der Sprache zu entwerfen, der sie entstammen. Diese 
Sprache aber ist natürlich nicht das Buchlatein, die „Schreibe", sondern 
eben das Latein, das von der Mcisse gesprochen worden ist, die Spanien, 
Gallien usw. latinisierte. Aus den romanischen Sprachen würden wir für 
das Umgangslatein die Form veclus (statt des schriftsprachlichen veiulus) 
auch dann erschließen, wenn sie uns von keinem antiken Zeugen direkt 
garantiert wäre. 

So kommt unsere Rekonstruktion des Ur-Romanischen in einer 
großen Menge von Fällen mit der antiken Überlieferung über die Um- 




J 



VII. Die gesprochene Sprache. 



439 



gangssprache überein, in vielen sogar schon mit ihrem ältesten Zeugen, 
mit Plautus. Ein eigentümlicher Zug der romanischen Sprachen ist es 
z. B., daß sie das Neutrum eingebüßt und in vielen Fällen durch das 
Femininum auf -a ersetzt haben. Italienisch la gioja, französisch la joie 
'die Freude' spiegeln nicht lateinisch gaudiiim wider, sondern ein Feminin 
gaudia (Genetiv gaudiae). Wie es sich nun nicht bezweifeln läßt, daß Jene 
romanische Femininform auf -a vielfach aus dem im Lateinischen auf 
-a endigenden Plural der Neutra {gaudia, Genetiv gaudiorum) heraus- 
gebildet worden ist, so zeigt Plautus zwar noch nicht jenes Femininum 
gaudia, gaudiae, wohl aber in häufigerer Verwendung den Plural gaudia, 
gaudiorum, wo der Singular nicht nur au.sgereicht haben würde, sondern 
nach dem Gebrauch der ciceronischen Latinität wohl allein korrekt ist. 
Eine ähnliche Übereinstimmung zwischen dem Romanischen und Plautus 
besteht in Dingen des ArtikeLs und des Pronomens der dritten Person 



»^^ ? »^^^ 






Wir haben eingangs gesagt, daß diese dem Uritalischen 



völlig fehlten; die romanischen Sprachen aber kennen alle den bestimmten 
Artikel (französisch ie la, italienisch // lo la), den unbestimmten (französisch 
un une, italienisch uno una) und dcis „er" und „sie" (französisch il eile, 
italienisch egli elld). Die erste und dritte Formenreihe ist offenbar aus 
lateinisch Hlc illa 'jener' usw. entwickelt, der unbestimmte Artikel aus 
lateinisch unus 'einer'. Nun treffen wir bei Plautus nicht nur ille illa und 
unus una schon in abgeschwächter Bedeutung, die ganz lebhaft an die des 
romanischen Artikels und Pronomens erinnert, sondern wir finden bei ihm 
auch häufig illc illa usw. auf der Endsilbe betont {illc illä), und es ist ja 
wohl klar, daß z. B. la nur dann aus illa entstehen konnte, wenn dieses 
nicht seine er.ste, sondern seine zweite Silbe betonte. 

Aber wir können über solche Einzelheiten hinaus nachweisen, daß 
auch der wesentlichste Zug in der Struktur der romanischen Sprachen 
schon der Umgangssprache zur Zeit des Plautus nicht ganz fremd war — 
der sog. analytische Charakter. Die romanischen Sprachen (wie viele 
jüngere Sprachphasen) neigen dazu, durch Umschreibungen auszudrücken, 
was ältere Perioden mit einer einheitlichen Form bezeichnet hatten. Wenn 
wir im Uritalischen noch die Möglichkeit fanden „in dem Garten" durch 
ein Wort wiederzugeben, so muß schon das Latein der ältesten historischen 
Zeit zwei Worte daran wenden in horto. Auf diesem Wege ist das Ro- 
manische außerordentlich weit vorgedrungen; man vergleiche nur französisch 
a la mlrc mit lateinisch viatri, d^ la mire mit matris, il a dcrif mit 
scripsit, plus long mit longior; ja manches, was uns jetzt im Französischen 
schon wieder einheitlich anmutet, ist eigentlich auch eine solche Um- 
schreibung, z. B. ;/ t'crirn d. i. eigentlich t'crire a 'er hat zu schreiben' 
gegenüber lateinisch scribct. Nun finden wir schon bei Plautus dare 'geben' 
gelegentlich in auffälliger Weise mit ad 'zu' = fi-anzösisch h konstruiert, 
wo unsere Schulgrammatiken den Dativ erwarten lassen. Die Steigerungs- 
formen werden von Plautus öfters mit magis 'mehr' umschrieben, ja es 




^.^o Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 

findet sich in seiner Zeit auch schon die Umschreibung mit plus, die der 
französischen i^plus long 'länger') genau entspricht Auch de 'von' kann 
man damals schon so gesetzt finden, daß es dem de des fi-anzösischen 
Teilungsartikels (de Veau) lebhaft ähnelt 
vencUedenet Audercs wieder läßt sich nicht so weit zurückverfolgen. Wenn sich 

cban^Lit^ii gß'^isse lateinische Entsprechimgen des Typus ü a icrit schon vor Christi 
ronaniKhen Geburt einstellen, so begegnet uns ein dem icrira 'er wird schreiben' genau 
Endieiinuig«!!. ^^ vergleichendes scribere habet erst im 4. Jahrhundert danach. Die eigen- 
tümlichen romanischen Adverbialbildimgen auf mente (italienisch sincera- 
mente 'aufrichtig', prossitnamente 'nächstens', fi-anzösisch sinclremeni, 
prochatnement) lassen sich aus lateinischen Verbindimgen wie sincera mente 
'aufrichtigen Sinnes' herleiten, die in auffälliger Weise zuerst im 2. Jahr- 
hundert n. Chr. hervortreten. Eine andere so charakteristische Er- 
scheinung wie die Verwandlvmg des c vor hellen Vokjilen in einen Zisch- 
laut (lateinisch Cicero gesprochen Kikero, aber französisch Ciciron ge- 
sprochen sztszeron, italienisch Cicerone gesprochen tsckitscherone) ist 
schlecht gerechnet ein Jahrhundert, wahrscheinlich sogar mehrere jünger 
als die Entstehung der Adverbien auf mente. 

Durchgreifend werden all diese Erscheinungen natürlich oft erst lange, 
nachdem sie sich in ihren ersten Ansätzen angekündigt haben. Aber auch 
ohne dieser Differenz weiter Beachtimg zu schenken, darf man aussprechen, 
daß die verschiedenen Eigentümlichkeiten des Romanischen zu sehr ver- 
schiedenen Zeiten in der lateinischen Umgangssprache hervorgetreten 
sind, daß also diese Umgangssprache eine noch weit veränderungsreichere 
Geschichte gehabt haben muß als die Schriftsprache. Tinte ist eine kon- 
servierende Flüssigkeit 

Dabei sind wir nur einen Teil dieser Veränderungen in der Umgangs- 
sprache wirklich zu belegen imstande; die anderen kann man nur aus 
den romanischen Idiomen erschließen. Wenn z. B. im Französischen tris 
als das steigernde „sehr" erscheint, so setzt das voraus, daß irgendwann 
das lateinische trans 'jenseits', dessen lautiicher Abkömmling zweifellos 
tris ist, die Bedeutung „sehr" angenommen habe; sie ist aber bis jetzt in 
keinem lateinischen Sprachdenkmal nachzuweisen. Das gleiche gilt bei 
der Bildung des Imperfektums; eine Anzahl der romanischen Sprachen 
setzt eine Form moneam sentiam statt des schriftsprachlichen monebam 
scntibam voraus — , aber auch hier fehlt uns bis jetzt jeder schriftliche 
Beleg. 

Indes nicht nur für einzelne durch das Romanische vorausgesetzte Formen 
fehlt es bis jetzt an jedem Beleg im lateinischen Schrifttimi, sondern für 
den ganzen Prozeß der Herausbildung lokal begrenzter Sprachen auf dem 
weiten einst vom Lateinischen beherrschten Gebiete. Daß das Latein, über 
einen großen Teil Europas und einen Teil Afrikas ausgebreitet, in Diedekte 
zerfallen mußte, ist natürlich, ziunal es ja in Frankreich, Spanien, Rumänien 
auf ganz verschiedene einheimische Bevölkerungen übertragen wurde. 



VIII. Einfluß des Lateinischen auf andere Sprachen. 



441 



Aber obwohl diese Dialekte sich schließlich so weit differenziert haben, 
wie wir es sehen, wenn wir heute Französisch, Italienisch, Spanisch, 
Rumänisch nebeneinander halten, so hat sich doch von solch lokalen 
Verschiedenheiten im Latein selbst bisher nichts von irgendwelcher Er- 
heblichkeit nachweisen lassen, — denn daß das „afrikanische" Latein keine 
örtliche Erscheinimg war, haben wir ja vorhin gesehen. Es wird das wohl 
hauptsächlich damit zusammenhängen, daß aus den letzten Jahrhunderten 
vor dem Auftreten der einzelnen romanischen Sprachen, deren älteste 
Urkunden nicht über das g. Jahrhundert zurückgehen, umfänglichere Denk- 
mäler unverfälschter Volkssprache nicht erhalten sind. 



alter. 



Vin. Einfluß des Lateinischen auf andere Sprachen. Wir 1^601«*«»« 
haben es in nicht wenigen Ländern des römischen Macht- und Kultur- .'"/"TT" 
kreises zu einer völligen Latinisierung kommen sehen: die Iberer in 
Spanien, die Kelten in Gallien haben diesen Prozeß durchgemacht, ebenso 
die Bevölkerung der Alpen und der Länder an der unteren Donau, wie 
die engadinische und die rumänische Sprache zeigen. Aber selbst bei 
solchen Völkern, die jenem Kreis nur vorübergehend angehörten oder sich Entiehnaogou 
nur mit ihm berührten, hat im Altertum eine starke Infiltration lateinischen »"**•" ^'"" 

' tm .\U«rtais and 

Sprachguts stattgefunden. Am stärksten vielleicht bei den Albanesen, früh« Mine! 
die nicht aus dem eigenen Sprachschatz, sondern mit Entlehnungen aus 
dem Lateinischen selbst die einfachsten Anforderungen an das Lexikon 
bestreiten: sogar die Ausdrücke für 'oder' und 'und', für 'Eltern' und 
'Kinder' z. B., ja ganze Teile des Formensystems sind hier aus dem Latein 
herübergenommen. Andere Sprachen schränken die Entlehnungen meist 
auf bestimmte Sphären des Wortschatzes ein; sie holen von den Römern 
die Benennungen für gewisse Errungenschaften der Kultur, die sie erst 
durch die Römer kennen lernten oder bei ihnen besonders ausgebildet 
fanden. In die griechische Sprache des oströmischen Reiches ist viel 
Lateinisches eingedrungen; unter den bezeichneten Gesichtspunkt fallen 
insbesondere die Beamtennamen und juristische Ausdrücke. 

Am interessantesten aber sind für uns zweifellos die lateinischen Lateiuicbe 
Wörter, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung ins Deutsche ''*^*^^J'" 
aufgenommen worden sind. Wir dürfen uns rühmen, daß es nicht ein 
einseitiges Nehmen gewesen ist; das Lateinische hat sich seinerseits da- 
mals auch an deutschem Gute bereichert Um ganz von Namen speziell 
germanischer Tiere abzusehen: wir können seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. 
in Rom nitlca, unser 'Milch', als Namen einer mit Milch bereiteten Speise 
nachweisen. Aber vorzugsweise fiel die Rolle der Gebenden doch natur- 
gemäß den Römern mit ihrer überlegenen, späterhin noch durch das 
Christentum verstärkten Kultur zu. Haus und Garten, Küche und Keller, 
deren römische Einrichtung die Germanen an Rhein und Mosel ausgiebig 
bewundem konnten, zeigen in ihren einzelnen Erfordernissen noch heute 
deutlich die altübemommene lateinische Terminologie: Mauer Pfeiler 




442 



Frakz SKtrrscH: Die lateinische Sprache. 



Pfosten Ziegel, Birru Kirsche Pflaume Pfirsich Kohl Rettich Kümmel Stnf 
Pfeffer, Tisch Schüssel Kessel Becher Kelch und wie viel andere unserer 
geläufigsten Worte axis den gleichen Sphären danken wir den Römern. 
Noch anderes römische Gut brachte der Handel: Münze Pfund und das 
Wort 'kaufen* selbst nebst vielen ähnlichen. Nicht alle Entlehnungen 
sind so friedlicher Art gewesen. Kriegerische Zusammenstöße, nicht 
minder wohl der Dienst der Germanen im römischen Heere, haben ihnen 
z. B. auch ein Wort wie Pfeil zugeführt Dafür kann man ein andermal 
wieder den eigenartigen Prozeß beobachten, daß der Ncime der Kriegs- 
maschine manganum, den die Römer von den Griechen entlehnt hatten, 
in unserem 'Mange' oder 'Mangel' zur Bezeichnung eines häuslichen 
Instruments wird, das mit jener nur die Walzen gemeinsam hat. Eine 
neue Schicht Lehnwörter drang dann, zum Teil nachweislich später als 
die genannten, jedenfalls aber noch im frühen Mittelalter, mit dem 
römischen Christentum in Deutschland ein, so Propst, Messe, Kreus, 
predigen u. a., darunter wieder nicht wenige, die die Römer selbst erst 
von den Griechen überkommen hatten, wie Priester Atönch Orgel. 

Wie wir übrigens im Lateinischen den Einfluß des griechischen 
Lexikons nicht bloß an den in ihrer ursprünglichen Form entlehnten Worten 
aufzeigen konnten, sondern auch an solchen, die genaue Übersetzungen 
griechischer sind, so beschränkt sich der lateinische Einschlag im Ger- 
manischen nicht auf unmittelbar herübergenommene Worte: wir können 
auch hier an einem interessanten und wichtigen Falle die gliedweise Nach- 
bildung fremder Zusammensetzungen mit einheimischem Materiale nach- 
weisen. Unsere Namen der Wochentage Sonntag Montag Dienstag 
Donnerstag Freitag sind den lateinischen Solis dies, Itinae dies. Mortis 
dies, lovis dies, Veneris dies nachgebildet, indem bei den letzten drei die 
römische Gottheit (Mars Jupiter Venus) durch die entsprechende ger- 
manische (Thingsus Donner Freia) ersetzt ist 



Entlehn angen 

auf dem toten 

Latein. 



All die Entlehnungen aus dem Lateinischen, die bi.sher aufgezählt 
sind, fallen in die Zeit, da es noch selbst eine lebende Sprache war, da 
es noch gewissermaßen durch eine lateinisch redende Volk.smasse ver- 
körpert wurde. Aber während andere Sprachen mit ihren Trägem dahin- 
sterben, ist dem Latein das wenigstens in dieser Ausdehnung ganz 
einzige Los gefallen, solchen Tod zu überleben. Es behielt seine Wichtig- 
keit als Ausdrucksmittel einer großen Kultur, von der man sich noch 
immer abhängig, die man der eigenen mannigfach überlegen fühlte; es war 
die Sprache einer vielbewunderten Literatur, die ihr Bestes gerade in der 
Kunst des Stiles geleistet hatte. So gehen denn sprachliche Beeinflussungen 
in Fülle von ihm aus, auch viele Jahrhunderte noch nachdem die letzten 
den Mund geschlossen haben, die Latein als Muttersprache redeten. 

Dem einzelnen gerecht zu werden, brauchte es einen Kenner des 
ganzen Kreises der modernen zivilisierten Sprachen und ihrer Geschichte; 



VIII. Einflufl des Lateinischen auf andere Sprachen. 



443 



ich kann nur auf ganz weniges hinweisen. Die romanischen Sprachen, ■ 

nicht zufrieden mit dem reichen Erbteil, das sie von der lateinischen fl 

Mutter überkommen hatten, haben oftmals späterhin noch bei ihr Anleihen ■ 

gemacht Im Französischen kann man vielfach sog. Doublets oder Doppel- I 

Wörter, verschieden geformte Abkömmlinge desselben lateinischen Wortes I 

beobachten, wie raide (roidcj und rigide, die beide 'steif 'starr' bedeuten ■ 

und auf lateinisch rigidus zurückgehen. Erstere Form weist die Spuren I 

des Lautwandels auf, den rigidus im Alltagslatein und in dessen Entwicklung ■ 

zum Romanischen durchmachen mußte (vgl. froid 'kalt' aus /rigidus); es ■ 

ist das lateinische Wort, wie es direkt von Mund zu Mund und von Ge- ■ 

neration zu Generation weitergegeben wurde. Rigide dagegen entspricht I 

dem lateinischen rigidus viel genauer in den Lauten; aber das ist nur H 

darum möglich, weil es nicht historisch daraus entwickelt, sondern erst in ■ 

neuerer Zeit aus dem lateinischen Schrifttum entlehnt ist: auch hier hat fl 

die Tinte konservierend gewirkt H 

In diesem Falle hat der Habitus von Schuldner und Gläubiger so viel H 

Ähnlichkeit, daß für das nicht wissenschaftlich geschärfte Auge sich ■ 

solche lateinische Eindringlinge von der romanischen Masse kaum kennt- ■ 
lieh abheben. Anders liegt die Sache bei den lateinischen Lehnworten, LauanUche 
die das Deutsche seit dem Mittelalter in sich aufgenommen hat Da sie '^'"'"'"*' "» 
fast sämtlich sich für den Blick jedes Gebildeten von dem deutschen Oesacbeii. 
Sprachstoffe ohne weiteres imterscheiden, hat jeder auch die Möglichkeit 

in der Hand, die Menge unserer jüngeren Entlehnungen aus dem M 

Lateinischen zu prüfen; er braucht nur bei beliebiger deutscher Lektüre B 

einmal seine Aufmerksamkeit für kurze Zeit nach dieser Seite zu kehren. ■ 

Das meiste betrifft natürlich die gelehrte Schule und den Wissenschaft- I 

liehen Betrieb. Mit der Organisation unserer höheren und hohen Schulen fl 

sind Ausdrücke wie Rektor, Professor, Privatdozent, Doktor, Student, Kolleg, ■ 

Kollege, Auditorium, Honorar, Direktor, Ordinarius, Klasse, Sexta bis Prima, H 

Primus und viele andere so eng verknüpft, daß es scheint, man könne H 

nicht an den Worten ändern, ohne die Sache umzugestalten. Von den H 

Wissenschaften zeigt die, die das Altertum zum ersten Gegenstand H 

hatte und durchaus auf antiken Grundlagen fußt, besonders viel antike H 

Fachausdrücke, die Philologie mit der Grammatik. Der Ruhm der Er- ■ 

findung kommt dabei fast durchweg den Griechen zu, aber nicht die I 

griechischen Ausdrücke leben fort und sind heute jedem Schulknaben und H 

jedem Gebildeten geläufig, sondern ihre (bisweilen recht ungeschickten) I 

Übertragungen durch die lateinischen Grammatiker. Das gilt von all H 

jenen Bezeichnungen wie Verbum und Substantiv, Kasus und Person, ■ 

Imperativ und Konjunktiv usw. (vgl. Wackemagel oben S. 310), und auch H 

wiederholte Bemühungen, diese lateinischen Ausdrücke zu verdeutschen, I 

haben mehr die Schwierigkeiten als den Nutzen solchen Unternehmens H 

klargestellt. Die Rechtswissenschaft hat hier größere Erfolge zu ver- H 

zeichnen. Selbst im Namen hat sich die yurisprudens verdeutscht, und ■ 



444 Franz Skijtsch: Die lateinische Sprache. 

doch zeugen Prozeß und Testament, Assessor und Referendar (um nur 
weniges aus vielem herauszugreifen) davon, wie römische Rechtsformen 
imzerstörbar bei uns weiterleben. In anderen Wissenschaften, wie in der 
Medizin und Mathematik, ist dem Latein vor .allem wieder eine ver- 
mittelnde Rolle zugefallen; die griechischen Fachausdrücke gebrauchen 
wir im ganzen in der Lautgestalt und mit dem Akzent, die ihnen die 
Römer gegeben haben (vgL Wackemagel S. 307). Aber längst nicht immer 
borget das Latein hier nur Erborgtes weiter; man erinnere sich an Radius, 
Grad, Minute, Sekunde usw. 

Es hieße sich zu sehr ins Weite verlieren, wollte man die Menge latei- 
nischen Lehnguts auch noch in den Künsten und auf anderen Gebieten 
menschlicher Tätigkeit selbst bloß andeutend aufweisen; bleibt doch zudem 
eine andere tiefgehende Beeinflussimg der modernen Sprachen durch das 
Srafeiktiach- Latein noch zu erwähnen. Wo immer es zur Herübemeihme aus einer Sprache 
M*d^'iu«^ in die andere kommt, pfleget sich der Vorgang nicht aufs Lexikon ein- 
aof die netwRm zuschränkeu. Das Latein hat wohl bei allen neueren Kultumationen auch 
^f""^"^ auf Syntax imd Stil zeitweilig sehr starke Einwirkungen geübt Das 
begreift sich ja ohne weiteres. Die modernen Sprachen, die roma- 
nischen wie die germanischen, haben sich ihr Recht zu literarischer Ver- 
wendimg wenigstens neben der lateinischen erst mühselig erstreiten müssen, 
imd bis ins 19. Jjüirhundert hinein hat die Fähigkeit, lateinisch zu reden 
und zu schreiben, als ein wichtiges Erfordernis allgemeiner Bildimg 
namentlich in Deutschland gegolten; bei wie vielen aber war diese Fähig- 
keit sogar weit über die des muttersprachlichen Ausdrucks gesteigert So 
klag^ im 16. Jahrhundert ein französischer Grrammatiker über die „Grelüst^- 
keit, im Französischen den lateinischen Stil anzunehmen und den eigenen 
aufzugeben"; die großen Schriftsteller dieses imd des folgenden Jahr- 
hunderts haben unzählige Latinismen in Konstruktionen und Satzbau. Von 
den englischen Klassikern sei hier wenigstens Milton genannt, der wie in 
Wortschatz und Wortformen so in Syntax und Stil besonders häufig latei- 
DeotMdi. nischen (freilich auch griechischen) Mustern folgt Im Deutschen darf die 
künstlich aufgetürmte Periodisierun|f, die wir erst neuerdings energpisch 
zu beseitigen beginnen, als lateinisches Erbe gelten, wie im Kanzleistil 
besonders deutlich wird. Aber auch vieles, dsis uns im einzelnen bei 
unseren größten Schriftstellern befremdet, ist denselben Weg gekommen. 
Haben wir in Lessing einen der Väter unserer modernen Prosa und 
jedenfalls einen unserer hervorragendsten Stilisten zu verehren, so wird 
sein Beispiel ja hier besonders beweiskräftig sein. Er wag^ gelegentlich 
Konstruktionen, die uns geradezu schmerzlich berühren: „Seien Sie, wer 
Sie wollen, wenn Sie nur nicht der sind, der ich nicht will, daß Sie 
sein sollen", „ein Band alter Fabeln, die sie ungefähr aus den nämlichen 
Jahren zu sein urteilten" usf. Der Latinismus hierin ist auch für den 
Anfänger im Lateinischen mit Händen zu greifen. Besonders merkwürdig 
ist der zweite FalL Denn der „Akkusativ mit dem Infinitiv« ist gewisser- 



IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altemims. 



445 



maßen zum Gradmesser des lateinischen Einflusses auf den deutschen Stil 
geworden. Vor Lessing haben ihn z. B. Notker, der um das Jahr looo 
viel Lateinisches übersetzte, und im 16. Jahrhundert Fischart, der auch 
unter den ersten war, die deutsche Hexameter bauten. 

Es mag nicht an Hoffnungsfreudigen fehlen, die in der Einschränkung Der 
des lateinischen Unterrichts, insbesondere dem Wegfall des lateinischen l^'"""»'«™''"-. 
Aufsatzes, eine Gewähr für eine Besserung des deutschen Stiles erblicken, 
der nun, von einem lästigen Muster befreit und nur nach eigensten Ge- 
setzen sich richtend, fortan größere Leichtigkeit und dabei mehr Eigenart 
gewinnen werde. Hätten nur nicht die letzten Jahre gezeigt, daß unser 
Stil für das kalte Fieber der Latinomanie das hitzige der Gallo- und 
Anglomanie einzutauschen in Gefahr steht! Indes zugegeben auch, daß 
das, was bisher dem Lateinunterricht genommen worden ist, unserer 
eigenen Sprache zugute kommen wird — so viel dürften doch die vor- 
stehenden Betrachtungen in all ihrer Dürftigkeit klarstellen, daß eine 
weitere Beschneidung unserer I^ateinkenntnisse auch für das Verständnis 
unserer nationalen Sprachgeschichte, wie es jeder Gebildete besitzen 
sollte, einen schweren Verlust bedeuten würde. 



IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums. Latein 
lernen heißt nicht nur für das Verständnis des Altertums einen der 
beiden Schlüssel gewinnen. Wir haben eben schon gesehen, wie es auch 
einer der Schlüssel zum Verständnis unserer eigenen Sprache ist Aber 
wir dürfen mehr sagen: es ist auch ein unentbehrlicher Schlüssel zum Ver- 
ständnis der modernen Kultur, nicht bloß darum, weil diese sich auf 
der antiken aufgebaut hat, sondern auch darum, weil eine große Anzahl 
der erlesensten Geister des Mittelalters und der Neuzeit ihren Gedanken 
lateinische Form gegeben hat 

Dies Nachleben des Lateins scheidet sich, wie die ganze Geschichte d« L««ia w 
menschlicher Bildung seit dem Ausgang des Altertums, durch die Renais- ^^^°"^^' 
sance in zwei Hälften. Wenn man es recht verstehen will, kann man 
sagen: in der ersten ist die Handhabung der lateinischen Sprache freier, 
origineller, freilich auch viel fehlerhafter und wilder; in der zweiten sieht 
man ängstlich auf die klassischen Muster. Nicht als ob man nicht auch 
in der ersten zuzeiten unter Anlehnung an antike Autoren recht gut 
Latein zu schreiben wüßte. Aber im ganzen heißt es hier mehr, sich 
überhaupt ausdrücken, und das tut man lateinisch, da die germanischen 
und romanischen Sprachen erst sehr allmählich zu schriftlichen Ausdrucks- 
mitteln herangebildet werden. In der zweiten Periode dagegen kommt es im 
ganzen darauf an, sich, wenn man sich lateinisch ausdrückt, auch korrekt 
und schön auszudrücken. Dante und in vielem auch noch Petrarca schreiben 
ein Latein, das für Cicero teils unverständlich, teils unerträglich fehlerhaft 



446 



Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 



Die 
kliniriitiiche 
Imttatioa und 
ihr EinfluB. 



Latein ala 
Sprache der 
Wiuenichaft. 



gewesen wäre. Aber Petrarca selbst hat die Quellen des besten latei- 
nischen Stiles wieder aufgegraben; und wer aus diesen Quellen nicht einen 
tiefen Trunk getan hat, darf sich sehr bald nicht mehr lateinisch zu äußern 
wagen, wenn er nicht seines Stiles wegen verlacht werden will wie die 
Dunkelmänner. Jetzt schwindet die Meisse der barbarischen Wörter, mit 
denen mittelalterliche Schriftsteller teils selbst neubildend, teils aus den 
Landessprachen entlehnend ihr Latein durchsetzt haben; es schwinden die 
barbarischen Konstruktionen, die auch entweder aus willkürlicher Ver- 
unstaltung oder aus dem Einfluß der Nationalität hervorgegangen sind. 
Und wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach seit anderthalb Jahrtausenden 
nichts mehr in lateinischer Sprache geschrieben worden ist, woran 
nicht Cicero oder Vergil grammatisch und stilistisch sehr beträchtliche 
Ausstellungen zu machen haben würden, so darf man doch anderseits der 
neulateinischen Stilkunst das Zeugnis geben, daß es ihr an Leistungen von 
außerordentlicher Eleganz und Feinheit nicht mangelt 

Man hat es oft schon ausgesprochen, daß gerade diese vielfach so 
kunstvolle Nachahmung des klassischen Stiles, wie sie durch die Renais- 
sance üblich wurde, dem Latein den Lebensrest genommen hat, der ihm 
auch nach dem Altertum verblieben war. Die Möglichkeit, neu auf- 
tauchende Begriffe durch kühne Neubildungen zu bezeichnen, den 
Gedanken nicht in die Schablone der ciceronischen Periode hinein- 
zupressen, kurz die Möglichkeit einer lebendigen Fortentwickelung, soweit 
solche bei einer literarischen Sprache überhaupt denkbar ist, hätte 
dem Latein bleiben müssen, wenn es sich auf die Dauer auch nur als 
internationale Sprache der Wissenschaft behaupten sollte. Das kann am 
besten die Wissenschaft zeigen, in der das Latein wirklich diese Stellung 
bis zum heutigen Tag behalten hat, die systematische Botanik. Kühne, 
sich beständig aus griechischem und lateinischem Sprachmaterial ver- 
mehrende Neubildimgen, Verzicht auf alle stilistische Kunst sind die Zeichen 
ihres Lateins, aber es ermöglicht dem Deutschen, sich ohne weiteres mit 
dem Russen und Japaner zu verständigen. 

Wenn die Botanik den positiven Beweis liefert, daß nur eigenmächtige 
Behandlung das Latein befähigen kann, die Sprache der Wissenschaft zu 
bleiben, so gibt die klassische Philologie den negativen. Zweifellos ist 
— ft"eilich neben dem wachsenden Bestreben, den wissenschaftlichen Stoff 
in der eigenen Sprache künstlerisch zu gestalten — die Forderung, 
„ciceronisch" zu schreiben, die Ursache davon, daß selbst unter den 
Philologen die Neigung, sich lateinisch auszudrücken, stark im Abnehmen 
ist Der Philologe empfindet heute mehr als je zuvor das Bedürfnis, 
neben den sog. klassischen Perioden des Altertums auch die ftüheren imd 
späteren wie sachlich so sprachlich aufs genaueste zu durchforschen. Es 
liegt auf der Hand, daß die Belastung des Gedächtnisses mit dem Sprach- 
material so verschiedener Perioden eine „klassizistische" Nachahmung des 
Lateins sehr erschwert 



IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums. 



447 



Nun haben zudem gerade die letzten Jahre gezeigt, wie undankbar 
das Bestreben, „klassisch" schreiben zu wollen, selbst bei energischer Aus- 
schaltung solch störender Nebeneinflüsse bleibt Daß Cicero durchaus 
rhythmisch schreibt, wie wir oben dargelegt haben, ist erst vor etwa zehn 
Jahren wieder entdeckt worden. Und also ist alles, was seit der Renaissance 
an „ciceronischem" Latein geschrieben und als solches bewundert worden 
ist, durchaus unciceronisch. 

Hier haben wir eine anscheinend vernichtende Kritik der „klassizisti- 
schen" Imitation. Und doch kann gerade die klassische Philologie nicht 
aufhören sie zu fordern, es müßte ihr denn alles Stilgefühl verloren gehen. 
Stellt diese ideale Forderung sich als unerfüllbar heraus, so bleibt dem 
Philologen nur die Möglichkeit, auf das Latein als Darstellungsmittel über- 
haupt zu verzichten. 

Wie das Latein seine Rolle als Sprache der Wissenschaft selbst auf i^^^,^ j, 
dem Gebiet der Philologie nahezu ausgespielt hat, so ist es vom politischen Spnche d« 
Felde heute gänzlich verschwunden. Einst war es hier Herrscherin, bis 
das Französische an seine Stelle trat. Dann blieb ihm Ungarn bis in 
unsere Zeit hinein als letzter Zufluchtsort, nun ist es mit der Nationali- 
sierung des Landes auch dort verdrängt So ist es niu- ein Gebiet noch, 
auf dem die Macht des Lateins unverändert fortbesteht, freilich ein großes 
und sicheres — das der katholischen Kirche. 



Latein mls 

Sprache der 

Kirche. 



I 



Wenn wir bei dieser Übersicht über die Geschichte des Lateins in NeaUteinUche 
Mittelalter und Neuzeit bisher die Form in den Vordergrund gestellt Lite^^«- 
haben, so empfiehlt sich jetzt ein Blick auch auf den Inhalt dieser neu- 
lateinischen Literatur, um die Behauptung zu erhärten, daß in ihr unver- 
lierbares Gut der Menschheit niedergelegt ist Hierbei ist der zeitlichen 
Anordnung die nach Literaturgattungen durchaus vorzuziehen. Bei solcher 
Einteilung stellt sich nämlich sofort heraus, daß die Prosa weitaus bedeut- 
samere Leistungen aufzuweisen hat als die Poesie. 

Denn, um mit dieser letzteren zu beginnen, die neulateinische Poesie Poeeie 
bietet zwar vieles, Wcis an sich oder als Glied der gesamten neueren 
Literaturentwickelung, d. h- meist gerade als Stück der einzelnen natio- 
nalen Literaturen höchst interessant ist, aber wohl nicht eine Leistung, 
die sich unter die wirklichen Großtaten der Poesie stellen dürfte. Gern 
gäben wir die lateinische Dichtung der Karolingerzeit, so manches form- im Mineuinr 
gewandte und inhaltlich interessante Stück sie enthält, für gleichzeitige 
deutsche Poesien dahin; lieber läsen wir den IVaWiarius manu fortis, der 
heute durch SchefiFels Umdichtung allgemein bekannt ist, in der alten 
nationalen, dem Sagenstoff entsprechenden Form als in den vergilischen 
Hexametern des Ekkehard. Aber wir müssen dem Schicksal dankbar sein, 
daß seine Launen diesen frühen Urkunden unseres Volkes zur lateinischen 
Form verhelfen haben, ohne die vielleicht auch sie wie so vieles andere 
Gleichzeitige uns verloren wären. Fügen wir nur noch die Komödien der 





448 Franz Skittsch: Die lateinische Sprache. 

Nonne Hrotsvith von Gandersheim hinzu, die zwar in Prosa, aber 
doch in ausgesprochener Anlehnung an Terenz christliche Legendenstoffe 
formt, so sehen wir auch an diesem Beispiel dieselbe Erscheinung: eine 
an sich nichts weniger als klassische Leistung in lateinischer Sprache wird 
für uns von höchstem Interesse, weil sie nichts Ahnliches in nationaler 
Form neben sich hat Die Geschichte unserer ältesten Dichtung hat es 
zum großen Teil mit Lateinischem zu tun. 
ia dar NsoMit. Man kann in der lateinischen Poesie anderer Zeiten und anderer 

Völker dasselbe sich wiederholen sehen: nichts von erstem Range, aber 
vieles, dessen Verlust uns das Verständnis der Entwickelung sehr er- 
schweren müßte. Petrarca würden seine lateinischen Dichtungen nicht 
seinen Ehrenplatz verschafft haben, aber mit den lateinischen Prosabriefen 
zusammen machen sie seine Persönlichkeit, seine Bestrebungen wohl deut- 
licher als die Sonette und Trionfi. Auch ein Mann wie unser Andreas 
Gryphius etwa wird verständlicher, wenn man seine lateinischen Jugend- 
epen kennt, an denen man sehen kann, wie tief man sich im 17. Jahr- 
hundert in die alte lateinische Poesie hineinlesen und bis zu welcher 
Fertigkeit trotz vieler Fehler man die Imitation treiben lernte. 

Wenn diese lateinischen Erzeugnisse als Dokumente für die Entwicke- 
lung ihrer Verfasser und ihrer Epoche interessieren, so m^ anderes an 
sich, ohne als Rad in dem literarischen Gangwerk wichtig zu sein, dem 
Kenner einen gewissen Grenuß verschaffen. So z. B. manche Dichtung 
der Humanisten oder des Jesuiten Sarbiewski (f 1640) fromme Oden, die 
wegen ihrer Annäherung an das römische VorbUd ihm von seiner Zeit 
den Ehrennamen des polnischen Horaz eintrugen, oder des Holländers 
Johannes Secundus (f 1536) zärtliche Kußgedichte. Noch jetzt fördert ein 
holländisches Preisausschreiben alljährlich lateinische Gredichte zutage, 
deren Verfasser bisweilen mit erstaunlicher Eleganz selbst so moderne 
Gegenstände wie das Zweirad zu behandeln verstehen. 

All diese nachgeborenen Kinder der lateinischen Muse haben nur ein 
sekundäres Interesse und werden im ganzen bloß den Philologen und 
Pro», literarischen Liebhaber locken. Bei der I>rosa aber braucht man solche Ein- 
Bcttatriadache*. schränkung nur zu machen, soweit es sich um rein belletristische Werke 
handelt Freilich hat auch hier manches nicht unbeträchtliche Nach- 
wirkungen geübt, z. B. die Schnurrenliteratur; den Einfluß der Facetiae des 
italienischen Humanisten Poggio (f 1459) vmd seines deutschen Fachgenossen 
Bebel (f etwa 15 16) kann man noch bei Lessing uad darüber hinaus ver- 
spüren. Doch das alles bleibt vereinzelt und unbedeutend im Verhältnis zu 
den Denkmälern, die lateinische Prosa auf dem Giebiet der Wissenschaften 
errichtet hat Hier ist vieles, was auch Nicht-Philologen zu eingehender 
Betrachtung zwingt und sich solche Betrachtung in seiner Urform erzwingen 
wird, solange noch nicht der Köhlerglaube herrschend geworden ist, daß 
einem ernsten Beschauer die Übersetzung statt des Originals grenügen 



IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums. 



449 



könne. Aus der verwirrenden Fülle versuche ich wenigstens einiges heraus- 
zuheben. An das corpus iuris Justinians hat sich im Mittelalter (etwa seit jimipradeo». 
iioo) eine umfangreiche Erklärertätigkeit in lateinischer Sprache, wichtig 
für die Fortbildung des römischen Rechtes, angeschlossen. Die Geschichts- 
quellen, sowohl Urkunden wie Schriftsteller, voran Leute wie Gregor von 
Tours, der Geschichtschreiber der Franken, Beda, der Geschichtschreiber G»chichie. 
der Angeln, und Paulus Diaconus, der Geschichtschreiber der Langobarden, 
bedienen sich, je weiter sie zeitlich zurückliegen, um so ausschließlicher der 
lateinischen Sprache. Auf philosophischem Gebiet aber ist das Lateinische Pinio«opiij». 
nicht nur die ausgesprochene Form der Scholastik geworden, sondern auch 
Größen der modernen Philosophie wie Spinoza (f 1677) und Leibniz {f 17 14) 
haben ganz oder vorzugsweise lateinisch geschrieben. Auf dem Gebiet Eukw 
der Mathematik und Natun\'issen Schäften genügt es, zwei Namen zu nennen: Wi»Miuch«fieB. 
Newton {f 1727) und Gauß (f 1855). Die Möglichkeit soll hier nicht etwa 
bestritten werden, daß all die großen Gedanken der letzten vier sich 
ebensogut Holländisch, Englisch und Deutsch hätten ausdrücken lassen. 
Aber wir haben nicht mit dem zu rechnen, was da hätte sein können, 
sondern mit dem, was ist Je größer und origineller ein Denker, um so 
mehr ist bei ihm die Sprache die Rinde des Gedankens, die sich nicht 
abstreifen läßt, ohne daß der Gedanke selber Schaden leidet, und so wird 
auch der Mathematiker und Naturwissenschaftler das Latein nicht entbehren 
können, solange Newton und Gauß ihren Platz in der Wissenschaft be- 
haupten. 

Wer sich so umsieht auf dem gewaltigen Gebiet geistiger Leistungen 
in lateinischer Sprache seit dem Ausgang des Altertums, dem mag es 
wohl den Kopf herumkehren, „wie er wollt' Worte zu allem finden". 
Nun gar auf wenig Seiten von dem Ungeheuren eine genügende Vor- 
stellung geben — wer möchte sich des vermessen? So trifft es sich schön, 
daß auch wenige Beispiele, auf gut Glück herausgegriffen, ausreichend 
scheinen, um die Ehrfurcht vor dem Latein als einem altgeheiligten Gefäß 
menschlichen Denkens wieder zu wecken, wo sie im Schwinden ist. Und 
ich glaube, das wenige schon, was hier gesagt ist, wird genügen, um 
Schopenhauers Wort zu rechtfertigen, das zum Schlüsse stehen mag 
{Parerga U § 299): „Der Mensch, welcher kein Latein versteht, gleicht 
einem, der sich in einer schönen Gegend bei nebligem Wetter befindet: 
sein Horizont ist äußerst beschränkt: nur das Nächste sieht er deutlich, 
wenige Schritte darüber hinaus verliert es sich ins Unbestimmte. Der 
Horizont des Lateiners hingegen geht sehr weit, durch die neueren Jahr- 
hunderte, das Mittelalter, das Altertum." 



Du Kin-nn on GianrwART. LB. 



29 



Literatur. 

Eine Skizze wie die vorstehende , die Art und Entwickelungsg^g einer Sprache ' ftir 
Laien zu schildern versucht, kämpft mit grSfieren Schwierigkeiten als eine literarhistorische 
Darstellung, die gleichen Zwecken dient Ich habe geglaubt, bei denen, die überhaupt 
dergleichen lesen, einige Sprachkenntnis — mindestens die der lateinischen Formen, wie 
sie der Sextaner lernt — voraussetzen zu dürfen. Für solche wird, wie ich denke, mein 
AbriB nicht gerade eine leichte , aber doch eine verständliche Lektüre sein. Sonstige Literatur, 
die auf den gleichen Standpunkt berechnet wäre, ist mir nicht bekannt Selbst das an der 
Oberfläche haftende Büchlein von OSK. Weise, Charakteristik der lateinischen Sprache, 
2. Aufl. (Leipzig, 1899), setzt mehr voraus. Aber auch für den, der sich wirklich wissen- 
schaftlich unterrichten will, fehlt es völlig an einer Geschichte der lateinischen Sprache. 
Wir besitzen nur Darstellungen gröBerer Teile der lateinischen Grammatik. Was davon 
jenseits von 1885 liegt, ist — mit Ausnahme von BOchelers klassischer, obwohl in nicht 
wenigem natürlich veralteter Monographie über die Deklination, 2. Aufl. (Bonn, 1879) — 
nicht mehr zu gebrauchen. Von den seitdem erschienenen Werken sind zu empfehlen: für 
Laut- und Formenlehre F. Sommer, Lateinische Grammatik (Heidelberg, 1903) und, in weit- 
aus höherem Grade, W. M. Lindsay, The Latin Language (Oxford, 1894), deutsch unter dem 
Titel: Die lateinische Sprache (Leipzig, 1897), sowie der knappe, aber außerordentlich klare 
Überblick in Brugmanns GrundriB der vergleichenden Grammatik, Bd. I u. II (Strafiburg, 1889 
bis 1897); für Syntax und Stilistik die Darstellung von J. H. Schmalz in Iw. Müllers Hand- 
buch der klassischen Altertumswissenschaft, 2. Band, 3. Aufl. (München, 1900). — Für einzelnes 
darf ich auf den Abschnitt „Lateinische Grammatik" in W. Krolls Bericht über die Alter- 
tumswissenschaft im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts (Leipzig, 1905), S. 312 — 352 verweisen. 
— Der Wortschatz vrird dargestellt in dem Thesaurus Linguae latinae, den die fünf 
deutschen Akademien herausgeben; davon sind jetzt zwei Bände, A u. B, (Leipzig, 1905) ab- 
geschlossen. 

S. 413. Die Ligurer: Kretschmer, Kuhns 2^itschrift für vergleichende Sprachwissen- 
schaft 37, 197 fr. 

S. 415 f. Uritalischer Wortschatz: BOcheler, Lexicon Italicum (Programm der Univer- 
sität Bonn 1881). 

S. 416. Alliteration: z. B. O. Keller, Grammatische Aufsätze (Leipzig, 1895), S. i ff. 

S. 417 f. Für die oskisch-umbrischcn Dialekte sind {grundlegend die Werke von 
Th. Mommsen, Unteritalische Dialekte (Leipzig, 1850) und von TH. Aufrecht und A. Kirch- 
hoff, Die umbrischen Sprachdenkmäler (Leipzig, 1849 und 1851), sodann F. BÜCHELER, 
Umbrica (Bonn, 1883). Neue gute Darstellungen der Dialekte nebst Ausgabe der Inschriften 
von R. v. Planta, Grammatik der Oskisch- Umbrischen Dialekte, 2 Bände (Strafiburg, 
1892 und 1897) und von R. S. Conway, The Italic Dialects (Cambridge, 1897). Vortreff- 
liches gibt über die Schichtung der italischen Stämme vom Standpunkt des Historikers 
H. Nissen, Italische Landeskunde, Bd. I, (Berlin, 1883), S. 468 ff. 

S. 420. Etniskische Bestandteile im lateinischen Namenschatz behandelt bahnbrechend 
W. Schulze, Zur Geschichte der lateinischen Eigennamen (Abbandlungen der Göttinger 
Gesellschaft der Wissenschaften V 2, Berlin, 1904). 

S. 421. Die griechischen Wörter im Latein stellt zusammen O. Weise (Preisschriften 
der Jablonowskischen Gesellschaft, Bd. XXIII, Leipzig, 1882). 



Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 45 1 

S. 421. Die älteste Inschrift ist abgebildet und erläutert von Ch. HOlsen, Das Forum 
Romanum (Rom, 1904), S. 92 ff. Weiteres in Vollmöllers Jahresbericht für romanische 
Philologie VI, i (1905), S. 453 ff. 

S. 428 ff. Die Geschichte des lateinischen Prosastils hat mit weitem Blick E. NORDEN 
dargestellt, Die antike Kunstprosa, 2 Bände (Leipzig, 1898); hier ist auch im zweiten An- 
bang die Rhythmisierung der Prosa behandelt 

S. 428. Über Ennius: Skutsch in Pauly-Wissowas Realencyklopädie der klassischen 
Altertumswissenschaft, Bd. V (Stuttgart, 1905). 

S. 430. Vergils Stil: SKUTSCH, Aus Vergils Frühzeit (Leipzig, 1901), S. 65 und besonders 
£. Nordens Kommentar zu Aeneis Buch VI (Leipzig, 1903). 

S. 432. Rhetorenschulen: L. FriedlXnder, Darstellungen aus der Sitteng^eschichte Roms 
(Leipzig, 1890), III» 346 ff. 

S. 434 f. Sog. „afrikanisches" Latein: Norden, Kunstprosa S. 588 ff.; Kroll Rheinisches 
Museum 52, 569 ff. 

S. 436. Sprache der Bibelübersetzungen: H. RÖNSCH, Itala und Vulgata (Marburg, 
1869). 

S. 437 ff. Die {gesprochene Sprache (auch Alltagssprache, Umgangssprache u. ä. genannt), 
besonders in ihren Beziehungen zum Romanischen: W. Meyer -LObke in Gröbers Grundriß 
der Romanischen Philologie I' (StraBburg, 1905), S. 451 ff. 

S. 441 . Albanesisch : GUST. Meyer, Etymologisches Wörterbuch der albanesischen Sprache 
(Strasburg, 1891). 

S. 441 f. Lateinische Worte im Deutschen: F. KLUGE in Pauls Grundriß der Germa- 
nischen Philologie, I' (Strafiburg, 1901), S. 327 ff. und in der Einleitung zu seinem Etymo- 
logischen Wörterbuch der deutschen Sprache* (StraBburg, 1899). Über die Mangel: Reu- 
LEAUX Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, 1885, S: 24. 

S. 444 f. Über den EinfiuB des lateinischen Stils auf die modernen Sprachen gibt es 
nur ganz versprengte Literatur. Einiges bei Brenous, Etüde sur les hell^nismes dans la 
syntaxe Latine (Paris, 1895), S. 32 ff., für das Deutsche bei F. KLUGE, Von Luther bis Lessing, 
Sprachgeschichtliche Aufsätze* (StraBburg, 1904). 



29* 



REGISTER. 



Von £>r. Richard Böhme. 



Bd mehi&cb uigefiUiitaii Namco uod Sücbwortca tiiid die Haoptttellsn darch ein Sterneben bezeiclmet. 



A. 

Accius. 327. 

Accusativus, Der Name. 310. 

Accusativ mit dem Infinitiv. 444. 

AchiUeus Tatios. 183. 

Adrastos. 176. 

Ägypten, Pflege der Poesie in. 216. 

— , Stellung von, in der Geschichte der grie- 
chischen Literatur. 245. 

Älianus, Claudius. 150. 151. 180. 

Alianus (Taktiker). 161. 

Aolisch. 291. 

Äolismen im ionischen Epos. 6. 

Äneas von Gaza. 215. 

Africanus, Sextus Julius. 197. 265. 

Afrika als Literaturstätte in der Übergang^ 
zeit zum Mittelalter. 387. 

Agatharchides. 113. 

Agathias. 200. 

Aischines (Redner). 71. 

Aischines (Sokradker). 79. 

Aischylos. 44. 

Aisopos. 34. 

Akominatos, Michael. 274. 

Akrosticha in der griechischen Literatur. 1 79. 

Akzent in der spätgriechischen Metrik. 259. 

— im frühesten Italisch. 414. 
Albanesisch. 441. 

Albinus. 177. 
Alcuin. 405. 
Aldhelmus. 403. 
Alexander Numenius. loi. 
Alexanderroman. 181. 
Alexandreia. Seine Bedeutung für das grie- 
chische Buchwesen. 90. 

— in der römischen Periode. 156. 

— in der oströmischen Periode. 215. 
— , Oiristliche Schule in. 190. 
Alexandros der Große. • 86. 96. 299. 300. 
in der Sage. 119. 

Alexandros der Ätoler. 119. 
Alexandros von Aphrodisias. 176. 
Alexandros von Mindos. 155. 180. 
Alexandros Polyhistor, iii. 112. 
Alexias. 273. 
Alkaios von Lesbos. 25. 
Alkaios von Messene. 91. 
Alkidamas. 68. 
Alkiphron. 150. 
Alkmaion. 40. 



Alkman. 28. 

Alliteration im Uritalischen. 416. 

— bei Ennius. 429. 

Alltagssprache, Charakteristik der lateinischen. 

427. 
— , Analytischer Charakter der lateinischen. 

439- 

— , Zimehmende Verschiedenheit der, vom 
Stil. 436. 

— , Rekonstruktion der lateinischen, aus den 
romanischen Sprachen. 438. 

Almosen, Das Wort 304. 

Alphabet, Griechisches. 308. 

— , Römisches. 314. 

Altertum. Sein Fortleben im Mittelalter imd 
in der Renaissance. 407. 

Ambrosius. 379. 

Ammianus Marcellinus. 199. 367. 

Ammonios Sakkas. 245. 

Anacharsis. 97. 

Anakreon. 24. 25. 

Anakreonteen. 25. 

Anatolios. 194. 

Anaxagoras. 57. 

Anaximandros. 32. 

Anaximenes von Lampsakos. 70. 

Anaximenes von Milet 34. 

Andokides. 62. 

Andronicus, L. Livius. 316. 

Andronikos von Rhodos. 154. 

Androsthenes. 89. 

Anna Komnena. 273. 

Annalen der Pontifices maximi. 324. 

Anthimus. 401. 

Anthologie, Griechische. 139. 

Antigonos Gonatas. 89. 

Antigonos von Karystos. 117. 

Antimachos. 130. 180. 

Antiocheia als zweite Hauptstadt des römischen 
Reiches. 163. 

— . Sein EinfluB auf das griechische Geistes- 
leben. 246. 

Antiochos von Kommagene. 103. 

Antiochos von Syrakus. 55. 

Antipatros von Sidon. 143. 

Antiphanes von Athen. 126. 

Antiphanes von Berge. 120. 

Antiphon. 60. 

Antisemitismus. 171. 184. 383. 

Antisthenes. 78. 

Antoninus Pius. 161. 



^^^^^ ^^^^Bj^^^ Register. 45J ^^^H 


^^V Antonius Diogenes. 121. 


Arsenik, Das Wort. 302. ^^M 


^H Antonius der Heilige. 219. 255. 


Arsinoe Philadelphos. 89. ^^U 


^H Anyte. 89. 


Artemidoros von Daldis. 178. ^^| 


^H Aphthonios. 246. 


Artemidoros von Ephesos. 154. ^^| 


^H Apion. 171. 184. 


Artemidoros der Grammatiker. 137. ^^U 


^^m Apokalypsen. 184. 


Artikel im Attischen. 294. ^^M 


^^m Apoklima. 306. 


— . Sein Fehlen in der lateinischen Sprache. ^^M 


^^B ApoUinaris von Laodikeia. 220. 


4'S- ^1 


^^B ApoUinaris Sidonius. 370. 377. 400. 


— . Sein Entstehen in den romanischen ^^U 


^^1 ApoUodoros von Athen. 113. 


Sprachen. 439. ^^M 


^^M ApoUodoros von Pergamon. 147. 


Asconius. 155. ^^H 


^^H ApoUonios Dyskolos. 176. 


Asianismus. 430. 431. ^^H 


^^M ApoUonios der Karer. in. 


Asklepiades. 142. ^^H 


^^B ApoUonios von Perge. 91. 94. 


Asklepiodotos. 1 54. ^^H 


^^B ApoUonios von Rhodos. 14. 134. 


Asklepioskult 185. ^^H 


^^B ApoUonios von Tyana. 160. 188. 191. 


Aspasios. 176. ^^M 


^^B ApoUonios von Tyros. 182. 


Astrologie. 18$. ^^M 


^^1 Apolog. 1 19. 


Atellane. 41. 327. ^H 


^^m Apologeten. 1 89. 


Athanasios. 219. 255. ^^^ 


^^P Apophthegma. 98. 


Athen als Bildungsstätte. 203. 247. 298. ^^H 


^^ Apostelgeschichte. 188. 


— als Zentrum von Attika. 292. ^^M 


1 Appianos. 171, 


Athcnaios. 146. 176. ^^^H 


Apuletus. 368. 433. 


Atticus, T. Pomponius. 338. ^^^^M 


Arabisch. 300. 


Attisch. 292. 298. ^^^H 


Aratos. 117. 132. 


—. Einflüsse anderer Mundarten auf das. 293. ^^| 


Archaismus der griechischen neuklassischen 


— als Höhepunkt des Griechischen. 294. ^^M 


Literatur. 164. 304. 


— , Literarische und politische Übermacht ^^M 


— in der griechischen Literatursprache des 


des. 298. ^^M 


Mittelalters. 252. 


Attische Periode der griechischen Literatur. 35. ^^M 


— in der römischen Literatur und Sprache. 366. 


— Gattungen der griechischen Literatur. 224. ^^M 


Archestratos von Gela. 130. 


Attizismus der griechischen Literatur und ^^M 


Archtas. 143. 


Sprache. 144. i6t. 352. 275. 304. ^^M 


Archilochos. 21. 22. 23. 


— in der lateinischen Literatur. 431. ^^| 


Archimedes. 84. 89. 91. 299. 


Augustinus. 370. 376. 379. * 3^1. ^H 


Arch>'tas. 41. 


Augustus. 152. 153. 343. ^H 


Areios Didymos. 154. 


Aulodie. 28. ^^H 


Arcios der Bischof. 124. 220. 


Ausonius, D. Magnus. 370. 375. 399. ^^H 


Aretaios. 175. 


Aussprache des Lateinischen. 433. ^^H 


Arcthas. 273. 


Autolykos. 94. ^^M 


Arion. 44. 


^^M 


Ariphron. 185. 


^M 


Aristarchos der Grammatiker. 9. 94. 


Babrios. 180. ^^U 


Aristarchos der Tragiker. 44. 


Bakchylides. 31. 36. 54. ^^M 


Aristeas von Frokonnesos. 120. 


Bardas. 370. ^^M 


Aristeasbrief. 122. 


Bardesanes. 200. ^^H 


Aristeides von Milet. 119. 


Basilios der GroBe. 209. 310. 320. 256. ^^H 


Aristeides von Smyma. 161. 162. 164. 165. 


Batrachomyomachie. 129. ^^H 


Aristippos von Kyrene. 41. 


Bebel. 448. ^H 


Ariston. 98. 99. 


Beda. 403. 404. 449. ^^M 


Aristonikos. 94. 155. 


Benediktinerregel. 386. ^H 


Aristophanes von Athen. 51. 52. 53. 


Benedictus von Nursia. 386. ^^^ 


Aristophanes von Byzanz. 146. 


Beredsamkeit, Griechische. 99., s. auch 60. ^^M 


Aristoteles. 58. 68. 78. 81. 84. »87.96. rot. 114. 


^^1 


Aristoxenos. 116. 


— , Römische. 334. 333. ^^M 


Arkadisch. 291. 


Bcrossus. ^^M 


Arkesilaos. 78. 96. 


Bibelübersetzungen s. Septuaginta. 304. ^^M 


Armenisch. 306. 


— s. Vulgata. 377. ^^1 


Amobius. 390. 


— , Einfluß derlateinischen. auf dieSprache. 436. ^^M 


Airianos. 161. 169. 


Bibliotheken, Griechische. 90. ^^M 



454 



R^ister. 



Bibliotheken in Italien. 386. 
Bildung^erkehr, Griechisch-römischer. 333. 
Biographie in der griechischen Literatur. 114. 

167. 
Bion von Borysthenes. 98. 
Bion von Smyma. 143. 
Bios als Literatuigattung. 115. 167. 
Blumen, Fehlen der, im homerischen Epos. 13. 
Bobbio, Kloster. 401. 
Boethius. 99. 371. 377. 384. 
Boni&tius. 403. 
Botanik, Latein als internationale Sprache 

der systematischen. 446. 
Braut von Korinth. isi. 
Brief als literarische Gattung. 87. 96. 150. 
— , Aristeas-. 122. 
Briefe Ciceros. 338. 
— , Phalaris-. 150. 

— des Paulus. 157. 
— , Christliche. 188. 

— des jüngeren Plinius. 363. 
Briefstil, Griechischer. 153. 
Briefwechsel, Angeblicher, Senecas mit Pau- 
lus. 35S- 

Brüdergemeinden der Christen. 198. 
Brunetto Latini. 409. 
Brutus, M. lunius. 433. 
Buchstabennamen im Griechischen semitisch. 

390. 
Buchwesen, Griechisches. 90. 
Bukolik, Griechische. 136. 
— , Römische. 346. 

Byzantinische Kultur. Ihr Mischcharakter. 339. 
Byianz, Stellung von, in der Übermittelung 

der Literatur und Kultur. 231. 
Byzanz und Rom, Trennung von. 356. 

C. 

Caecilius, Statins. 330. 

Caesar, C.Julius. 94. 171. »339. 432. 

Caligula. 158. 

Cantica der römischen Komödie. 320. 

Caracalla. 163. 

Cassianus. 386. 

Cassiodorius. 384. 385. 

Cassius Dio. 171. 181. 

Cassius Maximus von Tyros. 162. 177. 

Cato, M. Porcius. 112. •324. 423. 430. 

Cato, Valerius. 329. 

CatuUus, C. Valerius. 140. »329. 419. 426. 430. 

Celsus ^latoniker). 190. 

Celsus, Cornelius. 355. 

Chamaileon. 116. 

Charisios. 102. 

Chariten. 152. 182. 

Charondas. 38. 

Chilperich. 401. 

Chöre, Griechische. 29. 

— der griechischen Tragödie. 45. 



Chöre der griechischen Komödie. 51. 

— , Kyklische. 53. 

Choirikios. 315. 

Choirilos. 129. 

Christengemeinden, Organisation der, im römi- 
schen Reiche. 162. 

Christentum. Seine Bedeutung für griechische 
Literatur und Bildung. 185. 

— in der byzantinischen Kultur. 243. 

— im römischen Kaiserreich. 374. 

— , Popularisierung der lateinischen Schrift- 
sprache durch das. 436. 

Christophoros von Mytilene. 273. 

Christus patiens. 274. 

Chronik, Attische, iio. 

Chroniken der ionischen und äolischen 
Städte. 33. 

Chrysippos. 88. 93. loi. 

Cicero, M. Tullius. 97. 100. 103. 117. 327. 
329. 331. «332. 362. 431. 432. 

Qaudianos. 200. 

Claudianus, Claudius. 370. 

Claudius, Appius, Caecus. 315. 

Qemens Alexandrinus 190. 

Clemens Romanus. 188. 

Clementinen. 184. 

Columbanus. 402. 

ColumeUa. 359. 

Constantin der GroBe. 198. 202. 

Corippus. 200. 

Cornelius Nepos. 117. 

Curtius, Q., Rufus. 104. 35$. 

Cyprianus. 389. 

D. 

Damaskios. 204. 
Damasus. 381. 
Danielbuch. 186. 195. 
Deinias iio. 

Deklamationen, Griechische. 149. 
Demades. 73. 

Demetrios der Kyniker. 160. 
Demetrios von Phaleron. 73. 
Demokritos. 58. 
Demonax. 177. 

Demosthenes. 33. 70. 71. •72. 
Demosthenes aus Bithynien. 134. 
Denar, Das Wort. 306. 
Derkyllidas. 154. 
Deuteronomium. 304. 

Deutsch bereichert durch lateinische Lehn- 
wörter. 441. 
Dexippos 192. 265. 
Dialekt s. Mundart. 
Dialog in der griechischen Literatur. 78. 97. 

— in der römischen Literatur. 365. 

— bei Cicero. 336. 338. 

— bei Piaton. 76. 77. 

— bei Seneca. 356. 



Register. 



455 



Dialog bei Minucius Felix. 388. 
Diatheke. 304. 

Diatribe als literarische Gattung der griechi- 
schen Literatur. 97. 98. 
Dichtkunst, Dichtung s. Poesie. 
Didymos. 116. 155. 
Digamma. 292. 
Digenis Akritas. 278. 
Dikaiarchos. 115. 
Diktys. 181. 
Dinon 104. 

Diodoros. 113. 120. 264. 
Diogenes von Babylon. 93. 
Diogenes Laertios. 230. 
Diogenes von Oinoanda. 177. 
Diogenes von Sinope. 78. •97. 
Dion von Prusa. 98. 115. *i65. 213. 
Dionysios Areopagita. 205. 
Dionysios von Byzanz. 162. 
Dionysios von Halikamafi. 148. 252. 304. 
Dionysios Periegetes. 179. 
Dionysios Skytobracchion. 121. 
Dionysios Thrax. loi. 146. 309. 
Dionysos. 42. 43. 
Dionyssage. 218. 
Diophantos. 193. 
Dioskorides. 90. 142. 
Distichon, Elegisches. 141. 322. 329. 
Dithyrambos. 31. $4. 
Dolonie. 9. 13. 

Doppeldaktylus in der griechischen Prosa. 214. 
Dorisch. 291. 

Dorotheos von Monembasia. 281. 
Doxographie. 230. 
Dracontius. 200. 
Drama, Attisches. 44. 

— des Epicharmos. 42. 

— der Gracchenreit. 324. 
Dualis. 292. 294. 30$. 
Dukas. 277. 

Duris. 104. 

E. 

Eidyllia. 135. 

Eigennamen, Etruskische, im Lateinischen. 420. 

Einhard. 405. 

Einsiedler- und Klosterleben. 245. 

Eirenaios von Lyon. 186. 189. 

Eirenaios Pacatus. 160, s. Minucius. 

Hegeion. 141. 

Elegie, Griechische. 20. 22. 23. 130. 349. 

— , Römische. 349. 353. 

Elephantis. 90. 

Empedokles. 39. 

Ennius, Quintus. 130. 134. '321. 323. 429. 

Ennodius. 384. 

Ephoros. 68. 

Ephrem. 200. 246. 

Epicharmos. 42. 316. 



Epigramm, Griechisches. 21. 55. *I39. 159. 
179. 216. 266. 273. 

— , Römisches. 359. 

Epiktetos. 169. 305. 

Epikuros. 78. 89. 93. 96. 330. 

Epos, Heroisches griechisches. '4. 129. 130. 

, Einheit und Vielheit der Verfasser. 9. 

— , Burleskes ionisches. 15. 

— , Byzantinisches Volks-. 278. 

— , Römisches. 316. 330. 347. 358. 397. 

Eratosthenes. 112. 

Erinna. 130. 

Erzähler und Sänger, Volkstümliche, der hel- 
lenistischen Periode. 123. 

Barzahlung, Epische griechische. 30. 

— , Jüdische, in hellenistischer Zeit 122. 

Esdrasapokalypse. 186. 

Eselroman. 184. 368. 

Etnisker. 314. 420. 

Etruskisch. 420. 

Euagrios. 246. 258. 

Eudokia. 248. 266. 

Eudoros. 154. 

Euenos. 130. 

Eugippius. 383. 

Euhemeros. 121. 

Eukleides. 41. 94. 

Eumenius von Aug^stodunum. 399. 

Eunapios. 199. 

Euphorion. 131. 

Eupolis. 53. 

Euripides. 46. »47. 321. 

Eusebios. 196. 200. 255. 

Eustathios von Epiphania. 246. 

Eustathios von Thessalonike. 274. 

Eutokios. 215. 

Evangelien. 187. 



Fabel, Griechische. 120. 

Fälschungen, Literarische. 150. 

Faliskisch. 418. 

Favorin. 151. 160. 176. 

Femininum, Ausgleich des, und Neutrums in 

den romanischen Sprachen. 439. 
Flavicr, Die. 160. 
Flavius, Gnaeus. 315. 
Flötenspieler. 20. 28. 
Fluchtafeln, Lateinische. 438. 
Frau, Stellung der griechischen. 89. 
Frauenbildtmg, Griechische, in der römischen 

Periode. 185. 
Frauenpoesie, Dorisch-äolische. 12. 25. 26. 89. 
Fredegar. 402. 

Fremdwörter, Ältere, im Griechischen. 289. 
— , Spätere, — . 290. 
Fronto, M. Cornelius. 367. 433. 
Fulda, Abtei. 404. 



456 



Register. 



Gaios (Piatonerklärer). 177. 

Gaius. 435. 

Galenos. 162. * 174. 

St. Gallen, Kloster. 402. 

Galliambus. 124. 

Gallien als Literaturstätte in der Übergangs- 
zeit zum Mittelalter. 398. 

Gallus. 403. 

GauB. 449. 

Gaza. Seine Bedeutung für das griechische 
Geistesleben. 215. 246. 

Gellius, Aulus. 368. 433. 

Gemeinsprache, Hellenistische. 298. 

Gemeinsprachen, Die älteren griechischen. 295. 

Genesis. 304. 

Genethlios. 149. 

Geographie, Griechische, in der römischen 
Periode. 153. 

Georgios der Pisidier. 200. 266. 

Gerbert. 408. 

Gerichtsrede, Griechische. 61. '70. 100. 150. 

— , Römische. 324. 

Germanen. 109. 375. 400. 

Germanisches in der byzantinischen Kultur. 251. 

Gesangszenen der römischen Komödie. 320. 

Geschichtschreibung s. Historie. 

Gesetzgebung, Stilistischer EinfluB der, auf 
die lateinische Sprache. 423. 

Gleichnis in der griechischen Literatur. 14. 98. 

Gnome. 19. 67. 

Götterwelt des homerischen Epos. 8. 

Gorgias. 33. 65. 

Grabschriften, Lateinische, als Proben der 
Umgangssprache. 438. 

Gracchus, Caius. 100. 333. 430. 

Gräzisierung Ostroms. 240. 275. 

Gräzismen im afrikanischen Latein. 435. 

Grammatik, Griechische. 146. 155. 175. 216. 
309- 

— , Terminologie der lateinischen. 443. 

Grammatiker, Lateinische, als Fundstellen 
der Umgangssprache. 438. 

Gregor 1. 376. 

Gregor von Nazianz. 208. '209. 256. 259. 393. 

Gregor von Nyssa. 209. 256. 

Gregor von Tours. 401. 402. 449. 

Gregorios Thaumaturgos. 192. 195. 

Griechen und Lateiner, Unterschied der christ- 
lichen. 258. 

Griechenland. Seine Bedeutung für die by- 
zantinische Kultur. 247. 

Griechisch als indogermanische Sprache. 286. 

— , Besonderheiten und Altertiimlichkeit des. 
287. 

— , Ungemischtheit des. 289. 

— als Weltsprache. 299. 

— , Brauchbarkeit des, zur Terminologie. 307. 



Griechisch, Fortleben des, in anderen Sprachen. 

305- 
— , Einflufi des, auf die lateinische Sprache. 
419. 420. 422. 

— des oströmischen Reiches, beeinilufit durch 
die lateinische Sprache. 441. 

— , Verhältnis des, zum Lateinischen in der 

Spätzeit. 370. 
— , Byzantinisches. 250. 
— , Biblisches. 303. 

— Alexanders d. Gr. 299. 
Gryphius, Andreas. 448. 

H. 

Hadrian. 161. 435. 
Handschriften in Klöstern. 403. 
Hebräerbrief. 188. 
Hegesias. 102. 

Heiligenbiographien. 377. 383. 
Heiligengeschichten. 221. 
Hekatuos von Abdera. iis- 
Hekataios von Milet. 32. 33. 56. 
Heliodoros. 182. 183. 
Hellanikos. 55. 
Hellenentum, Einheit des. 92. 
Hellenismus, Politische Bedeutung des. 81. 
— , Bedeutung des, für die Wissenschaft. 82. 
— , Gegensätzliche Hauptzüge des. 92. 

— als Grundlage der Kultur. 37$. 
Hellenistische Periode der griechischen Lite- 
ratur. 81. 86. 

Hendekasyllabus. 124. 

Herakleides Ponticus. 80. 

Herakleides von Tarent 97. 

Herakleitos. 33. 

Herakles, Schild des. 19. 

— , Taten des. 189. 

Herms^oras. loi. 

Hermas. 187. 

Hermes Trismegistos. 186. 219. 

Hermesianax. 131. 

Hermesreligion, Ägyptisch -griechische. 186. 

Hermippos. 116. 155. 

Hermodoros. 315. 

Hermogenes. loi. '149. 164. 

Hero und Leander. 217. 

Herodas. 43. 84. 124. 

Herodes Attikos. 149. 165. 

Herodian (Grammatiker). 176. 

Herodian (Historiker). 172. 

Herodoros. 80. 

Herodotos. 15. '56. 

Heroensage, Griechische. 181. 

Heron. 145. 

Hesiodos. 14. • 17. 

Hesychios. 231. 

Hexaemeron. 267. 

Hexameter. 322. 329. 428. 



^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^K^ ^ ^^^^^^^^^^^H 

^^^^^^V ^^1 


^^m Hieronymos von Kardia. 105. 


Infinitiv im Griechischen. 2S7. 291. ^^| 


^^M Hieronymus von Stridon. 377. 380. 


— im Attischen. 294. ^^| 


^^M Hilarius von Poitiers. 377. 379. 


Inschrift vom Forum. 421. ^^M 


^H Hildebert von Tours. 409. 


Inschriften als Proben der lateinischen Um- ^^M 


^^m Himerios. 146. 203. 


gangssprache. 437. ^H 


^^M Hinkiambus, 22. 124. 


Johannes Chrysostomos. 206. *2ii. 25b. ^^M 


^^M Hipparchos. 83. loi. 


Johannes üamascenus. 246. * 268. ^^| 


^^m Hippias von Elis. 60. 


Johannes von Epiphania. 246. ^^| 


^^M Hippokrates. 57. 


Johannes Eriugena. 406. ^^M 


^^m Hippolytos. 186. 197. 


Johannes von Euchaita. 270. 273. ^^M 


^^m Hipponax. 22. 2S9. 


Johannes von Gaza. 215. ^^U 


^^m Historie, Ionische. 68. 


Johannes Lydus. 201. ^^H 


^^m — .Griechische, der hellenistischen Periode. 103. 


Johannes Moschos. 246. ^^H 


^^H — — der römischen Periode. 154. 


Johannes Philoponos. 21;. ^^| 


^^m — — der oströmischen Periode. 199. 


Johannes von Salisbury. 409. ^^H 


^^m — — des Mittelalters. 262. 


Johannesapokalypse. 186. ^^H 


^H — , Jüdische, in griechischer Sprache, iii. 


Jühannesevangelium. 187. ^^| 


^H — , Römische. 112. 339. 364. 367. 


Ion von Chios. 44. 55. ^^M 


^^H — Gotische. 385. 


IoniensStellungindergriechischcnLiteratur.32. ^^M 


^^P Hochrenaissance. 275. 


Ionisch. 291. ^^M 


^^ Homer. »5. 34. 225. 295. 


— , Vorherrschaft des, in der griechischen ^^M 


1 — s. Batrachomyomachie. 129. 


Literatursprache. 297. ^^M 


— s. Hymnen, Homerische. 17. 


— Sprache der Prosa. 297. ^^M 


— s. Margites. 15. 20. 


Ionische Gattungen der griechischen Literatur. ^^| 


Homer und Hesiod, Volksbuch vom Streite 


^H 


des. 99. 


Ionisierung der hellenistischen Gemeinsprache. ^^M 


Homerkrittk des Zoilos. 78. 


lordanis. 385. [301. ^H 


hora. 300. 


losephus. 170. ^^M 


Horatius, Q., Flaccus. 98. 99. •344. 363. 


244. ^^M 


hospitium. 243. 


Irland als Ausgangspunkt antik -christlicher ^^M 


Hrabanus Maurus. 405. 


Kultur im Frühmittelalter. 402. ^^M 


Hrosvitha. 447. 


Isidorus. 397. ^^H 


Humanismus, Byzantinischer, verglichen mit 


Isishymnus. 143. ^^H 


dem italienischen. 275. 


Isokrates. 66. ^^H 


Hymnen, Homerische. 17. 


Italien als Literaturstätte in der Obergangs- ^^| 


— , Orphische. 185. 


zeit zum Mittelalter. 378. ^^M 


— , Griechische christliche. 262. 


Itazismus. 300. ^^B 


— des Ambrosius. 380. 


Juba. ^^M 


— des Prudentius. 397. 


Judentum Vermitüer zwischen Heidentum und ^^| 


— des \'enantius Fortunatus. 401. 


Christentum. 265. ^^U 


Hymnenpoesie. Lateinische. 380. 


Jugendunterrichl in der römischen Kaiserzeit. ^^H 


Hymnus, Isis-. 143. 


^H 


H>-patia. 216. 


Julian der Abtrünnige. 202. 206. ^^| 


Hypereides. 72. 


Julius Vestinus. 160. ^^U 


Hypomnema als literarische Gattung. 87. 94. 


Juristen, Klassische römische, als Sprachmuster, ^^| 


151. 


43S- ^M 




Justin. 190. ^^1 


I. J- 


Justinian. 43;. ^^B 


lamblichos. 203. 


Justus von Tiberias. 246. 265. ^^M 


lambulos. 1 20. 


Juvenalis, I). Junius. 362. ^^B 


lambus. 20. 130. 


^^U 


Ibykos. 31. 


1 


Ignatius. 188. 


Ilias. 4. 


Kaiser, Das Wort 307. ^^M 


— , Kleine. 9. 


Kalanos. 97. ^^M 


nion. 10. 


Kalenderreform. 277. ^^H 


nios. 10. 


Kallimachos. 84. 95. 124. 13;. 138. ^^M 


Imperfekt, Der Terminus. 310. 


Kallisthenes. 70. ^^M 


Indus, Inder, Indien. 297. 308. 


Kallistratos. 73. ^^M 







458 



Register. 



Kallixeinos. 91. 

Kanones. 262. 269. 

Kanzleisprache, Attische. 95. 

Karl der Große. 404. 408. 

Karl der Kahle. 406. 

Kameades. 78. 

Kasus, Griechische. 310. 

— , Auflösung der, in der lateinischen Alltags- 
sprache und den romanischen Sprachen. 439. 

Kasussystem im Griechischen. 287. 

— im Lateinischen. 413. 

Kataloge der Klosterbibliotheken. 407. 

Katenen. 215. 258. 

Kebes. 155. 

Keltisch, Einflufi des, auf die lateinische 
Sprache. 419. 

Kephalion. t8i. 265. 

Kirche, Das Wort. 304. 307. 

Kirchenlied, Lateinisches. 379. 

Kirchenliteratur, Griechische. 257. 

Kirchenmusik, Griechische. 261. 

Kirchenpoesie, Griechische. 259. 

Kirchenschriftsteller, Charakteristik der 
griechischen. 269. 

Kirchensprache, Lateinische. 389. 

Kitharodie. 27. 54. 

Klassizismus, Byzantinischer. 221. 

Kleanthes. 99. 132. 

Klearchos. 102. 115. 

Kleinasien. Seine Bedeutung für die byzan- 
tinische Kultur. 247. 

Kleitarchos. 104. 

Kleomedes. 174. 

Klosterorganisation Cassiodors. 386. 

Kochbücher, Griechische. 90. 

Kochbuch des Anthimus. 401. 

Königssohn, Vom kranken. 121. 

Koine. 251. 300. 

KoUuthos. 217. 

Koloß, Das Wort. 302. 

Komnenen. 273. 

Komödie, Griechische alte. 44. *5i. 

— , Menandrische. 126. 

— , Römische. 318. 327. 

— , Bedeutung der römischen, für die Welt- 
literatur. 321. 

Komos. 43. 51. 

Konstans II. 244. 

Konstantinopel als Bildungsstätte. 247. 270. 

Konstantinos Porphyrogennetos. 252. 272. 

Koptisch. 300. 

Korax. 64. 

Kosmas. 220. 

Krantor. 99. 

Krateuas. 90. 

Kratinos. 53. 

Krates von Theben. 97. 

Krinagoras. 143. 

Kritias. 74. 



Kritobulos. 281. 

Ktesias. 104. 

Künste, Sieben freie. 408. 

Kultur, Angelsächsische. 403. 

— , Mischcharakter der byzantinischen. 239. 

— , Irische. 402. 

— , Karolingische. 404. 

— , Orientalische. 221. 

— , Ostgotische. 384. 

Kulturmission, Gräkoslawische. 238. 

Kulturzentren des Hellenismus. 83. 

Kunst, Kretische. 11. 

— , Orientalismus in der byzantinischen. 249. 

Kunstsprachen, Griechische poetische. 297. 

Kynismus. 78. 97. 98. 

KyriUos von Jerusalem. 219. 220. 255. 

Kyrillos von Skythopolis. 246. 270. 

Kyropädie. 80. 

L. 

Laberius. 328. 

Lactantius. 201. 377. '390. 436. 

Langobarden. 405. 

Laonikos Chalkondylcs. 277. 

Latein. 412. 418. 

— , Logik des. 425. 

— , Nüchternheit des. 426. 

— im 6. Jahrb. v. Chr. 421. 

— , Veränderungen des, bis zum 3. Jahrb. v. Chr. 
422. 

— stilisiert für die Literatur. 424. 

— eine tote Sprache. 409. 

— im Mittelalter. 407. 

— .Sein Einflufi auf andere Sprachen. 441.444. 

— als Schlüssel zum Verständnis tmd als 
Übermittelimgswerkzeug der Kultur in 
Mittelalter und Neuzeit. 313. 445. 

— , Nachleben des. 445. 

— bereichert durch deutsche Lehnwörter. 441. 

— als internationale Sprache der systema- 
tischen Botanik. 446. 

— , Afrikanisches. 434. 

Lateiner und Griechen, Unterschied der christ- 
lichen. 258. 

Lateinische Wörter im Griechisch der byzan- 
tinischen Zeit 243. 

Lateinstudien in Ostrom. 201. 

Lateinunterricht. Sein stilistischer EinfluB 
und seine Wichtigkeit für das Verständnis 
der deutschen Sprachgeschichte. 445. 

Latinisierung in den romanischen Ländern. 44 1 . 

Latinität, Archaische. 428. 

— , Goldene. 430. 

— , Silberne. 432. 

Laurentios der Lyder. 201. 

Lehnwörter, Griechische, im Lateinischen. 85. 

— , — , in abendländischen Sprachen. 306. 

— , Lateinische, im Deutschen. 441. 443. 

— , — , in den romanischen Sprachen. 443. 



Register. 



459 



Lehrbuch, Wissenschaftliches hellenistisches. 

— , Attizistisches. 151. [93. 

Lehrgedicht, lambisches. 113. 

— in der hellenistischen Periode. 130. 

Leibniz. 449. 

Leon, Der arme. 281. 

Leonidas von Alexandreia. 179. 

Leonidas von Tarent. 142. 

Leontion. 89. 

Leontios von Byzanz. 248. 258. 

Leontios von Neapolis. 352. 

Lesbonax. 149. 165. 

Lesches. 6. 

Lexikon Erfindung der hellenistischen Lite- 
raturperiode. 95. 

Libanios. 205. 

Liebeslyrik, Griechische. 24. 

— , Römische. 350. 

Liebesroman, Griechischer. 121. 182. 

Lieder, Ionische. 124. 

Liedszenen der römischen Komödie. 320. 

Ligurer. 413. 

Liter, Das Wort. 414. 

Literatentum , Römisches. 317. 

Literatur, AUgemeine Charakteristik der grie- 
chischen. 223. 

— , Entwickelung der griechischen. 228. 

— , Allgemeine Charakteristik der byzanti- 
nischen. 237. 

— , Neuklassische, griechische. 164. 

— , Koptische. 201. 

— , Syrische. 200. 

— , Griechische, rein stofFlichen Interesses. 88. 

— , Römische christiiche. 369. 388. 400. 

Literaturgeschichte, Aufgabe der. i. 

Literatursprache, Griechische. 84. 

— , Archaismus in der griechischen, des Mittel- 
alters. 252. 

— , Beeinflussung der römischen, durch die 
Schulrhetorik. 424. 

Livius, T. •351. 432. 

Lokalgeschichten, Griechische, iio. 

Longinus. 192. 

Longinus „Über das Erhabene". 148. 

Longus. 183. 

Lucanus. 358. 

Lucilius der Epigrammatiker. 159. 

Lucilius, C. 325. 344. 

Lucretius Carus. 39. '330. 429. 430. 

Lukian. 98. 99. 146. 162. *i72. 177. 181. 305. 

Lupus, Servatus. 407. 

Lustspiel, Griechisches bürgerliches. 126. 

Luxorius. 200. 

Lykophron. 131. 

Lynkeus. 91. 

Lyrik, Griechische chorische. 29. 

— , Hellenistische. 125. 

— , Römische. 330. 345. 

Lysias. 61. 



M. 

Macrobius. 370. 

Makkabäerbuch, Zweites. 1S9. 

Makkabäerbücher. 1 1 1 . 

Malalas. 221. 246. 252. '265. 

Manethos. iii. 

mansio. 243. 

Manuel Malaxos. 281. 

Marcellus von Side. 180. 

Marcus Aurelius. 169. 393. 

Margites. 15. 

Marinos. 204. 

Marius Victorinus. 200. 377. 

Markos der Diakon. 215. 

Martialis, M. Valerius. 159. '359. 

Martianus Capella. 377. 387. 

Martyrien. 189. 

Maschine, Das Wort. 306. 

Materie, Das Wort. 308. 

Mathematik, Griechische. 193. 

Matris. 100. 102. 

Matron. 129. 

Maximus Confessor. '244. 248. 258. 

mechane. 306. 

Medium. 294. 

Medizin, Griechische. 40. 57. 58. 175. 

Megasthenes. 58. 

Meister, Sieben weise. 119. 280. 

Meleagros von Gadara. 143. 

Melesigenes. 15. 

Melissos von Samos. 56. 

Meliton. 190. 

Memnon. iio. 154. 

Menander Protektor. 248. 

Menandros der Komiker. 126. 

— als Vorbild für Plautus und Terenz. 318. 

Menandros der Rhetor. 149. 

Menedemos. 98. 

Menippos. 99. 

Mesomedes. iSo. 

Messapisch. 419. 

Metallnamen im Griechischen Fremdwörter. 

289. 
Methodios. 214. 220. 270. 
Metrik, Quantitierende altgriechische. 259. 
— , — , bei Babrios. 181. 
— , Akzentuierende spätgriechische. 174. 259. 
Metrodoros (Epigprammatiker). 193. 
Metrodoros von Lampsakos. 9. 
Michael Glykas. 270. 
Mimiamben. 124. 
Mimnermos. 22. 
Mimus, Griechischer. 4t. 124. 125. 153. 159. 

222. 
— , Italischer. 328. 
Mine, Das Wort. 290. 
Minucian. loj. 
Minucius Felix. 388. 



460 



Register. 



Minucius Pacatus. 160. 
Mitbradates Eupator. 81. 
Moderatus. 177. 

Mönche, Propaganda der irischen und angel- 
sächsischen. 402. 
Mönchtum des hl. Antonius. 219- 
Moiro. 89. 
Molen. loi. 
Monophysiten. 258. 
Monothelcten. 258. 
Montanismus. 389. 
Montecassino Kloster. 386. 405. 
Moschion. 91. 

Mundart des griechischen Epos. 6. 
Mundarten Die griechischen. 290. 299. 

des Italischen, 417. 418. 
Musaios. 217. 
Musen. 17. 

Musik, Hellenische. 27. 30. 
Musonius. 160. 191. 
Myron von Priene. 120. 

N. 

Naevius. 317. 

Naturgeschichte in der römischen Literatur. 

360. 
Nearchos. 89. 
Nechepso. 185. 
Nekromantie. 219. 
Nero. 158. 
Nestorios. 205. 
Neupiaton ismus. 255. 
Neupythagoreismus. 155. 
Neutrum Ausgleich des, und Femininums in 

den romanischen Sprachen. 439. 
Newton, 449. 
Nikandros. 133. 
Nikephoros Gregoras. 277. 
Nikephoros Kallistes Xanthopulos, 258. 
Nikolaos von Damaskos. 114. 154. 
Nikolaos Kabasilas. 269. 
Nikomachos von Gerasa. 177. 
Nikon. 179. 
Nomos. 48. 
Nonnos. 217. 266. 
Nossis. 89. 

Notenschrift, Griechische. 29. 
Novelle, Griechische. 34. 120. 
Nymphis. HO. 



Odyssee. 4. 7. 16. 
Oinomaos. 173. 177. 185. 
Olympiodoros. 199. 265. 
Onesandros. 146. 
Onesikritos. 115. 
Oppianos von Apamea. 180. 
Oppianos der Kilikier. 180. 



Orakelpoesic, Griechische. 39. 

Orakelsammlung, Chaldäische. 185. 

Oribasios. 109. 

Orientalisches m der byzantinischen Kultur. 244. 

— in der byzantinischen Kunst 249. 

Origenes. 190. 192. •194. 

Orion. 216. 

Oros. 216. 

Orosius. 397. 

Orpheus. 217. 

Orphische Hymnen. 185. 

Oskisch. 417. 

Ovidius, P., Naso. 140. 141. •352. 432. 



P. 

Pachomios. 25 5- 

Pachymeres. 275. 

Pädiatrik. 307. 

Paläologen. 27$. 

Palästina. Seine Bedeutung für die byzanti- 
nische Kultur. 246. 

Palladas. 216. 

Palladios. 221. 

Pamphletliteratur, Griechisch-römische. 333. 

— , Christliche. 390. 

Panaitios. loi. 335. 342. 

Fantomimus. 153. 159. 

Panyasis. 129. 

Pappos. 193. 

Parabase. 51. 

Parlament, Verhandlungen im athenischen. 73. 

— , Kirchliches im 4. Jahrb. 198. 

Pannenides. 38. 

Parodie des heroischen Epos. 129. 

Parthenios. 143. 145. 

Passivum. 294. 

Paulinus von Nola. 370. 399. 

Paulus, Apostel. '157. 304. 

Paulus Diaconus. 405. 449. 

Pausanias. 163. 

Paxamos. 90. 

Pentateuch. 304. 

Peregrinos. 177. 

Pergamos. 10. 

Periegesen. 162. 

Perikles. 23. 60. 

Periode, Attische, der griechischen Litera- 
tur. 35. 

— , Hellenistische, — . 81. 

— , Römische, 144. 

— , Oströmische, — . 198. 

Peripherie Das Wort. 307. 

Pcrsius Flaccus, A. 357. 

Personennamen im Griechischen. 290. 

Petosiris. 185. 

Petrarca. 409. 446. 448. 

Petronius Arbiter. 123. '358. 425. 

Petros Patrikios. 248. 



1 


^H ^^^^, 461 ^H 


F 


Petrus von Pisa, 405. 


Poesie, Lateinische epische. 428. ^^M 




Phaedrus. 355. 


— , — , der suUanisch- cäsarischen Zeit. 327. ^H 


^H 


Phaidon von Elis. 79. 


— , — , der römischen Spätieit. 437. ^^M 


^^1 


Phalaikos. 124. 140. 


— , Römische christliche. 370. ^^M 


^H 


Phalarisbriefe. 150. 


— zur Zeit der Vandalenherrschaft. 396. ^^M 


^H 


Phallus. 41. 5a. 


— , Charakterisierung der neulateinischen. 447. ^^M 


^H 


Pherekydes. 34. 


Poggio. 448. ^H 


^H 


Philainis. 90. 


poine. 306. ^^1 


^H 


Philippos von Thessalonike. 159. 


Pointenstil der silbernen Latinität. 432. ^^M 


^H 


Philippos, Brief des. 70. 


Polemon von Ilion. 96. ^^| 


^H 


Philiskos. 126. 


Polemon von Laodikeia. 165. 178. ^^| 


^H 


Philistion. 125. 


Pulyainos. 151. ^^M 


w 


Philistos. 64. 


Polybios. 'ig;. 117. 166. 322. 335. 342. ^H 




Phiütas. 131. 


^M 


^^- 


Philochoros. 110. 


Polykrates. 79. ^^H 


^H 


Philodemos. 93. 143. 


Porphyrios. 195. ^^H 


^^p 


Philolaos von Kroton. 41. 


Porträtkunst, Griechisch römische. 178. ^^M 


^H 


Philologie in Rom. 326. 341. 368. 


Poseidippos. 142. ^^| 


^H 


— , Terminoloffie der. 443. 


Poseidonios. 83. 101. ♦109. 114. 166. 168. ^^M 


^H 


Phiton der Jude. 115. '156. 245. 


^H 




Philon. p.Über die sieben Weltwunder." 151. 


Predigt, Griechische. 257. ^^^^M 




Philosophenschulen, Griechische. 93. 


Priapea, Lateinische. 143. ^^^^| 




Philosophie, Griechische, in der römischen 


Priester, Uas Wort. 304. ^^^| 




Periode. 154. •176. 193. 


Priscianus. 176. 3S7. ^^H 




— , — , in der oströmischen Periode. 203. 


Priscus. 199. ^^H 




— , Westhellenische. 38. 


Probus, Sog. Anhang des. 428. ^^| 




— , Stellung der griechischen, zur Rhetorik. 


Progymnasmen Theons. 149. ^^| 




100. 


Pruklos. 204. ^^1 




Philostorgios. 199. 


Prokopios (Exeget). 215. ^^| 




Philostratos. 146. 163. 164. 181. »191. 305. 


Prokopios (Historiker). 199. 263. ^^M 




Philoxenos. 54. 


Prologus der griechischen Komödie. 128. ^^M 




Philoxenos, Pseudo-, 129. 


Pronomen der 3. Person. Seine Entstehung ^H 




Phlyakcn. 41. 124. 


in den romanischen Sprachen. 439, ^^M 




Phokyhdes. 33. 


Propertius, Sextus. 140. '350. ^^H 




Photios. 270. 


Prophet, Das Wort. 304. ^^H 




Phrantics, Georgios. 277. 


Prosa, .attische. 60. ^^H 




Phrygisch. 300. 


— , Griechische wissenschaftliche. 59, ^^H 




Phrynichos. 146. 


— , Hellenistische. 93. ^^| 


• 


Phr)'nis. 54. 


— , Ionische. 32. 55. ^^M 




Phylarchos. 105. 


— , Akzentuierende, der oströmischen Periode. ^^M 




Physiognomik. 178. 


^M 




Physiologus. 220. 


— , Theologische griechische. 255. ^^H 




Pigres. 1 29. 


— , Römische. 323. 359. 431. ^H 




Pindar. 29. 36. 


Prosarhythmus, Griechischer. 65, ^^H 




Piaton. 14. '74. 90. 114. 119. 142. 295. 301. 


Prosaschriften, Byzantinische. 280, ^^H 




Piatonismus. 177. 203. 


Protagoras. 60. ^^H 




Plautus. 127. •318. 427. 439. 


Prudcntius. 370. 380. 397. ^^H 




Plinius der Ältere. 360. 432. 


Psalm, Das Wort. 304. ^^H 




— der Jüngere. 362. 


Psellos, Michael. 272. ^^H 




Plotinos. 193. 


Ptolemaios I. 88. ^^M 




Plutarch. 98- 160. 'löe. 181. 247. 


Ptolemaios II. Euergetes. 117. ^^H 




Poesie, Griechische epische. 4. 


Ptolemaios von Askalon. 155. ^^H 




— , — lyrische. 24. 


Ptolemaios (Astronom). 174, ^^H 




— , Attische. 43. 


Ptolemaios (Gnostiker). 188. ^^M 




— , Hellenistische. 125. 328. 


Publilius (Mime.) 328. ^^M 




— , — neuklassische. 179. 


Pyrrhos. 88. 117. ^^M 




— , Afrikanische. 200. 


Pythagoras. '40. 116. ^^M 




— , Akientuierende, der oströmischen Periode. 


Pythagoreer. 40. ^^H 


ii 


2«3. 


Pytheas. 106. ^^M 



462 



Register. 



Q. 

Qualität, Das Wort. 308. 

Quantität, Verfall der, in der Poesie der 

römischen Spätzeit. 437. 
Quintilianus, M. Fabius. 147. 160. •361. 433. 
Quintus Smymaeus. «6. 



R. 

Radegunde. 401. 

Rassemischung, Bedeutung der, für die byzan- 
tinische Kultur 249. 

Rechtswissenschaft. 315. 342. 

— , Terminologie der. 443. 

Rede Griechische s, Staatsrede. 60. — Ge- 
richtsrede. 61. — s. Rhetorik. 64. 

— , Gattungen der. 150. 

— als literarische Gattung. 334. 

— , Einflufi der römischen, auf die Gestaltung 

der Sprache. 334. 
>Rede auf den König.« 161. 
Reim in der hellenistischen Prosa. 103. 

— im lateinischen Kirchenliede. 380. 
»Reise ins beilige Land.« 436. 
Reisen. 162. 

Retseroman, Griechischer 120. 

Religiöse Bewegung, Volkstümliche, in der 

römischen Periode. 184. 
Renaissance Karolingische. 404. 
Rhapsoden des ionischen Epos. 5. 9. 16. 
Rhetorenschule in der römischen Kaiserzeit. 

432- 
Rhetorik, Griechische. 64. 100. loi. 149. 
— , Römische. 326. 350. 357. 361. [324. 
— , EiniluB der, auf Ennius. 429. 
Rhianos. 121. 134. 
Rhinthon von Syrakus. 42. 124. 
Rhomäer. 242. 
Rhythmen der hellenistischen Rhetorik in der 

römischen Periode. 152. 
Rhythmik der griechischen Kirchenpoesie. 259. 
Rhythmisierung in der hellenistischen Prosa. 

103. 

— der lateinischen Sprache. 424. 430. 
Rhythmus des lateinischen Prosastils. 431. 
Römer. Ihre Aufnahme der griechischen 

Kultur. 313. 
Römertum in der byzantinischen Kultur. 242. 
Rom als Mittelpunkt der Kultur. 326. 
i— , Das kaiserliche. 352. 
Rom und Byzanz Trennung von. 256. 
Roman Griechischer. 117. 181. 274. 278. 
— , — historischer 120. 
— , — Reise-. 120. 
— , — Liebes-. 121. 
— , — satirischer. 123. 
— , Römischer. 358. 

Romanisches in der byzantinischen Kultur. 251. 
Romanos. 246. * 259. 



Rufinus von Aquileja. 377. 
Rufus von Ephesos. 175. 
Rutilius Namatianus. 117. 382. 

S. 

Sage, Griechische. 184. 

Sallustius, C, Crispus. 204. 340. 

Salvianus. 400. 

Sammlung alter Literaturschätze. 271. 

Sappho. 12. 25. *26. 

Sassaniden. 300. 

Satire Griechische, 99. 

Römische. 325. 344. 357, 363. 
Saturnischer Vers, 317. 428. 
Satyros. 117. 

Satzbau im Uritalischen. 416. 
— in der archaischen Latinität. 429. 
Scaevola, Q. Mucius. 343. 
Scaurus. 117. 

Schauspielkunst, Griechische. 50. 
Schiffskatalog der Ilias. 4. 
Schrift, Unterschied zwischen, und Sprache. 
Schriftsprache, Attische. 40. 41. [423. 
— , Entwickelung der griechischen. 253. 
— , Lateinische, 423. 
, ihre Popularisierung durch das Christen- 

timi. 436. 
Schrift- und Volkssprache, Gegensatz zwischen 

griechischer, 305. 
Schullektüre Christliche, in der oströmischen 
Scipio Aemilianus. 322. [Periode. 221. 

Selbstbiographie. 259. 393. 
Semonides von Amorgos. 21. 
Seneca der Vater. 98. 103. 350. 
Seneca (Philosoph). »355. 361. 393. 433. 
Septimius Severus. 163. 
Septuaginta. 304. 
Severinus. 383. 
Sextius Niger. 155. 
Sextus Empiricus. 177. 
Sibylle. 39. 

Sidonius ApoUinaris s. Apollinaris Sidonius. 
Silius Italiens. 359. 
Silko. 302. 
Silloi. 38. 
Simias. 131. 

Simon, Zauberer, und Helene. 184. 
Simonides von Keos. 35. 
Simplikios. 20s. 
SisebuL 397. 
Skolien. 24. 

Slawisches in der byzantinischen Kultur. 251. 
Solon. 22. 23. 43. 
Solon- Novelle, 119. 
Sopatros von Paphos. 124. 
Sophisten. 59. 

Sophistik, Die zweite. 160 — 164. 
Sophokles. 45. 



^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^ Raster. 463 ^^^^^B 


^ Sophron, der Mimologe, von Syrakus. 42. 


Stil der römischen Komödie. 319. ^^| 


^^M Sophronios von Jerusalem. 346. 258. 


— , Lateinischer, der Angelsachsen. 403. ^^M 


^^M Soranos. 173. 


Stil -Niedergang in der römischen Literatur ^^M 


^^H Sositheos. 1 26. 


des 4. Jahrhunderts. 377. ^^M 


^^M Sosylos. 108. 


Stilgattungen der römischen Prosa. 431. ^^M 


^^M Sotadeen. 1 24. 


Stilisierung der lateinischen Sprache fiir die ^^M 


^^U fjotades. 124. 


Literatur. 424. ^^M 


^^m Soterichos. 200. 


Stilistik, Griechische. 102. ^^M 


^^M Sotion. 1 54. 


Stilkritik, Attizistische. 147. ^^M 


^^H Spanien als Literaturstätte in der Cbergangs- 


Stilmischung in der griechischen Literatur. 99. ^^M 


^^M zeit zum Mittelalter. 396. 


Stilo, Aelius. 341. 342. ^^H 


^^H Spinoza. 449. 


Stilpon. 98. ^^1 


^^H Sprache, Unterschied zwischen, und Schrift 


Stoa in der römischen Periode. 154. ^^| 


^^^^_ — , Attische. 298. [423. 


— im Scipionischen Kreise. 323. ^^| 


^^^^^ — , Attizistische. 145. 


Stoiker als Theoretiker der Rede. loi. ^^M 


^^F — , Griechische byzantinische. 250. 


Strabon. 1 54. ^^M 


^^M — , Griechische, des Mittelalters. 251. 


Straten von Lampsakos. 88. 89. ^^H 


^^m — , Hellenistische. 84. 


Strophe, Alkäische und sapphische. 29. ^^H 


^^M — , Ionische. 297. 


Suetonius, C. , Tranquillus. 160. '367. ^^| 


^^H — , Dorische Literatur-. 2ä. 


Suidas. 231. 272. ^^H 


^^m — des griechischen Epos. 6. 


Sulla, L. Cornelius. 117. ^^H 


^^B — , Homerische. 293. 


Sulpicius Severus. 370. 399. ^^H 


^^^L — , Aufnahme der archaistischen, durch die 


Sulpicius, Servius. 343. ^^^^B 


^^B Kirche. 


Syineon. 269. 272. l^^^H 


^^F — , Lateinische. 412. 


Symmachus, Q. Aurelius. 370. ^^^H 


^^B . — , — . Beziehungen zum Griechischen und 


Synesios. 213. 256. ^^H 


^H Keltischen. 416. 419. 


Syntipas. 280. ^^| 


^^B , Beeinflussung der, durch die öffentliche 


Syrian. 204. ^H 


^H Rede. 334. 


Syrien. Seine Bedeutung für die byzantinische ^^M 


^^m — , Uritalische. 413. 


Kultur. 24(j. ^^M 


^H — der römischen Komödie. 319. 


Syrisch. 300. 306. ^^H 


^^m — \'ergils. 430. 


^^M 


^H Sprachen der älteren Bewohner Griechenlands. 


^1 


^1 


Tacitus, Cornelius. 103. 168. '364. 433. ^^H 


^H — der Apenninhalbinsel imd ihr Verhältnis 


Tagebuch als literarische Gattung. 189. ^^H 


^^" zum Lateinischen. 419. 


Tanzlyrik, Griechische. 30. ^^H 


[ — , Romanische, als Mittel zur Rekonstruktion 


Tarsos, Jüdische Schule von. 157. ^^| 


der lateinischen Alltagssprachc. 438. 


Tatian. 190. ^^B 


Sprachhistoriker. Seine Aufgabe. 412. 


Technopägnien. 90. 141. 179, ^^B 


Sprachwissenschaft, Griechische. 308. 


Teisias. 64. ^^H 


Sprichwörter, B)'zantinische. 250. 


Telemachie. 8. 13. 14. ^^M 


Spruchsammlungen. 40. 


Teles. 98. ^H 


Slaatsrede, Griechische. 60. 100, 150. 


Tercntius, P., Afer. 127. '320. ^^M 


Stadtgeschichten, Ionische, iio. 


Terminologie, Griechische juristische und ^^M 


Stasis. 102. 


politische, bo. ^^^t 


Statius, P. Papinius. 359. 


Terpandros von Antissa. 27. ^^^H 


Steinpublikation, Griechische. 92. 


Tcrtullianus. 190. 201. 369. '388. 433. ^^^H 


Stesichoros. 3 1 . 


Testament, Altes und Neues. 304. ^^H 


Stil, Attiiistischer. 147. 


Tetrameter, Trochäischer. 21. ^^M 


— , Griechischer rhetorischer. 68. 


Textausgaben der römischen Klassiker. 378. ^^M 


, — , Homerischer. 12. 
1 — . Römischer. 428. 


^M 


Thebais. s- lö. ^H 


— der lateinischen Sprache, beeinflußt durch 


Thecla. 184. ^H 


die griechische. 422. [433. 


Themistios. 202. ^^M 


— der römischen Literatur des 2. Jahrhunderts. 


Themistokles. 60. ^^M 


— , Rhetorischer, eingeführt in die römische 


Theoderich. 384. ^H 


Dichtung durch Ovid. 354. 


Theodoros von Gadara. 148. ^^M 


— , Ausgleichung des poetischen und prosai- 


Theodotos aus Sichern. 134. ^^M 


^K sehen, in der silbernen Latinität. 43z. 


Theognis. '23. 139. ^H 



464 



Register. 



Theogonie. 18. 

Theokrit. 43. 84. 90. »iSö. 

Theon (Astronom). 216. 

Theon (Grammatiker). 155. 

Theon (Rhetor). 149. 

Theophanes von Byzanz. 248. 252. 

Theophrast. 27. 59. 65. 88. 102. 

Theophylaktos Simokatta. 200. 

Theopompos. 69. 115. 

Thespis. 44. 

Thessalisch. 292. 

Theudelinde. 402. 405. 

Thrasymachos. 65. 

Thrasyllos. 154. 

Thukydides. 62. 

TibuUus, Albius. 144. '350. 

Tierfabel, Griechische. 34. 119. 

Tiergeschichte, Byzantinische. 278. 

Timachidas. loi. 

Timagenes. 1S4. 

Timaios. 102. lOS. 

Timon. 99. 

Timosthenes. 89. 

Timotheos von Gaza. 215. 

Timotheos von Milet. $4- 

Tragödie , Griechische ältere. 44. 

— , — spätere. 49. 

— , Hellenistische. 125. 

— , Römische. 317. 327. 356. 

— , Das Wort. 307. 

Traian. 161. 

Traumdeutung. 178. 

Travestie, Mythologische. 41. 42. 

Trimalchio. 358. 

Trimeter, lambischer. 20. 

Trinklied, Griechisches. 25. 

Triphiodoros. 201. 217. 

Tryphon. 146. 155. 

Tyrtaios. 23. 

Tzakonisch. 299. 

U. 

Überlieferung klassischer Autoren in der karo- 

lingischen Zeit. 407. 
Übersetzungen griechischer Literaturwerke ins 

Lateinische. 200. 377. 
— der Bibel. 304. 377. 
Umbrisch. 417. 

Umgangssprache, Lateinische. 423. 437. 
Ur-Ilias. 9. 
Urkunden, Griechische. 95. 

V. 

Väter, Bedeutung der griechischen, des 
4. Jahrh.s für ihre Zeit. 257. 



Valerius Flaccus. 359. 
Valerius Probus. 366. 
Varro, Marcus Terentius. 99. •341. 342. 
Venantius Fortimatus. 401. 
Venetisch. 419. 
Verbum. 310. 

— , Auflösung des, in der lateinischen Alltags- 
sprache und den romanischen Sprachen. 439. 
Vergilius, P., Maro. 133. 344. '346. 429. 430. 
Vers des griechischen Epos. 6. 
— , Politischer, der Byzantiner. 266. 
— , Satumischer. 317. 
— des Vergilischen Epos. 349. 
Vokalismus der lateinischen Sprache. 422. 
Volksliteratur, Byzantinische. 278. 
Volkssprache,Griechische, des Mittelalters. 253. 
Vulgata. 377. 

W. 

Waltharius manu fortis. 447. 

Wanderroman, Christlicher. 184. 

Weltall, Posidonische Schrift über das, unter 
Aristoteles' Namen. 155. 

Weltchroniken, Griechische. 264. 281. 

Weltgeschichte. 112. 

Weltliteratur, Römische. 368. 

Weltsprache, Griechische. 299. 

Wissenschaften,Griechischer Ursprung der. 307. 

— , Eingang der literarischen, in Rom. 326. 

Wochentage, Namen der, im Lateinischen 
imd Deutschen. 442. 

Wortbildungselemente, Entlehnung griechi- 
scher. 308. 

Wortlehre, Griechische. 309. 

Wortstellung im Attischen. 294. 

Wynfrith s. Bonifatius. 403. 



Xanthos der Lyder. iii. 

Xenokrates. 78. 

Xenophanes. 32. 38. 

Xenophon von Athen. 78. '79. 119. 301. 

Xenophon von Ephesos. 183. 

Z. 

Zehnzahl der attischen Redner. 147. 
Zeno von Verona. 436. 
Zenobia. 192. 
Zenodotos. 9. 131. 
Zenon. 39. 
Zoilos. 78. 
Zosimos. 199. 

Zusammensetzungsiähigkeit griechischer No- 
mina. 288. 
Zwölfsilbler, Byzantinischer. 200. 
Zwölftafelgesetz. 314. 



Dmck von B. G. Tenbner ia Dresden. 



VERLAG VON B. G. TEUBNER IN BERLIN UND LEIPZIG. 

DIE KULTUR DER GEGENWART 

IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE. 
HERAUSGEGEBEN VON 

PAUL HINNEBERG. 



DIE WIDMUNG DES WERKES HAT 

SR MAJESTÄT DER KAISER 

ALLERGNÄDIGST ANZUNEHMEN GERUHT. 



Uie ,4Cultur der Geg^enwart", für den weiten Umkreis aller Gebildeten 
bestimmt, soll in allgemeinverständlicher Sprache aus der Feder der 
geistigen Führer unserer Zeit eine systematisch aufgebaute, geschichtlich 
begründete Gesamtdarstellung unserer heutigen Kultur darbieten, indem 
sie die Fundamentalergebnisse der einzelnen Kulturgebiete nach ihrer 
Bedeutimg für die gesamte Kultur der Gegenwart und für deren Weiter- 
entwicklung in großen Zügen zur Darstellung bringt Die für die Schaffung 
einer solchen den Namen wirklich verdienenden modernen Enzyklopädie 
unerläßlichen Bedingungen werden wohl zum erstenmal in der „Kultur 
der Gegenwart" ertüllt. Nach langjährigen Vorbereitungen auf Grund 
zahlloser Konferenzen und Korrespondenzen mit den ersten Gelehrten und 
Praktikern unserer Zeit in Angriff genommen, vereinigt das Werk eine 
Zahl erster Namen aus allen Gebieten der Wissenschaft xmd Praxis, wie 
sie kaum ein zweites Mal in einem anderen literarischen Unternehmen 
irgendeines Landes oder Zeitalters zu finden sein wird. Dadurch aber 
wieder wurde es möglich, jeweils den Berufensten für die Bearbeitung 
seines eigensten Fachgebietes zu gewinnen, um dieses in gemeinverständ- 
licher, künstlerisch gewählter Sprache auf knappstem Räume zur Dar- 
stellung zu bringen. Durch die Vereinigung dieser Momente glaubt das 
Werk einer bedeutsamen Aufgabe im geistigen Leben der Gegenwart zu 
dienen und einen bleibenden Platz in der Kulturentwicklung sich selbst 
zu sichern. Die Bedeutimg des Werkes wird hinreichend dadurch gekenn- 
zeichnet, daß Se. Majestät der Kaiser die Widmung desselben anzunehmen 
allergnädigst geruht hat. 



INHALTSÜBERSICHT DES GESAMTWERKES. 

TEIL L DIE GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN KULTURGEBIETE. 

RELIGION UND PHILOSOPHIE, LTTBRATUR, MUSIK UND KUNST 
(BfOT VORANGEHENDER EINLEtTUNG ZU DEM OESAMTWERK). 

TEIL a DIE GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN KULTURGEBIETE. 

STAAT UND GESELLSCHAFT, RECHT UND WIRTSCHAFT. 

TEIL m. DIE NATURWISSENSCHAFTUCHEN KULTURGEBIETE. 
TEIL IV. DIE TECHNISCHEN KULTURGEBIETE. 



INHALTSÜBERSICHT DER EINZELNEN ABTEILUNGEN. 



EINLETTDUG 
ZUM GESAMT- 



[Teü 



I Abt I 



D 



WERK. Die allgemeinen Grundlagen der 
Kultur der Gegenwart 

I. Das Wesen der Kultur. 
II. Das moderne Bildungswesen, 
m. Die wichtigsten Bildungsmittel. 

1. Schulen und Hochschulen. 

a) Volksschulen. 

b) Höhere Schulen. 

«) Knabenschulwesen. 
ß) Mädchenschulwesen. 

c) Hochschulen. 

«) Geisteswissenschaftliche Aus- 
bildung. * 

ß) Mathematische, naturwissen- 
schaftliche, technische Aus- 
bildung. 

d) Fortbildungs- und Fachschulen. 

2. Museen. 

a) Kunst- und kunstgewerbliche 
Museen. 

b) Wissenschaftlich-technische Mu- 
seen. 

3. Ausstellungen. 

a) Kunst- und kunstgewerbliche 
Ausstellungen. 

b) Wissenschaftlich-technische Aus- 
stellungen. 

4. Theater. 

5. Musik. 

6. Zeitungswesen. 

7. Bibliotheken. 

IV. Die Organisation der wissen- 
schaftlichen Arbeit. 



pTeü I Abt 271 

Die Aufgaben und Methoden der 
Geisteswissenschaften. 

I. Geisteswissenschaften and 
geisteswissenschaftliche Metho- 
den im allgemeinen. 

II. Die wichtigsten Erkenntnis- 
mittel und Hilfsdisziplinen der 
Geisteswissenschaften. 

1. Die sprachlichen Disziplinen. 

a) Sprache und Sprachwissenschaft 

b) Philologie. 

c) Vergleichende Sprachwissen- 
schaft. 

2. Die Geschichtswissenschaft 
mit ihren Teilwissenschaften. 

a) Wesen der Geschichte und der 
Geschichtswissenschaft. 

b) Historische Hilfswissenschaften im 
engeren Sinne. 

c) Prähistorie. 

d) Volkskunde (Folklore). 

3. Die Statistik. 



EINLl 
IN D 

STES] 
SCH. 



I Teil I Abt 3. | rblig 

Die außerchristlichen Religionen. 

L Die Anfänge der Religion und 

die Religion der primitiven 

Völker. 
II. Die orientalische Religion des 

Altertums, Mittelalters und der 

Neuzeit. 

I. Ägyptische Religion. 



Teil I. Die geisteswisgenscli&rUichcn Kulturgebiete. Abt I- 



2. Westasiatische Religion. 

a) Semitische Religionen (mit Aus- 
scbluB der israelitisch-jüdischen 
Religion), 

b) Indo-iranische Religionen. 
a) Indische Religion. 

ß) Iranische Religion. 

3. Religion des Islams, 

4. Ostasiatjsche Religion, 

a) Lamaismus. 

b) Religion der Chinesen. 

c) Religion der indischen Archipel- 
bewohner. 

d) Religion Japans. 
a) Shinto. 

ß) Buddhismus. 
III. Die europäische Religion des 
Altertums. 

1. Griechische Religion. 

2. Römische Religion. 

3. Germanische Religion. 



Teil I Abt. 4. 



Die christliche Religion 

mit Einschluß der israelitisch-jüdischen 

Religion, 

I. Geschichte der christlichen (und 
der israelitisch- jüdischen) Re- 
ligion. 

1. Israelitisch-jüdische Religion, 

2. Christliche Religion. 

a) Altertum. 

a) Religion Jesu und Anfange des 
Christen tu ms bis zum Nicaenum. 

ß) Kirche und Staat bis zur Grün- 
dtmg der Staatskirche. 

b) Mittelalter und Neuzeit. 

a) Osteuropa (Griechisch - ortho- 
doxes Christentum und Kirche), 
i) Mittelalter. 
2) Neuzeit. 

ß) Westeuropa (Romanisch - ger- 
manisches Christentum und 
Kirche), 
i) Mittelalter. 
2) Neu reit 

a. Katholizismus. 

b. Protestantismus. 

II. System der Religionswissen- 
schaft (spez.Systematische christ- 
liche Theologie). 



1. Allgemeines. 

Wesen der Religion und der Reli- 
gionswissenschaft. 

2. Die einzelnen Teilgebiete. 

a) Katholische Theologie. 

a) Theoretische Theologie. 

1) Dogroatik. 

2) Christliche Ethik. 
ß) Praktische Theologie. 

b) Protestantische Theologie, 
e) Theoretische Theologie. 

i) Dogmatik. 
2) Christliche Ethik. 
pl) Praktische Theologie. 

3. Die Zukunftsaufgaben der 
Religion und der Religions- 
wissenschaft. 



Teil I Abt. .5. 



PHILOSOPHIK. 



Allgemeine Geschichte der Philo- 
sophie. 

I, Die Anfänge der Philosophie 
und die Philosophie der primi- 
tiven Völker. 
II, Die orientalische Philosophie 
des Altertums, Mittelalters und der 
Neuzeit. 

1. Westasiatische Philosophie. 

a) Indische Philosophie. 

b) Semitische (arabisch -jüdische) 
Philosophie. 

2. Ostasiatische Philosophie. 

a) Chinesische Philosophie. 

b) Japanische Philosophie. 

III. Die enropäische Philosophie. 

1. Altertum. 

2. Mittelalter und Neuzeit. 

a) Mittelalter. 

b) Neuzeit. 



Teil I AbtXl 



System der Philosophie. 

I. Allgemeines. 

Wesen der Philosophie. 
II. Die einzelnen Teilgebiete. 

1. Logik und Erkenntnistheorie. 

2. Metaphysik. 

3. Naturphilosophie. 

4. Psychologie. 




IV. Inludts&benicht der öaxelnea Abtdlnngea. 



5. Geschichtsphilosophie. 

6. Ethik. 

7. Pädagogik. 

8. Ästhetik. 

IIL DieZakanftsaofgaben derPhilo- 
Sophie. 



U'fItRATUR. 



rreil I Abt. 7-1 

Die orientalischen Literaturen. 

I. Die Anfänge der Literatur nnd 
die Literatur der primitiven 
Völker. 

n. Die ägyptische Literatur. 

lU. Die westasiatische Literatur. 

1. Semitische Literaturen. 

a) Babylonisch-assyrische Literatur. 

b) Israelitisch-jfidische Literatur. 

c) Syrische Literatur. 

d) Äthiopische Literatur. 

e) Arabische Literatur. 

2. Indo-iranische Literaturen. 

a) Indische Literatur. 

b) Iranische Literatur. 
u) Avesta-Literatur. 

ß) Persische Literatur, 
i) Altertum. 
2) Mittelalter und Neuzeit. 

3. Armenische Literatur. 

4. Türkische Literatur. 

IV. Die ostasiatische Literatur. 

a) Chinesische Literatur. 

b) Japanische Literatur. 



I Teil I Abt 8. | 



Die griechische und lateinische 
Literatur und Sprache. 

L Die griechische Literatur nnd 
Sprache. 

1 . Die griechische Literatur des Alter- 
tums. 

2. Die griechische Literatur des Mittel- 
alters. 

3. Die griechische Sprache. 

n. Die lateinische Literatur und 
Sprache. 

1. Die römische Literatur des Alter- 
tums. 

2. Die lateinische Literatur im Ober- 
gang zum Mittelalter. 

3. Die lateinische Sprache. 



[Tea I Abt 9-1 

Die osteuropäischen Literaturen 
und die slawischen Sprachen. 

I. Die slawischen Literaturen. 

1. Russische Literatur. 

a) bis zum 19. Jahifanndert. 

b) 19. Jalu-hundert. 

2. Polnische Literatur. 

3. Tschechische Literatur. 

4. Sädslawische Literatur. 

II. Die slawischen Sprachen. 

III. Die neugriechische Literatur. 

IV. Die albanesische Literatur. 

V. Die ungarische Literatur. 
VI. Die finnische Literatur. 

fTeil I Abt 10. | 

Die romanische und englische Lite- 
ratur und Sprache 
nnd die skandinavische Literatur. 

I. Die keltische Literatur. 

II. Die romanischen Literaturen. 

III. Die romanischen Sprachen. 

IV. Die englische Literatur (mit Ein- 
schluß der nordamerikanischen). 

1. Englische Literatur. 

2. Nordamerikanische Literatur. 
V. Die englische Sprache. 

VI. Die skandinavische Literatur. 

1. Mittelalter. 

2. Neuzeit 



jTeü I Abt ii."! 

Die deutsche Literatur und Sprache. 
Allgemeine Literaturwissenschaft. 

I. Die deutsche Literatur und 
Sprache. 

1. Deutsche Literatur. 

2. Deutsche Sprache. 

II. Allgemeine Literaturwissen- 
schaft 

1. Allgemeines. 

Wesen der Literatur nnd der Lite- 
raturwissenschaft 

2. Die einzelnen Teilgebiete. 

a) Stilistik. 

b) Rhetorik. 

c) Poetik. 

d) Metrik. 



Teil L Abt. 7—14. Teil H. Die gcisteswissenschafUichen Kulturgcbiet«. Abt t. 



3. Die Zukunftsaufgaben der Li- 
teratur und der Literatur- 
wissenschaft 



mrsiK. 



|Teü I Abt 12. 



Die Musik. 

l. Geschichte der Musik und der 
Musikwissenschaft, 

1. Die Anfänge der Musik und 
die Musik der primitiven 
Völker. 

2. Die orientalische Musik des 
Altertums, Mittelalters und 
der Neuzeit 

3. Die europäische Musik. 

a) Altertum. 

b) Mittelalter und Neuzeit bis 
zum Ende des 16. Jahrhun- 
derts. 

c) 17. bis 19. Jahrhundert. 

II. Allgemeine Musikwissenschaft, 

1. Allgemeines. 

Wesen der Musik und der Musik- 
wissenschaft. 

2. Die einzelnen Teilgebiete. 

a) Rhythmik. 

b) Melodik. 

c) Harmonik. 

3. Die Zukunftsanfgaben der 
Musik UQd der Musikwissen- 
schaft 



KUNST. 



I Teil I 



Abt 



13. 



Die orientalische Kunst Die euro- 
paische Kunst des Altertums. 

I. Die Anfänge der Kunst und die 

Knnat der primitiven Völker. 
II. Die orientalische Kunst. 

1. Ägyptische auBerchristliche Kunst 
des Altertums. 

2. Westasiatische auBerchristliche 
Kunst des Altertums. 
Christliche Kunst des Altertums. 
Islamische Kunst 

5. Indische Kunst. 

6. Ostasiatische Kunst. 

a) Chinesische Kunst 

b) Japanische Kunst 



3- 
4- 



111. Die europäische Kunst des Alter- 
tums. 

1. Griecliisch-römische Kunst. 

2. Barbarische imd christliche Kunst 



Teil I Abt. 14. 



Die europäische Kunst des Mittelalters 
und der Neuzeit Allgemeine Kunst- 
wissenschaft 

1. Die europäische Kunst des 
Mittelalters und der Neuzeit. 

1. Osteuropäische (byzantinisch- 
slawische) Kunst. 

2, Westeuropäische (romanisch- 
germanische) Kunst. 

a) Mittelalter. 

b) Neuzeit. 

«) 14. bis i6. Jahrhundert 
ß) 17. bis 18. Jahrbuudert 
y) 19. Jahrhundert, 
i) Architektur. 

2) Kunstgewerbe. 

3) Plastik und Malerei. 
Allgemeine Kunstwissenschaft 

1. Allgemeines. 
Wesen der Kunst und der Kunst- 
wissenschaft. 

2. Die einzelnen Teilgebiete, 

a) Architektur. 

b) Plastik. 

c) Malerei. 

3. Die Zukunftsaufgaben der 
Kunst und der Kunstwissen- 
schaft 



II 



Teil U Abt 1. 



ANTHROPO- 
OEOGRAPHIB. 



Volker-, Lander- und Staatenlcunde. 

(Die anthropogeographischen Grundlagen 

von Staat und Gesellschaft, Recht und 

Wirtschaft.) 

1. Allgemeine Völkerkunde. 
II. Allgemeine Staaten- nnd 

Länderkunde. 
III. Spezielle Völker-, Länder- und 

Staatenkunde. 

1. Asien. 

a) Weatasien. 

b) Ostasien, 

2. Afrika. 



Inhaltsäberiicht der önielnen AbtcUnngen. 



, Europa. 

a) Mittelmeeiländer. 

b) Großbritanniea , Frankreich, 
Niederlande, Skandinavien. 

c) Rufiland. 

d) Sfidosteuropa. 

e) Zentraleuropa. 
, Amerika. 

a) Nordamerika. 

b) Mexiko und Mittelamerika. 

c) Südamerika. 
Australien und Ozeanien. 



STAAT UND 
GESBLL- 



Teü n Abt. 2. I 



SCHAFT. 



Allgemeine Verfassungs- und Ver- 
waltungsgeschichte. 

L Die Anfänge derVerfassnng und 
Verwaltung und die Verfassung 
und Verwaltung der primitiven 
Völker, 
n. Die orientalische Verfassung 
und Verwaltung des Altertums, 
Mittelalters und der Neuzeit 

1. Altertum. 

2. Mittelalter und Neuzeit. 

a) Nordafrikanische und westasia- 
tische (islamische) Verfassung 
und Verwaltung. 

b) Ostasiatische Verfassung und 
Verwaltung. 

III. Die europäische Verfassung und 
Verwaltung. 

1. Altertum. 

2. Mittelalter. 

3. Neuzeit 



rreil n Abt 3TI 

Staat und Gesellschaft des Orients 
von den Anfangen bis zur Gegenwart. 

I. Die Anfänge des Staates und der 
Gesellschaft und Staat und Ge- 
sellschaft der primitiven Völker. 

II. Staat und Gesellschaft des 
Orients im Altertum, Mittel- 
alter und der Neuzeit 

1. Altertum. 

2. Mittelalter und Neuzeit 

a) Staat und Gesellschaft Nord- 
afrikas und Westasiens (Die 
islamischen Völker). 



b) Staat und Gesellschaft Ostasiens. 
a) China. 
ß) Japan. 

fTeil n Abt 4. | 

Staat und Gesellschaft Europas im 
Altertum tuid Mittelalter. 

I. Staat und Gesellschaft des Alter- 
tums. 

1. HeUas. 

2. Rom. 

II. Staat und Gesellschaft des 
Mittelalters. 

1. Osteuropa (Byzanz). 

2. Westeuropa (Die romanisch - ger- 
manischen Völker). 

a) Erste Hälfte des Mittelalters. 

b) Zweite Hälfte des Mittelalters. 



I Teil n Abt 5. | 



Staat und Gesellschaft Eiu-opas und 
Amerikas in der Neuzeit 

I. Staat und Gesellschaft West- 
europas. 

1. 16. Jahrhundert (Reformations- 
zeitalter). 

2. 17. Jahrhundert (Gegenreformation 
und jojähriger Kri^). 

3. 18. Jahrhundert (Höhezeit des Ab- 
solutismus). 

4. Revolutionszeitalter und Erstes 
Kaiserreich. 

5. 19. Jahrhundert 

II. Staat und Gesellschaft Ost- 
europas. 

UI. Staat und Gesellschaft Nord- 
amerikas. 

IV. Staat und Gesellschaft der 
romanisch-germanischen Kolo- 
nialländer außer Nordamerika. 



pteü n Abt öTI 

System der Staats- luid Gesellschafts- 
wissenschaft. 

I. Allgemeines. 

Wesen des Staates und dei Gesell- 
schaft und der Staats- und der 
Gesellschaftswissenschaft. 



Teil IL Die gdstcswissetudiaftlicbcn Kultuxgebiete. Abu 3 — 9. 



II. Die einzelnen Teilgebiete. 

1. Der Staat. 

a) Allgemeine Staatslehre. 
o) Die Staatsfomien. 
ß) Die Staatsfunktionen. 

i) Staatsverfassung. 
2) Staatsverwaltung. 

b) Die wichtigsten Einzelgebiete 
des Staatswesens. 
«) Innere Verwaltung. 

i) Staat. 

2) Kommune. 

ß) Äußere Verwaltung (Diplo- 
matie, Konsulatswesen etc.). 

y) Kolonial Verwaltung. 

d) Heer- und Kriegswesen (mit 
Geschichte des Heer- und 
Kriegswesens). 

1) Das Landheer und der 
Landkrieg. 

2) Die Flotte imd der See- 
krieg. 

2. Die Gesellschaft. 

a) Der Organismus der Gesellschaft. 
a) Das Individuum und die Ge- 
sellschaft. 

ß) Die Bevölkerung und 
Auftjau. 
i) Verteilung. 

2) Gliederung. 

3) Bewegung. 

b) Die Bevölkerungspolitik. 

III. Die Zukunftsaufgabeu 
Staats und der Gesellschaft 
und der Staats- und der Ge- 
sellschaftswissenschaft, 



ihr 



des 



;CBT. 



Teil II Abt. 7. 



Allgemeine Rechtsgeschichte 
mit Geschichte der Rechtswissenschaft. 

L Die Anfänge des Rechts und 
das Recht der primitiven Völ- 
ker. 
11. Das orientalische Recht des 
Altertums, Mittelalters und der 
Neuzeit. 

Hl. Das europäische Recht. 

1. Altertum. 

2. Mittelalter. 

a) Kanonisches Recht. 



b) Romanisch-germanische Rechte, 
a) Romanisches Recht. 
ß) Germanisches Recht. 
3. Neuzeit 



Teil n Abt. 8. 



System der Rechtswissenschaft 

I. Allgemeines. 

Wesen des Rechts und der Rechts- 
wissenschaft. 

II. Die einzelnen Teilgebiete. 

1. Privatrecht 

a) Bürgerliches Recht 

b) Handels- und Wechselrecht. 

c) Versicherungsrecht. 

d) Internationales Privatrecht 

2. Zivilprüzeßrecht. 

3. Strafrecht und Strafprozeßrecht (mit 
Einschluß des internationalen Straf- 
rechts). 

4. Kirchenrecht 

5. Staats- und Verwaltungsrecht 

a) Staatsrecht. 

b) Verwaltungsrecht. 

«) Justiz und Verwaltung (mit 
Einschluß der Verwaltungs- 
rechtspflege). 

ß) Recht der inneren Verwal- 
tung (Polizei und Kultur- 
pflege). 

6. Völkerrecht (mit Einschluß von 
Land- unil Seekriegsrecht). 

III. Die Zukunftsaufgaben des 
Rechts und der Rechtswissen- 
schaft 



Teil n Abt 




Allgemeine Wirtschaftsgeschichte 

mit Geschichte der Volkswirtschaftslehre. 

I. Die Anfänge der Wirtschaft und 
die Wirtschaft der primitiven 
Völker. 
11. Die orientalische Wirtschaft des 
Altertums, Mittelalters und der 
Neuzeit 

1. Altertum. 

2. Mittelalter und Neuzeit, 
a) Nordafrikanische und westasia- 
tische (Islamisclie) Wirtschaft 

L) Ostasiatische Wirtschaft. 



8 



Namen der gewonnenen Herren MiUrbeiter. 



III. Die earopäische Wirtschaft 

1. Altertum. 

2. Mittelalter. 

3. Neuzeit. 



freil n Abt 10. 1 

System der Volkswirtschaftslehre. 

I. Allgemeines. 

Wesen der Wirtschaft und der Wirt- 
schaftswissenschaft. 
II. Die einzelnen Teilgebiete. 
I. System der Volkswirtschaftslehre. 

a) Allgemeine Volkswirtschaftslehre. 

b) Spezielle Volkswirtschaftslehre, 
a) Agrarpolitik. 

P) Gewerbepolitik. 



y) Handelspolitik. 

d) Kolonialpolitik. 

e) Verkehrspolitik. 

Q Versicherungspolitik. 
1]) Sozialpolitik. 

i) Landarbeiterfrage. 

2) Gewerbearbeiterfrage. 

3) Geistesarbeiterfrage. 

4) Frauenfrage. 

2. System der Staats- imd Gemeinde- 
wirtschaftslehre (Finanzwissen- 
schaft). 

a) Staatswirtschafi. 

b) Gemeindewirtschaft. 

in. Die Zukunftsaufgaben der Wirt- 
schaft und der Wirtschaftswis- 
senschaft. 



NAMEN DER FÜR TEIL I UND H GEWONNENEN HERREN 

MITARBEITER: 
Adickbs-Frankfdrt a/M., G. Anschütz, H. V. Akmui, Gl- Basuhkzr, L. v. Bak, 
Z. Beöthy, Freiherr v. Beklepsch, E. Bernatzik, C. Bezold, F. v. Bezold, 
FS- W. V. Bissing, N. Bonavetsch, L. v. Bortkiewicz, A. Brandl, A. Brückner, 

f A. BUCHENBERGER, K. BÜCHER, K. BURDACH, GuST. CoHN, G. G. DkHIO, 

H. Dtkt.s, A. Dieterich, W. Dilthky, W. v. Dyck, H. Ebbinghaüs, V. Ehren- 
berg, L. Elster, Ad. Erman, R. Etjcken, W. Faber, Theob. Fischer, K. Florenz, 
O. Franke, F. X. v. Funk, C. Gareis, H. Gaudig, K. Geldner, H. Gelzbr, 
G. Gerland, G. Göhler, M. J. de Goeje, L Goldziher, Th. v. d. Goltz, 

E. Gothein, R. Graul, J. J. M. de Groot, E. Grosse, W. Grube, A. Grünwedel, 
H. GuNKEL, H. Haas, Ad. Harnack, M. Hartmann, W. Herrmann, A. Heuslxr, 
O. Hintze, Fr. Hirth, M. Hoernes, H. J. Holtzmann, P. Hörn, H. Hübsciimann, 
V. V. jAGid, K. Th. V. Inama-Sternegg, A. Jülicher, W. Kahl, P. Kehr, G. Kkr- 
schensteiner, A. Kirchhoef, J. Kohler, R. Koser, P. Kretschmer, H. Kretzschmar, 
C. Krieg, K. Krumbacher, P. Laband, H. Lange, Edv. Lehmann-Kopenhagen, 

F. Leo, J. Lessing, W. Lexis, Alfr. v. d. Leyen, Th. Lipps, F. v. Lis2t, Edg. 
Loening, K. LxncK, A. Lüschin v. Ebengreuth, Er. Marcks, F. v. Marttiz, 

G. Maspero, A. Matthias, J. Mausbach, R. M. Meyer, W. Mever-Lübke, 

F. Milkaü, H. More, Karl Müller, W. MOnch, M. Murko, B. Niese, Th. Nöldeke, 
E. Norden, H. Oldenberg, W. Ostivald, L. Pallat, J. Partsch, H. Paul, 
Fr. Paülsen, R. Pischel, J. Pohle, O. Puchstein, K. Rathgen, Alois Ribhl, 

G. Roethe, D. Schäfer, Th. Schiemann, P. Schlenther, Erich Schmidt, Gust. 
Schmoller, G. Schöppa, H. Schuck, Fritz Schumacher, R. Seeberg, E. N. SetälX, 
L. V. Seüffert, Ed. Sievers, G. Simmel, F. Skutsch, R. Sohm, R. Stammler, 
J. Strzygowski, U. Stutz, M. Tangl, A. Thumb, E. Troeltsch, H. v. Tschudi, 
J. V. Verdy du Vernois, J. Vlcek, ■\ C. Wachsmuth, J. Wackernagkl, ■{• St. 
Waetzoldt, Ad. Wagner, J. Wellhalsen, L. Wenger, W. Wetz, Fr. Wickhokf, 
U. V. Wilamowitz-Moellendorff, W. Windelb^vnd, f. Winter, G. Wissowa, 
O. N. Wrrr, H. Wölffun, W. Wundt, H. Zimmer u. a. c. a. 



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880 9 W664 C.1 

Dte Griechtscne und l8tAGQ2005 
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In Order that others may use tbis book, 
please retum it as soon as possible, but 
not later than tbe date due. 



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