Google
This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project
to make the world's books discoverable online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that's offen difficult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book's long journey from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthe files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machine
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attribution The Google "watermark" you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can't offer guidance on whether any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be used in any manner
any where in the world. Copyright infringement liability can be quite severe.
About Google Book Search
Google's mission is to organize the world's Information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover the world's books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll text of this book on the web
at | http: //books. google, com/
Google
über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nutzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter http : //books . google . com durchsuchen
r
'^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^1
1
:m
1
1 1
'Tm^^^^^^^l
P-
^
j
1
^
1 "^ •w%_^
DIE KULTUR DER GEGENWART
TEIL I ABTEILUNG VIÜ
DIE GRIECHISCHE UND
LATEINISCHE LITERATUR
UND SPRACHE
VON
U. v.WILAMOWITZ-MOELLENDORFF • K. KRUMBACHER
J. WACKERNAGEL • FR. LEO '• E. NORDEN • F. SKUTSCH
1905
^ BERLIN UND I^IPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
• • • ••
.•• '•.
• •. ••••• . , •
«•• ••••• ,.,,.
:•:•• .♦'••. •-./.
^ ••••• ••••■
••• ••••• •••••
PUBUSHED JULY 15, 1905
PRIVILEGE OF COPY-RIGHT IN THE UNITED STATES
KESERVED tnn>ER THE ACT APPROVED MARCH 3, 1905,
BY a G. TBUBNEK LEIPZIG.
ALLE RECHTE,
EINSCHLIESSUCH DES ÜBERSETZimOSRBCHTS, VORBEHALTEN.
INHALTSVERZEICHNIS.
L DIE GRIECHISCHE LITERATUR UND SPRACHE.
Seite
I. DIE GRIECHISCHE LITERATUR DES ALTERTUMS . . 1-236
Von ULRICH von WILAMOWITZMOELLENDORFF.
Einleitung 1—4
A. Hellenische Periode (ca. 700—480).
I. Das ionische Epos 4 — 16
II. Das Epos im Mutterlande 16—19
in. Elegie und lambus 19—24
IV. Lyrische Poesie 24 — 32
V. Ionische Prosa 32 — 35
B. Attische Periode (480—320).
I. Die Literatur aufierhalb Athen» 35—43
IL Attische Poesie 43—55
III. Ionische Prosa 55— 60
IV. Attische Prosa 60—81
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.).
I. Hellenismus 81 — 93
II. Prosa 93—125
III. Poesie 125—144
D. Römische Periode (30 v. Chr. — 300 n. Chr.).
I. Klassizistische Reaktion 144-152
II. Die Dynastieen von Augustus bis Severus Alexander 152—164
III. Die neuklassische Literatur 164—192
IV. Die Zeit des Zusammenbruches 192—197
E. Oströmische Periode (300—529).
I. Das christliche Ostrom 198—202
II. Das Ausleben der Literatur 202—223
Schlußbetrachtung 323 — 229
Literatur 230 — 236
VI InhaltsveReichnis.
Saite
2. DIE GRIECfflSCHE UTERATUR DES MITTELALTERS. 237-285
Von KARL KRUMBACHER.
Einleitung 237—239
I. Mischchaiaktcr der byzantinischen Kultur 239—251
II. Sprache 251—254
III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios 254—267
IV. Die dunkeln Jahrhunderte (650 — 850) 267 — 269
V. Das Wiederaufleben der Bildung 269—273
VI. HochrenMssance und Humanismus (12.-15. Jahrhundert) 273—277
VII. Die Volksliteratur 278—281
VIII. Die Tfirkenzeit (1453— 1821) '. 281—282
SchluBbetrachtung 282
Literatur 283—285
3. DIE GRIECHISCHE SPRACHE 286-312
Von JAKOB WACKERNAGEL.
Einleitung 286—290
I. Die griechischen Mundarten 290—295
II. Die älteren Gemeinsprachen 295—298
in. Die hellenistische Gemeinsprache 298—305
IV. Fortleben des Griechischen in andern Sprachen 305—310
Literatur 311— 312
n. DIE LATEINISCHE LITERATUR UND SPRACHE.
I. DIE RÖMISCHE UTERATUR DES ALTERTUMS . . . 313-373
Von FRIEDRICH LEO.
Einleitung 313—316
A. Repablikaniscbe Zeit (ca. 250—43 v. Chr.).
I. Von den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit (ca. 250 — 100
v.Chr.) 316—326
IL Sullanisch-cäsarische Zeit (ca. 100—44 v. Chr.) 326—343
B. Augnsteische Zeit (43 v. Chr.— 15 n. Chr.).
I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. Chr.) 343-35°
II. Zweite Hälfte (ca. 13 v. Chr.— 14 n. Chr.) 3SO— 354
C. Kalserzeit (15 n. Chr.— 6. Jahrhundert).
I. Bis Hadrian (15 n. Chr. — Mitte des 2. Jahrhunderts) 354-3^6
IL Spätere Kaiserzeit (Mitte des 2. Jahrhunderts — 6. Jahrhundert) . . . 366—371
Literatur 372—373
Inhaltsverzeichnis. VII
_„__ Saits
DIE LATEINISCHE LITERATUR IM ÜBERGANG VOM
ALTERTUM ZUM MITTELALTER 374-4n
Von EDUARD NORDEN.
Einleitung 374—378
I. Italien 378—387
II. Afrika . . .• 387—396
III. Spanien 396 — 398
IV. Gallien 398 — 402
V. Die Propaganda der irischen und angelsächsischen Mönche .... 402 — 404
VI. Die karolingische Renaissance 404 — 407
VII. Mittelalter und Renaissance, ein Ausblick 407 — 410
Literatur 411
DIE LATEINISCHE SPRACHE 412-451
Von FRANZ SKUTSCH.
Einleitung 412—413
I. Die uritalische Sprache. Ihre Stelltmg im Kreise der indogerma-
nischen Sprachen 413—417
II. Die dialektale Gliederung des Italischen 417—419
III. Die sonstigen Sprachen der Apenninhalbinsel und ihr Verhältnis
ztun Lateinischen 419 — 421
IV. Das älteste Latein bis zum Beginn der Literatur 421—423
V. Schrift- und Umgangssprache. Plautus 423—428
VI. Geschichte des lateinischen Stiles 428—437
VII. Die gesprochene Sprache 437 — 441
VIII. EinfluB des Lateinischen auf andere Sprachen 441—445
IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Alterttmis 445 — 449
Literatur 450—451
Register 452—464
DIE GRIECHISCHE UTERATUR DES ALTERTUMS.
Von
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorit.
Einleitung. Die griechische Literatur ist die einzige unserer Kultur-steUnacood
weit, die sich ganz aus sich selbst entwickelt hat; sie hat eine Fülle nicht ^'«™'™*
nur vollkommener Kunstwerke, sondern fest ge^hlossener Kunstformen Aui^be.
und Kunststile hervorgebracht, durch die sie Grnadlage und Vorbild der
europäischen und mancher außeretu'opäischen Literaturen geworden ist.
Die griechische Literatiu* ist das Gefäß, das die Fundamentalwerke aller
Wissenschaften enthält oder enthalten hat, denn die Wissenschaft über-
haupt ist von den Hellenen in die Welt gebracht Diese unvergleichlichen
Vorzüge, die doch am letzten Ende relativ sind, beeinträchtigen die absolute
Würdigimg der griechischen Werke und ihrer Verfasser. Denn es hält
schwer, ein Werk, das zwei Jahrtausende lang vorbildlich gewesen ist, so
zu sehen, wie es sein Urheber einst hingestellt hat, und in diesem einen
ringenden, strebenden, irrenden Menschen zu sehen, fällt noch schwerer.
Nichts trübt ein Menschenbild so stark wie die Apotheose, imd nichts
erscheint den Zufälligkeiten des Werdens so sehr entrückt wie ein
klassisches Kunstwerk: die Erhöhung ist in beiden Fällen nur um das
Leben feiL Homer ist aber eigentlich schon in dem Momente klassisch,
wo er uns bekannt wird, und klassisch ist die griechische Literatur mn
Christi Geburt schon genau so und in demselben Sinne wie vor hundert
Jahren, als ihr geschichÜiches Studium beginnt: es ist nicht älter. Goethe
steht zu den Griechen nicht wesentlich anders als Vergäll und Horaz, die
mit Cicero die erste klassische Literatur in anderer Sprache auf der
griechischen Basis erschaffen. Durch die Vermittelung dieser Tochterliteratur
beherrscht die griechische den Okzident auch in den langen Zeiten,
während diesem die Kenntnis der Originale abhanden gekommen ist, und
als sie seit dem 15. Jahrhundert bekannt werden, sieht man sie zimächst
immer noch wesentlich mit den Augen der Römer, oder doch der Grriechen
aus römischer Zeit, die in demselben Banne des Klassizismus stehen. Als
dann Winckelmann mit zielbewußter Energie auf die echten Griechen
zurückzugehen wagt und für die Skulptur eine geschichtiiche Entwickelungs-
linie zu ziehen unternimmt, als dann die nächste Generation dies auf die
Literatur überträgt, steigert sich nur die absolute Wertung der klassischen
Originale. Denn da man noch gar nicht über die geschichtlichen Kennt-
nisse verfügt, den Werdeprozeß des griechischen Volkes, seiner Geschichte
und seiner Erzeugnisse zu verfolgen, so identifiziert man die Entstehung
Dm Kultur dir Groihwart. I. 8. i
2 Ulrich von Wilamowitz-Moellbndorff: Die griechische Literatur des Altertums.
der griechischen Literatur und ihrer Gattungen mit dem absolut Normalen
und Natürlichen, ergänzt die Lücken der geschichtlichen Kenntnis diu'ch
philosophische Abstraktionen, und was bestimmte konkrete Bedingungen
und individuelles Wollen und Können bedeutender Menschen erzeugt hat,
wird zu dem Produkte immanenter Naturgesetze. Die Gattungen der
griechischen Poesie und Kunstprosa, Epos, Elegie, Ode, Tragödie, Komödie,
Epigrramm, Historie, Dialog, Rede, Brief erscheinen als Naturformen der
redenden Künste. Darin stand man noch im Banne der antiken Theorie.
Die Crriechen haben eine wirkliche Geschichtswissenschaft nicht erzeugt,
ihr Denken war darauf gerichtet, aus der Beobachtung Regeln zu ab-
strahieren und mit diesen Abstraktionen zu wirtschaften, und so betrachten
sie jene Gattungen, die bei ihnen historisch geworden waren, in der Tat
als begrifflich präexistent; wer zuerst eine Tragödie macht, der erfindet
sie nicht, sondern er „findet sie als erster", wie sie sagen. Wohl erkennt
man Vorstufen an, aber dann sind das Unvollkommenheiten, die vergessen
werden dürfen: der entscheidende Moment ist, wo die Gattung „ihre eigene
Natur erreicht". Von dem Moment ab, wo die Tragödie diesen Pimkt
erreicht hat, kann man in Ewigkeit nur in dieser Form Tragödien machen,
imd deren Wert bemißt sich danach, wie g^t oder schlecht sie der Idee
der Tragödie entsprechen. Aus dieser Anschauung heraus kamen die
Modernen zu maßloser Oberschätzung der Finder oder Erfinder, oder
besser der klassischen Werke, imd zu einer Unterschätzimg von allem
Späteren, ganz so, wie man den antiken Piuisten folgend die ganze
Sprachentwickelung seit Demosthenes für Entartimg hielt Es sah wirk-
lich oft so aus, als hätte die griechische Literatur mit Alexander auf-
gehört Noch ungerechter war es, wenn aus den Werken der späteren
Zeit das bevorzugt ward, was dem Klassischen am nächsten zu kommen
schien, also gerade die bare Imitation. Es fehlt noch sehr viel daran,
daß die Philologen auch nur im Prinzip anerkannt hätten, daß geschicht-
liches Verständnis und geschichtliche Würdigung jedes Werk und jeden
Schriftsteller zunächst in seiner Zeit und nach seinem Wollen erfassen
muß, also von den Werturteilen der Späteren ebenso absehen wie von
getrübter historischer Überlieferung oder sekundären Textgestaltungen.
Von Schulmeistern, die die Literatur mit den „Schulautoren" identifizieren,
wer Schulautor ist aber nach dem Reglement, am liebsten dem engsten
bemessen, schweigt man füglich: es ist eine naive Anmaßung, wenn diese
Ignoranten sich als Philologen aufspielen. Aber die griechische Literatur-
geschichte steht überhaupt noch in ihren Anfängen, wie das bei ihrer Jugend
nicht anders sein kann; eine Darstellung, die von dem Klassizismus auch
nur prinzipiell absähe, ist überhaupt noch nie versucht Sie kann auch noch
gar nicht geschrieben werden. Erst müssen doch die erhaltenen Werke
verstanden sein, also auch die Kunstformen und Kunstprinzipien, nach
denen sie verfaßt sind, ehe man sie genetisch begpreifen und ihre Ge-
schichte schreiben kann. Und die Einzelpersönlichkeiten der Schriftsteller
Einleitung. 3
müssen erfaßt sein, ehe man sie in einen gfeschichtlichen Zusammenhang
einordnen, also ehe man ihnen ein Urteil sprechen darf. Aber für den
weit überwiegenden Teil der erhaltenen Literatur ist damit kaum ein An-
fang gemacht Und ehe man sie zu verstehen sucht, muß man die Werke
haben; für ganze große Massen der Literatur besitzen wir aber nur un-
zulängliche, für andere, wie die christlichen Schriftsteller vom 4. Jahr-
hundert ab, auch unzugängliche Texte. Diese zu beschaffen ist die
griechische Philologie, die freilich in allen Kulturländern nicht eben zahl-
reiche wirklich leistungsfähige und leistungswillige Arbeiter hat, eifrig
und mit Erfolg bestrebt Ferner aber sind gerade aus den bedeutendsten
Perioden nur zu viele Werke verloren, die es nach Kräften herzustellen
gilt, soweit das nicht, wie gerade bei allem Besten, ganz hoffnungslos
ist: dafür ist viel geschehen, aber immer noch ist nicht einmal die Frag-
mentsammlung abgeschlossen, die doch nur der erste Schritt ist; für die
Literaturgeschichte ist der zweite, die Verfolgung der Nachwirkung, fast
noch wichtiger. Ferner ist die griechische Literatur allumfassend: es geht
in ihr nicht an, sich auf die „schöne Literatur" zu beschränken (ein Be-
griff, zu dem die Griechen kein Analogon haben) und die Produktionen
der SpezialWissenschaften auszuschließen. Nun kann aber die medizinische,
astronomische, mechanische Literatur ohne Verständnis dieser Wissen-
schaften nicht verstanden werden: hier ist ein Zusammenwirken verschieden
vorgebildeter Forscher erforderlich, an dem es lange gefehlt hat, aber
Gott sei Dank nicht mehr fehlt Die Kultur des 21. Jahrhunderts wird
hoffentlich mitleidig auf das geringe Maß unserer heutigen Kenntnisse
herabschauen und manches unserer Urteile berichtigt haben: aber ganz
sicher wird sie ihrer Zukunft noch mehr zu tun überlassen, als sie uns
gegenüber auch im günstigsten Falle voraushaben wird. Wohl kann das
Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit gegenüber einer solchen Aufgabe
dadurch nicht beschwichtigt werden, daß zurzeit überhaupt nur eine un-
zulängliche Lösung möglich ist; aber es gilt ja wohl von dem Lesenden
so gut wie von dem Schreibenden, was H. Taine einmal gesagt hat, der
recht zu lesen und zu schreiben verstand: le plus vif plaisir d'un esprit
qui travaille consiste dans la pensde du travail que les autres feront plus tard.
Es hat sich nicht anders machen lassen, als daß je nach dem vor-
handenen Materiale die Behandlung sehr verschieden ward. Denn es geht
weder an, durchgehends die erhaltenen Werke in den Mittelpunkt zu
stellen, so daß der Zufall der Erhaltung mehr oder weniger über die Be-
deutung entschiede; noch ist die Forschung überall dahin gelangt, die
treibenden Kräfte hinreichend zu überschauen, so daß sich ein historischer
Faden finden ließe, an dem man alles einzelne aufreihte. Das einzige
Prinzip, die Gattungen gesondert zu verfolgen, könnte allenfalls eine Ein-
heitlichkeit gewähren: aber gerade dies würde vollkommen in den antiken
Schematismus zurückfuhren. So ist hier der Versuch gemacht, mit Ver-
zicht auf das künstlerisch allein Befriedigende, jede Periode so zu be-
4 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
handeln, wie es dem Stande unserer Überlieferung und unseres Wissens
gemäß erschien. Wem dabei die klassische Zeit gegen die spätere zurück-
gesetzt erscheint, der bedenke nicht nur die Summe des Erhaltenen und
die Länge der Zeiträume, sondern auch, deiß nur zu lange die umgekehrte
Ungerechtigkeit geübt worden ist
Die Perioden sondern sich von selbst durch die großen geschicht-
lichen Einschnitte. Die erste ist die hellenische, etwa von 700 bis auf
die Perserkriege, an die die attische ansetzt, abgegrenzt um 320 durch
den Tod von Alexander, Aristoteles, Demosthenes. Redet man vom
4. Jahrhundert, so umfaßt das also nur 80 Jahre, und das fünfte auch:
die Blüte Athens ist kurz. Dann kommen die drei hellenistischen Jahr-
hunderte, voneinander abgeg^renzt etwa durch 222, Anfang des Polybios,
133, Anfang der römischen Revolutionszeit, 30, Erobenmg Alexandreias.
Die Unterschiede der drei Jahrhunderte sind fühlbar genug; aber gerade für
diese Periode hat sich die Darstellung von der geschichtlichen Abfolge
ganz lösen müssen. Die vierte, römische Periode bis Konstantin ist die,
von der sich das meiste wissen läßt Auf sie müßte als letzte die ost-
römische folgen, bis zum Einbruch des Islam und dem Bildersturm, denn
da erst reißt die Kontinuität ganz ab, oder wenigstens bis 529, der
Schließimg der platonischen Schule, denn die justinianische Zeit hat schon
ein reiches neues Leben. Indessen die Kenntnisse des Berichterstatters
und auch die Ökonomie der Dsirstellung erlaubten nur einen Ausblick auf
das Ende der hellenischen Literaturgattungen. Es ist das insofern auch
berechtiget , als das Altertum in Wahrheit mit dem Untergange der Reichs-
verfassung und der Reichsreligion gestorben ist
A. Hellenische Periode (ccu 700 — 480).
I. Das ionische Epos. Darin, daß der Anfangstermin um 700 an-
Homer gesetzt worden ist, liegt bereits, daß Homer außen vor der ersten Periode
(vor 700). jjy stehen kommt, als das fertige Produkt einer früheren Zeit, von der
wir keine Geschichte besitzen. Die Odyssee (die im Altertum mit Recht
immer in zweiter Linie steht und danach hier behandelt wird, lediglich
uia*. als Komplement der Ilias) hat um 700 ihre gegenwärtige Gestalt freilich
noch nicht gehabt, aber auch von ihr war das Beste da; die Ilias war im
wesentlichen so, wie wir sie lesen, vorhanden, damit also ein wunder-
bares Werk, die Grundlage der gesamten gfriechischen Literatur. Ein
erzählendes Gedicht, doch mit so viel direkter Rede, daß die Griechen es
nie als bloß erzählend haben gelten lassen, viele Tausende von Versen
umfassend und doch so einheitlich in der Handlung und Haltung, daß
ein Wille eines Mannes es so gestaltet haben muß, abwechselungsreich
im Stoffe und doch ganz von vornehmer ernster Haltung, oft getragen
von dem tiefsten Mitgefühle des Dichters imd doch ohne je dessen Person
hervorzukehren, in unerschöpflicher Btmtheit, den Hörer diurch Himmel
und Hölle führend, und weit über diese schöne Erde mit Hochgebirge
f A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). I. Das ionische Epos. 5
und Pflanzgarten, mit dem Getier des Waldes und den vertrauten Ge-
nossen des Menschen, mit Regensturm und Stemgefunkel, und noch
lieber über jenes immer neue, schwarze, purpurne, violette, blaue, graue,
weißschäumende Meer des Südens, und doch in der Tiefe der Menschen-
seele das Zentrum findend, die reicher und bewegter ist als das südliche
Meer. Ein Bild des Lebens, das Unzähligen ein Vollbild scheinen durfte.
Die Entstehung dieser Epen, der lange Weg, den das Dichterhandwerk
vorher zurückgelegt haben muß, wird uns immer ein Geheimnis bleiben;
die Versuche, ihn durch die verkehrte Annahme einer in der Entwicke-
lung des Menschengeschlechtes spontan auftretenden Volksepik zu erläutern,
sind gescheitert Ungemein wertvolle Analogien liefert allein das romanische,
speziell das altfranzösische Epos (von dem germanischen wissen und haben
wir zu wenig); namentlich für die Umbildung der historischen Stoffe: es
sollte einmal ein Kenner beider Literaturen die Parallele durchführen.
Ilias und Odyssee waren um 700 nicht die einzigen Gedichte Homers;
die Thebais mindestens war ihnen ebenbürtig, und neben ihnen stand eine
umfängliche Literatur, die auch durch die ganze erste Periode die Haupt-
masse der literarischen Produktion ausmachte, das Epos. Es kann ernst-
haft nicht bezweifelt werden, daß die Schrift zur Hilfe des Gedächtnisses
schon um 700, also für die Ilias, angewandt ward, wohl auch als Hilfe von
dem konzipierenden Dichter; aber das Publikum genoß alle Literatur nur
mit dem Ohre. Es gab einen Stand von Dichtem und Rezitatoren,
Rhapsoden, die Verfasser und Verbreiter des Epos, die Träger alles weit-
liehen Wissens. An der Tafel der Großen und in den Hallen der Märkte
erzählten sie, was ihnen die Muse eingab, Überlieferung, die sie frei
formten, auf daß sie wieder Überlieferung würde. In diesem Epos war den
Griechen vom Beginne ihrer Geschichte mitgegeben eine zweite Welt der
Phantasie, die ihnen im farbigen Abglanze Vergangenheit und Gegenwart
ihres Lebens zeigte und bewahrte, und eine feste Form, in der sie aus-
sprechen konnten, was sie verlangten, cdlerdings in dem festen Stile, der
ihnen zugleich mitgegeben ward. Sie sind diesen StU anderthalb Jahr-
tausende nicht müde geworden.
Der Inhalt gibt sich als die alte Geschichte des Volkes, und ohne inhaii.
Frage befindet sich die Summe der lebendigen geschichtlichen Erinnerung
darin. Aber alle Personen und Ereignisse sind in die Zeit weniger Gene-
rationen und an wenige Stätten ihres Handelns zusammengerückt, offenbar
durch bewußte Dichterkunst, und zu der Gegenwart, die in unbestimmter
Entfernung von jener Heldenzeit liegt, führt nirgend eine Brücke herüber.
Ein Reich von individuell ausgestalteten, ganz und gar menschlichen
Göttern ist mit dem der Helden verbunden. Heimat der Götter und der
nationalen Helden ist die Balkanhalbinsel von Pierien und Dodona abwärts,
während nördlich schon am Axios Feinde wohnen, und so in ganz Asien.
Und doch sind hier die Gedichte entstanden und von hier verbreitet
Der Gegensatz der Gegenwart zu der alten Zeit wird so stark empfunden,
6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorft: Die griechische Literatur des Altertums.
daß in vielem ein längst überwundener Kulturzustand festgehalten wird
und der Dichter im Gleichnis, wo er aus sich spricht, Dinge erwähnt, die
seine Helden nicht kennen dürfen. So etwas zeugt von langer, raffinierter
Übung der Poesie, nicht durch einen Menschen, sondern durch einen Stand,
ven. Die Form ist ein Langvers, der ehedem gesungen war, nun, um be-
quem gesagt zu werden, durch eine Cäsur zergliedert wird; so sind auch
die, welche ihn vortragen, Rezitatoren, die einen Stab in der Hand halten,
aber ihre Standesgenossen, von denen sie erzählen, sind Sänger und be-
gleiten sich mit der Laute. So zeugen die Dichter selbst von der Ver-
änderung, die aus den gesungenen Liedern das Epos erst wirklich ge-
schaffen hat Der Sangvers war für lange Gedichte unbequem; man hat
außer anderen Freiheiten den Ersatz jeder Doppelkürze durch eine Länge
und die Verkürzung auslautenden langen Vokailes vor vokalischem Anlaute
gestattet, beides dem Maße ursprünglich zuwiderlaufend, das zweite dem
g^echischen Ohre so häßlich, daß es später nicht nur in fast aller anderen
Poesie, sondern auch in der Kunstprosa verpönt imd auch im Hexameter
aufs äußerste beschränkt worden ist Der homerische Hexameter erkauft
seine Biegsamkeit und Ausdrucksfähigkeit wirklich um eine recht läßliche
Behandlung des Maßes; er läßt der künstlerischen Vervollkommnung noch
sehr viel Raum. Aber während der beiden ersten Perioden hat man sich
höchstens noch mehr gehen lassen als Homer.
Mundart. Die Sprache ist das Ionisch Kleinasiens, aber nicht nur in der Alter-
tümlichkeit, die man gegenüber unseren viel jüngeren anderen Denkmalen
erwarten muß, sondern mit Erhaltung sehr viel älterer Bildungen, die nur
die Tradition der Dichter aus langer Übung bewahrte, imd neben denen
sie nicht selten die jüngeren Formen ihrer Zeit verwenden. Enger als
auf das asiatische Ionisch können wir zurzeit diese Sprache nicht imi-
grenzen, und man kann auch gar nicht daran denken, daß die Sprache
eines Ortes ihre Unterlage wäre; es ist vielmehr die älteste Gemeinsprache
der Hellenen, minder ein Produkt der Kirnst als das einer geschichtlichen
Entwickelung, aber nun allerdings so g^t wie ein Kunstprodukt, da es in
der Übung einer Kunst und ihren Erzeugnissen allein lebt Der Dichter
hat die Menge synonymer Wörter und gleichberechtigter Formen ohne
Frage ebenso lernen müssen wie den Stoff, den er in Verse setzte. Nun
befinden sich in den Formen, und gerade in den ältesten Versreihen und
Formeln, unverkennbare Äolismen, d. h. Spracherscheinungen, die zum Teil
den äolischen Mimdarten gemeinsam sind, also auch dem Thessalischen,
der Heimat Achills und nach etlichen alten Überlieferungen auch Homers
oder seiner Ahnen; zum Teil sind sie aber innerhalb des Aolischen erst
in Asien entstanden. Daß wir sie vorwiegend aus Lesbos kennen, liegt
an der Überlieferung, über die wir zufällig verfügen; mit Lesbos bringet
keine Überlieferung das Epos oder Homer in Beziehung; erst spät taucht bei
einem lesbischen Gelehrten ein obskurer Epiker Lesches aus Lesbos auf;
Alkaios und Sappho aber zeigen die Einwirkimg unserer ionischen Gedichte.
A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). 1. Das ionische Epos.
Dagegen stammt Homer nach der Überlieferung, die sich genauer Prüfung
als die einzige ergibt, aus Smyma und ist ein Aoler; um 700 war Smyma
bereits ionisiert: diese Überlieferung ist also älter, was sich übrigens all-
seitig bestätigt. Im Hermostale und nördlich davon hatte das Hellenentum
besonders früh und besonders tief ins Land hinein Fuß gefaßt; die Phryger,
Lyder, Myser haben es dann zum Teil zurückgedrängt; von Süden her
haben die lonier den alten äolischen Boden okkupiert Hier ist die Heimat
Homers, hier sind die Vorbedingungen für die Sprache und auch die Verse
des Epos gegeben, denn seine lyrischen Verwandten treffen wir in der
lesbischen Lyrik.
Homer trägt einen guten Menschennamen; ohne alle Frage ist er ein Homer ab
Mensch gewesen und ein Dichter dieser Gegend, um 700 ist er bereits ^*'*°"-
der große Dichter mehrerer Epen. Auch die Griechen, die nicht e für a
sprachen, haben ihn immer Homeros genannt, obwohl er Homaros ge-
heißen hat, wenn er ein Äoler war. Dann lag seine Lebenszeit so weit
zurück, daß der Äoler so ionisiert war wie sein Epos. Oder aber er
war lonier und nur die Erinnerung an die Herkunft des Epos hat ihn
äolisiert: dann hat er nicht an den ältesten, sondern an den jüngsten
Teilen der Ilias AnteiL Sowohl wenn er den entscheidenden ersten Schritt
tat und statt der Leier den Stab ergriff, d. h. den rezitativen Vers und
das gesagte Epos erfand, wie wenn er den letzten tat und unsere Ilias
verfaßte {niederschrieb, wie ich mich nicht scheue zu sagen), hat er Großes
geleistet Garantieren kann man freilich nicht, daß er die Erhaltung seines
Namens überlegener geistiger Kraft verdankt Es mag menschlich sein,
nach dem Sterblichen zu fragen, dessen Name den reichsten Dichterlorbeer
der Welt träg^ und zu wünschen, daß er ihn verdiente. Schließlich ist es
doch nicht so sehr wichtig, denn die Dichter des ionischen Epos haben zwar
zum Teil von eigenem Empfinden sehr viel in ihre erzählenden Gedichte
hineingelegt, aber deis Charakteristische für dieses Epos ist, daß die Personen
der Dichter ganz und gar verschwinden. Daher der einheitliche Stil, der
nicht nur zu der Annahme des einen Verfassers verführt hat, sondern zu
dem schwerer beg^reiflichen Wahne, hier Volkspoesie zu sehen, wo alles
Kimst ist, und wo dem Stande der Dichter (Sänger gibt es nicht mehr, und
es ist irreführend, von Liedern zu reden) als Publikum zunächst gar nicht
das Volk entspricht, sondern wieder ein Stand, die Könige oder Herren,
die das Volk unter sich nicht stärker verachten können, als Homer es tut
Die Odyssee zeigt ja, wem die Dichter vortragen.
Das Epos ist höfisch. Diese kriegerische Phantasie, dies Heroentum, d„ Epot
ja diese Götter sind durchaus adlig. Ein Volk, das seine Acker bebaute,
würde die Ackergötter nicht vergessen, die freilich keine Zeit haben,
auf den Olymp zu steigen. So primitiv ein Kultus ist, ein Kirchenjahr
und seine Feste zwingt ihm die Natur auf. Nichts davon bei Homer;
die Ilias kennt freilich überhaupt keine Jahreszeit und kein Wetter;
erst der zweite Teil der Odyssee zeigt hierin einen bemerkenswerten
hOfiwh.
8 Ulrich von Wilahowiiz-Moellenoorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Fortschritt, aber zur rechten Ausnutzung kommt das fruchtbare Motiv
auch da nicht Der Bauer ist fromm; die homerische Gesellschaft ist
so vorurteilslos, man muß fast frivol sagen, daß sie aus der heiligen
Hochzeit des himmlischen Ehepaares ein Schäferstündchen macht Wenn
die Dichter noch &n die reale Existenz von den Personen Hephaistos
und Ares geglaubt hätten, wären sie nie auf die Metonymie dieser
Namen für Feuer und Mord verfallen. Der Kontrast zwischen der
homerischen Behandlimg der Götterwelt tmd dem Glauben des Mutter-
landes ist ungeheuer. Homer trägt die Schuld, daß der Rationalismus die
Götter als Phantasmen der Dichter fassen konnte und die kynische und
christliche Polemik in seinen Göttern die des griechischen Volkes zu treffen
wähnte. Ebenso steht es mit dem Staate: diese selbstherrlichen Männer
sind innerlich nicht durch die Religion gebunden, und die sich regende
Moral, die aibi6c, hat wenig Gewalt: am allerwenigsten bindet sie ein
Staat Offenbar entspricht das den Zeiten der Völkerwanderung, die einst
die Hellenen über das Meer trug, und ein stabiles Staatswesen scheint in
lonien wirklich nie zustande gekommen zu sein. Die Telemachie, die für
das alte Epos nicht zählt, gibt von dieser Anarchie unfreiwillig ein Spiegel-
bild. In der Vorzeit, von der doch das Epos erzählen will, als die Herren
von Mykene ihre Burg oder gar die von Knossos ihren offenen Palast
bauten, muß es ganz anders ausgesehen haben. Und nicht nur der Heer-
bann Spartas, auch die Ritterschaft von Chalkis und Athen ist auf die
Subordination freier Männer geg^ründet Die Menschen, die Homer
schildert, und nach denen wir uns die Dichter zu denken haben, streben
auf die rücksichtslose Entfaltung der Individualität hin, auf Archilochos
und Hekataios und Herakleitos: aber sie haben diese Freiheit noch nicht
erreicht Wer ehrlich ist, nichts Späteres in die Ilias hineinträgt, muß
doch auch zugeben, daß nur in wenigen Partieen die Charakteristik sich von
dem meisterhaft erfaßten Typischen zum Individuellen erhebt Von einem
Charakter des homerischen Achilleus oder Odysseus zu reden, ist natürlich
überhaupt eine Torheit, da ja verschiedene Dichter dieselben Helden ver-
schieden auffassen; wie in jeder Hinsicht, so auch hier verschließt der
Wahn der Einheit den Zugang zu dem Schönsten, was die Epen enthalten.
EiiiiwH und Später, als das Epos im Mutterlande rezitiert wird , kann man niu-
"^Y^^ *" eine beschränkte Anzahl Verse auf einmal vortragen, zumal in Agonen, wo
mehrere Rhapsoden hintereinander auftreten. Die Gedichte des Hesiodos
h2dten sich in diesen Grrenzen; auch in der Ilieis kann man einzelne solche
Gedichte unterscheiden, die die passende Länge und Abgeschlossenheit
zeigen, wie die Dolonie, die Gesandtschaft an Achilleus, Hektors Lösung.
Ehe die Sitte der Agone bestand, durfte der Umfang gewiß weit größer
sein; aber unsere Epen sind unbedingft für einen einzigen Vortrag zu lang.
Und doch sind sie eine Einheit gewesen, als imsere Überlieferung von
ihnen beginnt: Hesiodos hat doch die Ilias gelesen. Folglich hat nicht
die Rücksicht auf die unmittelbare Wirkung des einen Vortrages sie hervor-
A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480,. I, Das ionische Epos. n
gebracht, sondern das stoffliche Interesse an dem Zusammenhange der Er-
zählung. Das ist ein sekundäres Interesse. Wir kennen die nächsten
Etappen: es gab ein jüngeres Epos, die kleine Ilias, das alle die Abenteuer
bis zur Heimfahrt der Achäer erzählte; zuweilen hängte man es geradezu
an unsere Ilias an. Ein anderes Epos enthielt, was vor der Ilias liegt, und
dessen Vorrede ist eigentlich auf den ganzen Troischen Krieg berechnet.
Man kann nicht wohl bezweifeln, daß das Repertoire der Rhapsoden um
500 so die ganze Geschichte umfaßte. Wir kennen die weitere Stufe,
daß man die metrische Form aufgab, um die ganzen Geschichten knapp
zusammenzufassen. Daraus ergibt sich von selbst, daß das Riesenepos
eine Zusammenfassung von kleineren Gedichten ist, die dem Zwecke des
Einzelvortrages wirklich genügten. Die Motive, die jetzt die Ilias zu-
sammenhalten, sind also das späteste (abgesehen von den Einlagen in das
fertige Gedicht), und es kann auch kaum etwas Nichtigeres geben als
die Sendung des Patroklos, die jetzt allein die Patroklie anknüpft Der-
selbe Prozeß mag sich in kleinerem Umfange schon vorher vollzogen
haben und auch in unsere Ilias solche kleinere Komplexe aufgenommen
sein, wie anderseits einzelne Gedichte später in das große Epos ein-
gefügt sind. Das Alter und die Erhaltung der verarbeiteten Gedichte
konnte verschieden sein, und nichts schützt uns vor der Möglichkeit, daß
das Gedicht selbst in seinen verschiedenen Teilen verschieden erhalten ist.
Hier ist nicht der Ort, eine Analyse der Ilias vorzutragen, am wenigsten,
wenn man eine in petto hat: aber um so nachdrücklicher muß betont
werden, daß seit 700 im wesentlichen unsere Ilias bestanden hat (einschließ-
lich der Dolonie und der Lösung des Hektor), und daß sie sehr wohl das
Werk eines Dichters heißen darf, mögen wir auch nicht allzu hoch von
ihm denken, sehr viel geringer als von den Dichtem vieler seiner Vorlagen,
die zum Teil längst richtig ausgesondert sind.
Nicht die Interpretation seines Werkes, sondern vorgefaßte Hypothesen
operieren mit einer prästabilierten Urilias, wie schulmeisterliche Rück-
sichten (denn Homer büßt es schwer, daß er seit 700 v. Chr. Schul-
schriftsteller ist) eine moralische Idee, Schuld, Strafe, Versöhnung in die
Ilias oder gar Treue in die Odyssee hineinwerfen. Immer wieder muß
Homer sich gefallen lassen, in Meteorosophie umgesetzt zu werden, w^ie
von Metrodoros von Lampsakos (um 400 v. Chr.), oder als bare Historie
aufgefaßt zu werden, wie von den antiken Kindern, oder moralisch oder
unmoralisch ausgedeutet zu werden. Ein Chaldäer ist er ja auch im Alter-
tum schon einmal gewesen. Das beweist nur immer aufs neue, daß die-
jenigen gesünderen Sinn zeigen, die ihn geradezu als einen Poeten, ich
möchte sagen, zeitlos fassen, weil sie sich einfach seiner Poesie hingeben-
Von da aus ist der Weg zu den lösbaren Problemen der Interpretation nicht
verschlossen. Zenodotos und Aristarchos, Gottfried Hermann und Lach-
mann, zu denen ich jetzt Chr. G. Heyne zähle, zu denen F. A. Wolf nicht
gehört, haben diesen Weg beschritten, der allein dem Ziele näher führt
lo Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
lüot and iiiou. Die Dias vereinigt die Helden von ganz Hellas vor Ilios,- der Troer-
stadt am Hellespont Unter der hellenischen Stadt am Hellespont, die
sich seit dem 7. Jahrhundert Ilion nannte, haben sich die Trümmer einer
goldreichen kleinen Burg aus dem Anfang des zweiten Jahrtausends ge-
funden, die man zunächst sofort für die Stadt Homers ausgab: wehe dem,
der gegen den Schatz des Priamos skeptisch blieb. Jetzt redet niemand
mehr so, aber der Frontwechsel wird möglich verschwiegen. Jetzt werden
auf Homers Ilios die Mauern einer viel weniger reichen, aber wohl-
befestigten Burg bezogen, die etwa in das Ende des zweiten Jahrtausends
gehören mag. Später ist der Ort nur von armen Barbaren bewohnt ge-
wesen; nion ist erst eine Crründung der Lyderzeit Genau das hatte die
antike Forschung ermittelt, und es schickte sich, die erfreuliche Ober-
einstimmung zu konstatieren, statt sich zu gebärden, als hätte man
etwas Neues entdeckt Weiter ist bei der ganzen Schliemann-Dörpfeld-
schen Grabung für Homer nichts herausgekommen. Also hat Ilion wüst
gelegen während der ganzen Blütezeit des Epos, und es entzieht sich
zurzeit imserer Kenntnis genau wie der des Altertums, was der historische
Kern der Kämpfe um Ilios gewesen ist; die Barbarennamen Priamos,
Paris, Pergamos zeugen für reale Klampfe mit Barbaren: aber wer
garantiert, daß sie in Ilios fester sitzen als Achilleus, der am Spercheios
zu Hause ist, und Diomedes, der die Burg von Theben brach, im Achäer-
lager? In unserer Ilias kämpfen sogar schon die Helden der dorischen
Inseln vor der Südwestecke Asiens samt ihren festländischen Gegnern.
Poetenwille hat das Meiste und Beste auch an dem Stoffe getan. Wer
darf bestreiten, daß Hektor und Andromache und Astyainax mit ihren
redenden Namen Poeteneriindung sind? Es ist eine starke Verkennung,
daß die historische Tradition oder gar die ihr zugrunde liegenden Fakta
das Beste wären. Der Geist des Dichters ist es, der sie durchseelt Die
Sage mochte berichten, daß Achilleus unter den Troern gräßlich gewütet
hätte, als ihm sein Wagenlenker erschlagen war. Das tat sie doch erst
auf Crrund der poetischen Übertragiing des thessalischen Achilleus in das
Skamandertal; und ein historisches Faktum ist der Tod des Patroklos von
Opus schwerlich. In die Region der unsterblichen Poesie hat diese Helden
und ihre Leiden aber erst derjenige freischaffende Geist erhoben, der
Achilleus zu Zeus um des Freundes Leben vergeblich bitten, der ihn, grau-
sam wider seine Natur, dem Lykaon mit wahrhaft tragfischen Worten den
Tod geben ließ, und dann weiter unter den Troern wüten, nicht im Hoch-
gefühl des Siegers, sondern in der Gewißheit, daß ihm nur noch Tage zu
leben beschieden war. Dieser Dichter ließ ihn entsprechend dem alten
Kriegsrecht den Hektor den Hunden zum Fräße werfen: er schuf diese
Sage. Der Dichter, der dies umwarf und die Versöhnung mit dem Greise
Priamos erfand, schuf die schönere Sage : denn seit seinem Gedichte gilt ja
dies als Sage und als Geschichte. Vixere fortes ante Agamemnona: auch
vor Homer haben verschiedene Dichter an dem Stoffe imd an der Form
A. Hellenische Periode (ca. 7oo--48o> I. Das ionische Epos.
tt
gearbeitet, wer weiß, wie viele Menschenalter. In unseren Epen erbt die ^M
anbrechende hellenische Zeit den Arbeitsertrag einer langen Periode. H
Seit einigen Jahren kennen wir einiges von der bildenden Kunst, die Homer und s»
in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends in den Gegenden herrschte, '""'**^'" ''""'■
die Homers Helden als Heimat führen, namentlich in Kreta. Es ist eine
Kunst von sehr bestimmtem Stile, sehr eigentümlich, dem Oriente gegen- ^1
über so frei, wie die der Griechen des 7. Jahrhunderts durchaus nicht ist ^M
Ist Homers Kunst wohl mit dieser vergleichbar? Die naive Unwissen- ^
schaftlichkeit ist natürlich gleich bei der Hand und identifiziert diese reiche
Kultur mit der Homers; das ist nur petitio principii. Selbstverständlich ^m
muß man die Häuser und Waffen und Gräber Homers mit denen vergleichen, ^M
die man nun im Originale besitzt. Dabei ist herausgekommen, daß die ^M
Grabsitten Homers andere sind; daß seine Menschen sehr viel kümmer- ^M
lieber wohnen; daß er die Freskomalerei der kretischen und tirynthischen ^M
Wände und die Mischwesen der Inselsteine nicht kennt; aber Erinnerungen ^M
an die Sitten der Urzeit fehlen nicht, und wie sollten sie fehlen, wo doch ^M
in den Helden selbst und ihren Geschichten solche Erinnerung vorhanden ^M
ist Es hat sich gezeigt, daß der Panzer des Agamemnon die Kunst etwa ^M
des 8. Jahrhunderts voraussetzt, dagegen der Achilleusschild nur auf die ^M
Dekorationsweise jener alten Zeit zurückgeführt werden kann. Der Dichter ^M
hat nicht etwa ein wirkliches Kunstwerk vor Augen (um das zu erkennen ^M
braucht man nur die Nachahmung, den Schild des Hesiodos, zu vergleichen, ^M
der wirklich ein Kunstwerk beschreibt); aber er muß doch Stücke gesehen ^M
haben, die in der Weise jener alten Kunst dekoriert waren. Das lehrt ^M
nur nicht viel. Denn er traut seiner Zeit und irdischen Handwerkern so ^M
etwas gar nicht zu, und daß Werke jener alten Zeit, Schmuck- und Beute- ^M
stücke sich bis ins 8. oder g. Jahrhundert erhalten konnten, ist gar nicht ^M
unglaublich; auf Kreta verweist dieser Dichter direkt Also wenn die Ilias ^|
in dem, was sie beschreibt, beiden Perioden angehört, so entspricht das ^M
nur ihrem Inhalte und ihrer Heimat: lonien hat ja gerade die vorgriechische ^M
Kunst fortgesetzt ^M
Die Hauptfrage stellt sich anders. Das Grundprinzip der kretischen ^M
Kunst steht zu der hellenischen in scharfem Gegensatze. Sie ist ^M
malerisch, illusionistisch: sie wagt mit erstaunlicher Kühnheit wieder-
zugeben, was sie sieht, das Gesamtbild auffassend, das vor ihren Augen ^_
liegt, nicht das einzelne herausbildend. Dagegen der geometrische Stil, ^M
der sie ablöst, fängt ganz von vorne an, kindlich, ungeschickt, aber voll ^M
ernsten Strebens, sich über alles Rechenschaft gebend. Man kann gar ^M
nicht verkennen, daß von der Dekoration der Dipylonvasen und ihren ^M
Vorläufern, die noch lediglich mit regelmäßigen Ornamenten operieren, ^M
eine gerade Linie der Entwickelung bis zu dem Parthenon mit allem seinem ^M
Schmucke führt; zu den Fresken Polygnots nicht minder. Wir finden die- ^M
selbe Kunst in dem strengen Aufbau der attischen Tragödie; sie beherrscht ^M
die griechische Metrik nicht minder wie die Periodisierung der griechischen ^M
12 UUUCH VON Wuamowitz-Mqbli^ndorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Kunstprosa; es ist die Stilisierung, die wir spezifisch klassisch -hellenisch
nennen. Gehört nun Homer zu der vorhellenischen Kunstart oder zu der
geometrischen, die zu seiner Zeit in Übung war? Der Aufbau des Epos
im ganzen darf nicht herangezogen werden, denn das hat gar nicht als
Ganzes gewirkt oder wirken wollen, sondern die ganzen Kunstwerke, die
nur scheinbar Teile sind. Da lese man einmal die Kämpfe, die im Labda
der Ilias erzählt werden, schematisiere sich den Aufbau von Agamemnons
Aristie zu der des Diomedes und Odysseus: man wird eine Strenge der
Tektonik finden, die geradezu unübertrefiFlich ist Man lese das Gedicht
von Hektors Tod (es beginnt <J> 526 und ist sehr gut erhalten): wie da drei
Reden, von Priamos, Hekabe und Hektor vor dem Kampfe stehen, drei
Reden, von Priamos, Hekabe, Andromache dahinter, das ist eine Symmetrie,
die kein Giebelfeld übertrifft
Die Gleichnisfälle des Epos zeigt uns, was die Menschen damals mit
besonderer Teilnahme schauten. Das ist in erster Linie die elementare
Natur; davon kann die bildende Kunst kaum etwas wiedergeben. Dann
sind es die wilden Tiere, eben die, mit denen die lonier auf der Jagd
zusammenstießen. Dieselben Tiere zeigen uns die bemalten Tongefaße,
aber nicht die der kretischen Kunst Die Stierjagden der Becher von
Vaphio usw. fehlen bei Homer, und noch bezeichnender ist, daß die Fische
und Schmetterlinge und Polypen, an denen die kretische Kunst Freude hat,
bei Homer ebenso fehlen wie in der hellenischen Ornamentik. Und vollends
die Blumen. Es ist ein höchst merkwürdiger Mangel der homerischen
Welt, daß sie zu diesen gar kein Verhältnis hat Der junge Fruchtbaum
im Obstgarten, die verschiedenen Waldbäume werden in ihrer Eigenart
vom Gleichnis verwandt, aber Rose und Veilchen, Hyakinthos und Krokos
dienen nur zur Farbenbezeichnung (außer daß sie zum Beilager von Zeus
vmd Hera einmal emporsprießen); einmal zeiget ein Gleichnis den Mohnkopf;
man kennt noch nicht einmal Kränze. Ganz langsam entwickelt sich dann
die Freude an der Blume; aber bei Sappho fällt sie doch noch auf, ebenso-
sehr als etwas Weibliches wie als etwas Poetisches. Und naturalistische
Wiedergabe von Laub und Blüten scheint sogar erst im Verlaufe der
hellenistischen Zeit von der bildenden Kunst angestrebt zu sein. Dagegen
sehe man die illusionistische und doch im edelsten Sinne omamentale Ver-
wendung der Blumen in der kretischen Kunst Das offenbart Gegensätze,
die tief in der Sinnesart wurzeln. Gewiß wird sich bei genauerer Be-
obachtung auch manches finden, das Homer eben als lonier mit der
vorhellenischen Kunst gegen die spätere teilt, die wesentlich vom Mutter-
lande bestimmt wird: aber das wird die zeitliche xmd örtliche Fixierung
dieser Poesie nur bestätigen.
HomeiiMber Wir nennen die epische Poesie erzählend, und sie ist ja auch
^'' insofern fast überall rein erzählend, als sich der Dichter ganz verbirgt
Nur der Dichter der Patroklie oder doch fast nur er geht damit schon
einen wichtigen Schritt weiter, daß er mit bestimmten Kunstmitteln ein
A. Hellenische Periode (ca. 700— 480). 1. Das ionische Epos.
13
bestimmtes Ethos erzeugt; er antizipiert durch eigene Zwischenbemerkungen
den Ausgang, und er redet den Patroklos in bedeutenden Momenten direkt
an. Was im ausgearteten Epos eine Figur ist, die Apostrophe, ist hier
bei ihrem ersten Auftreten noch von ganz individueller Wirkung. Auch
in der Kunst des Erzählens sehen wir die Geschicklichkeit wachsen.
Während meistens nur geradlinig erzählt werden kann, so daß das zeitliche
Nebeneinander in ein Hintereinander verwandelt werden muß (zuweilen
sehr unbeholfen, am meisten zwischen der Rede Agamemnons, nachdem
Menelaos gesiegt hat, und dem Schusse des Pandaros, den der Dichter
unmittelbar darauf erfolgft denkt), kann z. B. die Dolonie ganz vorzüglich
den Szenenwechsel vornehmen. Ganz allgemein gilt aber, daß die direkte
Rede der eingeführten Personen einen so großen Teil der Erzählung ein-
nimmt, daß den Alten die Verwandtschaft mit dem Drama immer für
Homer charakteristisch war. Dieser große Vorteil erwuchs einmal aus
der Naivität der Sprache, die noch gar kein Denken kennt, sondern nur
ein „zu sich selbst Sagen"; aber aus der Not macht der Dichter eine
Tugend: sein Vorgang wird den Monolog der Tragödie erzeugen. Stark
wirkt dazu auch die Unpersönlichkeit des Vortragenden. Das hat dann
dazu gefuhrt, daß der ganze Hauptteil der Erzählung einem Mithandelnden
in den Mund gelegt ward, wie dem Nestor in dem selbständigen Gedichte,
das im zweiten Teil von Labda steht (von den Kritikern gröblich verkannt),
dem Nestor und Menelaos in der Telemachie. Das gipfelt in den Apologen
des Odysseus, die ein Vorbild für alle Epik wurden, ja darüber hinaus: ihr
Dichter ist der Archeget des Ichromanes.
Zu den Theorien, die uns auf der Schule aus Lessing eingeprägt
werden, gehört, daß Homer ein großer Dichter wäre, weil er nur erzählte,
nicht schilderte. Das ist zutreffend, wenn Lessing die Schönheit der
Helene in der Wirkung auf die troischen Greise hoch über die Personal-
beschreibung Angelicas bei Ariost stellt. Nur hat er die Gattungen der
Poesie ganz abstrakt gefaßt, und wir werden an dem weiblichen Schön-
heitsideal, das der liebenswürdige Plauderer seiner raffiniert sinnlichen
Gesellschaft zeichnet, unsere Freude haben und es nicht mit den Signale-
ments der spätgriechischen Romane zusammenstellen, die in Wahrheit aus
den Signalements der Akten stammen, wie sie die Papyri zeigen, also einem
Publikum gefallen durften, das beständig von den besonderen Kennzeichen
seines eigenen Leibes Zeugnis ablegen mußte. Ob Homer die Fähigkeit
besessen hätte, ein solches Signalement zu machen? Man kann sich doch
nicht verhehlen, daß er namentlich von dem Aussehen seiner Frauen gar
nicht imstande gewesen ist, ein sinnliches Bild zu entwerfen. Sah etwa
der bildende Künstler seiner Zeit bereits so genau? Individuelle Er-
scheinung (von der Karikatur abgesehen, die Thersites bereits erfährt) hat
wohl überhaupt erst die neue Komödie und die hellenistische Poesie auf-
gefaßt Jedenfalls hätte die Purcht vor dem Schildern keinen Hinderungs-
grund abgegeben, denn daß der Schild des Achilleus verfertigt wird, hat
14 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
keine andere Bedeutung, denn als Fonn der Anreihung. In dem ana-
phorischen „er machte« liegt wenig Poesie, imd gerade von dem Cranzen
des Schildes erhalten wir kein Bild, so wenig wie von seinem Werden.
Wir bekommen eine Schilderung der einzelnen Szenen, und der Dichter
hat die Freude, uns zu sagen, was die Menschen und Tiere machen, die
er beschreibt. Lessing verkannte, dafi das Epos ja die einzige Art des
Ausdruckes seiner Zeit war, imd da diese sich an einem schönen Panzer
oder Schilde vergnügte, freute sie sich auch an der Beschreibung. Die
Griechen haben die Beschreibung des gestirnten Himmels bei vielen
Dichtem vor Arat und dann bei diesem als ein echtes poetisches Kunstwerk
gelten lassen; Piaton allerdings wählte die Fiktion eines Weltschöpfers,
imi die Schilderung des Zustandes zu beleben: er ist ein Beleg und aller-
dings auch ein Beweis für das, was Lessing abstrakt richtig empfand.
Der Schiffskatalog ist in die Hias, die er voraussetzt (daher ein wichtiger
Zeuge für ihren damaligen Bestand) erst eingelegt und will die homerische
politische Geographie, also ein gutes Stück Geschichte lehren: das ist
unweigerlich didaktische Poesie, einerlei, ob wir diese theoretisch gelten
lassen. Er imd die Katalogpoesie Hesiods und seiner Nachfahren sind
vollkommen gerechtfertigt für ihre Zeit, denn die Belehrung konnte damals
in gar keiner anderen Form erfolgen. Die Bedeutung der poetischen
Form war gerade darum so hoch, weil sie nicht niu- als Poesie wirken
wollte und wirkte, weil das prodesse et deUctare so ernsthaft genommen
ward, daß auch einmal das erste vorwiegen durfte. Ob es später angemessen
war, dieselbe archaische Form zu wählen, ist etwas anderes. Für die
Griechen ist Homer auch als Didaktiker vorbildlich geworden.
Endlich was wäre die Dias ohne die Gleichnisse? Es gibt einzelne
ihrer Dichter, die sie gar nicht handhaben, namentlich wenn die Reden
überwiegen, oder die Manier setzt nur ein paar als Putzmittel auf, wie die
Telemachie; aber im ganzen gehören sie zu dem festen Stile. So sind sie
mit ihm vererbt, und man sieht bei den Nachahmern (Apollonios verfährt
darin ganz so wie Goethe und dieser wie Apollonios), wie sie, weil es
eben zum Stile gehört, auf die Gleichnisjagd gehen oder öfter niu" die
homerischen sinnreich oder frostig variieren. Die originalen Dichter
haben sie angewandt in erster Linie, um die Stimmung zu geben, die
namentiich die Naturbilder einem Volke unmittelbar vermittelten, das so
ganz mit der Natur lebte wie die Griechen. Nur gottbegnadete Dichter,
nicht eben viele, haben nachher dies Naturgefühl besessen. Wie bringt
der Erzähler es fertig, die Stimmung des siegreichen und des geschlagenen
Heeres zu schildern? Er malt eine sternenklare Nacht, in der der Hirt
bei seiner Hürde sich gesichert fühlt vor reißenden Tieren und Dieben;
und er malt das aufgewühlte Meer, das mit schwarzen Wogen den See-
tang gegen das Ufer wirft Wie schildert er die Stimmung der Achäer
und der Troer, als plötzlich die frische Schar des Patroklos einbricht?
Er malt, wie vom Hochgebirge, das den loniem immer vor Augen lag.
iellenische Periode (ca. 700 — 480).
ionische Epos.
»3
eine schwarze beschattende Wolke plötzlich weggeblasen wird, so daß die
Kuppen und Alpen im hellen Scheine sichtbar werden; und er malt, wie
plötzlich am Himmel die verderbliche Gewitterwolke aufsteigt Das ist
kein äußerlicher Putz: darin liegt mehr als in allen rhetorischen Schlacht-
beschreibungen oder psychologischen Analysen: aber empfinden wird es
nur, wer das Naturgefühl mitbringt, kein Kind und kein Großstädter. Die
Künste aller Imitatoren haben Ähnliches nicht erreicht Dagegen kann
man voraussehen, wie sich diese Bilder als echteste Lyrik absondern
werden: zu Sappho und den Liedern des Dramas fuhrt dieser Weg. Nicht
minder vollkommen sind die Bilder aus der Tierwelt, freilich fast alle ins
Erhabene stilisiert Man wird nicht mehr daran erinnert, daß es noch nicht
lange her war, da die großen Götter in Tiergestalt umgingen; aber wohl
deutet es voraus, auf die Tierbilder der Orakelpoesie, auf die Tierfabel
der lonier, auf die ionische Beobachtung der Tiere, ihres Charakters und
ilirer Lebensweise, die bei Aristoteles unsere Bewunderung erregt. Dies
Volk, das die Natur so mitfühlend betrachtete, hatte sie in göttlichen
Personen beseelt: es sollte auch die echte Naturwissenschaft erschaffen,
deren Wurzel die Beobachtung ist
Das Epos ist heroisch; es verschmäht die niedere Bevölkerung; der
edle Schweinehirt der Odyssee ist am Ende ein geraubtes Königskind,
und der böse Ziegenhirt ist dazu bestimmt, in grausamster Weise Sklaven-
tod zu leiden; Thersites ist der Demagoge, den der adlige Herr mit
dem Stocke zur Räson bringt In solchen Szenen darf ein wenig Derb-
heit und ein wenig grelle Zeichnung angewandt werden; sonst ist die
höfische Sitte sehr zu spüren. Der späte Schwank von Ares und Aphrodite
ist äußerst gewagt, aber die Dezenz des Ausdruckes läßt auch hier nichts
zu wünschen übrig. Im stärksten Gegensatze steht die Ungeniertheit der
Novelle bei Herodot; der Traum der Mandane wäre bei Homer ebenso un-
möglich wie in einem athenischen Prosabuche. In der Tat hat die homerische
Dezenz auch ihre Vorbildlichkeit für die ernsterhabene Poesie und die Prosa
Athens. Aber es kann die Nebenströmung nicht gefehlt haben; auch vor
Archilochos und Hipponax müssen ihresgleichen gewesen sein. Und da die Rurirtke* Ep«.
epische Form die einzige Kunstform war, mußte sie sich am Ende auch
dieser Stoffe bemächtigen. Wir wissen von einem solchen Epos, das noch
Aristoteles dem Homer beigelegt hat, und das noch Kallimachos bewtmdert
hat Dann ist es dem Vorurteil der homerischen Dezenz zum Opfer ge-
fallen. Es war der Margites, den ein kolophonischer Dichter vor 700
verfaßt hatte, der aller Wahrscheinlichkeit nach Melesigenes hieß. Man
kann nur sagen, daß der Held eine Charakterfigur war, ein Nichtsnutz,
der alle Künste nur halb versteht; der Name sagt, daß er sich mit wildem
Elan auf alles mögliche gestürzt hat und sich natürlich überall blamiert
Von den Zoten, die nicht fehlten, ist noch ein Schatten da. Auch hier
noch kein Individuiun, aber wohl die Vorstufe zu der Herausarbeitung
von Charaktertypen, die schließlich in dem attischen Lustspiel das Funda-
i6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische LJteratur des Altertums.
ment der modernen Charaikterkomodie werden sollte. Und die Form
des Margites, die Einmischung iambischer Trimeter unter die heroischen
Verse, beweist einmal die Existenz dieser volkstümlicheren Maße, zweitens
die Unzulänglichkeit der epischen Form, sobald eine andere Stilisierung
notwendig ward. Vor allem lehrt der Margites, daß wir nicht vergessen
sollen, es hat neben Homer eine volkstümliche Dichtung gegeben — nur
läßt sie sich nicht mehr kennen. Diese Unterströmungen werden wir zu
allen Zeiten anerkennen, aber sie können uns niemals wirklich greifbar
werden, und sobald einmal etwas hervortritt, wird es sofort künstlich
stilisiert Das ist das Charakteristische der griechischen Literaturgeschichte.
n. Das Epos im Mutterlande. Die Rhapsoden waren fahrende Leute
wie Ärzte und Seher und Handwerker, die als Berufsstände neben den engen
politischen Gemeinden standen, in denen die Geburt das Bürgerrecht gab, und
sie genossen herumziehend eines Schutzes durch Gewohnheitsrecht So sind
sie schon früh über die Inseln in das Mutterland gekommen, haben mit dem
Epos die Literatursprache hinübergebracht und verbreitet, und mit dem Epos
brachten sie dessen Götter und Heroen, brachten sie die Nahnmg der
Phantasie in der Fülle des Stoffes und erweckten das Gefühl für kunst-
mäßige Rede, für Poesie. Sie haben sich in den Zentren der Kultur
während der hellenischen Periode bald festgesetzt, in Sparta, Argos,
Korinth, Delphi. Dort gab es überall Geschichten, der ionischen Sage
vergleichbar, die nach der Formung durch Dichterkraft verlangten. Der
Herrenstand, soweit er gebildet genug war, Homer zu verstehen, verlangte
die Taten und Namen seiner Ahnen, der Gründer seiner Städte und
Staaten ähnlich verherrlicht zu sehen; er verlang^te, die heroischen Ge-
schichten durch seine Heroen belebt zu sehen, wie einst der Rhodier
Tlepolemos und der Lykier Sarpedon in die Ilias gekommen waren.
Ging das nicht wohl an, so hatten eben Herakles umd Telamon Dios auch
einmal belagert und bezwungen. Die Thebais spielte im Mutterlande
selbst; sie bot der Umarbeitung noch viel leichtere Handhaben, und das
alte homerische Gedicht ist unter diesen zugrunde gegangen. Wir haben
stofflich sehr viel von diesen festländischen Epen, aber die Form war
ausgeartet: die Dichter von Korinth und Sparta vermochten die fremde
Rede nur unvollkommen nachzubilden. So hat sich von ihnen nichts er-
halten als ein paar leere Namen. Glücklicherweise ist die Ilias von fest-
ländischen Überarbeitungen frei geblieben. Die Odyssee hat ihre letzte
Gestalt aber erst hier erfahren, nicht vor dem 7. Jahrhundert, vielleicht
erst zu Solons Zeit, und was der letzte Ordner dazu getan hat, ist an Er-
findung imd Ausführung gleich minderwertig.
Homeriiche Wenn die Rhapsoden an den Götterfesten vortrugen, schickte es sich,
Hymnen, (jaß sic der heroischeu Erzählung eine Huldigung gegen den Gott voraus-
schickten, dem das Fest galt Wie es nahelag, hat sich daraus hie und
da ein Gedicht entwickelt, das von den Taten, namentlich von der Geburt
A. Hellenische Periode (ca. 700—480). II. Das Epos im Mutterlande.
17
des Gottes statt von einem beliebigen Abenteuer vor Ilios oder Theben
handelte. Wir besitzen in den sogenannten homerischen Hymnen ein
Buch eines Rhapsoden, das neben vielen kurzen Proömien an verschiedene
Götter (eins darunter an Hestia: das sang er, wenn er am Herde eines
Privatmannes niedersaß) eine Anzahl ausführlicher Gedichte enthält, ver-
schiedener Herkunft und Zeit. Darunter ist jetzt in einen großen Hymnus
an Apollon verarbeitet das schöne Gedicht, das ein blinder Sänger aus
Chios auf Delos an der Panegyris des Gottes vorgetragen hat, spätestens
zur Zeit des Archilochos. Ursprüaglich hatte er auch seinen Namen ge-
nannt, aber den hat man beseitigt, damit er Homer sein könnte; so ist
der zu seiner Blindheit gekommen, von der übrigens im Altertum viel
weniger Wesens gemacht wird als heute. Dies ist das älteste Stück der
Sammlung; aber auch in anderen wird recht Altes zugrunde liegen; die
Überarbeitung ist hier sehr viel tiefer gegangen als in der Ilias oder
scheint uns doch so, da die alexandrinische Grammatik diese Gedichte
verachtete, weil sie für ihre Auffassung unhomerisch waren. Jedes der
größeren Stücke hat einen besonderen Reiz, und nicht nur historischen;
aber da nicht nur die Verfasser, sondern auch Ort und Zeit der Entstehung
im Dunkel bleiben, kann die ganze Gattung nur mit in das allgemeine
Chaos gerechnet werden, die Rhapsodenpoesie der hellenischen Periode,
die wir wohl oder übel homerisch nennen.
Es mag um das Jahr 700 gewesen sein, daß der Bauernsohn Hesiodos HmIoJ»
aus Askra am Helikon den Stab des Rhapsoden ergriff. Er stammte '■"" '""'
zwar aus asiatischem Aolerblute (sein Vater war erst eingewandert) und
hatte zu seinem Bergdorfe kein Heimatsgefühl; aber die homerische
Weise, die er von den Rhapsoden erlernte, war ihm doch innerlich auch
nicht genügend. Er ward zum Epiker nicht um Geschichten zu erzählen,
sondern um das auszusprechen, was ihm das Herz schwer machte. Der
erste Dichter auf europäischem Boden war ein Antipode Homers, dcUTim
ist er bei geringer sinnlicher Gestaltungskraft allein aus der epischen Zeit
erhalten geblieben. Er nennt uns selbst seinen Namen und erzählt die
Vision, die ihn aus dem engen Hirtenleben zum Dichter berufen hat. Er
grübelte über dem Widerspruch, in dem die bunte lustige Götterwelt
Homers zu der finsteren Ungestalt seiner heimischen Götter stand. Wer
waren die echten Musen, die aus den olympischen Häusern, oder die
um den Born auf dem Gipfel des Helikon im Nebel tanzten? oder waren
sie dieselben? Waren das keine Götter, die um ihn walteten, der Eros,
den seine Herren in der Stadt Thespiai, zu der Askra gehörte, als einen
Steinkegel verehrten; die vielen Dämonen, die in der Erde wohnten und
die Schätze der Tiefe dem arbeitsamen Ackerer gewährten? Homer
wußte von allen solchen Göttern nichts, kaum von der Erdmutter, der
Hauptgottheit Böotieus. In Böotien war Poseidon, der als Roß umgeht,
der Herr des Landes; sein Hufschlag hatte die Quelle des Helikon er-
stehen lassen; schwerlich kam Zeus gegen ihn auf, der bei Homer der
0|> KULTVB OI> GlOUlWAKt. LS. 3
i8 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorff: Die griechische Uteratur des Altertums.
Götter und Menschen Vater war. Darüber hatte er \'iel gesonnen; die
heimischen Musen hatten ihm mm Klarheit gegeben: die Crötter hatten auch
ihre Geschlechter und hatten ihre Geschichte. Ordnung mußte in die ver-
wirrende Mannigfaltigkeit kommen; die Erde und der Eros waren Urgötter,
aber jetzt war das Reich von ihnen übergegangen an ihre Kinder und
Kindeskinder, die Götter Homers. Und das erzählte er dann: er schuf
den Hellenen die erste Theogonie, die erste von vielen, und sie selbst
liegt uns (und lag dem Aischylos und dem Pindar) nur in späterer Ober-
arbeitung vor: aber von dem Gedanken haben sie nicht gelassen, soweit
sie an Göttern überhaupt festhielten, die Weltentstehung und die Götter-
entstehung zu erzählen. So abstrus es ist, großartig ist es doch. Dem
Dichter der Theogonie geht der Begriff der Entwickelung auf, er faßt sie
als die Deszendenz eines Geschlechtes: seine rechten Nachfahren werden
die Personen fallen lassen, aber Mythologeme werden auch sie immer nur
hervorbringen.
Hesiodos sollte noch weit Grrößeres leisten. Sein Bruder betrog ihn
um sein Erbgut; die Richter in Thespiai waren bestechlich und er bekam
sein Recht nicht Da fragte er sich, ob denn auch bei Gott kein Recht
wäre, imd seüi Glaube half ihm: das Recht, das hier unten zu kurz konunt,
hat droben einen unbestechlichen allmächtigen Herrn: der ahndet Eid-
bruch und Gewalt Das unrechte Gut gedieh dem Perses nicht Wie
gedeiht dem Menschen das Leben? Durch nichts als durch redliche
Arbeit Das sah Hesiodos ein, und der fahrend gewordene Bauemsohn
w^ard innerlich warm bei dem Gedanken, wie der Bauer jahraus jahrein
schafft und schwitzt, wie aber nach den sauiren Wochen auch die frohen
Feste kommen, und wie köstlich beides ist, Arbeit und Fest Da schrieb
er das Gedicht, das man „die Werke" nennt: man sollte es „die Arbeit"
nennen. Es ist kein wohldisponiertes Gedicht; die Gedanken und Gefühle
des eigenen Herzens ringen sich nur mühsam empor. Daher ist es so
sehr viel leichter, es zu zerreißen oder auch zu verbessern, als den Gängen
und Sprüngen des Hesiodos zu folgen: hat man doch wahrhaftig sogar
hier den individuellen Menschen verkannt, um es zu homerisieren. Gewiß,
die Kunst verhält sich vielfach zu der Homers, wie die Bauemhütte, in
der neben der von der Feldarbeit gekrümmten Frau nur noch der Zugstier
als Gefährte lebt, zu dem Herrenhofe des Alkinoos. Aber nicht ohne
Grund haben schon die lesbischen Lyriker auf dieses Gedicht angespielt,
hat es der Jugendunterricht rasch herangezogen und Kallimachos seine
Süßigkeit gelobt Mit dem Spruche „Arbeit ist keine Schande" hat sich
die griechische Bürgerschaft über das Phäakentum erhoben, und auf den
Spruch von dem breiten Wege der Gemeinheit und dem schmalen der
Mannestugend hat nicht nur Sokrates, sondern auch die alte Christenheit
gebaut (in den „Zwei Wegen", einem Teile der sogenannten Apostellehre).
Wie Hesiod den dürren Sommer und den schneidenden Winter schildert^
das ist nicht das homerische Gleichnis: da ist die Natur vom Bauern-
A. Hellenische Periode (ca. 700—480). III. Elegie und Jambus.
19
Standpunkte angesehen, aber mit denselben hellen Augen, und neben dem
Stimmungsgehalt hat die Realität auch ihren Wert Wieviel der köst-
lichen Sprüche Hesiods Eigentum sind, ist nicht zu entscheiden (nXeov
f\iiic\j navTÖc gehört ihm, und das ist kein Allerweltssprichwort): die
Präzision der griechischen Gnome tritt bei ihm vorbildlich in die Er-
scheinung. Es ist klar, daß die Spruchpoesie nicht von einem Menschen
erfunden ist; die Gnome löst sich auch nicht aus dem Epos aus wie das
Naturbild des Liedes, sondern wird in das Epos hineingezwungen: aber
für die Griechen ist Hesiodos der Vater sowohl der Gnome wie der Tier-
fabel geworden, weil sie beides bei ihm zuerst kennen lernten.
Das ganze Altertum hat dem Hesiodos noch ein Epos zugeschrieben,
den Frauenkatalog; wir sind nicht berechtigt, das anzuzweifeln. Im Gegen-
teil, der Katalog, der mit dem ersten Menschen anfing, zu dem ersten
Hellenen fortging,' dem Vater der drei Stämme, in die man in Asien sich
gewöhnt hatte, die Hellenen zu zerteilen, und so Ordnung in das Stamm-
und Völkergewirr brachte, ist so recht im Sinne der Theogonie; der Ver-
zicht auf den Schmuck der bunten Geschichten auch. Das war freilich
rein didaktische Poesie, in gewissem Sinne der erste Versuch einer Welt-
geschichte. An alles das hat sich dann eine kaum übersehbare Masse
von Zusätzen und Nachahmungen angeschlossen, ein gutes Teil der inhalt-
lich reizvollen, formell geringhaltigen Epik des Mutterlandes während der
Jahrhunderte sieben und sechs. Nur die Anknüpfung an die Kataloge
macht den Unterschied gegen die homerische Poesie jener Zeit, die ja
auch im Mutterlande blüht Von dem Gegensatze einer homerischen und
einer hesiodischen Dichterschule zu reden ist also ganz verkehrt; das
geringe Gedicht über den Schild des Herakles, das wir allein besitzen,
ist sogar ausgesprochen homerisch, obwohl es hesiodisch heißt, weil es
•eine Eindichtung eines Kataloggedichtes war. Der ganzen Epik des
Mutterlandes hat die Weihe echter Kunst gefehlt: erst in der Umbildung
durch die Lyrik, eigentlich erst durch das Drama haben die köstlichen
Stoffe Dauerbarkeit erhalten, wenn auch die fünf Bücher Kataloge, die
sich als hesiodisch behaupteten und in einem kleinen Kerne auch waren,
viel länger gelesen worden sind als die homerisierenden Epen. Diese hat
schon zu Anfang der hellenistischen Zeit nur der Gelehrte gelegentlich
eingesehen: von Hesiods Katalogen mehren sich die Bruchstücke in den
Papyri der späten Kaiserzeit.
in. Elegie und lambus. In lonien kam ein neuer Aufschwung in
die Dichtung durch die steigende Bildung der herrschenden Stände, und
die Zuckungen der unaufhörlichen politischen Streitigkeiten werden dazu
wesentlich beigetragen haben. Die gebildeten Männer, die Führer der
Gemeinde oder der Partei, wurden es müde, sich von anderen etwas vor-
dichten zu lassen. Ihre eigenen Taten imd Pläne waren ihnen wichtiger
als die ihrer Ahnen. Sie durften sich zutrauen, selbst in poetischer Form
20 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
zu reden, und sie bedienten sich der Macht, die die Beherrschung der Form
verleiht, um die öffentliche Meinung zu bestimmen. Der Vergleich mit den
Troubadours der Provence drängt sich auf, und Hipponax steht gut als
Jongleur daneben. Nun war dazu der epische Stil unbequem; man mußte
ihn auf die lebendige Rede abtönen. Die alte Begleitung durch die Leier
war schon aufgegeben; die Saitenmusik hatte aber überhaupt einen Kon-
kiurenten erhalten in den Blasinstrumenten (wir sagen Flöten, obwohl sie
eher Klarinetten sind), die die Griechen allgemein von den Pbrygem imd
Lydem übernahmen, so daß hinfort der Flötenspieler bei keinem Opfer, die
Flötenspielerin bei keinem Gelage fehlen durfte, während Homer die Flöten
nur bei Barbaren kennt Diese Musik brachte eine totale Veränderung
des musikalischen Betriebes mit sich. Das Saiteninstrument hatte der
Dichter selbst geführt, sich selbst begleitet und die Töne improvisiert
Jetzt blies ein anderer eine Weise, festbestimmt, damit sich der Sänger
danach richten konnte; dieser Musikant aber war eine untergeordnete
Person: er wußte seine kleine Anzahl Töne; auf die mußte der Dichter
sich einrichten. Ohne Frage gab es für die rituellen Akte, Opfer, Bitt-
gänge, Begräbnisse, Hochzeitszüge, zu denen auch die Spende gehörte,
mit der die Gelage begannen, feste Flötenmelodieen und entsprechende
Liederchen, nicht in dem heroischen, rezitativen Maße, sondern in anderen,
volkstümlichen, die längst bestanden hatten, ehe die Flöte und selbst ehe
die homerische Dichtung aufkam. Natürlich war einzeln auch der Hexa-
meter hierfür verwandt, seit es ihn gab; wir haben ein paar Gedichte der
Art in der volkstümlichen Lebensbeschreibung Homers. Unter diesen
Maßen war eine kleine Strophe, ein Hexameter als Vorgesang voraus,
dann zwei Stollen, je ein katalektischer daktylischer Trimeter, die aber
vor der Zeit unserer Zeugnisse zu einem Verse verwachsen und demnach
verschieden behandelt waren; der Vers ist, weil er in der Totenklage
(Elegos) vorkeim, Elegeion benannt worden, was über seinen Charakter
nichts aussagt Neben ihm stand der iambische Trimeter, der schon im
Margites begegnete (S. i6), und andere iambische Maße. Das lambeion
ist benannt nach seinem Vorkommen in rituellen Spottgedichten, die eben
lamben hießen, besonders die, welche an den Demeterfesten von den Weibern
rezitiert und improvisiert wurden. Wir dürfen auch den trochäischen Tetra-
meter zurechnen, müssen aber alle diese Maße noch sehr frei und kunstlos
behandelt denken. Sie nun griffen die Männer auf, die in sich das Zeug
zum Dichter fühlten, und indem sie sie mit Geist und Kunst adelten, zur
Sprache im wesentlichen die gebildete Volkssprache nahmen, aber aus
der epischen, die ihnen ja keine fremde war, bereicherten, schufen sie die
neue Gattung. Zunächst nannte man diese ebenfalls nur Verse, lm\; später
sagte man Elegie und lambus, doch so, daß die beiden immer beieinander
und als rein gesagte Verse zum Epos gehörig blieben. Denn wenn auch
die Elegie Flötenbegleitung hatte, die auch beim lambus denkbar ist, war
das doch dem Dichter unwesentliches Beiwerk: er sang nicht eine feste
A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480"). III. Elegie und lambus.
21
VrchUocbos
(um 6sn),
Melodie, geschweige daß er eine erfand. Daher denn auch alle diese
Maße bald für die älteste Lesepoesie verwandt worden sind, für die Auf-
schriften von Weihgeschenken und Grabsteinen, das Epigramm. Ganz wie
das Epos wurden diese Gedichte bald von den Rhapsoden vorgetragen
und von den Kindern in der Schule gelesen und gelernt.
Die Griechen haben als den Erfinder oder Vollender des lambus und
der Elegie den Archilochos von Faros betrachtet (datiert durch die totale
Sonnenfinsternis vom 6. April 648, die er erwähnt); sein Ruhm rückt ihn
fast neben Homer. Was ihn so hoch erhob, war die rückhaltlose Gewalt,
mit der er seine Persönlichkeit einsetzte und die Poesie als Waffe ge-
brauchte: man konnte sich nicht genug tun, von ihrer Gefährlichkeit zu
erzählen. So viel sieht man auch noch, daß er kein Mittel scheute; die
Derbheit geht bis zur Unflätigkeit, der Angriff bis zum Schirapfen: aber
man begreift, daß der trotzige Gegensatz zu der homerischen Dezenz den
Griechen, die im Banne des Stiles zu stehen pflegen, mächtig imponierte.
Es war einer, der sich nicht kopieren ließ; selbst Horaz ist daran ge-
scheitert. Wir könnet! über die Poesie nicht selbst urteilen; doch sagt
die Tatsache genug, daß die kleinen privaten Angelegenheiten eines
Bastards von Faros, der keineswegs in hervorragender Stellung an der
Besiedelung von Thasos und den Kämpfen mit Nachbarn und Barbaren
teilgenommen hat, offenbar aber nie auf einen grünen Zweig gekommen ist,
ziemlich tausend Jahre lang, erst dem ganzen Volke, dann gerade den
Geschmackvollsten kein geringeres Interesse abgewonnen haben als der
Völkerkampf der Ilias. Beurteilen können wir wenigstens die formale
Kunst. Archilochos hat in der Behandlung des Distichons die Vollkommen-
heiten der hellenistischen Behandlung vorweggenommen und den lambus
und trochäischen Tetrameter sofort in die kanonische Form gebracht: man
muß sagen, es gibt keine höhere Vollkommenheit. Dabei nirgend etwas
Schwülstiges, Verstiegenes, immer die wirkliche Rede des Lebens, immer
jene Einfachheit und Verständlichkeit, wie sie nur etwa Aristophanes er-
reicht; die alte Komödie hat überhaupt viel von ihm gelernt, aber die
Feinheit seines Verses gar nicht angestrebt. Daß wir den Archilochos
nicht mehr besitzen, liegt wohl an seiner Obszönität; die Schule konnte
ihn nicht gebrauchen. Die Fragmente sind so spärlich, weil er so leicht
verständlich blieb, denn er war ein lonier, und zwar von den Inseln, deren
Mundart dem Attischen noch viel näher stand als das asiatische Ionisch.
Die Grammatiker fanden wenig zu tun; Sittensprüche waren auch nicht
auszuheben. Fälschungen später Zeit des Altertums haben glücklicherweise
keinen Schaden gestiftet, imd plumpe Schweinereien, die wohl erst die
Renaissance auf seinen Namen gestellt hat, sind sogar noch ungedruckt,
was kein Schade ist. Aber der Verlust der Originale ist unschätzbar.
Was wir sonst von Dichtern dieser Art wissen und an Versen be- semooM«
sitzen, ist gering. Der samische Staatsmann Semonides, ein Zeitgenosse '*" '*'*'
des Archilochos, ist berufen wegen eines lambus gegen die Frauen, grobe
2 2 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
und ziemlich salzlose Spöttereien ohne Reize der Form. Man muß sich
erinnern, daß die Weiber eben bei der Gelegenheit, die durch eine
mythische lambe verherrlicht wird, ihre saftigen Schimpfreden losließen:
da ist ein männlicher lambus gleichen Kalibers entschuldbar. Moralische
Betrachtungen desselben Mannes sind interessanter, aber alles doch ntir
historische Rarität
Hipponu Hundert Jahre später hat sich auf den Gjissen von Ephesos ein Poet
(am im), herumgetrieben, der sehr wehleidig um einen Rock bettelt, weil er so
bitterlich fröre; wenn er ihn nicht bekommt, wird er schimpfen; das ver-
steht er. Er mischt lydische Worte in sein Griechisch und läßt einen
halben daktylischen Hexameter plötzlich für einen halben iambischen
Trimeter eintreten. Und doch ist dieser Hipponax ein Klassiker geworden,
und für unsere Sprachkenntnis ist es jammerschade, daß er als der späteste
Verlust gebucht werden muß, den die griechische Poesie erlitten hat.
Tzetzes hat ihn noch im 12. Jahrhundert besessen. Vermutlich ist uns
wirklich auch Poesie verloren gegangen, realistische Szenen des Lebens;
wenigstens hat ihn darum die hellenistische Poesie, selbst Kedlimachos,
geschätzt und nachgeahmt Sicher hat er für seine verzerrten Bilder mit
glücklichem Griffe das Maß geschaffen, indem er für das letzte Metrum
des Trimeters, das Archilochos ganz rein zu halten gelehrt hatte, eine
disharmonische Form wählte, die in volkstümlichen Versen an erster Stelle
zugelassen war. Der Hinkiambus ist seitdem kanonisch: so seltsam stark
dominiert bei den Griechen die Autorität einer gelungenen Vorlage.
uifflnemot Wie wir von den drei Isimbographen eigentlich selbst kein Urteil
(am 600). gewinnen können, so wäre es auch Selbsttäuschung, wollte man sich ein
Bild von Mimnermos nach ein paar Dutzend tadelloser und frischer
Distichen machen, die jene Lebenslust und Genußfreude atmen, tun
derentwillen Solon ihn zurechtweist Für diesen ist es ein bedeutender
Zug, daß er daran mahnt, wie die geistige Leistungs- und Genußfähigkeit
dem Grreise bleibt, der seine Jugend nicht auf das Genießen verbraucht
hat, das gemein macht Daß Mimnermos in dieses aufgegangen wäre,
folgt keineswegs. Wenn der berühmte Athener ihn anredete, war er kein
Flötenspieler, sondern ein Mann von geachteter sozialer Stellung, wie er
denn auch als ein Bürger von den Großtaten einzelner Kolophonier redet
Die Alexandriner haben seine Gedichte, oder doch ein Buch, mit dem
Titel Nanno versehen, nach einer Flötenspielerin, die also als Adressatin
hervortra.t So ward dies Buch Vorbild für ihre und dann für die xuis
allein bekannte römische Elegfie, die sich irgendeinen wahren oder fiktiven
Hetärennamen als Objekt der erotischen Poesie wählt Daß Mimnermos
zu Nanno sich verhielte wie Antimachos zu Lyde oder Goethe zu Faustine,
folgt daraus mit nichten, und wenn auch, so hat diese Liebe weder seine
Seele noch seine Poesie ausgefüllt
soioD Solon von Athen hat sich tun die Herrschaft beworben, hat seine
(Aichon 594). Politik vor den Freunden und der Nachwelt vertreten, hat seine reife
A. Hellenische Periode (ca. 700—480). III. Elegie und lambus. 23
Lebensweisheit niedergelegt in Elegieen und lamben. So war auch diese
Gattung fertig von den loniern herübergenommen, und der stammverwandte
Athener bediente sich dieser Ausdrucksform für eben das, was Perikles
mit gesprochener Rede, Demosthenes neben dieser mit geschriebener
besorgte. Die hohe imd reine Seele Solons spricht glücklicherweise noch
in einigen Gedichten zu uns; er dankt es dieser seiner Muse, daß sein
Gredächtnis überhaupt erhalten blieb und wenigstens dies eine Bild für
Aristoteles und für uns licht und scharf sich aus dem Nebel einer Zeit
abhebt^ die nur novellistische Überlieferung erzeugte. Aber unverkennbar
hat seine Poesie noch etwas Unfreies imd Konventionelles im Ausdruck;
es ist doch nicht die Muttersprache, die er redet Die attische Kürze und
Präzision erreicht wohl der lonier Archilochos, aber nicht der Athener
Solon. Archilochos war Dichter, Solon Staatsmann und Denker: nur für
jenen war die poetische Form dem Inhalte wirklich adäquat
In Sparta gab es zu Piatons Zeiten Elegieen, die in altertünüicher Tyrtaio«
Weise zur Musik vorgetragen wurden, den Junkern die kriegerischen und '"" ^^^
politischen Tugenden einzuprägen. Der Verfasser gab sich in einigen als
Feldherr im zweiten Messenischen Kriege, für den diese Gedichte die
einzigen wirklichen Zeugnisse sind und den sie auf die Zeit des Archi-
lochos etwa datieren. Man nannte diesen lakonischen Elegiker Tyrtaios,
und er galt meist (ob in Sparta, steht dahin) für einen Fremden, obwohl
er als Spartaner redete. Für jene Zeit kann man eine solche Bürgerrechts-
erteilung nicht undenkbar nennen. Poesie, die so überliefert wird, moderni-
siert sich und erleidet allerhand Umgestaltung; die erkennt man auch in
den Resten, und gerade die jetzt berühmtesten, wirklich auch schönen
Stucke stammen ofiTenkundig weder aus Sparta noch aus dem 7. Jahr-
hundert Aber es bleibt des Echten genug, um die Tatsache zu sichern,
daB die Elegie, freilich mit sehr vielen Homerismen, die ein lonier ver-
mieden haben würde, und nicht ohne ungewollte Beimischungen aus der
heimischen Sprache (die übrigens Hesiod auch nicht vermieden hat) als
Mittel der Mahnrede auch in Sparta verwandt ist: Import wie das Epos,
aber wie dieses dafür wirksam, allen Hellenen eine gemeinsame Sprache
und Kultur zu verschaffen.
Das zeigt noch viel klarer das Elegieenbuch, das unter dem Namen xheogo»
des Theognis von Megara auf uns gekommen ist, denn in ihm ist der
Anteil dieses Mannes weder poetisch noch historisch das Wichtigste. Der
megarische adlige Emigfrant g^bt seinem geliebten Knaben allerdings die
Lebensregeln, die ihn sein Stand und sein Leben gelehrt hat; sein Horizont
ist eng und seine Moral die eines überwundenen Standes. Die elegische
Form ist dem Megarer doch nicht natürlich, und, statt um Neues und
Eigenes zu ringen, behilft er sich mit dem Konventionellen. Da er noch
die Perserkriege erlebt hat, gehört er eigentiich in die folgende Periode;
aber er ist eben ein Nachzügler. Sein Buch ist uns überliefert mit vielem
fremden Gute durchsetzt, und dessen Anhänge, ursprünglich ähnliche Bücher,
24 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Alterturas.
sind Zusammenstellungen von Gedichten oder Versreihen sehr vieler Ver-
fasser, unter denen die berühmten Namen, Mimnermos 2. B. und Solen,
sich auch befinden, ohne hervorzustechen. Moralisches und Erotisches
steht nebeneinander. Man hat es passend einem Kommersbuch ver-
glichen, denn gesammelt sind diese Verschen, um beim Mahle von den
Zechbrüdern zur Flöte rezitiert zu werden; ein großer Teil ist auch so
entstanden. Es sind Verse darunter noch des 7. Jahrhimderts, aber auch
Produkte der Sophistenzeit, köstliche Perlen und Trivialitäten, diese nament-
lich von moralisierendem Inhalt, meist über alten Leisten geschissen.
Besonders merkwürdig sind Stücke, in denen Mädchen reden. Man kann
sie den weiblichen Teilnehmerinnen der S}rmposien auch zutrauen; aber
manche werden den Mädchen in den Mund gelegt sein. Das Ganze gfibt
ein lebendiges Bild des gesellschaftlichen Lebens; man muß nur die Vasen-
gemälde hinzimehmen; das Beste, das Individuelle, ist nur fast immer ver-
blaßt oder übermalt Diese Spruchpoesie des Symposions ist die Vorstufe
des hellenistischen Epigramms. Wir nennen so etwas Lyrik, den Alten
sind es im\. Dies muß man sich ganz klar machen: erst daan versteht
man die alte Poesie, wird dann aber auch für alle neuere einen freien
Blick gewinnen, den die Schultheorie uns trübt
skoUra. rV. Lyrische Poesie. Man sang damals bei den Symposien auch den
Rundgesang; man war sicher, daß, wenn das Myrtenreis herumgegeben
ward, die Zecher alle ein Lied auf einen der volkstümlichen Töne improvi-
sieren konnten oder doch eins auswendig wußten, ganz wie sie es mit den
elegischen Verschen taten. Das waren die Skolien, von denen wir aus
Athen eine kleine Sammltmg besitzen, reich an schönen politischen Tönen,
aber auch Huldigungen an einzelne Götter, Erotisches, Gmomisches, alles
wahrhafte Volkslieder, aber in der Verskunst und der Diktion, oft auch
im Inhalte nur Nachklänge der Lieder von großen Dichtem des Ostens,
und niu" diese haben eigentlich in der Literatur eine Stelle.
Zahllos müssen die ionischen Liederdichter gewesen sein, die zu
den verschiedenen zum Teil sehr komplizierten Saiteninstrumenten ihre
Stimme erhoben haben, und die Liebe hat in diesen Liedern eine Haupt-
rolle gespielt, üppig und heiß, so daß dem Ionischen schon zu Aristo-
phanes' Zeit der Nebensinn des Lasziven anklebte. Aus der ganzen Schar
hat sich nur ein einziger Mann erhoben, der die Gattung geadelt hat
Anakreon Anakreou von Teos ward von der Persermacht aus seiner Heimat ver-
(um 5»o). jjjgjjß^^ j^jjgj. gj. blieb ein Ritter, der an den Höfen der Adligen Thessaliens,
bei den Peisistratiden und bei Polykrates von Samos, dessen Katastrophe
er erlebte, als Standesgenosse verkehrte. Die Statue, die ihm auf der
attischen Burg zu Perikles' Zeiten errichtet ist, stellt ihn in vornehmer
Nacktheit stehend dar: so sang man nicht beim Mahle. Was die zer-
stümmelten Reste erkennen lassen, ist ein Spiegelbild des üppigen Lebens
der Tjrrannenhöfe, das uns auch die athenische bildende Kunst des aus-
gehenden 6. Jahrhunderts greifbar darbietet Die Lieblinge des Polykrates
A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). IV. Lyrische Poesie.
25
begegnen uns; die Huldigungen des Dichters machten den Tyrannen im
Ernste so wenig eifersüchtig, wie etwa Heinrich IV. von Frankreich auf
Malherbe eifersüchtig ward, wenn er seine Geliebten ansang. Aber auch
derber Spott fehlt nicht, daneben anmutiges Schäkern und Tändeln, vereinzelt
ein politischer Zug oder eine Huldigung an einen Gott, die aber immer
eine menschliche Spitze hat. Getragen ist alles von unverwüstlicher Anmut
und Lebenslust: man kann dem lockeren Vogel nicht grollen, und die
Selbstironie, mit der er seine grauen Haare erwähnt, macht ihn nur
liebenswürdiger. Sprache und Verskunst sind von archilochischer Voll-
kommenheit, nur daß die Kraft fehlt. Denn von jenem loniertume ist
freilich etwas darin, das sich in seiner Schönheit selbst entwürdigt, nicht
ohne das zu empfinden, wie die Myrrha Sardanapals bei Byron. Ein
Klassiker ist Anakreon sofort geworden; seine metrischen Erfindungen
tönen schon bei Aischylos nach; aber die einst so ganz momentanen Trink-
und Liebeslieder konnten sich nicht im lebendigen Gebrauche halten, als
die Sprache archaisch klang und manche ihrer Worte nur aus dem Wörter-
buche verstanden werden koimten. Man modernisierte, man vergröberte
sie, man verflachte den Inhalt durch die Verallgemeinerung, man ebnete
den Gang der wogenden Rhythmen. Und so ward Anakreon ein Typus,
der Grreis, der das Lieben und Trinken nicht lassen kann, weil er nichts
anderes versteht, und er ward der Träger einer flauen, klassizistisch glatten
gefiihlsleeren TrinldjTik. Das Liederbuch später Zeiten, im ganzen ohne
Frage erst römischer, nicht unter dem Namen Anakreons (denn dessen
echte Gedichte standen damals noch in den Bibliotheken, wie sie die
alexandrinischen Philologen gesammelt hatten), sondern als Anakreonteen,
Gedichte in seiner Weise, überliefert, ward im 16. Jahrhundert bekannt,
gerade als in Frankreich zur Zeit Ronsards die Wogen der Gräkomanie
hoch gingen imd die Stimmung diesen kaum noch halbgriechischeii
Tändeleien entgegenkam. So ward der falsche Anakreon Vater einer
nun auch schon verblaßten modernen Poesie. Heutzutage können die
Anakreonteen als Schiboleth dienen: wem diese matte Limonade nicht un-
ausstehlich ist, der soll nicht nach dem hellenischen Weine greifen.
Neben den Liedchen Anakreons sang der athenische Zecher solche Aik«ioi
von Alkaios von Lesbos, obwohl sie nicht nur um ihres fremdartigen '"■" '*""'
Dialektes willen niemals gleichhoch geachtet worden sind. Der Lesbierin
Sappho Lieder paßten nicht für das Gelage: aber die konnte der Jüngling
auswendig; daß sie die unvergleiclüiche Dichterin wäre, hat niemand
bezweifelt, solange ihre Werke bestanden, die erst im 6. Jahrhundert
n. Chr. verkommen sind. Beide Dichter waren Zeitgenossen Solons. Von
Alkaios, dem hochmütigen Adligen, der sich gegen die bürgerlichen
Tyrannen verschwört, vor ihnen fliehen muß, sie beschimpft, sich schließ-
lich auch einmal verträgt, wissen wir genug, ein Bild der Persönlichkeit zu
gewinnen. Seine Poesie wirklich zu schätzen, reichen weder die kümmer-
lichen Reste noch die Nachbildungen hin; auf der des Horaz beruht sein
26 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Ruhm, der heute größer ist als im Altertum. Ehrlicherweise kann man
nicht sagen, daß diese Poesie einen bedeutenden Eindruck machte, so gern
wir die unmittelbaren unverkünstelten Äußerungen seiner Stimmungen und
Leidenschaften vernehmen würden, und so groß der Gewinn für die Sprach-
kenntnis wäre,
sappbo Dagegen Sapphos Kunst ist kenntlich, und man kann nur mit Piaton
(um ««). jjjg 2ehnte Muse, also ein Überirdisches, in ihr erkennen. Der Wohllaut
der Verse, die einen sehr viel größeren Formenreichtum zeigen als bei
Alkaios, die Einfachheit und Treffsicherheit des Ausdruckes, den der
lesbische Dialekt nicht gar so sehr trübt (Lesbisch klingt nie wie Patois;
Lakonisch und Böotisch immer), die reiche Skala der Töne, vom burlesken
Spott auf die großen Füße eines Brautführers und der Schalkhaftigkeit
eines Backfischchens bis zum Erzittern der seelischen Leidenschaft xmd dem
verhaltenen Schluchzen der Verlassenheit, von dem Orgiasmus der Adonis-
klage bis zum stillen Frieden der Mondnacht und der Siestastimmung
des südlichen Sommermittags — all diese wahrhaft goethische Lyrik hebt
Sappho über alle ihre männlichen Genossen ; nur Archilochos mag in seiner
Art gleichgroß gewesen sein. In griechischer Rede gfibt es Vergleichbares
(außer in Piatons Prosa) nur vereinzelt im hellenistischen Epigramme, und
in der weiten Welt ist es überhaupt recht spärlich anzutreffen. Aber das
ist nicht die Hauptsache. Das ist die Frau, die hinter und über diesem
Blütenduft und -Schimmer ihr reines Haupt erhebt, so hoch und so rein,
daß die menschliche Gemeinheit nicht müde wird, mit ihrem Schmutze
danach zu werfen. Wir sind es gewohnt, daß die Menschen verhöhnen,
was sie nicht verstehen. Sappho, aus vornehmem Hause von Eresos
(Nachkommen aus ihm haben in Alexanders Heer hohe Stellungen inne-^
gehabt), nach Mytilene verheiratet, durch die Revolutionen eine Weile
vertrieben, hat dann an der Spitze eines weiblichen Vereins gestanden,
der der weiblichen Göttin Aphrodite diente; aus Milet und von fernen
Inseln kamen junge Mädchen zu ihr, ihr Handwerk zu lernen, das Musen-
handwerk. Wenn sie zurückkehrten, traten sie in die Ehe; Sappho erzählt
von einer, die nach Lydien verheiratet war, also an einen hellenisierten
Asiaten. Wen der moderne Ton nicht schreckt, mag dsis immer ein
Mädchenpensionat nennen. In Athen war so etwas unmöglich, in Milet
wohl auch; schwerlich zum Segen der dortigen Frauenwelt. Die Schülerinnen
Sapphos haben den Göttinnen Blumen gepflückt, Reigen getanzt, Lieder
gesungen. Die Meisterin lehrte sie. Sie machte ihnen auch die Lieder
für ihre eigenen Ehrenfeste, ihre Hochzeit Gelegenheitspoesie ist das,
und da eine Frau für weibliche Gelegenheiten dichtet, ist der Umkreis
sehr eng. Es ist schon eine Ausnahme, wenn solche Gelegenheitsdichtung
zu ewiger Bedeutung durch die Form geadelt wird. Hier tritt etwas
Höheres hinzu: Sapphos Seele weht durch diese Verse. Zwischen Mann
und Weib kennt jene Zeit nur fleischliche Liebe; auf diesem Grunde mag
in der Ehe ein herzliches Vertrauensverhältnis oft genug erblühen, das die
Ä. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). IV. Lyrische Poesie.
»7
Grriechen dann Freundschaft nennen. Dagegen der Zug von Seele zu
Seele findet sich nur in dem Verkehre zwischen den Angehörigen desselben
Geschlechtes; oft genug ist er tief und echt auch bei den Männern, obwohl
da der allgemeinen Sitte gemäß die fleischliche Sinnlichkeit nirgend ganz
fehlen kann. Hier, wo die „reine Frau mit dem milden Lächeln", wie Alkaios
sie nennt, die selbstbewußte Dienerin der Göttin, die Lehrerin und Meisterin
zu ihren Schülerinnen redet, deren Seelen sie selbst erst zum geistigen
Leben erweckt hat, wo also jeder unlautere Gedanke nicht nur eine
Blasphemie, sondern eine Dummheit ist, wirkt die Sprache des heißen
Liebesgefühles fi-eilich wie ein Klang aus einer anderen Welt, aber aus
keiner irdischen. Ein Mann darf gar nicht wagen, das ganz verstehen
zu wollen; er verstummt und horcht in Andacht der Offenbarung einer
Weiblichkeit, die darum göttlich ist, weil sie ganz Natur ist Es ist noch
keine zweite Sappho gekommen, und wenn sie sich emanzipieren, wird es
höchstens eine Sappho der Komödie oder eine Grillparzersche werden,
deren es so schon genug gibt
Alkaios und Sappho haben für die Griechen selbst allein die äolische
Literatur repräsentiert, die mit ihnen erlischt. Die Sprache lebt noch eine
Weile als abwelkender* Dialekt; die zu allen Zeiten zahlreichen literarischen
Talente der asiatischen Äolis bedienen sich der ionischen, dann der attischen
Literatursprache; man mokierte sich nur über den Akzent, den selbst
Theophrast, ein engerer Landsmann Sapphos, zeitlebens nicht los ward.
Und doch hat die gesamte festländische Lyrik nie verleugnen können, daß
sie ebenso eine äolische Vorstufe gehabt hat, wie wir das dem Homer
ansehen. Hier führt eine verläßliche Tradition auf Lesbos, und ein wenig
kann man von dem historischen Zusammenhange erschließen.
Während die lonier den Hexameter und damit das rezitative Epos Kithwodie,
aus dem alten äolischen Liedmafle schufen, hat in Lesbos die Musik die
Herrschaft behalten und demgemäß sich weit vervollkommnet loniens
Rhapsodie erhielt die äolische Schwester, die Kitharodie. Da blieb der
Sänger, der sich selbst begleitete, und natürlich sank mit der Macht der
Melodie die Bedeutung des Textes. Lesbische Kitharoden zogen hinüber
neben den ionischen Rhapsoden und unvergessen ist geblieben, daß
Terpandros von Antissa etwa zur Zeit des Archilochos in Sparta auftrat
und mit seinen Weisen, strenggeschlossenen mehrteiligen Musikstücken,
die damals und noch lange musikalisch feinfühligsten Ohren entzückte.
Er galt als Begründer der klassischen hellenischen Saitenmusik, und diese
Kunst der Kitharodie blieb durch die ganze attische Zeit die vornehmste
Gattung des Einzelgesanges. Terpandros hatte als Unterlage homerische,
also allgemein bekannte Texte gewählt, die natürlich für diesen Zweck
zurechtgeschnitten und erweitert wurden ; auch dabei blieb es zunächst Wir
kennen Namen seiner Weisen, wir kennen Musikemamen genug, sowohl von
Lesbiem, die immer wieder zuzogen, wie von Peloponnesiern. Wir be-
greifen, daß die Flötenmusik nicht zurückstehen wollte, also auch wirklich
2K Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Litentw des Altertums.
kunstmäßiger Einzelgesang zur Flöte aufkam, den namentlich Argos, die
Rivalin Spartas, aber auch Delphi pflegte: die musikalische Wiedergabe
der heiligsten Geschichte Delphis, wie der Gott durch die Überwindung
des Drachens die heilige Stätte in Besitz nahm, war eine Aulodie. Im
Leben eines Volkes hat ja die Musik niemals eine so große Rolle gespielt
wie bei den Hellenen dieser Zeit Aber wir hören die Weisen nicht mehr,
und es ist eitel Spiel, über sie etwas wissen oder gar urteilen zu wollen.
Ganz und gar unklar ist es, wie das Zusammenwirken von Saiten- und
Blasinstrumenten aufgekommen ist und beschaffen war, das wir doch bei
Pindar antreffen; kenntlich ist nur, daß die Führung dann bei der Flöte
ist. Wir wissen, daß die Musik, wo sie Herrin war, die Poesie zur Magd
machte; es wird also umgekehrt wohl nicht anders gewesen sein. Die
Lesbier brachten natürlich, wenn sie ihre Weisen allerorten lehrten, auch
Texte mit, und an denen müssen sich die Dichter gebildet haben, die n\m
im Mutterlande aufkamen, denn ihre Gedichte zeigen in vielem äolische
Versformen, und die Rede ist in gewissen Stücken äolisch abgetönt,
während andererseits die homerische Sprache Wörter und ganze Phrasen
lieferte und für den poetischen Ausdruck überhaupt maßgebend blieb.
Die Unterlage aber ward die von den ganz lokalen Besonderheiten befi-eite
Sprache, die nun das Mutterland außer Athen und Euboia beherrschte,
die dorische, wie man sie nannte. Was die Dorer von eigener Poesie
und Metrik besessen hatten, war darin aufgegangen; wir erkennen nur
unsichere Spuren. So bildete sich allmählich neben der epischen eine
lyrische Gemeinsprache, die wieder nirgend gesprochen ward, nur eine
literarische Existenz führte, aber allgemein verstanden ward- Dies Ziel
war am Ende des 6. Jahrhunderts erreicht Von den Zwischenstufen ist
nur eine ein wenig kenntlich.
Aikmu Die alexandrinische Philologie besaß Gedichte eines spartanischen
i»or 600?). Lyrikers, Alkman, den sie noch in das 7. Jahrhundert rückte. Man hatte
seine Lieder auch in Athen gesungen, und dem verdankten sie ihre Er-
haltung. Aus den Gedichten selbst entnahm man einiges über seine Person
und die Zwecke seiner Dichtung. Er war von lydischer Herkunft, aber
ganz hellenisiert, offenbar als Erwachsener in die Sklaverei geraten,
aus der ihn seine Kunst befreite. Es gab neben ihm in Sparta auch
lydische Flötenspieler, die, wie meistens, geringer Achtung genossen. Er
spielte die Laute, sang auch wohl dazu (wir haben ein solches Stück in
Hexametern) und verfaßte vornehmlich Lieder für weibliche Chöre. Denn
es gab in Sparta weibliche Genossenschaften, die bestimmte Kulte be-
sorgten, aber auch sonst mit Gesang und Tanz auftraten. Diese Institution
muß man auch an anderen Orten voraussetzen (nur an keinen ionischen, also
auch nicht in Athen), und wir kennen denn auch in Argos, Tanagra, Sikyon
Dichterinnen, und auch Alkman erwähnt sie aus Sparta; alle haben nur
lokale Bedeutung besessen. Daß wir wenigstens eine Probe von Alkmans
Mädchenliedern haben, danken wir dem ersten wichtigen Papyrusfund, der
A. Hellenische Periode (ca. 7cx)— 480). IV. Lj-rische Poesie.
29
schon vor 50 Jahren gemacht ist Die Poesie ist ganz und gar Gelegen-
heitsdichtung, daher voll persönlichster Anspielungen, die Sprache schwierig
da sie dialektisch i.st und nicht rein, sondern aus den oben angegebenen
Ingredienzien gemischt So merkwürdig es ist, so anmutig durch die
frische Lebenswahrheit, fehlt doch vor allem die Einheitlichkeit und die
Originalität des Stiles zu sehr, als daß von wirklichem Kunstwert ge-
sprochen werden dürfte. Der sehr beträchtliche historische Wert liegt
vor allem in der Form. Wir sehen zum erstenmal eine gfroße metrische
Komposition, gebaut mit Stollen und Abgesang, wie es die kleineren, aber
ganz gelungenen Gebilde der Lesbier (z. B. die sogenannte sapphische und
alkäische Strophe) auch sind. Hier sind die Teile viel umfangreicher: wir
sind bereits auf dem halben Wege zu den zwei Strophen und der Epode,
die wir bei Pindar antreffen. Die einzelnen Glieder der Strophe sind noch
viel einfacher, aber die Mischung von Daktylen und Trochäen zeigt sich
doch bereits, die eben wieder für Pindar charakteristisch wird. Da die
Lakedaimonier zwar zu .singen und zu hören, aber nicht zu dichten ver-
.standen, hat keiner der Ausländer bei ihnen einen Nachwuchs erzeug?.
Damit ist ihre eigene Kultur gerichtet
Man mag sich hiernach wohl ein Bild machen, wie sich die chorische choriKheLyrüT
Lyrik entwickelt hat: es ist und bleibt schemenhaft und hypothetisch. Da-
gegen was sie um 500 war, läßt sich einigermaßen vorstellen. Es ist
Sitte, zu den Götterfesten, ordentlichen und außerordentlichen, zu den
Feierlichkeiten, die das Leben in jede vornehme Familie bringt, nament-
lich Siegesfesten aller Art, aber auch so oft sich sonst eine Gelegenheit
bietet, Chöre zu stellen, die Reigen schreiten und dazu Lieder singen, im
Kulte wohl oft; ältere, aber am liebsten neue, sonst für die Gelegenheit
verfaßte. Von Sängern und Tänzern gab es mancherorten, z. B. in Athen,
Gilden. In diese Kategorie gehören auch die Jungfrauenchöre, deren eben
Erwähnung geschah; sie waren für viele Kulte obligatorisch, traten aber
auch sonst auf Daneben war die musische Bildung der Jugend vieler-
orten stark genug, um die Aufgaben der Tänzer und Sänger zu erfüllen:
so tat es z. B. der junge Adel Aiginas. Die Dichter und Komponisten
dagegen sind Männer, die das Handwerk, das sehr hoch im Werte steht,
gelernt haben und gegen Bezahlung, Ehrensold, Geschenke, wie man es
nennen will, au.szuüben pflegen. Neben den berühmten Namen hat es
natürlich Lokaldichter ziemlich allerorten gegeben, deren Ruhm nicht
über die Nachbarschaft reichte, deren Werke nicht über den Tag lebten,
wie es heute mit den Polterabendgedichten geht Die Ausbildung des
Chores leitete der Dichter, wenn er zugegen war. Aber es kam nicht
selten vor, daß er das Lied aus der Feme schickte, also ein anderer Chor-
meister eintreten mußte. Dann lag also eine Niederschrift des Textes und
der Noten vor; die Notenschrift war bereits aus der Buchstabenschrift
abgeleitet; sie bezeichnet die Tonhöhe sehr genau; die Dauer zu be-
zeichnen war nicht nötig, so lange die quantitierende Poesie auch die
30 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur. des Altertums.
Musik beherrschte. Die Gedichte waren alle Gelegenheitsgedichte; im
Killte wiederholte sich indessen oft die Gelegenheit zu ihrer Auffuhrung,
und das Publikum war interessiert genug an der Dichtung und der
Musik, die Lieder durch die Wiederholung zu erhalten und zu ver-
breiten, wenn sie gefallen hatten. Offenbar konnte die musikalische Kom-
position ohne weiteres auch von einem einzelnen Sänger vorgetragen
werden, und der große Apparat der Begleitung war nicht unbedingt
nötig. Die metrische Form ist eine Fortentwickelung dessen, was bei
Alkman und den Lesbiem einerseits, den loniem anderseits vorlag, höchst
kunstvoll, bis zur Unübersichtlichkeit: die Tragödie erreicht eben dadurch
Höheres, daß sie vereinfacht Das Konventionelle der Sprache geht sehr
weit; wenn schon der Epiker einen reichen Apparat klangvoller Beiwörter,
Umschreibungen, Übergangsformen zur Verfügung hat, so ist der Lyriker
noch viel besser gestellt; er hat mit seiner Technik gelernt, den Ausdruck
für die sehr häufig wiederkehrenden Gedanken und Begriffe zu variieren
und zu schmücken. Das klingt nicht nur voll, sondern neu, während es
doch nur die Übung des Handwerks ist, das nun einmal bei den Hellenen vor-
züglich geübt zu werden pflegt Es ist des Individuellen in der Sprache
vermutlich noch viel weniger, als es uns bei unserem geringen Material
erscheinen muß. Kaum anders steht es mit dem Inhalte. Die Anlässe der
Gedichte mußten einen Kreis von Gedanken und Stimmungen immer wieder
hervorrufen, die dann der Dichter nur sinnreich und klangvoll variierte.
Aber es geht weiter. Wenn die Anschauung des Standes, dem diese Poesie
angehörte, die des Adels war, der damals in Hellas dominierte, so lag
darin, daß die Taten der Vorfiihren des einzelnen oder der Stadt tmd
Landschaft, für die das Gedicht bestimmt war, oder die Legenden
des Heilig^tiuns, in dem es gesungen werden sollte, Erwähnung heischten.
Man war eben gewohnt, die Gegenwart in die heroische Vergangenheit
zu projizieren. Damit kam ein Stück Erzählung in die Tanzlyrik, wenn
auch die Geschichten bekannt waren, also Andeutungen genügten. Er-
zählung war aber auch das Epos, das den Grund aller poetischen Dar-
stellung bildete. So tritt in diese Dichtung das erzählende Element als
etwas kaum Entbehrliches, und das Publikum freut sich an ihm, ohne viel
zu fragen, wie notwendig für diese Gelegenheit die Erzählung ist; noch
viel weniger begehrt es (wie die lonier) neuen Erzählungsstoff. Daraus
ergabt sich als ein wichtiges Ingfrediens die dvu-ch den Vortrag beim
Reigen modifizierte epische Erzählung; daß Homer die Grrundlage des
Stiles ist, zeigft sich namentlich in der Bewahrung der direkt eingeführten
Reden. Unvermeidlich bildeten sich dann bestimmte Formeln der Über-
gänge von der konkreten Veranlassung des Gedichtes zu der Erzählung
und umgekehrt, oft mit einem allgemeinen Satze, und auch da ward die
Variation das Hauptstück der Kirnst; der Gedanke ist selbst bei Pindar
nicht selten ganz flach. Oft genügt bei den bekannten Stoffen eine An-
spielung mit Hervorhebung einzelner Züge, ein Einzelbild statt der Er-
A. Hellenische Periode (ca. 700 — 480). IV. LjTische Poesie.
31
Zählung. Es ist zuweilen, als stünde diese Lyrik zur Heldensage wie die
Epik zur Natur: die Herakles und Achilleus sind hier, was die Löwen und
Stürme bei Homer sind. Das schöne Naturbild ist dagegen fast ganz ver-
schwunden; wie denn alles den Stempel einer engen ständischen Kultur
trägt. Die höfische Kunst des Mittelalters vergleicht man nicht ohne Grund;
die hesiodische Katalogpoesie gehört ganz dazu, stammt ja auch aus der-
selben Gesellschaft und in der Masse auch derselben Zeit. Von Bakchy-
lides besitzen wir auch schon Gedichte, die ohne jede Andeutung einer
bestimmten Gelegenheit nichts als erzählen, im Anschluß an zum Teil noch
nachweisbare epische Vorlagen, also erzählende Gedichte, vorgetragen
von einem tanzenden Chore, nur hierdurch lyrisch, da man sonst nach
unserer Terminologie episch sagen müßte, so daß der Name Balladen
passend ist, passender als der antike, Dithyramben, der aus viel späterer
Sitte stammt. Es scheint, daß diese Gattung in Westhellas aufgekommen
ist Dorthin war nämlich das Epos überhaupt nicht gedrungen, wohl aber
sang man im 5. Jahrhundert in Athen erzählende umfangreiche Gedichte,
nannte ihren Verfasser Stesichoros und hielt ihn für einen großen Dichter. siMichoro« '
Die Person lag ganz im Nebel der Sage; bald machte man ihn zu einem '"" '*°'*'
Sohne des Hesiodos, rückte ihn also in unbestimmte Vorzeit, bald betrachtete
man ihn als einen Bürger von Himera, einer ionischen Stadt, und ver-
setzte ihn in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts, was die Gelehrten
akzeptiert haben; bald meinte man, er wäre ein italischer Lokrer gewesen,
aus der Zeit der Perserkriege; damals hat Lokri wirklich eine berufene
Musikerschule gehabt. Ein Urteil über die Poesie, die eben des persön-
lichen Elementes entbehrte, haben wir nach keiner Richtung.
Ein Teil dieser Gedichte ging auch auf den Namen des Ibykos von ibykof
Rhegion, auch einer ionischen Stadt, der dadurch historisch festgelegt ist, ^"^ '^"''
daß er mit Anakreon am Hofe derselben Tyrannen auftrat und auch
Knabenlieder verfaßte. Auch er und seine Poesie liegen ganz im Nebel.
Gerade weil so unendlich viel von der griechischen L>Tik geredet worden
ist, muß scharf betont werden, wie wenig wir haben und wissen.
Die Dichter, deren Werke wir lesen, sind die spätesten, tätig, als
diese chorische Lyrik, der einzige vollkommene Ausdruck des hellenischen
Rittertums, vor der Sonne der athenischen demokratischen Poesie bereits
verblich. Sie gehören zeitlich erst in die folgende Periode und dürfen
aus ihr nicht herausgerissen werden, aber nur als Personen. Die Gattung,
die mit ihnen zugleich ihren Gipfel und ihr Ende erreicht, ist ein Erzeugnis
früherer Zeit, ein höchst eigentümliches Gebilde der Poesie, das so wenig
erneuert werden konnte wie die Gesellschaft, deren Ausdruck es war.
Horaz hat sich auch dadurch als der treifsichere Kunstrichter erwiesen,
daß er das Pindarisieren mit Ernst und Spott abgelehnt hat. Die es in
modernen Zeiten probiert haben, sind denn auch kläglich gescheitert
Ronsard hatte wenigstens den Pindar gelesen; Klopstocks Griechisch und
das ziemlich aller Deutschen seiner Zeit langte höchstens dazu, mühselig
32 Ulrich von Wilmhowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
an der Hand der lateinischen Übersetzung ein Gedicht zu buchstabieren.
Als Goethe den Versuch machte, sich durch eigene Nachdichtung diesen
fremdartigen Stil klar zu machen, geriet er mit sicherem Instinkte auf
das einzige Gedicht der Sammlung, das nicht von Pindar ist, mit leichter
fließenden Versen und ohne individuelle Gedanken. Dann hat er mit
Recht liegen lassen, was er nicht verstand. Die meisten taten so als
fänden sie, was Horaz in Pindar gefunden hatte, erklärten das ihnen Un-
verständliche für die Entzückimgen einer wolkenstürmenden Begeisterung,
verkannten also ganz den konventionellen, verstandesmäßig geübten Stil,
und so ist die moderne „Ode" von allen Wechselbälgen des Klassizismus
das Ungriechischste.
V. Ionische Prosa. lonien ist an dieser ganzen Poesie imbeteiligt;
es fehlt ihm der Adel und sein Sport und seine disziplinierten Männer- und
Jungfrauenchöre; es fehlt aber auch die ganze Sinnesart lonien ist über
diese Phase der Entwickelung längst hinaus: seine Ritterzeit lag vor Homer.
Gerade als sie ihre Freiheit an Lyder und Perser eingebüßt haben, ist der
Einfluß der lonier auf die Asiaten am stärksten: Dareios hat einen griechi-
schen Leibarzt, und die Bauten von Persepolis und Susa zeigen, daß die
Kunst bereits ostwärts flutet Aber auch lonien erfuhr Befruchtung durch
die ältere Kultur, und jetzt noch wertvollere, als sie etwa die Malerei und
andere Dekoration zeigt Und wieder, wie einst, da Kadmos von Milet die
phönikischen Zeichen zu der vollkommensten Buchstabenschrift aus-
gestaltete, bewährt sich die Überlegenheit des ionischen Geistes. Milet
lernte von der Astronomie der Babylonier, wohl auch von der Rechenkunst
derselben und der der Ägypter, und mit Thaies erfolg^te die entscheidende
Wendung des Hellenentums zur Wissenschaft Für sie genügte die Aus-
drucksfahigkeit der poetischen Form nicht Zwar hat man versucht, wie
weit man mit dem Epos käme, und namenüich die Himmelsbeschreibung
und die praktische Astronomie, für Schiffahrt und Landbau, hat zu mehreren
Gedichten geführt, die sich zum Teil in M3rthologie verliefen, immer noch
anmutige und geschichtlich wirksame: daß der Himmel in seinen Bildern
griechisch geblieben ist, stammt am Ende daher, daß diese lonier ihn ein-
geteilt haben. Auch das philosophische Epos Westgriechenlands stammt
von hier, da der Kolophonier Xenophanes es dorthin bringt; er flieht wie
Anakreon vor den Persem, aber seine Wirksamkeit reicht in die nächste
Periode. Die wahrhaft entscheidenden Männer erkannten, daß dieser Weg
falsch war. Wissenschaft braucht die „kahle" Rede, die uns nicht „auf
den Flügeln des Gesanges" erhebt, sondern „zu Fuße geht", wie die
Griechen es ausdrücken. So schuf lonien die Prosa.
Anasimmadro« Anaximaudros konstruiert ein Modell des Universums, was man später
(um SSO). gj„g „Sphaera" nannte, als die Kugelgestalt des Hinunels und der Erde
anerkannt war, und schreibt dazu den Xötoc, den Sinn erklärend. Hekataios
von Milet zeigt die Lage der Länder, Meere und Flüsse, indem er sie auf
A, HcUenischc Periode i'ca. 700—480). V. Ionische Prosa.
»3
(am 500).
eine Metallscheibe einzeichnet, und schreibt dazu den Xötoc, seine Geo-
graphie. Wir können die ungeheure Leistung des ersten selbst nach der
Seite des Gedankens nur unvollkommen schätzen. Bei Hekataios sehen
wir noch die unermeßliche Fülle von Einzelbeobachtungen, die sich auch
auf der fremden Völker Sitten und der fernen Länder Erzeugnisse er-
strecken. Aber literarisch haben wir von diesen Büchern keine Vor-
stellung.
Ionische Inschriften zeigen uns Prosasätze, wo das Mutterland Verse Herakwioi
macht; da begreifen wir, daß Herakleitos von Ephesos seine Weisheit
(•fvu)^^. wie man damals sagt) in prosaischen Sprüchen niederlegt; zwei
Menschenalter vorher hatte Phokylides von Milet noch Verse gewählt.
Nicht nur weil der Denker noch nicht gelenkig genug ist, um eine Schluß-
reihe vorzuführen, wählt er diese Form, die wir gnomisch nennen, ge-
schweige daß er beim Aphorismus bliebe, weil er nur Späne zu liefern
imstande wäre, nicht aus ganzem Holze zu schnitzen: es ist durchaus
künstlerisches Wollen dabei, überraschend viel sogar; er weiß nichts von
Rhetorik und FigTiren, imd er wirkt mit beidem. Die Sprache und der
Klang gewinnen sogar Gewalt über ihn, so daß sie den Sprung der Ge-
danken dirigieren. Subjektiv und individuell, ganz wie bei Archilochos,
erzeugt er sich einen Stil sofort in unübertrefflicher Vollkommenheit: aber
diese Prosa ist nicht wie der lambus befähigt, eine Gattung zu werden.
Nur die Keime zu den Hauptmitteln der griechischen Kunstprosa sind
schon hier vorhanden: es ist noch ein wichtiger Schritt bis zu Gorgias,
aber nur ein Schritt.
Hekataios hat auch ein Buch geschrieben, das Erzählung gab, aber
der Vater der Geschichte ist er damit noch nicht geworden. Nichts führt
darauf, daß der milesische Staatsmann die Ereignisse seiner Zeit oder die
Chronik seiner Stadt geschrieben hätte, wie immer wieder behauptet wird.
Die Chroniken der ionischen und äolischen Städte, die allerdings auf alten
Aufzeichnungen beruhen, sind erst viel später literarisch geworden, die
Milets noch unter dem mythischen Namen Kadmos. Was Hekataios
schrieb, war die Geschichte der Heroenzeit, mag er auch seinen eigenen
Stammbaum mitgeteilt haben, also die Genealogfieen der alten Geschlechter
weit herab verfolgt, und er schrieb mit der ausgesprochenen Tendenz, die
poetische Geschichte räsonnabel zu machen, den Sauerteig der Wunder
auszufegen und nur zu geben, was passiert sein konnte. Dabei verzichtete
er durchaus nicht auf die Ausdrucksformen des Epos, direkte Rede ein-
geschlossen. Nur die Tendenz ist an diesem Genealogieenbuche etwas Be-
sonderes; sonst hat es viele seinesgleichen gegeben, und es lehrt, daß wir
die Umsetzimg der Epen in erzählende Prosa bis in das 6. Jahrhundert
hinauf datieren müssen. Das war etwas für die Zukunft ungemein Wichtiges,
so natürlich der Prozeß auch erscheinen mag. Diese Umsetzung hat sich
auf Homer imd Hesiod im weitesten Sinne erstreckt, und wo das stoff-
liche Interesse überwog, die Verse bald verdrängt
Di« Kultur uch U«o«iwart. I. 8. 3
Hekseiloi
(um 500)
34 Ulrich von Wilamowitz-Moexx£NDORFf: Die griechische Literatur des Altertums.
pharekydet. Sehr viele solcher Bücher sind später auf den Namen Pherekydes
gegangen, und man hat schon im Altertum versucht, gleichnamige Ver-
fasser zu unterscheiden. Da sollte dsis adlerälteste Buch eine Götter-
geschichte sein, die in eben dem Sinne kosmogonische Spekulation enthielt
wie die hesiodische Theogonie, aber eben darum nicht mehr als diese in
die Geschichte der Philosophie gehört Seit sich ein Fetzen des Buches
gefunden hat (die Archaisten der Kaiserzeit hatten es voi^eholt), liegt
auf der Hand, daß es Mjrthologie im antiken Sinne ist, Märchenerzählung,
imd sich qualitativ von den vielen ionischen Erzählungen der Heldensage
gar nicht unterscheidet, die wir bei den Grammatikern lesen, meist bis
auf das Gerippe epitomiert, aber zuweilen auch mit den naiven Reizen
ionischen Plaudems. Jene Kosmogonie sollte ein Syrier Pherekydes ver-
faßt haben, die vielen Bücher Heldensage ein Athener Pherekydes, ein
Buch über die armselige Insel Leros ein Lerier Pherekydes: damit dürfte
die Person und der Name auf den Wert des Homer imd Hippokrates
reduziert sein. An den Verfassern solcher Bücher liegt selbst dann nichts,
wenn sie gesichert und datiert sind (wie wir einen Milesier Anaximenes
noch aus dem Ende des 5. Jahrhunderts kennen), geschweige, wenn ein so
berühmter Name wie Simonides vorgeschoben wird, aus dem man wieder
einen obskuren Namensvetter des Keers macht Aber diese Literatur,
die nicht auf der Höhe steht, aber um so mehr in die Breite geht, ist
ungemein bedeutsam. Es liegft an der Überlieferung und der griechischen
Betrachtungsweise, daß die Literaturgeschichte des Altertumes auf derartiges
zu wenig Rücksicht nimmt Und doch kann man füglich nicht bezweifeln,
daß in solchen imscheinbaren Büchern z. B. die Tragiker ihre Stoffe zu
suchen nicht verschmäht haben.
Novelle. In dieselbe Klasse gehört die Tierfabel, an der sich schon damals
die Schulkinder ergötzten (geknüpft an den Namen Aisopos, der so viel
und so wenig Realität hat wie Homer und Pherekydes), gehören die Novellen
vom Leben des Homer und vom Tode des Hesiod, gehört stofflich sehr
viel von dem, wjis wir bei Herodot oder in den Politien des Aristoteles lesen.
Das Epos war das Gefäß für den gesamten Unterhaltungsstoff der früheren
Jahrhunderte gewesen; es gab noch keine andere Gestaltung der Tradition:
jetzt war lonien, aber eben nur lonien, so weit, in Prosa erzählen zu können:
so wird der alte Stoff in der neuen Form erzählt, durch die ausgebreitete
Weltkenntnis imd den Austausch mit fremden Völkern imgemein bereichert
Wir nennen das nicht mehr Sage, gar Heldensage, sondern Geschichte,
Novelle, Roman, Legende, was beliebt Der Name sei gleichg^tig, wenn
man nur begriffen hat, daß jede Zeit einen solchen Schatz besitzt, von
dem sie verliert, den sie vermehrt Lebt er auch mündlich, gelangt er
auch nur hie und da einmal zu künstlerischer Festigung, so liefert er doch
das Kurant der Bildung, das von Hand zu Hand geht Wir haben keine
Vorstellimg von den Erzählern, die man voraussetzen muß, da die Menschen
doch nicht lasen; sie schließen aber Bücher keineswegs aus, im Gegen-
B. Anscke F^iiade '4S0 — 3aD> L Dir liwiw arfolafc Alkeas. jj
teil, ohne die würden sie so wcoig^ bestriten, vie in der sophistisdiai
Zeit in Athen die möndfidica Vorträge ohne die Literatur bestanden
haben. Der Obergang Tom Epos zar Historie and znm Romane, der erste
Schritt auf dem Wege, der ▼on Homer m Diktys, m Psendo-Kalfistbenes, m
Syntipas führt, ist von den loniem des 6. Jahrhonderts bereits getan. Für
die Weltliteratur ist das wichtiger als alle neun oder xehn Lyriker.
B. Attische Periode (480 — 32o)l
Die Wettmo oarch ie der Perser hatte lonien, den HeDespont, die Inseln
bereits in Besitz; es sdiien nur eine Frage kurzer Zeit, daß ihr Hellas erl^^
Aber beim ersten Zusammenstofie blieb die Demokratie Athens, die sich
nnder die Mißgunst der Nachbarn eben konsoUdieit hatte, siegreich, und als
das Hellenenland unter Spartas Führung die Invasion des Xerxes zurück-
geschlagen hatte, war es Athen, das die Befreiung loniens durchführte und
bald zu der Gründung einer Herrschaft über das Ägäische Meer fortschritt.
Das gesteigerte hellenische Xationalgefuhl führte zu scharfiem Gegensatze
gegen das Ausland, das sich nun auch entschieden abschloß; die siegreiche
athenische Demokratie, die ihrer inneren Freiheit die Abwehr der äußeren
Knechtschjift dankte, hielt sich für unüberwindlich und begaim zunächst
Hellas unter ihrer Herrschaft einen zu wollen. Das endete mit dem Sturze
Athens; aber in demselben Momente, wo die Hellenen Asiens den Persern
wieder ausgeliefert wurden und Sparta über Athen triumphierte, war die
geistige Einigung Griechenlands eine vollendete Tatsache: attische Sprache
und Literatur war zugleich panhellenisch. Das 4. Jahrhundert, politisch
nur eine Zeit der Zersetzung, diente dazu, die außerattischen, etwa noch
überlebenden Kulturkräfte zu resorbieren und der attischen Kultur ihre
lokale und politische Farbe zu nehmen, so daß Alexander dieser neuen
panhellenischen Kultur die Welt erobern konnte. In dieser Periode sterben
also alle außerattischen Gattungen der Literatur völlig ab; Athen erzeugt
die neuen und vollkommensten Fonnen der Poesie und erzeugt die Formen
der Kunstprosa, die hinfort für die absolut vollkommenen gelten. loniens
ältere und reichere Kidtur allein geht nicht ganz in sie auf, soifdem tritt
nur eine Weile zurück, zumal da Asien im 4. Jahrhundert wieder persisch
ist; nach Alexander wird sie von neuem die Führung übernehmen, aber
freilich in der attischen Literatursprache.
I. Die Literatur außerhalb Athens. Betrachten wir zuerst, was simonW».
außerhalb Athens noch lebt. Da ist das Vornehmste die chorische Lyrik. t"'~4«»i
Aus dem 6. Jahrhundert bis über die Perserkriege reicht die Tätigkeit
des Simonides von Keos (556 — 468, die Jahre sind ausnahmsweise sicher),
neben dem sein NefiFe Bakchylides steht (tätig etwa von 4go — 450), also
lonier aus dem euböischen Kulturkreise, der ganz zu den Tendenzen des
festländischen Adels steht, darum auch zuerst von Athens Demokratie
3*
36 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
tinterworfen wird. Simonides ist als Person wohl zu fassen; der fahrende
Dichter, der kaum anders zu den Königen, Tyrannen, Junkern und Demo-
kratieen steht als später die Sophisten, als Stimmführer der öffentlichen
Meinung von allen umworben und seiner joumaUstischen Macht sich voll
bewußt, ein klangvolles Echo fremder Ansprüche und Stimmimgen, durch
seine persönliche Kunst dennoch der Würde nicht entbehrend, sehr welt-
läufig, witzig, des eigenen Vorteils niemals vergessend. Wie seine eigene
Häßlichkeit in Kontrast zu der wohlgepfleg^en Schönheit der Junker steht,
die er besingt, bleibt der lonier unter den Dorem ein Fremder; im stillen
wird er sich als etwas Besseres vorgekommen sein. Aber seine Dichterkunst
können wir nicht mehr schätzen. Daß man ein Gedicht liest, in dem mit
spitzer Dialektik ein moralischer Satz hin und her gewandt wird, an den
ein Protagoras ansetzen kann, daneben ein Bruchstück, in dem mit höchst
künstlichen Versen ein ganz unvergleichliches Stimmungsbild der Danae
im Kasten entworfen wird, so zart tmd weiblich, so weich und ionisch,
wie es selbst einem Athener kaum gelungen ist, reicht wohl dazu, den
poetischen Gegensatz zu Pindar ebensogp'oß zu empfinden, wie er in den
Persönlichkeiten ist, aber wie dürfte man das eine oder das andere
generalisieren. Nur so viel zeigt sich: in Simonides ist uns ein wirklicher
Dichter verloren. Die Epigramme auf die Persersiege, die seinen Namen
bei den Modernen tragen, gehen ihn gar nichts an; gerade ihre Schlicht-
heit kontrastiert mit allem, was authentisch von ihm ist Das 6. Jahr-
hundert, in dem er seinen Stil gebildet hat, freut sich an btmtem
Schmucke; das 5. sucht in seinem Krafigefühle schlichte Männlichkeit
Die Mode, wie man sich kleidet und Haar und Bart trägst, ist dafür
äußerst bezeichnend.
Bakchjiide. Der Neffc, den uns ein freundliches Geschick vor wenig Jahren zurück-
(t nach 450). gegeben hat, ist keine Persönlichkeit; es hält auch schwer, in seiner
Technik zu erfassen, was ihm eigentümlich ist Das Dichten wird ihm
leicht, eine rasche Improvisation ergibt anmutige Verse und Gedanken;
aber sie tragen nichts von jenem Stempel, der dem Momentanen die
Ewigkeit verleiht Und in den Künsten seiner Erzählung und Stilisierung
merkt man oft die Manier, das Malen mit fertigen Farben, wo denn die
leere „Schönheit" nicht fehlt Der Versuch, tief zu werden, mißlingt regel-
mäßig. Aber die Nacherzählung epischer Geschichten verleugnet den
lonier nicht; das geht nicht nur flott und mit geschickter Einführung
direkter Reden, sondern es ergeben sich bunte, bewegte Bilder. Wenn
gute Verse und hübsche Gedichte einen Dichter machten, so stünde
Bakchylides gro& da: so fällt der Schatten des Pindaros imd Aischylos
auf ihn, die seine Zeitgenossen waren. Solche Talente genügen ihrer
Zeit, aber den Besten ihrer Zeit tun sie nicht genug. An Bakchylides ist
das Wertvollste, daß er ims zeigt, was Pindar konnte und nicht konnte.
Pindaros Pindaros von Theben, geboren, als Athen noch weit tmter seiner
(t nach 446). Heimat rangierte, Sohn eines altadligen Hauses, also diu-ch die Geburt
B. Attische Periode (480—330). I. Die Literatur außerhalb Athens.
37
bestimmt, Turnsiege zu erringen, nicht zu besingen, ward gleichwohl nach
Athen geschickt, die Musik zu lernen, muß also wohl durch besondere
Begabung diesen auffallenden Schritt erzwungen haben. In den Kreisen
seiner Standesgenossen tritt er schon ganz früh auf, begründet aber auch
schon früh sein besonderes Verhältnis zu dem delphischen Apollon. Gottes-
dienstliche Lieder haben die Masse seines Nachlasses gebildet. Die Zeit
der Krisis, da seine Stadt auf seiten der Perser ficht und fast der Ver-
nichtung anheimfallt, was er aus der Feme mit ansieht, macht ihn zum
Manne. Es gelingt ihm, sich der Hellenensiege zu freuen, ohne der Heimat
die Treue zu brechen. Er sieht dann auch den Westen, kehrt heim und
lebt noch 30 Jahre als eine Macht des Geistes, ein Stern von eigenem
Lichte. Er darf persönlich zu Tyrannen und Demokratieen Stellung nehmen;
er sendet seine Lieder nach Akragas und Rhodos, Makedonien und Kyrene.
Er verachtet die gewerbsmäßige Lyrik des Siraonides und fiihrt aus
Eigenem einen Chor auf, die schrecklichen Vorzeichen einer Sonnenfinster-
nis zu bannen. Hätte ihm ein lonier gesagt, das ginge ganz natürlich zu
und die Sonne wäre ein Ball von geschmolzenem Metall, so würde er
das für töricht und gottlos gehalten haben. Als er stirbt, ist seine Kirnst
tot. Nachfolger findet er nicht, aber ein Klassiker der Nation war er
längst und ist er geblieben, obwohl seine ganze Sinnesart der helle-
nistischen Zeit kaum weniger fremdartig sein mußte als uns. Pindar war ein
Böoter; der Ausdruck in der konventionellen Sprache ward ihm schwer;
die Rede zu gliedern, die Gedankenverbindungen durch die reichen
Partikeln der griechischen Sprache klar zu machen, gelang ihm nicht
Die konventionellen Umschreibungen hängen oft ziemlich schlotterig.
Auch seine Verse erreichen kaum je den schmeichelnden Wohlklang des
Bakchylides; für manche sonst allgemein anerkannte Wohllautsregeln
scheint er gar kein Ohr gehabt zu haben. Das Erzählen ist seine starke
Seite nicht; die direkten Reden charakteristisch abzutönen, hat er wohl
gar nicht angestrebt Seine Rede ist fast immer feierlich und fremdartig,
was nicht verhindert, daß sich stockprosaische Aufzählungen bei ihm
finden und arge Trivialitäten. Und doch ist er einer der wahrhaft Großen,
wenn anders eine große Seele und das höchste Streben auch eines Dichters
Größe bedingt: Dichter war er, weil er nur so zu seinem Volke und zu
der Menschheit reden konnte. Er hat immer etwas zu sagen, mehr als er
sagt, und jedes Ereignis sieht er von der Warte des apollinischen Pro-
pheten: jeder Glückwunsch wird ihm zu dem delphischen Gruße „Mensch,
erkenne, was du bist"; jeder Erfolg schließt die Mahnung an die Ritter-
ptlichten in sich; er erzählt keine Geschichte, sie diene denn dazu, des
Himmels Macht und Gnade zu offenbaren. Auch seine weltlichen Lieder
sind die eines geistlichen Dichters. Und er hat keine Furcht gekannt vor
irgend etwas, was irdisch ist; darum konnte er Gott fürchten. Es ist eine
arge Verkennung, wenn man an die adlige Gesinnung der Turner oder
Tyrannen glaubt, weil er sie besing^: aber sein Glaube adelt noch heute
38 UuucH VON WnjiMOWiTZ-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
WuthelUs.
Cenopfaanes
1- nach 480).
Parmenides
t nach 460).
die mit Recht versinkende Welt, in der er ein Ideal von Religion und
Politik, Herrenpflicht und Dichterpflicht aufrechthalten wollte, das deshalb
nicht niedrig ist, weil wir es nicht teilen und in Aischylos und seinem
Athen etwas Höheres kennen. Für uns ist Dantes politisches tmd religiöses
Ideal auch etwas Fremdes, Überwimdenes, und ntu- durch die ICraft histo-
rischer Phantasie vermögen wir in seiner Welt zu atmen. Gewiß ist der
Thebaner als dichterische Potenz nicht wert, dem Florentiner die Schuh-
riemen zu lösen: aber ist es nicht schon ein Großes, daß man immer
wieder an Dante denkt, wenn man Pindar charakterisieren will?
Neben und nach Pindar stellen Nordgriechenland imd der Peloponnes
keinen Mann mehr, der für das geistige Leben des Volkes von Belang
wird, es wären denn einzelne, die ganz in die athenische Kultur auf-
gingen. Die Feinde Athens, Sparta und Korinth, scheiden ebenso aus, wie
das demokratische Argos, und wenn Epaminondas auf zwanzig Jahre Theben
zu politischer Macht bringen kann: geistiges Leben hat auch er nicht
erwecken können. Wohl aber hat es ein Sonderleben in Westhellas ge-
geben, das erst von den Römern zertreten ist; das ist viel bedeutender
gewesen, als seine Dokumente ahnen lassen. Hätten wir das Zivilgesetz-
buch des Charondas von Katana, das auch im Osten weithin rezipiert
ward, so würden wir über die Grrundlage sowohl des hellenistischen wie
des römischen Rechtes vermutlich recht anders urteilen. Die ionischen
Kolonieen waren die eigentlich produktiven, und wenn die achäischen mit-
tun, so sind sie gerade nachweislich von Asien beeinflußt
Der flüchtige Xenophanes von Kolophon war Rhapsode geworden (S. 32);
im Westen, wo diese Kunst neu war, hat er sich mit ihr sein Brot verdient.
Wie in diesem merkwürdigen Kopfe als strenger Rationalismus der einzige
wirkliche Monotheismus erwachsen ist, der je auf Erden existiert hat, wie
die moralischen Bedenken den Rezitator Homers zu dem heftigsten Gegner
der homerischen Mythologfie werden ließen, danach fragen wir hier nicht
Beidem lieh er Ausdruck in den Formen des Epos, das er vortrug, und
hat so seine eigene Propaganda gemacht Seine Sillen, Spottgedichte in
der Form des Margites, sein Lehrgedicht, seine Elegieen sind frisch imd
leicht verständlich in den alten Formen gehalten; aber nur die Gedanken
haben unverwüstlich weitergewirkt, die Gedichte selbst drangen nicht in
weite Kreise.
Parmenides von Velia, der ihm auf der Bahn des Lehrgedichtes wie
in der Philosophie folgt, vermag dagegen nicht mehr für seine tiefen Ge-
danken in der Poesie adäquaten Ausdruck zu finden: seine Verse werden
so hart und hölzern, wie es wenige auf Grriechisch gibt; der Versuch, die
strengen Fäden der begrifflichen Spekulation mit poetischem Schmucke
zusammenzuwirken, ist mißlungen. Der Erhabenheit des Denkers, der
Probleme stellt, an deren Lösung die Menschheit verzweifeln muß, hat die
Ehrfurcht der Größesten gehuldigt: das Gedicht ist außer Fachkreisen
nie gelesen.
B. Attische Periode (480—320). 1. Die Literatur außerhalb Athens.
39
Sein Schüler Zenon geht folgerichtig zur ganz scharf dialektischen
Prosa über, die in den geringen Resten attisch ist, also modernisiert: den
Stil beurteilt man am besten nach der platonischen Nachbildung im Parme-
nides: es ist gar kein Stil mehr, sondern dem mathematischen Beweise
möglichst angeähnelt. Formeln würden ihm noch lieber gewesen sein als
Wörter. Daran sieht man, daß diese Schriftstellerei nicht von künst-
lerischen Rücksichten erzeugt ist, sondern von der Wissenschaft, und nicht
im Leben, sondern in der Schule.
Im Anschlüsse an Parmeaides ist um 450 Empedokles von Akragas
dazu gelangt, ein philosophisches Lehrgedicht zu schreiben. Er war
politisch tätig gewesen und wandte doch nicht die künstlerische Prosa an;
er war Arzt und schrieb nicht die wissenschaftliche: immer noch erschien
die epische Form zur Wirkung in die Weite am geeignetsten. Und die
formale Kunst hat auch erreicht, daß seine Philosophie, obwohl sie wenig
original und tief war, zu einer dauernden Macht gelangte und das Gedicht
selbst bis in späte Zeit Leser fand. Darunter war Lucretius, der außer
dem eigenen Talente und (was sein Bestes ist) der eigenen Glaubens wärme
seine Wirkung wesentlich der Nachahmung des Empedokles dankt In
diesem ist so viel bewußte Kunst im Versbau, in Redefiguren und Klang-
wirkungen, daß die feine Kritik des Aristoteles von Rhetorik redet.
Homer wird nicht abgeschrieben, aber wohl gibt er z. B. das Recht,
durch Verswiederholungen teils eindringlicher, teils bequemer zu reden.
Die Personifikation gestattet der Naturphilosophie ein buntes m3rtholo-
gisches Kleid umzulegen. Im ganzen kommt doch kein einheitlicher
Eindruck heraus; die persönliche Anrede (von Hesiod und der Elegie
übernommen) belebt wenig; man merkt zu oft die raffinierte Tätigkeit des
Aufputzens höchst prosaischer Gedanken. Poetisch von ungleich höherer
Vollendung und von jener schwülen Schwärmerei, die den Verstand durch
Gefiihlsdämpfe narkotisiert, ist das andere Epos des Empedokles „von der
Sühnung", besser sollte man .sagen „von der Erlösung", das er selbst in
dem Ornate eines Sühnpriesters als Prophet und Seelenarzt im Peloponnes
rhapsodiert hat, die Schicksale der Seele offenbarend, die zur Buße der
Sünden aus ihrer himmlischen Heimat verstoßen durch die Strudel der
Leiblichkeit gejagt wird, bis sie sich durch Askese gereinigt hat; die
Vegetarier sollten es zu ihrer Bibel machen. Der Haupttrumpf ist, daß
der Redende selbst entsühnt und so des künftigen Einganges in die Voll-
endung gewiß ist: er ist Gott geworden. Hier bietet sich uns eine aller-
dings imponierende Probe der sonst fast ganz verschollenen Propheten-
poesie, die man nicht nach ihren spätesten und ausgeartetsten Pro-
dukten beurteilen darf. Die jüdischen und christlichen Sibyllen sind
in Form und Inhalt ebenso absurd wie langT\'eilig, aber gerade die
wirkungsvollen Züge in ihnen stammen aus älterer Sibyllenpoesie, und so
bietet auch die ägyptische Zauberliteratur Stücke, die der alten Weise
folgen. Die Sibylle führt den Namen einer Seherin aus dem asiatischen
ZanoD (»chreibt
vor 460)
Empedokles
(um 450).
Orakelpo««ia.
40 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Erythrai, die ohne Zweifel eine geschichtliche Person der homerischen
Zeit ist, aber verschollen; Spruchsammlungen wie die ihre hat es unter
anderen Namen zahlreich gegeben. Dazu gehören auch die Orakel der
Götter, vor allem die delphischen, deren wir echte nicht wenig seit dem
6. Jahrhundert besitzen. Diese Poesie, deren Gnmdlage homerisch ist \md
bleibt, aber in centomäßige Imitation erst in der Kaiserzeit versinkt, ist
zimi Teil von hoher Vortrefflichkeit, imd die Umschreibungen tmd typischen
Wendungen oder Gleichnisse (wie die Einführung von Tieren, Wolf, Stier,
Drache) haben die erhabene Rede noch in Lyrik und Tragödie stark
beeinflußt Auch auf diesem Gebiete haben die Griechen von Homer
ausgehend einen festen Stil erzeugt und ein Jahrtausend festgehalten. In
den eschatologischen Konzeptionen und Kompositionen der Christenheit
wirkt dieser Stoff und Stil nach, ganz wie die grundverwandte religiöse
Phantastik der orphischen Kosmogonieen, sogar auch im Okzident, durch
das Mittelalter hindurch und besonders stark in der Renaissance. Wie merk-
würdig ist es, daß derselbe Empedokles die vier Elemente aufbringt und
so die vier Säfte der sogenannten hippokratisch-galenischen Humoral-
pathologie erzeuget, die bis tief in das 19. Jahrhundert herrscht, und daß
wir bei Dante und Giordano Bnmo und Angelus Silesius Fäden auf-
zeigen können, die auf ihn und die Eleaten zurückfuhren. Er teilt freilich
das Schicksal mancher großer Anreger unter den Hellenen, daß sie viel-
leicht am stärksten wirkten, wo selbst ihr Name vergessen war.
PythagoiM Empedokles der Dichter war Uterarisch durch Parmenides bestimmt;
(t um 500). jjgj. ^2t und der Prophet erhielt die Anregung aus der Kultur Groß-
Griechenlands, die an den Namen des Pythagoras von Samos geknüpft
wird: auch hier wieder war es ein ionisches Samenkorn, deis in den
achäischen Pflanzstädten aufgegangen war. Deren müssen sehr viel mehr
herübergekommen sein. Namentlich die wissenschaftliche Medizin, die mit
der Natiurbeobachtung und Philosophie immer zusammengeht, kann ohne
Verbindung mit Asien (Knidos, wie es scheint) gar nicht gedacht werden;
sie hat eine itaUsch-sizilische Schule gebildet, die der ionischen mindestens
ebenbürtig ist Das älteste medizinische Buch, das sich überhaupt erhalten
hatte (ionisiert, doch so, daß das ursprüngliche Dorisch durchschimmert),
Aikmaion Stammte von einem Achäer aus Kroton, Alkmaion, und ein Krotoniat
(um soo). ^j^j. Leibarzt des Dareios. So war denn hier eine Schriftsprache ent-
standen, die in den achäischen Städten und in dem spartanischen Tarent,
wie es scheint, gleichermaßen geschrieben ward. Das Ionische, das Pytha-
goras mitbrachte, hat sich nicht behauptet; das war für die Erhaltung
dieser Schriftwerke verhängnisvolL Denn daß die esoterische Schul-
disziplin der p)'thagoreischen Bruderschaft die Publikation verboten hätte,
könnte ja erst für die Zeit gelten, wo die politische Macht der Brüder
zerstört war. Die mathematische, musikalische, medizinische Forschung
ist nicht nur ununterbrochen getrieben, sondern auch verbreitet worden.
Wo wirkliche Wissenschaft einmal erfaßt ist, die ztir Fortarbeit ungezählter
B. Attische Periode ;48o— 320". I. Die Literatur außerhalb Athens. 41
Generationen bedarf, da hört die Geheimniskrämerei auf: man verbirgt
nur, was das Licht nicht verträgt Literarisch treten eigentlich nur zwei
Personen hervor, Philolaos von Kroton, der tun 400 die p3rthagoreische PhUoUo»
Physik und Metaphysik vorträgt, und Archj'tas, der jüngere Zeitgenosse (♦""«*»)
Piatons, der seine Heimat Tarent zum ersten und letzten Male auf eine (um 360).
politisch achtungswerte Höhe bringt, aber nicht nur nicht als politischer
Schriftsteller wirkt, sondern in seinen wissenschaftUchen Werken selt-
sam unberührt von den Fortschritten der darstellenden Kunst geblieben
ist So büßen die „Italischen Musen", wie Piaton sie nennt, schwer, daß
ihnen eigentlich ntu: Urania, die Muse des Parmenides, gnädig gewesen
ist Ntir in der Welt der abstrakten Gedanken haben sie weitergewirkt;
in der Schärfe der Formeln, wie sie das mathematische Lehrbuch des
Eukleides zeigt, werden wir die Bedeutung des pj'thagoreischen wortiosen
Denkens nicht verkennen.
Aus der sophistischen Periode haben wir ein paar Stückchen dorischer
philosophischer und rhetorischer Prosa, die inhalüich ganz unselbständig
sind, sprachlich so viel beweisen, daß der Sieg der attischen Schriftsprache
starke dorische Ansätze zerstört hat Die Schriftstellerei des Sokratikers
Aristippos von Kyrene ist ganz problematisch; wohl möglich, daß jene
Produkte zu der Masse gehören, die seinen Namen ohne Berechtigung
trug. Seit dem i. Jahrhundert v. Chr. bedient sich die Fabrikation angeb-
lich alter pjrthagoreischer Schriften der dorischen Mundart, aber künstiich
und ungeschickt : doch hat die Wissenschaft dieses Gebiet noch viel zu
wenig angebaut
Neben der Philosophie hat das Westhellenische auf einem sehr ver- puy*kra
schiedenen Gebiete eine dauernde Wirkung ausgeübt, aber wieder ohne "°"* "'"*»•
Werke von dauerndem Kunstwerte zu erzeugen, obwohl Epicharmos und
Sophron selbst in den Bibliotheken der ägj'ptischen Landstädte der Kaiser-
zeit gestanden haben. Hier ist nun einmal die Wurzel rein dorisch. Die
Spartaner haben sich daran ergötzt, daß sich Leute auskleideten und
ihnen karikierte Tjrpen des Lebens voragierten. Korinthische Gemälde
zeigen uns ungeschlachte Rüpel; Wanst und Gesäß und natür-
lich der Phallus sind ins ungeheure entwickelt, sie hopsen und tanzen,
einzeln finden sie sich in Situationen, die auf eine bestimmte Handlung
deuten. Es sind offenbar keine Menschen, sondern irgendwelche
Kobolde. Daß man in Megara Geschichten aufführte, Dramata, steht
auch fest Auch aus Theben hören wir von Improvisatoren, cGeXovTai,
und die böotischen Vasengemälde liefern höchst drastische Travestieen
heroischer Geschichten. Aber daraus geworden ist erst etwas in den
Pflanzstädten. Für Unteritalien zeugen wieder die Vasenbilder; da sehen
wir eine Bühne mit ihren Akteurs schon Ende des 5. Jahrhunderts.
Unzweifelhaft hat sich dieses niemals literarisch gewordene Spiel auf
die empfänglichen Samniten und Campaner übertragen, und insofern
ist die oskische und römische Atellane ein Nachkomme der megarischen
42 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Dramata; im 3. Jahrhundert trägt ein Poet, den ein Forscher über die
Volksdialekte anführt, den italischen Namen Blaesus und stammt aus
Capri. In Tarent hören wir auch den alten Namen jener Kobolde,
Phlyakes, der es ausspricht, daß sie Dämonen der strotzenden Naturkraft
waren, phaUische Wesen, die seit der Rezeption des Dionysos in dessen
Gefolge geraten waren; doch hängt dieses Spiel keineswegs am Dionysos-
dienste, soviel wir wissen, überhaupt nicht am Gottesdienst Daß wir von
den Phlyaken etwas wissen, liegt daran, daß um 300 Rhinthon von Syrakus
in Tarent das Spiel vornehm machte: die m3rthologische Travestie ist bei
ihm zur literarischen geworden, und die Sprache wird bereits als Patois
Epichamo» empfunden. Auf dem Grrunde dieser Volksposse hat Epicharmos aus dem
(um 480?) si2iiischen Megara ein künstlerisch geformtes Spiel erbaut und ist der
Archeget der Komödie geworden, wie Homer der der Tragödie: das ist
das Urteil Piatons. Ein paar der Spiele, die auf seinen Namen gingen,
bezogen sich auf Ereignisse aus der Zeit Hierons; Megara war durch
Gelon zerstört So hat die antike Wissenschaft den Epicharm in diese
Zeit gesetzt, obwohl Aristoteles ihn für viel älter gehalten hatte. Aber
manches selbst von dem Teile seines Nachlasses, den die Philologie an-
erkannte, muß beträchtlich jünger sein, da es die platonische Philosophie
berücksichtigt; die Sprüche, die auf seinen Namen gehen und ihn am
meisten populär machen, sind vollends ganz unsicher. So hat auch hier
ein berühmter Name eine ganze Gattung in Beschlag genommen. Wir
haben eigentlich keine Vorstellung von diesem Drama. Es konnte eins
ganz und gar getanzt werden, doch mit sehr simplen Rh)rthmen, ohne
besondere Melodie. Meist war es nur Rezitation der archilochischen Masse,
Trimeter und besonders Tetrameter; ihr Bau ist nicht fein; die Sprache
einfach syrakusanisch, schlicht und gut, ohne besonderen Wortschmuck.
Es fehlt nicht an Proben von lebhaftem Dialoge, aber Schilderung und
Erzählung überwiegen. Und es gibt zu denken, daß einmal „Land imd
Meer" miteinander stritten, indem jedes aufzählte, was es dem Menschen
an Genüssen für den Gaumen lieferte, eine andere Bearbeitung dieses
selben Stoffes die Musen als Fischweiber bei der Hochzeit des Herakles
einführte.' Das Mythologische war also Nebensache. Aber ein Prototyp
jener cuficpiceic oder conflictus erscheint, die sich in vielen Gestalten durch
all die Jahrhunderte bis in die Renaissance ziehen. Der Typus des Be-
trunkenen, des Pairasiten, des Bauern zeiget sich; daneben die populärsten
Heroengestalten, Herakles und Odysseus travestiert Aber die Neugfier, so
stark sie gereizt wird, läßt sich nicht befriedigen.
sophroD Noch bitterer ist es, daß wir von Sophron von Sjrrakus nur einen
(nm 430). Schatten kennen. Vermutlich wäre nicht einmal sein Name aufbehalten
geblieben, wenn nicht Piatons Vorurteilslosigkeit das Buch von seiner
sizilischen Reise mitgebracht hätte (wie das des Philolaos); die Pedanten
haben ihn danmi verketzert, denn prosaische Skizzen in dem unverfälschten
bäuerischen Sjrrakusanisch paßten durchaus nicht in die Schulästhetik. Aber
Attische Periode (480 — 320). IL Attische Poesie.
43
wir dürfen dem Dichter der sokratischen Dialoge glauben, daß es Poesie
war. Nun war das Buch einmal da und gehörte in der hellenistischen
Zeit zur alten Literatur, so daß man es, wenn auch überwiegend aus
literar- oder sprachgeschichtlichen Interessen, las. Für das Publikum
mußte es erst umstilisiert werden, durch Theokrit und Herodas. Sophron
der Mimologe ist einer aus der Schar der Lustigmacher gewesen, die
im Westen zu Hause waren und von da in Scharen herüberkamen,
Luftspringer, Possenreißer, Pantomimen (was wir so nennen) und der-
gleichen, Jongleurs im alten und neuen Sinne. Offenbar steckt bereits
etwas Italisches in diesem Treiben; solche Banden hat Italien ja noch im
18. Jahrhundert über die Alpen geschickt Dies einzige Mal sind solche
Improvisationen aufgezeichnet worden, in denen ein geschickter Sprecher
Szenen des Lebens in realistischer und chargierter Wiedergabe der Wirk-
lichkeit vortrug. „Die Damen beim Frühstück", „die Greise", „die
Zauberinn^n", „Bauer und F"ischer". Diese „Nachahmung", der Mimus, hat
nie aufgehört, das niedere Volk zu belustigen; in beständigem Wechsel
blieb sie immer dieselbe. Ohne Frage hat sie eine sehr bedeutende Rolle
gespielt, aber immer unterhalb der eigentlichen Literatur und des Interesses
der tonangebenden Gesellschaft
II. Attische Poesie. Als der Knabe Pindaros nach Athen auf die
Musikschule kam, war dort durch den Kunstsinn des Hipparchos musika-
lisches und literarisches Interesse geweckt; aber die fremden Dichter waren
nach seiner Ermordung fortgezogen. Für die hellenische Literatur hatte
Athen bisher noch weniger bedeutet als für die hellenische Geschichte; eine
attische Literatur bestand vollends gar nicht Denn Solon, als Gesetzgeber
und Weiser eine Figur von anerkanntem Ruhme, war als Dichter doch
nur einer von vielen, und bedient hatte er sich der ionischen Formen.
Pindar hat an den Dionysosfesten Athens vermummte Chöre tanzen
und singen sehen; das war wohl etwas ausgebildeter und reicher als an
anderen Orten, aber qualitativ durchaus nichts Besonderes und wieder gar
nichts Attisches. Am Kelterfeste im Januar kamen sie in allerhand phan-
tastischer Auskleidung, namentlich in Tiermasken, als Pferde, Vögel,
Wespen, Frösche; der Führer hielt eine Ansprache an das Volk, der Chor
sang Ernstes und Lustiges; schließlich zogen sie unter Führung des Flöten-
spielers ab, in dem lustigen Zuge, den man Komos naimte und den die
Zecher als Abschluß privater Gelage in vielen Nächten zum Unbehagen
friedlicher Schläfer ausführten (Anakreon wird zu Hipparchos' Zeiten im
Komos z. B. zum Hause des Harmodios gezogen sein); an dem Hauptfeste
des Dionysos im Blumenmonat .schloß ein solcher Zug das allgemeine
Trinktest ab. Die Gesänge zum Komos waren Komödien. An dem neuen
Frühlingsfeste des Dionysos, das Peisistratos gestiftet hatte, ging es etwas
vornehmer zu: da traten im Gottesdienste selbst Chöre von Böcken oder
Satyrn, den Dienern des Gottes auf, auch sie sehr burlesk aufgeputzt, und
AttUche«
44 Ulrich vo.v Wil.\mowitz-Moellf.ndorff: Die griechische Literatur des Altertums.
neben ihnen ein „Antworter", uTroKpiTTJc, der ionische lamben sprach. Diese
Satyrchöre waren nichts Attisches, sondern der Lesbier Arion hatte in Korinth
zur Zeit der dortigen Tyrannis das volkstümliche Kostüm für die Sänger der
Dionysoslieder übernommen. Es ist unverkennbar, daß die Tiergestalten
der Lenaeen im Grunde kein anderes Wesen haben als die Halbtiere der
Dionysien; die Phlyaken oder Rüpel von Korinth und Tarent sind auch
nichts anderes. Der lambus war auch etwas Fremdes, nicht minder
ionisch jetzt als zu Solons Zeit; daß der Sprecher aus einer fremden
Person heraus redete, war nichts Neues: das gab es sogar schon bei Archi-
lochos. Aber die Vereinigung der so disparaten Gattungen war der Ein-
fall des Thespis aus dem attischen Bergdorfe Ikaria, das eigene Dionysien
hatte und noch heute Dionyso heißt. Er war mit seinen Gefährten auf
dem Wagen herumgefahren, wie es einst der Gott getan hatte, und sie
hatten ihre Spaße getrieben. Da der „Bocksgesang«, die Tragödie, Beifall
fand, war er in die Festordnung der neuen Dionysien aufgenommen. 534
ist er dort zum ersten Male aufgeführt, ob von da ab regelmäßig, ahnen wir
nicht; keinesfalls ward die Erfindung als etwas Epochemachendes angesehen.
Hundert Jahre später waren Tragödie und Komödie abgeschlossen. Es
war entschieden, daß diese spezifisch attischen Gattungen die hellenische
Poesie ebenso krönten wie das attische Reich den Höhepunkt der helle-
nischen Geschichte bildete, das zur selben Zeit starb wie die Tragödie mit
Sophokles und Euripides; auch die Komödie hatte bereits ihre Blüte hinter
sich. Aber in den attischen Dramen besaß die Nation eine poetische
Literatur, die schon an Volumen alles Ältere übertraf, und mehr noch dixrch
Lektüre eds durch Wiederholung des Spieles auf anderen Bühnen beherrschte
die Tragödie wirklich die ganze Nation. Auch das war ein ungeheurer
Fortschritt Die Sprache verleugnete zwar ihre Herkunft aus den zwei
fremden Stilen keineswegs, aber die attischen Dichter hatten beide so ab-
zutönen gewußt, daß das Ganze harmonisch und attisch war. Schon um 450
hatte der Chier Ion, nicht viel später der Arkader Aristarchos dies Attisch
schreiben gelernt Der Inhalt war derselbe wie in den panhellenischen
Gattungen Epos und chorischer Lyrik, die Heldensage, freilich inner-
lich ganz neu gemacht; aber nur dadurch, daß die Kontinuität aufrecht-
erhalten war, konnte die attische Tragödie ihre panhellenische Geltung
erringen. Erhabene Stilisierung (ciroubaia) forderte der Hellene von seiner
Poesie: das war das Vermächtnis Homers. Dieser Charakter ward in der
Tragödie noch gesteigert; tragische Rede ist für Piaton künstlich erhaben
und stilisiert Indem das alte burleske Spiel der Satyrn auf den homerischen
Ton gestimmt ward und den homerischen Inhadt erhielt, ward die Tragödie
in Wahrheit erst sie selbst Das ist das Werk des Aischylos von Eleusis:
dadurch ist er der andere Homer der griechischen Poesie geworden.
AiMhyio» Aischylos war Dichter, Schauspieler, Chormeister von Metier; in dem
(t45'>) Stande ist er und seine Deszendenz geblieben. Aber die Demokratie ließ
auch dem Chormeister die Ehre, für das Vaterland in Reih und Glied zu
B. Attische Periode '480—320:. II. Attische Poesie.
45
fechten und auch die, den Ruhm ihrer Taten auf dem heimischen Tanz-
boden und vor dem Zwingherm von Syrakus zu verkünden. Welch ein
Vorzug vor Pindar und Bakchylides. Der attische Dichter ist kein Fahren-
der mehr, er hat Anteil an dem Ruhme, den er besingt Als Aischylos
bei Marathon seinen Bruder neben sich fallen sah, hatte er im Geiste die
geniale Tat seines Lebens bereits vollbracht, das Bocksspiel zur Tragödie
umgeschaffen; aber noch hatte er das Publikum nicht gewonnen: erst
sechs Jahre später hat er den Preis erhalten. Die innere Weihe zu dem,
was ihn als religiösen Dichter neben imd über Pindar stellt, empfing er
auch erst durch die Kämpfe, in denen er wie sein Volk erfuhr, daß Gott
bei den Mutigen und den Freien ist, die der Knechtschaft des Leibes ent-
gehen, weil sie die Freiheit der Seele besitzen: des Leibes Leben mögen
sie dann frohen Mutes in die Schanze schlagen. So erhob er sich zu
einer höheren freieren Frömmigkeit als Pindar. Aber ein volles Kunstwerk
hat er doch erst in dem letzten Jahrzehnt seiner Tätigkeit schaffen können.
Wohl hatte er durch Heranziehung eines zweiten Sprechers den Dialog
und damit das Drama erst geschaffen; aber der Dialog trat noch ganz
zurück vor den Chorliedem und der epischen Erzählung, und diese beiden
standen noch unvermittelt nebeneinander. Wohl war dadiu-ch, daß drei
(mit den SatjTn vier) Chöre hintereinander auftraten, die Dramatisierung
einer Geschichte erleichtert; aber das erzielte nicht die Einheit der Hand-
lung, sondern wirkte ihrer straffen Führung auf ein Ziel entgegen. Der
Schauplatz war nur unvollkommen in den Bereich der Illusion gezogen.
Die Zeit hatte überhaupt noch gar keine auch nur relative Realität Da
macht das Auftreten des jungen Sophokles Epoche, der gleich im ersten
Gange den alten Meister überwindet (468). Er fügt den dritten Schauspieler
hinzu; der Schauplatz wird durch die Errichtung einer festen Hintervvand
fixiert; die Geschichte wird wirklich in Handlung vorgeführt; die Chorlieder
grenzen Akte ab, und die Dehnbarkeit der Zeit wird auf diese Zwischenakte
beschränkt Von all dem weiß Aischylos selbst noch vollen Nutzen zu
ziehen. Jetzt erst dramatisiert er die Ilias und schöpft die echte Tragik des
homerischen Achilleus aus. Jetzt erst schafft er die Orestie, die ihn uns
allein als einen Dramatiker zeigt, der keinen über sich anerkennt Nun
ist jedes einzelne Drama wirklich eine abgeschlossene Einheit, und die
trilogische Vereinigung steigert wohl die Wirkung eines jeden, aber sie
bedingt sie nicht, es ist vielmehr der Kontrast der Stilisierung, den wir
bewundern, bewußte Kunst Hier sind die Charaktere nicht mehr typisch,
sondern individuell, ja das Höchste, was das Drama allein geben kann
und nur so selten gibt, ist erreicht: wir sehen die innere Entwickelung,
die Peripetie und die Katastrophe sich in den Seelen der Menschen voll-
ziehen. Daß es dem Rationalistenauge unbemerkt bleibt, ist nur in der
Ordnung: das sieht ja nicht in die Seele,
Sophokles hat bald eine Anzahl Konkurrenten erhalten; als Aischylos sopiMkie«
abtrat, den Euripides, und fast 50 Jahre sind die so sehr verschiedeneu '* ***'
46 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Dichter nebeneinander tätig gewesen, bis dann der neunzigjährige Sophokles
noch um Euripides die Trauertracht anleg^te. Wir hören nichts von persön-
licher Berührung, sie konnten sich auch schwerlich lieben; aber Euripides
hat namentlich zuletzt auf Sophokles stark gewirkt Das Umgekehrte
können wir nicht nachweisen, aber es hat ohne Zweifel in ihrer Jugend
stattgehabt. Insofern hat es eine Berechtigimg, daß man gemeiniglich so
tut, als bestünde ein zeitlicher Abstand zwischen ihnen. Während Euripides
nur Dichter ist, aber mit imgestillter Begfier alle Anregungen aufeucht,
die das regsamste Jahrhundert bieten konnte, man möchte fast sagen
als Gelehrter, ist Sophokles dem politischen Leben zugewandt. Die
ästhetisierende Betrachung, die ihn vor loo Jahren zur Inkarnation des
damals geträumten Hellenentumes machte, legte dem keinen Wert bei,
daß er die höchsten Verwaltimgsstellen, und zwar in kritischen Zeiten,
eingenommen hat Die Antigone ist mit der frischen Lebenserfahrung
eines Staatssekretärs des Reichsschatzamtes geschrieben. Mag er auch
nach dem Urteil eines Zeitgenossen nur so viel politische Fähigkeit
besessen haben wie ein ordentlicher Durchschnittsathener: seine beiden
dionysischen Genossen haben auch so viel nicht besessen. Ein anderes haben
wir jüngst gelernt: er hat einen neuen Gott in Athen eingeführt, den
Asklepios, ohne Zweifel weil er ihn glaubte; er hat Träume gehabt und
danach gehandelt, er ist zum Heros nach seinem Tode erhoben worden:
auch dies hätten die beiden anderen nicht gekonnt Vom ersten bis zum
letzten Tage ist ihm die Gunst seines Publikums getreu geblieben, um die
Euripides fast immer vergebens gerungen hat, geflissentlicher als es bei
Sophokles kenntlich ist Nach ihrem Tode hat sich das freiUch umgekehrt;
Sophokles rangiert mit Aischylos unter den Klassikern: Euripides ist zu
allen Zeiten eine lebendige Macht, „der Tragiker", der mit Homer wett-
eifern kann; kein dritter tritt je hinzu. Von ihm haben wir Bände imd
Blätter der Gesamtausgabe seiner Werke, von den beiden anderen nur
eine karge SchulauswahL Von Aischylos zu Euripides geht eine gerade
Linie der Entwickelung, freilich erst von dem Aischylos der letzten Zeit
Sophokles steht beiden ferner, wie er denn schon seine Dialogverse nach
einem ganz anderen Prinzip baut Weil er seines Tages am meisten im
Sinne des Publikums schuf, ist er für uns weitaus der schwerste. Wir haben
ein Selbstzeugnis, er hätte erst die Nachahmung des Aischylos, dann das
Verkünstelte in seiner eigenen Begabung überwinden müssen, bis er die
rechte Haltung des Stiles traf. Das Künsteln an der Sprache, nicht
ohne Gewaltsamkeit und Übertreibung ist er in Wahrheit nie los ge-
worden; von der Rhetorik, die bei Euripides in g^tem imd bösem zu
wirken beginnt, hat er nichts, aber an die Wagnisse des hellenistischen
gelehrten Stiles erinnert vieles. Wir haben das treffende Kimsturteil, daß
er wie Pindar neben den hinreißenden ganz matte Partieen hätte. Bei seiner
ungemeinen Fruchtbarkeit ist es begreiflich, daß er häufig nur das Epos in
die neue Form umsetzte (wie Shakespeare die Biographieen Plutarchs), xmd
B. Attische Periode (480 — 320). II. Attische Poesie.
47
Neuerungen der Handlung hat er überhaupt gar nicht gesucht, wenn er auch
natürlich nicht vor ihnen zurückschreckt; der Philoktet ist ein Beispiel,
aber in ihm ist auch der Einfluß des Euripides sehr fühlbar. Die Tatsachen
nahm er hin, wie er ja ein gläubiger Bekenner der herrschenden Religion
war; was er wollte, war, ihnen die innere Wahrheit und Glaublichkeit zu
verleihen: er schuf aus seiner Menschenkenntnis die Elektra, die zum
Muttermorde kommen konnte, den die Götter guthießen, und dementsprechend
eine Mutter, die diesen Tod verdiente. Er schuf den Aias, der den Ver-
lust der Ehre nicht verwindet, obwohl er sich keines Verstoßes gegen sie
bewußt ist, und neben ihm verschieden nuanciert die Charaktere der
politischen Welt, in die ein solcher Aias nicht paßt; aber zu dieser Um-
gebung gehört auch eine Athena, die den Aias in Ehrlosigkeit und Tod
treiben darf. Auch Antigene, die für das ewige Recht gegen die Polizei-
vorschriften der Willkür eintritt, ist doch die wilde Tochter aus wildem
Stamme: sie würde sonst den Heroinenmut nicht haben, den kein Athener-
mädchen besaß. Für Sophokles war es eine erhebende Offenbarung der
göttlichen Allmacht, wenn der unschuldige Ödipus dem entsetzlichsten
Lose anheimfiel und dann wieder als verbitterter Bettler im Tode erhöht
ward. So bietet diese Bühne das Bild des Menschenlebens in hundert
Lagen, an Hunderten von Personen, ganz wie es sich dem Betrachter
Sophokles darbot. Das wollte, das konnte er seinem Volke geben. Über
diesen Menschen aber stand nicht strafend und lohnend ein Richter der
sittlichen Verantwortung, sondern eine Welt von übermächtigen Gewalten,
deren Haß und Liebe niemandem Rechenschaft schuldete, am wenigsten den
Menschen. Menschenwille und Menschenfreiheit fand ihr Ziel an dem un-
begreiflichen Belieben der Gottheit, in das der Fromme sich ergibt, was er
auch leide. Dabei drängt Sophokles seinen Glauben nicht im entferntesten
auf; er wirkt durch die Geschichten, wie er sie darstellt; aber der Drama-
tiker, der uns das, was er geschehen läßt, glaublich machen muß, wird
mehr als ein anderer Dichter durch das bestimmt, was er glaubt.
Euripides ist in erster Linie schaffender Dramatiker. Er macht sich die Euripidet
Stoffe viel mehr als er sie übernimmt; darin reicht ihm selbst Shakespeare '^ ***"
nicht das Wasser. Denn die Heldensage, wie er sie findet, genügt ihm nie:
immer dichtet er nicht nur die Charaktere, sondern auch die Handlung
um. Und er geht weiter: er greift neue Stoffe auf (wir wissen es von
einem Dorfmärchen) und überträgt sie nur auf die bekannten Namen. Und
er sucht sich in der alten Fabel Probleme, an die diese nicht von ferne
gedacht hat Bei Homer hat der König der Winde sechs Söhne und sechs
Töchter: die müssen einander freien, ebenso notwendig wie daß Kain und
Abel ihre Schwestern nehmen. Es ist eine Nebensache, für die ein Vers
genügt Aus dem macht Euripides eine Tragödie, die das Problem der
Geschwisterliebe behandelt Das „drame ä th^se" ist überhaupt seine
Erfindung. Denn Wcis ihn interessiert, ist wohl auch der merkwürdige
Fall, daß sich aus ganz bestimmten Voraussetzungen und bei durchaus
48 UuucH VON Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
rationellem Verlaufe ein Resultat ergibt, das aller gemeinen Wahrschein-
lichkeit zuwiderläuft; aber noch viel mehr liegft ihm am Herzen, was solche
Konflikte und solche Resultate hervorruft. Das ist ihm die Leidenschaft,
die erst im Menschen alle widerstrebenden Mächte überwinden muß, und
wenn sie Kopf und Herz unteijocht hat, den Kampf mit allen Hindernissen
aufnimmt, die die Gresellschaft errichtet hat, um den Eigenwillen des
einzelnen zu bändigen. Diese Konflikte des einzelnen mit den Verhält-
nissen (irpdy^axa) sind nicht etwa tragisch im Sinne Schillers: die Demo-
kratie der Sophistenzeit hat nichts gemein mit einem FreiheitsbegrifF, der
unter dem Absolutismus gewachsen ist Der Tyrann der eiuipideischen
Menschen ist noch viel weniger das Fatum der Braut von Messina (man
keimzeichnet das Ungriechische dieses Popanzes am besten durch das
lateinische Wort): das ist vielmehr der Nomos in allen Nuancen des Be-
griffes, die er diu-ch die Sophisten erhält: zum Nomos gehören der Staat imd
der Götterglaube und die Sätze der anerkannten Moral ebenfalls. So wird
jeder reale Klampf wider einen Nomos zu dem dialektischen um seine Be-
rechtigung. Daß der einzelne unterliege, ist keineswegs notwendig: die
Albernheit, in dem Untergange des Helden das Charakteristische eines
„Trauerspieles" zu sehen, mußte den Athenern ganz fem liegen: was geht
sie diese alberne Übersetzung von Tragödie an? Daß der Dichter mit
seiner Ansicht über den absoluten oder relativen Wert eines Nomos hervor-
träte, ist ebensowenig notwendig: er g^bt das Bild der Welt, und deren
Lauf zeug^ immer zugleich für und wider die Theodicee. Wenn Aristoteles
dem Euripides neben dem berechtigten Tadel, daß er es mit der Ökonomie
seiner Dramen oft gar läßlich nehme, das Lob zollt, der am meisten
tragische Dichter zu sein, so denkt er an die patholog^che Wirkung auf
die Zuschauer, die er allerdings geflissentlicher als Sophokles erschüttern
und rühren wilL Aber das sind gerade Partieen, die uns minder sympathisch
sind, und in denen seine höchste Kunst, individuelle Menschen zu bilden,
stark zurücktritt Wie seine Menschen, ist er selbst am größten, wenn er
nicht dem Nomos folgt, sondern in Konflikt mit ihm gerät
Während wir von Sophokles keine Ahnung haben, wie er vier Dramen
für eine Vorstellung verband, kaimi eine Ahnung, wie anmutig er zu
scherzen wußte, imd auf Grund von nur sieben Stücken mit Widerstreben
allgemeine Urteile wagen, übersehen wir die Entwickelung des Euripides
leidlich, staunend über den Unermüdlichen, Unbefriedigten, der noch in
seinem letzten Jahre die Bakchen ganz aischyleisch stilisiert imd als
Kontrast die aulische Iphigeneia bis dicht an das bürgerliche Drama herab-
stimmt Wir besitzen ein Satyrspiel, wenig geeignet, von der Gattung
eine Vorstellung zu geben, da Euripides nicht viel Humor vmd gar keine
naive Lustigkeit besitzt (bezeichnenderweise ist die Figtir am gelimgensten,
in der er das konventionelle Heroentimi der Tragödie parodiert), aber es
g^bt zu seiner Ch£irakteristik ein wichtiges Komplement Wir sehen, daß er
in den Stücken, die er für den dritten Platz berechnete, auf starke Einzel-
B. Attische Periode (480—320). II. Attische Poesie. ^g
effekte aus ist, auch sinnlich szenische, dagegen komplizierte Verwicke-
lungen dem ermüdeten Verstände seiner Zuschauer nicht mehr zumutet.
In allem offenbart sich, daß Euripides vor allen Dingen Dramatiker ist.
Die Bühnenwirkung hat er immer im Auge, und die verfehlt er auch nie;
man muß nur seinen Intentionen folgen und muß natürlich seine Bühne
und sein Publikum voraussetzen. Diesem Effekte hat er freilich manches
geopfert, das uns Lesern höher steht; daher der Widerwille unserer Roman-
tiker, die das Publikum verachten, und ihre Potenz in der Erzeugxmg
kielkröpfiger Lesedramen erschöpfen. Aber Goethe diktierte noch am
22. November 1831 in sein Tagebuch: „Ich las hernach den Ion (dessen
Schlegelsche Verballhomung er einst patronisiert hatte) des Euripides
abermals zu neuer Erbauung und Belehrung. Mich wundert's denn doch,
daß die Aristokratie der Philologen seine Vorzüge nicht begpreift, indem
sie ihn in herkömmlicher Vornehmigkeit seinen Vorgängern subordiniert,
berechtigt durch den Hanswurst Aristophanes. Hat doch Euripides zu
seiner Zeit ungeheure Wirkungen getan, woraus hervorgeht, daß er ein
eminenter Zeitgenosse war, worauf doch alles ankommt. Und haben denn
alle Nationen seit ihm einen Dramatiker hervorgebracht, der nur wert
wäre, ihm die Pantoffeln zu reichen?" Das war sein letztes Wort über
das Drama überhaupt
Die Tragödie, wie sie Sophokles und Euripides hinterlcissen, hat spaicrc
weiter keine Entwickelung mehr. Ihre Mitstrebenden, unter denen es '■""b*'"'
gewiß an eigenartigen Talenten nicht gefehlt hat, haben sie vollkommen
in den Schatten gerückt; bei ihrem Tode ist nach allgemeinem Urteil
die tragische Bühne verödet Wohl werden noch jahrhundertelang eine
Unzahl neuer Stücke geschrieben imd aufgeführt, aber alle halten sich
in Stoff und Form wesentlich an die nun festgestellte Gattimg. Nichts
entsteht daher, was mehr als ephemeren Erfolg hätte, und was ein wenig
von dem Typus abzuweichen wagt, hat nicht einmal den. Die Führung
ist durchaus bei der Schauspielkunst; die Regisseure verfassen gelegentlich
auch selbst neue Stücke, die kaum je literarisch werden. Die Rhetorik, erst
die des Gorgias, dann die des Isokrates, bemächtigt sich eine Weile des
tragischen Stiles; zum Glück entscheidet sich dem gegenüber der Geschmack
des Publikums für die alte Poesie, und die Festordnungen müssen für diese
Raum schaffen. Vermutlich haben einzelne Alexandriner ganz artig gespielt
(bei ihnen ist wenigstens die Tendenz kenntlich, aus Romantik zu der alten
Tragödie und zum Satyrspiel zurückzukehren); aber das kam kaum über
den Salon hinaus. Die Stücke, die von den Römern im 2. Jahrhundert aus
dem Repertoir der damaligen Schauspielerbanden übersetzt sind (Eintags-
fliegen, um die das literarische Publikum der Griechen sich nicht
kümmerte), zeigen nichts als Übertreibungen alter Motive, wie Iliona,
Chryses, Dulorestes. Und doch mußte eigentlich das euripideische Drama die
Fesseln des tragischen Nomos sprengen. Seine Menschen waren innerlich
keineswegs mehr Heroen, und die Verwickelungen der Leidenschaften, die
DiK KULIUR DIR GkGBHWART. 1 i. 4
50 Ulrich vom Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
er zeigte, waren noch viel weniger heroisch. Wozu noch diese Masken?
Die Götter waren ihm zuletzt vorwiegend nur Maschinen, gfut dazu, die
Geschichte, die er frei erfand, gewaltsam in das alte Gleis zurückzuleiten.
Der Chor war ihm oft unbequem: so schöne Lieder er ihm auch gab, diese
Lyrik kam dort kaum zur rechten Geltung, und für seine Handlung war ein
stummer Akteinschnitt sehr viel passender, wie diesen denn bald die
Komödie einführte. Die Arien, die er aus dem neuen Dithyrambus herein-
nahm, waren sehr wirksam, aber sie denaturierten das Dramatische. Dagegen
war die Beschränkung in der Zahl der Schauspieler ein Hemmnis, das gar
keine Berechtigung mehr hatte ; wir sehen ganz zuletzt Sophokles sogar einen
vierten zuziehen; auch aus dem 4. Jahrhundert liegt ein Beispiel der Art vor.
Aber die Ästhetik dekretiert noch bei Horaz die heilige Drei, und Seneca
hat sich daran gehalten. Die epische Erzählung, wie Euripides sie aller-
dings virtuos in den Botenreden kultivierte, konnte sich auch nur durch
die Macht der Konvention halten. Moderne Schauspielkunst, die das
Epische verkennt und auch nicht episch zu sprechen versteht, agiert sie
pathetisch und verdirbt dadurch ganz ihre Wirkung. Es ist ja deutlich,
worauf alles hinzielt: auf ein ernstes Schauspiel, für das weder Tragödie
noch Komödie der rechte Name ist, auf eine Wiedergabe der schweren
inneren und äußeren Probleme des Lebens, in dem der Dramatiker und
sein Publikum selber stehn, man könnte sagen auf Ibsen; aber den Vers
und die Stilisierung, die der Vers mit sich bringt, würde ein Grieche nie
aufgegeben haben, und nur durch diesen wird dem Versinken in die stil-
lose Pöbelhaftigkeit vorgebeugt, die jetzt wahr zu sein vermeint, wenn sie
gemein ist, die Prosa gar zur Dialektimitation degradiert und in unartiku-
lierten Lauten den Ausdruck der Gefühle sucht „Verstohlen borgt er aus
der Umgangssprache", so lobt Aristoteles die euripideische Diktion: so
geht ein Dichter vor, der die Muse achtet, die nicht in der Gosse, sondern
im Himmel zu Hause ist Die rechten Erben der vollendeten Tragödie
waren einerseits der Dialog Piatons, anderseits das Lustspiel Menanders.
Um so gewaltiger und dauernder war der Einfluß der klassischen Tra-
gödien. Der Wahn, die Schaubühne zu einer moralischen Anstalt machen
zu wollen, wird immer wieder durch diese Werke und ihre Wirkung
hervorgerufen, obwohl diese zu ihrer Zeit in unwiederbringlichen Bedin-
gungen beruhte, dem noch nicht lesenden Publikum, der räumlichen Enge
der Kultur, der nationalen Heldensage. Die spätere Wirkung auf die
antike Welt aber hat die Unfruchtbarkeit und den Autoritätsglauben vieler
Generationen zur Voraussetzung, die sich von den Klassikern beherrschen
lassen. Da teilt sich die Tragödie mit Homer in die Herrschaft über den
Jugendunterricht; die euripideischen Sentenzen ersetzen die alte Elegie;
die zahlreichen Aufführungen in den Theatern, deren bald jede Kleinstadt
eins haben will, erschüttern die Herzen des ganzen Volkes und erfüllen
die Phantasie mit grandiosen Bildern einer immer mehr über das Mensch-
liche gesteigerten Idealwelt So geht es bis in die frühere Kaiserzeit,
B. Attische Periode (480 — 320). IT. Attische Poesie.
5«
und als später die Tragödie in der Schule und auf der Bühne zurücktritt, was H
dem Homer zu statten kommt, fällt es bezeichnenderweise mit der Verrohung ■
der Sitte und des Geschmackes zusammen. Aber immer noch schöpft die H
Literatur aus dem unergründlichen Borne sowohl Motive wie Charaktere. H
Noch die Byzantiner nennen den Roman ein Dramatikon und das Volkslied, I
wohl zuerst das erzählende, ein Tragudion.
Komische Chöre scheinen schon bald nach den Perserkriegen ein- Aiia Komödie,
gefuhrt worden zu sein; aber das Spiel blieb zuerst so wenig literarisch
wie vorher, als es von Dilettanten veranstaltet wurde; es kam hinzu, dciB
sich eine Komödie der alten Art nicht wohl ohne starke Umarbeitung
wiederholen ließ. So haben die antiken Philologen, die schon früh der
Komödie besondere Sorgfalt angedeihen ließen, nur wenige Stücke ge-
habt, die über den Anfang des Peloponnesischen Krieges hinaufreichten.
Damals war unter dem Einflüsse der längst gefestigten Tragödie die sehr
seltsame Kunstform erreicht, die wir in den wenig jüngeren ersten Stücken
des Aristophanes finden. Da stammt aus der Tragödie (die auch für die
Sprache immer den Hintergrund abgibt, von dem sich das Komische be-
wußt, oft parodisch abheben will) gleich die Regel, daß dem Auftreten des
Chores ein Akt in reinem Dialogmaße vorausgehen muß, der im wesent-
lichen der Exposition dient Am Ende findet sich noch der Komoszug,
aber er beginnt umgestaltet zu werden; doch bleibt es dabei, daß das
Abtreten der Schauspieler und des Chores ausdrücklich angegeben wird,
was die Tragödie schon überwunden hatte. Das alte Hauptstück, die
Anrede des Volkes und das Festüed, erscheint nun als eine besondere
Wendung des Chores an das Volk, Parabase; ihr Platz zu machen, muß
die Bühne sonst leer gemacht werden, und dadurch scheidet sich das
Stück in zwei Hälften mit sehr verschiedenem Tone. Zwar kommt fast
regelmäßig noch eine zweite Parabase, wenn auch verkümmert: offenbar
hat man durch die Verdoppelung den Umfang der Stücke auf den der
Tragödie bringen wollen. Aber vom ersten Aufh-etcn des Chores bis zur
ersten Parabase pflegt das meiste in Tanzrhythmen gehalten zu sein, mit
lebhaftester Aktion sei es des Chores gegen eine Person (was das Ursprüng-
liche sein wird), sei es zweier Personen, deren eine der Chor unterstützt
In dieser Partie ist die Maske des Chores das eigentlich Treibende: mit
ihr zusammen konzipierte der Dichter seine Fabel. In dem Aufbau ist
noch kenntlich, daß er die Gliederung der Parabase mehrfach wieder-
holt, Lied und Rezitation zur Flöte, für die nur hier die Responsion auf-
gegeben ist Hinter der Parabase überwiegt das Dialogmetrum; der
Chor oder wenigstens seine Maske tritt ztirück; es reihen sich zwanglos
und ohne viel Motivierung lustige Szenen aneinander, hervorgerufen durch
das Zutreten einer neuen Person: die Szenen heißen danach Epeisodien
und machen die Komposition wirklich episodisch. Man ahnt, daß einst zu
dem Tanze und Gesänge des phantastischen Chores die Improvisationen
einzelner Phlyaken traten: diese, nicht etwa die tragischen Antworter,
4*
52 Ulrich von Woamowitz-Moeixendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
sind die Ahnherren der komischen Schauspieler. Das zeig^ das verwandte
Kostüm, insbesondere der riesige Phallus, der zu imerschöpflichen Spaßen,
in Situationen und Worten, Anlaß g^bt Denn der Ton ist durchgehends
das vollkommene Gegenteil der tragischen Wohlanstandigkeit; es regiert
eine kräftige gesunde Zote, an der Götter und Menschen ihre Freude
haben müssen, sie seien denn Mucker oder Beghinen, denn es res^ert
nicht der Barbar gegen die aufgedrungene Zivilisation, wie im Ghrobianis-
mus, noch die Lüsternheit, die Schwester der Galanterie: die Lysistrata
greift ein Motiv auf, das sich trotz aller Heuchelei eines verlogenen
Anstandes immer wieder hervorwagt, weil es tief in der Natur der Ge-
schlechter vrarzelt; aber so natürlich wie von Aristophanes wird es nie
wieder behandelt werden. Und geadelt wird alles durch die unübertre£f-
liehen Verse, die immer frische und in ihrer Ungezwimgenheit wahrhaft
klassische Sprache, durch die klangvollen Lieder, die (wo nicht tragische
Parodie vorliegt) jene einfachen ionischen Maße haben, die unserem Ohre so
viel wohllautender sind als die der chorischen Lyrik. Aristophanes gibt in
ihnen Stimmimgsbilder der elementaren Natur, die an Zartheit der Empfin-
dung imd Schmelz des Ausdruckes im Altertum unerreicht sind. Schließ-
lich ist die Hauptsache jene Anmut, deren Lieblingssitz nach Piaton die Seele
des Aristophanes war. Es versteht sich ganz von selbst, daß Illusion der
Wirklichkeit imd Probabilität der Handlung schlechthin hier nichts zu
suchen haben. Dasselbe Haus des Hintergrundes kann ohne weiteres das
Verschiedenste bedeuten: wäre es nicht beschämend, so müßte es wie eine
aristophanische Posse wirken, wenn die pedantischen Erklärer ihre Logik
und Konsequenz dem Aristophanes oktrojrieren. Sie haben es auch fertig
gebracht, in der politisch moralischen Tendenz oder auch der literarischen
Kritik das Wesentliche zu sehen, die allerdings den Reiz mancher Dramen
erhöhen, aber von mehr als einem Dichter gar nicht angestrebt worden
sind. Sie haben in den Hanswurstiaden tiefe Sozialpädagogfik gesucht und
die Dichter beurteilt, als wären sie Aischylos und Pindar oder wollten
es sein. Sie haben entdeckt, daß es im Wesen der Komödie gelegen hätte
politisch konservativ zu sein. So schwer ist es, Poesie als das zu nehmen,
als was sie sich gibt, Possen also als Possen. Wer den Phedlus, das
Symbol des Dionysos, nicht ehrt, ist die Komödie nicht wert Als die
Dezenz nicht mehr duldete, daß man ihn zur Schau trug, verloren die
Possen ihre gesimde Harmlosigkeit, tmd als das Kraftgefiihl der großen
Zeit dem Elend gewichen war, und selbst imi die Lippen der praxitelischen
Götter ein Zug der leisen Wehmut sich legte, da waren der gaukelnden
Phantasie die Flügel geknickt Die Welt konnte nur einmal die schönen
Jugendträume und mit ihnen die schrankenlose Ungebundenheit des
demokratischen Athens ertragen: eine solche Jugend kommt nicht wieder.
Deurum hat es nur einmal die aristophanische Komödie gegeben; von
ihren klassizistischen Imitationen alter und neuer Zeit braucht man nicht
zu reden.
B. Attische Periode (480 — 320). II. Attische Poesie.
53
Wir lesen und bewundem nur noch Aristophanes, also erntet er den Anitopii».,«
Ruhm, der der Gattung zukommt, mit; wenigstens für uns ist sein indi- '""'* *'' J""^-
vidueller Stil so wenig kenntlich, daß niemand selbst einer Versreihe an-
merken kann, ob er sie verfaßt hat oder einer seiner Genossen. Die
Komödie ist ohne Frage erst auf die Höhe gekommen, als die beiden
blutjungen Leute Eupolis und Aristophanes kurz nach Perikles' Tode auf-
traten; der Olympier hatte diese Preßfreiheit mit Recht bedenklich ge-
funden und vergeblich zu zügeln versucht. Eupolis, der dem Aristophanes
mindestens ebenbürtig war (politisch durchaus nicht in dem Sinne kon-
servativ wie dieser), hat ihm bald das Feld geräumt, da er in einer See-
schlacht fiel. Kralinos, den die beiden als Herrscher der komischen Bühne
vorfanden, starb noch früher. Er darf nicht der Aischylos der Komödie
heißen: das verbietet Epicharm, dessen Einwirkung auf Athen sicher ist;
wohl aber hat er von Archilochos (den er auch zum Helden einer Komödie
machte) die persönlich- aggressive Polemik übernommen, auch das Ein-
setzen seiner Person. In dem letzten Stücke, das ihm kurz vor dem Tode
noch einmal den Sieg über die anmaßliche Jugend gab, spielte er sich
selbst, verklagt von seiner Ehefrau Komödie, die er vor der Dame
Bouteille (TTurivri, das ist in Athen Fremdwort) gröblich vernachlässigte. Neben
diesen beiden hatte Aristophanes nur Rivalen, die sich mit ihren Aspirationen
in tieferen Sphären hielten, während er allerdings zu der Tagespolitik fast
alljährlich Stellung nahm und sein persönlicher Angriff, selbst wenn das
Stück nicht gefiel, recht gefährlich ward, wie das Sokrates erfahren hat Er
ist denn auch am Ende seines Lebens von seinen Gemeindegenossen für
den Rat präsentiert worden; hoffentlich hat er nicht selbst auf praktisch-
politische Einsicht Anspruch erhoben. Für seinen Dichterruhm wäre es
vielleicht vorteilhafter gewesen, wenn er nicht bis ziemlich zum Antialkidas-
frieden tätig geblieben wäre, also unter Umständen weiter dichtete, die
für seine wahre Muse weder innerlich noch äußerlich mehr Raum ließen.
Seine Grazie hat ihn fi-eilich nicht verlassen, aber die beiden letzten Stücke
beweisen doch, daß die Komödie wie die Tragödie den Fall des attischen
Reiches nicht überleben konnte.
In der Schätzung der Mitlebenden standen gleichberechtigt mit den iMthyrambot.'
tragischen (d. i. Satyr-) und den komischen Chören (d. h. die im Festzug
gehen), die kyklischen, d. h. die im Kreise tanzen. Das war die alte
chorische Lyrik, für die noch mehr Kulte außer dem des Dionysos offi-
zielle Gelegenheit boten; die Tänzer und Sänger sind aber zu Anfang und
vielleicht sehr lange Dilettanten geblieben. Die Flötenbläser, auf die so
viel ankam, daß die „Chorpfeifer" (xopaOXai) in den Siegerinschriften immer
mit genannt werden, waren niemals, die Dichter selten Athener. Dagegen
haben Simonides und Bakchylides, einmal auch Pindar (was ihm über-
schwengliche Ehren eintrug) für diese Chöre gedichtet Nur das dionysische
Lied, das ursprünglich in der Ekstase durch den Gott gesungen werden
sollte, also die Bindung durch die wiederkehrende Melodie, die Strophik,
54 Ulrich vom Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Philoxenos
(t 38").
Kläwndlc.
Timotheos
(t gegen 357).
nicht kannte, führte zunächst den Namen Dithyrambos. Aber als die Ent-
faltung der Musik dazu Fortschritt, alle Lieder durchzukomponieren, über-
trug sich dieser Name auf die Gattung; so redet Aristoteles. Gegen Ende
des 5. Jahrhunderts schreitet man dazu fort, neben die Chorlieder Soli ein-
zulegen, und das Spiel erhält dann etwas Opernhaftes. Die mythische
Erzählung hatte immer wesentlich den Inhalt gebildet; das eine Gedicht,
d&s wir besitzen, die lo des Bakchylides, gibt nichts als sie; es ist allerdings
besonders armselig. Jetzt ward das belebt Philoxenos von Kythera fand
z. B. am Hofe des Dionysios I. das glückliche Motiv des verliebten Kyklopeu,
das dann von seinen Kollegen variiert ward, ganz wie die Medea des
Euripides. Es beweist, daß auch eine scherzende Behandlung wie im
Satyrspiel statthaft war. Die Sprache war zunächst die der chorischen
hynk, also im Grunde dorisch; die Dichter waren auch überwiegend
dorischer Herkunft; aber sie wandelte sich in der Richtung auf die tragischen
Chöre; man erwartete nur einen beträchtlich reicheren künstlicheren Auf-
putz. Gewiß dürfen wir den Spott der Komödie über ihre Auswüchse
und die Feindseligkeit der pythagorisierenden Musiktheorie nicht zur
Richtschnur nehmen. Was die Griechen vier Jahrhunderte lang entzückt
hat, wird nichts Geringes gewesen sein; aber es fehlt uns, wenn wir ehrlich
sind, jede Vorstellung von dem ausgebildeten Dithyrambus des 4. Jahr-
hunderts und erst recht von dem der hellenistischen Periode.
Eine ähnliche Wandelung erfuhr die Kitharodie, immer noch die vor-
nehmste Gattung des musikalischen Vortrages. Wenn die chorische Musik,
in der die Flöte dominierte, den Dorern gehört, so bleibt hier die Führung
den Asiaten. Den wichtigsten Fortschritt macht Phrynis, ein Landsmann
des Terpandros, um die Zeit der Perserkriege: er geht vom heroischen
Hexameter zu reicheren und freieren Rhythmen über, was die Ausdrucks-
fähigkeit ungemein steigern mußte, aber bedingte, daß er sich seine
Libretti selbst anfertigte. Doch sind die Dichter unter den Kitharoden
immer Ausnahmen, und auch für sie ist die ausübende Kunst das Wichtigste.
Seit wir ein längeres Stück des Milesiers Timotheos besitzen, der eigent-
lich der einzige klassische Kitharode blieb (tätig schon so früh, daß
Euripides seinen Einfluß erfuhr, und noch tief in das folgende Jahrhundert),
können wir die Gattung erst schätzen. Es war eine musikalische Leistung,
die allem modernen Virtuosentume überlegen ist. Der Solosänger, in
diesem Falle zugleich der Dichter, begleitet sich selbst auf der Laute; er
singt ein langes, durchkomponiertes Lied: insofern ist es Lyrik. Aber der
Lihcüt ist Erzählung; es war ja ehedem das Epos und verleugnet seine
Herkunft nicht Und noch weit über Homer hinaus ist die Einführung
der direkten Rede gesteigert: im Gesänge mußte es ganz dramatisch
werden. Dabei ist die Sprache keineswegs das billige Geklingel italie-
nischer Libretti, sondern in der Wortfügung zwar platt, aber in der Wort-
wahl durch den Schmuck der Komposita, Metaphern und dergleichen über
alles Maß verkünstelt; das Epos hat auch hier mehr beigesteuert als die
i
I
i
B. Attische Periode (480 — 320). III. Ionische Prosa.
55
Lyrik, doch wird unter der ausgleichenden Kraft des tragischen Liedes,
und da z. B. Timotheos selbst auch Dithyramben verfaßte, der Unterschied
allmählich so verwischt, daß wir außerstande sind, einem Bruchstücke
anzusehen, aus welcher Gattung es stammt In den Versmaßen über-
wiegen, wie in den Soli des Dramas, die ionischen Formen; doch wird
auch hier Ausgleichung eingetreten sein. Timotheos ist mehr gelesen
worden als die Dithyrambiker, und in den Theatern hat er sich wie sie
die ganze hellenistische Zeit über gehalten: aber wir müssen zugestehen,
daß er den Untergang verdiente, dem er verfiel, seit die Aufführungen in
der Not der großen Revolution eingingen. Diese Poesie konnte es nicht
vertragen, daß ihre Musik verklang; die des Pindar konnte es. Der
Schluß auf den umgekehrten Wert der Kompositionen liegt nahe, aber es
ist verwegen, ihn zu ziehen, und vor allem ist es gänzlich müßig.
Daß die gebildete Gesellschaft Athens, nicht bloß die Dichter, die Epign
alten Formen der gesprochenen Poesie anzuwenden verstand, aber auch
die Dichter gelegentlich Elegieen und lamben machten, versteht sich von
selbst; ebenso ist es natürlich, daß die Aufschriften der Weihgeschenke
und Grabsteine aDmählich neben dem Bestreben, durch knappste Sachlich-
keit einen monumentalen Charakter zu erzielen, auch latentes Gefühl
erhalten und so stärker wirken als später, da sie es auch aussprechen.
Dies alles gilt als Nebenwerk, obwohl wir gar manche Perle finden, wie
uns die billigen Weih- und Grabreliefs oft mehr gelten als die aufdring-
liche Tempeldekoration. Überall aber wird der Stil der Gattung streng
innegehalten; das scheint den Griechen selbstverständlich; am deutlichsten
wird es, falls einmal derselbe Poet sich auf vielen Feldern versucht
Da ist ein Talent zweiten Ranges, Ion von Chios, als Mensch keine lon von cw«»
unbedeutende Erscheinung ; er hat Perikles und Sophokles gut gekannt (t g'-K«< *")■
Der dichtet Tragödien, Dithyramben, Elegieen, er schreibt Prosa, eine Ge-
schichte seiner Heimat, deren Stil wir nicht kennen, einen philosophischen
Traktat, der mit dem pythagorisierenden Inhalt die italische Dürre über-
nimmt, und er schreibt Memoiren in dem freiesten Plaudertone: erst hier
ist er ganz lonier, und kein Perikles oder Sophokles, kein Athener und
kein Westhellene hätte ihm das nachmachen können, er antizipiert den
Hellenismus um anderthalb Jahrhunderte, wo sie es doch kaum mit so
anspruchsloser Grazie geleistet haben.
III. Ionische Prosa. Überhaupt ist es die Prosa, in der lonien
sein Übergewicht wahrt, obwohl es sonst ganz in den Bannkreis Athens
gerät, gerade auch in der Sprache, denn schon um 400 ist die äußere
Sprachform der Urkunden fast ganz attisch. Ungehemmt geht die erzählende
Prosa weiter, von der in der vorigen Periode die Rede war (S. 34), und
nun wird auch manche Stadtgeschichte geschrieben. Auch Nichtionier AnUocbo.
wie der Chronist Antiochos von Syrakus bedienen sich dieser Literatur- *'°^'
HelUoikot
spräche. Ein sehr fruchtbarer Schriftsteller ist der Lesbier Hellanikos, (u™ *•»).
1
56 Ulrich von WiLAMOwn-z-MOELLENOORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
der die Bearbeitung auch peloponnesischer alter Chroniken ebenso liefert,
wie in den Troika eine Geschichte von Bion, die wirklich nur Roman
heißen kann; aber über die Form können wir nirgend urteilen. Erhalten
Herodotos hat sich nuT Herodotos, weil er in Athen und für Athen schrieb. Die
(t gegen 4»9) große poUtische Stimmung des perikleischen Kreises hat ihm, der als
Untertan der Perser den Orient bereist hatte, alle Punkte gewiesen,
von denen aus sich die Schilderungen von fernen Ländern und ihre
Geschichte mit der Erzählung der Perserkriege in eine Einheit rücken
ließen. Athen hat auch sein Ionisch abgetönt; zuweilen und nicht
zum Vorteil wirkt sogar die Rhetorik ein. Er selbst hat eigenüich
weder politisches Verständnis noch historischen Sinn noch eine feste
und reine Weltanschauung, pendelt vielmehr zwischen Rationalismus und
Aberglauben, und die ionische Wissenschaft ist ihm vollends fremd ge-
blieben: dafür war er der Rasse nach eher Dorer und Karer als lonier.
So ist er denn am liebenswürdigsten, wenn er erzählt, was er gesehen
hat und den helläugigen Schilderungen fremder Kultur treue Berichte
über fremde Traditionen und allerhand sehr menschliche Novellen beifügt
Seine ersten vier Bücher werden nie veralten, gesetzt auch, die Er-
schließung Asiens berichtigte alles einzelne, wie sie es in Ägypten getan
hat, dessen Beschreibung übrigens durch einen vorlauten Rationalismus
getrübt wird, der in Wahrheit von Hekataios stammt Denn was Herodot
die „Darlegimg seiner Erkundung" nennt, schließt die Erkimdung aus
Büchern keineswegs aus; er hat es aber vorgezogen, über diese Vor-
gänger einen Schleier zu werfen, wie er denn durchaus nicht ohne Be-
rechnung zu reden und zu schweigen versteht Über die alte griechische
Geschichte gibt er ntir unzusammenhängende Novellen (ganz wenig über
Athen; wunderbar, wie wenig dem Perikles und Sophokles an ihrem
Solon gelegen war; die Kroisosnovelle ist nicht athenisch), und im Crrunde
steht es kaiun anders mit der Erzählung von den Perserkriegen, wo leider
die Möglichkeit ausgeschlossen ist, ihn zu berichtigen. Vermutlich glauben
wir ihm inwner noch zu viel, und namentlich die scheinbar pragmatische
Verknüpfxmg der einzelnen Geschichten hat kaum mehr Wert als in den
Metamorphosen Ovids. So verdient Herodot persönlich wohl schwerlich
den ganzen Ruhm seines Werkes, der vielmehr der Gattung zukommt
Aber der Ohrenschmaus, den diese ionische Mythologie gewährt (wie
Piaton sie nennen würde), ist doch ein im verlierbarer Gewinn, und die
Welt wird seiner nicht satt werden, so wenig wie der Geschichten des
Alten Testamentes.
Aber ein Höheres ist doch, so wenig Aufhebens davon gemacht zu
werden pflegt, daß die ionische Sprache nun reif ist, Beobachtungen und
Gedankenreihen schlicht und sachlich vorzutragen, ohne zu stammeln und
ohne zu deklamieren. Die Lehre des Parmenides fand auch einen
Meiüsos samischen Vertreter, Melissos (der seine Heimat gegen Perikles, den
(um 440). Schüler des Anaxagoras, verteidigte); es hat ihm wohl noch Mühe ge-
B. Attische Periode (480—320). III. Ionische Prosa.
57
macht, seine Prosa zu schreiben, und den Späteren mußte sie rauh
klingen; aber sie ist doch knapp und klar, ohne zur Formel zu erstarren.
Noch in höherem Grrade gilt das von Anaxagoras, und bei ihm, der in Anai«gor»»
Athen lebte, während die Tragödie den Gipfel erstieg und die Rhetorik '^ "'^'* "''
sich ausbildete, kann die Schlichtheit nur gewollt sein. Aber den ganzen
Reichtum dieser schriftstellerischen Fähigkeiten enthüllt uns erst die
Schriftenmasse, die unter dem Namen des Hippokrates in die alexandri-
nische Bibliothek gekommen ist und uns zum besten Teile vorliegt. Sie
muß uns die ganze wissenschaftliche Literatur der lonier ersetzen. Der
Name Hippokrates hat genau so viel zu bedeuten wie Homer und Phere-
kydes; ob von dem Koer Hippokrates, des Thessalos Sohn, den Piaton Hippokra««
bewunderte, auch nur ein ausgearbeitetes Werk darin ist, wird hoffentlich '^ ""'' *'"^
die Forschung ermitteln, die noch in den ersten Anfangen steht Jener
Hippokrates hat am Ende des 5. Jahrhunderts in Nordgriechenland prakti-
ziert, zuletzt in Thessalien, wo er starb und sein Geschlecht die Kunst
fortsetzte. Die dorische Insel Kos hat für seine Schriftstellerei so wenig
zu bedeuten, wie der dortige Asklepioskult für seine Wissenschaft Die
erhaltenen Schriften stammen außer Bagatellen alle aus der Zeit 440
bis 340. Da sehen wir vor allem das wissenschaftliche Lehrbuch in unüber-
trefflicher Vollkommenheit, z. B. in dem chirurgischen Hauptwerke. Welche
Arbeit des Denkens, welche sprachliche Schulung gehört dazu, die Knochen-
brüche und Verrenkungen und dann die chirurgischen Operationen zu be-
schreiben wie dort, oder die einzelnen Krankheiten durch ihre charakteristi-
schen Symptome unterscheiden und erkennen zu lehren, wie es in dem Werke
über die Krankheiten geschieht Noch ist es nicht geleistet, aber offenbar
muß sich erkennen lassen, daß bereits eine ganz scharfe Terminologie aus-
gebildet ist Das kann das Griechische (oder vielmehr Ionische) schon so
früh, zweifellos für viele Teile der Naturwissenschaft Das Latein hat es zu
einer Terminologie überhaupt nur in der Jurisprudenz gebracht; die modernen
Sprachen bringen es zu keiner, es sei denn, sie borgten bei diesen beiden:
sie brauchen Kunstwörter, Surrogate, statt der lebendigen, unmittelbar be-
zeichnenden, die das griechische Formgefühl nicht erfijidet, sondern findet
Dies sind Lehrbücher für Fachleute; es fehlt auch nicht an solchen, die
sich an die Laien wenden, z. B. das umfängliche Werk über die Diät (die
gesunde Lebensweise). Das Buch zum Lesen ist also da: Herodot hatte
noch lediglich auf das Vorlesen gerechnet; aber das Lehrbuch des Anaxa-
goras war so begehrt, daß es für eine Drachme auf dem athenischen
Markte zu kaufen war. Damit war eine Straffheit der Disposition und
eine schriftstellerische Ökonomie gefordert, von der die Historiker noch
keine Ahnung hatten. Zahlreich sind auch in der hippokratischen Samm-
lung die Vorträge vor einem Laienpublikum, um so vortrefflicher, je
weniger sie von der Rhetorik infiziert sind. Auch die gnomische Stili-
sienmg, z. B. nach Heraklit, ist keineswegs ein Vorzug. Die Aphorismen
enthalten zwar goldene Sätze, die zum Teil noch heute fliegende Worte
58 Ulrich von WILAM0wnz-M0ELLE^fDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
sind (wenn auch Bismarck an Hippokrates nicht gedacht hat, als er sein
ijiiicta non movere lateinisch zitierte); aber sie sind ein Florilegium, das zu den
wirklichen Büchern steht wie unsere Theognissammlung zur alten Elegie.
Reden wie die von der alten Medizin, der Methode (tt. t^x^Ic), der heiligen
Krankheit, sind in ihrer Schlichtheit so eindringlich und so anmutig, wie
man sich nur die Wissenschaft popularisiert wünscht Die mit Recht be-
wunderten Epidemien, unter denen sich das einzige sicher echt hippo-
kratische befindet, sind Aufzeichnungen zum eigenen Gebrauche, Tagebuch-
notizen, erheben also keinen literarischen Anspruch. In ihnen und noch
mehr in dem seltsamen Büchlein über die „Ausstattung der Arztstube"
gibt es manchmal nicht einmal Sätze, sondern nur knappe Merkworte für
den an ihrer Hand zu improvisierenden Vortrag. Auch dies hat der
aristotelische Nachlaß mit dem hippokratischen gemein. Schon ein Blick
in diese Sammlung genügt, das schädliche Vorurteil zu zerstören, das ein
perverser Schulunterricht erzeugt, die „Alten" hätten ohne Phrasen und
Künsteleien gar nicht reden können.
Es ist ein Glücksfall, daß wir durch die Medizin so viele Zeugnisse
für die ionische wissenschaftliche Prosa besitzen; wir danken es erst der
Naivetät, die all dies auf den einen berühmten Namen schob, dann dem
archaisierenden Autoritätsglauben, der borniert genug war, die ältesten
Lehren der Medizin für kanonisch zu halten, weil die ältesten Werke der
Poesie kanonisch waren. Eine ähnliche Verirrung des Urteils hat den
Unglücksfall verschuldet, der uns um die Krone der ionischen Prosa ge-
bracht hat Weil dem Spiritualismus der letzten Periode des Altertums
Demokritoi Dcmokrit als Materialist ein gefährlicher Ketzer war, ist er ganz ver-
(t 37« )• schollen oder höchstens als Etikett für Zauberbücher geblieben {die sympa-
thetischen Kuren des modernen Aberglaubens hängen von diesem Demokrit
ab). Die urteilsfähigsten Stilkritiker haben ihn dem Piaton an die Seite
gestellt, und so viel lassen die Bruchstücke erkennen, daß er die Sprache
wirklich ebenso vollkommen beherrschte, und daß er auch die höchsten
stilistischen Aspirationen hatte. Aber wer könnte Piatons Kunst aus
einzelnen Sätzchen ahnen? Demokrit ist noch viel vollkommener verloren
als Archilochos; darüber dürfen etliche zierlich gerundete Gnomen (noch
immer die altionische Kunstform) nicht täuschen. Von den Resultaten
seiner Wissenschaft ist viel durch die peripatetische Schule gerettet, aber
immer in die fremde attisch -sokratische Weise umgesetzt Immerhin
gelangt man einigermaßen dazu, den großen Forscher zu würdigen. Die
Literaturgeschichte muß sich dagegen bescheiden, den Verlust des einzigen
Künstlers zu konstatieren, der vielleicht neben Platoii rangieren könnte.
Es lag in der Entwickelung der Sprache, daß danach die ionische Prosa
erlosch; Nachzügler wie der ausgezeichnete Schilderer Indiens Megasthenes
und vollends die künstliche Imitation zählen nicht Erst nach Piatons
Tode führt Aristoteles das rein wissenschaftliche Lehr- und Lesebuch in
die attische Literatur hinüber, nicht ohne daß es im Wortschatze der
I
B. Attische Periode (480 — 320). III. Ionische Prosa.
S9
wissenschaftlichen Terminologie, der Fähigkeit, alles mit den bezeichnenden
Wörtern (KÜpiai X^£eic) zu sagen, die Herkunft aus lonien bekundete.
Die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles und die Pflanzen-
geschichte des Theophrast, die stilistisch wohl noch höher steht, werden
von der antiken Stillehre gar nicht gerechnet. Daraus sollen wir ab-
nehmen, daß diese Stillehre unzureichend ist Die wissenschaftliche Prosa,
die nichts sein will als der in Worten fixierte Gedanke, ist eine Kunst-
form, die freilich kein Rhetor lehrt und die sich durch Imitation nicht
lernen läßt, aber darum nicht minder ein Höchstes der Redekunst: auch
sie quillt unmittelbar aus der Seele wie das echte lyrische Gedicht Auf
diesen Gipfel erhebt sich das schriftstellerische Können eines Volkes am
spätesten, denn es geht dem Volke wie dem einzelnen Menschen, dem
(wie Piaton sagt) als reifem Manne die Wissenschaft das wird, was dem
Kinde das Märchen und dem Jüngling die hohe Poesie war. Daß man
auf Griechisch jede Wissenschaft denken und aussprechen kann, immer
mit gleicher Freiheit, als gehörte sie dieser Sprache an, bedeutet noch
mehr, als alle die unvergleichlichen Kunstformen der griechischen Poesie.
Das Latein ist eine wissenschaftliche Sprache erst geworden, als es längst
nur noch eine gelehrte Sprache war, und es erscheint formlos, sobald es
nicht rhetorisch stilisiert ist. Bei uns redet Leibniz noch ganz ungefüge,
wenn er sich des Deutschen bedient, Winckelmann und Lessing schreiben
bewußt rhetorisch, bei Herder kommt es über Künsteln und Kunstlosig-
keit zu gar keiner reinen Wirkung. Erst durch Goethes Farbenlehre
erreicht das Deutsche diesen Gipfel: es wird eine Kultursprache erst, als
die Wissenschaft deutsch denken kann. Daß diese Prosa dabei noch lange in
ungeschlachter Formlosigkeit befangen blieb, zeigen uns die Klagen der
Franzosen und Engländer über die Unverständlichkeit der wissenschaft-
lichen deutschen Bücher, deren Gedanken sie doch nicht mehr entbehren
konnten. Daran mag man ermessen, daß es dieselben olympischen Musen
waren, die einst den ionischen Rhapsoden gelächelt hatten, und die jetzt
dem ionischen Sophisten zur Seite standen.
Sophist, d. i. jetzt „Gelehrter" viel eher als „Weiser", nennen sich sophuten.
die zahllosen Leute, die ein Gewerbe daraus machen, herumzuziehen und
in Vorträgen all das Viele und Verschiedene zu verbreiten, das die ionische
Wissenschaft oder „Historie" (ganz wörtlich gleich Wissenschaft) zusammen-
gebracht hat. Diese Vorträge verdrängen die der wandernden Poeten aus
dem Interesse der bildungsdurstigen Jugend. Sie sind immer noch auf
momentane mündliche Wirkung berechnet; die Aufzeichnung ist etwas
Akzessorisches. Die Sophisten stammen gar nicht alle aus lonien, aber
ionisch ist immer noch die Literatursprache, und nur allmählich, aber schon
in der letzten Zeit des Perikles dringt die Mundart des herrschenden Stammes
ein, obwohl die Athener in dieser Schar an Zahl und Bedeutung ganz
zurücktreten. Die Literaturgeschichte muß von den großen Verdiensten
schweigen, die sich diese Männer um die Verbreitung der Bildung er-
6u Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
werben haben: ihr Werk ist es, wenn Alexander sagen kann, daß der
Hellene unter den Barbaren wie ein Mensch unter Tieren erscheine. Und
wenn sie überwiegend nur fremde Gedanken verbreiten und recht viel
flaches und eitles Aufklärertum sich breit macht, so sind doch auch geist^
volle Anreger unter ihnen, und selbst positive Leistungen fehlen nicht
Protagon! Protagoras von Abdera hat in der Greschichte der Philosophie Anspruch
(t om 4I5)- auf einen Ehrenplatz: die Angriffe Piatons leisten allein schon dafür Grewähr.
Hippias Und Hippias von Elis hat durch die VeröfiFentlichung der olympischen
(om 400). Siegerliste einen Sinn für geschichtliche Forschung bekimdet, der von
der platonischen Schule noch nicht gewürdigt ward. Aber literarische
Werke, die sich neben der attischen Philosophie und Rhetorik des 4. Jahr-
hunderts hätten behaupten können, sind freilich von keinem einzigen
hervorgebracht
IV. Attische Prosa. Die Athener schlugen die Schlachten und
regierten das Reich: bei ihnen mußte eine Prosarede aus dem politischen
Leben der Demokratie hervorgehen, deren Grnmdfeste die Gesetze Solons
waren. In den parlamentarischen Versammliuigen ward Protokoll geführt; die
Anträge waren schriftlich einzureichen; die Beamten berichteten von auswärts
schriftlich an ihren Souverän, das Volk oder vielmehr seinen Ausschuß, den
Rat Das mußte eine Kanzlei- und Gesetzessprache ergeben, und wirklich ist
die juristische und politische Terminologie der Griechen spezifisch attisch,
und ein Gesetz oder ein Ratsprotokoll Athens ist als Schriftwerk nicht
minder kunstvoll, präzis und klar als eine hippokratische Krankheits-
geschichte. Man vergleiche die Gesetze und Senatsbeschlüsse der römischen
Republik, um das Vorurteil loszuwerden, daß Roms juristische Diktion
eigenes Gewächs wäre: es gibt nirgend eine unbehilflichere Weitschweifig-
keit Ganz ebenso mußte die Debatte den Staatsmann zur Beredsamkeit
erziehen; bezeichnenderweise ist Themistokles der erste, an dem sie hervor-
Perikies gehobcu wird. Sie ist die Waffe des Perikles. Der Höhepunkt seines
(t 4»9)- Lebens ist die Rede, die er im Auftrage des Rates zur Feier des Toten-
festes nach der Niederwerfung des samischen Aufstandes gehalten hat
Indem zu einer solchen Feier nicht ein Chorgesang bei Sophokles bestellt
und keine Musik, kein Tanz veranstaltet wird, sondern der beredteste
Staatsmann auf einer Rednerbühne zum Volke sprechen soll, ist der fireien
Rede der Adelsbrief erteilt Von nun ab sagt man auf attisch „Redner",
um den praktischen Staatsmann zu bezeichnen. Aber Perikles schrieb
seine Reden noch nicht auf, und sein Können dankte er nicht dem Rhetor,
dem Redelehrer, der den Namen des Redners erben sollte. Der einsame
Denker Anaxagoras hatte seinem Geiste die Tiefe verliehen, und in seinen
Metaphern und Gleichnissen, die im Gedächtnisse der Hörer hafteten,
klang die hohe Poesie der Zeit nach. Literarisch ist die Staatsrede noch
lange nicht geworden, tmd auch die politische Gelegenheitsschrift, die
freilich mit Perikles' Tode auftritt, und deren selbst die spartanischen
S. Attische Periode (480—320).
61
Staatsmänner seit Lysandros nicht entraten mögen (natürlich durch fremde ■
Literaten), erhebt stilistisch noch keine Ansprüche. '
Literarisch ist die Gerichtsrede geworden, und es wäre gut, wenn die Gcrichtsndc
Philologen sich etwas mehr überlegten, wie seltsam es ist, daß ein so
untergeordnetes Genre im Altertum überhaupt zur Literatur gerechnet M
werden konnte, freilich nur eine kurze Zeit Hervorgerufen hat es natür- ■
lieh das Bedürfnis. Die Untertanen Athens mußten dort ihre Sachen ■
persönlich führen, die fremden Kaufleute ebenfalls; sie mußten sich ■
also entweder selbst die Sprache und die Kenntnis des Rechtes aneignen ■
oder die Rede eines Sachwalters auswendiglemen; auch von den Bürgern |
zogen viele diesen Weg vor. So kam es, daß sich eine Advokatur ■
bildete, die sehr viel Geld brachte und bald das Sprungbrett in die Staats- I
Verwaltung ward. Das erzeugfte auch das schriftliche Plaidoyer, obwohl ■
sonst das ganze Gerichtsverfahren in unbegreiflicher Weise ganz mündlich I
blieb, so daß nicht einmal das Urteil schriftlich ausgefertigt ward. Diese ■
wirklich gehaltenen Reden zu verbreiten, lag häufig im Interesse der ■
Parteien, nicht zum mindesten der Unterlegenen; sie ließen sich auch als I
Vorlagen in ähnlichen Fällen brauchen, und davon war nur ein Schritt ■
zur Anfertigxmg von Musterreden; die Theorie mußte ja so wie so mit der I
Praxis mindestens Hand in Hand gehen. Der erste Advokat, der es zu ge- "
rechtem Ruhme brachte, den wir zum Glücke auch noch lesen, war Antiphon Antiphon
von Rhamnus, ein vornehmer Mann aus der konservativen Fronde, die '^ *"''
nach dem Tode des Perikles gegen die radikale Regierung immer stärker m
hervortrat Er hat denn auch einen Teil seiner Gerichtsreden in politischem ■
Interesse veröffentlicht, zuletzt seine eigene von Thukydides bewunderte I
Verteidigungsrede, die leider ganz verloren ist. Aber Antiphon war auch M
Redelehrer und hat sowohl wirkliche wie fiktive Reden als Musterstücke V
veröffentlicht; wie es geht, ist dann viel Fremdes unter seinen Namen ■
getreten. Das Echte allein ist wirklich bedeutend. Wohl ist die Sprache m
archaisch und borgt bei dem einzigen vornehmen Attisch, das es gab, der ■
Tragödie. Wohl merkt man, daß selbst dieser Techniker das Disponieren ■
noch nicht gelernt hat; aber ein großes Talent, juristische Schärfe, dialek- ■
tische Gewandtheit, starke verhaltene Leidenschaft sind unverkennbar, und m
der Hörer glaubt, daß das strenge moralische und religiöse Pathos echt m
seL Die modischen Mätzchen der äußerlichen Stilmittel fehlen noch fast ■
vollkommen: gerade darin liegt der Hauptvorzug. Mit Recht hat die I
antike Kritik in Antiphon das Muster des Thukydides gesehen. ■
Erst als das Reich zerstört ist und die Reaktion der Dreißig nieder- ■
geworfen, beginnt Lysias sein Advokatenhandwerk. Sehr ungern; er war i.y»i" ■
der Sohn eines reichen Syrakusaners, der über Thurii nach Athen ein- ^* """ ^ '^
gewandert war und in der ersten Gesellschaft Zutritt erhalten hatte. Lysias
war demgemäß mit der besten sophistischen Bildung ausgestattet und hoffte ■
durch die siegreiche Demokratie, der er sich angeschlossen hatte, in das H
Bürgerrecht und die Staatskarriere zu gelangen. Gegen die Oligarchen, H
^^^^V 62 UUUCR VON WlLAMOwrrz-MOELLENDORrF: Die griechische Literatur des Altertums.
^^^^H die ihm den Bruder getötet und sein Gut konfisziert hatten, erfüllte ihn
^^^^B ehrlicher Haß; er schrieb für die radikale Partei schon in der kritischen
^^^^B Übergangsperiode. Aber die besonnenen Männer der Versöhnung weigerten
^^^^B ihm d£is Bürgerrecht. So ward er Advokat, vornehmlich für die Radikalen;
^^^^B sein Gewissen gestattete ihm aber ebensogut, die diametral entgegen-
^^^^B gesetzten Tendenzen zu vertreten, wenn ein Angeklagter dieser Partei klug
^^^^B genug war, seine geschickte Feder zu gewinnen. Die alten Kunstrichter
^^^^1 bewundern daher seine Ethopöie, denn es ist wahr, er weiß den Ton der
^^^^B gekränkten Unschuld, des harmlosen Biedermannes ebensogut zu trefifen,
^^^^B wie den des Ehrabschneiders und des Wirtes einer eleganten Spielhölle.
^^^^H Nur wahres Ethos, wie Antiphon oder Demosthenes, hat ein Mensch von
^^^^H solcher Moral selbstverständlich nicht: wie würde er über die biederen
^^^H Schulmeister lachen, die seine gepfefferten Reden als gesunde Knaben-
^^^^B kost ins Harmlose umgedeutet haben. Und doch hatte Piaton ihn alsVer-
^^^H treter der perversen Klügelei herausgegrifFen und in dem Mangel an
^^^^F Disposition eine seiner Hauptschwächen getroffen. Lysias zieht, wo er
^^^P pathetisch werden will (z. B. gerade in der Rede über den Tod seines
^H Bruders), alle Register der Modekunst; aber das steht ihm nicht In der
^H schlichten, weder zerhackten noch eigentlich periodisierten Sprache leistet
^H er sein Bestes und wirklich etwas Gutes. Man hat ihn als echtesten
^H Attiker angesprochen, mit Unrecht: da ist syrakusisches Wesen, gerade
^H in dem Gelungensten dem Sophron verwandt In der kleinen Sammlung,
^*^ die seinen Namen trägt, bergen sich noch mehrere gleichzeitige Redner
: Andokidu verschiedener Art; von Andokides, in dem eine vornehme athenische Familie
I (t n»ch 392). unrühmlich endete, haben wir drei geschichtlich sehr wertvolle Reden;
L es gibt auch noch einiges andere, so daß man von dem, was man
konnte und versuchte, eine gute Vorstellung hat Davon reicht freilich nichts
an Lysias heran; aber auch er ist weder an sich noch durch seine Fort-
wirkung für die Literaturgeschichte wahrhaft bedeutend.
Tbukydidc« Um die Wende des Jahrhunderts ist aus dem Nachlasse des Thuky-
(t nach 403) (jjfjes (jei- Torso des einzigen Geschichtswerkes erschienen, das Athens
große Zeit hervorgebracht hat, von ebenso singulärer Bedeutung wie die
Geschichte, die es erzählt Und doch war, wie man schon an Lysias
sieht, die Form desselben eigentlich schon veraltet; denn Thukydides, der
sich zum attischen Adel zählen durfte, hatte den Plan ein Menschenalter
vorher gefaßt, als er noch darauf rechnete, an dem Entscheidungskampfe,
der Helleis unter Athens Herrschaft bringen würde, selbsttätig mitzuwirken.
Es war ganz anders gekommen; er hatte aus der Verbannung mit ansehen
müssen, wie der Krieg sich bis ans Ende des dritten Jahrzehnts zog und
mit der Zerstörung des Reiches, der Niederwerfung des verarmten und
menschenleeren Athens schloß. Aber er war an seinem politischen Urteil
nicht irre geworden und schrieb das Werk trotz allem in dem Sinne seiner
Jugend. Das gibt ihm seine tragische Erhabenheit, der man sich gefangen
geben soll, gesetzt auch, man wollte das politische Urteil verwerfen. Er hielt
I
Anisclie Puiode (480—390). IV. Attische Prosa. 63
aber auch den Stil und die Kunstmittel fest, die er vor seiner Verbannung
gelernt hatte, und so schrieb er in Antiphons Art, die dem neuen Gie-
schlechte archaisch klang, und verschmähte den gorgianischen Klingklang
nicht, der mm schon außer Mode war. Und die Künste gelingen ihm
nicht einmal, da seine tiefen Gedanken ihm schwer von der Zunge fließen
und Flitterkram einem so ernsten Gesichte übel stehL Nicht der wird
dem groQea Schriftsteller gerecht, der sich die Bewunderung solcher
Schwächen abringt, sondern der dem ernsten Denker, auch wo er stammelt,
zu folgen sucht und die Verirrungen nicht verkennt, sondern entschuldigt,
indem er sie geschichtlich begreift, gerade so, wie das Werk nicht voll-
kommen, sondern erbärmlich wäre, wenn es, wie seine unphilologischen
Bewunderer versichern, von seinem Verfasser in der Gestalt zur Veröffent-
lichung bestimmt gewesen wäre, die es bei der Herausgabe erhellten hat
Thukydides war ganz und gar ein Kind der Sophistenzeit wie Herodot,
dessen Werk ihm Vorbild war, auch wo er sich im Gegensatze zu ihm
fühlte; aber er war ein athenischer Staatsmann. Sein Horizont reichte so
weit, wie ein solcher die Welt übersehen mußte, nicht weiter. Da war
der ionische Reisende stark im VorteiL Von der Größe der Gegenwart
sind beide gleichermaßen überzeugt, aber Thukydides zieht die Folgerung,
daß alles Frühere nicht so gar wissenswert wäre, was mehr dem Staats-
manne als dem Historiker ansteht Seine Einleitung ist großartig durch
den Bruch mit der konventionellen Schätzung der Heroenzeit und auch
der Perserkriege, aber es ist nichts verkehrter, als darin historische Wissen-
schaftlichkeit zu sehen. Er hat gar nicht geforscht, wie es denn in der
Vergangenheit wirklich ausgesehen hätte, sondern er akzeptiert die ratio-
nalisierte Tradition und gibt nur eine Wertschätzung aus allgemeinen,
allerdings sehr klugen Erwägungen. Erforscht hat er dagegen mit aller
Energie und WahrheitsUebe die Geschichte seiner Zeit, die er erzählt,
und hier bewährt sich das politische Urteil, das mit den realen Kräften
und den individuellen Personen operieren kann. So etwas hatte es noch
nicht von ferne gegeben. Thukydides hat erreicht, daß Perikles in maje-
stätischer Überlegenheit vor uns steht und der typische Demagoge Kleon
als der Affe des Perikles. Auch ohne die latente Trauer, die in dem
fühlenden Leser sich zu einer lauten steigert, würde die Erzählung von
dem Untergange der athenischen Expedition vor Syrakus durch ihre An-
schaulichkeit ein Stück Erzählung sein, das keine Vergleichung zu scheuen
hätte. Nur die großen Reden retardieren die Erzählung und lassen das
Gefühl erkalten. Seltsam, wie das altepische Vorbild den Herodotos und
gar den Thukydides im Banne hielt Damit war besiegelt, daß die antike
Historiographie dies bedenkliche Sclimuckmittel nicht mehr loswerden
koimte. Thukydides hat sich auf seine Reden besonders viel zugute
getan; sie sind es, denen er den modischen Figurenschmuck anhängt
Selbstverständlich hat dann der sklavische Klassizismus in ihnen das
Höchste gesehen, während die Techniker der Rede mit Fug und Recht
tA Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
bedenklich waren. GewiB bemüht sich Thokydides, indem er den Sprechern
das in den Mund legt, „was für den Moment angemessen war", die
leitenden Motive und Stimmungen zu Worte zu bringen, und er hat seine
Leute gewiß oft etwas Tieferes sagen lassen, als sie selber imstande waren.
Aber es bleibt doch Unnatur imd Unwahrhaftigkeit; wir würden ihn selbst
viel lieber hören als einen obskuren Demagogen oder einen namenlosen
Gesandten. Hinzu kommt, daß er in der Ethopöie wirklich den Lysias
nicht entfernt erreicht Er bemüht sich kaum und nie gelingt es ihm,
die Rede nach den Charakteren abzutönen; wirklich beredt wird nicht
einmal sein Perikles. Thukydides war eben kein Redner, Gott sei Dank:
so hat uns doch ein politischer Denker den Peloponnesischen Krieg er-
zählt Gleich nach ihm bemächtigen sich die Schönredner der Historie
und behaupten in der Folgezeit, da die Literaten den Ton angeben, das
Feld. Seine wahrhaften Nachfolger sind die Staatsmänner, die nebenher
die Geschichte ihrer Zeit, schrieben, wie gleich Philistos, der bedeutende
Minister des Dionysios L, von dem wir leider stofflich wenig besitzen, und
nichts, nach dem wir seine Kunst schätzen könnten. Aber solche Männer
pflegen die stilistische Künstelei zu verachten oder auch wohl wirklich
geringe schriftstellerische Vorzüge zu besitzen. Daher eignen sich ihre
Werke nicht zu Stilmustem, und eine Zeit, in der der Rhetor den
Ton angab, ließ sie verkommen. Als Stilmuster ist auch Thukydides
erhalten worden, sozusagen eils Präraphaelit, weil der extreme Archaismus,
dem Piaton zu üppig war, sich an der eckigen Strenge seiner Reden
delektierte. Seine stilistischen Nachahmer, Sallust, Cassius Dio, Prokop,
haben seines Geistes keinen Hauch verspürt; die modernen Historiker, die
ihn mit Ranke vergleichen, auch nicht Comines, Macchiavelli, de Thou
und dann die politischen Memoirenschreiber ließen sich am ehesten ver-
gleichen ; aber die Renaissance verdirbt diu'ch das Vorbild der rhetorischen
römischen Historie die eingeborene Kraft selbst eines Macchiavelli, der
sonst viel Thukydideisches in der Seele hat So wird dieser ebenso wie
Herodotos ein Einzelstem der Geschichtsschreibung bleiben, dessen Licht
nimmer verlischt
Rhetorik. Die Theorie der Rede, die sehr bald den Anspruch erhob, die Meisterin
2iller literarischen Produktion und die Trägerin aller Bildimg zu werden,
und die in der Kaiserzeit wirklich diese Herrschaft erringt, soll zuerst in
Sjrrakus ausgebildet sein, für die Gerichtsrede, in den Wirren der Demo-
kratie, die auf den Sturz der Tyrannis des Hieron folgte. Das erste Lehr-
buch, einem Korax oder Teisias zugeschrieben, blieb, wie das bei den
Griechen so geht, die Grrundlage, so viel sich auch ansetzte und umsetzte.
So können wir getrost mit einem Lehrbuche der demosthenischen Zeit
operieren, das ein Betrüger der hellenistischen Zeit dem Aristoteles zu-
geschrieben hat, die Modernen dem Anaximenes. Die Hauptteile einer
Rede werden unterschieden; die Hauptgesichtspunkte aufgestellt, von denen
man die Sache betrachten müßte, um die Argumente zu finden, die ver-
^
V B. Attische Periode (480—320). IV. Attische Prosa. 65
schiedene Haltung (cx^Ma) erörtert, die für dies und jenes angemessen wäre
(tö TTpcnov). Man bekommt von dem, was für die inventio geleistet ward,
einen guten Begriff, wenn man Reden des Thukydides und Euripides schema-
tisiert Diese bestätigen, daß die Anordnung und Verknüpfung der einzelnen
Gedanken noch ganz kunstlos blieb. Aus einer ganz anderen Gegend,
vom Bosporus, also aus Reichsstädten, aber auch aus dorischem Gebiete,
stammten Thrasymachos und Theodoros, die in Athen, also in attischer
Mundart, zuerst mit großem Erfolge die Theorie ausbauten und lehrten.
Thras)miachos muß hochbedeutend gewesen sein: das zeigt die Schärfe, rh™).u*<:ho.
mit der ihn Piaton angreift ; Theophrast, der berufenste Kritiker, bezeichnet ^'""'* '"" '^*'''
ihn als das erste Muster des besten Stiles, der für den Peripatetiker der
Mittelweg zwischen Lysias und Gorgias ist. Er hat das psychologische
Moment, die Berechnung der Wirkung auf die Affekte der Hörer, stark
betont; er hat die einzelnen Gedanken formal zu einer Einheit zusammen-
zuschließen gesucht, also die Periodenbildung angestrebt; sein ist die folgen-
schwere Anregung, mit der Poesie darin zu wetteifern, daß ihr Grund-
prinzip, die Quantität der Silben, auf die Prosa übernommen ward, jedoch
streng im Gegensatze zur Poesie, so daß die Wiederkehr des festen
Maßes und überhaupt die in der Poesie üblichen Quantitätskomplexe streng
gemieden werden. Das ist der Prosarhythmus, in dessen Wesen es liegt,
daß er verdorben wird, sobald man ihn irgendwie in ein festes Schema
preßt (die Annahme einer Responsion macht ihn geradezu widersinnig),
und der in der Tat ein künstlerischer Fortschritt über die ionische und
alle archaische Rede ist Den stärksten Anlauf nahm auch hier ein lonier,
Gorgias, aus dem sizilischen Leontinoi, der sich aber der attischen üorgi«
Mundart bediente, wenn auch, ähnlich wie in der Tragödie, einer ioni- '"" ""''
sierenden. Er ging nicht auf die Gerichtsrede aus, sondern auf den
Vortrag, wie ihn die ionischen Sophisten übten; aber er erstrebte
geradezu die Konkurrenz mit der Poesie, von der er auch die „schönen
Wörter" und den Ersatz der schlecht und rechten Bezeichnung der
Dinge namentlich durch die Metapher übernahm. Er zerlegfte den Ge-
danken in antithetische Glieder, suchte diese so ziemlich gleichlang zu
machen und womöglich durch die Assonanz oder den Reim zu verbinden.
Wir dürfen solche Produkte wirklich kaum noch Prosa nennen. Diese
Künste waren zuerst so mühsam und wirkten auf das Ohr so bezaubernd,
daß der Inhalt zu kurz kam, aber zu kurz kommen durfte. Ein begabter
Tragiker wie Agathon, ein Thukydides haben sich diesem Zauber nicht
entzogen. Es konnte nicht ausbleiben, daß der Reiz sehr riisch verflog,
sobald sich herausstellte, daß alles, was nur Mache ist, sich sehr bald
lernen läßt Aber die Anregung blieb, und immer wieder hat das Stil-
prinzip, statt voller Periodisierung lauter kurzatmige Glieder zu bilden,
seine Verehrer gefunden (wie eben heute wieder), und die Klangwirkung
statt der Quantität, der Reim als Bindemittel, ist schließlich so ziemlich
in aller modernen Poesie zur Herrschaft gelangt Denn Thrasymachos,
UlB KuLIl'« DEK GtGUlWAKT. I. 0. 5
66 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
der Dorer, und Gorgijis, der lonier, vereinigen sich, um die attische
Kunstprosa zu gründen, die über alle Wechsel der Zeiten und Stile hin
in ungebrochener Kontinuität herrschend geblieben ist, solange Griechisch
kunstmäßig geschrieben ward, also zweitausend Jahre, die durch die
lateinische Kunstprosa aber auch den Okzident reden und schreiben ge-
lehrt hat. Frankreich hat den Primat in dieser schwersten Kunst des
Prosaschreibens dadurch errungen, daß es diese Schule ganz durch-
gemacht hat, allerdings indem es dann die Fesseln der Imitation sprengfte.
i»okr»t« Der athenische Mann, der die formale Bildung des Verstandes durch
(«6— ««)• die Redekunst mit vollem Bewußtsein als die einzig wahre Menschen-
erziehung gepredigt und geübt hat, der wirklich den Ruhm (oder vielmehr
die Schuld) beanspruchen kann {und beanspruchte), der König der Rhetorik
zu sein, den die allgemeine Bildung als ihren Ahnherrn verehren sollte,
ist Isokrates. Ausgerüstet mit der Schulung, die das 5. Jahrhundert einem
bemittelten Athener aus gutbürgerlicher Familie gewähren koimte, hat
er zuerst auch die Advokatur versucht, aber bald gelassen, nicht weil er
zum persönlichen Auftreten zu schüchtern war, wie er angibt, denn das
hatte er nicht nötig; es fehlte ihm vielmehr die juristische Begabung
ganz, die Ethopoeie und der Humor des Lysias auch; er war auch zu red-
lich für dies Handwerk. Die erhaltenen Reden verleugnet er, aber sie
tragen den Stempel seiner Mache und sind vortrefflich, nur nicht als
Plaidoyers. Wohl nicht ohne bewußte Abrechnung mit der Sokratik, die
er entstehen sah und von der er den klangvollen Namen Philosophie für
seine Unterweisung borgte, trat er mit dem Ansprüche der Sophisten auf,
die Jugend allseitig tüchtig zu machen, und hat unter immer stärkerem
Zulauf über fünfzig Jahre gelehrt, bis zur Schlacht von Chaironeia, Eine
nicht gerade sehr große, aber doch ansehnliche Reihe von Musterreden hat
er daneben ausgehen lassen, die wir alle besitzen, als Kunstwerke von
der gleichen Vollendung wie die Dialoge Piatons. Es ist ziemlich
einerlei, welche Einkleidung sie zeigen, denn der Stil ist derselbe und
aus allen Masken redet Isokrates, am besten natürlich, wenn er aus
eigener Person spricht {nur nicht von der eigenen Person, sonst muß
man sich vor der Stärke des Eigenlobes die Nase zuhalten). Mehr als
einmal hat der Journalist höchst geschickt die Unterströmung der
momentanen Politik so vor das Publikum gebracht, daß er es fortriß.
Den Ruhm, dem zweiten Seebund Athens und der unitarischen Politik
König Philipps den Weg bereitet zu haben, [kann dem Isokrates niemand
nehmen; daß er ein redlicher Patriot war, sollte man ihm auch zugestehen;
rechts und links schreiben zu dürfen, hat er als Journalist als sein gutes
Recht betrachtet Er hat auch einem recht zweifelhaften Kleinkönig ein
Manifest an seine Untertanen verfaßt und an ebendiesen einen Regenten-
spiegel gerichtet, der in verschiedenen Zeiten des Absolutismus immer
wieder umgearbeitet worden ist: Gibbon hat gar einen seiner trivialen
Moralsprüche gewagt mit dem Evangelium Jesu zusammenzustellen. Aber
B. Atäscbe Periode 'ASo—yxt). IV. Attisdife Prosa.
67
Isokrates hat keinen Gedanken ausgv-^rochen (es sei denn über seine
Kunst), der ihm eigen gewesen wäre, und am glücklichsten ist er, wenn
er Gemeinplätze behandelt. Wer's mit Voltaire hält, mu8 allem, was
er gfeschrieben bat, die Existenzberechtigxuig abstreiten, denn unstreitig^
gehört alles zum genre ennuj-ant W^tz und Humor ist ihm ebenso wider
die Natur wie der Ernst der \Vissenschaft, und das ^Individuelle können
ja die Hohenpriester der allgemeinen Bildung niemals vertragen. Aber
einen Stil hat dieser Athener geschafiFen, so vollkommen wie der
dorische TempeL Was die ältere Rhetorik lieferte, waren tastende
Versuche, oder sie gfingen nur das Omamentale an. Isokrates, der
Vollender der Periode, bedient sich aller dieser dekorativen alten Zierate,
des Rhjthmus und der Assonanz, der Antithese und der Symmetrie der
Glieder, aber er baut einen jeden Satz zu einem in sich geschlossenen
harmonischen Ganzen aus. Die antike Kritik hat eine solche Periode
passend mit einem Gewölbe verglichen, dessen Steine durch ihre kunst-
reiche Fügung einander stützen und tragen. Aber auch die einzelnen
Sätze, so umfänglich sie sind, vereinigen sich wieder zu einem größeren
Gefüge, und indem eine Summe solcher Satz- und Gedankenkomplexe
nicht ohne elegante Fugung und Omamentierung aneinandergereiht werden,
so daß die Ordnung dem Hörer zum Bewußtsein kommt, stellt sich auch
die Rede als ein Ganzes dar. Es ließ sich das gar nicht machen, ohne
daß die Gedanken bewußt gedreht vmd gewendet wurden, bis sie sich in
eine solche Form fugten, wobei es ohne etliche hohle Füllstücke selten
abging. Es mußten auch Schemata gefunden werden, die mindestens den
Schein eines logischen Fortschrittes erweckten. Gewiß haben die Schüler
Beträchtliches für ihre Fähigkeit zu denken gelernt, wenn sie anordnen
mußten „Behauptxmg, Begründung, Ausführung der Begründung, Schluß«,
wobei die Ausführung z. B. auch in der Form eines Bildes oder einer
.\nalogie sich geben ließ. Dann konnte etwa ein Einwurf folgen, wieder
in solcher Vierteilung, und dann die Widerlegung des Einwurfes und so
weiter. Man beginnt sich eben jetzt darüber klar zu werden, daß die
Fähigkeit zu denken und sich auszudrücken größer war, als das Latein
noch allgemeine Bildungssprache war und die Schüleraufsätze sich in
solcher Chrienform bewegten. Der Ausdruck im einzelnen, Wortwahl und
Wortfügung, Rhythmus und Klang, durfke es mit der gleichzeitigen Poesie
ganz wohl aufnehmen, gerade weil er sich ängstlich davor hütete, in das
Poetische zu verfallen. Isokrates ist aber auch ohne Frage der Ansicht
gewesen, die in der Kaiserzeit herrschend ist, Poesie wäre nur eine unter-
geordnete Gattung der Beredsamkeit. Denn er hat mit den alten Dicht-
gattungen bewußt gewetteifert Wenn er eine Lobrede auf Euagoras
schreibt, so ist das ein Enkomion: die Prosagattung erbt den Namen aus
der Lyrik, der doch ein Lied zum Festzug bedeutet Auch die Gnome
im Sinne des Moralspruches hat Isokrates gepflegt, mehr um mit Theognis
und Solon zu rivalisieren, als mit Heraklit Die Heldensage und Historie
5*
JLRICH VON WttAMOwrrz-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
hat er in seinen Festreden behandelt, nicht ohne an die Tragödie zu
erinnern, ja er hat in seine letzte Rede eine Art Dialog eingelegt, es mit
Piaton aufzunehmen, wie denn seine Verteidigungsrede (die Antidosis) der
Welt zeigen sollte, wie sehr er dem Sokrates überlegen wäre. Sie zeigt
denn auch unfreiwillig die Hohlheit seines Wesens in mitleidloser Schärfe.
Man darf wohl sagen, daß es eine entscheidende Probe auf das Verständnis
griechischer Kunst ist, ob man für den Zauber der isokrateischen Rede
empfänglich ist: denn die Stilisierung, das Technische, ist es, wodurch sie
klassisch wird. Man muß dann aber ebenso sagen, daß es eine Probe
für das Urteil über Kunst überhaupt ist, ob man dieser Kunst die Existenz-
berechtigung zuerkennt: denn diese Schönheit ist absolut leere Form, leer
an Inhalt, leer an Seele. Wo wäre bei Isokrates ein sinnliches geschautes
Bild, ein ursprüngliches Gefühl, ein Wort, das man nimmer vergäße?
Wenn er geworden wäre, was er wollte, was er so ziemlich in der
herrschenden Theorie und Praxis der Kaiserzeit geworden ist, der Lehr-
meister hellenischer Bildung, so müßten wir die unsere sorglich vor diesem
Kontagium bewahren. So aber, die Poesie und Wissenschaft der Hellenen
vor Augen und im Herzen, mögen wir Modernen, zumal wir Deutschen,
zur Formlosigkeit nur zu geneigt, recht Beherzigenswertes daraus ent-
nehmen, daß die vollendete Herrschaft der Form es wagen darf, Poesie
und Wissenschaft in die Schranken zu fordern.
Dieser rhetorische Stil, der für jede Aufgabe erhabener Art gleich an-
gemessen schien, hat sofort die Herrschaft erlangt; die zahlreichen Kon-
kurrenten des Isokrates sind schon bei seinen Lebzeiten ganz in den Schatten
getreten. Wir haben nur von Alkidamas aus dem äolischen Elaia etwas,
und das erhöht nur die Schätzung sowohl der Theorie wie der Praxis
des Isokrates. Selbst Aristoteles sah sich veranlaßt, die rhetorische Aus-
bildung mit in den Unterrichtsplan seiner Schule aufzunehmen. Indem er sie
auf die Basis der Logik stellte, deren Schöpfer er war, hat er sie zur
Wissenschaftlichkeit erhoben; aber in der Praxis stand er stärk unter dem
Einflüsse des Isokrates. Nicht nur, daß er eine Anzahl von dessen Reden
offenbar als Musterstücke im Gedächtnisse seiner Schüler voraussetzt: er
schreibt für das große Publikum sehr viel mehr isokrateisch als platonisch.
Das hat der Athenerstaat gelehrt. Die Historie hatte Isokrates selbst als
die vornehmste Aufgabe für den hohen Stil seinen beiden begabtesten
Schülern gewiesen, und Ephoros und Theopomp haben für die nächsten
Jahrhunderte vielen den Herodot und Thukydides ersetzt. Ihre Werke
imponieren schon durch den Umfang: sie haben zuerst die Teilung in
Bücher schon durch ihre Verfasser erfahren, für die Ökonomie der Schrifl-
stellerei ein sehr wichtiger Fortschritt
Ephoro« Ephoros von Kyme wollte den Hellenen ihre ganze Geschichte
<t MC jjo). erzählen, und einigermaßen ist er ihr Livius geworden; mit dem hat er
überhaupt einige Verwandtschaft. Der Strich zwischen mythischer und
historischer Zeit, den er zog, der Standpunkt im Mutterlande, bis zu den
B. Attische Periode J480— 320). IV. Attische Prosa.
69
Perserkriegen im Peloponnes, dann in Athen, ist bis auf die allemeueste I
Zeit herrschend geblieben. An Herodot und Thukydides können vnr |
kontrollieren, wie Ephoros inhaltlich sich einem Gewährsmanne anschließt, J
obwohl er auch hier einzelnes nachträgt Man darf nicht sagen, daß er I
das Geschäft der StofiFsammlung nachlässig besorgt hätte; er hat sogar I
eine Darstellung der Geographie gegeben (es ist eine schlimme Ver- I
Säumnis, daß dies Buch noch nicht wieder hergestellt ist). Aber wenn I
man nicht den ilachen Rationalismus dafür gelten läßt, besitzt er kaum I
ein Interesse an der Ermittelung der Wahrheit und keine Kritik. Er hat ■
auch keine praktische politische Tendenz; nur fordert natürlich die I
Geschichte von Hellas panegyrischen Ton, und auch die Tatsachen muß 1
man danach modeln: der Rhetor hat die Freiheit des Tragikers. Nichts I
deutet darauf, daß er den Versuch gemacht hätte, die Bilder einzelner I
Personen plastisch herauszuarbeiten. Es würde vermutlich eine ziemlich 1
langweilige Lektüre sein; aber die Wort- und Satzfügung würde mindestens 1
ein sehr überlegtes Wollen zeigen: Ephoros hat fein über den Rhythmus I
geschrieben.
Bei Theopompos von Chios sieht das anders aus. Er stand im poli- Tbcopompos
tischen Leben, hatte die weite Welt gesehen, war journalistisch vielfach (t »«cb j«o)
tätig und schrieb daher mit ausgesprochener Tendenz. Erst führte er die
Erzählung des Thukydides bis zum Zusammenbruch der spartanischen Herr-
schaft in Asien (für das der Chier das gebührende Interesse hatte):
darin lag ein berechtigtes Urteil und eine Kritik sowohl des Thukydides
wie des Xenophon. Dann fand er den richtigen Standpunkt für die Zeit-
geschichte, indem er sie die philippische nannte und seinen Helden
gleich im Eingange einführte und charakterisierte. Kritik trieb er sogar
geflissentlich in retrospektiven Exkursen, und das Bild manches Stciats-
mannes hat dauernd die Züge getragen, die er ihm gab. Und doch war
auch er kein Historiker; seine Kritik war die eines Advokaten, und
stilisiert hat er alles nach dem Belieben und mit dem Gewissen eines
Rhetors. Dabei trug er mit grobem Pinsel auf, und wer nur die grellsten
Töne anwendet, wird am ehesten monoton. Daß er mit dem kitzligen
Schauder der moralischen Entrüstung besonders das Skandalöse pflegte,
machte ihn doch nicht einmal amüsant, denn die rhetorische Mache ver-
langte nun einmal, sich in Allgemeinheiten zu bewegen. Das ist das
isokrateische Erbe, das beiden gemeinsam ist. Endlose Schlachtgemälde
hat Ephoros entworfen: sie sind alle ziemlich über eins, und historisch
brauchbar sind sie alle nicht. Pol3'bios ließ die Seeschlachten gelten, weil
er von denen nichts verstand; sie sind in Wahrheit ganz desselben Kalibers.
Endlose Charakteristiken von Menschen und Völkern hat Theopomp ge-
liefert: man könnte sie dreist auf die Antithese gute und schlechte Menschen
verteilen. Dieser wollte nun gar tief sein und den Piaton übertreffen, da
er die Sokratik zu hassen als Rhetor verpflichtet war, und sie bei Philippos
anzuschwärzen persönliche Veranlassung hatte. Daher legte er mytho-
70 UuucH VON WiLAMOWiTZ-MoELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
logfische Dichtungen ein und versuchte sich an einer Utopia. Er wollte
auch mit der ionischen Erdkunde wetteifern und flocht allerhand Natur-
wunder ein, wie er denn den Rationalismus des Ephoros nicht teilte.
So hat er es in der Tat erreicht, die Leser zu fesseln, und sein Haupt-
werk war zum gfrößten Teile noch im 9. Jahrhundert vorhanden. Wir
haben, abgesehen von dem unschätzbaren stofflichen Verluste, zwar schwer-
lich ein großes Kunstwerk verloren, aber nicht nur ein Werk, das jahr-
hundertelang dafür galt und als solches wirkte (hat doch Trogus seine
Weltgeschichte nach ihm Philippicae historiae benannt), sondern auch das
Werk eines geistreichen Menschen: die rhetorisierte ionische Historie.
Auiimenes Über die eingelegften Reden dieser beiden Isokrateer haben wir kein
("■» HO) Urteil; wohl aber ist dieser Tage bekannt geworden, wie es einer der
minderwertigen Konkurrenten der isokrateischen Theorie und Historie damit
gehalten hat Der Brief des Philippos vmd die Gegenrede des Demosthenes
stammen in Wahrheit aus dem Geschichtswerke des Anaximenes von
Lampsakos. Jenen hatte er auf Ghrund der originalen Depesche der
königlichen Kanzlei verfertigt, unter Beseitigung von Detail, das ihm
imwesentlich schien, und Umsetzung in seinen Stil Den großen Redner
aber wollte er auch im Stile wiedergeben, schrieb also Stücke aus publi-
zierten Reden zusammen und erreichte so allerdings den Klang; zur
Sache sprach Demosthenes dann freilich eigentlich nicht, aber die All-
gemeinheiten taten ihre Wirkung. Die Entdeckung wird für die Historiker
und Redner noch mehr Früchte tragen: wie nahe sich beide im Stile stehen,
liegt nun zutage. Anaximenes gehörte zu den Publizisten, die Alexander
als sein literarisches Bureau nach Asien mitnahm; seine Taten zu be-
Kaiiisthroi-» schreiben hatte er aber in erster Linie den K^llisthenes beauftraget, den
(t 3»7)- Neffen des Aristoteles, der unter diesem archivalische Studien getrieben
hatte, auch schon eine Zeitgeschichte verfaßt Die Alexanders schrieb
er im unerquicklichsten salbungsvollen Bulletinstile, bis er in eine Hof-
kabale verwickelt den Freisinnigen zu spielen versuchte und elend za-
gende g^ng. Sein Oheim hat von ihm gesagft, er wäre ein vorzüglicher
Redner, es fehlte ihm nur der gesunde Menschenverstand. Es ist zu
beherzigen, daß er ihn gleichwohl als Prinzenerzieher und Historiker
empfohlen hat
Gerichtiredc. Nicht aus der Schule des Isokrates hervorgegangen, aber ohne sie
nicht denkbar ist die praktische Beredsamkeit Athens, deren Glanz den
Zusammenbruch des athenischen Staates mit einer so leuchtenden Aureole
umgeben hat, daß sich der Nachwelt das Verhältnis der Macht und des
Rechtes zwischen Makedonien tmd Athen vollkommen verschoben hat
Neben den drei großen Rednern Aischines, Hjrpereides, Demosthenes
besitzen wir noch eine ansehnliche Zahl von Werken benannter und
unbenannter Redner der Zeit, so daß wir das Verdienst der einzelnen
gegenüber dem der Gattimg völlig abschätzen können. Es kostet einige
Überwindimg, die Miasmen dieser sittlichen Fäulnis einzuatmen (es sei
B. Attische Periode (480— jao). IV. Attische Prosa.
7»
denn, man läse nur Worte), denn juristische und moralische Gerechtigkeit
scheint nur als schöne Redensart zu existieren. Advokaten und Parteien
sind einander wert, jeder darf jedem jede Gemeinheit zutrauen und ins
Gesicht schleudern; mit den Herren Richtern macht man eine Ausnahme,
aber das ist Redensart Die Schamlosigkeit der Verleumdung, die Ver-
pestung der Phantasie, die Grobheit der Lüge übersteigen fast das Maß
des Vorstellbaren. Dieser Staat und diese Gesellschaft haben das Existenz-
recht verwirkt, nicht weil die Menschen wirklich durchgehends so ver-
worfen gewesen wären, aber wohl, weil sie diese Institution der Selbst-
entwürdigung duldeten oder vielmehr hochhielten. Aber auch in dem
Sumpfe dieser Gesellschaft und dieser Beredsamkeit sind Blüten ge-
wachsen, deren Duft und Farbe vergessen lassen, wo ihre Wurzel ist
Aischines ist in der Verwaltimg hochgekommen, von der er wirklich
fachmännische Kenntnisse hat; publiziert hat er nur drei Reden in eigener
Sache. Er hat mehr literarische Bildung als die beiden anderen, aber
auch bei ihm geht sie nicht tief; daher prunkt er gern mit ihr. Ebenso
geflissentlich trägt er die Moral der Väter, konservative Gesinnung und
athenischen Patriotismus zur Schau. Er konnte das alles besitzen und
dabei überzeugfter Vertreter einer makedonerfreundlichen Politik sein.
Verkauft hat er sich dem Philippos ebensoviel und sowenig wie
Demosthenes dem Harpalos, obwohl sie beide fremdes Geld genommen
haben: man soll sie beide an dem Maßstabe der Moral ihrer Zeit und
ihres Standes messen. Aber vor den athenischen Geschworenen durfte
Aischines seine politische Gesinnung nicht bekennen, er mußte heucheln,
und so ist seine Stellung von vornherein schief. Auch wird der Appell
an Freiheit und Vaterland immer mächtiger wirken als die Pose der
Tugend und Besonnenheit Geradezu anwidern müssen die hämischen
und hinterhaltigen Angriffe, mit denen er Demosthenes wegen des Uaheiles
von Chaironeia zu stürzen trachtete, obwohl dieser schon jahrelang mit
Erfolg und Selbstverleugnung daran arbeitete, den Schaden wett zu machen.
Darüber vergessen wir, daß Aischines gegen Ktesiphon juristisch ganz im
Rechte war, und gönnen ihm, daß er nach Rhodos entweichen und Rede-
lehrer werden mußte. Aber in der Gesandtschaftsrede liegen die Sachen
genau umgekehrt: und da ist es nicht die Kunst, sondern das echte Ethos
der gekränkten Unschuld, das ihm die Überlegenheit sichert Aber auch die
Kunst ist geradezu vortrefflich: die Erzählung der Gesandtschaften nach
Makedonien und in der Kranzrede etwa die von den delphischen Er-
eignissen haben in der griechischen Literatur nicht ihresgleichen. Die
detaillierte und immer anschauliche Darlegung der Tatsachen suggeriert
dem Hörer durch die sorgsam abgewogene Farbengebung unwillkürlich
das Urteil: das versucht Demosthenes gar nicht, schon weil ihm die
Ruhe fehlt Und während dieser jeden Gegner, den er charakterisieren
will, zu einem ganz unvorstellbaren Popanz macht, hat Aischines in der
Gesandtschaftsrede von Demosthenes selbst bis in die kleinsten Züge ein
' nach _;jo)
72 Ulrich von Wilamowitz-Moeij^ndorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Bild entworfen, das gewiß verzerrt ist, aber nicht nur ein mögliches
Charakterbild, sondern ohne Frage ähnlich.
Hyp«r»idr» Hypereides und Demosthenes waren beide in der Advokatur hoch-
tw— j»i) gekommen, und der erstere ist eigentlich dabei geblieben, auch wenn er
zuzeiten mit wenig Einsicht und Geschick an der Staatsleitung teilnahm;
er wünschte das viele Geld, das er zu machen verstand, mit Behagen und
ohne Skrupel zu genießen. Es bekam seiner Kunst ebenso schlecht wie
seiner Person, als er den geistig überlegenen Parteigenossen in der
harpalischen Sache vor Gericht zog, noch mehr, als er den Gefallenen des
Lamischen Krieges eine hochtrabende Lobrede hielt. Dagegen das
Plaidoyer hat er ganz auf die Höhe gefuhrt, deren es fähig ist, gerade
weil er sich von jedem Versuche fernhielt, es in die Region des Er-
habenen zu fuhren, also nicht eine Prügelei als Haupt- und Staatsaktion
behandelte, wie es Demosthenes in seiner Rede wider Konon tut
Hypereides ist wahrlich alles andere als ein Dilettant oder Improvisator;
geht man ihm auf den Grund, so staunt man über die kunstvolle An-
ordnung und Verknüpfung der Gedanken: es ist sehr nützlich, Lysias zu
vergleichen. Aber er gebärdet sich, als spräche er nur so von der Leber
weg; alle äußerlichen Kunstmittel der Thrasymachos, Gorgias, Isokrates
verschmäht er. Man sieht ihn vor sich, wie er mit eleganter Nonchalance
den Philistern auf den Richterbänken imponiert, leise schmunzelnd, wenn
es ihm gelingt, sie gründlich zu düpieren. Und wenn er eine Sache zu
führen hat, die juristisch vollkommen hoffnungslos ist, wo sein Klient
nur mit seiner kolossalen Dummheit auf das Mitgefühl der Herren Richter
spekulieren kann, wie in der letztgefundenen Rede gegen Athenogenes,
da ist er vollends in seinem Elemente. Etwas Humor muß man freilich
selbst besitzen, um ihm nachzukommen. Es ist ganz in der Ordnung, daß
die Schulrhetoren ihn beiseite warfen und die attizistischen Wortklauber
daran Anstoß nahmen, daß er Vulgarismen aufnahm; wir kennen ihn daher
nur aus antiken Büchern, die um so nachdrücklicher für seine dauernde
Beliebtheit bei dem Lesepublikum zeugen, wohl auch bei den praktischen
Advokaten. Für ein freieres Urteil wirkt gerade durch den Kontrast zu
seinen Genossen der spiritus Grat'ae ienuis Camenae in ihm besonders
wohltuend.
Denioubene. Der Geist dcs Dcmosthcnes ist ein ganz anderer. Kein Hellene
(J84-.12I) j^^^ diese Glut der Leidenschaft, die nur heißer brennt, weil sie durch
die Strenge der äußeren Haltung, die anerzogene ciuqtpocüvti nieder-
gehalten ist Seine Rede ist eine sehr komplizierte Maschine, nur ge-
naueste Kenntnis und gespannteste Aufmerksamkeit kann sie bedienen,
aber die bewegende Kraft ist allein ein unbändiger Wille, und was in
dem Hörer erzeugt werden soll, ist wieder Wille, Entschluß, Tat Die
Worte an sich können um der Form w^illen sehr oft wie Isokrates klingen,
und doch ist innerhalb derselben Stilgattung kein größerer Gegensatz
denkbar. Jenem dienen auch die Taten nur zu Worten, hier wird das
B. Atäsclie Periode (480— jaoX IV. Attkcbe Prosa.
73
Wort selbst zur Tat. Für seine literarische Gröfie kommt nichts darauf
an, daß er als .\dvokat von einer Partei zur anderen übersprang und daA
er die Gepflogenheiten der Parlamentarier seiner Zeit übte, um /ur Macht
zu kommen. Auch die Berechtigung seiner Politik ist dafür unwesentlich.
Aber daß er an die Größe .\thens und der Demokratie glaubte und für
sein Ideal lebte und starb, ist sehr wesentlich, denn es gibt seinen Reden
den Stempel des echten Gefühles und läßt die nur zu häßlichen Menschlich-
keiten vergessen. Was ihn zum Klassiker macht, sind nicht die Erzeug-
nisse seiner Advokatentätigkeit, so vorzügliche darimter sind, sondern aus-
schließlich seine Staatsreden. Es ist aber notwendig, daß man sich klar
macht, was diese sind. Bisher hatten die Staatslenker Athens nur durch
das Wort gewirkt; noch der \-ielbewunderte Kallistratos hatte nichts von
seinen Reden veröffentlicht Es gab auch neben Demosthenes einfluß-
reiche und sehr beredte Staatsmänner, die an das Niederschreiben gar
nicht dachten, wie Demades, den Theophrastos, der beide gehört hatte,
über Demosthenes stellte. Eigentlich ist dieser auch der einzige geblieben,
der solche Staatsreden publiziert hat; ein paar Nachzügler dienen höchstens
als Folie. Vergleichen möchte man nur den Aristoteliker Demetrios von
Phaleron, einen ausgezeichneten Staatsmann, den Cicero als Redner immer
bewundert hat; aber er ist verschollen. Es ist also etwas geradezu Neues
gewesen, als Demosthenes in den fünfziger Jahren Reden vor das
Publikum brachte, die sich gaben, als hätte er sie vor dem Volke ge-
sprochen. Gesprochen wird er wohl in dem Sinne haben, aber wirkliche
Reden sind sie dennoch alle nicht Auch im athenischen Parlamente gab
es eine Tagesordnung, an die der Redner gebunden war, luid auch dort
mußte man seine Anträge formulieren. Die Debatte verlangt Beziehungen
auf die Vorredner und Vorlagen. Wohlgerundete Perioden und die pein-
lichst temperierte Wortwahl sind nicht geeignet, eine tausendköpfige
Menge zu bewegen. Aischines erzählt uns auch, daß Demosthenes vor
dem Volke ganz anders sprach. So ist denn diese Rede in Wahrheit
Pamphlet; die Engländer können das verstehen und benennen, weil sie
ein wirklich parlamentarisches Leben haben. Diese Pamphlete stehen der
Publizistik des Peloponnesischen Krieges und den vorgeblichen Staatsreden
des Isokrates viel näher als dem Plaidoyer. Wir haben uns zu denken, daß
sie in den tausend Klubs, in den Hallen und Gymnasien .\thcns vor-
gelesen wurden, sobald sie erschienen, denn laut muß man sie auch heute
lesen: den Vortrag hat Demosthenes selbst das Wichtig.ste an der Rede
genannt Seine Schriften entsprachen in Tendenz und Wirkung seinem
lebendigen Worte: aber als Schriften waren sie neu stilisiert. Das brachte
mit sich, daß er nicht zu dem souveränen Pöbel der Pnyx zu reden
brauchte, sondern zu dem idealen Volke der Athener. Tn der Kranzrede
(die man immer zu den Staatsreden gerechnet hat) führt er seine Sache
gleichsam vor den großen Ahnen zugleich und vor der Nachwelt So ist
denn auch der Gegenstand, über den er spricht, niemals bloß ein kleiner
j^ UuucH VON WiLAMOWiTZ-MOELLENiK)RFF: Dic griechische Literatur des Altertums.
Punkt der Tagesordnung, und er braucht sich um keinen Präsidenten zo
kümmern. Er spricht immer über die ganze politische Situation; gilt es
einmal einer speziellen Frage, wie in dem üblen Handel des Diopeithes,
so hängt die ganze Politik daran. Für uns hat das den Nachteil, daß wir
nur äußerst schwer erfassen, wohin er mit den möglichst allgemein ge-
haltenen Wendungen im konkreten Falle zielt: aber es ist doch diese
Stilisienmg, durch die erreicht wird, daß es auch uns zimiute wird, als
hinge Freiheit und Vaterland daran, daß geschähe, was der Redner fordert
Dieser Stil ist ganz und gar Kunst; daher haben die Rhetoren es wirklich
fertig gebracht, ihn nachzumachen; von Aristeides z. B. hat es Reiske ge-
sagt, dem wir glauben dürfen. Thukydideische Gedankentiefe fehlt; ein
Menschenkenner war er nicht, imd voll von all den Vorurteilen, die einem
attischen Advokaten anhaften mußten, der von Wissenschaft keine ent-
fernte Ahnung je empfangen hatte. Und doch diese einzige Wirkung.
Da hat das Beste gewiß der individuelle Mensch getan; aber ohne die
bei der Studierlampe durchwachten Nächte hätte er nicht geschaffen, was
auch nach Jahrtausenden noch packt Die erlernte Kunst, Gedanken und
Worte zu finden und zu stilisieren, hat auch das Ihre dazu getan. Aber
von der formalen Seite aus kommt doch keiner zu seinem wirklichen
Verständnis; Knabenkost ist er vollends nicht Politische Bildung setzt
der Politiker voraus; daher ist für uns Deutsche Bismarck zu lesen die
beste Vorbereitung, der die Redner verachtete.
Rhetorik und allgemeine Bildung schienen der Herrschaft sicher zu
sein. Sie würden sie nicht behauptet haben, denn die ionische Wissen-
schaft war noch nicht infiziert und die Individualität ward durch Alexander
wieder frei. Aber das Entscheidende war doch, daß neben Isokrates der
größte Athener, der größte Hellene, gestanden hatte, der größte als Denker
n«ton und als Dichter. Piaton hatte der Welt den wahren Weg der Menschen-
(4»7— 3<7)- bildung gezeigrt: die Erziehung zu einer freien Persönlichkeit durch die
Wissenschaft, und er hatte Werke verfaßt, die rein als Kunststücke denen
des Isokrates gleichwertig waren, an echtem Kunstwerte die vollkommenste
Prosadichtung heute noch sind, also wohl bis zum jüngsten Tage bleiben
werden. Ihr Stil war gewissermaßen geir kein Stil, denn er war immer
wieder anders. Es ließ sich alles in ihm sagen, was ein Hirn denken
und ein Herz fühlen kann, und es ließ sich in jeder Tonart sagen, tragfisch
und komisch, pathetisch und ironisch. Stil war es aber doch, bewußter
Stil, keineswegs die Rede, die zu Fuß geht, wie sie die ionische imd
italische Wissenschaft anwandte, aber auch keine Rhetorik, sondern eben
Poesie.
Auf den Knaben Piaton hat sein Oheim Kritias, der Tyrann, stark
.eingewirkt, der sich als erster Athener dilettierend in den verschiedensten
Gattungen der Poesie und Prosa versucht hat Er hat in den „Politieen"
viel mehr die verschiedenen Formen des sozialen als des politischen
Lebens geschildert; er hat „Homilieen", d. h. Unterhaltungen geschrieben,
B. Attische Periode (480—320). IV. Attische Prosa.
75
ethischen Inhaltes; er hat eine tragische Tetralogie gedichtet, die unter die
Werke des Euripides geraten konnte. Piatons dramatische Begabung zog
ihn ebendahin; daß er die poetischen Formen beherrschte, verstand sich
in diesem Kreise von selbst Im Epigramme hat er noch als Greis den
unmittelbaren Ausdruck der Empfindung gefunden. Daß er den Oheim
sich so an dem Vaterlande vergreifen sah, daß ihm selbst jede politische
I^ufbahn verschlossen ward, aber der Widerwille gegen die Demokratie
ebenso imauslöschlich sich einprägfte wie der Abscheu gegen die Tyrannis,
waren Eindrücke der Jugendzeit, deren Bedeutung man sehr hoch anschlagen
muß; aber unmittelbar bestimmen sie seine Schriftstellerei nicht Kritias
verkehrte mit Sokrates wie mit den anderen Sophisten; so hörte Piaton
ihren Disputen zu und ergötzte sich daran, wie die attische Ironie den
Dünkel der Ausländer auf den Sand setzte. Da sagte er dem Heroentume
der Tragödie zugunsten der Gegenwart Valet, den Versen zugunsten der
Prosa; es reizte ihn, diese Redeschlachten in poetischem Abbilde fest-
zuhalten. Führerin mußte zunächst die Komödie sein, und wenn er sie
später aus moralischem Rigorismus verdammen mußte: an ihrem Witze
hat er zeitlebens so starkes Gefallen gefunden, daß er dem Aristophanes
die Wolken vergeben hat Von Nachahmung konnte keine Rede sein,
wenn auch die Anregung (durch Eupolis) kenntlich ist Als echter Poet ver-
legte er gleich in seinem ersten Hauptwerke die Szene zeitlich und örtlich
außerhalb seiner persönlichen Erfahrung und gab dem Sokrates in Pro-
tagoras einen Gegner, der ihm selbst nur literarisch bekannt war. Nun
kam ihm die Zeit der Erweckung. Er sah, wie die Welt den Gerechten
von sich stößt, dieser aber trotz Unrecht und Tod Frieden und Heiterkeit
der Seele bewahrt. Er lernte, daß der Zweifler, der sich zeitlebens ver-
gebens bemüht hatte, die Tugenden begrifflich zu fassen, die Tugend
als eine immanente Realität besaß. Daraus erwuchs ihm die Aufgabe,
diesen Widerspruch und diese Lösung gleichermaßen zum Ausdrucke zu
bringen, das labyrinthische Suchen der Dialektik, und daneben die Ver-
körperung der gesuchten sittlichen Vollkommenheit in der Person des
Sokrates: der Tapfere war da, einerlei, ob die Tapferkeit noch zu suchen
blieb. Das Unbegreifliche, hier war's getan. Dies potenzierte sich in
dem Unrecht, das der Gerechte leiden mußte, zu dem Triumphe des
Besiegten. Damit war ein Stoff gegeben, erhaben wie nur eine Tragödie.
Zu deren Abschlüsse bedurfte er schon aus künstlerischen Gründen einer
Mythologie. Er fand sie in der orphischen Eschatologie, die er durch das
Feuer seines eigenen reinen Glaubens läuterte. Damit hatte er in der
Sokratik ein neues Evangelium verkündet; er hatte aber auch dem
athenischen Staate, oder vielmehr dem ganzen Reiche dieser Welt ab-
gesagt Jahre des Wandems folgten. Als er heimkehrte (387), war er
voll von den Eindrücken, die er in den pythagoreischen Bruderschaften
empfangen hatte. Sein Volk traf er in der tiefsten Emiedrigomg, gerade
nach dem Antialkidasfrieden. So bannte er seine Tätigkeit in den Winkel
yö Ulrich von Wilamowttz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
der Akademie und beschied sich, wenn auch schweren Herzens, in dem
freien Zusammenschlüsse der Schulgenossen den Grundstein zu einem
künftigen Reiche der Gerechtigkeit zu legen: den Grundstein zu dem
Reiche der Wissenschaft hat er wirklich gelegt, und das überdauert alle
irdischen Reiche. Auch das literarische Getriebe der Sophistik war ihm
ganz widerwärtig geworden. Der mathematische Beweis, der mit seinen
Formeln und Figuren gerade und sicher zur ab.soluten Wahrheit führt,
ließ ihm das Scheinwesen der Rhetorik doppelt verÄ'erflich erscheinen,
deren Ansprüche er aufs höchste gestiegen fand. Alle Schriftstellerei,
auch die eigene, erschien ihm nur noch als ein Spiel gegenüber dem
reinen Denken und Untersuchen. Aber die Lust zu spielen war nur leb-
hafter geworden, das Können ausgereift; jeden Ton und Stil konnte er
nun treffen, steigern, parodieren. Seinem Bedürfnis nach Anschaulichkeit
genügte nicht einmal die dramatische Form, weil sie doch nur durch das
Ohr wirkte: so führte er jetzt mehrfach einen Erzähler des Dialoges ein,
der den Effekt der Worte ergänzend schildern konnte; aber der Vorteil
ward durch zu viele leere „sagte er" u. dgl. erkauft, so daß Piaton den
Versuch aufgab, zumal seine späteren Werke keine so lebhafte Aktion mehr
enthielten. Am richtigsten wäre es gewesen, wenn er dann zur Lehrschrifb
übergegangen wäre. Denn im Laufe der Jahre seiner Schulleitung kam
ihm doch der Drang, nicht bloß zu widerlegen und poetisch zu spielen,
sondern die eigenen ernsten Gedanken zusammenhängend zu entwickeln.
Aber er hatte die Form des Gespräches, der Untersuchung statt der Lehre,
so entschieden als die einzig berechtigte bezeichnet, daß er nicht zurück
konnte; er konnte auch von der Poesie nicht lassen. So versuchte er
verschiedene Auswege. Einmal gab er den Dialog in Wahrheit auf und
ersetzte ihn durch Einzelvortrag, den aber alle Mittel der künstlichen
Stilisierung, namentlich in WortAvahl und Wortfügung, zur Poesie im
Gegensatze der Rhetorik machen sollten; wenn er mit dieser z. B. die
Vermeidung des Hiatus teilt, so stammt das eben in beiden aus der
Poesie. Es war ein Versuch, der zwar von dem, was die griechische
Sprache und die platonische Kunst vermag, den höchsten Begriff
gibt; aber die Konstruktion des Weltalls und gar den Bau des mensch-
lichen Körpers in lauter Bildern und Metaphern zu beschreiben, war
doch ein Mißbrauch (Timaios). Eine mythologische Dichtung, der Kampf
des Gottesreiches mit dem Reiche der materiellen Macht, ist diesem Stile
angemessener (Kritias); aber sie ist liegen geblieben; schwerlich hätte Piaton
eine Geschichte erfinden können. Der andere Weg war, die Dialogform zu
bewahren, aber den künstlerischen Schmuck im wesentlichen aufzugeben.
Aber die Dürre der logischen Zergliederung (Sophistes, Politikos) oder gar
die zenonische Formelsprache (Parmenides) oder auch die Nachbildung
der Schuldisputation mit ihren endlosen Rekapitulationen (Philebos) sind
künstlerisch unbefriedigend ausgefallen. Sein letztes Jahrzehnt hat Piaton
mit erlahmender Kraft und Lust an der stilistischen Gestaltung, aber mit
77
dnloipscko Weise
( G e a t to ^ i— er ■och sdJig^
derake HaoMr aatenrales
ha Ae Wdtere^nisse trieben,
Wek «ad dw liiebe zu öuen
ganz ver-
■nd verstandesmäBig
eacschiedea habeo,
Cicero and Seneca,
ms der Seele
reden, venn er anders
«eil er mit ihm jung war. So
aa, seinen Stil durch die
Grole
loben. Vi
iihr Leben In
[Voltaire nnd
<fie
'"geworden ist; sein Seil «ird
ist es bei Goethe nnd bei nxtoo. Es gete
Pai^ele mit cäaesB ei aiy n Kniffrirr za chaiakterisieren, so fein H. Taine
gesa^ hat, er male oocieggiesk, oder wie er jüngst mit Praxiteles ver-
gfichea ist: das ziriit allrafcilH für Procagoras imd L\-sis, nimmermehr
für Theaetet and Fhaidros, Ae wieder untereinander schon ganz ver-
ftehifA^ smd. Die hOdende Knnst der Griechen geht wohl in keinem
einzelnen über jene VortreffBchkeit hinaus, in der Techne zugleich
Kunst und Handwerk ist: eine Künsderindividuaütät wie Michel Angclo
oder Rembrandt haben die Grie<^ien schwerficfa besessen (es sei dena
imter den Malern, die wir nicht kennen); sie waren ja auch von der
modernen Schätzung oder Übersc h ä tz t mg der Künstler weit entfernt Auch
ihre Literatur dankt ihre Vortrefflichkeit nicht zum mindesten dieser EigM^
Schaft, die den Wert des Literaten herabdrückt. Aber in Platons Werken
wenigstens haben wir ohne Frage eine jener absolut höchsten Leistung«»,
die ganz individuell sind. Für ihn war der Dialog das einfach Natürliche^
wie es für seine ganz Gott und der Wissenschaft hingjegebene Person
(deren Zauber doch einen Aristoteles, einen Eudoxos, einen Herakleides
ganz im Banne hielt, solange der Meister lebte) das Natürliche war, dafi
er sie ganz und gar zurücktreten ließ: welch ein Gegensatz zu Herokht
und Parmenides, Paulus und Augfustin, Dante und Goethe. Für uns, die
wir ihn gern ganz kennen, gern auch im Schlafrock und in der Hof-
tracht sehen möchten wie Goethe, Ist das sehr bitter: aber er hat es so
gewollt; er bietet uns ja sogar die Sonne seiner Wissenschaft nur im
farbigen Abglanze des Dialoges. Glücklicherweise gibt er sich darin
immer ganz wie er gerade ist Aber eine solche individuelle Kunst nach-
zuahmen ist eigentlich ein Widersinn. Äußerlich kopieren kann man wohl
eine ihrer .\usdrucksformen, weil sie so charakteristisch ist Darum Ist es
recht, daß die mikroskopische Stilanalyse in den unechten Dialogen nichts
Unplatonisches findet: der Geist kommt nicht unters Mikroskop: die
Briefe freilich werden auch eine formale Prüfung nicht bestehen. Aber
der Dialog nach Piaton war eigentlich ein Unding, selbst bei ihm nur
/
78 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorfp: Die griecfaische Literatur des Altertnms.
subjektiv entschuldig^, als er nicht mehr sokratisch war. Und doch ist er
für die antike Literatur eine Gattung geworden, die der Historie oder auch
der Tragödie und Komödie ebenbürtig gehalten und geübt ward. Grewiß
sind dadurch viele schöne und lesenswerte Werke entstanden, auch in der
antikisierenden Imitation der Neuzeit, die freilich zmneist von Nachahmern,
Cicero oder gar Lukian, mehr beeinflußt war. Es ist denn auch in der
Ordnung, daß der Klassizismus Verfall darin sieht, wenn wir keine Dialoge
mehr schreiben. Als ob wir noch welche hielten, als ob die Vermischung von
Wissenschaft und Poesie noch irgendwelche Berechtigimg hätte. Der
wahre Nachfolger des Piaton ward Aristoteles auch dadurch, daß er vom
Dialoge zu der Lehrprosa loniens überging. Wohl hatte auch ihn zuerst
das Vorbild seines Meisters verführt; er hatte auch den Dialog veKucht,
mit geringer poetischer Kraft und starken Konzessionen an die Rhetorik,
wirksame Werke, aber doch nur Nachahmung: er konnte Besseres. Auch
die eigene Schule Piatons hat sich vom Dialoge abgewandt, schon Xeno-
krates, imd die beiden bedeutendsten Erneuerer der Akademie, Arkesilaos
tmd Kameades, haben damit Ernst gemacht, nur zu forschen imd zu dis-
putieren, ohne zu schreiben. Der Fortschritt der Philosophie hat sich
nicht mehr in Werken dieser Form vollzogen, mag sich auch selbst Epi-
kuros dem übermächtigen Vorbilde gebeugt und sogar ein Symposion
verfaßt haben. Dafür hat der Dialog sein Gebiet weit über die Philosophie
ausgedehnt, und dazu halfen ihm geringere Geister, die durch Piaton an-
geregt sich neben ihm versuchten. Uns sind sie leider fast ganz unkennt-
lich, und wir müssen zufrieden sein, daß Xenophon, den wir allein be-
sitzen, wenigstens im An- und Nachempfinden groß gewesen ist; er hat
es auch an Piaton geübt, aber Antisthenes und Aischines standen nicht
gar so hoch über ihm.
AaüMiiene« Aus Antistheues einen Denker imd Schrifteteller von eigener Bedeutung
(etwa 440-370). ^y machen ist eins der luftigsten Wahngebilde, die sich die Philologie
des letzten Jahrhunderts geschaffen hat, rein aus blauem Dunste, denn
das Altertum weiß nicht das mindeste davon, und die einzige von ihm
eriialtene Schrift, eine Deklamation, die freilich wenig taugt, mußte athetiert
werden. Er war schon Sophist, als er sich mit Leidenschaft an Sokrates
anschloß, und so erhielt das Moralische in der Schule, die er nach dessen
Tode auftat, eine große Bedeutung; aber darauf hielt ja Isokrates prinzipiell
auch, während Antisthenes auch Rhetorik lehrte und Homer erklärte (sein
Schüler ist Zoilos, der durch zum Teil ganz witzige Homerkritik in Ver-
ruf gekommen ist). Zu seiner Schriftstellerei gehörte auch der sokratische
Dialog in Konkurrenz zu Piaton, aber keineswegs ausschließlich. Ge-
schrieben hat er viel; gelesen ist er wenig. Der theoretische Kynismus
eines Sophisten, der Honorar nimmt, kann für das praktische Leben keine
Bedeutung haben. Die gewinnt er erst durch Diogenes, der als Hund
auf die Gasse geht und die Leute anbellt; die Diogeneslegende stellt das
Verhältnis der beiden ganz zutreffend dar.
B. Attische Periode (480—330). IV. At&stite Prosa.
79
JMV
Aischines von Sphettos, ein treuer Verehrer des Sokrates, der sich .*•.-**••
ziemlich kümmerlich als Advokat durchgeschlagen ru haben scheint, bis "T
ihn Dionysios IL an seinen Hof berief, hat ganz ohne philosophische
Aspirationen lediglich als anmutige Lebensbilder sokratische Dialogfe ge-
schrieben, mit der allerfireiesten novellistischen Erfindung: die Armut des
gerechten Staatsmannes Aristeides und der ästhetische Salon der geist-
vollen Kurtisane Aspasia sind Erfindungen von ihm, die noch immer
^nelen so reizend sind, daß sie sie für Wahrheit halten. Sokratische
Dialoge hat noch mancher geschrieben, wirkliche Schüler, wie jener lieb-
liche Knabe Phaidon von Elis, den Piaton unsterblich gemacht hat, und
ein Heer von Nachahmern, die für die Nachfrage des Publikums zeugen.
So figurieren die „Sokratischen Reden" (Dialog sagt er noch nicht) in der
Poetik des Aristoteles neben den Mimen Sophrons als Poesie in prosaischer
Form. Nicht ganz ohne seine Schuld vergessen die Modernen meistens,
daß diese ganze Gattung in Wahrheit erst von Piaton geschaffen ist
Xenophon, heimatberechtigt in demselben Dorfe wie Isokrates und xcMpho«
auch ziemlich gleich alt, hatte die letzten Jahre des Sokrates gar nicht '^ ""^ ^"*
in Athen gelebt, kannte also seine Verklärung im Tode nur von Hören-
sagen. Zur Feder griff er erst nach 386, als er als abgelohnter
Parteigänger Spartas auf einem geschenkten Landgute bei Olympia
saß; auf vieles in ihm trifft die Charakterisierung als Major a. D. am
schärfsten zu. Er hatte Veranlassung, seine eigene Vergangenheit vor
dem Publikum in ein gutes Licht zu setzen und tat das in einem Pseudo-
nymen Berichte über den Zug der Zehntausend, der, soweit er schlicht
erzählt, des gewollten Eindruckes nicht verfehlt; man darf aber den
Zweck der Selbstapologie nicht außer acht lassen. Im Interesse Spartas
ergänzte er den Torso des Thukydides bis zu dem Triumphe Spartas im
Frieden des Antialkidas; die Nachahmung des großen Vorbildes ging weit
über seine Kräfte, und als er später fortschrieb, gab er sie auf, geriet
aber, da er durchaus nicht disponieren kann, in arge Unübersichtlichkeit
Er besitzt eine entschiedene politische Überzeugung und ein gutes mili-
tärisches, gar kein politisches Urteil, Aber selbst das Militärische muß
sich sozusagen in der Sehweite des Beobachters halten, wenn er gut be-
richten soll. Allenfalls eine Feldschlacht, aber keinen Feldzug kann er
anschaulich machen, schon weil ihm nie aufgegangen ist, daß man eine
Zeichnung nach einem festen Maßstab durchführen muß: ihn bestimmt
zufällige Kenntnis und persönliches Interesse. Er griff dann zu dem
sokratischen Dialoge, vermutlich als letzter von denen, die Sokrates
gekannt hatten. Es verdroß ihn nicht minder, den firommen Biedermann,
als den sich der Eiron ihm gegeben hatte, als Gottesleugner verurteilt,
wie als einen Kerl, der spekuliert, verherrlicht zu sehen. So schrieb er
eine Verteidigung gegen die ganz sophistische Anklagerede, die ein
Rhetor zweiten Ranges, Polykrates von Athen, eigentlich gegen den
Gorgias des Piaton gerichtet hatte; diesem gegenüber hat er ohne Zweifel
8o Ulrich TO^^WBuSowS^Mokixeitoorff: Die griechische Literatur des AjIcrtamsT
sich bemüht, die reine Wahrheit zu sagen. Dann aber gab er das Ideal-
bild des Sokrates; er fühlte sich dazu durch die Dialoge des Platou,
Antistlienes, Aischines berechtigt; daß er in Abhängigkeit von ihnen
geriet, lag in seiner Begabung. Dabei ist ihm ein durchaus anmutiges
Buch gelungen, Sokrates beim Weine unter Personen (darunter sein
Ankläger Lykon), die er auch gegen Angrifl'e, hier der Komödie,
rehabilitieren wollte. Daß dieser xenophontische Sokrates kein anderes
Moralisches zu geben weiß, als was sich immer von selbst versteht, darf
nicht hindern, das Menschliche anzuerkennen, das uns hier an Sokrates und
noch mehr an seiner Umgebung anheimelt Sein Sokrates muß auch über
allerhand praktische Dinge sich verbreiten, Landwirtschaft, sogar Kriegs-
wissenschaft. Das ist alles ganz xenophontisch, klingt also noch besser, wenn
die sokratische Maske wegbleibt So repräsentieren Bücher wie das über
Pferdezucht für das Attische einen literarischen Fortschritt; aber das konnten
damals auch andere und werden es schlichter und darum besser gemacht
haben. Denn Xenophon hatte auch an der Rhetorik gekostet und gewöhnte
sich einen gewollt naiven Stil an, der nicht selten ins Kindische fällt Seine
Ambition ging noch höher. Er probierte ein Enkomion auf seinen ver-
ehrten König Agesilaos, direkt nach Isokrates; er stellte zur Abwechslung
statt Sokrates den Simonides in den Mittelpunkt eines Dialoges (wo denn
klar wird, daß er nicht einmal versucht zu individualisieren). Endlich schrieb
er, durch Ktesias angeregt, den historischen Bildungsroman von Kyros.
Daß man das nicht für etwas Kühnes und Neues halte, sei daran erinnert,
daß Herodoros von Herakleia in ähnlicher Tendenz eine Geschichte des
Herakles geschrieben hatte. Das Buch ist sehr ermüdend; breite Strecken
nimmt der sokratische Dialog mit geringer Abtönung ein; daneben Nove-
letten im Stile des Ktesias, an denen Wielands Empfindsamkeit sich
erbaut hat, und geschichtliche Belehrung über Vergangenheit und Gegen-
wart Asiens, die oft seltsame Widersprüche hineinträgt. Daß so etwas
geschrieben ward, und zwar für die breiten Leserschichten (denn die Stimm-
führer lehnten den ganzen Mann ab oder ignorierten ihn), ist uns vor allem
wichtig, weil es für die Weite der Literatur zeugt, von der uns keine
Spuren geblieben sind. Wir würden ganz andere Vertreter der Unter-
haltungsliteratur ausgewählt haben, aber dankbar müssen wir den Rhetoren
der Kaiserzeit doch sein, die ims den gesamten Nachlaß des Xenophon
als Muster der Naivetät gerettet haben. Wählen würden wir in erster
Hcrakkidt» Linie den Herakleides aus Herakleia am Pontos, der, lange Jahre der
(t Mci« 310)- vornehmste Genosse Piatons, eine Weile sogar sein Vertreter, bald nach
dessen Tode in die Heimat zurückkehrte, als er bei der Wahl zum Schul-
haupte durchfiel. Die wissenschaftlichen Verdienste des Mannes gehen uns
hier nichts an, so groß sie auch sind, sowohl in den Naturwissenschaften,
Astronomie und Physiologie, als auf philologischem Gebiete, Geschichte der
Musik und Literatur, sogar Etymologie. Aber die historischen Dialoge, in
denen er bis auf Pythagoras zurückgriff und das Dramatische, die Zahl
J
C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). I. Hellenismus.
8r
der Unterredner und die Ausmalung des Hintergrundes und des zeitlichen
Kolorits weit über Piaton hinaus führte, haben nicht nur stofflich den
nächsten Jahrhunderten ungemein viel geboten, sondern auch den Dialog
als Prosadichtung gerade bei seinen bedeutendsten Vertretern, Cicero imd
Plutarch, wesentlich bestimmt.
Der Geltung des Herakleides ist besonders Aristoteles verderblich .vriituieie»
geworden; die beiden konnten sich nicht verstehen und offenbar nicht *~^"'
leiden. Daß Aristoteles nicht in der Schule Piatons, aber wohl in Athen als
selbständiges Schulhaupt seine letzten zwölf Jahre wirken konnte, daß er
nicht nur durch wissenschaftliche und populäre Werke, sondern noch viel
mehr durch die Lehre, die er selbst und nach seinen Lehrschriften die
Schüler verbreiteten, das Gesamtgebiet der Wissenschaften und ihre Methode
bestimmte, daß er auf platonischer Grundlage fortbauend die ewigen
Formen auch in der Literatur aufsuchen lehrte und historisch verfolgte,
wie und durch wen sie in die Aktualität eingeführt wären, daß er endlich
die Rhetorik in den wissenschaftlichen Unterricht aufnahm, hat die ganze
Zukunft bestimmt, weit über das Altertum hinaus. Auch die philologisch-
historische Forschung muß sich freilich von Aristoteles emanzipieren, wie
es einst die Naturwissenschaft getan hat: erst wenn sie sich ganz frei
fühlt, kann sie seine Bedeutung wirklich würdigen. So groß er auch als
Schriftsteller ist: geküßt hat ihn die Muse nicht, und die Neuplatoniker
haben fein den Piaton öeToc genannt, den Aristoteles bainövioc.
I-
C, Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.)-
L Hellenismus. Alexandros der Makedone eroberte als Herzog
der Hellenen den Orient und bestieg als König der Könige und Erbe der
Weltherrschaft den Thron des Kyros oder auch des Ninos. Dadurch
erhielt die hellenische Kultur eine unendliche Expansion. Es verschlug
nichts, daß sich politisch das Weltreich nicht hielt, sondern in eine
Anzahl Königreiche spaltete, denn die Weltkultur umspannte nicht
nur diese, sondern reichte weit über ihre Grenzen. Auch Bithyner
und Kappadokier, Karthager und Italikcr hatten nur insoweit Kultur, als
sie unter hellenischem Einflüsse standen, und selbst die Partherfürsten, die
erste und bedeutendste Macht, die von der nationalen Reaktion gegen das
Hellenentum emporgetragen ward, mußten den Philhellenismus bekennen,
sobald sie zur Macht gelangten. Mithradates Eupator, in seiner Physiog-
nomie und seinem Wesen ein asiatischer Sultan, hat sich gar als Befreier
der Hellenen geriert. Darin liegt, daß diese Kultur unabhängig ist von
der politischen Herrschaft. Diese hatten ja auch nicht die Hellenen
errungen, sondern die Makedonen; aber gerade sie waren selbst
schon durch Philippos hellenisiert worden und sind ganz in dies Volkstum
übergegangen. So wird es zunächst auch nicht als eine Gefahr für das
Hellenentum empfunden, als Rom die Herrschaft über den Westen erringt
Dil Kultur uih Gioimwari. LS. i>
82 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; Die griechische Literatur des Altertums.
und bald bestimmend in den Osten übergreift. Sollten die Latiner sich
nicht ebenso hellenisieren? Sie ließen sich ja gern hellenische Ahnen
geben und als Hellenen zu den isthraischen Spielen zulassen. Es kam
anders. Rom nahm begierig die hellenische Kultur auf, aber es wahrte
seine Sprache, machte sie in Italien zur herrschenden und die italische
Nation zur Herrin auch der Orientalen. Bitter bekamen die Grriechen es zu
spüren, daß seit 1 90 ihre Königreiche nur noch von Roms Gnaden existierten,
und wenn ein Land unter die Herrschaft des Senates geriet, so warf sich
ein Schwann von Blutsaugern darauf, die italischen Kaufleute und Kapi-
talisten; die verstanden ihr Geschäft, saigner a blanc. In der Not begrüßte
man den Kappadokier Mithradates als Retter und beschleunigte damit
den wirtschaftlichen Untergang; die römische Revolution vollendete ihn;
den Orient überrannten die Parther. Die Zerstörung ist ' so furchtbar
gewesen, daß der Untergang der letzten makedonischen Dynastie in
Ägypten in voller Wahrheit für die ganze Kultur ein Ende bezeichnet
Dcis sieht nicht nur der Rückschauende, das war den Mitlebenden völlig
bewußt
Diese Periode ist der Hellenismus; den Namen hat ihr J. G. Droysen
gegeben, der ihr Wesen und ihre Bedeutung zuerst und lange allein
richtig erkannt hat. In Alexander krönt sich die hellenische Geschichte
das 3. Jahrhundert ist der Gipfel der hellenischen Kultur und damit der
antiken Welt, die Zeit, die der modernen allein vergleichbar ist Mögen
die ewigen Gedanken früher gedacht, die ewigen Kunstwerke vorher
geschatFen sein: durch die Ausgestaltung der Wissenschaft ebenso wie
durch die Weltherrschaft gewinnen beide erst die Macht, auf die Ewigkeit
hin zu dauern und zu wirken. Und in den vier Menschenaltem von Ale-
xander bis Antiochos Megas, von Aristoteles bis Eratosthenes, bringt das
g^echische Volk eine so ungeheure Menge bedeutender Menschen hervor,
daß der Abfall danach vielleicht eine physische Notwendigkeit war. Bis zur
mithradatischen Zeit fehlt es dann immer noch auf einzelnen Gebieten nicht
an bedeutenden Gestalten, obwohl kaum etwas entsteht, was zugleich neu
und groß wäre, und die Poesie schon verrinselt Die cäsarische Zeit kann
auf keinem Gebiete mehr einen auch nur einigermaßen bedeutenden
Griechen aufweisen. Der Strom, der mit Alexander die Welt überflutete,
scheint versieget: aber die Welt hat er befruchtet für alle Zeit
Das wahrhaft Große des Hellenismus ist seine Wissenschaft; auf allen
Gebieten, namentlich in den Naturwissenschaften, den theoretischen und
den angewandten, lernen wir alle Tage mehr, daß die Kaiserzeit bereits
Verfall ist Daneben ist es die Ausbreitung der Gesittimg, die Hebung
des allgemeinen Bildungsniveaus, die besonders wichtig ist Uns gehen
hier die Gedanken der Weisen, die Forschungen der Gelehrten, die Kon-
struktionen der Techniker, die Entdeckungen und Erfolge der Ärzte nichts
an; wir können hier die Entfaltung des inneren geistigen Lebens nicht ver-
folgen; aber wo die Ausbreitung und auch die Breite der Literatur mit
C HeüesistiKbe Periode C3ao— 3o v. OuX L HrHmiiMSL
«3
das Wichtigste ist, kann nicht unbesprochen werden, was hierfür erst die
Möglichkeit schafft
Alexander verlegt den Schwerpunkt aus Europa na<^ Asien. Make» küm
dooien ist nie ein Kulturzentrum geworden; Adien blieb es durch die
Philosophie, die an einem Hofe nicht gedeihen kann; aber die letzte
Dichtgattimg, die Athen erzeugte, fast noch zu Alexanders Lebzeiten, das
Lustspiel, hat schon einen engen lokalen, man muß sagen epichorischen
Charakter. Von den Königshöfen hat der von Babylon und Antiocheia
durch die Hellenisierung der Semiten für die Zukunft ungemein wichtiges
gewirkt; er gründet oder besiedelt in Mesopotamien, S\Tien, Palästina die
Städte, aus denen schon im 2. Jahrhundert eine Menge führender Männer
hervorgehen; aber von seinem besonderen Wesen wissen wir so gut wie
nichts, und keiner der Seleukiden bestimmt unmittelbar oder mittelbar auch
nur einen Teil des geistigen Lebens der Nation, keine Fürstin gibt auch
nur eine Mode an. Das geschieht in Alexandreia, und so |>ervers es ist,
die Literatur oder die Kunst des Hellenismus alexandrinisch zu nennen,
so kommt doch ungemein viel von dort, und es wird sich auch eine
alexandrinische Sonderart erkennen lassen. Aber um die Mitte des
2. Jahrhunderts hat das durch die Schuld der Regenten und das Erstarken
des Ägyptertums ein Ende. In Sizilien hält sich zuerst noch die Eigenart,
da es niemals unter attische oder makedonische Herrschaft geraten ist;
es produziert nur überhaupt wenig für die Gesamtkultur, und sobald die
Römerherrschaft beginnt, geht es wie im griechischen Italien: das geistige
Leben ist ab und tot So bleibt als wahres Zentrum der Kultur die
asiatische Küste, ihre alte Heimat In ungebrochener Kontinuität, im-
gehemmt, aber auch nicht stark gefordert durch die Fürsten, auch nicht,
als in Pergamon ein Thron steht, entwickelt sich das ionische Wesen
weiter. So dürfen wir sagen, obwohl gerade das Lokalionische schwindet
und Rhodos, der allerwichtigste Ort, sogar mit Absichtlichkeit an seinem
Dorertum festhält Denn es ist der Geist loniens, der sich ja auch den Äoler
Homer und den Dorer Hippokrates gewonnen hatte. Aber gewahrt soll
freilich der dorischen Insel der Ruhm bleiben, daß sie der hellenischen
Wissenschaft eine Freistatt geboten hat, als die ägyptisierten Ptolemäer
sie von sich stießen, daß Poseidonios aus dem syrischen Apameia und
Hipparchos aus dem bithynischen Nikaia sich dorthin zogen, wo auch dem
Römer die griechische Bildung sich auf dem Boden darstellte, der sie
gezeugt hatte: dem Boden einer freien Bürgerstadt Es hat eine tiefe
Bedeutung, daß ein Rhodier, Panaitios, den neuen Herren der Welt den
Kodex ihrer Pflichten geschrieben hat (übersetzt von Cicero de o^/iais).
Trotzdem sich schon jetzt innerhalb des Hellenismus lokale Differenzen ii«>ii«oum«-~
bemerken lassen und ohne Zweifel noch viel stärkere hervortreten werden, '''"*'
ist der Eindruck der Kultur sowohl in ihren äußeren Formen als in ihrem
gjmzen Geiste einheitlich, viel mehr als z. B. in der Kulturwelt der euro-
päischen Barockzeit, selbst wenn man von England absieht; sie ist eben
6»
$4 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
wirklich eine Weltkultur. Dazu tut ziemlich das Wichtigste die Sprache,
und auch sie zeig^ in ihrer Entwickelung dieselbe Einheitlichkeit Die
vorige Periode hatte das Attische in der Literatur fast vollkommen zur
Herrschaft gebracht, und diese Literatursprache, die sich von dem vulgären
Dialekt der Athener bereits stark unterschied, ward schon durch Philippos
die Sprache der königlichen Kanzleien und des internationalen Verkehrs.
König Dareios und König Alexandros, beide nicht einmal Hellenen, haben
attisch korrespondiert Wohl haben die Städte und Bünde von Hellas
im inneren Verkehre, zum Teil auch untereinander, ihre Volksdialekte
geschrieben, von denen mancher erst jetzt zur schriftlichen Fixierung kam;
wohl hat sich namentlich ein Dorisch gebildet, das trotz mancher Diffe-
renzen im einzelnen denselben Typus zeigt, und in Syrakus hat ein
Archimedes selbst wissenschaftliche Gegenstände in ihm behandelt Aber
jetzt war das nur eine Marotte des großen Gelehrten. Alle diese
patriotischen Velleitäten (für die wir aus gframmatischem Interesse
nicht dankbar genug sein können) sind für die Literatur ganz ohne
Belang. Es ist überall nur die Farbe und der Besatz am Gewände der
Sprache epichorisch, das ganze Gewebe und der Schnitt sind dieselben,
hellenistischen. Dialektdichtung bedeutet schon um 300 dasselbe, was sie
heute ist lonier verfallen nie und nii^end darauf, eine Urktmde oder
einen Brief ionisch zu schreiben; sie, die wirklich eine Literatursprache
besaßen, sind bereits vollkommen zum Attischen übergegangen; die
Mundart Anakreons läßt sich nur noch in niederer Dialektdichtung an-
wenden, und das tun am ehesten Dorer wie Kallimachos und Herodas.
Das Ionisch der Elegie ist jetzt die temperierte homerische Kimstsprache;
man kann diese auch dorisch temperieren, wie es Theokrit von Syrakus
und Kallimachos von Kyrene tun: rein syrakusanisch oder k3rrenäisch
könnten sie in ernsthafter Poesie nicht reden. Dieses Verhalten der
Dialekte wäre unbegreiflich, wenn nicht die gebildete Rede eben
Literatursprache wäre und zu dieser das Ionische ungemein viel beitrüge,
so daß im wesentlichen nur gewisse Sprachformen, Aussprache und Schrift
etlicher Vokale, und ganz wenige Flexionen attisch geworden waren;
dagegen der Wortschatz und auch nicht weniges in der Aussprache und
Flexion stammte eigentlich aus lonien, war aber nun allgemein hellenisch.
Es ist richtig, daß Aristoteles in seiner wissenschaftlichen Prosa dem
Hellenismus schon nahe kommt, eben weil er da auf der ionischen Prosa
baut Man muß sich nur ja nicht etwa denken, die Griechen hätten schon
feste Sprachregeln, eine Grammatik gehabt, als die Expansion ihrer
Sprache überall Lehrer des Griechischen nötig machte. Man hatte die
Grundlage einer vollkommenen reichen Literatursprache; das ionisch-
attische Sprachgebiet durfte diese als die veredelte Sprache ihres Mundes
betrachten, und so redete, lehrte, schrieb man diese. Dieses selbe Griechisch
lernte der Makedone und Bithjmer und Karer und Syrer imd Ägypter
und Italiker. Es hat sich denn auch während der ganzen hellenistischen
C. KeUenistisdie Periode (320—30 ▼. Chr.). I. Hellenismus.
S5
Periode ungezwungen weiter entwickelt, und daß es das allerorten im
wesentlichen gleich tut, zeugt dafür, daß die ganze Welt ein Kulturgebiet
war vmd der literarische Verkehr seine Fäden über die ganze Welt spann.
Die ältere Schicht der griechischen Lehnworte des Lateinischen hat
dorischen Klang: seit der Senat und die Feldherren griechisch schreiben
müssen, bedienen sie sich nur der Literatursprache; gerade weil die Senats-
kanzlei so schlechtes Griechisch schreibt, liefert sie die wichtigsten Doku-
mente. Man kann die ganze Sprachentwickelung Entartung nennen, denn
gewiß, in der raschlebenden Zeit geht der Prozeß rasch vonstatten, den wir
nach allen Analogieen erwarten. Die Sprache schleift sich ab, der Formen-
reichtum schwindet, die Feinheiten im Gebrauche der Casus Tempora
Modi werden nicht mehr empfunden, Umschreibungen verdrängen die
kernige Einfachheit, man braucht immer mehr Worte und konventionelle
Phrasen. Dafür ist die Ausdrucksfähigkeit unumschränkt; es ist nicht mehr
mühsam, zu reden und zu schreiben: die gebildete Sprache besorgt das
Schwerste auch für den Halbgebildeten. Zu den Klassikern, als die man
die Schriftsteller des 4., keineswegs auch die des 5. Jahrhunderts ansieht,
hat man dasselbe VerhälmLs wie alle Kulturvölker heutzutage zu den
ihren; man bildet sich an ihnen, weil sie gut geschrieben haben, aber
man fühlt sich nicht an sie gebunden. Dies ist alles völlig gesund, und
jenes Griechisch, in dem sich jeder Gedanke, auch ein neuer, den kein
Grieche gedacht hat, jede Technik, jede Spekulation ohne weiteres aus-
sprechen läßt, ist erst das Hellenistische. Es ist dem Französischen der
Jahrhunderte 17 und 18 noch überlegen, neben dem doch das Latein der
schweren Wissenschaft stand. Aber freilich, ein Mangel haftet ihm an,
der die Wage wieder hoch emporschnellt Die Poesie schreibt in keiner
Gattung, die nicht epichorisch ist (wie selbst das Lustspiel Menanders),
eine lebendige Sprache; jeder Dichter muß sich an die der Gattung halten,
in der er dichtet, immer die einer riemlich fernen Vergangenheit. Das
hat nicht nur bewirkt, daß die Dichtung der Zeit, so viel Witz, Geist und
Geschmack sie auch besaß, nie recht volkstümlich werden konnte und
nach 200 in Künstelei oder öde Manier verfiel: hieran liegt es auch, daß
das Hellenistische so stockprosaisch ist, so unanschaulich und zerfließend;
denn nur die Dichtung, die immer frisch aus der Quelle der volkstüm-
lichen Rede schöpft, führt der Sprache neues Blut zu; was statt dessen
in der rhetorischen Retorte zusammengebraut wird, hat nur die Lebens-
kraft des Homunkulus. Es ist zwar gewiß, daß in der Tiefe auch eine
volkstümliche Poesie bestcmden hat; aber der Künstler ist ausgeblieben,
der diesen Bestrebungen Zutritt in die von der Welt anerkannte Literatur
erstritten hätte. Das ist verhängnisvoll geworden.
Der Bruch, den die Hellenen unter Augiistus mit ihrer nächsten Ver- ■£ct%taT«tip
gangenheit vollziehen, führt dazu, daß sie ihre Sprache um ganze drei ''"' ''-""™""
Jahrhunderte zurückschrauben und die gesamte hellenistische Prosa ver-
leugnen. Die Poesie entgeht dem, nicht allein, aber doch vornehmlich,
86 UUUCH VON WiLAMOwrrz-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
weil sie die alten Formen nicht gesprengt hatte. Das hat zur Folge, daß
die hellenistische Literatur mit geringen Ausnahmen verloren geht, die
alle nicht um ihres Kunstwertes willen erhalten sind. Wir wissen jetzt, daß
dies Geschick unverdient war; aber wir vermögen wohl die Gedanken der
Philosophen zurückzugewinnen, inhaltlich auch manches andere; in den
Spezial Wissenschaften ist diese Aufgabe kaum angegriffen, aber in weiter
Ausdehnung lösbar. Dagegen verlorene Kunstwerke der Rede lassen
sich nicht herstellen. So ist der Literarhistoriker gezwungen, sich in
Allgemeinheiten zu bewegen; er hat Hunderte von Schriftstellemamen, er
weiß, daß ein großer Teil der späteren Literatur nicht nur inhaltlich von
hellenistischen Büchern abhängt, mag er sie auch verleugnen, und doch
kann er von den Werken, ja auch von den Stilen kein klares Bild ge-
winnen. Die Bruchstücke sind meist stilistisch entstellt, und auch die
unversehrten helfen nicht viel: bei Alkaios oder Anakreon lehren schon
ein paar Zeilen Wichtiges; für einen Phylarchos oder Eratosthenes würden
selb.st ein paar Seiten kaum etwas helfen. Und doch geht es unmöglich
an, sich auf das Erhaltene zu beschränken. Dabei kommt .solche Torheit
heraus, wie, daß die Griechen nach Xenophon nur noch in Polybios einen
bedeutenden Historiker haben sollen und dann gleich Livius auftnarschiert,
der gar keiner gewesen ist Die Tatsache muß klar werden, daß eine
Kultur und Literatur, der Gegenwart vergleichbar, einmal bestanden hat,
eine Welt umspannend, so daß ihr trotz der verschiedenen Sprache
eigentlich die lateinische dieser Jahrhunderte ganz, die semitische mindestens
zu einem guten Teile angehört Die noch viel wichtigere Tatsache kann
ohne tieferes Eingehen auf die Wissenschaften überhaupt nicht klar gemacht
werden, daß der Hellenismus einen neuen Aggregatzustand der Menschheit
repräsentiert, wie sich J. G. Droysen ausgedrückt hat. Dazu hat die Durch-
dringung der frischen hellenischen und der alten orientalischen Kulturen
sehr viel getan, für beide Teile. Gerade wenn ein Volk zur nationalen
Reaktion aufgestachelt wird, darf die Einwirkung dessen, gegen das es
reagiert, nie gering geschätzt werden.
■Aieiandros Beginnen wir damit, zu sehen, wie der König, der die Welt in
(K8mjj36— jijj.jjgyg Bahnen zwang, sich zu dem literarischen Wesen gestellt hat.
Alexandros nahm ein ganzes literarisches Bureau mit. Da war nicht
nur die Kanzlei, der die Ausfertigung der Staatsschriften zufiel, da
waren nach griechischem Sprachgebrauche Historiker und Rhetoren,
nach dem unseren Publizisten, deren gewandte Federn für die Be-
arbeitung der öffentlichen Meinung nötig waren. Da war aber auch
ein Stab von Fachgelehrten und Technikern; denn der König wollte
das Reich sofort wissenschaftlich erschließen, das er zu erobern
auszog. Es fehlten auch Dichter nicht, die vielleicht die Taten des
neuen Achilleus verherrlichen sollten (ein etwas veralteter Gedanke),
aber auch praktische Aufgaben erhielten, denn die poetische Form war
für vieles herkömmlich und wirksam. Ein gutes Epigramm hielt auf
C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). 1. Hellenismus.
87
dem Steine das Gedächtnis eines großen Augenblickes fest; auf dem
Papiere flog es leicht von Hand zu Hand über die Erde. Über die Tages-
ereignisse wurde ein genaues Journal geführt, die Ephemeriden, im Haupt-
quartier und ebenso von den detachierten Generalen und Statthaltern,
und von diesen kamen die Berichte regelmäßig an den König; auch die
Gelehrten berichteten über die Ergebnisse ihrer Forschungen. Eine regel-
mäßige Korrespondenz unterhielt die Verbindung mit der Heimat Der
König selbst gab die wichtigsten Nachrichten der Welt in der Form von
Privatbriefen kund, die er an seine Mutter nach Hause richtete. Das
persönliche Regiment ward in der Form höflicher Briefe geübt, deren
also täglich Dutzende oder Hunderte ausgingen. Überlegen wir einmal,
was das alles für die Literatur bedeutet Jene Journale und Berichte
und Akten und Staatsschriften und Briefe sind noch nicht Literatxir; aber
sehr vieles davon ist nicht nur dazu bestimmt, verbreitet zu werden,
sondern es ist von literarischem Werte, erstens, weil die Menschen nun
alle zu schreiben gelernt haben, so daß oft selbst bewußte Kunst hinzu-
tritt, zweitens, weil hochgebildete Menschen gerade in solchen kunstlosen
Aufzeichnungen oft ihr Bestes liefern. Und die ganze Zeit hat Ver-
ständnis und Freude am Individuellen, sie sieht mit Wonne die gewaltigen
Männer, und so kommt auch so etwas an die ÖfFentlichkeit. Es wird
Literatur, und der griechische Formensinn macht sofort aus den Erzeug-
nissen des praktischen Bedürfnisses neue literarische Gattungen. Der
Brief und das Hypomnema seien vorläufig als solche hingestellt Im
Grunde freilich ist alles dies nichts anderes als die freie ionische Prosa
war, von der in der vorigen Periode geredet ist.
Aristoteles, der als Fürst des Wissens ebenbürtig neben dem Könige .'Vratoteiet
steht, zeigt in seiner Schriftstellerei das Gegenbild. Er hat Verse gemacht " *"■'"'■
und Dialoge geschrieben; er fährt fort, für das Publikum in gewohnter
Weise stilistisch gefeilte Bücher ausgehen zu lassen; aber seit er in der
eigenen Schule doziert, tritt Neues dazu. Die Vorträge, die er sich aus-
arbeitet, genügen ihm als Unterlage der mündlichen Rede, die gewiß auch
als Rede wirken will, aber doch um zu lehren, nicht zu überreden, appellierend
auch wohl an das Herz, aber grundsätzlich auf den Verstand. Das ergibt
wieder eine formlose, ganz individuelle Niederschrift, ein Hypomnema. Und
was die Schüler nachschreiben, ausarbeiten, anderen zum Lesen und Ab-
schreiben geben, will dasselbe sein, wird doch etwas anderes, aber auch das
ist Hypomnema. Mancher nimmt es nicht nur nach Hause, sondern hält
später selbst auf Grund davon Vorträge, macht es zu seinem Eigentume
und drückt ihm mehr oder weniger tief den Stempel des eigenen Geistes
auf. Für viele Forschungen bedarf der Gelehrte Material; das sammelt
sich in der Bibliothek der Schule an, Aufzeichnungen aller Art, Berichte,
Kopien alter Urkunden; auch aus Asien von Alexanders Gelehrten kommt
manches herüber. Dieser Besitz ist Schuleigentum, ihre Mitglieder he-
nutzen ihn. Es kann eine ausgearbeitete Darstellung daraus werden, wie
88 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Theophrasts Pflanzengeschichte; es können für bestimmte Fragen Ex-
zerptenreihen zusammengestellt werden, die als solche publiziert und mit
Interesse gelesen werden. Wir haben z. B. Exempel raffinierter Finanz-
operationen, wissen von einem vielgelesenen Buche, Exempel von geschickt
opportunistischer Politik. Naturwissenschaftliches und Literaturgeschicht-
liches der Art ist viel erschienen, ebenso Urkundenpublikationen. Es
erwächst so eine ganze Literatur, die rein stoffliches Interesse bietet, ohne
Hervortreten einer schriftstellerischen Person. Andrerseits kann ein Schrift-
steller, dem es nur auf die Gedanken ankommt, ungemein viel produzieren,
wenn die Anforderung an die stilistische Kunst herabgestimmt wird.
Dabei mag sich der eine in professorenhafte Formlosigkeit verlieren, wie
Chrysippos (und auch bei Aristoteles macht sich nicht selten ein zer-
fahrener Kathederstil unerfreulich bemerkbar); es kann sich auch für die
Verehrer und Schüler das Individuelle eines geliebten Meisters ganz
ungezwimgen geben, wie bei Epikuros. Es sind geistig nicht unfruchtbare
Zeiten, in denen die schönste Literatur die ist, die nicht zur schönen
Literatur gehört Was ist in Deutschland während der fünfziger und
sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erschienen, das auch als Kunst-
werk Bismarcks Frankfurter Berichte vmd Briefe überragte? H. Taine las
Mommsens schmucklose Hermesaufsätze mit Bewunderung, während ihm
Frejrtags Kunst gering erschien. Vermutiich würden wir auch die Briefe
des Königes Antigonos Gonatas und die physikalischen Untersuchungen
des Straton von Lampsakos über Timaios und Hekataios von Abdera
stellen.
▼«fbnituBK Es war eben die Saat aufgegangen, die Sophisten und Philosophen
dar BUdai«. ausgestreut hatten. Die Bildung, das weite geistige Interesse und die
Aufnahmefähigkeit reichten so weit, wie Hellenen über die Erde verstreut
waren. Auch von denen, die nicht Literaten von Profession waren, be-
saßen viele die Fähigkeit zu beobachten und zu denken und das Be-
obachtete und Gedachte auszusprechen. Es ist nur recht, daß die Fürsten
zuviel zu tun haben, als daß sie selber schriftsteilem. Als Ptolemaios
Philopator und der letzte Attalide für Literatur und Wissenschaft dilettan-
tisch tätig sind, besiegeln sie den Niedergang ihrer Häuser. Wenn Pyrrhos
über Kriegswissenschaft schreibt, so ist er da Fachmann; er war nur
Militär, zum Könige fehlte ihm das Beste, und gerade er kokettierte mit
soldatischer Verachtung der Bildung. Ptolemaios I. hat zwar den Bericht
über Alexanders Feldzüge unter seinem Namen ausgehen lassen, und sein
ist gewiß die Wahrheitsliebe und die Initiative, das Archiv des make-
donischen Generalstabs zu erschließen; er hat natürlich auch selbst so
etwas erzählt wie „hier soll Ptolemaios dem Könige das Leben gerettet
haben; er war aber gar nicht dabei"; aber das Ganze erhob keinen lite-
rarischen Anspruch, und auf die redigierende Feder kam bei einem solchen
Werke das wenigste an. Von dem makedonischen Feudaladel konnte man
literarische Bildung wirklich nicht erwarten. Es ist bezeichnend, daß
C. Hellenistiscbe Periode (330 — 30 v. dir.)- L Hdlenismos.
89
PVivatbriefe nach Alexcuider nur von Antigonos Gonatas publiziert worden
sind, der, in Athen erzogen, auch der einzige Fürst von ausgesprochenem
philosophischen Bekenntnis ist Aber Empfänglichkeit und oft auch Ini-
tiative haben Kunst und Wissenschaft bei den meisten Fürsten gefunden.
Die Widmung wissenschaftlicher Werke ist in dieser Zeit noch keine leere
Form, und das Buch über die Sandzahl, das Archimedes an den Kron-
prinzen von Syrakus richtet, würde heutzutage kaum ein Standesgenossc
Gelons studieren. In dieser Weise greifen auch die Fürstinnen ein, die
nach makedonischer Art politisch eine bedeutende Rolle spielen. Nicht
nur Poeten huldigen der Arsinoe Philadelphos, auch der Physiker Straton
durfte an sie schreiben. Doch fehlen weibliche Briefe ganz und gar.
Epikur schreibt an seine Freundinnen in Lampsakos, Themista und Leon-
tion, erzählt auch mit scherzhaftem Pathos, welchen Ausbruch der Be-
geisterung ein Brief dieser geistreichen Gattin des Metrodoros her\orgerufen
hatte; aber diese Frauenbriefe scheinen nicht publiziert zu sein, vermutlich
weil die Gemeinheit das Andenken Leontions schamlos beschmutzt hatte-
Auch die alte dorisch -äolische Frauenpoesie hat nur noch am Anfange in
Nossis, Anyte, Moiro Vertreterinnen an der Peripherie des Helleneutums und
in dem zurückgebliebenen Arkadien. Vereinzelte dichtende oder gelehrte
Frauen bereichem das Bild um keinen wichtigen Zug und sie scheinen nun
emanzipiert Das konnte kaum ausbleiben, da die weibliche Erziehung
sowohl auf Rhetorik wie auf Philosophie gemeiniglich verzichtete. Das
machte sich schon in der attischen Periode fühlbar und wird in dieser
Zeit, die der Frau wenn nicht rechtlich, so doch faktisch unendlich viel
mehr Freiheit brachte, sehr viel empfindUcher. Natürlich spielen sie in
den ausübenden Künsten, Musik und Tanz aller Art, eine glänzende, aber
ephemere Rolle; als Schauspielerinnen nur in untergeordneten Gattungen;
das eigentliche Drama blieb ihnen verschlossen: mit den attischen Gattungen
dauerte das attische Vorurteil.
Unter den Männern beteiligt sich jeder Stand. Schon die griechischen
Marineoffiziere Alexanders unterscheiden sich darin von den makedonischen
Marschällen. Der Bericht des Nearchos über Indien, der des Androsthenes
über eine Erkundigungsfahrt im Per.sischen Meerbusen sind uns inhaltlich
gut bekannt, und sie sollten darum nicht tiefer als Herodots Beschreibung
von Skythien rangieren, daß in ihnen die Märchen fehlen, ihre Beobach-
tungen aber noch heute für die Botanik von praktischem Werte sind.
Timosthenes, Admiral des zweiten Ptolemaios, hat ein großes Werk über
Häfen ausgehen lassen, das auf lange hin den Schiffern denselben Dienst
leistete, wie jetzt die englischen Seekarten; natürlich fußte es auf den
alten ionischen Portulanen. Aber von solcher, praktischen Zwecken die-
nenden Literatur hier auch nur annähernd eine Vorstellung zu geben, ist
schlechterdings unmöglich. Man sehe nur, wenn einmal ein späterer Ge-
lehrter etwas Literatur zitiert, etwa Varro über die Landwirtschaft oder
Vitruv über Architektur, welche Fülle sich da zeigt Spezialitäten, wie
go Ulrich von WilamowitzMoellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
die rationelle Fütterung der Schafe, der Anbau der aus Medien impor-
tierten LuzetTie, die neuen Geschützkonstruktionen, finden sofort in der
Literatur Bearbeitung, ja ein alter Imker greift zur Feder, der jahrzehnte-
lang auf einer der Inseln seine Bienen gezüchtet hatte. Kochbücher gibt
es schon zu Piatons Zeit, bezeichnenderweise aus Syrakus: auch das
wächst sich zu einer Literatur aus, an der ebensowohl gebildete Arzte,
wie Gourmands und emporgekommene Sklaven teilnehmen: noch heute
nennt der Grieche den Zwieback nach einem Barbaren Paxamos, der im
I . Jahrhundert ein sehr reiches Rezeptbuch verfaßt hat,
Bucbwe»en. Für das Hervortreten einer solchen Schriftstellerei ist Bedingung, dafl
außer einem aufnahmefähigen Publikum auch ein leistungsfähiges Buchwesen
d2isteht; für die Erhaltung der Literatur die Existenz von Bibliotheken. Beides
hatte schon die Akademie Piatons in ihren engen Kreisen angestrebt; sie
vertrieb die Werke der Schule, und wir haben gesehen, daß Piaton den
Sophron und den Philolaos nach Athen brachte; auch die Gedichte des
Antimachos hat er sammeln lassen. Dies Vorbild wirkte; zufällig hören
wir von einer Bibliothek, die sein Hörer, der Tyrann Klearchos, in dem
abgelegenen Herakleia anlegte: da sitzt denn auch dauernd ein besonderes
geistiges Leben. Am wichtigsten ward dann Alexandreia; aber man stelle
sich dessen Bibliothek nur ja nicht als die einzige vor: einzig ward nur
der Großbetrieb der Wissenschaften in ihr, und daß sie für die Erhaltung
der Literatur von unvergleichlicher Bedeutung ward, dankte sie dem Vor-
sprung, den der Buchhandel Alexandreias haben mußte, weil das Land
allein das Papier erzeugte. So ist denn das dritte Jahrhundert epoche-
machend für das griechische Buch, das sich bis zum Ausgange des Alter-
tums nicht wesentlich geändert hat Das Handwerkliche daran vermag
mit unserer T)rpographie sehr wohl zu rivalisieren. Illustrationen forderten
nicht nur die mathematischen und technischen Bücher. Wir besitzen noch
die Bilder chirurgischer Operationen in einem Hippokrateskommentare des
I. Jahrhunderts, und Krateuas, der Leibarzt des Mithradates, konnte einer
Beschreibung der offizineilen Pflanzen sehr detaillierte Abbildungen bei-
geben, die wir ebenfalls besitzen, beides freilich in späten verdorbenen
Umzeichnungen. Es steht außer Zweifel, daß schon im j. Jahrhundert
Geschichtsbücher, die dem breiten Publikum die Heldensage erzählten,
illustriert wurden; ein obszönes Bilderbuch der Art, wie Aretino und Giulio
Romano eines gemeinsam gemacht haben sollen, ging unter dem Namen einer
Elephantis (vermutlich war das ältere Buch unter dem Namen Philainis
gleicher Art), und das Gedichtbuch des Dioskorides hat mindestens zier-
lichen Vignettenschmuck getragen. So ging die Verbindung von Bild-
kunst und Dichtkunst, von der wir auch in dem Wandschmuck manche
Spuren haben, in das Buch über. Ja, ein Dichter wie Theokrit ver-
schmähte es nicht, die Inschrift, mit der er einst die Pfeifen einer Syrinx
geschmückt hatte und die dementsprechend in der Zeilenlänge den Pfeifen
entsprach, im Buche so nachbilden zu lassen, daß sie das Bild des Gegen-
1
C. Hellenistische Periode (330 — 30 v. Chr.). 1. Hellenismus.
9«
Verkehr.
Standes durch die Schriftgrenzen lieferte: was denn sofort ein Nachahmer
für die Form eines Altars aufgriff: diese Spielereien, die sogencinnten
Technopaegnien, entsprungen einem hellenistischen Scherze, haben dann
in der Kaiserzeit die Würde einer Gattung erhalten, die auch in modernen
Zeiten ihre Verehrer gefunden hat.
Nicht ganz auf gleicher Höhe stand der Buchhandel: die Reichspost uunmscbtr"
des Königs Dareios hat keine Nachfolge gefunden. Und doch besteht ein
commercium litterarum über die zivilisierte Welt; Archimedes trägt Sorge,
daß seine Entdeckungen in Alexandreia bekannt werden, Apollonios von
Perge schreibt in Alexandreia für die Kollegen in Pergamon. Die Kunst-
urteile flattern in zierlichen Epigrammen über die Welt, die Aussprüche der
athenischen Weisen will man ebensogut allerorten erfahren, wie die Er-
folge der Diplomatie oder der Waffen. Die bildungsdurstige Jugend reist
auch weit über alle Lande, ebenso wie die Verwaltungsbeamten und die
Berufsoffiziere und vollends die Scharen der fahrenden Leute, die jetzt
zum Teil sehr respektabel sind, wohl gar, wie die Schauspieler, durch inter-
nationale Verträge geschützt. Freilich reisen nur Männer; vielleicht hat
nichts das weibliche Geschlecht so sehr zurückgehalten, wie sein Haften
an der heimischen Scholle. Man darf danach fragen, wie sich diese Welt
ein Surrogat der Presse geschaffen hat.
Die offiziösen Federn fehlten nicht; aufler den Kanzleibeamten hielt
sich jeder Hof Literaten, und so sehen wir, daß 2. B. nach dem riesigen
Festzuge, mit dem Ptolemaios 11. den Kultus seines Vaters inaugurierte, eine
genaue Beschreibung erschien, die wir in einer Bearbeitung von Kallixeinos
von Rhodos {60 Jahre später) zum Glück noch besitzen. Lynkeus von
Samos, der Bruder des Duris, hat nicht nur selbst detaillierte Be-
richte über Galadiners au.sgegeben, die eine Maitresse des Demetrios
Poliorketes, Antigonos Gonatas als Kronprinz, und andere Notabilitäten
gegeben hatten, sondern empfing auch von einem Korrespondenten aus
Makedonien einen entsprechenden Bericht: selbst so etwas brachte es
zu dauerndem literarischen Leben. Eben.so lesen wir die Beschreibung
des Riesenschiffes, das Hieron von Syrakus erbauen ließ, von einem ge-
wissen Moschion: sie soll der Welt den Eindruck einigermaßen über-
mitteln, den die Zuschauer empfangen hatten. Beigefügt ist das Epigramm
eines Hofdichters über denselben Gegenstand: das zeigt die andere Art,
mit der Stimmung gemacht ward. Verse verbreiten ebenso den Ruhm
des neuen Leuchtturmes von Alexandreia, wie den eines neu erschienenen
Werkes, z. B. des Stemgedichtes von Aratos, Verse machen Reklame für
ein neu erfundenes Trinkgerät, das in der Weltstadt ausgeboten wird.
Noch in den Krisen, die der Schlacht von Kynoskephalai (ig?) folgen,
spielen die Epigramme eines peloponnesischen Dichters Alkaios eine Rolle,
und die Historiker haben daher Veranlassung, solcher Verschen zu ge-
denken. Woraus wir übrigens auch abnehmen sollen, daß sie über
Thukydides hinaus etwas zugelernt hatten: ein modemer Historiker könnte
Q2 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
doch nicht von Kleon handeln, ohne auf Aristophanes Rücksicht zu
nehmen. Die Verbreitung durch den literarischen Vertrieb ist nicht die
einzige. Die offiziellen Kriegsberichte wurden nicht sowohl literarisch als
sozusagen auf dem Verwaltimgswege weitergegeben; das hat ein so er-
haltenes Stück aus dem Syrischen Kriege des Ptolemaios HL gelehrt
Ganz wesentlich ist zu rechnen mit der Steinpublikation an Orten leb-
haften Verkehrs. Hannibals Rechenschaftsbericht bei der lakinischen Hera
hatte damals nichts Befremdliches; Briefe von Fürsten an befreundete
Städte, wie wir einen von Antigonos an die Skepsier besitzen, konnten
gemeiniglich auf eine solche dauernde Publikation rechnen: aus solchen
Aufzeichnimgen bauen wir ja die Greschichte urkundlich wieder auf.
Eben daß die Machthaber sich um die öffentliche Meintmg bemühen,
zeigt, daß sie eine Macht ist, xmgebunden an die oft verschobenen
Grenzen der Königrreiche. (rar nicht selten tun die Könige an den all-
gemein besuchten G^tterfesten ihren Willen kund, durch Anschlag oder
durch Gesandte. Dieser persönliche Verkehr ist überhaupt von großer
Bedeutung; schon die Sendboten, die z. B. zu den Soterien nach Delphi
laden und durch alle Welt ziehen, sind Organe der Vermittelung, die
Festdeputierten ebenfalls. So haben diese gottesdienstiichen Veranstal-
tungen, die religiös nichts als leere Formen sind, doch einen idealen Inhalt:
das Gemeingefühl der Kultureinheit spricht sich in ihnen aus, jetzt viel
mehr als an den Olympien der pindarischen Zeit Und wenn man sieht,
wie ein ziemlich geringer Ort, Magnesia am Maeander, gegen Ende des
3. Jaihrhunderts zu einer neuen Stiftung die Könige tmd die Städte der
ganzen Welt laden kann, von Susa bis Sjrrakus, wie die ganze Welt zum
Aufbau des durch Erdbeben zerstörten Rhodos Beisteuern leistet, so muß
man anerkennen, daß Könige und Städte die übei^eordnete Einheit des
Hellenentums anerkennen; Hellene ist ja auch im Rechte ein Begriff.
Dies mußte nachdrücklich betont werden, denn in dem einheitlichen
Kaiserreiche Roms ist davon keine Rede mehr. Da hilft in der Not nur
der Kaiser, da erfahrt ntir der Senat von der Staatsverwaltung einiges, da
existiert auch das commercium litterarum nicht einmal zwischen den
Philosophen: Plutarch, Dion, Epiktet haben jeder ihren engen Kreis für
sich. Erst die Christenheit schafft sich wieder einen Leib mit lebendigen
Gliedern.
In dem geistigen Anüitze des Hellenismus sind zwei Hauptzüge, die
miteinander unvereinbar scheinen. Das eine ist die Freude an der
Repräsentation, dem Pomp imd Schmuck, der erhabenen Pose: darin
liegt das, was wir an ihm barock nennen dürfen. Daneben aber steht die
intimste Freude an der weltverlorenen Stille, dem Frieden des engen
natürlichen Kreises, am Feinen, Kleinen, Reinen. Die Marmorhallen des
alexandrinischen Palsistes, der Riesentempel von Didyma und der rhodische
Koloß haben den Freundschaftsgarten des Epikuros, die kölschen Land-
häuser, in denen Theokrit verkehrt, die Studierzimmer, in denen Kalli-
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). 11. Prosa.
93
machos dichtet und Archimedes forscht, neben sich. Dem entspricht im
literarischen Leben der rauschende Stil, der am liebsten über die ganze
Welt hintönen will, und die Schlichtheit, die von der Wahrheit, um die
sie rin|rt, einem empfänglichen Freunde, man kann auch sagen dem
unbekannten nacharbeitenden Kollegen, berichtet, und das Raffinement
des ganz intimen Kunstwerkes. In Wahrheit wurzelt beides in der be-
freiten Individualität, die sich je nach den Lebenszielen sehr verschieden
äußert. Eine solche Zeit wird weder einen Pindar noch einen Aristophanes
hervorbringen, weder einen Piaton noch einen Isokrates, aber in Über-
zahl Menschen, die wert sind, gekajint zu werden, weil sie sich auch in
ihren Werken persönlich geben. Aber nur wenige von den Tausenden
kennen wir, auch sie nur von fem: um so dringender ist die Pflicht der
Gerechtigkeit, auf das verlorene reiche Leben hinzuweisen.
IL Prosa. Von den Gattungen der Prosaliteratur ist nun das wissen-
schaftliche Lehrbuch durchaus anerkannt, das sich nach der Disposition des
Verfassers in viele Bände gliedern darf. Epikur kann sein Hauptwerk über
die Natur endlos ausdehnen und daneben noch zahlreiche andere schreiben;
die Stoa ist noch viel fruchtbarer. Die gelehrten Gepflogenheiten stellen sich
ein, namentliche Zitate, Belegstellen, persönliche direkte Polemik, die sich
bisher zu verbergen und Namennennung zu meiden pflegte. Bis zu welcher
Formlosigkeit das getrieben werden konnte, zeigt das in einem Papyrus
erhaltene Stück des Chrysippos über negative Aussagen: es bestätigt die
alte Kritik, daß von manchen seiner Bücher kaum etwas übrigbhebe,
wenn man die Zitate striche. Auch bei seinem Nachfolger Diogenes von
Babylon wird eine Masse von Belegen, zum Teil höchst zweifelhafte, ge-
häuft, um einen sozusagen historischen Beweis zu liefern. Ganz toll wird
es, wenn Philodemos von Gadara, dessen literarischen Nachlaß die herku-
lanische Villa erhalten hat, nun so gegen Diogenes schreibt, daß er z. B.
im zweiten Buche seines Werkes über Musik die Meinungen des Diogenes
reproduziert, um sie im vierten zu widerlegen. Auf diese Weise ließ
sich die Kontroverse ins unendliche spinnen und die Bücher schwollen
schneeballartig an. Dabei macht Philodem schriftstellerische Ansprüche,
denn er vermeidet den Hiatus und verliert sich in riesige Perioden. Seine
Polemik in ihrer Grobheit und Kleinmeisterei ist nicht nur unerfreulich,
sondern auch geschmacklos; kaum traut man ihm seine zierlichen Epi-
gramme zu. In den Philosophenschulen hat sich die Sprache in eine be-
stimmte Terminologie zwingen lassen, womit schon Aristoteles, nicht
immer glücklich, den Anfang gemacht hat. Das geht dann in allen Schulen
weiter, am ärgsten in der Stoa. Man braucht die Kunstworte nicht schön
zu finden: wissenschaftlich liegt doch darin ein großer Fortschritt, und es ist
wichtig, weil diese Termini zum Teil in die allgemeine Rede eingedrungen
sind und der Attizismus sie nicht alle vertreiben konnte, aus der philo-
sophischen Prosa nun schon gar nicht Manches davon dauert in der
Lehrbuch.
Epikuros
(t 170)-
Chnsippo«
(t >o,).
Diogvnv»
TOD Babylon
(t n*ch «54).
Fhilodemos
(um 50).
04 Ulrich von Wh-amowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
modernen Rede, ohne daß man daran denkt Es ist ja die Terminologie,
durch die unsere Wissenschaften noch heute von ihrer Herkunft Zeugnis
ablegen müssen, leider oft, wie in der Grammatik, in perversen lateinischen
Übersetzungen. Griechisch sind sie besonders in der Mathematik geblieben,
die für alle Lateiner zu hoch war. Und da ist auch wenigstens ein Grund-
Kukieidet buch erhalten, die Elemente des Eukleides, und daneben noch manches
<iim 300). jj^(jgj.g ^auch etwas Astronomisches von seinem älteren Zeitgenossen Auto-
lykos). Gewiß dankt Eukleides nicht nur den Inhalt, sondern auch die
unübertrefflich strenge Form der langen Praxis, die bis in die Schule des
Pythagoras zurückweist; da die Schule Piatons die nächste Etappe ist,
darf man diese Ergänzung der Dialogpoesie nie außer acht lassen; die
strenge mathematische Logik ward als täglich Brot gereicht; Philosophie
war Geometrie. So gibt es denn nichts, was die griechische Sprache als
die Muttersprache der Wissenschaft so deutlich zu erkennen gäbe, wie
die Schlichtheit der mathematischen Bücher, die gewollt ist und in der
Selbstbeschränkung die Meisterschaft zeigt Höchst charakteristisch ist es,
in den Büchern des Apollonios von Perge zu sehen, wie der Verfasser
seine wissenschaftlichen Darlegungen in der mathematischen Schulsprache
hält, in den Geleitbriefen, die als Vorreden dienen, dagegen die elegante
Rede des damaligen Briefstiles ebenso sicher handhabt Hier herrscht
also wirkliches Stilgefühl, das Stoiker und Epikureer leider oft vermissen
lassen. Eine gleiche Kürze, sichere Terminologie und bewußte Selbst-
bescheidung haben die Grammatiker besessen, wenn wir von einem so
.\riitarcbcM treffUchen Nachfolger wie Aristonikos auf Aristarch schließen dürfen. Nur
(uin 160). ijjg gjg nicht zu lesen verstehen, verachten die alten Schollen, und wenn
man sagt, die Anmerkung hätte der Antike gefehlt, so gilt das nur
für ausgeführte Werke: w£is ist denn die Randnotiz anders? Die Aus-
gabe mit kritischem Apparat ist sicher, also wohl auch die Ausgabe mit
Anmerkungen eine alexandrinische Erfindung.
HypüinMma. Eine solche Ausgabe nennt man Hypomnema, mit demselben Namen,
der uns' oben sowohl für die Akten der Archive wie für die Kollegien-
hefte der Professoren und Studenten begegnete. Er besagt eben an sich
nichts weiter, als daß dies lediglich zur Hilfe des Gedächtnisses auf-
gezeichnet ist. Das ergibt also eine Literatur, die gar keine literarischen
Ansprüche erhebt Daß sie keine literarischen Vorzüge besäße, ist
damit keineswegs gesagt, denn die gibt es auch ohne rhetorische Stili-
sierung. Hat doch Cäsar seine historischen Bücher eben Hjqiomnemata
{commentarii , das ist ein gutes Ühersetzerwort) genannt, und Cicero war
Stilkenner genug, diese zwar nackt, wie er sagt, aber unübertrefflich
zu finden. Die Ethik und Politik des Aristoteles wird doch mancher
nicht geringer einschätzen, obwohl beide in einigermaßen chaotischem
Zustande aus den Papieren des Verfassers ediert sind. Die Masse der
hyporanematischen Literatur ist ganz unübersehbar gewesen. Nament-
lich in der Bibliothek von Alexandreia sind die Schätze der Vergangen-
J
95
beit naeh den miwtMJiJirtM i G>siihls|iwilr»m «ttsgcaogen wonlen;
KalfisiMfaos, der den Katalog xa. tmmdben batte, hat das offenbar gaas
fiannätig in <Se Wege gleitet, and ariien sönen namhaften Schülern,
Istros, Philostephaaos, Henoppos, zahbeiche Handlaitger beschäftigt.
Das Lexikon, sowohl als Wörterfau^ aach für einzelne Schriftsteller oder
Dialekte, wie als biogia|ilBsdies, geognqifaisches, mythologisches Namen*
buch, ist eine Exfindoag' Aeser Zeit. Samnttange n von Sprichwörtern,
Anekdoten, Xatnrme ikn üidigk e iteu , Bltimeolesen aus Dichtem und
Prosaikern hat es lahlVw gegeben. Diese ansprachsktse Misiiellanliteratiir
hat ganz besonders der al^emetnen RiTdimg ein rei<dkes und bequ«Des
Material zugeführt; man soll es nicht gänzlich verachten, so armselig es in
dürren Namenkatalogen auftritt. Natüriich konnte es dann wieder stilistisch
au^^eputzt werden; aber als Uterarische Form wird das H>'pomnema eben
durch seine Formlosigkeit charakterisiert.
Das Hypomnema "«"faB* auch das, was wir Akten und Urkunden crtwW«.
wjf^mt^ und nicht in der BibUothek, sondern im Archive aufbewahren.
Diesen Teil der Literatur kennen wir dank den Steinen und Papyri besser
als irgendeinen anderen. Man wird den Verordnungen der Ploleroier
und den Geschäftspapieren ihrer Beamten nicht absprechen können, dafi
sie in jeder Weise zweckentsprechend sind; Kanzlistenschnörkel stellen sich
zwar allmählich ein, aber der Grieche und selbst der Ägj'pter, wenn er
griechisch an seinen König schreibt, steht ihm immer menschlich frei gegen-
über. Die devot ersterbende Kriecherei vor der allerhöchsten Person und
den hohen Vorgesetzten ist erst ein Erzeugnis des späten, insbesondere dt*s
christlichen Kaisertums. Ebenso kann man nicht sagen, dafi die Krank»
heit der Sprache wahrnehmbar wäre, die bei uns als Juristendeutsch unaus.
rottbar ist. Wohl aber ist auch hier ein fester Stil; man möchte ihm eher
etwjis mehr terminologische Präzision wünschen. Was für die Öffentlich-
keit geschrieben wird, strebt nach feierlicher Würde, wo denn freilich
dem barocken Zeitgeschmacke Rechnung getragen wird. Das gilt nament-
lich von den Ehrenbeschlüssen auf Stein, deren wir zahllose besitzen, also
von der offiziellen Sprache der Freistädte. Grundlegend ist die attische
Kanzleisprache, die wir ja aus dem 4. Jahrhundert gut kennen, und die
so präzis imd klar ist wie die der ägyptischen Akten. Der auf Stein
publizierte Beschluß ist in Athen immer ein Auszug aus den Protokollen
von Rat und Volk, die Publikation also etwas Akzessorisches. Formal
bleibt das so, allein der Konzipient rechnet nun immer mehr mit clor
Steinpublikation, die zur Regel geworden ist, und da dringt di-nn
die barocke Breitspurigkeit ein. Gemeiniglich ist der ganze Ehron-
beschluß ein ungeheurer Satz, den nur versteht, wer die stereotype
Struktur von vornherein übersieht. Aber es ist unverkennbar, daß dies
mm schön sein will, und gibt man die Gattung und den Stil einmal zu,
so muß man auch anerkennen, daß das Ziel erreicht wird. Gar nicht
selten geben die Motive eine geschickte Erzählung, und gar sinnreich
^ VuaCM vov MiBJkitomnx-iloaLXMDOKrr: IXe grifriiwrfae Utenar des Ahertmns.
werden täcbt aar in Adien, sondern amch an allen leidlich gelnldeten
Orten die Ehrungen and Lob^irädie noandett. Sollten die lateinischen
Elogien, zu deren Herstellnngf die Acadi^nüe des Inscriptions gestiftet ist,
»ollten auch die lateaüscben Tabnlae gratnlatoriae, irie äe unsereiner in
einem stilistxsdi **reag normierten und damra immerhin der deutschen
FormkMigfceit vorznzidienden Latein gelegentlich verfassen mofi, iräUich
YiSAaer raagiereat
Bfici«. Erfreulich kontrastiert mit diesem Bombast der Brief, und die Könige
vericehren sowohl mit dem Auslande als auch mit ihren Untertanen nur
in dieser Form, kurz, einfach, höflich, mit geschickter Schattierung. Der
Chef ihrer Privatkanzlei muflte immer ein literarisch ganz vernerter Mann
sein. Isokrates ist zum Glück nicht damit durchgednu^ien, selbst den
ein£achen ^npfehlungsbrief schulmäfiig zu periodisieren. Auch hier hat
ihn Aristoteles korrigiert, dessen Schule das Wesen des Briefstils fein
charakterisiert hat, und bezeichnenderweise sind Aristoteles selbst und
sein Schüler Alexander die ersten Menschen, deren Korrespondenz (darunter
auch Schreiben ihrer Adressaten und verwandte Anlagen) gesammelt und
ediert worden ist Zu ihnen trat dann Epikuros und sein Kreis. Es gab
also auch in der griechischen Literatur etwas, das man mit Ciceros Briefen
gern vergleichen möchte. In der Praxis des Lebens haben sich rasch feste
Formeln gefunden, deren die Masse bedarf, auch wenn sie ganz Persön-
liches äußern will, und es ist ebenso belehrend wie genufireich, den Wandel
des Stiles und die Grradunterschiede der Bildimg an den unscheinbaren
Dokumenten zu verfolgen, die uns der Zufall in Ägypten beschert Bereits
Epikuros hat sich des Briefes auch zur Darlegung seiner Lehfe bedient,
bald um eine wirklich gestellte Frage zu beantworten, bald ab bequeme Ein-
kleidung. Wie sollte auch nicht die direkte Ansprache, die nach der Elegie
und dem lambus auch in der Prosa bestand (manches in der hippokratischen
Sammlung und die alte attische Schrift über die Verfassimg hat diese
Form), in den Brief lunsetzen, seit der Schriftsteller für Leser schrieb?
Das konnte geschehen, indem sich die Anrede eigentlich niir auf eine
Einleitung oder auch nur eine Widmung erstreckte; die Schriften Ciceros
illustrieren das, und selbst in dem strengsten Lehrbuche ist es dauernd
IjojVjehalten, noch im Almagest des Ptolemaios. Es konnte aber auch die
Rücksicht auf den Adressaten die ganze Haltung bestimmen. Wenn
Ark<-«ii«<,« ArkcsilaoH, der Stifter der mittleren Akademie, prinzipiell nichts publi-
'*''■ /,i«!rto, aber an Eumenes von Pergamon schrieb, so hat er gewiß die
üattungsgrcnzcn streng innegehalten. In der wissenschaftlichen Literatur
i'oUnioo .sehen wir z. B. bei Polemon von Uion, einem der ausgezeichnetsten
(um mo), j^oijalforscher, daß er die persönliche Adresse sowohl nach der Seite
der Widmung verwandte wie auch zu scharfer direkter Polemik gegen
den längst verstorbenen Timaios, wo sie doch nur Einkleidung war.
Das war der Brief auch schon in den oben erwähnten Dinerbriefen
de« Lynkeus. Sehr früh hat sich die Tagespolemik auch der unlauteren
iellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). 11. Prosa.
97
Waffe des gefälschten Privatbriefes bedient; gerade weil allen Parteien
auf die Autorisierung durch berühmte Personen so viel ankam, lag die
Versuchung nahe genug, sich das benötigte Zeugnis selbst zu beschaffen
oder auch eins, das einen unbequemen Gegner diskreditierte. Derartiges
birgt sich unter dem Namen des Demosthenes, Isokrates, Piaton, ver- |
fertigt aus sehr verschiedenem Sinne, aber fast alles noch in der Zeit, in 1
der so etwas aktuell wirken konnte, weshalb es immer noch die Urteils-
losen täuscht. Sehr viel harmloser war es, Größen der Vergangenheit
Briefe unterzuschieben, und in den zwei Fällen, wo wir die vorliegenden ^m
Briefe mit Sicherheit in die hellenistische Zeit hinaufverfolgen können, ^M
sind es gar Barbaren, der Inder Kalanos imd der Skythe Anacharsis. Da ^M
war also gar keine Mystifikation beabsichtigt. Aber es kann sehr wohl |
sein, daß diese literarische Form schon sehr viel weiter ausgebildet war I
und der Roman in Briefen oder das Charakterbild in Briefen keineswegs
erst in der Kaiserzeit aufgekommen ist.
Von den großen Gattungen war den Philosophen der Dialog gegeben, oiaioj. '
und die Autorität Piatons hat auch zu allen Zeiten Nachfolge erzeugt,
vorwiegend unter Philosophen und für philosophische Dinge; insbesondere
über die Liebe schickte es sich, in der Form von Phaidros und Symposion
zu handeln. Es bedienen sich der Dialogforni aber auch andere Gelehrte, 1
sogar Eratosthenes; auch ein namhafter Arzt, Herakleides von Tarent, tierakieidn
hat ein Symposion verfaßt. Merkwürdig und reizvoll w^ird vieles gewesen "°" '^"•■'
sein, aber daran ist kein Zweifel, daß erst Cicero Kunst\verke im Sinne
des Piaton und des Pontikers Herakleides hervorgebracht hat, und der
erreichte es durch den Anschluß an diese Muster der klassischen Zeit j
Um so charakteristischer ist die ausgeartete Form des Dialoges, die Diauib«.
auch im Namen sich als seine niedere Schwester kennzeichnet, die Diatribe.
Sie ist mit dem identisch, was die Peripatetiker den kynischen Stil nennen. j
Diogenes von Sinope, der Gründer des Kynismus, hat die Umprägiing der
kursierenden Ansichten und Werturteile literarisch durch die Parodie be- J
trieben, wie das nahe lag, und seinen Tragödien hat sein Schüler Krates I
von Theben, eine weit vornehmere Erscheinung, höchst witzige elegische
und epische Parodieen nachge.sandt. Diogenes gerierte sich im Leben als
ein potenzierter Sokrates, und so lag es nahe, den platonischen Dialog ins
Kynische umzusetzen. Das sehen wir noch in den zahllosen Apophthegmen
und Geschichten von Diogenes, und wenn sich auch bestimmte größere j
Szenen erkennen lassen, Diogenes auf dem Sklavenmarkt, Diogenes in 1
Olympia, Diogenes predigt über das Glück des Bettlers im Gegensatze
zu dem des Großkönigs, Diogenes und Alexander, so gehört es sich nur,
daß kein geschlossenes Kunstwerk herauskommt wie bei Piaton, sondern J
eine allerdings überreiche Fülle witzigster Situationen und Sprüche. Es J
verschlägt wenig, daß wir das fast nur in der Vereinzelung oder in Reihen ^1
von Apophthegmen finden: eben diese Charakterisierung eines Menschen 1
durch eine Sammlung seiner Witze ist die rechte kynische Parallele zu
Du KuLTim DU Gegeswakt. Lt. 7 J
W q8 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Apophthctro:.. dcR Memorabilicn Xenophons. Das Apophthegma wird aber überhaupt
fast eine Redegattung, entsprechend der alten poetischen und prosaischeti
^^_^ Grtiome, oft auch ein Epigramm in unserem Sinne. Der Grrieche bildet
^^H auch den Witz, das Bonmot, die sententia {nicht als Sentenz, sondern im
^^H Sinne des Rhetors Seneca) zur Kunstform aus, und die Philosophen sind
^^H darin Virtuosen. Anders aber wird das klingen, wenn die Jünger der
^^H Schule sich beim Nachtmahl um den Meister scharen, anders auf dem
^^H Markte, wo nur der Muttenvitz Kurs hat. Da ist der Kyniker in seinem
^^H Elemente, der von positiver Philosophie kaum etwas zu bieten hat, und
^^H vor dem die Schriftstellerei höchstens als Niederschlag der mündlichen
^^H Rede bestehen kann. Aber er ist nicht der einzige. Menedemos von
^^m Eretria (der nichts publizierte), Stilpon von Megara, Bion vom Borysthenes
^^ treiben es ähnlich und vertreten ganz andere Schulen oder stammen doch
I Bion aus ihnen. Den Bion pflegt man jetzt nach Horaz als den Erfinder oder
I (um aSo). Vollender der Diatribe anzusehen, aber man sollte gerade hier keinen
K einzelnen nennen, und wenn, so haben die Kyniker den Vortritt. Was
I die Diatribe ist, ergibt sich ganz von selbst, wenn man sich solch einen
I Volksredner denkt. Er würde vielleicht ein wirkliches Gespräch fuhren,
I wenn die Leute, die er haranguiert, zu antworten TÄÖißten. So redet er
■ wohl direkt auf sie ein, aber die Antworten muß er sich selbst geben.
■ Der Dialog ist nur noch rudimentär vorhanden, in Selbsteinwürfen und
I Selbstantworten; aber die Lebhaftigkeit ist nur gestiegen, weil die Höf-
■ lichkeit verschwunden ist So wird eine Art skurriler, zuweilen auch
■ pathetischer Predigt daraus. Rs ist immer ethische Ermahnung und ganz
■ praktische Moral, immer auch eine Kritik der Gesellschaft und ihrer Vor-
I urteile, Umwertung der geltenden Werte. Aber die Belustigung überwiegt
I leicht, schon durch die Übertreibung, und allerhand Nebenwerk belebt
■ und überwuchert wohl auch die Deduktion. Da gibt es die Fabel, die
■ ;Vnekdote, den Sinnspruch, den man auch gern parodiert, das Gleichnis
I (von Ariston geradezu als eine Literaturgattung ausgebildet, die nament-
I lieh Plutarch veranschaulicht), da kondensiert sich die Kritik oder Be-
I lehrung gern in einem Paradoxon, da wird die volkstümliche Weise der
I durchgeführten Antithese, Mensch und Tier, König und Bettler, Protzen-
■ diner und Bettelsuppe, Armut und Reichtum, angeschlagen; die Allegorie
■ ist auch beliebt, und so sehen wir mit Behagen eine Menge Motive und
■ Formen, die die vornehme Literatur gemeiniglich verschmäht. Im Originale
Tel« lesen wir freilich wieder fast nichts; Teles von Megara, von dem wir
(um j^c). wenigstens etwas haben, ist ein geringer Nachahmer. Indessen tritt hier
■ die abhängige Literatur so stark ein, daß unsere Vorstellung klar genug
■ ist. Horaz hat seine Satiren ja selbst Diatriben (übersetzt Sermonen) ge-
I nannt, und die Moralisten der Kaiserzeit, Seneca, Plutarch, Dion, dann
I auch Lukian, hängen auch formell sehr stark von dieser Literatur ab.
■ Mußten doch selbst die vornehmen Philosophieen um des Erfolges willen
I sich in das grellbunte und nicht sehr anständige Gewand der bionischen
C, Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). II. Prosa.
99
(t »jj)-
A ristOD
von Chios
(um 360).
Satire kleiden. Selbst bei dem einzigen aus der exklusiven alten Aka- Kraaior
demie, der in weiteren Kreisen Leser fand, bei Krantor, finden wir eine (♦"'»?<>)•
breit ausgesponnene Allegorie. Bei dem ernsten Stoiker KJeanthes be- Kieintb«»
gegfnen uns Verschen, sehr gelungene zum Teil, in denen sich seine
Lehre kondensiert, bald Parodie einer bekannten Tragikerstelle, bald die
gemeine Form der komischen Sentenz, auch ein volkstümlicher Dialog
zwischen Vernunft und Leidenschaft. Selbständige Stücke sind das nicht:
sie werden erst verständlich, wenn er in dem Diatribenstil, der ja so
viel von Parodie lebte, in den Vers übersprang. Auch bei Ariston, der
mehr Kyniker als Stoiker war, ist ein solches Beispiel nachgewiesen.
Da haben wir den Gipfel der gewollten Stilmischung. Weil Varro in
den Satiren, die er menippeisch nannte, Verse und kynische Prosa mischt,
weil es Seneca in der Apokolokyntho.sis und dann noch mancher Römer
bis auf Boethius Con.soIatio ebenso hält, endlich weil rudimentär sich
dasselbe bei Lukian findet, erschließen wir, daß Menippos von Gadara in Meoippo«
seinen kynischen Satiren diese Weise ausgebildet hat, und manche skurrile '™ '*"''
Erfindung, wie die horazische Nekyia, dürfen wir durch solche Kombination
auf ihn zurückführen. Aber direkt fehlt uns wieder alles: es fehlt uns die
Anschauung einer interessanten Gattung, über die wir uns daher des
Urteils enthalten müssen. Mi.schung von Prosa und Vers ist an sich nicht
unerhört. Das alte Volksbuch vom Streite des Homer und Hcsiod gibt
prosaische Erzählung, aber die Helden reden in Versen: das tun sie, weil
sie Dichter sind. Ahnliches gibt es mehr, aber es bleibt immer ein
qualitativer Unterschied gegenüber dieser Vermischung; da wäre es vor-
schnell, sich auf noch fernere Analogieen zu verlassen. Ganz in metrischer
Form, im Anschlüsse an Xenophanes und die rhapsodische Parodie, hat
Timon von Phleius, der übrigens auch einen Dialog und Elegieen verfaßt
hat, in höch.st ergötzlicher Weise ähnliche Szenen behandelt, wie wir sie ** "" "'''
dem Menippos zutrauen können, einen Fischfang, in dem die Fische
Philosophen waren, eine Nekyia, die das platonische Vorbild nicht ver-
leugnete. Man sieht, daß die römische Satire nicht nur den Inhalt in der
hellenistischen Literatur vorfand. Wie würde Horaz gelacht haben, wenn
man ihm mit dem Lobe des Quintiliaii gekommen wäre, sattra tota nostra
csi. Römisch ist an ihr nur der Name, und den verschmähte er. Aber
den Ruhm hat er wirklich verdient (er, nicht schon LuciUus), den fremden
bunten Stoff mit echt kün.stlerischem Gefühle geformt zu haben, sehr viel
hellenischer als seine hellenistischen Vorbilder. Und doch zeigt sich der
Reichtum der griechischen Literatur auch darin, daß sie eine Zeit erlebt
hat, der solche geistreiche Stillosigkeit ebenso entsprach, wie der früheren
die klassische Formenstrenge.
Die Beredsamkeit, die Herrin des 4. Jahrhunderts, tritt literarisch B<.rea»Mnk«it.
stark zurück, einmal, weil in einer Zeit der gewaltigen Taten der Wert
des Wortes sinken muß, dann, weil das Lesebuch stark an Terrain ge-
wann, vor allem, weil die Philosophie bis tief in das 2. Jahrhundert hinein
7*
Tiinoo
lOO Ur.RlCH VON WiLAMOWiTZ-MoELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
SO hoch dastand, daß die alte Feindin ihren Anspruch auf die Jugend-
bildung nicht aufrechterhalten konnte; aufgegeben hat sie ihn nie. Die
Staatsrede als Form der Publizistik gab es in den Königreichen nicht;
auch die Reform in Sparta ist nicht durch Reden, sondern durch quasi-
historische Abhandlungen über die alte Verfassung tind Sammltmgen von
Exempeln alter Spartanertugend verteidiget worden. Die Städte und
Staatenbünde von Hellas haben eine parlamentarische Beredsamkeit nicht
mehr erzeugt (ein paar attische Nachzügler sind bedeutungslos). Prosaische
Hymnen und Enkomien erscheinen freilich unter den Veranstaltimgen der
gfroßen Feste; aber diese pompöse Behandlung konventioneller Stoffe hatte
nicht höhere Bedeutung als die Dithyramben tmd Tragödien, die man
daneben aufführte. Wir kennen im Auszuge eine Rede auf Herakles
Matru von Matris aus Theben; aber da ist gerade der äußere Schmuck weg-
'^'^*'" ''' gefallen, der interessieren würde, weil der Verfasser zu den später be-
sonders hart beurteilten Stilisten gehörte. Die Gerichtsrede konnte natür-
lich nirgend entbehrt werden, wo mündliches und öffentliches Verfahren
galt; aber sie sank aiif ihren gebührenden Rang. Bezeichnend ist, daß
die eigentlich juristische Seite den Praktikern (Pragmatikern, wie man
sagte) überlassen ward, der Redner also lediglich die zweckmäßige Aus-
gestaltung zu besorgen hatte als „Oberredungskünsüer*'. Daß es zu
keiner wirklichen Rechtswissenschaft kam, war damit besiegelt Im
2. Jahrhundert erstarkt die Rhetorik wieder, was mit der Macht des demo-
kratischen Rhodos zusammenhängt, dem zahlreiche Städte untertänig
waren; die autonomen Gemeinden Asiens unter pergamenischer oder
römischer Oberherrschaft beteiligen sich auch daran, und bald bewirbt
sich die Rhetorik um die Bildung der römischen Herren. Schon Gaius
Gracchus hat die allerbedenklichsten Künste der griechischen Afterkunst
nicht verschmäht (er ließ sich von einer Flöte den Ton angeben, in dem
er einsetzen wollte); seitdem ist die Ausbildung der römischen Jugend ein
Gewerbe, das dem Rhetor G«Id imd Ehre bringet, und vor künftigen
Staatsmännern läßt sich die Konkurrenz der Philosophie leichter aus dem
Felde schlagen. Daher eine Erneuerung des Kampfes zwischen Isokrates
und der Sokratik; die Plülosophie kann sich nicht anders helfen, als indem
säe die praktische Schulung des Redners auch übernimmt; aber der Sieg
ist ihr nicht geblieben. Aus diesem Kampfe ist als die köstliche Frucht
die Praxis und die Theorie Ciceros erwachsen; seine griechischen Lehrer
weinten mit Recht um den Ruhm ihres Volkes, als sie den Lateiner
hörten, der es unternehmen durfte, mit Piaton und Demosthenes zu rivali-
neren. Und doch weiß und beweist gerade er (wie übrigois alles, was
vir von älterer römischer Beredsamkeit besitzen), daß die lateinische Kultur
und Literatur ein TeU der hellenistischen ist. Nach ihm ist es hier wie
dort um jene gegenseitige Durchdringung der rhetorischen und philo-
$0|)iii$chen Bildung geschehen: seine Größe steiget nur ^wie die vtMd H(vaz
und VergU), wenn man sie in die griechische Entwickelui^ einordnet.
C Hdkmstiscte lyriotfe (jao— jo t. Cht.]i. IL Prosa.
lOI
Cicero hat übrigfens die Redner, bei denen er gelernt hatte, niemals preis-
gegeben, während er die Lehrbücher verachtet, seit er bei den Philo-
sophen der Akademie Besseres gefunden hat. Sein Lehrer Moloo muA
aach eine interessante Person gewesen sein; er ist nicht nur in wichtigeo *"" "**
politischen Verhandlungen aufgetreten, sondern war ein Rufer im Streite, J
einmal der Rhetoren gegen die Philosophen, dann als einer der ersten I
antijüdischen Schriftsteller. Damit erfahren wir, daß in Rhodos neben |
Panaitios und Hipparchos und ebenso neben Poseidonios, Dionysios Thnut 1
und Timachidas, also neben Philosophie, Naturwissenschaft und Grammatik, 1
auch in ihrer Art ebenbürtige Rhetoren und Journalisten g^estanden haben. I
Was sie konnten, erfahren wir nicht. 1
Die Theorie der Rede, soweit sie mit der Logik zusammenhingt, Rh*«««. I
hatte Aristoteles wissenschaftlich fundiert; die Stoiker bauten daran weiter, I
ohne doch für die Praxis Ersprießliches zu erreichen. Von beiden wollten I
die Rhetoren lernen, und namentlich als Chrj'sippos der Welt durch 1
seinen Dogmatismus und seine scholastische Spitzfindigkeit imponierte, 1
auch darin nicht zurückbleiben. Ihr Unterricht war wohl schon früher 1
von der Praxis, die den nun veralteten sizilisch- attischen Handbüchern I
entsprach, zu derjenigen fortgeschritten, die dann bis weit über das Ende I
des Altertums in ungebrochener Kontinuität dauert Die Schüler lernten I
das System imd versuchten sich praktisch zuerst an dem Nacherzählen I
von Fabeln imd Geschichten, dem Umsetzen von Gedichten in Prosa, dem I
Aufsatze über irgendein allgemeines Thema (z. B. ob man heiraten soll) 1
oder einen Spruch, gingen dann zu einer Rede aus bestimmter Person I
und Situation fort (z. B. was konnte Zeus sagen, als er Phaethon atif dem I
Sonnen wagen sah), schließlich zur Behandlung eines fiktiven Rechtsfalles I
(wobei die betreflfenden Gesetze im Thema angegeben wurden, so wahn- I
schaffen wie der Rechtsfall selbst). Die Anmaßung ging also so weit, 1
daß der Unterricht alle und jede Prosa umfassen sollte; der philosophische 1
Traktat erschien ak ein Anfängeraufsatz, imd den Gipfel bildete die I
Gerichtsrede: schamloser kann nicht zugestanden werden, daß der Inhalt 1
ganz und gar Nebensache ist, die formale Bildung aber zu allem be> I
fähigen soll. Schwerlich wird es zu hart sein, wenn man die ganze Arbeit I
als weggeworfen bezeichnet, die ununterbrochen bis ins 5. Jahrhundert 1
n. Chr. auf den Um- und Ausbau dieser Theorie verwandt ist. Die Philo- I
logie freilich darf nicht ruhen, bis sie von den erhaltenen oder zunächst I
herstellbaren Systemen der Spätzeit (Minucian, Hemiogenes, Alexander 1
Numenius usw.) über Quintilian und die zuverlässigeren griechischen Reste I
zu der maßgebenden hellenistischen Theorie emporsteigt, die uns wieder I
direkt nur in lateinischer Bearbeitung vorliegt. Wir sind infolgedessen I
genötigt, den Rhetor, der gerade Autorität war, als Cicero lernte, so zu I
behandeln, als wäre er ein großer Gesetzgeber und gehörte ihm die I
radikale Umbildung der alten Techne; es kann aber sehr wohl sein, daß
Hermagoras von Temnos (also so gut wie ein Pergamener) damit zu viel ii-rni««ofw
102 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Ehre erwiesen ist und, wie meistens, das 3. Jahrhundert bereits die
wichtigsten Gedanken erzeugt hat: die Stasis, d. h. die Vorfrage, „worauf
baut sich das Problem auf, das zu behandeln ist", ist sicher eine ältere
Entdeckung, und sie ist auf die Gerichtsrede berechnet. Auch Timaios,
Matris und Hegesias, die Stilmuster dieser „Modernen", gehören ins
3. Jahrhundert. So viel muß man diesem rhetorischen Unterrichte un-
bedingt zugestehen, daß er turmhoch über der pädagogischen Impotenz
steht, die unseren Knaben durch den deutschen Aufsatz samt seinen Dis-
positionen die Fähigkeit zu denken und zu schreiben nur darum nicht ver-
schneidet, weil er bisher noch nicht die zentrale Stelle in dem „nationalen"
Unterrichte errungen hat.
Von unbestreitbar hohem und dauerndem Werte ist die andere Seite
der rhetorischen Theorie und Praxis, die sich auf den Ausdruck erstreckt,
die Stilistik. Scherer hat in seiner Poetik über die Form der Prosa
nichts Besseres zu geben gewußt, als ein kümmerliches Exzerpt aus der
Lehre dieser griechischen Rhetoren. Das Beste stammt natürlich auch hier
von der Philosophie. Theophrast bat in seinem Buche über den sprach-
lichen Ausdruck auf dem Boden des wunderbar feinen aristotelischen Buches,
das wir jetzt als drittes der Rhetorik lesen, ein festgefügtes System erbaut,
namentlich durch die Anerkennung verschiedener Prosastile: damit war
für Gorgias und Lysias, Piaton und Thukydides nebeneinander Raum ge-
wonnen. Dann hat die Grammatik sich von den Kunstmitteln der Poesie
Rechenschaft gegeben, aber schon ganz früh z. B. auch den Demokritos
berücksichtigt Aber auch die Rhetoren haben in der Beobachtung der
von ihnen so genannten Figuren des Gedankens und des Ausdruckes
ungemein viel Feines gefunden, da.s auch für die Praxis von Wert war.
Das gleiche gilt \'on der Wortwahl und Wortfügung. Das erste stellte
den Schriftsteller vor die Frage, ob er schlicht oder geschmückt schreiben
wollte, vulgär und neologisch oder nur mit anerkannten und edlen
Wörtern. Dies bereitet den späteren Kampf zwischen attisch und hellenisch
vor, ist aber mit nichten dasselbe, und namentlich sollen wir uns hüten,
allein den „akademischen" Stil, der den Klassikern folgt, als berechtigt
anzuerkennen. In der Wortfügung sind die Gegensätze ähnlich. Die
periodisierte Rede ist dieser Zeit als die korrekte und klassische über-
liefert, und sie behauptet diesen Vorrang; die Kanzlei und der gebildete
Brief, Polybios und Poseidonios wenden sie an. Aber es war doch nicht
verwerflich, wenn nicht nur die Diatribe, sondern auch die Gerichtsrede
daneben eine Komposition in lauter kurzen Sätzen, meist antithetischen, an-
wandte; wie sich denn schon bald nach 300 in Athen sogar ein Praktiker
fand, Charisios, der sich auf Lysias zu berufen wagte. Auch in Asien haben
es viele so gehalten; wie es scheint, auch der Prügelknabe der strengen
neg«iias Stilisten, Hegesias von Magnesia am Sipylos, der sich sogar an einem Ge-
(um j}..). Schichtswerke versuchte, nach den Proben allerdings ein unglaublich ab-
surder Ge.selle, doch hat schon ein Schüler des Aristoteles, Klearchos, ein
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.j. II. Prosa.
10;
.SO geziertes Griechisch geschrieben, daß man die Rhetoren nicht allein
schelten darf. Auch dieser Gegensatz geht durch die ganze Folgezeit,
und daß man nicht von asianischer Perversität rede: Verehrer diese.^
kommatischen Stiles sind Seneca und Tacitus; ein achtungswerter
griechischer Vertreter ist leider wohl nicht aufzutreiben. Zu der Wort-
fugung gehört ferner die Vermeidung des Hiatus, die immer leichter ward,
da die Sprache selbst unter dem Einflüsse der Poesie und Kun.stprosa
der Hiatusscheu Rechimng trug. Dazu gehört endlich Rhythmus und
Reim. Der Reim scheint sich nirgend über die Bedeutung eines gelegent-
lich anzubringenden Schmuckmittels erhoben zu haben; dagegen ist die
Rhythmisierung des Satzschlusses so weit getrieben, daß man geradezu
von gebundener Rede sprechen darf. Zwar haben sich viele Schrift-
-steller dem nur so weit hingegeben, wie es schon früher galt, daß sie
bestimmte, an die häufigsten Versschlüsse mahnende Quantitätskomplexe
mieden und umfängliche und klangvolle Wörter ans Ende stellten; wer
Demosthenes studiert hatte, erzielte auch durch Dissonanz besondere
Effekte. Aber die Redner zumal sind dazu gekommen, nur noch ganz
wenige und noch dazu verwandte Schlüsse gelten zu lassen. Wer sein
Ohr dazu erzogen hat, die Quantität zu hören, wird sich dem geradezu
melodischen Eindrucke nicht entziehen, und wer noch itaUenische feier-
liche Kanzelrede, etwa im Gesü, gehört hat, wird auch dem halb
singenden Falle der Stimme am Satzende, der musikalischen Wirkung
der Prosarede, die Existenzberechtigung nicht abstreiten. Die Prokla-
mation des Königs Antiochos von Kommagene, die auf dem Nemrud Amioch« voo
Dagh an dem Grabheiligtume seines Geschlechtes steht, schelte man "^r^^,'*"?'
bombastisch: im Stile und im Klange, in der Wortwahl und im Rhythmus
steht sie mit den Skulpturen, dem Aufbau, der Tendenz und Gesinnung
der ganzen Anlage in einer ebenso voUkonmienen Harmonie, wie die
Perioden Bossuets mit dem Schlosse und dem Parke von Versailles. Die
attizistische Reaktion hat auch diesen allerdings weder tiefen noch
schweren Künsten für die Griechen ein Ende gemacht. Dagegen sind
Cicero und Seneca auf diesem Gebiete ganz einig: der kadenzierte Wort-
schluß ist der lateinischen Prosa eigentlich niemals wieder abhanden ge-
kommen. So kann in einer sekundären Literatur klassisch werden, was
in der originalen als Ausartung des Klassischen erscheint. Dieselbe
Rhetorik, die der lateinischen Kunstprosa den Rhythmus übermachte, hat
später den Reim kultiviert, der über die gesamte moderne Poesie die
Herrschaft erringen sollte, obwohl er uns in der griechischen Prosa überall
unausstehlich klingt.
Die Geschichtschrt-ibung war als die vornehmste Gattung der Kunst- nutoiie
prosa von der Rhetorik aufgestellt, und auch Aristoteles hatte sie in diesem
Stile behandelt. Den großartigsten Stoff bot die Gegenwart; das Interesse
für die Vergangenheit ward von der romantischen Zeitstimmung belebt:
so ist massenhaft Geschichte geschrieben worden, in sehr verschiedener
I04 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Form. Der eine Typus war der ionische, der sich in Asien gehalten
hatte, weil dies persisch war, während in Athen die Rhetorik neue Bahnen
Kieaiu wies. Besonders die persische Geschichte des Ktesias von Knidos hat
(schreibt um 390). gj^j^ in der Gunst des Publikums so lange wie Theopompos gehalten. Er
hatte als Leibarzt des Artaxerxes n. den Orient gut kennen gelernt und
eröffnete den Griechen die Zauber- und Märchenwelt noch ganz anders
als Herodot Es war ihm freilich auch vorwiegend van Fabulieren und
Überraschen zu tun. Die Parteinahme, entschieden gegen die nationalen
Tendenzen des Herodotos, entsprach der Weltlage, in der er schrieb, imd
wenn sie den späteren Partieen seines Werkes auf die Dauer geschadet hat:
von den Wundem von Babylon, von Semiramis, Sardanapal, Kyros haben
sich die Griechen immer gern imponieren lassen. So haben denn auch andere
lonier die Geschichte des Perserreiches imter den Nachfolgern des Arta-
xerxes II. geschrieben. Alexanders Geschichte setzte das ganz natürlich fort,
Kidurchos Und Kleitarchos, der die meistgelesene Alexandergeschichte verfaßte (Cicero
(am 300). Yig^^ ijui noch gern gelesen), war der Sohn Dinons, eines jener Geschicht-
schreiber der Perserzeit Er selbst wanderte nach Alexandreia aus; um
so weniger interessierte ihn das eigentliche Helleis oder hemmten ihn die
neuen ästhetischen Theorieen. Wie der große König Nachfolger der Achä-
meniden wird, sein persönliches Heroentum und dann die Wunder, die
auf dem Zuge entdeckt werden, das wird mit gfrellen Farben gemalt, um
zu imponieren und zu unterhalten. Weder historische Forschung noch
ängstliche Wahrheitsliebe, noch pragmatische imd psychologische Wahr-
heit oder Wahrscheinlichkeit wird angestrebt, wohl aber Stoffreichtum,
Abwechselung und überhaupt ionische Buntheit Übertrieben wird im
Guten imd Bösen. Das Buch hat im breiten Publikum einen starken
Erfolg gehabt, wie Ktesias auch, obwohl es höheren Anforderungen
nach der künstlerischen Seite schwerlich besser genügte als nach der
historischen. Es reizte aber zur Überbietung, und ein so dankbarer
Stoff wird immer wieder im Geschmacke der Zeit behandelt Es brauchte
nur jemand sich eine Sorte psychologischer Entwickelung zurecht zu
machen, etwa daß Alexander diu-ch die Erfolge verdorben wäre, so ließ
sich ohne weiteres eine neue Geschichte fabrizieren. So etwas nahm
Curtius Rufus zur Unterlage seines Buches, das lediglich als Unter-
haltungslektüre geschrieben ist Inhaltlich gehört es ganz in die spätere
hellenistische Zeit; formell eigentlich auch.
Sehr viel höher als der Typus, den Kleitarchos vertreten mag,
steht die Geschichte, die nach aristotelischem Rezepte geschrieben
wird, bestimmt mit der hohen Poesie, Epos und Drama (die für
diese Theorie einander ganz nahe stehen), zu wetteifern. Vertreter
Duri. dieser „tragischen" Historie mag der Samier Duris sein, von dessen
(t nach 2to). umfangreicher und einflußreicher Darstellung der Zeitgeschichte wir im
Auszuge des Diodor wenigstens eine sehr packende Partie lesen, die
afrikanische Expedition des Agathokles. Da ist unleugbar großes Talent
C. Hellenistische Periode '320—30 v.Chr.". II. Prosa.
X05
für dramati.sche Komposition; auch da.s Retardieren durch phantastische
Schilderung (beim Zuge des Ophelas von KjTene nach Karthago) kommt
noch in dem Auszuge zur Geltung. Kleinmalerei der Umgebung, des
Kostümes, der Stimmung hebt die Bilder der Hauptakteure hervor und
liefert den Hintergrund der schaurigen Peripetie. Duris hat nicht nur bei
den Tragikern, .sondern auch bei den Regisseuren zu inszenieren und zu
kostümieren gelernt. In der Zerstümmelung kann das kleinlich scheinen,
aber wer im Plutarch den Sturz des Demetrios Poliorketes dem Duris
nacherzählt liest, der muß zugestehen, daß diese Erzählerkun.st der psycho-
logischen Vertiefung nicht entbehrte. Gleichen Schlages ist der Athener
Phylarchos gewesen, dem die beiden königlichen Revolutionäre Spartas rhyUrcb»
es verdanken, daß man aus Plutarch ein sympathisches Bild von ihnen '^ ""*■ ""'■
mitnimmt, das sein milder Pin.sel nur etwas verwLscht hat. Auch hier
die Absicht, p.sychologische Wahrscheinlichkeit und stärkste Affekte zu
erzielen, auch hier Preude an der Kleinmalerei, dabei eine ausgesprochene
und rücksichtslose politische Tendenz. Dieser und dem Effekte wird frei-
lich die Wahrheit skrupellos geopfert. Phylarchos hat auch einzelne kleine
Geschichten erzählt, die er selbst „m3'thische", also Märchen nannte:
histori.sche Novellen neben dem historischen Romane.
Der Wahrheit zu dienen ergriff auf Veranlassung des Königs
Antigonos Gonatas ein ausgedienter General und Staatsmann die Feder,
Hieronymos von Kardia, der in Asien und Europa in immer steigenden Hioronymotl
Stellungen die Diadochenzeit durchlebt hatte. Das makedonische Archiv ** "''' ''"'■
hat ihm zur Verfügung gestanden, und seinen vorzüglichen Infor-
mationen entsprach sein Sinn für das authentische Detail. Ihm ver-
danken wir es, daß die nächsten zwanzig Jahre nach Alexanders Tod uns
verhältnismäßig so gut bekannt sind; die zahlreichen inschriftlichen Funde
haben den Eindruck der absoluten Glaubwürdigkeit bestätigt, den die
Auszüge machen. Und es war eine Zeit, in der sich schwer zurecht-
zufinden ist, überreich an Aktionen und bedeutenden Personen. Wenn es
■die Aufgabe der Geschichtschreibung i.st, zu sagen, wie es wirklich ge-
wesen ist, .so kann kein anderer neben Hieronymos um den ersten Platz
konkurrieren. Daß er nicht so ohne Ethos erzählte, wie es bei Diodor
scheint, zeigt der Eumenes Plutarchs; denn wenn auch die Kunst der
isolierenden Behaiuilung ganz diesem gehören wird, so mußte ihm doch
das glaubliche und anziehende Heldenbild gegeben sein; hier schrieb
Hieronymos allerdings mit persönlicher Sympathie. Seine Zurücksetzung
■durch die Kunstrichter ist ein bedauerliches Zeichen dafür, daß die Griechen
■die reine historische Wahrhaftigkeit nicht zu schätzen verstanden und sich
lieber amüsieren oder gruseln wollten.
Der eigenen Meinung nach war Timaios von Tauromenion ein nm.Jo.
Forscher und ein Darsteller, wie es keinen anderen gab, und das muß '* "'^'' **^^
man ihm lassen, Mühe hat er sich mit beidem genug gegeben. Er hat
es auch erreicht, daß er noch vor Ephoros, dem er sich verwandt fühlte
lo6 Uuucw VON WiLAMOwrrz-MOELLEjrooRiT: Die griechische Literatur des Altertums.
und verwandt war, in der Schätzung der nächsten zwei Jahrhunderte
rangierte. Für die Römer zumal, Cato, Varro, Cicero ist er der Haupt*
historiker gewesen. Dann brachte ihn sein allerdings unerfreulicher
Stil um diese Geltung, aber stofflich hat er weiterhin noch sehr viel
bedeutet. Sohn eines kleinen sizilischen Stadtherrn, den Agathokles
vertrieb, hat er wenigstens vom Westen einiges selbst besucht, dann
aber bald in Athen ganz still seiner Lebensaufgabe sich hingegeben,
die Geschichte Siziliens von Anbeginn bis zur Gegenwart zu schreiben.
Die höchst ausführliche Geographie des Westens, die er in seinen ersten
Büchern gab, war eine breite und sehr wertvolle Grrundlage. Ihm ist es
zu danken, daß die Entdeckungen des Pytheas von Massalia allgemein
bekannt wurden; er hat von der ganzen italischen Küste die für die
Italiker selbst maßgebende Schilderung entworfen, nicht ohne eine Menge
mythische Traditionen zu überliefern oder zusaminenzuklittern. Die römische
Aneassage, die landläufige Didosage gehören dazu. Er schrieb dies und
dann die alte Geschichte Siziliens in großer Ausführlichkeit mit kritisch-
polemischen Exkursen; die Größen der Literatur, Pythagoras und Empe-
dokles spielten eine Hauptrolle. Kein Zweifel, daß er auch hier wichtiges
Detail gerettet hat, und wie amüsante Nebendinge Platz fanden, zeigt
z. B., daß der hübsche Schwank, den unser altes Gedicht, der Wiener
Meerfahrt, behandelt, noch bei ihm zu lesen ist. Allmählich gab es mehr
wirkliche Geschichte zu berichten, und die Akteurs wurden greifbarere
Gestalten, Hieron, Gelon, dann die Dionyse. Leider waren sie Tyrannen,
und Timaios zwar Tyrannensohn, aber in Athen zum Vertreter des gewöhn-
lichen demokratischen Kredo geworden. So baute er denn in lieblicher
Gradation von dem guten Tyrannen Gelon über die bösen Dionyse sich
den Weg zu dem Unmenschen Agathokles. Dazwischen standen die
demokratischen Zeiten, auf die mit einiger Mühe Licht gesammelt ward,
in der letzten aber bildete der ganz unvergleichliche Tugendspiegel
Timoleon das lichte Gegenbild zu dem Teufel Agathokles. Den Timoleon
können wir aus Plutarch wieder einigermaßen schätzen: auch dieser war
einem solchen konstitutionellen Musterknaben sehr geneigt, aber diesmal
hat sich keine glaubhafte oder auch nur interessante Figur daraus machen
lassen. Offenbar lag die Begabung des Timaios nicht nach der Seite der
Menschenkenntnis; seine mangelnde Lebenserfahrung ward in keiner Weise
durch philosophische Vertiefung ersetzt Er hat den ganzen Haß des
Rhetors gegen die Philosophen, und hinzu kommt eine ganz kindische
Frömmelei, falls er das wirklich ernst gemeint hat, was er in der Hinsicht
schrieb, und jener philiströs -moralische Maßstab, der sich an den Leiden
der Bösen und Gottlosen besonders delektiert; daß dann auch die Er-
zählung durch W^underglauben getrübt ward, war unvermeidlich. Die
Forschung des Timaios war höchst achtungswert; Polybios zeigt, wie wenig
er von solchen Dingen versteht, wenn er sich über die archivalischen
Studien lustig macht; die Philologen Alexandreias haben ganz anders
C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Oir.)
frosa.
107
geurteilt und der ttmäischen Bevorzugung der Olympiadenrechnung erst
zur Herrschaft verholfen. Aber mag er selbst den Aristoteles zuweilen
treffend berichtigen: sicher ist man doch bei ihm nie; es hilft eben aller
gute Wille nicht, wenn der Historiker mit der Philosophie, d. h. der wahren
Wissenschaft die Fühlung verliert Die Form war nach allen Regeln der
Rhetorik ausgearbeitet; pikante Wendungen, die nur zu oft albern wurden,
sollten den Brei würzen; große Reden waren eingelegt; was den Attizisten
darin vulgär klang, wird oft durchaus moderne Eleganz gewesen sein.
Aber das waren nur ornamentale Künste, die poetische Kondensierung
und Steigerung der Erzählung und die Schöpfung wirklicher Charakter-
figuren muß gefehlt haben.
Unter dem Einflüsse des Timaios steht auch Polybios; seine erregte PoiyWo?
Polemik beweist nur, daß er sich von gewissen Seiten energisch abgestoßen '''*""'>•
fühlte; gegen die machte er um so energischer Front, als die Geltung des
maßgebendsten Historikers allgemein war. Den Phylarchos haßte er
aus politischer Gegnerschaft; Thukydides war für diese Zeit archaisch;
so sind ihm nur noch Ephoros und Theopompos Klassiker; Ephoros und
Timaios, das harmonierte gut Den Hieronymos nennt er gar nicht
Und doch hatte er mit diesem gemein, daß er auch kein Literat von
Beruf, sondern für das militärisch -politische Leben erzogen und begabt
war. Er würde freilich keine Weltgeschichte geschrieben haben, wenn er
als Erbe seines Vaters die Politik von Megalopolis oder die des achäischen
Bundes zu leiten bekommen hätte.
Ein brutaler Eingriff Roms riß ihn aus dieser Enge; aber die Ver-
bindung mit dem Hause des edlen Siegers von Pydna führte ihn durch den
langjährigen Aufenthalt in Rom und den Verkehr mit den leitenden Männern
der Aufgabe zu, das Eintreten Roms unter die Großstaaten darzustellen.
Das Endziel seiner Darstellung war zuerst die Unterwerfung Makedoniens
gewesen; die Geschichte, die er erlebte, und an der er zuletzt wieder per-
sönlich teilnehmen durfte, verschob es bis zu der Katastrophe seiner engeren
Heimat Das verbreitete Urteil ist, daß Polybios ein ausgezeichneter
Historiker wäre, aber ein langweiliger Schriftsteller; viele sagen auch, ein
kunstloser. Dies ist nun ganz verkehrt. Er hat mit der allerpeinlichsten
Sorgfalt stilisiert, seine Scheu vor dem Hiat geht noch über Isokrates.
Solche endlosen Perioden fließen nicht von selbst aus der Feder, und
wenn uns die Geschwätzigkeit oft unerträglich dünkt, so kann doch nur
ein mit Mühe durchgeführtes Stilprinzip diese gleichmäßige Fülle erzeugen.
Wenn die Staats.schriften der Zeit, die wir auf den Steinen antreffen,
ähnlichen Wortschatz und ähnliche Pleonasmen zeigen, so hat nicht
Polybios Kanzleistil geschrieben, sondern die Kanzleien auch nach der
modischen Eleganz gestrebt Die Langeweile mindert sich auch, wenn
man über die Weitschweifigkeit rasch hinliest; nicht einmal die eingelegften
Reden sind alle leeres Stroh. Anderseits mindert sich die Wertschätzung
des Gelehrten.
io8 Ulrich von WilamowitzMoellendorft: Die griechische Literatur des Altertums.
Polybios war durch seine Vorbildung und seine Stellung in der Welt
ganz vorzüglich berufen, die Geschichte seiner Zeit zu schreiben, etwa
vom zweiten Makedonischen Kriege an. Da verfügte er über die besten
persönlichen Informationen und kannte die Schauplätze; er hat auch nicht
nur in peloponnesischen, sondern auch im römischen und rhodischen
Archive gearbeitet Er brachte ein ausgereiftes und zutreffendes Urteil
über die treibenden Kräfte und über die Ziele mit, denen die Geschichte
durch das Schwergewicht der Dinge mit innerer Notwendigkeit zustrebte.
Die Menschen seiner Zeit verstand er und seine Liebe galt den Besten,
Freilich kam der Orient und auch Ägypten etwas zu kurz; daß er Welt-
geschichte schrieb, war von vornherein ein Fehlgriff; aber was er g^ut
erzählen konnte, war wirklich das Wichtigste, und er hat den Erfolg
verdient, daß ziemlich alles, was wir von dieser Zeit wissen, ihm verdankt
wird. Er ist der Historiker der echten Römergröße, Livius der der ge-
logenen. Und so ist denn auch alles, was von seiner Geschichte des 2. Jahr-
hunderts übrig ist, voll von wahrem Leben. Auch daß er nach dem Vor-
bilde des Ephoros ein ganzes Buch der Geogfraphie gewidmet und die
Kenntnis des Westens aus Autopsie bereichert hat, ohne die Ökonomie
der Erzählung zu zerstören, ist ein Vorzug; daß seine Bildung ihm nicht
erlaubte, die mathematische Geographie eines Eratosthenes imd die Ent^
deckungen des Pytheas zu begfreifen, und er sich doch nicht dabei be-
schied, Tatsächliches zu geben, zeigt freilich schon den Mangel an
wissenschaftlicher Durchbildung. Diese mußte sich überall fühlbar machen,
wo der Historiker auf ältere Überlieferung angewiesen war. Er ging
aber an sein Werk, den Timaios vor Augen, den er als bekannt voraus-
setzen durfte (wie koimte er sonst den Pyrrhoskrieg beiseite lassen); an
den mußte er irgendwie anknüpfen. Mit Recht sah er im hannibalischen
Kriege die eigentliche Heroenzeit Roms; ihn mußte er seinen Landsleuten
erzählen, die nur die Darstellung des Sosylos aus Hannibals Hauptquartier
kannten, da wohl Karthago, aber noch nicht Rom mit dem griechischen
Publikum gerechnet hatte. Das schob seinen Anfangstermin stark hinauf.
Ephoros verführte ihn dazu, Weltgeschichte zu schreiben; von Timaios
nahm er die Oljmipiadenrechnung, und so geriet er auf das unselige anna-
listische Zerreißen der Erzählung unter beständigem Wechsel des Schau-
platzes. Den eigentlichen Anfang machte der hannibalische Krieg; aber
bis zum Ende des Timaios blieb doch noch eine Lücke, die höchst un-
vollkommen mit einem unübersichtlichen Mittelding zwischen Erzählung
und Übersicht verkleidet ist In sehr timäischer Weise häufen sich auch
weiterhin die Exkurse, Polemik, Kritik, militärisch-politisches Räsonne-
ment, und in rechter Dilettantentonart verbreitet der Schriftsteller sich
alle Augenblicke über das, was er tun will, warum er's tun will, und gar
über seine pragmatische Methode. Urteilslose Leute reden ihm denn
auch nach, daß er eine besondere besessen hätte, und fabeln von einem
Fortschritte der Geschichtswissenschaft. Ganz im Gegenteil; Geschichts-
C. HcUenistiscbe Periode !jao — 30 v. Chr.). U. Prosa.
IQ9
forscher ist er nur weniger gewesen als selbst Timaios. Er hat für die
Zeit, die vor seiner Erinnerung lag (die für peloponnesische Dinge durch
mündliche Tradition und Urkunden bis dahin reichte, wo Arats Selbst-
biographie aufhörte), mit publiziertem und geformtem Materiale gearbeitet
und nur in der Auswahl und Gestaltung sein Urteil bewiesen. Wo er
etwas so Ausgezeichnetes hatte, wie für die ägyptischen Dinge unter
Philopator (ein deutliches Zeichen, wie Kostbares für uns spurlos ver-
schollen ist, denn wir wissen nichts über die Herkunft), da ist auch bei
ihm alles lebendig: den hannibalischen Krieg so zu erzählen, daß das
Genie des Karthagers und seine Tragik, die Unüberwindlichkeit der lati-
nischen Eidgenossenschaft und ihres Bürgerheeres episch oder dramatisch
wirkte, dazu hat sein Talent nicht entfernt gereicht. Im wahren Sinne ist
er so wenig Künstler gewesen als Forscher. Bescheiden ist nur der Platz,
der ihm eigentlich in der griechischen Literaturgeschichte zukommt Aber
er schrieb von Rom: der große Gegenstand hat sein Werk allein von
allen dieser Periode erhalten. Und wie groß ist das Glück, daß ein red-
licher Mann die Fähigkeit und die Gelegenheit zugleich besaß, das Ge-
dächtnis der Scipionenzeit zu erhalten.
Dem Fortsetzer des Polybios ist es nicht so gut geworden; die römische i'o»eidoiiio»
Revolutionszeit erweckte bei den Griechen nicht mehr dasselbe Interesse, '^ ""' *'*■
und die Römer schrieben nun schon ihre Geschichte selbst, Poseidonios,
der aus seiner Heimat, dem syrischen Apameia, das Verständnis des
Orients mitbrachte, auch wohl die Neigung für die Stoa Zenons und für
religiöse Mystik und Wunderglauben, fühlte sich doch ganz als Hellene:
die letzte wirkliche Freistadt Rhodos war die Heimat seiner Wahl,
und an Piaton bildete er sich zu dem philosophischen Schriftsteller, dessen
machtvolle, wenn auch barocke Kunst in mannigfachen Brechungen auf
uns wirkt, am stärksten durch Cicero. Bewundem muß man seine Tätig-
keit auf ziemlich allen Gebieten des Wissens, wenn sich auch die Mängel
des Enzyklopädikers fühlbar machen. Auch als Historiker rangiert Posei-
donios hoch über Polybios, an den er nur äußerlich ansetzte. Die paar
Seiten, die den athenischen Tyrannen, den er Athenion nennt, und die
Verkommenheit der damaligen Kekropiden geißeln, haben an Schärfe und
Humor bei jenem nichts Vergleichbares. Die wirklichen Ursachen der
sizilischen Sklavenkriege zu verstehen, mußte man die Gesellschaft mit
philosophischem Auge betrachten können, und der Forscher aus Apameia,
der nach Polybios den Westen bereiste, verstand Naturwissenschaft genug,
um den Ozean und seine Gezeiten zu beobachten, und lieferte von den
Kelten eine Schilderung, die mit hippokratischer Diagnostik ihre Eigenart
herausfand; ihm gelang die Unterscheidung der Gennanen, deren taciteische
.Schilderung auf dem Boden dieser poseidonischen erwachsen ist, wie er
denn auch dem Eroberer Galliens nicht nur für sein Buch die Grundlage
gegeben hat, sondern jeden Dienst geleistet, den der Mann der Tat von
einem gelehrten Werke erwarten kann. Ob freilich der Philosoph die
I lo Ulrich von Woamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
diplomatischen Verhandlungen und die militärischen Ereignisse so gut
verstanden hat, wie der achäische Staatsmann, das muß dahinstehen; poli-
tisch unterwarf er sein Urteil (nur nicht das moralische) dem der Heimat
seiner Wahl: trotz allem stand er wie Rhodos treu zu der Oligarchie.
Auch an dieser Einseitigkeit hegt es, daß er nicht in dem Sinne der
Historiker seiner Zeit ward wie Polybios; aber der Verlust, den wir in
seinem Geschichtswerk erlitten haben, ist ohne Zweifel gleich groß nach
der künstlerischen wie nach der stofflichen Seite.
Lok.1- Neben dieser Reihe von Werken universaler Richtung und zahlreichen
gescbichteo. geringeren Darstellungen der Zeitgeschichte (wie denn die Feldherren
Roms auch darin es den hellenistischen Königen gleich tun, daß sie sich
Hofhistoriographen halten, noch Pompeius und Antonius; Cäsar hatte es
nicht nötig) hat eine schier unübersehbare Menge von Spezial- und Lokal-
geschichten gestanden, sehr verschieden je nach der Bedeutung ihrer
Orte und auch ihrer Verfasser, eine unerschöpfliche Fundgrube für Wissen
jeder Art, und lange nicht alle ohne künstlerische Aspirationen. Eine
Geschichte von Rhodos führte von selbst in die große Politik; mit einer
Nymphu solcheu setzt sich Polybios auseinander. Nymphis von Herakleia am
(um ajo). pQ^tQs^ jjgj. iß (jej. Diadochenzeit eine Weile die Geschicke seiner Heimat
leitete, mußte in ihrer Geschichte auch recht viel von den großen Mächten
berichten. Zufällig besitzen wir einen Auszug aus einer späteren Be-
arbeitung der herakleotischen Chronik von einem gewissen Memnon und
staunen über den Reichtum und die Reinheit dieser Quelle. In Argos
führte die älteste Geschichte unmittelbar in das Epos zurück; eine prosaische
Nacherzählung der oben berührten Art, noch unter demselben Verfasser-
namen wie das Epos (Hagias), war das erste; aber die Fortsetzung mußte
zum mindesten die peloponnesische Geschichte umfassen. Wir wissen von
mehreren Bearbeitungen; es ist sogar einmal von einem gewissen Deinias
der Versuch gemacht, den Lokaldialekt für diesen Stoff anzuwenden, ein
interessantes und nicht unberechtigtes Experiment.
Die attische Chronik wurzelte in Aufzeichnungen, die durch sakrale
Rücksichten hervorgerufen waren, und hatte daher in vielem einen selt-
samen Charakter, mehr antiquarisch als historisch. Doch war, seit sie im
4. Jahrhundert zu literarischer Bearbeitung kam, auch ein Bestandteil
novellistischer Tradition darin. Für die Gegenwart pflegte man sich auf
knappe urkundliche Notizen im peinlichsten Chronikenstile zu beschränken,
i'biioehoro. Noch der letzte und namhafteste Bearbeiter, der Seher Philochoros, hat
(t *6t). pj, jjjj, gjj seine Lebenszeit heran so gehalten; diese muß, nach dem Umfang
des Gesamtwerkes zu schließen, anders behandelt gewesen sein, doch
spielte sein Beruf stark hinein, und schon das gab dem Ganzen jene
Färbung, die auch uns mehr Chronik als Geschichte ist. Dagegen was
wir von den ionischen Stadtgeschichten wissen, ist ganz und gar
novellistisch und nimmt sich in schlichter und selbst in gezierter Prosa
besser aus, als in der elegischen Form, die ihm die gelehrten Dichter gaben.
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). II. Prosa.
tu
Den Umfang dieser lokalen historischen Produktion kann man sich gar
nicht groß genug vorstellen, und gewiß ist es nicht nur für unsere ge-
schichtliche Kenntnis bedauerlich, daß all dem nur eine ephemere Existenz
beschieden war.
Formell kaum, inhaltlich vom höchsten Werte waren die Geschichts-
bücher, in denen Barbaren ihre Traditionen weltbekannt machten, sei
es, daß sie bisher noch gar keine Literatur gehabt hatten, wie die
kleinasiatischen Völker (aber auch von den Hellenen z. B. Kreter und
Ätoler), sei es, daß sie eine um Jahrtausende ältere Literatur in die
Weltsprache umsetzten. Ganz neu war dieser Prozeß nicht; der Lyder
Xanthos hatte schon zu Herodots Zeiten über Lydien geschrieben; aber
es bleibt doch einer der größten Erfolge der Alexanderzeit, daß der
babylonische Priester Berossos, der ägyptische Manethos und der karische
Apollonios den Griechen den Ausblick in fremde Kultur und in eine
zeitliche Ferne eröffneten, von der sie keine Ahnung gehabt hatten.
Auf die Griechen war das berechnet; den Königen widmeten die
Priester ihre Werke. Übersetzungen, wie sie die Juden von ihren
heiligen Büchern und dann auch von erbaulicher Unterhaltungsliteratur
und sogar von geistlichen Liedern verfertigen, sind nur von dem Bedürf-
nisse der Volksgenossen diktiert, die bereits lieber Griechisch lasen. Wohl
aber haben auch Juden solche Bücher wie Manethos verfaßt, und
sie müssen uns als Beispiel für alle anderen solchen Lokalgeschichten
dienen. Ein Gelehrter der cäsarischen Zeit, Alexandros Polyhistor, hat AiM»odro»
die vorhandene historische Spezialliteratur über viele Barbarenvölker ''"'J''''»"^
^ (um 30).
exzerpiert, und das Interesse der Christen hat die Exzerpte über die
Juden gerettet. Wir sehen da den einen treuer, den anderen leichtherziger
die biblische Geschichte umsetzen; der Glaube, uralte göttlich wahre jadLcbe
Tradition zu besitzen, steigert das Selbstgefühl und verhindert nicht, die "'*""■'••
Geschichten je nach Bedarf und Neigung aufzuputzen; das Bestreben,
hellenischen Ruhm zu annektieren, Musaios etwa mit Moses gleichzusetzen,
Abraham die Astrologie erfinden zu lassen und dergleichen, wechselt mit
der geflissentlichen Hervorkehrung des Gegensatzes und dem üblichen mono-
theistischen Hochmut. Obgleich von den nationalen Aspirationen der Has-
monäerzeit hier nichts zu finden ist, begreift man eher die antijüdischc Be-
wegnng, die gegen 100 v.Chr. vorhanden ist, als den ungemeinen Erfolg der
jüdischen Propaganda. Jene nationale Bewegung hat die beiden Geschichts-
werke erzeugt, die als die Makkabäerbücher in der christlichen Bibel stehen.
Es weht in beiden derselbe Geist im Guten und Bösen, wissentliche und un-
wissentliche Unwahrheit und Fälschung, erschwindelte Zahlen, anschau-
liche Schilderung und glühender Patriotismus. Das erste Makkabäerbuch
ist zwar aus dem Aramäischen übersetzt, aber das eben ist das Wesent-
liche, daß die Sprache so wenig ausmacht: jüdisch ist auch das zweite;
aber diese Kultur ist ganz offenbar zweisprachig gewesen, wie denn
auch die Erzählung eine sehr viel stärkere Durchdringung der Nationen
112 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
zeiget, als den späteren Juden und den meisten Theologen genehm ist Und
mindestens die Sünden dieser Greschichtschreibung, gerade die Grreuel-
szenen im zweiten Makkabäerbuche, die am stärksten gewirkt haben,
könnten in jeder schlechten hellenistischen Geschichte ebenso stehen. Die
Einfügung gefälschter Aktenstücke ist zwar den Juden ganz besonders
geläufig, aber die Griechen verstanden das auch. Es versteht sich von
selbst, daß die nationale literarische Tradition von den Paralipomena
(der von Luther so genannten Chronik) her auch wirksam ist: gerade die
Mischung der Nationen ist ja das Wichtige für diese tieferen Schichten
des Hellenismus.
KSmUche Alexandros Polyhistor hat auch ein Buch über Rom geschrieben, dessen
Hhtoric. (jeieiij.sainkeit wahrscheinlich der Äneis zustatten gekommen ist Er muß
auch die Fabius Pictor und Grenossen ausgezogen haben, und diese kann
man wirklich nur in eine Reihe mit den übrigen Barbaren stellen, die ihre
Heimat der zivilisierten Welt bekannt machen wollen. Nur standen sie
viel ungünstiger, da Rom nur eine ganz kümmerliche Überlieferung besaß;
um so stärker drang die griechische Fabel ein. Das ward nur ärger, als
man Lateinisch zu schreiben anfing imd selbst der Grriechenfresser Cato
nach dem Muster der kticcic Origines schrieb. Das Übertragen von
griechischen Sagen (Rhea Silvia ist ja die sophokleische Tjrro) imd Herodot-
novellen, das Schwelgen in Blut und Notzucht, die tugendhaften Freiheits-
helden und die frevelhaften Junker, Tullia, Lucretia, Verginia, Tarpeiji,
das ganze falsche Pathos, an dem sich die Menschen von der Renaissance
bis zur Revolution erbaut haben, stammt ja in Wahrheit aus den schwindel-
haften Historien der hellenistischen Zeit Den Schwindel muß man brand-
marken; aber was so stark gewirkt hat, muß doch eine Potenz gewesen
sein. Und wenn wir jetzt nicht mehr Livius statt Polybios sagen, so sollen
wir den namenlosen Romanschreibem auch ihr Recht lassen, die den
Römern ihre alte Geschichte verfertiget haben.
Die Kompilationen des Alexandros Polyhistor gaben die Summe der
geschichtlichen Tradition für viele unhellenische Völker, aber in dicken
Spezialwerken, viel zu gelehrt für das große Publikum. Das Bedürfnis,
sich über die Weltgeschichte zu unterrichten, hatte schon früher be-
quemere Lesebücher hervorgerufen. Zuerst hatte die Wissenschaft das
unentbehrliche Gerüst einer Chronologie von mehr als epichorischer Geltung
geschaffen. Timaios war darin bahnbrechend gewesen; in strengster
stoithenei Wissenschaftlichkeit hatte Eratosthenes, auch mit Heranziehung des baby-
■ "" ''*'• Ionischen Materiales, das übrigens gar nicht hoch hinauft'eichte, natürlich
auch des ägyptischen, die Chronologie begründet, die seitdem im wesent-
lichen grilt, und auch die unvermeidliche Gewalttat gewagt, solche Punkte
wie den Fall von Ilios zu fixieren, und die alten Königs- und Beamten-
listen auszugleichen: er nahm an, daß die Gelehrten sich über den Grad
der tatsächlichen Wahrheit nicht täuschen würden. Der Wert seiner
Zahlen pflegt jetzt für die alte Zeit zu hoch, für die spätere (seit etwa
C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). 11. Prosa.
"3
:
600) zu gering veranschlagt zu werden. Als im Jahre 144 der bedeutendste
Grranimatiker der Zeit, ApoUodoros von Athen, einen Abriß einer Welt-
chronik (freilich nur einer hellenischen) in iambischen komischen Trimetern
herausgab, glaubte er gewiß nicht, etwas Wissenschaftliches zu leisten,
obwohl er keineswegs unselbständig war wie Arat oder Nikandros. Für
den Verfasser der gelehrtesten stoischen Götterlehre und eines historischen
Kommentars zum homerischen Schiffskatalog (ein Thema, das dringend
nach Neubearbeitung verlangt) war dies eine Kleinigkeit. Er berech-
nete es auf die gebildeten Landsleute, denn er zählte nur nach attischen
Archonten und berücksichtigte die Literatur unverhältnismäßig. Aber
erreicht hat er, daß wir durch seine Vermittelung besonders Zuverlässiges
über die Resultate der solidesten Grammatik erfahren. Denn die metrische
Form, von ihm gewählt, weil der Vers die Zahlen und Namen sicherte,
hat so sehr gefallen, daß sein Werk gern gelesen ward (für die Römer
zu Ciceros Zeit als Autorität), freilich bald in Prosa umgesetzt, weil die
Archontenliste außer Gebrauch gekommen war. Wichtiger noch war, daß
jetzt das iambische Lehrgedicht neben das hexametrische trat, namentlich
für geographische Stoffe, wo es auch viele Namen zu sichern galt. Wieder
einmal erfindet ein glücklicher Wurf den Griechen (hier auch den Römern)
eine Gattung, die bis ans letzte Ende des Altertums gepflegt ward; die ein-
zelnen Erzeugnisse dürfen hier unbesprochen bleiben.
Etwa zu derselben Zeit schrieb in Alexandreia ein Knidier Aga-
tharchides eine Weltgeschichte in zwei Abteilungen, Asien (mit Afrika)
und Europa, von der wir kaum mehr als die wichtige Tatsache ihrer
Existenz kennen. Wohl aber haben wir beträchtliche Reste einer Spezial-
schrift von ihm über das Rote Meer, unschätzbar nicht nur durch die
reiche geographische und ethnographische Belehrung (das erwartet man
so wie so bei einem Griechen), sondern auch durch die gelehrte Form-
losigkeit, mit der sich eine Vorrede über ganz disparate Dinge, nament-
lich stilistische Polemik gegen Hegesias, verbreitet, übrigens gescheit und
amüsant. Inwieweit Agatharchides Rom berücksichtigt hat, sehen wir
leider gar nicht; bei ApoUodor haben wir solche Spuren erst in einem
vierten Buche, in dem er später die Zeitgeschichte nachtrug, was aber
mindestens einige Berücksichtigung auch für das Hauptwerk beweist
Aber damit die römische Geschichte synchronistisch neben die grie-
chische träte, mußte doch erst der Osten annektiert sein. Diodoros
aus dem sizilischen Agyrion ist nicht der einzige gewesen, aber der er-
folgreichste. Die „historische Bibliothek", die er zusammenstellte und
bis zu Cäsars britannischem Zuge herabführte, war ein Buch, jeder eigenen
Wissenschaft entbehrend, reine Kompilation, flüchtig und urteilslos, aber
ungemein praktisch und nützlich. Gauz mit Recht nahm die griechische
Gelehrsamkeit keine Notiz von ihm, aber Leser hat er doch immer ge-
funden: wie würden wir es sonst haben- Wir sollen den Versuch aufgeben,
bei dem Verfasser philosophische Überzeugung zu suchen; höchst zu-
Dw KutTU» UKH CuiKNWAItT. l. B. 8
ApoUodor
(t n&ch iio).
Agittharchidcs
(um xzo).
1 14 UuucH VON WiLAMOWiTZ-MoELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
treffend hat man sein Buch vielmehr mit Webers Weltgeschichte ver-
glichen, die auch die Spuren der Verfertigung mit Kleistertopf imd Schere
nicht verleugnet imd doch für die Verbreitimg geschichtlicher Kenntnis
segensreich gewirkt hat Diodor hat übrigens keineswegs in dem Sinne
abgeschrieben wie Weber oder sein Zeitgenosse, der Polyhistor, sondern
stilistisch dem Granzen eine einigermaßen gleiche Färbung gegeben, wenn
auch zum Glück die Vorlagen auch formell unter dem dünnen Firnis seiner
farblosen Rede durchscheinen. Sehr viel höher steht der Hofgelehrte und
Niioiao» peripatetische Hofphilosoph des Königs Herodes, Nikolaos von Damaskos,
(t um chri.ti jjgj. noch in diese Periode gerechnet werden muß. Von seiner vielbändigen
Weltgeschichte haben wir noch beträchtliche Reste aus den ersten Büchern,
die besten Belege dafür, wie die ältesten Geschichten Asiens und Griechen-
lands ganz zum modernen Romane wurden; schade, daß die Christen und
Juden von seiner palästinischen Archäologie nichts erhalten haben; man
kann sich denken, weshalb. Derselbe Mann lieg^ für die Geschichte
seines Herrn der Darstellung des Josephus zugrunde, und wir dürfen nach
Maßgabe der im Original erhaltenen Stücke die Farblosigkeit der Dar-
stellung dem Bearbeiter zuschreiben: die Erzählung in ihrer Psychologie
und in ihrem Aufbau liefert immer noch mehr als bloß eine Fülle von
Tatsachen: wer Calderon den Stoff Herodes und Mariamme geliefert
hat, der ist auch als Historiker kein unwürdiger Nachfahr der Peri-
patetiker.
Biographie. Bis ZU dem Gründer der Schule, ja über ihn hinaus bis auf Piaton
müssen wir zurückgreifen, tun die Genesis einer der merkwürdigsten
Literaturgattungen zu erfassen, die der Hellenismus mit Vorliebe kultiviert,
die Biographie. Sie ist nicht vom Individuum ausgegangen, der Be-
schreibung des Lebens, das ein bestimmter realer Mensch gelebt hat,
sondern von dem Bios, der Art zu leben; der einzelne war dafür nur
ein Exempel. Piaton hatte in den Gesetzen die Stufenleiter der mensch-
lichen Lebensformen bis zu der städtisch -staatlichen Siedelung verfolgt,
wie auch wir wohl von Hirtenleben, Jägerleben usw. als Kulturperioden
reden, und im Staate die Psyche des t)T)ischen Menschen in den ver-
schiedenen Gesellschaftsformen geschildert Piaton hatte aber auch in
seinem Kritias den Versuch begonnen, in einer Dichtung den Kampf
zweier Völker darzustellen, die zwei entgegengesetzte Bioi repräsentierten.
Aristoteles hatte im Anschluß an die alten ionischen „Barbarensitten" vmd
dergleichen empirisches Material in Menge gesammelt; er beobachtete ja
auch den Bios der Tiere. Damit war das Problem der Kulturbeschreibung
und Kulturgeschichte gestellt Nach der empirischen Seite haben die
Historiker dafür in imgebrochener Kontinuität gesammelt; es sei an den
Bios der Kelten durch Poseidonios erinnert (S.109): das ist die vollkommene
Erfassung einer Volksindividualität Allgemeine Kulturgeschichte hat die
Spekulation der Philosophen oft und sehr geistreich gezeichnet (man liest
das wohl am liebsten in der epikureischen Beleuchtung bei Lucrez), imd
C. Hellenistische Periode (320—30 v, Chr.). IL Prosa.
H5
schon ein unmittelbarer, allerdings besonders selbständiger Schüler des |
Aristoteles, Dikaiarchos von Messene (Verfasser auch von besonders ge- nikaiarcho«
schätzten Dialogen), hat den Bios, die Kulturgeschichte, von Hellas, zum *""' ^"°*'
Gegenstande eines Werkes gemacht. Es ist bitter, daß man von einem
solchen Buche kaum mehr sagen kann als, es war einmal, und sehr un-
gerecht, daß wir von einem Zeitgenossen Dikaiarchs, dem Kyprier
Klearchos, sehr viel mehr aus einem Werke über Bioi besitzen, gewiß Kiearcho«
interessante Beobachtungen und Tatsachen, aber der Mann ist in Wahrheit '"" ^°°'
weder Historiker noch Philosoph, und dazu ein unerträglicher Stilist.
Natürlich hat die Betriebsamkeit der folgenden Jahrhunderte die Kenntnis
der alten Kultur stark vermehrt; aber sie haben es wohl unter Kategorieen,
Luxus der alten Zeit, Einfachheit, Tracht, Trinksitte und dergleichen ge-
ordnet, zu einer Zusammenfassung ist es dagegen nicht gekommen, und
geschichtliches Urteil fehlt ganz. Auch der Idealbilder eines Bios auf
anderen als den hellenischen Grrundlagen sind noch viele gezeichnet, rein
als Dichtung schon von Theopomp (S. 6g), dann im Anschluß an die indische
oder ägyptische oder skythische faktische oder hypothetische Welt; auch
dies wesentlich nur in der Zeit der Diadochen. Ägypter und Hyperboreer
hat Hekataios von Abdera bearbeitet, die Ägypter mit achtungswerter Lokal- lUkauio«
forschung. Längst, schon in der Sophistenzeit, hatte man nach moralischen *""" ''"'■
Gesichtspunkten die Lebensziele unterschieden und danach den Bios der
Genußsucht, der Habsucht, des Ehrgeizes aufgestellt, denen die Philosophie
als ein neues höheres Ideal gegenübertrat; aber auch dies Ziel des tugend-
haften Lebens konnte in der Vita activa und contemplativa gipfeln, Be-
griffen, die aus der peripatetischen Schule stammen. Dikaiarchos wich
eben darin von seinem Lehrer ab, daß er dem tätigen Leben den Vorzug
gab. Da lag es nahe, daß man diese Lebensarten in typischen Vertretern
darstellte. Rein als Allegorie lesen wir das bei Dion von Prusa, der
älterer kynischer Weise folgt In gewissem Sinne waren Sokrates und
Diogenes Tj^ien des wahren Weisen. Es mag wohl sein, daß der Kyniker
Onesikritos, im Leben Kapitän in Alexanders Flotte, seinen König als oncikriioi
das Ideal des ehrgeizigen oder des tätigen Lebens gefaßt hat (keineswegs '"" ^"''
um ihn zu erniedrigen); jedenfalls stellte er ihm in den indischen Weisen
die Bedürfnislosigkeit gegenüber. Derartiges wird in sehr vielen Stilen
versucht sein, je nachdem historische oder fiktive Träger gewählt wurden
und je nach der verschiedenen Wertschätzung. Es gibt ein paar sehr
langweilige und daher sehr wenig gelesene umfängliche Bücher, die in
größter Ausführlichkeit diesen Stoff behandeln. Der Jude Philon, der phUoo
nach seiner ganzen Art noch für diese Periode verwendbar ist, hat die'*"*'^'*'''''^"*
Erzväter als Träger von Bioi verschiedener Weisheit gefaßt, das Leben
Josephs als das des vollendeten Politikers, das des Moses als des Aus-
bundes aller Tugenden, König, Gesetzgeber, Priester, Prophet. In unseren
Augen sind das historische Tendenzromane, denn obwohl die biblische
Tradition dem Philon Offenbarung ist und seine Allegorie ihm erlaubt,
8»
Ii6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorkf: Die griechische Literatur des Altertums.
jede gewünschte Ausdeutung in diese hineinzulegen, scheut er sich doch
keineswegs vor zweckdienlicher Umformung imd Ergänzung der Ge-
schichten. Seine Gestaltungskraft ist nur ganz gering, und die Heiligkeit
der Tradition hemmt ihn auf Schritt und Tritt, so daß die Lektüre eine
starke Überwindung kostet Daß er auf den Gedanken gar nicht kommt,
so nahe es bei Joseph lag, eine Entwickelung seines Helden zu schildern,
darf man ihm nicht verübeln: daran pflegt die antike Biographie fast nie
auch nur zu denken.
Gleichzeitig mit dieser im Grrunde philosophischen Biographie, die
wir nur zu wenig kennen, entstand die Darstellung davon, wie ein be-
stimmter berühmter Mann, ein Lebenskünstler, die Aufgabe des Lebens
Arfatoienos gelöst habe. Wieder ist ein Aristoteliker der Pfadfinder, Aristoxenos von
(um 330). Xarent, den man sehr mit Unrecht meist nur als Musiktheoretiker rechnet
Er hatte die Verbindung mit der pjrthagoreischen Schule nie gelöst; eines
seiner Werke über diese war das Leben des Stifters, während ein anderes
den pythagoreischen Bios nicht ohne reiches geschichtliches Material
schilderte (Dämon und Phintias stammen daraus). Pythagoras war der
Weise, der Wundertäter, der Erlöser der Menschheit Ungemein wirksam
ist dieses Bild geworden; es wird uns noch später begegnen. Es muß
wirklich ein sehr reizvolles Buch gewesen sein; aber unentwirrbar liegen
für uns Dichtung und Wahrheit durcheinander. Wenn nur nicht Aristoxenos
zu Ehren seines Ideales mit hämischer Bosheit ein Zerrbild des Sokrates
danebengestellt hätte, wieder in der Form eines Bios. Damit war die
Gattung gegeben. Zahlreiche Schriftsteller, meist Peripatetiker, suchen
nun die verblaßten Bilder der alten Dichter und Weisen, auch wohl der
Tyrannen, aufzufrischen; das Volksbuch vom Leben Homers konnte ihnen
chamaiieon dcu Weg weiscn. Es ist ebenso verkehrt, Bücher, wie sie Chamaileon
(um s8o). ^Qjj Herakleia (vermutlich von seinem Landsmanne Herakleides angeregt)
z. B. über Simonides geschrieben hat, als lügenhaften Schwindel zu brand-
marken, wie alles für bare Münze zu nehmen. Den wahren Simonides
wird er uns freilich nur insofern zeichnen, als die Tradition einzelne Züge
gerettet hatte, die wir versuchen mögen, besser zusammenzuordnen; ge-
lingt es, so danken wir es doch seinen Bemühungen. In gleicher Art,
aber mit ungleich reicherem Materiale ist solche Sammelarbeit dann in
Hermippo» Alcxandreia getrieben worden, namentlich von Hermippos, dem Schüler
(um joo). (jes Kallimachos, und wenn wir »ms über Bosheit und Klatsch und Fabel
oft äi^em, die er uns berichtet, sollen wir nicht vergessen, daß es für
die Wahrheit vermutlich ersprießlicher war, er gab alles Erreichbare,
als wenn er versucht hätte, Kritik zu üben imd z. B. über Hermias von
Atameus nur eine Partei hätte zu Worte kommen lassen. Der neue
Kommentar des Didymos, der dies Exzerpt erhält, hat durchaus bestätiget,
daß er nur biographischen Rohstoff, aber ungemein wichtigen zuseimmentrug.
Wie den Apophthegmen der alten Berühmtheiten die der Gegenwart
entsprechen, so sind wenigstens in den Philosophenkreisen auch die Bioi
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). 11. Prosa.
117
der lebenden Meister von pietätvoller Hand beobachtet und aufgezeichnet
worden, leider nur vereinzelt, denn wa.s Antig-onos von Karystos, selbst
gar kein hervorragender Mann, anspruchslos und treu von den athenischen
Philosophen des 3. Jahrhunderts erzählt, hat so intimen Reiz wie weniges
sonst Wenn Polybios schon, ehe er nach Rom ging, ein umfängliches
Buch über Phtlopoimen geschrieben hat, so darf man diese Erscheinung
wohl verallgemeinern. Vermutlich auch nur für unsere Kenntnis sind
Selbstbiographieen und Memoiren spärlich. Die des Pyrrhos darf man nur
als die Edition der königlichen Hypomncmata, also als Akten, betrachten;
die des Ptolemaios Euergetes 11. wagt man nicht zu definieren. Aratos von
Sikyon hat als Selbstbiographie die Geschichte seiner politischen Tätig-
keit geschrieben, zur Rechtfertigung, die er sehr nötig hatte. Ahnliche
Tendenz hat eine Anzahl Römer der Revolutionszeit im Alter zum Schreiben
gebracht, Scaurus und Sulla; der Freund des Poseidonios, Rutilius, schrieb
seine Memoiren sogar griechisch: das war also eine anerkannte Gattung.
Auch Literaten werden sie öfter gepflegt haben, wenn es Nikolaos von
Damaskos tat. So wird es an interessantem Materiale für den Historiker
nicht gefehlt haben; nur denke man nie und nirgend an Bekenntnisse; wie
der hellenistische Men.sch in solchen Dingen empfand, kann man an Cicero
lernen, der doch auch an Redlichkeit die meisten übertrifft. Wirklich
vertraute Korrespondenzen, wie er sie mit Atticus führte, sind damals von
Grriechen schwerlich gefuhrt, sicherlich nicht veröffentlicht
Es konnte nicht ausbleiben, daß so kostbarer Stoff von geschickten
Literaten zusammengearbeitet und gefonnt ward. So hat noch im 3. Jahr-
hundert Satyros von Alexandreia Biographieen von Staatsmännern (z. B.
Philippos IL, Alkibiades), Dichtern und Philosophen verfaßt Wie das
dann durch viele Hände geht, kennen wir namentlich aus der Philosophen-
biographie. In arger Entstellung und Verdrehung lesen wir es bei Cornelius
Nepos, der doch, wo er aus eigener Anschauung schrieb, den Atticus
hübsch zu porträtieren wußte. Gewiß war das Material bereitet, waren
auch die Typen aufgestellt; Biographieen wie die Suetons waren ge-
schrieben, so daß er sich nur an die Vorbilder zu halten brauchte, die er
in der Vorrede namhaft machte: aber Plutarche vor Plutarch wird es
kaum gegeben haben.
Hier muß nun schließlich noch eine Frage behandelt werden, die
durch falsche Formulierung zu vielen schiefen Urteilen Anlaß gibt, wie
es mit dem griechischen Roman steht. Die modernen Bezeichnungen
Roman und Novelle (die in den modernen Literaturen selbst verschiedene
Geltung haben) sind hier mehrfach gebraucht, um dem Leser kurz
anzudeuten, wie er sich etwa das betreffende Schriftwerk zu denken hätte.
Aber wenn wir auch viele griechische Bücher mit einem solchen Prädikate
belegen: was diese nach der Absicht ihrer Verfasser und Leser sein
wollten und sollten, wird damit in keinem Falle gesagt Wenn man bei
einem fremden Volke nach einer Literaturgattung sucht, die es begrifflich
Aatlgonot von
Karyltot
(t n»ch US).
Ära tot
(171— HJ).
Satyroi
(um 230}.
ROBUU.
n8 UlbU-'H von Wii.amowitzMoki,i,f.ndorff: Die griechische Literatur des Altertums.
nicht Mfßkannt hat, »o darf das nichts anderes sein, als daß man sich
diinnch umsieht, durch welche anderen Gattungen die entsprechenden
litorarlHchen Bedürfnisse befriedigt worden sind. Die homerischen Rhapso-
den hnstuton ihrer illiteraten Zeit vollkommen auch das, was heute
dio Beilage der Zeitung und die Leihbibliothek dem Publikum leistet, das
weiter kaum etwas liest Die Menschen verlangen von der Literatur, daß
Hie ihren Stoff hunger stille, ihren Wunsch, sich aufzuregen und amüsieren
xu IftMPn, erfülle: es drängt sie nach der KdOopOi; tuiv toioütuiv iraOtifidTiuv.
Durum wird ihnen Menschenschicksal erzählt, das die Naiven als real nehmen,
dio anderen als möglich, oder auch als die Wirklichkeit ihrer Träume und
Wünsche. In diesem Sinne kann man also sagen, daß der griechische Roman
mit Homer anfängt Aber so meint man's mit der Frage nicht Die
meisten gehen ganr naiv so vor: unsere Unterhaltungsliteratur besteht
vorwiegend aus erfundenen Greschichten, die das Leben schildern, inner-
halb de.ssen wir stehen, oder doch einen Ausschnitt daraus, und ganz
besonders Liebesgeschichten; hatten das die Griechen auch? Oder aber
man fVagt nach der Herkunft der „Liebesgeschichte" (wie sie die
Griechen einfach nennen), die in der Kaiserzeit als Grattung besteht
und auf den modernen Liebesroman bestimmend gewirkt hat Das
»weite ist eine philologische Spczialfrage untergeordneter Bedeutung; der
ernten antwortet man am besten, indem man die Griechen die Gegen-
frage erheben läßt, „wir lesen die Dialoge des Herakleides und Menippo.s
die KonuHÜen Menanders, die Mimiamben des Herodas, die Elegieen des
Kallimachos, die Alexandetgeschichte des Kleitarchos und Onesikriios
wo habt ihr so etwas?« Es gilt also in Wahrheit diesen Unterschied
klariustellen. Da ist die Hauptsache, daß bei den Griechen, selbst in
dieser ihrer wissenschaftlichsten Zeit, der Gegensatz zwischen wahr und
erfunden lange lücht so stark war, wie ihn selbst das Volk jetzt dunkel emp-
findet. Wir verlangen von der Geschichte L'rkundlichkeit, Wahrheit Selbst
der histwrische R<Mnan stellt zwar frei erfundene Ereigfnisse und Personen in
den Mittelpunkt, aber die überlieferten Figuren, die er einführt, und die
gaiue Un^gebunjjT wnd den Hintergrund seiner Fabeln sucht er mit ernster
Arbeit nH>5fUchst streitg historisch zu gestalten, es sei deon. die Zeit wäre
sv> tVn» uttd frvmd, daß er süe wissenschaftliche Wahrheitskritik bei dem
lest^r nicht ru furchten braucht Dies galt bei den Griechen aügeoiein.
wtfil eine kvoatrvklUwvnde Kenntnis iticht verbreitet war. Nichts hinderte.
Alexander mit einer AnxauVKtenkömgirt in Verbinduref zu bringen. eir.ea
iivHt \Hier einen Säutier in ihm zu zeigen, die Hochzeit mit Rhoxane. die
ui WAhchett im wU4ea A^^hanistaa ssaccfiuxd, mit allem PS?ctp aoszusttcvc
wi*" er etwa tur die der Berwuke paßte. D» Ißstorie d*r hell^TÜsöscfaiea
iC<«t est die Tochter der ioaischen. und diese die Tochter des Epocs. Di"?
V»*schichte. die wir so »mrwtt. ;£sterta$ gaa: öjlsrwchtisr dier?*Ib*a öretea
UBB6>iichfj«^, wie die mvAische. die tur das Volk asch Geschichte war.
Ks SS« etae ^ptai aocweetdi^ Kocse<ia*as. ca6 die aecec Motiv* -ä»i
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). 11. Prosa.
IIQ
Stimmungen sich weiter in diesen Rahmen der Historie fugten. Sie hatte
längst nicht nur die Geschichten der vornehmen Personen novellistisch
ausgestaltet: die Beispiele in der Solon-Novelle, überliefert oder erfunden,
sind paradigmatische Dichtung, Atys und Adrestos auch, und die sind frei
erfunden. Selbst Xenophon kann Araspes und Panthea einführen, eine senti-
mentale Liebesgeschichte. Das ist die milesische von Antheus und der Frau
des Phobios auch, und es ist nur Zufall, daß wir sie jetzt in einer Elegie des
Ätolers Alexandres lesen, denn der entnahm sie irgendeiner milesischen
Chronik. Was Wunders, wenn die Römer der sullanischen Zeit als schlüpfrigen
Roman „Milesische Geschichte" eines gewissen Aristeides lasen und über-
setzten, so daß wir dann diesen Titel für solche Literatur verallgemeinert
antreffen. Die Milesierinnen hatten das Renommee einer bestimmten
perversen Erotik schon im 5. Jahrhundert; die Lesbierinnen das einer anderen;
Sybaritische Geschichten erzählte man sich nach der Zerstörung der Stadt
als Exempel von sinnlosem Luxus; Abdera erhielt das Renommee, das
jetzt an seinem Namen hängt, ebenfalls nach seinem Verfalle in der helle-
nistischen Zeit Wer kann noch fragen, wo die Matrone von Ephesos
herstammt? Der Orient hatte schon dem Herodot den Schatz des
Rhampsinit beigesteuert, der sogar schon viel früher in ein homerisches
Epos eingedrungen war. Und welchen Schatz alter Geschichten, den
griechischen ganz analog, besaßen nicht Semiten und Ägypter, Phryger
und Lyder? Wenn die zeithche Priorität entschiede, hätten sie den
Griechen den Roman übermittelt; Piaton schiebt ja Ägypter vor, um von
seiner Atlantis zu erzählen. Und wenn ein Verständiger auch für selbst-
verständlich hält, daß die Menschen sich das Erzählen so wenig von
einem fremden Volke beibringen lassen wie das Sprechen, so fliegt doch
der Erzählungsstoff in unbegreiflicher Weise über alle Lande wie der
Unkrautsamen. Der Streit, ob die Novellistik der späteren Inder, Perser,
Türken und dann der Okzidentalen dieser oder jener Nation eigentümlich
sei, ist im Grunde gegenstandslos. Die sie überliefern, haben Anspruch
auf die Geschichte, denn sie haben sie sich zu eigen gemacht, aber über-
nommen haben sie sie alle: ihre Heimat ist der hellenisierte Orient.
Grriechisch sind sie in dem Sinne, wie die Kultur den Namen verdient, in
der die Griechen herrschen und der Welt das Gefäß liefern, in dem sich
alle Traditionen sammeln. Jenseits des Hellenismus .stammt gewiß sehr
viel aus der älteren, namentlich semitischen Welt; aber auch ganz und
gar historische Personen der alten Griechenzeit haben sich fast bis zur
Unkenntlichkeit umkostümiert. In den sieben weisen Meistern stecken
schließlich die sieben Weisen, deren Versammlung am Hofe des Kroisos
sogar schon .vor Alexander in einem Buche fixiert war. Für den Orient
ist ja vor allen Dingen Alexander selbst das Zentrum eines Sagenkreises
geworden, und er ist auch über den Orient zu den Okzidentalen gelangt.
Es wäre eine Torheit, die Tierfabel oder besser den Apolog für „Er-
findung" von Hesiod oder Äsop zu erklären: es gibt keinen schöneren
I20 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
als den über Abimelech (Richter 9); die Ägypter hatten die Fabel
schon längst vor Abimelech: und doch ist die spätere, die moderne
Fabel äsopisch. Die „vergleichende Literatiirgeschichte" muß lernen
mit dem Hellenismus zu rechnen, der auf eine Weile den Gegensatz
zwischen Orient und Okzident aufhebt, ein See, der die Ströme der
Sonderkulturen in sich aufnimmt: als die Gewässer sich wieder teilen,
rückläufig in die alten nationalen Betten, können sie sich doch nicht in
die alten Bestandteile sondern: für sie ist der hellenistische See die Quelle
geworden.
Dies gilt von dem Stoffe; von der Form nur insofern, als es einzelne
Erzählungen sind, die verschieden gestaltet werden können; die spezifische
Bezeichnung Novellen kommt ihnen nur dann zu, wenn sie schlichte Prosa-
erzählung bleiben, und dann erscheinen sie immer frischgeformt Aber in
der Vereinzelung haben sie keine Konsistenz; daher treten sie gern gruppen-
weise in einen Rahmen, ein benannter Erzähler oder auch mehrere gegen-
einander werden eingeführt; für manches, namentlich die Aufreihung von
Abenteuern, eignet sich die Icherzählung. Dadurch tritt also eine Stili-
sierung hinzu, die sich vererben kann. Da ist es bedeutsam, daß
alle diese Formen schon das Epos kennt; in den Kyprien tröstete
Nestor den Menelaos, dem Helena entführt war, mit anderen Weiber-
geschichten; diese Form der Anreihung zur Parallele liebt auch die
Ljrrik; die Weisen bei Kroisos wurden schon genannt; außer den Apo-
logen des Odysseus gab sich die Beschreibung der Wunder des Nordens
als Selbsterzählung des Aristeas von Prokonnesos. Das setzte sich ohne
weiteres in Prosa um. Noch im 4. Jahrhundert hat Antiphanes von Berge
ReiMroman. einen Reisebericht gegeben, über den Leute wie Polybios unmöglich als
Lügenwerk schelten könnten, wenn ihn nicht viele ernst genommen hätten;
er erzählte ähnlich dem Freihetm von Münchhausen von einem so kalten
Lande, daß die im Winter gesprochenen Worte erst im Sommer klängen,
wenn die ausgestoßene und sofort gefrorene Luft auftaute. Später hat
ein gewisser lambulos, also ein Semit, einen Ichroman, Abenteuer auf
dem Indischen Ozean und seinen Inseln, verfaßt, von dem wir zufällig
hören, weil der Bericht, der auch wirklich tatsächliche Kenntnisse ver-
wertet, als ernsthafte Geo- und Ethnographie von Diodor ausgezogen ist
Dem steht es parallel, daß die Novellen am liebsten sich an die Historie
angliedern und in ihrem Rahmen hie und da erscheinen, also auch be-
sonders gern historischen Trägem angeheftet werden. Ganz entsprechend
steht es mit den umfänglichen Erzählungen, denen man dann den Namen
Roman zu geben pflegt (ob das berechtigt ist, sei hier nicht gefragt). Da
hat um 250 ein Rhetor Myron von Priene die Geschichte des ersten
HutoriKher Messcuischen Krieges erzählt, die dann in die Geschichtsbücher eindrang,
*'°°*°' wo sie noch heute zu stehen pflegt Es war alles so gut wie ganz freie
Dichtung, viel mehr noch als Ivanhoe, ganz ohne Fre3rtagsche Archäologie
und Tendenz; die Moderhetorik durfte sich frei gehen lassen. Ohne Frage
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.^. IT. Prosa.
121
hatte Rhianos trotz seinen feinen Versen viel besser den echten Ton ge-
troffen. Das erotische Element finden wir bei Myron nur in einer hoch- LiebMro«mii.
pathetischen Szene, die ohne Zweifel mit sagenhaften Motiven wirtschaftet;
da aber die Liebesnovellen so zahlreich waren und die ionischen Ge-
schichten nicht minder füllten wie das Drama und das Epos, wie hätten
sie nicht auch in solchen Büchern Platz finden sollen, die uns beliebt
Romane zu nemien. Wirklich hat sich ein Papyrusblatt aus einer helle-
nistischen Geschichte gefunden, die Ninos und Semiramis gaaz als senti-
mentale Licbesleute einführte. Umarbeitungen der Heldensage mußten
fortwährend mit erotischen Motiven wuchern: Achilleus und Polyxene als
Brautpaar, Troilos und Briseis als Liebespaar sollten das hinreichend
illustrieren. Die Geschichte der „Braut von Korinth" spielt ursprünglich
in frühhellenistischer Zeit und ist keinesfalls erst in römischer ersonnen.
Die Geschichte, die wir „vom kranken Königssohn" nennen, ist ganz früh
gar in die hellenistische Geschichte eingedrungen und hat Antiochos L
zum Helden erhalten. Der Liebesroman ist nicht erst dadurch entstanden,
daß jemand darauf verfiel, die Abenteuer statt an derEntfühnmg Medeasoder
der Heimfahrt des Odysseus an dem Faden aufzureihen, daß ein Brautpaar
getrennt wird, bis sie sich am Ende kriegen. Ganz so gebaut war der
bändereiche Roman noch nicht, den ein gewisser Antonius Diogenes ver-
faßt und „Wunder jenseits Thule" benannt hat (wir besitzen nur einen
knappen Auszug); aber unter den Schicksalen der Helden und Heldinnen
nahm doch die Liebe einen sehr breiten Raum ein, daneben fabelhafte
Geographie und wundersame authentische Kunde über Pjthagoras und
andere Weise der Vorzeit, auch eine Höllenfahrt. Die Einkleidung war
auch ein viel gebrauchter Kniff, angebliche Entdeckung eines alten
Manuskriptes in dem Grabe der Helden. Da der Verfasser das Bürger-
recht von einem Antonier erhalten hat und spätestens unter den Flaviern
als historische Quelle benutzt wird, gehört er ziemlich sicher noch in
die allererste Kaiserzeit und muß durchaus zur hellenistischen Literatur
gerechnet werden; daß er durch die Zusammenklitterung von Stoffen
sehr verschiedener, aber nirgend unbekannter Herkunft eine neue Gattung
geschaffen hätte, ist gar nicht zu glauben; in der Vorrede verwies er
selbst auf Antiphanes. Hundert Jahre früher bearbeitete ein gewisser
Dionysios, Lederarm zubenannt, Partieen der Götter- und Heldensagen,
z. B. eine angebliche libysche Mythologie, aber auch die Argofahrt; in
der Diadochenzeit schrieb Euhemeros von Messene seine „heilige Ge-
schichte", die rationalistische {die Griechen sagen pragmatische, mit dem-
selben Worte, das Polybios anwendet) Umsetzung der Göttersage in
Menschengeschichte; auch in diesen beiden Fällen ist das ernst genommen
worden, und man redet noch heute von Euhemerismus, obwohl der Mann
gar keine neue Methode erfand. Euhemeros wird allerdings tendenziös auf-
klärerisch geschrieben haben; Dionysios, der Grammatiker war, wohl nur
zur Unterhaltung; aber Diodor hat auch ihn gläubig exzerpiert. Roman
122 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
müssen wir alles dieses nennen, oder wie sonst, wenn wir mit der modernen
Gattung operieren wollen,
jodiiche Wie nennen wir endlich die Erzählungen der jüdischen Unter-
^"*"''°*"'° haltungsliteratur hellenistischer Zeit? Steht der Ahasver des Buches
Esther oder der Nabuchodonosor des Buches Daniel anders zu der Historie
als die orientalischen Könige in den griechischen Erzählungen? Und
Judith mit ihrer blutigen Selbsthingabe konnte doch wohl ohne weiteres
in einer Novellensammlung wie der des Parthenios Platz finden. Und
wenn die Einführung eines göttlichen Reisebegleiters auch zu stark
für ein „polytheistisches" Publikum gewesen sein dürfte und das erbau-
liche Element hier einen sehr starken Sondergeschmack hat: die ganze
Fabel des Buches Tobit könnte bei Antonius Diogenes stehen. Damit sollen
diese Bücher gewiß nicht ihrem Volke entrissen oder auf hellenistische
Anregung geschoben werden: sie gehören nur zur hellenistischen Literatur,
und da wäre es seltsam, nur den Beisassen der Alexandriner erfundene
Greschichten, Romane zuzutrauen. Es kommt hinzu, daß ein jüdischer
Tendenzroman gleich in griechischer Sprache verfaßt ist, der Brief
Aristeabrief des Aristcas; auf der einfaltigen Erfindung dieses Juden beruht am
(Anfanir de» iet2ten Ende der Glaube an die Inspiration der griechischen Bibel und
ihrer Übersetzimgen. Literarisch ist das recht ungebildete Buch ganz
und gar ein Roman, nar daß die Liebe keine Rolle spielen kann. Die
Briefform ergibt Erzählung in erster Person. Die Beschreibung Jeru-
salems und seiner Herrlichkeit ist ganz phantastisch, als gälte es einem
Zauberland; Indien oder Äthiopien mit weisen Priestern und fremdartigem
Kultus könnte es ebensogut sein. Der König, der die Weisen über
alles mögliche befragt und triviale Moral zu hören bekommt, könnte
ICroisos vor den sieben Weisen oder Alexander vor den Indem ebenso-
gut sein; wie denn blasse Moral hellenischen Ursprungs in Ägypten auf
den Namen Amenophis übertragen vorkommt, und eines der ältesten römi-
schen Bücher, angeblich von Appius Claudius, sie auch wiedergab, so daß
die Weisheit des jüdischen Salomo wohl nicht ohne Grrund so farblos
hellenistisch klingt. Der Aristejisbrief stammt aus dem Anfang des i. Jahr-
hunderts, sprachlich wegen der hohen stilistischen Aspirationen, die ein
Plebejer macht, in hohem Grade belehrend.
All diese Geschichten konnten in gewollter Schlichtheit (wie es von
Diogenes heißt) oder bombastisch (wie offenbar Myron) oder pretiös (wie
der Ninosroman) erzählt sein: immer gehörten sie zu der ernsthaft ge-
haltenen Prosa, ihre Absicht war zu imponieren oder zu rühren; die
Nachahmung ging, mit den Grriechen zu reden, nach der verschönernden
Satirischer Scitc. Gab es auch einen roman comtque? Ein direktes Zeugnis für
Roman, jjjgse Periode ist wohl nicht vorhanden, und davon ist wahrlich keine
Rede, daß Gargantua oder Don Quichote oder Tristram Shandy hellenische
Ahnen hätten. Aber Äsop kann doch den Anspruch erheben, dem Pfaffen
Amis und Till Eulenspiegel manche ihrer Streiche vorgemacht zu haben;
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Gir.). II. Prosa.
123
einzelne Liebesschwänke un.serer Gesamtabenteuer reichen so weit zvirück,
und das Motiv des diable boiteux, die geheime nächtliche Visitation der
Menschen in ihren Kammern, stammt aus der menippischen Satire.
Das macht stutzig-, und wer in Rechnung ziehen kann, in wie engen
Grenzen sich das hält, was wir aus der hellenistischen Zeit kennen, wird
auf diesem Gebiete nicht leicht in den Erzeugnissen der frühen Römerzeit
Neubildungen anerkennen. Auf ein anderes Problem führen die Satiren
des Petron. Dem Dichter soll wahrlich seine Originalität nicht verkleinert
werden; sein Buch wird so hoch über allen griechischen Vorlagen ge-
standen haben wie Ciceros Dialog vom Redner über den rhodischen
Rhetoren und Vergil über Nikander. Es wird dadurch geadelt, daß der
Römer auf die griechische Boheme, der homo urbanus auf die Talmi-
bildung der Augustalen, der Weltmann auf Rhetoren und Poeten herab-
sieht. Aber daß das picarische Element des Romanes ebenso griechisch
ist wie der Zorn des Priapos, die Matrone von Ephesos und der Schiff-
bruch, lehrt der Augenschein und bestätiget die Analyse. Mit vollem
Rechte hat man auch in einem bemalten Friese der casa Fnrncsma die
Illustration eines ähnlichen Schelmenromanes gefunden, der dadurch min-
destens an den Ausgang des r. Jahrhunderts v. Chr. gerückt wird. Aber
man fragt vergeblich, wie ein solcher komischer Roman ausgesehen hat,
und wo er herstammt. Die Historie versaget dafür; die kynische Manier
hat gewiß viel Verwandtes, und Petron hat die Mischung von Vers und
Prosa als menippische Satire empfunden. Aber das reicht nicht entfernt
hin, zumal die moralische Tendenz gänzlich fehlt Man verlangt nach
etwas Gemeinsamem, einer übergeordneten Gattung, auf die sowohl die
kynischen wie die einfach komischen Lebensschilderungen zurückgingen.
Das weist uns von einem Unbekatmten zu einem anderen, mißlich genug;
aber wir dürfen den Abweg in das H^'pothetische nicht scheuen, wo die
Bedeutung der Sache im umgekehrten Verhältnisse zu unserer Über-
lieferung steht
Es handelt sich hier um jene Poesie (die ja nicht durchaus an metrische voiksiümiicbe
Form gebunden ist) unterhalb des Niveaus der gebildeten literarischen ^"*'''''' "'"'
Gesellschaft, an deren Existenz oben erinnert ward (S. 85). Die feinen
Dichter verschmähen es durchaus nicht alle, für sie tätig zu sein, wenn sie
auch lieber das Niedere so in ihre Weise transponieren, wie Theokrit die
Volkslieder der Hirten und die Mimen Sophrons. Die Gesellschaft hat
auch mehr Gefallen an der derben Kost, als sie immer zugibt. Die
offiziellen Programme der Musikfeste bei den Tempeln geben diesen
Spielen kaum Zulassung {wenn auch z. B. in Delos sogar Taschenspieler
und Marionetten vorgesehen sind), aber sie geben doch der ganzen
fahrenden Gesellschaft vortreffliche Gelegenheit, sich vorzustellen, und
für manches wird sich auch Theater und Odeum geöffnet haben. Da
sind die oben erwähnten Lustigmacher aus dem Westen (S. 43), die.
wenn sie reden, so etwas wie sophronische Mimen vorgetragen haben
Sänger.
^^^^m 124 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; Die griechische Literatur des Altertums.
^^^^H müssen, aber auch Clowns, Bauchredner und dergleichen stellen. Da
^^^^1 sind die Sänger und Sängerinnen, die nach verschollenen Dichtern
^^^^B L\^sioden, Simoden oder ähnlich heißen, die Rezitatoren von Sotadeen
^^^H und lamben, die Mimologen, Ethologen, Biologen, Kinaeden (die singen)
^^^^1 und Kinaedologen (die sprechen; die Wortbildung macht den Unterschied
^^^^^ der Vortragsart überall deutlich), also Rezitatoren von Poesie und
^^^^^ Prosa. Neben diesen sehr weltlichen Gesellen erhebt sich der Areta-
^^^^1 ' löge, der die Wunder seines Gottes anpreist; freilich wird er sofort zum
^^^^1 Kinaedologen, wenn dieser Gott die große Mutter ist, wenigstens in den
^^^^V Augen der Ungläubigen. Es haben auch wirklich dramatische Possen
^H nicht gefehlt, gespielte Mimen, deren genauen Namen ein Vorsichtiger
r Sopitroi nicht wird bestimmen wollen. Ein Kyprier Sopatros hat sie in Alexandreia
^B '"" '*"'■ Phlyaken genannt; aber er dichtete auch in feinen Trimetern, noch feiner
^H als Rhinthon (oben S. 42), war also ebensowenig Volksdichter. Vorstellbar
^H ist uns das alles im einzelnen nicht; noch viel weniger gelingt es, alle
^^ Namen mit besonderem Inhalte zu füllen. Nur wenn einmal ein Dichter
[ SoudcM als Person sich heraushebt, lichtet sich das Dunkel etwas. So hat Sotades
(t ror 170). ^.Qjj Maroneia unter Ptolemaios II. das nach ihm benannte Versmaß aus
I den Liedern, die es in mannigfachen Verbindungen enthielten (namentlich bei
^^m Sappho), genommen und stichisch und rezitativ gemacht, ganz in derselben
^H Weise wie Phalaikos den Hendekasyllabus, Kallimachos den Galliambus
^H .schufen. Seine Gedichte, sehr derb und nicht selten parodisch, können
^^M im Grunde nicht anderer Art gewesen sein als die lamben und nanient-
^H lieh Hinkiamben, die nur von vornehmeren Dichtern gepflegt wurden.
^H Die Sotadeen wurden zu einer Gattung, an der die Unanständigkeit
^H haftete; der Vers, in der Tat sehr bildsam, bürgerte sich namentlich in
^"^ Ag3^ten ein und ward für allerhand verwendet, auch ganz Ernsthaftes;
I Heroda» noch der Bischof Areios hat ihn für geistliche Lieder gebraucht. Herodas
I (um »46) ^ijijgj. dessen Heimat und Person sich nur sagen läßt, daß der Name
^^L lonien ausschließt, die Gedichte genau in dieselben Gegenden wie die
^H Theokrits gehören) hat unter Ptolemaios III. den Hinkiambus für Bilder
^H aus dem niederen Leben verwandt, die er demnach Mimiamben nannte.
^H Das war eine Umsetzung in der Weise Theokrits, der ihm auch
^H vorlag; der Dorer hatte sich mühselig das verschollene Ionisch des
^0 Hipponax angelernt und würde sehr verstimmt werden, wenn er
T erführe, daß man ihn für einen Naturalisten hielte. Aber wenn er die
^K Monologe oder Dialoge rezitierte (ihn gespielt zu denken hat Sinn,
^H wenn Theokrits Adoniazusen auch gespielt sind), mußte es freilich
^H mit greller Komik geschehen, denn ihm fehlt die veredelnde Kiuist
^H ebenso wie der echte Realismus. Den Stoff, aus dem Leben der Mile-
^^ sierinncn, von Kos und Rhodos, muß ihm ein wirklicher ionischer Mimus
tjonucbe Lieder, geliefert haben. In den Liedern der Lysioden usw. lebt das „ionische
I Lied" fort, das schon Aristophanes als lasziv verschreit und nachahmt
^^^^H Wir haben eine unschätzbare Probe in dem sogenannten Grrenfellschen
C. Hellenistische Penode (320—30 v. Chr.). iff. Poesie.
125
Liede; ein verlassenes Mädchen zieht nachts vor des Geliebten Tür und
sucht ihn zu beschwören. Töne echten Gefühles fehlen nicht; damit konnte
eine Chansonettensängerin schon Furore machen. lonismen zeugen für
die Herkunft Das Versmaß schlägt die Brücke von den tragischen Arien
zu den plautinischen Cantica, und diese allein würden die Existenz von
gespielten Possen beweisen, auch wenn nicht die Analyse von Stücken
wie Casina und Stichus dazukäme. Also Plautus hat so etwas nicht nur
gespielt gesehen, sondern Libretti gelesen. Auch den dramatischen Mimus Mimui.
der Kaiserzeit, der nun wirklich diesen Namen führt, darf man nicht erst
damals in feste Form gebracht glauben; woher wäre der lateinische denn
gekommen, der in ciceronischer Zeit beginnt? Mit Philistion, der aus Asien
unter Augustus den griechischen Mimus in Rom importierte und jahr-
hundertelang ein bekannter Name für die Gattung blieb, wie Sotades für
die Kinädologie, so daß auf ihn wie auf diesen auch moralische Sentenzen
gestellt werden, können wir nichts anfangen, da wir in Wahrheit gar
nichts von ihm haben: das aber liegt auf der Hand, daß er ein Vollender,
kein Erfinder war. Dieser Mimus aber war aus Prosa und Poesie ge-
mischt: das zeigen die zwei Stücke der Antoninenzeit, die uns Oxy-
rynchos geschenkt hat, das eine die Rede eines Mimologen, als Monolog
einer eifersüchtigen Frau stilisiert, das andere ein Spiel vieler Personen,
sogar mit einer Art Chor; wie die zerstörten Verse zeigen, ist der Text
verwildert, also viel älter, die Sprache läßt den Barbaren barbarisch
reden (man merkt, wo Plautus sein Karthagisch hernahm), im übrigen
ist sie für ihre Zeit gar nicht ungebildet, nichts von Patois. Ob Petron
die Nachahmung der Vulgärsprache selbst erfunden hat, muß also noch
offen bleiben. Seine Mischung von Vers und Prosa hat hier aber eine noch
bessere Analogie gefunden als in der kynischen Weise. Endlich muß
man die karikierten oder auch nur typisch stilisierten Figürchen hinzu-
nehmen, die uns in Stein, Bronze, Ton erhalten sind, die alten Vetteln
und hübschen Mädelchen, die Dickwänste und ausgemergelten Dünnbeine,
die plumpen und die verschmitzten Sklaven, die Nubier, Lustknaben,
Pädagogen, Redner, Schauspieler. Das ist die Gesellschaft Petrons. Das
Mosaik des Dioskorides, dessen Zugehörigkeit zu den Tonfiguren er-
wiesen ist, stellt geradezu eine solche Musikbande dar. So erkennen wir
wohl, wenn auch nebelhaft, eine Sphäre, aus der mit dem komischen
Romane viel anderes hervorgehen konnte, ein Element, das der Grieche
ethologisch, biologisch nannte, dessen Wesen wir ahnen, das uns stark
reizen muß, schon als Gegengewicht gegen die repräsentative Maske, die
der Hellenismus anzunehmen liebt; aber wir können alles nur ahnen,
kaum im Nebel sehen.
III. Poesie. Von diesem Grenzgebiete zwischen poetischer imd prosa-
ischer, mündlicher und schriftlich fixierter Dichtung steigen wir endlich
empor zu den anerkannten Gattungen der Poesie; aber über die Tragödie
t.yrilL
126 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
und die gesamte musikalische L5rrik (von der uns Steine und Papyri ge-
schichtlich höchst interessante Reste beschert haben) dürfen wir hinweg-
gehen; weder in dem Fortfahren in den alten Geleisen, noch in archmstischen
Versuchen (die namentlich auch dem Satyrspiele galten) ist etwas Dauerndes
erzielt worden. Die Plejade um Ronsard hat zwar ihren Namen von einer
Siebenzahl hellenistischer Tragiker, aber es charakterisiert nur die Gräko-
manie der französischen Renaissance, daß sie diesen Nanien in einem
obskuren Winkel auftrieb, und wir wissen von den ihrerzeit vielbewunderten
Dichtem um Sositheos und Philiskos wenig mehr als Ronsard. Sie waren
vielleicht sehr geistreich, aber sie waren Epigonen: daß die hellenistische
Dichtung überhaupt epigonenhaft wäre, wird zwar oft gesagt, kann aber
nur behaupten, wer sie weder historisch noch poetisch zu begreifen ver-
steht So viel wenigstens hofft diese Darstellung zu erreichen, daß die
konventionellen Vorstellungen von dem Wesen des „alexandrinischen Zeit-
alters" in ihrer vollkommenen Nichtigkeit erkannt werden.
Lustspiel. Athen hat noch eine G«.ttung der Poesie geschaffen, die letzte, aber
in ihrer Wirkung der Tragödie fast ebenbürtig, das bürgerliche Lustspiel,
wie wir die menandrische Komödie nennen wollen, da in ihr vom Komos
gar nichts mehr ist; die Lustigkeit gehört freilich auch nicht unbedingt
dazu. Die Welt befliß sich der äußeren Wohlanständigkeit immer mehr,
und die freie Fröhlichkeit ging in der gedrückten Zeitstimmung des
4. Jahrhunderts verloren. Dabei g^ng die Produktion neuer Komödien
immer fort, und sie haben sich auch als Bücher lange gehalten, während
die gleichzeitige Tragödie rasch verkam. Vielleicht war sehr viel Reiz-
volles darunter (namentlich die Reste des Antiphanes verraten ebenso viel
Witz wie Grrazie), aber wir haben doch von der Komödie zwischen
Aristophanes und Menander keine klare Vorstellung, und es geht nicht
an, die Travestie der mythischen Stoffe und die Parodie des erhabenen,
namentlich des dithyrambischen Stiles, die in den Bruchstücken häufig ist,
als spezifisches Kennzeichen anzusehen, da solche Stücke auch im 5. Jahr-
hundert zahlreich gewesen sind und das einzige in Übersetzung erhaltene
(der köstliche Amphitryon) aus der menandrischen stammt Einen ganz
anderen Typus zeigt der plautinische „Perser", dessen Original älter als
Alexander war, eine derbe Bedientenposse; sie leitet gut von der späteren
aristophanischen Weise etwa zu Diphilos hinüber. So haben denn auch
die Grammatiker diese Komödie der Zwischenzeit die mittlere genannt,
ein Name, der weder zeitlich noch begrifflich gefaßt mehr als einen
relativen Inhalt hat Es hat eben die Grrammatik diese vielen Hunderte
von Dramen höchstens für sprachliche oder antiquarische Zwecke ex-
zerpiert; erst Menander war wieder ein Klassiker der Schule. Daß die
Byzantiner ihn (im 7. Jahrhundert frühestens) verloren haben, gleichzeitig
mit Sappho und Alkaios, ist fast unbegreiflich; das haben vielleicht
minder die Pfaffen verschuldet als die Schulmeister, denen er zu leicht
schien; Lykophron war für sie ergiebiger. Den Gegensatz zu Aristophanes
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.). III. Poesie. 127
macht gleich das Kostüm, das nun im wesentlichen dem des Lebens ent-
spricht; nur die Chargenrollen tragen karikierte Masken. Ob der Phallus
eines Tages durch die Festordnung verboten ward, ob er allmählich auf
immer weniger Personen beschränkt ward (die Bewohner des Hades in
den Fröschen haben ihn schwerlich getragen), mag zweifelhaft sein. Die
Dichter werden auch immer noch sehr Verschiedenes und sehr verschieden
gedichtet haben, fehlte doch selbst nach dem Untergang der athenischen
Freiheit das Politische nicht durchaus; aber geschichtlich bedeutend ist
nur das bürgerliche Lustspiel, und in ihm ragft Menander so stark über Meundros
alle Konkurrenten und Nachahmer empor, daß er in demselben Sinne wie (J*»— '«')
Aristophanes mit der Gattung identifiziert werden darf. Wir besitzen
immer noch allein die lateinischen Bearbeitungen, aber seit den letzten
Jahren wenigstens einige Blätter der Originale, so daß wir nun den Stil
kennen, in den wir Plautus und Terenz zu retrovertieren haben. Terenz
übersetzt mit geflissentlicher Treue, aber das Urteil Cäsars bleibt be-
stehen, daß er nur ein halbierter Menander wäre, weil ihm die vis
comica fehlte. Plautus ist ein Stern von eigenem Lichte; er hat den
Menander in das Aristophanische, besser das Epicharmische umgesetzt,
freilich für ein ungebildetes Publikum, aber ein itedisches, imd deis
italische Wesen hatte den Griechen Epicharm und Sophron nicht das
Schlechteste geliefert Der breite Strom seiner Rede, die FormenfSlle
seiner Verse, sein faschingmäßiges lautes Lachen und Hopsen würde
vermutlich den vielen auch heute besser gefallen als die vornehme Eleganz
der Originale. Aber Horaz würde über die vielen den Kopf schütteln,
und Cäsar sagte nicht tacta est alea, sondern zitierte den originalen Vers
Menanders, und Moli^re ward erst zu dem größten Komiker, den die Welt
besitzt, als er die Verskomödie über die Römer und Italiener hinaus auf
den Ton der verlorenen Originale stimmte.
Das Lustspiel ist die Tochter der euripideischen Tragödie, nicht als
Parodie, wie die Thesmophoriazusen von euripideischen Motiven leben,
sondern weil es den notwendigen Schritt tut und die Menschen der Gegen-
wart ohne mythische Vermummung einführt. Das gfriechische Drama hat
im Wechsel der Generationen den Weg zurückgelegt, der den großen
Dramatiker imserer Tage von der nordischen Heerfahrt zu Nora und
Gabriel Borkmann geführt hat Damit ist, wie Piaton forderte, die
begrifflich nichtige Spaltung in Tragödie und Komödie beseitigt; von der
Absurdität, zwischen beiden ein „Drama" zu stellen, ganz zu schweigen.
Komisch, zum Lachen reizend, braucht dann freilich die Komödie nicht
mehr zu sein. Das menandrische Original der Cistellaria ist es auch
nicht mehr gewesen als der Misanthrope. Die Captivi, deren Original
nachmenandrisch war, wirken geradezu durch pathetische Motive; der
Knecht opfert sich aus Edelmut für den Herrn, der Vater schlägt
ahnungslos den Sohn in Ketten. Menander zeigt die unverbesserliche
Menschentorheit nicht in der Verzerrung des Hohlspiegels, die durch die
128 Ulrich von WilamowitzMoellendorft: Die griechische Literatur des Altertums.
Übertreibung versöhnt, auch nicht mit der Moral predigenden Rhetorik
der Satire, sondern mit dem resignierten Lächeln des überlegenen
Humors. Das ist freilich seine Eigenart, und man soll es bei Diphilos
und Philemon nicht suchen. Denn er war gesättigt von der Bildung seiner
Zeit; .sein Auge sah mit jener theophrastischen Schärfe, die das Charakte-
ristische der Spezies an dem Menschen so sicher herausfand wie an der
Pflanze. Seine gefli.ssentliche Verfolgung des Aberglaubens {da ist er von
Tendenz nicht frei) verrät, daß er sein Jahr mit Epikuros zusammen ab-
gedient hat. Wenn nur das Leben, dessen getreues Spiegelbild er liefert,
nicht so eng und kleinbürgerlich gewesen wäre, die Menschen so ganz ohne
Idccde, einzig auf gemeinen Genuß in der Jugend, auf gemeinen Gewirm im
Alter bedacht. Es ist wahr, auch die Welt, die Augier, Dumas, Sardou
zeigen, ist nur ein enger Ausschnitt; auch hier fällt es schwer, die Per-
sonen der einzelnen Dramen auseinander zu halten, und ihr geistiger und
sittlicher Horizont ist nicht weiter oder reiner als in dem Athen Mcnanders.
Aber diese Komödien sind nicht auf die Ewigkeit berechnet, sondern jede
Gegenwart soll sich selbst den Spiegel vorhalten. Daß die späteren Griechen
das trotz Menauder nicht getan haben, sondern das attische Philistertum
ihnen ebenso notwendig zur Komödie zu gehören schien wie das Heroentum
zur Tragödie, darin offenbart sich die schlimmste Beschränkung ihrer Be-
gabung. Um so höher steigt das Verdienst des „Erfinders" der Gattung.
Das sind freilich im Grunde Sophokles und Euripides. Denn der drama-
tische Bau ist eben der der .späten Tragödie. Schon die Exposition
wird ganz in ihrer Weise gegeben; gerade die unkünstlerische Manier,
daß gleich eine Person das Notwendige dem Publikum erzählt, kehrt
oft wieder, und es geht so weit, daß sich der Träger dieser Erzählung
als ein besonderer Herr Prologus von den Personen des Dramas absondert.
So geht es dann weiter in dem Redekampfe, dem Monologe, dem a parte
Reden, der Einfuhrung neuer Personen bis zu dem oft überhasteten und
erzwungenen Schlüsse. Geblieben ist auch die Freude an der Sentenz,
nicht nur dem einzelnen allgemeinen Spruche, sondern der moralisierenden
Abschweifung. Das hat den Griechen ganz besonders gefallen; die Römer
wußten nichts Rechtes damit anzufangen {Plautus hat so etwas nicht selten
zu unausstehlichen Cantica gedehnt); den Modernsten erscheint es ganz
undramatisch. Gewiß, in das naturalistische Prosadrama gehört die Sen-
tenz nicht: aber ist nicht unser Gedächtnis voll von den Sprüchen unserer
Klassiker? Es muß nur die Weisheit sein, die von der goldenen Wolke
erhabene Sprüche tönen läßt. Man kann nicht leugnen, daß die griechische
Manier selbst bei Euripides und Menander zuweilen auch der Plattheit
das Wort gegeben hat. Ob in den Zwischenakten Tanz und Musik eintrat,
ist ungewiß und ohne Bedeutung. Das Drama selbst rechnete, von Ein-
lagen abgesehen, die wir ebensogut zulassen, nur mit der Rezitation, und
die Versmaße sind auf die des späten euripideischen Dialoges beschränkt
In der Sprache hingegen ist das Lustspiel völlig original, oder, wenn man
I
^
C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). III. Poesie.
IJ9
will, es hat die Bahnen des Aristophanes nicht verla.ssen. Diese ganz
unvergleichliche Kunst, die in der Übersetzung verloren geht, auch nur
zu empfinden, erfordert eine Vertrautheit mit der Sprache und dem Stile,
die sich nicht viele aneignen: man sieht's an dem Ergänzen der zerrissenen
Papyri. Es scheint ganz einfach die Rede des Lebens, jedes einzelne
könnte so in Prosa gesprochen werden: aber den Naturalismus bändigt
nicht sowohl der Vers, der sich scheinbar ganz von selbst einstellt,
als das Kondensieren, die Sicherheit, die nie mehr als das Notwendige sagt
(was zuzeiten ja recht viel sein darf): es ist eben darum alles natürlich,
weil es nicht naturalistisch ist Wie die Nuancierung der Personen darum
so fein sein muß, weil der Typen so wenige sind, so erfordert die Rede
die sorgfältigste Schattierung, da sie fast immer in derselben Fläche liegt
Die zweite Szene des Georgos, die erregten Rufe des Polemon in der
Perikeiromene haben doch erst ans Licht gebracht, was all die eleganten
Sentenzen nicht zeigen konnten, daß Menander ein Stilkünstler war,
der mit Archilochos und Piaton rangiert Daß Rom in der Zeit des
Polybiüs so etwas nicht einmal anstreben konnte, ist nur natürlich;
aber diese stilistische Vollkommenheit, die durch Kunst die lautere
Natur erreicht, besaß selbst das Französisch der Zeit Ludwigs XIV.
noch nicht
Das heroische Epos war beim Anfange der attischen Periode in Wahr- Kpoi.
heit tot gewesen; die Nachzügler beweisen es am besten. Es versuchten
sich mehrere an Theseiden und Herakleen, denen Aristoteles den Mangel
an Einheit vorwirft. Einige Beachtung hat nur Panyassis gefunden, ein i-iny»».«
älterer Verwandter Herodots, und der war mindestens ein halber Karer <■"" <5°>
und behandelte mit Vorliebe Sagen seiner hellenisierten Landsleute.
Choirilos von Samos versuchte es mit dem Stoffe der Perserkriege, der choiriio.
modernen Geschichte statt der heroischen, aber auch sein Erfolg war nicht '""■ *""'•
von Dauer. Am meisten gefiel die Parodie des Epos, die gegen Ende des Parodi«.
5. Jahrhunderts sogar unter die offiziellen Festspiele aufgenommen ward.
Man belustigte sich au der Übertragung des feierlich epischen Stiles auf
möglichst disparate Gegenstände, und ein athenisches Symposion des aus-
gehenden 4. Jahrhunderts, nicht ohne persönliche Spitzen (von Matron aus
dem lakonischen Pitana), i.st auch amüsant, wenigstens im Verhältnis zu
einem ähnlichen Machwerk im dithyrambischen Stile, das auf den Namen
des Philoxenos gestellt ist Aus diesen parodischen Agonen stammt am
letzten Ende der Froschmäusekrieg, der die Ehre gehabt hat, Homer ii,tr»cbon.xo.
zugeschrieben zu werden, was für ein relativ hohes Alter zeuget; ein ■"•'^>'i'-
anderer Autorname, Pigres, beruht auf falscher Kombination. Das Gedicht
hat an sich sehr geringen Wert, ist auch im Altertum kaum beachtet
worden; die Grammatiker haben nicht eiimial einen festen Text gemacht,
so daß die beispiellose Verwilderung ein besonderes philologisches
Interesse erweckt Aber seit dem 10. Jahrhundert ist es in Aufnahme ge-
kommen, da das Mittelalter die Tierfabel so überaus liebte; das hielt auch
Du KutTvn on CioiMWAiiT. LI. 9
ijo Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Arcbcltratof
(am jjc.)
Aatimachos
^^vo und sputer).
Euenot
(um 4<)o).
noch in der Renaissance an, und so hat dieser Homer eine Weile stärker
gewirkt als die Ilias.
Auch das Lehrgedicht findet keine Pflege mehr, außer in einer
Weise, die zwar durchaus mcht parodisch gemeint ist, aber doch für
unser Gefühl leicht so scheint Archestratos von Gela teilte in demosthe-
ni.scher Zeit zwei Freunden die Ergebnisse seiner gastronomischen Studien
mit, die sich so ziemlich über die ganze Welt erstreckten. Dem Sikelioten
mißfiel es, daß man bei den athenischen Symposien das Essen als Neben-
sache behandelte. Er liebte ein Diner im engsten Kreise und dazu lauter
perfekte Delikatessen; wo es das feinste Mehl gab, hatte er ebensogut
erforscht wie die Heimat der zahllosen Seefische, die damals am meisten
geschätzt wurden, und welches Stück von jedem das beste war. Das
trägt er in epischer Form, aber in unverkünsteltem Plaudertone vor, so
daß die sparsam aufgesetzten homerischen Lichter guten Effekt machen.
Er hat durchschlagenden Erfolg gehabt; noch nach hundert Jahren war
sein Gedicht (dem er natürlich keinen Titel gegeben hatte) zum Entsetzen
der Moralisten in aller Händen, und Ennius mußte es übersetzen, damit
der Geschmack der römischen Offiziere nicht zu sehr hinter dem ihrer
griechischen Kameraden zurückstünde.
Wenn man überhaupt das Epos ernsthaft erneuen wollte, so blieb
für die griechische Anschauung, der nun einmal mit der Gattung auch
Vers und Sprache gegeben war, kein anderer Weg, als die ausgeleierte
Manier zu verlassen und durch bewußte Kunst dem echten Homer nahe
zu kommen. Darin liegt, daß diese Nachahmung den Homer als Hinter-
grund ebenso voraussetzt wie die Parodie; der Dichter aber wird mit
Notwendigkeit Sprachkenner und bald Sprachforscher. Diesen Weg hat
Antimachos (um 400 und weiter tätig) von Kolophon beschritten, und wie
er aus einem Hauptsitze der homerischen Poesie stammte, war er kühn
genug, mit einer Thebais geradezu die Konkurrenz mit einem Epos
Homers aufzunehmen. Über das Ergebnis haben wir kein eigenes Urteil;
vermutlich war es wenig erfreulich; aber die Bahn war eröffnet, und
daher interessierte sich Piaton für diese Ansätze zu einem neuen Stile.
Mit der Erneuerung des Epos geht die von lambus und Elegie Hand
in Hand, da beide ja zu derselben Gattung gehören. Die Elegie war
formell nicht minder verwahrlost als das Epos, wie z. B. die Reste des
Sophisten Euenos von Paros zeigen. Auch hier setzte Antimachos ein;
der Stoff war wieder Heldensage, wenn er auch dichtete, um sich über
den Tod seiner Geliebten Lyde zu trösten, was die für die Elegie erforderte
subjektive Färbung gab. Ohne Zweifel hat es in lonien während des
4. Jahrhunderts nicht wenige Dichter dieser Art gegeben; aber auch
die Namen, die wir erfahren, sind uns kaum mehr als Namen. Das gilt
von Erinna, die schon in frühestem Alter als Jungfrau starb, und deren
episches Gedicht, die Spindel, bewundert wegen seiner eleganten Form, ims
gar nicht vorstellbar ist. Sie stammte von der kleinen Insel Telos, unweit
C. Hellenistische Periode (330—30 v. Chr.). III. Poesie.
13«
Rhodos, {die Gedichte für das kostbare Grrabmal ihrer Gespielin Baukis,
die wir von ihr haben, sind dorisch), und die südlichen dorischen
Städte, ganz in die ionische Kultur aufgenommen, spielen seitdem eine
große Rolle. Aus Rhodos stammte Simias, auch als Lyriker für den sinii«i
Kultus tätig, der sich rühmen kann, den Buchtitel „Symmikta", „Vermischte '""" ■''*'
Gedichte", erfunden zu haben (das hieß hier elegische, epische, lyrische);
aus Kos Philitas, dessen an seine Gattin Bittis gerichtete Elegieen in der pwiiu.
augusteischen Zeit geschätzt waren. Uns sind sie ganz dunkel, wichtig ("'" J""''
aber, daß bei Simias und ihm das philologische Interesse schon neben
dem literarischen steht: beide sammeln Glossen, d. h. verschollene Wörter,
vielfach, aber nicht ausschließlich für die Erklärung der alten Dichter.
In der nächsten Generation ist Zenodotos von Ephesos, der große
Textkritiker, nur noch nebenher Dichter. Hoffentlich taugten diese
Elegieen melir als die Leontion des Hermesianax von Kolophon, Horm«tUoai
aus der wir zufällig ein längeres Stück besitzen. Da birgt sich ''"° ""*•
nichtiger, mit scheinbarer Gelehrsamkeit spielender Inhalt in un-
harmonischer Form, und nur die philologische Hilflosigkeit kann es ent-
schuldigen, daß die Gräkomanie der Schlegel sich für so etwas be-
geisterte. Soviel sich erkennen läßt, sind auch die zahlreichen Gedichte
des Euphorion von demselben Schlage gewesen, deren historische Be- Euphorioo
deutung nicht gering ist, da sie zu der Ausbildung der gelehrten römischen *''* '''*
Elegie stark mitgeholfen haben und bei Nonnos und seiner Schule mehr
aus ihnen stammen wird, als wir nachweisen können. Euphorion soll am
Ende seines Lebens in Antiocheia tätig gewesen sein, würde uns also
vermuthch über dies Zentrum der syrischen Kultur etwas verraten können,
von der wir so schmerzlich wenig wissen. Seine Heimat war Chalkis, und
an einen Landsmann hat er sich nachweisüch sehr stark angelehnt, jenen
Lykophron, dessen Alexandra gemeiniglich nur gescholten wird, dafür Lykoptron
aber in den Poetiken eine besondere Gattung repräsentiert, das Mono- <J°° "»* »«*"'>•
drama. Die Sache bekommt ein anderes Gesicht, wenn man sich die j
Mühe nimmt, das Gedicht zu lesen, keine kleine Mühe, dankt es doch ^i
seine Erhaltung eben seiner Unverstand lichkeit. Weil man so viel rare ^H
Vokabeln lernen muß und eine reiche Übersicht der troischen Sagen er- ^H
hält, ist es in der Kaiserzeit zum Schulunterricht herangezogen worden, ^|
freilich nicht als Drama oder Monodrama, das ist nur Erfindung des ^H
nichtsnutzigsten Byzantiners. Lykophron war freilich Tragiker, und natür- ^H
lieh spürt man das in dem iambischen Gedichte, aber zu einem Drama ^H
wird es niclit dadurch, daß es die Rede eines Boten wiedergibt: es ist ^|
ein lambus, wie die Rede des Zimmermannes Charon bei Archilochos. ^H
Daher treffen wir in der Sprache lonismen und Vulgarismen; doch drücken ^H
ihm weder diese noch die tragischen Reminiszenzen den Stempel auf. ^H
Das tut der feierlich dunkle Orakelton, auf den der Dichter alles ge- ^H
stimmt hat. Was ihn reizt, ist das Verhüllen des Gedankens durch alle ^H
Sinnesfiguren, die es gibt, der Stil des Griphos, für den wir kein Wort ^H
132 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
haben; denn es handelt sich nicht um ein Rätsel, sondern die einfachen
Begriffe und Gedanken sind nur unter künstlicher Hülle verborgen. Es
ist im Grunde nichts anderes als die ins Ungeheure gesteigerte Metapher,
und Ansätze liefern Epos, Drama, gorgianische Rhetorik; die späte Lyrik
mehr als Ansätze. Mit dem sHle colto, dem style pricieux, dem Euphuis-
mus mag man es parallelisiereh: es ist die barocke Übertreibung des
hohen klassischen Stiles. So unausstehlich die Monotonie wird: wer sich
überhaupt darauf einläßt, wird bald ihre narkotisierende Wirkung spüren;
es ist doch Stil darin. Dabei ist das, was Lykophron sagen wollte,
einfach und groß: „der weltgeschichtliche Hader zwischen Asien und
Europa ist durch Alexander versöhnt" Es ist der Friedensgedanke des
Weltreiches, dem er noch Ausdruck gibt, als die Realisierung schon
unmöglich geworden ist Schade, daß eine ganz überzeugende Deutung
seines letzten Rätsels noch nicht gefunden ist, denn da muß eine besondere
Pointe stecken. Daß die Römer als Herren Italiens und zugleich als Nach-
kommen der Troer auftreten, dankt Lykophron dem Timaios; das Interesse
dieser Partie (die von allen mißverstanden werden mußte, die nicht das
ganze Gedicht lasen, seinen Lesern keine Schwierigkeit bereitet) ist also nur
akzessorisch, als ältestes und reichstes Exzerpt eines wichtigen verlorenen
Buches.
Ein anderes Gedicht, das man jetzt nur aus geschichtlichem Interesse
lesen kann, und das seine ganze Bedeutung, auch die geschichtliche, allein
Arato» der poetischen Form dankt, ist das des Aratos. Gleich beim Erscheinen hat
es durchschlagenden Erfolg gehabt und bald zahllose Nachahmer gefunden,
darunter keinen geringeren als Eratosthenes, so daß man eine besondere
Muse für die astronomische Dichtung erfand; von drei lateinischen Über-
setzungen haben wir Reste; was das okzidentalische Mittelalter vom
gestirnten Himmel gewußt hat, dankt es mittelbar oder unmittelbar dem
Arat, und selbst der Orient hat von dem vornehmsten hellenistischen
Astronomen, Hipparchos, nur ein Jugendwerk erhalten, weil es den Arat
erklärte. Und doch hat Stimmungswert fast nur die Vorrede, in der der
fromme Dichter sich zu dem Glauben an einen allweisen, gütigen Welt-
schöpfer und Weltregenten bekennt, aus stoischem Sinne, wie der König,
der ihm den Auftrag gab, den Himmel zu beschreiben, und im Anschlüsse
an Kleanthes, der als junger Genosse des stoischen Kreises das Tisch-
gebet, den Hjrmnus an Zeus, verfaßt hat, den wir besitzen und Arat nach-
ahmt: in Form und Inhalt gleich erhaben, ein viel zu wenig gewürdigtes
Kleinod wahrhaft religiöser Dichtung. Das übrige ist bei Arat nichts
als epische Paraphrase eines streng wissenschaftlichen Buches von Eudoxos,
dem Freunde Piatons, und einer theophrastischen Abhandlung. Der Dichter
verfügt über keine eigenen astronomischen Kenntnisse, geschweige Be-
obachtungen. Alles macht also der Stil, und dieser ist ganz entfernt von
lykophronischen Grriphen, im Gegenteil, sein Reiz liegt darin, daß alles
edel und episch, aber schlicht und geradezu ausgesprochen wird. Ganz
(um 276).
C. Hellenistische Periode (320 —30 v. Chr.;. III. Poesie.
133
sparsam kommt ein weaig homerischer oder besser hesiodischer Schmuck,
Fabehi und Bilder; Glossen sind fast ganz vermieden. Wir können ja
fragen, was soll das, denn wir haben und lesen keine solchen Gedichte.
Der Erfolg gibt die Antwort Arat hat zahllose Menschen wirklich be-
lehrt, seine Darstellung hat ihnen den StoflF mundgerecht gemacht Er
ist der Nachfolger der Sterngedichte des 6. Jalirhunderts : auch bei ihm
ist der epische Stil die allgemein verständliche Ausdrucksform. Seine
Absicht ist, wichtiges Wissen seinem Volke mitzuteilen, und die Ab-
sicht hat er erreicht. Auf dem Gegensatze von Prosa und Poesie soll
man eben wie auf allen Abstraktionen nicht reiten, wenn man die
konkreten geschichtlichen Erscheinungen begreifen will. Eine älmliche
Erscheinung, die Verschronik des Apollodoros, ist uns oben (S. 113) be-
gegnet Wie Kalliniachos dem Arat sofort gehuldigt hat, so werden wir
ihn zwar meinethalben keinen Dichter nennen, aber doch einen Künstler
und den Vertreter einer ganz gesunden, volkstümlichen Kunst Wenn
aber ein ähnliches Ziel in der Weise angestrebt wird, daß die Ausdrucks-
furm nicht nur unerquicklich für uns (viel mehr noch als Lykophron),
sondern unverständlich für das griechische Volk, also nur mit neuer Er-
klärung genießbar ist, so hört Lob, ja so hört Entschuldigung auf. Das
gilt von der Dichterei des Xikandros von Kolophon. Wir haben von ihm Nik»D<iro»
zwei Gedichte über Mittel gegen Vergiftung verschiedener Art, mühselig "" ''"'
zu lesen, leidliche, aber charakterlose Verse, dunkele, nicht einmal mehr
korrekte Sprache; der Inhalt ist nichts als Paraphrase eines sehr achtungs-
werten Spezialforschers über Gifte, des Apollodoros. Und wenn das Gedicht
verständlich wäre, der Inhalt ginge doch nur den medizinischen Spezialisten
an, und der Dichter selber verstand nichts von dem, was er in Verse
brachte. Nikander hat auch in demselben unerträglichen Stile über den Land-
bau geschrieben, Vergil aber, der ihn benutzt hat, war (ganz abgesehen
von seinen eigenen poetischen Vorzügen) geschmackvoll genug, statt des
nikandrischen den aratischen Stil zu wählen. Von einem mythologischen
Epos Nikanders, das dem Ovid für die Metamorphosen stofflich recht
viel geliefert hat, können wir formell nichts wissen: kein Zweifel, daß
auch hier das Verdienst der reizvollen Erzählung allein dem Römer ge-
hört, der an den guten hellenistischen Vorbildern des 3. Jahrhunderts ge-
bildet war. Nikander zeigt uns gerade, wie sehr auch die Dichtung des
2. Jahrhunderts schon heruntergekommen war; die Künstelei mag sich io
Kolophon freilich in dauernder Tradition erhalten haben. Übrigens scheint
Nikander einen älteren Namensvetter zu haben, der im ätolischen Delphi
tätig gewesen ist; die Sache ist noch unerledigt
Von dem heroischen Epos, das die Zeitgeschichte oder die Archäo-
logie einer einzelnen Stadt oder Landschaft behandelte, hat es immer
ephemere Erscheinungen genug gegeben; Alexander nahm selber Dichter
seiner künftigen Taten mit Wir lesen auf den Steinen, wie Dichter in
eine Stadt kommen und dafür Ehren und Lohn einheimsen, daß sie deren
134- Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
alte Sagen imd alten Ruhm verherrlicht haben. Die Kxinstrichter iti
Alexandreia schätzen das wenig, aber gerade daher nimmt es zu, als sie
nicht mehr den Ton angeben. Die römische Literaturgeschichte muß sich
damit abfinden, daß die Annalen des Ennius ebenso wie seine anderen
Poeme von der griechischen Literatur abhängen und keineswegs von
Homer, wenn er auch auf dessen Seele Anspruch erhob, weil er Hexa-
meter machte. Genau ebenso dichteten ein gewisser Demosthenes aus
Bithynien und ein gewisser Theodotos aus Sichern die Archäologie
ihrer Heimatsorte, und wenn Manius Glabrio sich für den Preis seiner
Heldentaten den Ennius hielt, so hatte Antiochos Megas zu dem ent-
sprechenden Zwecke einen Simonides. Lediglich darin, daß er lateinisch
schrieb, liegt das nationale Verdienst des Ennius: die römische Ur-
geschichte ist nicht in höherem Grade national als die von Bithynien
und Samarien. Aus dieser Menge der historisierenden Epiker muß nur
Rhiano. einer genannt werden, der Kreter Rhianos (der Name stammt von
(n™ «jo) (Jen vorgriechischen Kretern), der sich bemüht hat, einer ganzen Anzahl
bisher von der Poesie stiefmütterlich behandelter (weil unzivilisierter)
Volksstämme in Hellas eine heroische Geschichte zu schafiFen, in jener
Opposition gegen die großen Monarchieen, die politisch in den ätolischen,
achäischen, kretischen Bünden sich ausspricht. Eines dieser Gedichte, die
Messeniaka, hat sich lange erhalten und scheint auch wirklich amüsant ge-
wesen zu sein. Es erzählte die heroisierten Taten eines Räuberhauptmannes,
des Aristomenes, der um 500 auf seiner Feste Hira den Spartanern lange
widerstanden hat. Es ist wichtig, daß wir hier den Roman in Versen
neben dem Roman in Prosa anerkennen können und müssen. Das
Gedicht würde uns vermutlich sehr viel anziehender sein, als das einzige
ganz homerisch gehaltene Epos, das Erfolg gehabt hat, dafür aber auch
einen ganz überwältigenden: so viel vermochte immer noch der populäre
Aroiiooio» Stoff. Apollonios von Rhodos ist für die Argonautensage wirklich der
(j6o u. «puter). nachgeborenc Homer geworden; es schadete ihm wohl persönlich, daß die
alexandrinische Kritik seinen Versuch ablehnte; er mußte aus seiner
Heimat Ägypten nach Rhodos übersiedeln, aber er erlebte noch, daß das
Publikum ihm den Sieg zusprach und Gelehrte sich um seine Erklärung
bemühten. Dann ist dais Gedicht immer gelesen worden, mehrfach in das
Lateinische übersetzt, und hat auf Vergil stark gewirkt. Die Vergleichung
mit Vergil zeig^ am besten, was an ihm ist, denn ihr Verhältnis zu
Homer, inhaltlich und formell, ist im Grunde dasselbe. Sie fällt ganz zu
Vergils Gunsten aus; aber das venverfende Urteil des Kallimachos würde
auch die Aneis treffen, und prinzipiell hat er auch der gegenüber recht.
Was dem Apollonios vor allem fehlt, ist die poetische Potenz: er gehört
zu denen, die meinen, die Musen müßten kommen, wenn man sich nur
mühte, sie zu rufen. Für seine Handlung können wir uns gar nicht
interessieren, für seine Menschen kaum, und so oft man ihn durchliest, »^s
bleibt kein Vers, kein eigentümlicher Ausdruck im Gedächtnis, und tut es
C. Hellenisiische Periode (320—30 v. Chr.'. III. Poesie.
135
ein Gleichnis (die er geflissentlich ausputzt), so geschieht es mehr, weil es
gesucht, als weil es gefunden ist. In dem Stoffe, den er übernimmt, sind
ja reizvoUe Geschichten: darum hat ihm eben Theokrit zu Gemüte geführt,
man solle diese einzeln ausarbeiten, statt ein langes Gedicht ohne Einheit,
mit einer schleppenden Exposition und ohne Schluß zu machen. Die
ganze Verkehrtheit dieser zwitterhaften Poesie kann man daraus ab-
nehmen, daß in seiner Fabeldichtung die Donau ruhig mit einem Arme
in das Adriatische Meer geleitet wird, aber daneben die erste Hindeutung
auf den Rhein und den Bodensee vorkommt, weil er auch die modernste
Geographie benutzt hat Der philologischen Arbeit, die auf die Homer-
imitation verwandt ist, und der hi.storischen Gelehrsamkeit werden auch
seine Gegner Achtung gezollt haben, denn das trieben sie auch in ihren
Versen; aber das i.st es gerade, was uns auch an ihnen kalt läßt.
Das große Epos hat Kallimachos vor allem mit dem groQen Buche Eidyuu.
gemeint, wenn er dies ein großes Übel nannte. Er hat im Gegensatze
dazu die Parole ausgegeben, die dann durch das ganze Altertum klingt
(wenn auch oft angefochten), „klein aber fein". Was er abwies, war sowohl
der verkünstelte Stil des Antimachos, wie der zerflossene der Homeriden.
Und wenn Homer selbst als unantastbare Größe bestehen blieb, so ward
der Nachahmung um so entschiedener der Krieg erklärt Für Griechen
war da.s eine gewaltige Kühnheit, und doch ist in den eigenen Versen
des Dichters von Homerimitation genug zu finden. Denn die ionischen
Gattungen, Epos, Elegie, lambus, blieben ja bestehen: nur der Geist der
Behandlung wollte bewußt ein anderer .sein. Kallimachos war Sprach-
forscher, Gelehrter, er holte verschollene Wörter aus allen Ecken der
hellenischen Volkssprache und aus der alten Poesie. Der geborene Dorer
aus Kyrene, dem das Ionische angelernte Literatursprache war, und der
unterweilen auch Aolisches versuchte, warf dem Epos nicht nur mit feiner
Berechnung der Klangwirkung hie und da ein mundartliches Gewand
über: er sucht den Anklang an homerische Wendungen, an bestimmte
homerische Stellen, um damit Stimmung zu erwecken, meist zum Kon-
traste. Der Gegensatz von Romantisch zu Klassisch sagt viel; aber man
muß mindestens auch die Gelehrsamkeit zur Romantik rechnen, und dann
bleibt immer noch, daß Kallimachos und seine Geistesverwandten keines-
wegs aus der trivialen Gegenwart in mondumglänzte Zaubernacht und ein
frommes Mittelalter zurückstreben, sondern sich modern fühlen, auf der
Höhe einer großen Gegenwart mit Königsschlössern und Großstadtlärm,
pompöser Repräsentation und allen raffinierten Genüssen.
Die moderne klassizistische Philologie wußte lange mit diesen Pro-
dukten nichts Rechtes anzufangen, und da der Sinn fehlte, stellten sich die
Kunstworte ein, Epyllien, Idyllien, oder man kam auch mit dem klassischen
Kanon, und wenn ein Hymnus nicht homerisch klang, wohl gar in
Distichen war, so bekam er eine schlechte Note. Was sind aber auch
diese Gedichte, für die mit den alten Namen so wenig gesagft ist wie mit
136 Ulrich von Wilamowitz-Moellendortf: Die griechische Literatur des Altertums.
neuen? Eidos oder Idyll, d. i. kleines Eides, „Gattung für sich", ist schließ-
lich der beste, weil er nur sagt, man solle keinen suchen: wirklich
passend ist nur der Spezialtitel, wie ihn die Tragödie aufgebracht hat
Man weiß sofort, was die Gedichte sind, sobald man frag^, wie wurden sie
vorgetragen. Es ist alles Rezitation. Man muß sich den Dichter vor dem
Publikum stehend und sprechend denken; er könnte auch vorlesen. Das
I*ublikum kann eine große Festversammlung sein; wir wissen von solchen
Vorträgen aus den Inschriften. Da wird z. B. der Gott des Festes seine
Verherrlichung finden, der auch der regierende oder verstorbene König
sein kann. Aber wenn er will, kann der Dichter auch an Werkeltagen
seine Kunst exhibieren, „aufzeigen", wie die Griechen sagen, ganz wie es
die wandernden Sophisten taten. Und er kann es in dem kleinen Kreise
der Genossen, in der Philosophengfilde Athens, der philologischen
Alexandreias, im Salon einer Dame der Welt oder Halbwelt tun. Solche
Vorträge werden am liebsten kurz sein; dadurch heben sie sich von den
rhapsodischen des Epos ab, aber natürlich ist das nur relativ, und in dem
Wesen von Gredichten, deren jedes eine Gattung für sich ist, liegt es, daß
ihnen auch keine Länge vorgeschrieben ist Ob vollends der Dichter
später einmal eine Anzahl in einem Buche zusammenfassen wird, das ist
zunächst Nebensache; aber im Grrunde ist doch der moderne Zustand
erreicht, die Lesepoesie.
Aus einer ganz unübersehbaren Fülle besitzen wir nur sechs Hymnen
des Kallimachos und die Sammlung der sogenannten Bukoliker, die eine
Theokritos Anzahl geringerer Nachahmer mit Theokrit vereinigt, bis an den Anfang
(t&U( .80—260)- des I. Jahrhunderts herab. Theokrit aus Syrakus hat ein lebhaftes Heimats-
gefühl und verleugnet seine Rasse nicht, aber angesiedelt war er, nachdem
er Alexandreia in den Jahren 274 — 70 besucht hatte, in Kos, das zu dessen
Dependenz gehörte, natürlich nicht, ohne mit Asien und Rhodos Verkehr
zu pflegen. Versuche, äolische Lieder zu dichten, vermutlich im Anschluß
an Asklepiades, hat er zum Glück aufgegeben und seine ästhetische Über-
zeugung wohl nicht ohne Einfluß des Kallimachos gewonnen. Oft tragen
seine Gedichte persönliche Adressen wie die Elegie, und in seinem
schönsten Gedichte gfibt er ein verklärtes Abbild der kölschen engen
Kreise, in denen er sich wohl fühlte. Weltruhm strebte er nicht an und
hat er erst gefunden, als Vergil ihn nachahmte, aber nicht überwand, wie
den Nikander und ApoUonios. Und dann hat gerade dieser Weltruhm
die Züge des Theokrit völlig verzerrt Ihm ist's nicht eingefallen, die
Bukolik, die Schäferpoesie, die idyllische Dichtung in die Welt zu setzen.
Mit dem Roman des Longxis hat er so wenig gemein, wie mit dem Pastor
fido oder Gesner oder A. Ch6nier. Seine Hirten haben, selbst wenn sie
Maske sind, einen höchst natürlichen Bocksgeruch Er malt wahrlich eher
wie Teniers als wie Watteau. Wenn er eine Gattung durchaus erfunden
haben soll, so müßte es die sein, die Kallimachos auch kultiviert, die
Umsetzung der verschiedensten althellenischen lyrischen Gattungen in die
C. Hellenistische Periode fjao— 30 v. Chr.». HI. Poesie.
«37
episch-rezitative Art, Wer festhält, daß Theokrit auch in den Mimen
Epiker ist, wie das die antike Stillehre tut, der hat den Schlüssel zu
seinem Verständnis. Er greift nach einer pindarischen Erzählung vom
kleinen Herakles, er nimmt den verliebten Kyklopen des Philoxenos auf,
um einem Jugendgenossen die allzu ernsthafte Verliebtheit zu vertreiben,
er erzählt von Helenes Hochzeit, um die Hymenäen der Sappho und die
Jungfrauenlieder des Alkmaii neu erklingen zu lassen. Man kann an Uhlands
Erneuerung der provenzalischen und deutschen Lieder denken. So griflf
der Syrakusaner auch zu den Mimen seines Landsmannes Sophron. Die
mußten sich stark umfri.sieren, um dieser feinen Gesellschaft zu genügen;
ganz selten nur blieb es bei der Zeichnung des Lebens; die Zauberinnen
erhalten sentimentale Liebe.sklage zum Komplement; der Jüngling, den
verschmähte Liebschaft in den Kriegsdienst treibt, muß dem Kriegsherrn
von Kos huldigen; wir hören nicht nur die Bürgerfrauen plaudern, sondern
auch das modische Lied, das die Königin zum Adonisfeste vortragen läßt.
Der volkstümliche Wettge.sang der Hirten und das schwermütige Volks-
lied vom Tode des reinen Daphnis (einer Figur wie Hippolyto.s) bringt
auch in die.se Mimen die Lyrik. Schließlich treibt er diese Vermischung
so weit, daß er selbst als Ziegenhirt auftritt und seine Genossen in ähn-
licher Maske. Aber wie dies Gedicht nur den Rahmen für zwei Gesänge
etwas voller als gewöhnlich ausgestaltet, so schafft die Maskerade nicht
eine neue Gattung. Für ihn selb.st ist das „Lied der Kuhhirten" eben der
Kuhreigen, eine Melodie, der man verschiedene Texte unterlegen kann,
und die er wie viele andere Lieder episch nachbildet Weil diese Nach-
bildung besonders gefiel, ließ sich theokritisch dichten mit bukolisch
dichten umschreiben; aber Hirtengedichte und Idyllen in modernem Sinne
sind die Gedichte .seiner Nachfolger auch längst nicht alle, und die besten
am wenigsten. Für Vergil und durch ihn für die Nachwelt hat der
Grammatiker Artemidor, indem er um 70 v. Chr. die Sammlung „buko-
lischer Musen" veranstaltet hat, eine Gattung erfunden: für die Griechen
überhaupt nicht Theokrit hat auch für Götterfeste Epen verfaßt, ein
.schulmäßig rhetorisches für die Ptolemäen; er hat im Gegensatz zu
ApoUonios einzelne Szenen der Argonautensage ausgeführt Die Kunst ist
überall die gleiche, auch wo sie naiv scheint, ganz bewußt, wesentlich
Ge.staltung alter Motive, darin unserer Romantik nahe kommend, zumal
durch die Anlehnung an das Volkslied; aber alles, was er nimmt, rückt
*r in seine Sphäre, die Welt, in der er zu Hause ist, nicht archaisierend,
sondern modernisierend; dabei muß der Hirtensklave empor-, der Heros
herabgerückt werden. Zu Hause aber i.st er in der kleinbürgerlichen Welt
der Griechenstädte, die unter dem Schutze des Königtumes ihre Wein-
gärten bauen, ihre Gymnastik treiben, ins Theater gehen Musik zu hören,
und einen Fonds alter geistiger Kultur besitzen, so daß sie mit der
klassischen auch die moderne Poesie würdigen, zu der die Anregung
freilich von außen kommen muß, wie ihre Geschicke überhaupt in den
ijS Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
K&UimacboB
nach 345).
Zentren des großen Lebens be.stimmt werden. Theokrit konnte in der
Tat nicht verstanden werden, ehe nicht die Lokalforschung uns das Bild
seiner Umgebung wieder geschenkt hatte.
Kallimachos saß im Zentrum; seine Sphäre ist die Großstadt, der Hof,
die Akademie der Wissenschaften, die Bibliothek. Da gibt es nur künst-
liche Parks, Dünen statt der Berge, Wasserleitungen statt der Quellen;
die Götter der Hellenen sind da so fremd wie die hellenischen Menschen;
die Vergangenheit der eigenen Nation redet zu ihm nur aus den Büchern,
und Hellas kennt er von einer Studienreise wie Goethe Italien. Seine
Heimat Kyrene war selb.st afrikanisch -exotisch: sie prädestinierte ihn
zum Dichter Alexandreia.s. Mit bitteren Entbehrungen hat er sich empor-
gearbeitet; die Gelehrsamkeit nährte ihn. Er katalogisierte die Bibliothek
mit aristotelisch -enzyklopädischem Interesse, aber rein rezeptiv, soweit er
nicht für seine Poesie etwas verwandte, und da ward ihm die Gelehrsam-
keit ofl genug schädlich. Er hätte einen Lykophron übertrumpfen können
(hat sich auch einmal mit so etwas versucht), aber die platonisch- aristote-
lische Kunstlehrc hatte sein Urteil gereift: so ward er der große Dichter
seiner großen Zeit Wir können seine Lieder, lamben, Elegieen eigentlich
nicht schätzen; da er die Lyde des Antimachos scharf tadelte, muß er es
anders als dieser gemacht haben, aber inhaltlich erzählte auch er alte
Geschichten, wenn auch nicht bloß heroische, und die verschollenen
Wörter ärgern uns ebenso wie die entlegenen Mythen. Von dem Epos
Hekale wissen wir genug, um die stark „idyllische" Haltung und daneben
die kühnste Phanta.stik zu erkennen; agierten doch zum Teil Vögel. Die
Ironisierung der alten Sagen, mehr noch im Stile Voltaires als Ariosts,
ist überhaupt seine Force. Wenn er in solcher Stimmung vor den ge-
lehrten Kollegen demonstriert, wo Zeus in Wahrheit geboren ist, so sind
nur diejenigen die Pedanten, die den Schalk nicht merken: sollte er
etwa Gottvater als Baby an den Zitzen einer kretischen Geiß ernsthaft
nehmen? Natürlich wird er vor dem großen Publikum die Epiphanie seines
heimischen Gottes ganz mit der pompösen Feierlichkeit wiedergeben, die
seine Zeit für solche Feste verlanget. Wie er es dabei erreicht, in seiner
Rezitation die ganze Zeremonie vorzuführen, darunter den Gesang eines
Knabenchores, wie er die Stimmung einer Gemeinde trifft, die, von Fasten
und Wachen ermüdet, auf der Straße einer Prozession entgegensieht und
sich derweil erbauliche und grauliche Geschichten erzählt (die er durch
realistische Ausmalung wieder ironisiert), dieses Rivalisieren der er-
zählenden Poesie mit einer dramatisch fortschreitenden Handlung erzielt
Effekte, die dann die antike Poe.sie oft und gern nachahmt, nie erreicht;
in anderen Sprachen gibt es kaum etwas Vergleichbares. Gewiß ist das
eine sehr raffinierte Kunst, verständlich nur aus ihrer Umgebung und im
Zusammenhang zugleich und Gegensatze mit der älteren klassischen
Poesie. Kaviar für das Volk ist es; wer keinen Gaumen dafür hat,
mag sich an die Klassiker halten; aber was ihm nicht schmeckt, soll
C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). III. Poesie.
139
er nicht ungenießbar schelten: der Dichter hat es ja nicht für ihn zu-
bereitet.
Und doch, auch bei Kallimachos kommt das Allerbeste erst in der Epignn.«.
un.scheinbarsten Dichtung heraus, im Epigramm. Er ist nicht der Erfinder,
auch nicht der Vollender dieser Grattung, aber ihr vollkommenster Meister.
In diesen Gedichtchen, die nur ausnahmsweise mehr als sechs Zeilen
haben, beschwert ihn die Gelehrsamkeit nicht, hemmt ihn keine Konven-
tion, er darf vollkommen modern, darf ganz er selber sein. So ist denn
dies der rechte Ort, von der Gattung zu handeln, die wir allein durch alle
Jahrhunderte verfolgen können, zumal unser an sich schon reicher Bestand
alljährlich durch die Inschriften vermehrt wird. Die Anthologie, die uns
handschriftlich überliefert ist, stammt in ihrem Hauptstück aus dem
10. Jahrhundert und enthält noch Zeitgenössisches: die Tradition ist in
1500 Jahren nie abgerissen. Epigramm ist Aufschrift; in sehr großer Aus-
dehnung ist es das immer geblieben, als Weih- und namentlich als Grab-
epigramm; auch Kallimachos hat viel für den praktischen Zweck gedichtet,
und das bleibt so durch alle Jahrhunderte. Das Christentum hat im Orient
allerdings die private Grabschrift bald zurückgedrängt, aber Weih-
epigramme an Kirchen, Klöstern, Brücken und Schlössern gfibt es z. B. in
Syrien noch zahlreich, bis die Araber kommen. Wir haben gesehen, daß
der Vers zuerst nur darum gewählt ward, weil er die einzige Ausdrucks-
form war, die Stil hatte, und erst allmählich mit Redeschmuck verziert
ward, noch später das latente Gefühl aussprach, zum Ethos das Pathos
fügen lernte. Es gab sich dann ganz natürlich, daß man nicht bloß auf
einen Grrabstein oder unter ein Weihgeschenk die Veranlassung schrieb,
sondern auf einen Todesfall oder einen Sieg ein Gedicht machte, aber in
jener monumentalen Form, die immer noch die Länge und den Stil be-
dingte. Wir haben bei Theognis die Spruchdichtung kennen gelernt, die
kleinen Elegieen, die der Zecher zur Flöte rezitierte oder improvisierte,
und die alles enthalten konnten, was Situation und Stimmung eingab oder
ertrug. Auch diese Sitte blieb; mehrere Epigramme des Kallimachos
geben sich als vorgetragen im Zecherkreise, und das braucht nicht Fiktion
zu sein. Aber auch das entwickelt sich weiter; der Dichter kann in dieser
Form auf alles und jedes sein Gedichtchen machen, zumal seit er ein
schreibender Dichter ist, der gelesen werden will. So wird das Epig^ramm
geradezu das, was die moderne Theorie (deren Verkehrtheit uns hier nicht
zu kümmern braucht) das lyrische Gedicht nennt. Es gestaltet sich dem
Dichter ein inneres oder äußeres Erlebnis zum Gedichte, der Eindruck,
den eine Gegend auf ihn macht, ein schwüler Mittag, eine Sturmnacht,
aber auch ein Menschenschicksal, ein Buch und vor allem jede Regung
seines Herzens; hier kann sich Galanterie und Bosheit gleichermaßen
äußern, hier erst gibt es eigentlich die ganz individuelle Liebespoesie.
Die monumentale Inschrift, die für die Ewigkeit gesetzt ist, und
das Impromptu eines flüchtigen Momentes haben sich in derselben
140 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Form zusammengefunden: was da herauskam, mußte wohl für alles ge-
nügen.
Vielleicht bietet die japanische Poesie die vollkommenste Analogie,
die sich jeihrhundertelang in Credichtchen von fünf kurzen Zeilen bewegt
haben soll Wir mögen am ehesten das Sonett vergleichen, wie es in der
italienischen Literatur seit Petrarcas Tagen bis auf die Gegenwart an-
gewandt wird; auch die Sonette der Pamassiens würde der Ghrieche ohne
weiteres als Epigramme begrüßen und be wundem, wenn auch nicht als
Epigrramme des besten Stiles, der den künstlichen Wortschmuck ver-
schmäht. Die Sonette Shakespeares würde er schwerlich bewundem, aber
Epigramme wären sie ihm auch; sind doch zwei davon Übersetzungen
eines ganz unbedeutenden griechischen Stückes der Anthologie. Im ganzen
ist doch das Sonett immer noch zu künstlich, zu kompliziert, aus der
Lyrik abgeleitet und für Aufschrift und Inschrift zu lang. Michel
Angelo hätte sich in dem schlichten Epigramm vollkommener aussprechen
können. Bewundernswert ist auch hier die Kongenialität Goethes. Erst
tändelt er in bloßer Nachahmung, ob er gleich manche seiner ersten Epi-
gramme auf Stein schreibt Seine Elegieen bleiben auch zuerst bei der
römischen Form. Aber Euphrosyne und Alexis sind wert, der hellenistischen
künstlichen Elegie oder Epik (was ja dasselbe ist) verglichen zu werden: das
sind Eidyllia. Und sein venetianisches Epigrammenbuch kann uns am ehesten
den Reichtum eines hellenistischen solchen Buches veranschaulichen. Da-
bei hat er die Vorbilder kaum von fem gekannt Wie anders Lessing,
der an die Herausgabe der Anthologie dachte, aber in Theorie und Praxis
bei dem martialischen Genre stehen geblieben ist Gewiß, es lieg^ auch
eine Beschränktheit darin, daß sich die Grriechen jahrhundertelang eigent-
lich auf diese eine knappe Form beschränken, ihnen also das Lied fehlt
Aber ist das Lied zum Lesen denn nicht erst recht eine unnatürliche
konventionelle Form? Paßt das Versmaß von „Über allen Wipfeln" für
die Inschrift an der Wand? Jene Beschränkung ist doch die der Meister-
schaft Man verzeiht es den Römern gern, wenn ihre Versuche, solche
Epigramme nachzubilden, lange gänzlich mißlingen; man bewundert Catull,
der sich über die Härte seiner Disticha nicht getäuscht haben kann und
daher ein Maß aussucht, das zwar Phalaikos durch Normalisierung eines
alten lyrischen Verses zu einem epigrammatischen umgeformt hatte (auch
Theokrit hat es einmal angewandt), das aber der feine Instinkt der
Griechen als ungeeignet für diese Form ablehnte. Dem Catullus wird
der Hendekasyllabus ein ganz willig gehorchendes Instrument; er setzt
nicht eine Kunstübung und Bildung von Jahrhunderten, eine von tausend
Konventionen und Rücksichten gebundene Gesellschaft voraus wie die
hellenistische und die moderne: daher sind seine Gedichtchen ungleich ver-
ständlicher als die griechischen Epigramme. Dann kommt die Liebes-
dichtung der Properz und Ovid. Was ist sie? Die meisten versicheöi,
Nachbildung der elegischen Liebesgedichte der Alexandriner. Und wo
C. Hellenistische Periode (320—30 v. Chr.". III. Poesie.
141
sind die? Man muß sie sich erfinden, weil man die Vorbilder übersieht,
die man besitzt. Diese ganze Elegie ist erwachsen aus dem Epigramm,
dessen Kürze imnachahmlich war, zumal als die Rhetorik eindrang, und
die auch unwesentlich schien, da ja ihre beiden Bedingungen, die Auf-
schrift und der Trinkspruch, nicht mehr galten. Zumal wenn man sich
ein Buch Epigramme vorstellen kann, wie es die Samier und die Alexan-
driner boten, wird die Nachahmung z. B. im ersten Buche des Properz
unmittelbar einleuchten. Bewundere denn jene Verbreiterungen, wer mag.
Wer von Kallimachos kommt, wird leicht den Geschmack an dem ge-
wässerten Weine verlieren; und oft ist er statt des Wassers mit übelen
Würzen versetzt
Die elegische Form, in der allbekannten epischen Sprache wurzelnd,
im Epigramme von alters her dem allgemein literarischen und selbst dem
epichorischen Dialekte zugänglich, war dem Griechen so leicht, daß hier
wenigstens die Volkstümlichkeit dauernd erhalten blieb; forderte doch das
Bedürfnis Epigramme auf jedem Dorfkirchhofe. Natürlich bewegt sich
diese Massenproduktion in der Nachahmung der Muster, aber die Dichter
von Profession werden doch durch die Arbeit für den praktischen Gebrauch
immer wieder zur Natur und Einfachheit zurückgeführt, und die Verbindung
der poetischen Aufschrift mit dem künstlerischen Schmucke des Grabes
wird auch auf den Stil des Gedichtes von Einfluß. Nicht das Buch, sondern
das Steinmonument hat dazu geführt, auf demselben Grabe mehrere Ge-
dichte anzubringen, in dekorativem Parallelismus oder um eine Fläche zu
füllen: das ist schon bei Erinna nachweisbar; wir besitzen aber auch
solche Monumente. Damit war die Handhabe zum Variieren desselben
Motives gegeben, das später eine so weite Ausdehnung erhielt. In der
ersten hellenistischen Zeit, der höchsten Blütezeit der Kunst, hat dieses
dekorative Moment auch auf die Wahl der Versmaße eingewirkt; die
.sogenannten Technopägnien sind so entstanden (S. 90). Damals griffen
die Dichter (namentlich Theokrit) überhaupt noch zu allen rezitativen
Maßen; aber bald hat das elegische Distichon die Alleinherrschaft er-
halten (daher ist Elegeion zu elogtum, als Grrab- und Ehreninschrift,
dann zu (*logi' geworden; das Lob ist auch im Wesen römischer Zusatz).
Diese Beschränkung kann man allerdings nur als Symptom des Verfalles
betrachten, und im Distichon selbst konnte die Vollkommenheit, die Kalli-
machos erreicht hatte, wohl bewahrt, nicht übertroffen werden. Wem
einmal klar geworden ist, wie das griechische gute Distichon die Wörter
und .Satzglieder in den beiden Versen verteilt, dem klingen alle Nach-
bildungen roh oder geziert und das vielbelobte Distichon Ovids wie ein
unausstehlich monotones Geklapper. Dem Schlegelschen Mu.sterverse, der
von dem aufsteigenden und niedersinkenden Strahle eines Springbrunnens
redet (sehr fein für Ovid und Schiller), würde er gern eine Charakteristik des
wahren Distichons entgegensetzen, das seine logischen Einschnitte nicht an
den metrischen Ruhepunkten haben mag: aber das ginge nur auf Griechisch.
1^2 ULRICH VON WlLAMOwrrzMOELLENDORFr: Die griechische Literatur des Altertums.
Jener Fortschritt, daß das Epigramm der Ausdruck eines momentanen
Gefühles ward, trat ein, sobald der Mensch Fähigkeit und Neigung besafi,
sich frei zu äußern. Das ist nicht erst in dieser Periode der Fall. Piaton
namentlich hat manchmal ein Gefühl und ein Urteil rasch in einen läß-
lichen und daher reizvollen Vers gekleidet, und die Pietät seiner Jünger
bewahrte mit flüchtigen Tändeleien auch so Rührendes wie die Klage um
Dion, und so Feines wie die Charakteristik Sapphos und des Aristophanes.
Die Philosophieprofessoren überschätzen den Kollegen Piaton, wenn sie
ihm solche Allotria nicht zutrauen, weil sie selbst über so etwas erhaben
sind. Aber solche Improvisationen machen nicht Epoche. Das tat das
Askirpiad». Gedichtbuch des Asklepiades von Samos. Die Insel muß bald nach ihrer
(um .90) ggf-j-eiung von Athen (321) eine Zeit der üppigen sinnlich und geistig an-
geregten Blüte erlebt haben, wie es scheint unter der Leitung des Duris; die
Parallele zu dem Hofe des Potykrates drängt sich auf. Über eine Anzahl
von Dichtern und Dichterinnen (Hetären) ragt Asklepiades hervor als der
Anakreon des Epigrammes. Er klagt zwar über Weltschmerz, trotz seinen
21 Jahren, aber er ironisiert sich selbst und bleibt frisch und elastisch;
Wein und Mädchen füllen seine formvollendeten imd ungezwungenen Verse;
aber auch literarische Urteile gibt er ab, wie er denn dem asklepiadei-
schen Verse den Namen nur geben konnte, wenn er die lesbischen Lieder
in diesem Maße nachahmte; dagegen kann man von keinem seiner
Epigramme sagen, daß es auf einem Steine gestanden haben müßte.
So war die Bahn frei: die Studentenlyrik in der epigrammatischen Form
tritt neben die gelahrten Wälzer der ernsten Professoren. Da ist ein
gewisser Poseidippos, Nachahmer des Asklepiades, der in Athen Stoiker
werden soll, aber bald dem Flausch des Kleanthes Valet sagt, sich mit
Rosen kränzt und aus dem kleinen Athen über Kypros und Syrien nach
Alexandreia zieht Eben in den Jahren, wo auch Theokrit dort war, hat
er sein Buch herausgegeben — dann verschwindet er für uns, sei es,
daß er verkam, sei's, daß er ins Philistertum übertrat Auf ihn hat Kalli-
machos noch nicht gewirkt, der dann mit der Weise des Asklepiades die
alte Tradition der Aufschrift und die Kunsturteile Piatons vereinigt Theo-
krit macht vorwiegend wirkliche Aufschriften, höchst eigentümlich und
schön, und so gibt es der Talente viele das ganze 3. Jahrhundert lang
(besonders zierlich Dioskorides, dessen Büchlein um der Illustrationen
willen oben (S. 90) zu erwähnen war), und schwillt auch der Umfang
des Epigrammes allmählich an, dringt dementsprechend reicherer Schmuck
ein: die Leichtigkeit und Verständlichkeit und die Verbannung alles Füllsels
hält sich in dieser Schule, wenn man von Schule reden darf. Sie herrscht
in Agrypten und Asien.
L«onida. Eine ganz andere Weise kam von Westen: Leonidas von Tarent, der
(atiK »H »95) f^^ pyrrhos auch in Dodona dichtete, ist ihr Haupt Er steht zu Kalli-
machos etwa wie Euphorion. Wortgepränge, Neubildungen, Gelehrsam-
keit, die bis an den Griphos streift, wird gesucht; dafür sind Weih- und
Poieidippos
(dichtet stfo bis
ayo)
C. Hellenistische Periode (320 — 30 v. Chr.). 111. Poesie.
»43
Grabepigramm zximeist nur Fiktion; das echte Impromptu ist fast ver-
schwunden. Man hat den Eindruck, als würde bereits dem Epigrammatiker
ein Thema gestellt, wie es später üblich war. Obwohl die gesunde Kritik
nicht ausblieb und auf den Steinen zumal diese Künstelei sehr selten ist,
hat die Weise des Leonidas doch stark auf die Epigrammatik Syriens und
Phönikiens eingewirkt, die uns für das Ende des 2. und das i. Jahrhundert
am besten bekannt ist; da sie nach Rhodos und Umgegend übergreift
und von da später nach Rom, darf sie als die führende Poesie der Zeit
gelten. Antipatros von Sidon und die beiden Gadarener Meleagros (der
auch kynische Satiren wie Menippos schrieb) und Philodem (der Epikureer,
dessen Philosophika wir nicht loben konnten, S. 93) sind die Hauptvertreter.
Sie verfassen auch Aufschriften für die Steine (Proben sind erhalten) und
umfassen alle Gattungen; aber die Einfachheit ist verloren, und die immer
gleiche metrische VortrefFlichkeit kann die Manieriertheit der Sprache nicht
verhüllen. Im Grunde haben sie eben nichts Rechtes mehr zu sagen, und
wenn der Liebesfrühling wie der der Natur immer neue Lieder fordert,
das Grab, das die Liebe birgt, auch, so sollten doch die Töne, in denen
sich die ewigen Giefühle äußern, neu sein, und vor allem, sie sollten nach
dem Herzen Idingen: das ist nur noch ganz vereinzelt der Fall. Denselben
Eindruck macht alles, was wir sonst von der Poesie aus den Zeiten des
Polybios, Poseidonios, Cicero besitzen: so tief wie der Archias, den Cicero
verteidigt hat, steht übrigens kaum ein anderer. Es ist der raffinierten,
sinnlichen Kunst gewiß manches Prachtstück gelungen, wie der Adonis
des Bion von Smyma; epische Erzählung, den Balladen unserer schwäbischen
Dichter mehr als ebenbürtig, wie das Gedicht von Herakles bei Augeias,
das die Modernen für verstümmelt halten, weil sie einem Griechen nicht
gestatten, sprungweise zu erzählen. Der Isishymnus von Andros (aus der
Zeit Sullas etwa) ist unschätzbar in seiner aufdringlichen Pracht, durch
die der- Eindruck der erhabenen Offenbarung einer Allgöttin erzielt werden
soll. Ein laszives Gedichtcheu des Philodem durfte immer noch den catul-
lischen Kreis entzücken. Aber im ganzen drückt auf allem die Inhalt-
losigkeit der Imitation; die Bukoliker zeigen das erschreckend deutlich.
Auch unter den Hofdichtern des Augustus und der anderen Großen seiner
Zeit (und der Epigrammatiker gehört zu einem vornehmen Hofhalt wie
der philosophische direcieur de la conscience) ist kein wirkliches Talent;
bei den meisten, auch dem weitaus geschicktesten Krinagoras von Mytilene
geht sogar die Kunst des Versbaues stark bergab, die dann auf immer
verloren ist Der Dichterkreis, der in den lateinischen Priapea zu uns
spricht, besitzt sehr viel mehr frische Grazie, obgleich er zum Teil über-
setzt Und so denn überhaupt Diese Griechen, Philodem an der Spitze,
und dann Parthenios von Nikaia, der, soviel wir sehen, dem Stile des
Euphorion folgt, haben nur noch die Mission, der werdenden römischen
großen Poesie Handlangerdienste zu leisten. Diese aber schwingt sich mit
frischer ICraft über das Hellenistische zum Klassischen. Das ist ihr unsterb-
Dic (ihönlkitcbe
Schule
(ijo— 60).
Kiihymnus
(vor 64).
Krinagonu
(tSUj
45 — 1 n. Chr.l.
l'arthenio«
(um 50 V. Chr.).
144 Ulrich von Wiu\howitz-Moelleni>ORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
licher Ruhm; aber es sollte sich von selbst verstehen, daß die Nachwirkung
der unmittelbaren Lehrer nicht fehlen kann. Bei Vergil und Tibull (der
doch mit Absicht und Erfolg der althellenischen Elegie zustrebt) gibt
das jeder zu: die Aufgabe, bei Horaz die epigrammatischen Motive zu
verfolgen, ist noch nicht gelöst Dazu muß freilich die hellenistische
Poesie erst selbst verstanden werden, womit es leider noch gute Wege hat
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.).
I. Klassizistische Reaktion. Mit dem Untergange des Hellenis-
mus ändert sich die Grundlage unserer Literaturkenntnis, muß sich also
auch die Behandlung ändern. Während der radikale Umschlag des Gre-
schmackes die Prosa der letzten drei Jahrhunderte vor Christus so gut
wie ganz und auch die meiste Poesie dem Untergange geweiht hat, ist aus
den folgenden dreien an griechischen Büchern lediglich dem Volimien
nach mindestens doppelt so viel erhalten als an lateinischen von Plautus
bis Lactantius. Schwerlich wird ein bedeutender Schriftsteller dieser Periode
ganz verloren sein, wenn auch zurzeit die Rekonstruktion von vielen
kaum begonnen hat Auch in die tieferen Schichten des literarischen
Lebens gestattet die christliche Literatur, nicht allein, aber vorwiegend,
einen Einblick, deren in jeder Hinsicht verwerfliche Absonderung min-
destens im Prinzip aufgegeben sein dürfte. Übrigens hat die sonst für
die literarische Schätzung fast ganz unfruchtbare Behsmdlimg durch die
Theologen (die Philologen verschmähten aus klassizistischem Dünkel das
„biblische Griechisch") doch einen großen Vorteil: sie scheidet die
Sprachen nicht, weil eben das Christentum „katholisch", universell ge-
wesen ist wie das Weltreich. In der Tat ist dessen Kultur einheitlich;
nicht nur die griechischen und lateinischen, sondern mindestens auch
die syrischen Bücher gehören eigentlich alle zusammen, und wohl noch
manches andere. Die griechische Literatur ist keineswegs die der griechi-
schen Untertanen Roms, auch nicht die der Osthälfte des Reiches, deren
Geschäftssprache griechisch ist, sondern die weitaus größere Hälfte der
Literatur des doppelsprachigen Weltreiches, und in ihr hat die Hauptstadt
gerade während der ersten Zeit einen so dominierenden Einfluß, wie ihn
niemals eine der hellenistischen Städte gehabt hatte. Auch der Wille
oder Geschmack der Kaiser hat sehr viel stärker eingewirkt als irgend-
ein griechischer König. So kann die Darstellung hier im Gegensätze zu
der vorigen Periode im wesentlichen die zeitliche Abfolge einhalten. Nur
eine zusammenfassende Betrachtung muß doch vorausgehen, eben die der
radikalen Umkehr in Sprache und Stil.
AHiiUmu». Selbstverständlich hatte man nie aufgehört, die attischen Prosaiker
zu studieren, weil sie vortrefflich und insofern vorbildlich waren. Aber
an Reproduktion, an Nachahmung hatte niemand gedacht Wir finden
das auf dem Gebiete der Skulptur schon im 2. Jahrhundert v. Chr. in den
D. Römische Penode (30 v. Cht. bis 300 n. Chr.). I. Klassizistische Reaktion. i^^ ^^M
sogenannten neuattischen Reliefs; das entspricht aber dem attischen Stile, ^H
den Tragödie und Komödie immer verlangten: das hellenistische Athen, ^H
soweit nicht Fremde dort philosophieren, zehrt bereits allein vom alten ^H
Erbe; es spielt dafür auch in der Weltentwickelung keine Rolle. In der ^H
Poesie waren freilich die alten Gattungen und Formen, auch die sprach- ^|
liehen, kanonisiert; nur der Geist war ein modemer. Die Grammatiker ^|
mochten ähnlich auch über den alten und den neuen Stil in der Prosa ^H
urteilen; aber das waren Werturteile, wie sie der Franzose oder der ^H
Deutsche von Geschmack heute ebenso aussprechen kann. Der Klassi- ^|
zismus, den wir in der ciceronischen Zeit sein Haupt erheben sehen, ^H
mit seiner fanatischen Feindschaft gegen alles, was wir spezifisch helle- ^H
nistisch nennen, ja gegen alles, was nicht ganz streng und einfach scheint, ^H
so daß selbst Piaton befehdet wird, ist etwas ganz anderes. Er kommt ^H
aus dem Gefühle heraus, daß der Hellenismus abgewirtschaftet hat, die ^|
Klassiker aber nicht, vielmehr ihre ewige Bedeutung gerade jetzt be- ^H
währen. Rom, das nun seine eigene Rede und Dichtung zu klassischer ^H
Höhe führt, mußte diesem Gefühl erst zum lebhaften Ausdrucke, mußte ^H
dann der Tendenz, zurück zu den alten Mustern, zum Siege verhelfen. ^H
Man kann die Bedeutung dieses geschichtlich vollkommen begreiflichen, ^H
von den besten Leuten bewirkten und doch geradezu verhängnisvollen ^H
Bruches mit der Geschichte nicht hoch genug schätzen. Jeder Fortschritt, ^H
jede Entwickelung ist damit prinzipiell negiert. Das gilt für alle Gebiete, ^H
politisch, historisch, ästhetisch. Daher widerstrebt es dem modernen ^H
Wesen, das mit jenen Begriffen vielleicht übertriebenen Kultus treibt, von ^H
Grund aus; innere wahre Sympathie kann hinfort nur erwecken, was im ^H
Widerspruch zu dem herrschenden Kredo der „Welt" emporwächst, denn ^H
nur dieses ist gewachsen: die ganze griechische Literatur ist hinfort etwas ^H
Gemachtes. ^H
Deis gilt vor allem von der Sprache. Indem sie mit Gewalt attisch AuiiutUci.«
gemacht wird, ist ihr jede Verjüngung durch die lebendige Volkssprache ^p""^*" 1
versagt: dafür kann sie allerdings in der gelehrten und gelernten Form ^J
unbegrenzt dauern; sie tut es ja noch heute. Natürlich konnte sich ^H
die Umkehr nicht mit einem Schlage vollziehen; es waren etliche Gene- ^H
rationen nötig, bis die Schulen der ganzen Welt das korrekte Attisch ^H
lehrten; aber die Abkehr von der hellenistischen Manier geht überraschend ^H
schnell, und wenn der Mechaniker Heron (durchaus ein Banause, dessen H*roo
Bestes von seinen hellenistischen Vorlagen stammt) unter Claudius noch '""■ ** "' *''"*'
ganz vulgär schreiben kann, so würde das unter Traian schon unmöglich
sein. Wer sich deutlich machen will, wie gewaltig der Abstand der Stile J
ist, der lese einmal nebeneinander die Sammlung Liebesnovellen, die Par- ^H
thenios für Cornelius Gallus, also etwa um 40 v. Chr, verfaßt hat, allerdings ^H
in sehr pretiös hellenistischer Prosa, die absichtlich das Rhetorische meidet ^H
(wer hypomnematische Formlosigkeit in ihr findet, keimt die hellenistische ^M
Manier wenig), und die erschreckend inhaltsleere, aber ganz soi^am stili- ^H
Uli KULTim DEK GiCENWAKT. L 8.
to
146 Ulrich von Wilamowttz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
sierte Schrift über die Pflichten des Feldherm, die ein gewisser Onesandros
um 50 n. Chr. an den Konsulat M. Vinicius gerichtet hat, attisch periodisiert
{an Xenophon kein Gedanke), lüatuslos, ohne Kadenzen. Erreicht ist die
Rückwälzung der Sprache durch die angestrengte Arbeit der Grammatik,
die nun einen gelehrt sprachlichen Unterricht mit Lehrbüchern und Lex.iken
nicht ohne zusammenhängende Forschung erteilen mußte und immer
schwerere Arbeit bekam, je mehr die zurückgestoßene Vulgärsprache nun
verwilderte. Das Grundbuch aller Grammatik, das um 100 v. Chr. Dionysios
Thrax in Rhodos verfaßt hatte, diente noch durchaus der Vorbereitung für
die Lektüre der alten Schriftsteller: jetzt hieß es die Menschen ebenso
altertümlich reden und schreiben lehren, ihnen den Dual beibringen,
Flexionen, die Aristarch bereits im Homer als merkwürdig bezeichnet hatte,
den Optativ, der schon im 2. Jahrhundert n. Chr. aus der Volkssprache
verschwunden ist: mit all dem werfen die Literaten je länger desto lieber
um sich. Schon unter Augustus schreibt Tryphon ein Onomastikon, also
ein Verzeichnis der guten Wörter; er schreibt auch über Syntax. Gute
Wörter sind damals noch Wörter, die überhaupt aus der klassischen Zeit
belegt sind; dafür gab es schon ältere Sammlungen, z. B. von Aristophanes
von Byzanz, die aber zur Entscheidung von Echtheitsfragen angelegt waren.
Seit Hadrian steigert sich der Klassizismus zum Archaismus; die alte
Komödie muß jetzt besonders herhalten. Die Parodieen des damaligen
Fanatismus übertreffen kaum die Wirklichkeit: der Attizist des Athenäus,
der beim Diner einen Leckerbissen vorübergehen läßt, wenn er nicht den
echt attischen Namen samt einem lexikalischen Belege erfährt, ist ganz
glaublich. Man muß bei Phrynichos lesen, wie diesem Gecken Meuander ein
zweifelhaftes Griechisch schreibt, daneben auch welche Barbarismen er den
Größen des Tages aufmutzen kann. Die Forderung ist stärker, als wenn
man den Italienera heute zumutete, kein Wort zu brauchen, das nicht vor
dem Sturze der Republik Florenz belegt wäre. Es geht dann noch weiter:
die Sucht nach dem Alten verführt dazu, das Poetische, weil es alt ist,
in die neue Prosa aufzunehmen, erst aus den attischen Dichtern (die
Tragödie beuteten gewisse Leute schon im 2. Jahrhundert aus), dann gar
aus den alten Lyrikern. Allerdings geht neben dieser Richtung, für die
Philostrats Gemälde und Himerios, der Lehrer Julians, genannt seien, eine
streng attische, die von den besten Stilisten, Aristeides, Lukian, ganz be-
sonders noch im 4. Jahrhundert von Libanios und seiner Schule, mit Erfolg
vertreten wird. Und natürlich protestieren immer maßvollere Leute gegen
die Übertreibungen: aber gerade sie, Plutarch z. B. und Galen, sind doch
von dem Hellenistischen viel entfernter als der Klassizist Dionysios von Hali-
kamaß, weil dieser noch in ihm erzogen war. So viel hat die Schule
ausgemacht. Au den volkstümlichen Schriften ist Ahnliches zu bemerken;
man vergleiche etwa die Martyrien der Christen von Lyon und des Poly-
karp mit Paulus und dem Wirbericht der Apostelgeschichte. Freier steht
nur die wissenschaftliche Sprache, die von alter Terminologie durchsetzt
I
H
_M
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). I. Klassizistische Reaktion. i^y
Stil.
ist Im 3. Jahrhundert, als die Zersetzung der gesprochenen Rede des Volkes
schon sehr weit geht, bahnt sich dann die ganz und gar konventionelle
■Gemeinsprache an, die seitdem bei den meisten Griechen (wenn sie nicht
«twas ganz Rhetorisches schreiben) herrscht, aber doch keineswegs mehr
rein attisch ist. Man gewinnt durch die Praxis wohl ein Gefühl für die
sprachlichen Unterschiede, aber wissenschaftlich erfaßt ist diese ganze Ent-
wickelung noch längst nicht Kein Wunder: vor 30 Jahren konnten die
angesehensten Sprachkenner einem farblosen späten Machwerk wie
der apollodorischen Bibliothek nicht einmal ansehen, daß das nicht helle-
nistisch wäre. Jetzt schwanken sie in der Ansetzung von Schriften der
Kaiserzeit um Jahrhunderte, was hoffentlich der nächsten Generation ebenso
unbegreiflich sein wird wie uns die Blindheit unserer Vorgänger.
Dies die Wortwahl; sie ging wesentlich den Grammatiker an; die AiüiistUcher
Wortfügung, der Stil ist das Reich des Rhetors, und der war und blieb
der führende Mann. Der Betrieb des Unterrichtes ändert sich nicht
wesentlich {vgl. S. loi); auch die Lehre von der Erfindung und Disposition
bleibt im Grrunde dieselbe; der Versuch, ein ganz starres, angeblich
klassisches Schema der Gerichtsrede aufzuzwingen, mißlingt; das versuchte
bezeichnenden,veise in Rom der Lehrer des Augustus, ApoUodoros von
Pergamon. Es handelt sich also wesentlich um den Ausdruck, und da ja
Nachahmung der Alten die Parole ist, kämpft man nach Überwindung
des Hellenistischen (in Rom sagte man als Gegensatz zu attisch eine
Weile asianisch) um die Auswahl unter den Klassikern: die Anweisung
zur Imitation ist zugleich die zur Lektüre.
So entstehen die kritisch-ästhetischen Schriften über einzelne Klassiker
und die zusammenfassenden Übersichten der für die allgemeine und spezielle
Bildung des klassizistischen Rhetors notwendigen oder empfehlenswerten
Lektüre. Die Modernen haben diese Rhetorenlehre, die ihnen namentlich
in der gefälligen Bearbeitung Quintilians entgegentrat, nur zu lange als
maßgebende Grundlage der griechischen Literaturgeschichte behandelt, süikriHjch»
und noch immer werden die epigrammatisch zugespitzten Kunsturteile ^^ ""''*•
weitergegeben, die bei jenen Rhetoren und auch heute nur zu oft nicht
nur eigenes Urteil, sondern auch eigene Kenntnis ersetzen. Ein Glück,
<laß über die Dichter zumal die Grrammatiker und schon vor diesen die
erste Generation der Peripatetiker die Losungsworte ausgegeben hatten.
Ein größeres Glück, daß die peripatetische Lehre, namentlich des Theo-
phrast, die auch die hellenistischen Rhetoren nicht vergessen hatten, nun
erst recht zur Geltung kam: sie erkannte mehrere Stilgattungen an und
schlug wenigstens jenen engen Attizismus nieder, den Cicero für das Latein
■durch die Lehre und noch erfolgreicher durch die Tat überwunden hatte.
Die attischen Redner wurden erst jetzt als solche musterhaft (selbst ein
Andokides und Isaios); das Interesse des Schulredners und seiner fingierten
Oerichtsreden fixierte die Zehnzahl, in der diejenigen vereinigt wurden,
von denen es Gerichtsreden gab, so daß die für die Stilgeschichte Wich-
148 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
tigsten, Thrasymachos und Gorgias (freilich auch keine Athener) draußen
blieben. An den Rednern mußten nun die Rhetoren beweisen, ob sie
mehr verstünden als Worte zu machen: die Kritik der chaotisch vor-
liegenden Schriftenmasse und die historische Forschung über die Per-
sonen und ihren Nachlaß war zumeist noch zu leisten. Sie haben nach
der literargeschichtlichen Seite gar nichts getan; ob sie etwas geben und
was, hängt ganz von der alexandrinischen Arbeit der kallimacheischen
Schule ab. In den Fragen der Echtheit kommen sie über subjektives
Meinen nicht hinaus, imd wenn sie etwas Richtiges finden, danken sie
das lediglich dem allerdings hochentwickelten Stilgefühl. Die gleich-
zeitige Grrammatik verstand es freilich auch nicht besser, wie Did3rmos
UioD7>ios von zeigt Damit ist über Dionysios von Halikamaß abgeurteilt, der uns
"*('t5^™** allein die Theorieen des römischen Klassizismus der augusteischen Zeit
30-« V. Chr.). vorträgst Es ist ein hohes Lob, daß er im Grunde dieselbe stilistische
Überzeugung vertritt wie Cicero, und wir sind ihm für die Erhaltung von
ungemein viel Wichtigem zu Dank verpflichtet; seine Schriften über die
attischen Redner und über die Wortfügung sind auch eine nicht niu: be-
lehrende, sondern gefallige Lektüre. Aber das Beste in allem gehört
nicht ihm; einem Thukydides und Piaton steht er, selbst wenn man die
beschränkt stilistische Betrachtungsweise zugibt, trotz allem Dünkel
geradezu hilflos gegenüber, und mit dem Versuche, nach dem neuen
klassizistischen Rezepte Geschichte zu schreiben (das Rezept war im
eirunde das alte der isokrateischen Schule), hat er nur das unausstehlichste
Geschichtsbuch zustande gebracht, das in griechischer Sprache existiert;
wie denn überhaupt die Versuche dieser Kritiker, etwas Eigenes zu produ-
zieren, vöUig gescheitert sind. Selbst als Lehrer imd Deklamatoren be-
kamen sie nicht die Führung. Leider bleibt ims der Mann nur ein Name,
der die Schulpraxis des Hellenismus mit dem neuen Stile versöhnt zu
Theodoros haben scheint, Theodoros aus Gadara, der in Rhodos lehrte, also an dem
(anwr A "^ tÜs) einzigen Orte, der noch als Zentrum dieser Bildung in Betracht kam, und
der Rom gegenüber die Tradition erhalten konnte. Ein Schüler von ihm
Die Schrift hat das schönste stilkritische Buch der Griechen verfaßt, die Schrift über
oTfj'l'chr) ^^ Erhabene (das Pathetische trifft besser zu), die, aus Verlegenheit auf
die Namen des Dionysios oder des Longinus getauft, unter dem letzteren
berühmt geworden ist Sie wendet sich gegen den Sikelioten Cäcilius,
einen offenbar höchst energischen, kenntnisreichen und betriebsamen Rhetor,,
der aber ein allzu fanatischer Attiker war, so daß seine Bücher ver-
loren sind. Die Gegenschrift hat ihren Stoflf zum überwiegenden
Teile von ihm übernommen, aber sie führt von sich aus ins Feld»
was man bei einem Griechen so selten findet, das Gefühl für das Ur-
sprüngliche, Unbewußte, das Naturgroße: das hat der Mann bei keinem
Rhetor gelernt; philosophische Bildung ist unverkennbar. Er hat denn
auch das bittere Gefühl, in einer verkümmerten epigonenhaften Welt zu
leben: der Weltfrieden des Kaiserreiches ist für diese freie Grriechen-
D. Römische Periode (30 v. Oir. bis 300 n. Chr.). I. Klassizistische Reaktion. 14g
Herraogenei
(um 170).
Seele nur der eines Käfigs, wie für die seines jüdischen Zeitgenossen
Paulus.
Aus dem Ende des 2. Jahrhunderts, also als das Hochgefühl der
klassizistischen Restauration dicht vor dem Zusammenbruche am lautesten
ist, stammt das höchst lesenswerte Buch des Hermogenes von Tarsos
über die „Ideen", wie er (nach Isokrates, beileibe nicht nach Piaton)
die Formen oder Gattungen des Ausdruckes benennt (das Buch von
der Methode der besten Form, die er beivötiic nennt, gehört auch
dazu). Dies System muß einmal sorgfältig erläutert werden, denn nicht
ohne Grund haben spätere Philosophen danach Rhetorik lehren mögen;
es wird auch den besten Schlüssel abgeben, um dahinter zu kommen,
welche Wirkung die Stilkünstler mit den oder jenen Ausdrucksformen
bezweckten, und zugleich, was sie bei ihnen empfanden, wenn sie
sie bei den Klassikern zu bemerken glaubten. Die Charakteristik der
wichtigsten Prosaiker folgt ja auch hier, und zwar vorwiegend aus
selbständiger, allerdings ganz ungeschichtlicher Auffassung. Hermogenes
(den Philostrat mit unglaubhafter Bosheit behandelt) ist kein bloßer Nach-
beter, so sehr ihn das Prinzip der Nachahmung der Muster beherrscht,
aber gerade darum nicht ganz leicht zu verstehen. Auch aus dem
praktischen Schulbetriebe sind wenigstens ein paar sehr belehrende Bücher
erhalten, die Progymnasmen eines gewissen Theon, die von der Weite
der Lektüre in diesen Anfängerkursen der Rhetorik während des i. Jahr-
hunderts n. Chr. ein sehr günstiges Bild geben, und aus dem Anfang des
4. Jahrhunderts Anweisungen für die damals praktisch geübten Reden
unter dem Namen des Menander, von dem nur der größere Teil herrührt;
die anderen sind von Genethlios, etwas älter, aber alles ziemlich gleicher
Art und aus derselben athenischen Schule. Der Einblick in ein ganz
leeres Schnitzelkräuseln ist an sich abschreckend: aber gerade darum ge-
winnt man hier die Unterlage für das geschichtliche Urteil.
Der Klassizismus mußte notwendig die Formen der Prosa, die in der Orkiarutionm.
klassischen Zeit ausgebildet waren, als allein berechtigt ganz ebenso kanoni-
sieren, wie das für die Poesie längst galt. Da die Rhetorik die Führung
hatte, überwog die Rede im Sinne des Isokrates. Die Schuldeklamation
nahm tatsächlich immer die Haupttätigkeit der Leute in Anspruch;
aber erst im 2. Jahrhundert publiziert man so etwas in Massen und mit
dem Ansprüche, das Übungsstück (fieX^TT)) wäre schon Literatur. Wenn
Herodes Attikos eine politische Rede (t^voc cujjßouXeuTiKÖv) herausgibt, um
die Larisaeer gegen Archelaos von Makedonien aufzureizen, so sollte deus
eines römischen Senators, der die Tagespolitik Athens und Griechenlands
ganz wesentlich selbst macht, unwürdig sein: aber sein allerdings be-
sonders starker Archaismus achtete seine aktuellen Reden demgegenüber
gering. Was Wunder, daß ein Lesbonax mit Thukydides in Ansprachen
vor der Schlacht konkurriert, ganz ohne kenntlichen historischen Hinter-
grund; der Anschluß an Thukydides ergibt die allgemeine Situation. Man
Thcon
(l. Jahrh.).
MrnandtT
(um JM)).
Briefr.
150 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorft: Die griechische Literatur des Altertums.
muß sich eben an die Denkart der Leute gewöhnen, denen eine Gegen-
schrift gegen die Leptinea wirklich mit der Rede des Demosthenes gleich-
wertig zu sein schien; an der konnten sie sich wieder und wieder ver-
suchen. Schließlich sind die Rhetoren so weit gesimken, auch ihre Pro-
gyninasmen, die für einen Theon noch auf der Stufe von Primaner-
aufsätzen stehen, zu publizieren. Selbst Libanios hielt sich dazu nicht für
zu gut Mit Reden aus einer bestimmten historischen Situation und PersoQ
heraus täuschen zu wollen, lag ihnen natürlich fem: dazu waren sie schon
viel zu eitel. Aber die Gefahr dieser Täuschung lag nahe; haben doch
modernste Historiker den Herodes zu Thrasymachos gemacht. Es kann
sehr wohl sein, daß eine Anzahl Fälschungen, die wir so betrachten, von
Haus aus gar nicht so gemeint war, z. B. Reden auf Demades' und
Aristogeitons Namen, die es früher notorisch nicht gegeben hatte, und die
nun auftraten. Doch ist auch früh gefälscht worden, in Asien die
Urkunden der Klranzrede, in Rhodos die Aischinesbriefe.
Der Brief war eine Gattung, die durch echte und noch mehr angebliche
klassische Produkte geheiligt war und um ihrer praktischen Unentbehrlich-
keit willen in der Schule immer gepflegt werden mußte. Daher werden die
Briefe aus gegebener Situation und Person heraus erst ein Exerzitium, dann
eine Literaturgattung, und wieder spielt das in die Fälschung hinüber, ohne
daß die Scheidung immer reinlich durchzufuhren wäre. Fälschung waren
z. B. sicher die schon vor Plutarch verbreiteten griechischen Brutusbriefe;
von denen auf den Namen der sieben Weisen und ähnlicher Männer der
Urzeit (jetzt zum Teil in den Dialekten verfertigt) kann man es kaum glauben
(vgl. die Belege aus hellenistischer Zeit S. 97). Um 200 sind Leute wie
Alkiphron und Alian so weit, unter eigenem Namen ganze Bücher von Briefen
zu edieren, die Parasiten, Hetären, Bauern und dergleichen verfaßt haben
sollten, unglaublich albeni, wenn nicht, wie bei Alkiphron zuweilen, schöner
helleni-stischer Stoff übernommen ist So mögen die Leute auch nicht alle
einen Trug beabsichtigt haben, die ganze Briefsammlungen ausgehen
ließen, von Hippokrates, Chion, Themistokles, die wir geradezu Romane
in Briefform nennen müssen, oder die auch die Charaktertjrpen Herakleitos
und Diogenes statt im Apophthegma in dieser Form darzustellen versuchen.
Dazu gehören die Phalarisbriefe, noch aus dem Anfange des 4. Jahr-
hunderts, die selbst damals niemand als bare Münze nehmen konnte.
Diese ganze Briefliteratur fordert dringend eine zusammenfassende Be-
handlung.
Gattunjen der Aber der Rhctor strebte denn doch danach, seine Kunst auch im
^^^''' Leben zu zeigen. Die Gerichtsrede war es, auf die sein Unterricht ab-
zielte; er selbst trieb dieses Handwerk und erzog zu ihm. Aber in die
Literatur ist sie trotz dem Kultus der Attiker kaum eingedrungen; hier
scheinen auch die Fälschungen zu fehlen. Zxur Staatsrede gaben die Frei-
städte Asiens mit den Konflikten ihrer Eitelkeit und noch mehr die
Provinziallandtage Gelegenheit; zur Festrede die heiligen Tage der Götter
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 3c» n. Chr.). I. Klassizistische Reaktion. j 5 j ^H
und Kaiser; Kasualreden an Personen, zum Geburt.stage, zur Hochzeit, zur ^M
Totenfeier und sonst kommen allmählich immer mehr in Aufnahme; eben ^|
darüber belehrt Menander; es sollte einmal jemand den ganzen Nachlaß ^H
der Literatur, aber auch der Byzantinerzeit, nach diesen Kategorieen ordnen. ^H
Hier ist es besonders, wo die Rede ganz in der Weise des Isokrates ^M
(S. 67) und über ihn fortschreitend den Wettkampf mit der Poesie auf- ^M
nimmt: Aristeides nennt schon eine Klagerede Monodie. Der Titel ist ^M
noch für eine Rede auf den Fall Konstantinopels verwandt worden. Daß ^H
die Historiographie dem Rhetor zufällt, war auch isokrateische Tradition. ^U
Dagegen der Dialog gehörte eigentlich dem Feinde, dem Philosophen. ^|
Das Lehrbuch wie die ganze belehrende Gattung (tJvoc bibacKaXiKÖv) ^|
lag seinem Wesen nach als etwas Kunstloses unter dem Niveau des ^M
Rhetors. Aber da nun die rhetorische Erziehung die allgemeine war und ^1
die künstliche Sprache allein dem gebildeten Geschmacke Genüge tat, so '
erfuhr allmählich fast jedes Literaturprodukt die rhetorische Stilisierung, stuiiicrung de«
Galens medizinische Fachschriften zeigen es am deutlich.sten. Ja es kommt "J'i'"""'*"»-
dahin, daß die ganze hj-pomnematische Literatur {S. 95) ihrem Wesen ent-
fremdet und stilistisch aufgeputzt wird, so daß die unerträglichsten Fratzen
herauskommen. Die sieben Weltwunder waren einst in ein paar Zeilen ^M
aufgezählt worden, damit die Kinder sie lernten. Es war verzeihlich, ^H
wenn sie jemand in ein Epigramm brachte, wie die neun Lyriker oder ^|
die sieben Weisen mit ihren Sprüchen: das entspricht den gereimten ^M
Genusregeln. Aber nun macht ein gewisser Philon ein rhetorisches ^M
Schmuckstück daraus: eine wirkliche Beschreibung der Kunstwerke, die ^M
er nie gesehen hat, beabsichtigt er gar nicht Ein Rhetor Polyainos H
widmet den Kaisem Marcus und Verus eine aus billigen Büchern zu- ^M
sammengestoppelte Sammlung von Kriegslisten: die unausstehliche Ziererei ^M
seiner Rede ist das einzige, was er dazu tut; in Wahrheit hat er gar kein ^M
sachliches Interesse. Den Gipfel der Abgeschmacktheit erreicht auch hier ^H
Alian (er war aus Praeneste und nie auf griechischem Boden gewesen) mit ^H
seiner „Bunten Geschichte", wenn's nicht etwa vor ihm Favorin (aus Arelate, ^M
aber in Athen tätig) getan hatte, dem er den Titel entnahm. Das ist das H
Schicksal, dem der Wissensschatz der hellenistischen Periode verfallt. Die ^M
Journalisten verschneiden den alten schweren Stoff, den die Gelehrten mit H
saurer Arbeit einst gewoben hatten, zu den Läppchen ihrer Essays imd H
Artikelchen und bilden sich ein, er gehörte ihnen, weil sie ihm von sich ein ^M
paar Flitter und Schleifen aufsetzen, wenn's Glück gut ist, einen Simili- ^M
brillanten. Das verachtet und ignoriert man, solange die Werke der echten ^M
Gelehrsamkeit zugänglich sind; aber hier müssen wir noch froh sein, daß H
uns in der Entstellung gar manches erhalten ist; zuverlässiger steckt es ^M
aber immer in den formlosen Exzerpten der Scholiasten. Der Gramma- ^M
tiker taugt mehr als der Rhetor; er schreibt wenigstens anspruchslos ab. ^M
Die hellenistische Rhetorik hatte mit den Künsten des Klanges, rhyth- Rhythmon.
mischen Klauseln, Reimen, Hiatuslosigkeit besonders starke Effekte erzielt; ^^
152 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
gegen sie richtete sich die Polemik ganz besonders scharf; aber da mochte
das Publikum offenbar nicht gleich umlernen, und Isokrates und selbst
Aristoteles hatten doch auch im Grunde Ähnliches gebilligt So finden
wir die Rhythmen während des i. Jahrhunderts noch mehrfach, in der
Schrift über das Weltall, der über das Erhabene, besonders stark bei
Chariton. Aber die strengere Richtung dringt durch; unter den Flaviern
sind die alten Klauseln wohl verklungen. Den Hiatus vermied, wer in
Isokrates und Demosthenes das Höchste sah; das ergab also dasselbe
Resultat wie die Fortführung der hellenistischen Praxis. Wer sich archa-
istisch den älteren Attikem zuwandte, suchte ihn geradezu auf. So
gehen zwei Richtimgen dauernd nebeneinander her: aber die Hiatusscheu
der Sprache nimmt doch ab; die Schule hat ihn nicht mehr verboten.
Dauernd halten sich auch wie zuvor die beiden Haupttypen der stilisierten
Rede, die periodisierte und die kommatische; die erste geht mit dem
Attizismtis, insofern sie den wahrhaft größten Klassikern nachstrebt; aber
die zweite konnte sich auf die alten lonier (die nie wie die Dorer als
bloße Dialektschriftsteller gegolten haben, so daß auch von den Archaisten
viel Ionisch geschrieben wird) und die ältesten Attiker berufen. Es hat
aber in ihr, zimial wenn sie die Ausgleichung der Glieder und die Klang-
wirkungen von Assonanz und Reim anstrebte, wohl mehr von der klin-
gelnden Rhetorik sich gehalten, gegen welche die klassizistische Reaktion
zuerst zu Felde gezogen war. Schließlich dürfte es diese Richtung ge-
wesen sein, die den Übergang zu dem neuen akzentuierenden Principe
vermittelte, dessen Aufkommen ein Hauptsymptom für das Ende der
wirklich griechischen Literatur ist Doch in jene Periode greifen wir
noch nicht über. Nehmen wir vielmehr wieder in der augusteischen Zeit
unseren Stand, nunmehr die drei Jahrhunderte zu durchmessen.
luiior und IL Die Dynastleeu von Augustus bis Severus Alexander.
(30 v.Chr. bi» ^^^ römische Revolution zerstört die Grundlagen des Hellenismus
68 n. Chr.). duTchaus. HuT letzter Akt ist geradezu seine Überwindung durch das
Römer- oder besser Italikertum. Man soll das dem Horaz glauben: der
lüg^ nicht Denn Antonius ist auch darin der getreuere Nachfolger Cäsars,
daß er ein hellenistischer König werden will, imd die Hand der letzten
legitimen Erbin eines makedonischen Reiches soll ihm die Legitimität
geben. Augustus dagegen ist ganz wirklich der Vorkämpfer Italiens und
des Lateinertiuns. Ihm opfert er Sizilien, Illyrien, die Donauprovinzen,
Afrika, wo doch das Griechentum tief eingewurzelt war. Er versucht,
lateinische Städte auch im Osten zu gründen (was später unterbleibt), und
wahrt dem Heere die lateinische Sprache. Aber im Osten muß er doch
das Griechentum anerkennen, ihm nicht nur die Geschäftssprache lassen,
sondern selbst dafür eine grriechische Kanzlei gründen. Ägjrpten regiert
er vollends als Nachfolger der Ptolemäer, als König. Daß die Reichs-
verwaltung sich ganz und gar an die hellenistische anschließen mußte.
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). II. Von Äugustns bis Alexander. 151
war unvermeidlich; das gilt auch für das amtliche Schriftwesen, Hypomne-
mata und Briefe. Der Übergang von den ungefügen Senatsbeschlüssen zu
dem Briefe des Imperators ist überaus bezeichnend; natürlich hatten die
römischen Feldherren seit Hamininus oft griechisch an Griechen geschrieben;
aber wenigstens für unsere Kenntnis ist erst jetzt ein individueller Stil
bemerkbar. Wenn also ein Brief des Antonius so ganz anders stilisiert
ist als einer des Aug^stus, so scheiden sich eben die Zeiten. Für Antonius
war Hegesias noch ein Stilmuster: Augustus ist Attizist. Seiner Sinnesart,
die in Rom einer romantischen Restauration des alten Glaubens und der
alten Sitte zustrebte, entsprach der Klassizi.smus durchaus; seiner Politik
war es auch genehm, daß die Hellenen ihrer Weltherrschaft vergaßen und
den Sinn den Zeiten ihrer engen Kleinstaaterei zuwandten. So kommt
von Rom das Losungswort und hallt durch die Welt; es wird um so
mehr befolgt, je tiefer die griechischen Landschaften gesunken sind.
Athen ist ganz verfallen, Alexandreia gedemütigt; selbst seine Grammatiker
und Arzte siedeln nach Rom über; doch zeigt Philon, daß der Attizismus
hier nicht leicht eindrang, ganz wohl nie. In Asien residierte der Kaiser
oder ein Vizekaiser wiederholt; es hat sich am schnellsten aus dem Elende
erholt, und Rhodos hat auch in der Beredsamkeit die Kontinuität aufrecht-
erhalten. Insofern das Reich römisch -gfriechisch ist, sind Rom und Asien
die Brennpunkte der Ellipse. In der ersten Hälfte von Augustus' Regie-
rung überstrahlt der Glanz der klassischen römischen Poesie alles; aber
dann beginnt er schon zu verbleichen, und der g^echischen Epigrammatiker
hat auch der Kaiser nicht entbehren wollen; er gab auch an seinen
römischen Spielen griechische Vorstellungen: die Säkularspiele sind ganz
klassizistisch wie die Ära Pacis, aber sie sind die Fortsetzung der helle-
nistischen gottesdienstlichen Repräsentationen. Aus Asien kam der
^tragische Tanz", der sich in Rom zum „italischen" ausbildet, das heroische Pamomimn»,
Ballett, für die Römer der Ersatz der tragischen Spiele. Es hat bewirkt,
daß nicht nur keine römische Tragödie aufkam, sondern auch die griechische,
mochte sie auch zur Vorführung gelangen (was im 2. Jahrhundert noch viel
geschah), vereinzelt auch ein klassizistischer Nachahmer sich versuchen (wie
Plutarchs Freund Serapion), eigentlich nur noch in der Lektüre wirkte. Aus
Asien kam noch unter Augustus der griechische dramatische Mimus (S. 125), Mimm.
von nun ab das Surrogat des Lustspieles, dem es sonst ganz wie der Tra-
gödie ging.
Die Wissenschaft war, von der lokalrömischen Archäologie und der
Rechtswissenschaft abgesehen, ganz und gar griechisch, und leider ist es
mit ihrer Rezeption durch die Römer nicht so vorwärts gegangen, wie man
hoffen durfte: Griechen waren eben überall vorhanden, wo man sie haben
wollte, und jedermann verstand sie. Aber so weit ging selbst die Bildung
der leitenden Mäimer nicht, daß für die Weltkarte des Agrippa die
elementarsten Grundsätze der physikalischen Geographie berücksichtigt
worden wären. Statt, wie sich gebührte, neue Punkte auf dem Erdball
^T^IJLIUCH VON WiLAMOWlTZ-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
Strmbon
(ca.68 — jo
n. Chr.).
Pbiloiophir.
festzulegen, ward das Gradnetz des Eratosthencs ganz ignoriert. Und doch
lebte in Rom Strabon von Amaseia, der wahrhaftig selber zu wenig Ver-
ständnis für Eratosthenes und Hipparchos bekundet hat, aber er oder der
Grammatiker Aristonikos oder hundert andere hätten doch den rohen
Empirismus berichtigen können, der mit dem Straßennetze ein noch viel
unvollkommeneres Erdbild lieferte als die altionischen Pörtulanen. Strabon
ist von der ernsten griechischen Wissenschaft so wenig gerechnet worden
wie Diodor; sein Geschichtswerk war auch der Form nach nur Kompila-
tion, aber seine Geographie, so wenig eigene Forschung in ihr steckt, so
bedauerlich es ist, daß er für Griechenland nur an der homerischen Vor-
zeit Interesse nahm (dafür allerdings in Apollodoros die rechte Schmiede
aufsuchte), so viel wir von seinem Ruhme abziehen würden, wenn wir
Artemidoros von Ephesos lesen könnten, der hundert Jahre vorher die Erde
beschrieben hatte: sein Buch ist doch eine durchweg erfreuliche und sehr be-
lehrende Lektüre. Der Grieche hat für das Charakteristische jedes Landes
und auch für den gegenwärtigen Zustand offenes Verständnis, ist wunderbar
gut auf dem Laufenden und gibt scharf umrissene Bilder: was ist dagegen
Mela oder Plinius. Auch die schlichte sachliche Rede ist hoch erfreulich:
es sollte ein Lesebuch sein und ist es geworden. Ebenso braucht nur an
die schon oben (S. i lo und 114) genannten Memnon und Nikolaos erinnert
zu werden, damit man die Geschichtschreibung der Zeit nicht nach dem
Rhetor Dionysios beurteile, gegen den Livius freilich sowohl ein Historiker
wie ein Poet ist. Es ist aber unverkennbar, daß der Historiographie der
Klassizismus nicht günstig war; dazu hätte es einer wirklich historischen
Forschung auf dem Gebiete der alten Geschichte bedurft; aber man las
die histori.schen KJas.siker und schwor auf ihre Worte. Reichsgeschichte
aber ward so wenig geschrieben wie Ptolemäergeschichte. Aus dem
Alexandriner Timagenes, der sich auf sein keckes Mundwerk viel zugute
tat, hätten die Modernen nicht einen Welthistoriker von Einfluß und Be-
deutung machen sollen.
Mit der strengen Philosophie mußte es ähnlich gehen. Die Pro-
duktion neuer Gedanken hat aufgehört, das Interesse an der Geschichte
der Philosophie und dem Studium ihrer Klassiker sich vorgedrängt, und
die Zusammenfassung aller Einzelvvi.ssenschaften in der Enzyklopädie
der neun oder sieben freien Künste bedeutete die Verflachung aller ein-
zelnen. Das war das Erbe der unmittelbaren Vergangenheit. Da sehen
wir denn, wie die peripatetische Schule mit Andronikos von Rhodos auf
eine esoterische Pflege des Aristoteles ablenkt; auch für Piaton (durch
Derkyllidas und dann Thrasyllos) und selbst für Demokritos (auch durch
Thrasyllos) geschieht Ahnliches. Die erste Rolle spielt die Stoa: da wirkt
die imponierende Hinterlassenschaft des Poseidonios. Schüler von ihm
wie Eudoros und Asldepiodotos, aber auch Sotion, sind für die Verbreitung
wirksam und liefern die Verbindung zu Seneca. In anderer Weise wichtig
ist, daß Areios Didymos das Ohr des Kaisers hat. Seine Stoa gravitiert
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). 11. Von Augustus bis Alexander. 155
mehr nach der stoischen Akademie des Antiochos, und eine klassizistische
Philosophie, die mit Abschleifung der Schul^egensätze eine allg-emeine Welt-
anschauung des gebildeten Menschentumes den weltbeherrschenden Römern
liefern sollte, war eigentlich auch das Ideal Ciceros gewesen. Auch in
der religiösen Färbung posidonisch ist eine Schrift über das Weltall, die
sich doch Aristoteles nennt und durch den falschen Namen gerettet worden
ist Ihre Sprache hat noch viel Hellenistisches, auch in den Klauseln der
Sätze: man darf sie ganz besonders für die Charakteristik dieser Zeit ver-
wenden. Auch auf einen klassischen Namen gestellt ist das „Gemälde"
des sogenannten Kebes; sokratischer Dialog der äußerste Rahmen; das
fiktive Gemälde eigentlich eine Prosopopöie, wie sie längst Mode waren
und immer wieder Beifall fanden; die Ausdeutung soll tiefe Philosophie
sein. Uns scheint alles frostig und banal; aber es hat so stark gewirkt,
daß sogar die bildende Kunst sich daran versucht hat, die Fiktion des sehr
wenig plastisch veranlagten Verfassers nachzuschafFen. War doch auch die
Renaissance für solche AUegorieen ungemein empfänglich: welches Glück
hat nicht die sogenannte Calumnia des Apelles gemacht, im Grunde eine
Prosopopöie ähnlichen Schlages, die Lukian reproduziert hatte. Der neu-
pythagoreische Mystizismus hatte auch schon eine Generation früher sich
stärker geregt: gerade er fand bei den Römern Anklang, und es ist sehr
merkwürdig, daß ein asketischer Neupj'thagoreer Sextius Niger als grie-
chischer Schriftsteller über Botanik der Folgezeit ganz wesentlich das
Material bereitet. Für die Zoologie tat das Alexandros von Myndos, wie
es scheint, ohne Wissenschaftlichkeit und mit viel Fabelei; aber der Ein-
fluß, den er übt, kommt dem des Niger gleich.
Vergessen darf auch die Grammatik nicht werden, von deren zahl- Grammaiik.
reichen Namen wenigstens einige genannt seien, Aristonikos, der uns die
Schärfe Aristarchs am reinsten wiedergibt, die Theoretiker Trj'phon und
Ptolemaios von Askalon, Theon, der die hellenistischen Dichter des
3. Jahrhunderts durch seine Ausgaben in die Reihe der Schulklassiker
einführt und dadurch erhält, und endlich Didymos, der Kompilator der
alexandrinischen Schätze aller Art Gewiß trifft sein Beiname „der
Mann mit dem eisernen Sitzfleisch" auch insofern zu, daß er mit dem
Gehirne wenig arbeitete; aber das hat der neu entdeckte Demosthenes-
kommentar doch gelehrt, daß wieder ein lateinisches Buch, dem man es
nicht zutraute, in der Form ganz von dem griechischen Vorbilde abhängt:
der Cicerokommentar des Asconius ist nach diesem Demostheneskommentar
gearbeitet Das nimmt dem Asconius nichts von seinem Werte, denn er
arbeitet aus den Quellen, während DidjTuos kompiliert; erst wenn wir
statt Didymos Hermippos sagen, gelangen wir in die Region, die inhalt-
lich und formell Griechen und Römern der Kaiserzeit gleichermaßen
die Wege gewiesen hat
Die Literatur, die lediglich alten Stoff bequem präpariert darbot, muß
ganz ungeheuer gewesen sein; doch sei nur noch ein Name genannt,
1^6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
weil er Rom als Kapitale der griechischen Bildung' besonders g^ut illustriert
juba Der Berberprinz Juba ist als Kriegsgefangener in Rom aufgewachsen; der
(t 23 n. Chr.?). jj^£ j^^j gjpjj seiner angenommen, ihn mit einer Prinzessin verheiratet imd
ihm eines der kleinen Königreiche mitgegeben, die Augustus als PufiFer
gegenüber den Barbaren zu errichten liebte. In dem wilden Mauretanien
baute sich Juba seine Residenz, und deren Reste bei Cherchel bekunden
durch die Kopieen altattischer Statuen den korrekten Greschmack des Herrn.
Schriftstellerisch hat er über allerhand Materien der griechischen Anti-
quitäten geschrieben; die Geschichte des griechischen Theaters von dieser
Hand geschrieben zu finden, ist einigermaßen spaßhaft. Er hat auch über
sein Land geschrieben, nicht ohne stark zu fabulieren. Und eine Ver-
gleichung griechischer und römischer Sitten demonstrierte z. B. dem Plutarch
die hellenische Rasse der Römer: daß das ein Berber leistete, ist wahrlich
ein Zeichen der Zeit
Von dem Leben in der Provinz wissen wir noch zu wenig; es wird
sich noch vielerorten zeigen lassen, daß die hellenistischen Überlieferungen
hier nur langsam dem Losungsworte wichen, das aus der Hauptstadt kam.
Am stärksten mußte Alexandreia widerstehen, wo schon der ägfjrptische
Einschlag der Kultur mit dem reinen Attizismus imvereinbar blieb. Wo
wir, wie in dem sogenannten dritten Stile der pompejanischen Malerei,
sicher alexandrinische Herkunft anerkennen, ist denn auch ein erfreuliches
Fortleben des Hellenistischen vorhanden, und kaum kann man zweifeln,
daß das üppig sinnliche, phantastische Wesen, das in der neronischen
Zeit hervorsprudelt, in Alexandreia samt den Vorstädten Eleusis und
Kanopos zu Hause ist Wir müssen uns für diese Periode mit einem
Phiion feierlich ernsten Vertreter Alexandreias begnügen, dem Juden Philon, den
(t nach 41). ^jg Christen, fast als gehörte er zu ihnen, erhalten haben. Mit den
Fanatikern von Jerusalem hat er freilich wenig gemein; im Gregenteil,
dies Judentum, so hochmütig er auch darauf pocht, daß sein Volk das
auserwählte wäre, mußte dahin führen, wo sein Neffe Tiberius Alexander
angelangrt ist, der im Heere des Titus vor Jerusalem kommandiert hat
Auch Philon ist mehr als ztu- Hälfte hellenisiert Er treibt nur jenes
unerfreuliche Spiel, Aas die christlichen Philosophen von ihm erben, alle
Gedanken von den Crriechen zu entlehnen, auch die wissenschaftliche
Dialektik und die abscheuliche Allegorie, und dann das hellenisierte, also
denaturierte Judentum gegen die Griechen auszuspielen. Dabei setzt er
mit Berechnung zwei verschiedene Masken auf, so daß man ihm einen
Teil seiner Werke hat absprechen wollen. Für seine Landsleute verbirgst
er sorgfältig die Herkunft seiner Lehren und gibt alles als eine Art
Kommentar zur Thora, der homiletischen Exegese präludierend. Für das
große Publikimi spielt er den Gelehrten, der sich mit aller Literatur ver-
traut zeiget, und bedient sich der Formen der philosophischen Schrift-
stellerei, Essay, Dialog, Bios (von dem S. 115 die Rede war). Der Stil
ist überall der gleiche, erhaben, schönrednerisch, wohlperiodisiert, an
D. Römisclie Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). II. Von Augustus bis Alexander, i :^
Worten überreich, von Attizismus kaum die ersten Regungen, die Etappe
zwischen Poseidonios und Plutarch, die man sich konstruieren würde, nur
ermüdet die Monotonie entsetzlich. Nichts Jüdisches darin, nichts Vul-
gäres, aber auch kaum etwas Individuelles; wie denn Philon durch seine
eigene Philosophie durchaas nicht verdient hat, daß er erhalten blieb,
kein Gedanke, daß er den Paulus oder das Johannesevangelium oder den
Neuplatonismus beeinflußt hätte. .Schließlich hat ihn die Judenhetze unter
Gaius noch zu einer sehr wertvollen und viel lebendigeren Schriftstellerei
veranlaßt, der publizistischen Vertretung des Judentumes. Gegenüber dem
nichtsnutzigen Bengel auf dem Thron mit seiner Göttlichkeit und gegen-
über den demagogischen Hetzern erscheint Philon trotz der Halbschlächtig-
keit seines Wesens feist ehrwürdig, und das Urteil dieses Zeitgenossen über
das Regiment des Tiberius wiegt alle perfide Kunst des Tacitus auf.
Die Allegorie und andere Irrgänge der Dialektik, auch einige Stil- Pauius
mittel (wie die ungefüge Häufung von Nomina), hat Paulus mit Philon '^ "■*>■
gemein. Es gab also in der jüdischen Schule von Tarsos eine ent-
sprechende Tradition, wie denn die seit langer Zeit ganz hellemsierte
Hauptstadt Kilikiens auch in Poesie und Grammatik nach Alexandreia
gravitierte. Hellenische Bildungselemente hat aber Paulus direkt nicht
aufgenommen. Die gefälschten Pastoralbriefe und die Reden der Apostel-
geschichte gehen ihn nichts an. Gewiß ist der Hellenismus eine Vor-
bedingung für ihn; er liest nur die griechische Bibel, denkt also auch
griechisch. Gewiß vollstreckt er unbewußt das Testament Alexanders,
indem er das Evangelium zu den Hellenen bringt; aber er ist aus ganzem
Holze geschnitzt, er ist Jude, wie Jesus ein Jude ist Daß aber dieser
Jude, dieser Christ griechisch denkt und schreibt, für alle Welt und doch
zunächst für die Brüder, die er anredet, daß dieses Griechisch mit gar
keiner Schule, gar keinem Vorbilde etwas zu tun hat, sondern unbeholfen
in überstürztem Gesprudel direkt aus dem Herzen strömt und doch eben
Griechisch ist, kein übersetztes Aramäisch {wie die Sprüche Jesu), macht
ihn zu einem Klassiker des Hellenismus. Endlich, endlich redet wieder
einer auf griechisch von einer frischen inneren Lebenserfahrung; das ist
sein Glaube; in ihm ist er seiner Hoffnung gewiß, und seine heiße Liebe
umspannt die Menschheit: ihr das Heil zu bringen, wirft er freudig sein
Leben hin; frisches Leben der Seelen aber sprießt überall empor, wohin
ihn sein Fuß trägt Als einen Ersatz seiner persönlichen Wirkung schreibt
er seine Briefe. Dieser Briefstil ist Paulus, niemand als Paulus; es ist
nicht Privatbrief und doch nicht Literatur, ein unnachahmliches, wenn auch
immer wieder nachgeahmtes Mittelding; es ist aber doch artig, daß man am
ehesten noch Epikuros (S. 96) mit Paulus vergleichen kann. Ihm war ja
alle Literatur Tand, jede künstlerische Ader fehlte ihm: um so höher
muß man die künstlerischen Wirkungen schätzen, die er gleichwohl erzielt
Was sollte ihm und seiner Welt all das bedeuten, was wir Kunst und
Wissenschaft nennen und als das Höchste des Menschlichen, oder vielmehr
^^^V 1^8 Ulrich VON Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
^^^H höher als etwas nur Menschliches schätzen? Er schöpfte ja ein gutes
^^^H Teil seiner Kraft aus dem Wahng-lauben an den nahen Weltuntergang.
^^^H Aber in der hellenischen Welt der konventionellen Form, der glatten
^^^H Schönheit, der Gemeinplätze erquickt diese Formlosigkeit, die doch den
^^^H Gedanken und Empfindungen ganz adäquat ist Oder welche Stilisierung
^^^H könnte den intimen Reiz des Philipperbriefes erhöhen? Paulus offenbart
^^^H der Welt für alle Zeit, daß der Mensch Gott auch auf anderem Wege
^^^H finden kann, als es die Hellenen getan und gelehrt haben. Gewiß ist
^^^H Kunstlosigkeit absolut kein Vorzug; es rangiert die Geister, daß Paulus
^^^H für Piaton nie Verständnis hätte haben können, weil Wissenschaft und
^^^H Kunst außer seinem Horizonte lagen, wohl aber Piaton frei genug war,
^^^H eine echt religiöse Persönlichkeit und unstilisierte Herzlichkeit der Rede
^^^H zu würdigen. Aber ebenso muß man zugeben, daß Piaton sich so ganz
^^^H niemals hätte selbst geben können, nicht nur weil dem künstlerisch
^^^H Durchgebildeten die Formlosigkeit wider die Natur ist, sondern weil er
^^^H em Hellene war; dieses künstlerische Wesen ist eben die spezifisch helle-
^^^H nische Natur. Sie müssen dichten, wenn sie ganz sagen sollen, was
^^^H sie leiden. Auch für ihre bildenden Künste ist das zugleich der Vorzug
^^^H ihres Adels und die Schranke ihres Könnens. Jetzt war die l'lugkraft
^^^"^ des hellenischen Genies erschöpft; der Stil war Manier geworden. Die
^H ganze griechische Literatur des Klassizismus wird dadurch gerichtet, daß
^H die Nachahmung der Klassiker nur auf lateinisch in Cicero, Horaz, Vergil
^B neue Klassiker zeugte, die griechische Sprache dagegen, wenn sie un-
^H mittelbar aus dem Herzen kommen sollte, ganz imkünsüerisch sein mußte,
^B wie sie es bei Paulus, Epiktet, Plotin ist Dann ist auch das vorbei.
Gaiu» bu Nero. Die lange Regierung des Augustus hatte zum Segen für das Reich
eine Fortsetzung in demselben Sinne gefunden; aber es war das Regiment
eines Welt und Menschen verachtenden Greises. Auch die griechische Welt,
die doch nicht unter den Katastrophen gelitten hatte, von denen das Kaiser-
haus und der Adel heimgesucht waren, atmete auf wie an einem Frühlings-
morgen, als der Knabe Gaius auf den Thron kam. Den reizte es, die Macht
zu genießen wie einst den Ptolemaios IV., den neuen Dionysos. Man durfte
wieder liederlich und lustig sein; die Kleinkönige, die Tiberius mitleidlos
kaltgestellt hatte, hüpften auf ihre Thrönchen, und der Mob von Alexandreia
durfte die Juden verprügeln. Der Übergang des Prinzipats auf Claudius
änderte daran nicht viel: regierten doch seine grieclüschen Kammerdiener.
Und Nero entwickelte sich bald zum Haupte der lustigen Liederüchkeit
Von seiner philosophischen Erziehung war ihm nur die Neigung für das
Griechentum geblieben, die zu der Komödie der isthmischen Befreiung
der Hellenen führte: seine Proklamation i.st ganz in ausschweifend rhyth-
mischer Prosa verfaßt, die damals bei den Griechen eigentlich schon nicht
mehr Mode war. Nero ist selbst der artifex, d. h. der dionysische
Technit: erst in der Rückübersetzung kommt die Pointe heraus. Er erneuert
musikalischen und schafft poetische Konkurrenzen; der Kitharode
D. Römische Periode (30 v. Clir. bis 300 n.Chr.). II. Von Augustus bis Alexander, ijq
und Chorpfeifer kommen wieder auf. Um verlorene Kunstwerke brauchen
wir gewiß nicht zu weinen, aber historisch ist es sehr bedauerlich,
daß wir von der griechischen Poesie so wenig wissen, die unter diesem
Patron erwachsen ist Das Grriechentum fühlte sich merklich empor-
gehoben; es ist mehr dahinter als das Legitimitätsgefühl, das die falschen
Neros hervorrief; selbst ein Plutarch hat dem Muttermörder nicht ganz
die Sympathie geweigert. Und anmutig wird die Liederlichkeit immer
noch gewesen sein, Stil muß sie gehabt haben: das lehren die Wände
Pompejis mit der schrankenlos spielenden Ornamentik und der wirkungs-
vollen Buntheit des letzten Stiles. Wir haben wohl nur im Epigramme
einige literarische Belege. Bis auf Gaius kennen wir das sehr gut, da
wir reichliche Auszüge aus einer Sammlung besitzen, die damals ein recht
untergeordneter Poet, Philippos aus Thessalonike, veranstaltete, wie solche
Leute es zu machen pflegen, besonders weitherzig gegen die eigene Muse.
Es verrät sich in bedenklicher Weise das Vordringen der Rhetorik, wie
in der Poesie des Ovid, und eine große Anzahl Dichter sind zugleich
Rhetoren. Die Produktion geht jetzt so vor, daß dem Epigrammatiker ein
Thema aufgegeben wird; oft führt das zur beschreibenden Dichtung, öfter
galt es nur, ein gegebenes Motiv zu variieren. Die Verskunst sinkt;
Improvisation dürfte nicht selten gewesen sein. Besser wird das unter
Xero gewiß nicht, an den ein gewisser Lucilius direkt Verse richten darf;
aber das Epigramm Martials ist bereits da, mit dem Heischen nach einer
witzigen Pointe {die Martial freilich besser zu finden versteht) und dem
persönlichen oder scheinbar persönlichen Angriffe, der dann dem Epi-
gramme des Okzidents, dank Martial, bleibt, und endlich dem Aufsuchen
des Schmutzes, je ekelhafter desto lieber; auch darin ist Martial Meister
geblieben; die Griechen sind im Grunde noch unreiner, sind lange nicht
so witzig, aber ein Vorzug bleibt ihrer poetischen Tradition, die den
Grobianismus nie gekannt hat: die unflätigen Wörter sind so gut wie ver-
pönt In dem dramatischen Mimus werden sie nicht gefehlt haben, und der
erfreute sich des lebhaftesten Zuspruches, der griechische wie der latei-
nische ; er hält sich tief in die christliche Zeit hinein. Auch der tragische
Pantomimus dient immer mehr dem sinnlichen Reize. Die gemeinen
Menschen- und Tierschlächtereien der Arena muß man hinzunehmen; sie
dringen auch in den griechischen Osten, wenn auch unter Protest der
besseren Gesellschaft Diese Atmosphäre voll von Blut und Wollast, von
maßlosem Glanz und tiefster Entvdirdigung der Menschen, drückt auf die
Welt: es ist sehr verkehrt, wenn man meint, durch Beseitigung vieler
einzelner Fabeln die grelle Beleuchtung der Moralisten und Christen wesent-
lich dämpfen zu können. Renan hat in seinem AnHchrist das Bild der Zeit
getroffen, nur zum Teil zu sehr mit ihren Farben gemalt Woher wären auch
sonst die machtvollen Rufer nach einer Umkehr und Einkehr erstanden?
Woher der Umschlag in die entgegengesetzte Unnatur der Askese? Eben
in Neros Zeit erscheint nach drei Jahrhunderten wieder ein Kyuiker,
i6o Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Demetrios; er predigt in den Bädern Roms und Seneca sucht ihn auf.
Aber gewiß, noch ist Genußfähigkeit vorhanden, der Taumel eines frischen
Rausches, das Gefühl des Glanzes, der Überfülle, der Sicherheit des
Weltfriedens, der Weltkultur. Auch den Verirrungen fehlt es weder an
Majestät noch an Grazie.
Die Fiavicr Die Bürgerkriege des Dreikaiserjahres machten dem Taiunel ein
(69—96)- fürchterliches Ende. Auf die legitime Dynastie aus Götterblute folgen die
plebejischen Flavier. Sie haben es nicht erreicht, bei den Grriechen die
sehr lebhafte Antipathie zu überwinden. Vergebens steigerte namentlich
Domitian die poetischen Wettkämpfe und schwärmte Titus für einen
schönen Faustkämpfer von Weltruhm, da die Athletik sich aus archaistischer
Rückkehr zu den althellenischen Tumspielen zu einem von allen Griechen
leidenschaftlich geliebten Schauspiele herausgebildet hatte. Höfische
lateinische Poeten, wie Statins und Martial, ließen sich wohl heranziehen,
ein tüchtiger Rhetor wie Quintilian war gefügfig; aber die öffentliche
Meinung blieb oppositionell, und die Regierung empfand das so peinlich^
daß sie einzuschreiten versuchte. Die Griechen erlebten nun einmal die
Unterdrückimg des freien Wortes; Ausweisungen aus Rom, Verbannungen,
Leibesstrafen sollten die Literaten und Philosophen mimdtot machen. Die
Leidenszeit ist gerade den Besten gut bekommen. Es ist sehr merk-
würdig, daß Plutarch in dem weltentlegenen Chaironeia sich während der
Zeit Domitians ebenso schweigend verhalten hat wie Tacitus. Offenbar
harmonierte die Opposition in der römischen Beamtenschaft ganz mit dem
hellenischen Widerwillen gegen „den Tyrannen". In besonders lebhafter
Weise hat die Tradition den göttlichen ApoUonios von Tyana als Träger
dieser Empfindungen herausgeputzt: er opponiert als Hellene, als Freiheits-
freund und als Philosoph. Auch bei dem Sturze Domitians haben die
verschiedenen Schichten der Bevölkerung mitgewirkt, imd es ist vor-
bedeutend, daß das Grriechentiun wieder ein Gewicht in die Wagschale
Die Dynastie wirft. Kaum ist der Bann gebrochen und ein Regiment eingesetzt, das
f,^'-f*T ^^l?®™®^'^ ™* Jubel begrüßt wird und ja wirklich fast ein Jahrhundert
ungestörter Entwickelung der Welt gewährt hat, so sprudelt der Born
der Literatur mächtig auf. Wie nahe sich die Gedanken bei Römern und
Griechen berühren, zeigt, daß Tacitus die Germanen, Dion die Sk)rthen
schildert: man sollte den Parallelismus nicht übersehen, so verschieden
auch der kynische Prediger und der Senator ihre Aufgabe gelöst haben.
Niemals ist der Zusammenhang der griechischen xxnd. lateinischen Produktion
so eng. Favorin von Arles, Musonius von Volsinii gehen ganz in die
griechische Literatur über; Sueton ist griechischer und lateinischer
Crrammatiker ; Julius Vestinus gehört dem alexandrinischen Museum und
der kaiserlichen Kanzlei an; Minucius Pacatus g^äzisiert sich zu Eirenaios
für seine griechischen Bücher; Plutarch lernt so viel Latein, daß er
lateinische Werke für die Biographieen von Römern benutzen kann. Aber
der Erfolg ist, daß die römische Literatur so gut wie versieget: die
D. Römische Periode (30 v. Chr. bfs 300 n. Chr.). n. Von Augustus bis Alexander. 1 6 1
griechische erlebt dem Umfange und dem Erfolge nach einen Aufschwung,
der es verzeihlich macht, wenn den Zeitgenossen die schönsten Tage der
Erfüllung angebrochen zu sein .schienen.
Die Dynastie, die mit Nerva beginnt, ist auch in der ganzen Politik
eine Einheit. Traian war noch ganz Römer, Soldat, Regent; die Be-
schützung der Philo.sophen , soweit sie nicht politisch wirkten wie Dion,
überließ er seiner Frau, die sich zur Schule des Epikur bekannte. Hadrian
aber, des.sen Tendenzen für die Nachfolger bindend sind, macht sich
nicht nur .selbst die griechischen Epigramme, wenn er den Helikon be-
sucht oder im mysischen Bergwalde einen Bären erlegt: er gibt der
Reichspolitik in bewußtem Gegensatze zu Augustus und Domitian eine
starke Wendung nach der griechischen Seite. Er fühlt sich als Herr des
Reiches, und mit dem Primat der Italiker ist es zu Ende. Im höheren Ver-
waltungsdienste, der mit dem Militärdienst verwachsen ist, rücken Griechen
wie der Bithyner Arrian bis zum Statthalter einer Provinz auf; selbst über
das Exerzierreglement widmet ihm ein Grieche Alianus ein Buch. Gerade
weil er die Mitherrschaft des Senates illusorisch macht, zieht er Griechen
hinein: dem athenischen oder asiatischen Rhetor winkt die Aufnahme in
den Reichsadel. Piu.s geht in der Verhätschelung noch weiter: wie er an
griechische Gemeinden schreibt, sollte wirklich kein Kaiser sich aus-
drücken. Die Inspektionsreisen Hadrians und seine Freigebigkeit kommen
zwar allen Provinzen zastatten; aber dem Osten doch mit Vorliebe, und
die hellenische Überschwenglichkeit kann sich in dem Kultus des
„Olympiers" nicht genug tun. Er ist in der Tat persönlich Herr der Welt;
auch sein Geschmack beherrscht sie. Er ist Archaist; das Uraltertum
Ägyptens hat ihm wohl den größten Eindruck gemacht, und Ägyptisch
wird Mode. Er erweckt in Athen die musische Konkurrenz der Phylen
zu neuem Leben; ihn reizen die Mysterien und Orakel, und so beginnt
dieser alte Spuk von neuem. In der Literatur kommt nun die attizistische
Bewegung auf ihren Höhepunkt: der Purismus bringt es bald dahin,
wirklich zu schreiben wie vor 500 Jahren, und damit nicht genug, selbst
ein Arrian versucht sich auf ionisch und eine Hofdame der Sabina ver-
ewigt sich auf dem Memnonskolosse in der Mundart Sapphos. So ver-
derblich wie für das Lateinische wird das nicht, weil dort der Archaismus
von den wirklichen Klassikern abführte; aber die Fähigkeit zu jedem
Fortschritt wird doch auch hier abgeschnitten, und immer breiter wird
die Kluft, die das Volk von der dünnen Schicht der Gebildeten trennt.
Unvermeidlich war, daß die Hauptstadt sich noch stärker hellenisiert, als
es schon luvenal beklagt: die starke Christengemeinde muß so gut wie
ganz als griechisch angesprochen werden. Die vornehmste literarische
Verherrlichung des Reiches, die es überhaupt gibt, ist die Rede, die
Aristeides von Smyma unter Pius auf Rom in Rom gehalten hat, und
noch unter Pertinax hat ein griechischer Rhetor in Rom vor dem Kron-
prinzen die Festrede gehalten, die als die „Rede auf den König" unter
Du KL'LTUB du G«CKtWART. LS. II
^ 162 Ulrich von WilamowitzMoeixendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
^H den Werken desselben Aristeides steht (dies ist noch eine Entdeckung von
Bp Th. Mommsen). Aber Rom gibt nicht mehr die entscheidenden Impulse.
^^ Die Rhetorik, die sich wieder als die Herrin der Welt betrachten darf,
^H hat ihr Zentrum in Asien, die Philosophie in Athen, wo ihre Schulen nun
^H geradezu kaiserliche Institute sind, die Naturwissenschaften, soweit sie
^H noch existieren, und die Grammatik in Alexandreia. Die bedeutendsten
^m Ärzte, wie Galenos, ziehen wohl nach Rom um der Praxis willen imd
^H lehren dann auch dort theoretisch; aber die Hauptsitze der wissenschaft-
^H liehen Tradition sind doch im Osten.
^H Natürlich strömt alles, was parvenieren will, nach Rom, um womög-
^H lieh die kaiserliche Protektion zu erlangen; dort einmal aufgetreten zu sein,
^H ist ein brennender Wunsch aller Literaten. Der philosophische Wander-
^H prediger Cassius Maximus von Tyros hat vor die Sammlung seiner Reden,
^B die wir besitzen, „gehalten in Rom" gesetzt, obwohl der Inhalt darauf
gar keine Beziehung hat und er sie vielerorten gehalten haben wird.
Aristeides, reichbegütert und seßhaft in Asien, zieht mit der äußersten
Anspannung seines siechen Leibes dorthin; Lukians Nigrinus hat dadurch
etwas mehr inneren Gehalt als seine meisten Essays, daß er der bitteren
Enttäuschung über sein römisches Auftreten Luft macht. Lukian illustriert
überhaupt sehr gut das Literatentum einer Zeit, die alles wieder auf den
mündlichen Vortrag berechnet: gebürtig am äußersten Ostrande des Reiches
kann er in einer Causerie vor griechischem Publikum von gallischen
Eindrücken berichten. So ziehen auch Schauspieler und Athleten des
griechischen Ostens nicht nur ins Rhonetal (das eine starke griechische
Bevölkerung hatte), sondern bis nach Spanien; sie haben sich als eine
„ökumenische" Genossenschaft konzessionieren lassen. Am besten aber wird
der Zusammenhang des ganzen Reiches und die beständige Wechsel-
wirkung seiner Teile durch die Organisation illustriert, die sich eben jetzt
die Christengemeinden zu geben geschäftig sind. Die Prophetinnen des
inneren Phrygiens erschüttern den Frieden der Brüder in Rom, Lyon,
Karthago, und schon der Brief verkehr setzt das beständige Reisen von
Brüdern voraus. Für andere Kreise, deren Wohlstand und Bildung dazu
reicht, ist das Reisen nach den denkwürdigen Stätten aufgekommen, d. h.
also nach dem Osten. Für Ägypten zeugen die Inschriften des Memnon-
kolosses; für andere Gegenden haben wir wenigstens noch ein paar Vertreter
i'cricgeieii. der modischcn Ortsbeschreibungen, die sehr zahlreich waren: sie müssen nun
auch die alten Lokalchroniken und Geschichten ersetzen, deren nur noch
wenig in Versen, weniger in Prosa geschrieben werden {z. B. von Arrian
über seine Heimat Bithynien). Am detailliertesten ist die Schilderung des
Bosporus von einem gewissen Dionysios; das ist nur stilistisch aufgeputzt
die alte tüchtige Küstenbeschreibung. Am effektvollsten im Zeitgeschmacke
ist das Buch über das syrische Hierapolis, das unter Lukians Werke ver-
schlagen ist Der Verfasser trifft nicht übel den herodoteischen Ton,
den sein Ionisch anstrebt, und verrät doch unter der Maske der treu-
D. Römische Periode (30 v, Chr. bis 300 n. Chr.). II. Von Augustus bis Alexander. 163
herzigen Gläubigkeit, daß er nur von denen ernst genommen werden will,
die so „gute" Menschen sind. Für uns eine unvergleichliche Fundgrube
unschätzbaren Wissens ist die Beschreibung Griechenlands von Pausanias;
aber danach darf ihn niemand beurteilen, weil er das selbst nicht wilL
Daß er außer der Lokalarchäologie so viel schöne Dinge zu erzählen
weiß (all das, was wir auf einer griechischen Reise überschlagen und er
aus dritter Hand nimmt), daß er sich so fromm und so patriotisch und so
archaistisch gebärdet, so naiv herodoteisch die Fiktion persönlicher Er-
kundigung durchführt, und daß dabei der Stil so zerhackt und verzwackt,
so edtbacken und muffig ist, daß man die hochmoderne Mache gleich
herausschmeckt, das soll bewundem oder wenigstens empfinden, wer ihn
mit seinem Maßstab messen will. Es ist eines der bezeichnendsten, also
auch unerquicklichsten Erzeugnisse einer kemfaulen Zeit; er schreibt aller-
dings erst unter Comniodus, als die guten Zeiten vorbei sind.
Die schweren Kriege unter Marcus, die große Pest, die schlechte n« Djumö«
Wirtschaft des Commodus und dann die verheerenden Bürgerkriege , von ^°' ^"""
denen namentlich die Katastrophe von Byzantion weithin über griechische
Landschaften Elend brachte, offenbarten nur zu bald, daß der Wohlstand
und die Sicherheit des Reiches unterhöhlt waren. Noch einmal kam eine
Dynastie empor; aber der Afrikaner Severus erkaufte sich den Thron,
indem er den Soldaten das Reich opferte und die Heereszucht daran gab.
Das Heer ist von nun an Träger der Barbarei, und die Regenten gehen
aus ihr hervor. In Rom ist der Verfall überall zu spüren; wenn in
Griechenland fast jedes Dorf Ehrenbasen für Severus zeigt, so hat sie
die Furcht vor dem Zerstörer \'on Byzantion errichtet Der Afrikaner
fühlt sich zu den Syrern hingezogen: von jetzt ab liegt der zweite Brenn-
punkt der Ellipse nicht mehr in Asien, sondern in Antiocheia, wo schon
Verus einige Jahre residiert hatte. Baalbek und später Palmyra sind die
Monumente dieser neuen Mischung von Orientalischem und Römischem,
in Rom die Caracallathermen und der Sonnentempel. Griechisch redet
freilich auch dieses Neuorientalische noch, obwohl daheim die syrische
Literatur in Edessa sich zu emanzipieren begannt und bald die Sassaniden
mit frischem nationalen Impulse drohend die Hand nach den Grenz-
provinzen ausstrecken. Die Kaiserin lulia Domna läßt sich von dem
athenischen Rhetor Philostratos das Leben des heiligen Wundertäters
Apollonios von Tyana widmen, der über alle Barbarenweisheit triumphiert;
Caracalla bietet zu einem Partherzuge ein lächerliches Hilfskorps von
Spjutiaten auf und spielt gern Alexander den Großen; der Archaismus
glaubt noch originaler zu werden, wenn er über das Attische hinaus
die Wörter der Poesie heranzieht, mit der er wetteifert. Aber das
ist alles nur Tünche. Innerlich hat zuerst das neuhellenische Wesen
die Kraft Italiens zerfressen: jetzt bereitet sich der Zwiespalt vor,
dessen Ergebnis die Trennung von Orient und Okzident ist; die grie-
chische Hälfte wird von den Orientalen, die römische von den Gennanen
164 Ulrich von Wilahowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
barbarisiert Das hat innerlich viel früher begonnen, als es äußerlich in
Erscheinung tritt
Der Triumph HL Die ueuklassische Literatur. Vielfach wird die Zeit von
dei ArchaUmoi. ^j^^ Flaviem bis Severus die zweite Sophistik genannt, im Anschluß
an das Buch des Philostratos, das sich ßtot co<piCTwv nennt, aber nur
noch den Namen mit dem hellenistischen Bios gemein hat, da die
dürftigen, wie der Zufall sie bot, ziisammengerafiPben Notizen von jeder
wirklichen Charakteristik der Personen und auch ihres Stiles weit ent-
fernt sind; die meisten von ihnen werden freilich auch kaum einen
individuellen Charakter besessen haben. Und überhaupt ist das Jahr-
himdert denn doch zu reich, als daß der Hörsaal eines Rhetors den
richtigen Augenpunkt für seine Betrachtung geben könnte. Ist ihm doch
nicht einmal zu Bewußtsein gekommen, was auf dem Crebiete der Rede-
kunst wirklich geleistet war. Der Klassizismus steht im Zenith seiner
Bahn; es ist erreicht zu schreiben wie die Klassiker: kein Wunder, daß
man sich für klassisch hält Sein Gott kann dem Aristeides im Traume
sagen „du bist Demosthenes xmd Piaton zugleich". Wenn man einmal
das formale Prinzip zugibt, daß die wohlgewählten und wohlgesetzten
Worte alles machen, hat der selbstgefällige Träumer recht Der alte
Streit zwischen Isokrates und Platon-Aristoteles scheint zugunsten der
Rhetorik entschieden. Wieder hat das Aristeides begriffen und aus-
gesprochen: sein umfänglichstes Werk ist dazu bestimmt, Piatons Gorgias
zu überwinden. Er tut das in Perioden, die ganz demosthenisch dahin-
rollen, in fast ganz klassischer und keineswegs ärmlicher Sprache. Lukian
wird sich bald rühmen, auch den philosophischen Dialog kongenial zu
beherrschen, und er wird ihn gegen die Philosophen wenden. Wir sollen
und können es erreichen, daß wir die innere Unfreiheit dieser Imitation
durchschauen; ein harter Richter mag sagen „ich finde keine Spur von
einem Geist, und alles ist Dressur". Aber selbst dieser müßte gerecht
sein und die Dressiu- bewundem. Jahre mühsamer Arbeit haben den
Aristeides seine gfroßen Reden gekostet wie einst den Isokrates; Jahr-
zehnte des Studiums xmd der täglichen Übimg waren nötig, damit eine
Improvisation wie die Monodieen auf Smyma oder Eleusis gelingen
konnten. Wohl leisten wir es nur mit Überwindung, die großen Reden
durchzulesen; viel Lukian hintereinander erregt noch stärkere Übelkeit;
den Schuldeklamationen gegenüber wird den meisten auch der g^te Wille
versagen. Aber niemals (man könnte ja eigentiich nur den neulateinischen
Ciceronianismus vergleichen), niemals ist die formale Technik der Prosa-
rede, eingezwängt in die engen Schranken einer fremd gewordenen Sprache,
mit gfrößerer Vollkommenheit geübt worden: und daß die heutigen
Griechen von der Imitation nicht loskommen können, ohne ihre Kultur
aufzugeben, ist zwar unter Augustus im Prinzip entschieden worden, aber
die Lehrmeister der Byzantiner waren die Rhetoren dieser Zeit (Hermo-
D. Römische Periode (30 v. Qjr. bis 300 n. Chr.). III. Die ncuklassische Literatur. 165
genes und Nachfahren), und ihre Vorbilder waren Aristeides und Lukian.
Man überlege sich auch, was denn das Griechentum ist, das in der
Renaissance wirksam wird, an das die Aufklärung appelliert, ja das noch
bis in unsere Tage für sehr viele die Vorstellungen beherrscht: die
„Helden" Plutarchs, die „Frömmigkeit" des Pausanias, die „Mythologie«
der Göttergespräche Lukians. Gewiß, mitleidlos muß man die Autorität
dieses Scheinwesens zertrümmern. Was sind alle gemachten Blumen und
alles destillierte Parfüm gegen die echten Kinder des Frühling.s. Aber
wie gut nachgemacht war, was so lange täuschen konnte, sollen wir auch
anerkennen.
Aristeides ist von der Philologie eigentlich noch nicht entdeckt, ab- ArbteW««
gesehen von den Verirrungen seines Asklepiosglaubens, und doch fordert '^ ****'' "°'"
er eine Monographie. Er ist allerdings nicht so leicht zu verstehen wie
Lukian und hat bei den Klassikern gelernt, die persönlichen Spitzen
durch Verallgemeinerung zu verhüllen. Dafür ist er kein Journalist wie
Lukian, den niemand als Person ernst nimmt, sondern eine Macht Es ist
nicht seine Zunge, es ist er selbst, dem der Landtag von Asien und
Kaiser Marcus das Ohr leihen und gern folgen. Er i.st für die Festgemeinde
an den Isthmien und sonst der erbauende und erhebende Redner, und
diese Reden darf niemand vergessen, der die christlichen Festpredigten
des 4. Jahrhunderts bewundert Ernst ist's dem Manne mit seinem Glauben,
der in seiner Widerwärtigkeit und seiner zähen Energie ein Reflex seines
Wesens ist; ernster noch mit seiner Kunst: gegen deren Mißbrauch findet er
auch Worte gerechten Zornes. Jede Vergleichung mit den Rhetoren, von
denen wir Proben haben, Herodes, Polemon, Lesbonax, auch mit den
Pseudepigraphen unter seinem Namen beweist seine Überlegenheit Zwar
nicht sein Panathenaikos, aber wohl seine Rede auf Rom dürfte durch
einen Kommentar, der Inhalt und Form gleich zur Geltung brächte, auf
eine Höhe gehoben werden, die an den Panegj'rikos des Isokrates min-
destens nahe heranreicht
Ist Aristeides gerade darum der vorzüglichste Vertreter der ganzen oion
Zeit, weil ihre Krankhaftigkeit in ihm ebenso kulminiert wie ihre Kunst,
so verkehrt man um so lieber mit den Moralisten, deren Gesinnung durch
Leiden oder Schweigen gestählt war. Dion von Prusa ist als Rhetor für
uns der erste strenge Attizist, wenn er's auch noch nicht ganz erreicht
Die Bekehrung zur Philosophie, die durch ein längeres Untertauchen in
die tieferen Volkskreise gestärkt ward, durch das er sich dem Tyrannen
entzog, hat ihn zur Sokratik und noch mehr zum Kynismus geführt, aber
seinen Stil nicht wesentlich geändert. Es war doch immer Rhetorik, was
er in den Dienst der traianischen Regierung stellte (für uns als der be-
redteste Vertreter des kynischen Monarchismus), womit er zu Hause eine
übrigens ziemlich erfolglose Beglückerrolle spielte (die Reden lassen
einigem Zweifel Raum, ob er ganz nach seinen Worten zu handeln wußte),
und womit er in vielen Griechenstädten zur Eintracht und Einkehr mahnte.
(t nach iii).
l66 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Nur soweit sie praktisch ist, hat seine Philosophie eigenen Wert, weil er
für das niedere Volk ein Herz gewonnen hat und sich ein wenig als
kynischer Arzt der Seelen fühlt. Seine Predigten über die unerschöpf-
lichen Themen Sokrates und Diogenes sind Reproduktion; ebenso die in
ihrer Art gelungenen Allegorieen und Prosopopöieen (darunter eine Um-
kleidung der altstoischen Physik unter dem Namen Zoroaster, die immer
wieder für persisch oder für mystisch-religiös ausgegeben wird); im
Grunde ist auch die berühmte Jägernovelle ein Stück der „kynischen
Weise". Aber ihre Frische zeugt von dem warmen Herzen Dions, sogar
mehr als von seinem Erfindergeschick. Es war gesunde Kost, die er dem
Volke gab, und er gab sie im ganzen in einer Form, die dem Volke ver-
ständlich war: das schloß den gelehrten Schmuck der Reminiszenzen imd
die Beziehung auf tiefere philosophische Kenntnisse aus, um derentwillen
wir heute lieber nach Plutarch greifen.
piutarch Die beiden Zeitgenossen scheinen sich nie berührt zu haben; sie
{c».4o— i»o). }^^^g,j gjj,jj auch schwerlich angezogen, denn dem Plutarch ist alles
Kynische antipathisch. Ob er zu Traian, dem Beschützer Dions, Be-
ziehungen gehabt hat, ist sehr fraglich. So ernsthaft er die Unterordnung
unter Rom seinen Landsleuten ans Herz legte und so sehr er sich be-
mühte, das Römertum zu verstehen, er fühlte sich doch ganz als Grieche:
von ihm selber erfahren wir nicht, daß er das römische Bürgerrecht besaß,
und erst die Inschriften haben seinen vollen Namen kennen gelehrt Er
lebte in bescheidenem Wohlstand in Chaironeia, seiner winzigen Heimat-
stadt, an der Seite einer geliebten und sogar aus Liebe geheirateten Frau
und im Kreise geistig angeregter Freunde; Athen, das er oft besuchte,
und in dessen geistigem Leben er, als Ehrenbürger und alter Herr der
akademischen Schule, gewiß mit den Ton angab, schützte vor Verbauerung.
Die weite Welt, Alexandreia und Rom, die er als Jüngling besucht hatte,
konnte ihn ebensowenig fesseln, wie die epideiktische Halbphilosophie,
obwohl er auch diese geübt hatte; aber auch die mathematische Bildung,
die er sich auf der Universität erworben hatte, war ihm nur eine schätzens-
werte Propädeutik, und ist er auch immer Platoniker geblieben, so war
ihm das mehr die allgemein hellenische Religion. Er war nicht Attizist
in den Vokabeln, aber das alte Grriechentum war ihm genau so das
Paradies gesunderer, schönerer, freierer Menschen wie den Humanisten,
die sich vom i6. — 1 8. Jahrhundert an ihm begeistert haben. Die richtige
Stellung zur Welt des Tages, vornehmlich zum Römertume zu gewinnen,
halfen ihm Poseidonios und Polybios. Es war nicht seine Lehre, sondern
seine harmonische Persönlichkeit, die der Lehre Gewicht gab, was so
viele Griechen und Römer {besonders Verwaltungsbeamte) in sein gast-
liches Haus führte. Auf die Anregung von außen griff er am liebsten in
seine Bibliothek und seine Zettel und schrieb über irgendeinen Gegen-
stand der praktischen Moral einen Essay, an dem ihm eigentlich nur die
Kunst und das Ethos gehörte: aber eben dieses machte die Lesefrüchte
D. Römische Periode (30 v. Qir. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 167
dem Adressaten und uns genießbar. Es ist diese Moral, durch die er
Montaigne unentbehrlich war, zumal er den unpraktischen Rigorismus der
Seneca und Musonius vermied, vor allem den Widerspruch zwischen
Leben und Lehre. Daneben versucht er sich am Dialoge, seine eigene
Umgebung einführend, die uns wirklich in greifbaren Personen entgegen-
tritt, aber auch historische Personen aus großer Zeit, die Befreier Thebens,
oder die sieben Weisen, diese nach einer alten Novelle. Auch Biographieen
hatte er manche geschrieben, darunter, wohl noch in flavischer Zeit (da
er über Vitellius nicht herabging; die beiden erhaltenen Stücke sind auch
noch ganz unfrei), die der römischen Kaiser, die des Pindar, des Krates,
auch eines phokischen Räuberhauptmannes: diese drei aus Lokalpatriotismus.
Da hat ihm denn einer der Freunde und Helfer Traians, Sosius Senecio,
den Anstoß zu seinen großen Parallelbiographieen gegeben, dem Werke,
das zurzeit seinen Ruhm wesentlich begründet; im Altertum war das anders.
Die Tendenz, Griechen und Römer als einander ebenbürtig zu erweisen,
entspricht dem traianischen Regimente; beide Nationen hatten die Mahnung
nötig. Wie Plutarch dieser Tendenz dient, ist des Vorbildes Polybios
würdig. Diesem folgte er gleich in dem ersten Paare, Epaminondas
und Scipio: denn den Freund und Helden des Polybios als edelsten
Vertreter des Römertumes konnte er nur von jenem empfangen wie nur
der Böoter den Epaminondas an die erste Stelle rücken konnte. Dem
ist denn eine Menge Paare gefolgt, allmählich auch solche, die gar nicht
als Muster gelten .sollten und konnten, wie Antonius und Demetrios (ein
besonders schönes Buch}. Die Verkoppelung ist manchmal äußerlich, wie
bei Lysandros und Sulla, weil beide Athen zerstört haben, Agesilaos und
Pompeius, weil beide ruhmlos in Agj^pten gestorben sind, oft selbst-
verständlich {Romulus — Theseus, Numa — Lykurg, Alexander — Cäsar),
zuweilen ganz geistreich, wie die revolutionären Könige Spartas und die
Gracchen oder Sertorius und Eumenes. Was uns befremden kann, ist
die Ausschließung der hellenistischen Könige und der römischen Kaiser;
aber da er die letzteren schon behandelt hatte, gab es für jene kaum die
Parallelen; sonst hätten z. B. Ptolemaios Philopator zu Xero, Antiochos
Soter zu Augustus ganz wunderbar gepaßt. Freilich kann man nicht
sagen, daß die abschließende Vergleichung der verbundenen Charaktere
irgendwie Bedeutendes sagte (sie ist daher in den Handschriften oft
fortgelassen), und manche römische Biographie ist in Wahrheit nur
ein auf das Persönliche gerichteter Auszug aus einem oder mehreren
Geschichtswerken: aber das bleibt doch, daß das Individuelle fast immer
sich zu einem interessanten Vollbilde abrundet Es sind wirklich Bioi in
dem peripatetischen Sinne, dem der Mensch das Interessante ist; sein Wesen,
nicht sein Tun. Wer diese Bücher auf die Tatsachen hin liest, muß sich
oft ärgern; mit Recht wird er sagen, daß Plutarch kein Historiker war;
aber das wollte er auch nicht sein. Er war auch kein Dichter wie sein
Zeitgenosse Tacitus. Auch diese beiden haben sich nicht berührt, weder
i68 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
persönlich noch literarisch. Sie würden sich auch nicht verstanden haben.
Forscher waren sie beide nicht, sondern formten bereits geformten Stoff.
Daß Plutarch sich bemühte, neben den besten Historikern womöglich auch
authentische Zeugnisse für das individuelle Wesen seiner Helden zu finden,
ist kein persönlicher Vorzug: dafür war er Grieche und besaß philo-
sophische Bildung; natürlich bediente er sich dazu der Vermittelimg der
alexandrinischen Biographen; aber wer ihn auf den Standpunkt der
Exzerptoren herabdrückt, dem ist er noch nicht mehr als eine Greschichts-
quelle. Tacitus war ein Römer jener Art, die von einem Gräculus und
einem Literaten keinerlei Belehrung annahm. Das schied die Menschen.
Gewiß ist der der Größere, den wir lesen wie einen Tragfiker. Der andere
hat einem Shakespeare den Stoff und die Charaktere (auch diese) für
große Tragödien geliefert; an ihm hat sich der ganz alte Goethe manchen
stillen Abend erbaut, dem die rhetorisierte Historie mit ihren Staatsaktionen
und pragmatischen Maximen zeitlebens unausstehlich war. Etwas Kleines
ist das auch nicht Die letzten Jahrzehnte seines. Lebens wohnte Plutarch
in Delphi und bekleidete dort ein hohes geistliches Amt Da ward sein
frommer, aber freier Geist auf die schiefe Bahn gedrängt, eine Religions-
übung, die doch nur als ehrwürdige überlieferte Form noch erträglich war,
innerlich irgendwie beleben zu wollen. Der Mystizismus des Poseidonios
gewinnt immer mehr Gewalt über ihn, imd so verkündet er uns in merk-
würdigen Dialogen die unerfreuliche Dämonologie, die wir dann nicht nur
in der neuplatonischen Schule, sondern in allen Religionen der Zeit die
Sinne imd die Sittlichkeit gefährden sehen. Er konnte noch über die
Verlcissenheit der Orakel schreiben, sah sie aber doch schon in unheim-
licher Weise wieder das Orakeln aufnehmen und hatte nicht den Mut, dem
Zauberspuk energisch abzusagen, weil auch dieser ihm ein Erbe der großen
Vergangenheit zu sein schien.
Plutarchs schriftstellerische Art ist eigentlich überall dieselbe, es sei
denn, er folgte einmal eng einer streng wissenschaftlichen Deduktion (z. B.
in den Abhandlungen von der ethischen Tugend und den beiden größeren
gegen Epikur). Lange wohlgeformte Perioden rollen in gleichartigem
ruhigem Zuge, ohne monoton zu werden, dahin; feine Gleichnisse, Zitate
und Anekdoten werden eingestreut (er sammelte all so etwas offenbar in
Zettelkästen), die liefern für neue Gedanken den Anhalt und ersparen, plötz-
lich einspringend, oft die Mühe der Gedankenverbindimg. Man hat den Ein-
druck, als reflektierte ein unerschöpfliches Gedächtnis dies und jenes Bild,
das in ihm aufsteigt. Lebhafte Erregung, auch wo sie im Dialoge an-
gestrebt wird, pflegt zu mißlingen, wie jeder laute Scherz; aber auch ver-
haltene Stimmung bringt es nur selten zu einer Stärke, die uns innerlich
ergriffe. Wir hören einen milden, klugen Grreis lehren, erzählen, plaudern,
dessen Auge rückwärts blickt, vorwärts nur, wenn es zugleich jen-
seits ist, in gesättigtem Gottvertrauen. Die Jugend, die zu handeln hat,
wird den guten Alten gern anhören, aber etwas ungeduldig: wer ihr
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 160
Epikiet
(lehrt
CA. go— 120).
Handeln bestimmen soll, der muß kräftiger mit Peitsche und Zügel
regieren.
Als ein solcher Zuchtmeister lebte, wieder in einem ganz anderen
Kreise, der phrj'gische verkrüppelte Sklave oder jetzt Freigelassene eines
kaiserlichen Freigelassenen, Epiktetos in dem augusteischen Nikopolis bei
Aktion. Zu ihm zog von Ost und West eine Jugend, der es um sittliche
Erziehung zu tun war, und die Passanten auf dieser Durchgangstation
des Weltverkehres hörten sich den seltsamen Prediger auch gern an. Wir
verdanken der Treue des Bithyners Arrian, der die stenographischen
Nachschriften vieler Vorträge unverändert ediert hat, daß auch wir den
Epiktet reden hören. Wie es mit solcher Moral geht, man darf nicht
zuviel hintereinander lesen, denn sie hat das Recht, sich zu wiederholen,
und es ist eben wirklich lebendiges Wort, das Wort eines rhetorisch gar
nicht Gebildeten, dem nur der Mund von dem übergeht, des das Herz
voll ist. Die plebejische Sprache des täglichen Lebens redet er, nur
innerlich geschult von den .Stoikeni, deren Doktrin er gelernt hat und
bekennt, ohne daß sie doch dcis Wesentliche wäre, selbst für seine Schüler,
wie denn die Berührung mit der kyni.schen Diatribe auch keine literarische
ist. Dies ist eben überhaupt nicht Literatur. Die Spekulation hat ihn wohl
innerlich befreit, aber jene Gymnastik des Denkens, durch die Platon zur
Wissenschaft erzieht, ist dem Epiktet nicht mehr Selbstzweck, kaum noch
Mittel, denn auf Wissenschaft geht er gar nicht aus. Er steht der Welt
weder mit kynischer noch mit christlicher Verneinung gegenüber: er steht
aber außer ihr, weil er sich als Bürger im Reiche Gottes fühlt, und zu
solchen will er seine Schüler machen, durch individuelles Erleben, durch
Umdenken (aber die laeTävoia wird nicht zur Reue) und durch die persön-
liche Liebe zu Gott. Schwerlich gibt es einen Christen der alten Kirche,
der der wirklichen Lehre Jesu, wie sie bei den Synoptikern steht, so nahe
käme wie dieser Phryger. Der Auszug aus seinen Unterhaltungen, das
Encheiridion (Katechismus, können wir sagen), ist gar nicht einmal sehr
geschickt gemacht, und doch ist es ein Buch, das zu allen Zeiten Kraft
und Trost gespendet hat: es könnte und sollte auch heute volkstümlich
sein. Das Tagebuch des Kaisers Marcus nimmt man dann passend hinzu. Marcu«
Der Schüler Frontos, der sich aus den lateinischen Primitiven hatte Vokabeln ^* '*"'
ausziehen müssen, konnte offenbar nur Griechisch schreiben, wenn er aus
der Welt der heuchlerischen Konvention entfloh und in seinem Kämmer-
lein die ungeschminkte Wahrheit suchte. Man merkt aber doch, daß er
nicht seine Muttersprache schreibt; es kreuzen sich literarische Reminis-
zenzen mit dem gewöhnlichen Konversationsgriechisch. Der innere Adel
des Verfassers verleiht dem Büchlein, das gar nicht literarisch sein wollte,
seinen ewigen Wert: der aber ist so hoch, wie ihn kein stilisiertes Buch
seines Jahrhunderts beanspruchen darf.
Auch Arrian ward in der gesunden Schule Epiktets zwar für die ArrUn
innere Wahrhaftigkeit gewonnen, aber der praktischen Tätigkeit keines- '^ "^ '"^
lyo Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Wegs entfremdet Er brachte es im Reichsdienst bis zum Statthalter von
ICappadokien, stand dem Hadrian offenbar nahe, nahm bei dessen Tode
den Abschied, zog nach Athen, widmete sich der Schriftstelle rei, betätigte
sich aber auch im Kommunaldienst — das mutet uns alles höchst modern
an. Aber seine Schriftstellerei zeigt ein anderes Bild. Niemand hat die
attizistischen Marotten so weit getrieben. Er nennt sich selbst Xenophon
den Jüngeren, wenn er ein Jagdbuch schreibt, nimmt ebendaher den
absurden Titel Anabasis für seine Alexandergeschichte, deren Wirkung
auch durch die Mätzchen gesuchter Naivität stark beeinträchtigt wird.
Das Buch über Indien schreibt er gar ionisch. Dabei besitzt er eigentlich
keine schriftstellerische Begabung. Daß der gediente Offizier militärische
Dinge besser wiederzugeben versteht als der delphische Priester, und daß
der Verwaltungsbeamte in der Diadochenzeit, die er dem Hieronymos
nacherzählt, für so etwas wie die Satrapieen Verteilung ein Interesse hat,
sind große Vorzüge, aber eben keine formalen. Wie sollten wir dem nicht
dankbar sein, der uns im Gegensatze zu aller Romantik die Auszüge aus
Ptolemaios, Nearchos, Megasthenes erhalten hat: den Menschen wollen wir
preisen, den Schriftsteller werden wir am besten vergessen. Leider sind
seine parthische Geschichte, seine Diadochengeschichte und die seiner
Heimat Bithynien noch in den allerletzten Jahrhunderten des Mittelalters
zugrunde gegangen.
loiephu» Nur das Interesse der Christen hat die Geschichtswerke des losephus
(t nach 90- erhalten, der in der Reihe der Koryphäen keinen Platz beanspruchen
kann; aber die Historiographie braucht sich wenigstens seines ersten
Werkes, der Geschichte des jüdischen Krieges, durchaus nicht zu schämen.
Es hat der Person des losephus geschadet, daß er ein Verräter schien,
was er schwerlich war (ein überzeugter Jude ist er immer geblieben),
und daß er als offiziöser Historiograph, um den Titus von der ab-
sichtlichen Zerstörung des Tempels weiß zu brennen, die Geschichte
wissentlich gefälscht hat Man braucht aber deshalb keineswegs an-
zunehmen, daß er an Wahrheitsliebe unter der Menge der Historiker
stünde, und die unerfreulicheren Umgestaltungen, die wir durch Ver-
gleichung des jüdischen Krieges mit dem späteren Werke, der Archäologie,
konstatieren, gehen auch über die Gepflogenheiten der gewöhnlichen Er-
zähler schwerlich hinaus. Er besaß wohl bessere Bildung, als er sich
geflissentlich den Anschein gibt; aber Literat war er doch erst durch die
Not geworden, und die attizistischen Lichter (z. B. die lächerliche
Thukydidesimitation gleich in der Einleitung) kontrastieren grell mit dem
matten, zerflossenen Griechisch, das ihm natürlich ist Trotz allem ist der
jüdische Krieg wohl disponiert, und die Berichterstattung, die an Detail
nicht spart, steigert die Spannung und erschüttert in dem grausigen Schluß-
bilde der Zerstörung. Dies Können dankt er den hellenistischen Tradi-
tionen; er konnte gar nicht anders, als sich an Nikolaos bilden, dem er
in dem zweiten Werke so vieles nacherzählt, was wiederum, schon durch
I
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassisclie Literatur. 1 7 1
die Fülle der Details, fesselt. Sonst ist die Archäologie unerquicklich: da
muß nur zu oft allerhand Schwindel die Lücken füllen oder die biblische
Überlieferung mundgerecht machen; Gelehrsamkeit und Kritik soll man
von einem Menschen dieser Herkunft und Stellung nicht verlang-en. Daß
er sich auch darum bemüht hat, zeigt die Streitschrift wider Apion. Aber
beobachten konnte er: da.s zeigt der jüdi.sche Krieg. Es ist sehr schade,
daß wir Tacitus nicht vergleichen können, der den losephus verachtet zu
haben scheint: der Historiker würde vermutlich Anlaß haben, ihm das zu
verdenken. Ohne Frage ist eine solche Spezialschrift nicht mehr als Roh-
material, wenn der Historiker ein Poet sein soll, wie das von der rhetorischen
Theorie anerkannt war: er gestaltet dann aus dem Rohstoffe sein Kunst-
werk, wie der Tragiker aus dem breiten Epos in Vers oder Prosa, der
auch die Masse Namen und Taten beiseite wirft. Die Geschichte als
Wissenschaft wird darum doch nach dem primären Berichte greifen; es ist
kein Zufall, daß die lateinische Literatur kein Geschichtswerk von der Art
des losephus enthält außer Cäsar, der nur ein Hypomnema schreiben
wollte (oben S. 94}, und Ammian, der ein Grieche ist und in die griechische
Entwickelung gehört.
Da nach Tacitus die Römer überhaupt versagen, so daß nicht einmal
die Taten Traians einen Berichterstatter fanden, der ihr Gedächtnis be-
wahrte, so war es ein Glück, daß Griechen in die Reichsverwaltung ein-
traten und so Interesse an der Reichsgeschichte gewannen.
Zwar die römische Geschichte des Alexandriners Appian, die den AppUn
Griechen die Eroberung derWelt durch die Römer erzählen wollte (auch noch '* ""'' '*"''
Traians Taten erzählte), war noch eine bloße Nacherzählung, für die ältere
Zeit (aus der wir das meiste besitzen) sehr oberflächlich und unanschaulich,
aber wenigstens in dem Abschnitt über die Bürgerkriege von unleugbarer
Wirkung. Von der kommt das Beste auf seine Vorlagen (die wir nicht
benennen können, und die man unter den Primärquellen nirgend suchen
soll), aber nicht allein. Appian versteht zu erzählen und zu gruppieren;
er ist zwar ganz unmilitärisch, aber für das Persönliche hat er Interesse.
Archaismen setzt er oft in lächerlicher Weise seiner marklosen Rede als
Schönheitspflästerchen auf. Die Rhetorik hat ihn zum Glück nicht an-
gefressen. Vergleicht man ihn mit Florus, wozu die Disposition Ver-
anlassung gibt, so hebt ihn das ungemein; wenn sein Buch lateinisch wäre,
würde er ein berühmter Mann sein.
Sehr viel höhere Aspirationen hatte Cassius Dio, der zwar die bithy- c»Miu« dio
nische Heimat und den Namen mit dem Philosophen Dion gemein hat, aber ' ***^''" '^''
nicht nur ganz unphilosophisch ist, sondern diese Abneigung auch zur
Schau trägt. Zum Historiker brachte er die Befähigung aus dem Ver-
waltungsdienste mit; er hat unter der Dynastie des Severus loyal und
ohne Servilität gedient und ist freiwillig unter Alexander ausgeschieden.
Seine Darstellung der Zeitgeschichte möchte man nach den erhaltenen
Proben gern lesen: es redet ein ehrlicher kenntnisreicher Beobachter
1^2 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
in der Art, wie sich die alte römische Annalistik in der Kaiserzeit
umgestaltet hatte, imvergleichlich besser als die elende Rhetorenarbeit
eines gewissen Herodian, der unabhängig von ihm die Geschichte von
Commodus bis Grordian schrieb, inhaltsleer und langweilig. Aber der Ver-
such, eine vielbändige römische Geschichte zu verfassen, ist im Grunde
doch gescheitert Wie langweilig das Buch ist, spürt man am besten an
den Partieen, deren Inhalt immer wieder zum Lesen reizt Wenn es jemand
fertig bringt, daß der Sturz der römischen Republik keinen Eindruck macht,
und wenn man übersättigt an der raffinierten Kunst des Tacitus sich fast
nach langweiliger Sachlichkeit gesehnt hat und doch von Dio rasch enttäuscht
wird, so ist das Urteil gegeben. Er wollte keinen Roman schreiben; das war
recht; die persönliche Psychologie lehnte er ab; dazu reichte es auch nicht
bei ihm. Das Detail schien ihm unwürdig, gemäß der Rhetorenlehre, die
auch seinem Stile verderblich geworden ist Denn dieser Mann der
politischen Praxis schreibt doch schon ein ganz totes Grriechisch; er hat
mit Auszügen aus Thukydides reichlich ebenso wichtige Vorarbeit zu
leisten gemeint, wie mit denen aus den Historikern, die er zugnmde
legte (an Primärquellen, wie sie Plutarch suchte, hat er nie gedacht; es
ist schon löblich, daß er wenigstens Livius nahm). Und ganz in Rhetoren-
art bildet er sich ein, mit trivialen Sentenzen die Würde tmd den Nutzen
der Historie zu erhärten. Die Reden sind stilistisch imgenießbar, aber
inhaltlich, wenn man die Manier einmal zugabt, auf gleicher Höhe mit der
Erzählung. Er hat auch nur Aberglauben, keine Religrion, und beiuteilt
die menschlichen Dinge mit jener banalen Überlegenheit, die man bei
den Roturiers a. D. ebenso oft findet wie leider auch bei einer Sorte
zünftiger Historiker. Und doch hat das Werk des Dio großen Segen ge-
stiftet Er gab den Griechen, die zu Romäern werden sollten, die Ge-
schichte Roms und ist in der Tat der Livius für Byzanz. Und er gab
den Anstoß, daß im Anschluß an ihn und so weiter ziemlich zusammen-
hängend bis Mauricius die Reichsgeschichte geschrieben worden ist
Lokbn Lukianos von Samosäta, der von seiner Mutter vermutlich mit einem
"*' ' syrischen Namen gerufen war, in seinen attizistischen Dialogen sich als
• Lykinos einführt (die Titiani machten sich damals zu Titaniem, und der
Philosoph Kronios wird wohl Satuminus geheißen haben), der dvirch die
ganze Welt gezogen ist, in Antiocheia einer Maitresse des Verus huldigt
wie Diderot der Pompadour, in Athen die zünftigeil Philosophen xmd
Rhetoren im Neglig6 belauscht, in Oljrmpia als Weltreporter die große
Kirmes besucht, auf der die ganze Gesellschaft Althellas spielt, in Rom
hinter die Kulissen der gproßen Bühne guckt, auf der der Reichsadel
agiert, in dessen Salons er sich zu seinem Leidwesen meist niu* auf der
Hintertreppe einschleichen kann, der Journalist, den alle lesen imd hören
mögen, aber niemand ganz als seinesgleichen anerkennt, dessen boshafter
Witz denn auch an allen sein Mütchen kühlt, wie sie es alle verdienen,
und der am Ende in Ägypten in einem staatlichen Bureau unterkriecht,
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chx.). III. Die neuklassische Literatur. 173
1
r
weil er klug genug gewesen Lst, den StJiat und alles, was dazu gehört,
allein ganz ungeschoren zu lassen: dieser Lukian hat es verdient, daß er
der gelesenste griechische Schriftsteller der Kaiserzeit jahrhundertelang
gewesen ist Scheidemünze ist dazu da, durch die meisten Hände zu
gehen; aber man pflegt zu ihr kein Edelmetall zu nehmen. Dem Sprach-
forscher macht es ein lukianisches Vergnügen, diesem Attizisten die Ver-
stöße gegen die korrekte Imitation aufzumutzen, die er selbst an anderen
witzig geißelt, und denen er doch selbst nicht entgeht. Es sind im Grunde
doch nur Kleinigkeiten: sein formales Talent ist um so bewundernswerter,
da er den Schweiß, der an seinen Essays in den verschiedensten alten
Formen klebt, niemals spüren läßt Auch was er an Motiven und Stoffen
entlehnt hat, weiß er sich ganz zu eigen zu machen; es fehlt uns aller-
dings das Material zur Kontrolle, namentlich für die kynische Satire,
deren Erneuerung er sich mit Recht zur besonderen Ehre rechnet
Freilich hat er gerade in ihr den Ton merklich herabgestimmt; eine
Schärfe, wie sie Oinomaos von Gadara (wenn er wirklich aus der Heimat
des Menippos und Meleagros war) in der „Entlarvung des Schwindels"
gegen die Orakel und zugleich gegen den stoischen Determinismus
richtete, war ihm doch zu gefährlich, das Philosophische daran auch zu
hoch. Für ihn war ein konsequenter Kyniker auch ein Narr, nur mit
anderer Kappe, wie alle Menschen, die ernsthaft an etwas glaubten. Da
nun aber in seiner Zeit die Verirrungen des Glaubens und dazu die
Heuchelei ebenso ungeheuer waren, wie unter dem Deckmantel der
Würde und Ehrbarkeit (Marcus saß auf dem Throne) nur zu viel wüste
Sittenlosigkeit steckte, so freut man sich aufrichtig an dem lustigen
Gesellen, der dreist genug diesen Mantel lupft. Man muß nur nicht mehr
verlangen, als ein Journalist leisten mag, noch dazu einer, der sich keine
Tür für immer verschließen will. Den kleinen Winkelpropheten Alexander
von Abonuteichos durfte er abschlachten ; auf den unbedeutenden Professor
Polydeukes ein Pasquill loslassen, die olympischen Götter nach Belieben
travestieren, die doch nur noch für das Ballett und die Kinderstube
Personen waren: die mächtigen Götter, Asklepios, den ägyptischen Hermes,
Sabazios, Christus, Mithras und vor allem Hadrian und die anderen
Kaiser hütet er sich wohl anzugreifen. So täuscht er über das heiße
Ringen seiner Zeit um Glauben, wie er über die eigentlichen Zeit-
krankheiten täuscht; er versinkt unrettbar in Gemeinplätze, wenn er auch
nur ein literarisches Problem wie die Geschichtschreibung ernsthaft be-
handeln soll, und kaum je wird ein Buch von ihm nicht langweilig, sobald
es einigermaßen Buchlänge bekommt: aber das ist alles eigentlich nicht
seine Schuld. Der Journalist lebt vom Tage für den Tag; dieser steckt
selbst ganz tief in dem c(in( seiner Zeit: er ist ja Lykinos; aber er weiß,
daß es cani ist, und es kitzelt ihn immer, den Freimut zu üben, den er
sich gern in dem Wahlnamen Parrhesiastes beilegt, und ein bißchen tut
er's ja auch. Natürlich hat er keine eigenen Gedanken; Geister, die stets
1^4 Ulrich von WoamOWITZ-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
verneinen, sind im Grunde dumm: aber wer unter ihnen zur Spezies
Schalk gehört, hat nun einmal das Vorrecht, selbst im Himmel von Zeit
zu Zeit Zutritt zu finden.
Zwei Männer der Wissenschaft aus dieser Zeit haben einen be-
rühmten Namen und gewaltigen Einfluß lange behauptet und haben das
Beste ihres Ruhmes verloren, sobald man die wahre griechische Wissen-
ptoiemaioi schaft keimen lernte, denn sie waren auch nur Männer ihrer Zeit, Ptole-
(t um i6o). jj^^Qg (jgp Astronom und Galenos der Arzt. Der erste bleibt ein Mann
der exakten Wissenschaft, auch wenn man sein Lehrbuch der Astronomie
nicht mehr Almagest nennt, was nach schwarzer Kunst klingt, und wenn
der griechische Bürger aus Ptolemais in Oberägjnpten nicht mehr die
Krone trägt, mit der ihn RafFael gemalt hat. Gewiß, seine Geographie
ist Kompilation, und Fehler sind genug darin; Ideen hat er nicht hinzu-
gebracht. Aber er verstand doch noch die mathematische Grundlage, die
nicht nur für Agrippa, sondern auch für Strabon zu hoch war; und wie
stark man gerade bei diesem Versuche des einzelnen alexandrinischen
Gelehrten empfindet, was die Reichsregierung mit organisierter Arbeit
hätte leisten sollen: es ist immer das Erbe der griechischen Wissenschaft,
das hier ein letzter wirklicher Gelehrter so zusammenfaßt, daß der Schatz,
sei's auch für viele Generationen so gut wie vergraben, aufbewahrt bleibt,
bis in besseren Tagen der rechte Mann ihn finde und mit ihm wuchere.
Als die Renaissance von diesem Bilde der Weltkugel erfahrt, bringt diese
Erkenntnis bald den Kolumbus nach Westen auf den Weg, um Indiens
Küste zu suchen. Auch die Astronomie hat sich in ihrem Besten als
übernommenes Gut erwiesen: Hipparchos und die große Reihe seiner
Vorgänger sind die Sterne von eigenem Lichte: aber Ptolemaios verstand
sie doch und fixierte ihre Lehre, und zwar in dem schönen strengen
Stile der Wissenschaft, ohne rhetorische Mätzchen. Man empfindet dcis,
wenn man etwa von Kleomedes posidonische Astronomie in der Mode-
sprache, gar mit theologischer Salbung, vorgesetzt bekommt. Das alexan-
drinische Museum, das Demetrios von Phaleron einst für Ptolemaios I.
im aristotelischen Sinne gegründet hatte, beweist immer wieder einmal
durch einen einzelnen Forscher, daß es die ernste Wissenschaft, sei's
auch als Glut unter der Asche, zu bewahren wußte. Es ist eine Lücke,
der Forschung wohl mehr als der Überlieferung, daß die Kontinuität der
alexandrinischen Schule noch ganz im dunkeln liegt Die Kraft hat dem
Ptolemaios freilich wie dem Galen eine strenge philosophische Schulung
(hier die aristotelische) verliehen. Und doch ist selbst er nicht frei von
der Krankheit seiner Zeit: er hat auch ein Handbuch der Astrologie ge-
schrieben.
Galenos schreibt schön, schreibt hiatusfreie Perioden; die dürren
Partieen, Aufzählungen, Rezepte, scheinen in diesem Stile deplaciert. Er
schreibt über alles, nicht bloß über seine Medizin in allen ihren Teilen, Hand-
bücher, Spezialschriften, Polemik, Hippokrateskommentare ; er schreibt auch
D. Römische Penode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassischc Literatiir. 175
philosophische Abhandlungen, vom logischen Katechismus für Anfänger
bis zur Naturphilosophie, und sogar über gframmatische Spezialitäten. Er
schreibt über die Dinge, die ihm besonders am Herzen liegen, zwei-,
dreimal und mehr; und seine Person liegt ihm ganz besonders am Herzen.
Die Worte fließen ihm so reich und so leicht, daß er immer eine Weile
fortreden kann, klangvoll und zusammenhängend, und sich unterweilen erst
besinnen, was er sagen will. Er kann einmal klar und kurz sein: dafür hat
er seine logische Bildung; er kann ein andermal amüsant und anschaulich
werden (z. B. wenn er aus der eigenen Praxis mit Bosheiten gegen die
Kollegen erzählt; das Buch über die Prognose an Epigenes sei als Probe
genannt); dafür hat er die gute stilistische Bildung; aber im ganzen rächt
es sich, daß er ein Schönschreiber sein will und ein Vielschreiber ist
Und der Glaube an seine Bibel Hippokrates ist eine der schlimmsten
Manifestationen des Archaismus. Aber durch beides noch mehr als durch
seine fachmännische Tüchtigkeit (die einmal unparteiisch untersucht werden
muß) hat er erreicht, daß er als die Autorität des Altertums gegolten hat,
was er keinesfalls verdiente; die nächsten Generationen werden sicher
aus seinen Kompilationen manchen älteren Forscher hervorsteigen sehen,
der ihm mindestens ebenbürtig ist. Zum Glück ist er auch nicht der
einzige erhaltene Arzt und liefert selbst das Material, eine Anzahl seiner
Vorgänger inhaltlich zu rekonstruieren. Die Medizin hat bis auf diese
Zeit und wohl noch etwas länger wirklich noch ernsthafte und fruchtbare
Arbeit geleistet: wer dereinst ihre Geschichte schreiben wird, zu der
jetzt die ersten Bausteine allmählich gebrochen werden, dem fällt das
schöne Los zu, den Siegeszug griechischer Wissenschaft auf Grund eines
Materiales zu schildern, wie es so reich für kein anderes Gebiet zur Ver-
fügung steht. Wir kennen jetzt schon in Rufus von Ephesos einen auf-
fällig frischen Schriftsteller, xmd in Soranos von Ephesos {der zum Teil
in lateinischen Übersetzungen und Auszügen, sogar bei Tertullian, vor-
liegt) einen Mann, dessen philosophische und grammatische Bildung dem
Galen mindestens gleiclikommt; beide gehören in die traianische Zeit
Aus einem anderen Grunde darf Aretaios nicht übergangen werden, der
inhaltlich wohl nur die Lehre seiner Schule reproduziert, die übrigens
an sich wertvoll ist. Aber dieser Kappadokier hat sich darauf kapriziert,
ein möglich dialektisches Ionisch zu schreiben, viel dialektischer als die
meisten Hippokrateer : so ist das Buch sprachlich sehr merkwürdig; es
harrt allerdings noch der Verwertung und muß auch dazu erst einmal
wissenschaftlich ediert werden.
Die Grammatik war für eine solche Zeit eine unentbehrliche Lehrerin
und Helferin für jedermann: man konnte ja ohne sie weder die Klassiker
lesen, die man nachahmen wollte, noch überhaupt die eigene Schrift-
sprache lernen und üben. Da galt es nicht nur das alexandrinische Erbe
zu bewahren, sondern durch Lektüre und Etymologie und Verfolgung der
Analogie die Korrektheit festzustellen und zu erhalten, in Aussprache,
Aretaios
(wohl noch
I. Jihrh).
^^^^^^176 Ulrich von WilamowitzMoeluendorff; Die griechische Literatur des Altertums.
^m Orthographie, Wortwahl, Flexion und Syntax. Gewaltige Arbeit ist ge-
leistet: die „allgemeine Lehre von der Aussprache" (das ist so ziemlich
Herodian die „katholischc Prosodie") des Herodian registriert eine unübersehbare
'"" ■'"' Masse von Tatsachen und bringt sie auf Regeln; sie beherrscht uns noch
L heute, wenn wir den griechischen Texten die Zeichen der Betonung zu-
^^- setzen (doch ist unsere Sitte nicht älter als dcis 9. Jahrhundert, in vielem
^^1 sogar in nichts als der trägen Tradition begründet). In der Orthographie
^^M können wir Herodian immer mehr durch authentische Zeugnisse kon-
^^B trollieren: im ganzen sind seiner unheimlich konsequenten historischen
^^B Orthographie doch nicht viele positive Fehler nachgewiesen. Auch hier
^H wollen wir die Dankbarkeit gegen den Vermittler nicht vergessen; aber
^V mehr als Vermittler ist Herodian nicht, und was Wissenschaft an der
^^ antiken Grammatik ist, war in besseren Zeiten gewonnen. Nicht anders
I steht es mit seinem Vater Apollonios, der durch die Übertragung seiner
^^ Doktrin auf das Lateinische, die Priscian vornahm, sehr viel stärker als
im Original gewirkt hat.
Atbenaio» Die Dankbarkeit zwingt, dem Naukratiten Athenaios auch ein
'*'*" '™'' Wort zu gönnen: wenn uns die eine Handschrift seines Werkes nicht
- durch eine Gunst des Zufalles erhalten wäre, könnten wir eigentlich gar
I keine Literaturgeschichte, wenigstens der hellenistischen Zeit, unternehmen.
I Und erhalten wären die kostbaren Auszüge, die er zum Teil wirk-
I lieh selbst aus den Schätzen der alexandrinischen Bibliotheken gemacht
I hat, keinesfalls, wenn er nicht so geschmacklos gewesen wäre, sie in der
I Form von Tischgesprächen vorzulegen, angeregt zunächst durch das so
I betitelte Buch Plutarchs (selbst wieder vorbildlich für Macrobius), am letzten
I Ende durch Piaton, den er sklavisch kopiert, obwohl er ihn im Grunde
I nicht ausstehen kann; ein Symposion des Didymos hat er nicht gekannt:
I wie die Typik der Gattung die Griechen bis zur baren Absurdität be-
I herrscht, zeigt er auf das schlagendste, und zugleich, wie seine Zeit
I überall eine mehr oder minder poetische Stilisierung verlangte. Die
P Sachlichkeit genügte ihr nicht, wie ihr ja auch die Wahrheit nicht genügte.
PhiiMophio. Die Philosophie, die in den staatlich dotierten Schulen Athens gelehrt
L ward, brachte nichts von Belang hervor; daß Favorin mit der Skepsis des
I Karneades zu spielen versuchte, hatte keine Bedeutung, denn er war ein
I Blender, der eine Weile lebhafte Sympathie und Antipathie weckte, bis
I seine Charlatanerie herauskam. Im übrigen gehörte Philosophie zur all-
I gemeinen Bildung, und es entspricht dem Klassizismus, daß sie für die
I Einführung in die anerkannten Meister Sorge trug. Die dogmatische Stoa
I hat keinen namhaften Vertreter; aber schon die Polemik, daneben auch
I die überall fühlbare Benutzung (sehr stark bei Origenes) beweist, daß die
strenge Richtung des Chrysippos die Oberhand gewonnen hatte. Der
Asp«ios, Peripatos hat in Aspasios den ersten einer endlosen Reihe trivialer Er-
(sogeTisÜ), klärer, in Adrastos und Alexandres von Aphrodisias sehr achtungswerte
t!m"'irf°' Exegeten; Adrastos wirkt auch außerhalb der engen Schule. Den Piaton
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.,. 111. Die ncuklassische Literatur, i^y
erklärt in Pergamon sehr erfolgreich ein gewisser Gaius; wir kennen seine
Vorträge durch einen Schüler Albinus; um die Exegese, namentlich des
Timaios, bemühen sich auch Männer anderer Schulen und Richtxmgen.
Der Piatonismus eignete sich seinem ästhetischen Werte nach am meisten
zu der Religion der Klassizisten, wozu ihm freilich seine Wissenschaftlich-
keit genommen werden mußte. In diesem Sinne vertritt ihn der Wander-
prediger Maximus aus Tyros, seinem Wesen nach durchaus Rhetor, wie
er denn auch aus anderen Schulen {z. B. von Dion) nimmt, was ihm wirk-
sam scheint. Seine EUietorik klappert, erzielt aber zuweilen nicht geringe
Effekte. Dabei bereitet sich immer mehr die Umgestaltung des Platonis-
mus zu seiner letzten Phase vor, in der er noch einmal die Doppelkraft,
die dialektische und die religiöse, bewähren sollte. So betrachtet, rückte
Piaton immer ganz nahe mit Pythagoras zusammen; aber es gab doch
noch eine pythagoreische Gemeinde, die freilich kaum in die Breite wirkte.
Merkwürdig, daß der namhafteste Schriftsteller des 1. Jahrhunderts aus
dem fernsten Westen stammt, Moderatus von Gades, der des 2. aus dem
oberflächlich hellenisierten Osten, Nikomachos von Gerasa. Die massen-
haft erhaltene dorische Literatur unter fabelhaften Namen kann und wird
ztmi Teil älter sein (wie der sogenannte Okellos sicher hellenistisch ist,
ein interessantes Buch, aber nicht mehr in originaler Form erhalten); aber
das Erkünsteln der Doris paßt in die archaistische Geistesrichtimg: auch hier
harrt wieder eine Literaturmasse noch der Exegese und der geschichtlichen
Einordnung. Epikurs Schule war uns bis vor kurzem stumm. Jetzt lesen
wir an der Wand des GjTnnasiums von Oiooanda, einer lykischen Klein-
stadt, die Traktate, mit denen ein gewisser Diogenes die Seelen seiner
Landsleute zu retten gedachte, der in Rhodos der epikureischen Gemeinde
vorstand, aber auch mit den Genossen in Hellas Beziehungen unterhielt.
Die Weisheit ist altbacken, die Unbildung stark; aber wieder zeigt sich
deutlich, daß der Glaube an wenige Leitsätze und der Kultus des Stifters
und seiner Worte gerade dieser Schule den Stempel der religiösen Ge-
meinde am stärksten aufdrückt Der Kynismus schließt alles Schulmäßige
aus; dafür erzeugt er Individuen, und neben sehr vielen hohlen Gesellen,
die durchaus auf die Gasse gehören, auf der sie nicht minder Schwindel
treiben als all die Andersgläubigen, die sie befehden, steht doch auch
der schon erwähnte Oinomaos, der ganz ernst zu nehmen ist, steht der
würdige Nachfahre des Krates Demonax, dessen anziehendes Lebensbild
wir besitzen (wahrhaftig nicht von Lukian), steht der seltsame Peregrinus,
der, durch alle Religionen irrend, nirgend den Frieden fand imd sich
daher für den Tod des Kalanos entschied. Seine Schriftstellerei scheint
die gewöhnliche kynische Diatribe gewesen zu sein.
So ist auch hier rege Tätigkeit nach allen Seiten, aber ohne Tiefe
und Originalität; die Rhetorik ist dieser Philosophie wirklich überlegen.
Nur ein Werk ist zu nennen, das durch Inhalt und Form die wiederholte
Lektüre reichlich lohnt, die Schriften des Sextus, dessen Name Empiriker
OlS KOLTD« DUt GSOBKWART. I. t. 12
.\lbmu9
(um 15«.).
Maximus
von T>rus
( um i(k>).
l>iD;(cnos
lon (Jinoanda
ti. }.ilirl>.).
Oiuomaos
U. Jahrh.?).
Porecrinii«
(t ■<>«).
Saat II •
(uejcn «oo).
^1 178 Ulrich von Woamowitz-Moellekdortf: Die griechische Literatur des Altertums.
H den Arzt dieser sehr achtungswerten Schule verrät, wie er denn auch nur
H darum die Polemik gegen die Medizin fortgelassen haben kann, als er
H seine Bestreitung aller Dogmatik auf die enzyklopädischen Wissenschaften
H ausdehnte. Seine Person verschwindet sonst ganz und gar; seine Skepsis
H ist gewiß Reproduktion, mehr noch der Lehren des Kameades als
H der änesidemischen; selbst die Form klingt oft beinahe hellenistisch.
H Aber er beherrscht seinen Stoff, er kann denken, und es ist ihm um
H die Sache zu tun. Ein Schriftsteller, der nicht posiert und den Leser
H zwingt, seine Gedanken zusammenzunehmen, dafür aber auch mehr als
H Scholastik bietet, ist in dieser Zeit eine wahre Erquickung, und nicht
H nur in dieser Zeit Wer in die hellenistischen Wissenschaften eindringen
H will und lernen, wie man etwa bei Kleitomachos und Philon disputiert
B hat, tut gut, Sextus vor Cicero zu lesen. Die nüchterne Schulprosa
des Empirikers wird ihm oft die Sache klarer machen als der Künstler
des Stiles.
Artemidor Einen Traumdeuter wird man in dieser Reihe nicht erwarten; aber
(ura 170) jj^g ^aj. damals eine anerkannte Kunst, die an den Stoikern sehr vor-
nehme Eideshelfer hatte, wie denn auch stoische Spuren in der Theorie
unverkennbar sind. Demnach hat Artemidoros von Ephesos (oder
Daldis, wie er sich lieber nannte) auf einen Platz in dieser Reihe
vollen Anspruch. Denn sein Buch ist gut geschrieben; es ist voll
von documcnis humanis, denn in dem, was die Leute träumen,
offenbaren sie uns ein gut Teil von dem, was sie hoffen, und
wie sie leben. Vor allem aber ist Artemidor ebenso abschließend ge-
worden wie Herodian und Ptolemaios: auch von ihm aus wird die
Forschung sowohl aufwärts den "We^ finden bis in die Zeit des Sokrates,
die auch für diese Kunst den Grrund legte {wir besitzen sogar selbst noch
eine kurze Übersicht in einer hippokratischen Schrift) und ebenso ab-
wärts bis auf die Traumbücher, die heute noch ihre Gläubigen finden.
Gern würde man neben Artemidor das Handbuch einer anderen sehr
i'oicmoB problematischen Wissenschaft, die Physiognomonik des Polemon von
(.im iji). Laodikeia, stellen, die nur in lateinischer und arabischer Bearbeitung
erhalten ist. Denn dieser Sophist, dessen Deklamationen an Absurdität
kaum zu übertreffen sind, hat hier wirklich, einerlei, wie viel er über-
liefert bekam, nicht nur sehr scharfe individuelle Beobachtungen, zuweilen
höchst boshafte, vorgetragen: er erreicht es wirklich auch ohne Schatten-
risse, Physiognomieen zu zeigen. Mit etwas Geist und Phantasie behandelt,
müßte eine Vergleich ung mit Lavater- Goethe höchst anziehend gemacht
werden können. Man wundert sich oft, wie die sogenannte römische
Kunst (d. h. die griechische Kunst dieser Zeit, denn Griechen sind die
Künstler) im Porträt und gerade dem realistischen so Vorzügliches leistet:
Polemon, der nicht der einzige w^ar, lehrt diesen Zug in dem Geiste der Zeit
verstehen. Die Menschen waren ja so eitel; sie taten wohl, als wären sie
Zeitgenossen der Klassiker, aber von der klassischen Gesinnung, die sich
4
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 17g 1
mit einem anikonischen Porträt begnügte, waren sie weit entfernt Nur 1
ein Plotin ließ sich nicht porträtieren.
Doch genug der Personen, die das literarische Leben der Zeit reprä- Poeiie.
sentieren sollen, die für Gibbon die Glaazzeit des Altertums war. Wohl
hat man recht, von Glanz zu reden; beherzigen wir aber, daß in dieser j
Reihe kein Dichter ist So viel wir deren durch ihre Werke oder durch 1
Nachrichten kennen, so sehr die kapitolinischen Spiele und die erneuerte
Phylenkonkurrenz in Athen und manche offizielle Veranstaltung sonst die
Produktion anstachelten, so gern auch selbst Arzte, Grammatiker, Astro-
logen sich der metrischen Form bedienten, ist doch niemand dagewesen, '
der, absolut genommen, hier genannt zu werden verdiente. Die Poesie
war eben nur eine untergeordnete Gattung der Beredsamkeit, wie es
Tacitus den Moderedner aussprechen läßt Als sein Gott es einmal be-
fiehlt, kann Aristeides auch in der oder jener Gattung dichten; er legt dem
nur keinen Wert bei. So empfand man wenigstens, daß für wahre Poesie i
die Imitation nicht hinreicht Selbst das Epigramm war nun eine ganz 1
konventionelle Stilgattung, auch in ihm mochte kaum jemand mehr eine
unwillkürlich hervorquellende Empfindung festhalten, wenigstens keine
ernste. Sobald jemand sich einer poetischen Form bedienen wollte, 1
redete er in toter Sprache: da erstarb ihm alles Individuelle, Spontane
auf den Lippen. Das ist der Fluch der selbstgewählten Sklaverei, die
Nemesis für den Kultus der Form, den die Griechen getrieben haben.
Sie meinten das Symbol der Ewigkeit zu fassen, wenn sie eine ab-
geworfene Schlangenhaut aufnahmen und konservierten.
Relativ entbehren die Dichtungen, die sich trotzdem erhalten haben,
■des Interesses keineswegs; wenn sie lateinisch wären, würden sie hoch-
berühmt sein oder doch zu den Zeiten der Heinsius und Burmann gewesen
sein; jetzt hat die Philologie bei den meisten kaum ihre erste Pflicht ge- 1
tan. Da hat unter Hadrian ein Alexandriner, Dionysios, eine Erdbeschreibung nionyiio.
in recht guten Versen abgefaßt; geographische Gedichte hatte es bereits *'"° "*'
massenhaft gegeben: dies hat sich noch Eingang in die Schule verdient,
ist kommentiert und in das Lateinische übersetzt worden. Es ist noch ge- 1
lehrt, spielt Versteck mit Akrostichen und setzt Leser voraus, die Ent- j
lehnungen aus dem nun längst klassischen Kallimachos mit schmimzelndem 1
Verständnis erkennen und zu der Abwechselung von den abgegfrifFenen I
Homerismen Bravo sagen. Die Künstelei des Akrostichons war sehr alt; Akrojücii»
bis ins 5. Jahrhundert hinauf können wir sie verfolgen. Sie herrschte '*"«'"«''"■
in den „echten Sibyllinen", die die Fünfzehnmänner Roms bewachten,
und kommt danach bis in die christlichen hinein vor. Wann die noch
schwierigere und gänzlich absurde Kunst aufgekommen ist, Hexameter J
und Pentameter aus Buchstaben bestehen zu lassen, die, nach dem Zahl- \
werte genommen, dieselbe Summe ergäben, ist noch zu ermitteln. Geübt
hat sie z. B. Nikon, der Vater Galens, und von einem gewissen Leonidas aus j
Alexandreia haben wir eine ganze Menge Epigramme der Art; auch Tech-
i8o Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; Die griechische Literatur des Altertums.
nopägnia (S. 91) machte man jetzt wieder. Hadrian schwärmte seiner
Neigung für das Abstruse gemäß für Antimachos: das brachte den wieder
Marceiiui cmpor. Die gelehrten Gedichte, die Marcellus von Side für Herodes Atticus
(um 15")- verfaßt hat, dürften diesem Geschmacke entsprechen; bei dem Lyriker
Mesomedes, der uns als Repräsentant der erneuten Lyrik wertvoll ist,
zumal wir zu zwei Stücken die Melodie besitzen (an sich ist er ganz ge-
ring), ist ein Antimachosvers nachgewiesen. Inhaltlich berührt sich Mar-
oppian cellus dcr Pamphyler mit dem Kilikier Oppian; beide dichten über die
der Kiiikier pjg^j^g^ auch ein längst abgegriffenes Thema, an dem sich ja auch Ovid
in der verzweifelten Langeweile von Tomi versucht hat Offenbar war
die Poesie in dem Kulturkreise von Sjrrien und Ag3rpten dauernd in leb-
hafterer Übung geblieben als in der asiatischen Sphäre. Oppian mag
ja selbst auch Netze gestellt vmd Angeln ausgeworfen haben, im wesent-
lichen bringet er alten Stoff in Verse, und er borgt ihn aus den bequemen
Kompilationen, zu denen die Naturwissenschaft herabgesimken war, z. B.
von Alexander von Myndos (S. 155). Es ist bezeichnend, daß infolge der
Äiian Quellengemeinschaft manches bei Alian in der Tiergeschichte wiederkehrt
(um 220). jjigggj. Pränestiner, der griechischen Boden nie betreten hat, spielt sich in
unausstehlicher Fratzenhafdgkeit sowohl auf den naiven Altgfriechen wie
auf den pharisäisch frommen Altgläubigen auf. Der eine Sophist frisiert
den Stoff als Epos, der andere als Kuriositätensammlung: das Vorgehen
ist ganz analog. Wie sehr die Rhetorik das Fundament ist, können bei
beiden Oppianen die direkten Reden lehren: man wird direkt auf die
Schulthemen gestoßen „was mochte N. N. in der imd der Situation wohl
sagen". Weil dieser Oppian korrekte Verse baut, eine Vita hat, zitiert
wird imd wenigstens noch unter Marcus lebt, geht das Urteil von Mund
Oppian zu Mund, er taugte viel mehr als ein anderer Oppian, der aus Apamea
von Apamea ^jr^ Oroutes Stammt und ein Epos über die Jagd dem Caracalla dediziert hat
(um 210). "■ » o
Es ist wahr, Sprache und Vers entfernen sich bei diesem noch weiter von
der Regel; Poesie ist auch hier nicht anzutreffen, aber es herrscht doch
sehr viel mehr Abwechselung und zuweilen Anschaulichkeit: der Jagdsport
war damals wirklich Mode, und die Tierhetzen der Arena entzückten alle
Welt; so ist doch diese Muse nicht bloß Reminiszenz. Dieser Oppian wird
einmal den Ausgangspunkt büden, wenn die Entwickelung des epischen
Stiles verfolgt wird, der schließlich in Nonnos kulminiert Auch zur
römischen Dichtung, Nemesianus, gehen von der griechischen Fäden hin-
über, die eben in dieser Periode ganz dominiert Auch die Ljniker, Florus,
Annianiis, Severus, sind von der gleichzeitigen Dichtimg der Griechen beein-
flußt, wie jetzt ägyptische Papyrusfetzen zeigen; es ist noch nicht an der
Zeit, das zusammenfassen zu wollen, doch ahnt man Erfreulicheres, Volkstüm-
licheres. Für die Schule gemacht und sofort in die Schule gedrungen (wir
besitzen eine Niederschrift auf Wachstafeln aus Palmyra) ist die Bearbeitung
Habrioi äsopischer Fabeln in Choliamben durch einen gewissen Babrios, aus dem
(um 220). syrischen Kulturkreis der severischen Dynastie, für die Byzantiner ein
D. Römische Periode (30 v. Chi. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 1 g i
vielgelesenes Buch, vor sechzig Jahren erst wieder aufgefunden; aber
Lafontaine hätte nichts aus ihm lernen können. Merkwürdig ist cdlein,
wie der Verfasser, dem Griechisch wohl eine mühsam erlernte Sprache
war, die quantitierende Metrik mit ängstlicher Sorgfalt betreibt, mehr
skandierend als hörend, und wie doch, hier zuerst für unsere Kenntnis, der
Akzent einzuwirken beginnt
Die Prosadichtung läßt sich auch in dieser Periode schlecht aus-
sondern. Wenn Plutarch imd Cassius Dio das Leben eines Räuberhaupt-
mannes schrieben oder Plutarch weibliche Heldentaten zusammenstellte,
Lukian rührende Freundschaftsgeschichten imToxaris, Gespenstergeschichten
im Philopseudes, so befriedigten sie alle dasselbe Bedürfnis des Publikums
wie die Liebesgeschichten, die von den Philologen allein Roman genannt
werden, selbst aber sehr verschiedener Art und Herkunft sind. Ohne
Frage kommt neben ihnen ganz besonders die Neubearbeitung der Helden-
sage in Betracht, die ja immer noch im Jugendunterricht einen breiten
Raum einnahm; gerade die Halbgebildeten wollten brennend gern erfahren,
wie es eigentlich vor Ilios zugegangen wäre, was Helene fiir eine Nase
gehabt hätte, und wie stark Homer schwindelte: es ist dieselbe Neugier,
die jetzt die Schweineställe des Eumaios sucht. Da hat denn der authen-
tische Bericht eines Augenzeugen, Diktys von Kreta, Epoche gemacht, i'iktjt
der unter Nero in seinem Grabe gefunden und schleunigst in modernes *" J-^'"'' '1
Griechisch übersetzt ward. Das Buch wird also kaum sehr viel später
als Nero fallen. Wir haben durch die byzantinischen Auszüge und
die lateinische freie und kürzende Bearbeitung gerade von der Form
eine ungenügende Vorstellung; nur machte sie ohne Zweifel beträcht-
liche Ansprüche. Auch der Inhalt enthält Gelehrsamkeit: die Gattung
lebte eben in nie unterbrochener Kontinuität seit Dionysios Lederarm
und Heilanikos, eigentlich seit Homer. So hat es denn neben Diktys
massenhaft Ähnliches gegeben, nicht einmal nur pseudonym: denn Kephalion
unter Hadrian ist wohl ein wirklicher Mensch. Nur nahm von so etwas
die gebildete Gesellschaft keine Notiz. Die Bedeutung liegt in der Geltung,
die Diktys durch die lateinische Bearbeitung auf den Okzident, er und
seinesgleichen in der nächsten Periode im Orient erlangen; als die Ge-
lehrten um Photios die Studien des Altertums aufnehmen, lassen sie
dies Zeug fallen. Der Heroikos des Philostratos beweist übrigens, daß
auch in höheren Kreisen Empfänglichkeit genug für den StofiF war;
es mußte nur ein stilistischer Kitzel hinzugetan werden und etwas Spuk-
haftes dem Aberglauben schmeicheln. Ganz parallel der Heroensage,
die eben auch Geschichte war, steht die Alexandergeschichte, deren
Held seit seinem Tode auch der Sage angehörte. Der alexandrinische
Alexanderroman, der griechisch, syrisch, armenisch, koptisch, lateinisch \ic«»nd«t-
ganz oder in Stücken vorliegt, manchmal in mehreren Bearbeitungen, "^'"'*'''
bietet selbst uns wichtiges historisches Material: ihn nach Komposition
und Sprache zu schätzen, ist die Forschung noch nicht weit genug. Als
i82 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Eroiiker.
Apolloniot
voo Tyroi
(4. Jahrb.)
Cbariton
(am 707).
Volksbuch ist er unschätzbar: sein Alexander hat noch einmal die Welt
erobert
Auch die erotischen Erzählungen haben ihren Hauptwert in der Nach-
wirkung, erst auf die nächsten Jahrhunderte im Osten, durch Vermittelung
der Byzantiner auch auf die Liebesdichtung des Okzidentes: der Einfluß wird
sich als unvergleichlich stärker herausstellen, als man zurzeit weiß, zumal
diese Erzählungen sicherlich auch in die semitischen Literaturen übergegriiFen
haben. Unmittelbar wirken sie dann bekanntlich seit der Renaissance ganz
ungeheuer: Hieliodor erzeugt eine unübersehbare Nachkommenschaft, und
noch Paul et Vtrgmte wären ohne Daphnis und Chloe nicht denkbar. Man
wird gleichwohl nicht bedauern, daß uns aus der Menge solcher Produkte,
die den Byzantinern vorlagen, nur wenige erhalten sind. Den Lesern
schlug unter der Herrschaft des Mönchtumes etwas das Gewissen, und sie be-
ruhigten es mit der Fabel, dieser oder jener der Verfasser wäre hinterher
fromm und Bischof geworden. Auch früher nimmt die vornehme Literatur
von diesen Produkten keine Notiz; was ebensowenig beweist, daß man
sie wirklich unbeachtet ließ, wenigstens die Frauen und die Männer gleicher
Bildung. Der Okzident hat nur ein Buch behalten, die Geschichte
des ApoUonios von Tyros, die so recht beweist, was der Zufall ver-
mag, denn sie verdient ihren Erfolg mit gar nichts. Sie ist zwar keine
Übersetzung, aber wohl Bearbeitung eines griechischen Buches aus
dem syrischen Kulturkreise: der König Antiochos, auf den ein altes,
in hellenistischer Zeit besonders beliebtes Sagenmotiv übertragen ist (die
Liebe des Vaters zur Tochter), war ursprünglich natürlich ein Seleukide.
Grriechisch haben wir für fast alle Gattungen Repräsentanten; nur der
fabulierende Reiseroman fehlt, und die Parodie Lukians liefert dafür
keinen Ersatz.
Vielleicht noch in neronischer Zeit, sicherlich nicht viel später, hat
Chariton von Aphrodisias die „syrakusische Liebesgeschichte" geschrieben,
die großen Beifall fand: wir haben Fetzen eines Exemplares aus einem
Landstädtchen Ägyptens. Der Verfasser war nur Kanzlist in dem Bureau
eines Sachwalters; Homer und ein wenig Menander liefern ihm die poetischen
Lichter, die er aufsetzt Seine Technik ist, die Ereignisse ziemlich kurz zu
erzählen, aber die Personen ihre Gefühle in direkter Rede äußern zu lassen,
homerisch dramatisch. Sein Stil ist jener kommatische, den man vielleicht
asiatisch nennen kann (oder besser ionisch), verziert noch ganz und gar mit
den hellenistischen Rhythmen, für die Chariton in Wahrheit das leuchtendste
(wenn auch bisher unbemerkte) Beispiel ist Die Fabel ist in die klassische
Zeit verlegt; gleich der Eingang imitiert Herodot: so ist der Einfluß des
Klassizismus wohl zu spüren; aber das Ziel ist noch längst nicht erreicht:
darin liegt der Wert des Buches. Übrigens verdient es auch die Lektüre,
mindestens soweit es in lonien spielt, weil es von dem dortigen Leben
Zeugnis gibt: Milet und Priene erscheinen durchaus in dem Verhältnis zu-
einander, das uns jetzt die Ausgrabungen zeigen.
I
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 183
Longua
(Kegcn 200.').
Ganz anderen Charakter tragen die äthiopischen Geschichten des Heiiodor
Heliodoros von Emesa, die zwei Jahrhunderte und mehr jünger sind. Dem **'**" ^''°''
Syrer ist Delphi ebenso ein halb fabelhaftes Terrain wie das Land der i
reichen weisen Athiopen. Hier soll sich der Leser an Bildern von
Pracht und Herrlichkeit, erhabener Tugend und frommer Weisheit,
wundersamer göttlicher Fügung erbauen. Feierlich stolziert die Rede
in faltigem, buntem Gewände. Eine Weile folgt man nicht ungern; dann
wird's zu eintönig. Das Buch stellt sich zu den Schilderungen fremder
Sitten xmd Völker mindestens so sehr wie zu den Liebesgeschichten.
Dagegen Erotik und neben der unvermeidlichen Tugend der Helden AchiiiemTiUoi
auch recht laszive ist das beste Element bei dem Alexandriner Achilleus (»»"^js»')-
Tatios, der sich daneben in den verschiedensten sophistischen Künsten,
Beschreibung von Bildern und Landschaften, der prosaischen Wiedergabe
eines Liedes und dergleichen versucht. Die wirre Fabel und die nichtigen
Charaktere kommen dagegen nicht in Betracht Schwerlich gestattet die
Sprache lond die Ungeniertheit, das Buch unter der Herrschaft der Mönche
entstanden zu denken; es mag aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts
stammen; aber das ist auch nur geraten.
Auch für den Hirtenroman des Longus haben wir noch kein sicheres
Datum, wenn auch das Ende des 2. Jahrhunderts glaublich ist Sicher ist
dagegen, daß der Verfasser die Insel Lesbos gar nicht kennt und das
gleiche seinen Lesern zumutet Eine ferne Erinnerung an die lesbischen
Dichter hat ihn dazu geführt, das Wunschland der Pastorale diesmal
dorthin statt nach Arkadien zu verlegen; die äolische Poesie ist ihm ganz
fremd. Seine Hirten stammen aus der hellenistischen Bukolik, die er nun
wirklich in die Weise transponiert, die den Schäferspielen des Rokoko
entspricht. Naivität, die immer zierlich bleibt, nichts von bäurischer
Plumpheit, gerade so viel Kindlichkeit, daß sie den lüsternen Kitzel ver-
hüllend erhöht, die Naturschwärmerei des Salonmenschen (doch sieht der
Vogelfang im Schnee nach wirklicher Erfahrung aus), die göttliche Inter-
vention des Theaters. Für griechische Anforderungen ist auch hinreichend
viel Sentimentalität darin. Man wird in der Schätzung des Verfassers
unsicher, weil das Buch für uns ganz vereinzelt dasteht, muß ihm aber
zugestehen, daß er, ohne lang zu werden, seine Maskerade gut durch-
geführt hat So versteht mau, daß ein Buch, zu dem ihre eigene Literatur
so viel Parallelen bietet, bei den Romanen dauernd Verehrer findet; aber
man bedauert, daß Goethe die gänzliche Unnatur nicht durchschaut hat
Der Stil, das muß man sagen, ist dem Inhalt ganz konform. Gleich in
der Vorrede bimmeln die antithetischen Satzgliederchen wie die Glöcklein
schlohweißer Schäflein an rosa Bändchen. Quantitierende oder akzen-
tuierende Rhythmik scheint nicht beabsichtiget
Das sei genug von diesen Erotikern, zumal sonst nichts in voUstän- Xcnophon
digrer Fassung erhalten ist An der „ephesischen Geschichte" eines '"^ "'° ''
Xenophon, von der ein umfänglicher Auszug vorliegt, ist am interessan-
184 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
testen der Titel, denn das Buch ist noch in der Weise der „milesischen
Geschichten" benannt, und der Verfasser hat den Namen dessen aufgegrifiPen,
den er wegen Araspes und Panthea als Ahnherrn seiner Gatttmg be-
trachtete; der Wahlname ist öfter verwandt worden.
DerEfeiroman Weitaus am amüsantesteu ist der komische Eselroman gewesen, der
(am 90?). ujjs jjyj. Jq einem Auszuge, der über die Sprache kein Urteil mehr gestattet,
und in der Bearbeitung des Apuleius vorliegt, der ihn ganz imigestaltet
hat. Man erkennt sicher, daß der Verfasser aus wirklicher Kenntnis auch
der Gegenden ein Bild des Lebens geben wollte, das seinen Wert ganz un-
abhängig von der drolligen Fabel hatte, die viel älter war. Die Geschichte hat
ein festes Lokal, von Hypata an der Othrys durch die Berge, die heute wie
damals voll Klephthen steckten, bis in das Amphitheater von Thessailonike;
die Hexe von Hypata führt einen Namen, der singxilär ist, aber auf den
Steinen von H3rpata wiederkehrt Vor allem aber ist der Held, wenn
man den vereselten Gesellen so nennen darf, ein Römer aus der Kolonie
Paträ: den hat ein Grieche so gezeichnet, der die antirömische Stimmung
der fla vischen Zeit teilte; in sie wird er gehören, und er blieb mit Absicht
anonjrm.
Clementinen. Der christliche Roman der Clementinen hat den geringsten Wert in
seiner aus der Komödie stammenden Handlung, wie sich die früh ge-
trennten Eltern und Kinder schließlich zusammenfinden, die hier Prinzen
sein müssen, wie gerade der Plebejer es gern hat Übrigens liegt er nur
in der ärgsten Entstellimg vor, wie sie ein Volksbuch erleidet Die lehr-
haften Einlagen gehen uns hier nichts an; der Kampf des Petrus mit dem
hellenischen Grrammätiker Apion ist in Wahrheit ein Stück jüdischer
Polemik, gewürzt von dem Hasse gegen den Wortführer der Antisemiten,
gegen den ja auch losephus geschrieben hat (S. 171); der Aristarcheer
war wirklich ein Charlatan gewesen, das dürfen wir zwar nicht den Juden,
aber dem Kaiser Tiberius glauben. Das Interessanteste kommt in unseren
späten Fassungen nicht melir ganz heraus: der Zauberer Simon und seine
Begleiterin Helene. Das ist etwas viel Besseres als alle griechischen
Romane, das ist wirkliche Sage, der schließlich etwas Reales zugrunde
liegt Wirkliche Sage, wenn nicht gar Historie ist wohl auch die merk-
Thekia. würdige Geschichte von der pisidischen Frau (erst später Jungfrau) Thekla,
die um der Predigt des Paulus willen alles verläßt, die den Löwen be-
kehrt und tauft, der sie zerreißen soll, und als erste Blutzeugin des neuen
Glaubens erhöht wird. Aber auch diese Geschichte lesen wir nur entstellt
im Rahmen eines öden Wanderromanes, immerhin noch des ausgehenden
2. Jahrhunderts, „den Taten des Paulus", wie ja auch Simon in den „Taten
des Petrus" überwunden wird. Aber der christliche Wanderroman stammt
nicht aus der alten hellenischen Literatur, sondern ist ein neues Gewächs:
da muß erst der Boden betrachtet werden, aus dem es hervorging.
Rcr.giü.0 Eine volkstümliche religfiöse Bewegung ist schon seit dem Sinken der
BewcgunB. helleuischen Macht, der politischen wie der geistigen, bemerkbar, also seit
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Litemtur. 185
I
dem Ausgange des 2. Jahrhunderts v. Chr. Daraals kommt auch die Astro-
logie in ihrem ersten Hauptbuche zur literarischen Fixierung, auf die
äg^-ptischen Fabelnamen Nechepso und Petosiris getauft, seitdem bis tief
in die christliche Zeit, gegen die Renaissance zu sogar mit steigendem
Glauben, immer neu bearbeitet, auch in Versen. Nach dem Zusammen-
bruch des Hellenismus und der augusteischen Restauration schwillt das
Sehnen nach einem neuen Glauben immer mächtiger an und berührt
hundert Jahre später auch die höheren Kreise. Der Klassizismus hat
auch wider Willen dazu mitgearbeitet Da er ganz fernen Idealen der
\'orzeit zugewandt ist, immer mehr eine fremde Sprache spricht, sich eine
Kultur schafft, zu der nur eine fast gelehrte Vorbildung den Zugang er-
öffnet, so kann die breite Masse des Volkes mit dieser Kultiu- kaum
Fühlung behalten, geschweige Nahrung aus ihr ziehen. Was die V^olks-
schule darbietet, ist kaum mehr als Homer, etwas Heldensage, Fabeln,
Anekdoten und triWale Moralsprüche, Die Frauenbildung geht in den
höheren Schichten zwar weiter, aber nicht tiefer; nur in sehr kleinen
Kreisen wird ihnen eine innerliche Teilnahme an geistigen Dingen möglich.
Die AusschUeßung von dem rhetorischen Unterrichte macht es ganz un-
möglich, daß eine Frau tätig an der Literatur teilnähme; jetzt gibt es
nicht einmal mehr emanzipierte Damen (vgl. S. 89); es fehlt aber auch
gänzlich an naiv unkünstlerischen Schriftstellerinnen. Daher kommt die
Hingabe der Frauenwelt für jede Religion, die auch ihnen die Seele zu
befreien verspricht. Das Christentum hat diesen wichtigen Schritt über
das Judentum hinaus sofort getan, hat auch Prophetinnen, aber natürlich
keine Schriftstellerin hervorgebracht Die neuen Religfionen kamen fast
alle von den Barbaren, wirken aber alle erst in die Weite, wenn sie
griechisch reden, also auch die ursprünglich in anderen Sprachen ver-
faßten heiligen Bücher übersetzen. Bei Gesängen und liturgischen Stücken
hat das den Übelstand, daß die wirksame Form verloren geht, wie bei
den Psalmen, und doch der Ausdruck der übersetzten Liturgieen auch auf
die Neubildungen Einfluß gewinnt: es sieht dann genau wie eine rheto-
rische Figur aus. Die alten Griechenkulte nehmen seit der plutarchischen
Zeit die Konkurrenz mit den Zudringlingen auf; die Mysterien und Orakel
greifen zu ihren alten Mitteln. Das ist vergebens, denn sie sind unbedingt
an die alten literarischen Formen gebunden. Selbst der Asklepioskult
verwendet entweder alte rituelle Lieder, darunter eines von Sophokles,
oder bewegt sich in reiner Reproduktion; wir haben manche Proben; ein
Gedicht eines gewissen Ariphron aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. wird das
Gratias klassizistischer Mahlzeiten. Ein Hymnenbuch unter dem Namen
Orpheus, das spätestens in dieser Zeit endgültig redigiert ist, bleibt ebenso Orpiü.cii.
leer für Erbauung wie für Poesie. Nicht die neuen Orakel, sondern die '"""""
alten des delphischen Gottes erfahren die Polemik des Oinomaos (S. 173).
Nur eine Orakelsammlung theosophischen Inhaltes, die sogenannte chaldä-
ische, hat durchgeschlagen, aber nur in philosophischen Kreisen. Von
i86 Ulrich von WilamowitzMoellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
den rituellen und liturgischen Büchern der Religionen mit Ausnahme des
Christentumes wissen wir noch gar nicht einmal, wieviel wir besitzen, denn
eben erst wagen beherzte Forscher den Sprung in diese schlammige Tiefe,
in der es doch Perlen zu fischen gibt Das siegreiche Christentum hat
begreiflicherweise selbst das Gedächtnis seiner Konkurrenten auszulöschen
gesucht Die merkwürdige Ausnahme, daß die heiligen Bücher der
Honnettache ägyptisch-griechischcn Hermesreligion bestehen blieben (eines sogar in
schrifken. lateinischer Übersetzung), harrt noch ihrer Erklärung. Während des 2. Jahr-
hunderts zumal hat sich das Christentum in Asien, Syrien und Ägypten
vielfach mit anderen Religionen vermischt, und es ist wesentlich dem
Einflüsse des Westens (in dem der Boden für diese Gewächse fehlte) zu
danken, daß es diese Mischbildungen in der Hauptsache abstieß (niu: auf
den Kultus haben sie gleichwohl stark gewirkt, da die reine Lehre Jesu in
Wahrheit den Kultus ausschloß): so sind es gerade die Ketzerbestreiter,
Eirenaios von Lyon und Hippolylos von Rom, denen wir sehr wider ihre
Absicht die Kenntnis ihrer Gegner verdanken. Seit kurzem tritt für diese
und andere Religionen die Überlieferung Ägyptens in den Papyri ein,
allein vielfach in Überarbeitungen, so daß die originale Form selbst der
Gedanken kaum je erhalten ist. Auch da ist die Forschung noch in der
Periode der Entdeckungen. Immerhin ahnen wir eine reiche und keineswegs
verächtliche, zuweilen auch poetisch ergreifende Literatur, liturgische, lehr-
hafte, erzählende. Wir treffen die epische griechische Hymnenform, wir
treffen daneben neue Rhythmen, denn auch hier greift das geistliche Lied
nach vertrauten weltlichen Melodieen. Die Prosa zieht alle Register, um mit
erhabener Lobpreisung den Gott zu locken : überall wirkt der platonische Stil
nach, wo sie Erhabenheit anstrebt. Zahlreich sind die Visionen, und nicht
selten mahnt ihre Allegorie an die Prosopopöie der Popularphilosophie. Selir
beliebt sind Kosmogonieen, und für sie bemüht man den alten Pherekydes
(S. 34) nicht minder als Moses und Babylonier und Ägypter. Welt-
untergang (den schon Poseidonios ausgemalt hat) und Weltgericht (für
das Piaton manches bot) sind ganz besonders beliebt, zumal wo das
Jüdische prävaliert: die Zerstörung durch Titus mußte von selbst auf die
durch Antiochos zurückweisen, die das Danielbuch erzeugt hatte. Aber
'Apokaiypwm. Selbst in der Johannesapokalypse, in der doch der jüdische Haß gegen
das Weltreich am hellsten lodert, stecken auch Züge des hellenischen
Mythos, wenn auch ihr besonderer literarischer Wert (wie der der
sympathischeren Esdrasapokalypse) gerade darin beruht, daß sie von der
Kunst und der Rede der „Welt" gar nicht infiziert ist
Im ganzen sehen wir jetzt nur eine grandiose, aber wüste Masse nebel-
haft wallen und wogen, aus der sich allmählich fester umrissene Gestalten
erheben, denen damit freilich nicht wenig von dem originalen Reize verloren
geht. Denn immer noch geschieht das so, daß die Formen der geltenden
gebildeten Schriftstellerei Macht gewinnen, und damit stellen sich auch nicht
nur Umformungen der neuen Konzeptionen, es stellen sich auch die alten
i
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur. 187
Gedanken und Bilder ein. Wie sollte es anders sein? Es werden doch
immer die relativ Federgewandten sein, die die Feder fuhren, die relativ
Gebildeten, die das chaotisch Gefühlte und Geschaute formen und fixieren.
Nun vollends in einer Zeit, die formell auf das höchste interessiert, aber
durchaus an altbefestigte Regeln und Traditionen gebunden war. Mochte
ein einzelner Gebildeter für sich den Widerwillen überwinden, den ihm
die Formlosigkeit der heiligen Bücher zuerst bereitete: werm er schrieb,
und erst recht, wenn er für die Menschen seiner Bildungssphäre schrieb,
konnte er nicht nur nicht das eigene Können verleugnen, er mußte es
anstreben, denen, die er gewinnen wollte, jenen ersten Widerwillen zu
ersparen. Wir müssen besonders dankbar sein, daß wenigstens ein Teil
der christlichen Schriften in ihrer originalen Formlosigkeit erhalten blieb;
daß die Christen die griechische Bibel des Judentumes mit übernahmen,
war mindestens für ihre Literatur kein Segen, weil es doch eben eine
Masse rohester Übersetzungen war. Die hermetischen Schriften lesen
wir in einer Form, die zunächst ganz wie mystische Philosophie klingt,
zum Teil sind es rhetorische Kunststücke in kaum verständlichem Schwulste
(sie harren noch der Erklärung), und doch hat sich in ihnen ein altes
Stück entdecken lassen, das sich unmittelbar mit dem Hirten des Hermas »crm».
berührt, und dieses christliche Buch, geschrieben von dem Bruder des *"'" ''"*■
römischen Bischofs Pius um 150 n. Chr., ist auf das Volk berechnet und
wirklich volkstümlich geworden. Es ist ein Rätsel für jeden, der die
Scheuklappen der biblischen Gräzität oder der christlichen Literatur-
geschichte trägt, denn überall wirken die hellenistischen Traditionen. Wer
es aber einmal mit wirklicher Kenntnis des literarischen und religiösen
Getriebes analysieren wird, aus dem es hervorgegangen ist, wird Auf-
klärung nach allen Seiten bringen. Dabei wird natürlich herauskommen,
daß der Verfasser von Eigenem nicht eben viel zu bieten hatte, und daß
seine Visionen ganz in demselben Sinne Literatur und Imitation sind wie
die Höllenbilder Plutarchs. Und wie sollte sich der Genius der Zeit, der
die führenden Geister beherrscht, bei den Halbgebildeten verleugnen? Es
ist unvermeidlich, daß die christlichen Schriften, die zwischen der ersten
quellfrischen Originalität und der vollendeten Kxmst liegen, einen halb-
schlächtigen Charakter tragen. Nicht sie, sondern der Prozeß, den sie
illustrieren, ist das Wichtige; wobei allerdings mitgerechnet werden muß«
daß die kühnsten und originellsten Geister als Ketzer ausgestoßen worden
sind. Schon in den Bearbeitungen des Evangeliums, die in den Kanon
gekommen sind, beginnt die Ausmerzung barbarischer Formen und
Wendungen, treten andererseits rein mythische Stücke zu, als solche von
unvergänglichem Werte. Nach beiden Richtungen gehen die späteren
Umarbeitungen weiter, geraten aber bald ins ganz Absurde. Nur der
Verfasser des Johannesevangeliums wagt, den historischen Stoff aus der juh»nne^
Kraft seiner Poesie mit dem Geiste zu durchdringen, der ihm der Geist ■"»"«""""•
der Wahrheit war, vor der jede Wirklichkeit als ein wesenloser Schein
i88 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
verblaßt Es ist durchaus glaublich, daß er literarisch ganz außer Zu-
sammeahang mit der Methode steht, die einst ähnlich mit der Greschichte
des P3^hagoras, Sokrates, Diogenes, Alexander verfahren war (und
Apollonios von Tyana hatte eben erst wieder das Leben des Pjrth^^oras
in ganz ähnlicher Tendenz geschrieben): die Sinnesart und auch die Be-
rechtigung des Verfassers werden doch erst durch diese Analogieen ganz
verständfich. Die Originalität seines Denkens rückt ihn noch in die erste
Klasse der altchristlichen Autoren; aber die berechnete Stilisierung und
Erfindung machen doch einen merklichen Unterschied gegen Paulus, und
die rhetorische Form des Prologes ist ohne das Vorbild der Heraklit-
sprüche kaum begreiflich.
itriefc. Paulus hatte durch seine Briefe ganz absichtslos der Gemeinde eine
literarische Form geschaffen. Sie bis zu den Osterbriefen der alexan-
drinischen Patriarchen und weiter herab zu verfolgen, zu zeigen, wie
sie trotz aller Berührung mit der sophistischen Briefliteratur doch
ihre Eigenart nicht verliert, muß eine reizvolle Aufgabe sein. Zunächst
hielt man sich teils an das Vorbild, indem man die Nach- und Umbil-
dungen auf den eigenen Namen des Paulus schob, teils hängfte man nur
äußerlich ein paar stilistische Floskeln und einen möglichst klangvollen
Namen an die oder jene Abhandlung und erzeugte so einen angeb-
lichen Brief, wie deren eine Anzahl in den Kanon gekommen ist,
danmter gar eine rhetorisch disponierte und mit rhythmischen Klauseln
verzierte Abhandlung, der sogenannte Hebräerbrief. Wie befremdend den
Leuten, die rhetorische Erziehung erfahren hatten, diese paulinische Weise
cicmeiMbricf War, Zeigt der Brief des Clemens von Rom an die Korinther, der mit
(um 90). aiign Mätzchen der gesprochenen Rede, Symmetrie der Glieder, Reim
und Assonanz einsetzt, dann mehr paulinisch zu werden versucht und ein
ganz chimärisches Aussehen bekommt Clemens hat allerdings, ganz wie die
Dion und Aristeides, wenn sie in Gemeindestreitigkeiten eingreifen, das
Bestreben, alles Persönliche möglichst unter Allgemeinheiten zu bergen;
aber es liegt doch nicht bloß darin, daß die leere Redseligkeit so stark
mit der Gedankenfülle des Paulus kontrastiert Wem das Herz voller ist,
wie Ig^atius von Antiocheia, kommt dem Paulus eher nahe. Der Ketzer
Ptolemaios, der an eine Frau, Flora, über ein dringendes Problem schreibt,
schlägt sie alle miteinander: der verdient neben, wenn nicht vor Plutarchs
Brief an seine Frau zu rangieren.
Die älteste Gemeinde hatte einen schlichten Bericht besessen, den
ein Reisebegleiter des Paulus aufgesetzt hatte, ein Stück von edelster
Wirkung, weil es gar keine literarischen Ansprüche erhob. Wir können
es noch als eine ganz singulare Perle schätzen, denn große Stücke
Apo5tci. stehen kaum entstellt in der sogenannten Apostelgeschichte. Man sollte
jfcscbichte. ^^^■^ ^^^ üblcu Nameu abgewöhnen: Geschichte wollen die Acta so wenig
sein wie die Res gestac divi Augnstt. Es werden die Taten berichtet, in
denen sich die überirdische Mission eines Heros offenbart hat; bei einem
D. Römische Penode (30 v. Gir. bis 300 n. Gir,), III. Die neuklassischc Literatur. 180
Gotte würden es äpcTai sein. Wir besitzen auf Stein die „Taten des
Herakles"; vergleichen mögen wir die Legende des heiligen Franciscus.
Der Kompilator der Acta bearbeitet diesen Stoff allerdings bereits mit
allen Künsten der gemeinen Historie, insbesondere erfindet er die großen
Reden seiner Helden, Stephanus, Petrus, Paulus, die er natürlich seinen
Lesern so wenig zumutete für authentisch zu halten wie Tacitus und
losephus. Es ist aber wichtig, daß er schon Petrusreisen vorfand: der
bescheidene und wahrheitsliebende Reisebegleiter des Paulus hatte mit
seinem Tagebuche auch ahnungslos eine neue Gattung der Literatur ge-
schaffen, die bald ins ungemessene anwuchs, übrigens sehr rasch neben
dem belehrenden Zwecke die erbauliche Unterhaltung anstrebte, also den
lehrhaften Reiseromanen der Griechen immer näher trat Aber weder
die sogenannten apokrj-phen Apostelgeschichten (zu denen die oben-
erwähnten Acta des Paulus und die des Petrus gehören), noch die apo-
kryphen Evangelien halten sich, sobald die griechische Bildung zur Herr-
schaft im Christentume kommt, außer eben in den Kreisen unterhalb der-
selben.
Eine andere neue Gattung entstand in den sogenannten Martyrien. Muttyrieo.
Bei dem Gemeinsamkeitsgefuhle, das die christlichen Brüder über die
Welt hin verband, war es natürUch, daß Berichte über die Verfolgungen
weithin Interesse erregten; der Heroenkultus der Blutzeugen stellte
sich auch bald ein, eben weil die Zeit an den Kultus der Personen
gewöhnt war. Auch hier war der schlichte Bericht ohne literarische
Aspiration das erste, wie ihn das Schreiben der Gemeinde von Lyon über
die Verfolgung unter Marcus zeigt. Aber es mußte sich eigentlich sofort
der Wunsch gebieterisch einstellen, daß der lediglich leidende Held etwas
täte, und daß sein Sieg trotz dem leiblichen Untergange hervorträte. Es
fehlte auch nicht ganz an Analoga; Märtyrer hatte das Judentum seiner-
zeit auch gehabt, das zweite Makkabäerbuch erzählte davon mit der
ganzen hellenistischen Lust an grellen Farben. Und Märtyrer hatte auch
der Antisemitismus; es ist ein witziges Spiel des Zufalles, daß gerade Be-
richte über solche Martyrien, die jüngst ans Licht getreten sind, den
christlichen ältester Zeit besonders nahe stehen. So bildet sich die neue
Uterarische Form aus, die den Helden mit den Worten Sieger bleiben,
ganz übermenschliche Qualen erdulden und schließlich seine Erhöhung
in die Göttlichkeit nicht ohne das Eingreifen von Mächten jener Welt
finden läßt Zuerst ist das noch ziemlich bescheiden; aber die Grundzüge
der Gattung sind da, die berufen war, das Hauptstück der erbaulichen
Unterhaltungsliteratur des späteren Christentumes zu werden.
All dies hielt sich noch in den Kreisen der Brüder, und auch die
verhältnismäßig schwer gelehrte Ketzerbestreitung durch Eirenaios, einen
sehr federgewandten Mann, kann an die Gebildeten der Welt nicht
denken; aber gleichzeitig versuchten doch einzelne hinüberzuwirken.
Man nennt die Gruppe dieser Scliriftsteller Apologeten, ein Name, der Apuiogcuo..^
igo UuucH VOM WiLAMÖwrrz-MOELLENDORrr: Die griechische Literatur des Altertums.
nur zutrifft, wenn man hinzunimmt, daß die beste Verteidigung ini Angriff
besteht. Denn die Bestreitung des Hellenentumes bildet den Kern ihrer
Reden, und sie besorgen das nicht einmal aus eigenen Mitteln, sondern
leben von der jüdischen und noch mehr, wenn auch vielleicht mittelbar,
der kynischen Polemik; dazu bedienen sie sich skrupellos aller Rhetoren-
künste. Insbesondere der Syrer Tatian ist ein widerwärtiger Geselle.
Leider ist Meliton von Sardes nicht erhalten; was Eusebios mitteilt, deutet
auf einen Mann von Bildung, Haltung und Einsicht Ehrliche Gesinnung
Jmtin und ernstes Streben ist bei dem geborenen Samaritaner Justin anzu-
{um 165). erkennen; er ist der ungeschickteste, aber achtungswert auch darum, daß
er wirklich so etwas wie Beweise versucht. Er hat sogar für die Über-
windung des Judentumes die vornehme Form des Dialoges angewandt, der
er nicht gewachsen war, aber auch da arbeitet er mit redlichem Be-
CeUu». mühen. Die erste antichristliche Polemik, die ein Platoniker Celsus in
schlichter Form und versöhnlichem Sinne schrieb (die Zeit bleibt inner-
halb 180 — 230 zu fixieren), war diesen Angriffen der Verteidigung in
jeder Hinsicht überlegen, am meisten an echter Frömmigkeit Trotz
alledem beweist sowohl diese Polemik eines ernsten Mannes, wie die auf
die Gewinnung der Welt abzielende Schriftstellerei der Apologeten, daß
das Christentum allein von allen neuen Religionen befähigt war, die Welt
zu erobern.
Um 200 gibt es dann wirklich schon christliche Schriftsteller für ihre
Zeit ersten Ranges, sowohl im Westen wie im Osten. Der ohne Frage
originellste Lateiner zwischen Tacitus und Augustin ist Tertullian, be-
zeichnenderweise ein Advokat, der denn auch für die Wahrheit ein
Advokatengewissen hat und für die Wissenschaft nur ein Advokaten-
verständnis, ein so unbändiger Zelot, daß er's auf die Dauer in der Ge-
ciemcn. nieinde nicht aushielt Der Grieche (wahrscheinlich Athener) Clemens ist
(t vor jii). gjjj Philosoph, ein Mann des Friedens, den weder das Martyrium noch
das Ketzerverfolgen reizt; es ist nicht wunderbar, daß die Kirche ihn
nicht als Heiligen heroisiert hat, wunderbarer, daß er der Verketzening
entging. Gewiß teilt er die Schwächen seiner Zeit; das meiste seiner
Wissenschaft ist geborgt und an seiner Rhetorik nur zu viel falscher
Putz, aber man gewinnt ihn lieb, je mehr man mit ihm verkehrt. Auch
darin spiegelt er die Widersprüche seiner Zeit wider, daß er innerlich
mit Celsus, den er ignoriert, viel eher sich verständigen müßte als mit
Tatian, den er ausschreibt Was er anstrebt, ist die Bekehrung der Hellenen
zum Christentum und die Erziehung der Christen zu gebildeten Menschen,
die das Erbe ihrer eigenen Väter nicht zu verleugnen brauchen. Dazu
ist das Mittel die Gründung der christlichen Schule in Alexandreia, die
bald unter Origenes den gesamten enzyklopädischen Unterbau mit den
besten griechischen Schulen gemeinsam haben sollte, und in einer Philo-
sophie gipfelte, die ganz christlich, aber eben doch Philosophie war. Der
Paedagogus des Clemens, ein praktisches Handbuch der Ethik, das bis auf
4
4
D, Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). III. Die neuklassische Literatur, igi
die Betten und die Schuhe und das Benehmen bei Tisch hinabsteigt, ist
für diese Schüler berechnet: das Schulg-ebet, das sie sangen, hat Clemens
am Schlüsse beigefügt. Wie begreiflich, ist seine Doktrin von den
Grriechen geborgt; der Stoiker Musonius (S. 160) ist vielfach wörtlich
kopiert. Auch Piatons Gesetze sind ihm immer ganz im Gedächtnis.
Aber ist nicht der Gedanke etwas Großartiges, Praktisches, und ist es
recht, daß ein solches Buch kaum gelesen wird? Zu seiner christlichen
Philosophie hat Clemens nur die Materialien geliefert, oder vielmehr die
moderne Form gewählt, die das strenge Lehrbuch durch die Misch-
form des sorgfältig stilisierten und aufgeputzten Miszellanbuches ersetzte.
Um so deutlicher tritt die unzulängliche Verarbeitung des fremden Gutes
ans Licht; aber es ist ein schweres Unrecht, wenn die Philologie bloß
den alten Goldadern nachgeht und den Clemens behandelt, wie die
Irrlichter des Goethescheu Märchens den vierten König. Das Ideal des
wahren Gnostikers, das Clemens nicht nur entwirft, sondern mit dem es
ihm heiliger Ernst ist, verdient einen Platz ganz nahe dem wahren Redner,
den Cicero gezeichnet hat: es ist das höchste Bildungsideal seiner Zeit
Eine Apologie schrieb Clemens nicht, sondern stellte folgerichtig den
Protreptiken zur Philosophie einen Protreptikus zum Christeatume gegen-
über, freilich nicht ohne das tote Material der sogenannten apologetischen
Polemik aufzunehmen. Hier nun macht er alle Künste der Mode mit,
den Attizismus, der mit Dualen, sogar des Verbmns, um sich wirft, die
Häufung paralleler Glieder, am liebsten dreier, die rollenden Perioden, ja
selbst die Erregung orgiastisch bezaubernder Leidenschaft. Das kann
eher abstoßen als anziehen: aber das schien damals das Höchste; keiner
konnte es besser, und es ist doch ein anderer Glaube dahinter als bei
Aristeides oder gar Philostratos, dem Biographen des Apollonios. Diesen PhUo»tr»tM
am Hofe des Severus angesehenen attischen Schönredner möge man '"" ""''
unmittelbar neben ihm lesen. Der tut nur so, als glaubte er an den
Propheten; sein Herz spricht niemals mit. Es liegt ihm auch jede Polemik
gegen die Christen fern, die bald von den beiden kämpfenden Parteien
hineingelegt ward. Er schreibt einen Roman, der diesmal nur erbaulich
statt lüstern ist Er hat in den weder gruseligen noch erbaulichen Spuk-
geschichten seines Heroikos wohl eher das getroffen, was für seines-
gleichen eine Sorte klassizistischer Religion war. Aber er verarbeitete
eine Literatur von und über Apollonios, die sich mit den Evangelien und
Apostelgeschichten so gut und schlecht vergleichen läßt, wie der
pythagorisierende Weltbekehrer mit Jesus und Paulus. Der Wundermann
von Tyana hat ohne Zweifel Briefe verfaßt, wenn auch bisher das Echte .Apoiionius von
aus dem Nachlasse nicht gesondert ist; er hat auch selbst geschriftstellert ,, ^^'"",
und das Leben seines Ideales Pythagoras ziemlich in gleichem Sinne wie
Philostratos das seine als erbaulichen Roman verfaßt Daß er sich selbst als
Wundertäter und Halbgott gegeben hätte, ist nicht erwiesen und imwahr-
scheinlich: aber die Sache, die sich diesen Mann als Heiland aussuchte
igz Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
und sein Evangelium von einem Philostratos schreiben ließ, wjur verloren,
wert, daß sie zugrunde ginge.
IV. Die Zeit des Zusammenbruches. Mit dem unrühmlichen
Sturze der severischen Dynastie bricht das Reichsregiment tatsächlich
zusammen. Als man bald darauf den tausendsten Geburtstag Roms
inmitten von Bürgerkrieg und Verfall feiert, durften die Christen darin
mit Genugtuung ein Zeichen des Endes sehen; die anders empfanden,
mochten weinen: das Zeichen der Zeit konnten sie auch nicht verkennen.
Wenige Jahre, da erliegt ein Kaiser den Gothen, ein anderer wird
Sklave des Persers. Von allen Seiten her überschreiten Barbaren den
Grenzwall, und wo er etwa gehalten oder wiedererobert wird, ge-
schieht es durch Barbaren als Legionare. Zenobia, die eine Weile die
Kaiserkrone tragen darf, führt noch einen griechischen Namen und hält
sich einen athenischen Hofjphilosophen (den imverdient berühmten Longiii):
ihr Palmyra ist doch weit ungriechischer als das Cäsarea des Herodes.
Verschont bleibt von den zerstörenden Kriegen keine Landschaft, wird
doch sogar Alexandreia schwer heimgesucht, aber am glimpflichsten
kommen noch die syrisch-phönikischen Küsten fort, die denn auch für die
Erhaltung der Bildung am meisten tun. Der schwerste Schlag ist, daß
nicht nur die ganze Balkanhalbinsel, sondern auch Asien von den Gothen
in Grund und Boden verwüstet wird: der Fluch, der an dem Namen
der Wandalen und Gothen des 5. Jahrhunderts zum großen Teile imverdient
haftet, kommt denen des 3. nur zu sehr zu. Olympia und Delphi
hören auf zu existieren; Athen hält sich nur durch Selbsthilfe; der Ver-
teidiger war zugleich der Historiker der Zeit, Dexippos, der nur leider
dem allerärgsten Archaismus ergeben war. Der blühende Städtekranz an
der asiatischen Küste sinkt in Trümmer; die wenigen nicht überrannten
Städte haben sich zur Hälfte selbst vernichtet, indem sie aus den rasierten
Vororten hastig einen Mauerring errichteten; wie es in ihrem Landgebiete
aussah, kann man sich danach denken. Hinfort dominiert das asiatische
Binnenland. Wie vollkommen die staatlichen Behörden versagten, lehren
am besten die Schreiben des Bischofs von Pontos, Theodoros, der sich
urcgorios als Christ Gregor nannte und den Beinamen Wimdertäter trägt. Hier
'iTTroT' ^^^^ ^^ "'^^* ^^^^ andere Wunder, als daß er mutig und pflichtbewußt
ausharrte und die Zügel seiner Gemeinden in der Hand behielt Mit Fug
und Recht trat also die als Kirche organisierte Christengesellschaft an die
Stelle des versagenden Reiches. So ist denn der alten Kultur die Mög-
lichkeit der Existenz genommen; es fehlen ihre materiellen Voraussetzungen,
es fehlen vor allem die Menschen. Sie war ja ein künstlicher Bau; das
Volk, das sich immer wieder erneut, hatte kaum etwas gemein mit ihr.
Die Mühle der Rhetoren klappert natürlich weiter, namentlich in Athen
und Syrien, der Schulunterricht hört nicht überall auf, auch in der wissen-
schaftlichen Form, die wir am besten durch die Christenschule des Origenes
D. Römische Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Oir.). IV. Die Zeit des Zusammenbruches, ig j
I
kennen. Aber die Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 3. Jahr-
hunderts ist doch beinahe ein leeres Blatt, und ihre wenigen großen
Namen lehren in ihrer Vereinzelung am besten, daß das Ende da ist.
Höchst merkwürdig ist, daß in der Stille des alexandrinischen Museums DiophMU!«
die Mathematik nicht nur die Kontinuität bewahrt, sondern gar in dem '■"" '*"''
Arithmetiker Diophantos einen produktiven Kopf besitzt, für dieses Gebiet,
wie die Sachverständigen versichern, geradezu den bedeutendsten Mann
des Altertumes. Ein beherzigenswerter Beweis, wie unabhängig die reine
Spekulation von der allgemeinen geistigen Zeitströmung bleibt. Einen
Boden, aus dem der schöpferische einzelne erwachse, muß es freilich
geben, und er fehlt auch hier nicht. Pappos, der hochverdiente mathe- fippot
matische Kompilator, gehört in dieselbe Schule und Zeit, und eine statt- *■"" "'"^
liehe Sammlung arithmetischer Aufgaben in epigrammatischer Form hat
ein gewisser Metrodor, angeregt durch Diophantos, verfertigt oder doch Metrodoroi
gesammelt (Lessing hat sich ein wenig für sie interessiert); auch ihre '"^ ^'"''
poetische Technik ist ganz unverächtlich und beweist, daß auch in dieser
Hinsicht Alexandreia die beste Tradition aufrechthielt.
Der mathematischen Denkart scheint die Spekulation des Plotinos pioHu
ganz fern zu stehen, da sie durch und durch metaphysisch ist, und '''' ''"''
doch ist er eine verwandte Erscheinung, denn auch sein Denken be-
wegt sich in der vollkommenen Abstraktion, und die Welt, die ihn
umgibt, ist ihm ebenso unwesentlich. Er stammte aus Alexandreia und
gehört dorthin, wenn er auch seine Tätigkeit in Rom geübt hat. Man
kann schwerlich leugnen, daß seine Philosophie auch den Stempel trägt,
daß der wissenschaftliche Gedanke am Ende seines Lebens bei den
Hellenen stand. Von der Naturbeobachtung und Forschung waren die
lonier ausgegangen, und auch später, als die Sokratik den Menschen in
die Mitte der Untersuchung zog, hatte die Beobachtung des Lebens immer
wieder der Abstraktion frischen Stoff zugeführt. Selbst wenn die Philo-
sophie den wahren Adel schrankenlosen wissenschaftlichen Forschens
verlor, blieb sie immer magistra vitac, sie lehrte leben. Für Plotin ist die
Welt und das Leben im Grunde ganz irrelevant, zufällig, ja hinderlich,
wie der Körper, in den die Seele gebannt ist. Hienieden ist er ein
Fremder; so war sein Leben, so sind seine Bücher, die eben dadurch so
ganz persönlich, so wahr und um so rührender sind, als doch die Person
des Schreibers ganz zurücktritt. Man mag ihn einen Mystiker nennen,
dessen Stärke in dem Empfindungsleben der eigenen Seele und in der
Feinhörigkeit für ihre halb unbewußten Regungen liegt. Indessen nicht
nur die schneidend scharfe Dialektik, auch die keusche Schweigsamkeit
über sich selbst läßt doch diese Bezeichnung unzutreffend erscheinen. Er
hat immer noch mehr mit Piaton gemein als mit Augustin, den man nur
als Gegensatz mit ihm zusauTmenbringen kann. Seine Schriftstellerei ist
gar nicht darauf aus zu bekehren; wie er im Leben nicht um zu lehren,
sondern um zu forschen, mit den Freunden disputierte, so tut er es mit
Du Kultur oxk Gigenwakt. L 8. 1 1
IQ^ Ulrich von Wilamowttz-Moellemmsft: Die griechiscbe Litetatnr des Altettnms.
sich in seinen Aufsätzen, die er ohne die Absicht der Publikation hinwirft;
er denkt mit der Feder. Die Tradition des Dialog- und Diatribenstiles
wirkt wohl nach; nichts häufiger als die Form der Frage; aber alles
Künstlerische, ja alles Sinnliche, man möchte sagen, alles Köipeiliche
der Sprache ist verschwunden. Wie unheUenisch wird nicht ein solches
Buch; und doch liegt noch das Abendrot der scheidenden keuschen Charts
darüber, die Hingabe allein an das Objekt, die einst die lonier wissen-
schaftlich schreiben lehrte, und zugleich die Heilig^img jener himmlischen
Muse, die dem Farmenides und Flaton das Reich des ewigen Seins offen-
barte, vor dem aller bunte Schimmer des Werdens Tand ist Nur im
reinen Äther der Gedankenwelt kann die Seele Plotins atmen. Was änd
dem alle Genüsse dieser Welt, auch die reinsten und geistig^sten, der die
Seligkeit der Vereinig^ung mit dem Ewigen, mit Gott gekostet hat, das
innere Erlebnis eines Augenblickes, der gleich der Ewigkeit ist Kein
größerer Kontrast als diese stille selige Seele in dem Mord und Brand,
der über die Welt tobt, dem Hexensabbat all der neuen Grötter, und der
schellenlauten Torheit der Rhetorik. In dieser Welt war auch für die
Seele des Hellenentumes keine Stätte mehr; aber sie hatte Gott geschaut:
die Zeit konnte und kann ihr nichts mehr anhaben.
Wem Plotin einmal etwas zu Herzen gegangen ist, der weiß, welche
Sünde und welche Torheit es ist, wenn man die Menschen dieser Zeit in
Böcke und Schafe, Chiisten und Heiden sortiert Sein Zeitgenosse, der
Christ Origenes, beweist dasselbe; ihn hat schon zu Lebzeiten der Haß
der christlichen Unbildung aus seiner Heimat Alexandreia verjagt, himdert
Jahre nach seinem Tode hat er die Obhand in der Kirche bekommen und
schließlich unter lustinian durch seine Verketzerung der griechischen Kirche
das Urteil gesprochen, daß der Logos aus ihr entwichen war: Mohammed
origeaes kounte kommen. Für die hellenischen Philosophen seiner Zeit war Origenes
(t 234)- gJQ geachteter Kollege, der nur eine andere Doktrin vertrat; es konnte
damals ein Christ sehr wohl einen wissenschaftlichen Lehrstuhl einnehmen
und nicht nur von Christen gehört werden, wie wir z. B. von einem Schüler
des Origenes, Anatolios, wissen. In der Tat kann die Metaphysik des
Origenes ganz g^ut als eine besondere Form des damaligen Piatonismus (nur
mit sehr vielem aus der Stoa versetzt) gelten, die freilich eine esoterische
und exoterische Lehre unterscheiden mußte: anders hatten es die Stoiker
auch nicht gehalten, die den Staatskult verteidigten und die Theogonie des
Hesiod nach der Methode ausdeuteten, die er von ihnen übernahm. In
erster Linie war für ihn bestimmend geworden, daß er, um den Unterricht
an der Katechetenschule zu leiten, Grrammatik studiert hatte: so kam er
zu seinem wissenschaftlichen Werke, der Herstellung eines urkundlichen
Textes des Alten Testamentes, das seinesgleichen selbst in der helle-
nistischen Grrammatik nicht hat: das steht aufrecht, und sein Ruhm kann
nie verbleichen, während seine philosophischen Spekulationen längst ab und
tot sind und die seiner Verketzerer nur noch das Leben von Grespenstem
¥
»
D. Römische Periode Tjo v. Chr. bis 300 n. ChrA r\'. Die Zeit des Zusunmenbruches. i^^ ^^H
führen. Der Erklärung des also gesicherten Textes galt seine unermeßliche |
Produktion von Kommentaren. Von diesen heißt mindestens ein sehr großer
Teil Homilieen; es sind Lehr\'orträge, deren bescheidener Name „Unter- ^^_
haltungen" den Verzicht auf oratorische Wu-kung ausdrückt; er stammt aber ^H
aus der Rhetorik; Philostrat nennt seine Gemäldeschilderungen so, die sich 1
auch an einen Kreis von Lernenden wenden; deren Sclüichtheit ist freilich I
raffinierte Künstelei, und der Name Homilie ist gerade ganz klassizistisch, J
da er von dem entlegenen Kritias (S. 74) stammt Origenes hat aber ^^|
seine Vorträge wirklich ganz so gehalten, wie ein Forscher und Lehrer, ^^M
der nur an die Sache denkt; es ist die Improvisation eines wohlvorberei- ^^|
teten Professors, von Stenographen fixiert und dann vom Autor für die |
Publikation durchgesehen, w^odurch sich die Massenhaftigkeit der Produk- 1
tion erklärt. Was so herauskam, war von einem geschriebenen Kom- I
mentar nicht wesentlich verschieden. Literarischer Wert ist nicht erreicht, 1
aber auch nicht angestrebt Wenn die Sprache etwas Individuelles haben I
sollte (was zu untersuchen ist), so muß es im Hintergrunde liegen; seine ^J
eigene Person stellt der vielgeliebte und vielgehaßte Mann sicherlich nicht ^m
ohne Überwindimg zurück. Das Ethos des Gelehrten ist es, das dem 1
Origenes am besten steht; nach der Polemik gegen Celsus darf man ihn 1
nicht beurteilen. Den Menschen würden wir wolü liebgewinnen, wenn 1
seine Korrespondenz erhalten wäre: für diesen zeugt am beredtesten die J
schöne Abschiedsrede des Gregor von Pontus, durch und durch rhetorisch, ^H
aber das erfreulichste Erzeugnis der damaligen Rhetorik. ^^
Was er für die Wissenschaft getan hat, griechisch zu reden als Porph/riM '
Grammatiker und Kritiker, ist auch das Bleibende in dem Wirken des '""— '••J''*'*
Malchos von Tyros, der erst als Student den semitischen Namen mit
Porphyrios vertauschte. In der Homererklärung, der Philosopheugeschichte,
der Chronologie der Diadochenzeit operieren wir stark mit dem Materiale,
das er uns überliefert; viele Generationen hat ein Kompendium von ihm
in die aristotelische Logik eingeführt. Das Werk Plotins hat seine Pietät
allein gerettet, und die Vorrede über Plotins Leben liest man gern neben
dem Panegyrikus Gregors auf Origenes. Die richtige Datierung des Daniel-
buches zeugt dafür, daß er aus der Interpretation wirklich historische
Schlüsse zu ziehen vermochte, etwas sehr Seltenes zumal in jener Zeit
Sie kontrastiert um so greller mit der Kritiklosigkeit, die aus den Orakeln
der Griechengötter Philosophie destillierte; aber des Widerspruchsvollen
ist in dem seltsamen Manne sehr viel, der wahrlich eine Biographie ver-
dient: die Philologie hat aber noch nicht einmal seinen Nachlaß zusammen-
gebracht, der noch jüngst durch ein umfängliches Ineditum, über die Be-
seelung des Embryons, bereichert ist Trotz allen Vorzügen kann der
repräsentative Mann seiner Zeit die Krankheit seiner Zeit nicht verleugnen;
die Last des Autoritätsglaubens nimmt seinem Urteil die Freiheit, und seine
Gelehrsamkeit ist überwiegend Reproduktion. Dabei geht sogar die
stilistische Persönlichkeit verloren: sowohl in dem Stücke seiner Philosophen-
>3*
ig6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
geschichte, das wir haben (dem Leben des Pythagoras), wie in der Streit-
schrift gegen den Fleischgenuß, ja sogar in dem Abriß praktischer Moral,
den er an seine Frau richtet; nicht aus Unvermögen schreibt er einfach
ab, sondern weil das Formgefühl erstorben ist, aus Widerwillen gegen die
rhetorische Formspielerei, die den Inhalt verloren hat, aber auch weil ja
jeder schriftliche Ausdruck fremd und angelernt war.
Porphyrios wird von den Christen ungern ohne einen Ausdruck des
Abscheues genannt, weil seine Schrift gegen das Christentum der gefähr-
lichste Angriff war; man hat später mit ihr auch alle Gegenschriften unter-
gehen lassen, die immer noch zu viel von dem Gifte enthielten. Und doch
EuMbioi hat er den Christen den größten Dienst erwiesen, indem er den Eusebios
(t 340). yQjj Cäsarea, also einen Landsmann, zu seiner wissenschaftlichsten Schrift-
stellerei nicht nur veranlaßte, sondern neben Origenes ihn auch wissen-
schaftlich am stärksten anregte. Wer in Porphyrios den Vertreter des
Griechentumes einmal schildern wird, das trotz allem den Untergang ver-
dient, dem es verfällt, wird gut tun, ihm in Eusebios den Vertreter des
Christentumes entgegenzustellen, das zu siegen verdient, trotz allem. Denn
seine Gelehrsamkeit ist noch viel mehr Reproduktion, und sie ist noch
viel unkünstlerischer, da ganze Werke einfach Exzerpte sind und sich
auch so geben; das Schreiben besorgte der Kopist, der Verfasser strich
nur in den Büchern die auszuhebenden Stellen an und schrieb die Ein-
und Überleitungen. Auch als Gelehrter hält Eusebios weder mit Porphyrios
noch mit Origenes die Vergleichung aus. Aber die Kirchengeschichte, die
er auf Grund der Bibliothek des Origenes (die in Cäsarea durch die Pietät
des Paraphilos erhalten war) zusammenstellt, ist eine weit vornehmere und
wirksamere Widerlegung des Porphyrios, als eine Gegenschrift sein könnte:
sie gibt einfach das Gericht der Geschichte, und wir wollen dem Verfasser
dankbar sein, daß er die Urkunden sprechen heß. Wer den Verlauf der
griechischen Literaturgeschichte übersieht, muß aussprechen, daß dies
Werk seiner ganzen Anlage nach ihren künstlerischen Prinzipien und
Traditionen zuwiderläuft. Aber es ist ein schweres Unrecht, daß dieses
Buch nicht zu den allgemein bekannten gehört: ein wissenschaftlicher
Unterricht in der Theologie müßte seine Interpretation dicht neben die
des Evangeliums und des Apostels stellen. Von der sachlichen Bestreitung
des Porphyrios ist auch das große Werk diktiert, in dem der Beweis der
evangelischen Lehre geliefert werden soll, dem die Weisheit der Hellenen
zur Vorbereitung dient: so stellte sich dem Eusebios die Entwickelung der
Philosophie dar, im Anschluß an Origenes. Hier steht's nun freilich so,
daß berechtigterweise nur die Auszüge gelesen werden, die in dem ersten
Teile kunstlos zusammengestellt sind. Den imposantesten Beleg seiner
Wissenschaftlichkeit hat Eusebios endlich durch die Chronik geliefert, nicht
allein durch die Auszüge oder die Umnenge von Daten, die er uns allein
gerettet hat, oder auch durch das Zusammenfassen von Orient und Okzident
(obwohl keine Spur davon ist, daß eine Chronik gleichen Umfanges vor
D. Rflmischc Periode (30 v. Chr. bis 300 n. Chr.). IV. Die Zeit des Zusammenbruches, igy
I ihm je gemacht wäre), sondern vor allem, weil er ein denkender Chronologe
war, der im Grunde den mythischen Teil bis Abraham als solchen
anerkennt und den kindischen Zahlenspielereien des Chiliasmus keine
Konzessionen macht. Es war eine starke Verirrung, den Ruhm, den
er verdient, auf den kaum halbgebildeten Africanus zu übertragen, der, amc»bii»
gebürtig aus Jerusalem, am Hofe der edessenischen Christenscheichs *"" '"'
(die sich durch gefälschte Briefe eine besondere Würde verfertigten) und
der severischen Kaiser wohlgelitten war und nur gelegentlich ein gutes
Buch auszog, auch einmal (wie in betreff der Susannanovelle) einen guten
Einfall hatte. Ganz ebenso dient sowohl die Chronik wie die Ostertafel
des Hippolytos von Portus nur dazu, die persönliche Bedeutung des Hippoirte*
Eusebios zu heben; von seinen Nachfolgern ganz zu schweigen, die auf '*''"'''
die Weltära zurückgriffen. Eusebios ist dann dem Constantin nahegetreten;
er hat dazu mitwirken müssen, die siegreiche Kirche in den Dienst eines
christlichen Herrn zu fugen, und die Gehässigkeit, mit der sich die Par-
teien unter den Siegern sofort befehdeten, hat ihm schwere Stunden ge-
macht. Gerade daher wird eine Biographie von ihm noch viel interessanter
sein als von Porphyrios; es ist auch viel mehr Stoff dazu vorhanden.
Wir haben ja die verschiedenen Fassungen der Kirchengeschichte,
die ihm die Rücksicht auf den Hof bei einer neuen Auflage abnötigte.
Das Christentum verhinderte Constantin nicht daran, seinen Sohn umzu-
bringen, und dann mußte der Name des Crispus in der Kirchengeschichte
so gut radiert werden, wie einst unter Caracalla der Name Getas. Nach
der Moral ihrer Zeit hat man die Menschen zu beurteilen, und es ist eine
schreiende Ungerechtigkeit, wenn das Buch über Constantin das erste
ganz verlogene genannt worden ist. Wer die „Reden auf Constantin"
für Geschichte oder Biographie hält, versteht von der griechischen
Literatur gar nichts, deren erster Grundsatz ist, daß die Gattungen über
den Stil entscheiden. Die Rede gibt eben ein Idealbild; hier sind des
Libanios Grabrede auf Julian, Gregorios auf Basilios oder auch gegen
lulian am nächsten zu vergleichen. Gewiß ist in ihnen allen viel, was
unseren Wahrheitssinn verletzt; die ranzige Salbung des Hofbischofs ist auch
unausstehlicher, als wenn ein gallischer Rhetor in sein Posaunchen stößt, und
bei Libanios vollends versöhnt die Treue und der Mut, sich zu dem über-
wundenen Manne zu bekennen. Eusebios ist auch wirklich ein schlechter
Rhetor. Schließlich aber ärgert uns das Buch doch vornehmlich, weil es
ein Mann geschrieben hat, den wir dafür zu gut finden; es tut uns leid,
^^ unsere Achtung vor seiner Person herabzustimmen. Er hat es eben
^B erfahren müssen, daß die siegreiche Kirche und der christliche Ab-
^^ solutismus die Ehrlichkeit und Wissenschaftlichkeit nicht mehr duldeten,
die er von Origenes überkommen hatte. Auch Eusebios ist noch zu
I hellenisch: die neue Zeit kann seinesgleichen nicht mehr brauchen.
c
igg Ulrich von Wilamowitz-Moellemdorff: Die griechische Literatur des Altertums.
E. Oströmiscbe Periode (300 — 529).
I. Das christliche Ostrom. Das römische Reich war um die
Mitte des 3. Jahrhunderts in Trümmer gegangen. Das Reich, das Diocle»
tians Barbarenfaust aus diesen Trümmern bildete, war ein anderes, und
die Spaltung in Ost und West ist bestehen geblieben, auch wenn eine
Weile derselbe Herr hier wie dort gebot Die Hauptsache war, es
gebot ein Herr unumschränkt, über Knechte, wie einst der Perser-
könig; aber das Joch drückte jetzt viel schwerer, denn unter dem König
stand die Beamtenhierarchie, schlimmer als je in Ägypten. Freie Ge-
meinden und freie Menschen gab es nicht mehr; der Bürger war zum Unter-
tan degradiert Nur die Organisationen, die sich die Brüdergemeinden
der Christen aus eigener Kraft geschaffen hatten, widerstanden dem bru-
talen Gewaltakte, der auch ihre Freiheit ersticken wollte, selbst die Frei-
heit ^er Gewissen. Constantin entnahm daraus, daß ihr Gott mächtiger
wäre als alle anderen, auch als die Götter, die in dem Imperium des
römischen Volkes walteten; er wandte sich dem mächtigen zu und errang
die Herrschaft Ohne Frage ist seine Toleranz für alle Teile ein Segen
gewesen; das 4. Jahrhundert sieht Wohlstand und Gesittung steigeiL Aber
biild schlägt die Toleranz in eine viel schlimmere Tyrannei des Gewissens
um, in der denn auch das geistige Leben allmählich erdrosselt wird. Die
Christengemeinden ziehen sofort den Monarchen in ihre häuslichen Streitig-
keiten hinein; er präsidiert der Versammlung, die eine metaphysische
Streitfrage durch Majoritätsbeschluß entscheiden will, imd er hilft die
Majorität machen. Wohl wird damit der erste Schritt auf der Bahn getan,
die den absoluten Kaiser auch zum Herrn der griechischen Kirche
machen sollte; aber zunächst ist der Erfolg, daß der Kaiser in den Ver-
sammlungen der Bischöfe auf Männer von eigenem Willen und eigener Macht
stößt; er findet ein Parlament, wie es der Senat längst nicht mehr gewesen war.
Innerhalb der Kirche gibt es wieder parlamentarisches Leben, Parteien und
Parteiführer, Pamphlet und Presse, und daß sich die Parteikämpfe nicht
um politische, sondern um dogmatische (früher hätte man gesagt „philo-
sophische") Gegensätze drehen oder zu drehen scheinen, hebt die Ähnlich-
keit nicht auf. Schwer, aber schön wird die Aufgabe des Historikers
sein, der in schwerlich naher Zukunft die wirkliche Geschichte des 4. und
5. Jahrhunderts schreiben wird. Die Vorbedingung ist, abgesehen von der
Erfassung einer ganzen Reihe von Personen, die eigentlich erst zu ent-
decken sind, daß die unnatürliche Scheidewand zwischen Kirchen-
geschichte und Reichsgeschichte gefallen sein muß. Diese besteht aber
schon in den zeitgenössischen Darstellungen, denn die Autorität der
Kirchengeschichte des Eusebios erzeugt Fortsetzungen, die recht achtbar
und auch lesbar sind. Wieder geben sie oft im Gegensatze zu der
griechischen Weise Aktenstücke, und solche liegen auch sonst in kaum
übersehbarer Fülle vor. Briefe und Gelegenheitsschriften kommen massen-
Peiiode (joo— pq). L Du dirädidtt Östron.
log
halt dazu: so läBt sich die Aufgabe des Historikers dieser Zeit vid thbr
mit der des modernen als der des alten Historikers vergleichen. Freilich
haben sich die Sieger meistens bemüht, den Überwundenen, den nun das
Brandmal des Anathemas trai^ auch tot der Nachwelt mundtot zu machen;
die Moral des Kampfes steht kaum über der von Demosthenes und
Aischines, und es ist noch widerlicher anzuhören, wenn dem Nächsten im
Namen Gottes die Ehre abgeschnitten wird. Die Reichsgeschichte wirtl
zunächst noch nicht von Christen geschrieben, aber sie bewahrt auch
später die antike Tradition; die Rhetorik dominiert, die Mitteilung von
Dokumenten in authentischer Form ist selten, weil sie dem Stilgesetze zu-
widerläuft (es seien denn Orakel, also Verse), der Schriftsteller denkt an den
Effekt, den er erreichen will, in erster Linie. Eunapios von Sardes (den wir
zum größeren Teile nur durch Zosimos, einen matten Kompilator, besitzen)
ist in seiner Geschichte (einer Fortsetzung des Dexippos, S. loi) nicht ganz
so gfeziert gewesen wie in den Biographieen von Philosophen und Rhetoren,
die noch dazu ziemlich inhaltsleer sind, und in den Taten seines Heidon
Julian erhielt seine Geschichte einen großen Stoff; Julians Leibarxt
Oribasios hat ihn in echter Pietät zu dem Werke veranlaßt; ein Mann,
dem wir auch für eine riesige medizinische Kompilation zu Danke ver-
pflichtet sind. Aber unausstehlich wirken doch die welken Blumen der
archaistischen Erudition, die Eunapios überall einflicht, die leeren Sentenzen
und der geborgte Flitter der Rede. In allem scheint Olyrapiodoros sein
Nachfolger gewesen zu sein; übrigens hat auch der arianischc Kirchen-
historiker Philostorgios, der, wie seine Glaubensgenossen überhaupt, hohe
rhetorische Aspirationen hatte, geographische Exkurse eingefügt
In diese Reihe gehört Ammianus Marcellinus aus Antiocheia durchaus,
trotz der lateinischen Sprache, die der Militär gelernt hat und der aus-
gediente Militär in Rom zu schreiben versucht Aber hier hat einmal
das Studium lateinischer Vorbilder erhebend gewirkt. Daß er Tacitus
vor Augen hatte, gab ihm die Krafl, Charaktere zu zeichnen; durch die
Historieu Sallusts kam er auf die Weise von dessen Vorbild Poseidonios
und gab in breiten Exkursen ein Bild sämtlicher Landschuften des Reiches,
Daß in ihnen vorwiegend sehr billige Erudition geboten wird, muH man
seiner Zeit und Bildung zugute halten, ebenso wie das beinahe uimiögliche
Latein: er hat doch das erste Geschichtsvverk seit Tacitus geliefert, zu
dessen Lektüre man gern zurückkehrt. Ihm gleichgekommen ist keiner
der Späteren, aber sie leisten Unverächtliches, und die Qualität sinkt
durchaus nicht Die vielbelobten Berichte des Priscus über seine Reise
zu Attila stehen keineswegs allein. Das große Publikum pflegt eine ge-
wisse unbestimmte Vorstellung zu hegen von den höchst heldenmütigen
LGothenkönigen Totila und Teja, und anderseits von einem verfaulten
Byzantinertume mit einer potenzierten Messalina, der Theodora, und dem
mißhandelten Verdienste Belisars: das ist am letzten Ende eine doch nicht
geringe Wirkung des Prokopios, wenn auch diese Vorstellungen am
I
0*wUckt<
•rkrtlbanc.
(■Nt 4«4>
OI)rin|ll<»lot«*
(um 4jo).
M*rc«
(t «♦«•n <«>)•
l'rUcH4
(um <jo)
Hrftkoplo
It iiüih 5Jo).
200 Ulrich von
40wrrz-M0ELLENO0RFF: Die griechische Literatur. des Altertums.
Agathiis
(tS9»).
Tbcopbylakto«
Simok&tta
(tun 620).
k
ÜbeneUungrii
ia dAi
LaieinlKhe.
Syriicbe
Literatur.
Bardesanrs
(um iBo),
Epbrem
It J7J)
Stärksten berichtigt werden, sobald man seine Bücher liest Es ist doch
nichts Kleines, dciß sich die gar nicht mehr hellenische, aber hoch-
bedeutende Zeit lustinians wesentlich dank seiner Darstellung in geschicht-
lichem Vollbilde darstellen läßt Sein Griechisch war ihm freilich kaum
weniger fremd als dem Ammian sein Latein; das steigert sich noch bei
Agathias, und Simokatta ist gar ein Ausbund von Fratzenhaftigkeit
Die Scheidung der Reichshälften riß die Kultur auseinander; schon
im 4. Jahrhundert spürt man, daß sogar die Kirche Roms sich von dem
Orient emanzipiert, zu ihrem und des Okzidentes Heile wird sie immer
lateinischer: nur so konnte sie sich die Freiheit der Entwickelung be-
wahren, die im Osten durch das Kaisertum erstickt ward. Wohl aber
empfand auch sie die Gefahr, daß die Bildung sinken mußte: daher die
umfassende Übersetzertätigkeit durch Ambrosius Rufinus Hieronymus.
Dasselbe geschah auch auf anderen Gebieten, namentlich durch Meuius
Victorinus und seinen Kreis. Die wissenschaftlichen Handbücher, die
gerade bei den Griechen galten (sowohl theoretische für den Unterricht,
als auch praktische z. B. für die Heilkunst an Mensch und Tier), aber
auch belehrende Poesie (durch Avien) und historische Unterhaltungsliteratur
(Alexanderroman, losephus' jüdischer Krieg, Dictys, Dares) werden so dem
Westen erhalten. Wie der Antiochener Ammian in Rom die griechische
Historiographie in lateinischer Sprache übt, so bringt um 400 der
Alexandriner Claudian die Poesie seiner Heimat, sowohl die mythologische
wie die interessantere über Stoffe der Zeitgeschichte, nach Ravenna und
wird der letzte geistreiche Dichter in lateinischer Sprache. Noch viel
mehr ist die letzte Pheise der africanischen Dichtung ein Ableger der
griechischen. Die wirren mythologischen Poeme des Dracontius werden
erst verständlich, wenn man sie zu der nonnischen Schule stellt; die
Epigrammatik des Luxorius gehört zu Palladas und dem Silentiar Paidus,
Corippus vollends ist lateinisch nur in der Sprache: er vertritt uns die
historische Epik der Griechen, die bis auf karge Reste und etliche Namen
wie Soterichos verschollen ist, und die später Georgios der Pisidier, aber
nicht mehr in klassischer Form, fortsetzt; er bedient sich bereits des
byzantinischen Zwölfsilblers, der aus dem iambischen Trinieter hervor-
gegangen ist.
Die Syrer von Edessa hatten schon gegen Ende des 2. Jahrhunderts
ihre eigene Sprache zu schreiben begonnen und sogleich in Bardesanes
einen bedeutenden Philosophen hervorgebracht, der seinen heimischen
Namen beibehielt, syrisch in Prosa und Versen schrieb, aber die griechische
Bildung, die er beherrschte, durchaus nicht preisgab; so gab es seine
Werke auch auf griechisch. Umgekehrt scheint Eusebios, obwohl Bischof
des ganz griechischen Cäsarea, die syrische Übersetzung seiner Haupt-
werke selbst angeregt zu haben. Zwei Menschenalter später wirkt in
Edessa der Syrer Ephrem, in nahem Kontakte mit den Führern der
griechischen Orthodoxie. Ephrem ist durch Übersetzung seiner zahlreichen
i
I
Schriften, auch der Gedichte, von so andauernder Wirkung, daß man mit
Recht die Frage aufgeworfen hat, inwieweit auch formell die neue
liturgische Poesie durch die syrische Metrik beeinflußt worden sei; die
Lösung steht noch aus.
Während hier das Auftreten der Volkssprache, die bisher vom Grie-
chischen niedergehalten war, zwar ein Vorbote davon ist, daß Kirche und
Volk von Syrien sich von den Hellenen emanzipieren werden, aber die
Kultur dadurch keine Einbuße erlitt, bringt das Aufkommen der ägyp-
tischen Sprache zugleich der griechischen ICultur des Landes den Tod:
denn abgesehen von der „Stadt" (wie Alexandreia technisch gegenüber
dem „Lande" heißt) ist das ägyptische Christentum durchaus bildungs-
feindlich. Die Erhaltung höchst wertvoller altchristlicher Literatur durch
die Kopten beweist am besten, daß sie das Hellenische verschmäht haben.
Übersetzungen aus dem Lateinischen scheint es kaum noch zu geben.
Tertullian mußte für griechische Ausgaben seiner W^erke sorgen, wenn sie auf
weitere Kreise der durchaus griechischen Kirche wirken sollten: Augustin
kommt dem Osten kaum zur Kenntnis. Aus älterer Zeit hört man ge-
legentlich von einer Übersetzung der beiden Bella von Sallust; die vierte
Ekloge Vergils kann Eusebios in einer gar nicht üblen Übersetzung
zitieren; später nichts dergleichen, denn die Benutzung der Äneis, die
z. B. bei Triphiodor zutage liegt, wird aus dem Originale stammen. Das
Studium des Lateinischen ward in Konstantinopel emsig betrieben,
und schon die Tätigkeit des I^ctantius in Nikomedeia bezeugt, daß
die Kaiser bei der Reichsteilung nicht vergaßen, für die lateinische
Bildung ihrer Beamten zu sorgen. Die romanisierten Donaulandschaften
waren ja beim Osten geblieben; gerade sie stellten sehr viele Offiziere,
also auch Kaiser, so daß der Hof und die Regierung lateinisch waren
und bleiben sollten. Das hält sich bis in das 6. Jahrhundert, bis zum
Corpus iuris und der Grammatik des Priscian von Konstantin opel; geht
doch sogar die Überlieferung mancher erhaltener lateinischer Autoren
auf diese Schule zurück. Kein Wunder, daß einzeln auch Griechen jetzt
lateinische Werke benutzen, wenn sie sich für den Staatsdienst der Sprache
bemächtigt haben, wie das am ausgedehntesten in der seltsamen Schrift-
stellerei des Lyders Laurentius geschieht, der beweist, wieviel gelehrtes
Material in der Zeit lustinians für jedermann parat lag, und wie wenig
man mit ihm anzufangen wußte. Auch früher schon, wohl im 4. Jahr-
hundert, hat ein freilich in keiner Weise zu fixierender musikalischer
Kompilator, Aristides Quintiüanus, Ciceros Staat gelesen und zitiert So
wird denn auch gerade die griechische Sprache seit Diocletian sehr stark
von lateinischen Wörtern durchsetzt, und nur Ziererei enthält sich ihrer.
Die kaiserliche Kanzlei ist lateinisch, die griechischen Ausfertigungen
also lediglich Übersetzungen wie in der Republik, nicht unter dem Prin-
zipat Nun hatte sich aber in der Zeit des schlimmsten Verfalles ein so
vertrackter und schwülstiger Stil der Geschäftssprache bemächtigt, daß es
Koptische
Literatur.
LAureotiot der
(um 560).
L
202 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
geradezu widerwärtig ist, sich durch dieses Gestrüpp hindurchzuarbeiten.
Das wird dann in das Griechische übersetzt und nimmt sich da noch un-
glaublicher aus: es ist die einzige Stilform, die aus dem Latein herüber-
gekommen ist Für das diocletianische Edikt und seine Nationalökonomie
paßt es am Ende ganz gut; in den Hirtenbriefen Constantins erregt es
schon eher Befremden, daß aber lulian in seinen Erlassen Kauderwelsch
reden muß, enthüllt grell die Zerklüftung der ganzen Zivilisation.
Konttantinopei. IL Das Auslebeu der Literatur. Die Pflege des Lateinischen
und was damit zusammenhängt, also namentlich das Recht, ist das
einzige, was die neue Hauptstadt bis auf lustinian zu dem geistigen
Leben des Reiches beiträgt Daß das Prunken mit Gold, Edelsteinen
und Seide am Hofe am aufdringlichsten ist; daß dort die grünen und
blauen Jockeys und die nunmehr aus christlicher Dezenz mit einem
ganz kleinen Schürzchen bekleideten Balletteusen erster Qualität sind
und beide Kategorieen die idealen Bedürfhisse der Offiziere und
Regierungsbeamten ausreichend befriedigen, einerlei ob diese Illyrier,
Germanen oder Isaurier, Arianer oder Orthodoxe sind, versteht sich von
selbst Das Wertvollste, die neue Kirnst, wird aus dem Osten importiert,
so auch das Hofzeremoniell der neuen Monarchie; auch die Redner, deren
der Hof bedarf, holt er sich aus der Fremde; es bekomutnt aber den
TbemUtios meisten übel. Doch hat sich von Constantius bis Theodosios dort Themi-
(t nin 390). ^^j^^ gehalten, allerdings nicht nur als Redner, sondern vorwiegend als
Beamter, ohne daß hiervon in seinen Werken viel zu spüren wäre. Er
hat zwar die Moderhetorik gepflegft, aber aus der aristotelischen Philo-
sophie (der er durch sehr praktische Paraphrasen der Hauptwerke treff-
liche Dienste leistet) so viel Haltung bewahrt, daß er, ohne sich zu ent-
würdigen, den verschiedenen Kaisem dienen kann; er hat auch seinen
hellenischen Philosophenglauben bewahren dürfen und repräsentiert eine
achtungswerte Bildung. Immerhin spürt man den Abstand der Zeiten,
wenn man seine Reden an Theodosios mit denen Dions an Traian, seinem
Vorbilde, vergleicht
Wie es begreiflich ist, daß die künstlich geschaffene Stadt, die nur
ein barbarisiertes Hinterland hatte, den Ton in Sachen des Geistes und
Geschmackes nicht angeben konnte, so gilt dasselbe von den meist ganz
bildungslosen Kaisem. Constantin freilich hat nicht nur die entscheidende
Wendung in Sachen des Glaubens getan, sondern ist selbst am Ende
seines Lebens immer mehr ein David im Stile der Chronika geworden;
nur ließ er Hirtenbriefe und eine Prediget statt Psalmen ausgehen. Dem
entspricht es, daß seine Nachfolger die herrschende Glaubensform be-
stimmen; Theodosios L dankt seiner Orthodoxie allein den Namen des
Großen. Aber für die Literatiu- kommt nur lulian in Betracht, der früher
Sophist als Kaiser war, und Konstantinopel ist weder der Schauplatz
seiner Taten noch der Nährboden seiner Bildung.
E. Oströmische Periode (300—529). II. Das Ausleben der Literatur.
203
So kommt in Europa nur noch Athen in Betracht wegen der Uni- Atheo.
versität, die bis zur Verwüstung Griechenlands durch Alarich den ersten
Rang als Bildungsstätte für Rhetorik und Philosophie behauptet, denn
hier war die Kontinuität seit der hadrianischen Neugründung der Stadt
niemals unterbrochen. Wenn es ein Fortschritt war, daß die Rede von
dem quantttterenden zum akzentuierenden Prinzip überging, so gebührt
Athen dieser Ruhm, und es war wenigstens modern. Modem war aber
auch eine arge Verwilderung des Geschmackes (obgleich auch da die
Kontinuität von Polemon zu Philostratos, von dem zu Himerios unverkennbar HimeriOT
ist), und gerade was in ihnen ungesund ist, haben lulian, Gregor, Basilios *"'" •'^"''
sich von der Universität geholt. Von den Professoren ist uns durch
Proben noch Himerios bekannt — wer ihn kennt, weiß, was albern ist,
um auf ihn zu übertragen, was Cicero von dem Asianer Hegesias sagt.
Daneben steht die Philosophie; doch ist von dieser nicht nur Epikur ganz PMioiophi«.
vergessen, unbegreiflicherweise auch die Stoa (das Rätsel ihres Ver-
stummens erheischt dringend eine Lösung); der Kynismus, der ja nicht
Lehre, sondern praktische Betätigung der erkannten Wahrheit war, hatte
noch Vertreter, aber in den Hauptstädten: er muß den Schwindel des
Lebens sich gegenüber haben, den er negieren und bekämpfen will. Der
Piatonismus hatte schon unter Porphyrios die aristotelische Logik mit in
seinen Unterricht gezogen, so daß der Gegensatz dieser beiden Schulen,
obwohl er in der Theologie fortleben sollte, nicht stark ins Gewicht fällt
Wenn die Aristoteliker sich von der Dämonologie fern halten, so bleiben
sie darum in dieser Zeit, die auch von der Wissenschaft nur Befriedigung
des religiösen Bedürfnisses sucht, für die weiten Kreise machtlos, aber
um so wertvoller ist es, daß doch eine Schule dauernd bestehen bleibt,
die mindestens im Prinzip für alle Behauptungen den Beweis verlangt.
Der Piatonismus dagegen verirrt sich immer weiter von der Wissen- iimwicbo.
schafl fort Das ist vor allem die Schuld des lamblichos aus dem '^ """ ""'
syrischen Chalkis am Libanon, der auch in seiner Heimat gelebt zu haben
scheint, Schüler des Porphyrios (schwerlich persönlicher) und des Christen
Anatolios (S. 1 94). Bei diesem konfusen Denker ist wohl noch von Wissen, aber
nicht mehr von Wissenschaft etwas zu finden. Selbst das Kompilieren besorgt
er unreinlich und maßlos ungeschickt; als Schriftsteller hat er nicht einmal
dem Eunapios genügt, und in der Tat vermag er nicht, ja er versucht
kaum, die Seele des Lesers zu packen. Aber Geister zu bannen verstand
er und erreicht hat er, aus all den chaotischen religiösen Neubildungen
des Orientes, der Dämonologie der hellenischen Mystiker und allerhand
Stücken einerseits von Wissenschaft, anderseits von barem Schwindel
jenes Zwitterding von Religion und Philosophie zusammenzubrauen, das
sich als die Theologie aller der Kulte und Religionen darstellte, die sich
von dem Christentume in ihrem Besitzstande bedroht sahen. Seine Adepten
nennen ihn den Göttlichsten im Superlativ zu dem göttlichen Piaton: sich
und ihrer Sache sprechen sie damit das Urteil, lulian hat nicht nur an
204 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorft: Die griechische Literatur des Altertums.
diese Theologie, sondern auch an die Wunder dieser Geisterbanner geglaubt
Übrigens ist es bezeichnend, daß während der entscheidenden Zeit, im
4. Jahrhundert, das so reich an christlichen Talenten ist, kein einziger
namhafter Mann in diesem Hauptlager seiner Gegner aufgetreten ist, und
daß die Zauberer und Wundertäter zwar in dem bedeutungslosen alt-
hellenischen Teile Asiens, aber noch nicht in Athen zu finden sind.
Das ändert sich im 5. Jahrhundert; da ist die platonische Schule Athens
die feste Burg der Philosophie, zu der alle Anhänger des nun schon
überwundenen Glaubens der Väter aufschauen. Aber wie ärmlich sieht
es in dieser Burg aus. Die Schule sieht sich gezwungen, neben der
Philosophie den rhetorischen Unterricht zu übernehmen (wir besitzen z. B.
von Syrian einen Kommentar zu Hermogenes), so daß auch diese alte
Feindschaft begraben ist, um das Vätererbe zu retten. Ja selbst die
Grammatik, also was vorher allgemeine Bildung war, fällt nun den Philo-
FroUi» sophen zu. Proklos erklärt Hesiodos und schreibt (d. h. schreibt ab) die
(t 4«5)- Chrestomathie, so etwas wie eine literarhistorische Übersicht der klassischen
Poesie, die uns auch in den kargen Auszügen höchst wertvoll ist, gerade
weil der Philosoph nichts Eigenes dazugetan hat - Er macht auch Hymnen
für den Gottesdienst, den sie jetzt üben dürfen und mögen: Einkleidungen
seiner Dogfmen in die konventionelle Hymnenform. Seine philosophische
Schriftstellerei, einerlei ob in der Form des Kommentars, der die Er-
klärung des Schriftwerkes ganz aus den Augen verliert, oder des Lehr-
buches, hat kaiun noch stilistische Aspirationen: es ist für so ziemlich alles,
was sich in dieser Periode Philosophie nennt, bezeichnend, daß es die
Wirkung auf das große Publikum gar nicht mehr anstrebt; schon von
lamblichos gUt das. Das recht ansprechend und geschickt geschriebene
saiiiutiD» Büchlein des Sallustius über die Götter gibt schon dadurch seine Herkunft
(um 360). ^yg jjgjjj praktischen Kampfe Julians zu erkennen: es sollte ein positives
Komplement zu der Schrift des Kaisers gegen die Christen sein.
So ungenießbar die meisten Produkte des Neuplatonismus sind xmd
so windig die Spekulation ist, die sich tmterfängt, die Wolken zu ballen,
weil sie den festen Boden der Wissenschaft unter den Füßen verloren hat,
es liegft doch ein milder abendlicher Schimmer über dem Untergange der
platonischen Grründung, nicht das flanunende Rot, das das königliche Ge-
stirn im Sinken ausstrahlt (wie B3Tons Manfred sie scheiden sieht), aber
wohl der kühle, Wehmut weckende Glanz, der an das Versunkene erinnert,
aber ohne die Hoffnung einer Wiederkehr zu wecken: es ist nur Zeit, zur
Ruhe zu gehen. Man empfindet das, wenn man das Leben des Proklos
M»rino. von Marinos liest Reicher an scharf getroffenen Zügen und lebendigem
(um 490). jjetail, freilich auch an tollem Wunderglauben und (was in dieser Sphäre
DaniMkios fast erquickend ist) an Bosheiten ist das Leben des Isidoros von Damas-
(•«» 5»9)- jjjQg ^(j^ immer noch nicht, wie es kann und sollte, aus den Exzerpten
hergestellt ist). Dieser gehört zu der letzten Schar, die, aus dem Reiche
der Romäer fliehend, bei den Mazdaisten Glaubensfreiheit suchten.
E. Oströmische Periode (300—529). II. Das Ausleben der Literatur.
205
AreopAgita
(um 500).
als lustiiiian die Schule schloß und ihr Vermögen konfiszierte. Wissen-
schaftlich hoch über ihm steht der treffliche Simplikios, der Aristoteles- simpUkio«
erklärer, dem die Welt nie genug für die Erhaltung der Bruchstücke '"" *''^
von Parmenides, Empedokles, Anaxagoras, Melissos, Theophrast, Eude-
mos u. a. danken kann. Diese Bücher lagen, seit Jahrhunderten un-
gelesen, immer noch in der Schulbibliothek: in zwölfter Stunde fand
sich ein braver Mann, der sie aufschlug. Aber für solche Bücher und
solche Männer war kein Platz mehr in diesem christlichen Staate, dessen
Herr das Anathema gegen Origenes schleuderte. Dennoch bezwang er
den Neuplatonismus nicht: die Erhaltung so vieler seiner Schriften ist
nur denkbar, wenn im stillen immer noch dieser Glaube Anhänger fand,
wie er denn in den folgenden Jahrhunderten mehrfach sich regt und in
der Renaissance unter dem Namen Piatons mächtig hervorbricht. An der
Kirche aber hat er sich gerächt, indem er in den Schriften des angeblichen
Areopagiten Dionysios sog£ir die Legrionen der Dämonen lamblichs in die uionyiio»
Heerscharen des Christenhimmels überführte.
Zu den vielen ungelösten Problemen, auf die man stößt, wenn man
von dem Geistesleben der hellenistischen Welt sich eine geschichtliche Vor-
stellung bilden will, gehört es, wie in dem Antiocheia, das man sich viel
eher als das Zentrum ausschweifendster Phantastik und eines wilden Syn-
kretismus denken möchte, wie ihn nicht eben weit davon lamblichos treibt,
ein besonnener, nüchterner, ja geradezu attisch -klassischer Sinn aufkommen
konnte. Er offenbart sich unverkennbar in der antiochenischen Bibel-
erklärung; es steckt etwas davon in der Stellung der Syrer zu den neuen
Dogmen der Kirche, noch bei Nestorios, Er ist das Charakteristische in
dem Stile der Prosarede, dessen einflußreichster Vertreter und Lehrer
Libanios ist. Er ist nur ein Rhetor, und da er bis zur Ermüdung von Libani«
sich und seinem Handwerk redet, auch seine Deklamationen über alles '■''^"•"•J*
mögliche der Nachwelt überliefert hat, von denen viele das Niveau des
trivialsten Schulaufsatzes nicht überragen, so kann man leicht zu einem
sehr absprechenden Urteil kommen. Es drückt ja auch auf allem, was er
macht, eine Atmosphäre von Bücherstaub, Phrasendunst und Langerweile.
Aber der Mann hält doch die nähere Betrachtung aus. Er besaß Treue
und er besaß Mut. Seine Ideale und seinen Helden lulian hat er niemals
verleugnet, und als der Aufstand der Antiochener die Existenz der Stadt
in Frage stellte, hat er seine ganze Person für sie eingesetzt Er hatte
nichts als seine Kunst, aber dieser haben auch die Gegner die Achtung
nicht versagt, und so ist er wirklich eine geistige Macht gewesen. Man
spürt es in seinem Verhalten zu den kaiserlichen Beamten und in seiner
unübersehbaren Korrespondenz, deren Ausdehnung, so viel des ganz Leeren
darin ist, doch so viel beweist, daß Fäden des geistigen Lebens aus der
ganzen Welt in seiner Studierstube zusammenliefen. Was er macht, ent-
spricht seinem Wesen, pedantische, phantasielose Arbeit, alles über einen
Leisten, aber akkurat und solide. Es bedeutet nicht wenig, daß er die echte
2o6 Ulrich von WilamowitzMoellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
attische Weise, unbeirrt durch den Beifall, den die neuen Kadenzen und
Reime fanden, aufrechthielt und den Byzantinern Musterstücke schuf, die
wenigstens die Haupttugenden der Prosa, Einfachheit und Klarheit (leider
nicht auch Kürze, die doch das Lehrbuch auch forderte) zeigten und
lehrten. Freilich hatte seine Sprache mit der des Lebens kaum noch einen
Zusammenhang, und die Aneignung des korrekten Wortschatzes erforderte
ein beständiges Studium der attischen Vorbilder, wie man es ihn selber
deutlich treiben sieht: er hat der Nachwelt das Format seines Hand-
exemplares von Thukydides anvertraut Der Kreis dieser Klassiker ist er-
schreckend eng, und was er bei ihnen sucht, dasselbe, was er seinen Schülern
zu geben hat: formale Bildung. Denn etw2is Moral gehörte zwar auch
dazu, nach der Auffassung des rhetorischen Unterrichtes, die ja seit Iso-
krates galt und nun gegenüber den Christen doppelt nahe lag; aber was
er da gibt, geht wirklich nicht über das, was unsere Schüler in ihren
Aufsätzen auch vorbringen; der Vorzug, den mystischen Spuk zu vermeiden,
so hoch wir ihn schätzen werden, ist doch negativ, und dadurch sind seine
Reden auf Götter vollends leer und beweisen, daß diese Götter konven-
tionelle Phrasen sind, wie die Helden der griechischen Geschichte, die in
anderen Schulthemen auftreten. Es ist gewiß nicht in der Ordnung, daß
ein redlicher, aber beschränkter und aller Originalität barer Schulmeister
darum, weil er korrekt und verständig zu schreiben versteht, ein großer
Schriftsteller sein soll, und gar, weil er ein braver Mann und ein guter
Schulmeister ist, die Welt belehren und das geistige Leben dirigieren.
Aber diese Schätzung der Rhetoren hat nun einmal unter den Hellenen
seit Isokrates gegolten; sie hat unter den Byzantinern und überall, wohin
die lateinische Bildung der Kaiserzeit kam, noch genug Verwirrung ge-
stiftet und Scheinwesen hervorgerufen. Libanios ist der letzte große
Rhetor, und dieses Platzes ist er nicht unwürdig.
Die große Zeit seines Lebens waren die zwei Jahre, da lulian in
Antiocheia Hof hielt, der Rhetor auf dem Kaiserthrone, der die alten
Ideale zu neuer Macht emporzuführen versuchte. In den langen bitteren
Jahren, die Libanios nach dem jähen Sturze lulians noch leben mußte
und den Zerfall der Welt ansehen, in der er allein atmen konnte, war
vielleicht das Bitterste, daß sein talentvollster Schüler, lohannes, seine
eigene Kunst wider diese Welt wandte. Diese beiden Männer müssen, so
eng sich diese Skizze auch ihre Grenzen zieht, einigermaßen charakterisiert
werden, und neben ihnen fordert Grregor von Nazianz einen Platz, der als
fanatischer Christ mit Chrysostomos zu lulian und Libanios, aber als Schrift-
steller zu Libanios und Chrysostomos im Gegensatz steht Schon das zeigt,
daß die religiöse Partei nicht den Ausschlag geben darf. Diese vier sind
Menschen, die darauf Anspruch erheben dürfen, als ganze Menschen ge-
würdigt zu werden,
lulian Der Sieger von Straßburg, der wenige Jahre darauf die römischen
(Kalter 360-63). "^^^fgQ y^j. Ktesiphou führt, und dessen Erfolge die Kapitulation lovians
E. Oströmische Periode (300—529). 11. Das Ausleben der Literatur.
207
und die Schlacht von Adrianopel zur Folie haben, hat es nicht verdient,
mit Friedrich Wilhelm IV, als Romantiker auf dem Throne der Cäsaren
verglichen zu werden: die Vergleichung hinkt auf beiden Beinen. Gerade
was dem sehr viel geistreicheren und geschmackvolleren Preußenkönige ganz
fehlte, die Kühnheit des Entschlusses, die Überhastung in seiner Durch-
führung, der Glaube an den eigenen Beruf, eine aus den Fugen geratene
Welt wieder einzurichten, wird für lulian immer wieder Sympathie wecken.
Wie ein Meteor steigt er auf, bringt Bestürzung und Verwirrung in die
Welt und verlischt nach dritthalb Jahren wie ein Meteor, so daß die
Frage an das Schicksal stehen zu bleiben scheint: was hätte er erreichen
können? Das macht ihn zu einer tragischen Erscheinung, wenn der Erfolg
auch unzweifelhaft bewiesen hat, daß er kein Held für eine Tragödie ist.
Der gottlose Jubel, in den Gregor bei seinem Falle ausbricht — so gott-
los, wie eben nur ein Priester jubeln kann — , und der Schmutz, in den
selbst Chrysostomos noch greift, um sein Andenken zu besudeln, beweisen
am besten, daß die Christen zur Furcht alle Ursache gehabt hatten. Warum
hätte auch die rohe und abergläubische Menge einem siegreichen Kaiser
zu Gefallen nicht von dem Braten essen sollen, den die Hekatombe
weißer Ochsen für sie abgegeben hätte? Wenn er gesiegt hätte, so wäre
eben der Apollon von Daphne ein stärkerer Gott gewesen als der heilige
Babylas: jetzt war er ein Teufel, und das Totengebein des anderen tat
Wunder. Wer in dem Lanzenstoße, der den zweiunddreißigjährigen Kaiser
hinraffte, nicht das Werk des parteiischen Christengottes sieht, der wird
mit Rührung auf den Sterbenden blicken, der keineswegs wie ein
knirschender Lucifer mit einem „du hast gesiegt, Galiläer" zur Hölle
fährt, sondern mit der Ergebung dessen stirbt, der sich in Frieden
mit dem Gotte weiß, der derselbe ist, welche Namen ihn auch nennen.
Aber gerade die unparteiische Betrachtung kann nur Verurteilung für
den Versuch haben, die verwirrende und unreine Theosophie des
lamblichos mit dem Staatskultus zu verbinden, der längst eine ana-
chronistische Fratze war. Und vollends der Versuch, das großartige
soziale Wirken der Christengemeinden durch den alten nationalen Staats-
gedanken zu überbieten, dessen eine nun leere Fomi die Reichsreligion
gewesen war, beweist die innere Überlegenheit der Kirche. Weder die
Philosophie noch die Politik dieses Kaisers gewinnt bei näherer Be-
trachtung. Aber die Selbstgefälligkeit seiner bald hohenpriesterlichen,
bald kynischen Pose, die Oberhebung, zugleich Alexander und Diogenes
sein zu wollen, die Eitelkeit des Schönredners, dem das Bravo der
Professoren süßer klingt als das Hurra seiner Soldaten, ja selbst das
Zwiespältige und Fahrige seines Wesens (Grregor hat es mit dem Scharf-
blick eines aus der gemeinsamen Studentenzeit bewalirten Hasses gut zu
treffen gewußt), all das darf dem Menschen die menschliche Achtung nicht
nehmen, dem doch eine tiefe Sehnsucht nach dem Echten und Reinen
(nicht dem Schönen) das Herz erfüllte. Wenn seine nackte Seele dem
^ 208 Ulrich von Wilamowttz-Moellendorff: Die gnechische Literatur des Altertums.
^B Totenrichter des platonischen Gorgias auch viele Striemen und Schwielen
^B der Sünde gezeigt haben wird: die der Heiligen, Gregor und Chrj'sostomos,
^H haben es nicht minder getan. Aber verdammt wird der gerechte Richter
^f keine von ihnen haben, denn alle drei gehören zu den Auserwählten, die
r Gottes Sache über die eigene stellen; darum hat das Leben auch allen
dreien die bitterste Enttäuschung gebracht.
Der Schriftsteller lulian rangiert freilich tief unter den beiden Gegnern;
aber das wird dadurch aufgewogen, daß er der erste Kaiser seit Cäsar
ist, der als Schriftsteller ernst genommen werden muß. Die Verschen der i
Nero und Hadrian sind Spielerei, und Marcus schrieb nur für sich. lulian *
dagegen führt seine Sache auch mit der Feder: er ist sein bester Publizist
wie Friedrich der Große. Dazu gehört ein Teil seiner Reden und Briefe;
wirkliche Privatbriefe, gesammelt von der Pietät, die ihm über das Grab
treu blieb, treten dazu, und zuweilen liefern sie einen anheimelnden Zug,
wie wenn er bei der Verschenkung eines Landgutes der seligen Jugend-
tage gedenkt, die er dort verträumt hat. Auch die Reden an seine Götter
(voll von mehr qualmendem als brennendem Glaubensfeuer) und die stilistisch
am sorgfältigsten gefeilte, aber ziemlich oberflächliche Bestreitung der
Christen (die wirklich schneidenden Waffen wird Porphyrios geliefert
haben) gehören zu dieser Publizistik. Es kitzelte den Sophisten aber,
auch seine persönliche Sache möglich unkaiserlich vor den Antiochenem
zu führen und gar an den Saturnalien kynische Witze über seine Vorgänger
I auf dem Throne zu reißen, die taktlos gewesen wären, gesetzt, er hätte
den Witz Lukians besessen. Nun fehlt ihm der wie seinem ganzen Jahr-
I hundert, und so bringen ihn diese leider am meisten gelesenen Bücher leicht
^ auch um den Ruhm, den er beanspruchen kann. Freilich besaß er überhaupt
weder die Kraft noch die Freiheit, sein Ethos trotz den Spielereien einer
' unwahren Rhetorik zum Ausdrucke zu bringen. Man muß erst den
Kaiser aus Ammian, den Rechtgläubigen aus Libanios, den Teufel aus
Gregor kennen gelernt haben, ehe man den Menschen auch in seinen
■ Worten findet
Gregor von Grcgorios War damals ein besonders verbreiteter Name : er stammt
t^'^^'i '^^^ ^^"^ Dämonenglauben der Zeit, denn wer seinen Sohn so nannte,
stellte ihn unter den Schutz der YP*i"fopoi, der Engel, wie einst einen
Dionysios unter den des Dionysos. Daher brauchte man ein Distinktiv,
und die Griechen haben diesen Gregor den Theologen zubenannt, um ihn
mit dem Verfasser des pneumatischen Evangeliums zu parallelisieren, der
ebenso zubenannt ward. Wir nennen ihn nach seiner Heimat Nazianzos,
und wenn wir seinen Bischofssitz Sasima wählten, so wäre das ein anderes
obskures Nest aus Kappadokien. Beide Beinamen sind charakteristisch.
Denn Gregor hat der griechischen Kirche die Mysterien der Christo-
logie, um die damals der Streit am wildesten tobte, in der endgültigen
Form offenbart, nicht für den Verstand, sondern für das Gefühl. Der
zweite mahnt daran, daß nun die einst besonders übel beleumdete Landschaft
ämische ftriode (300—529)!
Cusleben der Literatur. "
209
Grofir
i
Kappadokien den ersten Platz im geistigen Leben Asiens einnahm. Der
hellenische Küstensaum kommt eben gegenüber dem einst barbarischen
Innern gar nicht mehr in Betracht. Gregor aber ist nur der vornehmste
einer ganzen Anzahl von Kirchenlehrern und Rednern dieser Gegenden
und darf sie hier allein repräsentieren. Denn sein Namensvetter Gregor, Gregor
den man nach seinem Bistum, dem kleinen Orte Nyssa in Kappadokien '"" ■'^*"'
nennt, ist zwar auch ein fruchtbarer und einflußreicher Schriftsteller von
unleugbarem Talent und nicht geringer Bildung, der außer Rede und
Homilie auch die dogmatische Streitschrift und sogar den Dialog kultiviert;
dieser (über die Seele und die Auferstehung) und die Kasualredeii, zumal
wenn sein Herz beteiligt ist (wie immer, wenn sein Familiengefuhl erregt
ist), bereiten dem Leser oft einen kaum getrübten Genuß. Aber er gehört
doch in die zweite Reihe, wie er selbst es gefühlt hat. Dahin drängte ihn
das glänzendere Rednertalent des Nazianzeners und die Herrschergestalt
seines älteren Bruders Basilios, des Erzbischofs von Cäsarea. Dieser Studien- Ba»iiio» der
genösse, AutoritäLsfreund und nicht immer bequeme Vorgesetzte des Na-
zianzeners verdankt seineu Beinamen der Große der in der Tat großartigen
organisatorischen Tätigkeit, die den Gottesdienst und die Verwaltung der
Kirche ordnet und auch das fremde Element des Mönchtumes einzufügen
versteht Dazu ist ihm die Rede ein Mittel, und er beherrscht sie voll-
kommen; auch seine zahlreichen Briefe sind in erster Linie Dokumente
seiner praktischen Tätigkeit und seiner diplomatischen Versatüität. Der
Vorkämpfer im Ketzerstreit, der unbeugsame Kirchenfürst, der welt^
kluge Politiker überwiegt durchaus den Schriftsteller. Gregor von
Nazianz ist dagegen eine beschauliche Natur, der in der Enge länd-
licher Abgeschiedenheit am wohlsten ist So ist ihm denn das Regieren
schon in der Heimat nicht sonderlich geglückt, und die Rolle des
orthodoxen Bischofs in der arianischen Hauptstadt hat er zwar mit selbst-
verleugnender Hingabe durchgeführt, aber daß der Sieg seiner Sache
nicht ohne das Opfer seiner Person gelang, bereitete ihm eine Enttäuschung,
die er nie verwunden hat Seine Begabung war eigentlich eine lyrische;
die Stimmung, die ihn beherrscht (und das ist bei seiner Regsamkeit und
Reizbarkeit eine sehr wechselnde), treibt ihn; ihr sucht er einen möglichst
vollen Ausdruck zu geben. Da ward ihm verhängnisvoll, daß seine Zeit,
dem Naiven und Unbewußten ganz entfremdet, nur die künstliche Stilisierung
der Rhetorik anerkannte, und daß die Rhetorik, die er in Athen gelernt hatte,
nicht nur den Unterschied zwischen Poesie und Prosa prinzipiell negierte,
sondern auch eigentlich nur F"ortissimo zu spielen wußte. So hat er es
denn getrieben, vollkommen, aber in dem korruptesten Stile. Es gibt weder
einen griechischen noch einen lateinischen Redner, der die Tugenden und
I^^ster in annähernder Stärke besäße, die Cicero asianisch nennt Nach
einer Festpredigt Gregors, etwa zu Weihnachten oder Ostern, mußte dem
Hörer zumute sein, wie einem in die Korybantenweihen Aufgenommenen.
Der Redner ist schon außer Atem, ehe er anfängt; die Interjektion ist der
Du KULTUK DIR GSOENWAKT. L 8.
M
2IO UuuCH VON WoAMOWiTZ-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
wichtigste Redeteil, der Ausruf die vorwaltende Satzform. Es soll den
Eindruck machen, als bräche das Gefühl mit elementarer Gewalt hervor;
allein dieses elementare Gefühl spricht in Reimen. Einige dialektische
Finessen der dogmatischen Theorie klingen wie feine Flötentöne in dem
Pauken- und Trompetenkonzert. Auch die Kriegstrommel wird gerührt
und bald über die zur Strecke gebrachten Heiden, Juden und Ketzer
Halali geblasen. Das Finale sucht dann die Ekstase des Einganges noch
zu überbieten. Natürlich gibt es Reden von ruhigerem Gange, in denen
die Betrachtung und Gedankenentwickelung neben der Entfesselung des
Gefühles aufkommt; aber die Manier bleibt doch im Grunde dieselbe. Die
Sprache ist ebenfalls immer ins Erhabene gesteigert; nicht im entferntesten
eine Hinneigung zu dem Volkstümlichen, sondern die Suche nach dem
Ungewöhnbchen und Packenden macht sie unrein und buntscheckig. Aber
das muß man zugestehen: der Redner hat die Kraft, den Hörer in seine
Gewalt zu bringen, den Sinn gefangen zu nehmen. Unter die gold-
strotzende Kuppel einer mosaikbunten byzantinischen Kirche, in der die
schwelenden Öllampen ihr Licht auf Weihrauchwolken werfen , paßt dieses
Pathos so vollkommen, wie das Ethos der ruhigen Verstandesklarheit des
Perikles auf die nackte Pnyx unter den freien Himmel Athens.
Dieser selbe Gregor ist der fruchtbarste und merkwürdigste Poet dieser
Periode; es ist eine Schmach, daß die Philologen noch nicht einmal für
eine einigermaßen lesbare Ausgabe seiner Gedichte gesorgt haben; wenn
er kein Kirchenvater, sondern ein schäbiger Poetaster wäre, der einen
abgestandenen mythologischen Stoff breitträte, wie Quintus, oder gar ein
Lateiner wie Silius, hätte er sie längst Es ist wahr, der Rhetor be-
handelt die Poesie als minderwertige Schwester der Rede. Die Verse sind
inkorrekt; die Sprache wimmelt von Reminiszenzen und Banalitäten, doch
sollte gerade dies dem Philologen das Interesse steigern, denn z. B. die
Rücksicht auf den Wortakzent ist durch die lebende Rede hervorgerufen.
Hat doch Gregor als erster, von dem wir wissen, sogar ganz akzentuierte
Gedichte eben für das Volk verfaßt; daneben auch etliche anapästische und
anakreontische Stücke für den Gesang. Alles, was im Grunde nur die alten
Formeln ein bißchen christlich umgemodelt reproduziert, also z. B. die
zahlreichen Grabschriften, oder was nur den Wert der Paraphrase oder
der Memorierverse hat, ja auch die langen moralischen Paränesen, für
die er den lambus anwendet, ist an sich ziemlich geringhaltig und für den
Dichter wenig bezeichnend. Aber eine Selbstbiographie in Versen ist
wahrlich etwas Rares; in der Form der Rede tritt eine von Libanios dazu;
vorher scheint nichts wirklich Vergleichbares existiert zu haben; und was der
Hellenismus etwa besessen hat (S. 117), ist uns verloren und war dem
4. Jahrhundert längst aus den Augen gekommen. Hinzu tritt eine große
Zahl namentlich elegischer Gedichte, die freilich unter harter Schale eines
konventionellen Stiles doch individuelles Leben in verschiedenen Stim-
mungen widerspiegeln: wie lange war es nicht her, daß so etwas in
strSmische Periode (300 — 529). II. Das Ausleben der Literatur.
211
(t 407)
griechischen Versen niedergelegt ward? Das führt nicht nur formell auf
das zurück, was die Elegie und dann das Epigramm in ihren besten Zeiten
gewesen waren. Und ist der poetische Wert, da die Form unbefriedigend
bleibt, unendlich geringer, so hat doch der Mensch des 4. Jahrhunderts
n. Chr. sehr viel dringender das Bedürfnis, sich mit sich selbst zu be-
schäftigen, und so fordert Gregors individuelle Poesie die Vergleichung
mit Augustins Konfessionen heraus, wenn sie sie auch nicht aushält, da
Augustins Natur sehr viel reicher und tiefer ist Doch ist beiden auch
das gemein, daß recht viel Rhetorik und bewußte Selbstbe Spiegelung
in Rousseaus Manier dabei ist; am Ende ist Gregor im Grunde der
naivere.
Johannes, den man leider mit dem schon bei Dion von Prusa (von lohinnei
dem er geborgt ist) absurden Namen Chrysostomos nennen muß, ist als *'''^°*'°"°'
Mensch und als Schriftsteller den beiden eben Behandelten noch weit
überlegen, eine wahrhaft große Erscheinung. Auch ihn pflegt man zu ver-
gessen, wozu die Übermasse seiner erhaltenen Werke, mindestens der
Form nach Predigten, beiträgt; es werden sie wohl nur sehr wenige
Menschen diu"chgelesen haben; leider ist der Plan einer kundig vor-
genommenen Auswahl über den ersten Band nicht hinausgekommen.
Welch ein Stoff für eine Biographie. Ein Mann des Wortes, der doch
durchaus praktisch in der Welt wirken will, wie Demosthenes. Ihm
ist die Religion weder Philosophie noch Zauberei; Spekulation und
Mystik und all der Spuk, der damals die Sinne umnebelt, sind für ihn,
auch soweit er an ihnen Anteil nehmen muß, durchaus Nebensache. Seine
Religion ist eine lebendige, sittliche, Leben und Sittlichkeit zeugende
Kraft; die Kirche ist ihm eine Organisation, die Schäden der Gesellschaft
durch die sittliche Gesundung des Einzelnen zu heilen, und sich selbst traut
er zu, Führer bei diesem Werke sein zu können. Es konnte nicht aus-
bleiben, daß er die Ketzer und andere Feinde seiner Gemeinde bekämpfte,
denn sie störten seine Kreise; er geht dann mit den Worten bis zum
äußersten (das Fasten der Juden ist Völlerei, die ketzerische Jungfrau
rangiert unter der Hure), aber er hat auch da immer bestimmte praktische
Zwecke. Die orthodoxe Kirche mit ihren Lehren und Gebräuchen war für
ihn gegeben als der einzige Grund, auf dem das Heil für den Menschen
möglich wäre, daher die Verwerfung aller, die auf diesem Grunde nicht
standen: diese Beschränktheit teilten fast alle Leute seiner Zeit; sie diffe-
rierten nur in dem, was sie orthodox nannten. Aber helfen wollte er den
Menschen nicht durch richtiges Meinen oder durch Zaubermittel, sondern
durch Erziehung zur Sittlichkeit: das tat kaum ein anderer in seiner Zeit
Und betätigen sollten die Menschen ihre Sittlichkeit im Leben, das er keines-
wegs ertöten wollte. Das Mönchtum war für ihn bereits etwas Gegebenes;
er hat es auch in einer sehr merkwürdigen Schrift gepriesen, aber man muß
die gleich merkwürdige über das Predigeramt (Priestertum, sagft er ganz
attisch, wie er auch das Mönchsein am liebsten Philosophieren nennt)
14*
212 Ulrich von Wilamowitz-Moeixendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
dazunehmen, die sehr geschickt die Bedeutung des eigenen Berufes zu
erheben versteht. Ein solcher Mann redlichsten und ernstesten Strebens
wird nun plötzlich nach Konstantinopel versetzt, in eine Welt voll Wollust,
Blut und Barbarei, über der nur der dünne Schleier der kirchlichen
Heuchelei und die Politur der Großstadt lag. Er erfährt das Kontagium
des Hofes und seiner Weiber; der Neid der geistlichen Konkurrenten
lauert auf jede Unbesonnenheit, und ein Reformator kann nie vor scharfen
Mitteln zurückschrecken. So erfolgt die Katastrophe, Sturz und Triumph
und wieder Sturz, auf den dann der gerechtere Triumph folgt, durch un-
gerechtes Leiden, und endlich ein Tod, der zwar Verklärung bringt, aber
die Bittemisse und Enttäuschungen schwerlich ganz wettgemacht hat.
Wahrlich eine Tragödie der Art, die zwar nicht der Tragiker, wohl aber
der Historiker schreiben kann, ganz wie die lulians.
Und ein solcher Mann des praktischen Lebens ist ein beinahe puristi-
scher Attizist. Sein Lehrer Libanios hat die Überlegenheit des Schülers mit
bitterem Gefühle gesehen, aber eigentlich sollte er stolz sein, denn dieser
Schüler hat des Meisters Lehre kräftiger in die Tat umgesetzt als dieser
selbst. Alle Hellenen seines Jahrhunderts, mögen sie auch noch so über-
zeugte Anhänger der platonischen Akademie sein und auf Piatons Stuhle
sitzen, sind barbarische Stümper gegen diesen syrischen Christen, der es
noch in höherem Grade als Aristeides verdient, mit Demosthenes stilistisch
verglichen zu werden. In den Homilieen, deren Lektüre natürlich rasch
ermüdet, stimmt er seine Kunst auf das Verständnis seiner Hörer hinunter.
Lauter ganz kurze Sätze, Frage und Antwort, Beispiele, zuweilen aus dem
Leben, viel historische Belege, hier natürlich aus den Geschichten
der griechischen Bibel, das alles erinnert stark an die Diatribe: aber
mit ihr besteht kein Zusammenhang, denn überall dominiert das reine
Attisch. Das Verständnis der Schrift, über die er handelt, und zAvar
das wirkliche, kein allegorischer Schwindel, wird nicht vernachlässigt,
aber die moralische Wirkung ist doch die Hauptsache. Man muß
die Kommentare des Proklos zu Piaton danebenhalten, damit man er-
kenne, wer in Wahrheit der Erbe des sokratischen Geistes ist. In den
großen Reden, die zum Teil nur Redeform haben (ganz wie es Libanios
hielt), aber überwiegend wirkliche Reden sind, im wahrsten Sinne des
Wortes Gelegenheitsreden, schwellen die wohllautenden Perioden an,
reicher wird der Schmuck, aber nirgend etwas von dem Geklapper der
Reime oder Kadenzen, nur ganz sparsam die Rede, welche Leidenschaft
weckt, wohl aber die überlegene Kunst dessen, der die Seele nicht über-
rumpeln oder faszinieren, sondern Kopf und Herz zugleich gewinnen will. So
ist dieser attische Stil nicht ein bloß angelerntes Kunstmittel, es ist der har-
monische Ausdruck einer attischen Seele. Wie so etwas möglich ist, mag
erklären, wer den ganzen Maim aus seinem Werden einmal begreiflich
machen wird: daß es ist, kann auch die flüchtige Bekanntschaft aussprechen
und dem Klassiker huldigen, der hier einmal zugleich ein Klassizist ist.
:
E. Oströinische Periode (300 — 529). 11. Das Ausleben der Literatur.
213
I Nicht etwa, weil seine Bedeutung ihn dazu berechtigte, oder weil ein synoin.
Zusammenhang obwaltete, soll in dieser Reihe noch Synesios von Kyrene ^"^ *°°^
auftreten, sondern weil er so gut als Letzter sich ausnimmt. Schon darum, ^m
weil er Philosoph ist und Bischof wird, nicht durch eine Metanoia, sondern H
in harmonischer Entwickelung, illustriert er die Einheit der Kultur, freilich H
als Ausnahme, und eben als Letzter. Dem Gefühle, daß die alte Welt H
versänke, gibt er selbst ergreifenden Ausdruck, als die Berbern die H
kyrenäische Pentapolis verwüsten und die elende Reichsregierung dem ^M
herzhaft auf seinem Posten ausharrenden Bischof keine Hilfe leistet Am ^M
Altare des Christengottes beklagt er den Untergang der Kultur und rühmt ^M
sich eines Adels, der bis auf Herakles hinaufreicht. Er macht lyrische ^M
Hymnen für den neuen Gottesdienst und liest Sappho dazu. Die ^M
bestialischen Mönche, die seine Lehrerin Hy'patia zerreißen, darf er nicht ^M
offen bekämpfen; versteckt tut er es genug, und man sieht, er hat mit ^M
ihrer Naturwidrigkeit nichts zu tun: sein Christentum und seine Philosophie ^M
verw^ehren ihm nicht, an Weib und Kind zu hängen, was bei den Größeren ^M
fehlt, Hellenen und Christen. Er hat offene Augen für das Leben um ihn ^M
und ein fühlendes Herz für den Jammer und die Ungerechtigkeit seiner ent- ^M
setzlichen Zeit Darum ist er nicht ein spekulierender Philosoph geblieben, ^M
wie sie in dem Athen saßen, dessen Verfall er auch mit nüchternem ^
Blicke sieht, sondern ist in den praktischen Dienst der Kirche getreten,
die nicht bei Metaphysik und Zauberei stehen blieb. Dieser gereicht es
zur Ehre, daß sie diesen Mann duldete, der den Zusammenhang mit dem
Hellenentume hochhielt. Es ist auch für Dion von Prusa wertvoll, daß er
diesen Mann in seiner praktischen Moral gestärkt hat; als Charakter
dürfte Synesios noch höher stehen. Der Kunstwert seiner Werke ist ^M
freilich nicht hoch, und am erfreulichsten sind die kunstloseren Briefe. ^M
Denn die Reden schwelgen in den modischen Kadenzen, und gerade die ^|
Klagen um den Untergang Kyrenes mußten seiner Zeit viel mehr wie ge- ^M
bundene Rede klingen als die quantitierend gebauten Hymnen. Immerhin ^M
ist die „Ägyptische Rede", ein Bericht und zugleich ein Gericht über Er- • ^M
eignisse der Zeitgeschichte in der Form eines Mythos, eine literarische H
Form, für die nicht leicht Vorbilder zu finden sein werden (die gewiß H
nicht gefehlt haben), während die neuere Zeit Analoga genug liefert
Die neue Kunstform der Prosa, von der sich allein die Antiochener Akiootaierend«
mit strenger Konsequenz fernhalten, scheint sich in der athenischen Schule ''"*** ""*^'*"*"
allmählich gebildet zu haben. Gegen 400 ist sie vollkommen aus-
gestaltet Sie beruht darauf, daß der Akzent, der ursprünglich rein musi-
kalisch war, also die Tonhöhe allein anging und daher für alle gesag^te
Poesie und alle Prosa nicht in Betracht kam, sich in den Akzent der
modernen Sprachen gewandelt hatte, also die stärker betonte Silbe lang,
alle unbetonten kurz machte. Damit verschob sich die alte Quantität der
Silben, so daß die quantitierende Poesie, die man gleichwohl noch zu
bauen fortfuhr, in ihrem Rhythmus für das Ohr gar nicht mehr vemehm-
21 A UuuCH VON WiLAMOwrrz-MOELLENDORFF; Die griechische Literatur des Altertums.
bar war. Die Aussprache der Vokale, die dem heutigen Grriechisch schon
beinahe gleich war, ist viel weniger wichtig als diese fundamentale Ände-
rung; die Ansprüche der neugriechischen Eitelkeit und die Unwissenschafk-
lichkeit ihrer europäischen Patrone darf die Anerkennung nicht verhindern,
daß die Prosa eines Gregor oder Synesios ihre beabsichtigte Wirkung erst
dann ausübt, wenn man sie neugriechisch ausspricht, ganz wie die alte
Poesie und Prosa nur durch streng quantitierende Aussprache zur Geltung
kommen: wer wirklich Griechisch kann, wird ohne Mühe die Aussprache
anwenden, die sich gebührt, wie das der Romanist am Alt- und Neu-
französischen übt Es war an sich ein durchaus gesundes Prinzip, dem
Leben sein Recht zu geben und den alten quantitierenden Rhythmus der
Satzschlüsse durch den akzentuierenden zu ersetzen. Allein man hat sich
an dem Klange berauscht und ist ganz ähnlich, wie seinerzeit Gorgias,
in die Unart verfallen, die Rede in lauter kleine Glieder mit ähnlicher
Kadenz zu zerhacken, und man hat, ganz anders als die hellenistischen
Kunstredner (S. 103), einen hüpfenden, daktylischen Gang gewählt Der
Doppeldaktylus ist die beliebteste Form des Schlusses geworden: ein un-
leidlich singender, am Ende stark fallender Ton wird dadurch erzeugt,
gegen den eine nicht minder streng kadenzierte Rede wie die gleich-
zeitige lateinische ernst und gemessen klingt, zumal diese neuen Klauseln
schließlich alle und jede Prosa überwuchern. In der Poesie hat man zu-
nächst dem Akzente nur so weit Rechnung getragen, daß bestimmte Silben
der quantitierten Verse betont oder unbetont bleiben mußten; das fing bei
Babrios an (S. 130); es hat allmählich den Trimeter und Pentameter erobert,
deren alter Rhythmus durch die Betonung der vorletzten Silbe ganz zerstört
ward; in der nonnischen Schule greift es auch auf den Hexameter über.
Das geht dann in der byzantinischen Kunstdichtung weiter. Während Metho-
dios von Olympos in einem Hymnus seines Symposions (S. 220) quantitierende
Verse zu bauen versucht, aber mit den ärgsten Verstößen, weil eben
die Quantität nicht mehr gefühlt ward, und uns so eine wertvolle Probe
von dem gibt, was sich die Kultpoesie der Halbgebildeten erlaubte, hat
Gregor bereits rein akzentuierte Gedichte zu machen gewagt Das hätte
zu einer neuen gesunden Metrik führen können. Aber es ist anders ge-
kommen: das Band mit der alten Poesie sollte ganz zerrissen werden und
dafür ein neuer Versbau aus der alten Kunstprosa entstehen. Das scheint
paradox; in Wahrheit lag es ganz nahe, da ja die Kirchengesänge, auf-
gebaut auf den prosaisch übersetzten Psalmen (S. 185), in der Form Prosa
waren. Jetzt war die Prosa gebundene Rede geworden: es war nur
nötig, die Silbenzahl der einzelnen Glieder zu binden, dann waren wirk-
liche Verse da, Verse, wie wir sie bauen, in denen der längst angestrebte
Parallelismus der Gedanken zu strenger Responsion gesteigert war. Das
Klangmittel des Reimes war seit Gorgias bekannt und in der Rhetorik
seiner Richtung beliebt: auch hier war nur der letzte Schritt nötig,
es zu fixieren und zum Bindemittel der parallelen Glieder zu erheben:
■ E. Oströmische Periode (300—529). II. Das Ausleben der Literatur. 215 1
dann war die moderne Form der Poesie da. Beides ist in der Kirchen- I
poesie geschehen, die dann diese neue Form, die höchst kunstreiche Ge-
bilde erzeugfte, in den Okzident übertrug. Das alles fallt außerhalb dieser
Betrachtung, zumal, irgend etwas Bedeutendes von den Griechen dieser
Periode noch nicht hervorgebracht ist. Aber die geschichtlich ungemein
wichtige Tatsache mußte hervorgehoben werden. Sie ist erst vor wenigen
Jahren entdeckt, und die Durchforschung der spätgriechischen Prosa unter
diesem Gesichtspunkte steht erst in den Anfängen. 1
Ganz besonders streng und zum Teil in Verbindung mit dem alt- g»».
hellenischen Wohllautsprinzip der Hiatusvermeidung ist die neue Prosa in
einer Schule fortgeführt worden, die gegen Ende des 4. Jahrhunderts in
dem alten Philisterlande mit der Hauptstadt Gaza erblüht ist, um dann 1
bis an die Araberzeit hin zu dauern. Gaza ist zum Zentrum eines geistigen
Lebens geworden, das durch den Sieg des Christentumes nicht gestört
ward. Über diesen sind wir durch das Leben des streitbaren Bischofs I
Porphyrios unterrichtet, das sein Diakon Markos geschrieben hat, ein Mirko, der
Buch, das mancher lieber lesen wird als die Reden und Briefe der Pro- /^"''°"
' (um 420).
kopios und Chorikios. Doch scheint eben dieser Prokop derselbe zu sein, Prokopioi
dem die reichste Sammlung von Bibelerklärungen der älteren Kirchen- f"" <*°)-
lehrer verdankt wird, die in den sogenannten Kettenkommentaren erhalten ^^°"'"°*
' c> ^uni 500).
ist, eine kompilatorische Leistung von höchstem stofflichen Werte. Ganz
in der alten Weise gehört zu der Rhetorik die Poesie, denn es macht
keinen wesentlichen Unterschied, ob eine Hochzeit durch eine Rede des
Chorikios oder Anakreonteen des Johannes gefeiert wird, ob Chorikios lohann« von
ein mythologisches Gemälde oder Johannes {schwerlich ein anderer als .„^""^v
der Anakreontiker) eine Weltkarte in Hexametern beschreibt. Alles ge-
schieht so gut, wie man es auf dem Grunde dieses senilen Klassizismus
verlangen kann. Ohne Zweifel sind auch die grammatischen und wissen-
schaftlichen Studien dem Können der Zeit entsprechend gepflegt worden.
Ein gewisser Aneas hat sich sogar nicht ohne Geschick an einem philo- Äne«
sophischen Dialoge versucht; ein Gedicht eines Timotheos über wunder- '"'" ^°°*'
Timotheos
bare Tiere ist durch den Stoff bemerkenswert; es ist verloren, aber („„ ^„y
inhaltlich läßt sich viel gewinnen, da es stark gewirkt hat. Selbst mathe-
matische Studien scheinen nicht gefehlt zu haben: Eutokios, der Erklärer Euiokiot
des ApoUonios von Perge, ist aus Askalon. '""" '°°'
Gaza konnte zu einer solchen Bedeutung nur gelangen, weil es nahe AkMndreu.
genug bei Ägypten lag, um die alte Kultur Alexandreias aufzunehmen,
und Alexandreia selbst immer mehr den hellenischen Traditionen ent-
fremdet ward. Gewiß ließ sich die Wissenschaft, die dort nun über ein
halbes Jahrtausend ihren festesten Sitz gehabt hatte, nicht rasch ent-
wurzeln; bis zur Araberzeit bezieht Konstantinopel Literaten aller Art aus
Ägypten; für die Medizin ist hier dauernd der Hauptsitz, es gibt immer
noch Mathematiker und Astronomen, auch Philosophen, wie den unentbehr- loUnn««
liehen, aber unausstehlichen lohannes Philoponos, der die aristotelische ^."^"''""r
1
4
2i6 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Philosophie im Dienste der Kirche gegen die Neuplatoniker wendet, aber
auch auf anderen Gebieten der Erudition sein Wesen treibt Die Grram-
matik ist noch lange vorwiegend alexandrinisch; aber alles macht den
Oto» und Orion Eindruck des Verkümmernden. Die Grammatiker Oros und Orion, der
(nach 400). Astronom Theon sind im Grrunde armselige Kompilatoren, imd der
Hjrp«tia, Märtyrertod Hypatias darf nicht dazu verführen, von der Wissenschaft,
Tochter de» ^jjg gjg lehrte, allzu hoch zu denken: aber er offenbart in entsetzlicher
Theon '
(t 415). Deutlichkeit, daß das alexandrinische Christentum die Bildtmg gemordet
hat: es ist schön, daß die Philosophin durch die Dichtung eines frommen
Christen verklärt worden • ist Nur auf dem Gebiete der Poesie ist nicht
nur eine starke Regsamkeit entfaltet, sondern wenigstens eine Blüte von
seltsamem narkotischen Diifte gewachsen.
Epigiammatik. Ziemlich überall können wir wahrnehmen, daß das Epigramm noch
immer sein bescheidenes Leben führt Das meiste sind freilich nur
Variationen alter Themata, und selbst was leidlich gelingt, hat nur den
Wert von Papierblumen. Aber zuweilen g^bt es doch ein Bildchen des
Lebens, und ein jeder derbe irdische Ton erfreut in der Literatur einer
Zeit, die sich in die Wolken und Himmel zu verlieren pflegt, seien es
auch die Verse aus dem öffentlichen Abtritt zu Ephesos, die jüngst ans
Licht gekommen sind. Der Art g^ibt es einiges von dem Alexandriner
Paiudu Palladas; Zierlicheres aus der iustinianischen Zeit, in der der Historiker
(um 4CO). Agathias die Epigramme der letzten Crenerationen nach dem Vorbilde des
Philippos (S. 159) sammelte. Aber die Kultur des iustinianischen Kon-
stantinopel bleibt außerhalb dieser Betrachtung, und erst recht die noch
lange nicht versiegende spätere Epigrammatik.
Die Papierfetzen, die jetzt aus dem Sande Ägyptens auferstehen, be-
ginnen uns deutlicher als die zerstümmelte Tradition zu zeigen, daß in
Ägypten, wo die Rhetorik niemals etwas Großes bedeutet hat, die Poesie
lebhafte Pflege fand. Wir haben Reste von Gedichten theologischen In-
haltes, Epen über Ereignisse der Zeitgeschichte (Kämpfe mit den Völkern
des Sudan, die Oberägypten ebenso überrannten wie die Berbern Kyrene),
verschiedenes Mythologische. Alles ist dem Verständnisse erst unvoll-
kommen erschlossen; aber man sieht doch bereits, daß die hellenistische
Trjidition hier lebendig blieb. In der übrigen Welt war man inuner mehr
in die bare Homerimitation gesunken: der Dichter, mit dem der Schul-
unterricht begann, war für immer breitere Massen der einzige, den sie
kannten. So zeigen es die massenhaft erhaltenen Grrabepigramme der
Steine seit dem 2. Jahrhundert Gregors Lektüre umfaßt auch z. B. Klalli-
machos, aber von der feinen Technik hat er nichts.
In traiudger Weise prostituiert sich das kindisch gewordene Greisen-
Quintu. von alter des heroischen Epos in den Posthomerica des Quintus aus Smyma. Er
(m'"^}). *®*^* ^'® trivialen Abrisse der Heldensage, die in der Schule gelesen wurden,
in homerische Verse um, und das öde Nachplappern müßte einschläfern,
wenn nicht zuweilen die Albernheit so stark würde, daß man lachen kann.
E. QstTöoBtscbe Periode .'>»— 5*9). 0. Uu Ausleben der Lketanr.
»n
wenn etwa dem £ur>-pyIos das Ehebett von Paris und Helene als Fremden- ^M
bett zugewiesen wird, weil es das breiteste war, oder die Kämpfer bei den ^M
Leichenspielen des Achilleus sich einen Schurz umbinden, weil sie sich vor ^M
der anwesenden Thetis genieren. Was soll man zu dem Gleichnis sagen: ^|
Neoptolemos kam in das Zelt seines toten Vaters, wie ein junger Löwe ^M
seinen erschlagenen Vater in der Höhle sucht und nur Knochen von ^M
Pferden und Ochsen findet. Es ist ein beschämendes Zeichen für die ^^|
Urteilslosigkeit des Klassizismus, daß Schwab dieses Poem seiner Nach- ^^H
erzählung der Sagen zugrunde legen konnte. Die Philologie hat freilich ^H
auch erst im Anfang des ig. Jahrhunderts die armselige Nachahmung des ^^
Apollonios in den Argonautika des angeblichen Orpheus durchschaut, der Oryw»"
lang« für echt episch gehalten war; umgekehrt ist noch vor nicht gfar '^'»°~^^*
langer Zeit ein homerischer H\-ranus in diese Spätzeit versetzt worden. ^m
Alan beherzige, was das heißt: als ob Jordans Nibelungen in die Zeit der ^H
Edda oder Alpharts Tod Simrock zugeschrieben würde. Daß bei grie- fl^H
chischen Gedichten solche Mißgriffe möglich sind, liegt aber noch mehr ^^M
als an dem ungenügenden Stilgefülüe der Philologen an der Macht der ^M
konventionellen epischen Sprache, die aller Zeit zu spotten scheint ^j
I Unter dem Namen des Orpheus verbirgt sich ganz gegen die Absicht Orvii««' utbik^
des Verfassers ein Gedicht über die geheimen Kräfte gewisser Steine (ein («J*'"'»)-
Aberglaube, der in der hellenistischen Zeit irgendwoher aus dem Osten
eingedrungen ist und nun weit verbreitet das ganze Mittelalter hindurch ^M
gilt, wert genauerer Verfolgung). Der Verfasser mag seinen Namen zu ver- ^M
bergen Grund gehabt haben, aber er beklaget aus eigener Person den ^H
Verfall von Tugend und Frömmigkeit, huldigt dem Hermes und geht auf ^M
einen hohen Berg, um dem Helios zu opfern. Man hört nicht ungern etwas ^H
von dem Treiben und der Stimmung der Altgläubigen; entstanden dürfte ^^H
das Gedicht in Asien gegen Ende des 4. Jahrhunderts sein. Die Sprach- ^^^|
fehler und das Ungeschick der Durchführung einer Fiktion, die ersonnen ^H
ist, um die Monotonie der Aufzählung zu mildem, steigern nur das Inter- ^M
esse an einem Versuche, etwas individueller zu dichten. Zwei kleine ^H
mythologische Poeme aus dem troischen Kreise von den Ägyptern ^|
KoUuthos und Triphiodoros, die schon die nonnische Form zeigen, sind rripi<io.iotot
zugestandenermaßen das Lesen nicht wert; dagegen erfreut sich seltsamer- '^ J*'"''>-
... K'jllttlhoi
weise das Gedicht von Hero und Leander immer noch emes gewissen („„, ,^).
Renommees, das ein Nachahmer des Nonnos verfertigt hat, der den Namen
des vorhomerischen Sängers Musaios entweder trug (man griff damals Mu.aio4
manchmal auf solche Namen zurück) oder vorschob. Der unverwüstliche '"*'"' *"'*
Stoff, der immer wieder die Dichter reizt, ist ganz ohne Gefühl und
Erfindsamkeit abgehandelt. Weder des Meeres noch der Liebe Wellen
rauschen darin, sondern nur die Hexameter rollen ihren monotonen Gang,
einerlei, ob sie Sehnsucht oder Sturm schildern wollen. Es mag sein,
daß dieser Versbau einen Leser zunächst befangt; aber dann wende
j er sich zu dem Meister und doch wohl auch Erfinder, Nonnos von Pano- soano»
I (um 40«),
2i8 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
polis, dem letzten Stilkünstler der Hellenen. Die grandiose Konzeption,
wie der Gott der Ekstase, Dionysos, die Erde seinem Glauben selbst er-
obert, ist in den Grundzügen älter als der Alexaoderzug, aber ganz früh
muß dieser sich in dem des Dionysos gespiegelt haben; er hat die Inder
als die letzten Gegner des Gottes geliefert Unverkennbar hat die ganz
verschollene Dichtung am Seleukidenhofe stark eingewirkt Die bildende
Kunst, noch römische Sarkophage und selbst byzantinische ornamentale
Reliefs, bezeugen uns den Reichtum der Motive ebenso wie die Popu-
larität dieses Sagenkreises, aber außer ein paar Namen und geringen
Resten wissen wir fast nichts über seine ältere poetische Ausbildung.
Das läßt die Dionysiaka des Nonnos ohne Zweifel originaler erscheinen,
als sie sind, erhöht aber ihre relative Bedeutung. Die merkwürdige
Behandlung aber gehört dem Dichter an. Er ist offenbar innerlich
ergriffen von dem dionysischen Taumel und steckt tief in dem Zauber-
wesen der Zeit; so führt er uns noch einmal all die Kinder der helle-
nischen Phantasie in einem letzten wilden Tanze vor, die strotzende Leib-
lichkeit der homerischen Götter und die Schemen der theologischen
Abstraktionen, die vermenschlichten Sterne und Quellen und Bäume, auch
die Helden der Tragödie und die sentimentalen Hirten der Bukolik. In
der Disharmonie dieser Erscheinungen liegt ein ungesimder, aber darum
nicht unwirksamer Reiz; bald reckt sich eines in ungeheure, gestaltlose
Größe, bald wirbelt eine chaotische Masse durcheinander, bald belauschen
wir eine intime Szene in traulich menschlicher Enge. Man spürt wohl,
daß es nicht mehr die lebendigen Wesen sind, sondern nur ihre für eine
klassische Walpurgisnacht auferstandenen Schatten. Aber sie haben Blut
getrunken, und für diese Nacht kosten sie den Becher der heißen Lebens-
lust bis auf die Neige. Alles zieht in demselben rasenden Taumel dahin,
alles folgt den tollen Weisen, die der Dichter auch uns aufspielt, daß wir
selbst uns in die schwärmende Schar versetzt glauben. Das bewirkt die
Monotonie dieser neuen Hexameter, die klingen wie das dionysische Tam-
burin, das die Mänade zu ihrem ekstatischen Tanze schlägt Es ist
Mißbrauch, diese Form auf alles mögliche anzuwenden, wie es einst die
Hexameter Homers vertrugen; Nonnos hat damit selbst den Anfang
gemacht, als er sich zum Christentum bekehrte und das Johannesevangelium
in diese Hexameter umsetzte. Aber für Dionysos passen die Verse. Sie
sind so widernatürlich wie diese Poesie, denn sie nehmen auf den Wort-
akzent namentlich am Schlüsse Rücksicht, ohne daß er doch Bindemittel
würde, und sie behandeln die Quantität, die fxir die Aussprache gar nicht
mehr existiert, so, als wäre plötzlich wieder die Doppelkonsonanz (muta
cum liquida) zu der längenden Kraft gekommen, die sie mehr als ein
Jahrtausend früher verloren hatte. Dazu dann die Vorliebe für den
Daktylus, für die weibliche Cäsur {dies beides Steigerungen der alexan-
drinischen Art) und das Schwelgen in neuen Wortbildungen und Zu-
.sammensetzungen : diese Verse haben von allen griechischen die meisten
E. Oströmische Periode (300—529). II. Das Ausleben der Literatur.
219
Silben und die wenigsten Worte. Ein widernatürliches Kunstprodukt,
kann man sagen; aber Kunstprodukt ist die Rede des Grregor und die
des Chrysostomos auch. Sie lehren alle, was die Kunst auch wider Natur
und organische Entwickelung vermag, und erst die ästhetische Theorie
kaan wahrhaft befriedigen, die ihre Gesetze aus der Summe der Erschei-
nungen abstrahiert und keinem Dinge, das existiert, darum das Existenz-
recht abstreitet, weil es nach ihren Gesetzen nicht existieren dürfte.
Diesen Versuch, die abgestorbene epische Poesie zu galvanisieren,
mag man der Nekromantie vergleichen, in der die Ägypter von alters
her Meister waren. Einst hatten sich die Hellenen bewundernd vor der
lu-alten ägyptischen Kultur gebeugt und ihren Göttern gehuldigt; sie hatten
selbst ihren Hermes ägyptisiert, damit er zu Isis, Osiris und Sarapis träte,
imd dieser Hermes hielt noch am längsten dem Anstürme des neuen
finsteren Dämons stand, der nun als ein neuer Set-Typhon in Ägypten
aufstand. Nicht das fruchtbare Niltal war seine Heimat, sondern die Wüste;
er zog über das Land und über die Stadt, er brach alle Tempel, er riß die
Blumenkränze und Fruchtschnüre des heiteren reichen Lebens in Stücke und
zertrat jede Menschenwürde, jedes Erbe des Prometheus. Das war das
Mönchtum, nicht das des heiligen Benedikt oder der Gallus und Columban, .MBnchmm.
auch nicht das Basilios des Großen: der heilige Antonius ist sein Vater, dessen
künftige Größe sich in dem Knaben dadurch verriet, daß er nicht Lesen
und Schreiben lernte; vermutlich hat er auch eine Aversion gegen das
Waschen gehabt; vor den Menschen floh er, und die Teufel besuchten
ihn in der Wüste häufiger als die EngeL Sein Leben von Athanasios i.st
ein unschätzbares Dokument für die Sinnesart und den Bildungsgrad, den
der Sieger des nicänischen Konzils besaß oder wahrscheinlicher aus Rück-
sicht auf die Verehrer des Antonius zu besitzen vorgab. Hier ist nicht
der Ort, die Berechtigoing zu erörtern, die selbst den widerwärtigsten
Orgien der Askese gegenüber den Orgien der Fleischeslust zugestanden
werden muß; es liegt dem gebildeten Menschen am nächsten, diese Krank-
heit der Seelen so ironisch zu behandeln, wie es Anatole France meister-
lich getan hat; aber damit wird man dem tiefen und wahren Gefühle nicht
gerecht, das die Menschen zu der Weltverleugnung und Selbstvemeinung
trieb: auch das war Religion, und vor jeder Religion geziemt sich, Ehr-
furcht zu haben und erst nachempfindend zu verstehen, ehe man verdammt:
verdammen wird man dann wohl diese Religion, aber niemals die gläubigen
Seelen. Nur das muß hier konstatiert werden, daß erst diese Phase des
Christentumes der Henker der Kultur und Wissenschaft geworden ist. In
Alexandreia hatten Clemens und Origenes den erfolgreichen Versuch ge-
macht, die neue Religion mit dem Erbe der alten Kultur auszustatten.
Auf ihren Schultern standen sowohl die Kappadokier wie die Antiochener.
Aber Alexandreia hatte bereits den Origenes selbst ausgestoßen, Atha-
nasios und vollends dann Kyrillos haben sich mit bestem Erfolge bemüht,
seinen Geist aus der Kirche zu vertreiben. Die Überflutung der Welt '
^^V 220 Ulrich von Wilamowitz-Moeu.endorff: Die griechische Literatur des Altertums.
^^H durch das Mönchtum ist ein weiterer wichtiger Schritt auf diesem Wege;
^^m der Bildersturm ist der letzte, und in ihm reißen die letzten Fäden des
^^H lebendigen Kulturzusammenhanges. Es war schon ein bedenklicher Schritt
^^H abwärts, als Basilios seine Reden über das Sechstagewerk an die Stelle
^^H des platonischen Timaios setzte: bald schöpften die Menschen ihre natur-
^^H wissenschaftlichen Kenntnisse aus dem Physiologus und beseitigte Kosmas,
^^H der Indienfahrer, solches heidnische Greuel wie die Vorstellung von der
^^H Kugelgestalt der Erde, die ja klärlich der geoffenbarten mosaischen Wahr-
^^H heit widersprach.
^^H Es war eine unvermeidliche Konsequenz, daß die illiteraten heiligen
^^H Mönche Ägyptens dem Koptischen, die Syriens, die sich bald den
^^H Ägyptern zur Seite stellten, dem Syrischen zu der Vorherrschaft über
^^H das Griechische verhelfen mußten. Eigentlich hätte sich auch eine neue
^^H griechische Volkssprache und Volksliteratur bilden müssen: aber da ist
^^H der seit vier Jahrhunderten herrschende Klassizismus zu mächtig ge-
^^H wesen. Das ist für ihn noch ein höherer Triumph als all die großen
^^B Werke, die er hervorgebracht hat. Die Kirche nimmt wohl den neuen
I Geist auf, der zu dem hellenischen in bewußtem unversöhnlichen Gegen-
I satze steht, aber die sprachliche archaistische Form behält sie bei, nicht
W nur für die Predigt, sondern auch für die neue Unterhaltungsliteratur der
I Heiligenleben und die liturgische Poesie. Sie kann also auf die alte Gram-
I matik und Stilistik, also auch auf die klassischen Vorbilder nicht ganz ver-
zichten. Es war früher der Versuch gemacht, die hellenische Poesie durch
Apoiiinari. chrisüiche in den alten Formen zu ersetzen. ApoUinaris von Laodikeia
" ^'°' hatte sich in allen möglichen Gattungen versucht, sogar pindarische christ-
liche Oden soll er verfertigt haben. Das erntete zuerst überschwengliches
Lob; aber diese Zwitter hatten keine Lebensfähigkeit; freilich verfiel der
Verfasser auch der Ketzerei. Nur die Paraphrase der Psalmen ist er-
halten, ohne doch in den kirchlichen Gebrauch oder gar ins Volk ge-
drungen zu sein (an einen anderen ApoUinaris zu denken, ist kein Grund),
ein fleißiges, aber lebloses Produkt wie die Metaphrase des Johannes-
evangeliums von Nonnos. Erhalten ist auch das Gastmahl der Jungfrauen,
Meihodio» mit dem Methodios von Olympos dem Symposion Piatons ein Gegenbild
'* ^"' zu schaffen sich vermaß: ein lächerliches Denkmal von Impotenz und Ge-
Areio« schmacklosigkeit Sehr viel geschickter griff Areios nach volkstümlichen
(t «*)■ Maßen für seine Kirchenlieder, und der verleumderische Haß, mit dem
es ihm Athanasios vorwirft, beweist, daß er einen Erfolg hatte, wie er die
Päpstlichen an den geistlichen Liedern Luthers und den Psalmen Marots
ärgerte. Aber dieses Ketzerwerk erschien natürlich schlimmer als der Greuel
der Heiden. So hat man sich denn wohl oder übel damit abfinden müssen,
einen Rest von hellenischer Wissenschaft und etliche klassische Werke in
der christlichen Schule zu behalten. Das Lexikon, das den Namen des
Chrisüiche heiligen Cyrill (auch wohl den des heiligen Athanasios) trägt, gibt einen
schuiiektarc. Einblick in diesen Schulbetrieb. Der Titel besagt nicht, daß diese Männer
I
J
strömische Periode (300—529).
las Ausleben der Literatur.
221
die Glossen gesammelt hätten, sondern daß ihre Werke in der Schule
auch gelesen wurden. Man findet darin Glossen außer natürlich zur Bibel
von christlichen Schriftstellern zu Clemens Protreptikos (vielleicht auch zu
anderem von ihm) und zu Reden und Gedichten Gregors: zu diesen Werken
besitzen wir auch Scholien, die eben auch für Schulerklärung zeugen.
Von Klassikern sind Homer und Euripides glossiert; natürlich hat man
antike Schulausgaben, recht triviale, herangezogen. Die Ausschließung des
Menander ist bezeichnend: die Heroen konnte man eher dulden als die
Menschen. Die Prosaikerlektüre, die natürlich mit den Rednern begann,
wird in dem Lexikon nicht deutlich; aber wenn die Forschung den Lehr-
plan und Lehrgang der frühbyzantinischen Schule erst einmjil ernsthaft
untersucht hat, wird sich sehr viel ergeben, sowohl für die Basis der
byzantinischen Bildung wie für die Grammatiker und nebenher für die
Erhaltung und Textgeschichte der antiken Schulschriftsteller. Bisher ist
noch nicht einmal ein Anfang gemacht; das Lexikon des Cyrill ist sogar
noch ungedruckt.
Diese Unüberwindlichkeit der antiken Sprache und des rhetorischen
Stiles hat das lebendig gesprochene Grriechisch nicht zur Entfaltung kommen
lassen. Wo wir etwas davon spüren, wie z. B. in der antiochenischen
Chronik des Malalas, steht es dem merowingischen Latein parallel. Zu
der Palingenesie, die dcis Latein in der Herrlichkeit der romanischen
Sprachen erlebt, gibt es nicht einmal Ansätze. Die byzantinische antiki-
sierende Prosa versteht freilich die Reproduktion der klassischen Vorbilder
sehr viel besser als das mittelalterliche Latein, ist darum aber auch ganz
des eigenen Lebens bar: sie hat keine Entwickelung. Wie sehr Byzanz
von dem hellenischen Geiste entblößt war, sieht man an dem, was es den
Slawen übermittelt. Während die Syrer und durch diese \omehnilich,
aber auch direkt, Araber und Armenier namentlich wissenschaftliche Werke
des Altertums übernehmen und sogar über Spanien in den Okzident bringen,
kommt direkt von Byzanz kaum etwas dahin. Erst als die Franken das byzan-
tinische Reich zertrümmern, holen sie sich die Bücher, aus denen Aristo-
teles für die dominicanische Scholastik, Galen für die Schule von Salerno
zu neuem Leben erstehen. Gleichwohl wird es für die Weltkultur nicht
unwesentlich gewesen sein, daß der ganz bewußte, seines Zieles und seiner
Wege sichere Stil der klassischen Rede bei den Romäem niemals in Ver-
gessenheit geraten ist.
Aber es kann gar nicht anders sein, als daß die .Sympathie des
modernen Menschen sich allein dem zuwendet, was im Gegensatze zu der
Sklaverei der Tradition an neuem Leben sich regt, einerlei, wie formlos es
sei; in der Literatur muß es bei den Griechen freilich immer die Fesseln
der alten Sprache tragen. Da sind vor allem die Geschichten der Heiligen
zu nennen, in die von alten Novellen und Märchenstoffen, ja von Götter-
geschichten genug eindringt, so daß sie viel bunter und reicher werden,
als was die Historia Lausiaca des Palladios doch schon merkwürdig genug
ByianliiiUchcr
OrK-ntal'ischa
Kultur,
PalUdio«
(um ioo).
222
JIÄICH VON WILAMO
}RFF: Die griechische Literatur des Altertums.
von den ägyptischen Anachoreten erzählt Schon für diese Literatur ist
die Überlieferung in koptischer, syrischer, armenischer Sprache gar nicht
zu entbehren. Das Orientalische stellt sich wieder als eine vielsprachige
und doch einheitliche Kultm-welt dar, wie sie es vor Alexander gewesen
war. Auch die alte Grenze des Römerreiches gegen Persien hat ihre
Bedeutung verloren, gehen doch sogar die Religionen, Christentum und
Lehre Manis, hin- und herüber. Dies orientalische Wesen hat Byzanz
gleich von seiner Gründung stark beeinflußt, und durch seine Vermittelung
dringt viel davon nach Europa. Es ist ein ganz gewaltiger Fortschritt
für das geschichtliche Verständnis nicht nur des Mittelalters, sondern auch
des Altertums, daß in jüngster Zeit auf dem Gebiete der bildenden Künste,
namentlich der Architektur und Ornamentik, dieses orientalische Wesen
scharf erfaßt ist, so daß das Byzantinische, Arabische, Romanische sich
als Sprossen desselben Baumes darstellen, dessen Wurzeln bis tief in die
römische Periode und über sie hinaus verfolgt sind. Dabei hat sich heraus-
gestellt, daß für die bildende Kunst dasselbe gilt, was die Geschichte der
Literatur oder besser die Geschichte des geistigen Lebens längst wußte
oder wissen sollte, daß Rom und Italien den hellenistischen Orient niemals
innerlich beherrscht haben, vielmehr dort die hellenistische Tradition auch
außerhalb der Reichsgrenzen fortwuchs und wucherte. Wie sie das Über-
gewicht gewann, das kann niemandem zweifelhaft sein, der den Wandel von
der augusteischen zur hadrianischen, severischen, constantinischen Zeit
überdenkt. Ohne alle Frage ist dieses neue Orientalische neben dem, was
die katholische Kirche Roms bewahrte und überlieferte, die wichtigste
Grundlage der mittelalterlichen Kultur. Es bringt auch von antikem Erbe
sehr viel, Erzählungsstoffe aller Art, auch wohl literarische Formen, selbst
Nachklänge der halb oder ganz dramatischen volkstümlichen Dichtung der
hellenischen Zeit (S. 125), die man mit einem Namen nur Mimus nennen
kann, obwohl jeder Name viel zu eng ist Dies Orientalische im ganzen ist
ein Analogon zum Hellenismus, der ja auch keineswegs auf den Bereich
der griechischen Sprache beschränkt war. Aber eben die Sprache, und
nicht sie allein, beweist, daß das Hellenische hier nur noch ein Ingrediens
von vielen ist, mag auch der „doppelgehömte" Ammonsohn die noch
immer vornehmste Heldengestalt geblieben sein: in seiner Sage lebt die
Erinnerung an die Weltherrschaft, die er dem Hellenentum erstritten hatte.
In der römischen Kirche dauert das iinpcrium Romanum; in der
byzantinischen Kirchen- und Literatursprache dauert die klassizistische Tra-
dition der attischen Rhetorik; der Geist des Hellenismus redet, wenn auch
mit fremder Zunge, durch die volkstümlichen Erzähler und Spielleute, aber
auch durch die Ärzte imd Elfenbeinschnitzer und Miniatoren. Auch die
philosophische Tradition der Neuplatoniker verschwindet niemals ganz,
mag sich auch ihre Mystik und Dämonologie verstecken müssen. Aber
das köstlichste Erbe des echten Hellenentumes war doch die Glut, die
unter der Asche schlummerte, bis die Menschenseele sich wieder nach
Schluflbetrachtung.
'■23
Licht und Freiheit und Schönheit zu sehnen begann: da schlugen die
Flammen wieder empor, und der hellenische Eros übernahm wieder sein
Mittleramt zwischen Erde und Himmel,
I
Schlußbetrachtung. Ein Jahrtausend und mehr haben wir durch- Aiigemeiiio
messen, eine ganze Weltperiode, deren Inhalt die hellenische Kultur ist j^^''"*^'°^^^_^
Nun ist es erlaubt, rückschauend einige allgemeine Fragen aufzuwerfen, Liier»tur.
die sich die Griechen selbst nicht stellen konnten. Ihnen war ihre Literatur
die Literatur überhaupt, deren Formen die Formen, die es allein gab, die «
also allein möglich schienen. Sie hätten sich vielleicht durch geschieht- ■
liehe Erforschung der anderen Völker und ihrer Literaturen zu freierem H
Urteil erheben sollen; aber sie haben das nicht getan, wie ihre Grammatik ■
auch nur einige Ansätze gemacht hat, über die eigene Sprache hinaus- ■
zusehen. Für uns nun ist die Möglichkeit der Vergleichung gegeben, da ■
uns andere Kulturen und Literaturen zur Verfügung stehen. Das führt zu H
der Frage nach dem spezifisch Hellenischen und dann weiter, inwieweit H
dieses spezifische Wesen durch die Rasse oder durch die örtliche Grund- ^B
läge, Boden und Klima des hellenischen Landes, bedingt ist Die '^^M
philosophische Betrachtungsweise, die H. Taine auf die englische Literatur ^^M
angewandt hat, zwingt hinfort jeden, der nicht am einzelnen haften bleibt, ^^M
sich diese Fragen zu stellen: aber er ist des großen Vorgängers nicht wert, ^^M
wenn er wähnt, daß sich notwendig eine analoge Antwort finden müßte. ^H
Seit Alexander ist die hellenische Kultur ökumenisch, also auch ihre '
Erscheinujig in der Literatur. Für diese Jahrhunderte macht also Rasse ökumonuihet
und Landschaft nichts Entscheidendes aus, denn Menschen ganz ver- " '"' ■
schiedener Herkunft greifen bedeutend ein; die Zentra liegen zum größeren m
Teile auf nichthellenischem Boden. Das eben ist die Bedeutung dieser I
Kultur und Literatur, deiß sie gar nicht mehr national ist Es ist keine I
andere Kultur, der die römischen Klassiker angehören, und die lateinische H
ist nur die unverhältnismäßig bedeutendste, nicht die einzige freradsprach- I
liehe Produktion innerhalb des Helleaismus. Eben darum kann diese ^B
Kultur nicht mit einer einzelnen der modernen parallelisiert werden, ^^M
sondern nur mit der allgemeinen, die alle unsere Kulturvölker umspannt ^^H
National hellenisch sind nur die Formen der Literatur, die aus der früheren ^^H
nationalen Zeit übernommen sind, und deren Kanonisierung, die in dem ■
Klassizismus der augusteischen Zeit vollendet wird, samt der gleichzeitig ■
proklamierten Rückkehr zur attischen Sprache hat freilich, wie wir ge- ^^B
sehen haben, den Untergang des Hellenentunies unvermeidlich gemacht, ^^M
sie führt aber notwendig von den Nachahmungen der ökumenischen zu V
den Erzeugnissen der nationalen Zeit zurück, in denen die alten und ■
neuen Klassizisten daher mit einem Scheine von Berechtigung die ■
griechische Literatur allein sehen. ■
Der Ursprung der griechischen Literatur liegt an der asiatischen Atüfch
Küste, in der Heimat Homers. Hier sind die poetischen Formen ge- "" "'"*' ^—
224
E-MoKLLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
funden, die allein durch alle Zeiten gelebt haben, Epos, Elegie, lambu.s;
hier ist auch die erzählende und wissenschaftliche Prosa zuerst geübt
worden. Aus Asien kommt die Literatur nach dem Mutterlande, das fiir
sie Tochterland ist Was da etwa war, geht spurlos unter; viel wird nun
einfach in den überlieferten Formen, auch den sprachlichen, produziert;
das bedeutendste Neue, die chorische Lyrik, bringt es zu keiner dauernden
Wirkung: erst als Athen diese Tanzlyrik zur Tragödie, das dorische Drama
zur Komödie umschafFt, entsteht ein dauernd wirksamer Besitz des ganzen
Griechen Volkes. Auch die bedeutenden literarischen Ansätze der West-
hellenen (bedingt dadurch, daß das Epos dort nicht die Grundlage war)
wirken auf die Dauer nur in dem, was in die attische Literatur übergeht
oder diese anregt. Und auch im Westen sind es fast ausschließlich
lonier, zugewanderte, wie Pythagoras und Xenophanes, oder aus den
dortigen ionischen Pflanzstädten, Stesichoros, Parmenides, Gorgias; Akragas,
die Heimat des Empedokles, ist wenigstens auch von Asien gegründet.
Somit muß das Urteil lauten, daß alle die Stämme der Einwanderer,
die wir nach den Dorern nennen, an der ökumenischen Literatur un-
mittelbar keinen Teil haben, denn nur Athen, das fast wie eine ionische
Insel auf dem europäischen Kontinente liegt, kommt in Wahrheit neben
Asien in Betracht Aber ebenso werden wir nicht umhin können, in dem,
was das attische Wesen spezifisch von dem asiatischen unterscheidet,
europäische oder geradezu dorische Einflüsse anzuerkennen. Der
Parthenon ist ein dorischer Tempel, Pheidias hat in Argos gelernt, die
Wurzel des Dramas ist peloponnesisch, und ohne seine unteritalischen
achäisch-dorischen Erfahrungen hätte Piaton den Unterricht der Akademie
nicht mathematisch, d. h. wirklich wissenschaftlich gemacht. Das attische
Autochthonentum bedeutet historisch nur, daß die Landschaft von den
dorischen Einwanderern nicht erobert war: die Kultur Athens hat ihre
Suprematie gerade dadurch, daß sie die reichsten Anregungen von allen
Seiten aufgenommen, dann aber freilich aus eigener Kraft zum Klassischen
gesteigert hat. Das geschieht in den wenigen Generationen von Aischylos
bis Epikuros. Und schon vor diesem ist durch Alexander der Schwer-
punkt wieder aus Athen nach Asien zurück verlegt; die hellenistische
Periode ist in ihrem Wesen die Fortsetzung des loniertumes, und wenn
der Attizismus dagegen eine erfolgreiche Reaktion im attischen Sinne ist,
so haben wir gesehen, daß auch während der Kaiserzeit Athen und das
griechische Mutterland die geringste Bedeutung haben und dann im
Orientalischen das Hellenistische auflebt. So erkennen wir in der
griechischen Literatur nicht eine, sondern zwei Seelen, die attische und
die ionische, wie wir sie nennen wollen, dem Sprachgebrauche der Asiaten
folgend, nach dem Stamme, der die Kultur der übrigen Stämme an der
asiatischen Küste aufgesogen hat.
Tragödie, Komödie, Lustspiel, Dialog, Rede: das sind die attischen
Gattungen, die höchsten und vollkommensten Off'enbarungen der klassischen
Schlußbetrachtung.
225
Griechenschönheit Unverkennbar ist, was sie von dem Asiatischen,
Ionischen scheidet, eben das, was sie klassisch macht Der strenge und
keusche Adel der schönen Form, die große Tektonik, die das Ornament
im Zaume hält und dem Logos des Kunstwerkes dienstbar macht, die
Unterordnung des subjektiven Beliebens unter das Gesetz, ein Gesetz, das
nur das dynamisch Vorhandene zur Entelechie führt Die Formen, die
Gattungen sind Ideen, die mit einer so überzeugenden Natürlichkeit in
die Erscheinung treten, daß sie gefunden, nicht erfunden zu sein scheinen.
Der Sinn für Harmonie und Ebenmaß ist so groß, daß es den Athenern
für selbstverständlich gilt, die Kugelgestalt wäre die schönste, vielmehr
die absolut schöne. Es herrscht eine Sinnesrichtung, die mit Notwendig-
keit dazu führt, daß die regelmäßigen Körper in Piatons Timaios eine
uns so befremdende Rolle spielen, daß die Gedanken der Demokratie mit
rücksichtsloser Logik durchgeführt werden, daß der vollendete Mann der
ist, der in allem nur dem Logos folgt. Alle Willkür, alles Unbewußte,
alles Verschwommene soll verbannt sein. Der Intellekt ist der rein gött-
liche Teil der Seele. So erzeugt Athen die unvergleichlichen Typen der
Vollkommenheit, die klassische Kunst. Aber wenn das auch durch eine
Selbstbeschränkung erreicht wird, die zu bewundern man nicht müde
wird, so ist es doch etwas Beschränktes, und der regelmäßigen Körper
sind nicht nur wenige, sie werden auch nur durch den Logos gefunden.
So kommt denn aus dieser Sinnesart auch die geistige Richtung, die im
Klassizismus herrschend wird, der sich bei der Nachahmung bescheidet,
weil das Vollkommene nun einmal gefunden ist, und die hohle Re-
produktion ist nie widerwärtiger, als wenn der Manierismus das Klassische
reproduzieren will. Man mag diesem Prinzipe noch so stark wider-
sprechen und dem Fortschritt, dem Individuum noch so sehr sein Recht
wahren: die Größe dieser Weltanschauung (denn es ist viel mehr als ein
ästhetisches Empfinden oder Urteilen) soll man würdigen, ehe man sie
verwirft Die erhabenste und reinste Offenbarung der göttlichen Schön-
heit ist der ewig neue Wandel der himmlischen Gestirne droben, ewig
derselbe : dem entspricht die Offenbarung des Schönen in absolut voll-
kommenen Werken, in deren Anschauung das Sehnen der Seele, dcis
Schöne zu schauen, ewig seine volle Befriedigung findet. Die Eudämonie, die
aus der reinen Vollkommenheit strahlt, teilt sich der Seele des Beschauers
mit: das Ziel ist erreicht „Verweile doch, du bist so schön"; das Wort
der Erfüllung des höchsten Wunsches braucht nicht gesprochen zu werden:
die Idee hat sich offenbart und Pandora scheidet nicht mehr.
Zu dieser klassischen Vollendung erhebt sich das Hellenentum Asiens
kaum je, und dann nur in kleinen Kunstwerken, die der vollkommene
Ausdruck einer Individualität sind, die sich auch unbewußt geben kann,
wie Sappho in ihren Liedern. Selbst Homer, obwohl den der antike und
moderne Klassizismus in eine Reihe oder gar über die Athener gerückt
hat, muß mit geblendetem Auge betrachtet werden, wenn Ilias und gar
MuL Kultur Dm Gioinwakt. I. i.
'5
226 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
Odyssee als Ganze für vollkommene Kunstwerke gelten sollen. Aber
allerdings ist der epische Stil und die epische Sprache, die ja durchaus
Kunstsprache ist, dem attisch-klassischen Wesen am meisten verwandt
Obwohl am Anfange der Entwickelung für uns stehend, ist dies ja auch
in Wahrheit die Frucht langer Übung und Bemühung, in ihrem Werden
uns ganz unerkennbar; Homer gehört eben eigentlich noch vor die
hellenische Periode: es steckt noch viel von der mutterländischen Art in
ihm, geometrischer StiL Wir haben gesehen, daß das Epos zwar ionisch
ist, aber ebenso erwachsen aus dem Zusammenwirken verschiedener Stänune,
wie das ionische Volkstum es damals schon war, wie es das asiatische
und dann das hellenistische ward. Dafi der Mensch Homer und Sappho
und Terpandros und noch Ephoros und Theophrast und Kleanthes Äoler
gewesen sind, beweist, daß dieser Stamm ganz besonders viel zu der
Kultur beigetragen hat, die in Asien entstand; Hippokrates und Hero-
dotos sind dorischen Blutes, und Rhodos hat sogar besonders lange
sein Dorertum bewahrt Das alles hindert nicht, daß dies asiatische
Hellenentimi eine einheitUche Kultur hat, und lonien hat nun einmal
literarisch die Führung, und sein ist oder wird bald die Sprache. Für
unsere Kenntnis wenigstens kommt auf die einzelnen Ingfredienzien sehr
wenig an, aber darauf kommt alles an, daß es eben kein autochthones
Volkstum ist, die Rasse nichts Wesentliches (wieviel Barbarenblut steckt
nicht gerade in den loniem), sondern daß sich die Splitter zahl-
reicher zertrümmerter Stämme und Völker in diesem neuen Volkstum
zusammengehmden haben, das erst allmählich durch den Gegensatz zu
den Barbaren des Hinterlandes sich auf sich selbst besann, aber auch
gegen die Barbaren niemals in Rassen- oder Kulturdünkel sich ab-
geschlossen hat Der Bruch mit der Vergangenheit, mit den angestammten
Göttern und Vorfahren ist die Vorbedingxmg dieser Kultur. So ist die
Sinnesart der lonier, so ihre Literatur. Von vornherein ist hier alles weg,
was nach einer Heimatskunst röche, die sich nationalistische Borniertheit
oder überreizte Blasiertheit ersehnt (wie groß und doch wie begrenzt der
Wert der Dialektpoesie ist, könnte sich jeder sagen: soll es in der
bildenden Kunst anders sein?). Empfänglichkeit für alles gibt die KraA,
auf alle Welt und alle Zeit zu wirken. Darum kommt aus lonien die
erste Form der hellenischen Gemeinsprache, die epische, und dann die
letzte, die hellenistische. Homer gibt das erste Weltbild, danach kommt
die Weltkarte und die Weltgeschichte und die Tierfabeln und Novellen,
die aus allen Weltgegenden erst in die ionische, dann in die hellenistische
ErzählerUteratur zusammenkoounen, um dann über alle Völker und Zeiten
zu flattern. Endlich gründen lonier das Reich der Wissenschaft, das
gfrenzenlose und ewige, zu dem keine Rasse und kein Staat das Bürger-
recht verleiht Die Muse ist im Himmel zu Hause, und wenn den
Hesiodos die Muse seines heimischen Berges zum Dichter weiht, so wird
er inne, daß sie die olympische ist
SchluQbetrachtung.
227
Aber in diesem ionischen Wesen kann wohl das Individuum gedeihen,
dagegen fehlt die Kraft und auch der Wille zum Zusammenschluß, zu
Ordnung, Gesetz, Harmonie. Selbst die Wissenschaft hat ihre Organisation
und daher ihre Dauer erst in Athen gefunden. Wie die selbstherrlichen
Männer Homers ertragen auch die Aoler und lonier, die dem Subjek-
tivismus Luft schaffen, keinen wirklichen Staat; Rhodos hat mehr Zucht,
aber gerade das findet in der Literatur keinen Widerklang. Dagegen vermag
der Aöde, der Rhapsode, der Sophist sich an fremdem Tische und unter der
Fremdherrschaft ganz wohl zu fühlen, und schon Herakleitos ist einer der
Philosophen, die für die Mitarbeit an den Werkeltagsgeschäften der Ge-
sellschaft nur Hohn haben. Das Ducken unter das Joch des Midas und
Kroisos zeigt denselben Sinn wie die Fügsamkeit unter Rom; die Elasti-
zität des unverwüstlich überlegenen Geistes ist auch in allen Jahrhunderten
die gleiche. Erst als ihm die Flügel der geistigen Freiheit geknickt
werden, ist's um ihn geschehen. So ist denn auch der Charakter seiner
Literatur. Unbegrenzt ist ihre Ausdrucksfdhigkeit; sie fiigt sich allem,
dem Weisheitsspruche und dem Gassenhauer, dem schlichten Plaudertone
und der amphigurischen Poetenziererei, dem Stammeln des Halbgriechen
und dem Geklingel des Rhetors. Man könnte ihr zutrauen, alle Stile zu
versuchen, und es liegt auch nicht an der Sprache, wenn das nicht ge-
schieht. Aber die Ausdauer fehlt, die ein Ganzes zur Vollendung bringt.
Man begnügt sich selbst in den kräftigsten Zeiten mit einem Chaos wie
die großen Epen und die Geschichte des Herodotos, in denen die Schön-
heit des einzelnen den Blick von der Betrachtung des Ganzen zurückhält
Wie soll das anders sein, wo in dem Staate und der ganzen Gesellschaft die
arge Misere der Umgebung immer hingenommen werden muß, auf daß die
bedeutenden Einzelmenschen Raum zur Entfaltung haben. Solange das
Charakteristische einer solchen Individualität oder auch das Naive, das sich
^anz unbefangen gibt, für die formelle Vollendung entschädigen, kann das
sogar dem klassischen Stile, dem bewußten und gehaltenen, gleichwertig sein.
Aber es droht die Formlosigkeit und eine andere Manier, als die klassi-
zistische, aber auch Manier und erst recht öde: die Rhetoren, nicht bloß klassi-
zistische, haben für diese Verirrungen des Stiles ein scharfes Ohr und scharfe
Worte gehabt; die bildende Kunst loniens liefert interessante Parallelen.
Wer nach dem Wesen der griechischen Literatur fragt, muß mit
diesen beiden Typen rechnen: daß sie keinen einheitlichen Charakter hat,
ist eben das Wesentliche, ihr Vorzug und zugleich ihr Fluch. Damit ent-
spricht sie ihrem Volke und seiner Geschichte. Vermutlich wäre sie aber
sonst nicht eine Weltliteratur geworden, so wenig wie ein nationales
Athenertum die Weltkultur hätte gründen können. Damit ist unsere Frage
dahin beantwortet, daß die Parallele mit einer in sich geschlossenen
Literatur wie der französischen oder englischen so wenig gezogen werden
kann, wie mit einer wesentlich von fremden Mustern und fremder Kultur
abhängigen, wie die lateinische und bis vor 150 Jahren die deutsche.
2 28 Ulrich von WiLAMOwrrz-MoELLEifDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
Iiulivlduum und
Volk.
Dem staatlichen Wesen entspricht selbstverständlich das literarische;
Athen ist ein StJiat und versucht, Griechenland zu einem zu machen;
lonien und Hellas kommen zu staatlicher Ordnung nur unter fremder
Herrschaft, aber gedeihen nur, solange sie munizipale und bürgerliche
Freiheit haben. Die Natur des Landes hat gewiß das Ihrige dazu getan,
daß an dem Küstensaume Asiens kein wirklicher Staat aufgekommen ist,
die scharf abgegrenzte Landschaft Attika sich bereits früh zu einer für
Hellas bedeutenden Einheit zusammenschloß. Wer auf der Burg von Athen
steht und die edlen strengen Berglinien vor Augen hat, in der reinen
Luft und dem schimmernden Sonnenlicht, dem drängt sich die Analogie
der attischen Formenstrenge in Dichtung imd Rede auf Allein diese
Bergformen und dieses Licht sind keineswegs auf Attika beschränkt, und
vor allem, sie dauern: wie sollte es zugehen, daß nur in wenig Menschen-
altern die Athener in ihrem Wesen und den Idealen ihrer Kunst durch
diese Natur ihres Landes bestimmt worden wären? Von 300 v. Chr. bis
heute ist in Athen und gar durch Athener Klassisches nichts. Geschmack-
loses nur allzuviel ans Licht gebracht worden. Unattischer, unklcissischer
als das heutige Athen kann wirklich nicht gut etwas sein. Also die
Mutter Erde kann für die attische Poesie und Kunst so wenig verantwort-
lich gemacht werden wie das kekropische Autochthonentum.
Mit der Natur loniens wird es denn wohl ähnlich stehen, und Lesbos
hat die Sappho nicht zur Sappho gemacht Der griechische Boden zeugt
gewiß die griechischen Götter allein wieder, wie er sie einst gezeugt hatte,
soweit sie poetische Verkörperungen der Eindrücke sind, die empfäng-
liche Seelen aus der Natur dieser Erde und ihres Lebens geschöpft hatten.
Aber diese Seelen stammten nicht von der Erde: sie hat sie nicht gezeugt,
sonst würde sie ihresgleichen heute wieder zeugen.
Noch eine letzte Frage; Ist die Entwickelung der griechischen Literatur
organisch, vollzieht sie sich mit typischer Notwendigkeit? Mit geschichtlicher.
Notwendigkeit vollzieht sie sich, insofern wir ihr Werden verstehen, sobald
uns die bedingenden Faktoren leidlich bekannt sind; aber je mehr sie das
sind, desto weniger kann von einem typischen Verlaufe die Rede sein.
Man hat ihn ja auch mit Vorliebe in den vorattischen Zeiten kon.struiert,
von denen es noch keine Geschichte im eigentlichen Sinne gibt. Eines
aber erkennen wir auch da: diese ganz aus sich erwachsende Literatur
wird von keinem Volke gemacht, so wenig wie von einem Gotte, sondern
einzelne gottbegnadete Menschen machen sie; ihr Wollen und ihr Können
ist's, das am Ende auch das Volk bezwingt. Solange die Dichter nur
das Bedürfnis befriedigen, ein Kultlied oder ein Hochzeitslied machen, Ge-
meingefühl aassprechen , des Publikums Willen erfüllen, sind sie Hand-
werker; es ist ein .Segen gewesen, daß das die griechischen Dichter in so
weitem Sinne geblieben sind, aber sie mü.ssen noch etwas anderes sein,
wenn sie für uns noch wirklich etwas sein wollen. Niemand hat dem
Ai.schylos befohlen oder suggeriert, das Bocksspiel zur Tragödie um-
Schlußbetrachlung.
22g
zuschafFen; mühsam hat er sein Publikum zu sich emporgezogen. Piatons
Dialog ist ganz und gar seine eigene freie Schöpfung: der hat sogar an
ein Publikum gar nicht gedacht. Die Staatsrede des Demosthenes ist
auch eine Waffe, die er sich schmiedet. Da wird es mit Homer nicht
anders stehen, essi popoU Grect eratio quelF Omero, sagte Vico: wir
haben dankbar anzuerkennen, wie viel wir durch diese Betrachtungsweise
gelernt haben; aber daß das Epos seine Dichter ganz in den Schatten
stellt, wird daran nichts ändern, daß die Muse in den Seelen einzelner
Menschen die Schaffenskraft erweckte. Diese haben nicht nur dem Epos,
sondern ihrem Volke von ihrem Geiste mitgeteilt. Man kann den Spruch
Vicos mit ebenso viel Recht umkehren: Homer hat das Griechenvolk gemacht,
zum mindesten gilt das von der griechischen Literatur. Und so geht es
weiter: die großen Männer machen nicht nur die Literatur und die Geschichte,
sie machen das Volk. Solange es solche Männer gfibt, geht es vorwärts;
es ist bezeichnend, daß gerade in der Zeit, die das verhängnisvolle Zurück
zum Losungsworte nimmt, die Klage ertönt „es werden keine großen
Talente mehr geboren". Selbst in den Zeiten aber, wo die Manier und die
Konvention und gar die bewußte Nachahmung herrschen, erstehen immer
noch einzelne, die wider die Tendenz ihrer Zeit, ja wider die eigene
Tendenz, ihren Werken den frischen Reiz einer Persönlichkeit verleihen:
sie sind es immer, die am meisten gewirkt haben und noch wirken. Wie
reich an solchen sind noch die ersten vier christlichen Jahrhunderte; viel-
leicht wird mancher meinen, reicher als der Hellenismus; aber das liegt
nur an unserer Überlieferung. Wir müssen uns notgedrungen für lange
Zeiten mit Allgemeinheiten behelfen, weil wir die Personen nicht mehr
fassen können; aber das kann daran nichts ändern, daß die griechische
Literaturgeschichte wie alle Geschichte, mindestens die des Geistes, ge-
macht wird durch die einzelnen, die Grroflen. Der Genius eines Menschen
bringt aus sich Werke hervor, denen erst die Nachwelt den Wert von
Offenbarungen einer ewigen Idee beilegt. Es ist wahr, daß das Kunstwerk,
losgelöst von seinem Erzeuger, ein Sonderleben fuhren kann und Keime
enthält, die Größeres wirken, als er ahnte: denn gerade in der wirklich
schöpferischen Produktion liegt immer selbst für den Schaffenden ein Ge-
heimnis. Aber wenn auch unbewußt, lag es doch in seiner Seele: der
Schöpfer muß allezeit größer sein als seine Werke, und ihn zu verstehen,
ist darum wohl noch ein Höheres, freilich auch Schwereres als das Ver-
ständnis dessen, das er schuf So verdienen auch die großen Athener,
daß man ihr Wirken, ihre Person, entkleidet von dem kljissischen Nimbus
individuell und geschichtlich zugleich, erfasse, soweit es eben möglich.
Dann lernt man mählich begreifen, was der Genius wollte und wie er
wirkte , aus seiner Zeit auf seine Zeit. Wie er aber in die Welt gekommen
ist, das soll unser Rationalismus nicht erklären wollen: deis bleibt das Ge-
heimnis Gottes.
Literatur.
Was die Geschichte der griechischen Literatur anstreben muß, was ihr erreichbar ist
und wie weit das Erreichte dahinter noch zurückbleibt, das ermißt man am besten an dem
Teile, der es bisher am weitesten gebracht hat; dabei ergibt sich auch der Grund dieses
Vorsprunges ohne weiteres. Schon vor 50 Jahren konnte Eduard Zeu^r die Geschichte der
Philosophie in zusammenhängender Darstellung bis lu Ende, sagen wir, bis zum Schlüsse
der athenischen Schule verfolgen. Gilt das Werk auch zunächst den Systemen und den Ge-
danken, so sind doch die Schulen und die Personen keineswegs vergessen: daß nur eine
Seite des geistigen Lebens herausgegriffen ist, schadet bei der Philosophie am wenigsten,
weil dieser bei den Griechen die Führung zufällt; immerhin wird es mindestens seit dem
2. Jahrhundert v. Chr. sehr fühlbar. Die Auflagen von Zellers Werk zeigen die Fortschritte
der Forschung auf dem Gebiete , wo sie am glücklichsten gewesen ist. Nimmt man dann noch
ein paar Bücher hinzu, die Fragmente der Vorsokratiker von H. DiELS (1903), die
Epicurea von H. Usener (1887), die vorbildliche Sammlung des Nachlasses eines der
hellenistischen Schulhäupter, der eben H. V. ARNIM die Fragmenta stoicorum veterum
(seit 1902) folgen läQt, und die fast vollendete akademische Sammlung der Aristoteles-
kommentarc (seit 1882), so drängen sich ohne Zweifel noch Wünsche genug auf die Lippe,
aber auch für ihre Erfüllung ist die Bahn frei , und es gibt wirklich von der griechischen
Philosophie eine Geschichte, wie sie für alle anderen Teile der Literatur noch sehr lange
fehlen wird. Gewiß liegt sehr viel daran, daß ein geschlossenes Gedankensystem sich eher
wiederherstellen läßt, als ein Geschichtswerk oder ein Poem. Dem entspricht es, daß J. LlPSIUS
die Manuductio ad philosophiam stoicam schon 1604 hat schreiben können, Gassendi
1649 die Lehre Epikurs erneuern. Allein der günstigere Stand der Überlieferung kommt doch
auch stark in Betracht. Über die Lehrmeinungen der Philosophen ist uns eine sehr reiche
Zusammenstellung in mehreren Brechungen erhalten, die man jetzt vereinigt und geordnet
in den Doxographi von Diels (1879) findet; für die Verfolgung der Gedanken war also
immer das Gerippe gegeben. Zum Abschluß war diese Doxographie unter Augustus gelangt;
den Grund hatte Theophrast gelegt. Beides ist höchst bezeichnend. Selbst die Philosophie
hat also mit der Zeit des Augustus einen Strich gemacht, und obwohl sie nicht stillstand,
ist doch ihre Geschichte niemals fortgesetzt worden. Auch uns fehlt noch die rechte Ein-
sicht in die Entwickelung von Poseidonios zu Epiktet und Galen , von Antiochos zu Plutarch
undFavorin. Eins aber konnte niemals eintreten; der Klassizismus mochte die philosophischen
Werke der hellenistischen Zeit ebenso dem Untergange weihen wie alle hellenistische Prosa :
die Gedanken der Epikur, Girysipp, Kameades konnte er nicht auslöschen wollen, und schon
dadurch war die Philosophie davor bewahrt, dem klassizistischen Priniipe gemäß die Jahr-
hunderte nach Alexander zu verleugnen.
Das gilt auch von der biographischen Tradition über die Philosophen. Hier besitien
wir die Kompilation des Diogenes Laertios aus dem 3. Jahrhundert (eine Ausgabe fehlt, aber wie
sie zu machen ist, zeigen die Probestücke in Diels' Fragmenta poetarum philosophorum
(1901), und wie man das Buch zu benutzen hat, der für die Methode solcher Forschung vorbild-
liche Artikel vonE.ScHWARTZ in WiSSOWA 's Realenzyklopädie). Diogenes liefert uns den Nieder-
schlag der hellenistischen Biographie; die Schulgcschichte ist verschieden weit hcrabgeführt,
aber doch mindestens bis tief in die hellenistische Zeit; für die römische bot selbst die Stoa
nur einige Namen (jetzt verloren), keine wirkliclien Biographieen r der Klassizismus hatte
auch hier seine Wirkung getan. Der Glücksfall, daß für Akademie und Stoa Werke des
Philodemos aus Herculaneum hinzugetreten sind, hat nicht nur Ergänzungen gebracht, sondern
UuucH VON Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 231
deutlich gezeigt, wie in der cäsarischen Zeit dieselbe Tradition wie bei Diogenes, nur noch
sehr viel reicher bestand.
Ziemlich gleich gut sind wir über die zehn attischen Redner unterrichtet , da die Lehre
der augusteischen Zeit, die eben diese lehn aussonderte, in reichhchen Auszügen der
späteren Kaiserzeit, daneben in den rhetorischen Schriften des Dionysios von HalikamaB
vorliegt Dafi Cicero das Urteil seiner rhodischen und akademischen Lehrer gibt, gestattet
für einiges über den Klassizismus hinaufzukommen. Deutlich sieht man, daB, soweit eine
geschichtliche Entwickelung erkannt ist, dies nur den ältesten Peripatetikem verdankt ward.
Das Ergebnis ist also dem ganz analog, das sich bei den Philosophen zeigt; aber hier ist
der Hellenismus ganz preisgegeben, und die Doktrin der augusteischen Zeit hat dement-
sprechend das moderne Urteil ganz überwiegend beeinflußt : noch die neuesten Bearbeitungen
(R. Jebb, Attic Orators', 1880, und F. BLASS, Die attische Beredsamkeit', 1898)
halten sich in ihrem Gleise. Erst E. NORDEN. Die antike Kunstprosa (1898), hat die
Gesamtentwickelung der stilisierten Prosa zu verfolgen versucht.
Für die übrige Literatur bot sich der modernen Forschung zunächst die biographische
Tradition in dem Lexikon des Suidas (9. Jahrh. n. Chr.), dessen betreffende Artikel Auszüge
aus dem biographischen Lexikon des Hesychios lUustris (6. Jahrh. n. Chr.) sind; man
kontrolliert den Abfall, wenn man die philosophischen Artikel mit Diogenes vergleicht, der
ganz dieselbe Tradition, nur drei Jahrhundertc früher bietet. Am Hellenismus hatte man in
jener Spätzeit kein Interesse mehr, daher erscheinen nur noch wenige Schriftsteller, und
deren Viten sind besonders unzuverlässig; für die Kaiserzeit gab es keine Tradition ; Bücher-
titel lieferten wohl die Kataloge, aber für die Personen der Schriftsteller muß Hesych oft
gestchen, daO er nicht einmal eine annähernde Zeitbestimmung kennt. Hilfe leisten nur die
biographischen Einleitungen zu den Scholien der Schulschriftsteller, zu denen jetzt aufier den
Klassikern ein paar hellenistische Dichter gehören. So haben wir für Aratos noch eine Vita
aus der Zeit des Diogenes Laertios, und sofort bietet sich auch eine ähnliche FüUe. Natür-
lich hängt alles an dem Alter und der Qualität der kommentierten Ausgabe , die sich erhalten
hat. Werden einmal die Gewährsmänner etwas reichlicher angeführt, wie im Leben des
Sophokles, so zeigt sich, daß alles Brauchbare aus der alexandrinischen Biographie des
kallimacheischen Kreises oder von den älteren Peripatetikem stammt. Also überall zeigt
sich ein Strom der Tradition, der nach 200 v. Chr. kaum noch Zuflüsse aufnimmt. Die Er-
kenntnis dieser Einheit ist sehr wichtig; es ist nun unerlaubt, die Kompilatoren wie verschiedene
Autoritäten gegeneinander auszuspielen. Die Forschung hat vielmehr ganz wie bei der Text-
kritik zunächst die Aufgabe , das wirklich Überlieferte festzustellen. Erreicht sie aber einiger-
maßen die Angaben der alexandrinischen Biographie, so ist es gar nicht aussichtslos, diese
Überlieferung daraufhin anzusehen , was man damals wissen konnte und woher. Die Ein-
sicht in die wirklichen Urkunden, die es gab oder geben konnte, und in das literarische
Getriebe mit seinen Novellen und ätiologischen Fabeln kann und muß der Forscher für die
literarischen Gebiete so gut wie für die politische Geschichte besitzen; dann wird er vielleicht
sehr oft zu einem rein negativen Ergebnis kommen, aber um so deutlicher wird sich das
Probehaltige abheben, und aus dem Reflexe der Fabeln ersieht man auch Wichtiges, sobald
man ihre Herkunft und Art verstanden hat. Das Ergebnis ist für die antike Biographie
keineswegs sehr ungünstig. Leider fehlt noch ganz eine bequeme Zusammenfassung des bio-
graphischen Materiales; verständige Anordnung der Testimonia könnte sehr oft implizite die
Recensio der Überlieferung liefern.
Wenn schon die Biographie sich fast nur um die Personen der klassischen Zeit kümmert,
»o ist die Doktrin von den Gattungen vollends ausschließlich auf das Klassische gerichtet,
einmal weil sie von den Peripatetikem stammt (nur in einzelnem erweitert durch die Forschungen
der Alexandriner, z. B. des Eratosthcnes für das Drama), dann weil der Klassizismus sie
uns überliefert. Horaz' Ars poetica fußt auf dieser ästhetischen Theorie; die Modernen
haben noch lieber das befolgt, was Quintilian als Anweisung zur Lektüre für den angehenden
Redner gibt, sie aber als Literaturgeschichte behandelten. Die damals schon abgegriffenen
Kunsturteile, die auch oft in Epigrammen auftreten, sind unzähhgemal von den Modernen
232 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorft': Die griechische Literatur des Altertums.
wiederholt und breitgetreten worden, die sich am Ende wirklich einbildeten, sie wüßten
etwas von Stesichoros oder Panyassis. Auch die antike Poetik harrt noch ihrer Bearbeitung',
die passend die Chrestomathie des Proklos mit den parallelen Brechungen in den Schollen
2U der Grammatik des Dionysios, in den Glossen der Etymologlka und allen Schoüen, auch
viel aus den Lateinern (i. B. Diomedes), vereinigen wird.
Die Modernen konnten gar nicht anders, als auf Grund dieser Überlieferung von den
Einzelpersonen ausgehen und in der Weise der Alten die Überlieferungen zusammentragen;
es fehlte auch die Freude am Klatsch und der üblen Nachrede nicht. Geschichtliche Würdigung
wird man nicht verlangen. Einen Einblick in diese Art der Behandlung gewährt das groQe
Uictionnaire historique critique von P. Bavle (i.A. 1697), das zwar nur in scheinbar
«ufallig ausgewählten Artikeln die Griechen berücksichtigt, aber die Polyhistorie ebenso trefl-
üch illustriert wie die Kritik oder besser Skepsis und die Medisance. Unentbehrlich noch beute
und ein imponierendes Denkmal von Fleifl und Wissen ist die Bibliotheca Graeca von
JOHA>fN Albert Fabricius, 14 B.^nde, vollendet 1728; die Neubearbeitung von Harless,
12 Bände, vollendet 1819, macht das Original nicht entbehrlich und der veränderte Geist
der Zeit vertrug diese Behandlung nicht mehr: es ist überhaupt ein Verkennen sowohl der
Kunst, die in jedem guten Buche steckt, wie der Pietät, wenn so oft ein großes Werk der
Wissenschaft durch Flickarbeit modernisiert wird. Der Wert von Fabricius' BibUothek liegt
nicht nur in der Fülle von literarischen Nachweisen, Auszügen und Abdrucken: weil sie vor
dem modernen Klassizismus entstanden ist, berücksichtigt sie die ganze Literatur; darin soll
das neue Jahrhundert auf das achtzehnte zurückgreifen.
Vorbildlich durch die Zusammenfassung des Materiales für eine Gattung ward Gerhard
VOSSIUS' De historicis Graecis (1624), die Erneuerung durch Westermann 1838 war frei-
lich ein Anachronismus; eine wirklich wissenschaftliche Einführung in dies Gebiet bietet jetzt
C. Wachsmuth, Einleitung in die alte Geschichte (1895). Eine historia critica
oratorum Graecorum gab erst 1767 David RUHNKEN als Beilage zu seinem Rutilius Lupus;
er umfaßte auch die hellenistischen Redner, aber nicht die der Kaiserzeit, für die noch heute
die entsprechende Arbeit fehlt. Mit einer historia critica ähnlichen Stiles eröffnete A. Meineke
noch 1 839 seine großartige Sammlung der Komiker. Für die Dichter, soweit sie Epigrammatiker
sind (das sind ja die meisten), ist immer noch die Grundlage, was Fr. Jacobs im Xlll. Bande
seiner Anthologie zusammenstellte {1814), noch im Anschlüsse an die Analecta poetarum
Graecorum von PH. Bkunck, aus denen oder ihren N.ichahmungen (wie G.MSFORDS
Poetae Graeci minores) gerade die Männer der werdenden neuen Philologie ihre Kennt-
nis der Poesie schöpften. Es ist ganz dem Stande und den Bedürfnissen der Wissenschaft
entsprechend, daß Fr. Susemihl in seiner Geschichte der griechischen Literatur in
der Alexandrinerzeit (1891) im wesentlichen StofTsammlung gab. Ein solches Buch ist
es, was wir für die Kaiserzeit zunächst bedürfen.
Die .'\nregTing zu einer neuen und tiefen Behandlung der Geschichte nicht der Schrift-
steller, sondern der Literatur hat Chr. G. Heyne gegeben, minder in seinen Büchern als in
seinen Vorlesungen. Es ist freilich nichts Geringes, dafl er sich Themen stellte wie De
genio aevi Ptolemaeorum (1763), dem sich P. E. Müller, De gcnio aevi Thcodo-
siani (Kopenhagen, 1797) schon im Titel anschließt, her^'orzuheben, weil das 19. Jahrhundert
die Zeit der reichsten Überlieferung ganz links liegen ließ. Aber bei HEYNE in Göttingen hörten
F. A. Wolf, die beiden Schlegel , W. v. Humboldt, und das Große , was sie hervorbrachten,
verleugnet den Göttinger Ursprung nicht, soviel auch Weimar und Jena beigesteuert haben.
F. A. Wolf wußte das historische Problem der homerischen Gedichte, das in der Luft lag,
zu formulieren und gab so einen gewaltigen Anstoß ; die \'erwertung der alexandrinischen
Kritik, also der Philologie der Griechen, war sein größtes und eigenstes Verdienst. Sonst
war seine Unterscheidung einer äußeren und inneren Geschichte der Literatur kein glück-
licher Gedanke, und seine Durchführung in der Griechischen Literaturgeschichte von G. Bern-
HARDV ist ziemlich wirkungslos geblieben. Die beiden Schlegel brachten vor allem die
Kenntnis der modernen Literaturen hinzu. So oberflächlich sie sind, haben die Vorlesungen
August Wilhelms über die dramatische Literatur der allgemeinen Bildung auf lange die
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 233
Schlagwörter geliefert. Sehr viel tiefer, oft wirklich genial sind die ersten Arbeiten von
Friedrich Schi.ecei, (die man nicht in den gesammelten Werken , sondern in der originalen
Form benutzen muß, wie sie MlNOR wieder abgedruckt hat). Von ihm stammt im wesent-
lichen die Vorstellung von einem organischen Leben, Wachsen und Welken der Literatur,
für das die griechische das Hauptexempel ist, und demgemäfl die allgemeine Beurteilung
der Gattungen und Epochen. So bekommt die la einer bloßen Registratur erstarrte Poetik
neues Leben, und das Bild des Alterturas, das bisher Sapplio und Ovid, Aristophanes und
Lukian noch so liemlich auf einer Fläche zeigte (so durchaus bei Wieuvnd), bekommt Tiefe
und seine Gestalten Körperlichkeit. Freilich setzt an diese Spekulation auch dieselbe Ver-
flüchtigung des konkreten Wissens durch die Spekulation an, die sich in der Naturphilosophie
breit gemacht hat: Proben dieser Verirrungen können H. Ulrici, Geschichte der helle-
nischen Dichtkunst (183s), H. Th. RöTSCHER , Aristophanes und sein Zeitalter (1827)
sein. Wilhelm v, Humboldt erreicht es, das Leben des Volkes in allen Äußerungen, Sprache,
Dichtung, Staat, Religion, als eine Einheit zu erfassen und übermittelt diese tiefste Erkenntnis
an F. G, Welcker. Darum geben Weixkers Arbeiten, einerlei welchen Gegenstand sie
behandeln, immer die Beleuchtung eines einzelnen durch das Gesamtlicht dieser Erkenntnis;
darum belehren sie immer, auch wenn die Einzelaufstellungen die Probe nicht bestehen.
Sein eigenstes Verdienst ist, daß er die Sage, den gemeinsamen Inhalt ziemlich aller
klassischen Poesie, als eine solche lebendige Offenbarung des Volksgeistcs zu begreifen und
zu verfolgen gelehrt hat: Homer, Aischylos, Pindar wurden nun erst geschichtlich und daher
auch in ihrem persönlichen Werte faßbar. Die Würdigung der einzelnen griechischen
Stämme und Landschaften, aus denen allmählich das griechische Volk geworden ist, hatte
Otfried Müller bereits der Geschichtswissenschaft zugeführt, als er mit leichter Hand
seine Geschichte der griechischen Literatur bis auf Alexander hinwarf (1840),
die ihm zu vollenden nicht mehr vergönnt war. Weder an Tiefe noch an Weite des Blickes
mit Welcker vergleichbar (offenbar war seine Kenntnis anderer Literaturen beschränkt;,
besaß er die glückliche Rasch heit, ein Bild fertig zu malen; das Buch war lesbar: so hat es
denn einen ungeheuren Einfluß geübt, namentlich im Ausland (es war zuerst englisch
erschienen) und übt ihn noch. Dann wartete man jahrzehntelang und wartet noch, gleich
als ob es möglich wäre, auf d;is Buch, das die schwere Gelehrsamkeit von F.*bricil'S
mit den Erkenntnissen unserer Klassiker und Romantiker vereinigen soll, Von diesen
besaß Th. Bergk, der Schüler Gottfried Herm.\nns, bei aller Gelehrsamkeit und
allem Scharfsinne herzlich wenig; sein künstlerisches Vermögen war gering; daher ist von
dem, was er von seiner ungemein voluminösen Literaturgeschichte fertiggebracht hat
(4 Bände, doch nur der erste von ihm selbst herausgegeben), fast nur die philologische
Einzelarbeit von Belang. Die verbreiteten, öfter aufgelegten Handbücher von M. undA.CROISET
in Frankreich , von J. P. M.^H.AFFV in England , von W. Christ in Deutschland fassen vor-
nehmlich den Stoff, wie er in unübersehbarer Einzelarbeit beschafft ist , gruppierend , sichtend,
urteilend zusammen. Die politischen Historiker haben bei den Griechen die Literatur niemals ganz
beiseite lassen können; bei den neuesten, Eduard Meyer und J. Beloch, erscheint ihre Ge-
schichte gemäß dem veränderten Standpunkte der historischen Betrachtung wesentlich anders
und richtiger als zuvor. Beloch behandelt auch einen Teil des Hellenismus ; ihn hatte auch
Th. Mommsen in seiner Geschichte der römischen Republik zum Teil berücksichtigt. Es
«eigt sich deutlich, daß heute wie vor 50 Jahren dieser Boden noch nicht hinreichend be-
reitet ist, so daß, wer ihn nur gelegentlich einmal betritt, sich wirklich kaum orientieren
kann. Dagegen sind auch die literarischen Bilder, die MOMMSEN im 5. Bande entwirft, von
der Meisterhand eines Kenners gezeichnet.
Im ganzen sind es nicht die Literaturgeschichten, die die Etappen des Fortschrittes
markieren, und selbst neue Gesichtspunkte findet man nur bei der Einzeluntcrsuchung. Es
mag sein, daß das sehr lesbare Buch von Coi.'.\T, La porfsie Alcxandrine (1882) vielen
eine Vorstellung \on dem gegeben hat, was damals für alexandrinisch galt (es war die Lehre
O. Jahns und seiner Schüler) : ein wirklicher Fortschritt geschah damit nicht. Den hatte der
Herstellungsversuch eines Gedichtes, C. DlLTHEY, De Callimacbi Cydippa (1863) ergeben.
234 Ulrich von Wilamowitz-MÖellendorff: Die griechische Literatur des Altertums.
das an Naeke, De Callimachi Hecata (1845) anknüpfte. Und die Interpretation ein-
xelner hellenistischer Gedichte wird am besten weiterhelfen. Verstehen lehren ist eben
das Hauptgeschäft der Philologie. Aber wir sind selbst noch vielfach bei der Vorarbeit
und müssen erst das Material zusammentragen. Was da zu tun ist, wie es zu tun ist,
mögen einige Beispiele lehren. Die astrologische Literatur war bis vor kurzem noch so gut
wie unbekannt: daher hat Franz Cumont mit einer Anz<ihl Genossen zunächst einen Cata-
logus codicum astrologicorum angegriffen (Brüssel, bisher 5 Bände, der letzte 1904),
eine Menge Ineditahat sich gefunden, und wie GroQes für Mittelalter, Kaiserzeit und Hellenis-
mus sich ergeben hat und ergeben wird, läßt sich nach einer Probe wie ¥r. BOLL, Sphaera,
(1903) crmessen. Es liegt auf der Hand , daß die gesamte naturwissenschaftliche Literatur in
ähnlicher Weise aufgearbeitet werden muß, und für die Ärzte ist daxu auch Hoffnung. Immer-
hin ist genug von ihnen bekannt, um den nächsten Schritt zu gestatten, die einzelnen
Personen und Schulen auszusondern. Nach beiden Seiten hat M. Wellmann mit der
Fragmentsammlung der griechischen Ärzte (Bd. I, 1901) und der Pneumatischen
Schule (1895) erfolgreich den Anfang gemacht. Das Großartigste ist, was A. Harnack für
die altchristliche Literatur ins Werk setzt; er leitet die kritische Ausgabe ihres gesamten
Nachlasses bis zum Nicaenum und hat in je zwei Bänden erst die Überlieferung und den
Bestand (1893), dann die Chronologie (1897 u. 1904) dieser Scbriftenmasse dargestellt.
Diese Werke faßt ein Titel, „Geschichte der altchristlichen Literatur bisEusebius",
zusammen; das klingt noch etwas nach der Weise des Apologeten Aristeides, der die Christen
den Griechen als eine andere Rasse entgegenstellte: eine Geschichte der christlichen Literatur
dieser Jalirhunderte hat im Grunde genau die Berechtigung wie eine Geschichte der katho-
lischen Literatur seit dem Tridentinum. Aber es ist wesentlich Schuld der Philologie des
19. Jahrhunderts, daß die Einheit des geistigen Lebens so wenig anerkannt ist: auf dem
Boden von J. A. Fabricius wäre das nicht möglich.
Eine zweite Aufgabe der Forschung ist das Auslösen der Originale aus späten Ver-
arbeitungen: hier blüht die Hoffnung namentlich für die hellenistische Literatur. Muster
sind, wie J. Bernays aus Porphyrios den Theophrast über Frömmigkeit (1866),
B. Niese (Rhein. Mus. XXXIl, 306) Apollodors Kommentar zum Schiffskatalog
aus Strabon gewonnen hat. So große Massen sozusagen verbauter alter Steine gibt es
nicht häufig, aber inhaltlich hat das Quetlensuchen in den späten Historikern doch nicht
wenig ergeben; es muß nur die Indivjduahtät des erhaltenen Schriftstellers zuerst erfaßt sein
und dann die Verfolgung der Tradition niemals mit dem Aufsuchen der unmittelbaren Vor-
lage vermischt werden. Es gibt eben keine mechanisch verwendbare Methode. Wie ver-
schieden man es anzufangen hat, zeigen die Artikel Appian, Cassius Dio, Diodor,
Diogenes, Dionysios von Halikarnaß von Ed. Schwartz in Wissowa's Real-
enzyklopädie.
Für die Restitution poetischer Werke hat Welcher zwar die Benutzung des Sagen-
stoffes gelehrt, aber wie ein bestimmter Dichter ihn in der Form einer bestimmten Gattung
gestalten konnte oder mußte, keineswegs. Erst wenn man zu dem Stoffe die Kenntnis der
Kunstform hinzubringt und sieht, daß sie sich vertragen, kann man hoffen, wenigstens den
Schatten einer Tragödie zurückzugewinnen. Das führt auf ein anderes .\rbeitsfeld , dessen
Anbau auch der Literaturgeschichte reichen Ertrag verspricht, auf die Stilanalyse, die bald
zur Stilgeschichte, zur Geschichle der Formen und Gattungen wird. .'Vuch wenn man die
geschichüichen Folgerungen ebenso wie die textkritischen ablehnt, muß man an Zielinski'S
Gliederung der altattischen Komödie (1885) die Wahl des Themas als sehr glücklich be-
zeichnen, und das Buch hat starke Anregung gebracht. So muß die Metrik und der Prosarhyth-
mus, die Rhetorik, soweit sie die innere Form der späteren poetischen und prosaischen Werke
beherrscht, und daneben die naiv oder gewollt der künstlerischen Stilisierung entbehrende
Prosa erst an den einzelnen Werken und Schulen erfaßt, dann aber geschichtlich verfolgt
Zusammenhang und Entwickelung erkennen lassen. Wir brauchen z. B. für die chorische
LjTik und für das Epigramm eine Topik, wie sie Fr. Leo in der römischen Komödie und
Elegie zu verfolgen gelehrt hat. Wir haben von der literargeschichtlichen Forschung, wie
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums. 235
sie auf anderen Sprachgebieten betrieben wird, x. B. von Scherer und seinen Schülern,
unendlich viel zu lernen. BewuBte Kunstiibung, Regel und Mache herrscht nur zu sehr bei
den Griechen: das bietet den Vorteil, daß das Konventionelle faßbar sein muB. Freilich
noch viel wertvoller ist immer das Individuelle: liebevolles Versenken in einzelne Personen
ist wie das Schwerste so das Fruchtbarste. Der Philologe soUte es häufiger so machen , wie
H. V. Arnim, der von seinem Dion sowohl den Text (1893) wie die Biographie (1898) ge-
geben hat. Auf solche Aufgaben ist in der obigen Darstellung mehrfach hingewiesen. Es
nützt mehr, zu zeigen, was gefordert wird, als das Geleistete zu loben.
Im folgenden nenne ich nur hie und da ein Buch , das mir vielleicht aus zufälligem,
subjektivem, aber immer aus einem bewußten, wenn auch unausgesprochenen Grunde
nennenswert erschien. Woran jeder denkt, worauf auch der Anfänger von jedermann ge-
stoßen wird, das wird er hier nicht suchen, und Warnungen, die eigenüich am alier-
notwendigsten wären, sind unstatthaft.
S. j. Altfranzösisches Epos: Pio Rajna, Origini dell' epopea francese (1885).
S. 13. Kunst des Erzählens in der Ilias: Hedwig Jordan, Der Erzählungsstil in den
Kampfsrenen der Ilias. Zürcher Dissertation (1904).
S. 15. Margites: Fr. Marx, Rostocker Index lecttonum (1889/90).
S. 24. Skolien: R. Reitzenstein , Epigramm und SkoUon (1893).
S. 33. Gnome: H. DiELS, Herakleitos griechisch und deutsch, Einleitung (1901).
S. 67. Isokrates' Chrienform ; L. Spengel, Isokrates und Piaton, Abhandlungen der Münchener
Akademie (1856). — Periodisierung; G. Kaibel, Stil und Text der TloUttla 'A9i\valtav
des Aristoteles (1893) S. 81 flg.
S. 70. Anaximenes : P. WENDLAND , Hermes 39.
8.71. Aischines und Demosthenes: I. Bruns, Das literarische Porträt (1896) S. 561 flg.
S. 83. Panaitios: E. Schwartz, Charakterköpfe (1903); doch dieses Buch und die Fünf
Vorträge über den griechischen Roman (1896) von demselben Verfasser gehören zu
denen, die eigentlich gar nicht genannt werden dürften, weil jeder sie lesen sollte.
S. 107. Polybios: O. CuNTZ, Polybios und sein Werk (1902).
S. 114. Biographie: Fr. Leo, Die griechisch-römische Biographie (1899).
S, 123. Petron: R. Heinze, Hermes 34.— Fresken des Hauses bei der Farnesina: C. Robert,
Hermes 36, 364.
S. 124. Volkstümhche Erzähler und Sänger: H. REICH, Der Mimus, Bd. I (1903).
S. 126. Lustspiel: Fr. Leo, Plautinische Forschungen (1895) Kap. III und IV.
S. 134- Apollonios und Vergil: R. Heinze, Virgils Epische Technik (1903).
S. 159. Paulus' Briefe: A. Deissmann, Bibclstudien (1895) S. 187.
S. 167. Plutarchs Biographieen : C. Michaelis, De ordine vitarum Plutarchi (1875).
S. 174. Ptolemaios: Fr. Boix, Studien über Claudius Ptolemaeus (1894).
S. 178. Stoisches bei Artemidor: W. Reichardt, De Artemidoro (1894).
S. 184. Theklageschichte in älterer Form vor Aufnahme in die Paulusakten: P. CORSSEN,
Neutestam. Zeitschr. IV, 22 und Gott. Gel. Anz. 1904, 102. — Die Einwände von Hamack
(Sitz.-Ber. der Berliner Akademie der Wissenschaften 1905 S. 4) umgehen die von Corssen
für die Hauptsache angeführten Gründe; übrigens nimmt Hamack selbst eine ältere
Thektageschichte an.
S. 185. Neue Orakel: W. Kroll, De oraculis Chaldaicis (1894).
S. 186. Religiöse Bewegung: A. Dieterich, Abraxas (1891); Nekyia (1894); Mithrasliturgie
(1903). — R. Reitzenstein, Poimandres (1904).
S. 189. Martyrien; J. Gekfcken, Die ApoUoniusaklen Gott. gel. Nachr. (1904). — A. Baxjer,
Heidnische Märtyrerakten. Archiv für Papyrusforschung I.
S. 193. Plotin: R. EUCKEN, Die Lebensanschauungen der großen Denker (4. A. 1902).
S. 194. Christentum und Hellenismus: P. Wendland, Christentum und Hellenismus in ihren
literarischen Beziehungen (1902).
236 UuucH VON WiLAMOwrrz-MOELLENDORFF: Die griechische Literatur des Altertums.
S. 195. Porphyrios: Lucas Holstenius, De vita et scriptis Porphyrii (1655), hier genannt,
weil es für seine Zeit eine große Leistung war und weil es • immer noch nicht ent-
behrlich gemacht ist
S. 200. Historisches Epos: F. CintiONT, Notes sur deux firagments ^piques. Revue des ^tudes
anciennes. Bordeaux (1902). S.36.
S. 204. Proklos' Chrestomathie: O. Immisch in der Festschrift für Gomperz (1903). . .
S. 209. Gregorios von Nyssa: J. Bauer, Die Trostreden des Gregorios von Nyssa in ihrem
Verhältnis zur antiken Rhetorik. Marburg 1902.
S. 2 1 5. Akzentuierende Prosa und Poesie : Wilhelm Meyer , Anfang und Ursprung der griechi-
schen und lateinischen rhythmischen Dichtung (1885); Der akzentuierte SatzschloB in
der griechischen Prosa (1891); Fragmenta Burana (1901) S. 148.
S. 216. Oros: R. Reitzenstein, Geschichte der griechischen Etymologica (1897) S.207.
S. 222. Wiederbervortreten der orientalischen Kultur: J. Strzygowski, Die Schicksale
des Hellenismus in der bildenden Kunst Jahrbücher f. klass. PhiL 1905, wo die
älteren Arbeiten des Verfassers angefiihrt sind.
p
DIE GRIECHISCHE LITERATUR
DES MITTELALTERS.
Von
Karl Krumbacher.
Einleitung. Bei der vergleichenden Nebeneinanderstellung der über
iioo Jahre umfassenden altgriechischen Literatur und der wiederum über
iioo Jahre füllenden byzantinischen Schriftstellerei, als deren Grenzscheide
etwa die Zeit Konstantins des Großen (324 — 337) anzunehmen ist, kann
die letztere schwer bestehen, und wer sie unmittelbar nach der alten
Literatur im gleichen Rahmen schildern soll, hat einen harten Stand. Die
alte Literatur gleicht einem mannigfaltigen Bergland mit gewaltigen
Riesengipfeln, unermeßlichen Fernsichten, rauschenden Wildbächen, tief-
grünen Seen und blumigen Wiesenmatten; das byzantinische Schrifttum
ist wie ein weit ausgedehntes, einförmiges Flachland, nur selten durch
anmutige Höhenzüge und schattige Waldberge unterbrochen, nur wenig
belebt durch trag hinfließende Ströme, die von den Quellen des Hoch-
landes genährt werden, aber vielerorts versumpfen oder in unwirtlichen
Steppen sich verlieren. Doch ist es ein Trost für den Wanderer und den
Führer, daß der Übergang von der einen Landschaft zur anderen nicht
plötzlich geschieht; wie schon innerhalb des herrlichen Bergbezirkes
manche Odflächen begegnen, die Nähe der einförmigen Ebene ankündend,
so sind in das weite Niederland da und dort lockende Berglandschaften
und erquickende Oasen versprengt
Die byzantinische Literatur ist das vornehmste Zeugnis und der wich-
tigste Ausdruck des geistigen Fortlebens der griechischen Nation vom
Ausgang des Altertums bis an die Schwelle der neueren Zeit Daß es
eine solche Literatur gibt, ist in erster Linie dem römischen Staate zu
danken, der nach der Abtrennung und Auflösung der westlichen Reichs-
hälfte schnell gräzisiert wurde und dem Griechentum noch ein Jahrtausend
lang eine schützende imd nährende Heimstätte geboten hat Neben dem
Staate ist es die christliche Kirche, die das oft in seiner Existenz be-
drohte hellenische Volkstum kräftig gestützt und in ihm die Bedingungen
eines geistigen und literarischen Lebens teils erhalten, teils neugeschaffen hat
Die Bedeutung der griechischen Literatur des Mittelalters ruht in
erster Liiüe auf der Seite, die bis jetzt noch am wenigsten erkannt und
gewürdigt ist, dem ästhetischen, inhaltlichen, literar- und sprachgeschicht-
lichen Werte ihrer Denkmäler; dann auf den tiefgehenden Einflüssen, die
von ihr auf orientalische, slawische und andere Völker gewirkt und an
«38
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
mehreren Orten ganz neue Kulturen begründet haben; endlich auf ihrem
engen Zusammenhange mit der altgriechischen Literatur und Sprache, für
die bei den byzantinischen Nachfahren mannigfaltigste Bereicherung und
Belehrung zu erholen ist
Um das Wesen der byzantinischen Literatur und ihre welthistorische
Bedeutung zu erfassen, müssen wir zuerst auf die beliebte Vergleichung
mit anderen Literaturen, besonders mit der altgriechischen, verzichten
und statt dessen uns bemühen, die byzantinische Zeit aus sich selbst
heraus zu studieren. Wir werden uns der zahllosen Veränderungen bewußt
werden, die sich in den politischen, religiösen und materiellen, in den
sprachlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen der griechischen und
gräzisierten Welt seit der alexandrinischen Zeit vollzogen haben. Durch
sie ist eine neue Kultureinheit geschaffen worden, nicht ein Anhängsel
oder eine Fortsetzung des Altertums, sondern ein eigenartiges selbständiges
Gebilde. Es bedarf noch eingehender Forschungen, um diesen gewaltigen
luid äußerst komplizierten Organismus in seiner innersten Beschaffenheit,
seiner wechselvollen Lebensdauer und seinen mannigfachen Fortwirkungen
auf die Gegenwart zu erkennen.
Eine g^roße zeitgeschichtliche Tatsache liegt vor uns: zwischen dem
katholisch -protestantischen, romanisch-germanischen Abendlande, das, mit
seinen außereuropäischen Abzweigungen, als die einzige wahre Keim- und
Heimstätte der modernen Kultur gut, und dem nichtchristlichen Orient
besteht eine halb europäische, halb asiatische, religiös größtenteils durch
das griechisch-orthodoxe Bekenntnis, national durch die zwei Endpunkte
Griechisch und Slawisch charakterisierte Kultiu-welt, in deren Kreis trotz
der nationalen oder religiösen Differenz auch die Rmnänen und Albanesen,
Kopten und Syrer, die Armenier, Georgier und sonstigen christlichen
Kaukasusvölker gehören. Das romanisch- germanische Abendland hat die
christliche Kultur seit vier Jahrhunderten über den amerikanischen Kon-
tinent ausgebreitet; die gräkoslawische Welt ist sich heute der Aufgabe
bewußt, in ähnlicher Weise den nahen und fernen Osten zu befi-uchten.
Und nach weiteren vierhimdert Jahren wird vermutüch der geschichtliche
Betrachter die merkwürdige Tatsache überblicken: die von der äheren,
lateinischen Periode des römischen Kaisertums ausgegangene romanisch-
germanische Kultur hat Amerika erobert, und zwar ursprünglich Germanen
den Norden, Romanen die Mitte und den Süden, dann aber das stärkere
germanische Element auch große Teile des Südens; die aus der jüngeren
griechischen Periode des Kaisertums erwachsene gräkoslawische Kultur
hat, ihrer weit späteren Ausgestaltung gemäß, auch später eingesetzt mit
ihrer weltgeschichtlichen Kulturmission, dann aber, freilich unter ganz
anderen Bedingungen und in anderer Weise als früher ihre romanisch-
germanische Schwester, einen großen Teil des asiatischen Festlandes
erobert, und zwar die Slawen und die ihnen politisch angegüederten
kleineren Völker den Norden und Teile des Mittellandes von Asien, die
I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur.
239
den Romaoen analogen südlichen Bestandteile dieses Kulturkreises, be-
sonders die Griechen und Armenier, größere Gebiete von Kleinasien.
Im Gebiete des Stillen Ozeans (Mandschurei, Philippinen) berühren sich
die nach Westen und nach Osten gedrungenen Ausstrahlungen der im
römischen Reich begründeten Kulturen und schließt sich der von der
ewigen Stadt ausgegangene, nun den Erdball umspannende Ring. So
wird das römische Reich, die folgerichtigste und folgenreichste politische
Schöpfung der Weltgeschichte, die seinem nationalen Dualismus ent-
sprechende Doppelaufgabe erfüllt haben, die höchste Kultur der Mensch-
heit immer weiter nach Westen und nach Osten hinauszutragen und so
nach seinem eigenen Untergang den größten Teil des Erdkreises nach-
wirkend zu veredeln. Wunderbar triebkräftig sind die im alten und neuen
Rom geborenen Lebenskeime; immerdar fortwachsend und neuzeugend
haben sie eine unbesiegbar starke, durch Christi Lehre vergeistigte
Menschenbildung hervorgebracht, die nun lehrend und lernend, herrschend
und duldend die Völker der Erde umschlingt. Freilich bleibt noch ein
gewaltiger Rest übrig: Außerhalb der römisch- christlichen Kultureinheit
stehen noch die Bekeimer des Islams, die Völker Indiens und die gelben
Rassen. Wie es dereinst mit ihnen sein wird, das liegt jenseits der
kühnsten Vermutung.
Der gräkoslawische Kulturkreis, dessen welthistorische Bedeutung das
eben entworfene Zukunftsbild nur unsicher andeuten konnte, ist aus der
griechisch- byzantinischen Bildung geboren worden, wie die westliche
Kultureinheit aus der lateinisch -römischen Bildung. So hat die Spaltung
des römischen Reiches bis auf den heutigen Tag allsichtbar nachgewirkt,
im guten wie im schlimmen Sinne. Durch sie sind die ungeheuren
intellektuellen und materiellen Kräfte des damaligen Erdkreises in zwei
selbständig wachsende und wirkende Komplexe zerlegt worden, und so
konnte sich neben und nach dem lateinischen Westen, der sich längst um
das römische Zentrum zu einem geschlossenen Kulturgaozen konsolidiert
hatte, nun auch der Osten, der ohne die Gründimg eines eigenen poUtischen
und kulturellen Mittelpunktes vermutlich bald verkümmert und von den
Barbarenstümien zerbröckelt worden wäre, kräftig entwickeln und seine
eigene Kulturaufgabe erfüllen. Anderseits ist durch jene Teilung der
Keim zu dem unseligen und für die einheitliche Ausbildung einer christ-
lichen Weltkultur verderblichen Gegensatz zwischen West- und Osteuropa
gelegt worden, an dem wir noch lange kranken werden, wenn auch die
Hoffnung einer schließlichen Versöhnung in weiter Feme leuchtet.
I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur. Was dem vom
klassischen Altertum kommenden Betrachter das Verständnis der byzan-
tinischen Kultiur und der aus ihr erwachsenen Literatur in der Regel lange
erschwert, ist der Mangel jener geschlossenen Einheit und jenes organischen
Wachstums, wodurch die alte griechische Bildung sich so einzigeirtig aus-
240
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
zeichnet. Die oströmische Zivilisation ist das Ergebnis einer langdauernden
Mischung verschiedener Elemente, und sie kann nur durch eindringende
Analyse derselben verstanden werden. Die drei konstituierenden Elemente
sind Griechentum, Römertum, Christentum; dazu kommt als eine in
mannigfacher Weise und nach Zeit und Ort sehr verschiedenartig wirkende
Ingredienz der orientalische Einfluß.
Griechentuni. Als Konstantin der Große am n. Mai 330 die neue Hauptstadt am
Goldenen Hom einweihte, dachte er gewiß nicht daran, dadurch die latei-
nische Staatssprache zu gefährden, und auch bei der endgültigen Teilung
des Reiches im Jahre 395 blieb sein lateinischer Charakter vollauf ge-
wahrt Die Macht der Verhältnisse war aber stärker als die Institution.
Die geringe Zahl lateinisch sprechender Menschen im Osten, das starke
Vorwiegen der Griechen in der neuen Hauptstadt und in den zentralen
Provinzen, der hohe Stand der griechischen Bildung, der seit dem Phil-
hellenen Hadrian in offiziellster Weise anerkannt war, und die dominierende
weltsprachliche Stellung, die sich das Griechische längst errungen hatte,
führten naturgemäß zur allmählichen Gräzisierung des Ostreiches. Der
letzte große Akt der lateinischen Tradition im Reiche war die Kodifizierung
des Rechtes durch Kaiser Justinian (527 — 565). Es ist aber bezeichnend, daß
der geistige Leiter dieses Riesenwerkes, Tribonian, ein Kleinasiate war, und
daß die Novellen Justinians zum Teil schon griechisch abgefaßt sind. Mit
seinem zweiten Nachfolger Tiberios (578 — 582} besteigt ein echter Grieche
den Kaiserthron, und im 7. Jahrhundert erscheint die Gräzisierung des
Staates an Haupt und Gliedern im großen und ganzen abgeschlossen. Zwar
bietet in den drei folgenden Jahrhunderten der Hof noch ein buntes Bild;
neben Griechen treffen wir Isaurier, Armenier usw.; aber sie sind immer-
hin nach Sprache und Bildung Griechen. Ebenso wird das ganze Staats-
und Kirchenwesen, die Justiz und Verwaltung, die Armee und Marine
wenigstens in ihren oberen Organen gräzisiert Vollständig griechisch er-
scheinen Staat und Kirche freilich erst in den letzten fünf Jahrhunderten
des Reiches unter den Komnenen und Paläologen, ein Ergebnis, das teils
durch die Abbröckelimg der nichtgriechischen Reichsteile, teils durch innere
Konsolidierung des Griechentums erreicht worden ist. Dem modernen
Mitteleuropäer können die nationalen und sprachlichen Verhältnisse des
oströmischen Reiches im Höhepunkt seiner Entwickelung, also etwa im
12. Jahrhundert, durch nichts klarer gemacht werden als durch einen Ver-
gleich mit dem Zustande der österreichisch-ungarischen Monarchie etwa
vor vierzig Jahren: Hof, Beamtentum, Wohlstand und Bildung deutsch
oder wenigstens deutsch gebildet und deutsch sprechend, die Hauptstadt
Wien und einige Provinzen deutsch, deutsche Inseln allenthalben auch
in den nichtdeutschen Provinzen; hier aber trotz den deutschen oder
germanisierten Beamten und Offizieren und der offiziellen Alleinherr-
schaft des Deutschen eine breite, lebenskräftige Unterschicht fremder
Volksstämme.
I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur.
241
P
Durch die Anerkennung- der herrschenden Stellung des Griechischen im
oströmischen Reiche als einer unbestreitbaren Tatsache wird eine andere
Tatsache nicht aufgehoben: daß die nationale und sprachliche Einheitlich-
keit, wie sie dem alten Imperium zugfrunde lag und wie sie im westlichen
Reichsteile auch später noch herrschte, im Ostreiche niemals bestanden
hat Mit dem Aufgeben des Lateinischen hat das Reich seine nationale
und sprachliche Seele aufgegeben, und dafür ist nie mehr ein voller Er-
satz geschaffen worden. Im Westen war Hand in Hand mit der allmäh-
lichen gewaltsamen Ausdehnung der römischen Herrschaft auch die latei-
nische Sprache in den neuen Provinzen innerhalb und außerhalb Italiens,
in Spanien, Gallien und Afrika, eingeführt worden, und um die Zeit der
Teilung des Reiches bestand hier eine kompakte lateinische bzw. latini-
sierte Masse. Im Osten ist die Latinisierung, wenn man von den Vlachen
(Rumänen) absieht, nicht durchgedrungen und auch nie ernstlich versucht
worden. Als nach der Ablösung des Westreiches das Lateinische als
Staatssprache allmählich zurücktrat, fand sich zwar im Griechischen ein
vollgültiger Ersatz; aber für den Gedanken, nun etwa den Osten ähnlich
zu gräzisieren, wie finiher der Westen latinisiert worden war, fehlten die
historischen Vorbedingungen, namentlich die allmähliche, durch eigene
Kraft errungene Angliederung der nichtgriechischen Reichsteile an ein
griechisches Zentrum. In den ersten Jahrhunderten konnte der Gedanke
einer systematischen Gräzisierung schon deshalb nicht Wurzel fassen, weil
an der Fiktion einer allgemeinen lateinischen Staatssprache festgehalten
wurde. Außerdem besaßen einerseits die Griechen nicht die rücksichtslose
Volkskraft und die politische Tüchtigkeit, durch die den Römern die Assi-
inilierung fremder Stämme gelang, und anderseits standen ihnen vielerorts
zäh konservative orientalische Kulturen gegenüber. So blieb denn die
Grräzisierung auf ein bescheidenes Maß beschränkt; das einzige größere
Beispiel ist die Gewinnung der nach Mittelgriechenland und in den Pelo-
ponnes eingewanderten Slawen; außer ihnen sind nur unbedeutende und
selten genauer nachweisbare Splitter fremder Völker mit dem Griechentum
verschmolzen worden, wie die als Eroberer oder Kaufleute nach dem Osten
gekommenen Italiener und Franzosen, da und dort Albanesen, Vlachen
und Reste untergegangener Barbarenstämme. Aber die meisten nicht-
hellenischen Völker, die für längere oder kürzere Zeit in den Bereich des
griechischen Reiches gehörten, die Kopten, Syrer, Araber, Armenier,
Georgier, Bulgaren, Serben, Albanesen und Vlachen behaupteten die Eigen-
art ihrer Nationalität und vor allem ihre Sprache. Hier liegt ein tief-
gehender Unterschied zwischen dem Westreiche und dem Ostreiche. Be-
sonders deutlich und folgenschwer offenbart er sich in der Christianisierung
der Provinzen. Im Westen erfolgte sie mit dem Werkzeuge der latei-
nischen Sprache, selbst bei den nicht romanisierten Germanen, und das
Latein behauptete sich auch im Gottesdienste, im Verkehr von Staat und
Kirche, im Unterrichte und zu einem großen Teil auch in der Literatur.
Du KCLTVR DEK GiaiMWAIIT. LS. |6
2A2 Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Ganz anders im Osten. Obschon das Griechische, die Sprache der heiligen
Bücher, ältere und bessere Ansprüche auf den Titel einer allgemeinen
Kirchensprache besaß als das Lateinische, hat es sich im Osten niemals
zu einer ähnlich dominierenden Stellung emporgeschwungen wie das Latei-
nische im Westen. Die heiligen Bücher wurden im Osten früh in die
Nationalsprachen wie Syrisch, Koptisch, Armenisch, Georgisch, Gtstisch,
Bulgarisch usw. übersetzt, und ebenso wurden der Gottesdienst und die
Predigt in diesen Sprachen gehalten. Eine tiefeinschneidende Wirkimg
dieser Sonderentwickelung war, daß sich mm bald mit gewissen Völkern
gewisse dogmatische und disziplinare Sonderheiten verbanden und so teils
neue Kirchen, teils Ansätze zu ihnen hervortraten. VgL die koptischen
Nestorianer, die syrischen Monophysiten, die armenische Kirche usw.
Nichts anderes als eine Folge dieser Verquickung von Nationalität und
Kirche ist schließlich die in der neueren und neuesten Zeit geschehene
Begründung der slawischen Teilkirchen. Auch die größte und folgen-
schwerste kirchliche Trennung, die der griechischen Kirche von der römi-
schen, ist viel weniger aus dogmatischen Differenzen, als aus der sprach-
lichen und nationalen Verschiedenheit erwachsen.
Römertam. Das vmgeheure Gefüge, durch dessen Festigkeit das byzantinische
Reich den furchtbaren Stürmen der Perser, Araber, Seldschuken, Slawen,
Normannen, Franken, Türken und anderer Völker so lange widerstehen
konnte, ist römische Arbeit Das gesamte Staatswesen, die Technik und
die Grvmdsätze der äußeren und inneren Politik, Gesetzgebtmg \md Ver-
waltung, Heer- und Flottenwesen lag als ungeheures Ergebnis theore-
tischer Studien, praktischen Sinnes und reicher Erfahnmg fertig da, als der
ösüiche Reichsteil selbständig wurde; und so sehr die Gfriechen sich hier
bald als Herren im eigenen Hause fühlten, dieses unschätzbare Erbstück
aus dem lateinischen Westen haben sie, trotz einzelner Änderungen in der
Verwaltung (Themenverfassung) und anderen Teilen des Staates, prin-
zipiell niemals angetastet Der Staatsgedanke war imendlich viel stärker
als das nationale und sprachliche Sonderbewußtsein. So übernahmen die
Griechen denn natürlich auch den Namen Römer — im Deutschen werden
diese „Römer" zur Differenzierung gewöhnlich mit der griechischen Form
Rhomäer genannt — imd gebrauchten fortan ihren alten glorreichen Namen
„Hellenen" im verächtlichen und feindseligen Sinne von den „Heiden".
So stark ist der Name „Rhomäer" mit dem mittelalterlichen Griechentiun
allmählich verwachsen, daß er die Stürme der Türkenzeit überdauerte und
noch heute, aus einem politischen Terminus zu einem ethnographischen
Namen geworden, die übliche volkstümliche Bezeichnung der Grriechen
geblieben ist
So wunderbar fest und fein war die Struktur des römischen Staats-
gebäudes, daß ein so eminent unpolitisches Volk, wie die Grriechen im
Altertimi gewesen sind und heute sind imd sicher auch im Mittelalter
waren, es im Laufe vieler Jahrhunderte nicht emsüich zu beschädigen
I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur.
243
vermochte. Es scheint, daß viehnehr die Schule des staatlichen Organis-
mus das unpolitische Volk politisch erzogen und für große, weitausblickende
Staatsaufgaben fähig gemacht hat Denn niemals weder früher noch
später mehr haben die Griechen politisch eine so große Rolle gespielt,
wie in der byzantinischen Periode — eine Tatsache, die, nebenbei bemerkt,
allein schon die seltsame Abneigung oder Gleichgültigkeit der Neugriechen
gegen ihr Mittelalter besiegen sollte. Die Fortwirkung der alten römischen,
nun in griechisches Gewand gekleideten Tradition im gesamten öffentlichen
und privaten Leben der Byzantiner und die Art, wie die herrschenden
griechischen und orientalischen Menschen sich mit der ihnen innerlich
fremdartigen Staats- und Rechtsordnung abfanden, wie sie sich ihr an-
schmiegten und wie sie mit ihr operierten, gehört zu den interessantesten,
freilich auch zu den am wenigsten aufgeklärten Seiten der inneren Ge-
schichte von Byzanz. Mannigfache Spuren hat das Römertum in der
griechischen Sprache der byzantinischen Zeit hinterlassen; denn dieses
Grriechisch wimmelt von notdürftig gräzisierten lateinischen Wörtern, be-
sonders für die Begriffe des Rechtes imd der Verwaltung, während für
das Heer- und Flottenwesen sich vielfach griechische Ausdrücke ein-
bürgerten. In der Literatur freilich, besonders in den ganz auf der antiken
Technik beruhenden Gattungen der Geschichtschreibung und Rhetorik
(Reden, Briefe, Essays usw.) macht sich früh das Bestreben geltend, alle
lateinischen Wörter, die man als barbarisch betrachtete, auszumerzen und,
vielfach auf Kosten der Deutlichkeit und Genauigkeit, durch griechische
zu ersetzen. Ein besonders merkwürdiges Zeugnis des römischen Ein-
flusses ist — um wenigstens ein konkretes Beispiel zu nennen — die Ver-
drängung der griechischen Wörter für Haus durch das lateinische hospittum
(öffTTiTiov, öaniTiv, cfniiiv, örnTi) „Unterkunftshaus, Herberge, Quartier" mit
einem Bedeutungsübergang, der im französischen maison aus matmo „Nacht-
lager, Station" ein belehrendes Seitenstück hat.
Weit stärker als alle Wandelungen und Neuerungen in der Philosophie chrfiieniumr
und Literatur, im Staats- und Gerne indewesen, in den gesellschaftlichen
und materiellen Verhältnissen der Bevölkerung hat die Weltreligion Christi
auf das innere Wesen des Griechentums eingewirkt und hier eine mächtige
Umgestaltung hervorgebracht Der neue Glaube war freilich einerseits
schon auf heidnischem Boden durch die Zusammenfassung der Völker im
römischen Reich, durch die Zerbröckelung des alten Götterglaubens und
durch die sittliche Fäulnis der Gesellschaft, dann durch die humane Lehre
der Stoa und die mystische Richtung des Neuplatonisraus wirksamst vor-
bereitet worden, anderseits kam das Christentum dem hellenischen Heiden-
tum bei aller prinzipiellen Ablehnung durch Anpassung an heidnische Ge-
bräuche und Vorstellungen, späterhin durch reiclüiche Verwertung der im
Arsenal der antiken Literatur aufgespeicherten Geisteswaffen mannigfach
entgegen. Aus dieser Vermählung des Christentums mit dem hellenischen
Altertum wird ein großer Teil der byzantinischen Kultur verständlich.
i6»
244
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
ÜrienUIUcbc
Elemente.
Immerhin blieben bedeutende heidnische Reste übrig, in der Literatur
heidnische Vorstellungen und Ausdrücke, in den Seelen heidnische Art.
Daß öfiFentliche Unsitte, gegen welche die Kirchenschriftsteller so oft, wohl
auch mit starken Übertreibungen, zu Felde ziehen, durch das Christentum
nicht beseitigt werden konnte, ist natürlich; aber sehr auffällig ist doch,
daß die Lehre des Heilandes in den herrschenden Kreisen so wenig in die
Tiefe drang und die offiziellen Sitten so wenig zu mildern vermochte. Welche
Vorstellung vom wahren Christentum mußte ein Konstans U. (642^ — 668)
haben, der dem gelehrten Maximus Confessor, weil er sich zu der (übrigens
schon im Jahre 680 durch ein ökumenisches Konzil bestätigten) Lehre von
den zwei Willen in Christus bekannte, die Zunge an der Wurzel aus-
schneiden und die rechte Hand abhauen ließ (662)? Oder die herrsch-
süchtige Kaiserin Irene, die ihren eigenen Sohn blenden ließ (797), und
alle die Urheber der wüsten Palastmorde, Verstümmelungen und Blen-
dungen, von denen die Annalen des 10. imd 1 1. Jahrhunderts erzählen?
Diese titanenhaften Blutmenschen mahnen uns mehr an das trotzige Herren-
geschlecht, das in grauer Vorzeit in den düsteren Mauern von Mykene
hauste, oder an christusfeindliche orientalische Despoten, als an die edle
Lehre der Menschenliebe und Menschenwürde, der Entsagung und Auf-
opferung. Neben ihnen treffen wir in jedem Jahrhundert leuchtende Bei-
spiele christlicher Tugend, edelster Hingebung und unerschütterlichen
Heldenmutes, Männer, wie Johannes Chrysostomos (s.S. 211), Theodoros
von Studion (759—826), Nikolaos Mystikos (852 — 925) u. a. Byzanz ist
in seinem praktischen Christentum wie in so vielen anderen Beziehungen
ein Land der schärfsten Gegensätze und kann nur durch vorsichtigste Kom-
pensation richtig beurteilt werden.
Der Orient ist mit der Geschichte der Griechen seit einer weit älteren
Zeit verbunden als das Römertum und Christentum, und seine Wirkungen
auf das äußere und innere Leben reichen in Tiefen hinab, die sich der
objektiven Untersuchung entziehen. Innige und matmigfaltige Wechsel-
beziehungen zwischen Hellas und Orient lassen sich seit dem mykenischen
Zeitalter nachweisen, und wenn der orientalische Einfluß in den Jahr-
hunderten der mächtigsten und selbständigsten Entfaltung des griechischen
Geistes unter Attikas Führung zurücktrat, so beginnt sein Wirken mit
erneuter Kraft, seit durch Alexander den Großen die fernsten Gebiete
bis nach Turkestan imd Indien erschlossen worden waren. Die von den
Griechen besetzten asiatischen und afrikanischen Provinzen wurden zwar
blühende Pflanzstätten des Hellenismus, aber die Griechen kamen hier in
ganz anderer Weise, als früher in den Gemeinwesen des Mutterlandes, in
Berührung mit den regsamen Menschen und den alten Kulturen des Orients,
imd indem sie durch ihre Verbreitung über Asien und Afrika zu Kosmo-
politen und ihre Sprache zu einer Weltsprache wurde, erfuhren sie gleich-
zeitig die starken und mannigfaltigen Einflüsse des Bodens, den sie be-
setzten. Hauptsitze hellenischer Bildung waren die Weltstädte Alexandria
i
I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur.
«45
und Aotiochia, außerdem Gaza in Palästina, Berytus in Phönikien, Tarsos
in Kilikien, Xanthos in Lykien, Käsarea, Ankyra, Nikäa und Niko-
media, weit nach Osten vorgeschoben als äußerstes Blockhaus des Helle-
nismus Seleukia am Tigris. Insbesondere ist es der Südostwinkel der
Mittelmeerküste, Ägj-pten, Palästina und Syrien, wo griechische und
fremde Art innig verwuchsen und ein neuartiges hellenisch-orientalisches
Menschentum zubereitet wurde.
Die griechischen Kolonien in Ägypten und Kyrene überragen in der Ägypten umi
alexandrinischen und römischen Zeit an Kraft und Fülle der literarischen •^j'™""
Produktion alle anderen Gebiete. Die Blüte der alexandrinischen Literatur
in den ersten drei Jahrhunderten vor Christus ist schon oben (S. 8i — 144)
geschildert worden. Aber auch in der römischen Zeit bis zur Eroberung
Alexandrias durch die Araber herrschte in Ägypten, begünstigt durch den
materiellen Wohlstand des Landes, ein merkwürdig reges wissenschaft-
liches und literarisches Leben. Die Reihe der ägyptischen Philosophen
dieser Zeit eröffnet, sehr bezeichnend für den Mischcharakter der griechisch-
ägyptischen Kultur, der Jude Philon aus Alexandria (S. 156); später
wurde Ägypten Heim- und Pflegestätte des Neuplatonismus; der Gründer
dieser letzten antiken Philosophie, Ammonios Sakkas (etwa 175 — 242), war
ein Ägypter, ebenso sein Schüler Plotinos (S. 193). Nicht weniger blühen
andere Wissenschaften; die Astronomie vertritt der glänzende Name des
Ptolemaeos (S. 174); die Mathematik pflegen Männer wie Pappos (S. 193),
Diophantos (ebd2u) und Theon (S. 216); die Geographie der christliche
Kosmograph Kosmas, der Indienfahrer (S. 220); die sprachlichen und
literarhistorischen Studien die Grammatiker ApoUonios Dyskolos (S. 176) und
Herodian (S. 176), der Lexikograph Julios Polydeukes (S. 173) und der
Verfasser des Sophistenmahles Athenaeos {S. 176); die Geschichtschreibung
Appian (S. 171), Olympiodor (S. igg) und, kurz vor der arabischen Invasion,
der späte Nachzügler Theophylaktos Simokattes (erste Hälfte des 7. Jahrb.);
den Roman, eine in Ägypten vielleicht geborene Gattung, Achilleus Tatios
(S. 183) u.a.; die Poesie die letzten Wiedererwecker des Kunstepos wie
Nonnos (S. 217), Triphiodoros (ebda.), KoUuthos (ebda.), Claudian (S. 200)
und Epigrammatiker wie Palladas (S. 216) und Christodoros. Eine staunens-
werte Triebkraft bewährte der ägyptische Boden unter dem Zeichen des
Christentums. Söhne Alexandrias waren die Kirchenväter Origenes (S. 194),
Dionysios (3. Jahrh.) und Athanasios, der große Bekämpfer und Besieger
des Arianismus (S. 219), und auch Anus (S. 220) selbst, endlich Kyrillos
(S. 219); auch der Begründer der christlichen Chronographie, Sextus lulius
Africanus (S. 197), ist mit Alexandria eng verbunden, ebenso Synesios (S. 213).
Aus Ägypten stammt endlich der einflußreiche asketische Lehrer Johannes
Klimax (etwa 579 — 649). Einer |der wichtigsten Bestandteile der byzan-
tinischen Kultur, das Einsiedler- und Klosterleben, mit der zugehörigen
Literatur, ward in Ägypten geboren, um dann in Palästina und Sjoien seine
typische Ausbildung zu erfahren.
246
Karl Krxthbacher: Die griechische Literatiir des Mittelalters.
Palästina und
Syrien.
Palästina und Syrien, seit alter Zeit und besonders in der alexandri-
nischen Periode durch lebhaften Wechselverkehr mit Ägypten verknüpft,
haben durch griechische Besiedelung in ähnlicher Weise an der griechischen
Kultur teilgenommen wie Ägypten; doch fällt der Höhepunkt des geistigen
Aufschwunges hier in eine viel spätere Zeit, ins 3. — S.Jahrhundert n.Chr.,
wenn auch schon früher einzelne angesehene griechische Schriftsteller aus
diesen semitischen Gebieten hervorgegangen sind wie die Historiker
Posidonios von Apamea (S. 109), Nikolaos von Damaskos (S. 114) und
die Verfasser der heiligen Schriften des Neuen Testaments, unter denen
Paulus (S. 157) durch weiten Blick und originale Kraft wie auch durch
sein Alter an der Spitze steht Antiochia gewann durch seine Rhetoren-
schule (Libanios, S. 205) und seine christliche Exegetenschule {Johannes
Chrysostomos , S. 211, Theodoret von Kyros, etwa 386 — 458, u.a.) im
4. und 5. Jahrhundert großen Einfluß auf das griechische Geistesleben. Aus
Antiochia stammt außer dem Sophisten Libanios und dem großen Kirchen-
vater Johannes Chrysostomos der Lehrer der Rhetorik Aphthonios (4. Jahrb.).
Später wirkten hier Johannes Malalas (S. 22 t und S. 265), der als Begründer
einer neuen Literaturgattung, der christlichen Weltchronik, eine unüber-
sehbare Wirkung auf das Mittelalter ausgeübt hat, und ein zweiter Histo-
riker namens Johannes (7. Jahrb.). Außer Antiochia war als Bildungsstätte
Gaza von Bedeutung; hier blühte im 5, und 6. Jahrhundert eine Rhetoren-
schule, aus der fruchtbare Schriftsteller wie Chorikios (S. 215), der Exeget
Prokopios (ebda.) und Aeneas (ebda.) hervorgegangen sind.
Außer den schon genannten Männern von Antiochia und Gaza stammen
aus dem syro-palästinischen Gebiete noch zahlreiche andere bedeutende
Autoren der Kaiserzeit, wie die jüdischen Historiker losephus Flavius
(S. 170) und lustus von Tiberias (Anfang des 2. Jahrh. n. Chr.); die Ge-
schichtschreiber Herodian (S. 172), Zosimos (S. 19g), Prokopios (S. 199),
Eustathios von Epiphania (Anfang des 6. Jahrb.) und Johannes von Epi-
phania (Ende des 6. Jahrb.), der Begründer der Kirchengeschichte Eusebios
(S. 196) und der letzte griechische Kirchenhistoriker Euagrios (536 — c. 600);
der geistreiche Essayist Lukian (S. 172); die Neuplatoniker Maximos (S. 177)
und Porphyrios aus Tyros (S. rgs) und Jamblichos (S. 203); die Romanschreiber
Jamblichos und Heliodor; der vielseitige Apollinaris von Laodikea (S. 220);
die Verfasser von Heiligenleben Kyrillos von Sk)rthopolis (c. 514 — c. 560)
und Johannes Moschos (c. 550 — 619); der als Dichter und Hagiograph be-
währte Patriarch Sophronios von Jerusalem {f 638); endlich im 8. Jahrhundert
der letzte griechische Kirchenvater Johannes von Damaskos (s. S. 268). In
Syrien und Palästina liegen endlich die Anfänge der ästhetisch wertvollsten
Gattung des byzantinischen Schrifttums, der griechischen Kirchenpoesie.
Romanos (s. S. 259), ihr gewaltigster Vertreter, ist in doppeltem Sinne mit
Syrien verbunden: er stammt aus Syrien, und ein echter Syrer, Ephrem
(S. 200), diente ihm als anregendes Vorbild. In Palästina dichteten Johannes
von Damaskos und sein Adoptivbruder Kosmas (8. Jahrh.).
I. Mischcharakter der byzantinischen Kultur.
247
Etwas weniger fruchtbar an geistigen Kräften als die Südostecke der KieiMiien.
Mittelmeerküste erweisen sich die von zahlreichen griechischen und halb-
griechischen Städten durchsetzten kleinasiatischen Provinzen. Aus Bithynien
entstammen die Redner Dion Chrysostomos (S. 165) und Himerios
(S. 203), die Geschichtschreiber Arrian (S, 169) und Dion Cassius (S. lyr)
und der Attizist Phrynichos (S. 146); aus Paphlagonien der Redner
Themistios (S. 202); aus Pontus der Geograph Strabon {S. 154) und
der Kirchenschriftsteller Gregor der Wundertäter (S. 195); aus der klein-
asiatischen Äolis der Historiker Agathias (S. 200); aus Pisidien der
bedeutendste Jambendichter der byzantinischen Zeit Georgios Pisides
(S. 200); aus Phrygien der Stoiker Epiktet (S. 169) und der Aristoteles-
erklärer Alexander von Aphrodisias (S. 176); aus Mysien der Rhetor
Aelios Aristides (S. 165) und der Mediziner Galenos (S. 174); aus
Ephesos der Romanschreiber Xenophon (S. 183); aus Lydien der Sophist
und Historiker Eunapios von Sardes {S. 19g) und der Antiquar zur Zeit
Justinians Johannes Lydus (aus Philadelphia, S. 201); aus Karlen der Chrono-
graph Phlegon von Tralles (2. Jahrh.) und der Historiker Hesychios von
Milet (6. Jahrb.); aus Kappadokien der Wundennann Apollonios von Tyana
(S. 191) und die drei großen Kirchenväter Basilios (S. 209), Grregor von
Nyssa (S. 209) und Grregor von Nazianz (S. 208); aus Lykien (Xanthos)
der Neuplatoniker Proklos (S. 204); aus Kilikien der Rhetor Hermogenes
(aus Tarsos, S. 149), der Philosophenbiograph Diogenes Laertios (wohl
3. Jahrh.) und der Dichter Oppianos (S. 180).
Diese Namen bedeuten den weitaus größten und gelesensten Teil der
griechischen Literatur der ersten acht Jahrhunderte n. Chr. Das wird uns
völlig klar, wenn wir die Gegenprobe machen und uns erinnern, wie es
in denselben Jahrhunderten im europäischen Griechenland mit der Bildung
und Literatur bestellt war. Den großen afrikanischen und asiatischen
Bildungsstätten steht hier nur eine einzige gegenüber, Athen, das sich,
durch den Adel seiner glorreichen Vergangenheit und die Fürsorge der
Kaiser, als Sitz der Sophistik und Philosophie bis in den Anfang des
6. Jahrhunderts behauptete, um dann bald zur bedeutungslosen byzantinischen
Landstadt herabzusinken. Dazu kam als großer neuer Brennpunkt geistigen
Lebens Konstantinopel. Doch hatte die Hauptstadt des Ostreiches, in der
alsbald Griechen und fremdrassige Menschen aus allen Teilen der Oiku-
mene zusammenströmten, keinen einheitlichen und ursprünglichen Charakter;
außerdem neigt sie von Anfang an nach Asien, an dessen Schwelle sie
liegt, und kann daher nur in bedingtem Maße für das europäische Griechen-
land in Anspruch genommen werden. Dem Mangel einer größeren Zahl
lebenskräftiger Bildungszentren entspricht denn auch die geringe literarische
Betätigung des europäischen Griechentums in der Kaiserzeit. Eine wahr-
haft bedeutende Erscheinung von tiefgehender und nachhaltiger Wirkung
ist hier nur Plutarch aus Chäronea (S. 166). Außerdem sind zu nennen
einige Vertreter der so schwer zu definierenden oder diurch ein modernes
Das curopäiicbo
Grlcchentaad
248
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des MitteJalters.
Wort auszudrückenden Gattung der Sophistik, wie Herodes Atticus aus
Athen (S. 149) und die Philostrate aus Lemnos (S. 191), endlich der Historiker
Dexippos aus Athen (S. 192) und die schöne Philosophentochter und nach-
mahge Kaiserin Eudokia, ebenfalls aus Athen {5. Jahrh.). Bald aber be-
ginnt infolge der Konzentrierung aller Kräfte in der Hauptstadt das geistige
Leben in den europäischen Provinzen fast ganz zu veröden. Wie schon
Eudokia in ihrem späteren Leben mit Konstantinopel verbunden erscheint,
so sind auch die wenigen bedeutenden Autoren, die das europäische
Griechenland bis zum 8. Jahrhundert noch hervorbringt, meist Kinder der
Hauptstadt: die Theologen Leontios von Byzanz (c. 485 — c. 543) und
Maximus Confessor (etwa 580 — 662) und die Historiker Menander Protektor
(2. Hälfte des 6. Jahrh.) und Theophanes von Byzanz (2. Hälfte des 6. Jahrb.).
Der einzige Provinziale unter den Literaten dieser Zeit ist der Historiker
Petros Patrikios aus Thessalonike (etwa 500 — 565).
Wenn man aber mit Rücksicht auf das Doppelgesicht von Kon-
stantinopel die hauptstädtischen Autoren von der europäischen Gruppe
trennt und für sich betrachtet, so wird ersichtlich, wie verschwindend
gering die geistige Regsamkeit und Schaffensfreude des europäischen
Griechenlands mit seiner alten eingesessenen Bevölkerung gegenüber
den größtenteils erst seit der alexandrinischen Zeit erschlossenen und be-
siedelten Gebieten von Asien und Afrika gewesen ist Soll das Verhältnis
in der heute beliebten Sprache der Zahlen ausgedrückt werden, so mögen
die letzteren etwa 90 "/o» die europäische Gruppe kaum 10% der gesamten
Produktion beanspruchen.
Wo liegen die letzten Gründe dieser gewaltigen Überfiügelung des
europäischen Griechentums durch das afrikanisch -asiatische? Wohl
weniger in der geistigen Erschöpfung oder Altersschwäche des ersteren
— Begriffe, die sich auf das Völkerleben nicht recht anwenden lassen - —
als vielmehr teils in dem höheren Wohlstande und der verfeinerten Lebens-
führung der neuen Städte des Ostens und Südens und ihrer durch große
Aufgaben, besonders durch den regen Handelsverkehr gesteigerten Energie,
teils aber gewiß auch in der belebenden Infiltration des dortigen Griechen-
tums mit fremden Volkselementen. Ägypten und Syrien mit Kleinasien
sind für das autochthone Griechentum eine Art Amerika geworden, wo
Hunderte von blühenden Städten aus dem Boden schössen, wo die in den
dürftigen Heimatsbezirken beengten und lahmgelegten Kräfte ein un-
absehbares Feld zur Betätigung fanden und nicht nur an materieller Kraft
über das Mutterland emporwuchsen, sondern sich bald auch der Pflege
der höchsten geistigen Güter widmeten. Dabei ging freilich von der
feinen Eigenart und Ursprünglichkeit in Sprache, Literatur und Kunst,
in Sitten und Gebräuchen viel verloren, ähnlich wie sich auf manchen
Lebensgebieten Amerika von dem alten aristokratischen England abhebt
So können die volksbiologischen Prozesse in der Ausdehnung des Helle-
nismus und in der amerikanischen Entwickelung sich gegenseitig be-
I. Mischcharakter der byzantinischen Kuhur.
249
leuchten und aufklären. Auch auf eine andere heute aktuelle Frage des
Völkerlebens wirft der Hellenismus des Ostens und Südens einiges Licht,
die Frage der Rassenmischung. Die oben angeführten Tatsachen zeigen,
daß die neuerdings so kräftig stigmatisierte Mischung von Indogermanen
und Semiten doch unter gewissen Verhältnissen ganz erfreuliche Früchte
zu zeitigen vermag. Namentlich scheinen die Syrer, die sich unter dem
Zeichen des Christentums mit japanischer Schnelligkeit und Energie ent-
wickelten und ihren Einfluß nach allen Seiten, selbst bis nach Zentral-
asien und China ausdehnten, längere Zeit ungemein befruchtend auf das
griechische Geistesleben gewirkt zu haben.
Da nun jeder Schriftsteller das Kind seiner Heimat ist und durch
seine Jugendeindrücke und seine Umgebung notwendig beeinflußt wird, so
läßt sich mit Sicherheit schließen, daß diese ganze ägyptisch-syrisch-klein-
asiatische Literatur die Spuren ihres Ursprunges nicht verleugnen wird.
Selbstverständlich ist das bei Nationaljuden wie Philon und Joseph, höchst
wahrscheinlich und ziemlich allgemein anerkannt bei dem esprit isra^lite
Lukian, bei Syrern oder Halbsyrern wie Tatian und Malalas, bei dem
phantastischen und überschwenglichen Ägypter Thcophylaktos .Simokattes
u. a. In Wahrheit geht der orientalische Einschlag in das geistige und
physische Lebensgewebe des byzantinischen Griechentums viel weiter und
viel tiefer, als die genannten landläufigen Beispiele ahnen lassen, und
wenn er auch oft schwer zu erkennen und überzeugend nachzuweisen ist,
so wird doch eine mit der nötigen eindringenden Kenntnis der grie-
chischen und der orientalischen Kulturen geführte Untersuchung hier
sicher überraschend neue und mannigfaltige Tatsachen der Orientalisierung
des Griechentums aufdecken.
Der von Ägypten — Palästina — Syrien — Kleinasien gebildete, gegen
Europa konvergierende Halbkreis hat mit seinem orientalisierten Wesen
auch das alte Griechentum in Europa erobert, so daß die gesamte byzan-
tinische Kultur einen orientalischen Charakter erhielt Dieser Charakter
hat sich eigenartig fortentwickelt, auch nachdem seine wichtigsten Ur-
sprungsgebiete, zuerst (um 640 n. Chr.) Syrien und Ägypten, viel später
— das entscheidende Jahr ist 1071 — die kleinasiatischen Provinzen dem
Griechentum verloren gegangen waren und die griechische Bildung und
Literatur sich immer mehr unter den Schutz der Hauptstadt und in einige
ihr benachbarte Provinzen zurückgezogen hatte. Übrigens fehlte es auch
in dieser späteren Zeit nicht an mannigfachen Wechselwirkungen zwischen
Orient und Okzident Nur daß nun an Stelle der ägyptisch -syrisch-
persischen Einflüsse arabische, seldschukische, armenische, türkische traten.
Wenn wir die wesentlich aus der Literatur gewonnene und auf sie orienuiismut
bezügliche Erkenntnis mit der anderen in der jüngsten Zeit erreichten ,'"u^h^''K*^j
Erkenntnis verbinden, daß auch das Sondergebiet der byzantinischen
Kunst im weitesten Umfange von orientalischen Vorbildern und orienta-
lischem Geschmack (Flächendekoration, Gitter- und Netzmotive, Ära-
250 Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
besken usw.) abhängig ist, dann gelangen wir immer deutlicher zu der
Einsicht, daß die byzantinische Kultur zwar auf griechisch-römisch-christ-
licher GiTundlage ruht, aber viele Jahrhunderte lang von orientalischen
Elementen durchsetzt worden ist und durch sie ein eigenartiges Creprag'e
erhalten hat
Der eng bemessene Raum erlaubt nicht, hier den orientalischen Zügen
der spätgriechischen - byzantinischen Gesamtkultur im einzelnen nach-
zugehen. Doch seien einige an der Oberfläche liegende Erscheinungen
von allgemeiner Bedeutung hervorgehoben, wie in der heidnischen Zeit
das Hereinwogen orientalischer Kulte (Mithras) und moigenländischer
Denkweise, wie sie sich in den schwärmerischen Lehren des Neupytha-
goreismus und Neuplatonismus verrät; in der christlichen Ära das Säulen-
heiligentum, eine echt orientalische Form der Askese, die im Abendlande
niemals Fuß zu fassen vermochte, ebensowenig wie das „Narrentum um
Christi willen«, später die ganze mehr spekulative xmd besdiauliche, als auf
praktische Betätigung in Unterricht und Seelsorge gerichtete Art des
byzantinischen Klosterlebens, gewisse Erscheinungen der mystischen Hesy-
chastenbewegTing auf dem Athos, manche Eigentümlichkeiten des Hof-
und Staatswesens wie die Auffeissung des Kaisertums als einer mysteriösen
Macht, der Gegensatz brutaler Volksleidenschaft und grausamster De-
spotie, die hieratische Grandezza, das Eunuchentum, die blutigen Palast-
revolutionen und das unheimliche Intrigenspiel, der starre Formalismus
im Leben wie in der Literatur, die Beliebtheit orientalischer Erzählungs-
stoffe, orientalische Formen in der Einkleidung der mittelgriechischen Sprich-
wörter usw. Am wenigsten wurde die Sprache selbst — wenn man vom
orientalischen Kolorit des Stiles mancher Werke absieht — vom Hauche
des Ostens berührt. Während das byzantinische Griechisch z. B. von
lateinischen Wörtern wimmelt, ist die Zahl der in der christlichen Ära
eingedrungenen orientalischen Lehnwörter viel geringer, als man nach
dem Maße der sonstigen orientalischen Einflüsse erwarten sollte. Erst in
der Zeit der völligen Auflösung des oströmischen Staates (seit dem 1 3. Jahr-
hundert) wurden Wörter einer Orientsprache, der türkischen, in ziemlich
großer Zahl ins Grriechische aufgenommen.
Jetzt wird auch klar, warum die aus Byzanz entsprossenen Kulturen,
besonders die der Südslawen und Russen, so orientalisch aussehen. Das
starke asiatische Element im russischen Staats- und Volkswesen, das
scharfsichtige einheimische und fremde Beobachter in der jüngsten Zeit oft
hervorgehoben haben, rührt nicht erst von heute und gestern, nicht von
dem durch die Ausdehnung des Reiches verursachten häufigen Kontakt
mit Völkern des mittleren und östlichen Asiens, sondern von dem byzan-
tinischen Untergrunde, auf dem vom lo. Jahrhundert bis zum Anfang des
18. Jahrhunderts die russische Kultur erwachsen ist.
Samtige fremd« Außer den orientalischen Elementen, die das ganze byzantinische
lemente. \Y^esen in unzähligen Adern durchdringen, sind die Einflüsse des romani-
II. Sprache.
251
sehen Westens zu beachten, die namentlich von Venezianern, Genuesen
und Franzosen ausgingen und sich in der Einführung des Feudalismus in
den eroberten Herrschaften, in den fränkischen Bestandteilen der Sprache,
in fränkischen Stoffen der poetischen Literatur usw. äußerten. Sehr un-
erheblich sind die germanischen und slawischen Kultureinflüsse. Germa-
nische sind deutlich erkennbar wohl nur im Heerwesen, wo die germa-
nischen Soldtruppen und Führer auch im Osten längere Zeit eine gewaltige
Rolle spielten; im späteren Mittelalter haben die Kaiser eine skandina-
vische Leibwache {Warangen) gehalten, die man mit den deutschen Lands-
knechten in Italien oder der Schweizer Garde des Papstes vergleichen
kann. Die Einwanderung der slawischen Stämme äußerte ihre Wirkung
vornehmlich auf die ethnographische Gestaltung der Balkanhalbinsel, die
Ausbildung der Dorfgemeinde und wohl auch die Ackerbaugesetzgebung.
Die griechische Sprache blieb von germanischen und slawischen Elementen
so gut wie vollständig frei, und ebensowenig haben die Germanen und
Slawen, wie es bei ihrem niedrigen Kulturstande natürlich ist, in der
Literatur und Kunst erkennbare Spuren hinterlassen. An Nachhaltigkeit
und Intensität sind die abendländischen Einflüsse mit den orientalischen
nicht zu vergleichen; das meiste von ihnen ist in der neueren Zeit —
wenn man von den romantischen Resten fränkischer Bauten absieht —
spurlos verschwunden, während sich der orientalische Grundcharakter
behauptet hat.
U. Sprache. Über die Sprache des griechischen Mittelalters
herrschen, wie man oft bemerken kann, irrige oder unklare Vorstellungen
nicht bloß in den weiteren Kreisen, sondern auch unter Männern, die auf
den eng benachbarten Gebieten des Altertums oder des abendländischen
Mittelalters eine wissenschaftliche Ausbildung erfahren haben. Eine Auf-
klärung ist daher angebracht. Der größte Teil der griechischen Literatur
vom Ausgang des Altertums bis an die Schwelle der neueren Zeit ist in
einer Sprache abgefaßt, die in der Hauptsache identisch ist mit der schon
im alexandrinischen Zeitalter aus der attischen Literatursprache unter Bei-
mischung mancher Neuerungen und Vereinfachungen entstandenen litera-
rischen Gemeinsprache (Koind). Sie ist der sprachliche Ausdruck des Koint.
über die engen Grenzen der alten Heimat hinausgetretenen kosmopolitisch
gewordenen Griechentums, die literarische Form des Griechischen als Welt-
sprache.
Der natürliche Entwickelungsgang wäre gewesen, daß diese Schrift-
sprache den unaufhaltsamen Veränderungen und den sprachlichen Neu-
schöpfungen im staatlichen, religiösen und gesellschaftlichen Leben Rechnung
getragen hätte. Das geschah auch in manchen Schriftwerken; allgemein
aber ist das Prinzip der parallelen Entwickelung der Sprache der Literatur
und der Rede des Lebens nicht durchgedrungen. Daran trägt die Hauptschuld
das ungeheure kanonische Ansehen der attischen Literatur und eine daraus
I
«
2SZ
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
AttitiMDu«. erwachsene literarisch-sprachliche Bewegung', der Attizismus (S. 144). Sein Be-
gründer, der beschränkte Rhetor Dionys von Halikarnaß, der unter Kaiser
AugTistus in Rom griechische Sprache und Literatur dozierte, fand mit
seiner Lehre von der Alleingültigkeit der attischen Darstellung, die dem
Ahnenstolz der Griechen schmeichelte, allgemeinste Anerkennung bei Zeit-
genossen und Späteren. Die von ihm ausgegebene Parole des engen An-
schlusses an die Klassiker wurde in den ersten Jahrhunderten der Kaiser-
zeit mit allerlei Nuancen weitergebildet, und selbst die maßlosesten Über-
treibungen vermochten sie nicht ad absurdum zu führen. Die meisten, die
als Schriftsteller etwas auf sich hielten, folgten der von den Attizisten
durch theoretische Lehren und praktische Vorbilder — hier oft nicht ohne
bedenkliche Entgleisungen — festgestellten Norm.
Andere freilich verhielten sich ablehnend und zogen eine freiere, den
Tatsachen der Uirigangssprache näher stehende Sprachform vor. Außer-
dem ergaben sich durch den verschiedenen Bildungsgrad der Schreibenden,
durch die besonderen Bedingungen des Stoffes, durch die Rücksicht auf
ein bestimmtes Publikum usw. mannigfache Schwankungen. Die freiere,
volksmäßige Richtung wird in den ersten christlichen Jahrhunderten nament-
lich durch die Verfasser der heiligen Schriften des Neuen Testaments,
durch apokryphe christliche Bücher, durch Inschriften, durch Privatbriefe
auf Papyrus usw. vertreten. Im 6. Jahrhundert hat der Chronist Johannes
Malalas, im 7. Jahrhundert der Heiligenbiograph Leontios von Neapolis, im
g. Jahrhundert der Chronist Theophanes, im i o. Jahrhundert sogar ein kaiser-
licher Schriftsteller, Konstantinos Porphyrogennetos, der „niedrigen" Sprache
weitgehende Konzessionen gemacht. Es hatte öfter den Anschein, als sollte
sich die Sprache der Literatur vom hemmenden Zwange der altertümlichen
Formen befreien und aus der frisch pulsierenden Rede des Alltags die
Kraft zu neuem Leben schöpfen.
Die frohe Hoffnung ward vereitelt durch eine neue konservative
Reaktion. Seit dem Ausgang des 9. Jahrhunderts nahm die Pflege der
altgriechischen Sprache und Literatur einen mächtigen Aufschwung, der bis
zum Falle des Reiches andauerte (S. 269). Durch diese humanistische Be-
wegung wurden die Ansätze zur Ausbildung einer modernen Schrift-
sprache, die vom 6. — 10. Jahrhundert hervorgetreten waren, nicht nur ver-
schüttet, sondern die Literatursprache wurde sogar noch melur als früher
in die verderblichen Bahnen des Archaismus zurückgeleitet So kommt
es, daß die angesehenen Autoren im 12. — 1 5. Jahrhundert „klassischer"
schrieben als im 9. oder 10. Jahrhundert. Die Literatursprache wurde ein
künstlich zum Altertum zurückgeschraubtes, mumienhaftes Gebilde, in
welchem die grammatisch-logisch-rhetorische Schulung den unbefangenen
schöpferischen Trieb immer mehr zurückdrängte. Anderseits entfernte sich
die lebende Sprache stetig vom Altgriechischen. Durch diese doppelte
Bewegung wurde der Gegensatz zwischen Schrift- und Volkssprache, der
in früheren Jahrhunderten teils an sich weniger scharf gewesen, teils durch
n. Sprache.
353
zahlreiche Kompromisse gemildert worden war, zu einer unüberbrückbaren
Kluft Im 12. Jahrhundert tritt die vom Altgriechischen und mithin auch
von der herrschenden Literatursprache in Formenlehre, Wörterbuch und
Syntax sehr erheblich abweichende Volkssprache, nachdem sie viele Jahr- voiiu»prache.
hunderte lang ein fast verborgenes und wenig beachtetes Dasein geführt
hatte, mit größeren poetischen Werken in die Literatur ein. Seit dieser
Zeit herrscht bei den Griechen eine wahrhaftige Doppelsprachigkeit: neben
der im großen und ganzen auf altgriechischem Material beruhenden halbtoten
Hochsprache, der byzantinischen Koin6, wird in einzelnen Werken eine
Sprache gebraucht, die aus der Rede des Alltags schöpft, wenn sie auch in
vielen Dingen noch lange von der Schul- und Kirchensprache beeinflußt wird.
Eine ähnliche Doppelköpfigkeit in Sprache und Literatur hat auch in den
romanischen Ländern eine Zeitlang bestanden: als die aus dem Volkslatein
erwachsenen Nationalsprachen wie das Italienische und Französische zuerst
literarisch verwendet wurden, trat das trotz mancher Anpassungen an die
Bedürfnisse der Zeit doch allmählich zur toten Sprache herabgesunkene
Latein nicht mit einem Male zurück; wie bei den Griechen vermochte
auch hier die Volkssprache zuerst nur in die Poesie einzudringen, während
sich in der Prosa zunächst noch das Latein behauptete. Bei den Romanen
siegten aber schließlich die vulgären Nationalsprachen auf der ganzen
Linie, während bei den Griechen auf den meisten Literaturgebieten die
traditionelle Altsprache die Oberhand behielt
Noch einmal schien es, als solle die lebende Sprache endlich in die
ihr so lange verkümmerten Rechte eingesetzt werden. Das geschah unter
ähnlichen Umständen, wie der erwähnte Versuch im 6. — lo. Jahrhundert
Wie damals das Hervortreten der volksmäßigen Diktion vermutlich im
Zusammenhang mit dem Zurückweichen der antiken Schulbildung und
unter dem Einfluß fremder, nicht in der klassischen Tradition befangener
Männer (Malalas) geschehen war, so hat wiederum nach dem Falle des
Reiches durch das Sinken der altgrammatischeu Bildung und durch das
Beispiel eines literarisch und künstlerisch hochstehenden fremden Volkes,
der Italiener, die Volkssprache einen vielverheiflenden Aufschwung ge-
nommen, besonders in Kreta {i6. — 17. Jahrhundert) und später (18. Jahr-
hundert) auf den jonischen Inseln. Aber auch dieser letzte Anlauf wurde
durch das Obsiegen der gelehrten Partei im 19. Jahrhundert zurückgeworfen.
So erscheint die Geschichte der griechischen Schriftsprache von der alexan-
drinischen Zeit bis auf die Gegenwart als ein Kampf zwischen den An-
sprüchen der Überlieferung und den Rechten der fortschreitenden Zeit,
zwischen der toten Schulgrammatik und der Beweglichkeit des Lebens.
In dem schillernden Bilde dieses Kampfes sind drei große Phasen deutlich
erkennbar. Dreimal ist — von den zahllosen kleineren Schwankungen
abgesehen — der natürliche Entwickelungsgang der Schriftsprache durch
romantisch -klassizistische Gegenströmungen im großen Stile unterbrochen
worden: im Altertum durch den Attizismus (i. Jahrhundert v.Chr. bis 3. Jahr-
2 CA Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
hundert n. Chr.), im Mittelalter durch die humanistische Renaissance unter den
Komnenen und Paläologen (ii. — 15. Jahrh.), in der Neuzeit endlich durch das
Obsiegen der archaistischen Richtung bei der Ausbildung der neugpriechischen
Schriftsprache (19. Jahrh.). Durch diese vom Leben abgekehrte Erstarrung
in alter Tradition hat das griechische Schrifttum seit den ersten Jahr-
hunderten der Kaiserzeit immer mehr einen aristokratischen, unpopulären
Charakter erhalten. Zur rezeptiven und noch mehr zur produktiven Teil-
nahme an der Literatur wurde infolge der zunehmenden Veränderungen
der natürlichen Sprache ein stetig wachsendes Maß gelehrter Studien nötig,
dessen Bewältigung bald nur noch bevorzug^ten Kreisen möglich war.
Vermutlich liegen die tiefsten Gründe dieser von der abendländischen
Entwickelimg so sehr verschiedenen starrkonservativen Art nicht bloß in
der unantastbaren Geltung der alten Literatur und der Alleinherrschaft des
Klassizismus im Schulunterrichte, sondern auch in der orientalischen
Färbung der byzantinisch- neugriechischen Volksseele (s. o. S. 244). Ein ähn-
liches Festhalten an den alten Formen in Sprache und Literatur beobachtet
man auch bei den Arabern, Syrern, Türken, Armeniern, Chinesen und
anderen Orientvölkem.
IIL Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (324 — 641).
Zur leichteren Orientierung mag die griechische Literatur von Konstantin
dem Großen bis auf den letzten Paläologen in einige Abschnitte geteilt
werden.
Übergang.- Als eine Übergzmgsperiode im vollsten Sinne des Wortes erscheint
penode. ^j^ 2eit von Koustautiu bis auf Heraklios (324 — 641), Einerseits wirken
in diesem Zeitravune in der Literatur wie auf anderen Kulturgebieten noch
wichtige Faktoren des Altertums mächtig fort, anderseits erhebt sich etwas
ganz Neues und Stärkeres, die christliche Lehre und die auf ihr beruhende
Geistesbildung tmd Literatur. Die alte heidnische und die neue christliche
Welt sind durch tausend Fäden verknüpft. Die allmähliche Umformung
der heidnischen Gesellschaft in eine chrisüiche ist ein unendlich mannig-
faltiger Prozeß gewesen, der in seinen feinsten psychologischen Ver-
ästelungen wohl niemals völlig aufgeklärt werden wird- Die christliche
Kultur übernahm die reiche Bildung des absterbenden Heidentums, und
christliche Stoffe wiirden ohne Bedenken in heidnische Gewänder gekleidet
Die großen Kirchenlehrer machten ihre Studien zusammen mit den heid-
nischen Jünglingen bei heidnischen Professoren und folgten in ihrer Schrifti-
stelletei den Regeln und Vorbildern der heidnischen Grammatik, Rhetorik
imd Philosophie, nicht, wie man hätte billig erwarten sollen, der schlichten
und volksmäßigen Darstellung der heiligen Grundbücher des Christentums
selbst Orthodoxe und Häretiker wetteiferten miteinander im gelehrten imd
schönrednerischen Aufputz der Darstellung, ohne den sie sich und ihre
Sache nicht durchsetzen zu können wähnten. Kein griechischer KLirchen-
vater hat sich zu dem goldenen Satze des Augustinus empoigeschwtmgen:
IIL Die Literatur von Konstantin bis Hcraklios (324 — 641).
255
„Mögen uns die Grrammatiker tadeln, Avenn uns nur das Volk versteht"
(Melius est reprehendant nos grammatici quam non intelligant populi).
Auch die christliche Poesie blieb lange in den verknöcherten metrischen
und sprachlichen Formen der alten Literatur befangen, obschon sie sich
dadurch der Wirkung auf die weniger gebildeten Kreise der Gemeinde
begab. Die wichtigste geistige Brücke zwischen Heidentum und Christen-
tum bildete offenbar die platonische Philosophie und die eigenartige mit
orientalischer Mystik und überschwenglicher Spekulation versetzte Fort-
bildung derselben, der Neuplatonismus, dessen Ideen und Formen bei den
meisten christlichen Lehrern nachwirkten.
In den ersten drei Jahrhunderten durch die staatlichen Verfolgungen xiieoiogtoch
niedergedrückt und beengt, durch sie aber auch geläutert und gestählt, '*'°**'
hat das Christentum, nachdem es zur offiziellen Religion erhoben war,
im 4. Jahrhundert eine Literatur erzeugt, die an Reichtum und Origi-
nalität nie wieder erreicht worden ist Bei diesem urgewaltigen Auf-
schwung wirkten teils positive Momente mit, wie der wohltätige Schutz
des Staates, der eine freie Entfaltung aller Kräfte und ungebundene
Äußerung durch Wort und Schrift gestattete, teils auch negative, die
gerade in idieser Zeit emporwachsenden und die Einheit der Kirche be-
drohenden häretischen Bewegungen, besonders der Arianismus.
Der Frühlingshauch der Schaffensfreude und der künstlerischen ICraft Dm
ist in der ganzen christlichen Welt zu verspüren, vom äußersten Osten <■!»'"'»"*«"•
(Edessa), wo der größte syrische Kirchenvater Ephrem wirkt, bis in die
westlichen Provinzen, wo Ambrosius und später Augustinus die Sitten-
lehre des Heilands verkünden. Nirgend aber hat sich das Hochgefühl
der neuen Zeit so fruchtbar im literarischen Wirken geäußert, wie bei
den Griechen. Für die griechische christliche Literatur ist das 4. Jahr-
hundert das klassische Zeitalter, wie es die attische Blüte für die heid-
nische Literatur gewesen ist Sehr bemerkenswert ist, daß die hervor-
ragenden griechischen Kirchenschriftsteller dieser großen Zeit ausnahmslos
aus Afrika und Asien stammen. Älinlich überwiegen unter den lateinischen
Kirchenvätern die Afrikaner (TertuUian, Cyprian, Aniobius, Lactanz,
Augiistin). Offenbar sind es die von orientalischen Elementen durchsetzten
Provinzen, die in der kirchlichen Literatur die Führung übernahmen, bei
den Griechen vollständig, bei den Lateinern größtenteils.
Der scharfsinnige Athanasios aus Alexandria übenA'indet durch seine
siegreiche Bekämpfung des Arianismus die größte der kirchlichen Einheit
drohende Gefahr. Der gelehrte Eusebios aus Palästina begründet durch
zwei unschätzbare Werke die neue literarische Gattung der Kirchen-
geschichte. Antonios, der fromme Einsiedler, dessen Ruhm durch Flau-
berts phantasiereichen Roman bis in die unfrommsten Kreise gedrungen
ist, stiftet mit seinem Schüler Pachomios in Ägypten das griechische
Klosterleben. Kyrillos von Jerusalem erläutert in seinen Katechesen in
glänzender Weise die Geheimnisse des Christentimis. Eine merkwürdige
256
rÄRL KRUMBACHER : D!e griechische Literatur des Mittelalters.
Johannes
Cfatysoitomo!»
(t 407)-
Erscheinung ist Synesios von Kyrene {-j- ca. 413), der in seiner Person den
schwierigen Übergang von Plato zu Christus darstellt, übrigens immer
mehr Heide als Christ gewesen ist, obwohl er einige Jahre vor seinem
Tode unter seltsamen Konzessionen an seinen Glauben und seine Stellung
als Ehemann zum Bischof gewählt wurde. Im Mittelpunkt der geistigen
Bewegung des Jahrhunderts stehen die drei großen Männer aus Kappa-
dokien, Basilios, der scharfsinnige Dogmatiker und gewaltige Kirchenfürst,
sein Bruder, Gregor von Nyssa, der philosophisch gebildete Verteidiger
des Christentums, und Gregor von Nazianz, bedeutend als Meister der
christlichen Beredsamkeit, weniger glücklich in seinen übermäßig ge-
künstelten Dichtungen. Der fruchtbarste und zugleich rein menschlich
anziehendste Kirchenlehrer des Jahrhunderts war Johannes, der wie früher
der heidnische Sophist Dion aus Prusa (s. S. 165} wegen seiner schönen
Sprache den vollklingenden Beinamen Chrysostomos {Goldmund) erhalten
hat. Seine glänzende Darstellung bewährt sich in der kaum übersehbaren
und durch manches unechte Beiwerk noch vermehrten Menge von Schriften
zur Erklärung der heiligen Bücher, zur Verteidigung des Christentums, zur
Askese, vor allem in seinen Predigten, in denen er alle Weltlust, die
Putzsucht der Frauen nicht minder als die Vergnügungen des Theaters
und Zirkus, vom Standpunkt der strengsten Sittenlehre aus verdammte.
Sein heldenmütiger Kampf gegen den allgewaltigen Hofeunuchen Eutropios
und die Kaiserin Eudoxia, seine wiederholte Absetzung und Verbannung,
endlich sein tragisches Ende haben den unerschrockenen Kirchenredner für
alle Zeiten zum typischen Vertreter des Gegensatzes zwischen dem echten,
heiligmäßigen Priestertum und dem Intrigenspiel einer grundsatzlosen und
bösartigen Hofkamarilla erhoben (s. S. 211).
Auf allen Gebieten der kirchlichen Literatur, mit einziger Ausnahme
der Kirchenpoesie, ist im 4. Jahrhundert die höchste Vollendung, auf
mehreren eine endgültige und für die ganze Folgezeit maßgebende Aus-
gestaltung erreicht worden. Bemerkenswert ist u. a., daß damals sowohl
der später in mannigfachen Formen sich wiederholende Kampf zwischen
der geistlichen und weltlichen Macht in Chrysostomos sein erstes Vorspiel
gefunden hat, als auch, im direkten Zusammenhang mit diesem Kampf,
die ersten Ansätze zur Trennung von Rom und Byzanz hervorgetreten
sind. Die Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts, vor allem die drei Kappa-
dokier und Johannes Chrysostomos, beherrschen das geistige Leben der
griechischen Kirche und der aus ihr abgeleiteten slawischen Kirchen bis
auf die Gegenwart, und ihre historische Bedeutung kann nicht hoch genug
angeschlagen werden.
Dagegen ist der absolute inhaltliche und formale Wert dieser Literatur
oft überschätzt worden. Sicher ist, daß ein großer Teil der theologischen
Literatur dieser wie der folgenden Zeit für uns nur noch ein wissen-
schaftliches Interesse hat, namentlich die apologetischen Schriften gegen das
Heidentum und die dogmatisch-polemischen Werke, die sich auf längst
J
III. Die Literatur von KonsUmtin bis Heraklios (324 — 641).
257
aufgegebene Sondermeinungen beziehen. Auch die exegetischen Schriften
mit ihrer allegorischen Sucht und ihrer spitzfindigen Grübelei und die
den Bedingungen des modernen Lebens oft widerstrebenden asketischen
Bücher dürften heute selbst in kirchlichen Kreisen wenig Leser finden.
Am nächsten steht uns die Predigt. Aber ihre Wirkung auf uns wird
durch die Form sehr beeinträchtigt. Diese griechischen Predigten sind
Erzeugnisse der damaligen Moderhetorik mit all ihren blendenden Vor-
zügen, aber auch all ihren Fehlern, ihrem pathetischen Schwulst, ihrer
gefallsüchtigen Wortkünstelei und ihrer für uns zeitsparende Menschen un-
erträglichen Redeseligkeit.
Wenn aber der größte Teil dieser so viel gepriesenen und so wenig
gelesenen Literatur trotz des Aufwandes von Scharfsinn, Gedankenfülle
und schönreduerischer Kunst dem heutigen Geschlechte so fremdartig er-
scheint, so muß sie zur richtigen und gerechten Würdigung als Erzeugnis
ihrer Zeit betrachtet werden. Es ist zu bedenken, daß die Verteidigung
des Christentums gegen das Heidentum und seine imponierende Wissen-
schaft, die subtilen Streitfragen der Dogmatik, die detaillierte Erklärung
der heiligen Schriften und das weite Gebiet der praktischen Seelenpflege
damals teils durch den ungeheuren Gegensatz zur absterbenden antiken
Welt, teils durch den Reiz der Neuheit und die Gelegenheit, aus dem
Vollen zu schöpfen, in einem ganz anderen Maße im Mittelpunkte des
geistigen und sittlichen Lebens standen als heute und das Denken und
Fühlen der christlichen Gemeinden mit einer Intensität beherrschten, von
der die saturierten und blasierten Menschen unseres Alltags sich kaum noch
eine Vorstellung machen können. Die religiösen Fragen müssen damals
die Herzen bewegt und erregt haben wie etwa heute die allerheftigsten
sozialen oder nationalen Kämpfe. Und wenn uns die Form der griechischen
Kirchenliteratur nicht recht zusagen will, so dürfen wir nicht vergessen,
daß wir modernen Mitteleuropäer für die zum Ohre sprechenden Künste
— Gesang und Musik ausgenommen — ohne jedes feinere Empfinden sind
und außerdem die Sprache der Urtexte meist nicht unmittelbar genug ver-
stehen, um die Schönheiten der Darstellung zu würdigen. Der Grieche
berauschte sich, ähnlich wie heute noch der Italiener, an den farbenreichen
Bildern und Vergleichen, am abgerundeten Bau der Perioden, an der feinen
Rhythmik und dem sorgfältig ausgearbeiteten Tonfall der Satzschlüsse,
ähnlich wie wir eine gut vorgetragene Arie oder Symphonie genießen.
Für ihre Zeit und ihr Publikum haben die g^echischen Väter des 4. Jeihr-
himderts wohl das Höchste erreicht Aber die Versuche, ihre Werke wieder
zu beleben, dürften vergeblich sein. Immerhin hat der Vorschlag, aus-
gewählte Stücke in der Schule zu lesen, eine gewisse Berechtigung, in-
sofern das Prinzip durchgeführt wird, alle großen Zeitalter der Griechen
und Römer in einigen Proben vorzulegen. Am besten würde sich
solche Lektüre zur Erfrischung und Vertiefung des Religionsunterrichtes
eignen.
Du Xi'LTt'K DIU Gecbkwart. L 8.
17
^58
Karl Krcmbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
u»ter»chied der Sehr merkwürdig ist, wie stark und deutlich sich der uralte Gegensatz
°Lr\" ""'' ^^^ griechischen bzw. griechisch- orientalischen und der lateinischen Seele,
trotz der alle Völkerunterschiede überbrückenden Idee des Christentums,
auch in der kirchlichen Literatur zeigt. Der Grieche neigt zu theoretischer
Spekulation und läßt sich, wofür wir noch im tiefen Mittelalter tj^jische
Beispiele finden, von der eingewurzelten Lust an spitzfindiger Dialektik
leidenschaftlich beherrschen; der Lateiner erblickt das höchste Ziel in den
praktischen Aufgaben des Priestertums und der realen Ausgestaltung des
christlichen Lebens. Der Grieche erquickt sich in seiner beschaulichen
orientalischen Sinnesart an maßlosen Längen; der Lateiner strebt bei aller
Sachlichkeit nach Knappheit des Ausdruckes. Teils aus der Herrschaft der
rhetorischen Schablone, teils aus orientalischer Geringschätzung des In-
dividualismus stammt die byzantinische Vorliebe für abstrakte Allgemein-
heit und glattkorrekte Objektivität, durch die das konkrete Erlebnis imd
die subjektive Stimmung zu unserem Leide so häufig unterdrückt werden;
der Lateiner scheut bei aller Wahrung der römischen Dignität doch vor
der realen Einzelheit nicht zurück und läßt oft stark persönliche Noten
durchklingen. Etwas so allgemein menschlich Interessantes und ewig Junges
wie Augnstins Bekenntnisse besitzt, soweit ich sehe, die griechische
Kirchenliteratur nicht.
Dm s.— 7. Jahr- Die Kirchc hat die „Reihe von guten Tagen", wie es scheint, nicht
hundert. g^j ertragen können. Bald nach der herrlichen Blüte des 4. Jahrhunderts
beginnt schon die nachmals bei den Byzantinern so beliebte Arbeits-
weise der Exzerptoren und Sammler, die frommbescheiden die geistigen
Erzeugnisse der Vorfahren in bequemen Rubriken aufspeichern. Unter
Verzicht auf den inneren Gedankcnzusammenhaiig der alten Werke wird
ihr Inhalt in sogenannten Kettenkommentaren (Katenen) und Blütenlesen
verzettelt, die nun gar manchem die Lektüre der Originalwerke ersetzen
und ein eitles Scheinwissen befördern. Selbständige Produktion wurde
— auch das ist wieder bezeichnend für den spekulativen Grundton der
östlichen Christenheit - vornehmlich durch dogmatische Sonderansichten
hervorgerufen, besonders die der Monophysiten (5. bis 6. Jahrhundert),
die nur eine Mischnatur in Christus annahmen, und die der Mono-
theleten (7. Jahrhundert), die nur einen Wülen in Christus anerkannten.
Gegen die ersteren kämpfte u. a. Leontios von Byzanz (6. Jahrhundert),
gegen die letzteren Sophronios von Jerusalem und Maximus Con-
fessor (7. Jahrhundert). Ein erschreckendes Licht fällt auf deis rasche
Sinken des wissenschaftlichen Sinnes in den theologischen Kreisen durch
die Tatsache, daß die kirchliche Geschichtsclireibung schon im 6. Jahr-
hundert mit der verdienstlichen Darstellung des Euagrios abschloß und
erst im 14. Jahrhundert durch den vereinzelten Nachzügler Nikephoros
Kallistu Xanthopulos, der übrigens seine Darstellung nur bis zum Jahre 6io
führte und in der Hauptsache einfach die alten Werke kompilierte, zu
einem kurzen Scheinleben erwachte.
III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (324 — 641).
asQ
Die einzigfe kirchliche Literaturgattung, die erst nach dem 4. Jahr- Kirchenpoe.ic
hundert emporwuchs, ist die Kirchenpoesie. Während in der kirchlichen
Prosa die grammatischen und rhetorischen Formen einfach aus der heid- h
nischen Literatur und der heidnischen Schule übernommen wurden, hat H
die Kirchenpoesie mit der Vergangenheit völlig gebrochen und ein neues fl
Formprinzip eingeführt, die Rhythmik. Die ganze altgriechische Metrik fl
beruhte auf der Länge und Kürze (Quantität) der Silben. Im Laufe der U
Zeit waren aber in der lebendigen Sprache die alten Quantitätsunterschiede H
verloren gegangen; die Vokale wurden nun mit gleicher Länge gesprochen, H
und den Klang der Sprache beherrschte niu* noch der Akzent. Aus der ■
musikalischen Quantitätssprache war ein modernes Konversationsidiom ge- ■
worden. Infolge dieser tiefgreifenden phonetischen Veränderung in der ■
natürlichen Rede konnte die antike Quantität nur noch auf gelehrtem ■
Wege durch äußerliche Nachahmung der alten Dichter als Grundlage einer ■
metrischen Form benützt werden. So war es denn ganz natürlich, daß an ■
ihre Stelle der Akzent gesetzt wurde. Mächtig angeregt wurde diese H
umwälzende Neuerung durch das Beispiel der SjTer, die schon eine auf ■
dem Akzent beruhende Dichtungsform besaßen. Bei den Griechen haben ■
teils rigorose Bedenken der konservativ-mönchischen Kreise, teils das H
schulmäßige Festhalten an der veralteten antiken Metrik die freie Ent- H
faltung einer für die liturgische Praxis brauchbaren Dichtung längere Zeit H
verhindert Zwar hatte schon Gregor von Nazianz, nachdem er sich in H
den verschiedensten antiken Maßen versucht hatte, zuletzt die Unverträg- ■
lichkeit der alten Formen mit der lebenden Sprache erkannt und in zwei H
Gedichten das rhythmische Prinzip angewandt; aber zur reicheren Ent- B
Wickelung kam die rhythmische Kirchendichtung, nach einigen nicht I
deutlich genug erkennbaren Anfängen im 5. Jahrhundert, doch erst im fl
6. Jahrhundert. H
Der größte und fruchtbarste Vertreter dieser neuen Gattung der H
griechischen Literatur ist Romanos aus Syrien (6. Jahrh.). Ursprünglich Romanos
Diakon in Berytos (Beirut) kam er unter Kaiser Anastasios L (491 — 518) (*!»*"'')• _
nach Konstantinopel und erhielt dort nach einer Pannychis in der Bla- ■
chemenkirche durch ein Wunder die Gabe der Hymnendichtung. Also ■
spiegelt sich in der frommen Legende die geheimnisvolle Inspiration, die I
ein nächtlicher Gottesdienst in der Palastkirche mit dem berückenden Gold- I
glänze ihrer die heiligen Geschichten verkündenden Mosaikbilder, mit ■
ihrem die innersten Seelenkräfte lösenden Gesang und der hj-pnotisierenden ■
Wirkung flackernder Kerzen und dämmerigen Weihrauchduftes, auf die ■
durch Askese und Betrachtung vorbereitete Seele des Dichters ausgeübt I
haben mag. Weiteres über sein Leben ist uns leider nicht bekannt Die I
Hauptzeit seiner dichterischen Tätigkeit fällt erst in die Regierung Justinians. ■
Romanos hat nicht nur die damals bestehenden oder damals begründeten ■
Kirchenfeste, sondern auch eine große Zahl der Heiligen des ganzen I
Jahres durch umfangreiche Lieder verherrlicht Bei einer so erstaunlichen fl
■
26o Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Fruchtbarkeit ist es natürlich, daß der Dichter sich nicht überall auf den
Höhen der poetischen Vollendung bewegt Manche Gedichte ermüden
durch die trockene Umschreibung der Biographie des gefeierten Heiligen
oder durch den etwas aufdringlichen lehrhaften Ton und die unpoetische
Polemik gegen dogmatische Irrlehren; nicht selten stören unser Empfinden
allzu behagliche Wiederholungen und Breiten. Wenn man diese teils
atis den geistigen Strömungen der Zeit, teils aus der Bestimmung der
Lieder erklärbaren Schattenseiten anerkennt, kann man den hohen Vor-
zügen der Dichtung des Romanos um so rückhaltloser gerecht werden.
Seine besten Werke sind durch freien und hohen Gredankenflug, edles
Feuer der Begeisterung und ebenmäßige Komposition ausgezeichnet
Die Sprache ist einfach und leicht verständlich; in der Formenlehre
ist Romanos modern und wagt Vulgarismen, die in der Kunstprosa
verpönt waren; im Wortschatz ist er natürlich stark von den heiligen
Scluiften abhängig, aber frei von archaischen Raritäten. Bei aller
Schlichtheit des sprachlichen Rohstoffes ist die Darstellung in einem über-
raschend hohen Grade beeinflußt von der alles Denken imd Schaffen der
Byzantiner beherrschenden rhetorischen Geschmacksrichtung. Sie verrät
sich in der mannigfachen Wendung und Beleuchtung desselben Gedankens,
in der Anpassung des Inhaltes an das Wortgefüge, in der Vorliebe für
Bilder und Vergleiche, Antithesen, gleichgebaute Satzglieder und Asso-
nanzen, vor allem im geistreichen Spiel mit ähnlich klingenden Wörtern
imd Formen. Romanos läßt sich aber durch die bequemen Mittel der
schönrednerischen Technik nicht zum leeren Wortprunk verführen; er macht
sie, ähnlich wie Shakespeare, seinem Denken und Fühlen Untertan und
benützt sie mit meisterhafter Leichtigkeit zur plastischen Herausarbeitung
der Gedanken und zur Steigerung der künstlerischen Wirkung. Manche
Strophen, besonders Proömien, sind durch völlige Harmonie des Inhaltes und
der Form ausgezeichnet, so straff gehämmert, daß kein Wort imd keine Silbe
zu viel ist, dvurchsichtig wie Kristall und von lapidarer Größe des Tones.
Romanos ist der einzige Byzantiner, der den eigenartigen Wohlklang, die
feine Geschmeidigkeit und den von zahllosen Geschlechtem erarbeiteten
Denkgehalt der griechischen Sprache noch einmal in Werken künstlerischer
Vollendung zum Ausdruck gebracht hat Genial ist das Geschick, mit
dem der Dichter den Stoff dramatisch zu beleben weiß. Manche Lieder
bestehen aus formlichen Dialogen, was wohl mit dem Vortrag durch zwei
sich gegenüberstehende Chöre zusammenhängt So ist ein Ersatz für das
in* der byzantinischen Zeit gänzlich fehlende ernste Drama geschaffen
worden. Alle Vorzüge dieser noch so wenig gewürdigten Dichtungen
werden gekrönt durch die einzige Vollendung des Versbaues. Mit der
selbstverleugnenden, keinen Aufwand von Zeit und Mühe scheuenden Sorg-
falt des weitabgewandten Asketen hat Romanos seine Lieder zu wunder-
samen Kunstwerken der Rhjrthmik ausgestaltet Für das Lob der hohen
^heimnisse des Christentums, der mächtigen Gestalten des Alten und
III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (334 — 641).
a6s
Neuen Testamentes, der Heiligen und Märtyrer schien ihm nur die ebenso
kühn angelegte, als mannigfaltig gegliederte und fein ziselierte Form um-
fangreicher Gesänge genügen zu können. Es hat das unrhj'thmische
Geschlecht der modernen Gelehrten mühsame Studien gekostet, um die
unerwartete Durchbildung dieser metrisch -musikalischen Technik nach und
nach wenigstens mechanisch aufzudecken. Eine metrisch -musikalische
Kunst ist es. Denn die peinliche Beugung der Worte unter die Gesetze
einer komplizierten Metrik war auf den streng ausgebildeten Vortrag der
Sänger berechnet und ist ohne ihn nur mangelhaft verständlich. Hier
lieg^ leider die Seite des Dichters, die uns Barbaren so gut wie ver-
schlossen ist Die alte Kirchenmusik ist den Griechen selbst verloren ge-
gangen, und alle die gelehrten Versuche, sie aus den musikalischen Hand-
schriften wieder zum Leben zu erwecken, haben noch zu keinem klar
überzeugenden Ergebnis geführt
Romanos hat eine neue poetische Gattung und einen neuen poetischen
Stil geschaffen. Aus dem oben Gesagten ergibt sich freilich auch, daß
die Eigenart dieses Künstlers der Übersetzung widerstrebt. Vermöchte
man auch alles übrige nachzubilden, wie wäre es möglich, die unvergleich-
liche Tonmalerei, den sinnlichen Reiz der griechischen Sprache, die Fülle
geistvoller Wortspiele und die musikalische Wirkung des rhythmischen
Versbaues zu erreichen! Doch sollen wenigstens zwei kleine Proben hier
stehen. Das Vorlied des Gesanges zum Theophanienfest (die heil, drei
Könige) lautet im Versmaß des Originales:
'Gireqpdvric crjjitpov
ri]i oIkouh^vi)
Kai TÖ q}iiic CDU, Ki)pte,
i<p' i^inäc iv imfydiica
ijUvoOvTac ci.-
TÖ CpÜlC TÖ dlTpÖClTOV!
Zu deutsch:
Bist erschienen heute uns
Erdenbewohnem ,
und dein Licht, o Herrscher du,
hat sich ergossen
über uns, die in Erleuchtung
dich preisen stets;
du kamst, erschienest,
das Licht, das Unnahbare!
Das jüngste Gericht, dessen großartige Schilderung in der Apoka-
lypse so viele Künstler begeistert hat, besinget Romanos in einem gewaltigen
Hymnus, der also anhebt:
Wann du nahest, o Gott,
Zu der Erde in Glorie
Und zitternd liegt vor dir die Welt;
Wann der Strom vor des Richters Thron
262
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
TJrtpnlDg und
Quollen der
Kirchenpoesio.
erliefening.
ofanlitoratur.
Geschlcht-
tchreibung.
Seine feurige Woge wälzt;
Des Schicksals Buch geöffnet wird
Und kundbar wird, was einst die Nacht verbarg,
Dann errette mich
Aus der unstcrbliclicn Flamme,
Richter ohne Fehl,
Gib, daß ich steh' mit den Frommen
Zu deiner rechten Hand.
Die Keime der griechischen Kirchenpoesie liegen im Orient. Daß sie
durch althebrätsche und syrische Vorbilder ihre wichtigste Anregung er-
fahren hat, kann heute als sicher betrachtet werden. Romanos selbst hat
aus den metrischen Homilien des syrischen Kirchenvaters Ephrem {f um
373) zahlreiche Motive übernommen. Als Quellen für die Stoffe dienten
ihm vor allem das Alte und Neue Testament, Heiligenbiographien und für
seine polemischen Exkurse dogmatische Schriften. Romanos ist aber nach
dem Satze verfahren: „Je prends mon bien oü je le trouve" und hat seine
Quellen selbständig verarbeitet; nichts wäre unrichtiger, als nach den kürz-
lich gegebenen Nachweisen der Abhängigkeit von Ephrem ihm den Ruhra
eines originalen Dichtergenies schmälern zu wollen. Wie lange die Hymnen
des Romanos die griechische Liturgie beherrschten, ließ sich bis jetzt nicht
genauer feststellen. Sicher ist aber, daß sie etwa seit dem g. Jahrhundert
diu:ch das Aufkommen einer anderen, technisch viel komplizierteren Lieder-
art, der sogenannten Kanones, allmählich aus der liturgischen Praxis ver-
drängt wurden. So kommt es, daß sich in die allermeisten der Tausende
von liturgischen Gesangbüchern, die in den Sammlungen griechischer Hand-
schriften liegen, nur wenige elende Fragmente des Romanos gerettet
haben; die schönsten H}'Tnnen wurden bis auf zwei Strophen beiseite ge-
worfen. Eine glückliche Fügung hat aber gewollt, daß wenigstens an ein-
zelnen Orten die alten gottesdienstlichen Bücher, die ausschließlich Hymnen
bergen, noch längere Zeit im kirchlichen Gebrauch blieben. Das geschah,
soweit wir sehen können, in Patmos, in einigen Athosklöstern und in
Grottaferrata. Nur dieser zufälligen lokalen Ablehnung der neuen Liturgie-
ordnung verdanken wir es, daß einige ehnvürdige Handschriften auf uns
gekommen sind, die eine größere Anzahl vollständiger Werke des Romanos
und anderer Hymnendichter atifbewahren. An Reichtum des Inhaltes und
Korrektheit der Texte steht unter ihnen obenan der Doppelkodex der alten
Klosterbibliothek in Patmos.
Die prosaische und poetische Literatur der Kirche drückt der Über-
gangszeit vom 4. — 7. Jahrhundert ihren weithin sichtbaren, neuartigen
Stempel auf. Viel weniger originell und interessant ist die profane Schrift-
stellerei dieser Periode. Die Geschichtschreibung, die fruchtbarste Gattung
der Zeit, wird in den alten Geleisen fortgeführt; zuerst von Heiden, dann
von Christen. Ein Prokop unterscheidet sich nur durch eine ziemlich
oberflächliche christliche Färbung von Zosimos, dem letzten heidnischen
Historiker. Weder Prokop noch seine nächsten Vorgänger und Nach-
III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (324 — 641).
263
folger haben an der altüberlieferten Regel, wie man Geschichte schreiben
soll, etwas Wesentliches geändert. Keine neue Technik, keine neue
kritische Methode und selbst — trotz der christlichen Weltanschauung —
keine prinzipiell neue Auffassung, aber auch kein ersichtlicher Nieder-
gang und kein offener Abfall von der bewährten Tradition hat das Ge-
samtkolorit der zeitgeschichtlichen Darstellung geändert. In Einzelheiten
der Dar.stellung folgten viele fast sklavisch den anerkannten Mustern Herodot
und Thukydides, zuweilen auch dem Polybios. Allgemeine Norm war aber
der stark rhetorisch gefärbte Historien.stil, der sich seit einem Jahrtausend
ausgebildet hatte und nun für den Geschichtschreiber nicht bloß formu-
lierte, sondern auch dichtete und dachte. Trotzdem fehlt es nicht an au.s-
geprägten Persönlichkeiten und individueller Auffassung. Die Gleichartig-
keit mancher Werke ist nur äußerlich und erstreckt sich nicht auf den
Kern. Was die Wahl der Stoffe betrifft, so wird die alte Sitte fest-
gehalten, die Darstellung da zu beginnen, wo der Vorgänger aufgehört
hat. In -solcher Weise haben die Griechen über zwei Jahrtausende, von
den Logographen und Herodot bis auf Laonikos Chalkondyles, den Zeit-
genossen Mohammeds II, die Chronik des Ostens fortgeführt.
Die Wiedergeburt des griechischen Geistes in der Kaiserzeit und der
Niedergang des Westens kommt in der Ge.schichtschrcibung besonders
deutlich zum Ausdruck. Schon im 3. Jahrhundert übernimmt die Führung
in der Darstell img der römischen Geschichte ein Grieche, Dioo Cassius
(S. 171). Seit der Gründung von Konstantinopel wird die Geschichte des
Reiches, obschon sein lateinischer Charakter bis zum 6. Jahrhundert
gewahrt blieb, größtenteils von Griechen (wie Eunapios, Olympiodoros,
Priskos, Malchos, Zosimos u. a.) geschrieben. Der einzige bedeutende
Historiker dieser Zeit, der lateinisch schrieb, Ammianus Marcellinus aus
Antiochia (S. igg), war seiner Abstammung nach ein Halbgrieche. Die
Geschichte des Justinian, der uns durch sein Corpus iuris doch noch wesent-
lich als Lateiner erscheint, wird voniehmlich von Griechen geschildert. So
ist der politisch- nationalen Entwickelung des Reiches die Sprache seiner
Geschichtschreibung erheblich vorausgeeilt.
Als Sekretär des kaiserlichen Generalissimus Belisar hat Prokopios Prokop
aus Käsarea in Palästina (vgl. S. 19g) Justinians gewaltige Kriege gegen die °" ""''
Vandalen in Afrika, gegen die Goten in Italien und endlich gegen die
Perser im fernen Osten gesehen und sie in einem uns vollständig über-
lieferten Werke erzählt Der große Vorzug des Prokop, den er mit Poly-
bios teilt, daß er als Begleiter und Berater eines bedeutenden Feldherrn
an den politischen und militärischen Ereignissen persönlich Anteil nahm,
ist seinem Werke sehr deutlich zugute gekommen und genügt allein, ihn
über die meisten übrigen Geschichtschreiber der byzantinischen Periode
emporzuheben. Einen seltsamen Nachtrag zu dieser Kriegsgeschichte bildet
das berühmte und berüchtigte Büchlein, das jetzt gewöhnlich als Geheim-
geschichte bezeichnet wird. Es ist eine verbitterte und bösartige Anklage-
204
Karl Kruhbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Weltchronikfln.
Schrift gegen das Kaiserpaar. Aus dem bekanntlich nicht einwandfreien
Vorleben der Kaiserin erzählt der Verfasser jene teils sentimentalen, teils
pikanten Anekdoten, denen Theodora die dramatischen und romanhaften
Darstellungen ihrer Person in der neueren Zeit und ihre heutige fast un-
heimliche Popularität verdankt. Die Geheimgeschichte ist — trotz aller
von idealen Gemütern vorgebrachten Bedenken — sicher ein Werk des
Prokop, und eine gesunde Kritik hätte die Echtheit niemals anzweifeln
dürfen. Nur müssen wir uns bescheiden, daß die äußeren oder inneren
Beweggründe, die den Verfasser zur Ausarbeitung dieser Kehrseite seiner
historischen Medaille bewogen haben, unserer Wißbegierde wohl für immer
verborgen bleiben werden. Natürlich ist das Pamphlet zu Lebzeiten des
Kaisers nicht veröffentlicht worden. Wie um das hier verübte Unrecht gut
zu machen, vielleicht um eine Verstimmung in den Hofkreisen zu beschwich-
tigen, schrieb Prokop zuletzt einen Panegyrikus auf den Kaiser in der Form
eines Berichtes über die unter seiner Regierung in allen Teilen des weiten
Reiches ausgeführten Bauwerke. Indem er alles, was irgendwo aus Staats-
mitteln gebaut wurde, als selbsteigenes Werk des Kaisers hinstellt, streut
er ihm in maßloser und fast komisch wirkender Weise den Weihrauch der
Schmeichelei. Übrigens ist das Werkchen, wenn man von der unerfreulichen
Einkleidung absieht, durch reiche topographische und finanzwirtschaftliche
Nachrichten als Quellenschrift von großer Bedeutung. Trotz mancher für
uns nicht recht verständlichen Widersprüche in seinem Charakter ist Prokop
der bedeutendste Historiker der frühbyzantinischen Zeit. Er behauptet für
das Zeitalter des Justinian eine ähnliche Stelle wie der mit ihm in mancher
Hinsicht vergleichbare Polybios für die Zeit der Ausbildung der römischen
Weltherrschaft. Über allen Zweifel erhaben sind das hohe Maß seiner
literarischen Kenntnisse, die Gründlichkeit seiner selbständigen Information,
die Schärfe seiner Beobachtung, sein aufrichtiges Streben nach Objektivität
und die Klarheit seiner Darstellung.
Neben den zeitgeschichtlichen Darstellungen, deren Autoren in der
Regel unmittelbar an das Werk eines Vorgängers anknüpfen, stehen die
Weltchroniken, deren Verfasser die ganze Weltgeschichte von der Schöp-
fung bis auf die eigene Zeit in voiksmäßiger, oft spießbürgerlicher Weise
erzählen. Die Wurzeln dieser neuen Gattung reichen wenigstens bis ins
I. Jahrhundert v. Chr.; denn ihr Vorbild und Urbild ist, wenn ich nicht
irre, die Universalgeschichte des Diodor. Bei ihm finden wir schon die
mechanische Einschachtelung des geschichtlichen Stoffes in Jahresabschnitte,
die in der Chronikenliteratur z. B. bei Synkellos und auf die Spitze ge-
trieben bei Theophanes wiederkehrt. Wie Diodor seine ersten Bücher
der Urgeschichte der orientalischen Völker und der sagenhaften Zeit der
Grriechen widmet, so wird in den byzantinischen Chroniken die Schöpfungs-
geschichte und die älteste Geschichte der Juden und anderer Völker
vorausgeschickt. Endlich ist die den Chronikern eigene oberflächliche Art
der Kompilation, die Lust am anekdotenhaften Detail und die Unfähigkeit,
III. Die Literatur von Konstantin bis Heraklios (334 — 641).
a65
aus dem Unwesentlichen das Wichtige herauszuheben, bei Diodor sehr
deutlich vorgebildet. Eine weitere Entwickelungsstufe auf dem Wege zur
christlich -byzantinischen Weltchronik bezeichnet die leider verlorene
Chronik, die der gräzisierte Jude Justus von Tiberias, die Geißel seines
verräterischen Landsmannes Josephus Flavius, im Anfang des 2. Jahr-
hunderts n. Chr. geschrieben hat; sie begann, wie uns Photios berichtet,
mit der Erzählung des Moses. Was in der späteren Zeit neu hinzukam,
ist wesentlich nur der christliche Grrundton. Das Judentum hat also hier
wie auf manchen anderen Gebieten die Vermittelung zwischen Heidentum
und Christentum übernommen. Vorstufen der in der byzantinischen Zeit
häufigen kurzgefaßten Abrisse der Weltgeschichte sind das „Kurze Ge-
schichtsbuch" des Kephalion (2. Jahrhundert) und die summarische Welt-
geschichte des Dexippos (3. Jahrhundert). Dem 3. Jahrhundert gehört auch
der Begründer der christlich-byzantinischen Chronologie an, der Presbyter
Sextus lulius Africanus.
Wissenschaftlich und literarisch stehen die Weltchroniken auf einer
niedrigen Stufe. Mit besonderer Vorliebe werden Teuerungen, Seuchen,
Erdbeben, Kometen imd andere Wunderzeichen gebucht Die alte Mythen-
geschichte wird zu christlich -apologetischen Zwecken verwendet. Der
groben Auffassung des Stoffes entspricht die von der vornehmen alter-
tümlichen Diktion der Zeitgeschichten stark abstechende schlichte, volks-
mäßige Sprache, wie sie übrigens schon im 5. Jahrhundert auch der Ver-
fasser einer Zeitgeschichte, der Ägypter Olympiodor, gewagt hatte. Als
Publikiun der Chroniken sind offenbar die weiteren Kreise, besonders
die Tausende von frommen Klosterbewohnern gedacht. So wenig nun
die Weltchroniken vor einer strengeren Kritik bestehen können, so haben
doch gerade sie, nicht die mit Herodot wetteifernden zeitgeschichtlichen
Werke, den mächtigsten Einfluß auf die historische Literatiu- der von
Byzanz abhängigen Völker, besonders der Slawen und Orientalen, aber
auch der Abendländer, ausgeübt. Die ganze ältere südslawische und
russische Annalistik ist stofflich und in der Darstellungs weise von byzan-
tinischen Chronisten wie Malalas, Georgios Monachos u. a. ausgegangen.
In der echtesten Form erscheint der Tj'pus der populären byzantinischen
Weltchronik in dem ältesten uns erhaltenen Werke der Gattung, der
Chronik des Johannes Malalas aus Antiochia (6. Jahrhundert). Dieser m»uu«
notdürftig hellenisierte Syrer ist in seinen Kenntnissen, seiner Auffassung """^ "^
und Darstellung von einer Grrobheit, wie sie früher in der griechischen
Literatur lücht vorkommt. Sein Werk ist ein richtiges Volksbuch,
von einem völlig naiven, aber wißbegierigen Mann, der manches alte
Buch gelesen, aber oft nicht recht verstanden hat, für gleichen Geistes
Kinder geschrieben. Der Brennpunkt der Weltbegebenheiten ist für den
wackeren Chronisten seine geliebte Vaterstadt Antiochia. Von den Dingen,
die über sie hinausgehen, hat er die seltsamsten Vorstellungen. Den
Herodot hält er für einen Nachfolger des Polybios, Cicero und Sallust für
266
Karl Kri'mbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Ven.
römische Dichter; die uralte Landschaft Karien hat nach ihm ihren Namen,
weil der Kaiser Carus sie unterworfen habe usw. usw. Als Zeugnis der
volkstümlichen Unterströmung im byzantinischen Kulturwesen hat das Werk
einen eigenartigen Reiz.
Frofcnpoeiif. So gründlich und grundsätzlich wie die liturgische Poesie hat die
übrige Dichtung der Byzantiner mit der antiken Vergangenheit nicht ge-
brochen. Zwar erscheinen auch in der nicht für den Gottesdienst be-
stimmten Poesie allerlei Neuerungen: stofflich die Beiziehung religiöser
Vorwürfe, formal der dem Akzentprinzip angepaßte und dadurch wieder
lebensfähig gemachte durchweg zwölfstlbige und auf der vorletzten Silbe
Der poiitiKbe betonte Trimeter und der sogenannte politische (d. h. bürgerliche, gewöhn-
liche) Vers, ein aus zwei Kurzversen (8 und 7 Silben) bestehender Fünf-
zehnsilber (wie „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter"),
der schon im 6. Jahrhundert auftritt und sich mit unerhörter Zähigkeit
durch das ganze Mittelalter hindurch bis auf den heutigen Tag als Lieb-
lingsmaß der Volkspoesie erhalten hat. In der frühbyzantinischen Zeit
sind es zwei alte poetische Gattungen, die mit Fleiß und Liebe und öfter
auch mit Glück gepflegt wurden : das eposartige Gedicht und das Epigramm,
Nonno. Der Hauptvertreter des ersteren ist Nonnos aus Ägypten (vgl. S. 217).
(uiD 400). j^ ^gj. -^rgjjj seiner Stoffe, in denen die Extreme sich berühren wie in
seinem Lebenslauf, verkörpert er, ähnlich seinem Zeitgenossen Synesios,
den Übergang vom Heidentum zum Christentum: als Heide schrieb er ein
großes phantastisches Epos über den Zug des Gottes Dionysos nach Indien,
als Christ eine wortreiche metrische Bearbeitung des Evangeliums Johannis.
So hat sich Nonnos von den abgesungenen antiken SagenstofFen neuen,
dem Ver.ständnis und der Teilnahme seiner Zeit näherliegenden Stoffen
zugewandt, dem er.st in der alexandrinischen Zeit au.sgebildeten Sagen-
komplex vom Zuge des Dionysos und einem heiligen Buche der Christen-
heit Ebenso wagt Nonnos auch in der Form sich vom Schulzwang frei-
zumachen. Er hat den alten daktylischen Hexameter durch allerlei
Änderungen dem akzentuierenden Charakter der lebenden Sprache an-
zupassen versucht. Freilich konnte das Experiment nicht gelingen, und
so ist denn dieses berühmte antike Maß in der byzantinischen Zeit nur
noch selten angewandt worden. Wie sehr der Hexameter der damaligen
Sprache widerstrebte, beweisen recht deutlich die ungelenken Holperverse
der Kaiserin Eudokia (5. Jahrhundert),
Epigramme. Erfreulich bekundet sich seit dem 4. Jahrhundert der Aufschwung des
Griechentums zu einer sich wieder selbständig fühlenden Kulturmacht auf
dem buntbeweglichen Gebiete der epigrammatischen Poesie. Mit kleinen
Spielereien verbanden sich umfangreichere elegienhafte, beschreibende
und historische Gedichte. Mächtig ragt hervor ein Mann, der in der
ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts unter Kaiser Heraklios an der Sophien-
Georgio. kirchc das Amt eines Diakons und Archivars innehatte, Georgios aus
(etwa 600-^) Pisidien. Er ist auf dem Gebiete der Poesie der wichtigste Vermittler
rV. Die dunkeln Jahrhunderte (650 — 830).
267
zwischen dem ausgehenden Altertum und dem Mittelalter; einerseits erscheint
er als der letzte Ausläufer der Schule des Nonnos, anderseits bildet er das
meist bewunderte und eifrigst nachgeahmte Vorbild für die seit dem q. Jahr-
hundert wieder auflebende byzantinische Dichtung. Den Stoff liefern dem
Pisides teils politische Ereignisse seiner Zeit, wie des Heraklios Feldzug
gegen die Perser, sein endgfültiger Sieg über Chosroes und der Angriff
der Avaren auf Konstantinopel im Jahre 626, teils theologische Streit-
fragen, wie die Häresie des Severus von Antiochia, den Pisides noch be-
kämpfen zu müssen glaubte, obschon er schon hundert Jahre früher (536)
verdammt worden war, teils auch allgemeine theologische und moralische
Vorwürfe. Das Hauptwerk dieser Art ist ein großes philosophisch -theolo-
gisches Lehrgedicht über die Erschaffung der Welt (Hexaemeron), ein in
der kirchlichen Literatur häufig behandeltes Thema. Elegischen Charakter
trägt eine poetische Betrachtung über die Eitelkeit der Welt. Dazu
kommen ein Hymnus auf Christi Auferstehung und zahlreiche Epigramme
auf Heilige, auf Kunstgegenstände, auf eine vom Patriarchen Sergios ge-
stiftete Bibliothek, auch auf recht unpoetische Themen wie die Podagra,
die übrigens auch noch andere Byzantiner zu dichterischen Ergüssen be-
geistert hat. Pisides hat richtig gefühlt, daß der Hexameter trotz der
von Nonnos versuchten Anpassung dem Lautwesen der natürlichen Sprache
widerstrebte; so hat er denn dieses Maß, natürlich in der von Nonnos
geprägten modernen Form, nur in einem einzigen Gedichte („Auf das
menschliche Leben") angewandt; alle seine übrigen Werke sind in der
neugeregelten Form des jambischen Trimeters abgefaßt.
IV. Die dunkeln Jahrhunderte (650 — 850). Die Übergangszeit vom
Altertum zum Mittelalter hebt sich aus der gesamten Lebensgeschichte des
griechischen Volkes eigenartig hervor. Ein reges geistiges Leben und eine
erstaunlich reiche literarische Tätigkeit liegt hier vor uns, von früheren
und späteren Perioden deutlich geschieden durch die merkwürdige Mischung
alter und neuer, heidnischer und christlicher Elemente. Sie wirken teils
durch feindlichen Zusammenstoß anregend, teils durch friedliche Vermählung
befruchtend. Rein äußerlich betrachtet sind es zwei Faktoren, die den
eminenten literarischen Aufschwung her\'orgcrufen und gefordert haben:
die Erhebung des Christentums zur herrschenden Religion und die poli-
tische Erstarkung des Griechentums durch die Lostrennung und eigenartige
Fortgestaltung der östlichen Reichshälfte. Im gesamten geistigen Leben
dieser Zeit gärender Kraft erscheint allerdings der christliche Charakter
als das wichtigste Merkmal und die kirchliche Abteilung der Literatur als
die bedeutendste; aber auch dem profanen Schrifttum, sowohl dem heid-
nischen als später dem christlichen, sind die günstigen Lebensbedingungen
und die allgemeine Regsamkeit zugute gekommen.
Nim folgen dunkle Jahrhunderte: ein fast plötzlicher Verfall der
nationalen Bildung und der Literatur, ein ähnlicher Bruch mit der Ver-
268
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Johannes
von Ddmaskos
t ^of 7SA)-
gangenheit, wie er, nur viel länger und gründlicher, im Abendlande ge-
schehen ist. Die Senkung erstreckt sich von der Mitte des 7. bis zur
Mitte des q. Jahrhunderts. Die Gründe dieses unerwarteten Niederganges
sind noch nicht genügend aufgeklärt Wohl sicher aber haben die äußeren
Verhältnisse des Reiches mitgewirkt: die notwendige Konzentrierung aller
Kräfte und Mittel gegen die furchtbaren neuen Reichsfeinde, die Araber,
Bulgaren und Slawen; der Verlust der geistig regsamen Provinzen Afrika,
Palästina und Syrien; der ewig dauernde rohe Kriegszustand; endlich die
dem Klosterwesen und damit den Pflegestätten der Bildung verderblichen
Wirren des Bildersturmes. Die profane Literatur verstummt fast vollständig
und auch die kirchliche Schriftstellerei bleibt hinter der Fülle und Origi-
nalität der früheren Jahrhunderte zurück. Um so bemerkbarer ragt aus
der dürren Öde ein Mann hervor, der auf die ganze Folgezeit einen un-
ermeßlichen Einfluß gewonnen hat, Johannes von Damaskos. Er lebte in
der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts in seiner Vaterstadt Damcbskos als
einfacher Priester im Sabbaskloster. Damals waren die dogmatischen
Kämpfe in der Hauptsache abgeschlossen, die Lehre der Kirche von den
Konzilien festgestellt und von den Vätern erläutert, die heiligen Schriften
in ausgiebigster Weise kommentiert. So konnte denn die Aufgabe eines
rechtgläubigen Theologen in dieser Zeit nicht die eines Neuschöpfers oder
Bahnbrechers sein. Zwar geht Johannes zu weit, wenn er in christlicher
Bescheidenheit sich rühmt „Ich werde nichts sagen, was von mir ist";
aber mit einiger Einschränkung könnte dieser Satz den meisten seiner
Schriften vorgesetzt werden. Den Weltruhm des Johannes begründet ein
groß angelegtes Lehrbuch der christlichen Dogmatik, die „Erkenntnis-
quelle". Nach einer philosophischen Einleitung, die auf aristotelischen
und neuplatonischen Ideen ruht, erklärt Johannes die christliche Glaubens-
lehre zuerst in negativer Weise durch Vorführung imd Widerlegung von
100 Häresien, dann positiv, indem er — gleichsam als Gegengift — in
100 Kapiteln die wichtigsten Tatsachen der Dogmatik darlegt. Das Material
hat Johannes mit staunenswerter Belesenheit aus den Konzilsakten und
den Kirchenvätern geschöpft, aber durch übersichtliche Anordnung und
scharfsinnige Systematisierung zu einem eigenartigen Denkmal seines
Geistes verarbeitet Die „Erkenntnisquelle" hat sich als Standardwerk
der griechischen Theologie bis auf den heutigen Tag behauptet. Auch
in seinen asketischen und exegetischen Schriften beschränkte sich Johannes
wesentlich darauf, geistige Errungenschaften der Vorfahren zur Nutznießung
für Zeitgenossen und künftige Geschlechter praktisch zusammenzufassen.
Völlig original hat er nur da geschaffen, wo er keine Vorgänger haben
konnte: in der Bekämpfung der neuen Sekten. Wie die theologische
Literatur des 6. und 7. Jahrhunderts ihre Anregungen vornehmlich aus der
Polemik gegen die Monophysiten und Monotheleten geschöpft hatte, so
waren es im 8. Jahrhundert die Manichäer (Paulikianer) und später die
Bilderstürmer, außerdem die neue Weltreligion, der Islam, die den Johannes
V. Das Wiederaufleben der Bildung (9. — 1 1 . Jahrhundert),
369
auf einen Kampfplatz riefen, wo er mit neuen Waffen streiten mußte. Das
höchste Ansehen hat ihm seine glänzende Verteidigung der Bilderverehrung
erworben. Derselbe gelehrte, verstandesmäßige Grundzug, den die Prosa-
schriften des Johannes offenbaren, verrät sich auch in seinen Dichtungen.
Sie bezeichnen deutlich eine gelehrte Reaktion gegen die einfachen popu-
lären Lieder des Romanos (s. S. 259). An ihre Stelle setzte Johannes eine
neue Art von Gesängen (Kanones), die durch Künstlichkeit der Form aus-
gezeichnet, aber arm an echter Empfindung sind. Daß sie wegen ihres
komplizierten Baues und ihrer altertümlich gesuchten Mandarinensprache
nie Gemeingut des Volkes werden konnten, kümmerte ihn nicht; er wendet
sich an hochgebildete Leser. Wie selten solche aber waren, wird daraus
ersichtlich, daß die Gedichte des Johannes später durch zahlreiche gelehrte
Kommentare erläutert wurden. Das tat ihrem Ansehen keinen Eintrag;
unnatürliche Künsteleien und grammatische Dunkelheiten haben auf das
grübelnde Geschlecht der Byzantiner immer eine geheimnisvolle Anziehung
ausgeübt; ein Gedicht, das ohne Scholien verstanden werden konnte, wurde
nicht leicht für voll genommen.
Mit Johannes hat die kirchliche Literatur der Grriechen nicht ihren
Abschluß gefunden. Seit dem g. Jahrhundert nimmt die Produktion wieder
einen mächtigen Aufschwung, und in der langen Reihe kirchlicher Autoren
bis zum Untergang des Reiches treffen wir noch manche anziehende Er-
scheinung. Hohe Beachtung verdienen die mächtige philosophische Be-
wegung, die im 11. und 12. Jahrhundert die theologische Welt ergriff, und
die eigenartige mystische Strömung, als deren edelste Wortführer Symeon,
der „neue Theologe" (11. Jahrb.), und Nikolaos Kabasilas (14. Jahrh.) er-
scheinen. Was aber doch die griechischen Kirchenschriftsteller der ersten
acht Jahrhunderte von denen der Folgezeit scheidet, ist eine große und
für die Abschätzung ihrer Bedeutung wichtige Tatsache: die ersteren ge-
hören der gesamten christlichen Kirche an und haben dadurch im höchsten
Sinne des Wortes weltgeschichtliche Bedeutung, die letzteren sprechen nur
noch als Zeugen des vom Westen sich mehr und mehr abschließenden
Sonderlebens der griechischen Kirche und der byzantinischen Kultur.
Johannes von Damaskos nimmt an diesen beiden großen Abteilungen der
griechischen christlichen Literatur Anteil: er schließt die erste, indem er
ihre Errungenschaften zusammenfaßt und systematisch verarbeitet; er er-
öffnet die zweite, indem er ihr das Grundbuch der christlichen Lehre dar-
bietet Er steht wie ein Brennspiegel zwischen den zwei Perioden, der
die Strahlen aus der ersten in sich versammelt und sie auf die zweite
wiederum verteilt
V. Das Wiederaufleben der Bildung (9. — 1 1 . Jahrhundert). Die
gewaltigsten und folgenschwersten Tatsachen in den beiden dunkeln Jahr-
hunderten sind der Niedergang der griechischen Kultur im Süden und
Südosten infolge des Verlustes von Ägypten imd Syropalästina an die
^^o
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Univcnität in
Kofutantlnopc I
(Wj)-
PhoÜo«
(etwa 830 — 69;)
Araber und die wachsende Konzentrierung des geistigen Lebens in der
Hauptstadt Nun bewährte sich die Gründung des großen Konstantin von
Jahrhundert zu Jahrhundert immer deutUcher. Konstantinopel wurde das
wahre Bollwerk der christlich- griechischen Zivilisation für ein Jahrtausend;
von hier aus wurden ihm zum Ersatz für die Verluste im Süden und Süd-
osten neue Pflanzstätten griechisch-cliristlichen Geistes im Norden und
Nordosten bei den Slawen und Kaukasusvölkern gewonnen. Die Erziehung
der Slawen zum Christentum und zur Bildung begann im g. Jahrhundert
mit der energischen Tätigkeit der Missionäre Kyrill und Method, die die
heihgen Schriften in die altbulgarische Sprache übersetzten. Für das Ge-
lingen dieser großen Kulturmission, die in ihren letzten Ausläufern den
Fall des Reiches weit überdauerte, war es bedeutungsvoll, daß um die-
selbe Zeit die Bildung und das literarische Leben in Byzanz selbst einen
neuen Aufschwung genommen haben. Durch das sechste ökumenische
Konzil (680) war die dogmatische Entwickelung der Kirche in der Haupt-
sache abgeschlossen worden, und mit der endgültigen Beilegung des
Bilderstreites (843) hatte sich auch die letzte dunkle Wolke am Horizont
des kirchlichen Lebens verzogen. Der hochbegabte Reichsminister Bardas
errichtete (863) in Konstantinopel eine Hochschule für Philosophie, Natur-
wissenschaften und Philologie, die für die Hebung der nationalen Bildung
von größter Bedeutung wurde. Nun begannen die Gemüter sich wieder der
großen, zwar durch die Religion geschiedenen, aber durch Sprache und
Blutsgemeinschaft verbundenen Vergangenheit zu erinnern. Zu einem völlig
unbefangenen Verkehr mit den gefürchteten „Hellenen" (d. h. Heiden) kam
es zwar nicht mit einem Male. Noch lange sieht man da und dort die
Flammen des alten Hasses gegen die eigenen Vorfahren emporflackem;
aber schon treten aus den Reihen der rechtgläubigen Geistlichkeit selbst
überlegene Männer heraus, die das Altertum von einem wissenschaftlichen
Standpunkt aus betrachten und ohne religiöse Bedenken auf die hier auf-
bewahrten geistigen Schätze hinweisen. Während noch Romanos in einer
leidenschaftlichen Strophe den Homer, Pythagoras, Plato, Demosthenes
und Aratos zusammen in den Abgrund schleudert, werden diese großen
Namen Jetzt endlich ohne Verbalinjurien genannt. Die grobkörnige Polemik,
mit der noch im 12. Jahrhundert Michael Glykas in seiner volksmäßigen
Chronik gegen die Heiden losfährt, ist em vereinzelter Anachronismus.
Unter den Gebildeten war das Verhältnis zum Altertum längst freund-
licher und fast ganz objektiv geworden. Wie man schon ein Jahrhundert
vor Glykas selbst in streng kirchlichen Kreisen über die alten Heiden
denken durfte, lehrt uns der fromme Metropolit Johannes von Euchaita
(11. Jahrhundert), der in einem schönen Epigramm bei Christus für Piaton
und Plutarch Fürbitte einlegt: „denn beide sind nach Sinn und Art deinem
Gesetz aufs engste verbunden."
Ein großer Kirchenfürst, Photios, Patriarch von Kons tantin opel (etwa
820 — 897), hat im 9. Jahrhundert mit genialem Blick systematisch auf die
V. Das Wiederaufleben der Bildung (9. — 1 1 . Jahrhundert).
271
ungeheuren Schätze des Altertums hingewiesen, die so lange unbeachtet in
Kammern und Kellern gemodert hatten. Dazu war es höchste Zeit. Der größte
Teil der alten Schriftwerke war teils schon verloren, teils verschollen. Einen
näheren Zusammenhang mit dem geistigen Leben der Zeit hatten nur noch
wenige Werke, vor allem die öden grammatischen und rhetorischen Hand-
bücher, dazu eine Auswahl alter Dichter, Historiker und Redner, alle aber in
immer kleineren Portionen für die bescheidenen Bedürfnisse des Schul-
unterrichtes zugeschnitten. Da hat nun Photios eingegriffen wie ein litera-
rischer Columbus. Er hat, was von alter Literatur noch da war, zu einem
großen Teil geradezu neu entdecken müssen; gar manches „alte Buch vom
Ahn ererbt" hat er dem Untergang entrissen. Die helle Freude des Eindens
und nicht minder die zähe Ausdauer des Suchens leuchtet aus seinen Be-
richten deutlich hervor. Er erzählt von den alten Büchern so freudig und
frisch, wie wenn es sich um literarische Novitäten handelte. Über alles
Gelesene führte er sorgfältig Buch und verfaßte so gegen 300 literar-
geschichtliche Essays, die zu dem Sammelwerke „Bibliothek" vereinigt Bibliothek,
sind. Die einzelnen Skizzen sind ziemlich schablonenhaft angelegt; auf eine
mehr oder weniger ausführliche Inhaltsangabe, mit der sich zuweilen No-
tizen über das Leben des Autors verbinden, folget eine fast stets nur auf
die sprachliche Form bezügliche, oft recht schulmeisterliche Kritik. Die
Auswahl der von Photios besprochenen Werke war zum Teil durch Zufall
bedingt; daß aber die alten Dichter und Philosophen fast vollständig fehlen,
daran trägt wohl der stark realistische Charakter des Verfassers schuld;
daß allgemein bekannte alte Autoren und viele christliche Schriftsteller
nicht genannt werden, erklärt sich aus dem Zwecke der Sammlung, die
vornehmlich auf unbekannte und vergessene Werke hinweisen wollte und
keinerlei Vollständigkeit anstrebte. Die „Bibliothek" des Photios i.st das
wichtigste literarhistorische Werk des Mittelalters und für uns von un-
schätzbarem Werte diu-ch die Erhaltung authentischer Nachrichten über
zahlreiche ganz oder größtenteils verlorene Autoren der alten Literatur. ^
Die welthistorische Bedeutung des Photios liegt jedoch weder in diesem "
Buche noch in seinen übrigen profanen oder kirchlichen Schriften, in denen
er oft merkwürdig unselbständig i.st, sondern in seiner Tätigkeit als Kirchen-
fürst. Er hat den kirchlichen Gegensatz der Griechen und Lateiner, der
sich schon seit dem 5. Jahrhundert wiederholt gezeigt und allmählich immer
mehr verstärkt hatte, zur unversöhnlichen Schärfe angefacht, und die
definitive Trennung im Jahre 1054 war nur die letzte äußere Besiegelung
der schon seit Photios bestehenden Entfremdung.
Leider ist es Photios durch seinen energischen Hinweis auf die alten
Literaturschätze nicht gelungen, ihrem fortschreitenden Untergang Halt zu
gebieten. Zahlreiche, eminent wichtige Werke, besonders geschichtliche,
die er noch gelesen hat, sind in der Folgezeit verloren gegangen. Dem
hätte nur durch eine rechtzeitig unternommene und systematisch durch-
geführte Vervielfältigung der seltenen alten Exemplare gesteuert werden
2^2 Karl Krumbacher: Die g^echiscbe Literatur des Mittelalters.
können. Es ist ein Schüler des Photios, der feinsinnige und gelehrte Erz-
Areihas bischof Arethas von Käsarea (f nach 932), der auf solche Weise und
(+ nach 9J2). (juj-gij erläutcmde Tätigkeit viel Grutes gewirkt hat Wir haben noch
mehrere auf seine Kosten hergestellte, dtu"ch Genauigkeit ausgezeichnete
Abschriften profaner und kirchlicher Werke, unter denen der berühmte
von Clarke aus Patmos nach England entführte Platokodex hervorragt.
Sanuneiiäügkeit Die vou Photios Und Arethas ausgestreuten Keime trugen viel-
"hmdCTt' faltige Frucht Das ganze 10. Jahrhimdert beherrscht eine rührend
eifrige, freilich oft auch sehr mechanische und einseitige Betriebsamkeit
in der Sammlung und zweckdienlichen Zubereitung des geistigen Erbes
Koniuntin Por- der Vorzeit Kaiser Konstantin VII Porphyrogennetos (913 — 959) selbst
"'"'«mT'" ^°^ ^°''*°' ^^^^"^ ^^ ^ ^*® Zwecke des Hofes und der Staatsver-
waltung eine ganze Reihe kompilatorischer Werke teils verfassen ließ,
teils selbst verfaßte. Die bedeutendste der auf Befehl des Kaisers veran-
stalteten Sammlungen ist eine gewaltige, aus der ganzen historischen
Literatur zusammengestellte, nach Materien geordnete Enzyklopädie der
Staatswissenschaft, von der wir leider nur einige Abschnitte besitzen.
Anders angelegt, aber ebenfalls vornehmlich aus alten Quellen geschöpft
sind drei Werke, denen der Kaiser selbst seinen Namen geliehen hat:
über die Reg^ierungskunst und besonders über die Prinzipien der äußeren
Reichspolitik, über die militärische und administrative Einteilimg des
Reiches, endlich über das Zeremonienwesen des byzantinischen Hofes. Den
von Konstantin Vn gegebenen Anregnungen verdanken wir vermutlich auch
die von Symeon Metaphrastes natürlich nur nach stilistisch-rhetorischen Ge-
sichtspunkten ditfchgeführte Neubearbeitung der alten Heiligenlegenden.
Schon vor Konstantin entstand die herrliche Sammlung der alten Epigramme,
deren einzige unschätzbare Handschrift den Stolz der Heidelberger Bibliothek
bildet (ein Teil jetzt in Paris). Eine merkwürdige, besonders durch literar-
historische Nachrichten wichtige Ergänzung der Sammelwerke dieses
fleißigen, aber unkritischen und unproduktiven Jahrhimderts bildet eine Art
Konversationslexikon, das ein unbekannter Mann mit dem imgriechischen
suidu Namen Suidas aus älteren Büchern oberflächlich und sorglos zusanmien-
(vor 976). gestellt hat
ij. Jahrhundert Wenn das 9. und 10. Jahrhimdert durch die Wiederentdeckxmg imd
Sammlung der alten Literaturwerke, durch die mechanische Herstellung
von Exzerpten, die Ausarbeitung von Wörterbüchern und anderen Hilfs-
mitteln des Schulbetriebes charakterisiert und als eine Zeit der schul-
mäßigen Vorbereitimg betrachtet werden muß, so erscheint das 1 1. Jahr-
hundert als die erste Zeit der Ernte. Ein Staatsmann ist es, der die Summe
der gelehrten Studien der Vorväter und die ganze Bildung seiner eigenen
Zeit in sich vereinigte und in mannigfaltigen Schöpftmgen zum Ausdrucke
Michael Pteiioi brachte, Michael Psellos (10 18 — 1078?). Ursprünglich Advokat, dann Professor
(1018—1078?). jjgj. Philosophie, eine Zeitiang Mön'ch, endlich in verschiedenen Hof Stellungen
tätig, zuletzt Premierminister und Allgewaltiger im Staate, schriftstellemd
VT- Hochrenaissance und Humanismus (13. — 15. Jahriiandfeit).
«73
auf den Gebieten der Philosophie, Xatumrissenschaft, Philologie, Geschichte,
Jurisprudenz, Rhetorik und Poesie, repräsentiert er wie kein anderer in
der bunten Skala seines Lebens wie in der Allseitigkeit seiner Geistes-
bildung das in allen Farben der Vergangenheit schillernde Byzantinertum.
Menschlich nimmt er das größte Maß von Nachsicht in Anspruch, das man
einem unter verschiedenen Regierungen und unter ewig schwankenden
Verhältnissen beschäftigten Hof- und Staatsmanne gewähren mag. Durch
Umfang des Wissens, durch Schärfe der Kombination und souveräne Be-
herrschung der Form ist Psellos der erste Mann seiner Zeit; er ist für das
1 1. Jahrhundert in ähnlicher Weise Signatur wie Konstantin Porphyro-
gennetos für das 10. und Photios für das 9. Jahrhundert. Verhängnisvoll
bezeichnend für das Wesen der bj'zjmtinischen Bildung ist es freilich, daß
die stärkste Seite dieses starken Mannes doch die sprachliche Form ge-
wesen ist, für die er sich kein geringeres Vorbild als Piaton gewählt hat.
Zur Ehre des Psellos muß aber gesagt werden, daß er den Plato auch
inhaltlich zu schätzen wußte und das Wagnis durchführte, die platonische
Philosophie aus ihrem langen Winterschlafe zu erwecken und sie sogar
über das von der Kirche sanktionierte System des Aristoteles zu erheben.
Mit der Philosophie und dem Studium des Altertums nimmt seit dem
II. Jahrhundert auch die Geschichtschreibung, die im 9. und 1 o. Jahrhundert
auf trockene Annalistik beschränkt gewesen war, einen höheren Flug, und
Psellos hat sich auch an ihr durch eine wertvolle Darstellung seiner eigenen
Zeit beteiligt. Die Epigrammatik erreicht mit zwei der liebenswürdigsten
Erscheinungen der byzantinischen Periode, Christophoros von Mytilene
(etwa 1000 — 1050) und Johannes von Euchaita (etwa loio — 1070), eine an-
sehnliche und des alten Ruhmes dieser Grattung würdige Höhe.
VI. Hochrenaissance und Humanismus (12. — 15. Jahrhundert).
Zur völligen Entfaltimg gelangt das literarische Leben im 12. Jahr-
hundert unter der machtvollen Herrschaft der drei Komnenen, die dem
Reiche eine letzte kurze Glanzperiode sicherten. In vier gproßen Werken
werden die Geschicke des oströmischen Reiches zur Zeit der Kreuzfahrer
nach dem bewährten Vorbild der alten Geschichtschreibung dargestellt.
Hier beteiligte sich auch eine Frau. Die Alexias (vollendet 1 148), in der die
hochgebildete Kaisertochter Anna Komnena die Taten ihres Vaters Alexios Ann« Komu.'»
erzählte, hat von jeher ein allgemeines Interesse erregt und ist mit unserer ('"*i-"«»>
Literatur dadurch eng verbunden, daß eine deutsche Übersetzung in
Friedrich Schillers „Allgemeiner Sammlung historischer Memoires", Jena
1790, erschienen ist. Unter den Kirchenfürsten, die in dieser Zeit mehr-
fach in den Dienst der profanen Literatur traten, ragen durch Originalität
der Persönlichkeit und der Schriftstellerei besonders hervor Michael Ako-
minatos, der Metropolit von Athen, und Eustathios, der Erzbischof von
Thessalonike, beide auch dadurch merkwürdig, daß sie fem von der
längst alles Uterarische Leben in sich vereinigenden Hauptstadt wirkten
Um Kultur uut GvouiwAitT. L &
18
274
Karl Krumracher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
und uns endlich wieder die geistigen Zustände der Provinz kennen
lehren.
Eututhios Eustathios (•{- um 1192) ist den Philologen bekannt durch seine dick-
(t um 1191). leibigen Homerkommentare, die neben Massen öder Weisheit auch manche
Perle und sogar Aufschlüsse über die Volksdichtung seiner Zeit enthalten. Er
war aber viel mehr als ein belesener Scholiast und ein trockener Stuben-
gelehrter. Wenn wir die übrigen leider noch immer wenig bekannten
Schriften des Eustathios lesen, lernen wir eine sehr eigenartige, äußerst
sympathische Persönlichkeit kennen. In anschaulicher Weise schildert er
uns die Eroberung seiner treuen Stadt Thessalonike durch die Normannen.
In Reden an die Kaiser berührt er zeitgeschichtliche Vorgänge und macht
praktische Vorschläge z. B. über die Versorgung der Hauptstadt mit Trink-
wasser. Mit einem erquickenden Freimut, durch den er sich manch heim-
tückischen Gegner schuf, kämpft er gegen die Korruption und die geistige
Versumpfung des Klosterlebens. In edler Entrüstung mahnt er z. B. die
Mönche, die herrlichen Schätze ihrer Bibliotheken nicht zu verschleudern:
„O, Du Unwissender, was machst Du die Klosterbibliothek Deiner Seele
gleich? Weil Du aller Kenntnisse bar bist, willst Du auch aus dieser alle
Bücherschränke wegräumen? Laß sie doch ihre Schätze behalten! Nach
Dir wird wieder ein Kenner oder Freund der Literatur kommen." Kultur-
geschichthch interessant ist ein Essay, der nachweist, daß die Priester un-
recht daran tun, sich des ihnen vom Volke erteilten, noch heute üblichen
Titels Papäs (= russisch Pop) zu schämen.
Michael Des Eustathios Schüler und Freund Michael Akominatos (etwa 1 1 40 — 1220)
Akominatus jg^ durch dic Warm empfundene Schilderung, die ihm Gregorovius in
ii+o— uio). seiner Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter gewidmet hat, jetzt in
weiteren Kreisen bekannt. Unter seinen zahlreichen Schriften, wie Homi-
lien, Reden, Briefen und Dichtungen, verdient hohe Beachtung eine jam-
bische Elegie auf die Stadt Athen, die „erste und einzige Klagestimme
über den Untergang der alten erlauchten Stadt, welche auf uns gekommen
ist". Grregorovius übersetzt die ersten Verse also:
Die Liebe zu Athen, deß Ruhm einst weit erscholl,
Schrieb dieses nieder, doch mit Wolken spielt sie nur
Und kühlt an Schatten ihrer Sehnsucht heiße Glut.
Denn nimmer , ach , und nirgend mehr erschaut mein Blick
Hier jene einst im Lied so hochgepries'ne Stadt.
Auf den meisten Literaturgebieten, auch ganz abgelegenen und ver-
schollenen, herrscht in der Komnenenzeit reges Leben. Der Geschmack
an der erotischen Erzählung, die lange verpönt gewesen war, erwacht
Romane, wieder, und die süßliche, unwahre Gattung des griechischen „Romans",
unter dem man sich alles, nur keinen modernen Roman vorstellen muß,
wird um vier freilich denkbarst übel geratene Spätgeburten bereichert
Andere versuchen sich in der poetischen Satire und in Dialogen nach dem
Dtana. Vorbilde des unsterblichen Lukian. Selbst ein Drama, „Das Leiden Christi",
VI. Hochrenaissance und Humanismus (12.— 15. Jahrhundert).
«75
ist in dieser Zeit gewagt worden, ein aus Versen alter Dichter mosaik- I
artig zusammengesetztes Machwerk, das freilich nur zu deutlich beweist, I
wie sehr den Byzantinern das Verständnis und die Voraussetzungen für I
ernstes Theaterwesen abhanden gekommen waren. I
In den letzten Jahrhunderten des Reiches unter den Herrschern aus HomanUmu«
dem Hause Palaeologos hat das Studium des klassischen Altertums und
die auf ihm ruhende literarische Tätigkeit an Vertiefung und Mannigfaltig- I
keit noch gewonnen. Der gelehrte Attizismus wird noch deutlicher betont I
als selbst in der Komnenenzeit, und die Tatsachen der zeitgenössischen I
Sprache und Kultur werden demgemäß noch schärfer zurückgewiesen als I
je. Während man, um ein bezeichnendes Beispiel anzuführen, bisher trotz I
des sprachlichen Purismus die christlichen (römischen) Monatsnamen ge- I
braucht hatte, geht der Historiker Pach>'meres im Anfang des 14. Jahr- I
hunderts schon so weit, dem Archaismus zuliebe die nur einem Gelehrten 1
verständlichen attischen Monatsnamen (z. B. Gamelion) anzuwenden. Be- 1
fördert wurde diese einseitige Richtung auf das hellenische Altertum und 1
die Abwendung vom realen Leben der Gegenwart durch die nunmehr voll- 1
endete Gräzisierung des Hof- und Staatswesens und den nahezu voUstän- I
digen Verlust der nichtgriechischen Landesteile. Seit der WiederaufHchtung I
des Thrones in Konstantinopel (1261) erscheint das oströmische Reich als I
ein rein griechisches Gebilde, ein althellenisch gefärbtes Humanistenreich, I
und die deutlichsten Charakterzüge der byzantinischen Bildung und Literatur I
vom 13. — 1 5. Jahrhundert sind die leidenschafthche Hingabe an die kirch- I
liehen Streitigkeiten und das traumhafte Zurückleben in die große, ferne J
Blütezeit des Altertums, I
Durch den byzantinischen Humanismus ist der westeuropäische Huma- 1
nismus, wenn nicht erzeugt, so doch nachhaltig befruchtet worden. Infolge l
der wachsenden Unsicherheit der politischen Verhältnisse im Osten wan- I
derten griechische Gelehrte mit ihren Bücherschätzen nach Italien und 1
verbreiteten dort die erste Kenntnis der altgriechischen Sprache und 1
Literatur. Trotz dieses unleugbaren Zusammenhanges ist der byzantinische
Humanismus von dem italienischen nach seiner Entstehungsweise, seinem 1
Gesamtcharakter und seiner Wirkung auf das nationale Leben erheblich 1
verschieden, und eine Gleichung oder Vergleichung beider erheischt allerlei
Vorbehalt. In Byzanz ist der Zusammenhang mit dem Altertum, den schon J
das Fortleben des Staates sicherte, niemals gründlich abgebrochen worden, 1
und das kulturelle Ackerland hat niemals so lange brachgelegen wie im 1
Westen; daher sind die antiken Samenkörner hier nicht so üppig in die 1
H2dme geschossen wie in Italien, wo sie auf einen frischen jungfräulichen 1
Boden fielen. Dazu kommt, daß die Antike in Byzanz gerade durch die I
ununterbrochene Tradition, die seit dem g. Jahrhundert einen neuen Auf- I
Schwung nahm, immer mehr in eine äußerliche Dressur zu grammatischer 1
Korrektheit und dumpfem Wissenskram ausartete, während man bei der I
Wiederbelebung des Altertums im Westen viel mehr den tiefen Gehalt und 1
18* I
276
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
die ewige Schönheit der gpriechischen Kultur beachtete. In Byzanz waren
die Lernenden heranwachsende Jünglinge, in Italien gereifte, welterfahrene
Männer. „Anders lesen Knaben den Terenz, anders Hugo Grotius." Im
Westen fand die antike Befruchtung durch die glückliche Mischung
italischer und germanischer Menschen einen fruchtbareren Nährboden als
im Osten, wo teils weniger vorteilhaft zusammengesetzte Mischrassen, teils
unvermischte und dadurch entkräftete einheimische Volksteile die ethno-
graphische Basis bildeten. Vor allem aber war der Osten durch den
Niedergang der politischen, soziaden und materiellen Verhältnisse dem
Westen gegenüber stark im Nachteil. In Italien fiel die Wiederbelebung
des Altertums in eine Zeit, in der unter dem Schutze blühender Gemein-
wesen ein wohlhabendes Bürgertum groß wurde und eine allen geistigen
Anregungen zugängliche neue Gesellschaft erstand; im Osten erreicht die
gelehrte Rückkehr zum Altertum ihre höchste Steigerung in einer Periode,
in der durch das unaufhaltsame Vordringen der Seldschuken und Türken
eine Provinz nach der anderen dem christlichen Machtbereiche und damit
der Möglichkeit einer höheren Kultur verloren ging und auch die noch
erhaltenen Gebiete unrettbar der Verarmung und Zerrüttung preisgegeben
waren. Im Westen bildete das Studium der Antike eine wohltätige
Ingredienz für die aus dem urkräftigen christlich-mittelalterlichen Barbaren-
tiun emporwachsende neue Kultur; im Osten trifft die intensive Tränkung
mit antiker Weisheit ein greisenhaftes, hinsterbendes Geschlecht. Im Westen
eröffnet die wiederbelebte Antike ein jugendkräftiges Zeitalter, an dessen
Spitze sich Dantes Riesengestalt erhebt; im Osten beschließt die Rück-
kehr zum Altertum eine müde, altertümlich gespreizte, künstlerisch er-
schlaffte Zeit, das byzantinische Mittelalter.
Aus der inneren Verschiedenheit des byzantinischen und italienischen
Humanismus erklärt es sich auch, daß jeder Versuch mißlingen mußte, auf
der literarisch -philosophischen Grundlage des griechischen Altertums eine
Versöhnung der durch die kirchlichen Streitigkeiten auseinandergefallenen
g^echischen und romanischen Welt anzubahnen. Die gemeinsamen Momente
in der Verehrung des Altertums wurden selbst in den engsten Gelehrten-
kreisen verschiedenartig aufgefaßt und waren nicht imstande, die viel
stärkeren religiösen und nationalen Gegensätze der breiten Volksschichten
auszugleichen.
Auf die literarische Schaffensfreude und Schaffenskraft hat der inten-
sivere Betrieb der Altertumsstudien immerhin auch bei den Byzantinern
eine günstige Wirkung ausgeübt Es ist merkwürdig, wie fruchtbar an
geistig regsamen und selbst bedeutenden Männern diese letzten Jahr-
hunderte gewesen sind, obschon der staatliche Organismus immer mehr
einschrumpfte und offensichtlich seinem Zusammenbruche entgegenging.
Außer der Geschichtschreibung, die sich bis zum Ende der byzantinischen
Tage auf einer ansehnlichen Höhe erhielt, wurden namentlich die Theo-
logie, die Philosophie, der schöngeistige Essay und der literarische Brief,
VI. Hochrenaissance und Humanismus (12. — 1 5. Jalirhundcrt).
277
diese beiden freilich meist inhaltsleer und seelenlos, von einigen auch
die Poesie gepflegt. Auf dem theologischen Gebiete dominieren in recht
unerfreulicher Weise die mit südländischer Leidenschaft geführten Kämpfe
für und gegen die Wiedervereinigung mit der römischen Kirche. In der
Profanliteratur tritt wiederholt eine erstaunliche gelehrte Vielseitigkeit
hervor, die alle Gebiete des men.schlichen Wissens in der Axt von
Leibniz zu umspannen strebt. Die Hauptperson, für die Paläologen-
zeit ähnlich typisch, wie etwa Psellos für das 11. Jahrhundert, ist Nike-
phoros Grregoräs (f um 1360), der ein großes Geschichtswerk über die
Zeit von 1204 — 135g abfaßte, sich mit persönlichem Opfermut an den
theologischen Kämpfen der Zeit beteiligte und außerdem noch Zeit fand,
auf den meisten übrigen Gebieten der byzantinischen Wissenschaft zu
glänzen. Deis schönste Zeugnis seines Weitblickes und seiner geistigen
Selbständigkeit ist der Plan über die Verbesserung des Kalenders, den er
im Jahre 1325 — also dritthalb Jahrhunderte vor Gregor XTTT — dem
Andronikos 11 Palaeologos unterbreitete. Der Kaiser trug Bedenken, die
Reform durchzuführen, weil es zu schwierig sei, die übrigen Völker zu
ihrer Annahme zu bewegen. Es ist eine seltsame Ironie des Schicksals,
daß die Griechen, von denen mithin die Kalenderreform zuerst geplant
war, später, als sie von Rom aus wirklich durchgeführt wurde, ihren
Beitritt venveigerten. An Gediegenheit des Wissens, an Schcirfsinn,
an idealer Begeisterung und Festigkeit des Charakters steht Ghregoras
den größten Männern der abendländischen Renaissance ebenbürtig zur
Seite.
Wahrhaft ergreifend ist es, zu sehen, mit welcher Pflichttreue die
Byzantiner noch mitten im Zusammenbruche ihrer alten Herrlichkeit die
Darstellung ihrer Lebensgeschichte fortgeführt haben. Drei nach Bildung
und Charakter sehr verschiedene Männer haben den heldenhaflen Todes-
kampf des griechischen Kaisertums und das ungestüme Wachstum des
jungen Osmanenreiches in stattlichen Werken erzählt: Dukas (f etwa 1470), ein
Verwandter der Kaiserfamilie dieses Namens, Georgios Phrantzes (1401 bis
etwa 1480) und Laonikos Chalkondyles (+ etwa 1470). Alle drei haben den
Schauplatz der geschilderten Ereignisse und einen Teil dieser Ereignisse
selbst durch eigenste Anschauung kennen gelernt Dukas diente dem genue-
sischen Podesti in Phokäa als Gesandter am türkischen Hofe. Phrantzes war
Sekretär Kaiser Manuels II und geriet bei der Eroberung Konstantinopels
in türkische Gefangenschaft Chalkondyles aus Athen hatte in Griechen-
land Gelegenheit, die Kämpfe der fränkischen und griechischen Herrscher
unter sich und mit den Türken zu beobachten. In seiner Darstellung
ist Dukas von volkstümlicher Schlichtheit und Frische, Phrantzes sucht
einen Mittelweg zwischen der Umgangssprache, der Dukas folgt, und
dem künstlichen Archaismus, Chalkondyles wandelt in den Fußstapfen
des Thukydides und Herodot und wird dadurch dunkel und schwer-
fällig.
Kikephoro«
Greform«
(t um 1360).
]>ukaj
(t etwa 1470).
t^hraoUrt
(1401 bii etwa
MÄo).
Laonikos
Chalkondyloft
(t etwa i^joy
278 Karl Kkumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Vn. Die Volksliteratur. Trotz aller äuBerea Erfolge krankt das
byzantinische Literatnrwesen an einem stetig wachsenden unheilbaren Übel:
ihm fehlt die zeugende Frische des Lebens und die ursprüngliche Kraft der
Natur. Dadurch, daß die nationale Bildung seit dem 9. Jahrhundert wiedenmi
ganz prinzipiell zu den alten Formen zurückkehrte, während gleichzeitig
die lebende Sprache unaufhaltsam weiter schritt, entstand zwischen Lite-
ratur und Leben eine KJuft, die keine Vermittelung mehr zuließ (vgL
S. 252). Nach verschiedenen einzelnen Ansätzen (in Sprichwörtern, Akkla-
mationen usw.) wurde die griechische Umgangssprache seit dem iz. Jahr-
hundert in größeren Werken angewendet Sie bilden die volksmäßige
Kehrseite der byzantinischen Literatur, und ihre Kenntnis ist zimi tieferen
Verständnis des nationalen Geistes der Byzantiner unerläßlich. Wie bei
den Romanen ist die Volkssprache auch bei den Mittelgriechen zuerst in
der Poesie erprobt worden. Die Stoffe dieser von der alten Tradition durch
Sprache und Metrum (den politischen Vers; s. o. S. 266) so stark verschiedenen
dichterischen Versuche sind äußerst mannigfaltig. Zuerst hat man in der
Hauptstadt ein Gemisch von Umgangs- und Schulsprache, wie es scheint
unter dem ermutigenden Beifall der Hofkreise, in Mahn-, Lob- und Bitt-
gedichten angewendet Später treffen wir Liebesgedichte, märchenhafte
Erzählungen, Orakel, religfiöse Sentenzen, Gebete, Auszüge aus den heiligen
Schriften, Heiligenleben usw. Eine Gruppe für sich bilden große epische
Dichtungen, in denen antike Stoffe wie die trojanische Sage und die
Alexandergeschichte behandelt werden, und Versromane über mittelalter-
liche und zvmi Teil sogar abendländische Erzählungsstoffe, z. B. die aus
Frankreich stammenden Geschichten von Floire und Blanceflor und von
Peter aus der Provence und der schonen Mag^uelonne. Recht merkwürdig
sind einige Tier- und Pflanzengeschichten, wie eine Bearbeitung des Phy-
siologus, eine Vierfüßlergeschichte und ein Vogelbuch, beide mit satirischer
Tendenz, mehrere Nachahmungen der Geschichte vom Reineke Fuchs;
in Prosa abgefaßt sind zwei Parodien des byzantinischen Hof- und Titel-
wesens: das Fischbuch und das Obstbuch.
Ganz eigenartig und echte Kinder des byzantinischen Bodens sind
mehrere sagenhafte und historische Dichtungen, in welchen Taten be-
rühmter Helden und geschichtiiche Ereignisse besungen werden. Wir
finden einen Zyklus von Liedern, die sich auf den Fall von Konstantinopel
und den Tod des letzten griechischen Kaisers beziehen; eine andere Gruppe
betrifft die Eroberung von Trapezunt; eine dritte den geheimnisvollen Bau
der Brücke von Arta. An Alter und Bedeutung behauptet die erste Stelle
der Akritenzyklus.
Digenh Digenis Akritas ist der Held einer Dichtung, die man als das National-
epos der Byzantiner bezeichnen kann. Die Verteidigung der weit vor-
geschobenen Südostgrenzen wurde um so wichtiger, je mehr sich das Schwer-
gewicht des Reiches nach den kleinasiatischen Provinzen verschob. Die
ununterbrochenen Kämpfe, die in Kappadokien und Mesopotamien im
VII. Die Volksliteratur.
«79
lo. und ii. Jahrhundert gegen Sarazenen, Seldschuken und andere Feinde
geführt wurden, bilden die historische Grundlage der Akritaslieder. Der
Held heißt Digenis, d. h. zwiegeboren, weil sein Vater ein Muselmann,
seine Mutter eine Christin war. Der Beiname Akritas (von dkra — Grrenze,
also eigentlich „Grenzer") ist der byzantinische Ausdruck für die tapferen
Verteidiger der gefährdeten Grenzgebiete, die man etwa mit unseren früh-
mittelalterlichen Markgrafen vergleichen kann. Um diesen Digenis, der
sicher als historische Person zu denken ist, hat sich ein Kreis von märchen-
haften Heldenliedern gebildet, mit denen aus der westeuropäischen Literatur
das Rolandslied und die Romanzen des Cid wohl am nächsten verwandt
sind. Die ursprünglichen Fonnen der Digenislieder sind verloren. Wir
besitzen aber neugriechische Volkslieder aus Trapezunt, Kappadokien und
Cypern, in denen Episoden der Sage erzählt werden. Sogar in die Volks-
dichtung der sarmatischen Steppen ist der DigenisstofF, vermutlich durch
südslawische Vermittelung, übergegangen und dort in mehreren Bearbei-
tungen verbreitet Doch hätten alle diese Reste nicht hingereicht, um
eine genauere Vorstellung von jenen alten Digenisliedern zu gewinnen, die
wir voraussetzen müssen. Da wurde vor etwa dreißig Jahren durch einen
glücklichen Zufall im fernen Trapezunt eine aus dem i6. Jahrhundert
stammende Handschrift entdeckt, die eine literarische Bearbeitung der
Digenisgeschichte enthält. Später tauchten noch andere Handschriften auf:
in Grottaferrata bei Rom, in Oxford, auf der Insel Andros und in der
Bibliothek des Escurial. Was in diesen jetzt größtenteils durch den Druck
bekannt gemachten Handschriften steht, sind nach Umfang (ca. 3000 bis
5000 Verse), Inhalt und Sprachforni stark abweichende literarische Be-
arbeitungen der Digenisgeschichte, die aber doch in den Hauptpunkten
auf ein Original zurückweisen; ein Kodex enthält eine prosaische Nach-
erzählung. Alle Handschriften stammen aus später Zeit, dem 15. — 17, Jahr-
hundert, und wir müssen uns klar bewußt bleiben, daß nichts von dem,
was uns heute an literarischen Digenistexten vorliegt, in seiner sprach-
lichen Form mit Sicherheit über das 15. Jahrhundert hinauf gerückt werden
kann. Dagegen ist der Urtypus, nach den geschilderten Zuständen und
vorausgesetzten politischen Verhältnissen, erheblich älter und geht wohl
ins 13., vielleicht sogar ins 1 2. Jahrhundert zurück. Gemeinsam ist allen
poetischen Fassungen — der Prosatext ist noch nicht veröffentlicht — die
schulmäßig belehrende, religiöse und moralisierende Tendenz; sie tritt aber
in einigen Texten stärker, in anderen schwächer hervor. Mehrere Be-
arbeiter haben, um das Werk den Forderungen der Schule und Kirche
anzupassen, Zitate aus den alten Dichtem und den heiligen Schriften,
pedantische Belehrungen und Sentenzen eingefügt und die offenbar ur-
sprünglich ziemlich freien erotischen Episoden retuschiert Von den Be-
arbeitern stammen außer den Verbindungsstücken zwischen einzelnen Liedern
vermutlich auch einige breit ausgesponnene religiöse Einlagen und größere
Teile der Liedkeme selbst, vielleicht sogar ganze Episoden.
28o
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Wenn einmal alle Texte publiziert sind, wird die große Aufgabe zu
lösen sein, das verwandtschaftliche Verhältnis der Bearbeitungen festzu-
stellen, dadurch die Frage nach den ursprünglichen Bestandteilen des Epos
zu klären und endlich die alten Lieder aus der Umwucherung durch das
schulmeisterliche Beiwerk herauszuschälen. Schon jetzt lassen sich mehrere
Lieder und Liedkrei.se erschließen, wie: die Geschichte der Eltern desDigenis,
die Kindheit des Helden, seine Heldentaten auf der Jagd, .seine Liebes-
werbung und Vermählung, die Episode der verlassenen Braut, deren
Lockungen Digenis unterliegt, der Kampf mit dem Drachen, dem Löwen
und den Räubern, die durch den Alexanderroman beeinflußte und viel-
leicht nicht ursprüngliche Episode der Amazone Maximu, die Digenis mit
dem Schwerte bezwingt, um dann selbst von ihrer Schönheit bezwungen
zu werden, die Erbauung des märchenhaften Schlosses am Euphrat, der
Tod der Eltern des Digenis, der frühzeitige Tod des Digenis und seiner
Gattin. Es muß aber zum Schluß kräftig betont werden, daß die Scheidung
zwischen den ursprünglichen Liedern und den Zutaten der literarischen
Bearbeiter noch wenig gefördert ist
ProtMchrifton. Nach ihrem Stoffe und Leserkreise, aber nur teilweise nach ihrer
sprachlichen Form gehören zur volksmäßigen Literatur einige weitver-
breitete Prosaschriften wie der weltberühmte geistliche Roman Barlaam imd
Joasaph, dessen Fabel aus der Lebensgeschichte des Buddha entnommen
ist, das auch aus Indien stammende, in alle mittelalterliche Literatiiren
übergegangene Buch von den sieben weisen Meistern, in der mittelgriechi-
schen Bearbeitung „Allerschönste Geschichte des Philosophen Syntipas"
betitelt, und der mit ihm verwandte Fürstenspiegel Kaliiah und Dimnah,
dessen Heimat ebenfalls in Indien zu suchen ist. Rein volkssprachliche
Prosadenkmäler sind die im 1 2. und i j. Jahrhundert verfaßten griechischen
Gesetze von Jerusalem und Cypern, einige Chroniken, Hausarzneibücher,
Sprichwörtersammlungen und zahllose Übersetzungen hochgriechischer
Werke.
Trotz der glücklichen Wahl mancher Stoffe und trotz mancher Einzel-
erfolge ist die in der Volkssprache abgefaßte Literatur bei den Griechen
immer das Aschenbrödel der Nation geblieben und ist im Wettbewerb
mit der älteren vornehmen Schwester, der gelehrten Literatur, unterlegen.
Die Hauptschuld daran trägt die ununterbrochene Fortführung der alten
Sprache in Staat, Schide und Kirche. Dadurch, daß sich die Tradition
der formalen Bildung ausschließlich auf der Antike aufbaute, wurden die
Neuerungen der lebenden Sprache wie auch die neuen und fremden Elemente
in den Stoffen, im Volkscharakter, in der künstlerischen Auffassung tisw.
nach Kräften verdeckt oder unterdrückt. Die Volksliteratur ist es, in der
die lebendigen Unterströmungen zutage traten: die tiefgreifenden Um-
wälzungen in der Sprache, die neuen metrischen Formen und die Durch-
setzung der griechischen Welt mit orientalischen Erzählungsstoffen, An-
schauungen und Geschmacksrichtungen. Orientalischen Ursprungs ist 2. B.
VIII. Die Türkenzeit (1453— iSai).
381
außer den drei eben erwähnten Prosaerzählungen die Versgeschichte vom
Armen Leon. Außerdem verrät sich orientalischer Einfluß in zahlreichen
einzelnen Zügen der Schilderung und des märchenhaften Beiwerks, recht
deutlich u. a. in mehreren Versromanen und im Digenis, dessen Doppel-
charakter schon durch seine Abstammung von einem heidnischen Syrer
und einer christlichen Griechin angedeutet ist.
VTTT. Die Türkenzeit (1453 — 182 i). Durch den Fall des oströmischen
Reiches (14.53) wurden die zuletzt immer dürftiger gewordenen politischen,
gesellschaftlichen und materiellen Grundlagen der nationalen Bildung und
der literarischen Tätigkeit fast vollständig vernichtet Nur die kirchliche
Organisation blieb bestehen und fristete unter dem Schutze der neuen
Machthaber ein ärmliches Dasein. Der Kirche ist es denn auch zu
danken, daß unter der kulturfeindlichen Türkenherrschaft dürftige Reste
der alten Bildung erhalten blieben. Hierfür wirkten die geistlichen Schulen
in Konstantinopel, Jaonina, auf dem Athos und in Patmos. Die besten
gelehrten Kräfte suchten und fanden außerhalb des türkischen Macht-
bereiches ein Feld der Tätigkeit, indem sie althellenische Bildung, be-
sonders die platonische Philosophie durch Wort und Schrift verbreiteten.
Wenn man von den Werken der mit Italien verbundenen Grriechen,
die in den Kreis des abendländischen Humanismus gehören, absieht, so
erscheint das griechische Literaturwesen in der Türkenzeit trotz der vielen
Namen als treues Spiegelbild der traurigen und ärmlichen äußeren Ver-
hältnisse. Auf dem theologischen Gebiete ist es vornehmlich der alte Streit
mit den Lateinern, der mit den tausendmal wiederholten Argumenten fort-
geführt wurde. Unter den profanen Gattungen behauptet den Vorrang vorerst
noch immer die Geschichtschreibung. Kritobulos (um 1470), ein vornehmer Kntoboio«
Grieche aus Imbros, der sich schnell mit den Türken aussöhnte, erzählte *"'" '^'°*
im Stile des perikleischen Zeitalters die Taten des Sultans Mohammed 13.
Die Folgezeit hat nur noch dürre, volksmäßige Weltchroniken hervor-
gebracht, das 16. Jahrhundert die des Manuel Malaxos, das 17. die des
Dorotheos von Monembzisia. Erfreulich sind die kraftvollen Ansätze zu
einer auf der natürlichen Sprache ruhenden neugriechischen Literatur, die
im 16. und 17. Jahrhundert auf Kreta, im 18. Jahrhundert auf der Hepta-
nesos hervortraten. Sie sind durch die kunstsprachliche Reaktion im
19. Jahrhundert wieder vernichtet worden; doch hat sich in der Poesie die
Volkssprache bis auf den heutigen Tag behauptet So ist denn das sicht-
barste geistige Erbteil, das die Neugriechen aus der byzantinischen Zeit
übernommen haben, die Doppelköpfigkeit ihrer Sprache und Literatur.
Die Versuche zur Ausgleichung dieses Dualismus in der Volksseele werden
wohl noch lange im Mittelpunkt der griechischen Kulturarbeit stehen. Von
der gedeihlichen Lösung dieser Lebensfrage hängt es ab, ob die Grriechen
dereinst noch einmal eine Literatur erzeugen werden, die diesen Namen
verdient
282 Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Ich glaube und hoffe, sie werden diese Literatur hervorbring'en. Nahezu
zwei Jahrtausende haben Attizismus, Archaismus und Rhetorismus, ver-
hängnisvolle Erbstücke der Vorfahren, die frische Entfaltung eines neuen
und eigenartigen Schrifttums gehemmt Es war natürlich, daß das viel-
geprüfte und geistig verarmte Volk, nachdem es sich durch heldenmütige
Kämpfe aus der Türkenbarbarei befreit hatte, zunächst einfach auf die
verstaubten Formen seiner Vergangenheit zurückgfriff. Heute aber sollten
die literarischen Allongeperücken, d. L klassizistische Unnatur, altertüm-
liche Dunkelheit und gezierter Bombast, endlich abgeworfen werden. Es
ist die Zeit gekommen, daß weitblickende starke Menschen das mannig-
faltige fruchtbare Leben der Cregenwart in sich fassen und \mbeirrt durch
verknöcherten und verknöchernden Formelkram im harmonischen Einklang
mit dem Denken und Fühlen der Nation zum Ausdruck bringen. So wird
das schöne neue Hellas sich seine Literatur imd seine nationale Bildimg
erringen und den Völkern zurufen können: Tretet eini Auch hier sind
Götterl
Schlußbetrachtung. Die welthistorische Bedeutung der byzanti-
nischen Bildung und Literatur kann nicht bezweifelt werden. Die griechi-
schen christiichen Oströmer haben über tausend Jahre das geistige Erbe
des Altertums gegen die wütenden, von allen Seiten losstürmenden An-
griffe der Barbaren gehütet Sie haben eine eigenartige mittelalterliche
Kultur geschaffen und die Schätze der alten heidnischen und ihrer eigenen
christlichen Literatur allen Nachbarvölkern mitgeteilt: den Syrern, den
Kopten, Armeniern, Georgiern, Arabern, den Bulgaren, Serben, Russen
und Rumänen; sie haben sogar den Mördern ihres politischen Lebens, den
Türken, wertvolle Stücke ihrer Bildung, besonders ihrer rechtlichen und
staatlichen Einrichtungen hingegeben; sie haben durch ihre Lehre eine
neue, riesengfroß in die pulsierende Gegenwart hereinragende Kultur er-
zeugt Sie haben endlich, im langen schmerzvollen Todeskampfe, die
Schätze der althellenischen Weisheit und Kunst auf den sicheren Boden
des Abendlandes verpflanzt imd dadurch die westiichen Völker, wie früher
die des Ostens und Nordens, mit reichen Bildungskeimen befruchtet
Die Nachkommen der Byzantiner besitzen keine politische Macht, und
die künftigen Geschicke der einst vom oströmischen Staate eingenommenen
Länder werden nicht von den Grriechen bestimmt werden. Dafür aber
haben die neuen Hellenen die gfroße und dankbare Pflicht, im Südosten
als Pioniere der europäischen Bildung und christiichen Gesittimg zu dienen
und bei der geistigen und materiellen Regeneration des uns nächsüiegenden
Orients in der ersten Linie mitzuwirken. Mögen sie dieser weitausblicken-
den Aufgabe in einer ihres ruhmreichen Namens würdigen Weise gerecht
werden!
Literatur.
DaB die Zeit von Konstantin bis Justinian, obwohl sie schon oben S. 198 fr. eine so
vortreflliche Darstellung gefunden hat, auch von mir flüchtig skizziert worden ist, geschah
im Einverständnis mit v. Wilamowitz-Moellendorff. Denn ebenso wie er bin ich der
Ansiebt, daB die Übergangsperiode eine doppelte Betrachtung, zuerst vom antiken, dann
vom mittelalterlichen Ufer aus, erfordere. Der Januskopf dieser aus alten und neuen
Elementen gemischten Zeit müßte eigentlich immer und noch viel eingehender, als es hier
geschehen konnte, von zwei Seiten aus studiert werden.
I. Die systematische Aufdeckung und Erforschung der byzantinischen Literatur beginnt
mit den großen Ausgaben der byzantinischen Historiker, die im 17. Jahrhundert unter den
Auspizien Ludwigs XIV durch gelehrte Franzosen wie Du Cangk , Combefis , Maltrait u. a.
veranstaltet wurden („Pariser Corpus"). Das 18. und 19. Jahrhundert beschränkten sich
zunächst, im .Anschluß an diese Riesenarbeit, auf weitere Veröffentlichung historischer
Quellen und auf die Untersuchung und Darstellung der byzantinischen Geschichte (im
i8. Jahrb. Gibbon; im 19. die Deutschen Fallmerayer, Tafel, Hopf, Gelzer; die Franzosen
BUCHON, Rambaud, ScHLiniBERGER, DiEHL; die Engländer Finlay imd Burv). Eine
philologische Arbeit im größeren Stil hat allerdings das 18. Jahrhundert hervorgebracht: der
größte Teil des byzantinischen Schrifttums ist durch des Fabricius Bibliotheca graeca be-
kanntgemacht worden (s. S. 232). Aber der weite Gesichtskreis, der in diesem gelehrten,
leider durch seine Formlosigkeit abschreckenden Monumentalwerke herrscht, verengte sich
durch das Aufkommen des Klassizismus so sehr, daß von nun an sowohl die einzelnen
Forschungen wie die Sammelwerke und allgemeinen Darstellungen meist vor willkürlich
gesteckten Grenzen Halt machten. Im großen und ganzen hat die griechische Philologie im
19. Jahrhundert die Byzantiner nur insoweit beachtet, als sie bei ihnen Reste und Ergänzungen
der alten Literatur vermutete. Demgemäß blieb auch die Veröffentlichung, Verwertung und
Beurteilung der byzantinischen Denkmäler meist auf dem engherzigen und kurzsichtigen
Standpunkt des Klassizismus befangen. In diesem Sinne wurden denn einzelne Teile der
byzantinischen Literatur auch in mehreren Gesamtdarstellungen der altgriechischen Literatur
berücksichtigt; am besten, aber mit Beschränkung auf die Poesie, in der Geschichte der
griechischen Literatur von G. Bernhardv (vierte Bearbeitung in 3 Teilen, 1876 — 1880). Zu
einer umfassenden Erforschung der byzantinischen Literatur um ihrer selbst willen, zum
Studium der Schriftwerke aus der Sprache und den Dingen ihrer eigenen Zeit heraus und
zu ihrer Beurteilung im großen Zusammenhange der griechisch -slawisch -orientalischen Kultur
des Mittelalters kam es erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Eine geschichtliche Dar-
stellung der auf die byzantinische Literatur gerichteten Studien, die am besten in den
Rahmen einer Geschichte der mittel- und neugriechischen Philologie gefaßt würde, fehlt
noch. Einen Ausschnitt behandelt Cn. DiEHL, Les dtudes byzantines en France, ,,Byz. Zeit-
schrift" 9 (1900) I — 13.
j. Den ersten Versuch einer zusammenfassenden Darstellung der byzantinischen Literatur
als Ausdruckes der oströmischen Kultureinheit wagte K. Krumbacher, Geschichte der
byzantinischen Literatur, München 1890. 2. Aufl. 1897 (in der 2. Aufl. ein Abschnitt ,, Theo-
logie", bearbeitet von A. Ehrhard, und ein Abriß der byzantinischen Kaisergeschichte von
H. Gelzer). Das Stoffliche und Bibliographische ist hier ziemlich vollständig zusammen-
gebracht; dagegen ist der geschichtliche Zusammenhang erst für einzelne Gebiete untersucht,
und für die Aufhellung der inneren Beziehungen wie für die schärfere Charakteristik einzelner
Gattungen, Perioden und Personen bleibt noch das meiste zu tun. Viele wichtige Texte sind
nur fragmentarisch oder ungenügend, viele an unzugänglichen Orten, viele noch gar nicht
veröffentlicht. Eine Unzahl einschneidender literarhistorischer und biographischer Fragen
harren noch der Prüfung. Die Spezialforschung hat ein unübersehbares Arbeitsfeld vor sich.
284
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
Der Veröffentlichung solcher Einzelarbeiten dienen jetzt mehrere periodische Organe: die
„Byzantinische Zeitschrift", herausgegeben von K. Krtjmbacher, Leipzig iSgiff. (bis
jetzt 14 Bände). Dazu als Ergänzung für umfangreichere Arbeiten das „Byzantinische
Archiv", herausgegeben von K. KRUMB.^CHER, Leipzig iSgSflf. (bis jetzt 3 Bände). Nach
dem Vorgang der ,,Byz. Zeitschrift'' gründete die russische Akademie der Wissenschaften ein
ähnliches Organ ,,Vizantijskij Vremennik" (d. h. Byzantinische Zeitschrift), Petersburg
1894 ff. (bis jetzt II Bände). Außer diesen Spezialorganen kommen in Betracht die Byzan-
tinisch-slawische Abteilung des Jahrbuches der historisch -philologischen Gesellschaft in
Odessa, die Nachrichten des russischen archäologischen Instituts in Konstantinopel und zahl-
reiche theologische , historische und philologische Zeitschriften , in denen byzantinische Dinge
gelegentlich berührt werden. Die L'bersicht über die sehr zerstreute Literatur wird jetzt
erleichtert durch die der ,,B>'z. Zeitschrift" und dem ,,Viz. Vrem." regelmäßig beigegebenen
bibliographischen Notizen. Man gewinnt aus ihnen eine überwältigende Vorstellung von der
mannigfaltigen und emsigen Arbeit, die heute auf diesem früher unbeachteten oder ver-
achteten Gebiete um sich gegriffen hat. Wer aber näher zusehen kann, wird etwas ent-
nüchtert. In Wahrheit sind wir lange nicht so weit vorwärts gekommen, als man nach den
lawinenartig anschwellenden Massen der neuesten Kleinliteratur erwarten sollte. Wenn so
viele wohlgemeinte Beiträge unzulänglich oder wertlos sind und so viele mühevolle Arbeiten
einfach neu gemacht werden müssen , so ist daran größtenteils die mangelhafte Vorbereitung
der Forscher schuld. Nichts ist verfehlter als die übliche stillschweigende Annahme, daß
eine normale Schulung in der klassischen Philologie, in der alten Geschichte oder in der
christlichen Tlieologie zur gedeihlichen Arbeit auf dem byzantinischen Brachland befähige.
In Wahrheit erheischt diese Arbeit eine ganz eigenartige Vorbildung, besonders eine ein-
gehende Beschäftigung mit der mittel- und neugriechischen Sprache, mit der Metrik, Epi-
graphik und Geschichte der Byzantiner und mit der griechischen Theologie. Wer sich
byzantinischen Studien im weiteren Umfange widmen will , wird auch — besonders wegen der
zahlreichen einschlägigen russischen Publikationen — der Kenntnis einer slawischen Sprache
nicht entraten können und sich endlich den Ergebnissen der benachbarten orientalischen
Philologien (besonders der sjTischen, arabischen und armenischen) nicht verschließen dürfen.
3. Die schon in der Literaturübersicht S. 230 ff. zitierten Werke, die in einzelnen
Partien auch für die byzantinische Literatur in Betracht kommen , werden hier nicht wieder-
holt. Ich beschränke mich wesentlich auf die Anführung einiger Bücher von allgemeiner
Bedeutung. Außerdem werden mehrere Schriften zur Begründung oder Erklärung im Texte
ausgesprochener Behauptungen genannt.
S. 241. Christianisierung im Osten und im Westen: Paul Fredericq, Les cons^quences
de r^vang^lisation par Rome et par Byzance sur le d^veloppemcnt de la langue matemelle
des peuples convertis. Bull, de l'Acad. roy. de Belgique, Classe des Icttres 1903, S. 738 ff.
FTr. Cumont, Pourquoi le latin fut la seule langue liturgique de l'Occident? Mdlanges PAUL
Fredericq, Bruxelles 1904, S. 63ff.
' S. 242. Themen Verfassung: H. Gelzer, Die Genesis der byzantinischen Themenverfassung.
Leipzig 1899 (Abhandl. d. k. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften, Band XVIII).
S. 249. Den Einfluß des Orients auf die frühchristliche und byzantinische Kunst hat
J. Strzvgowski nachgewiesen. Vg!. besonders seine Bücher: Orient oder Rom, Leipzig
1900; Kleinasien, ein Neuland der Kunstgeschichte, Leipzig 1903; den geistvollen Artikel:
Hellas in des Orients Umarmung, in der ,, Beilage zur (Münchener) Allgemeinen Zeitung"
vom 18. — 19. Februar 1902 (Nr. 40 — 41) und den S. 236 zitierten Aufsatz.
S. 250. Mithraskult; F. CUMONT, Les myst^res de Mithra. 2. Aufl. Paris 1902. (Deutsch
von H. Gehrich, Leipzig 1903.)
S. 250. Säulenheilige: H. DELEHA'i'E, Les stylites. Compte rendu du 3" congr&s scicnti-
fique international des catholiques, Bru.telles 1895, S. 191 — 232.
S. 250. Orientalische Form des mittelgriechischen Sprichwortes: K. Krumbacher, Mittel-
griechische Sprichwörter, München 1893, S. 2iff. (Sitzungsberichte der k. bayer. Akademie
der Wissenschaften. 1893, Band II).
Karl Krumbacher: Die griechische Literatur des Mittelalters.
285
S. 251. Koine: A. Thumb, Die griechische Sprache im Zeitalter des Hellenismus, Stras-
burg 1901. Vgl. oben S. 83 f.
S. 253. Eine Geschichte der griechischen Doppelsprachigkeit vom Altertum bis auf die
Gegenwart gibt K. Krumbacher, Das Problem der neugriechischen Schriftsprache, München
1902, wo auch sonstige Literatur angeführt ist.
S. 255. Theologische Prosa: Für die ältere Zeit (bis zum S.Jahrhundert) kommen einige
patrologische Werke in Betracht, besonders O. Bardenhewer, Patrologie. 2. Aufl. Frei-
burg i. B. 1901. Eine ausführlichere Darstellung gibt O. Bardenhewer in seiner: Geschichte
der altkirchlichen Literatur (bis jetzt Band I u. II), Freiburg 1902— 1903 (bis zum Beginn des
4. Jahrhunderts reichend).
S. 258. Hauptschrift zur byzantinischen theologischen Literatur: A. Ehrharo in Krum-
BACHERS Gesch. d.byi. Lit. 2. Aufl. 1897, S. 1 — 218. — Die wichtigste Sammlung von Texten
der griechischen Theologen ist die von dem französischen Abb^ MiGNE herausgegebene
Patrologia, Series Craeca, 161 Bände, Paris 1857 — 1866.
S. 261. Metrik der Kirchenpoesie : W. CHRIST et M. ParaNIKAS, Anthologia graeca car-
miniun christianorum , Leipzig 1871. Wilhelai Meyer, Anfang und Ursprung der latei-
nischen und griechischen rhythmischen Dichtung, München 1885 (Abhandl. der k. bayer.
Akademie der Wissenschaften. I. Cl. XVll. Band, ü. Abteil.), Dazu die unten zitierten
Arbeiten von K. Krumbacher.
S. 261. Einen Teil der Lieder des Romanos veröffentlichte zuerst der gelehrte Kardinal
J. B. PrrRA in seinen: Analecta Sacra Spicilegio Solesmensi parata, 1, Paris :876. Eine
Gesamtausgabe wird seit 20 Jahren vorbereitet von K. Krumbacher. Über eine Reihe von
Vorfragen wie über die Metrik, Textverderbnisse und besonders über die Handschriften
handeln desselben Schriften: Studien zu Romanos, Umarbeitungen bei Romanos, Romanos
und Kyriakos, Die Akrostichis in der griechischen Kirchenpoesie, die in den Sitzungsberichten
der Münchener Akademie 1898, 1899, 1901, 1904 erschienen sind.
S. 261. Die Übersetzung der ersten Strophe ist von mir, die der zweiten von J. L.JACOBI
(„Zeitschr. f. Kirchengesch." 1882, S. 226).
S. 262. Ephrem als Quelle des Romanos; Wilhelm Meyer, Carmina Burana, Berhn
1904, S. 149 ff. THO.MAS Wehofer, Untersuchungen zur Apokalypse des Romanos. Als
Ms gedruckt (1902).
S. 263. Eine Gesamtausgabe der b)'zantinischen Historiker und Chronisten wurde unter
Ludwig XIV in Paris begonnen und später fortgesetzt (1648 — 1819), (Pariser Corpus). Die
ganze Sammlung wurde auf Anregung B. G. NlEBUHRS mit einigen Nachträgen wiederholt,
Bonn 1828 — 1878 (Bonner Corpus). Eine Reihe von Autoren stehen jetzt auch in der
Bibltotheca Teubneriana.
S. 263. Prokop: FELIX Dahn, Procopius von Caesarea, Berlin 1865.
S. 270. Photios: J. Hergenröther , Photius, Patriarch von Konstantinopel, Hl Bände,
Regensburg 1867—1869.
S. 272. Konstantin VII Porphyrogennetos : A. Rambaitd, L'empire grec au dixiime
si^le. Constantin Porphyrog^nöte , Paris 1870.
S. 272. Michael Psellos: Carl Neum.\nn, Die Weltstellung des byzantinischen Reiches
vor den Kreuzzügen, Leipzig 1894, S. 81 ff.
S. 273. AnnaKoranena: Carl NEUMANN, Griechische Geschichtschreiber und Geschichts-
quellen im 12. Jahrhundert, Leipzig 1888, S. I7fl.
S. 275. Humanismus in Byzanz: Carl NEUMANN, Byzantinische Kultur und Renaissance-
kultur, Berhn 1903. Dazu die Bemerkungen in der „Byz. Zeitschr." 13 (1904) 275!.; 7Jof.
S. 276. Vgl. A. Wächter, Der Verfall des Griechentums in Kleinasien im 14. Jahr-
hundert, Leipzig 1903.
S. 278. Volksliteratur: K. Dieterich, Geschichte der byzantinischen und neugriechischen
Literatur, Leipzig 1902.
DIE GRIECHISCHE SPRACHE.
Von
Jakob Wackernagel.
11» Griechisch« Einleitung. Die Geschichte der gp-iechischen Sprache können wir mit
''"* Hilfe der ältesten Literaturdenkmäler und durch richtige Würdigung' der
Sprache. Mundarten bis ans Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. zurückverfolgen, ihre
damalige Beschaffenheit und Verbreitung annähernd feststellen. Noch
weiter zurück führt uns die Vergleichung mit anderen Sprachen. Schon
den Sprachgelehrten des Altertums waren die Ähnlichkeiten zwischen
Grriechisch und Latein aufgefallen. Übereinstimmungen, wie die bei ge-
wissen Verwandtschaftsneunen, z. B. lat pater gr. pater „Vater", lat mOter
griechisch mundartlich mätir „Mutter«; wie die bei den Zahlwörtern, z. B.
lateinisch und griechisch tri- „drei" (in Zusammensetzungen), lateinisch imd
griechisch octo, oktö „acht", mußten sich nicht bloß dem Grelehrten, sondern
jedem, der die Kenntnis der beiden Sprachen vereinigte, aiifdrängen. Zu
entsprechenden Beobachtungen mußte man späterhin von anderen Sprachen
Europas aus gelangen. Aber man vermochte die Erscheinimgen nicht
befriedigend zu erklären. Erst die im Ausgang des 18. Jahrhunderts er-
folgte Erschließung des Sanskrit ermöglichte eine wissenschaftliche Lösung
der Frage. Seit Friedrich Schlegel und Franz Bopp weiß man, daß
Griechisch und Latein beide einer großen Gruppe von Sprachen angehören,
die man mit dem nicht ganz geschickten, aber bis jetzt nicht durch
Besseres ersetzten Namen „indogermanisch" bezeichnet Freilich von einer
engeren Verwandtschaft gerade des Griechischen und Lateinischen inner-
halb dieser großen Sprachengruppe kann heute nicht mehr die Rede sein.
Die zahlreichen speziellen Übereinstimmungen beider Sprachen im Wort-
schatze beruhen auf Entlehnung seitens der Italiker; und die paar
Fälle, wo die zwei Sprachen im Gegensatz zu allen verwandten im
Formenbau zusammengehen, beruhen wahrscheinlich, zum Teil nachweislich
auf Zufall. Will man das Griechische einer engeren Grruppe innerhalb der
großen indogermanischen Sprachfamilie einordnen, so darf namentlich (ab-
gesehen von zahlreichen sehr auffälligen Übereinstimmungen mit dem
Armenischen) die Zusammengehörigkeit mit den Sprachen Westeuropas
überhaupt: den italischen, keltischen, germanischen, betont werden. Wie
diese hat d£is Griechische in zahlreichen Wörtern einen Kehllaut gegenüber
einem Zischlaut der anderen verwandten Sprachen. So in he-katon „hundert"
ein k wie in lateinisch centum imd britisch cant gegenüber indischem satatn,
avestischem satem, litauischem szimtas.
Einleitung.
287
Im ganzen nimmt das Griechische eine isolierte Stellung ein. Eine
tiefe Kluft scheidet es von den anderen indogermanischen Sprachen, die
im Altertum auf der Balkanhalbinsel gesprochen wurden. Nur das Make-
donische bildet möglicherweise eine Brücke, und auch dieses vielleicht nur
infolge nachträglicher Volksmischung, d. h. insofern als hier griechische
Sprache früh in den Mund thrakisch-illyrischer Barbaren geriet Eine
Menge sprachlicher Besonderheiten ist allen denen, die sich in historischer
Zeit Hellenen nannten, gemeinsam und in dieser Zusammenordnimg bei
keinen anderen Indogermanen wiederzufinden. Zwei charakteristische
Lautersetzungen lassen sich gleich an dem oben erwähnten Worte für
„hundert" Iwkatott aufzeigen. Die erste Silbe ist Ausdruck der Einheit;
sie entspricht kraft gemeingriechischen Ersatzes von s- durch einen Hauch
dem alten Stamme sevi-, der einst in den indogermanischen Sprachen zum
Ausdruck der Einheit diente und in der ersten Silbe von lateinisch
singularis enthalten ist Dagegen dem -kat- der zweiten Silbe von. hekalon
entspricht in den verwandten Sprachen meist ein Lautkomplex, worin dem
/-Laut ein Nasal vorangeht In der Grundsprache wurde hier ein Laut
gesprochen ähnlich dem en in deutsch reiten, und solchen Laut haben
alle Griechen durch a ersetzt Daneben hat das Griechische das Jod ein-
gebüßt, so daß dem lateinischen jugtim (deutsch Joch) griechisch sygon,
dem lateinischen jccur „Leber" griechisch hepar entspricht. Es hat im
Unterschied vom Latein sich auf wenige Formen des konsonantischen
Auslauts beschränkt und gibt unter Verzicht auf lu-sprünglichen freien
Akzent innerhalb eines Wortes immer einer der drei letzten, unter bestimmten
Bedingungen einer der beiden letzten den höchsten Ton. Nimmt man zu
diesen und einigen weiteren hauptsächlich die Konsonanten betreffenden
lautlichen Eigentümlichkeiten einige Neuerungen der Formenbildung, wie
die Vereinfachung des Kasussystems beim Nomen (kraft deren die Griechen
unter anderem des im Latein lebendig gebliebenen und weiter ausgebreiteten
Ablativs entbehren), oder den Ausbau des Infinitivs zur Unterscheidung der
Tempora und der sogenannten Genera Verbi, nebst einigen sonstigen ver-
balen Neubildungen, so hat man etwa das beisammen, was man als sicher
gemein- oder urgriechisch bezeichnen kann, und ist man im Besitz der
äußerlichsten Merkmale, um einen beliebig kurzen Text sofort als grie-
chisch oder nichtgriechisch zu erkennen.
Nicht beabsichtigt ist bei dieser Aufzählung sprachlicher Neuerungen
der Eindruck, als ob das indogermanische Erbteil bei den Griechen be-
sonders starken Umgestaltungen ausgesetzt gewesen wäre. Im Gegenteil
liefert das Grriechische unter allen indogermanischen Sprachen vielleicht
das treueste Abbild der Muttersprache. Zum Teil verdankt es diese Stellung
dem günstigen Stande seiner Überlieferung. Unter den Schwestersprachen
hat nur das Indische ältere Denkmäler aufzuweisen. Aber auch wenn
man das Grriechische des 3. Jahrhunderts v. Chr. mit dem Latein eben
dieser Zeit oder das um die Wende der Zeitrechnung gesprochene mit
Besonderheiten
des
(■iriecbischcn.
AUertamlichkcil
des
Griechischen.
288
Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
dem für diese Zeit erschließbaren Germanischen vergleicht, stellt es sich
als dem Alten treuer geblieben heraus. Und hierauf beruht ein großer
Teil der Vorzüge, die man etwa, hingerissen von der Schönheit griechischer
Sprachkunstwerke, den Lauten und Formen des Grriechischen schlechthin
(nicht bloß bestimmten Ausgestaltungen des Griechischen) nachgerühmt hat.
Ererbt ist z. B. der Wohllaut, den es durch den vielfarbigen vokalischen
Klang und das Fehlen der häßlichen Laute f und ch vor dem Latein und
dem Deutschen voraus hat, dessen wir allerdings infolge der hergebrachten
falschen Wiedergabe der Aspiraten qp d. i. ph (z.B. in Philosopfws) und %^.\- kh
(z.B. in Charori) durch y"- undc/;-Lautenicht völlig gewahr zu werden vermögen.
Deis Griechische hat diesen Wohllaut freilich gesteigert durch die Ver-
minderung des konsonantischen Bestandteils der Wörter im Aus- und auch
im Inlaut. Ebenso stammen aus der Grundsprache andere etwa dem
Griechischen gutgeschriebene Vorzüge: die Ableitungs- und Zusammen-
setzungsfähigkeit der Nomina und die hiedurch bedingte Mannigfaltigkeit
in der Bildung der Personennamen; ferner die Feinheit, die in der Unter-
scheidung von Aktiv und Medium, von Imperfekt und Aorist liegt. All
diese Dinge sind fast ebenso im Rigveda (zum Teil auch, mit noch feinerer
Durchführung, in den slawischen Sprachen) zu treffen. Das Eigentümliche
am Griechischen ist im Grunde nur, daß die ererbten Ausdrucks- und
Bildungsmöglichkeiten zwar allseitiger verwertet sind als im Latein, aber
maßvoller und darum wirksamer als im Altindischen.
SriechUch in Die hellenischen Stämme hatten, als sie sich in ihren historischen
der Wanderieit. •^Qjjj^gjj^gjj niederließen, eine lange Wanderzeit hinter sich. Aber die
Treue, womit sie das Alte wahrten, läßt darauf schließen, daß sie keine
ihr echtes Volkstum umstürzenden Geschicke durchgemacht und sich fremde
Volkselemente entweder wenig beigemischt oder eher mit glücklicher
Energie gänzlich assimiliert hatten. Diese Selbstbehauptung kennzeichnet
die Grriechen auch in ihren geschichtlichen Sitzen.
SprachtD der Nicht bloß in den Gebieten, wo sie nach eigener Überlieferung in
»itein Bewohner (j^g Erbe älterer barbarischer Einwohner eingetreten und deren Beherrscher
GnecbcnUnds.
und engste Nachbarn geworden sind, wie an der Küste Kleinasiens,
sondern auch auf den Inseln des Ägäischen Meeres und (trotz des An-
spruches der Arkader und der Attiker auf Autochthonie) überall im fest-
ländischen Hellas, haben einst vor den Grriechen andere, und zwar wohl
durchweg nicht-indogermanische Stämme gesessen. An mehreren Punkten
ist das Barbarentum bis in geschichtlich helle Zeiten lebendig geblieben.
Besonders klar sind diese Verhältnisse auf Kreta. Wenn es in der
Odyssee von dieser Insel heißt:
Es wohnen,
Dort unzählige Menschen und ihrer Städte sind neunzig:
Völker von mancherlei Stamm und mancherlei Sprachen,
so haben dies die Funde der letzten Jahrzehnte vollauf bestätigt Inschrift-
lich sind uns daselbst Reste einer völlig verschollenen Sprache entgegen-
Einleitung.
289
I
getreten. Zahlreiche kretische Ortsnamen sind ungriechisch, zum Teil nach-
weislich karisch. Ebenso viele Personennamen. Im übrigen Grriechenland
bilden die Ortsnamen das sicherste Zeugnis einstiger nichtgriechischer
Bevölkerung. Die bekanntesten Bergnamen, der des Pamassos, der des
honigreichen Hymettos haben kaxische Endung. Daneben ist an dem un-
griechischen Ursprung mancher Göttemamen nicht zu zweifeln. Den Kultus
des Himmelsgottes zwar und damit den Namen Zeus haben die Griechen
aus der Urheimat mitgebracht und durch ihre Wanderzüge durch gerettet
Aber im übrigen haben sie nach der Einwanderung offenbar zahlreiche
Kultstätten und damit Kulte und heilige Namen von den älteren Be-
wohnern übernommen.
So weit, auf Ortsnamen und auf Göttemamen, erstreckt sich der sprach- UngemurhthoU
liehe Einfluß der Autochthonen. In den sonstigen Wortschatz scheint aus ^" ^
ihrer Sprache so gut wie nichts eingedrungen zu sein. Wohl ist die
Etymologie der griechischen Sprache noch viel weiter im Rückstand, als
der Fernerstehende vielleicht denkt Und auch bei fortschreitender For-
schung werden wohl immer Wörter übrigbleiben, die man weder als ererbt
noch als von den Grriechen selbst neu gebildet wird nachweisen können.
Aber wir haben gar keine Anhaltspunkte, um mehr als ganz vereinzelte
Entlehnungen aus der Sprache der Ureinwohner anzunehmen.
Überhaupt gehört Sprödigkeit gegenüber Entlehnung zu den bezeich- Äuer»
nendsten sprachlichen Eigenheiten der Griechen, Im schärfsten Gegensatz '"»"'•''*"•'•
zu den Lateinern, die, soweit wir zurückblicken können, vom Reichtum
der Griechen zehren, haben diese selbst ihr Ausdrucksbedürfnis fast ganz
aus eigenen Mitteln bestritten. Alle Begriffe des persönlichen Lebens,
des Familien- und Staatslebens haben sie griechisch benannt; die Termino-
logie der Künste und Wissenschaften ist rein national. Am ehesten noch
ist Einfluß fremder Sprechweise in den Kolonialgebieten zu erkennen,
gerade so wie deis Englische in Indien und am Kap manche entliehene
Ausdrücke enthält, die einem Bewohner Londons oder Oxfords unverständ-
lich sind. Der Jambograph Hipponax aus Ephesos verwendet das lydische
Wort für „König". Die Kyrenäer bezeichnen nicht bloß das afrikanische
Produkt, das sie reich machte, das Silphion, wie billig mit afrikanischem
Namen, sondern auch den Silphionwäger. Und ganz besonders haben sich
die verschiedenen griechischen Stämmen angehörigen Besiedler Italiens
und Siziliens dem fremden Einfluß geöffnet Nicht bloß, was man ja leicht
versteht, ihre Gewichts- und Münzbezeichnungen lehnen sich ganz an die
dort einheimische Weise an; bei ihren Dichtem und in ihren Urkunden
begegnet man lateinischen Wörtern wie campus, panis, rogus in kaum
veränderter Gestalt Aber die Hellenen des Mutterlandes haben fast nur
von außen zugekommene Gegenstände der äußeren Kultiu- ausländisch
benannt Dies freilich von jeher. Bei Homer sind z. B. fast alle Metall-
namen derartigen Ursprungs. Das Wort für Gold (chrysosj ist semitisch,
das für Silber (argyros) über Kleinasien zugewandert, die für Blei (molibdos)
Du KlLTUR DEJl CixnMWUlT. I. 8, ]Q
>go
Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
später«
Fremdwörter.
und Eisen (sidcros) wohl iberisch bzw. kaukasisch. Wenn einzig das
Erz einen echtgriechischen Namen führt (clialkos), so folgt daraus, daß
die Griechen nur dieses Metall kontinuierlich besessen haben. Dem ent-
spricht es, wenn bei Homer der linnene Rock, der Chiton, ungfriechisch
benannt ist, und wenn nach Homer als Semitismen unter anderem die
Buchstabennamen und gewisse Ausdrücke für Gewicht und Münze be-
gegnen. So mna oder mnc „die Mine", das mit dem ersten Wort des
Danielschen Mene Tekel identisch ist, während freilich für den umfassen-
deren Begriff Talent und für die TeilbegrifFe Drachme und Obolos echt-
griechische Ausdrücke gewählt wurden. Und wie wir die Wörter Peitsche
und Knute dem solche Waffen liebenden Osten verdanken, so der Athener
sein gleichbedeutendes maragna.
Auch mit Alexander und dem Hellenismus trat in der Ablehnung des
Fremden nur insofern eine Wendung ein, als sich nun viel mehr Anlaß
bot, Dinge fremder Länder und Völker zu benennen, und als weiterhin
die Barbaren und besonders die Römer immer mehr anfingen griechisch
zu reden und zu schreiben und dabei ihre Sprachgewohnheiten auf das
erlernte Idiom übertrugen. Aber freilich durch die römische Herrschaft
und das, Wcis sie in der Kaiserzeit im Gefolge hatte, die Völkermischung
und die weit verbreitete Zweisprachigkeit der Gebildeten und wohl auch
der Geschäftsleute, wurde das Griechentum stärker infiziert. Begriffe des
Alltags und des öffentlichen Lebens werden nun immer mehr lateinisch
benannt Auch die Personennamen reden eine deutliche Sprache. Eine
Menge orientalischer und römischer Namen wird mit griechischer Endung
in Gebrauch genommen. Sprachgeschichtlich am lehrreichsten sind solche
wie Herodianos, Christtanos , wo auf griechischen Stamm eine lateinische
Endung {-iafios wie in lateinisch Ca-esarianus) gepfropft ist Auch sonst
finden wir für Schöpfung griechischer Wörter lateinische Bildungselemente
verwandt; selbst innere Sprachform und Wortfügung zeugen von jener
Einheit griechisch-römischer Kultur, welche die Kaiserzeit charakterisiert
Spaltung L Die griechischen Mundarten. Das Griechische tritt ims zu-
iD Mundirten jj^^hst in scharf ausgeprägter mundartlicher Spaltung entgegen. Wo
große Ebenen von Nomaden bewohnt werden, pflegt die Sprache weithin
einheitlich zu sein. Es fehlt da an natürlichen Grenzen, an festen Zentren.
Durch das beständige Wandern kommt jeder mit jedem gelegentlich in
Kontakt So bei den Steppenvölkern Innerasiens; so bei den Arabern.
Umgekehrt bei den Griechen. Hier mußte die unendliche Gliederung des
Landes, da überall Gebirgszüge und Meere teils trennten, teils auch
wieder verbanden, der mundartlichen Vielförmigkeit ganz eigentlich rufen;
man vergleiche die Vielsprachigkeit des Kaukasus. In gleichem Sinne
wirkte der zum Teil aus gleicher Ursache entsprungene politische Parti-
kularismus. Die Vielheit von Mundarten bestand ungemindert und un-
verwischt bis tief in die Zeiten hinab, da man schrieb und Urkunden in
I. Die griechischen Mundarten.
igt
Wcsrn der
oiundArtlicbrn
Abweichunfen.
Stein und Erz verewigte. Sie kamen auch in der Literatur zu Wort, hier
freilich zu Anfang selten ungemischt; immerhin hatten z. B. die Lieder
der Sappho und des Alkaios durchaus äolischen, die des Archilochos und
des Anakreon durchaus ionischen Klang. Und so sind uns die Dialekte
Griechenlands viel besser bekannt als diejenigen des alten Italien und
haben eine größere geschichtliche Bedeutung als die deutschen oder gar
die französischen.
Nicht irgendein allgemeines Griechisch, vielmehr die besondere Mund- Mundarten
art ihrer Stadt oder Landschaft nahmen die Griechen auch auf den Kolo- ""'''" '^'''"''''■"
nisationszügen mit. So sprach man auf Kypros, das in grauer Vorzeit von
der vordorischea Bevölkerung des Peloponneses Besiedler empfangen hatte,
dasselbe Griechisch wie in Arkadien, in Korkyra dasselbe wie in Korinth.
Und in der Chalkidike, am Pontus, in Süditalien und Sizilien hausten
lonier und Dorer mit gerade solcher sprachlicher Divergenz nebeneinander
wie im Mutterlande. Neapel in Karapanien verrät seinen Ursprung aus
dem ionischen Chalkis noch in der Kaiserzeit durch die Form gewisser
Ausdrücke des öffentlichen Lebens.
Die Mundarten gehen hauptsächlich in den Lauten und hier besonders
in den Vokalen auseinander. Dehnungen und Kontraktionen führen bei
den einzelnen zu verschiedenen Ergebnissen. Die lonier und Attiker ersetzen
altes ä durch g, die Eleer altes c durch j; dem lateinischen mätt'r stellen daher
jene meter, diese mäiär gegenüber, gerade wie lateinisch cantätus franzö-
sisch zu chante wurde, und wie anderseits der Name der Sueben in dem
der Sclnvaben fortlebt Innerhalb des Konsonantismus ist die variierende
Behandlung des / und gewisser ursprünglicher Konsonantengruppen be-
merkenswert lonier und andere machen aus altem vikati „zwanzig"
eikosi, wie die Franzosen das / von lateinisch natio als s sprechen; und
lateinischem qvah'or „vier" antwortet äolisch pessyres, ionisch tcsseres, attisch
tettares. Unter den Wortformen zeigen das Pronomen und der Infinitiv die
zahlreichsten Abweichungen. Offenbar war der Infinitiv, worauf auch das
Zeugnis der verwandten Sprachen führt, urgriechisch noch nicht auf eine
bestimmte Bildung fixiert. — Im einzelnen war Grad und Art der mund-
artlichen Varietät durch verschiedene einander kreuzende Momente be-
stimmt, denen die landläufige Einteilung in Aolisch, Ionisch und Dorisch
nur sehr unvollkommen gerecht wird. Zum Teil waren geographische
Berührungen wirksam. Das Attische hatte Beziehungen nach Nordwesten
zum Böotischen, nach Osten zum Ionischen. Die lonier KJeinasiens
wiederum berührten sich in einigem mit den nordwärts von ihnen wohn-
haften Aolem. Daneben wirkten die alten Wanderungen nach, am deut-
lichsten in der Sprachgemeinschaft der dorischen Staaten, aber auch in
anderem. Das Arkadische z. B. war am nächsten dem Ionischen und
Attischen, weiterhin auch dem Aolischen und Thessalischen verwandt, von
den Sprachen der Umwohner geschieden: man weiß nun, daß der durch
das Arkadische vertretene Dialekttypus einst auch in den Küstenland-
19»
292
Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
Schäften des Peloponneses herrschte und erst durch die Einwanderung der
dorischen und ätohschen Stämme zurückgedrängt und aus dem ursprüng-
lichen Zusammenhange herausgerissen wurde. Wiederum die mundart-
Uchen Verhältnisse Thessaliens erklären sich daraus, daß, nachdem von
Westen her der Stamm der Thessaler eingebrochen war, er zwar im
nächstgelegenen Teil des Landes den von ihm mitgebrachten Typus des
Griechischen wenigstens annähernd durchsetzte, aber weiter nach Osten
hin die Sprache der Unterworfenen völlig annahm. Femer kann man
auch bei den Griechen die Beobachtung machen, daß durch Veränderung
der Wohnsitze und durch Kreuzung von Volksstämmen die sprachliche
Entwickelung beschleunigt wird. Böotien bestätigt durch seine Sprache
die Überlieferung, daß es einmal seinen Herrn gewechselt hat: es besitzt
die buntscheckigste Mundart und zugleich die phonetisch modernste. Und
die lonier Asiens sind, wie in allem anderen, so auch in der Sprache den
übrigen Grriechen voran. Sie haben zuerst von allen den af-Laut, das
sogenannte Digamma, aufgegeben und sich wenigstens ein halbes Jahr-
tausend früher als die Athener den Zopf des Dualis abgeschnitten.
Atti.ehcr Die wirkliche Gestaltung des Sprachlebens bis in seine feinen Schattie-
Duiekt. rungen kennen wir für die Zeit der altmundartlichen Spaltung weitaus am
besten in Attika dank der Fülle literarischer und inschriftlicher Über-
_ . lieferung. Nach dem, was sich hier sicher feststellen läßt, können wir
uns unter gewissen Vorbehalten ein Bild von den ältesten Sprachverhältnissen
anderer griechischer Landschaften machen,
sprachiicbo Zunächst frappiert den Betrachter die Einheitlichkeit der attischen
Einheit von Sprache. Einheitlich ist sie erstens in räumlicher Beziehung. Jedenfalls
im 5. und 4. Jahrhundert wurde in ganz Attika gleiches Griechisch ge-
sprochen, soweit überhaupt sprachliche Einheit auf irgend einem aus-
gedehnteren Gebiete möglich ist Kein Stein überliefert irgend ein Bei-
spiel lokaler Mundart, imd während der römische Komiker seine Hörer
mit den Wunderlichkeiten des Lateins von Präneste unterhalten kann, weiß
der attische, der sonst so gern sprachliche Besonderheiten seinem Spott
unterwirft, an ländlichen Gemeinden seines Heimatgebietes nichts Ähnliches
auszusetzen. Wer die Gesetze sprachlichen Lebens einerseits, die ursprüng-
lichen staatlichen Verhältnisse Attikas anderseits erwägt, wird es als ge-
wiß betrachten, daß ehemals in Marathon anders gesprochen wurde als in
Athen oder Sunion, Von einer einstigen eigentümlichen eleusinischen
Mundart zeugen gewisse sakrale Namen. Aber dies alles ist früh unter-
gegangen. Die Auffassung Attikas als Einer Polis war nicht bloß Theorie.
Athen war so durchaus Zentrum, daß es alle örtlichen Besonderheiten auf-
sog. Seine Sprache war Norm für alle, die als seine Bürger galten. Die
einzige Ausnahme dient zur Bestätigung: Oropos hat einen Sonderdialekt,
verwandt dem von Euböa, aber es hat nur zeitenweise zu Attika gehört.
— Nicht ganz so einheitlich, aber doch viel einheitlicher, als man erwarten
könnte, ist das Attische in sozialer Beziehung. Die Schichten wenigstens
Attika.
I. Die griechischen Mundarten.
293
der bürgerlichen Bevölkerung waren sprachlich weniger geschieden als
2. B. im alten Rom. Formal vulgäre Redeweise bezeugt die Literatur
eigentlich nur für Fremde oder wo fremder Ursprung glaublich gemacht
werden soll. Und die Sprache der Texte, die nicht aus künstlerischen
Absichten stilisiert sind, ist, was Laute, Wortgebilde, Satüfügung betrifft,
merkwürdig gleichmäßig. Nur an zwei Gruppen von Denkmälern, an den
Vasen und an den sogenannten Fluchtafeln, hat die neuere Forschung eine
Anzahl Erscheinungen nachgewiesen, welche zeigen, daß der gemeine
Mann gewissen Lautneigungen mehr nachgab, als das Reden vor Gericht
oder der Gebrauch selbst der komischen Bühne es zuließ. Aber viel ist
es nicht Zudem kommen hier vielfach Fremde zu Worte, Zugewanderte
und Sklaven. — Auch ein Drittes mag noch genannt werden. Die Sprache
des Gottesdienstes sonderte sich zwar in Athen von der des Alltages, aber
nur durch die Verwendung einiger weniger sonst ungebräuchlicher Aus-
drücke und durch die gelegentliche ionische oder homerische Färbung des
Vokalismus, wodurch die Rede Würde und Vornehmheit zu erhalten schien.
Unverständliche oder halbverständliche Gebete und Formeln, wie sie bei
so vielen Völkern und Religionsgemeinschaften, im Altertum bei den
Römern zu treffen sind, kennt man in Athen (wie anscheinend überhaupt
bei den Griechen) nicht, wenigstens picht in staatlichen Kulten. Ent-
sprechend zeichnet sich die attische Amts- und Rechtssprache durch die
geringe Zahl veralteter Worte aus.
Sprachlich geschlossen wie Attika in sich war, ließ es doch auch EmflUMe'
Grriechisch anderer Färbung bei sich einströmen. Man fand zwar seine *" "" , "" '
"^ arten au! Oa«
Belustigung daran, wenn der Komiker böotische, raegarische, lakonische Aitiicho.
Klänge auf seine Bühne brachte, aber man nahm von den näheren und
ferneren Nachbarn und von den zugewanderten griechischen Volksgenossen
manches an. Von den Dorem, deren Einfluß der großen Zeit Athens wohl
vorausliegt, außer einzelnen interjektionellen Wörtern und außer Personen-
namen besonders solche Ausdrücke, die den aristokratischen Gedankenkreisen
entsprachen oder beim Gelage Verwendung fanden, von den loniern etwa
Termini des Kultus, der Wissenschaft, der praktischen Heilkunst Wich-
tiger als diese von den Alten übertrieben gewerteten Einzelentlehnungen
sind die Einflüsse der nicht-attischen Literatursprachen. Zwar schon sehr
früh und mit höchst bemerkenswerter Sicherheit und Gewandtheit haben
die Attiker ihr einheimisches Idiom schriftlich zu handhaben verstanden.
Neben den Urkunden spiegelt der lambus des Solon, wie der der Komödie,
das gesprochene Attisch wider. Aus Aristophanes klingt es uns in un-
vergänglicher Frische und Anmut entgegen. Aber an die hohe Poesie
wagten sich die Athener damit nicht und anfanglich auch nicht an die
Kunstprosa. Hier waren für sie Sprachtypen maßgebend, die bei anderen
Griechen geprägt worden waren. Im Epigramm die sprachlich sich
ans Epos anlehnende Elegie, in der Tragödie für die Lieder die äolisch-
dorische Lyrik, für den Dialog ursprünglich die ionische lambik, freilich
294
Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
mit starkem und wachsendem attischen Zusatz. Ähnlich die älteste Kunst-
prosa, wie sie z. B. durch Thukydides vertreten ist Mit seltsamer
Mischung bewegt sie sich vorwiegend in attischer Sprache, schließt sich
aber in gewissen Fällen, wo das Ionische andere Konsonanten hat als das
Attische, an jenes an, ebenso in der Wortwahl und Phraseologie. Aber
schon im 5. Jahrhundert beginnt sich in der Prosa die pure Atthis durch-
zusetzen, und im 4. Jahrhundert vermag der Attiker alles in der eigenen
Sprache auszudrücken.
'dm AttiKhe Das Attische dieser Zeit bezeichnet für uns, da hernach andere Ent-
^GriMhUcirn' wickclungen einsetzen, den Höhepunkt der griechischen Sprachgeschichte.
Eine wesentliche Eigentümlichkeit des Griechentums ist, daß bei ihm mit
einer sprachlichen Kultur und Pflege der Sprache als Kunstwerkes, wie
wir solche heutzutage etwa bei einzelnen romanischen Völkern treffen,
eine eben diesen Völkern fremde Freiheit und Beweglichkeit zusammen-
geht, vermöge deren die Gegenw^art (außer wo die Tradition einer be-
stimmten poetischen Gattung es verlangte) nicht an die Vergangenheit ge-
fesselt und das Individuum nicht den Machtsprüchen einer Akademie unter-
worfen war. So sind alle Kräfte, die in der Sprache lagen, zur Ent-
faltung gelangt und hat die sprachliche Entwickelung bis ins 4. Jahr-
hundert nie stille gestanden. Gegenüber dem Zustande, worin uns das
Griechische zuerst entgegentritt, finden wir es im klassischen Attisch be-
deutend moderner, d. h. verstandesmäßiger und praktischer geworden.
Manches Primitive ist abgestreift, — wie die vollklingende, aber unbequeme
Bezeichnung der Abstammung durch ein Patronymikum (Aias Telamonios,
wie noch heute im Russischen Alexander Iwanowitsch) statt durch den
Genetiv (Timotheos [Sohn] des Konon) — oder ist auf dem Wege ab-
gestreift zu werden wie der DuaL Die formale Unterscheidung von Medium
und Passiv ist wenigstens für einige Tempora durchgeführt. Die Wort-
stellung ist logischer. Es ist eine größere Fähigkeit zu generellem und
abstraktem Ausdruck vorhanden. Der Attiker hat ein allgemeines Wort
für Tier, was Homer noch nicht hatte; ein allgemeines für verschwägert,
während das ältere Gmechisch wie die Grundsprache eben nur jedes ein-
zelne Verschwägerungsverhältnis bezeichnen konnte. Von großem Einfluß
auf die Ausdrucksfahigkeit der Sprache war die Herausbildung der Kate-
gorie des Artikels aus dem rückweisenden Pronomen, vermöge deren ho
basileus ursprünglich „dieser König" nunmehr bedeutete „der König" mit
derselben Bedeutungsentwickelung, die wir in französisch le roi aus lateinisch
ülum regem treffen und durch die unser deutscher Artikel zustande ge-
kommen ist Damit war neben anderem die Möglichkeit zur Substantivierung
und zum feinsten abstrakten Ausdruck gegeben. Das kommt auch der Ver-
wendung des Infinitivs zugute, der außerdem nunmehr die modale Färbung
des Verbum finitum wiederzugeben vermag. Die Fülle von Neubildungen
zum Zweck der sprachlichen Wiedergabe der neuen Gedankenwelt, die zumal
nach den Perserkriegen in Athen einströmte, kommt nur darum an letzter
II. Die älteren Gemeinsprachen.
295
Stelle, weil wir nicht wissen, in welchem Maße hieran die ganze Sprach-
gemeinschaft Anteil hatte. Dasselbe gilt von der Kunst der Periodologie.
Es ist nicht dieses Ortes, festzustellen, wieweit die großen Stilisten
des vierten Jahrhunderts zum gesprochenen Attisch ihrer Zeit Zusätze oder
davon Abstriche machten, wieweit sie femer selbst sprachschöpferisch
wirkten. Aber vielleicht darf auch die nüchterne Sprachforschung die
Frage aufwerfen, ob nicht Plato ein Höchstes menschlichen Sprachkönnens
darstelle. Wohlklang und Deutlichkeit, begriffliche Schärfe und poetische
Anmut und Erhabenheit sind bei ihm in unbeschreiblicher H2irmonie vereinigt.
P
P
II. Die älteren Gemeinsprachen. Gegenüber der mundartlichen spr.chiicho
Zersplitterung macht sich bei den Griechen sehr früh ein Zug nach sprach- £'■>'«"»« ^•'
_, GriechcD.
lieber Einheit geltend. Wie die Angehörigen verschiedener Stämme
einander verstanden, wenn sie in Handel oder Krieg oder an einer Fest-
versammlung zusammentrafen, wissen wir nicht Die wesentliche Überein-
stimmung des Wortschatzes und der Wortbiegung mußte für den gemeinen
Mann durch die starken lautlichen Abweichungen verhüllt werden, das
Böotische dem Kreter, das Thessalische dem Eleer fast wie eine fremde
Sprache vorkommen. Aber die Grriechen gelangten früh in den Besitz von
Gemeinsprachen. Es ist bezeichnend für den Gegensatz griechischer und
römischer Kultur, einmal, daß sich in Italien die sprachliche Einigung nur
nach Einem Zentrum hin als Latinisierung volkieht, bei den Grriechen dii-
gegen sich verschiedene Mundarten in panhellenischer Geltung abgelöst
haben; zweitens, und das ist noch bemerkenswerter, daß für die Latini-
sierung Italiens hauptsächlich politische Momente bestimmend sind, An-
nahme des Latein mit Annahme des römischen Bürgerrechtes zusammengeht,
während die älteren hellenischen Gemeinsprachen mit staatlichen Zusammen-
hängen durchaus nichts zu tun haben, sondern nur für die Literatur gelten.
Gleich das älteste und wichtigste Denkmal griechischer Literatur, die Hotneniche
homerische Dichtung, steht gewissermaßen außerhalb und oberhalb der Sprache,
naturwüchsigen Mundarten. So wie sie überliefert ist, trägt sie ionisches
Gewand; der für die lonier charakteristische ^-Vokal, dem die anderen
Grriechen das ursprüngliche ä entgegensetzen, klingt uns aus jeder Zeile
entgegen. Allein schon dies gibt uns Gewähr, daß die Gedichte, so wie
sie vorliegen, in lonien verfaßt worden sind. Aber das Ionische ist nur
ein Firnis, gestrichen auf eine unionische Sprache mit anderem Vokalismus,
einem anderen Schatz von Wörtern und Formen, eine Sprache nächstver-
wandt denjenigen Mundarten, die wir in nachhomerischer Zeit auf Lesbos
und in Thessalien gesprochen finden. Bei den Stämmen, die zuerst in
Thessalien saßen, dann sich als Äolier im Nordosten des Ägäischen Meeres
festsetzten, hatte die hexametrische Dichtung ihre erste Gestaltung erhalten,
und dies bestimmte ihren ursprünglichen Sprachcharakter. Als sich die
lonier diese Dichtung aneigneten, dichteten sie in der von den Äoliem
geschaffenen Sprache weiter. Nur gestalteten sie in den übernommenen
296
Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
^^^H Versen und Phrasen die Wörter, die ihnen selbst mit gleichem metrischen
^^^B Wert, aber in abweichender Lautgestalt geläufig waren, leise um, naraent-
^^^H lieh indem sie dieselben mit dem ihnen für lang ä geläufigen t'-Laut aus-
^^^H statteten. Sie ließen ferner allmählich immer mehr auch sonst Wörter und
^^^H Formen ihrer Mundart einfließen, stellten z. B. neben das äolische ammes
^^^H ,iwir" ihr hemeis, neben ptsyrcs „vier" ihr (cssares. Es ist bemerkenswert,
^^^1 daß die Hellenen trotz ihres sicheren Stilgefühles an einer Dichtungssprache
^^^H von so in die Augen springender und im Grunde so zufällig zustande
^^^H gekommener Buntscheckigkeit keinen Anstoß nahmen, sich vielmehr offen-
^^^H bar der dadurch gebotene^ Polyphonie freuten, während den homerischen
^^^H Dichtern selbst die Vielheit begrifflich gleichwertiger, metrisch verschie-
dener Formen willkommen sein mußte.
üBvoiitttumiich- Hiermit ist aber die homerische Sprache nur nach Einer Richtung
li^^hel" «Tbc charakterisiert. Nichts wäre falscher, als auf Grund des Gesagten darin
einfach eine Mischung des lebendigen volkstümlichen Sprachgutes zweier
^^Hb benachbarter Mundarten zu sehen. Das Epos enthält unmittelbar neben
^^^H solchen Wörtern und Wortformen, die der Zeit seiner jüngsten Dichter
^^^H angehören, zahlreiche weitere, die schon seit Jahrhunderten der gesprochenen
^^^H Rede fremd waren. Und wir dürfen mit Bestimmtheit ein ähnliches Mischungs-
^^^H Verhältnis schon für die älteren, uns verlorenen epischen Lieder voraus-
^^^H setzen. Ferner hat das Epos den Bedürfnissen des Metrums starken Ein-
^^^H fluß auf Wahl und Formung der Wörter gestattet Es stellt endlich
^^^H nur einen Ausschnitt der Sprache dar, enthält nur das, was für vor-
^^^H nehmen Mund als wohlanständig galt Wie man in ältester Zeit solche
^^^H Dinge und Funktionen benannte, deren laute Benennung auch heute
^^^m als unschicklich gilt, kann man erst aus späterer Literatur erschließen.
^^^L Homer ist sprachlich viel zurückhaltender als selbst der attische Trag^er.
^^^H Die unmittelbaren Äußerungen der Affekte sind bei ihm verpönt Inter-
^^^H jektionen kennt er fast gar nicht; und wenn die lebende Rede, auch die
^^^H der attischen Bühne, gern um eine Anrede oder einen Befehl dringlich zu
^^^V machen Vokative und Imperative mehrmals aufeinander folgen läßt, so
^P hat sich Homer selbst dieses einfache Steigerungsmittel versagt außer in
einer altererbten Form der Anrede an den Gott Ares.
War die homerische Sprache schon durch ihre Entstehung mundart-
licher Beschränktheit enthoben, so war sie es noch mehr durch die Ver-
wendung, die sie im Laufe der Jahrhunderte fand. Dank dem Ansehen
der homerischen Gedichte wurde sie die poetische Gemeinsprache von
ganz Hellas. An den Gebrauch des Hexameters war sie unlösUch ge-
knüpft, hat in der hexametrischen Dichtung geherrscht von den Zeiten,
da diese die Form abgab für die Streitlieder und die Lelirdichtung des
Böoters Hesiod und von der delphischen Priesterschaft für ihre Orakel-
sprüche in Gebrauch gezogen wurde, bis zu den letzten Ausläufern der
griechischen Dichtung. Aber überhaupt jede Form der poetischen Sprache
der Griechen enthält wenigstens einzelne Elemente, die der homerischen
Vorbreitung der
horoorücben
Sprache.
IL Die älteren Gemeinsprachen.
297
sprachen über»]
haapt.
r
entstammen. Die Sprache des Gottesdienstes, die Namengebung steht
unter ihrem Einflüsse. Die älteste Prosa weiß sich homerischer Floskeln
nicht zu enthalten. Auch in der Sprache ist Homer ein Erzieher der
griechischen Nation gewesen.
Die homerische Sprache war Gemeingut schon zu einer Zeit, da noch Pocti»cbc Km
überall Einzelne und Gemeinden sich im wirklichen Leben der über-
kommenen Mundarten bedienten. Manches veraltete homerische Wort
blieb gewiß, obgleich seit frühen Zeiten der Dichter in der Schule erklärt
wurde, völlig unver.standen und wurde von dem, der sich selb.st dichtend
an Homer anschloß, gemieden oder auch (zum Teil gerade infolge irrigen
Unterrichtes) falsch verwandt. Immerhin bleibt die Leichtigkeit bemerkens-
wert, womit der Grieche, für den die Erlernung einer fremden Sprache sonst
kaum in Betracht kam, einen Typus von Griechisch zu genießen wußte,
der wenigstens außerhalb loniens von der gewohnten Weise in jedem dritten
Worte abwich. Dies gilt auch der anderen Kunstsprache gegenüber, die
nach Homer und von ihm sichtlich beeinflußt panhellenische Geltung er-
langte, derjenigen der Lyrik. Durch ihr leicht äolisierendes Dorisch ver-
rät sie, wo sie entstanden ist Aber auch sie ist nicht an ihre Heimat-
stätten gebunden geblieben. Gerade durch Dichter aus dialektisch abweichen-
dem Gebiet, wie den Böoter Pindar, ist sie uns hauptsächlich bekannt
Ihre Vokalfärbung: das häufige a, das gelegentliche oi {für ö ü anderer
Mundarten) wurde, analog dem e Homers, als Charakteristikum einer be-
stimmten Stilart empfunden.
Eine hervorragende Bedeutung gewann vom 6. Jahrhundert ab die
Sprache des kleinasiatischen loniens. Zunächst eine Kleinigkeit Vermöge
der Lage ihrer Landschaft und vermöge ihrer Beweglichkeit waren die lonier
die Hauptvermittler des morgenländischen Sprachgutes an die Griechen.
So kommt es, daß gewisse orientalische Volksnamen, deren wir uns noch
bedienen, ohne die Kenntnis ionischer Lautgesetze nicht begreifbar sind.
Das medische Volk hieß in seiner eigenen Sprache Alada, entsprechend
bei den kyprischen Griechen Madoi. Aber die lonier, weil sie überhaupt
ä durch e ersetzten, sagten Alcdm. Das sprachen ihnen alle anderen
Griechen nach, und so mit c spricht und schreibt nun diesen Volksnamen
das ganze Abendland. Ferner hatten die Perser, nach ihrer Weise s in /;
verwandelnd, den großen Strom Indiens (indisch simi/tu/i) und das ihm be-
nachbarte Land und Volk hindu genannt Die lonier, ebenso unfähig einen
Hauchlaut zu sprechen, wie der heutige Franzose, ließen das // weg, und
danach sprachen die anderen Griechen und weiter die Lateiner und
sprechen danach auch wir von Indus, Indem, Indien.
Aber nicht bloß in einzelnen Wortformen wurde das Ionische für ioni«:h sprai
andere maßgebend. Als Sprache des öffentlichen Lebens breitete es sich
von den altionischen Städten südwärts aus, wurde im ursprünglich dorischen
Halikarnaß, im ursprünglich barbarischen Karien heimisch. Die lonier
lieferten ferner die ersten Muster für erzählende und wissensch2iflliche
Vorherrschaft
dcf loDWrbc^l
der Prosa.
298 Jakob Wackernagel : Die griechische Sprache.
Prosadarstellung. So kam es, daß im 5. Jahrhundert, wer Prosa schrieb,
ob er im äolischen Lesbos oder im dorischen S3rrakus zu Hause war, seine
heimische Mundart beiseite ließ und sich des Ionischen bediente. Wir
wurden uns nicht wundem, wenn das Ionische in dieser Periode zunehmen-
der Berührung und zunehmenden Zusammenschlusses der Hellenen definitiv
allgemeine Schriftsprache geworden wäre. Aber es kam anders: das nah
verwandte und durch ionischen Einfluß ausgebildete Attische trat an seine
Stelle. Inunerhin machte es diesem noch im 4. Jahrhundert in gewissen
Literaturgebieten, namentlich bei den Ärzten, ernsthafte Konkurrenz. Und
bis in die späte Klaiserzeit haben künstelnde Schriftsteller sich in ionischer
Prosa versucht
Litetaruche IH. Die hcllenistische Gemeinsprache. Über die Art vmd Weise,
Attischen.
«rmacht de» ^^ ^^^ Attischc grieclüsche Gemeinsprache wurde, haben uns die Alten
keine ausdrücklichen Nachrichten hinterlassen. Anscheinend hat sich die
Verbreitung auf zwei Wegen vollzogen. Einmal auf literarischem, vermöge
der führenden Stellung, die Athen im geistigen Leben Grriechenlands ein-
nahm. Die Vertreter der modernen Geistesbewegung, die sich in der
perikleischen Zeit in Athen zusammenfanden, haben zum Teil zwar ionisch
geschrieben, aber einzelne tmter ihnen im Gegensatz zur angestammten
Sprache wie zur herrschenden ionischen Schriftsprache auch attisch. Seit
dem Ausgang des 5. Jahrhunderts weir Athen nach dem Wort des Hippias
von Elis das prytaneion (es Sophias, der Weisheitsherd, der geistige Mittel-
punkt von Hellas; es war für Philosophie und Redekunst eine von überall
her aufgesuchte Unterrichtsstätte und zugleich die Stätte, wo die vollendet-
sten Werke der Prosa entstanden. Es versteht sich fast von selbst, daß
die Lehrer für die Schüler, die klassischen Werke für die Nacheifernden
auch in der äußeren Sprachform maßgebend wurden, daß die Zöglinge des
Isokrates imd des Plato attisch schrieben und vielfach wohl auch sprachen,
auch wenn sie in einer anderen Mundart aufgewachsen waren.
Politische Daneben darf die Bedeutung, die das attische Reich des 5. Jahr-
hunderts auch für die Sprachgeschichte hat, nicht übersehen werden. Die
aufeinander folgenden Besiedelungen ehemals verbündeter Gemeinden mit
attischen Kolonisten und die stetige Aussendung von Beamten und Be-
satzungen ins Bundesgebiet bewirkten zusammen mit dem ausgebreiteten
attischen Handel, daß man überall im Ägäischen Meer attisch sprechen
hörte. Es lag für die Einheimischen nahe, dem Beispiel zu folgen. Und
noch stärker wirkte für alle Bündner in dieser Richtung der Dienst im
attischen Heere und in der attischen Flotte, die Nötigung, in bestimmten
Fällen vor athenischem Gericht zu erscheinen, die Teilnahme an den Festen
Athens. Dazu kam, daß sich für alle Bundesstädte die Form des öffent-
lichen Lebens, die in Athen galt, und damit die attische Amtssprache als
Vorbild aufdrängte. Die Wirkvmg von alldem tritt erst nach dem Falle des
attischen Reiches zutage; dann aber fast sofort Wir können vom ersten
Übennacht des
Attischen,
III. Die hellenistische Gemeinsprache.
299
<lcr OUIekie,
Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts ab beobachten, wie im Gebiet des Ägäischen
Meeres das Ionische als Staatssprache schrittweise vor dem Attischen das
Feld räumt, so daß dieses hier zur Zeit Alexanders so gut wie gesiegt
hat. Sogar in ionischen Städten, die nie zum attischen Bunde gehört
hatten, begegnet es merkwürdig früh.
In der Literatur wurde die attische Gemeinsprache bald allgemein Zorückweirt«
herrschend. Es hat nicht viel zu bedeuten, daß einige Kreise der dorischen
Welt sich dagegen sträubten, und daß z. B. noch Archimedes seine mathe-
matischen Werke in einer Sprache schrieb, die als dorisch angesehen
werden sollte. Im Grrunde war das nur Gemeinsprache, behängt mit einigem
dorischen Flitter. Nachhaltigeren Widerstand leisteten die alten Dialekte im
öffentlichen Leben. Um 200 v. Chr. z. B. finden wir ein Rundschreiben der
kleinasiatischen Stadt Magnesia fast nur von solchen griechischen Staaten
in der Gemeinsprache beantwortet, die ursprünglich ionisch oder in helle-
nistischer Zeit neu gegründet waren. Alle anderen (mit Ausnahme eines
thessalischen Städtchens) antworteten im einheimischen Dialekt, freilich
einem schon ganz von gemeinsprachlicher Phraseologie durchsetzten. Und
so ist es überhaupt um diese Zeit und späterhin. Vielerorts wurde die
Mundart noch gepflegt, und besonders als interne Staatssprache und für
Privates gebraucht Aber Kenntnis der Gemeinsprache und Anbequemung
an sie ist überall wahrzunehmen; ohne die von ihr gebotenen sprachlichen
Mittel vermochte man sich nicht mehr schriftlich auszudrücken. Daß noch
in der Kaiserzeit da imd dort Mundart gesprochen wurde, ist uns bezeugt.
Die jüngsten entschieden mundartlichen Inschriften gehören dem 2. Jahr-
hundert n. Chr. an. Der fast völlige Sieg der Gemeinsprache auch in der
lebendigen Rede des Alltags, der mittelst der antiken Überlieferung nicht
zwingend bewiesen werden kann, wird uns durch die heutigen Sprachver-
hältnisse verbürgt. Die neugriechischen Dialekte wurzeln, mit Einer Aus-
nahme, nicht in den altgriechischen der betreffenden Gegenden, sondern in
der Gemeinsprache. Jene eine Ausnahme wird gebildet durch das im süd-
östlichen Peloponnes gesprochene Tzakonische, das unmittelbar auf das
einst dort gesprochene Dorisch zurückgeht. Also nur in einem entlegenen
Gebirgswinkel hatte sich das volkstümlich Alte behaupten können.
Der Sieg der Gemeinsprache wurde außer durch das Vorbild der d». GriecwS
lonier und außer durch die Literatur und die mit ihr zusammenhängenden
Bestrebungen wohl auch bedingt durch ihre Stellung außerhalb des ur-
sprünglichen griechischen Gebietes. In attischer Form war das Griechische
Weltsprache geworden. Als Alexander das Griechentum nach Osten trug,
kam ein anderes sprachliches Werkzeug gar nicht in Betracht. Schon
Philipp hatte das Attische in seiner Diplomatie verwandt. Alexander selbst
war attisch gebildet Die Männer der Wissenschaft um ihn sprachen und
schrieben eben dieses Griechisch. Es herrschte, da er auszog, als Sprache
des öffentlichen Lebens gerade in dem Teil der griechischen Welt vor,
der Asien zunächst lag und am meisten Verkehr mit dem Osten hatte.
AJesantlttn
300
Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
Ambrcitung def Im Anschluß an Alexanders Reichsgründung gewann das griechische
Gncchiscbcn im Sprachgebiet eine ungeheure Ausdehnung. Nicht in dem Sinn, als ob die
von ihm eroberten Gebiete rasch und vollständig hellenisiert worden wären.
Aber einmal waren von großer Bedeutung die zahllosen von ihm und
seinen Nachfolgern neugegründeten Städte, durch die es in allen Land-
schaften des Reiches bis an die Grenze Indiens griechische Sprachzentren
gab. Ferner Hof, Verwaltung und Heer in den Diadochenstaaten. Ebenso
die höhere Bildung. Wir dürfen annehmen, daß uia die Wende der Zeit-
rechnung in denjenigen Teilen von Alexanders Reich, die in römische
Herrschaft übergegangen waren, die städtischen Bevölkerungen ganz über-
wiegend griechisch sprachen und im übrigen die Angehörigen der oberen
Klcissen durchweg Griechisch konnten. Wie es damals und in der Folge
mit der Verwendung des Griechischen außerhalb der römischen Grenzen
stand, ist weniger leicht festzustellen. Die Reaktion des Morgenlandes,
die mit der Gründung des parthischen Reiches einsetzte, wirkte selbstver-
ständlich auch dem Gebrauch der griechischen Sprache entgegen. Immer-
hin ist bekannt, daß am Partherhofe griechische Literatur gepflegt wurde.
Und noch im i. Jahrhundert n. Chr. wurden im nordwestlichen Indien
Münzen mit griechischen Legenden geprägt. Selbst die Sassaniden, durch
die das nationale Element in Iran so mächtig zur Geltung kam, zeugen
für die hohe Geltung des Griechentums noch im 3. Jahrhundert n. Chr.: auf
Denkmälern ihres persischen Stammlandes brachten sie neben Aufschriften
in nationaler Schrift und Sprache solche in griechischer an. Ahnliche Zeug-
nisse liefern Gebiete, die niemals dauernd unter griechischer Herrschaft
gestanden haben: ich erinnere an die merkwürdigen griechischen Inschriften
äthiopischer und nubischer Könige aus der beginnenden und ausgehenden
Kaiserzeit. Anderseits steht fest, daß innerhalb der römischen Grenzen
die alten Nationalsprachen neben dem Griechischen weiterlebten. In Klein-
asien behauptete sich das Phrygische bis tief in die Kaiserzeit; ja in Syrien
und Ägj^ten erwies sich beim Einbruch des Islam die nationale Sprache
als die stärkere. Das Griechische erlag hier dem Arabischen, während
das Syrische und das Koptische den Sturz der christlichen Herrschaft über-
dauerten: beides im auffallenden Gegensatz zu den westlichen Teilen des
Römerreiches, wo der Latinisierungsprozeß nach einer Dauer, die nur halb
so lang war als die Hellenisierung des Orientes, durch den Einbruch der
Germanen nicht gestört wurde.
Vmn der Die hellcnistische Gemeinsprache, griechisch Äöm/, wurzelt im Attischen.
Gemi-insprachc. Aber sie hat sich von ihrer Grundlage ziemlich weit entfernt Zunächst
durch solche innere Entwickelungen , wie sie das Attische wahrscheinlich
auch durchgemacht hätte, wenn es auf sein ursprüngliches Gebiet be-
schränkt geblieben wäre. Dahin gehören gewisse Lautveränderungen, so
neben der Vereinfachung der Diphthonge ät öi zu ä ö besonders der seit
den Zeiten des Reuchlin und Erasmus viel besprochene Itazismus, d. h.
der Übergang von ei ? in /, von ai in «, von oi in ü (später /); er ent-
in. Die hellenistische Gemeinsprache.
301
Spricht einer alten Tendenz griechischer Lautgebung-, ist am frühesten in
Böotien, sukzessive in anderen Landschaften, doch erst in der Kaiserzeit
allseitig durchgefiihrt worden. Durch beide Gruppen von Lautverände-
rungen war die alte griechische Viellauttgkeit am Schlüsse des Altertums
auf monotones Vorherrschen der einfachen, besonders der hellen Vokale
reduziert Auch sonst verändert sich der Klangcharakter sehr stark. Der
Akzent wird ein anderer: die ehedem mit Tonerhöhung gesprochenen Silben
werden in der Kaiserzeit mit Stimmverstärkung, also in der Weise der
deutschen Akzentuation gesprochen, und es kommen die dem Neugrie-
chischen eigenen Spiranten (Laute wie das englische th usw.) auf. Weiter-
hin wird die Funktion der Wörter und Formen modernisiert Der Gebrauch
der Präpositionen nimmt zu als Ersatz für einfach kasuellen Ausdruck; an
Stelle schlichter Infinitivverbindungen treten Nebensätze: in beidem wird
einerseits etwas fortgesetzt, was schon das Attische im Gegensatz zum
ältesten Grriechischen und dieses wieder im Gegensatz zu vorgeschicht-
lichen Sprachzuständen aufzeigt, und werden anderseits Ausdrucksgewohn-
heiten angebahnt, die im Neugriechischen herrschend geworden sind. Ent-
-sprechendes im Lexikon; wir treffen frappante Beispiele von Abnutzung.
Ein Verb, das bei den Attikern bedeutet hatte „heftig erregt sein", heißt
nun „furchten", ein anderes geht von der Bedeutung „die Mittel zu einer
chorischen Auffuhrung liefern" zu der allgemeinen des Ausstattens über.
Überaus oft wird ein Kompositum angewandt, wo der Attiker mit dem
Simplex ausgekommen war.
Neben dieser geradlinigen Weiterentwickelung hat aber das Attische
als Gemeinsprache solche Umgestaltungen erfahren, die auf eben dieser
seiner Stellung als Gemeinsprache beruhen. Einmal gehört eine Gemein-
sprache von Haus aus nicht so völlig dem Leben an, wie ein naturwüch-
siger Dialekt Es überwiegt anfangs der schriftliche über den mündlichen
Gebrauch. Demgemäß haftet auch der hellenistischen Sprache etwas
Papierenes an; ich brauche nur die Rückweisungen mit „vorerwähnt", die
Vorausweisungen mit „unten hingeschrieben" anzuführen, die ehedem
bloß in eigentlich wissenschaftlichen Schriften und auch da nur selten vor-
kamen, nunmehr in lästigster Wiederkehr literarische wie urkundliche Texte
verunzieren.
Schwerer ins Gewicht fällt ein Zweites. Verquickung des Attischen
mit Eigentümlichkeiten anderer Mundarten haben wir schon in der attischen
Poesie und in den Anfängen der attischen Prosa getroffen. Später hat
^^ vorzüglich Xenophon, weil in seinen besten Jahren der Heimat fem, sein
^B Attisch mit allem möglichen sonstigen Sprachgut, das er auf seinen Fahrten
f aufgelesen hatte, bereichert oder verschlechtert und Plato in den Schriften
^_ seines Alters merkwürdigen Hang für Poetisches und auch Ionisches be-
^H wiesen. Diese Mischung, und zwar speziell die mit ionischem Sprachgut,
^^1 wiederholt sich nun im gemeinsprachlichen Attisch. Aber sie geht hier
^H über die Kreise der Kunstprosaisten iind bei diesen selbst weit über das
Gcmrinaprachc
papieren.
lonisitTuDK
der
Gcmeintprikche.
3Ö2
Jakob Wackern acel: Die griechische Sprache.
Unnttiscbpf
in der
(*t*in«intpriiche.
Grebiet individueller stilistischer Gepflogenheiten hinaus. Sie wurzelt hier
tiefer. Die ersten nichtattischen Griechen, die das Attische an Stelle der
eigenen Mundart setzten, waren die lonier. Gemäß unzähligen Analogien,
die die neuere Sprachwissenschaft aufgedeckt hat, ist solche Übernahme
einer fremden Mundart oder Sprache fast unvermeidlich mit einer An-
bequemung des Übernommenen an das natürlich Ererbte verbunden. Die
attisch sprechenden oder schreibenden lonier wollten zwar attisch sprechen
und .schreiben, übertrugen aber, ohne es zu wollen, auf d£is Neue das, was
ihnen von ihrer eigenen Mundart her geläufig war. Sie konnten kein //
sprechen: so ließen sie es auch in der neuen Gemeinsprache weg. In den
Wörtern, wo der Athener ein // oder ein rr sprach, hatten sie in der
eigenen Mundart in der Regel ein ss bzw. ein rs: nun führten sie dies
auch in der Gemeinsprache weiter. Umfärbung erfuhren neben den Lauten
auch die Wörter. Vom Standpunkt des Ionischen aus wurde ihr Gebrauch
umgemodelt, ihr Bestand erweitert. In geringerem Maße wurden von
diesen Tendenzen die Flexionsformen berührt.
In dieser partiellen Ionisierung haben die übrigen Grriechen und die
Barbaren die Gemeinsprache übernommen. Selbst in dem Wortschatze,
den wir durch römische Vermittelung von den Griechen überkommen haben,
wirkt sie nach. Wir sprechen z. B. gemäß der eben besprochenen Laut-
ersetzung Koloss und Arsenik^ nicht, wie man nach dem Attischen erwarten
sollte, Kolott und Arrenik. — Natürlich, daß, wenn ursprünglich dorisch
oder äolisch oder sonst einen Dialekt sprechende Griechen die Gemein-
sprache rezipierten, sie auch wieder ihre eigene Weise einmischten. Oder
es konnte ihnen auch passieren, daß sie im Bestreben, sich von der Mund-
art möglichst rein zu halten, nach der Analogie sonstiger Entsprechungen
zwischen Mundart und Gemeinsprache geläufige Wörter so umsetzten, daß
Unformen entstanden, z. B. mentoi „jedoch" in menton., weil man gewohnt
war, für mundartliches endut „drinnen" gemeinsprachlich endon zu sagen,
ganz so wie der Schweizer etwa hochdeutsch Kautscfw sagt statt Kutsche,
weil seinem Hux hochdeutsch Haus entspricht. — Endlich traten auch im
Munde der Bcirbaren allerlei Umgestaltungen ein. Wegen des Lautstandes
der eigenen Sprache haben z. B. die Ägypter in griechischen Wörtern
sprechend und schreibend d und /, p und /// durcheinander geworfen. Und
ein fast komisches Sprachdenkmal ist die Inschrift des nubischen Königs
Silko mit ihrem nach den Gesetzen des Koptischen konstruierten Grriechisch.
Der lebhafte Verkehr innerhalb der hellenistischen Welt brachte es
Gemrini räche ™'^ sich, daß, wie einst die lonismen, so auch diese sonstigen lokalen
Einflüsse, sei es mundartlich griechischer, sei es barbarischer Natur, in
einzelnen Wörtern Gemeingut wurden. Immerhin hat jedenfalls der nicht-
gemeinsprachliche Untergrund sich hauptsächlich an Ort und Stelle wirk-
sam erwiesen und die Färbung der neuen Dialekte bestimmt, in die sich
mit einer gewissen Naturnotwendigkeit die auf so weites Gebiet verbreitete
Gemeinsprache differenzieren mußte. Hier bildeten sich die ersten An-
Abwricltungen
innerhalb der
III. Die hellenistische Gemeinsprache.
303
Griechisch.
sätze ZU den mittel- und neugriechischen Dialekten. Und noch nach
anderer Richtung waren sowohl jene letztbesprochenen Einwirkungen als
überhaupt alle die Gemeinsprache vom Attischen scheidenden Eigentüm-
lichkeiten nicht gleichmäßig über die ganze Gemeinsprache verbreitet- Sie
schied sich nach Bildung und Stand der sie Sprechenden und Schreibenden
in sehr verschiedene Formen. Das Griechisch eines Polybios oder Posei-
donios, das der Staatsurkunden etwa Pergamons oder der ersten Ptolemäer
steht dem Attischen verhältnismäßig nahe. Es weicht von ihm stark ab
im Lexikon, etw2is in der Syntax; dagegen in den Flexionsformen und den
Lauten, soweit diese in der Schrift zur Darstellung kommen, fast gar nicht
Das Attische ist hier aus dem Ionischen mehr nur bereichert als modifiziert
Je weiter wir aber hinabsteigen, um so unattischer und ionischer wird die
Sprache, eventuell um so barbarischer. Der gemeine Mann erlernt Hoch-
sprachen unvollständig und steht stärker unter dem Einfluß des Ererbten
und des Lokalen. Wir kennen die populäre Form der Gemeinsprache vor-
züglich aus den privaten Schriftstücken auf Papyrus, deren in den letzten
Jahren eine so große Zahl bekannt geworden ist Wir können aber über-
zeugt sein, daß ihr Vulgarismus von dem der lebendigen Rede noch weit
übertrofFen wurde.
In diesen Zusammenhang gehört auch ein Wort über die Gräzität der Bibiuche.
Juden und Christen, die Sprache der griechischen BibeL Die Zeit ist
vorüber, in der man sie als einen völlig für sich stehenden Sprachtypus
auffassen zu können glaubte. Im Gegenteil muß man sie mitten in die
griechische Sprachgeschichte hineinstellen. Speziell die Septuaginta gehört
zu deren wichtigsten und lehrreichsten Dokumenten. Erstens als ein
Zeugnis dafür, wie früh das Griechische bei gewissen vom heimischen
Boden gelösten Volkselementen des Orientes Eingang gefunden hat Man
hätte den Pentateuch nicht schon so bald nach Alexander aus dem
Hebräischen übersetzt, wenn der damaligen jüdischen Diaspora das
Griechische nicht vertrauter gewesen wäre als ihre einheimische Sprache,
Sodann lernen wir aus wenig Texten so viel für die Beschaffenheit der
mittleren Gemeinsprache, derjenigen Umgangssprache, die, ohne eigentlich
plebejisch zu sein, doch im ganzen frei von literarischen Prätentionen und
Überlieferungen in Schrift und Rede lebendig war. Allerdings ein reines
Griechisch klingt uns aus keinem Kapitel der Septuaginta entgegen. Über-
aus oft haben die Übersetzer das hebräische Original aus Ungeschick und
Buchstabenknechtschaft Wort für Wort wiedergegeben und dadurch dem
griechischen Ausdruck und besonders der griechischen Wortfügung grau-
same Gewalt angetan. Das kann nicht geleugnet werden. Aber ebenso-
wenig, daß sich gerade wieder in der Anpassung an die israelitische Be-
griffswelt und den biblischen Stil die einzigartige Ausdrucksfahigkeit und
Beweglichkeit der griechischen Sprache offenbart und den Übersetzern die
Schöpfung eines höchst eindrucksvollen sprachlichen Kunstwerkes ermög-
licht hat
304
Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
AtÜxlBmufl.
Zunächst in griechischem Gewand ist das Alte Testament in das Abend-
land gelangt und hat in diesem den ältesten lateinischen Übersetzungen
zugrunde gelegen. Und wenn auch Hieronymus und Luther wieder auf
das hebräische Original zurückgegangen sind, so legen allein schon Aus-
drücke wie Psalm und Prophet, wie Pentateuch, Genesis, Deuteronomium
auch jetzt noch Zeugnis dafür ab, daß die Griechen einst auch auf diesem
Gebiet zwischen Osten und Westen vermittelt haben. Und wenn wir von
Altem und Neuem Testament sprechen, so wird dieser an sich sinnlose
Ausdruck erst verständlich, wenn er als mißverständliche Übertragung
des griechischen Wortes Diatheke gefaßt wird, mit dem die Urheber der
Septuagfinta wohl auf Grrund ionischen Sprachgebrauches das Wort „Bund"
wiedergegeben haben.
Ebensowenig als die Septuaginta darf das Neue Testament sprachlich
isoliert werden. Wir treffen auch hier die Umgangssprache der Zeit Sie
ist stark mit Semitismen versetzt, wo aramäische Originale zugrunde liegen
oder die Septuaginta nachwirkt Aber z. B. Paulus hat zwar in der Wort-
fügung manchmal, dagegen im Wortschatz sehr wenig hebraisiert Aus-
zuführen, was das Griechische als Sprache der christlichen Kirche bedeutete,
fühlt sich der Berichterstatter außerstande. Nur möchte er nebenher aa
die starken griechischen Bestandteile unseres religiösen und kirchlichen
Wortschatzes (wozu auch Wörter wie Kirche, Priester, Almosen gehören)
erinnern.
Es war für die Gemeinsprache an und für sich kein Unglück, daß sie
nichtattische Ingredienzen in sich aufgenommen hatte; das Beispiel des
Englischen und eigentlich auch schon das der alten griechischen Literatur-
sprachen zeigt, wie sehr die Ausdrucksfähigkeit einer Sprache durch
Mischung gesteigert werden kann. Und daß sich die Gemeinsprache auch
sonst vom Attischen entfernte, ist ein Zeichen des Lebens. Um so tiefer
ist die reaktionäre Strömung des sogenannten Attizismus zu beklagen, die
im I. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung einsetzte und in der er-
haltenen Literatur zuerst bei dem bekannten Rhetor und Geschichtschreiber
Dionysios von Halikarnaß zu Worte kommt Etwas ganz Singuläres und
Unerhörtes ist er in der griechischen Sprachgeschichte zwar nicht. Archais-
mus war der Poesie von jeher eigen gewesen. Und in der hellenistischen
Zeit war diese mehr als je von solchem beherrscht, bei einzelnen bis zu
völligem Verzicht auf sprachliche Origfinalität und bis zu nachzählender
Nachahmung der Alten. Selbst der älteren Kunstprosa war ein gewisses
Archaisieren nicht fremd gewesen. Auch darf man nicht glauben, daß
man sich innerhalb der hellenistischen Zeit erst jetzt wieder an die großen
Meister der attischen Literatur erinnert hätte. Diese wurden auch bis
dahin immerfort gelesen, und gewiß hat man sich auch immerfort an
ihnen sprachlich gebildet Das Neue und Eigentümliche der attizistischen
Bewegung ist, daß man nun die attische Sprache als ausschließliche Norm
bezeichnete, und daß man in jeder Art der prosaischen Darstellung, selbst
rv, Fortleben des Griechischen in andern Sprachen.
305
P
im Gespräche, Formen und Ausdrücke nicht zulassen wollte, die aus
attischen Autoren nicht nachzuweisen waren, daß man dafür eine Menge
längst verschollener Ausdrücke künstlich ins Leben zurückrief. Selbst der
seit Jahrhunderten tote Dual wurde wieder aus der Unterwelt herauf-
beschworen. Er erscheint nun nicht bloß, und zwar in steigender Häufig-
keit, in der Kunstliteratur und liefert bei ihr das untrüglichste Mittel,
die Herrschaft des neuen Sprachideals zu erkennen: man hat im Athen
der Kaiserzeit daran Vergnügen gefunden, selbst inschriftliche Tempel-
inventare mit diesem Flitter zu schmücken.
Die Dienste, die ims die Lehrer des Attizismus durch ihre sorgsame Würdigung'
Vergleichung älterer und jüngerer Sprache leisten, dürfen über die Per- ''" *«'«'•""»
versität ihres Strebens nicht hinwegtäuschen. Daß sie den der altgriechi-
schen und zum Teil auch noch der hellenistischen Zeit fremden Gegensatz
zwischen Laut und Schrift herbeiführten, indem sie wenigstens für die
Schrift z. B. ät bi, ei ai nach attischem Muster zu einer Zeit verlangten, in
der man nun einmal dafür nichts anderes als ä ö, bzw. i ä zu sprechen
vermochte, war noch der geringste Übelstand. Das Wesentliche war, daß
nunmehr die natürliche Weiterentwickelung der griechischen Sprache für
immer unterbunden war. Wer „korrekt" schreiben wollte, mußte nun ge-
quält schreiben, das attizistische Handbuch auswendig wissen oder neben
sich liegen haben. Wohl gelang es keinem, auch nur einen größeren Satz
ohne Zutat jüngeren Sprachgfutes oder Sprachgebrauches zustande zu bringen.
Und nicht alle Schriftsteller waren gleich strikt auf das Attizisieren bedacht:
der Manieriertheit eines Lucian und eines Philostratos steht die simple Gräzi-
tät eines Epiktet gegenüber. Auch ist mancher attizistische Flicken im Lauf
der Jahrhunderte wieder ausgemerzt worden. Aber das reaktionäre Ideal
hatte sich im Prinzip doch durchgesetzt. Das freudige Schöpfen aus der
lebendigen Rede war dem Schriftsteller und dem Gebildeten vergällt und
ihm der Mut zur Neubildung, zum sprachlichen Wagnis genommen. Dazu
kam ein weiterer sehr schwerwiegender Nachteil. Neben dem mehr oder
weniger streng attizisierenden Griechisch der oberen Klassen und der
Literatur lief im Mimde des gemeinen Mannes ein vulgäres Grriechisch
nebenher, als natürliche Fortsetzung der volkstümlichen Formen der helle-
nistischen Gemeinsprache. Damit war ein greller Gegensatz zwischen der
Schrift- und der Volkssprache und zwischen den verschiedenen Volks-
schichten gegeben, ein Gegensatz, der durch die byzantinische Zeit hin-
durchgeht, und den zum großen Schaden von Literatur und Volkstum auch
die heutigen Griechen noch nicht überwunden haben.
rV. Fortleben des Griechischen in andern Sprachen. Im bis-
herigen ist wiederholt von Wörtern die Rede gewesen, die sich aus dem Grie-
chischen in unser modernes Sprechen vererbt haben. Es ist vielleicht an-
gebracht, darüber noch etwas Zusammenhängendes zu sagen. So wenig die
Grriechen im ganzen sprachlich andern Völkern verdanken, so mächtig und
Die Kultl'x dem CkceMWAitT. LS. ^^
3o6
Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
EmfloB dr« Grie- fruchtbar ist ihr sprachlicher Einfluß nach allen Seiten gewesen. Wohl
ciuichen aaf die j^gjjjgg (jgj. umwohncnden Völker hat sich ihm zu entziehen vermocht Das
Sprmcoen de«
oweoi. Syrische ist voll griechischer Lehnwörter und hat aus dem Griechischen
auch Mittel der Wortbildung und Gewohnheiten des Satzbaues entnommen;
man merkt ihm an, daß es ein Jahrtausend hindurch das Griechische als
höhere Sprache neben sich gehabt hat. Nicht in solchem Umfang und
später als in Syrien, im ganzen erst infolge der Annahme des Christen-
^^^ft tums, wurde griechisches Sprachgut in Armenien eingebürgert Auch die
^^^B Sprachen des ferneren Ostens sind von solchen Einflüssen nicht frei ge-
^^^H blieben. Zu den Indern ist nicht bloß, was mit Handel und Verkehr zusammen-
^^^H hängt, das lateinische Münzwort Denar in der gräzisierten Form dlnilra
^^^H gelangt Auch z.B. ihre wissenschaftliche Astronomie hat derartiges; Termini
^^^H wie hora „Stunde", apokhma „Niedergang" braucht man nur zu hören, um
^^^B des unmittelbaren Anschlusses an griechisches Vorbild (£(>«, iac6%l.s,fi^ und
^ vermöge dieses sprachlichen Zusammenhangs auch eines weitreichenden
^ Zusammenhangs wissenschaftlicher Arbeit gewahr zu werden.
Abeodiändischf In jeder Beziehung wichtiger ist der heutige abendländische Besitz
' "''""deT' "' *° griechischem Sprachgnt. In seinem ältesten Teile geht er auf die
Griechifchen. Zeiten zurück, da die griechischen Kolonisten, Künstler und Handelsleute
ihre höhere Kultur nach Italien brachten. Viele Wörter dieser Art sind
alsdann vom Latein und den daraus hervorgegangenen romanischen
Sprachen her auch ins Deutsche gelangt, vielfach nur dem Forscher als
Fremdwörter kenntlich, diesem aber durch Form und Bedeutung verratend,
wie viel Zwischenglieder ihre Entstehungsgeschichte hat. Wer würde bei
Petn an fremden oder gar g^echischen Ursprung denken? Aber in seiner
ältesten deutschen Form pma beruht es sichtlich, gerade so wie französisch
petne, aui pena, d. i. lateinisch pa-na „Strafe" in jüngerer Aussprache. Und
bei diesem pctna wiederum kann an Herkunft aus dem griechischen poine
kein Zweifel sein. Also ein Rechtsvolk wie die Römer danken eines
ihrer wichtigsten Rechtsworte samt dem ganzen System von Ausdrücken,
die sie daraus gebildet haben, den Griechen. Unser deutscher Sprach-
gebrauch aber knüpft, wie der französische, in der Verwendung des Wortes
an den ursprünglich volkstümlich lateinischen an, in welchem das Wort
für Strafe mit charakteristischer Bedeutungsverschiebung Ausdruck für
Plage und Mühseligkeit geworden war. Oder, um ein ganz aktuell
modernes Wort zu nehmen: Maschine geht im letzten Grunde auf ein
schon zur homerischen Zeit vorhandenes griechisches Wort zurück, das in
seiner literarischen Form michani lautete und „Kunstgriff, kunstvolles
Werkzeug" bedeutete. Die Römer übernahmen es von einem Stamm, der
dafür mächanä sprach, setzten diese Form gemäß den Lautgesetzen ihrer
eigenen Sprache in mäclitna um und bevorzugten in der Verwendung des
Wortes, das offenbar hauptsächlich durch die Techniker übertragen worden
war, die technische Bedeutung. Auf gelehrtem Wege ins Französische
gelangt, wanderte es von da im 17. Jahrhundert ins Deutsche. Jede
IV. Fortleben des Griechischen in andern Sprachen.
307
Etappe dieser Wanderung hat an dem Worte Maschine ihre Spur hinter-
lassen. Das seh und die Betonung des i beweist den Durchgang durchs
Französische, das Dasein des i den durchs Latein, das a die Herkunft aus
einer Mundart des Griechischen. Nun aber kennt unsere Sprache als
Sprößlinge aus derselben griechischen Wurzel neben Masehinc Wörter wie
Mechanik, Alechaniker, worin die griechische Lautform fast unverändert
bewahrt ist. Sie stammen auch aus dem alten Rom, aber aus Zeiten und
aus Bildungskreisen, für die der genaue Anschluß an das literarische
Griechisch Gesetz war. Solche mehr gelehrte Entlehnung hat durch das
ganze spätere Altertum im weitesten Umfange stattgefunden. Sie hat
aufs neue eingesetzt im Zeitalter des Humanismus. Während bis dahin
nur vereinzelte griechische Wörter ohne römische Vermittlung zu den
Germanen gelangt waren, darunter allerdings so bedeutsame und viel-
gebrauchte wie Kirche und Kaiser, begann man nun auf Grund des neu
erschlossenen griechischen Sprachstudiums direkt aus der Quelle zu
schöpfen. Am mächtigsten ward die.se Tendenz im 19. Jahrhundert; sie hat
noch nicht nachgelassen. Dabei wirkt trotz zunehmenden Strebens, das Ent-
liehene dem Original möglichst genau anzupassen, die alte hoch bedeutsame
Vermittlerstellung des Römertums immer noch nach. Wir pflegen fast
durchweg griechischen oder aus griechischem Material gebildeten Wörtern
die I^utgestalt zu geben, die sie in römischem Munde erhalten haben oder
erhalten haben würden; wir sprechen von Tragödie, nicht von Tragoidie,
sagen Peripherie und nicht Periphereia, und nennen die Wissenschaft der
Kinderheilkunde nicht Paidiatrik, sondern Pädiatrik.
Deis teils aus dem Altertum stammende, teils neu erwachsene Grä- Braacbbark««
zisieren der wissenschaftlichen (und auch der technischen^ Sprache der ?,*'5'"'*^''T'"^
^ ■ * für TerraiDologie
Gegenwart beruht auf zwei Momenten. Einmal darauf, daß alle unsere
Wissenschaften mit Ausnahme der Rechtswissenschaft von den Griechen
stammen und bei diesen bereits die Mehrzahl der Di.sziplinen ihre heute
üblichen Namen, alle Disziplinen einen großen Teil der heute noch
üblichen Kunstausdrücke erhalten haben. Ein zweites ist durch die Natur
der griechischen Sprache selbst gegeben. Man greift, wo es für neue
' Begriffe und Gegenstände Namen zu schaffen gilt, darum mit besonderer
Vorliebe auf das Griechische, weil es zur Zusammensetzung und Ableitung
aus einfacheren Wörtern mindestens ebenso gelenkig ist als das Deutsche
und ebenso wohlklingende Gebilde liefert wie die romanischen Sprachen.
Es ist nur zu wünschen, daß es bei dieser Neigung für das Griechische
und überhaupt für die klassischen Sprachen bleibe. Nirgends ist der
Purismus so abgeschmackt, als auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und
technischen Kunstsprachen. Diese bedürfen gerade solcher Ausdrücke,
deren Nennwert nicht durch verwandtschaftliche Beziehungen zur lebendigen
Sprache der Gegenwart verwischt werden kann, und die ferner fähig
sind, ohne Schwierigkeit für die Aussprache und ohne Verletzung nationaler
Eitelkeit durch alle modernen Sprachen zu zirkulieren. Die ft-anzösischen
20 •
3o8
Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
Endehonng
griechischer
Wortbildaogs-
eldsonte*
Grischuche
Sprach-
wuMUChaft.
Griechisches
Alphabet
Sprachforscher sind in vollem Recht, wenn sie Ablaut durch Apophonte
ersetzen, und Ikosaeder ist ein bequemerer Ausdruck als „zwanzigseitiges
Vieleck«.
Nun aber haben die Grriechen nicht bloß mit dem Stoff ihres Sprach-
gutes die Welt bereichert Sie haben alle zu ihnen in Beziehung getretenen
Völker jüngerer Kultur zu gewandterer Verwendung ihrer eigenen Sprachen
erzogen und sie gelehrt diese zu reicherer Bildsamkeit zu erheben. Das
Syrische ist so gut dessen Zeuge, als das philosophische Latein eines
Cicero und eines Lukrez. Und wenn wir die Frau eines Barons Baronesse
nennen, aus Patron patronisteren , aus Protestant Protestantismus bilden,
imd aus dem lateinischen pietas und Spiritus Pietist und Spiritist ableiten,
so gebrauchen wir Wortausgänge, die mehr oder minder direkt aus dem
Griechischen stanmien. Auch Wörter wie Materie und Qualität würden
ohne die Grriechen für uns nicht vorhanden sein; denn sie sind zwar den
Lauten nach lateinisch, aber bei den Lateinern teils zu ihrem philosophischen
Begriffswert, teils überhaupt zu ihrem Dasein erst diu-ch das Vorbild von
griechisch hyle und poiotes gelangt
Besonders aber läßt sich dies und überhaupt eine nie aufhörende
Nachwirkung der g^riechischen Sprache an demjenigen Zweige von Unter-
richt und Wissenschaft dartun, deren Gegenstand die Sprache selbst ist
Ein Wort hierüber wird diese unsere ganze Sprachbetrachtung passend
abschließen. Unter den indogermanischen Völkern sind allein die Inder
und die Griechen ohne Antrieb und Vorbild Auswärtiger dazu gelangt,
eine Grammatik ihrer Sprache zu schaffen. Unbefangenes Urteil wird
nicht anstehen, den Indem hier den Vorrang einzuräumen. An Schärfe
und Allseitigkeit der Beobachtung und an Feinheit der Analyse sind ihnen
die Grriechen hier nicht von ferne gleich gekommen. Die heutige Sprach-
wissenschaft wäre ohne das Vorbild der Inder gar nicht denkbar. Aber
eben dieses Vorbild ist erst vor hundert Jahren wirksam geworden. Bis
dahin hat ausschließlich die griechische Sprachwissenschaft nachgewirkt
Und in dieser ihrer starken Nachwirkung, mehr «och als in ihrem tatsäch-
lichen inneren Wert, besteht ihre hohe geschichtliche Bedeutung.
Die erste sprachwissenschaftliche Tat der Grriechen und ihrer ver-
dienstlichsten eine war die Gestaltung eines eigenen Alphabets aus dem
phönizischen. Dieses besaß keine besonderen Zeichen für die Vokale, war
also noch nicht ganz über den Charakter einer Silbenschrift hinaus-
gelangrt Indem die Grriechen fünf phönizische Konsonantenzeichen zu
Vokalzeichen stempelten, waren sie das erste Volk der Erde, das völlige
Buchstabenschrift besaß. Unabhängig vom Grriechischen ist anderswo erst
in späterer Zeit ein konsequentes System vollständiger und gleichmäßiger
Vokalbezeichnung entwickelt worden. Dagegen im Anschluß an die
Griechen kam der große Fortschritt früh auch andern zugfute. Zu
Cäsars Zeit diente das griechische Alphabet den Galliern für ihre
keltische Sprache, offenbar unter dem Einflüsse von Massilia. Noch viel
IV. Fortleben des Griechischen in andern Sprachen.
309
P
früher wurde es Vorlage für die Alphabete der italischen Stämme und
damit auch der Lateiner, deren Schrift auch die unsrige ist und jetzt die
Welt beherrscht. Auch die Alphabete der Slawen und Kopten sind auf
dem griechischen Alphabet aufgebaut, und die syrische Schrift hat gewisse
Hilfszeichen daraus entnommen.
Fixierung der Schrift setzt immer einen gewissen Grrad von Laut- EntwicUoai"
beobachtung voraus. Entsprechend war mit dem griechischen Elementar-^" wiechuchen
Unterricht seit alter Zeit die Erörterung einer einfachen Lautlehre ver- wiueiuchait.
bunden. Dasrecren eine wissenschaftlicheWortlehre setzte erst im perikleischen ^'"'>"'°' '^'"
* * ^ ^ (ca. 100 V. Chr.i.
Zeitalter ein; eine Szene -der Wolken des Aristophanes führt uns die ersten
dahin zielenden Versuche der Sophisten als Gegenstand komischer Ver-
spottung vor. Ihre Vollendung erfuhr die Grammatik durch die Stoiker und
durch die Philologie der hellenistischen Zeit, ihre früheste zusammenfassende
Darstellung in dem kleinen Handbuch des Dionysios Thrax, dessen Ab-
fassung in die Zeit um 100 v.Chr. fällt. Dieses durchaus elementare Werk,
das als literarische Leistung nicht in Betracht fällt und nur eine trockene
Aufzählung des damals allgemein Gewußten, keine feinere wissenschaft-
liche Untersuchung bietet, ist eines der gelesensten Werke der antiken
Literatur geworden. Es hat nicht bloß für alle Darstellungen der
griechischen Grammatik selbst bis zum Beginn der Neuzeit, ja eigentlich
bis zum Ende des 1 8. Jahrhunderts den Rahmen geliefert Es wurde auch
andern Sprachen dienstbar gemacht Man kann bei den Lateinern seine
Spur verfolgen. Die grammatische Darstellung des Syrischen, wie die des
Armenischen, hat mit einer Übersetzung des Dionysios begonnen.
Teils durch dieses Buch, teils durch sonstige derartige Literatur, teils Nachwirkan»
auch durch direkten mündlichen Unterricht ist die griechische Grammatik *" piociu«»"«!
im ganzen Abendland zur Herrschaft gelangt. Wohl haben die Lateiner «iiwmchaft.
in einigem wenigen an der Theorie weiter gebaut und sind darin für uns
maßgebend geworden. So, wenn wir zwar die ganze Buchstabenreihe
Alphabet nennen, aber die einzelnen Buchstaben (außer den ursprünglich
unlateinischen ^/>i-//o« zed, jod vau) nicht mit einem Vollnamen, wie Alpha,
Beta usw., sondern einfach mit dem dadurch bezeichneten Laute benennen:
a, be, ce, wobei die Verschiedenheit der Benennung, welche Dauerlaute wie
/, / von Momentanlauten wie p, t scheidet, besondere Beachtung verdient
Auch ist weder die Scholastik des Mittelalters noch die zu Beginn der
Neuzeit erfolgte Aufschließung der semitischen Sprachen ohne Einfluß auf
die Sprachtheorie geblieben. Und ganz neue Bahnen beschreitet diese
Iseit Beginn des 19. Jahrhunderts. Aber von der gfriechischen Lehre
kommen wir nie ganz los. Was unsere Jugend als Elemente der
Grammatik lernt, ist dem Inhalt des Schulbüchleins des Dionysios noch
auffallend verwandt In der Gliederung des Sprachstoffes, in der Reihen-
folge z. B., die wir den Kasus und Genera des Nomens, den Personen des
Verbums geben, und besonders in der ganzen Terminologie fußen wir
noch immer auf den Griechen. Allerding^s sind nur wenige Ausdrücke
310
J.UCOB Wackernagel: Die griechische Sprache.
der Grammatik ihrer Form nach griechisch, hauptsächlich solche, die bloß
gegenüber griechischem Sprachstoff zur Anwendung kommen, wie Krasi's,
Aorisi; die meisten sind lateinisch. Aber diese lateinischen Ausdrücke
sind durchweg wörtlich aus dem Griechischen übersetzt; ein jeder stellt
eine Frucht griechischen Sprachdenkens dar. Der Ausdruck Verbum
wurzelt in der zu Piatos Zeit gültigen Satzlehre, und wenn wir den Sinn
von Kasus erschließen wollen, müssen wir uns bei den alten Erklärern
des Aristoteles Rats erholen ; das Wort bezeichnete , indem das Bild eines
von oben fallenden und sich senkrecht oder schräg einbohrenden Stiftes
vorschwebte, die Verwirklichung eines Allgemeinen unter besonderen Um-
ständen. Das Ursprüngliche ist freilich oft durch Abkürzung im praktischen
Gebrauch verwischt Wenn wir z. B. die Ausdrucksform für vergangene
Handlung und gerade nur diese Imperfekt nennen, d. h. „nicht vollendet",
so klingt das unverständlich. Aber ursprünglich galt der Ausdruck auch
für das Präsens; man unterschied tch schreibe und ich schrieb als unab-
geschlossene Gegenwart und unabgeschlossene Vergangenheit von ich habe
geschrieben und ich hafte geschrieben als Ausdrücken der Vollendung. In andern
Fällen haben die Lateiner schlecht übersetzt Der unsinnige Name des Akku-
sativs, gebildet aus lateinischem accusare, als wäre er ein Anklagekasus,
beruht auf falscher Übertragung eines griechischen Wortes, das den betreffen-
den Kasus höchst sachgemäß als Ausdrucksform für das Bewirkte bezeichnet
Zwei Nachteile sind allerdings mit solchem Fortleben eines wissen-
schaftlichen und didaktischen Systems verbunden. Die Griechen schufen
ihre Grammatik für sich selb'st, in Rücksicht bloß auf die Tatsachen der
eigenen Sprache. Sie schufen sie femer von bestimmten philosophischen
Anschauungen und von bestimmten Auffassungen des Sprachlebens über-
haupt und der einzelnen Spracherscheinungen aus. Dürfen wir uns für
nicht-griechische Sprachen und bei ganz anderer Art, zu denken und
sprachliche Dinge zu betrachten, noch an das griechische Schema halten?
Wir können an den ersten Versuchen syrischer und armenischer Grammatik
beobachten, wie der Anschluß an das griechische Lehrbuch zu Gewalt-
akten gegen die dargestellte Sprache geführt hat, und die lateinischen
Grammatiker sind von solchen Verkehrtheiten auch nicht frei geblieben.
Haben sie sich doch nicht gescheut, dem Latein die Regeln der griechischen
Akzentlehre aufzunötigen und in einfach pluralischen Verbalformen des
Latein Analogien zum griechischen Dual wiederfinden zu wollen. Auch
wir würden, wenn das Feld ganz frei wäre, die Grammatik unserer
Sprachen in manchem anders aufbauen und müssen uns, wo wir Sprachen
anderer Völkerstämme und Weltteile grammatisch darstellen, möglichst
vom überlieferten Schema losreißen. Immerhin läßt die durch die Ur-
verwandtschaft bedingte Gleichartigkeit der modernen Sprachen mit dem
Griechischen den Nachteil des Traditionalismus für den grammatischen Haus-
gebrauch nicht so fühlbar werden. Und wenn wir darunter leiden, Enkel zu
sein, so haben wir uns doch der Ahnen, deren Enkel wir sind, nicht zu schämen.
Literatur.
Von einer höheren wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Darstellung der grie-
chischen Sprache kann man erst seit PHILIPP BuiTMANN (1764— 1829) reden. Bis zum
Ende des 18. Jalirhunderts hatte die Grammatik nur die Stellung einer Hilfswissenschaft.
Was sie zu lehren hatte, wurde in Elementarbiichem erledigt, deren Schema auf das antike
Elementarbuch des Dionysios Thrax zurückging (oben S. 309). Daneben liefen gelehrte aber
geistlose Zusammenstellungen äußerlich beurteilter Sprachtatsachen her. ßuttmann erkannte,
daß die Grammatik eine geschichüiche Wissenschaft sei. Er ging von den Tatsachen der
echten Überlieferung aus, brachte sie in Beziehung zur Geschichte von Volk und Literatur
und wußte, wo andere nur einen Haufen von Seltsamkeiten gesehen hatten, innem Zu-
sammenhang und geschichtliches Werden nachzuweisen. Seine „Ausführliche griechische
Sprachlehre" (1819 — 1827) ist durch keine spätere Darstellung übertroffen oder auch nur
erreicht worden. Stellt sie auch nicht einen solchen Markstein dar wie die Deutsche
Grammatik von Jakob Gri.mm , so darf sie doch mit Ehren neben ihr genaimt werden. Sie
ist aus demselben Geiste hervorgegangen.
Der umfassendste Beobachter griechischer Sprachtatsachen, den es je gegeben hat, ist
Christian August Lobeck (1781 — 1860); einer der schärfsten, wenn auch auf engerem
Gebiet, Karl Wilhelm Krüger (1796— 1874). Beide entbehrten freilich des großen Blickes
und des geschichtlichen Sinnes, der Buttmann auszeichnete, und beide (doch Lobeck noch
weit mehr als Krüger) waren unfähig, die Geleise der antiken Theorie hinter sich zu lassen.
Aber insbesondere Lobecks Werke, unter denen die Ausgabe des Phrynichos wohl den ersten Platz
einnimmt, bilden eine noch unausgeschöpfte Fundgrube. — Inzwischen hatte die vergleichende
Grammatik auf der von Buttmann gelegten Grundlage weiter bauen gelehrt. Auf ihr fuBte
bereits Heinrich Ludolf Ahrens in seinem unübertroffenen Werke über die griechischen
Dialekte (1839 — 1843). Der Hauptvertreler dieser komparativen Sprachbetrachtung im
dritten Viertel des letzten Jahrhvmderts war Georg Curtius. Er hat durch seine zwar
durchaus nicht bahnbrechenden, weder durch Gelehrsamkeit noch durch Kombinationsgabe
ausgezeichneten, aber sorgsamen und umsichtig urteilenden Werke (bes. Griechische
Schulgrammatik' 1852. Erläuterungen dazu ' 1863. Grundzüge der griechischen
Etymologie' 1858. 1862) in weiten philologischen Kreisen und auch in der Schule einer
geläuterten Spracherkenntnis Eingang verschafft. Im übrigen kam die Arbeit an der sprach-
geschichtlichen Erläuterung des Griechischen seit 1851 hauptsächlich zu Wort in Kuhns Zeit-
schrift für vergleichende Sprachforschung, der 1876 die Beiträge zur Kunde
der indogermanischen Sprachen und 1892 die Indogermanischen Forschungen
zur Seite getreten sind.
Jetzt wird man, wenn man sich über die vorhistorischen Grundlagen des Griechischen
und über die seine Ent^vicklung bestimmenden Gesetze unterrichten will, am besten greifen
zu den Schriften von Kakl Brugmann (Griechische Grammatik' 1900; Kurze ver-
gleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen 1902 — 1904) und für die
Syntax zu denen von Berthold Delbrück (Die Grundlagen der griechischen
Syntax 1879; Vergleichende Syntax der indogermanischen Sprachen 1S93— 1900).
Als ein Muster von Verbindung linguistischer und philologischer Forschung auf dem Gebiet
der griechischen Sprachkunde können die Quaestiones epicae (1892) von Wilhelm
Schulze dienen. Eine vom Geiste der neuem Sprachwissenschaft erfüllte, die Gesamtheit
der wesenüichen Tatsachen in geschichtlicher Abfolge vorführende Grammatik ist ein
Desiderat für die Zukunft.
^12 Jakob Wackernagel: Die griechische Sprache.
Ebenso fehlt es noch an einer voll befriedigenden lexikalischen Darstellung des ge-
samten Sprachschatzes. Umfassende Sammlimgen liegen in den erhaltenen Resten der
antiken Lexikographie und in dem von Henricxis Stephanus 1572 in Paris veröffentlichten
Thesaurus und dessen 1835 — 1865 ebenda erschienener Neuausgabe vor; nicht bloß
Materialsammlungen, sondern zum Teil ausgezeichnete Verarbeitung des Materials in zahlreichen
Lexika zu einzelnen Schriftstellern, unter denen vielleicht der Index Aristotelicus von
Hermann Bonitz (1870) die höchste Leistung darstellt. Im übrigen muB man sich vorerst
bescheiden. Für einen Thesaurus in der Weise des jetzt von den fünf deutschen Akademien
herausgegebenen lateinischen ist beim Griechischen aus verschiedenen Gründen die Zeit
noch nicht gekommen.
S. 286 ff. Über die Vorgeschichte des Griechischen und sein Verhältnis zu den Sprachen der
Autochthonen und der Nachbarvölker orientiert am besten P. Kretschmer, Ein-
leitung in die Geschichte der g^riechischen Sprache (1896).
S. 298 ff. Eine befriedigende Gesamtdarstellung der hellenistischen Gräzität fehlt: den gegen-
wärtigen Stand der Forschung skizziert A. Thumb , Die griechische Sprache im Zeit-
alter des Hellenismus (1901).
S. 303f. Biblisches Griechisch: A. Deissmann, Bibelstudien (1895) und Neue Bibelstudien
(1897).
S. 305. Schrift- und Volkssprache: K. Krumbacher, Das Problem der neugriechischen
Schriftsprache. Festrede (1903).
S. 307. Über das Rückgreifen auf die klassisch -g^echiscben Wortformen im humanistischen
Zeitalter: WiLH. SCHITLZE, Orthographica. Marburg (1894).
S. 309. Vgl. H. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und
Römern * (1890. 1891).
DIE RÖMISCHE LITERATUR DES ALTERTUMS.
Von
Friedrich Leo.
Einleitung. Die antike Kultur ist durch das Latein in Mittelalter
und neue Zeit herübergekommen. Die hellenistischen Völker erneuerten
sich nicht durch germanische Mischung; der romanisierte Westen blühte
von neuen Völkergebilden auf und die entscheidenden Epochen der Gre-
schichte fanden die romanischen Völker im Zentrum der aufsteigenden
Kultur. Das Latein des Mittelalters hat sowohl den Faden der Kultur
nach der Länge fortgesponnen als die Geister jeder Zeit miteinander ver-
woben. Die Renaissance ging keinen neuen Weg, sie ging ihn nur mit
tausend neuen Kräften. Es war für die Geschichte der Wissenschaft von
unermeßlicher Bedeutung, daß die Eroberung von Byzanz mit der Höhe-
zeit der Renaissance zusammenfiel; aber die Weltkultur der folgenden
drei Jahrhunderte blieb trotz des griechischen Einschlags lateinisch an
Textur und Farbe. Die Sprache lebte als gemeinsame wissenschaftliche
Sprache fort; die literarischen Gattungen und der kunstmäßige Stil der
maßgebenden nationalen Literaturen gestalteten sich nach den lateinischen
Vorbildern. Erst die Renaissance des i8, Jahrhunderts hat den Zusammen-
hang mit der griechischen Kunst hergestellt.
Es ist eine seltsame Verschlingung der Wege. Diese römische Kultur,
die den Okzident umspannt und gezwungen und anderthalb Jahrtausende
lang auf ihn gewirkt hat, war von Ursprung griechisch-römisch, sie war
rezeptiv und vermittelnd, sie gab in der römischen Erscheinung abgeleitetes
Griechentum; und als das Griechische selbst wieder erschien, fand es sich
im eignen Hause.
Niemand wird sagen, daß das römische Volk keine originale geistige
Kraft hatte; aber diese, so groß sie war, gab es im Staats- und Rechts-
leben aus. Auf allen andern Gebieten des geistigen Lebens, selbst auf
dem der persönlichen Moral, haben die Römer eine entschiedene Neigung
und Fähigkeit gezeigt, sich dem fremden Geiste und Gedanken anzu-
schmiegen. Das heißt dem griechischen. Es war ein gegenseitiges Schick-
sal, das die hellenistische Welt politisch den Römern auslieferte und den
römischen Geist der griechischen Kunst und Wissenschaft unterwarf.
'Griechenland besiegte seinen Sieger* so hat es Horaz formuliert und zu-
gleich den Römern rühmend nachgesagt, daß sie, von Natur hochgesirmt
und scharfen Verstandes, keine g^echische Form unversucht gelassen und
selbst hier und da gewagt haben, den griechischen Inhalt durch römischen
314
Friediuch Leo: Die römische Literatur.
IS Tafeln
HS»- 450*- Chr.).
ZU ersetzen. Einer der besten g^riechischen Beobachter römischen Wesens,
Posidonius, erkannte in der Nachahmungs- und Aneignungskraft der Römer
eine Hauptursache auch ihres politischen Wachsturas,
Die fremde Einwirkung beginnt lange vor der Zeit, in der Rom,
durch die Unterwerfung der Samniter ein für internationale Verhältnisse
in Betracht kommender Staat geworden, zu den hellenistischen Monarchien
und Städten in Beziehung zu treten begann. Die Einwirkung von selten
der Griechen, die sich seit der Mitte des 8. Jahrhunderts vor Chr. an
den süditalischen und sizilischen Küsten ansiedelten, und der Etrusker,
die um jene Zeiten Etrurien xuid die Poebene beherrschten, die Ebene
von Kampanien eroberten und auch nach Latiura mit Rom die Hände
streckten, beginnt und dauert vor den Zeiten, für die es eine römische
Geschichte gibt. Das Alphabet ist griechisch, die Sprache reich an grie-
chischen Lehnwörtern, politische und sakrale Einrichtungen zeigen etrus-
kischen und griechischen Einfluß, selbst das römische Landrecht hat sich
nicht ohne Berührung mit griechischem Recht gestaltet. Die Etrusker,
die in der Zeit ihrer Macht so ganz der griechischen Kultur und danach
so widerstandslos dem römischen Staat und Wesen unterlagen, haben in
die römische Religionsübung gewisse Formen eingeführt und griechische
heilige Gebräuche, wahrscheinlich auch den Kult der kapitolinischen Götter,
vermittelt; das Alphabet haben allein die Römer von den Griechen selbst,
die Süditaliker und Umbrer dasselbe griechische Alphabet durch Vermitte-
lung der Etrusker empfangen.
Latium ist die einzige unter den italischen Ebenen, die im Besitz
ihrer ältesten nachweislichen Bewohner geblieben ist Das verdemkten
die Latiner den Römern; sie konnten sich wie die Athener im Gegensatz
zu den übrigen Ebnenbewohnem des Landes als Autochthonen bezeichnen.
An diesem Punkte erkennen wir in der geschichtslosen Zeit die militärische
und auch, den Latinem gegenüber, die politische Kraft des noch mit den
Mitteln eines engen Gemeinwesens seine Existenz begründenden Römer-
volks. Der etruskischen Herrschaft hat es sich bald erwehrt. Etrusker,
Griechen, Samniter imd Gallier haben in der latinischen Küstenebene die
imscheinbare Volkskraft gefunden, die ihnen ein Halt gebot, die dann die
Latiner zum Staate verband, die griechischen Ansiedlungen gegen die
Samniter, Norditalien gegen die Gallier schützte und, nachdem sie in der
Reihenfolge die Samniter, Etrusker, Umbrer, Griechen und Gallier unter-
worfen hatte, ein Reich Italien herstellte.
Es sind die Jahrhunderte, deren Überlieferung Legende ist, in denen
die Römer das innere Gefüge ihres Staates, ihr öffentliches und bürger-
liches Recht ausbildeten; auch die Kodifikation ihres Landrechts gehört
noch in jene Zeit: es war das erste römische Buch, auf 12 Erztafeln ge-
schrieben, von denen es jeder für sich abschreiben konnte. Auf diesem
Gebiet brach der römische Geist seine eigne Bahn. Als griechische Ge-
lehrte, die dem römischen Nachahmungstriebe nachspürten, Solonische
Einleitung.
315
Gesetzbestimmungen in den 12 Tafeln wiedergefunden hatten, entstand in
der römischen Annalistik eine doppelte Fabel: von einer Gesandtschaft,
die das römische Recht aus Athen geholt, und von dem Epheser Hermo-
doros, der den Römern bei ihrem Landrecht geholfen hätte. In der Tat
handelte es sich um einzelne Rechtsbestimmungen, die durch fHedlichen
Verkehr aus den griechischen Städten Italiens nach Rom gewandert waren.
Ernstlich kann nicht mehr die Rede davon sein, den Römern ihre juri-
stische Originalität zu bestreiten, Sie haben sie ihre ganze Geschichte
hindurch bewiesen, so unzweideutig wie ihre Abhängigkeit auf allen
andern Gebieten der Literatur und Wissenschaft.
An ihrem Landrecht erwuchs den Römern die erste eigentlich litera-
rische Leistung: ein Verzeichnis der Gerichtstage und der Formen des
Zivilverfahrens, deren Kenntnis, unerläßlich für die Anwendung des Rechts,
im Besitze des Pontifikalkollegiums war. Gnaeus Flavius, der nicht zu
diesem Kreise gehörte, mußte das Buch nach Beobachtung und Erfahrung
zusammenstellen, ein Buch zum Gebrauche des gemeinen Mannes und mit
scharfer politischer Spitze gegen die patrizische Tradition. Den Gedanken
dazu hatte Appius Claudius Caecus gegeben, ein Mann, der zuerst als Per-
sönlichkeit unter den Römern scharf hervortritt; bis dahin macht das
römische Volk seine Geschichte und die Männer sind nur Namen. Claudius
hat persönliche Gedanken, die er mit demagogischer Kraft durchsetzt;
ofiFenbar bediente er sich dazu auch der literarischen Mittel, die den
Römern in der Zeit, da sie die Samniter imd Etrusker völlig unterwarfen
und Pyrrhus bekämpften, unmöglich fremd sein konnten. So soll Claudius
die erste Rede publiziert, auch die erste juristische Einzelschrift verfaßt
und in Anlehnung an griechische Gedanken Verse geschrieben haben.
Durch die 1 2 Tafeln war das geschriebene an die Stelle des Gewohn-
heitsrechts getreten, die Epoche, die in der historischen oder Legenden-
überlieferung aller griechischen Staaten einen Haupteinschnitt macht und
im kretischen Gortyn uns noch auf dem Steine entgegentritt Als nun
der Laie sich der Anwendung des Rechts bemächtigen wollte, da wurde
der Priesterschaft, die bisher das sakrale und zivile Recht mit seinen
Formen und Formeln gehütet hatte, die Gefahr bewußt und ihre kun-
digsten Mitglieder übernahmen die öffentliche Belehrung des rechtsuchen-
den Publikums. So löste sich das zivile vom sakralen Recht und wurde
zu einer eignen Disziplin, zu einer selbstgewachsenen und in sich ruhen-
Lden Wissenschaft, die nach praktischer und systematischer Ausbildung
drängte und eine unbegrenzte Zukunft selbständiger literarischer Entwick-
lung in sich trug.
Wir haben hier die Geschichte der römischen Rechtswissenschaft
nicht zu verfolgen. Aber es mußte bemerkt werden, daß das Römertum
auf den Gebieten von Recht imd Staat seine originale Arbeit getan hat;
und zwar das Römertum im engeren Sinne. Als das übrige Italien an
Appiat CUudio«
(Censor 313».
AofHnge dar
Kechuwtssro-
ftCb.ilL
3i6 Friedrich Leo: Die rdmische Literatur. A. Republikanische Zeit.
Italiens vollzogen tind durch die Unterwerfung Italiens unter die latinische
Sprache die geistige Überlegenheit des Römers deklariert Die größte
Zeit der römischen Greschichte ist mit dem Eintreten sicherer historischer
Oberlieferung vorüber.
A. Republikanische Zeit
L Von den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit
(ca. 250 — 100 V. Chr.). Danach erst beginnt eine römische Literatur. Die
Verschiedenheit von der griechischen Entwicklung springt ins Auge: dort
ist jede Pheise literarischen Werdens ein organischer Teil der politischen
und Kulturentwicklung der Nation; den Römern kommt die Literatur von
außen, römische Literatur ist kein voller Begriff imd ohne das Griechische
weder zu denken noch zu würdigen.
Die Gattungen der gpriechischen Literatur sind aus volksmäßigen An-
fangen allmählich in die Höhe gewachsen und durch die künstlerische Tat
eines Mannes, den wir entweder kennen oder nicht kennen, kunstmäßig
und literarisch geworden. Dieses organische Wachsen aus den Elementen
kennt die römische Literatur nicht An den Elementen hat es nicht ge-
fehlt: das italische Volk hatte Kult- und Heldenlieder, Spott- xmd Klage-
lieder, Lieder bei Arbeit und Mahl wie das griechische, auch die rohen
Naturformen des dramatischen Spiels. Aber es ist keine Kunst daraus
entstanden, so wenig wie ein Drama, außer Epicharms Komödie, aus den
Fastnachtsspielen der Dorier.
Der Wunsch nach einer über die Volksposse hinausgehenden Bühnen-
kunst reg^e sich, als die dionysischen Techniten aus den italischen Griechen-
städten kommend auch dem römischen Publikum attische Tragödie und
Komödie zeigten. Die römischen Festspiele waren vor alters nach grie-
chischem Muster begründet worden vaid konnten szenische Spiele in ihren
Rahmen aufnehmen. Es war die Zeit, da Psrrrhos aus Italien vertrieben,
Tarent und die letzten freien Stämme zum Bündnis gezwungen wurden
und Rom in gewaltigen Kriegen Sizilien eroberte und Karthago stürzte.
In jenen Jahrzehnten füllte sich Rom mit einer niederen griechischen Be-
völkerung: Kriegsgefangenen und gekauften Sklaven, Freigelassenen und
handeltreibenden Bündnem. Auf Markt und Straßen hörte man griechisch
sprechen. Aber auch in den Häusern begann bereits hier und da ein
Vornehmer dem Vortrage eines Sklaven, der daheim die Schule besucht
hatte, zu lauschen; und mancher hätte seinen Kindern zum Buchstabieren
und Lernen von Recht vmd Gesetz, wie es dem römischen Knaben zukam,
auch einen literarischen Unterricht gleich den Griechenkindem gegönnt.
Liviai Damals lebte in Rom der Tarentiner Andronikos, der wahrscheinlich
(txtig 24o-ao7). während des tarentinischen Krieges, d. h. vor 273, und zwar als junger
Knabe, kriegsgefangen in das Haus eines Livius gekommen war und als
dessen Freigelassener den Namen L. Livius Andronicus führte. Der Mann
hat keine geringe Bedeutung für die Weltliteratur; denn er hat die Kunst
I. Von den punischen Kriegen bis lur Revolutionszeit (ca. 250 — 100 v. Chr.). ^ij
des Übersetzens erfunden. Diese Kunst datiert vom Jahre 240 v. Chr.,
dem ersten Auffüihrungsjahre des Andronicus. Er hat den Römern für
ihre Bühne attische Tragödien und Komödien, für ihre Schule die Odyssee
vermittelt. Für diesen Zweck fand er eine Sprache vor, die in Handel
und Wandel, in Senat und Forum ausgebildet, aber für keinen kunst-
mäßigen Gebrauch geschult und geschmeidig, in poetischer Ausdrucks-
fähigkeit noch unversucht, selbst in ihren Formen noch nicht einem nach
Hebung und Senkung strenge gliedernden Versgesetze anbequemt war.
Es gab einen urtümlichen italischen Vers; den fand Andronicus als den
Vers des Heldenliedes für die Obersetzung der Odyssee geeignet. Für
das Drama fand er es nötig die jambischen und trochäischen Verse der
Griechen nachzubilden; er tat es mit einer ähnlichen Freiheit wie er sie
den Texten gegenüber als Übersetzer übte, und mit einem Erfolge wie er
nur dem schöpferischen Formenbildner zuteil wird.
So war mit einem Striche beseitigt was in Rom von Rudimenten der
Dichtung vorhanden war und der Gestaltung harrte. Dafür empfingen die
Römer das homerische Epos und das große attische Drama: die Tragödie
des 5. Jahrhunderts und die Komödie Menanders. Epos und Tragödie
waren klassisch und in den griechischen Ländern Gegenstand gelehrten
Studiimis; die Komödie war in vollem Leben, So brachte Andronicus
den Teil des Publikums, der auf ihn hörte, mit der großen Kunst der
vergangnen Blütezeit und mit der modernen griechischen Produktion zu-
gleich in Beziehung.
Das Literatentum, das sich nun bildete, war nicht im eigentlichen
Sinne römisch; wie es denn von einem geborenen Grriechen begründet
und gleich in der gfriechischen Form eines Dichterklubs mit sakralem
Mittelpunkt zusammengefaßt worden ist. Ein Römer, ja ein Latiner aus
Latium ist Generationen lang in der römischen Literatiir nicht nach-
zuweisen. Andronicus' Nachfolger und Nebenbuhler, Naevius, war aus
einer Latinerstadt in Kampanien, Plautus ein Umbrer von der umbrisch-
gallischen Grenze, Ennius und Pacuvius aus Kalabrien, einem Lande halb-
griechischer Kultur, Caecilius und Terenz Freigelassene der eine gallischen,
der andre afrikanischen Blutes, Keine Überlieferung lehrt uns so ein-
dringlich die geistige Anziehungskraft der Eroberin Rom kennen wie
dieses Eintreten der latinisierten Italiker und Fremden in die literarische
Bewegung,
Auch griechisch war dies Literatentum nicht; vielmehr ist gleich aus
dem ersten Anstoß eine römisch-italische Strömung hervorgegangen, die
auf eine nationale Entwicklung der jungen Literatur hindrängte. Man
sieht deutlich, daß die Talente bereit standen und nur auf die freie Bahn
warteten. Der Führer war Naevius, ein Mann, dessen Persönlichkeit aus
geringen Resten und Notizen scharf hervortritt. Er bleibt in den von
Andronicus gegebenen Formen, er bearbeitet auch attische Tragödie (zum
Teil dieselben Stoffe wie jener, also über ihn hinausstrebend) und Komödie;
Naeviiu
Itlü« »35— «04>.
3i8
Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit.
Plautiu
ftätiff vor
104—194).
aber daneben beginnt er den Stoff für Tragödien aus der römischen Sage
und Geschichte, für Komödien aus der italischen Umgebung zu holen.
Er dichtet ein Epos, im altitalischen Maß wie Andronicus, aber sein
Gegenstand ist der punische Krieg, den er als Soldat erlebt hat Dies
sind die Hauptzüge, die eine freie Initiative in der nationalrömischen
Richtung bedeuten. Auch eine attische Freiheit des Wortes, der die
römische Polizei durchaus keinen Raum verstattete, bezeichnet den Mann;
sie hat ihm Gefängnis und Verbannung eingetragen und seine Laufbahn
als Dichter gekürzt.
Livius Andronicus ist in Rom nachzuweisen von 240—207 v. Chr.,
Naevius von 235 — 204; in Naevius' letzter Zeit setzen Plautus und Ennius
ein. Damals, nämlich in Plautus' und Ennius' Zeit, gab es 'Dichter wie
Frühlingsblumen', wie eine Generation nach Plautus ein Komödienschreiber
sagt Die Komödie war, wie bemerkt, von den Gattungen, die Andronicus
in Rom einführte, die einzige mit der lebendigen griechischen Produktion
der Zeit unmittelbar verbundene. Daß sie die stärkste Entwicklung fand,
deutet auf den Zusammenhang der römischen Literaten mit der griechi-
schen Bühnenliteratur der Zeit. Die Stärke der Entwicklung zeigt sich
vor allem darin, daß die Komödie die erste römische Gattung war, die
eine poetische Individualität für sich allein in Anspruch nahm. Die Griechen
kannten das nicht anders. Sokrates zwingt am Schlüsse von Piatons Sym-
posion nach einer durchzechten Nacht die beiden Dichter, zuzugeben, daß
wer der Kunst der Tragödie mächtig sei auch der Komödie mächtig sein
müsse, und umgekehrt Der importierten römischen Kunst war das kein
Paradoxon. Aber in umgekehrter Entwicklung fordert auch hier allmäh-
lich der Stil seinen Mann. Naevius hatte zur Komödie den stärksten
Trieb gehabt und sie nach Gehalt imd Form starke Schritte vorwärts
geschoben; Plautus war der erste, der sein ganzes Leben der Komödie
hingab.
Plautus, aus dem umbrischen Städtchen Sarsina an der gallischen
Grenze in Rom eingewandert, ist zugleich der erste, den wir von An-
gesicht kennen. Wir besitzen 20 Komödien von ihm, die in der Haupt-
sache für uns die altlateinische Sprache ausmachen. Die neben ihm
dichteten sind fast alle auch dem Namen nach verschwunden. Seine
Stücke sind zum Teil nach Philemon, Menander und Diphilos, d. h. nach
den Klassikern der attischen neuen Komödie, andere nach jüngeren, meist
unbekannten, Dichtern bearbeitet Sie haben die dieser Gattung eignen
typischen Züge der Erfindung und Charakterisierung, sind aber nach Inhalt
und Ton außerordentlich verschieden; wie ihre Urheber und Urbilder es
w£iren. Sehr verschieden sind sie auch der Ausführung nach. Die besten
sind ohne Frage die dem Original ohne wesentliche Abweichung nach-
gebildeten Stücke. Aber Plautus hat oft, wie schon Naevius, zwei grie-
chische Komödien verwandten Stoffes ineinander gearbeitet oder ein
Stück, indem er einzelne Szenen aus andern Stücken herübemahm, mit
I. Von den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit (ca. 250 — 100 v. Chr.). 310
Stoff gefüllt; denn sein Publikum verlangte nach Handlung mehr als nach
Kunst der Ausführung. Die eignen Schritte, die Plautus bei solchen Ge-
legenheiten tun mußte, zeigen einen sehr ungeübten Gang. Horaz, der
die Originale kannte, hat ihn sehr scharf beurteilt; und wir können, so-
weit das Dramatische in Handlung und Aufbau reicht, wo wir die Ab-
weichung vom Original erkennen, nicht milder sprechen. Es geriet dem
italischen Poeten noch nicht, die fremde Kimstform mit freien Händen
zu berühren.
Dagegen behandelt Plautus die Sprache als ein Meister: es ist eine
Stilisierung der Umgangssprache, die dem Besten ihrer Art an die Seite
tritt; eine Geschmeidigkeit der jungen Literatursprache, die auch vom
Talent der Vorgänger, die eine so rasche Entwicklung vorbereitet haben,
die größten Vorstellungen erweckt; die Formen von fließender Mannig-
faltigkeit, der Ausdruck von geregelter Beständigkeit; doch nirgends ein
papiemes Gesetz: jede Regel entspringt den in der Sprache vorhandenen
Keimen; keine der Sprache angetane Gewalt: viele Fremdwörter, kein
Gräzismus des Satzbaues; trotz der Fremdwörter eine aus der Tiefe
quellende Sprachfülle; jede Stimmung findet ihren Ton, denn das bürger-
liche Schauspiel geht durch alle Stufen von ernster Leidenschaft bis zum
Grrotesken.
Der sprachliche Stil läßt die 20 Stücke als das Werk eines Geistes
erscheinen; dasselbe leistet die Stilisierung des Stoffes. Was darunter
zu verstehen ist, läßt sich nicht leicht beschreiben oder andeuten. Die
attische Komödie stellte das Leben von Haus und Straße dar das grie-
chische Leben; das mußte der Römer sich bieten lassen, da er die fremde
Kunstform übernahm; seine Poeten hatten nicht die Beweglichkeit des
Geistes, mit der Holberg aus fremden Motiven ein nationales Lustspiel
geschaffen hat Aber das leichte Spiel vertrug es, wenn der Dichter die
eigne Gegenwart mit der gestalteten, die er vorfand, vermischte. An
diese Vermischung hat Plautus seinen ganzen Witz gesetzt Im Rahmen
der attischen Erfindung fahrt Griechisches und Römisches vorüber, das
dem römischen Publikum im einzelnen merklicher als uns auseinander- und
immer wieder zusammentrat und gerade dadurch im ganzen sich ver-
wischend rascher in eine eigne neue Farbe überging. Auch wir empfinden
den Reiz dieser schillernden und doch einheitlichen Färbung; sie ist so
wohltemperiert, daß auch die rein attische Grundlage von der Nachwelt
als römisch genommen worden ist Einer Übersetzung, die zunächst nicht
literarischen Zweck hat, sondern für die lebendige Bühne bestimmt ist,
kann man wohl ein besseres Zeugnis nicht ausstellen, als daß sie nicht
nur Reichtum und Fähigkeiten der eignen Sprache darstellt und ver-
mehrt, sondern auch den fremden Charakter des Stoffes vergessen macht
Plautus nennt sich in einem Atem Dichter und Obersetzer. Wir
würden vielleicht schwanken ihm den schöneren der beiden Namen zu
geben, wenn wir seine Originale besäßen; aber wir sehen doch, daß er
320
3R1CH Leo : li" romische Literatur. A. Republikanische ZeitT
Ca«ciliiu
(um 195—168)
and
Teren«
(->59).
sich als Schaffender füWen konnte. Wie an seiner Sprachbehandlung
und der Freiheit in der Behandlung des Stofflichen erkennen wir das an
seiner Gestaltung der metrischen Formen, im einzelnen und im ganzen;
auch hier freilich bleibt die Frage nach dem Anteil, der seinem Vor-
gänger Naevius zufällt, offen. Plautus hat eine Fülle lyrischer Vers-
formen, die nach griechischer Technik frei gebildet sind, während die
Originale fast nur die einfachen Dialogmaße verwendeten. Aus den
lyrischen Maßen bildet Plautus Lieder und Gesangszenen, die in einigen
Stücken überwiegen, in andern nur sparsam zwischen die Dialogszenen
eingestreut sind, während die neue attische Komödie fast ausschließlich
aus gesprochenen Szenen bestand. Dies ist eine wesentliche Abweichnng
von den Originalen, wesentlich für die Arbeit an jedem einzelnen Stück,
eine für die Bühnenerscheinung der römischen Komödie gegenüber der
griechischen sehr erhebliche Abweichung. Nun sind die plautinischen
Lieder und Liedszenen ihrer Form nach eng verwandt mit den gleich-
zeitigen griechischen Liederspielen, die sich in der Ausbildung ihrer
Formen an die spätere Lyrik der eiuipideischen Tragödie angeschlossen
haben- Wir sehen Plautus in unmittelbarer Verbindung mit der griechi-
schen Bühnenproduktion leichten Stils seiner eignen Zeit, er ist für uns
der Fortsetzer nicht nur der attischen Komödie, sondern auch einer
hellenistischen Kunstübung, von der uns ohne ihn nur wenige Andeutungen
erhalten wären. Er setzte der attischen Komödie das griechische
Singspiel, wie es damals überall zu finden war, auf und belebte sie da-
durch für sein Publikum in wirksamster Weise, Dem griechischen Dichter
würde eine solche Vermischung nicht zur Freude gereicht haben; und
uns mag sie eine Warnung sein, daß wir in Plautus nicht zu bereitwillig
das Abbild Menanders finden. Dafür gewinnt Plautus einen neuen Zug
von Originalität.
Nach Plautus führte die römische Komödie griechischen Stoffes nur
ein kurzes Leben. Caecilius starb 16 Jahre nach Plautus; an ihm rühmten
ein Jahrhundert später die römischen Philologen, daß er die andern
durch Trefflichkeit der Erfindung überrage; das bedeutet, er übersetzte
vornehmlich Menander und ließ dessen Stücke als Ganzes wie sie waren,
ohne sie mit Stoff aus andern Komödien aufzufüllen. Nach seinem Tode
begann Terenz und dichtete nur wenige Jahre. Von ihm besitzen wir
was die Alten besaßen; es ist alles was er auf die Bühne gebracht hat,
sechs Komödien, von denen vier nach Menander geeirbeitet sind. Das
jüngste dieser Stücke ist ein Vierteljahrhundert nach dem Tode des
Plautus geschrieben; der Abstand ist außerordentlich groß. Die Entwick-
lung der Sprache bezeugt auch ohne die deutlich redenden äußeren Zeug-
nisse, daß anspruchsvollere literarisch angeregte Kreise dieser Produktion
ihr Interesse zugewendet haben. Die Komödie ist attischer geworden.
Die Literaten selbst verlangen genauen Anschluß ans OriginaL Die plau-
tinische Form des Singspiels ist so gut wie aufgegeben. Die römischen
I. Von den punischcn Kriegen bis zur Revolulionszcit (ca. 250 — icx> v. Chr.). 321
p
}
Elemente, die den Stil des Plautus so wesentlich bestimmen, sind sorg-
fältig abgestreift. Dabei ist der Respekt vor dem Original nicht groß:
auch Terenz versetzt, gegen den Widerspruch der Zunftgenossen, das
eine Stück mit Personen und Szenen eines andern; aber er tut, was
Plautus leichthin und um das entstehende Gebilde unbekümmert tat, mit
bewußter Kunst und einem Geschick, das unsem Blicken die Fugen ver-
deckt. Andrerseits läßt er fort was durch zu entschieden attische Lokal-
farbe stört; rein attisch und menandrisch sucht er die Charakterzeichnung
in einer nach Menanders Muster erstaunlich fein berechneten Stilisierung
der Rede herauszubringen.
Plautus und Terenz haben, nah und fern wie sie ihren Originalen
stehen, das griechische bürgerliche Schauspiel der Weltliteratur vermittelt.
Menander ist früh verschwunden, seine römischen Nachfolger haben im
4. und 12, und (5. Jahrhundert produktiv gewirkt, ihre Stoffe und der
Einfluß ihrer Kunst erscheinen wieder bei Shakespeare und Dryden, bei
Moliere, Holberg und Goldoni, bei Lessing und Heinrich Kleist. Freilich
ist was hier gewirkt hat der griechische Geist, der noch mit sinkender
Kraft eine neue Gattung des Dramas neben die Tragödie gestellt hat,
ein wie die Tragödie nicht an Zeitalter und Schauplatz gebundenes, jeder
nationalen Wandlung fähiges Schauspiel. Was die Römer selber daraus
gemacht haben, steht in zweiter Linie; die Hauptsache ist, daß sie das
griechische Kunstwerk mit voller Farbe des Lebens und Kraft der Wir-
kung bewahrt und weitergegeben haben.
Die entschiedene Richtung auf das Römisch-Nationale, die Naevius Kaaiui
dem jungen Fluge der lateinischen Produktion zu geben suchte, wurde 104-169).
nicht eingehalten. Schon Plautus folgte nur eine Strecke und machte
diesseits der griechischen Grenze halt. Neben ihn trat, gerade um die
Zeit, in der Naevius aus Rom verschwand, der Mann, der den Sieg des
griechischen Einflusses auf die römische Literatur für alle Zeit entscheiden
sollte. Es war Ennius, der im Jahre 204 im Gefolge des jungen Cato
nach Rom kam. Er war damals 35 Jahre alt; in seiner Heimat, im kala-
brischen Binnenlande nicht weit von Tarent, wurde messapisch und
oskisch, griechisch und lateinisch gesprochen; kein Zweifel, daß ein junger
Mann lebhaft strebenden Geistes dort ganz im Banne der griechischen
Bildung stand. Als er, der eigentliche Nachfolger des Andronicus, nach
Rom kam, war er nicht nur mit der klassischen Dichtung schulmäßig
vertraut, sondern bewegte sich mit im Leben des modernen griechischen
Geistes. Den einzigen Tragiker, der der hellenistischen Welt nicht wie
ein Denkmal vergangener Größe, sondern in lebendiger Wirkung wie
einer der Ihrigen erschien, Euripides, stellte er mit seiner Freigeisterei und
Menschlichkeit, einen Propheten unröraischer Lebensanschauung, in den
Vordergrund der römischen Bühne. Aus der hellenistischen Literatur
holte er Proben der verschiedensten Art, darunter Dinge, die auch der
Grieche für den Feinschmecker dichtete, hervor und leg^e sie dem kleinen
Db Kultuk du Gsoshwaht. I. S. 21 -^
32 2 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit.
Kreise, auf den er zählen konnte, darunter der Jugend, die er heran-
bildete, in lateinischer Bearbeitung vor: Naturphilosophisches, rationa-
listische Mythendeutung, heitere Lebensweisheit und Lebensgenuß. Um
dergleichen anzufassen, mußte er ein starkes Vertrauen auf seine formale
Kunst besitzen. Ihm verdanken die Romer den Hexameter und das
elegische Distichon. Durch den Hexameter schob er mit einem Sehlage
den Satumier und zugleich die Epen des Andronicus und Naevius in die
Vergessenheit zurück imd knüpfte die Römer an das griechische Epos,
das homerische und das zeitgenössische, an. Die Fessel der griechischen
Form schlang Ennius nur fester und für immer unlösbar um den römischen
Geist; aber den epischen Stoff gaben die Römer selbst Hier folgfte er
Naevius. Wie er Tragödienstoffe aus der römischen Legende und den
letzten Kriegen nahm, so setzte er sich als Gregenstand seines Epos, das
ihn die letzten Jahrzehnte seines Lebens hindurch beschäftigte, die
römische Geschichte von ihren Anfängen bis in die eigenen Tage vor.
Dieses Gedicht ist bis auf Vergil das Nationalepos der Römer geblieben
und war noch für Vergil das klassische Vorbild neben Homer. Es war
ein vordeutender Ausdruck für die Verbindung des griechischen und
römischen Wesens, die auf die Zeit der äußeren Einwirkung folgen sollte.
GriechiKh- Ennius stand in nahem Verkehr mit den Scipionen und andern rö-
BUdanfiverkehr.mischen Grroßen, für deren Taten und die ihrer Väter er ein poetisches
Denkmal aufrichtete. Es gab damals schon Männer im Senat, die ein
eignes Verhältnis zur g^echischen Literatur hatten, ja die als griechische
Literaten römische Geschichte auf griechisch schrieben. Dennoch fiel
damals Ennius als dem Vermittler zwischen griechischer und römischer
Bildung eine sehr wichtige Rolle zu. Bald kamen die Grriechen selber
und fanden in dem neuen Zentrum der politischen Weltbegebenheiten
Bildungskreise vor, in die sie als Vertraute treten und in denen sie wie
mit ihresgleichen reden konnten.
Gleich nach dem hannibalischen Kriege begann Rom über Italien
hinaus- und in die Verhältnisse der griechischen Monarchien tmd Stadt-
gemeinden einzugfreifen. Von der Zeit an strömten Gesandte der Könige
und Städte nach Rom, oft als Redner, Gelehrte, Philosophen die ersten
Männer daheim. Während der Monate, die sie vor den Pforten des
Senats harrten, teilten sie den aufsteigenden Herren der Welt von ihrer
Redekunst, Philosophie tmd Philologie mit; die Griechen waren längst
gewohnt, die Barbaren in die Schule zu nehmen, sie kannten längfst die
politische Bedeutung der überlegenen Bildung. In Rom fanden sie ein
lernbegieriges Publikum unter den Jungen und Alten. Der beste Römer
seiner Zeit, der junge Scipio Aemilianus, kam unter den Einfluß deä
Polybius, der daheim als Staatsmann gescheitert war und als römischer
Staatsgefangener, da er in langjährigem erzwungenem Aufenthalt die
Größe des römischen Volkes und Staates erkannte und in seiner Ge-
schichte der römischen Welteroberung darstellte, einen besseren "Ruhm
I I. \'on den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit (ca. 250 — 100 v. Chr.). 323
erwarb als er in Megalopolis dem griechischen Kleinpolitiker geblüht
hätte. Aemilianus wurde das Haupt eines Kreises, in dem, mit der männ-
lichen Reife des Römertums verbunden, eine auf das Geistige gerichtete
Lebensführung zur Erscheinung kam. Hier fand auch die stoische Ethik
ihre erste Stätte in Rom, eine Lehre, die, durch ihre Forderung eines
mit der Weltvernunft und der eigenen Seele, als einem Teile des Gött-
lichen, übereinstimmenden Lebens, der altrömischen Leben.smoral einen
völlig zutreffenden theoretischen Ausdruck zu geben schien. Den Römern
von Scipios Art war es eine begeisternde Wahrheit, daß geistige Bildung
auf sittlicher Grundlage aufgebaut werden muß, denn die sittliche Grund-
lage fanden sie in der Vorratskammer ihrer häuslichen Überlieferungen.
Seit jener Zeit zogen auch Römer in die griechischen Länder. Als
Eroberer in Feindesland suchten sie bereits die berühmten Stätten der
Bildung, die Denkmäler geistigen Ruhmes, die lebenden Träger viel-
genannter Namen auf. Zu den Unterworfenen zogen Gesandte, die ihre
Verhältnisse ordneten, ihre Streitigkeiten schlichteten. Die Statthalter
und ihre vornehmen Begleiter wohnten jahrelang an den Hauptsitzen der
Provinzen. Reiche Römer gründeten Handelsniederlassungen auf den
Inseln und in den Küstenstädten. Als die griechische Welt sich an die
römische Herrschaft gewöhnte, gewöhnte sich auch die römische Gesell-
schaft daran, unter der Bildung, die sie suchte, die griechische Bildung
zu verstehen und nach der alten und neuen griechischen Literatur, Welt-
weisheit und Wissenschaft Umschau zu halten. Nun war kaum ein vor-
nehmes Haus ohne seinen griechischen Berater. Allmählich wurde es
Sitte, daß der junge Römer Athen und die kleinasiatischen Kulturorte
bereiste; da lernte er bei den Rednern und Philosophen-
Ais diese Berührungen begannen, waren auch Männer der vornehmen Pro««
römischen Gesellschaft in die von zugewanderten kleinen Leuten angeregte
und unterhaltene literarische Bewegung eingetreten. Aus diesem Zuzüge
erhob sich die römische Prosa. Es ist ein Zug organischen Wachstums,
daß sie so weit hinter der Poesie zurückblieb; denn die Prosa pflegt
heranzuwachsen erst wenn die Sprache in der Poesie ihrer Kraft inne
geworden ist. Ennius' Euhemerus war vielleicht die erste Prosaschrift
der neuen Literatur. Aber Stoff und Form der Prosa kamen aus andrer
Richtung.
Der Stoff der römischen Prosa ist römische Geschichte und Politik,
römische Senats- und Gerichtsverhandlung. Sie ist durchaus politisch-
national, national im Gegensatz zum Fremden, politisch als Waffe im
Parteikampf. Sie ist in den Händen vornehmer Römer, die sich ihrer
zum Zwecke bedienen und eine lediglich literarische Beschäftigung erst
vornehmen, wenn sie ihr Teil an Taten hinter .sich haben und nur noch
als Ratende im Senat sitzen. Dennoch ruht die römische Prosa in der
griechischen Geschichtschreibung und Redekunst, wie die römische Poesie
im griechischen Epos und Drama, nicht so augen.scheinlich, aber nicht
324 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit,
minder gewiß; nur hat vielleicht die griechische Einwirkung hier von
primitiven Bildungen mehr zu überwinden gehabt als auf poetischem
Grebiet
Cato Kaum in der Geschichtschreibung. Es gab rein stoffliche Aufzeich-
»34-149- nungen der römischen Geschichte, die fortlaufend gefuhrt und dann im
Archiv des pontifex maximus aufbewahrt wurden. An sie hat sich das
Epos des Ennius und die folgende Annalistik, wenigstens dem Namen
nach, angelehnt Die ersten römischen Historiker, Männer, die gegen
Hannibal gefochten haben, schrieben für Griechen in griechischer Sprache
römische Geschichte. Der alte Cato, der ärgste Feind der römischen
Philhellenie und recht eigentlich Beg^ründer der römischen Prosa, schrieb
eine Geschichte Italiens als Geschichte des italischen Volkes imd ver-
schwieg die Namen der vornehmen Offiziere, ganz im Gegensatz zu Ennius
und der auf die Verherrlichvmg der Persönlichkeit gerichteten helle-
nistischen Geschichtschreibung; aber seine Abhängigkeit von dieser tritt
darum doch aufs deutlichste hervor.
Die politische und Gerichtsrede hatte ohne Frage in Rom eine frühe
Ausbildung erfahren, eine imserer Überlieferung vorausliegende Aus-
bildung, von der wir weiter nichts sagen können; daß sie stattgefunden
hat, folgt aus einer staatlichen und rechtlichen Entwicklung, wie es die
römische war, mit Notwendigkeit Aber wo uns die römische Rede zu-
erst entgegentritt, beim alten Cato selbst, der seine Reden, ein ganz
griechisches Verfahren, als literarische Leistungen ins Publikum brachte,
steht die Formung der Sprache unter der deutlichen Einwirkung der
modernen griechischen Rhetorik. Diesen Einfluß finden wir schon bei
Plautus und Terenz; kein Wunder, denn die griechische Rhetorik griff
über die Rede hinaus in alle Poesie imd kunstmäßige Prosa hinein, sie
ist in Rom mit der Literatur und griechischen Bildimg zugleich heimisch
geworden. Aber in der übrigen Kunst bedeutet sie das Beiwerk, in der
Rede die Technik. Bald setzten sich Rhetoren zur Unterweisung der
vornehmen Jugend in Rom fest; lange vorher hatte der römische Staats-
mann aus Büchern und persönlichem Verkehr die Lehren der griechischen
Rhetorik aufgenommen.
Dagegen echt römisch waren Schriften Catos zur Unterweisung seines
Sohnes in Tugend und Hantierung der Vorfahren und ein Leitfaden zur
Bewirtschaftung des Grutes, das einzige was tms geblieben ist, in einer
Fassung freilich, die durch jüngere Zutaten und durch Veränderungen,
wie sie im Gebrauch sich einstellen, der ursprünglichen Gestalt sehr un-
ähnlich geworden ist.
Dnnut der -In den Friedensjahren nach der Zerstörung Karthagos imd Korinths,
Gnccheaxait. ° *
als die drohenden Fragen der inneren italischen Politik in den Vorder-
grund traten, war in der neuen Weltstadt ein buntes literarisches Leben.
Jede andere Barbarenstadt wäre imter ähnlichen Umständen hellenisiert
worden. Rom entwickelte in dieser entscheidenden Epoche seine beste
I. Von den punischen Kriegen bis zur Revolutionszeit (ca. 250 — 100 v. Chr.). 325
Fähigkeit der Aneignung wie der eigenen Gestaltung. Ein Fundament
besaß es in der bisherigen Entwicklung seiner eignen Literatur. Die
Tragödie setzte sich nach Ennius durch zwei lange Generationen in ge-
steigerter Ausdrucksfähigkeit fort. Gegen die zu attisch werdende Ko-
mödie wehrte sich das römische Publikum. Das selbsterfundene Lust-
spiel römischen Stoffes, ganz in der menandrischen Form, trat damals an
die Stelle der Bearbeitungen griechischer Originale; und als auch das zu
fein und attisch wurde, drängte sich die italische Volksposse in lite-
rarischer Gestaltung ans Licht. Die szenischen Spiele erhielten nach
griechischem Muster einen Dichterwettkampf; nun paßten sich die Zunft-
genossen gegenseitig aufs Handwerk, und es bildete sich eine Technik
dieser Obersetzungsliteratur, die ihre eignen Wege gehen mußte, da sie
nicht ihresgleichen hatte. Auf den Höhen der Gesellschaft begann man
sich für diese Kunst zu interessieren und, wie man selbst auf ein stadt-
römisches reines Titeln ein ähnliches Gewicht zu legen begann wie der
Grieche auf ein reines Attisch, dergleichen auch von der Bühne zu ver-
langen. Terenz widerstrebt in seinen Prologen dem Scheine nicht, daß
ihm vornehme Römer beim Dichten halfen; von ihm sagte man, daß er
auf einer Studienreise nach Asien und Athen umgekommen sei.
Zum Kreise des Scipio Aemilianus gehörte Lucilius, dessen Name den Luciiiui
• 1 T-»l • • ■• • < T • 1 \ T" f"™ '80—10»).
freigewordenen Flug emer eignen romischen Literatur bedeutet. Er war
kein Literat wie die bisherigen Poeten. Einem vornehmen Hause der
latinischen Kolonie Suessa an der kampanischen Grenze angehörend lebte
er als reicher Mann in Rom, innerlich und äußerlich beteiligt an der
politischen Bewegung für und gegen die italischen Bündner, nicht minder
bewegt von literarischen Interessen jeder Art; ein Mann von originalem
Denken und freier Weltbildung, das heißt griechischer Bildung. Seine
Sprache zeigte wie ein Spiegel das Nebeneinander griechischer und latei-
nischer Elemente in der besten Bildung der Zeit; es ist die Verkehrs-
sprache seiner Kreise, keine stilisierte Literatursprache wie die des Te-
renz. Seine Dichtung führt weder eine vorhandene römische Produktion
fort, noch führt sie einfach eine neue griechische Gattung ins Lateinische
ein. Es ist die Satire. Man hat später in Rom gemeint, die Satire sei
die freie Erfindung des Lucilius; und richtig ist, daß die in Rom und
später in der Welt lebendig und triebfähig gebliebene Satire von Luci-
lius stammt. Nur Stoffliches und die Anregung, seine persönlichen Mei-
nungen in freier Betrachtung dem Publikum vorzutragen, kam ihm aus
der griechischen, besonders der hellenistischen Literatur. Dort gab es
vieles von ähnlicher Art, vor allem in den Kreisen der kynischen Popular-
philosophie, im belehrenden Ton der Wanderpredigt oder mit humoristisch-
polemischer Erfindung. Die poetische Form stammt von Lucilius selber
her. und damit die Gattung; denn was römische Vorgänger unter dem-
selben Titel gedichtet haben, hatte entweder nur den Titel gemein oder
war doch ohne Wirkung geblieben. Ganz sein eigen war der Geist: ein
326 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit.
kühner, mit jeder Waffe des Wortes scharf treffender Witz, ein die Dinge
und Menschen frei und von oben schauender Humor. Die Gegenstände
waren das Leben um ihn her: eigene Erlebnisse, die römische Gesellschaft,
der Staat, mit heftigen Angriffen auf seine und seiner Freunde politische
Feinde; moralphilosophische Betrachtung und Erotisches, grammatische
Erörterung und literarische Kritik. Das Epos des Ennius und die Satire
des Lucilius gaben dem Römer zuerst das Gefühl, auf eigenem Boden zu
stehen und selbstgewonnene Frucht zu genießen. Lucilius hatte noch unter
Domitian, lange nachdem sein größerer Nachfolger ihn verdunkelt hatte,
Leser, die ihn allen römischen Dichtem vorzogen. Dann ist er bis auf
etwa 1000 versprengte Verse verloren gegangen, wohl der größte Verlust,
der den Besitz der Nachwelt an römischer Literatur getroffen hat
Lucilius zeigt uns, wie damals das technisch-literarische Interesse all-
gemein wurde. Die literarischen Wissenschaften setzten sich in Rom fest,
Rhetorik und Philologie. Griechische Freigelassene zuerst wendeten die
kritischen Methoden auf lateinische Schriftwerke an; römische Gelehrte
richteten die philologische Technik auf die Entzifferung der eignen
ältesten Sprachdenkmäler und gaben der Erforschung der ältesten Rechts-
quellen eine Grundlage durch die Untersuchung der Wortbedeutungen.
Die erste griechische Bibliothek brachte Aemilius PauUus, der Vater des
Aemilianus, aus Macedonien nach Rom, die zweite LucuUus aus dem Pontus.
Bald gehörten griechisch-lateinische Bibliotheken zum Bestand jedes wohl-
eingerichteten Hauses.
II. Sullanisch- cäsarische Zeit (ca. 100 — 44 v. Chr.). Allmählich
vollzog sich die Verschmelzung, aus der eine neue römisch-griechische
Kultur hervorgegangen ist Es sind nur einzelne Zeichen dieses Pro-
zesses, die wir hier beobachten konnten. Man muß die Unterströmung
hinzudenken, die durch die vielen in der Masse des niederen Volkes sich
bewegenden Griechen und Halbgriechen entstand, und bedenken, daß in
jedem Hause wie im Treiben des städtischen Lebens sehr verschiedene
Bildungsschichten übereinander lagen. Die römisch-griechische Kultur, in
deren Kreise von nun an fast ausschließlich die römische Literatur sich
bewegt, gehört der obersten dieser Schichten an; sie entfernt sich immer
entschiedener vom ungebildeten Volke und läßt ihre Literatur und deren
Sprache allmählich zum ausschließlichen Besitz der höheren Bildung»-
kreise werden.
Der gebildete Römer hat sein Volkstum beibehalten, aber er ist
zweisprachig geworden. Er hatte den großen Vorteil, in seinem eignen
Wesen wurzelnd in ein fremdes hineinragen zu können. Er gewinnt den
Stolz auf die eigne geistige Leistung, aber er ist den Bildungsströmungen
und literarischen Moden der gleichzeitigen g^riechischen Welt so gut aus-
gesetzt wie jeder Grieche, und Rom in höherem Grade als jede griechische
Stadt denn alles geistige Streben und Wirken richtet sich nun zunächst
li. Sullanisch • cisarische Zeit (ca. 100—44 v.Chr.).
3*7
*
auf Rom und die Römer. Man denke an die Männer, die jetzt auf dem
Welttheater erscheinen — Sulla, Lucullus, Pompejus, Cäsar; sie sind nicht
mehr Gräkomanen wie die Flamininus und Albinus, sie sind durchaus
Römer, aber ebensogut helleni-stische Persönlichkeitshelden und ohne
griechische Kultur nicht denkbar; der Gegensatz des früheren italischen
Volkstums erscheint ihnen gegenüber in dem Bauernsohne Marius.
Es war das Jahrhundert der Revolution, des Todeskampfes der Re-
publik; Rom hatte das Schicksal, in diesen Zeiten der Fäulnis und des
Zusammenbruchs seine geistige Höhe zu ersteigen. Die Kultur, die sich
in diesen Generationen vollendete, ist es, die dann den Westen romani-
slert und die geistige Eroberung der Barbarenwelt vollzogen hat. Die
Spitze dieser Kultur war Cicero,
Werfen wir zunächst einen Blick auf die römische Poesie der Zeiten,
die das Zeitalter Sullas, Cäsars und Ciceros waren. Es ist eine aus-
gebreitete und vielfache Produktion, Altes und Modernes, Einheimisches
und Fremdes; jedes Talent dilettiert eine Zeitlang auf gebahnten Wegen,
wohlgeformte Verse zu bilden gehört zu den Künsten des Weltmannes.
Literarische Cliquen und literarische Gönner treten neben die aristo-
kratischen Bildungskreise höherer und exklusiver Art. Aber wenig
Bleibendes erhebt sich über das laute Treiben und über die Anerkennung
des Tages.
Die Zeit wurde entscheidend für die römischen Bühnenverhältnisse.
Das importierte Drama .starb aus; die Tragödie etwa anderthalb Jahr-
hundert nach dem Einsetzen des Andronicus. Ihr letzter Vertreter, Accius,
war zugleich ein modemer Schriftsteller wie Ennius. Er galt noch lange
als Vollender der Gattung. Seine Nachfolger sind vornehme Dilettanten,
und in aller Folgezeit hat es keine andere als vereinzelte tragische Pro-
duktion in Rom gegeben. Diese ist freilich für die dramatische Literatur
der Welt noch wichtig genug geworden.
In der Komödie zeigte der römische Geist mehr eigne Triebkraft.
Er warf nicht nur, wie wir sahen, die übertragene Komödie ab, er setzte
ein römisches Lustspiel, in dem nicht Athener und Epidamnier im grie-
chischen Gewand, sondern Römer in der Toga auftraten, an ihre Stelle;
und neben dieses Lustspiel, das nur im Stoffe römisch, in der Gestaltung,
Charakterisierung und Rede so attisch wie Terenz war, trat bald die
süditalische Volksposse, die, von altersher in ihrer ursprünglichen oskischen
Sprachform auch in Rom lebendig, nun als latinisierte Atellana der
großen Bühne zugeführt und literarisch gemacht wurde. Dies ist ur-
sprüngliches dramatisches Spiel; hier wird sich der Römer der Elemente
bewußt, die einer künstlerischen Ausbildung harrend im italischen Volks-
leben lebendig waren. Aber über eine g^obe Zubereitung der derben
Kost ging diese Kunst nicht hinaus. Es ist dasselbe lustige Spiel, das
noch heute in Italien auf der Straße und in kleinen Theatern und dessen
gleichen überall in der Welt tausendjährige Spaße zum besten gibt.
Poesie der
.ullanisch-rü»a-
riscbcD Zeit,
328 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit
Neben die Atellane trat, gleichen Ursprungs und ähnlichen Charakters,
auch in Rom von altersher nicht unbekannt, der aus dem griechischen
Leben Unteritaliens stammende Mimus. Er war dort wie in Sizilien be-
reits literarisch gestaltet worden und bot sich zu leichter Nachahmung
dar; denn \rir sehen nicht, daß vorhandene g^riechische Mimen übertragen
worden wären. Es war ein ausgelassenes Spiel, das nicht, wie die Atellane,
der Karikatur zuneigte, sondern wirkliche Kopie des niederen Lebens
bieten wollte. Daher traten die Mimen ohne Masken auf und die weib-
lichen Rollen wurden von Schauspielerinnen gegeben: beides, die hier er-
forderte Kunst des Mienenspiels und die Frauen auf der Bühne, machten
bald den Mimus zum anziehendsten Bühnenspiel, jetzt imd in den folgen-
den Jahrhunderten, wie er denn auf die Schauspielkimst und die drama-
tische Typenbildung weithin gewirkt hat Aber zu selbständiger lite-
rarischer Bedeutung hat er es nur selten gebracht. In Rom dichtete
Laberius, ein römischer Ritter, literarische Mimen. Als Cäsar ihm den
entehrenden Zwang antat, gegen den Freigelassenen Publilius, der mit
seiner Truppe die mimische Bühne beherrschte, im Wettkampf aufzu-
treten, sprach er vorher den erhaltenen Prolog, der zu den schönsten
Stücken dramatischer Redekunst gehört. Publilius hat, wie es scheint,
seine Stücke nicht veröffentlicht Eine Menge treffender Kemsprüche,
die sie enthielten, wurde aufbewahrt und weiter gegeben. Im ganzen
lag stets ein Hauptreiz des Mimus in der Improvisation.
An dieser dramatischen Produktion beteiligten sich, wie wir sahen,
auch vornehme Römer, teils als Dilettanten, teils ernsthaft dem Berufe
hingegeben. Aber fem vom Bühnentreiben und durch keine Verfasser-
gleichheit mehr mit ihm verbunden, entwickelte sich in diesen 2^iten eine
lyrische und halblyrische Produktion, eine „neoterische", d. h. moderne
Poesie, die, direkt von der modernen griechischen Dichtung abgeleitet,
deren sämtliche charakteristische Zeichen trägt Die hellenistische Poesie
war seit zwei Jahrhunderten eine Poesie für Grebildete. Einer der ersten
alexandrinischen Gelehrten hatte ihr die Wege gewiesen, in den Händen
von Gelehrten war sie geblieben. Sie verließ die gewohnten Bahnen der
Klassizität und suchte nach entlegenen Legenden und mythologfischen
Stoffen, aber der ganze Schatz des geprägten Poetengutes mußte dem
Dichter für Anspielung und Schmuck zur Hand sein. Die Zeiten waren,
wie es rückwärts gerichtete Zeiten sind, wissenschaftlich und sentimental.
Was man von Natur und Welt wußte, konnte Gegenstand dieser Dich-
tung werden; der Dichter mußte die Sprache für jeden erdenklichen
Gegenstand durchsuchen und poetisch zubereiten. Wenn er Menschen-
schicksal behandelte, so war es Leidenschaft und Liebe, die Stimmung
Vergangenheitsgefiihl, Naturempfindung, Bildungsgenuß. Die Technik war
so gesteigert, daß jeder Vers den Kenner als Kunstwerk zur Betrach-
tung lud. Solche Dichtung ist lehrbar. Der Lehrer mußte Philolog und
Dichter sein. Wir treffen jetzt öfter solche Männer in Rom; aber Epoche
II. Su)lanisch- cäsarische Zeil (ca. 100—44 v. Chr.).
3^9
macht ein Römer, der ganz im alexandrinischen Sinn grammaticus und
poeta ist. Dichter erklärt und Dichter macht, der eine vornehme Jugend
um sich versammelt, die nach solcher Lehre und Dichterweihe begehrt,
Valerius Cato, Er veranschaulicht uns, daß eine Übertragung dieser Art
nicht von außen gebracht werden konnte, wie es Ennius und andere ver-
sucht haben, sondern daß sie, nachdem sich die gleichen Kulturbedingungen
allmählich eingestellt hatten, als ein von der gemeinsamen Kultur Unzer-
trennliches gleichsam von selbst einströmen mußte. Es gibt jetzt auch
in Rom Kreise, deren Lieblingsdichter ihre Studien gemacht haben müssen,
um das leisten zu können was von ihnen erwartet wird; auch in Rom
den Typus der gebildeten Frau, auf deren Empfindung Anspielungen und
Gleichnisse eines gelehrten Dichters wirken. Die Kenntnis der großen
griechischen, der älteren helleni.stischen und der berühmten Dichter der
Zeit ist gemeinsam, Neues wird als solches begrüßt, sei es eigne Erfin-
dung in einem modernen Stil oder nur ein Gewinn der Form durch la-
teinische Reproduktion bekannter Gedichte. Der Sprache mußten hier wie
bei den Griechen neue Fähigkeiten des Ausdrucks, der Wortbildung und
Bedeutung abgewonnen, Volkstümliches in höhere Sphäre gehoben, Veral-
tetes ausgeschaltet werden. Der Hexameter des Ennius und das elegische
Distichon wurden in Anlehnung an die hellenistischen Regeln neu ge-
staltet, die Versarten, die aus der klassischen I-yrik in die hellenistische
übernommen waren, zu eignem römischem Leben erweckt; dabei erinnerte
sich schwerlich jemand, daß viele von diesen schon bei Naevius und
Plautus zu finden waren.
Cicero hat sich in seiner Jugend an den Anfängen dieser Produktion
beteiligt. In seinen höheren Jahren war sie zu einer Flut angeschwollen,
darunter eine Menge von Namen, deren Träger im öffentlichen Leben
etwas zu bedeuten hatten. Das überragende Talent war Catull; er ist
uns erhalten.
Catull zeigt uns, was auf diesem Boden gedeihen konnte. Die Samm-
lung seiner Gedichte enthält Übertrag^ungen und Nachdichtungen be-
rühmter griechischer Gedichte, deren Abglanz uns dadurch geblieben ist;
eigne, aber unter Nachahmung bestimmter modemer griechischer Stileigen-
heiten abgefaßte Gedichte, darunter die erste römische Elegie, die schöne
Elegie an Allius; ein herrliches Hochzeitscarmen für eine römische Hoch-
zeit in anakreontischen Liedstrophen; Epigramme vom Tage und manches
Hingeworfene; daneben aber strömt aus dem Buche „ein Quell gedrängter
Lieder", die Catull zu einem der ersten Lyriker der Welt machen, wie
er der Reihe nach, bis von Archilochos und Sappho Bücher statt Fetzen
aus der Erde steigen werden, der erste antike Lyriker ist.
Ein solches Liederbuch, das wir in der Hand halten, gibt gleich über
viel Persönliches Auskunft. Catulls Lieder sprechen durchaus die Sprache
des Erlebten. Er kam aus Verona, einer kürzlich nach latinischem Recht
eingerichteten Stadt im gallischen Lande, aus dem Hause eines wohl-
Calull
(»7-5«).
330 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit.
habenden Vaters. Cäsars Politik vereinigte das cisalpinische Gallien mit
Italien, wie seine Kriege das transalpinische der Romanisierung öffneten.
Catull, vielleicht keltischen Blutes, war einer der ersten von vielen, die
nun aus jenen Gegenden nach Rom zogen und im römischen Greistes-
leben eine Rolle spielten. Wir finden ihn dort in aristokratischen Kreisen,
in lebhaftem Verkehr mit den Spitzen der literarisch angeregten Jugend.
Er fiel der Schönheit und den Künsten einer vornehmen Verführerin zum
Opfer, in deren Erlebnissen der junge Provinziale nur eine flüchtige Epi-
sode bildete; er verschwendete an sie den Sturm seines Herzens und sang
Genuß und stilles Glück, Enttäuschung und Zorn in Liedern, wie sie in
lateinischer Sprache bisher nicht erklimgen waren. Jeder Ton ist sein,
tändelnd und weich, feurig und zürnend, resigniert und mutsuchend. Die
Bitterkeit des Affekts gegen Nebenbuhler vmd die Treulose wie auch die
Gewalt des Angriffes im politischen T^eskampf erinnern an den jo-
nischen lambus im Guten und Bösen. Catull und seine poetischen Freunde
stehen mit Mut und Leidenschaft auf Seiten der Republik gegen die
Gewalthaber. Die politische Lyrik tritt neben das Pamphlet. Wie Liebe
und Freiheit so klingt aus Catulls Liedern Freimdschaft und Natur-
empfindung, Freude an der Heimat, der Schmerz über den Verlust des
Bruders, jede Stimmung des Lebens mit gleich einfacher Wahrheit.
Catull ist jung gestorben oder doch verstummt, seine Gedichte, voll
von Anklängen an Ereignisse und Personen, reichen über wenige Jahre.
Lacro Ihm Und seinem Kreise gegenüber steht eine einsame Dichtergestalt,
' Lucretius. Der Stoff seines Gedichtes ist modern, die Darstellung eines
der philosophischen Systeme, die in der hellenistischen Welt um die
Herrschaft üoer die Gemüter ringen; in jedem andern Betracht öffnet er
eine von der Catullischen verschiedene Welt Ein Mann wahrscheinlich
niederen Standes, im Besitz der griechisch-römischen Bildung seiner Zeit,
ist er durch Vorträge der in Rom lehrenden Epikureer und durch das
Studium von Schriften Epikurs (das eine wahrscheinlich, das andere gewiß)
zu einem begeisterten Anhänger der epikurischen Lehre geworden. Das
ist vielen, auch in Italien dsunals bereits vielen begegnet. Aber es ist
etwas Einziges, daß in Lucrez dadurch ein poetisches Vermögen zu hoher
Tat aufgeweckt worden ist. Das ist auch keinem Griechen begegnet
Epikurs Welterklärung aus der Mechanik der unteilbaren und unvergäng-
lichen Urkörper war das Resultat von Demokrits Naturforschung; wenn
sie ein poetisches Element enthielt, so trat es in der scharf dogmatischen
Vortragsweise nicht zu Tage. Sie schaltete die Existenz nach dem Tode
und die Einwirkung der Grötter auf die Menschenwelt, und damit die
Furcht vor übermächtiger Gegenwart und dunkler Zukimft, aus und ließ
als Ewiges nur die ewige Materie bestehen, aus der wir entstanden sind
und in die wir uns auflösen. Dem Epikureer war diese Naturlehre nur
die Grundlage, auf der Epikur seine Ethik hatte aufbauen können, die
den Menschen auf einen durch keine Leidenschaft und Unruhe beirrten,
II. SuUanisch • cäsarische Zeit (ca. loo — 44 v. Gir.).
331
durch alle Mittel der griechischen Kultur erhöhten Lebensgenuß hinwies.
Lucrez fühlte sich gerade durch die Naturlehre im Innersten ergriffen.
Sie hat ihn offenbar aus einer Befangenheit der Anschauung, die ihn
quälte und der er zu entrinnen trachtete, befreit, sein Auge geöffnet und
seine Seele geklärt. Er nahm im Bewußtsein seiner poetischen Bestim-
mung das alte Prophetenamt des Dichters auf sich und begann die be-
glückende Lehre der italischen Welt zu verkünden. So hatten vor Jahr-
hunderten Parmenides und Empedokles ihre Philosophie gedichtet. Aber
alle diese altgriechischen Weltsysteme, von den jonischen Urprinzipien
bis zu Piatons Welt des idealen Seins, sind in ihrem Kern poetische
Konzeptionen; es war nur natürlich, wenn sich eine neue Wclterklärung
solcher Art aus dem Geiste ihres Urhebers in poetischer Form ans Licht
drängte. Lucrezens Gedicht läßt uns schmerzlich empfinden, daß es nicht
Frucht aus seinen Keimen ist, daß ihm der Stoff von außen kam und
unmöglich in des Dichters Mühle ohne Rest zerrieben werden konnte.
Diese neue Religion trat im Gewand der Wissenschaft auf, sie mußte be-
weisen und widerlegen, technische Ausdrücke und einen ganzen Apparat
des Unpoetischen mitfuhren. Das war nicht zu überwinden, wenn nicht
durch die Diktionskünste des hellenistischen Lehrgedichts, die Lucrez fern-
lagen. Zu Hilfe kam ihm hier Epikurs Weise, seine Sätze mit Beispielen
aus Natur und Leben zu belegen; für Lucrez sind diese Bilder ein sich
immer erneuernder poetischer Stoff, der aus teilnehmender Beobachtung
gestaltet den Vortrag belebt. Es ist was Goethe an Lucrez als erstes
hervorhebt, 'was ihn als Dichter so hoch stellt und seinen Rang auf
ewige Zeiten sichert, ein hohes tüchtig-sinnliches Anschauungsvermögen,
welches ihn zu kräftiger Darstellung befähigt'; sodann eine Einbildungs-
kraft, die 'das Angeschaute bis in die unschaubaren Tiefen der Natur'
verfolgt. Das ist es, was seinen Geist und Ton erhebt, die Unschaubar-
keit der Atome, das stets erneuerte Entstehen und Vergehen, die Unend-
lichkeit des Raumes und der Weltenzahl, der Triumph des Menschen-
geistes über Himmel und Hölle; aber auch die Zustände des menschlichen
Lebens, die beobachteten um uns her und die mit der Phantasie er-
griffenen der Vergangenheit, die Kämpfe der Seele, die Leiden des Leibes.
Eine hohe und herbe Schönheit geht durch das Gedicht, die an Dante er-
innert. Für uns tritt ein Reiz des Altertümlichen hinzu. Denn es ist das
älteste erhaltene lateinische Gedicht epischer Form; auch mit der übrigen
Kunst seiner Zeit verglichen hat es archaische Farbe, denn Lucrez konnte
sich von römischen Vorgängern nur an Ennius anlehnen. Die Verskunst
ist nicht unberührt vom Modernen, aber keineswegs modern.
Das Gedicht ist dem Umfang nach vollendet, aber nicht zu Ende
gearbeitet Der Dichter starb über der Arbeit in geistiger Umnachtung.
Cicero nahm sich des Werkes an und publizierte es, wie es antike Sitte
war, in seiner unvollendeten Gestalt. Der nächsten Generation war
Lucrez ein Klassiker. In der Geschichte des europäischen Geistes hat
332 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit.
er dann eine doppelte Rolle gespielt: eine negative als Hauptobjekt der
altchristlichen Polemik (einen 'Prologus der christlichen Kirchengeschichte'
nennt Goethe das Gedicht), eine positive als Hauptquelle für die Kennt-
nis der demokritisch - epikurischen Welterklärung, die sich nach ihrer
Wiederentdeckung durch Gassendi als die fruchtbarste und lebenskräftigste
aller naturwissenschaftlichen Hypothesen der Geschichte erwiesen hat.
(iS-«). Während CatuU in seinerzeit ein modemer Dichter.Lucrez eine vereinzelte
Erscheinung ist, gipfelt in Marcus TuUius Cicero (geboren 3. Januar 106, ge-
storben 7. Dezember 43 v. Chr.) die Entwicklung, die der römische Geist auf
literarischen Wegen und in der kunstmäfiigen Gestaltung seiner Sprache
genommen hat. Cäsar selbst nannte ihn in seinem Buche über die latei-
nische Sprache den Führer und Entdecker auf diesem Gebiet; die Zeit-
genossen sahen in ihm zwar nicht, wie er gewünscht hätte, ihr politisches,
aber ihr geistiges Oberhaupt und umgaben ihn mit einer Verehrung, die
den gescheiterten Staatsmann in der letzten Katastrophe der Republik
an die Spitze des Senates rief. In den nächsten Generationen war seine
literarische Bedeutung bestritten, aber er wirkte unmittelbar fort und
rang sich durch; etwa anderthalb Jahrhunderte nach seinem Tode begann
er die Schule zu beherrschen und war von da an das Haupt der rö-
mischen Bildung und ihrer Propaganda. Durch die Renaissance wurde
er wieder eine Macht imd blieb es auf allen Gebieten der europäischen
Kultur, von der Schule bis zu den Parlamenten. Kein Zeitalter hat seine
Schwächen verkannt, so wenig es sein eignes Zeitalter tat; am schärfsten
erkannten sie einige von denen, die ihn am entschiedensten zur Geltung
brachten, wie Petrarca. Aber solange man die Alten las, um ein persön-
liches Verhältnis zu ihnen zu gewinnen imd zu pflegen, so lange hob der
Eindruck des Gesamtbildes immer wieder über Anstoß und Bedenken
fort Denn Cicero ist nicht nur die erste, er ist auch die einzige große
Persönlichkeit des Altertums, die uns als Schriftsteller und als Mensch
vollkommen klar vor Augen steht, in seinen Werken, die zum g^rößten
Teil erhalten sind, und in seinen Briefen. Erst im neunzehnten Jahrhundert,
als die historische Forschung die Teilung der philolog^ischen Arbeit herbei-
führte, wurde für den Einzelnen das Einzelne zum bloßen Material. Nun sah
der Historiker der politischen Geschichte nur den Staatsmann Cicero und
fand es unerträglich, daß ein politischer Schwächling die Wege Cäsars
kreuzte: der Historiker der Philosophie nur den Philosophen, der seine
Vorlagen mißverstand; der Interpret nur den Advokaten, der es mit der
Wahrheit nicht genau nahm; und die vertrauten Briefe an den Freund
bewiesen die Haltlosigkeit einer schwankenden Seele. Seitdem hat die
Verwundende, wie es in der Wissenschaft die Regel ist, begonnen sich
an ihr Geschäft der Heilung zu machen und das Bild des Ganzen wieder
herzustellen. Wir haben gelernt (was wenigstens die Engländer nie be-
zweifelt haben), daß auch der Staatsmann paktieren darf; wir sehen,
daß Drumann mit Ciceros intimer Korrespondenz einen schnöden Miß-
II. Sullanisch- cäsarische Zeit (ca. loo — 44 v. Gir.).
333
brauch getrieben hat. Wir verstehen, daß die philosophischen und rheto-
rischen Schriften im Zusammenhang der antiken Prosakunst als Kunst-
werke verstanden, daß die literarische Bedeutung der Rede gewürdigt
werden muß; wir verstehen was es bedeutet, der Vollender der Sprache
seines Volkes zu sein, eines Volkes, das mit seiner Sprache die westliche
Welt kultiviert hat
Vor allem war Cicero Redner, darauf ging seine Bildung hinaus,
darin ruhte die Beschäftigung seines Tages, seine Tätigkeit als Politiker
und Schriftsteller. Von Jugendversuchen abgesehen hat er erst als
Fünfziger sich großen Aufgaben andrer Art zugewendet. Die Geschichte
der römischen Beredsamkeit ist, wie oben angedeutet, in der römischen
Geschichte gegeben. Mit der inneren politischen Bewegung wuchs die
Macht der Rede, damit ihre Ausbildung, und je mehr die politische Rede
ein Machtmittel wurde, um so gröflere Bedeutung gewann auch die Ge-
richtsrede. Aber man muß die gesprochene Rede von der geschriebnen
sondern, sie stehen zueinander wie Stoff und Form, jene hat ein politisches
und juristisches, diese ein literarisches Interesse.
Vielleicht war die größte Erscheinung in der Geschichte der römischen
Rede Gaius Gracchus, der Urheber der Revolution gegen das Senats-
regiment, ein Jüngling allen römischen Staatsmännern voran an Freiheit
des Sinnes und Reichtum der Gedanken. Cicero selbst reicht ihm un-
bedenklich den Kranz; aber 'seinen Schriften fehlt die Feile; vieles ist
herrlich angelegt, aber nicht vollendet'. Das heißt, Gracchus veröffentlichte
seine Reden als Pamphlete, nicht für literarische Dauer.
Diese Pamphletenliteratur war in Rom wie in Griechenland lebendig.
Die Athener haben sie kunstmäßig gestaltet und neben die von Natur
literarische Prunkrede und die von Literaten ausgebildete Gerichtsrede
gestellt. Der römische Politiker wollte nicht Schriftsteller sein solange
er seine Kraft zum Steigen brauchte. Die Rede erschien im Publikum
als eine Waffe im Kampf des Tages; wer nicht kämpfte, sah den Zweck
seiner Rede erfüllt, wenn sie gesprochen war. Die beiden Redner, die
Cicero als seine und seiner Generation eigentliche Vorläufer ansieht,
Antonius und Crassus, haben der eine gar nicht, der andere wenig und
skizzenhaft publiziert. Cicero dagegen hat von Anfang an die Rede so-
wohl aktuell als literarisch behandelt. Als in seinem ersten großen
politischen Prozeß der Gang der Sache dazu führte, daß die Anklage-
reden ausfielen, veröffentlichte er die Reden als literarisches Kunstwerk.
Von seinem Meisterstück späterer Zeit, der Rede zur Verteidigung Milos,
besaß man eine Nachschrift, an der man den Unterschied der wirklich
gehaltenen von der publizierten Rede ermessen konnte. Die künstlerische
Ausarbeitung der Reden, die er bewahren wollte, ließ Cicero stets auf
die Aktion folgen. Er war in gewissem Sinne der Begründer, in jedem
Sinne der Vollender der litercirischen Rede in Rom.
Ein Volk von starkem politischem Leben erfährt durch die Rede
334 FUEDMCH Leo: Die rBmisdie Lhentur. A. Repobfikanisdie Zeh.
eine besondere und eigentömfiche Eatwiddm^ seiner Sprache. Es Kegt
in der Natar der öffentlidien Rede, daA sie auf allen Gebieten des
menschlichen Lebens die Fäh^|keiten der Sprache hervorlocken und für
ihre Zwecke gestalten mnfi. Die grofien and kleinen Leidensdiaften des
Kampfes, die patriotische Empfindtn^, die Pflicht des Bürgers in der
politischen Rede; in der Gerichta-ede alle Empfindungen, die den Men-
schen in Handel und Wandel, in der Familie, im Verhältnis zum Staat
bewegen, in allen Erfahrungen und Eriebnissen, die ihn veranlassen sein
Recht zu suchen und zu verfechten; jeder Affekt und jedes Ethos des
Lebens mu8 in der Rede einen so starken Ausdruck finden, daA sich
Affekt und Ethos auf den Hörer übertragen. Die Kunst der prosaischen
Erzählung ist von der Rede ausgegangen. Der ganze Vorgai^ dieser
Entwicklui^ würde, was das Altertum angeht, im Dunkeln geblieben sein,
wie er für (rriechenland vor dem peloponnesischen Kriege, für Rom
während der ersten sechs Jahrhunderte seines Bestehens im Dunkeln liegt,
wenn nicht die Rede zu einer literarischen Gattm^ geworden wäre. Sie
zu einer solchen zu machen, dazu zwai^ den Gestaltiu^rstrieb der Crriechen
eben jene der Rede von Natur innewohnende Kraft. Die Rede hat in
Athen auf dem Gebiete der Prosa dieselbe Aufgabe erfüllt wie ein Jahr-
hundert früher das Drama auf dem Grebiete der Poesie: die Aufgabe, das
menschliche Leben mit allem Erlebten und Empfundenen sprachlich zu
gestalten. Es war wiederum eine natürliche Entfaltung der gelegten
Keime, dafi in Rom genau dieselbe Entwicklung stattfand: als das Drama
seine Aufgabe erfüllt hatte, trat die literarische Rede ein imd schifte
für die Prosakunst alle Fähigkeiten der lebendigen Sprache aus. Eine
vollkommene Parallele gibt die Geschichte der englischen Literatur; das
Gegenbild die der deutschen: wir haben erst durch Bismarck erfahren,
was die Rede literarisch bedeuten kann.
Damit ist der literarische Wert von Ciceros Redekunst beschrieben.
Ob Cicero als Advokat immer bei der Wahrheit geblieben, ist eine für
die Einzelinterpretation wichtige, für die Geschichte lächerliche Frage.
Durch Ciceros Rede sah der Römer die Breiten und Tiefen seiner Sprache
geöfEnet; und dieser Gewinn war für alle Zeiten. In Ciceros Jugend war
der modernste, mit Schwulst und Putz überladene griechische Redestil
in Rom Mode. Cicero hat sich rasch von ihm befreit, aber nicht die Reaktion
mitgemacht, die bald in Rom ihren Mittelpunkt fand. Er erkannte die
Vollendung der Kunst in Demosthenes und setzte sich das Ziel, wie jener
jeden Stil zu beherrschen, das heifit die Sprache für jede Stimmung und
jeden Ton zu gestalten. Darin lag zugleich, dafi er den Zusammenhang
der Literatur mit der Sprache des Lebens sicherte, den die Poesie längst
aufzugeben in Gefahr war und in der Folge wirklich aufgab.
In zwei Perioden seines Lebens hat sich Cicero, ohne durch seine
Tätigkeit in Senat und FcMvm unmittelbar dazu veranlaßt zu sein, einer
Schriftstellerei grofien Stiles zugewendet: zuerst als er sich in seiner
II. Sudanisch - cäsarische Zeit (ca. 100-44 v. Chr.).
335
Hoffnung, eine dauernde Machtstellung im Senat zu gewinnen, zum zweiten-
mal betrogen, im Gefühl seiner höchsten Kraft beiseite geschoben und
die Verfassung, die ihm allein die Möglichkeit zu wirken gab, in den
Händen ihrer Zerstörer sah; dann ein Jahrzehnt später, als die Republik
tot und auch sein häusliches Glück zu Grabe gegangen war. Er hat
das eine wie das andre mal gezeigt, daß er in seinem Geist die Mittel
hatte sich über das Unglück des Tages und des Lebens hinauszuheben.
In der ersten jener beiden Perioden entstanden seine Hauptwerke
'über den Redner' und 'über den Staat', die zugleich Hauptwerke der
antiken Literatur sind. In den Büchern vom Redner gibt Cicero die
Theorie der Redekunst, nicht in einem System von Regeln, sondern in-
dem er die Anforderungen begründet, die an die Ausbildung des voll-
kommenen Redners und an die Ausübung der Kunst zu stellen sind. Es
ist das Buch eines unerreichten und auch der griechischen Kunst, wie
sie seit dem politischen Ende Athens, das heißt seit fast drei Jahrhunderten,
war, überlegnen Sachkenners, der aus den Erfahrungen seines Berufs-
lebens das Fazit zieht Die technisch-rhetorische Literatur der Griechen
hat nichts Ähnliches aufzuweisen. Es ist das Buch eines Römers, der,
von nationalem Stolz erfüllt und im Bewußtsein, dem griechischen Greist
in dieser mit römischer Geschichte und Einrichtungen aufs engste ver-
wachsenen Kunst Widerpart zu halten, doch das vollkommenste Zeugnis
von der Vereinigung des römischen mit dem griechischen Geistesleben
abgibt. Denn das Lebens- und Bildungsideal, das Cicero seinem Redner
vorzeichnet, stammt nicht vom römischen Forum, sondern aus dem Hör-
saale der Akademie. Die in Athen entstandene Lehre, die nur die Phase
eines langen zwischen Rhetoren und Philosophen um die Jugendbildung
geführten Kampfes war, die Lehre, daß der Redner in der Philosophie
wurzeln und von allem menschlichen Wissen gekostet haben müsse, um
zur wahren Ausübung seiner Kunst zu gelangen, hat Cicero als junger
Mensch ergriffen, sich selbst zu ihrem Beispiele gemacht, sie durch seine
Persönlichkeit und durch die hohe Bedeutung, die in Rom der Redekunst
in der Tat beiwohnte, mit neuem Inhalt erfüllt und durch dieses Buch
für die Zukunft des römischen Bildungslebens zur Geltung gebracht. Für
Griechenland bedeutete jene Lehre nicht viel mehr als allgemeine Bildung;
für Rom hatte, was man im allgemeinen Bildung nennt, einen tieferen
Sinn; da war es der Schritt, den die Führer des geistigen Lebens zur
Weltkultur machten. Die Ausbildung des Redners in Ciceros Sinne be-
deutet die Bildung eines ganzen Mannes, der mit der staatlichen Gesinnung
des Römers die griechisch-menschliche Kultur verbindet.
In ähnlicher Weise ruht das Buch vom Staat in griechischer Ge-
dankenarbeit, die es fortsetzt, und ist doch ganz römisch und Ciceros
«igfnes Werk. Plato hatte den Idealstaat erbaut, Panätius und Polybius
hatten das Ideal in Rom gefunden; diesen Gedanken ergriff Cicero und
entwickelte an der römischen als an der vollkommenen Verfassung die
jj6 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit.
politischen Gedanken, die die Summe seines öffentlichen Lebens aus-
machten. Wir besitzen das Werk nur in Resten, die die Struktur des
Ganzen erkennen lassen. Cicero legt seine eignen Anschauungen dem
jüngeren Africanus in den Mund, wie im Buche vom Redner dem Lucius
Crassus. Hier wie dort drückt er damit aus, dafi er sich als den Fort-
setzer der von jenen Männern herrührenden Tradition betrachtet; und in
der Tat lebte in ihm die höhere und reinere Auffasstmg des römischen
Staates und des ganzen römischen Nationalwesens fort, die wir als die
im scipionischen Kreise geltende aus Polybius kennen. Daß er seine
Taten überschätzte und an seiner Kraft meist verzweifelte ehe er sie er-
probt hatte, war seine Schwäche; daß er seine beste Kraft in den Kämpfen
der Zeit, die keine moralische Einwirkung duldeten, nicht anwenden
konnte, war sein Schicksal, das aber auch mit dem über Scipios letzten
Jahren liegenden Schicksal nahe verwandt ist.
Beide Werke haben die Form des philosophischen Dialogs. Es ist
die von Plato gestaltete Ktmstform, die Aristoteles und seine Schüler
in einer vom Poetischen .abführenden Richtung verändert haben imd die in
der kynischen und stoischen Popularphilosophie nur dem Namen nach weiter-
lebte. Cicero ist, nach kaum nennenswerten Vorgängern, der wahre Erneuerer
dieser Kunstform; er griff auf die Peripatetiker, aber auch mit Entschieden-
heit über sie hinaus auf Plato zurück, dessen eigentlicher Nachfolger er
für uns geworden ist. Die meisten Schriften seiner letzten Periode haben
diese Form. Die Szenerien und Personenkreise, die er vorfuhrt, sind zimi
Teil ganz im platonischen Geiste dramatisch gestaltet; manches, wie der
Traum Scipios, der aus dem Schlußteil des 'Staates' besonders erhalten
ist, oder das erste Buch der Tusculanischen Gespräche, reicht durch reife
Schönheit der Sprache und innere sittliche Beweg^ung in Piatos Sphäre
hinein. Wie sicher ihn das Kunstgefuhl leitete, lehrt die Wahl der Zeiten
in seinen beiden Werken: der 'Staat' spielt im Todesjahre Scipios, der
'Redner' unmittelbar vor dem gewaltsamen Tode des Crassus; der 'Traum'
muß einen tragischen Schimmer über das ganze Werk zurückgeworfen
haben, die Einleitung des dritten Buches vom Redner, in der die schreck-
lichen Ereignisse der nächsten Zeit gemeldet sind, übt eine solche Wirkung
vor- imd rückwärts.
Die zweite eigentlich schriftstellerische Periode Ciceros reicht von
Catos bis Cäsars Tod und darüber hinaus in Ciceros letzte Tage. Bei
Pharsalus war das Ideal seines praktischen Lebens gestürzt; als er seiner
persönlichen Sicherheit durch Cäseirs Entgegenkommen gewiß war, ver-
barg er sich in literarischer Arbeit. Vor allem drängte es ihn, sich über
die Bewegung auszusprechen, die in den letzten Jahren auf seinem eigensten
Gebiet hervorgetreten war. Eine in der griechischen Schule gegen die
moderne Rede atifgekommene Reaktion, die nur noch die älteren attischen
Muster gelten ließ und sich gegen Fluß und Fülle wie gegen Oberfluß
und Überfülle der Rede richtete, hatte in Rom ihren Mittelpunkt ge-
II. Sullanisch - cäsarische Zeit (ca. ic»— 44 v. Chr.).
337
fanden und sah den neuen Monarchen selbst auf ihrer Seite. Cicero
mußte dieses Extrem so gut wie das andre verwerfen. Aber seine Natur
vermied die nur negierende Polemik und strebte dem Positiven und
Ganzen zu. Er schrieb zuerst eine Geschichte der römischen Redekunst
in Dialogform, indem er die wichtigsten Persönlichkeiten charakterisierte
und die in seiner eignen Person gipfelnde Entwicklung verfolgte. Dann
entwarf er in einer eignen Schrift das Idealbild des Redners. Er wußte
sehr gut, daß das keiner machen konnte wie er, und schrieb im Voll-
gefühl der persönlichen Autorität, die denn auch seinen rhetorischen
Schriften die Stelle an der Spitze aller rhetorischen Literatur sichert.
Die politischen Wirren hatten auch seine häuslichen Verhältnisse ge-
trübt; da starb seine leidenschaftlich geliebte Tochter. Er suchte das
Gleichgewicht der Seele und fand es in der Philosophie, die ihn von
Jugend auf beschäftigt aber bisher nur mittelbar zur Produktion angeregt
hatte. Er vertiefte sich in die Trostschriften aller Schulen; wie immer
trieb ihn die eifrige Lektüre dazu, selbst zu gestalten. Die Trostschrift,
die er verfaßte, ist verloren und klingt nur in den folgenden Schriften
nach. Dieser Anfang aber erweckte in ihm den Gedanken einer gproßen
und zusammenfassenden philosophischen Schriftstellerei. Er entwarf einen
Plan, der nach einer einleitenden Schrift über das philosophische Studium
eine Reihe von Werken über die drei großen Gebiete der Erkenntnis-
theorie, Ethik und Theologie umfaßte; und die wenigen ihm noch be-
stimmten Jahre reichten hin, den Plan zur Ausführung zu bringen. Auf
diese Weise konnten keine auf eindringende wissenschaftliche Forschung
oder auf originale Gedankenarbeit gegründeten philosophischen Werke
entstehen. Das wußte Cicero .sehr gut und sprach es aus. Was er wollte
war dieses. Es gab, von Lucrez abgesehen, noch keine lateinisch ge-
schriebene philosophische Literatur. Die erste Erscheinung auf diesem
Gebiet war Ciceros 'Staat'; Epikurs Lehren hatten mehrere römische An-
hänger ins Publikum gebracht, aber ihre Übersetzungen der griechischen
Lehrschriften oder Lehrvorträge standen unter Ciceros literarischer Kritik.
Leser dagegen gab es in immer steigender Zahl; und je ständiger die
Sitte wurde, daß die jungen Römer die Universität Athen besuchten, je
mehr auch der allgemeinsten römischen Bildung die Grundlehren und
Schlagworte der griechischen Schulen unerläßlich schienen (es ist sehr
hübsch zu sehen, wie Cicero 18 Jahre früher in der Rede für Murena bei
den Geschworenen als gebildeten Männern diese Kenntnis höflich voraus-
setzt und ihnen zugleich die trivialen Anfangsgründe vorschneidet), um so
stärker empfand es der geistige Römerstolz dieser Zeit, und Cicero voran,
daß dieses Gebiet noch nicht latinisiert, daß Philosophie nur in griechi-
scher Sprache zu lesen war. Darum war aber Philosophie ein griechischer
Besitz und es konnte .sich nur darum handeln, ihn für den römischen Ge-
brauch zu erwerben. Das konnte durch Übersetzungen geschehn, wie es
auch Cicero hier und da versucht hat; der Höhe seiner literarischen An-
DlK KULTL'B DKR GnOENWAKI. [. 8. 22
338 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit.
Sprüche und Stellung genügte nur die kunstmäßige Formung der griechi-
schen Gedanken. Diesen Weg hat Cicero gewählt Er bediente sich zu-
meist der Kunstform des Dialogs, die er nach verschiedenen Richtungen
ausgestaltete; sie war besonders geeigfnet, die verschiedenen widereinander
kämpfenden Systeme zu Worte kommen zu lassen. Männer der römischen
Cresellschaft, aus Ciceros Jugend und Gegenwart, Führer und Jünger der
gfriechisch-römischen Bildungsbewegung, belehren und bestreiten einander
in diesen Dialogen, so daß das griechische Schulgezänk sich in den ge-
messenen Ton der urbanen romischen Gesellschaftssprache umsetzt Dabei
ist manches Tiefgedachte verflacht, manches feine Gewebe verzettelt
worden; man merkt deutlich, daß Cicero erst dann sich in dieser Ge-
dankenwelt mit freier Sachkennerschaft bewegt, wenn er auf sein eigent-
liches Studiengebiet, die akademische Philosophie, gekommen ist Aber
er hat seinem Volke eine zusammenhängende Reihe literarischer Kunst-
werke gegeben j eine Lektüre edelsten Stoffes in der geläuterten Form
besten gfriechischen Stils, dessen Meister kein Grrieche um ihn her war
wie Cicero. In der älteren christlichen Literatur erscheinen Ciceros
philosophische Schriften als die Zeugen der griechischen Philosophie,
gegen die sich die Polemik wendet Für uns sind sie die Hauptquellen
der hellenistischen Systeme und darum auch materiell unschätzbar. Wir
danken Cicero also auch, daß er, wie es in einem Briefe an den ver-
trauten Freund heißt, 'die Sachen abgeschrieben habe, nur die Worte ge-
hörten ihm'. Aber wir vergessen nicht, daß das in die Sprache der Ge-
schichte umgesetzt bedeutet, die Form gehöre ihm, das heißt die Kunst,
durch die aus dem Stoff der philosophischen Untersuchungen Produkte
von literarischer Dauer entstanden sind.
Wir besitzen, wie bemerkt, umfangreiche Sammlungen von Briefen
Ciceros, djirunter die Korrespondenz mit seinem nächstverbundenen Freunde
Atticus. Cicero war ein großer Briefschreiber, in seinen Briefen tun sich
alle Fähigkeiten eines reichen Geistes kund und mancher in höchster Er-
regung hingeworfene Zettel ergänzt durch G«walt und Feuer des momen-
tanen Ausdrucks das Bild seiner vom Verstand zurecht geschliffenen Rede.
Andrerseits ergänzen die Reden und Dialoge, die nirgends die Persön-
lichkeit verbergen, das Bild des Mannes; und so liegt Cicero wie er war
und wurde offen vor unsem Augen. Er kam aus seiner provinzialen Um-
gebung in die Sphäre des Weltregiments erfüllt von altrömischen Idealen
tmd der Größe des Senats. Sein Talent hob ihn so rasch wie sonst die
Söhne der in der bösesten Tradition des Eigennutzes verkommenen Nobi-
lität Als Konsul bewies er Geschick und sogar Kühnheit Als aber
dann die positiven Mächte in Aktion traten und die Entscheidung des
Weltschicksals mit raschen Schritten herankam, brach seine auf Ober-
redimg und Vergleichung gestützte SteUung zusammen und er verlor
was ihm das Beste seines Lebens schien. Nun zeigte sich wohl wo seine
eigentliche Bestimmung lag; der unwiderstehliche Drang nach literarischer
II. Sullanisch ■ cäsarische Zeit (ca. loo — 44 v. Chr.).
339
Produktion beweist es; aber der Zwiespalt war aus seinem Leben und aus
seinem Charakter nicht mehr zu entfernen. Der Überlegenheit ging die
Oberhebung, der Leistung die Verzagtheit, dem Wesen der Schein zur
Seite. Das Schicksal hat diesen Zwie.spalt grausam symbolisiert, als es
ihn in den letzten Monaten seines Lebens plötzlich mit dem Schein der
sehnlich erstrebten Macht umkleidete, um die geliebte Verfassung und
ihn selbst dem Todesstreich auszuliefern.
Man kann wohl sagen, daß Cicero, dies Wort in hohem Sinne ge-
nommen, der gebildetste Mann des Altertums war. Die römische Bildung
hatte, wir wir bemerkten, vor der griechischen voraus, daß sie zwei-
sprachig war. Die lateinische Sprache selbst, die noch in der Hand von
Ciceros unmittelbaren Vorgängern und Zeitgenossen ein augenscheinlich
sprödes Material ist, hat sich durch ihn gestaltet und entfaltet in einem
Maße, das nur durch die Berührung eines sprachschöpferischen Geistes
mit der höchstentwickelten Literatursprache begreiflich ist. Aber die
Zweisprachigkeit soll nicht nur in dem Sinne verstanden werden, daß dem
Römer beide Sprachen offenstanden, sondern in dem, daß der Römer, in
seinem eignen Volkstum stehend, an allem geistigen Besitz der griechi-
schen Welt lebendigen Teil hatte. Daraus entstand die im Scipionen-
kreise erscheinende und in Cicero ausgeprägte Lebensanschauung, die das
politische Lebensspiel und den Stolz des Weltregiments zusammenfugt
mit der in Stoa und Akademie lebenden menschlichen Gesinnung, die auf
das wahrhaft Bleibende und die Menschen Verbindende gerichtet ist. Man
hört auch in Ciceros Kreise schon die epikureische Parole, der die fol-
gende Generation gehorcht, nachdem das Herrschergefühl des einzelnen
Römers für immer beseitiget ist: nun wird diese Lebensanschauung har-
monischer, denn ihre nationalen Elemente fügen sich nun organischer
mit dem Griechischen zusammen. Aber in Cicero besitzt sie noch die
altrömische Haltung; zu seiner Überlegenheit sahen alle empor, wenn
nicht Tagesfragen den Blick trübten.
Cicero ist einer von denen, deren besseres Leben mit dem Tode be-
ginnt. In jeder bedeutenden geistigen Bewegung hat er seine Wirkung
bewährt und wird es femer tun. F"reilich ist er keine Lektüre für Kinder;
wenigstens das Sekundanerurteil sollte in der Diskussion über seinen
Schatten minder hörbar sein.
Cäsar war Redner und Schriftsteller wie er es für seine Zwecke
brauchte und ein Meister darin, wie in allem was er unternahm. Sein
Bericht über die Kriegführung in Gallien ist von der Art der persön-
lichen Kriegsgeschichten, die es von hellenistischen Heerführern gab; er
ist mit politischer Absicht für das römische Publikum geschrieben, dem
jede Phase der Unterwerfung Galliens als eine unvermeidliche Defensiv-
maßregel dargestellt werden sollte. Die Signatur des überlegenen Geistes
ist, daß eine solche Schrift zu einem Kunstsverk eignen Rechts geworden
ist. Cäsars 'Commentarien' sind unvergleichlich durch ihre aus bewußtester
CÜLUr
(100—44).
340 Friedrich Leo: Die römische Literatur. A. Republikanische Zeit.
Feder geflossene Einfachheit und Unbefangenheit des Ausdrucks; die
goldreine Sprache mit ihrem Schein der Anspruchslosigkeit ist das Bild
zugleich attischer und römischer Urbanität. Dabei kann man doch nie
vergessen, daß die Schrift 'selbst ein Stück Geschichte' ist und uns den
gewaltigsten Römer, der zugleich einer der geistvollsten war, in seiner
Kraft imd Anmut zeig^
(IS^°6) Sallust schrieb zwar erst nach dem Tode Cäsars; aber er gehört mit
Form und Gegenstand, mit Tendenz und Geist seiner Schriftstellerei in
die cäsarische Epoche, ja in die Umgebung Cäsars, dessen Parteigänger
er war und dessen Tod ihm die MuBe gab, seinem Talente Raum zu
geben. Er war Attizist wie Cäsar, sein Vorbild Thukydides; er richtete
die Spitze seiner G«schichtschreibung gegen die von Cäsar gestürzte No-
bilität, eine nachträgliche und für das Forum der Weltgeschichte be-
stimmte Apologie des Verfassimgsbruchs. Sallust ist der erste römische
Historiker von allgemeiner Bedeutimg; er ist zugleich für uns der bedeu-
tendste antike Historiker nach Polybius, von dessen Zeit bis auf Augustus
kein griechisches Geschichtswerk erhalten ist. Das Hauptwerk Sallusts,
das einen Abschnitt der Revolutionsgeschichte, von Sullas Tode bis zum
Hervortreten des Pompejus behandelte, ist verloren; wir sehen aus der
späteren historischen Literatur, daß es für die Überlieferung imd Auf-
fassung dieser Periode maßgebend gewesen ist Wir besitzen die beiden
kleinen Bücher über den Jugurthinischen Krieg und die Verschwörung
Catilinas. In jenem Kriege trat zuerst die Verdorbenheit der Nobilität
und, durch Marius den Helden der Popularpartei repräsentiert, die frische
Kraft des niederen italischen Volkes vor aller Augen. Catilinas Anschlag
war nur ein Zeichen von der Fäulnis des Herrenstandes; hier konnte
Cäsar in den Mittelpunkt gestellt werden und zugleich galt es, ihn von
dem Verdacht zu reinigen, daß ihm ein Helfer wie Catilina nicht zu
schlecht gewesen sei. Beide Schriften wollen in einem eng geschlossenen
Bilde das Allgemeine geben, die Strömungen und Motive, die das Schick-
sal des römischen Staates bestimmten und bestimmen mußten. Die Per-
sönlichkeiten treten so scharf hervor wie der Senat, das Volk, das Heer.
In der Darstellung ist keine Tendenz zu merken, die liegt nur in der
Wirkung des Ganzen. Sallust ist weit entfernt, Marius und Cäsar in der
Schilderung gegen die anderen Hauptfiguren zu bevorzugen; ihnen stehen
Sulla und Cato in vollem Lichte gegenüber; die Reihe der Charaktere,
die normalen und abnormen Bildungen von Catilina bis Cato stufen sich
unter politischem und sittlichem Gesichtspunkt ab und treten so zum
Ganzen zusammen. Der Ausdruck ist von berechneter Kürze, streng wie
die sittliche Anschauimg, die er hervorkehrt, sichtliche Anwendung rhe-
torischer Kunstmittel ist vermieden, die Wahl der Worte bezweckt
altertümliche Färbung, die Absicht des Stils ist in jedem Satz und
Sätzchen fühlbar, ein rechter Gegensatz zu Ciceros freier und unmerk-
:h hintragender Weise; aber Sallust erreicht die Absicht, wie Tacitus,
II. SuHanisch - cäsarische Zeit (ca. loo — 44 v. Chr.;-
34«
der durch seine Anlehnung an Sallust diesem das größte Zeugnis ge-
geben hat.
In ganz andrer Art, recht als ein Gegenbild zu Cicero, hebt sich aus v»rro
der geistigen Bewegung dieser Zeit Marcus Terentius Varro heraus. Sohn
eines sabinischen ßergstädtchens, ein Jahrzehnt älter als Cicero, ein Römer
von altertümlicher Art in seiner Zeit wie der alte Cato in der seinigen,
allem modernen Wesen der Attizisten und Cäsarianer fremd, Legat des
Pompejus im Seeräuberkriege und, fast ein Siebziger, gegen Cäsar in
Spanien, ist er der Träger der römischen Wissenschaft geworden. Er er-
scheint in den erhaltenen Schriften und in den Fragmenten der verlorenen
so ganz römisch, daß man nur langsam sieht, wie auch er die äußeren
Anregungen direkt oder indirekt von den Griechen erhalten hat. Seine
Produktion war zum einen Teil poetisch oder halbpoetisch oder machte
doch auf kunstmäßige Form Anspruch, zum andern Teil rein wissenschaft-
lich. Wir besitzen von der ersteren Art die drei Bücher vom Landbau,
in denen eine bloß stoffliche Belehrung über römische Gutswirtschaft in
den Rahmen der dialogischen Kunstform gebracht ist. Von Ciceros Kunst
in der Darstellung des Stoffes hat Varro gar nichts gelernt, auch nichts
lernen wollen; aber die Einkleidungen der drei Gespräche geben frisch
und anschaulich geschriebene Bilder römischen Lebens und zugleich in
zusammenhängenden Stücken ein Bild des Stils, den er in zahlreichen
moralphilosophischen Aufsätzen imd in den aus Prosa und Vers gemischten
Satiren in des Kynikers Menippos Art angewendet hat. Die Sprache ist
voll von Erscheinungen, die für uns überraschend sind. Er schrieb wie
er sprach und entfernte sich beständig von den gebahnten W^egen der
Kunstsprache; dadurch eröffnen uns seine Schriften zum erstenmal wieder
seit Plautus den Blick in das ungehemmte Sprachleben des Tages.
Von Varros wissenschaftlicher Produktion besitzen wir eine Gruppe
von Büchern aus dem Werk 'über die lateinische Sprache'. Philologie
gab es in Rom seit einiger Zeit, da griechische Freigelassene die ein-
heimische philologische Technik auf lateinische Dichtungen anwendeten.
Aber in den letzten Generationen hatte auch, durch die tiefergehenden
Interessen des Scipionenkreises angeregt, wie wir an Lucilius sehen, die
stoische Sprach- und Stillehre in Rom Eingang gefunden. Aelius Stilo,
der ältere Freund Varros, war der wissenschaftliche Begründer einer auf
diesem Boden ruhenden Philologie; ihm hat sich Varro angeschlossen und
vieles von seinen Forschungen für die Nachwelt erhalten.
Lateinische Sprache und römische Literatur und 'Altertümer' sind
die Gebiete, die Varro vorzüglich mit unermüdlichem Fleiß in einer un-
erschöpflichen Fülle umfangreicher Werke behandelte. Seine enzyklo-
pädische, juristische, geographische Schriftstelle rei und was der Poly-
histor und Vielschreiber sonst hervorgebracht hat, tritt gegen diese Werke
zurück. Im Mittelpunkt standen die 'Altertümer der römischen Religion*
und 'des römischen Lebens'. Auch hier ist der Einfluß der jüngeren
342 Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit.
stoischen Theologie kenntlich. Aber die Absicht aller dieser Bücher ist
in erster Linie Materialsammlung, um die Äußerungen des nationalen
Lebens zu buchen. Die 'lateinische Sprache' ist eine sehr formlose
Materialsammlung, formloser als das Prinzip der antiken wissenschaft-
lichen Literatur, das die kunstmäßigen Formen abwies, es verlangte. Diese
ganze kunstlos registrierende Schriftstellerei ist nur unter dem Gesichts-
punkte des nationalen Impulses, aus dem sie hervorgegangen ist, ver-
ständlich.
Panätius und Polybius haben die Größe des römischen Staates und
Volkes gleichsam für die Römer entdeckt und wissenschaftlich nach-
gewiesen; Posidonius ist ihnen darin gefolgft. Sie haben Leben, Geschichte
und Institutionen der Römer untersucht, dazu bedurften sie auch des
Verständnisses der altrömischen Sprachdenkmäler; wir sehen vor Augen,
wie Polybius die gebildetsten unter seinen römischen Freunden antreibt,
dem Latein der karthagischen Verträge auf die Spur zu kommen. Diese
Anstöße sind es, die auf Aelius Stilo gewirkt haben. Er kommentierte
die 12 Tafeln und uralte Kultlieder; das führte beständig zu antiquarischen
Untersuchungen. Auf seinen Wegen ging Varro weiter imd strebte nach
allseitiger Zusammenfassimg; das gesammelte Material brachte er in die
bereiten Fächer gfriechischer Systematik: anders als Cicero, der das grie-
chische Material übernahm imd selber ein Kunstwerk daraus machte.
Varro wurde durch diese Arbeit auch auf die Geschichte der römischen
Literatur geführt. Hier gelang es ihm, die bei dem Mangel jeglicher
Forschung herrschenden dunklen Vorstellungen dtirch die Auffindung der
maßgebenden Dokumente, indem er nach dem Muster griechischer Vor-
gänger die Archive der Staatsbeamten imtersuchte, aufzuhellen und die
Grundlage einer literarhistorischen Chronologie zu legen. So lieg^ es an
seinem Gegenstande, ob er als Sammler oder als wissenschaftlicher For-
scher erscheint. Das ihn bewegende Motiv ist die Freude am römischen
Altertum, das Verlangen, die altrömische Welt aus den mühsam herbei-
gebrachten Trümmern wieder aufzubauen, um in ihr das ursprüngliche
Leben und dann die Kraft imd Blüte der eignen Nation wieder zu er-
kennen.
Durch diesen echt philologischen und zugleich entschieden natio-
neilen Charakter hat die römische Wissenschaft, trotz ihrer völligen Ab-
hängigkeit von der griechischen in allem was über das rein Stoffliche
hinausgeht, eine eigentümliche Kraft gewonnen. Varro blieb ihr Haupt-
vertreter; er wirkte über die augusteische Zeit hin, dann wurde er ver-
gessen, um in der Flavierzeit mit doppelter Kraft wieder zu erstehen. So
lange die römische Kultur dauerte, blieben seine Werke die Ftmdgrube
zunächst für die Grammatiker und Antiquare, weiterhin aber für die Po-
lemik der christlichen Schriftsteller. Überall auf den aus dem Altertum
in die neuere Zeit geleiteten Pfaden begegnet man seinen Spuren,
joritprudenz. Auch die eigentlich römische, die Rechtswissenschaft, trat in dieser
I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. Chr.). ^^^^^^^^3^
Epoche unter den Einfluß der Stoa; in ihrem Anfang durch Q. Mucius
Scaevola, den die Disziplin der stoischen Dialektik zur Systematisierung
des Zivilrechts führte; in ihrer letzten Zeit durch Servius Sulpicius, dessen
theoretische Arbeiten nach Ciceros Äußerung den Stempel dialektischer
Durchbildung trugen.
B. Augusteische Zeit
I. Erste Hälfte {43 — ca. 14 v. Chr.). Nur die französische Revolution
hat zwischen zwei benachbarte Zeitalter einen Einschnitt gemacht wie der
Untergang der Republik zwischen die Zeitalter des Cäsar und Augiistus.
Es war ein andrer Staat, trotz der republikanischen Formen, in dem ein
Vipsanius die Kriege führte und ein Maecenas im Kabinett regierte; eine
andre Gesellschaft, die nach einem Hof, nach Prinzen und Prinzessinnen
aufschaute, in der ein kaiserlicher Beamten- und Offizierstand aufkam
und Maecenas, Messalla, PoUio Musenhöfe hielten, jener weil es zur Politik
seines Herrn gehörte, diese weil sie ihre Zeit frei hatten. Es waren fast
alles neue Menschen, wie der Herrscher. Die letzten Zeiten der Republik
hatten ein frühsterbendes Geschlecht getragen. Nicht nur die im Kampf
Gefallenen, Cäsar und Cicero, die Tyrannenniörder und die Republikaner
bei der Fahne, auch die Jugend war dahin, die Lucrez und CatuU, die Calvus
und Caelius. Ein Weiterlebender wie Atticus fügte sich mit seinem epikurei-
schen Sinne ohne weiteres in die neue Welt; aber Varro überlebte sich und
seine Zeit. Das Lebensideal des Atticus wurde bestimmend für die ersten
Männer der römischen Gesellschaft und Kultur und für die Tausende ohne
Namen. Augxistus selbst empfahl es der Nobilität und Bildung, obwohl
er unter epikureischer Hülle ein stoisches Pflichtleben führte und durch
eine Verbindung stoischer und altrömischer Moral das rönüsche Leben zu
regenerieren suchte. Die brennende Sehnsucht der italischen Welt nach
bürgerlichem Frieden machte allmählich dem süßen Gefühl der Ruhe, der
sicher schützenden Hand, des 'Augustusfriedens' Platz. In dieser Atmo-
sphäre entstand eine neue Literatur.
Die literarische Erbschaft, die das Zeitalter antrat, war die Erbschaft
Ciceros. Er hatte die Fähigkeiten der lateinischen Sprache entwickelt
und dem Poeten das Material bereitet. In der Prosarede war der Römer
an das Vollkommene gewöhnt; in der Poesie schlug nun der Wohllaut
der horazischen Ode und der Klang und Glanz des vergilischen Hexa-
meters als etwas ganz Neues an sein Ohr. Der Zauber hat sich fast zwei
Jahrtausende lang stets für den durch Natur und Bildung Bereiteten er-
neuert; für die eigne Zeit war es eine Offenbarung der Schönheit.
Am Ende dieses Zeitalters erinnert sich Ovid seiner Jugend: 'oft hat
mir Properz seine Liebesgedichte vorgelesen; ich lauschte dem Wohl-
klange des Horaz; Vergil sah ich nur, und TibuU mußte zu früh sterben
als daß ich seine Freundschaft hätte genießen können.' Zwischen diesen
XAA Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit.
Namen nennt er andere minder klingende. Horaz in seiner Jugend stellt
in erste Reihe außer Vergil eine Anzahl rasch verklungener. Da sollte
Tragödie und Komödie neu erweckt werden: das blieb ohne Erfolg,
auch der erste Epiker versagte, den man auf den Schild hob. Um die
Zeit, da Augustus dem vereinigften Imperium die neue Verfassung gab,
wußte man, daß Horaz und Vergil die Führer der literarischen Bewegimg
waren.
Horu Wieder treffen sich, wie einst Plautus und Ennius, der Nord- und
* *" '"Süditaliener; Vergil der Sohn eines Gutsbesitzers bei Mantua im Gallier-
lande, Horaz eines Freigelassenen aus Venusia in Apulien. Aber beide
erhalten in Rom die römisch-griechische literarische und philosophische
Bildung, beide suchen später in Athen die Quellen auf, Horaz im Studenten-
alter. Da wurde er in den Entscheidungskampf nach Cäsars Tode ge-
rissen und focht, der Libertin als Legionstribun, bei Philippi mit. In der
Not der folgenden Jahre gab er den politischen Freiheitsdrang daran und
bildete dafür die persönliche Freiheit seiner Individualität so siegreich
aus, daß er allen Vorurteilen der römischen Gesellschaft und der Fretmd-
schaft des Maecenas und Augustus gewachsen war.
Horaz war theoretisch und produktiv der Führer, so daß der Kampf
um die neue Dichtimg mit der Produktion eng verbunden ist; Lessing hat
sich nicht umsonst ihm verwandt gefühlt. Er verlangte eine eigne Kunst
für die neue Zeit; er verwarf an der alten römischen Poesie die Form-
losigkeit, an der hellenistischen der letzten Generation den Mangel an
eignem Gehalt. Es blieb nichts übrig und mußte alles neu geschaffen
werden, wie Augustus eine neue römische Welt geschaffen hatte. Die
Erneuerung demonstrierte er praktisch an der Satire des Lucilius, dem
freiesten Erzeugnis des römischen Geistes.
Lucilius war eine unbestrittene Größe; er war auch für Horaz eine
Größe, der im übrigen fand, daß man Euripides statt Ennius und Menan-
der statt Plautus lesen köime. Aber er war ihm ein Vorgänger, der
seinen Ansprüchen nicht genügfte, der ihn zur Produktion anregte und
den er folglich zu übertreffen, ja zu ersetzen hatte. Hier, wo er die
eigentliche Heimat und Verwandtschaft seines Geistes fand, suchte er nach
keiner neuen Form; nur gab er der Sprache Reinheit, dem Verse Run-
dung, dem Gedanken Prägnanz und Maß. Dies war das Gefäß, in das er
seine Anschauung von Welt und Menschen niederlegte, wie sie ihm aus
Lektüre und Nachdenken, aus Beobachtung und Erlebnis erwachsen war.
Er hatte viel erlebt, als er, noch ein Jüngling, sich diesem Berufe hingab;
er durfte es tun, weil er die Persönlichkeit in sich fühlte, in der allein
die Satire wurzeln kann. Diese Persönlichkeit liegt, von den frühen Pro-
dukten bis zu der im Buche von der Dichtkunst und in der Epistel an
Augustus erreichten Höhe, vor Augen; mit ihr haben die geistreichen
Männer der alten imd der neuen Zeit innigen Verkehr gepflogen. Man
muß bis zu Montaigne weitergehen, ehe man wieder einen Geist antrifft,
I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. Chr.).
345
der wie Horaz den eigenen Kreis der Gedanken und Erfahrung zu einem
allgemeingfültigen Bilde des menschlichen Lebens erweitert.
Die Satire wendet sich an das Publikum, dem sie die Exemplare der
Menschliclikeit vorhält, damit jeder sein Bild erkenne. In späteren Jahren,
als die polemische Neigung zurücktrat und seine Gedankenrichtung zu-
gleich positiver und intimer wurde, zog Horaz die Form des Briefes vor.
Nun konnte er in seinen literarischen Betrachtungen auf eine vorhandene
neue Dichtung, zu der seine eigne Produktion gehörte, Bezug nehmen.
Die Satire des Lucilius traf die innerste Neigung des jungen Dichters
in der Zeit, da seine Stimmung dazu neigen mußte, eine polemische Rich-
tung zu nehmen. Schon vorher, in der athenischen Studentenzeit, muß
ihn der Geist des Archilochos ergriffen haben, der auch in den politischen
Gedichten der älteren Generation wehte. Im archilochischen lambus fand
er eine griechische Gattung, die noch der durchgreifenden römischen
Umbildung harrte. In dieser Form hat er, noch ein Schiffbrüchiger der
letzten Stürme, einige Lieder gedichtet, in denen der endlose Jammer der
Zeit wahr und stark erklingt; ein Jahrzehnt später, als Augustus dem Fluch
ein Ziel setzte, begleitete er die Entscheidungstage von Aktium mit einem
aus Sehnen und Zorn, Triumph und Bangen wunderbar gemischten
lambus.
Von hier aus giag Horaz zur eigentlich lyrischen Dichtung, den für
den Gesang zur Leier bestimmten Oden hinüber. Er hat es später selbst
so dargestellt, daß ihn Archilochos zu Sappho geführt habe. Die Ode
auf den Tod der Kleopatra folgt dem lambus auf Aktium; um diese
Zeit drängte die neue Lyrik, die er schuf, die Satire und den lambus in
den Hintergrund. Es war mehr als ein poetisches Vermögen in ihm,
eine Vielseitigkeit, die zu erklären die griechisch-römische Stilvirtuosität
keineswegs ausreicht.
Horaz verpflanzte durch seine Oden die lesbische Lyrik nach Rom,
das heißt die Formen des Alcaeus und der Sappho, die er nach einem
sehr strengen imd die Mannigfaltigkeit des Originals beschränkenden Ge-
setz romanisierte. In dieser Strenge und Beschränkung findet er den nie
gehörten Wohllaut, von dem wir .sprachen. Es ist die erste (und einzige)
Lyrik von großem Stil und hohem Ton in lateinischer Sprache, oft ge-
mildert durch ein Lächeln, durch einen Blick auf Kleinigkeiten des Lebens,
durch eine persönlich läßliche Auffassung. Die Motive sind aus dem kleinen
und großen Leben, was die eigne Seele beschäftigt, was die Freunde er-
leben, was dem Staate frommt oder den Frieden bedroht; das Glück der
neuen Zeit klingt wieder, aber auch die alten Wunden bluten. Es ist im
griechischen Gewände ganz römischer Sinn nicht nur, sondern es ist das
römische Leben dieser Epoche, Auch die Weisheit kluger Lebensfreude,
so allgemein sie klingt, ist eine Weisheit, deren jetzt der Römer genießen
mag, nachdem Generationen hindurch der Genuß nur ein Mittel des Ver-
gessens war. In der Mitte steht Augustus und alle Männer, die etwas
346 FiUEDRiCH Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit.
bedeuten, um ihn her; auch die unpersönlichen Gedichte von Römertugend
und -stolz haben Beziehung zu ihm. Im ganzen muß dem Leser aufFallen,
daß an dieser Lyrik der Verstand so viel Anteil hat wie die Empfindung;
sie zwingt eben so oft zum Nachdenken wie zum Mitempfinden. M{ui
kann sagen, daß Horaz durch sein Gefühl allein nicht zum Dichter ge-
worden wäre; aber die Mischung von Gefühl und Geist ist so besondrer
Art, daß es nie ernstlich auch nur versucht worden ist, ihn nachzuahmen.
Damit ist schon gesagt, daß Horaz trotz des griechischen Gewandes
original ist. Von den lesbischen Dichtem hat er nur die Formen
übertragen. Einzelne Anklänge an sie und andre, auch an Pindar und
Bakchylides, sind nachweisbar, aber kein Gedicht, das als Ganzes über-
nommen wäre; dagegen eine Menge, an deren Erfindung keiner als Horaz
beteiligt sein kann. Am meisten sein eigen sind die Lieder, die am ent-
schiedensten aussprechen was die Gemüter und die Zeit bewegt und das
Schicksal des römischen Volkes bestimmt; da werden gewichtige Ge-
danken von starkem Gefühl getragen. Wie die Form mit Alcaeus und
Sappho, so verbindet ihn der Gehalt vieler Lieder eher mit Pindar. Es
ist auch hier eine Versammlung gfriechischer Einwirkungen, die im Rom
des Augustus gleichsam den zehnten griechischen Lyriker hervorgebracht
hat, als welchen sich Horaz im Widmungslied an Maecenas bezeichnet
Dabei ist er ein Künstler der Sprache, den num nie zu Ende kennt
Der Wortschatz der Oden ist mit Absicht beschränkt, die Satiren und
Episteln greifen tiefer in die lebendige Sprache; niemand berechnet wie
er die Kraft xmd Bedeutung der Wörter und die Fähigkeiten, die sie im
Satze zusammentretend entwickeln. Auch dies, der Geist der Sprach-
behandlimg, erzeug^ immer von neuem den Reiz, den Horaz allezeit aus-
geübt hat
(,o-w%*'chr) Horaz dem kampflustigen und vielseitigen, der ebenso bereit ist
seinem Genius zu folgen wie ihm zu gebieten, der als Fünfziger, in der
Zeit da er im poetischen Briefe den vollkommensten Ausdruck seiner
Anschauungen über Kunst und Leben findet die fortgelegte Leier wieder
ergreift und jugendkräftige Lieder singt, ihm steht Vergil, der engfver-
bundene Freund, als eine zartere und zurückhaltende Natur gegenüber.
Er schreitet überlegend von einer Aufgabe zur nächsten, größeren, vor,
faßt immer nur eine mit ganzer Kraft an und übt in jedem, auch dem
unpersönlichsten Gedicht, durch seine menschlich anziehende Persönlich-
keit eine reine Wirkung auf den Leser. Er war fünf Jahre älter als
Horaz und starb elf Jahre vor ihm, 19 v. Chr. Auch er knüpfte, wie
Horaz mit dem lambus, an die hellenisierende Dichtung an, die in seiner
Jugend galt Die Sammlung von zehn Idyllen, mit der er zuerst vors
Publikum trat, setzte in der Reihe der griechischen Nachahmer Xheokrits
die Bukolik dieses Dichters fort und machte sie zu einer neuen römischen
Gattung, der es auch an der hellenistischen Künstlichkeit nicht fehlte.
Es sind Gedichte in der Sammlung, die sich eng an Theokrit anlehnen,
I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. Chr.)-
347
andere von freier Erfindung. Vergil war selbst ein Landkind, die Hirten-
szenerie und -Stimmung brauchte er nicht aus Büchern zu holen. Er hatte
den Einbruch von Octavians Veteranen in den alten Besitz der nord-
italischen Gutsbesitzer und Kolonen erlebt, und die Schrecken der Zeit
bildeten den Hintergrund seiner Idyllen. Hier lebt noch ganz, wie in
Horazens lamben, die Friedenssehnsucht der letzten Sturmjahre, die Italien
aufrührten und dann erst der Ruhe eines vollen Jahrhunderts wichen; und
die Stimmung der Gedichte ist die romantische Flucht in einen vorge-
zauberten Zustand stillen und anspruchslosen Glückes. Sie waren dem Zeit-
genossen wie eine Verheißung, und der neue Glanz des Verses, die kunst-
reiche doch wie von selbst quellende Sprache, der weiche und lieblich
spielende Ton dieser ländlichen Muse bannte die Verwöhnten und die
Naiven in ihren Kreis.
Danach ergriff Vergil einen größeren Gegenstand, aber ohne aus dem
Kreise des Landlebens herauszutreten. Er stellte die Arbeit des Land-
mannes im Gedichte dar. Das war seit Hesiod ein Gegenstand der
Dichtung; die hellenistische Poesie hatte einen eignen Stil des didaktischen
Gedichtes ausgebildet, der für das Alltägliche durch poetische Herrichtung
des technischen Sprachstoffes einen bedeutenden Ausdruck verlangte.
Vergil schuf diese Gattung ins Römische um; aber er konkurriert nicht
mit dem griechischen Stil des Lehrgedichts, seine Absicht geht auf direkte
poetische Wirkung, das heißt auf etwas was nicht durch fleißige Arbeit
oder geschickte Sprachbehandlung zu erreichen war. Daß Vcrgils Georgica
geworden sind was sie sind, liegt einzig daran, daß er das ländliche Leben
und seine Beschäftigungen poetisch empfand. Sie waren ihm mehr als
pflügen und pflanzen, weiden und zeideln, er sah in allem den Verkehr
des Menschen mit der Natur, des natürlichen Menschen mit der allzeit
Gleichen, die Mühe freundlich Lohnenden, den Genuß im Ausruhen, die
Fülle im Bedürfnis Spendenden. Er fühlt und lebt mit den Erscheinungen
um ihn her, mit der Welle und dem Monde, dem Acker und Weinstock,
von ganzer Seele mit den Tieren und Menschen, so daß Lehre und Regel,
von andern Gesammeltes und eigne Beobachtung gleichermaßen beseelt
erscheinen. Der Lauf des Tages, der Kreis des Jahres bedeutet dem
einen Staub und Schweiß der Arbeit, ihm ist er der Tanz der Hören.
Der Stoff verklärt sich in der Sphäre der bukolischen Stimmung des
Dichters imd ist doch einfachstes Leben; denn nirgends wird die Wirk-
lichkeit verlassen, der Leser dieses Gedichtes erlebt den Zustand des
italischen Bauern, aber in Vergils Gesellschaft. Es ist nicht wahr-
scheirdich, daß es ein ähnliches Lehrgedicht in griechischer Sprache ge-
geben hat.
Die Stimmung der Zeit kam, wie gesagt, dieser ländlichen Dichtung
entgegen, vielmehr sie trieb sie hervor. Phantasie war keine römische
Eigenschaft; aber die Not der Zeit zwang den Sinn jener Generation in
die Vorstellung eines von Frieden und unschuldigem Genuß erfüllten weit-
348 Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit.
entfernten Glückes hinein. Das Urbild solchen Zustandes gab die römische
Vorzeit, die in Frömmigkeit, Genügsamkeit und Tapferkeit alle Tugenden
besaß, aus denen die römische Größe hervorgehn sollte, um das weltbeherr-
schende Rom mit Laster und Zwietracht zu überschütten. Die Reste dieser
Vorzeit hatten Stilo und Varro erforscht und gesammelt; jetzt kam der
Dichter, ihr Bild zu gestalten mit dem Stammvater des römischen Volkes
in der Mitte.
Ob Vergil je die Absicht wirklich gehegft hat, die er in den Georgica
ausspricht, Aug^ustus' eigne Taten, das heißt die Geschichte des letzten
Jahrzehnts, als Epos zu behandeln, darf man bezweifeln. Er wird an Ein-
sicht in seine Kunst dem Hofe, der dergleichen wünschte, schon damals
voraus gewesen sein. Das nationale Epos, das er zu schaffen gedachte,
durfte den Befreier des Erdkreises nur von ferne und im Gleichnis er-
scheinen lassen; darum wairen doch die Gedanken, die er verkörperte,
der Gehalt des Gedichtes. Der aus dem Osten kommende, die griechische
und römische Welt verbindende Stammesheld Roms und zugleich des
julischen Hauses, geleitet durch die Eigenschaften, in denen das neue
Leben des regenerierten Rom wurzeln sollte, seine Leiden und die Er-
füllung der Aufgabe durch seine Taten: djis war der Gegenstand des
Epos, durch das Vergil Ennius ersetzen und der italischen Zeit und Nach-
welt geben wollte und gab was dem nationalrömischen Sinne von damals
und der römischen Welt danach etwas Ahnliches bedeutete wie Homer
den Grriechen.
Das römische Epos war von Naevius an national gewesen; epischen
Stoff fand der Römer im eignen Hause. Ennius g^räzisierte die Form und
eihmte homerische Glanzstellen nach; die folgenden waren Ennianer.
Vergil verleugnete den Zusammenhang mit Ennius keineswegs, er trug
ihn offen zur Schau. Aber als Dichter war er Homeride; der Held ein
Göttersohn, aus Troja entronnen, die Götter in helfender und hemmender
Tätigkeit, die erste Hälfte des Gedichts eine Odyssee, die letzte eine
Ilias. Vergil sah sich ohne Zweifel in der Reihe der griechischen Epiker,
wie Horaz in der der griechischen Ljrriker; und ohne Zweifel war es sein
Stolz wie der des Horaz, wie es Ciceros Stolz gewesen war, daß nun der
römische Dichter neben die griechischen treten durfte. Diese Zeichen
der Abhängigkeit befremden uns; aber sie sind unzertrennlich von aller
antiken Kunst Wie Vergil so hänget das griechische Epos an Homer;
und wir sehen nicht, daß ein Grieche oder Römer nach Homer eine
epische Komposition von solcher Selbständigkeit hervorgebracht hätte
wie Vergil.
In der Ausführung, der eigentlichen Ausübung seiner Kunst, geht er
andre Wege als Homer, xmd wir können nicht sagen, daß er sie andern
nachgeht In solchen Teilen, die am deutlichsten Homer nacherfunden
sind, tritt das am schärfsten hervor. Die Leichenspiele des Patroklos
sind ein Stück Leben, die wohlbekannten Personen handeln wie es der
I. Erste Hälfte (43— ca. 14 v. ChrO-
349
P
Augenblick bringt, der Dichter erzählt wie es gewesen ist. Vergils
Leichenspiele des Anchises richtet der Dichter ein; jeder Wettkampf hat
seinen wohlberechneten Verlauf, die einzelnen greifen ineinander, das
Ganze rundet sich ab und bekommt noch durch den Schiffsbrand einen
unvermuteten, für die Gesamthandlung bedeutsamen Abschluß. Die home-
rische Erzählung verläuft in gerader Linie, durch Episoden unterbrochen,
durch Hindemisse verzögert, stets die Handlung durch Gespräch belebend.
Vergil dichtet eine Folge dramatisch gedachter Szenen, durch eine ent-
scheidende Wendung gestört, dann diych eine Lösung wieder in Har-
monie gebracht; er vermeidet die Episoden und beschränkt das Gespräch,
dafür tritt die Rede hervor. Das Zufällige und Unbedeutende wird nicht
ausgesprochen, das Ausgesprochene gewinnt Gewicht und Farbe; die
Empfindung ist immer hoch gespannt, jedes Erlebnis von der Art daß es
den Affekt erregt. Die Sprache gleitet in stolzer Ruhe und läßt nur den
schärfer Hörenden merken, daß sie tausend Kühnheiten wagt, alles Ge-
wöhnliche und Platte scharf abschneidet, alle Sprachmöglichkeiten an-
wendet, die dem großen .Stile dienen. Den Vers befreite Vergil von
kleinen Regeln, die ihm die letzte Generation aufgelegt hatte, aber das
Gesetz des Baues schrieb er um so strenger. Gegen seine Sprache und
seinen Vers klangen Lucrez und Catull veraltet.
Als Vergil starb, war die Aeneis äußerlich abgeschlossen, aber inner-
lich unvollendet. Vergils Testament bestimmte, daß sie vernichtet würde,
Auguslus hat sie gerettet. Er schenkte damit dem römischen Altertum, der
Schule des Mittelalters, der Renaissance, der französischen und englischen
Dichtung, der Wellbildung bis an die Grrenze des iq. Jahrhunderts einen
Führer und Meister. Den Römern war er 'der Dichter' wie Homer den
Griechen; Petrarca, Tasso, Milton und wie viele wären zwar auch ohne
ihn, aber andre als sie sind. In Deutschland verblich sein Glanz mit der
Entdeckung Homers im 18. Jahrhundert; nicht in England und Frankreich.
Jetzt lebt er in der Schule fort, für die er zu schwer ist, wie leider alle
gfroßen Erzeugnisse der römischen Literatur, aber durch die Schönheit
des Klanges, die vollkommene Sprache, die hohe Gesinnung unersetzlich.
Wir sahen, daß Vergil und Horaz beide mit ihren frühesten Dich-
tungen an die Weise ihrer unmittelbaren Vorgänger angeknüpft haben.
Eine wirkliche Fortsetzung fand jene neoterische Poesie in der Elegie des
Tibull und Properz; richtiger gesagt, in der Dichtung dieser beiden setzt
sich ebenso die griechische Elegie fort wie das griechische Epos in
Vergil, die Lyrik in Horaz.
Die Liebeselegie des alten Mimnermos war eine Spiel- oder Tonart
der jonischen Elegie, die an sich weder verliebten noch klagenden Inhalt
hatte. In der hellenistischen Poesie wurde die Elegie wesentlich Liebes-
elegie, auch die mythischen Liebesgeschichten klangen in elegischer Form.
Leider läßt uns die Überlieferung im Stich; wir können die hellenistische
Elegie nur indirekt erschließen und nur das Stoffliche an ihr beurteilen.
TibaU
(t 19 »• Chr.)
und
Proper«
(f an t5 v.Chr.!.
jeo Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit.
Beide, TibuU und Properz, gehen von ihr aus; Tibull verdeckt diesen Zu-
sammenhang, Properz kehrt ihn hervor.
Diese beiden Dichter, in denen die griechische wie die römische Elegie
gipfelt, sind von sehr verschiedner Art. Properz ist das größere Talent, Tibull
der größere Künstler. Properz zeigt sich in seiner ganzen Menschlichkeit,
Tibull stilisiert die Leidenschaft Properz läßt sich vom Leben der großen
Stadt umtreiben, seine Cynthia ist nach alter literarischer Sitte der einzige
Name, der im Buche erscheint, aber die Gedichte besagen, deiß sie die erste
nicht war und auch die letzte nicht; seine Stoffe reichen über Lust und
Kummer des Liebesgedichts hinaus, in seiner späteren Zeit hat auch er
sich in die römische Vorzeit versenkt Tibull lebt in der Stille den Be-
schäftigungen des gebildeten Römers, seine Gedichte sind erfüllt von der
Sehnsucht nach ländlichem Frieden, es ist eine andre Äußerung der
idyllischen Jugendstimmung Vergils; das Glück seiner Liebe ist ohne Er-
füUtmg, nur für andere stimmt er heiteren Ton an, es liegt in der Sehn-
sucht und Phantasie. Diese dem römischen Geist selten gewährte Eigen-
schaft besitzt Tibull, die Phantasie belebt ihm jedes Bild und ist der
Nerv seiner Dichtung. Properz geht zumeist einen raschen und feurigen
Gang, ein bestimmtes Motiv mit entschiednem Grefühl umfassend. Tibull
läßt sich hingleiten; er hänget seinen Gedanken nach, und wohin ihn der
Nachen trägt, da landet er. Das ist die Kunst, in der ihn keiner er-
reicht: das Gedicht scheint zu zerfließen und wird von einer inneren Dis-
position scharf zusammengehalten. Properz führt die g^ze Gelehrsamkeit
der hellenistischen Elegie mit sich, manche seiner G«dichte könnten, wie
kein andres Produkt der augfusteischen Zeit, durch bloße Übersetzung
gfriechische Gedichte sein. Tibull würde, wenn nicht doch sein Zusammen-
hang mit der griechischen Poesie so vielfach nachzuweisen wäre, ganz
als nationalrömischer Dichter erscheinen, so einheimisch ist die Sinnesart
und der Lebenskreis, in dem er sich hält; so ist er auch der römische
Dichter, der am sichersten, der vielleicht allein völlig die Übersetzung in
moderne Sprache verträgt
II. Zweite Hälfte (ca. 14 v. Chr. — 14 n. Chr.). Neben dieser Blüte
Rhetorik, der Dichtkunst erhob sich bereits in Augitstus' früher Zeit eine neue
Macht, die aus den kleinasiatischen Städten nach Rom eingewanderte
Schulrhetorik. Da die öffentliche Beredsamkeit unter dem neuen Regi-
ment naturgemäß abnahm, gewannen die Schulreden über fingierte
Themata, Gerichtsreden und Beratungsreden, einen breiten Boden. Sie
setzten die allgemeine rhetorische Bildung, dazu einige juristische und
historische Kenntnisse und genaue Bekanntschaft mit der herrschenden
Poesie voraus und waren in der Form, die sie nun gewannen, nicht
für Knaben bestimmt; es wurde eine Kunst, die von Männern jeden
Alters und Talents, in jeder Lebensstellung geübt oder doch mit starkem
Interesse beachtet wurde. Ein Buch des alten Seneca, des Vaters des
n. Zweite Hälfte (ca. 14 v. Chr. — 14 n. Chr.).
35»
Philosophen, der Augnstus' und Tiberius' Reg^erungszeit in der Haupt-
.stadt durchlebte, 'Erinnerungen aus den rhetorischen Hörsälen', eins der
wenigen das volle gegenwärtige Leben darstellenden Bücher des Alter-
tums, schildert aufs anschaulichste dies Treiben und die Berühmten und
Unberühmten des Zeitalters mitten darin. Nun sah man was dem römischen
Geist, und zwar nicht nur im Durchschnitt und in der Masse, gemäß war.
Cäsars Attizismus und das ciceronische Bildungsideal waren vergessen;
der neue Stil nahm alles gefangen. Seine Tendenz war in erster Linie die
geistreiche Formung des Ausdrucks: klare Fassung und Folge, helle Schlag-
lichter des Gedankens, scharf zugespitzte allgemein gefaßte Folgerungen,
antithetische Wendungen, künstlich immer weiter geführte Variierung
eines Gefühls, einer Beobachtung. Es kam offenbar ganz auf den Mann
an, der ein solches Werkzeug handhabte. Wenn er Geist und Wissen
hatte, so lag zwar die Gefahr nahe, daß er zuviel davon auf den in der
Schulrede ausgebildeten Stil verwendete, aber es konnte eine neue
Meisterschaft der Form ausgebildet werden, die sich ihres Gehalts nicht
zu schämen hätte. Ein Talent ohne Tiefe mußte darauf ausgehen, mit
geistreichem Spiel zu blenden. Unten an der Stufenleiter war ein ödes
Virtuosentum zu erwarten, das darauf angewiesen war, mit dem durch
Übung Erreichbaren zu prunken.
In zweiter Linie stand die Pracht und Auswahl der Worte, der ge-
suchte Schmuck. Hier beginnt eine für die lateinische Literatursprache
verhängnisvolle Entwicklung, in doppelter Richtung, Einmal wurde die
Sphäre der in der kunstmäßigen Literatur anerkannten und zugelassenen
Rede künstlich gehoben und damit der vorhandene Abstand von der
Volks- und Umgangssprache so sehr erweitert, daß zwischen beiden, in
der Sprache aller Kulturvölker parallel gehenden Sprachrichtungen der
Verkehr und die gegenseitige Befruchtung so gut \vie aufgehoben wurde.
Zum andern lehnte sich der neue .Stil, wie es schon auf griechischem
Boden geschehen war, an die übermächtig gewordne Dichtung an. Es
handelte sich dabei sowohl um das Wortmaterial wie um die Anwendung
der Wörter und die Urabiegung ihrer Bedeutungen wie um die Kühn-
heiten des Satzbaues, die an die Stelle der von der neuen Prosakunst
verlassenen ciceronischen Periodisierung traten. Vergil hat auf die Sprach-
behandlung der neuen Prosa direkt so stark gewirkt wie Cicero indirekt
auf Vergil. Dadurch verschoben sich die von Cicero scharf eingehaltnen
Grenzen zwischen prosaischem und poetischem Ausdruck; nach kurzer
Zeit sind sie verwischt, man nennt dieses Latein, dem die Stilgrenzen ver-
loren gegangen sind, das silberne.
Horaz und Vergil, Tibull und Properz sind noch frei von der modernen
Rhetorik und ihren Folgen; bei Livius zeigen sich die Anfänge; ihre
Herrschaft beginnt mit Ox-id.
Livius konnte der neuen Richtung nicht freundlich gegenüberstehen; u»im
die Einwirkungen, die bei ihm besonders in der Sprachbildung hervor — 17«. Chr.).
352 Friedrich Leo: Die römische Literatur. B. Augusteische Zeit.
treten, sind die aufgezwungnen einer herrschenden Zeitströmung. Denn
er war Ciceronianer und erfüllte das Ideal der Geschichtschreibung, das
Cicero aufgestellt hatte. Er stammte aus Padua, aus gallischem Lande wie
Vergil; die ersten Teile seines Werkes entstanden gleichzeitig mit der
Aeneis, die letzten nach dem Tode des Augxistus. Er war mit Augustus
befreundet wie Vergil und Horaz und vertritt allein mit ähnlichem Glanz
die Prosa der augusteischen Zeit
Wie Vergil das Epos so schuf Livius das Geschichtswerk der neuen
Zeit; er tat es, indem er die römische Geschichte von der Grründung bis
auf die Gegenwart schrieb. Das bedeutete sowohl den Abschluß der
annalistischen Geschichtschreibung der Republik als die Begründung der
Zeitgeschichte. Livius empfand republikanisch; damit vertrug sich längst
die Überzeugung, daß Augustus verdiente das römische Reich zu be-
herrschen und daß Rom unter ihm seine Bestimmung vollendete. So war die
Geschichte der jüngsten Zeit zugleich der Gipfel der Darstellung und trat als
solcher hervor. Die ersten beiden punischen Kriege, 63 Jahre sehr aus-
führlich erzählt, umfaßten 15 Bücher, die 35 Jahre von Cäsars bis Drusus'
Tode 33 Bücher. Was wir von dem Werke besitzen, gehört ganz in die
eilte Zeit, die Livius den Annalisten und Polybius nacherzählte; wir würden
von dem Historiker ein ganz andres Bild erhalten, wenn von der Zeit-
geschichte etwas geblieben wäre. Von dem Historiker längst vergangener
Zeiten erwartete das Altertum keine wissenschaftliche Forschung, sondern
kunstmäßige Darstellung. Was er zu tun hatte, wenn er hohe Ansprüche
erfüllen wollte, war, aus dem Stoff der vorhandnen Berichte ein neues,
den Stilforderungen der Zeit entsprechendes Kunstwerk herzustellen. Als
historischer Gewährsmann ist Livius erwünscht wo er verlorne Teile des
Polybius reproduziert; aus der römischen Annalistik hat er nicht die
besten sondern die letzten Darstellungen bevorzuget, und das waren die
unzuverlässigsten. Mit den Annalisten können wir ihn nicht vergleichen,
wohl aber mit Polybius. Da sehen wir, daß er nach fester Methode den
wissenschaftlichen Charakter von dessen Darstellung abstreift, die Unter-
suchung durch Erzählung ersetzt, die Charaktere der bestimmenden Per-
sönlichkeiten allmählich aus ihren Handlungen hervortreten läßt, nicht,
wie Polybius, die Elemente des Charakters an den Hauptetappen ihrer
Tätigkeit einer immer fortgesetzten Prüfung unterzieht So verschieden
seine Quellen, so einheitlich ist seine Darstellung. Das ist es was er in
einer Lebensarbeit von vierzig Jahren geleistet hat, unermüdlich der ge-
waltigen Aufgabe hingegeben: ein schöner und geschlossener Aufbau der
Geschichte seines Volkes, über die Taten und Kateistrophen der sieben
Jahrhunderte das Licht einer vollendeten Erzählungskunst gebreitet
Orid Livius gTaviticrt nach Ciceros Seite hin, den er noch hat sehen und
-*i7 ■. Chr'). seine Rede hören können; Ovid, in Ciceros Todesjahr geboren, ist das
Kind einer Generation, die die Republik nicht mehr gekannt hat ist der
eigentlich moderne Dichter seiner Zeit, der Dichter des weltstädtischen
II. Zweite Hälfte (ca. 14 v. Chr.— 14 n. Chr.).
353
Rom. Dieses Rom wird nicht mehr durch Magistratswahlen und Straßen-
kämpfe erregt; eine Prinzenheirat bedeutet mehr als vordem der Triumph
eines Feldherm der Republik, die Deklamation oder Rezitation eines vor-
nehmen Dilettanten mehr als ein Staatsprozeß, in dem Hortensius und
Cicero sprachen. Weltregierer gibt es in der Kurie noch dem Namen
nach, aber sie entziehen sich gern auch den dringenden Verwaltungs-
geschäften, und die Macht ist zum Geheimnis des Princeps und seines
Kabinetts geworden. Das Volk freut sich an Sicherheit und Ruhe, Senator
und Ritter an Reichtum, Geselligkeit, Hofgunst oder dem Streben danach.
Rom ist längst keine Barbarenstadt, es ist nun die Metropole der feinsten
Gesittung, der römische Literat kann sich dreist mit dem griechischen
messen und die römische Hetäre mit der athenischen oder ephesischen.
Das Spiegelbild dieser Welt sind Ovids Gedichte; darin liegt ihr
materieller Reiz. Eine unbeschreibliche Leichtigkeit und Biegsamkeit
von Vers, Sprache und Gedanken tut den formalen Reiz hinzu. Beides
gehört zusammen: eine solche Form begehrt nach einem solchen Stoffe;
ein Stoff wie dieser bedarf des Dichters, der ihn in die heitere Grazie
einer solchen Form aufzulösen versteht. Ovids Liebeselegien haben nicht
mehr den gelehrt hellenistischen Hintergrund des Properz oder den länd-
lich idyllischen Tibulls; sie spielen in den Salons und Straßen Roms. Die
Liebeskunst operiert mit allen Motiven der hellenistischen Elegie, aber
sie ist wie ein Gewächs der neurömischen Gesellschaft. Die Metamor-
phosen und Fasten fuhren Götter und Helden vor, griechische und römische,
aber die feierliche Würde, die sonst von solchen Gegenständen unzer-
trennlich war, ist der heiteren Helligkeit eines Festsaals gewichen, in
dem auch die Götter am liebsten jung, schön und verliebt sind. Augustus
mußte diese Poesie und diesen Poeten hassen. An Horaz, Vergil und
Livius hatte er die literarischen Helfer seiner auf eine sittliche Regene-
ration der römischen Gesellschaft gerichteten Gedanken; Ovids Dichtung
war nicht nur diesen Gedanken schädlich, sie war vor allem dem Kaiser
ein drohendes Symptom, daß die Entwicklung der Dinge über seine
besten Absichten hinwegging. Er tat dem Dichter das Ärgste an, indem
er ihn, aus dunklem Anlaß, an die Nordgrenze des Reiches, in einen
Winkel des Schwarzen Meeres verbannte. Da blieb ihm nur, solange
er leben mußte, die Klage um das Element seines Lebens und Dichtens,
Ovid hat allem, was er anfaßte, eine neue Gestalt gegeben. In der
Liebeskunst schuf er eine der neurömischen Lebens- und Denkweise an-
gepaßte Erneuerung des didaktischen Gedichts. In den Metamorphosen
gab er einen Zyklus unterhaltender Geschichten, die sich von der Welt-
schöpfung her durch alle Mythologie bis zur Apotheose Cäsars fort-
setzten; sie verhalten sich mit ihrer epischen Form zu Vergil wie Ariost
zu Tasso. Die Fasten behandeln in elegischer Form den römischen Fest-
kalender und alle mit ihm verbundnen Gründungslegenden, einen römisch-
religiösen Stoff in unnachahmlich leicht und ungravitätisch fließender Er-
Dii Kultus dkr Gioinwari. 1. 8.
»3
354
Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Katserzett.
Zählung. Auch hier waren hellenistische Dichter die Vorbilder und ihre
Gelehrsamkeit handhabt er ohne Mühe, aber sie ist ihm nur noch Schmuck
und ein allen vertrautes Beiwerk. Jeder Stoff ist ihm ein Objekt, seine rheto-
rische Erfindungskunst zu zeigen. Neue Motive schillern in immer neuen
Farben, dem verbrauchtesten gewinnt er neue Seiten ab. Von Greschichte
zu Geschichte findet er einen kecken Übergang, den AiFekt verfolgt er in
alle Schlupfwinkel. Von der Rhetorenschule aus erfand er eine neue
Gattung, die Briefe mythischer Frauen, die an ihre entfernten oder un-
getreuen Liebhaber schreiben. Die Situationen waren bekannt und ein-
fach, aber er findet tausend Wendungen, um immer wieder die Emp-
findungen der Einsamen oder Verlassenen in einem neuen Lichte zu
zeigen.
Die moderne Rhetorik ist sein Handwerkszeug, all ihre Mittel, die
gfroßen und kleinen, die starken und schwachen, wendet er als Virtuose
an. Sie dient ihm sowohl einer wahren Empfindung wirksamen Ausdruck
zu geben wie mit einer gemachten zu blenden; sie wirft einen anmutigen
Schein über den Fluß seiner Rede, hält durch die unablässige Folge ab-
sichtlicher Wortfiguren den Verstand in Spannung und ärgert oft durch
aufdringlichen Witz den Leser, der sich einer Stimmung hingeben
möchte. Die Kenner unter seinen Lesern und Hörern haben ihm das
oft gesagft, er sei in seine Fehler verliebt oder er könne nicht aufhören
wenn er fertig sei, weil ihm noch etwas Zierliches einfalle. Aber wie
die Kunst den Kenner befriedigte, so fand der Zeitgeschmack auch an
den Auswüchsen sein Wohlgefallen. Ovid hat den rhetorischen Stil in
die Dichtung eingeführt, und seitdem blieb in Poesie und Prosa die Herr-
schaft dieses Stiles unbestritten.
C. Kaiserzeit
L Bis Hadrian (14 n. Chr. — Mitte des 2. Jahrhunderts). Die Poesie
der augusteischen Zeit, wie sie den Zeitgenossen ein schönes Wunder
war, galt auch den Nachkommen als das unbestreitbar Hohe und Große.
In der Tat haben die Römer und das Altertum überhaupt nach Aug^stus
nichts annähernd Gleichwertiges hervorgebracht Wenn man das Ephe-
mere abrechnet, so waren L3rrik und Elegie mit Horjiz und Ovid zu Ende;
unter den Nachahmern des vergilischen Epos und der horazischen Satire
sind grroße Namen, auch beträchtliche Talente, aber keine großen Dichter.
Wahrhaft Großes in lateinischer Sprache sollte fortan nur noch auf dem
Gebiete der Prosa erscheinen. Was alle erstrebten und viele erreichten
war die rhetorische Kunst und damit verbunden eine vollkommene Technik
des Verses. Denn Poesie und Prosakunst gfingen leicht zusammen, seitdem
der poetische in den prosaischen Stil eingebrochen und die Rhetorik in
beiden zur^Herrschaft gekommen war.
1. Bis Hadrian (14 n. Chr.— Mitte des 2. Jahrhunderts).
355
P
Zunächst gab es überhaupt keine nennenswerte Produktion. Die ■
unter Tiberius und Calignla schreibenden Epigonen verdienen kaum diesen I
Namen. F"ür die Zukunft wichtig geworden sind das Fabelbuch des H
Phaedrus und die unter Claudius geschriebne Alexandergeschichte des I
Curtius. Die Enzyklopädie des Cornelius Celsus war ein wichtiges Werk; ■
wir besitzen nur den die Medizin behandelnden Teil. Ein Talent höheren ■
Ranges hat es zwischen Ovid und Seneca nicht gegeben. ^
Seneca war in Corduba zu Hause, der alten Hauptstadt des Jen- ^"^
seitigen Spaniens, der Sohn eines Mannes von Geist und Bildung, dessen .."*' "«P'i':
rhetorische Memoiren uns begegnet sind. Er wuchs in Rom auf und
.spielte früh eine Rolle in der Gesellschaft, die ihm den Haß Messalinas
und ein achtjähriges Exil auf dem wilden und einsamen Korsika eintrug. ■
Agrippina rief ihn zurück und machte ihn zum Lehrer ihres Sohnes, eines ■
schönen und begabten Knaben, damals im elften Jahre. Daß aus dem H
Philosophenschüler auf dem Thron eine Bestie wurde, die den alten H
Claudiemamen für immer befleckte, darf man dem Lehrer, der mit einer H
Mutter wie Agrippina zu konkurrieren hatte, nicht zur Last schreiben. ■
Wohl aber kommt ihm ein Verdienst daran zu, daß die wahre Natur des ■
jungen Kaisers während seiner ersten Regierungsjahre nicht her\'ortrat; H
denn in dieser Zeit war Seneca sein Minister und lange gab sich Nero H
dem politischen Einflüsse des klugen Mannes hin. Vor der wachsenden ■
Ruchlosigkeit des Kaisers zog sich Seneca zurück und fiel ihr doch nach H
wenig Jahren, als hoher Sechziger, zum Opfer. H
Die Zeitgenos.sen haben ihn sehr verschieden beurteilt. Wie seine H
Reichtümer und Ehren den Neid erregten, so sein Einfluß im Kabinett die H
Mißdeutung; aber sein Tod gab ihm das unbestreitbare Zeugnis einer im H
stoischen Sinne über Menschenschicksal erhabnen Seele. Daß er mehr I
als ein Gesicht hatte, bezeugt er uns selbst durch die Satire über den fl
Tod des Claudius, ein Büchlein voller Witz und Bosheit, zur unbarm- H
herzigen Verhöhnung des eben vergifteten Kaisers, den auch Seneca zu H
hassen Grund hatte, geschrieben; ein Dokument zugleich für die Moral H
dieses Hofes. I
Der Hauptinhalt seiner Schriften ist die stoische Moral, eine ge- U
milderte Lehre, die den Tugend- und PflichtbegrifF dem menschlichen H
Können angleicht und sich gegen die verwandten Lehren andrer Philo- H
sophen, auch Epikurs, nicht verschließt. Es ist die stoische Moral, die H
der christlichen so nahe und historisch mit ihr verbunden ist; daher ent- H
stand später die Meinung, daß .Seneca heimlicher Christ gewesen sei, und ■
führte zur Fälschung eines Briefwechsels mit Paulus, an dessen Echtheit H
Hieronymus glaubte. ■
Seneca behandelt Gegenstände dieser Art: vom Zorn, von der .Seelen- ■
ruhe, vom Glück, vom Wohltun, von der Kürze des Lebens; eine lange H
Reihe von Betrachtungen über die philosophische Lebensführung und das ■
in ihr liegende Glück bieten die 'moralischen Briefe' .seiner späteren Zeit. I
■
356 Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Ksüseneit.
Ein griechischer Philosoph gibt ihm wohl meist den Faden; aber er steht
ganz anders zu diesen Vorgängern als Cicero. Seine Absicht ist durchaus,
den Gedankengang der Schule zu erweitem und zu variieren, persönlich
neu zu produzieren; und es ist kein Zweifel, daß jede Seite seiner Schriften
den Stempel von Senecas Geist imd Persönlichkeit trägt. Das ist der
Erfolg des Künstlers mehr als des Philosophen.
Denn in Senecas Gedanken- und Sprachbehandlung stellt sich der
seit einem halben Jahrhundert herrschende Stil in der höchsten Entwick-
lung dar. Es ist ein vollkommener Gegensatz zu Cicero: die Sätze in
innerer Beziehung, ohne sichtbare Verbindung nebeneinandergestellt, die
Perioden in Teilchen aufgelöst, jedes Teilchen mit einer stilistischen Ab-
sicht geformt, jedes Wort berechnet; jeder G«danke künstlich hin- und
hergewendet und hier und da, besonders zum Schlüsse, in eine scharfe
Pointe gefaßt. Ein solcher Stil ist nur zu ertragen, wenn ein geistreicher
Mann wie Seneca ihn handhabt; auch von ihm nimmt man nicht gern
viel auf einmal, aber es liegt ein gfroßer Reiz in dieser Übereinstimmungf
des scharf ausgeprägrten Gedankens mit der zugeschliffenen Form.
Die Form der Bücher ist die des stoischen Dialogs, der als zusammen-
hängender Vortrag vor einem gedachten Zuhörerkreise nur noch den
platonischen Namen und in Einwürfen aus dem Publikum, die der Ver-
fasser fingiert, einen Rest der alten Gesprächsform bewahrt; daneben die
Episteln. Es sind die beiden Formen, die in einer andern Entwicklungs-
linie aus derselben Wurzel Horaz anwendet. Die Abkehr von Cicero ist
auch hierin vollständig und absichtlich.
Dieselbe Kunst, kein tieferes Vermögen der Seele, machte Seneca auch
zum Dichter. Wir besitzen neun Tragödien von ihm, die nicht nur als
die einzigen erhaltnen römischen Tragödien, auch als die Ausläufer des
griechischen Dramas interessant genug sind. Wir sahen, daß die römische
Tragödie mit Accius aufhörte. In der augusteischen Zeit versuchten viele
sie neu zu beleben, unter ihnen Ovid; jetzt, ein halbes Jahrhundert später,
erneuerte Seneca, auch er nicht als der einzige, den Versuch. Es wäre
wunderbar gewesen, wenn der neue Stil die Tragödie nicht in seinen Kreis
gezogen hätte; nirgends fand er wie hier die Gelegenheit zu glänzenden Be-
schreibungen, prunkhaften Reden, leidenschaftlichen Betrachtungen, nirgends
besseren Anlaß zu tönenden Sentenzen. Seneca lehnte sich an Ovid an, nicht
an die früheren römischen Trag^er, die er verachtete, aber er arbeitete
direkt nach den gfriechischen Originalen, besonders nach Euripides. Er
suchte die schrecklichsten Stoffe aus, Medea, Ödipus, Phädra, Thyestes,
Agamemnon, und regelte ihre Behandlung ganz nach den Forderungen
des rhetorischen Stils. Die Handlung wird auf die von Affekt und Sen-
sation strotzenden Hauptmomente gebracht, dafür verschwinden Ethos
und Gefühl so gfut wie ganz, es bleibt Raum für prächtige Erzählungen,
für beschreibende Szenen, für aufregende Episoden. Den Charakteren
wird die lebendige Existenz abgestreift und die Typen der Rhetoren-
I. Bis Hadrian (14 n. Chr.— Mitte des i. Jahrhunderts).
357
schule darau.s gemacht, denen jeder Gemeinplatz im neuen Aufputz zu
Gesicht steht. Die Sprache ist teils dem stets gespannten Pathos ent-
sprechend voller Schwulst (der Senecas Pro.sa fremd ist), teils ganz wie
die Prosa in witzige Sätzchen aufgelöst und durch Schlaglichter beleuchtet.
Die Chorlieder sind vom Dramatischen unabhängig, zum Teil sehr ein-
drucksvolle Behandlungen moralphilosophischer Sätze; in der Form Nach-
ahmungen der horazischen Verse.
Trotz allem Hinderlichen wirken auch diese Tragödien durch die
Technik der Sprach- und Gedankenbehandlung. Ihr Einfluß ist bei
Shakespeare kenntlich, für die französische Tragödie war er bestimmend;
und Lessing hat als Fünfundzwanzigjähriger vieles ein ihnen bewundert,
was seinem eignen Stilgefühl verwandt jvar.
Oberhaupt ist die Nachwelt mit Seneca gut verfahren. Die Christen
ließen ihn gelten, darum las und exzerpierte ihn das Mittelalter. Die
Renaissance freilich nährte sich an Cicero, und für Engländer und Deutsche
hatte Seneca immer etwas Fremdes. Aber dem französischen Geiste war
er lieb; Montaigne hielt Vergils Georgica für das vollkommenste Werk
der Poesie und als Prosaiker stellte er Plutarch und Seneca allen voran.
Die französische Aufklärung war eine neue Blütezeit für Seneca, und die
feinste französische Eloquenz von heute ist ein Abkömmling des von
Seneca am glänzendsten ausgebildeten Stils.
In Neros Zeit erhebt sich um Seneca her, auch unter den Anregungen,
die nun wieder vom Hofe ausgingen, von neuem ein starkes literarisches
Leben. Es ist bei einer Kunstübung wie diese war schwer zu bestimmen,
üb die Talente gerade dazu ausreichen, eine schwierige Technik mit
Meisterschaft zu handhaben, oder ob die Technik mit ihren hochgespannten
Ansprüchen die Talente aufzehrt und ihre inneren Eigenschaften nicht
wirksam werden läßt. Denn diese Rhetorik formt nicht nur den sprach-
lichen Ausdruck, sie hilft auch bei der Geburt jedes Gedankens.
Persius rhetorisierte die Satire, ungefähr ein Jahrhundert nach dem ,'*'2i'^
ersten Satirenbuch des Horaz. Die wenigen Gedichte geben das Bild
eines jungen Mannes, den die stoische Moral innerlich ergriffen hatte.
Es fehlt nicht an Tönen echten Gefühls und eines individuellen sittlichen
Bewußtseins; wohl aber an der freien Grazie, mit der Horaz den Gehalt
seines eignen Wesens entfaltet hatte, vor allem an der Lebenserfahrung,
die empfangene Lehre in wahres Leben umzusetzen. Selten erscheinen
charakteristische Einzelzüge, kaum interessante Charaktere aus der Ge-
sellschaft; er stellt einen Satz auf und malt in allgemeinen Farben einen
Typus aus, der die Abweichung der Welt von der Vernunft vor Augen
stellt. Der Ausdruck ist aufs schärfste pointiert; mit besonderer Absicht
sind, um den Stil der Gattung zu wahren, Worte aus niederer Sprach-
sphäre gewählt. Sehr fühlbar, ja vordringlich ist die Manier, einfache
Begriffe durch umschreibende Wendungen zu geben; dadurch wird die
Sprache dunkel, eine recht unhorazische Eigenschaft.
^eg Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. K^seneit.
Lucan Lucan, Senecas Bruderssohn, rhetorisierte das Epos großen Stils. Hier
^ *' hatte es nicht ain Vorgängern gefehlt, aber Lucan gri£F durch. Sein
Gegenstand war der Entscheidungskampf zwischen Cäsar und Pompejus;
die Wahl ist merkwürdig, weil sie ein Symptom für das Wiedererwachen
des republikanischen Gedankens in der Literatur ist und ein Zeichen, dafi
solche Gesinnung aus der G«schichtschreibung in die Poesie flüchten
mußte. Hier kämpft der Senat gegen den Ehrgeiz des einen, Cato tritt
wieder als republikanischer Heiliger voran; um dieselbe Zeit, da sich im
Senat gegen Nero eine stoische Oppositionspartei regt. Lucans Epos
strotzt von prunkvoller Deklamation der Handelnden und des Dichters;
Redefiguren und Sentenzen sind von erstaunlicher Lebendigkeit, oft wird
der Inhalt ganzer Gedankenreihei^ in eine zugleich antithetische und stei-
gernde Wendung weniger Worte gepreßt. Wir verstehen die freudige
Aufregung des Publikums, wenn ihm solche Virtuosenstücke rezitiert
wurden. Aber es ist eine Lust des Verstandes, die Erhebung der Seele
fehlt dem Gedicht und dem Dichter; nie hätte er eine Wirkung erreicht
wie Vergil, als er vor Augustus und Octavia das sechste Buch der
Aeneis Isis.
Petron Ein Talent hat Neros Zeit und Hof hervorgebracht, das seine eignen
Wege ging. Petron war als Neros Günstling emporgekommen, hatte aber
als Statthalter einer Provinz mehr als gewöhnliche Fähigkeit bewiesen.
Dann leitete er die Vergnügrungen des Hofes; man versteht was das
sagen will; Tacitus gibt das Bild des genialen Wüstlings in brennenden
Farben. Von seinen Feinden in die pisonische Verschwörung verwickelt
stirbt er mit demselben Todesmute wie Seneca und Thrasea, aber mit
der ganzen Frivolität seines Lebens. Von ihm besitzen wir spärliche
Reste eines großen Zeit- und Sittenromans, die bei weitem das G«ist-
und Gehaltreichste sind was aus dem Altertum von unmittelbarer Menschen-
und Lebensschilderung gekommen ist. Petron steht mit seiner frisch-
quellenden, durch eingestreute Verse lustig variierten Prosa hoch über
der Rhetorik. Er schildert seinen Abenteurer von Helden aufs anschau-
. lichste in der Icherzählung, nebst Genossen und wer ihm in den Weg
kommt, darunter den unsterblichen Trimalchio und seine Tischgäste. Es
sind die niederen Regionen einer entsetzlich liederlichen Welt, der un-
gesunden Mischwelt, die in den griechischen Gegenden der Halbinsel zu-
sammengewachsen war. Petron sieht das alles mit dem freien Blick des
Weltkindes und läßt eine wohlgelaunte Kritik der in Rhetorik, Poesie
und Malerei herrschenden Tendenzen darüber schweben.
Zeit der FUvier Die pisonische Verschwörung reißt auf einmal Seneca, Lucan und
Petron in den Tod; Persius war einige Jahre vorher jung gestorben. Die
flavische Djmastie gewann das Reich. Aber es entstand kein Einschnitt
wie nach der republikanischen und aug^usteischen Zeit; die Produktion
schritt weiter auf gebahnten Wegen.
Das Epos blühte. Zunächst wird das gelehrte m}rthologische Epos
I. Bis Hadrian (14 n. Chr.— Mitte des S.Jahrhunderts). 35g
rhetorisiert , ganz wie Seneca die attische Tragödie für die Empfindung
der Zeit hergerichtet hatte. Die Argonautica des Valerius Flaccus ver-
halten sich zu seinem Vorbilde Apollonios etwa wie Senecas Medea zu
Euripides. Ein Talent, das über das Formale hinausreicht, ist der Nea-
politaner Statius; er übertrifft auch größere Dichter durch Lebendigkeit
der Anschauung, und seiner Thebais fehlt es nicht an Kraft und Schwung.
Aber die Verkünstelung des Ausdrucks treiben diese Dichter über das
Maß. In Lucans Nachfolge behandelt der vornehme Silius Italicus einen
nationalen Stoff, den hannibalischen Krieg; mit dem Unterschiede, daß
dort ein junger Feuerkopf den für die Gegenwart aufregendsten Stoff in
Flammen setzen möchte, hier ein zur Ruhe gesetzter Konsular die An-
nalen des Livius verwässert.
Größere Bedeutung für die Wellliteratur hat Martial gewonnen. Er .*„'*"i^
war Spanier von bescheidener Herkunft und konnte auch nur ein beschei-
denes Glück machen; es ist interessant, ihn und Statius auf diesen Wegen
mit Horaz zu vergleichen, um die Verschiedenheit nicht sowohl der Zeiten
als der Seelen zu ermessen. Er wurde Epigrammatiker von Beruf. La-
teinische Epigramme hatte es seit Ennius gegeben, CatuU und sein Kreis
imitierten fleißig dieses feinste Produkt der hellenistischen Dichtung, die
Stilprobe für den Kenner; auf den Grrabsteinen Italiens stand das Epi-
gramm seit Jahrhunderten. Aber in der Regel blieb es doch griechisch,
in Rom gab es unzählige Griechen, die solch zierliche Gebilde verfertigten,
und Römer konnten es auch. In Martial schlug die Ader des Epigramms,
es war etwas Schöpferisches in ihm, er hat sich als Lateiner neben die
gfroßen Epigrammatiker gestellt und die grriechische Gattung wieder in
die Höhe geführt wie die römischen Elegiker die Elegie. Das erotische,
das sepulkrale, das gesamte Schulepigramm kümmerte ihn nicht, wie wir
auch an ihm wiederum sehen, daß das spezifische Talent sich von der
Rhetorik freimacht. Er ergreift das polemisch-satirische Epigramm, aber
nicht mit den bloß persönlichen Spitzen und Witzen, sondern es ist ihm
das Mittel, die römische Welt und Gesellschaft um sich her zu schildern;
wie Ovid durch die Elegie so Martial durch das Epigramm. Er wirft in
der Tat durch tausend Streiflichter ein helles Licht auf die Menschen und
Zustände; und es gehört wohl zur Sache, daß man an seiner Hand auch
durch Pfützen waten muß.
Auch die prosaische Schriftstellerei war mächtig angewachsen. Die ,f jf'"'
nachrepublikani.sche Geschichte wurde von vielen geschrieben. Andere
beschäftigten ihre Muße mit technischer und halbwissenschaftlicher Pro-
duktion, Columella brachte noch unter Nero die Lehre von der I^nd-
wirtschaft in schönen Prosastil. Die Tendenz des Zusammenfassens und
Exzcrpierens stellte sich wie bei den Griechen ein; eine Schätzung des
Wissens um des Wissens willen, ein Durst nach Notizen, immer begleitet
von der dem gebildeten und für das große Publikum schreibenden Schrift-
steller selbstverständlichen Forderung, die Notiz in kunstmäßige Sprach-
i6o Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiseneit.
form aufzulösen. Das umfangreichste und am eifrigsten zum Ganzen g'e-
staltete Produkt dieser Art, die Naturgeschichte des Plinius, hat bei der
Nachwelt einen gewaltigen Erfolg gehabt
Plinius war auch aus dem gallischen Italien: ein tüchtiger Offizier
und Verwaltungsbezimter, bei Vespasian und Titus angesehen, in den
nördlichen und südlichen Provinzen des Reiches tätig, zuletzt Befehls-
haber der Flotte in Misenum; dabei unermüdlich mit literarischen Arbeiten
und Sammlungen beschäftiget. Er schrieb allgemeine Geschichte im großen
Stil, ein besonderes Werk über die Kriege in Germanien; dazu ein gram-
matisches Sammelwerk, eine Fundgrube für die Späteren. Er hinterließ
seinem Neflfen 1 50 Bände KoUektaneen, für die ihm ein reicher Mann ein
Rittervermögen geboten hatte. Durch den Neffen erfahren wir, wie er
es trieb, um jede von Amtspflichten freie Stunde, darunter die Mahl-
zeiten, die Stadtwege in der Sänfte, die Bäder zur Lektüre, zum Notieren
und Exzerpieren auszunutzen. So entstand die 'Naturgeschichte', ein Werk,
von dem er selbst in der Widmung an Titus sagte, kein Römer habe
etwas ähnliches versucht und auch kein Grieche allein das Ganze umfaßt.
Die Reihenfolge ist: Weltall und Erde, der Mensch, die Tiere, die Pflanzen,
mit besonders ausführlicher Behandlung der Heilmittel aus Pflanzen- und
Tierreich, die Mineralien und im Zusammenhang mit ihnen Malerei und
Skulptur. Dem Ganzen geht ein Inhalts- und Autorenverzeichnis voraus;
es wird nichts anderes prätendiert als daß aus einer ungeheuren wissen-
schaftlichen Literatur das Material zusammengetragen ist. Aber die Form
gehört ihm, und das ist auch hier wieder die Hauptsache. Die ganze
Exzerptenmasse ist in den knappen, figfuren- und pointenreichen Zeitstil
umgegossen und mit Betrachtungen im Sinne der Zeitmoral reichlich aus-
gestattet Form und Beiwerk, an denen es hing, daß der gebildete Römer
das Werk in den Kreis seiner Lektüre hineinließ, waren einer sachlich
wissenschaftlichen Verarbeitung nicht günstig. Es ist auch kein Zweifel,
daß es Plinius an den Kenntnissen zur Verarbeitung und auch zur Aus-
wahl des Stoffes fehlte. Alexander von Humboldt, der ihn sehr maßvoll
und mit klassizistischer Nachsicht beurteilt, hat doch darauf hingewiesen,
daß er die wichtigen geognostischen und anatomischen Ansichten bei
Eratosthenes und Aristoteles nicht zu finden gewußt hat. Den Männern,
die in unsem Zeiten die griechischen Wissenschaften wiederentdecken,
ist Plinius nur ein schwacher Führer. Die Wiedergabe des Stoffes ist,
wie wir erkennen wo seine Autoren erhalten sind, sehr unzulänglich.
Dennoch war er ein Mann, den Wissensdurst imd Beobachtungsdrang er-
füllten und zusammen mit dem Pflichtgefühl des Amtes in den Tod trieben,
als der Vesuv Pompeji und Herculanum verschüttete; wie das sein Neff^e
in einem Briefe an Tacitus, als Material für dessen Zeitgeschichte, an-
schaulich geschildert hat
Eine Fülle sonst unbekannten Materials überliefert Plinius auch uns;
das spätere Altertum und das ganze Mittelalter, dem die griechischen
1. Bis Hadrian (14 n.Chr.— Mitte des 2. Jahrhunderts).
361
^H Quellen nicht flössen, verdankte ihm direkt und indirekt das meiste seines
^B Wissens. Seine Autorität begann erst zu sinken, als im 18. Jahrhundert
^H Physiologie und beschreibende Naturwissenschaften ihre eignen Wege
^^1 fanden.
^H Während Plinius sein Werk kompilierte, bereitete sich eine Reaktion
^^B gegen den Stil vor, den er mit der ganzen schönen Literatur seiner Zeit
^H vertrat. Der Kampf wurde nur von einem Manne geführt, aber der eine
^^1 bedeutete viel. Es war Quintilian, ein Spanier wie Seneca, der wenige
^H Jahre nach Senecas Tode als Lehrer der Rhetorik in Rom auftrat und
^^^ als solcher jahrzehntelang die angesehenste Stellung einnahm. Im Alter
L faßte er Lehre und Erfahrung in dem Werke von der 'Erziehung des
^B Redners' zusammen, die Theorie nach der griechischen und römischen
^^1 rhetorischen Literatur, die Praxis aus dem Ganzen seiner Sachkenntnis
^^r und Lebensarbeit heraus. Hier war wieder einmal ein Mann, der das
I Hauptinteresse der römischen Bildungswelt von innen und mit seinem
^H ganzen Wesen ergriff, wohl wissend, welche Verflachung der literarischen
^^ Produktion und Ansprüche entstehen muß, wenn alle Kräfte sich auf ein
f Virtuosentum des Geistes richten. Durch solche Auffassung wurde Quin-
tilian mit Notwendigkeit zu Cicero hingeführt, nicht nur zu ihm als dem
größten Redner, der überall das Muster für die Lehre gab, sondern zu
Ciceros Lebens- und Bildungsideal, wie wir es in den Büchern vom Redner
niedergelegt fanden. Er erg^nff dies Ideal mit voller Oberzeugung und
hat dadurch offenbar auf Generationen von Schülern starke Wirkung ge-
übt. Dabei bedachte er nicht, und als einer positiv gerichteten, nicht
genialen Natur mußte ihm dieser Gedanke fern liegen, daß die Bedeutung
der Redekunst, ohne die das akademisch-ciceronische Ideal brüchig werden
mußte, seit einem Jahrhundert unwiederbringlich dahin war. Er hat Bil-
dung und Beruf des Redners so geschildert, wie wenn sich die Fordc-
I rungen des Staatsmannes ohne weiteres in den rhetorischen Hörsaal über-
tragen ließen. Dabei ist eines der erfreulichsten Werke der römischen
Literatur entstaiiden, das einen breiten und srhwerfließendcn Lehrstoff in
gefällige Form bringt, ohne irgend dem Gewicht der Sache zu schaden,
in dem vor allem eine würdige, feine, freie Persönlichkeit lebendig ist,
^^L von der man wohl versteht, daß sie Ehrfurcht und Liebe erregte; von
^W einer Sprache, die man diesen Zeiten nicht zutrauen sollte, die zu einem
r Streit unter den Humanisten der Renaissance geführt hat, ob Cicero oder
^^ft Quintilian das größere Muster sei.
^^ Wie die Reaktion auf Cicero hindeuten mußte, so mußte sie gegen
I Seneca, als den Hauptführer der rhetorischen Zeitströmung, gerichtet
I sein. Gegen ihn schrieb Quintilian ein eignes Buch 'von den Ursachen
I^K der Stil Verderbnis'. Damals war Seneca in aller Händen, die ganze
^H junge Welt ahmte seine Fehler nach; Quintilian war der Meinung,
^^^ daß die Nachahmer schon so tief unter das Muster gesunken seien,
^H wie Seneca unter die Klassiker; va»n lasse nichts mehr gelten, was
Quintilian
362 Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiserzeit.
nach Natur aussehe. Er wies auf Cicero und neben ihm auf Vergil
zurück.
Quintilian hat wie gesagt auf seine Schüler gewirkt, aber nicht weiter
hinaus auf die literarische Entwicklung. Bestimmend ist sein Einfluß für
die Schule geworden; solange es römische Schulbildung gegeben hat,
regierten in ihr Vergil und Cicero. Vergils Greltung war nie erschüttert,
aber Cicero hatte lange nur in einer Unterströmung weiter gewirkt, die
durch Quintilians Tätigkeit und Lehre mächtig in die Höhe geführt wurde.
Der Zu den Schülern Quintilians gehörte der junge Plinius, eine lieben»-
'(«»-iij). würdige, idealistisch gerichtete Natur, durch Vermögen und Gunst ge-
tragen, als Sachwalter und in der Ämterlaufbahn hochgestiegen; der
rechte Typus einer flachen, doch von ihrem Werte überzeugten Zeit-
bildung. Seine amtliche Korrespondenz mit Trajan, in der Hauptsache
aus der Zeit, in der Plinius als kaiserlicher Statthalter Bithynien ver-
waltete, enthält wichtige Urkunden für die Provinzialverhältnisse , auch
für die älteste Geschichte des Christentums, vor allem für die Person des,
trefflichen Kaisers, über den wir aus seinen kurzen Briefen mehr Bezeich-
nendes erfahren als aus der Prunkrede, die ihm Plinius bei Antritt des
Konsulats im J. 100 gehalten hat. Als Schriftsteller lernen wir Plinius
aus der großen Sammlung der an einen weiten Freundeskreis gerichteten
Briefe kennen; denn diese Briefe sind als kleine Kunstwerke des Stils
in der Absicht geschrieben, dem Publikum vorgeleg^t zu werden. Jeder
Brief behandelt einen Gregenstand, einen Fragepunkt; aber Gegenstände
des Lebens, nicht philosophische Fragen, und wenn es Fragen allgemeiner
Art sind, so doch unter persönlichem Gesichtspunkt So lernen wir aus.
diesen Schulprodukten das römische Leben der Zeit kennen, den Freundes-
und Gesellschaftskreis des Plinius, vor allem das literarische Treiben,
darin Männer wie Quintilian, Tacitus, Sueton, neben einer unerhörten Trieb-
kraft des der Technik mächtigen, sich selbst mit hoher Kunst verwechseln-
den Dilettantismus.
Plinius' Brieftechnik stammt aus der Rhetorenschtile, in der sie von
Isokrates her fortgepflanzt ist Aber das sprachlich-stilistische Muster ist,
wie Quintilian es lehrte, Cicero, unter dessen Briefen viele rhetorisch
stilisierte sind, auch solche, deren Adresse über den Adressaten hinaus
ans Publikum geht Plinius ist dann für die folgenden das Muster ge-
worden, der Führer einer breiten Briefliteratur, die in den späteren Jahr-
hunderten im Vordergrunde der künstlichen Prosa steht,
juren»! Wenn man Plinius hört, so gab es keine poetische Gattung, die nicht
ca. ijo). in seinem Kreise durch Dichter ersten Ranges vertreten war. In der
Tat hat sich ein einziger Dichter aus Trajans und Hadrisins Zeiten über
den Schwärm der Ephemeren erhoben, Juvenal.
Wir wissen wenig von ihm, in seinen Satiren liegt nicht, wie es bei
Lucilius war und bei Horaz ist, Wesen und Leben des Dichters vor Augen.
Martial redet ihn freundschaftlich an, als einen Mann in bescheidener
I. Bis Hadrian (14 n.Chr.— Mitte des 2. Jahrhunderts;.
363
Lebensstellung, seinesgleichen. Er war Latiner, aus Aquinum, wo er einen
väterlichen Hof hatte; einen anderen, wenigstens im späteren Lebensalter,
bei Tibur. Der Stolz des Italikers auf die römische Vergangenheit, Ver-
achtung der Fremden, besonders der Ägypter, die er aus ihrem Lande
kennt, erfüllt ihn; überhaupt eine Bitterkeit, die auf bittere Lebenserfah-
rungen deutet. Seine geistige Heimat war die Rhetorenschule , wahr-
scheinlich hat er deklamiert bis er dichtete; das geschah erst spät, die
fünf Bücher mit 16 Satiren gehören in seine späte und späteste Lebens-
zeit. Es erging ihm wie Tacitus von sich erzählt: während der fünfzehn
Jahre Domitians gab es kein freies Wort; Juvenals Satire bedurfte wie
die Historie der mit Trajan beginnenden Freiheit.
Es ist gewiß richtig, daß Juvenal, wie er selber sagt, durch inneren
Drang zur Satire getrieben worden ist; sein Talent zu beobachten und zu
schildern ist so deutlich wie sein natürlicher Sinn für die Nachtseiten der
menschlichen Natur. Dieselbe römische Grtsellschaft , in der sich Plinius
so wohl fühlt und die ihm so glänzend und vollkommen erscheint, ist für
Juvenal ein Pfuhl des Lasters. Es ist auch richtig, daß ihn der Anblick
der Sünde aufregt; er predigt und schilt in pathetischem Zorn, der sich
selbst steigert; aber die natürliche Empfindung in ihm ist nicht von der
Stärke, die einen Dichter produktiv macht. Es ist der Affekt, dessen
Theorie zugleich mit der Fertigkeit, aus derselben Tatsache zehnfachen
Anlaß zur Entrüstung zu holen, in der Schule gelernt wird. Diese Ent-
rüstung ist in einigen Satiren so schulmäßig trocken, daß sie vielleicht
den Verstand, aber gar nicht die Seele des Lesers erregen kann.
Es ist zu Juvenals Nachteil, wenn man ihn mit Horaz vergleicht; aber
es ist nicht unbillig. Ihm fehlen grade die Eigenschaften, die Horaz groß
und liebenswürdig machen; sie liegen zumeist in der Persönlichkeit, wenn
auch nicht allein. Horaz beobachtet das menschliche Leben, die Erschei-
nungen um ihn her sind ihm nur Beispiele; er nimmt sich selber niemals
aus, er ist allen überlegen, weil er alle versteht; man könnte nie auf den
Gedanken kommen, daß er selber etwas von dem haben möchte, was
andere übel mißbrauchen. Juvenal sieht nur die Gegenwart; um nicht
anzustoßen projiziert er sie in die Zeit Domitians und Neros; wenn er
allgemein wird, deklamiert er. Er steht immer außerhalb, und zwar als
ein Benachteiligter, Verbitterter, ärgerlich, nicht ergriffen; darum ist sein
Pathos nicht tragisch und der ganze Eindruck nicht persönlich. Horaz
hat die hohe griechisch-römische Bildung seiner Zeit, er wohnt mit seinen
Gedanken in der philosophischen Ethik, er hat den direkten Zusammen-
hang mit der griechischen Diatribe. Dadurch bestimmt sich auch seine
Methode: er wendet die Betrachtungsweise der griechischen Popularphilo-
sophie auf die römischen Zustände an. Juvenal ist ein rechtes Beispiel
für den Niedergang der römischen Bildung und dessen Ursache; er hat
weder Lektüre noch Philosophie, seine Bildimg ist die rhetorische, die
allgemeine Bildung. Darum sind auch seine Gesichtspunkte nicht neu, es
j64 Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiserzeit.
sind die unzähligemal von stoisierenden Moralisten vorgebrachten Vor-
würfe gegen die römischen Zustände. Daher die leeren Stellen, die bloß
variieren, deren gleichen bei Horaz nicht denkbar sind.
Die Vergleichung, wie gesag^t, ist ungünstig für Juvenal. Nimmt man
ihn wie er ist, so findet man ohne Frage ein starkes Vermögen, die Mittel
der Rhetorik in neuer Weise nutzbar zu machen. Er ist darin Nach-
folger des Persius, der aber nicht wie Juvenal die Deklamation ausspinnt
und die horazische Form viel besser begriffen hat als Juvenal mit seiner
gesuchten Formlosigkeit Vortrefflich hat Juvenal die scharfe Prägung
der Sentenz oder der momentanen Wendung verstanden; die geflügelten
Worte schwirren nur so. Darin lieget ein gutes Teil des Reizes, den er
ausübt; femer in der Fülle von Stoff imd Anschauung, die er als Lebens-
schilderer gibt Er hat bei der nächsten und bei aller ferneren Nachwelt
eifrige Leser gehabt, vor allem um 'seines glühenden Unwillens gegen
moralische Verkehrtheit' willen. Schiller stellt ihn als Muster der 'pathe-
tischen Satire' neben Swift und Rousseau; Victor Hugo hat ihn einmal
den größten Römer genannt Ein Übersetzer, der selbst der Formen
kundig wäre und zu streichen verstünde, könnte ihn noch heute populär
machen.
TacÄu. Eine Erscheinung von wahrhafter Grröße hat diese Zeit in Tacitus
°" "" ' hervorgebracht Er vereiniget die rhetorische Kunst der Zeit mit Kraft
und Tiefe des Geistes und in seiner Persönlichkeit wirken die Eigen-
schaften, die den römischen Namen g^oß gemacht haben. So überragft er
die Schriftsteller des ersten und zweiten Jahrhunderts, die Griechen ein-
geschlossen, als der gprößte römische Historiker neben Sallust imd über-
haupt für uns der Hauptvertreter der künstlerischen Geschichtschreibung
des Altertums.
Ein glänzendes Bild des jungen Tacitus erscheint in den Briefen
seines wenig jüngeren Freundes Plinius, der mit Verehrung zu ihm auf-
sieht, sonst als Bildungsmensch in einer selbstzufrieden auf das Leere
gerichteten Zeit nicht geneigt zu uneigennütziger Anerkennung fremder
Überlegenheit Die Jugendjahre unter Nero, die Katastrophen des Vier-
kaiseijahrs, zuletzt der Druck unter Domitians Tyrannei haben den von
Natur ernsten imd zurückhaltenden Sinn des Tacitus nach innen ge-
wendet Er gewann früh Ansehen als Redner, wurde Konsul unter Nerva
und verwaltete später, das vornehmste Amt, die Provinz Asien. Von
Trajans Anfängen bis über die ersten Zeiten Hadrians hinaus reicht seine
Produktion, mit der er also erst als Vierzigjähriger begann; denn unter
Domitian gab es nur die Wahl zwischen Schweigen imd einem nutzlosen,
von Tacitus nicht gebilligrten Märtyrertum.
Vor das Publikum trat Tacitus zuerst mit drei kleinen Büchern, die
in rascher Folge erschienen: die Biographie seines Schwiegervaters Agfri-
cola, der unter Domitian erfolgreiche Feldzüge in Britannien geführt hatte,
der Dialog über die Redner, die Germania. Agfricola und Germania ge-
I. Bis Hadrian (14 n.Chr. — Mitte des 2, Jahrhunderts).
365
hören zusammen in den Bereich seiner historischen Studien; die Erobe-
rung-sgeschichte Britanniens, die ethnographische Schilderung Deutsch-
lands weisen darauf hin, daß Tacitus mit den Vorarbeiten fiir sein Ge-
schichtswerk beschäftigt war. Das edle und wahre Ethos des Agricola,
das ungemeine stoffliche Interesse der Germania haben diese kleinen
Bücher unvergänglich frisch erhalten. Der Dialog ist von andrer Art;
keine Jugendschrift, wie man der bequemeren Auffassung wegen wünschen
möchte, aber er spiegelt Einwirkungen und Gedanken der Jugend wieder.
Die Fragen nach dem Vorrange von Poesie oder Beredsamkeit und nach
den Ursachen des Niederganges der Beredsamkeit müssen den Sinn des
poetisch begabten und als Redner glänzenden Jünglings viel beschäftigt
haben und mußten sich jetzt wieder vordrängen, da er sich der Kunst
zuwenden wollte, die der Poesie die verwandteste war. Die Form ist,
sowohl in der dramatischen Szenerie mit Charakterisierung der Personen
und Ablösung von Reden und Gespräch als in Stil und Sprache, eine
Erneuerung des ciceronischen Dialogs. Das ist der direkte Einfluß Quin-
tilians, nicht sowohl des Lehrers auf den Schüler, als die Anerkennung,
daß der Dialog als Gattung den ciceronischen Stil verlangt. Zugleich
beweist der Schriftsteller, der mehr als einen Stil beherrscht, dem Publikum
seine rhetorische Meisterschaft. Denn Agricola und Germania tragen die
Charakterzüge des Stiles der Zeit, wie ihn Seneca ausgebildet hat. Dieser
Stil ist es, den Tacitus dann in seinem großen Geschichtswerke zur Er-
scheinung bringt, persönlich gestaltet und von seinem Geiste erfüllt; da
ist nichts von virtuosem Spiel und Glanz um des Glanzes willen: jeder
Satz trägt das Gepräge einsamen Nachdenkens und verlangt ein solches,
alles Entbehrliche ist abgetan, jeder Ausdruck scharf auf die Wirkung
zugeschnitten, und die Kraft des einen Wortes hebt Lasten des Ge-
dankens.
Dieses Werk umfaßte, wie es zuletzt dastand, die Zeit vom Anfange
des Tiberius bis zum Tode Domitians. Aber Tacitus hatte zuerst die
selbsterlebte Geschichte geschrieben, beginnend mit den Wirren, die zur
Erhebung des flavischen Hauses führten, später, als Sechziger, die Ge-
schichte der julisch-claudischen Dynastie, so daß nun die Teile zusammen-
schlössen. Die Historiker der Regierung des Augustus, darunter Livius,
ließ er gelten, die der folgenden Zeiten, deren Wahrheitssinn durch die
Tyrannei der Kaiser gebrochen war, genügten ihm weder als Zeugen der
Wahrheit noch auch durch ihre Kunst. Er setzte seine Geschichte an
die Stelle der ganzen Historiographie des ersten Jahrhunderts, wie Livius
die Annalistik der Republik ersetzt hatte; Tacitus' Vorgänger sind ver-
schollen bis auf die Namen.
Von diesem Werke ist uns erhalten der ganze Tiberius, freilich mit
einer großen Lücke, die zweite Hälfte des Claudius, und Nero ganz bis
auf die letzten zwei Jahre; dann das Vierkaiserjahr und die ersten An-
fänge Vespasians. Das ist ein übles Spiel des Zufalls; denn das Erhaltene
j66 Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiseneit.
ist schwer geschädigt, da sowohl der Sturz Sejans als die Katastrophe
Neros verloren sind, in beiden Fällen die Schlußstücke eines zu gewaltiger
Spannung gesteigerten dramatischen Aufbaus; und zum Verlornen gehört,
wie bei Livius, die Geschichte der eignen Zeit, die den Historiker nötigte
auch im Stofflichen original zu sein und seiner eignen Auffassung einen
ganz andern Spielraum gab als es die Umformung des überlieferten
Stoffes tat
Denn auch die Geschichtschreibung des Tacitus ist Kunst, nicht
Wissenschaft Es hat seinem Ansehn geschadet, daß man erkannte, wie
die erhaltnen Teile des Werks in der Hauptsache das von andern Be-
richtete neu verarbeiten und gestalten. Aber zunächst war es dies, die
Bewährung der stilistischen Kunst, was das Publikum vom Historiker er-
wartete. Wodurch Tacitus alle uns bekannten Vorgänger übertrifft, das
ist ein höheres künstlerisches Vermögen, die wahrhaft poetische Klraft,
mit der er den Hauptfig^en allmählich ihr eigenes Leben gibt die Neben-
figfuren scharf umrissen um sie her stellt, die große Handlung der Gre-
schichte dramatisch zusammennimmt und die ihr itmewohnende Steigerung
heraushebt, so daß auch die Katastrophe des Verbrechers tragische Wir-
kung übt Dies ist der Gegenstand seiner Geschichtschreibung: die Er-
eignisse und die Charaktere; nicht die Verfassung, Reichsorganisation,
Verwaltung, Kultur; auch die Ereignisse aus beschränktem Kreise, der
Hauptstadt und den Kriegsschauplätzen. Wir erwarten anderes vom Histo-
riker; aber was Tacitus bedeutet, hat ein Meister wie Ranke noch in
seinem letzten Werk mit rückhaltloser Bewunderung ausgesprochen.
Ardutiimus. II. Spätere Kaiserzeit (Mitte des 2. Jahrhunderts — 6. Jahrhundert).
Das Zeitalter Hadrians sah mehr als eine Entwicklung, die für die lite-
rarische Kultur der römischen Welt entscheidend werden sollte, teils
vollendet, teils in unaufhaltsamem Gange. In der Flavierzeit ging neben
Quintilians Kampf gegen die herrschende Stilrichtung her eine auf die
altrömische Literatur zurückweisende Reaktion. Die alten Dichter waren
vergessen, seit Horaz sie verworfen und mit den Seinen etwas Besseres
an die Stelle gesetzt hatte; die varronische Philologie hatte nicht über
Tiberius hinausgedauert Nun entdeckte Valerius Probus aus der aug^-
stischen Militärkolonie Berjrtus die alte Literatur und zugleich, vielleicht
in der syrischen Vaterstadt durch alexandrinische Lehre bestimmt, die
alte Philologfie. Die wissenschaftlichen Ausgaben, die nun entstanden,
fanden ein breites Interesse, weil ihnen eine verwandte Bewegung ent-
gegenkam, die unter Hadrian ihre Höhe erreichte. Es war der sprach-
liche Archaismus, der von dem sprachlichen Attizismus ausging, wie er
sich in griechischen Schulkreisen unter Augustus aus dem rhetorischen
Klassizismus, der Neubelebung der großen Attiker, entwickelt hatte.
Dieser Attizismus übernahm die Worte und die Ausdrücke der alt-
attischen Literatursprache und perhorreszierte das lebendige Griechisch;
11. Spätere Kaiseneit (Mitte des 2. Jahrhunderts — 6. Jahrhundert).
367
der römische Archaismus begab sich mit allem Eifer in die Sprachsphäre
des Cato und Ennius und, wenn er Umgangssprache brauchte, des Plautus;
und wenn der rhetorische Stil des letzten Jahrhunderts ohne es zu merken
sich von der lebendigen Sprache entfernte, so tat es der Archaismus mit
Absicht.
Eine Tendenz wie diese ist das sichere Zeichen der erschlafften künst-
lerischen Kraft. Seneca und Tacitus üben-agten die griechische Produk-
tion ihres Jahrhunderts; der Führer der Archaisten, Fronto, ist ein Typus
der Nichtigkeit, mag man Gehalt oder Form seiner Briefe und Aufsätze
betrachten. Von Tacitus zu Fronto ist ein jäher Sturz. Die römische
Produktion sinkt auf das Niveau der griechischen Mittelmäßigkeit hinab
und ziert ihre gespreizte Altertümlichkeit durch Flitter und Schwulst
wie diese.
Wenn die Kunst sinkt, so steigt die Wissenschaft. Die Hadrianische
Zeit sah die Blüte der römischen Rechtswissenschaft, die sich dann bis
in die Mitte des dritten Jahrhunderts fortsetzte; hier hat sich auch eine
wahrhaft lebendige und ihrer eignen Kraft bewußte Literatursprache er-
halten. Die philologische Wissenschaft fand neues Leben, indem sie, wie
wir sahen, an Varro und zugleich von neuem an die griechische Philo-
logie anknüpfte. Sueton, der auch im Kreise des jüngeren Plinius er-
scheint, eine Zeitlang Geheimschreiber Hadrians, steht durch eine aus-
gebreitete Produktion im Vordergrunde, Er schrieb die erste römische
Literargeschichte, in der alexandrinischen Form, die jede Gattung geson-
dert behandelte, eine Einleitung über die Ursprünge und dann eine Folge
biographischer Abrisse gab. Dieses Buch war stets und ist, soweit es
erhalten ist, für uns die wichtigste und meist einzige Quelle des Tatsäch-
lichen; noch wichtiger ist durch seine Wirkung das andre erhaltne Werk
Suetons geworden, die Kaiserbiographien. Es ist eine Folge persönlicher
Lebens- und Charakterbilder von Cäsar bis Domitian, in derselben Form
wie die literarischen Biographien, in derselben sachlich wissenschaftlichen
Sprache geschrieben. Sein Gedanke war, eine biographische Ergänzung
der historischen, die Geschichte des Kaiserreichs behandelnden Werke zu
liefern; er war ohne Zweifel weit entfernt, mit einem Werke wie das des
Tacitus, das er zunächst im Auge haben mußte, konkurrieren zu wollen.
Nun ist für den Niedergang der römischen Produktion nichts bezeichnen-
der als die Tatsache, daß Suetons Caesares das Muster für die ganze
folgende Historiographie der Kaiserzeit geworden sind, die bald und un-
rettbar in einen Sumpf des Klatsches, der Nichtigkeit und Unzuverlässig-
keit versank; während Tacitus erst drei Jahrhunderte nach seinem Auf-
treten einen Nachfolger und Fortsetzer fand. Es war Ammianus Mar-
cellinus, ein Grieche aus Antiochien, der nach einem bewegten militäri-
schen Leben in großem Sinne, der griechischen, nicht der längst ver-
lassenen römischen Bahn der Geschichtschreibung folgend, die Geschichte
von Nerva bis auf die eig^e Zeit zu schreiben unternahm. Erhalten ist
Sueton
(um 75— fa. ijo).
Ammian
(— c». 400),
368 Friedrich Leo: Die idmische Literatur. C. Kaiseneit.
nur die Geschichte eines Vierteljahrhunderts, von der Alleinherrschaft des
Constantius bis zum Tode des Valens, aber das Glück ist Ammian gün-
stiger gewesen als seinen großen Vorgängern Livius und Tacitus: das
Erhaltne ist Geschichte der selbsterlebten Zeit, und mit seiner Bewimde-
rung für Julian, seiner individuellen Auffassung der Personen und Dinge
gibt Ammian, in der gesuchten und überladnen Kunstsprache der Zeit,
eine der lebendigsten und farbenreichsten historischen Darstellungen des
Altertums.
Gdiittt Ein Niederschlag der literarisch-philologischen Bestrebungen der
*. jahrhamUru). Antoninenzeit liegt in den 'Attischen Nächten' des Gellius vor, einer
Sammlung von Lesefrüchten, zumeist in anmutig erzählte Szenen aus den
Gelehrten- und Sophbtenkreisen gekleidet, in denen der Verfasser ver-
kehrte. Plan und Ausführung sind im griechischen Zeitgeschmack, der
aber jetzt ganz der römische ist; romisch archaisierend nach Stil und
Stoff. Von augusteischen Dichtem kommt nur Vergil vor, nicht Horaz,
nicht Seneca, dagegen Plautus und Ennius, Cato und Gracchus. Das
Buch ist zugleich ein Spiegel der Zeitströmung, wie das Buch des älteren
Seneca, und ein Zeugnis für den Mangel an eignen Gedanken sowohl wie
für den Kultus der allgemeinen Bildung.
Aniieiu Der kühnste und geistreichste Schriftsteller der Antoninenzeit ist
Apulejus, aus Madaura in Afrika, ein allen Stilen gerechter, in allen
Falten des Zeitgeschmacks heimischer Sophist Sein Roman von den
Abenteuern des in einen Esel verwandelten Lucius, einem 'griechischen
Original nacherzählt, muß jeden ergötzen, der dem bunten Spiel dieser
Sprache, den mannigfaltigen Tönungen des Stils zu folgen vermag;
wenigstens die erste Hälfte, denn die zweite fallt ab, besonders die selb-
ständig erfhndnen Schlußteile. Ein ungemein komplizierter Apparat von
Sprachkünstelei, archaischem Wortschatz, gewagten Wortbildungen und
Bedeutungsbiegungen ist für die lustige Geschichte mit den eingelegten
Novellen in Bewegung gesetzt. Das muß man an der Quelle genießen,
die Übersetzungen haben den Roman nicht populär machen können. Aber
die eine der eingelegten Geschichten, das Märchen von Amor und Psyche,
das die alte Räubermagd der geraubten Jungfrau zum Tröste erzählt, hat
mit all seinem Putz und Flitter, so unmärchenhaft sein G«wand ist, die
ewige Jugend, die ihm Bildner und Dichter bis in unsere Tage hinein
bezeugt haben.
KsmiKhe Die römische Bildung fühlte sich in diesem Zeitalter der griechischen
WeWiteralor. . ...... . , , ,
geistesverwandt und gleichgestimmt; woran man sich freute und was man
hervorbrachte war von gleicher Art, das Höchste der blendende Gedanke
und der glänzende Klang des Wortes. Hadrians Philhellenismus war der
Ausdruck dieser geistigen Gemeinsamkeit und zog die Konsequenzen
auch auf politischem Gebiet Rom blieb noch lange das Haupt der Welt;
der romanisierte Westen stand nun als Hälfte der Welt dem griechischen
Osten gegenüber. Aber der ausschließende Stolz des Italikers gegen das
II. Spätere Kaiserzeit (Mitte des 2. Jahrhunderts — 6. Jahrhundert).
369
Reich und die Provinzen, die unterworfnen Ghriechen und Barbaren konnte
nicht dauern.
Die ehemaligen Barbarenländer Spanien, das nordöstliche Afrika,
Gallien waren nun römisch geworden. Wir haben gesehen, wie unter
Nero und den Flaviem besonders spanische Schriftsteller und Dichter in
Rom selbst in der Literattir entscheidende Rollen spielen. Dann sind die
Plinius, Juvenal, Tacitus, Sueton Italiker. Aber Fronto und Apulejus sind
Afrikaner. Unter Hadrian wird es deutlich, daß die Provinzen jede im
eignen Land ihre römische Kultur entwickeln, die zuletzt in jedem Lande
zu einem eignen Volkstum geführt hat. Spanien tritt zurück; zuerst in
Afj-ika, dann in Gallien wächst mit den gemeinsamen Zügep der griechisch-
römischen Literatur ein selbständiges literarisches Leben auf, das hier
wie dort die lokal italische Produktion überschattet.
Die wichtigste, auch für die Literatur folgemreichste Entwicklung der
Antoninenzeit aber ist das Erstarken der christlichen Bewegxing, die nun
anfängt sich der Schriftsprache des Westens und der literarischen Formen
als mächtiger Waffen zu bedienen und zugleich die absterbende Literatur
mit dem Gehalt und Geist einer neuen Weltanschauung belebt Auch
die christliche Literatur ist in griechischer Sprache entstanden und es wieder-
holt sich in größerem Maßstabe und mit breiterer, die Welt ergreifender
Wirkung die stete Wellenbeweg^ung von griechischer zu römischer Geistes-
arbeit; nur daß es sich jetzt niclit um tastende und allmählich erstarkende
Nachbildung handelt. Es gab nun eine Gemeinsamkeit des griechisch-
römischen Kulturlebens, die durch die gemeinsam werdende Religion be-
fördert wurde. Für das lateinische Volk wurden die kanonischen Bücher
und andre christliche Schriften übersetzt. Sobald sich die lateinische
Sprache des christlichen Gedankens bemächtigt hatte, entstand eine reiche
und selbständige Literatur für den christlichen Westen.
Ihren ersten Höhepiuikt (wie später, durch Augustinus, ihren Gipfel)
erreicht diese Bewegung in Afrika, der Heimat des TertuUian, Cyprian
und Lactanz. Unter diesen ist Tertullian die merkwürdigste schrift-
stellerische Persönlichkeit. Die neue Lehre hat die Kraft und das Feuer,
aber auch alles Böse seiner Natur, Haß und Ungerechtigkeit, zu ener-
gischem Leben aufgerührt. Er führt den Leser in eine enge, aber be-
ständig von Leidenschaft bewegte Gedankenwelt; er klärt ihn durch sein
scharfes Denken auf und täuscht ihn durch Sophismen. Religiöse Ver-
tiefung kann er nicht erzeugen, denn sein theologischer Affekt geht nur
aus logischer Konsequenz hervor. Erstaunlich ist es, wie in ihm die
neuen Gedanken eine neue Fülle der Sprache m Bewegung gesetzt haben.
Das Gärende seines Wesens bringt einen schwer verständlichen Ausdruck
hervor; vielleicht hat kein lateinischer Schriftsteller die Sprache so willkür-
lich behandelt; aber er zwingt sie auch zu nie vernommenen Tönen.
Es kann nicht die Aufgabe dieser Skizze sein, die christliche latei-
nische Literatur auch nur andeutend zu beschreiben. Sie ist nicht der
Ott KUI.TU« DI« GiGiicwAmT. L &.
Cbriitliclio
Literatur.
T«rtitOian
(um t(ko — ca.23oV
370
Friedrich Leo: Die römische Literatur. C. Kaiserzeit
literarische Ausdruck einer römischen, sondern ein Ausschnitt aus einer
in sich nicht zertrennlichen die Welt umfassenden Geistesbewegung. Frei-
lich rühmt sich die lateinische Literatur des größten unter den christ-
lichen Schriftstellern; das ist Augustinus. Er gehört der Geschichte der
Religion und der Philosophie an. Er hat auf Empfindungen und Gedanken
der Nachwelt so stark gewirkt wie außer ihm in lateinischer Sprache niu:
Cicero und Vergil; aber man braucht dies nur auszusprechen, um zu
sehän, daß das Literarische an der Bedeutung Augustins das Geringste ist.
chrituiche Nur langsam bemächtigte sich die Poesie der christlichen Überliefe-
rung und Anschauung. Sobald es aber geschehen war, trug auch in der
römischen Dichttmg das Wirksame und Lebendige den christlichen
Stempel. Die Hymnen und Lehrgedichte des Spaniers Prudentius über-
ragen die Masse der spätrömischen Poeten. Ihm steht der einzige Claudian,
in denselben Zeiten um die Grenze des vierten tmd fünften Jahrhunderts,
gegenüber, ein ägyptischer Halbgrieche wie Ammianus Marcellinus ein
syrischer: so schließt sich der von Andronicus vor sechseinhalb Jahr-
hunderten begonnene Kreis. Wie Ammian durch den in der griechischen
Welt lebendig gebliebnen Sinn der Geschichtschreibung auf Tacitus, so
ist Claudian durch eine an Ag^jrpten geknüpfte Erneuerung der griechischen
Dichtung auf Ovid gewiesen worden und hat noch einmal den Glanz des
ovidischen Verses und den Fluß seiner Sprache wieder erstehen lassen.
Seine politischen Gedichte, in denen er Stilicho vmd Honorius preist, die
Minister des Ostreichs Rufinus und Eutropius schmäht, haben das Inter-
esse und die Energie der Gegenwart, aus der sie hervorgegangen sind.
Alles andere trägt den abgelebten Zug, den auch Claudians Talent zu
verwischen nicht ausreichte, der im übrigen das Gesicht der gesamten
heidnischen spätrömischen Produktion bestimmt. Die Werke der Christen
trägt ein sieghaftes, ziikunftsicheres Ethos; die Anhänger des Alten haben
nur den ausgepreßten Stoff der Vergangenheit und die Formen der er-
starrten Rhetorik. Das gilt auch von den wackeren Männern, an der
Spitze Symmachus, die nicht mehr hofften, dem Christentum den ent-
schiednen Sieg streitig zu machen, aber das Gut der alten Religion imd
Weltanschauung zu retten suchten und wenigstens um die Bewahrung der
Literatur, so daß sie nach tausend Jahren lebendig wieder erstehen
konnte, ein anerkanntes Verdienst erworben haben. Es gilt überall, wenn
man die christlichen mit den gleichzeitigen Produkten der alten Bildung
vergleicht, z. B. die Dialoge des Sulpicius Severus mit den Satumalien
des Macrobius. Es gilt von den gallischen Dichtem, voran Ausonius und
ApoUinaris Sidonius, die zwar Christen waren, aber ganz im Banne der
Rhetorik standen, die in ihrem Lande eine späte Blüte hatte und auch
spezifisch christlichen Schriftstellern verhängnisvoll wurde. Wir greifen
den Gegensatz an dem Verhältnis des Ausonius zu seinem jüngeren
Freunde Paulinus, den das christliche Ideal im Innern ergriff, in die Ein-
samkeit trieb und in der Tat zum Dichter machte. Ausonius bittet ihn
II. spätere Kaiserzeit (Mitte des 2. Jahrhunderts— 6. Jahrhundert). ^ji
in poetischen Briefen, die wir besitzen, leidenschaftlich, zuriickzukehren
und femer wie er mit den verkommenden Resten einer vormals großen
Kultur zu tändeln; leidenschaftlich, denn wenn die armen Götzen sinken,
an die er glaubt, die Redefigur und das Versgeklingel, so bleibt dem
alten Rhetor imd Poeten nichts was ihn innerlich aufrechterhält
Doch muß hierzu bemerkt werden, daß Ausonius sich mit seinem
Gedicht von der Mosel über die Nichtigkeit seiner übrigen Poesien er-
hebt. Die Moseila ist nicht nur wichtig und anziehend als Beschreibung
der Landschaft und altgermanischen Lebens, in ihr findet der Dichter
auch neue Töne, die durch die Freude an der Natur und der jungen Kxütur
des Landes erweckt sind.
Ein Werk steht an der Schwelle der neuen Zeit, das mit eignem BeetMi»
Leben aus der nicht verwelkenden Gedankenwelt des Altertums hervor-
gegangen ist, des Boethius 'Tröstung der Philosophie'. Das Buch hat im
Greistesleben des Mittelalters eine große Rolle gespielt und dazu mit-
gewirkt, daß der Zusammenhang des Christentums mit dem Griechentum
unter der Oberfläche fortdauerte. Es war im Gefängnis geschrieben von
einem Römer, der den Willkürspruch des Gotenkönigs Theoderich er-
wartete; hier sei es genannt als das Produkt eines nach der vergangenen
Größe gerichteten Geistes, das den Schimmer der untergehenden Sonne
des Altertums als ein Symbol des künftigen Aufgangs spiegelt.
24»
Literatur.
Die historische Forschung auf dem Gebiete der römischen Literatur hat sich, der
Natur der Sache gemäfi, nach der Forschung auf griechischem Gebiet entwickelt. Aber
Untersuchungen in Welckers Stil, die sich auf das Ganze erstrecken und im einzelnen das
Ganze umfaßten, sind ausgeblieben. Das Beste wie die Arbeiten Naekes, Madvigs, RrrscHLS
tragen durchweg spezielleren Charakter. Wous Schüler Bermhardv machte in seinem
'GrundriB der römischen Literatur* (1830) einen Versuch, die ganze Entwicklung nach ihrem
geistigen Inhalt zu schildern. Geschichte im wahren Sinne, unter dem römischen Gesichts-
winkel, bieten die literarischen Kapitel in Mommsens römischer Geschichte, noch heut un-
übertroffen. Die eigentliche Aufgabe der römischen Literaturgeschichte, die Übertragung
der griechischen Literatur nach Inhalt und Form, die Elinwirkung der geistigen Strömungen
der griechischen Welt auf <Ue römische, den Zusammenhang der römischen Produktion mit
der allmählich entstehenden griechisch-römischen Kultur einerseits und dem eignen natio-
nalen Leben andrerseits nachzuweisen, ist noch wenig in Angriff genommen worden. Für
die römischen Prosa ist es geschehen von £. NORDEN, Die antike Kunstprosa (1898).
Anderes wird imten angeführt werden.
Zur Orientierung über Material imd Forschung dienen die Werke von W. S. Teuffel
(Geschichte der römischen Literatur, neu bearbeitet von L. Schwabe, 5. Aufl. 1890) und
M. Schanz (Geschichte der römischen Literatur bis zum Gesetzgebungsweik des Kaisers Ju-
stinian, 2. Aufl. 1898). Eine feine Darstellung der einzelnen Dichter und ihrer Werke gibt
O. Ribbeck, Geschichte der römischen Dichtung 1894; Sellar, The Roman poets 1877 — 1892.
C. Wachsmuths Einleitung in das Studiimi der alten Geschichte (1895) behandelt die römi-
schen Historiker mit einem seltnen Grade von Übersicht über das Ganze und Eindringen
in den Zusammenhang. Dazu für die späteren Zeiten: H. Peter, Die geschichtliche Lite-
ratur über die römische Kaiserzeit bis Theodosius I (1897). Eine Reihe von Artikeln in
Pauly-Wissowas Real-Encyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft (1894 ff.) sind
von hervorragendem Wert.
Im folgenden werden einige wichtige neuere Schriften meist allgemeineren Interesses
vermerkt und wenige Hinweise auf Älteres gegeben.
S. 314. Völkerverhältnisse: H.N1SSEN, Italische Landeskunde (I 1893, II 1902). Alphabet:
TH. MOMMSEN, Die imteritalischen Dialekte (1850), A. Kirchhoff, Studien zur Geschichte
des griechischen Alphabets (4. Aufl. 1887).
S. 315. Entstehungslegenden der 12 Tafeln: F. Boesch, De XII tabularum lege a Graecis
petita (1893). Älteste Rechtsliteratur: P. JÖRS, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der
RepubUk (I 1888).
S. 315. Appius Qaudius: Mommsen, Römische Forschungen I 301 ff.
S. 321. Ennius: MOMMSEN, Römische Geschichte, Buch III, Kap. 14. Vahlen, Ejmianae
poesis reliquiae (2. Aufl. 1903).
S. 322. Aemilianus bei Polybius XXXII 8—16 (abgedruckt in Wilamowitz' Griechischem
Lesebuch I S. 106 ff., dazu II S. 65 ff.)
S. 327. Atellane und Mimus: A. Dieterich, Pulcinella (1897). H. Reich, Der Mimus,
ein literar-entwicklungsgeschichtlicher Versuch (I 1903).
Literatur.
373
S. 329. Catull: V. Wilamowitz, Reden und Vorträge (1901) S. 2148".
S. 331. Goethe über Lucrez: an Knebel 14. Febr. 1821; vgl. Atueige von Knebels
Lucrez (Wke. Bd. 41, i S. 361 ff. Weim. Ausg.; v. Biedermann t. d. Hempelschen Ausg.
Bd. 29, S. 597). Unterhaltungen mit Kanzler v. Müller (hg. v. Burkhardt, 2. Aufl.) S. 59.
S. 332. Würdigung Ciceros: G. Boissier, Cicdron et ses amis (1867). Th. Zieunski,
Cicero im Wandel der Jahrhunderte, ein Vortrag (1897). Ed. Schwartz, Chaiakterköpfe aas
der antiken Literatur (1903), S. 96 ff. Die Briefe in chronologischer Folge, hg. von TvrrjEU.
und Purzer (2. Aufl. 1884, I 3. Aufl. 1904).
S. 335. Bildungsideal: H. v. Arnim, Leben und Werke des Dio von Prusa (1898),
Kap. L
S. 336. Dialogform: Hirzel, Der Dialog (1895).
S. 339. Cäsars Kommentaiien: Mohmsen, Römische Geschichte, Buch V, Kap. 12.
S. 344. Sermonen des Q. Horatius Flaccus, deutsch von C. Bardt (1900).
S. 347. E. Norden, Vergib Aeneis im Lichte ihrer Zeit (Neue Jahrb. für das klass.
Altert. 1901, S. 249).
S. 348. R. Heinze, Virgils epische Technik (1903).
S. 352. Livius und Polybius: L Bruns, Die Persönlichkeit in der Geschichtscbreibung
der Alten (1898).
S. 358. L. FriedlXnder, Petronii Cena Trimalchionis, mit deutscher Obersetzung und
erklärenden Anmerkungen (1891).
S. 359. Plinius: F. MÜNZER, Beiträge zur Quellenkritik der Naturgeschichte des Plinius
(1897). H. Bretzl, Botanische Forschungen des Alexanderzuges (1903), S. Soff. 182 ff.
S. 360. A. v. HinfBOLDT, Kosmos II, S. 230 ff. Nissen, Italische Landeskunde I, S. 20.
S. 361. Der jüngere Plinius: H. Pbter, Der Brief in der römischen Literatur (i9oi)-
S. 362. L. Friedländer, luvenal mit erklärenden Anmerkungen (1895), Einleitimg.
S. 369. A. Ebert, Allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters im Abendlande
bis zum Beginn des XI. Jahrhunderts (2. Aufl. 1889).
DIE LATEINISCHE LITERATUR IM ÜBERGANG
VOM ALTERTUM ZUM MITTELALTER.
Von
Eduard Norden.
HeUeniimiu, EialeituDg. „Dräuezid naht das Verhängrnis des Reiches" hatte
*^»^n^r'' Tacitus mit banger Ahnung zu einer Zeit (ca. loo n. Chr.) geschrieben, als
eben dieses Reich eine Ausdehnung besaß, wie nie zuvor und kaum je wieder
nachher, und die Reichsangehörigen, von einem machtvollen Kaiser regiert,
in sicherer und stolzer Ruhe dahinlebten. Nicht viel mehr als hundert
Jahre später begannen die Krisen, in denen die Grnmdfesten des Welt-
reiches erbebten; dann, nach abermals etwa hundert Jahren ein letzter
Aufschwimg, ein Versuch, das morsche Gebäude durch neue Grundlagen
zu stützen, freilich mit Verzicht auf die Reichseinheit; endlich der lange
Todeskampf der Westhälfte. So erfüllte sich das Prophetenwort des
Tacitus. Daß aber der Zusammenbruch erfolgen werde durch den wilden
Ansturm der germanischen Barbaren xmd die stetig wühlende Propaganda
des Christentums, hat der ernste Schriftsteller nicht ahnen können: denn
mochte er auch der ungebrochenen Volkskraft der Horden zwischen Rhein
und Elbe widerwillige Anerkennung zollen, so verachtete er die Barbaren
doch im Grrunde seiner kulturstolzen Römerseele, und der neuen Religion,
deren Ursprung ein Winkel an der Reichsgrenze war, stand der auf-
geklärte Aristokrat ebenso gleichgültig gegenüber, wie sein Freund Plinius.
Erst als die innerlich vermodernde Rieseneiche dem Sturze nahe war,
dämmerte vielen die Erkenntnis, welche Mächte es seien, die unablässig
an den ungeheuren Wurzeln sägten. Da aber war es zu spät: alle Ver-
suche, das Alte zu halten, scheiterten an der sieghaften Stärke der neuen
Gewalten. Eine altersgraue Kultur, die der Menschheit das Herrüchste
in Fülle geboten, den Triumph des Geistes in Kunst und Wissenschaft,
Staat und Recht besiegelt hatte, ward zertreten von Barbarenkraft, und
der imerhörte Siegeszug des Geistes zerstob vor der schlichten Einfalt
religiöser Gemütstiefe. Aber eine Kultur von solcher Größe bricht nicht
zusammen, ohne daß aus ihren Trümmern neues Leben erblühe. Groß-
artig wie der Kampf war auch der Friedensschluß. Als fremdartiger
Sprößling des jüdischen Volkes, das bei Grriechen wie Römern nur
Duldung, keine Achtung besaß, hatte das Christentum den Kampf mit der
griechisch-römischen Zivilisation begonnen: es verließ ihn durchtränkt mit
eben dieser antiken Bildung imd ward nun aus ihrem Zerstörer ein Er-
Einleitung.
375
halter und Retter der in ihr wirkenden, wahrhaft lebenskräftigen Keime.
Als stammfremde Eroberer traten auch die germanischen Völker in die
antike Welt ein; sie brachten alles mit, was dem müden Römertum fehlte,
unverbrauchte Volkskraft und frische Siegesgewißheit, aber eine Kultur
besaßen sie nicht, und so beugten sie willig ihr Haupt vor der Geistes-
macht des Volkes, das von ihnen mit dem Schwerte besiegt worden war.
Dieser Sieg war eben damals entschieden, als die neue Religion jenen
schönen Bund mit dem Hellenismus geschlossen hatte: als daher auch die
Germanen sich zum Christentum bekannten, empfingen sie zugleich mit
diesem die antike Bildung. Daß der Tempel unserer modernen Geistes-
kultur sich erheben kann und muß auf der Grundlage des Hellenismus,
daß sein Dach getragen wird von den Säulen christlicher Religion und
nationaler Volkskraft, ist in jenen kampfdurchtobten Jahrhunderten ent-
schieden worden, die aus der Disharmonie eine Symphonie, aus dem
Durcheinander planmäßige Ordnung entwickelt haben.
Die kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Zeitraumes rechtfertigt es,
daß seiner Literatur im Rahmen dieses Werkes ein bescheidener Sonder-
platz eingeräumt wird. Noch mehr aber als in dessen andern Teilen ist
hier eine Begrenzung der Aufgabe nötig. Die großen neuen Gedanken,
die jene Kulturentwicklung gezeitigt hat, liegen außerhalb des Planes
unserer Skizze: sie gehören teils in die Kirchengeschichte, teils in die
Geschichte von den Anfangen der neuern Literaturen. Uns geht hier dieser
Zeitraum nur insoweit an, als durch ihn die Verbindung zwischen dem
Ausgang des Altertums und dem Beginn des eigentlich sogenannten Mittel-
alters hergestellt wird. Aber auch innerhalb dieser Grenzen werden wir
uns darauf beschränken, einige besonders bemerkenswerte Richtlinien zu
ziehen. Die bereits von Leo (oben S. 367. 370) behandelten bedeutenden
Vertreter der Literatiu- in dieser Spätzeit — wie Ammianus, Ausonius,
Claudianus — bleiben hier natürlich außer Betracht Im übrigen ergeben
sich die zeitlichen Grenzpunkte aus der Aufgabe von selbst: die Mitte des
4. Jahrhunderts — die Zeit der beginnenden Reichsauflösung und der
ecdesia triumphans — bezeichnet den Anfang, die neue Reichsg^ndung
durch Karl den Großen den Schluß; die Literatur vom 10. bis zum 14. Jahr-
hundert liegt jenseits unseres Planes, doch sollen, um den Anschluß an die
italienische Renaissance zu gewinnen, die Richtlinien auf einem einzigen
Gebiete über die karolingische Zeit hinabgeführt werden. Auch die An-
ordnung des Stoffes ergibt sich leicht. Eine Literaturgeschichte der unter-
gehenden okzidentalischen Welt des Altertums muß landschaftlich gegliedert
werden. Zwar ist auch nach der Trennung der beiden Reichshälften der
Begriff von Rom als idealem Mittelpunkte noch immer lebendig, zwar
sehen wir Gelehrte und Dichter Galliens und Afrikas mit ihren spanischen
und italischen Freunden Briefe wechseln, ein Gedicht wie die Mosella
des Ausonius flattert noch wie einst ein Horazbuch durch die Provinzen,
gallische Rhetoren lehren in Rom, italische in Gallien. Aber eine ge-
PUa
dieier Skisx«.
376 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum MQttelalter.
sonderte Entwicklung provinzialer Literaturen ist klar erkennbar trotz
des gewohnheitsmäßigen Stiles, der die Gattungen in Prosa und Poesie
band, und trotz des ausgleichenden Einflusses, den das völkerverbindende
Christentum ausübte; es kommt hinzu, da£ die verschiedenen Schicksale
der einzelnen Provinzen auch die Literatur unterscheidend bestimmt haben.
Innerhalb der landschaftlichen Gliederung werden wir die zeitliche Reihen-
folge nach Möglichkeit einhalten.
AMiterben der Bevor wir aber unsere Wanderung durch die Provinzen antreten, sei
(riKhüchen j^ j^ ^^ ^ Verhältnis des Griechischen zum Lateinischen in dieser
Spncne im
wraten. Spätzeit hingewiesen. Die Kultur und Literatur des Kaiserreiches war in
den ersten Jahrhunderten zweisprachig. Während jedoch die Griechen
ihre vornehme Verachtung der rauhen „Barbarensprache" nie recht über-
wanden und sich erst seit dem Wandel der Weltverhältnisse im 4. Jahr-
himdert herabließen, sie zu erlernen — Ausnahmen der früheren Zeit haben
ihre besonderen Grründe — , war Kenntnis des Griechischen bei dem ge-
bildeten Lateiner schon seit dem Ausgang der Republik noch viel selbst-
verständlicher, als für den gebildeten Deutschen der Gegenwart Kenntnis
der französischen oder englischen Sprache. In der Zeit Hadrians und der
Antonine schrieben Literaten wie Fronto, Apulejus und Tertullianus in
Afrika, Favorinus in Südgallien mit gleicher Kunstfertigkeit in beiden
Sprachen, man gab wohl auch eine Schrift zugleich lateinisch und griechisch
heraus, damit sie auch von den Griechen gelesen werden könne; die latei-
nische Sprache selbst wurde vom Grriechischen in Syntax und Wort-
gebrauch stark beeinflußt Diese Verhältnisse änderten sich, als sich seit
der Mitte des 3. Jahrhvmderts der Zusanmienbruch des Reiches vorbereitete,
der dann nur um den Preis der Teilung in eine westliche und eine östliche
Hälfte für kurze Zeit aufgehalten werden konnte. Die Kenntnis des
Griechischen nahm im Okzident seit etwa 250 stetig ab; es wurde jetzt
schon als etwas Besonderes betrachtet, wenn jemand griechisch verstand
— „redegewandt in beiden Sprachen" begegfnet jetzt als Ehrentitel auf
afrikanischen Inschriften — , man begann sich mit griechischen Kenntnissen
zu zieren und zu brüsten wie Ausonius; ein so hochgebildeter Mann wie
Augustinus verstand nach seinem eigenen Zeugnis griechisch „nur sehr
wenig oder eigentlich gar nicht", und ein gleiches Zeugnis liegt von
Gregor I. vor. Damals war also das Grriechische, das in den ersten Jahr-
hunderten im Westen gelebt hatte, dort im Aussterben. Zwar wurde es
noch von dem einen oder andern erlernt, aber dann doch fast nur mehr
aus praktischen Rücksichten — denn das Ostreich unterhielt zu den meisten
Ländern des Westens politische Beziehungen — , nicht wie bisher aus
idealen Gründen als BildungsfermenL Ganz verloren gegangen ist dem
Westen die Kenntnis des Griechischen auch im späten Mittelalter nie; in
lebendigem Gebrauche erhielt es sich aber nur in Sizilien und Süditalien:
so lernte Petrarca sein bißchen Grriechisch von einem Calabreser Mönche.
Zum ersten Male also seit ihrem Bestehen war die lateinische Literatur
Einleitung.
377
Itteratar.
etwa seit der Mitte des 4. Jahrhunderts der g-riechischen Führung beraubt
und auf sich selbst angewiesen; zum Glück war sie durch jahrhunderte-
lange Gewöhnung und Übung innerlich stark genug, um ihren Weg nun
auch ohne Hilfe der älteren griechischen Schwester zu nehmen, aber der
Niedergang des Stilgefühls ist doch unverkennbar. Der fratzenhafte Stil
eines Martianus Capeila oder Sidonius Apollinaris, die zwischen stammelnder
Unbeholfenheit und gespreiztem Pathos hin und her schwankende Sprache
so vieler Heiligenbiographien und MärtjTerlegenden zeigen eine durch
keinen griechischen Zügel mehr gebändigfte Barbarei. Dagegen ist es um-
gekehrt bezeichnend, daß zwei Schriftsteller des 4. Jahrhunderts, der Afrikaner
Lactantius und Hilarius von Poitiers, die während ihres langen Aufent-
haltes im Osten des Reiches in enge Fühlung mit der griechischen Sprache
und Kultur getreten waren, den gewähltesten lateinischen Stil schreiben.
Ein Gutes hat aber dieser Riß, der die einst so engfverbundene Kultur rber.euong»-
spaltete, doch im Gefolge gehabt: es stellte sich als notwendig heraus,
einige wichtige Schriftwerke griechischer Sprache durch Übersetzungen
dem Westen zugänglich zu machen. Vor allem die Bibel. Hieronymus
(f 420) war der gewiesene Mann, sie zu übersetzen: denn er kannte nicht
bloß griechisch, sondern hatte außerdem von einem Juden auch hebräisch
gelernt, als erster und für lange Zeit einziger Romane des Okzidents.
Seine Übersetzung zeigte so feines Taktgefühl, daß sie den Ansprüchen
der Gebildeten entgegenkam, ohne doch über das Fassungsvermögen des
Volkes hinauszugehen: durch diese Vorzüge hat sie im Laufe der Zeit die
älteren formlosen verdrängt und allgemeine Geltung erlangt (daher Vulgnta
genannt). Eine bedeutende Übersetzungstätigkeit entfaltete der einstige
Freund des Hieronymus, dann sein Gegner, Rufinus von Aquileja (f 410); ihm
ward vor allem verdankt, daß die Geistestaten eines Origenes und Eusebius,
die Redegewalt eines Gregorius und Basilius für den Okzident nicht ver-
loren wurden, sondern in der Übersetzung philosophischen Sinn, geschicht-
liches Denken, rednerische Kunst weckten und nährten. Neben Hieronymus
und Rufinus stand, etwas älter als beide, Marius Victorinus aus Afrika,
ein zum Christentum übergetretener hochgebildeter Mann, für Grammatik,
Rhetorik und Philosophie interessiert; er war es, der den Piatonismus und
die aristotelische Dialektik durch Übersetzungen nach dem Westen hinüber-
leitete, und kein Geringerer als Augustinus bekannte, diesen Übersetzungen
seine Kenntnis der platonischen Philosophie zu verdanken. An Victorinus
hat etwa 200 Jahre später Boethius (f 525) seinem ausdrücklichen Zeugnisse
nach angeknüpft und der schon zur Rüste gegangenen alten Welt noch
einmal den Glanz griechischer Wissenschaft im Spiegelbilde gezeigt: ein
kostbares Vermächtnis, das dem Mittelalter eine Quelle des Wissens wurde,
und das auch für uns in den Fällen wertvoll ist, wo wir die griechischen
Originale nicht mehr besitzen. Nach solchen Mustern entstanden vom
6. bis zum 8. Jahrhundert anonjine Übersetzungen technischer, chrono-
graphischer, botanischer und besonders medizinischer Schriften, teilweise
378 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
in stark vulgärer Sprache, auch mit germanischen Worterklärungen; diese
medizinischen Schriften wurden seit dem 11. Jahrhundert in der Ärzteschule
von Salemo verwertet
I. Italien. Italien blieb im 4. Jahrhundert von den Plündenmgszügen
der Barbaren noch verschont und zeigte damals noch ein reiches lite-
rarisches Leben. Für die Literatur ist Norditalien, wo seit Ende des
3. Jahrhunderts Mailand die kaiserliche Residenz war, ergiebiger als die
Hauptstadt: MaiUind, Aquileja, Vercelli, Brescia, Turin, später Ravenna
und Pavia, weisen die meisten Talente auf.
In dem Boden dieses Landes mit seinen sichtbaren Erinnerungen an
die große geschichtliche Vergangenheit wurzelte der alte Glaube fester
als in den Provinzen. So hat sich hier der letzte Akt des dramatischen
Kampfes zwischen Hellenismus imd Christenttun abgespielt Wir verweilen
einen Augenblick dabei, weil die Rufer im Streit auch die angesehensten
Literaturgrößen im Italien des ausgehenden 4. Jahrhunderts waren. Eine
Anzahl der vornehmsten altgläubigen Familien fand sich zusammen in
dem Bestreben, die anerkannten Größen der klassischen Literatur in
musterhaft kritischen Ausgaben der Nachwelt zu erhalten: Livius und
Vergil, die Herolde von Roms einstiger Größe, standen im Mittelpimkte
STimiiachns ihres Interesses. Eine dieser Familien war die der Symmachi, ihr be-
(«m 345-403)- rühmtester Vertreter Q. Aurelius SjTnmachus. Er war Führer der national
gesinnten Minderheit des Senates, bekleidet mit den höchsten Ehrenämtern
der Aristokratie (Konsul 391) und g£dt nicht bloß in Rom für den größten
Redner: sein Ruhm drang über die Alpen nach Gallien, sogar die Griechen
Konstantinopels wissen von dem Glanz seines Namens, und selbst seine
christlichen Gegner sprechen von ihm fast wie von einem neuen Cicero.
Uns wird durch solchen Überschwang des Lobes der Niedergang der
Fähigkeiten und die Geschmacksverirrung nur allzu klar. Zwar gibt
Symmachus sich redliche Mühe, sich von den Fehlem seiner Zeit frei-
zuhalten und erreicht auch bis zu einem gewissen Grade, wenigstens in
den Briefen, die Zierlichkeit des jüngeren Plinius. Wenn man aber die
Fülle des Wichtigen, das ein Mann in solcher Stellung uns von den Vor-
gängen einer ungeheuer bewegten Zeit hätte melden können, mit dem
Wenigen vergleicht, das wir aus seinem reichen Nachlaß wirklich lernen,
so können wir nur mit Bedauern erklären, daß ein der nationalen Partei
angehöriger Mann jener Zeit, mochte ihn auch das Lob der Besten triigen,
die Prüfung bei der kühl richtenden Nachwelt nicht besteht Aber als
Mensch tritt er uns nahe in der berühmten Denkschrift, die er im Jahre 384
im Namen einer Partei des Senates an den Kaiser Valentinianus 11. richtete;
er bekleidete damals die Stadtpräfektur, das höchste städtische Amt, das
zu jener Zeit auch die Oberaufsicht über Kultus und Unterricht in sich
schloß. In dieser Denkschrift bittet er den Kaiser um Duldung für die
letzten, kümmerlichen Symbole der nationalen Religion. Aus dem ganzen,
Italien.
379
i
jahrhundertelang- geführten Kampfe der beiden Weltanschauungen gibt
es nichts Ergreifenderes als diese rührende Bitte, und hier erhebt sich
seine Rhetorik zu einem durch mannhafte Würde gemäßigten Pathos, das
an Tacitus erinnert. Roma selbst wird redend eingeführt und bittet für
ihre Götter: „Beste Fürsten, Väter des Vaterlandes, achtet meine Jahre,
zu denen mich der fromme Brauch hat gelangen lassen. Ich will leben
nach meiner Art, weil ich frei bin. Dieser Kultus hat den Erdkreis in
meine Satzungen gefügt, diese Heiligtümer haben Hannibal von den
Mauern, die Gallier vom Kapitol vertrieben. Ich werde ja sehen, welcher
Art das ist, was euch neu einzurichten gefällt; doch es kränkt, erst im
Greisenalter sich bessern zu sollen. Darum erbitten wir Duldung den
Göttern unserer Väter. Was alle verehren, muß doch das Eine sein. Wir
schauen auf zu denselben Sternen, gemeinsam ist der Himmel, dieselbe
Welt umfangt uns. Was liegt daran, auf welchem Wege ein jeder die
Wahrheit sucht? Das Geheimnis ist zu groß, als daß Ein Weg zu ihm
führen könnte." Die wirksame Einkleidung und die ergreifenden Worte
haben bis auf Dante, Petrarca und Cola di Rienzo gewirkt. Der Eindruck
auch auf die Zeitgenossen war ein so bedeutender, daß der grüßte Kirchen-
fürst des Westens, Ambrosius von Mailand, zur Feder griff, um den ge-
fahrlichen Gegner zu widerlegen. Es ist der Siegesruf der ccclesia trium-
pltans, mit dem er den gedämpften Klagelaut des sterbenden nationalen
Glaubens übertönt; aber mag auch die siegreiche Sache Gott gefallen
haben: die besiegte erregt unsere menschliche Teilnahme. Eine Ironie
des Schicksals war es, daß Synimachus in demselben Jahre, in dem er
den Glauben der Väter verteidigte, den jungen, damals noch nicht über-
getretenen Augustinus, der kurz zuvor nach Rom gekommen war, für die
erledigte Professur der Rhetorik nach Mailand empfahl. Er ahnte nicht,
daß er ihn dadurch seiner weltgeschichtlichen Bestimmung entgegenführte:
bald darauf (387) empfing der damals 33jährige von Ambrosius die Taufe,
die weltliche Rhetorik streckte die längst stumpf gewordeneu Waffen
vor der Predigt vom Kreuze Christi.
Diese hatte im Okzident in Ambrosius einen nicht minder gewaltigen ArahrMim
Vertreter gefunden als im griechischen Reichsteile an Basilius, Gregorius '+ ^"'•
und Johannes, den Zeitgenossen und Vorbildern des Ambrosius, denn
ohne diese kann sein ganzes Wirken in Tat, Wort und Schrift nicht ver-
standen werden. Als Augfustinus getauft wurde, ertönte in der Mailänder
Kirche der ein Jahr zuvor von Ambrosius eingeführte Hymnengesang,
der den leidenschaftlichen Sinn des Täuflings mächtig ergriff. Daß Am-
brosius in Hilarius von Poitiers einen Vorgänger hatte und daß dieser das
Kirchenlied aus der griechischen Kirche, mit der er während seiner Ver-
bannung (356 — 359) in nahe Berührung gekommen war, in die lateinische
Galliens übertrug, darf als gesicherte Tatsache gelten. Aber erst Am-
brosius verschaffte dem Kirchenliede, das überfromme Gemüter als zu
sinnlich verwarfen, er selbst jedoch als wirksame Waffe gegen die Irr-
i8o Eduard Norden : Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
lehren der Arianer schätzte, durch das Grewicht seines Namens einen
festen Platz im Gottesdienst; die vier echten Hymnen, die sich von ihm
erhalten haben (der sogenannte ambrosianische Lobgesang Te deum lau-
damus ist nicht von ihm), kehren freilich, ihrer hauptsächlichen Bestimmung
entsprechend, dogmatische Lehrhaftigkeit gelegentlich stark hervor, zeichnen
sich aber durch Wärme des Gefühls und Wahrheit des Empfindens aus.
Diese Töne des Herzens erklangen damals in lateinischer Sprache zum
ersten Male seit langer Zeit wieder, wie denn der Literaturhistoriker zu
den größten Segnungen, die das Christentum brachte, die Schöpfung einer
an volkstümliches Empfinden anknüpfenden l}rrischen Poesie zählen wird.
Diese Hymnenpoesie bewegfte sich zunächst noch in den Formen der
klassischen Metrik, die Ambrosius und sein großer Nachfolger Prudentius
mit äußerster Strenge handhabten. Dann aber warf sie seit dem 5./6, Jahr-
hundert diese Formen als veraltet beiseite; die neue Seele verlangte nach
einem neuen Körper. Die wichtigste Neuerung war, daß die Verse durch
Reim gebunden wurden; doch war es anfangs noch dem Belieben des
Dichters überlassen, an welchen Stellen des Gedichtes er reimen, an
welchen er reimlose Verse setzen wollte, bis sich aus dieser Wahlfreiheit
die Gesetzmäßigkeit des Reimes entwickelte. Es steht fest, daß diese
Neuerung aus der Kunstprosa, in der sie seit alters üblich war, in die
Poesie, die den Reim bisher nicht kannte, eindrang. Der moderne Mensch,
dem das zu begreifen schwer fallen muß, vergegenwärtige sich, daß der
Tonfall gehobener prosaischer Rede bei Griechen wie Römern seit Jahr-
hunderten dem Sprechgesange nahe kam, von dem sich das älteste Kirchen-
lied nur durch etwas stärkere Modulation bestimmter Stellen unterschied.
Daher vollzog sich die Herübemahme des rhetorischen Kunstmittels in
die Poesie mit Naturnotwendigkeit; durch einen Vergleich etwa der in
Reimprosa geschriebenen Predigten Augustins mit Hymnen des 6. Jahr-
hunderts kann sich jeder leicht davon überzeugen. Vom lateinischen
Kirchenliede aus drang der Reim seit dem 9. Jahrhundert in die Lieder
der modernen Sprachen ein tmd unterdrückte hier allmählich die nationalen
Formen, z. B. im Germanischen die Alliteration.
HMTonymna Zu derselben Zeit, da Ambrosius durch die Kunst seiner Diplomatie
*"" 335— 4»o). jjjjjj ^jg Gewalt seiner Predigt der Kirche eine Macht schuf, vor der die
Herren der Welt sich demütigten, arbeitete in stiller Gelehrtenklause ein
Maim, um ihr den wissenschaftlichen Unterbau zu geben, den sie im Osten
des Reiches bereits seit einem Jahrhundert besaß. Hieronymus stammte
aus der Gegend des nördlichen Bosniens; da seine Vaterstadt Stridon, wie
es scheint, zum kirchlichen Sprengel von Aquileja gehörte, mag er hier
behandelt werden. Sein Name, sowie der seines Vaters Eusebius, lassen
vermuten, [daß die Familie griechischer Abstammung war, und sein echt
griechischer Forschergeist, der in der lateinischen Kirche einzig dasteht,
kann diese Annahme unterstützen. Er wurde in Rom ausgebildet, aber
seine Reisen führten ihn von Trier nach Bethlehem, und in Konstantinopel
I. Italien.
381
gewann er unmittelbare Berührung mit der griechisch- christlichen Kultur.
Er wurde der größte christliche Gelehrte in lateinischer Sprache, für das
Abendland das, was Origenes für den Osten gewesen war; seine Bedeutung
beruht in der Tat wesentlich darauf, daß er die Arbeiten eines Origenes,
Eusebius und anderer griechischer Gelehrten nach dem Westen hinüber-
leitete, teils bloß übersetzend, teils bearbeitend, teils in gleichem Geiste
Neues schaffend. Diese gelehrte Tätigkeit, die wir in der Übersetzung der
Bibel schon kennen lernten, schloß nicht aus, daß er die Ereignisse der
großen Welt mit lebendigem Interesse verfolgte. Sein Briefwechsel ist auch
für Nichttheologen ebenso belehrend wie unterhaltend. Er trägt seine
kleinen Fehler und Schwächen mit liebenswürdiger Offenheit zur Schau,
ohne sich in grüblerische Gedanken darüber zu verlieren wie der unendlich
tiefere Augustinus. Je genauer er der Nachwelt bekannt ist, um so stärker
schwankt, wenigstens in der Beurteilung der Theologen, sein Charakter-
bild: während er den einen der Heilige ist, sagt Luther in den Tischreden,
es gebe Iqeinen unter den Lehrern, dem er so feind sei wie Hieronymo.
Aber als Gelehrter hat er ein Anrecht darauf, auch von den Philologen
beurteilt zu werden, denen sein Fleiß eine auch für lateinische Literatur-
geschichte sehr w^ichtige Chronik geschenkt hat Er darf universalen Ge-
lehrten wie Varro und Sueton an die Seite gestellt werden; ihn beseelte
der freie und wissenschaftliche Geist des hellenenfreundlichen Christentums,
wie es Origenes vertrat. Kein christlicher Schriftsteller ist inniger ver-
traut mit den Profanautoren als er, und die Gewissensqualen, ob ein
Chrishanus auch Ciccronianus sein dürfe, hat er durch einen Ausgleich
überwunden, der ihn selbst mehr befriedigte als seine strenggläubigen
Gegner. Aber auch bei den syrischen Mönchen hat er längere Zeit in
strengster Askese gelebt Dort irrt der in der Mitte der dreißiger Jahre
stehende Mann, der des Lebens Süßigkeit ganz genossen, im Sonnenbrand
der Wüste lunher; dort flicht der Gelehrte, dessen Wissen bald die
Welt in Staunen setzen sollte, Körbe aus Binsen, hackt das Land, sät
und begießt Pflanzen, strickt Fischemetze — und schreibt Bücher ab;
so befiehlt er später selbst einem Freunde zu tun; es ist wohl das
erstemal, daß den Mönchen literarische Beschäftigung empfohlen wird: eine
für die Geschichte der Kultur bedeutsame Stelle. Dann finden wir ihn
abermals in Rom. Dort schützte ihn Papst Damasus, der mit seinen Epi-
grammen die Reihe der literaturfreundlichen Päpste eröffnet, gegen den
Klerus, dessen Unwillen er durch seine sittenstrengen Mahnungen erregt
hatte; dort lehrte er im Palaste der Marcella auf dem Aventin, ihm zu
Füßen saßen asketisch gesinnte Frauen, von denen einige ihren Stamm-
baum auf die Marceller, Gracchen und Scipionen zurückführten. An
seinem Lebensabend zog er nach Bethlehem, wo er ein Mönchskloster
gründete; hier unterrichtete er — neben seiner gelehrten Tätigkeit — die
Söhne wohlhabender Eltern in der profanen Literatur, die er nach dem
Muster eines Clemens, Origenes und Basilius als Grundlage der christlichen
382 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
Bildung für nötig erachtete; er las mit seinen Schülern Vergil, die Komiker,
Lyriker und Geschichtschreiber. Den Rhetor hat er nirgends verleugnen
können; wer aber über ihn wegen seiner Sophismen streng aburteilt, die
oft auf Kosten strenger Wahrhaftigkeit dem augenblicklichen Bedürfnisse
dienen, der vergißt, daß der sophistische Lehrbetrieb, dem sie entspringen,
darin nichts Unsittliches gefunden hat Aus derselben Wurzel erwuchs
die schneidige Schärfe seiner Polemik: es kommt ihm nicht darauf an,
seine Gegner „zweibeinige Esel" zu nennen. In ganz antiker Art rühmt
er sich selbst gern xmd oft; aber er hat auch Grund dazu und darf mit
gerechtem Stolze von sich sagen: „ich bin Philosoph, Rhetor, Gramma-
tiker und Dialektiker, Hebräer, Grieche und Lateiner."
Im Jahre 408 ließ Kaiser Honorius den Stilicho hinrichten, dem er
alles verdankte. Da brachen die Westgoten, die vor diesem gewaltigen
Heerführer nun nicht mehr zu zittern brauchten, in Italien ein und plün-
derten Rom (410). Das drohende Verhängnis wurde durch Alarichs Tod
hinaiisgeschoben. Honorius gab Ataulf, dem Nachfolger Alarichs, um
Italien zu retten, Südgallien und Nordspanien preis. Die Goten rückten
brandschatzend in das ihnen ausgelieferte Land ein (412). Der Nachfolger
Ataulfs (f 415) Wallia wurde der eigentliche Grriinder des durch ein loses
Bimdesverhältnis mit dem römischen Reiche zusanunenhängenden tolosanisch-
spanischen Gt)tenstaates. Während dieser Ereignisse lebte in Rom ein
RutiUu» Nama- vomehmer Mann, Rutilius Namatianus, der es verdient, einem weiteren
(u^"m) I^cise bekannt gemacht zu werden. Er war ein Südgallier, lebte aber,
wie schon sein Vater, in Rom, wo er, obwohl ein erklärter Anhänger der
nationalen Religion wie Symmachus, die höchsten Ehrenämter bekleidete.
Im Herbst 416 verließ er Rom, um nach seinen gallischen Gütern zu
sehen, die durch die erwähnte Plünderung der Goten gefährdet waren.
In seiner Heimat angekommen, beschrieb er seine Reise in einem großen
Gedicht elegischen Versmaßes; daß es nur unvollständig erhalten ist, darf
als großer Verlust bezeichnet werden, denn es ist eine kulturgeschichtlich
sehr wichtige Schrift, auch poetisch eine achtungswerte Leistung; Sprache
und Versbau sind von einer Reinheit, wie sie selbst Claudian, sein Zeit-
genosse, nicht erreicht hat, geschweige denn die gallischen Dichter jener
Zeit Abgesehen von der entschiedenen Begabung des Dichters, Land
und Leute lebendig zu schildern, fesselt uns seine liebenswürdige, stark
persönliche Art Er lebt und webt in den großen Erinnerungen Roms.
In einem schönen Lobliede auf die Stadt, mit dem er das Gedicht eröffnet,
weiß er das rhetorische Schema durch persönliche Züge lyrisch zu be-
reichem und überträgt so die Wärme seines Gefühles auf die Leser; er
verheißt der regina orbis, obwohl sie von den Barbaren geschändet sei,
die Ewigkeit Die Wartezeit in Ostia, von wo aus er die Küstenfahrt
nordwärts antreten wollte, verkürzt er sich damit, nach der fernen Stadt
zu schauen; Odysseus habe sich gesehnt, seine Heimat am aufsteigenden
Rauch zu erkennen: er erkenne Rom an dem Glänze, der über den sieben
I. Italien.
383
Hügeln liege, denn in Rom habe ihm die Sonne geschienen, und heiterer
als anderswo sei dort der Tag; nicht trocknen Auges sagt er Lebewohl.
Die romantische Stimmung moderner Romfahrer liegt über seinen Versen,
eine mit Wehmut gemischte Heiterkeit, die wohltuend absticht von dem
Wahnglauben, mit dem der mittelalterliche Pilger an der Hand des
Mirabilienbuches die heiligen Stätten scheu durchwanderte. Von hohem
religionsgeschichtlichem Interesse sind die Ausfälle des altgläubigen
Mannes auf Juden und Christen, mit denen er auf seiner Fahrt in Be-
rührung kommt Der jüdische Pächter einer Villa (an der Küste gegen-
über von Elba), wo sie hatten landen müssen, erhob ein großes Geschrei
wegen des niedergetretenen Grases im Park und gönnte ihnen nicht das
Trinkwasser: dafür hageln nun auf ihn die Schimpfwörter; es ist wohl die
unverhohlenste Äußerung des Antisemitismus im Altertum seit luvenal,
den die römischen Aristokraten damals gern lasen. Die Vorbeifahrt an
einem Kloster {auf einer kleinen Insel zwischen Korsika und Elba), mit
dessen Abte damals Augustinus in Verbindung stand, gibt dem Dichter
Gelegenheit zu einer Schmährede auf die Mönche, die lichtscheuen Männer,
die am Schmutze Gefallen fänden und am Menschenhaß. Es folgt weiter-
hin ein zweiter Ausfall von gleicher Bitterkeit bei der Vorbeifahrt an
einem andern Kloster. Durch solche Einlagen versteht es der Dichter,
den Leser zu fesseln und seine Reisebeschreibung über das Zufallige und
Persönliche zu erheben; ernst und stimmungsvoll steht dieses letzte
nationale Gedicht am Grabe der antiken Kultur.
Im Verlaufe des 5. Jahrhunderts verstummte die Literatur in Italien
fast ganz, die Stürme der Völkerwanderung brausten über das unglückliche
Land. Schließlich (476) riß Odovakar die Herrschaft über Italien an sich.
So erfüllte sich an ihm die Prophezeiung, die ihm einst, als er aus seiner
deutschen Heimat an der Donau nach Italien wanderte, von Severinus,
dem Mönche eines Klosters bei Wien, gegeben worden .war: „ziehe hin
nach Italien, zieh hin: jetzt bist du in armselige Felle gekleidet, doch du
bist berufen, bald vielen große Geschenke zu machen." Die Lebens-
beschreibung dieses Severinus von einem gewissen Eugippius (Abt eines LeUe« dM
Klosters bei Neapel) mag hier kurz besprochen werden, da sie eine ^"g""*
für die Geschichte der Zeit sehr wichtige Urkunde ist und die ganze
Literaturgattung der Heiligen- und Märtyrerbiographien am würdigsten
vertritt Mit einer Lebendigkeit, die der alles Individuelle unterdrückenden
hohen Literatur der Zeit fremd ist, erhalten wir hier ein Kultur- und
Sittenbild des nördlichen Teiles der römischen Provinz Noricum (zwischen
der Donau von Passau bis Wien im Norden und der Mur im Süden) aus
den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens (etwa 453 — 488). Eine Stadt nach
der andern wird eine Beute der Rugfier, Goten, Alemannen, Thüringer,
und Severinus, der aus dem fernen Osten eingewandert ist, steht dem für
einea verlorenen Posten kämpfenden Häuflein der Getreuen prophezeiend
und helfend zur Seite, eine auch den Barbaren ehrwürdige Persönlichkeit
384 Eduard Norden : Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum nun Mittelalter.
Der Verfasser hat die Taten und Wunder dieses Mönches mit schlichter
Treuherzigkeit erzählt und Land und Leute mit guter Beobachtungsgabe
geschildert Er verfehlt nicht, den gelehrten Diakon, für den er diese
„Memoiren" aufzeichnete, auf daß dieser eine regelrechte Biographie
daraus mache, um Entschuldigung wegen seiner Schlichtheit zu bitten;
und in der Tat bekommt er von dem hochgelahrten Cassiodor, der ihn
noch persönlich kannte, kein besonders g^tes Zeugnis in edlgemeiner
Bildung. Uns ist seine beredte Einfalt und frische Natürlichkeit lieber als
die sich weise dünkende, prunkende Beredsamkeit der Welt
osigotache Die ersten Jahrzehnte des 6. Jahrhunderts brachten dem Reiche
Kaiiur. wenigstens den Schein neuer Sicherheit und der Literatur eine kurze
Nachblüte. Der große Ostgote Theoderich hatte 493 den Odovakar er-
mordet und sich auf den weströmischen Kaiserthron gesetzt Während
die andern germanischen Könige in Gallien, Deutschland, Spanien und
Afrika Staaten gründeten, in denen das römische Element im national-
germanischen aufgehen sollte, versuchte Theoderich in Italien das Um-
gekehrte: der römische Staat und seine Kultur sollten bestehen bleiben
und die Goten als Ackerbürger und Krieger in ihn eintreten. Er imter-
nahm diesen Versuch, teils weil er den Glanz der römischen Kultur, die
er bewimderte, durch die Kraft seiner Goten erhalten wollte, teils aber
auch, weil die Verhältnisse ihn dazu bestimmten: in Italien wurzelte die
Kultur eines Jahrtausends viel tiefer als in den romanisierten Provinzen,
und Rom war trotz der Verlegung des Herrschersitzes nach Ravenna die
Trägerin der Vergangenheit und im Bewußtsein der Menschen auch die
der Zukunft. Der künstliche Versuch mußte mißlingen, aber die mächtige
Persönlichkeit des Königs hielt die verschiedenartigen Elemente zusammen
und verschaffte dem schwer geplag^ten Lande eine dreißigjährige Ruhe.
Ein inneres Verhältnis zur Literatur und Kunst, wie Karl der Große, hat
dieser Germanq noch nicht gehabt, aber es schmeichelte seinem Stolze,
sich wie einen der alten Cäsaren als Schirmherrn einer Kultur feiern zu
lassen, die ihm imponierte. Was bei Theoderich immerhin Ernst war,
wurde bei seinen Nachfolgern zum Spiel; sie rühmten sich auch wohl
ihrer Kenntnis dreier Sprachen, des Gotischen, Lateinischen und Griechischen,
denn das Griechische war damals infolge der politischen und kirchlichen
Auseinandersetzimgen des Gotenreiches mit Ostrom für kurze Zeit in Nord-
italien wieder geläufig. Die beiden Sterne, die am abendlichen Himmel des
sterbenden Reiches am hellsten glänzten — denn einen Schriftsteller wie
Ennodius, so wichtig er für die Geschichte der Zeit auch ist, dürfen wir
hier, wo wir nur die großen Kulturfaktoren in Rechnung ziehen können,
Boethias fügUch Übergehen — , waren Boethius und Cassiodorius. Beide Männer
(+ 5»4)- stammten aus altadligen Familien und waren aufgewachsen in den Über-
lieferungen eines aiafgeklärten, bildungsfreundlichen Christentums, wie es
damals in der Aristokratie noch den Grundton der Weltanschauung bildete;
Boethius war vermählt mit einer Dame aus der Familie jenes Symmachus,
I. Italien.
385
den wir als Vorkämpfer der alten Religion und als Herausgeber des
Livius kennen lernten (S, 378). Wie damals, so wurden auch jetzt wieder
mustergültige Ausgaben klassischer Zeugen der Vergangenheit veranstaltet:
unsere besten Handschriften des Vergil und Horaz verdanken wir diesen
Bestrebungen vornehmer Männer der ostgotischen Restaurationszeit. Die
Bedeutung des Boethius für die Schulgelehrsamkeit des Mittelalters wurde
oben (S. 377) bereits hervorgehoben. Daß er durch seine berühmte, im Ge-
fängnis verfaßte „Trostschrift der Philosophie" dem Mittelcdter auch den
menschlichen Gehalt antiker Geistes- und Herzensbildung vermachte, ist
im vorhergehenden (von Leo, S. 371) bemerkt worden. Diese Schrift mit
ihrer Mischung von Prosa und Vers wurde neben dem in gleichem Stile
geschriebenen älteren Werke des Martianus Capella das Stilmuster des
Mittelalters, das an diesem Zwitterding von Form und Formlosigkeit wie
an allem, weis kraus und phantastisch war, seine Freude hatte, bis das
geläuterte Stilgefühl der Renaissance wie im Inhalt so in der Form über
Boethius auf Cicero und Piaton zurückging.
Cassiodor ist, wenn man ihn gerechterweise im Rahmen seiner Zeit CMiiodorim
beurteilt, eine bedeutende Erscheinung. Durch die Erlasse, die er als '+ "" ""■
Kanzler im Namen Theoderichs und seiner Nachfolger verfaßte, ist er die
weitaus wichtigste Quelle für die Geschichte seiner Zeit. Großer Mut und
ein seltenes Gefühl kunstvollen Könnens, aber auch genaue Vertrautheit
mit den Mustern der Vergangenheit gehörte dann vor allem dazu, nach
Tacitus und Ammianus ein Geschichtswerk großen Stiles zu wagen. Er
schrieb, freilich wohl nicht ohne einen Vorgänger gehabt zu haben, die
Geschichte des Gotenvolkes, mit der ausgesprochenen, ihm durch Theoderich ■
selbst nahegelegten Absicht, den Nachweis zu erbringen, daß es an Alter
und Adel seiner Könige den dünkelhaften Italikern ebenbürtig sei. Der
Verlust dieses Werkes, das 12 Bücher umfaßte, ist für uns Deutsche fast
so unschätzbar wie der Untergang der 20 Bücher „Germanenkriege" des
älteren Plinius. Der ganz dürftige Auszug, den noch zu Cjissiodors Leb-
zeiten lordanis von dessen Werke machte, läßt noch die große Gelehr-
samkeit des Originals ahnen, in dem auch griechische Historiker und
Geographen reichlich verwertet worden waren. Dieser lordanis war
romanisierter Gote: so ist seine Schrift das erste uns erhaltene Geschichts-
werk, das ein Germane in lateinischer Sprache verfaßt hat Erst bei den
Angelsachsen und Langobarden des 8. Jahrhunderts werden wir das wieder-
finden: da sind es dann aber auch keine bloßen Auszüge mehr, wie bei
lordanis, sondern originale Werke selbständiger Schaffenskraft Was in
der Zwischenzeit über deutsche Geschichte geschrieben worden ist, das
stammt nicht von germanischen Schriftstellern, sondern von römischen
Provinzialen.
Cassiodor hatte auch die Absicht, in Rom eine theologische Fakultät
(wie wir das nennen würden) einzurichten, mußte aber den Plan wegen
der kriegerischen Bedrängnisse Roms aufgeben. Doch gründete der Papst
Du Kultur ue« GwiDiwAitT. I. &
2S
386 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum zum Mittelalter.
Agapetus (535 — 536), den er für den Plan gewonnen hatte, wenigstens
eine Bibliothek, die dann Papst Grregor I. (590 — 604) übernahm. Dieser
Plan, zu dem Cassiodor durch das Vorbild der gleichzeitigen syrisch-grie-
chischen Theologenschiile von Nisibis in Mesopotamien angeregt worden war,
ist als Vorläufer der mittelalterlichen Universitätsgfründungen bemerkenswert
Für die Geschichte der Kultur noch wichtiger ist dann aber die
Tätigkeit geworden, die Cassiodor entfaltete, als er sich nach dem Tode
Theoderichs und seiner nächsten Nachfolger, müde der Mitarbeit an einer
Politik, die sich immer mehr als aussichtslos erwies, auf seine Besitzungen
in Bruttiuim zurückzog (bald nach 540), um hier, dem Lärm der Welt und
den Grreueltaten der Konige entrückt, in einem von ihm selbst gegründeten
Kloster ein gottgefälliges Alter zu verleben. Während der Scheinbau
Theoderichs zusammenbrach (555) und die Langobarden fürchterlicher als
je die andern germanischen Biirbaren in Italien hausten (seit 568), hat
Cassiodor es sich angelegen sein lassen, die idealen Gmter der Vorzeit für
die Nachwelt zu retten- Getreu dem leuchtenden Vorbilde der gproßen
Kirchenlehrer des 4. Jjihrhunderts hat er durch Lehre imd Schriften dahin
gewirkt, daß seine Mönche, soweit ihre geistigen Fähigkeiten es ihnen
ermöglichten, über der Betätigimg frommen Sinnes die wissenschaftlichen
Studien nicht vernachlässigten: in der Bibliothek des Klosters standen
friedlich neben kirchlichen Büchern weltliche. Cassiodor selbst hat für
die Brüder einen Abriß nicht bloß der göttlichen, sondern auch der welt-
lichen Wissenschaften (der sogenannten sieben freien Künste) verfaßt,
sowie ein Hilfsbüchlein für Orthographie beim Abschreiben der Bücher.
Wenn wir femer die Grundsätze lesen, die er für die Verbesserung von
Handschriften aufstellte, so erkennen wir deutlich, daß er die Fürsorge,
die seine weltlichen Freimde, wie bemerkt, auf die Herstellung guter
Textausgaben verwandten, in die Klosterschule hinüberleitete. Die Be-
deutung seiner Klosterorganisation kann man nicht hoch genug schätzen.
Wenig mehr als 10 Jahre, bevor sich Cassiodor von den Geschäften der
Welt zurückzog, hatte Benedictus von Nursia (in Umbrien) auf dem Mons
Cassinus (bei Neapel) auf den Trümmern eines zerstörten Apollotempels
das Kloster gegründet (529), das dazu bestimmt war, dereinst die Pflanz-
stätte aller Klöster des Abendlandes zu werden. Seinem Stifter hat der
Gedanke, wissenschaftlichen Sinn bei den Mönchen zu pflegen, durchaus
fem gelegen: in seiner regula findet sich so wenig eine Hindeutung darauf,
wie in den Vorschriften, die schon im 5. Jahrhundert Cassianus für die
Klöster Galliens gegeben hatte. Daß der Benedictinerorden ein Banner-
träger der Wissenschaft geworden ist, muß als Cjissiodors Verdienst be-
zeichnet werden, der zwar die Regel Benedicts, wie es scheint, auch
für sein eignes Kloster zugrunde legte, sie aber mit einer freieren Geistes-
richtung verband: über Benedictus und Cassianus hinweg knüpfte er damit
an Hieronymus an (s. oben S. 381). Das 6. Jahrhundert, in dessen Verlauf das
Westreich zusammenbrach und unter seinen Trümmern die antike Kultur
n. Afrika.
387
rrUcianiu
ZU begraben drohte, ist für die Überlieferungsgeschichte der lateinischen
Literatur des Altertums entscheidungsschwer gewesen. Wären nicht die
Klöster dieses und der beiden folgenden Jahrhunderte nach dem Beispiele
Cassiodors für den Schutz der Literatur eingetreten, so hätte Karl der
Große, als er das Reich wieder errichtete, den zerrissenen Faden nicht
wieder zu solcher Festigkeit verknüpfen können. So verdient Cassiodor
den Ehrentitel, den ihm ein französischer Gelehrter gegeben hat: le Mros
et le reslaurateur dt la science au VI stiele.
Mit dem Gelehrtenkreise des Ostgotenreiches stand l'riscianus in Be-
ziehungen, der daher, obwohl geborener Afrikaner, hier kurz erwähnt '"" '**'"
werden mag. Er lehrte in Konstantinopel lateinische Sprache. Durch
seine große, 18 Bücher umfassende Grammatik ist er einer der gelesensten
Schriftsteller des Mittelalters geworden: sein Werk soll etwa in 1000 Hand-
schriften verbreitet sein. Es ist eine zwar unselbständige, aber doch .sehr
achtungswerte Leistung, zudem die einzige uns erhaltene lateinische Gram-
matik, die auch die Syntax berücksichtigt Man sieht auch hieraus, wie
viel höhere Ansprüche man im Osten des Reiches zu einer Zeit machte,
wo der Westen sich mit dürftigen Abrissen begnügte.
U. Afrika. Die römische Provinz Afrika, dem heutigen Tripolis,
Tunesien imd dem östlichen Algier entsprechend, hat in der Literatur der
Kaiserzeit jahrhundertelang eine führende Stellung eingenommen und ist be-
sonders von Hadrian bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts tonangebend auch
für Italien gewesen; damals war hier, wie bemerkt (S. 376), griechische
Bildung so verbreitet wie in keiner andern Provinz des Westens. Auch
hat keine die Fürsorge der Kaiserherrschaft in so hohem Maße genossen wie
die schon von der Natur überschwenglich reich gesegnete Provinz Afrika.
Karthago wird noch von einem griechischen Rhetor des 4. Jahrhunderts
die zweite Stadt des Erdkreises neben Rom genannt; ja selbst als die
Vandalcn sich schon zu Herren der Provinz gemacht hatten (42g), schreibt
ein gallischer Presbyter: „dort blühen wissenschaftliche Studien und Philo-
sophie, dort die Kunst der Rede und Erziehung zur Sittlichkeit." Den
Bewohnern wird ein Temperament heiß wie das Klima des Landes
zugeschrieben. Die Inschriften, die aus keiner Provinz des Westens, aus-
genommen Italien, in solcher Menge vorliegen, geben uns ein deutliches
Bild lebhaft entwickelten Bürgersinnes und vielseitiger Interessen, freilich
auch einer anspruchsvollen Selbstgefälligkeit und eines gespreizten Pathos,
das auch im Stil der Prosa und der Poesie zum Ausdruck kommt
Von der Profanliteratur dieser Provinz ist innerhalb unseres Zeitraumes
nur zu erwähnen das große Werk des Martianus Capeila, da es eins der
beliebtesten Bücher des Mittelalters geworden ist. Es enthält das System
der sieben freien Künste (Grammatik, Dialektik, Rhetorik; Geometrie,
Arithmetik, Astronomie, Musik), aber in einer wunderlichen, oft albernen
Rahmenerzählung, wie schon der Titel „Über die Hochzeit der Philologie
etwa 4. jAhrh.).
<um
a?).
388 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter-
und des Mercur" zeigt Gerade dieses Nebeneinander von zuchtloser
Phantastik, spielerischer Allegorie und dürrer Schulgelehrsamkeit sagfte
dem Geschmack des Mittelalters zu, nicht weniger auch der aus schwül-
stiger Prosa und schulmäßiger Poesie gemischte Stil, der, wie schon be-
merkt, von Boethius nachgeahmt wurde.
Ein viel erfreulicheres Bild zeigt die christliche Literatur. Keine
Provinz des gcmzen Reiches, außer Kleinasien, gab einen so trefflichen
Nährboden für dcis zarte Reis der neuen Religrion, das sich, gepflegt durch
stille Arbeit, aber auch getränkt vom Strom hinreißender Beredsamkeit
und vom Blute der Märtyrer, unter Afrikas Sonne zu jenem majestä-
tischen Baume entwickelt hat, der die Welt beschattete.
Die afrikanische christliche Literatur gipfelt, wie die christliche über-
haupt, in Augustinus. Wir gehen daher, um ihn in die Gesamtentwicklung
besser einreihen zu können, hier über die von uns gezogene Grenzlinie
zurück und werfen im Vorbeigehen einen Blick auf die Hauptvertreter
der chrisüichen Literatur dieses Landes vor Augustinus.
Um den Ruhm des ersten bedeutenden christlichen Schriftstellers in
Minüdoi FoUi lateinischer Sprache streitet sich TertuUianus mit Minucius Felix; doch
dürfte dieser der zeitlich frühere gewesen sein, wie Tertullian zweifellos
der größere war. Minucius Felix, der nicht lange vor 200 geschrieben zu
haben scheint, ist der Verfasser eines Buches, das dem großen Gegensatze
von Hellenismus und Christentum literarischen Ausdruck durch die Form
des Wechselgespräches zwischen je einem Anhänger beider Weltanschau-
ungen gegeben hat Nach dem Vertreter der christlichen Partei trägt der
Dialog den Titel „Octavius". Sachlich bringt die Schrift nichts besonders
Neues, sondern verwertet teils die von Cicero und Seneca in ihrer Be-
kämpfung des Polytheismus, teils die von griechischen Apologeten auf-
gestellten Gründe; aber die Kunst der Darstellung ist ungewöhnlich groß.
An zierlicher Glätte übertrifft der Verfasser sogar den Lactantius, den er
an klassischer Reinheit des Stilgefühles freilich nicht erreicht; dazu kommt
eine den besten Mustern abgelernte Kunst der Charakterzeichnung und
dramatischer Einkleidung — Ort der Handlung ist der Badestrand von
Ostia während der juristischen Herbstferien — und ein für die Größe
Roms und seiner Vergangenheit trotz aller Polemik begeisterter Sinn.
Das Dogmatische ist so farblos wie kaum in einer andern christlichen
Schrift: ist doch auch dem Verfasser das Christentum mehr eine neue
Form der Philosophie als eine Religion. Die Schrift, die uns noch heute
entzückt, mag unter den gebildeten Namenchristen viele Leser und Lieb-
haber gefunden haben: für die Ausbreitung eines Glaubens, der schon
viele Blutzeugen gefunden hatte, war das anmutige Spiel mit den Rappieren
geistreicher Dialektik nutzlos.
TertuUianus, ein geborener Karthager, dessen Blüte um 200 — 220
fällt, war zum Advokaten bestimmt, und die Sophismen, die diesem
Berufe damals eigen waren, hat er auch als Verteidiger der Religion
TfirtaUianut
et um »jo).
II. Afrika.
389
nie verleugnen können, zu der er als Jüngling übertrat In ihm kochte
eine Glut, die ihn selbst und andere verzehrte, da sie zu lodernd
war, um bloß zu erwärmen: man hat gesagt, er gleiche dem heißen
Wüstenwinde seines Landes. Leidenschaftlichkeit, die kein Maß kennt,
ist seinem Wesen aufgeprägt; kaum ein anderer Fanatiker hat so zu
hassen verstanden wie er; Töne der Liebe, dieser schön.sten Frucht des
Christentums, werden fast niemals angeschlagen; darum kann man ihn
nicht lieben, so hoch man ihn auch bewundern mag. Der Kampf gegen
die Altgläubigen genügte ihm nicht, er griff mit derselben unerhörten
Heftigkeit die katholische Kirche selbst an, als er in vorgerückten Jahren
sich der Sekte der Montanisten angeschlossen hatte, deren schwärmerische,
weitabgewandte, die strengen Satzungen christlicher Lebensführung bis
zum Übermaß steigernde Lehre seinem ungeduldigen, unduldsamen, zum
Widerspruch geneigften Temperament zusagte. Der Montanismus trat der
Verweltlichung der Kirche, im Gegensatz zum hellenenfreundlichen
Gnostizismus, grundsätzlich entgegen. Daher ist Tertuliian einer der
wenigen, die jede Vermittlung ablehnen; er verwirft nicht bloß das
nationale Staats- und Religionswesen, sondern auch Philosophie, Literatur
und Kunst: „die Gelehrsamkeit der weltlichen Literatur, sagt er einmal,
verschmähen wir, da sie bei Gott der Torheit überführt worden ist"
Ein Glück für die junge Religion, daß so unduldsame Stimmen ungehört
verklangen: fast um dieselbe Zeit, als Tertuliian dem Christen die Be-
schäftigung mit der bildenden Kunst als einem Werke der Dämonen
untersagte, hat ein christlicher Künstler in den Katakomben still und sinnig
das Bild des Orpheus, der inmitten der lauschenden Tierwelt die Leier
spielt, auf Christus, den guten Hirten, übertragen, ohne das Geringste zu
ändern. Doch hat das Christentum, um durch den Kampf sich in seiner
Eigenart zu behaupten, auch die Entwicklungsform durchmachen müssen,
die Tertuliian am glänzendsten vertritt: er gilt mit Recht als Begründer
einer abendländischen christlichen Theologie. Sein Stil ist maßlos, wie
sein Wesen, er zerbricht die überlieferten Formen, statt sich ihnen anzu-
pEissen, aber gerade darin liegt seine Größe auch auf diesem Gebiete: er
wurde der Schöpfer einer lateinischen Kirchensprache, denn das Christen-
txun, das in Wahrheit neu war, konnte mit dem überlieferten Bestände der
Worte allein nicht mehr wirtschaften und bedurfte daher eines so
rücksichtslosen, aber sprachgewaltigen Bildners, wie Tertuliian es war.
Der Gedankenreichtum der neuen Religion offenbarte sich auch in
der Vielseitigkeit ihrer literarischen Vertreter: wie neben dem zierlich
plaudernden Minucius der fanatisch eifernde Tertullianus stand, so wurde
dieser abgelöst von einer milden, ganz besonders sympathischen Persön-
lichkeit Cyprianus war längere Zeit mit großem Erfolge Rhetor, trat dann CyprUnu.
zum Christentum über und wirkte als Bischof von Karthago seit 248
segensreich unter schwierigen Umständen; 258 wurde er in der Verfolgung
des Kaisers Valerianus enthauptet In seinem Wesen war er das gerade
<t «$8).
390 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
Gegenteil von Tertullian: nicht genial iind gewaltsam, sondern sanften
Gemütes und gemäßigt Seine Schriften, darunter besonders die Briefe,
unvergleichlich wertvolle Urkunden für die Geschichte der sich festigenden
Kirche, haben nichts von dem eigenartigen Geiste Tertullians, zeigen da-
gegen schon durch die zahlreichen langen Anfühnmgen aus der Bibel,
die bei Minucius völlig fehlen, bei dem unruhigen Tertullian nicht so
stark hervortreten, einen ausgesprochen christlichen, gemeinverständlichen
Charakter; er begnügt sich oft damit, die dunklen Gedankengänge des
von ihm hochverehrten Tertullian in klarer Ordntmg und einfacher Sprache
zu entwirren. Von seinem Stil sagt Hieronjnnus, er fließe süß und sanft
dahin, wie ein ganz klarer Bach; manchmal hat dieser Stil aber vielmehr
etwas Salbungsvolles, wie ihn denn ein späterer Autor mit Öl vergleicht.
Eine Schrift (ad DonatumJ, in der das Dogmatische zurücktritt, bietet eine
meisterhafte Schildenmg des Sittenverfalles, ein trotz rhetorischer Schwarz-
malerei vortreffliches Kulturbild des gerade damals vor dem Zusammen-
bruch stehenden Reiches und seiner verfaulenden Gesellschaft
In der reichhaltigen christlichen Literatur dieses Landes fehlt auch
Aniobiui deis Pamphlet nicht: die um 295 verfaßten 7 Bücher des Amobius ad-
*°" «95)- j)grsus nationes. Er war ein bedeutender Lehrer der Rhetorik und hatte,
wie hundert Jahre zuvor Fronto, die christliche Religion angegriffen. In-
folge eines Traumgesichtes beschloß er überzutreten. Der Bischof weigerte
sich, den durch seine Vergangenheit übel berüchtigten Menschen aufzu-
nehmen: da verfaßte er seine Schrift, und mm wurde ihm sein Wunsch
erfüllt Vom Wesen des Christentums hat er eine ganz imklare Vor-
stellung, das Neue Testament hat er bestenfalls nur oberflächlich gelesen,
das Alte kennt er überhaupt nicht; neuplatonische Einflüsse, wie wir sie
später reichlich bei Augustin finden werden, treten uns in der lateinisch-
christlichen Literatur hier zuerst entgegen. Der Ton, den der Renegat
anzuschlagen sich erfrecht, ist pöbelhaft, ihm fehlt die sittliche Würde
Tertullians. Die feinen und gelehrten Christen der Folgezeit haben daher
dieses Werk, das der neuen Religion in den Augen der Gebildeten nur
schaden konnte, entweder (wie Lactantius) stillschweigend oder (wie
Hieronymus) ausdrücklich abgelehnt. Für den Theologen ist es fast wert-
los, der Philologe möchte es nicht missen wegen der Zerrbilder, die der
Verfasser von der ältesten römischen Religion und von den griechischen
Mysterien entworfen hat, denn der Verleumdung und dem Hohn ent-
nehmen wir manche sonst unbekannten Tatsachen,
ijictantio» Ein Schüler des Amobius vor dessen Übertritt war Lactantius. Von
(+ um jas). Afrika hat ihn Diocletian in die damalige Residenzstadt des Ostreiches
Nikomedeia (in Bithynien) berufen, wo er bei der griechischen Bevölkerung
lateinische Bildung verbreiten sollte. Hier trat er zum Christentum über
und gab bei Ausbruch der diocletianischen Verfolgimg (303) sein Lehramt
auf. In hohem Alter wurde er als Erzieher des Crispus, des Sohnes Con-
stantins, nach Gallien berufen. Sein ausgezeichneter Stil, der nur in der
II. Afrika.
391
juristischen Literatur der Zeit ebenbürtige Vertreter aufweisen kann, hat
ihm seit der Humanistenzeit den Ehrennamen des „christlichen Cicero"
eingetragen: er wollte auch durch die Vornehmheit der Sprache Propa-
ganda für die neue Religion machen. Seine kleineren Schriften, darunter
die geschichtlich wichtige „über die Todesarten der Kaiser, die das
Christentum verfolgten", übergehen wir. Sein Hauptwerk sind die 7 Bücher
„Einführung in die Lehre von den göttlichen Dingen" (Dtvinae mstifutionesj,
ein Titel, den er in bewußter Anlehnung an die juristischen Institutionen
wählte. In der Tat soll es nur eine Einführung sein, die eigentliche Weihe
soll hinterher kommen. Er will ein philosopliisches Christentum begründen
und wendet sich daher an ein hochgebildetes Publikum, sowohl der Alt-
gläubigen, die er über diese goldne Brücke der neuen Religion zuführt,
als auch vieler Christen selbst, die den einfachen Geist und die kunstlose
Sprache der Religionsurkunden noch nicht zu würdigen wußten. Er be-
rührt sich daher am nächsten mit Minucius Felix, den er rühmend nennt
und gelegentlich benutzt, ist ihm aber an Tiefe der Auffassung überlegen.
Wertvoll ist sein Werk auch dadurch, daß darin einige uns verlorene
philosophische Schriften Ciceros und Senecas benutzt sind.
Alle Genannten waren nur Vorläufer des Größeren, dem sie den Weg
bereiteten. Ein Versuch, dem Genius des Augustinus in der hier ge- .\o«u.iinB.
botenen Kürze gerecht zu werden, wäre aussichtslos; wir beschränken uns 'Js*""«»'-
darauf, seine Bedeutung für die Literatur mit einigen Strichen zu zeichnen.
Unwillkürlich fühlt man sich geneigft, seine Eigenart durch einen Vergleich
mit Hieronymus festzustellen. Denn zu derselben Zeit, als dieser im fernsten
Osten von seiner stillen Klause aus die christliche Welt in Staunen ob
seiner Gelehrsamkeit setzte, wirkte Augustinus im äußersten Westen als
Bischof von Hippo (in der Nähe des heutigen Bona). Die Lebensschicksale
haben die beiden nicht zusammengeführt, sie waren aber auch verschiedene
Naturen. Augustinxis war kein Gelehrter wie Hieronymus, sein Wissen ist
vergleichsweise gering, auch abgesehen von seiner schon erwähnten Un-
kenntnis des Griechischen; aber an die Stelle der Gelehrtennatur des
Hieronymus hatte er zu setzen, was jenem abging: ein tiefinnerliches
Wesen und ein reiches Gemüt; wenn jener hervorragt durch dialektische
Verstandesschärfe, so dieser durch den Schwung seiner Phantasie. Ja,
man darf es aussprechen: Augustinus war der größte Dichter der alten
Kirche, mag er auch in Versen so weniges geschrieben haben wie Piaton.
Diese beiden gehören zusammen als die größten Dichterphilosophen aller
Zeiten, und wir wollen es uns als eine für die Geschichte der mensch-
lichen Ideen wichtige Tatsache merken, daß Augustinus, als er irrte xmd
fehlte und mit der ganzen Glut seiner Seele die Wahrheit suchte, in der
platonischen Philosophie die Führerin gefunden hat, die ihn den rechten
Weg leitete. Piaton selbst freilich hat er im Urtext schon nicht mehr
lesen können, aber das Beste und Ewige an dessen Philosophie, die Lehre,
daß diese Sinnenwelt nur ein dämmerhaftes Gleichnis der ewigen und
3g 2 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum zum Mittelalter.
daß das Böse nicht für sich bestehend, sondern nur ein Abirren vom Guten
sei, war auch in den Büchern der Platoniker erhalten, die er in der Über-
setzung des oben (S. 377) genannten Victorinus las, als er in Mailand noch
schwankte zwischen Skeptizismus und christlichem OfFenbarungsglauben.
Und wie ihn einst das Studium des Aristoteles, ebenfalls in einer Über-
setzung-, aus den wüsten Nebelregionen des Manichäismus in die Welt des
klaren Denkens zurückgeführt hatte, so entriß ihn jetzt Piaton sowohl dem
Strudel der Sinnlichkeit, der ihn zeitweise zu verschlingen drohte, als der
Nichtigkeit weltlicher Rhetorik, die er als Beruf gewählt hatte. Wieder
siegte, wie einst zu Piatons Zeit, die Philosophie als die Wissenschaft des
Seins über die rhetorische Scheinwissenschaft, wieder wurde Piaton,
dessen Finger gen Himmel weist, ein Seelenretter. Wenn er jetzt seinen
letzten großen Jünger einem Höheren zuführte, in dem der Widerstreit
von Geist und Materie aufgehoben war, so werden wir dabei gern des
schönen Wortes der alten griechischen Kirche gedenken, daß Gott in
Sokrates die Keime des wahren Logos gesenkt habe vor der Erscheinung
seines Sohnes Jesus Christus. Auch Augustinus selbst hat steh einmal in
diesem Sinne ausgesprochen: er möchte — schreibt er in einem Briefe —
wünschen, daß unter denen, die Christus aus der Hölle befreie, diejenigen
seien, „mit denen wir durch unsere literarischen Studien so vertraut ge-
worden sind, deren Beredsamkeit wir bewundem, nicht bloß Dichter und
Redner, sondern auch Philosophen, viele auch, von denen wir keine
Schriften haben, deren rühmlichen Lebenswandel wir aber aus den Werken
jener kennen gelernt haben; denn abgesehen davon, daß sie nicht den
einen Gott verehrten, werden sie mit Recht hingestellt als nachahmenswerte
Muster der Sparsamkeit, Enthaltsamkeit, Reinheit, der Todesverachtung
fürs Vaterland und der Treue". Von den Dichtern liebte er besonders
Vergil, aus dem er sogar in einer Predigt Verse anführt; einmal nennt er
ihn einen „großen Dichter, den herrlichsten und besten von allen": so
schreibt er noch als Greis von dem Dichter, bei dessen Lektüre er als
Knabe an tragischen Stellen geweint hatte.
Unter seinen überaus zahlreichen Schriften werfen wir einen Blick
nur auf die zwei berühmtesten. Die Con/essiones sind wohl das einzige
Buch der alten christlichen Kirche, dessen Studium nicht auf den Kreis
der Theologen beschränkt geblieben, sondern das ein Lesebuch der Ge-
bildeten überhaupt geworden ist Im Mittelalter freilich, das für den
irrenden Menschen Augustinus kein Verständnis haben konnte, da es in
ihm nur den fehlerlosen Kirchenlehrer verehrte, trat es hinter den großen
lehrhaften Werken zurück; mit um so größerer Liebe umfaßte es die
Renaissance, die das Individuum wieder entdeckt hatte. Petrarca, dem
man ein günstiges Vorurteil für einen christlichen Scliriftstellcr wahrlich
nicht vorwerfen kann, hat dieses Buch mit schwärmerischer Zärtlichkeit
geliebt, darüber Tränen vergossen und es wie ein Orakel befragt, als er
sich auf der Höhe des Mont-Ventoux in der Einsamkeit Gott am nächsten
11. Afrika.
395
fühlte; er hat es in einer eignen Schrift nachgeahmt, wie später Rousseau.
Was fand man Be.sonderes an diesem Buch, was an ihm fesselt uns noch
jetzt? Es ist das ewig Menschliche, das an Kraft durch die Jahrtausende
nicht gebrochen, mit einer Unmittelbarkeit ohnegleichen aus ihm zu uns
herübertönt. Das Innenleben keines Menschen des Altertums ist uns so
genau bekannt wie das des Augustinus, und da es auf das ewig Mensch-
liche eingestellt ist, so wird das Persönliche zum Allgemeingültigen; mit
Recht hat man das Faustische dieses Buches hervorgehoben. Hoffen und
sehnen, irren und suchen, verzweifeln und glauben, hassen und lieben —
es gibt keine Saite im Gemütsleben des Menschen, die hier nicht tönte.
Genrebilder von ganz intimem Reize wechseln mit erschütternden Seelen-
gemälden. Von dem Garten in Afrika, wo der Knabe Birnen gestohlen
hat, begleiten wir ihn bis zu dem Garten in Mailand, wo der 33jährige
nach unendlichem Ringen in schicksalsschwerer Stunde verzichtet auf
alles, was ihm das Leben bisher lieb und wert machte, verzichtet auch
auf die Braut, deren Besitz er mit der ganzen Sinnlichkeit seines heißen
Blutes begehrt; er erzählt von den Prügeln, die er in der Schule bekam,
weil er nicht griechisch lernen wollte, wie von seiner sanften frommen
Mutter, die mit grenzenloser Zärtlichkeit an dem Sohne hängt, und die
sich zu sterben legt, als er ihr durch Empfang der Taufe den Wunsch
ihres Lebens erfüllt hat Es liest sich wie ein Roman und ist doch alles
erlebt Ein solches Buch hat es nie vorher und nie wieder nachher
gegeben. Zwar eine Selbstbiographie hat ein oder zwei Jahrzehnte vorher
im Osten des Reiches auch Grregorius von Nazianz {in zwei langen Ge-
dichten) geschrieben, aber Augnstin gibt sie in Form einer Beichte und
Rechenschaftsablage vor Gott, unvergleichlich tiefer und wahrer als jener
große griechische Prediger. Eigentlich neue Gattungen hat die Literatur
der alten Kirche, die mit der Apostelgeschichte begannt, nicht hervor-
gebracht, sondern sich damit begnügt, die alten Formen mit neuem Inhalt
zu füllen — scheinbare Ausnahmen von diesem Gesetz erledigen sich bei
sorgfältiger Erwägung — : für die augustinischen Konfessionen läßt sich
ein irgendwie genaues Seitenstück nicht anfuhren. Immerhin wollen wir
nicht vergessen, daß die Analyse des eignen Ich durch eine Richtung in
der Philosophie der ersten Jahrhunderte vorbereitet war: Seneca berichtet,
daß er, dem Beispiel des pythagoreisierenden Sextius folgend, sich abends
vom sittlichen Ertrage des Tages Rechenschaft abzulegen gewöhnt sei,
und der Vorschrift Epiktcts „sprich mit dir selbst" verdanken wir Marc
Aureis „Selbstgespräche"; diese wiederum sind, ohne daß eine unmittel-
bare Abhängigkeit vorläge, von Augustins Soliloquia nicht zu trennen,
einer ganz kurz vor der Taufe von ihm verfaßten Schrift, in der er sein
Ich mit seiner Vernunft ein Zwiegespräch halten läßt. Wenngleich also
die Möglichkeit besteht, die Konfessionen nach ihrer allgemeinsten Idee
der Selbstbetrachtung in einen Kreis des Gefühllebens hineinzubeziehen,
das auch in der Literatur der Antike seinen Niederschlag gefunden hat,
3Q4 EdxtaRD Norden: Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum nun Mittelalter.
so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß hier eine stark ausgeprägte
Persönlichkeit die überlieferten Formen zerschlagen und ein Neues gebildet
hat Freilich haftet auch an diesem Menschenwerk ein Erdenrest Wer
eine solche Beichte an seinen Gott als Lese- und Erbauungsbuch für das
Publikum herausgibt (und er nimmt öfters ausdrücklich auf Leser Bezug),
der hat die von den Christen vielgeschmähte antike Selbstgefälligkeit
innerlich noch nicht ganz überwunden, und ihm kann der Vorwurf nicht
erspart bleiben, daß er „sein Herz zur Schaubühne gemacht hat". Zudem
wirkt die Form der Beichte, durch 13 Bücher fortgesetzt, schließlich
ermüdend und kann ohne Künstlichkeit nicht gewahrt werden: oft hören
wir ihn nicht vor seinem Grotte bekennen, sondern seine Leser belehren.
Die Sprache endlich, die nach unserem Gefühl in solchem Werke nicht
schlicht genug sein kann, ist stellenweise sehr gesucht: die erhabensten
Gedanken seines schöpferischen Geistes, die geheimsten und zartesten
Regungen seiner leidenden Seele werden von ihm nur zu oft mit dem
Flitterkram der Rhetorik behängt Aber diese Fehler, die er auch in
seinen Predigten nicht vermeidet, teilt er mit seiner Zeit Als Ganzes ist
das Werk von einsamer Grroßartigkeit und gehört zu den ewigen Besitz-
tümern der Menschheit
Wenn die Konfessionen den Kampf des Individuums zwischen Böse
und Gut und den endlichen Triumph des Guten schildern, so stellen die
später geschriebenen 22 Bücher „Vom Reiche Gottes" (de civüaie det)
dieses Problem auf die Grundlage der ganzen Menschheitsgeschichte.
Diesem bedeutendsten Werke der alten Kirche hat auch die griechische
Theologie nichts Vergleichbares an die Seite zu setzen; wie im Osten die
Fähigkeit wissenschaftlicher Forschung, so war im Westen des Reiches
die Kraft des Aufbauens gfrößer. Den unmittelbaren Anlaß zu diesem
Werke gab dem Augustinus die Bestürmung Roms durch Alarich (410). Da-
mals grub die nationale Partei den alten Vorwurf wieder aus, daß an
diesem Verhängnis, dem fürchterlichsten seit der Schlacht an der Allia,
die Christen schuld seien, denen die alten Götter gerollten. Nie war
dieser Vorwurf mit scheinbar größerem Rechte erhoben worden — ging
doch dem Barbarensturm das Edikt des Theodosius, das die Tempelgüter
einzog, unmittelbar voraus — , und es bedurfte des ersten Mannes der
Christenheit, ihn zu widerlegen. So schließt dieses Werk die lange Reihe
der christlichen Verteidigungsschriften ab, geht aber darin weit über sie
hinaus, daß es auf den Trümmern des niedergerissenen Pantheon die
christliche Kirche sich vor unseren Augen erheben läßt So xn.'ürdig und
ernst, mit solcher Tiefe und Weite des Blickes war die alte Streitfrage
noch nie behandelt worden. Angenehm berührt uns die trotz g^rundsätz-
licher Ablehnung des Alten gew^ahrte Vornehmheit der Polemik: man
merkt, daß ihm einst lieb und wert gew^esen ist, was er nun bekämpfen
muß, und gern bezeugt er auch hier gelegentliche Gedankenharmonie
philosophischer Denker und Dichter, wie Ciceros, Vergils, Senecas und
11. Afrika.
595
vor allem Piatons, mit christlichen Lehren. Der wissenschaftlichen Sach-
lichkeit, mit der der Polytheismus bekämpft wird, verdanken wir Stücke
der wertvollsten Urkunden der alten Religion, deren Originale nun freilich,
als endgültig widerlegt, der Vergessenheit anheimfielen. Augustinus unter-
sucht in diesem Werke die alte Frage nach der Stellung des Christentums
in der Geschichte, löst sie aber nicht wie frühere Schriftsteller hi.storisch,
sondern spekulativ. Der Widerstreit des bösen und des guten Prinzips
findet in dem Kampfe der civitas terrena und divina seinen Ausdruck;
das irdische Reich ist mit dem Sündenfall in die Welt getreten und dient
den irdischen Bedürfnissen; das Gottesreich ist das Ideal der Sünden-
losigkeit; beide wogen auf und nieder, bis Christus das Reich Gottes, das
seit seiner Erscheinung reiner als zuvor erstrahlt, dereinst am Ende aller
Tage zum vollen Siege fuhren wird. Dem Altertum war der Gedanke,
die Wirksamkeit einer Idee in der Weltgeschichte zu erweisen, unbekannt
gewesen: er konnte auch nur auf dem Boden des christianisierten römischen
Weltreiches erwachsen, und nur im Geiste eines Mannes, der die Kraft
philosophischer Betrachtung mit baumeisterlicher Kunst so vereinigte wie
Augustinus. Wenn das Wesen der Geschichtsphilosophie teleologische
Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung ist, so darf Augustins Werk
ein geschichtsphilosophi^ches genannt werden (der Ausdruck stammt von
Voltaire), insofern hier zum ersten Male ein Fortschritt der Menschheits-
geschichte nach einem bestimmten Ziele hin behauptet und dargelegt
worden ist Bei aller Bewunderung jedoch für die Größe des Wurfes, für
den Versuch, die Flucht der Erscheinungen einem einheitlichen Prinzip
unterzuordnen, und für die systematische Folgerichtigkeit, mit der dieser
Riesenbau aufgeführt worden ist, kann die Kritik auch hier nicht ver-
stummen. Die zum Prinzip erhobene transzendentale Idee des göttlichen
Willens läßt die in der Geschichte lebendigen Mächte außer Betracht:
gilt doch die Freiheit des Willens, die der junge Augustinus verteidigt
hatte, dem alten durch den Sündenfall als aufgehoben. So vermag
denn diese religionsphilosophische Geschichtskonstruktion, wie sie nicht
ohne allegorische Umdeutung und gewaltsame Beugung geschichtlicher
Tatsachen zustande gekommen ist, die Probe auf ihre Richtigkeit bei vor-
urteilsloser Prüfung nicht auszuhalten. Diesem Urteil widerspricht es
nicht, daß der Siegeszug dieses Werkes durch die abendländische
Christenheit fast beispiellos gewesen ist; man wird wohl sagen dürfen,
daß außer Piaton kein Schriftsteller auf die Gedanken der Kultur-
menschheit so bestimmend eingewirkt hat wie Augustinus durch dieses
Werk. Noch heute ist es ein Grundbuch der katholischen Kirche. Be-
greiflich genug: ist doch die civitas dei dem Augustinus nicht bloß das
übersinnliche Reich Gottes, das dereinst am Ende der Dinge kommen
wird, sondern zugleich auch die Kirche, die bereits jetzt auf jenen Zustand
der Vollkommenheit vorbereitet; und als solche hat sie die Aufgabe, die
ihr gegenüberstehende civitas terrena, die sündige weltliche Gemeinschaft,
^^^^V jq6 Eduakd Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
^^^H zu heiligen und sich dienstbar zu machen. Diese zweite, reale Auffassung^
^^^m des Begriffes der civüas dci drängte im Mittelalter die erste, geistige in
^^F den Hintergrund; sie wurde — von Thomas von Aquino schließlich in
^B voller Schärfe herausgearbeitet — die theoretische Grundlage für die
^1 Weltherrschaft der katholischen Kärche, für jene Politik, durch die die
^H Kirche die Welt, Wissenschaft wie Leben, in sich aufnimmt und sich
^H unterordnet.
^1 Augustinus hat nach seiner Taufe noch über vier Jahrzehnte in seiner
^H Heimat gewirkt, anerkanntermaßen der größte Schriftsteller der Christenheit.
^B Aber auch ins Volk ist er hinabgestiegen durch seine Predigten. Diese
^B sind in der Form charakteristisch durch ihre ausgebildete Reimprosa, an
^1 deren Stillosigkeit das Mittelalter sich berauschte. Auch über die Theorie
^^^H der Predigt hat Augustinus ein ausgezeichnetes Werk verfaßt, in engem
^^^H Anschluß an Ciceros Schrift vom Redner. Er sollte den Einbruch der
^^^H Barbaren in sein Heimatland noch erleben: während der Belagerung
^^^H seines Bischofssitzes Hippo durch die dem gotischen Stamme angehörenden
^^^r Vandalen starb er hochbetagt (450).
Po«ne lor Zeit Aus der Zeit der hundertjährigen Vandalenherrschaft in Afrika be-
der v»B(Uion- gitzg^ wir Zahlreiche größere und kleinere Gedichte, von denen einige
bciTscbalt ^ "
(4*9-s34)- sich durch formale Kunst auszeichnen; auch bieten sie als literarische Er-
zeugnisse einer Mischkultur nicht geringes Interesse. Die Barbarenkönige
sahen es mit Schmunzeln, wenn die lateinischen Dichter ihnen Geburtstags-
gedichte machten oder ihre Sommerresidenzen und Bauten verherrlichten,
doch ließen sie sie gelegentlich auch ihre rohe Kraft fühlen. Dann regte
sich wohl das nationale Gefühl der römischen Provinzialen gegen die
Barbaren, die hier die alte reiche Kultur zerschlugen. Ein bekanntes Ge-
dichtchen dieser Art, wertvoll durch die germanischen Worte des ersten
Verses (heüs und skapjam matzjan jah drinkan), lautet in deutscher Über-
setzung:
Zwischen dem gotischen „Heil!", dem „Schafft uns zu essen und trinken"
Wagt sich keiner daran, die Verse richtig zu bilden.
Denn Kalliope scheut den Verein mit dem trunkenen Bacchus;
Schritte die Muse doch dann taumelnden Fußes einher.
HL Spanien. Dieses Land, das im i . Jahrhundert der Literatur die
größten Talente (so die Familie der Seneca, Martial, Quintilian), und der
Welt zwei Kaiser (Trajan, Hadrian) schenkte, sank seit der Mitte des
2. Jahrhunderts zu vollkommener Bedeutungslosigkeit herunter. Auch das
Christentum brachte hier zunächst keinen literarischen Aufschwung: der
Gegensatz zu Afrika und Gallien ist so scharf wie nur möglich. Erst vom
4. Jahrhundert ab wurde es etwas besser {Theodosius der Große war
Spanier), doch waren auch jetzt nicht einmal Talente zweiten Ranges in
der Literatur zahlreich. Die Ursache dieser Minderwertigkeit mag gerade
liegen, daß die Romanisierung in keiner Provinz so durchgreifend
in. Spanien.
397
war wie in Spanien: so fehlte hier mehr als anderswo die Rassenmischung,
die in Gallien und Afrika Literaturen landschaftlichen Charakters hervor-
brachte. Auch lag diese Provinz dem Osten am fernsten: die Kenntnis des
Griechischen muß hier geinz unbedeutend gewesen sein. Bis an die
Grenze des Mittelalters hat die Literatiu" Spaniens nur einen einzigen
großen Namen aufzuweisen — denn die Weltgeschichte, die der Presbyter
Orosius im Auftrage des Augustinus verfaßte, ist nur durch die darin aus-
geschriebenen, uns zum Teil verlorenen Quellen wichtig — : den Dichter
Prudentius, den man als Liederdichter den „christlichen Horaz" nennen rmdeonui
darf. Seine Hymnen sind nicht wie die ambrosianischen für den Gemeinde- '^ "" *'"'
gesang bestimmt: es ist ein Liederbuch zum Lesen, mögen auch einzelne
Lieder auszugsweise in kirchlichem Gebrauch gewesen sein. Er gibt der
Mystik größeren Spielraum als Ambrosius. Er führt in die Lyrik die Er-
zählung ein, verbindet sie also mit der Epik; den Stoff der Erzählungen
entnimmt er der Bibel, wie einst Pindar dem Epos (gleichartige Voraus-
setzungen haben hier zu ähnlicher Kunstübung geführt). Er gestaltet sie in
gutem Sinne des Wortes pathetischer und verbindet so aufs glücklichste
Zartheit des Empfindens mit Schwung der Phantasie. Manche seiner
Märtyrerlegenden zeigen fireilich den Schwulst und die Roheit ihrer pro-
saischen Vorlagen; aber einige lassen sich als volkstümliche Balladen be-
zeichnen: diese Stücke (z. B. das Gedicht auf den heiligen Laurentius) sind
ausgezeichnet durch erfrischende Derbheit des Ausdruckes und lebendige
Szenerie, stellenweise auch durch Humor, sie haben auf die mittelalterliche
Volkspoesie eingewirkt: so feiert das älteste uns erhaltene nordfranzösische
Gedicht die heilige Eulalia, deren Martyrium auch Prudentius besingt.
Eins seiner kleinen Epen hat dadurch kulturgeschichtliches Interesse, daß
es wegen einer durchgeführten Allegorie — die antiken Laster kämpfen
mit den christlichen Tugenden um die menschliche Seele — ein Lieblings-
buch des Mittelalters bis auf Dante wurde.
Wie in Italien, Afrika und Gallien, so brachte die germanische Be-
setzung des Landes auch in Spanien der Literatur eine Nachblüte, die
hier freilich nur kurz und matt war und sich erst entfaltete, seitdem die
arianischen Westgoten zum katholischen Bekenntnis übertraten (586): denn
erst dadurch kam das römische Element des Landes, das bis dahin unter-
drückt worden war, zur Betätigung seiner Eigenart Die Bischöfe von
Toledo, Saragossa und Sevilla wetteiferten durch philosophische, gram-
matische und historische Abhandlungen in dem Bestreben, die sinkende
Kultiir zu stützen; sie wußten sogar die germanischen Eroberer dafür zu
interessieren: als Merkwürdigkeit sei erwähnt, daß zu Anfang des 7. Jahr-
hunderts ein westgotischer König (Sisebut -{- 620) in guten lateinischen Hexa-
metern über Sonnen- und Mondfinstemisse schreibt Der bedeutendste dieser
letzten Pfeiler der Kultur war Isidorus, Bischof von Sevilla. Der Ruhm seines imdoru»
Namens knüpfte sich im Mittelalter besonders an ein umfangreiches Werk, '^ "" ***■
das wir als eine Art von enzyklopädischem Reallexikon bezeichnen würden.
398 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
Originales Wissen darf man darin freilich nicht suchen, aber schon eine
so massige Sammlung des zerstreuten Stoffes zum Nutzen der Bildun^s-
freunde war damals ein großes Verdienst, imd in diesem Sinne sagte ein
Zeitgenosse von ihm: „Grott hat ihn nach all dem Unglück Spaniens er-
weckt zur Erhaltung der Denkmale der Vergangenheit imd ihn wie einen
Rammpfahl hingesetzt, auf daß wir nicht völlig in Barbarei verkämen."
Nicht ohne Interesse und Rührung sehen wir diese letzten Vor-
kämpfer der Kultur die Brosamen von der reichbesetzten Tafel der Vorzeit
sammeln.
RomanUiening IV. Galüeu. Hier entfaltete sich in den Zeiten des ausgehenden
Gaiueni. ^-Itertums besonders reiches literarisches Leben. Um den Gnmd zu er-
kennen, greifen wir etwas weiter zurück. Der südliche Teil der Provinz
(Gallia Narbonensis) war seit ältester Zeit nächst Kampanien das gelobte
Land des Hellenismus im Westen; in der Kaiserzeit waren die Mittel-
punkte Massilia (Marseille), Arelate (Arles), Nemausus (Nlmes), Tolosa
(Toulouse), Narbo (Narbonne), Vienna (Vienne). Die hohe Kultur dieser
Gegend wirkte befruchtend auch auf die westlichen und nördlichen Teile
des Landes, die von Cäsar dem römischen Reiche gewonnen wurden.
Es kam hinzu, daß die Gallier sich dem römischen Wesen leicht anglichen,
ohne doch dabei ihre Eigenart preiszugeben. Cäsar fiel die stark aus-
geprägte Neigung und Fähigkeit zum Nachahmen auf. „Ganz Gallien,
sagte schon der alte Cato, gibt sich eifrigst mit zwei Dingen ab, dem
Kriegswesen und der Kunst geistreicher Rede.« So sehen wir denn die
griechisch-römische Kultur vom Süden her sich rasch ausbreiten. In
Lugdimum (Lyon) fand schon unter Caligula ein Wettstreit zwischen
griechischen und lateinischen Rednern statt, und zur Zeit Trajans ist der
jüngere Plinius stolz darauf, daß dort seine Schriften verlegt werden. Ein
Rhetor um 150 nennt, wenn auch übertreibend, Reims das „gallische
Athen". Seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts ist Trier, die Residenz der
Kaiser im Westen, ein Hauptsitz der Studien, das „Rom des Nordens",
wie es Mommsen nennt Aber das regste geistige Leben herrschte damals
in der südwestlichen Provinz Aquitanien, vor allem in Burdigala (Bordeaux),
auch in Pictavum (Poitiers).
Im 2. Jahrhundert freilich vermochte Gallien mit Afrika nicht zu wett-
eifern, das 3. war für diese Provinz in noch stärkerem Maße als für
das übrige Reich eine Zeit tiefsten Verfalles, denn in Gallien kam zu dem
allgemeinen Elend noch ein furchtbarer Bauernaufstand, der das Land dem
Untergange nahebrachte. Der Segen der Reichsteilung kam dieser
Provinz daher vor allem zugute. Im 4. Jahrhundert verdrängte sie Afrika
aus der führenden Rolle und konnte es sogar mit Italien aufnehmen; die
häufige, durch die Barbareneinfälle bedingte Anwesenheit der Kaiser
förderte die Literatur. Das Christentum in griechischer Sprache wurzelte
seit der Mitte des 2. Jahrhunderts fest in der südlichen Provinz (z. B. in
IV. Gallien.
399
Vienne) und breitete sich von da aus: Lyon, auf der Grenze der südlichen
und der zentralen Provinz, vermittelte es dem römisch und keltisch redenden
Teil des Landes. Die Kenntnis des Grriechischen ist in dem Gallien des
4. Jahrhunderts, als es in Afrika zu erlöschen begann, noch ziemlich ver-
breitet: Ausonius empfiehlt seinem Enkel die Lektüre des Homer und
Menander und prunkt in halblateinischen, halbgriechischen Versen mit
seinem Wissen. Immerhin erkennen wir auch hier deutlich den Rück-
gang griechischer Kenntnisse: die Professoren dieser Sprache verdienten
nur so viel wie die lateinischen Elementarlehrer; doch sind — infolge
der politischen Beziehungen des Frankenreiches zu Ostrom — Spuren
g^echischer Kenntnisse noch in Klöstern des 5. und 6, Jahrhunderts nach-
weisbar. Ein tieferes Interesse für wissenschaftliche Studien fehlt; da-
gegen blühen die rhetorischen Studien, die die Kunst des Versemachens
mitumfassen, hier noch mehr als im übrigen Reiche: Symmachus ver-
schreibt sich für einen Verwandten einen Rhetor aus Gallien nach Rom.
Über den Schulbetrieb dieses Landes im 4. Jahrhundert geben uns mehrere
Urkunden interessante Aufschlüsse. Da ist zunächst ein Erlaß der drei
Kaiser vom Jahre 376 über Besoldungen der Lehrer (die in Trier be-
kommen eine Extrazulage). Ferner ein Gedichtkranz des Ausonius, der
eine Art von Gelehrtengeschichte Südwestgalüens enthält (einige seiner
Kollegen bekommen den Ehrentitel „Abstinenzler", was für die übrigen,
meist in Bordeaux lebenden zu denken gibt). Endlich die Rede des
Eumenius von Augustodunum (Autun), die wir wegen ihres Inhaltes wie
eine Oase in der Ode galhscher Rhetorik begrüßen (gehalten 297): der
Mann — nach unserer Bezeichnung etwa Gymnasialdirektor — bittet den
Statthalter der Provinz, ihm bei den Kaisem die Erlaubnis auszuwirken,
sein ganzes Gehalt zum Wiederaufbau der in den Kriegsunruhen zer-
störten Schule zu verwenden. — Eine eigentlich christliche Literatur hat
Gallien im 4. Jahrhundert nicht aufzuweisen. Doch gehört die im Jahre 403
vom Aquitanier Sulpicius Severus verfaßte chronikartige Darstellung derSuipiciusSevem»
jüdisch-christlichen Geschichte noch in diese Epoche. Dies inhaltlich "
durch die verständige Benutzung wertvoller Quellen wie formell durch
die Sauberkeit der Sprache gleich bemerkenswerte Werk führt uns wie
die ebenfalls von Sulpicius verfaßte dialogartige Biographie des Martinus
von Tours die geistige Vorherrschaft Aquitaniens in vorteilhaftester Weise
vor Augen. Für den flatterhaften Namenchristen, Schöngeist und Tausend-
künstler Ausonius ist der Vergleich mit diesem gebildeten Anhänger der
neuen Religion ebensowenig schmeichelhaft wie der Vergleich mit dem
phantasiebegabten Paulinus von Nola (s. Leo oben S. 370).
Die Kultur Galliens brach im Anfang des 5. Jahrhunderts unter den
furchtbaren Stürmen der Völkerwanderung zusammen. Gallien ging dem
Reiche dauernd verloren: Burgunder, Franken, Westgoten gründeten teils
mit Gewalt, teils mit Genehmigung der Kaiser, die sich dadurch die
Rettung Italiens erkauften, ihre Staaten, die Hunnen vollendeten das Zer-
^oo Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altcrtmn lum Mittelalter.
SidoninB
ApoUinaris
fam 430 — 480).
Salvianiit
(om 440».
Störungswerk (451). Auch hier versuchten die römischen Provinzialen ihre
Literatur als Bollwerk der Sturmflut entgegenzusetzen. „Das einzige Ab-
zeichen des Adels wird — so schreibt einer — in Zukunft Kenntnis der
Literatur sein"; einem andern ist „Flucht vor den Barbaren« gleich-
bedeutend mit dem „Standhalten bei der Fahne der Literatur". Aber was
nützte es ihnen, äa& sie sich schüttelten vor der „schuppigen keltischen"
oder der „flächsernen germanischen Sprache"? Der Verfall war unauf-
haltsam und eine geschichtliche Notwendigkeit: die Zukunft gehörte dem
Neuen. Die eigentlich christliche Literatur entwickelte sich in dem Gallien
des 5. Jahrhunderts zu hoher Blüte; sie nahm hier, dem religiösen Leben
entsprechend, eine asketische Färbung an. Die Kloster- und Bischofs-
schulen, bald auch die Hofschulen an den Residenzen der Merowinger
traten das Erbe der Rhetorenschulen an. Wer an den alten Formen fest-
hält wie Sidonius ApoUinaris, in dem sich die Richtung des Ausonius
fortsetzt, und der auch als Bischof von Clermont das Versemachen nicht
lassen kann, verfallt unrettbar der Öde des Inhaltes und dem Schwulst.
Ganz anders wissen uns christliche Schriftsteller der Zeit zu fesseln. Wie
inhaltreich ist, um nur dieses zu nennen, das Werk des Salvianus, eines
Presbyters von Marseille, „über die göttliche Weltregierung", verfaßt nach
der Eroberung Afrikas durch die Vandalen {429), aber vor dem Einbruch
der Hunnen in Gallien (451). Es ist eine große Strafpredigt über die
verkommene Zivilisation des römischen Reiches, die Farben sind grell wie
bei luvenal. Das Bedeutsame aber ist nun, daß er den entarteten
römischen Bewohnern der Provinzen — Anhängern der alten wie der neuen
Religion — die germanischen Eroberer als die sittlich vollkommeneren
Menschen entgegenzustellen wagt: Gottes Strafgericht ist gerecht, die Bar-
baren verdanken ihre Siege nicht bloß der rohen Kraft, sondern ihrer
größeren Tüchtigkeit. Die alte Gegenüberstellung einer äußerlich glän-
zenden, im Innern morschen Kultur und einer ungebrochenen barbarischen
Volkskraft hat hier einen tatsächlichen Hintergrund erhalten; dieses bei
Tacitus nur leise mitklingende Motiv beherrscht hier die ganze, stellen-
weise an die Strafpredigten der Jüdischen Propheten gemahnende,
rauschende Symphonie. Dieser Mann ist nicht blind gegen die Fehler
auch der Barbaren — „die Goten, sagt er einmal, sind treulos, aber
sittsam, die Alanen unsittlich, aber weniger treulos, die Franken lügnerisch,
aber gastfreundlich, die Sachsen grausam, aber wunderbar keusch" — ,
aber ihm ist doch die Erkenntnis gekommen, daß die Zukunft den Ger-
manen gehört. Gefühlt haben mögen das damals viele ernste Männer,
ausgesprochen hat es, noch dazu in dieser Schärfe, keiner sonst, und
Salvian ist sich seiner Kühnheit bewußt. Für uns aber gewinnt sein
Werk dadurch großen Reiz und hohe kulturgeschichtliche Bedeutung.
Wie in den übrigen Ländern des ehemaligen Reiches, so brachte auch
in Gallien die germanische Staatengründung des 6. Jahrhunderts eine
Mischkultur von eignem Gepräge hervor. Wie der Barbar sich gern mit
glitzemdem Schmuck behängt, so ließen die Merowingerkönige es sich
gern gefallen, wenn ein romanischer Dichter ihre Hochzeitsfeste oder
Kirchenbauten in pomphaften Versen besang oder ein Prosaiker ihre in
Krieg und Frieden gleich blutigen Taten aufzeichnete. Einer dieser Könige,
Chilperich, der auch lateinische Verse, aber metrisch falsche, machte, ciiUperich
prunkte sogar mit seiner Kenntnis des griechischen Alphabetes, aus dem '^ ^'*''
er, der Barbar, drei Buchstaben ins lateinische einzuführen befahl, ein
wunderlicher Herr, wie der selige Kaiser Claudius, der einst Ahnliches
versucht hatte. Ein griechischer Arzt, Anthinius, verfaßte um 520 für Aniiumiu
einen der Söhne Chlodowechs eine Art von diätetischem Kochbuch, das '"" '"'"'•
sehr interessant ist durch seine Sprache — das Latein ist schon auf dem
Wege zum Romanischen — und durch einige sachliche Bemerkungen,
z. B. regt er sich über den maßlosen Genuß von Speck auf, „diesem
Leckerbissen der Franken". Zwei Schriftsteller dieser Zeit, beide römische
Provinzialen , verdienen genauere Erwähnung. Grregorius, Bischof von r.rcjor
Tours, ist berühmt durch seine große Geschichte der Franken. Daß ein '°? ^°"'"
(+ 59JI-
Mann in dieser gärenden Zeit, als auf den Ruinen des Alten und zum
Teil mit ihrem Material ein neues Volkstum sich zu entwickeln begann,
den Mut und die Kraft zu einem solchen Unternehmen besaß, verdient
hohe Anerkennung, und wir wollen mit ihm nicht rechten, daß er es aus-
führte ohne die Bildung, die Cassiodor, zweifellos sein Vorbild, in seiner
Gotengeschichte gezeigt hatte. Mag er sich entschuldigen müssen, daß er
die Geschlechter der Substantive nicht mehr scheiden, die Präpositionen
nicht mehr mit ihren Kasus verbinden könne: wir haben allen Grund,
ihm für eine der wichtigsten Urkunden unserer ältesten Geschichte dankbar
zu sein, und freuen ims gerade darüber, daß er auf den pomphaften Stil
des „gallischen Kothurns" verzichtete, den er in seinen Heiligengeschichten
anzulegen für gut befand. Mit ihm befreundet war der Dichter Venantius
Fortunatus, das größte Formtalent der untergehenden westlichen Kultur venandn«
des 6. Jahrhunderts. Er stammte nicht aus Gallien — dort konnte man '''""'"*"»»
•' _ _ (f mo 600).
so Tüchtiges längst nicht mehr — , sondern aus Oberitalien, wo, wie be-
merkt, die Ostgotenzeit einen bedeutenden Aufschwung bewirkt hatte. Von
dort kam er um die Mitte des Jahrhunderts nach Gallien, wo er als
Presbyter in Poitiers um 600 starb. Alle staunten den italischen Poeten
wie ein Wunder an. In der Tat verdient er unsere Achtung: man muß
es ihm lassen, daß er seine antiken Vorbilder (darunter z. B. die Elegiker
der augusteischen Zeit) gelegentlich mit Verständnis nachgeahmt hat;
zwei seiner Hymnen sind noch jetzt im Gebrauch der katholischen Kirche.
Für die Kulturgeschichte seiner Zeit ist er von nicht geringer Bedeutung
— von den Deutschen, durch deren Gebiet er auf seiner Reise von
Ravenna ins Frankenland kam, sagt er, sie hätten „als seine Zuhörer bei
hölzernen Bechern dagesessen und, sich den Heiltrunk bietend, so unmäßig
gezecht, daß selbst der Zechergott Bacchus es für eine Tollheit erklärt
haben würde" — , und über die Gedichte, die er im Auftrage der Rade-
VtM Kin.TVii DU CnGXKWAKT, L 8, 26
^02 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
gunde verfaßte, urteilt eine berufene Stimme so: „Das Bild, das sie bieten,
ist nicht ohne Bedeutung und in gewisser Weise eine Verheißung für
folgende Zeiten. Dort die thüringische Königstochter, ihrer Heimat ent-
führt und zur fränkischen Königin in romanischer Bildung erzogen, eine
Heilige der Kirche; hier der italische Lehrer und Dichter, ein frommer
Priester, auf den von Franken eroberten gallischen Boden verschlagen: so
finden wir die Überreste der versunkenen Jahrhunderte mit ihren aus der
Fäulnis mächtig fortwirkenden Keimen und die frischen Kräfte, denen die
Zukunft gehört, jene von diesen, diese von jenen bereits beeinflußt und
umgestaltet beieinander" (F. Leo).
Wenn schon Gregor von Tours in der Vorrede seines Werkes klaget,
daß die Pflege der Wissenschaft in den gallischen Städten daniederliege,
so brachte hier das 7. Jahrhundert mit dem kläglichen poUtischen Nieder-
gang den völligen Verfall der Kultur. Wir ermessen den Abstand an der
'Fredegar' Fortsctzung Gregors, die imter dem Namen des Fredegar bekannt ist:
(6130. gQ dankenswert sie (mit ihren Erweitenmgen) für den Historiker ist,
bekundet sie doch in der Darstellung die hereingebrochene Barbarei.
Wenn nicht von anderer Seite Hilfe kam, so war es in diesem gelobten
Lande der Bildung mit der Kultur vorbei. Diese Hilfe sollte kommen
von Seiten der Kirche und des Staates.
Irische Kultur. V. Die Propaganda der irischen und angelsächsischen
Mönche. Irland war von Südwestbritannien aus, wo im 4. Jahrhundert
eine fest organisierte Kirche bestand, xxm 400 christianisiert worden. Es
blieb dank seiner Abgelegenheit von den Stürmen der Völkerwanderung
verschont, die im ganzen übrigen Abendland die Kultur fast zerstörten,
und in den zahlreichen Klöstern, die hier in rascher Folge entstanden,
konnte an den Zustand der Bildung im 4. Jeihrhundert unmittelbar an-
geknüpft werden. Die im Abendland sonst fast verlorene Kenntnis des
Griechischen war bei den Iren so verbreitet, daß im Frühmittelalter irische
Nationalität und griechische Sprachkenntnis feist eine Gleichung bildeten.
Die sprichwörtliche Wanderlust der irischen Mönche wurde für den ganzen
Gang der Zivilisation entscheidend: sie haben die antik-christliche Kultur,
die ihnen um 400 übermittelt worden war, im 6. imd 7. Jahrhimdert in den
südlichen Ländern, wo sie inzwischen fast verloren gegangen war, zu
Coiomb«nu> neuem Leben erweckt Nicht lange nach jener Klage des Gregor von
(t fi's)- Tours über die literarische Verwahrlosung des Frankenreiches gründete
am Westabhange der Vogesen ein sehr gebildeter irischer Mönch,
Columbanus, drei Kllöster, danmter das bekannteste Luxovium (Luxeuil bei
Beifort). Wechselvolle Schicksale führten ihn im Jahre 613 zur Lango-
bardenkönigin Theudelinde, die von Papst Grregor dem Großen für den
römischen Katholizismus gewonnen worden war. In ihrem Reiche, unweit
südlich von Pavia, gründete Columbanus das Kloster Bobbio. Den
ungewöhnlich hohen Bildungsstand dieses Klosters beweisen die zahl-
V. D'e Pfopigjnli der irischen und angelsächsischen Mönche.
403
r
r
reichen dort gefundenen wertvollen Handschriften, die Columbanus teil-
weise selbst aus Rom dahin brachte. Columbans Schüler Gallus, der ihm
wegen Krankheit nicht nach Bobbio hatte folgen können, legte um 613
den Grund zu der später nach ihm benannten Abtei St Gallen, der zweiten
großen Fundgrube von Handschriften in der Zeit des Humanismus.
Freilich darf nicht verschwiegen werden, daß in diesen Klöstern manche
schöne alte Handschrift von den Mönchen bloß als Material benutzt wurde,
um über den ausradierten profanen Text- Predigten, Konzilienbeschlüsse
u. dgl. zu schreiben. Doch werden wir, wenn wir die Zeitverhältnisse und
die Kostbarkeit des Pergamentes bedenken, mit den schreiblustigen Mönchen
deswegen nicht zu streng ins Gericht gehen dürfen.
Vor allem die irischen Mönche waren es auch, die den Alemannen,
Langobarden, Franken und Bayern eine reiche geistliche, auf der Antike
begründete Bildung gebracht haben. Am frühesten und nachhaltigsten
haben sie die Schätze ihres Wissens aber derjenigen Nation mitgeteilt,
die ihnen örtlich am nächsten wohnte, den Angelsachsen, deren
Christianisierung Gregor der Große 593 begonnen hatte. Staunend sah
dieses Volk, das im 5. Jahrhundert die britische Kirche vernichtet hatte,
jetzt auf die Gelehrsamkeit seines irischen Nachbarn und eignete sie sich
mit solchem Erfolge an, daß es seine Lehrmeister übertraf; auch unter
ihnen verbreitete sich die Kenntnis des Griechischen. Der lateinische Stil
dieses hochbegabten germanischen Volkes hat dadurch Interesse, daß er
sowohl durch griechische Lehnworte stark gefärbt ist, als auch in der
merkwürdigen Vorliebe für Alliterationen unverkennbar eine nationale Be-
sonderheit zeigt; finden wir doch auch bei keinem germanischen Volks-
stamm so früh wie bei diesem die Kraft, eine nationale Literatur in
nationaler Sprache zu schaffen. Der Anfang des 8. Jahrhunderts sah hier
in Aldhelmus und Beda zwei in ihrer Art bedeutende Schriftsteller. Beda,
dessen „Kirchengeschichte der Angeln" eine hohe geschichtliche Be-
deutung hat, wurde durch seine Chronik, seine theologischen, chrono-
logischen und grammatischen Schriften neben Cassiodor und Isidor eine
der angesehensten Autoritäten des Mittelalters, Aus diesen Kreisen,
in denen es als selbstverständlich galt, daß klassische Bildung die not-
wendige Voraussetzung der Theologie sei, stammte Wynfritli oder wie er
sich als Apostel der Deutschen nannte: Bonifatius. Wir besitzen von ihm
Briefe in schwülstiger Sprache, durchmischt mit halblatinisierten
griechischen Worten, Spielereien in antiken Versmaßen , sogar gram-
matische und metrische Werkchen. Doch nicht in seinen Schriften liegt
seine kulturgeschichtliche Bedeutung, sondern darin, daß er diese auf
wissenschaftlichem Unterbau ruhende Kultur in seinen deutschen Grrün-
dungen eingebürgert hat. Mit hoher Bewunderung lesen wir den Bericht,
wie Sturmius, ein Schüler des Bonifatius, in die Wildnis der Buchonia
(Thüringer Wald) vordringt, wie er bei Hairuvisfelt (Hersfeld) Halt macht,
dann von seinem Lehrer geheißen wird weiter zu ziehen, wie er dann
36*
Gallas
'+ 635)-
Angelsächslsi-ho
Kultur.
Aldhelmus
Bcd*
(t 7351
Bonifatias
(+ 7551-
Kaltar.
404 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
Fulda gründe^ das ihm Karhnann, der Sohn Karl Martells, als Herrscher
über das östliche Frankenreich bestätigt Diese mit bedeutenden Sonder-
rechten ausgestattete Abtei wurde im Verein mit Hersfeld die Rivalin von
St Gallen in g«istig«r Bildung-, bald die Schule nicht bloß Germaniens^
sondern des ganzen karoliilgischen Reiches. Vor der Tür des Saales, in
dem die Kopisten arbeiteten, stand eine lateinische Inschrift, die — gan2
im Sinne Cassiodors — zur Vervielfältigung der Bücher aufforderte; ein
Mönch studierte hier so eifrig Vergil und Cicero, daß man ihn im Scherz
beschuldigte, er reihe sie den Heiligen an.
VL Die karolingische Renaissance. Eine auch nur an-
Jüähemd erschöpfende Darstellung dieses für die Kulturgeschichte des
Mittelalters einzig wichtigen Zeitraumes liegt nicht im Plan dieser Skizze»
in die nicht die vton den mittelalterlichen Völkern neu entwickelten»
zukunftsreichen Ideen einbezogen werden können. Wir beschränken tin$
darauf, die Bildungselemente, die diese Periode mit der Vergangenheit
Verbinden, in aller Kütze zu betrachten.
KitfoUngitcho .• Karl der Große hat die Kulturbestrebungen der germanisch- christ-
fichen Völker, wie wir sie kennen lernten, in seinem Reiche vereinigt und
ihnen dadurch eine Bedeutimg verschafft, die ihnen in der Vereinzelung
Fehlen mußte. Vor allen Dingen aber hat er der auf den Trümmern des
römischen Altertuihs aufgebauten germanisch -christlichen Kultur dadurch
einen festen Untergrund gegeben, daß er das römische Imperium, dessen
Machtbereich immer mehr, besonders seit der Mitte des 6. Jahrhunderts,
avif den Osten beschränkt worden war, nunmehr vom Westen a\is neu be-
gründete. Im Glänze der römischen Kaiserwürde fühlte der Frankenkönig
sich doch in höherem Sinne zum Schirmherm über die antike Kultur be-
rufen als die früheren germanischen Könige, die das Imperium zertrümmert
hatten. Ein inneres Verständnis für die einstige Größe der verfallenen
Kultur hat keiner von diesen giehabt; der Schutz, den sie ihr angedeihen
ließen, kam über Duldung nicht hinaus: sie ließen den allmählich und
•unvermerkt sich vollziehenden Prozeß der Angleichung seinen Lauf
•nehmen, nur Theoderich ging einen andern Weg, der sein Volk ins Ver-
derfjen fährte. Karl dagegen fand in seinerh Reiche die neuen Volk-
heiten schon vor, die Gegensätze waren ausgeglichen und aus der
Mischimg Organismen von erstaunlicher Lebenskraft entstanden. Als ihm
daher am W^hnachtsfeste des Jahwes 800 inmitten der römischen Vor-
nehmen und unter den Jubelrufen des römischen Volkes die römische
Kaiserkrone aufgesetzt würde tmd er sich so am Ziel seiner seit Jahr-
zehnten planmäßig betriebenen Politik sah, da war er sich bewußt, nicht
bloß das politische, sondern auch das kulturelle Erbe der Cäsaren an-
zutreten. Wie ein neuer Augiistus machte er seinen Hof zu einer Frei-
stätte dier Literatur, indem er (schon seit ca. 780) die größten Talente dort
Versammelte. Wir leriiteh den großeü angelsächsischen Gelehrten Beda
VI. Die karolingische Renaissanc«.
405
(f am Bnoi,
kennen (S. 403): ein Schüler von ihm war Egbert, Erzbischof von York,
dessen Schüler Alcuin, der „Horaz" der kaiserlichen Gelehrtenakademißv aicuIo
ein Mann von universaler Bildung, Leiter der Hofschule und Lehrer '^ *"*'■
Karls selbst, für den er Lehrbücher der Rhetorik und Dialektik schrieb;
zuletzt (796) gab ihm Karl die Abtei Tours, wo er die in Verfall geratene
Bildung hob; sein Schüler Hrabanus Maurus wurde Abt von Fulda und
gab dem dort durch Bonifatius eingebürgerten wissenschaftlichen Sina
neue Nahrung. — Die Langobarden hatten einst das wankende Imperium Pauiai ducom»
gestürzt (568), waren dann aber als letztes der germanischen Völker, im
7. Jahrhundert, in den Kreis der christlich - römischen Kultur eingetreten:
wir hörten schon (S. 402), daß die mächtige Königin Theudelinde im
Jahre 612 dem Columbanus erlaubte, nahe bei ihrer Hauptstadt Pavia ein
Kloster zu gründen; um 700 war dieses Volk trotz der Schrecknisse, die
es noch immer über Italien verbreitete, der römisch -chrisüichen Kultur
schon völlig gewonnen. Als dann Karl das Langobardenreich unterworfen
hatte (774), zog er dessen zwei berühmteste Gelehrte, Paulus und Petrus,
an seinen Hof. Paulus, von vornehmer langobardischer Herkunft, war
schon ein berühmter Gelehrter des Klosters Montecassino — seit seinem
Eintritt IQ den geistlichen Stand nannte er sich Paulus Diaconus — , als
er 781 Karl kennen lernte und auf einige Jahre in das Frankenreich über-
siedelte. \'on seinen zahlreichen Werken ist das berühmteste die Go-
schichte der Langobarden (in 6 Büchern), die sich der Geschichte der
Ostgoten von Cassiodor - Jordanis und der Frankengeschichte Gregors
würdig an die Seite stellt; in der Klarheit der Darstellung und Reinheit
der Sprache ist er dem Grregor weit überlegen und hat Mommsens be-
wundernden Lobspruch verdient Schon vor der Geschichte seines Volkes
hatte er auf Anregung einer langobardischen Prinzessin eine römische
Geschichte bis auf Kaiser Justinian geschrieben mit geschickter Ver-
wertung zahlreicher profaner und christlicher Quellen. Kaiser Karl
widmete er einen Auszug aus einem hochgelehrten lexikalischen Werke
des Altertums, das in ganz wenigen Exemplaren ins Mittelalter gerettet
wurde, darunter einem, das wohl schon im 7. Jahrhundert in Montecassino
war; in der Widmung schreibt er die bezeichnenden Worte: „Ihr werdet
hier hauptsächlich auch die genauen Namen der Straßen, Tore, Hügel,.
Plätze und Bezirke Euerer Stadt Rom finden." Das Kloster Montecassino,
die Gründung Benedikts (s. oben S. 386), verehrt bis auf den heutigen Tag
Paulus Diaconus als seinen glänzendsten Stern. Petrus von Pisa war vor
allem Grrammatiker, Karl selbst ließ sich von ihm unterrichten. Weiteren
Kreisen am bekanntesten ist der Franke Einhard, ein Zögling der Kloster- Einhmrd
schule Fulda, dann der Hofschule; schließlich wurde er einer der ge- '^ **°^
lehrten Paladine selbst, der weitaus Jüngste in diesem Kreise, Karls
Liebling (f 840). Seine vtia Carolt ist, wenn man sie vom klassizistischen
Standpunkt aus beurteilt, stilistisch die beste Arbeit des Mittelalters; ja
man darf sagen, daß ein so feiner Stil, ein so gutes Latein seit Jahrhunderten
4o6 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
unerhört war, und daß Einhard es mehr verdient, neben seinem Vorbilde
Sueton (s. oben S. 367) genannt zu werden, als irgendein noch dem Altertum
selbst angehörender Fortsetzer der suetonischen Kaisergeschichte. Er ist
durchaus ein Vorläufer der eleganten Schriftsteller der italienischen
Renaissance, und das ist für uns leider kein Vorteil gewesen: die Nach-
ahmung der Antike ist bei ihm so sklavisch, daß er uns Karl nicht als
deutschen Volkskönig, sondern als römischen Augustus schildert und sich
selbst einen „Barbaren", die deutschen Gedichte, die Karl sammeln ließ,
„barbarische" nennt Trotz solcher Verirrungen ist seine Biographie eine
ganz unschätzbare Urkunde. So berichtet er, was uns hier interessiert,
daß der Kaiser sich und seine Kinder nicht nur in den freien Künsten
unterrichten, sondern sich auch Geschichtswerke vorlesen ließ, in denen
die Taten der Vorfahren aufgezeichnet waren. Wir können nach gewissen
Anzeichen wenigstens vermuten, daß darunter außer Cäsar, Livius und
Sueton auch die Germania des Tacitus war (vielleicht auch die ersten
Annalenbücher), und gern malen wir uns in der Phantasie das Bild aus,
wie der germanische Wiederhersteller des römischen Imperiums nach der
Mahlzeit im Kreise seiner Vertrauten den aus Haß und widerwilliger Be-
wunderung gemischten Worten lauscht, mit denen der stolze Römer die
Sitten unserer Vorfahren, den Heldenruhm des Arminius schilderte. Diese
freie Stellung zu den klassischen Autoren, die Freude des Kaisers über
neue Funde von Schriftstellern des Altertums, deren Überbringer er
fürstlich belohnte (so bekam einer für ein Exemplar eines lateinischen
Grammatikers des 4. Jahrhunderts eine Abtei im Elsaß), das Interesse auch
für antike Kunst und Inschriften verbindet in der Tat die karolingische
Renaissance mit der italienischen. In seinen Sendschreiben an die
Klöster betonte der Kaiser begreiflicherweise stärker den bloß relativen
Wert der antiken Bildung: so heißt es in einer an den Abt von Fulda
gerichteten „Enzyklika" (vom Jahre 787): „deshalb ermahnen wir euch,
daß ihr die wissenschaftlichen Studien nicht nur nicht vernachlässiget,
sondern mit Eifer um die [Wette betreibet, damit ihr imstande seid,
leichter und richtiger in die Mysterien der Heiligen Schrift einzudringen."
Das ist der Standpunkt des Augustinus, Hieronymus und Cassiodorius
(s. oben S. 386.}
Den hohen und freien Geist Karls finden wir wieder in seinem Enkel,
der als Karl der Kahle den französischen Teil des Reiches beherrschte
(840 — 877). An seiner Hofschule wirkte der Ire Johannes Eriugena, unter
den irischen Gelehrten der hervorragendste, in griechischer Literatur sehr
bewandert; er stellte mit einer damals beispiellosen, nur durch das Studium
griechischer Philosophie ermöglichten Geisteskühnheit die Behauptung
auf, daß der Vernunft die Herrschaft über die Autorität gebühre. Dem
König gereicht es zur Ehre, daß er ihn gegen die erbitterten Angriffe
der Kirche in Schutz nahm. Die Zeitgenossen preisen diesen König-
wegen seines Interesses fiir die klassischen Studien. Wir besitzen die
Vn. Mittelalter und Renaissance, ein Ausblick.
407
Briefe des Servatus Lupus, Abtes von Ferneres in der Diözese Sens. Er s«rv«nu Lnpo«
ist geistesverwandt dem großen Humanisten des 15. Jahrhunderts Poggio, '+•*"•
wie dieser begeistert für ciceronianische Eleganz und ein leidenschafthcher
Handschriftensammler: sogar an den Papst wendet er sich, um sich
Schriften Ciceros und Quintilians zu verschaffen, die er auf einer Reise
in Rom (849) gesehen hatte, und in seinem Bestreben, sich möglichst
reine Texte zu verschaffen, ist er den Humanisten sogar überlegen.
In einem Briefe an Einhard gibt er seiner Begeisterung für die
klassischen Studien in Worten Ausdruck, deren sich kein Humanist zu
schämen brauchte.
Für die Überlieferung der lateinischen Schriftsteller ist die karo- überiiofcrung
lingische Zeit von allergrößter, in ihrem ganzen Umfange für uns kaum s^h^f^'^uer
meßbarer Bedeutung gewesen. Viele Autoren sind uns nur in Hand-
schriften des 8. und g. Jalirhunderts sowie der ersten Hälfte des 10. er-
halten, und was wir nur in späterer Überlieferung haben, setzt doch diese
Zeit voraus, in der gerettet worden ist, was die Gleichgültigkeit der voran-
gegangenen Zeiten übriggelassen hatte. Eine deutliche Vorstellung
davon gewähren uns die aus den genannten Jahrhunderten erhaltenen
Kataloge der Klosterbibliotheken; in den wenigen uns erhaltenen Kata-
logen deutscher Klöster des g. und 10. Jahrhunderts werden 2586 Hand-
schriften kirchlicher und profaner Autoren aufgezählt, und ein Katalog
eines französischen Klosters des 9. Jahrhunderts kann mit solchen Selten-
heiten wie Tibull und ciceronianischen Reden aufwarten. Die auf die
Herausgabe der alten Klassiker bedachte Tätigkeit der römischen Aristo-
kraten des 4. — 6. Jahrhunderts (s. oben S. 378), die Klosterdisziplin Cassiodors,
die Propaganda der irischen und angelsächsischen Mönche und der
Klassizismus der karoüngischen Zeit bezeichnen die unter sich aufs engste
verbundenen Hauptetappen der Überlieferung lateinischer Schriftsteller.
VII. Mittelalter und Renaissance, ein Ausblick. Es liegt
nicht im Plane unserer Skizze, über die karolingische Zeit hinauszugehen;
nur die Stellungnahme der folgenden Jahrhunderte zur lateinischen Sprache
und zu den antiken Autoren sei hier mit wenigen Strichen gezeichnet
Die Stärke der auf die Wiederbelebung des Altertums gerichteten d« Aitettom
Bestrebungen der Karolingerzeit ließ bald nach: das Leben der Gegen- "° ^'"*'*'*"-
wart mit seinen ungeheuren Problemen trat in sein Recht und lenkte die
Gedanken der führenden Männer vom Altertum ab auf neue große Ziele
in Staat und Kirche. Das Altertum versank in nebelhafte Feme, seine
ragenden Gestalten wurden zwar nicht vergessen, aber vom Schleier der
Romantik umwoben; mit einem von abergläubischem Schauer nicht freien
Gefühl betrachtete der mittelalterliche Rompilger die Stätten der Ver-
gangenheit, die ihm sein Reisehandbuch in wunderlichen, aus Wahrheit
und Legende gemischten Deutungen erklärte. Das Latein jedoch blieb
nach wie vor die Sprache der Kirche und Wissenschaft, der gebildeten
4o8 Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter.
Unterhaltung und des diplomatischen Verkehrs. Welche Rolle das
Deutsche in den Augen der Träger kirchlicher Bildung spielte, mag man
aus der Erzählung eines Mönches von St Gallen (Ekkehard IV., f ca. 1080)
entnehmen: beim Bericht einer Dämonenaustreibung läßt er den Teufel In
seiner höchsten Not „barbarisch", d. h. deutsch reden (tot tarn ictus ferre
non sustinens barbarice clamans *au wSI mir wiT vociferavit). Während
Karl der Große vorurteilsfrei und weitblickend genug war, germanische
Heldenlieder aus dem Volksmunde sanuneln und aufzeichnen zu lassen,
haben Mönche des 10. imd 11. Jahrhunderts solche wunder\'^ollen Stücke
ältesten nationalen Heldengesanges, wie das Waltharilied, nur genießbar
gefunden, wenn sie es in vergilische Hexameter — Gott sei es geklagft —
xmldichteten. Es bedurfte erst mächtiger Geistesumwälzungen, bis die
deutsche Sprache durch Laien den ihr gebührenden Rang in der Literatur
erhielt Wie die Sprache, so blieb in den Klöstern, Schulen und Univer-
sitäten auch der Bildungsinhalt des Altertums, wenn auch noch so stark
verwässert, erhalten. Denn der aufs Nützliche gerichtete Sinn der Römer
hatte schon sehr früh dafür gesorgt, griechische Wissenschaft durch schul-
mäßige Fassung den praktischen Bedürfnissen der „allgemeinen Bildung«
zugänglich zu machen. Aus diesen bequemen Handbüchern entwickelten
sich die sogenannten sieben freien Künste, die Septem artes liberales. Wir
sahen (S. 387 f.), daß gegen Ende des Altertums Martianus Capeila diese
Lehrgegenstände in einem Werke behandelte, das dann von Cassiodor,
Isidor, Beda benutzt wtirde. Alle diese Werke erhielten im Mittelalter
fast kanonische Bedeutung, und das ist begreiflich genug: hier fand man
die Weisheit, die sich die Gelehrtesten eines Jahrtausends erarbeitet hatten,
fein säuberlich auf Flaschen gezogen imd so wohl verdünnt, daß auch
schwache Köpfe sie vertragen konnten. Und vor allen Dingen: wie alle
andern gelehrten Zeugnisse so fehlten in diesem System der artes auch
die Quellen, d. h. die bösen auctores, deren profane Namen und Aus-
sprüche manches ängstliche Gemüt hätten beunruhigen können. So kam
es, daß artes und auctores Gegensätze wurden: die „Künste" übernahm
die Kirche als unschädlich, ja als unentbehrliche Dienerinnen theolo-
gischen Wissens, die „Autoren" galten ihr als verdächtig, von Dämonen
inspiriert.
Das ist das Bild, das man gewinnt, wenn man sein Auge auf dzis
Allgemeine gerichtet hält Der Strom des Lebens drohte die Ver-
gangenheit zu überspülen und zu verschlammen. Doch gab es zum Glück
eine Unterströmung, der wir ihre Erhaltimg verdanken. Es fanden sich
zu allen Zeiten und in den meisten Ländern der westeuropäischen Kultur-
welt, vor allem in Frankreich, Männer freieren Sinnes, die sich der ver-
stoßenen Autoren annahmen. Die Klöster blieben ihrer alten Bestimmung,
die wir kennen lernten, treu: wir sehen beispielsweise Gerbert, einen
französischen Abt von Bobbio, selbst als er dann auf dem päpstlichen Stuhle
saß (als Silvester 11., \ 1003), sein besonderes Interesse den Reden Ciceros
VII. Mittelalter und Renaissance, ein Ausblick.
409
zuwenden. Schulen freisinniger Richtung treten den Hochburgen der
Scholastik entgegen, so seit dem 11. Jahrhundert die von Chartres, die in
Johannes von Salisburj' (ca. 11 10 — 1180) ihren glänzendsten Vertreter hat,
dann im 13. Jahrhundert die von Orleans: sie veiTvenden sich mutig für
die auctores gegen die artes. Ein Erzbischof von Tours (Hildebert) ver-
faßte ein Gedicht auf Rom, das er 1106 besuchte: über seinen vor-
trefflichen Versen liegt der Schimmer romantischer Sehnsucht nach der
verschwundenen Größe des alten Roms. Auch in Italien begann seit dem
II. Jahrhundert ein freierer Geist zu wehen: ein älterer Zeitgenosse
Dantes (Brunetto Latini, f 1294) übersetzt Reden Ciceros ins Italienische,
Dante selbst vereinigt in sich die scholastische Geistesrichtung mit der
klassizistischen zu einem großartigen Ganzen.
Der Boden war bereitet, in dem der Same aufgehen konnte, den nun Das AUortum
Petrarca (1504 — 1374) ausstreute. Er eröffnete mit der individuellen Freiheit j^^'". "
des Genies, das keine Autoritäten gelten läßt, die neue Zeit und war sich
dessen bewußt: „ich stehe auf der Grenzscheide zweier Zeiten und richte
meinen Blick zugleich in die Vergangenheit imd in die Zukunft" Die
Zeit der „Wiedergeburt" ist da: rcitascalur Homerns, dies Wort fallt schon
bei Petrarca; die auctores triumphieren über die artes, die man hohn-
lachend den aus der Zeit der Scholastik weiterbestehenden Artistenfakul-
täten überließ. Doch blieb die Strafe für den Hohn nicht aus: es dauerte
nicht lange, da wurden eben die klassischen auctores für die Humanisten
die Autoritäten, die sie in ihrem individualistischen Drange durch den
Bruch mit dem Mittelalter glaubten abgeschüttelt zu haben: das Joch
Ciceros und Vergils lastete auf ihnen nun nicht minder schwer als auf ihren
Vorgängern das des Augustinus und Thomas von Aquino. Noch schlimmer
für sie war ein anderes. Petrarca und seine Nachfolger, die das Latein Latein ein«
zu neuem Leben erwecken wollten, haben es in Wahrheit getötet. Denn ""* Spr»ch»
im Mittelalter hatte es gelebt: waren doch im 13. Jahrhundert Gram-
matiken und Wörterbücher entstanden, die es wie eine lebende Sprache
behandelten. Mochten die Humanisten über dieses „Mönchslatein" die
ganze Lauge ihres Spottes ausgießen, mochten sie es vergleichen mit
einem „Schlammpfuhl, in dem sich Menschen wühlen, die man besser
Schweine nenne", „Menschen, die man lieber schnarchen als reden höre":
wenn sie an die Stelle des „verkrüppelten Baumes" die Blütenpracht
ciceronianischer Sprache treten ließen, so vergaßen sie in ihrer Sehnsucht
nach Glanz und Schönheit, daß eine Sprache, die auf bloßer Nachahmung
berühmter Muster begründet war, nicht lebensfähig sei: in dem Kunst-
stile fand die geschichtliche Sprachentwicklimg ihr Grab. Die Humanisten
selbst haben, als sie das allmählich einsahen, schwer darunter gelitten;
wir dagegen danken es ihnen, daß sie durch die Beseitigung des Lateins
als lebender Sprache wider ihren Willen die Bahn freigemacht haben für
eine ungehemmte Entwicklung der modernen Sprachen. Wir sind glück-
licherweise nicht mehr so beschränkt, das Mittelalter mit den Augen der
4IO Eduard Norden: Die lateinische Literatur im Obergang vom Altertum rum Mittelalter.
Humanisten zu betrachten, die von dem Grlanz der wiedererstandenen
antiken Welt geblendet überall anderswo nur Nacht und Chaos zu er-
kennen vermochten: der geschichtliche Sinn, der den Männern der
„Eleganz" und „Eloquenz" ganz und gar fehlte, bewahrt ims vor solchen
Irrtümern. Eins aber ist und bleibt wahr. In dem großen Völkerfrühling'
der Renaissance, in dem alles keimte, was die moderne Kultur in Kunst
und Wissenschaft zur Entfaltung gebracht hat, in dem die Freiheit des
Individuums verkündet xmd dadurch die Möglichkeit großartigster £nt-
deckimgen auf allen Gebieten gegeben wurde, ist die Wiedergeburt der
Antike die eigentlich treibende Kraft gewesen: geleitet von den Autoren
des Altertums, erst den lateinischen, dann vor allen den g^echischen,
ging der moderne Mensch an die Aufgaben, die ihm die neuen Welt-
verhältnisse stellten.
Literatur.
AuBcr den oben von Leo (S. 372 f.) angeführten systematischen Werken seien hier genannt .
A. Ebert, Allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters im Abendlandc bis zum
Beginne des XI. Jahrhunderts, I' (Leipzig, 1889); doch wird in diesem, sonst verdienstvollen Werk
die Literaturgeschichte in Biographien und Inhaltsangaben aufgelöst. Der Jesuit ALEXANDER
Baumcartner hat ein Buch 'Die lateinische und griechische Literatur der christlichen Völker*
geschrieben (Freiburg, 1900), das, wenn man den Standpunkt des Verfassers gelten läßt, als
recht brauchbar zur Lektüre weiteren Kreisen empfohlen werden kann; die Darstellung reicht von
den Anfängen des Christentums bis zu den lateinischen Gedichten des Papstes Leo XIII. und
ist durch Proben, sowie zum Teil sehr gelungene Übersetzungen belebt. Eine vorzügliche
Sammlung und Sichtung des Materials bietet G. Groeber , übersieht über die lateinische
Literatur von der Mitte des 6. Jahrhunderts bis 1350, im Grundrifl der romanischen Philo-
logie II I (Straßburg, 1902). Auch W. Waitenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittel-
alter 1' (Berlin 1904) berührt sich in seinen Anfängen mit den Schlußteilen unserer Skizze.
Wichtige Untersuchungen hat L. Traube, ORoma nobilis, in den Abhandlungen der philosoph.-
philologischen Klasse der Königl. bayerischen Akademie XIX (1892} angestellt. Mit Vorsicht
benutzt ist auch das schön geschriebene Buch von A. Ozanam, La civihsation au cinqui^me
si&cle I. II. (Paris, 1862) brauchbar. Die chrisüich- lateinische Poesie wird in gemeinverständ-
licher Weise von M. Manitixjs, Geschichte der christlich -lateinischen Poesie bis zur Mitte des
VIII. Jahrhunderts (Stuttgart, 1891) behandelt.
S. 374 f. Hellenismus und Qiristentum. Aus der groBen Literaturmasse sei hier nur dasjenige
Werk angeführt, das die okzidentalische Literatur besonders berücksichtigt: GaSTON BoiSSIER,
La fin du paganisme (Paris, 1891).
S. 384 f. Ostgotische Kultur in Obcritalien: grundlegend H. USENER, Anecdoton Holderi.
Ein Beitrag zur Geschichte Roms in ostgolischer Zeit (Bonn, 1877).
S. 386. Benediktinerregel; L. Traube, Textgeschichte der regula S. Benedicti in den Ab-
handlungen der historischen Klasse der Königl. bayerischen Akademie XXI 1898 S. 601 fT.
S. 392f. Augustins Konfessionen: vgl. den schönen Vortrag von A. Harnack in seinen
'Reden und Aufsätzen' I (Gießen, 1904) S. 49 fT.
S. 394f. Aagahim de ch'itate dci: vgl.EiCKEN, System der mittelalterlichen Weltanschauung
(Stuttgart, 1887) S. 142 ff.; Wundt, Ethik I 344 ff.; A. Niemann, Augustins Geschichtsphilo-
sophie (Greifswald, 1895).
S. 398 f. Gallische Kultur: musterhaft und zur Lektüre sehr empfehlenswert G. KAUFMANN,
Rhetorenschulen und Klosterschulen, oder heidnische und christliche Kultur in Gallien
während des 5. und 6. Jahrhunderts, in: Historisches Taschenbuch, herausgegeben von
Fr. V. Räumer, 4. Folge, jo. Jahrgang (Leipzig, 1869). Derselbe geht in seiner Deutschen Geschichte
bis auf Karl den Großen, II Bde. (Leipzig, 1881) auch auf die Literatur der Übergangszeit ein.
Th. MOMMSEN, Apollinaris Sidonius und seine Zeit in den ,, Reden und Aufsätzen" (Berlin,
1905) S. I32fj.
S. 401. Venantius Fortunatus: ein lebensvolles Charakter- imd Kulturbild entwirft F.LEO
in der Deutschen Rundschau Bd. 32 (1882) S. 414 ff.
S. 402f. Irische Kultur; grundlegend die Arbeiten von H. ZIMMER, darunter für weitere
Kreise am verständlichsten: 'Über die Bedeutung des irischen Elements für die mittelalter-
liche Kultur' in den Preußischen Jalirbüchern 1887 S. 27 ff. und der Artikel 'Keltische Kirche
in Britannien und Irland' in der Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche,
3. Aufl. Bd. IG S. 204 ff. — Langobarden (S.405): F. Dahn, Langobardische Studien (Leipzig 1876).
S. 409. Zerstörung des Lateins als lebender Sprache durch den Humanismus: J. Vahlen,
Lorenzo Valla , im Almanach der Kaiseri. Akademie der Wissenschaften in Wien XIV (1864^.
DIE LATEINISCHE SPRACHE.
Von
Franz Skutsch.
Die Aufgabe Einleitung. Der Historiker, der es heute unternimmt, uns die
"uit^ers G^cschichte der Römer zu erzählen, darf nicht erst da beginnen, wo zu-
verlässige alte Berichte einsetzen. Er muß es wagen, den hellen Licht-
kreis der Überlieferung zu verlassen und den Leser weiter zurückzuführen
in das Dunkel vorhistorischer Perioden, in dem nur Rückschlüsse aus den
Verhältnissen historischer Zeit hier und da eine ungleiche Erhellung
spenden. Die Schichtung der einzelnen Völker in der Apenninhalbinsel
zur Zeit, da in ihr eine Reihe zusammenhängender Begebnisse unserem
Auge kenntlich zu werden begrinnt, wird mehr oder weniger sichere Ver-
mutungen über die Wanderungen gestatten, die die Völker gerade an
diesen Platz geschoben haben; aus den Einrichtungen des Staates und der
Religion sondert der Blick des Forschers oftmals mit Leichtigkeit Urzeit-
liches aus, das modernere Formen nicht bis zur Unkenntlichkeit zu über-
decken vermocht haben.
Andererseits wird der Historiker seine Aufgabe nicht abgeschlossen
glauben, wenn er die Römer bis zur Höhe ihrer Entwickelimg verfolgt
hat. Die Zersetzung des gfroßen Reiches ist seines Interesses nicht weniger
wert als seine wunderbare Entstehung.
Der Historiker der lateinischen Sprache darf sich sein Ziel nicht
niedriger stecken. Auch für ihn beginnt die Geschichte der Lateiner nicht
mit dem ältesten Sprachdenkmal, auch für ihn schließt sie nicht mit den
Schriftstellern, die die Geschichte der römischen Literatur als letzte auf-
zuführen pflegt Vielmehr muß auch er nach der einen Seite den Schritt
ins vorhistorische Dunkel wagen und ihn nach der anderen Seite hin nicht
hemmen, wenn der Zersetzungsprozeß für die lateinische Sprache beginnt
Ja, er schreitet in die Urzeit sicherer hinein als der Historiker, da ihm
nicht bloß das Mittel der Rückschlüsse aus den italischen Verhältnissen zu
Grebote steht, sondern auch die Vergleichimg mit den verwandten Sprachen.
Und der Zersetzungsprozeß anderseits hat für ihn ein um so lebhafteres
Interesse, da er ihn schon Jahrhunderte vorher sich anbahnen und aus ihm
wieder Sprachen hervorgehen sieht, die der stolzen Mutter würdige Töchter
sind, — die romanischen.
Einem Werke wie das vorliegende schien es gemäß, selbst da nicht
Halt zu machen, sondern in einer flüchtigen Skizze wenigstens zu zeigen,
wie das Latein auch mit seinem Tode nicht stirbt Nicht nur die alte
I. Die uritaliscbe Sprache.
4»3
Kultur, sondern auch die des Mittelalters und der Neuzeit hat es so
vielfach zum Kleide ihrer gewaltigsten Gedanken gewählt, daß davon zu
schweigen untunlich war, obschon gerade hier dem Gegenstande nur
der einigermaßen gerecht werden kann, der diese ganze Gedankenwelt
durchwandert zu haben sich rühmen dürfte.
I. Die uritalische Sprache. Ihre Stellung im Kreise der
indogermanischen Sprachen. Viele hundert Jahre vor Beginn unserer
Zeitrechnung wanderte von Norden her ein Zweig der indogermanischen
Sprachgemeinschaft, der auch die Germanen, Griechen, Kelten, Slawen und
Inder angehören, in die Apenninhalbinsel ein. Der Strom dieser Einwanderung
hat fiir uns alle kenntlichen Spuren früherer Bevölkerungen und Sprachen
der Halbinsel vernichtet. Höchstens die Ligurer, die noch in historischer
Zeit um den Golf von Genua sitzen, einst aber, wie die eigentümliche
Formung mancher Ortsnamen zeigt, bis ins Veltlin hinauf gewohnt haben
mögen, könnten etwa ältere Einwohner gewesen sein. Aber auch den
Ligurem sprechen wir die Möglichkeit früherer Anwesenheit in Italien
nur darum zu, weil die Nachrichten des Altertums über dies Volk so
dürftig sind, daß sie nicht einmal seine sichere Einordnung in eine be-
stimmte Völker- und Sprachengruppe erlauben.
Waren die Ligurer früher da, so hat sie doch jedenfalls der Vorstoß
der indogermanischen Italer auf jenes engere Gebiet eingeschränkt und
ganz Italien, wie es scheint mit Einschluß von Sizilien, in allmählichem
Vordringen ausgefüllt. Diese älteste für uns kenntliche Einwohnerschaft
Italiens, von der die Römer Abkömmlinge sind, redete zur Zeit der Ein-
wanderung eine Sprache, die die Züge der alten indogermanischen Mutter
vielfach noch mit großer Treue bewahrte, vielfach freilich charakteristische
Eigentümlichkeiten gegenüber den anderen indogermanischen Schwestern
schon damals entwickelt hatte oder doch bald nachher gewann. Noch
erklang in ihr der alte indogermanische Vokalismus mit so g^t wie un-
geschmälerter Fülle: die fünf Vokale a e i o u mit ihren Längen, die i- und
«-Diphthonge ai ei oi au ou\ und nur das eu ging bald in ou auf. Wie
das Latein späterhin diesen reichen von den indogermanischen Grroßvätem
ererbten Bestand sehr zu Ungunsten des Vollklangs der Sprache ein-
schränkte, davon wird bald zu reden sein; was die Diphthonge angeht,
so kann sich jeder ohne weiteres davon überzeugen, der ein paar be-
liebige lateinische Sätze liest. Auf dem Gebiet des Konsonantismus steht
selbst das Latein der historischen Zeit noch der indogermanischen Ur-
sprache recht nahe; es hat sogar so charakteristische Klänge wie das
gu in que 'und' quis 'wer' aus der voritalischen Zeit des Indogermanischen
ererbt. Im Formensystem war am konservativsten die Deklination. Das
alte Italische hatte außer den sechs Kasus, die jedem aus seiner
lateinischen Schulgrammatik bekannt sind, vom Indogermanischen auch
einen auf die Frage „wo?" antwortenden Kasus, den Lokativ, über-
Indogermaniscbe
Einwaadrmnff
in die Ap«tin»i>
hjUbia»eL
r>ie Sprache der
Kinwanderer :
AUertümlichea
J
io Volulinmaa
Konsonantismiu
Flexion.
414 Franz Sklittsch: Die lateinische Sprache.
nommen, der selbst im Lateinischen noch als rudimentärer Überrest vor-
kommt Außer dem Singfular und Plural, die ebenfalls jeder aus der-
selben Quelle kennt, gab es als Ausdruck der Zweiheit den alten Dual,
der auch noch bis ins Sonderleben des Lateins hineingeragt hat; alle
diese Formen aber erfreuten sich im wesentlichen der alten indogerma^
nischen Endungen ohne allzuviel Abschleifiingen oder sonstige Verände-
rungen.
Neuerungen in Im Gcgensatz ZU diesem Konservativismus sind, wie gesagt, auch
^mn^Md*" ^" charakteristische Neuerungen bereits im frühesten Italischen vollzogen.
Ak«ent Wenn die indogermanische Mutter betonte Silben im ganzen höher sprach
als unbetonte, so ist das Italische daizu übergegangen, sie stärker zu
sprechen; um es technisch auszudrücken: aus dem musikalischen Akzent
ist ein exspiratorischer geworden. Es war eine Änderung, die weiterhin
den lautlichen Habitus einzelner italischer Sprachen, besonders aber
des Lateinischen, aufs stärkste beeinflußte. Der exspiratorische Akzent
nämlich ist es gewesen, der die sogenannte Synkope zuwege brachte,
das Verschwinden kurzer Voksde in der Silbe nach dem Akzent Lateinisch
cdlidus 'warm' ist nicht erst im Italienischen zu caldo geworden, sondern
schon die Römer kennen auch die durch eben jenen Einfluß des Akzents
Uotuche« hervorgerufene Form caldus. — Unter den Veränderungen einzelner Laute
heben wir als eine markante Eigentümlichkeit des Italischen die Be-
handlung der indogermanischen sog. Aspiraten hervor. Das Indogermanische
kannte Verbindungen von b, g, d mit einem folgenden //, die sich im alten
Indischen imverändert erhalten haben; diese eigenartigen Laute sind im
It£ilischen zunächst zu sog. Spiranten geworden, das bh zu f, das gh zu
ch (wie unser deutsches ch gesprochen), das dh zu th (gesprochen wie
englisch th in thank thtnk). So steht neben indisch bhrätar 'Bruder'
lateinisch /rater. Das th hatten einzelne italische Dialekte noch im
5. Jahrhundert v. Chr. bewahrt, wie die merkwürdige Geschichte unseres
Wortes Liter zeigt: es geht auf griechisch Iura 'Pfund' zurück, xmd dies
ist eine lautlich nicht genaue Entlehnung der vmteritalischen Griechen
aus italisch lithra 'Pfimd'. Die meisten italischen Dialekte aber
hatten damals das //; bereits weiter in / gewandelt, so daß in ihnen z. B.
das Wort für Pfund li/ra klang. — In der Formenlehre zeigt das Verbum
Form.iies. deu Stärksten Riß zwischen Gemeinindogermfinisch \md Italisch. Wohl
ist in den Personalendungen vmd ähnlichen formativen Elementen (z. B. dem
des Konjunktivs oder Optativs) das Alte im allgemeinen gewahrt, aber
von den Tempora zeiget nur Präsens und Futurum das alte aus dem
Grriechischen und anderen Schwestersprachen bekannte Aussehen; für die
übrigen Tempora sind neue Bildungen im Werden, für djis Pzissivum die
mit dem Charakter -r-, die wir nachher in ihrer vollsten Ausgestaltung im
S)Titakt«ch- Latein wiederfinden {amor amarts amatur usw.).
ttou^hkrit^*Im Schwieriger ist es, jene Urzeit auch syntaktisch und — wenn
Uiitaiuchen. man uns das Wort erlauben will für eine Zeit, der schriftlicher Aus-
I. Die uritalische Sprache.
4»5
druck Jedenfalls noch sehr fremd war — stilistisch zu charakterisieren.
Immerhin lassen sich einzelne Züge aus der Übereinstimmung der ein-
zelnen italischen Sprachen unter sich, aber auch mit den anderen
indogermanischen Sprachen erschließen. Gewisse Wörtchen, die den
modernen Sprachen in jedem Satze unentbehrlich scheinen, die uns
gewissermaßen der Mörtel zwischen den einzelnen Steinen dünken,
aus denen wir einen Satz aufbauen, waren überhaupt nicht vorhanden
oder konnten wenigstens fehlen. So wußten die alten Italer nichts FeUen <1m
von bestimmtem und imbestimmtem Artikel, wie wir auch im Latein '^™''*'*-
nur hier und da einmal schwache Ansätze zu der reichen romanischen
Entwicklung dieser Wortkategorie erscheinen sehen. Die Präpositionen
waren noch eingeschränkt durch die vorhin geschilderte reiche P'üUe
des Kasussystems: Wendungen wie „in dem Hause", „aus dem Hause", Knappboit dor
„durch die Waffen" ließen sich daher durch ein Wort wiedergeben,
^unmBtiicheti
Fonnen
wie das ebenfalls noch aus dem Lateinischen jedem Schüler geläufig
wird. Ganz gewöhnlich fehlt beim Verbum die Bezeichnung der Person
durch ein besonderes Pronomen, das „ich" und „du", ja für „er",
„sie" und „es" haben sich nur sekundär in den einzelnen italischen
Sprachen Ausdrücke herausgebildet. Noch mehr Knappheit hat das
Verbum der italischen Urzeit und so auch das lateinische vor unserm
deutschen dadurch voraus, daß auch die Modi im ganzen nicht mit Hilfe
so weitläufiger Umschreibungen wie könnte, möchte, würde, sondern nach
altindogermanischer Art durch eine einheitliche Form ausgedrückt werden.
So kann man, wenn man das vorhin gebrauchte Bild vom Mörtel wieder
aufgreifen will, die Struktur des ältesten Italischen gewissermaßen als
zyklopisch bezeichnen. Daß diese Struktiir in dem historischen Latein
noch vielfach fortdauert, haben wir schon erwähnt; sie ist es, die, nament-
lich wo sie von Dichtern und Rhetoren als Mittel für ihre Zwecke benutzt
wird, jene einzig knappe und markige Redeweise gestattet, in der alles
nicht unbedingt zum Ausdruck des Gedankens Nötige verflüchtigt, der
Gedanke selbst wie konzentriert erscheint. Portes furtunn adiuvat 'Tapfeniundde»g»amt«n
hilft (das) Glück', /ac/«w7, non fabula 'Tatsache, nicht Fabel', oderint dum ^■»■»ruck..
meiuant '(sie mögen mich) hassen, wofern (sie mich nur) fürchten' und
wieviel Sprichwörter, geflügelte Worte und Zitate aus den in der Schule
gelesenen Autoren können als Beispiel dienen. Wie Hammerschläge, von
denen jeder voller Wucht den Nagelkopf trifi't, klingt das odi profanum
vulgus et arceo, und einen Übersetzer, der das empfindet, muß das
müßige Nebenherklopfen des „ich" und „das" und „es" im Deutschen
an seiner Aufgabe verzweifeln lassen. Und von wie vielen anderen Sen-
tenzen im Horaz und Vergil und gar erst etwa im Tacitus wäre das gleiche
zu sagen.
Was den Eindruck zyklopischen Baues noch erhöhen mußte, war, daß Beiordauoc »u
es jenem Uritalischen an der Fülle satzverbindender Partikeln gebrach, wie *'""*''" i»"-
wir sie schon im homerischen Grriechisch und auch im späteren Latein
^.i6 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
entwickelt sehen. WoM hat es nicht an einem Wort für „und", „oder"
und „aber" gefehlt, aber was von feineren Nuancierungen und Speziali-
sierungen dieser Begriffe etwa dem klassischen Latein eigentümlich ist,
weist sich meist schon durch seine £t3niiologie als verhältnismäßig junge
Errungenschaft aus. In noch erhöhtem Crrade gilt dies von jenen Wörtchen,
mit denen in der Zeit der kunstvoll sich aufbauenden Periodisierung die
Abhängigkeit der Sätze voneinander bezeichnet wird, den „als" und „weil"
und „da". In diesen Dingen stellt der ciceronische Stil den Gegenpol
dessen dar, was im Uritalischen für den Satzbau gegolten haben mufi^
obwohl man auch im historischen Latein, wenn man wollte, noch mit
derselben rauhen Simplizität reden konnte wie die Altvordern: wenn der
alte Cato sagte rem tene, verba sequentur 'halte (die) Sache, (die) Worte
(werden) folgen' d. h. 'wenn Du Deiner Sache sicher bist, werden Dir
auch die Worte dafür nicht fehlen', so kann man sich daran, mag auch
die Ausdrucksweise naiver scheinen, als sie ist, doch eine Vorstellung
bilden, wie einfach der alte Satzbau war, ohne daß er an Deutlichkeit
und selbst an Wirkung einzubüßen brauchte.
AUitention. Endlich für ein letztes „Stilistisches", das wir jenem uritalischen
Idiom zuschreiben, können wir ims auf die oben schon genannten Sprich-
wörter fortes fortuna adiuvat und factum, non fabula berufen: es ist die
Vorliebe für gleichen Anlaut benachbarter Wörter, die, auch anderen ver-
wandten Sprachen nicht fremd, uns besonders aus dem Germanischen ge-
läufig ist, die Alliteration, die gern noch über den ersten Laut hinausgpreift.
Wie fest sie im Italischen wurzelte, wie zäh sie sich hielt, zeigt — um vom
Zeugnis ältester volkstümlicher Poesie ganz abzusehen — eine Menge
weiterer bekannter Redensarten, die zum Teil bis ins Romanische fort-
gedauert hat, wie satis superque 'genug und übergenug', /ortunae filius
'Glückskind', ptirus putus 'unverfälscht', cras credo 'morgen glaube ich's
(heute nicht)', sanus salvus 'imversehrt' = altfranzösisch sauf sain, cor
corpusque = altfranzösisch cors euer usw. Das Alter und die Bedeutsamkeit
der Alliteration bezeugen femer z. B. nicht wenige zweiteilige Göttemamen
wie Dea Dia, Fors Fortuna, Juno Juga, Mater Matuta und Namen von
Götterpaaren wie Püumnus und Picumnus. Auch dieser uralten Sprach-
eigentümlichkeit hat sich natürlich späterhin Poesie und Kunstprosa mit
Raffinement zu bedienen gewußt
AngebUche Die geschilderten und andere Züge schienen einem fi-üheren Philo-
B«iie^"* imn ^°^®°8^®^^^^®*^^* ausreichend, um das Uritalische nicht bloß der indo-
Griechischea germauischen Sprachenfamilie zuzuweisen, sondern es auch innerhalb
and Keltischen, (jjgggg Kreises in nähere Beziehimgen zu setzen. Während die einen
zwischen dem Italischen und dem Giriechischen ein engeres Verwandt-
schaftsband knüpfen zu dürfen meinten, glaubten die anderen eine be-
sonders große Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Keltischen zu erkennen.
Diesen Annahmen gegenüber ist man heute um so skeptischer geworden,
als die wirklich auffalligen Entsprechungen zwischen Latein und Criiechisch
II. Die dialektale Gliederung des Italischen.
417
sich der fortschreitenden Forschung mehr und mehr als unursprünglich ent-
puppten. Wir werden noch davon zu reden haben, welchen Einfluß die
fortdauernden Beziehungen zwischen Griechen und Römern in historischer
Zeit auf die Sprache der Römer geübt haben, wie diese sich mehr und
mehr mit griechischen Lehnworten, Konstruktionen und selbst Wort-
bildungen durchsetzte. Daß das alles nichts für eine engere Gemeinschaft
in Urzeiten besagen kann, ist unzweifelhaft; was aber außerdem an beson-
deren iVhnlichkeiten zwischen Latein und Griechisch existiert, genügt ebenso-
wenig wie gewisse Berührungen mit dem Keltischen zum Beweis, daß das
Latein diesen Sprachen näher gestanden habe als etwa dem Slawischen.
n. Die dialektale Gliederung des Italischen. Die Verteilung zerfau in «m-
einer Volksmasse über eine so ausgedehnte Räumlichkeit wie die Apennin- ""'^^' Dialekte:
halbinsel muß — namentlich in Zeiten, wo der Verkehr über keine oder
nur primitive Mittel verfugt, wo jeder höhere Gebirgsrücken, jeder breitere
Flußlauf den Zusammenhang der Bevölkerung empfindlich unterbricht, und
wo keinerlei Schriftsprache der Neigung zum Zerfall entgegenwirkt —
zur Spaltung in Dialekte führen. Tatsächlich ist die Anzahl der (noch
immer lange vor der historischen Zeit) entwickelten Varietäten der ita-
lischen Sprache sehr beträchtlich gewesen. Nicht wenig davon hat Über-
schwemmung mit späteren sprachfremden Einwanderern hinweggespült,
von der unser dritter Abschnitt zu reden haben wird; der Rest ist uns
großenteils nur durch eine dürftige inschriftliche Überlieferung bekannt
— und doch können wir noch eine Fülle von Spielarten imd Spielarten
der Spielarten unterscheiden. Hier muß es genügen gerade so viel zu
sagen, als nötig ist, um dem Lateinischen, der einen dieser Spielarten,
unter den Geschwistern seinen richtigen Platz anzuweisen. Von diesen
treten zwei noch für uns besonders kenntlich hervor. Das eine ist
die Sprache der Bewohner Umbriens, die wir aus ziemlich umfangpreichen da» UmbriKh«
Inschriften sakralen Inhalts kennen, das andere die der Samniten, die von
ihren Sitzen in den Hochtälern des Zentralapennins heruntersteigend im
5. Jahrhundert Campanien sich und ihrer Mundart, die dort Oskisch ge- da» OiUKb«
nannt ward, unterwarfen, aber auch in anderen Teilen Unteritaliens sowie
in Sizilien Sprachdenkmäler hinterlassen haben. Das Umbrische und das
Oskische stellen gewissermaßen die Extreme der italischen Sprach-
entwicklung dar; wenn das letztere jene Fülle der Diphthonge, von
der vorhin die Rede war, so unverfälscht bewahrt hat wie unter den
anderen indogermanischen Sprachen nur noch das Griechische, so ist
im Umbrischen ihre Vereinfachung weiter fortgeschritten als selbst im
Lateinischen; was hier aui 'oder' heißt, ist dort o/e. Zwischen diesen beiden aie anderen.
Polen bewegt sich die Menge der übrigen auch örtlich zwischen Umbrem
und Samniten raitteninne liegenden Dialekte, teils dem einen teils dem Abweichuefen
anderen stärker zustrebend. Die ganze Masse aber schließt sich in ge- ^ ^^d,,
wissen Eigentümlichkeiten ganz entschieden zu einer Einheit gegenüber
Du KutTua OKK GsontwAaT. L 8.
4i8
Franz Skütsch: Die lateinische Sprache.
^^H dem Latein zusammen. Was in diesem qu ist, zeigft sich in jener oskisch-
^^m umbrischen Gruppe als^.- qjtts 'wer' wird za pis, que 'und' wird z\y pe\ dasy
^^H aber, das wir vorhin in f rater und lifra als einen spezifisch italischen Laut
^^B erkannten, wird im Lateinischen, wenn es inmitten eines Wortes steht, zu b:
W so heißt es zvinr /rater auch im Lateinischen weiter, aber italisches It^ra
■ 'Pfund' wird zu libra.
i>u LaMiniiche Im letzteu Punkt hat nicht einmal der Dialekt dem Lateinischen
d*r u!ri^ Heeresfolge geleistet, der sonst getreulich mit ihm geht und das quis und
L quc allein mit ihm teilt, das Faliskische. Die Tatsache ist darum von
^^^ besonderem Interesse, weil sie zeigt, wie eng der in Rom gesprochenen
^^B Mundart der Latiner, dem Lateinischen, die Grenzen gezogen waren.
W Die Stadt Falerii, deren Sprache das Faliskische ist, liegt kaum sechs
' Meilen nordwärts von Rom, aber zwischen die beiden Städte schiebt sich
Seine »nprUog- noch ein Streifen etruskischen Gebietes. Nach den anderen Himmelsrich-
uchen Greaiea. ^„g-g^ Stand es uicht besser. So weit wie Falerii nach Norden ist nach
Süden das Gebiet der Volsker und ihrer Sprache entfernt Noch näher
^^^ liegt nach Osten hin Präneste, das heutige Palestrina, dessen von den
^^B Komikern verspottete Abweichungen vom Stadtrömischen freilich nicht
^^H allzu erheblich gewesen zu sein scheinen; aber eine scharf einschneidende
^^H Sprachscheide bildete jedenfalls das bald hinter Präneste aufsteigende Hoch-
^^H gebirge. Nach Westen endlich setzte das Meer die engsten Schranken.
^^H So schätzt man das ganze Gebiet der Latiner, die Keimzelle der welt-
^^^ beherrschenden lateinischen Sprache, noch für die Zeit um 400 v. Chr. auf
P nicht mehr als etwa 50 Quadratmeilen.
Ambreitong. Wie von hier aus das Lateinische um sich gegriffen, wie es erst das
L italische Festland imd die Inseln, dann die anderen Länder erobert hat, in
t^ denen heute romanische Sprachen gesprochen werden, dcirüber hinaus aber
^^1 manches Gebiet in fremdem Erdteil, das erst nachträglich der römischen
^^B Zunge wieder abgerungen worden ist (so Nordafrika) — dies auch nur in
^^^ großen Zügen erzählen hieße dem Historiker ins Handwerk pfuschen. Ahn-
P liches hat nur etwa der zu berichten, der die Geschichte Englands und der
Vertinaglug englischcn Kolonien erzählt Nur so weit soll darauf hier eingegangen
der udmn y^erden, als es sich um die Überwältigung der italischen Brüder handelt
luluchea Dil- ' o o
lektc. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts können sie als unterworfen gelten,
ihr Grebiet ist von römischen Ansiedlem durchsetzt und damit auch das
Schicksal ihrer Mundarten entschieden. Ihre spätesten sicher datierbaren
Denkmäler sind die Münzen, die bei der letzten vergeblichen Erhebung
der Italer gegen Rom 90 v. Chr. mit oskischer Aufschrift imd dem Münz-
bild des gegen die römische Wölfin kämpfenden italischen Stieres geprägt
worden sind. Von da an sind die Dialekte aus allem offiziellen Gebrauch
verschwunden; in privatem Verkehr, in entlegenen Gebirgswinkeln mögen
sie noch lange vegetiert haben, aber in den modernen italienischen Dialekten
kann man nichts auf sie zurückführen als höchstens hier und da einmal
eine Neigung zu gewissen Laut\'erbindungen.
ni. Die sonstigen Sprachen der Apenninhalbinsel und ihr Verhältnis zum Lateinischen. 41g
Aber der Sieger selbst sicherte wenigstens einzelnen Worten des Enüehnongen
oskisch-umbrischen Lexikons Dauer in seiner eigenen Sprache. Wenn *
die urzeitlichen Verhältnisse den Zerfall in Dialekte herbeiführten, so folgte
daraus bei zunehmendem Verkehr eine um so größere Leichtigkeit der
Entlehnung hin und her. Für den Römer lag sie besonders nahe, wo
ihm im Gewände der fremden Mundart eine überlegene oder wenigstens
in Einzelheiten imponierende Kultur entgegentrat. So ist ihm eine
Anzahl Ausdrücke auf dem Gebiete der Viehzucht von einem der anderen
italischen Stämme zugekommen, die darin ihre besondere Stärke hatten:
sowohl bos 'Rind' wie scro/a 'Schwein' (lateinisch wäre, wie wir oben
gesehen haben, scroba) sind in ihrer Lautform unlateinisch, dagegen
oskisch und umbrisch. Aber auch andere Stücke des lateinischen Wort-
schatzes sind den gleichen Weg gekommen: rii/us 'rot', das vielleicht auch
vorzugsweise ein Ausdruck der Viehzüchter war, neben ruber mit echt
lateinischem b, poplna 'die Garküche' neben coquere 'kochen', wo wir das
Verhältnis /.• qu wiederfinden, u. a.
IIL Die sonstigen Sprachen der Apenninhalbinsel und ihr ihc ubngfo
Verhältnis zum Lateinischen. Nicht nur die eigenen Brüder mußte sp'»^''™
° Italient.
das Latein besiegen, um selbst Italien zu beherrschen. Der alten urzeit-
lichen Einwanderung der Italer sind in späterer Zeit, teilweise schon
im Lichte der Geschichte andere gefolgt, die Italien zu einer Musterkarte
indogermanischer, aber auch anderer Sprachen gemacht haben, bis die
Uniformierung durch das I^tein erfolgte. Auch von diesem Kampfe trägt
der Cberwinder manche Spuren in Form von Entlehnungen aus den unter-
legenen Sprachen dauernd an sich. Am wenigsten haben auf ihn die Be-
siedler der Nordost- und der Südostecke Italiens, die Veneter und Messapier ven<.ii»cb uJ
gewirkt, deren Zugehörigkeit zu dem indogermanischen Stamm der "•"*»"=''
Illyrier wenigstens als wahrscheinlich gelten darf. Dagegen waren die
zahlreichen Niederlassungen der Griechen in Süditalien und Sizilien zwar GriecUicii.
gewiß nicht der einzige Quell, der griechische Wörter in die lateinische
Sprache ergoß, aber jedenfalls einer der ältesten und einer, der ohne Unter-
brechung sprudelte. Wie früh und wie intensiv die Berührung war, zeigt
am deutlichsten wohl die Tatsache, daß Kyme oder Cumae in Campanien,
eine Pflanzstadt von Chalkis auf Euböa, wie anderen Völkern Italiens so
auch den Römern schon vor dem 6. Jahrhundert das Alphabet geliefert
hat. Auch einiges aus dem Sprachschatz der Kelten, die etwa um Keitueh.
500 V. Chr. über die Alpen drangen und nach wiederholten Vorstößen gegen
Süden in der Poebene dauernd seßhaft blieben, ist ins Latein übergegangen.
So namentlich eine Anzahl Ausdrücke für das Fuhrwesen, dergleichen
noch zur cäsarischen Zeit der veronesische Dichter Catull in der römischen
Literatur heimisch machte.
Neben den drei indogermanischen Stämmen aber blieb auch ein ganz EtnuUwh.
fremdartiger nicht ohne Einfluß auf die Sprache der Römer. Zwischen
27*
^20 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
die italische und keltische Einwanderung fallt die der Etrusker. Woher
dies Volk gekommen ist, würden wir sagen können, wenn wir seine
Sprache zu irgendwelcher sonst bekannten in verwandtschaftliche Be-
ziehung setzen könnten. Aber obwohl wir Tausende von etruskischen In-
schriften, ja sogar ein etruskisches Buch besitzen, hat das nicht gelingen
wollen; und was wir vom Etruskischen verstehen, reicht nur eben gerade
hin, um mit Bestimmtheit sagen zu können: Indogermanen sind die Etrusker
nicht gewesen. Und doch hat auch hier eine vor der römischen erblühte
Kultur imd ein politischer Einfluß, der um 500 v. Chr. von den Alpen bis
nach Campanien hinein sich erstreckte imd sich erst später auf das noch
jetzt von den Etruskem den Namen tragende Toscana einschränkte, dahin
gewirkt, daß Etruskisches sich ins Latein mischte. Freilich die Vermutung»
dafi einzelne technische Ausdrücke auf dem Gebiete des Sakral-, des
Kalender-, des Theaterwesens (z. "R. persona 'die Maske*) von den Etruskem
stammen, darf mtm, obwohl sie durch die Nachrichten der Alten manche
Stütze empfängt, nur mit äußerster Zurückhaltung wagen. Aber sicher
steht solcher Ursprung für einen großen Teil des Namensschatzes — zum
deutlichen Zeichen, daß hinter der Sage von den Tarquiniem, den
römischen Königen etruskischen Stanunes und Namens, ein greifbarer
Kern sich birgt Und wie überall, wo eine Sprache einer anderen Worte
in gprößerer Fülle entlehnt, kamen mit den etruskischen Namen wohl auch
manche formative Elemente, manche Endungen ins Lateinische hinüber.
EatMn«i(« Ober solche Anleihen lexikalischer und formaler Natur ist das Latein,
•U^T~ soviel wir sehen, nur beim Grriechischen hinausgegangen. Aus g^anz
beg^iflichen Ghründen. Etruskisch und Keltisch, Venetisch und Messapisch
schwanden auf dem italischen Boden vor dem Latein dahin, genau wie
Oskisch und Umbrisch. Wohl soll es noch zur Zeit Julians des Abtrünnigen
Opferschauer gegeben haben, die ihre Weisheit aus etruskischen Büchern
holten, aber es war zweifellos schon eine tote Sprache, in der diese Ge-
heimnisse fortgepflanzt wurden, genau wie das Hebräisch der Syni^ogen.
Keltisch und Illyrisch aber lebten zwar in den Ländern jenseits der Alpen
und des Meeres fort, aber sie hatten auch dort keine Kultur hinter ach,
die die Römer zu weiteren Entlehnungen hätte veranlassen können.
b««wdm Anders standen die Römer den Griechen gegenüber. Griechisch redende
UriKkton!«. B^^'ölkerung blieb in Süditalien immer seßhaft, und das Mutterland, von
dem sie ausgeg^angfen war, fing früh, mindestens seit dem Ende des
4. Jahrhunderts v. Chr., auch unmittelbar mit allem Zauber einer selbst von
den politisch überlegenen Römern fast ausnahmslos als unerreichbar
anerkannten Sprache und Literatur auf die .Barbaren*' zu wirken an.
Nach solchen Vorbildern scheute man sich nicht, auch Syntax und Stil in
Rom zu modeln; und nicht einmal, sondern wieder und wieder mußte es
sich das Latein gfe^dlen lassen über den griechischen Kamm geschoren
zu werden. Ja man darf s£^;en, die Geschichte des lateinischen Stiles auf
seiner Höhe und in seinem Ver&Il ist unverständlich für den, der nicht
IV. Das älteste Latein bis zum Beginn der Literatur.
42X
ständig seinen Blick auf die griechischen Muster gerichtet hält, wie das
unser Abschnitt über die Schriftsprache (VI) im einzelnen zeigen soll. Bei
der Volkssprache kann weder von einem so bewußten noch von einem ähnlich
weitgehenden Anschluß an das Griechische die Rede sein. Und doch zeigt
allein schon die etymologische Analyse der auf ihr beruhenden romanischen
Sprachen auch hier einen starken Beisatz griechischer Elemente nicht nur
zum Lexikon, sondern auch zu Wortbildung und Syntax auf. Es wird auch
für weiterhin folgende Betrachtungen nicht überflüssig sein, dies mit ein
paar Beispielen zu bekräftigen. Sowohl französisch coup^ italienisch colpo
'Schlag' wie französisch blämer (älter blasnier)^ italienisch biasimarc 'tadeln'
gehen auf griechische Worte zurück, jenes z.\xi kolaphos 'Ohrfeige', 'Schlag',
das wir auch aus der römischen Literatur als griechisches Lehnwort
kennen, dies auf blasphevicin 'tadeln', aus dem wir unser blasphcmüren
entlehnt haben. Wenn hier das ganze Wort griechischen Ursprungs ist,
so in französisch princessc comtesse d/esse usw. die das Feminin ausdrückende
Endung; sie lautet im Lateinischen wie im Griechischen, das sie geschaffen
hat, gleichmäßig -issa. Syntaktisch aber wird der Römer aus dem Volke
zum Gefolgsmann des Griechen, wenn er ihm die Präposition cata entlehnt
und aus cata unum 'zu je einem' das Pronomen schafft, das den Italienern
zu ciascuno, den Franzosen zu chacun geworden ist
IV. Das älteste Latein bis zum Beginn der Literatur. Mancher Die inKhrift
Leser erinnert sich vielleicht noch, daß im Jahr iSgg ein Inschriftfund auf *"= '°™°-
dem römischen Forum das Interesse sogar der Tageszeitungen erregte.
Unter einem schwarzen Pflaster, das man im Altertum für das Grab des
Romulus gehalten zu haben scheint, fand sich eine verstümmelte Säule,
die in etwa anderthalb Dutzend Worten einen kärglichen Inschriftrest träg^
Sowohl die Fundumstände wie die Altertümlichkeit der Sprachformen und
der Schrift lassen die Annahme nicht allzu verwegen erscheinen, daß dies
Denkmal etwa aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. stammt; jedenfalls haben wir
hier das älteste stadtrömische Latein vor Augen. Vergegenwärtigen wir
uns den Zustand der Sprache, den wir durch diese Inschrift kennen
gelernt haben. Jene Lauteigentümlichkeiten, die das Latein, wie vorhin Das Latein im
angegeben, gegen das Oskisch-Umbrische differenzieren, sind schon vor- * J»'»'^™«'"*
banden, aber im übrigen ist der Unterschied gegenüber dem Latein, wie
wir es auf der Schule lernen , noch ein gewaltiger. So heißt es z. B. statt
sacer 'heilig' sakros, statt iusto 'durch den Gerechten' iovestod, statt iumenta
'Zugvieh' touxmenta. Wie sich das im einzelnen zu den uns geläufigen
Formen entwickelt hat, sind wir nicht in der Lage zu verfolgen, weil aus
den nächstfolgenden Zeiten nur wenige Sprachdenkmäler und alle geringen
Umfangs erhalten sind. Eine zusammenhängende und ausgiebige Reihe
von inschriftlichen und literarischen Monumenten setzt erst gegen Ende
des 3. Jahrhunderts ein; erst von da ab ist eine wirkliche Geschichte
wenigstens des schriftlich fixierten Lateins möglich. Diese Geschichte aber
4*«
Fkauz Skctsch: Die lateinische Sprache.
.Chr.
XltMter
•tiUstiicber Ein-
flafl des Grie-
chücben.
KBn«
de« Atudmcks.
Skmpulositmt
6mä Aiudmckt.
ist im wesentlichen nur eine Greschichte der Syntax und des Stiles, denn
die Deklinations- und Konjugationsformen haben von jenem Zeitpunkt ab
nicht mehr so gewechselt, daß nicht, wer den ciceronischen Brauch kennt,
ohne weiteres imstande wäre, im ganzen auch die Komödien des Plautus
zu verstehen, die um 200 v. Chr. geschrieben sind. Die Vorgänge also,
die dem Latein im wesentlichen die Form gegeben haben, die wir aus der
Schulgrammatik kennen, jene schweren lautlichen Verstümmelungen, wie
sie sakros, iovestod und touxmenta erfahren haben, dürften etwa dem 5. und
4. Jahrhundert v. Chr. angehören. Teils in diese Zeit, teils 100 bis 150 Jahre
später fallen auch die Beeinträchtigungen des alten bunten Vokalismus,
von dem eingangs die Rede war: die Diphthonge werden zu einfachen
Vokalen (/ oder 0), at wenigstens zu ae, nur au bleibt erhalten (claudo
'ich schheße' usw.); die kurzen Vokale im Wortinnem werden alle zu t oder /
(cädo 'ich falle', aber concldo 'ich falle zusammen', rigo 'ich richte', aber
erlgo 'ich richte auf, canius 'der Gesang', aber concentus 'das Zusammen-
singen'). Und so viel vokalischen Vollton auch das Latein noch nach dieser
Schmälerung besitzt und UcmienÜich imter den Händen eines geschickten
Stilkünstlers entfalten kann, so fallt bisweilen ein gewisser spitzer und dünner
Klang, ziunal bei unachtsamer Behandlung, minder angenehm ins Ohr.
In diese älteste uns einigermaßen kenntliche Periode der Sonder-
existenz des Lateinischen fallt aber auch schon die erste stilistische Be-
einflussung durch das Grriechische. Ob die Leute, die mit der Abfassung^
des Gesetzbuchs der 12 Tafeln (451/450) betraut waren, wirklich vorher
eine Kommission nach Athen geschickt haben, um dort die solonischen
Gesetze zu studieren, hat man ebenso bezweifelt, wie die tätige Mit-
wirkung eines Griechen bei der Kodifikation in Rom. Was aber griechische
Lischriftfimde der letzten Jahrzehnte sichergestellt haben, ist, daß Formeln
und Satzformen der 12 Tafeln vielfach nach griechischem Muster gestaltet
sind. „Wenn (jemsrnd) nachts stiehlt, wenn der Bestohlene ihn tötet, soll
(er) zu Recht getötet sein." „Wenn (jemand einen anderen) vor Gericht
lädt, (so) soll (dieser andere) folgen. Wenn (er) nicht folget, soll (der erste)
einen Zeugen nehmen, dann soll (der erste) ihn (den anderen) ergreifen."
Dieser Lakonismus der 12 Tafeln unterscheidet sich wesentlich von dem
oben geschilderten italischen. Der letztere hinterläßt keine Unklarheiten,
vom ersteren kann man das gleiche nur dann sagen, wenn er nicht sowohl
auf Hörer «ils vielmehr auf Leser berechnet ist, die Zeit haben, sich zu
überlegen, auf wen jeder der subjektlosen Sätze sich bezieht. Daß diese
Kürze, bei der Mißdeutungen nur durch sorgsame Interpretation aus-
geschlossen werden konnten, nicht römischem Boden entsprungen ist, wird
um so sicherer scheinen, wenn wir hinzusetzen, daß sonst gerade römische
Gesetzessprache schon in ihren ältesten Urkunden eine echt römische
Skrupulosität an den Tag legt, die sich in Verhütung von Mißverständnissen
gar nicht genug tun kann. Nicht „der Tag, an welchem das und das ge-
schehen soll", heißt es hier, sondern „der Tag, an welchem Tage", nicht
V. Schrift- und Umgang-ssprachc. Plautus.
423
„wer nach diesem Gesetze verurteilt ist, darf das und das nicht tun", sondern
„wer nach diesem Gesetze verurteilt ist oder sein wird"; die Sprache
bemüht sich in Fällen, wie dem letzten, deren viele vorkommen, nur ja
alle denkbaren Möglichkeiten zu erschöpfen. So sicher diese Eigentüm-
lichkeit auf jenem Geschick und jener Gewissenhaftigkeit der Kasuistik
beruht, die in immer verfeinerter Ausbildung die Größe der römischen
Juristen ausmacht, um so gewisser dürfen wir die dazu in polarem Gegen-
satz stehende Knappheit nicht nur in Parallele setzen mit der genau ent-
sprechenden Ausdrucksweise griechischer Gesetze wie des von Gortyn auf
Kreta, sondern unmittelbar daraus herleiten.
Die 1 2 Tafeln gingen jedem Römer schon in frühester Jugend in
Fleisch und Blut über; sie wurden in der Schule auswendig gelernt, und
das Leben sorgte dafür, daß sie dauernder Besitz des Gedächtnisses blieben.
So wird, wer etwa des alten Cato uns erhaltene Prosaschrift über den
Landbau (aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.) liest und den
eigentümlich kurz angebundenen Kommandoton des Büchleins auf sich
wirken läßt, die Vermutung nicht willkürlich finden, dciß Cato im Stil der
12 Tafeln, d. h. ihm selbst natürlich unbewußt im Stil griechischer Gesetze
schreibt. Nicht besser kann sich offenbaren, wie sehr das Latein in den
Bann des Griechischen geriet, als darin, daß auch der starre Altrömer,
der abgesagte Feind alles griechischen Wesens, ihm hier verfiel, wo er
gewiß durchaus populär sein wollte.
^testen Gesets-
V. Schrift- und Umgangssprache. Plautus. Wir haben so die
Entwicklung des Lateins etwa bis zum Jahr 200 v. Chr. verfolgt. Hier
setzt, wie schon gesagt, eine zusammenhängende Reihe von Denkmälern
der Sprache ein, sowohl literarischen als inschriftlichen, die sich über einen
Zeitraum von vielen Jahrhunderten erstreckt. Ein sehr schätzbares Material
und doch ein Material, dessen Wert, wie man allmählich erkannt hat, ge-
rade für den Grrammatiker nur ein sehr bedingter ist Die Erforschung
aller toten, d. h. uns nur in schriftlicher Fixierung bekannten Sprachen,
stößt auf große Schwierigkeiten. Eine Frage z. B., die sich bei allen
erhebt und bei keiner sich in vöUig genügender Weise lösen läßt, ist
die nach dem Verhältnis des Schriftbildes zur Aussprache. Man lernt
heute noch auf den meisten Schulen die Aussprache Zizero, weil wir aus
dem Französischen, Italienischen usw. gewöhnt sind, c nur vor dunkeln
Vokalen wie k, vor hellen aber als Zischlaut zu sprechen. Erst eine
fortgeschrittene Forschung erschloß die Unrichtigkeit dieser Aussprache
teils aus der griechischen Transkription des Namens (KikeronJ, teils aus
der umgekehrten Erscheinung, daß jedes griechische k im Lateinischen
mit c wiedergegeben wird, auch vor hellen Vokalen (griech. ktsti, lat asfa
'Kiste"), teils aus der Lautung alter lateinischer Lehnworte im Deutschen
(z. B. Kiste eben aus dem letztgenannten lateinischen Worte, Keller aus
lat cellarium, Kerker aus carcer), teils aus anderen Gründer.
Die Schrift eine
ungenmue
Wiedergabe der
Sprache.
424 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
stüüMnmg der Wciui hier sich an einem verhältnismäßig einfachen Beispiel zeigt,
^•■^^^^ ^ wie mühselig es ist, auch nur eine Einzelheit der Aussprache eines aus-
gestorbenen Idioms festzustellen, so setzt doch das Latein dem Versuch,
durch das Schriftbild zur wirklich gesprochenen Sprache vorzudringen,
noch ganz besondere, in vielen Stücken geradezu unüberwindliche Schwierig-
keiten en^egen. Vielleicht keine einzige andere Sprache ist für den
schriftlichen Grebrauch so stilisiert worden wie das Lateinische. Das beginnt
mit dem Beginn der Literatur, d. h. in eben dem Augenblick, von dem
an wir das Latein wirklich eingehend kennen. Die Prinzipien aber, nach
denen die Stilisienmg erfolgt, sind im wesentlichen — wie das Grund-
prinzip selbst, dafi, was geschrieben wird, auch stilisiert sein muß —
griechische. Nun ist vieles von diesen Prinzipien nicht blofi für den Leser,
sondern auch für den Hörer berechnet, zum Teil, weil es aus dem rednerischen
Grebrauch entsprungen ist, zum Teil aber auch, weil man im Altertum
regelmäßig laut zu lesen pflegte, auch wo man nur für sich allein las.
Grerade hierdurch hat sich der schriftliche Ausdruck, statt, wie man denken
könnte, sich der täglichen Umgangssprache zu nähern, nur um so weiter
von ihr entfernt Es genügt, auf das eine Stilprinzip hinzuweisen, das für
unsere Begriffe freilich auch das allerbefremdlichste ist Schon bei den
iasbMoadan attischeu Rednern zeigt die Rede Rhythmus, aber erst den entarteten
RhTtiimiäenms. asiatischeu Rhetoren des 3, Jahrhunderts v. Chr. war es vorbehalten,
diesen Rhythmus in kleinliche Regeln zu zwängen. Bereits vor Cicero
hat die römische Prosa von diesen Regeln nicht selten Grebrauch ge-
macht; Cicero sieht sie für seine Sprache durchaus als verbindlich an,
in den Reden wie in den Briefen, in den philosophischen wie in den
rhetorischen Schriften. Und nichts zeigt seine beherrschende Stellung
innerhalb der römischen Literatur deutlicher, als daß von jetzt an nur
die ernstesten Fachschriftsteller wie die Juristen und Männer vom Range
eines Tacitus sich die Abweichung von dem steifen imd — wie es uns
scheinen wiU — monotonen Regelzwang gestatten. Vier Verbindungen
von bestimmten Versfüßen, fünf bis acht und mehr Silben umfassend,
nehmen jetzt fast jeden römischen Satzschluß ein, ja erscheinen nicht
nur da, wo wir einen Punkt, sondern meist auch, wo wir ein Komma
setzen.
Mehr braucht man eigentlich nicht zu sagen, um den abgrundtiefen
Riß erkennen zu lassen, der das Latein der Literatur von dem Latein
des Alltags trennte. Der Zwang der Rhythmisierung hat so gut wie der
Zwang des Versbaus beständige Abweichungen vom naturwüchsigen Latein
zur Folge gehabt Wortwahl, Wortformimg, Wortstellung wurden ent-
scheidend beeinflußt, und ein Mann aus dem Volk mag manchmal recht-
schaffene Mühe gehabt haben, um eine ciceronische Periode zu verstehen.
F. Th. Vischer hat, um die Verschiedenheit zwischen mündlichem und schrifb-
lichem Ausdruck scharf auszusprechen, einmal das Wort geprägt: „eine
Rede ist keine Schreibe"; man könnte mit einer Umkehrung dieses Alis-
V. Schrift- und Umgangssprache. Plautus.
425
drucks sagen, daß die Schrift in keinem Idiom so wenig wie im H
Lateinischen die Sprache ist H
Natürlich soll nicht geleugnet werden, daß, wie wir ja Schriftsteller I
gefunden haben, die die Rhj'thmisierung als Stilprinzip verschmähen, so I
manche andere überhaupt nicht nach dem Ruhme geizen, eine kunstvolle I
Sprache zu schreiben. Indessen sind solche Leute nicht nur eine Aus- fl
nähme in der römischen Literatur, sondern man darf wohl auch sagen, H
daß von einem gewissen literarischen und also auch stilistischen Ehrgeiz, ■
jedenfalls aber von literarisch-stilistischen Reminiszenzen so ziemlich jeder H
beherrscht wird, der den Griffel in die Hand nimmt. Ja selbst wo ein ■
realistischer Schriftsteller die alltägliche Aussprache und Syntax zu kopieren Petro«. I
unternimmt, wie es heute etwa Sudermann und Hauptmann tun, zur Zeit I
Neros Petron an einzelnen Stellen seines meisterhaften Romans getan hat, ^^|
fließt die Quelle einerseits fürs Latein spärlich, anderseits bleibt immer ^^B
zu fürchten, daß ungenaue Beobachtung und Karikatur vorliegt. f
Vielleicht wird man jetzt ahnen, daß manche Urteile über die latei- Da. Latein
nische Sprache Vorurteile nach der einen oder anderen Seite sind, aus- ''°* ^°^^
^ Sprache ?
gegangen von Leuten, die der Meinung waren, wer Vergil oder Tacitus
oder die Juristen kenne, kenne das Lateinische. Ein bis zum Überdruß ■
wiederholtes Schlagwort ist das von der logischen Natur des Lateins. ■
Jeden Grammatiker mutet es von vornherein sehr altmodisch an. ■
W. v. Humboldt und andere nach ihm haben das Vorurteil, daß Sprechen ■
und Denken identisch, Satz = Urteil, Wort = Begriff sei, für immer fl
zerstört; wir wissen seitdem, daß Sprechen (von seiner physiologischen H
Seite abgesehen) ein rein psychologischer Prozeß ist — in einer Sprache H
so gut wie in der anderen. Wohl kann eine Sprache, die scharf aus- H
geprägte Endungen und in einem Heer satzregierender Wörtchen wie H
„weil", „als", „damit" usw. die Möglichkeit zu künstlich gegliederter Satz- ■
fugxmg besitzt, die Beziehung der einzelnen Worte aufeinander, die Unter- I
oder Oberordnung der einzelnen Gedanken besonders klar ausdrücken; I
und das Latein war in diesem Falle, denn die scharf ausgeprägten ^^H
Endungen hatte es sich zu einem guten Teil seit der italischen Urzeit ^^B
bewahrt, die satzregierenden Wörtchen allmählich herausgebildet Nichts- ■
destoweniger konnte man im Lateinischen genau so unlogisch reden wie ■
im Deutschen — und hat nicht weniger oft so unlogisch geredet Wer ^^B
das bestreitet, hat nicht nur Ciceros Sprache nie mit scharfen Augen be- ^H
trachtet, sondern vergißt vor allem, daß, wer um der logischen Ausdrucks- ^B
weise etwa der klassischen Juristen willen von dem „logischen Latein" I
redet, ebensogut um Lessings willen von einer eminent logischen Natur I
der deutschen Sprache reden dürfte. |
Aber wenn hier ein günstiges Vorurteil zu zerstören war, so kann oa» Latein
man zum Entgelt auch manches ungünstige vom Latein abwälzen. Grill- *''" "'i'^»™'
parzer hat einmal gefragt (XV, 159): „Fällt es jedermann so schwer als
mir, sich eine junge Römerin zu denken, die mit ihrem Heißgeliebten
426
Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
L«ideiiftchaft io
der literarischen
Sprach«,
Leideiucbaft
in der Sprache
de* Alltags.
von ihrer Leidenschaft — lateinisch spricht?" Er drückt etwas konkreter
aus, was man gewöhnlich recht abstrakt die Nüchternheit der lateinischen
Sprache nennen hört. Auch hier soll eine gewisse Berechtigung solchen
Urteils nicht völlig bestritten werden. Um nur eins herauszugreifen: einen
schönen Schmuck poetischer Rede pflegen Zusammensetzungen, ins-
besondere zusammengesetzte Beiwörter zu bilden. Die indogermanische
Muttersprache vererbte ihren Töchtern fast unbegrenzte Möglichkeiten
solcher Bildung, und diejenigen ihrer Töchter, die in der Poesie das
Höchste geleistet haben, sie haben auch von jenen Möglichkeiten den
umfassendsten Gebrauch gemacht: das Griechische und das Germanische.
Aber dem Lateinischen ist dieser schöne Zug fast völlig abhanden ge-
kommen; nur kümmerHche Pflänzchen ringt mühselige Kunst dem Boden
ab, der anderen Sprachen, kaum bestellt, reichste Blüten und Früchte trägt.
Die Schuld trägt hier wirklich zu gutem Teil die unpoetische Natur der
Römer. Kein Volkslied, kein aus dem Volk hervorgewachsenes Epos
kräftigt die indogermanischen Keime der Wortzusammensetzung, und als
die Übersetzung und Nachahmung griechischer Meisterwerke eine Kunst-
poesie schafft, sind die Keime nicht mehr recht triebfähig. Freilich waren
sie zugleich auch von den vorhin geschilderten lautlichen Verstümmelungen
besonders schwer betroffen worden.
Dies und Ähnliches soll nicht bestritten werden; darum aber dem
Latein die Fähigkeit zu Ausbrüchen tiefen Gefühls und wiederum
anderseits etwa zu zärtlicher Tändelei absprechen und meinen, daß
himmelhoch Jauchzende und zu Tode Betrübte stumm bleiben mußten,
wenn sie das Unglück hatten, Römer zu sein, — das kann auch wieder
nur, wer auf einzelne Schriftsteller hin über die ganze Sprache aburteilen
zu dürfen glaubt Gewiß ist in der römischen Literatur häufiger die ge-
waltige Kraft leidenschaftlicher Invektive und das schöne Pathos männ-
licher Begeisterung {man muß Ciceros Rede gegen Piso etwa lesen, um die
erstere ganz zu empfinden; beim letzteren aber ~ wer denkt nicht an hora-
zische Glanzstellen, die kein Schulunterricht verleiden kann, wie das lustum
et tenacem propositi virum oder Duke et decorum est fro patria mori'i). Aber,
wenn auch schon derlei genügen müßte, um das Latein vom Vorwurf
angeborener Nüchternheit zu befreien, hat nicht CatuU der Liebe Leid
und Lust mit so vollen Tönen zu singen gewußt wie die Besten anderer
Literaturen?
Vor allem indes: man soll auch hier, um über die Ausdrucksmöghch-
keiten der lateinischen Sprache zu urteilen, nicht bei den klassischen
Literaturdenkmalen stehen bleiben. Etwas von starrer Maske hat ihr Stil,
wie wir gesehen haben, immer. Die Züge des lebendigen Antlitzes, das
dahinter steckt, sprechen deutlicher. Das Latein, wie wir es auf der
Schule lernen, wie wir es bei Tacitus, in der Aeneis, ja selbst in mancher
Liebesode des Horaz lesen, mag uns immerhin etwas schwer und steif
für Liebesgetändel dünken. Aber daß Roms Mädchen leichte und graziöse
V. Schrift- und Umgangssprache. Plautus.
4«7
PUtttus ml*
Quelle der
rVlltaguprsche.
Worte dafür fanden, kann man doch nicht bezweifeln, wenn man an die
Töchter der römischen Mutter denkt Wo fließt derlei anmutiger von den
Lippen als im Französischen und Italienischen? und sollte nicht, was die
beiden gemeinsam haben, ererbtes Gut sein?
Wir können die letzte Frage bestimmt mit „ja" beantworten. Daß
wir es können, danken wir dem Manne, der zeitlich der erste ist, von dem
uns umfassende Werke in lateinischer Sprache erhalten sind, der aber
zugleich gerade durch seine Sprachbehandlung eine Sonderstellung unter
allen uns erhaltenen römischen Schriftstellern einnimmt, dem Lustspiel-
dichter Plautus (-{- 184). Plautus war nichts weniger als ein Originalgenie,
nach unseren Begriffen kaum viel mehr als ein Übersetzer aus dem
Griechischen, aber nicht nur keinem anderen Übersetzer, sondern selbst
keinem Dichter — die Vorbilder des Plautus vielleicht ausgenommen —
dürfte es wie ihm gelungen sein, in tadellosen Versen so unverfälscht die
Alltagssprache zu schreiben. Selbstverständlich ist das nur darum möglich,
weil die Gattung des Lustspiels eine besondere Stilisierung der Alltags-
sprache nicht mit Notwendigkeit verlangt. Aber auch daß Plautus in so
frühe Zeit fallt, kommt uns hier zustatten: an dem zweiten uns erhaltenen
Lustspieldichter Terenz (tätig von 166 — 159) können wir sehen, wie mit
dem größeren Interesse vornehmer Kreise an der Literatur auch in der
Komödie der Ton feiner, gehaltener, künstlicher wird. Plautus allein
fuhrt uns den Durchschnittsrömer vor, redend, wie ihm der Schnabel ge-
wachsen ist; seine Verse haben ihn zwar, wie natürlich, auch manchmal
zu freiem Schalten mit der Umgangssprache genötigt, sie enthalten auch
mancherlei gräzisierende Wendung, im ganzen aber spiegeln sie das
lebendige Latein in seiner Betonung, im Klang einzelner Worte und
ganzer Sätze, im Wortlaut der üblichen Formeln für „Guten Tag", „Wie
geht's?" usw. und, was mehr ist, in seiner gesaraten Ausdrucksfähigkeit
aufs treuste wider. Und danach kann man nur sagen, es gab nichts, charmkeerisük
was in diesem Latein seinen adäquaten Ausdruck nicht hätte finden ■*" aii"«'-
können. Kluge Lebensweisheit und toller Übermut, Liebesschmerz, der
am Leben verzweifelt, und reizendste Schmeichelworte, aus denen es wie
ein perlendes Lachen noch heute an unser Ohr klingt, Vaterfreude und
Vaterschmerz und was es sonst noch für Töne in der Skala der Empfin-
dungen und Gedanken des täglichen Lebens gibt, alle sind sie zu hören,
und wer diesen Dichter zu lesen versteht, ist ebenso von der Meinung
geheilt, daß das Latein seiner Natur nach eine nüchterne, wie von der
anderen, daß es eine eminent logische Sprache war. Wir haben hier das
treueste und in vielem Sinne auch vollständigste Bild des wirklichen
Lateins. Selbst scheinbare Lücken erweisen sich als genaues Spiegelbild
der Sprache, wie sie damals war. So fehlt in der Komödie natürlich die
Ausdrucksweise des wissenschaftlichen abstrakten Denkens. Aber auch
diese Zufälligkeit entspricht einem tatsächlich vorhandenen Zuge des
Lateinischen: an derlei gebrach es eben wirklich und nicht bloß bei
428 Franz Skvtsch: Die lateinische Sprache.
Plautus, und erst als das Interesse für griechische Wissenschaft in Rom
den Versuch der Nachbildung hervorruft, fanget man diese Lücke bitter zu
empfinden und nach Möglichkeit mit fremdem und heimischem Gmte zu
füllen an.
stuuenmc der Plautus ist, wie gesagt, unter den erhaltenen Dichtem der einzig'e,
^b^ckl zlk^ dem die Art seiner Poesie und seine Zeit ein naives Verhalten gegenüber
gcooMen da der Alltagssprachc gestatteten; schon seine Zeitgenossen, die sich mit dem
"*°'^ Epos und dem ernsten Drama beschäftigen, beginnen zu stilisieren, und
bald folg^ auch die Prosa nach. Unter der Eisdecke der Literatur ver-
schwindet jetzt der rauschende Strom lebendiger Sprache und wird uns
nur von Zeit zu Zeit durch eine zufällige Lücke wieder einmal flüchtig^
sichtbar. So erklärt sich's, dafi wir — um das Vischersche Wort wieder
aufzugreifen — wohl eine Greschichte der römischen Schreibe, nicht aber
der lateinischen Sprache entwerfen können. Diesem Versuch imseres
nächsten Abschnitts mag sich in Kap. VII sodann noch einiges zur
Charakteristik und Wertung der Umg^gssprache anschließen.
Periodm der VL Gcschichte des lateinischen Stiles. Wie ganz und gar unsere
^'^'*'^"''"*' landläufige Betrachtungsweise des Lateinischen die Sprache zugunsten der
„Schreibe" ignoriert, kann nichts deutlicher zeigen als die jedermann be-
kannten Benennungen „goldene« und „silberne Latinität". Sie beziehen
sich einzig und allein auf den Stil, und für diesen geben sie allerdings
eine richtige Unterscheidung und auch Wertung zweier Perioden. Wir
verstehen unter der goldenen bekanntlich das Latein der ciceronischen
und augusteischen Zeit, unter der silbernen seine Entwicklung im weiteren
Verlauf des i. Jahrhunderts n. Chr. und wenig darüber hinaus, im
g£mzen eine Zeit von nicht 200 Jahren. Wer also einen vollständigen
Oberblick über die Geschichte des lateinischen Stiles haben will, muß die -
Einteilung rückwärts und vorwärts ergänzen. Was der goldenen Latinität
vorausliegt, pflegen wir als die archaische zu bezeichnen; was aiif die
silberne folgt, werden wir weiterhin einigermaßen zu gliedern versuchen.
Erste uteraiische I. Archaische Latinität Eine Sprache mag selbst auf den Höhepimkten
*""^X1*" menschlichen Durchschnittlebens so leicht sich bewegen, wie wir es vor-
hin die lateinische haben tun sehen — sie wird doch, ehe sie zu großen
literarischen Zwecken tauglich wird, noch vieler Zustutzung xmd Vervoll-
kommnung bedürfen. Das Latein hat das Glück gehabt, wenigstens im
Beginn seiner Poesie gleich sehr energische Zuchtmeister zu finden. Es
brauchte solche um so mehr, als mit der Formimg der poetischen Sprache
die Einführung der griechischen Versmaße an Stelle des einheimischen
ungefügen und ganz verschieden gearteten satumischen Metrums Hand
in Hand ging. Weitaus die schwierigsten Aufgaben stellte hier der Hexa^
Epische Poesie, meter, Und an ihm und mit ihm hat sich die römische Dichtersprache im
wesentiichen ausgebildet, indem, was zimächst für den Hexameter geneuert
Ennios. War, mit der Zeit auch in die anderen Versmaße überging. So ist Ennius, der
VI. Geschiebte des lateinischen Stiles.
429
bald nach dem zweiten Punischen Kriege, also nach 200 v. Chr. den Hexa-
meter ins Latein einführte , der Vater des poetischen Stiles bei den Römern
geworden. Da die eigentümliche Abfolge von Länge und zwei Kürzen,
wie sie dieser Vers fordert, im Latein nicht allzu häufig ist, so bedurfte
es mancher Neubildung, mancher Wiederaufnahme veralteter Worte,
mancher syntaktischen Kühnheit z. B. in der Wortstellung, manches starken
Gräzismus, um dem Mangel abzuhelfen. Ennius ist in diesen Dingen
zum Teil sehr weit gegangen — begreiflich, da er sich selbst allein Maß
und Regel sein mußte. Er hat z. B. sich nicht gescheut, die homerische
Genetivendung -oiö, die schön klang und gut in den Hexameter pctßte,
einfach herüberzunehmen und italischen Namen aufzupfropfen, obwohl die
Römer nichts auch nur von fern Anklingendes besaßen. Dergleichen san Einflas
barocke Auswüchse haben schon Ennius' nächste Nachfolger beschnitten ; ""' '''^°'
aber noch ein Dichter von der hervorragenden Bedeutung des Lucrez,
dessen hinterlassenes Werk 54 von Cicero herausgegeben worden ist, be-
müht sich, von derlei Sonderlichkeiten abgesehen, möglichst in ennianischem
Stil zu schreiben. Ja vieles , was Ennius gewagt hatte (z. B. der eigentüm- und di«
liehe Gebrauch des Plurals statt des Singulars wie corpura, auch wo nur von '•'"*'" °*"*-
einem Körper die Rede ist, weil diese Form mit ihrem lang kurz kurz so
schön in den Hexameter paßt), ist dann von Vergil durch Übernahme in
seinen Stil sanktioniert und so, da Vergil allezeit bewundertes Vorbild der
poetischen Sprache bleibt, auf immer für die römische Dichtung ge-
wonnen worden.
Am meisten zu tun blieb zweifellos für den Satzbau. Hier ist Ennius, s«tibaa
da der Vers auf die Periodisierung keinen Zwang ausübte, bei der alten
Simplizität stehen geblieben; er erzählt in ähnlich einfach schlichten Sätzen,
meist in bloßer Aneinanderreihung ohne Unterordnung, wie es die alte
Prosa tut, und meidet auch deren Breite nicht Im übrigen ist auch sein
StU schon von der Macht aufs stärkste beeinflußt, die die lateinische n&d Rhetorik
Poesie je weiter hin je schwerer für uns genießbar macht: den Lehren •"' ^"■"'»^
griechischer Rhetoren. Nicht nur daß er ihnen zuliebe Klangspiele, wie
sie die lateinische Sprache selbst an die Hand gab, weit über das Natur-
wüchsige hinaus gesteigert hat, insbesondere die Alliteration, mit deren
Hilfe er z. B. den Trompetenton in dem berüchtigten Hexameter malen zu
dürfen glaubte at tuba icrribili sonitu taratantara dixit. Er hat vielmehr
auch von den sonstigen berückenden imd verwirrenden Künsten jener
griechischen Klügler Gebrauch gemacht: den auch in der sprachlichen
Form, in Silbenzahl und Gleichklang, ausgeprägten Antithesen u.a.
Was über seine Syntax und Stilistik gesagt ist, läßt sich im wesent- Satit»u a«
liehen auch auf die der Prosa anwenden. Im Satzbau noch vielfach eine ge-
legentlich bis zum Ungeschick gehende Simplizität und daneben doch
schon das Raffinement griechischer Künstelei. Das hat in seinem Ge-
schichtswerk und seinen Reden, die eine höhere gepflegtere Stilart zeigen
als das vorhin erwähnte Werkchen über den Landbau, sogar der alte
Pro«.
^^O Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
cato. Cato bewußt mitzumachen nicht immer verschmäht. Dann können wir
bei den späteren Vertretern der Geschichtschreibungf und insbesondere
vervou- bei den näheren Vorläufern Ciceros in der Redekunst, z. B. bei C. Gracchus,
kommnimg bei verfolcTen, wie die syntaktische Einfachheit allmählich kunstvollerem Baue
Platz macht imd so das Mißverhältnis zwischen ihr und dem rhetori-
sierenden Aufputz sich verringert Schon jetzt beginnt die eigentümliche
Rh>ihiiuMening RhythmisieruHg der Satzglieder, die wir vorhin berührten und als eine
der Prot». Xachbilduug griechischer, speziell aus Kleinasien stammender Muster be-
^L zeichneten; gewiß werden gerade diese zugleich auch im übrigen auf kunst-
^^^^^_ vollere Periodisierung hingewirkt haben, denn auch der voll dahinrollende,
^^^^P ja bis zum Schwulst ausartende Periodenbau war ein Charakteristikum dieses
^ „Asianismus".
^^Poe.ir der 2. Goldenc Latinität Wenn man diese Periode mit Ciceros Auf-
kUuucben Zeit. s^gigeQ ^ur Höhe seines Rednerruhms, also etwa den sechziger Jahren
des letzten Jahrhunderts v. Chr. beginnen läßt, so fällt die Grenze für die
Poesie reichlich früh. Denn die letzten wirklich großen Dichter der
Republik zeigen sich noch in wesentlichen Stücken als Anhänger älterer
Lncrax. Art gerade im Sprachlich -Stilistischen, Lucrez im ganzen Verlauf seines
umfangreichen Lehrgedichtes über die Entstehung des Alls, Catull wenig-
stens in seinen größeren Gedichten. Lucrez baut wohl längere, wenn auch
nicht viel elegantere Perioden als Ennius; im übrigen ist er der getreue
c«tiiu. Nachahmer seiner Sprache in Wortwahl, Wortbildung, Wortfügung. Catull
mit seinen gleichstrebenden Freunden aus Oberitalien ist zwar mit Erfolg
auf größere Zierlichkeit bedacht und glaubt von der Höhe dieser Eleganz
auf den Vater der römischen Poesie mit Geringschätzung herabblicken zu
dürfen, und doch mißfällt auch bei ihm, gerade in den Stücken, die er als
seine künstlichsten schätzte, die Störung des Satzflusses durch Einschachte-
lungen, Wortverstellungen, übermäßige Länge u. a. Als vollendeter Künstler
Veriii. und Vorbild aller weiteren auf dem Gebiet der Dichtersprache ist erst Vergfil
zu nennen mit den im Jahre 29 veröffentlichten Georgica und der nach
seinem Tode erschienenen Aeneis. Hier verschmilzt alles, der lateinische
Sprachstoff mit den ihm innewohnenden Eigenschaften der Kraft und des
Vollklangs, die griechische Kunst in seiner Behandlung, die altvaterische
Einfachheit und die moderne Gewandtheit im sprachlichen Aufbau. Eine
außerordentlich geschickte Mischung von Altertümlichem, kühnen Neuerungen
und Gräzismen — das ist Vergils Sprache. Eine Mischung so geschickt, daß
aus der anscheinend homogenen Masse vielfach nur die allerfeinste Unter-
suchung noch die einzelnen Elemente wieder herausdestillieren kann. Das
größte Verdienst ist dabei das um die Periodisierung im Hexameter. Die
schwer schleppenden Sätze des Lucrez und Catull sind verschwunden, leicht
und glatt ist der Gang der Periode , dem Gang des Verses angepaßt Und
vergii au wie Vergil von den älteren Dichtem nahm, was ihm sprachlich geeignet
*"iip«»re * schien, gleichviel ob sie Dramatiker oder Epiker waren, so hat er die
uichterspnu:he. Unterschiede der Dichtgattungen, die sich in der älteren Diktion nicht
VI. Geschichte des lateinischen Stiles.
431
h
Prosa der
klanttchan Zeit.
unmerklich ausprägen, für die spätere Dichtersprache im ganzen beseitigt.
Er hat der Poesie seines Volkes das Kleid gegeben, in dem sie, von
leichten Modernisierungen und Verzierungen abgesehen, durch die Jahr-
hunderte gefallen hat
Eine ähnlich zentrale Stellung wie Vergil auf dem Gebiete des
poetischen nimmt Cicero auf dem Gebiete des prosaischen Stiles ein —
nur ähnlich freilich, denn wir wüßten keinen namhaften Dichter nach
Vergil, der ihm gegenüber sich seine völlige Unabhängigkeit gewahrt
hätte, aber wir kennen ganze Schriftstellerklassen in der Prosa, die sich
mehr oder weniger bewußt von Cicero abkehren. Cicero {geboren 106 v. Chr.) Cicero.
sehen wir in seinen frühesten Reden mit allen Mitteln des Asianismus '''^'"""•" '•"
arbeiten, mit der geschwollenen Periode, in der manchmal mehr auf den
Klang als auf den Sinn gesehen wird und die Worte bisweilen nur äußerer
Abrundung dienen, mit gehäuften Figuren und vor allem durchaus mit dem
Satzrhythmus. Der für ihn sehr segensreiche Unterricht in der rhodischen
Rednerschule (79 — 77 v.Chr.) hat ihn gelehrt, sich hierin zu mäßigen. Nur
der Rhj^mus spielt auf der Höhe seiner Tätigkeit keine geringere Rolle khyüunui.
als in den Anfangen und ist dadurch außer für wenige selbständige Geister
zu einem selbstverständlichen Postulat guten lateinischen Stiles geworden,
das von Seneca ebenso honoriert wird wie von AugTistin, ja das ganze Mittel-
alter hindurch von den kaiserlichen Kanzleien so gut wie von den päpst-
lichen. Hiervon abgesehen ist Ciceros Bestreben, das Überschwengliche, voUendung de»
Übertriebene des Asianismus auf die Schönheitslinie zurückzudrücken, ebenso i"'""««»'»-
deutlich wie erfolgreich. Die Periode wird schön gerundet ohne Überfülle, i'eriwU.
und für ihre kunstvolle und klare Gliederung wird mit all den Mitteln
gesorgt, die, wie früher gesagt, die lateinische Sprache ererbt oder aus
Eigenem neu gewonnen hatte. Der griechische Asianismus gefiel sich in WortUMonf und
kühnen Neubildungen: auch das tritt bei dem Römer ganz zurück, w°'*"»1'L
dem freilich, wie wir früher schon sahen, mit der Leichtigkeit der Wort-
zusammensetzung vielleicht das wichtigste Mittel zu lexikalischen Neue-
rungen verloren war; ja Cicero siebt auch den Wortschatz der älteren
Literatur energisch durch und gibt Wörtern und Wendungen der Umgangs-
sprache außer in den Briefen nicht leicht Einlaß, und selbst die Briefe
sondern sich doch von der Umgangssprache wieder durch ihre so gut wie
durchgängige Rhythmisierung.
Es ist unmöglich, abweichende Strömungen, zm denen es natürlich in Ander«.
Ciceros Zeit nicht gefehlt hat, hier nun ebenfalls in Einzelheiten zu stiie»'«»»««»-
schildern. Den ausgesprochensten Gegensatz zu seiner Art bilden die-
jenigen, die als griechische Muster sich nicht die Asianer erkoren haben,
sondern etwa einen Mann wie Lysias und darum sich wohl Attiker nennen. Attiker.
Sie suchen die Eleganz nicht wie Cicero in der Fülle, sondern gerade in
der Schlichtheit rein sachlichen Ausdrucks, die nun freilich — nament-
lich an Cicero gemessen — etwas nüchtern wirkt Ein merkwürdiges
Denkmal dieses Gegensatzes ist uns noch in einem Stück des Briefwechsels
432 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
Bratn*. zwischen Brutus und Cicero erhalten: schon daß der eine hier durchaus
rhythmisch, der andere durchaus unrhythmisch schreibt, kennzeichnet das
Verhältnis dieser stilistischen Antipoden. Der größte, den man als Ver-
csmt. treter eines solchen einfachen „Attizismus" nennen darf, ist Cäsar gewesen.
Er ist noch peinlicher als Cicero in der Wortwahl; hatte er doch gesag^t,
ein neues und unerhörtes Wort müsse man wie eine Klippe meiden. Und
wenn bei Cicero die Worte den Gedanken mit üppigem Faltenwurf um-
kleiden, sitzen sie ihm bei Cäsar knapp imd einfach an; von Rhythmus
ist höchstens hier und da etwas zu spüren.
Ant^dch de« 3. Silberne Latinität Sind bis hierher Poesie und Prosa getrennte
""^h^ ^L. ^^^® gewandelt, so kennzeichnet sich die folgende Periode wie alle
weitere Entwicklung dadurch, daß beide nunmehr Hand in Hand gehen.
Es hat das seinen Hauptg^rund in einem Umstand, der auch sonst sich für
den lateinischen Stil bedeutungsvoll erwiesen hat: der eigenartigen Ge-
staltung des Jugendtmterrichts in der Kaiserzeit Zuerst vom grammaticus
im Verständnis und in der Nachahmung der klassischen Dichter geschult,
RiMtoraDJchaie. wltd der juuge Mann sodann vom Rhetor in den Künsten der Rhetorik
unterwiesen; diese aber steigern sich nim um so mehr, als sie zum Selbst-
zweck werden, da die politischen Verhältnisse eine praktische Verwendung
der Beredsamkeit kaimi noch gestatten. Jetzt wird die Poesie ebenso
völlig von Rhetorik durchsetzt wie die Prosa (unter den Dichtem ist Ovid
das erste Beispiel in gproßem Stile); wir kennen Fälle genug, wo gleiche
Themata in rhetorischer Prosa und in Versen behandelt worden sind.
Die erste Folge davon ist eben die Ausgleichung des poetischen und
prosaischen Stiles. Noch bei Cicero sind beide grundverschieden. Wir
haben genug von seinen wenig glücklichen poetischen Versuchen, um
erkennen zu können, wie sehr sie sich an Ennius anlehnen. Nicht nur
lexikalisch ist hier nicht wenig zugelassen, was Ciceros Prosa dxirchaus
meidet, sondern selbst die Aussprache in den Versen zeigt Abweichimg
livka». von der in den Reden. Schon Livius aber hat nicht bloß ennianische
Floskeln unbedenklich in sein G«schichtswerk übernommen, sondern in
die späteren Teile vielleicht auch verg^ilische. Noch stärker gleicht seit
der Zeit des Tiberius etwa sich Prosa und Poesie im Wortschatz aus; der
ältere Plinius sucht z. B. in seiner Naturgeschichte der Trockenheit seines
Stoffes ganz imgeniert mit zusammengesetzten Beiworten aufzuhelfen, wie
sie früher nur die Dichter in gleicher Absicht künstlich geschaffen hatten.
Pomteosta. Die zweite Folge der rhetorischen Ausbildung ist, daß der Stil in
Poesie und Prosa jetzt durchaus auf rhetorische Wirkimg berechnet wird.
Die Schriftsteller sind beständig auf der Suche nach überraschenden neuen
Sentenzen, und da dies Kraut für den einzelnen nicht so gar reichlich
wächst und die Rhetorenschule anderseits einen großen Bestand von der-
gleichen ausbildet und zu jedermanns Gebrauch weitergabt, so soll wenigstens
der Ausdruck überraschend, durch seine Neuheit möglichst schlagkräftig
sein. So wird neben Alliterationen, Reimen, gleicher Silbenzahl korre-
VI. Geschichte des lateinischen Stiles.
433
^
^
^
spondierender Satzglieder imd anderen Klangeffekten, worunter auch der
Rhythmus natürlich seine Rolle weiterspielt, ein möglichst pointierter
Ausdruck als wesentlich angesehen. Wie das alles bei Griechen und
Römern längst dagewesen ist, nur eben jetzt eine nie zuvor dagewesene
Häufung und Verstärkung erfährt, so ist auch die Sucht, Pointen in
schlagenden Gegensätzen, Antithesen, zum Ausdruck zu bringen, alt, aber
erst jetzt wird sie zu einer rechten Epidemie. Und wenn ein Teil der
Schriftsteller dieser Sucht noch in der Form der voll dahinrollenden Periode
ausreichend frönen zu können meint, so verfallen andere auf den raffi-
nierten, aber natürlich auch schon bei den Griechen vorgebildeten Ge-
danken, daß für Pointe und Glieder der Antithese sich kurze knappe
Sätzchen viel besser eignen. Als berühmtester Vertreter der letzteren Art
ist der Philosoph Seneca zu nennen, der diese Stilgattung zu solcher
Virtuosität ausgebildet hat, dciß er damit für einige Zeit auch den modernen
Leser fasziniert, ob er nun ethische oder naturwissenschaftliche Themen
behandeln mag. Auf die Dauer freilich wirkt die Lektüre Senecas wie
etiiva die eines dicken Bandes Aphorismen oder Epigramme — wie denn
der größte Epigrammatiker aller Zeiten, Martial, wohl nicht zufällig diesem
pointenhaschenden Jahrhundert angehören wird — ; man ermüdet beim
Lesen, weil der Schriftsteller das Licht seines Scharfsinns nicht in ruhiger
Flamme brennen läßt, sondern es alle Augenblicke zu plötzlichem Auf-
flackern zwingt. Und wie der Prosaiker Seneca, so unter den Dichtem
z. B. Lucan und Juvenal.
Gewiß gibt es auch hier Leute, die der Mode ganz oder in manchem
Widersland leisten. Quintilians Unterweisung in der Redekunst sucht sich
dem ciceronischen Muster zu nähern; Tacitus in seinen großen Werken
verschmäht im allgemeinen den Rhythmus und wählt, wo er der Antithese
huldigt, vielfach die Worte so, daß sich entsprechende Fassung der Anti-
thesenglieder vermieden wird; ja unsymmetrischer Bau ist bis zu einem
gewissen Grade überhaupt sein Stilprinzip. Aber soweit wir sehen, stehen
beide in ihrer Zeit allein. Auf die Pointe haben freilich auch sie nicht
verzichten mögen.
4. Die archaisierende Periode. Für die eigentümliche Gestaltung des
Stiles seit Hadrian können von den erhaltenen Schriftstellern vier als be-
sonders charakteristische Beispiele dienen: M. Cornelius Fronto aus Cirta,
Erzieher des Marc Aurel, Apuleius aus Madaura, der Christ Tertullian aus
Carthago und endlich Gellius, dessen Herkunft wir nicht kennen. Ihr Stil
ist in vielem nichts weiter als eine Steigerung bereits geschilderter Eigen-
tümlichkeiten: Rhythmus, Fülle bis zum Schwulst, reichster Gebrauch sämt-
licher rhetorischen Figuren bis herunter zur Klingelei des Wortspiels.
Aber einerseits sind die zweite und dritte Eigenschaft hier so maßlos
imd anderseits weist der Wortschatz eine solche Fülle neugebildeter oder
seit Jahrhunderten aus der römischen Literatur verschwundener Vokabeln
auf, daß lange Zeit den Philologen für dies besondere Latein auch eine
Dm Kultur dem Gbcenwakt. L 6. 28
Seneca
der Phiio«opb.
Di« Dichlor.
Vereioielt« :
QntDtiliaa.
Tadtiu.
Der Sta da
2. JmhrhuDderU.
4^^ Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
besondere Erklärung am Platze zu sein schien. Drei von jenen vier
Männern stanuneo aus Afrika; den vierten ebenfalls nach Afrika zu ver-
setzen, konnte man sich ohne Schwierigkeiten erlauben, da das Altertum
so freundlich gewesen ist, uns über seine Herkunft im unklaren zu lassen.
Dm IOC. So glaubte man die Eigentümlichkeit ihrer Sprache als eine Frucht
afrikaniiche afrikanischen Bodens ansehen zu dürfen; die Hitze der afrikanischen Sonne,
die Nachbarschaft der Semiten sollte das gezeitigt haben, was man als
„afrikanischen Schwulst" bezeichnete. Und wenn in diesem Wortgemenge
so viel Revenants aus Plautus und Terenz, aus Ennius und Cato erscheinen,
so glaubte man auch das aus der Eigenart der Römer in Afrika erklären
zu können: Afrika ist bereits durch den dritten Punischen Krieg, tun die
Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., römische Provinz geworden; die Nach-
kommen der damals in Afrika festgesetzten Soldaten, Beamten, Kolonisten
hätten — so meinte man — die Sprache ihrer Väter getreuer bewahrt als
die lateinische Bevölkerung Italiens, deren energischere Fortschritte in
Kultur und Literatur auch die Sprache rascher veränderten.
Aber dieser Erklärungsversuch übersieht sehr einfache Tatsachen.
Wäre die altertümliche Färbung der Sprache bei Fronto imd den anderen
eine Folge der friihen Kolonisiening Afrikas durch die Römer, so müßte
die Sprache von römischen Schriftstellern, die aus Spanien stammen, ein
mindestens ebenso altertümUches Kolorit zeigen, da Spanien schon durch
den zweiten Punischen Krieg (206) römische Provinz wurde. Aber so viel
auch die Pyrenäenhalbinsel zum Schatz der römischen Literatur bei-
gesteuert hat — Seneca, Lucan, Martial stammen von dort — , keiner ihrer
Söhne verdient den Vorwurf, sprachlich zurückgeblieben zu sein. Indes,
auch wenn man nur die Verhältnisse Afrikas erwägt, kann man denn
glauben, daß dort die lateinische Sprache sich durch drei Jahrhunderte und
mehr unverändert gehalten habe? Afrika kann nicht so im ersten Anlauf
latinisiert worden sein: dazu hat es der Arbeit von Jahrhunderten bedurft.
Und diese Arbeit ist selbstverständlich nicht allein von den Nachkommen
der ersten Ansiedler geleistet worden, sondern es mußte ein beständiges
Nachströmen aus dem Mutterlande und infolgedessen auch ähnliche Sprach-
veränderungen wie dort stattfinden.
Eins aber ist es vor allem, was der Annahme widerspricht, die alter-
tümlichen Elemente in der Sprache jener Archaisierer seien ein altes vom
Vater auf Sohn und Enkel gegangenes Erbstück; der Leser, der bis hierher
aufmerksam gefolgt ist, wird es sofort herausgefunden haben: wer jener
Anncihme das Wort redet, verwechselt Rede und Schreibe. In der Sprache
des Fronto, des Apuleius und der anderen ist alles andere so außer-
ordentlich bewußt, ist alles so künstlich und künstelnd geformt, daß man
unmöglich glauben kann, sie hätten in diesem einen Punkte das Prinzip
der Stilisierung so weit vergessen, daß sie der Sprache des Volkes und
der Landschaft Einfluß gestatteten. Auch diese Archaismen vielmehr und
der arge Schwulst müssen sich aus einer Kunstregel erklären. Für den
VI. Geschichte des lateinischen Stiles.
435
Schwulst braucht das gar keine wettere Erörterung mehr; es ist der alte
Fehler des Asianismus, den wir auch in der gleichzeitigen griechischen
Literatur gesteigert wiederfinden. Wer aber auch den Archaismus als
eine Stiltendenz bezeichnet, der kann sich ganz einfach auf das berufen,
was die antike Überlieferung von dem Kaiser zu berichten weiß, in dessen
Zeiten wir die archaisierende Art begfinnen sahen, von Hadrian. Sein alter
Biograph erzählt: „er liebte die archaische Stilart; dem Cicero zog er den
Cato, dem Vergil den Ennius vor." Nur soll man nicht etwa glauben,
daß der Herrscher dem Jahrhundert seinen persönlichen Geschmack auf-
gezwungen habe. Vielmehr ist auch er wie die Literaten der Zeit nur ein
Sklave griechischer Mode. Denn auch der griechische Stil liebte es damals,
sich mit längst aus der lebenden Sprache geschwundenen Worten und
Formen der alten attischen Klassiker zu schmücken.
Eins zeigt aber deutlicher als alles, wie sehr diese römischen Alter-
tümler vom griechischen Muster abhängen. Wie manches Stück ihrer
Schriften kaum viel mehr als Übersetzung aus dem Griechischen ist, so
ist auch nie die lateinische Syntax und das lateinische Lexikon so von
Gräzismen durchsetzt gewesen wie jetzt. Bei Tertullian gibt es Sätze, die
man, um ihre Konstruktion zu verstehen, erst ins Griechische übersetzen
muß; und wie Voß etwa seine zusammengesetzten Beiwörter, die rosen-
fingrige Eos, die weithinschattende Lanze usw., genau den griechischen
nachbildet, so haben es ähnlich Apuleius und Tertullian gemacht — nur
daß ihre Komposita für den Römer, der dergleichen aus seiner eigenen
Sprache überhaupt so gut wie gar nicht kannte, viel barocker geklungen
haben müssen als uns die Vossischen.
Auch in dieser Zeit stilistischer Unnatur fehlt es freilich nicht an er-
quickenden Oasen. Und wenigstens der größten und wichtigsten wollen
wir hier gedenken. Daß die lateinische Sprache nicht an sich logisch
war, wohl aber logisch denkenden Köpfen ein gutes Werkzeug, ward
oben gesagt Logischere Köpfe hat Rom nie besessen als seine Juristen.
Das haben sie gerade in dieser Zeit stilistischer Ungeheuerlichkeiten be-
wiesen. Ins 2. Jahrhundert fallt die Blüte römischer Rechtsschriftstellerei,
die Institutionen des Gaius, dies unerreichte Lehrbüchlein für angehende
Juristen, und die meisten der Werke, aus denen dann im 6. Jahrhundert
Justinian seine Digesten kompiliert hat, voran die Schriften Papinians (f 2 1 2).
Überall erfreut nicht nur die Unabhängigkeit vom Zeitgeschmack, sondern
auch positiv der knappe und scharfe echt lateinische Ausdruck, Die Juris-
prudenz ist auch die einzige Wissenschaft gewesen, die bei den Römern
eine im wesentlichen original lateinische Terminologie hatte.
5. Die Spätzeit Neue Züge hat von da an der lateinische Stil kaum
mehr entwickelt; so g^t wie alles ist Nachahmung der älteren Perioden, und
für den einzelnen ist die Frage im allgemeinen nur, wo er anknüpfen will.
Die Antwort fällt sehr verschieden aus. Es gibt Leute, die ciceronisch
schreiben wollen und das verhältnismäßig nicht übel fertig bringen, wie
28*
Die kla**iMhai
Jurist«!
alt Aunabmc.
Imitation älterer
StilArt«o
in der Sp&tieiL
^36 Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
gegen 300 der christliche Apologet Lactanz; es gibt andere, wie den
Bischof Zeno von Verona (f 380), deren höchstes stilistisches Ideal die
buntscheckige Art des Apuleius ist; andere wieder halten sich vorzugs-
weise an Sallust und so fort Daß dabei eine reine Imitation so gnt wie
unmöglich ist, daß gewollt oder ungewollt sich immer noch Reminiszenzen
an den Stil anderer mehr oder weniger klassischer Autoren eindrängen,
ist selbstverständlich; je nach dem Grrade seiner Kenntnisse lastet auf
jedem dieser Epigonen der Einfluß des älteren Schrifitums in verschiedenem
zmidimeade Grade, aber er lastet auf jedem. Danach kann man den Unterschied ab-
vencUedmbeit nehmen, der damals zwischen dem „Stil" der Literatur und der natürlichen
von Stü ' "
and Umgang«- Redeweise solcher Leute bestand, die sich nicht in derlei Altertümelei müh-
»prach«. selig hineingezwängft hatten. Da die Alltagssprache natürlich seit den
Zeiten des Plautus auch ihre Veränderungen und zwar vollkommen un-
abhängig von der Schriftsprache durchgemacht hatte, so läßt sich denken,
daß die Divergenz der beiden, die wir zuerst um 200 v.Chr. hervortreten
sahen, jetzt ein Maximiun erreicht haben muß. Am einfachsten läßt sich
das an den Flexionsformen greifen. Wer auf seinen Stil hielt, schrieb
natürlich im 4. Jahrhundert den Akkusativ von amor noch amorem wie
Cicero xmd wird sich wohl auch noch so zu sprechen gemüht haben. Die
einfach-natürliche Sprache aber war damals schon längst zu jener Form
übergegangen, die dem italienischen Wort für „Liebe" zugrunde liegt:
amore.
Eins muß damals noch besonders dazu beigetragen haben, den Stil
von der Sprache zu entfernen: der Einfluß, den bei der allmählichen
Christianisierung der Literatur die lateinischen Bibelübersetzungen gewannen.
Man bemühte sich natürlich, das heilige Wort des griechischen Originals
möglichst genau wiederzugeben, und so sehen wir hier in verstärktem
Maße sich Erscheinimgen wiederholen, wie sie ims vorhin bei Apuleius
und Tertullian begegpiet sind: teils werden griechische Worte einfach
herübergenommen, teils in engem Anschluß an die griechischen Formen
lateinische Ausdrücke geneuert Dem letzteren Verfahren verdanken Worte
wie salvaior 'Heiland' ihre Entstehung.
EinfloB des Dabei soll nicht geleugnet werden, daß anderseits gerade das Christen-
chrMtentum». jyj^ seinen Tendenzen gemäß manches zur Popularisierung der Schrift-
sprache beigetragen hat Um ganz davon abzusehen, daß es auf dem
eben geschilderten Wege manchen griechischen Ausdruck auch dem Volke
geläufig machen mußte (z. B. baptizare 'taufen', ecclesia 'Kirche', was in
itaL ckiesa, französ. dglise weiterlebt), — das Christentum hatte weit mehr
Veranlassung, die Sprache jedermanns zu reden, als die heidnische Literatur,
die sich auch inhaltlich mehr und mehr vom Volke abgekehrt hatte. Dann
aber griffen in christiichen Dingen auch solche zur Feder, denen es an
literarischen Prätensionen jedenfalls sehr viel mehr gebrach als ihren
heidnischen Kollegen. Ein rührendes Beispiel hierfür ist aus dem 4. Jahr-
hundert der Bericht einer frommen Dame, die von Aquitanien nach dem.
\^I. Die gesprochene Sprache.
437
leit.
Heiligen Lande wallfahrtete und, was sie gesehen und erlebt hat, schlicht
und naiv niederschreibt, nicht nur ohne stilistische Künstelei, sondern sogar
mit allerlei Verstößen gegen die Syntax, ja selbst die Formenlehre der
klassischen Zeit, wie sie der veränderte Zustand der gesprochenen Sprache
allen aufdrängte, denen nicht in der Schule die ciceronische Regel ein-
gepaukt worden war. Passiert doch auch diesen sogar mancher Schnitzer
solcher Art, wie es unvermeidlich ist, wo die Gewohnheit des täglichen
Lebens durch Konventionalitäten unterdrückt werden solL
Gegenüber dem Hin- und Herlavieren des Prosastils zwischen der PoMie der spii-
Fülle älterer Muster bleibt die Poesie verhältnismäßig beständig. Ge-
schmacksschwankungen, wie sie dort etwa durch die Namen Cicero-
Apuleius bezeichnet werden, haben hier nicht stattgefunden. Die Dichter
der augusteischen Zeit bleiben im ganzen die Norm, der freilich auch
hier dadurch mehr und mehr Abbruch geschieht, daß das lebende Idiom
gegen seine Vergewaltigung immer stärker revoltiert und im Verse sich
manchmal auf eine sehr unklassische Art Luft macht Es zeigt sich dies
insbesondere im Verfall der Quantität Die scharfe Scheidung zwischen
lang und kurz ist im wesentlichen durch die Wirkung des starken Akzents,
wie wir ihn früher geschildert haben, ins Schwanken geraten, und was
wir in vulgärer Versemacherei schon viel früher beobachten können, wird
jetzt auch in der Kunstpoesie merklich. Meist freilich nur in gelegent-
lichen Irrungen; aber djis Christentum, das auch hier wieder nicht zufällig
vorangeht, stellt schon gegen die Mitte des 3. Jahrhunderts in Commodian
einen Mann, dem es beim Bau seiner frommen Hexameter auf die Quan-
tität kaum mehr ankommt als den deutschen Verfertigern solcher Verse.
VII. Die gesprochene Sprache. Wir haben das Latein, wie es in Dm
jedermanns Munde war, mit einem lebendigen Strom verglichen, der früh- '"^•'''"»"•''"
zeitig unter der Eisdecke des Kunststils der Literatur unserem Blicke ent-
schwindet Wir haben aber eben auch schon gesehen, wie die Eisdecke
im Laufe der Jahrhunderte mürber und mürber wird und der Strom von
unten immer stärker dagegen schlägt und sie hier und da bereits über-
flutet Können wir uns wohl trotz seiner langen Verborgenheit ein Bild
davon machen, wie er ausgesehen, wie das Alltagslatein sich im Laufe
der Zeiten gestaltet hat? Es fehlt uns dazu nicht ganz an Mitteln.
Plautus haben wir ja schon als eins der wichtigsten kennen gelernt, und
daß das 3. Jahrhundert und die folgenden in dem, was vom Stand-
punkt unserer Schulgrammatik als grober Fehler erscheint, vielfach nur
der natürlichen von keiner Schriftsprache normierten Redeweise ihren
Zoll entrichten, haben wir auch schon gelernt Aber auch zwischendurch
und nebenher findet sich mancherlei, was uns über Einzelheiten der
familiären Sprache aufklärt Wir besitzen z. B. unter den Hunderttausenden
lateinischer Inschriften auch solche, die von Leuten ohne jede literarische
Aspiration gefertigt sind. Auf den Mauern des 79 n. Chr. durch den
438
Franz Skutsch; Die lateinische Sprache.
^^^H Vesuvausbruch verschütteten Pompeji lesen wir heute noch allerlei
^^^B Kritzeleien, die sich wie an Sittlichkeit so an sprachlicher Kunst vielfach
^^^H nicht über das Niveau dessen erheben, womit bei uns heute unnütze
^^^H Hände die Wände zieren. Wer bei den Wagenrennen im Zirkus einem
^^^H Wettfahrer den Sieg mißgönnte — meist war es wohl ein Konkurrent — ,
^^^r schrieb dessen Namen mit einigen Flüchen auf eine Bleitafel und warf
^^P sie dann in ein Grrab; dergleichen Tafeln sind in ziemlicher Zahl wieder
H aufgefunden worden — , und dem Grammatiker, der das Volk reden zu
^^^^ hören wünscht, ward der Fluch zum Segen. Auch Grabschriften, heid-
^^^B nische wie christliche, zeigen oft genug statt der schulmäßig durch die
^^^H Jahrhunderte überlieferten klassischen Formen den Widerklang der wirk-
^^^B lieh im Volke geläufigen. Neben den Inschriften findet, wer sucht, auch
^^^B in den handschriftlich überlieferten Sprachdenkmälern manches Gleich-
^^^1 artige. Von der realistischen Einführung der Volkssprache bei Petron
^^^H war schon die Rede. Weiteres geben z. B. die grammatischen Lehrbücher
^^^H der Römer aus. Nicht als ob irgend eins von ihnen sich ex professo mit
^^^1 der Umgangssprache befaßte. Im Gegenteil — wo deren Formen erwähnt
^^^H werden, geschieht es im Gegensatz zu den schriftsprachlichen, um letztere
^^^1 als die allein gebrauchswürdigen zu bezeichnen. So verfahrt besonders ein
^^^H Schriftchen des 3. Jahrhunderts, das in zwei Kolumnen nebeneinander links
^^^H die korrekte, d. h. schriftsprachliche Form, rechts mit einem non eingeführt
^^^1 die familiäre gibt Was uns hier wichtig ist, das ist natürlich gerade das,
^^^ was der alte Grammatiker verwarf. Wenn wir z. B. lesen veiulus ('alt'),
H non veclus, so ist uns die letztere Form außerordentlich interessant als
H diejenige, aus der sich italienisch veccht'o, französisch vieil entwickelt
H haben, die auf das schriftlateinische vetulus nach den Lautgesetzen nicht
zurückgehen können.
RekoDitniktion Mit dem letzten Beispiel aber haben wir schon eine neue imd neben
der AUug«- piautus die umfangreichste Reihe von Zeugnissen berührt, die wir für die
•pr^che mas deo " o t
rom»iii«:heii Einzelheiten der römischen Alltagssprache besitzen. Angenommen auch,
Sprachen, ^j^ß alles vcrloren wäre, was direkt von ihr Kunde gibt, so wären wir
doch in der Lage, sie zu rekonstmieren. Gerade wie wir etwa deis Ur-
italische in seinen wesentlichen Zügen aus dem Lateinischen, Oskischen,
Umbrischen rekonstruiert haben, so gewähren uns die sog. Tochtersprachen
des Lateins, Italienisch, Spanisch, Französisch und die anderen, die Möglich-
keit, ein Bild der Sprache zu entwerfen, der sie entstammen. Diese
Sprache aber ist natürlich nicht das Buchlatein, die „Schreibe", sondern
eben das Latein, das von der Mcisse gesprochen worden ist, die Spanien,
Gallien usw. latinisierte. Aus den romanischen Sprachen würden wir für
das Umgangslatein die Form veclus (statt des schriftsprachlichen veiulus)
auch dann erschließen, wenn sie uns von keinem antiken Zeugen direkt
garantiert wäre.
So kommt unsere Rekonstruktion des Ur-Romanischen in einer
großen Menge von Fällen mit der antiken Überlieferung über die Um-
J
VII. Die gesprochene Sprache.
439
gangssprache überein, in vielen sogar schon mit ihrem ältesten Zeugen,
mit Plautus. Ein eigentümlicher Zug der romanischen Sprachen ist es
z. B., daß sie das Neutrum eingebüßt und in vielen Fällen durch das
Femininum auf -a ersetzt haben. Italienisch la gioja, französisch la joie
'die Freude' spiegeln nicht lateinisch gaudiiim wider, sondern ein Feminin
gaudia (Genetiv gaudiae). Wie es sich nun nicht bezweifeln läßt, daß Jene
romanische Femininform auf -a vielfach aus dem im Lateinischen auf
-a endigenden Plural der Neutra {gaudia, Genetiv gaudiorum) heraus-
gebildet worden ist, so zeigt Plautus zwar noch nicht jenes Femininum
gaudia, gaudiae, wohl aber in häufigerer Verwendung den Plural gaudia,
gaudiorum, wo der Singular nicht nur au.sgereicht haben würde, sondern
nach dem Gebrauch der ciceronischen Latinität wohl allein korrekt ist.
Eine ähnliche Übereinstimmung zwischen dem Romanischen und Plautus
besteht in Dingen des ArtikeLs und des Pronomens der dritten Person
»^^ ? »^^^
Wir haben eingangs gesagt, daß diese dem Uritalischen
völlig fehlten; die romanischen Sprachen aber kennen alle den bestimmten
Artikel (französisch ie la, italienisch // lo la), den unbestimmten (französisch
un une, italienisch uno una) und dcis „er" und „sie" (französisch il eile,
italienisch egli elld). Die erste und dritte Formenreihe ist offenbar aus
lateinisch Hlc illa 'jener' usw. entwickelt, der unbestimmte Artikel aus
lateinisch unus 'einer'. Nun treffen wir bei Plautus nicht nur ille illa und
unus una schon in abgeschwächter Bedeutung, die ganz lebhaft an die des
romanischen Artikels und Pronomens erinnert, sondern wir finden bei ihm
auch häufig illc illa usw. auf der Endsilbe betont {illc illä), und es ist ja
wohl klar, daß z. B. la nur dann aus illa entstehen konnte, wenn dieses
nicht seine er.ste, sondern seine zweite Silbe betonte.
Aber wir können über solche Einzelheiten hinaus nachweisen, daß
auch der wesentlichste Zug in der Struktur der romanischen Sprachen
schon der Umgangssprache zur Zeit des Plautus nicht ganz fremd war —
der sog. analytische Charakter. Die romanischen Sprachen (wie viele
jüngere Sprachphasen) neigen dazu, durch Umschreibungen auszudrücken,
was ältere Perioden mit einer einheitlichen Form bezeichnet hatten. Wenn
wir im Uritalischen noch die Möglichkeit fanden „in dem Garten" durch
ein Wort wiederzugeben, so muß schon das Latein der ältesten historischen
Zeit zwei Worte daran wenden in horto. Auf diesem Wege ist das Ro-
manische außerordentlich weit vorgedrungen; man vergleiche nur französisch
a la mlrc mit lateinisch viatri, d^ la mire mit matris, il a dcrif mit
scripsit, plus long mit longior; ja manches, was uns jetzt im Französischen
schon wieder einheitlich anmutet, ist eigentlich auch eine solche Um-
schreibung, z. B. ;/ t'crirn d. i. eigentlich t'crire a 'er hat zu schreiben'
gegenüber lateinisch scribct. Nun finden wir schon bei Plautus dare 'geben'
gelegentlich in auffälliger Weise mit ad 'zu' = fi-anzösisch h konstruiert,
wo unsere Schulgrammatiken den Dativ erwarten lassen. Die Steigerungs-
formen werden von Plautus öfters mit magis 'mehr' umschrieben, ja es
^.^o Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
findet sich in seiner Zeit auch schon die Umschreibung mit plus, die der
französischen i^plus long 'länger') genau entspricht Auch de 'von' kann
man damals schon so gesetzt finden, daß es dem de des fi-anzösischen
Teilungsartikels (de Veau) lebhaft ähnelt
vencUedenet Audercs wieder läßt sich nicht so weit zurückverfolgen. Wenn sich
cban^Lit^ii gß'^isse lateinische Entsprechimgen des Typus ü a icrit schon vor Christi
ronaniKhen Geburt einstellen, so begegnet uns ein dem icrira 'er wird schreiben' genau
Endieiinuig«!!. ^^ vergleichendes scribere habet erst im 4. Jahrhundert danach. Die eigen-
tümlichen romanischen Adverbialbildimgen auf mente (italienisch sincera-
mente 'aufrichtig', prossitnamente 'nächstens', fi-anzösisch sinclremeni,
prochatnement) lassen sich aus lateinischen Verbindimgen wie sincera mente
'aufrichtigen Sinnes' herleiten, die in auffälliger Weise zuerst im 2. Jahr-
hundert n. Chr. hervortreten. Eine andere so charakteristische Er-
scheinung wie die Verwandlvmg des c vor hellen Vokjilen in einen Zisch-
laut (lateinisch Cicero gesprochen Kikero, aber französisch Ciciron ge-
sprochen sztszeron, italienisch Cicerone gesprochen tsckitscherone) ist
schlecht gerechnet ein Jahrhundert, wahrscheinlich sogar mehrere jünger
als die Entstehung der Adverbien auf mente.
Durchgreifend werden all diese Erscheinungen natürlich oft erst lange,
nachdem sie sich in ihren ersten Ansätzen angekündigt haben. Aber auch
ohne dieser Differenz weiter Beachtimg zu schenken, darf man aussprechen,
daß die verschiedenen Eigentümlichkeiten des Romanischen zu sehr ver-
schiedenen Zeiten in der lateinischen Umgangssprache hervorgetreten
sind, daß also diese Umgangssprache eine noch weit veränderungsreichere
Geschichte gehabt haben muß als die Schriftsprache. Tinte ist eine kon-
servierende Flüssigkeit
Dabei sind wir nur einen Teil dieser Veränderungen in der Umgangs-
sprache wirklich zu belegen imstande; die anderen kann man nur aus
den romanischen Idiomen erschließen. Wenn z. B. im Französischen tris
als das steigernde „sehr" erscheint, so setzt das voraus, daß irgendwann
das lateinische trans 'jenseits', dessen lautiicher Abkömmling zweifellos
tris ist, die Bedeutung „sehr" angenommen habe; sie ist aber bis jetzt in
keinem lateinischen Sprachdenkmal nachzuweisen. Das gleiche gilt bei
der Bildung des Imperfektums; eine Anzahl der romanischen Sprachen
setzt eine Form moneam sentiam statt des schriftsprachlichen monebam
scntibam voraus — , aber auch hier fehlt uns bis jetzt jeder schriftliche
Beleg.
Indes nicht nur für einzelne durch das Romanische vorausgesetzte Formen
fehlt es bis jetzt an jedem Beleg im lateinischen Schrifttimi, sondern für
den ganzen Prozeß der Herausbildung lokal begrenzter Sprachen auf dem
weiten einst vom Lateinischen beherrschten Gebiete. Daß das Latein, über
einen großen Teil Europas und einen Teil Afrikas ausgebreitet, in Diedekte
zerfallen mußte, ist natürlich, ziunal es ja in Frankreich, Spanien, Rumänien
auf ganz verschiedene einheimische Bevölkerungen übertragen wurde.
VIII. Einfluß des Lateinischen auf andere Sprachen.
441
Aber obwohl diese Dialekte sich schließlich so weit differenziert haben,
wie wir es sehen, wenn wir heute Französisch, Italienisch, Spanisch,
Rumänisch nebeneinander halten, so hat sich doch von solch lokalen
Verschiedenheiten im Latein selbst bisher nichts von irgendwelcher Er-
heblichkeit nachweisen lassen, — denn daß das „afrikanische" Latein keine
örtliche Erscheinimg war, haben wir ja vorhin gesehen. Es wird das wohl
hauptsächlich damit zusammenhängen, daß aus den letzten Jahrhunderten
vor dem Auftreten der einzelnen romanischen Sprachen, deren älteste
Urkunden nicht über das g. Jahrhundert zurückgehen, umfänglichere Denk-
mäler unverfälschter Volkssprache nicht erhalten sind.
alter.
Vin. Einfluß des Lateinischen auf andere Sprachen. Wir 1^601«*«»«
haben es in nicht wenigen Ländern des römischen Macht- und Kultur- .'"/"TT"
kreises zu einer völligen Latinisierung kommen sehen: die Iberer in
Spanien, die Kelten in Gallien haben diesen Prozeß durchgemacht, ebenso
die Bevölkerung der Alpen und der Länder an der unteren Donau, wie
die engadinische und die rumänische Sprache zeigen. Aber selbst bei
solchen Völkern, die jenem Kreis nur vorübergehend angehörten oder sich Entiehnaogou
nur mit ihm berührten, hat im Altertum eine starke Infiltration lateinischen »"**•" ^'""
' tm .\U«rtais and
Sprachguts stattgefunden. Am stärksten vielleicht bei den Albanesen, früh« Mine!
die nicht aus dem eigenen Sprachschatz, sondern mit Entlehnungen aus
dem Lateinischen selbst die einfachsten Anforderungen an das Lexikon
bestreiten: sogar die Ausdrücke für 'oder' und 'und', für 'Eltern' und
'Kinder' z. B., ja ganze Teile des Formensystems sind hier aus dem Latein
herübergenommen. Andere Sprachen schränken die Entlehnungen meist
auf bestimmte Sphären des Wortschatzes ein; sie holen von den Römern
die Benennungen für gewisse Errungenschaften der Kultur, die sie erst
durch die Römer kennen lernten oder bei ihnen besonders ausgebildet
fanden. In die griechische Sprache des oströmischen Reiches ist viel
Lateinisches eingedrungen; unter den bezeichneten Gesichtspunkt fallen
insbesondere die Beamtennamen und juristische Ausdrücke.
Am interessantesten aber sind für uns zweifellos die lateinischen Lateiuicbe
Wörter, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung ins Deutsche ''*^*^^J'"
aufgenommen worden sind. Wir dürfen uns rühmen, daß es nicht ein
einseitiges Nehmen gewesen ist; das Lateinische hat sich seinerseits da-
mals auch an deutschem Gute bereichert Um ganz von Namen speziell
germanischer Tiere abzusehen: wir können seit dem 2. Jahrhundert n. Chr.
in Rom nitlca, unser 'Milch', als Namen einer mit Milch bereiteten Speise
nachweisen. Aber vorzugsweise fiel die Rolle der Gebenden doch natur-
gemäß den Römern mit ihrer überlegenen, späterhin noch durch das
Christentum verstärkten Kultur zu. Haus und Garten, Küche und Keller,
deren römische Einrichtung die Germanen an Rhein und Mosel ausgiebig
bewundem konnten, zeigen in ihren einzelnen Erfordernissen noch heute
deutlich die altübemommene lateinische Terminologie: Mauer Pfeiler
442
Frakz SKtrrscH: Die lateinische Sprache.
Pfosten Ziegel, Birru Kirsche Pflaume Pfirsich Kohl Rettich Kümmel Stnf
Pfeffer, Tisch Schüssel Kessel Becher Kelch und wie viel andere unserer
geläufigsten Worte axis den gleichen Sphären danken wir den Römern.
Noch anderes römische Gut brachte der Handel: Münze Pfund und das
Wort 'kaufen* selbst nebst vielen ähnlichen. Nicht alle Entlehnungen
sind so friedlicher Art gewesen. Kriegerische Zusammenstöße, nicht
minder wohl der Dienst der Germanen im römischen Heere, haben ihnen
z. B. auch ein Wort wie Pfeil zugeführt Dafür kann man ein andermal
wieder den eigenartigen Prozeß beobachten, daß der Ncime der Kriegs-
maschine manganum, den die Römer von den Griechen entlehnt hatten,
in unserem 'Mange' oder 'Mangel' zur Bezeichnung eines häuslichen
Instruments wird, das mit jener nur die Walzen gemeinsam hat. Eine
neue Schicht Lehnwörter drang dann, zum Teil nachweislich später als
die genannten, jedenfalls aber noch im frühen Mittelalter, mit dem
römischen Christentum in Deutschland ein, so Propst, Messe, Kreus,
predigen u. a., darunter wieder nicht wenige, die die Römer selbst erst
von den Griechen überkommen hatten, wie Priester Atönch Orgel.
Wie wir übrigens im Lateinischen den Einfluß des griechischen
Lexikons nicht bloß an den in ihrer ursprünglichen Form entlehnten Worten
aufzeigen konnten, sondern auch an solchen, die genaue Übersetzungen
griechischer sind, so beschränkt sich der lateinische Einschlag im Ger-
manischen nicht auf unmittelbar herübergenommene Worte: wir können
auch hier an einem interessanten und wichtigen Falle die gliedweise Nach-
bildung fremder Zusammensetzungen mit einheimischem Materiale nach-
weisen. Unsere Namen der Wochentage Sonntag Montag Dienstag
Donnerstag Freitag sind den lateinischen Solis dies, Itinae dies. Mortis
dies, lovis dies, Veneris dies nachgebildet, indem bei den letzten drei die
römische Gottheit (Mars Jupiter Venus) durch die entsprechende ger-
manische (Thingsus Donner Freia) ersetzt ist
Entlehn angen
auf dem toten
Latein.
All die Entlehnungen aus dem Lateinischen, die bi.sher aufgezählt
sind, fallen in die Zeit, da es noch selbst eine lebende Sprache war, da
es noch gewissermaßen durch eine lateinisch redende Volk.smasse ver-
körpert wurde. Aber während andere Sprachen mit ihren Trägem dahin-
sterben, ist dem Latein das wenigstens in dieser Ausdehnung ganz
einzige Los gefallen, solchen Tod zu überleben. Es behielt seine Wichtig-
keit als Ausdrucksmittel einer großen Kultur, von der man sich noch
immer abhängig, die man der eigenen mannigfach überlegen fühlte; es war
die Sprache einer vielbewunderten Literatur, die ihr Bestes gerade in der
Kunst des Stiles geleistet hatte. So gehen denn sprachliche Beeinflussungen
in Fülle von ihm aus, auch viele Jahrhunderte noch nachdem die letzten
den Mund geschlossen haben, die Latein als Muttersprache redeten.
Dem einzelnen gerecht zu werden, brauchte es einen Kenner des
ganzen Kreises der modernen zivilisierten Sprachen und ihrer Geschichte;
VIII. Einflufl des Lateinischen auf andere Sprachen.
443
ich kann nur auf ganz weniges hinweisen. Die romanischen Sprachen, ■
nicht zufrieden mit dem reichen Erbteil, das sie von der lateinischen fl
Mutter überkommen hatten, haben oftmals späterhin noch bei ihr Anleihen ■
gemacht Im Französischen kann man vielfach sog. Doublets oder Doppel- I
Wörter, verschieden geformte Abkömmlinge desselben lateinischen Wortes I
beobachten, wie raide (roidcj und rigide, die beide 'steif 'starr' bedeuten ■
und auf lateinisch rigidus zurückgehen. Erstere Form weist die Spuren I
des Lautwandels auf, den rigidus im Alltagslatein und in dessen Entwicklung ■
zum Romanischen durchmachen mußte (vgl. froid 'kalt' aus /rigidus); es ■
ist das lateinische Wort, wie es direkt von Mund zu Mund und von Ge- ■
neration zu Generation weitergegeben wurde. Rigide dagegen entspricht I
dem lateinischen rigidus viel genauer in den Lauten; aber das ist nur H
darum möglich, weil es nicht historisch daraus entwickelt, sondern erst in ■
neuerer Zeit aus dem lateinischen Schrifttum entlehnt ist: auch hier hat fl
die Tinte konservierend gewirkt H
In diesem Falle hat der Habitus von Schuldner und Gläubiger so viel H
Ähnlichkeit, daß für das nicht wissenschaftlich geschärfte Auge sich ■
solche lateinische Eindringlinge von der romanischen Masse kaum kennt- ■
lieh abheben. Anders liegt die Sache bei den lateinischen Lehnworten, LauanUche
die das Deutsche seit dem Mittelalter in sich aufgenommen hat Da sie '^'"'"'"*' "»
fast sämtlich sich für den Blick jedes Gebildeten von dem deutschen Oesacbeii.
Sprachstoffe ohne weiteres imterscheiden, hat jeder auch die Möglichkeit
in der Hand, die Menge unserer jüngeren Entlehnungen aus dem M
Lateinischen zu prüfen; er braucht nur bei beliebiger deutscher Lektüre B
einmal seine Aufmerksamkeit für kurze Zeit nach dieser Seite zu kehren. ■
Das meiste betrifft natürlich die gelehrte Schule und den Wissenschaft- I
liehen Betrieb. Mit der Organisation unserer höheren und hohen Schulen fl
sind Ausdrücke wie Rektor, Professor, Privatdozent, Doktor, Student, Kolleg, ■
Kollege, Auditorium, Honorar, Direktor, Ordinarius, Klasse, Sexta bis Prima, H
Primus und viele andere so eng verknüpft, daß es scheint, man könne H
nicht an den Worten ändern, ohne die Sache umzugestalten. Von den H
Wissenschaften zeigt die, die das Altertum zum ersten Gegenstand H
hatte und durchaus auf antiken Grundlagen fußt, besonders viel antike H
Fachausdrücke, die Philologie mit der Grammatik. Der Ruhm der Er- ■
findung kommt dabei fast durchweg den Griechen zu, aber nicht die I
griechischen Ausdrücke leben fort und sind heute jedem Schulknaben und H
jedem Gebildeten geläufig, sondern ihre (bisweilen recht ungeschickten) I
Übertragungen durch die lateinischen Grammatiker. Das gilt von all H
jenen Bezeichnungen wie Verbum und Substantiv, Kasus und Person, ■
Imperativ und Konjunktiv usw. (vgl. Wackemagel oben S. 310), und auch H
wiederholte Bemühungen, diese lateinischen Ausdrücke zu verdeutschen, I
haben mehr die Schwierigkeiten als den Nutzen solchen Unternehmens H
klargestellt. Die Rechtswissenschaft hat hier größere Erfolge zu ver- H
zeichnen. Selbst im Namen hat sich die yurisprudens verdeutscht, und ■
444 Franz Skijtsch: Die lateinische Sprache.
doch zeugen Prozeß und Testament, Assessor und Referendar (um nur
weniges aus vielem herauszugreifen) davon, wie römische Rechtsformen
imzerstörbar bei uns weiterleben. In anderen Wissenschaften, wie in der
Medizin und Mathematik, ist dem Latein vor .allem wieder eine ver-
mittelnde Rolle zugefallen; die griechischen Fachausdrücke gebrauchen
wir im ganzen in der Lautgestalt und mit dem Akzent, die ihnen die
Römer gegeben haben (vgL Wackemagel S. 307). Aber längst nicht immer
borget das Latein hier nur Erborgtes weiter; man erinnere sich an Radius,
Grad, Minute, Sekunde usw.
Es hieße sich zu sehr ins Weite verlieren, wollte man die Menge latei-
nischen Lehnguts auch noch in den Künsten und auf anderen Gebieten
menschlicher Tätigkeit selbst bloß andeutend aufweisen; bleibt doch zudem
eine andere tiefgehende Beeinflussimg der modernen Sprachen durch das
Srafeiktiach- Latein noch zu erwähnen. Wo immer es zur Herübemeihme aus einer Sprache
M*d^'iu«^ in die andere kommt, pfleget sich der Vorgang nicht aufs Lexikon ein-
aof die netwRm zuschränkeu. Das Latein hat wohl bei allen neueren Kultumationen auch
^f""^"^ auf Syntax imd Stil zeitweilig sehr starke Einwirkungen geübt Das
begreift sich ja ohne weiteres. Die modernen Sprachen, die roma-
nischen wie die germanischen, haben sich ihr Recht zu literarischer Ver-
wendimg wenigstens neben der lateinischen erst mühselig erstreiten müssen,
imd bis ins 19. Jjüirhundert hinein hat die Fähigkeit, lateinisch zu reden
und zu schreiben, als ein wichtiges Erfordernis allgemeiner Bildimg
namentlich in Deutschland gegolten; bei wie vielen aber war diese Fähig-
keit sogar weit über die des muttersprachlichen Ausdrucks gesteigert So
klag^ im 16. Jahrhundert ein französischer Grrammatiker über die „Grelüst^-
keit, im Französischen den lateinischen Stil anzunehmen und den eigenen
aufzugeben"; die großen Schriftsteller dieses imd des folgenden Jahr-
hunderts haben unzählige Latinismen in Konstruktionen und Satzbau. Von
den englischen Klassikern sei hier wenigstens Milton genannt, der wie in
Wortschatz und Wortformen so in Syntax und Stil besonders häufig latei-
DeotMdi. nischen (freilich auch griechischen) Mustern folgt Im Deutschen darf die
künstlich aufgetürmte Periodisierun|f, die wir erst neuerdings energpisch
zu beseitigen beginnen, als lateinisches Erbe gelten, wie im Kanzleistil
besonders deutlich wird. Aber auch vieles, dsis uns im einzelnen bei
unseren größten Schriftstellern befremdet, ist denselben Weg gekommen.
Haben wir in Lessing einen der Väter unserer modernen Prosa und
jedenfalls einen unserer hervorragendsten Stilisten zu verehren, so wird
sein Beispiel ja hier besonders beweiskräftig sein. Er wag^ gelegentlich
Konstruktionen, die uns geradezu schmerzlich berühren: „Seien Sie, wer
Sie wollen, wenn Sie nur nicht der sind, der ich nicht will, daß Sie
sein sollen", „ein Band alter Fabeln, die sie ungefähr aus den nämlichen
Jahren zu sein urteilten" usf. Der Latinismus hierin ist auch für den
Anfänger im Lateinischen mit Händen zu greifen. Besonders merkwürdig
ist der zweite FalL Denn der „Akkusativ mit dem Infinitiv« ist gewisser-
IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altemims.
445
maßen zum Gradmesser des lateinischen Einflusses auf den deutschen Stil
geworden. Vor Lessing haben ihn z. B. Notker, der um das Jahr looo
viel Lateinisches übersetzte, und im 16. Jahrhundert Fischart, der auch
unter den ersten war, die deutsche Hexameter bauten.
Es mag nicht an Hoffnungsfreudigen fehlen, die in der Einschränkung Der
des lateinischen Unterrichts, insbesondere dem Wegfall des lateinischen l^'"""»'«™''"-.
Aufsatzes, eine Gewähr für eine Besserung des deutschen Stiles erblicken,
der nun, von einem lästigen Muster befreit und nur nach eigensten Ge-
setzen sich richtend, fortan größere Leichtigkeit und dabei mehr Eigenart
gewinnen werde. Hätten nur nicht die letzten Jahre gezeigt, daß unser
Stil für das kalte Fieber der Latinomanie das hitzige der Gallo- und
Anglomanie einzutauschen in Gefahr steht! Indes zugegeben auch, daß
das, was bisher dem Lateinunterricht genommen worden ist, unserer
eigenen Sprache zugute kommen wird — so viel dürften doch die vor-
stehenden Betrachtungen in all ihrer Dürftigkeit klarstellen, daß eine
weitere Beschneidung unserer I^ateinkenntnisse auch für das Verständnis
unserer nationalen Sprachgeschichte, wie es jeder Gebildete besitzen
sollte, einen schweren Verlust bedeuten würde.
IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums. Latein
lernen heißt nicht nur für das Verständnis des Altertums einen der
beiden Schlüssel gewinnen. Wir haben eben schon gesehen, wie es auch
einer der Schlüssel zum Verständnis unserer eigenen Sprache ist Aber
wir dürfen mehr sagen: es ist auch ein unentbehrlicher Schlüssel zum Ver-
ständnis der modernen Kultur, nicht bloß darum, weil diese sich auf
der antiken aufgebaut hat, sondern auch darum, weil eine große Anzahl
der erlesensten Geister des Mittelalters und der Neuzeit ihren Gedanken
lateinische Form gegeben hat
Dies Nachleben des Lateins scheidet sich, wie die ganze Geschichte d« L««ia w
menschlicher Bildung seit dem Ausgang des Altertums, durch die Renais- ^^^°"^^'
sance in zwei Hälften. Wenn man es recht verstehen will, kann man
sagen: in der ersten ist die Handhabung der lateinischen Sprache freier,
origineller, freilich auch viel fehlerhafter und wilder; in der zweiten sieht
man ängstlich auf die klassischen Muster. Nicht als ob man nicht auch
in der ersten zuzeiten unter Anlehnung an antike Autoren recht gut
Latein zu schreiben wüßte. Aber im ganzen heißt es hier mehr, sich
überhaupt ausdrücken, und das tut man lateinisch, da die germanischen
und romanischen Sprachen erst sehr allmählich zu schriftlichen Ausdrucks-
mitteln herangebildet werden. In der zweiten Periode dagegen kommt es im
ganzen darauf an, sich, wenn man sich lateinisch ausdrückt, auch korrekt
und schön auszudrücken. Dante und in vielem auch noch Petrarca schreiben
ein Latein, das für Cicero teils unverständlich, teils unerträglich fehlerhaft
446
Franz Skutsch: Die lateinische Sprache.
Die
kliniriitiiche
Imttatioa und
ihr EinfluB.
Latein ala
Sprache der
Wiuenichaft.
gewesen wäre. Aber Petrarca selbst hat die Quellen des besten latei-
nischen Stiles wieder aufgegraben; und wer aus diesen Quellen nicht einen
tiefen Trunk getan hat, darf sich sehr bald nicht mehr lateinisch zu äußern
wagen, wenn er nicht seines Stiles wegen verlacht werden will wie die
Dunkelmänner. Jetzt schwindet die Meisse der barbarischen Wörter, mit
denen mittelalterliche Schriftsteller teils selbst neubildend, teils aus den
Landessprachen entlehnend ihr Latein durchsetzt haben; es schwinden die
barbarischen Konstruktionen, die auch entweder aus willkürlicher Ver-
unstaltung oder aus dem Einfluß der Nationalität hervorgegangen sind.
Und wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach seit anderthalb Jahrtausenden
nichts mehr in lateinischer Sprache geschrieben worden ist, woran
nicht Cicero oder Vergil grammatisch und stilistisch sehr beträchtliche
Ausstellungen zu machen haben würden, so darf man doch anderseits der
neulateinischen Stilkunst das Zeugnis geben, daß es ihr an Leistungen von
außerordentlicher Eleganz und Feinheit nicht mangelt
Man hat es oft schon ausgesprochen, daß gerade diese vielfach so
kunstvolle Nachahmung des klassischen Stiles, wie sie durch die Renais-
sance üblich wurde, dem Latein den Lebensrest genommen hat, der ihm
auch nach dem Altertum verblieben war. Die Möglichkeit, neu auf-
tauchende Begriffe durch kühne Neubildungen zu bezeichnen, den
Gedanken nicht in die Schablone der ciceronischen Periode hinein-
zupressen, kurz die Möglichkeit einer lebendigen Fortentwickelung, soweit
solche bei einer literarischen Sprache überhaupt denkbar ist, hätte
dem Latein bleiben müssen, wenn es sich auf die Dauer auch nur als
internationale Sprache der Wissenschaft behaupten sollte. Das kann am
besten die Wissenschaft zeigen, in der das Latein wirklich diese Stellung
bis zum heutigen Tag behalten hat, die systematische Botanik. Kühne,
sich beständig aus griechischem und lateinischem Sprachmaterial ver-
mehrende Neubildimgen, Verzicht auf alle stilistische Kunst sind die Zeichen
ihres Lateins, aber es ermöglicht dem Deutschen, sich ohne weiteres mit
dem Russen und Japaner zu verständigen.
Wenn die Botanik den positiven Beweis liefert, daß nur eigenmächtige
Behandlung das Latein befähigen kann, die Sprache der Wissenschaft zu
bleiben, so gibt die klassische Philologie den negativen. Zweifellos ist
— ft"eilich neben dem wachsenden Bestreben, den wissenschaftlichen Stoff
in der eigenen Sprache künstlerisch zu gestalten — die Forderung,
„ciceronisch" zu schreiben, die Ursache davon, daß selbst unter den
Philologen die Neigung, sich lateinisch auszudrücken, stark im Abnehmen
ist Der Philologe empfindet heute mehr als je zuvor das Bedürfnis,
neben den sog. klassischen Perioden des Altertums auch die ftüheren imd
späteren wie sachlich so sprachlich aufs genaueste zu durchforschen. Es
liegt auf der Hand, daß die Belastung des Gedächtnisses mit dem Sprach-
material so verschiedener Perioden eine „klassizistische" Nachahmung des
Lateins sehr erschwert
IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums.
447
Nun haben zudem gerade die letzten Jahre gezeigt, wie undankbar
das Bestreben, „klassisch" schreiben zu wollen, selbst bei energischer Aus-
schaltung solch störender Nebeneinflüsse bleibt Daß Cicero durchaus
rhythmisch schreibt, wie wir oben dargelegt haben, ist erst vor etwa zehn
Jahren wieder entdeckt worden. Und also ist alles, was seit der Renaissance
an „ciceronischem" Latein geschrieben und als solches bewundert worden
ist, durchaus unciceronisch.
Hier haben wir eine anscheinend vernichtende Kritik der „klassizisti-
schen" Imitation. Und doch kann gerade die klassische Philologie nicht
aufhören sie zu fordern, es müßte ihr denn alles Stilgefühl verloren gehen.
Stellt diese ideale Forderung sich als unerfüllbar heraus, so bleibt dem
Philologen nur die Möglichkeit, auf das Latein als Darstellungsmittel über-
haupt zu verzichten.
Wie das Latein seine Rolle als Sprache der Wissenschaft selbst auf i^^^,^ j,
dem Gebiet der Philologie nahezu ausgespielt hat, so ist es vom politischen Spnche d«
Felde heute gänzlich verschwunden. Einst war es hier Herrscherin, bis
das Französische an seine Stelle trat. Dann blieb ihm Ungarn bis in
unsere Zeit hinein als letzter Zufluchtsort, nun ist es mit der Nationali-
sierung des Landes auch dort verdrängt So ist es niu- ein Gebiet noch,
auf dem die Macht des Lateins unverändert fortbesteht, freilich ein großes
und sicheres — das der katholischen Kirche.
Latein mls
Sprache der
Kirche.
I
Wenn wir bei dieser Übersicht über die Geschichte des Lateins in NeaUteinUche
Mittelalter und Neuzeit bisher die Form in den Vordergrund gestellt Lite^^«-
haben, so empfiehlt sich jetzt ein Blick auch auf den Inhalt dieser neu-
lateinischen Literatur, um die Behauptung zu erhärten, daß in ihr unver-
lierbares Gut der Menschheit niedergelegt ist Hierbei ist der zeitlichen
Anordnung die nach Literaturgattungen durchaus vorzuziehen. Bei solcher
Einteilung stellt sich nämlich sofort heraus, daß die Prosa weitaus bedeut-
samere Leistungen aufzuweisen hat als die Poesie.
Denn, um mit dieser letzteren zu beginnen, die neulateinische Poesie Poeeie
bietet zwar vieles, Wcis an sich oder als Glied der gesamten neueren
Literaturentwickelung, d. h- meist gerade als Stück der einzelnen natio-
nalen Literaturen höchst interessant ist, aber wohl nicht eine Leistung,
die sich unter die wirklichen Großtaten der Poesie stellen dürfte. Gern
gäben wir die lateinische Dichtung der Karolingerzeit, so manches form- im Mineuinr
gewandte und inhaltlich interessante Stück sie enthält, für gleichzeitige
deutsche Poesien dahin; lieber läsen wir den IVaWiarius manu fortis, der
heute durch SchefiFels Umdichtung allgemein bekannt ist, in der alten
nationalen, dem Sagenstoff entsprechenden Form als in den vergilischen
Hexametern des Ekkehard. Aber wir müssen dem Schicksal dankbar sein,
daß seine Launen diesen frühen Urkunden unseres Volkes zur lateinischen
Form verhelfen haben, ohne die vielleicht auch sie wie so vieles andere
Gleichzeitige uns verloren wären. Fügen wir nur noch die Komödien der
448 Franz Skittsch: Die lateinische Sprache.
Nonne Hrotsvith von Gandersheim hinzu, die zwar in Prosa, aber
doch in ausgesprochener Anlehnung an Terenz christliche Legendenstoffe
formt, so sehen wir auch an diesem Beispiel dieselbe Erscheinung: eine
an sich nichts weniger als klassische Leistung in lateinischer Sprache wird
für uns von höchstem Interesse, weil sie nichts Ahnliches in nationaler
Form neben sich hat Die Geschichte unserer ältesten Dichtung hat es
zum großen Teil mit Lateinischem zu tun.
ia dar NsoMit. Man kann in der lateinischen Poesie anderer Zeiten und anderer
Völker dasselbe sich wiederholen sehen: nichts von erstem Range, aber
vieles, dessen Verlust uns das Verständnis der Entwickelung sehr er-
schweren müßte. Petrarca würden seine lateinischen Dichtungen nicht
seinen Ehrenplatz verschafft haben, aber mit den lateinischen Prosabriefen
zusammen machen sie seine Persönlichkeit, seine Bestrebungen wohl deut-
licher als die Sonette und Trionfi. Auch ein Mann wie unser Andreas
Gryphius etwa wird verständlicher, wenn man seine lateinischen Jugend-
epen kennt, an denen man sehen kann, wie tief man sich im 17. Jahr-
hundert in die alte lateinische Poesie hineinlesen und bis zu welcher
Fertigkeit trotz vieler Fehler man die Imitation treiben lernte.
Wenn diese lateinischen Erzeugnisse als Dokumente für die Entwicke-
lung ihrer Verfasser und ihrer Epoche interessieren, so m^ anderes an
sich, ohne als Rad in dem literarischen Gangwerk wichtig zu sein, dem
Kenner einen gewissen Grenuß verschaffen. So z. B. manche Dichtung
der Humanisten oder des Jesuiten Sarbiewski (f 1640) fromme Oden, die
wegen ihrer Annäherung an das römische VorbUd ihm von seiner Zeit
den Ehrennamen des polnischen Horaz eintrugen, oder des Holländers
Johannes Secundus (f 1536) zärtliche Kußgedichte. Noch jetzt fördert ein
holländisches Preisausschreiben alljährlich lateinische Gredichte zutage,
deren Verfasser bisweilen mit erstaunlicher Eleganz selbst so moderne
Gegenstände wie das Zweirad zu behandeln verstehen.
All diese nachgeborenen Kinder der lateinischen Muse haben nur ein
sekundäres Interesse und werden im ganzen bloß den Philologen und
Pro», literarischen Liebhaber locken. Bei der I>rosa aber braucht man solche Ein-
Bcttatriadache*. schränkung nur zu machen, soweit es sich um rein belletristische Werke
handelt Freilich hat auch hier manches nicht unbeträchtliche Nach-
wirkungen geübt, z. B. die Schnurrenliteratur; den Einfluß der Facetiae des
italienischen Humanisten Poggio (f 1459) vmd seines deutschen Fachgenossen
Bebel (f etwa 15 16) kann man noch bei Lessing uad darüber hinaus ver-
spüren. Doch das alles bleibt vereinzelt und unbedeutend im Verhältnis zu
den Denkmälern, die lateinische Prosa auf dem Giebiet der Wissenschaften
errichtet hat Hier ist vieles, was auch Nicht-Philologen zu eingehender
Betrachtung zwingt und sich solche Betrachtung in seiner Urform erzwingen
wird, solange noch nicht der Köhlerglaube herrschend geworden ist, daß
einem ernsten Beschauer die Übersetzung statt des Originals grenügen
IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums.
449
könne. Aus der verwirrenden Fülle versuche ich wenigstens einiges heraus-
zuheben. An das corpus iuris Justinians hat sich im Mittelalter (etwa seit jimipradeo».
iioo) eine umfangreiche Erklärertätigkeit in lateinischer Sprache, wichtig
für die Fortbildung des römischen Rechtes, angeschlossen. Die Geschichts-
quellen, sowohl Urkunden wie Schriftsteller, voran Leute wie Gregor von
Tours, der Geschichtschreiber der Franken, Beda, der Geschichtschreiber G»chichie.
der Angeln, und Paulus Diaconus, der Geschichtschreiber der Langobarden,
bedienen sich, je weiter sie zeitlich zurückliegen, um so ausschließlicher der
lateinischen Sprache. Auf philosophischem Gebiet aber ist das Lateinische Pinio«opiij».
nicht nur die ausgesprochene Form der Scholastik geworden, sondern auch
Größen der modernen Philosophie wie Spinoza (f 1677) und Leibniz {f 17 14)
haben ganz oder vorzugsweise lateinisch geschrieben. Auf dem Gebiet Eukw
der Mathematik und Natun\'issen Schäften genügt es, zwei Namen zu nennen: Wi»Miuch«fieB.
Newton {f 1727) und Gauß (f 1855). Die Möglichkeit soll hier nicht etwa
bestritten werden, daß all die großen Gedanken der letzten vier sich
ebensogut Holländisch, Englisch und Deutsch hätten ausdrücken lassen.
Aber wir haben nicht mit dem zu rechnen, was da hätte sein können,
sondern mit dem, was ist Je größer und origineller ein Denker, um so
mehr ist bei ihm die Sprache die Rinde des Gedankens, die sich nicht
abstreifen läßt, ohne daß der Gedanke selber Schaden leidet, und so wird
auch der Mathematiker und Naturwissenschaftler das Latein nicht entbehren
können, solange Newton und Gauß ihren Platz in der Wissenschaft be-
haupten.
Wer sich so umsieht auf dem gewaltigen Gebiet geistiger Leistungen
in lateinischer Sprache seit dem Ausgang des Altertums, dem mag es
wohl den Kopf herumkehren, „wie er wollt' Worte zu allem finden".
Nun gar auf wenig Seiten von dem Ungeheuren eine genügende Vor-
stellung geben — wer möchte sich des vermessen? So trifft es sich schön,
daß auch wenige Beispiele, auf gut Glück herausgegriffen, ausreichend
scheinen, um die Ehrfurcht vor dem Latein als einem altgeheiligten Gefäß
menschlichen Denkens wieder zu wecken, wo sie im Schwinden ist. Und
ich glaube, das wenige schon, was hier gesagt ist, wird genügen, um
Schopenhauers Wort zu rechtfertigen, das zum Schlüsse stehen mag
{Parerga U § 299): „Der Mensch, welcher kein Latein versteht, gleicht
einem, der sich in einer schönen Gegend bei nebligem Wetter befindet:
sein Horizont ist äußerst beschränkt: nur das Nächste sieht er deutlich,
wenige Schritte darüber hinaus verliert es sich ins Unbestimmte. Der
Horizont des Lateiners hingegen geht sehr weit, durch die neueren Jahr-
hunderte, das Mittelalter, das Altertum."
Du Kin-nn on GianrwART. LB.
29
Literatur.
Eine Skizze wie die vorstehende , die Art und Entwickelungsg^g einer Sprache ' ftir
Laien zu schildern versucht, kämpft mit grSfieren Schwierigkeiten als eine literarhistorische
Darstellung, die gleichen Zwecken dient Ich habe geglaubt, bei denen, die überhaupt
dergleichen lesen, einige Sprachkenntnis — mindestens die der lateinischen Formen, wie
sie der Sextaner lernt — voraussetzen zu dürfen. Für solche wird, wie ich denke, mein
AbriB nicht gerade eine leichte , aber doch eine verständliche Lektüre sein. Sonstige Literatur,
die auf den gleichen Standpunkt berechnet wäre, ist mir nicht bekannt Selbst das an der
Oberfläche haftende Büchlein von OSK. Weise, Charakteristik der lateinischen Sprache,
2. Aufl. (Leipzig, 1899), setzt mehr voraus. Aber auch für den, der sich wirklich wissen-
schaftlich unterrichten will, fehlt es völlig an einer Geschichte der lateinischen Sprache.
Wir besitzen nur Darstellungen gröBerer Teile der lateinischen Grammatik. Was davon
jenseits von 1885 liegt, ist — mit Ausnahme von BOchelers klassischer, obwohl in nicht
wenigem natürlich veralteter Monographie über die Deklination, 2. Aufl. (Bonn, 1879) —
nicht mehr zu gebrauchen. Von den seitdem erschienenen Werken sind zu empfehlen: für
Laut- und Formenlehre F. Sommer, Lateinische Grammatik (Heidelberg, 1903) und, in weit-
aus höherem Grade, W. M. Lindsay, The Latin Language (Oxford, 1894), deutsch unter dem
Titel: Die lateinische Sprache (Leipzig, 1897), sowie der knappe, aber außerordentlich klare
Überblick in Brugmanns GrundriB der vergleichenden Grammatik, Bd. I u. II (Strafiburg, 1889
bis 1897); für Syntax und Stilistik die Darstellung von J. H. Schmalz in Iw. Müllers Hand-
buch der klassischen Altertumswissenschaft, 2. Band, 3. Aufl. (München, 1900). — Für einzelnes
darf ich auf den Abschnitt „Lateinische Grammatik" in W. Krolls Bericht über die Alter-
tumswissenschaft im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts (Leipzig, 1905), S. 312 — 352 verweisen.
— Der Wortschatz vrird dargestellt in dem Thesaurus Linguae latinae, den die fünf
deutschen Akademien herausgeben; davon sind jetzt zwei Bände, A u. B, (Leipzig, 1905) ab-
geschlossen.
S. 413. Die Ligurer: Kretschmer, Kuhns 2^itschrift für vergleichende Sprachwissen-
schaft 37, 197 fr.
S. 415 f. Uritalischer Wortschatz: BOcheler, Lexicon Italicum (Programm der Univer-
sität Bonn 1881).
S. 416. Alliteration: z. B. O. Keller, Grammatische Aufsätze (Leipzig, 1895), S. i ff.
S. 417 f. Für die oskisch-umbrischcn Dialekte sind {grundlegend die Werke von
Th. Mommsen, Unteritalische Dialekte (Leipzig, 1850) und von TH. Aufrecht und A. Kirch-
hoff, Die umbrischen Sprachdenkmäler (Leipzig, 1849 und 1851), sodann F. BÜCHELER,
Umbrica (Bonn, 1883). Neue gute Darstellungen der Dialekte nebst Ausgabe der Inschriften
von R. v. Planta, Grammatik der Oskisch- Umbrischen Dialekte, 2 Bände (Strafiburg,
1892 und 1897) und von R. S. Conway, The Italic Dialects (Cambridge, 1897). Vortreff-
liches gibt über die Schichtung der italischen Stämme vom Standpunkt des Historikers
H. Nissen, Italische Landeskunde, Bd. I, (Berlin, 1883), S. 468 ff.
S. 420. Etniskische Bestandteile im lateinischen Namenschatz behandelt bahnbrechend
W. Schulze, Zur Geschichte der lateinischen Eigennamen (Abbandlungen der Göttinger
Gesellschaft der Wissenschaften V 2, Berlin, 1904).
S. 421. Die griechischen Wörter im Latein stellt zusammen O. Weise (Preisschriften
der Jablonowskischen Gesellschaft, Bd. XXIII, Leipzig, 1882).
Franz Skutsch: Die lateinische Sprache. 45 1
S. 421. Die älteste Inschrift ist abgebildet und erläutert von Ch. HOlsen, Das Forum
Romanum (Rom, 1904), S. 92 ff. Weiteres in Vollmöllers Jahresbericht für romanische
Philologie VI, i (1905), S. 453 ff.
S. 428 ff. Die Geschichte des lateinischen Prosastils hat mit weitem Blick E. NORDEN
dargestellt, Die antike Kunstprosa, 2 Bände (Leipzig, 1898); hier ist auch im zweiten An-
bang die Rhythmisierung der Prosa behandelt
S. 428. Über Ennius: Skutsch in Pauly-Wissowas Realencyklopädie der klassischen
Altertumswissenschaft, Bd. V (Stuttgart, 1905).
S. 430. Vergils Stil: SKUTSCH, Aus Vergils Frühzeit (Leipzig, 1901), S. 65 und besonders
£. Nordens Kommentar zu Aeneis Buch VI (Leipzig, 1903).
S. 432. Rhetorenschulen: L. FriedlXnder, Darstellungen aus der Sitteng^eschichte Roms
(Leipzig, 1890), III» 346 ff.
S. 434 f. Sog. „afrikanisches" Latein: Norden, Kunstprosa S. 588 ff.; Kroll Rheinisches
Museum 52, 569 ff.
S. 436. Sprache der Bibelübersetzungen: H. RÖNSCH, Itala und Vulgata (Marburg,
1869).
S. 437 ff. Die {gesprochene Sprache (auch Alltagssprache, Umgangssprache u. ä. genannt),
besonders in ihren Beziehungen zum Romanischen: W. Meyer -LObke in Gröbers Grundriß
der Romanischen Philologie I' (StraBburg, 1905), S. 451 ff.
S. 441 . Albanesisch : GUST. Meyer, Etymologisches Wörterbuch der albanesischen Sprache
(Strasburg, 1891).
S. 441 f. Lateinische Worte im Deutschen: F. KLUGE in Pauls Grundriß der Germa-
nischen Philologie, I' (Strafiburg, 1901), S. 327 ff. und in der Einleitung zu seinem Etymo-
logischen Wörterbuch der deutschen Sprache* (StraBburg, 1899). Über die Mangel: Reu-
LEAUX Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, 1885, S: 24.
S. 444 f. Über den EinfiuB des lateinischen Stils auf die modernen Sprachen gibt es
nur ganz versprengte Literatur. Einiges bei Brenous, Etüde sur les hell^nismes dans la
syntaxe Latine (Paris, 1895), S. 32 ff., für das Deutsche bei F. KLUGE, Von Luther bis Lessing,
Sprachgeschichtliche Aufsätze* (StraBburg, 1904).
29*
REGISTER.
Von £>r. Richard Böhme.
Bd mehi&cb uigefiUiitaii Namco uod Sücbwortca tiiid die Haoptttellsn darch ein Sterneben bezeiclmet.
A.
Accius. 327.
Accusativus, Der Name. 310.
Accusativ mit dem Infinitiv. 444.
AchiUeus Tatios. 183.
Adrastos. 176.
Ägypten, Pflege der Poesie in. 216.
— , Stellung von, in der Geschichte der grie-
chischen Literatur. 245.
Älianus, Claudius. 150. 151. 180.
Alianus (Taktiker). 161.
Aolisch. 291.
Äolismen im ionischen Epos. 6.
Äneas von Gaza. 215.
Africanus, Sextus Julius. 197. 265.
Afrika als Literaturstätte in der Übergang^
zeit zum Mittelalter. 387.
Agatharchides. 113.
Agathias. 200.
Aischines (Redner). 71.
Aischines (Sokradker). 79.
Aischylos. 44.
Aisopos. 34.
Akominatos, Michael. 274.
Akrosticha in der griechischen Literatur. 1 79.
Akzent in der spätgriechischen Metrik. 259.
— im frühesten Italisch. 414.
Albanesisch. 441.
Albinus. 177.
Alcuin. 405.
Aldhelmus. 403.
Alexander Numenius. loi.
Alexanderroman. 181.
Alexandreia. Seine Bedeutung für das grie-
chische Buchwesen. 90.
— in der römischen Periode. 156.
— in der oströmischen Periode. 215.
— , Oiristliche Schule in. 190.
Alexandros der Große. • 86. 96. 299. 300.
in der Sage. 119.
Alexandros der Ätoler. 119.
Alexandros von Aphrodisias. 176.
Alexandros von Mindos. 155. 180.
Alexandros Polyhistor, iii. 112.
Alexias. 273.
Alkaios von Lesbos. 25.
Alkaios von Messene. 91.
Alkidamas. 68.
Alkiphron. 150.
Alkmaion. 40.
Alkman. 28.
Alliteration im Uritalischen. 416.
— bei Ennius. 429.
Alltagssprache, Charakteristik der lateinischen.
427.
— , Analytischer Charakter der lateinischen.
439-
— , Zimehmende Verschiedenheit der, vom
Stil. 436.
— , Rekonstruktion der lateinischen, aus den
romanischen Sprachen. 438.
Almosen, Das Wort 304.
Alphabet, Griechisches. 308.
— , Römisches. 314.
Altertum. Sein Fortleben im Mittelalter imd
in der Renaissance. 407.
Ambrosius. 379.
Ammianus Marcellinus. 199. 367.
Ammonios Sakkas. 245.
Anacharsis. 97.
Anakreon. 24. 25.
Anakreonteen. 25.
Anatolios. 194.
Anaxagoras. 57.
Anaximandros. 32.
Anaximenes von Lampsakos. 70.
Anaximenes von Milet 34.
Andokides. 62.
Andronicus, L. Livius. 316.
Andronikos von Rhodos. 154.
Androsthenes. 89.
Anna Komnena. 273.
Annalen der Pontifices maximi. 324.
Anthimus. 401.
Anthologie, Griechische. 139.
Antigonos Gonatas. 89.
Antigonos von Karystos. 117.
Antimachos. 130. 180.
Antiocheia als zweite Hauptstadt des römischen
Reiches. 163.
— . Sein EinfluB auf das griechische Geistes-
leben. 246.
Antiochos von Kommagene. 103.
Antiochos von Syrakus. 55.
Antipatros von Sidon. 143.
Antiphanes von Athen. 126.
Antiphanes von Berge. 120.
Antiphon. 60.
Antisemitismus. 171. 184. 383.
Antisthenes. 78.
Antoninus Pius. 161.
^^^^^ ^^^^Bj^^^ Register. 45J ^^^H
^^V Antonius Diogenes. 121.
Arsenik, Das Wort. 302. ^^M
^H Antonius der Heilige. 219. 255.
Arsinoe Philadelphos. 89. ^^U
^H Anyte. 89.
Artemidoros von Daldis. 178. ^^|
^H Aphthonios. 246.
Artemidoros von Ephesos. 154. ^^|
^H Apion. 171. 184.
Artemidoros der Grammatiker. 137. ^^U
^^m Apokalypsen. 184.
Artikel im Attischen. 294. ^^M
^^m Apoklima. 306.
— . Sein Fehlen in der lateinischen Sprache. ^^M
^^B ApoUinaris von Laodikeia. 220.
4'S- ^1
^^B ApoUinaris Sidonius. 370. 377. 400.
— . Sein Entstehen in den romanischen ^^U
^^1 ApoUodoros von Athen. 113.
Sprachen. 439. ^^M
^^M ApoUodoros von Pergamon. 147.
Asconius. 155. ^^H
^^H ApoUonios Dyskolos. 176.
Asianismus. 430. 431. ^^H
^^M ApoUonios der Karer. in.
Asklepiades. 142. ^^H
^^B ApoUonios von Perge. 91. 94.
Asklepiodotos. 1 54. ^^H
^^B ApoUonios von Rhodos. 14. 134.
Asklepioskult 185. ^^H
^^B ApoUonios von Tyana. 160. 188. 191.
Aspasios. 176. ^^M
^^B ApoUonios von Tyros. 182.
Astrologie. 18$. ^^M
^^1 Apolog. 1 19.
Atellane. 41. 327. ^H
^^m Apologeten. 1 89.
Athanasios. 219. 255. ^^^
^^P Apophthegma. 98.
Athen als Bildungsstätte. 203. 247. 298. ^^H
^^ Apostelgeschichte. 188.
— als Zentrum von Attika. 292. ^^M
1 Appianos. 171,
Athcnaios. 146. 176. ^^^H
Apuletus. 368. 433.
Atticus, T. Pomponius. 338. ^^^^M
Arabisch. 300.
Attisch. 292. 298. ^^^H
Aratos. 117. 132.
—. Einflüsse anderer Mundarten auf das. 293. ^^|
Archaismus der griechischen neuklassischen
— als Höhepunkt des Griechischen. 294. ^^M
Literatur. 164. 304.
— , Literarische und politische Übermacht ^^M
— in der griechischen Literatursprache des
des. 298. ^^M
Mittelalters. 252.
Attische Periode der griechischen Literatur. 35. ^^M
— in der römischen Literatur und Sprache. 366.
— Gattungen der griechischen Literatur. 224. ^^M
Archestratos von Gela. 130.
Attizismus der griechischen Literatur und ^^M
Archtas. 143.
Sprache. 144. i6t. 352. 275. 304. ^^M
Archilochos. 21. 22. 23.
— in der lateinischen Literatur. 431. ^^|
Archimedes. 84. 89. 91. 299.
Augustinus. 370. 376. 379. * 3^1. ^H
Arch>'tas. 41.
Augustus. 152. 153. 343. ^H
Areios Didymos. 154.
Aulodie. 28. ^^H
Arcios der Bischof. 124. 220.
Ausonius, D. Magnus. 370. 375. 399. ^^H
Aretaios. 175.
Aussprache des Lateinischen. 433. ^^H
Arcthas. 273.
Autolykos. 94. ^^M
Arion. 44.
^^M
Ariphron. 185.
^M
Aristarchos der Grammatiker. 9. 94.
Babrios. 180. ^^U
Aristarchos der Tragiker. 44.
Bakchylides. 31. 36. 54. ^^M
Aristeas von Frokonnesos. 120.
Bardas. 370. ^^M
Aristeasbrief. 122.
Bardesanes. 200. ^^H
Aristeides von Milet. 119.
Basilios der GroBe. 209. 310. 320. 256. ^^H
Aristeides von Smyma. 161. 162. 164. 165.
Batrachomyomachie. 129. ^^H
Aristippos von Kyrene. 41.
Bebel. 448. ^H
Ariston. 98. 99.
Beda. 403. 404. 449. ^^M
Aristonikos. 94. 155.
Benediktinerregel. 386. ^H
Aristophanes von Athen. 51. 52. 53.
Benedictus von Nursia. 386. ^^^
Aristophanes von Byzanz. 146.
Beredsamkeit, Griechische. 99., s. auch 60. ^^M
Aristoteles. 58. 68. 78. 81. 84. »87.96. rot. 114.
^^1
Aristoxenos. 116.
— , Römische. 334. 333. ^^M
Arkadisch. 291.
Bcrossus. ^^M
Arkesilaos. 78. 96.
Bibelübersetzungen s. Septuaginta. 304. ^^M
Armenisch. 306.
— s. Vulgata. 377. ^^1
Amobius. 390.
— , Einfluß derlateinischen. auf dieSprache. 436. ^^M
Airianos. 161. 169.
Bibliotheken, Griechische. 90. ^^M
454
R^ister.
Bibliotheken in Italien. 386.
Bildung^erkehr, Griechisch-römischer. 333.
Biographie in der griechischen Literatur. 114.
167.
Bion von Borysthenes. 98.
Bion von Smyma. 143.
Bios als Literatuigattung. 115. 167.
Blumen, Fehlen der, im homerischen Epos. 13.
Bobbio, Kloster. 401.
Boethius. 99. 371. 377. 384.
Boni&tius. 403.
Botanik, Latein als internationale Sprache
der systematischen. 446.
Braut von Korinth. isi.
Brief als literarische Gattung. 87. 96. 150.
— , Aristeas-. 122.
Briefe Ciceros. 338.
— , Phalaris-. 150.
— des Paulus. 157.
— , Christliche. 188.
— des jüngeren Plinius. 363.
Briefstil, Griechischer. 153.
Briefwechsel, Angeblicher, Senecas mit Pau-
lus. 35S-
Brüdergemeinden der Christen. 198.
Brunetto Latini. 409.
Brutus, M. lunius. 433.
Buchstabennamen im Griechischen semitisch.
390.
Buchwesen, Griechisches. 90.
Bukolik, Griechische. 136.
— , Römische. 346.
Byzantinische Kultur. Ihr Mischcharakter. 339.
Byianz, Stellung von, in der Übermittelung
der Literatur und Kultur. 231.
Byzanz und Rom, Trennung von. 356.
C.
Caecilius, Statins. 330.
Caesar, C.Julius. 94. 171. »339. 432.
Caligula. 158.
Cantica der römischen Komödie. 320.
Caracalla. 163.
Cassianus. 386.
Cassiodorius. 384. 385.
Cassius Dio. 171. 181.
Cassius Maximus von Tyros. 162. 177.
Cato, M. Porcius. 112. •324. 423. 430.
Cato, Valerius. 329.
CatuUus, C. Valerius. 140. »329. 419. 426. 430.
Celsus ^latoniker). 190.
Celsus, Cornelius. 355.
Chamaileon. 116.
Charisios. 102.
Chariten. 152. 182.
Charondas. 38.
Chilperich. 401.
Chöre, Griechische. 29.
— der griechischen Tragödie. 45.
Chöre der griechischen Komödie. 51.
— , Kyklische. 53.
Choirikios. 315.
Choirilos. 129.
Christengemeinden, Organisation der, im römi-
schen Reiche. 162.
Christentum. Seine Bedeutung für griechische
Literatur und Bildung. 185.
— in der byzantinischen Kultur. 243.
— im römischen Kaiserreich. 374.
— , Popularisierung der lateinischen Schrift-
sprache durch das. 436.
Christophoros von Mytilene. 273.
Christus patiens. 274.
Chronik, Attische, iio.
Chroniken der ionischen und äolischen
Städte. 33.
Chrysippos. 88. 93. loi.
Cicero, M. Tullius. 97. 100. 103. 117. 327.
329. 331. «332. 362. 431. 432.
Qaudianos. 200.
Claudianus, Claudius. 370.
Claudius, Appius, Caecus. 315.
Qemens Alexandrinus 190.
Clemens Romanus. 188.
Clementinen. 184.
Columbanus. 402.
ColumeUa. 359.
Constantin der GroBe. 198. 202.
Corippus. 200.
Cornelius Nepos. 117.
Curtius, Q., Rufus. 104. 35$.
Cyprianus. 389.
D.
Damaskios. 204.
Damasus. 381.
Danielbuch. 186. 195.
Deinias iio.
Deklamationen, Griechische. 149.
Demades. 73.
Demetrios der Kyniker. 160.
Demetrios von Phaleron. 73.
Demokritos. 58.
Demonax. 177.
Demosthenes. 33. 70. 71. •72.
Demosthenes aus Bithynien. 134.
Denar, Das Wort. 306.
Derkyllidas. 154.
Deuteronomium. 304.
Deutsch bereichert durch lateinische Lehn-
wörter. 441.
Dexippos 192. 265.
Dialekt s. Mundart.
Dialog in der griechischen Literatur. 78. 97.
— in der römischen Literatur. 365.
— bei Cicero. 336. 338.
— bei Piaton. 76. 77.
— bei Seneca. 356.
Register.
455
Dialog bei Minucius Felix. 388.
Diatheke. 304.
Diatribe als literarische Gattung der griechi-
schen Literatur. 97. 98.
Dichtkunst, Dichtung s. Poesie.
Didymos. 116. 155.
Digamma. 292.
Digenis Akritas. 278.
Dikaiarchos. 115.
Diktys. 181.
Dinon 104.
Diodoros. 113. 120. 264.
Diogenes von Babylon. 93.
Diogenes Laertios. 230.
Diogenes von Oinoanda. 177.
Diogenes von Sinope. 78. •97.
Dion von Prusa. 98. 115. *i65. 213.
Dionysios Areopagita. 205.
Dionysios von Byzanz. 162.
Dionysios von Halikamafi. 148. 252. 304.
Dionysios Periegetes. 179.
Dionysios Skytobracchion. 121.
Dionysios Thrax. loi. 146. 309.
Dionysos. 42. 43.
Dionyssage. 218.
Diophantos. 193.
Dioskorides. 90. 142.
Distichon, Elegisches. 141. 322. 329.
Dithyrambos. 31. $4.
Dolonie. 9. 13.
Doppeldaktylus in der griechischen Prosa. 214.
Dorisch. 291.
Dorotheos von Monembasia. 281.
Doxographie. 230.
Dracontius. 200.
Drama, Attisches. 44.
— des Epicharmos. 42.
— der Gracchenreit. 324.
Dualis. 292. 294. 30$.
Dukas. 277.
Duris. 104.
E.
Eidyllia. 135.
Eigennamen, Etruskische, im Lateinischen. 420.
Einhard. 405.
Einsiedler- und Klosterleben. 245.
Eirenaios von Lyon. 186. 189.
Eirenaios Pacatus. 160, s. Minucius.
Hegeion. 141.
Elegie, Griechische. 20. 22. 23. 130. 349.
— , Römische. 349. 353.
Elephantis. 90.
Empedokles. 39.
Ennius, Quintus. 130. 134. '321. 323. 429.
Ennodius. 384.
Ephoros. 68.
Ephrem. 200. 246.
Epicharmos. 42. 316.
Epigramm, Griechisches. 21. 55. *I39. 159.
179. 216. 266. 273.
— , Römisches. 359.
Epiktetos. 169. 305.
Epikuros. 78. 89. 93. 96. 330.
Epos, Heroisches griechisches. '4. 129. 130.
, Einheit und Vielheit der Verfasser. 9.
— , Burleskes ionisches. 15.
— , Byzantinisches Volks-. 278.
— , Römisches. 316. 330. 347. 358. 397.
Eratosthenes. 112.
Erinna. 130.
Erzähler und Sänger, Volkstümliche, der hel-
lenistischen Periode. 123.
Barzahlung, Epische griechische. 30.
— , Jüdische, in hellenistischer Zeit 122.
Esdrasapokalypse. 186.
Eselroman. 184. 368.
Etnisker. 314. 420.
Etruskisch. 420.
Euagrios. 246. 258.
Eudokia. 248. 266.
Eudoros. 154.
Euenos. 130.
Eugippius. 383.
Euhemeros. 121.
Eukleides. 41. 94.
Eumenius von Aug^stodunum. 399.
Eunapios. 199.
Euphorion. 131.
Eupolis. 53.
Euripides. 46. »47. 321.
Eusebios. 196. 200. 255.
Eustathios von Epiphania. 246.
Eustathios von Thessalonike. 274.
Eutokios. 215.
Evangelien. 187.
Fabel, Griechische. 120.
Fälschungen, Literarische. 150.
Faliskisch. 418.
Favorin. 151. 160. 176.
Femininum, Ausgleich des, und Neutrums in
den romanischen Sprachen. 439.
Flavicr, Die. 160.
Flavius, Gnaeus. 315.
Flötenspieler. 20. 28.
Fluchtafeln, Lateinische. 438.
Frau, Stellung der griechischen. 89.
Frauenbildtmg, Griechische, in der römischen
Periode. 185.
Frauenpoesie, Dorisch-äolische. 12. 25. 26. 89.
Fredegar. 402.
Fremdwörter, Ältere, im Griechischen. 289.
— , Spätere, — . 290.
Fronto, M. Cornelius. 367. 433.
Fulda, Abtei. 404.
456
Register.
Gaios (Piatonerklärer). 177.
Gaius. 435.
Galenos. 162. * 174.
St. Gallen, Kloster. 402.
Galliambus. 124.
Gallien als Literaturstätte in der Übergangs-
zeit zum Mittelalter. 398.
Gallus. 403.
GauB. 449.
Gaza. Seine Bedeutung für das griechische
Geistesleben. 215. 246.
Gellius, Aulus. 368. 433.
Gemeinsprache, Hellenistische. 298.
Gemeinsprachen, Die älteren griechischen. 295.
Genesis. 304.
Genethlios. 149.
Geographie, Griechische, in der römischen
Periode. 153.
Georgios der Pisidier. 200. 266.
Gerbert. 408.
Gerichtsrede, Griechische. 61. '70. 100. 150.
— , Römische. 324.
Germanen. 109. 375. 400.
Germanisches in der byzantinischen Kultur. 251.
Gesangszenen der römischen Komödie. 320.
Geschichtschreibung s. Historie.
Gesetzgebung, Stilistischer EinfluB der, auf
die lateinische Sprache. 423.
Gleichnis in der griechischen Literatur. 14. 98.
Gnome. 19. 67.
Götterwelt des homerischen Epos. 8.
Gorgias. 33. 65.
Grabschriften, Lateinische, als Proben der
Umgangssprache. 438.
Gracchus, Caius. 100. 333. 430.
Gräzisierung Ostroms. 240. 275.
Gräzismen im afrikanischen Latein. 435.
Grammatik, Griechische. 146. 155. 175. 216.
309-
— , Terminologie der lateinischen. 443.
Grammatiker, Lateinische, als Fundstellen
der Umgangssprache. 438.
Gregor 1. 376.
Gregor von Nazianz. 208. '209. 256. 259. 393.
Gregor von Nyssa. 209. 256.
Gregor von Tours. 401. 402. 449.
Gregorios Thaumaturgos. 192. 195.
Griechen und Lateiner, Unterschied der christ-
lichen. 258.
Griechenland. Seine Bedeutung für die by-
zantinische Kultur. 247.
Griechisch als indogermanische Sprache. 286.
— , Besonderheiten und Altertiimlichkeit des.
287.
— , Ungemischtheit des. 289.
— als Weltsprache. 299.
— , Brauchbarkeit des, zur Terminologie. 307.
Griechisch, Fortleben des, in anderen Sprachen.
305-
— , Einflufi des, auf die lateinische Sprache.
419. 420. 422.
— des oströmischen Reiches, beeinilufit durch
die lateinische Sprache. 441.
— , Verhältnis des, zum Lateinischen in der
Spätzeit. 370.
— , Byzantinisches. 250.
— , Biblisches. 303.
— Alexanders d. Gr. 299.
Gryphius, Andreas. 448.
H.
Hadrian. 161. 435.
Handschriften in Klöstern. 403.
Hebräerbrief. 188.
Hegesias. 102.
Heiligenbiographien. 377. 383.
Heiligengeschichten. 221.
Hekatuos von Abdera. iis-
Hekataios von Milet. 32. 33. 56.
Heliodoros. 182. 183.
Hellanikos. 55.
Hellenentum, Einheit des. 92.
Hellenismus, Politische Bedeutung des. 81.
— , Bedeutung des, für die Wissenschaft. 82.
— , Gegensätzliche Hauptzüge des. 92.
— als Grundlage der Kultur. 37$.
Hellenistische Periode der griechischen Lite-
ratur. 81. 86.
Hendekasyllabus. 124.
Herakleides Ponticus. 80.
Herakleides von Tarent 97.
Herakleitos. 33.
Herakles, Schild des. 19.
— , Taten des. 189.
Herms^oras. loi.
Hermas. 187.
Hermes Trismegistos. 186. 219.
Hermesianax. 131.
Hermesreligion, Ägyptisch -griechische. 186.
Hermippos. 116. 155.
Hermodoros. 315.
Hermogenes. loi. '149. 164.
Hero und Leander. 217.
Herodas. 43. 84. 124.
Herodes Attikos. 149. 165.
Herodian (Grammatiker). 176.
Herodian (Historiker). 172.
Herodoros. 80.
Herodotos. 15. '56.
Heroensage, Griechische. 181.
Heron. 145.
Hesiodos. 14. • 17.
Hesychios. 231.
Hexaemeron. 267.
Hexameter. 322. 329. 428.
^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^K^ ^ ^^^^^^^^^^^H
^^^^^^V ^^1
^^m Hieronymos von Kardia. 105.
Infinitiv im Griechischen. 2S7. 291. ^^|
^^M Hieronymus von Stridon. 377. 380.
— im Attischen. 294. ^^|
^^M Hilarius von Poitiers. 377. 379.
Inschrift vom Forum. 421. ^^M
^H Hildebert von Tours. 409.
Inschriften als Proben der lateinischen Um- ^^M
^^m Himerios. 146. 203.
gangssprache. 437. ^H
^^M Hinkiambus, 22. 124.
Johannes Chrysostomos. 206. *2ii. 25b. ^^M
^^M Hipparchos. 83. loi.
Johannes üamascenus. 246. * 268. ^^|
^^m Hippias von Elis. 60.
Johannes von Epiphania. 246. ^^|
^^M Hippokrates. 57.
Johannes Eriugena. 406. ^^M
^^m Hippolytos. 186. 197.
Johannes von Euchaita. 270. 273. ^^M
^^m Hipponax. 22. 2S9.
Johannes von Gaza. 215. ^^U
^^m Historie, Ionische. 68.
Johannes Lydus. 201. ^^H
^^m — .Griechische, der hellenistischen Periode. 103.
Johannes Moschos. 246. ^^H
^^H — — der römischen Periode. 154.
Johannes Philoponos. 21;. ^^|
^^m — — der oströmischen Periode. 199.
Johannes von Salisbury. 409. ^^H
^^m — — des Mittelalters. 262.
Johannesapokalypse. 186. ^^H
^H — , Jüdische, in griechischer Sprache, iii.
Jühannesevangelium. 187. ^^|
^H — , Römische. 112. 339. 364. 367.
Ion von Chios. 44. 55. ^^M
^^H — Gotische. 385.
IoniensStellungindergriechischcnLiteratur.32. ^^M
^^P Hochrenaissance. 275.
Ionisch. 291. ^^M
^^ Homer. »5. 34. 225. 295.
— , Vorherrschaft des, in der griechischen ^^M
1 — s. Batrachomyomachie. 129.
Literatursprache. 297. ^^M
— s. Hymnen, Homerische. 17.
— Sprache der Prosa. 297. ^^M
— s. Margites. 15. 20.
Ionische Gattungen der griechischen Literatur. ^^|
Homer und Hesiod, Volksbuch vom Streite
^H
des. 99.
Ionisierung der hellenistischen Gemeinsprache. ^^M
Homerkrittk des Zoilos. 78.
lordanis. 385. [301. ^H
hora. 300.
losephus. 170. ^^M
Horatius, Q., Flaccus. 98. 99. •344. 363.
244. ^^M
hospitium. 243.
Irland als Ausgangspunkt antik -christlicher ^^M
Hrabanus Maurus. 405.
Kultur im Frühmittelalter. 402. ^^M
Hrosvitha. 447.
Isidorus. 397. ^^H
Humanismus, Byzantinischer, verglichen mit
Isishymnus. 143. ^^H
dem italienischen. 275.
Isokrates. 66. ^^H
Hymnen, Homerische. 17.
Italien als Literaturstätte in der Obergangs- ^^|
— , Orphische. 185.
zeit zum Mittelalter. 378. ^^M
— , Griechische christliche. 262.
Itazismus. 300. ^^B
— des Ambrosius. 380.
Juba. ^^M
— des Prudentius. 397.
Judentum Vermitüer zwischen Heidentum und ^^|
— des \'enantius Fortunatus. 401.
Christentum. 265. ^^U
Hymnenpoesie. Lateinische. 380.
Jugendunterrichl in der römischen Kaiserzeit. ^^H
Hymnus, Isis-. 143.
^H
H>-patia. 216.
Julian der Abtrünnige. 202. 206. ^^|
Hypereides. 72.
Julius Vestinus. 160. ^^U
Hypomnema als literarische Gattung. 87. 94.
Juristen, Klassische römische, als Sprachmuster, ^^|
151.
43S- ^M
Justin. 190. ^^1
I. J-
Justinian. 43;. ^^B
lamblichos. 203.
Justus von Tiberias. 246. 265. ^^M
lambulos. 1 20.
Juvenalis, I). Junius. 362. ^^B
lambus. 20. 130.
^^U
Ibykos. 31.
1
Ignatius. 188.
Ilias. 4.
Kaiser, Das Wort 307. ^^M
— , Kleine. 9.
Kalanos. 97. ^^M
nion. 10.
Kalenderreform. 277. ^^H
nios. 10.
Kallimachos. 84. 95. 124. 13;. 138. ^^M
Imperfekt, Der Terminus. 310.
Kallisthenes. 70. ^^M
Indus, Inder, Indien. 297. 308.
Kallistratos. 73. ^^M
458
Register.
Kallixeinos. 91.
Kanones. 262. 269.
Kanzleisprache, Attische. 95.
Karl der Große. 404. 408.
Karl der Kahle. 406.
Kameades. 78.
Kasus, Griechische. 310.
— , Auflösung der, in der lateinischen Alltags-
sprache und den romanischen Sprachen. 439.
Kasussystem im Griechischen. 287.
— im Lateinischen. 413.
Kataloge der Klosterbibliotheken. 407.
Katenen. 215. 258.
Kebes. 155.
Keltisch, Einflufi des, auf die lateinische
Sprache. 419.
Kephalion. t8i. 265.
Kirche, Das Wort. 304. 307.
Kirchenlied, Lateinisches. 379.
Kirchenliteratur, Griechische. 257.
Kirchenmusik, Griechische. 261.
Kirchenpoesie, Griechische. 259.
Kirchenschriftsteller, Charakteristik der
griechischen. 269.
Kirchensprache, Lateinische. 389.
Kitharodie. 27. 54.
Klassizismus, Byzantinischer. 221.
Kleanthes. 99. 132.
Klearchos. 102. 115.
Kleinasien. Seine Bedeutung für die byzan-
tinische Kultur. 247.
Kleitarchos. 104.
Kleomedes. 174.
Klosterorganisation Cassiodors. 386.
Kochbücher, Griechische. 90.
Kochbuch des Anthimus. 401.
Königssohn, Vom kranken. 121.
Koine. 251. 300.
KoUuthos. 217.
Koloß, Das Wort. 302.
Komnenen. 273.
Komödie, Griechische alte. 44. *5i.
— , Menandrische. 126.
— , Römische. 318. 327.
— , Bedeutung der römischen, für die Welt-
literatur. 321.
Komos. 43. 51.
Konstans II. 244.
Konstantinopel als Bildungsstätte. 247. 270.
Konstantinos Porphyrogennetos. 252. 272.
Koptisch. 300.
Korax. 64.
Kosmas. 220.
Krantor. 99.
Krateuas. 90.
Kratinos. 53.
Krates von Theben. 97.
Krinagoras. 143.
Kritias. 74.
Kritobulos. 281.
Ktesias. 104.
Künste, Sieben freie. 408.
Kultur, Angelsächsische. 403.
— , Mischcharakter der byzantinischen. 239.
— , Irische. 402.
— , Karolingische. 404.
— , Orientalische. 221.
— , Ostgotische. 384.
Kulturmission, Gräkoslawische. 238.
Kulturzentren des Hellenismus. 83.
Kunst, Kretische. 11.
— , Orientalismus in der byzantinischen. 249.
Kunstsprachen, Griechische poetische. 297.
Kynismus. 78. 97. 98.
KyriUos von Jerusalem. 219. 220. 255.
Kyrillos von Skythopolis. 246. 270.
Kyropädie. 80.
L.
Laberius. 328.
Lactantius. 201. 377. '390. 436.
Langobarden. 405.
Laonikos Chalkondylcs. 277.
Latein. 412. 418.
— , Logik des. 425.
— , Nüchternheit des. 426.
— im 6. Jahrb. v. Chr. 421.
— , Veränderungen des, bis zum 3. Jahrb. v. Chr.
422.
— stilisiert für die Literatur. 424.
— eine tote Sprache. 409.
— im Mittelalter. 407.
— .Sein Einflufi auf andere Sprachen. 441.444.
— als Schlüssel zum Verständnis tmd als
Übermittelimgswerkzeug der Kultur in
Mittelalter und Neuzeit. 313. 445.
— , Nachleben des. 445.
— bereichert durch deutsche Lehnwörter. 441.
— als internationale Sprache der systema-
tischen Botanik. 446.
— , Afrikanisches. 434.
Lateiner und Griechen, Unterschied der christ-
lichen. 258.
Lateinische Wörter im Griechisch der byzan-
tinischen Zeit 243.
Lateinstudien in Ostrom. 201.
Lateinunterricht. Sein stilistischer EinfluB
und seine Wichtigkeit für das Verständnis
der deutschen Sprachgeschichte. 445.
Latinisierung in den romanischen Ländern. 44 1 .
Latinität, Archaische. 428.
— , Goldene. 430.
— , Silberne. 432.
Laurentios der Lyder. 201.
Lehnwörter, Griechische, im Lateinischen. 85.
— , — , in abendländischen Sprachen. 306.
— , Lateinische, im Deutschen. 441. 443.
— , — , in den romanischen Sprachen. 443.
Register.
459
Lehrbuch, Wissenschaftliches hellenistisches.
— , Attizistisches. 151. [93.
Lehrgedicht, lambisches. 113.
— in der hellenistischen Periode. 130.
Leibniz. 449.
Leon, Der arme. 281.
Leonidas von Alexandreia. 179.
Leonidas von Tarent. 142.
Leontion. 89.
Leontios von Byzanz. 248. 258.
Leontios von Neapolis. 352.
Lesbonax. 149. 165.
Lesches. 6.
Lexikon Erfindung der hellenistischen Lite-
raturperiode. 95.
Libanios. 205.
Liebeslyrik, Griechische. 24.
— , Römische. 350.
Liebesroman, Griechischer. 121. 182.
Lieder, Ionische. 124.
Liedszenen der römischen Komödie. 320.
Ligurer. 413.
Liter, Das Wort. 414.
Literatentum , Römisches. 317.
Literatur, AUgemeine Charakteristik der grie-
chischen. 223.
— , Entwickelung der griechischen. 228.
— , Allgemeine Charakteristik der byzanti-
nischen. 237.
— , Neuklassische, griechische. 164.
— , Koptische. 201.
— , Syrische. 200.
— , Griechische, rein stofFlichen Interesses. 88.
— , Römische christiiche. 369. 388. 400.
Literaturgeschichte, Aufgabe der. i.
Literatursprache, Griechische. 84.
— , Archaismus in der griechischen, des Mittel-
alters. 252.
— , Beeinflussung der römischen, durch die
Schulrhetorik. 424.
Livius, T. •351. 432.
Lokalgeschichten, Griechische, iio.
Longinus. 192.
Longinus „Über das Erhabene". 148.
Longus. 183.
Lucanus. 358.
Lucilius der Epigrammatiker. 159.
Lucilius, C. 325. 344.
Lucretius Carus. 39. '330. 429. 430.
Lukian. 98. 99. 146. 162. *i72. 177. 181. 305.
Lupus, Servatus. 407.
Lustspiel, Griechisches bürgerliches. 126.
Luxorius. 200.
Lykophron. 131.
Lynkeus. 91.
Lyrik, Griechische chorische. 29.
— , Hellenistische. 125.
— , Römische. 330. 345.
Lysias. 61.
M.
Macrobius. 370.
Makkabäerbuch, Zweites. 1S9.
Makkabäerbücher. 1 1 1 .
Malalas. 221. 246. 252. '265.
Manethos. iii.
mansio. 243.
Manuel Malaxos. 281.
Marcellus von Side. 180.
Marcus Aurelius. 169. 393.
Margites. 15.
Marinos. 204.
Marius Victorinus. 200. 377.
Markos der Diakon. 215.
Martialis, M. Valerius. 159. '359.
Martianus Capella. 377. 387.
Martyrien. 189.
Maschine, Das Wort. 306.
Materie, Das Wort. 308.
Mathematik, Griechische. 193.
Matris. 100. 102.
Matron. 129.
Maximus Confessor. '244. 248. 258.
mechane. 306.
Medium. 294.
Medizin, Griechische. 40. 57. 58. 175.
Megasthenes. 58.
Meister, Sieben weise. 119. 280.
Meleagros von Gadara. 143.
Melesigenes. 15.
Melissos von Samos. 56.
Meliton. 190.
Memnon. iio. 154.
Menander Protektor. 248.
Menandros der Komiker. 126.
— als Vorbild für Plautus und Terenz. 318.
Menandros der Rhetor. 149.
Menedemos. 98.
Menippos. 99.
Mesomedes. iSo.
Messapisch. 419.
Metallnamen im Griechischen Fremdwörter.
289.
Methodios. 214. 220. 270.
Metrik, Quantitierende altgriechische. 259.
— , — , bei Babrios. 181.
— , Akzentuierende spätgriechische. 174. 259.
Metrodoros (Epigprammatiker). 193.
Metrodoros von Lampsakos. 9.
Michael Glykas. 270.
Mimiamben. 124.
Mimnermos. 22.
Mimus, Griechischer. 4t. 124. 125. 153. 159.
222.
— , Italischer. 328.
Mine, Das Wort. 290.
Minucian. loj.
Minucius Felix. 388.
460
Register.
Minucius Pacatus. 160.
Mitbradates Eupator. 81.
Moderatus. 177.
Mönche, Propaganda der irischen und angel-
sächsischen. 402.
Mönchtum des hl. Antonius. 219-
Moiro. 89.
Molen. loi.
Monophysiten. 258.
Monothelcten. 258.
Montanismus. 389.
Montecassino Kloster. 386. 405.
Moschion. 91.
Mundart des griechischen Epos. 6.
Mundarten Die griechischen. 290. 299.
des Italischen, 417. 418.
Musaios. 217.
Musen. 17.
Musik, Hellenische. 27. 30.
Musonius. 160. 191.
Myron von Priene. 120.
N.
Naevius. 317.
Naturgeschichte in der römischen Literatur.
360.
Nearchos. 89.
Nechepso. 185.
Nekromantie. 219.
Nero. 158.
Nestorios. 205.
Neupiaton ismus. 255.
Neupythagoreismus. 155.
Neutrum Ausgleich des, und Femininums in
den romanischen Sprachen. 439.
Newton, 449.
Nikandros. 133.
Nikephoros Gregoras. 277.
Nikephoros Kallistes Xanthopulos, 258.
Nikolaos von Damaskos. 114. 154.
Nikolaos Kabasilas. 269.
Nikomachos von Gerasa. 177.
Nikon. 179.
Nomos. 48.
Nonnos. 217. 266.
Nossis. 89.
Notenschrift, Griechische. 29.
Novelle, Griechische. 34. 120.
Nymphis. HO.
Odyssee. 4. 7. 16.
Oinomaos. 173. 177. 185.
Olympiodoros. 199. 265.
Onesandros. 146.
Onesikritos. 115.
Oppianos von Apamea. 180.
Oppianos der Kilikier. 180.
Orakelpoesic, Griechische. 39.
Orakelsammlung, Chaldäische. 185.
Oribasios. 109.
Orientalisches m der byzantinischen Kultur. 244.
— in der byzantinischen Kunst 249.
Origenes. 190. 192. •194.
Orion. 216.
Oros. 216.
Orosius. 397.
Orpheus. 217.
Orphische Hymnen. 185.
Oskisch. 417.
Ovidius, P., Naso. 140. 141. •352. 432.
P.
Pachomios. 25 5-
Pachymeres. 275.
Pädiatrik. 307.
Paläologen. 27$.
Palästina. Seine Bedeutung für die byzanti-
nische Kultur. 246.
Palladas. 216.
Palladios. 221.
Pamphletliteratur, Griechisch-römische. 333.
— , Christliche. 390.
Panaitios. loi. 335. 342.
Fantomimus. 153. 159.
Panyasis. 129.
Pappos. 193.
Parabase. 51.
Parlament, Verhandlungen im athenischen. 73.
— , Kirchliches im 4. Jahrb. 198.
Pannenides. 38.
Parodie des heroischen Epos. 129.
Parthenios. 143. 145.
Passivum. 294.
Paulinus von Nola. 370. 399.
Paulus, Apostel. '157. 304.
Paulus Diaconus. 405. 449.
Pausanias. 163.
Paxamos. 90.
Pentateuch. 304.
Peregrinos. 177.
Pergamos. 10.
Periegesen. 162.
Perikles. 23. 60.
Periode, Attische, der griechischen Litera-
tur. 35.
— , Hellenistische, — . 81.
— , Römische, 144.
— , Oströmische, — . 198.
Peripherie Das Wort. 307.
Pcrsius Flaccus, A. 357.
Personennamen im Griechischen. 290.
Petosiris. 185.
Petrarca. 409. 446. 448.
Petronius Arbiter. 123. '358. 425.
Petros Patrikios. 248.
1
^H ^^^^, 461 ^H
F
Petrus von Pisa, 405.
Poesie, Lateinische epische. 428. ^^M
Phaedrus. 355.
— , — , der suUanisch- cäsarischen Zeit. 327. ^H
^H
Phaidon von Elis. 79.
— , — , der römischen Spätieit. 437. ^^M
^^1
Phalaikos. 124. 140.
— , Römische christliche. 370. ^^M
^H
Phalarisbriefe. 150.
— zur Zeit der Vandalenherrschaft. 396. ^^M
^H
Phallus. 41. 5a.
— , Charakterisierung der neulateinischen. 447. ^^M
^H
Pherekydes. 34.
Poggio. 448. ^H
^H
Philainis. 90.
poine. 306. ^^1
^H
Philippos von Thessalonike. 159.
Pointenstil der silbernen Latinität. 432. ^^M
^H
Philippos, Brief des. 70.
Polemon von Ilion. 96. ^^|
^H
Philiskos. 126.
Polemon von Laodikeia. 165. 178. ^^|
^H
Philistion. 125.
Pulyainos. 151. ^^M
w
Philistos. 64.
Polybios. 'ig;. 117. 166. 322. 335. 342. ^H
Phiütas. 131.
^M
^^-
Philochoros. 110.
Polykrates. 79. ^^H
^H
Philodemos. 93. 143.
Porphyrios. 195. ^^H
^^p
Philolaos von Kroton. 41.
Porträtkunst, Griechisch römische. 178. ^^M
^H
Philologie in Rom. 326. 341. 368.
Poseidippos. 142. ^^|
^H
— , Terminoloffie der. 443.
Poseidonios. 83. 101. ♦109. 114. 166. 168. ^^M
^H
Phiton der Jude. 115. '156. 245.
^H
Philon. p.Über die sieben Weltwunder." 151.
Predigt, Griechische. 257. ^^^^M
Philosophenschulen, Griechische. 93.
Priapea, Lateinische. 143. ^^^^|
Philosophie, Griechische, in der römischen
Priester, Uas Wort. 304. ^^^|
Periode. 154. •176. 193.
Priscianus. 176. 3S7. ^^H
— , — , in der oströmischen Periode. 203.
Priscus. 199. ^^H
— , Westhellenische. 38.
Probus, Sog. Anhang des. 428. ^^|
— , Stellung der griechischen, zur Rhetorik.
Progymnasmen Theons. 149. ^^|
100.
Pruklos. 204. ^^1
Philostorgios. 199.
Prokopios (Exeget). 215. ^^|
Philostratos. 146. 163. 164. 181. »191. 305.
Prokopios (Historiker). 199. 263. ^^M
Philoxenos. 54.
Prologus der griechischen Komödie. 128. ^^M
Philoxenos, Pseudo-, 129.
Pronomen der 3. Person. Seine Entstehung ^H
Phlyakcn. 41. 124.
in den romanischen Sprachen. 439, ^^M
Phokyhdes. 33.
Propertius, Sextus. 140. '350. ^^H
Photios. 270.
Prophet, Das Wort. 304. ^^H
Phrantics, Georgios. 277.
Prosa, .attische. 60. ^^H
Phrygisch. 300.
— , Griechische wissenschaftliche. 59, ^^H
Phrynichos. 146.
— , Hellenistische. 93. ^^|
•
Phr)'nis. 54.
— , Ionische. 32. 55. ^^M
Phylarchos. 105.
— , Akzentuierende, der oströmischen Periode. ^^M
Physiognomik. 178.
^M
Physiologus. 220.
— , Theologische griechische. 255. ^^H
Pigres. 1 29.
— , Römische. 323. 359. 431. ^H
Pindar. 29. 36.
Prosarhythmus, Griechischer. 65, ^^H
Piaton. 14. '74. 90. 114. 119. 142. 295. 301.
Prosaschriften, Byzantinische. 280, ^^H
Piatonismus. 177. 203.
Protagoras. 60. ^^H
Plautus. 127. •318. 427. 439.
Prudcntius. 370. 380. 397. ^^H
Plinius der Ältere. 360. 432.
Psalm, Das Wort. 304. ^^H
— der Jüngere. 362.
Psellos, Michael. 272. ^^H
Plotinos. 193.
Ptolemaios I. 88. ^^M
Plutarch. 98- 160. 'löe. 181. 247.
Ptolemaios II. Euergetes. 117. ^^H
Poesie, Griechische epische. 4.
Ptolemaios von Askalon. 155. ^^H
— , — lyrische. 24.
Ptolemaios (Astronom). 174, ^^H
— , Attische. 43.
Ptolemaios (Gnostiker). 188. ^^M
— , Hellenistische. 125. 328.
Publilius (Mime.) 328. ^^M
— , — neuklassische. 179.
Pyrrhos. 88. 117. ^^M
— , Afrikanische. 200.
Pythagoras. '40. 116. ^^M
— , Akientuierende, der oströmischen Periode.
Pythagoreer. 40. ^^H
ii
2«3.
Pytheas. 106. ^^M
462
Register.
Q.
Qualität, Das Wort. 308.
Quantität, Verfall der, in der Poesie der
römischen Spätzeit. 437.
Quintilianus, M. Fabius. 147. 160. •361. 433.
Quintus Smymaeus. «6.
R.
Radegunde. 401.
Rassemischung, Bedeutung der, für die byzan-
tinische Kultur 249.
Rechtswissenschaft. 315. 342.
— , Terminologie der. 443.
Rede Griechische s, Staatsrede. 60. — Ge-
richtsrede. 61. — s. Rhetorik. 64.
— , Gattungen der. 150.
— als literarische Gattung. 334.
— , Einflufi der römischen, auf die Gestaltung
der Sprache. 334.
>Rede auf den König.« 161.
Reim in der hellenistischen Prosa. 103.
— im lateinischen Kirchenliede. 380.
»Reise ins beilige Land.« 436.
Reisen. 162.
Retseroman, Griechischer 120.
Religiöse Bewegung, Volkstümliche, in der
römischen Periode. 184.
Renaissance Karolingische. 404.
Rhapsoden des ionischen Epos. 5. 9. 16.
Rhetorenschule in der römischen Kaiserzeit.
432-
Rhetorik, Griechische. 64. 100. loi. 149.
— , Römische. 326. 350. 357. 361. [324.
— , EiniluB der, auf Ennius. 429.
Rhianos. 121. 134.
Rhinthon von Syrakus. 42. 124.
Rhomäer. 242.
Rhythmen der hellenistischen Rhetorik in der
römischen Periode. 152.
Rhythmik der griechischen Kirchenpoesie. 259.
Rhythmisierung in der hellenistischen Prosa.
103.
— der lateinischen Sprache. 424. 430.
Rhythmus des lateinischen Prosastils. 431.
Römer. Ihre Aufnahme der griechischen
Kultur. 313.
Römertum in der byzantinischen Kultur. 242.
Rom als Mittelpunkt der Kultur. 326.
i— , Das kaiserliche. 352.
Rom und Byzanz Trennung von. 256.
Roman Griechischer. 117. 181. 274. 278.
— , — historischer 120.
— , — Reise-. 120.
— , — Liebes-. 121.
— , — satirischer. 123.
— , Römischer. 358.
Romanisches in der byzantinischen Kultur. 251.
Romanos. 246. * 259.
Rufinus von Aquileja. 377.
Rufus von Ephesos. 175.
Rutilius Namatianus. 117. 382.
S.
Sage, Griechische. 184.
Sallustius, C, Crispus. 204. 340.
Salvianus. 400.
Sammlung alter Literaturschätze. 271.
Sappho. 12. 25. *26.
Sassaniden. 300.
Satire Griechische, 99.
Römische. 325. 344. 357, 363.
Saturnischer Vers, 317. 428.
Satyros. 117.
Satzbau im Uritalischen. 416.
— in der archaischen Latinität. 429.
Scaevola, Q. Mucius. 343.
Scaurus. 117.
Schauspielkunst, Griechische. 50.
Schiffskatalog der Ilias. 4.
Schrift, Unterschied zwischen, und Sprache.
Schriftsprache, Attische. 40. 41. [423.
— , Entwickelung der griechischen. 253.
— , Lateinische, 423.
, ihre Popularisierung durch das Christen-
timi. 436.
Schrift- und Volkssprache, Gegensatz zwischen
griechischer, 305.
Schullektüre Christliche, in der oströmischen
Scipio Aemilianus. 322. [Periode. 221.
Selbstbiographie. 259. 393.
Semonides von Amorgos. 21.
Seneca der Vater. 98. 103. 350.
Seneca (Philosoph). »355. 361. 393. 433.
Septimius Severus. 163.
Septuaginta. 304.
Severinus. 383.
Sextius Niger. 155.
Sextus Empiricus. 177.
Sibylle. 39.
Sidonius ApoUinaris s. Apollinaris Sidonius.
Silius Italiens. 359.
Silko. 302.
Silloi. 38.
Simias. 131.
Simon, Zauberer, und Helene. 184.
Simonides von Keos. 35.
Simplikios. 20s.
SisebuL 397.
Skolien. 24.
Slawisches in der byzantinischen Kultur. 251.
Solon. 22. 23. 43.
Solon- Novelle, 119.
Sopatros von Paphos. 124.
Sophisten. 59.
Sophistik, Die zweite. 160 — 164.
Sophokles. 45.
^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^ Raster. 463 ^^^^^B
^ Sophron, der Mimologe, von Syrakus. 42.
Stil der römischen Komödie. 319. ^^|
^^M Sophronios von Jerusalem. 346. 258.
— , Lateinischer, der Angelsachsen. 403. ^^M
^^M Soranos. 173.
Stil -Niedergang in der römischen Literatur ^^M
^^H Sositheos. 1 26.
des 4. Jahrhunderts. 377. ^^M
^^M Sosylos. 108.
Stilgattungen der römischen Prosa. 431. ^^M
^^M Sotadeen. 1 24.
Stilisierung der lateinischen Sprache fiir die ^^M
^^U fjotades. 124.
Literatur. 424. ^^M
^^m Soterichos. 200.
Stilistik, Griechische. 102. ^^M
^^M Sotion. 1 54.
Stilkritik, Attizistische. 147. ^^M
^^H Spanien als Literaturstätte in der Cbergangs-
Stilmischung in der griechischen Literatur. 99. ^^M
^^M zeit zum Mittelalter. 396.
Stilo, Aelius. 341. 342. ^^H
^^H Spinoza. 449.
Stilpon. 98. ^^1
^^H Sprache, Unterschied zwischen, und Schrift
Stoa in der römischen Periode. 154. ^^|
^^^^_ — , Attische. 298. [423.
— im Scipionischen Kreise. 323. ^^|
^^^^^ — , Attizistische. 145.
Stoiker als Theoretiker der Rede. loi. ^^M
^^F — , Griechische byzantinische. 250.
Strabon. 1 54. ^^M
^^M — , Griechische, des Mittelalters. 251.
Straten von Lampsakos. 88. 89. ^^H
^^m — , Hellenistische. 84.
Strophe, Alkäische und sapphische. 29. ^^H
^^M — , Ionische. 297.
Suetonius, C. , Tranquillus. 160. '367. ^^|
^^H — , Dorische Literatur-. 2ä.
Suidas. 231. 272. ^^H
^^m — des griechischen Epos. 6.
Sulla, L. Cornelius. 117. ^^H
^^B — , Homerische. 293.
Sulpicius Severus. 370. 399. ^^H
^^^L — , Aufnahme der archaistischen, durch die
Sulpicius, Servius. 343. ^^^^B
^^B Kirche.
Syineon. 269. 272. l^^^H
^^F — , Lateinische. 412.
Symmachus, Q. Aurelius. 370. ^^^H
^^B . — , — . Beziehungen zum Griechischen und
Synesios. 213. 256. ^^H
^H Keltischen. 416. 419.
Syntipas. 280. ^^|
^^B , Beeinflussung der, durch die öffentliche
Syrian. 204. ^H
^H Rede. 334.
Syrien. Seine Bedeutung für die byzantinische ^^M
^^m — , Uritalische. 413.
Kultur. 24(j. ^^M
^H — der römischen Komödie. 319.
Syrisch. 300. 306. ^^H
^^m — \'ergils. 430.
^^M
^H Sprachen der älteren Bewohner Griechenlands.
^1
^1
Tacitus, Cornelius. 103. 168. '364. 433. ^^H
^H — der Apenninhalbinsel imd ihr Verhältnis
Tagebuch als literarische Gattung. 189. ^^H
^^" zum Lateinischen. 419.
Tanzlyrik, Griechische. 30. ^^H
[ — , Romanische, als Mittel zur Rekonstruktion
Tarsos, Jüdische Schule von. 157. ^^|
der lateinischen Alltagssprachc. 438.
Tatian. 190. ^^B
Sprachhistoriker. Seine Aufgabe. 412.
Technopägnien. 90. 141. 179, ^^B
Sprachwissenschaft, Griechische. 308.
Teisias. 64. ^^H
Sprichwörter, B)'zantinische. 250.
Telemachie. 8. 13. 14. ^^M
Spruchsammlungen. 40.
Teles. 98. ^H
Slaatsrede, Griechische. 60. 100, 150.
Tercntius, P., Afer. 127. '320. ^^M
Stadtgeschichten, Ionische, iio.
Terminologie, Griechische juristische und ^^M
Stasis. 102.
politische, bo. ^^^t
Statius, P. Papinius. 359.
Terpandros von Antissa. 27. ^^^H
Steinpublikation, Griechische. 92.
Tcrtullianus. 190. 201. 369. '388. 433. ^^^H
Stesichoros. 3 1 .
Testament, Altes und Neues. 304. ^^H
Stil, Attiiistischer. 147.
Tetrameter, Trochäischer. 21. ^^M
— , Griechischer rhetorischer. 68.
Textausgaben der römischen Klassiker. 378. ^^M
, — , Homerischer. 12.
1 — . Römischer. 428.
^M
Thebais. s- lö. ^H
— der lateinischen Sprache, beeinflußt durch
Thecla. 184. ^H
die griechische. 422. [433.
Themistios. 202. ^^M
— der römischen Literatur des 2. Jahrhunderts.
Themistokles. 60. ^^M
— , Rhetorischer, eingeführt in die römische
Theoderich. 384. ^H
Dichtung durch Ovid. 354.
Theodoros von Gadara. 148. ^^M
— , Ausgleichung des poetischen und prosai-
Theodotos aus Sichern. 134. ^^M
^K sehen, in der silbernen Latinität. 43z.
Theognis. '23. 139. ^H
464
Register.
Theogonie. 18.
Theokrit. 43. 84. 90. »iSö.
Theon (Astronom). 216.
Theon (Grammatiker). 155.
Theon (Rhetor). 149.
Theophanes von Byzanz. 248. 252.
Theophrast. 27. 59. 65. 88. 102.
Theophylaktos Simokatta. 200.
Theopompos. 69. 115.
Thespis. 44.
Thessalisch. 292.
Theudelinde. 402. 405.
Thrasymachos. 65.
Thrasyllos. 154.
Thukydides. 62.
TibuUus, Albius. 144. '350.
Tierfabel, Griechische. 34. 119.
Tiergeschichte, Byzantinische. 278.
Timachidas. loi.
Timagenes. 1S4.
Timaios. 102. lOS.
Timon. 99.
Timosthenes. 89.
Timotheos von Gaza. 215.
Timotheos von Milet. $4-
Tragödie , Griechische ältere. 44.
— , — spätere. 49.
— , Hellenistische. 125.
— , Römische. 317. 327. 356.
— , Das Wort. 307.
Traian. 161.
Traumdeutung. 178.
Travestie, Mythologische. 41. 42.
Trimalchio. 358.
Trimeter, lambischer. 20.
Trinklied, Griechisches. 25.
Triphiodoros. 201. 217.
Tryphon. 146. 155.
Tyrtaios. 23.
Tzakonisch. 299.
U.
Überlieferung klassischer Autoren in der karo-
lingischen Zeit. 407.
Übersetzungen griechischer Literaturwerke ins
Lateinische. 200. 377.
— der Bibel. 304. 377.
Umbrisch. 417.
Umgangssprache, Lateinische. 423. 437.
Ur-Ilias. 9.
Urkunden, Griechische. 95.
V.
Väter, Bedeutung der griechischen, des
4. Jahrh.s für ihre Zeit. 257.
Valerius Flaccus. 359.
Valerius Probus. 366.
Varro, Marcus Terentius. 99. •341. 342.
Venantius Fortimatus. 401.
Venetisch. 419.
Verbum. 310.
— , Auflösung des, in der lateinischen Alltags-
sprache und den romanischen Sprachen. 439.
Vergilius, P., Maro. 133. 344. '346. 429. 430.
Vers des griechischen Epos. 6.
— , Politischer, der Byzantiner. 266.
— , Satumischer. 317.
— des Vergilischen Epos. 349.
Vokalismus der lateinischen Sprache. 422.
Volksliteratur, Byzantinische. 278.
Volkssprache,Griechische, des Mittelalters. 253.
Vulgata. 377.
W.
Waltharius manu fortis. 447.
Wanderroman, Christlicher. 184.
Weltall, Posidonische Schrift über das, unter
Aristoteles' Namen. 155.
Weltchroniken, Griechische. 264. 281.
Weltgeschichte. 112.
Weltliteratur, Römische. 368.
Weltsprache, Griechische. 299.
Wissenschaften,Griechischer Ursprung der. 307.
— , Eingang der literarischen, in Rom. 326.
Wochentage, Namen der, im Lateinischen
imd Deutschen. 442.
Wortbildungselemente, Entlehnung griechi-
scher. 308.
Wortlehre, Griechische. 309.
Wortstellung im Attischen. 294.
Wynfrith s. Bonifatius. 403.
Xanthos der Lyder. iii.
Xenokrates. 78.
Xenophanes. 32. 38.
Xenophon von Athen. 78. '79. 119. 301.
Xenophon von Ephesos. 183.
Z.
Zehnzahl der attischen Redner. 147.
Zeno von Verona. 436.
Zenobia. 192.
Zenodotos. 9. 131.
Zenon. 39.
Zoilos. 78.
Zosimos. 199.
Zusammensetzungsiähigkeit griechischer No-
mina. 288.
Zwölfsilbler, Byzantinischer. 200.
Zwölftafelgesetz. 314.
Dmck von B. G. Tenbner ia Dresden.
VERLAG VON B. G. TEUBNER IN BERLIN UND LEIPZIG.
DIE KULTUR DER GEGENWART
IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE.
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL HINNEBERG.
DIE WIDMUNG DES WERKES HAT
SR MAJESTÄT DER KAISER
ALLERGNÄDIGST ANZUNEHMEN GERUHT.
Uie ,4Cultur der Geg^enwart", für den weiten Umkreis aller Gebildeten
bestimmt, soll in allgemeinverständlicher Sprache aus der Feder der
geistigen Führer unserer Zeit eine systematisch aufgebaute, geschichtlich
begründete Gesamtdarstellung unserer heutigen Kultur darbieten, indem
sie die Fundamentalergebnisse der einzelnen Kulturgebiete nach ihrer
Bedeutimg für die gesamte Kultur der Gegenwart und für deren Weiter-
entwicklung in großen Zügen zur Darstellung bringt Die für die Schaffung
einer solchen den Namen wirklich verdienenden modernen Enzyklopädie
unerläßlichen Bedingungen werden wohl zum erstenmal in der „Kultur
der Gegenwart" ertüllt. Nach langjährigen Vorbereitungen auf Grund
zahlloser Konferenzen und Korrespondenzen mit den ersten Gelehrten und
Praktikern unserer Zeit in Angriff genommen, vereinigt das Werk eine
Zahl erster Namen aus allen Gebieten der Wissenschaft xmd Praxis, wie
sie kaum ein zweites Mal in einem anderen literarischen Unternehmen
irgendeines Landes oder Zeitalters zu finden sein wird. Dadurch aber
wieder wurde es möglich, jeweils den Berufensten für die Bearbeitung
seines eigensten Fachgebietes zu gewinnen, um dieses in gemeinverständ-
licher, künstlerisch gewählter Sprache auf knappstem Räume zur Dar-
stellung zu bringen. Durch die Vereinigung dieser Momente glaubt das
Werk einer bedeutsamen Aufgabe im geistigen Leben der Gegenwart zu
dienen und einen bleibenden Platz in der Kulturentwicklung sich selbst
zu sichern. Die Bedeutimg des Werkes wird hinreichend dadurch gekenn-
zeichnet, daß Se. Majestät der Kaiser die Widmung desselben anzunehmen
allergnädigst geruht hat.
INHALTSÜBERSICHT DES GESAMTWERKES.
TEIL L DIE GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN KULTURGEBIETE.
RELIGION UND PHILOSOPHIE, LTTBRATUR, MUSIK UND KUNST
(BfOT VORANGEHENDER EINLEtTUNG ZU DEM OESAMTWERK).
TEIL a DIE GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN KULTURGEBIETE.
STAAT UND GESELLSCHAFT, RECHT UND WIRTSCHAFT.
TEIL m. DIE NATURWISSENSCHAFTUCHEN KULTURGEBIETE.
TEIL IV. DIE TECHNISCHEN KULTURGEBIETE.
INHALTSÜBERSICHT DER EINZELNEN ABTEILUNGEN.
EINLETTDUG
ZUM GESAMT-
[Teü
I Abt I
D
WERK. Die allgemeinen Grundlagen der
Kultur der Gegenwart
I. Das Wesen der Kultur.
II. Das moderne Bildungswesen,
m. Die wichtigsten Bildungsmittel.
1. Schulen und Hochschulen.
a) Volksschulen.
b) Höhere Schulen.
«) Knabenschulwesen.
ß) Mädchenschulwesen.
c) Hochschulen.
«) Geisteswissenschaftliche Aus-
bildung. *
ß) Mathematische, naturwissen-
schaftliche, technische Aus-
bildung.
d) Fortbildungs- und Fachschulen.
2. Museen.
a) Kunst- und kunstgewerbliche
Museen.
b) Wissenschaftlich-technische Mu-
seen.
3. Ausstellungen.
a) Kunst- und kunstgewerbliche
Ausstellungen.
b) Wissenschaftlich-technische Aus-
stellungen.
4. Theater.
5. Musik.
6. Zeitungswesen.
7. Bibliotheken.
IV. Die Organisation der wissen-
schaftlichen Arbeit.
pTeü I Abt 271
Die Aufgaben und Methoden der
Geisteswissenschaften.
I. Geisteswissenschaften and
geisteswissenschaftliche Metho-
den im allgemeinen.
II. Die wichtigsten Erkenntnis-
mittel und Hilfsdisziplinen der
Geisteswissenschaften.
1. Die sprachlichen Disziplinen.
a) Sprache und Sprachwissenschaft
b) Philologie.
c) Vergleichende Sprachwissen-
schaft.
2. Die Geschichtswissenschaft
mit ihren Teilwissenschaften.
a) Wesen der Geschichte und der
Geschichtswissenschaft.
b) Historische Hilfswissenschaften im
engeren Sinne.
c) Prähistorie.
d) Volkskunde (Folklore).
3. Die Statistik.
EINLl
IN D
STES]
SCH.
I Teil I Abt 3. | rblig
Die außerchristlichen Religionen.
L Die Anfänge der Religion und
die Religion der primitiven
Völker.
II. Die orientalische Religion des
Altertums, Mittelalters und der
Neuzeit.
I. Ägyptische Religion.
Teil I. Die geisteswisgenscli&rUichcn Kulturgebiete. Abt I-
2. Westasiatische Religion.
a) Semitische Religionen (mit Aus-
scbluB der israelitisch-jüdischen
Religion),
b) Indo-iranische Religionen.
a) Indische Religion.
ß) Iranische Religion.
3. Religion des Islams,
4. Ostasiatjsche Religion,
a) Lamaismus.
b) Religion der Chinesen.
c) Religion der indischen Archipel-
bewohner.
d) Religion Japans.
a) Shinto.
ß) Buddhismus.
III. Die europäische Religion des
Altertums.
1. Griechische Religion.
2. Römische Religion.
3. Germanische Religion.
Teil I Abt. 4.
Die christliche Religion
mit Einschluß der israelitisch-jüdischen
Religion,
I. Geschichte der christlichen (und
der israelitisch- jüdischen) Re-
ligion.
1. Israelitisch-jüdische Religion,
2. Christliche Religion.
a) Altertum.
a) Religion Jesu und Anfange des
Christen tu ms bis zum Nicaenum.
ß) Kirche und Staat bis zur Grün-
dtmg der Staatskirche.
b) Mittelalter und Neuzeit.
a) Osteuropa (Griechisch - ortho-
doxes Christentum und Kirche),
i) Mittelalter.
2) Neuzeit.
ß) Westeuropa (Romanisch - ger-
manisches Christentum und
Kirche),
i) Mittelalter.
2) Neu reit
a. Katholizismus.
b. Protestantismus.
II. System der Religionswissen-
schaft (spez.Systematische christ-
liche Theologie).
1. Allgemeines.
Wesen der Religion und der Reli-
gionswissenschaft.
2. Die einzelnen Teilgebiete.
a) Katholische Theologie.
a) Theoretische Theologie.
1) Dogroatik.
2) Christliche Ethik.
ß) Praktische Theologie.
b) Protestantische Theologie,
e) Theoretische Theologie.
i) Dogmatik.
2) Christliche Ethik.
pl) Praktische Theologie.
3. Die Zukunftsaufgaben der
Religion und der Religions-
wissenschaft.
Teil I Abt. .5.
PHILOSOPHIK.
Allgemeine Geschichte der Philo-
sophie.
I, Die Anfänge der Philosophie
und die Philosophie der primi-
tiven Völker.
II, Die orientalische Philosophie
des Altertums, Mittelalters und der
Neuzeit.
1. Westasiatische Philosophie.
a) Indische Philosophie.
b) Semitische (arabisch -jüdische)
Philosophie.
2. Ostasiatische Philosophie.
a) Chinesische Philosophie.
b) Japanische Philosophie.
III. Die enropäische Philosophie.
1. Altertum.
2. Mittelalter und Neuzeit.
a) Mittelalter.
b) Neuzeit.
Teil I AbtXl
System der Philosophie.
I. Allgemeines.
Wesen der Philosophie.
II. Die einzelnen Teilgebiete.
1. Logik und Erkenntnistheorie.
2. Metaphysik.
3. Naturphilosophie.
4. Psychologie.
IV. Inludts&benicht der öaxelnea Abtdlnngea.
5. Geschichtsphilosophie.
6. Ethik.
7. Pädagogik.
8. Ästhetik.
IIL DieZakanftsaofgaben derPhilo-
Sophie.
U'fItRATUR.
rreil I Abt. 7-1
Die orientalischen Literaturen.
I. Die Anfänge der Literatur nnd
die Literatur der primitiven
Völker.
n. Die ägyptische Literatur.
lU. Die westasiatische Literatur.
1. Semitische Literaturen.
a) Babylonisch-assyrische Literatur.
b) Israelitisch-jfidische Literatur.
c) Syrische Literatur.
d) Äthiopische Literatur.
e) Arabische Literatur.
2. Indo-iranische Literaturen.
a) Indische Literatur.
b) Iranische Literatur.
u) Avesta-Literatur.
ß) Persische Literatur,
i) Altertum.
2) Mittelalter und Neuzeit.
3. Armenische Literatur.
4. Türkische Literatur.
IV. Die ostasiatische Literatur.
a) Chinesische Literatur.
b) Japanische Literatur.
I Teil I Abt 8. |
Die griechische und lateinische
Literatur und Sprache.
L Die griechische Literatur nnd
Sprache.
1 . Die griechische Literatur des Alter-
tums.
2. Die griechische Literatur des Mittel-
alters.
3. Die griechische Sprache.
n. Die lateinische Literatur und
Sprache.
1. Die römische Literatur des Alter-
tums.
2. Die lateinische Literatur im Ober-
gang zum Mittelalter.
3. Die lateinische Sprache.
[Tea I Abt 9-1
Die osteuropäischen Literaturen
und die slawischen Sprachen.
I. Die slawischen Literaturen.
1. Russische Literatur.
a) bis zum 19. Jahifanndert.
b) 19. Jalu-hundert.
2. Polnische Literatur.
3. Tschechische Literatur.
4. Sädslawische Literatur.
II. Die slawischen Sprachen.
III. Die neugriechische Literatur.
IV. Die albanesische Literatur.
V. Die ungarische Literatur.
VI. Die finnische Literatur.
fTeil I Abt 10. |
Die romanische und englische Lite-
ratur und Sprache
nnd die skandinavische Literatur.
I. Die keltische Literatur.
II. Die romanischen Literaturen.
III. Die romanischen Sprachen.
IV. Die englische Literatur (mit Ein-
schluß der nordamerikanischen).
1. Englische Literatur.
2. Nordamerikanische Literatur.
V. Die englische Sprache.
VI. Die skandinavische Literatur.
1. Mittelalter.
2. Neuzeit
jTeü I Abt ii."!
Die deutsche Literatur und Sprache.
Allgemeine Literaturwissenschaft.
I. Die deutsche Literatur und
Sprache.
1. Deutsche Literatur.
2. Deutsche Sprache.
II. Allgemeine Literaturwissen-
schaft
1. Allgemeines.
Wesen der Literatur nnd der Lite-
raturwissenschaft
2. Die einzelnen Teilgebiete.
a) Stilistik.
b) Rhetorik.
c) Poetik.
d) Metrik.
Teil L Abt. 7—14. Teil H. Die gcisteswissenschafUichen Kulturgcbiet«. Abt t.
3. Die Zukunftsaufgaben der Li-
teratur und der Literatur-
wissenschaft
mrsiK.
|Teü I Abt 12.
Die Musik.
l. Geschichte der Musik und der
Musikwissenschaft,
1. Die Anfänge der Musik und
die Musik der primitiven
Völker.
2. Die orientalische Musik des
Altertums, Mittelalters und
der Neuzeit
3. Die europäische Musik.
a) Altertum.
b) Mittelalter und Neuzeit bis
zum Ende des 16. Jahrhun-
derts.
c) 17. bis 19. Jahrhundert.
II. Allgemeine Musikwissenschaft,
1. Allgemeines.
Wesen der Musik und der Musik-
wissenschaft.
2. Die einzelnen Teilgebiete.
a) Rhythmik.
b) Melodik.
c) Harmonik.
3. Die Zukunftsanfgaben der
Musik UQd der Musikwissen-
schaft
KUNST.
I Teil I
Abt
13.
Die orientalische Kunst Die euro-
paische Kunst des Altertums.
I. Die Anfänge der Kunst und die
Knnat der primitiven Völker.
II. Die orientalische Kunst.
1. Ägyptische auBerchristliche Kunst
des Altertums.
2. Westasiatische auBerchristliche
Kunst des Altertums.
Christliche Kunst des Altertums.
Islamische Kunst
5. Indische Kunst.
6. Ostasiatische Kunst.
a) Chinesische Kunst
b) Japanische Kunst
3-
4-
111. Die europäische Kunst des Alter-
tums.
1. Griecliisch-römische Kunst.
2. Barbarische imd christliche Kunst
Teil I Abt. 14.
Die europäische Kunst des Mittelalters
und der Neuzeit Allgemeine Kunst-
wissenschaft
1. Die europäische Kunst des
Mittelalters und der Neuzeit.
1. Osteuropäische (byzantinisch-
slawische) Kunst.
2, Westeuropäische (romanisch-
germanische) Kunst.
a) Mittelalter.
b) Neuzeit.
«) 14. bis i6. Jahrhundert
ß) 17. bis 18. Jahrbuudert
y) 19. Jahrhundert,
i) Architektur.
2) Kunstgewerbe.
3) Plastik und Malerei.
Allgemeine Kunstwissenschaft
1. Allgemeines.
Wesen der Kunst und der Kunst-
wissenschaft.
2. Die einzelnen Teilgebiete,
a) Architektur.
b) Plastik.
c) Malerei.
3. Die Zukunftsaufgaben der
Kunst und der Kunstwissen-
schaft
II
Teil U Abt 1.
ANTHROPO-
OEOGRAPHIB.
Volker-, Lander- und Staatenlcunde.
(Die anthropogeographischen Grundlagen
von Staat und Gesellschaft, Recht und
Wirtschaft.)
1. Allgemeine Völkerkunde.
II. Allgemeine Staaten- nnd
Länderkunde.
III. Spezielle Völker-, Länder- und
Staatenkunde.
1. Asien.
a) Weatasien.
b) Ostasien,
2. Afrika.
Inhaltsäberiicht der önielnen AbtcUnngen.
, Europa.
a) Mittelmeeiländer.
b) Großbritanniea , Frankreich,
Niederlande, Skandinavien.
c) Rufiland.
d) Sfidosteuropa.
e) Zentraleuropa.
, Amerika.
a) Nordamerika.
b) Mexiko und Mittelamerika.
c) Südamerika.
Australien und Ozeanien.
STAAT UND
GESBLL-
Teü n Abt. 2. I
SCHAFT.
Allgemeine Verfassungs- und Ver-
waltungsgeschichte.
L Die Anfänge derVerfassnng und
Verwaltung und die Verfassung
und Verwaltung der primitiven
Völker,
n. Die orientalische Verfassung
und Verwaltung des Altertums,
Mittelalters und der Neuzeit
1. Altertum.
2. Mittelalter und Neuzeit.
a) Nordafrikanische und westasia-
tische (islamische) Verfassung
und Verwaltung.
b) Ostasiatische Verfassung und
Verwaltung.
III. Die europäische Verfassung und
Verwaltung.
1. Altertum.
2. Mittelalter.
3. Neuzeit
rreil n Abt 3TI
Staat und Gesellschaft des Orients
von den Anfangen bis zur Gegenwart.
I. Die Anfänge des Staates und der
Gesellschaft und Staat und Ge-
sellschaft der primitiven Völker.
II. Staat und Gesellschaft des
Orients im Altertum, Mittel-
alter und der Neuzeit
1. Altertum.
2. Mittelalter und Neuzeit
a) Staat und Gesellschaft Nord-
afrikas und Westasiens (Die
islamischen Völker).
b) Staat und Gesellschaft Ostasiens.
a) China.
ß) Japan.
fTeil n Abt 4. |
Staat und Gesellschaft Europas im
Altertum tuid Mittelalter.
I. Staat und Gesellschaft des Alter-
tums.
1. HeUas.
2. Rom.
II. Staat und Gesellschaft des
Mittelalters.
1. Osteuropa (Byzanz).
2. Westeuropa (Die romanisch - ger-
manischen Völker).
a) Erste Hälfte des Mittelalters.
b) Zweite Hälfte des Mittelalters.
I Teil n Abt 5. |
Staat und Gesellschaft Eiu-opas und
Amerikas in der Neuzeit
I. Staat und Gesellschaft West-
europas.
1. 16. Jahrhundert (Reformations-
zeitalter).
2. 17. Jahrhundert (Gegenreformation
und jojähriger Kri^).
3. 18. Jahrhundert (Höhezeit des Ab-
solutismus).
4. Revolutionszeitalter und Erstes
Kaiserreich.
5. 19. Jahrhundert
II. Staat und Gesellschaft Ost-
europas.
UI. Staat und Gesellschaft Nord-
amerikas.
IV. Staat und Gesellschaft der
romanisch-germanischen Kolo-
nialländer außer Nordamerika.
pteü n Abt öTI
System der Staats- luid Gesellschafts-
wissenschaft.
I. Allgemeines.
Wesen des Staates und dei Gesell-
schaft und der Staats- und der
Gesellschaftswissenschaft.
Teil IL Die gdstcswissetudiaftlicbcn Kultuxgebiete. Abu 3 — 9.
II. Die einzelnen Teilgebiete.
1. Der Staat.
a) Allgemeine Staatslehre.
o) Die Staatsfomien.
ß) Die Staatsfunktionen.
i) Staatsverfassung.
2) Staatsverwaltung.
b) Die wichtigsten Einzelgebiete
des Staatswesens.
«) Innere Verwaltung.
i) Staat.
2) Kommune.
ß) Äußere Verwaltung (Diplo-
matie, Konsulatswesen etc.).
y) Kolonial Verwaltung.
d) Heer- und Kriegswesen (mit
Geschichte des Heer- und
Kriegswesens).
1) Das Landheer und der
Landkrieg.
2) Die Flotte imd der See-
krieg.
2. Die Gesellschaft.
a) Der Organismus der Gesellschaft.
a) Das Individuum und die Ge-
sellschaft.
ß) Die Bevölkerung und
Auftjau.
i) Verteilung.
2) Gliederung.
3) Bewegung.
b) Die Bevölkerungspolitik.
III. Die Zukunftsaufgabeu
Staats und der Gesellschaft
und der Staats- und der Ge-
sellschaftswissenschaft,
ihr
des
;CBT.
Teil II Abt. 7.
Allgemeine Rechtsgeschichte
mit Geschichte der Rechtswissenschaft.
L Die Anfänge des Rechts und
das Recht der primitiven Völ-
ker.
11. Das orientalische Recht des
Altertums, Mittelalters und der
Neuzeit.
Hl. Das europäische Recht.
1. Altertum.
2. Mittelalter.
a) Kanonisches Recht.
b) Romanisch-germanische Rechte,
a) Romanisches Recht.
ß) Germanisches Recht.
3. Neuzeit
Teil n Abt. 8.
System der Rechtswissenschaft
I. Allgemeines.
Wesen des Rechts und der Rechts-
wissenschaft.
II. Die einzelnen Teilgebiete.
1. Privatrecht
a) Bürgerliches Recht
b) Handels- und Wechselrecht.
c) Versicherungsrecht.
d) Internationales Privatrecht
2. Zivilprüzeßrecht.
3. Strafrecht und Strafprozeßrecht (mit
Einschluß des internationalen Straf-
rechts).
4. Kirchenrecht
5. Staats- und Verwaltungsrecht
a) Staatsrecht.
b) Verwaltungsrecht.
«) Justiz und Verwaltung (mit
Einschluß der Verwaltungs-
rechtspflege).
ß) Recht der inneren Verwal-
tung (Polizei und Kultur-
pflege).
6. Völkerrecht (mit Einschluß von
Land- unil Seekriegsrecht).
III. Die Zukunftsaufgaben des
Rechts und der Rechtswissen-
schaft
Teil n Abt
Allgemeine Wirtschaftsgeschichte
mit Geschichte der Volkswirtschaftslehre.
I. Die Anfänge der Wirtschaft und
die Wirtschaft der primitiven
Völker.
11. Die orientalische Wirtschaft des
Altertums, Mittelalters und der
Neuzeit
1. Altertum.
2. Mittelalter und Neuzeit,
a) Nordafrikanische und westasia-
tische (Islamisclie) Wirtschaft
L) Ostasiatische Wirtschaft.
8
Namen der gewonnenen Herren MiUrbeiter.
III. Die earopäische Wirtschaft
1. Altertum.
2. Mittelalter.
3. Neuzeit.
freil n Abt 10. 1
System der Volkswirtschaftslehre.
I. Allgemeines.
Wesen der Wirtschaft und der Wirt-
schaftswissenschaft.
II. Die einzelnen Teilgebiete.
I. System der Volkswirtschaftslehre.
a) Allgemeine Volkswirtschaftslehre.
b) Spezielle Volkswirtschaftslehre,
a) Agrarpolitik.
P) Gewerbepolitik.
y) Handelspolitik.
d) Kolonialpolitik.
e) Verkehrspolitik.
Q Versicherungspolitik.
1]) Sozialpolitik.
i) Landarbeiterfrage.
2) Gewerbearbeiterfrage.
3) Geistesarbeiterfrage.
4) Frauenfrage.
2. System der Staats- imd Gemeinde-
wirtschaftslehre (Finanzwissen-
schaft).
a) Staatswirtschafi.
b) Gemeindewirtschaft.
in. Die Zukunftsaufgaben der Wirt-
schaft und der Wirtschaftswis-
senschaft.
NAMEN DER FÜR TEIL I UND H GEWONNENEN HERREN
MITARBEITER:
Adickbs-Frankfdrt a/M., G. Anschütz, H. V. Akmui, Gl- Basuhkzr, L. v. Bak,
Z. Beöthy, Freiherr v. Beklepsch, E. Bernatzik, C. Bezold, F. v. Bezold,
FS- W. V. Bissing, N. Bonavetsch, L. v. Bortkiewicz, A. Brandl, A. Brückner,
f A. BUCHENBERGER, K. BÜCHER, K. BURDACH, GuST. CoHN, G. G. DkHIO,
H. Dtkt.s, A. Dieterich, W. Dilthky, W. v. Dyck, H. Ebbinghaüs, V. Ehren-
berg, L. Elster, Ad. Erman, R. Etjcken, W. Faber, Theob. Fischer, K. Florenz,
O. Franke, F. X. v. Funk, C. Gareis, H. Gaudig, K. Geldner, H. Gelzbr,
G. Gerland, G. Göhler, M. J. de Goeje, L Goldziher, Th. v. d. Goltz,
E. Gothein, R. Graul, J. J. M. de Groot, E. Grosse, W. Grube, A. Grünwedel,
H. GuNKEL, H. Haas, Ad. Harnack, M. Hartmann, W. Herrmann, A. Heuslxr,
O. Hintze, Fr. Hirth, M. Hoernes, H. J. Holtzmann, P. Hörn, H. Hübsciimann,
V. V. jAGid, K. Th. V. Inama-Sternegg, A. Jülicher, W. Kahl, P. Kehr, G. Kkr-
schensteiner, A. Kirchhoef, J. Kohler, R. Koser, P. Kretschmer, H. Kretzschmar,
C. Krieg, K. Krumbacher, P. Laband, H. Lange, Edv. Lehmann-Kopenhagen,
F. Leo, J. Lessing, W. Lexis, Alfr. v. d. Leyen, Th. Lipps, F. v. Lis2t, Edg.
Loening, K. LxncK, A. Lüschin v. Ebengreuth, Er. Marcks, F. v. Marttiz,
G. Maspero, A. Matthias, J. Mausbach, R. M. Meyer, W. Mever-Lübke,
F. Milkaü, H. More, Karl Müller, W. MOnch, M. Murko, B. Niese, Th. Nöldeke,
E. Norden, H. Oldenberg, W. Ostivald, L. Pallat, J. Partsch, H. Paul,
Fr. Paülsen, R. Pischel, J. Pohle, O. Puchstein, K. Rathgen, Alois Ribhl,
G. Roethe, D. Schäfer, Th. Schiemann, P. Schlenther, Erich Schmidt, Gust.
Schmoller, G. Schöppa, H. Schuck, Fritz Schumacher, R. Seeberg, E. N. SetälX,
L. V. Seüffert, Ed. Sievers, G. Simmel, F. Skutsch, R. Sohm, R. Stammler,
J. Strzygowski, U. Stutz, M. Tangl, A. Thumb, E. Troeltsch, H. v. Tschudi,
J. V. Verdy du Vernois, J. Vlcek, ■\ C. Wachsmuth, J. Wackernagkl, ■{• St.
Waetzoldt, Ad. Wagner, J. Wellhalsen, L. Wenger, W. Wetz, Fr. Wickhokf,
U. V. Wilamowitz-Moellendorff, W. Windelb^vnd, f. Winter, G. Wissowa,
O. N. Wrrr, H. Wölffun, W. Wundt, H. Zimmer u. a. c. a.
i
880 9 W664 C.1
Dte Griechtscne und l8tAGQ2005
Stanford Unjv«r»ity Libraries
3 6105 045 006 3
--E; ^nm s^ i a M
\'»
K 4M
«f*
Stanford Unlversity Ubrary
Stanford, California
In Order that others may use tbis book,
please retum it as soon as possible, but
not later than tbe date due.
m