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Full text of "Die grossen politischen Aufgaben des Krieges im Osten und die ukrainische frage"

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Die 

großen  politischen  Aufgaben 
des  Krieges  im  Osten  und  die 
ukrainische  Frage 

Von 

Df.  LongSO  Cehelskyj,  Reichsratsabgeordneter 


Zentralstelle 

des  Bundes  z.  Befreiung 
der  Ukraine 

Berlin  YV .  CG,  Leipzigcrstr.  131. 


Berlin  1915 


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Inhalt: 


1.  Einleitung. 

2.  Die  russische  Gefahr. 

3.  Polens,  Litauens,  Kurlands  und  Finnlands  Abtrennung  —  bedeuten  noch  kein 
Schwächung  Russlands! 

4.  Die  großen,  durch  den  jetzigen  Krieg  zu  lösenden  Aufgaben  und  die  Bildur 
eines  ukrainischen  Staates. 

5.  Die  Bismarck-Hartmannsche  Lösung  der  ukrainischen  Frage. 

6.  Die  minimalste  Zwischenetappe  in  der  Lösung  der  ukrainischen  Frage. 

7.  Die  sozialen  Vorbedingungen  eines  ukrainischen  Staates. 

8.  Die  ideellen  Vorbedingungen  eines  ukrainischen  Staates. 

9.  Eine  selbständige  Ukraine  und  Russland  in  der  Zukunft. 

10.  Ein  gefahrvolles  Projekt. 

11.  Schlussbemerkungen.  . 


Anhänge: 

Die  Ukraine  als  eveniueller  Kriegsschauplatz. 

Eine  Karte. 


5 


„Dieser  ungeheuere  Weltkrieg,  der  die  Fugen  der  Welt 
klaffend  macht,  wird  alte  vergangene  Zustände  nicht  zurück¬ 
führen.  Ein  Neues  muß  en  stehen.  Wenn  Europa  je 
zur  Ruhe  kommen  soll,  kann  es  nur  durch  eine  unan¬ 
tastbare  und  starke  Stellung  Deutschlands 
geschehen.  Deutschland  muß  sich  seine  Stellung  so  aus¬ 
bauen,  so  festigen  und  stärken,  daßdieanderenMächte 
niemals  wieder  an  eine  Einkreisungspolitik 
denken.  Zu  unsrem  und  zum  Schutz  und  Heile  aller 
Völker  müssen  wir  die  Befreiung  der  Weltmeere 
erringen.  Wir  wollen  sein  und  bleiben  ein  Hort  des 
Friedens  und  der  Freiheit  der  großen  und  der 
kleineren  Nationen.  Ich  beziehe  das  keineswegs  bloß 
auf  die  Völker  germanischer  Rasse.  Wir  halten  den  Kampf 
durch,  bis  die  Bahn  frei  wird  für  ein  neues,  von 
französischen  Ränken  und  moskowitischer  Er¬ 
oberungssucht  sowie  englischer  Vormundschaft 
befreites  Europa.“ 

(Aus  der  Reichstagsrede  des  Reichskanzlers  Dr.  von 
Bethmann-Hollw eg  vom  19.  August  1915.) 


Einleitung. 

Die  auf  der  Ostfront  errungenen  Triumphe  der  deutschen  Waffen 
haben  eine  Situation  geschaffen,  in  der  sich  weite  Ausblicke  auf  die 
nähere  und  die  entlegenere  Zukunft  eröffnen.  Es  scheint  der  Moment 
herangerückt,  in  dem  wichtige  entscheidende  Beschlüsse  fallen  müssen. 
Das  entnimmt  man  auch  der  großen  Rede  des  deutschen  Reichskanzlers 
im  Reichstage  vom  16.  August  d.  J.  Große  Ziele  des  tobenden 
Weltkrieges  sind  an  unser  Bewußtsein  näher  herangerückt,  tauchen  aus 
dem  Gewimmel  der  Weltereignisse  in  immer  mehr  konkreten  Umrissen 
heraus  und  bahnen  sich  den  Weg  zum  klar  bewußten  Willen  der  großen 
deutschen  Nation.  „Ein  Neues  muß  entstehen“  —  sagte  der  Reichs¬ 
kanzler  in  seiner  Rede  bei  dem  Beifall  des  gesamten  Reichstages.  Und 
dies  Neue  liegt  seinen  Worten  nach  in  einer  so  gestärkten  Stellung 
Deutschlands,  daß  eine  Einkreisungspolitik  nicht  mehr  denkbar  wäre, 
daß  die  Weltmeere  befreit  werden,  daß  durch  Deutschlands  Stärke  der 
Weltfrieden  gesichert  werde,  daß  die  Nationen  ihre  Freiheit  bekommen 
und  das  Europa  von  der  moskowitischen  Eroberungssucht  und  franzö¬ 
sisch-englischen  Gelüsten  befreit  werde. 

Die  deutsche  Nation  hat  sich  dem  klaren  Bewußtsein  dieser  großen 
weltgeschichtlichen  Ziele  dicht  heran  genähert,  wie  zugleich  der  Ueber- 
zeugung,  daß  diese  Ziele  den  Feinden  Deutschlands  aufzuzwingen  sind. 
Seit  dem  Fall  Warschaus,  Iwangorods,  Nowo-Georgiewsks,  Kownos  und 
Brest-Litowsks  ist  der  große  Krieg  aus  einem  Verteidigungskriege  zu 
einem  Schaffenskriege  geworden.  Und  die  weltgeschichtliche  Rolle 
des  Schaffenden  ist  der  deutschen  Nation  zugefallen.  Die  Welt  soll  so 
aussehen,  wie  es  die  deutsche  Nation  gewillt  sein  wird.  Die  großen 
Siege  im  Osten  haben  den  Deutschen  den  Schlüssel  zur  Entwickelung 
weiterer  Kriegsereignisse,  zu  der  Gestaltung  Europas  und  der  Welt  nach 


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dem  Kriege  in  die  Hände  gelegt.  Deshalb  sind  die  nächsten  Entschlüsse 
von  weltgeschichtlicher  Tragweite. 

Die  Rede  des  Reichskanzlers  hat  die  Endziele  des  Krieges  als  eine 
politische  These  formuliert.  Es  handelt  sich  jetzt  um  das  Konkretisieren, 
um  die  reelle  Ausführung  dieser  Thesen,  um  deren  Inkraftsetzung  durch 
politische  Tatsachen,  durch  das  reelle  politische  Schaffen,  was  wiederum 
von  den  militärischen  Tatsachen  und  kriegerischen  Schaffen  vorbedingt 
wird.  Die  bewunderungswürdige  deutsche  Armee  hat  Polen  und  Litauen 
hinter  dem  Rücken  und  befindet  sich  schon  auf  den  weißruthenischen 
und  ukrainischen  Gebieten  Rußlands.  Mit  dem  Momente,  als  die  etno- 
graphische  Grenze  zwischen  den  Polen  und  Ukrainern  an  der  Wiepr- 
und  Narewlinie  passiert  wurde,  schob  sich  auch  die  ukrainische  Frage, 
als  ein  Bestandteil  der  großen  Kriegsziele,  näher  heran  und  begann 
aktuell  zu  sein.  Die  Entscheidung,  welche  in  Kürze  fallen  muß,  wird 
auch  über  die  Zukunft  der  Ukraine  entscheiden.  Aus  verschiedenen 
Erscheinungen  aber  läßt  sich  schließen,  daß  sowohl  die  breite  deutsche 
Oeffentiichkeit,  wie  auch  die  maßgebenden  deutschen  Kreise  nicht  voll¬ 
ständig  mit  der  ukrainischen  Frage  vertraut  sind,  infolgedessen  auch 
dieselben  kein  besonderes,  jedenfalls  kein  zwingendes  Interesse  für  sie 
zu  haben  scheinen. 

Die  nordwestlichen  Gebiete  Rußlands  mit  Petersburg  als  Ziel 
scheinen  die  allgemeine  Einbildungskraft  viel  mehr  zu  beschäftigen,  ob¬ 
wohl  es  von  Riga  nach  Petersburg  ebenso  weit  wie  von  Berestj-Lytowskyj 
nach  Kijew  ist,  obwohl  Petersburg  eigentlich  eine  auf  nichtrussischem 
Boden  gelegene  Grenzstadt  ist,  welche  für  das  nationale  Leben  und 
die  staatliche  Macht  Rußlands  eigentlich  keine  ausschlaggebende  Be¬ 
deutung  hat,  und  welche  von  dem  eigentlichen  Zentrum  Rußlands,  Moskau, 
durch  schwer  zugängliche,  arme,  rauhe,  unermeßliche  Gebiete  Nordru߬ 
lands  getrennt  ist.  Die  Ukraine  dagegen  mit  ihren  viel  kleineren  Dimen¬ 
sionen,  ihrer  Nähe  zu  den  Verbindungslinien  Galiziens  und  Polens,  ihrem 
viel  milderen  und  trockeneren  Klima,  wie  auch  ihrer  viel  dichteren  Be¬ 
völkerung  und  ihrem  Nahrungsmittelreichtum,  scheint  diese  allgemeine 
Einbildungskraft  viel  weniger  zu  interessieren,  obwohl  es  von  Lemberg  oder 
Berestj-Lytowskyj  nach  Kijew  nicht  weiter  als  von  Lemberg  nach  Breslau 
oder  von  Berlin  nach  Krakau  ist.  In  der  Presse  wird  wiederholt  die  Frage 
der  Ostseeprovinzen  Rußlands  erörtert,  wobei  man  öfters  zu  übersehen 
scheint,  daß  es  in  denselben  drei  mit  einem  sehr  starken  Nationalgefühl 
ausgestattete  Völker  —  Litauen,  Leten  und  Esthen  —  gibt,  die  mit  den 
russischen  Polen  insgesamt  bisher  eine  stark  russenfreundliche  Orien¬ 
tierung  an  den  Tag  gelegt  haben  und  die  vom  Standpunkte  deutscher 
Staatsinteressen  ein  höchst  zentrifugales  Element  darstellen.  Man  verliert 
aber  gewissermaßen  die  Tatsache  aus  den  Augen,  daß  es  im  Süd  westen 
Rußlands  ein  nationales  Element  gibt,  dessen  geographische  Lage  und 
dessen  nationalpolitisches  Verhältnis  zu  den  Russen  —  wie  auch  zu  den 
Polen  —  es  unbedingt  zu  einem  natürlichen  Bundesgenossen  Deutschlands 
machen  müssen.  Daß  die  Deutschen  ein  reges  Interesse  für  die  baltischen 
Provinzen  haben,  ist  leicht  zu  verstehen.  Es  ist  ja  ein  altes  deutsches 
Expansionsgebiet,  welches  nach  der  Schlacht  bei  Grünwald-Tannenberg 


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lind  noch  mehr  nach  der  Annektierung  dieser  Provinzen  durch  Rußland 
für  das  Deutschtum  verloren  zu  sein  schien.  Wenn  man  aber  das  rege 
Interesse  für  die  Leten  beobachtet,  bekommt  man  den  Eindruck,  daß 
daran  einen  beträchtlichen  Anteil  geschichtlich -politische  Romantik  hat, 
während  die  reellen  großen  und  modernen  Interessen  Deutschlands  ganz 
anderswo  —  im  Südosten  —  in  der  Richtung  nach  Bagdad  und  gegen 
den  Indischen  Ozean  hin  —  sich  befinden.  Und  in  der  letztgenannten 
Richtung  liegt  ja  auch  die  Ukraine,  das  ukrainische  Gestade  des 
Schwarzen  Meeres  und  die  an  diesem  Gestade  gelegenen  Häfen  der 
russischen  Kriegsmarine,  die,  obwohl  nicht  groß,  dennoch  zur  Bedrohung 
der  Meeresengen  und  Anatoliens  hinreicht.  Angesichts  dieser  großen 
Frage,  der  Frage  der  Sicherstellung  einer  konstanten  Ver¬ 
bindung  zwischen  Berlin  und  Bagdad,  scheint  uns  die  Frage  der 
Ostseeprovinzen  viel  mehr  eine  Lokal-  und  eine  Sentimentsfrage  zu  sein; 
es  dünkt  uns,  daß  eben  diese  große  Frage  von  weltgeschichtlicher  Trag¬ 
weite  und  mit  der  Formulierung  der  Kriegsziele,  wie  sie  der  Reichskanzler 
in  seiner  Rede  vom  16.  August  d.  J.  festgestellt  hat,  identisch  ist; 
wir  sind  der  Meinung,  daß  sie  ein  reelles  Rückgrat  dieser  Formulierung 
bildet,  indem  die  Sicherstellung  der  Verbindung  zwischen  Berlin  und  dem 
Indischen  Ozean  das  „Neue“  ist,  worin  die  Ausschließung  einer  Ein¬ 
kreisung  Deutschlands,  die  Freiheit  der  Weltmeere,  die  Bürgschaft  des 
Weltfriedens,  die  Befreiung  Europas  von  der  moskowitischen  Eroberungs¬ 
sucht  und  englischen  Vormundschaft  und  die  führende  Rolle  eines  er¬ 
starkten  Deutschlands  inbegriffen  sind. 

Von  diesem  Ausgangspunkte  eben  erachten  wir  die  Lösung  der 
ukrainischen  Frage  durch  die  Bildung  eines  an  die  Zentralmächte 
Europas  gestützten  ukrainischen  Staates  im  Südwesten  des  jetzigen 
Rußland  als  den  integrierendsten  Teil  der  großen  Frage  der  zukünftigen 
Ordnung  der  Verhältnisse  im  Osten.  Nur  von  der  selbständigen 
Ukraine  kann  der  Weg  von  Berlin  nach  Bagdad  und  nur  von 
der  Ukraine  können  die  Meeresengen  —  der  schwächste  Punkt 
dieses  Weges  —  vor  Rußlands  Eroberungs-  und  Revanche¬ 
gelüsten  geschützt  werden.  Nur  die  Bildung  einer  selbständigen 
Ukraine  wird  die  Balkanvölker  von  der  russischen  Vormundschaft  be¬ 
freien  und  dem  Panslavismus  der  Polen,  Tschechen,  Serben  usw.  den 
Hals  brechen,  da  derselbe  nur  durch  die  Nähe  des  „großen  russischen 
Onkels“  und  durch  die  Hoffnung  auf  seine  Intervention  genährt  wird. 
Der  selbständige  ukrainische  Staat  zwischen  Deutschland  und  Oesterreich 
im  Nordwesten  und  dem  Schwarzen  Meere  im  Südosten  wird  ein  Schutz¬ 
wall  Mitteleuropas,  des  Balkans  und  Konstantinopels  gegen  den  russischen 
Imperialismus,  ein  nach  Osten  vorgeschobenes  Bollwerk  Mitteleuropas 
bilden.  Daß  dies  eben  mit  den  großen  Zielen  der  deutschen 
Nation  sich  deckt,  dies  zu  erörtern,  ist  die  Aufgabe  diese 
Publikation. 

❖ 

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Die  russische  Gefahr. 

Schon  Bismarck  hat  Russland  als  den  eigentlichen  Friedensstörer 
Europas  gekennzeichnet;  weil  ja  tatsächlich  nicht  in  dem  allmählich  hin¬ 
sinkenden  Frankreich,  nicht  in  dem  angriffsunfähigen  England,  sondern 
in  dem  immer  wachsenden,  jugendlichen,  noch  nicht  abgebrauchten,  sich 
organisierenden  und  angriffslustigen  Rußland  die  zukünftige  Gefahr  so¬ 
gar  für  ein  siegreiches  und  erweitertes  Deutschland  liegt.  Es  hat  schon 
der  jetzige  Krieg  gezeigt,  daß  der  einzige  ernste  Gegner  der  ver¬ 
bündeten  Zentralmächte  Rußland  ist.  Es  hat  ja  der  ganzen  Welt  viele 
Ueberraschungen  gemacht,  indem  die  russische  Oeffentlichkeit  und  das 
russische  Offizierkorps  eine  von  niemandem  in  Europa  geahnte 
patriotische  Begeisterung  und  Einheitlichkeit  der  Gesinnung  an  den  Tag 
legten,  indem  die  russische  Intendantur  und  Kriegsführung  einen  ebenso 
unerwarteten  Grad  von  Bildung  und  Leistungsfähigkeit  zum  Vorschein 
brachten  und  indem  die  Nationen,  wie  Polen,  Litauer,  Esthen,  Leten, 
Finnen,  Juden  usw.,  auf  deren  Abneigung  gegen  Russland  man 
rechnete,  wie  auch  die-  russischen  Revolutionäre  sich  für  die  russische 
Sache  in  dem  Kriege  begeistert  erwiesen.  All  die  Erscheinungen,  die 
einem  von  den  oberflächlichen  „Kennern“  Rußlands  informierten  Mittel¬ 
europäer  so  unerhofft  und  unerklärlich  erscheinen,  sind  im  Grunde  ge¬ 
nommen  einem  jeden,  der  die  ungemein  rasche,  ja  rapide  Entwickelung 
Rußlands  nach  dem  japanischen  Kriege  und  der  Revolution  in  den 
Jahren  1905 — 1906  in  der  Nähe  beobachtet  hat,  durchaus  verständlich. 
Das  heutige  Rußland  mit  der  Duma,  mit  dem  politischen  Leben  und 
den  paar  großen  Parteien,  mit  wachgerüttelter  Oeffentlichkeit  und  heran¬ 
gewachsenem  Nationalgefühl,  mit  der  fortgeschrittenen  Volksaufklärung 
und  der  gewissen  Beteiligung  des  Volkes  am  politischen  Leben  —  ist 
garnicht  dasselbe,  wie  es  vor  dem  Jahre  1905  war!  Und  dazu  ein 
Krieg  gegen  Deutschland  und  Oesterreich-Ungarn,  wegen  eines  Aus¬ 
ganges  zu  den  südlichen  Meeren  und  wegen  der  Sicherstellung  der 
russischen  Macht  im  Südosten  Europas,  ist  ein  Nationalkrieg  im  wahrsten 
Sinne  des  Wortes.  Deshalb  sind  Plechanoff,  Burzeff,  Krapotkin  und 
Miljukoff  derselben  Meinung  in  dem  Kriege  wie  Nikolaj  Nikolajewitsch, 
Graf  Bobrinskij,  Erzbischof  Eulogius,  Markoff  und  Puriszkewitsch. 
Immerhin  für  die  nichtrussischen  Nationen  —  die  einzigen  Ukrainer 
und  Mohamedaner  ausgenommen!  —  ist  das  jetzige  Rußland  im 
Vergleich  zu  Deutschland  nicht  dasselbe,  was  es  bis  zum  Jahre  1905  war. 
In  dem  Rahmen  des  sich  entwickelnden  russischen  Konstitutionalismus 
hoffen  sie  ihre  nationale  Eigenart  besser,  leichter  und  sicherer  bewahren 
zu  können  als  in  einem  Staatsverbande  mit  dem  hochentwickelten  und 
nach  Osten  drängenden  Deutschtum.  Gegen  die  Polen,  Litauer,  Leten, 
Esthen  und  Finnen  besitzt  Rußland  keine  oder  fast  keine  Denationali¬ 
sierungskraft,  da  die  russischen  Volksmassen  mit  dem  Bauerntum,  dem 
Bürgertum  wie  auch  der  Arbeiterschaft  der  genannten  Völker  keinen 
Konkurrenzkampf  beginnen  können  und  da  die  russische  Ansiedelungs¬ 
auswanderung  nicht  nach  den  dichter  bevölkerten  und  kulturell  höher¬ 
stehenden  Westprovinzen,  sondern  nach  Sibirien  gerichtet  ist.  Die 


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politische  Selbständigkeit  haben  zwar  diese  Völker  eingebüßt  —  sie  haben  sich 
aber  damit  abgefunden  und  sich  in  diese  Lage  eingepasst;  sie  suchen  ein 
Aequivalent  dafür  in  der  Konstitutionalisierung,  respektive  Föderalisierung 
Rußlands.  Ihr  nationales  Leben,  ihr  Nationalwesen  und  Nationalgrundstock 
sind  trotz  allem  unversehrt  geblieben.  Ja!  dank  ihrer  höheren  Kulturstufe 
und  Industrieentwicklung,  dank  dem  großen  russischen  Handelsmarkte 
haben  sich  dieselben  sogar  in  den  letzten  Jahren  bedeutend  gestärkt. 

Das  Geschilderte  ist  aber  nur  ein  Anfangsstadium  von  einer  gro߬ 
zügigen  Entwicklung  Rußlands,  die  eben  schon  im  Rollen  ist  und  die 
in  zwei  oder  drei  Dezennien  aus  Rußland  eine  unüberwindliche,  mit 
ideellen  und  materiellen  Gesamtinteressen  zu  einer  Einheit  verbundene 
Macht  machen  wird.  Wie  schon  gesagt,  sind  Rußland  und  die  russische 
Wehrmacht  im  jetzigen  Kriege  bei  weitem  nicht  dasselbe,  was  sie  im 
japanischen  Kriege  waren.  In  einem  zukünftigen  Kriege  aber  wird 
Rußland  noch  mehr  vorbereitet  und  noch  mehr  kriegsbegeistert  sein. 
Es  handelt  sich  ja  nicht  um  die  exotischen  Korkeichenwälder  oder  zarischen 
Goldgruben  im  Ussurilande,  irgendwo  am  Stillen  Ozean,  es  handelt  sich 
um  Rußlands  lebendigste  Interessen,  um  dessen  Macht,  um  dessen  Welt¬ 
stellung,  um  dessen  Existenz.  Ein  verlorener  Krieg,  in  welchem  nur 
eine  kleine  Amputierung  Rußlands  vom  Nordwesten,  ohne  Rußland  er¬ 
heblich  zu  schwächen,  vorgenommen  werden  sollte,  wird  nur  den 
russischen  Nationalismus  entwickeln,  Revanchegelüste  nähren,  Germanen¬ 
haß  bis  in  die  tiefsten  Volksschichten  tragen,  indem  einerseits  die 
finanziellen  Folgen  des  verlorenen  Kampfes,  auch  dem  kleinsten  Mann 
empfindlich  werden  müßten,  anderseits  alle  Parteien  bei  der  fort¬ 
schreitenden  Konstitutionalisierung  das  Volk  lehren  würden,  in  dem 
Deutschtum  den  Todfeind  zu  sehen.  Wenn  wir  dabei  berücksichtigen 
daß  die  Volksaufklärung  und  Industrialisierung  Rußlands  mit  Riesen¬ 
schritten  wachsen,  so  kann  man  sich  vorstellen,  mit  welchem  Feinde 
es  Deutschland  in  zwei  bis  drei  Dezennien  zu  tun  haben  wird. 

Lassen  wir  auch  die  erwähnten  sozial-kulturellen  Faktoren  der 
russischen  Entwickelung  bei  Seite,  so  genügt  bereits  der  natürliche 
Zuwachs  der  russischen  Bevölkerung  im  Vergleich  zu  dem 
Deutschlands,  Oesterreich-Ungarns  und  im  allgemeinen  Europas,  um 
die  zukünftige  russische  Gefahr  für  Deutschland  klar  zu  erkennen.  Die 
Bevölkerung  Rußlands  belief  sich  im  Jahre  1910  auf  169,7  Millionen 
Menschen,  wobei  der  durchschnittliche  alljärliche  Zuwachs  —  im  Ver¬ 
gleich  zu  dem  in  Europa  höchsten  Zuwachsprozent  von  1,6 — 2,9  Millionen 
Menschen  beträgt.  In  demselben  Jahre  hatte  das  westliche  Europa 
320  Millionen  Einwohner,  wovon  auf  Deutschland  65  Millionen  mit  dem 
jährlichen  Zuwachsprozent  von  1,4  und  dem  Zuwachse  von  900  000 
Menschen  entfielen.  Sogar  wenn  die  Zuwachsverhältnisse  sich  garnicht 
ändern  —  und  bekanntlich  ist  der  Zuwachs  Westeuropas,  ja  sogar 
Deutschlands  im  Fallen  begriffen  —  so  wird  der  Zuwachsprozent  Ru߬ 
lands  infolge  Besserung  der  sanitären  Verhältnisse  und  der  Kultur 
Dezennien  hindurch  eher  wachsen  als  fallen;  auf  diese  Weise  werden 
nach  fünfzig  Jahren  350  Millionen  Rußlands  gegen  ebensoviel  Millionen 
des  westlichen  Europas  stehen.  In  vierzig  Jahren  werden  300  Millionen 


Rußlands  höchstens  90  Millionen  Deutschlands  gegenüberstehen,  wenn 
heute  den  170  Millionen  Rußlands  65  Millionen  Deutschlands  entsprechen* 
Das  Verhältnis  wird  sich  also  automatisch  zugunsten  Rußlands  ändern 
und  dasselbe  in  ein  unüberwindliches  Menschenmeer  verwandeln.  Wenn 
man  dabei  das  vorhin  von  der  inneren  Entwicklung  Rußlands  Gesagte 
berücksichtigt  und  wenn  man  in  Betracht  zieht,  daß  Europa  auch  in 
dem  zukünftigen  Kriege  —  ebenso  wie  jetzt  —  in  zwei  Kriegslager  ge¬ 
teilt  sein  wird,  so  muß  man  zur  Schlußfolgerung  kommen,  daß  für  den 
Fall,  wenn  Rußland  jetzt  nicht  gründlich  gelähmt  wird,  ein  jedes 
weitere  Jahr  eine  Verschiebung  der  Kampfkräfte  und  Kampfbedingungen 
zugunsten  Rußlands  bedeutet,  was  schließlich  seinen  endgiltigen  Sieg 
sichern  muß. 

Den  Verbündeten  Rußlands  in  Mitteleuropa  und  auf  dem  Balkan 
—  den  Panslavismus  —  darf  man  auch  keineswegs  aus  dem  Auge 
verlieren,  wenn  man  von  der  Zukunft  spricht.  Eine  Kräftigung  Deutsch¬ 
lands  in  Mitteleuropa,  die  zugleich  keine  Zertrümmerung  Rußlands  be¬ 
deuten  sollte,  wird  den  Panslavismus  und  die  Gravitierung  nach  Ru߬ 
land  bei  den  West-  und  Südslaven  keineswegs  schwächen,  sondern  im 
Gegenteil  nur  stärken;  von  dem  Deutschtum  viel  mehr  als  bisher  sich 
bedroht  fühlend,  werden  diese  Slawen  alle  ihre  Hoffnungen  nur  in  einem 
starken  Rußland  sehen.  Nur  eine  Zertrümmerung  Rußlands  und 
eines  Abdrängung  desselben  aus  der  Nähe  Mitteleuropas  und 
des  Balkans  kann  den  Hoffungen  der  West- und  Balkanslawen 
auf  Rußlands  Hilfe,  also  dem  Panslawismus,  ein  Ende  bereiten. 

P©Iesas?  Litauens.,  Kurlands  und 
Finnlands  Abtrennung  —  bedeuten 
noch  keime  Schwächung  Riifflancts! 

Wenn  es  in  der  Presse  zu  der  Erörterung  der  Frage  gewisser 
Gebietsabtrennung  von  Rußland  kommt,  dann  werden  gewöhnlich  nur 
die  nordwestlichen  Gebiete  Rußlands  —  Polen,  Litauen,  Ostseeprovinzen 
und  Finnland  —  gemeint.  Retrospektiverweise^die  Frage  behandelnd,  ist 
man  gewöhnt,  nur  diese  Länder  als  zentrifugale  und  zur  Abtrennung 
reife  Elemente  Rußlands  anzusehen,  ferner  —  unter  der  Suggestion  der 
verflossenen  Jahrzehnte  stehend  —  ist  man  bereit,  diesen  Ländern  eine 
allzu  große  Bedeutung  für  die  Machtstellung  Rußlands  zuzuschreiben. 
Da  die  optimistischen  Vorurteile  viel  schädlicher  als  die  pessimistischen 
zu  sein  pflegen,  so  ist  es  am  Platz,  die  deutsche  Oeffentlichkeit  vor 
der  Ueberschätzung  der  Bedeutung  des  gesamten  obengenannten  Länder- 
komplexes  für  Rußlands  Machtstellung  in  Europa  zu  warnen. 

Einige  statistische  Angaben  werden  uns  einen  Lichtstrahl  auf  die 
Frage  werfen.  Das  in  Rede  stehende  Gebiet  (Polen,  Litauen,  Ostsee¬ 
provinzen  und  Finnland)  ist  ca.  600  000  km2  groß,  bildet  also  mehr 
oder  weniger  den  neunten  Teil  des  europäischen  Rußlands,  während 
sich  die  Bevölkerung  desselben  auf  23 — 25  Millionen  Köpfe  beläuft, 


—  11 


was  mehr  oder  weniger  den  siebenten  Teil  der  Gesamtbevölkerung 
Rußlands  ausmacht.  Nach  der  Abtrennung  dieser  Gebiete  verbleiben 
bei  Rußland  dennoch  rund  4720000  km2  in  Europa,  dazu  16  710674  km2' 
in  Asien  mit  ca.  145  Millionen  Bevölkerung,  was  bei  dem  Zuwachs¬ 
prozente  l,6°/o  jährlich  2,35  Millionen  des  Bevölkerungszuwachses 
bedeutet. 

Wie  wir  aus  diesen  Zahlen  ersehen,  ist  die  Abtrennung  sogar  von 
25  Millionen  Menschen  von  Rußland  noch  keine  erhebliche  Schwächung 
seines  Menschenreservoirs,  geschweige  seiner  Kraft,  da  die  in  Frage 
stehenden  Gebiete  zu  den  von  Natur  aus  ärmeren  und  von  den  Richtungs¬ 
linien  des  russischen  Expansionsdranges  seitwärts  gelegenen  Gebieten 
gehören.  Von  der  gesamten  Produktion  Rußlands  entfallen  nämlich  auf 
diese  Gebiete  folgende  Bruchteile  im  Vergleich  zu  den  Zahlen  der 
Ukraine: 


Produktionen 

Ganz  Rußland 

Polen  und 
Nordwest-Rußland 

im 

Prozentsatz 

Zerealien . 

3  834  000  000  Pud 

352  000  000  Pud 

9,18 

Großviehstand . 

90  000  000  St. 

— 

— 

Steinkohle . 

1  580  000  000  Pud 

330  200  000  „ 

21,00 

Roheisen . 

500  000  000  „ 

12  500  000  „ 

2,50 

Salz . 

113  000  000  „ 

— 

— 

Naphtha  . . 

Zuckerrüben . 

725  000  000  „ 

— 

— 

Tabak  . 

5  714  000  „ 

Produktionen 

Ukraine 

im 

Prozentsatz 

ZeriaÜen . 

1  495  000  000  Pud 

39 

Großviehstand . 

30  700  000  St. 

— 

33 

Steinkohle . 

1  196  000  000  Pud 

— 

75 

Roheisen . 

352  000  000  „ 

— 

70 

Salz . 

66  500  000  „ 

—  * 

50 

Naphtha . 

Zuckerrüben . 

500000  000  „ 

— 

80 

Tabak . 

4  000  000  „ 

— 

70 

Außer  den  Kohlengruben  in  Südwest-Polen,  die  —  wie  gesagt  — 
21°/0  der  Gesamtproduktion  Rußlands  gegen  75%  der  ukrainischen 
Produktion  liefern,  und  außer  den  baltischen  Häfen,  die  auch  nur  einen 
relativen  Wert  besitzen,  haben  diese  Gebiete  für  Rußland  keine  ausschlag¬ 
gebende  wirtschaftliche  Bedeutung,  so  daß  ihre  Abtrennung  im  Wirtschafts¬ 
leben  Rußlands  gar  nicht  zu  spüren  sein  wird,  im  Gegenteil:  in  gewisser 
Hinsicht  sind  die  Länder  lästig,  indem  dieselben  mit  dem  ukrainischen 
Weizen  genährt  werden  müssen.  Die  Gesamtzufuhr  des  ukrainischen 
Kornes  in  diese  Gebiete  belief  sich  auf  zirka  70  Millionen  Pud  jährlich, 
da  die  sumpfigen  und  sandigen  Gebiete  der  baltischen  Seeplatte  und 
des  zu  dem  baltischen  System  gehörenden  polnisch-litauischen  Tieflandes 


—  12  — 


wie  auch  das  nordische  Finnland  sich  keineswegs  selbst  zu  ernähren 
vermochten.  Ohne  diese  Gebiete  also  bleibt  Rußland  wirtschaftlich 
ebenso  stark,  wie  es  jetzt  ist  und  infolgedessen  wird  seine  Machtstellung 
und  militärische  Kraft  durch  ihre  Abtrennung  nicht  im  geringsten  gefährdet. 

Ein  Blick  auf  die  Karte  Osteuropas  genügt,  um  einzusehen,  daß 
auch  von  dem  geographisch-strategischen  und  vom  politischen  Stand¬ 
punkt  die  Abtrennung  der  nordwestlichen  Gebiete  von  Rußland  für 
dasselbe  nicht  entscheidend  ist,  indem  es  trotz  allem  seine  militärische 
und  politische  Macht  im  Südosten  Europas  behalten  wie  auch  —  von 
Kijew  ausfallend  —  Ostgalizien  und  die  Ostkarpathen  immer  zu  be¬ 
drohen  imstande  sein  wird. 

Die  Geschichte  Osteuropas  gibt  uns  auch  klare  Weisungen  in  der 
Frage.  Nicht  durch  die  Einnahme  der  Ostseeküste  wurde  Rußland 
aus  dem  moskowitischen  Binnenreiche  zu  einer  europäischen  Macht, 
auch  nicht  erst  durch  die  Teilung  Polens  an  der  Neige  des  18.  Jahr¬ 
hunderts.  Peter  der  Große  hat  diese  Machtstellung  fundiert  und  die 
Schlacht  bei  Poltawa  (1709)  war  der  Wendepunkt  in  der  Geschichte 
Osteuropas.  Die  Niederwerfung  der  Ukraine  eröffnete  Rußland  den 
Weg  sowohl  nach  Süden  zum  Schwarzen  Meere  (schon  Peter  der  Größe 
besetzte  Assow  an  der  Donaumündung  und  wagte  gegen  die  Türken 
in  der  Moldau  zu  kämpfen!)  wie  sie  auch  das  Los  Polens  besiegelte, 
indem  von  Kijew  her  die  ukrainischen  Länder  Polens  (Podolien,  Wol¬ 
hynien,  Pollisje,  ja  sogar  Galizien)  bedroht  und  nachher  größtenteils 
annektiert  wurden. 

Die  russische  Expansionspolitik  bewegt  sich  in  Europa  in  zwei 
Richtungen:  in  der  Linie  Kijew-Lemberg-Budapest-Triest  und  in  der 
Linie  Kijew-Sebastopol-Konstantinopel-Dardanellen.  Die  erste  Linie  führt 
zur  Adria  und  berührt  unterwegs  Galizien,  Slowakei  und  die  adriatischen 
Südslawenländer.  Die  zweite  hat  den  Ausgang  ins  Mittelmeer  und  noch 
mehr  die  Beherrschung  Vorderasiens  bis  zum  persischen  Meerbusen  im 
Auge.  Und  für  beide  Linien  ist  nur  Kijew  der  Ausgangspunkt 
und  nur  die  Ukraine  ist  die  Ausgangsbasis  für  beide.  Die  Ab¬ 
trennung  Finnlands,  Kurlands,  Litauens  und  Polens,  ja  sogar  eines  Teiles 
der  Nordwestukraine  beiderseits  des  Bug  kann  an  diesem  Expansions¬ 
drang  Rußlands  nach  Süden  gar  nichts  ändern  und  gar  nichts  gefährden, 
da  die  Basis  dieses  Expansionsdranges  unversehrt  in  den  Händen  Ru߬ 
lands  bleibt,  ein  russischer  Vorstoß  gegen  Ostgalizien  ebenso  wie  im 
August  1914  von  Kijew  aus  ausführbar  ist  und  über  den  Balkanstaaten 
wie  auch  über  Konstantinopel  ebenso  die  russische  Gefahr  hängt,  wie 
es  bis  jetzt  der  Fall  war. 

Im  letzteren  Falle  muß  man  sich  befragen,  welchen  Wert  die  Länder 
für  Deutschland  haben  könnten.  Es  wurde  schon  oben  erwähnt,  daß 
dieselben  von  solchen  Völkern  bewohnt  sind,  die  in  dem  jetzigen  Kriege 
eine  durchaus  russenfreundliche  Orientierung  an  den  Tag  legten.  Die 
Gründe  und  Ursachen  dieser  Erscheinung  wurden  schon  im  vorigen 
Kapitel  dargelegt.  Hier  ist  zu  konstatieren,  daß  diese  Gründe  zu  stark 
in  dem  kulturellen  und  wirtschaftlichen  Verhältnis  dieser  Länder  zu 
Rußland  wurzeln,  als  daß  dieselben  durch  die  Tatsache  der  Abtrennung 


—  13  — 


dieser  Länder  von  Rußland  aufgehoben  oder  in  ihrem  Wirken  gehindert 
werden  könnten;  im  Gegenteil:  ihrer  wirtschaftlich-privilegierten  Stellung 
in  Rußland  verlustig,  in  der  wirtschaftlichen  Selbständigkeit  von  dem 
höher  entwickelten  Deutschland  bedroht  und  in  nationaler  Hinsicht  von 
dem  Deutschtum  gefährdet,  werden  die  Gebiete  nach  ihrem  Anschluß 
an  Deutschland  oder  nach  ihrem  Anlehnen  an  Deutschland  in  der  Form 
eines  oder  einiger  halb  selbständiger  Staaten  erst  recht  russophil,  indem  die¬ 
selben  im  wirtschaftlichen  und  politischen  Anschlüße  an  Rußland  ihre 
Rettung  vor  dem  unmittelbar  bedrohenden  deutschen  „Drange  nach  Osten“ 
suchen  werden. 

Aus  dem  Gesagten  wollen  wir  keineswegs  die  Schlußfolgerung 
ziehen,  daß  Polen,  Litauen  und  Kurland  aufzugeben  und  den  Russen 
zu  überlassen  sind.  Nach  den  schon  vollendeten  Tatsachen  wäre  es 
ja  lächerlich,  so  etwas  zu  meinen.  Unsere  Absicht  ist,  nur  darauf  auf¬ 
merksam  zu  machen,  daß  die  Eroberung  dieser  Länder  nur  ein  Vorspiel 
zur  wirklichen  Schwächung  Rußlands  sein  kann,  ein  Vorspiel,  welches 
aus  geographischen  und  militärischen  Rücksichten  eben  nicht  zu  ver¬ 
meiden  war. 

Die  durch  den  jetzigen  Krieg 
zu  lösenden  Aufgaben  und  die  Bildung 
eines  ukrainischen  Staates. 

Die  Sicherstellung  der  Machtstellung  Deutschlands  in  der  Welt, 
eines  konstanten  Friedens  und  der  Freiheit  großer  und  kleiner  Nationen 
(darunter  die  Befreiung  der  Balkanvölker  von  der  russischen  Vormund¬ 
schaft),  eines  ununterbrochenen  Weges  von  Berlin  nach  Bagdad  und 
Sicherstellung  Mitteleuropas  und  des  Balkans  vor  der  russischen  Er¬ 
oberungssucht  —  das  sind,  wie  gesagt,  die  konkreten,  großen,  durch 
diesen  Krieg  zu  lösenden  Aufgaben,  die  den  von  dem  Reichskanzler 
gestellten  politischen  Thesen  entsprechen  können;  diese  großen  Aufgaben,, 
die  eigentlich  alle  auf  den  gemeinsamen  Nenner  einer  definitiven 
Schwächung  Rußlands  und  der  Stabilisierung  eines  großen 
Staatensystems  von  der  Nordsee  bis  zum  Persischen  Meer¬ 
busen  —  zurückgeführt  werden  können,  sind  nur  dann  zu  erreichen, 
wenn  Rußland  von  dem  Schwarzen  Meer  zurückgedrängt  und 
ein  starker  Riegel  zwischen  Rußland  und  die  Karpathen- 
Donau-Linie  eingeschoben  wird.  Das  aber  kann  nur  durch  die 
Abtrennung  der  Ukraine  von  Rußland  und  durch  die  Bildung  eines 
ukrainischen  Staates  zwischen  Narew  und  dem  Schwarzen  Meer  er¬ 
langt  werden. 

Es  wurde  schon  in  dem  vorigen  Kapitel  erwähnt,  daß  die  jetzige 
Machtstellung  Rußlands  in  Europa  mit  dem  Siege  Peters  des 
Großen  bei  Poltawa  (1709)  und  mit  der  Einnahme  Kijews  und 
der  Ukraine  durch  die  Russen  gegründet  wurde.  Was  nachher 
geschah:  Die  Einnahme  von  Krim  und  von  Bessarabien,  wie  auch  die 


14 


Teilung  Polens,  —  das  waren  nur  natürliche  Folgen  der  Eroberung  der 
Ukraine  durch  die  Russen,  indem  durch  den  Sieg  bei  Poltawa,  der  bisher 
zu  der  ukrainischen  Saporoger  Republik  gehörende  unterste  Dniepr- 
stromlauf  in  die  Macht  der  Russen  geriet  und  indem  in  Kijew  eine 
Operationsbasis  gegen  Polen  geschaffen  wurde,  was  Polen  schon  bald 
zu  spüren  bekam.  Bis  zur  Schlacht  bei  Poltawa  war  Rußland  —  bis 
dahin  noch  „Moskowien“  genannt !  —  ein  Binnenstaat  des  Wolgabeckens 
mit  asiatischem  Gepräge  und  asiatischen,  nach  Osten  gerichteten,  höchstens 
aber  mit  nordischen  Interessen.  Peters  des  Großen  baltische  ■  Flotten¬ 
bauprojekte,  seine  Kämpfe  mit  Schweden  um  die  Ufer  des  Finnischen 
Meerbusens,  seine  „Reformen“  der  Sitten  der  russischen  Bojaren  u.  dgi 
waren  nur  Extravaganzen  eines  Europa  nachahmenden  und  geistreichen, 
aber  auch  rücksichtslosen  Barbaren  —  denn  im  Grunde  genommen, 
alles  das  änderte  beinahe  gar  nichts  und  konnte  auch  nicht  viel  an  der 
Stellung  Rußlands  in  Osteuropa  ändern.  Erst  nach  der  Schlacht  bei 
Poltawa  wendete  sich  rapid  und  radikal  die  Bahnlinie  der  russischen 
Geschichte.  Nicht  durch  Petersburg  und  den  Finnischen  Meerbusen, 
sondern  durch  Kijew  und  die  Ukraine  kam  Rußland  zu  Europa 
und  umgekehrt  ein  Stück  von  Europa  kam  zu  Rußland. 

Denn  die  Besetzung  der  Ufer  des  Finnischen  Meerbusens  hatte 
für  Rußland  weder  eine  politische  noch  eine  militärische  Bedeutung. 
Von' der  Newamündung  aus  konnte  ja  Rußland  niemanden  beeinflussen. 
Von  Petersburg  aus  konnte  sich  Rußland  nirgends  mehr  ausbreiten. 
Die  Newamündung  war  bereits  zwei  bis  drei  Jahrhunderte  vor  Peter 
dem  Großen  schon  in  den  Händen  Moskowitiens,  wo  auch  zwischen 
Moskowitern  und  Schweden,  wie  auch  Moskowitern  und  deutschen 
Ordensrittern  öfters  Grenzschlachten  ausgefochten  wurden.  Der  Besitz 
oder  abermalige  Verlust  dieses  Meerufers  hatte  aber  keinen  Einfluß  auf 
die  Entwicklung  und  Stellung  Moskowitiens  gehabt,  da  dies  seine  Er¬ 
oberungen  im  Osten  und  Südosten  unbekümmert  um  die  Vorfälle  an 
der  Ostseeküste  weiter  machte. 

Anders  war  es  dagegen  mit  der  Besetzung  der  Linie  Kijew-Dniepr- 
mündung  nach  dem  Jahre  1709.  Peter  der  Große  war  sich  der  Be¬ 
deutung  dieser  Besetzung  bewußt,  indem  er  nach  der  Niederlage  an  der 
Narew  und  nach  dem  Verluste  der  Ostseeküste  alle  Kräfte  einsetzte, 
um  nur  die  Ukraine  zu  beherrschen  und  den  Zutritt  zum  Schwarzen  Meere 
zu  gewinnen.  Mit  dem  Momente,  als  ihm  das  gelungen  war,  wurde 
Rußland  zu  dem,  wovon  Peter  der  Große  geträumt  hatte.  Es  tritt  aus 
dem  Wolgabecken,  aus  der  nach  Asien  inklinierenden  Lage  heraus  und 
das  Uebergewicht  seiner  Interessen  versetzte  sich  nach  Süden,  eigentlich 
nach  Südwesten.  Es  schimmerte  ihm  mit  dem  Moment  in  den  politischen 
Träumen  die  Kuppel  der  Aja  Sophia  entgegen  und  es  wurde  mit  dem 
Moment  zu  dem  „Beschützer“  der  Christen  in  der  Türkei  und  der  Slawen 
in  der  Donaumonarchie.  Und  die  ukrainischen,  weißruthenischen  und 
litauischen  Gebiete  Polens  mußten  ihm  nachher  schon  im  Wege  eines 
natürlichen  Anwachsens  zukommen.  Die  Teilung  Polens  war  schon 
bei  Poltawa  (1709)  gegeben.  Damals  schon  seit  der  Einnahme  Kijews 
und  der  Ukraine  hörte  Polen  auf  ein  selbständiger  Staat  zu  sein. 


—  15 


Russische  Truppen  hausten  oftmals  in  seinen  östlichen  Provinzen  und 
russische  „Residenten“  in  Warschau  lenkten  nach  ihrem  Willen  die 
Politik  der  Königsrepublik,  terrorisierten  mit  ihren  Schutztruppen  den 
polnischen  Landtag  und  die  polnische  Regierung,  deportierten  nach  ihrem 
Belieben  die  Rußland  feindlich  gesinnten  Politiker  und  dgl.  Die  nach¬ 
malige  Teilung  Polens  war  nur  die  Legalisierung  der  faktisch  seit  der 
Schlacht  bei  Poltawa  sich  entwickelnden  Verhältnisse  und  Machtver¬ 
schiebungen. 

Diesen  geschichtlichen  Rückblick  erachten  wir  für  angezeigt,  da 
unter  dem  Einflüsse  der  polnischen  politischen  Emigration  aus  der  ersten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  sich  in  Europa  die  allgemeine  Meinung  ein¬ 
gebürgert  hat,  als  ob  erst  nach  der  Teilung  Polens  Rußland  Europa 
bedroht  hat  und  demzufolge  der  Schlüssel  zur  Abwendung  dieser 
russischen  Gefahr  irgendwo  an  der  Weichsel  liegt.  Nur  eine  volle  Un¬ 
kenntnis  der  osteuropäischen  Geschichte  und  der  osteuropäischen  Ver¬ 
hältnisse  konnte  die  Verbreitung  dieser  grundfalschen  Meinung  begünstigen, 
wobei  es  die  Polen,  dank  ihrer  aritsokratischen  Beziehungen,  verstanden 
haben,  den  allgemeinen  Daltonismus  in  Europa  in  den  osteuropäischen 
Fragen  auszunützen,  um  ihrer  Frage  eine  zu  ihrer  wirklichen  Bedeutung 
unverhältnismäßige  Reklame  zu  machen. 

Wenn  aber  Rußland  wirklich  geschwächt,  wenn  es  gleich  dem 
Damokles’  Schwert  über  Mitteleuropa  zu  hängen  aufhören,  wenn 
sein  Einfluß  auf  die  Slawen  der  Donaumonarchie  und  des  Balkans  ge¬ 
brochen,  wenn  schließlich  Konstantinopel,  die  Meerengen,  Ana¬ 
tolien  und  die  Bagdadlinie  vor  Rußland  wirklich  geschützt  werden  sollen, 
dann  müssen  an  den  nördlichen  Ufern  des  Schwarzen  Meeres  und  an  dem 
mittleren  und  unteren  Dnieprstrome  die  Zustände  aus  der  Zeit  vor  dein 
Jahre  1709  hergestellt,  Rußland  vom  Schwarzen  Meere  nach  Nordosten 
zurückgedrängt  und  zwischen  Mitteleuropa  und  dem  Balkan  einerseits 
und  Rußland  andererseits  ein  starker  Riegel  hineingeschoben  werden. 
Es  muß  ein  ukrainischer  Staat  hergestellt  werden. 

Die  gesamte  russische  Balkan-  und  Slawenpolitik,  seine  Träume 
von  der  Aja  Sophia  und  den  Dardanellen,  wie  auch  von  Bagdad  und 
dem  Persischen  Meerbusen,  zuletzt  der  gesamte  Panslawismus  der  West- 
und  Südslawen  brechen  dann  in  einem  Nu  zusammen.  Eine  direkte  von 
der  Veränderlichkeit  der  Balkanverhältnisse  und  vom  Nordosten  ge¬ 
schützte  Verbindung  Berlins  mit  Bagdad  (Bedin-Warschau-Kijew-Rostow- 
Tyflis  -  Bagdad  oder  Berlin  -Warschau  -  Wolhynien  -  Odessa  -Trapezunt- 
Bagdad,  oder  auch  Berlin-Lemberg-Odessa-Trapezuni-Bagdad)  ist  dann 
auf  unabsehbare  Zeit  gesichert,  Rußlands  Machtstellung  im  Südosten 
Europas  ein  für  allemal  gebrochen  und  eine  militärische  Bedrohung  des 
Balkans  oder  der  Karpathenlinie  ausgeschlossen. 

Zu  diesen  politischen  Erwägungen  kommen  noch  die  inner¬ 
wirtschaftlichen  und  die  völkischen  in  Betracht.  Die  Ukraine  ist  die 
Korn-,  Rinder-,  Kohlen-  und  Eisenkammer  Rußlands  und  ihre  Bevölkerung 
beläuft  sich  auf  zirka  50  Millionen  Menschen.  Der  Verlust  der  Ukraine 
für  Rußland  bedeutet  nicht  nur  den  Verlust  von  50  Millionen  (und  wenn 
dazu  die  obenerwähnten  polnischen  und  nordwestlichen  Provinzen  zu- 


—  16  — 


gerechnet  werden)  von  zirka  75  Millionen  Menschen  nichtrussischer 
Abstammung  —  sondern  auch  den  Verlust  von  39%  (mit  Polen  und 
Nord  westrußland  48,18%)  der  Getreideproduktion,  33%  des  Viehbestandes, 
75%  (mit  Polen  86%)  der  Kohlenproduktion  und  70%  (mit  Polen  72,5%) 
der  Eisenproduktion.  Dadurch  wird  Rußland  ökonomisch  und  finanziell 
ruiniert  und  erst  nach  dem  Verluste  so  einer  Menschenmasse  und  so 
einer  Wirtschaftskammer  wird  es  aufhören,  Europa  zu  bedrohen.  Jahr¬ 
hunderte  lang  wird  es  ohnmächtig  sein,  seine  Eroberungspolitik  in  Europa 
wiederum  aufzunehmen.  Es  wird  gezwungen  werden,  alle  seine  Interessen 
Kräfte,  Gedanken  und  Gefühle  nach  Osten,  nach  Nord-  und  Zentralasien 
zu  richten-  Das  wird  die  beste  Bürgschaft  des  Weltfriedens  und 
der  zukünftigen  Machtstellung  Deutschlands  sein. 

Die  Bismarck  -  Hartmann’sche  Lösung 
der  ukrainischen  Frage. 

Bei  der  Erörterung,  in  welchen  Grenzen  und  in  welcher  Größe  ein 
ukrainischer  Staat  zu  schaffen  wäre,  müssen  wir  selbstverständlich  mit 
den  militärischen  und  internationalen  politischen  Möglichkeiten  rechnen; 
es  ist  klar,  daß  die  Frage  anders  im  Falle  einer  vollständigen  Nieder- 
ringung  Rußlands  und  anders  im  Falle  eines  Halbsieges  über  dasselbe 
gelöst  werden  kann.  In  jedem  Falle  muß  aber  zur  Voraussetzung  dieser 
Lösung  eine  Offensive  der  Zentralmächte  in  der  Richtung  gegen  Kijew 
und  Odessa  sein,  eine  Offensive,  die  auch  eine  direkte  Verbindung  der 
Ostfront  mit  der  Dardanellenfront  über  Odessa  zu  ermöglichen  imstande  ist. 

Eine  ideelle,  wünschenswerteste  Lösung  der  ukrainischen  Frage 
wäre  die,  die  im  Jahre  1887/88  von  dem  Philosophen  Hartmann,  einem 
politischen  Freunde  B  i  s  m  a  r  ck  s  und  nach  der  damals  allgemein  herrschenden 
Anschauung  im  geheimen  Einvernehmen  mit  dem  großen  Kanzler  in  der 
„Gegenwart“  vorgeschlagen  wurde.  Es  ist  die  Bildung  eines  König¬ 
reichs  Kijew  mit  der  Nordostgrenze  in  der  Linie  Witebsk- 
Dniepr-Kursk-Saratow-Wolga-Astrachan  als  einer  natürlichen, 
von  der  Wasserscheide  Dniepr-Don-Wolga  geschaffenen  Grenze  zweier 
Wasserbecken:  des  Schwarzmeer-  und  des  Wolgabeckens.  Das  Schwarz¬ 
meerbecken  gehört  noch  zur  mittelländisch- europäischen  Welt  und  hat 
eine  natürliche  kulturelle  und  wirtschaftliche  Inklination  über  das  Schwarze 
Meer  nach  Südwesten  und  über  das  reiche  Wassersystem  Weißrutheniens 
und  Litauens  nach  Westen.  Das  Wolgabecken  dagegen  inkliniert  mit 
dem  Laufe  der  Wolga  nach  Osten,  nach  Zentral-  und  Nordasien,  dem 
es  kulturell  und  wirtschaftlich  angehört.  Demzufolge  ist  die  Linie 
Witebsk-Kursk-Saratow  eine  konstante  Grenzlinie,  wie  sie  es  wirklich 
seit  dem  Beginn  der  Geschichte  Osteuropas  war.  Bis  dahin  reichten 
ja  die  Einflüsse  Phöniziens  und  Griechenlands  wie  auch  des  Scythen- 
reiches  im  Altertum;  es  war  auch  die  Grenze  der  gotischen  Machtsphäre 
und  der  byzantinischen  Kultureinflüsse  in  den  ersten  Jahrhunderten  nach 
Christi  Geburt.  Im  8.  bis  10.  Jahrhunderte  war  es  die  nordöstliche 
Grenze  des  altukrainischen  Kijewer- Staates,  den  man  als  den  Staat  des 


—  17  — 


Schwarzmeer-Nordbeckens,  hauptsächlich  aber  des  Dnieprbeckens  be¬ 
zeichnen  kann.  Nach  der  relativ  kurzen  Episode  des  11.  Jahrhunderts, 
als  sich  das  altukrainische  Kijewer-Reich  über  diese  Grenzlinie  nach 
Nordosten  in  die  moskowitischen  Länder  ausbreitete,  kommt  diese  Grenz¬ 
linie  im  12.  Jahrhundert  wiederum  zur  Geltung,  indem  sie  im  12.  Jahr¬ 
hunderte  und  noch  mehr  im  13.  zur  Grenze  zweier,  respektive  dreier 
Staatssysteme:  des  moskowitischen  im  Nordosten,  des  in  dem  Galizisch- 
lodomerischen  Königreiche  sich  kristallisierten  ukrainischen  im  Südwesten 
und  des  weißruthenisch-litauischen  im  Westen  wird. 

Seit  dem  14.  Jahrhunderte  läuft  in  der  Linie  die  Grenze  zwischen 
Litauen  —  nachher  Litauen  und  Polen  einerseits  und  Rußland  (Moskowitien) 
andererseits.  Im  13.  Jahrhunderte  ist  das  die  Grenze  zwischen  Litauen 
undder  ukrainischen  Hetmanenrepublik  einerseits  und  Rußland (Moskwitien) 
andererseits.  Erst  mit  Ende  des  18.  Jahrhunderts  bricht  diese  geschichtliche 
Grenzlinie  unter  dem  Drucke  der  russischen  Expansion  nach  Südwesten 
ein  und  alle  die  Länder  südwestlich  dieser  Linie  (Ukraine,  Weißruthenien, 
Litauen,  Kurland,  Krimchanat  mit  dem  Schwarzen  Meere,  Vorkaukasien, 
Polen  und  Bessarabien)  geraten  in  der  kurzen  Zeit  von  einigen  Dezennien 
in  russische  Gewalt.  Diese  Linie  ist  auch  eine  Scheidelinie  zwischen 
dem  russisch-esthischen  Territorium  einerseits  und  dem  baltisch-weiß- 
ruthenisch-ukrainisch-vorkaukasischen  andererseits.  —  Nordostwärts  der 
Linie  leben  76  Millionen  der  Russen  (Moskowiter,  Großrussen)  und  zirka 
20  Millionen  von  den  kleineren,  nichtrussischen  Völkern  nordasiatischen 
Ursprungs,  südostwärts  72  Millionen  durchweg  Nichtrussen,  darunter 
so  große  Stämme  wie  Ukrainer  (über  30  Millionen),  Polen  (zirka 
11  Millionen),  Weißruthenen  (bis  8  Millionen)  und  so  national  indi¬ 
vidualisierte  Völker  wie  Deutsche  (über  2,3  Millionen),  Litauer  (über 
2,2  Millionen),  Leten  (bis  2  Millionen),  Esthen  (1,3  Millionen),  Juden 
(6,6  Millionen),  Rumänen  (1,3  Millionen),  Armenier  (1,4  Million),  Georgier 
(bis  2  Millionen)  usw.  Rußland  in  der  Linie  zu  teilen,  das  heißt 
eine  ganze  Reihe  von  Völkern  emporkommen  zu  lassen  und 
seinem  Vordringen  nach  Südosten  einmal  Halt  zu  gebieten. 

Ein  ukrainischer  Staat  mit  der  Nordostgnnze  in  der  Linie  Witebsk- 
Kursk-Saratow  und  im  Westen  an  Deutschland  und  Oesterreich  gelehnt, 
wäre  wirklich  eine  genug  starke  und  dauernde  Barriere  Mitteleuropas 
gegen  Rußland,  indem  er  ein  Nachgebilde  so  konstanter  Staatssysteme 
wie  der  altruthenische  Kijewer-Staat  vom  8.  bis  13.  Jahrhunderte,  oder 
der  litauisch-ruthenische  vom  13.  bis  16.  Jahrhunderte,  mit  dem  polnisch¬ 
litauischen  Nachfolger  vom  16.  bis  18.  Jahrhunderte  sein  würde.  Die  Zahl 
eines  derartigen  ukrainischen  (ruthenischen)  Staates  würde  sich  auf  zirka 
50  Millionen  Menschen,  davon  über  30  Millionen  Ukrainer  (Ruthenen) 
und  6  bis  8  Millionen,  den  Ukrainern  am  nächsten  verwandten  Wei߬ 
ruthenen  belaufen. 

Das  geschlossene  ukrainische  Gebiet  bilden  die  Gouvernements: 
Chol m,  Wolhynien,  Kijew,  Podolien,  Cherson,  Katerynoslaw, 
Tschernyhiw,  Poltawa,  Charkiw  und  das  Kubanj-Gebiet  am 
Kaukasus,  wozu  noch  die  angrenzenden  Bezirke  der  nachbarlichen 


—  13 


Gouvernements  Gro dno,  Minsk,  Bessarabien,  Kursk,  Woronesch 
Samara,  Stawropol  und  des  Don-Landes  zuzurechnen  sind. 

Das  gesamte  geschlossene  Gebiet  der  russischen  Ukraine  beträgt 
zirka  775  OOÖ  km2,  ist  also  um  234  000  km2  größer  als  Deutschland  und 
um  100  000  km2  größer  als  Oesterreich-Ungarn.  Die  auf  dem  Gebiete 
verstreuten  Fremdvölker  (Polen  zirka  700000,  Deutsche  zirka  700000, 
Juden  zirka  3  Millionen,  Russen  zirka  3  Millionen,  Tataren  zirka  500000, 
Rumänen  zirka  500000,  Bulgaren  zirka  200000  und  andere)  —  die 
etwaigen  Deutschen  und  Juden  ausgenommen  —  haben  keine  Wider¬ 
standskraft  gegen  die  Ukrainisierung  und  ukrainisieren  sich  wirklich 
schon  jetzt,  umsomehr  werden  sie  es  aber  in  einem  ukrainischen  Staate. 
Dazu  sind  sie  auf  dem  großen  Gebiete  der  Ukraine  zerstreut  und 
bilden  keine  größeren  Sprachinseln,  die  gegen  die  Entnationalisierung  und  das 
Zusammenschmelzen  mit  der  Bevölkerungsmasse  widerstandsfähig  wären. 

Was  die  Juden  anbelangt,  so  sind  sie  alle  der  ukrainischen 
Sprache  mächtig,  indem  sie  dieselbe  nach  ihrem  Jargon  am  besten 
sprechen.  Es  ist  dies  ja  ihre  Vermittlungssprache  bei  dem  Geschäfts¬ 
verkehr  mit  der  Landesbevölkerung. 

Ein  besonderes  Wort  gehört  auch  den  Weißruth enen  (fälschlich 
„Weißrussen“  genannt!)  Sie  sind  ein  slawischer  Stamm  nach  der 
Sprache,  den  Sitten,  der  Kultur,  den  Gebräuchen,  der  Literaturgeschichte 
und  der  politischen  Geschichte  den  Ukrainern  (Ruthenen)  am  nächsten 
stehend.  Seit  der  geschichtlichen  Dämmerung  Ende  des  18.  Jahr- 
hundertes  war  ihre  und  der  Ukrainer  Kultur,  Glauben,  Literatursprache 
und  Nationalgeschichte  gemeinsam,  indem  sie  anfangs  (9. — 13.  Jahr¬ 
hundert)  in  dem  alten  ukrainischen  Kijewer  Staate,  nachher  in  dem 
litauisch-ruthenischen  (14. — 16.  Jahrhundert)  und  zuletzt  in  dem  polnisch¬ 
litauischen  mit  den  Ukrainern  (Ruthenen)  zusammenlebten,  dieselbe 
Literatursprache  gebrauchten,  der  Kijewer  Metropolie  angehörten,  mit 
den  Ukrainern  zusammen  gegen  Polen  Aufstände  machten  und  mit  den 
Ukrainern  zusammen  denselben  schrecklichen  Druck  seitens  Rußlands 
zu  ertragen  hatten.  —  Die  politischen  Traditionen  und  die  politischen 
Sympathien  und  Antipathien  sind  bei  den  Weißruthenen  dieselben  wie 
bei  den  Ukrainern:  Der  Pole  und  der  Russe  sind  die  National-Feinde 
der  Weißruthenen  und  werden  von  ihnen  herzlich  gehasst.  Es  gibt 
dagegen  eine  rege,  auf  der  Basis  der  gemeinsamen  Tradition  und 
gemeinsamen  Interessen  gestützte  Sympathie  bei  den  Weißruthenen  den 
Ukrainern  gegenüber  und  auch  umgekehrt.  Zwischen  der  jungen  weiß- 
ruthenischen  Intelligenz  und  den  Ukrainern  gab  es  bis  in  die  letzte  Zeit  rege 
Beziehungen,  welche  die  große  Aehnlichkeit  der  Sprache,  der  Sitten  und 
Volkskultur  sehr  begünstigten.  Die  Sprache  der  Weißruthenen  erachtet  ein 
Teil  der  Slavisten  für  ein  selbständiges  slavisches  Idiom,  für  eine  Ueber- 
gangssprache  zwischen  dem  ukrainischen  und  russischen.  Andere  dagegen 
halten  es  für  eine  Abart  des  Ukrainischen,  welchem  es  in  der  Lexik, 
im  Syntax,  Phraseologie  und  Flexion  fast  identisch  ist  und  von  welchem 
sie  nur  durch  die  Aussprache  mancher  Laute  abweicht. 

Die  Weißruthenen,  welche  in  der  Gesamtzahl  von  zirka  8  Millionen 
die  Gouvernements  Mohylew,  Witebsk,  Smolensk  (südwestliche  Hälfte), 


—  19 


.'Minsk  (nördlicher  Teil),  Grodno  (nordöstlicher  Teil)  und  Wilna  —  also 
den  oberen  Lauf  der  Flüsse  Dniepr,  Düna,  Njemen,  Narew  und 
Berezyna  bewohnen,  sind  wegen  ihrer  nicht  allzu  beträchtlichen  Zahl, 
ihrer  unselbständigen  geographischen  Lage  und  ihrer  schwachen 
nationalen  Entwicklung  nicht  imstande,  ein  selbständiges  Staatswesen 
zu  bilden.  Wie  gesagt,  sind  sie  gegen  ihre  Unterdrücker  —  Polen 
und  Russen  feindlich  gesinnt.  Aus  geographischen  und  politischen 
Rücksichten  werden  sie  sich  sehr  gerne  an  die  Ukraine  anschließen. 
Sie  bei  Rußland  zu  belassen  wäre  ein  Irrtum,  da  sie  auf  ihre  eigenen 
Kräfte  angewiesen,  der  Russifizierung  zum  Opfer  fallen  müßten  und 
so  die  Zahl  der  Russen  in  Europa  vermehren  würden.  Dagegen  an  die 
Ukraine  gelehnt  und  mit  der  Möglichkeit  der  Entwicklung  der  eigenen 
Sprache,  Schule  und  Kultur  werden  sie  sich  auch  zu  einem  Hemmnis 
gegen  die  Fortschritte  des  Russentums  nach  Westen  herausbilden. 
Jedenfalls  wenn  man  von  der  Linie  Witebsk,  Smolensk,  Kursk,  Saratow 
als  Grenzscheide  zwischen  Europa  und  Rußland  spricht,  so  müssen  die 
Weißruthenen  in  die  Rechnung  ebenfalls  hineingezogen  werden. 

Die  minimalste  Zwischenetappe  in  der 
Lösung  der  ukrainischen  Frage. 

Die  obengeschilderte  Lösung  der  ukrainischen  Frage,  welche  gleich¬ 
zeitig  auch  eine  endgültige  Liquidierung  der  russischen  Machtstellung 
in  Europa  bedeuten  müßte,  ist  aber  nur  im  Falle  einer  vollständigen 
militärischen  Zertrümmerung  Rußlands  möglich.  Ob  das  bei  der  großen 
Zahl  der  Feinde  Deutschlands  und  Oesterreich-Ungarns  geschehen  kann, 
muß  fraglich  bleiben.  Viel  möglicher  und  wahrscheinlicher  ist  dagegen 
so  eine  Niederlage  Rußlands,  daß  dasselbe  nach  Osten  über  den  Dniepr 
zurückgeworfen  werden  wird.  Es  scheint  sogar  nicht  ausgeschlossen, 
daß  die  Kriegslage  selbst  z.  B.  eine  Bedrohung  der  südlichen  Flanke 
der  Ostfront  durch  neue  russische  Kräfte  von  Kijew  aus  oder  eine 
ernste  Bedrohung  der  Dardanellenfront  die  Zentralmächte  zwingen  wird, 
gegen  Kijew  und  gegen  Odessa  vorzustoßen.  In  diesem  Falle  würde 
die  Kriegslage  selbst  eine  (teilweise)  Lösung  der  ukrainischen  Frage  — 
nämlich  eine  Abtrennung  der  ukrainischen  Gebiete  bis  zum  Dniepr  hin¬ 
aus  im  Osten  —  herbeiführen.  Dieses  Ergebnis  erachten  wir  für  ein 
Zwischenstadium  und  zugleich  auch  für  das  Minimalste,  was  aus  Rück¬ 
sicht  auf  die  Interessen  Deutschlands  auf  die  beabsichtigte  Schwächung 
und  Zurückdrängung  Rußlands  und  auf  die  Sicherstellung  der  Ver¬ 
bindung  Berlin — Bagdad  geschehen  soll  —  obwohl  wir  nicht  einsehen 
können,  warum  nicht  das  ganze  ukrainische  Territorium  befreit 
werden  sollte,  falls  es  gelingt  die  russische  Macht  derart  zu  brechen, 
daß  den  verbündeten  Armeen  bereits  das  Gebiet  bis  zum  Dniepr  aus¬ 
geliefert  sein  würde. 

Nach  der  natürlichen  Linie  Diina-Witebsk-Smolensk-Kursk-Saratow- 
Wolga-Astrachan  (mit  der  Variante:  Narwa-Peipas-Witebsk-Smolensk- 
Kursk-Woronesch-Don-Zarizyn-AstrachanoderDon-Manytsch-Piatygorsk) 


—  20  — 


ist  die  Linie  Düna-Witebsk-Beryna-Dniepr-Katerynoslaw-Samar^ 
(Nebenfluß  vom  Dniepr)  -  Kalnius  (Fluß)  -  Asowsches  Meer  -  Kert- 
schische  Meerenge  die  zweite  Grenzscheide  zwischen  Rußland  und 
Europa,  die  eine  natürliche  Grundlage  besitzt  und  zugleich  die  großen 
Aufgaben  des  Krieges  (beträchtliche  Schwächung  und  Zurückdrängung 
Rußlands  und  Sicherstellung  des  Weges  von  Berlin  nach  Bagdad!)  zu 
wahren  geeignet  ist.  Düna,  Beresyna-Sümpfe,  Dniepr-Strom  mit  dem 
höheren  rechten  Ufer  und  das  Asowsche  Meer  sind  die  natürlichen 
Grenzen,  welche  geeignet,  die  westwärts  von  denselben  gelegenen 
Gebiete  vor  dem  russischen  Andrange  zu  schützen.  Dabei  wird  Ru߬ 
land  von  dem  Schwarzen  Meere  und  von  seinen  besten  Häfen  (Odessa, 
Mykolajiw,  Sebastopol)  genug  weit  zurückgedrängt,  und  verliert  auch  die 
fruchtbarsten  Gebiete  der  Ukraine  (Podolien,  Süd-Kijew,  Katerynoslaw, 
Cherson,  Taurien)  und  einen  Teil  der  ukrainischen  Gruben  (Krywyj  Rih 
und  Kertsch). 

Ein  selbständiger  ukrainischer  Staat  in  den  Grenzen  Beresyna- 
Dniepr- Samara -Kalnius- Asowsches  und  Schwarzes  Meer  nach  Osten 
und  Südosten  würde  schon  auch  ein  ziemlich  starkes  Staatsgebilde  sein, 


das  nicht  zu  schwach,  um  dem  russischen  Drang  nach  dem  Meere  und 
gegen  Westen  ganz  ernst  die  Stirne  zu  bieten.  So  ein  Staat  würde 
eine  Oberfläche  von  zirka  550  000  km2  (so  groß  wie  das  bisherige 
Deutschland)  und  eine  Bevölkerung  von  zirka  28  Millionen  Menschen 
(darunter  zirka  17  Millionen  Ukrainer,  zirka  4,5  Millionen  Weißruthenen, 


—  21  — 


'zirka  700  000  Polen,  ebensoviel  Deutsche,  zirka  2JMillionen  Russen  und 
zirka  3  Millionen  Juden)  haben.  Insgesamt  mit  Polen,  Litauen  und  den 
Ostseeprovinzen  wäre  das  schon  für  Rußland  ein  Verlust  von  50 Millionen 
.Menschen,  ein  Verlust  von  allen  noch  zu  Europa  zu  zählenden  Gebieten 
und  von  allen  Handels-  und  Kriegsmarinehäfen.  Zu  dem  letzteren 
Zwecke  aber  muß  an  eine  bis  zum  Dniepr  reichende  Ukraine  auch  das 
linksseits  des  unteren  Dniepr  gelegene  und  den  östlichen  Teil  des 
Gouvernements  Katerynoslaw  und  das  Gouvernement  Taurien  (mit  Krim) 
umfassende  Gebiet  angegliedert  werden,  weil  Rußland  sonst  Odessa, 
Mikolajew  und  Konstantinopel  bedrohen  und  das  Schwarze  Meer  be¬ 
herrschen  könnte  und  da  nur  in  dem  Falle  Rußland  seinen  Kriegshafen 
Sebastopol  verliert.  Erst  die  Losreißung  dieser  Gebiete  von  Rußland  — 
wie  es  im  Jahre  1853  die  damalige  Wochenblatt -Partei  in  einer  Denk¬ 
schrift  an  den  König  von  Preußen  vorgeschlagen  hat  —  verdrängt  dasselbe 
gänzlich  vom  Schwarzen  Meere.  Allerdings  bliebe  die  ukrainische  Frage 
in  diesem  Falle  noch  nicht  gänzlich  in  ihrem  Gesamtumfange  gelöst, 
da  über  14  Millionen  Ukrainer  in  den  östlich  -  ukrainischen  Gebieten 
Tschernyhiw,  Charkiw,  Poltawa,  Kubanj  und  von  den  angrenzenden 
Bezirken  der  Gebiete  Kursk,  Woronesch,  Don,  Samara,  Stawropol, 
Perek  bei  Rußland  bleiben  müßten  —  darunter  auch  die  Gebiete 
Poltawa,  Tschernyhiw,  Charkiw  und  Kubanj,  die  zu  den  etnogr.  reinsten 
und  national  am  meisten  bewußten  ukrainischen  Gebieten  gehören. 

Zum  Schlüsse  dieses  Kapitels  ist  zu  bemerken,  daß  eine  höchst 
.angezeigte  Variante  der  hier  besprochenen  Grenzlinie  Dniepr-Asowsches 
Meer  die  Linie  Dniepr-Samara-Donetz,Don-Rostow-AsowschesMeer  wäre, 
wodurch  die  großen  Kohlen-  und  Eisengruben  des  Donetz-Gebietes  an  die 
Ukraine  kommen  würden.  Diese  Gruben  versorgen  ganz  Rußland  mit 
Kohle  und  Eisen;  ohne  diese  ist  die  Industrie  Zenlral-Rußlands  ruiniert. 

Die  sozialen  Vorbedingungen  eines 
ukrainischen  Staates. 

Von  den  natürlichen  Vorbedingungen  eines  ukrainischen  Staates 
wurde  in  verschiedenen,  sowohl  von  den  Ukrainern  wie  auch  von  den 
Deutschen  verfaßten  Publikationen  sehr  viel  geschrieben  und  diese 
Frage  scheint  bei  allen  denen,  die  für  das  ukrainische  Problem  sich 
interessierten,  positiv  und  für  die  Sache  der  selbständigen  Ukraine 
günstig  gelöst  zu  sein.  Wir  werden  also  die  bekannten  Sachen,  was 
Bodenbeschaffenheit,  Getreideproduktion,  Viehzucht,  Kohlen-,  Eisen-, 
Naphtha-  und  Salz-Reichtum,  dann  das  milde  und  gesunde  Klima, 
schönen  Menschenschlag,  gute  Waffen,  ökonomisch  höchst  günstige 
Lage  am  Wege  aus  Nord-  und  Zentral-Asien  nach  Mitteleuropa  usw. 
anbelangt,  daher  nicht  wiederholen.  Es  sei  genügend,  wenn  wir  in  der 
Hinsicht  auf  die  wichtigsten,  oben  schon  angeführten  Zahlen  hinweisen. 
An  dieser  Stelle  wollen  wir  dagegen  lediglich  über  die  sozialen  (im 
eigentlichen  Sinne  des  Wortes)  Vorbedingungen  eines  ukrainischen 
Staates  sprechen. 


—  22  — 

Von  den  Gegnern  der  ukrainischen  Sache  —  hauptsächlich  aus" 
dem  Lager  der  polnischen  Chauvinisten  —  die  dem  Wahntraume  eines 
Polens  von  Danzig  bis  Odessa  und  von  der  Oder  bis  zum  Dniepr 
huldigen  —  wird  hervorgehoben,  daß  das  ukrainische  Volk  angeblich 
zu  wenig  national  bewußt  und  sozial  zu  wenig  differenziert  sei,  um 
emen  lebensfähigen  und  gesunden  Staat  bilden  zu  können.  Zuletzt 
wird  von  denselben  Gegnern  eingewendet,  daß  neben  den  Ukrainern 
auf  dem  ukrainischen  Boden  auch  eine  beträchtliche  Anzahl  von  Nicht¬ 
ukrainern  —  hauptsächlich  in  den  südlichen,  am  Meere  gelegenen 
Gouvernements  —  leben,  so  daß  die  Ukrainer  in  dem  Gouvernement 
Taurien  sogar  in  der  absoluten  Minorität  (45  °/0)  —  (obgleich  in  rela¬ 
tiver  Majorität!)  sind.  Diese  Einwendungen  wollen  wir  kurz  beant¬ 
worten. 

Vom  Wepr  und  Narew  im  Nordwesten  bis  über  den  Dniepr,. 
Donetz  und  oberen  Don  im  Osten,  bilden  die  Ukrainer  eine  kompakte: 
Masse  der  Dorf-  und  Kleinstadt  -  Bevölkerung,  wobei  sie  in  der 
Regel  70 — 80°/o  —  (in  den  Gouvernements  Tschernyhiw,  Poltawar 
Charkiw  und  Kubanj-Gebiet,  wie  auch  in  den  ukrainischen  Bezirken 
der  Gouvernements  Kursk  und  Woronesch  sogar  86—98%)  —  der 
Gesamtbevölkerung  ausmachen.  Andere  eingewanderte  Elemente  (Polen,. 
Russen,  Juden,  Deutsche  usw.)  sind  zwischen  dem  ukrainischen  Volke 
so  zerstreut  und  unterliegen,  die  Juden  und  Deutschen  ausgenommen,, 
so  stark  der  Ukrainisierung,  daß  sie  bei  einem  ukrainischen  Regime, 
ukrainischer  Schule,  ukrainischer  Amts-  und  Verkehrssprache  in  zwei 
bis  drei  Dezennien  im  ukrainischen  Volksmeer  gänzlich  aufgehen 
würden.  Das  betrifft  ebenso  die  Polen  westseits  vom  Dniepr  (700000) 
die  nur  in  dem  einzigen  Cholmerlande  (westseits  vom  Bug)  als  eine: 
Minorität  von  17%  auftreten,  in  den  anderen  westukrainischen  Gebieten- 
dagegen  nur  kleine  Minoritäten  (Wolhynien  6%,  Podolien  2%,  Kijew 
2%,  Cherson  1  %,  Katerynoslaw  1%),  darstellen,  wie  auch  die  „Russen“, 
zu  denen  durch  die  tendenziös  russische  Statistik  die  halbrussifizierte 
Städtebevölkerung  gerechnet  wird  und  die  auf  diese  Weise  in  den 
Gouvernements  Cholm,  Wolhynien,  Podolien,  Tschernyhiw,  Poltawa 
1 — 4%  in  dem  Gouvernement  Kijew  6%  und  in  den  Gouvernements 
Cherson,  Taurien  20  bis  28 o/0  der  Bevölkerung  ausmachen.  All  die 
„Polen“  (größtenteils  römisch-katholische  Ukrainer!)  und  „Russen“- 
werden  in  einem  ukrainischen  Staate  bald  ohne  jede  Spur  verschwinden, 
da,  sie,  schon  jetzt  ukrainisch  sprechend,  dem  Einflüsse  des  ukrainischen 
Milieus,  mit  seiner  hochentwickelten  Volkskultur,  Volksmusik,  Ornamentik 
usw.  unterliegen. 

Auch  die  Juden  stellen  ein  der  Ukrainisierung  zugängliches  Element 
dar,  denn  alle  Juden  (in  den  Gouvernements  Cholm,  Wolhynien,  Podolien, 
Kijew,  Minsk,  Grodno,  Cherson  12 — 1 7 °/o,  in  den  Gouvernements 
Katerynoslaw,  Poltawa,  Charkiw,  Tschernyhiw  4 — 5%)  sprechen  vor¬ 
trefflich  ukrainisch,  da  es  ihre  Verkehrssprache  mit  der  Landbevölkerung 
ist.  In  manchen  Gegenden  beherrschen  sie  sogar  das  Ukrainische  besser 
als  ihren  eigenen  Jargon.  Jedenfalls  kann  man  sie  nicht  als  einen; 
antiukrainischen  Faktor  betrachten,  da  sie  national  indifferent  sind,  so 


—  23  — 


daß,  wenn  man  die  12— 13°/o  (stellenweise  sogar  17°/0)  der  jüdischen 
Bevölkerung  westlich  von  Dniepr  als  Einheimische  behandelt,  der  Pro¬ 
zentsatz  der  fremden  Elemente  in  den  genannten  Gouvernements  — 
schon  mit  den  angeblichen  städtischen  „Russen“  —  auf  7 — 13%  sinkt, 
welchem  Prozentsätze  87 — 93%  Ukrainer  mit  Juden  gegenüberzustellen 
sind.  Oestlich  des  Dniepr  sind  es  91 — 99%  (Ukrainer  und  Juden)  und 
1 — 9%  (Russen  u.  a.).  In  einem  ukrainischen  Staate  werden  die  Juden 
gewiß  gute  ukrainische  Staatsbürger,  ja  sogar  ukrainische  Patrioten  sein., 
Zu  dieser  Vermutung  führt  der  Umstand,  daß  es  sogar  bei  den  jetzigen 
höchst  traurigen  Verhältnissen,  unter  welchen  das  Ukrainertum  jetzt  in 
Rußland  zu  leiden  hat,  es  intelligente  Juden  gab  und  gibt,  die  als  ukrainische 
Patrioten  und  Schriftstellerund  sogar  als  Nationalideeologen  bekannt  sind. 

Was  den  gemischten  Charakter  Tauriens  und  der  Krim  betrifft,  so 
wird  er  zugunsten  der  Ukrainer  dadurch  ausgeglichen,  daß  die  anderen 
Nationalitäten  Tauriens  eine  bunte  Mischung  bilden  (26%  Russen,  13% 
Tataren,  5  %  Deutsche,  3  %  Juden,  3  %  Bulgaren,  1  %  Armenier, 
1  %  Griechen  usw.).  Ausgenommen  die  Tataren  in  der  Südkrim,  die 
aber  nach  der  Türkei  emigrieren,  sind  die  verschiedenen  Nationen 
zwischen  den  Ukrainern  so  zerstreut,  daß  sie  sich  der  ukrainischen 
Sprache  als  allgemeine  Verkehrssprache  bedienen.  Dazu  kommt,  daß 
die  Kolonisation  Tauriens  durch  die  Ukrainer  aus  den  im  Norden  an¬ 
grenzenden  rein  ukrainischen  Gebieten  stets  im  Gange  ist.  Infolgedessen 
istTaurien  in  einer  rasch  zunehmenden  Ukrainisierung  begriffen,  welcher 
Prozeß  bei  dem  ukrainischen  Regime  nur  beschleunigt  werden  wird. 

Wenn  von  den  polnischen  Gegnern  eines  ukrainischen  Staates 
auf  die  obenerwähnten  Prozente  der  nicht  ukrainischen  Elemente  in  der 
Ukraine  hingewiesen  wird,  so  kann  man  darauf  bemerken,  daß  es  über¬ 
haupt  kein  polnisches,  kein  litauisches,  kein  ungarisches,  kein  bulgarisches 
usw.  Land  gibt,  da  die  Prozente  der  fremdsprachigen  Bevölkerung  in 
Polen,  Litauen,  Ungarn,  Bulgarien  u.  a.  —  im  Vergleich  zu  Westeuropa 
—  enorm  hoch  sind.  Die  Polen  in  dem  gewesenen  Russisch-Polen 
bilden  ja  nur  73%  der  hiesigen  Bevölkerung,  wobei  in  manchen 
Gouvernements  Polens  die  deutschsprechende  (also  keine  bunt¬ 
sprachige!)  Bevölkerung  bis  auf  21 — 25%  sich  beläuft.  Lodz,  Petrikau, 
Kalisch,  sogar  Warschau  haben  keine  polnischen  Mehrheiten.  Wenn 
man  das  mit  den  obenangeführten  Zahlen  über  die  Ukraina  vergleicht 
und  dabei  berücksichtigt,  daß  die  fremdsprachigen  Minoritäten  in  der 
Ukraina  ein  sprachliches  Misch-Masch  bilden,  so  kann  man  die  Ukraina 
jedenfalls  mit  weit  größerer  Berechtigung  ukrainisch  als  Polen  polnisch 
nennen.  Aus  den  osteuropäischen,  meist  buntsprachigen  Ländern  ist 
die  Ukraine  (nach  dem  eigentlichen  Moskowien)  ein  relativ  noch  sehr 
sprachreines  Land  • —  jedenfalls  viel  reiner,  als  es  Rumänien,  Bulgarien 
oder  Griechenland  bei  der  Bildung  ihrer  Nationalstaaten  waren  oder 
sogar  noch  jetzt  sind. 

Ebenso,  was  die  soziale  Entwicklung  und  Differenzierung 
des  ukrainischen  Volkes  anbelangt,  so  steht  es  damit  gar  nicht  so  arg,  wie 
es  seitens  der  Gegner  der  Ukrainer  tendenziös  dargestellt  wird.  Die 
Ukrainer  sind  es,  hauptsächlich  die  Bauern-  und  Kleinbürgermasse, 


—  24 


woran  sich  schon  ziemlich  breite  Kreise  von  den  Intellektuellen  — 
hauptsächlich  Lehrer,  Aerzte,  Advokaten,  Ingenieure,  Semstwo-  und 
Privatbeamten,  aber  auch  ein  bedeutender  Teil  von  der  orthodoxen 
Geistlichkeit  und  Beamtenschaft  —  angliedern.  Was  die  orthodoxe 
Geistlichkeit  und  die  Beamtenkreise  anbelangt,  so  müssen  dieselben  ihre 
ukrainische  Gesinnung  verheimlichen,  da  diese  in  Rußland  als  Staats¬ 
verrat  gilt  und  eine  Postenenthebung,  respektive  eine  Versetzung  irgend¬ 
wo  nach  Sibirien  oder  Zentralasien  zur  Folge  hat.  Ebenso  sind  viele 
von  den  aktiven  Militärs  (Offiziere,  sogar  Stabsoffiziere  und  Generäle) 
bewußte  Ukrainer.  Es  ist  nur  zu  erwähnen,  daß  der  berühmte  „russische“ 
Flieger  und  persönliche  „Freund“  des  Großfürsten  v.  Macijewytsch, 
dessen  Todessturz  vor  ein  paar  Jahren  die  gesamte  Fliegerschaft  der 
Welt  beklagte,  ein  flammender  ukrainischer  Patriot  und  aktives  Mitglied 
der  „unterirdischen“  Organisation  der  „Ukrainischen  revolutionären 
Partei“  war;  daß  die  populärste,  in  der  Ukraina  illustrierte  und  von 
Selbständigkeitsbestrebungen  durchdrungene  „Geschichte  der  Ukraine“ 
den  verstorbenen  Kontreadmiral  der  Schwarzen  Meer-Flotte,  v.  Arkas,  zu 
ihrem  Verfasser  und  freigebigen  Herausgeber  hatte.  Im  allgemeinen, 
wenn  man  von  der  „Russifizierung“  der  ukrainischen  Intelligenz 
spricht,  darf  man  nie  auf  die  besonderen  russischen  Verhältnisse 
vergessen,  wo  es  zu  der  ukrainischen  Gesinnung  sich  bekennen  ein 
Staatsverbrechen  ist,  wo  sehr  oft  verkappte  Revolutionäre  hohe  Würden¬ 
posten  bekleiden  und  wo  die  Leute  es  verstehen,  dezennienlang  sich 
„unterirdisch“  zu  betätigen. 

Man  darf  auch  nicht  vergessen,  daß  die  ukrainische  Intelligenz 
über  ganz  Rußland,  von  der  Ostsee  bis  zum  Stillen  Ozean,  zerstreut 
ist,  da  es  das  System  der  russischen  Regierung  ist,  weder  die  Beamten 
ukrainischer  Abstammung,  noch  die  aus  der  Ukraine  ausgehobenen 
Soldaten  in  der  Ukraine  dienen  zu  lassen.  Im  Falle,  daß  ein  ukrainischer 
Staat  entstehen  sollte,  werden  diese  besten  Scharen  der  ukrainischen 
Intelligenz  es  bevorzugen,  wenn  man  ihnen  dies  nur  ermöglichen  wird, 
in  der  Heimat  zu  dienen.  Jedenfalls  sind  die  Ukrainer  an  Angehörigen 
der  Bureaukratie  und  des  Militärs  gar  nicht  ärmer  als  z.  B.  die  Polen 

—  wenn  nicht  überhaupt  reicher  als  diese!  Wenn  heute  das  nicht  er¬ 
sichtlich  ist,  dann  nur  wegen  Zerstreuung  dieser  Bureaukratie  in  ganz 
Rußland.  In  der  Tat  aber  hat  nur  Petersburg  so  viele  ukrainische 
Beamten,  daß  sie  für  die  Verwaltung  eines  beliebigen  ukrainischen 
Gouvernements  im  Ueberfluß  ausreichen  könnten. 

Was  die  städtische  Bevölkerung  anbelangt,  so  muß  man  einen 
Unterschied  zwischen  den  nordwestlichen  und  den  westlichen  ukrainischen 
Gouvernements  machen.  In  den  Gouvernements  Cholm,  Grodno,  Minsk, 
Wolhynien,  Podolien  und  Kijew  sind  die  Städte  hauptsächlich  von  Juden 
besiedelt,  wonach  das  ukrainische  Kleinbürgertum  den  zweiten  Platz 
behauptet.  Erst  nachher  kommen  die  „Russen“,  die  größtenteils  halb¬ 
wegs  russifizierten  oder  nur  von  der  Statistik  für  „Russen“  gezählten 
Ukrainer  und  nur  in  einem  Bruchteile  wirkliche  Russen,  zuletzt  die 
Polen.  Heute  haben  alle  diese  Städte  —  Kijew  nicht  ausgenommen 

—  ein  offiziell  russisches  Gepräge,  ebenso  wie  es  sogar  Lemberg 


—  25 


während  der  paarmonatlichen  russischen  Besetzung  bekommen fjhat! 
Die  jüdische  Mehrheit  dieser  „Städte“  paßt  sich  an  jedes  Regime 
an,  an  das  ukrainische  umso  schneller,  da  die  ukrainische  Sprache 
neben  dem  Jargon  die  zweite  Umgangssprache  der  Juden  ist  und  da 
es  in  allen  diesen  Städten  schon  heute  beträchtliche  ukrainische 
Minoritäten,  in  manchen  sogar  ukrainische  Majoritäten  gibt.  Bei  dem 
ukrainischen  Regime,  wo  anstatt  der  russischen  Beamtenschaft  die 
ukrainische  da  sein  wird,  werden  diese  Städte  mit  einem  Schlag 
ukrainisch  werden.  Dagegen  die  Städte  der  östlichen  und  zentralen 
Ukraina,  wo  es  nur  wenige  Juden  und  keine  Polen  gibt,  haben  schon 
heute  größtenteils  eine  beträchtliche  ukrainische  Majorität 
mit  einer  „russischen“  Minorität.  So  ist  es  in  der  Regel  in  den 
Gouvernements  Tschernyhiw,  Poltawa,  Charkiw,  Katerynoslaw,  Cherson, 
den  ukrainischen  Teilen  der  Gouvernements  Kusk,  Woronesch,  Don- 
gebiet,  Kubanjgebiet  u.  a.  Nur  die  großen  Gubernialstädte  sind  in  ihrer 
Mehrheit  in  dem  Sinne  russisch,  daß  die  russische  mit  der  ukrainischen, 
stark  verunreinigten  Sprache  (eigentlich  ein  russisch-ukrainischer  Jargon) 
die  großstädtische  Umgangssprache  bildet.  Nur  Poltawa  ist  eine  durch¬ 
aus  ukrainische  Großstadt,  während  dagegen  Odessa  ein  internationales 
Gepräge  trägt.  Es  ist  leicht  einzusehen,  daß  bei  dem  ukrainischen 
Regime  die  Städte  in  sehr  kurzer  Zeit  ukrainisch  werden. 

Letzhin  gibt  es  bei  den  Ukrainern  einen  gar  nicht  so  kargen  Adels¬ 
und  Großgrundbesitzerstand,  wie  es  gewöhnlich  vorgestellt  wird.  In 
den  Gouvernements  Tschernyhiw  und  Poltawa  bekennt  sich  bis  heute 
der  größere  Teil  des  Adels  zur  ukrainischen  Nationalität;  jedoch  auch 
in  anderen  Gouvernements  gibt  es  viele  ukrainische  adelige  Familien, 
darunter  in  den  Gouvernements  Kijew,  Podolien  und  Wolhynien  adelige 
ukrainische  Großgrundbesitzer  römisch-katholischen  Glaubens 
(darunter  auch  Freiherren  und  Grafen  mit  Magnatenvermögen),  die  von 
den  Polen  ganz  fälschlich  auf  ihr  Nationalitätskonto  gerechnet  werden, 
die  aber  bekannte  ukrainische  Patrioten  sind.  Außer  diesen  prononcierten 
ukrainischen  Patrioten  gibt  es  aber  zwischen  dem  polonisierten  oder 
russifizierten  ukrainischen  Adel  hunderte  von  Familien,  die  zu  den 
Sympathikern  des  Ukrainertums  gehören,  ohne  sich  an  der  Politik  zu 
beteiligen,  oder  die  sich  noch  nicht  entscheiden  konnten,  definitiv  in  das 
ukrainische  Nationallager  zurückzukehren,  sich  aber  jedenfalls  schon 
auf  dem  Wege  dazu  befinden.  Das  auffallende  Beispiel  des  ukrainischen 
Metropoliten  und  nationalen  Mäzens  von  Galizien,  Grafen  Scheptytzkyj 
hat  dazu  sehr  viel  beigetragen.  Ja  sogar  die  Magnatenfamilien  aus  den 
Nachkommen  des  einstigen  höheren  ukrainischen  Kosakenadels,  welche 
im  hohen  russischen  Hof-  und  Staatsdienste  stehen,  wie  die  Grafen 
Skoropadskyj,  Grafen  Kapnist  oder  Fürsten  Kotschubej  u.  a.  sind  für 
das  Ukrainertum  nicht  verloren.  Es  lodert  in  ihren  Familien  ein  Funke 
der  ukrainischen  Staatstradition,  die  zugleich  ihre  Familientradition  ist. 
Einer  der  Grafen  Skoropadskyj,  der  im  russischen  Reichsrate  vor  einigen 
Jahren  über  die  ukrainische  Frage  eine  Rede  hielt,  hat  zwar  jeder  Ge¬ 
meinschaft  mit  dem  „Mazzepismus“  (d.  i.  ukr.  Irredentismus)  entsagt, 
dennoch  aber  mit  vollem  Nachdruck  die  Einführung  der  ukrainischen 


26  — 


Sprache  in  der  Schule,  die  Freiheit  für  ukrainische  Kultur  und  Literatur 
und  dergl.  gefordert.  Dasselbe  erklärte  auch  ein  Graf  Kapnist  gleich¬ 
falls  vor  2  bis  3  Jahren  in  einem  Zeitungsinterview.  Eine  Fürstin 
Kotschubej  ist  eine  bekannte  ukrainische  Schriftstellerin,  ohne  indes  an 
der  politischen  ukrainischen  Bewegung  Anteil  zu  nehmen.  „Russisch“ 
also  darf  man  die  ukrainischen  Magnatenfamilien  solchen  Schlages 
nicht  nennen,  ebenso  wie  Graf  Wielopolski,  Graf  Schebeko,  Graf 
Zamojski  und  alle  die  anderen  polnischen  Grafen  und  Fürsten,  trotz 
ihrer  Loyalität  gegen  den  russischen  Monarchen  und  den  russischen 
Staat  und  trotzdem  sie  gewissermaßen  auch  schon  kulturell  russifiziert 
sind,  dennoch  nicht  aufgehört  haben  Polen  und  polnische,  Adelige: 
zu  sein. 

Mit  dem  ukrainischen  Adel  ist  es  dieselbe  Geschichte  wie  mit 
jedem  anderen  unter  ähnlichen  Verhältnissen,  wie  es  sogar  mit  dem 
deutschen  Adel  in  den  Ostseeprovinzen  war.  Der  Adel  akkommodiert 
sich  bald  an  die  Nationalität  des  Herrschers  und  des  Staates.  Das 
geschah  ja  auch  mit  dem  polnischen  Adel:  eine  Linie  der  Fürsten 
Radziwil  ist  polnisch  und  katholisch  geblieben,  die  andere  wurde  deutsch 
und  evangelisch,  die  dritte  russisch  und  orthodox.  Der  bekannte 
russische  Ministerpräsident  Swiatopolk  - Mirskij  war  ein  Russe,  eine- 
andere  Linie  desselben  Geschlechtes  ist  polnisch  und  der  Großvater 
von  dem  russischen  Ministerpräsidenten  war  auch  ein  Pole,  eigentlich 
sind  sie  aber  alle  ukrainischer  Abstammung.  Deshalb  muß  die  Ein¬ 
wendung,  daß  der  ukrainische  Adel  zu  schwach  ist,  als  unhaltbar  ge¬ 
kennzeichnet  werden.  Er  ist  genügend  stark,  um  mit  dem  Momente 
der  Bildung  eines  ukrainischen  Staates  die  noch  nicht  entschlossenen 
Elemente  des  Adels  an  sich  zu  ziehen  und  als  ein  starker  ukrainischer 
Adelstand  sich  um  den  Herrscherhof  zu  scharen. 

Die  Bedeutung  des  fremden  Adelsstandes  in  der  Ukraine,  ins¬ 
besondere  des  polnischen,  darf  man  dagegen  gar  nicht  so  überschätzen, 
wie  es  die  Polen  bekanntlich  tendenziös  tun.  Im  allgemeinen  beträgt  ja  der 
Großgrundbesitz  auf  dem  gesamten  Gebiete  der  Ukraine  nur  26  %  der 
Gesamtfläche;  darunter  entfallen  auf  den  römisch-katholischen  Gro߬ 
grundbesitz  in  den  3  westlichen  Gouvernements  nur  17%  des  Gesamt¬ 
bodens.  Wenn  man  bedenkt,  daß  ein  beträchtlicher  Teil  der  Gro߬ 
grundbesitzer  (auch  der  römisch-katholischen)  ukrainisch  ist,  oder  am 
besten  Wege,  sich  als  ukrainisch  zu  bekennen,  so  sinkt  der  fremde 
Bodenbesitz  in  der  Ukraine  etwa  bis  zu  10 — 15%  des  Gesamtbodens. 
Bei  dem  Umstande,  daß  die  fremden  (polnischen  oder  russischen)  Gro߬ 
grundbesitzer  gewöhnlich  im  Lande  gar  nicht  wohnen,  ihre  Güter  ver¬ 
pachten  und  auf  die  Bevölkerung  nur  einen  geringen  Einfluß  haben,  ist 
dieser  fremde  Bodenbesitz  in  der  nationalen  Bilanz  des  Landes  eigent¬ 
lich  gleich  Null. 

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* 


27  — 


Die  ideellen  Vorbedingungen  eines 
ukrainischen  Staates. 

Es  erübrigt  sich  noch  über  das  nationale  Bewußtsein  der 
Ukrainer  und  den  Einfluß  der  orthodoxen  Kirche  auf  dasselbe 
einige  Worte  zu  sagen,  da  auch  in  der  Richtung  gegen  die  Reife  der 
Ukrainer  zur  Selbständigkeit  —  wiederum  hauptsächlich  polnischerseits!. 
—  „Bedenken“  erhoben  werden. 

Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  die  orthodoxe  Kirche  in  der 
Ukraine  zu  einem  Russifizierungsmittel  herabgesunken  ist,  obwohl  es  — 
wie  gesagt  —  viele  Ukrainer  zwischen  der  orthodoxen  Priesterschaft  gibt 
Höhere  Kirchenposten  in  der  Ukraina  werden  dagegen  ausschließlich 
von  den  Russen  bekleidet,  weshalb  zwischen  der  Dorfgeistlichkeit  und 
der  höheren  Priesterschaft  ein  starker  Gegensatz  vorhanden  ist  —  umso 
mehr,  als  bei  den  Ukrainern  die  Tradition  einer  selbständigen  ukrainischen 
Nationalkirche,  die  im  18.  Jahrhundert  gewaltsam  aufgehoben  und 
der  russischen  „Heiligen  Synode“  unterstellt  wurde,  bis  jetzt  lebendig, 
ist.  Im  allgemeinen  hat  die  ukrainische  Orthodoxie  auch  noch  bisher 
in  ihrem  Innern  einen  ganz  anderen  Charakter  behalten  als  die  gro߬ 
russische.  Die  beiden  zu  vermengen,  so  wie  es  manche  Schriftsteller 
tun,  das  heißt,  gar  nichts  von  der  Sache  zu  verstehen  oder  absichtlich 
die  Sache  vernebeln.  Es  ist  eine  Tatsache,  daß  ein  starkes  Bestreben 
zu  einer  von  der  russischen  „Heiligen  Synode“  unabhängigen  National¬ 
kirche  (so  wie  dieselbe  bis  in  das  18.  Jahrhundert  bestand,  oder  w  ie 
sie  im  Bulgarien  oder  Rumänien  besteht!)  bei  den  Ukrainern  sehr  stark 
ist,  von  Rußland  aber  noch  ärger  als  die  ukrainische  Sprache  oder 
Presse  verfolgt  wird.  So  z.  B.  wurde  der  podolische  Bischof  Parfenius 
strafweise  nur  dafür  versetzt,  daß  er  den  Dorfpfarrern  ukrainische 
Predigten  zu  halten  befahl,  die  ukrainische  Uebersetzung  der  Bibel 
redigierte  und  im  orthodoxen  Priester-Seminar  in  Kamenetz  Podolskyj 
ukrainische  Literaturgeschichte  und  Landesgeschichte  vortragen  ließ. 
Ukrainische  Priester,  die  ukrainisch  zu  predigen  oder  ukrainische 
Bücher  oder  Zeitungen  zwischen  den  Bauern  zu  verbreiten  wagen,  werden 
in  der  Regel  nach  Sibirien  versetzt.  Ebenso  wurden  ukrainische  Mönche 
von  Athos,  die  hier  mit  den  russischen  Vorgesetzten  in  einen  Konflikt 
auf  der  Grundlage  des  kirchlichen  Separatismus  geraten  sind,  über  ganz 
Rußland  zerstreut. 

Ein  ukrainischer  Staat  aber  läßt  auch  eine  selbständige 
ukrainische  Nationalkirche  voraussetzen,  was  eine  Rückkehr  zum 
geschichtlichen  status-quo  bedeuten  und  die  ukrainische  nationale  Kirche 
vom  jeglichen  Einflüsse  der  russischen  befreien  wird.  Es  ist  ja  eine 
Tatsache,  daß  die  ukrainische  nationale  Orthodoxie  in  den  13. — 17. 
Jahrhundert  unter  den  starken  und  immer  wachsenden  Einflüssen  der 
lateinisch-westlichen  Kultur  war.  Die  ukrainischen  Kirchenschulen  im 
16  —  17.  Jahrhundert  waren  ja  lateinisch,  ebenso  die  ukrainische 
Mohylaner-Akademie  zu  Kijew;  die  ukrainischen  Steinkirchen  dieser  Zeit 
sind  in  der  romanischen  Renaissance  in  dem  Barockstil  gebaut  (die 


Kirchen  der  Hl.  Paraskewa,  Woloska-Kirche  und  St.- Georg- Kathedrale 
in  Lemberg;  die  Pfarrkirche  und  der  sog:  Fürst- Ostrozski-Glockenturm 
in  Tarnopol;  die  Lawra-Petscherska- Kirchen  und  -Glockentürme,  wie 
auch  St.- Andreas- Kirche,  St.-Sophie-Glockenturm  usw.  in  Kijew:  die 
sog.  Maseppa-Kirchen  in  vielen  Städten  des  Tschernyhower-  und 
Poltawer  Gouvernements  u.  a.).  Ebenso  wird  die  hergestellte  ukrainische 
Nationalkirche  nicht  nach  Osten,  sondern  nach  Westen  gravitieren.  Dazu 
gibt  es  unter  den  Ukrainern  auch  ein  paar  Hunderttausend  römischer 
Katholiken  im  Podolien,  Wolhynien  und  im  Kijewer  Gouvernement,  die  von 
den  Polen  ganz  fälschlich  und  tendenziös  als  „Polen“  gerechnet  werden, 
wie  auch  einige  Millionen  von  Baptisten  („Stundeten“),  die  der  russischen 
Orthodoxie  höchst  feindlich  sind.  Im  Cholmer-Lande  gibt  es  auch  viele 
geheime  Anhänger  der  sog.  „Union“  mit  Rom.d.i.  eben  solche  griechisch- 
Katholiken,  wie  die  galizischen  Ukrainer  es  sind. 

Trotz  allen  ungünstigen  Umständen  ist  aber  das  Nationalbe- 
wu  Bis  ein  bei  den  ukrainischen  Volksmassen  in  der  Regel  sehr  stark 
und  zwar  umso  stärker,  je  mehr  nach  Osten  und  Südosten,  schwächer 
dagegen  nach  Nordwesten,  wo  der  ukrainische  Bauer  unter  dem 
kombinierten  Drucke  polnischer  Großgrundbesitzer,  jüdischer  Wucherer 
und  russischer  Tschinowniks  zu  sehr  niedergeschlagen  und  verarmt  ist 
und  wo  die  höheren  ukrainischen  Stände  nur  viel  schwächer  vertreten 
sind.  Je  näher  aber  dem  Dniepr,  desto  nationalbewußter  wird  der 
Bauer,  so,  daß  er  dem  polnischen  Bauer  in  der  Hinsicht  nicht  nur 
gleich  steht,  sondern  in  den  Gouvernements  Poltawa,  Tschernyhiw, 
Katerynoslaw,  südlicher  Teil  von  Kijew,  östlichen  Teil  von  Podolien  usw. 
den  polnischen  Bauern  aus  Russisch-Polen  weit  übertrifft.  Der  ukrainische 
Bauer  weiß,  daß  er  kein  Russe  ist  und  haßt  den  Russen  (den  „Moskalj“ 
oder  „Kazap“)  vom  ganzen  Herzen;  er  schließt  mit  den  Russen  nie 
eine  Mischehe;  er  siedelt  sich  nie  neben  den  Russen  an.  Ebenso  aber 
—  wenn  nicht  noch  mehr,  haßt  er  den  Polen.  Selbstverständlich  darf 
man  von  einem  ukrainischen  Bauer  kein  so  krystallisiertes  Nationalbe¬ 
wußtsein  fordern,  wie  es  z.  B.  bei  dem  deutschen  Intellektuellen  oder 
polnischen  Adeligen  der  Fall  ist.  Jedenfalls  aber  besitzt  dieser  Bauer 
ein  entwickeltes  Bewußtsein  seiner  nationalen  Besonderheit  und  erachtet 
sich  für  ein  besonderes  individualisiertes  Volk,  indem  er  sich  nie  mit 
einem  Russen  oder  Polen  identifizieren  läßt,  dieselben  für  fremde  Ein¬ 
dringlinge  erachtet  und  sich  mit  einem  besonderen  Namen  (Ukrainec, 
Maloros  oder  Chachol)  nennt. 

Ueberdies  besitzt  der  ukrainische  Bauer  seine  eigene  ge¬ 
schichtliche  Tradition,  was  bei  dem  polnischen,  russischen  oder 
anderen  Bauern  nicht  der  Fall  ist!  Das  ukrainische  Volk  hat  bis  heute 
zahlreiche  geschichtliche  Lieder  und  Rapsodien  („Duma“)  behalten  und 
ist  —  selbstverständlich  in  großen  Zügen  —  seiner  Vergangenheit  be¬ 
wußt.  Es  wird  bis  heute  über  Tartarennot  gesungen  und  erzählt;  in 
der  ganzen  Ukraine  werden  bis  heute  die  Kriegslieder  aus  den  ukrainischen 
Aufständen  gegen  Polen  gesungen,  die  Geschichte  dieser  Kämpfe  er¬ 
zählt;  bis  heute  noch  singen  die  Volkssänger  die  Rapsodien  („Duma“) 
über  den  Hetman  Chmelnyzkyj  und  eine  der  populärsten  Lieder  vom 


—  29  — 


Ssan  im  Westen,  bis  Kubanj  im  Osten  ist  das  Heldenlied  über  die  Het- 
manen  Ssahajdatschnyj  und  Doroschenko;  es  lebt  auch  in  den  zahl¬ 
reichen  Volksliedern  eine  Tradition  der  Saporoger-Ssitsch  und  ihrer  Ver¬ 
nichtung  durch  die  Russen,  wobei  die  Zarin  Katharina  II.  für  diese  Ver¬ 
nichtung  mit  besonderem  Hasse  als  „Hundestochter"  an  den  Pranger 
gestellt  wird.  Diese  lebendige  Volkstradition,  der  sich  eine  gleich¬ 
entwickelte  in  Europa  kaum  auffinden  lassen  wird,  kommt  davon,  daß 
die  ukrainische  Geschichte  seit  dem  14.  Jahrhundert  eine  Geschichte  der 
Nationalkämpfe  um  die  Nationalexistenz  ist,  an  welchen  das  gesamte  Volk 
regsten  Anteil  genommen  hat.  Deshalb  empfindet  der  ukrainische  Bauer 
bis  heute  sehr  lebhaft  seine  Vergangenheit  und  wenn  er  seine  ukrainische 
Geschichtserzählung  in  die  Hand  bekommt,  dann  liest  er  dieselbe  fieber¬ 
haft  und  wird  sofort  zu  einem  bewußten  ukrainischen  Patrioten.  Es  wird 
gar  nicht  übertrieben  sein,  wenn  wir  sagen,  daß  so  bewußte  National¬ 
patrioten,  wie  es  zwischen  den  ukrainischen  Bauern  gibt,  bei  den 
Bauern  keines  einzigen  Volkes  von  ganz  Europa  sind.  Deshalb  eben 
verbreitet  sich  die  ukrainische  Nationalbewegung,  wenn  sie  nur  einmal 
Wurzel  gefaßt  hat,  so  rasch  in  den  ukrainischen  Volksmassen,  was 
auch  Miljukoff  in  der  russischen  Duma  zugestehen  mußte. 

Schließlich  muß  hervorgehoben  werden,  daß  die  ukrainische 
Kultur  gar  nicht  so  schwach  ist,  wie  man  es  infolge  der  Tatsache, 
daß  sie  in  Europa  fast  unbekannt  ist,  vermuten  könnte.  Die  ukrainische 
Literatur,  welche  nach  der  russischen  und  polnischen  den  dritten  Platz 
zwischen  den  gesamten  slawischen  Literaturen  behauptet  und  welche 
vieles  hervorgebracht  hat,  was  auch  einer  größeren  westeuropäischen 
Literatur  zur  Ehre  gereichen  könnte,  hat  eine  tausendjährige  Vergangen¬ 
heit  hinter  sich  und  ist  jetzt  im  Stadium  einer  regen  Wiedergeburt. 
Ueberdies  zeichnet  sich  die  moderne  ukrainische  Literatur  durch  einen 
wahrhaft  volkstümlichen  Zug  aus,  der  der  ukrainischen  Literatur  dank 
ihrer  Originalität  einen  besonderen  Platz  unter  den  Literaturen  anderer 
Kulturvölker  einräumt.  Die  junge  ukrainische  Wissenschaft  hat  auch 
manches  bemerkenswerte  geleistet  und  solche  Namen  auf  dem  Gebiete 
der  Historiographie,  Philologie,  Ethnologie,  Literaturgeschichts-Forschung, 
Anthropologie,  Rechtsgeschichte,  Rechtswissenschaft,  Elektrotechnik,. 
Chemie,  Medizin  u.  a.  wie  Puluj,  Horbatschewskyj,  Borysikewytsch, 
Wowk,  Antonowytsch,  Kostomariw,  Hruschewskyj,  Franko  u.  a.  sind 
auch  in  den  Kreisen  der  diesbezüglichen  Fachmänner  Westeuropas  gut 
bekannt.  Das  ukrainische  Theater  ist  sehr  hoch  entwickelt,  die  ukrainische 
Opernmusik  steht  der  russischen  oder  der  polnischen  gar  nicht  nach 
und  das  ukrainische  Drama  überragt  absolut  alle  anderen  slawischen, 
das  polnische  und  russische  nicht  ausgenommen.  Die  ukrainischen 
Theater,  deren  es  ein  paar  Dutzende  gibt,  beeinflussen  sehr  stark  die 
Städte.  Die  ukrainische  Volksmusik  ist  die  entwickelteste  in  ganz 
Europa;  die  Volksornamentik  und  Keramik  ist  sehr  reich  und  fein.  Die 
Ukrainen  besitzen  auch  einen  eigentümlichen  Baustil,  in  welchem  tausende 
von  alten  Kirchen  gebaut  sind  und  die  jetzt  eine  moderne  Renaissance 
erlebt;  er  wird  bei  Schul-(National-)Häusern,  Semstwopalais  u.  a.  Bauten 
z.  B.  Semstwopalais  in  Poltawa)  mit  besonderem  Erfolg  angewendet.. 


—  30 


Die  junge  ukrainische  Malkunst  weißt  sehr  schöne  auf  Privatkosten  ge¬ 
sammelte  Museen  in  Lemberg,  Kijew,  Tschernyhiw,  Poltawa,  Katerinoslaw 
u.  a.  auf;  wissenschaftliche  Vereine  befinden  sich  in  Lemberg  und 
Kijew.  Daß  die  ukrainische  Presse  in  Rußland  relativ  schwach  ist,  ist 
einerseits  die  Folge  der  besonderen  Drangsalierungen  derselben  durch 
die  russische  Zensur,  andererseits  des  hohen  Analphabetismus  der 
ukrainischen,  sonst  sehr  intelligenten  Volksmasse,  was  wiederum  die 
Folge  der  russischen  Schule  ist. 

Im  allgemeinen  besitzen  also  die  Ukrainer  eine  stark  ausgeprägte 
nationale  Physiognomie,  die  —  neben  den  politischen  und  wirtschaftlichen 
Entwicklungsmöglichkeiten,  die  Osteuropa  seit  der  sog.  russischen  Re¬ 
volution  bietet  und  immer  mehr  bieten  wird  —  volle  Bürgschaft  für 
ein  nahes  und  rasches  Emporblühen  der  ukrainischen  Nation  leistet. 
Die  junge,  emporstrebende,  reichbegabte,  gesunde  und  zahlreiche 
ukrainische  Nation  wird  sich  trotz  aller  Hemmnisse  in  der  kurzen  Zeit 
von  paar  Dezennien  durchsetzen,  wenn  auch  im  Osteuropa  keine  Grenz¬ 
verschiebung  auf  den  ukrainischen  Ländern  stattfinden  sollte.  Wenn 
man  meint,  daß  ohne  auswärtige  Hilfe  die  Ukrainer  untergehen  oder 
weiter  ein  nur  karges  Leben  fristen  müßten,  dann  irrt  man  gründlich.  Schon 
jetzt  sind  es  unter  den  Russen  ernste  Kreise,  die  die  ukrainische  Frage  anders, 
als  bisher,  behandelt  zu  sehen  wünschen.  Der  bekannte  Theoretiker  des 
des  russischen  Liberalismus  Struve  mußte  nur  wegen  seiner  intransingenten 
Stellung  gegen  das  Ukrainertum  aus  der  Leitung  der  Kadettenpartei 
austreten  und  die  Oktobristen  haben  sich  auch  schon  paarmal  gegen 
die  bisherige  russische  Politik  in  der  ukrainischen  Frage  ausgesprochen 
—  von  der  Sozialisten  und  Arbeits-Partei  (trudowiki)  nicht  zu  erwähnen ! 
Es  kann  in  kurzer  Zeit  dazu  kommen,  daß  die  Russen  —  um  nur  ihre 
Machtstellung  in  Europa,  den  Einfluß  auf  das  Slawentum  und  den  Zu¬ 
tritt  zum  Schwarzen  Meere  zu  behalten  —  sich  mit  dem  Ukrainertum 
zu  versöhnen  und  auszugleichen  genötigt  sehen  werden.  Der  Ent¬ 
wicklungsprozeß  in  Rußland  führt  unumwunden  zu  einer  solchen 
Lösung,  so  daß  die  Ukrainer  höchstens  in  einigen  Dezennien  eine 
Autonomie  sicher  bekommen,  eventuell  kann  sogar  das  Verhältnis  der 
Realunion  aus  dem  Perejaslawer  Traktate  (1654)  wieder  hergestellt 
werden.  Wenn  die  Ukrainer  jetzt  trotzdem  gegen  Rußland  sind,  so  ist 
das  nicht  anderes,  als  Suchen  eines  kulturellen  und  wirtschtlichen  Anschlusses 
an  das  Europa,  wohin  die  Ukrainer  ihrer  Lage,  Rasse,  Geschichte  und 
Kultur  nach  gehören. 

Eine  selbständige  Ukraine  und  Rußland 

in  der  Zukunft. 

Von  manchen  Gegner  der  ukrainischen  Sache,  hauptsächlich  wieder 
aus  dem  polnischen  Lager,  wird  der  deutschen  Oeffentlichkeit  einge¬ 
flüstert,  daß  ein  selbständiger  ukrainischer  Staat  einen  Anschluß  eher 
nach  Rußland,  als  nach  Mitteleuropa,  suchen  wird.  Diese  merkwürdige 
und  für  einen  Ukrainer  in  ihrer  Logik  durchaus  unverständliche 


—  31 


Behauptung  wird  damit  motiviert,  daß  die  Ukrainer  als  „orthodoxe 
Slawen“  den  Russen  „näher  stehen“  und  daß  die  Ukraine  wirtschaftlich 
Rußland  bedarf.  Wir  werden  versuchen  möglichst  kurz  diese  Fragen 
zu  belichten. 

Die  Ukrainer  sind  großenteils  orthodox,  wie  es  sich  aber  mit 
ihrer  Orthodoxie  verhält,  das  wurde  schon  oben  aufgeklärt.  Bis  in 
das  18.  Jahrhundert  gab  es  keine  Kirchengemeinschaft  zwischen  der 
Ukraine  und  Moskowitien;  die  ukrainische  Orthodoxie  war  kulturell 
und  rituell  so  stark  latinisiert,  daß  sie  eigentlich  eine  Zwischenstufe  zwischen 
der  römischen  und  der  griechischen  Christenwelt  darstellte.  Trotz  der 
formellen  Orthodoxie  ist  die  Ukraine  kulturell  und  ethisch  ein  dem 
lateinischen  Europa  viel  näheres  Land,  als  dem  östlichen,  griechisch- 
orthodoxen.  Kein  einziges  von  den  griechisch-orthodoxen  Völkern 
Balkans  oder  Osteuropas  hat  so  viele  Anschlüsse  an  die  westeuropäische 
Kultur  gehabt,  wie  es  bei  den  Ukrainern  vom  13.  —  18.  Jahrhundert, 
also  500  Jahre  hindurch,  der  Fall  war.  Dieser  Unterschied  und  Anta¬ 
gonismus  zwischen  der  ukrainischen  und  der  russischen  „Orthodoxie“ 
ist  bis  heute  stark  geblieben;  nach  der  Herstellung  einer  autokephalen 
ukrainischen  Nationalkirche  wird  er  noch  stärker  werden,  da  die  letztere 
ganz  bestimmt  die  alten  westeuropäischen  Bahnen  aufsuchen  wird. 

Die  Mähre  von  dem  „Slawentum“  ist  schon  ganz  lächerlich.  Es 
gibt  ja  kein  slawisches  Einheitlichkeitsgefühl  und  keine  slawische  Ge¬ 
meinschaft.  Was  bei  manchen  Slawen  darüber  gesprochen  wird,  ist 
eine  nationalsubjektive  Faselei.  Die  Russen  sind  „slawophil“  in  dem 
Sinne,  daß  sie  das  gesamte  Slawentum  zu  ihren  imperialistischen 
Zielen  ausnützen,  d.  h.  alle  Slawen  an  ihren  Staatswagen  anspannen 
und  russifizieren  wollen.  Manche  West-  und  Südslawen  sind 
wiederum  in  dem  Sinne  „slawophil“,  daß  sie  in  ihrer  numerellen 
Schwäche  die  Hilfe  Rußlands  gegen  die  Deutschen  oder  gegen  die 
Magyaren  erhoffen.  Andere  Slawen  —  wie  Bulgaren  und  Ukrainer  — 
die  keine  Reibungsflächen  mit  den  Deutschen  oder  Ungaren  haben, 
und  die  aber  mit  den  Slawen  (Polen,  Russen  und  Serben)  in  ewiger 
Fehde  leben,  sind  dagegen  gar  nicht  „slawophil“  und  wollen  von 
keinem  „Slawentum“  als  einer  politischen  Gemeinschaft  hören.  Es 
gibt  zwar  also  Slawen  (d.  i.  slawisch  sprechende  Völker)  so  wie  es 
Germanen  und  Romanen  gibt,  was  aber  alles  nur  philologisch-wissen¬ 
schaftliche  Klassifizierungsbegriffe  sind,  die  mit  den  politischen  Kathegorien 
sich  keineswegs  decken.  Die  Politik  wird  nicht  von  der  abstrakten 
Philologie,  sondern  von  den  Lebensinteressen  einzelner  territorialer 
Menschengruppen  (Nationen  oder  Staaten)  bedingt.  Und  deshalb  werden 
die  Ukrainer  gewiß  nie  ihre  politische  Orientierung  darnach  richten,  ob 
diese  oder  jene  Nation  eine  dem  Ukrainischen  mehr  oder  weniger 
ähnliche  Sprache  spricht  —  umso  mehr,  da  die  Russen  ihrer  Rasse 
nach  ja  gar  keine  Slawen,  sondern  slawisierte  Finnen  sind.  Die 
Ukrainer  haben  bis  jetzt  nie  eine  Rassen-  oder  Sprachzweigegemein- 
schaftspolitik,  sondern  nur  eine  Nationalpolitik  betrieben.  Dazu  sind 
sie  zu  zahlreich,  zu  individualisiert,  sie  haben  zu  starke  nationale  ge¬ 
schichtliche  Traditionen,  sie  haben,  wie  auch  sie  werden  haben,  viel  zu 


—  32 


viele  Reibungsflächen  mit  den  Polen  und  mit  den  Russen,  um  in  einer 
slawischen  Gemeinschaft  aufgehen  zu  wollen.  Das  können  die  Ukrainer 
den  zukunftsverzweifelten  kleinen  west-  und  südslawischen  Völkern 
überlassen. 

Auch  eine  wirtschaftliche  Gravitation  der  Ukraine  nach  Rußland 
zurück  ist  unmöglich.  Nicht  die  Ukraine  bedarf  wirtschaftlich  Rußlands,, 
sondern  umgekehrt  Rußland  bedarf  der  Ukraine.  Die  Ukraine  ist  ja 
eines  der  reichsten  und  von  der  Natur  am  schönsten  ausgestattetes 
Gebiet  des  Erdballs.  Sie  besitzt  auf  großen  Gebieten  einen  wirklich 
ägyptischen  Boden;  sie  besitzt  die  reichsten  Kohlengruben  der  Welt 
und  die  reichsten  Eisenerzgruben  Europas;  sie  hat  ein  vortreffliches 
Klima,  prächtige  Weiden  und  großartige  Wälder,  ja  sogar  Urwälder,  und 
besitzt  im  Ueberflusse  Salz  und  Naphta;  sie  hat  die  besten  Häfen  Ru߬ 
lands  und  die  nächsten  Verbindungen  mit  Mitteleuropa.  Wozu  braucht 
dann  die  Ukraine  Rußlands  Hilfe  für  ihr  wirtschaftliches  Gedeihen? 
Wird  sie  denn  Rußlands  Getreideabsatzmärkte  brauchen,  wenn  sie 
bessere  in  Mitteleuropa  bekommt?  Die  Ukraine,  als  Produzentin  der 
notwendigsten  Rohprodukte  wird  ja  diese  nach  Deutschland  und  Oester¬ 
reich  exportieren,  um  von  Mitteleuropa  Industrieprodukte  zu  beziehen. 
Denn  die  schwächere  russische  Industrie  kann  doch  der  Ukraine  die 
solide  und  entwickelte  deutsche  Industrie  nicht  ersetzen,  wie  auch 
die  mitteleuropäischen  Absatzplätze  für  ukrainische  Rohprodukte  jeden¬ 
falls  vorteilhafter,  als  die  bisherigen  russischen,  sein  werden. 

Die  russische  Eisenbahntarifspolitik  der  Ukraine  gegenüber  war 
danach  gerichtet,  um  das  großrussische  Centrum  mit  ukrainischen  Roh¬ 
produkten  möglichst  billig  zu  versehen,  um  den  ukrainischen  Cereaiien- 
export  zu  den  Ostseehäfen,  welche  Rußland  für  großrussische  erachtete, 
zu  richten,  und  um  die  Entwicklung  der  einheimischen  ukrainischen 
Industrie  wie  auch  den  Aufschwung  der  ukrainischen  Häfen  hintanzuhalten. 
Darüber  beklagten  sich  seit  einigen  Jahrzehnten  sowohl  die  landwirtschaft¬ 
lichen,  wie  auch  die  Handelspreise  der  Ukraine  ohne  Unterschied  der 
Nationalität  und  der  wirtschaftliche  Antagonismus  zwischen  „Süden“  (der 
Ukraine)  und  „Norden“  (Moskowitien)  kam  sowohl  in  verschiedenen 
Publikationen  wie  auch  auf  den  wirtschaftlichen  „allgemeinrussischen“ 
Kongressen  allerlei  Wirtschaftskategorien  in  letzten  Jahren  öfters  zum  Vor¬ 
schein.  Auch  die  ukrainischen  Autonoinisten  verschiedener  Partei¬ 
schattierungen  stützten  ihr  autonomistisches  Programm  in  letzten  Zeiten  auf 
die  Grundlage  dieser  wirtschaftlichen  Gegensätze  zwischen  der  'Ukraine 
und  Moskowitien,  indem  sie  in  ihren  Publikationen  (von  Persch,  Staßjuk 
u.  a.)  mit  dem  statistischen  Material  an  der  Hand  die  wirtschaftliche 
Ausbeutung  und  Hintansetzung  der  Ukraine  von  Großrußland  darstellten. 

Es  sind  die  Gedanken,  daß  der  ukrainische  Staat  einen  wirtschaft¬ 
lichen  Anschluß  an  Rußland  suchen  könnte,  grundlos.  Daß  sie  aber 
entstehen  konnten,  ist  nur  ein  Beweis  mehr,  wie  weit  die  Unkenntnis 
Osteuropas  in  manchen  Kreisen  Mitteleuropas  reicht.  Nicht  eine  An¬ 
näherung,  sondern  eher  das  Gegenteil  davon  ist  nach  der  Schaffung 
eines  selbständigen  Staates  mit  aller  Bestimmtheit  zu  erwarten,  denn 
durch  die  Ukraine  vom  europäischen  Süden  abgetrennt,  wird  das 


—  33 


moskowitische  Rußland  trachten,  dem  neuentstandenen  Staate  womöglich 
zu  schaden,  was  den  Haß  der  Ukrainer  gegen  die  herrschsüchtigen  und 
ukrainebedrohenden  Moskowiter  nur  noch  steigern  wird. 

Da  wir  eben  die  Frage  eines  eventuellen  wirtschaftlichen  Anschlusses 
der  Ukraine  erörtern,  so  wird  es  am  Platze  sein  auf  ein  wichtiges  Ver¬ 
bindungsmittel  zwischen  Deutschland  und  der  Ukraine  —  nämlich  auf 
die  Wasserstraße  von  der  Ostsee  bis  *  zum  Schwarzen  Meere  —  hin¬ 
zuweisen.  Das  Flußsystem  des  Dniepr  kommt  mit  dem  Ostsee-Flu߬ 
system  in  eine  sehr  nahe  und  für  den  Bau  der  Wasserstraßen  sehr 
günstige  Berührung  auf  dem  Sumpfgebiete  Weißrutheniens  und  des 
Polisje,  nämlich  durch  die  Wasserläufe  der  Düna,  des  oberen  Dniepr 
und  der  Beresyna,  respektive  des  Njemens  oder  der  Weichsel,  des 
Narew,  Bugs  und  Prypetjs.  Es  kann  da  sehr  leicht  eine  Wasser¬ 
verbindung  für  größere  Kanalschiffe  zwischen  Danzig  oder  Berlin  und 
Kijew,  Cherson,  Nikolajew  und  Odessa  hergerichtet  werden,  von  der 
Verbindung  Riga-Dünaburg-Kijew-Cherson  nicht  zu  erwähnen.  Auch 
mit  dem  Dniestrlaufe  und  dem  Ssan-Weichsellaufe  kann  eine  gute 
Wasserstrasse,  als  kurze  und  direkte  Verbindung  Danzigs  und  Berlins 
mit  Odessa,  gebaut  werden.  Was  für  eine  Bedeutung  die  angedeuteten 
Wasserstrassen  für  die  Verbindung  Berlin  -  Bagdad  haben  können, 
braucht  nicht  näher  erörtert  zu  werden.  Sie  würden  auch  die  Ukraine 
an  die  deutschen  Märkte  und  Fabrikzentren  fest  anknüpfen. 

Schließlich  wird  der  politische  Antagonismus  Rußlands  gegen  einen 
ukrainischen  Staat  eine  Annäherung  beider  auf  eine  unabsehbare  Zeit 
ausschließen;  Rußland  wird  immer  bestrebt  sein,  den  Zutritt  zum 
Schwarzen  Meere  zurückzugewinnen,  was  eine  Quelle  eines  steten  und 
todfeindlichen  Antagonismus  zwischen  Rußland  und  der  Ukraina  zur 
Folge  haben  wird.  Von  Rußland  immer  bedroht,  wird  die  Ukraine  auch 
immer  der  Hilfe  der  Zentralmächte  bedürfen,  sie  muß  sich  also  infolge 
ihrer  geographischen  Lage  an  dieselben  anlehnen.  Dazu  kommt  noch,  daß 
der  ukrainische  Expansionsdrang  aus  natürlichen  Gründen  nach  Osten  ge¬ 
richtet  sein  muß.  Seit  der  Dämmerung  der  Geschichte  geht  die  ukrainische 
Kolonisation  und  politische  Expansion  nur  gegen  Südosten,  respektive 
—  nach  der  Erlangung  des  Schwarzen  Meeres  als  einer  natürlichen 
Grenze  —  nur  gegen  Osten.  Im  Westen  haben  die  Ukrainer  nicht 
nur  keine  Erwerbungen  gemacht,  sondern  im  Laufe  von  tausend  Jahren 
haben  sie  das  Territorium  zwischen  Weichsel  und  Wepr  (Lubliner 
Gebiet),  das  Gelände  am  unteren  Bug  (bei  Siedlce  und  das 
Territorium  zwischen  Ssan-Wislok  und  Wisloka  (mit  den  Städten 
Dukla,  Rzeszow,  Lezajsk,  Lanzut)  an  die  Polen,  das  Territorium 
Ungarn-Theiß-Hust  an  die  Magyaren  und  das  Territorium  der  Moldau 
(Flußbecken  von  Pruth  und  Sereth)  wie  auch  den  größeren  Teil 
Bessarabiens  an  die  Rumänen  eingebüßt.  In  demselben  Zeiträume  aber 
kolonisierten  sie  zweimal  vor  der  Mongoleninvasion  und  dann  im  17. 
bis  20.  Jahrhundert  die  Steppe  der  Gouvernements  Südost-Podolien, 
Süd-Kijew,  Poltawa,  Katerinoslaw,  Cherson,  Taurien,  Charkiw,  Kubanj- 
Gebiet,  wie  auch  noch  beträchtliche  Teile  der  Gouvernements  Woronesch, 
Kursk,  Saratow,  Staropol,  Don-Gebiet  u.  a.  —  das  heißt:  vergrößerten 


ihr  Territorium  in  östlicher  Richtung  fast  um  das  dreifache.  Da  der 
Lauf  der  ukrainischen  Kolonisation  aus  natürlichen  und  Populations- 
Rücksichten  auch  auf  eine  unabsehbare  Zukunft  nach  Osten  —  in  das 
Don-Gebiet,  Stawropoler  Gouvernement,  Kaspisches  Gebiet,  Astrachan- 
Gouvernement,  wie  auch  nach  Südwest-Sibirien  und  Turkestan  gerichtet 
sein  muß,  wird  auch  der  politische  Expansionsdrang  der  Ukraine  nur 
in  der  östlichen  Richtung  sich  vollziehen,  was  zur  Quelle  eines  geschicht¬ 
lichen  Konflikts  zwischen  Rußland  und  Ukraine  führen  muß. 

Ein  gefahrvolles  Projekt. 

Das  schwache  Vertrautsein  der  Deutschen  mit  den  osteuropäischen 
Verhältnissen,  insbesondere  mit  der  ukrainischen  Frage,  wird  von  ge¬ 
wissen  politischen  Kreisen  ausgenützt,  um  die  Ansichten  der  Deutschen 
über  die  Länder  des  östlichen  Kriegsschauplatzes  zu  verdunkeln  und 
der  deutschen  Oeffentlichkeit  solche  Kriegsziele  im  Osten  zu  unter¬ 
schieben,  die  zwar  beim  ersten  Blick  einen  gewissen  Schein  von 
Möglichkeit  und  Zweckmäßigkeit  haben,  im  Grunde  aber  große  Ge¬ 
fahren  eben  für  Deutschlands  Interessen  in  sich  bergen. 

Es  wurden  nämlich  in  der  jüngsten  Zeit  von  polnischer  Seite 
einige  autoritative  und  einige  zwar  weniger  autoritative,  aber  umso  mehr 
symptomatische,  charakteristische  Publikationen  und  Erklärungen  ver¬ 
öffentlicht,  die  jedenfalls  einer  Beantwortung  bedürfen.  So  hat  Herr 
Ignaz  Daszynski,  polnisch  -  sozialistischer  Reichsratsabgeordneter  und 
Vizepräsident  des  polnischen  Nationalrates  in  Oesterreich  (welcher 
Nationalrat  eigentlich  nur  die  Minorität  der  österreichischen  Polen  und 
eines  verschwindenden  Teils  der  russischen  Polen  represäntiert,  indem 
weder  die  russophilgesinnten  Allpolen  und  ebenso  gesinnten  ostgalizischen 
Konservativen,  die  zwei  größten  und  ausschlaggebenden  westgalizischen 
polnischen  Parteien  in  Oesterreich,  noch  die  Stapinskische  Bauernpartei, 
noch  die  größten  Parteien  Russisch-Polens,  zu  dem  Nationalrate  ange¬ 
hören!)  in  einer  schwedischen  Zeitung  ein  Interview  veröffentlichen 
lassen,  in  welchem  er  das  ukrainische  Cholmer-Land  an  das  zu  schaffende 
polnische  Reich  kurzweg  annektiert.  Der  Präsident  desselben  polnischen 
Nationalrates,  Herr  Dr.  Ladislaus  v.  jaworski,  hat  wiederum  in  einer 
offiziellen,  namens  dieses  Nationalrates  abgegebenen  Erklärung  ganz  Ost¬ 
galizien  (also  wiederum  ein  ukrainisches  und  dazu  an  Oesterreich  an¬ 
grenzendes  Gebiet!)  für  den  von  ihm  vorgeschlagenen  polnischen 
Staat  beansprucht. 

Noch  weiter  gingen  die  bekannten  Publizisten,  Leon  Wasilewski1) 
und  Ladislaus  S.  Studnicki2),  indem  dieselben  für  ihren  polnischen  Zu¬ 
kunftsstaat  nicht  weniger  als  das  gesamte  Gebiet  bis  West-Düna  im 
Norden,  bis  zum  Dniepr  im  Osten  und  Dniestr  und  Boh  im  Süden  — 


*)  Leon  Wasilewski :  „Die  nationalen  und  kulturellen  Verhältnisse  im 
sogenannten  Westrußland“.  Wien  1915.  Verlag  der  Wochenschrift  „Polen“. 

2)  Wladyslaw  R.  v.  Gizb  ert  -  Studnicki :  „Die  Umgestaltung  Mittel¬ 
europas  durch  den  gegenwärtigen  Krieg.  —  Die  Polenfrage  in  ihrer  internationalen 
Bedeutung“,  Wien  1915.  Verlag:  Buchhandlung  Goidschmidf. 


35 


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d.  i.  nicht  nur  ganz  Russisch-Polen  und  ganz  Galizien,  aber  auch  die 
Gouvernements  Cholm,  Wolhynien,  Podolien,  Kijew,  Mohyliw,  Minsk, 
Grodno,  Kowno,  Wilna,  Wilebsk,  Kurland  usw.  beanspruchen,  wobei 
die  beiden  Publizisten  sich  auf  die  Tatsachen  stützen,  daß  das  genannte 
Gebiet  einst  zum  polnisch  -  litauischen  Staate  gehörte  und  daß  es  auf 
demselben  eine  teilweise  polnische  Großgrundbesitzergeschichte  gibt. 
Beide  genannten  Publizisten  begehen  dabei  die  Unkorrektheit,  daß  sie 
alle  römischen  Katholiken  in  dem  Gebiete  für  Polen  halten,  alle  Juden 
ebenso  zu  polnischen  Gunsten  eskamotieren,  andere  bedeutende  National¬ 
elemente  dagegen  —  wie  Ukrainer,  Weißruthenen  oder  Litauer  — 
tendenziös  geringschätzen  und  ihre  tatsächliche  Kraft  und  Tendenzen 
fälschlich  herabzusetzen  oder  zu  verdrehen  trachten. 

Während  Herr  Wasilewski  seinen  Ausführungen  wenigstens  vor 
dem  Auslande  den  Schein  von  Wissenschaftlichkeit  zu  geben  versucht, 
ist  Herr  Studnicki  —  ein  Allpole,  Mitredakteur  des  berüchtigten 
Lemberger  „Slowo  Polskie“  —  in  seinen  Fälschungen  ganz  ungeniert, 
indem  er  wahrscheinlich  auf  die  Leichtgläubigkeit  der  Deutschen  und 
die  mit  osteuropäischen  Verhältnissen  unvertrauten  Leser  spekuliert. 

Außerdem  werden  polnischerseits  auch  im  vertraulichen  Wege  an 
die  maßgebenden  Kreise  Deutschlands  und  Oesterreich  Ungarns  Denk¬ 
schriften  ähnlichen  Inhaltes  eingereicht,  deren  Ziel  es  ist  in  einer  hinter- 


—  36  — 


listigen  und  übertriebenen  Weise  die  Polen  als  den  einzigen  staats- 
bildenen  Faktor  in  Osteuropa  darzustellen,  dagegen  womöglich  und 
wiemöglich  nur  die  Bedeutung  des  ukrainischen  Elementes  herabzusetzen. 
Aus  der  Lektüre  dieser  Produkte  polnischer  politischer  Gegner  er¬ 
hält  man  den  Eindruck,  daß  den  Herren  Polen  nicht  so  viel  an  der 
Schaffung  eines  polnischen  Staates,  wie  vielmehr  an  der  Vereitelung  der 
Bildung  eines  ukrainischen  Staates  liegt. 

Es  ist  auch  zu  verstehen:  die  Bildung  eines  selbständigen 
ukrainischen  Staates  ändert  nämlich  ein  für  alle  mal  die  Ver¬ 
hältnisse  in  Osteuropa,  indem  die  Ukrainer  vom  Narew,  Bug,  Wepr 
und  San  im  Westen  bis  über  den  Don  hinaus  im  Osten  zu  einem 
kräftigen  und  durch  seine  internationale  und  geographische  Lage  aus¬ 
schlaggebenden  Faktor  in  Osteuropa  werden,  was  die  Liquidierung  der 
polnischen  Expansions-Pläne  in  bezug  auf  das  ukrainische  Territorium 
herbeiführen  müßte.  Dagegen  läßt  das  Hintanhalten  des  ukrainischen 
Elementes  in  seiner  Entwicklung,  wenn  auch  mit  der  Beeinträchtigung 
der  Interessen  der  Zentralmächte,  weil  es  ja  mit  der  Bei¬ 
behaltung  der  Machtstellung  Rußlands  in  Osteurapa  unbedingt  verbunden 
ist,  den  Polen  die  Hoffnung,  daß  es  ihnen  gelingen  wird,  bei  besserer 
Konjunktur,  auf  Rechnung  eines  Teiles  der  Ukrainer  und  im  Wege 
eines  Kompromisses  mit  den  Russen  (wie  es  schon  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  der  Fall  war1)  wieder  zur  Geltung  zu  kommen. 

Die  Oeffentlichkeit  beider  mitteleuropäischer  Mächte  steht  seit 
Dezennien  unter  dem  einseitigen  Einflüsse  der  polnischen  Informationen, 
infolgedessen  sie  gewissermaßen  prädistiniert  ist,  die  genannten 
polnischen  Ansprüche  auf  nichtpolnische,  hauptsächlich  auf  ukrainische 
Gebiete  für  berechtigt  zu  halten. 

Da  es  aber  garnichts  Gefährlicheres  in  der  Politik  gibt,  als 
die  Illusionen,  so  werden  wir  trachten,  womöglich  kurz  mit 
dem  faktischen  Material  an  der  Hand  den  Wert  dieser  polnischen 
Anmaßungen  auf  nichtpolnische  Länder  zu  beleuchten.  Im  vor¬ 
aus  schon  müssen  wir  aber  bemerken,  daß  ein  polnischer 
Staat  mit  einer  ukrainisch  -  weißruthenisch  -  litauischen 
Mehrheit  oder  sogar  mit  einer  solchen  Minorität  ein  Monstrum 
wäre,  welches  keine  Lebensfähigkeit  besitzen  würde,  und 
welches  in  kurzer  Zeit  von  den  separatistisch-nationalen  Be¬ 
strebungen  zersetzt  sein  würde,  wobei  Rußland  die  Rolle  „des 
Befreiers“  der  von  den  Polen  bedrückten  Völker  übernehmen 
wird,  so  wie  es  vor  der  Teilung  Polens  im  18.  Jahrhundert  diese  Rolle 
spielte.  Solch  ein  Resultat  wäre  wirklich  ein  bitterer  Lohn  für  das  Blut, 
das  jetzt  die  beiden  verbündeten  Großmächte  opfern! 


In  dem  Vertrage  von  Andrusow  (1676)  haben  Polen  und  Moskowiter  die 
Ukraine  (das  ukrainische  Hetmanstum)  längst  des  Dnieprlaufes  in  zwei  Interessen¬ 
sphären  —  eine  polnische,  westlich  vom  Dniepr  und  eine  moskowitische,  östlich 
vom  Dniepr  —  untereinander  geteilt,  was  nachher  noch  in  dem  Baktschisarajer- 
Vertrage  von  1681  und  dann  in  dem  Uebereinkommen  Peter  des  Großen  mit  der 
Polenrepublik  vom  Jahre  1700  bestätigt  wurde.  Diese  Verständ  gung  der  beiden 
Erbfeinde  der  Ukraine  war  gegen  die  Staatsselbständigkeit  derselben  gerichtet. 


37  — 


In  erster  Reihe  muß  es  ausdrücklich  betont  werden,  daß  die  von 
den  Polen  angegebene  nationale  Statistik  der  sogenannten  westrussischen 
Gebiete  grundfalsch  ist,  wobei  von  beiden  polnischen  Publizisten  alle 
slawischen  Römischkatholischen  (also  nicht  nur  Polen,  sondern  auch 
Weißruthenen  und  Ukrainer)  gerechnet  werden.  Anderseits  gehen  die 
Zahlenmanipulationen  des  Herrn  Studnicki  so  weit,  daß  er  von  den 
„1 — 2  Millionen  Ukrainer“  in  dem  an  Polen  anzugliedernden  Wolhynien 
und  Podolien  spricht,  während  schon  in  Wolhynien  allein  zirka  3  Millionen 
Ukrainer,  in  Podolien  dagegen  über  3  Millionen,  also  zusammen  in  diesen 
zwei  Gouvernements  allein  zirka  6  Millionen  Ukrainer  gibt!  Aehnlich 
ist  die  gesamte  Statistik  und  die  Glaubwürdigkeit  aller  tatsächlichen 
Angaben  der  Herren  Studnicki  und  Wasilewski.  So  z.  B.  sollen  in  dem 
von  Herrn  Studnicki  projektierten  Polen,  das  bis  zur  Düna,  Dniepr, 
Kijew,  Berdytschew,  Umanj  und  Dniestr  zu  reichen  hätte,  jetzt  nach 
seinen  Angaben  30  Millionen  Menschen,  darunter  50%  (15  Millionen) 
Polen  und  weitere  20%  (6  Millionen)  „Katholiken,  die  gleichfalls  (!!) 
nach  Polen  gravitieren“,  sowie  15°/o  (4— 5  Millionen)  Juden  wohnen. 
Wir  wissen  wirklich  nicht,  woher  Herr  Studnicki  diese  Zahlen  heraus¬ 
gegriffen  hat;  nach  der  offiziellen  Statistik,  welche  auch  die  ernsten 
polnischen  Statistiker  E.  Czynski  und  Dr.  Szerer  im  großen  ganzen  be¬ 
stätigen,  gibt  es  in  diesem  Länderkomplex  zirka  36  Millionen  Menschen, 
darunter  keine  50  %,  sondern  nur  31  %  (11  Millionen)  Polen  und  69% 
Nichtpolen  und  zwar:  22,5  %  (8  Millionen)  Weißruthenen,  24  % 
(8,5  Millionen)  Ukrainer,  13%  (4,5  Millionen  Juden),  6  %  (2  Millionen) 
Litauer,  je  3  %  (je  1  Million)  Russen  und  Deutsche  u.  a.  In  kon¬ 
fessioneller  Hinsicht  gibt  es  außer  den  31  %  polnischer  Katholiken  noch 
höchstens  weitere  16,5  %  (5,5  Millionen),  von  katholischen  Deutschen  3  %, 
Weißruthenen  6%,  Litauer  6  °/o  und  Ukrainer  1,5  %,  also  wiederum 
keine  20°/o,  wie  Herr  Studnicki  es  angibt.  Infolgedessen  bleiben  von 
den  angeblichen  50°/o  Polen  +20%  „an  Polen  gravitierender  Katholiken“ 
(zusammen  70%)  nur  31  %  +  16 7*%  zusammen  467a %  Katholiken.  Bei 
derlei  Zahlen  erscheint  uns  der  „polnische“  Charakter  so  eines  polnischen 
Staates  in  einem  ganz  anderen  Lichte,  als  bei  den  50%  +  20%  =  70  %  des 
Herrn  Studnicki.  Wenn  man  dazu  noch  berücksichtigt,  daß  die  angeb¬ 
lichen  „an  Polen  gravitierenden  Katholiken“  alles,  was  polnisch  ist,  von 
Herzen  hassen,  so  schrumpft  die  angebliche  polnische  „Mehrheit“  so 
eines  polnischen  Zukunftsstaates  auf  31  %  der  Gesamtbevölkerung  zu¬ 
sammen.  Mit  der  Gravitation  der  Katholiken  zu  Polen  verhält  es  sich 
folgendermaßen:  es  ist  ja  eine  gewöhnliche  Erscheinung,  daß  die  Litauer 
sich  mit  den  Polen  in  den  katholischen  Kirchen  wegen  der  Sprache 
der  Kirchenlieder  oder  Predigten  blutig  raufen.  Ebenso  sind  die 
katholischen  Weißruthenen  der  nationalbewußteste  Teil  der  Weißruthenen 
und,  wie  alle  Weißruthenen,  gegen  die  Polen,  als  ihre  geschichtlichen 
Bedrücker,  feindlich  gestimmt.  Wenn  die  Weißruthenen  gewisse 
Sympathien  haben,  dann  nur  für  die  verwandten  Ukrainer.  Nicht  die 
polnischen  Bischöfe  von  Wilna  oder  von  Mohiliw,  sondern  der  ukrainische 
Metropolit  zu  Lemberg,  Graf  Scheptyzkij,  ist  bei  den  katholischen 
Weißruthenen  die  populärste  Gestalt! 


—  38  — 


Die  Anmaßungen  der  Herren  Polen  auf  die  ukrainischen  und 
weißruthenischen  Länder  wirken  um  so  befremdender,  als  die  Zahl  der 
Polen  in  manchen  von  ihnen  beanspruchten  Gouvernements  bis  zu 
1  %  (!)  sinkt.  So  haben  wir  im  Gouvernement  Mohyliw  nur  1  %  Polen, 
in  den  Gouvernements  Podolien  und  Kijew  je  2  %,  im  Gouvernement 
Minsk  3%  usw.  Mit  derselben  Berechtigung  könnte  man  Berlin  für 
eine  „polnische“  und  Warschau  für  eine  „russische“  Stadt  erachten. 
Merkwürdigerweise  aber  entrüsten  sich  gleichzeitig  die  Herren  Polen 
bei  dem  Gedanken,  daß  das  Gouvernement  Petrikau,  wo  es  1 1  %  Deutsche 
und  14%  deutschsprechende  Juden,  zusammen  25  %  deutschsprechender 
Bevölkerung  gibt,  oder  Warschau,  wo  die  Juden  mit  den  Deutschen 
die  Hälfte  der  Bevölkerung  ausmachen,  an  Deutschland  kommen 
kann.  Die  logischen  Wege  des  polnischen  politischen  Gedankens  sind 
manchmal  wirklich  merkwürdig.  Es  ist  aber  für  eine  Nation  und  für 
ihre  Regierungsfähigkeit  charakteristisch,  daß  im  Momente,  wo  sie  selbst 
noch  nichts  besitzt,  schon  nach  dem  fremden  Gute  die  Hand  ausstreckt. 

Auch  die  polnischen  Darstellungen  der  Verhältnisse,  der  Gesinnungen, 
der  nationalen  Kräfte  u.  ä.  w.  auf  dem  von  den  Polen  beanspruchten 
Gebiete  sind  ganz  falsch  und  tendenziös  fabriziert.  Wir  haben  schon 
davon  gesprochen,  daß  nichtpolnische  Katholiken  dieser  Gebiete  den 
Polen  durchaus  feindlich  gesinnt  sind.  Die  Polen  haben  in  den  dies¬ 
bezüglichen  Ländern  17%  des  gesamten  Bodenbesitzes  in  ihrer  Hand 
und  bilden  eine  durchaus  dünne  und  seit  einem  Jahi hunderte  nummerisch 
sehr  stark  zurückgegangene  Schicht  aer  mit  dem  Volke  auf  ewigem 
Kriegsfuße  lebenden  Plantatoren.  Wir  haben  sie  mit  dieser  Benennung 
deshalb  bezeichnet,  da  dieselbe  uns  das  Verhältnis  dieser  Schicht  zur 
einheimischen  Bevölkerung  am  getreusten  wiederzuspiegeln  scheint. 
Drei  kleine  Häuflein  von  den  wirtschaftlich  umkommenden  und  von 
den  Volksmassen  leidenschaftlich  gehaßten  Individuen  ist  absolut  nicht 
imstande  die  Millionenmassen  von  Ukrainer  oder  Weißruthenen  zu 
regieren.  So  ein  Staat  mit  69%  bedrängter  Nationalitäten,  und  mit 
1 — 2%  der  regierenden  Nation  in  den  Provinzen  seiner  östlichen 
Peripherie  würde  bald  umkommen  und  von  den  inneren  Nationalkämpfen 
zersetzt  werden. 

Das  würde  umso  sicherer  geschehen  müssen,  da  die  nationalen 
Bewegungen  der  Ukrainer,  Weißruthener  und  Litauer  gar  nicht  so 
schwach  sind,  wie  sie  es  die  Herren  Wasilewski  und  Studnicki  nötig 
haben,  darzustellen.  Die  Litauer  haben  eine  stark  individualisierte 
Nationalphysiognomie  und  sind  national  in  ihren  Volksmassen  hoch 
bewußt,  viel  höher  als  die  Polen.  Die  Weißruthenen  sind  auch  schon 
am  Wege  sich  von  fremden  Einflüssen  zu  emancipieren  und  bei  ihrer 
Zahl  (6 — 8  Millionen)  sind  sie  gar  nicht  zu  polonisieren  —  umso  mehr 
die  Ukrainer,  die  gegen  die  polnische  Herrschaft  Jahrhunderte  blutig 
gekämpft  haben,  die  in  dem  polnischen  Staate  des  Herrn  Studnicki 
noch  zahlreicher  als  die  Weißruthenen  sein  müßten  und  die  in  einem 
regen  Nationalerwachen  begriffen  sind.  Die  Polen  haben  in  ihrem  ge¬ 
schichtlichem  Staate  eine  Prüfung  der  Regierungsunfähigkeit  abgelegt, 
indem  ihre  nationale  und  konfessionelle  Unduldsamkeit  den  Staat 


—  39 


zersprengten.  Eben  dasselbe  würde  auch  im  neuen,  auf  dem  Rücken  der 
Ukrainer,  Weißruthener  und  Litauer  gegründeten  Staate  geschehen  — 
umso  mehr,  da  Rußland,  wie  es  im  18.  Jahrhundert  das  getan  hat, 
schon  verstehen  wird  als  „Befreier“  der  Orthodoxen  und  Nicht-Polen 
mit  Triumpf  in  diese  Länder  zurückzukehren.  So  einen  Staat  zu  bauen, 
hieße  auf  dem  ganzen  Gebiete  ostwärts  vom  Njemen,  Narew,  Wepr, 
Ssan  „pour  le  Tzar  de  Russie“  zu  arbeiten! 

In  einem  einzigen  Falle  könnte  sich  so  ein  buntsprachiges  Polen 
eine  Zeit  hindurch  behaupten  —  nämlich  im  Anschluß  an  Rußland 
und  in  dem  Bunde  mit  demselben  gegen  Mitteleuropa,  in  erster  Reihe 
gegen  Deutschland.  Eine  Verständigung  Polens  mit  Rußland  in  der 
Frage  der  westukrainischen  und  weißruthenischen  Gebiete  ist  ja  möglich; 
sie  hat  schon  ihr  Vorbild  im  Vertrag  von  Andrussow.  Für  den  Preis, 
ein  paar  westrussische  Gouvernements  im  Besitze  Polens  gutwillig  zu 
belassen  und  für  das  Versprechen  für  Danzig  und  Polen,  ohne  welchen 
ja  ein  polnischer  Großstaat  undenkbar  ist,  kann  Rußland  ganz  sicher 
Polens  Zutritt  zum  Bunde  gegen  Mitteleuropa  gewinnen.  Dazu  kommt 
auch  der  Umstand,  daß  die  polnische  Industrie  mit  der  deutschen  keine 
Konkurenz  aushalten  kann  und  ohne  die  russischen  Absatzgebiete  zur 
Verkümmerung  verurteilt  sein  würde.  Einen  polnischen  Großstaat  auf 
nichtpolnischen  Ländern  zu  bauen,  hieße  also  einen  Bundesgenossen 
Rußlands  in  der  Nähe  Berlins  und  Wien  organisieren:  ein  zweites 
Serbien!  So  ein  polnischer  Staat,  von  inneren  Nationalfragen  geplagt 
und  keine  Widerstandskraft  gegen  Rußland  besitzend,  wird  auch  an 
Rußlands  politischen  Wagen  sich  anspannen  lassen  müssen. 

Schlußbemerkungen,. 

In  unseren  Ausführungen  sind  wir  zu  dem  Schlüsse  gekommen, 
daß  die  Bildung  eines  ukrainischen  Staates  nicht  nur  im  Interesse 
Deutschlands  und  Mitteleuropas  im  allgemeinen  liegt,  sondern  direkt 
mit  den  großen  Bestrebungen  der  deutschen  Nation  in  diesem  Kriege 
im  einem  engen  und  pragmatischen  Zusammenhänge  steht,  indem  die 
Sicherstellung  der  Meeresengen  und  des  deutschen  Weges  nach  Bagdad 
wie  auch  des  europäischen  Friedens  ohne  Zurückdrängung  Rußlands 
vom  Schwarzen  Meere  durch  einen  ukrainischen  Staat  nicht  denkbar 
erscheint. 

Diese  großen  Bestrebungen  dagegen  können  —  unserer  Ansicht 
nach  keineswegs  durch  das  Abtrennen  nur  eines  relativ  schmalen 
Streifens  der  bisher  an  Ostgalizien  angrenzenden  Gebiete  Rußlands,  d.  i.  des 
Cholmer  Landes,  Wolhyniens,  Podoliens  und  eventuell  noch  eines  schmalen 
Aermels  von  Podolien  bis  zum  Schwarzen  Meere  und  Odessa  zwischen 
Dnjstr  und  Boh,  wie  es  sich  manche  Kreise  die  territoalen  Erwerbnisse 
im  Osten  darstellen  —  genügend  gesichert  werden.  So  ein  Gebiet  mit 
zirka  200  000  km  Oberfläche  und  10— 12  Millionen  Einwohner,  darunter 
9—10  Millionen  Ukrainer,  500  000  Polen,  300  000  Deutsche,  über  eine 
Million  Juden  und  zirka  300  000  Russen  wäre  zu  schwach,  um  den 
russischen  Andrange  ernst  die  Stirn  bieten  zu  können  und  die  Verbindung 


40 


Berlins  mit  Odessa  ganz  sicher  zu  machen.  In  diesem  Falle  würde 
Rußland  das  Schwarze  Meer  weiter  beherrschen  und  von  Sebastopol 
aus  Konstantinopel  bedrohen. 

Es  entsteht  die  Frage,  was  man  mit  so  einem  Gebiete  tun  soll. 
Es  existieren  ja  in  Europa  —  im  Norden  und  auf  dem  Balkan  —  viel 
kleinere  Staaten  als  das  genannte  Gebiet;  die  Organisierung  eines 
ukrainischen  selbständigen  oder  in  einer  Real-  oder  Personal-Union  mit 
einem  anderen  Staate  verbleibenden  Staatswesens  auf  diesem  Gebiete, 
erscheint  schon  möglich.  Es  ist  aber  auch  nicht  ausgeschlossen,  daß 
es  an  Oesterreich  angegliedert  werden  könnte,  damit  dadurch  das 
ukrainische  Piemont  in  dem  Rahmen  Oesterreichs  gestärkt  werde.  Im 
letzten  Falle  müßte  es  mit  Ostgalizien  bis  über  den  Ssan  im  Westen  in 
ein  autonomes  Kronland  —  ein  Nachbild  des  gewesenen  ukrainischen 
Königreiches  Galizien  und  Lodomerien,  das  eben  auf  demselben  Terri¬ 
torium  existierte  —  zusammengeschmolzen  werden,  umsomehr,  als  eine 
Teilung  Galiziens  nach  dem  ethnographischen  Prinzip  eine  politische 
Notwendigkeit  seit  Dezennien  ist. 

Ein  Zusammenleben  der  Polen  und  Ukrainer  in  einem  Kronlande, 
ebenso  wie  in  einem  polnischen  Staate,  wo  die  Polen  Herrscher  sein 
sollten,  ist  undenkbar,  da  dies  schon  bisher  die  traurigsten  Folgen  für 
die  Ukrainer  und  für  Oesterreich  brachte.  Insbesondere  ist  es  undenk¬ 
bar,  und  ausgeschlossen  nach  den  traurigen  Erfahrungen  vom  Herbst 
1914,  wo  es  einerseits  die  bis  zum  Kriegsausbrüche  von  der  polnischen 
Landesverwaltung  als  Antidotum  gegen  das  Ukrainertum  begünstigte 
Russophilie  in  manchen  Kreisen  zum  Vorschein  kam,  anderseits  aber 
dieselbe  polnische  Landesverwaltung,  das  Vertrauen  der  Militärbehörden 
zu  den  Polen  ausnützend,  tausende  von  den  besten  österreichischen 
Patrioten  ukrainischer  Nationalität  als  angebliche  „Russophilen“ 
denunzierte,  und  ihre  Verfolgung,  ja  sogar  ihre  Maßregelung  ver¬ 
ursachte,  wonach  die  unschuldigen  Leute  nach  durchstandenen  Leiden 
und  Schmach  zu  tausenden  als  verläßliche  Personen  freigelassen  wurden. 
Zwischen  den  Polen  und  Ukrainern  gähnt  jetzt  eine  Kluft,  deren  Ueber- 
brückung  auf  unabsehbare  Zeit  ausgeschlossen  ist.  Der  Pole  ist  für 
den  Ukrainer  ein  ebensolcher  Todfeind  wie  der  Russe,  beide  verbünden 
sich  auch  gewöhnlich  gegen  die  Ukrainer.  Bei  solchen  Umständen  ist 
ein  Zusammenleben  der  Ukrainer  mit  den  Polen  unmöglich.  Sogar  in 
dem  Falle,  wenn  Galizien  durch  Anschluß  mancher  Gebiete  im  Nord¬ 
osten  und  Osten  nicht  vergi  ößert  wird,  muß  es  geteilt  werden,  um  un- 
erwünschesten  Erscheinungen  in  diesem  gegen  Rußland  vorgeschobenen 
Lande  vorzubeugen.  Die  bisherige  Politik  des  Preisgebens  der  Ukrainer 
der  polnischen  Herrschaft  hat  Bankrott  gemacht  und  kann  nicht  wieder¬ 
holt  werden.  Es  müssen,  wenn  man  wirklich  Rußland  in  seiner  Achilles¬ 
ferse,  in  der  ukrainischen  Frage,  angreifen  wili,  die  Kräfte  des 
ukrainischen  Volkes  in  Galizien  enfesselt  werden,  damit  hier  wirklich 
ein  politischer  und  kultureller  Gravitationspunkt  für  die  ganze  russische 
Ukraine  entsteht. 

Wie  gesagt,  sind  diese  kleinen  Maßnahmen  aber  nicht  geeignet, 
die  großen  politischen  Aufgaben  Deutschlands  in  der  südöstlichen 


—  41 


Richtung  zu  sichern.  Demgemäß  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als  zum 
Hauptgedanken  dieser  Publikation,  nämlich  zum  Gedanken  eines 
ukrainischen  Staates  zwischen  Deutschland  im  Nordwesten  und  dem 
Schwarzen  Meere  im  Südosten,  zwischen  Oesterreich  im  Westen  und 
Rußland  im  Nordosten  zurückzukehren.  Die  Konstituierung  so  eines 
Staates  bei  dem  Reichtum  der  Ukraine,  bei  der  ausgeprägten  nationalen 
Individualität,  der  relativ  hohen  Kultur  der  ukrainischen  Volksmassen, 
und  bei  dem  Vorhandensein  genügender  Intelligenzkreise  ist  mit  Hilfe 
Deutschlands  eine  viel  leichtere  Sache,  als  es  die  Konstituierung 
Bulgariens,  Rumäniens  oder  Griechenlands  war.  Diese  Länder  machten 
einen  rapiden  Sprung  aus  der  Barbarei  ins  rechtliche  Staatsleben,  wo¬ 
bei  auswärtige  Mächte  ihnen  behilflich  waren.  Die  Ukraine  braucht 
keinen  so  rapiden  Sprung  zu  machen,  da  sie  jedenfalls  ein  altes  Kultur¬ 
land  ist,  einen  alten  Staatsgedanken  besitzt  und  schon  jetzt  ent¬ 
sprechende  materielle  und  intellektuelle  Kräfte  besitzt.  Es  wird  in  der 
Ukraine  nur  eine  Verschiebung  der  Staatsgewalt  aus  den  russischen  in 
die  ukrainischen  Hände  vor  sich  gehen,  während  der  Verwaltungs¬ 
apparat  nach  manchen  persönlichen  Aenderungen  (hauptsächlich  in  den 
leitenden  Stellen)  und  nach  mancher  Säuberung  im  beträchtlichen  Teile 
derselbe  bleiben  kann.  Der  russische  Staat  verdankt  ja  einen  relativ 
sehr  großen  Teil  seiner  Machtstellung  den  materiellen  und  intellektuellen 
Kräften  aus  der  Ukraine.  Nur  ein  Teil  dieser  Kräfte  genügt,  um  einen 
ukrainischen  Staat  zu  etablieren,  ohne  daß  er  solche  Kinderkrankheiten 
durchmachen  müßte,  wie  es  bei  den  Balkanstaaten  der  Fall  gewesen. 
Es  sind  auch  die  halbasiatischen  und  kleinlichen  Balkanverhältnisse  mit 
den  jedenfalls  zivilisierten  und  großzügigen  Verhältnissen  in  der  Ukraine 
gar  nicht  zu  vergleichen. 

Die  einzige  Schwierigkeit  bei  der  Bildung  eines  ukrainischen  Staates 
wäre  militärischen  Charakters,  nämlich:  ob  die  Zerschmetterung  Ru߬ 
lands  eine  so  weitgehende  sein  wird,  daß  Rußland,  wenn  nicht  ganz 
Ukraine,  dann  wenigstens  dieselbe  bis  zum  Dniepr  und  bis  zum 
Asowschen  Meere  verliere.  Das  müssen  wir  mit  Vertrauen  den  weiteren 
Kriegsereignissen  und  der  Kraft  der  verbündeten  Armeen  überlassen. 


Anhänge. 

Die  Ukraine  als  evtl.  Kriegsschauplatz. 

Für  jene,  die  sich  mit  der  ukrainischen  Frage  befassen,  wird  es 
nicht  ohne  Interesse  sein,  wie  sich  die  Ukraine  als  ein  eventueller 
Kriegsschauplatz  darstellt  und  welche  Möglichkeiten  dieselbe  einer  In¬ 
vasionsarmee  darbietet.  In  aller  Kürze  werden  wir  einige  Angaben  den 
geehrten  Lesern  vorlegen. 

Fünf  Momente  kommen  bei  der  Beurteilung  der  Bedeutung  eines 
Terrains  für  eine  Invasionsarmee  im  Betracht:  Bodenbeschaffenheit 
mit  allen,  was  dazu  gehört  (Oro-  und  Hydragraphie,  Klima  usw.), 


—  42  — 


Kulturzustand  mit  den  Unterbringungs-  und  Approvisatiosresouren, 
Verkehrswesen  mit  den  Nachschubbedingungen,  militärische  Be¬ 
deutung  des  Terrains  mit  Rücksicht  auf  die  Verteidigungslinie  oder 
Ausfallbasen  und  politische  Bedeutung  des  Terrains  mit  Rücksicht 
auf  den  Krieg  und  dann  auf  die  Kriegszäele. 

Was  die  Bodenbeschaffenheit  der  Ukraine  anbelangt,  so  ist 
sie  für  eine  vom  Westen  vordringende  Armee  ein  ohne  jeden  Vergleich 
günstigeres  Terrain,  als  die  Sümpfe  und  waldigen  Terrains  Polens  und 
noch  mehr  Nordwestrußlands,  wo  sich  jetzt  die  wichtigsten  Kriegser¬ 
eignisse  bei  Bewunderung  der  ganzen  Welt  abspielen.  Die  Ukraine, 
nur  den  nördlichen  Saum  Wolhyniens  und  des  Kijewer-Gouvernements  aus¬ 
genommen,  der  noch  den  Polisje-Charakter  trägt,  ist  ein  trockenes,  bis 
zum  Dniepr  nur  von  relativ  kleinen  Flüssen  durchkreuztes  und  mit 
festem  schwarzen  Erdboden  bedecktes  Hügelland  respektive  ebenso  ein 
Komplex  von  dem  durch  die  Flußtäler  getrennten  Plateaus.  Keine  Ge¬ 
birgskette  ist  von  der  galizischen  Grenze  bis  über  Don  und  Wolga 
im  Osten  hinaus  zu  finden.  Aber  auch  kein  Sumpfland,  wie  es  im 
Nordwesten  und  kein  Sandland,  wie  es  in  Polen  oder  am  Bug  vorhanden 
ist.  Das  erste  und  einzige  ernste  Hindernis  im  Osten  ist  der  mächtige 
Dniepr  -  Strom,  dessen  Uferbau  aber  eben  für  die  vom  Westen  vor¬ 
dringende  Armee  günstig  ist,  indem  das  westliche  Ufer  hoch  und  steil, 
das  östliche  dagegenjlach  und  eben  ist  und  von  dem  westlichen  weit  aus 
beherrscht  werden  kann. 

Die  klimatischen  Verhältnisse  der  Ukraine  sind  auch  ganz 
anders  als  die  von  Polen  oder  Nordwestrußland,  wieder  zugunsten  der 
viel  südlicher  gelegenen  Ukraine.  Kijew  und  Schitomir  liegen  ja  ein 
wenig  südlicher  als  Kielce  und  Tschenstochau  und  fast  um  einen  Grad 
südlicher  als  Lodz  und  Petrikau;  Kamenetz  Podolskyj  liegt  in  der  geogr. 
Höhe  von  Nürnberg,  Balta  in  der  geogi.  Höhe  von  Wien  und  München; 
Odessa  in  der  geogr.  Höhe  von  Südungarn  und  Genfer-See.  Da  das 
Klima  der  Ukraine  ein  Uebergangsklima  zum  Kontinentalen  ist,  so  ist  der 
ukrainische  Herbst  trocken  und  reicht  bis  in  die  Mitte  November,  wo 
nach  kurzer  Zeit  der  Herbstregen  wiederum  ein  trockener  und  schnee¬ 
armer  Winter  folgt.  Der  erste  Schnee  kommt  gewöhnlich  in  der  ersten 
Hälfte  Dezembers,  die  ersten  Fröste  um  das  Ende  des  Dezembers. 
Schneestürme  und  große  Fröste  gibt  es  freilich  um  Jahreswende  und  im 
Jänner,  sie  dauern  aber  nicht  lange,  da  schon  im  Februar  es  nachzu¬ 
geben  beginnt.  Im  März  beginnt  schon  die  allgemeine  Tauzeit  und 
Unwegsamkeit,  wonach  im  April  der  Frühling  sich  den  Weg  bahnt,  um 
im  Mai  Herr  der  Natur  zu  werden.  Schon  zu  Ende  Aprils  wird  der 
Boden  trocken,  wonach  nur  noch  um  Ende  des  Junis  eine  kurze 
Sommerregenzeit  kommt.  Danach  ist  nur  die  einzige  Tauzeit  für 
Kriegsoperationen  ungünstig. 

Während  in  Nordwestrußland  im  Januar  die  Durchschnittstemperatur 
auf  6  —  8  Grad  unter  Null  sich  beläuft,  ist  die  Januars-Durchschnittkälte 
von  Südwest- Rußland  (Westukraine)  3 — 5  Grad  unter  Null;  während 
die  Düna  bei  Riga  120  Tage,  Njemen  bei  Kowno  100  Tage  mit  Eis 
bedeckt  sind,  friert  Dniepr  oberhalb  von  Kijew  auf  100  Tage,  unterhalb 


43  — 


auf  80  ja  sogar  nur  auf  70  Tage  zu.  Von  dem  Reichtum  an  Regen- 
und  Schneefällen  Nordwestrußlands  gibt  es  in  der  Ukraine  keine  Spur. 

Auch  die  Kultur-  und  demgemäß  die  Approvisations-  und 
Unterbringungsresouren  der  Ukraine  sind  ohne  Vergleich  günstiger 
wie  Nordwestrußland,  indem  die  Ukraine  nach  Polen  98  pro  km2  die 
größte  Volksdichte  (Kijew  und  Podolien  89  pro  km2  Poltawa  72  pro  km2. 
Wolhynien,  den  sumpfigen  Teil  von  Polisje  eingerechnet,  54  pro 
km2  usw.)  besitzt  (im  Vergleich:  Zentralrußland  25  pro  km2,  Gouverne¬ 
ment  Wilna  45  pro  km2,  Minsk  30  pro  km2  usw.).  Auch  der  Kultur¬ 
zustand  dieser  par  exellence  anwerbenden  Bevölkerung  ist  viel  höher, 
als  in  Nordwestrußland.  Die  Bauernhäuser,  obwohl  größtenteils  aus 
Holz  oder  Lehm  mit  Flechtenwerk  gebaui  und  mit  Strohdach  bedeckt, 
haben  in  der  Regel  zwei  ja  sogar  drei,  durch  einen  Zwischengang 
separierte  Räume  und  sind  dazu  rein  mit  Kalk  oder  Lehm  bestrichen, 
sauber  und  mit  Schornsteinen  versehen,  Tiere  werden  in  den  Wohn- 
räumen  nicht  untergebracht.  Die  großen  Ansiedlungen  (große  Dörfer 
und  Marktflecken  liegen  dicht  aneinander,  nicht  so,  wie  es  in  Nordwest¬ 
rußland  ist,  wo  es  nur  von  einander  weitentlegene  kleine  Dörfer  und 
Einzelsiedlungen  gibt.  Für  die  Unterbringung  der  Truppen  sind  die 
großen  ukrainischen  Dörfer  höchst  geeignet,  umsomehr,  da  die  Be¬ 
völkerung  sehr  gutmütig  und  gastfreundlich  ist.  Da  das  Land  eine  Korn- 
und  Rinder-Kammer  Rußlands  ist,  sind  die  Verpflegungsverhältnisse 
sehr  günstig.  Sogar,  wenn  die  Russen  beim  Rückzug  alles  mögliche 
verbrennen,  wird  es  noch  genügend  Verpflegungs-  und  Unterbringungs¬ 
resouren  bleiben,  umso  mehr,  da  in  der  Praxis  das  russische  Ver¬ 
nichtungs-System  sich  ja  als  unausführbar  erwies. 

Letzthin  muß  hervorgehoben  werden,  daß  für  den  Fall,  daß  sich 
der  Krieg  auf  die  Dauer  verschleppen  sollte,  was  die  Absicht  der  Eng¬ 
länder  zu  sein  scheint  und  worauf  die  Russen  auch  rechnen,  die  Be¬ 
setzung  der  westlichen  und  südlichen  Ukraine  mit  einem  besonders 
fruchtbaren  Boden  und  unzählbaren  Herden  den  Zentralmächten  er¬ 
möglichen  wird,  ins  Unendliche  durchzuhalten,  ohne  Mangel  an  Korn, 
Rindvieh,  Wolle,  Eisen  und  Kohlen  zu  spüren.  Das  einzige  Gouverne¬ 
ment  Katerynoslaw  produziert  jährlich  ungefähr  so  viel  Korn  wie  ganz 
Russisch  -  Polen  (Katerynoslaw  195  Millionen  Pud,  Russisch  -  Polen 
213  Millionen  Pud,  wobei  zu  berücksichtigen  ist,  daß  die  Produktion 
von  Katerynoslaw  noch  viel  mehr  gesteigert  werden  kann  als  die  von 
Russisch-Polen  und  daß  Katerynoslaw  lauter  Weizen,  Russisch-Polen 
dagegen  mindere  Korngattungen  produziert!).  Die  gesamte  Kornpro¬ 
duktion  der  westlichen  Ukraine  (bis  Dniepr)  beläuft  sich  auf  zirka 
680  Millionen  Pud,  d.  i.  die  Hälfte  der  gesamten  ukrainischen  Kornpro¬ 
duktion  und  zirka  20°/o  der  gesamten  Produktion  Rußlands.  Polen 
allein  bezog  aus  der  Ukraina  jählich  zirka  40  Millionen  Pud,  Wei߬ 
rußland  ebenso  zirka  5  Millionen  Pud  usw.  Auch  dieser  Umstand  spricht 
für  die  Besetzung  der  Ukraine.  Sonst  müßte  man  die  polnischen  und 
nordwestrussischen  Gebiete  mit  dem  Korn  der  Zentralmächte  ernähren. 

Das  Verkehrswesen  der  Ukraine  steht  dem  polnischen  und 
galizischen  nach,  ist  aber  viel  besser  entwickelt,  als  jenes  von  Nord- 


44 


westrußland.  Das  ist  die  Folge  der  Bodenbeschaffenheit,  so  daß  sogar 
die  Nachteile  des  ukrainischen  Verkehrswesens  im  Vergleich  mit  dem 
von  Polen  und  Galizien  durch  den  festeren  Boden  ersetzt  werden. 

Bei  den  westukrainischen  Eisenbahnlinien  ist  ihre  südöstliche 
Richtung  charakteristisch,  so  daß  ihr  Schema  wie  die  auseinander¬ 
gestellten  Finger  einer  Hand,  deren  Fläche  sich  in  der  Linie  Brest- 
Litowsk-Nowosolicia  befindet,  aussieht.  Vier  Hauptlinien,  davon  zwei 
zweispurig,  verbinden  Galizien  und  Polen  mit  der  Ukraine,  wonach  sie 
sich  zu  der  östlichen  und  südlichen  Richtung  in  10  Linien  verzweigen. 
Ueber  Brest- Litowsk-Warschau,  Lublin-Radom,  Wladymir  Wol.-Sokal- 
Jaroslaw-,  Brody-Lemberg,  Podwoloczyska-Stryj,  Nowoselycia-Czerno- 
witz-Budapest  haben  sie  Anschluß  an  alle  Hauptarterien  beider  Zentral¬ 
mächte.  Wenn  man  berücksichtigt,  daß  es  von  Lemberg  oder  Brest- 
Litowsk  nach  Kijew  ebenso  weit,  wie  von  Berlin  nach  Warschau  oder 
von  Danzig  nach  Riga,  so  erscheint  die  Möglichkeit  einer  Offensive  in 
die  Ukraine  nicht  so  weit  entlegen  zu  sein. 

Was  die  militärische  Bedeutung  des  Terrains  anbelangt,  so 
ist  das  Urteil  darüber  selbstverständlich  die  Sache  der  diesbezüglichen 
kompetenten  Militärstellen.  Von  dem  Standpunkte  eines  Laien  die 
Sache  beurteilend,  können  wir  in  erster  Reihe  auf  das  Festungsdreieck 
Dubno-Rowno-Luzk  in  Wolhynien  als  eine  gefährliche  Nachbarschaft 
für  unsere  rechte  Flanke  zwischen  Brest- Litowsk-Czernowitz  hinweisen. 
Solange  dieses  Festungsdreieck  in  den  Händen  der  Russen  ist,  können 
dieselben  immer  einen  Vorstoß  gegen  Ostgalizien  versuchen,  um  das 
unsrige  Zentrum  und  die  linke  Flanke,  die  in  Nordosten  operieren,  zu 
zu  gefährden,  so  wie  es  auch  mit  der  österreichischen  gegen  Lublin 
operierenden  Armee  im  August  1914  geschah.  Die  Einnahme  dieses 
Dreiecks  würde  den  Russen  die  Operations-  und  Ausfallsbasis  auch  im 
Südosten  entreißen,  so  daß  denselben  erst  am  Dniepr  eine  Verteidigungs¬ 
linie  übrig  blieb.  Nach  der  Einnahme  dieses  Festungsdreiecks  ist  der 
Weg  bis  nach  Kijew  frei. 

Es  scheint  uns  auch,  daß,  falls  die  Dardanellenfront,  wo  die 
Türken  unter  deutscher  Leitung  heroischen  Widerstand  leisten,  erschüttert 
erscheinen  sollte,  eine  Offensive  in  der  Richtung  gegen  Odessa  unaus¬ 
bleiblich  sein  wird,  damit  die  Zentralmächte  eine  direkte  Verbindung 
mit  der  Türkei  erlangen.  Odessa  in  den  Händen  der  Verbündeten,  und 
unsere  Unterseeboote  an  der  Nordküste  des  Schwarzen  Meeres,  das 
wäre  ein  Ende  der  russischen  Herrschaft  über  das  Schwarze  Meer. 
Ein  Vorrücken  gegen  Odessa  ohne  gleichzeitiges  Vorrücken  gegen  Kijew 
ist  unmöglich. 

Was  für  eine  Bedeutung  die  Besetzung  der  Ukraine  für  die  Entkräftigung 
Rußlands  im  Falle  einerVerschleppung  des  Krieges  haben  könnte,  kann  man 
aus  dem  über  die  Approvisationsresouren  der  Ukraine  gesagten  beurteilen. 

In  der  politischen  Hinsicht  wäre  die  Offensive  der  Verbündeten 
in  der  Ukraine  von  außerordentlicher  Bedeutung,  indem  dies  über  die 
Haltung  der  Balkanstaaten  endlich  einmal  definitiv  entscheiden  würde. 
Welche  Bedeutung  die  Ukraine  mit  Rücksicht  auf  die  mit  dem  Kriege  ver¬ 
bundenen  politischen  Aufgaben  hat,  das  wurde  schon  ausführlich  dargelegt. 


DiE  NATiONEN  DES  ÖSTLICHEN 
KRIEGSSCHAUPLATZES 
UND  DAS  PROJEKT  PES 

UKRAiNiSCHEN  STAATES 

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B  i  SMARCK=  HARTMANN 
1888-1889- 
=  LLKrain.tr 
1 1 1 1 1  Rassen 

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des  HartmaTmsctenBrojektes 
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