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Die
großen politischen Aufgaben
des Krieges im Osten und die
ukrainische Frage
Von
Df. LongSO Cehelskyj, Reichsratsabgeordneter
Zentralstelle
des Bundes z. Befreiung
der Ukraine
Berlin YV . CG, Leipzigcrstr. 131.
Berlin 1915
.
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Inhalt:
1. Einleitung.
2. Die russische Gefahr.
3. Polens, Litauens, Kurlands und Finnlands Abtrennung — bedeuten noch kein
Schwächung Russlands!
4. Die großen, durch den jetzigen Krieg zu lösenden Aufgaben und die Bildur
eines ukrainischen Staates.
5. Die Bismarck-Hartmannsche Lösung der ukrainischen Frage.
6. Die minimalste Zwischenetappe in der Lösung der ukrainischen Frage.
7. Die sozialen Vorbedingungen eines ukrainischen Staates.
8. Die ideellen Vorbedingungen eines ukrainischen Staates.
9. Eine selbständige Ukraine und Russland in der Zukunft.
10. Ein gefahrvolles Projekt.
11. Schlussbemerkungen. .
Anhänge:
Die Ukraine als eveniueller Kriegsschauplatz.
Eine Karte.
5
„Dieser ungeheuere Weltkrieg, der die Fugen der Welt
klaffend macht, wird alte vergangene Zustände nicht zurück¬
führen. Ein Neues muß en stehen. Wenn Europa je
zur Ruhe kommen soll, kann es nur durch eine unan¬
tastbare und starke Stellung Deutschlands
geschehen. Deutschland muß sich seine Stellung so aus¬
bauen, so festigen und stärken, daßdieanderenMächte
niemals wieder an eine Einkreisungspolitik
denken. Zu unsrem und zum Schutz und Heile aller
Völker müssen wir die Befreiung der Weltmeere
erringen. Wir wollen sein und bleiben ein Hort des
Friedens und der Freiheit der großen und der
kleineren Nationen. Ich beziehe das keineswegs bloß
auf die Völker germanischer Rasse. Wir halten den Kampf
durch, bis die Bahn frei wird für ein neues, von
französischen Ränken und moskowitischer Er¬
oberungssucht sowie englischer Vormundschaft
befreites Europa.“
(Aus der Reichstagsrede des Reichskanzlers Dr. von
Bethmann-Hollw eg vom 19. August 1915.)
Einleitung.
Die auf der Ostfront errungenen Triumphe der deutschen Waffen
haben eine Situation geschaffen, in der sich weite Ausblicke auf die
nähere und die entlegenere Zukunft eröffnen. Es scheint der Moment
herangerückt, in dem wichtige entscheidende Beschlüsse fallen müssen.
Das entnimmt man auch der großen Rede des deutschen Reichskanzlers
im Reichstage vom 16. August d. J. Große Ziele des tobenden
Weltkrieges sind an unser Bewußtsein näher herangerückt, tauchen aus
dem Gewimmel der Weltereignisse in immer mehr konkreten Umrissen
heraus und bahnen sich den Weg zum klar bewußten Willen der großen
deutschen Nation. „Ein Neues muß entstehen“ — sagte der Reichs¬
kanzler in seiner Rede bei dem Beifall des gesamten Reichstages. Und
dies Neue liegt seinen Worten nach in einer so gestärkten Stellung
Deutschlands, daß eine Einkreisungspolitik nicht mehr denkbar wäre,
daß die Weltmeere befreit werden, daß durch Deutschlands Stärke der
Weltfrieden gesichert werde, daß die Nationen ihre Freiheit bekommen
und das Europa von der moskowitischen Eroberungssucht und franzö¬
sisch-englischen Gelüsten befreit werde.
Die deutsche Nation hat sich dem klaren Bewußtsein dieser großen
weltgeschichtlichen Ziele dicht heran genähert, wie zugleich der Ueber-
zeugung, daß diese Ziele den Feinden Deutschlands aufzuzwingen sind.
Seit dem Fall Warschaus, Iwangorods, Nowo-Georgiewsks, Kownos und
Brest-Litowsks ist der große Krieg aus einem Verteidigungskriege zu
einem Schaffenskriege geworden. Und die weltgeschichtliche Rolle
des Schaffenden ist der deutschen Nation zugefallen. Die Welt soll so
aussehen, wie es die deutsche Nation gewillt sein wird. Die großen
Siege im Osten haben den Deutschen den Schlüssel zur Entwickelung
weiterer Kriegsereignisse, zu der Gestaltung Europas und der Welt nach
6
dem Kriege in die Hände gelegt. Deshalb sind die nächsten Entschlüsse
von weltgeschichtlicher Tragweite.
Die Rede des Reichskanzlers hat die Endziele des Krieges als eine
politische These formuliert. Es handelt sich jetzt um das Konkretisieren,
um die reelle Ausführung dieser Thesen, um deren Inkraftsetzung durch
politische Tatsachen, durch das reelle politische Schaffen, was wiederum
von den militärischen Tatsachen und kriegerischen Schaffen vorbedingt
wird. Die bewunderungswürdige deutsche Armee hat Polen und Litauen
hinter dem Rücken und befindet sich schon auf den weißruthenischen
und ukrainischen Gebieten Rußlands. Mit dem Momente, als die etno-
graphische Grenze zwischen den Polen und Ukrainern an der Wiepr-
und Narewlinie passiert wurde, schob sich auch die ukrainische Frage,
als ein Bestandteil der großen Kriegsziele, näher heran und begann
aktuell zu sein. Die Entscheidung, welche in Kürze fallen muß, wird
auch über die Zukunft der Ukraine entscheiden. Aus verschiedenen
Erscheinungen aber läßt sich schließen, daß sowohl die breite deutsche
Oeffentiichkeit, wie auch die maßgebenden deutschen Kreise nicht voll¬
ständig mit der ukrainischen Frage vertraut sind, infolgedessen auch
dieselben kein besonderes, jedenfalls kein zwingendes Interesse für sie
zu haben scheinen.
Die nordwestlichen Gebiete Rußlands mit Petersburg als Ziel
scheinen die allgemeine Einbildungskraft viel mehr zu beschäftigen, ob¬
wohl es von Riga nach Petersburg ebenso weit wie von Berestj-Lytowskyj
nach Kijew ist, obwohl Petersburg eigentlich eine auf nichtrussischem
Boden gelegene Grenzstadt ist, welche für das nationale Leben und
die staatliche Macht Rußlands eigentlich keine ausschlaggebende Be¬
deutung hat, und welche von dem eigentlichen Zentrum Rußlands, Moskau,
durch schwer zugängliche, arme, rauhe, unermeßliche Gebiete Nordru߬
lands getrennt ist. Die Ukraine dagegen mit ihren viel kleineren Dimen¬
sionen, ihrer Nähe zu den Verbindungslinien Galiziens und Polens, ihrem
viel milderen und trockeneren Klima, wie auch ihrer viel dichteren Be¬
völkerung und ihrem Nahrungsmittelreichtum, scheint diese allgemeine
Einbildungskraft viel weniger zu interessieren, obwohl es von Lemberg oder
Berestj-Lytowskyj nach Kijew nicht weiter als von Lemberg nach Breslau
oder von Berlin nach Krakau ist. In der Presse wird wiederholt die Frage
der Ostseeprovinzen Rußlands erörtert, wobei man öfters zu übersehen
scheint, daß es in denselben drei mit einem sehr starken Nationalgefühl
ausgestattete Völker — Litauen, Leten und Esthen — gibt, die mit den
russischen Polen insgesamt bisher eine stark russenfreundliche Orien¬
tierung an den Tag gelegt haben und die vom Standpunkte deutscher
Staatsinteressen ein höchst zentrifugales Element darstellen. Man verliert
aber gewissermaßen die Tatsache aus den Augen, daß es im Süd westen
Rußlands ein nationales Element gibt, dessen geographische Lage und
dessen nationalpolitisches Verhältnis zu den Russen — wie auch zu den
Polen — es unbedingt zu einem natürlichen Bundesgenossen Deutschlands
machen müssen. Daß die Deutschen ein reges Interesse für die baltischen
Provinzen haben, ist leicht zu verstehen. Es ist ja ein altes deutsches
Expansionsgebiet, welches nach der Schlacht bei Grünwald-Tannenberg
7
lind noch mehr nach der Annektierung dieser Provinzen durch Rußland
für das Deutschtum verloren zu sein schien. Wenn man aber das rege
Interesse für die Leten beobachtet, bekommt man den Eindruck, daß
daran einen beträchtlichen Anteil geschichtlich -politische Romantik hat,
während die reellen großen und modernen Interessen Deutschlands ganz
anderswo — im Südosten — in der Richtung nach Bagdad und gegen
den Indischen Ozean hin — sich befinden. Und in der letztgenannten
Richtung liegt ja auch die Ukraine, das ukrainische Gestade des
Schwarzen Meeres und die an diesem Gestade gelegenen Häfen der
russischen Kriegsmarine, die, obwohl nicht groß, dennoch zur Bedrohung
der Meeresengen und Anatoliens hinreicht. Angesichts dieser großen
Frage, der Frage der Sicherstellung einer konstanten Ver¬
bindung zwischen Berlin und Bagdad, scheint uns die Frage der
Ostseeprovinzen viel mehr eine Lokal- und eine Sentimentsfrage zu sein;
es dünkt uns, daß eben diese große Frage von weltgeschichtlicher Trag¬
weite und mit der Formulierung der Kriegsziele, wie sie der Reichskanzler
in seiner Rede vom 16. August d. J. festgestellt hat, identisch ist;
wir sind der Meinung, daß sie ein reelles Rückgrat dieser Formulierung
bildet, indem die Sicherstellung der Verbindung zwischen Berlin und dem
Indischen Ozean das „Neue“ ist, worin die Ausschließung einer Ein¬
kreisung Deutschlands, die Freiheit der Weltmeere, die Bürgschaft des
Weltfriedens, die Befreiung Europas von der moskowitischen Eroberungs¬
sucht und englischen Vormundschaft und die führende Rolle eines er¬
starkten Deutschlands inbegriffen sind.
Von diesem Ausgangspunkte eben erachten wir die Lösung der
ukrainischen Frage durch die Bildung eines an die Zentralmächte
Europas gestützten ukrainischen Staates im Südwesten des jetzigen
Rußland als den integrierendsten Teil der großen Frage der zukünftigen
Ordnung der Verhältnisse im Osten. Nur von der selbständigen
Ukraine kann der Weg von Berlin nach Bagdad und nur von
der Ukraine können die Meeresengen — der schwächste Punkt
dieses Weges — vor Rußlands Eroberungs- und Revanche¬
gelüsten geschützt werden. Nur die Bildung einer selbständigen
Ukraine wird die Balkanvölker von der russischen Vormundschaft be¬
freien und dem Panslavismus der Polen, Tschechen, Serben usw. den
Hals brechen, da derselbe nur durch die Nähe des „großen russischen
Onkels“ und durch die Hoffnung auf seine Intervention genährt wird.
Der selbständige ukrainische Staat zwischen Deutschland und Oesterreich
im Nordwesten und dem Schwarzen Meere im Südosten wird ein Schutz¬
wall Mitteleuropas, des Balkans und Konstantinopels gegen den russischen
Imperialismus, ein nach Osten vorgeschobenes Bollwerk Mitteleuropas
bilden. Daß dies eben mit den großen Zielen der deutschen
Nation sich deckt, dies zu erörtern, ist die Aufgabe diese
Publikation.
❖
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8
Die russische Gefahr.
Schon Bismarck hat Russland als den eigentlichen Friedensstörer
Europas gekennzeichnet; weil ja tatsächlich nicht in dem allmählich hin¬
sinkenden Frankreich, nicht in dem angriffsunfähigen England, sondern
in dem immer wachsenden, jugendlichen, noch nicht abgebrauchten, sich
organisierenden und angriffslustigen Rußland die zukünftige Gefahr so¬
gar für ein siegreiches und erweitertes Deutschland liegt. Es hat schon
der jetzige Krieg gezeigt, daß der einzige ernste Gegner der ver¬
bündeten Zentralmächte Rußland ist. Es hat ja der ganzen Welt viele
Ueberraschungen gemacht, indem die russische Oeffentlichkeit und das
russische Offizierkorps eine von niemandem in Europa geahnte
patriotische Begeisterung und Einheitlichkeit der Gesinnung an den Tag
legten, indem die russische Intendantur und Kriegsführung einen ebenso
unerwarteten Grad von Bildung und Leistungsfähigkeit zum Vorschein
brachten und indem die Nationen, wie Polen, Litauer, Esthen, Leten,
Finnen, Juden usw., auf deren Abneigung gegen Russland man
rechnete, wie auch die- russischen Revolutionäre sich für die russische
Sache in dem Kriege begeistert erwiesen. All die Erscheinungen, die
einem von den oberflächlichen „Kennern“ Rußlands informierten Mittel¬
europäer so unerhofft und unerklärlich erscheinen, sind im Grunde ge¬
nommen einem jeden, der die ungemein rasche, ja rapide Entwickelung
Rußlands nach dem japanischen Kriege und der Revolution in den
Jahren 1905 — 1906 in der Nähe beobachtet hat, durchaus verständlich.
Das heutige Rußland mit der Duma, mit dem politischen Leben und
den paar großen Parteien, mit wachgerüttelter Oeffentlichkeit und heran¬
gewachsenem Nationalgefühl, mit der fortgeschrittenen Volksaufklärung
und der gewissen Beteiligung des Volkes am politischen Leben — ist
garnicht dasselbe, wie es vor dem Jahre 1905 war! Und dazu ein
Krieg gegen Deutschland und Oesterreich-Ungarn, wegen eines Aus¬
ganges zu den südlichen Meeren und wegen der Sicherstellung der
russischen Macht im Südosten Europas, ist ein Nationalkrieg im wahrsten
Sinne des Wortes. Deshalb sind Plechanoff, Burzeff, Krapotkin und
Miljukoff derselben Meinung in dem Kriege wie Nikolaj Nikolajewitsch,
Graf Bobrinskij, Erzbischof Eulogius, Markoff und Puriszkewitsch.
Immerhin für die nichtrussischen Nationen — die einzigen Ukrainer
und Mohamedaner ausgenommen! — ist das jetzige Rußland im
Vergleich zu Deutschland nicht dasselbe, was es bis zum Jahre 1905 war.
In dem Rahmen des sich entwickelnden russischen Konstitutionalismus
hoffen sie ihre nationale Eigenart besser, leichter und sicherer bewahren
zu können als in einem Staatsverbande mit dem hochentwickelten und
nach Osten drängenden Deutschtum. Gegen die Polen, Litauer, Leten,
Esthen und Finnen besitzt Rußland keine oder fast keine Denationali¬
sierungskraft, da die russischen Volksmassen mit dem Bauerntum, dem
Bürgertum wie auch der Arbeiterschaft der genannten Völker keinen
Konkurrenzkampf beginnen können und da die russische Ansiedelungs¬
auswanderung nicht nach den dichter bevölkerten und kulturell höher¬
stehenden Westprovinzen, sondern nach Sibirien gerichtet ist. Die
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politische Selbständigkeit haben zwar diese Völker eingebüßt — sie haben sich
aber damit abgefunden und sich in diese Lage eingepasst; sie suchen ein
Aequivalent dafür in der Konstitutionalisierung, respektive Föderalisierung
Rußlands. Ihr nationales Leben, ihr Nationalwesen und Nationalgrundstock
sind trotz allem unversehrt geblieben. Ja! dank ihrer höheren Kulturstufe
und Industrieentwicklung, dank dem großen russischen Handelsmarkte
haben sich dieselben sogar in den letzten Jahren bedeutend gestärkt.
Das Geschilderte ist aber nur ein Anfangsstadium von einer gro߬
zügigen Entwicklung Rußlands, die eben schon im Rollen ist und die
in zwei oder drei Dezennien aus Rußland eine unüberwindliche, mit
ideellen und materiellen Gesamtinteressen zu einer Einheit verbundene
Macht machen wird. Wie schon gesagt, sind Rußland und die russische
Wehrmacht im jetzigen Kriege bei weitem nicht dasselbe, was sie im
japanischen Kriege waren. In einem zukünftigen Kriege aber wird
Rußland noch mehr vorbereitet und noch mehr kriegsbegeistert sein.
Es handelt sich ja nicht um die exotischen Korkeichenwälder oder zarischen
Goldgruben im Ussurilande, irgendwo am Stillen Ozean, es handelt sich
um Rußlands lebendigste Interessen, um dessen Macht, um dessen Welt¬
stellung, um dessen Existenz. Ein verlorener Krieg, in welchem nur
eine kleine Amputierung Rußlands vom Nordwesten, ohne Rußland er¬
heblich zu schwächen, vorgenommen werden sollte, wird nur den
russischen Nationalismus entwickeln, Revanchegelüste nähren, Germanen¬
haß bis in die tiefsten Volksschichten tragen, indem einerseits die
finanziellen Folgen des verlorenen Kampfes, auch dem kleinsten Mann
empfindlich werden müßten, anderseits alle Parteien bei der fort¬
schreitenden Konstitutionalisierung das Volk lehren würden, in dem
Deutschtum den Todfeind zu sehen. Wenn wir dabei berücksichtigen
daß die Volksaufklärung und Industrialisierung Rußlands mit Riesen¬
schritten wachsen, so kann man sich vorstellen, mit welchem Feinde
es Deutschland in zwei bis drei Dezennien zu tun haben wird.
Lassen wir auch die erwähnten sozial-kulturellen Faktoren der
russischen Entwickelung bei Seite, so genügt bereits der natürliche
Zuwachs der russischen Bevölkerung im Vergleich zu dem
Deutschlands, Oesterreich-Ungarns und im allgemeinen Europas, um
die zukünftige russische Gefahr für Deutschland klar zu erkennen. Die
Bevölkerung Rußlands belief sich im Jahre 1910 auf 169,7 Millionen
Menschen, wobei der durchschnittliche alljärliche Zuwachs — im Ver¬
gleich zu dem in Europa höchsten Zuwachsprozent von 1,6 — 2,9 Millionen
Menschen beträgt. In demselben Jahre hatte das westliche Europa
320 Millionen Einwohner, wovon auf Deutschland 65 Millionen mit dem
jährlichen Zuwachsprozent von 1,4 und dem Zuwachse von 900 000
Menschen entfielen. Sogar wenn die Zuwachsverhältnisse sich garnicht
ändern — und bekanntlich ist der Zuwachs Westeuropas, ja sogar
Deutschlands im Fallen begriffen — so wird der Zuwachsprozent Ru߬
lands infolge Besserung der sanitären Verhältnisse und der Kultur
Dezennien hindurch eher wachsen als fallen; auf diese Weise werden
nach fünfzig Jahren 350 Millionen Rußlands gegen ebensoviel Millionen
des westlichen Europas stehen. In vierzig Jahren werden 300 Millionen
Rußlands höchstens 90 Millionen Deutschlands gegenüberstehen, wenn
heute den 170 Millionen Rußlands 65 Millionen Deutschlands entsprechen*
Das Verhältnis wird sich also automatisch zugunsten Rußlands ändern
und dasselbe in ein unüberwindliches Menschenmeer verwandeln. Wenn
man dabei das vorhin von der inneren Entwicklung Rußlands Gesagte
berücksichtigt und wenn man in Betracht zieht, daß Europa auch in
dem zukünftigen Kriege — ebenso wie jetzt — in zwei Kriegslager ge¬
teilt sein wird, so muß man zur Schlußfolgerung kommen, daß für den
Fall, wenn Rußland jetzt nicht gründlich gelähmt wird, ein jedes
weitere Jahr eine Verschiebung der Kampfkräfte und Kampfbedingungen
zugunsten Rußlands bedeutet, was schließlich seinen endgiltigen Sieg
sichern muß.
Den Verbündeten Rußlands in Mitteleuropa und auf dem Balkan
— den Panslavismus — darf man auch keineswegs aus dem Auge
verlieren, wenn man von der Zukunft spricht. Eine Kräftigung Deutsch¬
lands in Mitteleuropa, die zugleich keine Zertrümmerung Rußlands be¬
deuten sollte, wird den Panslavismus und die Gravitierung nach Ru߬
land bei den West- und Südslaven keineswegs schwächen, sondern im
Gegenteil nur stärken; von dem Deutschtum viel mehr als bisher sich
bedroht fühlend, werden diese Slawen alle ihre Hoffnungen nur in einem
starken Rußland sehen. Nur eine Zertrümmerung Rußlands und
eines Abdrängung desselben aus der Nähe Mitteleuropas und
des Balkans kann den Hoffungen der West- und Balkanslawen
auf Rußlands Hilfe, also dem Panslawismus, ein Ende bereiten.
P©Iesas? Litauens., Kurlands und
Finnlands Abtrennung — bedeuten
noch keime Schwächung Riifflancts!
Wenn es in der Presse zu der Erörterung der Frage gewisser
Gebietsabtrennung von Rußland kommt, dann werden gewöhnlich nur
die nordwestlichen Gebiete Rußlands — Polen, Litauen, Ostseeprovinzen
und Finnland — gemeint. Retrospektiverweise^die Frage behandelnd, ist
man gewöhnt, nur diese Länder als zentrifugale und zur Abtrennung
reife Elemente Rußlands anzusehen, ferner — unter der Suggestion der
verflossenen Jahrzehnte stehend — ist man bereit, diesen Ländern eine
allzu große Bedeutung für die Machtstellung Rußlands zuzuschreiben.
Da die optimistischen Vorurteile viel schädlicher als die pessimistischen
zu sein pflegen, so ist es am Platz, die deutsche Oeffentlichkeit vor
der Ueberschätzung der Bedeutung des gesamten obengenannten Länder-
komplexes für Rußlands Machtstellung in Europa zu warnen.
Einige statistische Angaben werden uns einen Lichtstrahl auf die
Frage werfen. Das in Rede stehende Gebiet (Polen, Litauen, Ostsee¬
provinzen und Finnland) ist ca. 600 000 km2 groß, bildet also mehr
oder weniger den neunten Teil des europäischen Rußlands, während
sich die Bevölkerung desselben auf 23 — 25 Millionen Köpfe beläuft,
— 11
was mehr oder weniger den siebenten Teil der Gesamtbevölkerung
Rußlands ausmacht. Nach der Abtrennung dieser Gebiete verbleiben
bei Rußland dennoch rund 4720000 km2 in Europa, dazu 16 710674 km2'
in Asien mit ca. 145 Millionen Bevölkerung, was bei dem Zuwachs¬
prozente l,6°/o jährlich 2,35 Millionen des Bevölkerungszuwachses
bedeutet.
Wie wir aus diesen Zahlen ersehen, ist die Abtrennung sogar von
25 Millionen Menschen von Rußland noch keine erhebliche Schwächung
seines Menschenreservoirs, geschweige seiner Kraft, da die in Frage
stehenden Gebiete zu den von Natur aus ärmeren und von den Richtungs¬
linien des russischen Expansionsdranges seitwärts gelegenen Gebieten
gehören. Von der gesamten Produktion Rußlands entfallen nämlich auf
diese Gebiete folgende Bruchteile im Vergleich zu den Zahlen der
Ukraine:
Produktionen
Ganz Rußland
Polen und
Nordwest-Rußland
im
Prozentsatz
Zerealien .
3 834 000 000 Pud
352 000 000 Pud
9,18
Großviehstand .
90 000 000 St.
—
—
Steinkohle .
1 580 000 000 Pud
330 200 000 „
21,00
Roheisen .
500 000 000 „
12 500 000 „
2,50
Salz .
113 000 000 „
—
—
Naphtha . .
Zuckerrüben .
725 000 000 „
—
—
Tabak .
5 714 000 „
Produktionen
Ukraine
im
Prozentsatz
ZeriaÜen .
1 495 000 000 Pud
39
Großviehstand .
30 700 000 St.
—
33
Steinkohle .
1 196 000 000 Pud
—
75
Roheisen .
352 000 000 „
—
70
Salz .
66 500 000 „
— *
50
Naphtha .
Zuckerrüben .
500000 000 „
—
80
Tabak .
4 000 000 „
—
70
Außer den Kohlengruben in Südwest-Polen, die — wie gesagt —
21°/0 der Gesamtproduktion Rußlands gegen 75% der ukrainischen
Produktion liefern, und außer den baltischen Häfen, die auch nur einen
relativen Wert besitzen, haben diese Gebiete für Rußland keine ausschlag¬
gebende wirtschaftliche Bedeutung, so daß ihre Abtrennung im Wirtschafts¬
leben Rußlands gar nicht zu spüren sein wird, im Gegenteil: in gewisser
Hinsicht sind die Länder lästig, indem dieselben mit dem ukrainischen
Weizen genährt werden müssen. Die Gesamtzufuhr des ukrainischen
Kornes in diese Gebiete belief sich auf zirka 70 Millionen Pud jährlich,
da die sumpfigen und sandigen Gebiete der baltischen Seeplatte und
des zu dem baltischen System gehörenden polnisch-litauischen Tieflandes
— 12 —
wie auch das nordische Finnland sich keineswegs selbst zu ernähren
vermochten. Ohne diese Gebiete also bleibt Rußland wirtschaftlich
ebenso stark, wie es jetzt ist und infolgedessen wird seine Machtstellung
und militärische Kraft durch ihre Abtrennung nicht im geringsten gefährdet.
Ein Blick auf die Karte Osteuropas genügt, um einzusehen, daß
auch von dem geographisch-strategischen und vom politischen Stand¬
punkt die Abtrennung der nordwestlichen Gebiete von Rußland für
dasselbe nicht entscheidend ist, indem es trotz allem seine militärische
und politische Macht im Südosten Europas behalten wie auch — von
Kijew ausfallend — Ostgalizien und die Ostkarpathen immer zu be¬
drohen imstande sein wird.
Die Geschichte Osteuropas gibt uns auch klare Weisungen in der
Frage. Nicht durch die Einnahme der Ostseeküste wurde Rußland
aus dem moskowitischen Binnenreiche zu einer europäischen Macht,
auch nicht erst durch die Teilung Polens an der Neige des 18. Jahr¬
hunderts. Peter der Große hat diese Machtstellung fundiert und die
Schlacht bei Poltawa (1709) war der Wendepunkt in der Geschichte
Osteuropas. Die Niederwerfung der Ukraine eröffnete Rußland den
Weg sowohl nach Süden zum Schwarzen Meere (schon Peter der Größe
besetzte Assow an der Donaumündung und wagte gegen die Türken
in der Moldau zu kämpfen!) wie sie auch das Los Polens besiegelte,
indem von Kijew her die ukrainischen Länder Polens (Podolien, Wol¬
hynien, Pollisje, ja sogar Galizien) bedroht und nachher größtenteils
annektiert wurden.
Die russische Expansionspolitik bewegt sich in Europa in zwei
Richtungen: in der Linie Kijew-Lemberg-Budapest-Triest und in der
Linie Kijew-Sebastopol-Konstantinopel-Dardanellen. Die erste Linie führt
zur Adria und berührt unterwegs Galizien, Slowakei und die adriatischen
Südslawenländer. Die zweite hat den Ausgang ins Mittelmeer und noch
mehr die Beherrschung Vorderasiens bis zum persischen Meerbusen im
Auge. Und für beide Linien ist nur Kijew der Ausgangspunkt
und nur die Ukraine ist die Ausgangsbasis für beide. Die Ab¬
trennung Finnlands, Kurlands, Litauens und Polens, ja sogar eines Teiles
der Nordwestukraine beiderseits des Bug kann an diesem Expansions¬
drang Rußlands nach Süden gar nichts ändern und gar nichts gefährden,
da die Basis dieses Expansionsdranges unversehrt in den Händen Ru߬
lands bleibt, ein russischer Vorstoß gegen Ostgalizien ebenso wie im
August 1914 von Kijew aus ausführbar ist und über den Balkanstaaten
wie auch über Konstantinopel ebenso die russische Gefahr hängt, wie
es bis jetzt der Fall war.
Im letzteren Falle muß man sich befragen, welchen Wert die Länder
für Deutschland haben könnten. Es wurde schon oben erwähnt, daß
dieselben von solchen Völkern bewohnt sind, die in dem jetzigen Kriege
eine durchaus russenfreundliche Orientierung an den Tag legten. Die
Gründe und Ursachen dieser Erscheinung wurden schon im vorigen
Kapitel dargelegt. Hier ist zu konstatieren, daß diese Gründe zu stark
in dem kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnis dieser Länder zu
Rußland wurzeln, als daß dieselben durch die Tatsache der Abtrennung
— 13 —
dieser Länder von Rußland aufgehoben oder in ihrem Wirken gehindert
werden könnten; im Gegenteil: ihrer wirtschaftlich-privilegierten Stellung
in Rußland verlustig, in der wirtschaftlichen Selbständigkeit von dem
höher entwickelten Deutschland bedroht und in nationaler Hinsicht von
dem Deutschtum gefährdet, werden die Gebiete nach ihrem Anschluß
an Deutschland oder nach ihrem Anlehnen an Deutschland in der Form
eines oder einiger halb selbständiger Staaten erst recht russophil, indem die¬
selben im wirtschaftlichen und politischen Anschlüße an Rußland ihre
Rettung vor dem unmittelbar bedrohenden deutschen „Drange nach Osten“
suchen werden.
Aus dem Gesagten wollen wir keineswegs die Schlußfolgerung
ziehen, daß Polen, Litauen und Kurland aufzugeben und den Russen
zu überlassen sind. Nach den schon vollendeten Tatsachen wäre es
ja lächerlich, so etwas zu meinen. Unsere Absicht ist, nur darauf auf¬
merksam zu machen, daß die Eroberung dieser Länder nur ein Vorspiel
zur wirklichen Schwächung Rußlands sein kann, ein Vorspiel, welches
aus geographischen und militärischen Rücksichten eben nicht zu ver¬
meiden war.
Die durch den jetzigen Krieg
zu lösenden Aufgaben und die Bildung
eines ukrainischen Staates.
Die Sicherstellung der Machtstellung Deutschlands in der Welt,
eines konstanten Friedens und der Freiheit großer und kleiner Nationen
(darunter die Befreiung der Balkanvölker von der russischen Vormund¬
schaft), eines ununterbrochenen Weges von Berlin nach Bagdad und
Sicherstellung Mitteleuropas und des Balkans vor der russischen Er¬
oberungssucht — das sind, wie gesagt, die konkreten, großen, durch
diesen Krieg zu lösenden Aufgaben, die den von dem Reichskanzler
gestellten politischen Thesen entsprechen können; diese großen Aufgaben,,
die eigentlich alle auf den gemeinsamen Nenner einer definitiven
Schwächung Rußlands und der Stabilisierung eines großen
Staatensystems von der Nordsee bis zum Persischen Meer¬
busen — zurückgeführt werden können, sind nur dann zu erreichen,
wenn Rußland von dem Schwarzen Meer zurückgedrängt und
ein starker Riegel zwischen Rußland und die Karpathen-
Donau-Linie eingeschoben wird. Das aber kann nur durch die
Abtrennung der Ukraine von Rußland und durch die Bildung eines
ukrainischen Staates zwischen Narew und dem Schwarzen Meer er¬
langt werden.
Es wurde schon in dem vorigen Kapitel erwähnt, daß die jetzige
Machtstellung Rußlands in Europa mit dem Siege Peters des
Großen bei Poltawa (1709) und mit der Einnahme Kijews und
der Ukraine durch die Russen gegründet wurde. Was nachher
geschah: Die Einnahme von Krim und von Bessarabien, wie auch die
14
Teilung Polens, — das waren nur natürliche Folgen der Eroberung der
Ukraine durch die Russen, indem durch den Sieg bei Poltawa, der bisher
zu der ukrainischen Saporoger Republik gehörende unterste Dniepr-
stromlauf in die Macht der Russen geriet und indem in Kijew eine
Operationsbasis gegen Polen geschaffen wurde, was Polen schon bald
zu spüren bekam. Bis zur Schlacht bei Poltawa war Rußland — bis
dahin noch „Moskowien“ genannt ! — ein Binnenstaat des Wolgabeckens
mit asiatischem Gepräge und asiatischen, nach Osten gerichteten, höchstens
aber mit nordischen Interessen. Peters des Großen baltische ■ Flotten¬
bauprojekte, seine Kämpfe mit Schweden um die Ufer des Finnischen
Meerbusens, seine „Reformen“ der Sitten der russischen Bojaren u. dgi
waren nur Extravaganzen eines Europa nachahmenden und geistreichen,
aber auch rücksichtslosen Barbaren — denn im Grunde genommen,
alles das änderte beinahe gar nichts und konnte auch nicht viel an der
Stellung Rußlands in Osteuropa ändern. Erst nach der Schlacht bei
Poltawa wendete sich rapid und radikal die Bahnlinie der russischen
Geschichte. Nicht durch Petersburg und den Finnischen Meerbusen,
sondern durch Kijew und die Ukraine kam Rußland zu Europa
und umgekehrt ein Stück von Europa kam zu Rußland.
Denn die Besetzung der Ufer des Finnischen Meerbusens hatte
für Rußland weder eine politische noch eine militärische Bedeutung.
Von' der Newamündung aus konnte ja Rußland niemanden beeinflussen.
Von Petersburg aus konnte sich Rußland nirgends mehr ausbreiten.
Die Newamündung war bereits zwei bis drei Jahrhunderte vor Peter
dem Großen schon in den Händen Moskowitiens, wo auch zwischen
Moskowitern und Schweden, wie auch Moskowitern und deutschen
Ordensrittern öfters Grenzschlachten ausgefochten wurden. Der Besitz
oder abermalige Verlust dieses Meerufers hatte aber keinen Einfluß auf
die Entwicklung und Stellung Moskowitiens gehabt, da dies seine Er¬
oberungen im Osten und Südosten unbekümmert um die Vorfälle an
der Ostseeküste weiter machte.
Anders war es dagegen mit der Besetzung der Linie Kijew-Dniepr-
mündung nach dem Jahre 1709. Peter der Große war sich der Be¬
deutung dieser Besetzung bewußt, indem er nach der Niederlage an der
Narew und nach dem Verluste der Ostseeküste alle Kräfte einsetzte,
um nur die Ukraine zu beherrschen und den Zutritt zum Schwarzen Meere
zu gewinnen. Mit dem Momente, als ihm das gelungen war, wurde
Rußland zu dem, wovon Peter der Große geträumt hatte. Es tritt aus
dem Wolgabecken, aus der nach Asien inklinierenden Lage heraus und
das Uebergewicht seiner Interessen versetzte sich nach Süden, eigentlich
nach Südwesten. Es schimmerte ihm mit dem Moment in den politischen
Träumen die Kuppel der Aja Sophia entgegen und es wurde mit dem
Moment zu dem „Beschützer“ der Christen in der Türkei und der Slawen
in der Donaumonarchie. Und die ukrainischen, weißruthenischen und
litauischen Gebiete Polens mußten ihm nachher schon im Wege eines
natürlichen Anwachsens zukommen. Die Teilung Polens war schon
bei Poltawa (1709) gegeben. Damals schon seit der Einnahme Kijews
und der Ukraine hörte Polen auf ein selbständiger Staat zu sein.
— 15
Russische Truppen hausten oftmals in seinen östlichen Provinzen und
russische „Residenten“ in Warschau lenkten nach ihrem Willen die
Politik der Königsrepublik, terrorisierten mit ihren Schutztruppen den
polnischen Landtag und die polnische Regierung, deportierten nach ihrem
Belieben die Rußland feindlich gesinnten Politiker und dgl. Die nach¬
malige Teilung Polens war nur die Legalisierung der faktisch seit der
Schlacht bei Poltawa sich entwickelnden Verhältnisse und Machtver¬
schiebungen.
Diesen geschichtlichen Rückblick erachten wir für angezeigt, da
unter dem Einflüsse der polnischen politischen Emigration aus der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts sich in Europa die allgemeine Meinung ein¬
gebürgert hat, als ob erst nach der Teilung Polens Rußland Europa
bedroht hat und demzufolge der Schlüssel zur Abwendung dieser
russischen Gefahr irgendwo an der Weichsel liegt. Nur eine volle Un¬
kenntnis der osteuropäischen Geschichte und der osteuropäischen Ver¬
hältnisse konnte die Verbreitung dieser grundfalschen Meinung begünstigen,
wobei es die Polen, dank ihrer aritsokratischen Beziehungen, verstanden
haben, den allgemeinen Daltonismus in Europa in den osteuropäischen
Fragen auszunützen, um ihrer Frage eine zu ihrer wirklichen Bedeutung
unverhältnismäßige Reklame zu machen.
Wenn aber Rußland wirklich geschwächt, wenn es gleich dem
Damokles’ Schwert über Mitteleuropa zu hängen aufhören, wenn
sein Einfluß auf die Slawen der Donaumonarchie und des Balkans ge¬
brochen, wenn schließlich Konstantinopel, die Meerengen, Ana¬
tolien und die Bagdadlinie vor Rußland wirklich geschützt werden sollen,
dann müssen an den nördlichen Ufern des Schwarzen Meeres und an dem
mittleren und unteren Dnieprstrome die Zustände aus der Zeit vor dein
Jahre 1709 hergestellt, Rußland vom Schwarzen Meere nach Nordosten
zurückgedrängt und zwischen Mitteleuropa und dem Balkan einerseits
und Rußland andererseits ein starker Riegel hineingeschoben werden.
Es muß ein ukrainischer Staat hergestellt werden.
Die gesamte russische Balkan- und Slawenpolitik, seine Träume
von der Aja Sophia und den Dardanellen, wie auch von Bagdad und
dem Persischen Meerbusen, zuletzt der gesamte Panslawismus der West-
und Südslawen brechen dann in einem Nu zusammen. Eine direkte von
der Veränderlichkeit der Balkanverhältnisse und vom Nordosten ge¬
schützte Verbindung Berlins mit Bagdad (Bedin-Warschau-Kijew-Rostow-
Tyflis - Bagdad oder Berlin -Warschau - Wolhynien - Odessa -Trapezunt-
Bagdad, oder auch Berlin-Lemberg-Odessa-Trapezuni-Bagdad) ist dann
auf unabsehbare Zeit gesichert, Rußlands Machtstellung im Südosten
Europas ein für allemal gebrochen und eine militärische Bedrohung des
Balkans oder der Karpathenlinie ausgeschlossen.
Zu diesen politischen Erwägungen kommen noch die inner¬
wirtschaftlichen und die völkischen in Betracht. Die Ukraine ist die
Korn-, Rinder-, Kohlen- und Eisenkammer Rußlands und ihre Bevölkerung
beläuft sich auf zirka 50 Millionen Menschen. Der Verlust der Ukraine
für Rußland bedeutet nicht nur den Verlust von 50 Millionen (und wenn
dazu die obenerwähnten polnischen und nordwestlichen Provinzen zu-
— 16 —
gerechnet werden) von zirka 75 Millionen Menschen nichtrussischer
Abstammung — sondern auch den Verlust von 39% (mit Polen und
Nord westrußland 48,18%) der Getreideproduktion, 33% des Viehbestandes,
75% (mit Polen 86%) der Kohlenproduktion und 70% (mit Polen 72,5%)
der Eisenproduktion. Dadurch wird Rußland ökonomisch und finanziell
ruiniert und erst nach dem Verluste so einer Menschenmasse und so
einer Wirtschaftskammer wird es aufhören, Europa zu bedrohen. Jahr¬
hunderte lang wird es ohnmächtig sein, seine Eroberungspolitik in Europa
wiederum aufzunehmen. Es wird gezwungen werden, alle seine Interessen
Kräfte, Gedanken und Gefühle nach Osten, nach Nord- und Zentralasien
zu richten- Das wird die beste Bürgschaft des Weltfriedens und
der zukünftigen Machtstellung Deutschlands sein.
Die Bismarck - Hartmann’sche Lösung
der ukrainischen Frage.
Bei der Erörterung, in welchen Grenzen und in welcher Größe ein
ukrainischer Staat zu schaffen wäre, müssen wir selbstverständlich mit
den militärischen und internationalen politischen Möglichkeiten rechnen;
es ist klar, daß die Frage anders im Falle einer vollständigen Nieder-
ringung Rußlands und anders im Falle eines Halbsieges über dasselbe
gelöst werden kann. In jedem Falle muß aber zur Voraussetzung dieser
Lösung eine Offensive der Zentralmächte in der Richtung gegen Kijew
und Odessa sein, eine Offensive, die auch eine direkte Verbindung der
Ostfront mit der Dardanellenfront über Odessa zu ermöglichen imstande ist.
Eine ideelle, wünschenswerteste Lösung der ukrainischen Frage
wäre die, die im Jahre 1887/88 von dem Philosophen Hartmann, einem
politischen Freunde B i s m a r ck s und nach der damals allgemein herrschenden
Anschauung im geheimen Einvernehmen mit dem großen Kanzler in der
„Gegenwart“ vorgeschlagen wurde. Es ist die Bildung eines König¬
reichs Kijew mit der Nordostgrenze in der Linie Witebsk-
Dniepr-Kursk-Saratow-Wolga-Astrachan als einer natürlichen,
von der Wasserscheide Dniepr-Don-Wolga geschaffenen Grenze zweier
Wasserbecken: des Schwarzmeer- und des Wolgabeckens. Das Schwarz¬
meerbecken gehört noch zur mittelländisch- europäischen Welt und hat
eine natürliche kulturelle und wirtschaftliche Inklination über das Schwarze
Meer nach Südwesten und über das reiche Wassersystem Weißrutheniens
und Litauens nach Westen. Das Wolgabecken dagegen inkliniert mit
dem Laufe der Wolga nach Osten, nach Zentral- und Nordasien, dem
es kulturell und wirtschaftlich angehört. Demzufolge ist die Linie
Witebsk-Kursk-Saratow eine konstante Grenzlinie, wie sie es wirklich
seit dem Beginn der Geschichte Osteuropas war. Bis dahin reichten
ja die Einflüsse Phöniziens und Griechenlands wie auch des Scythen-
reiches im Altertum; es war auch die Grenze der gotischen Machtsphäre
und der byzantinischen Kultureinflüsse in den ersten Jahrhunderten nach
Christi Geburt. Im 8. bis 10. Jahrhunderte war es die nordöstliche
Grenze des altukrainischen Kijewer- Staates, den man als den Staat des
— 17 —
Schwarzmeer-Nordbeckens, hauptsächlich aber des Dnieprbeckens be¬
zeichnen kann. Nach der relativ kurzen Episode des 11. Jahrhunderts,
als sich das altukrainische Kijewer-Reich über diese Grenzlinie nach
Nordosten in die moskowitischen Länder ausbreitete, kommt diese Grenz¬
linie im 12. Jahrhundert wiederum zur Geltung, indem sie im 12. Jahr¬
hunderte und noch mehr im 13. zur Grenze zweier, respektive dreier
Staatssysteme: des moskowitischen im Nordosten, des in dem Galizisch-
lodomerischen Königreiche sich kristallisierten ukrainischen im Südwesten
und des weißruthenisch-litauischen im Westen wird.
Seit dem 14. Jahrhunderte läuft in der Linie die Grenze zwischen
Litauen — nachher Litauen und Polen einerseits und Rußland (Moskowitien)
andererseits. Im 13. Jahrhunderte ist das die Grenze zwischen Litauen
undder ukrainischen Hetmanenrepublik einerseits und Rußland (Moskwitien)
andererseits. Erst mit Ende des 18. Jahrhunderts bricht diese geschichtliche
Grenzlinie unter dem Drucke der russischen Expansion nach Südwesten
ein und alle die Länder südwestlich dieser Linie (Ukraine, Weißruthenien,
Litauen, Kurland, Krimchanat mit dem Schwarzen Meere, Vorkaukasien,
Polen und Bessarabien) geraten in der kurzen Zeit von einigen Dezennien
in russische Gewalt. Diese Linie ist auch eine Scheidelinie zwischen
dem russisch-esthischen Territorium einerseits und dem baltisch-weiß-
ruthenisch-ukrainisch-vorkaukasischen andererseits. — Nordostwärts der
Linie leben 76 Millionen der Russen (Moskowiter, Großrussen) und zirka
20 Millionen von den kleineren, nichtrussischen Völkern nordasiatischen
Ursprungs, südostwärts 72 Millionen durchweg Nichtrussen, darunter
so große Stämme wie Ukrainer (über 30 Millionen), Polen (zirka
11 Millionen), Weißruthenen (bis 8 Millionen) und so national indi¬
vidualisierte Völker wie Deutsche (über 2,3 Millionen), Litauer (über
2,2 Millionen), Leten (bis 2 Millionen), Esthen (1,3 Millionen), Juden
(6,6 Millionen), Rumänen (1,3 Millionen), Armenier (1,4 Million), Georgier
(bis 2 Millionen) usw. Rußland in der Linie zu teilen, das heißt
eine ganze Reihe von Völkern emporkommen zu lassen und
seinem Vordringen nach Südosten einmal Halt zu gebieten.
Ein ukrainischer Staat mit der Nordostgnnze in der Linie Witebsk-
Kursk-Saratow und im Westen an Deutschland und Oesterreich gelehnt,
wäre wirklich eine genug starke und dauernde Barriere Mitteleuropas
gegen Rußland, indem er ein Nachgebilde so konstanter Staatssysteme
wie der altruthenische Kijewer-Staat vom 8. bis 13. Jahrhunderte, oder
der litauisch-ruthenische vom 13. bis 16. Jahrhunderte, mit dem polnisch¬
litauischen Nachfolger vom 16. bis 18. Jahrhunderte sein würde. Die Zahl
eines derartigen ukrainischen (ruthenischen) Staates würde sich auf zirka
50 Millionen Menschen, davon über 30 Millionen Ukrainer (Ruthenen)
und 6 bis 8 Millionen, den Ukrainern am nächsten verwandten Wei߬
ruthenen belaufen.
Das geschlossene ukrainische Gebiet bilden die Gouvernements:
Chol m, Wolhynien, Kijew, Podolien, Cherson, Katerynoslaw,
Tschernyhiw, Poltawa, Charkiw und das Kubanj-Gebiet am
Kaukasus, wozu noch die angrenzenden Bezirke der nachbarlichen
— 13
Gouvernements Gro dno, Minsk, Bessarabien, Kursk, Woronesch
Samara, Stawropol und des Don-Landes zuzurechnen sind.
Das gesamte geschlossene Gebiet der russischen Ukraine beträgt
zirka 775 OOÖ km2, ist also um 234 000 km2 größer als Deutschland und
um 100 000 km2 größer als Oesterreich-Ungarn. Die auf dem Gebiete
verstreuten Fremdvölker (Polen zirka 700000, Deutsche zirka 700000,
Juden zirka 3 Millionen, Russen zirka 3 Millionen, Tataren zirka 500000,
Rumänen zirka 500000, Bulgaren zirka 200000 und andere) — die
etwaigen Deutschen und Juden ausgenommen — haben keine Wider¬
standskraft gegen die Ukrainisierung und ukrainisieren sich wirklich
schon jetzt, umsomehr werden sie es aber in einem ukrainischen Staate.
Dazu sind sie auf dem großen Gebiete der Ukraine zerstreut und
bilden keine größeren Sprachinseln, die gegen die Entnationalisierung und das
Zusammenschmelzen mit der Bevölkerungsmasse widerstandsfähig wären.
Was die Juden anbelangt, so sind sie alle der ukrainischen
Sprache mächtig, indem sie dieselbe nach ihrem Jargon am besten
sprechen. Es ist dies ja ihre Vermittlungssprache bei dem Geschäfts¬
verkehr mit der Landesbevölkerung.
Ein besonderes Wort gehört auch den Weißruth enen (fälschlich
„Weißrussen“ genannt!) Sie sind ein slawischer Stamm nach der
Sprache, den Sitten, der Kultur, den Gebräuchen, der Literaturgeschichte
und der politischen Geschichte den Ukrainern (Ruthenen) am nächsten
stehend. Seit der geschichtlichen Dämmerung Ende des 18. Jahr-
hundertes war ihre und der Ukrainer Kultur, Glauben, Literatursprache
und Nationalgeschichte gemeinsam, indem sie anfangs (9. — 13. Jahr¬
hundert) in dem alten ukrainischen Kijewer Staate, nachher in dem
litauisch-ruthenischen (14. — 16. Jahrhundert) und zuletzt in dem polnisch¬
litauischen mit den Ukrainern (Ruthenen) zusammenlebten, dieselbe
Literatursprache gebrauchten, der Kijewer Metropolie angehörten, mit
den Ukrainern zusammen gegen Polen Aufstände machten und mit den
Ukrainern zusammen denselben schrecklichen Druck seitens Rußlands
zu ertragen hatten. — Die politischen Traditionen und die politischen
Sympathien und Antipathien sind bei den Weißruthenen dieselben wie
bei den Ukrainern: Der Pole und der Russe sind die National-Feinde
der Weißruthenen und werden von ihnen herzlich gehasst. Es gibt
dagegen eine rege, auf der Basis der gemeinsamen Tradition und
gemeinsamen Interessen gestützte Sympathie bei den Weißruthenen den
Ukrainern gegenüber und auch umgekehrt. Zwischen der jungen weiß-
ruthenischen Intelligenz und den Ukrainern gab es bis in die letzte Zeit rege
Beziehungen, welche die große Aehnlichkeit der Sprache, der Sitten und
Volkskultur sehr begünstigten. Die Sprache der Weißruthenen erachtet ein
Teil der Slavisten für ein selbständiges slavisches Idiom, für eine Ueber-
gangssprache zwischen dem ukrainischen und russischen. Andere dagegen
halten es für eine Abart des Ukrainischen, welchem es in der Lexik,
im Syntax, Phraseologie und Flexion fast identisch ist und von welchem
sie nur durch die Aussprache mancher Laute abweicht.
Die Weißruthenen, welche in der Gesamtzahl von zirka 8 Millionen
die Gouvernements Mohylew, Witebsk, Smolensk (südwestliche Hälfte),
— 19
.'Minsk (nördlicher Teil), Grodno (nordöstlicher Teil) und Wilna — also
den oberen Lauf der Flüsse Dniepr, Düna, Njemen, Narew und
Berezyna bewohnen, sind wegen ihrer nicht allzu beträchtlichen Zahl,
ihrer unselbständigen geographischen Lage und ihrer schwachen
nationalen Entwicklung nicht imstande, ein selbständiges Staatswesen
zu bilden. Wie gesagt, sind sie gegen ihre Unterdrücker — Polen
und Russen feindlich gesinnt. Aus geographischen und politischen
Rücksichten werden sie sich sehr gerne an die Ukraine anschließen.
Sie bei Rußland zu belassen wäre ein Irrtum, da sie auf ihre eigenen
Kräfte angewiesen, der Russifizierung zum Opfer fallen müßten und
so die Zahl der Russen in Europa vermehren würden. Dagegen an die
Ukraine gelehnt und mit der Möglichkeit der Entwicklung der eigenen
Sprache, Schule und Kultur werden sie sich auch zu einem Hemmnis
gegen die Fortschritte des Russentums nach Westen herausbilden.
Jedenfalls wenn man von der Linie Witebsk, Smolensk, Kursk, Saratow
als Grenzscheide zwischen Europa und Rußland spricht, so müssen die
Weißruthenen in die Rechnung ebenfalls hineingezogen werden.
Die minimalste Zwischenetappe in der
Lösung der ukrainischen Frage.
Die obengeschilderte Lösung der ukrainischen Frage, welche gleich¬
zeitig auch eine endgültige Liquidierung der russischen Machtstellung
in Europa bedeuten müßte, ist aber nur im Falle einer vollständigen
militärischen Zertrümmerung Rußlands möglich. Ob das bei der großen
Zahl der Feinde Deutschlands und Oesterreich-Ungarns geschehen kann,
muß fraglich bleiben. Viel möglicher und wahrscheinlicher ist dagegen
so eine Niederlage Rußlands, daß dasselbe nach Osten über den Dniepr
zurückgeworfen werden wird. Es scheint sogar nicht ausgeschlossen,
daß die Kriegslage selbst z. B. eine Bedrohung der südlichen Flanke
der Ostfront durch neue russische Kräfte von Kijew aus oder eine
ernste Bedrohung der Dardanellenfront die Zentralmächte zwingen wird,
gegen Kijew und gegen Odessa vorzustoßen. In diesem Falle würde
die Kriegslage selbst eine (teilweise) Lösung der ukrainischen Frage —
nämlich eine Abtrennung der ukrainischen Gebiete bis zum Dniepr hin¬
aus im Osten — herbeiführen. Dieses Ergebnis erachten wir für ein
Zwischenstadium und zugleich auch für das Minimalste, was aus Rück¬
sicht auf die Interessen Deutschlands auf die beabsichtigte Schwächung
und Zurückdrängung Rußlands und auf die Sicherstellung der Ver¬
bindung Berlin — Bagdad geschehen soll — obwohl wir nicht einsehen
können, warum nicht das ganze ukrainische Territorium befreit
werden sollte, falls es gelingt die russische Macht derart zu brechen,
daß den verbündeten Armeen bereits das Gebiet bis zum Dniepr aus¬
geliefert sein würde.
Nach der natürlichen Linie Diina-Witebsk-Smolensk-Kursk-Saratow-
Wolga-Astrachan (mit der Variante: Narwa-Peipas-Witebsk-Smolensk-
Kursk-Woronesch-Don-Zarizyn-AstrachanoderDon-Manytsch-Piatygorsk)
— 20 —
ist die Linie Düna-Witebsk-Beryna-Dniepr-Katerynoslaw-Samar^
(Nebenfluß vom Dniepr) - Kalnius (Fluß) - Asowsches Meer - Kert-
schische Meerenge die zweite Grenzscheide zwischen Rußland und
Europa, die eine natürliche Grundlage besitzt und zugleich die großen
Aufgaben des Krieges (beträchtliche Schwächung und Zurückdrängung
Rußlands und Sicherstellung des Weges von Berlin nach Bagdad!) zu
wahren geeignet ist. Düna, Beresyna-Sümpfe, Dniepr-Strom mit dem
höheren rechten Ufer und das Asowsche Meer sind die natürlichen
Grenzen, welche geeignet, die westwärts von denselben gelegenen
Gebiete vor dem russischen Andrange zu schützen. Dabei wird Ru߬
land von dem Schwarzen Meere und von seinen besten Häfen (Odessa,
Mykolajiw, Sebastopol) genug weit zurückgedrängt, und verliert auch die
fruchtbarsten Gebiete der Ukraine (Podolien, Süd-Kijew, Katerynoslaw,
Cherson, Taurien) und einen Teil der ukrainischen Gruben (Krywyj Rih
und Kertsch).
Ein selbständiger ukrainischer Staat in den Grenzen Beresyna-
Dniepr- Samara -Kalnius- Asowsches und Schwarzes Meer nach Osten
und Südosten würde schon auch ein ziemlich starkes Staatsgebilde sein,
das nicht zu schwach, um dem russischen Drang nach dem Meere und
gegen Westen ganz ernst die Stirne zu bieten. So ein Staat würde
eine Oberfläche von zirka 550 000 km2 (so groß wie das bisherige
Deutschland) und eine Bevölkerung von zirka 28 Millionen Menschen
(darunter zirka 17 Millionen Ukrainer, zirka 4,5 Millionen Weißruthenen,
— 21 —
'zirka 700 000 Polen, ebensoviel Deutsche, zirka 2JMillionen Russen und
zirka 3 Millionen Juden) haben. Insgesamt mit Polen, Litauen und den
Ostseeprovinzen wäre das schon für Rußland ein Verlust von 50 Millionen
.Menschen, ein Verlust von allen noch zu Europa zu zählenden Gebieten
und von allen Handels- und Kriegsmarinehäfen. Zu dem letzteren
Zwecke aber muß an eine bis zum Dniepr reichende Ukraine auch das
linksseits des unteren Dniepr gelegene und den östlichen Teil des
Gouvernements Katerynoslaw und das Gouvernement Taurien (mit Krim)
umfassende Gebiet angegliedert werden, weil Rußland sonst Odessa,
Mikolajew und Konstantinopel bedrohen und das Schwarze Meer be¬
herrschen könnte und da nur in dem Falle Rußland seinen Kriegshafen
Sebastopol verliert. Erst die Losreißung dieser Gebiete von Rußland —
wie es im Jahre 1853 die damalige Wochenblatt -Partei in einer Denk¬
schrift an den König von Preußen vorgeschlagen hat — verdrängt dasselbe
gänzlich vom Schwarzen Meere. Allerdings bliebe die ukrainische Frage
in diesem Falle noch nicht gänzlich in ihrem Gesamtumfange gelöst,
da über 14 Millionen Ukrainer in den östlich - ukrainischen Gebieten
Tschernyhiw, Charkiw, Poltawa, Kubanj und von den angrenzenden
Bezirken der Gebiete Kursk, Woronesch, Don, Samara, Stawropol,
Perek bei Rußland bleiben müßten — darunter auch die Gebiete
Poltawa, Tschernyhiw, Charkiw und Kubanj, die zu den etnogr. reinsten
und national am meisten bewußten ukrainischen Gebieten gehören.
Zum Schlüsse dieses Kapitels ist zu bemerken, daß eine höchst
.angezeigte Variante der hier besprochenen Grenzlinie Dniepr-Asowsches
Meer die Linie Dniepr-Samara-Donetz,Don-Rostow-AsowschesMeer wäre,
wodurch die großen Kohlen- und Eisengruben des Donetz-Gebietes an die
Ukraine kommen würden. Diese Gruben versorgen ganz Rußland mit
Kohle und Eisen; ohne diese ist die Industrie Zenlral-Rußlands ruiniert.
Die sozialen Vorbedingungen eines
ukrainischen Staates.
Von den natürlichen Vorbedingungen eines ukrainischen Staates
wurde in verschiedenen, sowohl von den Ukrainern wie auch von den
Deutschen verfaßten Publikationen sehr viel geschrieben und diese
Frage scheint bei allen denen, die für das ukrainische Problem sich
interessierten, positiv und für die Sache der selbständigen Ukraine
günstig gelöst zu sein. Wir werden also die bekannten Sachen, was
Bodenbeschaffenheit, Getreideproduktion, Viehzucht, Kohlen-, Eisen-,
Naphtha- und Salz-Reichtum, dann das milde und gesunde Klima,
schönen Menschenschlag, gute Waffen, ökonomisch höchst günstige
Lage am Wege aus Nord- und Zentral-Asien nach Mitteleuropa usw.
anbelangt, daher nicht wiederholen. Es sei genügend, wenn wir in der
Hinsicht auf die wichtigsten, oben schon angeführten Zahlen hinweisen.
An dieser Stelle wollen wir dagegen lediglich über die sozialen (im
eigentlichen Sinne des Wortes) Vorbedingungen eines ukrainischen
Staates sprechen.
— 22 —
Von den Gegnern der ukrainischen Sache — hauptsächlich aus"
dem Lager der polnischen Chauvinisten — die dem Wahntraume eines
Polens von Danzig bis Odessa und von der Oder bis zum Dniepr
huldigen — wird hervorgehoben, daß das ukrainische Volk angeblich
zu wenig national bewußt und sozial zu wenig differenziert sei, um
emen lebensfähigen und gesunden Staat bilden zu können. Zuletzt
wird von denselben Gegnern eingewendet, daß neben den Ukrainern
auf dem ukrainischen Boden auch eine beträchtliche Anzahl von Nicht¬
ukrainern — hauptsächlich in den südlichen, am Meere gelegenen
Gouvernements — leben, so daß die Ukrainer in dem Gouvernement
Taurien sogar in der absoluten Minorität (45 °/0) — (obgleich in rela¬
tiver Majorität!) sind. Diese Einwendungen wollen wir kurz beant¬
worten.
Vom Wepr und Narew im Nordwesten bis über den Dniepr,.
Donetz und oberen Don im Osten, bilden die Ukrainer eine kompakte:
Masse der Dorf- und Kleinstadt - Bevölkerung, wobei sie in der
Regel 70 — 80°/o — (in den Gouvernements Tschernyhiw, Poltawar
Charkiw und Kubanj-Gebiet, wie auch in den ukrainischen Bezirken
der Gouvernements Kursk und Woronesch sogar 86—98%) — der
Gesamtbevölkerung ausmachen. Andere eingewanderte Elemente (Polen,.
Russen, Juden, Deutsche usw.) sind zwischen dem ukrainischen Volke
so zerstreut und unterliegen, die Juden und Deutschen ausgenommen,,
so stark der Ukrainisierung, daß sie bei einem ukrainischen Regime,
ukrainischer Schule, ukrainischer Amts- und Verkehrssprache in zwei
bis drei Dezennien im ukrainischen Volksmeer gänzlich aufgehen
würden. Das betrifft ebenso die Polen westseits vom Dniepr (700000)
die nur in dem einzigen Cholmerlande (westseits vom Bug) als eine:
Minorität von 17% auftreten, in den anderen westukrainischen Gebieten-
dagegen nur kleine Minoritäten (Wolhynien 6%, Podolien 2%, Kijew
2%, Cherson 1 %, Katerynoslaw 1%), darstellen, wie auch die „Russen“,
zu denen durch die tendenziös russische Statistik die halbrussifizierte
Städtebevölkerung gerechnet wird und die auf diese Weise in den
Gouvernements Cholm, Wolhynien, Podolien, Tschernyhiw, Poltawa
1 — 4% in dem Gouvernement Kijew 6% und in den Gouvernements
Cherson, Taurien 20 bis 28 o/0 der Bevölkerung ausmachen. All die
„Polen“ (größtenteils römisch-katholische Ukrainer!) und „Russen“-
werden in einem ukrainischen Staate bald ohne jede Spur verschwinden,
da, sie, schon jetzt ukrainisch sprechend, dem Einflüsse des ukrainischen
Milieus, mit seiner hochentwickelten Volkskultur, Volksmusik, Ornamentik
usw. unterliegen.
Auch die Juden stellen ein der Ukrainisierung zugängliches Element
dar, denn alle Juden (in den Gouvernements Cholm, Wolhynien, Podolien,
Kijew, Minsk, Grodno, Cherson 12 — 1 7 °/o, in den Gouvernements
Katerynoslaw, Poltawa, Charkiw, Tschernyhiw 4 — 5%) sprechen vor¬
trefflich ukrainisch, da es ihre Verkehrssprache mit der Landbevölkerung
ist. In manchen Gegenden beherrschen sie sogar das Ukrainische besser
als ihren eigenen Jargon. Jedenfalls kann man sie nicht als einen;
antiukrainischen Faktor betrachten, da sie national indifferent sind, so
— 23 —
daß, wenn man die 12— 13°/o (stellenweise sogar 17°/0) der jüdischen
Bevölkerung westlich von Dniepr als Einheimische behandelt, der Pro¬
zentsatz der fremden Elemente in den genannten Gouvernements —
schon mit den angeblichen städtischen „Russen“ — auf 7 — 13% sinkt,
welchem Prozentsätze 87 — 93% Ukrainer mit Juden gegenüberzustellen
sind. Oestlich des Dniepr sind es 91 — 99% (Ukrainer und Juden) und
1 — 9% (Russen u. a.). In einem ukrainischen Staate werden die Juden
gewiß gute ukrainische Staatsbürger, ja sogar ukrainische Patrioten sein.,
Zu dieser Vermutung führt der Umstand, daß es sogar bei den jetzigen
höchst traurigen Verhältnissen, unter welchen das Ukrainertum jetzt in
Rußland zu leiden hat, es intelligente Juden gab und gibt, die als ukrainische
Patrioten und Schriftstellerund sogar als Nationalideeologen bekannt sind.
Was den gemischten Charakter Tauriens und der Krim betrifft, so
wird er zugunsten der Ukrainer dadurch ausgeglichen, daß die anderen
Nationalitäten Tauriens eine bunte Mischung bilden (26% Russen, 13%
Tataren, 5 % Deutsche, 3 % Juden, 3 % Bulgaren, 1 % Armenier,
1 % Griechen usw.). Ausgenommen die Tataren in der Südkrim, die
aber nach der Türkei emigrieren, sind die verschiedenen Nationen
zwischen den Ukrainern so zerstreut, daß sie sich der ukrainischen
Sprache als allgemeine Verkehrssprache bedienen. Dazu kommt, daß
die Kolonisation Tauriens durch die Ukrainer aus den im Norden an¬
grenzenden rein ukrainischen Gebieten stets im Gange ist. Infolgedessen
istTaurien in einer rasch zunehmenden Ukrainisierung begriffen, welcher
Prozeß bei dem ukrainischen Regime nur beschleunigt werden wird.
Wenn von den polnischen Gegnern eines ukrainischen Staates
auf die obenerwähnten Prozente der nicht ukrainischen Elemente in der
Ukraine hingewiesen wird, so kann man darauf bemerken, daß es über¬
haupt kein polnisches, kein litauisches, kein ungarisches, kein bulgarisches
usw. Land gibt, da die Prozente der fremdsprachigen Bevölkerung in
Polen, Litauen, Ungarn, Bulgarien u. a. — im Vergleich zu Westeuropa
— enorm hoch sind. Die Polen in dem gewesenen Russisch-Polen
bilden ja nur 73% der hiesigen Bevölkerung, wobei in manchen
Gouvernements Polens die deutschsprechende (also keine bunt¬
sprachige!) Bevölkerung bis auf 21 — 25% sich beläuft. Lodz, Petrikau,
Kalisch, sogar Warschau haben keine polnischen Mehrheiten. Wenn
man das mit den obenangeführten Zahlen über die Ukraina vergleicht
und dabei berücksichtigt, daß die fremdsprachigen Minoritäten in der
Ukraina ein sprachliches Misch-Masch bilden, so kann man die Ukraina
jedenfalls mit weit größerer Berechtigung ukrainisch als Polen polnisch
nennen. Aus den osteuropäischen, meist buntsprachigen Ländern ist
die Ukraine (nach dem eigentlichen Moskowien) ein relativ noch sehr
sprachreines Land • — jedenfalls viel reiner, als es Rumänien, Bulgarien
oder Griechenland bei der Bildung ihrer Nationalstaaten waren oder
sogar noch jetzt sind.
Ebenso, was die soziale Entwicklung und Differenzierung
des ukrainischen Volkes anbelangt, so steht es damit gar nicht so arg, wie
es seitens der Gegner der Ukrainer tendenziös dargestellt wird. Die
Ukrainer sind es, hauptsächlich die Bauern- und Kleinbürgermasse,
— 24
woran sich schon ziemlich breite Kreise von den Intellektuellen —
hauptsächlich Lehrer, Aerzte, Advokaten, Ingenieure, Semstwo- und
Privatbeamten, aber auch ein bedeutender Teil von der orthodoxen
Geistlichkeit und Beamtenschaft — angliedern. Was die orthodoxe
Geistlichkeit und die Beamtenkreise anbelangt, so müssen dieselben ihre
ukrainische Gesinnung verheimlichen, da diese in Rußland als Staats¬
verrat gilt und eine Postenenthebung, respektive eine Versetzung irgend¬
wo nach Sibirien oder Zentralasien zur Folge hat. Ebenso sind viele
von den aktiven Militärs (Offiziere, sogar Stabsoffiziere und Generäle)
bewußte Ukrainer. Es ist nur zu erwähnen, daß der berühmte „russische“
Flieger und persönliche „Freund“ des Großfürsten v. Macijewytsch,
dessen Todessturz vor ein paar Jahren die gesamte Fliegerschaft der
Welt beklagte, ein flammender ukrainischer Patriot und aktives Mitglied
der „unterirdischen“ Organisation der „Ukrainischen revolutionären
Partei“ war; daß die populärste, in der Ukraina illustrierte und von
Selbständigkeitsbestrebungen durchdrungene „Geschichte der Ukraine“
den verstorbenen Kontreadmiral der Schwarzen Meer-Flotte, v. Arkas, zu
ihrem Verfasser und freigebigen Herausgeber hatte. Im allgemeinen,
wenn man von der „Russifizierung“ der ukrainischen Intelligenz
spricht, darf man nie auf die besonderen russischen Verhältnisse
vergessen, wo es zu der ukrainischen Gesinnung sich bekennen ein
Staatsverbrechen ist, wo sehr oft verkappte Revolutionäre hohe Würden¬
posten bekleiden und wo die Leute es verstehen, dezennienlang sich
„unterirdisch“ zu betätigen.
Man darf auch nicht vergessen, daß die ukrainische Intelligenz
über ganz Rußland, von der Ostsee bis zum Stillen Ozean, zerstreut
ist, da es das System der russischen Regierung ist, weder die Beamten
ukrainischer Abstammung, noch die aus der Ukraine ausgehobenen
Soldaten in der Ukraine dienen zu lassen. Im Falle, daß ein ukrainischer
Staat entstehen sollte, werden diese besten Scharen der ukrainischen
Intelligenz es bevorzugen, wenn man ihnen dies nur ermöglichen wird,
in der Heimat zu dienen. Jedenfalls sind die Ukrainer an Angehörigen
der Bureaukratie und des Militärs gar nicht ärmer als z. B. die Polen
— wenn nicht überhaupt reicher als diese! Wenn heute das nicht er¬
sichtlich ist, dann nur wegen Zerstreuung dieser Bureaukratie in ganz
Rußland. In der Tat aber hat nur Petersburg so viele ukrainische
Beamten, daß sie für die Verwaltung eines beliebigen ukrainischen
Gouvernements im Ueberfluß ausreichen könnten.
Was die städtische Bevölkerung anbelangt, so muß man einen
Unterschied zwischen den nordwestlichen und den westlichen ukrainischen
Gouvernements machen. In den Gouvernements Cholm, Grodno, Minsk,
Wolhynien, Podolien und Kijew sind die Städte hauptsächlich von Juden
besiedelt, wonach das ukrainische Kleinbürgertum den zweiten Platz
behauptet. Erst nachher kommen die „Russen“, die größtenteils halb¬
wegs russifizierten oder nur von der Statistik für „Russen“ gezählten
Ukrainer und nur in einem Bruchteile wirkliche Russen, zuletzt die
Polen. Heute haben alle diese Städte — Kijew nicht ausgenommen
— ein offiziell russisches Gepräge, ebenso wie es sogar Lemberg
— 25
während der paarmonatlichen russischen Besetzung bekommen fjhat!
Die jüdische Mehrheit dieser „Städte“ paßt sich an jedes Regime
an, an das ukrainische umso schneller, da die ukrainische Sprache
neben dem Jargon die zweite Umgangssprache der Juden ist und da
es in allen diesen Städten schon heute beträchtliche ukrainische
Minoritäten, in manchen sogar ukrainische Majoritäten gibt. Bei dem
ukrainischen Regime, wo anstatt der russischen Beamtenschaft die
ukrainische da sein wird, werden diese Städte mit einem Schlag
ukrainisch werden. Dagegen die Städte der östlichen und zentralen
Ukraina, wo es nur wenige Juden und keine Polen gibt, haben schon
heute größtenteils eine beträchtliche ukrainische Majorität
mit einer „russischen“ Minorität. So ist es in der Regel in den
Gouvernements Tschernyhiw, Poltawa, Charkiw, Katerynoslaw, Cherson,
den ukrainischen Teilen der Gouvernements Kusk, Woronesch, Don-
gebiet, Kubanjgebiet u. a. Nur die großen Gubernialstädte sind in ihrer
Mehrheit in dem Sinne russisch, daß die russische mit der ukrainischen,
stark verunreinigten Sprache (eigentlich ein russisch-ukrainischer Jargon)
die großstädtische Umgangssprache bildet. Nur Poltawa ist eine durch¬
aus ukrainische Großstadt, während dagegen Odessa ein internationales
Gepräge trägt. Es ist leicht einzusehen, daß bei dem ukrainischen
Regime die Städte in sehr kurzer Zeit ukrainisch werden.
Letzhin gibt es bei den Ukrainern einen gar nicht so kargen Adels¬
und Großgrundbesitzerstand, wie es gewöhnlich vorgestellt wird. In
den Gouvernements Tschernyhiw und Poltawa bekennt sich bis heute
der größere Teil des Adels zur ukrainischen Nationalität; jedoch auch
in anderen Gouvernements gibt es viele ukrainische adelige Familien,
darunter in den Gouvernements Kijew, Podolien und Wolhynien adelige
ukrainische Großgrundbesitzer römisch-katholischen Glaubens
(darunter auch Freiherren und Grafen mit Magnatenvermögen), die von
den Polen ganz fälschlich auf ihr Nationalitätskonto gerechnet werden,
die aber bekannte ukrainische Patrioten sind. Außer diesen prononcierten
ukrainischen Patrioten gibt es aber zwischen dem polonisierten oder
russifizierten ukrainischen Adel hunderte von Familien, die zu den
Sympathikern des Ukrainertums gehören, ohne sich an der Politik zu
beteiligen, oder die sich noch nicht entscheiden konnten, definitiv in das
ukrainische Nationallager zurückzukehren, sich aber jedenfalls schon
auf dem Wege dazu befinden. Das auffallende Beispiel des ukrainischen
Metropoliten und nationalen Mäzens von Galizien, Grafen Scheptytzkyj
hat dazu sehr viel beigetragen. Ja sogar die Magnatenfamilien aus den
Nachkommen des einstigen höheren ukrainischen Kosakenadels, welche
im hohen russischen Hof- und Staatsdienste stehen, wie die Grafen
Skoropadskyj, Grafen Kapnist oder Fürsten Kotschubej u. a. sind für
das Ukrainertum nicht verloren. Es lodert in ihren Familien ein Funke
der ukrainischen Staatstradition, die zugleich ihre Familientradition ist.
Einer der Grafen Skoropadskyj, der im russischen Reichsrate vor einigen
Jahren über die ukrainische Frage eine Rede hielt, hat zwar jeder Ge¬
meinschaft mit dem „Mazzepismus“ (d. i. ukr. Irredentismus) entsagt,
dennoch aber mit vollem Nachdruck die Einführung der ukrainischen
26 —
Sprache in der Schule, die Freiheit für ukrainische Kultur und Literatur
und dergl. gefordert. Dasselbe erklärte auch ein Graf Kapnist gleich¬
falls vor 2 bis 3 Jahren in einem Zeitungsinterview. Eine Fürstin
Kotschubej ist eine bekannte ukrainische Schriftstellerin, ohne indes an
der politischen ukrainischen Bewegung Anteil zu nehmen. „Russisch“
also darf man die ukrainischen Magnatenfamilien solchen Schlages
nicht nennen, ebenso wie Graf Wielopolski, Graf Schebeko, Graf
Zamojski und alle die anderen polnischen Grafen und Fürsten, trotz
ihrer Loyalität gegen den russischen Monarchen und den russischen
Staat und trotzdem sie gewissermaßen auch schon kulturell russifiziert
sind, dennoch nicht aufgehört haben Polen und polnische, Adelige:
zu sein.
Mit dem ukrainischen Adel ist es dieselbe Geschichte wie mit
jedem anderen unter ähnlichen Verhältnissen, wie es sogar mit dem
deutschen Adel in den Ostseeprovinzen war. Der Adel akkommodiert
sich bald an die Nationalität des Herrschers und des Staates. Das
geschah ja auch mit dem polnischen Adel: eine Linie der Fürsten
Radziwil ist polnisch und katholisch geblieben, die andere wurde deutsch
und evangelisch, die dritte russisch und orthodox. Der bekannte
russische Ministerpräsident Swiatopolk - Mirskij war ein Russe, eine-
andere Linie desselben Geschlechtes ist polnisch und der Großvater
von dem russischen Ministerpräsidenten war auch ein Pole, eigentlich
sind sie aber alle ukrainischer Abstammung. Deshalb muß die Ein¬
wendung, daß der ukrainische Adel zu schwach ist, als unhaltbar ge¬
kennzeichnet werden. Er ist genügend stark, um mit dem Momente
der Bildung eines ukrainischen Staates die noch nicht entschlossenen
Elemente des Adels an sich zu ziehen und als ein starker ukrainischer
Adelstand sich um den Herrscherhof zu scharen.
Die Bedeutung des fremden Adelsstandes in der Ukraine, ins¬
besondere des polnischen, darf man dagegen gar nicht so überschätzen,
wie es die Polen bekanntlich tendenziös tun. Im allgemeinen beträgt ja der
Großgrundbesitz auf dem gesamten Gebiete der Ukraine nur 26 % der
Gesamtfläche; darunter entfallen auf den römisch-katholischen Gro߬
grundbesitz in den 3 westlichen Gouvernements nur 17% des Gesamt¬
bodens. Wenn man bedenkt, daß ein beträchtlicher Teil der Gro߬
grundbesitzer (auch der römisch-katholischen) ukrainisch ist, oder am
besten Wege, sich als ukrainisch zu bekennen, so sinkt der fremde
Bodenbesitz in der Ukraine etwa bis zu 10 — 15% des Gesamtbodens.
Bei dem Umstande, daß die fremden (polnischen oder russischen) Gro߬
grundbesitzer gewöhnlich im Lande gar nicht wohnen, ihre Güter ver¬
pachten und auf die Bevölkerung nur einen geringen Einfluß haben, ist
dieser fremde Bodenbesitz in der nationalen Bilanz des Landes eigent¬
lich gleich Null.
$ $ 'i
*
27 —
Die ideellen Vorbedingungen eines
ukrainischen Staates.
Es erübrigt sich noch über das nationale Bewußtsein der
Ukrainer und den Einfluß der orthodoxen Kirche auf dasselbe
einige Worte zu sagen, da auch in der Richtung gegen die Reife der
Ukrainer zur Selbständigkeit — wiederum hauptsächlich polnischerseits!.
— „Bedenken“ erhoben werden.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die orthodoxe Kirche in der
Ukraine zu einem Russifizierungsmittel herabgesunken ist, obwohl es —
wie gesagt — viele Ukrainer zwischen der orthodoxen Priesterschaft gibt
Höhere Kirchenposten in der Ukraina werden dagegen ausschließlich
von den Russen bekleidet, weshalb zwischen der Dorfgeistlichkeit und
der höheren Priesterschaft ein starker Gegensatz vorhanden ist — umso
mehr, als bei den Ukrainern die Tradition einer selbständigen ukrainischen
Nationalkirche, die im 18. Jahrhundert gewaltsam aufgehoben und
der russischen „Heiligen Synode“ unterstellt wurde, bis jetzt lebendig,
ist. Im allgemeinen hat die ukrainische Orthodoxie auch noch bisher
in ihrem Innern einen ganz anderen Charakter behalten als die gro߬
russische. Die beiden zu vermengen, so wie es manche Schriftsteller
tun, das heißt, gar nichts von der Sache zu verstehen oder absichtlich
die Sache vernebeln. Es ist eine Tatsache, daß ein starkes Bestreben
zu einer von der russischen „Heiligen Synode“ unabhängigen National¬
kirche (so wie dieselbe bis in das 18. Jahrhundert bestand, oder w ie
sie im Bulgarien oder Rumänien besteht!) bei den Ukrainern sehr stark
ist, von Rußland aber noch ärger als die ukrainische Sprache oder
Presse verfolgt wird. So z. B. wurde der podolische Bischof Parfenius
strafweise nur dafür versetzt, daß er den Dorfpfarrern ukrainische
Predigten zu halten befahl, die ukrainische Uebersetzung der Bibel
redigierte und im orthodoxen Priester-Seminar in Kamenetz Podolskyj
ukrainische Literaturgeschichte und Landesgeschichte vortragen ließ.
Ukrainische Priester, die ukrainisch zu predigen oder ukrainische
Bücher oder Zeitungen zwischen den Bauern zu verbreiten wagen, werden
in der Regel nach Sibirien versetzt. Ebenso wurden ukrainische Mönche
von Athos, die hier mit den russischen Vorgesetzten in einen Konflikt
auf der Grundlage des kirchlichen Separatismus geraten sind, über ganz
Rußland zerstreut.
Ein ukrainischer Staat aber läßt auch eine selbständige
ukrainische Nationalkirche voraussetzen, was eine Rückkehr zum
geschichtlichen status-quo bedeuten und die ukrainische nationale Kirche
vom jeglichen Einflüsse der russischen befreien wird. Es ist ja eine
Tatsache, daß die ukrainische nationale Orthodoxie in den 13. — 17.
Jahrhundert unter den starken und immer wachsenden Einflüssen der
lateinisch-westlichen Kultur war. Die ukrainischen Kirchenschulen im
16 — 17. Jahrhundert waren ja lateinisch, ebenso die ukrainische
Mohylaner-Akademie zu Kijew; die ukrainischen Steinkirchen dieser Zeit
sind in der romanischen Renaissance in dem Barockstil gebaut (die
Kirchen der Hl. Paraskewa, Woloska-Kirche und St.- Georg- Kathedrale
in Lemberg; die Pfarrkirche und der sog: Fürst- Ostrozski-Glockenturm
in Tarnopol; die Lawra-Petscherska- Kirchen und -Glockentürme, wie
auch St.- Andreas- Kirche, St.-Sophie-Glockenturm usw. in Kijew: die
sog. Maseppa-Kirchen in vielen Städten des Tschernyhower- und
Poltawer Gouvernements u. a.). Ebenso wird die hergestellte ukrainische
Nationalkirche nicht nach Osten, sondern nach Westen gravitieren. Dazu
gibt es unter den Ukrainern auch ein paar Hunderttausend römischer
Katholiken im Podolien, Wolhynien und im Kijewer Gouvernement, die von
den Polen ganz fälschlich und tendenziös als „Polen“ gerechnet werden,
wie auch einige Millionen von Baptisten („Stundeten“), die der russischen
Orthodoxie höchst feindlich sind. Im Cholmer-Lande gibt es auch viele
geheime Anhänger der sog. „Union“ mit Rom.d.i. eben solche griechisch-
Katholiken, wie die galizischen Ukrainer es sind.
Trotz allen ungünstigen Umständen ist aber das Nationalbe-
wu Bis ein bei den ukrainischen Volksmassen in der Regel sehr stark
und zwar umso stärker, je mehr nach Osten und Südosten, schwächer
dagegen nach Nordwesten, wo der ukrainische Bauer unter dem
kombinierten Drucke polnischer Großgrundbesitzer, jüdischer Wucherer
und russischer Tschinowniks zu sehr niedergeschlagen und verarmt ist
und wo die höheren ukrainischen Stände nur viel schwächer vertreten
sind. Je näher aber dem Dniepr, desto nationalbewußter wird der
Bauer, so, daß er dem polnischen Bauer in der Hinsicht nicht nur
gleich steht, sondern in den Gouvernements Poltawa, Tschernyhiw,
Katerynoslaw, südlicher Teil von Kijew, östlichen Teil von Podolien usw.
den polnischen Bauern aus Russisch-Polen weit übertrifft. Der ukrainische
Bauer weiß, daß er kein Russe ist und haßt den Russen (den „Moskalj“
oder „Kazap“) vom ganzen Herzen; er schließt mit den Russen nie
eine Mischehe; er siedelt sich nie neben den Russen an. Ebenso aber
— wenn nicht noch mehr, haßt er den Polen. Selbstverständlich darf
man von einem ukrainischen Bauer kein so krystallisiertes Nationalbe¬
wußtsein fordern, wie es z. B. bei dem deutschen Intellektuellen oder
polnischen Adeligen der Fall ist. Jedenfalls aber besitzt dieser Bauer
ein entwickeltes Bewußtsein seiner nationalen Besonderheit und erachtet
sich für ein besonderes individualisiertes Volk, indem er sich nie mit
einem Russen oder Polen identifizieren läßt, dieselben für fremde Ein¬
dringlinge erachtet und sich mit einem besonderen Namen (Ukrainec,
Maloros oder Chachol) nennt.
Ueberdies besitzt der ukrainische Bauer seine eigene ge¬
schichtliche Tradition, was bei dem polnischen, russischen oder
anderen Bauern nicht der Fall ist! Das ukrainische Volk hat bis heute
zahlreiche geschichtliche Lieder und Rapsodien („Duma“) behalten und
ist — selbstverständlich in großen Zügen — seiner Vergangenheit be¬
wußt. Es wird bis heute über Tartarennot gesungen und erzählt; in
der ganzen Ukraine werden bis heute die Kriegslieder aus den ukrainischen
Aufständen gegen Polen gesungen, die Geschichte dieser Kämpfe er¬
zählt; bis heute noch singen die Volkssänger die Rapsodien („Duma“)
über den Hetman Chmelnyzkyj und eine der populärsten Lieder vom
— 29 —
Ssan im Westen, bis Kubanj im Osten ist das Heldenlied über die Het-
manen Ssahajdatschnyj und Doroschenko; es lebt auch in den zahl¬
reichen Volksliedern eine Tradition der Saporoger-Ssitsch und ihrer Ver¬
nichtung durch die Russen, wobei die Zarin Katharina II. für diese Ver¬
nichtung mit besonderem Hasse als „Hundestochter" an den Pranger
gestellt wird. Diese lebendige Volkstradition, der sich eine gleich¬
entwickelte in Europa kaum auffinden lassen wird, kommt davon, daß
die ukrainische Geschichte seit dem 14. Jahrhundert eine Geschichte der
Nationalkämpfe um die Nationalexistenz ist, an welchen das gesamte Volk
regsten Anteil genommen hat. Deshalb empfindet der ukrainische Bauer
bis heute sehr lebhaft seine Vergangenheit und wenn er seine ukrainische
Geschichtserzählung in die Hand bekommt, dann liest er dieselbe fieber¬
haft und wird sofort zu einem bewußten ukrainischen Patrioten. Es wird
gar nicht übertrieben sein, wenn wir sagen, daß so bewußte National¬
patrioten, wie es zwischen den ukrainischen Bauern gibt, bei den
Bauern keines einzigen Volkes von ganz Europa sind. Deshalb eben
verbreitet sich die ukrainische Nationalbewegung, wenn sie nur einmal
Wurzel gefaßt hat, so rasch in den ukrainischen Volksmassen, was
auch Miljukoff in der russischen Duma zugestehen mußte.
Schließlich muß hervorgehoben werden, daß die ukrainische
Kultur gar nicht so schwach ist, wie man es infolge der Tatsache,
daß sie in Europa fast unbekannt ist, vermuten könnte. Die ukrainische
Literatur, welche nach der russischen und polnischen den dritten Platz
zwischen den gesamten slawischen Literaturen behauptet und welche
vieles hervorgebracht hat, was auch einer größeren westeuropäischen
Literatur zur Ehre gereichen könnte, hat eine tausendjährige Vergangen¬
heit hinter sich und ist jetzt im Stadium einer regen Wiedergeburt.
Ueberdies zeichnet sich die moderne ukrainische Literatur durch einen
wahrhaft volkstümlichen Zug aus, der der ukrainischen Literatur dank
ihrer Originalität einen besonderen Platz unter den Literaturen anderer
Kulturvölker einräumt. Die junge ukrainische Wissenschaft hat auch
manches bemerkenswerte geleistet und solche Namen auf dem Gebiete
der Historiographie, Philologie, Ethnologie, Literaturgeschichts-Forschung,
Anthropologie, Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft, Elektrotechnik,.
Chemie, Medizin u. a. wie Puluj, Horbatschewskyj, Borysikewytsch,
Wowk, Antonowytsch, Kostomariw, Hruschewskyj, Franko u. a. sind
auch in den Kreisen der diesbezüglichen Fachmänner Westeuropas gut
bekannt. Das ukrainische Theater ist sehr hoch entwickelt, die ukrainische
Opernmusik steht der russischen oder der polnischen gar nicht nach
und das ukrainische Drama überragt absolut alle anderen slawischen,
das polnische und russische nicht ausgenommen. Die ukrainischen
Theater, deren es ein paar Dutzende gibt, beeinflussen sehr stark die
Städte. Die ukrainische Volksmusik ist die entwickelteste in ganz
Europa; die Volksornamentik und Keramik ist sehr reich und fein. Die
Ukrainen besitzen auch einen eigentümlichen Baustil, in welchem tausende
von alten Kirchen gebaut sind und die jetzt eine moderne Renaissance
erlebt; er wird bei Schul-(National-)Häusern, Semstwopalais u. a. Bauten
z. B. Semstwopalais in Poltawa) mit besonderem Erfolg angewendet..
— 30
Die junge ukrainische Malkunst weißt sehr schöne auf Privatkosten ge¬
sammelte Museen in Lemberg, Kijew, Tschernyhiw, Poltawa, Katerinoslaw
u. a. auf; wissenschaftliche Vereine befinden sich in Lemberg und
Kijew. Daß die ukrainische Presse in Rußland relativ schwach ist, ist
einerseits die Folge der besonderen Drangsalierungen derselben durch
die russische Zensur, andererseits des hohen Analphabetismus der
ukrainischen, sonst sehr intelligenten Volksmasse, was wiederum die
Folge der russischen Schule ist.
Im allgemeinen besitzen also die Ukrainer eine stark ausgeprägte
nationale Physiognomie, die — neben den politischen und wirtschaftlichen
Entwicklungsmöglichkeiten, die Osteuropa seit der sog. russischen Re¬
volution bietet und immer mehr bieten wird — volle Bürgschaft für
ein nahes und rasches Emporblühen der ukrainischen Nation leistet.
Die junge, emporstrebende, reichbegabte, gesunde und zahlreiche
ukrainische Nation wird sich trotz aller Hemmnisse in der kurzen Zeit
von paar Dezennien durchsetzen, wenn auch im Osteuropa keine Grenz¬
verschiebung auf den ukrainischen Ländern stattfinden sollte. Wenn
man meint, daß ohne auswärtige Hilfe die Ukrainer untergehen oder
weiter ein nur karges Leben fristen müßten, dann irrt man gründlich. Schon
jetzt sind es unter den Russen ernste Kreise, die die ukrainische Frage anders,
als bisher, behandelt zu sehen wünschen. Der bekannte Theoretiker des
des russischen Liberalismus Struve mußte nur wegen seiner intransingenten
Stellung gegen das Ukrainertum aus der Leitung der Kadettenpartei
austreten und die Oktobristen haben sich auch schon paarmal gegen
die bisherige russische Politik in der ukrainischen Frage ausgesprochen
— von der Sozialisten und Arbeits-Partei (trudowiki) nicht zu erwähnen !
Es kann in kurzer Zeit dazu kommen, daß die Russen — um nur ihre
Machtstellung in Europa, den Einfluß auf das Slawentum und den Zu¬
tritt zum Schwarzen Meere zu behalten — sich mit dem Ukrainertum
zu versöhnen und auszugleichen genötigt sehen werden. Der Ent¬
wicklungsprozeß in Rußland führt unumwunden zu einer solchen
Lösung, so daß die Ukrainer höchstens in einigen Dezennien eine
Autonomie sicher bekommen, eventuell kann sogar das Verhältnis der
Realunion aus dem Perejaslawer Traktate (1654) wieder hergestellt
werden. Wenn die Ukrainer jetzt trotzdem gegen Rußland sind, so ist
das nicht anderes, als Suchen eines kulturellen und wirtschtlichen Anschlusses
an das Europa, wohin die Ukrainer ihrer Lage, Rasse, Geschichte und
Kultur nach gehören.
Eine selbständige Ukraine und Rußland
in der Zukunft.
Von manchen Gegner der ukrainischen Sache, hauptsächlich wieder
aus dem polnischen Lager, wird der deutschen Oeffentlichkeit einge¬
flüstert, daß ein selbständiger ukrainischer Staat einen Anschluß eher
nach Rußland, als nach Mitteleuropa, suchen wird. Diese merkwürdige
und für einen Ukrainer in ihrer Logik durchaus unverständliche
— 31
Behauptung wird damit motiviert, daß die Ukrainer als „orthodoxe
Slawen“ den Russen „näher stehen“ und daß die Ukraine wirtschaftlich
Rußland bedarf. Wir werden versuchen möglichst kurz diese Fragen
zu belichten.
Die Ukrainer sind großenteils orthodox, wie es sich aber mit
ihrer Orthodoxie verhält, das wurde schon oben aufgeklärt. Bis in
das 18. Jahrhundert gab es keine Kirchengemeinschaft zwischen der
Ukraine und Moskowitien; die ukrainische Orthodoxie war kulturell
und rituell so stark latinisiert, daß sie eigentlich eine Zwischenstufe zwischen
der römischen und der griechischen Christenwelt darstellte. Trotz der
formellen Orthodoxie ist die Ukraine kulturell und ethisch ein dem
lateinischen Europa viel näheres Land, als dem östlichen, griechisch-
orthodoxen. Kein einziges von den griechisch-orthodoxen Völkern
Balkans oder Osteuropas hat so viele Anschlüsse an die westeuropäische
Kultur gehabt, wie es bei den Ukrainern vom 13. — 18. Jahrhundert,
also 500 Jahre hindurch, der Fall war. Dieser Unterschied und Anta¬
gonismus zwischen der ukrainischen und der russischen „Orthodoxie“
ist bis heute stark geblieben; nach der Herstellung einer autokephalen
ukrainischen Nationalkirche wird er noch stärker werden, da die letztere
ganz bestimmt die alten westeuropäischen Bahnen aufsuchen wird.
Die Mähre von dem „Slawentum“ ist schon ganz lächerlich. Es
gibt ja kein slawisches Einheitlichkeitsgefühl und keine slawische Ge¬
meinschaft. Was bei manchen Slawen darüber gesprochen wird, ist
eine nationalsubjektive Faselei. Die Russen sind „slawophil“ in dem
Sinne, daß sie das gesamte Slawentum zu ihren imperialistischen
Zielen ausnützen, d. h. alle Slawen an ihren Staatswagen anspannen
und russifizieren wollen. Manche West- und Südslawen sind
wiederum in dem Sinne „slawophil“, daß sie in ihrer numerellen
Schwäche die Hilfe Rußlands gegen die Deutschen oder gegen die
Magyaren erhoffen. Andere Slawen — wie Bulgaren und Ukrainer —
die keine Reibungsflächen mit den Deutschen oder Ungaren haben,
und die aber mit den Slawen (Polen, Russen und Serben) in ewiger
Fehde leben, sind dagegen gar nicht „slawophil“ und wollen von
keinem „Slawentum“ als einer politischen Gemeinschaft hören. Es
gibt zwar also Slawen (d. i. slawisch sprechende Völker) so wie es
Germanen und Romanen gibt, was aber alles nur philologisch-wissen¬
schaftliche Klassifizierungsbegriffe sind, die mit den politischen Kathegorien
sich keineswegs decken. Die Politik wird nicht von der abstrakten
Philologie, sondern von den Lebensinteressen einzelner territorialer
Menschengruppen (Nationen oder Staaten) bedingt. Und deshalb werden
die Ukrainer gewiß nie ihre politische Orientierung darnach richten, ob
diese oder jene Nation eine dem Ukrainischen mehr oder weniger
ähnliche Sprache spricht — umso mehr, da die Russen ihrer Rasse
nach ja gar keine Slawen, sondern slawisierte Finnen sind. Die
Ukrainer haben bis jetzt nie eine Rassen- oder Sprachzweigegemein-
schaftspolitik, sondern nur eine Nationalpolitik betrieben. Dazu sind
sie zu zahlreich, zu individualisiert, sie haben zu starke nationale ge¬
schichtliche Traditionen, sie haben, wie auch sie werden haben, viel zu
— 32
viele Reibungsflächen mit den Polen und mit den Russen, um in einer
slawischen Gemeinschaft aufgehen zu wollen. Das können die Ukrainer
den zukunftsverzweifelten kleinen west- und südslawischen Völkern
überlassen.
Auch eine wirtschaftliche Gravitation der Ukraine nach Rußland
zurück ist unmöglich. Nicht die Ukraine bedarf wirtschaftlich Rußlands,,
sondern umgekehrt Rußland bedarf der Ukraine. Die Ukraine ist ja
eines der reichsten und von der Natur am schönsten ausgestattetes
Gebiet des Erdballs. Sie besitzt auf großen Gebieten einen wirklich
ägyptischen Boden; sie besitzt die reichsten Kohlengruben der Welt
und die reichsten Eisenerzgruben Europas; sie hat ein vortreffliches
Klima, prächtige Weiden und großartige Wälder, ja sogar Urwälder, und
besitzt im Ueberflusse Salz und Naphta; sie hat die besten Häfen Ru߬
lands und die nächsten Verbindungen mit Mitteleuropa. Wozu braucht
dann die Ukraine Rußlands Hilfe für ihr wirtschaftliches Gedeihen?
Wird sie denn Rußlands Getreideabsatzmärkte brauchen, wenn sie
bessere in Mitteleuropa bekommt? Die Ukraine, als Produzentin der
notwendigsten Rohprodukte wird ja diese nach Deutschland und Oester¬
reich exportieren, um von Mitteleuropa Industrieprodukte zu beziehen.
Denn die schwächere russische Industrie kann doch der Ukraine die
solide und entwickelte deutsche Industrie nicht ersetzen, wie auch
die mitteleuropäischen Absatzplätze für ukrainische Rohprodukte jeden¬
falls vorteilhafter, als die bisherigen russischen, sein werden.
Die russische Eisenbahntarifspolitik der Ukraine gegenüber war
danach gerichtet, um das großrussische Centrum mit ukrainischen Roh¬
produkten möglichst billig zu versehen, um den ukrainischen Cereaiien-
export zu den Ostseehäfen, welche Rußland für großrussische erachtete,
zu richten, und um die Entwicklung der einheimischen ukrainischen
Industrie wie auch den Aufschwung der ukrainischen Häfen hintanzuhalten.
Darüber beklagten sich seit einigen Jahrzehnten sowohl die landwirtschaft¬
lichen, wie auch die Handelspreise der Ukraine ohne Unterschied der
Nationalität und der wirtschaftliche Antagonismus zwischen „Süden“ (der
Ukraine) und „Norden“ (Moskowitien) kam sowohl in verschiedenen
Publikationen wie auch auf den wirtschaftlichen „allgemeinrussischen“
Kongressen allerlei Wirtschaftskategorien in letzten Jahren öfters zum Vor¬
schein. Auch die ukrainischen Autonoinisten verschiedener Partei¬
schattierungen stützten ihr autonomistisches Programm in letzten Zeiten auf
die Grundlage dieser wirtschaftlichen Gegensätze zwischen der 'Ukraine
und Moskowitien, indem sie in ihren Publikationen (von Persch, Staßjuk
u. a.) mit dem statistischen Material an der Hand die wirtschaftliche
Ausbeutung und Hintansetzung der Ukraine von Großrußland darstellten.
Es sind die Gedanken, daß der ukrainische Staat einen wirtschaft¬
lichen Anschluß an Rußland suchen könnte, grundlos. Daß sie aber
entstehen konnten, ist nur ein Beweis mehr, wie weit die Unkenntnis
Osteuropas in manchen Kreisen Mitteleuropas reicht. Nicht eine An¬
näherung, sondern eher das Gegenteil davon ist nach der Schaffung
eines selbständigen Staates mit aller Bestimmtheit zu erwarten, denn
durch die Ukraine vom europäischen Süden abgetrennt, wird das
— 33
moskowitische Rußland trachten, dem neuentstandenen Staate womöglich
zu schaden, was den Haß der Ukrainer gegen die herrschsüchtigen und
ukrainebedrohenden Moskowiter nur noch steigern wird.
Da wir eben die Frage eines eventuellen wirtschaftlichen Anschlusses
der Ukraine erörtern, so wird es am Platze sein auf ein wichtiges Ver¬
bindungsmittel zwischen Deutschland und der Ukraine — nämlich auf
die Wasserstraße von der Ostsee bis * zum Schwarzen Meere — hin¬
zuweisen. Das Flußsystem des Dniepr kommt mit dem Ostsee-Flu߬
system in eine sehr nahe und für den Bau der Wasserstraßen sehr
günstige Berührung auf dem Sumpfgebiete Weißrutheniens und des
Polisje, nämlich durch die Wasserläufe der Düna, des oberen Dniepr
und der Beresyna, respektive des Njemens oder der Weichsel, des
Narew, Bugs und Prypetjs. Es kann da sehr leicht eine Wasser¬
verbindung für größere Kanalschiffe zwischen Danzig oder Berlin und
Kijew, Cherson, Nikolajew und Odessa hergerichtet werden, von der
Verbindung Riga-Dünaburg-Kijew-Cherson nicht zu erwähnen. Auch
mit dem Dniestrlaufe und dem Ssan-Weichsellaufe kann eine gute
Wasserstrasse, als kurze und direkte Verbindung Danzigs und Berlins
mit Odessa, gebaut werden. Was für eine Bedeutung die angedeuteten
Wasserstrassen für die Verbindung Berlin - Bagdad haben können,
braucht nicht näher erörtert zu werden. Sie würden auch die Ukraine
an die deutschen Märkte und Fabrikzentren fest anknüpfen.
Schließlich wird der politische Antagonismus Rußlands gegen einen
ukrainischen Staat eine Annäherung beider auf eine unabsehbare Zeit
ausschließen; Rußland wird immer bestrebt sein, den Zutritt zum
Schwarzen Meere zurückzugewinnen, was eine Quelle eines steten und
todfeindlichen Antagonismus zwischen Rußland und der Ukraina zur
Folge haben wird. Von Rußland immer bedroht, wird die Ukraine auch
immer der Hilfe der Zentralmächte bedürfen, sie muß sich also infolge
ihrer geographischen Lage an dieselben anlehnen. Dazu kommt noch, daß
der ukrainische Expansionsdrang aus natürlichen Gründen nach Osten ge¬
richtet sein muß. Seit der Dämmerung der Geschichte geht die ukrainische
Kolonisation und politische Expansion nur gegen Südosten, respektive
— nach der Erlangung des Schwarzen Meeres als einer natürlichen
Grenze — nur gegen Osten. Im Westen haben die Ukrainer nicht
nur keine Erwerbungen gemacht, sondern im Laufe von tausend Jahren
haben sie das Territorium zwischen Weichsel und Wepr (Lubliner
Gebiet), das Gelände am unteren Bug (bei Siedlce und das
Territorium zwischen Ssan-Wislok und Wisloka (mit den Städten
Dukla, Rzeszow, Lezajsk, Lanzut) an die Polen, das Territorium
Ungarn-Theiß-Hust an die Magyaren und das Territorium der Moldau
(Flußbecken von Pruth und Sereth) wie auch den größeren Teil
Bessarabiens an die Rumänen eingebüßt. In demselben Zeiträume aber
kolonisierten sie zweimal vor der Mongoleninvasion und dann im 17.
bis 20. Jahrhundert die Steppe der Gouvernements Südost-Podolien,
Süd-Kijew, Poltawa, Katerinoslaw, Cherson, Taurien, Charkiw, Kubanj-
Gebiet, wie auch noch beträchtliche Teile der Gouvernements Woronesch,
Kursk, Saratow, Staropol, Don-Gebiet u. a. — das heißt: vergrößerten
ihr Territorium in östlicher Richtung fast um das dreifache. Da der
Lauf der ukrainischen Kolonisation aus natürlichen und Populations-
Rücksichten auch auf eine unabsehbare Zukunft nach Osten — in das
Don-Gebiet, Stawropoler Gouvernement, Kaspisches Gebiet, Astrachan-
Gouvernement, wie auch nach Südwest-Sibirien und Turkestan gerichtet
sein muß, wird auch der politische Expansionsdrang der Ukraine nur
in der östlichen Richtung sich vollziehen, was zur Quelle eines geschicht¬
lichen Konflikts zwischen Rußland und Ukraine führen muß.
Ein gefahrvolles Projekt.
Das schwache Vertrautsein der Deutschen mit den osteuropäischen
Verhältnissen, insbesondere mit der ukrainischen Frage, wird von ge¬
wissen politischen Kreisen ausgenützt, um die Ansichten der Deutschen
über die Länder des östlichen Kriegsschauplatzes zu verdunkeln und
der deutschen Oeffentlichkeit solche Kriegsziele im Osten zu unter¬
schieben, die zwar beim ersten Blick einen gewissen Schein von
Möglichkeit und Zweckmäßigkeit haben, im Grunde aber große Ge¬
fahren eben für Deutschlands Interessen in sich bergen.
Es wurden nämlich in der jüngsten Zeit von polnischer Seite
einige autoritative und einige zwar weniger autoritative, aber umso mehr
symptomatische, charakteristische Publikationen und Erklärungen ver¬
öffentlicht, die jedenfalls einer Beantwortung bedürfen. So hat Herr
Ignaz Daszynski, polnisch - sozialistischer Reichsratsabgeordneter und
Vizepräsident des polnischen Nationalrates in Oesterreich (welcher
Nationalrat eigentlich nur die Minorität der österreichischen Polen und
eines verschwindenden Teils der russischen Polen represäntiert, indem
weder die russophilgesinnten Allpolen und ebenso gesinnten ostgalizischen
Konservativen, die zwei größten und ausschlaggebenden westgalizischen
polnischen Parteien in Oesterreich, noch die Stapinskische Bauernpartei,
noch die größten Parteien Russisch-Polens, zu dem Nationalrate ange¬
hören!) in einer schwedischen Zeitung ein Interview veröffentlichen
lassen, in welchem er das ukrainische Cholmer-Land an das zu schaffende
polnische Reich kurzweg annektiert. Der Präsident desselben polnischen
Nationalrates, Herr Dr. Ladislaus v. jaworski, hat wiederum in einer
offiziellen, namens dieses Nationalrates abgegebenen Erklärung ganz Ost¬
galizien (also wiederum ein ukrainisches und dazu an Oesterreich an¬
grenzendes Gebiet!) für den von ihm vorgeschlagenen polnischen
Staat beansprucht.
Noch weiter gingen die bekannten Publizisten, Leon Wasilewski1)
und Ladislaus S. Studnicki2), indem dieselben für ihren polnischen Zu¬
kunftsstaat nicht weniger als das gesamte Gebiet bis West-Düna im
Norden, bis zum Dniepr im Osten und Dniestr und Boh im Süden —
*) Leon Wasilewski : „Die nationalen und kulturellen Verhältnisse im
sogenannten Westrußland“. Wien 1915. Verlag der Wochenschrift „Polen“.
2) Wladyslaw R. v. Gizb ert - Studnicki : „Die Umgestaltung Mittel¬
europas durch den gegenwärtigen Krieg. — Die Polenfrage in ihrer internationalen
Bedeutung“, Wien 1915. Verlag: Buchhandlung Goidschmidf.
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d. i. nicht nur ganz Russisch-Polen und ganz Galizien, aber auch die
Gouvernements Cholm, Wolhynien, Podolien, Kijew, Mohyliw, Minsk,
Grodno, Kowno, Wilna, Wilebsk, Kurland usw. beanspruchen, wobei
die beiden Publizisten sich auf die Tatsachen stützen, daß das genannte
Gebiet einst zum polnisch - litauischen Staate gehörte und daß es auf
demselben eine teilweise polnische Großgrundbesitzergeschichte gibt.
Beide genannten Publizisten begehen dabei die Unkorrektheit, daß sie
alle römischen Katholiken in dem Gebiete für Polen halten, alle Juden
ebenso zu polnischen Gunsten eskamotieren, andere bedeutende National¬
elemente dagegen — wie Ukrainer, Weißruthenen oder Litauer —
tendenziös geringschätzen und ihre tatsächliche Kraft und Tendenzen
fälschlich herabzusetzen oder zu verdrehen trachten.
Während Herr Wasilewski seinen Ausführungen wenigstens vor
dem Auslande den Schein von Wissenschaftlichkeit zu geben versucht,
ist Herr Studnicki — ein Allpole, Mitredakteur des berüchtigten
Lemberger „Slowo Polskie“ — in seinen Fälschungen ganz ungeniert,
indem er wahrscheinlich auf die Leichtgläubigkeit der Deutschen und
die mit osteuropäischen Verhältnissen unvertrauten Leser spekuliert.
Außerdem werden polnischerseits auch im vertraulichen Wege an
die maßgebenden Kreise Deutschlands und Oesterreich Ungarns Denk¬
schriften ähnlichen Inhaltes eingereicht, deren Ziel es ist in einer hinter-
— 36 —
listigen und übertriebenen Weise die Polen als den einzigen staats-
bildenen Faktor in Osteuropa darzustellen, dagegen womöglich und
wiemöglich nur die Bedeutung des ukrainischen Elementes herabzusetzen.
Aus der Lektüre dieser Produkte polnischer politischer Gegner er¬
hält man den Eindruck, daß den Herren Polen nicht so viel an der
Schaffung eines polnischen Staates, wie vielmehr an der Vereitelung der
Bildung eines ukrainischen Staates liegt.
Es ist auch zu verstehen: die Bildung eines selbständigen
ukrainischen Staates ändert nämlich ein für alle mal die Ver¬
hältnisse in Osteuropa, indem die Ukrainer vom Narew, Bug, Wepr
und San im Westen bis über den Don hinaus im Osten zu einem
kräftigen und durch seine internationale und geographische Lage aus¬
schlaggebenden Faktor in Osteuropa werden, was die Liquidierung der
polnischen Expansions-Pläne in bezug auf das ukrainische Territorium
herbeiführen müßte. Dagegen läßt das Hintanhalten des ukrainischen
Elementes in seiner Entwicklung, wenn auch mit der Beeinträchtigung
der Interessen der Zentralmächte, weil es ja mit der Bei¬
behaltung der Machtstellung Rußlands in Osteurapa unbedingt verbunden
ist, den Polen die Hoffnung, daß es ihnen gelingen wird, bei besserer
Konjunktur, auf Rechnung eines Teiles der Ukrainer und im Wege
eines Kompromisses mit den Russen (wie es schon im 17. und
18. Jahrhundert der Fall war1) wieder zur Geltung zu kommen.
Die Oeffentlichkeit beider mitteleuropäischer Mächte steht seit
Dezennien unter dem einseitigen Einflüsse der polnischen Informationen,
infolgedessen sie gewissermaßen prädistiniert ist, die genannten
polnischen Ansprüche auf nichtpolnische, hauptsächlich auf ukrainische
Gebiete für berechtigt zu halten.
Da es aber garnichts Gefährlicheres in der Politik gibt, als
die Illusionen, so werden wir trachten, womöglich kurz mit
dem faktischen Material an der Hand den Wert dieser polnischen
Anmaßungen auf nichtpolnische Länder zu beleuchten. Im vor¬
aus schon müssen wir aber bemerken, daß ein polnischer
Staat mit einer ukrainisch - weißruthenisch - litauischen
Mehrheit oder sogar mit einer solchen Minorität ein Monstrum
wäre, welches keine Lebensfähigkeit besitzen würde, und
welches in kurzer Zeit von den separatistisch-nationalen Be¬
strebungen zersetzt sein würde, wobei Rußland die Rolle „des
Befreiers“ der von den Polen bedrückten Völker übernehmen
wird, so wie es vor der Teilung Polens im 18. Jahrhundert diese Rolle
spielte. Solch ein Resultat wäre wirklich ein bitterer Lohn für das Blut,
das jetzt die beiden verbündeten Großmächte opfern!
In dem Vertrage von Andrusow (1676) haben Polen und Moskowiter die
Ukraine (das ukrainische Hetmanstum) längst des Dnieprlaufes in zwei Interessen¬
sphären — eine polnische, westlich vom Dniepr und eine moskowitische, östlich
vom Dniepr — untereinander geteilt, was nachher noch in dem Baktschisarajer-
Vertrage von 1681 und dann in dem Uebereinkommen Peter des Großen mit der
Polenrepublik vom Jahre 1700 bestätigt wurde. Diese Verständ gung der beiden
Erbfeinde der Ukraine war gegen die Staatsselbständigkeit derselben gerichtet.
37 —
In erster Reihe muß es ausdrücklich betont werden, daß die von
den Polen angegebene nationale Statistik der sogenannten westrussischen
Gebiete grundfalsch ist, wobei von beiden polnischen Publizisten alle
slawischen Römischkatholischen (also nicht nur Polen, sondern auch
Weißruthenen und Ukrainer) gerechnet werden. Anderseits gehen die
Zahlenmanipulationen des Herrn Studnicki so weit, daß er von den
„1 — 2 Millionen Ukrainer“ in dem an Polen anzugliedernden Wolhynien
und Podolien spricht, während schon in Wolhynien allein zirka 3 Millionen
Ukrainer, in Podolien dagegen über 3 Millionen, also zusammen in diesen
zwei Gouvernements allein zirka 6 Millionen Ukrainer gibt! Aehnlich
ist die gesamte Statistik und die Glaubwürdigkeit aller tatsächlichen
Angaben der Herren Studnicki und Wasilewski. So z. B. sollen in dem
von Herrn Studnicki projektierten Polen, das bis zur Düna, Dniepr,
Kijew, Berdytschew, Umanj und Dniestr zu reichen hätte, jetzt nach
seinen Angaben 30 Millionen Menschen, darunter 50% (15 Millionen)
Polen und weitere 20% (6 Millionen) „Katholiken, die gleichfalls (!!)
nach Polen gravitieren“, sowie 15°/o (4— 5 Millionen) Juden wohnen.
Wir wissen wirklich nicht, woher Herr Studnicki diese Zahlen heraus¬
gegriffen hat; nach der offiziellen Statistik, welche auch die ernsten
polnischen Statistiker E. Czynski und Dr. Szerer im großen ganzen be¬
stätigen, gibt es in diesem Länderkomplex zirka 36 Millionen Menschen,
darunter keine 50 %, sondern nur 31 % (11 Millionen) Polen und 69%
Nichtpolen und zwar: 22,5 % (8 Millionen) Weißruthenen, 24 %
(8,5 Millionen) Ukrainer, 13% (4,5 Millionen Juden), 6 % (2 Millionen)
Litauer, je 3 % (je 1 Million) Russen und Deutsche u. a. In kon¬
fessioneller Hinsicht gibt es außer den 31 % polnischer Katholiken noch
höchstens weitere 16,5 % (5,5 Millionen), von katholischen Deutschen 3 %,
Weißruthenen 6%, Litauer 6 °/o und Ukrainer 1,5 %, also wiederum
keine 20°/o, wie Herr Studnicki es angibt. Infolgedessen bleiben von
den angeblichen 50°/o Polen +20% „an Polen gravitierender Katholiken“
(zusammen 70%) nur 31 % + 16 7*% zusammen 467a % Katholiken. Bei
derlei Zahlen erscheint uns der „polnische“ Charakter so eines polnischen
Staates in einem ganz anderen Lichte, als bei den 50% + 20% = 70 % des
Herrn Studnicki. Wenn man dazu noch berücksichtigt, daß die angeb¬
lichen „an Polen gravitierenden Katholiken“ alles, was polnisch ist, von
Herzen hassen, so schrumpft die angebliche polnische „Mehrheit“ so
eines polnischen Zukunftsstaates auf 31 % der Gesamtbevölkerung zu¬
sammen. Mit der Gravitation der Katholiken zu Polen verhält es sich
folgendermaßen: es ist ja eine gewöhnliche Erscheinung, daß die Litauer
sich mit den Polen in den katholischen Kirchen wegen der Sprache
der Kirchenlieder oder Predigten blutig raufen. Ebenso sind die
katholischen Weißruthenen der nationalbewußteste Teil der Weißruthenen
und, wie alle Weißruthenen, gegen die Polen, als ihre geschichtlichen
Bedrücker, feindlich gestimmt. Wenn die Weißruthenen gewisse
Sympathien haben, dann nur für die verwandten Ukrainer. Nicht die
polnischen Bischöfe von Wilna oder von Mohiliw, sondern der ukrainische
Metropolit zu Lemberg, Graf Scheptyzkij, ist bei den katholischen
Weißruthenen die populärste Gestalt!
— 38 —
Die Anmaßungen der Herren Polen auf die ukrainischen und
weißruthenischen Länder wirken um so befremdender, als die Zahl der
Polen in manchen von ihnen beanspruchten Gouvernements bis zu
1 % (!) sinkt. So haben wir im Gouvernement Mohyliw nur 1 % Polen,
in den Gouvernements Podolien und Kijew je 2 %, im Gouvernement
Minsk 3% usw. Mit derselben Berechtigung könnte man Berlin für
eine „polnische“ und Warschau für eine „russische“ Stadt erachten.
Merkwürdigerweise aber entrüsten sich gleichzeitig die Herren Polen
bei dem Gedanken, daß das Gouvernement Petrikau, wo es 1 1 % Deutsche
und 14% deutschsprechende Juden, zusammen 25 % deutschsprechender
Bevölkerung gibt, oder Warschau, wo die Juden mit den Deutschen
die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, an Deutschland kommen
kann. Die logischen Wege des polnischen politischen Gedankens sind
manchmal wirklich merkwürdig. Es ist aber für eine Nation und für
ihre Regierungsfähigkeit charakteristisch, daß im Momente, wo sie selbst
noch nichts besitzt, schon nach dem fremden Gute die Hand ausstreckt.
Auch die polnischen Darstellungen der Verhältnisse, der Gesinnungen,
der nationalen Kräfte u. ä. w. auf dem von den Polen beanspruchten
Gebiete sind ganz falsch und tendenziös fabriziert. Wir haben schon
davon gesprochen, daß nichtpolnische Katholiken dieser Gebiete den
Polen durchaus feindlich gesinnt sind. Die Polen haben in den dies¬
bezüglichen Ländern 17% des gesamten Bodenbesitzes in ihrer Hand
und bilden eine durchaus dünne und seit einem Jahi hunderte nummerisch
sehr stark zurückgegangene Schicht aer mit dem Volke auf ewigem
Kriegsfuße lebenden Plantatoren. Wir haben sie mit dieser Benennung
deshalb bezeichnet, da dieselbe uns das Verhältnis dieser Schicht zur
einheimischen Bevölkerung am getreusten wiederzuspiegeln scheint.
Drei kleine Häuflein von den wirtschaftlich umkommenden und von
den Volksmassen leidenschaftlich gehaßten Individuen ist absolut nicht
imstande die Millionenmassen von Ukrainer oder Weißruthenen zu
regieren. So ein Staat mit 69% bedrängter Nationalitäten, und mit
1 — 2% der regierenden Nation in den Provinzen seiner östlichen
Peripherie würde bald umkommen und von den inneren Nationalkämpfen
zersetzt werden.
Das würde umso sicherer geschehen müssen, da die nationalen
Bewegungen der Ukrainer, Weißruthener und Litauer gar nicht so
schwach sind, wie sie es die Herren Wasilewski und Studnicki nötig
haben, darzustellen. Die Litauer haben eine stark individualisierte
Nationalphysiognomie und sind national in ihren Volksmassen hoch
bewußt, viel höher als die Polen. Die Weißruthenen sind auch schon
am Wege sich von fremden Einflüssen zu emancipieren und bei ihrer
Zahl (6 — 8 Millionen) sind sie gar nicht zu polonisieren — umso mehr
die Ukrainer, die gegen die polnische Herrschaft Jahrhunderte blutig
gekämpft haben, die in dem polnischen Staate des Herrn Studnicki
noch zahlreicher als die Weißruthenen sein müßten und die in einem
regen Nationalerwachen begriffen sind. Die Polen haben in ihrem ge¬
schichtlichem Staate eine Prüfung der Regierungsunfähigkeit abgelegt,
indem ihre nationale und konfessionelle Unduldsamkeit den Staat
— 39
zersprengten. Eben dasselbe würde auch im neuen, auf dem Rücken der
Ukrainer, Weißruthener und Litauer gegründeten Staate geschehen —
umso mehr, da Rußland, wie es im 18. Jahrhundert das getan hat,
schon verstehen wird als „Befreier“ der Orthodoxen und Nicht-Polen
mit Triumpf in diese Länder zurückzukehren. So einen Staat zu bauen,
hieße auf dem ganzen Gebiete ostwärts vom Njemen, Narew, Wepr,
Ssan „pour le Tzar de Russie“ zu arbeiten!
In einem einzigen Falle könnte sich so ein buntsprachiges Polen
eine Zeit hindurch behaupten — nämlich im Anschluß an Rußland
und in dem Bunde mit demselben gegen Mitteleuropa, in erster Reihe
gegen Deutschland. Eine Verständigung Polens mit Rußland in der
Frage der westukrainischen und weißruthenischen Gebiete ist ja möglich;
sie hat schon ihr Vorbild im Vertrag von Andrussow. Für den Preis,
ein paar westrussische Gouvernements im Besitze Polens gutwillig zu
belassen und für das Versprechen für Danzig und Polen, ohne welchen
ja ein polnischer Großstaat undenkbar ist, kann Rußland ganz sicher
Polens Zutritt zum Bunde gegen Mitteleuropa gewinnen. Dazu kommt
auch der Umstand, daß die polnische Industrie mit der deutschen keine
Konkurenz aushalten kann und ohne die russischen Absatzgebiete zur
Verkümmerung verurteilt sein würde. Einen polnischen Großstaat auf
nichtpolnischen Ländern zu bauen, hieße also einen Bundesgenossen
Rußlands in der Nähe Berlins und Wien organisieren: ein zweites
Serbien! So ein polnischer Staat, von inneren Nationalfragen geplagt
und keine Widerstandskraft gegen Rußland besitzend, wird auch an
Rußlands politischen Wagen sich anspannen lassen müssen.
Schlußbemerkungen,.
In unseren Ausführungen sind wir zu dem Schlüsse gekommen,
daß die Bildung eines ukrainischen Staates nicht nur im Interesse
Deutschlands und Mitteleuropas im allgemeinen liegt, sondern direkt
mit den großen Bestrebungen der deutschen Nation in diesem Kriege
im einem engen und pragmatischen Zusammenhänge steht, indem die
Sicherstellung der Meeresengen und des deutschen Weges nach Bagdad
wie auch des europäischen Friedens ohne Zurückdrängung Rußlands
vom Schwarzen Meere durch einen ukrainischen Staat nicht denkbar
erscheint.
Diese großen Bestrebungen dagegen können — unserer Ansicht
nach keineswegs durch das Abtrennen nur eines relativ schmalen
Streifens der bisher an Ostgalizien angrenzenden Gebiete Rußlands, d. i. des
Cholmer Landes, Wolhyniens, Podoliens und eventuell noch eines schmalen
Aermels von Podolien bis zum Schwarzen Meere und Odessa zwischen
Dnjstr und Boh, wie es sich manche Kreise die territoalen Erwerbnisse
im Osten darstellen — genügend gesichert werden. So ein Gebiet mit
zirka 200 000 km Oberfläche und 10— 12 Millionen Einwohner, darunter
9—10 Millionen Ukrainer, 500 000 Polen, 300 000 Deutsche, über eine
Million Juden und zirka 300 000 Russen wäre zu schwach, um den
russischen Andrange ernst die Stirn bieten zu können und die Verbindung
40
Berlins mit Odessa ganz sicher zu machen. In diesem Falle würde
Rußland das Schwarze Meer weiter beherrschen und von Sebastopol
aus Konstantinopel bedrohen.
Es entsteht die Frage, was man mit so einem Gebiete tun soll.
Es existieren ja in Europa — im Norden und auf dem Balkan — viel
kleinere Staaten als das genannte Gebiet; die Organisierung eines
ukrainischen selbständigen oder in einer Real- oder Personal-Union mit
einem anderen Staate verbleibenden Staatswesens auf diesem Gebiete,
erscheint schon möglich. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß
es an Oesterreich angegliedert werden könnte, damit dadurch das
ukrainische Piemont in dem Rahmen Oesterreichs gestärkt werde. Im
letzten Falle müßte es mit Ostgalizien bis über den Ssan im Westen in
ein autonomes Kronland — ein Nachbild des gewesenen ukrainischen
Königreiches Galizien und Lodomerien, das eben auf demselben Terri¬
torium existierte — zusammengeschmolzen werden, umsomehr, als eine
Teilung Galiziens nach dem ethnographischen Prinzip eine politische
Notwendigkeit seit Dezennien ist.
Ein Zusammenleben der Polen und Ukrainer in einem Kronlande,
ebenso wie in einem polnischen Staate, wo die Polen Herrscher sein
sollten, ist undenkbar, da dies schon bisher die traurigsten Folgen für
die Ukrainer und für Oesterreich brachte. Insbesondere ist es undenk¬
bar, und ausgeschlossen nach den traurigen Erfahrungen vom Herbst
1914, wo es einerseits die bis zum Kriegsausbrüche von der polnischen
Landesverwaltung als Antidotum gegen das Ukrainertum begünstigte
Russophilie in manchen Kreisen zum Vorschein kam, anderseits aber
dieselbe polnische Landesverwaltung, das Vertrauen der Militärbehörden
zu den Polen ausnützend, tausende von den besten österreichischen
Patrioten ukrainischer Nationalität als angebliche „Russophilen“
denunzierte, und ihre Verfolgung, ja sogar ihre Maßregelung ver¬
ursachte, wonach die unschuldigen Leute nach durchstandenen Leiden
und Schmach zu tausenden als verläßliche Personen freigelassen wurden.
Zwischen den Polen und Ukrainern gähnt jetzt eine Kluft, deren Ueber-
brückung auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen ist. Der Pole ist für
den Ukrainer ein ebensolcher Todfeind wie der Russe, beide verbünden
sich auch gewöhnlich gegen die Ukrainer. Bei solchen Umständen ist
ein Zusammenleben der Ukrainer mit den Polen unmöglich. Sogar in
dem Falle, wenn Galizien durch Anschluß mancher Gebiete im Nord¬
osten und Osten nicht vergi ößert wird, muß es geteilt werden, um un-
erwünschesten Erscheinungen in diesem gegen Rußland vorgeschobenen
Lande vorzubeugen. Die bisherige Politik des Preisgebens der Ukrainer
der polnischen Herrschaft hat Bankrott gemacht und kann nicht wieder¬
holt werden. Es müssen, wenn man wirklich Rußland in seiner Achilles¬
ferse, in der ukrainischen Frage, angreifen wili, die Kräfte des
ukrainischen Volkes in Galizien enfesselt werden, damit hier wirklich
ein politischer und kultureller Gravitationspunkt für die ganze russische
Ukraine entsteht.
Wie gesagt, sind diese kleinen Maßnahmen aber nicht geeignet,
die großen politischen Aufgaben Deutschlands in der südöstlichen
— 41
Richtung zu sichern. Demgemäß bleibt nichts anderes übrig, als zum
Hauptgedanken dieser Publikation, nämlich zum Gedanken eines
ukrainischen Staates zwischen Deutschland im Nordwesten und dem
Schwarzen Meere im Südosten, zwischen Oesterreich im Westen und
Rußland im Nordosten zurückzukehren. Die Konstituierung so eines
Staates bei dem Reichtum der Ukraine, bei der ausgeprägten nationalen
Individualität, der relativ hohen Kultur der ukrainischen Volksmassen,
und bei dem Vorhandensein genügender Intelligenzkreise ist mit Hilfe
Deutschlands eine viel leichtere Sache, als es die Konstituierung
Bulgariens, Rumäniens oder Griechenlands war. Diese Länder machten
einen rapiden Sprung aus der Barbarei ins rechtliche Staatsleben, wo¬
bei auswärtige Mächte ihnen behilflich waren. Die Ukraine braucht
keinen so rapiden Sprung zu machen, da sie jedenfalls ein altes Kultur¬
land ist, einen alten Staatsgedanken besitzt und schon jetzt ent¬
sprechende materielle und intellektuelle Kräfte besitzt. Es wird in der
Ukraine nur eine Verschiebung der Staatsgewalt aus den russischen in
die ukrainischen Hände vor sich gehen, während der Verwaltungs¬
apparat nach manchen persönlichen Aenderungen (hauptsächlich in den
leitenden Stellen) und nach mancher Säuberung im beträchtlichen Teile
derselbe bleiben kann. Der russische Staat verdankt ja einen relativ
sehr großen Teil seiner Machtstellung den materiellen und intellektuellen
Kräften aus der Ukraine. Nur ein Teil dieser Kräfte genügt, um einen
ukrainischen Staat zu etablieren, ohne daß er solche Kinderkrankheiten
durchmachen müßte, wie es bei den Balkanstaaten der Fall gewesen.
Es sind auch die halbasiatischen und kleinlichen Balkanverhältnisse mit
den jedenfalls zivilisierten und großzügigen Verhältnissen in der Ukraine
gar nicht zu vergleichen.
Die einzige Schwierigkeit bei der Bildung eines ukrainischen Staates
wäre militärischen Charakters, nämlich: ob die Zerschmetterung Ru߬
lands eine so weitgehende sein wird, daß Rußland, wenn nicht ganz
Ukraine, dann wenigstens dieselbe bis zum Dniepr und bis zum
Asowschen Meere verliere. Das müssen wir mit Vertrauen den weiteren
Kriegsereignissen und der Kraft der verbündeten Armeen überlassen.
Anhänge.
Die Ukraine als evtl. Kriegsschauplatz.
Für jene, die sich mit der ukrainischen Frage befassen, wird es
nicht ohne Interesse sein, wie sich die Ukraine als ein eventueller
Kriegsschauplatz darstellt und welche Möglichkeiten dieselbe einer In¬
vasionsarmee darbietet. In aller Kürze werden wir einige Angaben den
geehrten Lesern vorlegen.
Fünf Momente kommen bei der Beurteilung der Bedeutung eines
Terrains für eine Invasionsarmee im Betracht: Bodenbeschaffenheit
mit allen, was dazu gehört (Oro- und Hydragraphie, Klima usw.),
— 42 —
Kulturzustand mit den Unterbringungs- und Approvisatiosresouren,
Verkehrswesen mit den Nachschubbedingungen, militärische Be¬
deutung des Terrains mit Rücksicht auf die Verteidigungslinie oder
Ausfallbasen und politische Bedeutung des Terrains mit Rücksicht
auf den Krieg und dann auf die Kriegszäele.
Was die Bodenbeschaffenheit der Ukraine anbelangt, so ist
sie für eine vom Westen vordringende Armee ein ohne jeden Vergleich
günstigeres Terrain, als die Sümpfe und waldigen Terrains Polens und
noch mehr Nordwestrußlands, wo sich jetzt die wichtigsten Kriegser¬
eignisse bei Bewunderung der ganzen Welt abspielen. Die Ukraine,
nur den nördlichen Saum Wolhyniens und des Kijewer-Gouvernements aus¬
genommen, der noch den Polisje-Charakter trägt, ist ein trockenes, bis
zum Dniepr nur von relativ kleinen Flüssen durchkreuztes und mit
festem schwarzen Erdboden bedecktes Hügelland respektive ebenso ein
Komplex von dem durch die Flußtäler getrennten Plateaus. Keine Ge¬
birgskette ist von der galizischen Grenze bis über Don und Wolga
im Osten hinaus zu finden. Aber auch kein Sumpfland, wie es im
Nordwesten und kein Sandland, wie es in Polen oder am Bug vorhanden
ist. Das erste und einzige ernste Hindernis im Osten ist der mächtige
Dniepr - Strom, dessen Uferbau aber eben für die vom Westen vor¬
dringende Armee günstig ist, indem das westliche Ufer hoch und steil,
das östliche dagegenjlach und eben ist und von dem westlichen weit aus
beherrscht werden kann.
Die klimatischen Verhältnisse der Ukraine sind auch ganz
anders als die von Polen oder Nordwestrußland, wieder zugunsten der
viel südlicher gelegenen Ukraine. Kijew und Schitomir liegen ja ein
wenig südlicher als Kielce und Tschenstochau und fast um einen Grad
südlicher als Lodz und Petrikau; Kamenetz Podolskyj liegt in der geogr.
Höhe von Nürnberg, Balta in der geogi. Höhe von Wien und München;
Odessa in der geogr. Höhe von Südungarn und Genfer-See. Da das
Klima der Ukraine ein Uebergangsklima zum Kontinentalen ist, so ist der
ukrainische Herbst trocken und reicht bis in die Mitte November, wo
nach kurzer Zeit der Herbstregen wiederum ein trockener und schnee¬
armer Winter folgt. Der erste Schnee kommt gewöhnlich in der ersten
Hälfte Dezembers, die ersten Fröste um das Ende des Dezembers.
Schneestürme und große Fröste gibt es freilich um Jahreswende und im
Jänner, sie dauern aber nicht lange, da schon im Februar es nachzu¬
geben beginnt. Im März beginnt schon die allgemeine Tauzeit und
Unwegsamkeit, wonach im April der Frühling sich den Weg bahnt, um
im Mai Herr der Natur zu werden. Schon zu Ende Aprils wird der
Boden trocken, wonach nur noch um Ende des Junis eine kurze
Sommerregenzeit kommt. Danach ist nur die einzige Tauzeit für
Kriegsoperationen ungünstig.
Während in Nordwestrußland im Januar die Durchschnittstemperatur
auf 6 — 8 Grad unter Null sich beläuft, ist die Januars-Durchschnittkälte
von Südwest- Rußland (Westukraine) 3 — 5 Grad unter Null; während
die Düna bei Riga 120 Tage, Njemen bei Kowno 100 Tage mit Eis
bedeckt sind, friert Dniepr oberhalb von Kijew auf 100 Tage, unterhalb
43 —
auf 80 ja sogar nur auf 70 Tage zu. Von dem Reichtum an Regen-
und Schneefällen Nordwestrußlands gibt es in der Ukraine keine Spur.
Auch die Kultur- und demgemäß die Approvisations- und
Unterbringungsresouren der Ukraine sind ohne Vergleich günstiger
wie Nordwestrußland, indem die Ukraine nach Polen 98 pro km2 die
größte Volksdichte (Kijew und Podolien 89 pro km2 Poltawa 72 pro km2.
Wolhynien, den sumpfigen Teil von Polisje eingerechnet, 54 pro
km2 usw.) besitzt (im Vergleich: Zentralrußland 25 pro km2, Gouverne¬
ment Wilna 45 pro km2, Minsk 30 pro km2 usw.). Auch der Kultur¬
zustand dieser par exellence anwerbenden Bevölkerung ist viel höher,
als in Nordwestrußland. Die Bauernhäuser, obwohl größtenteils aus
Holz oder Lehm mit Flechtenwerk gebaui und mit Strohdach bedeckt,
haben in der Regel zwei ja sogar drei, durch einen Zwischengang
separierte Räume und sind dazu rein mit Kalk oder Lehm bestrichen,
sauber und mit Schornsteinen versehen, Tiere werden in den Wohn-
räumen nicht untergebracht. Die großen Ansiedlungen (große Dörfer
und Marktflecken liegen dicht aneinander, nicht so, wie es in Nordwest¬
rußland ist, wo es nur von einander weitentlegene kleine Dörfer und
Einzelsiedlungen gibt. Für die Unterbringung der Truppen sind die
großen ukrainischen Dörfer höchst geeignet, umsomehr, da die Be¬
völkerung sehr gutmütig und gastfreundlich ist. Da das Land eine Korn-
und Rinder-Kammer Rußlands ist, sind die Verpflegungsverhältnisse
sehr günstig. Sogar, wenn die Russen beim Rückzug alles mögliche
verbrennen, wird es noch genügend Verpflegungs- und Unterbringungs¬
resouren bleiben, umso mehr, da in der Praxis das russische Ver¬
nichtungs-System sich ja als unausführbar erwies.
Letzthin muß hervorgehoben werden, daß für den Fall, daß sich
der Krieg auf die Dauer verschleppen sollte, was die Absicht der Eng¬
länder zu sein scheint und worauf die Russen auch rechnen, die Be¬
setzung der westlichen und südlichen Ukraine mit einem besonders
fruchtbaren Boden und unzählbaren Herden den Zentralmächten er¬
möglichen wird, ins Unendliche durchzuhalten, ohne Mangel an Korn,
Rindvieh, Wolle, Eisen und Kohlen zu spüren. Das einzige Gouverne¬
ment Katerynoslaw produziert jährlich ungefähr so viel Korn wie ganz
Russisch - Polen (Katerynoslaw 195 Millionen Pud, Russisch - Polen
213 Millionen Pud, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Produktion
von Katerynoslaw noch viel mehr gesteigert werden kann als die von
Russisch-Polen und daß Katerynoslaw lauter Weizen, Russisch-Polen
dagegen mindere Korngattungen produziert!). Die gesamte Kornpro¬
duktion der westlichen Ukraine (bis Dniepr) beläuft sich auf zirka
680 Millionen Pud, d. i. die Hälfte der gesamten ukrainischen Kornpro¬
duktion und zirka 20°/o der gesamten Produktion Rußlands. Polen
allein bezog aus der Ukraina jählich zirka 40 Millionen Pud, Wei߬
rußland ebenso zirka 5 Millionen Pud usw. Auch dieser Umstand spricht
für die Besetzung der Ukraine. Sonst müßte man die polnischen und
nordwestrussischen Gebiete mit dem Korn der Zentralmächte ernähren.
Das Verkehrswesen der Ukraine steht dem polnischen und
galizischen nach, ist aber viel besser entwickelt, als jenes von Nord-
44
westrußland. Das ist die Folge der Bodenbeschaffenheit, so daß sogar
die Nachteile des ukrainischen Verkehrswesens im Vergleich mit dem
von Polen und Galizien durch den festeren Boden ersetzt werden.
Bei den westukrainischen Eisenbahnlinien ist ihre südöstliche
Richtung charakteristisch, so daß ihr Schema wie die auseinander¬
gestellten Finger einer Hand, deren Fläche sich in der Linie Brest-
Litowsk-Nowosolicia befindet, aussieht. Vier Hauptlinien, davon zwei
zweispurig, verbinden Galizien und Polen mit der Ukraine, wonach sie
sich zu der östlichen und südlichen Richtung in 10 Linien verzweigen.
Ueber Brest- Litowsk-Warschau, Lublin-Radom, Wladymir Wol.-Sokal-
Jaroslaw-, Brody-Lemberg, Podwoloczyska-Stryj, Nowoselycia-Czerno-
witz-Budapest haben sie Anschluß an alle Hauptarterien beider Zentral¬
mächte. Wenn man berücksichtigt, daß es von Lemberg oder Brest-
Litowsk nach Kijew ebenso weit, wie von Berlin nach Warschau oder
von Danzig nach Riga, so erscheint die Möglichkeit einer Offensive in
die Ukraine nicht so weit entlegen zu sein.
Was die militärische Bedeutung des Terrains anbelangt, so
ist das Urteil darüber selbstverständlich die Sache der diesbezüglichen
kompetenten Militärstellen. Von dem Standpunkte eines Laien die
Sache beurteilend, können wir in erster Reihe auf das Festungsdreieck
Dubno-Rowno-Luzk in Wolhynien als eine gefährliche Nachbarschaft
für unsere rechte Flanke zwischen Brest- Litowsk-Czernowitz hinweisen.
Solange dieses Festungsdreieck in den Händen der Russen ist, können
dieselben immer einen Vorstoß gegen Ostgalizien versuchen, um das
unsrige Zentrum und die linke Flanke, die in Nordosten operieren, zu
zu gefährden, so wie es auch mit der österreichischen gegen Lublin
operierenden Armee im August 1914 geschah. Die Einnahme dieses
Dreiecks würde den Russen die Operations- und Ausfallsbasis auch im
Südosten entreißen, so daß denselben erst am Dniepr eine Verteidigungs¬
linie übrig blieb. Nach der Einnahme dieses Festungsdreiecks ist der
Weg bis nach Kijew frei.
Es scheint uns auch, daß, falls die Dardanellenfront, wo die
Türken unter deutscher Leitung heroischen Widerstand leisten, erschüttert
erscheinen sollte, eine Offensive in der Richtung gegen Odessa unaus¬
bleiblich sein wird, damit die Zentralmächte eine direkte Verbindung
mit der Türkei erlangen. Odessa in den Händen der Verbündeten, und
unsere Unterseeboote an der Nordküste des Schwarzen Meeres, das
wäre ein Ende der russischen Herrschaft über das Schwarze Meer.
Ein Vorrücken gegen Odessa ohne gleichzeitiges Vorrücken gegen Kijew
ist unmöglich.
Was für eine Bedeutung die Besetzung der Ukraine für die Entkräftigung
Rußlands im Falle einerVerschleppung des Krieges haben könnte, kann man
aus dem über die Approvisationsresouren der Ukraine gesagten beurteilen.
In der politischen Hinsicht wäre die Offensive der Verbündeten
in der Ukraine von außerordentlicher Bedeutung, indem dies über die
Haltung der Balkanstaaten endlich einmal definitiv entscheiden würde.
Welche Bedeutung die Ukraine mit Rücksicht auf die mit dem Kriege ver¬
bundenen politischen Aufgaben hat, das wurde schon ausführlich dargelegt.
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