Karl Nötzel
Grundlagen des
geiftigenRuhlandg
in 2009 with lande .
oront 5
University Of T.
A
een —— — — un
u Zn 5 ’
„
NE A Ä
ERIGEI:
BIBLIOTH
Karl Nötzel
Die
biss. Turſend
Verlegt bei Eugen Diederichs
dena 1917
— *
** wi
. er 33
*
9
5
ern
7
— ein
— a
Pe
3
Der Verfaſſer beabſichtigte, den deutſchen Leſer in den allgemeinen Cha⸗
rakter des ruſſiſchen Geiſteslebens einzuführen, d. h. ihm vor deſſen wider⸗
ſpruchsvollen Offenbarungen das notwendigſte kritiſche Ruͤſtzeug in die
Hände zu geben. Das erſcheint mir um fo notwendiger, als eine große Ver:
führung ausgeht vom ruſſiſchen Geiſte, ihm dabei die ganz offene Tendenz
innewohnt, uns Wefteuropder unſerem eigentlichen Weſen abtrünnig zu
machen, und er uns trotzdem ſehr vieles und ſehr Wichtiges zu geben hat.
Es iſt dies ein Geiſt, der noch nicht ſeine eigentlichen letzten Richtungen
5 bewußt erfaßt: der das ganz Große, Allmenſchliche will, und dabei doch
nicht laſſen kann von dem Engnationalen (dem Anſpruch darauf, daß der
Weg zum Allmenſchentum notwendigerweiſe durchs Allruſſentum führe).
9 Er befindet ſich aber tatfächlich auf dem Wege zum Allmenſchentum, der
ruſſiſche Geiſt, und kann uns jetzt ſchon manchen Pfad dahin weiſen. Frei⸗
lich, wenn er ſich auch ſeinerſeits von uns über einige Grundirrtümer auf
klaren laſſen wollte, die ſchon an feiner Wiege ſtanden, jo koͤnnte unſer ge⸗
+ meinſames Vorwaͤrtsſchreiten raſcher vor ſich gehen, höher führen und ſich
vor allem Biel erfreulicher geſtalten. Die Hoffnung darauf iſt wenigſtens
nicht verboten.
Mein Verſuch war inſofern kuhn und beanſprucht Nachſicht, als eigentlich
noch fo gut wie gar keine Vorarbeiten vorliegen, und dabei das zu beruͤck⸗
ſichtigende Geiſtesgebiet bereits ein ſchier unuͤberſehbares iſt. Um bei der
fo gebotenen aͤußerſten Zuſammenpreſſung des übergewaltigen Stoffes
noch gemeinverſtaͤndlich zu bleiben, wählte ich, als der ruſſiſchen Eigenart
am treffendſten angepaßt, die pſychologiſche Methode. Ich verfuhr nach
einem Parallelismus: Ich ging aus von den Hauptkulturſchickſalen Ruß⸗
lands und entwickelte aus den geiſtigen Einfluͤſſen eines jeden immer eine
der Außerungsſeiten des ruſſiſchen Geiſtes. Solcher Unterſuchungsweiſe
eignet der große Vorzug überlegener Sachlichkeit: Sie uͤberhebt mich der
| Notwendigkeit, von einem im Grunde doch nur willkürlich angenommenen
national⸗ruſſiſchen Naturell auszugehen. Auf deſſen Annahme durfte ich
aber verzichten, weil ja bei ſo elementaren Schickſalen, wie ſie das ruſſiſche
Voll trafen, ſchon eine ganz allgemeine menſchliche Gegenwirkung zu den
Erſcheinungen des nationalen Geiſteslebens führen mußte, die feine Eigen:
tel, Grundlagen des geiftigen Nußlande 1
art ausmachen und für uns Weſteuropaͤer jo überaus intereffant und lehr⸗
reich find. So konnte ich denn die Haupttatſachen der ruſſiſchen Geſchichte
ganz im allgemeinen und die der ruſſiſchen Geiſtesgeſchichte im beſonderen
völlig ungezwungen, d. h. immer nur durch den Zuſammenhang veranlaßt,
anführen und umſchreiben. Die Anlage des Ganzen bringt es dabei noch
mit ſich, daß ich jede Tendenz bei ihrem erſtmaligen Auftreten auch gleich
bis in ihre letzte Entwicklung hinein verfolge.
Ich benutzte lediglich original⸗ruſſiſche Literatur: Aber auch da habe ich
keine Arbeit finden koͤnnen, die annähernd den gleichen Zweck verfolgt wie
die meine. Ich ſaß nur an den gewaltig ſprudelnden Quellen. Von der hier
in Betracht kommenden deutſchen Literatur kann ich eigentlich bloß zwei
Werke nennen: das ganz vortreffliche Sammelwerk von Melnik „Ruſſen
über Ruſſen“, deſſen einzelne Teile ebenſogut ausgewählt wie meiſterhaft
uͤberſetzt find, und vor allem Maſaryks außerordentlich wertvolles Material
enthaltende „Soziologiſchen Skizzen zur ruſſiſchen Geſchichts⸗ und Reli⸗
gionsphiloſophie“. Ich ſelber habe unlaͤngſt in meinem Buche „Das heutige
Rußland“. Eine Einführung an der Hand von Tolſtois Leben und Werfen?"
auch das ruſſiſche Geiſtesleben im großen Kulturzuſammenhang Rußlands
zu deuten verſucht. Auch werden in kurzer Zeit Peter Miljukoffs in Ruß⸗
land laͤngſt als klaſſiſch anerkannte „Grundlagen der ruſſiſchen Kultur“ in
meiner Überſetzung erſcheinen“. Hier find nun tatſaͤchlich verbluͤffende Auf⸗
ſchluͤſſe gegeben über die eigentlichen Fundamente des ruſſiſchen Geſamt⸗
lebens. Dabei ſtehen Geiſt und Methode auf letzter europaͤiſcher Höhe,
Dieſes Buch wird in Zukunft jeder zu beruͤckſichtigen haben, der ſich mit
Rußlands Geſchicken irgendwie auseinanderſetzt. Alle dieſe Werke führe ich
nur für ſolche an, die ſich die gleiche Aufgabe ſtellen, die ich hier zu loͤſen
ſuchte. Wer ſich indes ganz einfach befruchten laſſen will von ruſſiſchem
Geiſte, der leſe die großen ruſſiſchen Schriftfteller — und daß er ſich dabei
nicht auch verfuͤhren laſſe zur Untreue gegen ſich ſelber, dazu und zu nichts
anderem ſollen ihm die nachſtehenden Ausfuͤhrungen dienen.
Paſing, im Mai 1916 Karl Noͤtzel
1 Frankfurt 1906, Rütten & Löning. 2 Jena 1913, Eugen Diederichs. Georg Müller,
München 1915 Georg Müller, München.
Einfeitung:
Wodurch das Geiſtesleben einer Nation beſtimmt wird
Der Einfluß des Staatsweſens auf das Geiſtesleben einer Nation. — Der
bir des Wirtſchaftslebens. — Die Stände als nationale Geiſtestypen.
— Das eigentliche Geiſtesleben einer Nation. — Das nationale Denken und
die freie Perſoͤnlichkeit. — Das Nationalbewußtſein
der Wiege eines nationalen Geiſteslebens (das natürlich in ſich bereits
Denkergebniſſe der vorſtaatlichen Perioden: des Stammes⸗ und
Feudaltums bergen muß) ſtehen die Selbſtbehauptungsnotwendigkeiten eis
ner Nation. Wie fie das eigentliche Staats weſen ſchufen, fo beſtimmen hin⸗
wiederum ſeine Einrichtungen in weiteſtem Maße die nationalen Denk⸗
gewohnheiten. Und das in doppelter Hinſicht: einerſeits und vor allem geht
dieſer Einfluß auf derſelben Linie vor ſich wie die in den Staatseinrichtungen
zum Ausdruck gelangenden allgemeinen Richtungen; andererſeits, ſofern
letztere in Widerſpruch ſtehen können zu elementar menſchlichen Beduͤrf⸗
nniſſen, in entgegengeſetzter Richtung.
Eine beſondere, wenn auch durchaus nicht ausſchlaggebende Rolle ſpielen
dabei im Geiſtesleben einer Nation die wirtſchaftlichen Verhaͤltniſſe: Von
ihnen hängt ganz im allgemeinen die Möglichkeit ab zur geiſtigen Entwick⸗
lllung, und dann bilden ſich auch vornehmlich innerhalb ihrer — als rein
gedanklicher Niederſchlag der Wirklichkeit — die grundſaͤtzlichen Anſchauungen
von der Stellung des Menſchen zum Menſchen, die als Recht und Sitte er⸗
lebt, der Geſetzgebung und dem ſtaatlichen Aufbau zur Richtſchnur dienen
und ihm jedenfalls allein Dauer gewaͤhren. Staatliche und wirtſchaftliche
Notwendigkeiten bewirken dann noch im Rahmen einer und derſelben Nation
die Abſonderung verſchiedener Geſellſchaftsgruppen, der Staͤnde, innerhalb
deren der nationale Gedanke wiederum, entſprechend den Lebensbedin⸗
gungen jeder einzelnen Gruppe, einer ganz beſtimmten Beeinfluſſung in
Hinſicht auf Färbung, Richtung und Inhalt unterliegt.
Das eigentliche Geiſtesleben einer Nation (nicht das im Zwange der Not
in der Schaffung, Erhaltung und Umbildung der ſtaatlichen, wirtſchaftlichen
und ſtaͤndiſchen Einrichtungen zum Ausdruck gelangende) ſetzt ſtets bei den
Schichten der Bevölkerung ein, die wenigſtens bis zu einem gewiſſen Grade
der elementaren Dafeinsforge uberhoben find, das heißt freie Zeit und freien
1* 3
(nicht durch das Bewußtſein perſoͤnlicher Abhängigkeit beſetzten) Bewußt⸗
ſeins raum haben (daher die große kulturelle Bedeutung der mittelalterlichen
Stadt und des mittelalterlichen Hofes). Von der Daſeinsnot unabhängiges
Denken hat dabei immer und überall letzten Endes die Beſinnung auf die
eigene Perſon — jenſeits ihrer ſtaatlichen, wirtſchaftlichen und ſtaͤndiſchen
Einzwaͤngung — und damit naturgemaͤß auf das Weſen des Menſchen als
ſolchen zum Gegenſtand. Gerade dadurch aber wird dieſes Denken — dat
Geiſtesleben einer Nation im engeren Sinne — zu dem idealen Band, das
ſie mit der ganzen Menſchheit verbindet, und tritt ſo notwendigerweiſe in
einen gewiſſen Gegenſatz zum ſtaatlich und geſellſchaftlich bedingten Denken
— von dem es urſpruͤnglich bloß unabhaͤngig ſein wollte.
Andererſeits iſt freilich auch dieſes „freie“ Denken einer Nation in wollen
Maße an der Ausgeſtaltung der ftaatlichen, wirtſchaftlichen und rein geſell⸗
ſchaftlichen Einrichtungen beteiligt, ſchon inſofern hier erſt deren Vertraͤg⸗
lichkeit mit und Anpaſſung an das Weſen des Menſchen fortdauernd nach⸗
geprüft wird.
Dieſes eigentliche freie Geiſtesleben einer Nation kann endlich mehr oder
minder ein rein nationales werden: inſofern ihm die Not oder der Ruhm
des Vaterlandes, die Angſt um es oder die Begeiſterung für es Flügel und
Richtung verleihen. Ein ſolches freinationales Denken traͤgt dabei, ſobald es
nicht mehr bei beſonderen Anlaͤſſen auftritt, vielmehr zu einem dauernden
— zu einer Geiſtesgewohnheit wird, ganz naturgemaͤß die Tendenz in ſich,
das Nationale mit dem Allgemeinmenſchlichen auszuſoͤhnen, und dieſe Aus⸗
ſoͤhnung wird dann normalerweiſe zunaͤchſt in dem Sinne geſucht werden,
daß das Allgemeinmenſchliche als ein erſt im Nationalen feine Erfüllung:
ſeine Verwirklichung Findendes vorgeſtellt wird. Wenn nun aber auch bei
ſolchem Denkziele das Nationale notwendigerweiſe eine beträchtliche begriff⸗
liche Erweiterung erfahren muß, und darum dieſe Tendenz des Denkens
große Verdienſte haben kann auch in rein geiſtigem Sinne, ſo kann ſie doch
immer nur als Übergangsſtadium des bewußt nationalen Denkens gelten.
Eine Schranke braucht dabei das bewußt Nationale fuͤr den Gedanken gar
nicht zu bedeuten, es verbuͤrgt ihm vielmehr allein greifbaren Inhalt, vor⸗
ausgeſetzt daß es ſich zu der weiteren Erkenntnis durchringt, daß jede Nation
in ſich, eben vermoͤge ihrer einzigartigen Anlage und ihrer ſtets eigenartigen
Schickſale, ganz beſtimmte dem Menſchheitsganzen letzten Endes unentbehr⸗
liche menſchliche Werte, ſei es Vorbilder oder Erkenntniſſe, ausarbeitet. Die
eigene Nation iſt und bleibt doch ſchließlich nur das Verſuchsfeld aller un⸗
4
MH.
.
8 u;
5 ee Gedanken für die ganze Menſchheit, weil wir hier eben die größte
= 4 Menſchenmehrheit vor uns haben, die wir uns noch in fo intimen Zügen
weſenegleich annehmen koͤnnen, daß für fie unfere Liebe Vorftellungsinhalt
Damit iſt der Kreis der nationalen Beeinfluſſung des Denkens geſchloſſen:
vom unbewußten Zwang durch die Notwendigkeit bis zur bewußten Denk:
llichtung, die in Einklang ſtehen kann mit der freien Perſoͤnlichkeit. Selbſt⸗
4 1 gehen innerhalb ein und derſelben Nation alle dieſe Tendenzen
® s durcheinander: nicht nur leben ſie auf verſchiedene Individuen verteilt,
r oft in ein und demſelben Individuum, und aͤußern ſich da ab⸗
N „je nach Stimmung und Schickſal. Kein menſchliches Denken iſt
völlig frei von allem Nationalem. Hat es ſelbſt ſolche Gegenſtaͤnde
2; Inhalt, die jenſeits aller nationalen Trennungen der Menſchen liegen,
ſo wird doch die Denkart, die Denkgewohnheit, die ſich da äußert, ſtets na⸗
tional bedingt ſein. Das bringt aber auch erſt jene Vielſeitigkeit in das
GWeiſtesleben der Menſchheit, deren unſere Raſſe dringend bedarf, um ihre
Berufung: die geiſtige Ausſoͤhnung des Menſchenalls, mehr und mehr zu
erfüllen, und die andererſeits der Beſchaͤftigung mit dem Geiſtesbeſitz der
Menſchheit jenen unvermwüftlichen, alles uͤberſtrahlenden Reiz gewährt, der
ſicherlich einer der maͤchtigſten Daſeinserhalter iſt für den feiner organi⸗
ſierten Teil der Menſchheit.
Was ſchließlich das Nationalbewußtſein als ſolches anbetrifft, ſo iſt es
diurchaus nicht gleichbedeutend mit dem Gefühlserlebnis zu der im Bewußt⸗
ſeinshintergrunde ftändig lagernden Vorſtellung von den Werten und Leis
ſtungen der eigenen Nation, es bedeutet vielmehr die Summe und Inten⸗
ſitaͤt der Vorſtellungen, die im Bewußtſein des Einzelweſens in irgendwelcher
Beziehung zur nationalen Zugehoͤrigkeit ſtehen. Das Nationalbewußtſein
kann ſomit unendlich nuanciert auftreten und wird um fo intenſiver fein,
je mehr Vorſtellungen der elementaren Daſeinserhaltungsnoͤte verbunden
auftreten mit dem Gedanken an die nationale Zugehörigkeit. Das ift aber
gerade in einem ausnahmsweiſe hohen Maße der Fall beim Ruſſen, und
hier haben wir den eigenzlichen Schluͤſſel zu jener Zentralftellung, welche
die nationale Zugehörigkeit in feinem ganzen Denken einnimmt.
N Re in Un 1004 Er 80 1
58 eren e Au
4 | r 1
i Ne 5 ne BR ** K
ch Er ER
W e ed fe d
l t 4 11 * * * 1 ER
or
a0
1% eee ee 7
eh er wo far; 118.
54 N 77 Be
= 1 in 705 nf 5 . 5
. N e i u ia 1 .
A 195 Fer BR ta 12 e r e MT
wor Bir rear Mahn anal sr
ee e n ee u 1
eee Rear nie .
Het e e ae . w e
75 77 Er MESSER I e 27 5 dee Ban.
ere Te n e . . g
an 8 ae mies a" N NE u
iim e e id a" Hal
ar ee AN Dead ae
t b ee Er i 155
er 9 ur Fa nüt er
ute she Nan üer N LER: |
9 105 * 7 Ri A? OR ati A
Ti Er
ve
8 gr 1 x 5 4 ; 4 74
mn MIELE. Fe LE, e © Y
a a RE
I
Die allgemeinen Kulturfchicfale :
Rußlands und ihre unmittelbaren;
Folgen für das nationale
Geiſtesleben
Die Bedeutung des Einblids in die ruſſiſchen Staatseinrichtung
Erkenntnis vo ruſſiſchen Volkes. — ruſſiſche Staat als no
Mittel zur 2 der nationalen Eigenart: der Urſprung des
tismus. — Der ruſſiſche Staat als aniſator der La
Urſprung der ruſſiſchen Stände, der Leibeigenſchaft und des Landkommu⸗
nismus. — Der Urſprung und die Rolle der chen Stadt. —
auf die Grundlagen der ruſſiſchen Kultur. — fi fo ergebende all
emeine Charakter des ruſſiſchen — — Die m fo 0 Be sa
fiele Stellung Rußlands zu Weſteuropa. — Wurzel und Weſ
ruſſiſchen Nationalbewußtſeins
Die Bedeutung ßland zeigt uns Wefteuropäern i im weſentlichen zwei völlig berſches
a re ene Geſichter: Die ruſſiſche Wirklichkeit, ſoweit fie uns durch Zeitungen
er und aus Reiſebeſchreibungen kund wird, zeigt uns in Rußland das Land
— des aller zum Grundſatz erhobenen politiſchen und ſozialen Mißbraͤuche, aller
dulce Bolte fulturellen Nüdftändigfeiten und jeder Unerzogenheit. Ganz das gleiche
Land erſcheint aber in den Schoͤpfungen ſeiner großen Dichter bewohnt
von einem in hohem Grade vorbildlichen Volke. Wie loͤſen wir dieſen Wider⸗
ſpruch? Es wird uns da empfohlen, wir ſollten immer und überall, wo wir
es mit Rußland zu tun haben, unterſcheiden zwiſchen dem ruſſiſchen Volke
und der ruſſiſchen Regierung. Indes — ſchließlich gehoͤren doch auch die
ruſſiſchen Beamten zum ruſſiſchen Volke. Iſt es uns mithin ernſtlich daran
gelegen, Ordnung und Zuſammenhang zu bringen in unſere ruſſiſchen Ein⸗
drüde, jo muͤſſen wir uns ſchon auf die hauptſaͤchlichſten Schickſale des ruf
ſiſchen Volkes beſinnen und uns fragen, wie ſie ganz im allgemeinen auf
den Menſchen einwirken muͤſſen, und wie wir uns im beſonderen ihre Ein⸗
wirkung auf eine Menſchenſeele vorzuſtellen haben, die ſo veranlagt iſt wie
die ruſſiſchel. Wer immer dem ruſſiſchen Volke gerecht werden will, muß
dieſe Beſinnung vornehmen. Natuͤrlich wird das Ergebnis notgedrungen ein
wechſelndes fein: Stets perfönlich gefärbt, entſprechend unſerem jedes ma⸗
ligen Wiſſen über Rußland, unſeren zufälligen Erfahrungen an Ruſſen, und
endlich unſeren rein perſoͤnlichen Werterlebniſſen. Wir muͤſſen indes das
Wagnis auf Irrtum uͤberall mit in den Kauf nehmen, wo wir dem Unrecht
entgehen wollen. Hat uns aber erſt einmal die Beſinnung auf Rußlands
Schickſale geiſtig frei gemacht vor dem ruſſiſchen Volke, ſind wir nunmehr
imſtande, es anzuſchauen, ohne uns mit ihm vergleichen zu muͤſſen, ſteht es
endlich vor unſerem Geiſte als etwas, das fuͤr ſich ſelber da iſt — nicht nur
1 Dieſer Verſuch iſt in weitem Rahmen ausgeführt worden in meinem vor kurzem er⸗
ſchienenen Buche: „Das heutige Rußland. Eine Einführung an ber Hand von Tolſtojs
Leben und Werten“. München, Georg Müller.
8
7 9
| haben.
4
|
fur uns —, jo dürfen wir uns dann auch die weitere Frage vorlegen, was
deenn eigentlich in der ruſſiſchen Seele leben muß von ſolchen rein geiftigen
Viorſtellungen, durch die dieſes Volkes auf fein eigenes Schidjal gerichtete
Wileenerichtung
beſtimmt wird. Natürlich entſpringen auch dieſe Vorſtel⸗
lungen der unmittelbaren Erfahrung, ſind ſie nichts anderes als gedankliche
I Birarbeitung, geifliger Wiederſchlag des eigenen Schicſala. Hierbei fpielen
die Hauptrolle dauernde Schickſale, ſolche, die ftändige Anpaſſung verlangen,
vor allem alſo die ſtaatlichen Einrichtungen: ihnen entſpringen ja die poli⸗
tiſchen Denlgewohnheiten. Selbſtverſtaͤndlich liegt hier verwickeltſte Wechſel⸗
Ey — vor: Ganz im allgemeinen erzeugen ſtaatliche Einrichtungen auch
veaion ſich aus Denkrichtungen, die ihrerſeits wiederum die Vorſtellungen bes
cCeinfluſſen, aus denen fie hervorgingen. Hinzu kommt, daß an allen ſtaat⸗
lichen Einrichtungen auch Selbſterhaltungsintereſſen des Staates Anteil
Jede Regierung iſt ja unmittelbar intereſſiert an dem Zuſammenhalt
des ſtaatlichen Gebildes, über das fie herrſcht, und dabei eignen jedem
Staate ganz beſondere Beduͤrfniſſe. So ſtehen denn auch hinter den Eins
richtungen eines deſpotiſch regierten Staates zunaͤchſt und vor allem die rein
ſtaatlichen Notwendigkeiten — und hinter dieſen ganz zuletzt die Selbſt⸗
erhaltung sintereſſen einer völfiichen Einheit. Hier find wir endlich auf einem
Boden, wo jede Unterſcheidung zwiſchen Volk und Regierung gegenſtands⸗
los wird. Beide find ſolidariſch gegenüber der nationalen Not. Wenn viel⸗
leicht auch die zu ihrer Bekaͤmpfung ergriffenen Mittel in einem deſpotiſchen
Staate (als Ausfluß einer einzigen oder doch nur einiger weniger Intelligen⸗
zen) plumper, primitiver, vor allem rüdfichtslofer fein werden als in einem
freien Staate, ſo iſt der hier gebotene feiftige Spielraum doch nicht allzu groß:
in den frühen Jahrhunderten, um die es ſich hier vor allem handelt, erſcheinen
ja die politiſchen Moͤglichkeiten noch recht beſchraͤnkt. Auch ein freies Voll
würde hier kaum weſentlich anders entſchieden haben als ein Deſpot und
feine Berater. Das einmal. Und dann aͤußert ſich doch auch ſtets und un⸗
mittelbar der Einfluß eines Volksgeiſtes in der eigentlichen Verwirklichung
der ſtaatlichen Einrichtungen. Sie find überhaupt nur dann von Beſtand,
wenn ſie dem Volksgeiſte wenigſtens nicht widerſprechen, und ſie koͤnnen
dabei gar nicht über eine gewiſſe Zeit hinaus in Wirkung bleiben, ohne von
dem Volksgeiſt erfüllt zu werden, den fie freilich auch ihrerſeits wieder beein⸗
fluſſen. In dieſem Sinne gewinnt gerade zur Erkenntnis des ruſſiſchen Vol⸗
kes die Geſchichte ſeiner ſtaatlichen Entwicklung eine außerordentliche Be⸗
9
deutung. Sind auch die Schlüffe, die ſich hier ganz von felber aufdraͤngen,
nicht gerade ſolche, daß fie uns blitzartig die tiefften Tiefen der ruſſiſchen
Seele erhellen, jo ſtehen wir dafur doch auf völlig feſtem Boden, — ſchon
unſerm Ausgangspunkt nach. Aber auch deshalb, weil hier von ruſſiſcher
Seite gründliche Vorarbeiten getan ſind!.
nmittelbarer vielleicht wie bei den andern Voͤlkern Europas hat bei
dem ruſſiſchen die nationale Not die ſtaatlichen Geſchicke beſtimmt. Wir
— — brauchen bloß einen flüchtigen Blick auf die Karte zu werfen, um uns der
det
et berlirfprang außerordentlich ſchwierigen Lage eines Staates bewußt zu werden, der ſich
um Moskau herum gruppiert: Es fehlen da auf weite Strecken alle natürs
lichen Abgrenzungen, Meere und Gebirge. Wollte ſich hier ein Volksganzes
behaupten, fo konnte das nur in unaufhoͤrlichen Kämpfen geſchehen. Staͤn⸗
dige Kriegsbereitſchaft mußte demnach die Hauptkraͤfte einer ſolchen Nation
in Anſpruch nehmen. Alle ihre Hilfsmittel mußten ſich den Intereſſen der
Landesverteidigung unterordnen. Ein ſolcher Staat laͤuft mithin von vorn⸗
herein Gefahr, ſeine Taͤtigkeit in Selbſterhaltungsmaßnahmen zu erſchoͤpfen.
Selbſt die geiſtigen Kräfte, die doch ſonſt überall das Gegengewicht bilden
gegen die reinen Selbſterhaltungstendenzen des Staates, die geiſtigen
Kräfte, die Überall ſonſt eine Nation wenigſtens ideell mit der ganzen
Menſchheit verbinden, mußten hier gleichfalls der Stärkung des Staate⸗
weſens, eben als Volksverteidigungsorganismus, dienen — und daran
trägt außer dem Fehlen natuͤrlicher Grenzen auch noch ein anderer Um⸗
ſtand ſchuld: Rußlands Lage unmittelbar vor den Toren Aſiens. Mehr
als jeder andere europaͤiſche Staat war mithin der ruſſiſche vor allem
ein notwendiges Mittel zur Erhaltung einer voͤlkiſchen Eigenart. Auf
feinem Zuſammenhalt beruhte die eillzige Rettung des ruſſiſchen Volkes.
Hier ſtehen wir vor dem letzten Geheimnis der Unverwuͤſtlichkeit des ruſ⸗
ſiſchen Reiches: Innerhalb des ſonſtigen Europas war ja auch in dieſen früs
hen Jahrhunderten die voͤlkiſche und kulturelle Eigenart eines Volles keines⸗
wegs mit Untergang bedroht durch die Zugehörigkeit zu einem größeren
fremdvoͤlkiſchen Staatsganzen. Das war aber durchaus der Fall in Hinſicht
auf jene nomadiſierenden aſiatiſchen Eroberungsvoͤlker, die Rußland von
feinen ungeſchuͤtzten Grenzen, von Süden aus der Steppe und vor allem
von Oſten her, bedrohten: Von dieſen Voͤlkern unterworfen zu werden be⸗
deutete in aſiatiſche Sklaverei verfallen — und Rußland war damals bereits
1 Vornehmlich von Peter Miljukoff, deſſen „Grundlagen der ruſſiſchen Kultur dem⸗
nächft in meiner Überfegung bei Georg Müller, Münden, erſcheinen werden.
10
ein halbes Jahrtauſend durch das Chriſtentum mit dem kulturellen Europa
verbunden. Zudem wußte man in Rußland, was einem von Suͤden und
Oſten her drohte: Der Bildung des ruſſiſchen Staates war ja das Tataren⸗
joch vorausgegangen. Wie es für Rußlands Staatsform beſtimmend ward,
o hatte es auch das ruſſiſche Volk die Notwendigkeit eines feftgefchloffenen
Staates als einziges Mittel zur nationalen Selbſterhaltung aufs Schmerz⸗
hlaſfteſte erleben laſſen. Auch das muͤſſen wir ſtets im Auge haben, wenn
wir die, die ganze ruſſiſche Geſchichte durchziehende tatſaͤchliche Popularität
des Zarentums begreifen wollen: Für ein jo bedrohtes Volk gab es einfach
keine Wahl in der Staatsform: die Notwendigkeit ſtaͤndiger Kampfbereit⸗
chat mochte die Bereinigung aller Gewolten in einer Hand zur Rotwendig⸗
keit. Selbſtverſtaͤndlich mußte dabei dieſe deſpotiſche Zentralgewalt um ihre
Seelbſterhaltung ſtäͤndig mit ihrem Volke impfen. Zweifellos ift indes das
rrauſſiſche Volk mit feiner deſpotiſchen Regierung ſtets in einem ſehr weiten
Maße einverftanden geweſen, und zwar, wie es ſcheint, durchaus in dem
Haren Bewußtſein ihrer Notwendigkeit zu feiner Rettung vor ſicherem Uns
tergang.
Hinzu kommt, daß das ruſſiſche Volk früh ſchon feine hiſtoriſche Auf⸗
gabe als Bollwerk Europas gegen Aſien erkannte. Auch das erhöhte das
Anſehen des Zartums. Wir erinnern hier vorauseilend nur daran, daß die
Bauern, die der Zar im 15. Jahrhundert mit ſamt ihrem Lande feinen Kriegs⸗
oberſten verſchenkte an Stelle von Beſoldung — das iſt der eigentliche Ur⸗
ſprung der Leibeigenſchaft — durchaus davon überzeugt waren, fie dienten
dem Zaren, indem fie feine Diener „ernaͤhrten“. Dieſe Anſchauung geht
durch die Jahrhunderte: Als im Jahre 1762 Katharina II. die Nachkommen
dieſer Kriegsoberſten, die ruſſiſchen Adligen, vom obligatoriſchen Kriegs⸗
dienſt befreite, der bis dahin mit dem Beſitz ſolchen beſiedelten Landes un⸗
löslich verknuͤpft war, verlangten die Bauern ſofort Freiheit und Land zus,
rück, und fie blieben bis zu ihrer tatſaͤchlichen Befreiung — und das war
hundert Jahre ſpaͤter — durchaus in dem Glauben, die Kaiſerin habe ihnen
damals auch wirklich die Freiheit zuruͤckgegeben, dies ſei ihnen nur von den
Adligen verheimlicht worden. Schon daraus muß man ſchließen, daß ſich
in Rußland die deſpotiſche Regierung, namentlich in den erſten Jahrhun⸗
derten ihres Beſtehens, als die Erinnerung an das Tatarenjoch noch friſch
war —, durchaus nicht lediglich auf die Unbildung und Demut des ruſſiſchen
Volkes gruͤndete, vielmehr in ſehr weitem Maße auch auf das in ihm leben⸗
dige Bewußtſein ihrer Notwendigkeit. Das iſt ein außerordentlich weſent
11
liches Moment zur Beurteilung des Zarentums. Wir Wefteuropder
dürfen dabei aber auch, nebenbei gejagt, niemals vergeſſen, daß der
ruſſiſche Staat tatſaͤchlich jahrhundertelang das Bollwerk Europas ges
weſen iſt gegen Tataren und Mongolen. Und wenn ſich in Hinſicht auf
die Erfüllung dieſer gewaltigen Aufgabe alle materiellen und geiſtigen
Kräfte dieſes Volkes dem einen Ziele einer aufs hoͤchſte geſteigerten
Kampfbereitſchaft unterordnen mußten, wenn mithin die letzte Urſache
der kulturellen Ruͤckſtaͤndigkeiten Rußlands darin zu ſuchen iſt, daß es
ſich jahrhundertelang in Selbſterhaltungskaͤmpfen erſchoͤpfte, jo muß in
Rußland auch ein Märtyrer für Europa anerkannt werden. Im ganz
großen geſchichtlichen Zuſammenhang iſt das ſicherlich ſo. Beachten wir
dabei wohl, daß im ruſſiſchen Volke das Bewußtſein eines ganz Europa
geleiſteten Dienſtes tatſaͤchlich eine Rolle ſpielt: Jene merkwürdigen,
immer wiederkehrenden Vorwuͤrfe der Undankbarkeit des Weſtens wur⸗
zeln letzten Endes hier.
um den Selbſtbehauptungskampf des ruſſiſchen Volkes zu organiſieren,
brauchte der ruſſiſche Deſpotismus alle materiellen Kräfte der Nation, waͤh⸗
rend er zu ſeiner eigenen Selbſterhaltung (ſein Weſen widerſtrebt zu ſehr
der Natur des Menſchen) die geiſtigen Kraͤfte Rußlands beanſpruchte. Ihr
Beiftand ward ihm indes im großen und ganzen durchaus freiwillig gewährt:
denn der ruſſiſche Staat ſchuͤtzte doch auch die urſpruͤngliche Zufluchtsſtaͤtte
allen ruſſiſchen Geiſteslebens: die Kirche — gegen das aſiatiſche Heidentum.
So kam es auch, daß die ruſſiſche Kirche im 16. Jahrhundert freiwillig mit
dem Staate ein Buͤndnis zu gegenſeitigem Schutze abſchloß: der Staat
garantierte ihr ihre Lehren, ſie ihm den Gehorſam ihrer Bekenner. Na⸗
türlich mußte dieſer Staat diejenigen geiſtigen Kräfte der Nation, die er
nicht verwenden konnte, auch gleich knebeln: ein von ihm unabhaͤngiges
Geiſtesleben mußte ihm wie eine Bedrohung erſcheinen. Denn er ertrug ſchon
ſeinem Zwangscharakter nach keine freie Geiſtesluft. Die Knebelung der
Geiſter ward ihm aber wiederum dadurch ſehr erleichtert, daß er die Kirche
auf ſeiner Seite hatte. Die gewann ihm fortgeſetzt friſche Geiſter und
fuͤhrte ihm in weitem Maße die von ihm abgefallenen und widerſpenſtigen
zuruck: Geiſtige Feinde findet denn auch der ruſſiſche Staat eigentlich erſt
am Anfang des 19. Jahrhunderts — und durchaus unter weſteuropaͤͤiſchem
Einfluß. Auch das iſt ſehr bezeichnend fuͤr die ene . des
Zartums.
Pr. |
12
| amit ift das kulturelle Schickſal Rußlands umſchrieben: Deſpotismus, Ten rufe
Leibeigenfchaft, Staatsfirche, Unterbrüdung jedes unabhängigen Geiz e der da
ſteslebens, damit wiederum unausbleibliches Zurädftrömen des gefeſſelten een ber
Geiſtes auf den Staat, der ihn feſſelte, Verherrlichen ſeiner Feſſeln: fanas raten
8 tischer Glaube an eine Bölkermiſſion — ohne für fie eigentlichen Inhalt zu .
7 haben — damit endlich Popularität aller Eroberungelriege. mus
Aber auch das innerpolitiſche und damit in weitem Maße das wirtſchaft⸗
liche Leben Rußlands ward weſentlich beſtimmt durch den Charakter feines
Staatsweſens als einer Organiſation der Landesverteidigung. Das iſt ja
die letzte Urſache aller wirtſchaftlichen Unausgeglichenheit und, ſagen wir
es nur gleich, aller ſozialer Unzulänglichkeiten in Rußland: Rußland brauchte
Br ein ſtehendes Heer — lange bevor das Land von der Naturalwirtſchaft zur
Tauſchwirtſchaft übergegangen war. In Ermangelung von Geld wurden,
5 mie wir bereits erwahnten, nach orientaliſchem Vorbilde die Kriegsoberſten
mit Land beſchenkt, und da ſolches an ſich keinen Wert hatte, ſchenkte man
ihnen auch gleich die Bauern dazu, die dies Land bewohnten: So entſtand
die Leibeigenſchaft. Sie iſt zum eigentlichen wirtſchaftlichen und geiſtigen
Schicksal Rußlands geworden, an ihr übten ſich Rußlands kritiſche Geifter:
Bis auf den heutigen Tag ſteht am Eingang zum geiſtigen Rußland „der
reuige Edelmann“. Zudem wirkt die ſyſtematiſche Entwoͤhnung des Hoͤrigen
vom eigenen Wirtſchaften, die dem Syſtem der Leibeigenſchaft zugrunde
liegt, heute noch nach in der ſorgloſen Unwirtſchaftlichkeit des ruſſiſchen
Die Notwendigkeit für Rußland, ein ſtehendes Heer zu halten, führte na⸗
turgemäß ſogleich auch ſchon zur Einführung direkter Steuern. Bei der
12 primitiven Wirtſchaftslage des Landes war das mit ungeheuren Schwierig⸗
keiten verbunden. Man uͤberwand ſie ſchließlich, doch nicht mehr im Geiſte
dees herrſchenden Staatsſyſtems. So ſeltſam es auf den erſten Blick erſcheinen
mochte, es konnte hier ein ideologiſches Moment im ruſſiſchen Volksgeiſt
Wurzel faſſen, — das im ſchaͤrfſten Gegenſatz ſteht zum Grundprinzip der
ruſſiſchen Staatsform: das ſozialiſtiſch⸗kommuniſtiſche. Der Zuſammen⸗
hang iſt der: Im alten Rußland — der moderne ruſſiſche Staat datiert aus
dem 14. Jahrhundert und iſt als die geſchichtliche Antwort auf den etwa
1 hundert Jahre früheren Tatareneinfall anzuſehen — wurde, nach aſiatiſchem
Vorbild und entſprechend dem Mangel an innerſtaatlicher Organiſation,
nicht der einzelne Staatsangehörige beſteuert, vielmehr der Boden, auf dem
er lebte — und zwar immer ein ganz beſtimmter größerer Bodenteil. Seine
13
fämtlihen Bewohner übernahmen Kollektivbuͤrgſchaft für die richtige Ent⸗
richtung aller auf ihm laſtenden Abgaben. So entſtand der berühmte ruſ⸗
ſiſche Landkommunismus. Er iſt durchaus eine ſtaatliche Zwangseinrichtung:
das innerlich kommuniſtiſche Element kam nur notgedrungen hinein: Wenn
namlich der Bewohner eines abgabepflichtigen Bodenteils ſeinen Anteil
an ihm verließ — und das konnte er ungehindert — jo war er perſönlich
der Abgabe enthoben, die Pflicht zu ihr verblieb aber den Mitbewohnern
des abgabepflichtigen Bodenteils. Sie mußten demnach darauf bedacht ſein,
daß kein Anteil an ihm unbewohnt bleibe. So kam es ganz von ſelber zu
einer inneren Organiſation unter den Mitgliedern der Abgabegemeinſchaft:
gleiche Bodenanteile wurden mit gleichen Steueranteilen belegt und an
die Mitglieder der Gemeinſchaft der Seelenzahl ihrer Familien nach ver⸗
teilt. Der Staat befoͤrderte das auf jede Weiſe, denn ihm kam es natürlich
nur darauf an, feine Steuern voll entrichtet zu erhalten. Bezeichnend für
den zwangsweiſen Charakter des ruſſiſchen Landkommunismus iſt es ſchon,
daß er gerade auf unfreiem Boden zuerſt aufkam: auf Kloſter⸗ und Herren⸗
land. Die erſten Verteilungen der geſamten Abgabenſumme unter die Mit⸗
glieder der Abgabegemeinſchaft nach der Seelenzahl der einzelnen Familien
fanden nachgewieſenermaßen im Auftrage der Grundherren ſtatt. Der Staat
fand dieſe ideale Anpaſſung der Steuerhoͤhe an die Steuerkraft des ein⸗
zelnen Zahlers ſo ſehr zu ſeinem Vorteil, daß er noch im 18., ja ſogar noch
zu Beginn des 19. Jahrhunderts, von ſich aus den Bodenkommunismus
unter den vorher freien Bauern im Norden einführte, die er dazu uͤber⸗
haupt erſt enteignen mußte, d. h. deren Land erſt als Kronsland erklärt
ward. Seit Peter dem Großen war man nämlich zur Kopfſteuer uͤberge⸗
gangen. Und das hatte da, wo es keine Abgabegemeinſchaften gab (die auch
dieſe Steuern zuſammenwarfen und den zugewieſenen Bodenteilen nach
verteilten), zu ewigen Steuerruͤckſtaͤnden der kleinen Bauern und ihrer wach⸗
ſenden Verdrängung durch die Großbauern geführt: der Staat hatte den
Nachteil. Wann der Landkommunismus aufkam, wiſſen wir nicht, wahr⸗
ſcheinlich unmittelbar nach dem Tatareneinfall und als Nachahmung der
Art und Weiſe, wie die Tataren den Tribut eintrieben. Wir finden den
Landkommunismus bereits im 14. Jahrhundert, und er beherrſcht heute
noch den groͤßten Teil der ruſſiſchen Bauernſchaft. Die ruſſiſche Regierung
hat ihn bis unmittelbar vor den Agrarunruhen des Jahres 1906 auf jede
Weiſe unterftügt. Erſt im Jahre 1907 legte fie die Axt an ihn: durch die
beruͤhmte Agrarreform Stolypins, durch die beſtimmt ward, daß jedes Mit⸗
14
getlied einer Landgemeinde fie jederzeit verlaſſen könne, und ihm dann ein
eentſprechender Bodenteil in einem zuſammenhaͤngenden Stuͤck zum perſoͤn⸗
lichen vererbs und veraͤußerbaren Eigentum aufgeteilt werden muͤſſe. Erft
die erhöhte Wertſchaͤtzung und ehrfurchtsvolle Aufmerkſamkeit, die von res
volutionärer Seite der Landgemeinde, als der Keimzelle eines zukünftigen
ſozialiſtiſchen Reiches, zuteil wurde, hatte die ruſſiſche Regierung zu der
eigentlich recht naheliegenden Einſicht gebracht, daß man doch nicht auf
die Dauer ein Land deſpotiſch regieren kann, wenn man dabei die Unter⸗
ttgnen an das kommuniſtiſche Syſtem gewöhnt. Dieſe Gewoͤhnung iſt aber
Jahrhunderte hindurch Tatſache geweſen. Durch fie ift das ruſſiſche Volk
nicht nur der Regierungsform entwachſen, die heute noch über es herrſcht,
es wird jo auch immer empfindlicher gegen die Mißbraͤuche feiner Regie⸗
rung, da es ja in feinem kleinen Staate im Staate ſtaͤndig die Notwendigkeit
der Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze, und die Pflicht und die
Möglichkeit zu ihr erlebt. Ganz von ſelber erlangte fo der ruſſiſche Bauer
den Begriff von einer andern, beſſeren Staatsordnung als der ſeinigen.
Dias erkannte die ruſſiſche Regierung mit Schrecken in den durchaus bewußt
revolutionären Agrarunruhen von 1905 und 1906. Seitdem ſucht fie den einft
aus finanziellen Gründen ſo gehaͤtſchelten Landkommunis mus einfach zu zer⸗
trümmern. Es ift aber wohl zu ſpaͤt. Sie wird die Geiſter nicht wieder los wer:
den, die ſie rief: vor vielen Jahrhunderten, damals, als es ſich darum handelte,
den jungen Staat zu ſchuͤtzen vor den Aſiatenhorden, die von der Steppe,
aus dem Süden her, und vom Oſten, vom Ural her, einzufallen drohten.
amals wurden übrigens auch erſt die ruſſiſchen Städte gegründet, und der Urfprung
ebenfalls nur im Intereſſe der Landet verteidigung: das ruſſiſche Wort — en
Stadt, „Gorod“, heißt wörtlich: „der einge zaͤunte Raum“. Es handelt ſich
da urfprünglich um Verteidigungsplaͤtze, um Waffendepots und Paliſaden,
hinter denen die Landbewohner bei feindlichen Einfällen Schutz ſuchten.
Als lediglich hierzu die ruſſiſchen Städte entſtanden, gab es in Rußland noch
gar leine eigentliche Stadtbevoͤlkerung wie in Weſteuropa. Dieſer Umſtand
und der urſpruͤnglich rein militaͤriſche Charakter der ruſſiſchen Städte hat
in Rußland feinen eigentlichen Staͤdterſtand aufkommen laſſen. Und damit
entgingen wiederum Rußland die Segnungen der eigentlichen ſtäͤdtiſchen
Kultur. Hier liegt eine der Haupturſachen der kulturellen Rüdftändigkeit
des Zarenreichet. Hat doch in Weſteuropa erft die Stadt den Staatsbürger
erzogen: Alle buͤrgerlichen Freiheiten find hier geboren. Auch die Wiſſen⸗
ſchaften konnten erft hier erblühen, und ebenſo wurden die Künfte erſt hier
15
frei — von hoͤfiſchem Zwang. Das alles ging für Rußland verloren. Als
dann, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Katharina II. den rufe
ſiſchen Staͤdten eine Verfaſſung im europaͤiſchen Sinne geben wollte, litt
fie klaͤglichen Mißerfolg: Es fehlten tatſaͤchlich alle Vorausſetzungen. Die
eigentliche ruſſiſche Stadtverfaſſung datiert erſt aus den ſiebziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts. Wie die ruſſiſche Stadt, fo iſt auch die ruſſiſche
Induſtrie nicht inneren Notwendigkeiten, vielmehr Staatsbeduͤrfniſſen, beſ⸗
ſer geſagt Landesverteidigungsnoͤten entſprungen. Peter der Große brauchte
Kanonen und Gewehre, Leder und Tuche für feine Soldaten. Dazu grun⸗
dete er an einhundertfünfzig Fabriken. Zu Fabrikherren wurden reiche
Grundbeſitzer gepreßt, zu Arbeitern wurden leibeigene Kronsbauern ab⸗
kommandiert. Schutzzollmauern follten die heimiſche Induſtrie lebensfaͤhig
erhalten. Dieſen ihren Urſprung: nicht aus dem Volksbeduͤrfnis, vielmehr
aus Staatsintereſſe, kann die ruſſiſche Induſtrie bis heute noch nicht ver⸗
leugnen. Sie iſt ein Protektionskind geblieben und ohne reelle Wurzeln im
Volkskoͤrper: Heute noch arbeiten doppelt fo viel Ruſſen im urfprünglichen
ruſſiſchen Gewerbebetrieb, in der Hausinduſtrie, wie in der Fabrik.
Rüdblid auf die erfen wir einen kurzen Blick zurüd, Rußlands Schickſal ward beſtimmt
Erg durch feine geographiſche Lage. Das Fehlen natürlicher Grenzen bei
der unmittelbaren Nachbarſchaft von Völkern, die mit Kulturvernichtung
drohten, ſchuf den ruſſiſchen Staat als Organiſator der nationalen Vertei⸗
digung. Das bedingte die Staatsform des Deſpotismus und ließ ſie als
gerechtfertigt erleben, ja gewaͤhrte dem ruſſiſchen Staat bis an die Schwelle
der neueſten Zeit die freiwillige Mithilfe faſt aller geiſtigen Kraͤfte der Na⸗
tion. Die Notwendigkeit, ein ſtehendes Heer zu halten, bei ausſchließlicher
Herrſchaft der Naturalwirtſchaft, führte einerſeits zur Leibeigenſchaft der
Bauern, andererſeits zur zwangsmaͤßigen Organiſation aller Steuerzahler.
Nur von hier aus iſt Rußland ſozial geſtaltet worden: Jede neue Kriegs⸗
ſteuer ſchuf eine neue Zahlerklaſſe, und damit einen neuen Stand. Dabei
trugen alle dieſe Organiſationen des ruſſiſchen Volkes zum Zwecke der finan⸗
ziellen Ermoͤglichung der Landesverteidigung durchaus den Charakter von
Kollektivbuͤrgſchaften für richtige Steuerentrichtung. Das bedeutete aber
völlige Rechtloſigkeit jeder einzelnen Organiſation vor dem Staate, bei faſt
völliger Rechtsgleichheit aller ihrer Mitglieder untereinander. So kommt
es denn, daß ſich in dieſem unterdruͤckteſten aller Voͤlker ein wahrhaft demo⸗
kratiſcher Geiſt entwickeln konnte, was den auslaͤndiſchen Beobachter immer
am raͤtſelhafteſten anmutet. Die ſtaatliche Entwicklung dieſes Volkes geſchah
16
eben imboppeltem einne: einerjeits durch Zwang — der indes gegenüber
ftänbiger nationaler Bedrohung faſt durchweg als berechtigt erlebt ward —,
andererſeits durch Gewoͤhnung an Gleichberechtigung und an Mitbeſtimmen
des allgemeinen Schidjals (innerhalb feiner Privatwirtſchaft). Hieraus er⸗
gibt ſich als mutmaßlicher politiſcher Wille dieſes Volles: es wird demo⸗
kratiſche Ziele mit deſpotiſchen Zwangs mitteln zu verwirklichen ſuchen. Was
einſtweilen noch fehlt, ift das Verſtaͤndnis für die Rechte der Perſoͤnlichkeit
innerhalb des Staates — und deshalb läßt ſich dieſes Volk auch noch fo
leicht zur Unterwerfung anderer Volker verleiten.
Demgegenüber kann nur eines helfen: die geiftigen Kräfte dieſes Landes
muͤſſen mehr und mehr losgelöſt werden von ihrer — freiwilligen — Unter⸗
ordnung unter und Hilfeleiſtung an dieſen geſchichtlich gewordenen Staat.
Wenn das ruſſiſche Denken endlich einmal tatſaͤchlich aufhoͤren wird, na⸗
tionaliſtiſch zu fein, wenn es erſt einmal wahrhaft human ſein wird, dann
wird auch das Verſtaͤndnis für die Rechte der Perſon innerhalb des Staates
erwachen — und dann koͤnnte aus dieſem Volk etwas Vorzügliches werden:
an den Staatszwang als etwas Unen tbehrliches ift es ja gewoͤhnt und dabei
doch auch wiederum — eben in ſeinem Wirtſchaftsleben — an die Unter⸗
ordnung des Einzelnen unter das Gemeinwohl und an die Anerkennung der
gleichen Rechte aller Mitbürger.
us dieſem allgemeinen Entwicklungsgang der ruſſiſchen Kultur ergeben Der ga fo ergr-
bereits für das ruſſiſche Denken folgende Tendenzen: Es find ihm easter te
alles in allem genommen große Hinderniſſe bereitet von der Lebens not los⸗Saee
zukommen, und das heißt letzten Endes die menſchliche Perſoͤnlichkeit zu em
faſſen in ihren angeborenen Bedürfniſſen, die als unveraͤußerliche Rechte
erlebt werden. Durch ſeinen ganzen Entwicklungsgang und wohl auch von
Hauſe aus auf das Allgemeinwohl gerichtet, wird ferner das ruſſiſche Denken
in feinen praktiſchen Leiſtungen auf das materielle Glüd der Geſamtheit
hinzielen, in feinen dichteriſch geſtaltenden ſich an die greifbare Wirklichkeit
halten. Als Gegenwirkung gegen den auf dem ganzen Leben des Ruſſen
laſtenden aͤußeren Zwang wird dann weiter noch der Widerſpruch gegen
jeden Zwang dem ruſſiſchen Denken angezuͤchtet werden. Da ihm dabei
aber die Vorſtellung fehlt, daß und welcher Art Geſetze allein der Freiheit
Inhalt geben und fie davor bewahren koͤnnen, zu einem fuͤhrerlos ins Chaos
Ausgeſtoßenſein zu werden, ſo iſt dem ruſſiſchen Denken ſchon damit die
Richtung auf den Nihilismus, als feine eigentliche Geiſtesleiſtung, vorge⸗
ſchrieben. Das gilt aber nur für den reinen ruſſiſchen Gedanken. Fuͤr das
2 Net, Grundlagen des gcidtetn Nuplandı 17
geſtaltende Geiftesleben des Ruſſen ergibt ſich (da es notwendigermweife in
Gegenſatz ſtehen wird zu allem Beſchuͤtzten und Bedingten, und da ihm des
weiteren die Möglichkeit zu freier, geduldeter Entwicklung mangelte), bei
großer Gefahr der Formloſigkeit zu verfallen, die Ausſicht auf völlige Uns
voreingenommenheit: Hier iſt der Urſprung des für die Europaͤerkunſt jo
heilſam gewordenen ruſſiſchen „Realismus“.
Die do fo erger Ju den beſtimmendſten, ganz allgemeinen Schickſalen Rußlands gehört
eee, Iſchließlich auch noch feine Beeinfluſſung durch Weſteuropa. Das ſelt⸗
Paare # ſame kulturelle Geſchick Rußlands als Bindeſtrich zwiſchen Europa und Aſien
lag eben darin, daß es, bei der Notwendigkeit ſich gegen letzteres verteidigen
zu muͤſſen, zurüdgreifen konnte auf vorbildliche Einrichtungen in erſterem,
fuͤr die hinwiederum in Rußland ſelber die kulturellen Vorausſetzungen
fehlten. Und Rußland konnte ſich Aſien gegenüber nur deshalb behaupten,
weil es Wefteuropa uͤberlegene Kulturelemente entnehmen konnte. Aber es
konnte fie nicht reſtlos, nicht unverftümmelt übernehmen weil ihm eben die
kulturellen Vorausſetzungen für fie fehlten. Hieraus erklaͤrt ſich die ſtaatliche
Ruͤckſtaͤndigkeit Rußlands ganz ebenſo wie feine natürliche Gereiztheit gegen
Weſteuropa: als etwas, das ihm weſensfremd iſt, das es dabei gar nicht ent⸗
behren kann, und das ihm — ſo glaubt man wenigſtens in Rußland — trotz⸗
dem doch nur Unheil bringt; denn, wenn die ruſſiſchen Verhaͤltniſſe ſo außer⸗
ordentlich ſchwer ins Normale zu bringen ſind, ſo liegt das doch ſicherlich auch
in hohem Maße an dieſem einen Grundfehler: es wurden eben fremde, weſt⸗
europaͤiſche Einrichtungen aufgepfropft auf Verhaͤltniſſe, die dazu gar nicht
paßten, und nun geht dieſer ruſſiſch⸗weſteuropaͤiſche Kulturmiſchmaſch ſeinen
Weg, und die normale Europaͤerkultur den ihrigen: Der Gegenſatz wird immer
größer — und es iſt nur natürlich, daß der Verdruß hierüber ſich vornehmlich
gegen Weſteuropa richtet. Der ihm gemachte Vorwurf iſt aber wie geſagt falſch:
Denn tatſaͤchlich konnte es ſich ja gar nicht für Rußland darum handeln, unbe⸗
rührt von Weſteuropa feinen Weg zu gehen. Im Gegenteil: Daß Weſteuropa
da war, und Rußland ſich von ihm uͤberlegene Organiſationsformen und
uͤberlegene Kriegstechnik holen konnte in ſeinem Kampfe gegen Aſien, dem
allein hat Rußland feine voͤlkiſche, ftaatliche und kulturelle Erhaltung uͤber⸗
haupt zu verdanken. Rußlands Lage war nun einmal eine ſolche, daß ſeine
Selbſterhaltung nicht völlig ohne Schädigungen in rein nationalkultureller
Hinſicht erreicht werden konnte, wenigſtens nicht ohne nachhaltige Hemm⸗
niſſe in der normalen Entwicklung der nationalen Kultur. Weſteuropa hat ſich
dabei Rußland niemals aufgedraͤngt, es ift vielmehr immer und überall von
18
in gerufen werben. Mile rufffchen Aaatligen und gefeffihaftlichen Eins
richtungen erfiären ſich ja aus dieſen beiden Momenten: militärifche Not⸗
wendigkeit auf der einen Seite, weſteuropaͤiſches Vorbild auf der anderen.
wir alles bisher Geſagte in einem Satze zuſammen: Die ruſſiſche Warze un We-
1 Kulturentwicklung vollzog ſich in Ruͤckſicht auf von der ganzen Nation ans ——
e militärifhe Notwendigkeiten unter ftaatlihem Zwang und nach Fit
weſteuropuͤiſchem Vorbild, zu deſſen normaler Verwirklichung dabei in weis
teſtem Maße die Vorausſetzungen fehlten. Fragen wir uns nunmehr nach den
Mie derſpiegelungen dieſes Entwicklung scharakters der ruſſiſchen Kultur in der
ruſſiſchen Volksſeele, jo wird uns ohne weiteres klar: Erſtens einmal muß ins
folge der bewußten Geſtaltung und Beeinfluſſung ausnahmslos aller Formen
des ruſſiſchen Zuſammenlebens und ⸗wirkens durch den Staat (das Symbol
der Einheit der Nation) das nationale Zuſammengehoͤrigkeitsgefuͤhl in Ruß⸗
land in unerhoͤrter Weiſe geſtaͤrkt und vertieft werden: Die Vorſtellung der
nationalen Zugehörigkeit, das Nationalbewußtſein, kann ja tatſaͤchlich fo im
Bewußtſein des Ruſſen gar nicht mehr getrennt werden von alle dem, was
ſeine nackte Daſeinserhaltung bedingt. Zweitens muß aber infolge der oben
umſchriebenen Kulturentwicklung Rußlands der ganze Vorſtellungsinhalt
des Ruſſen von dem, was mit feiner nationalen und perſoͤnlichen Selbſter⸗
haltung zuſammenhaͤngt, durchtraͤnkt fein von einem ewig gereizten Gegen⸗
faßgefühl zu ganz Weſteuropa: Denn einerſeits war es das ewige Vorbild,
anbererjeits ward es nie erreicht, drittens nimmt man an, daß es deshalb auf
Rußland herabſehe, und endlich ſchiebt man ihm auch noch die Verantwor⸗
tung zu für alle Unzulaͤnglichkeiten innerhalb der von ihm entlehnten Eins
richtungen in Rußland (was natürlich falſch iſt: die Schuld liegt an dem uns
vorbereiteten Boden). Damit haben wir die beiden Hauptwurzeln des ruſſi⸗
ſchen Nationalbewußtſeins auf den eigentümlichen Kulturentwicklungsgang
Rußlands zurückgeführt, den wir ſeinerſeits aus Rußlands geographiſcher
Lage erklaren konnten: Es hatte eben urſpruͤnglich feine natürlichen Grenzen
und lag dabei zwiſchen Europa und Aſien. Die beiden Hauptcharakterzuͤge
des ruſſiſchen Nationalbewußtſeins ſind alſo: 1. Es iſt in einer ſolchen Tiefe
im Ichbewußtſein des Ruſſen verankert, daß er den Begriff „Ruſſe“ nur
ſchwer noch zu trennen mag von dem Begriff Menſch. 2. Das ruſſiſche Natio⸗
nalbewußtſein hat zu einem weſentlichen, von ihm abſolut untrennbaren Teile
ſeines Inhalts den bewußten Gegenſatz zu Weſteuropa (der dabei — dat
* werden wir noch erſehen — erlebt wird in der unerſchuͤtterlichen Vorſtel⸗
lung einer Überlegenheit und eines Erlöferberufes ihm gegenüber).
— 19
17 Kara 7
I he 5 * * IM 1806 N REN I.
ht Ne ne
W c ir iti NZ bike
2 90 lch e, W a a
e 1 e ee Na ese eg
Bere EEE ann, ut ade) EA |
unt! 12555 J e t nn u
Bauer wink e ee
Were Mie ! ee 1 A N ö NR.
en ta nt e ke walt 15f 6 A; 5
75
W o : f e n 5
RR 19 RT een, of
rt are Au na ee re 1 „Rt: Tanz 59 rr A Ar
el 57 a in dite ak REEL Re
ind N e eee Kl Kae Nan a ie 4
= a a TE van a e N
un OH 85 n d e e REN. 9
e EFT Nan 5 A M 70 77
ce 0 rg Ai t 2.7 e e
We n en Mun Lada en A I 4
N ler 7A: 1120 Wim n W air } ee
; “ K N IN 7 2 =
EN g EN SE vr ER “7 ‚a un 408 23 9 Nad
In Ferre Sa 1711 110 Ar 59 6
n i Nr Em
ne 2 BT ein B
ve nu ER 1 W u
5 en nem e
6 N ee n
5 ae AA
Re . a
BRETT.
II
Das Chriſtentum in feinem :
Einfluß auf das ruſſiſche Geiſtes⸗
leben: Die Wurzeln des ruſſiſchen
Gedankens
Die ruſſiſche Kirche als 1 des Chriſtentums. — Sie gibt dem
das Bewußtſein einer Ausnahmeſtellung unter den Voͤlkern. —
eigentliche, produktive ruſſiſche Geiſtesleben wurzelt in der chen
Kirche. — Das Fehlen des ariſtoteliſchen Elementes in der ruſſiſchen Kirche
als das geiſtige Verhaͤngnis Rußlands. — Der Gegenſatz der ru
Lachen Rahe. . 1 die eee ung del laschen
Geiſteslebens durch die ruſſiſche Kirche
Die ruſdiche Kir- ie ruſſiſche Kirche ift wohl die volfstümlichfte und nationalſte in Europa,
—— ungeachtet ihrer geiſtigen Starrheit (aus der ſie bekanntlich auch ihren
Anſpruch auf Weltherrſchaft ableitet: weil ſie eben nicht wie die roͤmiſch⸗katho⸗
liſche Kirche an eine hoͤchſte durch Menſchen vertretene Inſtanz in Glaubens⸗
dingen gebunden ſei), und ungeachtet auch ihres ftändigen Mißbraucht⸗
werdens zu Polizeizwecken durch die Regierungsgewalt (was, wie das rufs
ſiſche Volk ſehr wohl weiß, nur gezwungen und zum aufrichtigen Leidweſen
ihrer beſten Anhänger geſchieht). Der eigentliche Grund für die ungeheure
Popularität der ruſſiſchen Kirche iſt zweifellos der, daß die Gebote der chriſt⸗
lichen Sittlichkeit, deren ſtrenge Huͤterin die ruſſiſche Kirche immer geweſen
iſt, nicht nur dem ruſſiſchen Naturell in ganz hervorragendem Maße ent⸗
ſprechen, vielmehr auch noch — weil es eben Gebote verzeihender Liebe
ſind — von dieſem Volke in den Jahrhunderten ſeiner ununterbrochenen
Knechtſchaft erfüllt werden konnten, ihm fo die Achtung vor ſich ſelber er⸗
hielten, und es ihnen vornehmlich zu danken iſt, daß das ruſſiſche Volk im
großen und ganzen geiſtig und ſeeliſch ungebrochen ſeine ſo lange Leidens⸗
zeit überſtand und noch überfteht. Die kulturellen Verdienſte der ruſſiſchen
Kirche ſind demnach gar nicht abzuſchaͤtzen — zumal wenn man die unend⸗
liche Verfuͤhrbarkeit der weichen ruſſiſchen Volksſeele in Betracht zieht.
Darum lebt denn auch ein Gefühl unerſchoͤpflicher Dankbarkeit gegen feine
Kirche im Bewußtſein des ruſſiſchen Volkes. Ihre geiſtige Ruͤckſtaͤndigkeit
kommt demgegenüber gar nicht in Betracht: Denn in Rußland — mehr noch
als ſonſtwo — bedeutet für die Maſſe der Gläubigen die Kirche vornehmlich
die Pflegerin des Gewiſſens. Aber gerade deshalb muß auch der rein geiſtige
Einfluß, den dieſe Kirche auf ihre Gläubigen ausübt, ein Außerft nachhal⸗
tiger ſein.
Sie gibt dem Ruf- uchen wir ihn in feinen Hauptzügen zu umſchreiben. Zunaͤchſt gibt die
8 ruſſiſche Kirche ihren Bekennern das Bewußtſein einer fragloſen Uber⸗
unter ben Bates legenheit vor allen anderen Menſchen. Sie nennt ſich ſelber ja die „rechts
glaͤubige“ und behauptet, ihre Anhaͤnger ſeien die einzigen wahren Chriſten.
So erklärt es ſich auch, daß der Ruſſe von ſich ſelber ſtets jagen wird: „Ich
22
din ein ruſſiſcher Menſch!“ (niemals: „Ich bin ein Ruſſe !“), während er
ganz ruhig ſagt: der Deutſche, der Franzoſe, der Engländer. Das iſt ſchon
mehr als bloßer Sprachgebrauch. Aber nicht nur von den nichtruſſiſchen
Menſchen ſcheidet den Ruſſen feine Kirche, auch von dem ganzen übrigen
All: Sie lehrt einen unüberfchreitbaren Gegenſatz zwiſchen Menſch und Tier. 1
Auch das ſteckt heute tief im ruſſiſchen Volksbewußtſein. (So wird z. B. dem
Tiere nicht einmal ein Atem zugeftanden; ſtarb es, fo heißt es: „der, Dampf
entfloh ihm“. Daß auch das mehr wie Redensart iſt, geht ſchon daraus
hervor, daß der ſonſt jo gutmütige Ruſſe aͤußerſt leicht zu roheſten Tier⸗
miß handlungen ſchreitet, und wenn man ihn dann auffordert, er ſolle ſich
doch in die Lage des mißhandelten Tieres verſetzen, mit tödlicher Sicherheit
und mit einem jo harmloſen Lachen, wie es nur abſolutem Unverftändnis
für die begangene Übeltat entſpringen kann, entgegnen wird: „Ich bin doch
fein Tier!“ Dieſes ſtrikt anthropozentriſche Moment in der Weltauffaſſung
der ruſſiſchen Kirche, die für die ganze außermenſchliche Schöpfung 4
mechanifche Erflärungen findet, hat in de rufifchen Geifteegefchichte Außerf
verhaͤngnisvolle Folgen gehabt: Zweifellos war ja fo in hervorragendem
Maße der Boden vorbereitet für jene materialiſtiſchen Weltanſchauungen,
die von jeher unter der ruſſiſchen Jugend fo furchtbare geiftige und fittliche
Verwirrungen anrichteten — und in fo ſeltſamem Gegenſatz ſtehen zu dem
dort gelehrten praktiſchen Idealismus. Viel hat wohl auch unter dieſer,
dem ruſſiſchen Volksgeiſt eingeprägten ſtrikten Scheidung des Menſchen
von der ganzen übrigen Schöpfung der ruſſiſche Kuͤnſtler zu leiden ge⸗
habt, der intuitiv, eben als Künftler, ſich natürlich zum Panpſychismus
bekennt. Eine gewiſſe innere Zerriſſenheit der ruſſiſchen Kunſt mag ſich fo
erklaren.
abei verlangt die elementarſte Gerechtigkeit, daß wir der ruſſiſchen Aucs eigentlite
Kirche — in der der Gedanke an das Evangelium aͤußerſt lebendig ift — ar Gebete
einen ſehr großen Anteil zuſchreiben an jenen ewigen Träumen von einer daa ese
in Brüderlichkeit geeinten Menſchheit, die im Hintergrunde jeder ruſſiſchen
Seele ſchlummern. Selbſt der bisher größte Ruſſe, Tolſtoj, der offiziell der
ruſſiſchen Kirche entſagt hatte, in dem aber die jahrhundertelange Erziehung
bes ruſſiſchen Volkes durch fie vielleicht am lebendigſten lebte, vermag ſich,
bei allem nachdruͤcklich betonten Kos mopolitis mus, eine Erlöfung der ganzen
Menſchheit nur vermittelſt ihres Durchgangs durch das Ruſſentum — in
Geſtalt feines typiſchſten Vertreters: des ruſſiſchen Bauern — vorzuſtellen.
Kein ruſſiſcher Welterldfer kennt einen anderen Weg. Das iſt aber durchaus
23
im Sinne der ruſſiſchen Kirche: Sie ift eben die allein rechtglaͤubige und
gerade dadurch zur Erlöfung der ganzen Menſchheit berufen. Überhaupt
hat wohl letzten Endes in der ruſſiſchen Kirche ſeinen Urſprung jener un⸗
aus rottbare Glaube des Ruſſen an den Erlöferberuf ſeines Volkes, der unter
wechſelnden Vorſtellungen von dem eigentlichen Inhalt der Exloͤſung in
allen ruſſiſchen Geiſtern lebt: vom Moͤnch und panſlawiſtiſchen Agitator bis
zum terroriſtiſchen Sozialrevolutionar und Anarchiſten⸗Kommuniſten.
Schließlich ſei auch noch darauf mit Nachdruck hingewieſen, daß im Schoße
der ruſſiſchen Kirche durchaus die Vorſtellung lebt — und fie darf ſich ruhig
äußern: Die ruſſiſche Regierung iſt hier ſehr weitherzig und tut gut daran —:
Der Staat an ſich fei ein Überbleibfel aus dem Heidentum — von ihm mit⸗
übernommen — und er muͤſſe ſich darum allmählich in die Kirche wandeln.
Hier haben alle produktiven ruſſiſchen Geiſter eingeſetzt: Der große Theoſoph
Solovjeff ſchließt von hier aus auf die Berufung der ruſſiſchen Kirche
(durch reſtloſe Aufnahme alles auf Erden lebendigen Geiſtigen, wozu ihr
beſondere Faͤhigkeit und Berufung zugeſprochen wird), ſich zur Univerſal⸗
kirche auszugeſtalten, und er erhebt dabei die vorlaͤufige Forderung, unſer
ganzes Gemeinſchaftsleben, ſelbſt unſere Politik, muͤſſe rein chriſtlich
werden. Hier, in der ruſſiſchen Kirche wurzelt auch jene noch heute bei
allen ethiſchen Panſlawiſten herrſchende Anſchauung: Weſteuropa habe,
in Leben, Kunſt und Wiſſenſchaft in Atomismus endigend, nur leere
Formen geſchaffen, die erft mit eigentlichem, religioͤſem Inhalt zu füllen
die geſchichtliche Aufgabe des ruſſiſchen Volkes ſei. Wir erkennen mithin
deutlich: Die produktiven Leiſtungen des ruſſiſchen Gedankens wurzeln
letzten Endes ſamt und ſonders in der ruſſiſchen Kirche. Deren eigent⸗
lichen Kern mit europaͤiſcher Wiſſenſchaft und Philoſophie auszuföhnen
— in dem Sinne, daß fie die alles beherrſchende Zentrale bleibt —, war
denn auch der leitende Gedanke des bis jetzt groͤßten ruſſiſchen Denkers
Wladimir Solovjeff!, der hierbei nur alles das zuſammenfaßte und theo⸗
retiſch geſtaltete, was von jeher Rußlands groͤßten ſchaffenden Geiſtern als
hoͤchſtes Ideal vorſchwebte. Solovjeff gibt eigentlich bloß das in rein ge⸗
danklichen Zuſammenhaͤngen und Lehrſaͤtzen, was Doſtojewſki in glühen-
den Bildern und Gleichniſſen gepredigt hatte.
So viel uͤber den Einfluß der ruſſiſchen Kirche auf das ruſſiſche Geiſtesleben.
a er Hauptwerke: „Die geiſtigen Grundlagen des Lebens“ und „Die Rechtfertigung des
Guten“ find unlängft bei Eugen Diederichs, Jena, in deutſcher Überſetzung erſchienen. Die
Ausgabe eines weiteren Bandes „Vorleſungen uber das Gottmenſchentum“ erfolgt 1917.
aa
Er —— — mit der ruſſiſchen Kirche noch auf zwei iger ge K.
hinge wieſen, von denen die eine in der Regel uͤberſchaͤtzt, wagen Rirar
die andere dagegen überhaupt außer acht gelaſſen wird. Wir meinen einer
ſeits den Gegenſatz zum Weſten, den die ruſſiſche Kirche aus der Unverföhn:
lichkeit der griechiſchen Kirche gegen alles Lateinertum übernommen haben
ſoll, andererſeits — das Fehlen des ariſtoteliſchen, weiter gefaßt des rein
philoſophiſchen Elementes in der griechiſch⸗orthodoren und ſomit auch in
der ruſſiſchen Kirche. Was erſteres Moment anbetrifft, ſo legen wir ihm,
im Gegenſatz zu vielen rein theoretiſchen Beurteilern Rußlands, ſchon des⸗
halb feine beſondere Bedeutung zu, weil bekanntermaßen die ruſſiſche Kirche
ſchon ſehr früh in Gegenſatz trat zur griechiſchen Mutterkirche — wir werden
darüber noch zu ſprechen haben. (Iwan der Grauſame ward z. B. wütend,
wenn er hoͤrte, die ruſſiſche Kirche ſtamme von der griechiſchen. Er behaup⸗
tete vielmehr, Andreas, der Bruder des Herrn, habe das Chriſtentum in
Rußland eingeführt.) Eine Kirche, die von jeher derart auf ſich ſelber fußte,
hatte es wohl nicht nötig, von einer anderen den Gegenſatz gegen alles
Andersſein zu übernehmen. Ein ausgeſprochener Gegenſatz zum Lateiner⸗
tum hätte überdies dem Gegenſatzbewußtſein der ruſſiſchen Kirche zu allem,
was ſie nicht iſt, eine gewiſſe Beſchraͤnkung gegeben, die ihm tatſaͤchlich 1
fehlt: Sie ſtellt ſich der ganzen außerruſſiſchen Welt gegenüber.
dem Fehlen des ariftoteliihen, des rein philoſophiſchen Elementes Das genen des
in der ruſſiſchen Kirche ſcheint uns ein ganz erhebliches Moment vor⸗ ie
zuliegen für das ausgeſprochen Auslandsfeindliche im ruſſiſchen National- 4 de nie
bewußtſein (das ja, wie wir ſahen, im weiteſten Maße gerade von der ae
Kirche beſtimmt wird): Es macht — um gleich alles beim Namen zu nennen
— das Gegenſatzbewußte in ihm — faſt möchte man ſagen — ausgangslos. |
Die geiſtige Ausgangepforte ift ja zugemauert: Die taufend Möglichkeiten |
des Gedankens, innerhalb deren der Menſch feine Freiheit findet, indem
er hier immer wieder dem Übelwollen gegen ſeinesgleichen zu entgehen
vermag, blieben ſo dem Ruſſen im Laufe der Jahrhunderte verſchloſſen.
Und nur die Religion hätte ihm gegenüber die Macht gehabt, fie ihm zu
oͤffnen. Denken wir doch nur daran, wie die katholiſche Schweſterkirche ſich
ihre unzerſtoͤrbare Lebenskraft mit dadurch erhält, daß alle ihre Diener auch
eine rein geiſtige, rein philoſophiſche Schulung durchmachen muͤſſen. So
gelangen ſie nicht bloß zu jener Ehrfurcht vor dem Geiſtigen an ſich, die
allein einer Kirche die Achtung der Denkenden zu erhalten vermag, ſie
bleiben auch immer und überall imſtande, ein rein geiſtiges Band zu knüpfen
25
zwiſchen der Kirche und allem und jedem, was im Reiche des Menſchen⸗
geiftes — dem eigentlichen Wohnhauſe der Gottheit auf Erden — tatſuͤch⸗
lich Dauerndes geſchaffen wird. Damit wird aber der Geiſt an ſich lebendig
erhalten in der großen Zahl der Menſchen, die von ihrem religioͤſen Er⸗
lebnis aus auch geiſtig uͤberzeugt ſein wollen. Dieſe Zuſammenhaͤnge ſind
in Hinſicht auf das Geiſtesleben Rußlands von ſchwerwiegendſter, ſchier
unberechenbarer Bedeutung: Die ruſſiſche Kirche pflegte alſo zunaͤchſt eins
mal nicht das nationale Geiſtesleben an ſich. Weil aber der Geiſt das iſt,
was lebendig erhaͤlt und allein von dem engen Ich abzulenken vermag,
indem er eine Vorſtellung gewaͤhrt von dem, was in einem anderen Ich
leben kann, tritt uͤberall da, wo der Geiſt fehlt, eben dieſes enge Ich hem⸗
mungslos auf mit ſeinen unausrottbaren Anſpruͤchen darauf, ſich der Welt
gleichzuſetzen. Von hier aus begreift man denn auch, daß bis jetzt erſt das
intuitive Rußland Geiſt vom Geiſte Europas iſt, waͤhrend der Ruſſe da,
wo er ſich ſelber deuten will, ſich faſt ſtets nur verallgemeinert und ſo in
einen ausgangsloſen Gegenſatz gerät zum Nichtruſſen, da er eben deſſen
Andersſein nur als erheuchelt und zwar aus Selbſtſucht erheuchelt aufzu⸗
faſſen vermag. Eine andere Deutung hat das geiſtige Rußland im großen
und ganzen bis jetzt noch nicht fuͤr das in Weſteuropa, was ihm weſens⸗
fremd iſt. Wir weiſen vorauseilend in dieſem Zuſammenhang bereits auf
gewiſſe ſchwere Maͤngel im Geiſtesleben des Ruſſen hin: auf ſein Unver⸗
ftändnis für ein Suchen nach der Wahrheit um ihrer ſelber willen, auf fein
* Verwechſeln der Welt des Seins mit der des Sollens, von Erkennt⸗
nis mit Geſinnung, und endlich auf ſein abſolutes Nichtverſtehen deſſen,
— eigentlich Freiheit iſt, und daß ſie fuͤr einen Menſchen nur beſtehen
kann in einem freiwilligen Sichfuͤgen den Forderungen erlebter und als
uͤber ihm ſtehend erlebter Geſetze. Das alles hat der Ruſſe noch nicht be⸗
griffen. Er ſucht darum unentwegt überall nach neuen Geiſtesfeſſeln für ſich
ſelber, er kommt anderen gegenuͤber gar nicht heraus aus geiſtigem Ver⸗
gewaltigen und endet ſchließlich immer und überall bei phyſiſcher Gewalt —
im Namen ſeiner Ideale. Über das alles wird noch ausfuͤhrlich zu reden
ſein, wenn wir auf den eigentlichen Traͤger des ruſſiſchen Geiſteslebens zu
ſprechen kommen, die ruſſiſche Intelligenz. Ihr gegenuͤber gilt ja in vollem
Umfange gerade das, was wir weiter oben vom groͤßten Ruſſen — der
freilich in ſehr vielem typiſcher ruſſiſcher Intelligent iſt —, von Tolſtoj
ſagten: Wenn ſich die ruſſiſche Intelligenz auch durchaus in Gegenſatz ſtellt
zur ruſſiſchen Kirche, die Feindſchaft gegen ſie ſogar typiſch fuͤr ſie iſt, ja
26
mehr noch, wenn jogar die Möglichkeit für das Entſtehen der Intelligenz
(als einer Geiſtet macht im Staate, die im direkten Gegenſatz zu allem ſteht,
auf dem er felber ſich aufbaut) ſich vornehmlich aus der Unfähigkeit der
ruſſiſchen Kirche erklart, den Kirchen des Abendlandes gleich, die geiftige
Bildung ihres Landes in die Hand zu nehmen: ſo ſtecken die geiſtigen Wur⸗
zeln der ruſſiſchen Intelligenz doch durchaus in den Denkgewohnheiten,
welche die ruſſiſche Kirche im Laufe der Jahrhunderte ihrem eigenen Weſen
nach dem ruſſiſchen Volke, das fie in Ehrfurcht verehrte, unausloͤſchlich ein⸗
|
|
CN as find natürlich nur ganz allgemeine Andeutungen über den uner⸗ Au auf bie
meßlich weitgehenden und vielfach aͤußerſt verhaͤngnisvollen Einfluß, 5
den die ruſſiſche Kirche im Laufe der Jahrhunderte auf das ruſſiſche Geiſtes⸗ Tara Weiten
leben ausübte. Man kann ihn vielleicht ganz kurz fo zuſammenfaſſen: Die
ruſſiſche Kirche gab erſt dem Ruſſen nationales Selbſtbewußtſein, ftellte ihn
aber auch ſogleich ſchon in unüberbrüdbaren Gegenſatz zur nichtruſſiſchen
Menſchheit und zur nichtmenſchlichen Schöpfung. Erſterer gegenüber be⸗
hauptet fie ihn als fraglos überlegen, letzterer gegenüber als an ſich unver:
gleichbaren Weſens. Damit gab aber die ruſſiſche Kirche dem ruſſiſchen Ge⸗
danken einerſeits das eigentliche Ziel: die Erlöfung aller Menſchen auf dem
Wege über das Ruſſentum; andererſeits verſperrte fie ihm die Geiſtes wege
zu dieſem Ziele, da fie ja ſelber gar keinen Raum gewährt für rein Ges
dankliches. Dadurch aber ward die ruſſiſche Kirche hinwiederum unfähig,
die geiſtige Ausbildung der Nation in die Hand zu nehmen, und führte fo
das Aufkommen einer weltlichen Geiſtes macht in Rußland herbei, eben der
„Intelligenz“, die indes ihrerſeits gerade in ihren Denkgewohnheiten ihre
unwillkürliche Erziehung durch die Kirche gar nicht zu verleugnen vermag.
Damit iſt der ruſſiſche Geiſt vorausbeſtimmt zur Sackgaſſe des Dogmas,
und ihm der Ausweg aus ihm ſchwer vermauert.
ru ſſiſche Kirche
An e 10 e BR
Br ie 4 1 6. e 0
eee aan! ei dr Bali unn Ben: Pe) AH
su, re ert d n e p
an teien * 6 aD N ene Br
8 üb ehe L ee -le
et eta e üs sah,
7 1 Hamann bbc Ang 8 39 9
2 RAR Er i TE! wen“ 500 7
j ie n E62 rt BT 5
8 en Po 5 8 n rr e nd uit 0
ev een e tina: u e
eee t een abe a ac
* RT ee Et
1
sus 1
.
4 ee 1 r nenn er
* € za re re a.
“a nu Et ara ae en Ar a
Re une
e u f 5 ET 72 E22 A / ae
a e n omen fre fue 8
ee ni ee K 2
he eee eee ee et e zZ
4 a er b gase, un l not N
e Are a lh RETRO
| A ad gts g a sog Mir Aa
eee eee , in a e i RT gen
ae f , sah ren e ee
e . e
III
Das Tatarenjoch in feinem ;
Einfluß auf das ruſſiſche Geiſtes⸗
leben: Die Ausbildung der Denk⸗
gewohnheiten des Ruſſen
1. Der unmittelbare Einfluß des Tatarenjochs
auf das ruſſiſche Staatsweſen
unnnununnunnununununnunnnnunuununn
Der Einfluß des Tatarenjochs auf Rußlands innere Einrichtungen. —
Der ſo geringe Anteil des ruſſiſchen Adels am Geiſtesleben der Nation
(Als unmittelbare Folge der von den Tataren übernommenen zariſchen
Adelspolitik)
Der Einfluß des as der Zeit nach naͤchſtkommende der für Rußlands geiſtiges Geſchick
— En entſcheidenden Kulturſchickſale ift wohl das Tatarenjoch. Es ging der
Einrihtungen Schaffung des Moskauer Staatsweſens unmittelbar voraus, ſchuf im Volle
das Bewußtſein fuͤr deſſen Notwendigkeit und gab zudem die ſtaatlichen
Vorbilder: Der ruſſiſche Deſpotismus iſt ja durchaus eine Erbſchaft der
Tataren. Zunaͤchſt ward der urfprüngliche Verwaltungsapparat ganz uns
mittelbar von den Tataren uͤbernommen, die zur Erhebung des Tributs
die ganze ruſſiſche Bevoͤlkerung in zahlende „Hunderte“ eingeteilt und regi⸗
ſtriert hatten: Hierauf geht auch der ruſſiſche Landkommunismus zurück —
als Kollektivbuͤrgſchaft fuͤr richtige Steuerentrichtung. Aber auch die Leib⸗
eigenſchaft weiſt auf tatariſchen Urſprung hin — die Bauern wurden direkt
nach tatariſchem Vorbild mit ihrem Land den Heerfuͤhrern als Sold ge⸗
ſchenkt. Am unverfaͤlſchteſten offenbart vielleicht der ruſſiſche Deſpotis⸗
mus feinen tatariſchen Urſprung in feiner Politik gegenüber den bevor⸗
zugten Staͤnden. Eine Urſache der Überlegenheit des Moskauer Zartums
und erwieſenermaßen die Haupturſache feines Sieges über feine weſtlichen
Nachbarn (Litauer, Ukrainer und Polen) beſtand ja in der Einflußloſigkeit,
beſſer geſagt im völligen Fehlen des Hochadels. Während z. B. der litauiſche
oder polniſche Fuͤrſt ſeine Adligen auf eigens einzuberufenden Parlamenten
um Geld und Soldaten bitten mußte und beides nur erhielt gegen beftändige
Zugeftändniffe an fie, und das heißt unter wachſender Einbuße an eigener
Macht, und auch dann nur zu ſpaͤt und in zu geringer Menge, hatte der
ruſſiſche Zar niemanden zu fragen, wenn er Krieg fuͤhren wollte: Den
eigentlichen Geburtsadel, die Nachkommen der fruͤheren Teilfuͤrſten, hatten
ja Iwan der Schreckliche und ſein Nachfolger einfach ausgerottet. Die Heer⸗
führer aber, die urſpruͤngliche Dienſtklaſſe, hatte ſich der Zar aus den Ge⸗
folgsleuten der alten Ariſtokraten gebildet und hielt ſie dadurch in der Hand,
daß fie ihr Land nur fo lange in Beſitz hatten, als fie dienſtfaͤhig waren.
(Der Adlige heißt heute noch im Ruſſiſchen „Dworjanin“, von dwor der Hof,
30
alle Hofbefiger.) Wurden fie alt oder krank, jo mußten fie es abgeben. Auf
ihre wehrfähigen Söhne ging das Dienſtland nur mit befonderer Erlaubnis
des Zaren über, vererbbar ward es erſt ſehr ſpaͤt, und von der Dienſtpflicht
befreit erſt unter Katharina II. (1762). Das alles war durchaus tatariſche
Politik: Der tatarifche Herrſcher duldete eben keinen Hochadel, hielt feine
Diener durch ihr materielles Intereſſe in ſeiner Hand und ſaͤte beſtaͤndig
Zwietracht unter ſie: durch ewig wechſelnde Gunſtbezeugungen. Auch das
ging in die Politik des ruſſiſchen Zaren über und gipfelte in dem berühmten
Reangſyſtem im Adelsdienſte (es iſt ſehr kompliziert und beruht auf Rivalität
der einzelnen Geſchlechter).
| N: Umſtand, daß das ruſſiſche Zartum nach tatariſchem Muſter durch- Der fo geringe
aus leinen einigermaßen felbftändigen Adel aufkommen ließ (hieraus act we a
erklrt ſich übrigens auch das wahrhaft Demokratiſche der ruſſiſchen Geſell⸗ Salem U un
ſchaft: Vor dem Deſpoten find eben alle Bürger Untertanen, und das heißt —
untereinander gleich), hat Rußland um eine weitere Pflegftätte freien turen tegen
Geiſteslebens gebracht — nachdem es ſchon um die Staͤdtekultur gekommen ereus
war. Augenſcheinlich gehoͤrt ja dazu, daß der Menſch ſich dem Gedanken⸗
reiche anvertraue, nicht nur ein ganz beſtimmtes Freiſein vom Tagesfron,
vielmehr auch eine gewiſſe Höhe des Selbſtbewußtſeins, wie fie nur ein
ganz beſtimmtes Maß perjönlicher Unabhängigkeit zu verleihen vermag.
Jedenfalls iſt der ruſſiſche Adel, ſolange er an den Dienſt gebunden war,
eigentlich ganz unfruchtbar geblieben für das Geiſtesleben der Nation, ja
ein großer Widerſtand gegen die Schule ging gerade von ihm aus. Erſt als
ihn Katharina II., durch ihre berühmte „Schenkungsurkunde“ vom Jahre
1762, vom obligatoriſchen Dienſte befreit hatte, und ihm zudem die Rolle,
die er bei der Petersburger Garde, namentlich in Palaſtrevolutionen, ge⸗
fpielt hatte, ein gewiſſes Standes bewußtſein gegeben hatte, findet der ruſ⸗
ſiſche Adel — angeregt durch die franzoͤſiſche Aufklaͤrung (auf der noch aus
dem Zeitalter des Sonnenkoͤnigs her ein feudaler Glanz lag) — Gefallen
an literariſcher und philoſophiſcher Beſchaͤftigung. Von da an hat denn der
ruſſiſche Adel einen gewiſſen Einfluß auf das ruſſiſche Geiſtesleben aus⸗
geübt. In der erften revolutionären Erhebung Rußlands, dem Dezember:
aufftand von 1825, bildeten die Adligen ſogar das eigentliche Element. Auch
ſind große ruſſiſche Dichter aus ihnen hervorgegangen: Puſchkin, Lermon⸗
toff, Turgenjeff, Tolſtoj. Alles in allem genommen war indes der Anteil
des ruſſiſchen Adels am ruſſiſchen Geiſtesleben — ganz abgeſehen davon,
daß er fo ſpaͤt einſetzte und von ſehr kurzer Dauer war — ein mehr zufälliger,
31
ſich auf Einzelperſoͤnlichkeiten beſchraͤnkender. Das liegt wohl auch vor allem
daran, daß der Adel, eben durch ſeine großen Privilegien als regierende
Klaſſe, aufs engſte liiert war mit dem deſpotiſchen Staate, der ſich auf ihn
ſtiltzte und ihm feine Vorrechte garantierte. Der deſpotiſche Staat war aber
immer der haͤrteſte Bedruͤcker des freien Gedankens. Man koͤnnte freilich
einwenden, daß nahezu dieſelben Verhaͤltniſſe den franzoͤſiſchen Adel feines:
wegs verhindert hatten, ſogar eine ſehr große Rolle im Geiſtesleben ſeiner
Nation zu ſpielen. Aber darin liegt ja eben der große Unterſchied, daß der
weſteuropaͤiſche Adel durch das Stadium des Feudalismus, das heißt einer
Gleichſtellung mit dem Souveraͤn, gegangen war, mithin eine gewiſſe per⸗
ſoͤnliche Unabhaͤngigkeit und geiſtige Freiheit hier Tradition ſein mußte.
Hinzu kommt noch ein Moment, das wir hier vorerſt nur andeuten, daß
nämlich das Hauptprivilegium der ruſſiſchen Adligen: Leibeigene zu haben
(nicht Hoͤrige im weſteuropaͤiſchen Sinne: hier iſt ein weſentlicher Unter⸗
ſchied), den denkenden Adel Rußlands zu größter Vorſicht im Geiſterreich
zwang und ihm nur einen ganz kleinen Umkreis dort zu beſchreiben erlaubte.
Freilich, als die Leibeigenſchaft aufgehoben war — unter dem größten
Widerſtand der Adligen —, da ſtellte ſich eine verſpaͤtete Reue bei ihnen
ein: Der reuige Edelmann, von dem noch die Rede fein wird, übt von da
an einen ganz gewaltigen Einfluß auf das ruſſiſche Geiſtesleben: Tolſtoj
iſt faſt nur das. Aber auch das geſchah wiederum rein individuell. Der Adel
als ſolcher hat eigentlich ſeit dem Dezemberaufſtand (1825) keine irgendwie
bedeutende Rolle mehr im ruſſiſchen Geiſtesleben geſpielt — wenn wir von
feiner Beteiligung an der erſten, rein ethiſch geiftigen panflawiftiihen Be⸗
wegung abſehen. Von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an iſt die eigent⸗
liche Traͤgerin des ruſſiſchen Geiſteslebens die ruſſiſche Intelligenz, und die
entſtammt den Kreiſen der Geiſtlichen, Volksſchullehrer und kleinen Be⸗
amten, und ergaͤnzt ſich vornehmlich aus dem Bauernſtande, neuerdings
ſogar aus Handwerkern und Fabrikarbeitern.
3 2. Der Einfluß Aſiens auf das geiſtige Rußland
unn TTITTTTTTTTTTTTIET TITTEN
Die bewußte Stellung des geiftigen Rußlands zu Aſien. — Die Stellung
des geiſtigen Rußlands zur Wiſſenſchaft. — Die Rolle des Materialismus
im ruſſiſchen Geiſtesleben. — Die echtruſſiſche Verquickun — materia:
liſtiſcher Weltanſchauung und praktiſchem Idealismu
32
4
4 * des Zaren, die Einrichtungen des Oſtens gegen jeine Die een.
er im Weſten und die des Weſtens gegen feine Gegner im dn Vater
Oſten auszuſpielen, hat wohl vor allem den Grund dazu gelegt, daß“ "te
Rußland bis jetzt noch nicht ſeine Ruhelage finden kann zwiſchen Aſien
und Europa, daß es ſich bald zum einen rechnet, bald zum anderen,
und daß dies kulturelle Unbehagen ſich immer wieder in leidenſchaft⸗
lichem Haß gegen alle Kultur äußert. (Hierin liegt nebenbei bemerkt
ſicherlich auch eine der kulturellen Berufungen Rußlands, auf die noch
eingehend hinzuweiſen ſein wird: Der von ihm ausgehende nihiliſtiſche
Nadikalismus zwingt ja die Geiſter Europas immer wieder, die Grund⸗
lagen ihrer ſtaatlichen und ſozialen Kultur nachzupruͤfen, und dabei
werden dann ſo mancherlei nur noch aus Bequemlichkeit mitgeſchleppte
KAultureierſchalen abgeſtoßen). Was überhaupt das Verhältnis Rußlands
zu Aſien anbetrifft, mit dem es durch das Tatarenjoch ſo tief geimpft
ward, und für das auch die ſich ihres orientaliſchen Urſprunges ſehr
wohl bewußte ruſſiſche Kirche gewiſſe Sympathien immer hegte, ſo ent⸗
nahm bereits der in den vierziger Jahren des verfloſſenen Jahrhunderts
zunäͤchſt als ethiſch⸗religioͤſe Richtung auftretende erſte Panſlawismus
gar mancherlei von feinen zureichenden Gründen für den ruſſiſchen Ans +»
ſpruch der Überlegenheit vor dem Weſten der älteren, überlegenen,
vornehmeren Geiftestradition des aſiatiſchen Orients. Der Philoſoph des
geläuterten ethiſchen Panſlawismus, Wladimir Solovjeff, ſucht denn
auch die Stellung Rußlands zwiſchen Weſteuropa und dem neueren,
das heißt dem iſlamitiſchen Aſien zu präzifieren als Erloͤſerin beider —
fußend auf uralten orientaliſchen Traditionen. Für dieſe von Rußland er⸗
loͤſte, europuͤiſch⸗vorderaſiatiſche Welt prophezeit er dann einen letzten Ent⸗
ſcheidungskampf mit den großen Voͤlkern Oſtaſiens. Das werde, fo glaubt
er, der letzte Weltkrieg fein — Solovjeff ſtarb 1904, ſah alſo nicht, was
jetzt vorgeht — und auch den hält er für vermeidbar, wenn bis dahin die
Volker Europas wahrhaft chriſtlich geworden ſeien. Immerhin gibt Solo⸗
vjeff Aſien keinen Vorzug vor Europa: Beide hält er gleichmäßig der Er⸗
fung bedürftig durch Rußland. Durchaus auf feiten des alten Aſiens
gegen Europa tritt aber der größte Ruſſe, Tolſtoj, in dem ſich die urruſſiſchen
Inſtinkte wohl am maͤchtigſten offenbaren. Er iſt durchaus nicht erſt durch
ſeinen, an ſich wenig originellen, poſitiviſtiſchen Myſtizismus auf die nicht⸗
iſlamitiſchen Religionen Aſiens verfallen. Das ſteckte vielmehr tief in ihm drin,
hier ſpricht ſicherlich die tatariſche Blutmiſchung mit. Tolſtoj denkt ja von
A Mbnel, Grundlagen det arikigen Ruplands 33
Die Stellung des
geiſtigen Rup-
lands jur Wiſſen⸗
Haufe aus in jehr vielem aſiatiſch: wenn man den eigentlichen Unterſchied
zwiſchen aſiatiſchem und europaͤiſchem Denken darin erblickt, daß der Aſiate
in laͤhmender, ſich ganz nur in inneren Geſichten aͤußernder ſtarrer Ehrfurcht
vor der Übergewalt der Gottheit verharrt, der gegenüber ihm die eigene
Perſon mit allem, was von ihr ausgehen kann, alſo auch mit allen ihren
Gedanken, voͤllig nichtig erſcheint, und nichts eigentlich wichtig, als dieſer
perſoͤnlichen Nichtigkeit und der erdruͤckenden Übergewalt der Gottheit in
immer neuen Bildern und Gleichniſſen Ausdruck zu verleihen. Der Europäer
dagegen, — infolge einer milderen Natur weniger eingeſchuͤchtert durch
die Gottheit, mehr geneigt, ſie ſich verwandten Weſens vorzuſtellen, findet
keinen Übermut, keinen Frevel darin, ſich ihr und ihrer Schoͤpfung rein
denkend zu nahen: Die Ehrfurcht darf fuͤr ihn erſt da einſetzen, wo ſeine Ge⸗
danken verſagen. Das einzige, was rein geiſtig genommen Europa vor Aſien
voraus hat, und was Aſien unerreichbar bleibt, iſt darum die exakte Wiſſen⸗
ſchaft und deren Tochter: die Technik.
ieſen weſentlichen Unterſchied zwiſchen aſiatiſcher und europaͤiſcher
Denkweiſe muß man ſtets im Auge behalten, wenn man dem geiſtigen
rat Rußland gegenüberfteht. Im Grunde neigt es ja zu Aſiens Auffaſſung, fie
ſitzt ihm tief im Blute. Tolſtoj ſpricht nur aus, was Millionen ſeiner Lands⸗
leute fühlen, wenn er die europaͤiſche Wiſſenſchaft einen laͤcherlichen Selbſt⸗
betrug nennt, über den ſchon in einigen Jahrzehnten die ganze Welt lachen
werde. Tolſtoj hat dabei — und auch das iſt echt aſiatiſch und durchaus kenn⸗
zeichnend fuͤr gewiſſe Stroͤmungen im ruſſiſchen Geiſtesleben — das eigent⸗
liche Weſen der Wiſſenſchaft nie begriffen. Es iſt typiſch ruſſiſch, daß er
bis an ſein Lebensende der Meinung war, die Wiſſenſchaft muͤſſe Impera⸗
tive für das Leben geben, während fie tatſaͤchlich nur Zuſammenhaͤnge auf⸗
zudecken vermag im Leben — und daß aus einem Sein niemals ein Sollen
wird, lehrte ſchon Ariſtoteles — Tolſtoj hat darum der Wiſſenſchaft vor⸗
geworfen, ſie beſchaͤftige ſich nur mit Kleinigkeiten und laſſe ihre wichtigſten
Aufgaben unberührt. Auch waͤhnte Tolſtoj bis an fein Lebensende, die
Wiſſenſchaft erſtrebe das Weſen der Dinge zu ergruͤnden, und er wirft ihr
darum voͤllige Erfolgloſigkeit vor, — waͤhrend ſie tatſaͤchlich, hervorgegangen
aus der Philoſophie des 17. Jahrhunderts und in ihr fußend, das Weſen
der Dinge bereits als unergruͤndbar vorausſetzt und nichts anderes erſtrebt
als ihre Beherrſchung durch den Menſchen. (Dazu dienen denn auch Maß⸗
ſtab und Wage: Sie ſind keineswegs myſtiſche Daſeinsbewerter.) Auch hier
offenbarte Tolſtoj bloß die echt ruſſiſche, auf Unverſtaͤndnis fußende Ab⸗
34
a .
., spes, den er mit richtigem Inſtinkt vor allem
3 in der Wiſſenſchaft verwirklicht erblickte. Wer die Geſchichte des ruſſiſchen
SGeiſteslebens kennt, weiß auch, daß es ewig um den Begriff der Wiſſen⸗
ſchaft herumſchwankt, ohne ihn klar faſſen zu können. — Parallelen mit
gewiſſen aſiatiſchen Philoſophien liegen auf der Hand.
n der Epoche, als ſelbſtaͤndiges Geiſtesleben überhaupt erſt in weiteren Die Neue des
Kreijen der ruſſiſchen Geſellſchaft auftommen konnte, wurde freilich die ra arne.
exakte Wiſſenſchaft woͤrtlich genommen, vergoͤttert: In ihren Methoden delleden
erblickte man die Wege zur abſoluten Erkenntnis, Maßſtab und Wage galten
als die Daſeinsbewerter. Wenn die Welt ausgemeſſen und ausgewogen
ſei, habe der menſchliche Geift nicht nur feine Aufgabe vor ihr erfüllt, weiter
ſtecke auch wirklich gar nichts hinter ihr. Diefe Weltanſchauung, die übrigens
ſo alt iſt wie die Menſchheit ſelber, nennt man Materialismus. Er hat eine
ungeheure Macht über die ruſſiſchen Geiſter ausgeübt: Die hier führende
Gruppe, die Intelligenz, hielt er ein halbes Jahrhundert lang voͤllig unter
ſeinem Bann, und er beherrſcht unter wechſelnden Masken immer noch in
weiteſtem Maße das Geiſtesleben Rußlands. Tolſtoj z. B. — und er iſt
für uns gerade der Wortführer des geiſtigen Rußlands — verdankt feine
eigentliche Bildung jener materialiſtiſchen Epoche. Ihren falſchen Kern hat
er aber erſt mit unendlicher Muͤhe erfaßt. Es iſt wirklich tragikomiſch, wenn
wir in den Schlußkapiteln von „Anna Karenina“ (die zum Teil wörtlich in
der „Beichte“ wiederholt werden) leſen, wie der arme Ljevin⸗Tolſtoj faſt
zum Selbſtmord getrieben ward durch ein Mißverſtaͤndnis, dem kein Kloſter⸗
ſchuͤler des finſteren Mittelalters verfallen wäre: Er glaubte tatſaͤchlich, er
muͤſſe den Sinn der Welt, die Berechtigung des Guten, das Daſein Gottes,
erſt beweiſen. Mit welchen Mitteln das moͤglich waͤre, und wie ein ſolcher
Beweis eigentlich ausſehen würde, dieſe Frage legte er ſich natürlich nicht
vor. — Und es war woͤrtlich genommen Tolſtojs Lebensrettung, als ihm
an dem Beiſpiel ſeiner Bauern die logiſche Elementarerkenntnis aufging,
daß Sollen überhaupt gar nichts mit Sein zu tun hat: daß man die Pflicht
zum Guten einfach erlebt: — und dann über allen Beweiſen ſteht. Der
Fall iſt typiſch für die Hemmniſſe, die im ruſſiſchen Denken leben gegen
den Geiſt der Wiſſenſchaft, den Geiſt Europas, und für die furchtbaren
Umwege, zu denen ſo der ruſſiſche Geiſt unter unſagbaren Selbſtquaͤlereien
immer wieder gezwungen wird. Wir betonten bereits weiter oben, daß die
ruſſiſchen Geiſter durch die ſtreng anthropozentriſche Weltanſchauung der
ruſſiſchen Kirche ſchon vorbereitet waren zu jenem Mißverſtaͤndnis der
Ei 35
Wiſſenſchaft, das wir Materialismus nennen, und das in einem Abſolut⸗
nehmen der wiſſenſchaftlichen Methode beruht. Aber auch die ſeeliſchen
Vorausſetzungen für die Wahl dieſer Weltanſchauung — und keine Welt⸗
anſchauung wird aus rein geiſtigen Beweggruͤnden gewaͤhlt — waren reich⸗
lich vorhanden im denkenden Rußland. Der Materialismus, die Zurück⸗
führung des Weltganzen auf Maſſe und Bewegung, und das heißt das dog⸗
matiſche Wegleugnen des Wirklichſten, was es auf dieſer Welt gibt: des
Geiſtigen, des nur zu Erlebenden, iſt von jeher die Weltanſchauung der mit
dem Leben Unzufriedenen, vor allem der im Leben Enttaͤuſchten geweſen:
Weil ſich die Ideale als truͤgeriſch erweiſen, hält man die Ideen für Illuſion.
Welche Geſellſchaft hätte aber mehr Grund zum Weltſchmerz als die ruſſiſche,
die durch den doppelten Zwang des Tatarenjochs und des Deſpotismus
gegangen war und in der Leibeigenſchaft jahrhundertelang ein furchtbares
Menſchenleiden machtlos neben ſich ſah? Aber auch noch ein anderer Grund
zog die ruſſiſche Geſellſchaft zum Materialismus hin: Er hat von jeher einen
großen Teil feiner Popularität daraus gezogen, daß er die eigentliche Gei⸗
ftesarbeit, ſpeziell die der Geiſteswiſſenſchaften, als wertlos, als eitle Spies
lerei hinſtellt. Das entſpricht aber durchaus den Selbſtachtungerhaltungs⸗
be duͤrfniſſen ſolcher, die aus irgendwelchen Gründen, ſei es materieller, ſei
es politiſcher Art, der Geiſtesbildung ferngehalten wurden oder irgendwie
vor dem freien Gedanken Angſt haben: Moͤgen ſie von ihm fuͤr ihre Lieb⸗
lingstraͤume fuͤrchten, oder moͤgen ſie ſich ihm nur nicht gewachſen fuͤhlen.
Ausnahmslos alle dieſe Momente kamen fuͤr Rußland in Betracht. Die
große nationale Armut hielt weite Kreiſe der Wiſſenſchaft fern, die Wiſſen⸗
ſchaft, die in ruſſiſchen Anſtalten gelehrt ward, war dabei polizeilich zurecht⸗
geſchnitten und wurde deshalb mit Mißtrauen hingenommen (und es waͤre
natuͤrlich ungerecht, das ruſſiſche Mißverkennen des Weſens der Wiſſenſchaft
nicht auch hierauf zuruͤckzufuͤhren, wovon gelegentlich des Deſpotismus noch
ausführlich die Rede fein wird). Schließlich aber, und das iſt ein ſehr weſent⸗
liches Moment, hatte das ruſſiſche Kulturſchickſal und vielleicht auch das
ruſſiſche Naturell dem ruſſiſchen reinen Gedanken ein Eigenleben verſagt:
Er mußte ſich alſo unſicher fuͤhlen vor den Gedankenſchoͤpfungen Europas.
Schon daß der Ruſſe ſelber da mit leeren Haͤnden daſtand, mußte ihm bei
ſeiner uͤbergroßen Empfindlichkeit peinlich ſein. Er war ſich aber auch be⸗
wußt, daß es ihm an rein techniſcher Voruͤbung fehlte, und er ahnte viel⸗
leicht, daß jedes Denken über gewiſſe typiſche Irrtuͤmer gegangen ſein muß,
um uͤberhaupt zum Bewußtſein ſeiner Mittel und zum Gebrauch ſeiner
36
* Waffen zu gelangen. Was konnte demnach dem geiftigen Rußland will:
kommener fein — und das kann durchaus unbewußt geſchehen — als wenn
man vor ihm alle Geiftesfindungen Europas für nutzloſe Spielerei erklart —
und das muß ja jeder folgerichtige Materialismus. Hinzukommt, daß der
dentende Ruffe auch gar ſehr für feine Wünfche zu fürchten hatte — und
was fürchtet man dabei mehr als den freien Gedanken: Denn wovor ift
man machtloſer? Welcher Art aber die Wuͤnſche des denkenden Rußlands
waren und ſind, liegt auf der Hand: Bei der Volksnot, in deren Angeſicht
der Ruſſe heranwaͤchſt, und bei der Vergewaltigung feines Volles, deren
machtloſer Zeuge er fein Leben lang fein muß, ſpielen auf das Allgemein⸗
wohl gerichtete Wünfche eine geradezu lebenerhaltende Rolle im Haushalte
ſeiner Seele. Dies iſt ein Moment von allerhöchfter Wichtigkeit, auf das wir
immer wieder zurückkommen müffen, weil ſich nur fo jene hoffnungsloſeſte
Eigenart im ruſſiſchen Denken erklaͤrt: Daß es nämlich fo ausgangslos im
Banne der Wuͤnſche ſteht, ja, daß es nur von ihnen geweckt wird, und eigent⸗
loch keine andere Aufgabe hat als ihre Erfüllbarkeit, ja die Notwendigkeit
ihres Erfülltwerdenmüffens zu beweijen.
- Das find im weſentlichen die Gründe, aus denen ſich die jo gewaltige,
verhöngnievolle und rätfelhafte Macht der materialiſtiſchen Weltanſchauung
über das geiſtige Rußland erklärt. Dieſe Macht ift laͤngſt noch nicht gebrochen.
Bekanntlich iſt ja feine Welterklaͤrung zugaͤnglicher für alle moglichen Mas:
fierungen als gerade eben der Materialismus. Es gibt doch eigentlich leine
metaphyſiſcheren Begriffe als ſeine Grundbegriffe: Maſſe und Bewegung.
An ihre Stelle treten daher immer neue Worte — neuerdings ſogar, bei
Bergſon, das Wort „Leben“ oder „Intuition“. Was dabei das eigentliche
Weſen eines materialiſtiſchen Bekenntniſſes ausmacht, iſt, daß vor irgend⸗
wie als feſtſtehend behaupteten Grundprinzipien dem Denken Riegel vor⸗
geſchoben werden. Damit iſt an ſich der Geiſt aus der Welt herauskompli⸗
mentiert, denn ſein Weſen iſt eben ungehemmte Freiheit.
Er 6 wäre ein Studium für ſich, den Wandlungen der materialiſtiſchen
ung im Geiſtesleben Rußlands, namentlich der führenden
geiſtigen Schicht, der Intelligenz, nachzugehen. Völlig kann fie ſich ja immer „.,
noch nicht von ihm trennen (neuerdings follen Mach und vor allem Avena⸗
titus im Vordergrunde ſtehen, d. h. die Aufgabe zu erfüllen haben: den
tterroriſtiſchen Sozialismus zu beweifen). Das unerhoͤrte Glüd, das dem
Marxismus in Rußland blüht, ift ſicherlich zum großen Teil auch auf feine
4 unſelige Verquickung mit dem bier altgewohnten Materialismus zurück⸗
37
dener,
Berauidung von
matertalitiicher
nn
ae
*
zuführen. Nun könnte man ſich freilich darüber wundern, daß dem Ruſſen
derart lange die Unmoͤglichkeiten des Materialismus verborgen bleiben
konnten. Wir nannten darum auch weiter oben den ruſſiſchen Materialis⸗
mus raͤtſelhaft. Während ja tatfächlich die materialiſtiſche Weltauffaſſung
außerſtande iſt, auch nur den beſcheidenſten Bewußtſeinsvorgang zu er⸗
klaͤren, geſchweige denn ethiſche Imperative zu geben, finden wir ſie bei
der ruſſiſchen Intelligenz von jeher verbunden mit den Geboten reſtloſer
Aufopferung der eigenen Perſon für die Ideale. (Wladimir Solovjeff,
wahrhaft europaͤiſch gebildet, wenn er auch ſeine Doktorarbeit mit 21 Jahren
in echt ruſſiſcher Beſcheidenheit uͤber den Bankrott der europaͤiſchen Philo⸗
ſophie ſchrieb, ſpottet bereits daruͤber: „Unſere Jugend urteilt etwas merk⸗
würdig: Wir alle ſtammen vom Affen, alfo laßt uns unſerem jüngeren Bruder
helfen!“) Freilich wird nach allem Vorhergehenden dieſe ſeltſame Vereini⸗
gung von metaphyſiſchem Materialismus und praktiſchem Idealismus nur
noch ihrem Weſen nach, nicht mehr im Geiſteshaushalt des Ruſſen, ſeltſam
erſcheinen. Denn im Grunde genommen liegt in ihr gar kein groͤßerer Denk⸗
fehler als in der materialiſtiſchen Weltanſchauung an ſich: Wenn man ſich
ja zu einer Weltanſchauung bekennt, die die Welt erklären foll, und dabei
fuͤr keinen einzigen Bewußtſeinsvorgang eine Erklaͤrung hat, ſo kann man
ſchließlich auch das, was man von Bewußtſeinstatſachen fuͤr den Tages⸗
gebrauch nicht zu entbehren vermag, ruhig irgendwo anders hernehmen.
Daß dies ſo ohne jeden Anſtoß geſchah und Menſchenalter hindurch faſt
unangefochten bleiben konnte, erklaͤrt ſich gerade eben durch die fehlende
Geſchichte des ruſſiſchen Denkens, und das heißt ſein Nichtahnen der tauſend
Moͤglichkeiten und der tauſend Abgruͤnde des menſchlichen Gedankens.
Welche Bewegungsfreiheit das uͤberhaupt verleiht auf dem Gebiete der
geiſtigen Irrpfade, beweiſt noch in den ſiebziger Jahren der Theoretiker
des Terrorismus, Michailowſky, der allen Ernſtes eine ſubjektive Wiſſen⸗
ſchaft lehrte. Weiter iſt auch Tolſtoj nicht gegangen. Wenn aber auch mithin
die Vereinigung von materialiſtiſcher Weltanſchauung mit praktiſchem Idea⸗
lismus an ſich nicht ſeltſam iſt für das geiftige Rußland, fo iſt fie ihm darum
doch außerordentlich verhaͤngnisvoll geworden. Wenn wir auch einmal ganz
davon abſehen, daß ſo dem Seelenerlebnis, das fuͤr Rußland vor allem
Erlöfung bedeuten würde, der Ehrfurcht vor dem Menſchen an ſich, die
ſchwerſten Hemmniſſe entgegenſtehen (wir werden freilich noch erkennen,
daß ſie durchaus auch noch anderswo zu ſuchen ſind), ſo iſt es doch ohne
weiteres klar, daß innerhalb einer entgeiſterten und damit auch entſittlichten
38
98
. 3
Welt jedes ſittliche Gebot ifoliert daſteht, als Forderung an fi, außerhalb
des ſtets erlebten, das ganze Leben umziehenden großen Zuſammenhangs
alles Sittlichen. Ein ſolches Gebot gibt aber, auch wenn es reſtlos befolgt
wird, nicht nur keinerlei Veranlaſſung, an der eigenen ſittlichen Perſon
überhaupt zu arbeiten, es gewährt zudem auch noch allem ſittlich Un⸗
erzogenen in ihr ſchuͤtzenden Deckmantel und freiefte Gelegenheit, fi men⸗
ſchenquälend zu äußern — ohne auch nur Tadel fürchten zu müffen: alles
iſt ja gedeckt vom Geſellſchaftsideal, dem man das eigene Leben opfert —
und natürlich auch unbedenklich das Leben anderer opfern kann. Hier ſtehen
wir an der Quelle der Ethik des Nihilismus. Wir werden noch eingehend
auf fie zurückkommen muͤſſen. Hier kam es uns nur darauf an, die Folgen
des ruſſiſchen Materialismus wenigſtens anzudeuten, den wir ſeinerſeits
vornehmlich auf das Europas eigentlichem Weſen verſtaͤndnislos Gegenuͤber⸗
ſtehende in der ruſſiſchen Denkweiſe zurüdführten, und das erflären wir uns
eben durch das Tatarenjoch: die ſtarke Durchſetzung der urſpruͤnglich finniſch⸗
ſlawiſchen Bevoͤlkerung Rußlands mit Mongolenblut.
3. Die Gewoͤhnung der ruſſiſchen Volksſeele
an den Zwang
Die geiſtige Selbſibehauptung des ruſſiſchen Volkes. — Die geiſtige Be⸗
rufung des ruſſiſchen Volkes
E dem Tatarenjoch ſtammt auch noch ein Einfluß auf das ruſſiſche Die aner
„der ſeine ganze Geſchichte durchzieht, im hoͤchſten Grade det aue
charakteriſtiſch für dasſelbe iſt und durch die weiteren Hauptſchickſale Rußlands ,
(die übrigens gleichfalls direkte Erbſchaften des Tatarenjochs bedeuten), den
Deſpotismus und die Leibeigenſchaft, immer größere Vertiefung fand: Wir
meinen ganz im allgemeinen die Gewoͤhnung der ruſſiſchen Volksſeele an
äußeren Zwang. In der Tatarenzeit wurde das ruſſiſche Volk zum erſten
Male vor das Entweder — Oder geſtellt: Willſt du leben als Sklave oder
ſterben als freier Mann. Und wenn — das ſei gleich im voraus bemerkt —
das ruſſiſche Volk im großen und ganzen das Leben in Knechtſchaft dem
Tode um die Freiheit vorzog, fo geſchah dies keines wegs aus nackter Todes⸗
angft, vielmehr wohl vornehmlich in dem Bewußtſein: feine eigentliche
kulturelle Berufung auch fo verwirklichen zu koͤnnen. Wir muͤſſen das wenig»
39
ftens fo annehmen, weil ja das ruſſiſche Volk doch alles in allem genommen
ſeeliſch und geiſtig ungebrochen aus den Jahrhunderten ſeiner Knechtſchaft
hervorging und auch keinen Augenblick irre ward an ſeiner, ihm einen Er⸗
Iöferberuf auferlegenden Ausnahmeſtellung. Solche Widerſtandskraft wäre
indeſſen gar nicht moͤglich geweſen, wenn nicht ſchon im ruſſiſchen Naturell
einige Momente gelegen haͤtten, an denen der aͤußere Zwang ſich brechen
mußte. Es wird nun darüber geſtritten, ob die ganz urſpruͤngliche religiöſe
Veranlagung des Ruſſen hier den Ausſchlag gab: im beſonderen ſeine eigen⸗
artige angeborene Übereinſtimmung mit den Willensrichtungen des Urs
chriſtentums, oder aber jene vielgerühmte Biegſamkeit, Schmiegſamkeit und
Gewandtheit des Ruſſen, der es tatſaͤchlich fertigbringt, den Maͤchtigen an⸗
genehm zu fein ohne falſch zu werden, und das heißt ohne ſich zu entwuͤrdigen.
Uns ſcheint der Streit hieruͤber fruchtlos. Das weſentliche Moment im
geiſtigen Widerſtand des Ruſſen gegen aͤußeren Zwang iſt zweifellos ſeine
Religiofität, ſchon aus dem einfachen Grunde, weil, wie die Geſchichte lehrt,
hier überhaupt die ftärfften Kraftaͤußerungen eines Volkes entſpringen. Die
tatſaͤchliche biegſame Gewandtheit des Ruſſen kann dabei natürlich auch ihrer:
ſeits ein Anpaſſungsergebnis ſein eben an dieſen Zwang — man braucht
da nicht einmal eine beſondere Veranlagung anzunehmen, die wir indeſſen
gar nicht beſtreiten wollen.
So viel im voraus uͤber den Widerſtand des ruſſiſchen Volksgeiſtes gegen
den durch mehr als ein halbes Jahrtauſend ſeine Geſchichte durchziehenden
Zwang. Kann nun auch der Kampf mit ihm im großen und ganzen als
ſiegreich bezeichnet werden — denn die Hauptwerte blieben unverloren —,
ſo mußte er doch tiefe Spuren hinterlaſſen im Geiſtesleben des Ruſſen.
Bei der langen Dauer dieſes Kampfes mit ſeiner naturgemaͤß mehr auf
paſſiven Widerſtand beruhenden Taktik koͤnnen wir den durch ihn ausge⸗
übten Einfluß als Gewoͤhnung an den Zwang bezeichnen, als geiſtige An⸗
paſſung an ihn: Sie iſt einer der Wegweiſer auf den labyrinthiſch verſchlun⸗
genen Pfaden des ruſſiſchen Geiſteslebens. Wir muͤſſen ſie daher hier ſchon
in ihren Hauptwirkungen kennenlernen, wenn die auch, wir wiederholen
es, durch die Erbſchaften des Tatarenjochs: Deſpotismus und Leibeigen⸗
ſchaft, noch bedeutend verſtaͤrkt wurden.
Von einer Gewoͤhnung der ruſſiſchen Volksſeele an den Zwang kann
natürlich in doppeltem, eigentlich in dreifachem Sinne geſprochen werden,
entſprechend den drei elementaren Außerungsrichtungen der Menſchenſeele:
ſich ſelber zu behaupten, ſich in ihrem Sinne zu betätigen und endlich das
40
3
| Wen freie u gene Werfen nd
ſten Umgebung zu entnehmen.
mußte ſich alſo die ruſſiſche Seele dem Zwang gegenüber bes Die seitise Be
haupten (wiederum dem Weſen der Menſchenſeele nach in doppeltem ar Bert
: einerſeits mußte fie fertig werden mit der laͤhmenden Vorftellung
J | —— eg andererſeits mußte fie die Möglichteit finden, ſich
innerhalb ſeiner in ihrer Weiſe auszuleben. Beides gelang der ruſſiſchen
Volksſeele in überraſchendem Maße — wenn auch natürlich keines wege,
1 ur ſie dabei auch ihrerſeits gewiſſe Einwirkungen erfuhr. Wir können
Opfer nennen, wenn wir an das Hemmende denken / das ihnen zweifellos
Es liegt aber auch wiederum in dem unloͤslich innigen Zuſammen⸗
1 f halt aller Eigenſchaften und Kräfte der Menſchenſeele begründet (und in
der Notwendigkeit für fie ſelber, ſich mit dem Weltall in feiner ganzen
unendlichen Fülle auseinanderzuſetzen), daß alle beſonderen Umformungen,
die ſie in ihren Richtungen erfaͤhrt, moͤgen ſie auch in ihren Hauptwirkungen
bemmend, ja ſchaͤdigend erſcheinen, doch irgendwo, an irgendeinem Aus⸗
ſchnitte des Alls, mit dem ſie ſich abfinden muß, zum Vorzug werden muͤſſen
| und zu ungeahnter Erkenntnis führen koͤnnen. Ganz fo verhält es ſich auch
mit der Gewoͤhnung der ruſſiſchen Seele an den Zwang. Alles in allem
genommen kann man vielleicht ſagen: Sie war (natürlich abgeſehen davon,
daß fie allein die unſchaͤtzbar wertvolle ruſſiſche Volksindividualitaͤt erhielt)
ein Hemmnis fuͤr den ruſſiſchen Geiſt in der Vergangenheit und birgt dabei
nu ſch alle geiftigen Verſprechungen Rußlands für die Zukunft. Das iſt aber
inſofern doch nicht völlig richtig, als doch alle ruſſiſchen Kulturgaben jetzt
ſchon den Stempel einer Seele tragen, die durch Jahrhunderte des Zwanges
ging, ſich ſo an ein Leben außerhalb der Wirklichkeit, ganz in ſich ſelber,
gewöhnen mußte und hierbei einen völlig eigenartigen Ausblick erlangte
auf die Erſcheinungen dieſer Wirklichkeit: fie ausſchließlich erſchaute im Zus
ſammenhang mit ihren letzten elementaren Beduͤrfniſſen. Damit ift aber
Rußland — freilich vorerſt nur das intuitive, das dichte riſch geſtaltende —
bereits zu einem unentbehrlichen Kulturkorrektor Weſteuropas geworden,
das ja ſeinerſeits den umgekehrten Kulturentwicklungsgang nahm: zuneh⸗
mendes Freiſein von aͤußerem Zwang vor einer immer vielſeitigeren Bes
duͤrfniſſen nutzbar zu machenden Wirklichkeit führte hier zu einer Spaltung
der Menſchenſeele vor der Wirklichkeit: ihr erkennender Teil bleibt vornehm⸗
lich der Wirklichkeit außerhalb ihrer zugewandt, und fo läuft fie mehr und
mehr Gefahr, den eigentlichen Zuſammenhang mit den Dingen zu vers
41
lieren, der ja nur durch das Medium der ganzen Menſchenſeele gehen, d. h.
erlebt werden kann. (Wir verſtehen hier und in allem Folgenden unter Seele
das Organ, von dem das menſchliche Erlebnis ausgeht: das ſeinerſeits ftets
Denken, Fuͤhlen und Wollen in einem iſt.)
J. Der ſchrankenloſe Subzektivismus im Tuff,
ſchen Denken
(Als notwendige Folge der Gewoͤhnung des ruſſiſchen Volkes
an aͤußeren Zwang)
unnunununnunnununnunn
Die Gleichartigkeit im Seeleninventar der Ruſſen. — Die ſich hier er⸗
ragen Schwierigkeiten in der Kritik des geiſtigen Rußlands. Die
olle der Vergewaltigu 2 ruſſiſchen Geistesleben. — Die
des Ruſſen, ein anderes Erlebnis als das ſeinige gelten zu laſſen. —
Verhaͤltnis von Subjektivismus Zu Materialismus und
Die Rolle des Pſychologiſchen im ruſſiſchen Geiſtesleben. — Das dem
denkenden Ruſſen fehlende Verſtaͤndnis für die Verpflichtungen der Ge
danken untereinander. — Das Sophiſtiſche im ruſſiſchen Denken
222 ier haben wir die letzten heilbringenden und Unendliches verſprechen⸗
Inventar der den Tendenzen derjenigen Richtung der ruſſiſchen Seele (ihrer Reigung,
Rufen außerhalb der Wirklichkeit zu leben), die es ihr allein ermöglichte, ſich mit
dem uͤber dem ganzen ruſſiſchen Leben laſtenden Zwang abzufinden, ohne
durch das Bewußtſein feines Vorhandenſeins geiſtig gelaͤhmt zu werden.
Das heißt natürlich die ruſſiſche Seele gewoͤhnte ſich an ein Leben jenſeits
der Wirklichkeit außerhalb ihrer ſelber, und das heißt endlich, da doch die
Menſchenſeele irgendwo leben muß, an ein Leben ganz innerhalb ihrer
eigenen Wirklichkeiten. Schrankenloſer Subjektivismus waͤre demnach das
eigentliche geiſtige Schickſal Rußlands. Das iſt auch im großen und ganzen
der Fall. Es bleibt nur eine Einſchraͤnkung zu machen: Zweifellos zeigen
die Seeleninhalte einzelner Menſchen weitgehende Übereinftimmung, wenn
es ſich um eine Menſchenmehrheit handelt, die ſolchen gemeinſamen Schick⸗
ſalen unterworfen ward, die an ſich tief und elementar in ihr Seelenleben
eingreifen (der Vorſtellungskreis erhaͤlt da dieſelben Elemente in dem,
was ihn beſtimmt, und auch die Willensrichtungen werden die gleichen:
unter dem Einfluß derſelben Elementarbeduͤrfniſſe). Nun waren alle Ruſſen
durch die Schule des Zwanges gegangen, und, um ihn zu vergeſſen, den
Wirklichkeiten des Innenlebens zugewendet worden, ihre Wuͤnſche wurden
42
N .
22 e
.
*
mithin in gleicher Weiſe auf Beſeitigung des Zwanges gerichtet, und fie
entnahmen die ſie hier zurechtweiſenden Vorſtellungen derſelben Wirklich⸗
keit. Es mußte demnach eine weitgehende Übereinftimmung zuſtande kom⸗
men im geiſtigen Rußland in Denkweiſe, Vorſtellungsinhalt und Willens⸗
richtung (wobei wir völlig ununterſucht laſſen, ob wirklich dem ruſſiſchen
Volke ein jo großer Mangel an natürlicher geiſtiger Verſchiedenheit eignet:
das wird niemals zu beweiſen ſein). Tatſache iſt jedenfalls, daß der ſo in
Rußland großgezogene zußerſte Subjeftivismus verblüffend wenig in den
Tendenzen des ruſſiſchen Geſellſchaftslebens in aͤußere Erſcheinung tritt.
Mirgends ſcheint ja größerer Geiſteskommunismus zu walten, und nirgends
waltet aufrichtigerer Wille zu ihm. Das aber hat wiederum zur Folge —
und hier ſtehen wir endlich vor dem eigentlichen geiſtigen Verhaͤngnis Ruß⸗
lands —, daß der tatſaͤchlich ſchrankenloſe Subjektivismus des Ruſſen immer
und überall für feine Außerungen den Anſpruch abſoluter ſachlicher Be:
rechtigung und Gultigkeit erlebt bzw. geltend macht. (Ganz ehrlich aͤußert
ſich das in Michailowſkys Forderung nach einer ſubjektiven Wiſſenſchaft:
Sein nie ruhender und ſtets aufrichtiger Drang nach Selbſterkenntnis, bei
abſolutem Unterworfenſein feiner Gedanken unter feine Wuͤnſche, geſtattet
| es eben dem Ruſſen, bis ganz haarſcharf an ſolche Erkenntniſſe heranzu⸗
gehen — ohne fie dabei zu berühren — die alle Vorausſetzungen feines
Gedankens zu Fall bringen müßten — und auch das iſt ſehr charakteriſtiſch
für das ruſſiſche Denken.) Um dieſen Anſpruch des ruſſiſchen Subjektivismus
auf fachliche Berechtigung ganz zu begreifen, müffen wir die furchtbare ruſ⸗
ſiſche Wirklichkeit vor Augen haben und dabei weiter in Betracht ziehen, daß der
objektive Gultigkeit beanſpruchende ruſſiſche Subjektivismus ſich vornehm⸗
lich äußert in allgemeinen Anſchauungen, und gerade in ſolchen über die end⸗
gültige Beſeitigung der ſozialen Nöte Rußlands und der ganzen Menſchheit.
as find zweifellos Momente, die das rein Subjektive im Denken des Die da baer cr.
ſſen wirlſam verhülfen (ihm ſelber und feinen Kritikern). Sie wirken Latten dr ver
eben rein pſychologiſch: Die moraliſche Zuſtimmung zu dem ſich hier kund⸗ an a
gebenden Willen einerſeits, andererſeits die Zweifelloſigkeit des Ubels, das
er befämpfen will, nehmen — wenigſtens dem derſelben Wirklichkeit unter⸗
worfenen ruſſiſchen Kritiker — allzu leicht den Glauben an ſeine Berech⸗
tigung, hier überhaupt rein verftandesgemäß bis auf den Grund zu gehen.
Das iſt ja überhaupt — wir werden darauf noch oft zuruͤckkommen muͤſſen —
das Verhaͤngnisvolle an den geiftigen Irrtümern Rußlands, daß ihrer Hei⸗
lung ſich immer wieder die ruſſiſche Wirklichkeit entgegenſtellt, die ſo un⸗
43
bezwingliche Beduͤrfniſſe in unſerem Gemüt wachruft und damit ſo unab⸗
weisbare Forderungen an unſern Willen ſtellt, daß unſere denkende, not⸗
wendig der Wirklichkeit kühler gegenuͤberſtehende Seite dabei ſehr leicht die
Billigung unſerer Geſamtperſoͤnlichkeit einbüßt: jene Gefühlsbetonung, die
ihr allein den Vorrang gewaͤhrt unter den um den engen Bewußtſeinsraum
ſich gleichzeitig draͤngenden Vorſtellungen. Dieſe naheliegendſte Fehler⸗
quelle darf niemand außer acht laſſen, der ſich irgendwie mit dem Thema
Rußland beſchaͤftigt, vor allem aber wer dem geiſtigen Rußland nachgeht.
Denn der hier allherrſchende ſchrankenloſe Subjektivismus erſchleicht ſich
eben auf dem ewigen Hintergrunde einer ganz unertraͤglichen Wirklichkeit,
die an alle ſittlich wollenden Geiſter in uns appelliert, in tauſend wechſeln⸗
den Masken — wobei das abſichtliche Beunruhigen unſeres ſozialen Ge⸗
wiſſens nicht die geringſte Rolle ſpielt — unſer blindes Wohlwollen, zum
mindeſten unſer duldſames Schweigen. Wir muͤſſen aber gerade hier hart
ſein gegen uns ſelber und taub gegen alle Verdaͤchtigungen von außen und
alle möglichen Zweifel in unferem Inneren — Rußland wendet ſich über:
haupt, man mag es anfaſſen wo man will, unmittelbar an unſer Gewiſſen,
deshalb kommt man ihm auch ſo ſchwer kritiſch bei — denn nur von hier
aus, wenn wir ruͤckſichtslos Hand anlegen an ſeinen, all ſein Geiſtiges ver⸗
giftenden Subjektivismus, waͤre Rußland uͤberhaupt geiſtig zu heilen. Gei⸗
ſtige Heilung iſt aber gerade für Rußland ein jo unabwendbares Bebürfnis,
weil wohl in keinem andern Lande — das liegt an der Dringlichkeit ſeiner
Beduͤrfniſſe und dem inneren Drang des Ruſſen, jede Erkenntnis auch ſo⸗
gleich unmittelbar mit ſeinem Handeln in Einklang zu bringen (und daraus
ſpricht durchaus nichts eng Utilitariſches, weit eher ein feines Selbſtachtungs⸗
beduͤrfnis) — geiftige Irrtümer derart und fo unmittelbar menſchenquaͤlend
werden. Daß ſie das aber gar ſo leicht in Rußland werden, wird wiederum
deshalb uͤberſehen bzw. für etwas völlig Nebenſaͤchliches gehalten, weil ſich
eben der ruſſiſche Gedanke vornehmlich um die Beſeitigung der Volksnot
dreht, und zwar durchaus in dem Sinne eines endguͤltigen und allgemeinen
Menſchenheils. Dem Gedanken des Ruſſen eignet ja an ſich ein Hang zum
Abſoluten, der in merkwuͤrdigem Gegenſatz ſteht zu feinem eben erwähnten
Drang, jede theoretiſche Erkenntnis auch ſogleich ſchon in Einklang zu bringen
mit ſeinem perſoͤnlichen Handeln.
Die Rolle der rlich verliert ein Gedanke niemals dadurch feine Subjeftivität, daß
en er das Schickſal der Allgemeinheit zum Inhalt nimmt. Im Gegenteil!
Geiliesleden Gerade hier ift weiteſtes Spielfeld für die intimſten Ahnungen und Bevor⸗
44
|
zugungen bes ungereinigten Ichs: Wir alle leben uns ja zu einem jehr
Teile aus in unferer rein geiftigen Anteilnahme an dem Geſchehen
außerhalb von uns, ja es ſcheint ſogar, daß wir hier unſere eigentlichen
Lebensanreize ſchoͤpfen, den eigentlichen zureichenden Grund finden, ein
perſoͤnlich unglückliches Leben überhaupt fortzufegen. Hin zukommt, daß ein
Gedanke feine Subjektivität erſt fühlbar macht in der Art wie er anderen
dargebracht wird. Und die ruſſiſchen Gedanken find eben immer für alle
beftimmt — ſchon deshalb, weil fie ja meiſt das Schickſal aller zum Inhalt
haben. Darum erblickt auch die geiſtig fuͤhrende Schicht Rußlands, die Intel⸗
ligenz, ihren Beruf in ununterbrochenem Lehren, Aufflären („Entwickeln“,
wie ſie das nennt). Und darum iſt auch ihre Art zu belehren das typiſche
Beiſpiel geiſtigen Vergewaltigens: Sie iſt das zunaͤchſt einmal ſchon des⸗
halb, weil der Unterweiſende dem Schüler beibringen will, daß einem Ge:
danken Allgemeinguͤltigkeit zukomme, der durchaus nicht an ſich unmittelbar
einzuſehen iſt. Und natürlich kann eine ſolche Beweisfuͤhrung mangels ob:
jektiver Begruͤndungsmoͤglichkeit ſich nur an die Perſon des zu Belehrenden
wenden. Verachtungsandrohung ſpielt denn auch überall die Hauptrolle —
auch in der geſamten ruſſiſchen Publiziſtik. Der dabei ewig wiederholte Trick
it der, daß aus dem Nichteinverſtandenſein mit einer Anſchauung davon,
wie das Heil des Volkes erreicht werden koͤnne, auf den fehlenden Willen
geſchloſſen wird, daß es erreicht werden ſolle. Ein logiſcher Elementar⸗
ſchnitzer, der aber das ganze intelligente Rußland durchſeucht! Wir werden
darauf noch eingehend zuruͤckkommen. In dieſem Zuſammenhange ſei nur
noch darauf hinge wieſen, daß, wenn wir auch einmal gar nicht an die un:
gehemmte Möglichkeit für den fo Lehrenden denken, mit allem feinem un:
gebändigten Subjektivismus das intellektuelle Gewiſſen feines Schülers zu
faͤlſchen, letzterer auch eine geiftige Verſtuͤmmelung allein ſchon dadurch er⸗
fährt, daß er etwas rein Perſoͤnliches für allgemein gültig anzuerkennen
gezwungen wird. Tatſaͤchlich ift jo auch große Verwirrung eingetreten in
den geiſtigen Begriffen, vermittels deren er ſich in der Wirklichkeit zurecht⸗
finden muß, und zwar in dem fuͤr ihn wichtigſten Teil von ihr, in der Wirk⸗
lichkeit in ſeinem Innern.
*
len wir kurz den Zuſammenhang: die Gewöhnung an den Die Untänigteit
die Notwendigkeit, dem Bewußtſein feines Vorhandenſeins
das geiſtig Laͤhmende zu nehmen, brachte den Ruſſen dazu, fein eigentliches
Leben außerhalb der Wirklichkeit zu führen, in feiner Wunſchwelt. Bei der
notwendigen Gleichheit der ruſſiſchen Wünſche, die alle eine den elemen:
45
des Rufen, eta
anderes Ertctats
ale das
weiten m
taren Beduͤrfniſſen der Menſchenſeele entſprechende Umgeſtaltung derſelben
ruſſiſchen Wirklichkeit zum Inhalt haben, entging der ſo großgezogene Sub⸗
jektivismus der Erkenntnis ſeines eigentlichen Weſens, und der Ruſſe ge⸗
woͤhnte ſich daran, den Anſpruch auf Allgemeinguͤltigkeit feiner Außerungen
zu erheben. Das gilt zunächft und bewußt überhaupt nur von dem eigent⸗
lichen ruſſiſchen Gedanken, der immer irgendwie die Beſeitigung der ruſſi⸗
ſchen Volksnot zum Inhalt hat. An die Propaganda dieſer Gedanken knuͤpft
ſich die urfprüngliche, typiſche und wenigſtens zweckbewußte — wenn auch
in ihrem eigentlichen Weſen unerkannte — Geiſtes vergewaltigung (wobei
freilich auch mit gutem Recht geltend gemacht werden kann, daß es ſich hier
auch um unbewußte Nachahmung des die ganze ruſſiſche Wirklichkeit be⸗
herrſchenden Zwanges handeln kann). Indes geht der ruſſiſche Subjektivis⸗
mus noch viel weiter — und da ſtehen wir denn auch am Urquell allen
ruſſiſchen Mißverſtehens Weſteuropas und aller Hemmniſſe, die einem Ver⸗
ſtuͤndnis mit ihm entgegenſtehen: Der Ruſſe iſt eben überhaupt außerſtande,
anzunehmen, daß jemand ein weſentlich anderes Erlebnis haben koͤnne als
er, ſei es ganz im allgemeinen, ſei es irgendeinem und demſelben Anlaß
gegenüber. Und das betrifft wiederum den ganzen Umkreis des Erlebniſſes:
Denken, Fuͤhlen und Wollen. Nur ſo erklaͤrt ſich die Unbedenklichkeit, mit
der der Ruſſe aus den Handlungen auf Geſinnungen, aus Überzeugungen
auf Willensrichtungen ſchließt und dabei mit einer Unbedenklichkeit zu Ver⸗
leumdungen ſchreitet — man denke an die ruſſiſche Publiziſtik: Tolſtoj iſt
hier der Ruſſe —, die um fo mehr erſchuͤttert, als es ſich dabei faſt ſtets um
Menſchheitsideale handelt, und die doch eigentlich zu geiſtiger Reinlichkeit
verpflichten muͤßten! Es bleibt aber eine der unleidlichſten Eigenſchaften
des ruſſiſchen Idealismus, daß er ſich ſo durchaus berechtigt glaubt, bei dem
wirklichen oder vermeintlichen Gegner die allerſchlechteſten Motive anzu⸗
nehmen und hierbei erweiſt ſich ſeine ſonſt ſo e
noch als aͤußerſt primitiv. Will man demgegenüber nicht an der Aufrichtig⸗
keit des ruſſiſchen Idealiſten zweifeln — und er ift tatſaͤchlich nie unauf⸗
richtig —, ſo muß man ſich immer wieder an ſeine Unfaͤhigkeit erinnern,
ſein perſoͤnliches Erlebnis nicht fuͤr das Erlebnis zu halten. Und man tut
gut dann auch gleich an die durch Selbſtbehauptungskaͤmpfe gegen jahr⸗
hundertelangen Zwang großgezogene Gewohnheit des Ruſſen zu denken,
außerhalb der Wirklichkeit, das heißt ganz in ſich ſelber zu leben: die ganze
Wirklichkeit dort zu ſuchen. Die eigentlich fruchtbare Reibung mit andern
Ichs iſt aber doch wohl nur in der Wirklichkeit da draußen moͤglich. Schon
46
Daraus geht übrigens hervor, wie jehe bie Durch den Deſpetismus bebingte
Hemmung des geſellſchaftlichen Geiſteslebens den unfeligen Subjektivismus
des Ruſſen noch beftärft haben mag.
er verträgt ſich an fid mit gar feiner andern Anſchauung von der Das age,
| außermenſchlichen Welt als der materialiſtiſchen: für alles Nicht Ich ga m Nackt.
bat er ja nichts als mechaniſche Erklarung. Die dient dem Subjektiviſten Ferne,
gerade dazu — und nur durch fie kann er das —, zum — a
gen, daß nirgends etwas anderes gelten darf, als fein perſoͤnliches Erleb⸗
nis. Was ſeinem eigentlichen Weſen nach außerhalb von ihm liegt, alſo die
Dinge der Außenwelt, an denen iſt denn auch weiter gar nichts als das,
was ſich meſſen und waͤgen läßt. Völlig unvertraͤglich mit jedem lenden
loſen Subjektivismus iſt jedenfalls eine idealiſtiſche Weltanſchauung: denn
ihr Bekenner erlebt ja ein von der eigenen Perſon verſchiedenes Subjekt
hinter den Dingen, das ſich in ihrem Zuſammenhang offenbart, und dem⸗
entſprechend — um überhaupt eine Beziehung zum idealiſierten All zu
haben muß er auch in ſich ſelber ſachlich feſtſtehende, d. h. nicht ihm allein
gehörige, Elemente anerkennen (ein für allemal als gültig erlebte Impera⸗
tive). Es iſt dies ein ſehr wichtiges, und im Grunde genommen aͤußerſt
leicht einzuſehendes Moment zum Verſtaͤndnis jenes elementaren Wider⸗
ſtandes, den der ruſſiſche Intelligent jeder Aufklaͤrung ſeines tief in ihm
ſitzenden Materialismus entgegenſetzt. Denkgewohnheiten erweiſen ſich eben
immer als ftärfer als der logiſche Zwang erkannter Zuſammenhaͤnge; in den
Denlgewohnhe den niſteten ſich ja alle geiſtigen Bedürfniffe ein, und von ihnen
geht wiederum der eigentliche Widerſtand aus gegen die Anerkennung un⸗
abweisbarer Zuſammenhaͤnge. Die geiſtigen Beduͤrfniſſe des intelligenten
Ruſſen find aber — wir wiederholen es — ausgeſprochen dogmatiſcher Art:
gegenüber dem furchtbaren Elend feines Volkes muß er an eine moͤgliche, und
balbmögliche, und darum mit einfachen Mitteln herbeizufuͤhrende Erlöfung
glauben. Gerade hier erkennen wir zum Greifen deutlich den eigentlichen Ur⸗
ſprung des geiſtigen Elends Rußlands in der jahrhundertelangen Gewoͤhnung
der ruſſiſchen Seele, außerhalb der Wirklichkeit zu leben. Darin aber lag
wiederum die einzige Möglichkeit für fie, geiſtig⸗ſittlicher Lähmung zu ent⸗
gehen. Wir erkennen mithin auch hier wie wir es ſchon weiter oben in Hin⸗
ſicht auf das Verhältnis Rußlands zu Weſteuropa feſtſtellten — das typiſche
Kulturſchickſal Rußlands darin, daß es, um ſich überhaupt erhalten zu
konnen (auch in feiner geiſtig⸗ſittlichen Individualität) — gewiſſen Schp⸗
digungen gar nicht entgehen konnte, Schädigungen, die dabei auf anderen
47
Gebieten jeines&ihausichens und im weiteren Verlaufe feiner Geſchichte zu
Vorzügen wurden und ſchließlich im ganz großen Kulturzuſammenhang Ruß⸗
land eine ſehr wichtige und heilſame Rolle eines Kulturkorrektors zuweiſen.
Die Neue des Moch ſei ganz kurz darauf hingewieſen, daß, wenn ein naiver Subjek⸗
—— — tivismus fuͤr die Welt außerhalb der eigenen Perſon gar keine andere
Resieten als eine rein materialiſtiſche Erklaͤrung zulaͤßt, er damit nur darum aus:
kommt, und ihm nur deshalb die Unzulaͤnglichkeit dieſer Auffaſſung entgeht
(ihre Unfaͤhigkeit, auch nur die beſcheidenſte Bewußtſeinstatſache zu er⸗
klaͤren), weil eben das bewußte gedankliche Moment in den wahrgenom⸗
menen Dingen als etwas derart Primäres, Urſpruͤngliches, Selbſtverſtaͤnd⸗
liches erlebt wird, daß es außerhalb aller Beachtung bleibt. So erklaͤrt es
ſich denn auch, daß jede materialiſtiſche Weltanſchauung in hohem Maße
pſychologiſch gefärbt iſt, in den meiſten Fällen, und letzten Endes überall
da, wo ſie behauptet wird, uͤberhaupt nur eine maskierte pſychologiſche
Weltauffaſſung darſtellt. (Typiſch hierfuͤr iſt der hiſtoriſche Materialismus
von Karl Marx.) Es iſt durchaus kein Zufall, daß die Pſychologie als Wiſſen⸗
ſchaft erſt in den Zeiten des naturwiſſenſchaftlichen Materialismus entftand,
was leider immer noch in ihrem Wiſſenſchaftsbetrieb recht ſpuͤrbar iſt. Viel⸗
leicht beſteht hier eine elementare Wechſelwirkung: in dem Sinne, daß
einerſeits die Pſychologie zur notwendigen Abgrenzung ihres Gebietes der
materialiſtiſchen Erklaͤrung der außermenſchlichen Welt bedarf, und daß an⸗
dererſeits eine ſolche Erklarung an ſich bei ihrer kosmiſchen Beſchraͤnktheit das
Beduͤrfnis nach Pſychologie wiederum aufs hoͤchſte fteigert. Der Ruſſe, vor
allem der intelligente Ruſſe, ift nun aber der geborene Pſychologe in einem
ſolchen Maße, daß ihm alles der pſychologiſchen Deutung Unzugaͤngliche
faſt zweifelhaft erſcheint, daß er an der Wahrheit oft nur deshalb voruͤber⸗
geht, weil ſie ihm zu einfach waͤre. Dabei finden ſich in den großen geſchicht⸗
lichen Schickſalen Rußlands (vor allem Deſpotismus und Leibeigenſchaft)
an ſich ſo außerordentliche Veranlaſſungen dazu, den Ruſſen notgedrungen,
um feiner nackten Lebenserhaltung wegen, zu einem virtuoſen Pſychologen
auszubilden (allein ſchon dadurch — und damit kehren wir zu unſerem Aus⸗
gangspunkt zurüd —, daß er gezwungen ward, in einem Leben außerhalb
der Wirklichkeit zu leben), daß es uns in dieſem Zuſammenhange ſogar
ſchon genuͤgen muͤßte, nur darauf hinzuweiſen, daß materialiſtiſche Welt⸗
anſchauung und Hang zur Pſychologie ſich keineswegs ausſchließen. Tat⸗
ſaͤchlich bedingen ſie einander und ſtammen beide aus derſelben Wurzel:
aus naivem Subjektivismus, und das ſo ſehr, daß ſelbſt der ſtrengſte wiſſen⸗
48
Br lane Pſpchologe, wenn et überhaupt zu irgendwie greifbaren Ergeb:
niſſen gelangen will, annehmen muß, objektiv zu erleben, daß er gezwungen
it, bewußt den Fehler des naiven Subjektivismus zu begehen.
ch eine andere geiſtige Eigentuͤmlichkeit des Ruſſen findet hier und
bier ihre Erklarung: die große Leichtigkeit, mit der er unauegleich⸗
bare Widerſpruͤche in feinen Anſchauungen und ganz unmoͤgliche Inkonſe⸗
quenzen in ſeinem Handeln verträgt, ohne darunter zu leiden, ja ohne dat
auch nur zu bemerken, ja, wenn er es zufällig bemerkt, ohne ſich überhaupt
dafur zu intereſſieren. Dieſe Eigenart durchzieht das geiſtige Rußland bis
is feine höchſten Spizen. Es iſt das Moment in ihm, das uns am meiſten
vor den Kopf ſtoͤßt, und die Wirkungen am meiſten hemmt, die von ihm
ausgehen koͤnnten: Es fehlt mit einem Worte dem Ruſſen in hohem Maße
das Verſtaͤndnis für die Verpflichtungen der Gedanken untereinander: für
a die Logik, die der Menſch in ſeinen Außerungen allein ſchon deshalb walten
laſſen muß, damit der Mitmenſch nicht ratlos vor ihm ſtehe. Nun kann man
ja einwenden, daß das eine moraliſche — keine rein geiſtige Sorge ſei —
und auch der Zuſammenhang mit dem Künftlerifchen im ruſſiſchen Naturell
it hier ganz deſonders naheliegend. — Allein zunaͤchſt kann dieſer Ent
laſtungsgrund nicht gelten für die ruſſiſche Publiziſtik, und gerade die wird
uns Europäern vielfach völlig ungenießbar durch die ewig wechſelnden Maß⸗
ſtaͤbe und inneren Widerſprüͤche typiſch find hier die theoretiſchen Schrif⸗
ten Tolſtojs. Und dann wirken doch auch Kunſtwerke — Dichtungen — auch
tein menſchlich, und hiervon iſt ſicher ihr dauernder Eindruck abhängig. Der
beruht doch zu allerletzt auf den ideellen Beziehungen des Leſers zum Autor
und wird zweifellos geftört, wenn der, wie es zum Beiſpiel für Tolſtoj und
Doſtojewſti faſt typiſch iſt, eben erſt himmliſche Worte einer Alliebe aus⸗
ſprach, in der aber auch gar kein Plaͤtzchen mehr iſt fuͤr etwas außerhalb der
Liebe, und wir dann wenige Zeilen weiter ſtaunend erfahren, daß derſelbe
Autor noch immer haſſen kann, und noch wie! Das bringt Doſtojewſki und
Tolſtoj und zahlloſe andere um ihre Hauptwirkungen bei uns. Der Ruſſe
ſelber empfindet das gar nicht. Er iſt eben jo gewöhnt, ganz nur in feiner
Innenwelt zu leben, nur hier die Wirklichkeit zu erleben, alle ſeine Erleb⸗
niſſe wurzeln derart in ihrem Urgrund, eben im Ich, daß er ihnen ſelber
gar lein Eigenſein zuzugeſtehen vermag, alſo auch keine, von dem ſie Er⸗
lebenden geſonderten, unabhängigen Beziehungen zueinander. Tolſtoj,
bewußteſte aller Rufien, ſpricht auch das einmal völlig deutlich aus:
„Krieg und Frieden“, bei der Schilderung von Platon Karatajeff, —
Nesse, Arundlagen det arifigen Ruplands 49
le
einfachen ruſſiſchen Soldaten, der Pierre zum Vorbild ward. Ihm habe,
fo heißt es da, jedes Verſtaͤndnis gefehlt, nicht bloß für einzelne Worte,
vielfach ſogar fuͤr ganze Saͤtze feiner Reden, wenn fie aus dem Zuſammen⸗
hang herausgenommen wurden: das alles habe ſich bei ihm ganz von ſelber
ergeben, es ſei ſo natuͤrlich ſeinem Geſamtweſen entfloſſen, wie der Duft
der Blume entſtroͤmt.
1 och ſei endlich auf eine Folge des naiven Subjektivismus des Ruſſen
"Denten & Maufmerkſam gemacht, die wenig beachtet wird, aber in ſehr hohem Maße
die geiſtige Auseinanderſetzung mit ihm erſchwert. Es liegt im Weſen der
Denkungsweiſe des Ruſſen — gerade eben in ſeinem naiven Subjektivis⸗
mus —, daß er auch ſeine objektive Zuſammenhaͤnge betreffenden Denk⸗
ergebniſſe mit einer Leidenſchaft verteidigt, als ob es ſich um Stucke feiner
Perſoͤnlichkeit handle — was ja auch bei dieſer Denkweiſe wenigſtens in
viel hoͤherem Grade der Fall iſt, wie bei der eines kritiſchen, aufgeklärten
Denkers, der die Wahrheit uͤber das Subjekt ſtellt, das ſie ſieht. Bei dem
in den Lüden der ruſſiſchen Geiſtesgeſchichte bedingten Mangel an Denk⸗
ſchulung, an Tradition darin, fehlt es dabei dem ruſſiſchen Denken an eigent⸗
lichen Waffen. So verfällt denn, bei der großen Intereſſiertheit des ruſſiſchen
Denkers an ſeinen Ergebniſſen — die ganze ruſſiſche Verwundbarkeit ſpricht
hier mit — der denkende Ruſſe ganz von ſelber auf alle die typiſchen Sophis⸗
men, uͤber die wir aus der antiken Sophiſtik ſo gut aufgeklaͤrt ſind. Dabei
werden dieſe Gedankenbetruͤge vom Ruſſen voͤllig aufrichtig vollzogen:
Seine intenſive Intereſſiertheit fuͤr das ſo verteidigte Ziel macht ihn eben
blind fuͤr die Bedenklichkeit der Verteidigungsmittel. Er kommt gar nicht
auf den Gedanken, ſie an ſich zu kritiſieren, und was beſonders charakteriſtiſch
iſt für das ruffifche Denken — und z. B. bei Tolſtoj geradezu in Verzweif⸗
lung ſetzt —: ftößt er einmal zufällig auf das Unmoͤgliche feiner Methode,
fo intereſſiert ihn das fo wenig, daß er mit einer oberflächlichen Ablehnungs⸗
gebaͤrde voruͤbergeht. Man kann mühelos aus ein paar Zeilen der kritiſchen
Schriften Tolſtojs — in denen Saͤtze vorkommen, die drei bis fuͤnf Trug⸗
ſchluͤſſe enthalten — alle typiſchen Methoden der griechiſchen Sophiſtik ab⸗
leiten, die von den Tagen der Antike an in der ganzen Welt dieſelben ge⸗
blieben ſind. Wer ſich mit ruſſiſcher Publiziſtik befaßt — ſelbſt ſolcher vor⸗
nehmſten Charakters: das Schriftſtellertalent iſt hier oft ſehr groß, aber
mehr noch wie anderswo ein Laſter — der ſollte die typiſchen Sophismen
wohl vor Augen haben. Ich erwaͤhne hier nur die zwei fuͤr den ruſſiſchen
Schriftſteller allercharakteriſtiſchſten: die ganzen Beweisfuͤhrungen Tolſtojs,
50
wenn er etwas abtun will, beruhen auf ifnen: 1. Man koordiniert die Sache,
Tie men aburteilen will, als gleichartig mit elner ganzen Reihe von Dingen,
die zweifellos zu verneinen find, mit denen fie aber, wenn überhaupt, fo
nur rein äußerliche Ahnlichkeit hat: indem nun die tatfächlich zu tadelnden
Glieder der Reihe mühelos abgetan werden, glaubt man das ihm will:
kuͤrlich Gleichgeſetzte mitabgetan zu haben. So bringt es zum Beiſpiel Tolſtoj
fertig, den braven Renan, der fein Leben lang wie ein Priefter lebte, für
intereſſiert zu erklaren „an dieſer Welt der Galgen und Bordelle“. 2. Die
andere der hier vorherrſchenden ſophiſtiſchen Methoden iſt nur ſcheinbar
feiner: Man führt Momente an, die für eine Sache ſprechen, die man felber
verneint, und behauptet alle hier moglichen Momente anzuführen, waͤhlt
aber tatſͤͤchlich nur ſolche, die man kinderleicht widerlegen kann (und die
zum Teil auch gar nicht hierher gehören), und läßt nur das eine aus, das
alle Gegengründe zu Fall bringen muͤßte. So bringt es Tolſtoj fertig, zu
beweiſen, jede Erziehung ſei Zwang, da der Lehrer aus folgenden Motiven
lehre: um fein Wiſſen zu zeigen oder um den Schüler zu einem Menſchen
zu machen, wie er iſt, d. h. aus perſoͤnlichem Ehrgeiz. Das Hauptmotiv
des normalen Lehrers bleibt dabei unerwaͤhnt: die Liebe zum Schüler, die
ihn wünfchen läßt, ihn zu einem beſſeren Menſchen zu machen, wie er ſelber
fi vorkommt. Daß derartige Gedankenſchluͤſſe auch bei hoͤchſten ethiſchen
Zuſammenhaͤngen angewendet werden, und vornehmlich da, beweiſt eben,
daß ſie unbewußt geſchehen, und das iſt wiederum bloß aus dem aͤußerſten
des ruſſiſchen Denkers zu erklaren, dem das Ziel der Ver:
teidigung ſo wichtig iſt, daß alle perſoͤnlichen Leidenſchaften dabei aufs Feld
treten, und der arme Gedanke vergewaltigt wird, ohne daß ſeine Peiniger
es ahnen.
Ein noch verhältnismäßig harmloſes Verteidigungsmittel des ruſſiſchen
Gedankens, nicht einmal ein eigentlich unerlaubtes, wohl aber ein ſolches,
das eigentlich jede ſachliche Kontroverſe mit ihm ausſchließt, beſteht darin,
daß er die Dinge, uͤber die man gerade handelt, in derartig weite Zuſam⸗
menhaͤnge verſetzt, daß man gar nichts mehr von ihnen faſſen kann; und
dann glaubt der Ruſſe über jedem Angriff zu ſtehen! Auch dieſer Radikalis⸗
mus im ruſſiſchen Denken erklaͤrt ſich einwandfrei aus feiner unloslichen
Bereinigung mit einer uͤberempfindlichen Perſon, die um alles in der Welt
den Möglichkeiten zu neuen Verwundungen entgehen will. Nur det halb
wird der Streit ſofort in den luftleeren Raum verlegt, ſobald der Gedanke
in Gefahr iſt, und dann wird dogmatiſch jede Moͤglichkeit geleugnet zu groͤ⸗
1* 51
ßeren und kleineren Annäherungen an die Wahrheit. Man beſteht einfach
auf der abſoluten Wahrheit da, wo dem Weſen der Sache nach nichts zu
erreichen iſt als größtmögliche Wahrſcheinlichkeit, und man will gar nicht
begreifen, daß bereits dieſe ſehr große Pflichten auferlegen kann, und des⸗
halb immer nur mit hoͤchſter Gewiſſenhaftigkeit erſtrebt werden muß. Der
Ruſſe will alles oder nichts, auch da, wo man ſehr wohl etwas haben koͤnnte.
Man hat dieſen ruſſiſchen Radikalismus auf die Bequemlichkeit der Ruſſen
zurüdführen wollen. Das geht aber wohl nicht an, es ſei denn, daß man
in dieſer Bequemlichkeit nichts anderes erblickt als das Ausruhebebürfnis
einer ewig verletzten Seele. Wenn der ruſſiſche Radikalismus — der dog⸗
matiſch genannt werden muß, weil er Evidentes leugnet — tatfächlich dem
Verlangen des Ruſſen entſpringt, möglichft vor Verwundungen gewahrt
zu werden, und es ſcheint wirklich ſo, ſo geſchieht das ſicherlich unbewußt:
Der Ruſſe trennt nun einmal niemals feinen Gedanken über eine gewiſſe
Entfernung hinaus von ſeiner Geſamtperſoͤnlichkeit, von ſeinem Fuͤhlen und
Wollen und er iſt nun einmal ſehr empfindlich — dazu mußte ihn ſchon fein
geſchichtliches Schickſal machen, und darum iſt er auch ein fo großer Kuͤnſtler.
5. Der kuͤnſtleriſche Realismus des Ruſſen
(Als unmittelbare Folge ſeines extremen Subjektivismus)
Die Überlegenheit des ruſſiſchen über den weſteuropaͤiſchen Realismus. —
Die Entwicklungsbedingungen der ruſſiſchen Kunſt. — Die Rolle der ruf
ſiſchen Kirche in der kuͤnſtleriſchen Betätigung der Nation
— ieſer extreme Subjektivismus des Ruſſen (deſſen Urſprung wir eben
BE. erſt in feiner Gewoͤhnung an die Welt des Zwanges erkannten) ift
eropäiaen Re nun feiner eigentlichen Natur nach ein mächtiger Förderer jedes künſtleri⸗
ſchen Sichauslebens. Und gerade dadurch, daß er, unter völligem Verkennen
ſeines eigentlichen Weſens, mit dem Anſpruch auf Allgemeinguͤltigkeit auf⸗
tritt. Tatſaͤchlich iſt das ja die fuͤr jeden geſtaltenden Kuͤnſtler notwendige
Selbſttaͤuſchung: Er muß — wenigſtens bis zu einem ganz beſtimmten
Grade — überzeugt fein von der objektiven Gültigkeit ſeiner rein perjön-
lichen Anſchauung. Seinen naiven Ausdruck findet dieſer kuͤnſtleriſche Selbſt⸗
betrug in den Worten „Realismus“ und „Naturalismus“. Mit ihnen ſoll der
Eindruck erweckt werden, als laſſe der Kuͤnſtler bloß die Dinge ſelber reden.
52
Du ber in ger leine Migligteit befteht, irgendeine Grenzlinie zu
ziehen, wieweit in einem Eindruck von einem Ding ſich dieſes ſelber äußert,
und wo die geiſtige Zutat, die Umformung des Nachzugeſtaltenden, zu
Deutenden beginnt, ſo ſind dieſe Worte Realismus oder Naturalismus (auf
dem Gebiete der darſtellenden Kunſt: Impreſſionismus) nur Wortſpiele —
und es kommt tatſaͤchlich darauf hinaus, daß der Kuͤnſtler in dem Beſtreben,
die Dinge allein reden zu laſſen, nur ſeine plumpſten Eindrüde von ihnen
wiedergibt: die elementaren Eigenſchaften der Dinge und primitive Pſycho⸗
logie der Menſchen. Das Ergebnis iſt dogmatiſche Oberflaͤchlichkeit, dog⸗
matiſche Verleumdung der Schöpfung: Verhaͤßlichung der Dinge und Ver:
tierung des Menſchen. (So gab es wohl nie einen frivoleren Verleumder
des Kosmos als Zola.) Hieraus allein ſtammt der üble Beigeſchmack der
Worte Realismus und Naturalismus. Das iſt wenigſtens das Schickſal des
Realismus in Weſteuropa geweſen. Der ruſſiſche Realismus iſt ihm himmel⸗
hoch überlegen: er bevorzugt weder das Haͤßliche, noch das Primitive. Er
iſt mit einem Worte weder oberflächlich noch roh. Und das kommt daher,
weil er nicht künftlich iſt: keine beabſichtigte, nur im Kunftichaffen bewußt
angenommene Stellung zu den Dingen zum Ausdruck bringt, d. h. nichts
Unnatürliches, feinen Zwang, den man ſich vor der Schöpfung antut. Der
ruſſiſche Realismus iſt vielmehr der dem Ruſſen ſelbſtwerſtaͤndliche Hin:
blick auf die Dinge, der ihm immer und uͤberall eignet. Wenn er die Dinge
geſtalten will, blickt er ſomit durchaus nicht anders auf ſie, als wenn er ſie
im praktiſchen Leben anſchaut und anſchauen muß, um ſie zu nutzen oder
ihnen auch nur aus dem Wege zu gehen. Der Ruſſe iſt inſtinktiver Kuͤnſtler,
weil er eben die Dinge durchaus durch das Medium feiner ganz perſoͤnlichen
Seele erſchaut und dabei felſenfeſt überzeugt iſt, fie fo zu erſchauen, wie
fie find. Daher kommt es denn auch, daß der ruſſiſche Künſtler — in ſeinen
großen Zeiten — alle Schlagwörter und Theorien in der Kunſt für find»
liche Spielerei von Nichtkünſtlern hielt.
dabei der ruſſiſche Kunſtler von jeher für einen Realiſten galt Die Entwid-
und er dem Realismus alles Anruͤchige nahm, ja ihn adelte und ihn —
wieder als die urſprüͤngliche Kunſtaͤußerung der Ariſtokraten erkennen ließ,
die ja nicht noͤtig haben, ſich ſelber durch die Dinge zu heben, und ſie darum
5 ſchlicht und einfach darftellen, das heißt nichts von dem Teil ihrer Perfön:
lichkeit in fie hineinlegen, der ſich nicht in allgemeine Werte umſetzen läßt,
rs und den man daher „ſubjektiv“ nennt), — fo liegt das einerſeits an feiner
großen natürlichen Aufrichtigkeit — und dadurch allein iſt er zum Künſtler
53
rg
er Tätern Kirche in
berufen —, andererſeits aber auch darin, daß die ruſſiſche Kunſt (auf allen
Gebleten außer der Architektur) außerhalb aller Protektion, und das heißt
allen Zwanges und jeder Notwendigkeit zur Ruͤckſichtnahme auf ihrem
eigentlichen Weſen fernliegende Zuſammenhaͤnge, heranwuchs. Es iſt dies
ein aͤußerſt wichtiges Moment, das man erft in allerletzter Zeit würdigt.
Und zwar handelt es ſich hier wiederum um ein typiſch ruſſiſches Kultur⸗
ſchickſal: ein ſolches, aus dem für Rußland felber vornehmlich Leiden her⸗
vorgehen, für Europa aber und die Kulturwelt maͤchtige Foͤrderung, ja
unentbehrliche Kulturkorrektion. Denn ſelbſtverſtaͤndlich ſetzt eine ſolche
Kunſtentwicklung ſyſtematiſche Kunftverfolgung, zum mindeſten Kunſtver⸗
nachlaͤſſigung voraus. Beides iſt denn auch bis in das 19. Jahrhundert
hinein durchaus in Rußland der Fall geweſen. Hinſichtlich der Wortkunſt
erklaͤrt ſich das unmittelbar aus dem deſpotiſchen Regiment — und ihm
verdankt der ruſſiſche kuͤnſtleriſche Realismus eine ganz beſtimmte Nuance
(von der gelegentlich des Deſpotismus noch die Rede ſein ſoll): er wird
durchaus in den Dienſt der freiheitlichen Propaganda und der Volksauf⸗
klaͤrung geſtellt, und damit kommt der einzige Zwang über die ruſſiſche
Kunſt, den fie kennt, der aber auch zentnerſchwer auf ihr laſtet: der des
Stofflichen, dem Selbſtwert zugeſchrieben wird —. Daß es auch, wie wir
bereits wiſſen, keine eigentlichen Städte in Rußland gab, mithin die ſtaͤdtiſche
Kultur fehlte, war ein weiteres Verhaͤngnis fuͤr die ruſſiſche Kunſt. Ihr
ſchwerwiegendſtes und viel zu wenig gewuͤrdigtes Verhaͤngnis bildet indes
die Haltung der ruſſiſchen Kirche bei der großen Kirchenſpaltung in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, dem ſog. Raskol. (Die ruſſiſche Kirche
nahm bekanntlich gegen die Raskolniki Partei und verkannte das aus dem
tiefſten Volksinnern Stammende dieſer Bewegung, in der tatſaͤchlich alle
geiſtigen und ſittlichen Kräfte der Nation nach Betätigung in ihrem Rahmen
drängten.)
ir werden noch eingehend zuruͤckkommen müffen auf dieſen unbegreif⸗
lichen Fehler der ruſſiſchen Kirche, der auch inſofern zu einem Ver⸗
Betätigung Der haͤngnis für die ganze ruſſiſche Kultur werden mußte, als erft von da ab,
der Mithilfe aller lebendigen Kraͤfte innerhalb der Nation beraubt, die
ruſſiſche Kirche ſich auf Gnade und Ungnade dem ruſſiſchen Staate uͤber⸗
antworten mußte, der ſie dann durch die Jahrhunderte hindurch zu Polizei⸗
zwecken erniedrigte und ihr jeden anderen als rein gefuͤhlsmaͤßigen Einfluß
auf das Volk verſagte. Noch unverſtaͤndlicher wird dieſer Schritt der ruſſi⸗
ſchen Kirche, wenn man bedenkt, daß es ſich hier tatfächlih um gar keine
54
Bedrohungen ihrer Lehre handelte, vielmehr nur um einige dußere Zere⸗
monien: des Schwoͤrens, ſich Bekreuzigens uſw. Sehr intereſſant ift dabei
der Urſprung: Es hatten ſich in der Überſetzung der urſprünglich grie⸗
chiſchen, auf die Zeremonien gerichteten Kirchentexte gewiſſe Zufäge von
erwieſen, deren Inhalt dem Volk teuer geworden war.
Statt ſie nun ruhig zu dulden, zumal die ruſſiſche Kirche ſonſt durchaus
deſpotiſch mit der von Byzanz umzugehen pflegte, beſtand der Patriarch
Mkon auf Herſtellung der urfprünglichen Texte. Hier ſetzte der grundſaͤtz⸗
liche Widerſtand des Volkes ein: es wollte ſich nicht dreinreden laſſen in
Beziehungen — auch den aͤußeren — zu ſeinem Gott. So nur iſt
der Raskol zu verſtehen in feinem verhängnisvollen Einfluß auf das ruſſiſche
Geiſtesleben. Nachdem aber einmal die offizielle Kirche auf den reinen
Autoritätsſtandpunkt getreten war, gingen beide Parteien gleich ins Ex⸗
treme: Die Raskolniki ſpalteten ſich in Sekten, deren ſozialer und religiöfer
Nadikalismus uns heute noch in Staunen ſetzt. Die Kirche aber unterdrüdte
von nun an jede irgendwie ſelbſtaͤndige Regung der Glaͤubigen: die Kirchen⸗
architektur, das Heiligenbild und die kirchliche Dichtung, welche gerade ſehr
ſchoͤne Anläufe gemacht hatten zur Emanzipation von Byzanz, wurden auf
ſtarre Formen feftgelegt. Es bleibt nebenbei gefagt noch immer bewunderns⸗
wert, was erſtere auch in dieſen Feſſeln leiſtete — es iſt da wirklich viel zu
lernen: wir denken nur an die wundervolle Mannigfaltigkeit der vierhundert
Kirchen Moskaus — allein der freie Kunſttrieb war aus der Kirche ausge⸗
wieſen, ja führte, unnachſichtlich verfolgt, ein verborgenes Daſein. Sicher:
lich ging dabei unendlich viel Unwiederbringliches verloren. Einige Gebiete,
wie zum Beiſpiel die Kirchendichtung, verkamen völlig. Alles in allem ges
nommen ſammelte ſich aber und konzentrierte ſich der Kunſttrieb dieſes
hochbegabten Volkes in den ſchweren Zeiten feiner Unterdrüdung. Und
als zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vornehmlich von feiner zweiten Hälfte
an, die Feſſeln, die auf den ruſſiſchen Geiſtern lagen, allmaͤhlich erleichtert
wurden, da erſtaunte das alte Europa über eine Kunſt, die von ganz ur⸗
ſprünglicher Friſche trotz gewiſſer Übermütigfeiten eine ganz beſtimmte
innere Gebundenheit neuer Art in ſich trug, und die man, da ſie doch nun
einmal etikettiert werden mußte, „realiſtiſch“ nannte. Sie erlöfte Europa
von den dogmatiſchen Mißverſtaͤndniſſen des alten Realismus. Der ruſſiſche
Realismus entſtammt aber — um noch einmal alles in ein paar Worte zu
faſſen, einerſeits dem als Anpaſſung an ewigen Zwang durch Gewoͤhnung
an ein Leben außerhalb der Wirklichkeit im Ruſſen großgezogenen extremen
55
Subjektivismus, der für feine Außerungen Allgemeingültigkeit bean:
ſprucht, andererſeits dem im deſpotiſchen Regiment begründeten Fehlen
jeder beſonderen Pflegeſtaͤtte fuͤr die ruſſiſche Kunſt, womit fuͤr ſie auch jede
Ruͤckſicht auf außerhalb Liegendes wegfiel.
6. Die elementare Abneigung des Ruſſen gegen
jede Spaltung der Wirklichkeit in Gedanken und
Begebenheit
(Als Folge feines extremen Subjektivismus)
unuuununnnnnnnuunnunnnunnunnuunnnnnunnunn
Die Überlegenheit der erzählenden ruſſiſchen Dichtung. — Die ee —
ruſſiſchen Gedankens. — Die zwei ruſſiſchen Denkertypen: Tolſtoj un
Doſtojewſki. — Der Ausgleich zwiſchen europaͤiſchem und ruſſiſchem —
ken und die ruſſiſche Schulphiloſophie
r — tuͤrlich braucht der Subjektivismus dem ruſſiſchen Denken gar nicht
— Die- lediglich angezuͤchtet worden zu fein (durch die Notwendigkeit in einem
tuns Leben außerhalb der Wirklichkeit dem laͤhmenden Bewußtſein des auf ihr
laſtenden Zwanges zu entgehen). Es kann auch das rein Perſoͤnliche im
Denken des Ruſſen durchaus im Einklang ſtehen mit ſeinem allereigenſten
Weſen. Er kann eben von Hauſe aus abgeneigt ſein, ſein volles Erlebnis
kuͤnſtlich zu ſpalten in Gedanken und Begebenheit, und dieſe Abneigung
wäre dann bloß beftärft worden durch Rußlands hiſtoriſches Geſchick. Vieles
ſpricht dafür, daß dies wirklich der Fall iſt. Wie dem aber auch ſei — ob
erzwungen oder aus der freien Perſon geboren — die Abneigung des Ruſſen
vor der Abſtraktion: davor, das volle Leben irgendwie zu zerlegen in Ge⸗
dankenſkelett und verſoͤnliches Schickſal, iſt nun einmal Tatſache, und, von
hoͤherem Standpunkt aus betrachtet, gar keine Minderwertigkeit, vielmehr
nur eine Eigentuͤmlichkeit, eine Geiſtesrichtung, die als ſolche Werte her⸗
vorbringen muß, wenn ſie mit Entſchiedenheit beſchritten wird. Auch das
iſt der Fall. — Und damit haben wir den Schlüffel zur Überlegenheit der
ruſſiſchen Wortkunſt in Haͤnden. Die Sache iſt eben einfach die, daß es auch
eine ausgeſprochene Abneigung des Ruſſen gegen jede Spaltung des Lebens
in Reflexion und Vorkommnis mit ſich gebracht haben kann, daß der natio⸗
nale Gedanke, der ſonſt überall auseinanderfaͤllt in tauſend Strahlen, ſich
in Rußland vollſtaͤndig auslebt in der künſtleriſchen Form der Erzählung.
56
r
a
Und das gibt wiederum der ruſſiſchen erzaͤhlenden Dichtung eine jo über:
| legene Wirklichkeitsfuͤlle: es ift ja noch das alles in ihr, was in anderen
Ländern von ihr getrennt ein beſonderes Leben führt: alle Anpaſſung an
Weltall und Mitmenſchheit wird hier gleichſam in ihrem perſoͤnlichſten Ent⸗
ſtehen gegeben, während fie ſich anderswo bereits verſachlichte in den
Geiſteswiſſenſchaften und den Begriffsdichtungen der Philoſophie. (Der
Rufe betrachtet ganz im allgemeinen, und das ift ſehr wohl zu beachten
bei jedem geiſtigen Umgang mit ihm, viele Geiſtesgebiete immer noch als
„die anderswo laͤngſt objektiviert find, und er verlangt darum
auf ihnen für feine perſoͤnlichen Anſchauungen allgemeine Anerkennung.)
So iſt denn auch das Fehlen einer originellen Philoſophie in Rußland
ebenſowenig auf die Zenſur zuruckzufuhren, wie man die Lebensfülle des
klaſſiſchen Romans dadurch erklaͤren kann, daß nur hier der Gedanke einen
Ausweg hatte. (Natürlich hat auch Talentloſigkeit die Form der Erzaͤhlung
mißbraucht, um zu lehren, und die ruſſiſche Geſellſchaft hat ihr das ver⸗
ziehen, weil es eben wegen der Zenſur keine andere Moͤglichkeit zum
Lehren gab. Das trifft aber nicht den Kern der Sache.) Außere Notwen⸗
digkeiten, Zwangslagen, wie fie die Zenſur mit ſich bringt, ſchaffen nie⸗
mals vollkommen in ſich geſchloſſene organiſche Gebilde. Und ſolche ſind
nun einmal die Meiſterwerke der ruſſiſchen Dichtung durchaus. Und des⸗
halb kann man natürlich auch gar nicht ſagen, es habe keine ruſſiſche Philo⸗
ſophie, keine eigentliche, ruſſiſche Geiſtesarbeit gegeben. Es hat fie in hohem
Maße gegeben: ihre Ergebniſſe find nur im ganzen Erlebnis ſteckengeblieben
und mit ihm künftlerifch geformt worden in der ruſſiſchen Erzählung. Und
das in einem ſolchen Maße, daß ein Wladimir Solovjeff, bis jetzt der eigent⸗
liche ruſſiſche Philoſoph, tatſaͤchlich nur das, von allen Schlacken befreit und
zu monumentaler Geſchloſſenheit zuſammengefuͤgt, zu einem gewaltigen
Lehrgebaͤude vereinigt hat, was bereits bei den großen ruſſiſchen Dichtern in
Bildern und Geſtalten in der Form des vollen Erlebniſſes vorhanden war.
Der ruſſiſche Gedanke erweiſt ſich hier als aͤußerſt kühn und tiefdringend,
und gerade fein ausgeſprochenes Wurzeln in den letzten Beduͤrfniſſen der
ruſſiſchen Seele — und das gibt ihm eine ſolche Einheitlichkeit — verdankt
er ſeiner Herkunft aus der Dichtung, aus der vollen Lebensnachgeſtaltung.
er Gedanke kann ja eine zweifache Wiege haben: er kann dem Kopf die Birge
N Denkers entſtammen, der ihn unmittelbar feinen eigenen oder Naas
fremden Lebenserfahrungen entnimmt, ohne dieſe wieder zum vollen Er:
lebnis zu geſtalten. So entſteht im großen und ganzen der europaͤiſche Ge:
57
danke. Dieſer Weg hat den Vorteil, daß ihm eine ſchier unermeßliche Wirk⸗
lichkeit zur Verfügung ſteht, daß ihm zudem das Weſen des Denkens an
ſich und die Beziehungen der Gedanken zueinander aufgehen, und daß er
endlich beweglicher iſt, weniger Widerſtaͤnde in der eigenen Perſon findet,
weil er in weiterer Entfernung von ihr lauft. Alle dieſe Momente
fehlen, wie wir ſahen, dem ruſſiſchen Denken in hohem Maße. Dagegen
hat das europaͤiſche Denken den Nachteil, daß es, von Hauſe aus in einer
gewiſſen Entfernung vom Leben geboren, ſich immer mehr von ihm ent⸗
fernen muß (in dem Maße, wie es ſeine eigenen Geſetze findet) und ſchließ⸗
lich in einer Welt für ſich vor ſich gehen wird. Dadurch aber verliert der
Gedanke den unmittelbaren Einfluß auf das Leben, das ſeinen Gang geht
und ihm auch mehr und mehr mißtraut, zumal der Verkehr mit ihm immer
größere Vorbildung verlangt. Das iſt das Verhängnis des europäifchen
Denkens. Es ward früh vom denkenden Rußland erkannt — (das überhaupt
eine Virtuofität darin beſitzt, die Unvollkommenheiten anderer zu erſchauen,
um im Hinweiſen auf ſie eigene Schwaͤche fuͤr Staͤrke ausgeben zu koͤnnen:
hier, im „Reſſentiment“, iſt vielleicht überhaupt der Urſprung des ruſſiſchen
Scharfblicks). — Rußlands Überlegenheitsanſpruͤche gruͤnden ſich hier. Der
ruſſiſche Gedanke entſtammt ja einer anderen Wiege: der Nachgeſtaltung
des vollen Lebens. Er ergibt ſich da entweder ganz von ſelber: aus den
Beziehungen der in ihrer Einheit und ganz beſtimmten Eigenart erlebten
und zum Nacherleben nachgeſtalteten Perſonen zueinander, oder er wird
aufs ungezwungenſte geboren als notwendige Außerung von ihnen. So
entſtand der ruſſiſche Gedanke in voller Zugehoͤrigkeit zum Leben: Er traͤgt
daher noch die ganze Wärme der Seelenatmoſphaͤre in ſich, der er entſtammt,
und ſteht ſomit in engſtem Zuſammenhang zu den elementarſten Beduͤrf⸗
niſſen der Menſchenſeele. Das erklaͤrt die Maͤngel und Vorteile des ruſſi⸗
ſchen Denkens. Ein ſolches Denken wird erkenntniskritiſch unintereſſiert,
wenigſtens aͤußerſt anſpruchslos, in Hinſicht aber auf die Beziehungen
der Menſchen zu einander intuitiv ſcharfſichtig ſein.
222 nerhalb des ſo in engem Zuſammenhang mit dem vollen Leben ent⸗
ſtehenden Gedankens ſind im großen und ganzen zwei Denkertypen
* eise lich für die wiederum Rußland hervorragende Beiſpiele bietet in
feinen größten Dichtern: Doſtojewſki und Tolſtoj. Bei jenem geht die Qual
des Problems dem Dichten voraus und veranlaßt es: Doſtojewſki verlegt
den Konflikt aus ſeiner Seele in die Außenwelt, verkoͤrpert hier die ein⸗
zelnen Richtungen ſeines Innern zu vollen Geſtalten, bringt ſie in lebendige
58
1 Sener, zueinander und läßt fie im Ausſpielen ihrer Gegenfäge
den
Gedanken reifen, deſſen qualvolles Suchen fie ſelber erſt ins Leben rief.
e denn auch in Doſtojewſkis Romanen die theoretiſchen Er⸗
oͤrterungen, die faſt immer Predigten find, in fo innigem, unlöslihem
Zuſammenhange zu dem ganzen Inhalt der jedes maligen Dichtung (gleiche
ſam als ihre reiffte Frucht), während der ebenfalls in feinen Romanen
prebigende Tolſtoj einfach der außerhalb der Dichtung ſtehende, am Men⸗
ſchendaſein aufs allertieffte intereffierte Menſch Tolſtoj iſt, der, wie hinter
dem Vorhang heraus, auf die Rampe tritt und alle Illuſion der Dichtung
zerreißt. Ihn treibt das Gewiſſen, es ſcheint ihm im Verlaufe eines irgend⸗
wie umfangreichen Werkes immer wieder, als habe er ſich ſchon allzu lange
mit Spielerei, eben mit Dichtung, beſchaͤftigt, als muͤſſe er wieder lehren.
Dias geſchieht ſchon in Tolſtojs Meiſterwerken, lange vor ſeiner Bekehrung:
Tolſtoj iſt der Dichter aus Zwang; der Künftler wider Willen, Doſtojewſki der
überzeugte Dichter, der Dichter aus Wahl, aus innerer Not. Dabei kommen
aber auch Tolſtoj ſeine eigentlichen Gedanken bloß durch ſeine geſtalteten
Perſonen: als notwendiger Ausfluß ihres So⸗und⸗nicht⸗Andersſeins. Daher
ſtehen denn auch ſeine durch den Mund ſeiner Geſchoͤpfe ſich kundgebenden
Gedanken durch ihren tiefen Geiſt in ſo merkwuͤrdigem Gegenſatz zu ſeinen
in ſeine Romane eingeſtreuten durchaus gewoͤhnlichen Belehrungen (denken
wir nur an feine Geſchichtsphiloſophie in „Krieg und Frieden“ oder an gewiſſe
Volks wirtſchaftslehren in „Anna Karenina“). Bei Tolſtoj wirkt eben nicht wie
bei Doſtojewſki der quaͤlende Gedanke, ſondern der Dichtertrieb: der feiner
Natur tief eingewurzelte Zwang zum Nachgeſtalten als das Urſpruͤngliche. Er
ſchafft erſt Geſtalten, fo wie der Frühling Blumen hervorſprießen läßt, und
auf einmal fangen fie an zu ſprechen und kunden dem Dichter Loͤſungen
von Problemen, um die er ſich als Menſch, jenſeits des dichteriſchen Wahn⸗
ſinns, laͤngſt ſchon vergeblich abmühte. Der Unterſchied iſt der, daß dort,
wo das Problem die Dichtung rief, der Gedanke ſyſtematiſcher, durch⸗
gearbeiteter ſein wird, dabei aber bei weitem weniger vielſeitig und letzten
Endes auch weniger tiefgehend als da, wo umgekehrt der Dichtungsdrang
das erſte war, und erſt die erdichteten Perſonen von ſich aus die Gedanken
offenbaren. So ſind denn auch Tolſtojs Meiſterromane wahre Fundgruben
ganz genialer Einfälle, die blitzartig weiteſte Zuſammenhaͤnge erhellen
Freilich auch jeder Syſte matiſierung ſpotten), während ſich aus Doſtojewſkis
Romanen mühelos ein weitveräfteltes Syſtem einer ſozial und ſeeliſch zwar
vielfach unerhört erleuchteten, aber doch nur rein chriſtlichen Weltauffaſſung
59
ableiten läßt ( wie ſolche ja alles in allem genommen auch Solovjeff — aus der⸗
ſelben Quelle ſchoͤpfend — ſchuf). — Beide Entftehungsarten des ruſſiſchen
Gedankens ergänzen einander: die eine regt den ruſſiſchen Geiſt in allen
Richtungen an, die andere erleuchtet ihn allſeitig in feinen Hauptrichtungen.
Der Huszleih x s ergänzen ſich aber auch ganz im großen das ruſſiſche und das europä=
alan und rut. Eiſche Denken: Der europaͤiſche, vornehmlich der germaniſche Geiſt, furcht⸗
ter rer los vor dem Unendlichen und in raſtloſem Suchen nach der Wahrheit um ihrer
Saulsitefonhiejelber willen, gelangt zu Einblicken in die Zuſammenhaͤnge in der Menſchen⸗
ſeele und in die Beziehungen der Menſchen zueinander, die von hoͤchſter Be⸗
deutung fein koͤnnten für das Verhalten des Menſchen zum Menſchen und für
die Ausgeſtaltung der menſchlichen Gemeinſchaft im Sinne der Freiheit aller.
Dieſe Gedanken koͤnnen aber erſt volle Wirkſamkeit erlangen, wenn Gefühle:
betonung und Willensrichtung hinzukommt, wenn ſie mit einem Worte wieder
zum vollen Menſchenerlebnis werden. Dazu verhilft dem europuͤiſchen Ge:
danken der ruſſiſche, und zwar in Geſtalt der großen ruſſiſchen Dichtung. Das
intuitive Rußland iſt dabei aber nicht nur im Schritt geblieben mit dem den⸗
kenden Europa, es iſt ihm ſogar in mancher Hinſicht um Jahrzehnte voraus⸗
geeilt (zum Beiſpiel in der Deutung des Verbrechens als ſozialer Erſcheinung,
wovon noch eingehend die Rede ſein wird). Aber auch der bewußte ruſſiſche
Gedanke, wie er über dem Wege der Dichtung gefunden und nachtraͤglich
ſyſtematiſiert ward — erſtlich von Wladimir Solovjeff — wird ſicherlich in ab⸗
ſehbarer Zeit eine wertvolle Ergaͤnzung des europaͤiſchen Gedankens bilden:
ihn wieder dem Leben annaͤhern: gegenuͤber dem Überwiegen der rein
theoretiſchen Gedankengebiete die praktiſchen betonen, wenigſtens die Luſt
erregen, wiederum weiten praktiſchen Endzielen gedankliche Vorarbeit zu
leiſten. So weit ſcheint uns der Einfluß des ruſſiſchen Gedankens auf die
Dauer zweifellos. Hoffen moͤchten wir auch noch auf beſondere Anregungen
fuͤr den europaͤiſchen Gedanken durch jene bemerkenswerte Eigenart des
ruſſiſchen Gedankens, daß er immer und überall in vollem Einklang fein
will mit den beiden andern Seiten des menſchlichen Erlebniſſes: dem Fuͤhlen
und dem Wollen. Wenn dabei das ruſſiſche Denken vorerſt noch allzuſehr
in Abhangigkeit vom Gefühl ſteht, und das begreift man bei Rußlands
Schickſalen, ſo iſt die Richtung doch zweifellos eine zukunftsreiche, vielleicht
die allein rettende. Auch die ruſſiſche Schulphiloſophie ſcheint dieſen Weg
zu gehen, wobei ſie ſich — in richtiger Erkenntnis ihres eigentlichen An⸗
triebes — recht eng an den deutſchen Idealismus anlehnt. Von hier aus
koͤnnte ficherlich viel zur Geſundung des ruſſiſchen Geiſteslebens geſchehen.
60
Dioch wird das letzten Endes von den politic) kulturellen Gefamtzufländen
Wußlands abhängen. Werden fie weſentlich gebeffert, das heißt auch nur
einigermaßen erträglich (menigftens fo, daß der denfende Ruffe ſch nicht
mehr pflichtvergeſſen vorzukommen braucht, wenn er ſich mit etwas anderem
beſchaͤftigt als der ſozialen Reform), jo wird die tyranniſche Gewalt des
Wunſches über den ruſſiſchen Gedanken gebrochen. Und dann hätten wir
jedenfalls von ſeinem Drang nach Einheit mit dem ganzen Erlebnis viel
Gutes zu erwarten. Wir glauben indes und hoffen es feſt, daß der ruſſiſche
ſich auch dann noch vorwiegend in der erzaͤhlenden Dichtung offen⸗
baren wird: Zunächft iſt hier die einzige reſtloſe Möglichkeit für ihn, völlig
in Einklang zu bleiben mit dem ganzen Erlebnis, und das ſichert ihm nun
einmal, bei feiner Eigenart, die größten Erfolge, und dann erſcheint jo der
ruſſiſche Gedanke nicht bloß an ſich in feiner verfuͤhreriſchſten Form (ihm
kommt mithin an ſich die hoͤchſte Werbekraft zu), im beſonderen vermag er
ſo auch noch ſeine eigentliche Miſſion dem europaͤiſchen Gedanken gegen⸗
über zu erfüllen: ihn wieder zum vollen Erlebnis werden zu laſſen: gefuͤhls⸗
betont und willensbeſtimmend. Der germaniſche Geiſt befreit die Menſch⸗
beit von Aberglauben und bringt fie zur Erkenntnis ihrer Würde, — der
ruſſiſche nimmt ihr die Feſſeln der Selbſtſucht. Und nur eine von Selbſt⸗
ſucht und Aberglauben befreite Menſchheit wird ſich vereinigen koͤnnen zu
einem Daſein, in dem Menſchendienſt Gottesdienſt fein wird. — Im vorher:
gehenden war, im Zuſammenhang mit dem Tatarenjoch, ausſchließlich die
Rede von der paſſiven Abwehrſtellung der ruſſiſchen Seele gegen den
Zwang: Das ruſſiſche Volk leiſtete aber auch einen aktiven Widerſtand gegen
den auf ihm laſtenden Zwang, und auch dadurch ward in ſeinem Geiſtesleben
eine ganz beſtimmte Richtung und Faͤrbung gezuͤchtet. Hiervon ſoll im naͤch⸗
ſten Abſchnitt, der vom Deſpotismus handelt, die Rede ſein. Und ſchließlich
wirkte auch noch das ftändige Erlebnis des rings um den Ruſſen herrſchenden
Zwangs auf dem Wege der Vorſtellungen, deren der Betaͤtigungsdrang im
Menſchen bedarf zu feiner Orientierung in der Wirklichkeit, und das führte
wiederum zu ganz beſtimmten Willens richtungen im geiftigen Rußland, wo⸗
von in dem Abſchnitt über die Leibeigenſchaft die Rede fein foll. Wie aber
dieſe drei Schidjale (Tatarenjoch, Deſpotis mus, Leibeigenſchaft) auseinander
hervorgehend, ineinander eingreifen und immer dieſelben Grundwirkungen
vertiefen, verſtaͤrlen und jedesmal beſonders nuancieren, fo ift auch unfere
Dorſtellung genoͤtigt, ſtaͤndig auf bereits Geſagtes zurüdzumeifen und an
ihm weiter zu ſchreiten in der Richtung vom Allgemeinen zum Beſonderen.
61
Emmi. 1 5 ren
„ * er
e ee ie e *
91 ut t en M n e RR
bd lere AR er ee Er nn
* e = N 1 N chert e
hellt: EN Fer Na e at e .
* me u MEI e marker wi
5 U re alkdirggin: e
* uns au". ee wee ee eee e ARE LU ek
x Pad Da en DO Jury rd we TE
> E m ee e e
Wins, RE Er ee ee ee 1
* f nr eee re ae 21772177
4: ae ein a eee ee N
72 rt ee an rag *. A en
ir a 7 sur Aue „un Er upter Bart ö
N. Wat e e Ale K ur ar e
* een a er re een eee
e bet tik nd uhr
ee ee
SER de ee nh n ve 1
Wen tn, e et er e Fe .
eee een El SE
et ee Aare sa g zul
BARS ER. a Re rer Ba
rn ane 8 e N 7
er a n enn a
n ee en ee BR erh N PL ee 25 2
n W n ee A
1
r [0 Sant? 1 . * 80 1
eig
ren te
i en, Aa a nor j e 7
ae Ma rare
ar
en, WEGE ee eee eee men e Fah
. :
IV
Der ruſſiſche Deſpotismus in ;
ſeinem Einfluß auf das nationale
Geiſtesleben: Die Organiſation;
und eigentuͤmliche Färbung des;
ruſſiſchen Denkens
1. Die Primitivität des ruſſiſchen Staatsweſens
und ihre Folgen
nunununnnunununnununnnnnununnnuumunn
Der Tiefſtand von Verwaltung und Rechtspflege im alten Rußlen —
Der Mangel an Rechtsbewußtſein in der ruſſiſchen Geſellſ
Fehlen des wahren Freiheitsbegriffs innerhalb der ruſſiſchen
— Das Verkennen der ſtaatlichen Notwendigkeiten in der ruff
leider: — Die Urſachen des fo häufigen aan es der si
tigkeit der . Geſellſchaft. Die falſche Au ffaſſung der ruffif
Geſellſchaft vom Weſen des Staates
Der Tiefkand von enn wir nunmehr die Einwirkung der deſpotiſchen Regierung Ruß⸗
ne lands auf das geiſtige Leben der Nation unterſuchen, ſo kommt natuͤr⸗
alten Rußland ſich nicht allein das Moment in Betracht, daß fie eben deſpotiſch war und
iſt, vielmehr auch alle die Eigentuͤmlichkeiten gerade des ruſſiſchen Deſpo⸗
tismus, die an ſich mit Deſpotismus nichts zu tun haben. Eine vor allem
— und das geht auf den Charakter des ruſſiſchen Staates als Organiſator
der ruſſiſchen Verteidigung zuruck —: das ruſſiſche Staatsweſen war bis
tief ins 18. Jahrhundert hinein aͤußerſt primitiv. In der Sorge um Heer
und Finanzen erſchoͤpfte ſich jahrhundertelang die innere Tatigkeit der ruſſi⸗
ſchen Regierung. Von Verwaltung im eigentlichen Sinne wird nur das
zu dieſen Zwecken unbedingt Notwendige geſchaffen. Bis zu Beginn des
18. Jahrhunderts erweiſt ſich die ruſſiſche Regierung ſogar noch außerſtande,
unmittelbare Beziehungen herzuſtellen zwiſchen dem Staat und dem ein⸗
zelnen Buͤrger: Kollektivbuͤrgſchaft war die typiſche Form der Beziehung
zwiſchen Staatsgewalt und Buͤrgerſchaft. Das Gerichtsweſen lag ganz im
Argen. Bis uͤber die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus: bis zur Regierung
Katharinas II. hatte die richterliche Gewalt in Rußland nicht einmal ihre
eigenen Organe und war mit der adminiſtrativen Gewalt vereinigt. Das
ruſſiſche Strafrecht war bis dahin nur ſo weit kodifiziert, als das noͤtig war
zur regelrechten Erhebung der Gerichtsabgaben. Das buͤrgerliche Recht war
noch unvollkommener kodifiziert, das Staatsrecht iſt aber überhaupt erſt
in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts, nach auslaͤndiſchem Muſter
und hoͤchſt mangelhaft, kodifiziert worden. Wie es unter ſolchen Umſtaͤnden
um die Rechtspflege ſtehen mußte, iſt nicht ſchwer zu erraten.
64
et
Bolgen find äuferft tiefgehende geweſen. Heute noch klagen die De; gerte
geiſtigen Führer der Nation über den Mangel an Rechtsbewußtſein in der rumisen
und Verftändnis für die ſtaatlichen Notwendigkeiten innerhalb der ruſſiſchen e
Geſellſchaft. Beides offenbart ſich in erſchreckendem Maße überall da, wo fie
von ſich aus als Organiſatorin auftritt. (Auch die ewigen Unterſchlagungen
öffentlicher Gelder gehen legten Endes, was fehlende geiſtige Hemmungen
anbetrifft, hierauf zurück.) Hier, in dem Mangel an Gewoͤhnung an regel⸗
rechte, den einzelnen Bürger faſſende und berüdfichtigende Verwaltung,
ſtehen wir an einer der Quellen des ruſſiſchen ſtaatlichen und ſozialen
Rabilalismus, dem zudem noch deshalb jo ſchwer beizukommen iſt, weil
er mangels der Vorſtellung von einigermaßen normalen ſtaatlichen Ver⸗
huͤltniſſen ſich ausſchließlich im luftleeren Raume der Abſtraktion bewegt.
Ganz im allgemeinen iſt das Rechtsbewußtſein des Ruſſen aͤußerſt ſchwach
entwickelt: das Geſetz ſcheint ihm nur dazu da zu fein, um es zu übertreten,
und er entwickelt auch im Umgehen geſetzlicher Vorſchriften eine Virtuofität,
die den Aus laͤnder immer wieder verblüfft und die ruſſiſchen Behörden
in Verzweiflung bringt. Auch jetzt noch ſieht der Ruſſe im Geſetz kaum etwas
anderes als ein Zwangsmittel, das lediglich den ſelbſtſuͤchtigen Zwecken
einer verderbten Regierung dienen ſoll.
* ſtehen wir an einer der verhaͤngnisvollſten Luͤcken im Geiſtesleben Das zen des
Ruffen. Er erweiſt ſich immer noch außerſtande, das an ſich Bin- garter ar
dende, jenſeits alles Perſoͤnlichen Stehende, im Geſetz zu begreifen (d. 1
zu verſtehen, daß ſo etwas in einem Geſetz ſein kann, und daß das Geſetz
notwendig iſt, um es zum Ausdruck zu bringen). So entgeht dem Ruſſen
immer noch der wahre Freiheitsbegriff, weil er eben den unloslichen Zus
ſammenhang nicht zu faſſen vermag zwiſchen Freiheit und Geſetz: daß
erſtere des letzteren gar nicht entbehren kann, wenn fie nicht allen Inhalt
verlieren will und ein fuͤhrerlos vor das Chaos Hingeſtelltſein bedeuten ſoll.
(Freilich gehört zum vertieften Verſtehen dieſes Zuſammenhangs auch noch
ein Moment, deſſen Entfaltung das ruſſiſche Kulturſchickſal — hier wohl
vor allem das Fehlen der Reformation — unguͤnſtig war: das Anerkennen
der einzigen Geſetze, deren Befolgung den Zwang ausſchließt und der
Freiheit erſt Inhalt gibt: der Geſetze des erlebten Sollens: des kate⸗
goriſchen Imperativs.) Wir wollen dabei nicht verſchweigen, daß auch noch
viele andere Momente dahin wirken, das Verftändnis des Ruſſen für den
Zuſammenhang von Gejeglichleit und Freiheit hintanzuhalten. Indes hätte
alles dieſes vielleicht überwunden werden koͤnnen, falls der ruſſiſche Staat
5 Möpel, Grundlagen des geifigen Ruplands 65
er
feine Bürger auch nur an eine techniſch normale Verwaltung und Rechtes
pflege gewöhnt hätte.
dee Pertennen inzu trat aber auch noch der fländige Mißbrauch der Staatsgewalt,
der ſlaatlichen
Netwendigketten
in der ruſſiſchen
Geſcuſchaft
Nändigen Tätig-
teu der ruſſiſchen
zunaͤchſt zu rein perſoͤnlichen Zwecken der fie Yusübenden. Das ers
gibt ſich ganz von ſelber in einem Staatsweſen, dem jede Kontrolle Über
die einzelnen Buͤrger fehlt, und das dabei aus finanziellen Grunden ſein
Perſonal auf das Moͤglichſte beſchraͤnken und darum mit groͤßten Voll⸗
machten ausrüften muß. Die hier wurzelnde Anſchauung, daß der Staat
eine Vereinigung ſolcher darſtellt, die ſich zuſammentaten, um alle anderen
auszubeuten, wurde im alten Rußland populär. Damit blieben aber auch
die realen Verdienſte des nationalen Staatsweſens (was von Ordnung und
Sicherheit da war, war doch nun einmal fein Verdienſt) ungewuͤrdigt vom
Ruſſen und völlig verkannt; und hier wäre immer noch eine gewiſſe ſtaat⸗
liche Erziehung moglich geweſen. Und nicht nur das! Weil Ordnung und
Sicherheit von der verhaßten Regierung ausgingen, dabei natürlich nur
ſo weit verwirklicht wurden, als es deren Selbſtſchutz verlangte, und — bei
fehlender Einſicht der Buͤrger meiſt erzwungen werden mußten — deshalb
übertrug ſich der ureigentlich nur gegen die eigene Regierung gerichtete
Haß des Ruſſen bald auch auf jede Anordnung zur ſozialen Ruͤckſicht als
ſolche, und damit ging endlich alles Verſtaͤndnis fuͤr deren Notwendigkeit
verloren. Hier wurzelt zu allertiefſt die verhaͤngnisvolle, unausrottbare Vor⸗
ſtellung des Ruſſen, der Staat ſei an ſich unnoͤtig!
as kam plaſtiſch zum Ausdruck in der revolutionaͤren Bewegung in
Rußland, die auf kein anderes Vorbild zurüdgreifen konnte als eben
auf das deſpotiſche Moment im ruſſiſchen Staatsweſen. Wo die Revolution
Geſcuſchan voruͤbergehend ſiegte, da kam es denn auch zu den unertraͤglichſten Härten
und Zwangsmaßregeln; der Buͤrger war lediglich da zur Erfuͤllung der
ihm werdenden Vorſchriften und hörte ihnen gegenüber völlig auf Menſch
zu ſein! Andererſeits mußte man auch in den Propagandaſchriften der
ruſſiſchen Revolution immer wieder das naive Verwechſeln von Straf⸗
loſigkeit mit Freiheit wahrnehmen. Wenn dahinter uͤberhaupt noch eine
allgemeine Vorſtellung ſteckte, ſo konnte das bloß die ſein: es werde allen
dann am beſten gehen, wenn jeder einzelne ungehemmte Moͤglichkeit habe,
ruͤckſichtslos zu fein gegen alle andern. Daß dieſe Vorſtellung tatſaͤchlich
heute noch in ſehr vielen ruſſiſchen Köpfen lebt, weiß jeder, der längere
Zeit in Rußland weilte: überall da, wo man dort ausſchließlich auf die frei⸗
willigen Ruͤckſichten der Buͤrger aufeinander angewieſen iſt, wo ſich die
66
Eur.
*
Polizei einmal gar nicht mehr einmiſcht, begegnet man derartigen völlig
unvotherzuſehenden Hemmungen, daß man unwillkürlich in Zweifel ge
rät, ob der deſpotiſche Zwang nicht an ſich noch eine Notwendigkeit bedeutet
für dieſes Voll, und man alle Zweifel verliert an den ſehr realen Verdienſten
des ruſſiſchen Defporiomur, Augenſcheinlich ift aber der eigentliche Zuſam⸗
menhang hier der, daß ein deſpotiſches Regierungsſyſtem ein ſich derartig
in den geſamten Geſellſchaftsorganis mus einfreſſendes Übel bedeutet, daß
er ihm auf die Dauer auch noch unentbehrlich wird dadurch, daß er ihm die
N geit nimmt, freiwillig die ſozialen Ruͤckſichten zu verwirklichen, die
lein menſchliches Zuſammenwirken entbehren kann, und die ein deſpotiſches
Regiment immer nur fo weit erzwingen wird, als es ihrer zu feiner Selbſt⸗
erhaltung bedarf.
So viel über den Einfluß des ruſſiſchen Staatsweſens auf die Entwick⸗
lung des Rechtsbewußtſeins und des Staatsbegriffs in Rußland. Die Ges
rechtigkeit verlangt zuzugeben, daß es ſich hier vornehmlich um Unter⸗
laffungsfünden der ruſſiſchen Regierung handelt, die aber dadurch fo ver⸗
haͤngnie voll werden, daß fo zu einer normalen ſtaatlichen Entwicklung Ruß⸗
lands — die geiftigen Grundlagen fehlen. Dem Ruſſen fehlt, um alles noch
einmal zu ſagen, die Vorſtellung von der Notwendigkeit des Staates, ihm
fehlt die Gewoͤhnung an die freiwillige Rüdficht des einzelnen im Intereſſe
aller, ihm fehlt endlich die Neigung für den Staat als ſolchen, ja er iſt ihm
gleichbedeutend mit dem verhaßten Deſpotismus an ſich. Hier ſtehen wir
an den tieferen Wurzeln des ſtaatlichen, kulturellen und rein geiſtigen
Nadikalismus des Ruſſen, wir begreifen das Weſen und die Notwendigkeit
der eigentlichen ruſſiſchen Geiſtesſchoͤpfung, des Nihilismus, und verſtehen
auch, daß der nichts anderes iſt als eine Formel für fehlenden Geiſtes inhalt.
trenggenommen haben wir bis hierher die geiſtige Einwirkung bloß Die tallae unt.
en Eigentümlichleiten des ruſſiſchen Staats weſens betrachtet, Kagan
die mit feinem deſpotiſchen Charakter an ſich gar nichts zu tun haben. Wir Faun n des
können auch ruhig annehmen, daß bis tief ins 18. Jahrhundert hinein Ya
den breiten Maſſen des ruſſiſchen Volkes das auf Zwang Beruhende der
ruſſiſchen Regierung lediglich in ihren, freilich ſehr druckenden, finanziellen
Maßnahmen empfunden ward. Aber auch demgegenüber war wohl die
öffentliche Meinung nachſichtiger, da das ruſſiſche Volk die Notwendigkeit
der Landetverteidigung, wofür dieſe Gelder ausſchließlich hingingen, noch
immer ſehr lebhaft einſah. War auch ſchon von der Mitte des 16. Jahr⸗
hunderts an die Moskauer Regierung von der bloßen Verteidigung der
* 67
Landesgrenzen zu ihrer Erweiterung übergegangen, jo war das doch ganz
von ſelber gekommen, ja — wenn man ganz gerecht ſein will — muß man
zugeben, daß der Schutz der Grenzen ihre Ausdehnung geradezu erforderte.
So waren zwar die militaͤriſchen Grenzlinien — eine Art ununterbrochener
Schügengräben: urſprünglich Gräben und Verhaue unter Ausnuͤtzung der
Flußlaͤufe (an fie ſchließen ſich die ruſſiſchen Beſiedlungen an: die meiſten
ruſſiſchen Städte find als Waffenlagerplaͤtze dieſer Grenzlinien gegründet) —
immer mehr nach Suͤden verlegt worden, verheerende Einbrüche von
Tatarenhorden blieben aber eine derartig normale Erſcheinung, daß eine
der hauptſaͤchlichſten Steuern unter dem Namen „Gefangenengelder“ bis
tief in das 18. Jahrhundert hinein in ganz Rußland erhoben ward und zum
Loskauf der weggeſchleppten ruſſiſchen Grenzbewohner diente. Da ferner
eben dieſer Kriegscharakter der ruſſiſchen Regierung (ihre Rolle als Orga⸗
niſatorin der nationalen Verteidigung) lebhaft in der Vorſtellung der ruſſi⸗
ſchen Bürger lebte (ſelbſt der Leibeigene fühlte ſich durchaus als Staats⸗
diener: er „naͤhrte“ die Diener des Zaren), ſo kann wohl bis ins 18. Jahr⸗
hundert kaum etwas von der Vorſtellung, einem deſpotiſchen Staate unter⸗
worfen zu ſein, im Ruſſen gelebt haben. Und dem kommt die gewaltige
Bedeutung zu, daß alle Übel des ruſſiſchen Staates durch die Jahrhunderte
hindurch den ruſſiſchen Geiſtern als Übel des Staatsweſens an ſich galten
(das macht das ruſſiſche Verkennen des Staates ſo ausgangslos: heute noch
verwechſelt der Ruſſe ſtaͤndig Deſpotismus mit Staatsweſen an ſich).
uumuununnunununnununmummum
f 2. Der allgemeine ideologiſche Charakter
= der ruſſiſchen Innenpolitik
Die Notwendigkeit eines einheitlich regierten, d. h. deſpotiſchen Staates,
der beftändigen äußeren Bedrohung wegen, lebte urſpruͤnglich und jahr⸗
hundertelang durchaus im ruſſiſchen Nationalbewußtſein. Der ruſſiſche
Staat war mithin ſtrenggenommen eigentlich keineswegs unpopulär bei
feinen Bürgern. Und fo fand er auch keine nennenswerten Hinderniſſe,
als er (in der inſtinktiv ſicheren Erkenntnis ſeines Widerſpruchs zur Natur
des Menſchen) fruͤh ſchon erſtrebte, ſich ſo populaͤr als moͤglich zu machen:
dem Volksbewußtſein nicht bloß ſeine Notwendigkeit, vielmehr auch ſeine
großen Verdienſte einzuhaͤmmern. Auch von hier aus iſt das ruſſiſche Gei⸗
68
ſesleben ganz gewaltig beeinflußt worden. Dieſes Moment wird aber des:
halb fo ſehr unterſchaͤtzt, weil es ſich hierbei, mindeftens bis zur Mitte des
18. Jahrhunderts, eigentlich gar nicht um einen Selbſtbehauptungskampf
des Zartums handelt — es war ja noch gar nicht angegriffen worden, viel⸗
mehr lediglich um ſein Expanſionsbeſtreben im Innern der eigenen Nation,
freilich letzten Endes wohl in der heimlichen Abſicht, beſtimmt erwarteten
Angriffen zuvorzukommen. Und auch hier verleugnet die Politik des Zar⸗
tums nicht ihre Hauptcharakterzuͤge: Skrupelloſigkeit in den Mitteln und
Weitſicht in den Zielen. Letztere ſoll auf die Dauer erſtere rechtfertigen. Auch
gegenüber den rein geiſtigen Elementen der Nation liegt die zariſche Politi
hier bereits in ihren Grundzuͤgen feſt: Zu Hilfe genommen und ausgenutzt
bis aufs Letzte wird zunächft die Kirche, das heißt es wird an ſolche Sphären
der Geiſtigkeit appelliert, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben,
und dabei den hoͤchſten Beduͤrfniſſen der Menſchenſeele dienen. Hier tritt
man als Schirmer auf. Und von dort aus geht man unerbittlich vor gegen
die Sphaͤren der Geiſtigkeit, die den Zuſammenhang mit der Wirklichkeit
nicht aufgeben. Hier droht natürlich jeder Zwangsherrſchaft die größte Ge⸗
fahr, weil ja das Geiſtige allein die Menſchen einigt außerhalb des Zwangs,
mithin ihren Vereinigungen die größte innere Feſtigkeit verleiht. Es iſt
alſo ein geiſtiger Radikalismus, den der ruſſiſche Deſpotismus in ſeinem
Selbſtbehauptungskampf im Volksbewußtſein großzieht: alle geiſtigen Be⸗
bürfniffe der Nation ſollen außerhalb der Wirklichkeit, im rein Religiöfen,
befriedigt werden. Es muß dabei zugegeben werden, daß dieſe Erziehung
den nachhaltigſten Einfluß ausübt, weil fie fruchtbarſten Boden bereits
vorfand. Auch hier, wie auf rein ſtaatlichem Gebiet, erweiſt ſich der Ein⸗
fluß des Deſpotis mus als ein ſolcher, daß er durch fein bloßes Vorhanden⸗
fein diejenigen Beduͤrfniſſe immer mehr vertieft, deren er zu feinem Fort⸗
beſtand bedarf, und die er darum bewußt und künftlih wachruft: Denn
wenn das Zartum feine Macht über die Geiſter gründete in feinem Ber
ſchuͤtzertum der Geifteswelt, die jenſeits dieſer Welt liegt, jo hatte bereits
feine Unvertruͤglichkeit mit der Natur des Menſchen dazu geführt, daß ſeine
Untertanen vor ihm in eben dieſe Geiſteswelt geflohen waren, und ihr
eigentliches Leben in ihr lebten, außerhalb der Wirklichkeit. Auch hier
haben wir einen jener ausgangsloſen Kreiſe des Übels, die für Rußlands
Kulturſchickſal fo charakteriſtiſch find.
3. Das Streben des Zartums
nach Feſtigung ſeiner Macht im Innern
Die Politik des Zartums zur Kirche und ihre Folgen. — Die bewußte
Schuͤrung des Nationalſtolzes durch die ruſſiſche Schule
Die Volitit des ie Beziehungen des Zartums zur Kirche waren dabei von Haufe aus
1 gar nicht ſehr intime geweſen: weil eben die Moskauer Kirche ur⸗
deloen ſpruͤnglich griechiſch war. Der erſte Schritt mußte alſo fein, die Moskauer
Kirche moskauiſch zu machen. Hierbei war das Schickſal dem Zartum gun⸗
ſtig: Die Eroberung Konſtantinopels durch die Tuͤrken (1452) — uberhaupt
der weltgeſchichtliche Gluͤcksfall Rußlands — hatte den Schwerpunkt der
griechiſchen Kirche nach Rußland verlegt; das hatten die Balkanſlawen ſelber
ſo gewollt, die von Moskau die Befreiung vom tuͤrkiſchen Joch erhofften:
von hier aus datieren Rußlands Anſpruͤche, als Beſchuͤtzerin der Balkan⸗
ſlawen zu gelten. Daß ſich aber der Zar zum Oberhaupt der ruſſiſchen
Kirche machte, geſchah erſt gegen Ende des 16. Jahrhunderts, und, als Er⸗
gebnis einer langen zielbewußten Politik, um ſo gruͤndlicher: ſelbſt den
Zuſatz zu ſeinem Zarentitel: „von ganz Rußland“ entnahm er dem Ober⸗
haupt der ruſſiſchen Kirche — bis dahin hatte er ſich nur Moskauiſcher Zar
genannt. Nehmen wir aber noch das eben erwaͤhnte Moment hinzu, daß
die Balkanſlawen ſelber den Moskauer Zaren zum Protektor ihrer Kirche
ausriefen, fo ergibt ſich daraus nicht nur eine unendliche Kräftigung der
Macht des Zaren im ruſſiſchen Volksbewußtſein: eben als Oberhaupt der
ruſſiſchen Kirche, es war fo auch der Eroberungspolitik des Zartums, deren
es ſchon zu ſeiner Selbſterhaltung mehr und mehr bedurfte, Ziel, Richtung
und nicht auszuſchoͤpfende Popularität gegeben. Beides hat es in reichſtem
Maße zu nutzen verſtanden. Zwei das Volksgemuͤt aufs maͤchtigſte be⸗
wegende Vorſtellungen verbinden ſich ja im ruſſiſchen Volksbewußtſein
mit dem Begriff des Zartums: der Gedanke an die ruſſiſche Kirche und
der Gedanke an die Groͤße und den Ruhm des Vaterlandes. Beide Vor⸗
ſtellungen ſind vom Zartum im Laufe der Jahrhunderte auf jede Weiſe
zu vertiefen und zu kraͤftigen verſucht worden. Der Erfolg war ein der⸗
artiger, daß einerſeits, um alles auf einmal zu ſagen, heute noch keine
ruſſiſche Oppoſitionspartei wahrhaft populär fein kann, weil fie eben nie
die Kirche auf ihrer Seite haben wird, und daß andererſeits ſelbſt die
70
aufrichtigſten und opferwilligſten ruſſiſchen Kämpfer für die innere Bes
freiung ihres Volkes und die Beſeitigung ſeines namenloſen Elends immer
noch umfallen, ſobald Rußlands Ruhm und Anfprüche auf Weltherrſchaft
berührt werden. Das heutige Übergehen faſt des ganzen revolutionären
Rußlands ins Lager des kämpfenden Zarismus konnte niemanden in
Erſtaunen ſetzen, dem das klaͤgliche Ende Puſchkins und Gogols, der
größten Freiheitsherolde Rußlands, im aggreſſiven Panſlawismus bekannt
if, und der die Tragödie Doſtojewſkis kennt, den nationaliſtiſche Gehaͤſſig⸗
keit nie bis zu der Menſchenliebe kommen ließ, die er uns in den Mo⸗
menten hoͤchſter Intuition immer wieder verſprach. Auch an einem Tolſtoj,
wenigſtens dem fruͤheren, laſſen ſich leicht ſchwere nationaliſtiſche Verir⸗
rungen nachweiſen. Und ſelbſt die lichteſte Geiſtesgeſtalt Rußlands, Wladimir
Solovjeff, der eigentlich ein Verſprechen Rußlands an Weſteuropa bedeutet,
verliert ſeine Geiſtesſchaͤrfe und wird matt, ſophiſtiſch und ungerecht, wenn
er auf gewiſſe Gebiete der äußeren ruſſiſchen Politik kommt; ja, er ver:
teidigt ſogar die entſetzliche Polenpolitik Nikolaus I.
o tief hat der ruſſiſche Deſpotismus in feinem Streben nach Popu⸗ Die bewußte
und Selbſtbehauptung die Geiſter Rußlands beeinflußt. Und —
wenn die ruſſiſche Kritik vor dem ruſſiſchen Deſpotismus fo ſchon in ſehr Zar ce
weitem Maße gehemmt und ihr eigentlich die Spitze abgebrochen wird —
durch ſeine Verſchmelzung mit der ruſſiſchen Kirche, ſo hat ſich doch das
Zartum durchaus nicht auf Abwehr beſchraͤnkt, es iſt vielmehr auch ſehr
altiv hier vorgegangen. Das Hauptmittel war und bleibt die Schuͤrung des
Nationalbewußtſeins in dem doppelten Sinne: Stolz auf die erreichte
Größe und Anſpruch auf ihre ungehemmte Mehrung. Der natuͤrliche Weg
war hier die Schule. Ihre totale Abhaͤngigkeit von der ruſſiſchen Regierung
hat fie zweifellos bei der Geſellſchaft (übrigens erſt von der Mitte des vorigen
Jahrhunderts an) verachtet und verhaßt gemacht und um den groͤßten Teil
ihres erzieheriſchen Einfluſſes betrogen — und das ward ein ſehr bedeut⸗
ſames Moment für die ganze ruſſiſche Geiſteskultur (wenn z. B. Tolſtoj
jede Erziehung für Vergewaltigung erklaͤrt, fo nennt er eben die ruſſiſchen
Verhaͤltniſſe bei Namen und hat dazu noch dem gebildeten Rußland aus
der Seele geſprochen). Das hat aber die ruſſiſche Schule durchaus nicht ihres
Einfluſſes beraubt überall da, wo ſie naturlichen Neigungen des Ruſſen
ſchmeichelte, und wo das in ſcheinbar unbeabſichtigter Weiſe geſchehen
konnte. Das bezieht ſich natürlich vornehmlich auf die nationaliſtiſchen
Momente in ihr. Von ſolchen iſt die ruſſiſche Schule ganz durchtraͤnkt, und
yı
die Schulbehörde geht hier mit ſehr großer Weitherzigkeit vor. Der Zus
ſammenhang mit dem Staatsweſen bleibt dabei moͤglichſt unbetont, vor
allem wird auf die nationale Eitelkeit gerechnet: der ruſſiſche Menſch wird
immer und überall als überlegen hingeſtellt, der Weſteuropaͤer (der Deutſche
iſt nur als naͤchſter Nachbar der Typ) verhoͤhnt, verſpottet. Die ruſſiſche
Schule hat denn auch hier derartig verblüffende Reſultate erzielt, daß keine
ſpaͤtere, noch jo radikal⸗revolutionaͤre Erziehung dagegen aufkommt. Wir
haben das bereits in dem Programm der revolutionären Parteien im Revo⸗
lutionsjahr 1905 mit Staunen wahrgenommen: in bezug auf die nationalen
Freiheitsbeſtrebungen der von Moskau unterdruͤckten nichtruſſiſchen Nationen
(wovon noch die Rede ſein wird). Das Umfallen der ruſſiſchen Revolution
in dieſem Krieg vor dem Phantom des deutſchen Militarismus hat dann
wohl auch den befangenſten Blick daruͤber erhellt, wie ſehr die ruſſiſche
Schule Erfolg hat in ihrer ſyſtematiſchen Einimpfung des Nationalismus.
4. Das Zartum in ſeinem Selbſtbehauptungs⸗
kampf innerhalb der Nation
f Auen
Alles freie Geiſtige wird als nichtruſſiſch verdaͤchtigt. — und Wir⸗
kung 2 rein ballen palme Seoch. Eu. Krieg
als Maßnahme der Innenpolitik. — Die Unterdrüdung der e
Voͤlker Rußlands als Maßnahme der ruſſiſchen Innenpolitik. — Der ver⸗
haͤngnisvolle Einfluß dieſer Politik auf das ruſſiſche Geiſtesleben bis in
ſeine höͤchſten Spitzen
Alte freie [I rſt von Beginn des 19. Jahrhunderts an ward der ruſſiſche Deſpotis⸗
— vr us in Rußland ſelber bedroht, und durchaus unter weſteuropaͤiſchem
achat Einfluß. Er fehlt ſeitdem dort in keiner revolutionären Bewegung. Seine Un:
verſoͤhnlichkeit mit dem Echtruſſiſchen hat ſie noch alle zu Fall gebracht. (Die
letzte große ruſſiſche Revolution (1905) ſcheiterte bekanntlich daran, daß die
Propaganda der ſozialen Freiheiten, getreu dem damals herrſchenden
Marxismus, mit einer Agitation gegen die Kirche verbunden war.) Dies
ſei als ein für die ruſſiſche Freiheitsbewegung aͤußerſt charakteriſtiſches
Moment gleich im voraus bemerkt. Wenn wir nunmehr im einzelnen auf
die Maßnahmen eingehen, die der ruſſiſche Deſpotismus bereits als ein
Angegriffener zu ſeiner Selbſterhaltung ergriff, und auf den Einfluß, der
hiervon auf das geiftige Rußland ausging, fo muͤſſen wir zunaͤchſt einmal
72
Be.
feſtſtellen, daß urfprünglich alle dieſe Maßnahmen mehr in einem Unter:
laſſen (von verlangten Reformen) beftanden, und in einem gewaltſamen
Selbſtſchutz vor dem Eindringen von Geiſtesſtroͤmungen, die aus gleich
zeitigen politiſchen Vorgängen in Weſteuropa ſtammten (der großen fran⸗
zoͤſiſchen Revolution und der Julirevolution: mit erſterer ſetzt die ruſſiſche
Zenſur eigentlich überhaupt erſt ein, letztere bringt fie auf ihren in Kari⸗
fatur ausartenden Höhepunkt). Dieſes Moment, daß der ruſſiſche Deſpo⸗
tismus in den erſten Stadien ſeiner Selbſtverteidigung ſich gegen den
Import nichtruſſiſcher Geiſteselemente zu wenden hatte, iſt von weſent⸗
licher, für die Entwicklung des ruſſiſchen Geiſteslebens aͤußerſt verhaͤngnis⸗
voller Bedeutung. Zunaͤchſt einmal hatte die ruſſiſche Regierung ſo die Moͤg⸗
lichkeit, ihr auf Knechtung der Geiſter gerichtetes Vorgehen als nationales
Beſtreben auszugeben — und wir wiſſen, wie maͤchtig dieſer Appell ſelbſt
auf die vornehmſten ruſſiſchen Geiſter immer noch wirkt, und daß er ſogar
aufrichtiges Mitleid mit der geiſtigen und koͤrperlichen Not des armen Volles
und hemmungsloſen Opferwillen für es zu übertönen vermag —. Es iſt
auch gar nicht zu leugnen, daß die ruſſiſche Regierung dieſes Moment mit
äußerfter Geſchicklichkeit auszunutzen vermochte, und zwar indem fie je nach⸗
dem die blendende Groͤße des ruſſiſchen Vaterlandes vor den Geiſtern ihrer
Untertanen erſtehen ließ, oder — und das war wohl noch wirkſamer —
das Vaterland in ſeinem eigenen Beſtand bedroht hinzuſtellen wußte. Frei⸗
lich war ſo eine ganze Reihe auswaͤrtiger Kriege unerlaͤßlich. Um deren
Popularität, ſelbſt wenn es ſich um ausgeſprochene Eroberungsfriege han⸗
delte, brauchte indes die ruſſiſche Regierung niemals beſorgt zu ſein. Da
half ihr ſtets ein ideologiſches Moment, das ſchon aus den Kinderjahren des
ruſſiſchen Deſpotismus ſtammt, und auf das wir bereits weiter oben hin⸗
wieſen, als wir die Eroberung Konſtantinopels durch die Tuͤrken den welt⸗
politiſchen Gluͤcksfall Rußlands nannten, die ideelle Keimzelle feiner ſpaͤteren
Weltmachtſtellung.
amals, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, hatte, wie bereits urwrans und
erwaͤhnt, ein großer Teil der nichtruſſiſchen Slawen, die Balkanſlawen, — ven
Moskau zu ihrer Beſchützerin ernannt — in der Hoffnung, es werde fie aeg
vom Türkenjoch befreien. Von flawiſchen Dichtern — zum Teil unter
Faͤlſchung uralter bulgariſcher Geſaͤnge — ging die Verherrlichung Moskaus
als des dritten Roms aus. Und dieſe Anſchauung hatte deshalb ſo tief im
Volksbewußtſein Wurzel faſſen können, weil der urſprüngliche Bedruͤcker
dieſer flawiſchen Brüder eben ein Heide war, der Türfe, und es ſich ihm
73
gegenüber alſo um den Schutz deſſen handelte, was dem einfachen Ruſſen
das Heiligſte iſt: ſeine Religion. Zweifellos hat auch dieſes Moment (poli⸗
tiſche Anſpruͤche geiſtig zu rechtfertigen gehört zur aͤlteſten zariſchen Tradi⸗
tion) den Moskauer Zaren mit dazu beſtimmt, ſich zum geiſtigen Oberhaupt
der ruſſiſchen Kirche zu machen. So waren ſeine durch die Jahrhunderte
gehenden und die ganze ruſſiſche aͤußere Politik beſtimmenden Anſprüche,
der Beſchuͤtzer des Balkanſlawentums zu ſein (an ſich ebenſo logiſch wie
wenn Deutſchland ſich als berufenen Beſchuͤtzer Hollands, Dänemarks,
Skandinaviens und Englands erflären wurde) geiſtig begruͤndet oder
wenigſtens volkstuͤmlich. Es bedeutete dann nur noch einen ganz kleinen
Schritt, kaum bemerkbar und auf gerader Linie liegend, wenn aus den
Balkanſlawen im Handumdrehen alle Slawen wurden, und aus den Heiden
die Nichtrechtglaͤubigen, alſo je nach Bedarf Proteſtanten und Katholiken:
Deutſche, Oſterreicher, auch Franzoſen und Englaͤnder (namentlich waͤhrend
des Krimkrieges). Jedenfalls koͤnnen wir es ſehr wohl auf den Fall von
Konſtantinopel und die Anrufung der Moskauer Hilfe durch die Balkan⸗
ſlawen zurüdführen, daß die ruſſiſche aͤußere Politik ſich von da an gar
nicht mehr trennt von kirchlich religiöfen Motiven.
Der äußere Arles ieſe ſich hier ergebende Moͤglichkeit fuͤr den ruſſiſchen Deſpotismus,
— — alle Kriege populär zu machen, iſt aber deshalb fo unendlich wertvoll
für ihn, weil jeder Deſpotismus an ſich, ſchon zu feiner Selbſterhaltung,
ſtaͤndiger auswaͤrtiger Kriege bedarf: Immer dann, wenn die innere Span⸗
nung allzu groß wird — was auch zweifellos vor Ausbruch des Weltkrieges
der Fall war und letzten Endes fein vorzeitiges Ausbrechen veranlaßte -
Der auswärtige Krieg erweiſt ſich da immer noch als rettendes Mittel — 4
er braucht gar nicht wie in Rußland die unbegrenzte Moͤglichkeit zu haben,
ſich ideell zu rechtfertigen. Auf jeden Fall werden durch den aͤußeren Krieg
die inneren Unzufriedenheiten in den Hintergrund gedraͤngt, als unpatrio⸗
tiſch verpoͤnt. Selbſt im ſchlimmſten Falle, dem der Niederlage, hat die
deſpotiſche Regierung immer noch den Gewinn: Als Organiſatorin der
nationalen Verteidigung kann fie das Verdienſt für ſich beanſpruchen, das
Vaterland vor noch Schlimmerem, vor Untergang, gerettet zu haben. Zu⸗
dem gewoͤhnen die Notwendigkeiten des Krieges die Untertanen an eine
abſolute Gewalt. Sie wird dann weniger druͤckend empfunden, und man
verſteht ſchon durch weiſe Übergänge zum Friedensdeſpotismus dieſen als
Erleichterung noch ſchmackhaft zu machen. Iſt aber der Krieg ſiegreich, dann
wird das Selbſtbewußtſein der Untertanen derart gehoben — und durch⸗
74
aus koſtenlos für das deſpotiſche Regiment —, daß die Regierung als uns
mittelbare Urheberin der Vermehrung des herr Ruhmes und der
nationalen Macht wiederum auf ein ſehr großes Maß von Nachſicht, ja
Dankbarkeit Anſpruch hat. Allerdings traͤgt dieſe ganze Politik — eben weil
ſie gegen das Weſen des Menſchen iſt — ihren Todeskeim in ſich — und
nur die ideologiſchen Momente, die das Zartum hier für ſich geltend machen
kann, erklaren feine ſonſt allzu raͤtſelhafte Widerſtandskraft.
as Verhaͤngnisvollſte in dieſem Zuſammenhang iſt dabei dieſes: Wenn Die Unter-
die herrſchende Nation, die Großruſſen, das Bewußtſein haben ſollen, een
das Herrſchervolk zu fein, und fie dabei doch im eigenen Haufe in Knecht At Maga
ſchaft gehalten werden muͤſſen — und das iſt doch natürlich der eigentliche der itt
Zweck —, fo muͤſſen die unterworfenen, die nichtruſſiſchen Volker ſchon en
ihren ganz elementaren Rechten, nicht mehr den politifchen, vielmehr den
Menſchenrechten, beſchnitten werden: Es bleiben da eigentlich nur noch das
Recht auf die Mutterſprache und das Recht auf Religionsausübung. Beides
wird denn auch immer mehr eingeengt. Daher die nie zu Ende kommende,
immer brutalere Ruſſifizierung der nichtruſſiſchen Voͤlkerſchaften Rußlands.
Und ſie geht einen doppelten Weg: Verdraͤngung der Mutterſprache einer⸗
ſeits, andererſeits Bedraͤngung der Mutterkirche, was immer wieder bis
in gewaltſame Bekehrung zur rechtglaͤubigen Kirche ausartete. Denn gerade
die Andersgläubigfeit der nichtruſſiſchen Volker Rußlands muß das uner⸗
hoͤrt brutale Vorgehen gegen fie in den Augen des ruſſiſchen Volles recht⸗
fertigen. Kein anderes Moment ſpricht dabei fo ſehr für die tatſaͤchliche
kulturelle Rückſtaͤndigkeit Rußlands, als daß dies im großen und ganzen
durchaus gelingt: die ruſſiſche Regierung iſt Polen, Ukrainern, Deutſchen
und Finnen gegenüber bis an die letzte Grenze unerhoͤrteſter Brutalität
und geiſtiger Vergewaltigung gegangen und hat dabei in ihrem eigenen
Volle, ſelbſt bei deſſen geiſtigen Spitzen, nicht nur kaum mehr als einen
platoniſchen Widerſtand gefunden (lediglich aus prinzipiellen Gruͤnden und
nur bei den Liberalen, die aber ſeit 1909 auch darin umgefallen ſind),
nein, die hoͤchſten Spitzen der ruſſiſchen Geiſtigkeit, z. B. ein Doſtojewfki
und fogar ein Solovjeff, haben hierzu noch das geiſtige Ruͤſtzeug geliefert!
Hier erkennen wir denn auch, was das eigentliche Weſen der ruſſiſchen
Gefahr ausmacht: fie bedeutet eine Bedrohung unſerer hoͤchſten geiſtigen
Güter: Freiheit des Gewiſſens und der Forſchung. Für uns fime es —
das muß immer wieder mit allem Nachdruck betont werden — durchaus
auf dasſelbe heraus, ob Koſakenheere oder Revolutionsarmeen in Berlin
75
einzoͤgen: das Ergebnis wäre das gleiche: jedes Denken würbe mit dem
Tode beſtraft. 4
a ir dürfen uns hier durchaus nicht irre machen laſſen durch die Huma⸗
Diefer velintt auf nitätslehren der großen Ruſſen: Tatſaͤchlich find gerade fie —nament⸗
—.— * lich in Hinſicht auf die nichtruſſiſchen Slawen — die wirkſamſten Vor⸗
In feine doe koͤmpfer des Zarismus geworden. Denn keiner der großen Rufen — nicht
einmal Tolſtoj, von Doſtojewſki und Solovjeff gar nicht zu reden — denkt
anders, als daß der Weg zum Allmenſchentum über das Alltuſſentum gehen
muß. Und wenn dabei auch die Aufgeklaͤrteſten — Tolſtoj und Solovjeff —
hierunter nur dasgeiſtige Allruſſentum verſtehen, ſo iſt doch deſſen Gleichſetzung,
wenn nicht mit dem Zarismus, ſo doch mit dem ruſſiſchen Weltreich, vor allem
durch deſſen unlöslihe Vermengung mit dergeiftige Weltherrſchaft beanſpru⸗
chenden ruſſiſchen Kirche ſo tief eingehaͤmmert in den ruſſiſchen Geiſtern — daß
die rein politiſchen Machtmittel, in Weihrauchwolken unkenntlich geworden,
ſchließlich ganz von ſelber die geiſtigen erſetzen. Die ſo erfolgreiche jahr⸗
hundertelange Zwangspolitik hat in dieſer Weiſe die beſten ruſſiſchen Geiſter
verfaͤlſcht. Das ſollten wir nie vergeſſen, bei allem Kulturgut, das wir von
Rußland dankbar annehmen. Ein peinlicher Reſt von noch ſo verſteckter Aus⸗
ſchließlichkeit: heimlicher Gleichſetzung von Ruſſentum mit Menſchtum an
ſich, iſt einſtweilen noch in allem, was von Rußland kommt, mag es noch
_ fo ſehr die — übrigens ſtets aufrichtige — Maske ungehemmter Menſch⸗
lichkeit an ſich tragen. Der Glaube, daß es nur in Rußland Menſchenſeelen
gibt, liegt eben allzu tief im ruſſiſchen Herzen. Das ganze geiſtige Europa
| ift darum Rußland gegenüber ſolidariſch und verpflichtet, feine hoͤchſten
Güter ihm gegenüber zu verteidigen: Freiheit des Gewiſſens und Freiheit der
f Forſchung. So weit hat die innere Politik des Zarismus: das Selbſtbewußt⸗
ſein des Herrſchervolkes fuͤr ihn ſelber koſtenlos zu erhoͤhen durch brutalſte
Vergewaltigungen der nichtruſſiſchen Voͤlker des Zarenreiches auch das
geiſtige Rußland vergiftet.
5. Die Doktrin vom ruſſiſchen Reiche als einem
nationalen Einheitsſtaate
Das eigentliche Weſen dieſer Theorie, Die Rolle des nationalen
zismus in der Theorie vom nationalen ruſſiſchen Einheitsſtaate: das Raͤtſel
der ruſſiſchen Seele. — Der Einfluß der Doktrin vom nationalen ruſſiſchen
76
Einheitsftaate auf die 8 — Die Revolution
als tatſaͤchliches ba heitsmoment. — Die nationaliſtiſchen
en ution. — Die zureichenden Gründe I.
das Nationa ptſein in allen pelliſchen Lagern. — Das
bewußte Schüren des Gegenſatzes zum Weſten von ſeiten der ruſſiſchen
erung
Di typiſch ruſſiſche Innenpolitik hat bekanntlich auch einen Namen Das cuenta
damit eine theoretiſche Begründung erhalten: in der Lehre rr
ruſſiſchen Reiche als einem nationalen Einheitsſtaat. Daß fie überhaupt
moͤglich war, beweiſt, wie ſehr eine Regierung ſelbſt der handgreiflichſten
Logik ins Geſicht ſchlagen darf, wenn fie dabei nur dem nationalen Selbſt⸗
gefühl ihrer Burger ſchmeichelt. Denn die einfachſte Wirklichkeit offenbart
doch genau das Gegenteil dieſer Theorie: die tatſaͤchliche Zuſammenſetzung
des ruſſiſchen Reiches aus durchaus verſchiedenen Nationen. Dieſe Theorie
ſagt demnach nicht etwas, was iſt, vielmehr etwas, was ſein ſoll (freilich
find überhaupt nur ſolche Theorien in der Politik verwendbar, auch der
Panſlawismus iſt ja uberhaupt nur fo verftändlich). Es ſollen alſo alle
Voͤlkerſchaften, die zum ruſſiſchen Reiche gehören — außer den Großruſſen,
die kaum noch ein Drittel ausmachen —, zunächft einmal entnationaliſiert
werden. Wir wiſſen, daß das laͤngſt ſchon aufs gründlichfte beſorgt wird
(und das platoniſche Verhalten des geiſtigen Rußlands demgegenüber be⸗
weiſt mehr als alles andere deſſen tiefgehende Vergiftung durch den ruſſi⸗
ſchen Deſpotismus). Nun muß aber doch etwas an die Stelle dieſer ver⸗
nichteten Nationalkulturen geſetzt werden. Nehmen wir nun ſelbſt einmal
an, es gäbe eine großruſſiſche Kultur — (fie ſei nicht vor zweihundert Jahren
von Peter an der Wurzel getroffen, und ihre Reſte mit ſchlechtpaſſendem
Weſteuropaͤertum in heilloſer Weiſe vermiſcht worden), eine einheitliche,
alle Gebiete des Lebens umfaſſende großruſſiſche Kultur —, fo koͤnnte fie
doch nicht den von Rußland unterworfenen und im Intereſſe des natio⸗
nalen ruſſiſchen Einheits ſtaates erft einmal entnationalifierten Voͤlkern über:
geben werden —, denn die Überbringerin würde zunächft einmal nach dem
Brutaliſierungswerke, das fie ausübte, gar nicht das nötige Vertrauen bes
figen —, und eine Kultur kann nicht aufgezwungen werden: das wider⸗
ſpricht ihrem eigentlichen Weſen. Und dann — und das iſt die Hauptſache —,
wer dieſe großruſſiſche Kultur den entnationaliſierten Voͤlkern geben will,
der iſt ja ſelber ihr unverföhnlichfter Verfolger und Gegner im eigenen
— großruſſiſchen — Lande, ſofern es ſich da um mehr als aͤußere Formen
und Einrichtungen, ſofern es ſich um lebendiges nationales Geiſtesleben
77
handeln ſollte. Schon daraus ergibt ſich, daß von einer Herbeiführung eines
ruſſiſchen nationalen Einheitsſtaates ſchon aus dem Grunde gar keine Rede
ſein kann, weil die mit der gewaltſamen Entnationaliſierung einſetzende
Ruſſifizierung ja gar nichts mehr von Rußland zu bieten hat außer Außer⸗
lichkeiten: Sprache, äußere Gebräuche uſw.
Die Nene des va · n kann ſich nun leicht vorftellen, welche große Rolle in der Verhül⸗
rk re lung diefes fo einfachen Zuſammenhanges ein nationaler Myſtizismus
re von fpielen muß. Wäre er nicht vorhanden, die ruſſiſche Regierung hätte ihn
fen Ein bete. ei, erfinden muͤſſen. Indeſſen war es von jeher eine ihrer erfolgreichſten Tak⸗
u Eh — rade, tiken, daß fie ſich für ihre allerbedenklichſten Maßnahmen auf myſtiſch Uns
elle ergruͤndliches berief: Hier kann ja alles fein, und muß das angenommen
werden, was ſie ſelber rechtfertigt. Und das ruſſiſche Volk war ja nun ein⸗
mal gewoͤhnt worden, außerhalb der Wirklichkeit zu leben. Trotzdem wurde
die rein myſtiſche, in tauſend Unbeſtimmbarkeiten ſchwebende Art, wie der
Ruſſe ſelber ſich uͤber das Weſen ſeines Volkstums aͤußert, wohl kaum jene
ungeheuerliche Verbreitung genommen haben, wenn das nicht der deſpo⸗
tiſchen Regierung aͤußerſt gelegen gekommen waͤre: nicht nur, um alle moͤg⸗
lichen Gewaltmaßregeln innerhalb des Herrſchervolkes ſelber zu rechtfertigen
(wir erinnern nur vorgreifend daran, wie der urſpruͤnglich rein ethiſche
Panſlawismus hierzu mißbraucht ward, und ſchließlich ausartete in den
nationalen Myſtizismus ruſſiſcher Staatsmaͤnner von der Art Pobjedo⸗
noſzeffs, dem wir indes durchaus nicht Aufrichtigkeit abſprechen wollen),
vielmehr auch um die im dringenden Selbſterhaltungsintereſſe des Zaris⸗
mus gelegenen Theorien des ruſſiſchen nationalen Einheitsſtaates zu ſtuͤtzen,
wenigſtens ihre allzu großen Bloͤßen zu decken. Hier ſtehen wir denn auch
ganz unmittelbar vor einem der traditionellen Momente im ruſſiſchen
Geiſtesleben, das immer wieder ſchuͤchterne Geiſter ihm fernhaͤlt, und dem
zudem das Merkwuͤrdige eignet, daß es ſich in allen noch fo gegenſaͤtzlichen
Schichten des geiſtigen Rußlands vorfindet: wir meinen natuͤrlich das uͤberall
im ſchreibenden und ſchreienden Rußland behauptete Raͤtſel der ruſſiſchen
Seele. Was dabei zunaͤchſt auffällt, ift, daß damit der ruſſiſchen Seele eine
beſondere Eigentuͤmlichkeit zugeſprochen werden ſoll, waͤhrend doch das
Raͤtſelhafte, jedem ſie nicht Erlebenden Undurchdringliche, gerade zum
Weſen der Menſchenſeele gehoͤrt: als das Weſentlichſte in ihr. Doch ſolche
einfachen logiſchen Einwaͤnde verfangen nicht im ruſſiſchen Geiſtesleben,
das uͤberall auf myſtiſchen Schwingen ruht. Was durch dieſes Dogma vom
Rätfel der ruſſiſchen Seele ausgedruͤckt werden ſoll, iſt vielleicht auch nur
78
„„
Be,
ne R
ae
ihre ganz befondere Undurchdringlichkeit (was freilich in Widerſpruch ſteht
zu der Offenheit und der Aufrichtigkeit des Ruſſen, die tatſaͤchlich iſt, und
aus der dabei im nationalruſſiſchen Lager immer wieder ein beſonderer
Vorzug vor Weſteuropa gemacht wird). Indes eignet auch dieſer ruſſiſchen
Theorie das — wie wir ſahen — für die ruſſiſchen Theorien überhaupt
Charakteriſtiſche, daß fie vornehmlich etwas ausdruͤckt, was fein foll: die
ruſſiſche Seele ſoll ein Rätfel fein; man ſoll ſich nicht daran machen, fie
verfiandesmäßig zu ergründen. Solches wird eben für unmoͤglich erklart.
Man kann aber doch bis zu einem gewiſſen Grade in jede Seele eindringen!
Seele iſt ja überhaupt das, und vielleicht das einzige, was ſich endlos deuten
laßt. Weshalb ſoll man das nicht bei der ruſſiſchen Seele wenigſtens ver⸗
ſuchen ? Es wird behauptet, das führe zu nichts. Das kann indes kein euros
paͤiſches Denken abhalten. Aber gerade dieſer Verſuch ſoll ja unterbleiben!
Das und nichts anderes bedeutet dieſes in allen Lagern des geiſtigen Rufe
lands ſtaͤndig wiederkehrende und überall als eines der Hauptargumente
auftretende Dogma von dem Raͤtſel der ruſſiſchen Seele. Grundſaͤtzlich wird
alſo dem Denken hier vorſchnell eine Grenze geſetzt: ſein Abdanken dort
verlangt, wo es noch zu tun findet — und das unter Berufung auf etwas
nicht unmittelbar Einzuſehendes, alſo dogmatiſch. Wir kennen bereits alle
dieſe Momente als typiſch für das ruſſiſche Denken. Neu ift hier nur das
Sichberufen auf ein geiſtig Undurchdringliches als Argument. Wir wiſſen
indes, daß dies Moment unmittelbar aus der Praxis des Defpotismus übers
nommen ward, und deſſen grundſaͤtzliche Methode in der Nutzbarmachung
des Geiſtigen für ſeine Zwecke darſtellt. Der Zweck des Anrufens dieſes
Dogmas vom Rätfel der ruſſiſchen Seele iſt grundſaͤtzlich überall derſelbe:
es ſollen Luͤcken im zureichenden Grunde rein nationaler Überzeugungen
verhüllt werden, zum Beiſpiel der Revolutionaͤr will glauben, daß mit der
Beſeitigung des Deſpotismus alle Verdorbenheit aus dem ruſſiſchen Ge⸗
meinſchaftsleben ſchwinden müffe, der „echtruſſiſche“ Mann will glauben
machen, daß man im Gegenteil dieſes Volk nur durch den Zarismus zu
feinem Heile bringen kann, der ethiſche Panſlawiſt will glauben, daß dies
Volk die Knechtſchaft will, der Ruſſifizierer endlich will glauben machen,
daß dies Volk, deſſen Unkultur vor aller Augen liegt, allen Voͤlkern der
Erde eine geheimnisvoll tiefe Kultur zu geben vermag. Hier, in der Theorie
vom nationalen ruſſiſchen Einheitsſtaat, hat denn auch das Dogma vom
Rätfel der ruſſiſchen Seele feine feſteſte Stütze. Um dieſer Anwendung
wegen wird es auch geduldet auf ſolchen Gebieten, wo es ſtreng genommen
79
| —
— —— —u—
gegen die Intereſſen des Deſpotismus iſt. Er iſt indes hier durchaus nicht
kleinlich: er weiß ja, daß es ſich um ein ſehr wertvolles, außerordentlich
vielſeitig zu verwendendes Mittel fuͤr ihn handelt: Je tiefer es Wurzel faßt
im ruſſiſchen Geiſte, um ſo wirkſamer wird es ſein. Hier ſtehen wir an der
typiſchen Form der Verfaͤlſchung und Vergiftung des ruſſiſchen Geiſtes⸗
lebens durch die durch Jahrhunderte gleichbleibende Geiſtespolitik des Zaris⸗
mus, der ſeine Herrſchaft auch uͤber die freien ruſſiſchen Geiſter ſich zu
wahren wußte: durch feine unlösliche Vereinigung mit der Kirche und der
Entfaltung nationaler Groͤße und Ruhmes.
enden wir uns nunmehr zu den politiſchen Nachteilen der — wie
wir ſahen — ſchon zur einfachſten Wirklichkeit in fo unuͤberbruͤckbarem
Gegenſatz ſtehenden Doktrin von der Einheit des ruſſiſchen Nationalſtaates.
Aupenpolii! Zunaͤchſt geht einmal die hierzu erforderliche Entnationaliſierung der vom
Moskauer Staate geknechteten Voͤlker nicht ohne deren energiſchſten Wider⸗
ſtand vor ſich, der ſeinerſeits die ruſſiſche Regierung zu immer brutaleren
Maßnahmen zwingt, wodurch denn ſchließlich ein ſo elementarer Haß gegen
alles Ruſſiſche großgezogen wird, daß ſchon an ihm allein das ruſſiſche Reich
früher oder ſpaͤter auseinanderplatzen muß: Jeder fremde Eroberer muß
da ſchließlich noch auf vielen Gebieten als Befreier begruͤßt werden. Und
wir haben ja etwas davon erlebt. Ganz von ſelber verſteht es ſich auch
noch, daß die fo verurſachten Kulturverwuͤſtungen ſchließlich auch die poli⸗
tiſche Macht Rußlands ſchwaͤchen muͤſſen. Waͤhrend aber alle dieſe großen
Gefahren weſentlich die Zukunft betreffen — und es gibt nichts Fata⸗
liſtiſcheres als die ruſſiſche Regierung —, ergibt ſich eine ſehr ſchwere Ber
drohung des ruſſiſchen Reiches, wenigſtens ſeiner Weltmachtsſtellung, hier
bereits auch in der Gegenwart. Und ſie kann ſo akut werden, daß nur ein
Zuvorkommen durch einen vom Zaun gebrochenen Krieg zu helfen ver⸗
mag. Auch hier ſtehen wir zweifellos an einer der Veranlaſſungen des Welt⸗
krieges. Der einfache Zuſammenhang iſt der: Es kann ja der Fall eintreten,
daß von einem der zum ruſſiſchen Reiche gehoͤrenden und deshalb im Inter⸗
eſſe des ruſſiſchen nationalen Einheitsſtaates im Zuſtand der gewaltſamen
Entnationaliſierung befindlichen Voͤlker, z. B. der Ukrainer, ein Teil — es
braucht nur ein ganz kleiner zu ſein (fuͤnf Millionen in Galizien gegen dreißig
Millionen in Rußland) zu einem anderen Staatsganzen gehört, das nicht
deſpotiſch regiert wird und darum auch nicht zur Doktrin des nationalen
Einheitsſtaates feine Zuflucht zu nehmen braucht, z. B. Oſterreich, deſſen
Grundſatz gerade im Gegenteil ein freies nationales Ausleben aller in ihm
80
r
1
r
FRE
ee 1
vereinten Volker iſt (unter ſolchen Bedingungen, die nur eine Großmacht
zu geben vermag). Was wird nun die einfache Folge ſein? Das in Ruß⸗
land brutal unterbrüdte nationale Leben dieſes Volkes ſucht und findet eine
Zufluchtsſtaͤtte in dieſem anderen Land. Dort erhält es alle Freiheiten:
Schulen und Univerfitäten. Natürlich zieht es bald jenen größeren Teil
dieſes Volles, der zu Rußland gehoͤrt und entnationaliſiert wird, zu dieſem
anderen Staatsganzen hin, zu Oſterreich. Sollte es aber zu ihm abfallen
mit ſeinen dreißig Millionen (welche zudem noch die fruchtbarſten und in⸗
duſtriereichſten Gegenden Rußlands bewohnen), dann waͤre es aus mit
Rußlands Groß machtſtellung. Freilich gäbe es eine Rettung: Rußland
brauchte bloß ſeinen Ukrainern dieſelben Freiheiten zu geben, die Oſter⸗
reich den feinen gibt, aber dann muͤßte es eben aufhören, ein deſpotiſches
Staats weſen zu fein. Und nur um ein ſolches bleiben zu koͤnnen, entnatio⸗
nalifiert es ja feine Ukrainer, erfand es die famoſe Doktrin von dem natio⸗
nalen Einheitsſtaat Rußland!
es demgegenüber gar nicht zu leugnen iſt, daß in den nichtruſſi⸗Die rurirse ne-
Voͤlkern des Zartums eine gewiſſe — wenn auch nicht tief⸗ ee
gehende, freiwillige Durchdringung mit Ruſſentum ftattfindet, fo kann das — —
nicht lediglich auf den tatfächlich ſehr ſympathiſchen Charakter des einfachen
ruſſiſchen Volles zurüdgeführt werden. Man muß wenigſtens noch beruͤck⸗
ſichtigen, daß das Großruſſenvolk von den nichtruſſiſchen Voͤlkern Rußlands
des halb vor allem ihnen vielfach als fo naheſtehend erlebt wird, weil die es
dei näherem Zuſehen ganz ebenſo, wenigſtens faſt ganz ebenſo, geknechtet
erblicken, wie fie ſelber ſind — und von demſelben Haß beſeelt gegen das
offizielle Rußland: die deſpotiſche ruſſiſche Regierung. So paradox es
auch klingen mag, Eingeweihte wiſſen es laͤngſt: die ſtaͤrkſte Kette vielleicht,
. heute die ſo verſchiedenartigen Voͤlker Rußlands zuſammenhaͤlt, iſt die
xuſſiſche Revolution. Hier vereinigen ſich die Vertreter aller im Ruſſen⸗
reich vereinigten Nationen zu einem gemeinſamen Ziele, und, mag hier
Gewohnheit oder tatſaͤchlich freie Wahl herrſchen, die nichtruſſiſchen Revo⸗
lutionäre, die ſonſt in der ruſſiſchen Revolution eine fo große Rolle ſpielen
ia denen man es wohl vor allem zuzuſchreiben hat, daß innerhalb ihrer das
heerſcht, was überall ſonſt im ruſſiſchen Leben fehlt: ſtraffe Organiſation
und Zielbewußtſein), fügen ſich freiwillig den großruſſiſchen Revolutions⸗
ieelen. Das geht fo weit, — und auch das bleibt ein ſehr beachtens wertes
Moment für den inneren Zuſammenhalt Rußlands — daß die Kämpfer für
nationale Würde und Selbftändigleit der einzelnen von Rußland unter
© Net, Grundlagen des geiftigen Muttande 81
worfenen nichtruſſiſchen Voͤlker gerade hier auf den hemmendſten Wider⸗
ſtand ſtoßen: indem die tatkraͤftigſten und wirklich opferbereiten Elemente
ihrer eigenen Nation meiſt ganz aufgehen in der ruſſiſchen Revolution und
ihren Ideologien! Die nationale Selbſtaͤndigkeit des eigenen Volkes er⸗
ſcheint ihnen demgegenuͤber oft als ein kleinliches Ziel, wenn nicht gar als
etwas, was dem Erreichen des einen großen Zieles überall im Wege ſteht,
und dieſes kann bloß fein: nach dem Umſturz des Deſpotismus alle in Ruß⸗
land vereinigten Voͤlker — naturlich unter Beibehaltung dieſer ihrer Vers
einigung — der ſozialen Freiheit zuzuführen und durch ſie die ganze
Menſchheit zu erlöfen.
Die nationalifi- ieſe ruffifcherevolutionäre Ideologie, deren Urſprung aus der Politik
35 alliten des Zarismus wir bereits kennen: dies ewige Gleichſetzen von Eng⸗
evolution tuſſiſchem mit Allmenſchlichem, muß wohl an ſich einen ſehr verfuͤhreriſchen
Einfluß auf die Geifter ausüben, und der muß natürlich beſonders groß
fein auf Unterdrüdte, Vergewaltigte. Daß die ruſſiſche Revolution völlig
bewußt eine Art geiſtiges Weltreich erſtrebt, liegt ſchon in ihrer Doktrin,
daß fie es aber ruſſiſch will, daß auch für fie der Weg zum Allmenſchentum
durchs Allruſſentum geht, iſt die unmittelbare Folge der zielbewußten, rein
nationaliſtiſchen Erziehung ausnahmlos aller Ruſſen durch ihre deſpotiſche
Regierung vermittels Schule und Kirche. Von dieſem Geſichtspunkt aus,
eben ihrer Verbindung mit der ruſſiſchen Revolution, erhaͤlt die ruſſiſche
Gefahr ein neues bedenkliches Moment: Sie wird um ſo bedrohlicher, je
mehr wir im eigenen Lande ſozial ſuͤndigen. Es gibt nur eine Rettung vor
ihr: bewußtes Zurüdfehren auf unfere beſten Traditionen religioͤs⸗ſittlicher
Art. Uns dazu mitzubeſtimmen, darin liegt ſicherlich auch eine und viel⸗
leicht nicht die letzte kulturelle Miſſion des Ruſſentums uns gegenüber.
Die lureichenden ch ein zweites, ſehr weſentliches Moment kommt in dieſem Zuſam⸗
— A menhang (wo von den Segnungen die Rede iſt, die dem ruſſiſchen
en elite Deſpotismus noch aus feinen Sünden erblühen) ſehr wohl in Betracht:
kater indem nämlich die deſpotiſche Regierung alle unter ihrer Knute vereinigten
Voͤlker in der gleichen unwuͤrdigen Knechtſchaft haͤlt, erzeugt ſie in ihnen
tatſaͤchlich ein ganz beſtimmtes Zuſammengehoͤrigkeitsgefuͤhl. Und es iſt
um ſo feſter gegründet, als es bei allen in ihm Vereinigten dieſelbe Spitze
traͤgt: eben gegen Weſteuropa: Man ſchaͤmt ſich vor ihm, glaubt ſich von
ihm verachtet und ſucht nun — das iſt tief im Mechanismus der Menſchen⸗
feele gegründet — dem zuvorzukommen durch Entwerten deſſen, dem man
ſich unterlegen weiß, d. h. ganz Weſteuropa. Um den zureichenden Grund
R der ruſſiſche Menſch
—— —u—yk und as übrclapen Iatene
fität feiner nationaliſtiſchen Erziehung. Er wählt fie je nach dem Charakter
des Lagers, dem er angehoͤrt. Der Nationalruſſe (Beamte, Offizier, Indu⸗
ſtrielle, Großgrundbeſitzer) pocht auf Rußlands nationale Größe: Rußlands
ungeheure Ausdehnung, die Unermeßlichkeit ſeiner Aufgaben in Aſien, und
findet demgegenüber die weſteuropaͤiſchen Angelegenheiten kleinlich! Der
Gegner der ruſſiſchen Regierung, der ruſſiſche Revolutionaͤr, findet den Vor⸗
zug vor Weſteuropa eben in den weiten Zielen der ruſſiſchen Revolution
und in den Opfern, die ihr gebracht werden. Und gerade hier wurzelt der
rruſſiſche Überlegenheitsanſpruch über den Weſten am allertiefſten. Ganz
27 a ruſſiſch und in vieler Hinſicht ſogar verheißungsvoll iſt es dabei, daß
ein Anſpruch von Überlegenheit über den Weſten den Ruſſen aller Lager
gemeinſam ift: vom Ultrareaftiondr bis zum Bombiſten, vom Moͤnch bis
zum Atheiſten, find alle Ruſſen aufs tiefſte davon überzeugt, daß es eigent⸗
4 bloß in Rußland Menſchenſeelen gibt: Die allzu offenbare kulturelle
Unterlegenheit gegenüber dem Weſten wird eben überall durch das
Behaupten ſeeliſcher Überlegenheit auszugleichen geſucht (und daran
wäre gar nichts auszuſetzen, wenn der Ruſſe nur begreifen würde, daß
Vorzüge, die man ſeiner Nation beilegt, jeden einzelnen in ihr ver⸗
pflichten).
ie ruſſiſche Regierung kennt nun ſehr wohl alle dieſe Uberlegenheits⸗ 222
anfprüche ihrer Untertanen. Sie pflegt fie ausnahmslos alle, das wiſſen @esentages zum
wir, und ſchneidet ſich dabei nur ſcheinbar ins eigene Fleiſch. Denn fie weiß zer — —
ſehr wohl, was fuͤr ſie das Weſentliche iſt: eben die gemeinſame Spitze —
gegen Weſteuropa. Es iſt nun ihre wohlverſtandene Aufgabe, die ruſſiſchen
Empfindlichkeiten gegen den Weſten (man kann je nach Belieben Deutſch⸗
land, Oſterreich, Frankreich, England meinen; es iſt immer dasſelbe) auf
jede Weiſe wachzuhalten. Wer die ruſſiſche offizisfe Preſſe im Laufe von
Jahren verfolgte, der weiß, wie genial die ruſſiſche Regierung dabei ver⸗
flaͤhrt. Es werden mit peinlicher Sorgfalt — und ſcheinbarer Weitherzig⸗
leit — alle und jede Außerungen im Auslande geſammelt, die das ruſſiſche
Nationalbewußtſein an irgendeiner feiner tauſend Verwundbarkeiten treffen
0 könnten. So verbreitete z. B. auch die ruſſiſche Regierung ſelber gefliffentlich
— und zwar lange vor dieſem Krieg und in ihren reaktionaͤrſten Organen —:
Deutſchland, das reaktionaͤre Deutſchland, habe allein ſchuld daran, daß die
ruſſiſche Revolution nicht zum Siege gelangte! ... Das iſt nur ein Bei⸗
o. 83
fpiel. Man ſtaunt da immer wieder über völlig Unerwartetes. Man ift des⸗
wegen auch bei uns bisweilen geneigt, der ruſſiſchen Regierung eine ge⸗
wiſſe geiftige Überlegenheit vor unſerer ehrlichen geradlinigen Regierung
zuzugeſtehen. Bei naͤherem Zuſehen erkennen wir indes, daß allen dieſen
fo feinen Pſychologien das eine eignet, daß fie unanftändig find, auf Nieder⸗
tracht beruhen. Damit iſt das ganze Geheimnis der geiſtigen Überlegenheit
der ruſſiſchen Regierung bei Namen genannt: ſolche Gedanken koͤnnen eben
gar nicht dem kommen, der Anſtandspflichten erlebt. Hier iſt für feinen
Gedanken ein abſolut verbotener Weg. Daß aber der Gedanke der ruſſi⸗
ſchen Regierung an ſich unfruchtbar iſt, beweiſt ein fluͤchtiger Vergleich ihrer
organiſierenden Tatigkeit mit der unferer Regierung: Hier im Weſten
ſchoͤpferiſche Kräfte, dort hilfloſes, freilich noch durch Unaufrichtigkeit ge⸗
hemmtes, aber doch auch ſo erſtaunlich ideenarmes Experimentieren.
6. Der allgemeine Charakter der ruſſiſchen
Innenpolitik und ihr geiſtiger Niederſchlag
EDIT
Ganz im allgemeinen wird der Gedanke des Menſchen inhaltlich
durch ſein Intereſſiertſein beſtimmt. Es weiſt den ruſſiſchen Deſpo⸗
tismus auf ſich ſelber hin, den weſteuropaͤiſchen Rechtsſtaat auf feine
Buͤrger. Das iſt hier der ganze und ſehr weſentliche, nirgends aus dem
Auge zu laſſende Unterſchied. Ein unausloͤſchbarer Widerſpruch beruht eben
im Weſen des Deſpotismus als einer Staatsform: Im Weſen des Staates
als ſolchen liegt es, fuͤr andere da zu ſein, im Weſen des Zartums, fuͤr ſich
ſelber zu beſtehen. Von hier aus begreifen wir denn auch ſein ewiges Suchen⸗
muͤſſen nach neuen Anreizen für diejenigen Empfindungen feiner Bürger,
die ſie von ſeinem eigenen Wirken ablenken koͤnnten. Solche Empfindungen
koͤnnen nur gegen Auslaͤnder gerichtet ſein. Der Deſpotismus muß alſo immer
neue nationale Feinde finden. Er iſt Volksverfuͤhrer von Beruf und darum
ein ewiger Feind der Voͤlkereintracht. Dieſe typiſche deſpotiſche Politik kommt
in der Praxis des Zarismus in reiner Form zum Ausdruck, weil ſie ſich
im Laufe der Jahrhunderte zur Virtuofität auszubilden Gelegenheit fand.
Wir wollen mit ein paar Worten dieſe Taktik umſchreiben — und
muͤſſen es dem Leſer uͤberlaſſen, ihrer unausdenkbaren Einwirkung auf das
ruſſiſche Geiſtesleben im Laufe der Jahrhunderte nachzugehen: Jede deſpo⸗
tiſche Regierung hat das doppelte Beduͤrfnis, ſich einerſeits als unentbehrlich
84
n mn. ——
> * 3 Bi
er
binzuſtellen, andererfeits von ihrem eigenen Wirken abzulenken. Beides kann
bloß geſchehen vermoͤge intenſivſter Aufhetzung des Nationalbewußtſeins.
Die nationale Zuhoͤrigkeit muß als Stolz und als perfönliches Uberlegenheits⸗
moment empfunden werden. Das kann natürlich bloß durch Vergleich mit
anderen Nationen geſchehen. Sie muͤſſen grundſaͤtzlich herabgeſetzt werden.
Das Gegenfaßgefühl, das Gefühl der nationalen Ausſchließlichkeit, darf nie
erloͤſchen. Hier hat man ja ein nie verſagendes Ablaßventil, wenn einmal
der Druck von innen zu groß wird: Die Erziehung zur nationalen Ausſchließ⸗
lichkeit iſt denn auch in Rußland durch die Jahrhunderte gegangen. Sie hat
ihre zureichenden Gründe bei dem Tiefſtand der ruſſiſchen geſellſchaftlichen
und ſtaatlich⸗wirtſchaftlichen Organiſation — vorwiegend auf geiſtigem Ge⸗
biete ſuchen müffen und ſich auch da, bei dem laſtenden Druck des Deſpotis⸗
mus, in die Sphäre der Nichtwirklichkeit, der Wunſchwelt, flüchten müffen,
und zwar entweder unmittelbar in die religioͤſe Myſtik oder in die Welt der
ſozialen Utopie. Zwiſchen dieſen Geiſteswelten teilt ſich heute noch das
ganze Rußland. Beiden gemeinſam iſt ihre Unzugaͤnglichkeit fuͤr den
freien Gedanken, in dem ſich allein die Voͤlker verſtaͤndigen und jenſeits
allen Zwanges vereinigen können. Dabei ergibt ſich als weiteres, ſchon
faft unüberfteigbares Hindernis, daß der Aufenthalt in dieſen beiden
SGeiſteswelten von dem, der darin weilt, leicht als ein Vorzug vor ſeines⸗
gleichen erlebt wird. Hier ſtehen wir denn unmittelbar vor den hohen
Gittern, die der über Rußland herrſchende Deſpotismus urfprünglich zu
ſeinem Schutze und ſo erfolgreich aufrichtete, daß ſie heute noch das geiſtige
Weſteuropa von dem geiſtigen Rußland faſt hoffnungslos trennen. Um ſich
von ihnen zu befreien, dazu müßte Rußland bei den Grundelementen des
Geiſtigen beginnen. Doch dazu iſt der Ruſſe zu ſtolz — durch Jahrhunderte
zum Stolz erzogen und dazu, den Grund fuͤr ihn außerhalb der eigenen
Perſon zu ſuchen. Das iſt die eigentliche Tragoͤdie in den Beziehungen
zwiſchen Oſten und Weſten.
7. Die panſlawiſtiſche Bewegung
als unmittelbarer Ausfluß und geiſtige Waffe
der ruſſiſchen Innen⸗ und Außenpolitik
Das Verfuͤhreriſche d iſti d f Geiſt. —
Das cl t des — FE ebene . —
85
Doktrin. — Der Panſlawismus im Dienfte der 1 Expanſio olit 1
— Der Einfluß des Panſlawismus auf das rein geiſtige Rußland. — Die
Grundfehler der panſlawiſtiſchen Theorie
Das Berfüdre- ¶ T in weiteres Moment, das der ruſſiſche Deſpotismus für fein Beharren
— Hd der beim Althergebrachten gegenüber allen Stürmern und Draͤngern gel⸗
für den uten tend machen konnte, iſt dies: Er konnte ſich auf die Notwendigkeit einer
allmaͤhlichen organiſchen Entwicklung berufen. Das iſt an ſich ein ſehr wirk⸗
ſames Argument ſchon aus dem Grunde, weil ihm eine gewiſſe wiſſen⸗
ſchaftliche Faͤrbung eignet. Wenn es in Rußland ſo wenig verfing, ſo iſt
das vielleicht viel weniger darauf zurüdzuführen, daß das üͤberempfind⸗
liche, daher von Haufe aus ungeduldige ruſſiſche Naturell wohl feinem tief⸗
ſten Weſen nach dem Entwicklungsgedanken widerſtrebt, — hierin haben
nicht ganz mit Unrecht einige Forſcher den weſentlichen Unterſchied zwi⸗
ſchen weſteuropaͤiſchem und ruſſiſchem Denken angeſprochen —, als viel⸗
mehr darauf, daß, als dies Argument angerufen ward, die Bebürfnifje
des Lebens ſich ſchon allzu gebieteriſch geltend machten. Indes gelang es
der vielgewandten Zarenregierung, auch dies Argument dem vielgedul⸗
digen ruſſiſchen Volke ſchmackhaft zu machen: und zwar immer wieder auf
dieſelbe Weiſe: indem ſie eine Ideenverbindung mit dem Nationalen her⸗
ſtellte. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen, und wenn er auch nicht ganz
ohne Opfer war fuͤr den Deſpotismus (ſofern der doch aus reinen Selbſt⸗
erhaltungsgruͤnden wenigſtens ein gewiſſes Maß von internationalem An⸗
ſtand wahren mußte), ſo dauert er heute noch in verhaͤngnisvoller Weiſe
fuͤr das ruſſiſche Geiſtesleben an. Es wurde naͤmlich ganz einfach ſo ge⸗
folgert: Alles, was man uns da an Reformen politiſcher, ſozialer oder ir⸗
gendwelcher anderer Art (durch die die Regierungsgewalt betroffen wird)
vorſchlaͤgt, ſtammt aus dem Weſten. Für die europaͤiſchen Volker mag das
ſegensreich ſein: alles dieſes iſt ja auch aus ihrer Entwicklung organiſch
hervorgegangen. Das ruſſiſche Volk hat aber nun einmal eine vom Weſten
grundverſchiedene Entwicklung genommen. Seine Beduͤrfniſſe ſind durch⸗
aus andere, und es muß daher ſeine Organiſationen aus ſich ſelber heraus
ſchaffen. Damit war aus einem Nachteil ein Vorzug geworden, aus poli⸗
tiſcher Ruͤckſtaͤndigkeit politiſches Eigenſein — und das konnte natürlich
bei dem geſchaͤrften ruſſiſchen Nationalbewußtſein bloß Uberlegenſein fein.
Man ging denn auch gleich auf das Weſentlichſte: Das ruſſiſche Voll, fo
ward immer wieder verkündet, braucht gar nicht wie die Volker des We⸗
ſtens ein beſchriebenes Blatt Papier zwiſchen ſich und ſeinem Herrſcher:
86
ſeine Beziehungen zu feinem Fürften beruhen vielmehr auf reinem Ver⸗
trauen! Was konnte einem Tyrannen lieblicher klingen? Und doch war
bier eine Falle für ihn. Denn das ſei gleich bemerkt: der ruſſiſche Pan⸗
ſlawismus (als geſellſchaftliche Bewegung, wie er in den vierziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts entſtand) traͤgt von vornherein ein doppel⸗
tes Geſicht. Und es wird niemals zu entſcheiden ſein, ob er urſprünglich
als bewußtes ideologiſches Hilfswerkzeug des Deſpotismus entſtand oder
umgekehrt als ein tatſaͤchlich dringend notwendiges Ausflußventil des ge⸗
. ſellſchaftlichen Willens nach Teilnahme an der Regelung der Geſchicke
Rußlands: Hier hätte denn ein an Schlauheit der Regierung noch über:
legener Geiſt an der gerade um dieſe Zeit drüdendften geiſtigen Bevor:
mundung und Knechtung vorüber dem Volkswillen eine felbftändige
Außerung ermöglicht, deren Selbſtaͤndigkeit deshalb unbemerkt, wenigſtens
völlig unverbächtig blieb, weil eben die erfte Außerung des Volkswillens
in einem Einverftandenfein mit feinen ſchlimmſten Bedruͤckern, ja in einer
Verhimmelung derſelben beſtand. (Ein typiſches Beiſpiel ruſſiſcher Geiſtes⸗
gewandtheit!) Der ſonſt auf jede ſelbſtaͤndige Außerung des Volksgeiſtes
neben der alles erdruͤckenden Regierung peinlichſt eiferfüchtige Deſpot ging
in die Falle: Er begriff nicht, daß auch die Liebe, ſelbſt die unnatürliche
oder echtruſſiſche Liebe zum ſchlimmſten Feinde, eine ſelbſtaͤndige Auße⸗
rung der Volksſeele ift und vielleicht die allerſelbſtaͤndigſte. Das ſollte das
Zartum bald erfahren.
ugenſcheinlich zeigte der Panſlawismus ſehr bald nach feinem Auf⸗ ——
ein Doppelgeſicht — wobei es denn voͤllig belanglos — 2
welches das erſte war —: Schon unter feinen erſten Bekennern finden ſich u e
ſowohl Stockkonſervative als auch offene Anhänger der Reform. Seine Dear
Doktrin iſt denn auch durchaus uneinheitlich und wechſelt in ganz Weſent⸗
lichem je nach ihren Verteidigern. Allen gemeinſam war freilich die An⸗
ſchauung, daß das ruſſiſche Volk ſeine ganz eigene, mit nichts zu ver⸗
gleichende Entwicklung genommen habe. Man kann ſich vorſtellen, welche
Zentnerlaſten damit von der nationalen Empfindlichkeit des Ruſſen ab⸗
fielen, wenn der heimlich als Schmach empfundene Deſpotismus und noch
fo manches andere plotzlich als reine Eigentümlichkeit des ruſſiſchen Volles
geprieſen wurden, die natürlich unvergleichliche Uberlegenheiten fein muß»
ten (hier, im offenen Gegenſatz zu den von jeher dem Volksbewußtſein
verhaßten Weſtlern, liegt wohl auch für den Ruſſen der Hauptanreiz des
Danflawismus). Indeſſen waren die Vorſtellungen von dem Charakter
87
n un Ku
dieſer Vorzüge fehr verſchieden, und mithin natürlich auch die praktifchen
Schluͤſſe aus ihrem Vorhandenſein. Natürlich handelt es ſich hier — ſchon
notgedrungen — um rein ſeeliſche Vorzüge. Gewiſſe davon wurden in
beiden Lagern gleihmäßig anerkannt (wie denn zweifellos eine ſehr zu
begrüßende Würdigung des trefflichen einfachen, ruſſiſchen Volkes hier
einſetzt). Die Fuͤgſamkeit, Geduld, Sanftmut, unerſchoͤpfliche Güte det
Ruſſen preiſen ſowohl überzeugte Anhänger der Leibeigenſchaft — und
um deren Los handelte es ſich damals vornehmlich — wie fanatiſche An⸗
haͤnger der Reform. (Erſtere ſicherlich mit mehr Veranlaſſung, wie denn
überhaupt die begeiſtertſten Verehrer des Landproletariers von jeher aus
Großagrarierkreiſen ſtammten. Auch Tolſtojs urſprüngliches Lob des ruſ⸗
ſiſchen Bauern ſtammt aus dieſem Boden.) Nur die Schlußfolge war eine
etwas verſchiedene. Während nämlich die Stockkonſervativen — vornehm⸗
lich auf den paſſiven Eigenſchaften des ruſſiſchen Bauern beſtehend —
ſchloſſen, daß er geradezu vorausbeſtimmt ſei zur Leibeigenſchaft, da er
ja nur hier ſein ſchoͤnes menſchliches Vertrauen beweiſen, und
auch hier nur die ihm allein angemeſſene Behandlung in patriarchaliſchem
Sinne finden koͤnnte. (Dieſer Standpunkt ſtak ſo tief in Tolſtoj, daß er
noch als Prophet den Leibeigenenbeſitzer über den Fabrikanten ſtellte,
weil erſterer ſich „perſoͤnlich um feine Arbeiter kuͤmmerte“.) Wir dürfen
dabei nicht lächeln: Tatſaͤchlich hatte die Leibeigenſchaft als ſolche — wir
werden noch darauf zuruͤckkommen — die ruſſiſchen Geiſter derart gewoͤhnt,
ſich in ihren Theorien außerhalb der Wirklichkeit zu bewegen, daß hier
gar nichts Groteskes empfunden ward, und an der Aufrichtigkeit ſolchen
Bekenntniſſes gar nicht zu zweifeln iſt. Nicht minder aufrichtig und dabei
ganz anderer Art waren freilich hier die Schlußfolgen der fortſchrittlichen
ruſſiſchen Geiſter. Auch ſie uͤberſahen nicht die Demut des ruſſiſchen Bauern
und bauten gleichfalls durchaus auf ſeinen Mangel an Rachſucht — allein
fie ſahen auch feine ſittliche Selbſtaͤndigkeit und die Leiden, die dem bei feiner
gedruckten Lage entſpringen. Sie verlangten daher, daß gerade ſolche Men⸗
ſchen unter keinen Umftänden in perſoͤnlicher Abhaͤngigkeit gehalten werden
duͤrften. Und wenn wenigſtens der erſte Panſlawismus durchaus den Anſpruch
erheben kann, fuͤr eine ethiſche Bewegung zu gelten (Toleranz war eine
ſeiner ſchoͤnſten Traditionen), ſo verdankte er es vornehmlich dieſem Lager.
Der vanſtawie · des hatte die panſlawiſtiſche Bewegung auch ſo vielerlei Bedenk⸗
r belglen er. liches an ſich. Zunächſt äußert ſich ſchon in ihrem Namen („Slaw⸗
vaniontpoliit janophilſtwo“ wörtlich: Slawen⸗ nicht Ruſſenfreundlichkeit) die Gefahr,
0
a
n
im! 1
die ſie von vornherein lief: von ſeiten der Regierung zur Erziehung gei⸗
ſtigen Koſalentums mißbraucht zu werden, zu ruͤckſichtsloſer, im Intereſſe
der Selbſterhaltung des Zaris mus gebotener Expanſionspolitik. Und das
iſt denn auch nicht nur ſtets der Ball geweſen, der Panſlawis mus hat viel⸗
mehr in dieſem Sinne den Zarismus noch uͤbertrumpft und ihn immer
wieder zu Maßnahmen gezwungen, die ſeinen eigenſten Intereſſen durch⸗
aus widerſprachen, was er auch meiſt ſehr wohl einſah. Denn ſehr bald
hatten, wie das in der Natur der Sache liegt, in der panſlawiſtiſchen Be⸗
wegung die chauviniſtiſchen und reaktionaͤren Köpfe die Oberhand ges
wonnen, und ſeitdem dienen ihre Klubs zum Sammelorte der ganzen von
ultrarechts einſetzenden Oppoſition gegen die Regierung. Vor allem der
Hof erganzt hier fein Machtbeduͤrfnis, ſofern ja die kaiſerliche Gnaden⸗
ſonne niemals gleihmäßig auf alle ſcheinen kann. Die panſlawiſtiſche Ber
wegung ift heute (nach dem Ausſcheiden der wahrhaft kulturfoͤrdernden
nationalen Geiſter) zu einer neben der zariſchen Regierung beſtehenden
Organiſation zur intenſivſten Anwendung des Hauptmittels des Zartums
geworden: des Appells an den von ihm ſtets mit allen Mitteln gepflegten
Nationalismus. Daß damit dem Zartum als Staatsform auch noch ſein
letzter Vorzug verlorengeht: der der einheitlichen Leitung, ſei nur neben⸗
bei bemerkt. Viel gefährlicher noch wird die Zerfplitterung des ruſſiſchen
Staatswillens infolge dieſes Einfluſſes durch ein anderes Moment. Ins
nerhalb des Panſlawismus — das führt auf fein urfprüngliches Weſen
zurüd und wird von denen, die ihn zu ehrgeizigen Zwecken mißbrauchen,
in ffrupellojer Weiſe ausgenützt — findet immer noch eine gewiſſe ideelle,
fozufagen auf neutralem Boden vor ſich gehende Berührung des kon⸗
ſervativen mit dem liberalen, ja ſelbſt ſehr links ſtehenden Rußland ſtatt.
Den Vorteil davon hat naturlich nur das konſervative: es benutzt dieſe
Berührungen lediglich, um gelegentlichen Druck auf die hoͤchſte Stelle aus⸗
zuüben. Das linksſtehende Rußland verliert aber durch ſolche, im Rahmen
des Panſlawis mus vor ſich gehende — und wie es faſt ſcheint oft geradezu
zu dieſem Zweck herbeigeführte — Beziehung zu den „Anhaͤngern der
Leibeigenſchaft“ ſehr viel an Kredit in der Geſellſchaft, was ſehr zu be⸗
dauern iſt im Sinne des kulturellen Fortſchritts Rußlands.
werden in der Atmoſphaͤre des Panſlawismus (die immer Der Einfiuf des
„wie einft Turgenjeff bemerkte, nach Weihrauch und Faſtensl a def m
die Geiſter umnebelt. Dabei war in allerletzter Zeit vor dem Kriege ue e
(der dem Panſlawis mus in feiner trübften Geſtalt wieder Oberwaſſer gab)
89
wenigſtens den aufgeklaͤrten ruſſiſchen Geiftern der theoretiſche Fehler des
Panſlawismus durchaus aufgegangen. Man kann ſich gar nicht treffender
daruber aͤußern wie Miljukoff im Schlußkapitel feiner „Grundlagen der
ruſſiſchen Kultur“ !: „Unſere Nationaliſten der alten Zeit glaubten, daß
jedes Volk berufen ſei zur Verwirklichung einer ganz beſtimmten und im⸗
mer nur einer einzigen nationalen Idee, und daß letztere den inneren
Eigenarten des Volksgeiſtes entſtroͤme. Naturlich mußten ſie von hier aus
zu dem Schluſſe gelangen, daß die Einheit der nationalen Idee ſich auch
in der Einheit der nationalen Geſchichte aͤußern muß, daß demnach die
Vermaͤchtniſſe der geſchichtlichen Vergangenheit zum letzten Hinweis die⸗
nen muͤſſen auf die Aufgaben der Zukunft, und daß mithin jede Ent⸗
lehnung von außerhalb nichts anderes bedeutet als einen Verrat an der na⸗
tionalen Überlieferung und eine Verſtuͤmmelung der nationalen Idee.
Es ſcheint nun ſo, als ob heute dieſe Anſchauungen in gewiſſen Kreiſen
wiederum in Mode zu kommen beginnen. Man will ſogar wie vordem aus
ihnen eine theoretiſche Rechtfertigung herleiten fuͤr die neu heraufziehende
politiſche Reaktion. Um ſo notwendiger iſt es, derartige Anſchauungen zu
bekaͤmpfen, da ſie ja nicht nur durchaus auf Irrtum beruhen, vielmehr auch
im hoͤchſten Grade ſchaͤdlich wirken. In der Tat, was kann denn eigentlich
ein Staat von 16 Millionen Einwohnern mit einer Bevoͤlkerungsdichtigkeit
von 3 Perſonen auf den Quadratkilometer und mit einer ſtaͤdtiſchen Be⸗
völferung von 3% der Geſamtbevoͤlkerung gemein haben — mit ganz dem⸗
ſelben Staate, zwei Jahrhunderte ſpaͤter, mit einer zehnmal größeren Be⸗
voͤlkerung, mit einer ſechsmal ſo großen Bevoͤlkerungsdichtigkeit und einer
Stadtbevoͤlkerung, die ſich abſolut genommen um das Vierzigfache und
relativ um das Vierfache vermehrt hat? Welche geſchichtliche Überlieferung
vermag die Periode der Naturalwirtſchaft und der Leibeigenſchaft einem
Zeitalter der Tauſchwirtſchaft und der buͤrgerlichen Gleichberechtigung zu
übermitteln? Was für ein geſchichtliches Band kann beſtehen zwiſchen der
geſchichtlichen Vergangenheit des ruſſiſchen Nordens und der außerge⸗
wohnlich raſchen Entwicklung des ruſſiſchen Südens, auch nur im Laufe
des einen letzten Jahrhunderts — einer Entwicklung, die allein ſchon das
Zentrum des wirtſchaftlichen Lebens Rußlands völlig verſchob? Unſere
Nationaliſten pflegten Peter dem Großen den Vorwurf zu machen, er
habe Rußland, als es eben erſt das Kleinkinderalter hinter ſich hatte, das
1 Die Textſtelle iſt meiner Überſetzung des geſamten Werkes entnommen, die demnaͤchſt
bei Georg Müller, Muͤnchen, erſcheinen wird.
90
Seid eines Erwachfenen anziehen wollen. Indem fie aber in der Gegen:
| rr pen,
wollen fie da denn nicht ſelber um jeden Preis einen Jüngling wieder
in Windeln wickeln?
Rußland iſt gewiſſen Formen entwachſen und hat gewiſſe Traditionen
überlebt. Dies in Abrede zu ſtellen — bedeutet die Augen vor der Wirk
lichkeit verſchließen und die Geſetze des geſchichtlichen Werdens leugnen.
wir aber dieſe Geſetze anerkennen, ſo gewinnen wir damit zu⸗
gleich auch die Moͤglichkeit, in etwas anderer Weiſe auf die Notwendig⸗
keit hinzublicken, bei dem Weſten Anleiben zu machen, wie das unfere
Anbhäaͤnger der voͤlkiſchen Urſprunglichkeit taten. Wenn nämlich der hiſto⸗
riſche Werdegang Rußlands tatfächlich durchaus eigenartig wäre, und man
ihm mit dem anderer Volker auch gar nicht vergleichen koͤnnte, dann müßte
man natürlich auch jede Entlehnung für eine Verftümmelung des natios
nalen Gedankens anſehen. Dann wäre es aber auch ſogar ſchwer, zu bes
greifen, auf welche Weiſe denn eine ſolche Entlehnung uͤberhaupt moͤglich
fein konne: Es iſt doch ohne weiteres klar, daß es dann gar keine Möglich
keit gäbe, die Entlehnung einzuimpfen. Im Gegenteil, wenn der Grund⸗
charakter der Entwicklung den verſchiedenen nationalen Organismen ge⸗
meinſam if, dann koͤnnen wir nicht umhin, auch ein gewiſſes Allge⸗
meines in den Formen dieſer Entwicklung anzuerkennen. Die Frage muß
dann ſchon nicht mehr die ſein, ob eine Entlehnung geſetzlich oder uͤber⸗
haupt möglich iſt, vielmehr die, welches eigentlich die brauchbarſten und
techniſch bequemſten Formen find, um in ihnen das reifende Beduͤrfnis
des gegebenen Augenblicks im Volksleben einzukleiden. Dabei offenbart
ſich dann die Ahnlichkeit mit Europa nicht als ein unerlaͤßliches Ziel bei
der Einführung der zu entlehnenden Form, vielmehr nur als die natuͤr⸗
liche Folge der Ahnlichkeit der Beduͤrfniſſe ſelber, die ſowohl dort wie hier
dieſe neuen Formen hervorriefen. Dabei verſteht es ſich denn auch ganz von
ſelber, daß die Ahnlichkeit hier bis zum völligen Übereinftimmen fortſchreitet.
Es iſt alſo durchaus nicht angebracht, ſich einſchuͤchtern zu laſſen und
andere ins Bockshorn zu jagen durch die Angſt vor einem vermeintlichen
Verrat an unſerer nationalen Überlieferung. Wenn auch unſere Ver⸗
gangenheit mit der Gegenwart verbunden iſt, ſo doch nicht ſo, wie die
Wee mit ihrer allmaͤhlichen Verwirklichung, vielmehr nur wie ein Ballaſt,
der die Idee daran hindert, ſich zu verwirklichen und uns nach unten
zieht — wenn auch immer ſchwaͤcher mit jedem Tage.“
Das alles unterſchreiben wir „mit beiden Händen“,
Indeſſen iſt es überall, und aus vielen Gründen in Rußland ganz im
beſonderen, mit der reinen Logik ſo eine eigene Sache. An ſich iſt ſie
machtlos: Ihre Zuſammenhaͤnge muͤſſen erſt in Beziehung gebracht wer⸗
den zu ſympathiebetonten Vorſtellungen, wenn ſie Einfluß gewinnen ſol⸗
len. Das iſt niemals leicht. Hier aber ſteht dem noch eine mit dem zu
widerlegenden Irrtum eng verbundene Aſſoziation entgegen, die von jeher
auf die ruſſiſchen Geiſter ſtaͤrkſte Macht ausübte: Im Panſlawis mut verbindet
ſich ja das Ethiſche mit dem Nationalen in einer ſo ins Unfaßbare ge⸗
tauchten, für den Ruſſen ſomit alle Ehrfurcht anrufenden Weiſe, daß wohl
noch auf lange Zeit hinaus wie bisher der geiſtige Panſlawismus die vor⸗
nehmſten Spitzen des geiſtigen Rußlands beherrſchen wird, und ſie vor⸗
ausbeſtimmt dazu, mißbraucht zu werden von der allertrübften politiſchen
Selbſtſucht. Wenn nun auch der Panſlawismus hier vielfach ein Geſicht
zeigt, das ſeinen edlen Urſprung nicht verleugnet (Wladimir Solovjeff
lehrt als letztes Gebot ſeines Panſlawismus: „Liebe jede Nation wie die
eigene !), fo kann er ſelbſt hier nicht feine Überlegenheitsanſpruͤche völlig
aufgeben: Und moͤgen die auch noch ſo aufrichtig und wohlwollend ſein
den anderen Nationen gegenuͤber, es bleibt in ihm nun einmal die unaus⸗
rottbare Tendenz, das eigene Volk uͤberlegen zu behaupten — und ihrer
Erkenntnis ſteht noch der Umſtand entgegen, daß der Rahmen des eigenen
Volkes unmerklich zu dem der ganzen Raſſe erweitert iſt (aber wohlge⸗
merkt nie und nirgends ohne den Anſpruch, daß eben das ruſſiſche Volk
ſeine Raſſe am reinſten verwirklicht). Es liegt alſo eine ſtarke Verfuͤhrung
zum Dogmatismus und das heißt zur Ungeiſtigkeit, zur Truͤbung des in⸗
tellektuellen Gewiſſens, ſchon in dieſer Annahme, ja eigentlich ein bereits
verwirklichter Dogmatismus, indem doch offenbar eine allgemein gültige
Erkenntnis dieſer Überlegenheit Menſchenerfahrung weit uͤberſteigt. An⸗
dererſeits kann aber eine noch ſo ethiſch kundgegebene Behauptung der
Überlegenheit des eigenen Volkes immer wieder — und namentlich bei
Rußlands fo tiefgehendem, für alles perfönliche Ungemach entſchaͤdigen ſol⸗
lendem Nationalbewußtſein — den allerkulturloſeſten Eroberungs⸗ und
Unterdrüdungsgelüften zum Vorwand, ja zum tatſaͤchlichen Ausgang
dienen.
Die Grund fedler er grundſaͤtzliche, niemals mehr auszugleichende Fehler, den jeder noch
ad ter fo ethiſche Panſlawismus begeht, ift aber der, daß er überhaupt einen
Unterſchied macht zwiſchen Menſch und Menſch. Wir betonten bereits, und
92
= 9
A .
des ergibt ſich euch mit Rotiwenbigfeit aus unferer ganzen bisßerigen
Darlegung, daß
die unendlich vielſeitigen, von allen Seiten her erfolgen⸗
den Anläufe des geiſtigen Rußlands zur Allmenſchlichkeit bis jetzt immer
noch ſcheiterten an der Unfaͤhigkeit des Ruſſen, keinen grundfäglichen Uns
terſchied zu machen zwiſchen Menſch und Menſch. Damit bleiben aber alle
feine Predigten Stüdwerf. Hier, in der immer noch unbeſchraͤnkten Herrſchaft
des geiſtigen Panſlawismus über die ruſſiſchen Geiſter, ſtehen wir an der
letzten Quelle der jo überaus bedauerlichen Ehrfurchtsloſigkeit des Ruffen
vor dem Menſchen an ſich. Dieſer ſchwere Mangel, der das geiſtige Rußland
faſt um alle tiefergehende Wirkung auf die nicht vornehmlich aͤſthetiſch in⸗
tereſſierten Geiſter Europas betrügt, und der allen wahrhaft freien Euro⸗
poͤern die heilige Pflicht ſtaͤndiger Wachſamkeit auferlegt gegenüber allem,
was vom geiſtigen Rußland kommt, iſt die verhaͤngnisvollſte Folge der jahr⸗
hundertelangen Knechtung des ruſſiſchen Geiſteslebens durch den ruſſiſchen
Deſpotismus, der um feiner Selbſterhaltung willen von jeher die ruſſiſchen
Geiſter in einem Nationalismus erzog, der mit Überlegenheitsanſpruch auf⸗
tritt gegenüber den anderen Voͤlkern, damit das Gegenſatzbewußtſein zu
ihnen gefühlsbetont macht und jo dem Allvoͤlkiſchen den Bewußtſeinsraum
wegnimmt im Seelenhaushalt des Ruſſen. Wohlgemerkt ſprechen wir
f hier von der Herrſchaft des geiſtigen Panſlawismus und verkennen keines⸗
wegs, daß ſich heute alle wirklich kulturellen nationalen Beſtrebungen Ruß⸗
lands außerhalb der panſlawiſtiſchen Bewegung verwirklichen — wenn fie
auch leider faſt ausnahmslos immer noch mehr wie genug ſeines Geiſtes
an ſich tragen.
8. Zur Geſchichte der ruſſiſchen Verfaſſung
Der Kampf um die Trennung der geſetzgebenden von der ausführenden
Gewalt (unter Alexander I.). — Der Kampf um die einheitliche Regelung
der ebung (unter Alexander II., Alexander III. und Nikolai II. bis
vom 17. Oktober 1905). — Die Konſtitutionsvorſchlaͤge des
jeff, des gu m Konftantin Nikolajewitſch und Loris-
— Die ruſſiſche Konſtitution vom 17. Oktober 1906. — Das
uch“ und die V ichung der konſtitutionellen Rechte. —
Gewalt und die „außerordentlichen Maßnahmen“. — Der
„vermehrte Schutz“, der „außerordentliche Schutz“ und der „Kriegs zuſtand“
Zuſammenhang betrachtet mit dem Selbſtbehauptungskampf des
Deſpotismus, deſſen Einwirkungen auf das geiſtige Rußland wir in
93
dieſem Abſchnitt nachgehen, bedeutet die panſlawiſtiſche Bewegung, ihrem
Urſprung und ihren Tendenzen nach, einen Mittelweg, vielleicht beſſer
geſagt einen verſuchten Ausgleich, zwiſchen dem ſich populär machen wollen⸗
den und dem aggreſſiven Deſpotismus. Beide Tendenzen ſind deutlich im
Panſlawismus wahrzunehmen. Er war das unmittelbare Ergebnis der da⸗
maligen Stellung des Deſpotismus im ruſſiſchen Volksbewußtſein — und
ſein letzter Verſuch, den immer maͤchtiger werdenden Ruf nach grund⸗
legender Reform, das heißt nach ſeiner Abdankung, mit geiſtigen Mitteln
zu bekaͤmpfen. Daß dieſer Verſuch völlig mißlang, beweiſt auch praktiſch
das Fehlerhafte in der Ideologie des Panſlawismus. Das ruſſiſche Volk
hat tatſaͤchlich keine vom Weſten grundſaͤtzlich verſchiedene politiſche Ent⸗
wicklung genommen. Die Verſchiedenheiten lagen, wie das z. B. Miljukoff
ſehr gut erkannte, da, wo ſich auch die europaͤiſchen Staaten voneinander
unterſcheiden: in dem Einfluß der naͤheren und weiteren Umgebung und
der zufälligen Perſoͤnlichkeiten, welch erſtere Momente freilich tiefer ein⸗
ſchneidend waren wie im Weſten, und das erklaͤrt ſich ſchon aus Rußlands
Lage am aͤußerſten Poſten Europas. Alles das beweiſt ein kurzer
uͤber die innerſtaatliche Entwicklung Rußlands (nach Miljukoff):
Der Run! um rſt der Reform Alexander I. ift von Speranffi die von Katharina
—— icht verwirklichte Idee der Teilung der Gewalten zugrunde gelegt
at unt worden: der geſetzgebenden, verwaltenden und richterlichen. Der Mittel⸗
lerander 1) punkt der Gerichtsgewalt ſollte der Senat fein, der bereits nach der Ge⸗
richtsreform Katharinas II. die geſetzlich hoͤchſte Gerichtsinſtanz darſtellte.
Die ausführende Gewalt ward zwiſchen den Minifterien geteilt, durch
welche die bisherigen Kollegien erſetzt wurden. Was die geſetzgeberiſche
Gewalt anbetrifft, jo ward nach dem urſpruͤnglichen Projekt Speranffis
vorgeſchlagen, dieſe Macht einer Reichsduma zu uͤbergeben, die aus Ab⸗
geordneten aus ganz Rußland zuſammengeſetzt waͤre nach einer Methode,
die Speranſki der franzoͤſiſchen Konſtitution des Jahres VIII (1799) ent⸗
lehnt hatte. Spaͤter wurde indes beſchloſſen, zum geſetzgebenden Organ
den Reichsrat zu erheben. Aber gleichwohl, auch bei einer fo beſchraͤnkten
Verwirklichung des Projektes, erſchien zum erſten Male in Rußland ein
beſtaͤndiges Organ der geſetzgeberiſchen Gewalt, und den Schwankungen
in der Organiſation der hoͤchſten Behoͤrden war, ſo ſchien es, ein Ende
1 bereitet. „Erſt mit der Errichtung des Reichsrates im Jahre 1810 ward
eine beſondere, genau beſtimmte Ordnung der Geſetzgebung eingeführt,
und erſt dadurch ergab ſich die Moͤglichkeit, einen Unterſchied zu machen
94
— . Befeht" (agt Prfefler Rostunef: Exit
dieſer Zeit zählt in Rußland als Geſetz vornehmlich die Verordnung, die
durch den Reichsrat durchgeführt ward. Dies war indes nicht der einzige
Weg zur Geſetzgebung. Wenn ein Geſetzesvorſchlag nur die Minderheit im
Staatsrat für ſich hatte, ſo konnte er auch in dieſem Falle Geſetz werden
— nur nicht in Geftalt einer „allerhoͤchſt beftätigten Meinung des Reichs⸗
rates“, vielmehr in Geftalt eines „ perſönlichen Erlaſſes“. Endlich ward,
ſchon unter Alexander I., für eine ganze Reihe von Fällen eine Ord⸗
nung feſtgeſetzt zum Ergreifen geſetzlicher Maßnahmen mit Umgehung
des Reichsrates. „In den letzten Jahren (bemerkt im Jahre 1826
der Staatsſekretär Balugjanſki), hat das Miniſterkomitee ſich der ganzen
geſetzgebenden Gewalt bemaͤchtigt, die Miniſter legten Geſetzesvor⸗
ſchlaͤge unmittelbar dem Kaiſer zur Beftätigung vor, über Gegenſtaͤnde,
deren vorherige Durchſicht ihrem Weſen nach dem Reichsrate zukam.“
In dieſem letzten Falle nahm das Geſetz ſchon eine dritte Form an:
bes „Allerhoͤchſten Befehls“. Dieſe Form befreite den Geſetzentwurf
von den Formalitäten, die ein Geſetz im eigentlichen Sinne durchlaufen
mußte. „Der Allerhoͤchſte Befehl“ konnte nicht nur ſchriftlich, vielmehr
auch mündlich erteilt werden. Sein verpflichtender Charakter war nicht
gebunden an die Veroffentlichung in der für ein Geſetz feſtgeſetzten
Form.
der Epoche der Reformen Alexanders II. ward ein neuer Verſuch Dee Ass am
gemacht, die Vermiſchung der geſetzgebenden mit der ausführenden Regelung der Ge-
Gewalt zu beſeitigen. Gegen Ende des Jahres 1858 ward nach einem Be- letter M.
richt des Baron Korff „Allerhoͤchſt“ bewilligt, „in eine genaue Unterſuchung Herder UL
der Frage einzugehen, was denn eigentlich in unſerer Geſetzgebung ale vi vum Pa
ein Geſetz gelten muß und was — als adminiſtrative Verfügung”. Korff ws — *
machte auch praktiſche Vorſchlaͤge. Er ſtieß da aber auf Widerſtand von
feiten der Juſtizminiſter Graf Panin und Fürft Uruffoff. Seine Vorſchlaͤge
wurden nicht angenommen. Die Praxis blieb die frühere — und viele
wichtigſte Staatsakte der letzten zwei Regierungen wurden Geſetze, ohne
uberhaupt auch nur den damaligen geſetzgeberiſchen Prozeß durchzumachen.
„In der letzten Zeit“ (ſchrieb Profeſſor Romanowitſch⸗Slawatinſti 1886),
F ſind die Grenzen der adminiſtrativen Verfügungen, die von den Miniſtern
ausgehen, ſehr erweitert. Viele einzelne Geſetzbeſtimmungen werden ers
Acutert und ergänzt durch Miniſterzirkulare; das neue Univerfitätsftatut
vom Jahre 1884 ſtellt nur die allgemeinen Rahmen der Univerfitätsorganis
95
ſation dar, deren Inhalt ausgefüllt wird durch Zirkulare des Minifters für
Volksaufklärung; ganz dieſelben Rechte find auch den ubrigen Miniſtern
gewährt, beſonders dem für Finanzen und dem für innere Angelegenheiten.
Infolge einer ſo weiten heutigen Bedeutung der Zirkularfunktion der Mi⸗
niſter erhält eine beſonders wichtige und hervortretende Bedeutung bie
Frage nach der Geſetzlichkeit der Miniſterzirkulare und Vorſchriften.“
Schon aus der Vorſicht der Ausdrücke, in denen in den angeführten
Zitaten Über die Abgrenzung der geſetzgeberiſchen und ausfuͤhrenden Ges
walt die Rede iſt, iſt zu erſehen, daß es ſich dort eigentlich handelte um
eine grundlegende Anderung in der Organiſation und Funktion der
hoͤchſten Staatsgewalt. Bis dahin, ſolange die geſetzgeberiſche Gewalt noch
nicht geteilt war zwiſchen dem Monarchen und den Volksvertreter, konnte
natürlich auch gar nicht die Rede fein von dem Errichten einer ſolchen
„geſetzgeberiſchen Einrichtung“, die nach dem Ausdruck des Baron Korff:
Geſetze erlaſſe „nach einer beſonderen, ihrer wichtigen Bedeutung ent⸗
ſprechenden Ordnung“. An dieſem Hindernis ſcheiterten denn auch alle
ſoeben eroͤrterten Verſuche einer „Trennung“ der Gewalten.
Die Za En ein halbes Jahrhundert nach Speranffi kehrte der Staatsſekretaͤr
Be — alujeff, ſchon in der Zeit des „Entflammens der Leidenschaften“,
—— a in den ſechziger Jahren, zu Speranſkis Gedanken zurüd. In feiner Denk⸗
— ee ſchrift vom 13. April 1863 bemerkte er, daß „es ſchwer ſein werde, be⸗
boris · Mell off ſtaͤndig die Bitten der Geſellſchaft abzuſchlagen um irgendeine Mitwirkung
an geſetzgeberiſchen Dingen. Wenn es aber ſchwer ſein werde, ſie end⸗
gültig abzuſchlagen, werde es da nicht beſſer ſein dem zuvorzukommen“?
Und er ſchlug vor, den Forderungen der Geſellſchaft ein Zugeſtaͤndnis zu
machen, wenn auch ein bei weitem weniger ernſthaftes als die „Reichs⸗
duma“ Speranſkis. Nach dem Projekt Walujeffs (vom 18. November
1863) ſollte bei dem Reichsrat eine beſondere „Verſammlung“ zuſammen⸗
gerufen werden von 151—177 „Reichsabgeordneten“, die unter Hinzu⸗
fügung von 30—35 durch die hoͤchſte Gewalt ernannter Abgeordneten
alljährlich zu feſtgeſetzten Terminen über die vom Praͤſidenten des Reichsrates
eingebrachten Angelegenheiten „beraten“ ſollten. Die endgültige Ent⸗
ſcheidung gehoͤrte indes der allgemeinen Verſammlung des Staatsrates, in
welche die Reichsabgeordneten nur ihre zwei Vizepraͤſidenten ſenden ſoll⸗
ten und 14 von ihren Mitgliedern. Nur die letzteren, die für jede Sache
beſonders gewaͤhlt werden ſollten, haͤtten Stimmrecht bei der Entſcheidung.
Indes ward, als die öffentliche Stimmung ſich beſaͤnftigte, und die Re⸗
96
aktion einſetzte, fogar nicht einmal das Projekt Walujeffs verwirklicht. Man
rr
im Jahre 1880. Großfürſt Konſtantin Nikolajewitſch ſchlug damals vor:
„Zum Zwecke des Ergreifens von Maßregeln, welche die Beruhigung der
Geiſter fördern könnten, die bis zum Außerſten erregt wären durch die Er⸗
folgloſigkeit der Anſtrengungen der Regierung, den Aufruhr zu baͤndigen,
- bei dem Reichsrat eine beratende Verſammlung von Abgeordneten in
der Zahl von 46 zu bilden“. Das war eine noch beſcheidenere Maßnahme
als die, welche Walujeff vorgeſchlagen hatte. „Aus Vorſicht“ ward vorge⸗
ſchlagen, ſogar in dieſer geringen Zahl nicht alle Abgeordneten zuſammen⸗
zurufen, fie vielmehr in Gruppen zu ſpalten, „nachdem man einer jeden
die Erwägung beſonderer Angelegenheiten übertragen habe“. Die Vers
ſammlungen dieſer Abteilungen wurden vorgeſchlagen „als zeitweilige,
auf einen beſtimmten Termin“, mit genauer Beſtimmung des Programms
ihrer Beſchaͤftigungen. Zur endgültigen Entſcheidung der Sache im Reichs⸗
rat ſollte ſchon nur ein Referent zugelaſſen werden. Obgleich Großfuͤrſt
Konſtantin Nikolajewitſch bewies, daß die fo eingerichtete Reform „keinerlei
politiſche Bedeutung“ habe, „in nichts die Regierung hindere“ und „nicht
im geringften die geheiligten Rechte der Selbſtherrſchaft antaſte“, ward
deſſenungeachtet auch dieſes beſchnittene Projekt als nicht zeitgemäß und
gefährlich befunden. Ein Jahr darauf ward in noch abgeſchwaͤchterer Form
ganz das gleiche Projekt dem Kaiſer Alexander II. durch Loris⸗Melikoff
vorgelegt. Abgeordnete „von den Kreisregierungen und bedeutendſten
Städten ſollten einige, ganz beſtimmte Geſetzentwuͤrfe im voraus durch⸗
ſehen ! unter Mitwirkung bureaukratiſcher „vorbereitender Kommiſſionen“,
in denen dieſe Projekte zuſammengeſtellt werden ſollten. Die vorherige
Durchſicht ſollte nur eine beratende Bedeutung haben, „die nicht im ge⸗
ringſten die heute (1881) beſtehende Ordnung der Geſetzgebung veraͤndere“.
Wie bekannt, blieb auch die „Konſtitution“ Loris⸗Melikoffs, deren end⸗
gültige Beratung noch im Augenblick des Todes Alexander II. bevorſtand,
5 unverwirklicht.
J ˙ . ̃ ꝛ— Du u a
. 4 ’
rſt als die Forderungen nach einer Konſtitution von neuem mit bes
Nachdruck in den letzten Jahren erhoben wurden, ward
endlich auch die Aufgabe „der Teilung“ der Gewalten im Prinzip ent⸗
ſchieden. Es ift intereſſant, daß auch diet mal die Sache begonnen ward
mit einem Verſuch, „aͤußere Anzeichen eines Geſetzes feſtzuſetzen, und ges
rade dadurch die geſetzgeberiſche Tatigkeit zu trennen von Verfügungen,
7 Niet, Srundblagen dei seiten Ruplandıs h 97
Die ruſſiſche
Konſtitutten vom
17. Otieter 10
die in der Ordnung der hoͤchſten Regierungsgewalt exlaſſen werden“. Ein
ſolcher Verſuch war bereits gemacht worden durch den Erlaß vom 6. Juni
1905. Aber ſchon damals war es völlig klar, daß dieſer Verſuch zur Eins
fuͤhrung einer neuen Ordnung der Geſetzgebung keineswegs mehr der ge⸗
reiften „politiihen Idee der Mehrheit der ruſſiſchen Geſellſchaft entſpreche“.
„Um das geftörte Gleichgewicht zwiſchen den ideellen Bewegungen der
denkenden ruſſiſchen Geſellſchaft und den aͤußeren Formen ihres Lebens
wiederherzuſtellen“, erwies es ſich diesmal ſogar als ungenügend, ſelbſt
eine Volksvertretung mit beratender Stimme beim Reichsrat zu ſchaffen,
wie das vorgeſehen war durch das Geſetz uͤber die Reichsduma vom 6. Au⸗
guſt 1905. Das Manifeſt vom 17. Oktober, das durch die bekannten fr:
miſchen Begebenheiten hervorgerufen worden war, gab den Volksver⸗
tretern geſetzgebende Gewalt und legte ſomit den Grund fuͤr die konſti⸗
tutionelle Verfaſſung Rußlands. Seit der Schaffung dieſes neuen hoͤchſten
Organes der Staatsgewalt gehoͤrt nach der Erklaͤrung des Exlaſſes vom
23. April 1906 „untrennbar“ dem Monarchen nur die Gewalt der oberſten
Verwaltung, „die getrennt iſt“ von der geſetzgebenden Gewalt. Geſetz
wird aber von da an nur eine Offenbarung des Willens zweier ſtaatlicher
Organe, des monarchiſchen und der Volksvertretung, ohne deren „Zu⸗
ſtimmung“ kein Geſetz erlaſſen werden kann. Dementſprechend ward auch
der Ausdruck „unbedingt“ ausgeſchloſſen aus den entſprechenden Teilen
der Grundgeſetze. Wenn der Titel „Selbſtherrſcher“ auch noch im Geſetz
bewahrt iſt, ſo hat er doch die Bedeutung verloren, die vordem mit ihm
verbunden war. Nicht nur das, die neuen Grundgeſetze wurden unter
einen beſonderen Schutz geſtellt, ſo daß ſich ihre „Durchſicht“ jetzt nur noch
auf Veranlaſſung des Monarchen vollziehen kann. Andererſeits koͤnnen nach
ganz demſelben grundlegenden Geſetz weder die Grundgeſetze noch die
Einrichtung des Reichsrates und der Reichsduma, noch die Beſtimmungen
uͤber die Wahlen in den Reichsrat und die Duma auf irgendeinem anderen
Wege abgeaͤndert werden, außer auf dem gewoͤhnlichen geſetzgeberiſchen,
das heißt mit Zuſtimmung des Reichsrates und der Duma. Das iſt das,
was im Verfaſſungsrecht gewoͤhnlich konſtitutionelle „Garantien“ genannt
wird. Es verſteht ſich, die volle Entwicklung dieſer Elemente, wenn ſie auch
im Prinzip anerkannt ſind, gehoͤrt noch der Zukunft.
i —— sn ch vielen vergeblichen Verſuchen hatte Rußland endlich, vor ſiebzig
Verwirklichung Jahren, die erſte Kodifikation der ruſſiſchen Geſetze erlangt, aber was
Sir für eine? „Gebunden an unuͤberſehbares und allerbunteftes vorhandenes
98
————ů — —2—3
lichen Herkunft zuſammen, einheimiſcher und auslaͤndiſcher, alter und
neuer, Selber ein eifriger Anhaͤnger der Teilung der Gewalten, vermiſchte
er dabei hoffnungslos Geſetze mit adminiſtrativen Verfügungen und Ers
laſſen zu beſonderen Fällen.“ Speranffi ift natürlich durchaus nicht ſchuldig
an einem ſolchen Charakter der ruſſiſchen Geſetzesſammlung. Auf den
Wunſch des Kaiſers Nikolaus I. ſollte er ſich fürs erfte lediglich auf die
Zuſammenſtellung der vorhandenen Geſetze beſchraͤnken, ohne irgend:
weiche Veränderungen vorzunehmen. In dieſem Sinne erſcheint das
Maeichsgeſetzbuch“ nur als ein Vorwort zu der wirklichen „Geſetzesſamm⸗
hung”, Dieſe zu erwarten, war dem 19. Jahrhundert nicht beſchieden.
Wie indes auch das Reichegeſetzbuch ausfiel, es bedeutete einen gewal-
ſich natürlich in einer Geſellſchaft nur dann feftigen, wenn die Geſellſchaft
ſelber die Möglichkeit erhält zu einer breiten Selbſttaͤtigkeit in genau vom
1 Se Bug, u Dabei fürchtete aber bis zur letzten *
was ſchon hundert — — Speranſki jo gefürchtet hatte: eine
Verſchaͤrfung des Kampfes gegen eben jene Staatsordnung, welche zu er⸗
halten die Regierung für nötig hielt. „Erſt das Manifeſt vom 17. Oktober
1905 legte im Prinzip die Grundlage eines kulturellen menſchlichen Zu⸗
ſammenlebens in Rußland.“ Dieſes Manifeſt „machte es der Regierung
zur Pflicht“, der Bevölkerung die unerſchuͤtterlichen Grundlagen der buͤr⸗
gerlichen Freiheit zu geben auf den Elementen einer tatſaͤchlichen Unver⸗
letzlichleit der Perſon, Freiheit des Gewiſſens, des Wortes (der Preſſe),
der Verſammlungen und der Vereine.“ Das iſt die Aufzählung der aller⸗
wichtigſten von jenen naturlichen Rechten des Menſchen und Buͤrgers,
ohne deren tatſaͤchliches Anerkennen und Wahren jede Konſtitution nur
ceein Fetzen beſchriebenes Papier bleibt. Leider werden gerade dieſe Rechte
an allerſchwierigſten ins Leben übergeführt, und verlangen zu ihrem
Schutz ein beſonders behutſames Verhalten von ſeiten der Bevölkerung
felber. In Rußland iſt ihre Verwirklichung um fo ſchwieriger, als neben
” 99
einer ſchwachen politiſchen Bewußtheit der Bevölkerung ihr auch noch die
Inkrafterhaltung der alten Methoden der Adminiſtration im Wege ſteht,
die begründet find auf Mißtrauen gegen die Selbſtaͤndigkeit der Geſell⸗
ſchaft und berechnet auf ihre Unterdrückung.
Dee voltifche ie Anwendung dieſer alten Methoden beginnt von ganz derſelben Zeit
—— an, als ſich auch jene „geſpannte Hinneigung des oͤffentlichen Geiſtes
nn me. zur politiſchen Freiheit“ zu entwickeln beginnt, welche bereits im Jahre
1809 Speranffi konſtatiert hatte. Nach dem Dekabriſtenaufſtand erſcheinen
die gewöhnlichen Maßnahmen der „ausfuͤhrenden“ Polizei ungenügend.
Kaiſer Nikolaus I. ſchuf ein „beſonderes Gendarmeriekorps“, deſſen Vor⸗
ſteher zugleich damit auch Vorſtand der dritten Abteilung der Kanzlei
Seiner Majeftät ward, fo daß ein Netz von Agenten, die beſtimmt waren,
über die öffentliche Sittlichkeit und die Ordnung im Lande zu wachen,
unmittelbaren Zutritt hatte zu dem Quell der Macht ſelber. Bekanntlich
hat indes dies Überwachungsſyſtem den beabſichtigten Zweck nicht erreicht
und nur allgemeinen Haß erregt gegen den „blauen Rock“. Im Jahre 1879,
auf dem Hoͤhepunkt des neuen politiſchen Kampfes, erkannte der Miniſter
des Innern, Walujeff, in ſeinem Bericht an das Miniſterkomitee an, daß
„die Maſſe der Bevoͤlkerung ſich in dieſem Kampfe entweder neutral ver⸗
haͤlt oder ſogar die Bereitſchaft offenbart, auf die Seite der Gegner der
Regierung uͤberzugehen“. Hiermit ward die Notwendigkeit neuer Zwangs⸗
maßregeln bewieſen. Mehr als zwanzig Erlaſſe dieſer Art wurden im Jahre
1881 zuſammengefaßt und veroͤffentlicht als „außerordentliche Maßnahmen
voruͤbergehenden Charakters zur Herſtellung der vollen Ordnung und zur
Ausrottung des Aufruhrs“. Von dieſer Zeit an bis zu unſeren Tagen blieb
dieſe „zeitweilige“ Verfügung vom 14. Auguſt 1881 „über Maßnahmen
zur Bewahrung der ſtaatlichen Ordnung und der oͤffentlichen Ruhe“ in
Kraft, wenn auch beſondere Beratungen der achtziger Jahre und des Jah⸗
res 1905 (des Grafen Ignatjeff) ſehr entſchieden die Unbeſtimmtheit der
Vollmachten verurteilten, welche dieſe Verfuͤgung der Polizeigewalt ver⸗
leiht. Das Miniſterkomitee vom 10. Februar 1905 war gezwungen, zu ge⸗
ſtehen, daß in den zweiundzwanzig Jahren der Wirkung der „zeitweiligen“
Beſtimmungen „ein ganzes Geſchlecht heranzuwachſen vermochte, welches
niemals eine andere Art der Aufrechterhaltung der oͤffentlichen Wohlfahrt
ſah“ „und nur aus Buͤchern etwas weiß von allgemeinen Geſetzen des
ruſſiſchen Reiches“. Tatſaͤchlich blieben von 1881—1905, das heißt im
Verlaufe eines Vierteljahrhunderts, ganze ſechs Gouvernements (darunter
100
| beide hauptſtaͤdtiſche), zwei Stadtbezirke und zwei Städte ununterbrochen
unter der Wirkung dieſer Verfügung. Im Jahre 1901, als ſich Anzeichen
geltend machten einer neuen „Spannung des oͤffentlichen Geiſtes“, ward
dieſe Verfügung auf 17 weitere Gouvernements ausgebreitet. Im Jahre
1905 erwies es ſich an Orten, welche das fuͤnfundzwanzigjaͤhrige Jubilaͤum
„des vermehrten Schutzes“ gefeiert hatten, als notwendig, zu ſtaͤrkeren
Mitteln uͤberzugehen und den „außerordentlichen Schutz“ einzuführen und
den „Kriegszuſtand“. Heute wirkt in dieſer oder jener Form der „Aus⸗
nahme zuſtand“ faſt überall in Rußland.
„daß bei einem ſolchen Regime, das in Rußland zu einem Der „Bermesrte
lichen und normalen ward, keinerlei Verwirklichung der b Ga De
füitutionellen „Freiheiten“ möglich ift, die durch das Manifeft vom 17. Ok- J eg.
tober 1905 verliehen waren. Wenn fogar die Reichsduma die allerbeſten stand
Geſetze über die Unverletzlichkeit der Perſon und über die Freiheit der
Preſſe und der Verſammlungen ausarbeiten würde, koͤnnten fie nirgends
angewandt werden, wo auch nur der gewoͤhnliche „verftärfte Schutz“ wirkt.
Von feinen „zuvorkommenden“ Maßnahmen iſt überdies auch die Freiheit
des Handels und der Gewerbe nicht garantiert. In Geſtalt von Repreſſiv⸗
maßnahmen“ wird ja der Adminiſtration das Recht gegeben, Arreſt bis zu
drei Monaten zu erteilen, Geldſtrafe bis zu fuͤnfhundert Rubeln zu verhaͤngen
und endlich Angelegenheiten jeder Art, darunter dem allgemeinen Strafrecht
unterliegende Verbrechen, von den gewoͤhnlichen Gerichten in militaͤriſche
überzuführen, zur Aburteilung nach den Geſetzen der Kriegszeit, nach den
Beſtimmungen des Kriegsgerichtsſtatuts. Der „außerordentliche Schutz“
gibt außerdem noch der Adminiſtration das Recht, den Befehl über
die Truppen beſonders ernannten Perſoͤnlichkeiten zu geben, das Recht,
Beſitztümer mit Beſchlag zu belegen, Wahlverſammlungen und Schulen
zu ſchließen, periodiſche Ausgaben zu verbieten, Gefaͤngnis bis zu
drei Monaten und Geldſtrafe bis zu dreitauſend Rubeln zu verfügen.
Die Arten der Vergehen, denen gegenüber dieſe letzten Strafen ange⸗
wandt werden, werden im voraus beſtimmt, indem man ſie aus der ge⸗
wohnlichen Gerichtszugehoͤrigkeit herausnimmt. Auch wird bei „außer⸗
ordentlichem Schutz“ das Recht gewährt, dem Militärgericht nicht jede
Sache einzeln zu übergeben, vielmehr nach ganzen Kategorien von Ver⸗
brechen. Endlich ward in der letzten Zeit zur Beſaͤnftigung innerer „Uns
ruhe“ auch der Kriegszuſtand ſehr freigebig angewandt. Unter ihm geht
die ganze Fülle der Macht ganz und gar über von der zentralen Ver⸗
101
waltung auf den Vertreter der lokalen Gewalt, der das Recht eines Be⸗
fehlshabers ber die Truppen erhält. In den Jahren 1905-1906 kann man
fünfzig Bälle zählen von Anwendung des Kriegszuſtandes auf verſchiedene
Orte des Reiches. Außerdem genießen faſt alle Gouverneure, ſogar an ſol⸗
chen Orten, die nicht unter verftärftem Schutz ſtehend erflärt wurden, in
aͤußerſt weitem Maße das Recht, „obligatoriſche Beſtimmungen“ heraus⸗
zugeben. Der Geſetzgeber muß beſtaͤndig — und bisweilen erfolglos —
dagegen ankaͤmpfen, daß dieſe Beſtimmungen der Gouverneure nicht Ge⸗
biete erfaſſen, die dem Geſetze gehoͤren. „Wenn wir noch hinweiſen auf die
breite Anwendung der adminiſtrativen Ausweiſung und Verſchickung und
ebenſo der politiſchen Unterſuchungshaft auf dem Wege des „Schutzes“,
gegen die, wie Durnowo im Miniſterkomitee mit Autoritaͤt erklaͤrte, „kein
einziger von den Einwohnern eines Ortes geſichert iſt“, wenn wir erin⸗
nern an die raſch zur Gewohnheit gewordene Praxis, ſogar gewöhnliche
Kriminalfaͤlle den Kriegsgerichten zur Erledigung zu uͤberweiſen, jo wer⸗
den wir unwillkürlich zu dem Schluſſe kommen, daß alle dieſe „zeitweiligen“
und „ausnahmsweiſen“ Maßregeln bei weitem uͤber die Grenzen des
Kampfes mit unnormalen und ausnahmsweiſen Exzeſſen des politiſchen
„Aufruhrs“ herausgehen.“ In jedem Falle widerſprechen ſie durchaus,
nach der richtigen Bemerkung desſelben Durnowo, „der Reichsordnung,
die eingeführt werden ſoll in Verbindung mit der Schenkung unerſchuͤtter⸗
licher Grundlagen der buͤrgerlichen Freiheit durch das Manifeſt vom 17. Ok⸗
tober 1915“. „Und ſolange dieſe Maßnahmen nicht nur weiterhin ange⸗
wendet, vielmehr auch ununterbrochen verſtaͤrkt werden, iſt es unmöglich,
von irgendwelcher „organiſchen Arbeit“ zu ſprechen zu dem Zwecke, einen
umgebildeten und erneuten Aufbau des Staatslebens ins Leben zu
fuͤhren.“ (Miljukoff)
Zuunnununununnnnunnunnnnnnunnumnnnunun
5 9. Die ruſſiſche Regierung als Organiſatorin
: des offiziellen ruſſiſchen Geiſteslebens
; unnnnnunununnununununn
Die Anfaͤnge der ruſſiſchen Schulen. — Die allgemeinen Schickſale der
ruſſiſchen Schule
Die Anfänge der amit haben wir ſchon die letzte Periode in der Selbſtbehauptungs⸗
9 politik des Zarismus: die aggreſſive, vorweggenommen, freilich in
ihren Niederlagen. Es wird noͤtig ſein, auf ihre Methoden und deren Folgen
102
—
*
F ene einzugehen, und den Verſuch zu machen, die ſich hier
ergebende Beeinfluſſung des ruſſiſchen Geiſteslebens wenigſtens in ihren
Hauptmomenten zu umſchreiben. Zunächft gilt es da mit traditionellen
Vorurteilen aufzuraͤumen. Es wird bei uns, und wohl überall im Weſten,
der bewußt kulturhemmende Einfluß des ruſſiſchen Deſpotismus zunaͤchſt
in weitem Maße überſchaͤtzt — nämlich überall da, wo die Zeit vor Ans
bruch des 19. Jahrhunderts in Betracht kommt — indem der zariſchen Re⸗
gierung an einer ganzen Reihe Ruͤckſtaͤndigkeiten ſchuld gegeben wird, die tat⸗
ſaͤchlich in den allgemeinen kulturellen Verhaͤltniſſen Rußlands begründet
lagen, und gegen die ſogar der ruſſiſche Deſpotismus — freilich in ſeinem
allerdringendſten Intereſſe — beftändig und erfolgreich ankaͤmpfte. Jeden:
falls kann man ohne Übertreibung ſagen, daß bis faſt zum Beginn des 19. Jahr⸗
hunderts, das heißt bis der ruſſiſche Deſpotismus unter dem Einfluß weft:
europaͤiſcher Strömungen zum Daſeinskampf gezwungen ward, faſt alles, was
in Rußland für Bildung und Aufklaͤrung geſchah, von der Regierung aus⸗
ging. Das beweiſt ſchon allein das Schickſal der ruſſiſchen Schule. Sie ent⸗
ſtammt, wie ſo vieles in der ruſſiſchen Kultur, den kriegeriſchen Beduͤrfniſſen
des Moskauer Staates: Sobald ja das Kriegsweſen komplizierter ward (und
wir wiſſen, daß Moskau aufmerkſam allen Fortſchritten hierin im Weſten
folgte, und daß nur hieraus ſein erfolgreicher Widerſtand gegen das an⸗
greifende Aſien, der ſchließlich zu deſſen Eroberung führte, zu erklären ift),
mußten die Offiziere beſonders vorgebildet werden. Es wurden Militaͤr⸗
ſchulen nötig. Aus ihnen ging die weltliche ruſſiſche Schule hervor. Der
Staat wollte fie im 18. Jahrhundert völlig der Kirche übergeben, die aber
war es gerade, die der Schule mißtraute, und nicht ohne Grund, ſeitdem
ſie ſich in der Kirchenſpaltung die freien geiſtigen Kraͤfte der Nation zu
Feinden gemacht hatte. Es muß hier auch ein für allemal feſtgeſtellt wer⸗
den, daß die ruſſiſche Zenſur urſprünglich durchaus von der Kirche
ausging und erſt gegen Ende des 18., faſt zu Beginn des 19. Jahrhunderts,
vom Staate in die Hand genommen ward (bezeichnenderweiſe machte hier
die freigeiſtige Katharina II., die Freundin Voltaires und Diderot, den
Anfang). Tatſache iſt ferner, daß auch das ruſſiſche Bürgertum und vor
allem der Adel, lange Zeit hindurch der Schule einen großen paſſiven
Widerſtand entgegenſetzten. Der Staat, der ſchließlich auch, je komplizierter
ſeine innere Organiſation wurde, um ſo gebildetere Beamte brauchte,
mußte geradezu Prämien auf den Beſuch feiner Schulen ſetzen — Offi⸗
zierspatente und perfönlichen Adel — und konnte dennoch nur dadurch
103
den Widerſtand gegen fie brechen, daß er von ihrer Abſolvierung den Zus
tritt zu Staatsſtellungen abhängig machte. Die geſchichtliche Gerechtigkeit
verlangt mithin feſtzuſtellen, daß bis zum Ende des 18. Jahrhunderts alle
geiſtige Unterdrückung in Rußland von der ruſſiſchen Kirche, nicht vom
Staate ausging und ſich nur deſſen Machtmittel bediente — ſpaͤter ward
dann das Gegenteil der Fall. — Freilich hat der Staat gegen den Wider⸗
ſtand der Kirche nur für feine Zwecke die Schule in Rußland eingeführt.
Und hier wurzelt das rein Utilitariſche, durchaus auf praktiſche Anwendung
Gerichtete der ruſſiſchen Schule, ein Zug, der freilich auch in Weſteuropa
der frühen Volksſchule eignet, ſich aber in Rußland merkwuͤrdig wirkſam
erhalten hat bis auf unſere Tage und durchaus im Einklang ſteht mit der
Auffaſſung der ruſſiſchen Geſellſchaft von der ruſſiſchen Mittelſchule als
unerlaͤßlicher Vorſtufe zu Amt und Würden. Den Erforderniſſen des rufs
ſiſchen Staates entſprechend iſt denn auch die ruſſiſche Schule bis zur Mitte
des 18. Jahrhunderts, ja, bis zur großen innerſtaatlichen Reform
Katharinas II. vorwiegend techniſch: auf Heranbildung von Offizieren,
Artilleriſten, Schiffsbaumeiſtern und Ingenieuren gerichtet. Von da an
kommt auch ein erzieheriſches Moment in die ruſſiſche Schule, womit die
Moͤglichkeit zu einer eigentlichen Geiſtesbildung gegeben war, um die dann
der Kampf ſchon im 19. Jahrhundert einſetzte, als die Regierung bewußt
auf Unterdrückung der Geifter ausging. Einen beſonderen Weg ging dann
die ruſſiſche Kirche in den Bildungsanſtalten, die ſie fuͤr ihre Diener nicht
entbehren konnte. Sie war hier von vornherein (ſehr im Gegenſatz zur
katholiſchen Kirche, die Überall im Weſten die Pflegeftätte des geiſtigen
Lebens war, bis an die Schwelle der neuen Zeit, die ſie ſelber vorbereitet
hatte) in eine hilfloſe Lage verſetzt, eben durch das Fehlen des ariſtoteliſchen,
das heißt des eigentlich philoſophiſchen Elementes in ihrem Lehrgebaͤude.
Die urſpruͤngliche griechiſche Tradition war darin ng ganz fo hilflos. Gegen
fie, die in Rußland in Kiew ihren Hauptſitz hatte, ſetzte aber früh ſchon
die Eiferfucht der national ruſſiſchen Kirche ein. Dank den Machtmitteln des
Moskauer Staates ſiegt Moskau uͤber Kiew — und damit war der ruſſiſchen
Kirche die letzte Moͤglichkeit zu irgendwelcher freien Geiſtigkeit genommen.
Die 22 erfen wir zur Illuſtration alles dieſes einen kurzen Blick auf den
. A allgemeinen Entwicklungsgang der ruſſiſchen Schule, wobei wir or
ebenfalls auf Miljukoff ſtuͤtzen.
In Rußland erwies ſich die Kirche in der Periode ihrer Vorhertſcaft
im geiſtigen Leben des Landes außerſtande, die Schule zu organiſieren,
104
und unfäßig nicht nur zur Verbreitung der Wiffenfchaftenin der @efellichaft,
ſondern ſogar zur Pflege der Wiſſenſchaft in ihrer eigenen Mitte. Das Er⸗
gebnis war, daß die Wiſſenſchaften in die Geſellſchaft auf anderem Wege
eindrangen als durch die Schule. Zum erſten Male im 16. Jahrhundert
waren das Wiſſenſchaften, die von der Kirche gebilligt und aus einwand⸗
freier byzantiniſcher Quelle geſchoͤpft waren. Mit ſolchen Wiſſenſchaften,
die im 6.—10. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung aufgekommen waren,
konnte ſich aber die Geſellſchaft nicht zufrieden geben, und noch in dem⸗
ſelben 16. Jahrhundert begannen Bruchſtuͤcke der mittelalterlichen Wiſſen⸗
ſchaft des 11.—13. Jahrhunderts nach Rußland zu dringen. Nach einem
vergeblichen und ohnmaͤchtigen Widerſtand fügten ſich die Vertreter der
ſelber ein wenig dem Einfluß dieſer Wiſſenſchaft; die gelehrteſten
von ihnen machten ſich daran, Sorge zu tragen, daß auch in Rußland die
Schule nach mittelalterlichem Muſter eingerichtet werde. Wir kennen das
Ergebnis dieſer Bemühungen: den Kampf der Moskauer Majorität das
gegen, daß in die Schule „die freien Kuͤnſte“ einbezogen wuͤrden, und
darauf auch ihren Kampf gegen die Lehrer, obgleich die durch die doppelte
Zenſur des griechiſchen Patriarchen und der Moskauer Schulbehoͤrde ge⸗
gangen waren. Indem ſie nur kritiſierte und ihrerſeits nichts Poſitives gab,
erwartete die herrſchende Partei endlich die Zeit, daß die Schule dem
Staate notwendig ward. Als der Staat zur Einrichtung ſeiner Schule
ſchritt, begegnete ihm kein Konkurrent in Geſtalt der Kirche; im Gegen:
teil, erſt auf fein Drängen führte die kirchliche Verwaltung die erſten
geiſtlichen Schulen ein — und in der erften Zeit war die ſtaatliche Gewalt
bereit, die weltlichen Schulen der geiſtlichen Behörde zu übergeben. Die
Kirche ſah aber ganz ebenſo wie die Geſellſchaft auf die Schule wie auf eine
ſtaatliche Zwangsanftalt. Unter dieſen Bedingungen ward die ruſſiſche
Schule gleich vom Beginn ihres Beſtehens an in doppelter Hinſicht eine
Regierungsanftalt: ihrem Urſprung und ihrer Beſtimmung nach. Die ruſ⸗
ſiſche Schule bereitete entweder für eine andere Schule oder für den
Staatsdienſt vor. Die Adligen wurden bis zu ihrer Befreiung vom obli⸗
; gatoriſchen Staatsdienſt (in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts), die
Geiſtlichen und die Bauern bis zur Emanzipation (1861) mit Gewalt zum
Schulbeſuch herange zogen. Für ihre eigenen Zwecke zogen es beide Stände
vor, die Dienſte von Privatlehrern in Anſpruch zu nehmen und ihre Kin⸗
der in eine Privatſchule zu ſchicken. Die Regierung trat nun in den Kampf
mit dieſer, unterwarf ſie ihrer Reglementation und zwang endlich die Ge⸗
105
ſellſchaft um Dienftesvorteile willen die ſtaatliche Schule der privaten vor
zuziehen. Auf diefe Weiſe ward die geſellſchaftliche Bildung vollig in der
Hand der Regierung vereinigt. Die Ergebniſſe des Schulunterrichtes ent⸗
ſprachen indes nicht voͤllig den Abſichten der Staatsgewalt. Auf jeden Fall
brauchte der Staat nicht mit dem Klerikalismus zu kaͤmpfen. Er fand im
Gegenteil durchaus mit Grund, daß der erzieheriſche Einfluß der Kirche einen
allzuſchwachen Anteil hat an der geſellſchaftlichen Erziehung in Rußland.
10. Der allgemeine Charakter .
der Bevormundung des ruſſiſchen Geiſteslebens
durch die ruſſiſche Regierung
uununnnnnuununnunn
Der Mißbrauch der Myſtik zur Unterdrüdung des freien Geiſtes. — Die
Anwendung radikaler men Unterdrüdung des freien Ge
dankens
Der Mistraub Ven Ende des 18. Jahrhunderts an tritt dann der ruſſiſche Deſpotis⸗
eds mus in die letzte Phaſe feines Daſeinskampfes ein: die aggreflive.
des freien Geiſies Er geht tätig vor gegen alle Strömungen innerhalb der Nation, die er
irgendwie gegen ſich gerichtet glaubt. Dabei offenbart ſich gleich im An⸗
fang ſchon fein Inſtinkt als ebenſo untruͤgeriſch, wie fein Argwohn ihn
jedes Maß Überfchreiten läßt, wodurch fein Vorgehen ſchließlich in Kari⸗
katur ausartet, und er der Laͤcherlichkeit verfällt. Dieſe drei Merkmale:
Inſtinktſicherheit, nie ruhender Argwohn und infolgedeſſen radikaler
Schematismus, gehen durch den ganzen Kampf des Deſpotismus gegen
alles ihm nicht unmittelbar dienende Geiſtesleben der ruſſiſchen Nation.
Zunaͤchſt erkennt das Zartum fehr richtig feinen Todfeind in jedem Ge⸗
danken, der nicht unmittelbar auf praktiſche, utilitariſche Ziele gerichtet iſt.
Denn der fuͤhrt unaufhaltſam ins unbegrenzte Geiſtesreich, wo ſich allein
die Momente finden, in denen ſich die Menſchen freiwillig vereinigen koͤn⸗
nen. Und hier kommt denn erſt die ganze Unertraͤglichkeit einer Regie⸗
rungsform zum klaren Bewußtſein, die ſich auf phyſiſchen Zwang ftüßt.
Wir wiſſen bereits, daß der Zarismus letzteres Moment von Hauſe aus
zu verhuͤllen ſuchte durch ſeine enge Verbindung mit der Kirche: hinter den
Weihrauchwolken der Myſtik. Indes iſt es mit der Myſtik ſo eine eigene
Sache: ſicherlich endet alles Geiſtesleben in ihr, wie es auch aus ihr her⸗
106
2 vorging und ja an ſich das Myſtiſche iſt im Leben. Indes verlangt gerade
der Geiſt, wenn er nicht irgendwelchem ihm weſensfremden Zwang un⸗
terliegt, daß für ihn die Ehrfurcht, und das iſt ſeine eigentliche Antwort
auf das ihm Unzugaͤngliche, das Myſtiſche, erſt da beginne, wo ſeine ord⸗
nende, begreifende Tätigkeit feine Aufgabe mehr findet. Freilich auch die
E Ehrfurcht iſt nur möglich als geiftige Tätigkeit. Die bewegt ſich hier aber
WLW a r
in einer Sphäre (wir nennen fie die metaphyſiſche), wo ihre Ergebniſſe
ſozuſagen nicht mehr die Erde berühren, vielmehr auf reinen Geiſtes⸗
fittigen ruhen. Dieſe Ergebniſſe find darum für den Geiſt ſelber ebenſo
notwendige wie die reinen Verſtandesergebniſſe. Er hat nur nicht die
Moglichkeit, fie allen Menſchen durch rein geiſtige Mittel annehmbar zu
machen. Dieſe, das rein Perſoͤnliche beruͤhrende und es mit dem Allge⸗
meinen
vereinigende Funktion des Menſchengeiſtes nennen wir Vernunft,
im Gegenſatz zu ſeiner, die Dinge dieſer Welt uͤberſichtlich ordnenden Taͤ⸗
tigkeit, die Verftand heißt. Mit einem Worte: Das myſtiſche, oder jagen
wir, was nur ein anderes Wort iſt, das metaphyſiſche Beduͤrfnis des
Menſchen iſt eine Forderung eben ſeiner Vernunft, und darf dabei erſt
da gelten, wo der Verſtand keine Tätigkeit mehr findet. Die Metaphyſik
der ruſſiſchen Kirche ſetzt indes viel früher ein. Sie konnte darum dem ruſ⸗
ſiſchen Staatsweſen auch nicht entfernt die geiſtige Stüße geben, die
zum Beiſpiel die katholiſche Kirche den weſteuropaͤiſchen Monarchien gab.
Ja wir ſahen, daß ſich die ruſſiſche Kirche noch vor dem Geiſte in der Nation
und ſich ſogar früher zur Wehr gegen ihn ſetzte, als die ruſſiſche
Staatsregierung, freilich mit deren Mitteln.
em iſt es denn auch zu verdanken, daß der Zarismus, als er von ſich Die uuwerdung
aus zur Unterdrückung der Geiſter schritt, ſich bereits auf eine voll aan ——
endete Technik ftügen konnte. Daß er dabei in jedem freien Gedanken ae =
Todfeind ſah, war, wie gejagt, richtig erkannt. In der Praxis batte
er nur fein unterſcheiden und unſchuldige Freiheiten unter unmerklicher Auf⸗
ſicht dulden ſollen, ſtatt im kleinen mehr zu verärgern als ſich ſelber zu
nützen. Daran hinderte indes die deſpotiſche Regierung ein grenzenloſer
Argwohn, der von ihr nicht zu trennen iſt, ohne den ſie nicht leben kann,
und der um fo ſcharfer hervortritt, je länger fie dauert. Und man muß
zugeben: Der zureichende Grund war ſtets reichlich vorhanden: Denn wer
delle beberrſchen will, muß alle beleidigt haben und erhält ſich ſchließlich
über ihnen nur dadurch, daß er Gegenfäge zwiſchen ihnen ſaͤt durch ewiges
Schwanken ſeiner Gunſtbezeugungen. (Denken wir nur an das Verhalten
107
des Zaren zum Adel: Er hatte den urſprünglichen Geburtsadel ausge⸗
rottet, den Verdienſtadel durch Bindung an den Kriegsdienſt und davon
abhaͤngigen Bodenbeſitz wirtſchaftlich an ſich gefeſſelt, und er erhielt ſchließ⸗
lich alle Adligen in ſtaͤndiger Rivalität untereinander durch die Rangliſten
beim Hofdienſt.) Dieſer politiſche Grundfehler des Deſpotismus: ſein nie
ruhender Argwohn, der ihn immer wieder die Grenzen der politiſchen
Notwendigkeit uͤberſchreiten und damit vermeidbaren Groll gegen ſich an⸗
haͤufen läßt, trat nun nirgends verhaͤngnisvoller hervor als gerade auf
dem Gebiete der Oberaufſicht über das Geiſtesleben der Nation. Hier wird
Radikalismus, Unterdrückung jedes freien Gedankens, faſt unvermeidlich.
Damit verliert aber das deſpotiſche Regiment ſelber alle Geiſtigkeit und
ſomit die Möglichkeit, die freiwillige Zuſtimmung feiner Bürger zu er⸗
langen. Hinzukommt, daß, bei dem unloslichen Zuſammenhang alles
Geiſtigen, und bei ſeinem notwendigen Vorhandenſein in allem, was
von Menſchen ausgeht, ſtrenggenommen jeder Radikalismus in der Un⸗
terdruͤckung des Geiſteslebens einer Nation unmoͤglich iſt. Daraus folgt,
daß das Streben nach Radikalismus hier niemals Grenzen finden wird.
Und daraus folgt endlich, daß alle deſpotiſche Geiſtesbevormundung ſchließ⸗
lich in Karikatur endigt.
11. Die allgemeinen Wirkungen der ſtaatlichen
Bevormundung des ruſſiſchen Geiſteslebens
Zur Geſchichte der ruſſiſchen Zenſur. — Der Geiſtestyp der 1
e
Jugend. — Der Charakter der ruſſiſchen Univerfität. — Das
Gymnaſium. — Der Lernſtoff für die ruſſiſche Univerfität. — Der
ſtoff fuͤr die ruſſiſchen Mittelſchulen. — Das Schickſal der Antike in der
ruſſiſchen Schule und ſeine Folgen. — Die Auffaſſung von Erziehung und
Bildung in Rußland. — Die Aufgaben der Erziehung fuͤr Rußland
Zur Geſchichte der as alles iſt durchaus das Schickſal der ruſſiſchen Zenſur geweſen.
en Verhaͤngnisvoll war dabei fuͤr ſie, daß, nachdem ſie bei ihrem erſten
Auftreten — in den letzten Jahren Katharinas II. und unter der Regierung
des wahnſinnigen Kaiſers Paul — ſchon gleich zu den letzten Grenzen der
Brutalität geſchritten war, fie im erſten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts,
in der erſten Regierungszeit Alexanders I., außerordentlich beſchraͤnkt, ja
faſt ganz aufgehoben ward. Freilich ſchon nach den Napoleoniſchen Krie⸗
108
gen (1815) gefiel ſich der myſtiſch veranlagte Kaifer in feiner europäifchen
Nolle: er überließ die inneren Angelegenheiten einem Reaftiondr ſchlimm⸗
ſter Sorte: Araktſchejeff, einem der Hauptgenoſſen Pauls I., der nur durch
Irrtum der Verſchwoͤrer deſſen Schickſal entgangen war. Indes trug da⸗
mals die Zenſur doch mehr den Charakter perſoͤnlicher Willkuͤr. Zu einem
Syſtem ward ſie erſt nach dem Fehlſchlag der Dezemberrevolution
(1825) unter Nikolaus I., einem Manne von eiſernem Charakter,
dem Stolz und den Empfindlichkeiten eines roͤmiſchen Caͤſaren und den
Geiſtesbedürfniſſen eines Unteroffiziers. Unter ihm ward die Zenſur zum
ordnenden Prinzip des ganzen nationalen Geiſteslebens. Bei dem unge—
bheuren Arbeitsgebiet, das ihr jo unterlag, war es nicht zu umgehen, daß
den einzelnen ausführenden Organen faſt unumſchraͤnkte Gewalt gegeben
ward. Hier beginnt nun die ruſſiſche Zenſur ihren verhaßteſten Charakter⸗
zug zu offenbaren: das kleinlich Tyranniſche und raffiniert Schikandͤſe:
alle menſchlichen Verſtůͤmmelungen, die das zariſche Staatsweſen bei ſeinen
Dienern hervorgerufen hatte, finden hier Gelegenheit, ſich an wehrloſen
Mitmenſchen auszulaſſen. Die noch zu ſchreibende Geſchichte der ruſſiſchen
Zienſur wäre zugleich auch eine Geſchichte der menſchlichen Niedertracht —
und der menſchlichen Albernheit. Denn hier, unter Nikolaus I., nahm die
kruſſiſche Zenſur für immer den Fluch der Laͤcherlichkeit auf ſich. Zudem
machte es die ſchon traditionelle Unbildung der Zenſoren den ruſſiſchen
Autoren nicht allzu ſchwer, fie immer wieder naszuführen. Unter dem
Drucke der Zenſur hat ſich im ſchreibenden Rußland eine Virtuofität her⸗
ausgebildet, alles, was man nur will, ſo zu ſagen, daß der Zenſor es nicht
mehr faſſen kann. Zweifellos hat das zur Verfeinerung der ruſſiſchen
Ausdrucksweise geführt, es iſt aber auch wohl fo der auch in anderen
Zuſammenhaͤngen begründete unſelige Hang des ſchreibenden Rußlands
zu Sophismen und unnötigen, oft bewußt irreführenden Kompliziert⸗
heiten ausgebildet worden, und das hat tatſaͤchlich dazu geführt, daß
dem Ruſſen eine Wahrheit immer wieder ſchon verdaͤchtig wird, wenn
ſie einfach iſt — fie ihn dann wenigſtens nicht intereſſiert, und er ihr des⸗
halb oft die Gefühlsbetonung verweigert. — So viel zur allgemeinen Ge:
der ruſſiſchen Zenſur.
verheerenden Wirkungen auf das ruſſiſche Geiſtesleben find na⸗ Der Galdeeter
Prürlich auch nicht annähernd zu umſchreiben. Denken wir zunaͤchſt auch +;
nur an den Geiſtestyp des Zenſors, deſſen Spuren uns in Rußland auch
dort noch begegnen, wo man ihn am allerwenigſten vermutet. Über die
109
* em
io großgezüchteten falſchen Allgemeinbegriffe vom Weſen des Geifligen,
von Bildung, Geiftesfreiheit uſw., werden wir gleich berichten, wenn
wir auf die Tätigkeit der Zenſur auf den Einzelgebieten ihrer Wirkſamkeit
zu ſprechen kommen. Ganz im allgemeinen, durch ihr bloßes Vorhanden⸗
ſein, wirkte die ruſſiſche Zenſur wohl dadurch vor allem verhängnisvoll
auf das nationale Geiſtesleben, das ſie jeden Gedankenaustauſch inner⸗
halb der Nation unterband. So ward dem nationalen Gedanken nicht
nur ein maͤchtiger Anreiz genommen zu ſeiner Betaͤtigung ganz im all⸗
gemeinen, ſondern es mußte auch bei dem ſo fehlenden notwendigen Ausgleich
der Geiſter, die doch das Andersſein des anderen ertragen muͤſſen, um nur
miteinander verkehren zu koͤnnen, jener ſo ſchon im ruſſiſchen Naturell
liegende und durch Rußlands Schickſale zu hoͤchſter Entwicklung gelangte
Hang zum extremen Subjektivismus auch noch eine weitere Ausbildung
erfahren, wenigſtens fällt die überall ſonſt hauptſaͤchlich wirkende Kor⸗
rektur fort. Zudem iſt die Zenſur wiederum eines jener Momente, welche
die ruſſiſchen Geiſter in der Abwehr gleichſtimmen, und es ihnen erſchweren,
ihren Irrtum einzuſehen, wenn fie für rein perſoͤnliche Außerungen über
die Allgemeinheit treffende Zuſammenhaͤnge Allgemeingüͤltigkeit bean:
ſpruchen (was wir weiter oben den naiven Subjektivismus des Ruſſen
nannten). In dieſem Irrtum beſtaͤrkt das Vorhandenſein der Zenſur aber
auch noch indirekt dadurch, daß fie, die Allgemeinguͤltigkeit beanſprucht
und deren Außerliche Anerkennung durch Machtmittel durchſetzt, immer
wieder ſo handgreifliche Irrtuͤmer und Dummheiten begeht. Wodurch
kann aber das Zutrauen zum eigenen Urteil über die Zuſammenhaͤnge
von Welt⸗ und Menſchenall mehr geſtaͤrkt werden (und wir wiſſen bereits,
daß der Ruſſe ſeine Urteile ſchon dann für allgemeingültig zu halten ge⸗
neigt iſt, wenn ſie allgemeine Zuſammenhaͤnge zum Inhalt haben),
als wenn man den von der mächtigen Staatsorganiſation geaͤußer⸗
ten Anſchauungen gegenuͤber zweifellos recht behaͤlt. Daß das aber
in Rußland ſchon ein Schulknabe von ſich behaupten kann (oder
wenigſtens lange Zeit hindurch konnte: zu ſolcher Kuͤmmerlichkeit und
Karikatur ſank die Zenſur in gewiſſen Perioden herab), das iſt dann —
neben einer maßloſen Verwoͤhnung von feiten der Eltern — wohl mit die
Haupturſache jener verblüffenden Selbftüberzeugtheit der ruſſiſchen Ju⸗
gend, die in jo gar keinem Verhältnis fteht zu ihren Kenntniſſen und ihrer
tatſaͤchlichen Reife. Das iſt aber nicht nur menſchlich unſympathiſch und
führt im Verkehr der ruſſiſchen Jugend untereinander zu ſtaͤndigen gei⸗
110
3 Bi ©
2 * f
“ e
u”.
De
ſugen Vergewaltigungen durch Verachtungsandrohung Andersdenkender,
die als Argument ſchon für die ruſſiſche Jugend typiſch iſt —, es wird jo
ferner auch ein naiver Sophismus im ruſſiſchen Geiſte großgezogen (und
zwar vornehmlich in jenen typiſchen Ausfluͤchten geiſtiger Hilfloſigkeit:
dem Heranziehen ſolcher weiter Zuſammenhaͤnge, daß alles unfaßbar wird,
und das überzeugt zwar keine Nichtruſſen, iſt aber das größte Hemmnis
zur geiſtigen Heilung des Ruſſen ſelber). Die verhaͤngnisvollſte Folge davon
iſt doch wohl die, daß die ruſſiſchen Geiſter durch dieſe von Hauſe aus total
e, zu jedem richtigen Denken unfaͤhig machende Denkſchule die wehr⸗
Opfer des Dogmatismus werden (zumal wenn er durch den Hin⸗
weis auf die Volksnot ſich Gefuͤhlsbetonung erſchleichen kann). Und für
den einem Dogma verfallenen Ruſſen wird die Aufgabe auf einmal eine
andere: ſtatt die Gedanken anderer ſophiſtiſch zu zerpflüden, muß man
1 nunmehr den eigenen Gedanken (der dabei meiſt nicht unmittelbar ein⸗
ziuſehen ift) anderen aufzwingen. Das liegt ſchon im praktiſchen Ziel dieſes
Gedankens (und wenn der Ruſſe nicht mehr, wie in früher Jugend, nur
denkt um zu glaͤnzen, ſo denkt er zu praktiſchen Zwecken: ein anderes Den⸗
ken wird nirgends in Rußland anerkannt). Das Ziel des dogmatiſchen ruſ⸗
ſiſchen Gedankens iſt mithin durchaus dem der Zenſur gleich. Was iſt na⸗
türlicher, als daß auch ihre Methoden angenommen werden, die auf
Zwang beruhen. Natürlich wird der meiſt nicht gerade — innerhalb der
revolutionären Parteien freilich oft ſehr — phyſiſch fein, er wird ſich mehr
als ein geiſtig moraliſcher offenbaren: in Androhung von Verachtung be⸗
ſtehen. Das bleibt aber darum doch Zwang. Die Gewoͤhnung an ihn führt
eben bei aller Abwehrſtellung gegen ihn, — von der im vorigen Abſchnitt
ſo ausführlich die Rede war —, doch ſchließlich dahin, ihn zum Vorbild
zu nehmen da, wo man ſelber andere zu etwas beſtimmen will. Auch in
dieſer Hinſicht iſt der Deſpotismus von unermeßlich ſchaͤdigendem Einfluß
auf das ruſſiſche Geiſtesleben geweſen: Der Ruſſe kann gar nicht laſſen
von dem Hang, in geiſtigen Dingen zwingen zu wollen. Ja man glaubt
in Rußland — und hier liegt der Kern der groß en Kulturgefahr von feiten
deer ruſſiſchen Revolution, — daß man den Menſchen auch zu ſeinem Heile
5 zwingen koͤnne und müfje. Indes wirkt hier vielleicht die Zenſur nicht fo
ſehr als unwillkuͤrliches Vorbild — als naͤchſte Vorſtellung für ähnliche Will:
kur ,als vielmehr wohl das durch fie bedingte Fehlen von freiem Geiſtes⸗
leben in der Nation hier den Ausſchlag gibt.
j
1
1
der argen ehen wir nunmehr über zur Einwirkung der ruſſiſchen Zenſur auf die
Uster! nF Cinzelgebiete des ruſſiſchen Geiſteslebens und ftellen wir dabei
gleich die allgemeine Tatſache feſt, daß ſie, die Zenſur, vom 19. Jahrhundert
an, von wo wir — was ſtaatliche, nicht kirchliche Zenſur anbetrifft — uͤber⸗
haupt erſt berechtigt find, von ihr zu reden — zur eigentlich organiſierenden
Kraft ward auf dem ganzen Gebiete des offiziellen ruſſiſchen Geiſteslebens,
beſſer geſagt, zu dem Moment, welches dem zunaͤchſt mechaniſch kopierten
weſteuropaͤiſchen Vorbild erſt den ruſſiſchen Eharakter gab, es den tat⸗
ſaͤchlichen ruſſiſchen Verhaͤltniſſen anpaßt. Das zeigt ſich am deutlichſten
an der ruſſiſchen Univerfität. Sie war urſpruͤnglich, zu Beginn des
19. Jahrhunderts, nach dem Muſter der freieſten Univerfität ihrer
Zeit, der deutſchen vom Typ Wilhelm von Humboldts, eingerichtet
worden. In dieſer Geſtalt bedeutete ſie naturlich eine Unmoͤglichkeit im
Rahmen des damaligen ruſſiſchen Staatsweſens. Man half ſich auf die in
Rußland übliche Weiſe: man gab geſchriebene Rechte und verhinderte ihre
Ausübung. Das war das Schickſal der Autonomie der ruſſiſchen Univerfitätfafl
im Verlaufe des ganzen verfloſſenen Jahrhunderts. Tatſaͤchlich unterſtand
ſie meiſt unmittelbar der Regierungsbehoͤrde. Und die ging in ihrem Miß⸗
trauen gegen ſie ſo weit, daß Jahre hindurch die Profeſſoren erſt die Manu⸗
ſtripte ihrer Vorleſungen einreichen und ſich verpflichten mußten,
genau nach ihnen zu leſen. Abgeſehen von der ganz kurzen Frühlings
epoche des ruſſiſchen Lebens in der Zeit der großen Reformen, d. h. in
den erſten 12—15 Regierungsjahren Alexanders II. (1855 bis etwa 1870)
war die Geſchichte der ruſſiſchen Univerfitäten ein einziges Martyrium:
Nie ruhendes Mißtrauen der deſpotiſchen Regierung zeitigte hier alle die
Erſcheinungen, die für fie in ihrer inneren Politik fo charakteriſtiſch find:
bei urſpruͤnglich weiten Zielen endet man infolge kleinlicher Schikanen
und kleinlicher Tyrannei in der Karikatur und erreicht doch nur zweier⸗
lei: Erbitterung der Studenten und Mißachtung der ruſſiſchen Univerfität.
Wenn wir uns dies alles zum Bewußtſein bringen, werden wir mit Recht
bewundern, daß die ruſſiſche Univerfität auch in den Zeiten dunkelſter
Tyrannei nie ihre hohe Aufgabe: Erleuchterin dieſes geiſtig geknechteten
Volkes zu fein, völlig vergaß, daß fie, Leuchten geiſtigen Mutes und poli⸗
tiſcher Opferfreudigkeit hervorbringend: wie Granowſki und Pirogoff,
trotz allem das Zentrum der ruſſiſchen Aufklaͤrung blieb und dabei eine
ſehr heilſame — leider niemals ausreichende — Gegenwirkung ausübte,
im Sinne wahrer Wiſſenſchaft, gegenuͤber alledem, was die geiſtig vor⸗
112
*
herrſchende (weil praktiſch ſich unmittelbar opfernde), revolutionäre Ju⸗
gend Rußlands an vermeintlicher Wiſſenſchaft in ihren Programmen ver⸗
breitete. Ja, man kann noch weiter gehen — wir greifen hier voraus —
und es als das Verdienſt der ruſſiſchen Univerfität (d. h. der in ihr wirken⸗
den Perſoͤnlichkeiten in ihrem nichtoffiziellen Wirken) betrachten, daß der
Sinn für die idealen Momente in der politiſchen Freiheit nicht völlig vers
foren ging in Rußland, wo dieſe ſelbe geiftig vorherrſchende revolutionäre
Jugend das Weſen der politiſchen Freiheit zu ausschließlich in der Mögliche
keit zur ſozialen Reform erblickte . , für deren politiſche Machtmittel ihr
dabei der verhaßte Deſpotismus die noͤtige Vorſtellung gab. Wir haben
hierfür ſehr bemerkenswerte Äußerungen des einſt die Geiſter der revo⸗
lutionären ruſſiſchen Jugend beherrſchenden Theoretikers des Terrorismus
Michailowſki: „Auch wir halten die Freiheit für ein koͤſtliches Gut,“ ſagt
er irgendwo, „aber wir wollen ſie nicht, wenn ſie, wie im Weſten, nur
möglich iſt, indem wir unſere Schuld vor dem Volke noch vermehren.“
Wir erkennen demnach: die Außerfte Linke in Rußland ſtimmt völlig übers
ein mit der aͤußerſten Rechten, dem reaktionaͤrſten Panſlawismus, in der
Ablehnung des europäifchen Rechtsſtaates: Das Mißverſtehen des geiſtigen
Fundamentes der politiſchen Freiheit iſt in beiden Fällen ein und dass
r
1 * » * ii 4
ſelbe. Die Univerfität — natürlich die nichtoffizielle: nur als Sammelort
hoͤchſter ruſſiſcher Bildung — erkannte bald die von hier aus dem natio⸗
nalen Geiſtesleben drohende Gefahr und trat entſchieden auch nach dieſer
Seite auf. Das kann ihr nicht hoch genug angerechnet werden. Gegen⸗
über allen Sünden und Unterlaſſungen der ruſſiſchen Univerfität muͤſſen
wir überall im Auge behalten, daß ſie faſt drei Menſchenalter hindurch im
hoͤchſten nationalen Intereſſe gegen die beiden geiftigen Bevormundungen
ihrer Nation kämpft, die reaftionäre und revolutionäre, und darum völlig
iſoliert in ihr ſteht. In wirklich vornehmer Iſolierung.
nd das ließ ihr Schickſal nicht ganz fo troſtlos erſcheinen wie das der Des rufe
chen Mittelſchule, vor allem des Gymnaſiums. Da deſſen Lehrer
durchaus Beamte ſind und auch gar keine wiſſenſchaftlichen Pflichten haben
außer dem Vortrag feſtſtehender Schulpenſa, dazu von jeher erbaͤrmlich
bezahlt und mit Arbeit überlaftet waren, fo ſank das ruſſiſche Gymnaſium
mehr und mehr zu einer Polizeiorganiſation herab, mit der doppelten
Aufgabe; eine Kontrolle über die jugendlichen Geiſter auszuüben und fie
im regierungs freundlichen Sinne zu erziehen. Der erſte dieſer Zwecke ſteht
wenigſtens nicht wie der zweite im Widerſpruch zu den hier moͤglichen
et, Grundlagen des geidtsen Nutgland- 113
Mitteln. Wie indes die Kontrolle erreicht werden jollte, das machte aus
dem ruſſiſchen Gymnaſium eine Erziehungsanftalt zu raffinierter Heuchelei,
wobei noch beſonders verhaͤngnisvoll der Umſtand wirkt, daß die ſo ge⸗
züchtete Verſtellung des Schuͤlers ihm ſelber und feinen Eltern durchaus
für gerechtfertigt gilt, inſofern ja die ruſſiſche Regierung — ſelber wenig
überzeugt von ihrer Fähigkeit, ſich aufrichtige Zuneigung zu erwerben —
ihre ganze Gymnaſiumstyrannei auf das rein materielle Intereſſe des
Schülers ſtuͤtzt: Nur das Gymnaſium führt zur Univerfität, und nur die
Univerfität zu den höheren Staatsſtellungen. Dieſer Appell an das rein
materielle Intereſſe iſt freilich im Grunde auch überall ſonſt die eigent⸗
liche Pſychologie der ruſſiſchen Regierung im Innern geweſen. Schon
weil ihre ausfuͤhrenden Organe, ſelber in allem Geiſtigen geknech⸗
tet, keine andere kannten. Dabei kann aber natürlich der ruſſiſche Deſpotis⸗
mus als Staatsform die ideelle Rechtfertigung gar nicht entbehren. Nur
daß ſie unvereinbar bleibt mit ſeinen, auf Selbſterhaltung gerichteten rein
polizeilichen Maßnahmen in jeder Organiſation des nationalen Geiſtes⸗
lebens, das macht hier die unhaltbare Lage der ruſſiſchen Regierung aus
und zwingt fie, als eigentlich wirkſames Motiv hier das materielle Intereſſe
heranzuziehen und ſtaͤndig zu betonen. Denn darin, daß der Gymnaſiums⸗
beſuch über die Zukunft des Schülers entſcheidet, liegt naturlich an ſich
nichts eigentlich Neues: das iſt in Weſteuropa genau fo. Während man
aber dort — aus wahrhaft paͤdagogiſchen Gründen — den Schüler dies
leider unvermeidliche, rein utilitariſche Moment moͤglichſt vergeſſen laſſen
will, muß es die ruſſiſche Regierung immer wieder abſichtlich betonen. Der
Schüler darf es keinen Augenblick außer acht laſſen, weder auf der Mittel⸗
ſchule noch auf der Univerfität. Ja, mehr noch: er darf auch nicht einmal
die Gewißheit haben, daß ſein ehrlicher reſtloſer Fleiß ihn rettet, er muß
vielmehr wiſſen, daß auch da der Zufall mitſpielt, vor dem nichts ſchuͤtzt.
Hier ſind wir an der pſychologiſchen Quelle des Martyriums der ruſſiſchen
Schuljugend, der Urſache ihrer fruͤhen nervoͤſen Zerruͤttung, allgemeinen
koͤrperlichen Ruͤckſtaͤndigkeit und der fo entſetzlich hohen Selbſtmordziffer
in ihr! Wir meinen natürlich die ruſſiſche Ubergangs⸗Examenswirtſchaft
mit dem unglaublichen Hazardſpiel des Ziehens von „Billetten“. Der
ruſſiſche Mittelſchuͤler kann noch fo tuͤchtig geweſen fein, alles, was er im
Verlaufe des Jahres leiſtete, entſcheidet gar nicht über feinen Übergang
in die höhere Klaſſe. Da entſcheidet allein das alljaͤhrliche Übergangs:
examen, das heißt zufaͤllige Stimmung — dabei denke man an die vielen
114
ed
— 5
a
*
F
| vorausgegangenen durchwachten Nächte und alle nerodjen Examens⸗
erſcheinungen, die ſo verurſacht ſein koͤnnen —, und ſchließlich auch der
Zufall des Hazards: des gezogenen Billettes, das die Frage enthält. Dabei
gilt es als völlig ausgeſchloſſen, daß ein Schuler alle Billette wiſſen koͤnne.
Raffinierter, gewiſſenloſer — mit mehr Opfern an unwiederbringlicher
jugendlicher Nervenkraft — kann man wohl gar nicht einem Kinde immer
wieder vor Augen halten, daß es hinſichtlich ſeiner materiellen Zukunft
ganz in den Haͤnden der Regierung ſteht. Daß die Eltern dabei die Kinder
noch möglichft antreiben, dafür ſorgt ſchon der geringe Durchſchnittswohl⸗
ſtand in Rußland und der große Kinderreichtum. Was dieſen Sachverhalt
dabei noch ganz beſonders erſchwert — und man kann ſich nicht voͤllig des
Eindrucks erwehren, daß auch hier Politik mitſpielt, wenigſtens liebt es die
ruſſiſche Regierung, gelegentlich ſehr zu verwoͤhnen, um nachher um ſo
feſter zu vergewaltigen —, ſind die dreimonatlichen Sommerferien aus⸗
nahmslos aller ruſſiſchen Schulen: natürlich drängt ſich ſomit der ganze
Lehrſtoff auf eine verhältnismäßig kurze Lehrzeit zuſammen. Deshalb iſt
auch kein Schüler mehr mit Hausarbeiten überlaftet als der ruſſiſche: bei
Zwölfjährigen find vier Stunden Hausarbeit eigentlich normal. Man führt
dies alles auf die ſchlechte Bezahlung und daraus folgende Überlaftung
der Lehrer zurück, die ſchließlich ihren Unterricht lediglich auf Abhoͤren
eines aufgegebenen Penſums beſchraͤnken muͤßten (tatſaͤchlich haben ſie,
um nur exiſtieren zu konnen, dreißig Wochenſtunden zu geben und faſt
täglich hundert bis zweihundert Schulhefte zu korrigieren). Auch die Re:
gierung entſchuldigt die alljährlichen Übergangseramen — die nebenbei
bemerkt ſtets in Gegenwart hoher Beamter ſtattfinden, was die Kinder
natürlich noch mehr einſchüͤchtert — mit dem Hinweis auf die Notwendig⸗
keit für fie, die Lehrer zu kontrollieren —, ohne zu merken, wie fie ſich mit
ſolcher Erklaͤrung blamiert. Indes iſt das alles der unmittelbare Ausfluß
des Syſtems. Natürlich wird es auf der Univerfität fortgeſetzt: die für
jeden Kurs zu belegenden Vorleſungen find ein für allemal beſtimmt, der
Vorleſungsbeſuch wird kontrolliert — und auch hier muß aus einem Kurs
in den anderen ein Übergangseramen gemacht werden, bei dem gleich⸗
falls das Hazardſpiel des „Billettziehens“ die Regel iſt.
as alles gilt von der Lehrmethode: fie iſt ein unmittelbares Ergebnis der Lernen ra
der deſpotiſchen Geiſtesbevormundung. Natürlich betrifft die auch den a —
Lehrſtoff. Hier iſt natürlich ihre Aufgabe von vornherein eine hoffnungs⸗
loſe, nie zu erfüllende: Alles Geiſtige hängt ja unmittelbar mit einander
0 115
zuſammen, und alles führt gegen den phyſiſchen Zwang. Alles, was eine
geiſtige Bevormundung da tun kann, iſt rein ſchematiſch vorzugehen: zu
den einzelnen Difziplinen ſich zu verhalten je nach ihrer näheren ober
ferneren Beziehung zum wirklichen Leben, und dann dem Fernſtehenden
den Vorzug zu geben, das Naheſtehende dagegen bis zur völligen Wir⸗
kungsloſigkeit zu unterbrüden. Das iſt denn naturlich auch die Politik der
ruſſiſchen Regierung geweſen: ſie hat von jeher mathematiſche, techniſche
und naturwiſſenſchaftliche Fächer bevorzugt. Genuͤtzt hat es ihr natürlich
nicht. Denn wenn ſie hier die Geiſter frei walten ließ, ſo gewoͤhnten die ſich
an Freiheit — und empfinden um ſo ſchlimmer den Druck, wenn ſie ins
Leben zuruͤckkehren. Tatſaͤchlich ſcheint es, daß aus der von der ruſſiſchen
Regierung am wenigſten gehemmten mathematiſch⸗naturwiſſenſchaftlichen
Fakultat viel mehr Todfeinde fuͤr fie hervorgingen, als aus der geſchicht⸗
lich⸗philologiſchen, wo ſie ſich ſtets unmittelbar einmiſchte und den Unter⸗
richt zu gewiſſen Zeiten zu einer reinen Farce machte. (Hier entſpringt
auch z. B. Tolſtojs Wiſſenſchaftsverachtung: Er beſuchte die Univerfität
zur Zeit Nikolaus I., und hielt — und das iſt echtruſſiſch — das Karikierte
an ihrer Wiſſenſchaft für das weſentliche Moment jeder Wiſſenſchaft.)
Indes war gerade hier der wirkliche Unſegen der Zenſur ein unermeßlicher:
nicht nur, daß ſie in den jungen ruſſiſchen Geiſtern den Begriff von dem
faͤlſchte, was Wiſſenſchaft uͤberhaupt iſt, was der Menſchengeiſt in ihr
leiſten kann, und wie er ſich dabei anzuſtellen hat, ſie zog vielmehr auch
die Verachtung gegen die Wiſſenſchaft uͤberhaupt groß, die unkritiſche
Geiſter von jeher ohne weiteres der ruſſiſchen Univerſitaͤtswiſſenſchaft
gleichſetzten. Dieſe verhaͤngnisvolle, in jo unendlich vielen ruſſiſchen Köpfen
ſitzende und Rußlands Fortſchritt namenlos erſchwerende Verachtung des
wiſſenſchaftlichen Geiſtes hat denn dazu geführt, daß man auch bei den
Spitzen des ruſſiſchen Geiſteslebens gar nicht das Groteske einſieht, wenn
man der Wiſſenſchaft, die nie etwas anderes geben kann wie ein Sein:
das heißt Zuſammenhaͤnge von Tatſachen, einen Vorwurf daraus macht,
daß ſie keine Willensrichtungen im Leben gibt (Tolſtoj und ein Teil der
Intelligenz) oder daß fie das Volk nicht ſatt macht (die Revolutionäre).
Der kernſtof für un follte man der Natur der Sache nach annehmen, daß ſich die
nun polizeiliche Zenfurierung des Lernſtoffes nur auf die Univerfität bes
zog, nicht auch auf die Mittelſchule — abgeſehen allerhoͤchſtens viel⸗
leicht von dem Geſchichtsunterricht. Im großen und ganzen iſt das auch
der Fall, und der Widerwille gegen den Lernſtoff der Gymnaſien mag
116
*
ſich im weſentlichen aus der Art erklaren, wie er vorgetragen wird: vor
allem ſchließt man aus feiner Zerſtuͤckelung in Klaſſenpenſa und Prüfungs:
billetts auf feine Begrenztheit, Willkürlichfeit und feinen dogmatiſchen
Charakter. An und für ſich iſt es wohl nicht gut möglich, ein freies Ver⸗
haͤltnis zu erlangen zu einem Wiſſensſtoff, wenn er einem in kleinen, eng⸗
umgrenzten, mithin bruchftüdartigen Portionen zugeteilt wird, mit dem
ausgeſprochenen Zweck, daß feine mechaniſche Aneignung unter Verhaͤlt⸗
niſſen, deren Zufaͤlligkeit dem Schüler durchaus nicht entgeht, über deſſen
Zukunft entſcheidet — (und hier iſt, wie bereits betont, eine der Wurzeln
des allruſſiſchen Widerwillens gegen Weſteuropa). Der Widerwille aber,
der unwillkürlich auf einen Lernſtoff übertragen wird aus der Art, wie er
gelehrt wird, war nun einem Lehrgegenſtand gegenüber ganz befonders
verhaͤngnisvoll, weil gerade er Rußland außerordentliche Förderung hätte
bringen können, ja, wie geſchaffen dazu war, das Gegengewicht zu bilden
gegen gewiſſe Kehrſeiten der großen ruſſiſchen Tugenden. Aber gerade
dieſer Gegenſtand verlangt mehr wie alle anderen, ſeinem innerſten Weſen
nach, das — was die ruſſiſche Mittelſchule unter der Knute des Deſpotismus
ihm nicht geben konnte: freiwillige, in Liebe begründete Hingabe! Denn
dieſer Lehrgegenſtand nimmt inſofern eine ganz beſondere Stellung ein
unter allen Lehrfaͤchern der Mittelſchule, als ſeine eigentliche, bei einer
gewiſſen Tiefe des Eindringens unvermeidliche Wirkung viel weniger in
der Beherrſchung eines abgeſchloſſenen Wiſſensgebietes beruht als in der Er⸗
ziehung zu einer ganz beſonderen, das geſamte Verhältnis zur Eigen⸗ und
Umwelt beſtimmenden Geſinnung: Wir meinen natürlich den Klaſſizismus.
*
ein ruſſiſches Schickſal gäbe den Stoff zu einer Tragikomoͤdie. Alles Das Saicalt
in allem genommen lag und liegt das Verhaͤngnis für den Klaſſizis⸗ —
mut in Rußland darin, daß feine wahrhaftigen Segnungen ſtets nur von denen e deu
geahnt wurden, die ſich vor ihnen fürchten müßten und fie um keinen Preis
wirkend wiſſen wollten (die deſpotiſche Regierung und ihre Diener), waͤh⸗
tend diejenigen, die hier alles Heil Hätten finden koͤnnen (die Freunde
und Helfer der ruſſiſchen Freiheit), dem eigentlichen Weſen der Antike
von jeher völlig verftändnislos gegenüberftanden und in ihr wirklich nichts
anderes ſahen und bis heute ſehen, als ein Knechtungsmittel ihrer Feinde
— eben der Zariſten. Dabei war die ruſſiſche Regierung, als fie den Klaſſi⸗
Memus in die ruſſiſche Schule einführte — vornehmlich in der Abſicht ſich
europaͤiſch gebildete Beamte zu erziehen —, lediglich der Anſicht, der
Klaſſizismus bilde ein weſentliches Moment ie bureaukratiſchen Bildung.
117
Und das glaubt man bis jetzt noch in Rußland. Man jegt immer noch
Klaſſizismus gleich dem lateiniſchen Formelkram der Möfterlichen Schule
und der von der Kirche beherrſchten mittelalterlichen Univerſitäͤt. Klaſſi⸗
zismus war und iſt für die uͤberwiegende Mehrzahl der Ruſſen die las
teiniſche Amtsſprache der mittelalterlichen Kanzlei. Das war anfangs auch
durchaus die Anſchauung der ruſſiſchen Regierung geweſen. Wir pe
daß fie dabei noch beſonderen Wert legte auf die „Weltfremdheit“ der
Antike: das „Sagenhafte des Titus Livius“. Daß ſie aber doch
tiefer in die Antike ſchaute — und ſie auch hier ihr im Selbſterhaltungs⸗
intereſſe todſicherer Inſtinkt nicht verließ —, beweiſt ihr Sturmlauf gerade
gegen das Griechiſche im ruſſiſchen Gymnaſium Ende der vierziger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts, deſſen Ergebnis war, daß nur noch
in neun ruſſiſchen Gymnaſien Griechiſch und dazu noch in ſehr beſchraͤnktem
Maße gelehrt werden durfte. Die Begruͤndung iſt echt ruſſiſch: „die Be⸗
ſchaͤftigung mit dem Klaſſizismus lenke von den politiſchen Notwendig⸗
keiten der Wirklichkeit ab und verführe unreife Köpfe zum abſtrakten Re⸗
publikanismus der alten Volker.“ Immerhin war dieſe Motivierung noch
aufrichtig. Zwanzig Jahre ſpaͤter lehnte man ſich in dem erneut einſetzen⸗
den Sturmlauf gegen die Antike — wiederum vornehmlich das Griechiſche
— an die damals ſehr moderne Realſchulbewegung: das Leben verlange
früh ſchon praktiſche Vorbildung, die toten Sprachen naͤhmen bloß nutz⸗
loſe Zeit in Anſpruch. Mit dieſer Motivierung hat nun die ruſſiſche Re⸗
gierung Gluͤck. Im großen und ganzen iſt das immer noch die Anſchauung
der ruſſiſchen Geſellſchaft. Es liegt — wir werden darauf noch zurück⸗
kommen — ebenſo in Rußlands Denkgeſchicken wie in ſeinen allgemeinen
Schickſalen begründet, daß man dort ein Wiſſen ablehnt, deſſen Zweck für
das Leben — freilich nicht ganz im engutilitariſchen Sinne der ruſſiſchen
Regierung — man nicht unmittelbar einſieht. Andererſeits waͤre eine rich⸗
tig verſtandene Antike durchaus unvereinbar mit der augenblicklichen
Denkweiſe der ruſſiſchen Intelligenz. Sie meidet ſie deshalb inſtinktiv. Die
ruſſiſche Regierung iſt ihr aber — ſchon durch die lange Praxis — hier wie
uͤberall, wo es ſich um ihre geiſtige Selbſtbehauptung handelt, an Scharf⸗
blick unendlich uͤberlegen. Sie begreift immer mehr ihren Todfeind in der
Antike: Man muß ſie alſo ihren Todfeinden verhaßt machen, und das kann
man am beſten, wenn man ſie in deren Vorſtellung in ſtaͤndiger lebendiger
Beziehung erhält zu ihr ſelber, der deſpotiſchen Regierung. So erflärt ſich
allein ihre Politik dem Klaſſizismus gegenuͤber ſeit Beginn der achtziger
118
nnen, g .
c
* „ 1
Damals ſetzte überhaupt die ſchlimmſte Tyrannei über die ruſſiſche
ein. Sie übertrifft die Nikolaiſche Schulunterdruͤckung, die mehr
viel größere Aktivität: fie organifierte das ganze
Schulweſen zu ihren Zwecken. So ward auch wieder die Antike eingeführt,
indes in jo geringem Maße, daß fie feine Segnungen üben kann und dabei
doch notwendig bleibt als Examenseinpaukſtoff. Seitdem hat ihre Verhaßt⸗
heit bei der ruſſiſchen Intelligenz den Hoͤhepunkt erreicht. Das iſt im großen
und ganzen der augenblickliche Stand der ruſſiſchen Schule und des Klaſſi⸗
zismus in ihr: nie iſt er mehr mißverſtanden und entwuͤrdigt worden. Wir
fo lange bei feinem Schickſal aufgehalten, weil einerſeits
nirgends mehr als im Verhalten zu ihm ſich das intimſte Weſen der ruſ⸗
ſiſchen Zenſur — im weiteſten Sinne offenbart: in ihren letzten Tendenzen
und Taktiken, andererſeits aber gerade die ſomit verhinderte Fruchtbarkeit
der Antike für das ruſſiſche Geiſtesleben wohl eines der ſchwerſten Ver⸗
haͤngniſſe für dasſelbe bedeutet. Sehr wahrſcheinlich ſtehen wir hier vor dem
letzten Hemmnis für das ruſſiſche Denken gegen die Aufnahme des wahrhaft
europälihen Kulturgedankens: Der bleibende Gewinn der Antike iſt ja
nun einmal die Erkenntnis der freien Perſoͤnlichkeit des Menſchen. Sie
fehlt in Rußland von einem Ende zum anderen. Das deſpotiſche Rußland
gründet ſeine Maßnahmen auf ihrer grundſaͤtzlichen Nichtanerkennung.
Das freiheitliche Rußland kann die Antike nicht brauchen, weil ſie alle
ruſſiſchen Perſoͤnlichkeiten ausſchließlich in den Dienſt einer Sache zwingen
will: des Sturzes des deſpotiſchen Rußlands, zum Zwecke der Herbeifuͤhrung
der ſozialiſtiſchen Republik. Die führenden Geifter endlich, die Denker und
Dichter, die ſonſt überall die ideale Verbindung herſtellen zwiſchen dem
nationalen Gedanken und dem humanen, vertreten in Rußland, mehr oder
minder ſchwer befangen in den Machtvorſtellungen der deſpotiſchen Re⸗
gierung oder in den Exloͤſungsvorſtellungen des freiheitlichen Rußlands,
die Überzeugung, daß der Weg zum Menſchentum durch das Ruſſentum
führe, das heißt durch die Abſage von der freien Perſoͤnlichkeit. Aus diefem
Kreislauf des Irrtums könnte einzig und allein die Antike das geiſtige
Rußland erlöfen. Noch iſt aber die Zeit nicht gekommen. Auch iſt der Weg
für den antiken Gedanken derartig vergiftet in Rußland, daß es ihn wohl
erſt aus zweiter, dritter Hand erhalten wird, hoffen wir nur: in ſeiner
augenblicklich reinſten Ausgeſtaltung: im deutſchen Idealismus. Dazu
müßte der Ruſſe aber erſt einmal ſeine unleidliche Unart aufgegeben
haben, den Gedanken zu fragen, woher er kommt, ſtatt was er bringt.
119
i
1
f
-
5
.
Die Auffabung evor wir unſeren Abſchnitt über die bewußte Beeinfluffung | ö
e Gen: Oſicchen Schule und Univerfität durch die deſpotiſche Regierung bes
e enden, muͤſſen wir noch daran erinnern, daß dieſer Einfluß, wie wir
oben ſahen, nicht bloß in Beſchneidung und Verftümmelung des
ſtoffes, in der Organiſation der Lehrmethode und der Schulverwaltung be⸗
ſteht, vielmehr auch in einer poſitiven Pflege des nationalen Geiſtes. Da,
wie bereits betont, die Schulbehoͤrde hier immer ſehr liberal war und den
zureichenden Grund zum Nationalſtolz auch auf ihr ſehr fernliegenden
Gebieten ſuchte, ſo ſind hier ihre Erfolge ſehr nachhaltige geweſen. Da es
ſich hier indes um eine mehr unbewußte, ſcheinbar unbeabſichtigte Beein⸗
fluſſung handelt, profitierte das Anſehen der Schule in der Vorſtellung
des Schuͤlers nichts davon. Er ſieht in der Schule lediglich eine ſtaatliche
Zwangsanſtalt und haßt fie um jo mehr, als von ihr fein weiteres Schickſal
im Leben beſtimmt wird. Zu dieſem Haß tritt Verachtung, inſofern als
bei einer ſolchen Lage der Schule Verkehrtheiten und Halbheiten nicht aus⸗
bleiben konnten, die dem Schuͤler durchaus nicht verborgen bleiben. Daß
ihn die Schule dabei auch noch zur Heuchelei zwingt, nimmt er ihr beſon⸗
ders uͤbel. Sein mit Verachtung und Haß gepaarter Widerwille gegen die
Schule findet aber im Elternhauſe nicht nur keinen Widerſpruch, vielmehr
mindeſtens Entſchuldigung, wenn nicht gar noch Foͤrderung: denn die
ruſſiſchen Eltern verargen es — ſehr mit Recht — der ruſſiſchen Schule,
daß ſie die Geſundheit ihrer Kinder ſo wenig ſchont, ja faſt mit Notwendig⸗
keit ruiniert —, und ſie ahnen die Gruͤnde. Da nun vorſchnelle Verallge⸗
meinerung dem ruſſiſchen, als einem ungeuͤbten Denken beſonders eignet,
und es die ausgeſprochene Neigung hat, in den Karikaturen, die eine
weſteuropaͤiſche Einrichtung in Rußland findet, ihre weſentlichen Züge zu
ſehen, ſo wird aus dem Haß gegen die ruſſiſche Schule im Handumdrehen
ein Haß gegen die Schule an ſich. Von der Schule überträgt ſich dann
der Haß auf das, was ſie erſtrebt: auf Bildung und Erziehung. Tolſtoj
hat nur dem intelligenten Rußland aus der Seele geſprochen, wenn er
gewiſſe Maͤngel der augenblicklichen Erziehung fuͤr Charakteriſtiken der Er⸗
ziehung an ſich, und jede Erziehung für Vergewaltigung erklart. Einige,
hauptſaͤchlich in den ſozialen Verhaͤltniſſen gegründete Mängel der weſt⸗
europaͤiſchen Schule (vornehmlich die viel zu große Schülerzahl in den
einzelnen Klaſſen) werden ſehr feinfuͤhlig erkannt, daraus aber mehr als
vorſchnell auf Verfehltheit der weſteuropaͤiſchen Schule überhaupt ge⸗
ſchloſſen. Schule, Erziehung, Bildung find ſomit für den Ruſſen eigentlich
120
RT
R *
Ge: u
2 7
veraltete Dinge; man duldet ſie, weil man eben in einem verdorbenen
Staats weſen lebt und ſich erhal en will. Bei jedem anderen Geiſte würde
ſich nun aus einem ſo weitverbreiteten kritiſchen Verhalten zu elementaren
Einrichtungen des Lebens eine mächtige Veranlaſſung zur Reform ergeben.
Die ruſſiſche Kritik iſt aber im weſentlichen unfruchtbar, weil fie radikal iſt,
oder richtiger vielleicht, ſie iſt radikal, weil ſie unfruchtbar iſt: daß ſie das iſt,
ſioll man eben nicht ſehen. Noch richtiger vielleicht: der Ruſſe begnügt ſich in
der Regel bei einem Gefuͤhlsproteſt gegen Einrichtungen, die er mißbilligt.
Seine Geſchichte hat ihn dazu erzogen. Jetzt macht er einen Grundſatz
daraus. Er läßt ſeine Reformwuͤnſche im Ideale verharren: das rechtfertigt
feine Untätigfeit, die vielleicht letzten Endes in feiner Ratloſigkeit wurzelt.
nd dabei ſchreit förmlich alles in Rußland nach Erziehung: Der ers Die lufsaten der
Ruffe wäre vielleicht der Vollkommenheit ſehr nahe. Seiner Ka für
Empfindlichkeit fehlt vielleicht nur die Richtung auf den Naͤchſten. Die kann
erzogen werden. Bis dahin geht ſeine Empfindlichkeit freilich vornehmlich
nur auf die eigene Perſon zurück: Er erlebt fie intenſiver und Hält fie
darum für typiſch. Damit verliert er aber das Verſtaͤndnis dafur, daß ein
anderer anders ſein kann als er, beſſer geſagt, daß man andere Anſchau⸗
ungen und dabei doch dieſelbe Geſinnung haben kann wie er. Hier aber
ſteht gerade die Erziehung vor ihrer weſentlichen Aufgabe: denn ſie will
und kann ja im Grunde gar nichts anderes als Feſtigung und Inhalt geben
der Vorſtellung von dem, was außer uns iſt, in ſeinem Fuͤrſichſein. Er⸗
Riehung iſt Normierung unferer Beziehungen zur Welt außer uns: fie will
das Weſen und die Notwendigkeit der Abgrenzung beider Welten in
ihren Rechten und Anſprüchen erkennen laſſen. Wer bringt beſſere Vor⸗
ausſetzungen mit zum Erzogenwerden als der jo feinfühlige Ruſſe? Es iſt
fein ganz beſonderes Mißgeſchick, daß er ſich ſtets inftinftio dem widerſetzt,
was ihm am allerheilſamſten wäre. Seine myſtiſchen Verehrer ſchließen
daraus, daß er ſich auf einen höheren, weiteren Weg vorbereitet. Aber
auch die, die ihm bis dahin begegnen, haben doch Rechte auf ihn!
12. Die Zenſur
und das ruſſiſche Schriftſtellertum
Der der da der
. aa Se ara Sg
121
— *... a n
da Leb d i ri €i Literaturs
5 Gihte De ange — ue Cee
Der Einfluß der enden wir uns nunmehr in der Betrachtung der Tätigkeit ber Zenſur
—— (worunter wir hier alles das verſtehen, was die ruſſiſche Regierung
en ee zur Überwachung des nationalen Geiſteslebens tut) von der ruſſiſchen
le — ver der Schule und Univerfität zum ruſſiſchen Schrifttum, fo ergibt ſich ſchon aus
Dichtung dem Weſen der Dinge ſelber, daß hier die Zenſur ganz anders vorgehen
mußte: hier iſt fie ja tatſaͤchlich außerſtande, die Organiſation zu beherr⸗
ſchen, wie in Mittel⸗ und Hochſchule: denn einmal iſt ſie hier nicht die
Initiatorin wie dort, andererſeits iſt das Gebiet, das freie Schrifttum, auch
ein ſolches, das ſeinem eigentlichen Weſen nach jeglicher Organiſation
ſpottet. Von regulierenden Mitteln war mithin von vornherein abzuſehen.
Es blieben bloß die Mittel der Unterdrückung. Die konnten freilich ſowohl
die Quelle wie den Strom faſſen: die Perſon des Schriftſtellers ebenſo
wie ſein Werk. An beiden Enden ſetzte denn auch die ruſſiſche Zenſur
gleichzeitig ein. Sie ging dabei naturgemäß ſtromaufwaͤrts: zur Quelle.
Die Zenſur im eigentlichen Sinne, das heißt die Kontrolle, Verſtümme⸗
lung und Unterdruͤckung des gedruckten Wortes, ſtand ganz von Anfang
an in engſter Verbindung mit der politiſchen Polizei (die bekanntlich durch
ihren Chef unmittelbaren Zutritt zum Zaren hat). Beide ſuchten einander
an Dienſteifer zu uͤbertreffen. Des edlen Wettſtreits unmittelbare Folge
war einerſeits hermetiſches, in Karikatur ausartendes Abſchließen des ruſ⸗
ſiſchen Geiſteslebens von allem, was auch nur von ferne an Freiheit er⸗
innert andererſeits ein unerhoͤrtes, geradezu ſchon berufliches Martyrium
des ruſſiſchen Schriftſtellers. Hieraus ergab ſich wiederum — da es ſich
um ein Lebensbeduͤrfnis des geiſtigen Rußlands handelte, erwies ſich die
Anpaſſungsfaͤhigkeit feiner Vorkaͤmpfer als nahezu unbegrenzt — auf der
einen Seite die Ausbildung einer derartigen Federgewandtheit bei dem
ruſſiſchen Schriftſteller, die es ihm erlaubte, rein alles zu ſagen, ohne dem
Zenſor die Möglichkeit zum Eingriff zu geben (was leider den natürlichen
Hang des Ruſſen zum Sophismus ſehr beſtaͤrkte), auf der andern Seite
ergab ſich die das ganze geiſtige Rußland beherrſchende Auffaſſung, daß
der Schriftſtellerberuf zu den lebensgefaͤhrlichſten Berufen zu rechnen ſei.
Wer ſich ihm widmete, der ſchloß denn auch ſeine Rechnungen mit dieſem
Leben ab und hielt ſein Buͤndel bereit zur Abreiſe nach Sibirien oder ins
Jenſeits. Das gab aber gerade dem ruſſiſchen Schriftſteller ein hohes,
ſtolzes Unabhaͤngigkeitsgefuͤhl: denn vor ſolchen Hintergründen luͤgt man
122
weder, noch denkt man an Meinlichen Vorteil — und ein ganz ausge:
Bewußtſein der Notwendigkeit ſeines Berufes und ſeiner gren⸗
zꝛenloſen Verantwortung: Der ruffiihe Dichter aus den Tagen des ſchwer⸗
ſten Zenſurdrucks (etwa 1825—1855) wußte, daß ganz wörtlich genommen
1 warte, weil er eben der einzige war, der die Moͤglichkeit
eren. zu nennen. „Es ſtarb der Dichter,
Volk ſteht verwaiſt“, lautet ein altruſſiſches Sprichwort. Eine ſolche
5 — Aufmerkſamkeit auf ſein Werk, eine ſo bebende, faſt ſchon
ſtellende Erwartung auf ihn, muß ihn — das liegt wohl in
der Seelenanlage des Schriftſtellers — zu hoͤchſten Anſtrengungen ans
ſpornen, und ſelbſt mittlere Begabungen zu genialen Leiſtungen fteigern —
viel mehr als fürftliche Gunſt es je vermochte: denn wenn die wirklich Geis
weckt, ſo bewies ſie doch immer nur das Verſtaͤndnis eines einzelnen.
f
ff
271
Es erſetzt nie und nirgends das bebende Warten der Maſſe auf ihren
Dichter. So erklärt es ſich denn auch vor allem, daß gerade in der Zeit
ſchwerſten Zenſurdruckes Rußlands herrlichſte Geiſter erſtanden: Puſch⸗
Lermontoff, Gogol ſchaffen völlig innerhalb dieſer Epoche, Doſto⸗
Turgenjeff, Tolſtoj nehmen hier ihren Anfang und erhalten hier
ihre eigentliche Prägung. Alles in allem genommen kann man vielleicht
die letzte Einwirkung der Zenſur auf das ruſſiſche Schrifttum dahin zu⸗
ſammenfaſſen: Sie hat die ruſſiſche Publiziſtik von Grund aus verdorben,
indem fie fie zu einem ſophiſtiſchen Stil erzog, den fie gar nicht mehr
los werden kann, und deſſen Gewohnheit ihr die einfache, fo oft allein
heilbringende Wahrheit verdaͤchtig macht. Andererſeits aber hat die ruſ⸗
ſiiſche Zenſur — durch die Bedeutung, die gerade der geftaltende Schrift:
ſteller fo erhielt: als einziges Sprachrohr des Volkswillens, und durch 4
Gefahr, die dieſer Beruf für den ihn Ausuͤbenden mit ſich brachte —
ruſſiſchen Dichtkunſt einen derartigen Boden im Volle vorbereitet A
müſſen geradezu an die rührende Popularität mittelalterliher Kirchen:
: maler denken), daß die ruſſiſchen Dichter zu hoͤchſten Leiftungen gefteigert
wurden. Hierbei kommt vielleicht auch noch ſehr in Betracht, daß dieſe
k Wirkung der Zenfur: das geftaltende Schrifttum — als feinem Weſen nach
ihr am wenigſten angreifbar — in den Vordergrund der geiſtigen Pro⸗
duktion zu rücken, durchaus — wir wieſen bereits darauf hin — der Grund⸗
auffaſſung des ruſſiſchen Volkes entſpricht, das ein Todfeind aller Ab⸗
ſtraktion iſt und immer und überall ſich mit dem Erlebnis in feiner unge⸗
teilten Fülle auseinanderfegen will. Wie dem aber auch fei, jedenfalls er⸗
123
irrte
Der Einfluß der
Zenſur auf das
Leben der ruſſi⸗
ſchen Schriſtſtel ·
ler. (Eine kurze
ruſſiſche Litera ·
turgeſchichte in
der Form einer
Martvriologie
der ruſſiſchen
Sch riſtſteler)
hielt der ruſſiſche Dichter durch das Bewußtſein dieſer Reſonanz feines
Werkes in feinem ganzen Volke (das ein unwillkürliches Sichverſenken
in die Bebürfniffe der auf ihn harrenden Maſſe zur Folge hatte) erſt jenen
Abſtand zu feinem eigenen Erlebnis, der es ihm geftattete, in feiner Nach⸗
geſtaltung nur das von feiner Perſoͤnlichkeit mitreden zu laſſen, was jen⸗
ſeits aller engperſoͤnlichen Empfindlichkeiten liegt. So verlor ſein Sub⸗
jektivismus ſeine letzten Schlacken und wurde zu jenem berühmten ruſ⸗
ſiſchen Realismus, deſſen einzigartiger Vorzug in einer nahtloſen Ver⸗
ſchmelzung von vollendetſter Sachſchilderung mit unerhoͤrter Seelendurch⸗
dringung beſteht. Hier, auf dem Gebiete der Wortkunſt und unter ſo un⸗
erhoͤrt guͤnſtigen Bedingungen, erweiſt ſich ein Moment in der Seelen⸗
konſtruktion des Ruſſen noch als ein Vorzug, worin wir weiter oben, auf
rein geiſtigem Gebiete, eines feiner ſchwerſten Hemmniſſe erblickten: daß
naͤmlich in ihm das Zentrum, von wo aus die Welt nur aufgenommen wird,
allzu nahe liegt und allzu abhängig iſt von dem Zentrum, von wo aus er
auf die Welt reagiert. Wird aber einmal dieſe Reaktion in ihrem Ausgang
erweitert auf das Volksganze, ſo kann ſie gar nicht nahe genug liegen dem
Organ fuͤr Weltaufnahme. Dieſe Erweiterung ſeines empfindlichen Ichs
brachte dem ruſſiſchen Dichter der unerhörte deſpotiſche Druck auf Ruß⸗
land. Seines Vaterlandes Unglüd ward ihm zum Segen. Er aber nutzte
allen Segen nur, um feinem Volke zu helfen. Und zahlte ſchwer für fein
begnadetes Schaffen.
amit find wir zum Martyrium des ruſſiſchen Schriftſtellers zurückge⸗
kehrt. Es gehoͤrt derart zu ſeinem Schickſal (Tolſtojs Martyrium war
es, daß er zu keinem gelangen konnte: daß es ihm die ruſſiſche Regierung,
in unuͤbertrefflichem Scharfblick für die tiefſte Verwundbarkeit ihrer Feinde,
konſequent vorenthielt), daß man von hier aus faſt einen einheitlichen,
ordnenden Geſichtspunkt auf die ganze ruſſiſche Literatur erhält. Das ſei
im folgenden, auf ruſſiſche Vorbilder geſtuͤtzt, in großen Umriſſen verſucht:
1 ;
Puſchkin fiel, 37 Jahre alt, im Duell. Lermontoff fiel, 27 Jahre alt, im
Duell. Gribojedoff ward, 33 Jahre alt, ermordet, als der Poͤbel die ruſ⸗
ſiſche Geſandtſchaft in Teheran ſtuͤrmte. Gogol ging ſeeliſch und koͤrperlich
gebrochen mit 43 Jahren zu Grabe. Bjelinſky ſtarb mit 38 Jahren an
der Schwindſucht, einer Folge der furchtbaren Entbehrungen ſeines ganzen
Lebens. Dobroljuboff ſtarb mit 25 Jahren an der Schwindſucht. Piſareff
ertrank mit 28 Jahren im Meere, nachdem vierjährige Einzelhaft in der
124
ve
rr
e pendee ng feinen Organismus total eiſchbyſt und fein Nerven:
ſyſtem endgültig zerruͤttet hatte. Garſchin endete im Alter von 33 Jahren
in einem Anfall von Geifterftörung fein Leben durch Selbſtmord, indem
er ſich aus dem vierten Stockwerk herabſtürzte. Nadſon ftarb, 25 Jahre
alt, an der Schwindſucht. G1jäb Uſpenſki ftarb im Irrenhauſe, wo er faſt
10 Jahre verweilt hatte. Tſchechoff ſtarb mit 44 Jahren an der Schwind⸗
ſucht, einer Folge der Entbehrungen ſeiner Studentenjahre.
2
Korolenfo, der im politiſchen Drange früh verſtummte Dichter des
„Bünden Muſikanten“, ſchrieb kurzlich: „Wenn ein ruſſiſcher Schriftfteller,
gleichgültig welchen Kalibers, ſtirbt, jo wird in jener Welt vermutlich zuerft
folgende Frage an ihn gerichtet: ‚Warft du zu Zwangsarbeit verurteilt?
Oder zur Anſiedelung in Sibirien? Standeſt du vor Gericht? Saßeſt du
im Kerker? Biſt du adminiſtrativ verſchickt worden? Standeſt du wenig⸗
ſtens unter Polizeiaufſicht, offener oder geheimer?‘ Kaum einer unferer
Schriftſteller wird Hand aufs Herz dieſe Fragen verneinen koͤnnen! So
verbrecheriſch iſt nun einmal ſchon unſer Beruf.“
Und das von alters her. In der alten Zeit galt bereits das Leſen von
Büchern für eine verdächtige, wenn nicht gar verbrecheriſche Handlung,
die ſchwere Strafe nach ſich zog. Durch beſondere Strenge zeichnete ſich
in dieſer Hinſicht die Geiſtlichkeit aus. Im 17. Jahrhundert wurden bei
Pleskau zwei Altgläubige: feſtgenommen; obgleich fie ſich unterwarfen
und Widerruf leiſteten, fand der Biſchof Markel es nicht moͤglich, ſie freizu⸗
geben, da es ſich erwieſen hatte, daß der eine von ihnen ein großer „Sprach⸗
kundiger und Buͤcherleſer“ war. Das Urteil lautete darum: „Er ſoll in feſten
unterirdiſchen Gewahrſam geworfen werden, unter ſtrengſter Bewachung!“
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts ward der Bauernſchriftſteller Poſoſch⸗
koff, der Verfaſſer des Buches „Über Reichtum und Armut“, von der
Geheimkanzlei verhaftet und in die Peterpaulsfeſtung geworfen, wo er
nach langjähriger Haft ſtarb.
Die Schar der Märtyrer mehrt ſich dann zuſehends, als am Ende des
18. Jahrhunderts die ruſſiſchen Schriftſteller unter dem Einfluß der Enzy⸗
- Mopäbiften zum erſten Male vollbewußt, klar und kuhn auftraten für die
Rechte des Volkes auf Freiheit und menſchenwürdiges Daſein.
Im Jahre 1789 lobte Knjaſchkin in feiner Tragoͤdie „Wadim von Now⸗
gorod“ die politiſche Freiheit und behandelt den Begründer des ruſſiſchen
—
125
Reiches als Uſurpator. Knjaſchkin ward dafür in der Geheimkanzlei ge
foltert, als erſter Maͤrtyrer aus der langen Reihe derer, die es verſuchten,
den neuen Ideen in Rußland Eingang zu ſchaffen. Wir erinnern hier nur
an das traurige Schickſal von Raditſcheff, Nowikoff, Kretſchetoff.
3
Waͤhrend damals in Weſteuropa ſich das Leben der Völker von Grund
auf erneuerte, blieb in Rußland alles beim alten. Als alleinige Richtſchnur
galt hier den Gewalthabern die ewig wiederholte Berufung auf „altruſ⸗
ſiſche Anſchauungen und Gebräuche”. Wer etwas dagegen einzuwenden
hatte, mit dem machte man kurzen Prozeß. Damals ward das Sprichwort
geprägt: „Die Zunge führt bis Kijeff! — die Feder bis Schlüſſelburg!.“
Zur Zeit Nikolais I. ſtellten die Schriftſteller ein fo großes Kontingent
zur unfreiwilligen Bewohnerſchaft der Peterpaulsfeſtung, daß ſich in Be⸗
amtenkreiſen die Überzeugung feſtſetzte: jeder bekannte Schriftſteller muͤſſe
unentrinnbar fruͤher oder ſpaͤter in dieſe Feſtung kommen. Als einmal der
damalige Kommandant der Peterpaulsfeſtung Skobeleff auf der Straße
Bjelinſki begegnete, redete er ihn halb im Ernſt, halb im Scherz ſo an:
„Wann kommen Sie denn endlich zu uns? Ich habe ſchon eine gemütliche
Kaſematte fuͤr Sie vorbereitet. Die werde ich warmhalten fuͤr Sie!“
Zu jener Zeit erregten ſelbſt die harmloſeſten und der Regierung er⸗
gebenſten Schriftſteller Mißtrauen. Man kann ſich kaum zahmere Schrift⸗
ſteller vorſtellen als Bulgarin und Gretſch. Trotzdem hegte die Regierung
Argwohn gegen ſie und verdaͤchtigte ſie der Teilnahme bei jedem Aufruhr.
Als die Dekabriſtenverſchwoͤrung entdeckt ward, war Nikolai I. feſt davon
überzeugt, daß Bulgarin und Gretſch beteiligt ſeien. Er ließ den verhafteten
Dekabriſten Alekſej Beſtuſheff (Marlinſki) zu ſich führen und fragte ihn
unter anderem: „Sagt die Wahrheit! Haben an der Verſchwoͤrung Jour⸗
naliſten teilgenommen?“ „Nein, Majeſtaͤt!“ antwortete Beſtuſheff, „die
hatten nicht das geringſte Verſtaͤndnis dafuͤr!“ Der Kaiſer glaubte dem
offenbar nicht und fragte von neuem: „Wie denn? Sie waren doch in
beſtaͤndigem Verkehr mit ihnen?“ „Bulgarin konnten wir nicht trauen,“
antwortete Beſtuſheff, „er ift Pole, und Rußlands Angelegenheiten liegen
ihm fern. Gretſch wollten wir nicht hineinziehen, er iſt anderer Meinung
als wir, außerdem Familienvater und dazu noch ein Schwaͤtzer.“ Nach
Beendigung des Verhoͤrs ward Beſtuſheff nach der Feſtung zurückgeführt.
1 D. h. mit der ruſſiſchen Sprache kommt man bis Kijeff. Gleich der Peterpauls⸗
feſtung Kerker für politiſche Verbrecher.
126
1
witſch
garin
8
dem Vorplatz des Palais holte ihn noch der Großfürſt Michail Pawlo⸗
ein und fragte ihn: „Sagt die Wahrheit, Beſtuſheff, wußten Bul⸗
und Gretſch von Ihren Abſichten ?“ „Hoheit,“ antwortete Beſtuſheff
wich ſchwöre Ihnen, fie ſtanden allem fern. Sie hatten nicht das geringfte
Verſtändnis dafür!“ Nur dieſe Ausſagen retteten Bulgarin und Gretſch
ya 4
Bekannt ift, welchen Verfolgungen Puſchkin und Lermontoff ausgefegt
waren. Der große Puſchkin mußte ſieben Jahre feines kurzen Daſeins in
der Verbannung zubringen. Fünf Jahre im Süden, zwei Jahre in Michai⸗
lomwskoje. Lerntontoff ward zweimal verhaftet und zweimal nach dem Kau⸗
teſus geſchickt; während der letzten Verſchickung ift er im Duell erſchoſſen
worden.
Große Gefahr drohte Gribojedoff. Daß er der Verſchickung entrann,
verdankt er allein dem General Jermoloff, bei dem er als Sefretär diente.
Wegen perſoͤnlicher Bekanntſchaft mit einigen Dekabriſten ward Gribojedoff
in den Prozeß der Dezemberverſchwoͤrung verwickelt. Als der Kurier mit
dem Haftbefehl bei Jermoloff eintraf, ließ dieſer Gribojedoff zu ſich kom⸗
men und ſagte ihm: „Geh nach Hauſe und verbrenne alles, was dich kom⸗
promittieren kann. Man hat nach dir geſchickt. Ich kann dir nur eine Stunde
Zeit geben!“ Natürlich beeilte ſich Gribojedoff, dieſem Winke nachzukom⸗
men. Eine Stunde darauf erſchien bei ihm Jermoloff mit ſeiner ganzen
Suite, Stabschefs und Adjutanten, verhaftete Gribojedoff und ſchickte ihn
per Kurier nach Petersburg. In dieſer Begleitung mußte Gribojedoff bei
furchtbarſter Kälte über dreitauſend Kilometer im offenen Poſtwagen zus
zurücklegen. Die Peterpaulsfeſtung war zu dieſer Zeit überfüllt von vers
hafteten Defabriften. Gribojedoff wurde darum auf die Hauptwache ges
bracht, von wo er dann bald wieder in Freiheit geſetzt wurde.
Welches Schickſal die Dekabriſtenſchriftſteller traf, weiß man. Einige
Beiſpiele ſeien angeführt.
Der Poet Rülejeff endete am Galgen.
Beſtuſheff⸗Marlinſki, von dem ſoeben die Rede war, ward zum Tode
durch Enthauptung verurteilt. Indes iſt ihm die Todesſtrafe in zwanzig⸗
Hhrige Zwangsarbeit umgewandelt worden. Aber auch dies Urteil ward
nicht vollſtreckt: Nach anderthalbjaͤhriger Feſtungshaft zur Anſiedelung
nach Jakutek verſchickt, dann unter die Soldaten geftedt und in den Kau⸗
kaſus kommandiert, fiel Beſtuſheff dort im Kampfe mit den Bergvoͤlkern.
127
Faſt das gleiche Schidfal traf den Fürſten Odojewſti, einen talentvollen
Dichter, den Freund von Gribojedoff und Lermontoff, einen idealen Menſchen,
der auf alle, die ihn kannten, eine fafzinierende Wirkung ausübte. Anfangs
zum Tode verurteilt, dann aller Rechte verluſtig erflärt und nach Sibirien ver⸗
ſchickt, wurde er nach zehnjaͤhrigem Aufenthalt daſelbſt als gemeiner Soldat
der Armee eingereiht und in den Kaukaſus beordert, wo er bald darauf fiel.
Nicht weniger traurig geſtaltete ſich das Los der ubrigen Schriftſteller
unter den Dekabriſten: Beſtuſheff II, Küͤchelbecker und Kornilowitſch.
Letzterer ward aus Sibirien nach Petersburg zurüuͤckbefoͤrdert und aufs
neue ſtrengſtem Einzelgewahrſam in der Peterpaulsfeſtung unterworfen,
von wo er nach achtjaͤhriger Einkerkerung als gemeiner Soldat nach Gru⸗
ſinien geſchickt wurde. Die Feſtungshaft hatte indes ſeine Kräfte gebrochen.
Er ftarb 1¼ Jahre darauf als „Gemeiner“.
5
Am Dekabriſtenaufſtand hatte die Blüte der ruſſiſchen Intelligenz teil⸗
genommen. Sie ging zugrunde in Feſtungskaſematten, in Kaſernen, in
den Bergwerken und Tundren des fernen, kalten Sibiriens. Eine ſchwere
Zeit dumpfer Ermattung kam über die ruſſiſche Geſellſchaft. Wer auf die
Zeituͤbel auch nur von ferne hinzuweiſen vermochte, dem ftopfte man raſch
den Mund. Tſchaadajeff ward wegen eines Aufſatzes im „Teleſkop“ für
verrüdt erklaͤrt, der Redakteur dieſes Blattes, Nadeſchkin, nach Sibirien
geſchickt. Faſt zu gleicher Zeit fuͤhrte die Regierung einen vernichtenden
Schlag gegen eine freie Vereinigung, an welcher Literaten, Kuͤnſtler und
Studenten teilnahmen. Sokolowſki, der Überſetzer Goethes, und der
Kuͤnſtler Utkin wurden in dieſer Angelegenheit „ohne Friſt“ in die Schluͤſſel⸗
burger Feſte geſetzt. Utkin ſtarb dort. Sokolowſki ift dann einer ſchweren
Krankheit wegen erſt nach dem Kaukaſus und dann nach Wologda geſchickt wor⸗
den. In der gleichen Angelegenheit wurden verbannt: Herzen nach Wjatjka,
Ogareff ins Penſaſche Gouvernement. Satin ward auf Feſtung geſetzt.
Schließlich vernarben aber alle Wunden. Bereits Ende der vierziger
Jahre reifen neue Kraͤfte heran, erheben ſich neue Organiſationen: Neben
dem Rufe nach Aufklaͤrung und ſittlicher Erneuerung haben fie die For⸗
derung der notwendigſten Reformen auf ihr Banner geſchrieben, vor allem
die Aufhebung der Leibeigenſchaft: Neue Maͤrtyrer erſtehen in unabſeh⸗
barem Zuge. Allen voran Doſtojewſki, der erſt auf dem Schafott be⸗
gnadet ward, und dann jahrelang im ſibiriſchen Zuchthaus ſchmachtete.
Doch das waͤre ein Kapitel ohne Schluß.
13. Die ganz allgemeinen Folgen der Zenfur
auf das ruſſiſche Geiſtesleben
“ Natürlich find mit allem Vorhergegangenen die Wirkungen der Zenſur
des Organes der ruſſiſchen Regierung zur Überwachung und Regu⸗
Hflerung des nationalen Geiſteslebens — vielleicht nicht einmal in ihren
Hauptmomenten angedeutet. Zur Ergänzung unſerer Ausführungen wol⸗
len wir uns einmal fragen, welche Rolle überhaupt der Freiheit des Wortes
in einem nationalen Geiſtesleben zukommt, und welche ihr im beſonderen
im ruſſiſchen Geiſtesleben zugekommen wäre. Ganz im allgemeinen ges
währt die Freiheit des Wortes ungehemmten Gedankenaustauſch und das
ſowohl was die Gegenftände des Gedankens als fein eigenes Weſen ans
betrifft. Zunächft liegt hier die Hauptbildungsmoͤglichkeit für die Nation
vor. Der einzelne Bürger findet ſowohl geiſtige Anregung wie
Ausbildung: neue Gebiete, wo ſein Gedanke einſetzen kann, und nie aus⸗
ſegzende Veranlaſſung, feinen Gedanken nachzuprüfen. Beide Momente
befreien ihn von feiner engen, bloß reagierenden, auf ewige Hemmniſſe
antwortenden Perſoͤnlichkeit. Und das ſowohl dadurch, daß fein Gedanke
andern Inhalt bekommt, als auch dadurch, daß die Vorſtellung von dem
Stein anderer beſonders betont und mit Inhalt erfüllt wird. Es handelt
ſich mithin hier um im eminenten Sinn ſozial erzie heriſche Momente;
was hier reguliert wird, iſt der naive Anſpruch des Ichs, das ganze Nicht⸗
ich als für es daſeiend anzuſehen — und das muß zu um fo ſchwereren
Konflikten führen, je weiter die ſoziale Differenzierung fortſchritt. Dieſe
Regulierung tritt hier auf doppelte Weiſe ein: Einmal erhält das Ich einen
Begriff von den Bebürfniffen des andern, und wird der Wille, fie zu bes
ruückſichtigen, angeregt durch Einblick in die unloͤsliche Intereſſengemein⸗
A ihm, andererfeits wird das denkende Ich in feiner uͤbertriebenen
4 von ſich ſelber woßttätig erſchüttert dadurch, daß ihm ſolche Ge⸗
4 gewieſen werden, wo es nicht recht behält, und ſogar ſolche, wo es
buülflos iſt und doch begreift, daß Aufgabe da wäre. Beide Erlebniſſe
ſuchte es ſich bisher inſtinktiv zu erſparen, und das beſtimmte ſeine Aus⸗
wahl der Gedankengebiete, d. h. ihre Beſchraͤnkung auf ſolche, wo es im
Recht zu fein die größte Ausſicht hat. Das iſt aber eigentlich nur auf denen
der Fall, die ſich um die eigene Perſon drehen, und zwar um die kleine, enge
DO Mbpel, Brundiagen des geiftigen Ruplandı 129
Perſon, die ſich noch nicht bewußt ift ihres Zuſammenhanges mit Welt⸗
und Menſchenall ... Der Gedanke kehrt aber immer wieder zur Perſon
des Denkenden zuruck ... nur wird er um ſo tiefer in fie eindringen, je weiter
er von ihr entfernt war. Deshalb wirkt ein ungehemmtes nationales
Geiſtesleben nicht bloß ſozial erzieheriſch, vielmehr auch perſoͤnlich ver⸗
tiefend, und beides in innigſter Wechſelwirkung, wie es ja auch gar nicht
anders ſein kann bei einem von Haufe aus ſozialen Geſchoͤpf wie der
Menſch. Damit haben wir im weſentlichen die Wirkungen des freien Wortes
auf das Geiſtesleben einer Nation umſchrieben. Wir brauchen uns nur noch
auf das zu befinnen, was wir bereits als Hauptcharakterzuͤge des geiſtigen
Rußlands erkannten, um den Segen wenigſtens ahnen zu koͤnnen, den das
freie Wort gerade fuͤr Rußland haͤtte haben koͤnnen. Gewiſſe Eigenarten
des Ruſſen, die durch die geſchichtlichen Schickſale Rußlands noch beſonders
entwickelt wurden: ſeine uͤbergroße Empfindlichkeit und in engem Zuſam⸗
menhang damit ſein naiver Subjektivismus, waͤren unter dieſer Einwirkung
aus den fruchtbaren Hemmniſſen, die fie heute darſtellen, zu erloͤſenden
Vorzuͤgen geworden: die ruſſiſche Feinfuͤhligkeit waͤre abgelenkt worden
von der fruchtloſen Ergruͤbelung des eigenen Empfindlichen auf die wahr⸗
haft ſchoͤpferiſchen Beduͤrfniſſe anderer, und der ruſſiſche Subjektivismus
hätte feinen Irrtum einſehen muͤſſen und hätte die Fülle des Erlebens
in der eigenen Perſon fruchtbringend ausgenuͤtzt in dem Streben, andern
gerecht zu werden. Tatſaͤchlich harrt hier eine ſeiner großen geiſtigen Be⸗
rufungen des Ruſſen. Zuvor muß er aber in ſeiner ungeſunden Selbſt⸗
ſicherheit erſchuͤttert werden. Wir wiſſen bereits, fie war ihm angezüchtet:
es war ihm von früh auf allzu leicht gemacht, der hoͤchſten nationalen In⸗
ſtanz, der Regierung, gegenüber recht zu behalten. Ein ungehemmter Ge⸗
dankenaustauſch haͤtte dem denkenden Ruſſen ſchon weite Gebiete gewie⸗
ſen, wo er nicht recht hatte. Er wäre beſcheidener geworden und hätte
gelernt mehr ſeine eigentlichen Waffen zu gebrauchen, ſich denkend an⸗
zuſtrengen, ſtatt gleich in luftleere Räume zu flüchten und dort in ſo⸗
phiſtiſchen Spielereien kindliche Eitelkeiten zu befriedigen. Und dann wäre
er auch nicht dem erſten Dogma zum Opfer geworden, das feinen Wuͤn⸗
ſchen ſchmeichelte. Er haͤtte vielmehr wirkſame Waffen gehabt gegen jeden
Anſchlag auf ſeine Geiſtigkeit. Auch waͤre er nicht ſtehengeblieben bei
doktrinaͤren Wuͤnſchen fuͤr ſein Vaterland und ſchematiſierten Opfern ſei⸗
ner Perſon fuͤr dasſelbe. Rußlands volle Geiſtigkeit waͤre dem Elend ſeines
Volkes in feinem ganzen Umfange zu Leibe gerüdt, nicht nur der phyſiſch⸗
130
3 materiellen Volksnot, und dann wäre auch das eigentliche ruſſiſche Volk zu
ſeinem Worte gekommen, und das wäre jedenfalls ein tüchtiges Wort ges
weſen, und hätte vielleicht ſogar ſchwerſten Europaͤernoͤten abhelfen können.
So viel nur andeutungsweiſe und abſchließend über die Wirkungen der
ruſſiſchen Zenſur auf das Geiftesleben der Nation.
14. Die ruſſiſche Intelligenz
als Gegenorganiſation gegen die geiſtige
Bevormundung Rußlands
Die eigentliche Originalität der rufjiihen Intelligenz. — Die ruſſiſche Ins
. als Rußlands 4 Befinesit =D ame Weile
| eee der zuffiiden Intelligenz. — Die geiftigen Grundtendenzen
der Intelligenz. — Die ruſſiſche Intelligenz und die Wiſſenſchaft
wir weiter oben bereits nachzuweiſen ſuchten, daß die Zenſur Die eisentlihe
N ſyſtematiſche Überwachung und Regulierung des nationalen =
Geiſtetlebens im Sinne der Selbftbehauptung der deſpotiſchen Regierung), teen,
das heißt alſo die ſyſtematiſche Unterdruͤckung des nationalen Geiſteslebens,
zu deſſen eigentlicher Organiſation fuͤhrte, ſo gilt dies noch in viel weiterem
|
Gründung des ruſſiſchen Gymnaſiums und der ruſſiſchen Unis
ja zeitlich faſt zuſammen mit dem Aufkommen der Zen⸗
— das freie ruſſiſche Geiſtesleben, das die Zenſur nicht hatte
das fie nur hatte unterdrücken können, organiſierte ſich ſchließlich
ſie: in der Gegenwirkung auf ſie. Darin liegt unſtreitig
der bemerkenswerteſten Eigentümlichkeiten des ruſſiſchen Geiſtes⸗
uch in weſteuropaͤiſchen Ländern, die gleichfalls eine gewiſſe
kennen oder kannten, befindet ſich ſtets ein mehr oder minder eins
flußreicher Teil des freien Schrifttums in Oppoſition zum offiziellen
GBeiſtesleben. Das hält aber dieſes friſch. Denn von hier aus erklingen alle
Stimmen der Unzufriedenen. Sie zu unterdrücken würde jede weſteuro⸗
pälfche Regierung für einen großen Fehler anſehen. Denn ſchließlich iſt
in lonſtitutionellen Ländern jede Kritik der Regierung auch eine ſolche der
Volkevertretung, fie wendet ſich irgendwie ſtets an die ganze Nation. Das
. 131
115
288
1
ä
H
würde der Oppoſition als ſolcher eine Organiſation — auch nur eine ideelle
Einheit, ſelbſt im Grundſaͤtzlichen — unmöglich, freilich auch unnoͤtig machen.
Hier ſpringt der Unterſchied zu Rußland in die Augen. Dort war — und
iſt jede Oppoſition gegen die Regierung und nur gegen ſie gerichtet und
appelliert dabei an die ganze Nation. Zudem iſt das Vorgehen der ruſſiſchen
Regierung derart einheitlich organiſiert, daß ſchon dadurch auch die Oppo⸗
fition organiſch einheitlich fein mußte. So kam es zur eigentlichen Originali⸗
taͤt im ruſſiſchen Geiſtesleben, zur ruſſiſchen Intelligenz. Ihre Einzigartig⸗
keit beruht darin, daß eine rein ideelle, aber ſehr weitgehende, Weltanſchau⸗
ung und Lebensſtil bis ins einzelne beſtimmende Einheitlichkeit eine nur
durch das ſehr weit gefaßte Moment einer höheren Bildung vereinigte
Geſellſchaftsſchicht beherrſcht, daß deren einzelne Mitglieder dabei tatſaͤch⸗
lich und grundſaͤtzlich außerhalb jedes unmittelbaren politiſchen und wirt⸗
ſchaftlichen Einfluſſes ſtehen, und ihre Gemeinſchaft dennoch die eigent⸗
lich geiſtig herrſchende und beſtimmende Schicht in Rußland ausmacht.
Hier iſt die Macht, vor der ſich auch dasjenige Rußland beugt, das gar
keine Furcht mehr hegt vor dem andern Rußland mit ſeinen Kerkern und
Galgen. Die ungeſchriebene aber ſehr druckende Zenſur dieſer
fuͤrchtet man mehr als Zuchthaus und Verbannung. Das iſt Tatſache.
Tatſache iſt auch, daß von hier aus das Geiſtesleben Rußlands in viel
ſchwereren und viel hoffnungsloſeren Feſſeln liegt, als ſie ihm das deſpo⸗
tiſche Rußland je aufzuzwingen vermochte.
le ruffiiche In- Alles in allem genommen liegt hier das geiſtige Verhängnis Rußlands
— or — letzten Endes vielleicht doch nur die Folge allzu lang dauern⸗
Berbängnis der Herrſchaft des Deſpotismus: allzu ſchweren Leidens unter ihm und
allzu lang waͤhrender und eindringlicher Erfuͤllung der Vorſtellung mit
feinem Vorbild: Der Kampf gegen den politiſchen Deſpotismus führte in
Rußland zur Bildung eines rein geiſtigen. Beide Deſpotismen drucken von
der Mitte des vergangenen Jahrhunderts an gemeinſam auf den ruſſiſchen
Geiſt — und grundſaͤtzlich in derſelben, feinem eigentlichen Weſen feindlichen
Richtung: ſie ſperren ihn aus ſeinem Lebenselement, dem freien Gedanken⸗
reich, und zwingen ihn in den Dienſt ganz beſonderer, ihm weſensfremder
Zwecke: der offizielle Deſpotismus in den Dienſt des Zartums, der inoffizielle,
intelligente Deſpotismus in den Dienft eines doktrinaͤr beſtimmten Volks⸗
wohls. Und da ſtehen wir denn auch vor der Loͤſung des Raͤtſels von
der Macht der „Intelligenz“. Sie iſt rein pſychologiſch gegründet. Sie
ftügt ſich hauptſaͤchlich auf das ſoziale Elend des ruſſiſchen Volkes. Das
132
beſtimmt ihre Stellungnahme zum freien Geiſtesleben. Alles in
genommen iſt es ihr Nebenſache, beſſer geſagt Propagandamittel.
Die Intelligenz verhält ſich zur Freiheit des Wortes ebenſo, wie die erſte
chriſtliche Kirche ſich zur Gewiſſensfreiheit verhielt: fie verlangt fie, um
ſelber zu Morte zu kommen, um ſie dann, wo ſie ſiegte, ihrerſeits aufzu⸗
heben. Innerhalb ihrer eigenen Organiſation herrſcht ruͤckſichtsloſe Unter⸗
drückung des freien Wortes, wie überall da, wo etwas als unwiderleglich
gelten ſoll, was nicht unmittelbar einzuſehen iſt, das heißt wo das Dogma
berrſcht. Und das Dogma muß die ruſſiſche Intelligenz ſchon allein des⸗
halb beherrſchen, weil fie lange Hoffnungen nötig hat: der Befehl, die für
berechtigt zu halten, heißt ja eben Dogma. Daß der ruſſiſche Geiſt in hohem
ungeheure Verbreitung des Dogmas in Rußland und ſeine merkwuͤrdige
Einheitlichkeit. Man braucht dabei gar nicht einen Mangel an Individualis⸗
mus in der ruſſiſchen Begabung anzunehmen: die Hauptſchickſale waren
zu ſehr in derſelben Richtung wirkend. Und dann war es ja doch nur natürs
lich, daß, ſobald einmal der Verſtellungszwang der offiziellen Schule vom
ruſſiſchen Geiſte fiel, ſich alle feine urjprünglihen Tendenzen gleichſam
in Reinkultur offenbaren mußten. Ihre Vereinigung in einer auf die Ab⸗
hilfe der Volksnot gerichteten Menſchenſeele gibt das Weſen des Intelli⸗
genten. Daher ſein unfehlbares Auftreten überall da, wo der Deſpotismus
verneint wird (die geiſtigen Wirkungen der Intelligenz offenbaren ſich
erſt da, daher auch ihre faſt automatiſch anmutende Gleichartigkeit). Auch
die geiſtige Zwieſpaͤltigkeit des Intelligenten und feine Fähigkeit, nicht
unter ihr zu leiden, erflärt ſich hier. Der ruffiihe Intelligentengeiſt iſt eben
ein Geiſt der durch die Einrichtung geformt wurde, die er haßt und vernichten
will (den ruſſiſchen Deſpotis mus). Deutlicher noch: Das iſt ein Geiſt, der
die Urſache bekaͤmpft, deren Wirkung er iſt, und der das natürlich durchaus
nicht wahrhaben will. Hier iſt der eigentliche Schluͤſſel zur geiſtigen
Phyſiognomie der ruſſiſchen Intelligenz: fie ift ein Kind des Deſpotismus
und erſtrebt mit ſeinen Mitteln eine neue Deſpotie. Dieſer neue Deſ⸗
potismus ſoll nur die Maſſen ſatt machen. Daß ihn die Maſſen ſelber
ausüben ſollen, wird zwar behauptet, aber wohl nicht mehr geglaubt.
Herrſchen ſollen die Volkefreunde, da das aber nach Tyrannei riecht,
ſagt man das Volkswohl, das heißt das Dogma von ihm, das
heißt deſſen Hüter, das heißt natürlich nichts anderes als eben die Volks⸗
133
freunde, das heißt die, die ſich dafür halten. Die ruſſiſchen Revolutionäre
nennen ſich ja bekanntlich ſchon von den ſiebziger Jahren an die „Aus⸗
führer des Volkswillens“. In feinem „Auftrag“ ermordeten ſie bekanntlich
Alexander II. und taten fo dem tieffriedliebenden ruſſiſchen Volle ſchweres
ideelles Unrecht an.
Die attgemeine Im alles zuſammenzufaſſen: die ruſſiſche Intelligenz iſt weder an
unt her weft. H Kgeiſtiger noch an politiſcher Freiheit an ſich intereſſiert, vielmehr le⸗
fan Inteulsen diglich an ſozialer Gerechtigkeit. Nur zu ihrem Herbeiführen ſoll der Deſ⸗
potismus geſtuͤrzt werden. Und nur, um dafür ungeftört agitieren zu
koͤnnen, bekaͤmpft man die Zenſur. Natürlich iſt das bloß das pſycho⸗
logiſche Gerippe der ruſſiſchen Intelligenz. Das Ganze wird eingekleidet
in eine geſchloſſene Weltanſchauung, die freilich den Mangel an innerer
Einheitlichkeit, an Einheit ſeiner Elemente untereinander, durch autorita⸗
tiven Zwang und die Androhung von Verachtung zu erſetzen ſucht — die
ſich aber tatſaͤchlich als einheitlich offenbart, wenn man ihren pfycho⸗
logiſchen Wurzeln nachgeht. Der Ruſſe, namentlich der ruſſiſche Intelligent,
macht fuͤr ſich einen gewiſſen ſynthetiſchen Drang geltend: das Bedürfnis,
Weltanſchauung und praktiſches Handeln miteinander in Einklang zu
bringen. Dies Bedürfnis als ſolches iſt wohl auch vorhanden: es gibt
keine einzige politiſche Richtung in Rußland, die ihren Bekennern nicht
auch gleich ein vollſtaͤndiges Lebensbild vorſchreibt. Aber gerade damit
haben wir auch ſchon ausgeſprochen, worin hier der Haken liegt. Erſtens
und vor allem: das Weltbild tritt ein, nach de m bereits die Willensrichtung
feſtſteht, der es zur Verwirklichung dienen ſoll, und daraus ergibt ſich
ſchon, daß die Weltanſchauung hier nichts anderes ſein kann als nach⸗
traͤgliche Zurechtſtutzung von dem, was unverfaͤlſchter Eindruck ſein ſoll,
im Sinne einer vorgefaßten Abſicht. Und daß der ruſſiſchen Intelligenz
dieſer Zuſammenhang immer noch nicht aufgeht, daß in ihrer offiziellen
Weltanſchauung die Kluft zwiſchen Weltbild und Weltpraxis einfach un⸗
überbrüdbar ift, das beweiſt eben, daß, wenn wirklich der Ruſſe den Drang
hat, Weltanſchauung und Welthandeln miteinander in Einklang zu bringen,
feine Anſpruͤche hier außerordentlich gering find. Es beruhigt ihn augen⸗
ſcheinlich ſchon, wenn der Platz, den ein geſchloſſenes Weltbild einnehmen
müßte, nicht leer ift, und etwas darauf ſteht, was ihm nicht wehetut, und
worüber ſich endlos disputieren läßt. Weiter gehen feine Anſprüche hier
augenſcheinlich nicht. Vielleicht liegt hier auch der rein taktiſche Wille vor,
Wiſſenſchaftlichkeit fuͤr ſich zu beanſpruchen. Nichts liegt aber dabei dem
134
1
u,"
0 ae.
AR
2
Intelligenten ferner, als deren erſtes Gebot zu erfuͤllen: ſein Denken auch über
feine Wünfche zu ſtellen, nachzupruͤfen, ob er jo wuͤnſchen darf, nicht aber
nur nachträglich für feine „unantaſtbaren“ Wünfche zureichende Gründe zu
ſuchen, die man ſelber gar nicht nötig hat, womit man aber eventuell andere
bekehren koͤnnte. Mit einem Worte: der vermeintlich ſynthetiſche Drang des
Ruſſen iſt wohl nur eine Folge feines ewigen Proſelytenmachenwollens, und
das iſt wiederum die Folge einerſeits feines naiven Subjektivismus, anderer⸗
ſeiner ewigen Empfindlichkeit und inneren Unſicherheit.
W dabei an das, was wir im vorausgehenden Abſchnitt über Die aeiitisen
4 Züge der Geiftesphpfiegnomie der ruffifchen Intelligenz rratarzs.
ſagten: das intelligente Denken ift extrem ſubjektiv und darum von Haufe an
aus materialiſtiſch und pſychologiſch gefärbt, dazu radikal, ſophiſtiſch, dog⸗
matiſch, verneinend, unproduktiv, und ſein Hauptmerkmal: es iſt ein Den⸗
ken, das ſich ſelber nicht Hauptſache iſt: es ſetzt nach der Überzeugung ein
und lediglich für fie, es iſt alſo nur eine Dienerin feſtſtehender Ziele. Dieſe
Ziele ſelber liegen aber auf ganz anderem als geiſtigem: auf ſozialem Ge:
biet (und werden darum von uns auch in dem Abſchnitt uͤber die Einfluͤſſe
der Leibeigenſchaft behandelt werden). Indes muß bereits hier, wo von
der geiſtigen Eigenart der Intelligenz die Rede iſt, auf zwei ſehr weſent⸗
liche Charakterzüge hingewieſen werden: die ruſſiſche Intelligenz iſt ſchon
ihrem Urſprung nach: als eine geiſtige Gegenwirkung gegen den Deſpotis⸗
mus — die dabei kein anderes Vorbild hatte als gerade ihn — die eigent⸗
liche Trägerin der als Antwort auf die Sünden der ruſſiſchen Regierung
groß gezüchteten, grundſaͤtzlich gegen fie gerichteten Denkrichtung. Dieſe
Denkrichtung: die Überzeugung, daß alles, was von der ruſſiſchen Re⸗
gierung ausgeht, falſch, d. h. zweckwidrig und nur aus niedrigen Motiven
hervorgegangen fein muß, vielleicht beſſer geſagt der Wille, daß das fo ſein
ſoll, beherrſcht freilich ſtrenggenommen das ganze denkende Rußland (fo:
gar das wirklich liberale, das ſonſt überall eine zwar ſehr nachſichtige, aber
dennoch ſegensreiche Oppoſition gegen die durchaus radikale Intelligenz
bildet). Indes mehr gefuͤhlsmaͤßig, während dieſe Denkrichtung innerhalb
der Intelligenz, der in ihr vorherrſchenden allgemeinen Geiſtestendenz
nach, grundsatzlich und dogmatiſch wird. Sie gibt dem fo nach Inhalt
hungernden intelligenten Gedanken wenigſtens einen gewiſſen Stoff. Und
das hat wiederum zur Folge, daß dieſe Gedankenrichtung rein ſchematiſch
weſtergeſponnen wird: mit der intelligenten Lieblingsrichtung ins ganz
Allgemeine hinein, ſoweit, bis glücklich der Anſchluß an die inſtinktiven,
135
—_
ſchon geſchichtlich entwickelten ruſſiſchen Antipathien erreicht ift, in deren
Hintergrund ein ewig waches „Reſſentiment“ gegen den Weſten lauert.
Dieſer typiſch intelligente Denkprozeß verläuft hier fo: aus der ruſſiſchen
Regierung als Entwertungsgegenſtand wird die Regierung im allgemeinen,
der Staat, dann weiter ſeine Einrichtungen, dann weiter die Traditionen,
die ihn ſtuͤtzen, dann endlich jede Tradition (das iſt für den Intelligenten
ein ebenſolches Schredwort wie Reaktion). Und hier iſt denn glücklich der
zureichende Grund gefunden zur radikalen Ablehnung des verhaßten Weſt⸗
europas (und in dieſem Haß mag die ſchon erwaͤhnte Aſſoziation von Weſt⸗
europa und ruſſiſchem Deſpotismus durch das Medium der ruſſiſchen Schule
eine ebenſolche Rolle ſpielen wie inſtinktives Mißwollen, das auf dem
Willen beruht, eingeſehene, bewußte Überlegenheit nicht anzuerkennen).
Nun ſteht freilich hiermit, wie es ſcheint, in Widerſpruch, daß die ruſſiſche
Intelligenz die ihr unentbehrlichen Dogmen und Doktrinen ausnahmslos
dem Weſten entnommen hat (die radikal⸗ſozialiſtiſche ſowohl wie die
marxiſtiſche Doktrin). Indes iſt dieſer urſpruͤngliche Zuſammenhang einer⸗
ſeits deshalb vergeſſen worden, weil jedes Dogma in Rußland, ohne
kaum jemals produktiv weitergeführt zu werden, eine ſolche Umrankung
durch alle möglichen Gedankennuancen und unmoͤglichen Sophismennetze
erfährt, daß es ſchließlich durchaus als ruſſiſches Eigentum erlebt wird,
zum mindeſten behauptet wird, dieſe urſpruͤnglich europaͤiſche Lehre ſei
überhaupt erſt in Rußland verftanden worden. Andererſeits aber erklaͤrt ſich
hier auch die eigenartige Stellung der ruſſiſchen Intelligenz zur Wiſſenſchaft.
Die ruſſiſche In- as Mißverkennen der Wiſſenſchaft lag, wie wir ſahen, bereits im
3 ruſſiſchen Kulturſchickſal begründet, daß es aber zum wuͤtenden Haß
und dieſer zur hoͤhnenden Verachtung fortſchreiten muß, liegt nun einmal
im ruſſiſchen Naturell. Ebenſo verſteht es ſich ganz von ſelber, daß alle
dieſe Momente endlich innerhalb der Intelligenz, die jede Verſtellung
von ſich abſchuͤttelt (und niemals zu unterſcheiden wußte zwiſchen frei⸗
williger Rüdficht und Zwang), ſich völlig rein aͤußern mußten. Die ruſ⸗
ſiſche Intelligenz mußte alſo von Hauſe aus wiſſenſchaftsfeindlich ſein.
Sie wäre es aber auch mit Notwendigkeit ſchon aus dem einzigen Grunde
geworden, weil ihr auch die Wiſſenſchaft bloß Mittel ſein konnte zu ihren
eigentlichen, rein ſozialen Zielen, es aber im Weſen der Wiſſenſchaft liegt,
daß ſie nur um ihrer ſelbſt willen oder gar nicht ſein kann. Es fehlte alſo
von Hauſe aus jede Grundlage fuͤr die Pflege wahrer Wiſſenſchaft inner⸗
halb der ruſſiſchen Intelligenz. Dabei konnte ſie aber auf die Berufung
136
die Maſſe, vor allem aber wohl, um nicht der offiziellen Wiſſenſchaft völlig
wehrlos gegenüberzuftehen. Es kam dann fo tatjächlich zu jenem Begriff
71
f
2
3
9
lebt. Was aber in dieſem Kreiſe dieſen Subjektivismus auslöfte,
wir: das ſoziale Endziel: Man verſchmaͤhe, ſo wird behauptet,
die Wiſſenſchaft, wirkliche Wiſſenſchaft habe aber immer nur
Zielen zu dienen, und es gebe kein wuͤrdigeres, das heißt eigent⸗
des Denkens als das ſoziale Heil der Menſchheit. (Wir ſehen
jener voͤllig vorübergehenden Epiſode in den fünfziger Jahren
Jahrhunderts, als eine mißverſtandene Naturwiſſenſchaft ver⸗
: tatſaͤchlich handelte es ſich da um radikalen Materialismus,
enjeff in ſeinem Baſaroff verewigt hat.) Mit dieſer Ein⸗
man ſogar eine gewiſſe europaͤiſche Wiſſenſchaft gelten,
wird behauptet — von jeher in Gegenſat geſtanden habe
— Wiſſenſchaft und nur ein verfolgtes Daſein
Dieſe wahrhafte Wiſſenſchaft habe aber eigentlich erſt in
gerade bei der Intelligenz, ihre wirkliche Staͤtte und
gefunden .. . Wir ſehen alſo, hier gelingt es dem intelligenten
Gedanten, feine Wiſſenſchaftlichkeit zu retten und doch nicht vor Weſt⸗
zu ſcheinen. Mit dieſer Darlegung des intelligenten
Wiffenfcaftsbegriffes find wir denn auch ſchon bei jener andern grund⸗
1
73323
0
527
Hi
den praftilchen Zielen dienen. Ein Suchen nach der Wahrheit auf jede Ges
fahr hin, alſo reine Wiſſenſchaft und Philoſophie, wird nicht nur für
nutzloſen Selbſtbetrug erklart, es wird vielmehr auch (das kann der Ruſſe
nun einmal auch auf rein geiſtigem Gebiete nicht laſſen, wo er anderer
Meinung iſt) die Geſinnung des reine Erkenntnis Erſtrebenden verdaͤchtigt:
das geſchehe natürlich nur aus perfönlicher Eitelkeit. Außerdem kann natuͤr⸗
lich nur ein gewiſſenloſer und herzloſer Menſch ſo handeln, der ſeine naͤch⸗
ſien Pflichten vergißt: denn die find immer und überall Beſeitigung der
Volkenot, natürlich auf dem ein für allemal feſtſtehenden Wege des Um⸗
ſturzet des Defpotismus und der Herbeiführung der ſozialiſtiſchen Re⸗
publik, die dann von Rußland aus die Welt erobern ſoll.
137
15. Die ruſſiſche Intelligenz und die ruſſiſche
Kirche
Die grundſaͤtzliche Kirchenfeindlichkeit der ruſſi — Die
r — „ Denken
Die grundrägliche ir erkennen mithin alle typiſchen Züge der deſpotiſchen Geiſtespolitik
rear ne bei der Intelligenz wieder: Erſtens: Am Anfang ſteht Geiſteszwang:
Intenigen Bevor alle Menſchen ſatt find, darf niemand an etwas anderes denken
als an ihren Hunger. Die auf reine Erkenntnis gerichteten Bedurfniſſe
des Menſchen werden dogmatiſch geleugnet, das Weltbild gewaltſam
eingeengt. Zweitens: aber — dieſer Geiſteszwang erhält feine nachtraͤg⸗
liche Rechtfertigung dadurch, daß er im Dienſte eines Univerſalismus ſteht,
und drittens: dieſer Univerſalismus geht von Rußland aus und nur durch
Rußland hindurch. Nun wieſen wir ſchon bei der Stelle, wo von der typiſch⸗
deſpotiſchen Geiſtespolitik die Rede war (die Geiſter werden gezwungen,
dieſer Zwang umnebelt durch univerſale Aſpiration, und dieſe wiederum
an das Nationale gebunden, und ſo dem Volksbewußtſein annehmbar
gemacht), auf ihren Urſprung aus dem naheliegenden geiſtigen Vorbild:
der ruſſiſchen Kirche zuruck. Es wird nun neuerdings von gewiſſer Seite
mit ſehr viel Geiſt die Anſicht verfochten, das ruſſiſche Denken ſchoͤpfe
feine Originalität daraus, daß es aus der orthodoxen Kirche hervorgehe,
und es koͤnne nur von hier aus in ſeiner eigenartigen Fruchtbarkeit, ja ver⸗
tiefenden Kraft gewürdigt werden. Wir halten das für einen ſchweren
Irrtum: das orthodoxe Denken ftellt nur eine kuͤnſtlich feſtgehaltene Ent⸗
wicklungsſtufe des einen menſchlichen Denkens dar, beſſer geſagt: einige
Denkfehler fruͤherer Perioden werden dogmatiſch feſtgehalten, und um ſie
herum gelangt dann die ganze verfeinerte Denktechnik der modernen Zeit
in blendenden Sophismen zur Verwendung. (Gegen die ruſſiſche Kirche
als ſolche ſagt das nichts: da ſie ſich ja ihrem Weſen nach gar nicht im
Denken gründen kann. Aber ſchon deshalb halten wir den Anſpruch eines
auf ihr baſierenden vollwertigen Denkens fuͤr hinfaͤllig.) Wir haben daher,
als wir in einem fruͤheren Abſchnitt von dem Einfluß der ruſſiſchen Kirche
auf das nationalsruffiiche Geiſtesleben ſprachen, die ſpeziell orthodoxe
Denkart als reine Privatſache der ruſſiſchen Kirche nicht weiter berührt,
uns vielmehr damit begnügt, den ſehr großen Einfluß dieſer Kirche auf
138 >
ih
i
—
3 —
# or
1 7 1
12
27
2
nationale Leben ganz im allgemeinen zu betonen. Wir nannten ſie
die nationalſte Kirche. In Erganzung hierzu wird es nunmehr noch
fein, auch auf das ſpeziell kirchlich⸗ruſſiſche Denken einzugehen, weil
dort, wo die ſtaatliche Beeinfluſſung des ruſſiſchen Denkens
urfprünglichen Beeinfluſſungen, von denen die
um ſo offener zutage treten, auch wo gerade
fs heftigſte nicht gewollt und verneint wird (wie ja
chen Intelligenz die ruſſiſche Kirche in Bauſch und
und in hoͤchſt einſeitiger und ſchwer ungerechter Weiſe
als ein jaͤmmerliches Werkzeug der deſpotiſchen Regierung
„deren Diener natürlich nur aus ſchmaͤhlichſtem Eigennutz
171
i
2
H
| macht dabei der Kirche den alten banalen Vorwurf, fie leifte
dem Deſpotismus geiſtigen Vorſchub, ſie verhindere zum mindeſten das
Verſtändnis für die ſoziale Reform in den breiten Maſſen, indem fie fie
von ihrem irdiſchen Heil ab auf ein eingebildetes, himmliſches hinlenke.
ube der ruſſiſchen Intelligenz iſt dabei wie alles an
ihr rein dogmatiſch. Ungläubig an ſich iſt der ruſſiſche Intelligent darum
leine wegs, vielmehr als echter Ruſſe von fanatiſcher Glaͤubigkeit: er hat
nur deren Inhalt geändert, und auch das ſtreng genommen ſehr wenig:
das Paradies wird bloß in eine andere Dimenſion verlegt, und das iſt im
Grunde genommen eine für uns inhaltsleere Vorſtellung, und dann wird
auch etwas zu ſehr auf der materiellen Ausmalung des Paradieſes beſtan⸗
den — aber das kann mehr für die Maſſe fein, die gewonnen werden ſoll.
Auch darin äußert ſich die elementare, noch im Zuſtande des Unkritiſchen
verharrende Gläubigfeit des intelligenten Ruſſen, daß er dogmatiſch daran
feſthaͤlt, daß in der Welt, jo wie fie iſt, bereits alles da iſt, was ihre Erloͤſung
erfordert. (Es fehle bloß die Erkenntnis dieſer Tatſache, und die werde ge⸗
waltſam hintangehalten durch unmittelbar intereſſierte Gewalten: Staat
und Kirche.) Denn der ruſſiſche Intelligent und der ruſſiſche Denker über:
haupt — der Typ iſt und bleibt Tolſtoj — iſt aus feinen tiefſten Inſtinkten
heraus ein leidenſchaftlicher Gegner jeder Entwicklungslehre — in jedem
Sinne (und es ſcheint wirklich ſo, als ob ihn hier ſein Gerechtigkeitswille
139
beftimme: er kann ſich offenbar nicht beruhigen uͤber das Los der zu früh
Geborenen). Das iſt nun ein ſehr weſentlicher Zug allen theologiſchen
Denkens und ſpeziell des Denkens der orthodoxen Kirche, die — wir
muͤſſen das in dieſem Zuſammenhange nochmals mit aller Schärfe be⸗
tonen — ihren Anſpruch auf Weltherrſchaft vornehmlich auf das ein für
allemal Feſtliegende ihrer Lehren zurüdführt: fie ſei damit an keine per⸗
ſoͤnliche Autorität in Kirchenfragen gebunden wie die katholiſche an den
Papſt: da ja Fragen in Glaubensſachen gar nicht fuͤr ſie exiſtieren. Ein
feſtſtehendes Lehrgebaͤude ſetzt aber eine feſtſtehende Welt voraus (und
ſtrenggenommen natürlich auch eine reſtlos erforſchte), woraus allein ſchon
zu erſehen iſt, wie es mit dem Anſpruch auf europaͤiſche Anerkennung des
orthodoxen Denkens beſtellt iſt.
Die grundfäslihe Ius alledem iſt es für uns zweifellos, daß das intelligente Denken ſei⸗
Üdereinftimmuna
von inteuigentem
nem eigentlichen Weſen nach, wenn man von einigen rein formalen,
und orinederem vielfach nur in veränderter Terminologie liegenden Unterſchieden abſieht,
x
ein rein orthodores Denken ift, und daß dieſes gar nichts anderes bedeutet
als eine mit geiſtigen Zwangsmitteln unter Zuhilfenahme modernſter
Sophismen eigenſinnig feſtgehaltene, uberall ſonſt laͤngſt übermundene
Vorſtufe des eigentlichen europaͤiſchen Denkens. Das orthodore Denken
charakteriſiert ſich zunaͤchſt als typiſch dogmatiſch: an einer beſtimmten
Stelle, ſchon ſehr nahe vom Ausgangspunkt, tritt der Glaube ein, der nach
alter Weiſe einem rein verſtandesmaͤßigen Wiſſen weſensgleich behauptet
wird. Von da an wird dann dem Verſtand eine gewiſſe Bahn erlaubt,
aber von Hauſe aus ſind ihm ganze Gedankenwelten rein dogmatiſch ver⸗
boten — als unfruchtbar, zu keinem Ziele, wohl aber in Verſuchung fuͤh⸗
rend: und das find gerade die Gedanken, die uns Weſteuropaͤern mit am
wichtigſten erſcheinen. Ein Denken bis zur Denkgrenze auf jede Gefahr hin
als erlebtes Pflichtgebot kennt dieſes Denken nicht. Es verurteilt derſelbe viel⸗
mehr mit der Begründung: dabei fei kein Gottesglaube und keine Moral
möglich, während tatſaͤchlich dieſe beiden Erlebniſſe in einer Sphäre vor
ſich gehen, die voͤllig unabhaͤngig iſt von der der reinen Erkenntnis, die ja
ihrerſeits immer nur Zuſammenhaͤnge finden wird. Zudem geht es dieſem
Denken nicht ein und wird ſomit nach altem Brauch als unmöglich erflärt
und gleich auch echt ruſſiſch als Überhebung verdächtigt, daß ein Denken,
und gerade das tiefſte, aus Ehrfurcht hervorquellende und von ihr ge⸗
tragene Denken, die Unmoͤglichkeit reſtloſer Erkenntnis ſchon zur Voraus⸗
ſetzung haben kann und muß. Dazu kommen noch reichlich uralte Gedanken⸗
140
fehler, die ſchmerzlich nach Ariſtoteles ſchreien. Und das letzte Argument
(das der typiſche Vertreter dieſes orthodoxen Denkens unter den großen
Ruffen, Doftojeoffi, nach echtriſſſchem Brauch dadurch unangreifbar
machen will, daß er es einem Gegner: einem Freigeiſt in den Mund legt
iſt dann: wenn Gott nicht iſt, fei alles erlaubt. Ein für das orthodore
Denken typiſcher Sophis mus! Wir machen dabei von vornherein auf zwei fuͤr
dasſelbe beſonders charakteriſtiſche Merkmale aufmerkſam. Es wird ſo zunaͤchſt
einmal angenommen, daß der Menſch immer wiſſe, aus welchem Glauben
heraus er handelt, alſo die reſtloſe Deutung des Glaubens in Worte wird
vorausgeſetzt, und zweitens wird ein fo unendlich vieldeutiger Begriff wie
Gott auf ein Wort feſtgelegt gegenüber einer ganz beſtimmten, von ihm
ausgehenden Wirkung. Mit ſolchen Taktiken kann man natürlich auch wie
Wladimir Solovjeff die heilige Dreieinigkeit „mit mathematiſcher Sicher⸗
heit“ ableiten. Wir kennen ſolche Dinge übrigens laͤngſt ſchon aus dem
jeſuitiſchen Rationalismus, den Pascal fo unſterblich verſpottete. — So
diel über das orthodoxe Denken. Seine grundfägliche Weſensgleichheit mit
dem intelligenten Denken ſpringt in die Augen. Auch dies iſt ja ein Denken,
das von Dogmen ausgeht, für fie die Bedeutung rein verftandesmäßiger
Exkenntniſſe beanſprucht und außerdem nur nach ganz beſtimmten Zielen
hin in Tatigkeit geſetzt werden darf. Auch dieſes kennt kein Wahrheitsſuchen
um feiner ſelber willen, ift deshalb wiſſenſchaftsfeindlich und insbeſondere
abhold jedem lebendigen Entwicklungsgedanken.
16. Die ruſſiſche Intelligenz und die euffifche 1
Kunft
Die ablehnende Stellung der ruſſiſchen Intelligenz zur Kunft
eee ee We nahe e
nſt unter : bi i
. rufftiche Baukunſt. eich und Mufik a * —
ine weitere ſehr tiefgehende Übereinſtimmung zwiſchen orthodoxer Die arundräntia
intelligenter Anſchauung beſteht dann noch darin, daß beide das im e. nn
geſamte Gebiet der menſchlichen Außerungsmoͤglichkeiten, alſo auch die 222
Künfte, für Propagandazwecke beanſpruchen. Für die Kirche verſteht ſich Rettuns der rur-
das ganz von ſelber. Daß dabei die ruſſiſche Kirche bei weitem nicht jenen u: — RR
anregenden und lebendig erhaltenden Einfluß auf die Künfte ausübte, Iris
141
4 .
wie z. B. die katholiſche, lag, wie wir bereits weiter oben ſahen, vielleicht
weniger in ihrer frühen und totalen Abhängigkeit von der ö
Regierung, als vielmehr in der eigentlichen Urſache eben dieſer Abhaͤngig⸗
keit: darin, daß ſich die ruſſiſche Kirche bei der großen Kirchenſpaltung
gegen die echtruſſiſche Richtung, den Raskol, entſchied, der alle lebendigen
geiſtigen Kraͤfte der Nation in ſich vereinigte. Dieſer Zuſammenhang
mußte hier in Erinnerung gebracht werden, weil es ſich nur ſo erklaͤrt,
wie die ruſſiſche Kunſt, die ſich der Kirche gegenüber fo unabhängig erhielt,
ſo willig die ſicher nicht leichteren Feſſeln der ruſſiſchen Intelligenz auf ſich
nahm und ſich von ihr zu ihrem eigentlichen Weſen fremden Propaganda⸗
zwecken mißbrauchen ließ. Die ruſſiſche Kunſt war eben heimatlos geworden
nach ihrem Bruch mit der ruſſiſchen Kirche: Herumgeſtoßen wie ein Kind
der Liebe und ohne irgendwelche Sympathie bei der Maſſe zu finden,
mußte ſie froh ſein, wenn ſie irgendwer aufnahm. Und der das tat, der
hatte dazu noch einen unwiderſtehlichen Schluͤſſel zu ihrem Herzen: Er
legte ihr Feſſeln an im Namen der Volksnot. Und da merkte ſie die gar
nicht. Sie ſind zwar darum ihrer Entwicklung nicht minder hemmend ge⸗
weſen. Es handelte ſich indes tatſaͤchlich um eine Lebensfrage für die rufs
ſiſche Kunſt. Wie im 17. Jahrhundert der Raskol alle geiſtig lebendigen
und opferbereiten Elemente der Nation in ſich vereinte, ſo tut dies von
den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts an die Intelligenz. Und das
war gerade auch die Zeit, als die ruſſiſche Kunſt auf allen Gebieten ſich
auf ihr nationales Weſen zu beſinnen begann (die Maler
Iwanow). Nun gehörten die ruſſiſchen Kuͤnſtler als Menſchen durchaus
ins Lager der Intelligenz: mit ihr hielten ſie jede andere Taͤtigkeit als eine
unmittelbar auf Beſeitigung der Volksnot (im Sinne der intelligenten
Dogmen) gerichtete fuͤr unernſt und gewiſſenlos. Damit waͤre freilich jede
Kunſtbeſchaͤftigung gerichtet, da ſie ja tatſaͤchlich ſtets den ganzen Menſchen
beanſprucht und auch gar kein Ziel uͤber ſich anerkennen kann. Bei dem
elementaren Drang, den jede wirkliche Kunſtbegabung auf den Begabten
ausübt, wären fo zwar die Kuͤnſtler nicht verſtummt, wohl aber hätte ihnen
das Publikum gefehlt, und fie wären in Elend und Zweifeln verfümmert.
Denn das nichtintelligente, das am Deſpotismus intereſſierte Rußland
konnte inſtinktiv keine volkstuͤmliche ruſſiſche Kunſt ertragen. Die pan⸗
ſlawiſtiſche Bewegung verſagte aber hier vollkommen: ſie war eben im
Grunde genommen durchaus politiſch, ideell, oder zu ausſchließlich ethiſch,
und ſomit, wenn nicht kunſtfeindlich, ſo kunſtgleichguͤltig. Tatſaͤchlich ging
142
der Panſlawismus an der ruſſiſchen Kunft vorüber. Es blieb alſo nur die
rruſſiſche Intelligenz. Deren Theorie war direkt kunſtfeindlich, fie ver⸗
dammte die Kunſt als gewiſſenloſe Spielerei. Die Lage der ruſſiſchen Kunſt
ſchien demnach kritiſch. Indes ward auch hier, wie das für Rußlands
Aulturſchickſal jo charakteriſtiſch iſt, aus einem Übel ein Segen. Denn
tatſaͤchlich rettete die ruſſiſche Kunſt nicht die Intelligenz, vielmehr — die
Zenſur: Solange fie herrſchte, war die ruſſiſche Kunſt, ſoweit fie das Leben
zum Vorbild haben kann, — alfo vor allem die darſtellende Kunſt: Griffel⸗
kunſt, Malerei, Skulptur — allein imftande, Dinge zu kunden, die das
Wort nicht nennen durfte, und die auf einer Bahn lagen nach dem
Ziel der Volksbefreiung und Volksbegluͤckung. Damit war das
der bildenden Kunſt Rußlands entſchieden: denn die Intelligenz
diktiert die eigentlichen, allein befolgten Erlaubniſſe und Verbote auf dem
ſchoͤpferiſchen Gebiete Rußlands. Die Kunſt wurde nicht nur geduldet, viel⸗
mehr ſichtlich unterftügt. Sie hatte nur eine Bedingung zu erfüllen: der
' Propaganda zu dienen: „Das Volk aufzuklären.“
war der ruſſiſchen Kunſt das Stoffgebiet vorgeſchrieben. Natuͤr⸗ Die rosie
iſt auch das eine Feſſel, jedenfalls eine Art Beſchraͤnkung jener —
abfoluten Sreizigigteit, deren jede Kunft bedarf. Indes treffen die Sch im; er
digungen hieraus alles in allem genommen doch mehr die Zuſchauer: es
wurden und werden ſo im ruſſiſchen Publikum, und namentlich in dem
kritiſierenden Teil von ihm, die Vorſtellungen gefaͤlſcht vom eigentlichen
und Sinn der Kunſt (das aber hielt wiederum den Argwohn der
ze ber ruſſiſchen Kunſt ferne). Daß aber die ruſſiſche
eben meiſtenteils ſelber ben. "zufügen Ber an, und er hörte auch
als Künſtler nicht auf, Menſch zu fein: die Auswahl des Stofflichen in
dsc. auf die intelligente Propaganda (Verhoͤhnung der Regierung und
und feine Kunſt für etwas Nebenfächliches, für eine Dienerin halten. Im
Kunſiſchaffen ſelber urteilt ſeine intuitive Perſon, und für die iſt eben
143
die Kunſt alles: letzte Möglichkeit, das in ſich zu aͤußern, was jenfeits det
Wortes liegt. Dieſes Auseinanderfallen im Urteil des Künſtlers, je nach⸗
dem er ſchafft oder nur Menſch iſt, gehört überall zum Weſen des Kuͤnſt⸗
lers, vermag aber freilich im ruſſiſchen Kuͤnſtler, an deſſen Menſchtum der
ruſſiſchen Wirklichkeit gegenüber derartige Anſpruͤche geſtellt werden, ganz
beſonders ſchroffe Gegenſaͤtzlichkeiten zu offenbaren. Wir werden darauf
gelegentlich der ruſſiſchen Wortkunſt noch ganz eingehend zurückkommen
müffen. Hier ſtellen wir nur das eine feſt, daß vorderhand erſt das in⸗
tuitive Rußland wahrhaft europäifch iſt, freilich in gewiſſer Hinſicht —
Erlebniſſe vorbildend für noch kommende Erkenntnis — Europa bereits
ſogar voranſchreitet. Zur bildenden Kunſt zurüdfehrend, müffen wir hier
aber zunächft betonen, daß das Stoffliche in ihr doch gar nicht eine Rolle
fpielt, die irgendwie ihr eigentliches Weſen berührt, dieſes vielmehr aus⸗
ſchließlich in den Möglichkeiten der nur ihr eigenen Ausdrucksfaͤhigkeit bes
ſchloſſen liegt. Daß von dieſer eigentlichen Seite des Kunſtſchaffens als
von Nebenſaͤchlichem der Nichtkuͤnſtler, vor allem wiederum der intelli⸗
gente Inquiſitor, abgelenkt ward, erlaubte gerade hier ein ganz beſondert
intimes kuͤnſtleriſches Sichausleben. Die ſonſt alles im geiſtigen Rußland
beherrſchende doktrinaͤre Theorie vermochte nie die ruſſiſche Kunſt zu beherr⸗
ſchen: die Tradition bildete ſich hier ausſchließlich durch das kuͤnſtleriſche Vorbild.
So nur konnte es zu den großen Vorzuͤgen der ruſſiſchen Kunſt kommen: Uns
mittelbarkeit, Aufrichtigkeit, Unabhaͤngigkeit und eine uͤberraſchende Bes
wegungsfreiheit und Anpaſſungsfaͤhigkeit. Wenn dabei noch die ruſſiſchen
Kunſtkritiker ganz im beſonderen den uͤberlegenen „Realismus“ der nationa⸗
len Kunſt ruͤhmen, ſo kommt hier nichts anderes zum Ausdruck, als eben jene
rein theoretiſche Überfchägung des Stofflichen in der Kunſt, mit der die ruſ⸗
ſiſche Kunſt ihre Gnade vor der ruſſiſchen Intelligenz erkaufte.
Die rufiifce ieſe in der nationalen Kunſtauffaſſung des Ruſſen traditionelle und
N heute noch unerſchuͤtterte Überſchaͤtzung des Stofflichen in der Kunſt
mußte natürlich dem Weſen der Sache nach in den Kuͤnſten am verwirrend⸗
ſten wirken, die ihren Ausdrucksmitteln nach am unabhängigften vom
Stofflichen ſind: Architektur und vor allem Muſik. Erſtere blieb,
als an ſich zur Propaganda ungeeignet, völlig außerhalb des Intereſſes
der Intelligenz, und das erklaͤrt das ſo auffallende Elend der ruſſiſchen
Architektur. Von der Mitte des verfloſſenen Jahrhunderts an ver⸗
lor der klaſſiziſtiſche Stil ſein Anſehen: Der Haß gegen ſeinen Urheber,
das offizielle Rußland, ging auf ihn über. Von nun an fehlte aber dem
144
ruſſiſchen Bauſtil jedes Vorbild. Der Panſlawismus erwies ſich auch
hier merkwürdig unfruchtbar: was er an alten Motiven brachte, zwang
er in einer rein ſchematiſchen Weiſe auf und machte es fo von vornherein
tot. Seit etwa vier Jahrzehnten iſt nun dieſer ſogenannte altruſſiſche Stil
offiziell geworden und hat bei der Verkennung ſeines Urſprungs (was
Material, Zweck und Größenverhältniffe anbetrifft) nur zu Mißerfolgen
geführt: Ein urſpruͤnglich hölzerner, intimer Kleinbau, einfach in palaſt⸗
artige Dimenſionen übertragen, ſchafft noch keine Monumentalität, gibt
im Gegenteil dem Großen das Ausſehen des Kleinen, des Kleinlichen.
Schlimmer noch als das Fehlen von Anregung, die ſchließlich die urſpruͤng⸗
lich ruſſiſchen Talente Hätten ſchaffen können, erwies ſich für die ruſſiſche
Baukunſt das völlige Fehlen jeder Teilnahme an ihr in den einflußreichſten
Kreiſen des geiſtigen Rußlands, eben in der Intelligenz. So blieb fie
einerſeits der ſchematiſierenden, ewig politiſche Zwecke den kuͤnſtleriſchen
überordnenden, ruſſiſchen Regierung überlaſſen, andererſeits der barba⸗
riſchen Laune völlig kulturloſer Reicher: die Staatsbauten erſtarrten in
Langerweile, die Privatbauten wurden monftrös und machten die Baus
kunſt verhaßt, weil fie ihrem erſten Geſetz, der Logik, ins Geſicht ſchlugen.
Am beſten ſteht es noch mit den Zweckbauten: aber auch da gingen be⸗
zeichnenderweiſe die rein kommerziellen und induſtriellen voran: hier gab
es ausländiſche Vorbilder, auch die Initiatoren waren vielfach Aus⸗
und ſchließlich gab es, bei der Eindeutigkeit des vorliegenden
Zweckes, auch gar nichts, was die ewig wache nationale Empfindlichkeit
erregen können. Ganz merkwürdig langſam bürgert ſich im öffent:
ruſſiſchen Bauweſen der Zweckbau ein, deſſen Faſſade durch Ma⸗
terial, innere Einteilung und Zweck beſtimmt wird. Die Regierung macht
nicht einmal ſo große Schwierigkeiten: Es kommen hier auch mehr die
offentlichen Bauten in Betracht, welche die Stadtgemeinde oder private
Geſellſchaften aufführen, vor allem die Schulen. Nichts beweiſt mehr das
— Unpraktiſche — in verbohrtem Doktrinarismus Fußende der
ruſſiſchen Intelligenz, als daß fie da, wo fie greifbarſte Gelegenheit hat,
dem Volle unmittelbar zu dienen, wie in der Schaffung menſchenwüͤrdiger
Wohnräume (das Hauselend und der Wohnungswucher in Rußland find
muͤrchen haft), oder in der Sorge dafür, daß die Schulkinder wenigſtens in
der Schule Licht und Luft haben, völlig verſagt. Das ſcheint ihr eben klein⸗
lich. Sie will alles auf einmal. Bis dahin ſollen die Kräfte nicht verzettelt
werden. So hemmt die ruſſiſche Intelligenz auch die natürliche Selbſt⸗
10 et. Gruntiasen des geiftigen Ruplands 145
KEY
Ei
befreiung im Volk. Nirgends offenbart ſich das deutlicher als in ihrem
Verhalten zur ruſſiſchen Baukunſt: Sie kann eben nicht zur Propaganda
ausgenutzt werden, alſo geht ſie uns nichts an. Daß von ihr in weitem Maße
das ſehr reale Wohlbefinden der Maſſe abhängt, für die man doch ſchließ⸗
lich wirken will, iſt einem gleichgültig. Denn eigentlich intereſſieren einen
nur die Maſſen der Zukunft. Zuſammenfaſſend koͤnnen wir von allen ruſ⸗
ſiſchen Künften der Baukunſt die geringſte Ausſicht machen. Wir wiſſen auch
gar nicht, von wo das Intereſſe fuͤr ſie herkommen ſoll, das ſie allein
lebendig erhalten koͤnnte. Wir hoffen noch am meiften auf den Zweckbau.
Schon weil hier die nationalruſſiſche Empfindlichkeit am wenigſten ver⸗
derben kann. Dagegen wird hier vielleicht gerade jene echtruſſiſche Faͤhig⸗
keit, das Notwendige gefaͤllig zu machen, befruchtend wirken. Was die
Verwendung altruſſiſcher Architekturmotive anbetrifft, fo ſcheint die Moͤg⸗
lichkeit zu ihr ſchon in Rüdficht auf die ganz anderen Lichte und Luft⸗
bebürfniffe des modernen Menſchen wenigſtens im Profanbau ſehr bes
ſchraͤnkt. Anders in Hinſicht auf den Kirchenbau, wo bekanntlich die ruſ⸗
ſiſche Baukunſt gerade zur Zeit der Kirchenſpaltung zu ſehr ſchoͤnem Eige⸗
nen gelangt war, was dann durch die hier einſetzende kirchliche Reaktion
jah unterbrochen ward und erftarrte. Hier koͤnnte, fo ſagen wenigſtens
berufene Fachleute, ſehr wohl wieder eingeſetzt werden. Alles in allem
genommen werden wir der ruſſiſchen Baukunſt, wie fie ſich heute im ruf-
ſiſchen Stadtbild bietet, nur dann einigermaßen gerecht, wenn wir ſie rein
maleriſch auffaſſen.
Stetptat unt er maleriſche Sinn ſcheint überhaupt — neben dem literariſchen —
1 der eigentliche Kunſtſinn des Ruſſen zu fein. Merkwürdig verſagt er
dagegen in der Skulptur. Es iſt da viel pſychologiſch herumgedeutet worden.
Wir begnügen uns, es zu konſtatieren. Bekanntlich verſagt noch ein an⸗
deres Volk hier völlig: die Engländer. Die find aber ſonſt der Gegenpol
des Ruſſen. Bei den Englaͤndern hat man das Fehlen der Skulptur mit
ihrem Mangel an muſikaliſchem Talent in Zuſammenhang gebracht. Die
Ruſſen find aber ein recht muſikaliſches Volk. Wir erwähnten bereits
weiter oben, daß in dieſer Kunſt der Einfluß der Intelligenz, die den Kuͤn⸗
ſten nur die Aufgabe der ſozialen Propaganda zuerkennt, am verwirrend⸗
ſten gewirkt haben muͤßte, da dieſe Kunſt dem Stofflichen am fernſten ſteht,
ja eigentlich die einzige Kunſt iſt, die feiner gar nicht bedarf, weshalb denn
auch bekanntlich die Muſiker die befriedigtſten und einfeitigften aller Kuͤnſtler
find, und alle anderen Künfte dahin ſtreben, Muſik zu werden. Das Mindeſt⸗
146
n
”r
ai &
2 maß an Forderungen der ruffifhen Intelligenz der Muſik gegenüber ber
ſtand denn auch darin, daß ſie ihr unmittelbare Beziehung zum Leben
vorſchrieb — anderenfalls wird ihr die Daſeins berechtigung abgeſprochen.
Somit war die ruſſiſche Muſik auf zwei Gebiete verwieſen: Lied und zwar
Liederzyklus und Programmuſik. Die Oper blieb unberüdfichtigt, weil
man der ruſſiſchen Oper ihren Urſprung aus der Verherrlichung des Zar⸗
tums nie vergaß, auch wohl der „Kaiſerliche“ Charakter der Opernhaͤuſer
abfließ. Erſt mit dem Aufkommen der Privatoper in Rußland findet auch
die Oper Gnade: wenn fie nur rein national ift. Rimſki⸗Korſakoff mit
„Sadko“ war hier bahnbrechend. Indes iſt die Frage noch ſtrittig.
erkennt die ruſſiſche Intelligenz bloß das Lied und die
fit an. Das find denn auch tatjächlih die Hauptformen der
echtruſſiſchen Muſik. Ruſſiſche Kritiker aus reingeiftigem Lager (und man
glaubt hier durchaus noch der Kunſt mit rein geiſtigen Mitteln beikommen
zu können), rübmen denn auch, in groͤbſtem Verkennen des eigentlichen
Weſens der Muſik, den überlegenen „Realismus“ der ruſſiſchen Muſik.
Das ift natürlich ein Schlagwort, das ſtrenggenommen auf feine Kunſt
paßt und der Muſik gegenüber nicht nur inhaltsleer, vielmehr direkt ſinnlos
wird: Denn ihre eigentlichen Mittel — und darauf allein kommt es doch
an — haben mit dem Realen auch gar nichts mehr gemein. Aber auch in
der ruſſiſchen Muſik treffen die Schädigungen der intelligenten Kunſtauf⸗
faſſung vornehmlich den Laien, vor allem die Kritiker, in deren Köpfen
in Rußland ein heilloſer Wirrwarr herrſcht hinſichtlich des Weſens der Muſik.
Die ruſſiſche Muſik ſelber iſt wohl dadurch in nichts behindert worden.
Ihre Ausdrucksmittel blieben unberührt. Und da hierin jede Tradition
fehlt, dabei aber anderswo, in Weſteuropa, reichſte Kunſttechnik ausge⸗
arbeitet war, jo fand man freieſte Bahn zu allen moglichen Ausdrucks⸗
experimenten: Keine ruſſiſche Kunſt hat ſich denn auch wilder geberdet.
Keine — bei maͤchtig vorherrſchendem Eklektizismus — eine größere Vers
achtung der techniſchen Tradition offenbart, keine mehr den Anſpruch auf
nationale Urſprünglichkeit erhoben, feine die Meifter anderer Nationen
mehr verhoͤhnt (nachdem fie ihnen alles verdankt). Dabei gibt es aber
feine Kunſt, in der das Traditionelle in den Ausdrucks mitteln — die ſich
2 freilich auf rein menſchliche, aber doch zu allgemeine Wirkungen ftügende
Konvention — eine größere Rolle ſpielt als in der Muſik. In keiner ans
deren Nation find denn auch fo viele Muſiker Dilettanten geweſen, das
heißt Muſiker im Nebenberuf (Balakireff war Offizier, Muſorgſki Be⸗
we. 147
amter, Cui Profeſſor an der Militärakademie, ebenſo Rimſki⸗Korſakoff).
Tſchaikowſki hat das bekanntlich ſehr bedauert und ein Verhaͤngnis der
ruſſiſchen Kunſt darin erblickt. Der Fachmann mag darüber entſcheiden, ob
hier mehr Vorteil oder Schaden erwuchs für die ruſſiſche Muſik. Manches
Friſche, Urfprüngliche mag fo erſt geboren werden können. Im allgemeinen
herrſcht aber heute ganz deutlich in der ruſſiſchen Kunſt die Tendenz zu
techniſcher Durchbildung. In manchem fruͤheren Stuͤrmer artet ſie faſt ins
Peinliche aus. Das iſt ſicherlich ein Zeichen der Geſundung. Im übrigen
werden der ruſſiſchen Muſik dieſelben Vorzüge wie der ruſſiſchen Malerei
nachgeruͤhmt: Urfprünglichkeit, Aufrichtigkeit, Unabhaͤngigkeit und große
Anpaſſungsfaͤhigkeit. Letztere iſt derartig, daß allerletzte weſteuropuͤiſche
muſikaliſche Verſuche in Rußland ſogleich ſchon Schule machen. Ob darin
eine Staͤrke oder eine Schwaͤche zu ſehen iſt, kann erſt die Zukunft lehren.
Auf eine ganz originelle Kunſtform der ruſſiſchen Muſik — freilich liegt
das Originelle mehr im Literariſchen — ſei noch beſonders aufmerkſam
gemacht, weil ſich hier wohl das engſte Band zwiſchen ruſſiſcher Muſik und
ruſſiſchem Intelligententum offenbart, das moͤglich iſt ohne daß der Muſik
Gewalt angetan wird: Ich meine Muſorgſkis bei uns noch unbekannte,
fortlaufende Geſaͤnge (man kann ſie nicht eigentlich Liederzyklen nennen,
eher Rezitationen: der Text iſt weder gereimt noch im Rhythmus), die
einen Seelenzuſtand in ſeinen mannigfachen Einzelerlebniſſen ſchildern.
So wird z. B. „das Kind“ geſchildert: im Spiel, im Geſpraͤch mit der Mut⸗
ter, betend und natuͤrlich auch krank und ſterbend, was zum Herzzerreißend⸗
ſten gehoͤrt, was man hoͤren kann, und wobei der Nachdruck derart auf
dem Peinlichen liegt, daß kaum ein kuͤnſtleriſch befreiender Eindruck erweckt
werden duͤrfte, trotz vollendeter Nachgeſtaltung. Ein anderer Liederzyklus
macht das Peinliche geradezu zum Inhalt. Er heißt „ohne Sonne“ und
ſchildert ein graues, ſonnenloſes Daſein, wobei auch die leiſeſte Anſpielung
fehlt auf die Möglichkeit des Menſchen, über fein Schickſal zu triumphieren
— man moͤchte hierin Muſorgſki geradezu den Strindberg der Muſik nen⸗
nen. Der Urſprung aus der intelligenten Denkweiſe liegt auf der Hand:
Es ſoll uͤber das Leben aufgeklaͤrt werden, und das heißt für einen ruſ⸗
ſiſchen Intelligenten nie etwas anderes, als auf die Haͤßlichkeit und Trau⸗
rigkeit des Lebens hinzuweiſen. Zweifellos hat der Muſiker dabei die in⸗
telligente Propaganda, trotz Beibehaltung ihrer Gefuͤhlsgrundfaͤrbung, aus
dem Sozialen und Politiſchen ins Allgemeinmenſchliche erweitert. Und das
iſt für das ruſſiſche Geſamtgeiſtesleben, in dem die Intelligenz doch die
148
*
}
N
1
führende Rolle fpielt, ein unermeßliches Verdienſt: Hier it tatſächlich dem
Geſichtskreis des Intelligenten ein Ausweg gewieſen aus ſeiner ſelbſtgewaͤhl⸗
ten Beſchraͤnkung auf Staat und Geſellſchaft: eine Brücke zum Menſchlich⸗
Perſoͤnlichen, und zwar durch das Medium, das feinem Weſen am meiften
entſpricht, den Weltſchmerz. Die Mittel zum Eindruck ſind dabei rein muſi⸗
kaliſche. Der Fall iſt deshalb jo merkwürdig, weil hier die Kunſt, die dem
Stofflichen, und damit dem Gedanklichen, am fernſten ſteht, den Gedanken,
der ſie zur Propaganda erniedrigen will, noch ſelber erweitert. Bei der
urſprünglichen künſtleriſchen Anlage des Ruſſen liegen hier vielleicht ſehr
große Moglichkeiten: Vielleicht wird den Ruſſen feine Kunſt noch aus den
Geiftesterfern heraus führen, in die ihn feine Empfindlichkeit vor dem Leben
flüchten ließ, und vor denen alle rein geiſtigen Schlüffel verſagen! So viel
ganz im allgemeinen über den Zuſammenhang zwiſchen der ruſſiſchen Kunſt
und dem ruſſiſchen Intelligententum.
17. Der allgemeine Einfluß des ruſſiſchen Deſpo⸗
tismus auf das nationale Geiſtesleben und deſſen
moͤgliche Befreiung durch die ruſſiſche Kunſt
Wenn wir nunmehr ganz im großen den Einfluß des ruſſiſchen Deſpo⸗
Hismus auf das nationale Geiſtesleben beſtimmen wollen, fo werden
wir jagen müſſen, daß die Kontrolle und Eindaͤmmung des Geiſtigen,
die die ruſſiſche Regierung zu ihrer Selbſterhaltung über das ganze natio⸗
nale Geiſtesleben im Verlaufe von Jahrhunderten ausübte, deſſen eigent⸗
liches organiſierendes Element wurde. Zunaͤchſt einmal in allen mit dem
Geiſtesleben in unmittelbarem Zuſammenhang ſtehenden Einrichtungen
des offiziellen Rußlands: Mittels, Bach: und Hochſchule, alsdann aber auch
im freien Geiftesleben der Nation: inſofern hier die Gegenwirkung gegen
den geiſtigen Druck von ſeiten der ruſſiſchen Regierung in der ruſſiſchen
Intelligenz zu einer Organiſation der gebildeten Geſellſchaft fuͤhrte, wie
ſie leine andere Nation aufzuweiſen hat. Leider hat dieſe Organiſation
in Grundrichtung und Methode ihr Gegenftüd, dem fie ihr Daſein vers
dankt, den ruſſiſchen Deſpotismus, durchaus zum Vorbild: deſſen geiſtige
Taktik führt aber auf die ruſſiſche Kirche zurück. Die ruſſiſche Intelligenz
erweiſt ſich darum für die Entfaltung des freien nationalen Geiſteslebens,
149
vor allem des wiſſenſchaftlichen, als ein noch ſchwereres Hemmnis als die
Zenfur, während ihre Bevormundung der ruſſiſchen Kunſt (da fie note
gedrungen nur deren Stoffliches trifft, ihr Weſentliches aber unberührt
laͤßt) der vordem heimatloſen erft freieſte Entfaltung zu ermöglichen vers
mochte. Die ruſſiſche Kunſt ſcheint dabei allein auf die Dauer die Macht
zu beſitzen, den ſelbſterbauten Geiſteskerker der ruſſiſchen Intelligenz zu
ſprengen und dem ruſſiſchen Denken wiederum freie Bahn zu geben auf
das ganze volle Leben und damit auch Zutritt zu dem einzigen Gebiet,
auf dem ihm Erlöfung werden kann: zur Welt des perſoͤnlich erlebten Sollens
mit ſeinen Geſetzen, die allein zu der Freiheit hinfuͤhren, die kein Ver⸗
laſſenſein bedeutet.
PTITTTITITTEITITITITITTTITHTITTTTTTTTTTTITTTTTTTETTPTTETTTTTTITITLTIOTTITAT HAITI TI ITIIPITIPITITTTTTITITIT III PT EITIT II II 1 777}
150
V
Die Leibeigenſchaft in ihren
Folgen auf das geiſtige Rußland:
Die Inhalte des ruſſiſchen Denkens
1. Die allgemeinen Folgen der Leibeigenſchaft
auf das ruſſiſche Geiſtesleben
Die geiſtige Spaltung der 1 en Nation und die ſchwankende Stellung
der gebildeten ruſſiſchen Geſellſchaft zur europaͤiſchen Geiſteskultur. —
Der Urſprung der „Vorbildlichkeit“ des ruſſiſchen Bauern für den gebil⸗
deten Ruſſen. — Das Vorherrſchen des ſittlichen Urteils in der geiſtigen
Orientierung des Ruſſen. — Die unloͤsliche Verbindung von „ſozial“ und
„ſittlich“ in der Vorſtellung des Ruſſen (als unmittelbare Folge der Leib⸗
eigenſchaft)
Die eier Era ir ſahen: der Übertritt zum Chriſtentum gab dem ruſſiſchen Volle
1 die Moͤglichkeit ſeiner geiſtig ſittlichen Selbſtbehauptung und ge⸗
Bee währte feinem ſelbſtloſen Denken einen ganz beſtimmten Vorſtellungs⸗
—— 2 inhalt. Das Tatarenjoch ſtellt dann die erſte Stufe dar in der durch die
fen Geines- Jahrhunderte gehenden Gewoͤhnung des ruſſiſchen Volkes an den Zwang:
"ur Aus der geiſtigen Anpaſſung an ihn erklaren ſich zunaͤchſt die Denkgewohn⸗
heiten des Ruſſen. Die zweite Urheberin des auf ihm laſtenden Zwanges,
der Deſpotismus, gibt dann dem nationalen Denken im weſentlichen ſeine
Richtungen: in der dogmatiſchen Abwehr jeden Zwanges. Endlich die
dritte Phaſe des auf dem ruſſiſchen Volke laſtenden Zwanges, die Leib⸗
eigenſchaft, verleiht den auf Abwehr des Zwanges hinzielenden nationalen
Denkrichtungen einen ganz beſtimmten Vorſtellungsinhalt. Hier erſt wirkt
der Zwang als volles Erlebnis: das Denken, Fuͤhlen und Wollen des
Ruſſen beſtimmend. Die Leibeigenſchaft bedeutet ſomit nicht bloß im po⸗
litiſchen, vielmehr auch im geiſtigen Leben des ruſſiſchen Volkes eigentlich
das Erlebnis. Sie fuͤhrte unmittelbar zur geiſtigen Spaltung der ganzen
Nation, die bis heute noch in einem ſolchen Maße Tatſache iſt, wie nir⸗
gends ſonſt in der Welt. Und das verleiht wiederum dem ruſſiſchen Geiſtes⸗
leben ein ganz beſonderes Gepraͤge: eine ewige taſtende Unruhe, die eine
unüberbrüdbare Kluft bald wegleugnen, bald uͤberbruͤcken will, und dabei
immer wieder an dem Werte ihres eigenen geiſtigen Weſens irre wird.
Nachdem aber dieſe Spaltung einmal eintrat, wirken alle Schickſale, die
von da ab das ruſſiſche Volk in feiner Geſamtheit treffen, jedesmal in völlig
verſchiedener Weiſe auf jede der zwei Schichten in ihm: vorhandene Rich⸗
tungen beſtaͤrkend oder ihnen entgegenarbeitend. Vor allem hieraus ſtammt
die Vielſeitigkeit der Geſichter Rußlands, die das Entzüden des Künftlers
152
ruſſiſchen Volkes, dem Adel, die Wirkung der Leibeigenſchaft in diame⸗
tralem Gegenſatz ſtehen mußte zu der Wirkung, die das allgemeine rufs
ſiſche Schickſal, der Deſpotismus, auf ihn ausübt: hier war der ruſſiſche
Adlige rechtloſer Sklave, dort unumſchrankter Herr. Nur eine ausnahms⸗
weiſe kruͤftige Intelligenz beſteht vor einem ſolchen Zwieſpalt. Umgekehrt
wirkte auf die ungeiſtige Schicht des ruſſiſchen Volles, die Bauernmaſſe,
der deſpotiſche Druck durchaus in gleicher Richtung mit dem durch die
Leibeigenſchaft erlebten Zwang, gegen den man bereits die geiſtige Wehr
gefunden hatte. Daher das ſittlich Einheitliche der ruſſiſchen Unterſchicht
gegenüber dem geiſtig Zerriſſenen der ruſſiſchen Oberſchicht. Das in diefer,
jener gegenüber herrſchende Schuldbewußtſein disponiert zu ihrer Über:
ſchaͤtzung, und jo kommt es zum eigentlichen Kulturverhaͤngnis Rußlands:
feiner ſchwankenden Haltung vor dem Geiſtigen an ſich: ſeiner ewigen
Neigung, Wiſſen und Bildung an ſich als wertlos, Erziehung als ſchaͤdlich
hinzuſtellen. Der ruſſiſche Gebildete iſt uneinheitlich und ſteht dem durch⸗
aus einheitlichen ruſſiſchen Bauern ſchuldbewußt gegenuͤber, daher bereit
zum Bewundern. So muß er ſchließlich dahin kommen, ihn ſich ſchlecht⸗
hin zum Vorbild zu nehmen, er kann ihm dabei aber gar nicht nachfolgen,
F weil er eben weder ſelber feine geiftigen Bebürfniffe abzulegen, noch tat⸗
ſaͤchlich die Segnungen der Bildung und des Wiſſens nicht einzuſehen ver⸗
ſich — nur eiſern konſequent durchgefuhrt und nicht durch Schlagworte
ſich ſelber verhüllt. Es iſt ja in gewiſſen Schichten der ruſſiſchen Intelli⸗
genz immer noch üblich, dieſes Schwanken vor der Bildung, das tatſäch⸗
Unausgeglichenheit beider, als ein Schwanken zwiſchen der Welt des
eee nahe
Und das iſt ein Selbſtbetrug, und zwar ein durchaus nicht
unſchuldiger, inſofern als mit großer Ungerechtigkeit und naiver Selbſt⸗
gefaͤlligleit
dieſer Antitheſe wie mit logiſcher Notwendigkeit fortgefahren
wird: aus Weſten und Osten wird schließlich Selbſtſucht und Opfermut —
ein Verleumden Europas, das in ſchwachen Köpfen Unheil anrichtet: denn
tatſächlich braucht doch klares Denken gar nicht am Gutestun zu hindern.
153
*
Im Gegenteil: es macht ja erſt, daß das nicht zur Plage und zum Selbſt⸗
betrug wird. Selbſtverſtaͤndlich kommen auch hier Oſten und Weſten gar
nicht in Betracht, die tatſaͤchlichen Gegenfäge find vielmehr Bildung und
Unbildung.
Der Urforuna ber enn ſich dabei in Rußland, wie gefagt, der Ungebildete als harmo⸗
Fe — niſcher erweiſt als der Gebildete, ſo iſt bei aller Anerkennung des
— den ruſſiſchen Bauern, doch das eine immer wieder zu betonen, daß eine Har⸗
monie natürlich um fo leichter ift, je weniger Elemente in Einklang zu
bringen ſind, und daß es dabei ſehr verſchiedene Harmonien gibt, je nach
der geiſtigen Anlage des Harmoniſchen. Wer zum Beiſpiel keine ausge⸗
ſprochen geiſtigen Beduͤrfniſſe hat, den vermag keine Erkenntnis zu er⸗
ſchuͤttern, das heißt zur geiſtigen Umplazierung zu veranlaſſen. Wenn det
weiteren unter Harmonie, und das waͤre das Richtige, Einklang zwiſchen
Erkenntnis und Lebensführung verftanden wird, fo liegt es doch auf der
Hand, daß die Harmonie eines primitiven Menſchen, wie des ruſſiſchen
Bauern, eben in feiner Unwiſſenheit die Möglichkeit findet, und fie natürs
lich nicht taugt für einen Menſchen mit mehr Wiſſen. Das verſteht ſich
natürlich alles von felber, in Rußland haben aber nun einmal manche
handgreifliche Irrtuͤmer ſolchen Verfuͤhrungswert, weil ſie eben ganz be⸗
ſondere Gefuͤhlsbetonung erfahren. Und das iſt faſt durchweg der Fall mit
allem, was an die Leibeigenſchaft erinnert. Sie bedeutet ja dasjenige rufs
ſiſche Schickſal, an das wir inmer zuerſt denken muͤſſen, wenn uns eine
ruſſiſche Erſcheinung raͤtſelhaft vorkommt. In den geiſtigen Organismus
der ruſſiſchen Nation kam mithin eine ganz beſtimmte Unordnung, eine
Art Geiſteskrankheit, die ſich aͤußert in der Unausgeglichenheit zwiſchen
geiſtigem Beduͤrfnis und Wille zu feiner Befriedigung. Tolſtoj erlebte dies
nationale Schickſal in ſeiner Reinheit.
Das Bothertſcen [Ir iſt aber auch darin der geiſtige Repraͤſentant feiner Nation, daß er
— 4 ür alle Erſcheinungen des Lebens eigentlich nur einen Maßſtab kennt:
rn Stage den ſittlichen. Auch dieſer echtruſſiſche Zug geht vornehmlich auf die Leib⸗
eigenſchaft als das ruſſiſche Nationalſchickſal zurüd: fie provozierte immer
und uͤberall das ſittliche Urteil. Und zwar auf beiden Seiten, bei Herren
und Sklaven. Das lag ſchon daran, daß jede geſetzliche Regelung in deren
Beziehungen zueinander fehlte (und wir wiſſen, wie ſehr der Adel dieſe
Lage ſchaͤtzte). Die tatſaͤchlich unbeſchraͤnkte Macht des Herrn über den
Leibeigenen gab aber jeder ſeiner Handlungen den Charakter des perſoͤn⸗
lichen Willens — und fuͤr ihn liegt der Maßſtab eben nur im ſittlichen
154
En 4
* |
Bo * b
r
2
f j
Urteil. Andrerſeits bleibt dem Leibeigenen bei feiner völligen Rechtloſig⸗
keit vor dem Seelenbeſitzer, der daraus entſpringenden abſoluten Un⸗
ſicherheit ſeines Schidfals und der Einflußloſigkeit feines eigenen Handelns
in Hinſicht darauf, nichts anderes als tieriſcher Genuß oder ausſchließliche
Gewiſſenspflege. Die überwiegende Mehrzahl des ruſſiſchen Volkes ent⸗
ſich für tegtere — und fie mußte dann eine folhe Intenſität ers
ſchied
langen, daß ſpaͤter, nach der Befreiung, für den reuigen Edelmann hier
nnn
jenes für fie jo charakteriſtiſche Moment erhielt, daß es auch da, und ges
rade da, mit Vorliebe in Geltung tritt, wo es an ſich inkompetent iſt und
nur die Geiſter verwirren kann, das heißt vor allem auf dem Gebiete der
Wiſſenſchaft und der Kunſt. Auch hier erfindet Tolſtoj nichts: er plaudert
bloß aus, wenn er die Wiſſenſchaft verachtet und als lächerlichen Selbſt⸗
betrug verhoͤhnt, weil fie keine Vorſqriften zum ſittlichen Leben gebe,
oder wenn er an Shakeſpeare (übrigens genau ſo wie Rouſſeau einſt an
Moliere) den rein moraliſchen Maßſtab anlegt und dieſes Himmelsgeſchenk
ſo abtun zu können glaubt. Wer in Tolſtojs Schrift über die Kunſt ein
Prodult der Altersſchwaͤche zu erkennen glaubt, beweiſt nur, daß er Ruß⸗
land nicht kennt: Nie iſt klarer und ehrlicher ausgeſprochen worden, was
die ganze ruſſiſche Intelligenz von der Kunſt haͤlt. Von dieſer Vorherr⸗
ſchaft des moraliſchen Urteils im nationalen ruſſiſchen Geiſtesleben wer⸗
den feine einzelnen Offenbarungen verſchiedentlich getroffen: verhaͤltnis⸗
- mäßig unberührt, nur im Stoffgebiet vielleicht etwas eingeengt, bleibt
W
die ruſſiſche darſtellende Kunſt; an der Wurzel getroffen vom Wurm des
Zweifels und darum in weitem Maße zur Unfruchtbarkeit verdammt die
uſſiſche Wiſſenſchaft; endlich zur hoͤchſten Höhe geſteigert — weil das
Moraliſche hier lediglich als Antrieb dient — die ruſſiſche Dichtung. Wie
bei allen ruſſiſchen Einſeitigkeiten, fo erweiſt es ſich auch hier, mit der Vor⸗
herrſchaft des moraliſchen Urteils im ruſſiſchen Geiftesleben, daß den
Schaden Rußland allein trägt, den Vorteil dagegen Europa einheimft:
Ihm gibt dieſe Betrachtungsweiſe, von der es ſich vielfach in rein tech⸗
niſcher Begeiſterung allzu weit entfernte, eine willkommene und bereits
Außerft fruchtbare Korrektur (und hier verſteht man auch aus maßloſen
155
Be u
Übertreibungen den brauchbaren Kern herauszufinden.) Rußland felber
bleibt aber gerade durch dieſe ſelbe moraliſche Benommenheit allen mehr
techniſchen Anforderungen des geiſtigen und ſozialen Lebens gegenüber
ſo eigentümlich hilflos, befangen in jener echtruſſiſchen Hilfloſigkeit, die
keineswegs in fehlender Gewandtheit beruht, vielmehr in fehlendem In⸗
tereſſe, oder vielleicht beſſer noch im nagenden Zweifel darüber, ob man
ſich hier überhaupt intereſſieren darf. Man kann natürlich auch die Frage
aufwerfen, was früher war: die ruſſiſche Neigung, ausſchließlich in der
Gefuͤhlswelt ſich aufzuhalten, oder das Vorherrſchen des moraliſchen Ur⸗
teils im Ruſſen, das ihn natürlich durchaus auf die Gefuͤhlswelt verweiſt
und in ihr einſchließt.
Die unlösliche enn wir ganz im großen die Einwirkung der Leibeigenſchaft auf das
N ruſſiſche Geiſtesleben in ſeiner Ungetrenntheit ins Auge faſſen, das
— Be des daf beißt unabhängig von der geiſtigen Spaltung, die dieſes Nationalſchickſal
(en (id name in der ruſſiſchen Bevölkerung zur Folge hatte, jo müffen wir uns vor allem
Serena darüber klar fein, daß der Leibeigenſchaft zwei Charaktere eigneten: ein
ſozialer und ein ethiſcher, beide in untrennbarer Verſchmelzung. So treten
denn auch dieſe beiden Elemente: das Sittliche und das Soziale, überall
im ruſſiſchen Geiſte auf. In der Unfaͤhigkeit oder Ungewilltheit des Ruſſen,
beide Gebiete getrennt zu betrachten, beruht einerſeits die eigentliche Ori⸗
ginalität des ruſſiſchen, auf das Soziale gerichteten Gedankens und an⸗
dererſeits die praktiſche Hilfloſigkeit des Ruſſen vor ſeiner eigenen ſozialen
Wirklichkeit: denn das rein Techniſche der Organiſation des menſchlichen
Zuſammenlebens und -wirkens verlangt augenſcheinlich einen Blick für
ſich. Und vielleicht kann dieſer Blick nur aus einer geiſtigen Anſchauung
der ſozialen Wirklichkeit von beiden Seiten her, das heißt aus der objek⸗
tiven Beobachtung der geſellſchaftlichen Tendenzen, erfolgen. In Rußland
aber geht alles ſoziale Denken von dem Geſichtspunkt der notleidenden
Maſſe aus, kann es vielleicht von gar keinem anderen Standpunkt aus⸗
gehen, weil es überhaupt nur in Verbindung mit dem ethiſchen Urteil, von
ihm hervorgerufen, einſetzt. Das Vorherrſchen aber des Sozialen an ſich
im Vorſtellungskreis des Ruſſen, wovon in dieſem Abſchnitt noch ausfuͤhr⸗
lich die Rede ſein muß, fuͤhren wir nicht unmittelbar, nicht ausſchließlich
und uͤberhaupt nur ſo weit auf die Leibeigenſchaft zuruͤck, als ſie in weitem
Maße das ſoziale Elend der großen Maſſen in Rußland, deſſen ftändiger
Anblick den ſozialen Gedanken provoziert, verſchuldete, und auch heute
noch als die Haupturſache der Not des ruſſiſchen Volkes angeſehen werden
156
| Ben Waffe des ruſſiſchen Volkes mögen ſoziale Gedanken bochſtene im
Rahmen religidfen Denkens vorkommen, alſo, wenn man will, im Vor⸗
u .
ee
En. 4
ſtadium oder ſchon in der Vollendung.
2. Die Geſchichte der Leibeigenſchaft in Rußland
er Verlauf in Rußland. — Die wahren Urſachen der ruſſiſchen Bauern⸗
befreiung
evor wir nunmehr auf die ſpeziellen Einwirkungen der Leibeigen⸗ I Verlauf
in Rußland auf Seelenbeſitzer und auf Hoͤrige eingehen, wollen
wir noch einen kurzen Überblick geben über die Geſchichte der ruſſiſchen
Leibeigenſchaft. Wir wiſſen bereits, daß die Leibeigenen urſprunglich nur
die Diener des Zaren ernährten und ſich durchaus bewußt blieben, damit
dem Zaren ſelber zu dienen. Es waren das die Bewohner des Landes,
das der „Dienſtmann“ vom Zaren zum Unterhalt erhielt. Und zwar ur⸗
ſprünglich nur fo lange, als er waffenfaͤhig war. Sogar die Erbfolge, und
immer nur auf den waffenfaͤhigen Nachkommen, ward erſt verhältnismäßig
fpät eingeführt. Urſprünglich konnte der Bewohner ſolchen Dienſtlandes
ruhig ſein Land verlaſſen und war dann aller Verpflichtungen ledig. Nur
ganz allmahlich gelang es den Adligen, die Bauern an das Land zu feſtigen,
mit allen möglichen Mitteln: Vorjhüffen zum Hüttenbau, endlich formellen
Verzichtungsakten der Bauern uſw. Bei dem allen herrſchte noch eine freie
.
Konkurrenz der Gutsbeſitzer untereinander um die Bauern, die immer
wieder zu den Mächtigen hinuͤbergelockt wurden. Dem ward erft von der
neuen Dynaſtie der Romanoffs, die ſich gerade auf den Kleinadel ftügten,
zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Ende gemacht. Dabei blieben aber
die Beziehungen der Gutsbeſitzer zu den Leibeigenen — von einigen ganz
allgemeinen, nirgends befolgten und außerdem nur in Spezialfaͤllen er⸗
luaſſenen Beſtimmungen abgeſehen — durchaus ungeregelt. Die Adligen
widerſetzten ſich hier jeder Einmiſchung der Regierung. Die aber konnte
vorerſt ihre Dienſte noch nicht entbehren. Daraus ergaben ſich eine Reihe
ſchaͤrſſter Widerſpruͤche in der Lage des Leibeigenen: Er war Leibeigener
157
und konnte dabei felber Leibeigene kaufen, und ohne feinen Herrn zu
fragen, auf Jahre hinaus anders wohin zur Arbeit gehen; fein Eigentum
gehörte feinem Herrn, und dabei konnte er ſelbſtaͤndig mit andern, ja mit
feinem Herrn ſelber, Rechtsgeſchaͤfte abſchließen, Zeuge fein uſw. Dabei
ward tatſaͤchlich die Abhaͤngigkeit des Leibeigenen von feinem Herrn eine
immer ſchrankenloſere. Vom 18. Jahrhundert an werden dann dem Leib⸗
eigenen, eines nach dem andern, alle Rechte einer juriſtiſchen Perſon ge⸗
nommen, ohne daß dabei ſeine Beziehungen zum Seelenbeſitzer geregelt
werden. Als endlich, im Jahre 1762, die Kaiſerin Katharina II. die Ad e⸗
ligen vom obligatoriſchen Kriegsdienſt befreite, verlangten augenblicklich
auch die Bauern Freiheit und Land zuruck. Der Standpunkt der Re⸗
gierung, die von mehreren Palaſtrevolutionen her die Hilfe der in den
Petersburger Garderegimentern dienenden Adligen zu ſchaͤtzen wußte, war
aber der entgegengeſetzte: fie hielt von nun an die Leibeigenen für privi⸗
legierten Privatbeſitz der Adligen und verſchaͤrfte deren Rechte über fie,
ohne im uͤbrigen die Beziehungen zwiſchen Seelenbeſitzer und Leibeigenen
irgendwie zu reglen. Das war dann von großer Bedeutung, als die
Leibeigenſchaft endlich aufgehoben ward: denn während überall in Weſt⸗
europa erſt muͤhſam ein Adelsrecht nach dem andern niedergekaͤmpft wer⸗
den mußte, war in Rußland eine tabula rasa, und genuͤgte ein Beberzug,
um dieſe ganze Einrichtung zu bejeitigen.
Die wahren ur- [Cs herrſchen dabei ſehr falſche Anſichten über die Motive, die — den
a Fe Ausſchlag gaben. Tatſaͤchlich lag für den Staat, um feiner Selbſt⸗
befrelung erhaltung willen, unbedingte Notwendigkeit vor: Leibeigenenaufftände
hatten, ſolange die Leibeigenſchaft beſtand, in keinem Jahre völlig gefehlt.
Schon Katharina II. hatte es unverblümt ausgeſprochen: Wenn man den
Bauern die Freiheit nicht gebe, würden fie fie ſich ſelber nehmen. Im
19. Jahrhundert nahmen aber dieſe Aufſtaͤnde derart zu und einen ſolchen
Charakter an (in manchen Jahren acht⸗ bis neuntauſend Fälle, die mit
Ermordung der Gutsherrſchaft verbunden waren), daß die Regierung
ſchließlich fürchten mußte, die Zügel zu verlieren. Alexander II. tat denn
auch den beruͤhmten Ausſpruch: „Es iſt doch beſſer, daß wir das von oben
her tun, als daß es von unten her geſchieht!“ Das iſt der Hauptgrund fuͤr
die Bauernbefreiung geweſen. Ein anderes, ſehr weſentliches Moment lag
noch darin, daß ſie anfing unvorteilhaft zu werden. Als naͤmlich Rußland
Getreide auszuführen begann, bekam der Boden an ſich Wert (waͤhrend
man bis dahin den Grundbeſitz nur nach der Zahl der Leibeigenenſeelen
158
.
4
N
5
berechnet hatte), und da merkten die Gutsbefiger bald, daß fie nur fein»
dar unbezahlte Arbeit von ihren Leibeigenen erhielten: tatſaͤchlich hatte ja
jetzt das Land, das der Leibeigene zu ſeinem eigenen Unterhalt bebaute,
feinen ganz beſtimmten Wert. Ein ſchon unter Nikolai I., im Jahre 1845,
angeftellter Verſuch erwies, daß dort, wo der Boden Wert hatte, alſo im
Suͤdweſten und Suden Rußlands, man mit freien Landarbeitern vorteil⸗
hafter arbeitete als mit Leibeigenen. Es wäre alſo von hier aus die Leibe
eigenſchaft mühelos aufzuheben geweſen — wenn das möglich geweſen
wäre, ohne den Bauern Land zu geben: Daß ſich aber der ruſſiſche Bauer
das nie gefallen laſſen werde, wußte man. So drehte ſich denn der ganze
Kampf im weſentlichen nur um die Frage, wieviel Land den Bauern zu
überlaſſen ſei (das Geld ſtreckte die Regierung den Bauern vor und zog
es ihnen in Raten ab, die bis zum Jahre 1949 zu zahlen geweſen wären,
wenn ſie nicht 1907 aufgehoben worden waͤren). Nun war aber der Boden⸗
wert in Rußland ſehr verſchieden: im Norden ſo gering, daß der dortige
Leribeigene gar nicht vom Landbau, vielmehr von Gewerben in und außer
dem Hauſe lebte, mithin der Zins, den er dem Beſitzer ſeiner Seele all⸗
Jährlich zahlte, tatſäͤchlich eine perfönliche Abgabe darſtellte. Um den Seelen⸗
beſitzer nicht um ſie zu bringen bei der Befreiung, wurde das Land im
Norden von den Bauern uͤberzahlt. Im Süden war es umgekehrt: Dort
war der Boden jo wertvoll, daß die Adligen moͤglichſt wenig davon ab»
treten wollten — ſchon damit der freigelaſſene Bauer durch die Not ge⸗
zwungen werde, wie bisher bei ihnen zu arbeiten und zu jedem Preiſe.
Das Ergebnis war, daß der ruſſiſche Bauer bei der Liquidation der Leib⸗
eigenſchaft zu wenig und zu teures Land erhielt. Die Folge davon war
wiederum der allmähliche Ruin der ruſſiſchen Landwirtſchaft, der ſchließ⸗
lich zu den Agrarrevolten von 1906 und 1907 führte. Damals wurden dann
die Ablöſungsgelder abgeſchafft, und alsdann durch die bekannte Agrars
reform Stolypins die Art gelegt an die vordem fo gehaͤtſchelte Landge⸗
meinde. — So viel über die Geſchichte der Leibeigenſchaft. Zu bemerken
iſt dabei noch als weſentlich, daß bei ihrer Aufhebung reiner Tiſch gemacht
wurde, keinerlei Herrendienſt irgendwelcher Art mehr blieb, viel mehr die
ganze Liquidation in die Hände der Regierung überging.
5 * zur
159
3. Die Einwirkungen der Leibeigenſchaft auf
den Leibeigenen und ihre Nachwirkungen auf den
heutigen ruſſiſchen Bauern
Der religiöfe Grundcharakter des ruffiihen Bauern. (Sein Re⸗
alismus im Gegenſatz zum ethiſchen Aſthetizismus des gebildeten Ruſſen.) —
Das Verhalten des ruſſiſchen Bauern zur Geiſteswelt. — Die geiſtigen
Schaͤdigungen des ruſſiſchen Bauern durch die Leibeigenschaft
fataliſtiſcher Leichtſinn und ſeine nr am Werke der eigenen
nde
Der teligidte ir kommen nunmehr auf bereits oben Geſagtes zurück: die jahr⸗
des ruſſiſchen hundertelang über Rußland herrſchende Leibeigenſchaft hat die ganze
dealer Meat. ruſſiſche Nation in zwei Schichten geſpalten von jo durchaus eigenartiger
— . — — Geiſtesphyſiognomie, daß ein eigentliches Verſtaͤndnis bis jetzt noch aus⸗
Aare geſchloſſen iſt, daß alle nachtraͤgliche Verhimmelung der großen Maſſe
ben durch die ſchuldbewußte Oberſchicht die Kluft nicht zu überbrücken vermag,
und ſich in fie ſchließlich das alte echtruſſiſche Troſt⸗ und Selbſtbetrugs⸗
mittel einniftete, die Flucht in die Myſtik: das Dogma von dem Rätfel der
ruſſiſchen Seele.
Suchen wir uns nunmehr in knappen Zuͤgen die Einwirkung der Leib⸗
eigenſchaft auf die von ihr Betroffenen, auf die Maſſe des Volkes, die
Vorfahren der jetzigen Bauern, klarzumachen. Wir betonten bereits, daß
dieſes Volk ſich dabei geiſtig unabhaͤngig und ſittlich lebendig erhielt, daß
es dies nur vermoͤge ſeiner tiefen Religioſitaͤt und nur mit Hilfe ſeiner
Kirche vermochte, und daß es dabei gezwungen ward, ſein eigentliches
Leben außerhalb der Wirklichkeit: in einer vorgeſtellten Wunſchwelt zu
leben, in welchem Sinne bereits Tatarenjoch und Deſpotismus gewirkt
hatten bzw. noch wirkten. Wir koͤnnen demnach annehmen, daß dieſe Nei⸗
gung des einfachen ruſſiſchen Volkes, ganz ſeiner Innenwelt zu leben,
durch die Leibeigenſchaft noch eine ganz beſondere Staͤrkung erfuhr. Wenn
wir dabei aber dem ruſſiſchen Bauern trotzdem einen dem ruſſiſchen In⸗
telligenten bei weitem überlegenen Wirklichkeitsſinn zuſprechen müͤſſen,
und er auch zweifellos frei iſt von deſſen faſt ſchon grundſaͤtzlichem Aſthe⸗
tentum, ſo liegt das nicht nur in der erziehlichen Wirkung, die hier das
Bauerngeſchaͤft ausuͤben muß, vielmehr wohl vor allem in dem religioͤſen,
altchriſtlichen Charakter, in dem Außerhalb⸗der⸗Wirklichkeit⸗Leben des ruſ⸗
160
ſiſchen Bauern. Tatſaͤchlich lebt er ja auch wiederum innerhalb ihrer, denn
in ihr will er ja die Gebote jener Welt verwirklichen, in der er eigentlich
zu Haufe iſt. Dieſer ſittliche Realismus des ruſſiſchen Bauern unterſcheidet
ihn nicht nur ganz weſentlich von dem in ethiſchem Aſthetentum befangenen
ruſſiſchen Intelligenten, es ift dies überhaupt ein ſehr weſentlicher Zug
an ihm. Der ruſſiſche Bauer kann fi eigentlich gar nichts anderes denken,
Iutionären Propaganda, ſofern fie Gewaltmittel predigt, hat er von jeher
einen ſehr feſten paſſiven Widerſtand entgegengeſetzt.
ruſſiſche Bauer iſt dabei durchaus nicht weltfremd: feine Lebens⸗ Das Bersaiten
erfahrung hat ſich nur auf das praltiſch ·moraliſche Gebiet beſchränkt, Fasel ar
das einzige, was ihm fein Seelenbeſitzer nicht nehmen konnte — und in Gnesen
dieſem Gebiet iſt er wirklich Meiſter. Man könnte daher, ſchematiſch ur⸗
teilend, ſchließen, aus dieſem ausſchließlichen Leben in der moraliſchen
Welt müßte der ruſſiſche Bauer ein Vorurteil gegen die rein geiftige Welt
hegen. Das wird ihm aber tatſaͤchlich nur von übereifrigen Freunden in
der Art Tolſtojs, aus ihrer hilfloſen Reue und aus ihrem eigenen Geſichts⸗
kreiſe heraus, angedichtet. Tatſaͤchlich beweiſt der ruſſiſche Bauer einen
großen Bildungseifer. Die Schule begrüßt er überall mit Freude und Ins
tereſſe. Freilich verläßt ihn auch ihr gegenüber nicht das Bewußtſein ſelner
Lebenserfahrung. Er erlaubt ſich auch da ſein Urteil zu haben. Es iſt ader
unendlich vorſichtiger und ehrfurchtsvoller als das des ruſſiſchen Intelli⸗
genten. Auch ſcheint der ihm darin eine ſeiner Eigenſchaften anzudichten,
wenn er behauptet, der Bauer ſchaͤtze bloß das Wiſſen, das er ſelber un⸗
mittelbar verwerten koͤnne. Viele Erfahrungen ſprechen im Gegenteil da⸗
für, daß ſich der ruſſiſche Bauer, ſchon von feiner Neigung zu religiöſen
Geſpruͤchen her, den Luxus erlaubt, ganz einfach über die Dinge nachzu⸗
denken, weil ſich über fie nachdenken läßt und das Freude macht. Er hegt
ja leine verſpaͤtete Reue, die ihn daran hindert, wie der ruſſiſche Intelli⸗
gent, vor allem der reuige Edelmann. Es ſcheint demnach nicht, daß die
Leibeigenſchaft auf das Geiftesleben des ruſſiſchen Bauern anders ſchaͤdi⸗
gend ein wirkte, als daß fie es eben jahrhundertelang ungepflegt ließ. Seine
geiſtige Empfaͤnglichkeit ſcheint aber ungebrochen zu fein und auf dem
ſicheren Untergrund einer gefeſtigten Moralität zu ruhen. Wenn hier ſyſte⸗
matiſch und weitherzig, ohne irgendwelche doktrinaͤre Nebenabſichten,
11 Mögel, Grundlagen des geifigen Ruplandı 161
geiſtig angebaut würde, könnte ſehr Gutes herauskommen. Jedenfalls ift
das ein ſehr ſolider Geiſtesboden: denn alles Herumzerren von ſeiten der ge⸗
brochenen Geiſter der ruſſiſchen Intelligenz und der verdorbenen Geiſter der
ruſſiſchen Regierung hat kaum irgendwelche weſentliche Spuren hinterlaſſen.
Die geiftigen tuͤrlich konnte ein ſolches Übel wie die Leibeigenſchaft nicht ganz
rn a ohne Schädigungen für den Leibeigenen voruͤbergehen. Sie ſcheinen
Anand date indes bei ſeiner guten ſittlichen Anlage mehr auf hygieniſchem und wirt⸗
a ers ſchaftlichem Gebiete zu liegen, worauf wir weiter unten zu ſprechen kom⸗
(in U Unister men. Selbſtverſtaͤndlich ſcheint es uns dabei, daß die jahrhundertelange
Walde bet cr. Entwöhnung von wirtſchaftlicher Selbſtäͤndigkeit und die Gewöhnung
den Hände) daran, daß die eigene Tuͤchtigkeit das eigene Geſchick nicht beſtimmt, wohl
mit Schuld traͤgt an jener ſorgloſen Unintereſſiertheit am Werk der eigenen
Haͤnde, die uns immer wieder ſo auffaͤllt am einfachen Ruſſen. Auch ſein
Leichtſinn erklaͤrt ſich aus der Leibeigenſchaft. Er mußte geradezu als da⸗
ſeinserhaltende Geiſteshaltung großgezuͤchtet werden bei einem Menſchen,
der jeden Augenblick feines Lebens von der unberechenbaren Laune eines
andern abhängt. Schließlich kann auch der oft verblüffend ſichere, einen
überaus feinen pſychologiſchen Blick verratende Takt des ruſſiſchen Bau⸗
ern, der ſich vor allem aͤußert in ſeiner großen Kunſt zu gefallen, auf die
Notwendigkeit zurüdgeführt werden, die Seelenregungen des allgewal⸗
tigen Seelenbeſitzers zu erraten, um ſich vor ihm einigermaßen zu behaup⸗
ten. Indes erleben wir bei allen dieſen vermeintlich durch die Leibeigen⸗
ſchaft angezuͤchteten, in der Regel als Minderwertigkeiten bewerteten
Eigenſchaften des ruſſiſchen Bauern (ſeinem Leichtſinn, ſeiner Kunſt zu ge⸗
fallen, feiner Unterwürfigkeit uſw.), die wundervolle Überrafhung, daß
ſie in ihren Außerungen meiſtens den unmittelbaren Bezug auf den per⸗
ſoͤnlichen Vorteil vermiſſen laſſen. Der Leichtſinn des Ruſſen traͤgt ſehr
deutliche Spuren von einem aufrichtigen Gottvertrauen an ſich und iſt mit
großer Güte für den Naͤchſten verbunden; feine Kunſt zu gefallen äußert
ſich genau ebenſo dort, wo es ihm gar nichts einbringt, muß alſo doch wohl
auf Menſchenfreundlichkeit zuruͤckgehen. Und ſchließlich feine Demut be⸗
weiſt ſchon dadurch ihren religioͤſen Urſprung, daß fie Hand in Hand geht
mit Unerſchuͤtterlichkeit des ſittlichen Urteils. Es liegt — wir müfjen das
immer wieder betonen — in den ruſſiſchen Kulturſchickſalen ſehr viel Para⸗
bores. Was andern Voͤlkern zum Fluch gereicht, ſehen wir Rußland immer
wieder zum Segen werden, und wiederum was Rußland ein Hemmnis iſt,
wird Weſteuropa durch Rußland zur notwendigen Kulturkorrektur. Und ſo
162
koͤnnen wir auch ſagen, daß die Leibeigenſchaft, bei unermeßlichen Schaͤdi⸗
gungen körperlicher und wirtſchaftlicher Art, die fie dem ruſſiſchen Volke
zufügte, doch im weſentlichen dazu beitrug, feine geſunde tiefe Religiofität
zu feſtigen und fo einen Geiſte untergrund zu ſchaffen, auf dem ſich
Kulturrußland aufbauen kann und wird.
4. Die Einwirkungen der Leibeigenſchaft
auf die Seelenbeſitzer und ihre Nachwirkungen
| auf den gebildeten Ruſſen von heute
t — e Korruption der Seelenbeſitzer und ihrer Na
or truffifche Verhalten zum Andersgeſinnten.) —
Korruption der Seelenbeſitzer und ihrer Nachtom⸗
Vorſtellung von einem Verfuͤgungsrecht des Men⸗
Be: )— Die che .
itzertums ), und die ſittliche
des — 1 W Volkes: a Geſchichte der a ——
eit der gebildeten Geſellſchaft in
— e — tzertumt). — Der mangelnde kin —
en für das Verpflichtende der Gedanken untereinander (als
Erbſchaft des Seelenbeſitzertums)
andert verhält es ſich mit den Herren der Leibeigenen, den Seelen⸗ Die aadtgnae
Die in ihrem Geiſtes⸗ und Seelenleben angerichteten Verein Ver —
wüſtungen wirken noch heute in ihren Enkeln und Urenkeln fort und find aaa
dort dem etwas aufgeklaͤrten Blick ohne weiteres erkennbar. Das ergibt Das care
ſich aus der Natur des Menſchen: kein Menſch kann unumſchraͤnkte Macht Nndersgeinnten
ausüben über ſeinesgleichen, ohne auf die Dauer Schaden zu nehmen an
der eigenen Perſönlichkeit: Ganz im allgemeinen wird jo die Selbſtkritik
zerſtört: eine Vorſtellung von dem Werte der eigenen Perſon erzeugt, die
des zureichenden Grundes entbehrt und ſchließlich gar nicht mehr nach
ihm ſucht. Und das ſowohl in rein geiſtiger wie in ſittlicher Hinſicht. Ein
Menſch, der über das Schickſal vieler Hunderter, ja Tauſender ſeiner Mit⸗
menſchen durchaus nach freiem Exmeſſen verfügt, und dem dabei nach
Möglichkeit feine Jehlgriffe verborgen werden (weil alles darauf ankommt,
ihn bei guter Laune zu halten), ein ſolcher Menſch kommt ganz von ſelber
dazu, ſich eine Art Allweisheit zuzuschreiben: eine Art Unfehlbarkeit in
menſchlichen Dingen. Das wird natürlich auch noch großgezuͤchtet von der
1· 163
ganzen Umgebung: denn der Gutsbeſitzerhof (dem Deſpotenhof nachge⸗
bildet: mit ſeinen verſchiedenen Abſtufungen von Abhaͤngigkeit voneinan⸗
der, bei allgemeiner Abhaͤngigkeit von dem Einen: wobei alles darauf
lauert, ſei's auch den kleinſten materiellen Vorteil auf Koſten feines Nuͤch⸗
ſten zu erlangen, und ein jeder ſein geſchlagenes Selbſtbewußtſein durch
brutales Knechten anderer zu heilen ſucht), war natürlich die vollkommenſte
Einrichtung zur Züchtung des Groͤßenwahns — bei dem einen Herrn.
Im hoͤheren Sinne war das Opfer der Leibeigenſchaft — der Seelen⸗
beſitzer. Seine geiſtige Verkrüͤppelung war Naturnotwendigkeit. Sie wirkt
fort in feinen Enkeln. Denken wir hier an alles das in den Außerungen det
geiſtigen Rußlands, was uns bald wie fabelhafte Anmaßung, bald wie
ſchon unerlaubte Naivetät anmutet: an jenen immer wieder fo verblüffenden
Widerſpruch zwiſchen Sachkenntnis und Sicherheit des Urteils, der die
ganze ruſſiſche Publiziſtik kennzeichnet, denken wir an die perſoͤnliche Ent⸗
ruͤſtung dem ſachlichen Gegner gegenüber und die Leichtigkeit, mit der fie
bis zu deſſen Verdaͤchtigung und Verleumdung fortſchreitet. Das alles ſind
geiſtige Überbleibſel des Herrenbewußtſeins aus der Leibeigenenzeit: Wis
derſpruch der Leibeigenen galt ja damals als das ſchlimmſte Verbrechen.
Der Seelenbeſitzer hatte das Recht, ſeine Hoͤrigen nach Sibirien zu ſchicken
„wegen unertraͤglicher Frechheit“! Auch findet ſich im Gutshofe des
19. Jahrhunderts eine regelrechte Folterkammer für ſolche Fälle. Das
alles läßt Spuren zuruck im Geiſte. Von hier aus verſtehen wir denn auch
die ganze Unmoͤglichkeit des bekehrten Tolſtoj in ſeinen theoretiſchen Pro⸗
phetenſchriften: fie find ganz durchweht von einem derartig wuͤtenden
perſoͤnlichen Haß gegen den wirklichen und vermeintlichen Gegner, ein
Haß, der unaufhoͤrlich zwiſchen unerlaubten Sophismen und unerhörten
Verdaͤchtigungen und Verleumdungen hin und her ſchwankt — und das alles
im Namen der Liebe! —, daß man das gar nicht anders erklaͤren kann, als
daß Tolſtoj in ſeinen Gegnern widerſprechende Leibeigene erblickt — deren
bloßer Widerſpruch bereits als ein Verbrechen galt. Tolſtoj iſt hier aber
nur typiſch. Es waͤre endlich einmal an der Zeit, bei aller Ehrfurcht vor
der Aufrichtigkeit ſeines Strebens doch das Tiefunſittliche ſeiner Propa⸗
gandaſchriften in der Behandlung des Gegners, und das Tiefkorrumpierte
ſeines Geiſtes im Verhalten zu Wahrheit und Logik kraͤftig bei Namen zu
nennen — damit das Gift nicht unter der Maske der Menſchenliebe weiter⸗
ſchleiche !. Tolſtoj iſt hier nur der Typ. Verdaͤchtigung der Gegner, Sophis⸗
1 Vgl. mein Buch: „Das heutige Rußland“
164
men und unbegreifliche logiſche Schnitzer find die natürlichen Sadgafjen
jedes Lehrers, der dem Gegner von Haufe aus — aus außerhalb der Streits
frage liegenden Gründen heraus — Unrecht geben will: nicht wegen feiner
ganz beſtimmten, der eigenen entgegengeſetzten Anſicht, vielmehr, weil er
überhaupt eine ſolche hat. Der disputierende Hochmut wird immer ſo⸗
phiſtiſch fein und verbächtigen. Denken wir jetzt an die große Rolle, die
der Edelmann, der Gutsbeſitzersnachkomme, im ruſſiſchen Geiſtesleben
fpielen muß — bei der Armut der Maſſe und der darum in Rußland noch
immer fo engen Abhangigkeit der Bildung vom Geld —, fo wundert man
weder über die Polemik Katkoffs, der immerhin noch etwas Talent
ſeiner Arroganz und ihn ſelber fo beglüdenden Ignoranz verband,
über die Reden gewiſſer ruſſiſcher Miniſter, noch Über die Roheiten
echtruſſiſchen Leute der Duma, noch über den Revolderſtil der revos
lutionären Publiziſtik. (Letztere ſtimmt übrigens derart im Ton mit Tol⸗
ſtojs theoretiſchen Schriften überein, daß man ganze Seiten dahin uͤber⸗
nahm — mehr verhetzen und verleumden kann man ja nicht.) Das alles
iſt nachwirkende Korruption des Seelenbeſitzergeiſtes. Ihr Weſen liegt
darin, daß fie den zureichenden Grund in geiſtigen Dingen in der perſoͤn⸗
lichen Überlegenheit (aus rein phyſiſcher Macht wird naturlich im Hand⸗
umdrehen geiftige Überlegenheit) über den Gegner findet. Und das iſt ein
menſchlich jo verführender Denkirrtum, daß er ſehr ſchwer wieder auszu⸗
treiben iſt.
haben wir die rein verftandesmäßige Seite der geiſtigen Kor⸗ Die grundiästie
ruption des Seelenbefigers umſchrieben. Sie ift verhältnismäßig noch das ver Serien
die harmloſeſte. Viel ſchlimmer mußte feine moraliſche Verkrüppelung fein, dere und dee
Das ſeeliſch Vergiftende lag für den Seelenbeſitzer ja ſchon darin, daß die Die auraſhta⸗
freie Verfügung über Mitmenschen, das Bewußtſein ihrer abfoluten Abs cam Tee.
hängigkeit von feiner Perſon, in feiner Vorſtellung unloslich verbunden tan der
war mit dem Gedanken an fein rein materielles perfönliches Intereſſe. den Werten
An ſich iſt das eine unmoͤgliche Verbindung: denn beide Vorſtellungen
gehen in ganz verſchiedenen Seelenſphaͤren vor ſich: drängt man fie in
eine zuſammen, fo leidet natürlich die tiefere, feinere. Das Hauptergebnis
dieſer durch die Jahrhunderte gehenden falſchen Einſtellung auf die Mit⸗
menſchen in der Vorſtellung der Klaſſen, die allein die Möglichkeit zur
Bildung in Rußland hatten, iſt wohl ganz im allgemeinen die hier unaus⸗
rottbare Vorſtellung von einem Verfügungsrecht des Menſchen über den
Menſchen. Kein Lager im geiſtigen Rußland verzichtet darauf, am wenig⸗
165
|
ſten das freiheitliche, das revolutionäre Lager. Das angemaßte Recht des
Menſchen auf den Mitmenſchen an ſich anzugreifen, kommt keinem Ruſſen
in den Sinn: Seine Erlaubtheit hängt lediglich von den Zwecken ab, in
deren Intereſſe uͤber den Mitmenſchen verfuͤgt wird. Er kann aber nicht
nur zu feinem Heile gezwungen werden, er muß es fogar. Hier ſtehen wir
an der eigentlichen geiſtigen Scheidewand zwiſchen Europa und Rußland:
Es fehlt der Begriff der freien Perfönlichkeit des Menſchen. Der Menſch
iſt überall in Rußland Mittel: für die Regierung ſelbſtverſtaͤndlich Mittel
zur Ausbeutung, für die Kirche zum Befolgen ihrer Gebote, für die rufs
ſiſche Intelligenz zum Bejahen ihrer Doktrinen und Dogmen, für die rufe
ſiſchen Revolutionäre vollends iſt der Menſch bald Kanonenfutter, bald
Teil eines in Zukunft zu Begluͤckenden. Der freie Menſch, der ſich ſelber
beſtimmen will, iſt noch heimatlos in Rußland. Er haͤtte vielleicht eine
Heimat gefunden, wenn nicht durch die Jahrhunderte hindurch der fuͤh⸗
rende ruſſiſche Menſch — der Adlige — gewoͤhnt geweſen waͤre, ſeine Mit⸗
menſchen auszubeuten zu ſeinem Unterhalt. Am eheſten wird der Begriff
der perſoͤnlichen Freiheit noch vom ruſſiſchen Bauern Rußland gebracht
werden. Tatſaͤchlich iſt er jetzt ſchon in feinen Prachtexemplaren der freiefte
Menſch auf ruſſiſcher Erde. Denn er haͤlt ſich an die Geſetze, die er ſich ſelber
gab, mag er auch glauben, daß ſie ihm die Kirche vorſchrieb: er billigt ſie,
und deshalb iſt er innerhalb ihrer frei: Über feine eigentliche, feine ſitt⸗
liche Perſon verfuͤgt er ſelber —, waͤhrend alle andern Schichten des gei⸗
ſtigen Rußlands ſich nur dem Inhalt und der Art ihrer Herbeiführung
nach verſchiedenen und durchweg dogmatiſchen Vorſtellungen vom Heile
der ganzen Menſchheit unterwerfen, und das heißt natürlich der Perſon
ihrer Deuter und Huͤter.
Die geſolea tuch as iſt die grundſaͤtzliche Verderbnis, die das geiſtige Rußland durch
—— Vererbung vom Seelenbeſitzer übernahm. Zu erwähnen find aber
lichen Hefen auch noch, als gleichfalls noch ſehr bemerkbar im heutigen Rußland, einige
fihaft (ale Erb-
fehaft des Seelen hier entſpringende Einzelzuͤge ſittlicher Verwilderung. Grundſaͤtzlich war
22 d beim Seelenbeſitzer eine ſittliche Selbſtkritik faſt unmöglich gemacht, weil
baden rasta ia feine ganze Exiſtenz auf unſittlicher Grundlage beruhte: auf der Aus⸗
— he - beutung feiner Mitmenſchen durch phyſiſche Gewalt. (Etwas aͤußerſt Be⸗
dan Betr huſſames in der ruſſiſchen Selbſtkritik, ſobald ſie auf eine gewiſſe Tiefe
on stößt, ſtammt zweifellos hierher.) Aber ſelbſt eine relative Selbſtprüfung
war wenigſtens aufs Außerfte erſchwert. Jedenfalls wurde dem Seelen⸗
beſitzer ſchon dann von ſeinen Leibeigenen aufrichtige Dankbarkeit und
166
„wenn er nur nicht feine Macht über fie dazu nutzte,
ohne Nutzen für ſich ſelber (die Ausbeutung ging dabei faſt
bei den — Seelenbeſitzern wie zum Beiſpiel
weit über die Grenze hinaus, die ein klug verſtandenet
Gutsbeſitzerintereſſe erfordert hätte: Raubwirtſchaft war und iſt ſtets un⸗
trennbar von Hoͤrigenwirtſchaft). Das mußte ihn zu der Verſtellung von
fittlichen Verdienſten führen, die tatſaͤchlich nicht vorhanden waren. Einem
ſo erſchlichenen ſittlichen Selbſtbewußtſein eignet es aber, daß es die Vor⸗
ſtellung nicht aufkommen läßt davon, daß ſittliche Werte erworben werden
1
. müſſen, daß man ſich überhaupt zu erziehen hat: Wozu denn das, wenn
man fo ſchon, einfacher Gutmütigkeit oder auch nur Bequemlichkeit nach⸗
gebend, derartige Verdienſte erwerben kann? Das wirkte aber hier noch
dadurch beſonders verhaͤngnisvoll, daß den Verſuchungen, die den Seelen⸗
beſitzer umgaben, ſchon an ſich nur ein ſehr ſtarkes Maß von Selbſtzucht
gewachſen geweſen wäre. Wo follte das aber herkommen? Die Folgen
waren denn auch fuͤrchterliche. Es riß eine geſchlechtliche Verwilderung ein,
von der wir uns keine Vorſtellung mehr machen. Die Harems der Seelen⸗
beſitzer mit ganzen Scharen Unerwachſener, ja verfuͤhrter Kinder, ſeien
bier nur erwähnt; nur erwahnt fei, daß das Herrenſoͤhnchen mit fünfzehn
Jahren „aus Geſundheitsgruͤnden“ ein Bauernmaͤdchen zugeführt bekam.
Ganz im allgemeinen mußte es ſich die Leibeigene als Ehre anrechnen,
ihrem Herrn zu gefallen. Aber auch hier iſt der Schaden in für Rußland
fo charakteriſtiſcher Weiſe auf ſeiten der Opfer fo viel geringer, als auf
ſeiten der Genießer, daß man wiederum faſt in Verſuchung kommt, von
einem Segen der Sünde zu ſprechen für den, an dem fie begangen ward.
Tatſͤchlich hat ſich im einfachen ruſſiſchen Volk, deſſen Mädchen jahr:
hundertelang wehrlos den unbeherrſchten Lüften der Seelenbeſitzer aus⸗
geſetzt waren, die Vorſtellung ausgebildet, daß Geſchlechtsehre etwas iſt,
was ſich nur der Reiche erlauben darf, daß jedenfalls hier der Zwang,
auch der der Not, entſchuldigt, und die Seele eigentlich gar nichts damit
zu tun hat. Überall ſonſt würde eine ſolche Anſchauung zur ſittlichen Ver⸗
wilderung führen. In Rußland ganz und gar nicht: die Sittlichkeit auf
dem ruſſiſchen Dorfe iſt eine wahrhaft bewundernswerte: wie es ſcheint,
der weſteuropaͤiſchen Dorſſittlichkeit durchaus überlegen. Auch in der Stadt
halt ſich der ruſſiſche Bauer, ſelbſt wenn er, wie der ruſſiſche Arbeiter faſt
in der Regel, von der Familie getrennt lebt, im großen und ganzen vor⸗
zuglich. Das einzige, woraus auf eine ſolche Anſchauung von der Geſchlechts⸗
167
ehre als einem Luxus der Reichen im einfachen ruſſiſchen Volke geſchloſſen
werden muß, und wo ſie ſich tatſaͤchlich aͤußert, ift bei den ruſſiſchen Pro⸗
ſtituierten, die ſich an einfach menſchlichem Benehmen auf das Aller⸗
vorteilhafteſte von den weſteuropaͤiſchen unterſcheiden (freilich find fie auch
faſt durchweg unmittelbar aus der Armut hervorgegangen). In Rußland
gibt es wirklich noch in weitem Maße ein unſchuldiges Laſter. Ein Laſter,
das ſich ſelbſt verzeiht, und durchaus nicht das ſittliche Selbſtbewußtſein
derjenigen laͤhmt, die es ausübt. Daß ſolches uberhaupt möglich iſt, erfährt
man erſt in Rußland. Wir erinnern nur daran, daß eine ruſſiſche Pro⸗
ſtituierte für unnatuͤrliche Dinge für kein Geld zu haben iſt, weshalb die
„vornehmen“ öffentlichen Haͤuſer in Rußland zu Ausländerinnen ihre Zus
flucht nehmen muͤſſen. Das iſt eine durchaus hoffnungsvolle Tatſache und
gibt ſehr zu denken uͤber das Weſen der Sittlichkeit im allgemeinen. Im
beſonderen ſtehen wir, wenn wir den Beziehungen nachgehen zwiſchen
Leibeigenſchaft und Proſtitution, wiederum vor der fuͤr Rußlands Kultur⸗
ſchickſal fo bezeichnenden Tatſache, daß das, was überall ſonſt nur ver⸗
wuͤſtet hätte, hier, im einfachen ruſſiſchen Volke, ſogar noch eine Tugend
hervorbringt, ja ſogar eine ſittliche Anpaſſung an ein unvermeidliches
Kulturuͤbel moͤglich macht, dieſes mithin in weitem Maße ſeiner ſchaͤdlichen
Wirkung beraubt. Eine rein aͤußerliche Beeinfluſſung der ruſſiſchen Pros
ſtitution durch die Leibeigenſchaft muß wohl noch erblickt werden erſtens
einmal in ihrem außerordentlichen Umfang, namentlich in den großen
Städten Rußlands (in Moskau mäßig geſchaͤtzt 40000 „Dirnen “), ferner in
der ſehr großen Rolle, die die Minderjährigen, ſogar richtige Kinder, dort
ſpielen, und endlich in den raffinierten, verhältnismäßig koſtſpieligen For⸗
men, in denen fie ausgeuͤbt wird (hauptſaͤchlich in den Badehaͤuſern und in
den Abſteigequartieren, in welch letzteren — aber nur für Paare — kein Paß⸗
zwang herrſcht, wie ſonſt uͤberall in Rußland). Alles dies läßt nur den einen
Schluß zu auf eine außerordentliche ſittliche Haltloſigkeit und Verdorben⸗
heit innerhalb weiter Kreiſe der zahlungsfaͤhigen ruſſiſchen Geſellſchaft —
und auf faft völliges Fehlen des Proſtitutionsbeduͤrfniſſes beim niederen
ruſſiſchen Volke. Hier wirkt direkt vererbte Zuͤgelloſigkeit des Seelen⸗
beſitzers ebenſo wie deren korrumpierendes Beiſpiel. Dieſe Folge der ſitt⸗
lichen Verderbtheit des Seelenbeſitzers, die eine foͤrmliche Tradition in der
1 Dal. meine Speyialftudien: „Öffentliche Häufer in Rußland“ und Mostauet Pro:
r Zeitſchrift zur Bekaͤmpfung der Geſchlechts krankheiten. Jahr:
gang
168
az 1
Sittenloſigkeit ſchuf, wird wohl ſehr ſchwer auszuſtoßen fein vom ruſſiſchen
Sieſellſchaftekörper. Hier hoffen wir wiederum auf das Aufkommen des ein⸗
ſchen ruſſiſchen Volkes, das ſich — wie wir bereits betonten — auch in der
SGBroßſtadt, alles in allem genommen, ſittlich geſund und wohlanſtaͤndig hält.
erweiſt ſich die Erziehung zur Unerzogenheit, die der von den Die —
beſitzern abſtammende Teil des ruſſiſchen Volles im Laufe der za Geeks
Jahrhunderte erfuhr, auch anderwaͤrts als auf dem Gebiete der Geſchlechts⸗ ag (al
moral. Wir wieſen ſchon weiter oben hin auf die Allmacht der Laune im Errientefiger-
tuſſiſchen Leben. In der Leibeigenſchaft haben wir jedenfalls eine ihren!
tieferen Wurzeln vor uns. Der kulturelle Schaden, der hierdurch — durch
die ſoziale Unerzogenheit — Rußland erwuͤchſt, ift kaum zu ermeffen. Der
> Schwerpunkt dürfte dabei darauf fallen, daß fo die deſpotiſche Regierung
immer wieder Stoff findet einerſeits zu realen Verdienſten, andererſeits zu
berechtigter Kritik der geſellſchaftlichen Eigentätigfeit. Rußland ſchreit nun
einmal geradezu nach dem Schulmeiſterſtock — und das Tragiſche iſt, daß es
fi dabei durchaus berufen fühlt, die Welt vom Schulmeiſter zu befreien.
chließlich möchten wir noch von den Schädigungen, die der ruſſiſche Der mangelnde
Seelenbeſitzer erfuhr, uͤbergehend zu den bloßen Eigentümlichkeiten, ern
die ihm durch feine Lage wurden, auf eine bereits erwähnte Denkgewohn⸗ dane ker e.
heit des Ruſſen hinweiſen, die gleichfalls beim Seelenbeſitzer gezüchtet zu a BE
fein ſcheint. Eigentlich handelt es ſich dabei um zwei Dinge, die aber im ereichen des
engſten Zuſammenhang miteinander ſtehen. Ich meine einmal die Faͤhig⸗ S
leit des ruſſiſchen Denkens, fi auf weiteſten Lebensbahnen zu be⸗
wegen, ohne auch nur die naͤchſten Verpflichtungen aus ſich für dies Le⸗
ben ſelber abzuleiten — und wohlgemerkt handelt es fi gerade um ſolche
Gedanken, die unmittelbar auf das praktiſche Leben Bezug haben. Daraus
ergibt ſich dann immer wieder der — ebenfalls bereits erwähnte — ſelt⸗
ſame Zuſammenhang, daß der ruſſiſche Denker ſo oft unterwegs, nur ſo
nebenbei, auf den Gedanken ftößt, der feine eigentlichen Vorausſetzungen
und damit den ganzen bisherigen Gedankenbau über den Haufen wirft,
und daß dann der ruſſiſche Denker das gar nicht bemerkt, dieſen unange⸗
nehmen Gedanken vielmehr mit einer oberflaͤchlichen Ablehnungsbewegung
verabſchiedet. (Auch hier iſt Tolſtoj typiſch: „Auf diefe Plattform ftelle ich
mich nicht“, pflegt er in ſolchen Fällen zu fagen.) Dieſer, ſagen wir
Hang zum Abſtrakten im konkreten Gedanken, einer der weſentlichen Züge,
die uns die ruſſiſche Publiziſtik ſo ungenießbar machen und uns kaum
eigentliche Werte in ihr erblicken laſſen, iſt typiſches Seelenbeſitzerdenken.
169
„ r u. Da
u K 8
1
Er ſtammt nachweisbar aus der Zeit der Aufklaͤrung — zu Ende bes
18. Jahrhunderts, als ſich der ruſſiſche Adlige mit den großen Fragen der
Menſchenrechte zu beſchaͤftigen begann. Er mußte ſich dabei naturgemäß
größter Vorſicht befleißigen, um nicht gleich von Anfang an, und dann
auf Schritt und Tritt, auf die grundfägliche Verletzung der Menſchenrechte
zu ſtoßen, auf der und von der er lebte. Das wird dann mit der Zeit zur
Denkgewohnheit, die man ſchwer wieder aufgibt. Aber — und das läßt
die Sache in weniger abſtraktem Lichte erſcheinen — es bildete ſich ſo, in
der Beſchaͤftigung mit dieſer entmannten Aufklaͤrung, ein geiſtiger Wider⸗
ſtand gegen jede wirkliche Aufklaͤrung, die die Axt hätte legen koͤnnen an
die Wurzel der Leibeigenſchaft. Mehr noch — es beſtaͤrkte ſich ſo der
Glaube, daß von hier aus, aus rein geiſtigem Gebiete, überhaupt keine
Widerlegung der Leibeigeneninſtitution moͤglich ſei. So kommt der eigent⸗
liche Geiſtestyp des ruſſiſchen Seelenbeſitzers zuſtande: Die rein geiſtige
Sphaͤre iſt in ihm unvereinbar getrennt von der praktiſch⸗gedanklichen,
und in der erſcheinen die Vorſtellungen von dem eigenen wirtſchaftlichen
Vorteil untrennbar vereint mit der Vorſtellung vom Mitmenſchen.
Der Kampf gegen die Leibeigenſchaft
als eigentlicher Inhalt der klaſſiſchen
ruſſiſchen Literatur.
Der ruſſiſche Dichter und die Leibeigenſchaft. — Puſchkin und Lermontoff.
— Diel tler Gogols. — ee eor " Ba reuige Edelmann.
— Tolſtoj als Sozialäfthet. — Der Sozialtheoretiker 1. — Das
Schuldproblem als eigentliches Problem der ruſſiſchen Dichtung. — Der
ruſſiſche Dichter als berufener Anwalt der Unſchuld des Menſchen. — Das
Schuldproblem bei Tolſtoj. — Das Schuldproblem bei Doſtojewfki
N egen dieſes ganze Syſtem von geiſtiger Unmoralitaͤt im rein menſch⸗
beideigenſcaf lichen Sinne — die von der damals einflußreichſten Klaſſe ausgehend
das ganze geiftige Rußland beherrſchte — hatten nun die berufenen Freunde
des ruſſiſchen Volkes, und das heißt die beruflichen Todfeinde der Leib⸗
eigenſchaft, die ruſſiſchen Dichter, Sturm zu laufen. In der Allmacht dieſer
Wahnvorſtellungen, denen ſelbſt der ruſſiſche Dichter als ſozialeingereihter
Menſch von Hauſe aus mit unterlag, lagen aber gewaltige Hemmniſſe
gegen ihre Erkenntnis. Und wenn dieſe auch intuitiv uͤberwunden wurden
170
— denn die Dichter find immer die fünften Denker geweſen —, fo ge:
hörte doch ein geradezu prophetiſches Selbſtbewußtſein dazu, die eine
eigene Erkenntnis gegen den Irrtum aller auch nur bei Namen zu nennen.
Solches Prophetenſelbſtbewußtſein braucht aber laͤngſt nicht immer mit
wahrem Dichtertum verbunden zu ſein. Das haͤngt vielmehr in hohem
Maße mit dem Selbſtbewußtſein des Dichters als Menſchen zuſammen,
und das iſt wiederum abhängig von feinem ſozialen Eingereihtſein. Je
hoher die ſoziale Schicht, aus der ein Dichter ſtammt, um fo eher wird er
den Mut finden, ſich dem Urteil der Maſſe entgegenzuſtellen. Der ruſſiſche
Dichter aus den hoͤchſten Kreiſen war aber gerade dieſem Hauptübel feines
Volkes gegenüber ganz beſonders befangen. Nehmen wir an, daß er die
materiellen Urſachen feiner Befangenheit überwand — und das tat er
| wohl ſtets —, fo find doch die feineren, auf reinen Pietätsmomenten bes
ruhenden Widerftände gegen die Erkenntnis der Unhaltbarkeit der Leib:
eigenſchaft gerade für den ſchon von Beruf Feinfuͤhligen um jo ſchwerer
zu überwinden. Damit haben wir denn auch ſchon in großen Zügen das
Schickſal des Leibeigenſchaftsproblems in der ruſſiſchen Dichtung. Es ward
deren eigentlicher Gegenſtand, ſobald nur eben die wirklich nationale Dich⸗
tung in Rußland anhebt: die Dichtung, die weder einer außerhalb ihrer
ſtehenden Macht dient, noch unter dem verſklavenden Einfluß einer nicht
vor ihr geſchaffenen Form ſteht, die Dichtung, die niemandem untertan,
aus innerem Zwang und zur eigenen Luſt frei das Erlebnis geſtaltet vom
heimiſchen Menſchen und von der heimiſchen Gotteswelt.
ieſe eigentliche nationale ruſſiſche Dichtung ſetzt mit Puſchkin ein. Er Putatin and
Neuland vor ſich und ſchwelgte nur ſo in der ruſſiſchen Welt,
ohne indes je die Verpflichtungen vor ihr zu vergeſſen. Jene hohe Ehr⸗
furcht vor der Wirklichkeit, die den ganz großen Kuͤnſtler auszeichnet und
ihn zeitlebens in der demütigen Stellung eines ewigen Studenten ver⸗
harten läßt vor dem Leben in feiner ganzen Fülle, verwehrte es dieſem
begnadeten Dichter, irgendwo Partei zu nehmen. Das wird ihm bis auf
den heutigen Tag verargt, brachte ihn zeitlebens in unmoͤgliche Lagen und
führte fein frühes, gewaltſames Ende herbei. Und doch hatte Puſchkin recht.
Was konnte er dafür, daß die ruſſiſche Wirklichkeit noch nicht einen Dichter
zu ertragen vermochte und ſich dafür raͤchte an ihm? Aber ſelbſt bei fo
univerfalem Blick konnte der Begründer der ruſſiſchen Dichtung nicht völlig
den Zuſammenſtoß mit der nationalen Hauptſchuld: der Leibeigenſchaft
vermeiden. Sie hielt ihn gerade nicht auf, er ließ aber nur fo im Voruͤber⸗
171
ſchreiten, mit der Freiheit, die er ſich überall nahm, wo es ſich um feine
Menſchen handelt, einige ſehr bittere Worte über fie fallen („Dort wachſen
Mädchen heran für die Luͤſte der Gutsherren“ — heißt es in dem be⸗
ruͤhmten Gedicht „Heimaterde “), und das ſoll mehr wie alles andere den
inſtinktiven Haß des Hofpoͤbels geſchuͤrt haben, der ihn zu Tode hetzte.
Lermontoff, Puſchkins Raͤcher und Nachfolger, erreichte ihn nicht an welt⸗
umfaſſendem Blick. Dafuͤr war er aber empfindlicher für die geiftigen Feſ⸗
ſeln ſeines Vaterlandes. An ihnen ruͤttelnd rieb er ſich auf. Im Kampfe
gegen ſie ahnte er den eigentlichen Weg zur Reform. Auch er bereitete die
Geiſter zu ihr vor. Er ſtarb aber viel zu früh und eines gewaltſamen Todes
wie Puſchkin. Noch ertrug eben Rußland keine Dichter.
Die Tragbdie ie Leibeigenſchaft wird dann zum eigentlichen Motiv feiner
Dichtung für Gogol. Rein geſtaltend, folgend jenem ſpieleriſchen
Drang, der zu den ernſteſten Dingen dieſer Welt hinfuͤhrt: dem Drange,
die bunte Welt da draußen noch einmal nachzuſchaffen, ſo, wie ſie ſich dem
nur liebenden Blicke offenbart, war Gogol eigentlich ganz von ungefähr
hinter das furchtbare Unrecht der Leibeigenſchaft gekommen. Seine fromme
Seele wies ihm ſogleich die unendlichen Verpflichtungen dieſer ſeiner Er⸗
kenntnis. Seine Sanftmut aber und ſeine Neigung zu poetiſcher Beſchau⸗
lichkeit ließen ihn ſchaudernd zuruͤckbeben. Dieſen Schauer uͤberwand er
indes ſchließlich ebenſo wie feine große Schuͤchternheit, nie aber feine an⸗
geborene Beſcheidenheit und tiefe, aufrichtige Demut. Mit der war un⸗
vereinbar die Vorſtellung, er koͤnne als Erſter hinter ein Unrecht gekommen
ſein, in dem auch die von ihm geliebteſten ſeiner Zeitgenoſſen verharrten,
ja auf dem ſich der Staat aufbaute, deſſen aͤußere Macht immer wieder
ſein Dichterauge beſtach. Und doch konnte er ſeinem klaren Verſtand nicht
unrecht geben. So flüchtete er denn vor dieſem unloslichen Widerſpruch
dahin, wohin der Ruſſe von jeher der feindlichen Gegenwart entfloh: ins
Reich der Myſtik — und er, der erſte Lichtbringer Rußlands, der eigent⸗
liche Herold der ruſſiſchen Freiheit, ward zum Verteidiger der Leibeigen⸗
ſchaft, die gerade fein machtvolles Wort bis in ihre Grundlagen erſchuͤttert
hatte — und das alles nur aus Gewiſſenhaftigkeit! Der Wirklichkeit, jo wie
er ſie erkannt hatte, konnte er nicht recht geben, aber noch weniger ſeinem
eigenen, wie er meinte, rein perſoͤnlichen Denken —, ſo mußte alſo die
Wirklichkeit in einem tieferen Sinne, als Symbol, doch recht haben gegen
ihn. Gogols Menſchtum war eben nicht der Majeftät feines Genies ge⸗
wachſen, aber doch fo mit ihm eins, daß der Menſch mit dem Künftler
172
Tod für einen Dichter, in wirklicher Demut!
Licht gezeigt — und darüber war er zu Tode
erſchrocken. Er vereinigte eben in ſich die Seele einer Taube mit dem Blick
den Schwingen eines Adlers. Von ſeiner Erbſchaft aber leben alle
großen Dichter, die Gott nach ihm der ruſſiſchen Erde erſtehen ließ.
Rein einziger von ihnen erreichte indes fein Pathos im Kampfe gegen
| das Unrecht, das die Menſchen quält und dabei von Gott zu fein behauptet.
| ein ſehr großer Künftler, aber vorausbeſtimmt zur Idylle, Turgeniett
nur durch Rußlands ungeheures Schickſal gezwungen, ſich über
rt hinaus zu ſteigern, malte ganz im Anfang feiner Dichterlauf⸗
mit fanften Farben und Tönen auf dem Hintergrund der wunder⸗
n ruſſiſchen Natur einige unendlich freundliche Bilder, und ließ dann
in fie hineintoͤnen die Schmerzensſchreie der gequälten Leibeigenen.
mz harmlos, im Rahmen von „Jaͤgererinnerungen“. Er fand aber ge⸗
für das große Elend, das er bekaͤmpfte, den Weg zum ruſ⸗
Kein anderer, ſo glauben ſeine Landsleute, habe macht⸗
er die große Reform vorbereitet in den Geiſtern Rußlands.
ahnte er das. Jedenfalls zerbrach er nicht an Rußlands Schickſal:
nachdem er die Stimme gegen dasſelbe erhoben — eine ſanfte Stimme, die Erz
durchdringt — ging er ihm aus dem Wege. Fern von Rußland geſtaltete
er et in feiner Erinnerung fo, daß eigentlich erſt von da an Europa lauſcht
auf die Stimme von Oſten und erkannte, daß dieſer Sang neu und in
vielem vorbildlich ſei. Für Rußland ſelber iſt Turgenjeff der Dichter der
„Aufzeichnungen eines Jägers” geblieben, denn hier hatte er Hand an⸗
gelegt an Rußlands nationales Übel: die Leibeigenſchaft.
ie ward voll und ganz zum Lebensinhalt dem Verkoͤrperer alles Ruſ⸗ Teinsi: Der
„dem Vorleber echteſten Ruſſentums: Tolftoft, Die wachſende “
Erfenntnis feines Volkes ward ihm zum eigentlichen Schickſal, und des
ruſſiſchen Bauern eigentliches Geſchick, die Leibeigenſchaft, ward ihm zum
Symbol allen Elends, das dem Menſchen durch den Menſchen wird. Dieſe
Erkenntnis ward dabei in den Vordergrund feines Bewußtſeins geruͤckt durch
das Gefühl perfönliher Schuld am Leibeigenen, am ruſſiſchen Bauern.
Hier ſtellt Tolſtoj jenen Geiſtestyp dar, in feiner reinſten Form, der jahr⸗
Fbeyhntelang die ruſſiſche Intelligenz geiſtig führen follte, deſſen Einfluß
noch heute ſehr ſtark iſt und immer unendlich verhängnisvoll war für
Rußlands geiſtige Freiheit: den Typ des reuigen Edelmanns. Er iſt einer
Vel mein Boch: „Das heutige Rußland“
feine
171 m 7
e
173
der Schlüffel zum geiftigen Rußland. Man muß ftets zuerſt an ihn denken,
wenn man da auf völlig unerwartete Raͤtſel und Widerſpruͤche ſtoͤßt: Denn
der reuige Edelmann, der eine Schuld erkannte, die abſolut nicht wieder
gutzumachen iſt — weil ihr eben, bevor ſie noch bereut werden konnte,
ein Ende bereitet ward durch andere Maͤchte —, iſt ein Mann, der im
Banne feiner Gefuͤhlsbeduͤrfniſſe ſteht in allem, was er tut und läßt. Er
iſt da fortwaͤhrenden Verwechſlungen ausgeſetzt: immer wieder täufcht er
ſich über feine letzten Motive: Er glaubt für andere zu wirken; eben für
die, an denen er ſich ſchuldig weiß, und handelt dabei tatſaͤchlich, um die
Gefuͤhlsbeduͤrfniſſe zu befriedigen, die ihr Elend in ihm wachrief, das heißt
er will ſich ſchließlich nur ſelber beweiſen, daß er dieſer Not gegenüber pers
ſoͤnlich alle Opfer bringen kann, die ein Menſch zu bringen imſtande iſt.
Hat er ſich das bewieſen oder ſich auch nur dem Entſchluß dazu in die
Hand gegeben, fo iſt er völlig ruhig. Daher die ewige Sucht nach Mar⸗
tyrium — daß er ihr nicht Genuͤge tun konnte, war bekanntlich die eigent⸗
liche Tragoͤdie in Tolſtojs Leben —, daher denn auch wohl die ruhigſten
ſozialen Gewiſſen Europas unter den politiſchen Arreſtanten in Rußlands
Gefaͤngniſſen und in Sibiriens Zuchthaͤuſern zu finden find, daher denn
auch das ſchreiende Mißverhaͤltnis zwiſchen den Opfern, die der ruſſiſchen
Freiheitsbewegung gebracht werden, und ihren Erfolgen. Mit einem Worte:
der reuige Edelmann bringt erſt den Sozialaͤſthetismus in das ruſſiſche
Geiſtesleben, den aufrichtigen, unbewußten, zu allem Martyrium bereiten.
Toiſtoſ: Wo der größte Sozialaͤſthet aller Zeiten iſt denn auch der bisher groͤßte
23 Ruffe geweſen: wiederum Tolſtoj. Ein Abkoͤmmling ganzer Genera⸗
tionen ſtolzer Sklavenbeſitzer war er fruͤh ſchon hinter das Unhaltbare der
Einrichtung gekommen, auf der ſich fein wirtſchaftliches Daſein gründete:
der Leibeigenſchaft. Er war erſt neunzehn Jahre alt, hatte ſoeben der
Univerfität den Rüden gekehrt, um ſich ganz feinen Leibeigenen zu wid:
men, als er erkennen mußte, daß er ihrem maßloſen Elend gegenüber
völlig machtlos ſei. Auf den eigentlich erlöfenden Gedanken — die Frei⸗
laſſung ſeiner Leibeigenen — konnte er aber gar nicht kommen, weil er ja
dann auch allen denen, die er liebte, uber alles verehrte, und allein ver⸗
ſtand, feinen Angehörigen, Freunden und Vorbildern, die ſaͤmtlich ſeiner
Klaſſe angehörten, hätte Unrecht geben muͤſſen. Der Zwieſpalt war un⸗
lösbar für einen fo jungen Menſchen: auf der einen Seite konnte er ſeinem
ſittlichen Urteil nicht mißtrauen, auf der andern konnte er aber die, die
er liebte, nicht verurteilen. So floh er davon, um in neuen großen Ein⸗
174
* 8 2 Ben wi
p 8
drücken ſeine rätjelhafte, unfaßbare Schuld zu vergeſſen. Das gelingt ihm
Jziaunäaͤchſt in der mächtigen Natur des Kaukaſus und im Umgang mit dem
freien, ſozialunſchuldigen Volk der Koſaken („Die Koſaken“). Zufällig läßt
er ſich zu den Soldaten anwerben, und da kommt er von anderer Seite her
auf ſeine Schuld zurück. Er erſchaut den, vor dem er ſich ſchuldig weiß,
und deſſen Demut er als Feigheit verachtet hatte, den Leibeigenen, als
ſchlichten, heldenhaften Soldaten inmitten grauſigſter Todesgefahr ſeine
Pflicht tun und mit einfachſter Würde ſterben. Der Eindruck ſteigert ſich
zum Enthuſiasmus im belagerten Sewaſtopol („Sewaſtopoler Novellen“).
Tolſtoſ erkennt hier endgültig, daß der, an dem er ſich ſchuldig weiß, nicht
aus Feigheit feine Knechtſchaft trägt: Er muß demnach in einer andern
Welt leben, wo es keine Herren und keine Sklaven gibt, in der Welt der
religioͤſen Vorſtellung.
er ruſſiſche Bauer Tolſtojs bleibt aber immer der, wie er ihn in feinen der Soyial-
— gekannt hatte: der Bauer in der Zeit der Leibeigen⸗ Tann!
ſchaft. Die Vorſtellung von ihr blieb unlösbar vereint mit dem Gedanken an
ihn. Dabei hatte aber Tolſtoj das Entſetzen der Leibeigenſchaft ſo durch⸗
ſchaut, ſo ohne alle Furcht vor dem Herzzerreißenden, wie niemand vor ihm
(„Polikuſchka“). Damit war fein Gedankengang bereits im voraus beſtimmt,
als er ſich, nach feiner Bekehrung, der theoretiſchen Betrachtung des ſo⸗
Ralen Schickſals der Menſchheit zuwandte: Er hatte da ein allgemeines
ſoziales Schicksal erlebt (eben die Einrichtung der Leibeigenſchaft), das ihm
den ganzen Vorſtellungsinhalt gab, deſſen er bedurfte, und ihr Erlebnis
war dabei derart mit der Vorſtellung einer perſönlichen Schuld verquidt,
daß er ſich inſtinktiv mit allen Kräften dagegen ſtraͤuben mußte, dieſes all⸗
gemeine Schickſal im weſentlichen als etwas geſetzlich zu Uberwindendes
anzuſehen: denn dann war ja ſeine Schuld ganz fein Eigentum. Und davor
mußte er zuruͤckſchaudern. Er mußte, um nicht an feiner Schuld zugrunde
zu gehen, ſie zum mindeſten mit allen teilen koͤnnen. Das gelingt ihm in
ſeiner volkswirtſchaftlichen Zentralidee: das Geld iſt an allem ſchuld: wer
Geld gebraucht, der iſt ſchlimmer noch wie der Seelenbeſitzer, weil er ſich
nicht mehr „perſoͤnlich“ um den kümmert, deſſen Arbeit er ausnutzt! Und
dieſe Ausflucht vor der greifbaren ſozialen Wirklichkeit iſt typiſch fuͤr alle
Sozialtheorien des reuigen Edelmannes und beherrſcht durch ihn das ganze
geiſtige Rußland. Zwei Momente ſtehen dort im Vordergrunde der Geiſter:
die Vorſtellung von dem durch die Leibeigenſchaft bedingten ſozialen Elend
und die Vorſtellung von der eigenen Schuld an ihm. Inſtinktiv wirkt dabei
3: 175
ee ͤ ͤ r
problem als
elgentliches Dro-
blem der ruf»
dien Dichtung
der Wille, die eigene ſoziale Schuld moͤglichſt gering zu wiſſen oder ſie
wenigſtens mit allen teilen zu können.
o wird denn von der Aufhebung der Leibeigenſchaft an das Schuld⸗
problem zum eigentlichen Problem der ruſſiſchen Dichtung. Hierin
vor allem gründet ſich ihre univerſelle Bedeutung. Und da offenbart ſich
denn ein ganz merkwuͤrdiger Widerſpruch, der von da an das ganze ruſ⸗
ſiſche Schrifttum durchzieht und im hoͤchſten Grade charakteriſtiſch fuͤr dasſelbe
wird: Ich meine den Gegenſatz zwiſchen bewußter und unbewußter Ten⸗
denz. Die Schuld eines Menſchen kann ja rein perſoͤnlich fein, oder fie kann
in feinen Verhaͤltniſſen begründet liegen, das heißt gar nicht fein: der
Menſch kann eben durch Geburt, Erziehung, Umgebung gezwungen wer⸗
den, ſich verſuͤndigen zu müffen an ſich und ſeinesgleichen. Der ruſſiſche
Dichter als Menſch wird ſich inſtinktiv dagegen ſtraͤuben, letzteres anzu⸗
nehmen, denn dann muͤßte er ja die Hoffnung aufgeben, von der er allein
lebt vor der namenloſen Not ſeines Volkes: die Hoffnung, daß ſie auf ein⸗
mal und in abſehbarer Zeit zu beſeitigen iſt, und das kann natürlich nur
durch ſittliche Umkehr geſchehen. Jedenfalls wäre die Vergewaltigung des
Menſchen als ſein ſoziales Geſchick etwas Unfaßbares, etwas, was einen
ins Dunkle ſtoͤßt. Hinzukommt, daß der ruſſiſche Dichter — eben als Ruſſe —
ſeine eigentliche Erziehung durch die Kirche erhielt, ihm mithin die Vor⸗
ſtellung der perſoͤnlichen Schuld des Menſchen tief eingeprägt iſt. Endlich
aber kann der ruſſiſche Dichter ſchon als reuiger Edelmann den ſozialen
Zwang über die ſittliche Perſon des Menſchen deshalb nicht anerkennen,
weil dann feine eigene Schuld ins Grenzenloſe wachſen wuͤrde und ihn
zur Verzweiflung führen müßte. So kommt es denn, daß das ganze theo⸗
retiſierende Rußland — und auch die ruſſiſchen Dichter als Publiziſten:
da, wo ſie innerhalb ihrer Dichtungen predigen oder bewußte Tendenz
einmiſchen, — ein fuͤr allemal die ſoziale Vergewaltigung des Menſchen
ablehnen, womit dann freilich ihre ſozialen Theorien den Boden unter
den Fuͤßen verlieren. Ganz anders aber der ruſſiſche Dichter als Dichter!
Der Dichter iſt an ſich der berufene Anwalt der menſchlichen Unſchuld.
Der Menſch muß unſchuldig ſein, damit man ihn lieben kann. Und man
muß ihn lieben, um ſeine Unſchuld zu erkennen. Und wenn man ihn
nicht liebt, dann kommt man uͤberhaupt nicht ſo nahe an ihn heran, daß
man über ihn urteilen darf. Dichten wäre ja an ſich die uͤberfluͤſſigſte Sache
von der Welt, wenn das Menſchenleben und «wirken ſich reſtlos erklaren
ließe auf reinen Verſtandeswegen: durch Logik und Wiſſenſchaft wenn
176
die nicht alles Leben erſt verftümmeln müßten, um es nur irgendwie
greifen zu konnen. Hier ſetzt der Dichter ein: er korrigiert die Erbfehler
des Gedankens vor dem Leben. Das iſt ſein eigentlicher Beruf. Er iſt der
Anwalt des vollen Menſchenlebens, und in dem iſt der Menſch unſchuldig —
wenigſtens vor allen andern Menſchen.
as Elementarmotiv jeder Dichtung: die unzerſtoͤrbare Unſchuld rr
1 pelt in der ruſſiſchen Dichtung, da fie ohne höfischen und rate Ynmalı
uüggendwelchen andern Schutz, alſo auch ohne die Notwendigkeit, Rüdficht tg
üben, das heißt ſich verftellen zu müffen, dem Volksinnern entftrömte, eine
ganz beſonders mächtige Rolle. Schon darum mußte der ruſſiſche Dichter
in hervorragendem Maße und von Hauſe aus der berufene Verteidiger der
unzerſtörbaren Unſchuld des Menſchen vor dem Menſchen fein, und das
heißt, weil doch die Häßlichkeiten in unſerem Dafein Tatſache find, ein bes
rufener Verkündiger gerade der Vergewaltigung des armen Menſchen⸗
findes durch Verhältniffe, die es ſelber nicht wählte, und die ftärfer als
es find. Das iſt denn auch nirgends ergreifender und uͤberzeugender zu uns
ſerem Nacherlebenmüͤſſen geftaltet worden als in der ruſſiſchen Meiſter⸗
dichtung. „Anna Karenina“, zum Beiſpiel, wird in dieſem Sinn immer
e unvergleidjliches Lehrbuch fein der Ehrfurcht vor dem Menſchenſchickſal
und der Scham vor dem Richtertum über unſersgleichen. Hinzukommt das 1
maßfloſe Elend des eigenen Volkes, vor dem der ruſſiſche Dichter heran⸗
wöuͤchſt, und erſt in Rußland erfährt man, was das Elend alles aus dem
armen Menſchen zu machen vermag. Daß aber die Haͤßlichkeit des Armen
feine Schuld iſt, das zuzugeben, müßte vor ſolchen Hintergründen einfach
wie niedrige Heuchelei empfunden werden. Denn die zwingende Frage iſt
doch die, ob wir ſelber nicht ebenſo haͤßlich waͤren, wenn wir in der gleichen
Armut lebten. Man erlebt dabei auch noch, man erkennt wenigſtens, ſo
genau wie man etwas erkennen kann, was man nicht zu beweiſen vermag,
daß der Arme an feiner Huͤßlichkeit nicht ſchuldig iſt. Schon aus dem Grunde,
weil er niemals völlig alle Güte und ſittliche Schönheit verliert. Und auch
das erfährt man nirgends unwiderleglicher als in Rußland. Hierzu kommt,
daß ſich gerade dort vor aller Augen auf dem Elend der Armen der Über:
mut der Reichen und Mächtigen aufbaut, daß, wer dort das Volk liebt,
gleich auch erkennt, daß es befreit werden muß. Das alles ſind Momente,
die in dem tuſſiſchen Dichter feine an ſich ſchon berufliche Tendenz, die
Unſchuld des Menſchen zu predigen, fein ewiges Vergewaltigtſein bei
Namen zu nennen, aufs maͤchtigſte beſtaͤrken müffen. Und es hat denn
12 Mögel, Beunblagen des getdtarnu Ruhlands 177
en
auch niemand leidenſchaftlicher, ſchmerzlicher und überzeugender den
ewigen Zwang bei Namen genannt, der das arme Menſchenkind nötigt,
das zu tun, was ſeinem eigentlichen Weſen widerſpricht, und das zu unter⸗
laſſen, was ihm Erloͤſung bringen mußte.
222 ir ſtehen mithin an einem tiefen Zwieſpalt im ruſſiſchen Schrifttum.
Mit ihrer intuitiven Perſon: das Leben nachgeſtaltend, find die rufe
ſiſchen Dichter die zwingendſten Verkuͤndiger ganz desſelben ſozialen Ver:
gewaltigtwerdens des Menſchen, das ſie, bewußt urteilend, leidenſchaftlich
in Abrede ſtellen. Bei Tolſtoj entſpricht dieſe Spaltung der Perſon durch⸗
aus reinlich der Spaltung in ſeinem Schaffen als Dichter und als Theore⸗
tiker. Als Dichter iſt er dabei (von einigen Entgleiſungen, namentlich in
der „Auferſtehung“, abgeſehen) eiſern folgerichtig in Hinſicht auf das
Schuldproblem, als Sozialtheoretiker hingegen verſagt er vor ihm ſo voll⸗
kommen, daß er dabei ſogar Gefahr laͤuft, bei dem kritiſchen Leſer allen
Kredit als Menſchenfreund und als Chriſt einzubüßen: denn es iſt doch
etwas ſtark, die armen Proſtituierten einfach widerlich zu finden, dem
furchtbar ſchwer arbeitenden ruſſiſchen Stadtproletarier Genußſucht und
den hoffnungslos Sozialkranken, den Lumpenproletariern, falſche Welt⸗
anſchauung vorzuwerfen! Wir wagen dabei nicht zu unterſcheiden, wer
hier mehr wirkt: der reuige Edelmann, dem es doch davor ſchaudert, ſeiner
ganzen Schuld ins Auge zu ſehen, oder der trotz allem glaͤubige Chriſt, der
fuͤrchtet, auf die perſoͤnliche Verantwortung des Menſchen verzichten zu
muͤſſen, wenn er ſein ſoziales Vergewaltigtwerden zugibt. (Was ein großer
Irrtum iſt: was dann allein aufhoͤren muß, iſt die Schuld des Menſchen
vor dem Menſchen: die Schuld des Menſchen vor Gott bleibt indes voͤllig
unberuͤhrt)
Das Schuld. Oetzterer, der gläubige Chriſt, iſt es jedenfalls, der Doſtojewſki zu keiner
ee Einheit in der Auffaſſung des Schuldproblems kommen läßt. Bei ihm
durchzieht der Widerſpruch hier ſeine Dichtungen ſelber, — von ſeiner
Publiziſtik, die an ſich eine Verirrung von ihm war — ſehen wir hier völlig
ab. Rein geſtaltend uͤberzeugt er uns (mit jener, nie aus der Angſt um ſeine
Wahrheit herauskommenden Haſt, die in ſittlichen Dingen ſo ſieghaft wirkt),
daß uͤber den Schuldigen ſeine Schuld kam wie der Dieb in der Nacht,
und fie dabei doch vorbereitet war für ihn vom Tage feiner Geburt an —
und dabei verlangt er von ſeinen Schuldigen nicht nur, daß ſie ſich de⸗
muͤtigen ſollen vor anderen Menſchen, die ſie als reiner anerkennen muͤſſen
(mit welchen Beweiſen ?), er verlangt ſogar, daß fie ſich dem irdiſchen Ge⸗
178
te fellen ſollen — deffen grotesle Unzulänglichkeit menfehliher Schuld
dabei niemand furchtbarer erkennen ließ als gerade er, Doſto⸗
Man kann fagen: der gläubige Chriſt führt Doſtojewſki zu dieſem
Es gibt aber noch eine andere Erklarung, und die ſcheint
naͤherliegend: Er braucht einfach die Demuͤtigung des Schul⸗
und ſeine freiwillige Unterwerfung unter die irdiſche Gerichtsbarkeit
für den * felber — damit er nicht verzweifeln müffe, allein ge⸗
einer Schuld, an der vielleicht das Furchtbarſte iſt, daß ſie ihm
ewig rätfelvoll erſcheinen muß. Daß Doſtojewſki dieſe Furcht für
ere hegte, ſpricht er an verſchiedenen Stellen offen aus. (Sie
doch durchaus falſch.) Damit wuͤrde ſich aber auch jeder Wider⸗
ch auflöfen in Doſtojewſkis Stellung zum Schuldproblem —
Perſon des Dichters: Ihm iſt allein an dem Schuldigen gelegen.
Seine Unſchuld braucht er — dem Leſer gegenüber, damit der aufhöre,
ihn zu mißachten. Seine Schuld braucht er fuͤr ihn, den Schuldigen, ſelber:
e
= 2 * ä 3 en ur N 4 *
= h RE wi . ä „„ N R ö F
’ N 3 A 5 F * 88 9
1 5 { 3 9 en
A
*
* 179
*
. Ei BR
115 5
25 5 4 —
1 5
be, 1
* a ir yes
N; Er 5
3 e g ö |
A {
VI
Das foziale
Elend des ruſſiſchen Volkes und
ſein Einfluß auf das ruſſiſche
Geiſtesleben: Die Feſſeln des
ruſſiſchen Gedankens
1. Die allgemeinen Urſachen des ſozialen
Elends in Rußland. (Sein Zuſammenhang
mit der Leibeigenſchaft)
m tatſaͤchlichen Zuſammenhang mit der Leibeigenſchaft, in ſeinen
Wurzeln unmittelbar auf fie zurüdzuführen, aber doch auch wiederum
ohne jede Beziehung auf ſie im ruſſiſchen Bewußtſein wirkend, iſt ein
weiteres allgemeines ruſſiſches Schickſal: das ſoziale Elend des ruſſiſchen
Volkes. An und fuͤr ſich wuͤrde zu ſeiner Erklaͤrung bereits genügen die
ſyſtematiſche Entwoͤhnung vom eigenen Wirtſchaften, die dem Syſtem der
Leibeigenſchaft zugrunde liegt. Das weſentliche Moment duͤrfte dabei lie⸗
gen in jener Unintereſſiertheit am Werk der eigenen Haͤnde, die mit Natur⸗
notwendigkeit in dem groß gezuͤchtet werden muß, deſſen wirtſchaftliches
Schickſal dauernd in der Willkür feines Seelenbeſitzers lag. Tatſaͤchlich muß
auch vornehmlich hierauf der oft ſo befremdende ſorgloſe Leichtſinn des
ruſſiſchen Bauern zurüdgeführt werden — wenn es ſich dabei auch offen⸗
bar um eine Außerung eines außerordentlich lebendigen Gottvertrauens
handelt (hier beſteht zweifellos ein unmittelbarer Zuſammenhang mit der
Demut des ruſſiſchen Volkes). Jedenfalls iſt der Leichtſinn des ruſſiſchen
Bauern durchaus nicht die Regel. Auch ſeine Trunkſucht, die ſich an ſich
ebenfalls mühelos erklaͤren läßt aus der Leibeigenſchaft (als einzige An⸗
paſſungsmoͤglichkeit an Verhaͤltniſſe, unter denen der Menſch ſich nicht am
Leben erhalten kann, ohne irgendwie geſchaͤdigt zu werden), wird maßlos
uͤbertrieben, wenn man durch ſie das wirtſchaftliche Elend des ruſſiſchen
Bauern erklären will. (Der faſt typiſche Widerſtand der Bauerngemeinden
gegen Errichtung von Schnapsmonopolbuden bei ihnen ſagt doch eigentlich
genug.) Ebenſowenig kann die an ſich natuͤrliche und gar nicht zu beſtrei⸗
tende Degeneration durch Abſtammung von Trinkern hier eine weſentliche
Rolle ſpielen: die Ausleſe durch eine furchtbare Kinderſterblichkeit iſt ja
in Rußland fo groß, daß dabei der allergrößte Teil der belaſteten Nach⸗
kommenſchaft von vornherein ausſcheidet. Den Reſt bildet das relativ nicht
zahlreiche, an ſich entſetzliche, ruſſiſche Großſtadtlumpenproletariat. Indes
braucht man alle ſolche, doch in ihrem vollen Umfang unfaßbare, ſomit
in der Luft ſchwebenden Momente gar nicht heranzuziehen zur Erklaͤrung
des ruſſiſchen Bauernelends. Ja, man braucht gar nicht dogmatiſch zu
182
beſtreiten, daß der Ruſſe ein fanatiſcher Bauer iſt, nur für den Boden
lebt und ihn myſtiſch verehrt, da her doch durchaus jene Hauptergebniſſe
bei der Liquidation der ruſſiſchen Leibeigenſchaft zur Erklaͤrung ausreichen,
auf die wir weiter oben ausfuͤhrlich hinwieſen: der ruſſiſche Bauer erhielt
eben damals zu wenig und zu teures Land. Hinzukommen die ſehr ſchwer
empfundenen Abloͤſungszahlungen (die erſt 1907 erlaffen wurden). Ferner
hatte ſich die Bauernbevoͤlkerung auf dieſen an ſich ſchon kleinen, bei ihrer
Befreiung erhaltenen Bodenteilen noch beträchtlich vermehrt — und ſchließ⸗
4 ward die Bildung der großen Maffen und damit auch ihre landwirt⸗
Kultur von der Regierung abſichtlich und ſyſtematiſch nieder⸗
geh Nimmt man hinzu den im weiten ruſſiſchen Gebiete ſo wechſeln⸗
den Ernteausfall und die völlige Ungeſichertheit des ruſſiſchen Bauern
gegen Mißernte, fo muß man ſich noch wundern, daß das Volkselend in
Rußland nicht viel größer iſt. Ein ſehr bedenkliches, und in dieſem Zu⸗
e viel zu wenig beachtetes Moment iſt auch noch die hoff:
Lage der ruſſiſchen Hausinduſtrie: Es iſt dies die urſpruͤnglichſte
Induſtrieform, die heute noch zweimal mehr Arbeiter beſchaͤftigt
als die Maſchineninduſtrie. Die Hausinduſtrie ſpielt dabei in Rußland des⸗
halb eine ſo große Rolle, weil einerſeits die klimatiſchen Verhaͤltniſſe nur
eine fuͤnfmonatliche Beſchaͤftigung in der Landwirtſchaft erlauben, anderer:
ſeits der Bauer vornehmlich durch Hausinduſtrie das bare Geld verdienen
muß, das er zur Bezahlung ſeiner Abgaben braucht, ſowie zur Anſchaffung
mannigfacher Induſtrieprodukte: Nach offiziellen Statiſtiken der letzten
Jahre beſtreitet ja der ruſſiſche Bauer überhaupt durchſchnittlich nicht mehr
als 70 Prozent ſeines Budgets durch Landarbeit — und das bei einem
Durchſchnittseinkommen von 57 Rubel und einer Steuerlaſt von etwa
13 Rubel. Nun hat ſich zwar die ruſſiſche Hausinduſtrie uͤberraſchend lange md
gegenüber der Maſchineninduſtrie gehalten: dank ihrem patriarchaliſchen *
Charakter, dem in Rußland fehlenden Schulzwang und der fabelhaften
Anſpruchsloſigkeit der ruſſiſchen Bauernfamilie. Auf die Dauer iſt aber
natürlich in Rußland wie überall der Kampf der Handarbeit gegen die
Maſchinenarbeit völlig ausſichtslos. Alles, was demgegenüber geſchieht,
4 vor allem im Zuſammenſchluß der Hausarbeiter, hält hoͤchſtens den Ver:
fall des Hausgewerbes etwas auf. Dabei braucht die Maſchineninduſtrie
natürlich ſehr viel weniger Hände, und zudem iſt die ruſſiſche Induſtrie
noch längft nicht in dem Maße erweiterungsfaͤhig. Tatfächlich liegt hier
eine furchtbare Gefahr für das wirtſchaftliche Fortkommen der Maſſen der
183
5 „ u
.
ruſſiſchen Bevölkerung vor. Die einzige Hoffnung kann unter dieſen Vers
haͤltniſſen nur in erneuter Landzuerteilung liegen, was aber auch wieder
große und nicht nur innerpolitiſche Schwierigkeiten hat. Jedenfalls iſt auch
dadurch das Agrarproblem zum eigentlichen innerpolitiſchen Problem Ruß⸗
lands geworden und fo zu hervorragendem Einfluß gelangt auf das ruſ⸗
ſiſche Geiſtesleben, worauf wir noch zuruͤckkommen werden.
ununununnunn
2. Die allgemeinen Wirkungen
des ſozialen Elends in Rußland
unnunnnnnnunnunnnn
Das unmittelbare ſoziale Erlebnis in Rußland und ſeine ganz allgemeinen
Folgen. — Die echten Folgen des ſozialen Erlebniſſes in * ar auf
Ausländer und Ruſſen: Die Vorausſetzungen zur Kritik des ruſſiſchen
Intelligenten
8 as ſoziale Elend tritt in Rußland auch dem durchaus nicht Sozial⸗
lebnis in Rug intereſſierten immer und uͤberall vor Augen. Und zwar in drei For⸗
unn altern, men: Erſtens einmal in der aufs aͤußerſte beſchraͤnkten Lebensführung der
Gelgen ärmeren und ſelbſt mittleren Klaſſen, worauf bereits eine ganze Reihe
perſoͤnlicher Ungluͤcksfaͤlle unmittelbar zurüdgeführt werden müffen:
furchtbare Kinderſterblichkeit, chroniſche, zu vorzeitigem Tode führende,
unter ſolchen Verhaͤltniſſen unvermeidliche Erkrankungen, erſchreckend nied⸗
riges Durchſchnittsalter der arbeitenden Klaſſen uſw. Man gewoͤhnt ſich
mithin in Rußland daran, Zuſchauer zu fein bei einer ganzen Fülle von
Menſchenelend, das — wie jedes Kind einſieht — durchaus zu vermeiden
wäre. Der naͤchſte Schluß iſt — wenn er auch ſelten eingeſtanden wird,
lebt er doch in jedem, der in Rußland weilt, bewußter vielleicht im Aus⸗
länder als im Ruſſen ſelber —, daß man ſich mit feiner ganz perſoͤnlichen
Lebensfuͤhrung unmittelbar verflochten erkennen muß in das elementare
Schickſal anderer, daß man ſich nicht verhehlen kann, daß man alles das,
was man uͤber das zur dauernden Leiſtungsfaͤhigkeit Erforderliche hinaus
ausgibt, auf Koſten der Lebenszeit und der Geſundheit anderer ausgab.
| Und darüber kommt keine Sophiſtik hinweg (das iſt natürlich überall der
| Fall: nur erlebt das in Rußland ein jeder).
| Hinzukommt ein Zweites: Man erlebt in Rußland immer und überall
— die völlige wirtſchaftliche Ungeſichertheit der überwiegenden Mehrzahl aller
Mitmenſchen. Man weiß, daß, wenn der Menſch, der eben noch heiter,
freundlich, rotbädig, ſchlecht und recht feinen Dienſt tut, morgen entlaſſen
184
RS
” MR RE * .
1
.
lh
*
*
N
8 in übermorgen hungert, überübermorgen vielleicht bettelt, und in
etwa acht Tagen betrunken und halbverhungert vor dem Nachtaſyl fteht
in Geſellſchaft unſagbarer ſozialer Leichen. Jedermann in Rußland hat das
biundermmal en und wohl keiner log ſich ſelber vor, daß er hier zu
— — ewige Anblick der ſozialen Ungeſichertheit des Men⸗
des ureigenen Zuſammenhanges zwiſchen wirtſchaftlichem und
Be Verfall, ſowie das ewige Erlebnis der eigenen Ohnmacht dem⸗
; gegenüber gibt jedem in Rußland Lebenden, am deutlichſten wiederum
dem Ausländer, das Gefühl einer ganz beſtimmten inneren Unluſt, die fo
oft zu einer, einem ſelber unerklaͤrlichen Gleichgültigkeit gegenüber noch fo
heiß erſtrebtem aͤußerlichen Erfolg führt, einer Unluſt, die in ihrem innerſten
Weſen ſicherlich darin beruht, daß unſer Gewiſſen ſtaͤndig in die Schranken
gerufen wird, und zwar bis in die Tiefen, die gerade unſere gewohnteſten
Ruhelagen im Leben beherbergen: unſeren Beruf und unſere wirtſchaft⸗
liche Lebensführung. — Das bleibt natürlich meiſt unbewußt und darum
beſonders quälend. Die fo erzeugte ſeeliſche Dispoſition zu einer, fagen
wir, ſekundaͤren (weil durch das ſoziale Elend anderer bedingten) ſoziolen
Krankheit wird aber ganz beſonders gefährlih durch den in Rußlands
Städten überall unvermeidlichen Anblick derartiger Lumpenproletarier,
von deren Möglichkeit man im Weſten gar keine Ahnung hat: Man erlebt
aſlſo auch noch, wieweit der Menſch verkommen kann, nachdem man er:
lebte, wie leicht er verkommen muß, und daß er im Grunde genommen
daran unſchuldig bleibt. Mit einem Worte: Man erlebt in Rußland den
ſozial Verkommenen feinem Weſen nach als ſeinesgleichen, als jemanden,
der man ſelber jederzeit werden koͤnnte und — nur zufällig — nicht ward,
und dabei ſchließlich auch noch als jemanden, an dem man rein perſoͤnlich
ſchuldig iſt. Dies ſoziale Erlebnis iſt in Rußland eigentlich unvermeidlich.
Rußland muß deshalb die hohe Schule allen ſozialen Anſchauungsunter⸗
richts genannt werden. Man muß dies Erlebnis kennen oder wenigſtens
nachzuerleben beſtrebt bleiben, wenn man die eigentlich eigenartige Faͤr⸗
b des geiſtigen Rußlands, die ſoziale, begreifen will.
ieſes ſoziale Erlebnis trifft den nach Rußland verſchlagenen Weſt⸗ Die weten
europder unvorbereitet und führt faſt immer zu oft recht bedenklichen
Erkrankungen, die vielfach zum Verlaſſen Rußlands zwingen und ſelten
ausheilen, ohne die Geſamtperſoͤnlichkeit irgendwie verfrüppelt zu haben.
Der Ruſſe ſelber iſt in und zu dieſem ſozialen Erlebnis herangewachſen.
5 Senne ganze erſbnlichteit hat ſich ihm fo ober fo angepaßt. Völlig bewußt frum
185
Felgen des fol
alen Erxletutſſet
in Nupland auf
Ausländer und
—
autſetungen jur
Krittt des ruf ⸗
diſcden Intelll ·
ift das geſchehen bei der führenden geiſtigen Schicht Rußlands, der ruſ⸗
ſiſchen Intelligenz. Ihr Fühlen, Denken und Wollen iſt unmittelbar und
aufs tiefſte beſtimmt durch die Not ihres Volkes. Erſt von hier aus kommt
Zuſammenhang in alle Einzelzuͤge ihres Weſens (auf die wir weiter oben
bei verſchiedentlichen Anlaͤſſen hinwieſen, und die der Leſer ſelber noch
einmal von dieſem Geſichtspunkte aus nachpruͤfen möge). Wenn wir es
mit einem Worte ſagen ſollen — wir tun das in aller Vorſicht, denn wir
betreten überall Neuland —: Der ruſſiſche Intelligent iſt ein Menſch, der
ſich perſoͤnlich behaupten will im Angeſichte unausſprechlichen Elends ſei⸗
nes Volkes, deſſen Anblick er nirgends entgehen will, und an dem er ſich
ganz perſoͤnlich ſchuldig empfindet. Wir halten dieſe Grunddefinition der
Geiſteshaltung des ruſſiſchen Intelligenten für außerordentlich wertvoll,
weil fie uns der Gefahr des ſtets blind machenden Hochmuts vor ihm tiber
hebt: Wir ſahen ja, welche Gefahren der Perſoͤnlichkeit des Weſteuropaͤers
vor der ſozialen Wirklichkeit Rußlands drohten, und daß es noch eine
Frage iſt, ob er ſich da uͤberhaupt in ſeinem Eigenweſen behaupten kann.
Der ruſſiſche Intelligent behauptet ſich aber zweifellos (wenn er es auch
tatſaͤchlich zu gewiſſen Zeiten fuͤr eine Schande haͤlt, zu leben). Ganz ohne
geiſtige Schaͤdigungen kann das aber natuͤrlich nicht abgehen. Und es iſt
auch gerade nicht uͤbermaͤßig ſchwer, dieſe Schädigungen vom geſicherten
Hafen Weſteuropas aus bei Namen zu nennen. Freilich eine Gefahr droht
einem dabei immer, und das ſollte niemand vergeſſen, der irgendwie kri⸗
tiſch an die ruſſiſchen Intelligenten herantritt: Sie haben ſich geiſtig an⸗
gepaßt an Wirklichkeiten, die grundſaͤtzlich auch bei uns da ſind, die ſie
vor Augen haben wollen, wir hingegen in der Regel uͤberſehen. Die ruſ⸗
ſiſchen Intelligenten koͤnnen alſo irrender ſein als wir, ſie bleiben aber in
vieler Hinſicht ſehender. Huͤten wir uns demnach, daß wir nicht gerade da,
wo wir ihnen gegenüber recht behalten, uns letzten Endes als blinder
offenbaren als ſie — ja uns ſchließlich noch ein Verdienſt machen aus
unſerer Blindheit. — So viel als Richtſchnur für unſer intellektuelles Ge⸗
wiſſen, bevor wir in einen Streit eintreten mit der ruſſiſchen Intelligenz:
Wir ſollen und duͤrfen niemanden bei ſeinen Fehlern belaſſen, aber auch
der Irrende kann ſehr wohl Vorbild ſein!
186
3. Die Weltanſchauung des ruſſiſchen Intel⸗
ligenten (als unmittelbare Folge des ſozialen
Erlebniſſes in Rußland)
. Trauer als . des tuſſiſchen Int elligenten. —
Der chen 1 — — ‚ide =
heitsbewegung. — 8 ruſſiſchen In en
* das See Rußland . *
r wollen wir die Antwort der ruſſiſchen Seele auf das ſoziale Die tonale
Bi des ruſſiſchen Volkes an der Hand der Weltanſchauung —
meuſſiſchen Intelligenz erkunden. Es liegt im Weſen dieſes Einwirkungs⸗ en e
momentes, daß es vornehmlich die Gefühlsfeite im Menſchen trifft, und senten
daß demnach dort, wo es vor allem wirkſam iſt, gerade der Gefuͤhlsſeite
eine beſondere, das ganze Erleben, alſo Denken und Wollen, beſtimmende
Bedeutung zukommen muß. Das iſt indes, wie wir ſahen, uͤberhaupt fuͤr
das geiſtige Rußland bezeichnend: der Geiſt im Banne des Gefuͤhls, das
Denken beherrſcht vom Wunſche, nach ihm eintretend und lediglich zu ſei⸗
ner Rechtfertigung. Wir konnten dieſe geiſtige Dispoſition bereits auf einen
durch Rußlands beſondere Geſchicke großgezogenen Außerften Subjektivis⸗
mus zurückführen (was uns der peinlichen Notwendigkeit uͤberhebt, eine
beſondere Gefuͤhlsbeherrſchtheit des ruſſiſchen Naturells zu behaupten,
was ja außerhalb unſerer Kompetenz liegt). Und ſchließlich konnten wir
aus dieſer Geiſtesdispoſition auf ein Vorausbeſtimmtſein des ruſſiſchen
Denkens zum Dogma ſchließen. Hier, im ſozialen Erlebnis des Ruſſen,
finden wir ſchließlich einerſeits alle Hinweiſe auf den eigentlichen Inhalt
des ruſſiſchen, im Banne des Dogmatismus ſtehenden Denkens, anderer⸗
ſeits die Erklarung für gewiſſe Nuancierungen in der ganzen Geiſtes⸗
haltung des Ruſſen. Sie wird einheitlich beſtimmt durch ſein unvermeid⸗
liches und weſentlich gleichartiges ſoziales Erlebnis. (Wir brauchen neben:
bei bemerkt gar nicht — und das erleichtert in hohem Maße unſer in⸗
tellektuelles Gewiſſen — einen beſonderen Mangel an Individualität in
— Rußland anzunehmen: die gleiche Richtung der Geiſter erklaͤrt ſich hin⸗
kteeeichend durch die Gleichheit des fie weſentlich beſtimmenden Erlebniffes
und den elementaren — im Weſen der Menſchenſeele begruͤndeten Cha⸗
krlakter feiner Einwirkung). Zunaͤchſt ſchafft das die Geiſtesatmoſphaͤre: Es
187
liegt eine Art ſozialer Trauer Über dem ganzen intelligenten Rußland.
Der Trauernde will Zerſtreuungen vermeiden, ſich auf den einen Ge⸗
danken feiner Trauer konzentrieren. Ihm eignet eine zurüdgezogene, nach
innen gerichtete Lebensführung. Er fühlt ſich unberechtigt, irgendwelchen
perſoͤnlichen Genuß zu ſuchen. Das find denn auch die weſentlichen Züge
in der ſozialen Trauer, die das Leben des ruſſiſchen Intelligenten beſchattet.
Daher iſt feine Trauer keine vorübergehende, vielmehr eine dauernde:
denn ihr Gegenſtand iſt eben die Not des ruſſiſchen Volkes. Dieſe Trauer
hat dabei den Vorzug, daß der Gedanke an ſie nicht unfruchtbar bleibt —
wie der an den Verluſt einer geliebten Perſon —, vielmehr endloſe Be⸗
ziehungen zur lebendigen Wirklichkeit in ſich ſchließt, ja geradezu provo⸗
ziert. Aber wohlgemerkt, alles geſehen unter dem einen Geſichtswinkel der
Trauer. Das iſt naturlich ein Hemmnis vor der Wirklichkeit, fie erſcheint
hier ſchon umhuͤllt durch Seelenbeduͤrfniſſe, und dabei verlangt doch die
Wirklichkeit den ganzen freien Bewußtſeinsraum des Menſchen!
Der daa (Fier liegt denn auch der Keim zu dem, was wir weiter oben ſozialen
nnter Intel Aſthetismus nannten und charakteriſierten als Unbewußtheit der letz⸗
ten ar ten Abſichten: Verwechſeln von Handlungen, die man zur Befriedigung
beitsbewegung von Gefuͤhlsbeduͤrfniſſen vornimmt, mit ſolchen, die dem Übel abhelfen
ſollen, das fie hervorrief. Dieſer unbewußte ſoziale Aſthetismus, der natuͤr⸗
lich günftigften Nährboden findet in der angeborenen und durch Rußlands
Geſchicke aufs hoͤchſte entwickelten Kuͤnſtlerveranlagung des Ruſſen, be⸗
herrſcht das ganze freiheitliche, vor allem das revolutionäre Rußland.
Tolſtoj ſpricht einmal von der Unfähigkeit des Ruſſen, da nicht zu leiden,
wo er die Allgemeinheit leiden ſieht. Ganz unberüdfichtigt bleibt dabei die
Frage nach der Zweckmaͤßigkeit des perſoͤnlichen Leidens in Hinſicht auf
das allgemeine Leiden, um deſſentwillen man es ſucht. Und das iſt das
Weſentliche in dieſer echtruſſiſchen Geiſteshaltung zur Wirklichkeit. Zweifel⸗
los haben wir hier eine der Urſachen, derentwegen in Rußland die Volks⸗
not ſo zu Jahren kommt: Es uͤberwuchern eben die Kuͤnſtler da, wo ſie
gar nichts zu ſuchen haben, wo einzig und allein der Mann des praktiſchen
Lebens hingehoͤrt: der ſich völlig zu vergeſſen vermag vor der Not, die er
bekaͤmpft — und auch gar nicht mehr danach fragt, welche Gefühle ihn
dabei bewegen. So weit kann ſich leider der Ruſſe nirgends ſelber ver⸗
geſſen: als unausrottbarer Kuͤnſtler bleibt er überall wenigſtens durch das
Medium ſeiner Gefuͤhle an ſein Ich gekettet: Vor keiner Wirklichkeit, mag
ſie noch ſo ſehr nach ſeinem Kopf und Arm ſchreien, vergißt er die Wacht
ber die Reinheit feiner Gefühle! Das nennen wir gerade Sozialaͤſthetie⸗
mus, und er ift dasjenige nationale Unglück Rußlands, das Rußlands
nationales Gluck, die Uberfuͤlle ſozialen Opferwillens in feiner Geſellſchaft,
unfruchtbar macht, wenigſtens für das ruſſiſche Volk. Freilich nicht, ohne
daß für Weſteuropa, dem hier trotz alledem viel zu lernen bleibt, ein rein
formales Beiſpiel eines politiſchen Idealismus von hohem Werte geboten
wird, das vielleicht noch einmal in der Erziehung des zukünftigen Staats⸗
bürgers eine große Rolle ſpielen wird. Aber hier, wie bei allem, was
von Rußland für die Kulturwelt Wertvolles geſchaffen wird, trägt
die Koſten Rußland ſelber.
{ Es verknuͤpft mit dem Sozialäfthetismus des ruſſiſchen Intelligenten Der Cosialas-
fein ausgefprochener Sozialasketismus. Er ift freilich ſchon eine un: Kram Satet,
mittelbare Folge der ihn beherrſchenden ſozialen Trauer, inſofern es ſich gauze das
nämlich um die ganze private Lebensführung handelt: Vermeiden jeden Ausland
Lebenszierrats und jeden Lebensgenuſſes; Beſchraͤnkung des Lebensauf:
wands in Wohnung, Kleidung und Nahrung auf das nahezu Unentbehr⸗
liche. (Auch hier überfehen wir durchaus nicht das, namentlich für unſere
materielle Zeit, ſo ſehr wertvolle Beiſpiel perſoͤnlicher Anſpruchsloſigkeit —
zumal dieſer Asketismus in weitem Maße freiwillig geſchieht — aus innerer
Scham, die, wie wir ſahen, bei dem ruſſiſchen ſozialen Erlebnis wohl ver⸗
ſtäͤndlich iſt.) Daß dieſe Form ſozialer Askeſe (die eigentlich nur den Natur:
genuß erlaubt) auch noch in den ſozialen Dogmen und Doktrinen reichſte
Beſtärkung findet, ja eigentlich deren perſoͤnliches Poſtulat bedeutet, fei
betont, doch ſcheint es, daß die ſoziale Trauer hier allein genügen würde.
Wir laſſen damit dieſe rein private ſoziale Askeſe beiſeite und wenden
uns derjenigen Außerung von ihr zu, die unmittelbar dem Sozialaͤſthetis⸗
mus des ruſſiſchen Intelligenten entſpringt und auf die Ausgeſtaltung des
ganzen geſellſchaftlichen Aufbaues Rußlands einen großen und verhaͤng⸗
nisvollen Einfluß ausübt: ich meine die freiwillige und grundſaͤtzliche Zu⸗
rückhaltung des ruſſiſchen Intelligenten von allen irgendwie einfluß⸗
reicheren Berufen im Privat⸗, Geſellſchaftt⸗ und Staatsleben. Daß dabei
4 das größere Einkommen ein unuͤberwindliches Hindernis bilden muß,
ſeꝛi zugegeben. In der Vorſtellung des Intelligenten vorherrſchen dürfte
ein anderes, rein dogmatiſches Element: die grundſaͤtzliche Ver⸗
meinung des kapitaiiſtiſchen Wirtſchaftsſyſtems und des deſpotiſchen
Staates, der es ſtuͤtzt, macht es dem ruſſiſchen Intelligenten unmöglich,
innerhalb des jetzigen Staats⸗ und Wirtſchaftsorganismus einen Beruf
189
4
1 *
unter einem andern Geſichtspunkt zu ergreifen, als daß er ihm den not⸗
wendigſten Lebensunterhalt gewaͤhrt und moͤglichſt wenig Zeit beanſprucht:
Seinen eigentlichen Lebensberuf ſieht er ja in ſeinem außerberuflichen
Wirken für feine ſozialen Ideale, ſei es durch Propaganda für fie, Nach⸗
denken über fie oder einfach — und das iſt die Regel — durch ihnen ent⸗
ſprechende ſozialaſketiſche Lebensführung. Die verhaͤngnisvolle Folge für
Rußland iſt hier naturlich die, daß die geiſtig geweckteſte, ſozial opfer⸗
willigſte Geſellſchaftsſchicht ſich ſelber aus dem praktiſchen Leben aus⸗
ſchaltet: alle einflußreichen Stellen den mehr karrieriſtiſch geſinnten Ele⸗
menten überläßt, und daß ſelbſt die Berufe, die ihre Mitglieder ausüben,
ohne perſoͤnliche Hingabe ausgefüllt werden. Was das für den ruſſiſchen
Geſellſchafts⸗ und Staatsförper bedeutet, weiß bloß, wer in Rußland lebte.
Die Unausrottbarkeit der ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Korruption in
Rußland hat hier ihre tiefſte Wurzel. Denn es ergibt ſich ſo der ganz
merkwuͤrdige, und für Rußland durchaus charakteriſtiſche Sachverhalt, daß
die geiftig führende Schicht die praktiſch einflußreichſte verachtet und jede
Gemeinſchaft mit ihr meidet. Und nicht nur das. Auch außerordentlich
viele praktiſch Einflußreiche zaͤhlen ſich außerhalb ihres Berufes, in ihren
allgemeinen Anſchauungen, zur Intelligenz, und ſo kommt es denn in
weiten Kreiſen auch des praktiſch⸗taͤtigen und einflußreichen Rußlands zu
jener innerlich ſchwankenden, unſicheren Stellung zum eigenen Berufe,
die deſſen Ausuͤbung um das Beſte von der Perſoͤnlichkeit des fie Aus⸗
uͤbenden betrügt und eine volle Hingabe eigentlich unmöglich macht. Auch
darunter leidet der ruſſiſche Geſellſchaftsorganismus außerordentlich: ploͤtz⸗
liche ſoziale Bekehrungen z. B. vom Wirklichen Geheimrat zum ſozia⸗
liſtiſchen Agitator fallen kaum noch auf und ſind lediglich ſymptomatiſch
für den labilen Zuſtand des fozialen Zuſammenhalts Rußlands. An deſſen
Wurzel zehrt aber gerade eben der ſoziale Asketismus der fuͤhrenden ruſ⸗
ſiſchen Geiſtesſchicht, der ruſſiſchen Intelligenz.
4. Die Rolle des Sozialismus im
ruſſiſchen Geiſtesleben
ESTTNTTTTTTTTTTTTTT0177117111119981979191911171717177777771717171717111717171111111711111111117771777777177777
Das Weſen des Sozialismus. (Der innere Widerſpruch in ve man
€
und Endziel und feine Loͤſung in den Seelenbebürfnifjen der
Die Wurzeln des Einfluſſes der ſozialiſtiſchen Theorie auf die ruſſiſchen
190
Due und Die fosialzevolutiondre Doktrin (der Terrorie,
. n Ee ue — —
Wee = Die een Ocitejefen Keile (Die unge
} icriebene Zenfur der ruſiſchen Inteligen)
4 wieſen bereits hin auf die hervorragende Rolle, welche dem In⸗ Das Wesen des
; der ſozialen Doktrin in der Ausgeſtaltung der Lebensführung Der kent W.
des Intelligenten zukommt, das heißt in der Art, wie er feine durch die arten
ſoziale Wirklichkeit Rußlands erregten Gefühlsbedürfniffe befriedigt. Tat⸗ und Erda und
fachlich findet hier weitgehendſte Wechſelwirkung ſtatt. Daß dabei die der Satene.
Beeinfluſſung durch die Doktrin eine fo tiefgreifende und ſelbſtaͤndige iſt, wage en er
erklart fi daraus, daß die Gefühlsbedürfniffe fie nicht eigentlich ſchufen,
vielmehr lediglich ihre Wahl beſtimmten. Denn dieſe Theorien ſtammen
ſamt und ſonders aus dem Ausland, lagen mithin fertig vor, und ver⸗
llangten ihrerſeits Anpaſſung an das ſoziale Geſamterlebnis des Ruſſen,
alfo auch an fein Fühlen und Wollen. Weſentlich iſt dabei, daß die ruſ⸗
ſiſche Freiheitsbewegung, deren Traͤger in den letzten achtzig Jahren aus⸗
ſchließlich die ruſſiſche Intelligenz iſt, niemals auf eine ausſchließlich po⸗
litiſche, vielmehr ſtets auf eine ſoziale Befreiung ausging, fuͤr die die po⸗
litiſche nur im großen und ganzen den notwendigen Rahmen abgeben
ſollte. Die Form, unter der die ſoziale Befreiung vorgeſtellt ward, war
fertig vom Weſten uͤbernommen und wird dort Sozialismus genannt.
Sein negatives Element iſt die Verneinung des arbeitsloſen Einkommens.
Sein poſitives Element iſt die Forderung nach Befriedigung der geſell⸗
ſchaftlichen Beduͤrfniſſe auf geſellſchaftlicher Grundlage. Die Ausfuͤhrungs⸗
formen dafür werden verſchieden angegeben: Die Vorausſetzung zur ſo⸗
zialiſtiſchen Wirtſchaftsordnung bildet ſeit Marr der Übergang der Pro⸗
duktionsmittel in den Beſitz der Allgemeinheit. In fruͤheren Perioden des
ſozialiſtiſchen Bekenntniſſes hat man ſich aber darum nicht bekuͤmmert,
vielmehr den Schwerpunkt auf die Verteilung verlegt: die Lebensmittel
ſollten in natura oder gegen „Bons“, entſprechend der Arbeitsleiſtung,
verteilt werden. Die Tatſache der Ungleichmaͤßigkeit letzterer führte dann
zu einer Fülle Einzelvorſchlaͤge, die das Weſen des Sozialismus an ſich
nicht berühren. Weſentlich für ihn iſt unter allen Umftänden, daß er eine
Verteilungstheorie darſtellt — die eigentliche Produktion völlig unberührt
laßt —, daß er nicht hinausgehen will über die Aufgabe einer gleich⸗
mäßigen Verteilung der Güter nach der geleiſteten Arbeit, und daß er da⸗
191
r a u u a
. *
ee *
7
— ee rn . c
bei doch nirgends den Anſpruch aufgibt, der Menſchheit abſolutes Heil zu
bringen, Erloͤſung von allen ihren Übeln. Inſofern haftet dem Sozialis⸗
mus eine materielle Vorſtellung vom Menſchengluͤck an, und das ſteht
wiederum in Widerſpruch zu ſeiner eigentlichen ſeeliſchen Antriebskraft:
dem Appell an den Gerechtigkeitswillen. Mehr noch! Streng genommen
gibt der Sozialismus gar nichts anderes als einen Vorſtellungsinhalt da⸗
fuͤr, wie innerhalb der realen Verhaͤltniſſe des menſchlichen Zuſammen⸗
lebens und ⸗wirkens das Gebot Chriſti verwirklicht werden koͤnne (daß wir
uns zu den Menſchen ſo verhalten ſollen, wie wir wollen, daß ſie ſich zu
uns verhalten) oder, was auf dasſelbe herauskommt, der von Kant formu⸗
lierte kategoriſche Imperativ: Kein Menſch darf dir Mittel ſein. Wohl⸗
gemerkt: das iſt der eigentlich ſittliche, und damit für die Menſchenſeele
vor allem Werbekraft ausuͤbende Kern des Sozialismus. Aber es gehört
gerade zu ſeinem geſchichtlichen Weſen, daß er ſich ſelber nie fo weit prüft,
ja alle Hinweiſe hierauf kategoriſch von ſich weiſt — um nicht in Gegen⸗
ſatz zu geraten zu dem materiellen Endglüd aller, das er verſpricht, und
das ihm die Hauptſache iſt. Der Gegenſatz loͤſt ſich hier, wie in allen Theo⸗
rien, die Maſſenbewegung hervorrufen, in der Volksſeele: Einmal iſt die
materielle Not die ſpuͤrbarſte aller Nöte im Leben des Proletariers: ihre
Beſeitigung bildet überhaupt erſt die Vorausſetzung feines geiftig ſittlichen
Daſeins. Und es iſt doch nur menſchlich, daß aus der Vorausſetzung die Ver⸗
urſachung gemacht wird. Andererſeits bedeutet es eine uralte, in allen Kul⸗
turländern wiederholt gemachte Erfahrung, daß das einfache Volk überall
da, wo es ſelbſtloſe Endziele hat, egoiſtiſche anzugeben pflegt. So ſoll auch
hier materielles Heil fuͤr alle verſprochen, und ſittliches erſtrebt werden.
Karl Marr hat das dann aufs Feinſte ausgenutzt, wovon gleich die Rede
ſein wird. Fuͤr die Beeinfluſſung des ruſſiſchen Geiſteslebens durch den
Sozialismus und die Verfuͤhrung, die er ausuͤbte, kommen aber zu⸗
naͤchſt nur die Momente in Betracht, daß er einmal eine reine Teilungs⸗
theorie iſt, mithin ein nur aͤſthetiſches Verhalten durchaus möglich macht,
und daß er ferner ſich zu einem rein materiellen Endziel bekennt, und
dabei doch nur einen idealiſtiſchen Willen zur Grundlage haben kann.
Beides entſpricht durchaus der geiſtigen Vorbereitung des ruſſiſchen In⸗
telligenten. Wir gingen in vorhergehenden Abſchnitten ausführlich auf die
Wurzeln der materialiſtiſchen Anſchauung im ruſſiſchen Geiſte ein und
ihren Widerſpruch zu dem ewig im Banne feines Gefühlsbebürfniffes
ſtehenden Willen des Ruſſen. Bei der abſoluten Diktatur des Gefuͤhls in
192
feinem Seelenhaushalt und dem hierauf begründeten fragloſen Vorherr:
ie ſchen der wunſchbetonten Vorftellungen in feinem Gedankenleben konnte
der Widerſpruch hier unbemerkt bleiben, mehr noch: fehlt die Intereſſen⸗
betonung, ihm nachzugehen, oder endlich: iſt er — rein logiſcher Natur —
für den Ruſſen gar nicht vorhanden: denn der ſchoͤpft eben das Bewußt⸗
— feiner inneren Einheit in feiner Gefuͤhlsſphaͤre (und das erklaͤrt feine
Unempfänglichleit für den Zwang der reinen Logik, feine Leidenſchaft für
Siophismen aller Art, feine Virtuofität in ihrer Handhabung und end⸗
lich feine Fähigkeit, die ſchreiendſten Gegenfäge in fi zu bergen, ohne
3 ee in feinem Selbſtbewußtſein beläftigt zu fein).
2 ir erkennen mithin, daß der Sozialismus für den Ruſſen hätte ers Die Wurzeln des
- funden werden müffen, wenn er nicht längft für ihn fertig dageweſen —
1 wire. Da er aber fertig war, bevor der Rufe feiner bedurfte, und er ges agen nl Dr
boren war fern von ihm, fo mußte er auch den Einfluß einer Feſſel auf den und deine zelnen
Ruſſen ausüben. Zunächft wirkte er ſchon inſofern hemmend auf das ruffifche
Geiſtesleben, als er ihm eigene Bemühungen erfparte, zu einem feinen
Bedürfniſſen entſprechenden Vorſtellungsinhalt zu gelangen. Aber nicht
allein das. Jenes, durch das ganze ruſſiſche Nationalſchickſal — vornehm⸗
lich Deſpotismus und Leibeigenſchaft — bedingte, in den Vordergrund⸗
treten der moraliſchen Beurteilung, das zu einem ausgeſprochenen Moralis⸗
mut in der Weltanſchauung des ruſſiſchen Intelligenten geführt hatte, und
an ſich, wenn auch ein geiſtig beengendes, ſo doch ſittlich lebendig erhalten⸗
des Element bedeutet, ward ſo gerade dieſes letzteren Charakters beraubt.
Der Moralismus des ruſſiſchen Intelligenten erhielt ein greifbares End⸗
ziel: eben die Herbeiführung des Sozialismus, und damit war dieſem
Moralismus eigentlich jede Veranlaſſung genommen, wirkſam zu werden
zur Vervollkommnung der eigenen Perſon. Der ruſſiſche Moralismus hatte
fo auch noch das letzte autonome Moment eingebüßt. Hier ſtehen wir denn
wohl an einer der Hauptwurzeln der furchtbaren ſittlichen Haltloſigkeit —
im wörtlichen Sinne — innerhalb der ruſſiſchen Geſellſchaft. Sind dem
Ruſſen der gebildeten Stände feine ganz beſtimmten Lebensziele, die im⸗
mer einer ganz beſtimmten Vorſtellung von der Form des menſchlichen
Zuſammenlebens und ⸗wirkens zum Inhalt haben, genommen, oder glaubt
er das auch nur, fo gerät er in völlige fittliche Ratloſigkeit und ſchleudert
ſeine Wurde um nichts und wieder nichts von ſich. Das in jedem Menſchen
urſprünglich lebendige Erlebnis eines unfehlbaren Richters in ſich felber
iſt dem Ruſſen eben von Jugend auf umhüllt und umnebelt worden.
„el, Grundlagen tes arifigen Ruhlandı 193
durch den Anblick der ewigen Not des Volkes, der keinen Wunſch nach
Entfaltung der eigenen Perſoͤnlichkeit aufkommen laͤßt, durch das ewige
Vorbild der deſpotiſchen Regierung, die jede Perſoͤnlichkeit als Verbrecher
beſtraft und verfolgt, und noch durch tauſend andere Dinge. Und ſtatt daß
nun die eigene Seelennot den denkenden Ruſſen gezwungen haͤtte, in ſich
ſelber den Fuͤhrer und den Richter zu finden, ward ihm von außen eine
fertige Heilsvorſtellung für feine Hauptnoͤte geboten, eben der Sozialis⸗
mus: Er greift mit beiden Händen zu und wird wieder um fein Erſtgeburts⸗
recht betrogen! Der aus dem Ausland fertig uͤbernommene Sozialismus
hat tatſaͤchlich die Entwicklung der ſittlichen und geiſtigen Selbſtaͤndigkeit
des Ruſſen in gar nicht abzuſchaͤtzendem Maße gehemmt (er war unwider⸗
ſtehlich, da ihm die Vorſtellung anhaftet, die auf das ruſſiſche Gemüt un:
fehlbar Eindruck macht: die Vorſtellung von der Beſeitigung der Volks⸗
not). Aber nicht nur das: Der Sozialismus — als unerſchuͤtterliches Dogma
der ruſſiſchen Intelligenz — hat auch deren ſittliche Begriffe nachhaltig
und ſchwer heilbar verwirrt. Zunaͤchſt ſchon dadurch, daß er eigentlich nur
den Kommenden gilt: daher hat das ſozialiſtiſche Bekenntnis denn auch
oft ebenſo ſittlich belebend gewirkt in den ſelber notleidenden breiten
Maſſen, als ſittlich abſtumpfend bei den buͤrgerlichen Freunden des Pro⸗
letariats. Denn der Sozialiſt liebt nicht eigentlich die Gegenwaͤrtigen. Er
bemitleidet ſie eigentlich auch nicht, ſoweit ſie ſich nicht zu ſeiner Lehre
bekehren, ja er kann ſie maßlos haſſen und verachten, wenn ſie das nicht
tun. Die Liebe zu den Kommenden muß aber zu einem Verſiegen der
Menſchenliebe uͤberhaupt fuͤhren, wenn ſie nicht an den Gegenwaͤrtigen
geübt wird. Dazu bietet indes das ganze theoretifche Geiſtes⸗ und Seelen⸗
inventar des ruſſiſchen Intelligenten auch nicht die geringſte Veranlaſſung.
Um ſo mehr bietet es ſie zum Haß. Und hier beginnt die korrumpierende
Wirkung des dogmatiſchen Sozialismus auf den ruſſiſchen Volksgeiſt.
Tae det. Es hat freilich eine ganz kurze Zeit gegeben, da hofften gewiſſe Ele⸗
un at O mente der ruſſiſchen Intelligenz das Volk durch bloße Aufklaͤrung zu
2 ſeinem Heile zu fuͤhren, oder wollten ſie ihm auch nur helfen, ſein ſchweres
Theorie) Los zu tragen; kurz, das war die Zeit, als einzelne Volksfreunde unter
das Volk gingen, mit ihm lebten und unter ihm untergingen. Und mag
man auch die Art ihrer Aufklaͤrung als noch fo dogmatiſch befangen er⸗
kennen, es war lebendige Liebe in dieſen Menſchen, und die zerbrach
ſchließlich alle Schranken ihrer rein geiſtigen Vorurteile. Heute iſt dieſe
Richtung in Rußland laͤngſt vergeſſen und würde auch verlacht werden.
194
8 4 5 1
ST Ze
er!
1 Groß war ihr Einfluß nie. Denn bis zum ſieghaften Aufkommen bes
Marxismus in Rußland — und der datiert erſt von der Mitte der neun⸗
ziger Jahre des verfloſſenen Jahrhunderts — herrſchte innerhalb der ruſ⸗
ſiſchen Intelligenz nur eine Vorſtellung von der Art der Herbeiführung
des Copialismus: der gewatfame Umftur, vorbereitet durch die Einzel
tat und gegründet in dem opferwilligen Enthuſiasmus einzelner Volkes
führer. Die ruſſiſchen Sozialiſten waren bis zum Aufkommen des Marxis⸗
mus ausſchließlich Sozialrevolutionäre. In der Theorie dieſer Partei, die
1 verſchiedentliche Wandlungen durchmachte und vornehmlich aus den ur⸗
ſprünglichen Nihiliſten, den „Narodowolzy“ (den „Ausführern des Volks⸗
willens) hervorging, ſpielte von vornherein der Terrorismus eine hervor⸗
f ragende Rolle. Er ift im weſentlichen als ſoziale Verzweiflungstat aufzu⸗
faſſen, und wenn er auch als Tat unter allen Umftänden zu verdammen
bleibt, fo ſitzen doch die Richter über die einzelnen Täter nicht bei uns:
denn dazu müßte man erſt, jo wie fie, von Jugend auf erlebt haben wie
jede Gewalttat am wehrloſen Volke ſtraflos verübt, und jeder mundtot ges
macht wird, der ſie nur bei Namen zu nennen wagt. Schließlich kommt
dann die ſoziale Verzweiflung uͤber den Menſchen. Das iſt wohl der eigent⸗
liche Urſprung des Terrorismus. Er bedeutet die unmittelbare, aus ſeinem
Geiſte und nach ſeinem Vorbild geborene Reaktion gegen einen maßlos
überfpannten Deſpotismus. Es liegt ihm die primitive Deſpotenweisheit
FJꝛxugrunde, daß der Menſch ſterblich ift und Angſt hat zu ſterben. Dabei
bleibt die Terroriſtentat Mord und dazu immer und überall Meuchelmord.
Daß ſie auch gewählt wird in unbezwinglichem Drange nach ſozialem
Martyrium, alſo aus ſozialem Aſthetismus, ift in vielen’ Fällen erwieſen.
Überflüffig wäre es dabei eigentlich zu bemerken, daß der Terrorismus
als Theorie (gewiſſermaßen jenſeits des Affekts, kalt ſerviert) in hohem
Grade demoraliſierend wirken muß. Der Zweck heiligt niemals die Mittel
und ſoll hier das unheiligſte heiligen: den Menſchenmord. Und das im
Zuſammenhang mit einem Ziel, das dem Intelligenten als das Menſchen⸗
ziel gilt: die Einführung des Sozialismus. Wenn die ruſſiſche Geſchichte
und das ganze ruſſiſche Leben den Ruſſen fo ſchon verhindert, bis zu dem
Richter in ſich ſelber und damit bis zur Ehrfurcht vor dem Menſchen als
4 ſolchen vorzudringen, ſo wird in der Theorie des Terrorismus die abſolute
Euyrfurchteloſigleit vor dem Menſchen noch zum Grundſatz erhoben, und wohl⸗
gemerkt der Mord von Mitmenſchen um perſoͤnlicher Vorſtellungen vom
Heile aller wegen. Die ganz unmoͤglichen inneren Widerſpruͤche dieſer
” 195
Theorie — Herbeiführen der grundſaͤtzlichen Ehrfurcht vor allen Menſchen
durch grundſaͤtzliche Ehrfurchtsloſigkeit vor dem Menſchen — entgehen leider
den Ruſſen. Und das iſt es auch, was einen immer in Verzweiflung verſetzt
vor dieſen zweifellos aufrichtigen Maͤrtyrern fuͤr ihr Volk. Die Anhaͤnger
des Terrorismus in Rußland bringen es ja tatſaͤchlich noch fertig, mit allem
Pathos der empoͤrten Sittlichkeit gegen die Todesſtrafe zu agitieren —
die doch nur im Namen eben jener abſoluten Ehrfurcht vor dem Menſchen
bekaͤmpft werden kann (und muß), die ſie ſelber verneinen. So weit geht die
ſittliche Verwirrung in dieſen Köpfen! Und fo muß es überall fein, wo
Aufopferung der Perſon verlangt wird im Namen eines Zieles, das allein
gelten und dabei mit unſittlichen Mitteln verwirklicht werden ſoll. In
einem ſolchen typiſch heteronomen Moralismus ſind (da auch jede Veran⸗
laſſung fehlt zur ſittlichen Grundarbeit an der eigenen Perſon) alle Vor⸗
ausſetzungen dafür gegeben, daß alles unuͤberwundene Allzumenſchliche
ſich ungehemmt in menſchenquaͤlendſte Tat umſetzen kann, unter der Maske
des Geſellſchaftsideals und mit ſicherer Ausſicht darauf, nicht nur ent⸗
ſchuldigt, vielmehr auch noch gefeiert zu werden.
Die fttliche Un das iſt leider in hohem Maße das verderbliche Schickſal der ruſ⸗
innerhab der ſiſchen idealiſtiſchen Jugend. Nirgends herrſcht größere Unduldſamkeit,
als Fele, ſchamloſere Vergewaltigung Andersdenkender, die vor keiner brutalen phy⸗
* ſiſchen Gewalttat zuruͤckſcheut. So konnte es in der Nachrevolutionszeit dahin
Eipit des Risi-fommen, daß ein Haͤuflein von zwei- bis dreihundert radikalſter Studenten
Neu die übrigen ſechstauſend Studierenden der Moskauer Univerfität monate⸗
lang am Studium hindern konnte: durch gewaltſame Stoͤrung der Vor⸗
leſungen, wobei maſſenhaft Studenten mißhandelt und mehrere Profeſ⸗
foren geohrfeigt wurden. Roheit gegen Andersdenkende gilt ja in dieſen
Kreiſen fuͤr den Ausdruck der Überzeugungstreue! Und die ruſſiſche Ge⸗
ſellſchaft wagte gar keinen Tadel! Alles geſchah ja aus „purem Idealis⸗
mus!“ Gar zu ſtarke Roheiten waren natürlich die Folgen „leicht erklaͤr⸗
licher Erregung“! So urteilten ſogar geohrfeigte Profeſſoren! Der „idea⸗
liſtiſchen“ Jugend iſt eben alles erlaubt! (Auch daß fie, wie es ſcheint ſchon
grundſaͤtzlich, ihren Gegnern die niedrigſten Motive unterſchiebt, was uns
Deutſchen am widerlichſten an ihr iſt.) Aber auch bei mit Ermordung von
Beamten verbundenen Expropriationen, denen das Zeichen gemeinen
Verbrechertuns auf der Stirne geſchrieben ſtand, ſelbſt bei der Beraubung
der Moskauer Univerſitaͤtskaſſe, wobei ein harmloſer Polizeibeamter ein⸗
5 fach tiber den Haufen geſchoſſen wurde — wagte die ruſſiſche Geſellſchaft
196
feinen Tadel: ſie weiß ja nicht, ob das nicht „aus rein idealiſtiſchen Gründen“
geſchehen iſt! Und dann iſt ja die idealiſtiſche ruſſiſche Jugend der Stolz
ganz Rußlands, ſelbſt des reaktionaͤrſten, das ſie dabei grauſamſt verfolgt:
Denn wo findet man denn in der Welt eine ſo opferbereite Jugend! Wir
meinen freilich, daß dieſe Jugend vor allem an Zügellofigfeit und Uns
erzogenheit unerreicht daſteht! Das Charakteriſtiſche in ihrem Geduldet⸗
werden durch die ſonſt hoͤchſt anftändige liberale Geſellſchaft liegt in der
dort üblichen me rlwuͤrdigen abſoluten Wertung des Bekenntniſſes zu einem
„Geſellſchaftsideal“ an ſich. Wir daͤchten freilich, das ſage noch gar nichts,
es komme erſt einmal auf den ſittlichen Gehalt des Ideals ſelber an, und
dann darauf, wie es im Leben bewieſen wird. Auf fo naheliegende „pe:
dantiſche Dinge kommt aber die ruſſiſche Geſellſchaft nicht. Sie bewertet
vielmehr den politiſchen Idealiſten durchaus nach der unmittelbaren Le⸗
bensgefahr, die mit ſeinem Bekenntnis verbunden iſt (Die Abſtufungen
find hier: 1. Marimaliften, 2. Anarchiſten⸗Kommuniſten, 3. Sozialrevo⸗
futiondre, 4. Sozialdemokraten mit großem und 5. mit kleinem Programm)
und überfieht dabei noch völlig, daß auch im deſpotiſchen Rußland niemand
gehängt wird, der nicht erſt andere mordete. Dieſe andern zählen aber nicht
für die ruſſiſche Geſellſchaft. Ihre idealiſtiſche Jugend hat allein das Recht,
über das Leben von Mitmenſchen zu verfügen ! Das geſchieht ja im Namen
der Ideale! Wer etwas dagegen ſagt, der ift einfach ein Reaktionaͤr, ein
Volksfeind, wahrſcheinlich ein bezahlter Regierungsagent!
— ccc
1 „
D
ier ſtehen wir vor den ſchwerſten geiſtigen und ſittlichen Feſſeln, die Die eigentticen
auf dem heutigen Rußland laſten: Sie beruhen eben in dem abſo⸗ Kala, ai
luten Verbot, Handlungen, Anſchauungen und perſoͤnliche Lebensführung —
der „Volksbefreier“, das heißt eben gerade der idealiſtiſchen Jugend, ir⸗ een Jutel⸗
gendwie nach geſunden geiſtigen und ſittlichen Normen zu beurteilen. Po
Dieſe ungeſchriebene, zweite Zenſur wird innerhalb des geiftigen Rußlands
ganz önders gefürchtet als die plumpe Polizeizenſur: Lieber als ihr un⸗
gehorſam zu ſein nimmt man Kerker, Zuchthaus und Verbannung auf ſich.
Wir erinnern hier an das, worin wir in dem Abſchnitt über den Deſpotis⸗
mus überhaupt das Verhängnis des geiſtigen Rußlands erkannten: der
Mißbrauch des offiziellen Bildungsweſens zu Regierungs⸗ und Polizei⸗
zwecken hatte in Rußland eine einheitliche Organiſation des vom Staate
unabhangigen nationalen Geiſteslebens zur Folge: eben in der ruffifchen
Intelligenz. Da ihr aber ein eigener rein geiſtiger Inhalt fehlte, und fie
nur ein einziges organiſatoriſches Vorbild kannte: eben den deſpotiſchen
197
Staat, ward fie genau zu der gleichen Unterbrüderin freien Geifteslebens
und freier fittlicher Entwicklung wie das offizielle Rußland. Die Geiſter
werden nur im Namen eines anderen Endziels geknebelt: der Beſeitigung
der Volksnot. Aber dieſes Ziel ward jeder lebendig machenden Wirkung
dadurch beraubt, daß ſowohl ſein Inhalt als auch die Mittel zu ſeiner
Herbeifuͤhrung ein für allemal dogmatiſch feſtgelegt find, das heißt mit dem
Anſpruch auf Allgemeinguͤltigkeit bei fehlendem Charakter des unmittel⸗
baren Einleuchtens, womit alſo dazu noch der Geiſt grundſaͤtzlich verriegelt
wird. Der ruſſiſche Geiſt ſteht zwiſchen zwei gewaltſamen Deſpoten: der
ruſſiſchen Regierung und ihrer dogmatiſchen Feindin, der ruſſiſchen In⸗
telligenz. Ihr Zwang iſt der hoffnungsloſeſte, denn er iſt unmittelbar im
Gefuͤhl verankert, im Mitleid mit dem armen Volke. Und weil das ein
einwandfreies Gefuͤhl iſt, hält man alle Gedankenzutat fuͤr gerechtfertigt,
mag fie noch fo willkuͤrlich und quälend fein. Woher da Hilfe kommen
ſoll, außer von unten her, weiß kein Menſch!
unmununnunununn
5 5. Die Rolle des Marxismus im ruſſiſchen
8 Geiſtesleben
Funnunuunmuununnunuuununnunnnnnuununnunn
Der in ihm liegende Fortſchritt gegenüber dem ſozialrevolutionären So⸗
zialismus. — Die oͤkonomiſche Geſchichtsauffaſſung. — Die wiſſenſchaft⸗
liche Befruchtung der ruſſiſchen Intelligenz durch den Marxismus. —
Der „Materialismus“ der marxiſtiſchen Lehre. — Die marxiſtiſche Wiſſen⸗
ſchaft in Rußland. — Die Wirkung des materialiſtiſchen Elementes der
marxiſtiſchen Lehre in Rußland. — Die Mehrwertstheorie. — Die Mehr⸗
wertstheorie im Zuſammenhang des Marrichen Syſtems. — Das eigent⸗
liche Weſen der Mehrwertstheorie. (Das Saljhe und das Wahre an ihr) —
Die Mehrwertstheorie im Dienſte des ſozialen Radikalismus in Rußland.
(Die Expropriation und die Vermiſchung von politiſchem und gemeinem
Verbrechen in Rußland) — Die Flucht vor dem Mehrwert. (Die Selbſt⸗
mordepidemie in der ſtudierenden Jugend Rußlands und die „Liga des
Lebens“) — Die politiſche Spaltung des wirtſchaftenden Rußlands auf
Grund der Mehrwertstheorie: die liberalen Berufe
——ů- nnerhalb dieſes allgemeinen Rahmens des die ruſſiſche Intelligenz
> —— lee. O beherrſchenden ſozialiſtiſchen Dogmatismus ſpielt der Marxismus, auf
luttonären So- deſſen unerhoͤrte Sieghaftigkeit in Rußland während der letzten zwanzig
Jahre bereits hingewieſen ward, eine ganz beſtimmte Rolle. Und zwar
bedeutet er hier, wie uberall wo er revolutionären Sozialismus ablöft, an
198
1
ſich einen bedeutſamen Fortſchritt. Zumächft iſt jede Art von Terrorismus
mit ihm unvereinbar, und damit fallen alle für jugendliche Romantik
und jugendliche Eitelkeit jo gefährlichen Verſuchungen fort, fruchtloſem
Selbſtopfer nachzujagen und damit auch dem (ſelbſt in Rußland hierzu
unerlaͤßlichen) immer und überall abſolut verwerflichen, als Grundſatz ſitt⸗
lich verheerenden Menſchen mord. Sodann liegt überhaupt in dieſer Lehre
eine Beranlaffung zu perſoͤnlicher Beſcheidenheit hinſichtlich der Rolle, die
der einzelne bei der ſozialen Exloͤſung ſpielen kann, und jeder idealiſtiſche
Ruffe möchte dabei eine Hauptrolle ſpielen: hierauf, auf der rein perſoͤn⸗
lichen Initiative, baut ſich ja die ganze ſozialrevolutionaͤre Doktrin auf.
Nach Karl Marr entſcheiden aber die oͤkonomiſchen Verhaͤltniſſe, und iſt
die ſoziale Erlöfung eine geſchichtliche Notwendigkeit. Dabei bleibt in
Rußland mehr wie irgendwo der große Widerſpruch ſeiner Lehre unbe⸗
achtet, der darin liegt, daß man alle Kraͤfte daran ſetzen ſoll, etwas herbei⸗
zuführen, was an ſich unausbleiblich iſt (man gründet doch eigentlich fonft
keine Vereine zur Herbeifuͤhrung einer Mondfinſternis). Andererſeits wird
in Rußland wenigſtens ebenſoſehr wie überall ſonſt, wo der Marxismus
zur Herrſchaft gelangt, rein gefühlsmäßig eine unmittelbare Folgerung aus
ihm gezogen, in der eigentlich die einzige Hoffnung begruͤndet liegt, daß
der einſtige ſoziale Ausgleich nicht auf den Trümmern unſerer Kultur ſtatt⸗
finden wird: wir meinen die Folgerung, daß jeder Haß, jede ſoziale Ani⸗
mofität gegen die Herren im kapitaliſtiſchen Syſtem wegfallen muß. Denn
ſtreng genommen ſind auch ſie nach Karl Marx notwendige Diener der
ſozialen Entwicklung, und ganz ſtreng genommen ſogar tatſaͤchliche, wenn
auch unfreiwillige Bahnbrecher des unvermeidlichen ſozialen Heiles: denn
es wird ſich ja nur auf den Formen des Wirtſchaftslebens gruͤnden koͤnnen,
die erſt der Kapitalismus, der eben den Keim zu feiner Selbſtuͤberwindung
in ſich trägt, in einem hoͤchſt entwickelten Induſtrialismus ausarbeiten kann.
Wir wiſſen dabei ſehr wohl, daß Karl Marr ſelber dieſe Konſequenzen
ſeiner Lehre nicht zog; ihr widerſpricht ſeine niederſchmetternde Anklage
der Großkapitaliſten, ſowie ſein ewiges Liebaͤugeln mit der ſozialen Re⸗
volution, die dabei in ſeinem Gedankenbau gar keinen Platz mehr findet.
Wir wiſſen auch, daß die Verhetzung gerade in den Schriften der ruſ⸗
ſiſchen Sozialdemokraten leider noch immer einen ſehr breiten Raum ein⸗
nimmt. Trotzdem find dieſe latenten, in der inneren Logik der marriftifchen
Theorie wirkenden ſozialverſoͤhnenden Tendenzen auch in Rußland ſehr
zu fphren: auch hier wird der ſoziale Kampf immer mehr auf zwei völlig
. 199
es
.
voneinander geſchiedenen Plattformen ausgekaͤmpft: theoretiſch im Zeichen
des Glaubens an eine immanente wirtſchaftliche Evolution, praktiſch in
rein wirtſchaftlichen Maßnahmen, aus denen mehr und mehr alle terro⸗
riſtiſchen Mittel ſchwinden, und unter denen die erprobten, hochkulturellen
und jeden ſozialen Fortſchritt in ſich ſchließenden Formen der Genoſſen⸗
ſchaft und des Gewerkvereins trotz aller Verfolgung und Hemmungen durch
die Regierung die Hauptrolle ſpielen. Es iſt ſomit durch den Marxismus
fuͤr die ruſſiſche Freiheitsbewegung ein Doppeltes gewonnen: ein Gegen⸗
gewicht gegen die perfönlihen Haßmotive hinſichtlich der Gegner — und
dann — und danach ſchmachtete eigentlich die ruſſiſche Intelligenz bei allem
ihrem aͤſthetiſchen Hochmut — ein Weg zu dauernder praktiſcher Tätigkeit
fuͤr das ſoziale Heil, eben in der Schaffung von Genoſſenſchaften und der
Organiſation von Gewerkvereinen. Hier hat die ſozialdemokratiſche ruſ⸗
ſiſche Intelligenz tatſaͤchlich eine vielſeitige und erfolgreiche Taͤtigkeit ent⸗
wickelt. Und der Segen war der, daß ſie ſo endlich wirklichen Anſchluß an
das eigentliche Volk, wenigſtens an die Fabrikarbeiter, fand. Denn wenn
den realiſtiſchen, welterfahrenen Sinn des ruſſiſchen Proletariers die ſozial⸗
revolutionäre Theorie eigentlich nie verfuͤhrte — die Beteiligung der Ar⸗
beiterſchaft am Terrorismus war tatſaͤchlich verſchwindend —, fo gab der
Marxismus, der ſeinem innerſten Weſen nach auf die Seele des Prole⸗
tariers zugeſchnitten iſt, und eigentlich nur hier ſeine Einheit findet, auch
dem ruſſiſchen Arbeiter das, wonach ſeine Seele am meiſten lechzte: die
Vorſtellung eines Heils für alle, an dem auch er mitarbeiten koͤnne, und
gerade dann, wenn er die eigenen Intereſſen wahrt, freilich im Rahmen
einer Mehrheit (ſeiner Klaſſe); doch darauf iſt der ruſſiſche Proletarier
durch die jahrhundertelange Schule der Landgemeinde mehr vorbereitet
als irgendein Proletarier Europas. Auch ſo erklaͤrt ſich das ungeheure Gluck
des Marxismus in Rußland: in der Vorbereitung, die ſeine praktiſchen
Forderungen in der Seele des ruſſiſchen Proletariers fertig vorfanden.
Die * un hat aber der Marxismus der ruſſiſchen Intelligenz auch in rein
fructung der geiſtiger Hinſicht einen ungeheuren Dienſt erwieſen: Er gab ihr ein
lain, burg te neues Verhältnis zur Wiſſenſchaft. Bis zu ihm ſtand die ruſſiſche Intelli⸗
Marziimus genz — aus naheliegenden, mehrfach eroͤrterten Gründen — der Wiſſen⸗
ſchaft zum mindeſten gleichguͤltig gegenuͤber (eine raſch voruͤbergehende
Begeiſterung für die exakte Naturwiſſenſchaft widerſpricht dem ebenſo⸗
wenig wie der nie von der ruſſiſchen Intelligenz verleugnete Anſpruch dar⸗
auf, wiſſenſchaftlich zu fein). Tatſaͤchlich hielt man den Wiſſenſchaftsbetrieb
200
4 we “s
ui Ws
E
auf bourgeoije Eitelfeitsbefriedigung gerichtete Tätigkeit und
ſelber alles das, was man nicht entbehren konnte, um vor der
Anſpruch auf Wiſſenſchaftlichkeit aufrecht zu erhalten, aus klei⸗
3 ad hoo zufammengeftellten, im hoͤchſten Grade oberflächlichen Kom⸗
pendien. Nun kam der Marxismus mit feinem in feinem innerften Weſen
begründeten Anſpruch auf Wiſſenſchaftlichkeit (das ſoziale Endziel, das
aller, ſoll ja hier wiſſenſchaftlich begründet fein). Und dabei war das
mehr die alte bourgeoife Wiſſenſchaft, vielmehr eine ganz neue, re⸗
volutionierende. Sie beanſpruchte aber dieſelbe Strenge und Gewiſſen⸗
bhaftigkeit den Tatſachen gegenüber: So mußte denn auch die ruſſiſche
Intelligenz wiſſenſchaftlich werden. Und das wurde ihr noch unendlich er⸗
leichtert: denn fie bekam gleich eine fertige wiſſenſchaftliche Methode. Die
gibt der Marxismus tatſaͤchlich und wirkte und wirkt hier unendlich ans
legend auch auf die wirkliche, undogmatiſche Wiſſenſchaft. Karl Marx bes
ging nur den einen Fehler: er behauptete, daß das, was tatſaͤchlich nur zur
FVeorſchung notwendige Annahme, wiſſenſchaftliche Methode, freilich hoch⸗
geniale und unerſchoͤpfliche, iſt, gedankliche Wirklichkeitsnachbildung ſei.
Wir meinen natürlich den einen der beiden Eckpfeiler ſeines Syſtems, den
Fphiſſtoriſchen Materialismus, oder wie er eigentlich heißen ſollte — denn er
iſt natürlich gar keine materialiſtiſche, vielmehr eine rein pſychologiſche
Lehre — feine oͤkonomiſche Geſchichtsbetrachtung. Karl Marx lehrt be⸗
klanntlich, daß im geſchichtlichen Werdegang der Menſchheit die oͤkono⸗
miſchen Verhaͤltniſſe das Urſprüngliche find, alle anderen geſchichtlichen
Tatſachen dagegen, Recht, Sitte, Religion, Wiſſenſchaft, Philoſophie,
Kunſt, nichts weiter darſtellen, als die Folge der oͤkonomiſchen Verhaͤltniſſe,
ihren ideologiſchen Überbau, der eindeutig beſtimmt iſt durch fie. Es fei
hier nun gleich betont, daß dieſe Lehre unhaltbar iſt: Es iſt auch nicht der
geringſte Beweis dafür zu erbringen, daß den wirtſchaftlichen Tatſachen
ttatſaͤchlich die entſcheidende Rolle im Geſchichtsprozeß der Menſchheit zus
kommt. Unſer Bewußtſein ſagt uns (denken wir nur an Kunſt und Philos
ſeophie) genau das Gegenteil. Der Zuſammenhang müßte alſo hier unter:
halb unferes Bewußtſeins vor fi gehen, und das iſt eine Annahme, die
wir als typiſch dogmatiſch gerade im Namen der Wiſſenſchaftlichkeit ab⸗
llehnen. Nun erinnere man ſich aber an alle die Momente, die das ſoziale,
dſtſo auch das wirtſchaftliche Leben gerade in den Vordergrund des rufs
ſiſchen Geſellſchaftsbewußtſeins drängte — dieſer ganze Abſchnitt handelte
ja nur davon —, und man wird die begeiſterte Gier begreifen, mit der ſich
das geiftige Rußland über den Marxismus herſtürzte. Er war genau das,
was es brauchte. Wollte es überhaupt aus feinem — geſchichtlich fo tief
begründeten — ſchwankenden Verhältnis zur Wiſſenſchaft herauskommen,
ſo war das nur moͤglich, wenn ihm die Wiſſenſchaft in engſter Verbindung
mit dem ſozialen Geſchehen geboten ward. Und das geſchah hier.
Der „Materias amit allein war der Marxismus, wenigſtens im intelligenten Lager,
munten D vor jeder gefährlichen Kritik geſichert. Was ſonſt überall ein Hindernis
ev feiner Annahme bedeutet: feine Verſchmelzung mit dem metaphyſiſchen
Materialismus, war hier nur ein neues Moment, das ihm die Wege eb⸗
nete. Denn wir ſahen ja, wie ſehr und aus welchen Anlaͤſſen und Grün:
den die ruſſiſche Intelligenz zu dem Bekenntnis zum Materialismus kom⸗
men mußte, und daß ſie gar keinen Widerſpruch fand zwiſchen ihm und
der Forderung praktiſcher Selbſtaufopferung, die ſie von jeher erhob.
Somit hatte die ganze ruſſiſche Intelligenz ſchon vor Karl Marx den Fehler
begangen, den er in ſeinem Syſtem grundſaͤtzlich begeht: Denn auch er
wendet ſich, nachdem er einen rein mechaniſch verlaufenden Weltenlauf
verkuͤndet hatte, ſchließlich an den Idealismus der Proletarier in der Auf⸗
forderung: „Proletarier aller Laͤnder vereinigt Euch!“ Und dabei liegt
doch nicht die geringfte Möglichkeit vor, aus der — behaupteten — Tat⸗
ſache, daß die wirtſchaftlichen Verhaͤltniſſe das Weltgeſchehen beſtimmen,
und der Sozialismus in ihm unausbleiblich iſt, einen Appell an den Willen,
an ein Sollen herzuleiten. Jeder Kloſterſchuͤler des finſteren Mittelalters
wußte, daß aus einem Sein niemals ein Sollen wird, und daß eine ma⸗
terialiſtiſche Weltauffaſſung an ſich ſchon unfaͤhig iſt, auch nur die geringſte
Bewußtſeinstatſache zu erklaͤren. Der Umſtand, daß eine Theorie durch
ſimpelſte Schullogik widerlegt werden koͤnnte, hindert ſie indes durchaus
nicht daran, welterſchuͤtternde Wirkungen auszuloͤſen. Sie muß nur den
Seelen der Maſſen angepaßt fein, und das iſt der Marxismus in unver⸗
gleichlicher Weiſe. Und deshalb ſtieß man ſich auch nie an die Unechtheit
ſeines „Materialismus“. Wenn wir ja nicht gerade unſeren Verſtand ab⸗
ſtellen vor dem Begriff der „wirtſchaftlichen Verhaͤltniſſe“, denen hier
Allmacht uͤber den Menſchen zugeſprochen wird, ſo muͤſſen wir doch an
die Wirkung denken, die fie auf ihn ausüben, und da kommen wir natürlich
auf ſeeliſche Triebe: Hunger, Habgier uſw. Mithin haben wir im Marxis⸗
mus gar keine materialiſtiſche, vielmehr nur eine pſychologiſche Welt⸗
erklaͤrung vor uns. Wir muͤſſen hier ſo tief auf das Weſen der marxiſtiſchen
Lehre eingehen, weil ein großer Teil der heutigen, ſog. offiziellen, an der
202
Br -
Br
Li
— gepflegten ruſſiſchen Wiſſenſchaft marxiſtiſch if, und zwar nicht
1 bloß Volkswirtſchaft (3. B. Tolſtoj meint nur den Marxismus, wo er von
Volkswirtſchaftslehre ſpricht), vielmehr Weltgeſchichte im Allgemeinen und
im Speziellen: neuerdings vor allem Literaturgeſchichte. Wir betonten
eee eee metfebifge Bedeutung der darth fk
nomiſchen Geſchichtstheorie: Um die geſchichtlichen Tatſachenreihen, zwi⸗
ſchen denen natürlich weitgehendſte Wechſelwirkung ftattfindet, irgendwie
einheitlich überſichtlich zu erfaſſen, erweiſt es ſich tatfächlich als Außerft
{ fruchtbar, von den wirtſchaftlichen Verhaͤltniſſen auszugehen. Man muß
nur nicht glauben, daß man hier den Urgrund alles anderen geſchichtlichen
Geſchehens vor ſich habe. Aber ſelbſt wenn man das glaubt, kann eine fo
geleitete Geſchichtsforſchung zu fruchtbaren Ergebniſſen gelangen. Der
dogmatiſche Glaube ftört hier nicht viel. Er bleibt im Hintergrund. Und
darum hat auch der Marxismus zweifellos die Wiſſenſchaft gefoͤrdert. Man
muß nur ſein ganzes Weſen vor Augen haben, wenn man ſich mit ſolcher
; Wiſſenſchaft beſchaͤftigt. Darum iſt aber auch die Kenntnis des Marrismus
* — der Schluͤſſel für die heutige ruſſiſche Wiſſenſchaft.
4 3 Wiſſenſchaft zu brauchen, weil ſie durch und durch dogmatiſch iſt).
Sie blüht in der ganzen Welt nicht jo wie in Rußland. Und dabei hat fie
außerordentlich wenig Poſitives zum Vorſchein gebracht. (Es handelt ſich
im großen und ganzen um Denknuancen, um die unter Begehung endloſer
llogiſcher Elementarſchnitzer ſich ein hoffnungsloſes Dickicht naiver und nicht
naiver Sophismen ſchlingt: das Ganze eingetaucht in den gehaͤſſigſten
Inquiſitorton.) Man muß in dieſer furchtbaren, ausſchließlich polemiſchen
Literatur geblättert haben, um einen Begriff zu erhalten von den gro⸗
tesken Selbſtverſtümmelungen, deren der Menſchengeiſt fähig iſt aus Angſt
vor dem Geiſte. Denn hinter dem allen ſteht doch die eine Todesangſt um
die Wahrheit der Lehre des Meiſters. Nirgends ſonſt fallen einem die
elementaren Lücken im ruſſiſchen Geiſte fo auf, und die furchtbaren Wider:
1 Funde, die ſich ihrer Schließung entgegenſetzen. Wie hoffnungslos ein unter
dem Deſpotismus des Gefühls, der Wünfche ſtehendes Denken im Laby⸗
ninthe ſeines eigenen Verkennens herumgefuͤhrt werden kann, das lehrt
vielleicht nichts mehr als die ruſſiſche marxiſtiſche Literatur. Sie wird eins
mal von unfhägbarem Werte fein für eine kommende Pſychologie des
menſchlichen Denkens. Es liegt dabei im Weſen der Sache, daß die volks⸗
203
chgibt es in Rußland auch noch eine rein marxiſtiſche, den Marxis⸗ Die e
ſelber zum Gegenſtand habende Forſchung (ich ſcheue mich, den Rustand
u 4
wirtſchaftliche Literatur noch am leichteſten den dogmatiſchen Marxismus
verträgt: Er erſcheint da faſt von felber als Methode. Darum iſt von aller
ruſſiſchen Wiſſenſchaft die Volkswirtſchaft mit die am wenigſten in der
Luft ſchwebende. Aber auch nur ſoweit die Induſtrie in Frage kommt.
Daß Rußland ſo vorwiegend ein agrariſches Land iſt, hat ja den wiſſen⸗
ſchaftlichen Marxismus in beſondere Schwierigkeiten verſetzt. Denn be⸗
kanntlich irrte ſich Karl Marx in Hinſicht auf die agrariſche Evolution. Seine
Verelendungstheorie widerſpricht hier den Tatſachen: der laͤndliche Klein⸗
betrieb behauptet ſich ſiegreich gegenüber dem kapitaliſtiſchen Großbetrieb.
Zu beweiſen, daß dem nicht ſo iſt, daß auch hier Karl Marx recht hat,
bemuͤhen ſich nun in Rußland mit unendlichem Fleiß eine große Anzahl
fanatiſchſter marxiſtiſcher Agrarforſcher. So kommen mit Bienenfleiß zu⸗
ſammengetragene, an ſich wertvolle Materialſammlungen zuſtande, die
nur dogmatiſch falſch gedeutet werden.
Die Wirkung chließlich noch ein Wort über die Wirkung des mit dem Marxismus
— Eiomen theoretiſch — wenn auch durchaus kuͤnſtlich, ja widernatuͤrlich — ver⸗
a — in einten Materialismus in Rußland. Daß er bei der Intelligenz auf alte
Rußland Gewohnheit ſtieß, betonten wir bereits, daß er in den Kreiſen der ruſ⸗
ſiſchen Proletarier auf großen Widerſtand ſtoßen mußte, iſt bei der reli⸗
gioͤſen Veranlagung des Ruſſen ebenſo ſelbſtverſtaͤndlich, wie daß der
marxiſtiſche Materialismus da, wo er in Proletariergeiſtern wirklich Ein⸗
gang fand, verwuͤſtend wirken muß (was freilich durch die Freude am Den⸗
ken, die meift erft der Marxismus den Proletarier erleben läßt, weniger
zum Bewußtſein kommen mag). Zweifellos iſt es, daß der Materialismus
der marxiſtiſchen Lehre ihre Verbreitung ebenſoſehr in der Intelligenz
foͤrderte wie im ruſſiſchen Proletariat hemmte. Bei der letzten ruſſiſchen
Revolution ſoll das eine verhaͤngnisvolle Rolle geſpielt haben. Neuerdings
ſoll bei der Propaganda der Marxiſtiſchen Doktrin im ruſſiſchen Prole⸗
tariat auf ihren Materialismus gar nicht mehr hingedeutet werden, wo⸗
durch ja das eigentliche Weſen der Lehre auch gar nicht berührt wird —
wie denn uͤberhaupt die ruſſiſchen Sozialdemokraten zweifellos die am
meiſten mit der Wirklichkeit Rechnenden im freiheitlichen Rußland ſind
(womit fie beweiſen, daß fie den Geiſt des Meiſters begriffen). Exwaͤhnt
ſoll dabei noch ſein, daß die Bekaͤmpfung des Marxismus in Rußland von
konſervativer, panſlawiſtiſch gefärbter Seite her direkt bei feinem Materia⸗
lismus einſetzte, und daß tatſaͤchlich hier die inneren Widerſpruͤche der
Marxiſtiſchen Lehre früher theoretiſch erfaßt wurden als in Weſteuropa.
204
Das mag aber auch noch damit zufammenhängen, daß man den Maris:
mus viel früher in der ruſſiſchen gebildeten Geſellſchaft beachtete und ernft
nahm, als in der gebildeten Geſellſchaft Wefteuropas. Wie denn überhaupt
der ruſſiſchen Sozialdemokratie abſolut und relativ ein viel größerer
Teil der gebildeten Elemente der Nation ſich zurechnet, wie irgendeiner
Sozialdemokratie Weſteuropat. Und gerade deshalb iſt heute der Marxis⸗
mus zum Verftändnis des geiſtigen Rußlands unentbehrlich.
n groß iſt der Anhang der ruſſiſchen Sozialdemokraten unter Die Metmnt-
een Ausübenden der ſogenannten liberalen Berufe: Arzten, Lehrern, — #
Gelehrten, Rechtsanwälten, während von der ſozialdemokratiſchen Partei⸗ Sedan
vereinigung grundfäglich ausgeſchloſſen find alle Handeltreibenden, Werk⸗
ſtatteninhaber, Induſtrielle und Gutsbeſitzer. Dieſe ſtrikte Scheidung des
wirtſchaftenden Rußlands in zwei ſtreng voneinander abgeſonderte poli⸗
tiſche Gruppen — zweifellos ein politiſches Verhaͤngnis Rußlands — iſt
die direkte Folge der Verbreitung der marxiſtiſchen Lehre in Rußland, und
zwar der ganz eigenartigen Rolle, die hier der andere Eckpfeiler des Marxis⸗
mus ſpielt: die Mehrwertstheorie. Sie iſt nirgends fo woͤrtlich genommen
worden wie in Rußland — und das haͤngt mit dem das ganze geiſtige
Rußland beherrſchenden und dabei eigenartig abſtrakten Moralismus zu⸗
ſammen, von dem bereits ausführlich die Rede war. Was von Marx'
Aonomiſcher Geſchichtsauffaſſung gilt, gilt ja ebenſo von feiner Mehr⸗
wertstheorie: an ſich falſch, den Tatſachen widerſprechend, uͤbt fie uner⸗
ſchoͤpfliche Anregung aus. Die Mehrwertstheorie iſt richtig zu verſtehen nur
im großen Zuſammenhang des Marxſchen Syſtems. Karl Marx' hiſtoriſche
Tat beſteht ja darin, daß er das Schickſal des Sozialismus, der bis dahin
ein platoniſches Daſein im bürgerlichen Idealismus geführt hatte, mit dem
eines ganzen Standes, des Proletariats, verband. Marx' erlöfende Wir⸗
tung auf den Proletarier erflärt ſich daraus, daß er ihm eine geſchichtliche
Aufgabe zuwies, und die allerwichtigſte: die Herbeiführung des ſozialen
Ioealzuftandes: des Sozialismus. Karl Marx erreichte das, indem er
dem Proletarier klar machte, daß er nur fein eigenes Intereſſe zu verfolgen
babe, um dem Heil aller zu dienen: denn er werde unter jedem anderen
als dem ſozialiſtiſchen Syſte m rettungslos ausgebeutet werden. Hier ſetzt
die Mehrwertstheorie ein; durch ſie ſoll bewieſen werden, daß jeder Unter⸗
nehmergewinn nicht voll ausgezahlten Arbeitslohn darſtellt: Der Arbeiter
muß auf einen Teil ſeines Arbeitsertrages verzichten, weil ihm nicht die
Produktions mittel gehören. Erſt ihre Vergeſellſchaftung, das heißt die Ver⸗
205
wirklichung des Sozialismus, werde dem Arbeiter den Genuß feines
vollen Arbeitsertrages bringen. Er werde demnach den nur dann erhalten,
wenn ihn auch alle ſeine Kameraden erhalten werden. Er iſt alſo ſolidariſch
mit ihnen in ſeinen elementaren Intereſſen und muß in Gemeinſchaft mit
ihnen vorgehen, um fein eigenes Los zu verbeſſern, das heißt den Sozialis⸗
mus herbeizufuͤhren. — Karl Marx behauptet lediglich an die Selbſtſucht
des Proletariers zu appellieren. Freilich, und hier wird die Hoffnung des
Proletariers hochgehalten: der Sozialismus muß kommen, er iſt noch
dazu das natürliche, notwendige Ergebnis der geſchichtlichen Entwicklung
der Menſchheit, in der die wirtſchaftlichen Verhaͤltniſſe den Ausſchlag geben.
Hier iſt die Stelle, wo die oͤkonomiſche Geſchichtserklaͤrung einſetzt. Alle
anderen Beſtandteile der Marxſchen Lehre: Kriſen⸗, Verelendungs⸗, An⸗
haͤufungstheorie uſw., ordnen ſich dieſem Gedankengang muͤhelos unter.
Wir ſehen alſo, es kommt Sinn und Zuſammenhang in das aus ſo ver⸗
ſchiedenartigen Elementen beſtehende marxiſtiſche Syſtem, ſobald man es
nur betrachtet vom Standpunkt ſeiner Wirkung auf die Seele des Prole⸗
tariers. Hier muß fie uͤberwaͤltigend wirken: Es wird ihm, der bisher nichts
kannte als Unterdruͤckung und kleine Sorge, eine weltbefreiende Miſſion
gegeben. Es wird dabei nichts anderes von ihm verlangt, als was ſein
elementares Beduͤrfnis fordert: auf Beſſerung ſeiner Lage bedacht zu ſein.
Und wir ſahen bereits, daß es den Proletariern aller Laͤnder eignet, da
ſelbſtſuͤchtige Motive anzugeben, wo ſie tatſaͤchlich von ſelbſtloſen beſtimmt
werden! Nur aus dieſem großen, rein pſychologiſchen Zuſammenhang des
Marrſchen Syſtems kann der eigentliche Sinn der Mehrwertstheorie ver⸗
ſtanden werden, und nur damit die verhaͤngnisvolle Rolle, die fie im ruſ⸗
ſiſchen Geſellſchaftsleben ſpielen mußte.
52 Mehrwertstheorie lehrt, daß jeder Unternehmergewinn nicht voll
ausgezahlten Arbeitslohn, alſo Ausbeutergewinn, darſtellt. Zum Be⸗
4 u das weiſe wird behauptet: die Kapitalien verzinſten fi im Verhältnis der in
Wabre an lor) ihnen für Arbeitsloͤhne enthaltenen Quoten. Das iſt aber tatſaͤchlich nicht
der Fall. Waͤre dem ſo, dann muͤßte ja auch die Einfuͤhrung koſtbarer Ma⸗
ſchinen zu einer Verminderung des Unternehmergewinns fuͤhren, was der
banalſten Erfahrung widerſpricht. Und was ſchließlich die allgemeine Be⸗
hauptung anbetrifft, jeder Unternehmergewinn ſtamme voll und ganz aus
nicht ausgezahltem Arbeitslohn, ſo wird dabei grundſaͤtzlich keine andere
als die Handarbeit als wertbildend anerkannt: alſo weder Erfinder⸗ noch
Organiſationstaͤtigkeit. Auch das iſt unhaltbar ganz abgeſehen davon,
206
.
2 ˙—·— U lei un LEBE m
nurperjönlich erlebt wird. Das nur aus der Fülle der hier möglichen Wider⸗
legungen. Dabei haften dieſer Theorie dennoch zwei unverwuͤſtliche Ele:
mente an: ein tatjächliches und ein rein moraliſches. Das tatſaͤchliche un⸗
widerlegliche Moment in der Mehrwertstheorie liegt darin, daß in der not⸗
wendigen Verzinſung des in den Produktionsmitteln angelegten Kapitals
Gelderzeugung ohne Arbeit nachgewieſen wird. Dieſer Zins muß natüuͤr⸗
lich auf das fertige Produkt aufgeſchlagen werden. Er geht alſo deſſen Er:
zeuger, dem Arbeiter, verloren. Inſofern kann man alfo ſagen, daß er für
feine Arbeit weniger Lohn erhält, als ihm dem Werte des Produktes nach zus
kame. Dieſes „weniger“ iſt der Mehrwert des Kapitaliſten. In dieſem ganz
großen Zuſammenhange — wenn man naͤmlich die in den Produktions⸗
mitteln nachwirkende Erfindertaͤtigkeit ſowie die Organiſationstaͤtigkeit der
Arbeitsleitung abrechnet, die ſich doch auch zum Teil in der Beſchaffung
und Anordnung der Produktionsmittel verwirklicht — behält Karl Marr
recht: wenn er behauptet, daß der Arbeiter ſo lange nicht ſeinen vollen
Aͤrdeitslohn erhalten wird, als ihm nicht die Produktions mittel gehören,
oder was basjelbe iſt, daß in jedem Unternehmergewinn arbeitslofes, alſo
auf Koſten der Arbeiter (freilich aller am Betrieb Beſchaͤftigten) gewonne⸗
f nes Einkommen ftedt, das einfach dem Beſitz der Produktionsmittel ent⸗
ſpringt, deren Anlagekapital doch auf jeden Fall verzinſt werden muß.
Ganz deutlich ergibt ſich das in der Aktiengeſellſchaft: hier gehören die
Produktions mittel nicht dem eigentlichen Unternehmer, dem Direktor, viel
mehr den Aktionären: deren Dividende ftellt letzten Endes nichts anderes
dar als Produktionsmittelverzinſung. Der Unternehmergewinn ſteckt im
Gehalt und allenfalls in der Tantieme des Direktors refp. Direktoriums.
Das jedem kapitaliſtiſchen Wirtſchaftsbetriebe anhaftende arbeitsloſe, alſo
auf Koſten der Arbeiter (natürlich im Sinne aller in ihm Arbeitenden) vers
wirklichte Einkommen iſt hier ganz klar von Karl Marx erfaßt: eben in der
notwendigen Verzinſung der Anlagekapitalien. Tatſaͤchlich erſchoͤpft ſich
alle ſoziale Reform in Maßnahmen dazu, den Anteil der Arbeit am Kapitals
gewinn moͤglichſt zu ſteigern auf Koſten des Anteils des Kapitals. Indes
kommt keine Sozialreform völlig Über den Mehrwert hinweg, deſſen Urs
ſprung im Anlagekapital liegt. (Am ausſichtsreichſten bleibt noch der eng⸗
liſche Verſuch: durch moͤglichſt kleine Aktienbetraͤge die Segnungen des
Kapitalismus allen Bevolkerungsſchichten zugänglich zu machen; aber auch
dann wird noch eine Ungerechtigkeit bleiben in der eben hier begründeten
207
ungleihmäßigen Fähigkeit, dieſe Segnungen zu nutzen.) Hier hat tatſaͤch⸗
lich Karl Marx eine eherne Scheidewand errichtet zwiſchen kapitaliſtiſcher
und ſozialiſtiſcher Wirtſchaftsordnung. Und es muß auch ausgeſprochen
werden, wir laſſen dabei völlig die Frage außer Betracht, ob die ſozia⸗
liſtiſche Ordnung uͤberhaupt moͤglich iſt, ſittlich notwendig iſt fie zweifellos.
Denn kein ſich widerſtandslos prüfendes Gewiſſen kommt über die Un⸗
gerechtigkeit auch des kleinſten Teiles von arbeitsloſem Einkommen hin⸗
weg. Alles, was da von feinen Gewiſſen geſchieht, ift Flickwerk: Auch wenn
man allen aus Mehrwert ſtammenden Verdienſt an Notleidende oder an
die Gemeinſchaft abgibt, kommt man nicht heraus aus der Ungerechtigkeit:
denn immer und überall hat man ſich ein Verfuͤgungsrecht angemaßt über
Geldmittel, das tatſaͤchlich bloß dem zukommen kann, zu deſſen Arbeits⸗
lohn dieſer Mehrwert hinzugekommen wäre, wenn ihm die Produktions⸗
mittel gehoͤrt haͤtten. Wenn wir die ſozialen Anſchauungen irgendeiner in
ihnen geeinten Mehrheit irgendwie begreifen wollen, muͤſſen wir dieſer
grundlegenden ſozialen Tatſache ins Auge ſchauen, daß naͤmlich unſer herr⸗
ſchendes Wirtſchaftsſyſtem ſittlich unhaltbar ift — womit ja weder feine
tatſaͤchlichen Verdienſte (um Volksvermehrung und kulturelle Daſeins⸗
erhoͤhung der Maſſen) beſtritten, noch ſeine augenblickliche Entbehrlich⸗
keit bewieſen iſt: Streng genommen ſtehen wir da nur vor einer jener,
allen Menſcheneinrichtungen anhaftenden Unvollkommenheiten, deren Er⸗
kenntnis wir den Anſporn zu jener raſtlos dem Beſſeren zuſtrebenden
Tatigkeit entnehmen, die das Elementarbeduͤrfnis eines geiſtig⸗ſittlichen
Weſens, wie des Menſchen, ausmacht.
ge ir wiſſen indes bereits genug von der rein perſoͤnlichen, daher hin⸗
Diende des bon ſichtlich allgemeiner Zuſammenhaͤnge notwendigerweiſe auf das Abs
abe un Nuglastſolute gerichteten Anſchauungsweiſe des ruſſiſchen Gebildeten und der
n durch jahrhundertelangen Mißbrauch aller Gewalten in ihm großgezuͤchte⸗
Vermischung son ten Oppoſition gegen alles Beſtehende, um die Begeiſterung zu begreifen,
ur er Ber. mit der ſich die ruſſiſche Intelligenz gerade auf Karl Marx' Mehrwerts⸗
Naslant) theorie ſtürzte: aller tief im ruſſiſchen Naturell, wie es jetzt ift, begründete
Nihilismus fand auf einmal hier, ganz unverhofft, das, was er nirgends
mehr zu finden hoffen konnte: eine wiſſenſchaftliche Begründung. Denn
wenn irgendwo, ſo gilt dem Mehrwert gegenuͤber die ruſſiſche Lieblings⸗
form: „Alles oder Nichts!“ So hat denn gerade dieſer Teil des Marxismus
unabſehbar verheerend gewirkt auf die ruſſiſchen Geiſter, namentlich die der
idealiſtiſchen Jugend: ſo woͤrtlich iſt der Mehrwert in der ganzen Welt
208
1 ir
—
nicht genommen worden, war er gar nicht von Marx ſelber gemeint. Er
kam aber auch nirgends ſo gerufen: denn er ſollte nur das unangreifbar
machen, wozu man längft vor ihm unerſchuͤtterlich entſchloſſen war: eine
grundſaͤtzlich unverſoͤhnliche Oppoſition gegen alles geſellſchaftlich und
ſtaatlich Beſtehende. Karl Marx hat alſo ſtreng genommen hier gar fein
neues Unglück geſchaffen, vielmehr nur einem vorhandenen Lebensdauer
gegeben, es geſchuͤtzt vor geiftiger Überwindung. Und die war gerade ſchon
angebahnt durch Karl Marx' oͤkonomiſche Geſchichtstheorie: denn die lehrt
3 ja gerade das Beſtehende achten als notwendige Übergangsform zum Seins
9 —
ſollenden. Man kann alſo wohl ſagen, daß Karl Marx in Rußland mit
ſeiner Geſchichtstheorie ebenſoviel Segen ſtiftete, wie er mit ſeiner Mehr⸗
wertstheorie Unheil anrichtete. Tatfächlich ſcheiden beide Theorien die ruſ⸗
ſiſche Intelligenz, namentlich ihre Stüßpfeiler, die idealiſtiſche Jugend, in
einen dem alten Fluch des Intelligenten, feiner Paffivität, entronnenen,
evolutioniſtiſch geſinnten, in praktiſcher Tätigkeit für und mit dem Volke (in
Genoſſenſchaft und Gewerkverein) Befriedigung ſuchenden Fluͤgel, und
in einen nach wie vor grundfäglich revolutionären, radikalen Flügel, deſſen
doktrinaͤrer Nihilismus, ſeit er der Sophismen entbehren und ſich auf eine
Grundtatſache des realen wirtſchaftlichen Daſeins ſtuͤtzen kann, einen ganz
beſonderen, vor nichts mehr zuruͤckſchreckenden Fanatismus angenommen
bat: Hier fand ihr Lofungswort alle Lebensenttaͤuſchtheit der vor endloſen
ſtaatlichen Mißbraͤuchen, im Angeſichte namenloſer Volksnot und faſt im⸗
mer unter furchtbaren perſoͤnlichen Entbehrungen herangewachſenen ruſ⸗
ſiſchen lernenden Jugend. Der Mehrwert iſt an allem ſchuld, nichts als er!
und er iſt nur zu überwinden mit dem kapitaliſtiſchen Syſtem, das allein
erhalten wird von dem verfluchten Deſpotismus: So iſt man denn über
Karl Marx und neu geſtarkt von ihm zur alten Sozialrevolution zurüds
gekehrt — die doch gerade Karl Marx ad absurdum geführt hat. Zweifel⸗
los hat denn auch die ſozial revolutionäre Richtung, die bereits im Ab⸗
ſterben begriffen war, durch die Unabweisbarkeit der Mehrwertstheorie
neue Kraft gewonnen: in den Revolutionstagen von 1905 hat jede der ſich
an Rabifalismus überbietenden revolutionären Parteien auf den Mehr:
wert ihre Hauptbegründung aufgebaut: es handelte ſich in ihrer Ver:
4 ſchiedenheit nur um die Mittel zu feiner endgültigen Beſeitigung, und je
radikaler die waren, deſto aufrichtiger galt Überzeugung und Opfermut —
auch bei den Nichtradikalen. Daß dann endlich jeder Buͤrgersmann einfach
Blutſauger, Paraſit, Ausbeuter genannt ward, und feine Ermordung für
tet. Grundlagen des gctdteen Ruplandı 209
eine Wohltat galt, verfteht ſich von ſelber: „Der Tod des Bürgers iſt das
Leben des Arbeiters!“ war der allgemeine Wahlſpruch, und damit ward
die ſittliche Verwilderung, zu der der Keim ſchon in jedem ſozialen Re⸗
volutionismus an ſich liegt, zum Grundſatz. Von der terroriſtiſchen Tat
zur Expropriation war nur ein Schritt. Politiſches und gemeines Ver⸗
brechen waren tatſaͤchlich nicht mehr voneinander zu trennen. Und wenn,
wie das hin und wieder vorkam, ganz gemeine Straßenraͤuber einen klei⸗
nen Teil ihres Raubes den Kaſſen der Revolutionaͤre uͤberwieſen, ſich da⸗
mit die Aureole politiſchen Kaͤmpfertums erwarben, und die revolutio⸗
naͤren Parteien dies ſchmutzige Geld annahmen, ſo verfuhren beide im
Grunde genommen nur folgerichtig: denn beraubt wurden ja immer nur
die Beſitzenden, und deren Geld ſtammt ja ausnahmslos aus Mehrwert:
ſie waren alſo ſamt und ſonders Blutſauger, Paraſiten, verdienten alſo
keine Schonung! Der Dieb, der Räuber, der Mörder iſt ſozialer Raͤcher,
nichts anderes! Das haben wir in den Moskauer Revolutionstagen in zahl⸗
loſen radikalen Parteiſchriften ſchwarz auf weiß leſen koͤnnen! Und wie
ſehr das dem radikalen ruſſiſchen Geiſt entſpricht, erſieht man wiederum
aus Tolſtoj: Man koͤnnte — wie geſagt — ganze Seiten aus ſeinen ſo⸗
zialtheoretiſchen Schriften, was Hetzgeiſt und bloͤden Radikalismus anbe⸗
trifft, ruhig in die wuͤſteſten Hetzbroſchuͤren der Bombiſten aufnehmen.
Tatſaͤchlich haben wir fie da auch wiedergefunden, und der hier aus ihnen
gezogene Schluß auf gewaltſame Vernichtung des Bürgers paßt zweifel⸗
los viel beſſer auf alles Vorhergehende als der Tolſtojſche Vorſchlag der
Steuerverweigerung und der chriſtlichen Liebe. Tolſtoj, als Sozialtheo⸗
retiker ohne Marx gar nicht denkbar, uͤbertrumpft ihn natuͤrlich noch, an⸗
ders kann er es nun einmal nicht: Er muß überall an der Spitze fein:
für ihn iſt Ausbeuter, Paraſit (er ſagt wörtlich „intereſſiert an unſerer Welt
der Galgen und Bordelle“), jeder, der Geld benutzt! Und da glaubt er ſich
noch berechtigt, Liebe zu predigen und dem Verbrecher falſche Weltanſchau⸗
ung vorzuwerfen! Tatſaͤchlich hat er ihn zum ſozialen Rächer erhoben!
Und dieſe Anſchauung wurzelt auch tief im ruſſiſchen Intelligenten. Denn
damals, im Moskau der Nachrevolutionszeit, als Expropriation und Raub⸗
morde zu den Alltagserſcheinungen gehoͤrten, offenbarte ſelbſt die an⸗
ftändigfte liberale Preſſe und die gebildetſte ruſſiſche Geſellſchaft, die der
Regierung nie das Geringſte durchließ, völlige Unſicherheit vor jedem ge⸗
meinen Verbrechen, und es gab ſolche viehiſchſter Art: überall zitterte die
Furcht dahinter, das koͤnnte doch einen irgendwie politiſchen Hintergrund
haben! Und was dabei am meiften empoͤrte: Es wagte auch niemand mehr
für die unſchuldigen Opfer gemeinſter Verbrechen einzutreten! Damals
1 begriff man eigentlich erſt die ganze Tiefe der rechtlichen Haltloſigkeit des
Ruffen. Freilich dauerte nebenbei geſagt die Freundſchaft zwiſchen ge⸗
meinen und politiſchen Verbrechern nicht allzu lange: erſtere ließen ſich
ja immer wieder von den Polizei⸗ und Gefaͤngnisbehoͤrden zu gemeinſten
Mordtaten an politiſchen Arreſtanten beſtimmen, und das ließ denn doch
ihren Charakter als ſoziale Rächer etwas problematiſch erſcheinen.
Menn aber auch Karl Marx mit feiner Mehrwertstheorie den ruſſiſchen Die Hunt ver
Terrorismus nicht ſchuf, ihn vielmehr nur auf ſeinen Gipfel und —
f dan zu feiner Karikatur führte, jo war er bei einer anderen unſeligen ene
Erſcheinung in der ruſſiſchen intelligenten Jugend: der hier nach dem Juend Noz.
Fehlſchlag der Revolution einfegenden Selbſtmordepidemie, tatfächlich wer For m
nigſtens inſofern das auslöfende Moment, als er den zureichenden Grund Larne
gab. Denn es handelte ſich, wie wir aus zahlloſen Kundgebungen wiſſen,
durchaus um die Flucht vor dem Mehrwert, dem man ja nie und nirgends
auf dieſer Welt entgehen kann: denn, und das iſt eigentlich das ausſoͤh⸗
nende Moment daran: wir alle, auch der aͤrmſte Proletarier, leben irgend⸗
wie vom Mehrwert, von unbezahlter Arbeit anderer, von nicht voll aus⸗
gezahltem Arbeitslohn: allein ſchon als Konſumenten von im Fabrik
betrieb hergeſtellten Waren. Der Mehrwert iſt eben die Erbſuͤnde des
kapitaliſtiſchen Syſtems. Alle, die unter ihm leben, haben Anteil an ihm.
Die ruſſiſche idealiſtiſche Jugend will aber nun einmal ſozial völlig rein
daſtehen. Darum hat ſie keinen Platz in dieſer Welt. Die Scham, am
Leben zu fein, beherrſcht fie denn auch inſtinktiv, und deshalb iſt der Selbſt⸗
mord für fie fe verführerifch, der ſonſt im ruſſiſchen Naturell gar nicht
liegt, beim einfachen ruſſiſchen Volk eine große Seltenheit iſt und überall
für ſchwere Sünde gilt (daß der ruſſiſche Selbſtmoͤrder dies ſelber glaubt,
beweiſt er damit, daß er faſt ſtets vorher das Kreuzchen ablegt, das jeder
Ruſſe am Hals trägt.) Man muß es dabei der ruſſiſchen Jugend laſſen,
daß fie auch in ihrer Sucht nach ſozialer Suͤndenreinheit, in ihrer Flucht
vor dem Mehrwert, mit der ihr eigenen ſyſtematiſchen Pedanterie vor⸗
geht. Zunaͤchſt muß das Elternhaus dran. Mögen die Eltern noch fo arm
fein, find fie nicht direkte Proletarier, und das heißt bei den Ruſſen immer
nur Fabrikarbeiter, fo find fie eben Bourgeois. Man muß fie alſo verachten
und möglichft wenig von ihnen annehmen. Dabei find die Fälle gar nicht
ſelten, daß Millionärsſoͤhne oder tochter aus dieſen Erwägungen heraus
uw 211
Die volttiſche
Spaltung des
plotzlich jede Unterftüßung von Haufe ausſchlagen und im Proletarier⸗
daſein verkommen. Aber auch das Leben auf der Hochſchule kommt aus
dem Bann des Mehrwerts nicht heraus. Nicht bloß, daß alle, auch die er⸗
laubten, weil bildenden Vergnügungen wie Theater, Konzert uſw. auf
dem Mehrwert beruhen, auch die Familien, wo man verkehren koͤnnte,
leben von ihm. So kommt man ſchließlich in eine ausgangsloſe Ode. Von
doktrinaͤren Theorien kann aber die junge Seele nicht leben. So tut man
ſich denn mit mehreren zuſammen und entrinnt gemeinſchaftlich dieſer Welt
der ſozialen Erbſuͤnde des Mehrwerts! Und das nahm ſolchen Umfang an,
daß ſich in Moskau und Petersburg Geſellſchaften gruͤndeten und raſch
populär wurden, die unter dem Namen „Liga des Lebens“ es ſich zur
Aufgabe ſtellten, den Lebensuͤberdruß der ſtudierenden Jugend zu bes
kaͤmpfen. 5
s eignet aber der Mehrwertstheorie entſchieden etwas Proteusartiges:
ie läßt ſich zu den allerverſchiedenſten Zwecken verwenden. Sie dient
Sund ter niehr. in Rußland ebenſoſehr dem ſozialen Revolutionismus wie dem ſozialen
mwertötbeorie: die
liberalen Beruft
Quietismus, der Umgehung des ſozialen Opfers: wiederum, wenn man
ſie woͤrtlich nimmt. Denn wenn der Mehrwert aus nicht voll ausgezahltem
Arbeitslohn ſtammt, ſo lebt außerhalb desſelben jeder, der ſeinen Verdienſt
unmittelbar durch eigene Arbeit erhaͤlt: alſo der Arzt, Rechtsanwalt, Leh⸗
rer, Gelehrte, Schriftſteller. So kommt es zu jener famoſen Definition
der liberalen Berufe, von der wir bereits weiter oben ſprachen. Die Naivi⸗
taͤt, mit der hier die Mehrwertstheorie woͤrtlich genommen wird, iſt ver⸗
blüffend: Immer wieder kann man in Rußland ſeidenrauſchende, brillan⸗
tenüberfäte Gattinnen von ſolchen Anwaͤlten, Arzten oder Journaliſten,
deren fuͤrſtliches Einkommen das des uͤblichen Induſtriellen weit hinter ſich
laͤßt, ſagen hoͤren: „Ich laſſe meinen Sohn alles werden, was er will, nur
nicht Fabrikant!“ Natuͤrlich iſt damit die Mehrwertstheorie entmannt; denn
ihre eigentliche ſittliche Kraft zieht ſie einzig und allein aus der an ſich
zwar zufaͤlligen, aber faſt die Regel bildenden Tatſache, daß der, der die
Produktionsmittel beſitzt, mehr verdient, als er zur dauernden Leiſtungs⸗
fähigkeit nötig hätte, und dagegen der, den ihr Nichtbeſitz um feinen Teil
ſeines Arbeitslohnes bringt (beſſer geſagt deſſen Arbeitsverdienſt ihr Be⸗
ſitz erhoͤhen wuͤrde), meiſt nicht genug verdient, um ſich und die Seinen
dauernd auf kultureller Lebenshoͤhe zu erhalten. Nimmt man der Mehr⸗
wertstheorie dieſen entſcheidenden Begleitumſtand, ſo ſinkt ſie zu einer
reinen Doktorfrage herab. Und kann natuͤrlich auch ausgebeutet werden
zur ſozialen Heuchelei, zur Umgehung des ſozialen Opfers. Marxiſtiſch ift
das freilich nicht mehr. Denn Karl Marx hat ja gerade den Sozialismus
aus dem Stadium der Theorie heraus fuͤhren wollen: nur das ſoziale Opfer
ſollte zu feinem Bekenntnis berechtigen, und deshalb verband er auch das
Geſchick des Sozialismus mit dem einer ganzen Geſellſchaftsklaſſe, die die⸗
ſes Opfer gar nicht bringen kann, und von der man deshalb auch nicht
fagen darf, daß fie es nicht bringen wurde, wenn fie es bringen koͤnnte.
So viel über das Schickſal des Marxismus in Rußland und feinen uns
ermeßlichen Einfluß auf das ruſſiſche Geiſtesleben, der ſich daraus erflärt,
daß ſich in Rußland ſeinen weſentlichen Richtungen die Wege in wunder⸗
barer Weiſe geebnet offenbarten. Ob ſich dieſer Einfluß in Rußland end⸗
gültig als heilſam erweiſen wird, wiſſen wir nicht. Zweifellos iſt, daß der
Marxismus durch die eigenartigen Verhaͤltniſſe Rußlands einen derartigen
Einfluß auf das geſamte ruſſiſche Geiſtesleben gewonnen hat, daß man
dem gar nicht mehr gerecht werden kann, wenn man nicht Einblick beſitzt
in die Grundanſchauungen der Marriftiihen Lehre.
6. Das parlamentariſche Rußland
Die Rügen Parteien. (Sozialdemokratie, Sozialrevolutionäre,
Die konſtitutionell⸗demokratiſche Partei (die Kadeten). —
Die übrigen 9 Parteien (die Oktobriſten, die echtruſſiſchen Leute). — Die
Duma als die Vertreterin des chen Volkes
— des Marriemus in Rußland, der ruſſſchen fogialderno« Die ganges
Arbeiter“ ⸗partei — fo nennt fie ſich ſelber überall — haben Lakers Se.
wir bereits einen ſehr einflußreichen Teil des politiſchen Rußlands 9 —
rafterifiert. Daß die ruſſiſche Sozialdemokratie nicht mehr Vertreter in der wu
Duma hat, liegt an dem rein plutokratiſchen ruſſiſchen Wahlſyſtem. Daß
ſich bei einem ſolchen noch immerhin fo viele ſozialdemokratiſche Abgeord⸗
nete in der Duma vorfinden, beweiſt die weite Verbreitung dieſer Partei
auch in den Kreiſen der Beſitzenden (wofür wiederum die „liberalen“
Berufe die Erklarung geben). Die ruſſiſchen Sozialrevolutionäͤre, von bes
nen gleichfalls bereits ausführlich die Rede war, haben, durchaus konſe⸗
quenterweiſe, darauf verzichtet, in die heutige Duma ihre Vertreter zu
ſenden. Es ſcheint aber auch, daß dieſe Partei in der Aufloͤſung begriffen
iſt. Schon ihrem Urſprung nach verträgt fie ſich mit keinerlei Art von Kon⸗
213
ſtitution: Ihrem Hauptmittel, dem Terror, ift jo bereits die Spitze abge⸗
brochen. Zudem kann ihr Lehrgebaͤude trotz immer neuer Verſuche, es
philoſophiſch zu begründen — neuerdings ſoll Avenarius' Empiriokritizis⸗
mus dazu dienen —, an Geſchloſſenheit, Monumentalität und Möglich
keiten zur Popularität natürlich keinerlei Wettkampf aufnehmen mit dem
Marxismus. Von ſonſtigen Sozialiſten ſind in der Duma noch die Trudo⸗
wiki („Arbeitspartei“ von „trud“ = die Arbeit) zu nennen. Sie möchten
die Vertreter der ruſſiſchen Bauernſchaft ſein, ſind aber nur die Vertreter
ſozialiſtiſch geſinnter Bauernfreunde aus intelligentem Lager. Ihr Pro⸗
gramm: die friedliche Herbeifuͤhrung der Wirtſchaftsordnung des Sozialis⸗
mus unter ſtarker Betonung ſeiner ſittlichen Verbindlichkeit, koͤnnte dieſe
Partei populär machen. Es entſpricht wenigſtens in viel hoͤherem Grade
dem ruſſiſchen Volkscharakter als der Marxismus, der ihm eigentlich zu⸗
wider ift, dafuͤr aber freilich dem Intelligentengeiſt ſehr entgegenkommt
und dem Induſtriearbeiter an ſich ſchmeichelt. Es waͤre indes durchaus ver⸗
fehlt, wenn man auch nur den groͤßeren Teil der ruſſiſchen Induſtriearbeiter
zur Sozialdemokratie rechnen wuͤrde. Und dabei macht die Geſamtheit der
ruſſiſchen Induſtriearbeiter nur einen verſchwindend Heinen Teil des ruſ⸗
ſiſchen Bauerntums aus, aus dem ſie unmittelbar hervorgingen, und dem
ſie bis zur Agrarreform Stolypins auch meiſt noch als Arbeiter angehoͤr⸗
ten. Das alles muß man beruͤckſichtigen, wenn man ſich einen Begriff bil⸗
den will von der politiſchen Indolenz der breiten Maſſen in Rußland.
Wenn aber die Trudowiki trotzdem weder populaͤr ſind, noch Ausſicht
haben, es zu werden, fo liegt der Grund — wir wieſen bereits weiter oben
auf ihn hin — darin, daß keine Oppoſitionspartei für abſehbare Zeiten in
Rußland populär werden kann, weil fie eben, bei der engen Verbindung
von Kirche und Staat und dem ſtaͤndigen Mißbrauch erſterer durch letzteren,
wenigſtens nicht kirchenfreundlich ſein kann, oder richtiger vielleicht geſagt,
weil die Vertreter der Kirche aus dieſen Gründen vorerſt wenigſtens aus⸗
nahmslos reaktionaͤr geſinnt find. Der Weg zur Maſſe des ruſſiſchen Volkes
fuͤhrt aber immer nur uͤber ſeine Kirche. Bei den Trudowiki, deren Preß⸗
organe Übrigens eine anzuerkennende Sachlichkeit und politiſche Anſtaͤndig⸗
keit an den Tag legen, iſt noch dieſes bemerkenswert: ſie ſchreiben ihren
Vertretern eine ihrer ſozialiſtiſchen Grundanſchauung entſprechende, aͤußerſt
maͤßige Lebensfuͤhrung vor. Ihre Abgeordneten leben in Petersburg
kloͤſterlich zuſammen: wirtſchaften gemeinſam und uͤbernachten in einem
großen Schlafſaale. Es find dies ſehr beachtenswerte Anlaͤufe zu einer
214
P
en nu
Vertiefung des politiſchen Lebens. Es tut ſich darin wenigſtens der Wille
kund, den Widerſpruch zu überbrücken, der jedem ſozialiſtiſchen Partei⸗
programm ſchon inſofern innewohnt, als hier doch etwas, was bloß Re⸗
ligion fein kann, alſo lediglich mit den rein geiſtigen Mitteln der Über:
zeugung und des Vorbildes herbeigeführt werden koͤnnte: eben der So⸗
zialismus, mit politiſchen Mitteln erſtrebt wird. Wir dürfen dieſes echt
ruſſiſche politiſche Vorbild nicht gering einfhägen. Hier zeigt der ruſſiſche
Parlamentarismus tatſaͤchlich eine gewiſſe Originalität.
Jie eigentlich bürgerliche Oppoſitionspartei, die konſtitutionell⸗demo⸗ Die fonfitutis-
Partei, nach den Anfangsbuchſtaben „Kadeten“ genannt, Fan er
zähle zweifellos die gebildetſten und intelligenteſten Abgeordneten der rem
Fr 1 1 N
Duma zu ihren Mitgliedern und erhebt ſich in ihrer Durchſchnittsbildung
weit über das Niveau der anderen Parteien. Es iſt vielleicht nicht unrichtig,
wenn behauptet wird, daß die einzigen, tatfächlich für den Parlamentaris⸗
mus (und zudem dem in Rußland: wo noch viel elementare Fragen zu
löſen find), wirklich vorbereiteten Dumamitglieder unter den Kadeten
figen. (Die Univerfitätsprofefforen ſpielen unter ihnen eine ſehr große
Rolle.) Dem entſpricht auch ihr Programm: Sie bekennen fi zwar zu
rein demokratiſchen Endzielen, ſie ſehen zudem im Sozialismus die voll⸗
endetſte Wirtſchaftsform, ſie ſind aber Evolutioniſten: ſie erwarten alles
Heil nur von einem allmaͤhlichen organiſchen Wachstum. Zudem ſind ſie
durchaus Kulturpolitiker in dem Sinne, daß ſie ſtets die Geſamtkultur vor
Augen haben. Unſtreitig find ſomit die Kadeten die tatſaͤchlich fruchtbarſten
von allen ruſſiſchen Parlamentariern, und man koͤnnte in ihnen gerade die
Parlamentarier erblicken, die Rußland vor allem braucht, wenn nicht dieſe
Partei, weil ſie eben als Kulturpartei in Rußland voͤllig in der Luft ſchwebt,
hätte Anſchluß ſuchen muͤſſen an wirtſchaftliche Intereſſengruppen, und
dabei ihrem Weſen nach auf die aufgeklaͤrte Bourgeoiſie angewieſen ge:
weſen wäre — und die beſteht, bei dem Fehlen eines eigentlichen dritten
Standes in Rußland, faſt ausſchließlich aus den Vertretern des Groß⸗
handels, der Großinduſtrie und zum Teil auch des Großgrundbeſitzes.
Deos heißt alfo: die Kadeten müffen ſich auf die am Großbeſig Intereffiers
ten fügen. Das nimmt dieſer Partei jede nachhaltige Kraft. Nicht etwa
deshalb, weil fie jo das perſoͤnliche Eigentum verteidigen muß gegenüber
den radikal⸗ſozialiſtiſchen Stroͤmungen des ſonſtigen intelligenten Ruß⸗
lands. Im Gegenteil: das liegt, wenigſtens in Rußland, durchaus auf der
Richtung der Kulturverteidigung — ſchon weil ſich in der Art, wie das
215
perfönlihe Eigentum dort angegriffen wird, unendlich viel barbariſche
Zerſtöͤrungswut äußert. Die Sache iſt indes die, daß bei dem ungeheuren
ſozialen Druck, der auf ganz Rußland laſtet, jedes Nachlaſſen der Regie⸗
rungsgewalt ſich nach der ſozialen Seite hin kundgibt, jede gegen die Re⸗
gierung gemeinte Empoͤrung ſich zunaͤchſt gegen den Großbeſitz richtet. Die
Regierung hat es demnach ſtets in der Hand, den Großbeſitz einzuſchuͤch⸗
tern, ſobald er nicht ganz willig ift: fie braucht bloß das Volk ein bißchen
Revolution ſpielen zu laſſen, dann gibt der Großbeſitz nach — und die
Kadeten fallen um. Das iſt das Verhängnis dieſer einzigen tatſaͤchlichen
Kulturpartei Rußlands. Sie muß ſich auf die Beſitzenden ſtuͤtzen, und die
werden im Grunde nur von der Regierung gefhüßt: vor den Expropria⸗
tionsgelüften der durchweg ſozialradikal geſinnten Intelligenz und bes
aͤußerſte Not leidenden Bauerntums. So ergibt ſich ein drückendes Ab⸗
haͤngigkeitsverhaͤltnis der aufgeklaͤrteſten Oppoſitionsmaͤnner Rußlands von
der deſpotiſchen Regierung. Es iſt dies im Grunde eine unmittelbare Folge
der Kulturſchwaͤche Rußlands: des dort noch allzu engen Zuſammenhangs
zwiſchen Beſitz und Bildung. Auch die panſlawiſtiſchen Regungen im
Schoße der Kadeten, die namentlich ſeit 1909 (der Annexion Bosniens
durch Oſterreich) maͤchtig aufblühten und in dieſem Kriege aus den Ka:
deten gefuͤgige Regierungswerkzeuge machten, erklaͤren ſich wohl aus die⸗
ſem Anlehnungsbeduͤrfnis einer in Rußland in der Luft ſchwebenden reinen
Kulturpartei an populäre Strömungen. Wir haben bereits weiter oben be⸗
tont, daß der Panſlawismus eine Art neutraler Plattform bildet zur An⸗
naͤherung freiheitlicher Elemente an Regierungsvertreter — im breiten
Rahmen des Nationalen. Hier ſcheint mir der Schluͤſſel fuͤr den heutigen
Panſlawismus der Kadeten zu liegen, wenn nicht der Panſlawismus (der
ja eigentlich Panruſſismus iſt, das heißt eine Formel, die der ruſſiſchen
Nation als ſolcher die Berechtigung zur Eroberungspolitik zuſpricht) an
ſich ſchon jedem Ruſſen von klein auf eingefloͤßt wuͤrde: durch Schule
und Kirche, die hier günftigften Nährboden finden in der Empfindlichkeit
des ruſſiſchen Naturells. Jedenfalls muß aber betont werden, daß den
alten ruſſiſchen Liberalen aus den ſechziger Jahren, als deren Erben ſich
die Kadeten nicht ganz mit Unrecht betrachten, jeder Panſlawis mus aͤußerſt
verdaͤchtig war: Die wußten ja, daß die Regierung von jeher die Taktik
befolgte, jede Reform als auslaͤndiſch zu verdaͤchtigen, jede reaktionäre
Maßnahme dagegen als echtruſſiſch hinzuſtellen. Das geſchieht auch heute
noch: denn die Begruͤndung iſt an ſich meiſt richtig.
216
den übrigen gemäßigten bürgerlichen Fortſchrittsparteien, den Die übrigen
Oktobriſten (fo genannt nach dem Manifeft vom 17. Oktober u ee
der Partei der friedlichen Erneuerung uſtd., ift nur zu ſagen, daß ihre nom
Regierungsoppofition noch viel platoniſcher iſt als die der Kadeten, 8
es ſich in ſehr vielen Fällen um überzeugte Anhaͤnger der Regierung han⸗
delt, die nur ihre Aufgabe darin ſehen, der Regierung die Sympathie des
Fortſchritts zu ſichern, oder es fo hinzuſtellen, als ob die Regierung dieſe
Sympathie verdiene. Wir betonten ja bereits, daß es innerhalb der ruſ⸗
ſiſchen Regierung von jeher zwei Stroͤmungen gab, die, bei dem gleichen
Endziel (die Macht und das Anſehen der deſpotiſchen Regierung) verſchie⸗
den ſind in ihren Anſchauungen von den hierzu geeignetſten Mitteln. Die
eine Richtung Hält im Intereſſe der ſtaatlichen Selbſterhaltung Ruflande
eine gewiſſe Nachahmung des Weſtens, eben in einer gewiſſen Beruͤck⸗
ſichtigung des Geſellſchaftsgeiſtes, für unerlaͤßlich (und die vertreten eben
die gemäßigten Liberalen, vor allem die Oktobriſten), die andere und vor⸗
derhand ſiegreiche Richtung beanſprucht dagegen fuͤr Rußland ſeine eigene
Regierungsart, natürlich die deſpotiſche, und muß ſich deshalb auf natio⸗
nale Inſtinkte niederer Art ftügen. Dieſe Regierungerichtung hat von jeher
die panſlawiſtiſche Bewegung ausgenutzt, um in ihrem Schoße gegen alles
Liberaliſierende innerhalb der Regierung anzukaͤmpfen. Dieſe Richtung
fügt ſich in der Duma auf die aͤußerſte Rechte: die ſogenannten echt⸗
ruſſiſchen Leute. Man tut indes ihnen, zu denen auch faſt die geſamte Ver⸗
tretung der Geiſtlichkeit gehört, durchaus unrecht, wenn man ſie ausſchließ⸗
lich für Regierungskreaturen hält. Wir möchten im Gegenteil dieſe Partei
für eine der aufrichtigſten halten, wenigſtens fuͤr die, die am unmittelbar⸗
ſten im nationalen Inſtinkt ſich gründet (freilich durchaus nicht in deſſen
hohen Sphären). Aber doch handelt es ſich hier keineswegs um Sugge⸗
riertes, vielmehr um ſolches, das unmittelbar den Seelengründen ent⸗
firömt, in denen jegliche nationale Suggeſtion erſt wirkſam wird. Wir
wollen auch zugeben, daß dieſer Art von Nationalismus nur gewiſſe na⸗
tionale Temperamente zugaͤnglich ſind, daß der Bildungsſtand hier durch⸗
ſchnittlich ein ſehr niedriger genannt werden muß, daß die Wachrufung
nationaler Größe durchaus fetiſchiſtiſch wirken kann, und daß endlich die
offene Foͤrderung und Belohnung dieſer Richtung durch Polizei und Re⸗
gierung (wobei es immer wieder bis zur Strafloſigkeit für ganz gemeine
Mordtaten kommt) dunkle Köpfe noch immer mehr verwirren muß. Auch
ſoll die große Beteiligung allen politiſchen Strebertums an den reaktio⸗
217
nären Parteien der Duma ſelbſtverſtaͤndlich gar nicht in Abrede geftellt
werden. Dennoch iſt der Kern der echtruſſiſchen Leute durchaus aufrichtig:
fie verteidigen nur der aufgeklaͤrten ruſſiſchen Geſellſchaft gegenüber einen
zurückliegenden, uͤberwundenen Kulturzuſtand Rußlands, und moͤchten ihn
als dauernd geſtalten: weil er national iſt, nicht aber weil er niedrig iſt,
was fie gar nicht merken. Die Ehrenhaͤufungen von feiten der allmaͤchtigen
Regierung halten dann erſt recht dieſe von Hauſe aus mehr auf das In⸗
ſtinktive gerichteten Geiſter in ihrer Dumpfheit. Sie vertreten dabei aber
weder die große Maſſe, noch haben ſie irgendeinen merklichen Einfluß auf
das einfache Volk. Das verhindert allein ſchon ihre ſo große Beliebtheit
bei der verhaßten Polizei.
Su Dune di enn wir uns nun zum Schluffe dieſer Betrachtung uber das parla⸗
des ruſnſchen mentariſche Rußland die Frage vorlegen, ob und wieweit denn die
Boltes politiſchen Parteien Rußlands und weiterhin ihre Vertretung in der Duma
uͤberhaupt den Volksgeiſt und Volkswillen zum Ausdruck bringen, ſo iſt
darauf durchaus nicht mit Entſchiedenheit zu antworten. So viel ſteht frei⸗
lich feſt: bei dem herrſchenden Wahlſyſtem vertritt die Duma nur die be⸗
ſitzenden Kreiſe Rußlands, und die machen nur einen verſchwindenden
Teil der Geſamtbevoͤlkerung aus — das ruſſiſche Durchſchnittseinkommen
betrug ja noch 1909 erſt 57 Rubel, wovon 25 Prozent auf Steuern ausge⸗
geben werden muͤſſen. Es iſt demnach zweifellos, daß nur ein kleiner
Bruchteil der Nation in der Duma vertreten wird. Von dem einfachen
Volke, der großen Maſſe, iſt politiſch immer noch voͤllig indifferent faſt der
ganze Bauernſtand, von den Induſtriearbeitern (fie machen hoͤchſtens b Pros
zent der Geſamtbevoͤlkerung aus) iſt auch nur der kleinere Teil politiſch
intereſſiert. Offen bleibt indes die Frage, ob nicht dieſe in der Duma ver⸗
tretene Minderheit der Nation dennoch den Geiſt der Geſamtheit zum Aus⸗
druck bringt. Mir ſcheint das hoͤchſtens im Charakter der Verhandlungen der
Fall zu ſein — wobei freilich einige Nachtſeiten des nationalen Temperaments
etwas gar zu ſehr in den Vordergrund treten (namentlich bei der aͤußerſten
Rechten). Die in der Duma erhobenen realen politiſchen Forderungen
hingegen (das heißt die Vorſchlaͤge für ihre Verwirklichungsformen, denn
der Hauptruf: „Land und Freiheit!“ iſt elementar) ſind ſchon deshalb dem
ruſſiſchen Volke fremd, weil die Programme aller ruſſiſchen Fortſchritts⸗
parteien mit ihren bis ins einzelne gehenden ſozialen und wirtſchaftlichen
Leitſaͤtzen durchaus aus weſteuropaͤiſchen Quellen ſtammen — wir behan⸗
delten ſie weiter oben eingehend —, mithin von der breiten Maſſe des
218
1 re
* 1 1
4 "En
1 He
Fr
{
E 8
aa
gar nicht begriffen werden können. Wenn wir uns dies vergegen⸗
ſcheint es uns ganz zweifellos, daß die ruſſiſche Duma den
ruſſiſchen Volkes nicht zum Ausdruck bringt. Und wohl auch
des ruſſiſchen Volkes: Wir brauchen uns da bloß an jene,
ausführlich charakteriſierte Spaltung zu erinnern, die in die
Anſchauungsweiſe kam durch die Leibeigenſchaft: denn die ver⸗
die große Maſſe des ruſſiſchen Volkes, eben die Leibeigenen, ganz
Innenleben, machte jede oͤffentliche Außerung, jeden Gedanken⸗
unmoglich, und führte fo zu einer an ſich ſehr ſchwer zugaͤng⸗
ganz auf ſich ſelber fußenden Geiſtes haltung der Maffe des ruſſiſchen
und damit zu ihrem vollkommenen geiſtigen Abgeſchloſſenſein von
den ruſſiſchen Gebildeten. Das ſind in Rußland ganz einfach zwei ver⸗
ſchiedene Welten. Und nur die eine, die kleinere, iſt in der Duma ver⸗
treten. Und auch die nicht ganz: ſeit der Aufloͤſung der erſten Duma und
der reaktionären Umänderung des Wahlgeſetzes ſteht ja ein Teil der rufs
Intelligenz (die Sozialrevolutionaͤre) abſeits, grollend und auf feine
eigene Taktik ſich verſteifend. Auch das iſt durchaus nicht zu uͤberſehen.
Es bleibt hier wenigſtens eine Plattform, um die ſich gegebenenfalls die
Feinde der Duma von links gruppieren könnten. Dieſer Fall ift denkbar,
wenn auch nicht ſehr wahrſcheinlich. Denn die eine Frage bleibt natürlich
offen: Ob naͤmlich die Duma, ſo wie ſie iſt, mit allen ihren grund⸗
&
i
a:
iin
5
5
1
4 fuͤtzlichen und zufälligen Mängeln, nicht doch einen Gegenſtand des Stolzes
bedeutet auch für die Maſſe des ruſſiſchen Volkes? Bei der Unfaßbarkeit,
der politiſchen Stummheit, des ruſſiſchen Dorfes iſt das natürlich nicht mit
Beſtimmtheit zu behaupten. Aber auch nicht ganz zu verneinen. Die ruſ⸗
ſiſche Regierung ſcheint damit zu rechnen. Und iſt dabei gut beraten. Was
endlich den politiſchen Geſamtwillen des ruſſiſchen Volkes anbetrifft, ſo
weiſen wir auf das hin, was wir ganz im Anfang ſchloſſen aus den kul⸗
turellen Hauptſchickſalen der ruſſiſchen Nation (politiſche und geiſtige
Unterdrückung, bei Gewöhnung an ſoziale Gleichberechtigung): Das rufs
ſiſche Volk wird demnach vorausfichtlich ſoziale Gleichberechtigung mit
3 politiſchen Zwangsmitteln zu erftreben ſuchen. Was hier wie überall im
geeiſtigen Rußland fehlt, iſt das Verftändnis für die freie Perſoͤnlichkeit.
Bevor es nicht Eintritt fand in die Seele des ruſſiſchen Volkes, bleibt
3 Deſpotismus in wechſelnden Formen fein unvermeidliches Schidfal.
meununuunuuunuunnununnuunnunuunnunnuuuuununuuununuuunuuuuuuunuuununuuun
| 219
TE) tene * 4 e be 2
eee e en
* .. en e, Are ee
2 arts er nr ern
| N ee i In 7 cv Pa REINEM
arten de wo
vu ee eh Meg
dert W 0 er Eee e
pe ae lv Ur 4 Arc an n
W Me e RT n ef NN N AI a
e een en 25 eie Ah
d ee Ge e ea 3
A N ar 85 e . ame; 4
* m re e * ü
We e ent uta was we t ee An
en ee ee en TEE Sa
Net ee ih a RN Ae 5 11
wa ie ae HN tr Mn a ger €
ee fee RR N al ee pin G
9 Wan ten un un * nal Air ein " |
Sr: 4 K. 13 G Fr EN erh Zr he DR 5 4
BE e ee ba M ent en
ie ee Tine 220 all
N m e *. Hi ofen 1 e BE DATE NT,
Ai ee ee en en ie i d
en N i ien fie ans a 1155 Hann BT, *
W ee ae ae e eee e N
| ur tee ee ee
. N tie ara eee, werd en ee ee
u en le te euere ee
Er nee ir ee er.
r . ve ice Pure. ER re rt re
ee ae ee
dees Den re 75 Ar Pe
eee ee ee
1 | m
ia rad eke
2 nen ET t Re
.
Anhang
Das europäische Rußland
1. Die moderne ruffifche Literatur
Allgemeiner Charakter. — Tſchechoff. — Gorjfi
— chdem wir in den bisherigen Teilen unſerer Unterſuchung einen Ein⸗
f blick zu geben verſuchten in die eigentlichen Geiſtesſchickſale des ruſ⸗
ſiſchen Volkes (Denkart, Denkgewohnheit, Denkinhalt, Denkbeeinfluſſung),
wollen wir nunmehr noch einen raſchen Blick werfen auf ſein geiſtiges
Sichausleben innerhalb der von Europa übernommenen oder beſſer geſagt
der mit ihm gemeinſamen Organiſationsformen.
Beginnen wir mit dem vermittelnden Gebiete, der ſchoͤnen Literatur.
Seit in ihr die großen Genies verſtummten und durchweg Epigonentum
herrſcht, ift fie zweifellos europäifcher geworden, eigentlich in nichts mehr
weſentlich verſchieden von der weſtlichen Literatur. Das ausgeſprochen
Nationale iſt in ihr zurückgetreten oder doch mehr aͤußerlich geworden.
And das haͤngt wohl damit zuſammen, daß die großen ewigen Probleme
der ruſſiſchen Dichtung (der Einfluß des Sozialen auf das Sittliche, ſpeziell
das Schuldproblem) nicht mehr in ihr im Vordergrund ſtehen. Wenigſtens
nicht mehr ſo unbedingt. Es ergibt ſich dabei — und das iſt fuͤr Rußlands
Kulturſchickſal aͤußerſt charakteriſtiſch —, daß die ruſſiſche Literatur an kuͤnſt⸗
leriſcher Kraft verlor, ſeitdem fie aufhörte, tendenziös zu fein. Die ruſſiſche
Kunſt ift vielleicht überhaupt die einzige, welche die Tendenz verträgt, ja
ihre eigentliche Kraft aus ihr ſchoͤpft: weil eben ihre Tendenz im Menſch⸗
tum des Kuͤnſtlers in einer ſolchen Tiefe verankert liegt, daß er trotz ihrer
Herrſchaft volle Bewegungsfreiheit behaͤlt, und dabei durch ihre Herrſchaft
in feinem Geſtaltungsdrang zur hoͤchſten Intenſitaͤt gefteigert wird. —
Ohne Tendenz iſt die ruſſiſche Dichtung wie Simſon ohne ſeine Locken.
Es fehlt ihr die eigentliche Kraft, ja der eigentliche Halt. Die ihr eignende
Schmiegſamkeit erlaubt ihr dabei ein ſehr geſchicktes Nachahmen weſt⸗
europaͤiſcher Richtungen, und zwar bevorzugt fie immer die allerletzten,
und das fuͤhrt ſie wiederum zu Extremen, wo ſie der Karikatur ſchwer
entgeht (weil das eben Kunſtgewaͤchſe ſind, fuͤr die in Rußland der Mutter⸗
boden doch nun einmal fehlt). So haben wir denn alles in der modernen
ruſſiſchen Literatur: bis zum letzten Symbolismus und Futurismus. Be⸗
wundernswert bleibt dabei faſt uͤberall die Sprachbeherrſchung. An dich⸗
teriſcher Form hat einzig und allein die Erzaͤhlung noch etwas von ihrer
|
2
— ͤ
allen ſoliden Tradition bewahrt. Da ihr aber augenſcheinlich, jenſeits der
unmittelbaren Beziehung auf das Volk, das Bewußtſein innerer Daſeins⸗
berechtigung fehlt, greift fie vielfach zu den unmoͤglichſten Senſations⸗
mitteln: Die ruſſiſche Revolution wird hier nach ihrer terroriſtiſchen Seite
in einer Weiſe ausgeſchlachtet, daß ſchließlich nichts mehr bleibt als Nerven⸗
igel. Ferner hat ſich in der ruſſiſchen Lite ratur in erſchreckend verheerender
Weiſe ein Element eingeſchlichen, das ſchon im Privatleben als typiſcher
Lüdenbüßer auftritt für alles felbftändige Geiſtige: das Geſchlechtliche. Es
wirkt dabei gerade im Ruſſiſchen überaus peinlich, weil der ruſſiſchen Auf:
richtigkeit nun einmal von Haufe aus die Keuſchheit fehlt — das iſt die
bedauerlichſte Kehrſeite der ruſſiſchen Natürlichkeit (unter der immer wies
der auch alles das gerechtfertigt fein ſoll, was tatſaͤchlich boͤſes menſchliches
Gehenlaſſen und bedauerlichſte Unerzogenheit bedeutet). Es bleibt aber
trotz alledem doch noch ſehr merkwuͤrdig, daß jene an ſich jo ausgeſprochenen
küͤnſtleriſchen Qualitäten des Ruſſen (fein plaſtiſcher Blick für die Sachwelt,
vereint und verſchmolzen mit natürlichem Tiefblick für alles Seelenge⸗
ſchehen) jenſeits der ausgeſprochenen Tendenz, das heißt ſchlechtweg in
der Nachgeſtaltung eines beliebigen Weltenausſchnittes, eigentlich nie und
nirgends kuͤnſtleriſche Hoͤchſtwirkung erzielen: den Zuſammenhang mit dem
Unendlichen nacherleben laſſen, kosmiſches Erleben gebaͤren, wie das ſonſt
bei hoͤchſter, rein kuͤnſtleriſcher Höhe eintritt (denken wir nur an die ges
rabezu myſtiſche Wirkung des typiſchen Nurkuͤnſtlers Flaubert). Man
konnte dies Verſagen der ruſſiſchen Kunſt auf die bereits erwähnte eigens
artige Stellung des ruſſiſchen Dichters zuruͤckfuͤhren: auf die Erwartung des
Volkes auf ihn als Nenner feiner Nöte: Man könnte ſchließen, daß den
ruſſiſchen Dichter da, wo er tendenzlos iſt, Gewiſſensbiſſe befallen und der
letzten Tiefe in ſich ſelber fernhalten. Es ſcheint mir indes, daß man damit
die Macht und Unabhängigkeit der kuͤnſtleriſchen Sphäre im Menſchen
unterjhäßt. Was mir hier der letzte Grund zu fein ſcheint des Verſagens
der ruſſiſchen Kunſt vor dem rein Gegenſtaͤndlichen, iſt vielmehr das aus⸗
geſprochen Anthropozentriſche der ruſſiſchen Weltauffaſſung, was ja ſchon
in der Vorherrſchaft des Sozialen im Seelenhaushalt des Ruſſen ſeinen
Ausdruck findet: es fehlt ihm einfach von Hauſe aus der kosmiſche Blick.
Es lebt in ihm ein elementares Straͤuben dagegen, Beſeelung auch der
außermenſchlichen Schöpfung zuzuerkennen. Nur als Umwelt um den
Menſchen erhält fie in der ruſſiſchen Dichtung kuͤͤnſtleriſches Licht — rein
planetariſches Licht, Mondlicht. Und damit dieſes Licht auf die Umwelt
223
einigermaßen intenſiv werde, muß die Menſchenſeele, in der es ſich ſpiegelt,
tiefft erregt fein, und das kann die Seele des Ruſſen wiederum nur in
unmittelbarem Gedanken an das Geſchick ſeines Volkes. Darum braucht
die ruſſiſche Dichtung die Tendenz, um allen ihren Glanz entfalten zu
koͤnnen. Und darum muß auch dieſe Tendenz eine ſoziale ſein. Wenigſtens
lebt die ruſſiſche Kunſt wieder auf zu einem Abglanz ihrer früheren Größe,
ſo oft die ſoziale Tendenz in ihr auftaucht.
Tichechoff Dos kann durchaus unbewußt fein. So bei einem überaus feinen Kuͤnſt⸗
ler, der ſich ausdruͤcklich dagegen verwehrte, der Tendenz zu dienen,
bei Tſchechoff. Er diente ihr aber unbewußt und fand eine ganz neue
Seite an ihr heraus. Ich habe dabei ſeine großen Dramen im Sinn, die
eigentlich keine Dramen ſind, vielmehr dialogiſierte Stimmungsnovellen.
Sie alle betonen in ſeelenwundzerrender Weiſe die geiſtige Abhängigkeit
des Menſchen von ſeiner Umgebung: daß er angewieſen iſt auf geiſtige
Teilnahme, auf Geſellſchaft, wenn er nicht verkuͤmmern will in ſeinem
Beſten: der Schrei des durch Beruf an Dorf und Kleinſtadt gebundenen
Intelligenten nach ſozialer Weite, nach Menſchen, nach der Großſtadt —
im Sinne von Geiſteszentrum! Fuͤr Rußland war das neu und iſt wohl
überhaupt nie fo ergreifend zum Ausdruck gebracht worden. Dabei bleibt
es vielleicht charakteriſtiſcher fuͤr das Land als fuͤr den Dichter, daß dieſer
Dramatiker, der uns da mit unerhoͤrter Schmerzhaftigkeit an der Seele
herumzerrt, bis an ſein Lebensende uͤberzeugt war, Komoͤdien geſchrieben
zu haben. So ſehr umgab ihn ſelber die Atmoſphaͤre, die er geſtaltete.
Was uns Deutſche dabei am Tragiſchſten berührt, iſt, daß dieſer Schrei
nach Mitmenſchen doch auch ſchließen laͤßt auf Heimatloſigkeit in ſich ſelber.
Und das iſt auch das — vielleicht gewollte — Grundübel der ruſſiſchen
Intelligenz. Wir ſahen ſeine Wurzeln.
worin och bei einem anderen ruſſiſchen Dichter ward das Soziale derart auf⸗
geloͤſt ins Menſchtum, daß es ſeiner Dichtung die eigentlichen Schwin⸗
gen verlieh. Ich meine Gorjki. Er gab zunaͤchſt der klaſſiſchen ruſſiſchen
Literatur gegenuͤber einen neuen Geſichtspunkt zum Sozialen: nicht mehr
nur mitleidend von der Hoͤhe herab, vielmehr mitlebend aus der Tiefe zur
Höhe empor! Darin vor allem beruht feine Originalität gerade für das
ruſſiſche Schrifttum. Wie ſehr aber feine Qualitäten rein kuͤnſtleriſch find,
offenbarte ſich erſt, als er bewußt fuͤr eine ſoziale Tendenz, die marxiſtiſche,
eintrat. Da waren ſeine Schwingen auf einmal gebrochen. Seit er aber,
in allerletzter Zeit, ſich wiederum von dieſer bewußten Tendenz befreite,
224
und einfach die ſoziale Wirklichkeit ſchildert, vor allem feine Wirklichkeit,
fein Jugendleben, zeigt es ſich auf einmal, daß er feine Künftlerfhaft noch
vollauf beſitzt, daß alles in ihm reifte, und er drauf und dran iſt, ſeinem
Volke wieder eine klaſſiſche Kunſt zu geben inmitten von kraftloſen Epi⸗
gonen und geblaͤhten Eklektikern.
Die pielkunſt in Rußland (das „Kleine Theater“ und das en
| und das klaſſiſche ruſſiſche Drama (Gribojedoff und Gogol). —
neuere ruſſiſche Drama. (Das Sittenftüd wſkis, die hiſtoriſchen
A. Tolſtojs und das Seelendrama offs) — Die allgemeine
Richtung der ruſſiſchen Dichtung
Wo wir nun ganz kurz auf das ruſſiſche Drama eingehen, fo muͤſſen die Saaufsiet-
zunͤchſt von der Pflege der dramatiſchen Kunſt in Rußland ges g
ſprechen. Sie ſtand, feit fie vom Ausland unabhängig wurde, alſo etwa ſeit Agata,
Beginn des 19. Jahrhunderts, ſtets auf einer anſehnlichen Hoͤhe. 2
Kaiſerlichen Schauſpielhaus in Moskau, dem ſogenannten „Kleinen The⸗ Drama (Gribe-
ater“, fand die ruſſiſche Schauſpielkunſt ihre klaſſiſche Stätte. Man kann ee“
ſich auch nichts Vollendeteres vorſtellen, als wie dort die großen ruſſiſchen
Dramen gegeben werden. Nicht die auslaͤndiſche Dramatik: die liegt dem
Ruſſen nicht, er findet fie geſpreizt, er verſteht nicht das Pathos. Nur der
unverwüſtliche Shakeſpeare findet auch hier muſterhafte Darftellungen —
trotzdem das intelligente Rußland ihm als Geſamterſcheinung in genau fo
beſchraͤnkter Verſtaͤndnisloſigkeit gegenuͤberſteht wie Tolſtoj. Aus der Tra⸗
dition des „Kleinen Theaters“ ging das berühmte Moskauer Künftler-
theater hervor, das unlängft ganz Europa entzüdte. Urfprüngli die
Schöpfung eines reichen, unabhängigen, aus der Großinduſtrie hervorge⸗
gangenen, leidenſchaftlichen Dilettanten, liegt ſein Vorzug in der unver⸗
gleichlichen Einheitlichkeit jeder Darbietung, wobei die Geſamtdarſtellung,
Bühnenbild und Dekoration, bis aufs Letzte ausgefeilt iſt im Sinne der
Verinnerlichung des Eindrucks. Natürlich iſt das bloß zu erreichen bei der
unbedingten Autorität eines Leiters, und natürlich bloß dann, wenn er
ſeinen Standpunkt durch Überzeugen allen Mitarbeitern annehmbar
machen kann. Hier — im Moskauer Kuͤnſtlertheater — iſt denn auch viel:
15 eet, Grundlagen des griftigen Nuglante 225
leicht vorerſt der einzige Ort in Rußland, wo man ſich freiwillig, aus ins
nerfter Überzeugung, einem anderen unterordnet. Es ift bezeichnend, daß
dies auf kuͤnſtleriſchem Gebiet der Fall ift, und beweiſt wiederum, welche
ungeheure, ſittlich erzieheriſche Bedeutung fuͤr das Volksganze gerade der
ruſſiſchen Kunſt zukommt. Und vielleicht vor allem der Buͤhnenkunſt. Auch
hatte das ruſſiſche Volk darin Gluͤck: Gleich zu Beginn ſeiner nationalen
Literatur wurden ihm einige wirklich klaſſiſche Schauſpiele geſchenkt, die
einen wuͤrdigen Platz in der Weltliteratur einnehmen. Ich meine vor allem
Gribojedoffs unſterbliche Reimkomoͤdie: „Das Unglüd Geiſt zu haben“
und Gogols „Reviſor“. Erſtere uͤberraſcht, abgeſehen von techniſcher und
formaler Vollendung, durch die Tiefe, Feinheit und Freiheit des ſozialen
Blicks, letzterer dadurch, daß hier die kuͤnſtleriſche Kraft, die Poeſie, in
geradezu virtuoſer Weiſe über ganz grob aufgetragene Tendenz triumphiert:
Das grotesk Anormale, zeitlich eng Bedingte erweitert ſich unter den
begnadeten Fingern dieſes Kuͤnſtlers vielfach zum ren
in hoͤchſten Augenblicken ſtreifend ans Rein⸗Menſchliche.
Das neuere rufe Dos ruſſiſche Drama iſt nun nicht auf dieſer Hoͤhe geblieben, RR >
oo Se niemals unter ein gewiſſes, immer noch anſtaͤndiges Niveau geſunken.
a Ou. Der äußerſt fruchtbare Oſtrowſli ſchuf das ruſſiſche Sittenſtück. An dra⸗
uad bag Salden. matiſchen Motiven iſt er unerſchoͤpflich, ebenſo in unvergleichlich volks⸗
drama Ziäe: tuͤmlichen Nebenperſonen und Epifoden, er hat dabei immer Gemüt und
Herz und bewahrt ſtets eine wuͤrdige Haltung vor der, in der von ihm
bevorzugten Welt — der Moskauer Kaufmannſchaft in den vierziger bis
ſechziger Jahren — liegenden Verfuͤhrung zum Rohen und Gemeinen.
Dagegen gelingt es ihm faſt nie, Charaktere einheitlich durchzufuͤhren, und
feine Buͤhnentechnik ift eine aͤußerſt primitive (ich meine in der Anlage
des Ganzen, einzelne Szenen find oft unuͤbertrefflich). Auf außerruffifche
Bedeutung hat dieſer Dichter wohl kaum Anſpruch. Und auch ſeine Popu⸗
laritaͤt in Rußland ſcheint zum großen Teil gebunden an die Meiſter⸗
darſtellung ſeiner Dramen im Kleinen Theater zu Moskau, wo Oftromffi
in den ſechziger und ſiebziger Jahren Dramaturg war und feine Stüde
ſelber einſtudierte. Noch heute beherrſchen ſie dort den Spielplan. Oſtrow⸗
ſki hat auch ein ſehr ſchoͤnes Maͤrchendrama „Snjegurotſchka“ geſchrie⸗
ben. Und das laͤßt erkennen, wie ſehr dieſer Dichter durch die druckenden
Zenſurverhaͤltniſſe in feinem Schaffen beengt war. Er mußte fi auf die
rein menſchlichen Niedertrachten und Laͤcherlichkeiten — namentlich des
eingebildeten Reichen — beſchraͤnken und mußte fie abfolut nehmen, mit⸗
226
en ik A
* a 24 er
bin vermeiden, ihren tieferen Wurzeln nachzugeben. Es fehlte ihm aber die
Kraft, das Eng⸗Menſchliche ins Typiſch⸗Menſchliche zu erweitern wie das
Gogol ſo genial vermochte. So wird ſeine Hauptbedeutung wohl einſt darin
liegen, daß er für die Kulturforſchung Rußlands unſchaͤtzbares Material
baͤufte. — Sonſt iſt nicht viel von bleibenden Erſcheinungen am ruſſiſchen
Theaterhimmel zu melden. Einige ſchoͤn geſchriebene hiſtoriſche Vers⸗
dramen A. Tolſtojs (eines Neffen des großen Leo) haben in der genialen
Aufführung des Moskauer Künftlertheaters Erfolg gehabt. Aber auch nur
dort. Tſchechoff hat dann mit feinen ſchon erwähnten Seelendramen zum
mindeſten vornehmſte Theaterkunſt gegeben, wenn er auch durchaus kein
der Buͤhne und eigentlich nicht einmal geborener Dramatiker
Bei dem heutigen ruſſiſchen Drama herrſcht ſonſt ebenſo wie im Roman
ind in der Novelle Epigonentum und Eklektizismus.
ug betonten: die ruſſiſche Kunſt ift nun einmal bloß dann groß, ruriisen
wenn fie unmittelbar der Sache ihres Belles dient, das heißt, folange fie im are
Dienſte der ſozialen Tendenz ſteht. Wir führten das zuruck auf die Gewoͤhnung
D als einzig nicht
1 chter Verkuͤndiger ſeiner Rote und Wuͤnſche betrachtet zu werden
und zu betrachten. Das übt auch ſicherlich hier eine große Wirkung,
doch würde die, wir kommen darauf zurück, kaum in die Geiſte sſphaͤre reichen,
wo das Kunſtſchaffen vor ſich geht, wo die intuitive Perſoͤnlichkeit waltet.
Darum ſcheint mir die beſſere Erklarung für die Abhängigkeit der ruſſiſchen
Kunſt von der Tendenz in der Gefuͤhls⸗ und Wunſchbeherrſchtheit der ruſ⸗
ſiſchen Seele zu liegen: dieſe hat ſich nun einmal daran gewoͤhnt, alle
Inhalte und Richtungen für ihre Außerungen, vor allem für diejenigen
geſtaltender Art, ihrer Wunſchſphaͤre zu entnehmen. Das iſt wohl in jeder
ruſſiſchen Kunſtaͤußerung der Fall, auch in folder, die ſtrenggenommen
mit dem Worte gar nichts mehr gemein hat, in Muſik und Malerei: dort
wird das aber, bei der echtkuͤnſtleriſchen Anlage des Ruſſen, mit den jen⸗
ſeits des Wortes liegenden Mitteln dieſer Künfte ausgedruckt, während es
in der Wortkunſt unmittelbar zum Ausdruck gelangt, aber eben wieder —
dank der Kraft des ruſſiſchen Kuͤnſtlertums — ohne dem ſelber Schranken
zu ſetzen. Alles in allem genommen kann demnach wohl behauptet werden,
daß die eigentliche ruſſiſche Wortkunſt (Erzählung, Lyrik, Drama) immer
nur im engſten Zuſammenhang mit den letzten Wunſchen und Beduͤrf⸗
niſſen der ruſſiſchen Volfsfeele blühen wird. Jenſeits davon verliert fie die
is. 227
ir wiederholen, was wir in Hinſicht auf die erzaͤhlende ruſſiſche Dich: Die ———
Macht über ihre Mittel: Die hoͤchſte, rein humane und kosmiſche Uns
ſchauung ſcheint ihr verſagt zu fein — fofern fie nicht bis zu ihr das Sozial⸗
ethiſche zu erweitern vermag, was freilich auf ihren Gipfeln durchaus der
Fall it — wie denn auch ausdruͤcklich betont werden foll, daß hier gar kein
Werturteil ausgeſprochen iſt, vielmehr nur ein Hinweis gegeben werden
ſollte auf die Richtung, in der die eigentlichen Werte der ruſſiſchen Wort⸗
kunſt zu ſuchen ſind.
3. Der ruſſiſche Wiſſenſchaftsbetrieb
im europaͤiſchen Rahmen
*
Ihr allgemeiner Charakter. (Die uͤberragende Rolle der Volkswir
Die 2 lſchaftliche Stellung des Univerſitaͤtsprofeſſors. Bern —
ſiſche Gelehrte) — Die Naturwiſſenſchaften. (Der naturwiſſ
Dilettantismus in Rußland) — Die mathematiſchen Diſziplinen. (Sonia
Kowalewſki) — Die m der Geiſteswiſſenſchaften in 5 und die
ruſſiſche Geſchichtsforſchung. (Ihre 1 durch die 8 0
Bewe nung: 55 chewſki, Solovjeff; ihre durchaus moderne M
Mil Di d i Geiſtesw
den 2 Die ae 555 Gaiden .
ſchluß an die Schulphiloſophie, Kiſtjakowſki). — —
Betrieb der Philoſophie in Foßland
Ihr allgemeiner nmehr kommen wir auf den ruſſiſchen Wiſſenſchaftsbetrieb im euro:
— N Rahmen zu ſprechen. Wir erinnern dabei an alles, was wir
1 im Vorhergehenden auseinanderſetzten uͤber das Schickſal der offiziellen
har Wiſſenſchaft in Rußland, die Stellung des ruſſiſchen Geiſtes zur Wiſſen⸗
Steuung des
Untserfüäte- [haft an ſich und die Art des ruſſiſchen Denkens. Nur auf dieſem Hinter⸗
tele unt grund iſt das Folgende zu verſtehen, und er iſt auch bei jeder Befchäftigung
Belepete) mit ruſſiſcher Wiſſenſchaft im einzelnen heranzuziehen. Hier ſoll bloß von
der Form des ruſſiſchen Wiſſenſchaftsbetriebes die Rede fein in ihrer Über-
einſtimmung mit dem unfrigen. Als ruſſiſche Eigenart, deren Wurzeln wir
nach dem Vorhergehenden kennen, faͤllt uns im freien ruſſiſchen Wiſſen⸗
ſchaftsleben zunaͤchſt das Vorherrſchen der volkswirtſchaftlichen Diſzi⸗
plinen auf, die dabei — und das iſt wiederum ſehr charakteriſtiſch — faſt
aͤngſtlich jede Erweiterung ins Soziologiſche vermeiden. Die Volkswirt⸗
ſchaft, als rein oͤkonomiſche Orientierung, ſpielt in der ruſſiſchen Allgemein⸗
bildung unvergleichlich größere Rolle wie in der irgendeiner anderen
Nation — die Gründe liegen auf der Hand. Der Volkswirtſchaftslehre
werden dabei in Rußland theoretiſch ebenſo enge Grenzen gezogen, wie
man ihre Wirkungsfaͤhigkeit für das praktiſche Leben maßlos überfchägt.
Daher mag es auch kommen, daß trotz der intenſiveren Beſchaͤftigung
mit dieſer Diſziplin Rußland eigentlich keinen einzigen originellen Denker
in ihr hervorbrachte. Dazu geht dieſe Wiſſenſchaft dort wohl viel zu ſehr
ins Breite, Andererſeits erklart ſich die auffallend geringe wiſſenſchaftliche
Produktivität der ruſſiſchen Gelehrten ganz im allgemeinen auch mit dar⸗
aus, daß gerade die Volkswirtſchaft die Wiſſenſchaft von ihnen allen ſein
muß — denn die Geſellſchaft blickt auf den Univerſitaͤtsprofeſſor wie auf
ihren berufenen Helfer: er muß vor allem praktiſch politiſch tätig fein.
Daher haben die ruſſiſchen Profeſſoren einfach zu wenig Zeit für ihr
Spezialfach: fie find ja vor allem für die Beduͤrfniſſe der ruſſiſchen Ges
ſellſchaft da: fie muͤſſen der Regierung im Namen ihrer Ideale in der brei⸗
ten Offentlichkeit opponieren. Das hat natürlich nicht verhindert, daß es
unter den ruſſiſchen Gelehrten eine ganze Reihe von Forſchern von euro⸗
pälfhen Ruf gegeben hat: Ich erinnere nur an den auch als Menſchen
vorbildlichen Chirurgen Pirogoff, den Chemiker Mendelejeff, die Phyſio⸗
logen Pawloff und Metſchnikoff (letzterer übrigens ein Jude, daher im
Ausland, Paris, tätig), den Pflanzenphyſiologen Timirjaſeff und viele
andere.
‚fällt dabei auf, daß europäifchen Ruf genießende ruſſiſche Gelehrte ang
ausſchließlich Naturwiſſenſchaftler ſind. Das liegt zum Teil nn
daran, daß die Naturwiſſenſchaften als politiſch unintereffiert, ſozial uns an Die
ſchuldig, und bei einiger Vorſicht kirchlich unverdaͤchtig, ſich von jeher der Rutland)
ausgeſprochenen Vorliebe und Bevorzugung von ſeiten der ruſſiſchen Re⸗
gierung erfreuten, die ſich ganz beſonders in ihrer Förderung auf euro⸗
paͤiſcher Wiſſenſchaftshoͤhe ſtehend offenbaren wollte. Indes liegt es auch
— wie wir ſchon oben ſahen — in der allgemeinen Anſchauung des Ruſſen
daß er vornehmlich, wenn nicht ausſchließlich, die Naturwiſſen⸗
als Wiſſenſchaften anerkennt: ſich nur innerhalb ihrer ein Denken
erlaubt und als gerechtfertigt erlebt, das nicht unmittelbar auf die Abhilfe
der Volksnot gerichtet iſt. Das iſt ein ſehr wichtiges Moment. Jedenfalls
blüht in Rußland weitverbreitet der naturwiſſenſchaftliche Dilettantismus,
und ſcheint er ſich auf durchaus anftändiger Höhe zu halten. So ſpielen
Aquarien und Terrarien, deren Beſitzer ſich zu Vereinen zuſammen⸗
229
ſchließen, als Bildungsmittel eine große Rolle, neuerdings ſogar die Mikro⸗
ſtopie: die Kleinlebeweſenforſchung ſcheint populär zu werden. Dabei hat
Rußland eine originale naturwiſſenſchaftliche Diſziplin hervorgebracht, auf
die man nicht wenig ſtolz iſt, und fuͤr die auch innerhalb Europas nur noch
Rußland die Vorbedingung gibt. Ich meine die Pathologie (von Pathos,
der Boden), die Bodenforſchung, das heißt die Erforſchung der pflanz⸗
lichen und tieriſchen Lebeweſen in ihrem natürlichen Zuſammenleben auf
von Menſchen unberuͤhrter Erde. Es iſt dies zweifellos ein Wiſſensgebiet,
das in die Tiefe der Biologie fuͤhren kann.
— a ben den Naturwiſſenſchaften und aus denfelben Gründen erfreuen
nen (Sonja do- ich auch die mathematifchen Difziplinen einer großen Popularität in
walewſc) Rußland. Indes hat Rußland auch hier meines Wiſſens keine originalen
Leiſtungen aufzuweiſen. Die vielberuͤhmte Mathematikerin Sonja Kowa⸗
llewſki iſt bloß hervorragend als weiblicher Mathematiker: ihre Leiſtungen
ſollen an ſich durchaus nicht die eines mittleren Univerſitaͤtsprofeſſors über:
troffen haben. An ihr offenbart ſich indes am deutlichſten jene wirkliche
Originalitaͤt im ruſſiſchen Wiſſenſchaftsbetrieb — und in ihr liegt unftreitig
ein hoͤchſt kulturelles Verdienſt —, ich meine den fruͤhen und weiten Zu⸗
tritt, welcher der ruſſiſchen Frau zur Wiſſenſchaft gewaͤhrt ward, und der
weite Gebrauch, der davon gemacht wurde und noch gemacht wird.
22 chon aus der eben erwaͤhnten Neigung des Ruſſen, in der Natur⸗
r wiſſenſchaft die eigentliche Wiſſenſchaft zu erblicken, ergibt ſich die
aan Gr. ſtiefmuͤtterliche Behandlung der reinen Geiſteswiſſenſchaften in Rußland.
nen Einige davon find an ſich unverträglich mit jeder geiſtigen Bevormundung
tung durch die und darum in Rußland einftweilen nur im Keime vorhanden, z. B. Geiſtes⸗
— kulturgeſchichte, vor allem Religionsforſchung. Ganz im allgemeinen be⸗
ee nötigen die Geiſteswiſſenſchaften irgendein von außen kommendes Ins
. tereſſe, damit ſie in Rußland erbluͤhen koͤnnen. Bei der Geſchichte, dem
Mitiutor) Aſchenbroͤdel der ruſſiſchen Univerfität während der Zenſurperiode, brachte
dieſes Intereſſe der aufflammende Panſlawismus, die ploͤtzliche Begeiſte⸗
rung fuͤr das eigene nationale Weſen, das dabei gleich durch das |
der nationalen Expanſion erſchaut ward. So konnte es die ruſſiſche
ſchichtswiſſenſchaft in der Erforſchung der nationalen Vergangenheit zu
ſehr reſpektablen Leiſtungen bringen: wir erinnern an Solopjeff, den
Vater der ruſſiſchen Geſchichte (und des groͤßten ruſſiſchen Philoſophen
Wladimir Solovjeff), an Kljutſchewſki und neuerdings an Peter Milju⸗
koff. Selbftverftändlich gründete ſich die ruſſiſche Geſchichtsforſchung bei
230
F
1
„
© ihrem Aufkommen als Wiſſenſchaft, in den ſechziger Jahren, durchaus auf
duropäiſche, vornehmlich deutſche Meifter, und fie hat dis jezt feine eigent-
lich originelle Methode hervorgebracht. Es kann ihr aber durchaus nicht
das Verdienſt beſtritten werden, daß ſie von vornherein den Rahmen der
Zuſtändigkeit der Geſchichte ſehr weit faßte, daß fie von jeher Neigung
hegte, Kulturgeſchichte zu fein, was fie auch bei Miljukoffn in vollendeter
Weiſe ward; er hat tatfächlich eine ruſſiſche Soziologie geſchrieben. Me⸗
Fbodisch ſtett er jedenfalls auf letzter europäifcher Höhe. Mitjufoffs Ger
ſchichteforſchung if dabei im Gegenfag zu Solonjeff und Kıjutfcheroffi
ohne jede Spur von panſlawiſtiſcher Färbung, und ein großes Verfprechen
auf eine 1 Geiſteswiſſenſchaftspflege in Rußland.
A den letzten Jahrzehnten erhielt zudem die ruſſiſche Geſchichtes⸗ Die Berructun
(im weiteſten Sinne: auch die Literatur und Kunſtge⸗ Salden.
ſchichte) noch einen neuen mächtigen Anſtoß durch den Siegeslauf des Naas
Marxismus in Rußland. Die oͤkonomiſche Geſchichtsauffaſſung nahm ja
den ruſſiſchen Geiſtern den Argwohn vor der Wiſſenſchaftlichkeit der Ge⸗
ſchichte und gab der Beſchaͤftigung mit ihr auch noch einen ganz beſonderen
Anreiz dadurch, daß ſie ſo in engſte Gedankenverbindung trat zu dem
Hauptintereſſe des Ruſſen: dem Wirtſchaftlich⸗Sozialen. Hiermit ſind nicht
nur die Geſchichtswiſſenſchaften, vielmehr eigentlich alle Geiſteswiſſen⸗
ſchaften für den Ruſſen erft wiſſenſchaftlich geworden. Jedenfalls haben fo
die ruſſiſchen Geiſter, die feſtgefahren waren in der ſozialen Doktrin, Be⸗
wegungsfreiheit erlangt. Ob das zum Heile wird, ob Doktrin oder Wiſſen⸗
ſchaft hier den Endſieg davontragen wird, wiſſen wir nicht. Bisher war
die Doktrin immer die ftärfere. Würde fie es auch hier fein, fo wäre Ver:
mauerung des ruſſiſchen Geiſtes vor den Geiſteswiſſenſchaften noch auf
lange hinaus der Kaufpreis für die jetzige, fieberhaft gefteigerte Tätigkeit.
Wir Hoffen, daß dem nicht fo fein wird.
allen ruſſiſchen Wiſſenſchaften am ſchwerſten im argen liegt aus Die Reutsmilien
r und auf der Hand liegenden Gründen die Rechtswiſſen⸗ Ex 8
Sie war ja das klaſſiſche Verſuchsfeld für alle ununterbrochenen Be: Saad
der ruſſiſchen Regierung, ihre Mißbraͤuche wiſſenſchaftlich zu Kiniatomet)
rechtfertigen. Daher gilt die Rechtswiſſenſchaft auch heute noch in weiten
KRͤreiſen der ruſſiſchen Intelligenz für das, wofür fie Tolſtoj erklaͤrte: die
Suyſtematiſierung aller Vergewaltigung tanſpruͤche der Mächtigen zur gei⸗
ane „Orumblagen der tufſiſchen Kultur” werben demmächſt in meiner Überfegung
bei Georg Müller, München, erſcheinen.
a EEE ERBE 2 MALER
f ' Bas.
. en u 9 bi
231
ſtigen Beherrſchung der Schwachen. Das ewige, in der ſittlichen Anlage
des Menſchen gegründete, und die elementaren Notwendigkeiten feines
ſozialen Seins zum Ausdruck bringende Weſen des Rechtes entgeht dem
Ruſſen in weitem Maße und wird daher immer wieder dogmatiſch geleug⸗
net. Es muß dabei wiederum anerkannt werden, daß neuere, europäͤiſch
gebildete ruſſiſche Rechtslehrer, ich nenne nur Kiſtjakowski, ſich erfolgreich
bemühen, der ruſſiſchen Intelligenz den Rechtsgedanken dadurch annehm⸗
bar zu machen, daß ſie ihn in engſte Gemeinſchaft bringen zur ethiſchen
Gedankenwelt, vor allem ſoweit ſie die ſoziale Gerechtigkeit zum Inhalt
hat. Hieraus erklaͤrt ſich der enge Anſchluß der modernen ruſſiſchen Rechts⸗
ſchule an die ruſſiſche Schulphiloſophie.
Der willen» ir erwähnten bereits, daß die auf der ruſſiſchen Univerfität wiſſen⸗
eye ſchaftlich betriebene Philofophie, ſich anlehnend an den deutſchen
in Rußland Idealismus, namentlich den Neukantianismus, ſich eine Durchdringung
des praktiſchen Lebens mit den Ergebniſſen der Forſchung zur Aufgabe
machte. Es wird da tuͤchtig und ehrlich gearbeitet, ich erwaͤhne nur Berdja⸗
jeff und Trubetzkoi. Ein abſchließendes Urteil iſt unmoͤglich, da nicht ein⸗
mal von ruſſiſcher Seite ein Überblick uͤber das philoſophiſche Schaffen
der Nation vorliegt. Jedenfalls ſcheint aber auch hier fuͤr das geiſtige
Rußland als ſolches charakteriſtiſch das Vorherrſchen ethiſcher Gedanken⸗
gaͤnge, ja, wie es mir ſcheint, immer noch ein Straͤuben dagegen, die Er⸗
kenntnis anders als praktiſch zu werten, das heißt das Suchen nach ihr
anders als mit ethiſchen Endzielen zu rechtfertigen, das heißt reine Er⸗
kenntnis anzuerkennen. Dieſes echtruſſiſche Geiſteshemmnis ſcheint mir ſo⸗
gar die in direktem Anſchluß an die europaͤiſche Philoſophie arbeitende
ruſſiſche Schulphiloſophie wenigſtens unbewußt zu beherrſchen. Freilich
koͤnnte dieſer allruſſiſche Widerſtand gegen das Wahrheitsſuchen um feiner
ſelber willen auch nur von dieſer Seite überwunden werden. Wir hoffen
darauf. Denn wenn wir die ruſſiſche Seele uͤberall, auch in der Tiefe,
wo ſie die Welt kuͤnſtleriſch nachgeſtaltet, wunſchbeherrſcht erfaſſen zu
muͤſſen glauben, ſo gibt doch gerade der vorwiegende und berufliche Auf⸗
enthalt in der Gedankenſphaͤre des menſchlichen Erlebniſſes (jeder Be⸗
wußtſeinsaugenblick iſt ja gleichzeitig denkend, fuͤhlend und wollend), Ver⸗
anlaſſung, auch dieſe Beherrſchung bewußt zu erfaſſen und damit der
Kritik zugaͤnglich zu machen. Und dieſe Kritik kann ſchließlich gar nicht
anders als zum Bewußtwerden eines elementaren Beduͤrfniſſes führen,
das ganz jenſeits des Wunſches liegt und damit allein der pon ihm be⸗
232
enſien Perfon den leg weifen lenn aus ipn heraus, zu einer fachlichen
Stellung zur Mit: und Umwelt, und damit wiederum zu ſich ſelber zurüd
in eine freiere Tiefe: Wir meinen das Bedürfnis nach Erkenntnis um
N en.
ihrer ſelber will
; wäre die Befreiung für das geiftige Rußland: endliche Wegraͤumung
1 der letzten und eigentlichen Schranke, die es noch von Europa trennt.
4. Die ruſſiſche Preſſe
1 ununnnnunnunnnnunnn
er 8 der ruſſiſchen Publiziſtik (die ſogenannte produktive Kritik:
2 * a hf, Tſcherniſchewski). — Die ruſſiſche
eſſe. — Die ruſſiſchen Zeitſchriften
n ee zwiſchen Wiſſenſchaft und Leben iſt die Die Eigenart der
Publiziſtik, ihr Organ: die Preſſe im engeren Sinne: Tageszeitung 22
E und Zeitſchrift. Die weſentliche Form der Publigiftif ift die Kritik. Sie hat gan .
in Rußland von jeher eine ganz eigenartige Rolle geſpielt. Die ruſſiſchen Be nn;
KRͤritiker gewöhnten ſich in den Zeiten des ſchwerſten Zenſurdruckes unter ace
Meikolai I., als jede offene Erörterung der großen Fragen ausgeſchloſſen
war, daran, Propaganda für politiſche und ſoziale Befreiung zu machen,
freilich faſt nur im doktrinaͤren Sinne. Die eigentliche Kritik, das heißt
das zu behandelnde Werk, war immer nur Anlaß, Ausgangspunkt, nie
Seelbſtzweck. So kam es zu der berühmten „produktiven“ Kritik eines
Bijelinski, Piſareff, Dobroljuboff, Tſcherniſchewski u. a., die noch heute
bei der ruſſiſchen Intelligenz für klaſſiſch gilt und einen weitgehenden Ein⸗
fluß auf die moderne Publiziſtik in Rußland ausübt, ja deren eigentliches
Vorbild darſtellt. Für den Weſteuropaͤer, dem nicht das Martyrium dieſer
Schriftſteller, ihr Heldenmut, ihr zum Teil, wir denken an Bjelinski,
wundervolles Menſchtum, und die Not ihrer” Zeit vor Augen ſteht, iſt
dieſes Schrifttum ſchlechterdings ungenießbar: in feiner doktrinaͤren Ein:
tdthnigkeit und rettungslofen dogmatiſchen Beſchraͤnktheit. Es handelt ſich
da auch gar nicht um eine wirklich produktive Kritik (wofuͤr das klaſſiſche
Beispiel für alle Zeiten Karl Marx gab), vielmehr um eine, zu propagan⸗
diſtiſchen Zwecken mißbrauchte, alſo faͤlſchlich ihren Namen tragende Kritik.
Dabei erreicht die doktrinaͤre Maßloſigkeit und der Mangel an eigentlichem
kritiſchem Sinn durchaus den Sozialkritiker Tolſtoj: feine Kunſtverkennung
233
und Shakeſpeare⸗Verleumdung kann man hier ſchon faft woͤrtlich finden,
neben ſehr vielem anderen Unerfreulichen. Im Grunde hat dieſe ganze
Literatur nur kulturgeſchichtliches Intereſſe. Ich erwaͤhnte ſie deshalb
außerhalb der eigentlichen ruſſiſchen Literatur, an dieſer Stelle, wo ich
von der ruſſiſchen Preſſe ſpreche, weil ihr Einfluß immer noch beſtimmend
auf dieſe iſt (was ſich natürlich auch auf die grundſaͤtzliche Fortdauer der⸗
ſelben Umftände, d. h. der Zenſur, zurüdführen laßt), und auf jeden Fall
eine gewiſſe, wenigſtens unbewußte Unehrlichkeit der ruſſiſchen kritiſchen
Publiziſtik erklaͤren würde: Man behauptet zu kritiſieren und propagan⸗
diert. Das aber wirkt nicht nur begriffsverwirrend und insbeſondere die
Erkenntnis des wahrhaft Kritiſchen hemmend, vielmehr auch direkt kor⸗
rumpierend, zum mindeſten wird ſo der Kredit der ſchriftſtelleriſchen Auf⸗
richtigkeit grundſaͤtzlich herabgeſetzt. Die Folgen find leider nicht zu ver
kennen.
Die tuſſiſche mentlich in einer gewiſſen, zwar nicht tonangebenden, wohl aber
* ehr verbreiteten Tagespreſſe in Rußland. Man wundert ſich da im⸗
mer wieder uͤber die Tiefe publiziſtiſcher Verdorbenheit bei einem ſo be⸗
ſcheidenen geiſtigen Kaliber. Manche Auslaͤnder bewundern dabei noch die
Gewandtheit dieſer ruſſiſchen Senſations- und Revolverpreſſe. Sie irren
ſich aber: das iſt gar keine Gewandtheit. Da aͤußert ſich bloß jene, rein
mechaniſche Erweiterung des geiſtigen Spielraums, die der erlangt, der
alle Schranken der Anſtaͤndigkeit fallen ließ und gar keine Verpflichtung
mehr zu ihr erlebt. Ganz von ſelber verſteht es ſich, daß ſich dieſe Methode
trefflich in chauviniſtiſchem und namentlich praktiſch chauviniſtiſchem Sinne
ausnutzen laͤßt, worin Regierungsorgane vom Schlage der „Nowoje
Wremja“ und neuerdings das alte Klatſchblatt „Ruſſkoje Slowo“ voran⸗
gehen. Nun muß es aber zur Ehre der guten ruſſiſchen Geſellſchaft — auch
der konſervativen — geſagt ſein, daß derartige Blaͤtter, wenigſtens bis zum
Kriege, ſtets verachtet waren, während ſich von jeher eine Zeitung größten
Anſehens erfreute, die von Moskauer Profeſſoren herausgegeben, im
großen und ganzen ſich eines vorbildlichen Anſtandes befleißigt. Ich meine
die in Moskau erſcheinende „Ruſſkija Wjedomosti“. Dieſes Blatt iſt dabei
alles eher als amuͤſant, es verlangt ſogar durchaus einen wiſſenſchaftlich
intereſſierten Leſer. Es wird vielleicht auch nicht ſehr viel geleſen. Aber
viel gehalten und aufrichtig hochgeachtet. Auch das ehrt die ruſſiſche Ge⸗
ſellſchaft.
234
*
| der durchſchnittlich würdige Ton der ruſſiſchen Zeitſchriften. Die ruiiraen
F ch jetzt im Kriege ſtehen fie im allgemeinen an Würde und Sach- ten
llichkeit — ja ſelbſt an Sachkenntnis — Deutſchland gegenüber himmelhoch
ü öber der periodiſchen Preſſe Englands, Frankreichs und Amerikas.) Dabei
gibt es eigentlich ſehr wenig Familienblaͤtter in Rußland, und auch die,
„ B. die weitverbreitete „Niwa“, halten ſich auf einer guten Höhe und
ſtellen durchaus das Belehrende in den Vordergrund, — für unſere Bes
dffe vielfach etwas zu aufdringlich. Die eigentlichen ruſiſchen Zeitfchriften,
fiſt alles Monatoſchriften, und von ſehr betruͤchtlichem Umfang, find natürlich
pPoarteipolitiſch. Zum Teil ſehr ausſchließlich. Zum Beiſpiel „Mir Boſchy“
Die Gottes welt-) it marrififch, „Rufffoje Bogatftrvo“ („Ruffifcher Reiche
tum“, herausgegeben von dem Dichter Korolenko) fozialrevolutiondr. Der
alte „Weſtnik Ewropj“ („Europabote“), für den einſt Turgenjeff ſchrieb,
entſpricht ungefaͤhr dem Standpunkt der Kadeten. Das Parteipolitiſche
gibt freilich dieſen Revuen etwas Eintöniges und hindert eine einheit⸗
liche literariſche Höhe: da eben die Tendenz doch ſchließlich entſcheidet.
Indes iſt das Niveau ſtets achtunggebietend und der Ton faſt überall
wuͤrdig. Das * ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen der periodiſchen und
der Tagespreſſe in Rußland.
5. Das inoffizielle ruſſiſche Schulweſen i
Die Handelsſchulen. — Die 2 — Die Fortbildungsſchulen. —
Die Sonntagsſchule
en wir noch nachtragen, wie das ruſſiſche Schulweſen Die dee
ſeiner offiziellen Pflege ausſchaut, von der weiter oben Saale —
ausführlich die Rede war. Da faͤllt zunaͤchſt die ruſſiſche Vorliebe dafuͤr
auf, einen vollftändigen Jugendunterricht für einen ganz beſtimmten Bes
ruf zu geben. Es entgeht der ruſſiſchen offentlichen Meinung, daß hier
einmal wirkliche Vergewaltigung vorliegt: wenn z. B. bei einem acht⸗
jährigen Kinde beſtimmt wird, ihm die Erziehung zu einem Kaufmann
zu geben. Auch bedeutet es frivolen Mißbrauch nie wiederkehrender koͤſt⸗
R ler Jugendzeit, Kinder von zehn Jahren an Buchfuͤhrung zu lehren,
eine Sache, die doch jeder, der nicht auf den Kopf gefallen iſt, ſich ſpaͤter
aneignet. Aber ſo geht es nun einmal immer, wenn unpraktiſche
235
1775
Leute praktiſch fein wollen: fie übertreiben dann. Neben den
ſchulen (in mannigfachſter Abſtufung, mit den verſchiedenſten
aber immer mit vollſtaͤndigem Unterricht von klein auf) blühen auch noch
Fachſchulen fuͤr Handwerker, Schloſſer, Faͤrber, Spinner, Weber, meiſt im
Anſchluß an große Fabriken, hauptſaͤchlich für Arbeiterkinder beſtimmt und
oft mit ſehr reichlichen Mitteln verſehen.
Fie Kortblldunge- De. Gedanke der Fortbildungsſchule liegt natürlich bei der Beſchraͤnkt⸗
. beit des Elementarunterrichts für Rußland noch etwas in der Ferne.
Immerhin find Anſaͤtze vorhanden. So in den zwei Vollsuniverfitäten,
die Moskau beſitzt, und in denen, ausſchließlich in den Abendſtunden, und
von erſten Kräften und zu ſehr billigem Preiſe — zehn Kopeken für die
Lektion — Vorleſungen über alle Wiſſensgebiete gehalten werden. Der
Andrang war von Anfang an ein ſehr großer und iſt es auch geblieben.
Naturlich find die Mehrzahl der Hörer — wie Übrigens überall auf den
Volkshochſchulen — nicht Arbeiter, vielmehr Mitglieder des Mittelſtands,
vor allem Handelsgehilfen, deren geiſtiger Hunger überall am lebhafteſten
iſt und am wenigſten beruͤckſichtigt wird. Neuerdings hat man dann noch
verſucht, im Anſchluß an dieſe Vorleſungen, die Moͤglichkeit zu praktiſcher
wiſſenſchaftlicher Taͤtigkeit in eigens hierzu eingerichteten Laboratorien
zu geben. Und hier ſollen die Ergebniſſe geradezu uͤberraſchend fein. —
Jedenfalls liegt etwas ſehr Schönes und Zukunftsreiches in dem Bildungs⸗
eifer dieſer Tauſende junger Leute, die nach dem recht ausgedehnten
Moskauer Arbeitstag auch noch bis in die Nacht hinein ſtudieren und
lernen. Mehrere Vereine, die der Foͤrderung der Volksbildung dienen,
organifieren an Sonn- und Feiertagen Führungen von Volksſchuͤlern und
jugendlichen Arbeitern und Arbeiterinnen durch Muſeen, Bildungsanflal-
ten, Fabriken, oͤffentliche Betriebe uſw. Auch dieſe Veranſtaltungen finden
rege Beteiligung. Ich habe einigen beigewohnt, und dabei iſt mir immer
wieder aufgefallen: einerſeits der freundliche, liebevolle Ton des Fuͤhren⸗
den und ſein hingebender Eifer — es ſind das meiſt wiſſenſchaftliche Fach⸗
leute —, andererſeits die ſehr großen Anſpruͤche an die Auffaſſungskraft
und die Ausdauer der Geführten. Letztere war tatſaͤchlich bewunderns⸗
wert, uͤber erſtere fehlt mir das Urteil.
Die Sonntags- Beſonders ſympathiſche Veranſtaltungen der Volksbildungsvereine in
faul den Großſtaͤdten Rußlands ſind die Sonntagsſchulen: Hier werden Er⸗
wachſene der beſcheidenſten Berufe im Leſen, Schreiben und Rechnen
unterrichtet und dabei im allgemeinen geiſtig zu foͤrdern geſucht. Der Eifer
236
RRV
4 6. Das ruſſiſche Vereinsleben
der Schüler und Schülerinnen, die meiſt viel Alter find als ihre Lehrer
1 und Lehrerinnen, ift rührend, die Erfolge im allgemeinen ſehr zufrieden
ſtellend. Auch fiel mir auf, daß nur auf dieſer Baſis die in ſehr vielen
ruſſiſchen Vereinen angeſtrebte perſoͤnliche Annäherung der Gebildeten an
das Volk gelang. Überall ſonſt in Rußland, wo im Rahmen von Geſell⸗
ſchaften einfaches Volk und Mitglieder der Geſellſchaft zuſammenkommen,
herrſcht Gezwungenheit, Unnatur und ſchließlich Apathie der Gaftgeber —
bei wundervoller, ſchmaͤhlich uͤberſehener Empfaͤnglichkeit der geladenen
* Das ift aber ein Kapitel für ſich.
Das führt mich ſchließlich auf die Vereinstätigkeit in Rußland ganz im
allgemeinen. Sie ift natürlich von der Regierung immer noch eifer⸗
ſuͤchtig überwacht, auf Schritt und Tritt gehemmt (oft freilich bloß durch
die Unbildung und die Schikanen der naͤchſtzuſtaͤndigen Polizeibehoͤrden),
und in ſehr verſchiedenem Maße geduldet, je nach ihren Zwecken. Trotz⸗
dem blüht das Vereinsleben in Rußland. Es iſt indes wohl unfruchtbarer
wie anders wo. Es herrſcht da vielfach verblüffender, pedantiſcher Bureau⸗
kratismus, kleinlichſter perſoͤnlicher Ehrgeiz, und vor allem eine unend⸗
liche Schmwäßerei, die in traurigſtem Mißverhaͤltnis ſteht zu den Taten.
Natürlich liegt die Urſache in der ſo lange gewaltſam verhinderten Ge⸗
wohnung des Ruſſen an freie geſellſchaftliche Tätigkeit. Denn im Grunde
genommen iſt das Vereinsleben in Rußland noch neu. Bei den eigenartigen
ruſſiſchen Verhaͤltniſſen verſteht es ſich dabei ganz von ſelber, daß einige
der über ganz Rußland verbreiteten großen Vereine, wie die „Nuͤchtern⸗
heitsgeſellſchaft“ oder die „Geſellſchaft für Elementarbildung“, in weitem
Maße von der Regierung direkt abhängig find, ja ihr dazu dienen, für ihre
ganz beſtimmten Zwecke zu wirken. Trotzdem ſoll das Segensreiche auch
dieſer Vereine nicht beſtritten werden. Schließlich ſei noch erwaͤhnt, daß
bis zur letzten ruſſiſchen Revolution (1905) ein großer Teil aller Vereine,
die damals eigentlich nur zu wohltaͤtigen Zwecken erlaubt waren, tatſaͤch⸗
lich der Vereinigung und Beratung revolutionärer Elemente diente. Nach
dem Manifeſt vom 17. Oktober 1905 ſind denn auch eine Reihe mehr
oder minder politiſcher Vereine entſtanden, die aber beſtaͤndigen Verfol⸗
237
gungen unterliegen. Im Beginn feiner Entwicklung ſteht noch in Rußland
das Vereinsleben im europaiſchen Sinn, das es dem Einzelbuͤrger ermoͤg⸗
lichen will, neben feiner wirtſchaftlichen und politiſchen Tätigkeit auch
noch an einer faſt unbegrenzten Reihe allgemeiner Intereſſenvertretungen
teilzunehmen (zu welchem Zweck dem einzelnen Vereinsmitglied nur ge⸗
ringe Opfer an Zeit und Geld auferlegt und der Schwerpunkt in die Ber:
einsleitung verlegt wird).
7. Die ruſſiſchen Muſeen -
Verhaͤltnismaͤßig neu iſt auch das Muſeumsweſen in Rußland. Die
Fortſchritte find hier in letzter Zeit betrachtliche. Von jeher außer⸗
ordentlich gut beſucht waren die Muſeen für ſchoͤne Kuͤnſte, zumal die⸗
jenigen, die Werke ruſſiſcher Kunſt beherbergen. Deren weiter oben be⸗
dauerte Befangenheit im Stofflichen, vorwiegend im Sozialſtofflichen, ruft
im hohen Maße das Intereſſe des einfachen Volkes wach und erleichtert
ſein Verſtaͤndnis. Allſonntaͤglich kann man ganze Gruppen einfacher Bauern
in geſpannter Aufmerkſamkeit vor den berühmten Bildern der Tret⸗
jakowſchen Galerie in Moskau ſtehen ſehen — jener unvergleichlichen
Sammlung von Meiſterwerken der ruſſiſchen Malerei, die zwei Moskauer
Großinduſtrielle ihrer Heimatſtadt ſchenkten, und die wohl wenig ihres⸗
gleichen hat in gluͤcklichem Ausgleich von nationaler Ausſchließlichkeit und
kuͤnſtleriſcher Höhe. Ahnlich populär iſt das Rjumanzoffſche Muſeum in
Moskau, das indes mit feiner ethnographiſchen Abteilung ſchon den Über: _
gang bildet zu jenen rein belehrenden Muſeen, die meiſt von Privatgeſell⸗
ſchaften unter ſtaatlicher Unterftüßung gegründet, ſich außerordentlicher
Beliebtheit beim einfachen Volke erfreuen und auf die Dauer eine ſehr
bedeutende Rolle ſpielen werden in der Ausbreitung der Bildung unter
ihm. Vorausſetzung bleibt indes fuͤr die Teilnahme des ruſſiſchen Muſeums⸗
beſuchers — des hochgebildeten wie des ganz ungebildeten —, daß das
Ausgeſtellte unmittelbar an das wirkliche Leben, und zwar moͤglichſt an das
nationale und das der Mehrheit, anknuͤpft. Alles Theoretiſche wird ebenſo
abgelehnt wie alles Artiſtiſche oder verfeinert Luxurioͤſe. Iſt aber erſt ein⸗
mal das Intereſſe des einfachen Ruſſen erregt — eben durch Anknuͤpfung
an ihm Bekanntes —, ſo kann man ihn muͤhelos weiterfuͤhren, und offen⸗
bart er ein uͤberraſchendes Verſtaͤndnis auch für recht ſchwer verſtaͤndliche
238
11 0 ee
Dinge. In bieſem Sinne wird denn auch das Muſeume⸗ und Uusſtellunge⸗
weſen in Rußland geleitet. Sehr gluͤcklich ſcheint mir dabei der Gedanke
der Wanderausſtellungen. Sie find vielfach, ich entſinne mich einer äußerft
gelungenen zur Aufklärung über Bienenzucht, auf großen Barken unters
gebracht, die auf Fluͤſſen und Kanaͤlen gezogen werden, an größeren Ort⸗
ſchaften anhalten und überall regſtes Intereſſe finden. Dieſes Volks⸗
bildungsmittel hat wohl eine große Zukunft für Rußland.
8. Allgemeine Ausſichten
Wir ſehen alſo: es iſt nicht wenig, was in Rußland zur Verbreitung
und Vertiefung der Volksbildung im Rahmen europäifher Organi⸗
ſationsformen geſchieht. Hinzukommt, daß die große Maſſe der hier Bil⸗
dungſuchenden noch völlig unvoreingenommen iſt. Es darf mithin wohl
angenommen werden, daß der Geiſt Europas, dem die gebildeten Schichten
Rußlands fo hartnäckigen Widerſtand entgegenſetzen, durch das Medium
dieſer europäifchen Organiſationsformen zur Befriedigung des Bildungs⸗
betriebes in die breiten Maſſen Rußlands dringen, und von hier aus den
Widerſtand der geiſtigen Oberſchicht brechen wird. Was dieſe Hoffnung
beſonders berechtigt erſcheinen läßt, iſt die mehrfach betonte, feinem aus⸗
ſchließlichen Leben im Innern entſpringende geiſtige Selbſtaͤndigkeit des
einfachen Ruſſen, der von dem, was er einmal begriffen hat, durch keine
Autorität der Welt mehr abzubringen iſt. Hier liegen Rußlands große
Kulturausſichten. Und wir betonen es immer wieder: der vom Banne
ſeiner Dogmen erloͤſte Ruſſe, der ſeinen Gedanken nicht mehr ſeinen Wuͤn⸗
ſchen unterordnet, ſie frei macht von der Knechtſchaft durch die Beduͤrfniſſe
feiner uͤberverwundbaren Seele, dieſer Ruſſe ift in ganz hervorragendem
Maße geeignet, die wahrhaft europaͤiſche Bildung in ihrem letzten Sinne
zu erfaſſen und nach allen Richtungen hin zu erweitern und zu vertiefen:
denn fein Gefühl ift aufs aͤußerſte erregbar, fein Gedanke frei von den Ent⸗
täͤuſchungen jahrhundertalter Irrwege, und fein Wille von jeher darauf
gerichtet, die geſamte Lebensführung in Einklang zu bringen mit den For⸗
derungen, die er als unabweisbar erlebt. Vorderhand haben ſich hier nur
zuviel vorgefaßte Meinungen von engbegrenzten Zielen eingeniſtet. Sie
verſperren dem Ruſſen noch den Weg zu dem einzigen Richter über die
239
eigene Perſon, deſſen Gebote mache Freiheit nicht bedrohen, viel
mehr erft ihre Verwirklichung ermöglichen: zu feinem Gewiſſen. Die Tragil
des heutigen Ruſſen beruht ja darin, daß er nichts für ſich als bindend an⸗
erkennen will als die Forderungen ſeines Gewiſſens, und er ſich dabei
doch nicht entſchließen kann, ſie ganz in ſich ſelber zu ſuchen, jenſeits aller
unmittelbaren Beziehung auf die Not ſeines Volkes, von der er ſich keinen
Augenblick zu trennen vermag. Hat der Ruſſe aber erſt einmal dieſes letzte,
für ihn ſchwerſte Opfer gebracht, hat er den Weg ganz zu ſich ſelber ge⸗
funden, ſo ſteht auf einmal gar keine Schranke mehr zwiſchen ihm und
Weſteuropa. Nichts hindert ihn dann mehr mit uns zu ſchreiten, und vieles
verſpricht, daß er uns in manchem voranſchreiten werde. Das wagen wir
zu hoffen. Denn nicht darauf kommt es uns an, daß wir der Menſchheit
voranſchreiten, vielmehr darauf, daß ſie vorwaͤrts kommt. Und wer ſie da⸗
bei führt, deſſen Schuldner find wir alle. —
240
lin ee
Inhalt
r wl
Einleitung: Wodurch das Geiſtesleben einer Nation be—
, ͤ ͤrrLllLL i ©
Der Einfluß des Staats weſens auf das Geiſtesleben einer Nation. — Der Einfluß
des Wirtſchaftslebens. — Die Stände als nationale Geiſtes typen. — Das eigent:
liche Geiſtesleben einer Nation. — Das nationale Denken und die freie Perſoͤn⸗
lichkeit. — Das Nationalbewußtſein.
J. Die allgemeinen Kulturſchickſale Rußlands und ihre uns
mittelbaren Folgen für das nationale Geiſtesleben .
Die Bedeutung des Einblids in die ruffifchen Staatseinrichtungen für die Ex:
kenntnis des ruſſiſchen Volkes. — Der ruſſiſche Staat als notwendiges Mittel
——— Der Urſprung des Deſpotis mus. —
Staat als Organiſator der Landes verteidigung: Urſprung der ruf:
ſiſchen der Leibeigenſchaft und des Landkommunis mus. — Der Urfprung
und die Rolle der ruſſiſchen Stadt. — Rüdblid auf die Grundlagen der ruffifchen
Kultur. — Der ſich fo ergebende allgemeine Charakter des ruſſiſchen Denkens. —
Die ſich jo ergebende grundfägliche Stellung Rußlands zu Weſteuropa. — Wurzel
II. Das Chriſtentum in ſeinem Einfluß auf das ruſſiſche
Geiſtesleben: Die Wurzeln des ruſſiſchen Gedankens.
Die ruſſiſche Kirche als Hüterin des Chriſtentums. — Sie gibt dem Ruſſen das
Bewußtſein einer ung unter den Voͤlkern. — Alles eigentliche pro:
dultive ruſſiſche Geiſtesleben wurzelt in der ruffifchen Kirche. — Das Fehlen des
ariſtoteliſchen Elementes in der ruſſiſchen Kirche als das geiftige Verhängnis Ruf:
lands. — Der Gegenfaß der ruſſiſchen zur lateiniſchen Kirche. — Nüdblid auf
die Geſamtbeeinfluſſung des ruſſiſchen Geiſteslebens durch die ruſſiſche Kirche.
III. Das Tatarenjoch in feinem Einfluß auf das ruſſiſche
Geiſtesleben: Die Ausbildung der Denkgewohnheiten des
/ ˙ ůQAAAU T ²˙ V·r ee
1. Der unmittelbare Einfluß des Tatarenjochs auf das ruſſiſche
D ⸗ ˙ ˙ % % ˙—
Der Einfluß des Tatarenjochs auf Rußlands innere Einrichtungen. — Der fo
ge Anteil des ruſſiſchen Adels am Geiſtesleben der Nation (als unmittel:
Folge der von den Tataten übernommenen zariſchen Adels politil).
2. Der Einfluß Aſiens auf das geiſtige Rußland
Die bewußte Stellung des geiſtigen Rußlands zu Aſien. — Die Stellung des
—— zur Wiffenfhaft. — Materialismus im ruf
16 Net, Grundlagen des grifligen Ruplands 241
ſiſchen Geiftesleben. — Die echtruſſiſche Verquickung von materialiſtiſcher Welt:
3. Die Gewoͤhnung der ruſſiſchen Volksſeele an den Zwang 39
Die geiſtige Selbſtbehauptung des ruſſiſchen Volles, — Die geiſtige Berufung
des ruſſiſchen Volkes.
4. Der ſchrankenloſe Subjektivismus im ruſſiſchen Denken (Als not⸗
wendige Folge der Gewoͤhnung des ruſſiſchen Volkes an äußeren
Sc ne 42
Die Gleichartigkeit im Seeleninventar der Ruſſen. — Die ſich hier ergebenden
Schwierigkeiten in der Kritik des geiſtigen Rußlands. — Die Rolle der Ber:
gewaltigung im ruſſiſchen Geiſtesleben. — Die Unfaͤhigkeit des Ruſſen, ein ans
detes Erlebnis als das feinige gelten zu laſſen. — Das Verhältnis von Sub⸗
jektivismus zu Materialismus und Idealismus. — Die Rolle des
im ruſſiſchen Geiſtesleben. — Das dem denkenden Ruſſen fehlende
für die Verpflichtungen der Gedanken untereinander. — Das Sophiſtiſche im
ruſſiſchen Denken.
5. Der kuͤnſtleriſche Realismus des Ruſſen (Als mittelbare Folge ſei⸗
nes extremen Subjektivismu ) 52
Die Überlegenheit des ruſſiſchen über den weſteuropaͤiſchen Realismus. — Die
Entwicklungs bedingungen der ruſſiſchen Kunſt. — Die Rolle der ruſſiſchen Kirche
in der fünftlerifchen Betätigung der Nation.
6. Die elementare Abneigung des Ruſſen gegen jede Spaltung der
Wirklichkeit in Gedanken und Begebenheit (Als Folge ſeines extre⸗
men Subzelttvis mus) Si TEE 56
Die Überlegenheit der erzählenden ruſſiſchen Dichtung. — Die Wiege des ruf:
ſiſchen Gedankens. — Die zwei ruſſiſchen Denkertypen: Tolſtoj und Doftojewifi,
— Der Ausgleich zwiſchen europäifchem und ruſſiſchem Denken und die ruffifche
Schulphiloſophie.
IV. Der ruſſiſche Deſpotismus in feinem Einfluß auf das
nationale Geiſtesleben: die Organiſation und eigentüm⸗
liche Färbung des ruſſiſchen Denkens... ns 63
1. Die Primitivität des ruſſiſchen Staatsweſens und ihre Folgen . 64
Der Tiefſtand von Verwaltung und Rechtspflege im alten Rußland. — Der
Mangel an Rechtsbewußtſein in der ruſſiſchen Geſellſchaft. — Das Fehlen des |
wahren Freiheitsbegriffs innerhalb der ruffifchen Geſellſchaft. — Das Ber: |
kennen der ſtaatlichen Notwendigkeiten in der ruſſiſchen Geſellſchaft. — Die Ur:
ſachen des fo häufigen Mißerfolges der felbftändigen Tätigkeit der ruſſiſchen Ge:
arg — Die falſche Auffaffung der ruſſiſchen Geſellſchaft vom Weſen des
ates.
2. Der allgemeine ideologiſche Charakter der ruſſiſchen Innenpolitik
3. Das Streben des Zartums nach Feſtigung ſeiner Macht im Innern
Die Politik des Zartums zur Kirche und ihre Folgen. — Die bewußte Schürung
des Nationalſtolzes durch die ruſſiſche Schule.
242
ruſſiſchen — Der
fluß dieſer Politik auf das ruffifche Geiſtesleben bis in feine hoͤchſten Spitzen.
5. Die Doktrin vom ruſſiſchen Reiche als einem nationalen Einheits⸗
ſtaate
Das eigentliche Meſen diefer Theorie. — Die Rolle des nationalen Myſtizis mus
in der Theorie vom nationalen ruſſiſchen Einheits ſtaate: das Räͤtſel der ruf:
ſiſchen Seele. — Der Einfluß der Doktrin vom nationalen ruſſiſchen Einheits
ſſmaate auf die tuſſiſche Außenpolitik. — Die ruſſiſche Revolution als tatfächliches
national xuſſiſches Einheits moment. — Die nationaliſtiſchen Elemente in der
iſſiſchen Revolution. — Die zureichenden Gründe für das ruſſiſche National:
bewußtſein in allen politiſchen Lagern. — Das zielbe wußte Schüren des Gegen:
fages zum Weſten von feiten der tuſſiſchen Regierung.
6. Der allgemeine Charakter der ruſſiſchen Innenpolitik und ihr
S 8⁴
7. Die panſlawiſtiſche Bewegung als unmittelbarer Ausfluß und
geiſtige Waffe der ruſſiſchen Innen⸗ und Außenpolitik 85
erer Das
8. Zur Geſchichte der ruſſiſchen Verfaſſun g 93
Der Kampf um die Trennung der geſetzgebenden von der aus fuͤhrenden Gewalt
(unter Alexander I.). — Der Kampf um die einheitliche Regelung der Geſetz ⸗
gebung (unter Alexander II., Alexander III. und Nikolai II. bis zum Manifeſt
vom 17. Oktober 1905). — Die Konſtitutions vorſchlaͤge des Miniſters Walujeff,
des Großfuͤrſten Konftantin Nikolajewitſch und Loris Melikoffs. — Die ruſſiſche
1 vom 17. Oktober 1905. — Das „Reichsgeſetzbuch“ und die Ver:
Wirklichung der konſtitutionellen Rechte. — Die polizeiliche Gewalt und die
„außerorbentlichen Maßnahmen“. — Der vermehrte Schuß“, der „außerordent⸗
liche Schutz und „der Kriege zuſtand “.
9. Die ruſſiſche Regierung als Organiſatorin des offiziellen ruſſiſchen
r . 102
Die Anfänge der ruſſiſchen Schule. — Die allgemeinen Schidjale der ruffifchen
10. Der allgemeine Charakter der Bevormundung des ruſſiſchen
Peiſteslebens durch die ruſſiſche Regierung 106
Der Mißbrauch der Myſtik zur Unterdrückung des freien Geiftes, — Die Un:
wendung radilaler Maßnahmen jur Unterbrüdung des freien Gedanken
10 243
-
i
11. Die allgemeinen Wirkungen der ſtaatlichen Bevormundung bes
ruſſiſchen Seiſteslebenn nnn 8 108
Zur Geſchichte der ruſſiſchen e
Der Charakter der ruffifchen Univerſität. — Das ruſſiſche Gymmaſium. — Der
Lernſtoff für die ruſſiſche Univerſitaͤt. — Der Lernſtoff für die ruſſiſchen Mittel:
rr
Die Auffaſſung von Erziehung und Bildung in Rußland. — Die Aufgaben der
Erziehung für Rußland.
12. Die Zenſur und das ruſſiſche Schriftſtellerruů m 121
Der Einfluß der Zenſur auf das Schaffen der ruſſiſchen Schriftſteller. (Das
eigentliche Weſen der ruſſiſchen Dichtung.) — Der Einfluß der Zenſur auf das
Leben der ruſſiſchen Schriftfteller. (Eine kurze ruffifche Literaturgeſchichte in der
Form einer Martyriologie der ruſſiſchen Schriftfteller.)
13. Die ganz allgemeinen Folgen der Zenſur auf das ruſſiſche Gei⸗
ſtesleb s ae ee ae 129
14. Die ruſſiſche Intelligenz als Gegenorganiſation gegen die geiftige
Bevormundung Rußland 131
Die eigentliche Originalität der ruſſiſchen Intelligenz. — Die ruſſiſche mern.
als Rußlands geiftiges Verhängnis. — Die allgemeine Geiſtesphyſiognomie der
ruſſiſchen Intelligenz. — Die geiftigen Grundtendenzen der ruſſiſchen Intelligenz.
— Die ruſſiſche Intelligenz und die Wiſſenſchaft.
15. Die ruſſiſche Intelligenz und die ruſſiſche Kirc hee 138
Die grundfägliche Kirchenfeindlichkeit der ruſſiſchen Intelligenz. — Die grundſaͤtz
liche Übereinſtimmung von intelligentem und orthodoxem Denken.
16. Die ruſſiſche Intelligenz und die ruſſiſche Kunſt 141
Die grundfäglich ablehnende Stellung der ruſſiſchen Intelligenz zur Kunft und
die Rettung der ruſſiſchen Kunſt durch die ruſſiſche Intelligenz. — Die ruſſiſche
Kunſt unter dem Schutze der Intelligenz: die ruſſiſche Malerei. — Die ruſſiſche
Baukunſt. — Skulptur und Muſik in Rußland.
17. Der allgemeine Einfluß des ruſſiſchen Deſpotismus auf das natio⸗
nale Geiſtesleben und deſſen moͤgliche Befreiung durch die ruſſiſche
l N. a 149
V. Die Leibeigenſchaft in ihren Folgen auf das geiftige
Rußland: Die Inhalte des ruſſiſchen Denkens 15¹
1. Die allgemeinen Folgen der Leibeigenſchaft auf das ruſſiſche
Seile 8 152
Die geiſtige Spaltung der ruffifchen Nation und die ſchwankende Stellung der
gebildeten ruſſiſchen Geſellſchaft zur europäifchen Geiſtes kultur. — Der Urſprung
der „Vorbildlichkeit“ des ruſſiſchen Bauern für den gebildeten Ruſſen. — Das
Vorherrfchen des fittlichen Urteils in der geiſtigen Orientierung des Ruffen. —
Die unlösliche Verbindung von „ſozial“ und „ſittlich“ in der Vorſtellung des
Ruſſen (als unmittelbare Folge der Leibeigenſchaft).
244
an Geſchichte der Leibeigenſchaft in Rußlandʒd 157
TP !yx Verlauf in Rufland. — Die wahren lirſachen der tuſſiſchen Baue rnbefteiung.
2 die Einwirkungen der Leibeigenſchaft auf den Leibeigenen und
— — > Die grundfägliche fittliche
der Seelenbeſitzer und ihrer Nachkommen. (Die allruſſiſche Vor:
ſtellung von einem Verfügungstecht des Menſchen über den Menſchen.) — Die
in der ruſſiſchen Geſellſchaft (als Erbſchaft des
e eee
ruſſiſchen Proftitution. — Die Unerzogenheit der
1 Puſchkin und Lermonteff.—
—— Sooıl. — Zurgenjeff. ſtoj:
Tolſtoj als Soyialäfthet. — Der Sozialtheoretiker Tolftoj. — Das Schuldproblem
i VI. Das ſoziale Elend des ruſſiſchen Volkes und ſein Ein⸗
fluß auf das ruſſiſche Geiſtesleben: Die Feſſeln des ruſſi⸗
re., 181
1. Die allgemeinen Urſachen des ſozialen Elends in Rußland. (Sein
Zuſammenhang mit der Leibeigenſchaft )) 182
2. Die allgemeinen Wirkungen des ſozialen Elends in Rußland. . 184
d e e de Exebnit in Rußland und fine gan allgemeinen .
3, Die Beltanfhauung des ruſſiſchen Intelligenten (Als unmittelbare
Bote des fozialen Erlebniſſes in Rußland 187
——— des ruffifchen Intelligenten. — Der &o-
des ruſſiſchen Intelligenten und die ruſſiſche Freiheit bewegung.
des ruſſiſchen Intelligenten und das Berufselend in Rußland.
Endziel und feine Loͤſung in den Seelenbedürfniſſen der Maſſe.) — Die Wurzeln
des Einfluſſes der ſozialiſtiſchen Theorie auf die ruſſiſchen Geiſter und
gen. — Die fozialrevolutionäre Doktrin. (Der Terrorismus als Tat und als
Theorie.) — Die ſittliche Verwirrung innerhalb der ruſſiſchen Geſellſchaft
5. Die Rolle des Marxismus im ruſſiſchen Geiſtes leben 198
Der in ihm liegende Fortſchritt gegenüber dem ſozialrevolutionären Sozialis⸗
mus. — Die öͤkonomiſche Geſchichtsauffaſſung. — Die wiſſenſchaftliche Befruch⸗
tung der ruſſiſchen Intelligenz durch den Marxismus. — Der „Materialismus“
der marxiſtiſchen Lehre. — Die matxiſtiſche Wiſſenſchaft in Rußland. — Die
Wirkung des materialiſtiſchen Elementes der marxiſtiſchen Lehre in Rußland. —
Die Mehrwerts theorie. — Die Mehrwerts theorie im Zuſammenhang des Marx⸗
ſchen Syſtems. — Das eigentliche Weſen der Mehrwertstheorie. (Das Falſche
und das Wahre an ihr.) — Die Mehrwerts theorie im Dienſte des ſozialen Nadi⸗
kalismus in Rußland. (Die Expropriation und die Vermiſchung von politiſchem
und gemeinem Verbrechen in Rußland.) — Die Flucht vor dem Mehrwert.
(Die Selbſtmordepidemie in der ſtudierenden Jugend Rußlands und die „Liga
des Lebens“.) — Die politiſche Spaltung des wirtſchaftenden Rußlands auf
Grund der Mehrwertstheorie: die liberalen Berufe.
6. Das parlamentariſche Rußland 213
Die ſozialiſtiſchen Parteien (Sozialdemokratie, Sozialrevolutionäre, Trudowili).
— Die konſtitutionell demokratiſche Partei (die Kadeten). — Die übrigen Par⸗
teien (die Oktobriſten, die echtruſſiſchen Leute). — Die Duma als die Vertreterin
des ruſſiſchen Volkes.
Anhang: Das europaͤiſche Rußland.
1. Die moderne ruſſiſche Literat eu. 22²
Allgemeiner Charakter. — Tſchechoff. — Gorjki.
2. Das ruſſiſche Dran war RER 225
Die Schauſpielkunſt in Rußland (das „Kleine Theater“ und das „Künſtler⸗
theater“) und das klaſſiſche ruſſiſche Drama (Gribojedoff und Gogol). — Das
neuere ruffifche Drama. (Das Sittenſtück Oſtrowſtys, die hiſtoriſchen Dramen
A. Tolſtojs und das Seelendrama Tſchechoffs.) — Die allgemeine Richtung der
ruſſiſchen Dichtung.
3. Der ruſſiſche Wiſſenſchaftsbetrieb im europaͤiſchen Rahmen. . . 228
Allgemeiner Charakter. (Die überragende Rolle der Volkswirtſchaft. Die
geſellſchaftliche Stellung des Univerſitäͤtsprofeſſors. Berühmte ruffifche Gelehrte.)
— Die Naturwiſſenſchaften. (Der naturwiſſenſchaftliche Dilettantismus in Ruß⸗
land.) — Die mathematiſchen Disziplinen. (Sonja Kowalewſti.) — Die Pflege
der Geiſteswiſſenſchaften in Rußland und die ruſſiſche Geſchichtsforſchung. (Ihre
Befruchtung durch die panſlawiſtiſche Bewegung: Kljutſchewſty, Solovjeff; ihre
durchaus moderne Methode: Miljukoff.) — Die Befruchtung der
Geiſteswiſſenſchaft durch den Marxismus. — Die Rechts wiſſenſchaft in Rußland.
246
WW. NE T
„ e e
r eee eure ar —
u
0
*
N
x
-
"
*
3
1 *
Ei
PX
5
** * ", 1
„N ar nun e
f
Ik
; 2 Eugen Diederichs Verlag in Jena
Schriften zum Verſtaͤndnis der Voͤlker
Karl Noͤtzel, Der franzoͤſiſche und der deutſche Geiſt. Pappbd. M 1.80
—— Das Wefen des franzöſiſchen und des deutſchen Geiſtes wird auf
sölterpfphologifher Grundlage in gründlicher und feinfinniger Urt analoſtert. An der Hand
ber gefamten ſcanzöſiſchen Literatur, vom der altftangzöſiſchen an, wird gejigt, weichen Rulturwert der alts
franpöflfge Geift befigt, und daß in feiner Entwidlung die Möglisteit liegt, das Engderzige und Einfeitige,
das beute dem franz öſiſchen Denten anhaftet, zu überwinden. Das Buch iſt getſtvoll und anregend geſchtteden.
Karl Noͤtzel, Die ſlawiſche Volksſeele. Pappbd. M 1.80
Jubaltz 1. Kart Nögel, Vom einfachen ruſſiſchen Volke / 2. Alexander Barwinskij,
Das ukrainiſche Volk in feiner Dichtung.
5 Die neue Rundſchau: Eine ergreifende Schrift don Karl Rögel: „Dom einfachen tuſſiſchen Bolle“
beingt manchen der Gedanken twieder nabe, mit denen man ſonſt Verfpeftiven in bie Zukunft, mehe oder
weniger folelerif, zn eröffnen liebte. Sie zeigt uns das Leben cines Volkes auf feiner Erde und belehrt
und über feine tiefe Bremdheit, die auch dort eher erſchreckt als binreißt, wo wir fie bewundern, wo mir fle
werehren möffen. Wie lleſt man dies, daß ſich ein ganzes Voll in namenloſe Kuechtfhaft begeben habe, nut
aus dem einen Grunde, um dadurch der Sünde auszuweichen! Wie dernimmt man diefe Beiſplele der Liebe,
der Demut und der Einfalt, die aus der dunklen Geſchichte Rußlands und von feinen Dichtern genannt
werben! Wie haben uns in den letzten Jahren um das tuſſiſche Weſen ſeht bemüht, wohl wiſſend, daß uns
Eiteratiſches Zentralblatt: Eine wertvolle Eroänyung ölbe ber Beitrag bes Soläßcigen utzainifgen
Scheiſtſtellers Barmwinstii, sage ee er
feiner teichen Dichtung entwirft.
Stanislaw Przybyſzewſki, Von Polens Seele. Pappbd. M 180
Gronffurter Zeitung: Stanislaw dripboſhewſfi iR ein großes Temperament, eine ausgeprägte Indio.
bualltät, ber das gane fogenannte Jungqpolen befruchtet, noch mehr, Ihm zu einem großen Teil feinen
Stempel aufgebrädt hat. Er ſprengt die irtiſchen, durch die Sinne feflgehaltenen Gtenzen und eilt zum
Dortiont der Ewigtett, um bort die Seele der Mlimelt zu ſchauen und fle zu offendaten. Das erſchten idm aud
4 die einzige Eridfung der polniſchen Seele. Oierin liegt feine große Bedeutung für die polnifde Kultur
überhaupt und für die weitere Entwicklung der polnifden Piteratur. Nierin lag aber auch zugleich das ans
ſangliche Rißverfländnis zwiſchen Iden, dem Reuerer, und der Ration, die in ibm nut den Umſtätzlet feben
wollte.
Hermann Ullmann, Die Beſtimmung der Deutſchen in Mittel:
den Rernflaat bdinaus vermittelt und Mitteleuropa vorzugsmelfe gegen den Oſten, d. d. in Quropa vertritt.”
Eugen Diederichs Verlag in Jena
Solovjeff iſt „der“ Philoſoph für viele Ruſſen, hochgebildet,
verfeinert, Aſket, Moraliſt, Verkuͤnder einer Art orm⸗
orthodexie, der er die Zukunft vorbehält, konſervativ alfo
im Geiſtig⸗Religioͤſen, dagegen in der Politik ein humaner
Apoſtel, oft Oppoſitioniſt. Überaus lehrreich für das Weſen
ruſſiſchen Denkens, für deutſchen wiſſenſchaftlichen Geiſt
ſchwer zu wuͤrdigen. (Kunſtwart)
Wladimir Solovjeff / Ausgewaͤhlte Werke
Übertragen von Harry Köhler. 3 Bde.
Bd. J. Die geiſtigen Grundlagen des Lebens / Das Geheimnis des
Fortſchritts / Sonntagsbriefe / Drei Geſpraͤche. br. M7. —, geb. M 8.50
Alfons paquet in der Frankfurter Zeltung: Solovjeff IR der größte Rellgionsphlloſoph, den Ruß land
dis jetzt hervorgebracht bat.
Bremer Nachrichten: Ein Denker, Dichter und Prophet, ahnlich Tolſtol, aber in feiner Art doch
wieder grundderſchleden von dem Einfledler don Jas naja Poljana, iſt letzten Endes Solovjeſſs ganzes Leben
don dem einen Gedanken erfüllt, die Wiedergeburt der ganzen Menſchheit durch die konkrete Aufnahme ber
Epriftusiwefenpeit zu bewirten und dleſe wiedergeborene Menſchhelt zu einer freien geiſtigen Weltlürche zu
Archie für Sozlalwiſſenſchaft und Sozlalpolitit: Nicht nur phlloſophlegeſchichtlich iſt es ſehr bedeut⸗
ſam für uns, nach Tolſtojs und Doſtoſewſtis inſpirativen Selbſtanalyſen den Theoretller der myſtiſch⸗
teligidfen Wendung Rußlands, feinen erſten und bis jetzt einzigen denkeriſch relevanten Vertreter der Abkehr
a. II. Die Rechtfertigung des Guten. br. M 12.—, Lwd. geb.
14.—
Süddeutſche Zeitung: Solonjeff betrachtet die deutſchen Myſtlker als die Vorläufer feiner Lehre. Und
mit Recht. Wenn wir die Weiterwirkung der deutſchen Myſtiker in der Literatur betrachten und uns der Ideen
iſt gegeben durch das gleiche innere myſtiſche Biel, das den verſchledenen Myſtikern erſcheint, etwa wie den
einen Berg erſteigenden Wanderern der Gipfel ſich auf ihren emporſteigenden Wegen zeigt.
Bd. III. Vorleſungen über das Gottmenſchentum / Verfall der
mittelalterlichen Weltanſchauung / Drei Vorträge zum Andenken Doſto⸗
jewſkis u. a. m. (In Vorbereitung)
Wladimir Solovjeff, Rußland und Europa. kart. M 1.50
Solovjeff vertritt die Menſchheltsin teteſſen gegenüber dem Pauſlawismus. Er formullert die Zukunfts⸗
aufgaben Rußlands als refipidfe und verlangt eine Wechſelbezlebung zwiſchen der ruffifchen Kirche und dem
Katholizismus; dem Rußland der Zukunft gibt er die Aufgabe, das Ideal des chriſtlichen Staates zu vers
wirklichen.
Eugen Diederichs Verlag in Jena
Ein Standardwerk, in dem wohl zum erſtenmal der erfolgreiche
Verſuch unternommen wurde, das ruſſiſche Geiſtesleben in
ganzen Weite und Fülle, in ſeiner Abhängigfeit vom
und in feiner nationalen Urwüchſigkeit einheitlich dar⸗
Hier ſteht in der Tat Rußland vor uns, durch das
eines Slawen und durch das ſcharfe und klare Auge eines
geſehen, der an der deutſchen Philoſophie zur lichten
e eines vornehmen, überlegenen, weit» und tiefſchauenden
Denkers ſich emporgeſchwungen. (Neues Wiener Tagebl.)
Th. G. Maſaryk, Rußland und Europa
| Studien über die geiftigen Strömungen in Rußland. I. Folge:
Zur ruſſiſchen Geſchichts⸗ und Religionsphiloſophie. 2 Bde. br. je
M 12.—, Lwd. geb. je M 14.—
Die Hilfe: TH. G. Mafarpt, der ptoteſtantiſch/tſchechiſche drofeſſot in drag, iſ dem literarifh und joutna⸗
nch Geblideten belannt als geiſtiges Haupt jener Vartei unter feinem Volle, die auf dem Boden einer
foylalen Retsorbnung, die auch den großen Nor derungen des Geiſtes und fo der Religion ihr dolles Genüge
inteil werben läßt, eine aufrichtige Berföhnung mit dem deutſchen Volle erſtrebt. Von einem folden Mann,
der als gebotener Slawe mit dem Nuſſiſchen ungleich leichter zurechtkommen konnte, als dies dem Deutſchen
möglich wäre, ſich leiten zu laſſen, wird hier zu um fo größerer Genugtuung, je mehr derſelde dei allet Som⸗
vathie für feine ſlatoiſchen Stammesverwandten doch durchaus auf dem Boden der weſtlichen, und zwar
deuiſchen Rulturgenoffenfhaft fleht und fo ſchon in der Einleitung feines Wertes den gewaltigen Gegenfag
betont, ber aller Raſſengemelnſchaſt zum Trog gwotſchen den weſtlich, d. d. europäifh Gebildeten und den
eigentlidien Buffen klafft und der heute die weſtlich erzogenen Völler, neben den Tſchechen namentlich auch die
Polen, in dem gegenwärtigen ungeheuren Ningkampf mit voller Seele auf der weſtlichen, d. d. deutſchen
Seite gegen ben Oſten ſtetzen läßt. Demgemäß bildet denn auch das Buch, in dem er die Ergebniffe feines
Stuttums nieberlegt, ein ganzes Urfenal von Waffen für uns, das undenugt zu la ſſen, einfach under ant /
wortlich in umferer heutigen Lage wärt.
Sozlalikifde Monatspefte: Vrofeflor Mafarpt behandelt ſehr feſſelnd die probleme der tuſſiſchen
Seſcicts, und Religtonovhiloſopble. Im Mittelpuntt des ruſſiſchen ↄbiloſopbiſcden Dentens fleht die Edit.
Die ruſſiſchen phlloſophiſchen Geiſter fragen nicht nur nach dem Sinn des Lebens in abstracto”, ſondern
fragen vor allem nach dem einn des tuſſiſchen Lebens, der tuſſiſchen Geſellſchaftsotrtuung und Ihrer Ger
ſchicht. Oiſtoriſch / kritiſch wertet er namentlich das Slawopbilentum und ſucht aeiftvoll den ſlawopdllen
Diefflaniomus durch die gefellidaftlide und pbiloſopbiſce kage der nachervoluttondten Reflautation und
Reattion in erfläcen. Gegen die Überfhägung des ruflifhen danſlawis mus macht Naſardt entſcteden Front.
Pawel Kopal, Das Slawentum und der deutſche Geiſt. Problem
einer Weltkultur auf Grundlage des religioͤſen Idealismus. br. M4.
nach dem Kriege)
Der Derfaffer In ein Clame. Er teig hel Die Kultur bes Ubenblanbes als einen eindeltlichen Mufflieg des
ealemas von den Evangelien an aber Yaulns, Maguftin, kuter, die Renaiffance bid auf Kant und
Bitte. Eine Entreidiung, deren Ziel Die Husbildung eines freien ſutli den Menfen, Nusdildung der Verfön,
nate und Berfittiihung aller Inftitutionen iM. Mndererfetts bat der Drient das Motiv der klebe ale bet
ausgebildet, und biete dcs Nusprägung des Ehriflentumd muß in ihren dödflen Vertretern Tolllol und
Doflojewäti für das Ubendland von derſelden Bedeutung fein wle die Kultut der fittlihen Autonomie für
dad Morgeniand. Die Ynnerliäteit von Drient und Diyident find feine Begenfäge, und auf idrem uu dle
wird die vollmenfhlite Kultut der Zukunft beruben.
Eugen Diederichs Verlag in Jena
Ruſſiſche Volksmaͤrchen. Herausgegeben von A. v. Löͤwis of Menar.
Mit Buchausſtattung von F. H. Ehmcke. Pappbd. M 3.60, Ganzleder
geb. M 7.—
Neue Freie Preffe: Die euffifgen Woltemärchen Bieten siedet bag belle Material zur Renntnld bes
ruſſiſchen Bollscharaktets in feiner ganzen Driginalität und Seltſamkeit. Gleich dem ruffifchen Heldenllede,
in welchem die Charakterelgenſchaften des tuſſiſchen Volles, Naloltät und Tieffinn, bunte Phantaſtük und
Kabnbeit, Rohelt und edler Idealismus, zum Ausdruck gelangen, twiderfpiegeln auch bie Volles märchen
die geheimnisvolle tuſſiſche Welt in allen ihren anzlehenden und abſtoßenden Erſchelnungen. Diefe Gattung
der ruſſiſchen Voltopoeſie abt noch jetzt im ganzen Zarenreiche eine unmwiderfichlihe Wirkung. Vom tuſſiſchen
Märchen geht ein mächtiger Zauber aus, in Ihm fluten die Wogen des Seltſamen, Jernen, Gehelmnlsdollen,
tief Verſchlelerten.
Balkanmaͤrchen. Aus Albanien, Bulgarien, Serbien und Kroatien.
Herausg. von Dr. A. Leskien. Pappbd. M 3.60, Ganzleder geb. M 7.—
Neue Zürcher Zeltung: Auf dem Balkan, dieſer Brücke Europas nach Uflen, treffen ſich abendländiſche
und otientallſche Kultur. Es iſt intereſſant, dieſe Kreuzung in den Märchen aus Albanien, Bulgarien,
Serbien und Kroatien, die Auguſt Lesklen überfeht, zu beobachten. Die epiſch notwendige Anlage der Fabel,
den Glanz des Originals bewahren nur die Produkte des Künſtlers. Es macht ja z. B. gerade den hohen
Wert der ruſſiſchen Märchen aus, daß fle, von Spielleuten und deren geiſtigen Nachfahren überliefert, im
Laufe der Zeit an Anmut, Ironie und phantaſtiſchen Einfällen reicher wurden. In der Tat tragen auch die
beſten Stücke in Lesklens Buch den Stempel erlauchter Dichter.
W. S. Reymont, Die polniſchen Bauern. 4.— 5. Tauſend. 1. Bd.
Herbſt, Winter. 2. Bd. Frühling, Sommer. 2 Bde. br. M12.—, Lwd.
geb. M 15.—. Buͤttenausgabe in 4 Bänden in Ganzleder geb. M 60.—
Aber den Waffern: Das bäuerliche Leben kann ſchlechthin nicht umfaffender, einſchlleßender, nicht liebes
voller dargeſtellt werden, als es bier geſchehen iſt, weshalb denn auch der Roman wle nichts ſonſt geeignet iſt,
in das Weſen des polniſchen Volkes einzuführen. Alle lernt man kennen: Großbauern und Kätner, Tag⸗
löhner und Knechte, bis herunter zum Häteſungen, zum Bettler und zur Landſtreicherin. Nichts iſt, wohin
wir nicht geführt wurden: In die Felder und Wälder, in den Obſtbaumhain, in die heuduftenden Schuppen,
in die gefüllten Scheuern, in die kuhwarmen Ställe, in die menſchenwimmelnden Stuben reicher Bauern,
baͤuſer und armer Hutten; ja ſelbſt in die Hundehütte ſchauen wit, mäffen unſete Aufmerkſamleit ſelbſt den
Schwalben unterm Dachrand und den Müden an der Stallwand widmen. Keine Tätigkeit, bel der wir nicht
zuſchauen, don den Arbeiten der Ernte und der Ausſaat bis herunter zum Laufen wirchaariger Kinderkoöpfe.
Keine Leldenſchaft, in deren Strudel wir nicht gezogen würden: Neid, Haß, Geiz, Zorn, Vollerel, Streltſucht,
drünſtige Picbesgier, alle reißen ſie ihre Wirbel um uns. Aber da fehlen auch nicht die edlen Eigenſchaften,
die uns rühren und ergreifen. Vorab iſt das die Liebe zur Scholle, die Treue zur Stammgenoſſenſchaft,
die Schlichtheit im Erfaſſen goͤttlichen Weltwaltens. Und wenn in kraſſen Farben Laſter und beldenſchafi
gemalt find, fo fehlt auf der anderen Seite nicht die rährend innige Zeichnung unſchuldiger Kinder.
Deutſche Monatsſchrift für Rußland: Eine Kraft und eine plaſtik in der Schilderung, wie wir ſie ſonſt
UEFA §‚n¶ũ ⁰˙¹*A7]]eͤ . T A
Preuß. Jahrbächer: Es kam dem Dichter nicht auf eine Handlung, eine Geſchichte an, er wollte uns nur
zeigen, was der Titel ankuͤndigt: die polniſchen Bauern. Und das hat er meiſterhaft getan.
Adolf Brabomsty im Neuen Deutſchland: Wer das beutige Polen begreifen will, der muß vor allen
anderen Büchern dieſen Reymont ſchen Roman leſen.
Engelbert pernerſtorfer im Literariſchen Echo: Ja, ich ſtehe nicht an, zu behaupten, daß biefer Bauern⸗
roman alles übertrifft, was auf dieſem Gebiete überhaupt je durch känſtleriſche Darſtellung zu ſchlldern
Literarifhes Zentralblatt: Das vielleicht beſte Buch der neueſten polniſchen ſchoͤnen Piteratur, ſondern
auch ein Werk, das der Weltliteratur angehören wird.
* er > 1 e * A
Er a * ea u, j
f En Zr KR. FE ee
ee N, 7 * . e
5 e er N enge
7 * > =
. > — 1
5 N u 2
.
2% ri 1 8 8
‘ N *
* 4 0
1 — 4
* * 1 9 y he
4 4
. 7 x * 2
N 2
48 > A a
— 2
7 En
=
2
. „
5 N 7
—
* 1 4
* * 2
’ N 5 ce.
1 Gr
* = 2 1 — Re F
4 8 n Fa
f . L
* " 5 * EU
„
.
4 14 8 1 4 *
N N N * Er 1 2 2
er 7 7 4 LS u * 5 3 er 5 ae
1 n En ;
’ * ee I Ge: Funde
. a 2 4
1 Di r r N Fr ea Be.
& L
— * RT
W
a ir ? 2
1 7 * *
a * ir ZU 8 N
en ar
N 1 174 *
* x 7
* N
Ä 1 F
Pr rn.
2
8 2 4
N u 1
. * 2 4
nd *
7 * * a
un 2
* N
f 4,
* 2 ih;
. 2. 1
4. 4 3 2 bi
a Fir 1 . Gr
h 2 ae * ee
bei.
E } 5 $
— Le L 1 * Se,
7 5 es *
*
5
REMOVE
THIS
POCKET