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Full text of "Die Krankheiten des auges fèur praktische èArzte"

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LOCKED  CAGErCIRCULATE  IN  LIBRARY  ONLY 

H DU 


uKÜULAIt 


v.3 
1859 


1AJ 


Rigitized  by  the  Internet  Archive 

in  2011  with  funding  from 

LYRASIS  Members  and  Sloan  Foundation 


http://www.archive.org/details/diekrankheitendeOOarlt 


DIE 

KRANKHEITEN  DES  AUGES. 

für  praktische  Arzte 

geschildert 


Dr.  Fertl.  Arlt, 

o.  ö.  Professor  der  Augenheilkunde  an  der  Universität  zu  » ien. 


III.     Band. 


Die  Krankheiten  des  Glaskörpers,  der  Netzhaut,  der 
Augenmuskeln,  der  Augenlider,  der  Thräneiiorgane 

und   der  Orbita. 


Zweiter  unveränderter  Abdruck. 


Mit   Abbildungen. 


Prag,   1859. 

V  e  r  1  ii  g    d  e  r    k.    k.    H  o  f  -  P>  u  c  h  -    u  n  d    K  u  n  s  t  h  a  n  d  l  u  n  g 

F.   A.  C'redner. 


Die 

Krankheiten 

des 

Glaskörpers,  der  Netzhaut,   der  Augenmus- 
keln, der  Augenlider,  der  Tliränenorgane  und 

der  Orbita, 

für 

praktische  Ärzte 

geschildert 


I>r.  Ferd.  Arlt, 

o.  ö.  Professor  der  Augenheilkunde  an  der  Universität  zu  Wien. 


Zweiler  unveränderter  Abdruck. 


Mit  Abbildungen. 


Prag,   1S59. 

V  e  r  1  s  g   der    k.    k.    Hof-Buch-    und    K  unsthandlung 

V.  A.  Crediier. 


VII.  Brich. 

er   Glaskörper,   Corpus  vitreum. 


A.     Anatomisch-physiologische  Bemerkungen. 

Der  Glaskörper  stellt  eine  farblose  und  vollkommen  durchsichtige 
Masse  dar,  welche  den  Bulbus  hinter  der  Linse  und  den  Ciliarfortsätzen 
ausfüllt.  Die  ihn  hauptsächlich  bildende  Flüssigkeit  (Vitrina,  Humor  vi- 
treus)  ist  in  ein  eigenthüinliehes  loculamentöses  Gewebe  (Stroma  corp. 
vitrei)  infiltrirt  und  von  einer  äusserst  dünnen  Hülle  (Membr.  hyaloidea) 
umschlossen.  Diese  Hülle  schmiegt  sich  vorn  unmittelbar  an  die  hintere 
Linsenkapselhälfte  an,  bildet  dann  die  hintere  Wand  des  Petitschen  Cana- 
les,  ist  längs  des  Ciliarkörpers  innigst  mit  diesem  verwachsen  —  mittelst 
der  Zonula  Zinnii,  jenseits  der  Ora  serrata  einfach  an  die  Netzhaut  ange- 
lagert, und  erst  an  der  Eintrittsstelle  des  Sehnerven  wieder  fest  an  die 
Bulbuswand  angeheftet. 

Der  Glaskörper  misst  beim  Erwachsenen  vom  Centrum  der  teller- 
förmigen Grube  bis  zur  Macula  lutea.  6% — 7"',*)  in  der  Äquatorial- 
ebene des  Bulbus  horizontal  10  —  lO1/,/",  senkrecht  9y3  —  101/4'//.  Das 
absolute  Gewicht  wird  von  Krause  auf  65  —  75  Gran  geschätzt,  das  spe- 
cifische  von    Chevenix  auf    1,0053.     Den  Brechungsindex   setzte  Brewster 

'')  Im  2.  Bande   S.   239  wurde  der  Abstand  des  hinlern  Pules  der  Linse   von  der  Macula  lutea  aua  Versehen  um    I" 
zu  kurz   angegeben. 

Arlfs  Augenheilkunde  III,  i.  \ 


2  Glaskörper. 

=  1,336—1,3394,  wenn  der  des  Wassers  =  1,3358  angenommen  wird.  -*- 
Der  Glaskörper  als  Ganzes  ist  in  hohem  Grade  elastisch -biegsam,  doch 
kaum  mehr  als  Wasser  compressibel,  indem  die  Masse  seiner  festen  Be- 
standteile zu  den  tropfbarflüssigen  versehwindend  klein  ist.  Er  ist  im 
Ganzen  und  in  Stücken  schlüpfrig,  schwer  anzufassen,  gefasst  aber  stark 
fadenziehend  und  dehnbar,  und  lässt  sich  durch  Auspressen  und  Fil- 
triren  in  eine  äusserst  feine  hyaline  Substanz  und  in  eine  klare  Flüssig- 
keit scheiden. 

Die  Glasflüssigkeit,  welche  nach  Abscheidung  aller  festen  Theile  zu- 
rückbleibt, ist  dünnflüssig,  nur  schwach  klebrig  und  wenig  fadenziehend, 
farblos  und  wasserklar,  und  enthält  nach  Berzelius  in  100  Theileri 
98,40  Wasser,  0,16  Eiweiss,  1,42  Kochsalz  mit  einer  extraetartigen  Ma- 
terie, 0,02  in  Wasser  lösliche  Substanz,  und  nach  Millon  auch  etwas 
Harnstoff,  stimmt  also  in  chemischer  Beziehung  mit  dem  Humor  aqueus 
fast  überein,  welchem  sie  auch  im  Brechungsindex  sehr  nahe  steht. 

Die  Glashaut  bildet  einen  äusserst  dünnen  und  durchsichtigen ,  rela- 
tiv ziemlich  festen,  vollkommen  geschlossenen  Sack,  welcher  an  seiner 
glatten  äussern,  der  Netzhaut  zugewendeten  Fläche  und  nach  Pappenheim 
auch  in.  der  tellerförmigen  Grube 'Umrisse  von  sechseckigen  Zellen  wahr- 
nehmen lässt.  ähnlich  denen  von  Pflastcrepithelien,  durch  deren  Verschmel- 
zung sie  nach  Brücke  entstanden  zu  sein  scheint.  Ausserdem  zeigt  sie 
gleich  der  Descemctschen  Haut  und  der  Linsenkapsel  keine  Spur  we- 
der von  Slructur,  noch  von  Gefässen  oder  Nerven  (nach  der  Geburl). 
Über  ihren  Zusammenhang  mit  dem  Stroma  im  Innern  des  Glaskörpers 
ist  weiter  nichts  sicher  gestellt,  als  dass  er  eben  ein  sehr  inniger,  unzer- 
trennlicher ist. 

Das  Stroma  des  Glaskörpers  konnte  bisher  vermöge  seiner  extremen 
Feinheit  und  Durchsichtigkeit  nicht  direct  beobachtet  werden.  Gewiss  ist 
nur,  dass  die  Glasflüssigkeil  nicht  frei  in  dem  Sacke  der  Hyaloidea  einge- 
schlossen ist,  wie  etwa  das  Kammerwasser  in  der  Kammer,  und  dass  sie 
so  zu  sagen  von  einem  innern  Gerüste  getragen  und  zusammengehalten 
wird.  Ob  aber  dieses  Gerüste  aus  Zellen,  Blättern,  Fäden  o.  dgl.  bestelle, 
ist  unbekannt.  Seit  Janin,  Zinn  und  Demours,  welche  zur  Untersuchung 
gefrorne  Bulbi  benutzten,  nahm  man  Zellen  im  Innern  als  Träger  der  Vi- 
trina  an ;  seit  Pappenheim,  der  den  Glaskörper  durch  kohlensaures  Kali 
erhärtete ,  Brücke ,  der  sich  hierzu  concentrirter  Bleizuckerlösungen  be- 
diente, und  Hannover,  welcher  Bulbi  über  '/„  Jahr  lang  in  verdünnter 
Chromsäure  liegen  liess,  machte  sich  mehr  die  Ansicht  einer  blättrig- fä- 
cherigen Slructur  gellend.    Virchow  bezeichnet  den  Glaskörper  als  Schleim- 


Anatomie.  —  Physiologie.  3 

o-cwcbe   und   stellt  ihn  histologisch  an   die  Seite    der   Whartonschen  Sülze 
des  Nabelstranges. 

Demours  konnte  in  gefrornen  und  wieder  etwas  aufgethauten  Glaskörpern  von  den 
einzelnen  Eisstücken,  womit  dieselben  gelullt  erschienen,  eine  feine  Membran  mit  der 
Nadel  abheben.  Die  Eisstückchen,  welche  gegen  die  Oberfläche  hin  lagen,  waren  die 
gross  ten ;  nach  ihnen  und  besonders  nach  der  tellerförmigen  Grube  hin  lagen  die  kleinsten. 
Die  grössten  waren  glatt  und  länger  als  breit,  ziemlich  strahlig  um  den  Mittelpunkt  des 
hintern  Theiles  der  Linse  gelagert,  und'  dicker  nach  aussen,  als  nach  der  Linse  zu.  — 
Nach  Janin,  Zinn  u.  A.  sind  die  Zellscheidewände  kleine  Tellerchen,  deren  Wölbung 
nach  aussen,  deren  Höhlung  nach  innen  gegen  die  Linse  hin  gerichtet  ist.  Um  den  Mitttel- 
punkt herum  und  in  der  tellerförmigen  Grube  liegen  die  kleinsten,  an  der  Peripherie  die 
grössten.  —  Nach  Pappenheim  lässt  sich  der  in  kohlensaurem  Kali  erhärtete  Glaskörper 
fast  zwiebelartig  in  concentrischen  Schichten  abblättern,  welche  denen  von  gekochtem 
Eiweiss  ähneln.  Jede  Schicht  besteht  aus  untnessbar  feinen,  isolirten  und  etwas  ge- 
schwungenen Fäden  oder  Fasern.  —  Brücke  fand  bei  den  Säugethieren  die  Anordnung 
der  Blätter  oder  Scheidewände  so  wie  Pappenheim,  beim  Menschen  dagegen  so  wie 
Hannover.  Nach  diesem  geht  eine  grosse  Menge  seiner  Häute  von  der  Meinbr.  hyaloidea 
einwärts  iu  die  Masse  des  Glaskörpers,  ohngefähr  wie  die  Scheidewände  in  einer 
Orange.  Die  durch  diese  Scheidewände  gebildeten  Sectoren  lagern  sich  um  eine 
gerade  Linie,  die  man  sich  vom  hintern  Pole  der  Linse  zur  Eintrittsstelle  der  Art. 
centralis  retinae  gezogen  zu  denken  hat,  sind  jedoch  gegen  diese  Achse  hin  offen 
(fehlend),  und  übrigens  so  dünn  und  schwach  lichlbrechend,  dass  sie  sich  im  natür- 
lichen Zustande  selbst  mit  bewaffnetem  Auge  nicht  erkennen  lassen.  Brücke  bemerkt 
indessen,  dass  diese  Septa  allein  nicht  hinreichen,  die  Consistenz  des  Glaskörpers  zu 
erklären,  daher  man  denn  auch  annimmt,  dass  die  einzelnen  Sectoren  noch  unterab- 
getheilt  seien  durch  dünne  Zwischenwände,  welche  die  Sectoren  quer  durchsetzen, 
ohngefähr  so,    dass  sie  zur  hintern  Kapsel  concentrisch  verlaufen. 

Gegen  alle  diese  Präparationen  und  darauf  basirten  Folgerungen  erhebt  sich  das 
Bedenken,  ob  nicht,  da  alle  die  genannten  Mittel  von  aussen  nach  innen  gradatim 
einwirken,  mechanisch-chemische  Einwirkungen  allein  oder  doch  vorwaltend  die  Ursache 
einer  bestimmten  Schichtenbildung  seien.  Es  ist  wenigstens  auffallend,  dass  jede  dieser 
Präparationsweisen  eine  andere  Richtung  der  Zwischenwände  erweist.  Welche  Ansicht 
über  das  Stroma  des  Glaskörpers  man  adoptiren  möge,  immer  wird  man  gezwungen 
sein,  sich  die  Zwischenräume,  in  denen  die  Flüssigkeit  haftet,  sehr  klein  zu  denken. 
Statt  mit  einer  Apfelsine  möchte  man  den  Glaskörper  besser  mit  dem  Parenchyme  eines 
Pfirsichs  vergleichen,  dessen  Flüssigkeit  von  einem  verschwindend  zarten  und  spär- 
lichen Stroma  zusammen  gehalten  wird.  Man  kann  vom  Glaskörper  aus  den  verschie- 
densten Regionen  immer  eine  einzige  Portion  mit  einer  feinen  Pincette  fassen  und  mit 
einer  Scheere  abschneiden;  jede  noch  so  kleine  Portion  besteht  aus  einem  festen  und 
flüssigen  Theile,  und  das  Stroma  scheint  in  den  mittlem  und  hintern  Portionen  weder 
feiner  noch  sparsamer,  als  anderswo  zu  sein,  geschweige  denn  zu  fehlen.  Nach 
Rosas  fülüf  sich  ein  seiner  Flüssigkeit  durch  rasches  Verdunsten  beraubter  Glaskörper 
gleich  einem  ausgedrückten  Schwämme,  wenn  man  ihn  einige  Stunden  in  Wasser  liegen 
lässt.  —  Wird  bei  einer  Operation  oder  Verletzung  ein  Theil  des  Glaskörpers  ans  der 
Wunde    hervorgepresst,   so  besieht  dieser    (bei  normaler  Beschaffenheit    des    Glaskörpers 


4  Glaskörper. 

überhaupt)  so  gut  aus  Stroma  als  aus  Vitrina.  Ein  Theil  der  hervorgepressten  Flüssig- 
keiten fliesst  ab,  ein  anderer  Theil  aber,  am  Stroma  haftend,  bleibt  vor  der  Wunde,  und 
wird,  falls  das  Ganze  nicht  allmälig  zurückgleitet,  wolkig,  trüb,  bis  es  endlich  erweicht, 
eitrig  schmilzt,  und  ahgestossen  wird.     Vergl.  II.  ß.  S.   16. 

Die  Ernährung  des  Glaskörpers  geschieht  wahrscheinlich  durch  En- 
und  Exosmose  vom  Corpus  ciliare  aus,  und  zwar  durch  die  mit  der  Hya- 
loidea  daselbst  verschmolzene  Zonula  Zinnii  hindurch,  Wollte  man  auch 
mit  Huschke  plasmaführende  Yasa  decolora  im  Glaskörper  annehmen, 
welche  nicht  sowohl  aus  den  Ciliargefässen,  als.  vielmehr  aus  der  Central- 
arterie  der  Netzhaut  entsprängen ,  so  würde  man  sich  doch  vergeblich 
nach  dem  zweiten  Elemente  der  unmittelbaren  Ernährung,  nach  Nerven 
umsehen.  Der  Glaskörper  dürfte  sich  hinsichtlich  der  Ernährung  analog 
dem  Krystailkörper  verhalten.  Dort  wie  hier  sind  in  der  Fötalperiode 
zahlreiche  Gefässe  vorhanden,  welche  von  der  Centralarterie  der  Netzhaut 
gegen  die  tellerförmige  Grube  verlaufen;  nach  der  Geburt  jedoch  lässt  sich 
keine  Spur  davon  nachweisen,  weder  durch  Injectionen  noch  durch  das 
Mikroskop,  und  es  entwickeln  sich  auch  in  verschiedenen  pathologischen 
Zuständen  mit  Exsudation  in  dem  Glaskörper  niemals  Gefässe,  wie  etwa 
in  der  Hornhaut. 

Mehrere  pathologisch- anatomische  Thatsachen  sind  es,  welche  dafür  sprechen, 
das  die  Ernährung  des  Glaskörpers  vom  Ciliarkörper  her  erfolge.  Bei  hochgradig  Kurz- 
sichtigen findet  man  Sclera,  Ader-  und  Netzhaut  rings  um  den  hintern  Fol  rückwärts 
ausgedehnt,  den  Glaskörper  bis  zur  Basis  dieser  Ektasie  normal,  von  da  rückwärts  aber 
durch  wässrige  Flüssigkeit  ersetzt;  zwischen  ihm  und  der  Eintrittsstelle  des  Sehnerven, 
ja  selbst  zwischen  ihm  und  einem  grossen  Theile  der  Netzhaut  ist  jede  Spur  von  Ver- 
bindung aufgehoben.  —  Wenn  in  Folge  weit  verbreileter  Chorioidits  Exsudation  an 
der  Innenfläche  der  Aderhaut  erfolgt,  so  findet  man  das  Exsudat  jenseits  (hinter)  der 
Ora  serrata  jederzeit  zwischen  Chorioidea  und  Betina,  diessseits  jedoch  stets  auch 
•an  der  Innenfläche  der  Zonula  Zinnii  und  der  damit  unzertrennlich  verwachsenen  Hya- 
loidea,  also  im  Glaskörper  selbst  ablagert,  gleichwie  solches  Exsudat  oft  auch  im 
Pelit'schen  Canale  und  an  der  Hinterfläche  der  Iris,  selbst  in  der  vordem  Kammer  vor- 
gefunden wird.  Vergl.  Chorioidea  im  2.  Bande.  Ich  habe  bei  allen  bisherigen  Sec- 
tionen  niemals  Exsudat  im  Glaskörper  gefunden,  ohne  dass  auch  der  Ciliarkörper  mit 
ergriffen  war,  ausgenommen  bei  Chorioiditis  pyaemica  im  Beginn,  wo  ein  einzelner 
hanfkorngrosser  Eiterherd  durch  die  Netzhaut  gedrungen,  und  dieser  in  den  Glaskörper 
hineinragende  Hügel  von  einein  trüben  (wolkenähnlichen)  Hofe  umgeben  war.  Wenn, 
wie  so  oft  bei  chronischer  Iritis,  auch  das  Corpus  ciliare  in  den  Entzündungsprocess 
hineingezogen  wird,  so  leidet  der  Glaskörper  viel  früher,  als  noch  die  Zeichen  von 
Netzhautaffection  auftreten.  In  manchen  Fällen  wird  der  Bulbus  allmälig  weich  und 
endlich  atrophisch  ;  in  andern  tritt  abnorme  Spannung  des  Bulbus  und  selbst  Vergrös- 
serung  mit  Ausdehnung  des  vordem  Umfanges  der  Sclera  ein.  In  diesem  letzteren 
Zustande    nun    kommen  Augen    vor,    bei    denen  sich  Verflüssigung    de.-  Glaskörpers    mit 


Anatomie.  —  Physiologie.  5 

ßcsliminhcit  nachweisen  lässt,  ohne  dass  das  Gesicht  anders,  als  mechanisch  gestört  ist^ 
demnach  die  Netzhaut  als  gesund  oder  doch  relativ  sehr  wenig  leidend  angenommen 
werden   inuss. 

Ich  bin  überzeugt,  dass  Krankheiten  des  Glaskörpers  nur  von  Krankheiten  der 
Chorioidea,  in  speeie  des  '  Ciliarkörpers  abhängen,  durchaus  nicht  von  Krankheiten  der 
Netzhaut,  ausser  diese  sind  selbst  durh  Chorioidealleiden  bedingt  oder  mit  diesen  ge- 
meinschaftlich einhergehend.  Amaurosis,  von  Kindheit  bis  in  späte  Jahre  bestehend, 
hat  auf  die  Integrität  des  Glaskörpers  keinen  Einilnss;  man  hat-  bei  vollständiger  und 
Jahre  lang  bestandener  Atrophie  des  Sehnerven  und  consecutiv  der  Netzhaut  den  Glas- 
körper normal  gefunden,  wenn  die  Atrophie  nicht  vom  Auge  selbst  ausgegangen  war. 
Andererseits  kann  Verflüssigung  des  Glaskörpers  viele  Jahre  lang  fortbestehen,  ohne 
dass  die  Netzhaut  erkrankt.  Ich  beobachte  hier  seit  beinahe  2  Jahren  einen  Tischler, 
bei  welchem  sich  ans  unbekannter  Ursache  die  Linsen,  welche  ein  wenig  minder  klar 
erscheinen,  gesenkt  haben,  und  in  dem  verflüssigten  Glaskörper  floltiren.  Der  Mann,  48 
Jahre  alt,  von  blühend  gesundem  Aussehen,  hatte  noch  während  er  die  Schulen  besuchte, 
ein  ganz,  gutes  Gesicht.  Albuälig  war  er  kurzsichtig  geworden,  ohne  sonst  etwas 
Abnormes  in  seinen  Augen  zu  bemerken.  Im  Jahre  1847  wurde  er  ohne  bekannte 
Veranlassung  von  Doppelsehen  (diplopia  monocularis  oculi  utr.)  befallen,  offenbar  be- 
dingt durch  unvollständige  Senkung  der  Krystallkörper.  Der  ihn  behandelnde  Arzt  (Dr. 
Ryba)  hatte  ihn  besonders  vor  erschütternden  Bewegungen  des  Kopfes  gewarnt.  Allmälig, 
im  Verlauf  eines  Jahres,  verlor  sich  das  Doppelsehen.  Wenn  er  auf  dein  Rücken  liegt, 
bemerkt  er  auf  jedem  Auge  eine  runde  Scheibe,  fast  wie  einen  grossen  Oellropfen, 
mit  dunklem  Rande.  Convexgläser,  deren  er  sich  anfangs  bediente,  hat  er  wieder  ab- 
legen müssen.  Dieser  Mann  nun  steht  seinem  Geschäfte  vor,  ohne  von  seinem  Zustande 
gehindert  zu  werden.  Er  kann  selbst  noch  zeichnen  und  lesen.  Nur  in  die  Ferne 
sieht  er  minder  gut.  Lesen  kann  er  selbst  einen  ]/.l'"  hohen  Druck.  Druck  von  1 — 5/,'" 
Höhe  Hess  er  bei  8"  am  besten,  doch  auch  noch  bei  5"  und  bis  12",  etwas  grösseren 
Druck  noch  weiter  (18").  Aber  er  kann  diess  nur  dann,  wenn  er  die  Schrift  ganz 
nach  unten  hält,  knapp  vor  der  ßrust  Man  kann  annehmen,  dass  diess  daher  rühre 
weil  bei  dieser  Haltung  die  Linsen  sich  wieder  vorlegen  und  zur  Strahlenbrechung 
mitwirken,  denn  es  braucht  immer  einige  Secunden,  ehe  er,  nach  Annahme  dieser 
Haltung,  lesen  kann.  Vte  Untersuchung  mit  dem  Augenspiegel  wird  leider  nicht 
gestattet.  Doch  konnte  ich  nie  bemerken,  dass  etwa  die  Linse  sich  an  die  Iris  anlegte 
und  diese  vorwärts  drängte.  Es  muss  jedoch,  um  keine  wichtige  Thatsache  zu  über- 
gehen, noch  bemerkt  werden,  dass  der  Mann  das  Lesen,  Zeichnen  u.  dgl.  nicht  mehr 
so  bange  wie  vordem  aushält,  dass  ihm  dabei  auf  eine  kurze  Zeit  das  Gesicht  vergeht 
(nudentlich  wird).  Den  Schlüssel  zur  Erklärung  gibt  die  Form  der  Bulbi.  Die  Iris 
liegt  tief  hinter  der  Basis  corneae  und  in  Einer  Ebene,  die  Pupillen  sind  (wie"  bei 
mangelnder  Linse  immer)  relativ  eng,  und  die  Regenbogenhäute  schlotlern.  Beide  Bulbi 
sind  in  der  Richtung  der  Sehachse  eclatant  verlängert,  was  man  deutlich  erkennt,  wenn 
man  z.  B.  das  linke  Auge  möglichst  stark  rechts  blicken  lässt,  und  nun  die  äussere  Commissur 
rückwärts  drückt.  Die  Bulbi  messen  in  der  Sehachse  mindestens  14'",  der  linke  noch 
etwas  mehr;  derselbe  ragt  überdiess  etwas  weiter  aus  der  Orbita  hervor  als  der  rechte, 
welcher  durchaus  nicht  glotzend  erscheint.  Als  ich  diese  Dimensionsabweichung  er- 
kannt hatte,  ergab  sieh,  gleichsam  als  Rechnungsprobe,  dass  das  linke  Auge  nur  zwi- 
schen 4  —  6"    lesen  kann,   was  der  Kranke  früher  nicht  gewusst  hatte.     Dass  übrigens 


6  Glaskörper. 

die  Energie  der  Netzhaut  nicht  merklich  gelitten  haben  kann,  ergibt  sich  abgesehen 
von  dem  schon  Mitgetheilten  noch  daraus,  dass  der  Mann  auch  durch  eine  feine  Öff- 
nung in  einem  Kartenblatte  lesen  kann. 

Dass  sieh  der  Glaskörper  regenerire,  ist  allgemein  angenommen,  aber 
durchaus  nicht  erwiesen.  Wir  wissen  nur,  dass  nach  Verlust  eines  nicht 
zu  beträchtlichen  Theiles  davon  der  leer  gewordene  Raum  wieder  aus- 
gefüllt wird,  und  dass  der  Bulbus  dann  in  Bezug  auf  Grosse  und  Span- 
nung nach  einiger  Zeit  oft  keine  Differenz  wahrnehmen  lässt.  Das,  was 
ersetzt  wird,  ist  aber  wahrscheinlich  nicht  Stroma,  sondern  bloss  Humor 
corporis  vitrei  oder  wohl  gar  blosses  Serum,  Glücklicherweise  geht  bei 
den  Glaskörpervorfällen  während'  der  Extraction  in  der  Regel  nicht  so  viel 
Stroma  verloren,  als  man  dem  Anseheine  nach  meinen  möchte.  Oft  weicht 
das  eines  Theiles  seiner  Flüssigkeit  verlustige  Stroma  wieder  in  seine 
frühere  Lage  zurück  und  füllt  sich  dann  wieder  —  so  hat  es  wenigstens 
den  Anschein  —  mit  Vitrina,  gleich  einem  sich  vollsangenden  ausge- 
drückten Schwämme. 

Ich  bin  oftmals  in  der  Lage  gewesen,  an  Augen  Pupillenbilflung  (durch  Irideklomie) 
vorzunehmen,  wo  nach  der  Extraction  mit  Glaskörperverlust  Pupillensperre  durch  Ein- 
löthung  von  Iris  in  die  Hornhautnarbe  entstanden  war.  In  solchen  Fallen  stiess  ich 
nach  Ausschneidung  eines  Irisstückes  nicht  selten  auf  eine  dahinter  gelegene  trübe 
Membran,  gebildet  durch  die  Kapsel  und  dazwischen  eingeschlossene,  in  fibroide  Masse 
verwandelte  Linsensubstanz.  Wurde  nun  diese  Membran  mit  einem  Häkchen  einge- 
rissen, um  den  Lichtstrahlen  freien  Eintritt  zu  bahnen,  so  zeigte  sich  dahinter  kein 
normaler,  sondern  ganz  verflüssigter  Glaskörper  oder  vielmehr  eine  wasserklare  und 
wasserdünne  Flüssigkeit,  und  der  Bulbus  fing  an,  mehr  weniger  stark  einzusinken, 
daher  ich  auch  jetzt  in  solchen  Fällen  immer  die  Vorsicht  gebrauche,  den  Kranken  zu 
chlorormiren  oder  doch  bei  der  Operation  liegen  zu  lassen,  um  wenigstens  die  Muskel- 
action  möglichst  ausser  Spiel  zu  bringen.  Ich  übersehe  dabei  nicht,  das  Glaskörper- 
verflüssigung (Verlust  oder  Zerstörung  der  Stroma)  auch  in  solchen  Fällen  vorgefunden 
wird,  wo  auch  ohne  Glaskörperverlust  nach  Beseitigung  oder  mehr  weniger  vollstän- 
diger Resorption  der  Linse  Pupillensperre  eingetreten  ist,  aber  hier  ist  diese  Ver- 
flüssigung keine  constante  Erscheinung.  —  Stellwag*)  vertheidigt  die  Regeneration  des 
Glaskörpers  (wenn  auch  eine  unvollkommene)  mit  Folgendem  :  „Ich  schliesse  dieses 
aus  drei  von  niiv  sehr  genau  untersuchten  Fällen,  in  welchen  Cornealnarbenstaphylome 
bestanden,  der  Krystallkörper  aber  in  toto  fehlte,  an  seiner  Stelle  die  von  einer  ganz 
normalen,  keine  Spur  einer  Trennung  nachweisenden  Glashaut  überzogene  tellerförmige 
Grube  mit  bedeutender  Convexität  hervorragte  und  das  Corpus  vitmini  ausser  einer 
kaum  merklichen  Consitenzabnahme  seines  mittlen]  Theiles  keine  Abweichung  darbot, 
Es  war  hier  sicherlich  der  Krystallkörper  unter  einem  namhaften  Drucke  durch  den 
Cornealdurchhruch    hindurch    entleert   worden,    und   es    ist  dieses    ohne  Entleerung    der 

)  Die  Ophthalmologie  vom  naturwissenaefeaftl.  Standpunkte  ;<u-   bearbeite*,    Preiburg  im  Breisgrau   ISöLl 


Anatomie  —  Physiologie.  7 

mittlem  Portionen  des  Glaskörpers  kaum  denkbar.  Hat  aber  diese  statt  gefunden,  so 
ist  auch  die  Regenerationsfähigkeit  des  Glaskörpers  erwiesen,  welche  übrigens  schon 
a  priori  durch  dieses  Vermögen  der  Linse  und  Hornhaut  wahrscheinlich  gemacht  ist."  — 
Ich  finde  in  dem  Gesagten  keinen  Beweis  für  das  Behauptete.  Zunächst  gelten  die 
Gründe  a  priori  nicht,  denn  die  Linse  regnerirt  sich  nicht,  mindestens  niüsste  diess 
erst  nachgewiesen  werden ,  und  die  Hornhaut  hat  Nerven  und  Gefässe,  (beide  jetzt 
auch  mikroskopisch  nachgewiesen).  Ferner  sagt  St.  selbst,,  es  sei  eine  Entleerung  der 
Linse  ohne  Glaskörper  doch  denkbar,  den  das  kaum  negirt  nicht.  Sie  ist  aber  un- 
wahrscheinlich, und  unwahrscheinlich  ist  mir  auch  das,  dass  sich  der  „Krystallkörper 
in  toto"  entleert,  im  Auge  auch  keine  Spur  von  Kapsel  gefunden  wurde,  und  doch 
die  Hyaloidea  der  tellerförmigen  Grube  normal,  also  vollständig  regenerirt  wieder  ge- 
funden werden  konnte.  Ich  bin  zwar  nicht  Stellwags  Ansicht,  dass  die  hintere  Kapsel 
unzertrennlich  mit  der  Hyaloidea  verwachsen  sei,  wohl  aber  der,  dass  die  Zonula 
Zinnii  mit  der  vordem  Kapsel '  am  Rande  unzertrennlich  verwachsen  ist.  Wurde  der 
Krystallkörper  in  toto  herausgepresst,  so  musste  auch  die  Zonula  Zinnii  ringsum  los 
reisseu,  und  dann  war's  auch  um  den  Petitschen  Canal  geschehen,  welcher  doch  nach 
St.  die  Strömung  von  den  Ciliarfortsätzen  zum  Vordertheile  des  Corpus  vitreum,  also 
die  Ernährung  und  somit  auch  die  Regeneration  vermitteln  soll.  Wenn  vom  Krystall- 
körper wirklich  keine  Spur  vorhanden  war,  so  ist  die  gewaltsame  Entleerung  desselben 
eben  nur  Eine  der  möglichen  Ursachen  seines  gänzlichen  Mangels,  und  gesetzt  auch 
diese  eine  Ursache  wäre  wirklich  die  hier  allein  obwaltende  gewesen,  so  folgt  daraus 
noch  nicht,  das  damit  Glaskürperverlust  einhergeht,  denn  Verlust  von  Glasflüssigkoit 
ist  nicht  gleichbedeutend  mit  Verlust  von  glashäutigem  Fachwerk,  wie  St.  das  Stroma 
eorp.  vitrei  benennt. 

Die  Venoundbarkeit  des  Glaskörpers  ist  im  Allgemeinen  sehr  gering. 
Nicht  nur  Stich-  und  Schnitt-,  sondern  auch  Risswunden  desselben  pflegen 
zu  heilen,  ohne  dass  eine  wahrnehmbare  Abnormität  zurückbleibt.  Es  ist 
bekannt,  dass  auf  diese  Eigenschaft  gerechnet  wird,  wenn  man  Staare 
dislocirt.  Bei  jeder  Reclination  oder  Depression  wird  nothwendig,  nebst 
der  hinteren  Kapsel  auch  die  Hyaloidea  in  der  tellerförmigen  Grube  und 
ein  Theil  des  Fachwerkes  oder  Stroma  corporis  vitrei  zerrissen.  Es  er- 
folgt darauf  in  der  Regel  keine  Entzündung,  oft  auch  keine  Verflüssigung 
des  Glaskörpers,  und  der  Riss  der  hinteren  Kapsel,  also  wohl  auch  der 
Hyaloidea,  verheilt  ohne  sichtbare  Narbe.  Wo  auf  solche  Eingriffe,  wie 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  nicht  die  Zeichen  von  Verflüssigung  des  Glas- 
körpers folgen,  darf  und  muss  man  wohl  annehmen,  dass  auch  das  zer- 
rissene Stroma  wieder  vereinigt  sei,  und  dass  seine  Ernährung  fernerhin 
ungestört  vor  sich  gehe.  Wo  aber  die  Zeichen  von  Verflüssung  auf- 
treten, bleibt  es  unentschieden,  ob  diess  die  unmittelbare  Folge  der  Zer- 
reissung,  oder  secumlär  durch  einen  entzündlichen  Process  seitens  der 
Chorioidea  bedingt  sei,  welcher  mit  Erweichung  und  Aullösung  des  Stroma 
und  mit  Ausscheidung  von  Serum  einherffeht. 


8  Glaskörper. 

Der  Glaskörper  ist  bestimmt,  den  Raum  zwischen  der  Linse  und  Netz- 
haut so  auszufüllen,  dass  letztere  immer  gespannt  erhalten  werde.  Wir 
werden  weiterhin  sehen,  dass  der  Bulbus  eigentlich  nicht  so  viel  Flüssigkeit 
enthält,  als  er  seinem  Lumen  nach  enthalten  könnte,  -und  dass  demnach' 
die  Spannung,  die  er  im  Leben  zeigt,  nicht  durch  die  Contenta  allein, 
sondern  erst  durch  Mitwirkung  muskulöser  Gebilde  zu  Stande  gebracht 
werde.  Als  biegsam  elastisches  und  doch  incömpressibles  Gebilde  ist  es 
einzig  und  allein  der  Glaskörper,  welcher  die  zur  Accommodation  not- 
wendigen innern  Veränderungen  des  Auges  (Verlängerung  des  Ab&tandes 
zwischen  Linse  und  Netzhaut)  gestattet.  Zerstörung  seines  Stroma  muss 
die  Accommodation  mehr  weniger  beschränken,  wo  nicht  aufheben.  Ver- 
möge seiner  eigenthümlichen  Structur  und  Consistenz  trägt  er  überdiess 
zur  Erhaltung  des  .Krystallkörpers  in  seiner  Lage  bei,  und  sichert  sowohl 
diesen  als  die  Iris  vor  zitternden  Bewegungen  und  grösseren  Exemtionen, 
in  welche  beide  vermöge  ihres  grössern  speeifischen  Gewichtes  bei  raschen 
Bewegungen  und  Erschütterungen  des  Bulbus  versetzt  werden  müsslen. 

Als  vollkommen  durchsichtiges  und  homogenes  Gebilde  von  einem 
bestimmten  Brechungsverhältnisse  dient  der  Glaskörper  nicht  bloss  zum 
gradlinigen  Durchgange  der  in  ihn  eingedrungenen  Lichtstrahlen,  sondern 
nimmt  auch  auf  die  Richtung  der  Lichtwellen  beim  Übergänge  aus  der 
Linse  in  den  Glaskörper  einen  bestimmenden  Einfluss.  Nehmen  wir  an, 
was  höchst  wahrscheinlich  ist,  dass  sein  Brechungsindex  entsprechend  sei- 
ner Dichtigkeit  falle  und  steige,  so  ergibt  sich,  dass  er  den  aus  der  Linse 
in  ihn  einti-etenden  Lichtstrahl  um  so  mehr  vom  Einfallslose  ablenken 
müsse,  je  dünner  er  ist.  Verflüssigung  des  Glaskörpers  (Umwandlung  in 
eine  dünnere,  wasserähnliche  homogene  Flüssigkeit  nach  zerstörtem  Stroma) 
muss  daher  an  und  für  sich  Kurzsichtigkeit,  i.  e.  frühere  Vereinigung  der 
Lichtstrahlen  oder  kürzere  Brennweite  des  Auges  bewirken.  Bei  man- 
gelnder Linse  könnte  der  Glaskörper  auch  dann,  wenn  er  an  seiner  Vor- 
derfläche convex  wäre,  keinen  erheblichen  Einiluss  auf  den  Refractions- 
zustand  des  Auges  nehmen,  weil  sein  Brechungsindex  von  dem  des  Kam- 
merwassers sehr  wenig  differirt.  —  Trübung  des  Glaskörpers  in  toto 
würde  die  Lichtmenge ,  die  zur  Netzhaut  gelangen  soll ,  vermindern  und 
überdiess  einen  Theil  des  durchgehenden'  Lichtes  dill'mnliren.  Einzelne 
dunkle  (kein  Licht  durchlassende)  Partikelchen,  wie  etwa  Pigmentklümpehen, 
sind  zwar  im  Stande,  von  dem  Lichtkegel,  den  ein  Object  zur  Netzhaut 
sendet,  einzelne  Strahlen  aufzufangen,  können  jedoch  nur  dann  das  Wahr- 
nehmen eines  oder  des  andern  Objectpunkles  aufheben,  wenn  sie  wjegen 
zu  naher  Lage   an   der  Netzhaut  und   wegen  zu  grosser   Ausdehnung  alle 


Krankheiten.  0 

von  jenem  Objcctpunktc  kommenden  .Lichtstrahlen  auffangen ;  wohl  aber 
können  solche  einzelne,  selbst  kleine  Parlikelehen  im  Allgemeinen  als 
dunkle  Stellen  des  Sehfeldes  wahrgenommen  werden  durch  den  Schallen, 
welchen  sie  auf  die  Netzhaut  bei  allgemeiner  Beleuchtung  derselben  werfen. 
Siehe  später :  entoptische  Erscheinungen. 

B.     Krankheiten  des  Glaskörpers. 

Die  verschiedenen  abnormen  Zustände  des  Glaskörpers  sind  in  ihrer 
Entstehung  und  In  ihrem  Fortbestande  zumeist  von  dem  Zustande  der  ihn 
umschliessenden  Gebilde  abhängig.  Es  muss  ihrer  Betrachtung  jedoch  ein 
eigener  Abschnitt  gewidmet  werden,  theils  um  die  Umstände  zu  erörtern, 
welche  zeigen,  ob  und  in  welcher  Weise  der  Glaskörper  mitleide ,  theils 
aber  auch,  um  die  Metamorphosen  zu  schildern,  welche  bei  einmal  ge- 
gebener Veränderung  im  Glaskörper,  z.  B.  einem  Blutergusse,  zu  er- 
warten stehen. 

Mit  Übergehung  des  Coloboma  corp.  vitrei,  welches  mit  dem  gleich- 
namigen Bildungsfehler  der  Iris  und  Chorioidea  bereits  im  2.  Bande  S.  122 
erwähnt  wurde ,  und  der  verschiedenen  Verletzungen  des  Glaskörpers, 
von  denen  gleichfalls  schon  mehrmals  die  Rede  war ,  werden  wir  gleich 
zur  Betrachtung  jener  abnormen  Zustände  schreiten,  welche  in  ihren  Er- 
scheinungen eine  gewisse  Selbständigkeit  darbieten,  und  deshalb  gewöhn- 
lich als  eigentliche  Erkrankungen  des  Glaskörpers  beschrieben  werden, 
obgleich  sie  von  Erkrankung  anderer  Organe  abhängen.  Es  sind  diess : 
der  Bluterguss,  die  Verflüssigung  und  das  Vorkommen  faserstoffiger  Exsu- 
date im  Glaskörper.  Die  Bildung  von  Entozoen  und  in  manchen  Fällen 
vielleicht  auch  das  Zerfallen  des  Stroma  mit  oder,  ohne  Fettbildung  inner- 
halb der  Glashaut  sind  wohl  die  einzigen  Abnormitäten,  welche  dem  Glas- 
körper an  und  für  sich  zukommen.  Die  eitrige  Schmelzung  des  Glas- 
körpers, sowie  seine  Verdrängung  durch  Chorioidealexsudate  oder  durch 
Pseudoplasmen,  welche  von  den  Nachbarhäuten  ausgehen,  sind  Zustände 
von  so  untergeordneter  Bedeutung,  dass  sie  hier  keine  besondere  Be- 
sprechung erheischen. 

Die  Zustände  nun,  welche  hier  zur  Sprache  kommen  sollen,  haben 
ein  einziges  Symptom  constant,  wenn  auch  in  verschiedener  Weise,  im  Ge- 
folge, nämlich  Störung  des  Gesichtes.  Veränderungen  des  Bulbus  in  Form, 
Grösse  und  Spannung  sind  in  der  Regel  die  Begleiter  von  Zu-  oder  Ab- 
nahme der  Masse  des  Glaskörpers,  welche  meist  mit  Veränderung  seiner 
Dichtigkeit  und  Zerfall  seines  Stroma  einhergeht.     Die    Lage   der  Iris  und 


10  Glaskörper. 

der  Linse  erleidet  nun  bei  höheren  Graden  dieser  Abnormitäten  eine  für 
die  Diagnosis  benutzbare  Veränderung-.  Die  Störungen  seiner  Durchsich- 
tigkeit lassen  sich  selten  durch  Besichtigung  der  Pupille,  meistens  nur  mit- 
telst des  Augenspiegels  sicher  erkennen,  oft  jedoch  auch  aus  den  so-, 
genannten  entoptischen  Erscheinungen  nach  der  Methode  von  Listing, 
Brewster  und  Bonders  mit  mehr  weniger  Verlässlichkeit  in  Bezug  auf 
Lage  und  Ausbreitung  erschliessen. 

Den  Vorgang  bei  diesen  Methoden  so  wie  die  Untersiichnngsweise  mit  dein  Augen- 
spiegel   werden    wir   im  nächsten  Buche    bei  der  Untersuchung  der  Netzhaut  nachtragen. 


I.    Blutergiessungen 

im  Glaskörper  kommen  in  verschiedener  Ausdehnung  und  nach  verschie- 
denen Veranlassungen  vor.  Sie  entstehen  zunächst  nach  Verletzungen 
mit  momentaner  Abplattung  oder  auch  bloss  mit  Erschütterung  des  Bulbus. 
Ich  habe  sie  beobachtet,  wenn  ein  fremder  Körper,  etwa  ein  Stück.  Holz, 
mit  einer  gewissen  Gewalt  an  den  untern  oder  obern  Orbitalrand  ange- 
prallt war,  ohne  dass  sich  am  Bulbus  selbst  äusserlich  eine  Verletzung 
wahrnehmen  Hess,  ja  auch  ohne  beträchtliche  Eechymosen  der  Lider.  Im 
Momente  der  Verletzung  pflegen  feurige  Erscheinungen  aufzutreten,  doch 
nicht  immer.  Das  Sehvermögen  ist  sogleich  beschränkt  oder  aufgehoben, 
oder  es  wird  erst  später  mehr  und  mehr  beeinträchtigt.  Die  Pupille  war. 
zur  Zeit,  wo  ich  solche  Verletzte  zu  sehen  bekam,  der  des  andern  Auges 
gleich,  oder  erweitert,  gleich-  oder  uugleichmässig  (oval)  und  selbst  bei 
noch  deutlicher  Lichtempfindung  trag  oder  ganz  unbeweglich.  Die  Unter- 
suchung mit  dem  Augenspiegel  liess  in  einigen  Fällen  den  Hintergrund 
des  Auges  gar  nicht  wahrnehmen,  offenbar  wegen  zu  reichlichen  Bluter- 
gusses,-denn  später,  nach  Senkung  oder  theilweiser  Resorption  desselben 
ergab  dieselbe  Untersuchung  den  Beweis,  dass  Blutaustrctung  statt  ge- 
funden hatte.  Bei  sehr  reichlichem  Blutergusse  kann  auch  die  Spannung 
des  Bulbus  vermehrt  und  die  Linse  sammt  der  Iris  allmälig  etwas  vorge- 
drängt werden.  —  Wo  die  Verletzung  den  Bulbus  direet  getroffen,  ist 
meistens  auch  Blut  in  der  vordem  Kammer  ergossen,  offenbar  durch  Ber- 
stung  von  Irisgefässen,  wenn  man  auch  einen  Ouerriss  oder  periphere  Ab- 
lösuno- der  Iris  nicht  mit  den  Augen  auffinden  kann.  Solche  Blutaustre- 
hingen  in  der  vordem  Kammer  scheinen  übrigens  nicht  nolhwendig  mit 
Blutergüssen  in  der  Tiefe  des  Auges  verbunden  zu  sein ;  ich  schliesse 
diess  zwar  nicht  aus  directer    Untersuchung,    vermuthe    es    aber   aus  dem 


Blutergüsse.  i  l 

Umstände,  dass  sich,  wenigstens  in  einigen  solchen  Fallen,  nachher  keine 
Sehstörung  wahrnehmen  Hess. 

Blutergüsse  in  dem  Glaskörper  entstehen  ferner ,  obgleich  seltener, 
nach  heftigen  körperlichen  Anstrengungen  mit  momentaner  Blutstauung 
und  synergischer  Augenmuskelcontraction,  wie  beim  Husten,  beim  Erbre- 
chen, beim  Heben  schwerer  Lasten  u.  dergl.,  zumal  wenn  diese  bei  er- 
hitztem Körper,  in  berauschtem  Zustande,  bei  Circulationsstörungen  von 
Seite  des  Herzens,  der  Aorta,  der  Lungen  stattfinden. 

Am  häufigsten  und  leichtesten  erfolgen  kleine  Blutergüsse  bei  krank- 
haften Zuständen  des  Bulbus,  bei  activer  oder  mechanischer  Hyperämie  der 
Ader-  und  Netzhaut  und  bei  verminderter  Besistenzkraft  der  Wandungen 
des  Bulbus  (Ektasien  der  Hornhaut  oder  der  Sclera  im  weitesten  Sinne 
des  Wortes)  spontan  oder  nach   anhaltender  Anstrengung  der  Sehkraft. 

Dr.  v.  Gräfe,  *)  dem  über  Glaskörperblutungen  eine  ausnehmend  grosse  Zahl  ge- 
nauer Beobachtungen  zu  Gebote  steht,  bemerkt  über  die  Disposition  dazu  ohngefähr  Fol- 
gendes :  „Die  Hauptursache  bildet  die  Sclerotico-chorioiditis  posterior,  jene  Amblyopien 
so  häufig  zu  Grunde  liegende  Krankheitsform,  bei  welcher  durch  chronische  Entzündung 
der  Chorioidea  die  Sclerotica  sich  um  den  hintern  Augenpol  ausdehnt,  und  die  ekta- 
tische  Partie  derselben  durch  die  atrophirte  Chorioidea  hindurch  ein  intensives  weisses 
Licht-  hindurch  wirft,  wesshalb  sie  das  Aussehen  einer  um  den  Sehnerveneintritt  vor- 
waltend nach  aussen  hin  anliegenden  weissen  Plaque  gewährt.""")  —  „Ich  habe  Kranke 
behandelt,  welche  beinahe  periodisch  in  den  Intervallen  einiger  Monate  durch  intra- 
oculare  Blutungen  das  Sehvermögen  vollkommen  verloren.  Auffallender  Weise  waren 
sie  -  beinahe  durchweg  jugendliche  Individuen  in  den  20er,  30er,  höchstens  40er 
Jahren.  In  einigen  Fällen  wies  die  Complication  mit  apoplektischen  Anfällen  nicht 
ol.ine  Wahrscheinlichkeit  auf  Gefässleiden  hin  ;  in  ziemlich  vielen  Fällen  war  früher 
starkes  Nasenbluten  vorhanden  gewesen,  welches  seit  der  Zeit  sistirte  ;  in  zwei  Fällen 
schien  die  Cessation  von  Hämorrhoidalblutungen,  in  einem  andern  das  Ausbleiben  von 
Fussschweissen  in  einem  ursächlichen  Verhältnisse  zu  dem  Übel  zu  stehen.  Diese 
Momente  sind  natürlich  für  die  Behandlung  von  der  grössten  Wichtigkeit,  da  wieder- 
kehrende Glaskörperblutungen  doch  sehr  ernste  Befürchtungen  veranlassen.  Es  pflegen 
nämlich  nicht  allein  von  jeder  Blutung  Glaskörperopacitäten  zurück  zu  bleiben,  sondern 
die  sich  häufenden  Perforationen  der  Netzhaut  geben  zu  Defecten  im.  Gesichtsfelde 
Anlass ;  die  grösste  Gefahr  aber  ist  die,  dass  sich  bei  wiederkehrenden  Anfällen  der 
Effusion  in  den  Glaskörper  ecchyiuotische  Netzhautablösung  substiluirt;  desshalb  findet 
man  auch  sehr  häufig  Erblindung  auf  einem  Auge  durch  Netzhautablösung  mit  deren 
weitern    Folgen    (Cataracta  mollis,  aecreta    mit  oder  ohne  Atrophia   bulbi),    während  auf 

*)  Archiv  für  Ophthalmologie,  Berlin  1854.  I.  B.  1.  Abth. 
'-'*)  Die  Thatsache  ist  richtig;  in  der  Auffassung  derselben  jedoch  kann  ich  Gräfe  nicht  beistimmen  Die  Ausdeh- 
nung, von  der  hier  die  Rede  ist,  bisher  gewöhnlich  Slaphyloma  posticum  Srarpae  genannt,  ist  nicht  durch 
Entzündung  der  Chorioidea  und  Sclera  bedingt,  wie  ich  in  dem  Capilel  über  Accommodation  nachweisen  werde, 
wenigstens  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nicht.  Zur  Hämorrhagie  im  Glaskörper  steh!  dieser  Zustand  nur  als 
Ektasie  in  ursächlicher  Beziehung. 


12  fplaskörper. 

der  andern  Seite  Glaskörperfiocken  als  Residuen  periodisch  wiederholter  Blutungen  ent- 
deckt werden."  —  »Bei  für  sieh  bestehenden  Erkrankungen  der  Netzhaut  ist  das  Vor- 
kommen von  Blutergüssen  in  den  Glaskörper  sehr  selten.  Als  Gelegenheitsursa*  hen 
werden  neben  Verkühlungen  und  Nachtwachen  besonders  häufig  von  den  Kranken  Ein- 
fall hellen,  strahlenden  Sonnenlichtes  und  anhaltende  Accommodation  für  die  Nähe  ange- 
geben. Diese  letztere  könnte  durch  die  ununterbrochene  Muskelspannung  und  die  hie- 
mit  in  Verbindung  stehende  Behinderung  im  Ausflusse  des  Venenblutes  allerdings  ein 
wichtiges  Moment  abgeben."  Mir  scheint  es,  dass  nicht  im  Momente  der  Spannung, 
sondern  in  dem  darauf  folgenden  der  Erschlaffung  (zumal  bei  verminderter  Widerstands- 
fähigkeit der  Bulbuswandungen,  also  bei  Ektasien)  die  nächste  Veranlassung  zur  Gefäss- 
berstung  gegeben  sei,  und  zwar  ob  des  plötzlich  aufgehobenen  Druckes  auf  die  Gelasse, 
welche  bekanntlich  so  gut  wie  der  gesaminte  Inhalt  des  Bulbus  stets  unter  einem  nur 
wenig  variablen  Drucke  (adäquat  der  Spannung  des  Bulbus)  stehen. 

Woher  das  in  den  Glaskörper  ergossene  Blut  komme,  ist  noch  nicht 
völlig-  sicher  gestellt.  In  einem  Ealle,  den  ich  zur  Section  bekam,  war 
das  Blut  wohl  vom  Corpus  ciliare  in  den  Glaskörper  gelangt,  denn  es  war 
im  vordem  Bereiche  desselben  am  reichlichsten  ergossen  und  verlor  sich 
ganz  allmälig  gegen  den  hinteren  Pol  hin,  in  dessen  Nähe  keine  Spur  da- 
von zu  finden  war.  Mit  dem  Augenspiegel  sieht  man  mitunter  kleine  Ex- 
travasate so  nahe  an  der  Netzhaut,  dass  man  sie  wohl  als  von  dieser  her 
eingedrungen  betrachten  muss.  Ob  sie  aber  aus  den  Centralgefässen  der 
Netzhaut  stammen,  oder,  wie  Gräfe  1.  c.  annimmt,  aus  Chorioidealgefässen 
durch  die  Netzhaut  hindurch  in  den  Glaskörper  dringen,  bedarf  noch  wei- 
'  terer  Bestätigung. 

„Wenn  intraokulare  Blutungen  den  Ausgangspunkt  zu  Glaskörperopacitäten  bilde- 
ten, so  konnte  als  der  Quell  dieser  Blutung  nach  stattgsfundener  Resorption  immer  die 
Chorioidea  nachgewiesen  werden,  denn  es  waren  dann  allemal  Zeichen  von  namhaften 
Circulationsanomalien  in  derselben,  wie  Reste  alter  Ecchymosirungen  in  den  Intcrvas- 
cularräumen  u.  s.  w.  vorhanden,  ja  ich  konnte  in  einzelnen  Fällen  den  Ort  der  Blutung 
und  der  NetzJiautperforalion  deutlich  nachweisen.  Es  scheint,  dass,  wenn  vom  hintern 
Theil  der  Chorioidea  Hämorrhagien  ausgehen,  die  Netzhaut  Widerstand  leistet,  und 
sich  leichter  ein  ecehymotischer  Sack  zwischen  beiden  Membranen  bildet,  dass  dicss 
aber  gegen  die  Ora  serrata  hin  weit  seltener  vorkommt,  als  Durchbruch  der  Retina 
und  Erguss  in  den  Glaskörper.  Der  Durchbruch  ist  für  die  Erhaltung  des  Sehver- 
mögens unendlich  günstiger,  da  der  nieist  beschränkte  excentrische  Durchbrudi,  welcher 
sich  später  nicht  selten  durch  einen  Pigmentfleck  verrälh,  von  keinem  erheblichen  Ein- 
fluss  ist,  und  der  übrige  Theil  der  Netzhaut,  wie  es  die  Rückkehr  des  Sehvermögens 
beweist,  der  nervösen  Leitung  nicht  entfremdet  wird,  während  die  einmal  abgelöste 
Netzhautpartie  meinen  Erfahrungen  zu  Folge  niemals  die  Leitungsfiihigkcit  wieder  er- 
langt."    Gräfe  ibidem. 

Das  Blut  im  Glaskörper  wird  entweder  vollständig,  oder  nach  mannig- 
fachen Umwandlungen  nur  theilweise  resorbirt,   Diese  Zersetzung  und  Zu- 


Blutergüsse.  13 

rücklassung  einzelner  Bestand Iheile  von  der  einen  und  die  Zertrümmerung 
des  Glaskörpergerüstes  von  der  anderen  Seite  bewirken,  dass  das  Stroma 
in  mehr  weniger  grosser  Ausdehnung  bleibend  zerstört,  |der  Glaskörper 
ganz  oder  Iheilweise  in  eine  einfache  dünne  Flüssigkeit  verwandelt  wird, 
in  welcher  mehr  weniger  dunkle  Elemente  in  Form  von  Punkten,  Faden, 
Flocken  u.  dergl.  theils  suspendirt,  theils  präeipitirt  sind,  und  bei  raschen 
Bewegungen  des  Bulbus  auf  dieselbe  Weise  aufwallen,  wie  etwa  Käse- 
flocken  in  einer  mit  Molken  gefüllten  Flasche.  —  Bei  spontan  eingetre- 
tenen Blutungen  ist  die  Frognosis  -minder  günstig,  weil  sie  selbst  ohne 
besondere  Veranlassung  gern  wiederkehren,  und  weil  die  Resorption  re- 
lativ langsamer  erfolgt,  als  nach  Verletzungen,  die  ein  gesundes  Auge  in 
einem  gesunden  Individuum  betroffen  haben.  Es  sind  verlassliche  Beob- 
achtungen bekannt,  wo  nach  Verletzungen  mit  Blutergiessung,  welche 
das  Sehen  gänzlich  aufgehoben  hatte,  vollständige  oder  doch  nahezu  völlige 
Wiederherstellung  des  Sehvermögens  (bei  geeigneter  Behandlung)  eintrat. 
Doch  können  reichliche  Extravasate  auch  zu  heftiger  Entzündung  und  zu 
eitriger  Zerstörung  des  Bulbus  führen. 

Von  den  Erscheinungen,  welche  auf  Glaskörperbluterguss  nach  äussern 
Gewalttätigkeiten  deuten,  war  bereits  die  Rede.  Spontane  Blutergüsse 
kündigen  sich  gewöhnlich  durch  das  plötzliche  Auftreten  eines  dunkeln 
Fleckes,  einer  Wolke  oder  eines  Nebels  im  Sehfelde  an,  wie  wenn  sich 
etwas  vor  das  Auge  gelegt  hätte,  das  der  Betroffene  durch  Reiben,  Wi- 
schen u.  dergl.  beseitigen  zu  müssen  vermeint.  Bisweilen  ist  auch  das 
Gefühl  von  Druck,  wie  von  einem  fremden  Körper  vorhanden.  Später  ge- 
schieht es,  dass  das  Hinderniss  des  Sehens  seine  Natur  durch  einen  rötb- 
lichen oder  grünlichen  Schein,  durch  eine  gewisse  Beweglichkeit  im  Seh- 
felde und  durch  eine  Form  andeutet,  welche  füglich  nur  auf  einen  vor 
der  Netzhaut  gelegenen,  speeifisch  schwerern  und  doch  flüssigen  Körper 
bezogen  werden  kann.  Eine  solche  begrenzte  Blutergiessung  erscheint 
dein  Betroffenen  anfangs  als  eine  schwarze,  kreis  -  oder  eirunde  Scheibe 
im  Sehfelde,  von  verschiedener  scheinbarer  Grösse  und  Entfernung  vor 
dem  Auge,  doch  im  Ganzen  immer  dieselbe  relative  Stelle  des  Sehfeldes 
einnehmend ,  nur  mit  der  Zeit  sich  senkend  (im  Sehfelde  höher  gelegen). 
Später,  wenn  bereits  Auflösung  oder  Resorption  im  Gange  ist,  und  der 
speeifisch  schwerere  Theil  sich  senkt,  oder  bei  raschen  Bewegungen  des 
Bulbus  nach  dem  Gesetze  der  Trägheit  eine  differente  Geschwindigkeit  er- 
hält,  werden  die  Contouren  wie  verwaschen  ,  und  erscheint  der  dünnere 
(durchscheinende)  Theil  röthlich,  röstbraun,  dunkelgrün  oder  grau;  dieser 
Theil  erscheint  bei  ruhigem  Blicke  im  Sehfelde  nach  unten,  weil  vor  einem 


14  Glaskftrper. 

höher  {Telegenen  Theile  der  Netzhaut  befindlich,  bei  raschen  Seitenbewe- 
gtingeri  schweifähnlich  nachziehend  (z.  B.  bei  Einwärtsrollung  des  Auges 
scheinbar  von  aussen  nach  innen  ziehend)  u.  s.  w. 

Lässt  die  Blutmasse  noch  Raum  zur  Beleuchtung  der  Netz-  und  Ader- 
haut frei,  so  zeigt  der  Augenspiegel  bisweilen  dieselbe  wenigstens  stellen- 
weise roth  (durchscheinend),  meistens  aber  nur  schwarz  (dunkel);  sie 
durch  auffallendes  Licht  sichtbar  zu  machen,  ist  mir  bisher  nicht  gelungen. 
Nach  erfolgter  Auflösung  und  tuen"  weiser'  Resorption  des  Blutes  sieht  man 
Klümpchen,  Flocken  oder  Fäden;  oft  entgehen  diese  der  Beobachtung, 
weil  sie  sich  in  dem  verflüssigten  Glaskörper  zu  tief  gesenkt  haben,  und 
werden  erst  sichtbar,  wenn  man  sie  durch  eine  rasche  Bewegung  des  un- 
tersuchten Auges  (besonders  in  vertikaler  Richtung)  gleichsam  aufrüttelt. 
„Solche  Patienten  sehen  ihre  Opaeitälen  beim  raschen  Blick  nach  unten,  wo 
sie  in  den  obern  Theil  des  Gesichtsfeldes  treten,  um  bald  darauf  durch 
eine  aufsteigende  Bewegung  die  Grenze  desselben  wieder  zu  überschreiten. 
Ich  sah  häufig  Patienten,  welche  nur  einige  Worte  oder  Zeilen  hinter  ein- 
ander lesen  konnten,  bis  sich  das  Gesichtsfeld  mit  den  Schatten  der  Opa- 
citäten  verdunkelte,  dann  mussten  sie,  um  weiter  zu  lesen,  rasch  und  mit 
einer  gewissen  Impetuosität  nach  oben  sehen."     (Greife.) 

Bei  der  Behandlung  wird  zunächst  zu  unterscheiden  sein,  ob  man 
eine  frische  Blutung  oder  bloss  deren  Residuen  und  Folgezustände  vor  sich 
habe.  In  letzterem  Falle  dürfte  die  Aufgabe  der  Therapie  erschöpft  sein 
mit  der  Angabe  der  Momente ,  welche  fernere  Blutergüsse  zur  Folge  ha- 
ben können.  Bei  frischen  Blutungen  wird  natürlich  das  ätiologische  Mo- 
ment nicht  zu  vernachlässigen  sein,  jedoch  zunächst  von  Ruhe  des  Auges 
sowohl  als  des  Körpers  (wobei  jedoch  massige  Bewegung  im  Freien 
im  Allgemeinen  eher  als  wohlthätig  zu  bezeichnen  sein  wird),  von  der 
Anwendung  kaller  Wasser-  oder  weingeistiger  Überschläge,  kühlender 
Abführmittel  (weinsteinsaure  Salze,  Bitterwasser  u.  dergl.),  besonders  aber 
verdünnter  Tinct.  arnicae  auf  die  geschlossenen  Augenlider  das  meiste  zu 
erwarten  sein.  Später  Einreibungen  von  Jodkaliumsalbe  an  der  Stirn-  und 
Schläl'egegend. 


'o^e' 


II.   Verflüssigung-  des  Glaskörpers. 

Mit  dem  Namen  Synchysis  pflegt  man  Zustände  des  Glaskörpers  zu 
bezeichnen,  welche  die  gänzliche  oder  theilweise  Zerstörung  und  Auf- 
lösung des  Fächerwerkes  mit  einander  gemein  haben,  ausserdem  ai»er 
mehr   weniger    verschieden  sind,    man    mag    nun  auf  ihre  Entstehung   und 


Verflüssigung  —  Synehysis.  15 

pathologische  Bedeutung-  zurückgehen,  oder  die  Menge,  die  Durchsichtig- 
keit und  sonstigen  physikalischen  Eigenschaften  der  Flüssigkeit  betrachten, 
welph/e  die  Stelle  des  normalen  Glaskörpers  vertritt. 

Die  Erscheinungen,  aus  denen  man  auf  Synehysis  schliesscn  kann, 
wurden  bereits  dort  angegeben,  wo  ihre  Erkennung  von  der  grössten 
Wichtigkeit  ist,  nämlich  bei  der  Cataracta  im  IL  Bande  S.  286.  Bei  noch 
durchsichtiger  oder  mangelnder  (entfernter  oder  versenkter)  Linse  kom- 
men der  Diagnostik  nebst  den  optischen  Störungen  noch  jene  Zeichen  zu 
Hülfe,  welche  die  Untersuchung  mit  dem  Augenspiegel  in  jenen  Fallen  ge- 
währt, wo  in  dem  aufgelösten  Glaskörper  dunkle  Elemente  schweben  oder 
durch  rasche  Bewegungen  aufgerüttelt  werden  können.  Es  kommen  näm- 
lich, ausser  den  durch  Blutergüsse  veranlassten  Trübungen,  noch  bei  vielen 
andern  Zuständen,  namentlich  aber  bei  congestiven  und  entzündlichen  Lei- 
den der  Retina  und  Chorioidea  Trübungen  in  dem  verflüssigten  Glaskör- 
per vor.  Zur  Erkennung  derselben  möge  folgende  Schilderung  von  Gräfe 
dienen.  „Am  schwierigsten  zu  erkennen  (mit  dem  Augenspiegel)  sind  die 
sogenannten  diffusen  oder  punktförmigen  Glaskörperopacitäten ,  weil  sie 
einen  feinen  Schleier  vor  das  Netzhautbild  ziehen ,  welcher  die  scharfen 
Contouren  des  Sehnerveneinttrites,  der  Gefässe  u.  s.  verwischt.  Bei  ge- 
nauer Untersuchung  kann  man  aber  diesen  Schleier  in  eine  Unzahl  von 
Punkten  zersetzten,  was  besonders  schwierig  ist,  wenn  eben  diese  Punkte 
nicht  in  einer,  sondern  in  verschiedenen  Schichten  des  Glaskörpers  liegen; 
liegen  sie  in  einer  Schicht,  so  stellen  sie  eine  fein  gesprenkelte,  durch- 
scheinende Membran  vor,  welche  sich  durch  Verschiebung  ihrer  einzelnen 
Theile  bald  zusammenziehen,  bald  ausdehnen,  und  vor  dem  Augenhinter- 
grunde  wie  ein  Netz  aus  zartem  Gewebe  hin  und  her  zu  ziehen  scheinen; 
liegen  sie  in  verschiedener  Tiefe,  so  stellt  sich  das  Ganze  wie  ein  un- 
endlich feiner  Staub  oder  Regen  dar,  der  nach  den  Bewegungen  des  Auges 
sich  in  einzelnen  Theilen  zu  etwas  dichteren  Massen  zusammenballt,  um 
dann  bei  fixirter  Sehachse  entweder  gleichmässig  oder  in  verschiedenen 
Zügen,  den  verschiedenen  Regionen  des  Auges  entsprechend,  herabzu- 
sinken. Die  Kranken  haben  entweder  die  Empfindung  eines  Nebels ,  der 
vor  den  Objecten  schwebt,  oder  von  Strömungen  in  der  Luft,  wie  durch 
Insektensehwärme  oder  derlei  hervorgebracht.  Diese  Trübungen  stören 
weit  mehr,  als  grosse,  aber  umschriebene  Trübungen,  weil  bei  diesen  letz- 
teren die  dazwischen  liegenden  Theile  des  Glaskörpers  vollkommen  trans- 
parent sind.  Es  findet  in  Betreff  des  Sehvermögens  etwas  Ähnliches 
statt,  wie  bei  der  Hornhaut  und  der  Linse,  in  welchen  auch  compacte, 
aber  umschriebene   Trübungen,    wenn  sie  einen   Theil  des  Pupillargebietes 


16  (»laskörper. 

frei  lassen,  weit  geringere  Störungen,  als  diffuse  feinere  (durchscheinende) 
Trübungen  hervorbringen.  —  Fihtmentösc  Opacitäten  erscheinen  ophthal- 
moskopisch als  ziemlich  dunkle,  einfache  oder  verschlungene  Fäden,  die 
sich  bei  den  Bewegungen  verkürzen  und  wieder  verlängern;  die  Kranken 
pflegen  sie  desshalb  mit  Schlangen,  mit  Insectenbeinen  u.  dgl.  zu  ver- 
gleichen. —  Nembrcmöse  Trübungen  bilden  stark  durchscheinende ,  zu- 
weilen ebenfalls  gesprenkelte  Membranen,  welche  sich  bald  aufrollen,  bald 
entfalten,  und  hiedurch  ein  sehr  polymorphes  Ansehen  darbieten.  Bei  den 
Kranken  erregen  deren  Schatten  die  Erscheinung  eines  Spinnengewebes, 
was  sich  rasch  entwickelt,  und  dann  wieder  plötzlich  in  einzelne  Fäden 
zusammenfällt.  —  Flockige  Opacitäten  bilden  einzelne  Pfropfe  von  ver- 
schiedener Ausdehnung,  oder  sind  grobem  Schneeflocken,  kleinen  Wölk- 
chen, organischen  Gerinnseln  u.  s.  w.  zu  vergleichen.  —  Ein  besonders 
interessantes  Ansehen  gewinnt  der  Glaskörper,  wenn  neben  diesen  oder 
ganz  unbestimmbar  geformten  Opacitäten,  wie  es  nicht  selten  zu  gesche- 
hen pflegt,  noch  zahlreiche  Cholestearinknjstalle  suspendirt  sind,  welche 
zum  Theil  diesen  Opacitäten  adhäriren,  zum  Theil  sich  zwischen  denselben, 
wie  es  scheint,  frei  befinden."*) 

Uiber  die  Entstehung  und  pathologische  Bedeutung  der  verschiedenen 
Zustände  des  Glaskörpers  mit  Verlust  seines  Gefüges  und  seiner  Consi- 
stenz  lässt  sich  wenig  Positives  angeben.  In  vielen  Fällen  ist  mecha- 
nische Zertrümmerung  seines  Gerüstes  -eine  nachweisbare  Ursache  dessen, 
dass  man  statt  des  Glaskörpers  bloss  eine  wässrige  nur  etwas  salz-  und 
eiweisshaltige  Flüssigkeit  findet.  Diese  Umwandlung  betrifft  bald  nur  einen 
Theil,  bald  die  ganze  Masse.  Man  beobachtet  sie  nach  Vorfall  und  Ver- 
lust eines  Theiles  des  Glaskörpers  durch  die  Extraction ,  durch  zufällige 
Verletzungen  der  Cornea  oder  Sclera,  durch  Hornhautgeschwüre  mit  Durch- 
bruch und  consecutive  Berstung  der  Glashaut.  Auch  die  Verflüssigung  bei 
Hornhautstaphylomen  scheint  zunächst  durch  Zerreissung  des  Glaskörpers 
(temporärer  oder  bleibender  Luxation  des  Krystallkörpers)  eingeleitet  zu 
werden,  obgleich  hier  wohl  noch  ein  zweites  Moment,  wovon  später,  hin- 
zuzutreten pflegt  Synchysis  tritt  häufig,  partiell  wahrscheinlich  immer  ein 
nach  der  Depression  und  nach  der  Reclination  der  Linse.  Doch  dürfte 
auch  an  dieser  Verflüssigung  ein  entzündlicher  Process  einigen  Antheil 
nehmen.  Sie  entsieht  ferner  in  vielen  Fällen  nach  absichtlicher  oder  zu- 
fälliger  Eröffnung    der  Linsenkapsel,    wenn    die  gänzliche    oder  theihveise 

')  Dass  die  durch  solche  Opacitäten  verursachten  Wahrnehmungen  der  Kranken  von  den  bekannten  fliegende» 
Mücken,  die  jedes  gesunde  Ausc  sich  verfahren  kann,  ranz  verschieden  Bind,  ergibt  äich  schon  aus  der  ehe« 
gegebenen  Beschreibung  derselben.     Wir  In en  später  darauf  zurück. 


Verflüssigung  —  Synchysis.  17 

Resorption  (Verschrumpfung)  der  Linse  unter  heftigeren  Zufällen  (starker 
Reaction)  erfolgt  daher  man  auch  hinter  der  Cataracta  aridosiliquata  und 
membranacea  sehr  oft  einen  wässrigen  Glaskörper  findet.  Von  der  auf 
Bluterguss  folgenden  Verflüssigung  des  Glaskörpers  war  bereits  die  Rede. 
—  In  andern  Fällen  scheint  die  Verminderuny  des  auf  den  Gefässen  im 
Innern  des  Auges  lastenden  Druckes  den  ersten  Anstoss  zur  Ausschei- 
dung von  Serum  und  zur  Verflüssigung  des  Glaskörpers  zu  geben.  Es  ist 
eine  Art  Hydrops  ex  vacuo,  analog  der  Ansammlung  von  Serum  in  der 
Schädelhöhle,  wenn  dieselbe  durch  Verdünnung  der  Knochen  geräumiger 
geworden  ist.  Die  Gefässe  des  Auges  stehen  unter  einem  permanenten 
Drucke,  adäquat  der  Spannung  des  Bulbus.  Ein  wesentliches  Moment  zur 
Erhältung  dieser  letzteren  bilden  die  Wandungen,  welche  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  resistent  und  elastisch  sind.  Durch  die  Scheidewand, 
welche  der  Krystallkörper  mit  dem  freien  Theile  der  Zonula  Zinnii  und 
den  Ciliarfortsätzen  zwischen  Humor  aqueus  und  Corpus  vitreum  bildet, 
und  welche  durch  den  Ciliarmuskel  an  die  Bulbus*wand  befestigt  und  ge*- 
spannt  erhalten  wird,  zerfällt  der  Bulbus  in  zwei  isolirte  Räume,  von 
denen  ein  jeder  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unabhängig  von  dem  andern 
aus  der  eben  erwähnten  Ursache  ausgedehnt  werden  kann.  Geht  die  Re- 
sistenz und  Elasticität  der  Cornea  aus  was  immer  für  einem  Grunde  ver- 
loren, so  erfolgt  vermehrte  Ausscheidung  von  Serum,  und  zwar  zunächst 
nur  vor  der  genannten  Scheidewand,  so  lange  diese  selbst  noch  hinreicht, 
im  Verein  mit  den  Augenmuskeln  den  hinter  ihr  gelegenen  Theil  des  Bul- 
bus in  gehöriger  Spannung  zu  erhalten.  So  erfolgt  die  Ausdehnung  der 
Cornea  in  Folge  von  Pannus  und  Keratitis,  beim  Keratokonus  und  bei 
manchen  Fällen  von  Hornhautstaphylom.  Analog  verhält  sich's  mit  der 
Ausdehnung  der  Sclera,  sobald  diese  ihre  Resistenz  und  Elasticität  stellen- 
weise oder  durchaus  eingebüsst  hat.  Diess  geschieht  häufig  partiell  in 
Folge  umschriebener  Entzündung  und  Verwachsung  der  Chorioidea  und 
Sclera,  aber  auch  ohne  Entzündung,  und  zwar  in  Folge  anhaltenden 
Druckes  auf  die  hintere  Wandung  des  Auges  rings  um  den  hintern  Pol. 
Demgemäss  finden  wir  constant  Verflüssigung  mit  vermehrter  Ausscheidung 
bei  Ektasien  der  Sclera  im  Bereiche  des  Ciliarkörpers ,  und  auf  diese 
Weise  dürfte  das  Vorkommen  rein  wässriger  Flüssigkeit  zu  erklären  sein, 
welche  man  in  Augen  mit  Staphyloma  posticum  Scarpae  zwischen  der  Netzhaut 
und  dem  Glaskörper  findet,  genauer  bezeichnet:  in  welche  der  Glaskörper 
sich  nach  hinten  allmälig  auflöst.  —  In  anderen  Fällen  bemerken  wir,  dass 
trotz  der  Isolfrung  durch  die  gekannte  Scheidewand  dennoch  Verminderung 
der  Resistenz  und  vermehrter  Erguss  in  den    einen  Raum  Flüssigkeitsver- 

Arlfs  Augenheilkunde  111,2.  O 


18  Glaskörper. 

mehrung  in  dem  andern  Räume  zur  Folge  hat  Ich  verfolge  seit  Jahren 
die  Thatsache  der  Beobachtung,  dass  Augen  mit  etwas  ektatischen  Horn- 
hautnarben bei  reiner  und  etwas  weiterer  Pupille  und  ohne  besondere  Zufälle 
allmälig  erblinden,  und  sich  dann  abnorm  gespannt  anfühlen.  War  ich  schon 
vor  der  Anwendung  des  Augenspiegels  zu  dem  Wahrscheinlichkeitsschlusse 
gekommen,  dass  hier  die  Erblindung  nicht  von  Entzündung  der  Netz-  oder 
Aderhaut  ausgehe,  so  hat  mich  eine  möglichst  sorgfältige  Untersuchung 
mit  diesem  Instrumente  in  einigen  mir  jüngst  vorgekommenen  Fällen  um 
so  mehr  in  der  Annahme  bestärkt,  dass  hier  die  Netzhautfunction  nur  durch 
Druck  von  seröser  Ausschwitzung  im  Glaskörper  vernichtet  werde.  Unter 
den  hieher  gehörigen  Fällen  waren  mehrere,  welche  nur  kleine  Narben 
mit  vorderer  Synechie  nnd  geringer  Verziehung  der  Pupille  darboten,-  so 
dass  die  ophthalmoskopische  Untersuchung  ganz  gut  möglich,  und  nur  durch 
die  abnorme  (gegen  die  etwas  vorgetriebene  Narbe  aufsteigende)  Wölbung 
der  Hornhaut  etwas  beeinträchtigt  war.  Die  Abweichung  der  Corneal- 
wölbung  von  der  Sphärrcität  liess  sich  bestimmt  und  deutlich  an  den  Spie- 
gelbildern derselben  nachweisen.  Das  Netzhautleiden  konnte  nicht  als 
Folge  des  Entzündungsprocesses,  welcher  den  Cornealdurchbruch  bewirkt 
hatte,  betrachtet  werden,  weil,  wie  in  einigen  Fällen  bestimmt  erwiesen 
war,  die  Kranken  nach  erfolgter  Vernarbung  noch  längere  Zeit  gut  ge- 
sehen, selbst  mehrere  Wochen  anhaltend  sich  mit  Lesen,  Schreiben  u.  dgl- 
beschäftigt  hatten,  theils  weil  der  Process  ein  solcher  gewesen  war,  wel- 
cher erfahrungsgemäss  nicht  tiefer  eingreift,  wie  namentlich  Conjunctivitis 
scrofulosa  und  Bindehautblennorrhöe  mit  etwa  hanfkorngrosser  peripheri- 
scher Hornhautdurchbohrung  (letztere  als  sogenannte  Ophthalmia  militaris). 
—  Glaskörperverflüssigung  finden  wir  oft  in  Augen  nach  Iritis,  besonders 
chronischen  Verlaufes,  und  zwar,  wenn  es  nicht  in  Folge  von  Erwei- 
chung der  vordersten  Partie  der  Sclera  zu  Ausdehnung  dieser  letzteren 
(Birnform  des  Auges  oder  Staphyloma  anticum)  gekommen  ist,  gewöhnlich 
mit  deutlicher  Volunienabnahme  oder  mit  verminderter  Spannung  des  Bul- 
bus. Man  darf  hier  wohl  annehmen,  dass  die  Ernährung  des  Glaskörpers 
in  Folge  dessen  leidet,  weil  das  Corpus  ciliare  durch  Übergreifen  des 
Entzündungsprocesses  der  Iris  auf  dasselbe  verändert  worden  ist.  Darauf 
deutet  in  solchen  Fällen  auch  eine  eigenthümliche  Veränderung  in  der 
Structur  und  Farbe  der  Iris,  welche  füglich  nicht  von  directer  Verände- 
rung der  Iris  durch  Exsudat,  Bluterguss  u.  dergl.,  sondern  nur  von  man- 
gelhafter Ernährung  ob  des  veränderten  Corpus  ciliare  abgeleitet  werden 
kann  Übrigens  muss  noch  bemerkt  werden,  dass  Bulbi,  die  sich  wäh- 
rend und  noch  einige  Zeit   nach   Entzündung    der    Iris    weicher   anfühlen, 


Verflüssigung  —  Symphysis.  19 

nicht  etwa   durchaus   immer    so    bleiben:,    sondern    in   der   Rege!    ällmälig 
wieder  die  normale  Spannung  annehmen. 

Auflösung  des  Glaskörpers  findet  sich  öfters  bei  altern  Leuten,  deren 
Linse   getrübt   oder    doch   auf   dem    Wege    dazu   ist.     Solche    Leute    sind 
amblyopisch.  Diess  zeigt  das  Missverhältniss  zwischen  der  Sehstörung  und 
der  sichtbaren  Trübung   am  besten  bei  der  Grafischen  Lichtprobe,  indem 
der  Kranke    den    Schein    einer    Kerzenflamme    bei   weitem   nicht     auf   so 
grosse    Distanz    wahrnimmt,    als    es   bei    gesunder   Netzhaut   sein   müsste. 
Die  ophthalmoskopische    Untersuchung    ergab    mir,    wenigstens   in    einigen 
Fällen,  keine  Veränderung  der   Netz-  oder    Aderhaut,    womit   freilich    das 
Bestehen  feinerer  Veränderungen  nicht    ausgeschlossen   ist.     Die    Trübung 
der  Linse  pflegt  sich  sehr   langsam    zu   entwickeln,    und   zwar   vom    Kern 
aus,  und  dieser  erscheint  lange    Zeit   hindurch    grünlich,    oder  auch,  nach 
längerem  Bestände  mehr  weniger  dunkelbraun.   Die  Kranken  pflegen,  wenn 
man  ihnen  nach  der    Staaroperation    ein    Glas  Wasser,    ein    weisses    Tuch 
und  dergl.  vorhält,  blau  zu  sehen.    Bei   der    Extraction  tritt  bisweilen  das 
bekannte  Collabiren  ein,  oder  es  fliesst  gleich  beim  Hornhautschnitte  mehr 
Flüssigkeit  ab,  als  in  der  Augenkammer   allein   enthalten  sein  konnte.     Es 
dürfte  diese  Veränderung  des  Glaskörpers  wohl   als  seniler  Schwund  sei- 
nes Gerüstes  zu   betrachten   sein,    der    bald    mit,  bald  ohne  Abnahme  der 
Menge   seiner   Flüssigkeit,    bisweilen    auch    mit    Zunahme    derselben    oder 
vielmehr  mit  Vertretung  durch  eine  rein    wässrige    Flüssigkeit   einhergeht. 
Welche  Veränderungen  der  Chorioidea  und  Netzhaut  dabei  statt  finden  und 
in  welchem  Zusammenhange  sie    damit    stehen,    ist   zur  Zeit   noch   unbe- 
kannt. —  Mangelhafte  Ernährung  dürfte  in  jenen   seltenen   Fällen   zu  be- 
schuldigen  sein,    wo    Glaskörperverflüssigung    und    Amblyopie    des    einen 
Auges  sich  ällmälig  entwickelt,  nachdem    das  andere   durch   Eiterung,  be- 
sonders nach  Verletzungen,  zerstört  werden  ist.    Solche  Bulbi  werden  äll- 
mälig weicher  und  kleiner.  —  In    andern    Fällen   lassen   sich    entschieden 
die  Erscheinungen    von   Entzündung,   wenigstens    von    einem   länger   an- 
dauernden congestiven  Zustande  der  Chorioidea  und  Netzhaut  als  Ursache 
der  Glaskörperverflüssigung  nachweisen,    und    ist    man,  wenn    nicht  etwa 
schon  Cataracta   mollis    hinzugetreten    ist,   meistens    im  Stande,    mit   dein 
Augenspiegel  Glaskörperopacitäten  nachzuweisen.  —  Schliesslich  muss  aus- 
drücklich bemerkt  werden,  dass  diese    Anführung   von  Ursachen  der  Syn- 
chysis  durchaus  nicht  auf  Vollständigkeit  Anspruch  macht. 


20  Glaskörper. 

III.    Exsudate  im  Glaskörper. 

Es  ist  durch  Sectionen  sicher  gestellt,  dass  im  Glaskörper  Substanzen 
vorkommen,  welche  nur  als  Entzündungsprodukte  betrachtet  werden  kön- 
nen. Es  ist  aber  höchst  wahrscheinlich,  dass  diese  Substanzen  nicht  im 
Glaskörper  selbst,  durch  Entzündung-  seines  Gerüstes  und  seiner  Umhül- 
lungshaut erzeugt  sondern  von  aussen  her  in  denselben  übergeführt  wer- 
den. Denn  beide,  das  Stroma  sowohl  als  die  Hyaloidea,  besitzen  weder 
Gefässe  noch  Nerven,  ohne  welche  von  Entzündung  nicht  die  Rede  sein 
kann,  und  niemals  trifft  man  solche  Producte  im  Glaskörper,  ohne  dass  die 
Zeichen  von  Entzündung  der  Chorioidea  vorhanden  sind.  Der  Ausdruck 
Hyalitis  verdankt  seine  Aufstellung  nicht  der  Beobachtung  von  Symptomen, 
welche  nur  auf  Entzündung  des  Glaskörpers  bezogen  werden  konnten, 
sondern  bloss  dem  Streben,  für  jedes  Gebilde  des  Auges  eine  Reihe  von 
Erscheinungen  aufzustellen,  welche  den  Begriff  Entzündung  wieder  geben 
sollten,  um  bei  systematischer  Vorführung  der  Krankheiten  keine  Lücke 
zu  lassen.  Die  einzige  reelle  Stütze  fand  die  Lehre  von  der  Hyalitis  in 
dem  Vorkommen  von  Entzündungsproducten  im  Glaskörper,  welches  in- 
dessen auch  auf  andere  Weise  erklärt  werden  kann,  ja  erklärt  werden 
muss.  Die  in  Rede  stehenden  Substanzen  sind  Producte  des  entzündeten 
Corpus  ciliare  der  Chorioidea,  und  gelangen  wohl  auf  dieselbe  Weise,  wie 
im  normalen  Zustande  das  ernährende  Plasma ,  in  das  Innere  des  Glas- 
körpers. 

Während  des  Lebens  habe  ich  bisher  in  4  Fällen  ein  Exsudat  in  der 
tellerförmigen  Grube  beobachtet,  an  Augen ,  welche  die  Zeichen  chroni- 
scher Chorioiditis  darboten,  mit  vermehrter  Spannung  des  Bulbus.  Die 
Trübung  erscheint  bei  auffallendem  Lichte  weiss,  in  der  Mitte  saturirt,  ge- 
gen die  allmälich  sich  verwischenden  Ränder  hin  bläulich,  rundlich  oder 
polygonal.  Die  Augen  waren  hochgradig  amblyopisch  oder  ganz  amau- 
rotisch. Zur  Section  habe  ich  noch  keinen  solchen 'Fall  bekommen,  will 
demnach  nicht  geradezu  behaupten,  dass  die  Trübung  wirklich  dem  Glas- 
körper angehört,  obwohl  in  dem  einen  mit  dem  Augenspiegel  unter- 
suchten Falle  diess  das  Wahrscheinlichste  war. 

Reclinirte  Staare  rufen  im  Glaskörper  einen  ähnlichen  Process  hervor, 
wie  Blutextravasate  im  Gehirn.  Man  findet  rings  um  die  Linse  eine  etwas 
dichtere  trübe  Masse,  welche  sich  ringsherum  allmälig  im  normalen  Glas- 
körper verliert,  später  eine  etwas  trübe,  florälinlichc  Kapsel,  welche  hie 
und  da  einen  fadenförmigen  Ausläufer  in  den  Glaskörper  sendet. 


Exsudate.  21 

I»  einem  Fülle,  9  .Jiihre  nach  der  Reclination,  war  keine  Linse  mehr  vorhanden, 
und  die  Stelle,  wo  sie  gelegen,  nur  an  einigen  zum  Theil  kalkigen  Fleckchen  am  Cor- 
pus ciliare  nächst  der  Üra  serrata  zu  erkennen.  Ich  muss  jedoch  hinzufügen,  dass  in 
den  bisher  von  mir  untersuchten  Fallen  die  Linse  noch  vor  der  Ora  serrata,  also  im 
Bereiche  des  Corpus  ciliare  lag.  Das  aus  Feinkörniger,  amorpher  Substanz  bestehende 
Exsudat  war  an  der  der  Chorioidea  zugewendeten  Seite  reichlicher,  als  an  der  entge- 
gengesetzten. .Ich  habe  in  mehreren  Fällen  nach  der  Reclination  umschriebene  Rölhe 
der  Sclera  in  jener  Gegend  beobachtet,  wo  der  Staar  liegen  mussle,  und  zugleich  die 
Pupille  nach  dieser  Richtung  hin  erweitert  gefunden,  woraus  mit  Rücksicht  auf  die  gleiche 
Erscheinung  bei  Glaucoma  wohl  zu  folgern  war,  dass  partielle  Chorioiditis  statt  fand. 
Auf  Chorioiditis  deutet  auch  die  consecutive  Netzhautablösung,  welche  nicht  selten 
nach  der  Reclination  in  etwas  späterer  Zeit  mit  dem  Augenspiegel  wahrgenommen 
wird.  Im  vorigen  Jahre  starb  hier  ein  Weib  36  Stunden  nach  der  Reclination  auf  bei- 
den Augen.  Bald  nach  der  Operation  war  Erbrechen  aufgetreten.  Auf  dem  rechten 
Auge  bemerkten  wir  24  Stunden  nach  der  Operation  den  Staar  aufgestiegen,  auf  dem 
linken  entwickelten  sich  die  Zeichen  heftiger  Iridochorioiditis  mit  starker  Injection  und 
Schwellung  der  Conjunctiva  bulbi.  Auf  diesem  Auge  zeigte  die  Section  croupös-faser- 
stoffiges  Exsudat  an  der  untern  äussern  Hälfte  des  Corpus  ciliare  (Innenfläche)  und  an 
der  Hinterfläche  der  Iris,  die  nächst  angrenzende  Partie  des  Glaskörpers  war  wolkig 
getrübt,  der  Linsenkern  von  solchem  Glaskörper  umschlossen,  und  die  Rindenstücke 
lagen  theils  in  der  Kapsel,  theils  zwischen  dieser  und  dem  Linsenkerne  in  dem  zer- 
rissenen Glaskörper.  • 

Die  Exsudate  und  Metamorphosen ,  welche  im  Glaskörper  in  Folge 
von  Chorioiditis  überhaupt  vorkommen,  wurden,  als  consecutive  Zustände, 
bereits  bei  den  Krankheiten  der  Chorioidea  der  Hauptsache  nach  ange- 
geben und  geschildert.  Wir  haben  hier  nur  noch  hervorzuheben ,  dass 
der  Eintritt  solcher  Exsudate  in  den  Glaskörper  höchst  wahrscheinlich 
vom  Corpus  ciliare  aus  erfolgt.  In  allen  frischen  Fällen  findet  sich  das 
Exsudat  im  Glaskörper  zumeist  nächst  der  Innenfläche  des  Corpus  ciliare, 
und  wenn  noch  Partien  vom  Glaskörper  uninfiltrirt  erscheinen,  so  sind  es 
die  seines  hintern  und  um  die  Achse  gelegenen  Theiles.  Falls  nicht  eitrige 
Schmelzung  eintritt,  sondern  Umwandlung  in  fasriges,  sehnen-  oder  knor- 
pelähnliches Gewebe,  so  übt  dieser  mit  beträchtlicher  Schrumpfung  ein- 
hergehende Process  mehr  weniger  bedeutenden  Einfluss  auf  die  Lage- 
veränderung  der  Netzhaut,  welche  in  solchen  Fällen  in  Form  eines  Trich- 
ters, mit  der  Spitze  an  der  Eintrittsstelle  des  Opticus  haftend,  mitten 
durch  den  früher  vom  Glaskörper  eingenommenen  Raum  verläuft.  Wäh- 
rend man  in  der  hinteren  Partie  die  Zusammenfaltung  der  Netzhaut  allen- 
falls als  Verdrängung  der  Netzhaut  durch  das  Chorioidealexsudat  betrach- 
ten darf,  kann  die  Form  der  vordem  Partie,  welche  mehr  dem  Saume 
der  Corolle  von  Convolvulus  gleicht,  nur  dadurch  erklärt  werden,  dass 
man   annimmt,   das  innerhalb    des  Corpus    ciliare    in  den    Glaskörper   aus- 


22  Glaskörper. 

geschiedene  Exsudat  ziehe  die  Netzhaut  gegen  den  Ciliarkörper  hin.  In 
dieser  Auffassung  des  Sectionsbefundes  finden  auch  jene  Fälle  ihre  na- 
türliche Erklärung,  in  welchen  die  Hyaloidea  der  tellerförmigen  Grube 
rückwärts  gezogen  und  das  Innere  des  Bulbus  (hinter  der  Iris)  in  zwei. 
grosse  Räume  geschieden  erscheint,  wo  in  dem  vordem  die  verschieden 
veränderte  Linse  schwimmt,  durch  den  hintern  der  strahgförmjg  zusammen 
gefaltete  Theil  der  Netzhaut  streicht,  während  die  Scheidewand  zwischen 
beiden  theils  durch  den  vordem ,  zur  Ora  serrata  verlaufenden  Saum  der 
Netzhaut,  theils  durch  das  in  die  vordere  Partie  des  Glaskörpers  ergossene, 
nun  geschrumpfte  und  in  knorpelähnliche  Masse  verwandelte  Exsudat  ge- 
bildet wird,  und  unzertrennlich  an  dem  Gebilde  haftet,  von  dem  es  ausge- 
schieden wurde,  nämlich  am  Corpus  ciliare.  (Vergl.  Seclionsbefunde  bei 
Chorioiditis.) 

Eine  sehr  genaue  und  klare,  auf  anatomische  und  mikroskopische  Untersuchungen 
basirte  Schilderung  dieser  Metamorphosen  hat  Dr.  Stellwag  von  Carion  1.  c.  S.  697  bis 
713  gegeben.  Man  muss  ihm  vollkommen  beistimmen,  wenn  er  S.  709  angibt:  „Die 
Masse  des  Blastems  im  Glaskörper  ist  in  solchen  Fallen  eine  so  bedeutende,  dass  sie 
aus  der  Differenziation  normaler  Vitrina  unmöglich  abgeleitet  werden  kann,  es  müssen 
plastische  Elemente  in  normwidriger  Menge  in  den  Glaskörper  übergeführt  worden  sein, 
plastische  Elemente,  welche  in  Verbindung  mit  dem  proteinigen  Antheile  der  Vitrina 
durch  Coagulation  in  die  feste  Form  und  aus  dieser  in  die  sehnige  Textur  übergehen." 
Wenn  er  jedoch  S.  703  behauptet,  es  liege  der  Schluss  sehr  nahe,  dass  der  grösste 
Theil  dieser  Exsudatmasse  durch  den  Petit'schen  Humor  in  den  Glaskörper  überführt 
wurde,  so  verrückt  er  meines  Erachtens  den  richtigen  Standpunkt  pathologischer  Deu- 
tung. Die  ganze  innere  Flache  des  Corpus  ciliare,  von  der  Ora  serrata  bis  zum  Peit- 
schen Canale  ist  es,  welche  das  in  den  Glaskörper  überführte  Exsudat  liefert.  Wenn 
bei  allgemeiner  Entzündung  der  Chorioidea,  also  auch  des  Corpus  ciliare,  Exsudat  nicht 
nur  im  Glaskörper,  sondern  auch  im  Petitsehen  Canale  und  im  Kammerwasser  gefunden 
wird,  so  zeigt  dies  eben  nur,  dass  die  Ciliarfortsätze  an  ihrer  ganzen  Innenfläche  Ex- 
sudat liefern,  nicht  aber  bloss  der  in  den  Petitschen  Canal  hineinreichende  Theil.  Ich 
habe  mehrere  Fälle  untersucht,  wo  bei  Thcilnahme  des  Corpus  ciliare  an  der  Entzün- 
dung Exsudat  wohl  im  Glaskörper,  nicht  aber  auch  zugleich  im  Petitschen  Canale  oder 
im  Kammcrwasser  war.  Stellwag  behandelt  übrigens  auch  dieses  Thema  in  dem  ihm 
cigenthümlichen  Tone,  als  wäre  er  der  einzige,  höchstens  Beer  ausgenommen,  der  solche 
Augen  gehörig  untersucht  und  den  Befund  richtig  aufzufassen  vermocht  habe.  Wenn 
ihm  auch  zur  Zeit,  wo  er  seine  Untersuchungen  über  den  Glaskörper  niederschrieb, 
meine  Abhandlung  über  die  Krankheiten  der  Chorioidea  vielleicht  noch  nicht  bekannt 
war,  so  war  er  doch  nicht  berechtigt  zu  der  Behauptung :  man  habe  bisher  <jan* 
übersehen,  dass  sich  im  Innern  der  knorpligen  und  knochigen  Concrementc  in  atro- 
phischen Augen  fast  constant  die  Netzhaut  knöppelförmig  zusammengefaltet  finde.  Ich 
hatte  schon  im  Jahre  1817  im  11.  Bande  der  in  Wien  gewiss  bekannten  Prager  Viertel- 
jahrschrifl  wenigstens  den  grobem  Befund  phthisischer,  atrophischer,  glaueomatöser  etc. 
Augen    mit   richtiger,    wenigstens    die  Grundzüge    der  Stellwag'schen  Auffassung  cn'.hal- 


Cystciibilriiing.  23 

tender  Deutung  angogeben,  und  der  Deutlichkeit  wegen  einige  Abbildungen  beigefügt, 
die  man  nicht  so  leicht  überschlagen  kann,  ohne  Notiz  davon  zu  nehmen.  Ich  halle  dort 
auch  angeführt,  dass  schon  Dubrenil  (1829)  Chorioidcalcxsudate  als  das  Substrat  der 
sogenannten  Verknöcherungen   des  Glaskörpers,  der  Retina  etc.  betrachtet  habe. 

IV.    Cystenbildung  im  Glaskörper. 

Coccius*)  theitt  folgende  Mitlheilung  mit.  „Eine  Frau  litt  seit  einem  halben 
Jahre  auf  beiden  Augen  an  Amblyopie;  diese  hatte  allmälig  zugenommen  und  war  auf 
dem  rechten  Auge  in  dem  Grade  vorhanden,  dass  sie  grosse  Gegenstände  nur  als  dunkle 
Körper  ohne  scharfe  Umrisse  sah,  während  sie  mit  dem  1.  A.  ihre  häusliche  Beschäfti- 
gung noch  recht  gut  verrichten  konnte.  Dieses  Auge  wurde  allmälig  ebenfalls  seh- 
unfähig, so  dass  die  Kranke  eine  Führerin  bedurfte.  Das  linke  Auge  Hess  noch  keine 
Veränderungen  wahrnehmen,  im  rechten  zeigte  die  Retina  an  einzelnen  Stellen  kleine 
.gelbliche  Erhabenheiten.  Bei  Wiederholung  der  Untersuchung  kam  in  dem  übrigens 
ganz  klaren  Glaskörper  auf  einmal  eine  Blase  zum  Vorschein,  die  bei  richtiger  Beleuch- 
tung weiss  erschien.  Sie  war  halbmondförmig,  etwa  3  Par.  Lin.  lang,  und  lief  in  2 
spitze  Enden  aus.  An  der  untern  Spitze  zeigte  sich  noch  ein  kleines  Anhängsel,  wel- 
ches dem  ganzen  Körper  in  der  Form  sehr  ähnlich  war."  Es  ist  wahrscheinlich,  dass 
dieser  Körper  zu  den  Entozoen  des  Glaskörpers  gehört. 

Einen  Cysticercus  im  Glaskörper,  der  auf  Greife's  Klinik*'*)  beobachtet  wurde, 
hat  Dr.  Liebreich  genau  beschrieben.  Der  Kranke,  ein  23  Jahre  alter  Tischlergesell,  litt 
zugleich  an  Bandwurm.  Gegen  die  mit  dem  Ophthalmoskop  gestellte  Diagnosis  konnte 
kein  Zweifel  mehr  obwalten,  nachdem  von  Greife  an  dem  ovalen  Ende  der  in  einer 
besondern  Hülle  ruhenden  Cyste  kleine  Bewegungen  mit  Sicherheit  erkannt  hatte.  Die 
bläuliche  graue,  längliche  Blase  erstreckte  sich  vom  hintern  Pol  der  Linse,  wo  sich  eine 
eircumscripte  Trübung  befand,  beinahe  durch  den  ganzen  Glaskörper  rückwärts  und 
schwankte  bei  jeder  Bewegung  des  Bulbus.  —  Da  wir  weiter  unten  eine  ausführliche 
Beschreibung  von  Cysticercus  in  retina  zu  geben  gedenken,  so  genüge  es  hier  vor- 
läufig bloss  auf  dieses  Vorkommen  im  Glaskörper  aufmerksam  gemacht  zu  haben. 

*)  Über  die  Anwendung  des  Augenspiegels,    Leipzig  1S53  S.  93. 
**J  Archiv  für  Ophthalmologie  I.  Band.  2.   Ablh.   S.  343. 


VIII.  Buch. 

Die    Netzhaut,    Retina. 


A.     Anatomisch-physiologische  Bemerkungen. 

Die  Netzhaut  kann  als  die  häutige  Ausbreitung-  des  Sehnerven  oder 
eigentlich  als  dessen  Anfang  im  Auge  betrachtet  werden.  Sie  beginnt  an 
der  Eintrittsstelle  des  Sehnerven  (l1/^"  einwärts  vom  hintern  Pole  des 
Auges),  und  erstreckt  sich,  über  den  Glaskörper  ausgespannt,  zwischen 
diesem  und  der  Chorioidea  bis  zur  Ora  serrata,  über  welche  hinaus  (vor- 
wärts) wenigstens  ihre  Nervenelemente  nicht  mehr  verfolgt  werden  können. 
Sie  bietet  in  dieser  Ausdehnung  einen  Fläehenraum  von  circa  300  Qua- 
dratlinien  (297,35)  dar,  während  die  Fläche  der  Eintrittsstelle  des  Seh- 
nerven (papilla  s.  colliculus  nervi  optici)  bei  einem  Durchmesser  von  nicht 
ganz  3/4"/  nur  0,44  Quadratlinien,  also  600  mal  weniger  misst.  Ihre  Dicke 
vermindert  sich  von  Ojl'"  in  der  mittlem  Region  allmälig  bis  auf  0,04'" 
nächst  der  Ora  serrata. 

Sie  ist  auch  während  des  Lebens  nicht  vollkommen,  sondern  nur  halb 
durchsichtig,  und  mit  Ausnahme  eines  etwa  1  Quadratlinie  grossen  gelben 
Fleckes  (Macula  lutea)  am  hintern  Pole  leicht  weissgrau.  Die  Falte, 
welche  an  dieser  gelben  Stelle  im  todtcn  Auge  gefunden  wird,  existirt 
während  des  Lebens  nicht;  das  sogenannte  Foramen  centrale  ist  keine 
Lücke  daselbst,  sondern  nur  eine  Verdünnung,  bedingt  durch  das  Fehlen 
einiger  Elemente  der  Netzhaut  in  der  Mitte  des  gelben  Fleckes. 


Anatomie  —  Physiologie.  25 

Unter  dem  Mikroskope  kann  man  5  coneenlrisehe  Lagen  oder  Schich- 
ten der  Netzhaut  unterscheiden,  und  zwar  von  aussen  nach  innen:  1)  die 
Stabehen-  und  Zapfenschicht,  2)  die  Körnerschicht,  3)  die  Lage  der  grauen 
Nervenfasern  und  Nervenzellen  oder  die  Kugelschicht,  4)  die  Ausbreitung 
der  Fasern  des  N.  opticus,  und  5)  die  Grenzhaut  oder  3Iembrana  limilans. 
Durch  die  Untersuchungen  von  E.  H.  Müller  bestätigt  und  vervollständigt 
von  Kölliker,  Corti  und  Gerlach)  ist  nachgewiesen,  dass  die  Elemente  der 
ersten  Schicht  durch  äusserst  zarte,  gleich  dicht  an  einander  gedrängten 
Radien  verlaufende  Fasern  (Müller's  radiäres  Fasersystem)  mit  der  dritten 
und  diese  wieder  durch  dünne  Fädchen  mit  den  Opticusfasern  verbun- 
den sind. 

Die  erste  Schicht  besteht  aus  feinen,  hellen,  das  Licht  stark  reflecti- 
renden  Röhrchen,  welche  dicht  aneinander  senkrecht  auf  der  2.  Schicht 
stehen ,  und  mit  ihren  quer  abgestutzten  (abgerundeten)  äussern  Enden 
leicht  in  die  Pigmentschicht  der  Chorioidea  eingedrückt  sind  (eingreifen). 
Von  diesen  Röhrchen,  welche  unter  einander  durch  eine  halbweiche  hya- 
line Masse  verbunden  sindr  haben  die  Mehrzahl  eine  cylindrische  Gestalt, 
heissen  deshalb  Stäbchen  (bacilli),  und  kommen  mit  Ausnahme  des  Seh- 
nerveneintrittes und  gelben  Fleckes  überall  und  in  gleicher  Menge  vor. 
Sie  sind  durchschnittlich  0,01 '"lang  und  0,001"'  dick.  Die  Minderzahl 
schwellen  gegen  ihr  inneres  Ende  hin  rüben-  oder  spindelförmig  an 
{Zapfen  oder  Com)-,  sind  durchschnittlich  0,01 2'"  lang  und  im  mittleren 
Theile  0,0035"'  breit ,  und  kommen  zwischen  den  Stäbchen  in  verschie- 
denen Regionen  in  verschiedener  Anzahl  vor.  Sie  fehlen  gleich  den  Stäb- 
chen an  der  Papilla  n.  opt. ,  vertreten  die  erste  Schicht  dagegen  an  der 
Macula  lutea  ausschliesslich,  und  werden  von  hier  gegen  die  Ora  serrata 
hin  allmälig  spärlicher,  so  dass  sie  in  der  Nähe  dieser  letzteren  nur  in 
Entfernungen  von  0,006'"  —  0,007'"  auftreten.  Die  Stäbchen  sowohl  als 
die  Zapfen  laufen  nach  innen  in  dünne  Fasern  oder  Fäden  aus. 

Die  Körner  der  2.  Schicht  sind  0,003'"— 0,007"'  grosse,  fein  granu- 
lirte,  scharf  contourirte  ,  runde  oder  oblonge  Körperchen ,"  welche  in  zwei 
Lagen  vorkommen,  die  jedoch  gegen  die  Ora  serrata  hin  mehr  und  mehr 
an  einander  rücken.  Die  Substanz  zwischen  der  äussern  und  innern  Kör- 
nerschicht —  die  Zwischenkörnerschicht  —  ist  nichts  anders,  als  die 
dicht  an  einander  liegenden  Fasern,  welche,  von  den  Stäbchen  und  Zapfen 
ausgehend,  und  in  der  äussern  und  innern  Körnerschicht  gleichsam  durch 
ein  Korn  durchgehend,  zur  Kugelschicht  verlaufen.  Man  kann  daher  jedes 
Korn  als  eine  bipolare  Zelle  betrachten  mit  einem  nach  aussen  und  einem 
nach  innen    abgehenden  Faden.     Die   äussere  Körnerschicht   besteht  (nach 


26  Netzhaut. 

Költik'er)  aus  den  an  den  Zapfen  sitzenden  kernführenden  Anschwellungen 
oder  den  Zapfenkörnern  und  aus  den  etwas  kleinern  eigentlichen  Körnern, 
welche  mit  den  Stäbchen  in  Verbindung  sind,  und  deshalb  auch  Släbchen- 
körner  heissen  können.  In  der  innern  Schicht  liegen  nur  kleine  Zellen 
von  0,003'" —  0,004'"  Grösse  mit  meist  deutlichem  Kern,  und  verbinden 
sich  theils  mit  den  Ausläufern  der  Zapfen  als  innere  Zapfenkörner,  theils 
mit  den  Stäbchen  als  innere  Stäbchenkörner. 

In  der  3.  Schicht  begegnen  wir  den  Nervenzellen  der  Retina,  welche 
in  eine  feinkörnige  graue  Masse  eingebettet  sind,  und  durch  dieses  Ver- 
Jhalten  ihre  Analogie  mit  den  Zellen  der  grauen  Gehirnsubstanz  darlhun. 
Diese  beiden  Elemente  sind  so  zu  einander  angeordnet,  dass  die  feinkör- 
nige graue  Substanz  mehr  nach  aussen  (an  der  innern  Körnerschichte)  als 
continuirliche  Lage  hervortritt,  die  0,006'"  —  0,008"'  grossen  kernhaltigen 
Zellen  dagegen  nach  innen  (an  der  Opticusfaserschichte)  2 —  3fach  über- 
einander liegen.  Diese  Zellen  verhalten  sich  ganz  wie  die  multipolarert 
Nervenzellen  der  Centralorgane  und  besitzen  sämmtlich  lange  blasse  Fort- 
sätze, von  denen  immer  1  — 2  nach  Aussen  gerichtet  sind  und  in  die 
erwähnten  radiären  Fasern  der  Körnerschichte  übergehen,  während  die  an- 
dern höchst  wahrscheinlich  sich  in  ächte  varicöse  Opticusfasern  fort- 
setzen. Corti  hat  wenigstens  in  der  Retina  des  Elephanten  anastomosi- 
rende  Verbindungen  dieser  Fortsätze  zweier  Zellen  beobachtet,  und  ausser- 
dem gefunden,  dass  Fibern  der  Opticusfaserlage  continuirlich  in  diese  Fort- 
sätze übergehen. 

Die  0,0005'" — 0,002'"  breiten  Fasern  des  Opticus  gehen  gleich  nach 
ihrem  Durchtritte  durch  die  Lamina  cribrosa  strahlenförmig  nach  allen  Rich- 
tungen auseinander,  und  erscheinen  in  dieser  Flächenausbreitung  als  vierte 
Schichte  der  Netzhaut.  Dieselbe  ist  diesem  Sachverhalte  gemäss  in  der 
Umgebung  der  Papilla  am  dicksten  und  wird  gegen  die  Ora  serrata  hin 
allmälig  dünner.  Am  gelben  Flecke ,  wenigstens  in  der  mittleren  Partie 
desselben,  finden  sich  keine  Opticusfasern,  indem  diese  auf  ihrem  Wege 
von  der  Papilla  nach  aussen  vor  der  Macula  lutea  auseinander,  jenseits 
aber  wieder  zusammen  treten.  Die  der  Netzhaut  angehörenden  Nerven- 
fasern des  Opticus  sind  blass ,  ohne  dunkle  Contouren ,  ohne  Kerne ,  da- 
gegen mit  länglichen  Anschwellungen  versehen.  Sie  unterscheiden  sich 
von  den  marklosen  Fasern  auch  durch  ihre  ausserordentliche  Feinheit. 
Gerlach  versichert,  einige  Male  ganz  bestimmt  Theilungen  an  denselben 
gesehen  zu  haben.  Sie  sind  zunächst  in  Bündel  von  0,010'"  —  0,012'" 
geordnet.  Dass  ein  Theil  derselben  in  die  Ausläufer  der  Ganglicnkugeln 
über«: ehe,  ist  nach  Corti's    Untersuchungen    gewiss.     Ob  aber  alle  Fasern 


Anatomie  —  Physiologie.  27 

mit  den  Fortsätzen  der  Nervenzellen  sich  verbinden ,  ist  noch  nicht  er- 
wiesen, wenn  gleich  wahrscheinlich.  Nach  Kölliker  tritt  ein  Thcil  der  ra- 
diären oder  Miill&if  sehen  Fasern  zwischen  den  Opticnsbündeln  bis  zur 
Membrana  limitans ,  und  endigen  diese  Fasern  in  kleine  Anschwellungen ; 
welche  mehrere  horizontal  (in  der  Ebene  der  Opticusfasern)  verlaufende 
Fäserchen  abgeben  oder  sich  direct  in  ein  ganzes  Büschel  feiner  Fädeken 
theilen,  von  denen  es  ungewiss .  ist,  ob  sie  sich  mit  den  Opticusfasern 
.  verbinden. 

Die  Membrana  limitans  ist  ein  nur  0,001'"  dickes,  structurloses  Häut- 
chen, welches  die  Netzhaut  an  ihrer  der  Hyaloidea  zugewendeten  Fläche 
begrenzt,  und  nach  einigen  Auetoren  sich  über  die  Ora  serrata  vorwärts 
selbst  bis  auf  die  hintere  Fläche  der  Iris  erstrecken  soll.  Bei  dieser  An- 
sicht wird  angenommen,  dass  dies  Grenzhäutchen  von  der  Ora  serrata  mit 
der  Zonula  Zinnii  verschmolzen  sei,  an  den  Ciliarfortsätzen  sich  aber  wie- 
der von  derselben  trenne  (da  diese  einwärts  zur  vordem  Kapsel  geht),  und 
als  Überzug  der  Ciliarfortsätze  und  der  hintern  Fläche  der  Iris  bis  zum 
Pupillarrande  sich  erstrecke. 

Die  Eigenthümlichkeiten  der  Macula  lutea,  der  Stelle,  mit  welcher 
wir  am  schärfsten  sehen,  bestehen  darin,  dass  daselbst  keine  Stäbchen, 
sondern,  nur  Zapfen  vorhanden  sind,  dass  die  Körnerschichte  eine' gelbe 
Färbung  zeigt  und  an  einer  punktförmigen  Stelle  fehlt,  dass  die  Opticus- 
fasern nur  am  Rande  etwas  hereinragen,  und  dass  endlich  auch  die  Zweig- 
chen der  Art.  centr.  retinae  schon  am  Rande  so  fein  werden,  dass  in  der 
Mitte  dieser  Stelle  auch  bei  beträchtlicher  Vergrösserung  (20  —  25mal) 
nichts  davon  wahrgenommen  werden  kann.  Die  gelbe  Farbe,  welche  sich 
gegen  die  Peripherie  dieser  Stelle  allmälig  verliert ,  tritt  nicht  unter  der 
Form  gefärbter  Moleküle,  sondern  diffundirt  auf,  und  wird  erst  einige 
Tage  nach  der  Geburt  vorgefunden. 

Die  Gefässe  der  Netzhaut  sind  Äste  der  Centralarterie ,  welche  mit 
der  Centralvene  in  der  Mitte  des  Sehnerven  liegt,  und  an  der  Papilla  n. 
opt.  sich  strahlenförmig  ausbreitet,  mit  vorwaltend  auf-  und  abwärts  ge- 
richteten Asten.  Besser  als  durch  Beschreibung  lernt  man  den  Verlauf,  die 
Zahl  und  die  Dicke  dieser  Äste  im  normalen  Zustande  durch  Untersuchung 
mehrerer  gesunder  Augen  mit  dem  Ophthalmoskop  kennen.  Wir  wollen 
nur  noch  (nach  Gerlach)  hervorheben,  dass  sie  sich  bald  in  ausserordent- 
lich feine  Capillaren  auflösen,  welche  denselben  Durchmesser  wie  jene 
des  Gehirnes  haben ,  und  hauptsächlich  in  der  Faser-  und  Zellenschichle 
der  Netzhaut,  denen  sie  nach  innen  zu  aufliegen,  sich  ausbreiten.  Die 
von  diesen    Capillaren   gebildeten   MascTien  sind   nicht  sehr    eng,  länglich 


28  Netzhaut. 

und  abgerundet  oder  ganz  unregelmässig  gestaltet.  An  der  Ora  serrata 
befindet  sich  ein  öfter  unterbrochener  venöser  Ring  (circulus  venosus  re- 
tinae), in  welchen  die  vordem  Capillarien  münden,  und  der  mit  der  Cen- 
tralvene  in  Verbindung  steht.  Am  gelben  Flecke  fehlt,  wie  schon  be- 
merkt, mit  der  Faserschichte  auch  das  Capillarnetz,  und  man  sieh' hieran  gut 
injicirten  menschlichen  Netzhäuten  eine  ovale  wohin  msehriebene  Lücke  des 
Capillarnetzes  von  0,8'"  Länge  und  0.5'"-  Breite.  —  Die  Centralarterie,  ein 
Zweig  der  Arteria  ophthalmica ,  welche  an  der  äussern  Seite  des  N.  op- 
ticus durch  das  Foramen  opticum  in  die  orbita  eintritt,  dringt  5 — 6  Linien 
hinter  dem  Bulbus  von  der  inneren  Seite  in  den  Sehnerven  ein.*) 

Der  Sehnerve  geht  als  ein  gegen  2'"  dicker  Cylinder  vom  Bulbus 
zum  Foramen  opticum,  umschlossen  von  einer  derben  fibrösen  Scheide,  die 
man  als  Fortsetzung  der  harten  Hirnhaut  betrachten  kann,  und  ist  in  der 
Orbita  13  —  14'"  lang,  während  der  Abstand  der  Sclera  vom  Foramen 
opticum  nur  gegen  12'"  misst.  Er  verläuft  demnach  stark  geschlängelt: 
die  stärkste  Krümmung  bildet  er  (bei  gerade  nach  vorn  gestellter  Pupille) 
in  seiner  vordem  Hälfte  nach  aussen,'  i.  e.  mit  auswärts  gerichteter  Con- 
vexität;  minder  stark  ist  die  Krümmung  nach  unten.  Umschlossen  wird 
er  knapp  vor  dem  For.  opticum  von  den  Anfängen  der  4  Muse,  recti, 
dann  aber  von  dem  ungemein  elastischen  Fettpolster,  welches  den  Raum 
zwischen  den  vorwärts  divergirenden  Muskeln  und  dem  Bulbus  erfüllt;  in 
der  vordem  Hälfte  umgeben  ihn  die  hinleren  Ciliararterien  und  die  Ciliar- 
nerven,  welche  auf  oder  nächst  seiner  Scheide  in  dem  genannten  Fett- 
gewebe zum  Bulbus  vordringen.  Das  Ganglion  ciliare  liegt  an  seiner 
Schläfeseite  8  —  9'"  hinter  der  Sclera.  Die  Art.  ophthalmica  schlägt  sich 
in  seiner  hintern  Hälfte  über  ihn  von  der  Schlafen-  nach  der  Nasenseite 
gegen  die  Rolle  des  Muse,  obliq.  superior,  wo  sie  sich  in  die  Art.  fron- 
talis und  dorsalis  nasi  spaltet. 

Die  Schlängelung  der  Sehnerven  ist  zur  freien  Beweglichkeit  des  Bulbus  um  sei- 
nen fixen  Punkt  (den  Drehpunkt)  unumgänglich  nothwendig.  Gerade  gestreckt  bis  zur 
straffen  Spannung  wird  der  Sehnerve  nur  dann,  wenn  der  Bulbus  von'  der  Mittelstel- 
lung bis  zu  den  beiden  möglichen  Extremen  seitwärts  gerollt  wird,  nämlich  auswärts: 
bis  der  Rand  der  Cornea  an  die  äusrere  Lidcommissur  reicht,  und  einwärts:  bis  der 
entgegengesetzte  Punkt  des  Hornhautrandes  sich  hinter  die  halbmondförmige  Falte  zu 
schieben  beginnt.  Wird  der  Bulbus  rasch  in  das  eine  oder  das  andere  dieser  Extreme 
gestellt,  so  nehmen  wir  (im  Dunkeln)  die  Folge  der  plötzlicheu  Zerrung  des  Opticus 
durch  eine  runde  lichtblitzende  Scheibe  im  Sehfelde  wahr.  Bei  möglichst  starker  Aur- 
oder   Abwärlsrollung    des    Bulbus    treten    keine    solche   Lichtringe    auf.    scheint  demnach 

*)  Nach  II    Hüller's  neuesten  Untenuahungen  ist  aile  gefässlose  Stelle  Her  Macula    lutea  nicht  so  ;r.ns.    als   Cer- 
lach  sie  angibt,  und  dmfien  die  Xcliliatiigefasse  Oberhaupt  vorzüglich  in  der  Zelleuschrchl  verlaufen. 


Physiologie.  29 

der  Opticus  nicht  Iris  zur  Zerrung  gestreckt  zu  worden.  Die  Kenntnis*  dieses  Sachver- 
haltes mindert  unser  Verwundern  darüber,  dass  das  Sehvermögen  nicht  aufgehoben  zu 
werden  pflegt,  wenn  der  Bulbus  um  2 — 3'"  vorwärts  ans  seiner  Lage  verdrängt  wird, 
sei  es  plötzlich  durch  Verletzungen,  sei  es  allmälig  durch  retrobulbäre  Geschwülste.  Im 
Nordwesten  von  Steiermark  soll  es  üblich  sein,  dass  junge  Leute  einander  die  Augen 
herauszwängen,  mittelst  des  Daumens,  der  am  innern  Augenwinkel  eingesetzt  wird.  Man 
beabsichtigt  bei  dieser  eigentümlichen  Art,  an  seinem  Nebenbuhler  Rache  zu  üben,  nur 
Entstellung  und  Schmerz,  -und  bewirkt  in  der  Regel  auch  nichts  anderes,  indem  nach 
erfolgter  Reposition  des  vor  die  Lidspalte  luxirten  Bulbus  das  Sehvermögen  allmälig 
wiederkehrt.  Bei  successiver  Hervortreibung  der  Bulbi  durch  Geschwülste  scheint  indess 
nicht  blossse  Streckung,  sondern  auch  wirkliche  Ausdehnung  des  Sehnerven  ohne  Auf- 
hebung seiner  Function  statt  zu  finden,  da  man  Bulbi  3 — 4"'  weiter  vorn  stehend  trifft, 
ohne  dass  das  Sehvermögen  ganz  aufgehoben  ist.  —  In  wie  hohem  Grade  das  retrobul- 
bäre Fellgewebe  elastisch  sein  müsse,  lässt  sich  erschliessen  aus  den  grossen  Excursio- 
nen,  welche  das  vordere  Ende  des  Sehnerven  machen  muss,  wenn  -wir  das  vordere 
Ende  der  Sehachse  nach  verschiedenen  Richtungen  stellen,  wobei  natürlich  das  hintere 
Ende  der  Sehachse  nahezu  gleiche  Exkursionen  in  entgegeagesetzter  Richtung  machen 
miiss.  —  Meine  Angaben  über  das  Orbitalstück  des  Sehnerven  sind  auf  Durchschnitte 
festgefrorner  Köpfe  in  den  letztverflossenen  beiden  Wintern  basirt,  und  theils  älteren, 
theils  jugendlichen  Individuen  (worunter   auch  ein  lOjähriger  Knabe)  entnommen. 

Im  Foramen  opticum  ist  jeder  Sehnerv,  4 — 5'"  lang,  von  der  mit  der 
Beinhaut  daselbst  fest  verbundenen  Scheide  nur  locker,  innerhalb  der  Schä- 
delhöhle aber  bloss  von  der  weichen  Hirnhaut  umgeben,  welche  ihn  in 
seinem  ganzen  Verlaufe  bis  zum  Bulbus  eng  umschliesst  und  mit  Gefässen 
versieht.  Schon  im  For.  opt.  ändern  sie  ihre  Form,  werden  rundlich -platt 
(2llo'"  breit,  lI/2///  hoch),  und  treten  nach  einem  Verlaufe  von  5  —  6'" 
convergirend  über  dem  Türkensattel  zum  Chiasma  nerv,  opticorum  zu- 
sammen, jenseits  desselben  aber  etwas  stärker  divergirend  rückwärts,  um 
sofort  als  allmälig  mehr  platt  und  zuletzt  auch  schmäler  werdende  hell- 
vveisse  Streifen  (Traclus  opticus)  um  die  Hirnstiele  herum  bis  zu  den  Knie- 
höckern und  Vierhügeln  zu  gelangen. 

Das  Chiasma,  durch  Berührung  und  theilweise  Kreuzung  der  Sehner- 
ven gebildet,  welche  als  vordere  und  hintere  Schenkel  desselben  betrachtet 
werden  können,  hat  vier  coneave  Ränder  und  zwei  schwach-convexe  Ober- 
flächen, misst  von  vorn  nach  hinten  3  —  4"',  von  einer  Seite  zur  andern 
circa  6'",  von  oben  nach  unten  i1/^'" ,  und  ist  überall,  wo  es  nicht  mit 
der  Hirnsubstanz  zusammenhängt,  von  der  Pia  mater  eng  umschlossen. 
Die  untere,  durchaus  freie  Fläche  wiad  durch  die  Dura  mater  von  der 
Hypophysis  geschieden.  Die  obere,  nur  in  den  vordem  zwei  Dritteln  freie 
Fläche    legt    sich  an    die  Substantia    perforata    media.     Von   den   Rändern 

«3» 

liegt  nur  der    hintere  unmittelbar  an  Hirnsubstanz    und  verbindet    sich  mit 


30  Netzhaut. 

dem  Tuber  cinereum,  durch  welches,  knapp  hinter  dem  Chiasma,  der 
Trichter  von  der  3.  Hirnkammer  zur  Hypopliysis  hinabsteigt.  Über  dem 
dreieckigen  Raum  zwischen  den  vordem  Schenkeln  liegt  die  Subst.  per- 
forata  anterior  mit  den  Anfängen  der  Riechnerven.  An  den  Seitenrändern, 
mitten  in  der  Concavität  ihrer  Einbiegung,  theilt  sich  die  Carotis  nach 
ihrem  Austritte  aus  dem  Sinus  cavernosus:  1.  in  die  Art.  ophthalmica, 
welche  unmittelbar  an  dem  vordem  Schenkel  des  Chiasma,  und  zwar  mehr 
unterhalb  als  neben  demselben  vorwärts  dringt ;  2.  in  die  Art.  corporis 
callosi,  welche  über  die  vordem  Schenkel  des  Chiasma  einwärts  aufsteigt 
und  sich  durch  den  Ramus  communicans  anterior  vor  und  über  dem 
Chiasma  mit  dem  der  andern  Seite  verbindet;  3.  in  die  Art.  fossae  Sylvii, 
welche  sich  nach  aussen  und  oben  in  diese  Grube  begibt,  und  4.  in  die 
Art.  communicans  posterior ,  welche  unter  dem  hintern  Schenkel  des 
Chiasma  neben  dem  Trichter  zur  Art.  basilaris  verläuft. 

Über  den  Verlauf  der  Fasern  des  Sehnerven  in  und  jenseits  des 
Chiasma  ist  nur  so  viel  gewiss ,  dass  im  Chiasma  eine  Kreuzung ,  jedoch 
nur  theilweise ,  die  innern  Fasern  betreffend,  statt  findet,  und  dass  sich 
jenseits  der  grössere  Theil  bis  zu  den  Kniehöckern  (corpora  geniculata) 
und  den  Vierhügeln  (emin.  quadrigemina)  verfolgen  lässt,  demnach  eine 
Verbindung  zwischen  den  Sehnerven  und  der  Medulla  oblongata  besteht. 
Nicht  so  sicher  gestellt  ist  der  Zusammenhang  der  Sehnerven  mit  den 
Sehhügeln  (thalami)  und  mit  den  Grosshirnsstielen  (pedunculi).  —  Nach 
Hannover  lassen  sich  im  Chiasma  unterscheiden:  1.  Fasern,  welche  direct 
aus  dem  einen  vordem  Schenkel  in  den  hintern  derselben  Seite  verlau- 
fen (Fasciculus  sin.  et  dexter) ;  2.  Fasern,  welche  aus  dem  vordem  Schen- 
kel der  einen  Seite  in  den  hintern  der  entgegengesetzten  übertreten 
(Commissura  cruciata) ;  3.  Fasern,  welche  von  dem  einen  vordem  Schen- 
kel zu  dem  andern  verlaufen,  also  gar  nicht  zum  Gehirne  jenseits  des 
Chiasma  gelangen  (Commiss.  arcuata  anterior) ;  4.  Fasern ,  welche  am 
hintern  Rande  des  Chiasma  aus  einem  hintern  Schenkel  in  den  andern 
umbiegen  (Comm.  arcuata  post.);  und  5.  Fasern,  welche  von  der  Sub- 
stantia  perforata  media  ausgehend  über  die  obere  Fläche ,  den  vordem 
Rand  und  die  untere  Fläche  zum  Tuber  cinereum  verlaufen,  und  das 
Chiasma  gleich  einer  Schleife  umfassen  (Comm.  ausata). 

Die  Netzhaut  (das  Auge  überhaupt)  steht  in  ihrer  Vegetation  und 
Function  in  innigem  Rapport  zum  Nervus  sympathicus  und  zum  Ramus  I. 
seu  ophthalmicus  N.  trigemini,  welcher  Rapport  wenigstens  einigermassen 
durch  anatomische  Verhältnisse  erklärt  werden  kann.  Vom  Halstheile 
(ganglion    cervicale  primum)   des   grossen    sympathischen    Nerven   steigen 


Physiologie.  31 

zwei  beträchtliche  Äste  mit  der  Art.  carotis  interna  in  die  Schädelhöhle 
und  bilden  im  Sinus  cavernosus  ein  Geflecht,  von  welchem  nicht  nur  zum 
N.  oculomotorius,  N.  abducens  und  R.  ophthalmicus  trigemini ,  sondern 
auch  direct  zum  Ganglion  ciliare  Zweige  abgehen.  Theils  von  diesem  Ge- 
flechte, theils  von  den  an  der  Arteria  ophthälmica  forllaufenden  Zweig- 
chen treten  nun  Fäden  zur  Chorioidea,  Iris  7  Cornea  und  (höchst  wahr- 
scheinlich auch)  zur  Retina  und  üben  wesentlichen  Einfluss  auf  die  Cir- 
culation  und  den  Stoffwechsel  in  diesen  und  den  übrigen  Gebilden. 

Auf  mehrere  physiologische  und  pathologische  Thatsachen,  die  sich 
auf  diesen  anatomischen  Sachverhalt  zurückführen  lassen,  wurde  bereits 
bei  Besprechung  der  Krankheiten  der  Binde-  und  Hornhaut,  besonders  aber 
bei  den  anatomisch -physiologischen  Bemerkungen  über  die  Iris  S.  29 — 35 
im  2.  Bande  hingewiesen;  hier,  wo  sich's  um  das  Verständniss  der  Er- 
scheinungen bei  Krankheiten  dei*  Retina  handelt,  schien  es  nothwendig, 
wenigstens  noch  mit  einigen  Worten  auf  den  Einfluss  hinzudeuten,  wel- 
chen der  Sympathicus  und  Trigeminus,  indem  sie  der  Ernährung  und  all- 
gemeinen Empfindung  vorstehen,  auf  den  speeifischen  Sinnesnerven  üben; 
die  pathologischen  Thatsachen,  welche  dem  anatomischen  Befunde  ent- 
sprechen, folgen,  sofern  sie  nicht  schon  früher  angeführt  wurden,  weiter 
unten  bei  der  Lehre  von  der  Amaurose. 

Der  Sehnerve  vermittelt  das  Sehen,  indem  er  die  durch  die  Licht- 
wellen in  der  Netzhaut  erregten  Eindrücke  oder  Zustände  zum  Central- 
organe  fortpflanzt.  Alles,  was  die  Leitungsfähigkeit  des  Sehnerven  auf- 
hebt, Durchschneidung,  Druck  u.  s.  w.,  macht  auch  das  Sehen  unmöglich. 
—  Das  Licht  wirkt  auf  den  Sehnerven  nun  mittelst  der  Netzhaut;  wo 
diese  nun  zerstört  (gegen  Licht  unempfindlich)  ist,  kann  kein  Licht  mehr 
empfunden  werden;  das  intensivste  Licht  auf  den  vorn  abgestutzten  oder 
bloss  gelegten  Sehnerven  geleitet,  erregt  das  Sensorium  commune  ebenso 
wenig,  als  irgend  einen  andern  Sinnes-  oder  Empfindungsnerven.  —  Me- 
chanische Reize  und  der  elektrische  Strom  können  mittelst  der  Retina 
oder  des  Sehnerven  im  Centralorgane  nur  die  Empfindung  von  Licht,  nie- 
mals die  von  Schmerz,  Wärme  u.  dergl.  erregen.  Wenn  Kranke,  denen 
ein  Auge  exstirpirt  wird,  im  Momente  der  Durchschneidung  des  Sehnerven 
vor  Schmerzen  aufschreien,  so  darf  man  bei  Erklärung  dieser  Erschei- 
nung nicht  übersehen,  dass  in  demselben  Momente  auch  die  Ciliarnerven 
durchschnitten  werden  müssen,  und  wenn  dagegen  in  einem  Falle  die  der 
Theorie  zufolge  erwarteten  Lichterscheinungen  nicht  wahrgenommen  wur- 
den, so  muss  man  bedenken,  dass  möglicherweise  der  Kranke  ob  der 
heftigen   Schmerzen    und    des   psychischen    Zustandes   gar   nicht   zu  einer 


32  Netzhaut. 

solchen  Wahrnehmung  geeignet,  oder  aher,  wie  in  solchen  Fallen  wohl 
häufig,  der  vordere  Theil  des  Sehnerven  bereits  leitungsunfähig  sein 
konnte.  —  In  Bezug  auf  die  Reizung  durch  Galvanismus  ist  noch  zu  be- 
merken, dass  Erregung  der  Netzhaut  und  des  Sehnerven  (zur  Lichtempfiur 
düng)  auch  in  distans  eintreten  kann,  durch  Überspringen  des  zu  kräfti- 
gen Stromes,  z.  B.  wenn  der  eine  Pol  an  das  ödere  Lid  oder  (bei  stärke- 
rem Strome)  an  die  Schläfe,  der  andere  an  die  Wange  oder  Zunge  an- 
gelegt wird. 

Die  zum  Sensorium  commune  fortgepflanzte  Erregung  des  Sehnerven, 
gleichviel  von  wo  sie  ausgeht,  wird  Gegenstand  des  Bewusstseins,  der 
Beziehung  auf  das  Ich  ,*  sobald  sie  nicht  zu  schwach  ist,  und  sobald  die 
Aufmerksamkeit  nicht  davon  abgezogen  wird  (durch  den  Willen ,  durch 
anderweite  starke  Erregung),  vorausgesetzt,  dass  die  Centralorgane  per- 
ceptionsfähig  sind.  Diese  Beschaffenheit  der  Centralorgane  ist  demnach 
für  das  Sehen  eine  Conditio  sine  qua  non.  Die  Erregung  ist  nahezu 
gleich,  ob  sie  nun  von  beiden  oder  nur  von  einem  Auge  ausgeht,  und 
wir  erkennen  es  aus  der  Empfindung  als  solcher  nicht,  ob  wir  mit  einem 
oder  mit  beiden  Augen  sehen,  wenn  die  Erregung  nicht  sehr  ungleich- 
artig ist  (wovon  später).  Es  steht  aber  diese  Erregung  der  Central- 
organe in  einem  merkwürdigen  Verhältnisse  nicht  bloss  zum  Bewusstsein, 
sondern  überdiess  noch  zu  andern  Thätigkeiten,  welche  mehr  weniger 
unabhängig  vom  Bewusstsein  und  Willen,  gleichsam  automatisch  (reflectirt) 
erfolgen.  Solche  Reflexwirkungen  geben  sich  zunächst  am  auffallendsten  in 
der  Iris  kund.  (Yergl.  II.  B.  S.  30.)  Hieher  gehört  auch  mehr  weniger 
die  Thätigkeit  der  Muskeln,  welche  vom  N.  oculomotorius,  trochlearis,  ab- 
ducens  und  facialis  (musc.  orbicularis)  versorgt  werden.  Die  Netzhaut, 
durch  den  N.  opticus  mit  den  Centralorganen  verbunden,  kann  mit  einem 
gewissen  Rechte  als  Regulator  der  zweckmässigen  Thätigkeit  jener  Mus- 
keln bezeichnet  werden,  welche  dem  Sehorgane  zur  Verfügung  gestellt 
sind,  und  theils  in,  theils  ausser  dem  Bulbus  liegen.  Figürlich  kann  man 
sagen :  die  Netzhaut  stellt  und  gestaltet  sich,  den  Bulbus  so  zweckmässig, 
als  es  die  obwaltenden  Umstände  nur  irgend  zulassen.  Mechanische  Hin- 
dernisse, die  sich  ihrer  Function  entgegenstellten,  z.  B.  partielle  Trübungen 
der  Linse  oder  Hornhaut,  werden  auf  diese  Weise  oft  gegen  alle  Ge- 
wohnheit und  unwillkürlich  die  entferntere  Ursache  von  einfachen  oder 
combinirlen  Muskelaclionen,  welche  sich  ohne  solche  Hindernisse  schwer 
oder  gar  nicht  zu  Stande  bringen  lassen.  (Yergl.  Krankheiten  der  Mus- 
keln.) Diese  Thätigkeit  der  Centralorgane,  angeregt  durch  Lichteinfluss 
auf  die  Netzhaut,  ist  offenbar  schon  in  den  ersten  Lebens  tagen  vorhanden. 


Physiologie.  33 

während  die  des  Bewusstwerdens  viel  später  zu  Stande  kommt.  Dass 
übrigens  solche  Reflexthätigkeiten  auch  unabhängig  vom  Sehnerven  her- 
vorgerufen werden  können,  und  zwar  direct  vom  Centralorganer  oder  an- 
geregt durch  andere  Nerven  (z.  B,  N.  acusticus),  sei  nur  um  Missver- 
ständnissen vorzubeugen  ausdrücklich  erwähnt. 

Wo  die  Bedingungen  zur  Leitung  und  Aufnahme  im  Centralorgane 
vorhanden  sind,  können  Erregungen  der  Netzhaut  wahrgenommen  werden. 
Die  gewöhnliche,  natürliche,  adäquate  Erregung  der  Netzhaut  erfolgt  durch 
das  Licht,  welches  selbstleuchtende  oder  lichtreflectirende  Körper  zur 
Netzhaut  senden.  Die  Netzhaut  antwortet  aber  auch  auf  Reizung  durch 
Elektricität,  Druck,  Zerrung  u.  dergl.,  und  zwar  mit  Lichterscheinungen. 
Die  zum  Bewusstsein  gelangenden  Erregungen  der  Netzhaut  und  des  Seh- 
nerven, welche  gar  nicht  oder  doch  nicht  unmittelbar  durch  Licht  bedingt 
werden,  nennt  man  subjective  Lichtempfindungen.  Hiezu  gehören  ge- 
wissermmassen  auch  die  Empfindungen,  welche  nach  intensiver  Erregung 
der  Netzhaut  durch  Licht  mehr  weniger  lange  zurückbleiben  (Nachbilder'), 
während  das  sogenannte  Sehen  nicht  vorhandener  Objecte ,  welches  bei 
excessiver  Erregung  der  Centralorgane  vorkommt  (Visio  phantasmatum, 
Halluciationes),  gleich  den  Traumbildern  in  das  Bereich  der  psychischen 
Thätigkeit  gehört.  —  Die  zum  Sensorium  commune  fortgepflanzte  Erre- 
gung der  Netzhaut  durch  Licht,  wie  z.  B.  bei  geschlossenen  Augenlidern, 
bei  completer  Linsenverdunkelung,  ist  im  Allgemeinen  Lichtempfindung; 
zum  Sehen  wird  sie  erst  dann,  wenn  sie  auch  der  Form  nach  auf  das 
lichtsendende  (oder  hemmende)  Object  bezogen  werden  kann.  Diess  ist 
nicht  möglich,  ohne  ein  Bild  des  lichtsendenden  Objectes  (oder  eines 
Schattens)  auf  der  Netzhaut,  wie  in  einer  Camera  obscura  auf  dem 
Schirme.  Zum  Sehen  gehört  demnach  nebst  Integrität  der  bisher  bespro- 
chenen Nervenelemente  noch  ein  dioptrischer,  jenes  Bild  vermittelnder  Ap- 
parat. Die  Netzhaut  wird  zum  Sehen  nicht  direct  durch  das  lichtsendende 
Object  erregt,  sondern  mittelbar  durch  dessen  Bild.  Was  für  den  Tast- 
sinn das  Object  selbst,  das  ist  für  das  Auge  (beim  Sehen  im  eigentlichen 
Sinne  des  Wortes)  das  Bild  des  Objectes.  —  Objecte,  welche  ganz  nahe 
an  oder  in  dem  Auge  selbst  liegen,  können  nicht  gesehen,  wühl  aber 
unter  Umständen  (wovon  später)  dadurch  wahrgenommen  werden,  dass 
sie  Schatten  auf  die  Netzhaut  werfen.  Hieher  gehören  die  sogenannten 
entoptischen  Erscheinungen,  von  denen  weiter  unten  die  Rede  sein  wird. 
Die  gewöhnlichsten  sind  die  unter  dem  Namen  der  fliegenden  Mücken  be- 
kannten beweglichen  Punkte,  Fäden,  Schnüre  u.  dergl.,  welche  der  davon 
Gequälte  vor  seinen  Augen  zu  sehen  vermeint. 

Arlt'b  Au^enheilkdune  III,  2'  3 


34  Netzhaut. 

Um  sich  von  dem  Zustandekommen  und  Verhalten  des  Bildes  auf  der  Netzhaut  zu 
überzeugen  und  zu  belehren,  nehme  man  vor  allem  ein  Menschen-  oder  Kaninchen- 
auge, dessen  Medien  noch  gehörig  durchsichtig  sind,  lege  es  mit  horizontaler  Sehachse 
auf  einen  Angeubecher,  so  dass  seine  Form  möglichst  unverändert  bleibt,  entferne  durch 
vorsichtige  Excision  ein  etwa  2  Quadratlinien  grosses  Stück  Sclera  am  hintern  Pole 
und,  falls  man  scharf  beobachten  will,  eben  so  viel  Chorioidea,  und  richte  nun  die 
freie  Cornea  einem  Fenster  gegenüber,  vor  welchem  sich  mit  Ausnahme  eines  oder  des 
andern  grossem  Gegenstandes,  etwa  eines  Thurmes,  das  Firmament  frei  darstellt.  Man 
sieht  nun  (die  übrigen  Fenster  verdeckt)  zunächst  auf  der  blossgelegten  durchscheinen- 
den Netzhaut  das  Fenster  schärft  abgebildet,  falls  dessen  Entfernung  vom  Auge  eine 
entsprechende  ist,  während  der  entferntere  Gegenstand  (Thurin),  der  gleichzeitig  abge- 
bildet erscheint,  minder  scharfe  Contouren  zeigt.  Das  Bild  der  Fensterrahmen  erscheint 
gleich  dem  einer  andern  einfachen  Camera  obscura  dem  Beschauenden  relativ  zum 
Objecte  verkehrt  und  verkleinert.  —  An  dem  Auge  eines  etwa  12jährigen  Knaben,  dessen 
Achse  10,8'",  Cornealdicke  0,5"',  Augenkammer  1,2'",  Linsenachse  1,7'"  und  Glaskör- 
perachse 6,8'"  betrug,  zeigte  das  Bild  eines  42"  breiten  Fensters  bei  120"  Entfernung 
des  Bulbus  vom  Fenster  eine  Breite  von  2,1"',  bei  204"  Entfernung  eine  Breite  von 
1,6'",  bei  288"  Entfernung  eine  Breite  von  1,1'"-  Ich  schreibe  diesen  Massen  keine 
mathematische  Schärfe  zu,  da  mir  die  zu  solchen  Messungen  und  Beobachtungen  erfor- 
derlichen Apparate  nicht  zu  Gebote  stehen;  es  Hessen  sich  aber  auf  diesem  Wege,  wenn 
man  das  eine  Auge  zur  Messung  der  Durchmesser  und  Krümmungsradien,  das  andere 
zur  Messung  der  Netzhautbilder  bei  verschiedener  Übjectdistanz  benützte,  vielleicht  brauch- 
bare Resultate  für  die  Lehre  vom  Sehen  gewinnen. 

Der  Eindruck  des  Lichtes  auf  die  Netzhaut  wird  durch  die  Schwin- 
gungen eines  elastischen  Mediums  (Äthers)  erregt,  deren  Anzahl  die 
Farbe  bestimmt,  von  deren  Weite  die  Helligkeit  abhangt,  und  deren  li- 
neare, kreisförmige  oder  elliptische  Gestalt  ihre  Polarisation  hervorbringt. 
So  wie  das  Ohr  sich  der  Schwingungen  der  regelmässig  erschütterten 
Luft  bewusst  wird  als  eines  Tones  von  bestimmter  Höhe,  so  sage  ich  blau, 
wenn  meine  Netzhaut  eine  bestimmte  Zahl  Schwingungen  vollführt,  roth 
bei  einer  andern  Zahl.*)  Nach  Wheatstones  Versuchen  vermag  unser  Auge 
Gegenstände  noch  deutlich  zu  sehen,  wenn  sie  auch  eine  kürzere  Zeit  als 
den  millionsten  Theil  einer  Secunde  beleuchtet  werden.  Zwischen  dem 
sinnlichen  Eindrucke  und  dem  Bewusstwerden  derselben  verfliesst  aber 
eine  gewisse  Zeit.  Ein  Eindruck  auf  das  Auge  dauert  aber  noch  einige 
Zeit  fort,  wenn  die  erregende  Ursache  bereits  zu  wirken  aufgehört  hat. 
Eine  rasche  periodische  Wiederkehr  gleichartiger  Eindrücke  nimmt  das 
Auge  als  eine  ununterbrochene  Erscheinung  wahr.  Wenn  wir  einen  leuch- 
tenden Gegenstand  (eine  glühende  Kohle  im  Kreise  herumgesdiwungen) 
in  einer  Secunde  mindestens  T'/otnal  an  derselben  Stelle  sehen,  so  sehen 
wir  ihn  ununterbrochen  an  derselben.     Der  andauernde  Lichteindruck   bei 

*)  Dovc,  Darstellung  der  Farbenlehre,  Berlin   1853. 


Physiologie.  35 

sich  schliessendcm  Auge  ist  das  Nach-  oder  Abklingen  der  Schwingungen, 
in  welche  die  Nervenelemenle  durch  die  Ätherschwingungen  versetzt 
wurden,;  er  ist  die  allmälige  Wiederkehr  zur  Ruhe,  deren  wir  uns  als 
Dunkel  bewusst  werden.*) 

Die  Hornhaut  bildet  mit  dem  Kammerwasser  und  dem  Krystallkörper 
eine  biconvexe  Linse,  vorn  von  Luft,  hinten  von  der  Glasflüssigkeit  be- 
grenzt. Die  Achse  dieser  Linse  fällt  mit  der  geraden  Linie  zusammen, 
welche  den  vordem  mit  dem  hintern  Pole  des  Auges  verbindet,  und  die 
Sehachse  genannt  wird.  Die  Brennweite  derselben  (Vereinigungsweite  für 
parallele  Strahlen)  ist  gleich  dem  Abslande  des  hintern  Linsenpoles  von 
der  Macula  lutea,  welche  demnach  in  der  hintern  Brennpunkts  ebene  liegt. 
Strahlen,  welche  von  der  Netzhaut  aus  parallel  durch  den  Glaskörper  vor- 
wärts gingen,  würden  sich  in  einem  Punkte  vereinigen,  welcher  um  den 
halben  Durchmesser  des  Bulbus  in  der  Sehachse,  etwa  57r/"  vor  dem 
Centrum  der  Cornealvorderfläche,  mithin  in  der  vordem  Brennpunkts  ebene 
liegen  würde.  Bei  einer  durchaus  homogenen  und  von  gleich  geAvölbten 
Flächen  begrenzten  Linse  (gewöhnliehe  biconvexe  Glaslinse)  ist  es  der 
Mittelpunkt  ihrer  Achse,  durch  welchen  man  von  irgend  einem  Objectpunkte 
eine  gerade  Linie  zu  ziehen  hat,  um  die  Richtung  zu  finden,  in  welcher 
jenseits  der  Linse  alle  von  jenem  Punkte  aus  durch  die  Linse  gegangenen 
Strahlen  sich  vereinigen  müssen.  Bei  der  aus  verschiedenen  Medien  zu- 
sammengesetzten Sammellinse  unseres  Auges  liegt  dieser  Punkt  nicht,  wie 
man  früher  meinte,  in  der  Mitte,  etwa  gerade  in  der  Pupille,  sondern  nahe 
am  hintern  Pole  der  Krystalllinse,  mithin  durchschnittlich  zwischen  3 — S1/^'" 
hinter  dem  Centrum  der  Cornealvorderfläche.  Dieser  Punkt,  von  Volkmann 
Kreuzungspunkt  der  Richtungslinien  genannt,  jedoch  als  3,97//;  hinter  der 
Cornealvorderfläche  liegend  angegeben,  ist  ohngefähr  dasselbe,  was  Listing 
den  mittlem  Knotenpunkt  genannt  hat. 

*)  Wird  der  Raum  zwischen  Erde  und  Sonne  (20,6S6.3'29  geographische  Meilen)  in  493.2  Secunden  vom  Lichte  durchlaufen, 

so  ist  der  in   einer  Secunde   zurückgelegte  Weg    41935  geographische  Meilen.     Die  Anzahl   der  Schwingungen,    in 

welche   die  Netzhaut  innerhalb    einer  Secunde  versetzt  wird,    um    die  Farbe  zum   Bewusstsein  zu    bringen,    welche 

im    Spectrum  {Frauenhofer)   durch  die  Buchstaben  B,   C,  D,  E,  F,   G,  "II  bezeichnet  wird,  ist  demnach  folgende: 

bei  B.    nahe   dem  rothen  Ende  452.000000.000000 

,,     C.  im  Reih 474  000000  000000 

„    D.    „    Orange     ....  528.000000.000000 

„    E.    „    Grün 591.000000.000000 

„    F.    ,,    Blau 641.000000.000000 

„    G.    „    Indigo       ....     724.000üd0.000000 

„    U.    „    Violett      ....    785.000000.000000 
Der  tiefste  Ton  entsteht  durch  32,  der  höchste  noch  wahrnehmbare    Ton  durch  73000  Schwingungen,    also  durch 
36500  Ein-  und  eben  so   viele  Ausbildungen    des  Trommelfelles  (Dove). 


3 


* 


36  Netzhaut. 

Zum  deutlishen  Sehen  sind  bis  zu  einem  gewissen  Grade  scharf 
begrenzte  und  lichte  Bilder  auf  der  Netzhaut  nothicendig.  Jedes  leuch- 
tende oder  lichtrefleotirende  Object  kann  als  eine  Summe  leuchtender 
Punkte  betrachtet  werden.  Von  jedem  solchen  Punkte  gelangt  ein  Büschel 
Strahlen  zum  Auge  in  Form  eines  Kegels,  dessen  Spitze  jener  Punkt, 
dessen  Basis  die  Cornea  ist.  Ein  Theil  dieser  Strahlen  wird  unregel- 
mässig zurückgeworfen  (zerstreut),  und  macht  die  Cornea  sichtbar 5  ein 
anderer  wird  regelmässig  reflectirt  (gespiegelt),  und  gibt  die  bekannten 
Spiegel-  oder  Reflexbilder  der  Hornhaut;  von  den  durchgelassenen  tragen 
nur  so  viele  zur  Bildung  des  Netzhautbildes  bei,  als  nicht  durch  die  Iris 
abgehalten  und  von  der  vordem  und  hintern  Kapsel  auf  gleiche  Weise 
wie  von  der  Cornea  reflectirt  werden.  Die  durchgelassenen  convergiren 
nach  ihrem  Eintritte  in  den  Glaskörper,  wenn  der  leuchtende  Punkt  nicht 
zu  nahe  am  Auge  liegt,  kegelförmig  nach  einem  Punkte,  dessen  Lage  sich 
durch  Ziehung  der  Richtungslinie  (vom  leuchtenden  Punkte  durch  den 
Kreuzungspunkt)  bestimmen  lässt ;  sie  bilden  einen  Kegel,  dessen  Spitze 
auf  die  Netzhaut  fällt,  wenn,  wie  beim  deutlichen  Sehen  immer,  der  Re- 
fractionszustand  des  Auges  der  Entfernung  des  leuchtenden  Punktes  an- 
gemessen ist.  Dieser  Punkt  an  der  Spitze  des  innern  Kegels  ist  das 
Bild  des  Punktes  an  der  Spitze  des  äussern,  und  somit  kann  das  ganze 
Netzhautbild  eines  Objectes  als  aus  so  vielen  Punkten  zusammengesetzt 
gedacht  werden,  als  das  ihm  entsprechende  Object  lichtsendende  Punkte 
enthält.  Je  schärfer  die  einem  jeden  Objectpunkte  zugehörenden  Strahlen 
auf  einen  entsprechenden  Punkt  der  Netzhaut  concentrirt  'werden,  desto 
genauer  ist  die  in  Rede  stehende  Bedingung  des  Deutlichsehens  erfüllt, 
dass  nicht  mehrere  verschiedene  Punkte  des  Objectes  ihr  Licht  auf  eine 
und  dieselbe  Stelle  der  Netzhaut  werfen.  —  Entspricht  der  Refractions- 
zustand  nicht  der  Entfernung  des  leuchtenden  Punktes,  so  fällt  der  Ver- 
einigungspunkt vor  die  Netzhaut,  falls  der  leuchtende  Punkt  relativ  zu 
weit  entfernt,  hinter  die  Netzhaut,  falls  derselbe  relativ  zu  nahe  am  Auge 
liegt.  In  dem  erstem  Falle  wird  die  Netzhaut  erst  von  den  bereits  wie- 
der auseinander  fahrenden,  in  dem  letzteren  von  den  noch  nicht  völlig 
vereinigten  Strahlen,  mithin  von  einem  Lichtkreise  (Kegelschnitte)  statt 
von  einem  Lichtpunkte  getrotfen,  und  es  greifen  die  Lichtstrahlen  des 
einen  Kegels  in  das  Bereich  des  andern  über,  es  ist  nicht  jeder  Object- 
punkt  gesondert  und  begrenzt  auf  der  Netzhaut  abgebildet  Bis  zu  wel- 
chem Grade  eine  solche  Abgrenzung  gefordert  werde,  bis  zu  welchem 
Grade  und  durch  welene  Mittel  die  Bildung  von  Zerstreiiungskrcisen  we- 
gen nicht  entsprechender  Objec  tili  stanz  verhütet  werden  könne,  soll  später 


Physiologie.  37 

noch  besprochen  werden.  —  Von  dem  Lichtkegel,  welchen  irgend  ein 
leuchtender  Punkt  ins  Auge  sendet,  werden  nur  jene  Strahlen,  die  in  ge- 
ringer Entfernung  (Elongation)  von  dem  in  der  Achse  des  Kegels  ver- 
laufenden (Achsenstrahle)  auf  die  Cornea  fallen,  in  einem  und  demselben 
Punkte  jenseits  vereinigt;  die  weiter  entfernt  auffallenden  (Randstrahlen) 
werden  stärker  gebrochen,  also  früher  dem  Achsenstrahle  des  innern 
Lichtkegels  zugelenkt,  und  fahren  demnach  bereits  wieder  auseinander, 
wenn  die  Centralstrahlen  eben  erst  zusammentreten;  sie  bilden,  wenn  die 
Netzhaut  in  der  Vereinigungsweite  der  Centralstrahlen  liegt,  auf  dieser 
einen  Zerstremtngskreis,  bedingt  durch  die  sogenannte  sphärische  Ab- 
erration. Dieser  Beeinträchtigung  der  Schärfe  des  Bildes  ist  grösstenteils 
durch  die  Iris  und  die  dem  Bedürfnisse  entsprechende  Verengerung  und 
Erweiterung  der  Pupille  abgeholfen.  Sie  würde  besonders  beim  Betrach- 
ten naher  Objecte  störend  einwirken.  —  Die  Zerstreuung,  welche  das 
Licht  jedes  einzelnen  Strahles  vermöge  seiner  Zerlegbarheit  in  verschie- 
den brechbare  (farbige)  Strahlen  beim  Durchgange  durch  die  brechenden 
Medien  des  Auges  so  gut  wie  beim  Durchgange  durch  ein  Prisma  er- 
leidet, macht  sich  beim  Sehen  nur  dann  geltend,  wenn  die  Vereinigung 
sämmtlicher  Strahlen  eines  Kegels  wegen  mangelhafter  Anpassung  für 
die  Objectdistanz,  wegen  sphärischer  Aberration  oder  wegen  Abhaltung 
eines  Theiles  der  Strahlen  mehr  weniger  verhindert  wird.  (Schiebt  man 
während  der  Fixirung  eines  horizontalen  Fensterstabes  ein  Kartenblatt 
knapp  am  Auge  vor  die  obere  Hälfte  der  Pupille,  so  erscheint  am  untern 
Rande  des  Stabes  ein  rothgelber  Farbensaum,  am  obern  ein  blauer;  hat 
man  dagegen  den  untern  Theil  der  Pupille  verdeckt,  so  treten  dieselben 
Farben  in  umgekehrter  Ordnung  auf,  gleichviel  ob  man  dem  Fenster  nahe 
oder  fern  steht,  wenn  nur  hinter  demselben  weisse  Wolken  sind.  Tour- 
tual.)  Da  die  blauen  Strahlen  des  Spectrums  stärker  gebrochen  werden, 
als  die  gelben,  und  diese  stärker  als  die  rothen,  so  gelangen  die  blauen 
Strahlen  immer  etwas  früher  zur  Vereinigung,  als  die  rothen;  indem  aber 
die  diametral  entgegengesetzten  Strahlen  des  innern  Lichtkegels  in  oder 
nächst  der  Spitze  desselben  zusammentreten,  compensiren  sie  sich  ohn- 
gefähr  in  der  Mitte  zwischen  der  Vereinigungsweite  der  blauen  und  ro- 
then Strahlen.  (Diese^Compensation  wird  in  Tourtuals  Versuche  ver- 
hindert.) 

Die  zum  Deutlichsehen  erforderliche  Helligkeit  (scheinbarer  Glanz)  des 
'Netzhautbildes  wird  durch  die  Menge  der  Lichtstrahlen  bedingt,  welche 
an  der  Spitze  'einesjjeden  innern  Lichtkegels  die  Netzhaut  treffen.  Die 
Menge   der   Lichtstrahlen    des    innern    Lichtkegels    hängt   zunächst     nicht 


38  Netzhaut. 

bloss  von  der  Menge  ab,  welche  der  leuchtende  Punkt  ausstrahlt  oder 
reflectirt,  sondern  auch  von  der  Entfernung  dieses  letztern.  Je  länger 
der  äussere  Lichtkegel,  also  je  weiter  entfernt  das  Object,  desto  geringer 
die  Zahl  der  Strahlen,  welche  von  ihm  auf  die  Cornea  fallen.  Es  ver- 
halten sich  die  Summen  der  auf  die  Cornea  fallenden  Strahlen  ceteris 
paribus  umgekehrt  wie  die  Quadrate  der  Entfernung  des  leuchtenden 
Punktes.  Je  mehr  seitlich  von  der  Sehachse  der  leuchtende  Punkt  liegt, 
desto  kleiner  wird  auch  bei  gleich  gross  bleibender  Öffnung  der  Pupille 
die  Summe  der  Lichtstrahlen  sein,  welche  zur  Bildung  des  innern  Licht- 
kegels concurriren  können;  denn  Strahlen,  die  unter  einem  grössern  Ein- 
fallswinkel als  48  Grad  auf  die  Cornea  treffen,  werden  reflectirt,  und  je 
schräger  die  Irisebene  zum  Achsenstrahle  des  leuchtenden  Punktes  ge- 
stellt ist,  desto  weniger  Nebenstrahlen  desselben  Kegels  können  durch 
die  Pupille  eindringen.  Je  vollständiger  durchsichtig  endlich  die  Medien, 
welche  das  Licht  vom  leuchtenden  Punkte  bis  zur  Netzhaut  zu  durch- 
dringen hat,  desto  vollständiger  die  Beleuchtung  dieser  letztern.  Trü- 
bung der  Medien  bewirkt  überdiess  auch  Ablenkung  (Zerstreuung)  der 
durchgelassenen  Strahlen.  (Undeutlichsehen  wegen  unzureichender  Be- 
leuchtung.) 

Die  Thatsache,  dass  wir  unter  Umständen,  wo  ganz  gewiss  Zerstreuungskreise 
vorhanden  sind,  noch  mehr  weniger  deutlich  sehen,  wie  namentlich  bei  der  Betrachtung 
entfernterer  Objecte,  lässt  sich  kaum  anders  erklären,  als  dass  wegen  der  überwiegen- 
den Beleuchtung  in  der  Mitte  jedes  Zerstreuungskreises  die  relativ  schwächere  Erregung 
der  Umgebung  nicht  wahrgenommen  wird.  Wird  ein  Gegenstand,  z.  B.  ein  Buchstabe, 
so  nahe  vor  das  Auge  gehalten,  dass  er  undeutlich  und  farbig  eingesäumt  erscheint, 
weil  die  zu  stark  divergirend  auffallenden  Strahlen  erst  hinter  der  Netzhaut  zur  Ver- 
einigung gelangen  können,  so  kann  man  bewirken,  dass  er  in  derselben  Entfernung 
augenblicklich  rein  und  scharf  begrenzt  erscheint,  wenn  man  ihn  durch  die  enge 
Öffnung  eines  Kartenblattes  betrachtet,  offenbar  weil  die  Zerstreuungskreise  dadurch 
auf  das  erforderliche  Minimum  reducirt  werden,  indem  durch  die  nahe  vor  der  Cornea 
befindliche  enge  Öffnung  die  Basis  des  eindringenden  Lichtkegels,  mithin  auch  sein 
Durchschnitt  auf  der  Netzhaut  entsprechend  kleiner  geworden  ist.     (Ludwig.) 

Die  Feinheit  (Schärfe)  des  Gesichtes,  analog  der  Freiheit  der  übri- 
gen Sinne,  schätzen  wir  nach  der  Fähigkeit,  winzige  Objccte  zu  ernen- 
nen und  zwei  ganz  nahe  neben  einander  befindliche  leuchtende  Punkte 
als  zwei  zu  unterscheiden,  sobald  die  eben  besprochenen  Bedingungen 
des  üeutlichsehens  vorhanden  sind.  ftiess  führt  uns  zur  Betrachtung  der 
Grösse  der  Netzhanlbilder  und  der  Energie  der  Netzhaut  selbst.  So  wie 
ein  feines  Gehör  ein  Geräusch  noch  wahrnimmt,  das  von  einem  stumpfen 
auch  trotz  aller  Aufmerksamkeit   und  Anstrengung  nicht  mehr  vernommen 


Physiologie*.  39 

wird,  und  so  wie  ein  feines  Getast  zwei  nahe  aneinander  befindliche 
Spitzen  noch  als  zwei  (gelrennt)  empfindet,  welche  dem  stumpfen  (gro- 
ben) Gefühle  nur  eine  einzige  zu  sein  scheinen,  zeigt  sich  auch  die 
Netzhaut  in  ihrer  Fähigkeit,  Eindrücke  aufzunehmen  und  zu  unterscheiden, 
bald  fein,  bald  stumpf,  in  unendlichen  Abstufungen.  Diese  Verschieden- 
heit ist  theils  in  der  primären  Anlage  der  Netzhaut  gegeben,  theils  von 
der  Übung  namentlich  in  den  ersten  Lebensjahren  abhängig,  ausserdem 
aber  Folge  (Symptom)  mannigfacher  Erkrankung.  Sehen  wir  vorläufig 
nocb  von  der  Verschiedenheit  der  Energie  der  Netzhaut  in  den  einzel- 
nen Regionen  derselben  ab,  und  betrachten  blos  die  Wahrnehmung  von 
Bildern,  welche  auf  die  empfindlichste  Stelle,  die  Macula  lutea  fallen,  so 
sind  folgende  Sätze  zu  notiren:  a)  Die  Grösse  des  Bildes  auf  der  Netz- 
haut kann  um  so  kleiner  sein,  je  grössere  Lichtstärke  es  besitzt,  o)  Bei 
gleicher  Lichtstärke  kann,  um  noch  gesehen  zu  werden,  ein  weisses  Bild 
kleiner  sein,  als  ein  gelbes,  dieses  kleiner  als  ein  rothes  und  dieses 
kleiner  als  ein  blaues  (Plateau),  c)  Wenn  das  Bild  nach  der  einen  Di- 
mension zunimmt,  darf  es  unbeschadet  seiner  Deutlichkeit  nach  der  an- 
dern Dimension  abnehmen,  so  dass  ein  linienförmiger  Körper  noch  sicht- 
bar ist,  während  ein  punktförmiger  von  gleicher  Breite  schon  verschwin- 
det. Eine  kurze  Linie,  welche  in  verticaler  Richtung  als  Punkt  erscheint," 
kann  in  horizontaler  noch  als  Linie  wahrgenommen  werden.  Diess  hängt, 
wie  Fick  nachgewiesen  hat,  davon  ab,  dass  die  durchsichtigen  Medien  in 
verticaler  Richtung  nach  einem  kürzern  Radius  gekrümmt  sind,  als  in 
horizontaler.  Wenn  die  Energie  der  Netzhaut  geringer  oder  gesunken  ist, 
wird  dieselbe  Druckschrift  noch  gelesen,  sobald  die  Buchstaben  etwas 
weiter  von  einander  abstehen;  von  zwei  Druckschriften,  deren  Lettern 
gleiche  Höhe  haben,  strengt  diejenige  mehr  an,  deren  Lettern  weniger 
fett  und  mehr  compress  sind,  d)  Ein  winziger  Gegenstand,  der  nicht 
wahrgenommen  werden  kann,  wenn  er  ruhig  ist,  kann  wahrgenommen 
werden,  wenn  sein  Bild  mit  einer  gewissen  Geschwindigkeit  nach  ein- 
ander auf  verschiedene  Nelzhautstellen  gebracht  wird,  e)  Der  Contrast 
in  der  Farbe  und  Beleuchtung,  den  ein  Körper  zu  seiner  Umgebung  bildet, 
macht  einen  winzigen  Körper  sichtbar,  der  ausserdem  unsichtbar  ist.  Ein 
dunkler  Punkt,  der  auf  dunklem  Hintergrunde  unsichtbar  ist,  wird  sicht- 
bar auf  lichtem  Hintergrunde  und  umgekehrt.  Auf  diese  Weise  (cl  und  e) 
werden  uns  die  sogenannten  Sonnenstäubchen  bemerkbar,  wenn  Sonnen- 
strahlen in  ein  nicht  zu  lichtes   Zimmer  fallen. 

Die    Feinheit  des    Gesichtes    geht   aber    nicht  bis    über  eine  gewisse 
Grenze    hinaus;   sie    ist    durch    die    Energie  der    Netzhaut   als  solche  be- 


40 


Netzhaut. 


schränkt ;  nur  bei  einer  gewissen  Grösse  des  einem  Objecte  entsprechen- 
den Netzhautbildes  kann  dasselbe  wahrgenommen,  und  nur  bei  einer 
gewissen  Distanz  der  Bildpunkte  auf  der  Netzhaut,  welche  zwei  leuch- 
tenden Objectpunkten  entsprechen,  können  jene  in  der  Empfindung  als. 
distinct  auftreten.  Wenn  auch  nicht  genau,  so  doch  annähernd  lässt 
sich  angeben,  wie  weit  zwei  Bildpunkte  auf  der  Netzhaut  abstehen  müssen, 
um  noch  als  zwei  wahrgenommen  zu  werden.  Zur  Bestimmung  der 
Distanz  zweier  Bildpunkte  auf  der  Netzhaut  dient  der  Sehwinkel.  Diesen 
erhält  man,  wenn  man  von  den  zwei  leuchtenden  Endpunkten  des  Ob- 
jectes  gerade  Linien  zum  Centrum  der  Cornealvorderfläche  zieht,  ge- 
nauer jedoch ,  wenn  man  dieselben  durch  den  Kreuzungspunkt  der 
Richtungslinien  gezogen  denkt,  welche  dann  eben  jene  gerade  Linien 
selbst  sind. 


Sind  a  und  c  (in  beistehender  Figur  nach  Volkmann)  die  Endpunkte 
der  Dimension  des  Objectes,  für  welche  die  entsprechende  Grösse  des 
Netzhautbildes  zu  suchen  ist,  so  wird,  falls  ihre  Verbindungslinie  oc  senk- 
recht (normal)  auf  der  Sehachse  on  steht,  und  x  der  Kreuzungspunkt 
der  Sichtungslinie  ist,  der  Abstand  zwischen  6  und  d  die  gesuchte  Di- 
mension des  Netzhautbildes  sein.  Denn  wird,  was  ohne  erhebliche  Fehler 
geschehen  kann,  bd  als  gerade  Linie  normal  auf  der  Sehachse  stehend  an- 
genomen,  so  sind  die  Dreiecke  axc  und  dxb  sich  ähnlich,  und  es  verhält 


sich  ac  :  db  :  mx :  ox,   mihin    db  =■ 


ac  .  ox 


ac  .  ox 


.  Nimmt  man  nach 
mx  xn-\-nm 

Volkmann  ox  =  6,23"'  und  nx  =..  3,9t"  an,  so  ist  bloss  nm  und  ac 
durch  Messung  zu  bestimmen.  Wenn  jedoch,  woran  kaum  zu  zweifeln' 
da  auch  Mosers  Berechnungen  dafür  sprechen,  der  Kreuzungspunkt  der 
Richtungslinie  (der  mittlere  Knotenpunkt)  noch  nahezu  */a  Linie  vor 
dem  hintern  Pole  der  Linse  liegt,  so  muss  bei  einem  Auge  von  10'"  in- 
nerem Durchmesser  (von  der  Macula  lutea  bis  zum  Centrum  der  Desce- 
met'schen  Haut)  ox  auf  mindestens  6,5'",  dagegen  nx  höchstens  auf  3, 5'" 
angeschlagen  werden,  wodurch  die  Dimension  des  Netzhautbildes  merklich 
grösser   ausfällt.  —  Liegt    ein  Gegenstand  dem  Auge  näher,    so   wird   er 


Pkysiolosie.  41 

(wie  in  obiger  Figur  z.  B.  ef)  trotz  bedeutend  geringerer  Grösse  dennoch 
ein  gleich  grosses  Bild  entwerfen,  sobald  Grösse  und  Entfernung  in  einem 
bestimmten  Verhältnisse  zu  einander  stehen.  Bei  einer  Entfernung  von 
10  Zoll  ist  das  Netzhautbild  gegen  16mal  kleiner,  als  das  Object  (Volk- 
mann) ,  demnach  bei  einer  Objectdistanz  von  5  Zoll  vor  der  Hornhaut 
ohngefähr  8mal  kleiner  (linear).  Ein  kleiner  naher  Gegenstand  kann  dem- 
nach einen  entfernten  grössern  vollständig  decken  (unsichtbar  machen), 
wenn  der  Sehwinkel  für  den  einen  und  den  andern  derselbe  ist.  Man  sagt, 
zwei  Gegenstände  haben  dieselbe  scheinbare  Grösse,  wenn  sie  unter  gleich 
grossem  Sehwinkel  erscheinen ,  wenn  ihre  Bilder  einen  gleich  grossen 
Raum  auf  der  Netzhaut  einnehmen.  Ist  uns  die  objeetive  (durch  Maasse, 
Linien,  Zolle  etc.)  bestimmbare  Grösse  eines  Gegenstandes  bekannt,  dann 
schliessen  wir  aus  der  Abnahme  der  scheinbaren  Grösse  auf  die  Entfer- 
nung. Die  scheinbare  Grösse  eines  Gegenstandes  wird  aber  auch  kleiner, 
wenn  derselbe  bei  gleicher  Entfernung  des  von  der  verlängerten  Sehachse 
getroffenen  Punktes  desselben  aus  der  normalen  in  eine  schiefe  Stellung 
zur  Sehachse  gebracht  wird  (wie  in  obiger  Figur  gh,  welches  eben  so 
lang  ist,  als  ac).  Die  wahre  oder  objeetive  Grösse  eines  Gegenstandes 
schätzen  wir  daher  nach  der  scheinbaren,  i.  e.  nach  der  Grösse  des  Netz- 
hautbildes oder  der  Summe  der  getroffenen  Netzhautelemente  und  nach 
der  anderweitig  ermittelten  Entfernung.  Werden  wir  über  die  Entfernung 
getäuscht,  oder  fehlen  uns  alle  Anhaltspunkte  zur  Ermittelung  derselben, 
so  ist  auch  unser  Urtheil  über  die  objeetive  Grösse  sehr  subjeetiv.  Die 
Lage  des  Kreuzungspunktes  der  Richtungslinien  ist  keine  unveränderliche, 
wenigstens  nicht  relativ  zur  Netzhaut.  Beim  Betrachten  naher  Objecte 
rückt,  wie  wir  nachweisen  werden,  die  Macula  lutea  weiter  rückwärts, 
wird  demnach  in  obiger  Figur  ox  grösser.  Dieser  Veränderung  werden 
wir  uns  aber  durch  das  Gefühl  der  zu  dieser  Accommodation  nöthigen 
Muskelanstrengung  bewusst.  Halten  wir  dagegen  eine  massig  starke  Con- 
vexlinse  vor  das  Auge ,  so  fällt  der  Kreuzungspunkt  der  Richtungslinien 
im  Auge  weiter  vorwärts,  die  oben  mit  ox  bezeichnete  Grösse  wächst, 
mithin  auch  die  mit  bd  bezeichnete  Ausdehnung  des  Netzhautbildes,  der 
Gegenstand  erscheint  grösser,  und  die  Correctur  durch  das  Muskelgefühl 
fehlt.  Eine  Concavbrille  bewirkt  das  Gegentheil,  sobald  ihre  (negative) 
Brennweite  nicht  so  stark  ist,  dass  sie  die  einem  Lichtkegel  angehörenden 
Strahlen  zu  weit  hinter  der  Netzhaut  vereinigt  und  zu  grosse  Zerstreuungs- 
kreise bewirkt.  Bei  Kurzsichtigen  ist  ox-  immer  grösser,  als  im  normalen 
Auge,  weil,  wie  wir  unten  nachweisen  werden,  das  Centrum  der  Netzhaut 
überhaupt    weiter  hinter   der   Cornea  und  Linse  liegt ;    ist  dabei  die  Em- 


42  Netzhaut. 

pfindlichkeit  der  Netzhaut  und  die  Durchsichtigkeit  der  Medien  ungestört 
(reine  Kurzsichtigkeit),  so  ist  auch  bd  immer  grösser,  als  in  normalen 
Augen,  und  werden  zwei  Punkte,  die  für  ein  normales  Auge  zu  nahe  an 
einander  liegen,  als  dass  sie  noch  durch  gesonderte  Bilder  vertreten  wer- 
den können,  im  kurzsichtigen  Auge  noch  gelrennt  abgebildet  und  em- 
pfunden, wenn  nur  die  Netzhaut  in  oder  doch  nahe  an  dein  Vereinigungs- 
punkte der  Strahlen  des  betreffenden  Lichtkegels  liegt.  In  diesem  Sinne 
hat  das  kurzsichtige  Auge  (für  hinreichend  nahe  Objecte)  ein  feineres  oder, 
wie  man  gewöhnlich  sagt,    ein  schärferes  Gesicht. 

Der  kleinste  Sehwinkel,  unter  welchem  weisse  Punkte  auf  schwarzem  Grunde 
noch  sichtbar  waren,  betrug  nach  Huek  2,6  Secunden,  für  weisse  Striche  nur  1,2  Se- 
cunden.  Einen  Spinnenfaden  erkannte  Huek  sogar  unter  einem  Winkel  von  0,6",  einen 
glänzenden  Draht  unter  0,2".  Volkmann  spannte  zwei  Spinngewebfäden  in  paralleler 
Richtung  und  in  einer  Distanz  von  0,0052  Zoll  neben  einander  auf,  und  fand,  dass  er 
(als  Kurzsichtiger)  dieselbe  bis  auf  7  Zoll  Entfernung  als  zwei  erkannte,  aber  nicht 
weiter.  Er  berechnete  die  Distanz  der  Netzhautbildchen  für  diesen  Fall  auf  0,00037" 
oder  0,0()2i4'".  Zwei  schwarze  parallele,  0,016"  von  einander  abstehende  Linien  auf 
weissem  Grunde  erkennt  Volkmann  mit  Hilfe  der  Brille  auf  27"  Entfernung.  In  diesem 
Falle  ist  die  Distanz  der  Netzhautbildchen  0,00029".  Demnach  war  der  Diameter  der 
kleinsten  wahrnehmbaren  Distanz  für  sein  Auge  gegen  lOmal  grosser,  als  der  Diameter 
des  kleinsten  noch  wahrnehmbaren  Netzhautbildchens.  —  Fragt  man,  ob  das  Unter- 
scheiden zweier  Gesichtseindrücke  darauf  beruhe,  dass  zwei  verschiedene  Netzhaut- 
elemente getroffen  werden,  oder  ob  auch,  wie  Volkmann  anzunehmen  geneigt  ist.  zwei 
Netzhautbilder,  auf  dasselbe  Netzhautelement  fallend,  noch  als  different  unterschieden 
werden  können,  so  müssen  wir  die  Antwort  schuldig  bleiben,  weil  wir  noch  nicht 
wissen,  welche  Netzhautelemente  eigentlich  bei  Aufnahme  der  Atherschwingungen  zu- 
nächst betheiligt  sind,  und  weil  die  Feinheit  des  Gesichtssinnes  durch  Übung  so  gut  ge- 
steigert werden  kann,  wie  die  Feinheit  der  übrigen  Sinne. 

Die  Energie  der  Netzhaut  kann  durch  zu  intensive  oder  über- 
massig lange  dauernde  Erregung  plötzlich  oder  alhnälig  erschöpft,  durch 
entsprechende  Übung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  gesteigert  wer- 
den ;  sie  sinkt  durch  lange  NichtÜbung  um  so  mehr,  je  früher  (in  den 
Kinderjahren)  ihre  Ausschliessung  vom  Sehen  stall  findet.  Wenn  das  eine 
Auge  lange  nicht  zum  Sehen  verwendet  worden  ist,  so  vermag  es  weder 
so  feine  Objecte  zu  erkennen  und  zu  unterscheiden,  wie  das  geüble,  noch 
hält  es  die  Betrachtung  erkennbarer  kleiner  Gegenstände  gleich  lan<>'  aus; 
es  hält  überdiess  letzlere  auch  in  der  Regel  für  kleiner  und  minder  hell  be- 
leuchtet. Ein  junger  Mann,  als  Chemiker  in  physicalischen  Dingen  wohl  be- 
wandert, zur  Betrachtung  feiner  Objecte  sich  (wahrscheinlich  von  Jugend  auf) 
nur  des  rechten  Auges  bedienend,  konnte  mit  dein  übrigens  völlig  normalen 
linken  Auee  nichl  bis  zu  so    kleiner  Druckschrift  aufsteigen,  wie  mit  dem 


Physiologie.  43 

rechten,  hielt  das  Lesen  mit  dem  linken  nicht  so  lange  ans,  und  machte 
in  meiner  Gegenwart  die  für  ihn  überraschende  Bemerkung,  dass  ihm  die 
mit  dem  linken  Auge  allein  gelesene  Schritt  kleiner  vorkam,  als  wenn  er 
sie  mit  dem  rechten  Auge  allein  oder  mit  beiden  zugleich  betrachtete. 
Verschiedene  Farben  erschienen  ihm,  mit  dem  linken  Auge  allein  betrachtet, 
weniger  hell ;  mit  dem  rechten  Auge  allein  sah  er  etwas  deutlicher,  als 
mit  beiden  zugleich.  Die  Möglichkeit,  in  solchen  Fällen  durch  methodische 
Übung,  wenn  nicht  völlig,  so  doch  nahezu  gleiche  Energie  der  Sehkraft 
herzustellen,  reicht  wohl  hin  zu  beweisen,  dass  weder  in  der  Netzhaut,  noch 
in  dem  dioplrischen  Apparat  oder  in  den  muskulösen  Gebilden  sogenannte 
organische  Veränderungen  zu  Grunde  liegen,  um  so  mehr,  als  auch  die 
Energie  der  übrigen  Sinnesnerven,  besonders  in  früher  Jugend,  durch 
Übung  bis  zu  einem  kaum  glaublichen  Grade  gesteigert  werden  kann.  — 
Innerhalb  gewisser  Grenzen  wächst  mit  der  Intensität  des  Lichtes  die 
Stärke  der  Lichtempfindung.  Wahrscheinlich  müssen  die  durch  die  Äther- 
wellen  erregten  Netzhautschwingungen  eine  gewisse  Stärke  erreicht  haben, 
bevor  sie  im  Stande  sind,  Empfindung  zu  erregen;  haben  sie  diese  er- 
reicht, so  erhöht  sich  allmälig  mit  der  Intensität  der  Schwingungen  die 
Empfindung;  bei  fortgesetzter  Steigerung  tritt  Blendung  ein,  analog  dem 
Schmerze.  Die  Empfindlichkeit  der  Retina  gegen  weisses  Licht  sowohl 
als  gegen  farbiges  nimmt  mit  der  Dauer  ihrer  Einwirkung  auf  dieselbe 
ab,  und  zwar  um  so  rascher,  je  beträchtlicher  die  Intensität  des  Lichtes 
war.  Rücksichtlich  des  gefärbten  Lichtes  ist  hierbei  bemerkenswerth,  dass 
durch  die  anhaltende  Einwirkung  einer  Farbe  die  Empfindlichkeit  der 
Retina  nur  für  diese,  nicht  aber  zugleich  für  andere  Farben  abgestumpft 
wird.     (Ludwig.') 

Die  Netzhaut  ist  bei  offenem  Auge  stets  mit  Bildern  von  so  viel  Ob- 
jecten  bedeckt,  als  neben  einander  Lichtstrahlen  zu  ihr  senden  können. 
Je  entfernter  ein  Object,  desto  kleiner  das  ihm  entsprechende  Bild.  Auf 
der  circa  297  Quadratlinien  messenden  Oberfläche  der  Netzhaut  ist  daher 
immer  ein  aliquoter  (beiläufig  der  dritte)  Theil  der  uns  umgebenden  Ob- 
jecte  abgebildet,  und  es  ist  in  diesen  engen  Rahmen  stets  ein  Ausschnitt 
bald  des  Firmaments  und  der  Erdoberfläche ,  bald  der  engen  Stube,  die 
wir  bewohnen,  eingezeichnet.  Stellen  wir  uns  vor  eine  grosse  Mauer,  so 
können  wir  dieselbe  ganz  aufnehmen,  sobald  wir  gehörig  weit  entfernt 
sind;  so  wie  wir  uns  nähern,  den  Blick  unverrückt  auf  einen  fixen  Punkt 
heftend,  so  verengert  sich  die  Scheibe,  die  wir  übersehen,  mit  allmälig 
verschwindender  Peripherie.  Wir  nennen  die  Summe  der  Objecte,  welche 
bei   ruhig   gehaltenem    Auge  neben    und    hinter    einander    wahrgenommen 


44  Netzhaut. 

werden  können,  das  Sehfeld.  Geben  wir  dem  Auge  eine  solche  Stellung, 
dass  die  Pupille  etwas  jenseits  der  Mitte  der  Lidspalte  steht,  mithin  der 
Nasenrücken  nicht  hinderlich  wird,  so  finden  wir,  dass  das  Sehfeld  von 
dem  fixirten  Punkte  nach  der  Schläfeseite  hin  sich  weiter  ausdehnt,  als 
nach  der  Nasenseite,  offenbar  desshalb,  weil  an  der  Nasenseite  die  Netz- 
haut weiter  nach  vorn  reicht,  und  die  Iris  etwas  schmäler  ist,  als  an  der 
Schläfenseite.  Denn  die  äusserste  Grenze  nach  vorn,  bis  zu  welcher 
der  dioptrische  Apparat  Bilder  entwerfen  kann,  ist  auch  bei  weiter  Pu- 
pille die  Ora  serrata ;  auf  das  Corpus  ciliare  kann  niemals  ein  durch 
die  Cornea  und  Linse  entworfenes  Bild  fallen.  Durch  die  Zusammen- 
wirkung beider  Augen  erhält  das  gemeinschaftliche  Seh-  oder  Gesichts- 
feld eine  grössere  Ausdehnung  nach  links  und  rechts,  so  dass  wir  bei 
gradaus  gerichtetem  Blicke  beinahe  die  Hälfte  des  uns  umgebenden  Ge- 
sichtskreises übersehen. 

Im  Sehfelde  ist  es  immer  nur  ein  relativ  kleiner  Theil,  um  den  End- 
punkt der  verlängert  gedachten  Sehachse  gelegen,  den  wir  so  deutlich 
sehen,  als  es  die  Entfernung  und  Beleuchtung  der  Objecte  gestattet.  Der 
Grund  dieser  merkwürdigen  Thatsache  liegt  nicht  darin,  dass  wir  etwa  die 
Aufmerksamkeit  nur  immer  einem  einzigen  Objecte  zuwenden  können, 
denn  wir  sind  im  Stande,  die  Aufmerksamkeit  gerade  von  dem  in  der 
Sehachse  liegenden  Objecte  ab-  und  auf  ein  seitlich  gelegenes  Object  zu 
lenken.  Zum  Theil  kann  man  ihn  darin  suchen,  dass  für  eine  bestimmte 
Entfernung  der  Objecte  nur  die  Macula  lutea  in  der  Vereinigungsweite 
liegen,  also  nur  in  und  nächst  der  Sehachse  liegende  Objecte  scharf  be- 
grenzte Bilder  auf  der  Netzhaut  entwerfen  können,  während  mehr  seitlich 
gegen  die  Ora  serrata  gelegene  Netzhautpartien  immer  nur  mehr  weniger 
verwischte  Bilder  empfangen.  Für  diese  Ansicht  kann  man  auch  geltend 
machen,  dass  von  gerade  vor  dem  Auge  befindlichen  Objecten  ceteris  pa- 
ribus  mehr  Licht  durch  die  Pupille  eindringen  kann,  als  von  mehr  seitlich 
gelegenen.  Die  Untersuchungen  von  H.  Müller  und  Kölliker  machen  es 
indess  höchst  wahrscheinlich,  dass  im  Bau  der  Netzhaut  selbst  der  wich- 
tigste Grund  zu  suchen  sei,  dass  die  Sensibilität  in  der  Netzhaut  selbst 
ungleich  vertheilt  sei,  analog  der  Vertheilung  des  Tast-  und  Geschmack- 
sinnes. Gleichwie  nach  E.  H.  Webers  Untersuchungen  z.  B.  zwei  Zinken 
einer  Gabel  an  den  Fingerspitzen  schon  bei  sehr  geringem  Abstände  von 
einander  als  zwei  wahrgenommen  werden  können,  während  sie  immer 
weiter  von  einander  abstehen  müssen,  wenn  sie  auf  dem  Handrücken,  am 
Oberarm,  am  Nacken  noch  als  getrennt  empfunden  werden  sollen,  scheint 
auch  die  Netzhaut  so  organisirt   zu    sein ,    dass   zwei    Bildchen,    von  zwei 


Physiologie.  45 

leuchtenden  Punkten  im  Sehfelde  entworfen,  auf  der  Manila  lutea  noch 
als  getrennt  wahrgenommen  werden,  während  sie,  je  weiter  gegen  die 
Peripherie  hin  entworfen,  desto  mehr  auseinander  gerückt  sein  müssen,  um 
noch  als  zwei  unterschieden  zu  werden. 

Sind  die  Angaben  über  die  Vertheilung  der  Zapfen  in  der  Stäbcbenschicht  richtig-, 
so  wäre  bei  Erklärung  der  genannten  Thatsache  wohl  vor  allem  an  diese  zu  denken. 
Dass  die  Oplicusfascrn  der  Netzhaut,  welche  gleichfalls  gegen  die  Peripherie  hin  all— 
mälig  abnehmen,  nicht  als  die  aufnehmenden,  sondern  nur  als  leitende  Elemente  in  An- 
spruch genommen  werden  können,  ergibt  sich  aus  dem  Umstände,  dass  sie  im  centra- 
len Theile  vielfach  über  einander  liegen,  dass  sie  mitten  in  der  Macula  lutea  fehlen,  dass 
die  Pupilla  nervi  optici  zur  Lichtperception  wenig,  nach  Helmhoh  gar  nicht  geeignet 
ist,  und  dass  rein  centrale  Retinalamaurosen  mit  nachweisbarer  Veränderung  der  Macula 
lutea  vorkommen.  Biegen  die  Opticusfasern  um  die  desorganisirte  Macula  lutea  herum, 
dann  ist  wenigstens  begreiflich,  wie  in  solchen  Fällen  jenseits  (gegen  die  Schläfe  hin) 
gelegene  Netzhautpartien  noch  fungiren  können. 

Auf  der  eben  besprochenen  Einrichtung  des  Auges  beruht  der  Unter- 
schied zwischen  dem  sogenannten  directen  und  indireclen  Sehen.  Indem 
ich  schreibe  oder  lese,  kann  ich  nur  einen  kleinen  Theil  der  Zeile  mit 
Einem  Blicke  deutlich  (direct)  sehen,  und  muss  die  Macula  lutea  nach 
und  nach  den  Stellen,  welche  deutlich  gesehen  werden  sollen,  gegenüber 
bringen.  Dabei  nehme  ich  die  Umgebung  des  deutlich  Gesehenen  durch 
indirectes  Sehen  wahr,  welches  je  weiter  gegen  die  Grenzen  des  Seh- 
feldes desto  minder  deutliche  Wahrnehmungen  gestattet,  selbst  dann,  wenn 
ich  meine  Aufmerksamkeit,  nicht  aber  die  Sehachse,  auf  ein  solches  seit- 
lich gelegenes  Object  lenke. 

Das  directe  Sehen  gibt  uns  das  Bild  eines  Objectes,  das  indiiecte 
vermittelt  vorzüglich  das  Auffassen  des  Räumlichen,  des  Neben-,  Über- 
und  grösstenteils  auch  des  Hinter  einander  s  eins  der  Objecte  im  Sehfelde. 
Viele  behaupten,  dass  wir  nur  das  Weben-  und  Übereinandersein  der  Ob- 
jecte unmittelbar  mit  dem  Blicke  auffassen,  dass  die  Wahrnehmung  der 
dritten  Dimension  (Tiefe,  Entfernung  vor  uns)  erst  durch  andere  Hilfs- 
mittel zu  Stande  gebracht  werde.  Es  ist  aber  die  Wahrnehmung  der  Ent- 
fernung der  Hauptsache  nach  schon  in  dem  directen  und  indirecten  Sehen 
in  der  gleichzeitigen  Erregung  der  peripherischen  Netzhautpartien  gegeben, 
wenn  gleich  in  dem  Muskelgefühl  (behufs  der  Convergenz  der  Sehachsen 
und  der  Accommodation)  und  in  der  Erinnerung  an  bereits  gemachte 
Wahrnehmungen  wichtige  Unterstützungs-  und  Controllmittel  liegen.  Was 
im  Sehfelde  neben  und  übereinander  liegt,  ist  auch  auf  der  Netzhaut  neben 
und  über  einander  abgebildet,   sobald   es   Licht    dahin   senden    kann,   und 


46  Netzhaut. 

wird  in  dieser  räumlichen  Anordnung-  wahrgenommen.  Auf  der  concar>en 
Netzhautfläche  ist  aber  gleichzeitig  auch  die  Abbildung  hinter  einander 
gelegener  Objecte ,  also  die  Abfassung  der  dritten  Dimension  möglich, 
sobald  der  näher  liegende  Gegenstand  nicht  alles  Licht,  das  der  entferntere 
zum  Auge  senden  kann,  abhält.  Wäre  die  Netzhaut  plan,  statt  concar, 
dann  würden  wir  in  der  Auffassung  der  dritten  Dimension  bloss  auf 
das  Muskelgefühl '.,  die  bekannte  Grösse  und  Beleuchtung  der  Objecte 
u.  s.  w.  angewiesen  sein. 

Was  unmittelbar  vor  meinen  Füssen  ist,  wirft  ein  Bild  auf  den  vordem  Theil  der 
ob'ern  Hälfte  der  Netzhaut;  was  einige  Schritte  vor  mir  liegt,  ist  auf  der  Netzhaut  eben 
daselbst  etwas  weiter  hinten  abgebildet,  und  so  fort  bis  zu  dem  Punkte  des  Sehfeldes, 
den  ich  fixire.  So  kann  ich  auf  unbekanntem  Wege  fortschreiten,  ohne  meinen  Blick 
an  den  Pfad  zu  fesseln ;  die  obere  Hälfte  meiner  Netzhaut  rapportirt  mir  bei  nur  eini- 
ger Aufmerksamkeit  jedes  Hinderniss  am  Wege,  so  wie  die  innere  Hälfte  mich  augen- 
blicklich zum  Schliessen  der  Lider  bestimmt,  wenn  etwa  ein  Insect  von  der  Seite  her 
sich  dem  Auge  nähert.  In  stockfinsterer  Nacht  oder  in  einem  langen  Stollen  sind  wir 
nicht  im  Stande  zu  bestimmen,  wie  weit  entfernt  ein  Licht  sei,  wenn  die  zwischen- 
liegenden Objecte  nicht  beleuchtet  sind,  gleichviel  ob  wir  ein  oder  beide  Augen  offen 
haben.  Selbst  wenn  uns  die  (irüsse  und  Helligkeit  der  Flamme  bekannt  ist,  vermögen 
wir  mit  nur  geringer  Wahrscheinlichkeit  auf  ihre  Entfernung  zu  schliessen,  sobald  die 
Wahrnehmung  der  zwischenliegenden  Objecte  fehlt.  Dein  bekannten  Beispiele  vom 
Danebengreifen  beim  Lichtputzen,  wenn  das  eine  Auge  geschlossen  wird,  lässt  sich  das 
andere  entgegenstellen,  dass  die  meisten  Jäger  beim  Zielen  das  zweite  Auge  schliesseti. 
Stellen  wir  uns,  ein  Auge  verdeckend,  vor  ein  Doppelfenster  so,  dass  der  innere  (nä- 
here) verticale  Stab  den  äussern  verdeckt,  so  wird  letzterer  augenblicklich  sichtbar, 
wie  wir  das  verdeckte  Auge  öffnen.  Der  entferntere  Stab  wird  dabei  nur  mit  dem 
früher  verdeckten  Auge  gesehen.  Derselbe  Versuch  an  den  horizontalen  Stäben  vor- 
genommen, kann  diese  Erscheinung  natürlich  nicht  darbieten.  Dieser  Versuch  zeigt, 
wie  viel  und  auf  welche  Weise  das  zweite  Auge  zur  Beurtheilung  der  Entfernung  bei- 
tragen kann.  —  Am  Anfange  einer  grossen  Ebene  stehend,  welche  am  Ende  durch 
einen  Berg  begrenzt  wird,  sind  wir  nicht  im  Stande,  die  Länge  der  Ebene  (Entfernung 
des  Berges  von  unbekannter  Grösse)  zu  schätzen,  weil  gerade  Linien  von  einzelnen 
Punkten  der  Ebene  durch  den  Kreuzungspunkt  der  Richtungslinien  gezogen  auf  eine 
unverhältnissmässig  kurze  Strecke  der  Netzhaut  fallen ;  beschauen  wir  aber  dieselbe 
Ebene  von  dem  Berge  aus,  so  schätzen  wir  ihre  Länge  gewiss  viel  richtiger,  weil  jetzt 
einzelne  Punkte  (Objecte)  derselben  neben,  eigentlich  hinter  einander  auf  der  obern 
Netzhauthälfte  abgebildet  werden  können.  Stellen  wir  uns  an  das  Ufer  eines  eben  so 
laugen  Sees,  wie  die  eben  supponirte  mit  mannigfachen  Objecten  besetzte  Ebene,  so 
schlagen  wir  auch  bei  gleicher  Höhe  unseres  Standpunktes  über  dein  Wasserspiegel 
wie  früher  über  die  Ebene,  die  Länge  des  Sees  geringer  an,  als  die  der  Ebene.  Es 
mag  uns  diese  Thatsache  auf  den  ersten  Blick  vielleicht  ebenso  überraschen,  als  wenn 
wir  zum  ersten  Male  hörten,  es  können  auf  der  Oberfläche  eines  Berges  nicht  mehr 
Bäume  stehen,  als  auf  der  Ebene,  welche  der  horizontalen  Grundfläche  des  Berges 
gleicht;    und   doch   ist    eins    so    richtig,    als    das    andere.  —    Einen  von  Dave  geführten 


Physiologie.  47 

Beweis  dafür,  dass  wir  die  sogenannte  dritte  oder  Tiel'cndimcnsion  des  Baumes  (der 
Körper)  ohne  Mitwirkung  der  Muskelthiitigkeit  aufzufassen  vermögen,  werden  wir  beim 
Besprechen  des  Einfachsehens  mit  zwei  Augen  anführen. 

So  wie  das  dircete  und  indirecte  Sehen  sich  gegenseitig  unterstützet 
und  ergänzen,  so  stellen  sie  auch  in  einem  gewissen  Gegensätze  zu  ein- 
ander. Seilen  wir  durch  ein  dünnes  Rohr,  oder  schliessen  wir  die  Er- 
regung der  peripherischen  Netzhautpartie  dadurch  aus,  dass  wir  eine  dunkle 
Scheibe  mit  einer  kleinen  Öffnung  nahe  vor  das  Auge  halten,  so  macht 
die  ausschliessliche  Erregung  der  centralen  Netzhautpartie  einen  viel  stär- 
keren Eindruck,  lässt  das  Object  nicht  nur  schärfer,  sondern  auch  heller 
hervortreten.  Wird  dagegen  beim  Fixiren  eines  Objectes  eine  seitlich  ge- 
legene Netzhautpartie  durch  ein  stärker  leuchtendes  Object,  z.  B.  ein 
Kerzenlicht,  eine  spiegelnde  Fläche  angeregt,  so  erscheint  das  fixirle  Ob- 
ject minder  deutlich.  Unverhältnissmässig  starke  Erregung  der  zum  di- 
recten  Sehen  dienenden  Netzhautpartie  ist  nicht  minder  nachtheilig,  als  das 
Gegentheil.  Auf  dieses  Gesetz  basiren  sich  die  Vorschriften  über  die  Be- 
leuchtung der  Objecte  des  Sehfeldes,  durch  deren  Nichtbeachtung  eine 
Menge  gesunder  Augen  verdorben  werden.  Am  meisten  Verstösse  gegen 
diese  Vorschriften  werden  von  jenen  begangen ,  welche  ihre  Augen  viel 
zu  feinen  Arbeiten  verwenden,  besonders  bei  künstlicher  Beleuchtung  (mit 
vorwaltenden  gelben  und  rothen  Strahlen).  Bald  fehlt  man  daiin,  dass 
man  alles  Licht  auf  das  Object  des  directen  Sehens  concentrirt  und  das 
übrige  Sehfeld  nahezu  dunkel  lässt,  bald  dadurch,  dass  man  durch  zu  nie- 
drig gestelltes  Licht,  durch  zur  Seite  oder  unten  befindliche,  zu  viel  Licht 
reflectirende  (spiegelnde)  Objecte  die  peripherischen  Netzhautpartien  zu 
stark  erregt.  *) 

Die  Einrichtung  des  Auges,  dass  vermöge  des  dioptrischen  Apparates 
nur  in  der  Gegend  des  hintern  Poles  die  relativ  schärfsten  und  hellsten 
Bilder  entworfen  werden  können,  und  dass  die  Empfindlichkeit  der  Netz- 
haut von  der  Ora  serrata  gegen  die  Macula  lutea  hin  gradatim  zunimmt, 
in  dieser  selbst  aber  am  grössten  ist,  zwingt  uns  nach  dem  allgemeinen 
Gesetze,  dass  Reflexbewegungen  erfolgen,  um  eine  Function  möglichst 
vollkommen  vor  sich  gehen  zu  machen,  schon ,  in  früher  Kindheit,  den 
hintern  Pol  des  Auges  jenem  Objecte  des  Sehfeldes  gegenüber  zu 
stellen,  welches  eben  die  Netzhaut  vorwaltend  erregt  und  Gegenstand  der 
Aufmerksamkeit  wird.     Da  nun  dieses  in  jedem   Auge  für  sich  in  gleicher 

*)  Ob  der  Gebrauch  der  von  Donders  bei  Hornhauttrübungen  vorgeschlagenen  stenopäischen  Brillen,  welcher  mir 
gegen  dieses  GeseU  zu  Verstössen  scheint,  nach  längerer  Zeit  nicht  etwa  der  Netzhaut  nachtheilig  werden  könne, 
muss  vorläufig  der  Ermittelung  durch   Erfahrungen  überlassen  werden. 


48  Netzhaut. 

Weise  geschieht,  mithin  die. Sehachse  eines  jeden  Auges  auf  das  Ohject 
gerichtet  werden  muss,  so  ergibt  sich  als  Folge  der  genannten  Einrich- 
tung die  correspondirende  Stellung  und  Bewegung  der  Augen  zum  Ob- 
jede  des  directen  Sehens.  Schon  in  den  ersten  Lebenstagen  erfolgen 
concomitirende  Bewegungen  beider  Bulbi ;  beide  werden  gleichzeitig  links, 
rechts,  nach  oben  u.  s.  w.  gerollt.  Diese  Bewegungen  müssen  als  aus  einem 
angeborenen  Verhältnisse  der  betreffenden  Nerven  zu  den  Centralorganen 
hervorgehend  betrachtet  werden.  Sie  erfolgen  zunächst  unabhängig-  von 
Erregung  der  Netzhaut  durch  äussere  Objecte,  und  unabhängig  vom  Wil- 
lenseinflusse. Reflexbewegungen,  angeregt  durch  Sinneseindrücke  (auf 
das  Seh-  oder  Hörorgan)  erscheinen  erst  dann,  wenn  es  bereits  zur  Bil- 
dung von  Vorstellungen,  zur  Erinnerung  an  schon  gehabte  Eindrücke  ge- 
kommen ist.  Durch  den  Einfluss  der  Sinneseindrücke  mittelst  Reflexwir- 
kung auf  die  Muskeln  des  Auges  wird  die  Stellung  und  Bewegung  des- 
selben dem  Sehen  untergeordnet,  die  concomitirenden  Bewegungen  erfolgen 
nicht  mehr  automatisch,  sondern  durch  den  Reflexeinfluss  von  der  Netz- 
haut aus  beherrscht  als  assoeiirte,  dem  Sehacte  dienende  und  durch  den- 
selben geregelte.  Müssen  aber  die  Sehachsen  aus  dem  oben  angegebenen 
Grunde  jenem  Objecte ,  welches  die  Aufmerksamkeit  vorwaltend  erregt, 
notwendiger  Weise  zugewendet  werden ,  dann  macht  der  Wechsel  in 
der  Entfernung  des  Objectes  nebst  den  assoeiirten  noch  eine  andere  Art 
von  Bewegungen  nothwendig,  die  der  gleichnamigen  Muskeln,  welche  jener 
der  gleichseitigen  (links,  rechts  etc.)  entgegen  gesetzt  ist,  ohne  sie  aus- 
zuschliessen.  Es  ist  diess  die  aecommodative  Bewegung,  welche  bewirkt, 
dass  die  Sehachsen  bald  näher  bald  weiter  vor  dem  Auge  sich  in  dem  Ob- 
jecte treffen,  gleichviel  ob  die  Bulbi  vorwärts,  links,  rechts,  auf-  oder  abwärts 
gerichtet  sind.  Die  concomitirenden  Bewegungen  sind ,  weil  auf  einem 
angeborenen  Verhältnisse  beruhend,  schon  beim  Neugeborenen  vorhanden, 
und  gehen  nie  verloren,  ausser  wenn  die  Muskeln  spastisch  oder  paraly- 
tisch afficirt  werden.  Ihre  Umgestaltung  zu  assoeiirten  und  das  Auftreten 
der  aecomodativen  Bewegungen  hängt  von  der  Entwickelung  und  Integri- 
tät der  Netzhautthätigkeit  ab.  Blindgeborene  und  frühzeitig  Erblindete 
zeigen  stets  nur  concomitirende  Augenbewegungen.  Augen,  deren  Function 
von  früher  Jugend  an  beträchtlich  gestört  ist,  z.  B.  durch  Hornhautnarben, 
unvollständige  Linsentrübung,  Netzhautabnonnitäten,  bieten  nebst  assoeiir- 
ten auch  aecommodative  Bewegungen  dar,  aber  beide  meist  ungeregelt 
und  unstät.  Bleibt  aber  die  Function  auch  nur  des  einen  Auges  intact, 
so  sind  die  assoeiirten  Bewegungen  beider  Augen  geregelt,  und  die  hc- 
conunodativen  des  erkrankten  fehlen  nur  dann,   wenn  seine  Function  früh- 


Physiologie.  4J) 

zeitig  beeinträchtigt  wurde  oder  völlig  verloren  ging1.  Diess  beweist,  <l;iss 
der  durch  Reflex  hervorgerufene  Impuls  zu  den  Bewegungen  jederzeit  vom 
Centralorgane  auf  beide  Augen  zugleich  gerichtet  ist,  wie  wir  diess  be- 
reits bei  den  Irisbewegungen  kennen  gelernt  haben.  Später ,  wenn  der 
Wille  die  Muskeln  influenzirt,  sind  nicht  nur  die  assoeiirten,  sondern  auch 
die  aecomodativen  Bewegungen  bereits  in  ein  so  stabiles  Verhältniss  zu 
einander  getreten,  dass  es  ihm  nur  schwer  gelingt,  sicli  gegen  dasselbe 
geltend  zu  mächen.  Im  Allgemeinen  ist  es  unmöglich,  ein  Auge  allein 
nach  einer  andern  Richtung  als  das  andere  zu  bewegen.  Wir  können  für 
gewöhnlich  nur ,  wie  es  nach  den  Gesetzen  der  Association  und  Accom- 
modation  gleiehsam  vorgezeichnet  ist,  die  gleichseitigen  oder  die  gleichna- 
migen Muskeln  zugleich  durch  den  Willen  in  Thätigkeit  setzen.  Indem  je  - 
doch ,  wie  schon  bemerkt ,  die  assoeiirte  Thätigkeit  die  aecomodative 
nicht  ausschliesst,  können  wir  auch  bei  links  ,  rechts ,  auf-  oder  abwärts 
gerichtetem  Blicke  die  Convergenz  der  Sehachsen  abändern.  Wahrend  es 
aber  dem  Willenseinflusse  nur  in  sehr  beschränktem  Maasse  gelingt,  ab- 
ändernd in  diese  Verhältnisse  einzugreifen,  z.  B.  das  eine  Auge  gradaus 
das  andere  einwärts  zu  stellen,  bewirken  Störungen  in  der  Function  der 
einen  Netzhaut  oft,  und  selbst  in  spätem  Alter  durch  Reflexaction  Abände- 
rungen (Schielen),  zum  Zeichen,  wie  wichtig  der  Einfluss  der  Netzhaut  auf 
die  Stellung  und  Bewegung  der  Augen  ist.  Ein  analoges  Verhältniss  wie 
zwischen  der  Netzhaut  und  den  dem  Sehacte  dienenden  Muskeln  findet  zwi- 
schen dem  Gehör  und  den  die  Sprache  vermittelnden  Muskeln  statt. 

Aus  diesem  Verhältnisse  der  Muskeln  zur  Netzhaut  ergibt  sich  auch 
die  bündigste  Antwort  auf  die  oft  gestellte  Frage,  warum  wir  die  Gegen- 
stände aufrecht  sehen,  da  doch  das  Bild  auf  der  Netzhaut  ein  umgekehr- 
tes ist.  Damit,  dass  man  sagt,  das  Bild  ist  nur  für  das  beschauende,  nicht 
aber  für  das  durch  die  Lichtwellen  selbst  erregte  Auge  umgekehrt,  ist 
noch  nicht  erklärt,  warum  wir  einen  Eindruck,  der  auf  einen  vom  Central- 
punkte  der  Netzhaut  links,  oben  u.  s.  w.  gelegenen  Punkt  geschieht,  im 
Bewusstsein  auf  ein  vom  Centralpunkte  des  Sehfeldes  (Ende  der  verlän- 
gerten Sehachse)  rechts,  unten  u.  s.  w.  gelegenes  Object  beziehen.  Wir 
müssen,  wie  Volkmann  bemerkt,  um  ein  auf  der  Netzhaut  links  vom  Cen- 
truin abgebildetes,  also  im  Sehfelde  rechts  liegendes  Object  zum  Gegen- 
stande des  directen  Sehens  zu  machen,  das  Auge  rechts  bewegen,  und 
werden  uns  dieser  Bewegung  bewusst.  Eben  dieses  Bewusstwerden  der 
Bewegung  ist  nothwendig,  wenn  sich  die  Begriffe  von  rechts,  links,  oben 
u.  s.  w.  entwickeln  sollen. 

Arlfs  Augenheilkunde  III,  2.  4 


50  Netzhaut. 

Ein  von  Kindheit  an  Blinder  lernte  nach  gelungener  Beseitigung  des  grauen  Stna- 
res  mit  dein  linken  Auge  sehen,  welches  einwärts  schielte.  „Für  ihn  lagen  also  die 
Gegenstände  des  deutlichsten  Sehens  hei  unangestrengtein  Auge  rechts,  und  es  bildete 
sich  bei  ihm  erfahrungsmässig  die  Vorstellung  :  die  Gegens*ände  des  deutlichsten  Sehens 
liegen  auf  der  Seite  der  rechten  Körperhälfte.  Jetzt  wurde  der  innere  Augenmuskel 
durchschnitten,  und  das  Auge  stellte  sich  unbewusster  Weise  gerade  nach  vorn..  Natür- 
lich musste  er  auch  jetzt  meinen,  der  deutlichste  Theil  des  Gesichtsfeldes  läge  nach 
rechts,  denn  das  Muskelgefühl  war  nach  wie  vor  dasselbe,  und  eben  das  Muskelgefühl 
bedingt  die  Vorstellung  der  Richtung."      Volkmann.*) 

Ist  auf  diese  Weise  die  Notwendigkeit  eingetreten,  dass  wir  ein 
Bild,  unterhalb  des  Ceritralpunktes  der  Netzhaut  entworfen,  i.  e.  eine  Er- 
regung der  Netzhaut  durch  Licht  auf  ein  Object  beziehen,  welches  im 
Sehfelde  oberhalb  der  Sehachse  liegt,  dann  wird  auch  eine  durch  Druck 
auf  den  Bulbus  gesetzte  Erregung  der  Netzhaut  so  wahrgenommen  ,  als 
ginge  sie  von  der  entgegengesetzten  Seite  aus.  Drücken  wir  auf  den 
einen  Bulbus  z.  B.  hinter  der  Insertion  des  M,  rectus  internus,  so  gelangt 
die  Erregung  der  Netzhaut  als  leuchtender  Kreis  so  zum  Bewusstsein, 
als  schwebe  derselbe  an  der  Schläfeseite  vor  dem  Auge  im  Sehfelde. 
Lässt  man  Nachts  die  Strahlen  einer  Kerzenflamme  durch  eine  Linse  von 
etwas  grösserer  Öffnung  und  massiger  Brennweite  (l/2 — 1")  gerade  in  ihrer 
Vereinigungsweite  auf  die  Sclerotien  vom  äussern  Winkel  her  einfallen, 
jedoch  etwas  mehr  als  3'"  hinter  dem  Hornhautrande,  so  sieht  das  davon 
getroffene  (stark  einwärts  zu  wendende)  Auge  einen  Lichtkreis  von  der 
Nasenseite  her  vorschweben ,  welcher  auf  und  ab  oder  vor-  und  rück- 
wärts geht,  so  wie  die  möglichst  concentrirle  Lichtscheibe  durch  Bewe- 
gung des  Brennglases  auf  der  Sclera  ab-  oder  auf-,  rück-  oder  vorwärts 
bewegt  wird.  —  Wenn  man  diese  Erscheinung  damit  bezeichnet ,  dass 
man  sagt,  die  Netzhaut  projicire  die  Empfindung  nach  aussen  durch  den 
Kreuzungspunkt  der  Richtungslinien,  so  darf  man  beim  Gebrauche  dieses 
bequemen  Ausdruckes  nie  vergessen,  dass  er  ein  figürlicher  ist.  Wer 
demnach  sagt,  wir  sehen  aufrecht,  weil  jeder  Punkt  der  Netzhaut  durch 
Licht,  Druck  u.  s.  w.  erregt,  die  Empfindung  durch  den  Kreuzungspunkt 
nach  aussen  projicirt,  der  gib!  hiermit  keine  Erklärung,  sondern  nur  eine 
leicht  verständliche  Beschreibung. 

Die  eben  besprochene  Orientirung  im  Sehfelde  setzt  voraus,  was  Volkmann,  Bu- 
rov,  Valentin  u.  A.  sichergestellt  haben,  dass  das  Auge  bei  seinen  Bewegungen  keine 
Locoinotion,  sondern  bloss  Rotationen  um  einen  fixen  Punkt  erleidet,  welcher  sich  ohn- 
gefähr    in    der    Mitte    der    Sehachse,  zwischen  dem  vordem  und  hintern  Pole  des  Auges 

')  Wagoer's  Handwörterbuch,  Sehen.  III,     B.  S.  344 


Physiologie.  51 

befindet.  Die  relative  Lage  dieses  Drehpunktes  zum  Knochengerüste  der  Orbila  bleibt 
sowohl  bei  den  associirten  als  bei  den  accommodativen  Bewegungen  der  Bulbi  iinnier 
eine  und  dieselbe.  Der  Absland  beider  Drebpunkte  von  einander  blieb  bei  Volkmann's 
Augen  constant  2,4",  während  die  Augen  sieb  den  verschiedensten  Entfernungen  zwi- 
seben  der  weitesten  Ferne  bis  zu  4"  aceoinniodirten.  Bei  verschiedenen  Individuen 
ist  der  Absland  der  Drehpunkte  (Bulbi)  von  einander  etwas  verschieden  ;  bei  einem 
und  demselben  Individuum  ändert  sich  die  Lage  nur  in  so  fern,  als  starke  Abmagerung 
ein  massiges  Zurücksinken  der  Bulbi    in  die  Orbita  zur  Folge  hat. 

Zu  den  eben  besprochenen  Verhällnissen  in  innigster  Beziehung  steht  die 
Thatsache,  dass  wir  mit  beiden  Augen  zugleich  jedes  Object  einfach  sehen, 
welches  uns    doppelt    erscheint,    sobald    die    Sehachsen  sich  nicht    in    ihm 
treffen.     Dieses  Doppeltsehen  wird    das    binoculäre    genannt,    zum   Unter- 
schiede von  dem  monoculären,  von  welchem  später    die    Rede    sein    wird. 
Es  ist  Thatsache,  dass  wir  die  Objecte,    welche    das    Sehfeld    bilden,    alle 
einfach    sehen,    sobald    die    Augen  jene    Stellung    zu    einander   behaupten, 
welche  sie  nach  dem  Gesetze  erhielten,  dass  jedes  Auge  mit  der  empfind- 
lichsten    Stelle    dem    Objecte    des    deutlichen     Sehens    zugelenkt    werden 
muss.     Dann  treffen  oder  kreuzen  sich  die  Sehachsen  in  diesem    Objecte. 
Läge  die  empfindlichste    Stelle    einmal    nicht    im    hintern    Pole  des  Auges, 
dann  würde  auch  die  gerade  Linie,  welche  den  hintern  Pol   mit  dem  vor- 
dem verbindet,  für  dieses  Auge  nicht  mehr  die  Sehachse  genannt   werden 
können,  oder  man  müsste  sagen,  dass  in  diesem  Falle  Einfachsehen  beider 
Augen  ohne  Kreuzung  der  Sehachsen  im  Objecte  statt  finde.    Wir  werden 
von  diesem,  wenn  überhaupt,  so  gewiss  höchst  selten  vorkommenden  Zustande 
vorläufig  absehen.     Ist  nun  der  hintere    Pol  als  die  zum  deutlichen  Sehen 
geeignetste  Stelle  eines  jeden  Auges  dem  Objecte  zugewendet,    dann  rei- 
hen sich  um  das  Bild  dieses  Objectes  die  Bilder  der  übrigen  Gegenstände 
des  Sehfeldes  so  an,    dass   jedes    seine    Lage    auf    einer     entsprechenden 
Nelzhautstelle  hat,  auf  einer  Stelle,  welche  jene  desselben    Bildes    in    dem 
zweiten  Auge  decken  würde,  wenn  man  die  eine  Netzhaut    ohne    sonstige 
Verrückung  in  die  andere  hineingelegt    denkt.    Man  nennt  je  zwei  Stellen, 
welche  sich  bei  dieser  Ineinanderlegung  decken    würden,    congruent   oder 
identisch.  Nach   Volkmann   sind    je    zwei    Stellen    identisch ,    welche    nach 
der  gleichnamigen  Richtung  hin,  z.  beiderseits  nach  oben,  oder  beiderseits 
nach  links,  unter  demselben  Längen-  und  Breitengrade  liegen,    falls    man 
sich  jede  Netzhaut  gleich  der  Hemisphäre  eines  Globus  vom  Centrum    der 
Macula  lutea  (Pol)    bis    zur   Ora  serrata    (Äquator)    durch    Meridiane    und 
Parallelkreise  gleichmässig  eingetheilt  denkt. 

Unter  der  Voraussetzung,  dass  jedes    Auge    mit    der    empfindlichsten 

Stelle  demselben  Objecte    des    Sehfeldes    zugelenkt    ist,    entsprechen    sich 

4* 


52  Netzhaut. 

aber  nicht  nur  die  zwei  centralen,  sondern  auch  immer  je  zwei  seitliche 
Bilder,  durch  dasselbe  Object  zu  Stande  gebracht,  nebst  der  correspondi- 
renden  Lage  auch  in  Grösse.  Form,  Farbe  und  Helligkeit ,  wenn  das  Ob- 
ject zu  beiden  Netzhäuten  Licht  senden  kann,  und  der  dioptrische  Ap- 
parat des  einen  Auges  dem  des  andern  völlig  gleich  ist.  Es  ist  dann 
auch  die  Richtung  der  betreuenden  Lichtkegel  im  Glaskörper  relativ  zur 
Totalität  der  Netzhaut  in  dem  einen  Auge  wie  in  dem  andern.  Unter 
solchen  Umständen  entspricht  demnach  je  einem  Bilde  eines  Öbjcctes  in 
dem  einen  Auge  ein  ganz  gleiches  oder  identisches  in  dem  andern.  Die 
Empfindung  wird  aber  erst  dann  identisch,  wenn  auch  die  Empfindlichkeit 
der  betreffenden  Netzhautstellen  und  die  Fortleituug  zum  Centralorgane  min- 
destens nahezu  die  gleiche  ist. 

Bei  völliger  Identität  der  Empfindung  werden  wir  uns  des  Doppelt- 
seins des  Eindruckes  nicht  bewnsst.  Je  lebhafter  die  Erregung  der  Netz- 
häute, desto  strenger  ist  die  Anforderung  an  Übereinstimmung  der  Bilder. 
Daher  je  weiter  von  der  Macula  lutea  ein  Bild  zu  liegen  kommt,  desto 
weniger  streng  nöthig  ist  die  völlige  Gleichheit  mit  dem  entsprechenden 
Bilde  des  andern  Auges.  Je  feiner  der  Gegenstand,  der  erkannt  werden 
soll,  desto  notbwendiger  ist  Gleichheit  der  Eindrücke.  Das  Wegfallen  der 
Erregung  des  einen  Auges  wird  von  uns  in  der  Regel  gar  nicht  wahr- 
genommen; wir  sehen  die  meisten  nahen  Körper  an  einem  oder  dem  an- 
dern Theile  nur  mit  dem  einen  Auge,  ohne  es  zu  wissen ,  bis  wir  das 
andere  Auge  verdecken.  Die  völlige  Ausschliessung  des  einen  Auges  vom 
Sehacte  fällt  uns  gar  nicht  oder  nur  durch  geringe  Verminderung  der 
scheinbaren  Helligkeit  oder  durch  Beschränkung  des  Sehfeldes  nach  der  be- 
treffenden Seite  hin  auf. 

Bei  ungleich  starker  Erregung  beider  Nelzhäute  wird  der  durch  das 
stärker  angesprochene  Auge  bewirkte  Eindruck  liald  unterstützt,  bald  ge- 
schwächt, bald  ganz  allein  wahrgenommen  (der  schwächere  unterdrückt). 
Der  Grund  der  Ungleichheit  der  Erregung  liegt  entweder  im  Netzhautbilde 
(dioptrischer  Apparat)  oder  in  der  Netzhaut  selbst  (Stumpfheit).  Unter- 
stützt wird  das  besser  sehende  Auge  durch  das  schwächere  im  Allgemei- 
nen bei  jenen  Functionen,  Welche  keine  scharfen  Eindrücke  erfordern, 
gestört  hingegen  dann,  wenn  es  sich  um  feinere  Wahrnehmungen  und 
Auseinanderhaltung  kleinerer  Netzhautbilder  handelt.  Die  relativ  zu 
schwache  Erregung  des  einen  Auges  kann  aber  auch  (durch  Abstraction 
der  Aufmerksamkeit?)  ganz  Unterdrückt  werden,  so  dass  sie  gar  nicht 
Gegenstand  (\cr  Wahrnehmung  wird.  Die  Unterdrückung  gelingt  um  so 
leichter,  je  schwächer  die  Erregung  in  dem  einen  relativ  zu  der  Erregung 


Physiologie.  53 

in  drin  andern  Auge  ausfällt.  Durch  Abschwächung  der  stärkeren  Er- 
regung (z.  ß.  durch  ein  vor  das  stärkere  Auge  gehaltenes  getrübtes  oder 
dunkelfarbiges  Glas)  kann  die  Erregung  des  andern  Auges  wieder  zum 
Auftauchen  in  der  Wahrnehmung  gebracht  werden.  —  Ungleichartige 
Erregung  durch  verschiedenfarbiges  Licht  (farbige  Gläser,  prismatische 
Farben  u.  s.  w.)  zeigt  je  nach  der  Qualität  und  Intensität  (des  durch- 
gelassenen Lichtes)  bald  eine  Art  von  Verschmelzung  der  beiden  Ein- 
drücke, bald  wechselnde  oder  constante  Unterdrückung  des  einen  Ein- 
druckes (Weltstreit  der  Sehfelder).  Diese  Thatsachen  ergeben  sich  theils 
aus  Beobachtungen  an  Kranken,  theils  aus  Versuchen  mit  leicht  und  stark 
angerauchten,  mit  farbigen,  mit  concaven  und  convexen  Gläsern,  mit  JVTy— 
driaticis  (Veränderung  des  Refractionszustandes) ,  am  schönsten  aber  in 
Versuchen  mit  dem   Wheatston  sehen  Stereoskop. 

„Da  die  Ansicht  eines  mit  dem  rechten  Auge  betrachteten  Objectes  von  drei  Di- 
mensionen, wenn  dieses  nicht  zu  entfernt  ist,  eine  andere  ist,  als  die  mit  dem  linken 
erhaltene,  so  schloss  Wheatstone  (1838),  dass  wir  einen  Körper  als  solchen  sehen  mit- 
telst zweier  verschiedener  Netzhautbilder.  Diese  Überlegung  führte  ihn  zu  der  Frage, 
was  geschehen  würde,  wenn  anstatt  des  Objectes  selbst  die  Projectionen  seines  Bildes 
auf  eine  ebene  Fläche,  welche  genau  so  nachgezeichnet  werden,  als  sie  einem  Auge 
allein  erscheinen  müssen,  gleichzeitig  jedem  Auge  dargeboten  würden.  Diese  Frage 
beantwortete  das  von  ihm  erfundene  Spiegelstereoskop  durch  die  merkwürdige  Erschei- 
nung, dass  wir  statt  der  beiden  Projectionen  nur  den  Körper  selbst  sehen."  —  „Gegen 
die  Wheatstone' sehe  Erklärung  machte  Brücke  (1841)  geltend,  dass  das  Urtheil  über  die 
Entfernung  eines  Gegenstandes,  wenn  uns  die  perspectivischen  Hilfsmittel  für  die  Schäz- 
zung  derselben  abgehen,  nur  aus  dem  Bewusstsein  der  Convergenz  der  Sehachsen  sich 
bildet,  unter  der  wir  denselben  sehen  ;  die  in  uns  hervortretende  Vorstellung,  dass  das, 
was  wir  sehen,  als  Körper  erscheine,  involvire  daher  das  Factum,  dass  verschiedene 
Punkte  in  dem  Angeschauten  unter  verschiedener  Sehweite  gesehen  werden.  Wir 
schliessen  daher  aus  der  Veränderung  der  Convergenzpunkte  der  Sehachsen  auf  einen 
Körper,  indem  wir  abwechselnd  die  näheren  und  die  entfernteren  Tlieile  derselben  ins 
Auge  fassen."  —  „In  einem  dunklen  Zimmer  stellte  ich  ein  gewöhnliches  Spiegelstereo- 
skop so  auf,  dass  die  beiden  Zeichnungen  desselben  von  einer  Lampe  gleich  hell  be- 
schienen waren.  An  die  Stelle  der  Lampe  wurde  nun  eine  sich  selbst  entladende  La- 
«e'sche  elektrische  Flasche  gestellt,  welche  bei  gleichbleibendem  Drehen  der  Elektrisir- 
maschine  stets  nach  bestimmten  Zeitintervalien  sich  entlud.  Dadurch  wurde  es  möglich, 
auf  die  momentane  Erscheinung  sich  vorzubereiten.  Ich  sowohl  als  Andere,  denen  ich 
diese  Versuche  zeigte,  sahen  vollkommen  deutlich  das  körperliche  Relief,  mitunter  aber 
auch  die  beiden  Projectionen,  aus  denen  es  entsteht.  Nach  den  Versuchen  von  Wheat- 
stone ist  die  Dauer  des  Leuchtens  eines  elektrischen  Funkens  kürzer,  als  der  millionste 
Theil  einer  Secunde.  "Während  dieser  Zeit  müsste  also  der  Convergenzwinkel  der  Au- 
genachsen mindestens  einmal  um  mehr  als  vier  Grade  verändert  werden.  Ob  dies  wahr- 
scheinlich, mögen  die  Physiologen  entscheiden."  Dove.  Nach  Volkmanns  Versuchen 
nimmt  die  kleinste  Augenbewegung  ohngefähr  0,3  Secunde  in  Anspruch,  und  nach  Helm- 


54  Netzhaut. 

holz    pflanzt    sich  in    den  empfindenden  Nerven  ein  Eindruck  mit    einer    Geschwindigkeit 
von   180  Fuss  in  einer  Secunde  fort. 

Vollständig  zu  erörtern,  warum  bei  den  Versuchen  mit  verschiedenfarbigen  Gläsern 
der  eine  Beobachter  die  Mischfarbe  sieht,  ein  anderer  dagegen  nicht,  würde  uns  hier 
zu  weit  führen;  es  genüge,  aus  Dove's  Schrift  nur  einige  Stellen  herauszuheben.  „Wenn, 
man  dein  rechten  Auge  eine  andere  Farbe  darbietet  als  dem  linken,  sahen  Einige  eine 
Farbe  nach  der  andern,  Einige  farbige  Flecken  der  einen  neben  farbigen  Flecken  der 
andern,  endlich  Einige  die  aus  beiden  Farben  entstellende  Mischungsfarbe.  Streng  ge- 
nommen liegt  in  dieser  Beschreibung  das  Gemeinsame,  das  Alle  zugeben,  dass  unter 
gewissen  Bedingungen  eine  Combination  beider  Farben  möglich  sei.  denn  das  Nachein- 
ander muss  einen  Durchgangspunkt  haben,  wo  die  abklingende  Farbe  ebenso  stark 'wird, 
als  die  in  das  Bewusstsein  tretende,  das  Nebeneinander  muss  Stellen  des  Überganges 
haben,  da  die  Flecken  nebeneinander  sich  nicht  scharf  gegen  einander  abgrenzen."  — 
„Aus  Versuchen  —  in  der  citirten  Schrift  nachzulesen  —  folgt,  dass  die  Convergenz- 
linien  beider  Augen  bei  deutlichem  Sehen  für  rothes  Licht  einen  spitzem  Winkel  bilden, 
als  für  blaues.  Hält  man  daher  vor  beide  Augen  dasselbe  farbige  Glas,  so  wird  sich, 
wenn  man  mit  der  Farbe  des  Glases  wechselt,  die  Accommodation  ändern  müssen.  Für 
die.  welche  mit  beiden  Augen  gleich  gut  sehen,  wird  die  Accommodation  bei  dem  ge- 
wöhnlichen Sehen  für  beide  Augen  stets  dieselbe  sein,  proportional  nämlich  dem  Win- 
kel der  Convergenzlinie  beider  Augen.  Hält  nun  ein  solcher  Beobachter  vor  das  eine 
Auge  ein  farbiges  Glas,  vor  das  andere  ein  anderfarbiges,  so  stellt  er  den  Augen  die 
Aufgabe,  die  gleiche  Accommodation  beider  oder  wenigstens  das  Verhältniss  derselben 
unter  der  Voraussetzunff.  dass  sie  für  beide  Augen  nicht  gleich  sei,  zu  verändern,  und 
da  dieser  Aufgabe  nicht  genügt  werden  kann,  so  werden  sich  die  Bilder  nicht  decken, 
sondern  aus  sich  kreuzenden  Richtungen  auf  eine  Fläche  projicirt  werden,  die  nicht  im 
Durchschniltspunkte  beider  Richtungen  liegt;  und  in  der  That  dieselben  Erscheinungen, 
wie  im  Stereoskop,  treten,  freilich  weniger  deutlich,  auch  beim  gewöhnlichen  binocularen 
Sehen  eines  mit  weissen  Linien  auf  schwarzem  Grunde  gezeichneten  Gegenstandes  her- 
vor, nämlich  ein  paralleles  Übereinanderlegen  einander  berührender  farbiger  Linien, 
wenn  man  mit  dem  rechten  Auge  durch  ein  Glas  ihn  betrachtet,  dessen  Farbe  eine  an- 
dere ist,  als  die  des  Glases,  durch  welches  er  gleichzeitig  mit  dem  linken  Auge  ge- 
sehen wird." 

Seil  dem  Erscheinen  von  J.  Müller'e  genialer  Abhandlung  über  die  Physiologie  des 
Gesichtssinnes  (Leipzig  1826)  hat  man  sich  fast  allgemein  gewöhnt,  das  Einfachsehen  mit 
zwei  Augen  aus  der  sogenannten  Identität  der  Netzhäute  als  etwas  Angeborenes  zu  er- 
klären. Es  soll  immer  nur  je  ein  und  dasselbe  Element  der  einen  Netzhaut  mit  je  einem 
und  demselben  Elemente  der  andern  Netzhaut  sich  zu  Einer  Empfindung  vereinen  kön- 
nen, gleichwie  auf  zwei  gleich  eingetheilten  Hemisphären  nur  je  ein  Punkt  unter  dem 
gleichen  Längen-  und  Breitengrade  liegen  kann,  und  dieses  Verhältniss  soll  nicht  bloss 
in  der  schon  oben  besprochenen,  in  der  That  nachgewiesenen  und  anatomisch  hinrei- 
chend begründeten  'verschiedenen  Vertheilung  der  Empfindlichkeit  der  Netzhaut,  sondern 
noch  in  einer  andern  angeborenen  Einrichtung  bedingt  sein.  Nach  MiiHrr'*  Ansieht  sol- 
len nämlich  immer  je  zwei  solche  Punkte  oder  Elemente  der  einen  oder  der  andern 
Netzhaut  durch  eine  gemeinschaftliche  Wurzel  im  Centralorgane  vertreten  sein,  und 
hätte  das  Ghiasma  nerv.  opt.  diese  Einrichtung  zu  vermitteln.  Eine' jede  Faser  des  rech- 
ten  Tractus   opticus   (heile  sich   im   Chiasma   in   zwei,   davon   die   eine,   an    der  rechten  Seite 


Physiologie.  55 

direct  fortlaufend,  zur  rechten  (äussern)  Hälfte  des  rechten  Bulbus  gehe ,  während  die 
andere  sich  mit  den  vom  linken  Tractus  opticus  herüber  kommenden  kreuze  und  zur 
rechten  (innern)  Hälfte  des  linken  Bulbus  verlaufe.  Diese  Erklärung  beruht  theils  auf 
nnerwiesenen,  theils  auf  geradezu  irrigen  Voraussetzungen.  Unerwiesen,  wie  Mütter  I. 
c.  S.  95  selbst  zugibt,  ist  das  hier  supponirte  Verhalten  der  Opticus-  und  Retinafasern. 
Irrig  aber  ist  die  noch  in  die  neuesten  physiologischen  Abhandlungen  aufgenommene  Be- 
hauptung, dass  Erkrankung  des  einen  (z.  B.  rechten)  Tractus  opticus  Lähmung  der  gleich- 
seitigen (rechten)  Netzhauthälften  bewirke.  Muller  wurde  offenbar  durch  Wöllaston's 
Angaben  irre  geführt,  welcher  durch  Beobachtung  von  bilateraler  Heiniopie  theils  an 
sich  selbst,  theils  an  zwei  Freunden  zu  einer  Hypothese  veranlasst  worden  war,  welche 
die  Grundzüge  der  Müller  sehen  enthält.  Wollaston*}  war  zweimal  von  Heiniopie  be- 
fallen worden,  das  erste  Mal  nach  einer  hastigen,  2— 3stündigen  Bewegung,  und  etwa 
20  Jahre  später  ohne  nachweisbare  Veranlassung.  Das  erste  Mal  fand  er  plötzlich,  dass 
er  von  einem  Menschen  nur  die  linke  Hälfte  des  Antlitzes  sehen,  von  dem  Worte  „John- 
son" nur  die  Sylbe  „son"  erblicken  konnte;  es  war  einerlei,  ob  er  mit  dem  rechten 
oder  mit  dem  linken  Auge  schaute.  Diese  Blindheit  war  nicht  so  vollständig,  dass  sie 
bis  zur  absoluten  Schwärze  reichte,  sie  war  gewisserniaassen  eine  schattige  Dunkelheit 
ohne  deutlichen  Umriss.  Das  Übel  war  in  ohngefähr  einer  Viertelstunde  ganz  ver- 
gangen. Bei  dem  zweiten  Anfalle  konnte  er  nur  das  reckte  Auge  einer  gegenüberste- 
henden Person  wahrnehmen,  die  Blindheit  erstreckte  sich  jetzt  nach  rechts  von  dem 
Punkte,  auf  welche  seine  Augen  gerichtet  waren,  durch  etwa  20  Minuten.  —  Bei  einein 
Freunde  entwickelte  sich  einige  Tage  nach  heftigem  Kopfschmerze  gegen  den  linken 
Schlaf  hin  andauernde  Heiniopie  ;  die  Blindheit  war  in  Bezug  auf  alle  Gegenstände  voll- 
ständig, welche  vom  Mittelpunkte  des  Sehfeldes  rechts  lagen.  Die  Affection  war  in 
beiden  Augen  gleich  und  bestand  in  Unempfindlichkeit  der  Retina  auf  der  linken  Seite 
jedes  Auges.  —  Ein  anderer  Freund  hatte  an  dieser  Krankheit  durch  16  —  17  Jahre  ge- 
litten, sobald  sein  Magen  in  beträchtlichem  Grade  gestört  war;  die  Blindheit  war  jeder- 
zeit rechts  vom  Mittelpunkte  des  Augns,  und  zwar  (höchst  wahrscheinlich)  beiderseitig 
immer  durch  15 — 20  Minuten  eingetreten,  dann  aber  vollständig  verschwunden.  Makenzie, 
aus  dessen  prakt.  Abhandlung  über  die  Krankheiten  des  Auges  diese  Angaben  vorzugs- 
weise entlehnt  sind,  bemerkt,  dass  bei  dem  Umstände,  wo  die  Macula  lutea  jederseits 
nach  aussen  vom  Sehnerveneintiitte  liegt,'  eine  solche  Vertheilung  der  Fasern,  wie  die 
hier  supponirte,  nicht  wohl  denkbar  sei,  man  vielmehr  die  Retina  als  einen  Plenus  be- 
trachten müsse,  von  welchem  jeder  Punkt  Fasern  enthält,  die  von  jeder  Seite  des  Ge- 
hirnes herkommen.  Mehr  Gewicht,  als  auf  dieses  Raisonnement  legte  er  jedoch  auf  den 
Umstand,  dass  bei  weitem  der  grössere  Theil  von  Thatsachen,  welche  uns  die  Pathologie 
und  Experimenthaiphysiologie  zur  Lösung  dieser  Frage  geliefert  haben ,  zum  Beweise 
dienen,  dass  Krankheiten  und  Verletzungen,  icelche  die  eine  Seite  des  Gehirnes  treffen,  nur 
Amaurosis  in  dem  einen  Auge,  nicht  aber  Heiniopie  in  beiden  Augen  erzeugen.  —  Mag 
man  für  die  Müller  sehe  Hypothese  was  immer  für  Argumente  anführen,  die  Thatsachen, 
welche  uns  die  Beobachtung  am  Krankenbette  „und  am  Sectionstische  rücksichtlich  der 
anatomischen  Begründung  derselben  geliefert  hat,  sprechen  entschieden  nicht  dafür,  viel- 
mehr dagegen.  Wollte  der  Patholog  in  Fällen  monolateraler  Amaurosis,  deren  Ursache 
erwies.enermassen    nicht   in  der  Netzhaut  gesucht    werden  könnte,    consequent  der  Wol- 

*)  Thiloaupliical    rrnnsaclion's  for   1821,  Pari.  I.  p.   224. 


Netzhaut. 

iaston-MüUer^echen  Theorie  den  Sitz  der  Krankheit  im  Sehnerven  diesseits  dos  Chiasma 
suchen,  so  würde  er  gewiss  eben  so  oft  fehlen,  als  wenn  er  aus  Unempfindlichkeit  der 
gleichseitigen  Netzhauthälften,  selbst  wenn  diese  permanent  wäre,  auf  monolaterale  Er- 
krankungen jenseits  des  Chiasma  schlösse.  Die  Veränderungen,  die  man  in  Wollastoris 
Gehirne  etwa  5  Jahre  nach  der  Publication  obigen  Aufsatzes  fand  (Umwandlung  des 
rechten  Thalamus  in  eine  fast  hühnereigrosse  Geschwulst,  braune  Färbung  und  geringere 
Consistenz  des  rechten  Tractus  opticus)  konnten,  wie  Makenzie  bemerkt,  mit  den  An- 
fällen von  Hemiopie  in  Verbindung  stehen,  aber  auch  nicht;  denn  hei  dem  ersten  An- 
falle hatten  die  nach  links,  hei  dem  zweiten  die  nach  rechts  befindlichen  Gegenstände 
ein  dunkles  Aussehen.  Fälle  von  bilateraler  Hemiopie,  welche  zu  unbestimmten  Zeiten 
und  ohne  Zeichen  von  Hirnleiden  auftritt,  zu  Schlüssen  auf  eine  anatomische  Begrün- 
dung zu  benutzen,  ist  nach  unseren  bisherigen  Kenntnissen  über  Nervenleiden  noch 
nicht  gestattet. 

Sehen  wir  aber  auch  ab  von  der  Beziehung,  in  welche  man  bei  dieser  Theorie 
des  Einfachsehens  die  Nervenfaservertheilung  in  den  Netzhäuten  zum  Chiasma  und  zum 
Gehirne  gebracht  hat,  so  darf  auch  die  andere  Hälfte  dieser  Theorie  noch  nicht  ohne 
weiters  und  ohne  alle  Einschränkung  aufgenommen  werden,  die  nämlich,  dass  immer 
nur  dieseihen  zwei  Punkte  oder  Elemente  der  beiden  Netzhäute  sich  zu  Einer  Empfindung 
vereinen  können.  Da  der  Drehpunkt  des  Auges  nicht  mit  dem  Kreuzungspunkte  der 
Richtungslinic  zusammenfällt,  und  da  die  Bulbi  seihst  in  der  hintern  Hälfte  keine  regel- 
mässige Gestalt  besitzen,  so  ist  schon  in  vorhinein  nicht  zu  erwarten,  dass  bei  den 
verschiedenen  Stellungen,  in  denen  wir  doch  einfach  sehen,  auch  die  mehr  periphe- 
rischen Bildpunkte  immer  auf  dieselben  anatomisch  correspondirenden  Netzhautelemente 
fallen.  Für  Bilder  auf  der  Macula  lutea  und  allenfalls  noch  der  nächsten  Umgehung 
kann  die  Asymmetrie  der  innern  und  äussern  Hälfte  eines  jeden  Bulbus  und  das  ISicht— 
zusammenfallen  des  Dreh-  und  Kreuzungspunktes  niemals  von  Bedeutung  sein,  wohl 
aber  für  Weiter  entfernt  gelegene  Punkte.  Dass  wir  die  theoretisch  (nach  der  Müller- 
scheu  Annahme)  zu  erwartenden  Doppclbilder  im  gewöhnlichen  Sehen  nicht  wahr- 
nehmen, ist  schon  Volkmann  aufgefallen,  kann  aber  weder  aus  der  Schwäche  der  Seh- 
kraft seitlicher  Partien,  noch  aus  den  ungünstigen  Accomniodations-Verhältnissen  für  die 
seitlichen  Bilder,  noch  endlich  ans  dem  sogenannten  AVettstreite  anatomisch-identischer 
Netzhautpunkte  oder  aus  Mängeln  in  der  Aufmerksamkeit  erklärt  werden.  Fixirt  man 
mit  beiden  Augen  irgend  ein  nicht  zu  weit  entferntes  kleines  Ohject  und  stellt  eine 
Kerzehflamme  so  weit  seitwärts  auf,  als  nur  möglich  ist,  ohne  dass  der  Nasenrücken 
die  Flamme  für  das  eine  Auge  verdeckt,  so  ist  man  nicht  im  Stande,  irgend  eine  Ver- 
dopplung der  Flamme  wahrzunehmen,  mag  man  sie  abwechselnd  höher  oder  tiefer, 
näher  oder  entfernter  aufstellen.  Hält  man  aber  bei  demselben  Vorgange  ein  Prisma 
mit  einem  brechenden  Winkel  von  5  —  7  Graden,  so  sieht  man  nicht  nur  das  fixirte 
Ohject,  sondern  auch  die  Flammen  doppelt.  Wenn  aber  zugegeben  werden  muss,  dass 
peripherisch  gelegene  Theile  der  Netzhaut  beim  gewöhnlichen  Sehen  sehr  oft  mit  relativ 
differenten  Punkten  demselben  Objecte  zugewendet  sind,  und  wir  dennoch  auch  bei 
lebhafter,  die  Aufmerksamkeit  gewiss  weckender  Erregung  solcher  Punkte,  z.  B.  durch 
eine  seitlich  befindliche  Flamme,  nicht  doppell  sehen,  so  lässt  sich  gerade  für  mehr 
seillieh  gelegene  Xetzhautpartien  die  Müller  sehe  Auffassung  von  der  Identität  der  Netz- 
häute  nicht  streng   durchführen. 


Entoptische  Erscheinungen.  57 

Es  ist  aber  zur  Erklärung  der  Erscheinungen,  welche  in  Bezug  auf  Einfach-  und 
Doppeltsehen  vorkommen,  keine  andere  Annahme  noth wendig,  als  die  durch  den  ana- 
tomischen Berund  hinreichend  liiolivirlc,  dass  das  Cenlrum  der  Netzhaut  relativ  am 
meisten  zum  Deutlichsehen  geeignet  ist,  und  die  erfahrungsinässig  festgestellte  Thal- 
sache, dass  wir  schon  zur  Zeit  der  Entwicklung  des  Gesichtssinnes  genöthigt  sind, 
immer  die  empfindlichste  Stelle  eines  jeden  Auges  dem  Objecte  der  Aufmerksamkeit 
zuzulenken.  Sowie  durch  diese  Momente  die  Thätigkeit  der  Muskeln  in  ein  bestimmtes 
und  unabänderliches  Verhältuiss  zur  Netzhaut  gebracht  wird,  treten  auch  die  einzelnen 
Partien  jeder  Netzhaut  für  sich  und  beider  zu  einander  in  eine  bestimmte  Beziehung 
zum  Bewusstsein ,  jede  Erregung  irgend  eines  Punktes  der  einen  (und  der  andern) 
Netzhaut  wird  auf  einen  bestimmten  Ort  des  Sehfeldes  bezogen,  welcher  in  so  lern 
fix  genannt  werden  kann,  als  der  Sehwinkel  immer  derselbe  bleibt,  und  auf  diese 
Weise  werden  die  correspondirenden  Begionen  und  Punkte  aus  einem  anatomischen 
Grunde,  daher  nothicendiyerweise  identisch,  mit  um  so  schärferer  Differenzirung  (Ab- 
grenzung gegen  seitlich  gelegene),  je  näher  sie  der  Stelle  des  deutlichsten  Sehens 
liegen.  Die  Erregung  eines  Netzhautpunktes,  welcher  z.  B.  um  zwei  Grade  links  oder 
um  drei  Grade  aufwärts  vom  Centrum  der  Macula  lutea  (inneren  Ende  der  Sehachse)  liegt, 
muss  in  jedem  Auge  so  empfunden  werden,  als  ob  ein  erregendes  Object  um  zwei 
Grade  rechts  oder  um  drei  Grade  abwärts  vom  Centrum  des  Sehfeldes  (äussern  Ende 
der  Sehachse)  gelegen  wäre.  Bei  der  Lehre  vom  Schielen  wird  sich  zeigen,  dass 
dieses  nicht  als  Einwurf  gegen  diese  Auffassung  der  Lehre  von  der  Identität  aufgestellt 
werden  kann. 

Entoptische  Erscheinungen.  Gegenstand  der  Wahrnehmung 
durch  den  Gesichtssinn  können  auch  Objecte  werden,  welche  sich  in  oder 
an  den  durchsichtigen  Medien  des  Auges  selbst  befinden.  Es  sind  diess 
die  '  schon  oben  erwähnten  entoptischen  Erscheinungen  (Listing) ,  als 
welche  sich  auch  im  physiologischen  Zustande  vorzüglich  die  Centralge- 
fässe  der  Netzhaut  und  kleine  dunkle  Körperchen  in  den  durchsichtigen 
Medien  geltend  machen,  die  durch  Abhaltung  von  Lichtstrahlen  des  Seh- 
feldes Schalten  auf  die  übrigens  hell  beleuchtete  Netzhaut  werfen,  und 
sofort  durch  den  Contrast  hiezu  empfunden  und  für  dunkle  Objecte  des 
Sehfeldes  selbst  gehalten  werden  Die  Schattenbildung  setzt  im  Allge- 
meinen die  Gegenwart  von  Lichtstrahlen  voraus,  welche  im  Glaskörper  in 
einer  parallelen,  wenig  convergenten  oder  aber  divergenten  Richtung  zur 
Netzhnut  verlaufen ;  der  Schatten  kann  nur  durch  den  Contrast  zur  Be- 
leuchtung und  Erregung  der  umgebenden  Ne'zhautpartien  und  durch  Lenkung 
der  Aufmerksamkeit  auf  die  beschatteten,  i.  e.  nicht  erregten  Netzhaut- 
stellen wahrgenommen  werden. 

Wir  haben  oben  bemerkt,  dass,  sobald  das  lichtsendende  Object  nicht 
bis  zur  vordem  Brennpunktsebene  oder  noch  näher  an  das  Auge  gerückt 
ist,  dem  äussern  Lichtkegel  ein  innerer    entspricht,   dessen    Spitze    in    der 


58 


Netzhaut. 


entsprechenden  Richtungslinie  vor,  auf  oder  hinter  die  Netzhaut  fällt,  je 
nach  dem  Verhältnisse  zwischen  der  Entfernung  des  Ohjectes  von  der 
Hornhaut  und  der  Entfernung  der  Netzhaut  hinter  der  Linse.  Betrachten 
wir,  was  hier  ohne  erheblichen  Fehler  geschehen  kann,  die  Vorderfläche 
der  Cornea  als  die  gemeinschaftliche  Basis  oder  Trennungsfläche  beider 
Lichtkegel,  so  kommt  von  dieser  Vorderfläche  ein  etwas  grösserer  Kreis 
als  die  jeweilige  Pupillengrösse  in  Betracht.  Gesetzt  nun,  ein  Auge,  wie 
in  Fig.  A,  wäre  für  den  leuchtenden  Punkt  0  aecomodirt,  so  würden    die 


bis  in  den  Glaskörper  eingedrungenen  Strahlen  in  dem  Punkte  0  ein 
scharfes  und  helles  Bild  entwerfen.  Befände  sich  aber  im  Verlaufe  der 
Bichtungslinie  Oxo  ein  undurchsichtiger  Körper  aß  von  einem  Durch- 
messer, der  kleiner  als  der  der  Pupille  ist,  so  würde  trotzdem  durch  die 
Randstrahlen  noch  immer  ein  scharfes ,  nur  weniger  helles  Bild  ver- 
mittelt werden,  wenn  jener  Körper  aß  auf  der  Cornea,  vordem  oder  hin- 
tern Kapsel  u.  s.  w.  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  liefer  sitzt,  und  wir 
vorläufig  davon  absehen,  dass  durch  Abhaltung  aller  Centralslrahlen  die 
Vereinigungsweite  eigentlich  etwas  verkürzt  wird.  Je  weiter  rückwärts 
im  Ange  sich  derselbe  dunkle  Körper  aß  befände,  desto  mehr  Strahlen 
des  immer  enger  werdenden  Kegels  würde  er  auffangen,  endlich  alle,  und 
nahe  vor  der  Netzhaut  würde  ein  ungleich  kleinerer  Körper  hinreichen, 
säinmtliche  Strahlen  abzuhalten.  (Die  punktirten  Linien  in  Fig.  A.  zeigen 
ohngefähr  den  Gano-  der  Lichtstrahlen  von  einem  seitlich  gelegenen  Ob- 
jeclpunkte  U  bis  zu  ihrer  Vereinigung  in  u,  um  beiläufig  ersichtlich  zu 
machen,  bei  welcher  Lage  und  in  welchem  Grade  dunkle  Körper,  die  nicht 
in  die  betreffende  Bichtungslinie  Uxu  fallen,  Einflnss  auf  das  Netzhaulbild 
eines  seillich  gelegenen  Punktes  nehmen  Können.) 

Wäre  ein  Äuge  nicht  für  die  Objectdistanz  aec  mmodirt,  sondern 
fiele  die  Vereinigungsstelle  der  Strahlen  eines  leuchtenden  Punktes  merk- 
lich vor  oder  hinter  die  Netzhaut,  dann  würde  ein  dunkler  Körper  von 
derselben  Ausdehnung  wie  im  vorigen  Falle,  sobald  er  irgendwo  hinter 
der  Pupille  lagt',  ungleich    mehr    zur    Abhaltung    von    Strahlen    eines  oder 


Entopisclic  Erscheinungen.  59 

mehrerer  Kegel  wirksam  sein,  wie  sich  aus  dei  Betrachtung    der    Figur  H 

ergibt,  wo  die  aus  relativ  zu  grosser  Entfernung  kommenden  Strahlen  des 


R3B 


OV-       —ß- 


(in  der  Zeichnung  abgestutzten)  Kegels  Oba  sich  schon  in  o  vereinigen, 
und  die  Netzhaut  erst  als  Zerstreuungskreis  treffen,  wogegen  die  von  dem 
relativ  zu  nahen  Punkte  P  ausfahrenden  Strahlen  Pab  sich  erst  in  p  ver- 
einigen könnten,  daher  auf  der  Netzhaut  gleichfalls  einen  (durch  die  punk- 
tirten  Linien  angedeuteten)  Zerstreuungskreis  bilden  würden.  Nimmt  man 
den  dunkeln  Körper  aß  eben  so  gross  an,  wie  im  vorigen  Falle,  und  ver- 
gleicht, welchen  Einfluss  er,  bei  correspondirender  Entfernung  von  der 
Netzhaut  auf  die  Abhaltung  von  Strahlen  eines  Kegels  nehmen  kann,  so 
ergeben  sich  leicht  die  wichtigsten  Anhaltspunkte  für  die  nöthigen  De- 
duclionen.  —  Denkt  man  sich  von  «  und  von  ß  in  irgend  einer  Lage  (z.  B. 
grade  in  der  Mitte  der  Sehachse)  gerade  Linien  nach  p  gezogen,  so  gäbe 
ihr  Abstand  von  einander  an  der  Stelle,  wo  sie  die  Netzhaut  schneiden, 
den  Durchmesser  des  Schattens,  den  aß  in  dieser  Lage  auf  die  Netz- 
haut .werfen  würde,  wenn  wir  vorläufig  nicht  in  Anschlag  bringen ,  wie 
viel  von  dem  beschatteten  Areal  im  Kern-  und  wie  viel  im  Halbschatten 
liegen  würde.  Die  Grösse  des  beschatteten  Areals  würde  offenbar  ver- 
schieden ausfallen,  je  nach  der  Entfernung  des  dunkeln  Körpers  aß  von 
der  Netzhaut  und  je  nach  der  Entfernung  des  imaginären  Vereinigungs- 
punktes p  von  der  Netzhaut  (Convergenz  der  durch  den  Glaskörper  zur 
Netzhaut  laufenden  Lichtstrahlen).  Gleichwie  aber  ein  solcher  Schatten 
einen  aliquoten  (z.  B.  100.)  Theil  der  Netzhaut  deckt,  nimmt  auch  der  ihm 
entsprechende  Eindruck,  für  ein  reelles  Object  des  Sehfeldes  gehalten, 
immer  einen  gleich  grossen  aliquoten  (100.)  Theil  des  Sehfeldes  ein,  wird 
mithin  beim  Blick  in  die  Ferne  grösser  angeschlagen ,  als  beim  Blick  in 
die  Nähe,  weil  wir  eben  nur  den  Zustand  der  Netzhaut  empfinden,  und 
weil  wir  anderweitig  erfahren  haben,  dass  ein  fernes  Object  entsprechend 
seiner  Entfernung  grösser  ist,  als  ein  nahes,  sobald  beide  denselben  ali- 
quoten Theil  des  Sehfeldes  einnehmen.  —  Kennen  wir  die  Thatsache,  dass. 
in  den  durchsichtigen  Medien  eines  jeden  Auges  immer  einzelne  elemen- 
tare Körperchen  vorhanden  sind,    welche    unter    entsprechenden    optischen 


60 


Netzhaut. 


Verhältnissen  hinreichen,  Schatten  auf  die  Netzhaut  zu  werfen,  und  als 
solche  wahrgenommen  werden  können,  so  ergibt  uns  eine  Vergleiebung 
der  beiden  Figuren  A  und  B  beiläufig  die  Erklärung,  warum  solche  Kör- 
perchen,  bekannt  als  fliegende  Mücken,  vorzüglich  bei  abnormem  RefraeT- 
tionszustande  (ungenügender  Accomodation)  wahrgenommen  werden,  und 
warum  z.  B.  der  davon  gequälte  Kurzsichtige  dieselben  momentan  ver- 
scheuchen kann,  wenn  erden  Rcfractions'iistand  durch  eine  entsprechende 
loncavbrille  corrigirt,  mithin  bewirkt,  dass  die  Strahlen  sich  nicht  mehr 
vor,  sondern  erst  auf  der  Netzhaut  vereinigen. 

Rücken  wir  den  leuchtenden  Punkt  bis  in  die  vordere  Brennpunkts- 
ebene oder  noch  näher  an  das  Auge,  so  werden  die  auf  dasselbe  Cornea- 
areal  fallenden  Strahlen  so  gebrochen,  dass  sie  endlich  durch  den  Glas- 
körper   unter  einander    parallel    (wie   in  Fig.  C    der  Cylinder  cr/c/),    oder 


FijC 


divergirend  (wie  der  umgekekrte  abgestutzte 
Kegel  ehcg)  verlaufen.  Unter  diesen  Verhält- 
nissen können  dunkle  Körper  in  den  durch- 
sichtigen Medien  auch  dann,  wenn  sie  sehr 
weit  von  der  Netzhaut  entfernt  (z.  B.  auf  der 
Cornea)  sitzen  und  relativ  klein  sind,  sehr 
leicht  Schatten  werfen ,  dessen  Areal  bei  di- 
vergentem Lichte  sogar  noch  grösser  ausfällt,  als  der  dunkle  Körper  selbst. 
Da  aber  zur  Wahrnehmung  solcher  Schatten  helle  Beleuchtung  der  umge- 
benden Netzhautpartien  erforderlich  ist,  so  muss  man,  um  auch  ganz 
kleine  Körperchen  zur  Wahrnehmung  zu  bringen,  in  die  Gegend  der  vor- 
dem Brennpunktsebene ,  also  5  -  6'"  vor  die  Hornhaut,  einen  stark  leuch- 
tenden Punkt  bringen,  von  welchem  aus  die  Strahlen  divergirend  auf's 
Auge  gelangen.  Auf  eine  sehr  einfache  Weise  erreicht  man  dies,  wenn 
man  durch  eine  möglichst  feine  Öffnung  eines  Kartenblattes  (mit  einer 
feinen  Nadel  gestochen)  oder  einer  geschwärzten  Metallplatte  gegen  das 
Firmament  oder  auf  die  matt  geschliffene  Glaskugel  einer  Öllampe  blickt; 
auch  das  kleine  Spiegelbildchen  eines  gut  polirten  Metallknopfes  oder  eines 
Fingerringes,  in  der  oben  bestimmten  Entfernung  fixirt,  kann  hiezu  benutzt 
werden,  oder  eine  Convexlinse  von  sehr  kurzer  Brennweite  (wie  die 
Objectivgläser  von  Mikroskopen»,  wenn  man  sie  einer  lichten  Fläche  gegen- 
über nahe  vor  dem  Auge  hält,  u.  m.  k.  Blickt  man  nun  z.  B  durch 
eine  solche  feine  Öffnung,  so  bemerkt  man  zunächst  eine  lichte  Scheibe 
(df  in  Fig.  C),  welche  der  Form  und  Grösse  nach  der  Pupille  entspricht, 
der  Form  nach  jedoch  umgekehrt.  Wird  während  den  Experimentes  mit 
dem   einen  Auge  das    andere  abwechselnd  beschattet  und  beleuchtet,   wo- 


Bhtoptische  Erscheinungen.  61 

durch  bekanntlich  Erweiterung  und  Verengerung  nicht  hlos  einer,  sondern 
beider  Pupillen  bewirkt  wird  ,    so  erweitert  und  verengert  sich  auch  die  in 
Rede    stellende   lichte  Scheibe.       Hatte  die   Pupille  des  experimentirenden 
Auges    eine    dreieckige  Gestalt    mit    aufwärts   gerichteter  Spitze  (,/\J,    so 
würde  dasselbe  die  lichte  Scheibe  dreieckig  mit  abwärts  gerichteter  Spitze 
(V)  wahrnehmen,    denn    die  Strahlen    kreuzen  sich    nicht  im  Innern  des 
Auges  (das  von  dein  Punkte  b  in  Fig.  C  rückwärts  tretende  Licht  gelangt 
zum  Punkte  /',  wird  also,    falls  wir  b  und  f  als  oben  liegend  betrachten, 
auf  einen  unten  gelegenen  Punkt  bezogen,  oder,  wenn  wir  uns  genau  an 
die  Zeichnung  halten,  da  /'  auswärts  von  der  Macula  lutea  liegt,    so  wird 
eine  Erregung    der  Netzhaut   an  dieser  Stelle    auf  ein  einwärts  gelegenes 
Object  bezogen).     Die  bei  schleichender  Iritis  fast  constant  vorkommenden 
punktförmigen  Beschläge    an    der   hintern  Wand    der  Cornea    können  auf 
diese  Weise  dem  Kranken    sichtbar  gemacht  werden,    wenn    sie  noch    in 
dem  Hornhautareal  liegen,  von  welchem  Licht  durch  die  Pupille  eindringen 
kann ;    er  sieht  sie  im  Gesichtsfelde  oben ,    wenn    sie ,    wie  in  der  Regel, 
an  der  untern  Hornhauthälfte  haften.       Bei  diesen  Experimenten  muss  die 
Platte  unverrückt  am  Gesichte  und  auch  das  Auge  ruhig  gehalten  werden. 
—  In  dieser  lichten  Scheibe  nun  sieht  auch  ein  ganz  gesundes  Auge  sehr 
leicht  die  unter  dem  Namen    der    fliegenden   Mücken    (Muscae  i'olifantes, 
Myoides)  bekannten  Ringelchen  oder  Kügelchen,  welche  einzeln,  meist  je- 
doch perlenschnurförmig    angeordnet    im    lichten  Sehfelde    auftreten.      Sie 
liegen  in  verschiedenen  Schichten  oder   Lagen    hinter    einander.     Die  der 
Netzhaut  näher  liegenden  erscheinen  dunkler  und  schärfer  begrenzt.    Alle 
bieten  eine  gewisse  Beweglichkeit  dar;    nicht    bloss,    dass    sie   gleichsam 
ausweichen,  wenn  man  sie,  sobald  sie  seitlich  von  der  Sehachse  auftreten, 
in's  Bereich  des  directen  Sehens  bringen  (fixiren)  will,    sie  bewegen  sich 
auch  noch  ein  Moment  und    eine    kurze  Strecke    im  Sehfelde,    wenn  man 
das  Auge  plötzlich  still   hält,    z.  B.    die  Spitze    eines    Blitzableiters    fixirt. 
Alles  spricht  dafür,  dass  diesen  Erscheinungen  elementare  Körperchen  der 
durchsichtigen  Medien,  besonders  des  Glaskörpers  zu  Grunde  liegen,  welche 
unter  den    gewöhnlichen    Verhältnissen    von    einem    gesunden  Auge  nicht 
wahrgenommen  werden.     Ruete  ist  nach  seinen  Untersuchungen  über  ihre 
Lage  und  objective  Grösse  geneigt,  diese  Körperchen  für  eine  Art  Zellen 
zu  halten,    welche  als  ein   normaler   morphologischer  Ausdruck    einer   im 
Stoffwechsel  begriffenen  Substanz  sich  erzeugen.      Vor  allem  möchte  hier 
wohl  an  die  Epithelialgebilde  des  Glaskörpers,  vielleicht  auch  der  Linsen- 
kapse!  zu  denken  sein.  —  Durch  zahlreiche  Experimente  der  eben  ange- 
gebenen Art    hat  Listing  nachgewiesen,    dass  sich    in   den  durchsichtigen 


C2  Netzhaut. 

Medien  der  meisten  Menschen  noch  andere,  mehr  weniger  dunkle  oder  das 
Licht  anders  brechende  Stellen  befinden ,  besonders  in  der  Linse,  welche 
für  gewöhnlich  das  Gesicht  nicht  merklick  beeinträchtigen.  Er  hat  sie  als 
die  beharrlichen  Binnenobjecte  des  Auges  beschrieben  und  abgebildet! 
"Sie  vermitteln  so  zu  sagen  den  Übergang  zu  den  pathologischen  Trü- 
bungen ,  welche  sich  vermöge  ihrer  Grösse  und  Zahl  durch  Functionsstö- 
rung  kund  geben,  und  in  Bezug  auf  Sitz  und  Form  dem  Kranken  durch 
die  oben  erwähnten  Experimente,  dem  Arzte  aber  durch  die  Untersuchung 
mit  dem  Augenspiegel  zur  Anschauung  gebracht  werden  können.  Der  Sitz 
derselben  lässt  sich  ziemlich  genau  bestimmen,  wenn  man  den  leuchtenden 
Punkt  (die  Schirmöffnung)  .langsam  vor  dem  Auge  verschiebt,  wobei  die  im 
Niveau  der  Pupille  liegenden  unverrückt  bleiben,  die  vor  der  Pupille  be- 
findlichen sich  bei  nach  rechts  gehender  Verschiebung  nach  links,  die  hinter 
der  Pupille  liegenden  dagegen  nach  der  gleichnamigen  Seite  des  lichten 
Sehfeldes  zu  bewegen  scheinen. 

Von  dlvergir enden  Lichtstrahlen  wird  die  Netzhaut  auch  dann  ge- 
troffen, wenn  zu  starkes  Licht  auf  die  Sclerotica  fällt,  oder  wenn  das  Pig- 
ment der  Ader-  und  Regenbogenhaut  relativ  zu  spärlich  ist,  um  das  in 
dieselben  eindringende  Licht  hinlänglich  zu  absorbiren ,  aber  auch  dann. 
wenn  in  den  durchsichtigen  Medien  halbdurchsichtige  oder  durchscheinende, 
überhaupt  solche  Trübungen  vorhanden  sind,  die  einen  relativ  grossen 
Theil  auffallenden  Lichtes  durchlassen.  In  dem  einen  wie  in  dem  an- 
dern Falle  wird  nämlich  Licht  im  Innern  des  Auges  diffundirt .  und  trifft 
die  Netzhaut  mehr  weniger  divergent.  Gleichwie  das  auf  einen  undurch- 
sichtigen Körper  mit  rauher  Oberfläche  auffallende  Licht  unregelmässig 
reflectirt  (zerstreut)  wird,  und  so  diesen  Körper  sichtbar  macht,  wird  das 
durch  einen  mehr  weniger  durchscheinenden  Körper,  z.  B.  ein  transpa- 
rentes Papier,  eine  mattgeschliffene  Glasplatte  u.  dergl.,  durchgelassene 
Licht  unregelmässig  gebrochen  (diffundirt).  und  strahlt  nun  von  der  Rück- 
seite desselben  nach  allen  Riehtungen  so  aus,  wie  das  unregelmässig  ie- 
fleclirte  von  der  Vorderseite.*)  Durch  grössere  Mengen  diffusen  Lichtes 
auf  der  Netzhaut  wird  aber  die  Wahrnehmung  äusserer  Objecte  beein- 
trächtigt, weil  dann  theils  nicht  hinreichend  scharf  begrenzte,  sondern  von 


")  Prof.  Bonäers  benützte  mattes  Fensterglas,  um  ei»  Zimmer,  in  welches  wesren  hoher,  nahe  vor  dem  Fenster  be- 
findlicher Gebäude  nur  schiel  vipii  oben  Licht  einfiel,  in  seiner  ganzen  Tiefe  zu  erhellen.  Bei  gewöhnlichem 
durchsichtigem  Fensterglase  fiel  das  Licht  nur  in  den  Theil  des  Zimmers,  der  dem  Fenster  nahe  wai  Sohald 
man  die  maltgeschliffenen  Scheiben  eingesetzt  halte,  «ard  diess  von  oben  kommende  Lichl  durch  d;is  gante 
Zimmer  diffus  verbreitet;  das  matte  Gla«  wurde  Lichtquelle,  l>r.  Wyngaarden,  übei  die  Anwendung  ilei  von 
Vonders  entdeckten  stenopöischen  Brillen,  in  von  Graefe's  Archiv  Cur  Ophthalmologie,  I  Bd.  1.  Abtheil.  1&54 
S.   251. 


Augenspiegel.  63 

ZerstreTiungskreisen  umgebene  Objectbilder  zu  Stande  kommen,  theils  der 
zum  deutlichen  Sehen  erforderliche  Contrast  in  &er  Erregung  der  einzel- 
nen Netzhautstellen  vermindert  wird.  Andererseils  aber  werden  durch  dif- 
fuses (weil  divergentes)  Licht  die  Bedingungen  zu  entoptischen  Erschei- 
nungen gegeben.  —  Diese  Betrachtung  gibt  uns  den  Schlüssel  zur  Er- 
klärung, wie  das  Gesicht  bei  Pigmehtmangel,  bei  hälbdurchsichtigen  Horn- 
hauttrübungen, bei  dünnen  Exsudaten  in  der  Pupille  u.  s.  w.  weit  mehr 
gestört  sein  kann,  als  bei  partiellen  undurchsichtigen  Trübungen,  und 
warum  diese  Zustände  so  oft  von  Mückensehen  begleitet  sind.  Sie  gibt 
uns  das  Verständniss  der  interessanten  Thatsache,  dass  wir  die  Central- 
gelässe  der  Netzhaut,  welche  vor  den  die  Lichtperception  vermittelnden 
Netzhautelementen  liegen,  uns  als  Schatten  sichtbar  machen  können,  wenn 
wir  concentrirtes  Licht  auf  eine  Stelle  der  Slerotica  fallen  lassen  (nach 
Listing  Sonnenlicht  durch  eine  kleine  Öffnung  eines  dunkeln  Schirmes), 
oder  eine  Kerzenflamme  in  einem  dunkeln  Räume  nahe  vor  dem  Auge 
wiederholt  im  Kreise  herum  führen  {Purkinje) ,  oder  eine  feine  Öffnung 
eines  Kartenblattes  nahe  vor  dem  Auge  hin  und  her  bewegend,  den  Blick 
auf  eine  lichte  Wolke  oder  auf  die  matte   Glaskugel    einer  Lampe  richten. 

Untersuchung  mit  dein  Augenspiegel.  Nicht  alles  Licht,  wel- 
ches bis  zur  Netz-  und  Aderhaut  eingedrungen,  wird  daselbst  absorbirt? 
ein  aliquoter  Theil  davon  wird  reflectirt,  und  zwar  unregelmässig,  d.  h.  nach 
allen  Richtungen  durch  den  Glaskörper  zerstreut.  Demnach  strahlt  von 
dem  beleuchteten  Augengrunde  immer  ein  aliquoter  Theil  Licht  so  wie 
von  jedem  andern  sichtbaren  Gegenstande  aus,  und  hängt  die  Richtung  der 
reflectirten  Strahlen  nicht  wie  bei  der  regelmässigen  Reflexion  vom  Ein- 
fallswinkel der  einfallenden  Strahlen  ab. 

Von  dem  am  Augengrunde  reflectirten  Lichte  gelangt  nur  ein  kleiner 
Theil  durch  den  dioptrischen  Apparat  vor  das  Auge.  Ein  grosser  Theil 
trifft  auf  die  dunkle  Wandung  des  hintern  Augenraumes ,  namentlich  auf 
das  Corpus  ciliare  und  die  Hinterfläche  der  Iris,  und  wird  daselbst  absor- 
birt ;  zum  Theil  auch  wieder  reflectirt.  Die  Menge  der  Strahlen,  welche 
vermöge  ihrer  Richtung  not  h  durch  die  Pupille  austreten  könnten,  wird 
endlich  noch  um  etwas  vermindert  dadurch,  dass  beim  Übergange  dersel- 
ben aus  dem  einen  in  das  andere  Medium  immer  einige  Strahlen  theils 
durch  Spiegelung,  theils  durch  Zerstreuung  abgetrennt  werden,  mithin  ver- 
loren gehen.  Da  nun  die,  wenn  auch  nicht  völlig,  so  doch  in  hohem 
Gr;ide  durchsichtige  Netzhaut  mit  Ausnahme  der  Sehnervenpapilla  und  der 
Centralgefässe    überhaupt  wenig   Licht  zurückwft,  daher  im  normalen  Zu- 


64  Netzhaut. 

stände  an  und  für  sich  beinahe  unsichtbar  ist,  da  ferner  die  dunkelpigmen- 
tirte  Aderbaut  den  grössten  Tbeil  des  auffallenden  Lichtes  absorbirt,  und 
da  endlich  die  Öffnung  für  das  einfallende  und  ausfahrende  Licht  (die  Pu- 
pille) immer  relativ  eng  ist,  so  leuchtet  von  selbst  ein,  dass  aus  einem.- 
gesunden  Auge  unter  den  gewöhnlichen  Verhältnissen  überhaupt  sehr 
wenig  Licht  herausgeworfen  werden  kann. 

Nach  Abschlag  der  verloren  gehenden  Strahlen  bleibt  also  für  jeden 
beleuchteten  und  lichtreflectirenden  Punkt  des  Augengrundes  immer  ein 
Strahlenkegel  übrig,  dessen  Spitze  jener  Punkt,  dessen  Basis  ein  die  je- 
weilige Pupillenweite  etwas  (an  Grösse)  übertreffendes  Areal  der  Cornea 
bildet.  Wir  können  nämlich  auch  hier  ohne  beträchtlichen  Fehler  als 
Basis  dieses  Kegels  den  mittlem  Theil  der  Cornealvorderfläche  betrachten, 
da  die  Strahlen  bei  ihrem  Durchgange  durch  die  Linse  und  das  Kammer- 
wasser noch  immer  eine  divergente  Richtung  zu  einander  haben.  Ebenso 
können  wir,  wenn  sich's  um  die  Bestimmung  der  Richtung  der  ausfahren- 
den  Strahlen  vor  dem  Auge  handelt,  auch  hier  wie  früher  ohne  erheb- 
lichen Fehler  von  einer  einfachen  .Richtungslinie  nach  Volkmann  sprechen. 
Strahlen,  welche  vom  Centrum  der  Macula  lutea  ausgehen,  können  daher  nach 
ihrem  Austritte  aus  dem  Auge,  wenn  überhaupt,  nur  in  irgend  einem  Punkte 
der  betreffenden  Richtungslinie,  welche  hier  mit  der  Sehachse  zusammen- 
fällt, sich  vereinigen.  Sollten  Strahlen,  welche  von  der  Eintrittsstelle  der 
Arteria  centr.  retinae  ausgehen,  vor  dem  Auge  aufgefangen  werden,  so 
müsste  man  das  auffangende  Object  (das  beobachtende  Auge)  in  der  Rich- 
tung einer  geraden  Linie  entgegenstellen,  welche  von  jener  Eintrittsstelle 
durch  den  Kreuzungspunkt  der  Richtungslinie  auswärts    verliefe. 

Ob  und  wo  die  von  einem  Punkte  des  Augengrundes  ausgefahrenen 
Strahlen  sich  in  der  genannten  Richtung  vereinigen,  das  hängt,  wenn  wir 
die  Cornea  und  Linse  in  ihrer  Form  und  Lage  als  unveränderlich  voraus- 
setzen, von  der  Lage  des  leuchtenden  Punktes,  respeclive  der  Netz-  und 
Aderhaut  ab.  a)  Läge  die  Netzhaut  unendlich  weit  hinten,  d.  h.  gingen 
die  von  einem  Punkte  derselben  reflectirten  Lichtstrahlen  unter  einander 
parallel  durch  den  Glaskörper,  dann  vereinigten  sich  dieselben  vor  dem 
Auge  in  der  vordem  Brennpunktsebene,  also  5.%'"  vor  der  Hornhaut. 
b)  Läge  dagegen  die  Netzhaut  in  der  hintern  Brennpunktsebene  (ohnge- 
fahr  10"'  hinter  der  Cornealvorderfläche),  dann  verliefen  die  ausfahrenden 
Strahlen  vor  dem  Auge  parallel  zu  einander,  und  bildeten  einen  Strahlen- 
cylinder,  dessen  Durchschnitt  etwas  grösser,  als  die  jeweilige  Pupille, 
dessen  Achse  die  genannte  Richtungslinie  wäre,  d.  h.  wäre  ein  Auge  so 
fernsichtig,  dass  nur  Strahlen  von    unendlich  fernen    Objeeten    gerade    auf 


Augenspiegel.  65 

der  Netzhaut,  Strahlen  von  näher  gelegenen  Objecten  dagegen  erst  hinter 
derselben  zur  Vereinigung-  kämen,  dann  würden  die  vom  Augengrunde 
ausfahrenden  Strahlen  vor    dem    Auge    unter    einander    parallel    verlaufen. 

c)  Blickte  die  Netzhaut  vor  diese  Grenze  näher  zur  Linse,  so  würden  die 
von  ihr  refleetirten  Strahlen,  woher  sie  aucli  stammten,  nach  ihrem  Aus- 
tritte aus  dem  Auge  noch  divergiren,  und  einen  Kegel  darstellen,  dessen 
Spitze  in  dem  Auge,  dessen  Basis  in    unendlicher   Ferne  zu    suchen  wäre. 

d)  Im  Allgemeinen  liegt  aber  die  Netzhaut  (der  Augengrund)  zwischen 
a  und  b,  und  zwar  nicht  gar  weit  hinter  b:  bilden  demnach  die  von  ihr 
ausfahrenden  Strahlen  vor  dem  Auge  einen  mehr  weniger  langen  Kegel, 
dessen  Basis  auf  der  Vorderfläche  der  Cornea,  dessen  Spitze  bald  mehr, 
bald  weniger  weit  von  dieser  Basis' entfernt  liegt.  «)  Setzen  wir  üen 
Fall,  ein  Auge  sei  für  eine  Objectdislanz  von  12  Zoll  aecommodirt,  d.  h. 
die  aus  einer  Distanz  von  12  Zoll  von  einem  Punkte  ausgehenden  Strahlen 
werden  genau  in  einem  Punkte  der  Netzhaut  vereinigt ,  so  müssen  bei 
diesem  Accommodations-  oder  Refractionszustande  des  Auges  auch  die 
von  einem  Punkte  der  Netzhaut  ausfahrenden  Strahlen  in  der  Distanz  von 
12  Zoll  vor  dem  Auge  zusammentreffen.  Wäre  aber  ein  Auge  so  kurz- 
sichtig, dass  es  ein  12  Zoll  entferntes  Object  nur  durch  Zerstreuungskreise 
wahrnehmen  könnte,  i.  e.  dass  die  von  dem  12  Zoll  entfernten  Objecte 
kommenden  Strahlen  schon  vor  der  Netzhaut  sich  vereinigten,  dann  würden 
die  von  der  Netzhaut  aus  den  Augen  fahrenden  Strahlen  nicht  erst  bei 
12  Zoll,  sondern  näher  an  dem  Auge  sich  vereinigen,  ß)  Wäre  endlich 
ein  Auge  für  ein  fernes  Object  z.  B.  von  20  Fuss  aecommodirt,  so  wür- 
den die  von  irgend  einer  nähern  Lichtquelle  stammenden  Lichtstrahlen, 
z.  B.  aus  2  Fuss  Entfernung,  auf  ihrer  Rückkehr  aus  dem  Auge  nicht  bei 
2,  sondern  bei  20  Fuss  Entfernuug  vor  dem  Auge  vereinigt  werden  — 
Die  ausfahrenden  Strahlen  bilden  daher  unter  den  gewöhnlichen  Verhält- 
nissen einen  Sirahlenkegel,  dessen  Basis  ein  die  jeweilige  Pupillengrösse 
etwas  übersteigendes  Hornhautareal,  dessen  Achse  die  Richtungslinie  des 
refleclirenden  Netzhautpunktes,  und  dessen  Länge  von  dem  jeweiligen  Ac- 
commodationszustande  des  Auges  (Abstand  der  Netzhaut  von  der  Cornea 
und  Linse,  oder  Länge  des  innern  Kegels)  abhängig    ist. 

Von  der  Menge,  Richtung  und  Neigung1  der  ausfahrenden  Strahlen  vor 
dem  Auge  hängt  die  Möglichkeit  ab,  die  Objecte,  von  welchen  sie  ausgehen, 
(also  die  Netzhaut,  Sehnervenpapille,  ChorioHea  u.  s.  w.)  zu  sehen,  denn 
nur  solche  Objecte  können  gesehen  werden,  die  eine  gewisse  Menge  Lichtes 
und  zwar  in  einer  bestimmten  Richtung  in  das  beobachtende  Auge  senden, 
und  deren  Strahlen  zu  einander  eine  bestimmte    Neigung  haben  oder,  was 

Arlt's  Aiizenheilkdiinc  111.  2.  5 


66  Netzhaut. 

dasselbe  bedeutet,  die  unter  einem  bestimmten  Einfallswinkel  auf  die  Horn- 
haut gelangen.  Während  die  ersten  beiden  Bedingungen  wohl  von  selbst 
verständlich  sind,  muss  in  Bezug  auf  die  dritte  noch  bemerkt  werden,  dass 
nur  divergent  oder  nahezu  parallel  zu  unserem  Auge  gelangende  Strahlen- 
auf der  Netzhaut  vereinigt  werden  können,  hingegen  convergent  auffallende 
Strahlen  durch  die  Hornhaut  und  Linse  einen  solchen  Grad  von  Conver- 
genz  erhalten,  dass  sie  sich  schon  mehr  weniger  nahe  an  der  Linse  ver- 
einigen, und  die  Netzhaut  erst  jenseits  dieser  Vereinigung  treffen,  daher 
kein  Bild,  nur  Zerstreuungskreise  auf  derselben  entwerfen  können.  Ebenso 
muss  ausdrücklich  hervorgehoben  werden,  dass  auch  hier,  wie  bei  jedem 
Deutlichsehen  überhaupt,  der  Winkel,  unter  welchem  die  je  zwei  Ohject- 
punkten  (des  zu  beobachtenden  Augengrundes)  zugehörenden  Achsenstrah- 
len (Richtungslinien)  in  das  beobachtende  Auge  gelangen,  i.  e.  der  Seh- 
winkel weder  zu  gross  noch  zu  klein  sein    darf. 

Unter  den  gewöhnlichen  Verhältnissen  ist  die  Menge  der  aus  dem 
Auge  ausfahrenden  Strahlen  zu  gering,  und  die  Neigung  derselben  zu  ein- 
ander eine  convergente,  oder  nahezu  parallele.  Solche  Strahlen ,  in  ein 
beobachtendes  Auge  gelangend,  können  entweder  wegen  zu  geringer 
Menge  gar  keine  Wahrnehmung  der  lichtsendenden  Objecte  (Netz-  und 
Aderhaut)  erregen,  —  die  Pupille  erscheint  schwarz,  oder  sie  vermitteln 
nur  eine  unbestimmte  (formlose)  Wahrnehmung,  —  ein  rölhliches  Auf- 
leuchten des  beobachteten  Augengrundes.  Die  Menge  der  ausfahrenden 
Strahlen  fällt  auch  bei  ziemlich  weiter  Pupille  hauptsächlich  dann  zu  ge- 
ring aus,  wenn  die  ausfahrenden  Strahlen  eine  convergente  Lage  haben, 
weil  dann  das  beobachtende  Auge,  um  sie  aufzunehmen,  sich  dem  beob- 
achteten Auge  gegenüber  stellen,  mithin  jede  stärkere  Beleuchtung  des  zu 
beobachtenden  Augengrundes  hindern  muss.  Könnten  wir  mitten  durch 
eine  vor  unserem  Auge  befindliche  Kerzenfl.imme  hindurch*  in  das  zu 
beobachtende  Auge  schauen,  dann  würden  wir  dessen  Grund  jederzeit 
rotli  aulleuchten  sehen,  und  könnten  wir  überdiess  die  von  demselben 
ausfahrenden  Lichtstrahlen  eines  jeden  Kegels  für  unser  Auge  entsprechend 
divergent,  mindestens  parallel  machen,  dann  würden  wir  die  Gebilde  im 
Grunde  jenes  Auges  auch  ihrer  Form  nach  wahrnehmen ,  die  Netz-  und 
Aderhaut  sehen   können. 

Unter  abnormen  (krankhaften)  Verhältnissen  kann  der  Grund  des  Auges  auch  ohne 
die  angedeuteten  Hifsniiltel  leuchtend,  ja  selbst  sichtbar  werden.  Dringt,  wie  hei  den 
Kakerlaken,  eine  grössere  Menije  diffusen  Lichtes  durch  die  Sclerotica  und  Iris  in  den 
hintern  Augenraum,  so  leuchtet  der  Au  gen  gm  nd  roth  auf.  sobald  wir  auch  nur  einen 
Tlieil    der    zahlreich    rellectirten    Strahlen  aufzufassen    in    die    gehörige  Lage    (Richtung) 


Augenspiegel.  <i7 

kommen.  Dasselbe  findel  statt,  wenn  wegen  stark  erweiterter  Pupille  viel  Lieh!  cin- 
uud  ausstrahlt.  Wird  wegen  ausgebreiteter  Trübung  der  Netzhaut  oder  wegen  stelicn- 
weiser  Pigmentlosjgkeit  der  Cborioidea,  z.  13.  bei  grösserem  Chorioidealspalte  (Colo- 
boma)  ungewöhnlich  viel  Licht  reflectirt,  so  leuchtet  der  Augengrund  auch  bei  matter 
Beleuchtung  in  der  Farbe  der  vorwaltend  reflectirten  Strahlen.  —  Rückt  die  Netzhaut 
abnorm  vorwärts,  wobei  sie.  wie  bei  Ablösung  von  der  Chorioidea  durch  Exsudat,  auch 
getrübt  wird,  dann  müssen  die  von  ihr  zahlreich  reflectirten  Strahlen  vor  dein  Auge 
divergent  verlaufen,  und  können  in  hinreichender  Menge  und  in  bestimmter  Entfernung 
von  einem  beobachtenden  Auge  aufgenommen,  auf  dessen  Netzhaut  ein  Bild  der  beob- 
achteten Netzhaut  erzeugen.  Strahlen,  aus  der  Gegend  der  hintern  Kapsel  reflectirt, 
gehen  uns,  weil  sie  stark  divergent  aus  dem  Auge  treten,  ein  aufrechtes  und  vergrös- 
sertes  Bild  des  Objectes,  von  dem  sie  ausgehen,  so  wie  wir  die  Iris,  die  Pupille,  einen 
vordem  Centralkapselstaar  u.  s.  w.  immer  etwas  vergrössert  sehen,  indem  die  von 
ihnen  ausfahrenden  Strahlen  vermöge  des  Durchganges  durch  das  Kammerwasser,  die 
Cornea  und  die  Luft  mehr  divergent  zu  unserem  Auge  gelangen,  als  es  ohne  Dazwi- 
sohenkunft  der  Cornea  der  Fall  sein  würde.  In  allen  Fällen,  wo  das  die  Lichtstrahlen 
reflectirende  Object,  z.  B.  die  vorwärts  gedrängte  Netzhaut,  eine  Trübung  an  der  hintern 
Kapsel  u.  dergl.  innerhalb  der  Brennweite  der  vor  ihm  liegenden  dioptrischen  Medien 
liegt,  wirken  diese  so  wie  eine  Loupe,  und  liefern  dem  beobachtenden  Auge  ein  auf- 
rechtes, mehr  weniger  vergrössertes  Bild.  —  Dass  bei  von  Cataracta  Geheilten  der 
Grund  des  Auges  weder  leuchtend  noch  sichtbar,  im  Gegentheil  die  Pupille  auffallend 
schwarz  erscheint,  obwohl  die  Netzhaut  nun,  wo  die  Linse  fehlt,  so  weit  vor  der 
Vereinigungsweite  für  terrestrische  Gegenstände  liegt,  dass  die  von  ihr  ausfahrenden 
Strahlen  vor  dem  Auge  wenigstens  parallel  verlaufen,  hat  seinen  Grund  wohl  darin, 
dass  bei  fehlender  Linse  die  Pupille  immer  relativ  sehr  eng  ist,  und  dass,  wenn  sich 
die  Pupille  ja  stark  erweitern  lässt,  in  den  meisten,  wo  nicht  in  allen  Fällen  nur  ein 
kleines  Areal  hinter  ihr  frei  von  trüben  Kapsel-  und  Linsenresten  ist,  welche  das  Er- 
kennen der  tiefer  gelegeneu  Objecte  :  hindern.  (Wenn  wir  den  Gehörgang  mit  dem 
Ohrenspiegel  untersuchen,  ist  ein  einziges  Haar,  welches  in  das  Lumen  des  Spiegels 
hereinragt,  im  Stande,  uns  in  der  Unterscheidung  der  Einzelheiten  des  Trommelfelles  zu 
hindern.)  —  Eine  in  den  Glaskörper  hineinragende  melanotische  Ablagerung  könnte, 
obwohl  innerhalb  der  Brennweite  der  vor  ihr  liegenden  Medien  gelegen,  nicht  sichtbar 
werden,  wenn  sie  zu  viel  Licht  absorbirte.  Aus  diesem  Grunde  können  uns  auch  dunkle 
Glaskörpertrübungen  trotz  beträchtlicher  Grösse,  z.  B.  Blutergüsse,  nicht  sichtbar  wer- 
den. —  Liegt  der  Augengrund  dagegen  abnorm  tief  hinter  der  Hornhaut  und  Linse, 
dann  kann  von  den  Strahlen,  welche  ein  Punkt  daselbst  reflectirt,  ceteris  paribus  we- 
niger Licht  aus  dem  Auge  herausgeworfen  werden,  weil  eben  dieser  lichtseridende 
Punkt  weiter  von  der  Linse  und  Hornhaut  entfernt  ist,  und  die  jedem  Lichtkegel  ange- 
hörende Menge  von  Lichtstrahlen  an  der  gleichen  Basis  des  Kegels  sich  umgekehrt  wie 
das  Quadrat  der  Entfernung  derselben  vom  leuchtenuen  Punkte  verhält.  Dies  ist  wohl 
der  Grund,  warum  die  Pupille  des  Kurzsichligen  ceteris  paribus  reiner  schwarz  erscheint, 
warum  Augen  mit  nachweisbarer  auffallender  Pigmentarmuth  in  der  Gegend  des  hintern 
Poles  dennoch  eine  tief  schwarze  Pupille  zeigen,  sofern  sie  in  der  Richtung  der  Seachse 
verlängert  sind,  was  sich,  wie  wir  in  dem  Capitel  über  Kurzsichtigkeit  zeigen  werden, 
anderweitig  constatiren   lässt. 

5* 


68  Netzhaut. 

Nachdem  Brüche  den  Vordersatz  nachgewiesen  hatte,  dass  vom  Grunde  des  Auges 
Licht  reflectirt  werde,  war  es  dem  gleich  genialen  Königsh erger  Professor  Helfhhoh  vor- 
behalten, die  Gründe  zu  erkennen,  warum  wir  die  Netzhaut  nicht  sehen,  und  die  Mittel 
zu  finden,  um  dieses  letztere  zu  ermöglichen.  Die  Aufgabe  war  eine  dreifache :  der  zu  beob- 
achtende Augengrund  musste  hinreichend  beleuchtet,  das  beobachtende  Auge  in  die  Richtung 
der  ausfahrenden  Strahlen  versetzt,  und  diesen  selbst  musste.  ohne  zu  grosse  Beeinträchti- 
gung ihrer  Menge  und  des  Sehwinkels  für  das  beobachtende  Auge  eine  solche  Neigung  zu 
einander  fein  solcher  Einfallswinkel)  gegeben  werden,  dass  sie  auf  der  beobachtenden  Netz- 
haut zu  einem  Bilde  zusammen  treten  können,  die  ausfahrenden  Strahlen  mussten  aus  conver- 
genten  in  parallele  oder  divergente  verwandelt  werden.  Die  Lösung  war  der  Hauptsache  nach 
gegeben,  wenn  man  das  Licht  einer  Lampe  in  einem  verfinsterten  Zimmer  so  auf  eine  gut 
polirte  Glasplatte  fallen  Hess,  dass  die  davon  reflectirten  Strahlen  in  das  zu  beobachtende  Auge 
gelangten,  der  Beobachter  von  der  Rückseite  der  Glasplatte  durch  dieselbe  in  das  beobachtete 
Auge  schaute,  und  vor  sein  Auge  ein    Concavglas  von  6—12  Zoll  Brennweite  hielt. 

Es  sei,  wie  in  Fig  1.  G  das  beobachtende,  D  das  beobachtete  Auge,  A  die  Flamme 
und  C  die  Glasplatte,  alle  in  ziemlich  gleicher  Höhe  über  dem  Fussboden  in  einem 
finstern  Zimmer.  Bei  einer  Anordnung,  wie  ohngefähr  in  beistehender  Figur,  fällt  von 
der  Vorderseite  des  Glases  Licht  in  das  Auge  D  und  von  der  Rückseite  kann  das  Auge 
G  Licht  erhalten ,  welches  vom  Grunde  des  Auges  D  reflectirt  wird  und  durch  die 
Glasplatte  durchgeht  So  ist  es  für  G  möglich,  in  derselben  Richtung  in  das  Ausre  D 
zu  schauen,  in  welcher  hinreichendes  Licht  in  dasselbe  einfällt  und  aus  demselben  aus- 
fährt; so  empfängt  G  Licht  aus  der  Tiefe  von  D  und  sieht  dessen  Pupille  scheinbar 
leuchten.  Damit  aber  G  die  Einzelnheiten  des  Augengrundes  von  D  zu  unterscheiden 
vermöge,  müssen  noch  die  von  jedem  einzelnen  Punkte  desselben  ausfahrenden  Strahlen- 
kegel wieder  in  je  einem  Punkte  der  Netzhaut  G  vereinigt  werden  können,  und  müssen 
überdiess  die  den  zu  sehenden  Netzhautpunkten  von  /)  entsprechenden  Richtungslinien  in 
dem  Auge  G  einen  weder  zu   kleinen  noch  zu  grossen  Winkel  (Sehwinkel)  einschliessen. 

Suchen  wir  zunächst  die  Vereinigungsweite  und  zeichnen  wir  uns  wie  in  Fig.  1  den 
Gang  der  Lichtstrahlen  für  einen  leuchtenden  Punkt  von  D.  —  Von  den  Strahlen, 
welcher  dieser  Punkt  aussendet,  gelangt  ein  Kegel  schräg  auf  die  Glasplatte.  Ein  Theil 
hieven  gehl  in  unveränderter  Richtung  durch,  mithin  verloren  ;  ein  Theil  wird  gegen  D 
hin  reflectirt,  und  zwar  regelmässig,  mithin  unter  solcher  Richtung  und  Neigung  (Diver- 
genz), als  käme  er  von  dem  imaginären  Punkte  ß,  welcher  (wie  die  gestrichelten 
Linien  zeigen)  eben  so  weit  hinler  der  Glasplatte  liegt,  als  .4  vor  derselben.  Von  den 
gegen  D  hin  reflectirien  Strahlen  können  nur  die  zwischen  ac  und  1><I  liegenden  durch 
die  Pupille  eindringen,  doch  geht  auch  von  diesen  ein  Theil  durch  Reflexion  verloren, 
namentlich  an  der  Vorderfläche  der  Cornea,  wo  ein  die  Beobachtung  mehr  weniger  stö- 
rendes Spiegelbild  entsteht.  Von  diesem  wie  von  dem  Verlusste  durch  unregelmässige 
Reflexion  wollen  wir  vorläufig  absehen.  Die  in  das  Auge  /)  eindringenden  Strahlen 
werden  ihrer  Richtung  nach  durch  Base,  ihrer  Convergenz  nach  durch  die  Entfernung 
des  Punktes  ß  (.1)  von  1)  bestimmt,  wenn  x  den  Kreuzungspunkt  der  Rieh  tun  gslinien 
bezeichnet.  Liegt  />  in  den  Grenzen  der  deutlichen  Sehweite  für  />,  und  ist  I)  für  die 
Entfernung  von  li  aecommodirt.  so  fällt  die  Spitze  des  innern  Kegels  in  I)  auf  die  Netz- 
haut, und  zwar  auf  die  Macula  lutea  (o).  falls  I)  nach  B,  d.  i.  nach  dein  Spiegelhilde 
auf    der   Glasplatte   visirt,    hingegen    auf   die  Sehnervenpupille  fe),    falls  /»,    wie    in  der 


Augenspiegel. 


69 


Zeichnung,  neben  der  scheinbaren  Flamme  nach  //  visirt,  und//  ebenso 
weit  von  D  abstellt,  als  B.  Wäre  D  für  einen  merklich  näheren  oder 
ferneren  Punkt  aceoinmodirt,  so  fiele  der  Vereinigungspunkt  der  Licht- 
Strahlen  vor  oder  hinter  die  Netzhaut,  und  diese  würde  in  dein  einen 
wie  in  dem  andern  Falle  in  grösserer  Ansdehuung  (Zerstreuungs- 
kreis), wenn  auch  minder  intensiv  beleuchtet. 

Welchen  Gang    nehmen  nun    die  von  e  refleclirten  Strahlen?  a) 
Fällt  die  Spitze  des  inneren  Kegels  der  einfallenden  Strahlen  gerade 
auf  die  Netzhaut,  d.  h.  ist  ü  für  B  oder  //  aecom- 
modirt,   so    müssen  die  ausfahrenden  Strahlen  so- 
wohl in  als  ausser  dem  Auge  D  genau  denselben 
Weg  gehen,  den  die  einfallenden  hatten.  Betrachten 
wir  zuerst  diesen  Fall,  welcher  in  Fig.  1  für  einen 
einzigen  Netzhautpunkt  ausgeführt  ist.  Die  von  dem 
Netzhautpunkte  e  aus  dem  Auge  reflectirten  Strahlen 
gelangen    in     dem    convergirenden    (abgestuzten) 
Kegel  edab   zur  Glasplatte ;    ein  Theil  davon  wird 
nach  A  reflectirt,  der  andere  geht  in  unveränderter 
Richtung    und  Neigung  (Convergenz)  fort, 
ld  würde  sich  demnach  in  B  ver- 
nigen   darüber  hinaus  wieder  aus- 
r    fahren,     a)    Stellt 
nun  das  Auge  G 


/''.  denselben  noch  vor  die- 

\  „-"''        ser  Vereinigung  entgegen,  so  er- 

\'''  hält  es  von  e  convergente  Strah- 

_-''  leri.   Diese  würden  aber  durch  den  diop- 

,''"        trisehen  Apparat  von  G  noch  mehr  convergent, 

müssten  sich  mithin  schon  mehr  weniger  nahe 

hinler   der   Linse  vereinigen   und  würden  die  Netzhaut 

erst  jenseits  dieser  Vereinigung  treffen,   könnten  mithin 

wohl   die   Empfindung    von    Licht,    durchaus    aber  kein 

Bild  von  e  im  Auge  G  -zu  Stande  bringen.    Halten  wir 

aber  vor  das  Auge  G  ein  Concavglas  L  von  geeigneter 

Brennweite,  so  können  wir    den  convergirenden  Kegel 

abfg   in  den  divergirenden   fyki  verwandeln,    d.  h.  den 

von  e  zu  G  strebenden  Strahlen  einen  solchen  Grad  von 

Divergenz    geben,    dass   sie,   den   dioplrischen  Apparat 


70  Netzhaut. 

von  G  passirend,  genau  in  einem  Punkte  der  Netzhaut  (II)  vereinigt  werden,  in  k  ein 
Bild  von  e  entwerfen.  —  ß)  Das  Vorhalten  des  Concavglases  L,  welches  immer  einen 
Theil  der  Strahlen  durch  Reflexion  versplittert,  könnte  vermieden  werden,  wenn  sich 
das  Auge  G  erst  jenseits  von  ß,  also  in  einer  Entfernung  aufstellen  würde,  wo  die 
Sirahlen  des  Kegels  cdfg  wieder  aus  einander  fahren,  mithin  divergirend  auf  das  Auge 
G  fallen  würden.  Da  aher  die  Pupille  von  D  auch  hei  starker  Erweiterung  noch  immer 
sehr  klein  ist,  relativ  zu  der  Entfernung,  in  welcher  sich  das  Auge  G  aufstellen  müsste, 
so  würde  rücksichtlich  des  einem  leuchtenden  Punkte  entsprechenden  Kegels  die  zu  k 
gelangende  Menge  von  Lichtstrahlen  eine  relativ  zu  geringe  sein,  rücksichllich  des  Win- 
kels aber,  den  die  Richtungslinien  von  je  zwei  leuchtenden  Punkten  der  Netzhaut  I)  in 
dem  Auge  G  bilden  könnten,  dieser  Winkel  (Sehwinkel)  so  klein  ausfallen,  dass  eine 
Unterscheidung  von  so  kleinen  Objecten,  wie  die  Nelzhautgefässe  etc.  nicht  mehr  möglich 
sein  würde. 

b.     Fällt    in    dem  Auge  D    die  Spitze   des  innern  Kegels    der  einfallenden  Strahlen 
nicht  auf  die  Netzhaut,  sondern  vor   oder  hinter  dieselbe,    d.  h.  will  oder  kann  sich  das 
Auge  D  nicht  für  die  Distanz  des  leuchtenden    Objectes  A  accomniodiren«  dann    nehmen 
die  ausfahrenden  Strahlen   eines  lichtreflectirenden  Netzhautpunktes  nicht  denselben   Weg, 
wie  die  einfallenden  Strahlen  eines  entsprechenden  leuchtenden  Objectes,  sie  haben  eine 
andere  Neigung  zu  einander.     Um  dies  zu  erörtern,  wird  es  genügen,   den  einen  Fall  zu 
betrachten,    den  nämlich,    wo    die    einfallenden  Strahlen    sich  merklich   vor  der  Netzhaut 
vereinigen,    wie   diess  geschieht,    wenn    ein  Auge  D  kurzsichtig   ist,    oder  wenn  (wovon 
später)  einem    normalen    Auge  ein   Couvexglas    vorgehalten  wird.  —  Denken  wir  uns  in 
Fig.  2  das  zu  untersuchende  Auge  D  in  der  Sehachse  merklich  verlängert,  übrigens  vor- 
läufig Alles  wie  in  Fig.   1.     Offenbar  werden  jetzt    die  von  A  in  das  Auge  D   gelangten 
Strahlen    sich    vor   der    Netzhaut  (in  e)   vereinigen    und    auf   der  Netzhaut  rings    um    den 
Punkt    n    (verlängerte    Richtungslinie)    einen    Zerstreuungskreis    bilden.      (Der    Gang    der 
einfallenden    Strahlen    ist   in    Fig.    2    durch    die    punktirten  Linien  bezeichnet.)     Jeder  in 
diesem    Zertreuungskreise    gelegene  Punkt  der  Netzhaut  kann  nun  Licht  reflectiren.     Be- 
trachten   wir  den  Gang  jener  Strahlen,    welche  von  dem  in  der   verlängerten  Richtungs- 
linie   nx  gelegenen  Netzhautpunkte    n  ausfahren,    so  erhalten   wir  den  Kegel  ncd   (durch 
die  ausgezogenen  Linien  angedeutet),  welcher  also  nicht  mit  eccl  zusammenfällt.    Da  nun 
dessen    Spitze   weiter    hinter    der  Trenntingsebene  cd  liegt,    so  muss  auch  die  Spitze  des 
äussern   Kegels  naher  am  Auge  D  liegen,  also  zwischen  B  und  D,  nehmen   wir  an  in  A. 
Ist  nun  DN  die  Vereinigungsweite  der  ausfahrenden  Strahlen,  was  so  viel  heisst,  als  das 
Auge  D  würde  ein  in  0  befindliches  Object  deutlich  sehen   (I)F\—DO)  in  der  Sehachse), 
so  werden  die  von  n    ausfahrenden  Strahlen  vor  und  hinter  der  Glasplatte  gegen   N   hin 
verlaufen.     Die   von    der    Glasplatte    nicht    durchgelassenen,    sondern  regelmässig    reflec- 
tiiten  Strahlen  würden  sich  in  M  vereinigen,  wenn  CM=CN,    die  durchgelassenen   in   N. 
Vi  enn  nun  JV  nahe  an   D  liegt,  wie  bei  höheren  Graden  von   Kurzsichtigkeit,  so  wird  die 
Entfernung,    in  welcher  sich  das  Auge  G  hinter  der  Glasplatte  aufzustellen  hat,    um  hin- 
reichend   divergente  Strahlen    zu    empfangen,    nicht  mehr  zu  gross  sein,    wie  im  vorigen 
Falle,    und    es  ist  dann   nicht   nothwendig,    vor    G    ein  Concavglas  zu    halten,    namentlich 
dann    nicht,    wenn   sich    G  für  die  Distanz  von    GX  aecommndiren   kann,    wenn   es,     wie 
wir  in  Kig    2  durch  Verlängerung  des  Bulbus  G  anzudeuten  suchten,  entsprechend  kurz- 
sichtig ist.   (Es  sieht  dann,  wie  wir  später  noch  zeigen  werden,  die  Objecte  des  Augen- 
grundes von  1)  verkehrt  und  vefgrössert) 


All«€'!l*|>i«'!SI'l. 


7t 


A 


B 


72  Netzhaut. 

Untersuchen  wir  nun,  in  welcher  Anordnung  zu  einander,  und  unter  welchem 
Sehwinkel  zwei  Punkte  einer  beleuchteten  Netzhaut  (D)  von  einem  Beobachter  (G)  ge- 
sehen werden  können,  und  wählen,  wie  in  Fig.  1,  hiezu  zwei  normale  Augen.  Es  sei  in 
Fig.  3  kleine  Flamme  von  dein  Durchmesser  «6  =  8"',  die  Glasplatte  C  einen  Zoll  von 
D  entfernt,  die  Distanz  AC  =  4  Zoll,  und  das  beobachtete  Auge  D  für  die  Distanz 
der  Flamme  (also  auf  5  Zoll)  aecommodirt,  so  dass  D  die  Flamme  scheinbar  in  B 
deutlich  sehen  würde  (AB^AC).  Von  dem  einen  Punkte  b  gelangt  ein  (durch  die  aus- 
gezogenen Linien  bezeichneter)  Strahlenkegel  auf  die  Glasplatte  und  von  da  auf  die 
Hornhaut  (cd) ,  und  wird  auf  der  Netzhaut  von  D  in  ß  vereinigt.  Um  zu  finden,  wo 
ß  liegt,  denke  man  sich  eine  gerade  Linie  von  6',  welches  eben  so  weit  hinter  der 
Glasplatte  liegt,  als  b  vor  derselben,  durch  den  Kreuzungspunkt  der  Richtungslinien  (x) 
gezogen.  Auf  gleiche  Weise  findet  man,  an  welchem  Punkte  der  Netzhaut/)  die  von 
a.  scheinbar  von  a',  einfallenden  Strahlen  vereinigt  werden,  nämlich  in  «,  wie  diess 
in  Fig.  3  die  punktirten  Linien  anzeigen.  Denkt  man  sich  nun  mit  dem  rechten  Auge 
an  die  Stelle  von  G,  und  das  rechte  Auge  des  Beobachteten  an  die  Stelle  von  D,  so 
ergibt  sich  nach  der  Zeichnung,  dass  auf  der  beobachteten  Netzhaut  D  ein  verkleinertes 
Bild  aß  von  der  Flamme  ab  entsteht,  und  dass  der  Beobachtete  (D)  das  Flanunenbild 
wie  jedes  Spiegelbild  überhaupt  verkehrt  sehen  muss  ;  denn  was  dem  Auge  D  links 
liegt  (6),  wird  auf  seiner  Netzhaut  links  (in  ß)  abgebildet,  mithin  so  wahrgenommen' 
als  läge  es  rechts  von  dem  Mittelpunkte  im  Sehfelde,  nämlich  in  b'.  —  Ist  die  Distanz 
zwischen  a  und  b  =  8'",  der  Abstand  der  Flamme  A  (oder  ab)  von  dem  Auge  D  = 
5",  dann  wird  die  Distanz  zwischen  a  und  ß  ohngefähr  1'"  sein,  in  Übereinstimmung 
mit  dem  früheren  Satze  von  Volkmann,  dass  das  Netzhautbild  eines  10  Zoll  entfernten 
Objectes  ohngefähr  16mal  kleiner  ist,  als  das  Object  selbst.  Die  ganze  Flamme  A  wird 
also  in  den  Grenzen  aß  auf  der  Netzhaut  deutlich  abgebildet  sein,  und  das  ganze  Netz- 
hautareal  ist  nun  hinlänglich  beleuchtet.  —  Welchen  Weg  nehmen  nun  die  von  jedem 
einzelnen  Punkte  dieses  Netzhautareals  ausfahrenden  Strahlen  bis  zur  Netzhaut  von  G, 
und  wo  treffen  sie  dieselbe  ?  Betrachten  wir  von  dem  beleuchteten  Netzhautareal  aß 
die  beiden  Grenzpunkle  a  und  ß.  Da  D  für  die  Distanz  von  B  aecommodirt  ist,  so 
nehmen  die  von  ß  reflectirten  Strahlen  in  und  ausser  dem  Auge  D  genau  denselben 
Weg,  wie  die  einfallenden,  convergiren  also  nach  ihrem  Austritte  aus  D  gegen  den 
Funkt  />',  wie  die  (gezogenen)  Linien  elf  und  ce  andeuten ;  eben  so  werden  die  von  « 
reflectirten  Strahlen  von  dem  Auge  D  gegen  a'  hin  verlaufen  (wie  die  punktirten  Li- 
nien dg  und  ch  anzeigen).  Treffen  nun  die  Kegel  edef  und  edgh  auf  die  Concavlinse  L, 
und  werden  sie  durch  diese  dem  für  die  Entfernung  GE  eingerichteten  Auge  G  ent- 
sprechend divergent  gemacht,  so  werden  die  von  a  ausgegangenen  Strahlen  durch  den 
dioptrischen  Apparat  von  G  in  dem  Punkte  «',  die  von  ß  ausgegangenen  in  dem 
Punkte  ß'  vereinigt,  so  als  kämen  sie  von  a"  und  ß".  Das  Auge  G  sieht  mithin  a 
links,  ß  rechts  vom  Centrum  des  Sehfeldes,  und  beide  Punkte  weiter  aus  einander 
gerückt ;  es  sieht  mithin  das  betrachtete  Netzhautareal  in  der  wirklichen  Lage  (aufrecht) 
und  etwas  grösser  als  die  ursprüngliche  Flamme,  somit  die  einzelnen  Theile  des  Netz- 
hautareals bedeutend  vergrössert,  so  dass  es  dieselben  deutlich  (hinreichend  beleuchtet 
und  unter  gehörig  grossem  Sehwinkel)  sehen,  mithin  unterscheiden  kann.  Das  Auge  G 
sieht  demnach  die  zwischen  aß  gelegenen  Netzhauttheile  von  D  in  der  Entfernung 
von  E  und  das  ganze  Areal  aß  in  einem  etwas  grössern  Areal  als  a"  ß",  wie  sich 
leicht    ergibt,    wenn  man    von  a'  und    ß'  gerade    Linien   durch    .<•'    gezogen   und    bis  zur 


Augenspiegel. 


74  Netzhaut. 

Entfernung  von  E  verlängert  denkt.  Von  «  und  von  ß  können  schon  nicht  mehr  hIIü 
Strahlen  nnch  a'  und  ß'  Strich  gelangen,  woraus  man  sieht,  dass  das  Sehfeld  bei  dieser 
Untersuchungsvveise  ein  ziemlich  beschranktes  ist. 

Die  Helmholz'sche  Methode  leidet  an  zwei  Übelständen,  an  relativ 
zu  geringer  Beleuchtuno;  des  Augengrundes,  und  an  Störung  des  Beobach- 
ters durch  das  oberwähnte  Spiegelbild  der  Cornea.  Der  exacte  Physiker 
verminderte  dieselben  so  weit,  als  es  bei  dem  dieser  Methode  zu  Grunde 
liegenden  Principe  überhaupt  möglich  war;  er  nahm  vier  statt  einer  Glas- 
platte (Polarisation  des  Lichtes),  und  fügte  sie  in  ein  innen  geschwärztes 
Gehäus  so  ein,  dass  beim  Gebrauche  des  Apparates  die  Strahlen  unter  einem 
Winkel  von  56  Graden  auffallen,  und  nach  ihrer  Rückkehr  aus  dem  Auge 
und  durch  die  Glasplatten  eine  möglichst  nahe  hinter  diesen  befindliche 
Concavlinse  passiren  müssen,  welche  je  nach  dem  Refractionszustande  des 
beobachteten  und  beobachtenden  Auges  verschieden  zu  wählen  sind.  *)  — 
Das  Bedürfniss,  diese  Übelstände  weiter  zu  beseitigen,  führte  bald  zu  we- 
sentlichen Modifikationen.  Zunächst  nahm  unter  Prof.  Dunders  Anleitung 
der  Mechanikus  Epkens**)  in  Amsterdam  einen  belegten  Glasspiegel,  be- 
seitigte an  einer  ohngefähr  der  Pupillengrösse  entsprechenden  Stelle  in 
der  Mitte  das  Amalgam,  um  durch  diese  Öffnung  in  das  zu  untersuchende 
Auge  zu  blicken ,  und  Hess  mittelst  einer  convexen  Linse  convergentes 
Licht  auf  den  Spiegel  und  in  das  zu  beobachtende  Auge  fallen,  Ruete***) 
wählte  zum  Reflector  einen  concaven  in  der  Mitte  durchbohrten  Metall- 
spiegel ,  und  gab  dem  von  hier  aus  in  das  zu  beobachtende  Auge  rcflec- 
tirten  Lichte  einen  erhöhten  Grad  von  Convergenz  durch  eine  vor  das- 
selbe gehaltene  Convexlinse,  welche  zugleich  dazu  diente,  das  aus  dem 
Auge  zurückkehrende  Licht  zu  einem  umgekehrten  Netzhautbilde  in  oder 
nächst  ihrer  Brennweite  zu  sammeln  und  dieses  dem  Beobachter  in  geeig- 
neter Distanz  als  Sehobject  darzubieten.  Dem  Epkens-Donders'schen  Ap- 
parate, von  welchem  Schauenburg  (Jahr  1854J  eine  genaue  Abbildung 
und  Beschreibung  gegeben  hat,  so  wie  dem  Ruefe' sehen,  rücksichtlich 
dessen  näherer  Schilderung  wir  auf  Ruele's  neuere  Schriften  verweisen 
müssen,  fällt  bei  den  grossen  Vortheilen,  welche  sie  darbieten,  vorzüglich 
die  Beschwerlichkeit  ihrer  Handlung  für  den  praktiscken  Arzt  zur  Last, 
wogegen  die  Spiegel  von  Coccius ,  f)  Zehender ,  ff)  Ed.  Jäger  und 
Stellwag,  fff)  welche  im  Wesentlichen  auf  denselben  Principien  Füssen, 
wenig  zu  wünschen  übrig  lassen. 

°)  Beschreibung  eines  Augenspiegels,  Berlin  1651.  ")  Neilerl.  Weekblaii  voor  ncnccskundigen,  21.   Dec     1851. 

'   )    Der  Augenspiegel   und  das  Optometer.  Göttingen   1852.     t)  Über  die  Anwendung  des  Augenspiegels,  Leipzig  >-■■ 
tt)  von  Gracßs  Archiv  für  Ophlhalomologie,    Berlin   1Ö54.         t+t)  Theorie  dei  Augenspiegel,   Wien   1654. 


Aiigi'iiKjm'Kcl.  75 

Ich  muss,  der  Grenzen  dieser  Abhandlung  eingedenk,  mit'  eine  weilere  Beschrei- 
bung  dieser  Instrumente  verzichten,  und  will,  bevor  ich  zur  Anleitung  der  Gebrauchs- 
weise des  CocciWschen  Spiegels  übergehe,  der  als  Prototyp  der  späteren  gelten  mag, 
nur  noch  einige  Erörterungen  aus  einein  Aufsätze  von  Heimholt  aufnehmen,  welchen 
dieser  ausgezeichnete  Korseber  1852  in  Vierordt's  Archiv  für  physiologische  Heilkunde 
veröffentlicht  hat. 

Ist   in  Fig.  4  A   ein   leueblender  Punkt,  das  zu  beobaehlende  Auge  ß  für  die  Enll'cr- 

4L  Fial 


nung  AB  adaptirt,  und  C  das  Bild  jenes  leuchtenden  Punktes  A  auf  der  Netzhaut  von 
ß,  dann  werden  die  von  C  reflectirten  Strahlen  wieder  nach  A  zurückkehren,  und  ein 
Auge  D,  welches  neben  A  vorbei  nach  ß  hinblickt,  kann  von  dem  rückkehrenden  Liebte 
nichts  auffangen,  siebt  die  Pupille  schwarz.  (Der  Gang  der  Lichtstrahlen  ist  für  diesen 
Fall  durch  die  ausgezogenen  Linien  bezeichnet.)  Anders  verhalt  sich's,  wenn  B  nicht 
für  die  Entfernung  des  lichtsendenden  Objectes  adaptirt  ist.  Seine  Sehweite  bleibe  wie 
vorher  gleich  der  Entfernung  AB,  aber  der  leuchtende  Punkt  rückt  von  A  nach  E. 
Jetzt  würde  der  Vereinigungspunkt  der  von  E  ausgehenden  Strahlen  hinter  die  Netzhaut 
fallen,  etwa  nach  F,  und  die  Netzhaut  würde  in  einem  Kreise  (von  dem  Durchmesser) 
.aß  beleuchtet.  Da  der  Refractionszustand  von  ß  für  die  Distanz  AB  eingerichtet  ist,  so 
werden  die  Strahlen,  die  irgend  ein  beleuchteter  Punkt  von  aß  reflectirt,  in  der  Ent- 
fernung von  AB  vereinigt,  und  zwar  z.  B  von  «  in  der  verlängerten  Richtungslinie  ax 
also  in  cc',  und  von  ß  in  ß'.  (Der  Gang  der  einfallenden  Strahlen  ist  für  diesen  Fall 
durch  die  punktirten,  der  Gang  der  reflectirten  von  a  durch  die  gestrichelten  Linien 
bezeichnet:  für  ß  ist  bloss  die  Richtungslinie  bis  ß'  ausgeführt.)  Unter  solchen  Verhält- 
nissen kann  D  einen  Theil  des  von  aß  reflectirten  Lichtes  auffangen,  so  lange  es  sich 
zwischen  den  Grenzen  von  «'  und  ß'  befindet,  und  sieht  die  Pupillen  von  ß  rolh  auf- 
leuchten. —  „Dieses  Aufleuchten  ist  um  so  stärker,  je  weniger  der  Reflectionszustand 
des  beobachteten  Auges  für  die  Entfernung  des  leuchtenden  Körpers  eingerichtet  ist. 
Die  Verändeiungen  im  brechenden  Apparate  des  Auges  bei  der  Accommodation  für  die 
verschiedensten  Entfernungen  sind  aber  niemals  sehr  bedeutend,  daher  die  Zerstreuungs- 
kreise, welche  bei  unpassender  Adaption  entstehen,  stets  von  geringer  Grösse  und  so- 
mit das  Leuchten  —  in  dieser  Art  zuerst  von  Brcüke  beobachtet  —  immer  nur  schwach. 
Aber  man  kann  die  Sehweite  des  zu  beoachtenden  Auges  künstlich  in  sehr  beträcht- 
lichem Grade  verändern,  wenn  man  ihm  ein  scharfes  Convex-  oder  Concavglas  vor- 
setzt. Ebenso  wie  man  ein  weitsichtiges  Auge  durch  ein  vorgesetztes  Convexglas,  ein 
kurzsichtiges  durch  ein  Concavglas  normalsichtig  macht,  wird  ein  normalsiehtiges  durch 
ein  vorgehaltenes  Concavglas  einem  weitsichtigen  ähnlich,  durch  ein  Convexglas  einem 
kurzsichtigen.  Wenn  man  ein  Convexglas  von  1  '/2;/  Brennweite  vor  das  Auge  hält,  so 
kann  man  nur  solche  Gegenstände  noch  deutlich  sehen,  welche  nahehin  1 1/,2"  hinter  die- 
sem Glase  liegen;  alle  entfernteren  entwerfen    Bilder  mit  so  grossen  Zerstreuungskreiseu 


76 


Netzhaut. 


auf  der  Rotina,  wie  es  sonst  bei  den  grössten  Veränderungen  der  Sehweite  nie  gesche- 
hen kann.  Das  ist  aber  ausserordentlich  vortheilhäft,  wenn  in  diesem  Auge  das  Brücke- 
sche Leuchten  beobachtet  werden  soll.  Durch  diese  geringe  Modifikation  des  Brüclte- 
schen  Versuches  kann  eine  ganz  ausreichende  Beleuchtung  des  Augengrundes  für  den 
Beobachter  hervorgebracht  werden".  (Helmhoh-.)  —  In  Fig.  5  sei  A  die  Flamme,  D  das 
beobachtende,  B  das  beobachtete  Auge,  S  ein  Schirm  hinter  der  Flamme,  neben  wel- 
chem   das  Auge    ü    nach  B  hinblickt,  und  L  eine  Convexlinse  von  der  Brennweite    LF, 


S 


0* 


A 


die  Distanz  LB  kleiner  als  LF.  Strahlen,  die  von  irgend  einem  Punkte  der  Flamme  A 
durch  die  Linse  L,  also  convergent  nach  B  gelangen,  werden  durch  dessen  dioptrischen 
Apparat  schon  mehr  weniger  weit  vor  der  Netzhaut  vereinigt  (etwa  in  0),  und  treffen 
die  Netzhaut  B  erst  als  Zerstreuungskreis  aß.  Das  Auge  B  sieht  nunmehr  vor  sich  eine 
lichte  Scheibe  und  kann  sich  im  Allgemeinen  nicht  (ausser  mit  Hilfe  des  andern  Auges) 
für  eine  bestimmte  Distanz  accomodiren,  verhält  sich  rücksichtlich  der  Accommodation 
passiv,  d.  h.  ist  in  einem  für  parallel  einfallendes  Licht  adaptirten  Refractionszustande 
(wenn  es  nicht  kurzsichtig  ist).  Unter  solchen  Umständen  werden  die  von  den  einzelnen 
Punkten  des  lichten  Kreises  aß  reflectirten  Strahlen  nach  ihrem  Austritte  aus  dein  Auge  pa- 
rallel, also  als  Cylinder  fortgehen,  deren  Richtung  durch  den  leuchtenden  Punkt  und  durch 
den  Kreuzungspunkt  x  bestimmt  wird.  Die  Strahlen  nun,  welche  von  irgend  einem  Punkte 
des  beleuchtenden  Netzhautareals  reflectirt  werden  und  unter  sich  parallel  aus  dem  Auge  aus- 
fahren, werden  durch  die  Linse  L  in  deren  jenseits  gelegener  Brennpunktsebene  F  («'/?') 
vereinigt.  Es  wird  also  in  der  Fläche  a'ß'  ein  (verkehrtes  und  vergrössertes)  Bild  von  dein 
Netzhautareal  aß  entworfen,  und  wenn  der  Beobachter  sein  Auge  D  für  die  Entfernung  FD 
adaptirt,  kann  er  hier  in  a'ß'  ein  deutliches  (umgekehrtes)  Bildeines  Theiles  der  beleuch- 
teten Netzhautpartie  sehen.  —  Nimmt  man  nun  statt  des  Schirmes  S  mit  unmittelbar  dahinter 
befindlicher  Flamme  einen  Hohlspiegel  (6"  Brennweite),  wie  C  in  Fig.  6,  vor  das  beob- 


Fig.  6. 


-F- 


a" 


achtende  Auge  D,  und  versetzt  die  Flamme  neben  das  zu  beobachtende  Auge  B  in  eine 
solche  Lage,  dass  der  Hohlspiegel  Licht  durch  L  in  das  Auge  B  weilen  kann,  so  ist  im 
Wesentliche!]  nichts  gegen  Fig.  5  geändert,  werden  jedoch  zwei  beträchtliche  Vqrtheile 
erlangt,  nämlich,  dass  man  jetzt  nicht  neben,  sondern  gleichsam  mitten  durch  die  Flamme 
nach  B  blicken  kann,  \\\u\   das    von  C  bereits  convergenfe    Licht    gegen    B    hin    verlauft 


Augenspiegel.  77 

demnach    die    Linse  L    nötigenfalls  entl)ehrl    werden    kann,    was    unter  Umständen    aus 
später  anzugebenden  Gründen  sehr  wiinselienswerth  sein  kann. 

Untersuchung  mit  dem  Spiegel  von  Coccius.  A.  im  aufrechten  Bilde, 
was  in  der  Regel  nur  in  grosser  Nahe  oder  mit  Hülfe  von  Concavgläsern 
möglich  ist.  Ist,  wie  in  Fig.  7,  das  zu  untersuchende  Auge  D  das  linke, 
so  setze  sich  der  Beobachter  dem  Kranken  an  einem  rechts  befindlichen 
Tische  so  gegenüber,  dass  er  sein  (rechtes)  Auge  G  dem  zu  untersu- 
chenden D  bis  auf  einige  (selbst  unter  einem)  Zoll  und  in  gleicher  Höhe 
über  dem  Fussboden  vis-ä-vis  nähern  kann,  und  stellt  auf  dem  Tische 
die  Lampe  ebenfalls  in  gleiche  Höhe  mit  den  Augen  D  und  G,  vom  Kran- 
ken links  und  rückwärts.  Dann  richte  man  die  Linse  L  (gewöhnlich  von 
5"  Brennweite),  welche  so  angebracht  ist,  dass  ihre  verlängerte  Achse  die 
Mitte  des  Loches  im  Spiegel  (mn)  treffen  würde,  schräg  zum  Spiegel ,  so 
dass  die  Linsenachse  mit  dem  Spiegelperpendikel  einen  möglichst  spitzigen 
Winkel  bildet  und  halte  nun  das  Instrument  so,  dass  der  Spiegel  das 
durch  die  Linse  concentrirte  Licht  auf  die  Wange  unter  dem  zu  betrach- 
tenden Auge  wirft.  Ist  die  relative  Stellung  zwischen  Flamme ,  Linse, 
Spiegelfläche  und  Kranken  richtig,  so  sieht  man  auf  der  Wange  eine  lichte 
Scheibe  mit  einem  scharfen  runden  Schatten  in  der  Mitte  ,  entsprechend 
dem  Loche  im  Spiegel.  Nun  lasse  man  den  Kranken  auf  den  Nasenrücken 
oder  gegen  das  linke  Auge  blicken,  oder  vielmehr  in  dieser  Richtung  vor 
sich  hinstarren,  um  die  Sehnervenpapille  von  D  ohngefähr  in  die  Richtung 
der  Sehachse  von  G  zu  bringen.)  Sollte  der  Kranke  sein  Auge  nicht  nach 
dem  Gesichtssinne  richtig  stellen  können ,  wie  diess  bei  ganz  Erblindeten 
der  Fall  ist,  so  vermag  er  es  gewöhnlich  nach  dem  Gefühle,  wenn  man 
ihn  seinen  Finger  nach  jener  Richtung  halten  lässt,  wohin  er  sein  Auge 
richten  soll.  Nun  wendet  man  das  Instrument  so,  dass  die  lichte  Scheibe 
mit  dem  dunklen  Flecke  gerade  mitten  auf  das  Auge  D  fällt,  und  bringt 
sein  Auge  G  möglichst  nahe  gegen  mn,  am  besten,  indem  man  den  Augen- 
brauenbogen  an  die  Spiegelplatte  anlegt,  um  dem  Instrumente  zugleich  die 
nöthige  Ruhe  der  Haltung  zu  sichern.  Man  wird  nun  die  Pupille  roth, 
und  wenn  die  Richtungslinie  der  Sehnervenpapille  von  D  mit  der  Sehachse 
von  G  wenigstens  annähernd  zusammenfällt,  weissgelb  (wie  helles  Lampen- 
licht) aufleuchten  sehen.  Hat  man  schon  die  dem  Rcfractionszustaiule 
von  D  und  von  G  angemessene  Entfernung  oder  vielmehr  Annäherung  ge- 
troffen (da  die  Distanz  zwischen  Spiegel  und  Auge  D  meistens  nur  1 — 3 
Zoll  beträgt),  so  erkennt  man  bereits  die  Centralgefässe  der  Netzhaut,  und 
bei  passender  Stellung  von  D  auch  die  Sehnervenpapille  als  lichte,  scharf 
von  dem  röthlichen  übrigen  Augengrunde  abgegrenzte  Scheibe. 


78 


Netzhaut. 


Zum  Verständniss  des  Vorganges  mag  mit  Beziehung  auf  Fig.  7  Folgen- 
des dienen  :  Von  der  Flamme,  welche  immer  mindestens  einige  Zoll  mehr 
»ls  die  doppelte  Brennweite  der  Linse  ahh  von  dieser  entfernt  sein  muss, 
gelangt  ein  Kegel  divergenter  Strahlen  auf  die  Linse,  und  wird  durch  diese 
in  einen  Kegel  convergenter  Strahlen  verwandelt,  dessen  Länge  etwas  mehr 
als  5"  beträgt,  wenn  die  Linse  ahh  eine  Brennweite  von  5"  hat.  Die  Linie 
FLE  zeigt  die  Richtung,  in  welcher  die  Spitze  dieses  Kegels  zu  suchen 
wäre.  Dieser  Kegel  wird  aber  durch  die  Spiegelfläche  unterbrochen  und 
gezwungen,    hei    unveränderter     Lage    oder    Neigung    der    einseinen    Strahlen 


Augenspiegel.  79 

zu  einander  in  anderer  Richtung,    nämlich  nach  p  Fortzulaufen,    welcher  Punkt  eben    so 

weit  vor  der  Spiegelfläche  liegt,  als  die  Kegelspitze  ohne  Zwischenkunl't  des  Spiegels 
dahinter  liegen  würde.  In  Fig.  7  ist  der  Punkt  p  dadurch  bestimmt  worden,  dass  von 
a  und  b  Perpendikel  auf  die  (verlängerte)  Spiegelfläche  gelallt,  in  jedem  derselhen  jen- 
seits der  Spiegelfläche  der  gleich  weit  entfernte  Punkt  a'  und  />'  verzeichnet,  diese 
Punkte  mit  den  betreffenden  Durchschnittspunkten  der  Spiegelfläche  c  und  d  verbunden, 
und  diese  Verbindungslinien  a'c  und  b'd  verlängert  wurden.  Der  von  der  Linse  <iU> 
ausgehende  Kegel  wird  also  an  der  Spiegelfläche  cd  gleichsam  geknickt  und  gezwun- 
gen gegen  p  hin  zu  verlaufen.  Wird  ihm  nun  das  Auge  D  in  diesem  Laufe  entgegen 
gestellt,  so  trifft  er  dasselbe  mit  dem  Durchschnitte  ef.  Das  Auge  D  wird  also  von 
convergirenden  Strahlen  getroffen,  falls  es  sich  diesseits  von  p,  also  innerhalb  der  Ver- 
einigungsweite  des  Apparrtes  aufstellt,  und  alles  Licht,  welches  die  Linse  passirt  hat,  ist 
nun  auf  diesen  Durchschnitt  ef  concentrirt,  wenn  wir  vorläufig  von  den  Verlusten  durch 
Zerstreuung,  durch  die  Distanz  und  durch  das  Loch  im  Spiegel  absehen.  In  dieser  Be- 
ziehung wirkt  also  diese  Combination  einer  Convexlinse  mit  einem  Planspiegel  ganz  so 
wie  ein  in  a'b'  aufgestellter  Concavspiegel  von  entsprechender  Brennweite  und  Spiegel- 
öffnung. Diese  Combination  hat  jedoch  vor  dem  Concavspiegel  voraus,  dass  das  Auge 
G  gleichsam  mitten  in  den  Strahlenkegel  hinein  versetzt  werden,  mithin  ceteris  paribus 
dem  Auge  D  viel  näher  rücken  kann,  was,  wie  wir  später  sehen  werden,  in  mehrfacher 
Beziehung  Vortheile  gewährt ;  sie  hat  überdies  noch  das  für  sich,  dass  man  durch  Annä- 
herung der  Linse  ab  an  die  Spiegelfläche  erf,  oder  durch  Einsetzen  einer  Linse  von  ande- 
rer, z.  B.  4"  Brennweite,  die  Öffnung  und  Brennweite  des  Apparates  (quasi  Hohlspiegel) 
nach  Bedürfniss  leicht  ändern  kann.  Solche  Veränderungen  sind  nämlich  bis  zu  den 
nöthigen  Grenzen  in  der  mechanischen  Construction  der  möglichst  becpiemen  und  com- 
pendiösen  Apparate  von  Coccius  und  von  Zeltender  auf  eine  sehr  leichte  und  wohlfeile 
Art  ermöglicht. 

Von  dem  Lichte,  welches  auf  D  fällt,  contribuiren  zu  unserem  Zwecke  nur  jene 
Strahlen,  welche  das  die  Pupillengrösse  von  D  etwas  übertreffende  Hornhautareal  ik 
treffen,  also  die  zwischen  gi  und  hk  verlaufenden.  Von  diesen  geht  noch  ein  guter 
Theil  durch  Reflexion  an  den  Trennungsebenen,  namentlich  durch  Spiegelung  an  der 
Vorderfläche  der  Cornea  verloren.  Hierauf,  so  wie  auf  den  Verlust  durch  das  Loch 
im  Spiegel,  kommen  wir  später  zu  sprechen.  Die  durch  ik  eindringenden  Strahlen 
werden  nun  durch  den  dioptrischen  Apparat  von  D  so  gebrochen,  dass  sie  sich  mehr 
weniger  weit  vor  der  Netzhaut  vereinigen,  etwa  in  </,  und  die  Netzhaut  in  einem 
Zerstreuungskreise  treffen,  welcher  um  so  grösser  ist,  je  weiter  q  vor  der  Netzhaut 
liegt").  Man  sieht,  dass  dieser  Abstand  zwischen  q  und  der  Netzhaut  grösser  sein 
würde,  wenn  z.  B.  die  Netzhaut  tiefer  läge  oder  die  Hornhaut  stärker  gewölbt  wäre, 
aber  auch  dann,  wenn  p  näher  an  D  zu  liegen  käme;  näher  an  D  würde  p  zu  liegen 
kommen,  wenn  man  mit  demselben  Apparate  weiter  von  D  rückte,  die  Linse  in  grös- 
serer Entfernung  vom  Spiegel  aufstellte,  oder  eine  Linse  von  kürzerer  Brennweite 
einsetzte.  Da  es  sich  zunächst  um  gehörige  Beleuchtung  eines  Areals  der  Netzhaut  D 
handelt,  und  da  die  Pupille  (Hornhautscheihe  ik)  nur  bis  zu  einer  bestimmten  Grösse 
steigen    (künstlich  erweitert    werden)  kann,    so  wird  mit  Rücksicht  auf  die  angegebenen 


*)   Wir   haben  in   der  Zeichnung  weiter    q  vor  der  Netzhaut  angesetzt,    als  es    in   Wirklichkeit  der  Fall   ist,    um    die 
Linien   nicht    zu  eng  zusammen    zu   drängen. 


80  Netzhaut. 

und  noch  anzugebenden  Verhältnisse  immer  eine  solche  Wahl  in  diesen  Momenten  ge- 
troffen werden  müssen,  dass  durch  ik  hinreichend  viel  Licht  eindringen,  und  dass  dieses 
Licht  nicht  auf  ein  zu  grosses  Netzhautareal  vertheilt,  i.  e.  dass  q  nicht  zu  weit  von 
der  Netzhaut  entfernt  sei.  Offenbar  konnte  man  alles  Licht,  welches  zwischen  ce  und 
elf  liegt,  durch  die  Pupille  in's  Auge  leiten,  wenn  man  den  Apparat  so  einrichtete  oder 
so  weit  von  D  entfernte,  dass  sämmtliche  Strahlen  in  einem  Querschnitte  des  Kegels 
von  dem  Durchmesser  ik  enthalten  wären,  es  würde  aber  dann  einerseits  der  Zer- 
streuungskreis auf  der  Netzhaut  D  zu  gross  ausfallen,  mithin  in  einer  Beziehung  ver- 
loren gehen ,  was  in  der  andern  gewonnen  wurde  ,  und  anderseits  würde  meistens 
auch  der  zweiten  Bedingung,  dass  der  Beobachter  nicht  zu  weit  von  D  sein  soll  — 
wovon  weiter  unten  —  Eintrag  gethan  werden.  Wollte  man  bei  einem  Abstände  des 
Spiegels  von  D  wie  in  Fig.  7  den  Kegelschnitt  ef  dadurch  verengern  (auf  »7t  reduciren), 
dass  man  die  Linse  weiter  vom  Spiegel  rückte,  so  würde  man  an  Lichtmenge  nicht 
viel  gewinnen',  weil  dann  auch  die  Lampe  weiter  entfernt  werden  müsste,  und  weil 
dann  p,  mithin  auch  q  näher  an  die  Linse  und  Hornhaut  von  D  rücken  würde.  Nähme 
man  zu  demselben  Zwecke  eine  stärkere  Linse  (aLb),  so  würde  wohl  der  erstere,  nicht 
aber  der  letztere  Übelstand  vermieden.  In  dieser  Beziehung  muss  man  die  Wahl  des 
Ulittels,  welche  Zeltender  traf,  als  eine  eben  so  glückliche  wie  scharfsinnige  bezeichnen  ; 
er  nahm  eine  stärkere  Linse  (aLb  von  3"  Brennweite,  welche  3/4  —  l%"  vom  Spiegel- 
centruin entfernt  unter  beliebiger  Neigung  aufgestellt  werden  kann,  und  verwandelte  den 
ebenen  Glasspiegel  in  einen  schwach  convexen  Metallspiegel  (von  6"  Krümmungshalb- 
messer) und  bewirkt  hiedureb,  indem  er  die  stark  convergenl,  also  stark  Concentrin  auf 
den  Spiegel  lullenden  Strahlen  zwingt,  etwas  weniger  convergent  fortzugeben,  dass  eine 
gleiche  Quantität  Licht  durch  die  enge  Öffnung  ik  eintreten  kann,  und  trotzdem  erst  nahe 
an  der  Netzhaut  von  D  vereinigt  wird.  Er  drängt  dieselbe  Lichtmenije  in  einen  engen 
Durchschnitt  (für  ik)  zusammen,  macht  den  Kegel  bei  gleicher  Basis  dünn,  und  doch 
weder  lichtärmer  noch  kürzer. 

Die  Rücksicht,  dass  selbst  mittelst  eines  compendiösen  und  leicht  zu  gebrauchen- 
den Apparates  möglichst  viel  Licht  durch  die  Hornhautscheibe  ik  eindringen  könne,  ohne 
dass  q  zu  weit  vor  die  Netzhaut  von  D  fällt,  ist  noch  durch  einen  andern  Umstand 
dringend  geboten.  Bei  der  Beleuchtung  der  Netzhaut  mittelst  durchbohrter  Spiegel 
kommt  nämlich  noch  in  Betracht,  dass  dieses  Loch,  welches  nicht  viel  weniger  als  12'" 
Durchmesser  haben  kann  (wegen  des  Beobachters),  natürlich  kein  Licht  reflectirt,  der 
Lichtkegel  also  in  der  Mitte  einen  lichtlosen  Kegel  enthält,  dessen  Basis  am  Spiegel- 
loche, dessen  Spitze  (streng  genommen)  an  der  Lichtkegelspitze  liegt.  Da  nun  zwischen 
mn  kein  Licht  nach  D  geworfen  werden  kann,  so  hat  es  den  Anschein,  als  werde  hie- 
durch  nicht  nur  die  Lichtmenge  für  ik  merklich  vermindert,  sondern  auch  als  könnte 
dann  sjerade  der  in  der  Richtung  der  Sehachse  von  G  liegende  Theil  der  Netzhaut  l>. 
also  gerade  die  Mitte  des  Sehfeldes  für  G  gar  nicht  oder  doch  nicht  hinlänglich  be- 
leuchtet werden.  Diess  würde  auch  in  der  That  der  Fall  sein,  wenn  die  von  dem 
Spiegel  nach  D  geworfenen  Strahlen  parallel  oder  gar  divergent  auf  ik  auffielen.  Dieser 
Nachtheil  wird  aber  durch  die  Oonvergenz  dieser  Strahlen  beträchtlich  vermindert.  Denn 
in  dem  Punkte  q  und  kurz  vor  und  hinter  demselben  kann  (in  re)  kein  Schauen  von 
dem  Loche  me  vorhand«  n,  nur  die  Lichtmenge  etwas  geringer  sein,  als  sie  ohne  das 
Loch  nie  sein  würde.  (Vergl.  über  die  entopischen  Erscheinungen.)  Wenn  dabei'  die 
Netzhaut   nicht  gar  weil   von  q  liegt,    so  kann  auch  das  beleuchtete  Netzhautareal   in  der 


Augenspiegel.  81 

Mitte  keinen  Schatten  zeigen  und  überhaupt  in  der  Mitte  nicht  um  vieles  schwächer  be- 
leuchtet sein,  als  in  der  Umgebung.  Nimmt  man  Glasspiegel,  wie  Coccius,  dann  wird 
der  in  Hede  stellende  Fehler  auch  noch  dadurch  merklich  corrigift,  dass  eine  doppelte 
Reflexion,  an  der  Glas-  und  an  der  Stanniolfläche,  also  unter  zweierlei  Winkeln  erfolgt, 
welche  Winkel  um  so  mehr  differiren,  also  jene  Fehler  um  so  mehr  vermindern,  je 
dicker  die  Glasplatte  ist.  Dicke  Glasplatten  haben  aber  den  Nachtheil,  dass  das  Loch 
dann  einen  Canal  darstellt,  dessen  Länge  gleich  der  Dicke  der  Glasplatte  und  der  zum 
Schutze  des  Beleges  nüthigen  Metallplatte.  Da  man  nun  immer  mehr  weniger  schräg 
durch  diesen  Canal  durchsehen  muss,  so  wird,  je  länger  derselbe,  desto  beschränkter 
der  Raum  für  die  von  D  nach  G  zurückkehrenden  Strahlen,  und  entstehen  überdiess 
durch  das  von  F  direct  nach  L  strahlende  Licht  an  den  Wandungen  des  Canales  Reflex- 
oder Spiegelbilder,  welche  den  Beobachter  blenden,  und  auch  dadurch  niemals  ganz  be- 
seitigt werden  können,  dass  die  Wandungen  dieses  Canales  möglichst  rauh  und  dunkel 
gemacht  sind.  In  dieser  Beziehung  haben  Metallspiegel,  wie  in  Zehenders  Apparate, 
einen  entschiedenen  Vorzug,  da  man  das  Loch  im  Spiegel  trichterförmig  mit  ganz  dün- 
nem Rande  anbringen  und  den  Durchmesser  desselben  an  der  polirten  Fläche  bis  auf 
1  lL"'   W.  M.    reduciren  lassen  kann. 

Es  lässt  sich  jedoch  die  nachtheilige  Folge  des  centralen  Loches  für  die  direct 
zu  sehende  Stelle  durch  einen  andern  Kunstgriff  beseitigen,  den  man  zugleich  an- 
wendet, um  das  Spiegelbild  auf  der  Hornhautfläche  ik  aus  dem  Bereiche  der  Sehachse 
des  Auges  G  zu  bringen  und  mehr  weniger  unschädlich  zu  machen.  Man  neigt  nämlich, 
nach  richtiger  Einstellung  des  Apparates,  denselben  ein  wenig  nach  der  einen  oder  der 
andern  Seite  so  ab,  dass  der  Achsestrahl  Lo  nicht  auf  die  Mitte  des  Loches  mn  fällt, 
sondern  «in  wenig  links  davon,  wenn  man  einen  mehr  rechts  gelegenen  Punkt  der 
Netzhaut  D  direct  sehen  will,  und  man  lässt  das  Auge  D  nach  und  nach  seine  Richtung 
etwas  ändern,  z.  B.  etwas  aufwärts,  wenn  man  eine  höher  gelegene  Stelle  direct  sehen 
und  betrachten  will.  Es  muss  nämlich  der  dem  centralen  Loche  entsprechende  licht- 
ärinere  Punkt  an  der  Netzhaut  von  D  jederzeit  in  der  Richtung  der  Achse  des  Strahlen- 
kegels  liegen ;  man  muss  daher,  um  ihm  auszuweichen,  den  Spiegel  so  wenden,  dass 
diese  Achse  (und  ihre  Verlängerung)  nicht  auf  die  zu  betrachtende,  sondern  auf  eine 
etwas  seitlich  gelegene  Stelle  der  Netzhaut  D  fällt.  —  Man  hält  die  Spiegel  gewöhnlich 
an  einer  Handhabe,  welche  auf  entgegengesetzten  Punkten  angebracht  werden  müssen, 
je  nachdem  man  an  dem  rechten  oder  linken  Auge  beobachten  will.  Da  nun  oft  sehr 
geringe  Wendungen  der  Spiegelfläche  nöthig  sind,  welche  leicht  zu  gross  ausfallen, 
wenn  man  sie  durch  eine  solche  Handhabe  ausführt  (besonders  Wendungen  nach  oben 
oder  unten),  indem  diese  Handhabe  als  Hebelarm  zu  betrachten  ist,  so  habe  ich  an  dem 
Zehender'schen  Spiegel,  dessen  ich  mich  in  der  Regel  bediene,  die  Handhabe  wegge- 
lassen, und  halte  den  Apparat  an  einem  etwas  grösseren  Vorsprunge  des  Gewindes,  das 
die  Linse  trägt,  wodurch  zugleich  das  Etui,  in  dem  der  Spiegel  zu  tragen  ist,  kleiner, 
mithin  bequemer   ausfällt. 

Kehren  wir  nun  zur  Betrachtung  der  Fig.  7  zurück,  um  unsere  Aufmerksamkeit 
auf  jene  Momente  zu  lenken,  welche  in  Anschlag  zu  bringen  sind,  sofern  sich's  darum 
handelt,  die  gehörig  beleuchtete  Netzhaut  D  mit  dem  Auge  G  deutlich  zu  sehen.  Die 
wichtigsten  Momente  sind :  der  jeweilige  Refractionszustand  des  Auges  D.  die  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  von  der  Beleuchtung  abhängige  Entfernung  zwischen  D  und  G, 
und  die  Accommodationsfähigkeit  des  Auges  G. 

Arll's  Augenheilkunde  III     2  ß 


82  Netzhaut. 

a.  Das  Auge  D  (in  Fig.  7)  kann  kurz-,  normal-  oder  fernsichtig  sein,  oder  es 
liegt  das  zu  beobachtende  Object,  z.  B.  die  von  der  Chorioidea  abgelöste  Netzhaut 
innerhalb  der  Brennweite  des  dioptrischen  Apparates,  ein  Fall,  der  für  die  Netzhaut 
auch  bei  mangelnder  Linse  eintritt.  In  allen  Fallen,  wo  die  Netzhaut  nicht  jenseits 
der  Brennweite  des  dioptrischen  Apparates  liegt,  also  wo  das  Auge  D  nicht  kurzsichtig 
oder  (als  normal)  nicht  für  ein  nahe  gelegenes  Object  aecommodirt  ist,  kann  der  diop- 
trische  Apparat  von  D  als  eine  Loupe  betrachtet  werden,  rriuss  daher  ein  in  der  Rich- 
tung der  ausfahrenden  Strahlen  befindliches  Auge  G  das  lichtsendende  Object  sehen 
können,  sobald  dieses  eine  hinreichende  Menge  Licht  nach  G  werfen,  G  sich  in  pas- 
sender Entfernung  aufstellen,  und  parallele  oder  wenig  divergirende  Strahlen  auf  seiner 
Netzhaut  vereinigen  kann.  Wer  aber  einen  Gegenstand  durch  eine  Loupe  von  kurzer 
Brennweite  (6 '/, —  7'")  deutlich  sehen  will,  muss  sich  der  Loupe  mit  seinem  Auge  um 
so  mehr  nähern,  je  weiter  hinter  der  Loupe,  d.  h.  je  näher  gegen  deren  Brennweite 
hin  sich  der  Gegenstand  befindet.  Die  Loupe  zeigt  uns  dann  den  Gegenstand  durch 
ein  virtuelles  Bild  aufrecht  und  vergrössert.  Will  man  also  die  in  oder  diesseits  der 
Brennweite  des  dioptrischen  Apparates  von  D  liegende  Netzhaut  im  aufrechten  Bilde  sehen, 
so  muss  man  sich  dem  Auge  D  jederzeit  mehr  weniger  nähern,  ausser  man  bewaffnet 
sein  Auge  mit  einem  Concavglase  oder  man  verlängert  die  Brennweite  des  dioptrischen 
Apparates  von  D  dadurch,  dass  man  ihm  eine  Concavbrille  vorhält.  Concavlinsen  zu 
vermeiden  ist  aber  wünschenswert!»,  wegen  der  nothwendig  damit  verbundenen  Ver- 
minderung der  Lichtmenge  für  G  und  wegen  der  Störung  des  Beobachters  durch  Spie- 
gelbilder. Indem  nun  die  Apparate  von  Coccius  und  Zeltender,  ohne  sehr  gross  zu 
sein ,  eine  hinreichends  Menge  von  Licht  in  das  Auge  D  zu  werfen  und  das  von  D 
reflectirte  Licht  in  grosser  Nähe  aufzunehmen  gestattet,  haben  sie  eben  einen  grossen 
Vorzug  vor  andern.  —  Ist  D  kurzsichtig,  oder  ist  es  normal,  aber  für  die  Nähe  aecom- 
modirt.  dann  fahren  die  von  der  (hinter  der  Brennweite  gelegenen)  Netzhaut  reflectirten 
Strahlen  weder  parallel  noch  divergent  aus  demselben,  dann  kann  sein  dioptrischer 
Apparat  relativ  zur  Netzhaut  in  seiner  Wirkung  nicht  mehr  mit  einer  Loupe  verglichen 
werden,  ausser  man  setzt  ihm  ein  Concavglas  -vor.  Ist  aber  das  Auge  D  nich  in  höhe- 
rem Grade  kurzsichtig,  kann  es  z.  B.  noch  bei  10  —  12"  Entfernung  lesen,  so  kann 
seine  Netzhaut  von  einem  Normal-  oder  weitsichtigen  Auge  dennoch  ohne  Congavgläser, 
wenn  gleich  nur  in  grosser  Nähe  (unter  l'/.2"),  betrachtet  werden.  Diess  schein  ein 
Widerspruch  mit  den  beiden  Sätzen,  dass  die  aus  einem  solohen  Auge  ausfahrenden 
Strahlen  convergent  verlaufen,  und  dass  solche  Strahlen,  in  ein  Auge  G  gelangend, 
schon  vor  der  Netzhaut  vereinigt  werden  müssen.  Wenn  man  sich  indess  von  einem 
leuchtenden  Punkte  einen  Strahlenkegel  durch  nahe  an  einander  befindliche  Linien  aus- 
zieht, ohn gefähr  wie  lOu  neben  Fig.  7,  und  die  Basis  tu  an  die  Stelle  des  Hornhaut- 
areals ik  von  D  versetzt  denkt,  so  sieht  man,  dass  wenn  der  Beobachter  G  sich  nach 
vx  oder  selbst  nach  yz  versetzt,  er,  wo  nicht  völlig,  so  doch  nahezu  parallele  Strahlen 
von  In  bekommt,  während  er  weiter  von  tu  entfernt,  z.  B.  in  W,  schon  mehr  conver- 
gente  Strahlen  mit  seiner  Pupille  (Hornhaut)  auffangen  würde.  Die  Erweiterung  der 
Pupille  durch  Atroph]  oder  Belladonna  gibt  uns  übrigens  ein  treffliches  Mittel  an  die 
Hand,  die  Kurzsichtigkcit  von  D  für  einige  Zelt  zu  vermindern,  und  auch  normale  Augen 
an  der  oft  unwillkürlich  erfolgenden  Einrichtung  ihres  Rcfraclionzustandes  für  nahe 
Objecte  zu  hindern,  mithin  die  aus  D  ausfahrenden  Strahlen  zu  geringerer  Couvergenz 
zu  zwingen,  oder  selbst  parallel    zu  machen. 


Augonspiege!.  83 

b.  Was  die  Entfernung  zwischen  D  und  G  betrifft,  so  ergibt  sich  das  zum  Ver- 
ständniss  Nöthisje  wohl  schon  aus  dem  bereits  gesagten,  und  wollen  wir  nur  noch  daran 
erinnern,  dass  sie  um  so  grösser  sein  kann  und  muss,  wenn  das  zu  sehende  Objcct  von 
U  mehr  und  mehr  von  der  Brennweite  gegen  die  Linse  und  Hornhaut  hervorgerückt  ist. 
Daraus  ergibt  sich,  dass  man  sich  mit  demselben  Apparate  weiter  von  D  halten  muss, 
wenn  man  Opacitäten  im  Glaskörper  erkennen,  als  wenn  mau  die  Netzhaut  untersuchen 
will,  dass,  wenn  man  von  einem  Auge,  dem  die  Krystalllinse  fehlt,  die  Netz-  und  Ader- 
haut oder  Glaskörpertrübungen  sehen  will,  diess  nur  aus  einer  relativ  grössern  Entfer- 
nung geschehen  kann. 

c.  Das  untersuchende  Auge  muss,  wenn  es  nicht  fernsichtig,  also  nicht  fähig  ist, 
parallele  oder  schwach  divergente  Strahlen  auf  seiner  Netzhaut  zu  vereinen,  seine  Ac- 
cummodation  für  die  Nähe  absichtlich  aufgeben,  oder,  falls  es  diess  nicht  kann  (viel- 
leicht weil  es  kurzsichtig  ist),  seinen  Refractionszustand  durch  ein  entsprechendes  Con- 
cavglas  (6  —  12)  corrigiren.  In  dem  neuern  (verbesserten)  Cocc^ws'schen  und  in  dem 
Zehender'schen  Apparate  können  solche  Gläser  sehr  bequem  in  einen  federnden  Ring  un- 
mittelbar hinter  dem  Spiegelloche  eingesetzt  werden,  und  zwar,  um  die  Störung  durch 
Spiegelung  zu  verhüten,  etwas  schräg  zu  demselben. 

In  Fig.  7  sind  nun  a  und  ß  in  dem  Auge  D  innerhalb  des  beleuchteten  Netz- 
hautreales als  zwei  leuchtende  Punkte  angenommen.  Der  Gang  der  von  a  reflectirten 
Strahlen,  welche  aus  dem  Auge  hinausgelangen  können,  ist  durch  die  punktirten  Linien 
bezeichnet.  Der  hier  in  Betracht  kommende  innere  Lichtkegel  ist  also  aik.  Die  Rich- 
tung, in  welcher  diese  Strahlen  vor  dem  Auge  D  fortgehen  müssen,  ist  bestimmt  durch 
ax ;  ihre  Neigung  zu  dieser  verlängerten  Richtungslinie  vor  dem  Auge  hängt  von  dem 
Refractionszustande  des  Auges  D  ab  (allgemein  ausgedrückt:  von  der  Entfernung  des  zu 
sehenden  Punktes  hinter  dem  Kreuzungspunkte  der  Richtungslinien).  Wenn  nun  D  für 
unendlich  fern  eingerichtet  ist,  und  das  zu  sehende  Object,  wie  hier  a,  im  Brennpunkte 
des  dioptrischen  Apparates  von  D  liegt,  so  gehen  alle  Strahlen  von  diesem  Objecte  a 
ausserhalb  des  Auges  D  zum  Achsenstrahle  parallel  (bezeichnet  durch  die  Grenzstrahlen 
s'  und  s")  fort,  können  jedoch  nur  theilweise  durch  das  Loch  mn  treten,  wenn  a  schon 
ziemlich  weit  vom  Mittelpunkte  des  Sehfeldes  (aß)  liegt,  und  werden  in  G  ohngefähr  in 
dem  Punkte  a'  vereinigt,  wenn  G  für  parallele  Strahlen  adaptirt  ist.  Dasselbe  findet  mit 
den  von  ß  und  von  allen  zwischen  a  und  ß  gelegenen  Punkten  ausfahrenden  Strahlen 
statt,  für  welche  nur  der  Achsenstrahl  (durch  die  gestrichelten  Linien)  angedeutet  ist; 
Somit  entsteht  auf  der  Netzhaut  G  ein  Bild  a'ß'  von  a/5,  das  Auge  G  sieht  das  Netz- 
hautareal aß  aufrecht  und  vergrössert,  indem  die  Errenung  der  Netzhaut  G  in  a  so 
empfunden  wird,  als  käme  das  Licht  durch  den  Kreuzungspunkt  der  Richtungslinien  x\ 
also  ohngefähr  von  <*"  und  ß"  hinter  dem  Auge  D. 

B.  Zu  der  Untersuchung  mit  umgekehrtem  Bilde  der  Netzhaut  be- 
darf man  nebst  dem  genannten  Apparate  noch  eine  zweite,  und  zwar 
starke  Convexlinse  (von  2  —  3  Zoll  Brennweite).  Die  Vorrichtung  da- 
bei unterscheidet  sich  von  der  früheren  nur  dadurch,  dass  der  Beobachter 
weiter  von  D  zurückweicht  und  die  Convexlinse  dann  vor  letzteres  vor- 
schiebt. 

,      6* 


84 


Netzhaut. 


Ein  Blick  auf  die  Fig.  8  wird  zur  Erläuterung  dienen.  Ist  Fab  das  auf  die 
Linse  Ll  fallende  Lampenlicht,  so  trifft  dieses  Licht  den  Spiegel  zwischen  c  und  <Z,  und 
wird  von  diesem  so  reflectirt,  dass  es  sich  in  o  vor  D  vereinigen  würde,  wenn  nicht 
die   Linse    L2    vorgeschoben    würde.     Die    Linse   Ll    muss    beim   CocctWschen  Apparate 


Augenspiegel.  85 

mindestens  5"  Brennweite  haben.  Durch  die  Linse  L2  wird  aber  das  zwischen  ce  und 
df  verlaufende  Licht  schon  vor  o  zur  Vereinigung  gebracht,  nehmen  wir  an  in  ;>,  fahrt 
jenseits  wieder  auseinander,  und  beleuchtet  die  Cornea  in  der  Scheibe  gh,  welche  übri- 
gens auch  kleiner  sein  könnte,  als  ik.  Wovon  es  nun  abhänge,  ob  j>  dem  Auge  D  näher 
oder  ferner  liege,  ist  nach  dem  früher  Gesagten  wohl  verständlich.  Wir  wollen  nur  be- 
merken, dass  es  dem  Auge  D  nicht  zu  nahe  liegen  dürfe,  weil  in  demselben  Masse  auch 
gh  grösser  würde,  und  durch  ik  dann  weniger  Licht  eindringen  könnte,  was  um  so 
nachtheiliger  wäre,  als  hier  ohnehin  schon  durch  die  grössere  Entfernung  des  Spiegels 
und  durch  L2  Licht  verloren  geht,  sowohl  für  die  Beleuchtung  von  D,  als  auch  auf  dem 
Bückwege  für  den  Beobachter  G.  (Wir  wollen  übrigens  hier  gleich  die  Bemerkung  ein- 
schalten, dass  L2  immer  etwas  schräg  zu  x'x  zu  halten  sei,  und  dass,  da  L2  planconvex 
ist,  die  Convexilät  zu  G  gerichtet  werden  müsse,  beides  aus  dem  Grunde,  um  das  von 
L2  entworfene  Spiegelbild  für  das  Auge  G  seitlich  abzulenken  und  somit  für  das  directe 
Sehen  unschädlich  zu  machen.)  Liegt  nun  p,  wie  in  Fig.  8,  nicht  weit  vor  der  vordem 
Brennpunktsebene  des  Auges  D,  dann  werden  die  zwischen  ik  eindringenden  Strahlen 
durch  den  Glaskörper  nur  wenig  convergent  verlaufen  und  die  Netzhaut  in  dem  der 
Pupillengrösse  nahezu  gleichen  Areal  mn  beleuchten.  Läge  p  näher  als  5'"  an  ik,  so 
würden  die  Strahlen  im  Glaskörper  divergiren,  mn  grösser,  die  Beleuchtung  der  Netz- 
haut schwächer.     Umgekehrt,  wenn  p  weiter  von  D  läge. 

Betrachten  wir  nun  den  Gang  der  ausfahrenden  Strahlen,  z.  B.  von  den  Punkten 
a  und  ß,  so  kann  hier  das  Auge  D  in  Verbindung  mit  der  Linse  L2  unter  allen  Um- 
ständen, wo  aus  dem  Auge  D  parallele  oder  convergente  Strahlen  ausfahren,  als  eine 
Loupe  betrachtet  werden,  und  zwar  als  eine  Loupe  mit  zwei  Convexlinsen,  welche  um 
weniger  als  die  Summe  ihrer  Brennweiten  von  einander  abstehen,,  Die  Linse  L2  bringt 
die  durch  ik  ausgetretenen  Strahlen,  wenn  diese,  wie  in  Fig.  8,  parallel  sind,  in  ihrer 
Brennweite  q ,  wenn  diese  ausfahrenden  Strahlen  aber  convergent  auf  L2  gelangen, 
zwischen  L1  und  q  zu  Vereinigung.  Der  letztere  Fall  ist  für  das  beobachtende  Auge 
G  günstiger.  So  werden  die  von  a  ausfahrenden  Strahlen  in  «',  die  von  ß  in  ß'  ver- 
einigt, wenn  das  Auge  D  für  die  Ferne  aecommadirt  ist,  es  entsteht  in  ß'a'  ein  reelles, 
aber  umgekehrtes  und  nicht  stark  vergrössertes  Bild  von  aß.  Wäre  D  kurzsichtig, 
dann  würde  schon  dieser  Umstand  so  gut  hinreichen,  dieses  umgekehrte  Bild  näher  an 
D  zu  rücken,  als  z.  B.  eine  stärkere  Krümmung  von  L2.  Je  weniger  aber  ß'a'  von  D 
entfernt  entworfen  wird,  desto  weniger  entfernt  braucht  sich  G  aufzustellen,  um  die 
von  ß'a'  wie  von  einem  daselbst  befindlichen  leuchtenden  Objecte  ausfahrenden  Strah- 
len auf  seiner  Netzhaut  zu  einem  Bilde  zu  vereinigen.  Man  sieht  daher,  dass  Kurz- 
sichtigkeit von  D,  welche  die  Untersuchung  im  aufrechten  Bilde  erschwert,  die  Unter- 
suchung im  umgekehrten  gerade  begünstigt,  während  für  Weitsichtigkeit  von  D  eher 
das  Gegentheil  gilt.  Bei  sehr  hohen  Graden  von  Kurzsichtigkeit  sieht  man  auch  ohne 
L2  ein  verkehrtes  Bild  von  D,  oder  braucht  doch  L2  nur  eine  geringe  Brennweite  zu 
haben,  etwa  3—4.  Fehlte  dem  Auge  D  die  Krystalllinse,  dann  könnte  die  Untersuchung 
im  umgekehrten  Bilde  nur  noch  mit  einer  viel  starkem  Convexlinse  L2  vorgenommen 
werden.  Andererseits  ergibt  sich  rücksichtlich  des  Beobachters  (?,  dass  hier  der  Kurz- 
sichtige besser  daran  ist,  als  der  Weitsichtige,  und  dass  letzterer,  wenn  er  nicht  zu 
weit  zurück  weichen  will,  sein  Auge  durch  Vorhalten  eines  Convexglases  (12 — 8")  in 
ein  kurzsichtiges  zu  verwandeln  hat.  —  Betrachtet  nun  das  Auge  G  das  reelle  Bild 
ß'a\    so    werden    die    von  ß'    wie    von   irgend  einem    leuchtenden  Punkte  ausfahrenden 


86  Netzhaut. 

Strahlen,  welche  durch  das  Spiegelloch  durchtreten  können,  in  ß"  vereinigt,  weil  /?',  x' 
und  ß"  in  einer  geraden  Linie  liegen,  eben  so  die  von  et'  in  et".  G  sieht  also  links, 
was  in  Ö  rechts  liegt,  doch  nicht  stark  vergrössert,  und  zwar  ohngefähr  um  so  vielmal 
grösser,  als  aß  in  a'ß'  enthalten  ist.  —  Die  Untersuchung  mit  umgekehrtem  Bilde  hat  den 
grossen  Vortheil,  dass  man  mit  einem  Blicke  einen  grössern  Theil  der  Netzhaut  über- 
sehen kann.  Ein  anderer  Vortheil  besteht  aber  darin,  dass,  wenn  man  einmal  ein  Objcet, 
z.  B.  ein  Gefäss  der  Netzhaut  deutlich  sieht,  man,  ohne  seine  eigenen  oder  des  kranken 
Auges  Stellung  wechseln  und  ohne  die  Haltung  des  Spiegels  ändern  zu  müssen,  wo- 
durch nicht  die  richtige  Einstellung  bezüglich  der  deutlichen  Sehweite  verloren  geht, 
durch  leichte  Hin-  oder  Her-,  Auf-  oder  Abwärtsbewegung  der  Linse  L2,  die  man  zwi- 
schen Daumen  und  Zeigefinger  der  an  das  Gesicht  des  Kranken  gestützten  Hand  hält, 
seitlich  gelegenen  Partien  zum  Gegenstande  des  directen  Sehens  machen  kann.  Wir 
brauchen  wohl  kaum  zu  erwähnen ,  dass  diese  Bewegung  aufwärts  geschehen  müsse, 
wenn  man  eine  unter  der  eben  gesehenen  liegende  Stelle  betrachten  will.  Hat  man 
gerade  die  Papille  des  Sehnerven  im  Sehfelde,  so  verschiebe  man,  um  die  Macula  lutea 
zu  sehen,  die  Linse  L2  ein  wenig  gegen  die  Nase  des  Kranken. 

Man  wird  auch  bei  genauer  Kenntniss  des  Apparates  und  seiner  Lei- 
stungsfähigkeit immer  viel  eher  zweckmässig  zu  Werke  gehen,  wenn  man 
noch  vor  Anwendung  desselben  eine  möglichst  genaue  Erhebung  der  krank- 
haften Veränderungen  des  Auges  (und  nötigenfalls  des  ganzen  Organis- 
mus) vornimmt,  durch  die  äussere  Besichtigung,  Betastung,  Prüfung  der 
Functionsstörung,  Aufnahme  der  subjeetiven  Erscheinungen  und  der  vor- 
ausgegangenen (anamnestischen)  Momente ,  kurz  wenn  man  den  Augen- 
spiegel nur  als  ein,  nicht  aber  als  das  einzige  und  zuerst  anzuwendende 
diagnostische  Hülfsmittel  betrachtet.  Dies  ist  schon  darum  gerathen,  weil 
wir  bis  jetzt  eine  verlässliche  Deutung  für  das  mit  dem  Augenspiegel  Ge- 
sehene nur  bei  relativ  wenig  Befunden  besitzen.  Man  kann  namentlich 
Befunde  an  der  Netz-  und  Aderhaut,  die  noch  zum  Normalen  gehören, 
leicht  als  krankhaft  deuten,  man  kann  wirklich  krankhaften  Veränderungen 
leicht  für  die  bestehende  Functionsstörung  eine  viel  wichtigere  Bedeutung 
beilegen,  als  sie  wirklich  verdienen,  man  kann  eine  Gesichtsstörung,  die 
von  ganz  andern  Abnormitäten  abhängt,  leicht  aus  dem  Augenspiegelbe- 
funde  abzuleiten  versucht  werden,  auch  abgesehen  von  optischen  Täuschun- 
gen, welche  selbst  einem  ziemlich  geübten  Beobachter  bei  so  subtilen  Un- 
tersuchungen leicht  begegnen  können.  Vorläufig  bleiben  anatomisch-mikro- 
skopische Untersuchungen  von  Netzhäuten,  deren  Augenspiegelbefund  kurz 
vorher  notirt  wurde,  noch  ein  pium  desiderium.  So  lange  wir  solche 
nicht  in  grösserer  Menge  besitzen,  müssen  wir  von  dem  Instrumente  nicht 
mehr  verlangen,  als  es  leisten  kann,  sonst  bringen  wir  diese  herrliche 
Erfindung,  im  Gebiete  der  ophlhalmologischen  Diagnostik  wohl  die  grösste 
unsers  Jahrhunderts,  selbst  bei  Verständigen  in  Misscredit. 


Augenspiegel.  87 

Rücksichtlich  der  durchsichtigen  Medien  gibt  uns  das  Ophthalmoskop 
sichere  Antwort  auf  die  Frage,  ob  sie  durchsichtig  oder  von  trüben  Par- 
tikelchen durchsetzt  sind  Diess  ist  namentlich  für  den  Glaskörper  äusserst 
wichtig,  obwohl  es  uns  auch  bei  wenig  ausgebreiteten  Trübungen  des 
Krystallkörpers  sehr  zu  statten  kommt.  Der  Augenspiegel  gibt  dem  nur 
einigermaassen  geübten  und  aufmerksamen  Beobachter  verlässliche  Thal- 
sachen zur  Entscheidung  der  Frage,  ob  das  untersuchte  Auge  kurz-  oder 
weitsichtig  sei,  sobald  diese  Zustände  eben  nicht  blos  die  ersten  Über- 
gänge vom  Normalen  zum  Abnormen  bilden,  sondern  schon  bestimmt  in 
das  Bereich  des  letzteren  zu  zählen  sind.  Seit  der  Einführung  des  Augen- 
spiegels in  die  Diagnostik  ist  die  Lehre  von  den  Amaurosen  eine  wesent- 
lich andere  geworden.  Die  Zahl  der  Amaurosen  centralen  und  allgemei- 
nen Ursprunges  schmilzt  auf  eine  relativ  sehr  geringe  herab ;  bei  sehr 
vielen  Amblyopien  und  Amaurosen  lassen  sich  Veränderungen  in  der  Netz- 
haut allein  oder  zugleich  im  Glaskörper  und  in  der  Aderhaut  als  hinrei- 
chendes Substrat  nachweisen,  wo  man  ohne  Hilfe  des  Augenspiegels  kaum 
mit  überwiegender  Wahrscheinlichkeit  sich  entscheiden  könnte,  ob  die 
Functionsstörung  durch  centrale  oder  peripherische  Veränderungen  des 
nervösen  Apparates  bedingt  sei.  Jeder  Fortschritt  in  der  Diagnosis  ist 
aber  ein  Gewinn  für  die  Aufgabe  des  Arztes,  die  Prognosis  und  Therapie. 

Das  oben  empfohlene,  der  Ophtalmoskopie  vorauszuschickende  Examen 
wird  im  Allgemeinen  den  Gang  vorzeichnen,  den  dieselbe  zu  nehmen  hat.  Wo 
dieses  Examen  nicht  schon  bestimmt  einen  oder  den  andern  Krankheitszustand 
auszuschliessen  berechtigt,  gehe  man,  um  nichts  aus  der  Reihe  des  Möglichen 
zu  überspringen,  in  der  anatomischen  Ordnung  von  vorn  nach  hinten  vor, 
und  prüfe  zuerst  die  durchsichtigen  Medien,  namentlich  die  Linse  und  den 
Glaskörper  genau,  ehe  man  sich  an  die  Netz-  und  Aderhaut  macht.  Ich 
erinnere  mich  mehrmals  bei  mehr  weniger  beträchtlicher  Gesichtsstörung 
keine  hinreichend  erklärende  Veränderung  der  Netzhaut  gefunden  zu  haben, 
wo  doch  die  wiederholte  Untersuchung  durch  mich  oder  einen  Andern 
kleine  aber  zahlreiche  Glaskörperopacitäten  als  genügendes  Substrat  erwies. 
Da  sich  ganz  kleine  Trübungen  der  durchsichtigen  Medien  nur  dadurch 
wahrnehmen  lassen,  dass  sie  bei  heller  Beleuchtung  des  Augengrundes  als 
dunkle  Körperchen  erscheinen,  gleich  den  vor  hellem  Hintergrunde  herab- 
fallenden Schneeflocken,  so  muss  man,  um  ihre  Anwesenheit  nicht  zu  über- 
sehen, das  Instrument  zunächst  gerade  so  einstellen,  dass  der  Augengrund 
möglichst  hell  beleuchtet  wird,  i.  e.  so  weit  vom  Auge  (D)  entfernt,  dass 
die  Netzhaut  in  den  Focus  des  Beleuchtungsapparates,  wenigstens  in  keinen 
grössern    Zerstreuungskreis    zu    liegen    kommt    Cdass  in  Fig.  7  q  auf  den 


88  Netzhaut. 

Augengrund  fällt,  in  Fig.  8  mn  bis  zur  Grösse  des  Flammenbildes  ver- 
kleinert wird);  und  da  die  dunklen  Körperchen  im  Glaskörper  sieh  bei  ru- 
higer Haltung  des  Auges  (D)  senken,  durch  rasche  Bewegungen  desselben 
aber  aufgerüttelt  werden,  kleine  Körperchen  überdiess  minder  leicht  der 
Wahrnehmung  entgehen,  wenn  sie  in  Bewegung  sind,  so  wird  das  Auf- 
suchen derselben  durch  rasche  Bewegungen  des  Auges  (D)  mit  kleinen 
Excursionen  besonders  nach  auf-  und  abwärts,  wesentlich  erleichtert.  Bei 
auffallendem  Lichte  können  undurchsichtige  Partien  der  durchsichtigen 
Medien  nur  dann  wahrgenommen  weiden,  wenn  sie  hellfarbig  (weiss,  grau, 
gelb)  und  entsprechend  ihrer  Lage  hinter  der  Cornea  hinreichend  gross 
sind.  Hieher  gehören  namentlich  pigmentlose  Exsudate  in  der  Pupille, 
fleckige  oder  streifige  Trübungen  im  Krystallkörper,  Cysten  im  Glaskörper 
und  dergl.  Um  solche  Trübungen  bei  auffallendem  Lichte  zu  sehen,  muss 
man  sich  mit  dem  Apparate  dem  Auge  nur  so  weit  nähern,  dass  die  Spitze 
des  Beleuchtungskegels  auf  sie  fällt  (also  bei  Verdacht  auf  Cataracta  nicht 
wie  in  Fig.  7  auf  </,  sondern  etwa  auf  x  oder  auf  die  Ebene  des  Pupillar- 
randes).  Sind  solche  Körper,  die  nicht  zu  tief  liegen,  auf  diese  Art  ge- 
hörig beleuchtet,  so  kann  man  sie  als  bläulich-weisse  Streifen,  Flecken 
und  dergl.  auch  sehen,  wenn  man  nicht  durch  das  Loch ,  sondern  neben 
dem  Spiegel  vorbei  in's  Auge  sieht,  ja  es  sehen  sie  dann  zur  Seite  des 
Beobachters  stehende  Personen  wohl  eben  so  gut.  Man  sieht  sie  natürlich 
aufrecht  und  mehr  weniger  vergrössert.  Will  man  sie  noch  deutlicher 
sehen,  so  kann  man  die  Beleuchtungslinse  (Ll)  so  umstellen  (hinter  das 
Spiegelbild),  dass  sie  nicht  zur'Concentration  des  Lichtes,  sondern  als  ein- 
fache Loupe  für  das  beobachtende  Auge  wirkt.  —  Wie  man  die  Netz- 
und  Aderhaut  am  besten  untersuche,  und  in  welcher  Beschaffenheit  diese 
Gebilde  dem  Beobachter  unter  dem  Spiegel  erscheinen  sollen,  das  muss 
man  vorläufig  durch  Untersuchung  normaler  Augen  kennen  gelernt  haben, 
ehe  man  sich  erlauben  darf,  ein  Urlheil  darüber  abzugeben ,  ob  in  einem 
Auge  mit  Gesichtsstörung  diese  auf  eine  Abnormität  der  Netz-  oder  Ader- 
haut bezogen  werden  könne.  Ein  jeder  kann  sich  zu  einer  solchen  Un- 
tersuchung leicht  hergeben,  da  die  Beleuchtung  für  seine  Netzhaut  jeden- 
falls nicht  nachtheiliger  sein  kann,  als  das  längere  Betrachten  der  Lam- 
penflainme  mit  freiem  Auge,  ja  im  Allgemeinen  viel  weniger;  nur  bei 
solchen  Augen,  welchen  der  Blick  in  eine  Kerzenflamme  schädlich  wäre, 
könnte  die  Untersuchung  mit  dem  Spiegel  allenfalls  nachtheilig  werden, 
und  da  nur,  wenn  das  zu  untersuchende  Auge  (D)  direct  nach  dem  Flammen- 
bilde blickte,  was  nicht  nöthig,  ja  nicht  einmal  wünschcnswerth  ist. 


Krankheiten.  —  Amblyopie  und  Amaurosis  im  Allgemeinen.     89 
B.    Krankheiten  der  Netzhaut  und  des  Sehnerven. 

Die  Lehre  von  den  Krankheiten  der  Netzhaut,  welche  in  der  Hauptsache  mit  der 
Lehre  von  der  Amaurosis  zusammenfällt,  ist  durch  die  Einführung  des  Augenspiegels  in 
die  ophthalmologische  Praxis  fast  durchgehends  auf  einen  andern,  weit  mehr  ohjeetiven 
Standpunkt  versetzt  worden.  Es  ist  jedoch  {mir  wenigstens)  zur  Zeit  noch  nicht  mög- 
lich, von  diesem  Standpunkte  aus  eine  Schilderung  der  hieher  gehörenden  Zustände 
des  Auges  systematisch  und  so  umfassend  zu  entwerfen,  als  diess  bei  den  Krankheiten 
anderer  Gebilde  der  Fall  ist.  Ich  muss  daher  den  nachfolgenden  Erörterungen  über  die 
Krankheiten  der  Netzhaut  die  Bemerkung  vorausschicken,  man  möge  in  denselben  nicht 
eine  abgeschlossene  Abhandlung,  sondern  nur  einzelne  feststehende  Thatsachen  suchen, 
nebst  einer  Anleitung,  wie  in  vorkommenden  Fällen,  allenfalls  mit  Hilfe  dieser  That- 
sachen und  genauer  Beobachtung  theils  den  praktischen,  theils  den  streng  wissen- 
schaftlichen .Anforderungen  nach  Zulass  der  Umstände  werde  entsprochen  werden 
können. 

Die  Ausdrücke  Amblyopia  (nervöse  Gesichtsschwäche)  und  Amau- 
rosis (schwarzer  Staar)  sind  es,  deren  man  sich  seit  langer  Zeit  bedient, 
um  zu  bezeichnen,  dass  in  einem  gegebenen  Falle  Schwäche  (Abnahme) 
.oder  Verlust  des  Sehvermögens  zunächst  durch  einen  krankhaften  Zu- 
stand der  Netzhaut,  des  Sehnerven  oder  der  Centralorgane  bedingt  sei. 
Wir  werden  diese  bequemen  Ausdrücke  im  Allgemeinen  beibehalten  dür- 
fen, wenn  wir  ihnen  keine  andere  als  die  negirende  Bedeutung  beilegen, 
die  nämlich ,  dass  in  einem  so  bezeichneten  Falle  das  Hinderniss  des 
Sehens  nicht  im  dioptrischen  Apparate  oder  doch  nicht  in  diesem  allein 
zu  suchen  sei,  und  wenn  wir  überdiess  nie  vergessen,  dass  mit  der  Be- 
zeichnung: „dieser  Kranke  ist  amblyopisch  oder  amaurotisch",  eine  Dia- 
gnosis  ebenso  wenig  ausgesprochen  sei,  als  wenn  wir  sagen:  dieser 
Kranke  leidet  an  Krämpfen,  Erbrechen,  u.  dgl.  Des  geistreichen  Ph.  von 
Walther's  Phrase:  „Amaurosis  sei  jener  Zustand,  wo  der  Kranke  nichts 
sieht,  und  —  auch  der  Arzt  nichts",  kennzeichnet  vollkommen  —  nicht 
die  Amaurosis,  sondern  die  Anschauungsweise  der  Arzte  früherer  Zeiten 
über  dieses  Leiden.  Man  hatte  nämlich  bereits  angefangen,  gewisse  For- 
men von  der  generellen  Bezeichnung  auszuscheiden,  jene  nämlich,  welche 
schon  der  oberflächlichen  Betrachtung  des  Auges  auffallende  Veränderun- 
gen darbieten ,  wie  z.  B.  die  acute  Entzündung  der  Netzhaut ,  welche 
Beer  als  Ophthalmia  interna  idiopathica,  Weller,  Makenzie,  Wallher  u.  A- 
als  Retinitis  oder  Dictyitis  geschildert  hatten,  den  Markschwamm  der  Netz- 
haut (Wardrop),  das  Glaucom  u.  s.  w.  Andererseits  wurden  aber  in  die 
Lehre  von  der  Amaurosis ,  und  zwar  unter  dem  Titel :  Vitla  visus  als 
Vorlauter  oder  Begleiter  des  Netzhautleidens  Zustände  beschrieben,    welche 


90  Netzhaut. 

nicht  unmittelbar  auf  ein  solches  bezogen  werden  können,  z.  B.  Myodes- 
opsie,  Mikropsie,  Megalopsie,  oder  nur  als  zufällige  Begleiter  auftreten, 
wie:  Skotomatopsie ,  Photopsie,  Chrupsie  u.  dgl.  Insbesondere  war  es 
nachtheilig,  dass  man  unter  dem  Namen  Amblyopia  ex  abusu  visus  oder 
Ilebetudo  ein  häufig  vorkommendes  Leiden  der  Accommodationsorgane, 
zu  welchem  allerdings  späterhin  ein  wirkliches  Netzhautleiden  hinzutreten 
kann,  als  eine  Art  schon  vorhandenen  Netzhautleidens  darstellte. 

Wird  dem  Arzte  ein  gänzlich  Erblindeter  vorgestellt,  dann  kann  nach 
den  weiter  unten  angegebenen  objeetiven  Erscheinungen  wohl  kaum  mehr 
ein  Zweifel  obwalten,  ob  die  Erblindung  durch  ein  Leiden  des  nervösen 
oder  des  dioptrischen  Apparates  bedingt  sei,  und  man  könnte  sich  allen- 
falls nur  noch  täuschen,  wenn  etwa  eine  Cataracta  nigra  (II.  B.  S.  253) 
oder  Simulation  vorläge.  Wenn  aber  der  Kranke  noch  mehr  weniger 
sieht,  dann  entsteht  vorerst  noch  die  Frage,  ob  das  Sehhinderniss  wirk- 
lich in  mangelhafter  Erregung,  Fortleitung  oder  Perception  liege  (I.). 
Muss  man  sich  für  Amblyopie  oder  Amaurosis  entscheiden,  und  hat  man 
überdiess  noch  durch  sorgfältige  Sehversuche  festgestellt,  bis  zu  welchem 
Grade  die  Sehfunction  beeinträchtigt  sei  (II.),  dann  ist  zu  untersuchen,  ob 
und  welche  materielle  Veränderungen  sich  nachweisen  lassen ,  ob  der 
Sitz  der  Affection  als  in  der  Netzhaut ,  im  Sehnerven ,  in  den  Cenlral- 
organen  befindlich  bezeichnet  werden  könne  oder  nicht  (III.).  Den  Schluss 
der  diagnostischen  Untersuchung  wird  dann  die  Entscheidung  der  Frage 
bilden,  in  welcher  Beziehung  das  Leiden  der  nervösen  zu  den  übrigen 
Organen  stehe,  welche  Momente  dessen  Entstehung  bedingt  oder  doch 
dazu  beigetragen  haben,  welche  Momente  auf  seinen  Fortbestand  Einfiuss 
nehmen,  wie  überhaupt  die  innern  und  äussern  Verhältnisse  des  Kranken 
mit  Bücksicht  auf  dieses  Leiden  gestaltet  sind  (IV.)  —  Je  weniger  es 
gelingt,  diese  Fragen  in  einem  gegebenen  Falle  positiv  zu  beantworten, 
desto  weniger  kann  von  einem  rationellen  Vorgänge  bei  der  Pmgnosis 
und  Therapie  die  Bede  sein,  wenn  gleich  der  Fall  noch  Heilung  zuttesse. 
Im  weiteren  Verfolge  dieser  Erörterungen  wird  sich  herausstellen,  dass 
schon  der  diagnostische  Theil  der  Aufgabe  des  Arztes  bei  Amblyopien 
und  Amaurosen  ungleich  schwieriger  ist,  als  bei  allen  andern  Augenübeln. 

I.  Binoculare  Amaurotische  bieten  eine  eigenthümliche  Physiognomie  und 
Haltung  dar,  ähnlich  einein  gedankenlos  vor  sichllinstarrenden.  Bei  weit  geöff- 
neter Lidspalte,  häufig  auch  etwas  zurückgezogenem  Haupte  treten  die  Augen 
gewissermassen  stärker  hervor,  stieren  mit  parallelen  oder  divergirenden  Seh- 
achsen fix  oder  in  zwecklosem  Hin-  und  Herschweifen  gleichsam  in  unbestimmte 


Krankheiten.  —  Anihlyopfe  und  Amaurosis  im  Allgemeinen.     91 

Ferne  hinaus,  richten  den  Bück  nicht  auf  die  Person,  die  den  Kranken 
anspricht,  und  machen  auf  diese,  indem  sie  ihr  kein  sichtbares  Sehhin- 
derniss  und  keinen  Fixations-  oder  Rühepunkt  darbieten,  einen  unheim- 
lichen Eindruck,  welcher  an  den  erinnert,  den-  man  bei  der  Unterredung 
mit  einem  Schielenden  empfindet.  —»  In  diesen  Momenten  liegen  für  den- 
jenigen, der  einige  Amaurotische  aufmerksam  betrachtet  hat,  benützens- 
werthe  Anhaltspunkte  gegenüber  einem  Simulanten,  der  sich  die  Pupillen 
künstlich  erweitert  hat,  namentlich  wenn  man  nicht  zu  nahe  an  ihn  hin- 
antritt.  Denn  Augen,  welche  zu  sehen  vermögen,  fixiren  unwillkürlich 
irgend  ein  Object,  das  in  den  Grenzen  ihrer  Sehweite  liegt,  und  dieses 
Fixiren  übt  auf  die  Haltung  der  Augen-  und  Gesichtsmuskeln  einen  be- 
stimmten Einfluss,  gibt  das,  was  man  Intuitus  nennt.  Es  gehört  sehr  viel 
Schlauheit  und  Übung  dazu,  dieses  unwillkürliche  Fixiren  dem  Beobachter 
zu  verbergen,  wenn  dieser  sich  nicht  näher,  als  die  Sehweite  (Mesorop- 
ter)  reicht,  heranstellt. 

Bei  bilateral  Amaurotischen  steht  die  Grösse  der  Pupillen  nicht  im 
Verhältnisse  zur  Beleuchtung,  um  so  weniger,  je  vollständiger  die  Amau- 
rosis ist.  Die  Pupillen  sind  häufig  abnorm  gross,  seltener  abnorm  eng, 
oft  aber  auch  von  mittlerer  Weite.  In  letzterem  Falle  kann  man  in  der 
Regel  nicht  sagen,  dass  die  Pupillen  starr  und  unveränderlich  seien,  man 
findet  im  Gegentheile  gewöhnlich,  dass  sie  zwischen  stärkerer  und  gerin- 
gerer Weite  schwanken,  jedoch  nicht  beim  Wechsel  des  Lichteinflusses, 
sondern  beim  Wechsel  der  Augenstellung.  Sehr  weite  oder  sehr  enge 
Pupillen  zeigen  selten  solche  Schwankungen,  auch  wenn  man  die  Kranken 
plötzlich  auf  ihren  nahe  vor  ihr  Gesicht  gehaltenen  Finger  blicken  heisst. 
Es  kann  übrigens  auch  die  eine  Pupille  merklich  grösser  und  die  eine 
Iris  mehr  beweglich  sein,  als  die  andere,  trotzdem  die  Amaurosis  beider- 
seits vollständig  ist.  Aufklärung  über  diese  Verhältnisse  haben  wir  im 
2.  Bande  S.  32— 34  gegeben. 

Bei  mono cidär er  Amaurosis  muss  zunächst  unterschieden  werden, 
ob  das  andere  Auge  als  sehkräftig  oder  als  mehr  weniger  amblyopisch 
bezeichnet  wird,  und  ob  dasselbe  nicht  etwa  anderweitige  augenschein- 
liche Veränderungen  darbietet,  z.  B.  Cataracta,  Pupillensperre,  Zeichen 
bestehender  oder  abgelaufener  Chorioiditis  u.  s.  w.  Ist  das  andere  Auge 
gesund  oder  doch  wenigstens  noch  für  Lichteindrücke  empfänglich,  dann 
muss  dasselbe  während  der  Untersuchung  des  fraglichen  so  verdeckt 
werden,  dass  es  von  dem  Lichtwechsel  durchaus  nicht  berührt  werden 
kann,  nicht  etwa  bloss  mit  den  Fingern,  sondern  mit  einem  mehrfach  zu- 
sammengelegten   Tuche.     In   solchen    Fällen    wird    es    öfter    vorkommen, 


92  Netzhaut. 

dass  der  Kranke  ein  Interesse  hat,  den  Arzt  glauben  zu  machen,  er  sehe 
mit  diesem  Auge  noch,  als  er  sehe  nichts.  Um  so  mehr  hat  man  Ursache 
sich  vor  Täuschung  durch  Milbewegung  der  Iris  (bei  Lichtwechsel  und 
veränderter  Stellung  der  Bulbi)  zu  schützen.  Bei  unilateraler  Amaurosis 
kommt  es  —  nach  meinen  Beobachtungen  —  nicht  vor,  dass  die  Pupille 
des  fraglichen  Auges  eng  bliebe  (es  sei  denn  wegen  Synechien)  ,  sobald 
man  das  andere  verdeckt;  sie  erweitert  sich,  wenn  sie  nicht  schon  früher 
grösser  war,  als  die  des  sehfähigen  Auges ,  was  gleichfalls  vorkommt, 
ohne  indess  Regel  zu  sein.  Unilaterale  Amaurose  verräth  sich  übrigens 
dem  Geübten  häufig  durch  eine  eigenthümlich  matte  Färbung  der  Iris, 
wenn  das  andere  Auge  gesund  ist,  doch  nur  nach  längerem  Bestände  des 
Leidens.  Selbst  wenn  das  eine  Auge  nur  in  etwas  höherem  Grade  am- 
blyopisch  ist,  und  die  Affection  auch  nicht  von  der  Chorioidea  ausgeht, 
unterscheidet  sich  die  Farbe  der  Iris  von  der  des  gesunden  ungefähr  auf 
dieselbe  Weise,  wie  Pflanzen,  die  in  schattigen  und  gesperrten  Räumen 
vegetiren,  von  Pflanzen  im  Freien.  So  habe  ich's  wenigstens  oft  gefunden. 
Nicht  rein  schwarz,  sondern  von  der  Tiefe  her  verschieden  getrübt  (wie 
bei  Glaucoma)  kann  die  Pupille  bei  Amblyopie  oder  Amaurosis  erscheinen, 
entweder  weil  sie  sehr  erweitert  ist,  oder  weil  von  der  Netz-  und  Ader- 
haut wegen  beträchtlicher  Gewebsveränderungen  ungewöhnlich  viel  Licht 
reflectirt  wird.  In  Bezug  auf  die  Stellung  des  amaurotischen  zu  dem 
andern  Auge  ist  zu  bemerken,  dass  sie  wohl  häufig  eine  abnorme,  na- 
mentlich eine  mehr  weniger  nach  aussen  abweichende  sei,  dass  aber  auch 
Fälle  vorkommen  ,  wo  in  der  Stellung  und  Mitbewegung  zum  gesunden 
keine  Abnormität  wahrgenommen  werden  kann,  so  wie  andererseits  Stra- 
bismus oder  Luscitas  noch  keineswegs  sicher  auf  Amblyopie  oder  Amau- 
rosis  deuten. 

Amaurosis  mit  mehr  weniger  deutlicher  Lichtempfindung ,  gleichviel 
ob  uni-  oder  bilateral,  zeigt  nur  dann  eine  ganz  starre  Pupille,  wenn  zu- 
gleich im  Ciliarncrvensysteme  beträchtliche  Veränderungen  vorhanden  sind, 
welche  natürlich  ebensowohl  im  Bulbus  selbst  als  ausserhalb  desselben  in 
jenen  Nerven  liegen  können,  die  das  Ganglion  ciliare  mit  motorischen 
Fasern  versehen.  Ein  Individuum,  welches  Amaurosis  vorgibt,  und  die 
Pupillen  heimlich  durch  Belladonna  in  ,  erweitertem  Zustande  unterhält, 
kann  mit  Berücksichtigung  dieses  Satzes  bisweilen  leicht  des  Betruges 
überwiesen  werden.  Untersucht  man  so  ein  Auge  mit  dem  Augenspiegel 
und  zwar  absichtlich  mit  etwas  stärkerer  Beleuchtung  und  gerade  in  der 
Gegend  der  Macula  lutea,  so  wird  man,  abgesehen  davon,  dass  der  Augen- 
grund  normal  erscheint,  schon  an  der  Unruhe  des  Auges,    an    dem  öftern 


Krankheiten. —  Amblyopie  und  Amaurosis  im  Allgemeinen.     93 

Blinzeln,  oder  am  Thränen  bald  erkennen  ,  dass  es  mindestens  noch  sehr 
deutliche  Lichtempfindung  haben  müsse,  während  seine  erweiterten  Pupillen 
unter  allen  Umständen  starr  bleiben,  ein  Widerspruch,  der  für  Betrug 
spricht,  sobald  sich  nicht  anderweitig  ein  Grund  für  Lähmung  der  Ciliar- 
nerven nachweisen  lässt.  Wir  verweisen  in  dieser  Beziehung  auf  die  im 
2.  B.  S.  287—289  angeführten  Thatsachen. 

Gebrauchen  wir  den  Ausdruck  Amblyopie  für  jede  Sehstörung  von  Seite 
des  nervösen  Apparates,  bei  welcher  der  Kranke  überhaupt  noch  Gegenstände 
zu  erkennen  vermag,  so  leuchtet  von  selbst  ein,  dass.  da  diese  Stellung  in  ver- 
schiedenen Graden  stattfinden  kann,  eine  Verwechslung  mit  anderweitig 
bedingten  Sehstörungen  leicht  möglich  ist.  Diese  letzteren  lassen  sich 
sämmtlich  auf  Fehler  der  durchsichtigen  Medien  oder  des  Refractions-  und 
Accommodationszustandes  zurückführen,  und  können  nur  dann  als  hinrei- 
chende Ursache  der  Sehstörung  betrachtet  werden,  wenn  sie  sich  als  zu 
dieser  in  directem  Verhältnisse  stehend  nachweisen  lassen.  —  Abnormi- 
täten der  Hornhaut,  und  zwar  zunächst  Trübungen ,  wenn  auch  noch  so 
klein,  werden  dem  aufmerksamen  Beobachter  nicht  leicht  entgehen,  sobald 
das  Licht  gut  einfällt  und  die  Pupille  dahinter  rein  schwarz  ist.  Die  Bei- 
ziehung einer  Loupe  kann  in  zweifelhaften  Fällen  entscheiden.  Facetten 
der  Hornhaut  verräth  am  besten  das  Spiegelbild  der  Fensterrahmen,  wenn, 
man  nicht  zu  nahe  am  Fenster  untersucht  und  das  Auge  mittelst  des  vor- 
gehaltenen Fingers  nach  und  nach  in  verschiedene  Stellungen  bringt.  Das- 
selbe Mittel  ist  auch  das  beste,  um  Veränderungen  in  der  Wölbung  der 
Comealvorderfläche  (z.  B.  Keratoconus  ineipiens)  zu  entdecken  und  zu 
schätzen.  —  Dünne  Exsudat-  und  Pigmentablagerungen  in  den  Pupillen 
(auf  der  Kapsel)  kommen  nur  nach  Iritis  oder  Erschütterung  des  Bulbus 
vor,  werden  schon  durch  Unregelmässigkeiten  des  Pupillarrandes  ange- 
deutet, und  können  in  Bezug  auf  Ausdehnung  und  Dicke  leicht  mit  einer 
Loupe,  nöthigenfalls  mit  dem  Augenspiegel  zur  Anschauung  gebracht  wer- 
den. —  Schwieriger  sind  diffuse  Linsentrübungen  zu  erkennen,  wenn  sie 
nicht  intensiv  sind.  Diess  gilt  nicht  nur  von  spinnenwebenähnlichen  Be- 
schlägen an  der  vordem  Kapsel  (Vergl.  Catar.  corticalis),  sondern  auch 
und  ganz  besonders  von  beginnenden  Kerntrübungen,  zumal  bei  alten 
Leuten.  Hier  erfordert  selbst  die  Benützung  des  Augenspiegels  viel  Übung, 
grosse  Vorsicht  und  wiederholte  Untersuchung.  Denn  es  kann  bei  wirk- 
lich nervöser  Sehstörung  der  Augengrund  gar  nicht  oder  doch  so  wenig 
verändert  sein,  dass  er  normal  erscheint;  er  kann  aber  auch  zufällige 
Alienationen  darbieten,  welche  dem  minder  Erfahrenen  für  die  Ursache 
einer  Amblyopie   imponiren,    obwohl    sie  es  nicht  sind.     Die    Gebilde   im 


94  Netzhaut. 

Grunde    des    Auges    können    nie   verschleiert    erscheinen    wegen   leichter 
diffuser   Trübung    der   Linse  oder  des    Glaskörpers,    aher  auch  —  wegen 
mangelhafter  Einstellung  des  Augenspiegels.  —  Mangel  oder  Senkung  der 
Linse,  welche  auch  ohne  vorausgegangene  Operation  vorkommen  und  dann 
leicht  mit  Amblyopie  verwechselt  werden  können,  verrathen  sich  dem  auf- 
merksamen Beobachter  bestimmt  durch  tiefere  Lage  der  Iris,  durch  Schlot- 
tern   derselben    bei    rascheren    Bulbusbewegungen,    durch  aulfallend  reine 
Schwarze  und  Engheit  der  Pupille  und  dadurch,  dass  starke    Convexgläser 
(von  2 — 5"  Brennweile)  dieselben  Dienste  leisten,  wie  bei  Staaroperirten, 
vorausgesetzt,  dass  nicht  gleichzeitig  Amblyopie  oder  eine    ungewöhnliche 
Achsenverlängerung  des  Bulbus  vorhanden  ist.     Denn,    wurde  der  Mangel 
oder  die  Senkung  der  Linse  durch    Erschütterung    des    Bulbus    eingeleitet 
—  was  dem  Kranken   auch  unbekannt  sein  kann,  z.  B.  wenn  sie  in  früher 
Jugend,    bei    Convulsionen,    im  Bausche  u.  dgl.  erfolgte  —  so  wird  Am- 
blyopie kaum  jemals    fehlen,    und    gab    Verflüssigung    des  Glaskörpers  mit 
Auflösung  der  Glashäute  die  erste  Bedingung  zur  spontanen  Linsensenkung, 
dann  ist,  wenn  nicht  zugleich  merkliche  Amblyopie,    wohl   meistens    auch 
Verlängerung  des  Bulbus  in  der  Richtung  der  Sehachse  vorhanden.  Vergl. 
II.  B.    S.    275    und    III.  B.    —    Bei    Glaskörper-    und    Cliorioidealkrank- 
heiten,  wenn  sie  mit  Sehstörung  ohne  augenscheinliche  äussere    Verände- 
rungen des  Bulbus  einhergehen,  kann  von  einer  Verwechslung  mit  Retinal- 
affection  eigentlich  nicht  die  Rede  sein,  indem  letztere  dann    wohl   immer 
zugleich  vorhanden  ist;  doch  fordert  die  exacle  Diagnostik  auch  in  solchen 
Fällen,  dass  das  Übel  nach  dem  primär  und  vorwaltend  ergriffenen  Gebilde 
erkannt  und  bekannt  werde.     Nach  dem,   was  wir    über  die  Diagnosis  der 
Aderhaut-  und  Glaskörperkrankheiten  mitgelheilt  haben,  dürfte  es   wohl  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  möglich  sein,    sich  über  den   Ausgangspunkt    der 
Affection  zu  entscheiden;    mit    Benützung    der    später   anzuführenden  Er- 
fahrungssätze über  die  ätiologischen  Momente  der   Retinalaffectionen,    und 
nach  Zuziehung  der  ophthalmoskopischen  Untersuchung  werden  gewiss  nur 
wenige  Fälle  übrig  bleiben,    wo    es    unentschieden    bleibt,    von    welchem 
Organe  die  Affection  ausgehe.  —  Was  die  fehlerhaften  Zustande  der  Re- 
fraction  und  Accomodation    betrifft,    so    werden  häufig   Fehlschlüsse    ge- 
macht, theils  darin,  dass  man  Amblyopie  für  Kurzsichtigkeit  ansieht,  theils 
darin,  dass  man  mangelhafte  oder  fehlende  Accommodalion  (für  die  Nahe) 
für  Amblyopie  erklärt,  aber  auch  darin,  dass  man  nur  eines  dieser  wesent- 
lich verschiedenen  Leiden  supponirt,  wo  doch  beide  zugleich,  z.  B.  kurz- 
sichtiger Bau  des  Auges  und  Amblyopie,  neben    einander    bestehen.     Wie 
man  sich  in  dieser  Beziehung  vor  Irrthum  schützen  könne,  lässt   sich  erst 


Krankheiten.  —  Amblyopie  und  Amaurosis  im  Allgemeinem.       95 

hei  der  Schilderuno-  der   fehlerhaften    Refractions-    und    Accommodations- 
verhältnisse  verständlich  machen. 

In  jenen  Fällen,  wo  die  Sensibilität  der  Netzhaut  nicht  in  der  ganzen 
Ausbreitung  derselben,  sondern  nur  stellenweise,  z.  B.  in  der  Mitte,  in 
der  einen  Hälfte  vermindert  oder  erloschen  ist,  und  wo  eine  solche  par- 
tielle Funelionsstörung,  welche  den  Kranken  nur  in  gewissen  Richtungen 
nicht  sehen,  oder  nur  einen  Theil  des  Sehfeldes  undeutlich  wahrnehmen 
lässt,  nicht  aus  Abnormitäten  des  dioptrischen  und  Accommodalionsapparales 
erklärt  werden  kann,  liegt  eben  hierin  der  Beweis  für  das  Vorhandensein 
eines  Leidens  der  Netzhaut  selbst.  Wir  werden  bei  Besprechung  der  Kurz- 
sichtigkeit zeigen,  dass  bei  höheren  Graden  dieses  Leidens  seitlich  gelegene 
Objecte  in  gewissen  Entfernungen  noch  eher  unterschieden  werden,  als  in 
der  Mitte  des  Sehfeldes  befindliche,  und  verweisen  rücksichtlich  der  par- 
tiellen Sehstörungen  von  Seite  des  dioptrischen  Apparates  auf  die  Angaben 
über  die  antoptischen  Erscheinungen  und  über  die  Krankheiten  des  Glas- 
körpers zurück. 

II.  Ist  auf  diese  Weise  die  Gegenwart  von  Amblyopie  oder  Amaurosis 
eines  oder  beider  Augen  als  sicher  oder  doch  als  wahrscheinlich  festge- 
stellt, wobei  zufällige  Complicationen,  z.  B.  eine  Hornhauttrübung,  gewiss 
schon  mit  erkannt  werden  mussten,  dann  erscheint  es  aus  mehrfachen 
Rücksichten  geboten,  zu  bestimmen,  bis  zu  welchem  Grade  dicSehfunction 
beeinträclttigt  sei.  Die  Prüfung  muss  natürlich  an  jedem  Auge  für  sich 
vorgenommen  werden.  Für  die  Ermittlung  der  Functionsfähigkeit  der 
Netzhaut  bei  totaler  Linsentrübung  oder  Pupillensperre  hat  A.  von  Gräfe 
ein  schätzenswerthes  Hilfsmittel  angegeben.  Man  hält  in  einem  verfinster- 
ten Lokale  eine  Kerzenflamme  in  allmälig  steigender  Entfernung  vor  das 
fragliche  Auge,  und  ermittelt,  bis  wie  weit  dasselbe  den  Flammenschein 
noch  wahrnimmt.  Aus  wiederholten  Versuchen  mit  verschiedenen  Cata- 
raetösen  und  Amblyopischen  wird  man  sich  bald  abstrahiren,  wie  weit  die 
Fähigkeit,  diesen  Schein  wahrzunehmen,  derch  bloss  mechanische  Hin- 
dernisse vermindert  werden  kann.  Zur  Bestimmung  des  Grades  der  Seh- 
störung hat  Ed.  Jäger  (über  Staar  und  Staaroperationen,  Wien  1854) 
Druckschriften  verschiedener  Grösse  in  20  Abstufungen  von  etwa  9'"  bis 
zu  V^'Höhe  zusammengestellt  und  hiemit  ein  jedem  Arzte  willkommenes, 
zugleich  allgemeine  Verständigung  und  Übereinstimmung  anbahnendes  Mittel 
an  die  Hand  gegeben.  Wenn  ich  finde,  ein  Kranker  liest  z.  B.  bei  9" 
Entfernung  und  massigem  Tageslichte  oder  bei  einer  Kerzenflamme  Nr.  iO 
der  Jö^er'schen  Drucksorten  (1'"  hoch),  Nr.  8  (etwa  4/5/;/  hoch)  dagegen 


96  Netzhaut. 

nicht,  so  ist  mir  hiemit,  abgesehen  von  seiner  Sehweite,  ein  ziemlich  si- 
cheres und  objeclives  Mass  für  seine  Sehkraft  angegeben,  ich  bin  nicht 
von  seinen  (oft  sehr  unbestimmten)  Angaben  abhängig,  und  kann  nach 
Verlauf  einiger  Zeit  mich  leicht  versichern,  ob  die  Sehkraft  zu-  oder  ab- 
genommen habe,  vorausgesetzt,  dass  der  Versuch  wieder  so  viel  als  mög- 
lich unter  denselben  äussern  Umständen  vorgenommen  wird.  Bei  Leuten, 
die  nicht  (mehr)  lesen  können,  wird  natürlich  irgend  ein  anderer  analo- 
ger Modus  ausfindig  gemacht  werden  müssen,  um  die  Sehkraft  mit  Rück- 
sicht auf  die  Accommodationsfähigkeit  objectiv  zu  messen. 

Immer,  mag  man  nun  auf  diese  oder  jene  Weise  vorgehen,  wird  die 
Anstellung  verlässlicher  Sehversuche  bedeutende  Vortheile  gewähren.  Sie 
gibt  dem  Arzte  nebst  dem  schon  Angedeuteten  auch  häufig  wichtige  Auf- 
schlüsse über  den  Sitz  und  die  Natur  des  Übels.  Man  bemerkt  dabei,  ob 
das  Auge  noch  in  der  Richtung  der  Sehachse  oder  in  einer  andern  Rich- 
tung relativ  am  besten  sieht,  ob  er  stärkere  oder  geringere  Beleuchtung 
sucht,  ob  ihn  hellfarbige  und  glänzende  Gegenstände  blenden,  oder  ob 
er  gerade  solche  Objecte  noch  eher  als  dunkle  und  matte  erkennt ,  wie 
sich  sein  Gesicht  in  Bezug  auf  die  Unterscheidnng  verschiedener  Farben 
—  allenfalls  nach  einer  Farbenmusterkarte  —  verhält,  ob  ihm  die  Objecte 
in  natürlicher  Grösse  (so  wie  im  gesunden  Zustande)  und  Lage  erscheinen, 
wie  lange  er  das  Betrachten  kleiner  Objecte,  z.  B.  der  Buchstaben  aus- 
hält, ob  und  wie  lange  der  Eindruck  heller  Objecte  nachher  noch  fort- 
dauert, u.  s.  w.  —  Dieser  Vorgang  dürfte  auch  desslialb  vortheilliaft  sein, 
weil  er  den  Kranken,  wenn  er  nur  einigermaassen  verständig  ist,  auf 
die  Umstände  aufmerksam  macht,  die  den  Arzt  von  dem,  was  vorherging, 
interessiren,  und  weil  sich  an  ihn  am  zweckmässigsten  die  Erhebung  über 
die  Dauer  und  Entwicklung  des  Übels  bis  zum  gegenwärtigen  Zustande 
anknüpfen  lässt,  was  im  Allgemeinen  viel  zweckmässiger  ist,  als  den  Kran- 
ken gleich  im  vorhinein  ein  Langes  und  Breites  erzählen  zu  lassen ,  wo- 
bei es  leicht  geschieht,  dass  die  Aufmerksamkeit  des  Arztes  auf  ganz 
zufällige,  zum  fraglichen  Augenleiden  in  gar  keiner  Beziehung  stehende 
Umstände  abgelenkt,  mindestens  Zeit  versplittert  wird.  Man  wird  sich 
überzeugen,  dass  nach  genauer  Erhebung  der  Functionsstörung  und  der 
dem  blossen  Auge  wahrnehmbaren  Veränderungen  mit  Benützung  der  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Augenleidens  in  der  Regel  schon  der  3.  Punkt, 
der  Sitz  der  Affectiun,  und  selbst  auch  die  Beschaffenheit  und  das  Ur- 
sächliche derselben  (IV.)  bestimmt  werden  kann,  somit  für  die  controlli- 
rende  Untersuchung  mit  dem  Augenspiegel  bereits  nützliche  Anhaltspunkte 
gewonnen  sind. 


Amblyopie,  Amaurosis  —  Eiiitlicilmig.  97 

III.  Von  einer  extracten  Diagnosis  des  in  Rede  stehenden  Leidens 
kann  offenbar  die  Rede  nur  da  sein,  wo  der  Arzt  im  Staude  ist  zu  be- 
stimmen, welcher  Theil  des  nervösen  Apparates  und  in  welcher  Art  der- 
selbe leidet.  Ist  eine  solche  Localisirung  zur  Zeit  überhaupt  oder  doch 
in  einem  speciell  gegebenen  Falle  nicht  möglich,  so  muss  wenigstens  die 
entferntere  Krankheilsursache  angegeben  werden  können;  ist  auch  diess 
unmöglich,  dann  kann  von  einem  rationellen  Vorgange  bei  Prognosis  und 
Therapie  wohl  nicht  mehr  die  Rede  sein,  und  möchte  ärztliches  Eingreifen 
unter  solchen  Umstanden  nur  allenfalls  noch  in  der  Berücksichtigung  ge- 
wisser Symptomencomplexe,  des  sogenannten  congestiven,  erethischen  oder 
torpiden  Charakters  der  Amaurosis,  einige  plausible  Anhaltspunkte  gewin- 
nen können.  Denn:  „was  soll  das  ewige  blinde  Curiren  einer  Krankheit, 
die  man  nicht  kennt?"    Beer  I.  c.  II.  B.  S.  420. 

So  naturgemäss  es  auch  erscheint,  hier  wie  überall,  als  erstes  Eintheilungsprincip 
den  Sitz  der  Affection  aufzustellen,  so  ist  doch  dieser  Weg  bisher  nur  wenig  und  mehr 
nebenbei  eingeschlagen  worden,  wohl  vorzüglich  desshalb,  weil  es  viele  Fälle  von 
Amblyopie  und  Amaurosis  gibt,  wo  eine  Localisirung  nicht  möglich  ist,  oder  doch  ohne 
Zuziehung  des  Augenspiegels  nicht  möglich  war.  Man  hat  daher  bald  den  sogenannten 
Charakter  der  Amaurosen,  bald  die  entfernteren  Ursachen,  z.  B.  Saburra,  unterdrückte 
Fussschweisse,  Contusionen  u.  dergl.,  wohl  auch  beides  zugleich  (durch-  und  nebenein- 
ander) zum  Eintheilungsgrunde  erwählt.  —  Aus  dem,  was  wir  unter  II.  über  das  Ver- 
halten der  Augen  bei  den  Sehversuchen  und  bei  der  äussern  Besichtigung  überhaupt 
angegeben  haben  (vergleiche  auch  2.  Band  S.  184),  ist  wohl  unschwer  zu  entnehmen, 
welche  Symptomencomplexe  auf  congestive,  welche  auf  erethische,  welche  auf  torpide 
Amaurose  (Amblyopie)  zu  beziehen  wären  ;  es  ist  indess  mit  dieser  Bestimmung  wenig 
gewonnen,  so  lange  man  ungewiss  ist  darüber,  von  welchem  Theile  des  nervösen  Ap- 
parates die  Sehstörung  ausgehe,  und  welcher  Proces  ihr  eigentlich  zu  Grunde  liege. 
Dieser  letztere  lässt  sich  oft  mit  mehr  weniger  Wahrscheinlichkeit  erschliessen,  wenn  die 
sogenannten  entfernlern  Ursachen,  die  ätiologischen  Momente  bekannt  sind.  Daher  fand 
die  Eintheilung  der  Amaurosen  nach  den  Ursachen  weit  mehr  Aufnahme,  und  machte 
sich  um  so  mehr  geltend,  als  sie  grossentheils  schon  auf  anatomischer  Basis  beruhte, 
wie  z.  B.  Amaurosis  von  Druck  aufs  Gehirn,  von  Erschütterung  des  Bulbus  u.  s.  w.  — 
Der  von  jeher  anerkannte  innige  Zusammenhang  zwischen  Sitz  und  Ursache  der  Affec- 
tion ist  es,  welcher  uns  bestimmt,  bei  der  Schilderung  nach  dem  Sitze  der  Affection 
auch  schon  grösstentheils  die  ätiologischen  Momente  erfahrungsgemäss  aufzuführen,  indem 
eines  das  andere  erläutert,  und  eine  gesonderte  Aufzählung  der  ätiologischen  Momente 
für  sich  wenig  Nutzen  bringt,  ausgenommen  für  jene  Fälle,  wo  wir  überhaupt  noch 
nicht  im  Stande  sind  anzugeben,  welche  Region,  welcher  Theil  des  nervösen  Apparates 
„zunächst  durch  die  Schädlichkeit  ergriffen  wird,  die  doch  erfahrungsgemäss  als  Ursache 
der  Sehstörung  angenommen  werden  muss,    wie  z.  B.  Bleivergiftuno-. 

Diq  Anatomie  gibt  uns  zunächst  die  Eintheilung  in  centrale  und  peri- 
pherische Amaurosen  (Amblyopien)    an  die  Hand,    und  die  Untersuchung 

Arll's  Aiigenhe  Ikuiüie  HI,  2.  "J1 


98  Netzhaut. 

am  Krankenbette  sowohl  als  am  Leichentische  hat  dieser  Eintheilung  hin- 
reichende Grundlagen  verschafft.  Die  centralen  zerfallen  naturgemäss  in 
cerebrale  (Sitz  der  Affection  im  Bereiche  des  grossen  oder  kleinen  Ge- 
hirnes, vom  Chiasma  bis  zu  den  Vierhügeln),  und  spinale  (Medulla  oblon- 
gata,  Rückenmark).  Die  peripherischen  sind  entweder  bulbäre  (innerhalb 
des  Bulbus)  oder  orbitale  (vom  Bulbus  bis  zum  Foramen  opticum)*  und 
bei  den  ersteren  ist  die  Netzhaut  bald  das  primär  ergriffene  Organ  (eigent- 
liche Relinalamaurose),  oder  sie  leidet  seeundär  in  Folge  von  Krankheiten 
der  Chorioidea,  des  Glaskörpers,  mehrerer  Gebilde.  —  Die  Erfahrung  weist 
aber  auch  noch  Fälle  von  Amaurosen  nach,  über  deren  Sitz  zur  Zeit  noch 
gar  nicht  bestimmt  werden  kann.  Es  sind  dies  Amaurosen  von  mehr 
allgemeiner  Natur.  Wir  werden  sie  vorläufig  als  sympathische  bezeichnen, 
nicht  vergessend,  dass  wir  eigentlich  über  das  Zustandekommen  solcher 
Sehstörungen  nichts  wissen.  Die  Angabe  und  Beschreibung  der  einzelnen 
Arten  wird  zeigen,  was  wir  mit  diesem  Namen  bezeichnet  haben  wollen. 
Man  kann  den  Namen  leicht  fallen  lassen,  nicht  aber  die  Thatsachen. 


A.    Bulbäre  Netzhautaffectionen. 
mit  geschwächter  oder  aufgehobener   Sehkraft. 

a)  Die  vom  Glaskörper  oder  von  der  Chorioidea  ausgehenden 

Netzhautaffectionen  wurden  bereits  besprochen. 

b)  Einfache  oder  primäre   Retinal-Amblyopie  oder  Amaurosis. 

1.  Es  gibt  Zustände  angeborener  nervöser  Gesichtsschwäche, 

welche  zunächst  blos  auf  Abnormität  der  Netzhaut  bezogen  werden  kann. 
Der  anatomische  Befund  —  unbekannt.  Sie  geben  sich  functionell  entweder 
bloss  durch  geringere  Energie  des  Gesichtes  kund  (angeborne  Stumpfheit}, 
oder  durch  die  Unfähigkeit,  einzelne  Farben  zu  unterscheiden  (Daltonismus~), 
oder  aber  durch  Beschränkung  des  Sehfeldes  mit  dem  Bedürfnisse  stärkerer 
Beleuchtung  ( angeborne  Hemeralopie).  Dass  diese  Zustände  angeboren  sind, 
lässt  sich  nicht  absolut  nachweisen,  wird  jedoch  höchst  wahrscheinlich, 
wenn  sie  neben  andern  Bildungsfehlern,  wie  namentlich  mit  abnormer 
Kleinheit  der  Bulbi,  oder  bei  mehreren  Familiengliedern  zugleich  vor- 
kommen. Aus  den  Aussagen  der  Kranken  oder  ihrer  Angehörigen  lässt 
sich  meistens  so  viel  bestimmt  entnehmen,  dass  solche  Zustände  von 
frühester  Kindheit  an  bestehen ;  bei  geringeren  Graden  jedoch  liegt  es  so 
zu  sagen  in  der  Natur  der  Sache  selbst,  dass  die  Kranken  erst  in  späterer 


Relinalamblyopie  —  angeborene.  99 

Zeit,    wenn  an  das  Gesicht  höhere  Anforderungen  als   beim  gewöhnlichen 
Sehen  gestellt  werden,  auf  solche  Fehler  aufmerksam  werden. 

a)  Die  Stumpfheit  des  Gesichtes  lässt  sich  als  angeborner  Zustand 
(Hebetudo  retinae  congenita)  annehmen,  wenn  sie  von  früher  Jugend  an 
und  auf  beiden  Augen  besteht,  anderweitige  Ursachen,  z.  B.  Einwirkung 
grellen  Lichtes,  Convulsionen,  in  der  Kindheit  nicht  stattgefunden  haben, 
mehrere  Glieder  der  Familie  denselben  Fehler  an  sich  tragen,  die  Bulbi 
ausserdem  noch  Merkmale  unvollständiger  Entwicklung  darbieten.  Bei 
Leucosis  mag  allerdings  die  Einwirkung  diffusen  (durch  die  Iris  und  Sclera 
eindringenden)  Lichtes  das  Meiste  zur  Sehstörung  beitragen,  dürfte  aber 
auch  geringere  Energie  der  Netzhaut  von  Haus  aus  vorhanden  sein,  weil 
die  Sehkraft  auch  bei  künstlicher  Abhaltung  des  falschen  Lichtes  eine  ge- 
ringere Schärfe  zeigt.  Dasselbe  Verhältniss  zeigt  sich  bei  unvollständiger 
Entwicklung  und  bei  Spaltung  der  Iris  (Irideremia,  Mydriasis  et  Coloboma 
iridis  congen.).  Deutlich  ausgesprochene  Mikrophthalmie  ist  jederzeit  mit 
mehr  oder  weniger  Stumpfheit  der  Netzhaut  verbunden.  Worauf  aber  hier 
eigentlich  aufmerksam  gemacht  werden  soll ,  das  ist  ein  Zustand  binocu- 
lärer  angeborner  Stumpfheit  des  Gesichtes,  welcher  dem  Beobachter  nur 
bei  grosser  Aufmerksamkeit  durch  noch  einige  andere  Merkmale  bemerkbar, 
und  welcher  gewöhnlich  oder  doch  sehr  häufig  für  Kurzsichtigkeit  gehalten 
wird.  Ist  kein  anderer  Fehler  vorhanden,  als  der  in  Rede  stehende,  so 
werden  Gegenstände  von  bestimmter  Grösse,  z.  B.  Buchstaben  von  \'" 
Höhe,  nur  in  relativ  geringer  Distanz  erkannt,  weil  für  die  stumpfe  Netz- 
haut relativ  mehr  Licht  und  ein  grösserer  Sehwinkel  nöthig  sind.  Untersucht 
man  genau,  so  findet  man,  dass  die  Annäherung  der  Objecte  nur  bis  zu 
einer  gewissen  Grenze  der  Kleinheit  nützt,  dass  bei  sehr  feinen  Objecten 
weder  stärkere  Beleuchtung  noch  grössere  Annäherung  im  Stande  ist,  das 
Erkennen  zu  vermitteln.  Was  das  Erkennen  entfernter  Objecte  betrifft,  so 
wird  man  es  auffallend  finden,  dass  ein  solches  Individuum  z.  B.  versichert, 
Personen  auf  8 — 10  Schritte  nicht  genau  auszunehmen,  während  es  doch 
mittlem  Druck  vielleicht  noch  bei  12 — 15  Zoll  Abstand  liest.  Kurz,  das 
Gesicht  zeigt  in  keiner  Distanz  die  normale  Schärfe,  während  es  bei  Ge- 
genständen mittlerer  Grösse  und  Entfernung  sich  von  einem  normalen  nicht 
zu  unterscheiden  scheint.  —  Lässt  man  ein  kurzsichtiges  Auge  kleine  Schrift 
durch  eine  mit  einer  Nadel  in  eine  Karte  gestochene  Öffnung  betrachten, 
so  kann  es  dieselbe  nicht  nur  ohne  Anstand,  sondern  auch  in  viel  grösserer 
Entfernung  lesen,  als  ohne  ein  solches  Diaphragma,  welches  die  Zer- 
streuungskreise auf  das  nöthige  Minimum  reducirt;  ist  dagegen  das  Auge 
stumpfsichtig  (amblyopisch),    so  kann    es  durch  eine  solche  Öffnung  noch 

7* 


100  Netzhaut. 

minder  gut,  feineren  Druck  wohl  auch  gar  nicht  lesen.  —  Bei  geringeren 
Graden  dieses  Übels,  welche  vorzüglich  im  Erkennen  von  mehr  ent- 
fernten Objecten  Schwierigkeiten  darbieten,  leisten  schwache  Concavgläser 
(von  20 — 30"  Brennweite)  mehr  weniger  hiezu  hinreichende  Dienste, 
Glaser,  durch  welche  auch  ein  normales  und  selbst  ein  massig  pres- 
byopisches  Auge  für  die  Ferne  unterstützt  wird ;  bei  höheren  Graden 
dienen  mittelstarke  Convexgläser  (20 — 50")  zur  Unterstützung  für  nah 
und  fern ,  und  bei  noch  höheren  Graden  müssen  stärkere  Convexgläser 
(10 — 20")  zum  Lesen,  Nähen  u.  dgl.  zu  Hilfe  genommen  werden.  —  Je 
weiter  man  durch  Übung  vorgerückt  ist  in  der  Fertigkeit,  die  Lage  der 
Iris  und  die  Grösse  der  vordem  Kammer  zu  beurtheilen ,  desto  sicherer 
kann  man  diesen  Zustand  der  Augen  jugendlicher  Individuen  —  meistens 
werden  Kinder  von  8 — 15  Jahren  vorgeführt  —  durch  die  blosse  Besich- 
tigung erkennen.  Man  findet  nämlich  die  durchsichtigen  Medien  rein,  die 
vordere  Kammer  enger,  die  Iris  in  ihrer  Totalität  oder  doch  in  einem 
beinahe  der  Linsengrösse  entsprechenden  Areal  (Scheibe  von  3 — 3y2" 
Durchmesser)  vorwärts  gelagert  und  aufgewölbt,  in  ihrer  Farbe  licht  und 
eigenthümlich  matt  (lichtblau,  lichtgrau,  gelblichgrau).  Das  Auge  hat,  um 
populär  zu  sprechen ,  nicht  das  rechte  Feuer.  Oft  findet  man  auch  die 
Durchmesser  der  Cornea  an  der  Basis  kleiner,  den  horizontalen  unter 
5'",  wenn  auch  der  Bulbus  im  Ganzen  nicht  gerade  kleiner  aussieht.  — 
Von  der  einfachen  Schwächung  der  Accommodationskraft  für  nahe  Ob- 
jeete,  dem  Mangel  an  Ausdauer  für  Betrachtung  feiner  Objecte,  welcher 
weiter  unten  besprochen  werden  wird,  unterscheidet  sich  dieser  Zustand 
durch  den  Abgang  der  Fähigkeit,  solche  Objecte  wenigstens  eine  kurze 
Zeit  und  bei  etwas  grösserer  Entfernung  zu  erkennen.  —  Dieser  Zustand 
ist  stationär,  und  scliliesst,  wenn  von  dem  Auge  nicht  mehr  verlangt 
wird,  als  es  leisten  kann,  keine  Gefahr  der  Erblindung,  keine  besondere 
Disposition  hiezu  in  sieh  ein.  Die  Aufgabe  des  Arztes  ist,  das  Individuum 
oder  seine  Angehörigen  in  diesem  Sinne  aufzuklären,  damit  namentlich  bei 
der  Wahl  der  Beschäftigung  kein  Fehler  begangen,  nötigenfalls  bei  Zeiten 
ein  anderer  Beruf  gewählt  werde.  Man  wird  auf  diesen  einzig  vernünf- 
tigen Rathschlag  vielleicht  um  so  eher  eingehen,  und  nicht  nach  unnützen 
und  schädlichen  Mitteln  herumtappen,  wenn  dabei  darauf  hingewiesen 
wird,  dass  das  Auge  so  wie  andere  Organe  durch  adäquate  Kraftübung 
gestärkt,  durch  blindes  Forciren  geschwäeht  werden  kann,  dass  mit  der 
Kräftigung  des  ganzen  Körpers  durch  Bewegung  im  Freien,  Turnen,  Fluss- 
bäder u.  s.  w.  auch  auf  Kräftigung  der  Augen  gerechnet  werden  könne. 
Brillen  sind  hier  nur  als  Krücken,    höchstens  als  Conservations -,  niemals 


Retinalaniblyopie  —  angeborene.  101 

als  Heilmittel  darzustellen,  —  Bloss  auf  dem  einen  Auge  mag  die  angeborne 
Stumpfheit  der  Netzhaut  wohl  noch  viel  öfter  vorkommen;  hier  wird  es 
aber,  wenn  nicht  offenbar  andere  BHdungshemmungen  vorkommen,  im 
Allgemeinen  schwer  sein,  sie  als  angeboren  nachzuweisen ;  denn  es  liegt 
dann  ein  anderer  Grund  sehr  nahe,  nämlich  Mangel  an  Übung,  worauf 
wir  später  zu  sprechen  kommen.     Der   Zustand  ist  bisweilen  erblich. 

ß.  Die  Unfähigkeit,  gewisse  Farben  zu  unterscheiden,  der  mangelhafte 
oder  fehlende  Farbensinn  ist  bisher  mit  wenig  Ausnahmen  nur  als  an- 
geborner,  oft  zugleich  erblicher  Fehler  namentlich  beim  männlichen  Ge- 
sehlechte  beobachtet  worden.  Das  Individuum  sieht  die  verschiedenfarbigen 
Objecto  nur  weiss  oder  grau,  oder  es  fehlt  bloss  die  Wahrnehmung  des 
Blauen,  des  Rothon  (so  dass  z.  B.  Orange  einfach  für  Gelb  gehalten  wird), 
oder  sie  halten  Blau  für  Roth,  Grün  für  Blau  u.  dgl.  Einige  dieser  Zu- 
stände haben  ein  Analogon  in  dem  Verhalten  gesunder  Augen  bei  der 
Abenddämmerung  (Dove).  Dieser  eben  so  merkwürdige  als  räthselhafte 
Zustand  —  mir  aus  eigenen  Untersuchungen  nicht  bekannt  —  ist  in 
neuerer  Zeit  besonders  von  Seebeck*),  Sz>okalsky**~),  Wartmann'***) 
u.  A.  genauem  Untersuchungen  unterworfen  worden.  Da  derselbe  nicht 
nur  selten  vorkommt,  sondern  auch  mehr  physiologisches  als  pathologisch^ 
thereapentiscb.es  Interesse  hat,  so  genüge  es,  auf  die  genannten  Unter- 
suchungen zu  verweisen,  welche  sich  übrigens  in  Ruele's  Lehrbuche  der 
Ophthalmologie  1.  Auflage  S.  83  und  besonders  in  der  2.  Auflage  S.  179 
bündig  zusammengestellt   finden. 

y.  Eine  andere  Form  angeborner  (auch  erblich  vorkommender)  ner- 
vöser Gesichtsschwäche  gibt  sich  vorzüglich  dadurch  kund,  dass  das  Ge- 
sichtsfeld, der  fungirende  Theil  der  Netzhaut,  kleiner  ist,  der  Kranke 
demnach  seitlich  befindliche  Objecte  wenig  oder  gar  nicht  wahrnimmt. 
Dabei  kann  das  Sehvermögen  an  und  nächst  der  Macula  lutea  ziemlich 
gut  sein,  obwohl  es  in  der  Regel  mehr  weniger  stumpf  ist.  In  so  fern 
sich  diese  Sehstörung  besonders  beim  Abgange  gleichmässig  verbreiteter 
und  intensiver  Beleuchtung  des  Sehfeldes,  also  im  Allgemeinen  nach 
Sonnenuntergang  geltend  macht,  kann  sie  als  angeborner  Nachtnebel 
(Hemeralopia  cong.)  bezeichnet  werden.  (Ich  beobachtete  unter  Andern 
einen  Goldarbeiter,  welcher  sein  Geschäft  recht  gut  betreiben,  Abends 
aber  nicht  allein  ausgehen  kann,  weil  er  Gefahr  läuft,  an  etwas  seitlich 
liegende  oder  entgegenkommende  Objecte  anzustossen,    und  welcher  auch 

*)  Poppendorfs  Annalen  der  Physik   und  Chemie,   1837.  Bd.  42. 

**)  Über  die  Empfindung   der  Farben  in  physiolog.  und  patholog.    Hinsicht,   Giessen  1842. 
*"*)  Memoire  par  le   Daltonisme    ou    la  Dyschromalopsie,   Geneve   1841  und   1849. 


102  Netzhaut. 

bei  hellem  Tage  seitliche  Objecte  nicht  wahrnimmt;  bei  einem  Kellner, 
mit  beinahe  demselben  Zustande  von  Jugend  auf,  zeigte  die  Untersuchung 
mit  dem  Augenspiegel  nur  die  Peripherie  der  Netzhaut  abnorm,  nämlich 
von  ziemlich  zahlreichen  dunkeln  Körperchen  durchsetzt  (oder  bedeckt?), 
welche  durch  unregelmässige  Ausläufer  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  Knochen- 
zellen unter  dem   Mikroskope  erhielten.) 

2.  Ein  der  angebornen  Stumpfheit  verwandter  Zustand  der  Netzhaut 
entwickelt  sich  als  Hebetudo  retinae  acquisita  in  Folge  mangel- 
hafter Verwendung  derselben  zum  Sehen  in  früher  Jugend,  seltener 
in  späteren  Jahren  (Amblyopia  ex  anopsia).  Mechanische  Hindernisse, 
wie  namentlich  Cataracta,  wenn  sie  vom  zartesten  Alter  an  bestehen, 
können  diesen  Zustand  auf  beiden  Augen  herbeiführen,  und  zwar  in  der 
ganzen  Ausdehnung  der  Netzhaut  oder  nur  in  einem  Theile  (in  der  Mitte) 
derselben  (vergl.  II.  B.  S.  258,  281  und  282).  Ausserdem  entwickelt  sich 
dieser  Zustand  nur  auf  einem  Auge  unter  allen  Verhältnissen,  wo  das- 
selbe gar  nicht  oder  nur  relativ  selten  zum  directen  Sehen  verwendet 
wird.  —  Welche  anatomische  Veränderungen  die  Netzhaut  in  Folge  län- 
gerer Unthätigkeit  erleide,  ist  nicht  direct  erwiesen;  vermuthen  lässt  sich 
ein  analoger  Vorgang  wie  in  wenig  oder  gar  nicht  geübten  Muskeln. 
Völlige  Atrophirung  kann  ohne  Hinzutritt  anderer  Umstände  wohl  nicht 
erfolgen,  da  solche  Augen  doch  niemals  ganz  unthätig  bleiben,  sondern  am 
Schacte  überhaupt  immer  mehr  weniger  Theil  nehmen,  wenn  auch  nur 
durch  indirectes  Sehen,  durch  Vergrösserung  des  Sehfeldes.  Ist  kein  ander- 
weitiges Hinderniss  vorhanden,  so  kann  die  gesunkene  Energie  der  Netz- 
haut durch  methodische  Übung  gehoben  werden,  und  eben  der  Erfolg 
solcher  Übung  zeigt,  welchen  Antheil  an  der  vorhandenen  Gesichts- 
schwäche eben  das  in  Rede  stehende  Übel  hatte.  —  Es  ist  dasselbe  somit 
bald  als  für  sich  allein  bestehend,  bald  als  Zugabe  zu  andern  Sehhinder- 
nissen zu  betrachten,  und  kommt  sowohl  in  der  einen,  als  in  der  andern 
Eigenschaft  sehr  häufig  vor.  Sicher  vorhanden  ist  es  an  continuirlich 
schielenden  Augen,  in  um  so  höherem  Grade,  je  länger  der  Strabismus 
besteht.  Es  kommt  aber  auch  ausserdem  in  den  verschiedensten  Abstu- 
fungen bei  Augen  vor,  welche  für  gewöhnlich  oder  auch  selbst  unter 
allen  Umständen  keine  Deviation  der  Sehachse  von  dem  fixirten  Objecte 
wahrnehmen  lassen.  Es  besteht  bei  sehr  vielen  Menschen  auf  dem  einen 
oder  dem  andern  Auge,  öfter  auf  dem  linken,  ohne  seine  Gegenwart 
durch  irgend  eine  Beschwerde  zu  verrathen.  Ein  Zufall,  z.  B.  das  Ein- 
fallen eines  Staubkornes  in  das  gesunde  Auge',  führt  zum  Zuhalten  des- 
selben,    und  nun  wird  zum  grössten  Schrecken  die  mehr  weniger  gesun- 


Retinalamblyopie — ex  anopsia,  traumatica.  103 

kene  Energie  des  andern  wahrgenommen.  Der  desswegen  consultirte  Arzt 
wird  nun  zu  untersuchen  und  zu  entscheiden  haben,  oh  das  Übel  seit  Kurzem 
besteht,  oder  bloss  nicht  bemerkt  wurde,  wenn  auch  der  Kranke  wie  ge- 
wöhnlich meint,  er  habe  immer  mit  beiden  Augen  gut  gesehen.  Sehr  oft 
ist  es  vorzeitige  Ermüdung  (Kopiopie,  Asthenopie)  des  bessern  Auges  mit 
oder  ohne  Myodesopsie,  welche  den  Kranken  bestimmt,  den  Arzt  zu  con- 
sultiren,  gleichviel,  ob  ihm  der  geschwächte  Zustand  des  andern  bekannt 
ist  oder  nicht.  Die  Erörterung  des  gegenseitigen  Verhältnisses  dieser 
beiden  Affectionen  folgt  in  dem  Capitel  über  Fehler  der  Accommodation. 
—  Den  Impuls  zur  Vernachlässigung  des  einen  oder  doch  zur  vorwalten- 
den Benutzung  des  andern  Auges  geben:  Ablenkung  des  einen  Auges 
durch  primäre  Muskelaffectionen  (Strabismus  muscularis  und  Luscitas), 
längeres  Verbinden  des  einen  Auges  bei  Entzündung  in  früher  Jugend, 
bleibende  oder  transüorische  Sehhindernisse  in  den  durchsichtigen  Medien, 
angeborene  oder  erworbene  geringere  Energie  der  Netzhaut,  Fehler  in 
der  Verwendung  der  Augen  in  der  Jugend,  so  dass  nur  das  eine  Auge 
allein  oder  doch  vorzugsweise  in  Anspruch  genommen  werden  kann,  wie 
z.  ß.  bei  zu  starker  Annäherung  feiner  Objecte,  unilateraler  Gebrauch  von 
Augengläsern  ,  Loupen  u.  dergl.  —  Gegenstand  der  ärztlichen  Behandlung 
wird  dieser  Zustand  fast  nur  dann,  wenn  das  schwächere  Auge  schielt, 
oder  wenn  das  stärkere  anfängt  die  geforderten  Dienste  zu  versagen. 
Desshalb  werden  wir  das  Notlüge  über  die  Behandlung,  welche  füglich 
eine  gymnastische  genannt  werden  kann,  in  den  Capiteln  über  Strabismus 
und  Asthenopie  nachtragen. 

3.  Traumatische  Retinal- Amblyopie  und  Amaurose.  Dass 
Erschütterung  des  Bulbus,  Druck  auf  denselben,  heftige  convulsivische 
Bewegung  u.  dergl.  an  und  für  sich  die  Energie  der  Netzhaut  herab- 
setzen, selbst  vernichten  können,  ist  durch  verlässliche  Beobachtungen  er- 
wiesen. Es  ist  sehr  wahrscheinlich ,  dass  viele  Fälle  uni  -  und  selbst  bi- 
lateraler Amblyopie  hierher  gehören,  welche  man,  weil  sich  der  Kranke 
keines  traumatischen  Einflusses  zu  erinnern  weiss,  als  unbestimmt  hin- 
stellt, für  angeboren  hält,  oder  ganz  andern  zufälligen  Umständen  zu- 
schreibt. Die  Combination  mit  Trübung,  Luxation  oder  Verschrumpfung 
des  Krystallkörpers,  namentlich  bei  unilateraler  Affection  gibt  dieser  Ver- 
muthung  besonderes  Gewicht,  denn  unilaterale  Linsenerkrankung  ohne 
entzündliche  Erscheinungen  kommt  eben  ohne  Trauma  nicht  leicht  vor. 
Oft  entsinnen  sich  die  Kranken  oder  ihre  Angehörigen  erst  während  eines 
gründlich  eingehenden  Examens  ganz  bestimmt  einer  traumatischen  Ein- 
wirkung,   welche  sie  bloss  desshalb    nicht    in  Beziehung    zu    dem  gegen- 


i04  Netzhaut. 

wärtigen  Übel  brachten ;  weil  dieselben  keine  anderweitigen  unmittel- 
baren Folgen  (Schmerzen,  Röthe)  setzte ,  und  die  Sehstörung  nicht  so- 
gleich bemerkt  wurde.  —  Anatomisch  lässt  sich  der  Zustand  als  analog 
der  Commotio  cerebri  auffassen.  Es  findet  entweder  nur  Verschiebung 
der  einzelnen  Netzhautelemente  statt,  oder  förmliche  Zerreissung  mit  oder 
ohne  Blutaustretung  aus  den  geborstenen  Gefässen.  Leidet  das  Sehver- 
mögen erst  durch  die  nachträgliche  Reaction,  so  ist  die  Affection  wohl 
als  Retinitis  oder  Chorioiditis  zu  betrachten.  —  Die  Erscheinungen  können 
in  allgemein  oder  partiell  verminderter  oder  aufgehobener  Netzhautenergie 
allein  bestehen.  Wo  traumatische  Einflüsse  rasch  und  stark  eingewirkt  haben, 
wird  nicht  selten  Erweiterung  und  Trägheit  oder  Unbeweglichheit  der  Pupille 
bemerkt,  welche  besonders  dann  auffällt,  wenn  das  Sehvermögen  nicht  ganz 
erloschen  ist.  Die  Mitleidenschaft  der  Ciliarnerven  kann  sich  auch  durch 
Erbrechen  oder  Neigung  dazu  kund  geben.  Doch  erreicht  diese  Erschei- 
nung namentlich  dann,  wenn  zugleich  dumpfer  Kopfschmerz,  Schwindel, 
Lähmung  eines  oder  des  andern  Muskels  u.  dgl.  dazu  treten,  oder  der 
Bulbus  stärker  hervortritt,  immer  mehr  weniger  gegründeten  Verdacht  auf 
Fracturirung  der  Orbitalknochen,  Bluterguss  in  der  Orbita,  in  der  Schädel- 
höhle u.  s.  w.  Die  so  gesetzte  Amblyopie  kann  auf  der  einmal  gege- 
benen Stufe  stehen  bleiben,  sie  kann  durch  nachfolgende  Reaction  zur 
Amaurosis  gesteigert  werden;  sie  kann  auch  ganz  allmälig  und  unver- 
merkt in  complete  Amaurosis  übergehen.  Heilung  lässt  sich  in  der  Regel 
nur  bei  geringeren  Graden  und  in  frischen  Fällen  erwarten,  selten  spon- 
tan ;  bisweilen  kann  der  Arzt  durch  die  weiter  unten  angegebene  Be- 
handlung so  schnelle  Besserung  oder  Heilung  herbeiführen,  dass  über 
deren  Wirksamkeit  kein  Zweifel  übrig  bleibt;  bisweilen  nützt  auch  die 
rationellste  und  rechtzeitige  Behandlung  wenig  oder  nichts.  —  Nach  hef- 
tigen Convulsionen  bleibt  nicht  selten  mehr  weniger  hochgradige  Am- 
blyopie zurück.  Das  bisweilen  vorkommende  allmälige  Hinzutreten  von 
Verdunklung  oder  Einschrumpfung  der  Linse  (mit  oder  ohne  Luxation) 
spricht  dafür,  dass  es  nicht  in  allen  solchen  Fällen  nothwendig  ist,  den 
Grund  der  Selistörung  im  Gehirne  zu  suchen,  obwohl  diess,  wie  bei  der 
hydrocephalischen  Amblyopie,  oft  genug  der  Fall  ist.  Starker  Druck  auf 
den  Bulbus,  ein  Stoss  oder  Schlag,  eine  knapp  am  Auge  vorbeistreichende 
Kugel  (Luftdruck)  u.  dergl.  sind  im  Stande,  die  Sehkraft  zu  schwächen 
oder  aufzuheben,  auch  obne  dass  sie  sonst  auffallende  Veränderungen  her- 
vorrufen. Wir  haben  schon  früher  (II.  B.  S.  L5,  121)  auf  die  merk- 
würdige Thatsache  aufmerksam  gemacht,  dass  in  Fällen,  wo  die  Sclera 
berstet,    das  Sehvermögen    bisweilen    nicht  so  sehr  leidet,    als    wo    diess 


Retiiialaniblyopie  —  traumatica.  105 

nicht  geschieht.  Beer  erzählt,  dass  ein  junger  Mann  blind  wurde,  als  er 
sich  den  Händen  eines  Bekannten,  der  ihm  von  rücklings  die  Augen  zu- 
hielt, entwinden  wollte,  und  dieser  immer  stärker  gedrückt  lialle.  Der 
Unglückliche  blieb  trotz  schnell  gesuchter  Hilfe  (von  Beer  selbst)  ganz 
blind.  Erschütterung  der  Netzhaut  mit  ihren  Folgen  kann  auch  eintreten, 
wenn  ein  heftiger  Stoss  oder  Schlag  die  Umgebung  des  Auges  trifft.  Die 
hieher  gehörigen  Beobachtungen,  welche  bis  in  die  Zeiten  vor  Hippo- 
krates  hinaufreichen,  haben  in  unserem  Jahrhunderte  zu  langen  Contro- 
versen  Veranlassung  gegeben  in  Bezug  auf  die  Deutung  der  an  sich  un- 
bestreitbaren Thatsache,  indem  einige  Beobachter  nebst  jenen  Fällen,  wo 
offenbar  Commotio  retinae  oder  Verletzungen  in  der  Schädelhöhle  statt 
gefunden,  noch  solche  aufstellten,  wo  die  Verletzung  zunächst  nur  Zweige 
des  Trigeminus  getroffen  und  erst  durch  Druck  oder  Zerrung  der  letzteren 
und  durch  consecutive  Mitleidenschaft  des  Ganglion  ciliare  (mittelst  der 
Radix  longa)  das  Netzhautleiden  eingeleitet  haben  soll.  Der  Streit  ist 
unenlschieden,  da  die  Möglichkeit  der  letzteren  Annahme  nicht  negirt 
werden  kann. 

Sabatier  (1791)  suchte  die  Thatsache,  dass  mitunter  nach  eben  nicht  sehr  vehe- 
menten Verletzungen  am  Orbilalrande  Amblyopie  oder  Amaurosis  auftritt,  anatomisch 
zu  erklären,  indem  er  annahm,  die  Quetschung  oder  Zerrung  irgend  eines  Zweiges  vom 
Trigeminus  (Rani.  I.  et  II.)  wirke  mittelst  der  Radix  longa  auf  das  Ganglion  ciliare  und 
durch  dieses  auf  die  Netzhaut.  Beer  verschaffte  dieser  Ansicht  dadurch  besonderes  Ge- 
wicht, dass  er  die  von  directer  Erschütterung  oder  Zerreissung  der  Netzhaut,  so  wie 
auch  die  von  gleichzeitig  verursachten  Veränderungen  in  der  Schädelhöhle  abhängige 
Amaurosis  streng  von  dieser  consecutiven  oder  sympathischen  geschieden  wissen  wollte, 
dass  er  angab,  in  letzteren  Fällen  trete  die  Erblindung  oft  erst  während  der  Narben- 
bildung am  Orbitalrande  ein,  und  dass  er  sich  endlich  auf  (2)  Beobachtungen  aus  seiner 
Praxis  berief,  wo  die  so  entstandene  Blindheit  nach  Durchschneidung  aller  Zweige  des  N. 
supraorbitalis  (hinter  seinem  Austritte  aus  der  Orbital  verschwand  (1.  c.  I.  B.  S.  171). 
Andere,  ebenfalls  glaubwürdige  Autoren  (z.  B.  die  von  Makenzie  citirten  Dr.  Hennen 
und  Guthrie)  haben  von  dieser  Durchschneidung  keinen  Erfolg  gesehen,  wogegen  Andreae 
(1.  c.  II.  B.  S.  7 — 10)  einen  Fall  von  Middlemore  und  einen  von  Waüace  citirt,  in  wel- 
chem die  schon  länger  bestehende  Blindheit  durch  das  Ausschneiden  der  Narbe  geheilt 
wurde.  Bei  der  einen  wie  bei  der  andern  dieser  sich  widersprechenden  Beobachtungen 
ist  jedenfalls  zu  bedauern,  dass  auf  das  Verhalten  der  Sensibilität  in  dem  Gebiete  des 
verletzten  N.  supra-  oder  infraorbitalis  keine  Rücksicht  genommen  wurde.  Diese,  von 
der  Physiologie  gebotene  Untersuchung  und  die  Anwendung  des  Augenspiegels  werden 
n  künftigen  Fällen  dem  Sachverhalte  wohl  eher  auf  den  Grund  sehen  lassen.  Die 
plötzliche  Entstehung  einer  Amblyopie  oder  Amaurose  nach  Verletzung  des  Trigeminus 
ohne  anatomisch  nachweisbaren  Zusammenhang  würde  übrigens,  wie  Andreae  bemerkt, 
a  priori  nicht  als  unstatthaft  erklärt  werden  können,  da  auch  Trismus  z.  B.  nach  Ver- 
letzung einer  Zehe  entstehen  kann. 


106  Netzhaut. 

Behandlung.  In  frischen  Fällen :  geistige  und  körperliche  Ruhe, 
Temperirung  des  Lichtes,  Restringirung  der  Kost,  und  bei  einfacher  Er- 
schütterung, kalte  Umschläge,  allmälig  mehr  und  mehr  mit  Weingeist 
oder  Tinctura  arnicae  versetzt,  bei  Blutextravasaten  im  Bulbus  (an  der 
Retina) ,  nebstdem  örtliche  Blutentziehungen  und  kühlende  Abführmittel. 
Nach  längerem  Bestände,  wo  keine  entzündliche  Reaction  eingetreten  ist: 
stärkere  weingeistige  Umschläge,  spirituös-aromatische  Einreibungen  an  die 
Umgebung,  Verdunsten  von  äther-  oder  ammoniakhaltigen  Collyrien  vor 
dem  offen  gehaltenen  Auge,  hingegen  Behandlung  wie  bei  Retinitis  — 
wovon  später  —  wenn  die  Untersuchung  mit  dem  Augenspiegel  das  Lei- 
den als  solche  erweist.  —  Wie  man  sich  rücksichtlich  der  etwa  gleich- 
zeitig vorhandenen  Verletzung  am  Orbitalrande  oder  bei  gleichzeitiger 
Hirnalfection  zu  benehmen  habe,    gehört  nicht  hieher. 

An  die  Besprechung  der  durch  mechanische  Einflüsse  bedingten  Re- 
tinalleiden wollen  wir  noch  die  Bemerkung  anreihen,  dass  Amblyopie  und 
Amaurosis  auch  durch  heftige  elektrische  Ströme  und  Stösse  bedingt 
werden  könne,  wie  uns  unter  andern  manche  der  vom  Blitze  Getroffenen 
zeigen.  Wir  meinen  dieser ,  zum  Glück  sehr  selten  vorkommenden  That- 
sache  nur  desshalb  erwähnen  zu  müssen ,  weil  hie  und  da  ein  Wunder- 
mann bei  Amblyopien  und  Amaurosen  sine  discrimine  et  ratione  die 
Elektrisirmaschine  anwendet,  und  weil  dieses  Agens  auch  da,  wo  es  ra- 
tionell und  mit  Erfolg  angewendet  wird,  bei  peripherischen  Muskellähmungen 
an  oder  nächst  dem  Auge ,  durch  Unvorsichtigkeit  für  die  Netzhaut  Scha- 
den bringen  kann. 

4.  Amblyopie  und  Amaurosis  in  Folge  von  Blendung,  Retinal- 
leiden in  Folge  fehlerhaften  Lichteinflusses  überhaupt.  Das  Licht,  der 
adäquate  Reiz  und  das  Lebenselement  der  Netzhaut  ist  zugleich  deren  gefähr- 
lichster Feind.  Die  meisten  primären  Netzhautleiden  werden  ganz  allein  oder 
doch  vorzugsweise  durch  fehlerhaften  Lichleinfluss  eingeleitet.  Die  Zahl 
der  anderweitig  bedingten  Amaurosen  ist,  wenn  man  die  von  der  Cho- 
rioidea  ausgehenden  abzieht,  eine  relativ  kleine. 

Der  nachtheilige  Einfluss  des  Lichtes  auf  die  Netzhaut  effectuirt  sich 
entweder  in  einfacher  Depression  oder  Vernichtung  ihrer  Energie,  oder 
in  Steigerung  ihrer  Empfindlichkeit  gegen  Licht  und  Anstrengung  mit  Hy- 
perämie und  mehr  weniger  Beeinträchtigung  der  Ausdauer  und  Schärfe 
des  Gesichtes,  oder  aber  in  Einleitung  von  Blutüberfüllung,  Bluterguss, 
Exsudation  und  hiedurch  gesetzten  mannigfachen  Functionsstörungen.  Der 
eine  oder  der  andere  dieser  Effecte  zeigt  sich  entweder  kurz;  nach  der 
Einwirkung  der   Schädlichkeit,    und  wird  dann   in   seiner   Causalität    leicht 


Retinalaniblyopie —  von  fehlerhaftem  Liehteiufltisse.      107 

erkannt,  oder  aber  er  macht  sich  unvermerkt  und  allmälig  mehr  und  mehr  gel- 
tend, und  wird  bald  diesem,  bald  jenem  zufalligen  Umstände  zugeschrieben.  In 
solchen  Fällen  insbesondere  zeigt  sich  die  Notwendigkeit  einer  umfassenden 
Kenntniss  der  Umstände,  welche  von  Seite  des  Lichtes  der  Netzhaut  Gefahr  brin- 
gen können.  Denn  es  wird  dem  Arzte  wenig  nützen  genau  zu  wissen,,  in  welcher 
Art  die  Netzhaut  leidet,  welche  Veränderungen  sie  unter  dem  Spiegel  zeigt,  und 
welche  Folgen  zu  erwarten  stehen,  es  wird  ihm  wenig  nützen,  auf  dieses  Er- 
kennen des  Zustandes  sein  Handeln  zu  basiren,  wenn  er  nicht  berücksichtigt 
oder  nicht  erfährt,  unter  welchen  Einflüssen  sich  das  Leiden  entwickelt  hat, 
wenn  er  den  Kranken  noch  fort  unter  schädlichen  Einflüssen  lässt,  welche  dieser 
nicht  für  solche  hält,  Einflüsse,  aufweiche  selbst  der  erfahrene  und  umsichtige 
Arzt  nicht  selten  erst  dadurch  geleitet  wird,  dass  er  den  Kranken  in  seinen 
gewohnten  Verhält  nissen  beobachtet.  Diese  Andeutungen  mögen  genügen, 
den  nachfolgenden  Betrachtungen  über  den  Einfluss  des  Lichtes  und  der 
Beschäftigung    auf  die  Augen  einen  etwas  grösseren    Raum  zu  vindiciren. 

Das  Licht  kann  an  und  für  sich  oder  mit  Rücksicht  auf  die  Beschäf- 
tigung auf  die  Netzhaut  in  sehr  verschiedener  Weise  nachtheilig  ein- 
wirken. Durch  längere  Entziehung  dieses  gewohnten  Reizes  wird  die 
Empfindlichkeit  der  Netzhaut  so  gesteigert,  dass  dann  auch  ein  sonst  un- 
schädlicher Lichtgrad  nachtheilig  werden  kann,  zumal  bei  schnellem  Über- 
gange, bei  starkem  Contraste,  bei  oft  und  bald  wiederkehrendem  Wechsel. 
Daher  ist  es  im  Allgemeinen  nachtheilig,  entzündete  Augen  zu  verbinden, 
oder  das  Krankenzimmer  übermässig  zu  verdunkeln ,  aus  finstern  Locali- 
täten  schnell  in  helle  zu  treten,  an  Orten  zu  schlafen,  wo  directes  Sonnen- 
licht die  Augen  vor  oder  beim  Erwachen  treffen  kann,  Säuglinge  ohne 
Schutz  gegen  die  Sonnenstrahlen  ins  Freie  tragen  zu  lassen,  unmittelbar 
nach  dem  Schlafe  gleich  feine  Arbeiten  vorzunehmen  u.  dgl.  Eine  ähnliche 
Wirkung  auf  die  Netzhaut  übt  das  Anstrengen  der  Augen  bei  unzurei- 
chender Beleuchtung ,  Lesen,  Schreiben  u.  dgl.  in  dunkeln  Localitäten, 
worauf  wir  später  noch  zurückkommen. 

Sehr  intensives  Licht  kann  die  Sehkraft  sogleich,  wie  durch  einen 
Schlag  vernichten,  oder  stufenweise,  durch  Apoplexie  und  nachfolgende 
Entzündung  der  Markhaut.  Die  Erzählungen  von  absichtlicher  Blendung 
durch  directes  Sonnenlicht  erhalten  Glaubwürdigkeit  durch  die  traurigen 
Folgen,  welche  wissenschaftliche  Beobachter  nach  Sonnenfinsternissen  ge- 
sehen haben.  Unter  Andern  führt  Sömmering  (Pflichten  gegen  die  Augen) 
einige  Beispiele  vom  Jahre  1791  an,  und  Ed.  Jäger  (über  Staar  und 
Staaroperationen)  vom  28.  Juli  1851 ,  von  welchem  Datum  auch  mir  drei 
Fälle  partieller  Amaurosis  vorgekommen  sind.     Einen  gleichen  Effect  können 


108  .  Netzhaut. 

die  Sonnenstrahlen  bewirken,  wenn  sie  von  einer  spiegelnden  Fläche  ins 
Auge  geworfen  werden,  z.  B.  vom  Wasser  beim  Baden,  wie  in  einem  von 
Jäger  erzählten  Falle,  welcher  zugleich  dadurch  merkwürdig  ist,  dass 
trotz  völliger  Amaurosis  keine  erheblichen  materiellen  Veränderungen 
wahrgenommen  werden  konnten.  In  gleicher  Weise  kann  ein  weniger  in- 
tensives Licht  durch  Contrast  zur  Umgebung  schaden,  wenn  nämlich  die 
davon  getroffene  Netzhaut  in  ihrer  übrigen  Ausbreitung  nicht  beleuchtet 
ist.  Der  Blick  in  die  Gluth  eines  Hochofens,  wenn  rings  um  die  enge 
Öffnung  alles  finster  ist,  kann  dem  ungewohnten  Auge  nahezu  so  gefähr- 
lich werden,  wie  der  Blick  in  die  Sonne,  während  doch  dieselbe^  Gluth 
beim  Tage  oder  bei  künstlicher  Beleuchtung  der  Umgebung  ein  gesundes 
Auge  kaum  beleidigt.  —  Länger  anhaltende  Einwirkung  starken  Lichtes 
auf  die  ganze  Netzhaut  bewirkt  bald  Abstumpfuug  der  Empfindlichkeit  der 
Netzhaut,  bald  Steigerung  derselben,  und  bei  wiederholter  Einwirkung, 
Avenn  die  Netzhaut  sich  von  einem  Male  zum  andern  nicht  völlig  erholt 
hat,  bleibende  Amblyopie  oder  Steigerung  zur  Amaurosis  (Retinitis).  Auf 
diese  Weise  entsteht  die  bisweilen  massenweise  auftretende  Hemeralopie 
(Nachtnebel)  und  die  in  den  Alpen-  und  Polarregionen  wohlbekannte 
Schneeblindheit,  selten  die  sogenannte  Nyktalopie  (Tagnebel),  welche  sich 
bestimmt  als  congestiv- entzündlicher  Zustand  der  Netzhaut  nachweisen 
lässt.  Länger  fortgesetzte,  mehr  durch  Contrast  als  durch  Intensität  be- 
wirkte partielle  Erregung  der  Netzhaut,  wie  sie  z.  ß.  Physiologen  behufs 
der  Erzeugung  von  Nachbildern,  Abklingen  der  Farben  u.  dgl.  bewirken,  wie 
sie  aber  auch  zufällig  und  bei  manchen  Beschäftigungen  fast  unvermeidlich 
vorkommt,  steigert  die  Empfindlichkeit  der  Netzhaut  um  so  mehr,  je  öfter 
sie  vor  völliger  Erholung  derselben  wieder  vorgenommen  wird,  und  ist 
ganz  gewiss  die  häufiste  Quelle  chronischer  Dyctitis.  Bei  zureichender 
und  gleichmässiger  Beleuchtung  kam;  ein  gesundes  Auge  Erstaunliches 
leisten ,  sowohl  in  der  Feinheit  als  in  der  Ausdauer.  (Der  Grund  davon, 
dass  z.  B.  Schuster  häufiger  von  Amblyopie  und  Amaurosis  befallen  wer- 
den, als  Schneider,  scheint  mir  darin  zu  liegen,  dass  bei  jenen  —  hier- 
lands  wenigstens  —  noch  immer  die  Concenlrirung  des  Lampenlichtes 
auf  eine  kleine  Stelle  mittelst  Glaskugeln  gebräuchlich  ist.)  —  An  dem 
bekannten  ruichtheiligen  Einfluss  des  Nachtwachens  auf  die  Sehkraft  dürfte 
wohl  auch  die  länger  fortgesetzte  ununterbrochene  Einwirkung  des  Lichtes 
grossen  Antheil  haben,  denn  das  Schlafen  bei  hellen  Nachtlampen  gewährt 
den  Augen  nicht  die  gleiche  Erholung,  und  das  Aullallen  hellen  Mond- 
lichtes auf  die  Augen  soll  (wenigstens  in  den  Tropenländern)  entschieden 
nacht  heilig  sein,  seihst  Erbliuduny  bewirken. 


Retinalamblyopie  —  Hemeralopie.  109 

Mit  Rücksicht  auf  die  Beschäftigung  mit  feinen  Arbeiten  kann  das 
Licht  dem  Auge  nachtheilig  werden,  wenn  es  relativ  zu  schwach  (unzu- 
reichend), oder  zu  stark  (grell  und  blendend),  wenn  es  ungleichmässig 
tertheilt  (durch  Schalten  unterbrochen)  oder  unsiät  (bald  schwacher  bald 
stärker)  ist,  wenn  es  unrein,  d.  h.  farbig  ist,  und  wenn  es  in  fehlerhafter 
Richtung  einfällt.  Auf  diese  Momente  wird  vorzugsweise  bei  jenen  acht- 
zugeben sein ,  welche  ihre  Augen  viel  bei  künstlicher  Beleuchtung  zu 
feinern  Arbeiten  in  Anspruch  nehmen.  Doch  können  auch  bei  Tages- 
lichte wichtige  Fehler  begangen  werden,  wenn  feine  Arbeiten  bis  in  die 
Dämmerung  fortgesetzt  werden,  wenn  die  Sonnenstrahlen  unmittelbar  auf 
oder  nahe  neben  die  Objecte  fallen,  wenn  das  Licht  durch  Gitterwerke 
oder  von  entgegengesetzten  Richtungen  oder  durch  gefärbte  Medien,  z.  B. 
grüne  oder  rothe  Fenstervorhänge  einfällt,  wenn  Sonnenstrahlen  bei  feinen 
Arbeiten  benützt  werden,  welche  von  spiegelnden,  blendend  weissen, 
gelben  oder  rothen  Flächen  namentlich  von  unten  oder  von  der  Seite  her 
ins  Auge  geworfen  werden.  Ausführlicheres  über  diese  Verhältnisse,  die 
sich  dem  Physiker  oder  Physiologen  wohl  von  selbst  ergeben,  habe  ich 
in  einer  1846  erschienenen  populären  Schrift  (die  Pflege  der  Augen  im 
gesunden  und  kranken  Zustande  nebst  einem  Anhange  über  die  Augen- 
gläser) mitgetheilt. 

a)  Hemeralopie.  Mit  diesem  Ausdrucke  bezeichnet  man  eine  mehr 
weniger  hochgradige  Gesichtsschwäche,  welche  sich  hauptsächlich  in  der 
Zeit  von  Sonnenuntergang  bis  Sonnenaufgang  geltend  macht,  während  des 
Tages  aber  gar  nicht  vorhanden  zu  sein  scheint.  Mit  dem  Eintritte  der 
Abenddämmerung  nimmt  das  Gesicht  mehr  weniger  rasch  ab ,  so  dass 
der  Kranke  noch  vor  dem  Einbrüche  völliger  Dunkelheit  nicht  mehr  allein 
herumzugehen  vermag.  Auch  Mond-  und  künstliche  Beleuchtung  sind 
nicht  genügend,  die  gleichsam  in  Torpor  versunkene  Netzhaut  zum  Un- 
terscheiden von  Objecten  zu  erregen;  nur  bei  sehr  intensiver  künstlicher 
Beleuchtung  und  in  nächster  Nähe  werden  lichtfarbige  Objecte  allenfalls 
noch  mehr  weniger  bestimmt  wahrgenommen.  Durch  das  Gebundensein 
an  die  Abnahme  und  Wiederkehr  des  Tageslichtes  erhält  die  Affectiou 
den  Typus  einer  intermittirenden  Krankheit.  Sie  tritt  indess  ohne  Ausnahme 
jeden  Tag  und  ohne  alle  Vorboten  ein.  Ausser  etwas  dumpfem  Schmerze 
in  der  Stirngegend,  etwas  weiterer  und  träger  Pupille  und  etwas  stärkerer 
Infection  der  vordem  Ciliararterien,  welche  jedoch  auch  fehlen  können, 
dürften  alle  andern  etwa  vorhandenen  Erscheinungen  als  zufällig  zu  be- 
trachten sein.  Ob  die  Kranken  im  Stande  seien,  auch  während  des 
Tages  bei  Kerzenlicht   (mit  Ausschluss  des  Tageslichtes)    scharf  zu  sehen, 


HO  Net/haut. 

ist  —  so  viel  ich  weiss  —  noch  nicht  verlässlich  untersucht  worden. 
Eben  so  fehlen  noch  genaue  Bestimmungen  über  die  Schärfe  des  Ge- 
sichtes und  über  die  Accommodation  und  Ausdauer  zu  feineren  Arbeiten 
bei  vollem  Tageslichte.  —  Anatomisch-mikroskopisch  oder  mit  dem  Augen- 
spiegel nachweisbare  Veränderungen  der  Netzhaut  dürften  nicht  vorhanden 
sein.  Physiologisch  lässt  sich  eine  doppelte  Deutung  aufstellen :  entweder 
die  Energie  der  Netzhaut  ist  überhaupt  so  verändert,  dass  nur  das  volle 
und  reine  Tageslicht  sie  noch  gehörig  erregen  kann,  oder  es  ist  die 
Summe  der  durch  den  Schlaf  restaurirten  Sehkraft  eben  nur  bis  zum 
Ablauf  des  Tages  hinreichend.  Für  die  blauen  Strahlen  ist  gewissermassen 
auch  das  gesunde  Auge  hemeralopisch.  Wer  an  den  Genuss  geistiger 
Getränke  gewöhnt  ist,  arbeitet  mit  voller  Kraft  eben  nur  dann,  wenn  er 
das  gewohnte  Quantum  zu  sich  genommen  hat.  —  Nach  den  Erörterungen 
von  Netter*)  kann  wohl  kaum  mehr  daran  gezweifelt  werden,  dass 
dieser  Zustand  der  Netzhaut  durch  die  längere  Einwirkung  grellen  re- 
flectirten  Lichtes  hervorgerufen  werde.  Sie  tritt  immer  nur  auf  beiden 
Augen  zugleich  auf;  sie  ergreift  bald  nur  einzelne  Individuen,  bald  ganze 
Massen,  namentlich  geschlossene  Körperschaften;  sie  ist  in  manchen  Ge- 
genden so  zu  sagen  einheimisch,  und  kehrt  gewöhnlich  um  dieselbe 
Jahreszeit  wieder.  Diese  Umstände  und  das  typische  Auftreten  der  Func- 
tionsstörung  führten  zu  der  Vermuthung,  die  Affection  sei  als  Intermittens 
oder  als  ein  Analogon  hievon  anzusehen,  während  Andere  feuchte  Luft, 
Erkältung,  gasirische  Störungen  u.  s.  w.  für  die  veranlassenden  Momente 
annahmen.  Es  ist  jedoch  nicht  schwer  nachzuweisen,  dass  diese  und 
manche  andere  Momente,  z.  B.  Skorbut,  längeres  Fasten,  Onanie  u.  dgl., 
nur  zufällig  vorhanden  waren.  Die  Hemeralopie  herrscht  besonders  in 
den  Tropenländern,  kommt  aber  auch  in  verschiedenen  Gegenden  Europas 
vor,  besonders  im  Frühjahre.  Auf  der  See  sind  es  vorzüglich  die  Ma- 
trosen, zu  Lande  die  gemeinen  Soldaten  und  die  im  freien  Felde  arbei- 
tenden Landleute,  welche  ergriffen  werden.  Aus  allen  Beobachtungen 
massenweisen  Auftretens  ergibt  sich,  dass  nebst  dieser  oder  jener  ver- 
meintlichen Schädlichkeit  immer  grelles  reflectirtes  Licht  die  Augen  durch 
längere  Zeit  getroffen  hatte ,  dieses  allein  als  die  constante  Schädlichkeit, 
mithin  als  die  eigentliche  Ursache  bezeichnet  werden  kann. 

Auf  Schiffen  zwischen  den  Wendekreisen  soll  gewöhnlich  der  zwanzigste  Mann 
von  Nachtnebel  befallen  sein.  Die  Matrosen  nennen  diese  Krankheit  Mondblindheit,  weil 
sie    den    Grund     derselben    darin    suchen,    dass   der    Mond    auf  dem    Verdecke    Schlu- 

•)  Gazelle  me.licale  de  Paris,   1846,    Nr.  9. 


Retinalaniblyopie  —  Hemeralopie.  Hl 

fenden  in's  Gesicht  scheine.  Sauvagcs  beobachtete  die  Affection  sehr  häufig  hei  Mont- 
pellier besonders  bei  den  Soldaten,  welche  unter  freiem  Himmel  schliefen  oder  am 
Flusse  Wache  standen  ;  Canon  du  Villards  Vater  sah  viele  Fälle  unter  den  piemontesi- 
schen  Soldaten  (1793),  welche  Tag  und  Nacht  auf  schneebedeckten  Bergen  bivouacquirten; 
Lohmeyer  schrieb  den  Ausbruch  und  das  Umsichgreifen  des  Übels  in  Ehrenbreitenstein 
(1834)  dem  ungewohnten  Bergsteigen,  dem  blendenden  Lichte  beim  Excrciren  und  den 
dunkeln  Casematten  zu.  Nach  Fleury  (Gaz.  med.  de  Paris  1840  N.  4)  ist  die  Heme- 
ralopie unter  dem  Äquator  sehr  gewöhnlich.  Er  betrachtet  klimatische  Verhältnisse  im 
Allgemeinen  als  Ursache,  weil  auf  dem  Schiffe,  wo  er  seine  Beobachtungen  machte, 
keine  Erkrankung  mehr  vorkam,  als  dasselbe  sich  wieder  in  der  gemässigten  Zone  befand, 
und  weil  zu  Cadix  und  Lissabon,  wo  sich  wieder  dieselben  klimatischen  Verhältnisse, 
wie  auf  den  Antillen  vorfanden  (?) ,  Rückfälle  wieder  auftraten.  „Demnach  wird  die 
Hemeralopie  nicht  durch  schlechte  Nahrung ,  nicht  durch  miasmatischen  Zustand  der 
Atmosphäre  veranlasst,  sondern  durch  die  starke  anhaltende  Einwirkung  der  directen 
oder  reflectirten  Lichtstrahlen  auf  die  Retina,  welche  mit  der  Länge  der  Zeit  und  in 
Folge  der  dadurch  bewirkten  übermässigen  Erregung  eine  Atonie  der  Netzhaut,  einen 
stufenweisen  Verlust  des  Sehvermögens  bewirkt,  wenn  die  Retina  nicht  mehr  durch  die 
nämliche  Kraft  erregt  wird."  —  Nach  Krebel,  Fuss,  Lerche  herrscht  die  Krankheit  in 
Kronstadt,  Petersburg  und  Umgebung  besonders  während  der  siebenwochentlichen  Oster- 
fasten;  nach  Meissner  (1819)  ist  dieselbe  in  manchen  Gegenden  Polens  besonders  gegen 
Ende  des  Winters  und  bei  Schnee,  jedoch  auch  im  Sommer,  namentlich  zur  Erntezeit 
bei  Landleuten  (Schnittern)  nicht  selten.  Anfang  Mai  1849  erkrankten  hier  in  Prag 
binnen  3  —  4  Tagen  gegen  achtzig  Mann  von  einer  Infanterie-Abtheilung,  welche  auf 
einem  der  höchsten  und  ganz  frei  gelegenen  Punkte  der  Stadt  (auf  der  vom  Hradschin 
durch  den  Hirschgraben  getrennten  Marienschanze)  campirte ;  auch  hier  blieben  die 
Officiere  frei,  und  es  wurde  dem  fernem  Umsichgreifen  bald  Einhalt  gethan,  indem  der 
Mannschaft  streng  untersagt  wurde,  sich  frei  auf  die  Erde  hinzustrecken  und  dem  grel- 
len Lichte  zu  exponiren.  Die  Genesung  erfolgte  —  so  viel  ich  erfahren  konnte  —  in 
wenig  Tagen  und  ohne  Anwendung  von  Arzneien,  nachdem  die  Leute  in  Kasernen  ge- 
bracht und  in  massig  verdunkelten  Zimmern  gehalten  wurden.  Verkältung  konnte  hier 
nicht  als  Ursache  angenommen  werden,  denn  die  Leute  waren  mit  Ausnahme  der  Augen 
ganz  gesund. 

Die  Krankheit  ist  nach  der  Angabe  fast  aller  Beobachter  leicht  heilbar, 
wenn  gleich  die  Ansichten  über  die  ätiologischen  Momente  und  über  die 
Behandlung  sehr  differiren.  Mit  Ausnahme  weniger  Fälle,  welche  vielleicht 
durch  Fortwirkung  des  Causalmomentes  zu  bleibender  Amblyopie  oder 
Amaurosis  gesteigert  wurden,  ging  die  Affection  in  Zeit  von  wenig  Tagen 
oder  Wochen  (selten  erst  nach  einigen  Monaten)  zurück,  und  zwar,  wie 
es  scheint,  von  selbst.  Bei  den  verschiedenen  Behandlungsarten  entsprach 
man  nämlich  der  Causalindication  wohl  meistens  unwillkürlich,  indem  man 
die  Befallenen  als  dienstunfähig  in  andere  Verhältnisse  brachte,  in  ihrer 
Behausung  hielt,  einer  mehr  weniger  rigorosen  Cur  unterwarf  und  —  dabei 
auch  dem  grellen  Lichteinflusse  entzog.    Scarpa,    welcher  gastrische  Zu- 


112  Netzhaut. 

stände  als  Causalmoment  annahm,  empfahl  Purgir  -  und  Brechmittel ;  An- 
dere gaben  Diaphorelica  und  Epispastica.  Ein  schon  von  Celsus  erwähntes 
Mittel  sind  die  heissen  Dämpfe,  die  man  von  einer  gekochten  Leber  (Bock, 
Rind,  Schwein)  gegen  die  offenen  Augen  streichen  lässt.  Einige  reizen 
die  Bindehaut,  indem  sie  Ammoniak  oder  camphorirten  Weingeist  vor  den 
offenen  Augen  verdunsten,  oder  reizende  Collyrien  einträufeln  oder  kaltes 
Wasser  an  die  Augen  spritzen  lassen;  Andere  reizen  dagegen  die  Um- 
gebung der  Augen  durch  Elektricität,  fliegende  Vesicantien  an  die  Stirn 
und  Schläfe,  oder  lassen  Autenrieth'sche  Salbe  zwischen  die  Schulter- 
blätter einreiben,  selbst  ein  Haarseil  einziehen.  Wharton  (the  american 
Journ.  of  med.  science  1840,  Mai)  heilte  hartnäckige  Fälle  durch  völlige 
2 — 3  Tage  und  Nächte  lang  fortgesetzte  Entziehung  des  Lichtes.  Tem- 
perirung,  wenn  auch  nicht  völlige  Entziehung  des  Lichtes  und  flüchtige 
Reize  auf  die  Conjunctiva;  oder  auf  die  Cutis  der  Stirn  und  Schläfe  (Er- 
regung sensitiver  Zweige  des  Trigeminus)  haben  nicht  nur  die  Erfahrung 
für  sich,  sondern  lassen  sich  auch  in  ihrer  Wirksamkeit  nach  allgemeinen 
physiologischen  und  pathologischen  Gesetzen  begreifen.  Insbesondere  ist 
die  Anwendung  sogenannter  fliegender  Vesicantien  an  die  Umgebung  der 
Augen  empfohlen  worden,  namentlich  von  Bampßeld  (medico- Chirurg. 
transacl.  London  1814  Vol.  V.),  welcher  über  300  Fälle  von  Nachtnebel 
in  verschiedenen  Theilen  der  Erdkugel,  besonders  aber  in  Ostindien  be- 
obachtet hat;  er  versichert,  oft  schon  nach  dem  ersten  Pflaster  entschie- 
dene Besserung,  nach  2 — Smaliger  Wiederholung  aber  in  der  Regel  schon 
binnen  14  Tagen  völlige  Heilung  erreicht  zu  haben.  Die  Anwendung  von 
Chinapräparaten  dürfte  nur  in  so  fern  nützen,  als  sie  einem  etwa  gleich- 
zeitig vorhandenen  (zufälligen)  Allgemeinleiden  entspricht.  Ebenso  möchte 
der  sogenannten  antiscorbutischen  Behandlung,  auf  welche  Bampßeld  als 
Schiffsarzt  besonders  Gewicht  legen  musste,  mehr  ein  indirecter  Einfluss 
auf  die  Beseitigung  des  Augenleidens  zuzuschreiben  sein. 

ß.  Unter  Nykfalopie  wird  ein  der  Hemeralopie  gewissermaassen  ent- 
gegengesetzter Zustand  der  Netzhaut  verstanden.  Die  davon  Befallenen 
sehen  nach  Sonnenunlergang  ziemlich  gut,  während  des  Tages  dagegen 
schlecht.  Ihre  Augen  bieten  bei  dieser  Functionsanomalie  keine  äusserlich 
wahrnehmbaren  Abnormitäten  dar,  welche  dieselbe  erklären  können,  wie 
etwa :  Mangel  oder  Spaltung  der  Iris,  Mydriasis,  Albinismus ,  partielle  Ca- 
taracta oder  Photophobie  als  Symptom  von  Entzündung  anderer  Gebilde, 
der  Chorioidca ,  der  Iris ,  der  Bindehaut  u.  s.  w. ,  sondern  die  Sehstörung 
lässt  sich  eben  nur  auf  ein  primäres  Netzhautleiden  zurückführen.  Nach 
Ausschluss    solcher    Fälle,    für   welche   man    den    Namen    Nyklalopie    gar 


Retinalamblyopic  —  Nykfnfopie.  113 

nicht  gebrauchen  sollte,  wird  wohl  kaum  noch  einer  übrig  bleiben,  wo 
das  Gesicht  bei  gehörig  temperirtem  Lichte  als  normal  bezeichnet  wer- 
den könnte,  so  wie  auch  die  gegenteilige  Angabe  vieler  Auetoren,  als 
kämen  Fälle  von  völliger  Blindheit  bei  vollem  Tageslichte  vor,  so  lange 
in  Zweifel  gezogen  werden  muss,  als  nicht  verlässliche  und  detailirte  Be- 
obachtungen beigebracht  werden.  Es  scheint  überhaupt,  dass  die  Affectiori, 
welche  man  gegenüber  der  Hemeralopie  füglich  als  Nyktalopie  bezeich- 
nen kann,  sehr  selten  vorkomme,  da  nur  sehr  wenige  Schriftsteller  sich 
bei  Beschreibung  derselben  auf  eigene  Beobachtungen  berufen.  (Indem 
ich  mir  vorbehalte,  den  einzigen  mir  vorgekommenen  Fall  weiter  unten 
mitzutheilen,  will  ich  hier  auszugsweise  aufnehmen,  was  Carron  du  Vil- 
lards  *)  Bemerkenswertes  darüber  geschrieben  hat.)  „Diese  Krankheit  ist 
auch  Folge  der  durch  den  Schnee  bewirkten  Lichtreflexe;  desshalb  tragen 
die  Esquimaux  und  Lappländer  Hornbrillen,  welche  die  Augen  nach  unten 
vollkommen  schützen,  indem  in  ihrer  Mitte  sich  eine  horizontale  Spalte 
befindet.  In  den  letzten  Kriegen  des  Königs  von  Sardinien  gegen  Frank- 
reich (1793),  wo  mehrere  Regimenter  auf  dem  Mont  Cenis  und  dem  kleinen 
Set.  Bernhard  cantonniren  mussten,  wurden  ganze  Compagnien  von  Nykt- 
alopie befallen.  Diese  Affection  wurde  allgemein  der  blendenden  Weisse 
des  Schnees  zugeschrieben,  welche  durch  das  Zurückstrahlen  des  Sonnen- 
lichtes verstärkt  wurde.  Mein  Vater,  der  die  meisten  von  diesen  Soldaten 
untersuchte,  fand,  dass  sie  an  einer  ausserordentlichen  Verengerung  der 
Pupille  litten.  Die  Krankheit  verschwand  bei  den  Meisten;  bei  Einigen 
aber  blieb  unheilbare  Myosis  zurück,  welche  ihr  Sehvermögen  sehr  störte." 
—  „Die  Nyktalopie  ist  in  den  heissen  Ländern  endemisch.  Nach  Hillary 
findet  man  in  Siam,  Ostindien  und  selbst  in  Afrika  sehr  viele  Nyktalo- 
pische.  Nach  Lassus,  Pye  und  Richter  kann  die  Nyktalopie  auch  die  Folge 
eines  längern  Aufenthaltes  an  dunklen  Orten  sein.  Larrey  erzählt  die  Ge- 
schichte eines  Greises,  der  33  Jahre  in  in  einem  Gefängnisse  zu  Brest  ge- 
fesselt war;  dieser  erkannte  in  der  Nacht  die  kleinsten  Gegenstände, 
während  er  am  Tage  vollkommen  blind  war  (?).  Lassus  erzählt  die  Ge- 
schichte eines  jungen  Mannes,  der  in  Folge  einer  Gehirnüberreizung 
durch  geschlechtliche  Ausschweifungen  tagblind  wurde  (?)."  Ramaziini 
(Krankheiten  der  Handwerker)  erwähnt,  er  habe  öfter  unter  den  Land- 
leuten und  besonders  bei  Knaben  die  Beobachtung  gemacht,  dass  zur 
Äquinoctialzeit  im  März  etwa  10jährige  Knaben  von  Gesichtsschwäche  be- 
fallen wurden,  so  dass  sie  den  ganzen  Tag   hindurch    wenig   oder   nichts, 

*)  Prakt.  Handbuch  jur  Erkenntnis.«   und  Heilung    der  Ausenkrankheiten,  übersetzt   von   Schnackender»,    Quedlinburg 

und  Leipzig,   184).  S.  346. 
Arlt  j   Augenheilkunde  II,  2.  8 


114  Netzhaut. 

Abends  dagegen  wieder  deutlich  sahen.  Die  Affection  verschwand,  ohne 
dass  etwas  dagegen  angewendet  wurde,  gegen  Mitte  April  von  selbst. 
Der  Umstand,  dass  R.  die  Pupillen  dabei  erweitert  gefunden,  macht  es 
zweifelhaft,  ob  hier  eine  ;Netzhautaflection  oder  bloss  Mydriasis  vorhanden 
war.  —  Carron  du  Villards  erklart  die  Nyktalopie  für  ein  congestives 
Leiden  der  Netzhaut.  Nach  ihm  verschwindet  die  durch  Blendung  be- 
dingte Nyktalopie  in  der  Regel  von  selbst,  wenn  man  die  veranlassende 
Ursache  entfernt,  das  Licht  gehörig  temperirt.  Für  hartnäckige  Fälle  em- 
pfiehlt er  die  schon  seit  Hippokrates  Zeiten  in  grossem  Rufe  stehenden 
warmen  Dämpfe  von  einer  gekochten  Rindsleber,  wie  bei  Hemeralopie. 
Bei  Nyktalopie  in  Folge  von  Congestionen  (?)  soll  man  so  wie  bei  Am- 
blyopia  congestiva  verfahren,  bei  starker  Verengerung  der  Pupille  und 
übermässiger  Reizung  der  Netzhaut  innerlich  und  äusserlich  Belladonna  (?)> 
bei  torpiden  Erscheinungen  Excitanlia  (?)  anwenden. 

N.  N.,  ein  Mann  von  circa  vierunvierzig  Jahren,  von  kräftiger  Constitution  und 
gesundem  Aussehen ,  consultirte  mich  Anfang  Juli  1854  wegen  eines  eigenthümlichen 
Zustandes  seiner  Augen.  Er  versicherte,  dass  er  Ahends  nach  Sonnenuntergang  so 
wie  früher  sehe,  selbst  schiessen  könne,  bei  Tage  jedoch  alles  wie  mit  einem  hellen 
Nebel  oder  Scheine  bedeckt  sehe,  daher  Personen  auf  3  —  4  Scbritte  nicht  mehr  deut- 
lich ausnehme  ,  beim  Fahren  (er  war  gewohnt  selbst  die  Pferde  zu  lenken)  Gefahr 
laufe,  vom  Wege  abzukommen ,  überhaupt  durch  Licht  geblendet  werde.  Diese  Behin- 
derung im  Sehen  hat  sich  in  geringem  Grade  bereits  im  März  oder  April  bemerkbar 
gemacht,  indem  Patient,  der  von  jeher  ein  besonders  scharfes  Gesicht  hatte  und  als  ein 
ausgezeichneter  Schütze  bekannt  war,  zunächst  entferntere  Objecte  nicht  mit  der  ge- 
wohnten Deutlichkeit  wahrnahm  ;  erst  als  er  einmal  beim  Schiessen  die  Mücke  am  Ge- 
wehr nicht  mehr  erkannte,  wurde  er  um  seine  Augen  besorgt.  Als  er  mich  zu  Rathe 
zog,  konnte  er  mit  dem  rechten  Auge  nur  noch  2'",  mit  dem  linken  1'"  hohen  Druck 
lesen  (Ed.  Jägers  14  und  10)  jedoch  nur  einige  Zeilen,  indem  ihm  die  Augen  bald 
übergingen.  Durch  Entfernen  der  Schrift  über  10  —  12  Zoll  wurde  an  Deutlichkeit  und 
Ausdauer  eher  verloren,  als  gewonnen.  Stärkere  Verdunklung  des  Zimmers  (zu  einem 
der  Dämmerung  nahen  Grade)  verminderte  wohl  das  fortbestehende  unangenehme  Gefühl 
der  Blendung,  vermochte  aber  nicht,  das  Erkennen  kleinerer  Lettern  zu  vermitteln. 
Die  Angabe  des  Patienten,  dass  er  nach  Sonnenuntergang  ganz  gut  sehe,  erwies  sich 
in  so  fern  unrichtig,  als  Sehversuche  herausstellten,  dass  er  in  der  Dämmerung  nicht 
besser  lesen  konnte,  als  am  Tage,  dass  sein  Gesicht  bei  der  Prüfung  an  feineren  Ob- 
jeeten  gegen  gesunde  Augen  immer  zurückbleibe.  Noch  auffallender  zeigte  sich  die 
Schwächung  der  Sehkraft  an  Leseproben  bei  künstlicher  Beleuchtung.  Das  directe  Ein- 
fallen künstlichen  Lichtes  war  ihm  übrigens  nicht  minder  unangenehm,  als  das  von 
lichten  Flächen  refleetirte  Sonnenlicht,  daher  ihn  auch  das  Anzünden  der  Strassenlampen 
von  seinen  abendlichen  Spaziergängen  nach  Hause  trieb.  Beim  Mondschein  versicherte 
er  an  sein  Augenleiden  durch  gar  nichts  erinnert  zu  werden.  —  Die  Augen  boten 
äusserlich  durchaus  nichts  Abnormes  dar,  nur  die  Augapfelbindehaut  war  constant  etwas 
stärker  injieirt,  was  jedoch  vielleicht  habituell  ist,    da   Patient    überhaupt  lebhaft    arteriell 


Retiiialaniblyopic  —  Nyktalopie.  115 

geröthet  aussieht  und  eiue  sehr  zarte  Haut  besitzt.  Ncbsldem  konnten  die  Pupillen 
durchschnittlich  bei  verschiedenen  Lichtgraden  als  relativ  zu  eng  bezeichnet  werden, 
obwohl  die  lichtgraublaue  Iris  sich  sonst  in  jeder  Beziehung  normal  verhielt.  Die  durch- 
sichtigen Medien  durchaus  intact.  Die  Untersuchung  der  Netzhaut  mit  dem  Augenspiegel 
ergab  keine  materielle  Veränderung,  nur  Hyperämie  und  grössere  Empfindlichkeit  gegen 
den  Lichtreiz.  Von  sogenannten  subjectivcn  Gesichtserscheinungen  keine  vorhanden, 
auch  keine  Schmerzen  und  abnorme  Empfindungen,  ausser  dem  lichten  Nebel  oder 
Scheine,  der  ihm  bei  Tageslicht  alle  Objecte  zu  überziehen  schien.  —  Patient  vvusste 
über  die  Zeit  der  Entstehung  des  Leidens  nichts  Bestimmtes  anzugeben,  noch  weniger 
über  die  Veranlassung  dazu.  Er  entsann  sich  keiner  offenbaren  Blendung,  keiner 
Verkältung,  überhaupt  keiner  auffallenden  Schädlichkeit.  Er  befand  sich  sonst  durchaus 
wohl,  lebt  in  den  besten  Verhältnissen,  hat  seine  Augen  nie  übermässig  angestrengt. 
Er  hat  vor  vielen  Jahren  wegen  einer  secundären  Affection  wohl  Mercurialcuren  durch- 
gemacht, doch  regelrecht,  und  bietet  keine  Nachwehen  weder  von  der  einen  noch  von 
der  andern  dar.  Trotzdem  er  in  venere  eben  nicht  sparsam  gelebt,  ist  er  gut  genährt 
und  muskulös  kräftig,  dabei  aber  sehr  irritabel,  physisch  sowohl  als  psychisch.  In  Bezug 
auf  Essen  und  Trinken  war  er  nie  unmässig,  ausser  dass  er  vor  vielen  Jahren  sehr 
an  starken  Thee  mit  Rum  gewöhnt  war.  Tabak  zu  rauchen  ist  ihm  Bedürfniss;  doch 
konnte  auch  hierin  nicht  die  Ursache  des  Augenleidens  gesucht  werden.  Eigenthümlich 
ist  von  Jugend  auf  eine  grosse  Neigung  zum  Schwitzen  und  eine  ungewöhnliche  Em- 
pfindlichkeit gegen  Arzneimittel,  namentlich  gegen  Abführmittel.  —  Ich  empfahl:  Meiden 
grellen  Lichtes,  schneller  Übergänge  und  Contraste,  jeder  Anstrengung  der  Augen,  Ex- 
cesse  im  Essen,  Trinken ,  in  venere,  Tragen  rauchgrauer  Gläser,  massige  Bewegung 
im  Freien,  Egerer  Salzquelle,  und  da  diese  Schwindel  erregte,  Saidschützer  Wasser  in 
kleinen  Gaben,  blutige  Schröpfköpfe  in  der  Kreuz-  und  Lendengegend,  nach  denen 
jedoch  Hinfälligkeit  mit  leichten  Muskelzuckungen  eintrat,  daher  später  von  Zeit  zu  Zeit 
6  —  8  Blutegel  hinter  die  Ohren,  einigemal  auch  circa  anum,  endlich  kalte  Augen- 
douche  und  später  kalte  Fomente  von  Aqua  dest.  mit  Aqua  Iaurocerasi  und  Borax,  da 
ihm  die  örtliche  Anwendung  von  Kälte  entschieden  wohl  that.  Es  erfolgte  wohl  keine 
Verschlimmerung,  aber  auch  keine  Heilung.  Auf  den  Rath  eines  Ende  September  con- 
sultirten  Arztes  wurde  durch  längere  Zeit  Chinin,  sulfur.  gegeben ,  anfangs  in  Pulver- 
form, dann  in  Verbindung  mit  Elix.  aeid.  Halleri.  Die  Ende  September  von  einem 
andern,  mit  dem  Ophthalmoskope  sehr  vertrauten  Arzte  vorgenommene  Untersuchung  ergab 
gleichfalls  keine  sichtbare  Veränderung  der  Netzhaut,  selbst  nicht  mehr  eine  erhebliche 
Hyperämie.  Die  durch  zwei  Monate  fortgesetzte  Anwendung  des  Chinins  hatte  keinen 
günstigen  Erfolg,  obwohl  das  diätetische  Verhalten  erst  jetzt  streng  eingehalten  wurde. 
Ja  Patient  war  so  weit  gekommen,  dass  er  auch  mit  dem  linken  Auge  nur  Nr.  14  lesen 
konnte.  Ich  kehrte  daher  zu  zeitweiligen  kleinen  Blutentzündungen  zurück,  und  liess 
durch  vier  Wochen  Pillen  von  Polygala  senega  nehmen  und  etwas  später  nebenbei 
Veratrinsalbe  an  die  Stirn  und  Schläfe  einreiben.  Keine  Besserung,  keine  Verschlim- 
merung. Dasselbe  Resultat  nach  wiederholter  Application  kleiner  Vesicantien  an  die 
Schläfe  und'  endermat.  Amvendung  von  Strychnin.  Auch  Extr.  conii  macul.  mit  magnes. 
carbon.  in  steigender  Dosis  blieb  ohne  Erfolg.  Ich  entschloss  mich  d:\her  Anfangs  März 
zu  einer  Sublimatcur  in  Pillenform  ('/20  Gran),  konnte  jedoch  wegen  Empfindlichkeit 
des  Magens  bloss  auf  acht  Pillen  steigen.  Als  der  Pitient  wieder  bis  zu  einer  Pille 
zurückgegangen    war,    trat    zuerst    Abnahme    der   Empfindlichkeit  gegen  das    Licht    ein, 


116  Netzhaut. 

daher  ich  nach  einiger  Zeit  noch  einmal  bis  auf  zehn  Pillen  stieg.  Nach  Beendigung 
der  Cur  (gegen  Ende  April)  war  der  lichte  Nebel  nicht  mehr  vorhanden,  Physiognomien 
wurden  auf  5  —  6,  nicht  mehr  bloss  auf  2  —  3  Schritte  und  viel  deutlicher  und  reiner 
ausgenommen,  und  von  den  Jäger'schen  Lettern  konnte  wieder  Nr.  1 1  mit  jedem  Auge 
gelesen  werden.  Im  Mai  wurden  noch  zwei  Arzte  consultirt,  nach  Erwägung  ihrer 
Rnthschläge  jedoch  und  Berücksichtigung  des  bisherigen  Erfolges  noch  einmal  zu  einer 
etwas  modificirten  Sublimatcur  geschritten  (Mitte  Juni).  Ende  Juli,  wo  ich  den  Patien- 
ten das  letzte  Mal  (vor  Abdruck  des  Manuscriptes)  sah,  war  die  Sehkraft  so  weit  ge- 
bessert, dass  von  Jägers  Musterschriften  N.  7  ganz  leicht  gelesen  wurde.  Die  Besserung 
hatte  sich  zuerst  im  Erkennen  entfernter  Objecte  und  durch  entschiedene  Verminderung 
der  Empfindlichkeit  gegen  das  Licht  bemerkbar  gemacht.  Dieser  Erfolg  spricht  meines  Er- 
achtens  dafür,  dass  in  diesem  Falle  eine  chronische  Retinitis  bestand,  wenngleich  in  der 
Retina  noch  keine  Productbildung  nachgewiesen  werden  konnte.  Ob  nun  alle  Fälle  von 
Nyktalopie  als  congestiv-cntziindliches  Netzhauleiden  aufzufassen  seien,  bleibt  fernein 
Beobachtungen  anheimgestellt. 

y.  Entzündung  der  Netzhaut.  Dirtyitis  (Retinitis).  Dieser  Terminus 
wurde  bisher  meistens  zunächst  auf  einen  gewissen  Symptomencomplex 
gestützt,  und  demgemäss,  da  chronische  Fälle  ausser  der  Sehstörung  keine 
verlässlichen  Erscheinungen  darbieten,  beinahe  nur  bei  sehr  acut  auftre- 
tenden Fällen  gebraucht.  Veränderungen  der  Netzhaut,  welche  als  Pro— 
ducl  von  Entzündung  derselben  aufgefasst  werden  mussten,  waren  nur  au 
Leichen  gefunden  worden,  von  denen  man  im  günstigsten  Falle  etwa 
wusste,  dass  Amaurosis  vorhanden  gewesen  war.  Die  Anwendung  des 
Augenspiegels  gestattet  uns  nun,  schon  während  des  Lebens  anatomische 
Veränderungen  der  Netzhaut  zu  erkennen,  zu  den  anderweitigen  Sympto- 
men in  Beziehung  zu  bringen,  und  somit  Entzündung  der  Netzhaut  auch 
bei  subacutem  und  chronischem  Verlaufe  zu  diagnosticiren.  Nur  bleibt 
noch  immer  zu  bedauern,  dass  uns  genauere  und  feinere  anatomische 
Untersuchungen  der  durch  Entzündung  veränderten  Netzhaut  beinahe 
durchaus  fehlen,  somit  eine  nur  einigermassen  genügende  Schilderung 
der  anatomischen  Veränderungen  zur  Zeit  noch  nicht  gegeben-  werden 
kann,  und  dass  die  feineren  mikroskopischen  Veränderungen  der  Netzhaut 
auch  dem  Ophthalmoskope  entgehen.  Die  älteren  Angaben  über  partielle 
oder  universelle  Trübungen,  Verfärbungen,  Verdickungen,  Verhärtungen 
u.  s.  w.  können  nur  zum  Theil  als  Beweise  betrachtet  werden,  dass  die 
Netzhaut  primär  durch  Entzündung  verändert  werden  kann;  viele  der- 
selben beruhen  auf  Verwechslung  mit  melamorphosirten  Chorioidealexsu- 
daten  und  Extravasalen.  Die  Augenspiegelbefunde  sind  im  Allgemeinen 
in  Verbindung  mit  anderweitig  constatirten  Momenten  hinreichend,  die 
Existenz  von  Netzhautentzündung  sicher  zu  stellen ;  doch  ist  dieser  Nach- 
weis   in    speciellen    Fällen    nicht    immer    leicht,    selbst    bei    völliger    Ver- 


Entzündung  der  Netzhaut.  117 

•rautheit  mit  der  Anwendung  dieses  Instrumentes.  Man  hat  nämlich  zu 
bestimmen:  ob  wirklich  vorhandene  Abnormitäten  des  Augengrundes  auch 
als  Ursache  der  anderweitig  conslatirten  Sehstörüng  angenommen  werden 
können,  ob  dieselben  in  der  Netz-  oder  Aderhaut  oder  in  beiden  zugleich 
ihren  Sitz  haben,  und  von  welcher  Natur  dieselben  seien.  Aber  auch 
wenn  mit  dem  Augenspiegel  keine  Veränderungen  wahrgenommen  werden, 
und  überhaupt  nicht  wahrgenommen  werden  können,  so  folgt  daraus  noch 
nicht,  dass  di*e  Ursache  der  Sehstörung  anderswo  als  in  der  Netzhaut 
gesucht  werden  müsse,  denn  es  gibt  Veränderungen  der  Netzhaut,  in 
specie  entzündliche,  welche  nur  mittelst  des  Mikroskopes  ermittelt  werden 
können.  Als  Beleg  hiefür  mag  die  Untersuchung  der  amblyopischen  Augen 
eines  in  Folge  von  Morbus  Brighti  Verstorbenen  dienen ,  in  welchen  Türk 
(Zeitschr.  der  Wiener  Ärzte,  1850,  Nr.  4)  im  hintern  Abschnitte  der  Netz- 
häute bis  zu  einer  Entfernung  von  3 — 4'"  von  der  Eintrittsstelle  des 
Sehnerven  das  Gewebe  derselben  unter  dem  Mikroskope  von  Körnchen- 
zellen durchsetzt  fand,  und  offenbar  ein  Exsudationsprocess  in  der  Netz- 
haut als  Ursache  der  Amblyopie  angesehen  werden  musste.  Eine  ähnliche' 
also  bestätigende  Beobachtung  hat  Prof.  Treifz,  bei  Diabetes  mellitus  ge- 
macht ;  es  Hess  sich  Netzhautentzündung  unter  dem  Mikroskope  bestimmt 
nachweisen,  ohne  dass  die  Netzhaut  dem  freien  Auge  merklich  verändert 
erschien  (mündliche  Mittheilung). 

Die  ophthalmoskopisch  erkennbaren  und  durch  Entzündung  gesetzten 
Veränderungen  der  Netzhaut  sind:  1.  Hyperämie  allein  oder  mit  Ecchi- 
mosirung  in  frischen,  Verminderung  des  Calibers  und  dunklere  Färbung 
der  Gefässe  bei  inveterirten  Fällen ;  2.  dunkel-  oder  hellfarbige  Trübung 
der  Netzhaut  an  einer  oder  an  mehreren  Stellen,  in  einzelnen  Regionen 
oder  in  der  ganzen  Ausdehnung;  3.  Veränderungen  der  Sehnervenpapille 
in  Bezug  auf  Farbe,  Grösse  und  Abgrenzung  von  der  Umgebung.  Ad  1. 
Wenn  das  eine  Auge  gesund  ist,  kann  man  durch  aufmerksame  Ver- 
gleichung  die  capilläre  Blutüberfüllung  leicht  nach  der  stärkeren  Röthe 
des  Augengrundes  beurtheilen,  ausserdem  aber  muss  auf  das  Alter  des 
Individuums,  auf  die  Farbe  der  Iris  ,  auf  die  Reinheit  der  Flamme,  auf 
die  Durchsichtigkeit  der  Medien  und  auf  den  Refractionszustand  des  unter- 
suchten Auges  (relativ  zum  Instrumente  und  zum  Beobachter)  Rücksicht 
genommen  werden;  man  muss  überhaupt  viele  und  verschiedene  Augen 
mit  normaler  Netzhaut  untersucht  haben.  Am  leichtesten  ist  die  Hyper- 
ämie zu  erkennen,  wenn  im  Bereiche  des  Sehnervenquerschnittes  abnorm 
viele,  namentlich  feine  Gefässehen  vorkommen,  wenn  derselbe  ein  förm- 
lich röthliches  Aussehen  hat,  wenn    hier    oder   im    weitem  Verlaufe  läno-s 


118  Netzhaut. 

derselben  keine  Ecchymosen  oder  röthlich  punktirte  Fleckchen  sitzen. 
Die  gleichzeitige  Verminderung  der  Energie  der  Sehkraft  supplirt  -bei 
solchem  Befunde  gewissennassen  das  Auffinden  von  Exsudaten,  welche 
nämlich  noch  so  fein  sein  können,  dass  die -beim  Ophthalmoskop  zulässige 
Vergrösserung  und  Beleuchtung  nicht  hinreicht ,  sie  wahrnehmbar  zu 
machen.  Doch  ist  zu  bemerken,  dass  es  auch  Fälle  gibt  —  weiter  unten 
wird  ein  solcher  angeführt  —  wo  der  Exsudationsprocess  zunächst  in 
der  Peripherie  der  Netzhaut  auftritt,  die  Schärfe  des  directen  Sehens 
mithin  gar  nicht  oder  kaum  merklich  beeinträchtigt  erscheint.  —  Nach 
längerem  Bestände  der  Entzündung  ist  es  nicht  sowohl  abnorme  Röthe 
des  Augengrundes  und  grössere  Zahl  von  Gefässen ,  welche  auffällt,  als 
vielmehr  Erweiterung,  besonders  der  Venen,  und  dunklere  Färbung  dieser 
sowohl  als  der  Arterien.  Zahl  und  Lumen  der  Centralgefässe  können  in 
diesem  Stadium  übrigens  sogar  vermindert  sein,  und  der  Augengrund 
erscheint  in  solchen  Fällen  unter  dem  Spiegel  oft  auffallend  licht,  während 
die  Pupille  beim  Tageslichte  schon  mehr  weniger  unrein ,  grau  oder 
grünlich  aussieht,  was  theils  von  der  Trübung  der  Netzhaut,  theils  von 
der  Verminderung  der  Pigmentunterlage  (und  allenfalls  auch  von  gelb- 
licher Färbung  der  Linse)  abhängt.  —  Ad  2.  Die  Trübung  der  Netzhaut 
erscheint  der  Farbe  nach  röthlich,  grau-,  gelblich-  oder  bläulich-weiss, 
oder  dunkel  (pigmentirt).  Die  röthlichen  Flecke ,  von  denen  schon  die 
Rede  war,  sind  nicht  so  intensiv  und  nicht  so  dunkelroth,  überdiess  auch 
nicht  so  scharf  markirt,  wie  die  Ecchymosen,  welche  auch  ohne  Ent- 
zündung, namentlich  bei  Verletzungen,  vorkommen.  Sie  lassen  sich  bis- 
weilen bei  starker  Vergrösserung  (im  aufrechten  Bilde)  als  fein  punktirte 
oder  fein  gestrichelte  Röthe  erkennen.  Die  lichten  Trübungen  sind  meistens 
auf  grössere  Strecken  ausgebreitet,  schleierähnlich,  mehr  weniger  stark 
durchscheinend,  sich  gegen  die  gesunde  Umgebung  allmälich  verlierend, 
dalier  relativ  am  schwersten  zu  erkennen,  zumal  bei  minder  reichlichem 
Pigmentgelialte  der  Chorioidea.  Man  hat  sich  zu  hüten,  dass  man  nicht 
diffuse  Glaskörper-  oder  Linsentrübung  damit  verwechselt.  Auch  ausge- 
breiteter Pigmentmangel  kann  für  Netzhauttrübung  gehalten  werden.  Man 
miiss  daher  stets  auf  das  Verhalten  der  Netzhautgefässe,  auf  das  reine 
Hervortreten  des  Sehnervenquerschnittes  und  auf  die  Sehstörung  Rücksicht 
nehmen.  Die  pigmentirten  Netzhauttrübungen  geben  der  Netzhaut  meistens 
ein  geflecktes  oder  getigertes  Aussehen,  und  zwar  in  mehr  weniger 
grosser  Ausdehnung  und  in  verschiedenen  Regionen.  Sie  kommen  nicht 
bloss  in  Folge  von  Entzündung,  sondern  auch  in  Folge  von  einfachen 
Blutaustretungen  vor,  und  können   meist  nur  mit    Rücksic  ht    auf  ihre  Lage 


Entzündung  der  Netzhaut.  119 

zu  den  Netzhautgefässen  von  partiellem  Pigmentmangel  unterschieden 
werden.  Rareficirung  der  Chorioidea  (Durchscheinen  der  Sclera)  zeigt 
gewöhnlich  einen  silberartigen  Glanz.  (Siehe  spater:  KurzsichTigkeit!)  — 
Ad  3.  Die  Sehnervenpapille  zeigt  bei  Retinitis  wahrend  des  Congestions- 
und  Exsudationsprocesses  nebst  den  gewöhnlichen  Gefässstämmchen  noch 
zahlreiche  abnorme  Zweigchen,  wohl  auch  feine  Capillaren,  welche  der- 
selben bei  minder  starker  Yergrösserung  (im  umgekehrten  Bilde)  oft  ein 
röthliches  Aussehen  geben,  das  allmälig  einem  schmutzigen  Teint  Platz 
macht.  Weiterhin  erscheint  die  Grenze  des  Sehnervenquerschnittes  nicht 
scharf  abgesetzt,  sondern  durch  lichte  und  pigmentirte  Trübung  der  näch- 
sten Umo-ebuno-  unres-elmässig  erweitert  oder  vielmehr  verwischt.  Doch 
hat  man  sich  zu  •hüten,  einen  halbmondförmigen  dunkeln  oder  lichten 
Reifen  an  der  einen  oder  andern  Seite  der  Sehnervenpapille  ohneweiters 
für  Entzündungsproducte  zu  halten.  Es  ist  hier  sowohl  Schattenbildung 
als  auch  stärkerer  Reflex  möglich,  da  die  Papille  wie  ein  stumpfer  Hügel 
mehr  weniger  stark  in  den  Glaskörper  hereinragt  und  der  Bulbus  meist 
etwas  von  der  Seite  her  beleuchtet  wird.  Auch  kommt  es  in  ganz  nor- 
malen Augen  vor,  dass  an  einer  oder  der  andern  Partie  der  Sehnerven- 
peripherie Pigmentanhäufung  einen  dunkeln  Streifen  oder  Reifen  bewirkt, 
so  wie  andrerseits  auch  Pigmentmangel  und  Rareficirung  der  Chorioidea 
in  mehr  weniger  grosser  Ausdehnung  um  die  Papille  herum  vorkommen 
kann,    ohne   Netzhautentzündung,  z.    B.  bei   Staphyloma  posticum    Scarpae. 

Ablösung  der  Netz-haut;  von  der  Chorioidea  dürfte  wohl  nie  als  Folge  von  Entzün- 
dung der  I\etzhaut>selbst  zu  betrachten  sein.  Wo  ich  diesen  eben  nicht  gar  seltenen  Zu- 
stand sah,  halte  ich;;Ursache  anzunehmen,  dass  dieselbe  durch  serösen  Erguss  in  Folge 
von  Chorioiditis  oder  in  Folge  von  Apoplexia  chorioidea  entstanden  war.  Der  seröse  Er- 
guss entwickelt  sich  bald  plötzlich  nach  offenbarer  Verkältung,  bald  allmälig  bei  schlei- 
chender Entzündung  der  Chorioidea  (Vergl.  Krankheiten  der  Chorioidea).  Dieser  Zustaud 
ist  nicht  leicht  zu  übersehen  und  auch  nicht  schwer  zu  erkennen,  wenn  man  bei  Unter- 
suchung mit  dem  Augenspiegel  damit  beginnt,  dass  man  zunächst  die  durchsichtigen 
Medien  auf  ihre  Durchsichtigkeit  prüft.  Die  abgelöste  Partie  (ich  sah  sie  bisher  nur  in  der 
untern  Hälfte)  erscheint  bläulich  weiss,  uneben,  bei  jeder  Bewegung  des  Auges  schwan- 
kend, flatternd  oder  aufwallend,  hie  und  da  von  einem  dünnen  dunkelrostbraunen  Ge- 
fässchen  durchzogen,  sonst  wie  beschneite  Hügel  oder  wie  Gletscher  bei  Abendbeleuch- 
tung das  Lampenlicht  reflectirend.  Dabei  kann  totale  oder  partielle  Erblindung  vor- 
handen sein  ;  in  letzterem  Falle  fungirt  entweder  die  ganze  obere  Hälfte  der  Netzhaut, 
oder  nur  ein  mehr  weniger  kleiner  Theil  derselben.  Abgelöste  Netzhautpartien  legen 
sich,  wag  Graefe  zuerst  bestimmt  ausgesprochen  hat,  niemals  wieder  an  und  werden 
nie  mehr  funetionsfähig ;  aber  auch  die  nicht  abgelösten  Partien,  namentlich  die  zu- 
nächst gelegenen,  sind  nicht  bloss  mit  Ablösung  bedroht,  sondern  auch  mit  Structur- 
veränderung    durch    Entzündung,    und    in  so  fern,    als    diese    Entzündung  gleichsam    als 


^20  Netzhaut. 

Reactionsprocess  in  der  Umgebung  der  abgelösten  Partie  betracbtet  werden  kann,  mag 
dieser  Zustand  ein  Plätzchen  zur  .  Besprechung  bei  der  Entzündung  der  Netzhaut  ge- 
funden haben. 

Die  acute  Nelzhautentzündung  wird  als  fulminant  auftretender  Proeess 
geschildert.  Bald  nach  der  Einwirkung  intensiven  Lichtes  entwickeln  sich 
heftige  und  anhaltende  Schmerzen  im  Auge  und  Vorderhaupte,  Vorschwe- 
ben verschiedenfarbiger  feuriger  Erscheinungen,  enorme  Empfindlichkeit 
gegen  jeden  Lichtreiz,  reichlicher  Thränenfluss  und  allgemeine  Unruhe  und 
Aufregung  oder  auch  Abspannung  bei  rasch  verminderter  Sehkraft.  Ver- 
engerung der  Pupille  dürfte  stets  in  auffallend  hohem,  Gefässinjection  auf 
der  Sclera  in  relativ  geringem  Grade  vorhanden  sein. 

Diese  Affection  kann  bei  rechtzeitiger  und  zweckmässiger  Hilfelei- 
stung vollständig  zurückgehen,  führt  aber  gewöhnlich  in  kurzer  Zeit  zu 
mehr  weniger  ausgebreiteter  Amblyopie  oder  Amaurose.  Nach  einigen 
Beobachtern  können  auch  die  Zeichen  von  Iritis  oder  Chorioditis  hinzu- 
treten, und  die  Prognosis  noch  mehr  trüben.  Die  Erscheinungen  allge- 
meiner Augapfelentzündung  (panophthalmitis)  dürften  wohl  nur  dann  zu 
besorgen  sein ,  wenn  die  Netzhaut  von  andern  Schädlichkeiten  getroffen 
wurde,  wenn  nebst  intensivem  Lichte  noch  andere  Momente  das  Auge 
verletzt  haben. 

Wie  man  bei  dieser,  glücklicherweise  nur  selten  vorkommenden  Er- 
krankung vorzugehen  habe,  möchte  hinreichend  aus  folgenden  Beispielen 
entnommen  werden  können. 

„Ein  junger  Staatsbeamte  in  Wien*),  von  gesunder  starker  Körperbeschaffenheit, 
hatte  den  ganzen  Tag  über  Kopf  und  Augen  durch  Schreiben  und  Lesen  sehr  ange- 
strengt;  gegen  Abend  wohnte  er  optischen  Vorstellungen  eines  Künstlers  bei,  unter 
welchen  ihm  der  Sonnenaufgang  vorzüglich  gefiel,  den  er  lange  durch  ein  convexes 
Glas  mit  dem  rechten  Auge  betrachtete.  Als  er  sich  entfernte,  that  ihm  dieses  Auge 
weh.  Den  übrigen  Abend  brachte  er  unter  Freunden  in  einem  hell  erleuchteten  Salon 
zu.  und  trank  denselben  Abend  auch  ein  Glas  Punsch.  Nach  Mitternacht  erwachte  er 
unter  betäubenden  Kopfschmerzen,  Vollheit  und  drückenden  Schmerzen  im  rechten  Auge 
mit  flüchtigen  Stichen.  Der  Schmerz  wurde  immer  heftiger,  Blitze,  Flammen  u.  dgl. 
feurige  Erscheinungen  vermehrten  sich  mehr  und  mehr,  die  Lichtscheu  wurde  immer 
stärker,  so  dass  er  endlich  die  Nachtlampe  auslöschen  musste.  Beer  wurde  sehr  zeitig 
früh  gerufen;  er  fand  das  Auge  äusserst  empfindlich  bei  der  leisesten  Berührung;  die 
geringste  Bewegung  der  Bulbus  steigerte  den  Schmerz.  So  viel  Beer  in  der  Dämme- 
rung sehen  konnte,  war  am  Auge  keine  Böthe,  die  Pupille  sehr  verengert.  Der  Patient 
versicherte,  er  sehe  mit  dem  rechten  Auge  viel  weniger.  Der  Körper  war  von  Fieber 
entzündlicher  Art   ergriffen.     Beer    liess  auf    der  Stelle  einen  sehr  starken  Aderlass  ma- 

*)  J.  N.  Fischer  Lthibuch,  Prag    1»  16   S.  59. 


Entzündung  der  Netzhaut  —  aeute.  i2i 

rhcn,  eine  grosse  Menge  Blutegel  theils  an  die  Stirngegend ,  theils  hinter  das  rechte 
Ohr  setzen,  eiskalte  Fomente  über  den  Kopf  legen,  Ung  hydr.  einer,  alle  Stunden  in 
die  Augengegend  einreiben,  und  verordnete  ein  purgans  nntiphlogisticum,  dann,  nachdem 
dieses  letztere  mehrere  Stühle  hervorgebracht,  Caloinelpulver.  Ungeachtet  der  bedeu- 
tenden Erleichterung  nach  den  Blutentleerungen  liess  Beer  gegen  Mittag  den  Adcrlass 
und  die  Blutegel  wiederholen.  Auf  diese  Art  gelang  es  ihm  die  Entzündung  zu  brechen 
und  das  Sehvermögen  zu  erhalten,  welches  eine  Stunde  spater  vielleicht  unrettbar  ver- 
loren gewesen  wäre.  Die  zurückgebliebe  Amblyopie  behandelte  Beer  bloss  durch  diäte- 
tisches Verhalten." 

Folgende  Beobachtung  hat  W,  Cooper9)  veröffentlicht:  „Herr  G.  war  am  29.  März 
1844  beschäftigt,  die  Nerven  der  Zunge  unter  einem  starken  Mikroskope  darzustellen, 
und  besah  das  fertig  gewordene  Präparat  eben,  als  plötzlich  die  Sonne  mit  aller  Kraft 
darauf  zu  scheinen  begann.  Sogleich  entstand  über  den  ganzen  Bulbus  ein  so  heftiger 
Schmerz,  dass  G.  aufsprang  und  einen  heftigen  Schrei  ausstiess.  Durch  etwa  zwanzig 
Minuten  sah  er  nichts  als  das  Spectrum  der  Sonne ;  nachher  verlor  sich  dieses  und 
auch  der  Schmerz,  und  er  konnte  sein  Werk  wieder  fortsetzen,  wenn  auch  das  Auge 
bis  zum  Abend  empfindlich  blieb.  Tags  darauf  war  aller  Schmerz  weg  und  G.  ging 
an  die  Vollendung  seiner  Arbeit.  Da  trat  derselbe  Zustand  wie  Tags  zuvor  wieder 
ein  ;  die  plötzlich  zwischen  den  Wolken  hervorbrechenden  Sonnenstrahlen  wurden  vom 
Reflector  des  Mikroskopes  concentrirt  ins  Auge  geworfen.  Ein  starker  und  tiefgehender 
Schmerz  durchzuckte  den  Augapfel,  grosse  Lichtscheue  und  dasselbe  Sehen  des  Sonnen- 
bildes stellten  sich  ein.  Den  ganzen  Abend  und  die  ganze  Nacht  blieb  der  Schmerz 
sich  gleich  und  nahm  Tags  darauf  zugleich  mit  einem  Gefühle  von  Vollheit  und  Span- 
nung bedeutend  zu.  Kalte  Umschläge  brachten  keine  Erleichterung.  Ausser  dem 
Schmerze  fand  Cooper  grosse  Lichtscheue,  die  obere  Hälfte  des  Bulbus  besonders  sehr 
empfindlich,  Thränenfluss ,  Funkensehen  bei  jedem  Sehversuche,  die  Iris  normal,  die 
Pupille  verengert,  die  Conjuctiva  wenig  geröthet,  den  Puls  schwach  und  beschleunigt, 
allgemeine  Schwäche  und  geistige  AbgespanntheiU  Patient  wurde  sogleich  in  ein  ver- 
dunkeltes Zimmer  gebracht,  zwölf  Blutegel  um  das  Auge  gelegt,  kalte  Fomente  und 
ein  Abführmittel  verordnet.  Tags  darauf  befand  er  sich  etwas  besser.  Einreibung 
von '  Mercurialsalbe  mit  Opium,  innerlich  Pillen  von  Hydrarg  mit  Conium,  in  der 
Zwischenzeit  Tart.  emet.  und  eine  Mixt,  salina  besserten  den  Zustand  bedeutend. 
Nach  vierzehn  Tagen  war  das  Auge  schmerzlos,  bloss  das  Sonnenlicht  wurde  noch 
nicht  gut  vertragen.  Doch  blieb  die  allgemeine  Schwäche  noch  bedeutend ,  so  dass 
!/2  Gran  Chinin  2mal  des  Tages  und  etwas  Fleischdiät  verordnet  wurde  ;  die  Mercurial- 
einreibung  wurde  fortgesetzt.  Bei  dieser  Behandlung  im  Verein  mit  einem  Deriyans 
hinter  dem  Ohre  und  einem  leicht  adstringirenden  Augenwasser  war  das  Auge  bis  auf 
Funkensehen  bei  Anstrengung  desselben  nach  einer  Woche  vollkommen  frei.  Nach  und 
nach  verlor  sich  auch  dieses  Symptom,  und  die  Kräfte  nahmen  wieder  zu,  so  dass  G. 
jetzt  wieder  vollkommen  wohl  ist. 

Eine  ähnliche  Beobachtung  machte  ich  im  April  1847  an  einem  etwa  16jährigen 
Mädchen,  welchem  ein  Soldat,  als  sie  in  seiner  Nähe  im  Schatten  der  Häuser  vorüberging 
(morgens  gegen  10  Uhr),  mit  einem  Spiegel  (Hohlspiegel  ?)  das  grelle  Sonnenlicht  in 
das  rechte  Auge  geworfen  hatte.     Der   Fall  war  durch  fast  gleichmässige    blasse  Bosen- 

*)   London   medical   Gazelle,    1S44.  Juli.     Oeler.    medic.    Wochenschrift  1845    Nr.  4ö. 


122  Netzhaut. 

rölhe  der  A'buginea,  ziemlich  starke  ödematöse  Schwellung  der  Conjuctiva  bulbi  (am  3. 
und  4.  Tage),  sehr  enge  Pupille,  vehemente  Lichtscheue,  Thränenfluss,  Vorschweben 
feuriger  Scheiben  und  getrübtes  Sehen  charakterisirt.  Die  Behandlung  bestand  in  ent- 
sprechender Verdunklung,  Ruhe  im  Bette,  örtlicher  Blutentziehung,  kühlenden  Abführ- 
mitteln und  eiskalten  Umschlägen,  denen  späterhin  Fomente  mit  verdünnter  Tinct.  arni- 
cae  substituirt  wurden.     Die  völlige  Genesung  erfolgte  erst  nach  6  Wochen. 

Bei  der  subacut  oder  chronisch  verlaufenden  Netzhautentzündung 
ist  die  successive  Abnahme  des  Sehvermögens  wenn  auch  nicht  gerade 
das  einzige,  so  doch  immer  das  hervorstechende  Symptom.  Sie  wurde 
demnach  vor  Einführung  des  Augenspiegels  gewöhnlich  als  Amblyopie 
oder  Amaurosis  überhaupt  aufgefasst,  und  je  nach  anderweitigen  Zu- 
fällen bald  als  congestives  oder  erethisches,  bald  als  torpides  Leiden  ohne 
nähere  Bezeichnung  des  Sitzes  und  Ausgangspunktes    geschildert. 

Die  Sehstörung  gibt  sich  bei  der  chronischen  Netzhautentzündung  auf 
verschiedene  Weise  kund,  und  zwar  zunächst  nach  der  Gegend  und  Aus- 
breitung der  Affection.  Bald  ist  es  nämlich  vorzüglich  die  Peripherie  der 
Netzhaut,  welche  durch  Hyperämie  und  Exsudation  in  der  Function  be- 
einträchtigt wird,  bald  das  Centrum  (die  Gegend  der  Macula  lutea),  bald 
irgend  eine  oder  mehre  Partien  der  mittlem  Region,  während  in  zahl- 
reichen Fällen  das  ganze  Gesichtsfeld  als  umflort  oder  verdunkelt  bezeich- 
net wird.  Wo  eine  centrale  Partie  allein,  oder  vorwaltend  afficirt  ist, 
fehlt  im  Sehfelde  der  entsprechende  Theil,  sieht  das  Auge  seitlich  von 
der  zu  dieser  Stelle  gehörenden  Achse  noch  relativ  gut  oder  am  besten. 
Der  Kranke  sieht  z.  B.  auf  einem  Blatte  Papier  einen  dunklen  Fleck, 
einem  vis-ä-vis  befindlichen  Gesichte  fehlt  die  Nase  oder  ein  Auge  u.  dgl., 
während  die  lichte  Fronte  eines  etwas  entfernteren  Hauses  vielleicht  noch 
ohne  Unterbrechung,  nur  minder  deutlich  wahrgenommen  wird.  Innerhalb 
der  Grenzen  der  deutlichen  Sehweite  steigt  und  fällt  die  scheinbare 
Grösse  des  dunkeln  Fleckes  mit  der  Grösse  des  Horopters,  nimmt  immer 
einen  aliquoten,  z.  B.  den  100.  Theil  des  jeweiligen  Sehfeldes  ein,  und 
wird  demnach  bei  einem  grössern  Sehfelde  auch  als  grösser  angeschlagen. 
Ist  die  funetionsunfähige  Netzhautpartie  von  gesunder  Netzhaut  scharf 
abgegrenzt,  so  erscheint  auch  der  dunkle  Fleck  innerhalb  der  deutlichen 
Sehweite  scharf  markirt,  darüber  hinaus  allmälig  verwischt,  endlich  ver- 
schwunden (Visus  interruptus,  und  bei  mehreren  solchen  isolirten  Flecken 
visus  reticulalus).  Denselben  Effect  können  natürlich  auch  umschriebene 
Blutextravasate,  partielle  Emporhebungen  durch  Chorioidealexsudate  u.  dgl- 
bewirken.  Unempfindlichkeit  einzelner,  umschriebener  Stellen  der  Netz- 
haut, z.  B.  durch   Extravasate  oder  Exsudate,  veranlasst  die  Kranken  auch 


Entzündung  «1er  Netzhaut  —  chronische.  123 

bisweilen  zu  der  Angabe,  dass  sie  die  Gegenstände,  z.  B.  die  Nase,  den 
Mund  einer  Person  verzerrt,  verschoben,  breiter,  grösser  u.  dgl.  sehen 
(Ungestaltetsehen,  Metamorphopsie).  Ein  sehr  häufiges  Symptom  centraler 
Retinalaffection  ist  das  sogenannte  Vorbeischiessen  der  Sehachse  neben 
dem  Objecte,  welches  gesehen  werden  will.  Es  kommt  diess,  abgesehen 
von  Hindernissen  in  den  durchsichtigen  Medien,  ausserdem  auch  bei  in- 
veterirtem  Strabismus  und  bei  höheren  Graden  von  Kurzsichligkeit  (mit 
Ausbuchtung  des  Bulbus  um  den  hintern  Pol  herum)  vor,  und  wird  dess- 
halb  bei  diesen  Zuständen  noch  besprochen  werden.  —  Bei  vorwaltend 
oder  ausschliesslich  in  der  Peripherie  der  Netzhaut  auftretendem  Exsu- 
dationsprocesse  ergreift  die  allinälig  auftretende  Umflorung  oder  Verdunk- 
lung das  ganze  Gesichtsfeld,  oder  sie  engt  dasselbe  auf  einen  mehr  we- 
niger beschränkten  Raum  ein,  selbst  bis  zu  etwa  einem  Viertelzoll  beim 
Lesen  u.  dgl.  Dieser  Zustand  ist  wenig  berücksichtigt  worden.  Ich  will 
ihn  daher  durch  einige  authentische  Beobachtungen  erörtern,  aus  denen 
zugleich  das  Eigenthümliche  dieses  Processes  erhellen  wird. 

Ein  Hauptmann,  40  Jahre  alt,  von  kräftiger  Constitution  und  ganz  gesundem  Aus- 
sehen klagt  über  Abnahme  seiner  Sehkraft  seit  Juni  1853.  Die  Inspection  ist  nicht  im 
Stande,  einen  Fehler  im  dioptrischen  Apparate  aufzufinden  ;  auch  von  fehlerhafter  Re- 
fraction  oder  Accommodation  kann  keine  Rede  sein,  was  in  dem  Nachfolgenden  seine 
weitere  Bestättigung  findet.  Ich  merkte,  dass  er  etwas  unsicher  auf  mich  zuschritt,  ob- 
wohl sich  später  ergab,  dass  er  ganz  gut  lesen  konnte  und  auch  nicht  etwa  doppelt 
sah.  Er  kann  die  feinste  Schrift  lesen  (selbst  Nr.  1  von  Jäger),  doch  nicht  mit  Aus- 
dauer. Er  kann  nicht  mehr  dienen,  weil  er  vor  der  Fronte  wohl  in  der  Ferne  sieht, 
nicht  aber,  was  ihm  zunächst  ist.  Er  sah  Tags  vor  seinem  Besuche  bei  mir  (am  3.  Juni 
1855)  im  Theater  wohl  alles  auf  der  Bühne,  nicht  aber  seinen  etwas  kleinern  Vorder- 
mann, den  er  erst  wieder  suchen  musste.  Er  kommt  beim  Herabgehen  über  eine 
Stiege  immer  in  Gefahr  zu  stürzen,  besonders  bei  der  letzten  Stufe  ;  ebenso  geht  er  im 
Freien  abwärts  viel  schlechter  als  eben  oder  aufwärts  ;  hat  er  über  einen  Graben  zu 
schreiten,  so  kann  er  dessen  Breite  nicht  ermessen ;  er  findet  überhaupt,  dass  er  Ent- 
fernungen nicht  mehr  richtig  schätzen  kann,  obwohl  er  als  Officier  hierin  grosse  Übung 
hatte.  Beim  Gehen  auf  der  Strasse  längs  einer  Mauer  geschieht's  ihm  leicht,  dass  er  „an  die- 
selbe anschiebt",  an  einen  Entgegenkommenden  anstösst,  an  einen  vorbeifahrenden  Wa- 
gen anrennt.  (Er  wurde  auf  diese  Weise  schon  bedeutend  verletzt.)  Objecte,  die  schnell 
an  ihm  vorübergehen  oder  fliegen,  z.  B.  Vögel,  nimmt  er  oft  nicht  wahr,  obwohl  er  ein  an- 
dermal solche  und  noch  viel  feinere  Gegenstände  und  in  grösserer  Entfernung  recht  gut  sieht. 
Indem  ich  ihm  etwa  4  Fuss  weit  gegenüber  sitze  und  seinen  Zustand  notire,  sieht  er  mein 
Gesicht,  wenn  er  dieses  fixirt,  nicht  aber  meine  schreibende  Hand ;  fixirt  er  die  Feder,  so 
sieht  er  nur  den  untersten  Theil  meines  Gesichtes.  Die  Peripherie  seines  Gesichtsfeldes  ist 
nicht  scharf  markirt,  sondern  wie  verschwommen.  Ging  er  früher,  wo  sein  Zustand  noch 
etwas  schlimmer  war,  auf  einem  Fahrwege,  so  konnte  er  nie  dessen  beide  Ränder  zu- 
gleich  sehen.     Der    Blick    auf  unmittelbar   von  der  Sonne    beschienene  lichte    Stellen  ist 


124  Netzhaut. 

ihm  unangenehm,  obwohl  er  versichert,  hei  stärkerer  Beleuchtung,  z.  B.  hei  Lampenlicht 
besser  zu  sehen,  als  bei  Kerzenlicht.  Tritt  er  aus  einem  lichten  in  einen  etwas  dunkeln 
Raum,  z.  B.  in  eine  Hausflur,  so  dauert  es  länger,  ehe  ihm  die  Objecte  deutlich  werden, 
als  sonst  im  gesunden  Zustande  der  Fall  war.  Gegen  Abend,  jedoch  auch  schon  vor 
Sonnenuntergang,  sieht  er  besser,  angeblich  wegen  der  kühlem  Temperatur,  doch  war's 
auch  im  Winter  so.  Nach  Tische  oder  wenn  er  sich  durch  Gehen  erhitzt  hat,  sieht  er 
stets  schlechter.  Er  hat  zuerst  im  Juni  vor  2  Jahren  bemerkt,  dass  er  zu  Pest  auf  der 
Promenade  die  Bäume  nicht  mehr  deutlich  erkannte,  Grüssende  nicht  immer  gleich 
wahrnahm,  beim  Eintritte  in  die  Hausflur  oft  Mühe  hatte,  den  Thürgriff  oder  die  ersten 
Stufen  der  Stiege  zu  finden.  Da  er  sich  Abends  —  er  meint  wegen  der  Abkühlung  der 
Lull  —  regelmässig  besser  befand,  hielt  er  den  Zustand  anfangs  gar  nicht  für  ein  Augen- 
leiden, sondern  bloss  für  Blutandrang  und  beschäftigte  sich  desshalb  auch  Abends  noch 
viel  mit  Lecture.  Indess  wurde  der  Zustand  bei  den  Exercirübungen  am  Rakosfelde  in 
der  heissen  Jahreszeit  ärger,  so  dass  er  „in  Reih'  und  Glied  seinen  Nebenmann  nur 
durch  die  Fühlung  wahrnahm,  sein  Vordermann  ihm  manchmal  verschwand."  Seine 
Ärzte  hatten  das  Leiden  als  Blutandrang  aufgefasst  und  demgemäss  behandelt.  Schröpf- 
kopfe, Mineralwässer,  kalte  Bäder  kamen  ihm  gut  zu  statten,  so  dass  er  im  Mai  1854 
den  Marsch  nach  der  Bukowina  mitmachen  konnte.  Doch  wurde  sein  Zustand  bedeu- 
tend verschlimmert,  indem  er  durch  3  Monate  in  der  Regel  jeden  Vormittag  und  bei 
jeder  Witterung  im  Freien  und  auf  schlechten  Wegen  marschiren  musste.  Der  Aufenthalt 
in  einer  Kaltvvassercuranstalt  hat  nun  den  Zustand  wieder  etwas  gebessert.  Die  Unter- 
snchung  mit  dem  Augenspiegel  ergibt  unzweifelhaft  Hyperämie  der  Netzhaut  und  in  der 
Gegend  des  Äquator  bulbi  eine  Art  Marmorirung  derselben ,  indem  theils  dunklere 
Punkte  und  Fleckchen  (Pigment  ?),  theils  einzelne  lichte,  gelbliche,  fast  hyalyne  Pünkt- 
chen auf  hochrothem  Grunde  eingesprengt  erscheinen.  Ich  nahm  demnach  keinen  An- 
stand, diesen  Befund  als  Retinitis  peripherica  zu  betrachten,  und  hierauf  Prognosis  und 
Therapie  zu  stützen.  Doch  konnte  sich  dieser  Herr  einer  consequenten  Behandlung  vor- 
läufig noch  nicht  unterziehen,  und  ist  mir  über  den  weiteren  Verlauf  noch  nichts  bekannt 
geworden. 

Ein  Eisenbahnbeamter  von  45  Jahren  klagte  über  schlechtes  Sehen  und  beschrieb 
seinen  Zustand  —  durch  einige  Fragen  geleitet  —  ohngefähr  folgendennassen.  Ich  sehe 
weder  rechts  noch  links,  auch  nicht  abwärts;  zeitweise  gerathe  ich  in  einen  Zustand 
gänzlicher  Verwirrung,  z.  B.  wenn  ich  von  der  Bahn  auf  ein  Feld  treten  oder  zu  einem 
Wächterhaus  gehen  will,  verliere  ich  auf  einmal  den  Weg,  und  muss  mich  führen  lassen, 
obwohl  ich  gradaus  ganz  gut  sehe.  Mit  dem  Lesen  und  Schreiben  geht's  schlecht,  wenn 
ich  eine  Zeile  geschrieben,  so  vergeht  mir  alles,  und  immer  muss  ich.  um  zu  lesen, 
den  Kopf  stark  vorwärts  neigen.  In  der  Stadt  oder  auf  der  Strasse  laufe  ich  Gefahr 
zu  stolpern  oder  überfahren  zu  werden,  weil  ich  nicht  sehe,  was  seitlich  und  unmittel- 
bar vor  mir  ist.  Ich  sehe  in  der  Ferne,  wenigstens  mit  dem  rechten  Auge  sehr  scharf, 
z.  B.  auf  500  Schritte  einen  kleinen  Vogel,  in  der  Nähe  jedoch  nicht,  da  verschwimmt 
mir  alles;  vor  dem  linken  ist  auch  beim  Fernblick  gleichsam  ein  Schleier.  Ich  kann 
über  keinen  Graben  springen,  von  weitem  sehe  ich,  wie  breit  der  Graben,  welchen 
Anlauf  ich  etwa  nehmen  müsste,  wenn  ich  aber  nahe  daran  gekommen,  verläset  mich 
das  Unheil  über  die  Breite.  Mond  und  Sterne  kann  ich  ausnehmen  ;  nach  Sonnenunh  r- 
gang  sehe  ich  schlechter,     und  wenn  Buch  der  Widerschein  vom  Firmament  \erschwuu- 


Entzündung  der  Netzhaut  —  chronische.  125 

den    ist,   muss  ich  mich  führen  lassen  ;    oh    ich  hei  Mondschein    sehen   würde,  weiss  ich 
nicht,  weil  ich  aus  Furcht~vor  einem  Unglück  mich  immer  heeile,    mit  Sonnenuntergang 
zu  Hause  zu  sein.     Komme  ich    von  der  Gasse  in  ein  Vorhaus,    welches  nicht  sehr  licht 
ist,  so  sehe  ich  ungewöhnlich  lange  gar  nichts,  bin  ganz  gehlendet.    Das  volle  Sonnen- 
licht beleidigt  meine  Augen,    so  dass  ich  starkblaue  Gläser  tragen  muss  ;    auch  muss  ich 
von  Zeit  zu  Zeit  meine  Augen  schliessen,  um  sie  wieder  zu  Kräften  kommen  zu  lassen. 
Meine  Nahrung  muss  ich  beinahe  kühl  zu  mir  nehmen,    weil  der  Genuss  heisser  Speisen 
meinen  Zustand    entschieden  verschlimmert.  —  Die  äussere  Besichtigung  entdeckt    nichts 
Abnormes,    ausser  etwas  minder    lebhaften,   jedoch    nicht  gerade  stieren  Blick.     Will    er 
etwas  genau  sehen,    z.  B.  lesen,    wozu  sich  nur  das  rechte  Auge  noch  eignet,    so    muss 
er  das  linke  schliessen.     Er  vermag    höchstens  2  Seiten  mittlem  Druckes  in  conlinuo  zu 
lesen,    und    hat  sich  desshalb    in  der  letzten  Zeit  nur    auf  die  unabweislichen    Schreibe- 
reien beschränkt.    Er  vermag  von  der  Jäger'schen  Druckschrift  Nr.  5  zu  lesen,  zwischen 
10  —  20   Zoll   Entfernung,    lieber  bei  15  —  20",   schwer   bei    8",    gar  nicht    bei  6",    mit 
einiger  Mühe  auch  bei  24".     Mit  dem  rechten  Auge  allein  (bei  verdecktem  linken)    liest 
er  noch  Jäger  Nr.    2,    jedoch  nur    bei  14",   Nr.  3  dagegen  zwischen   12  —  15",    bei  20" 
dagegen  nicht.      Die  Pupillen  —  wie  im  vorigen   Falle  —   dem  Lichtgrade   adäquat,    die 
Iris  graublau,  ziemlich  stark  vorgewölbt.     Er  hatte  früher    ein  sehr    scharfes    Auge,    und 
war  auch  vor  Entstehung  dieses  Zustandes  weder  kurz- noch  fernsichtig.  —  Erkrankt  war 
er  im    Juli    1854;    als  er    sich  beim  Schienenlegen  mit  dem  linken    Auge    knapp    an    die 
von  der  Sonne  erhitzte  Schiene  legte  (auf  den  Boden  gestreckt),    um  zu  sehen,  ob  die- 
selbe   ganz    gradlinig    gelegt   sei,    fielen    ihm    die    Sonnenstrahlen  direct  in    die    Augen; 
augenblicklich    empfand    er  so  heftige  stechende  Schmerzen,    dass  er  die  Hände  vor    die 
Augen   hielt ;    dann  war    er   eine  knrze   Zeit  wie  geblendet  und  betäubt.     Diese  Zufälle 
verschwanden,    nachdem    er    sich    Gesicht  und    Kopf  mit  kaltem  Wasser  gewaschen  und 
tüchtig  abgekühlt  hatte.    Nach  etwa  3—4  Tagen  stellte  sich  Doppelsehen  und  Schwindel 
ein,  indem  er  über  jedem  Gegenstande   noch  einen    zweiten  minder   deutlichen    sah.     Er 
versah  trotzdem  seinen  Dienst  als  Bahnaufseher,  obwohl  mit  grosser  Anstrengung,  indem 
er  von  dem  Scheinobjecte  allmälig  abstrahiren  lernte,    und  gebrauchte  auf  Anrathen  sei- 
nes Arztes    bloss  Bitterwasser,.     Nach   etwa    2  Monaten  war  er  den  Winter  über    wieder 
gesund;    nur   gegen    Abend    merkte    er,    dass    seine    Sehkraft  nicht  mehr   so  scharf   wie 
früher  war,  auch  übergingen  (thränten)  ihm  die  Augerr  oft,  wenn  er  mehr  zu  thun  hatte. 
Im  April  aber  trat  wieder  —  ohne  bekannte  Veranlassung  —  Doppelsehen  ein,  er  meint 
gerade    zur   Zeit   des    Vollmondes.      Er  gebrauchte  zunächst  wieder    Bitterwasser,    dann 
Seidlitzpulver,    und  da  keine  Besserung  eintrat,    auf  ärztliche    Ordination    Blasenpflaster, 
die  er    durch  48  Stunden    an  der  Schläfe  liegen  lassen  sollte.     Er   legte  diese  des  Mor- 
gens auf;    den  andern  Tag  früh,    als    er  erwachte,    bemerkte  er,    dass  er  beinahe  blind 
war.     Das    Pflaster   an    der    Schläfe    soll  sich    in  der  Nacht  verschoben  haben,    und  nur 
das    linke  24  Stunden  liegen  geblieben    sein.     Auf  dem  linken  Auge  sah  er  anfangs  gar 
nichts,  nach  und  nach    erholten  sich  beide  Augen  ohngefähr  gleichen  Schrittes,    so  dass 
er  jetzt  mit  dem  linken   noch  immer  nicht   lesen  kann.     Ich  fand  mit  dem  Augenspiegel 
deutlich  ausgesprochene   Hyperämie  der  Papille  ;    die    Netzhaut   in  ihrer  ganzen  Ausdeh- 
nung   zu    untersuchen,    war  nicht  möglich,    da    der  Kranke  bald  wieder  abreisen  musste 
(10.  Juni  1855)  und    künstliche  Erweiterung  der    Pupille  unter  solchen  Umständen  nicht 
räthlich  erschien. 


126  Netzhaut. 

So  lange  der  entzündliche  Process  noch  im  Gange  ist,  sind  solche 
Patienten  immer  gegen  stärkeres  Licht  abnorm  empfindlich ;  sie  fühlen 
sich  bei  temperirtem  Lichte  behaglich  oder  doch  minder  unwohl.  Diese 
Empfindlichkeit  tritt  besonders  bei  refleetirtem  Lichte  (von  lichten  oder 
glänzenden  Objecten),  bei  ungleicher  Vertheilung  desselben  und  bei 
schnellen  Übergängen  oder  Contrasten  hervor.  —  Die  Meisten  klagen 
auch  über  feurige  Erscheinungen,  besonders  im  Dunkeln,  die  sie  bald  als 
rothe,  gelbe,  blaue  oder  weisse  Fläminchen,  oder  Funken  oder  Blitze,  bald 
als  eine  Art  Gold-  oder  Silberregen  (namentlich  beim  Lidschlusse)  be- 
zeichnen. Viele  entsinnen  sich  erst  während  eines  genaueren  Examens, 
dass  diese  oder  ähnliche  Erscheinungen,  wenn  auch  nur  durch  eine  kurze 
Zeit,  doch  ganz  gewiss  vorhanden  waren.  Seltener  sind  verlässliche  Angaben 
über  die  Gegenwart  von  mehr  weniger  deutlich  ausgesprochenem  Schmerze 
über  den  Augenbrauen,  in  der  Stirn,  in  der  Tiefe  des  Vorderhauptes,  welche 
indess  bisweilen  so  stark  hervorgehoben  werden,  dass  sie  als  dem  Augenleiden 
vorangegangen,  ja  als  Ursache  desselben  bezeichnet  werden,  und  der  Arzt  ver- 
leitet werden  kann,  die  Ursache  anderswo  als  im  Auge  selbst  zu  suchen.  Alle 
diese  Zufälle  werten  gesteigert  durch  excitir ende  Momente,  echauffante  Bewe- 
gung, geistige  Getränke,  heisse  Speisen,  Anstrengung  der  Augen,  intensiveres 
Licht  u.  dgl.  Eine  nicht  seltene  Erscheinung,  vorzüglich  bei  der  aus  über- 
mässiger Anstrengung  der  Augen  bei  unzweckmässiger  Beleuchtung  allmälig 
entstehenden  Netzhautentzündung  ist  in  der  ersten  Zeit  ein  Gefühl  von 
Trockenheit  und  Schwere  der  Lider  oder  von  Druck,  wie  bei  Katarrh ; 
die  Kranken  können  des  Morgens  die  Augen  nicht  öffnen,  ohne  sie  früher 
(allenfalls  mit  Speichel)  benetzt  zu  haben.  —  Zu  den  objeetiven  äussern 
Erscheinungen  dieses  Stadiums  gehören:  leichte  Röthe  der  Lidränder,  mehr 
weniger  bestimmt  als  abnorm  zu  bezeichnende  Injection  der  vordem  Ci- 
liararterien  und  relativ  engere  Pupille.  —  Alle  diese  subjeetiven  und  ob- 
jeetiven Erscheinungen  sind  zwar  weder  einzeln  noch  zusammengenommen 
beweisend,  schon  desshalb  nicht,  weil  sie  einzeln  und  zusammen  fehlen 
oder  auch  anderweitig  bedingt  sein  können;  aber  es  ist  nöthig  zu  wissen, 
dass  sie  durch  Retinitis  erregt  werden  können;  sie  müssen  den  Arzt  auf 
die  Möglichkeit  dieses  ernsten  Leidens  leiten,  schon  zu  einer  Zeit,  wo 
die  Hauptsache,  die  Abnahme  der  Sehkraft,  vielleicht  noch  gar  nicht  vom 
Kranken  wahrgenommen  wird,  wo  erst  genaue  Versuche  die  Schwächung 
des  Gesichtes  constatiren,  wo  der  Kranke  vielleicht  nur  eine  passende 
Brille  sucht,  ein  calmirendes  Mittel  wünscht,  u.  dgL 

Nach  mehr  weniger  langem  Bestände  dieses  Stadiums,  welches  man 
füglich  als  das  cretisch-congestive  bezeichnen  kann,  treten  allmälig,  selten 


Entzündung  der  Netzhaut  —  chronische.  127 

rasch  die  Zeichen  eines  torpiden  oder  paralytischen  Zustandes  der  Netz- 
haut auf.  Die  Empfindlichkeit  gegen  das  Licht  nimmt  ab  und  weicht  zu- 
letzt einem  gewissen  Bedürfnisse  nach  heller  Beleuchtung  der  Gegenstände, 
und  die  feurigen  Erscheinungen  machen  allmälig  der  Wahrnehmung  dunk- 
ler Flecke,  Wolken,  allgemeiner  Umneblung  oder  •  Verdunklung  des  Ge- 
sichfes Platz.  Dabei  wird  (an  dem  betroffenen  Auge)  gewöhnlich  die 
Pupille  etwas  weiter,  die  Iris  träger,  der  Augengrund  minder  rein,  bis- 
weilen zeigen  sich  auch  Spuren  chronischer  Iritis  (braune  Zacken  am 
Pupillarrande)  und  zahlreichere  oder  doch  stärker  entwickelte  Ciliarge- 
fässe,  schmutzige  Farbe  der  Sclerotica,  seltener  Veränderungen  in  der 
Spannung  des  Bulbus. 

Die  chronische  Netzhautentzündung  entwickelt  sich  bald  nur  auf  einem 
Auge,  bald  auf  beiden  zugleich  oder  kurz  nach  einander.  Sie  kann  in 
jedem  Alter  auftreten,  kommt  aber  im  Allgemeinen  am  häufigsten  im  Mannes- 
alter vor,  was  wahrscheinlich  mit  den  erregenden  Momenten  zusammen- 
hängt. Selten  kommt  sie  im  höhern  Alter,  noch  seltener  in  früheren  Jahren 
vor.  Als  besonders  disponirend  dazu  möchten  vor  allem  höhere  Grade 
von  Kurzsichtigkeit,  frühzeitig  eingetretene  Accomodationsbeschränkung  für 
nahe  Objecte,  Störung  des  Gesichtes  durch  leichte  Hornhauttrübungen  zu 
betrachten  «ein,  insofern  diese  Zustände  leicht  Veranlassung  zu  relativ 
übermässiger  Anstrengung  der  Augen  geben.  —  Unsere  Kenntnisse  über 
die  Ursachen  der  chronischen  Netzhautentzündung  müssen  als  noch  sehr 
mangelhaft  bezeichnet  werden.  Nur  Einiges  lässt  sich  mit  Sicherheit  an- 
geben. Retinitis  entwickelt  sich,  wie  schon  bemerkt  wurde,  bisweilen  nach 
Verletzungen.  Ebenso  nach  Blutaustretungen  in  oder  an  der  Retina,  sie 
mögen  wodurch  immer  veranlasst  sein.  Eine  häufige  Ursache  ist  die  Ein- 
wirkung intensiven  Lichtes,  momentan  wie  beim  Anblick  der  Sonne,  oder 
anhaltend  —  von  lichten  Flächen  oder  glänzenden  Objecten  reflectirt.  Den 
Beobachtungen  von  Ed.  Jäger  kann  ich  einen  mit  dem  Augenspiegel  un- 
tersuchten Fall  beifügen,  wo  nach  dem  Betrachten  der  Sonnenfinsterniss 
am  28.  Juli  1851  chronische  Retinitis  entstanden  war.  Coccius  und  Raete 
haben  einen  von  mir  früher  beobachteten  Fall  von  Retinitis  in  Folge  von 
Insolation  ophthalmoskopisch  untersucht  und  beschrieben.  *)  Weit  häufiger 
jedoch  führt  übermässige  Anstrengung  der  Sehkraft  bei  Betrachten  feiner 
Objecte  direct  oder  indirect  (mittelst  kleiner  Blutaustretungen)  zu  einem 
schleichenden  Exsudationsprocesse  in  der  Netzhaut,  namentlich  dann,  wenn 

*)  Coccius  über  die  Anwendung  des  Augenspiegels,  Leipzig  1853  S.  111.  Abgebildet  in  einer  Dissertation  von 
Erdmann  und  von  Ruete  Bildliche  Darstellung  der  Krankheiten  des  menschlichen  Auges,  1.  Band,  Seite  50. 
lab.  IV.  Fig.  3. 


i  28  Netzhaut. 

die  Beleuchtung  dabei  in  irgend  einer  der  oben  angegebenen  Beziehungen 
ungehörig  ist,  wenn  das  Auge  wegen  Fehler  in  den  durchsichtigen  Medien 
oder  im  Aecommodationsapparate  sich  relativ  mehr  anstrengen  muss,  wenn 
Blutandrang  zum  Kopfe  überhaupt  durch  fehlerhafte  Lebensweise  oder 
durch  Krankheiten  begünstigt  wird  (üppige  Nahrung,  geistige  Getränke, 
sitzende  Lebensweise,  u.  s.  w.) 

Die  weiter  unten  zu  schildernde  Kopiopie  oder  Asthenopie,  welche  in 
früherer  Zeit  als  Amblyopia  erethica,  in  neuerer  Zeit  jedoch  mit  Recht 
zunächst  als  Leiden  der  Accommodationsorgane  aufgefasst  und  beschrieben 
wurde,  kann  in  der  That  bei  Forcirung  der  Augen  zum  Arbeiten  allmälig 
zu  Hyperämie,  zu  Blutaustretungen  und  zu  wirklicher  Entzündung  der 
Netzhaut  führen.  Ob  die  Abnahme  des  Sehvermögens  bei  manchen  Fällen 
von  Morbus  Brighti  immer,  wie  in  dem  von  Türk  untersuchten  Falle, 
durch  Retinitis  bedingt  sei,  bedarf  noch  zahlreicherer  Beobachtungen. 

In  einem  von  mir  ophthalmoskopisch  untersuchten  Falle  war  es  wahrschein- 
lich, dass  Lues  den  Anstoss  zum  Exsudationsprocesse  in  der  Netzhaut  gegeben 
hatte.  Die  Ablagerung  tuberculöser  und  medullärer  Masse  in  die  Netzhaut  kann 
füglich  als  von  eigentlicher  Entzündung  verschieden  betrachtet  werden.  —  Es 
ist  nicht  zu  läugnen,  dass  viele  Fälle  von  Amblyopie  und  Amaurosis  vorkommen, 
welche  man  als  durch  Retinitis  bedingt  erklären  muss,  von  denen  sich  aber  die 
entferntere  Ursache  nicht  weiter  angeben  lässt,  wenn  man  sie  nicht  in  dem 
ersten  besten,  vom  Kranken  beschuldigten  Momente  anzunehmen  beliebt; 
ich  glaube  indess  nicht  zu  viel  zu  behaupten,  wenn  ich  sage,  dass  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  die  Retinitis  als  Folge  grellen  Lichteinflusses  und  fehler- 
haften Gebrauches  der  Augen  zu  betrachten  sei.  Was  mich  zu  diesem 
Ausspruche  bestimmt,  ist  das  bisherige  Resultat  meines  Krankenexamens. 
Nur  darf  man,  wenn  sich's  um  Constatirung  der  veranlassenden  Momente 
handelt,  nicht  ausser  Acht  lassen,  dass  man  bei  inveterirten  Fällen  und  bei 
ungebildeten  oder  unachtsamen  Leuten  selten  etwas  Verlässliches  über  die 
Momente  erfährt,  welche  vor  und  während  der  Entstehung  der  Krankheit, 
die  sich  eben  nur  allmälig  entwickelt,  zugegen  waren. 

Auch  rücksichtlich  der  Prognosis  können  vor  der  Hand  nur  einige 
Andeutungen  gegeben  werden.  Die  peripherische  Retinitis  ist  minder  un- 
günstig als  die  centrale ;  sie  bleibt  auf  die  Peripherie  beschränkt,  oder 
schreitet  doch  nur  sehr  langsam  vor.  Vor  einigen  Jahren  starb  hier  eine 
Dame  in  hohem  Alter,  welche  —  nach  dem  was  ich  erfuhr  —  höchst 
wahrscheinlich  an  diesem  Übel  gelitten:  ihre  Sehkraft  war  im  Verlauf  vie- 
ler Jahre   allmälig  bis    auf  eine    etwa    erbscnorosse    Stelle    des    Sehfeldes 


Entzündung  der  Nefzhant —  chronische.  129 

beim  Lesen  eingeschränkt  worden,  in  dieser  Ausdehnung  aber  gut  geblie- 
ben. Centrale  Aufhebung  der  Sehkraft  durch  Entzündung  der  Netzhaut  be- 
dingt sah  ich  noch  nie  in  völlige  Genesung  übergehen;  sie  greift  mehr 
weniger  rasch  um  sieh;  im  günstigsten  Falle  behalt  die  nächste  Umgebung 
und  Peripherie  einen  leidlichen  Grad  von  Sehkraft.  —  Man  muss  sich  sehr 
hüten,  die  Prognosis.  wenn  auch  nur  vielleicht  für  sich  im  Stillen  —  auf 
den  Befund  mit  dem  Augenspiegel  allein  zu  basiren.  Die  Sehslörung  sieht 
in  den  meisten  Fallen  gar  nicht  in  Proportion  zu  den  ophthalmoskopisch 
wahrnehmbaren  Nelzhautveränderungen.  Einmal  sind  bei  unbedeutender 
Amblyopie  beträchtliche,  wenn  gleich  disseminirte  (nicht  continuirliche)  Trü- 
bungen vorhanden,  wahrend  ein  andermal  bei  förmlicher  Amaurosis  ausser 
der  Hyperämie  kaum  einige  oder  nur  unbedeutende  Veränderungen  wahr- 
genommen werden  können,  welche  die  Diagnosis  Retinitis  im  Verein  mit 
andern  Momenten  stützen. 

Wo  nebst  Amblyopie  und  allenfalls  noch  einem  oder  dem  andern  sub- 
jeetiven  Symptome  bloss  Hyperämie  der  Netzhaut  vorhanden  ist,  lässt  sich 
wohl  eher  Besserung,  vielleicht  auch  Heilung  erwarten,  als  wo  bereits  mehr 
weniger  beträchtliche  Veränderungen  der  Netzhaut  sichtbar  sind.  Wichtige 
Aidialtspunkte  für  die  Prognosis  liefern  ferner  die  Dauer  der  Affection,  die 
Entstehungsweise,  die  disponirenden,  excitirenden  und  unterhaltenden  Mo- 
mente. Die  meisten  Kranken  wenden  sich  erst  in  einem  schon  viel  zu 
wreit  vorgerückten  Stadium  an  den  Arzt;  die  wenigsten  besitzen  die  ge- 
hörige Geduld  und  Ausdauer ;  viele  können  ihrer  Verhältnisse  wegen  beim 
besten  Willen  den  vorgeschriebenen  Bedingungen  nicht  nachkommen;  an- 
dere befinden  sich  bereits  in  einer  viel  zu  gedrückten  Gemülhsstimmung, 
welche  ihnen  so  zu  sagen  das  Blut  in  den  Adern  stocken  macht,  Mehr 
aus  diesen  Gründen,  als  an  und  für  sich  und  ihrer  selbst  wegen  scheint 
uns  die  Netzhautentzündung  im  Allgemeinen  eine  wenig  günstige  Prognosis 
zuzulassen. 

Bei  der  Behandlung  der  chronischen  Nefahautenlzündung  ist  vor  allem 
auf  entsprechende  Temperirung  des  Lichtes  und  auf  Enthaltung  der  Augen 
von  jeder  Anstrengung  zu  sehen.  Diese  Indication  ist  schon  durch  das 
analoge  Verfahren  bei  Pneumonie,  Gastritis  u.  s.  w.  gerechtfertigt,  Die 
Temperirung  des  Lichtes  erfordert  das  Vermeiden  stark  reflectirten  Lichtes, 
des  Ausgehens  bei  Sonnenschein  oder  auch  selbst  bei  hellem  Tageslichte, 
das  Tragen  hinreichend  grosser  blauer  Plangläser  u.  s.  w.  Am  wenigsten 
aufregend  wirkt  bekanntlich  das  Verweilen  des  Blickes  auf   matten,    grün 

Arli's  AueenheilliunHe  II,   2.  9 


130  Netzhaut. 

oder  blau  gefärbten  Objecten.     Sehproben,  womit  die  Kranken  sich  häufig 
zu  quälen  pflegen,  sind  nur    von    Zeit   zu    Zeit,    etwa   von  8  zu  8  Tagen 
und  vom  Arzte  vorzunehmen.  —  Positiv    nützlich    sind    lokale   Blutentzie- 
hungen an  der  Schläfe,  am  Zitzenfortsatze,  am  innern  Augenwinkel ,    mit- 
telst Blutegeln  oder  kleinen  Schröpfapparaten  (z.B.  von  Heurteloup),  nicht 
zu  reichlich  auf    einmal,    lieber    öfter  in  kurzen  Zwischenräumen  wieder- 
holt.    Nach  jeder  Blutentleerung   durch    einige    Stunden    kalte    Umschläge 
auf   die    geschlossenen    Augen,    stärkere    Verminderung    des   Lichtes  und 
stundenlange  Ruhe  des  Körpers,  daher  am  besten  einige  Stunden  vor  dem 
Schlafengehen.     Von  Zeit  zu  Zeit  blulige  Schröpfköpfe  längs  der   Wirbel- 
säule, Blutegel  am  Mittelfleische.     Kühlende  Abführmittel,  gelind  solvirende 
Mineralwässer,  kleine  Gaben  von  Tartarus  stibiatus,  bei    entsprechend    re- 
guürter  Diät  im  weitesten  Sinne  des  Wortes.  —  Reizende,  doch  nicht  er- 
hitzende   Fussbäder    mit    Senfmehl,    Kochsalz,    Lauge,    Aqua  regia.     Die 
Nützlichkeit  künstlicher  Geschwüre  am  Nacken  oder  Oberarme  scheint  mir 
wenigstens    noch    nicht    erwiesen    zu    sein.     Gegenreize    in  der  Nähe  des 
Auges  (Schläfe,  Stirn,  Bindehaut)    sind    gewiss    naehtheilig.    —    In  weiter 
vorgerückten  oder  harlnäc  kigen  Fällen  ist  es  völlig  gerechtfertigt,  die  Con- 
stitution unter  den  Einfluss  des    Quecksilbers    zu   setzen ,    Sublimat-    oder 
Inunctionscur,  Ziltmann'sches  Decoct.  —  Von  den  narkotischen  Mitteln,  zu 
deren  Anwendung  die  Empfindlichkeit   gegen    das   Licht   einladet,   möchte 
Belladonna  nur  mit  grösster  Vorsicht  anzuwenden  sein,    damit   nicht   etwa 
durch  Erweiterung  der  Pupille  die  Netzhaut  noch  mehr  dem  Leichteinflusse 
preisgegeben  werde,  eher  Conium  maculatum,  und  bei    gesteigerter   Herz- 
action  Digitalis  und  Aqua  laurocerasi.  —  Bei  der  dem  Auge  meistens  wohl- 
thuenden  Anwendung  kalter  Fomente  oder  einer  ganz    milden  und    feinen 
Regendouche  (Staubregen-Douche)  ist  die  gehörige  Vorsicht  bezüglich  der 
erregenden  Nachwirkung  nicht  ausser  Acht  zu  lassen.  —  Die   Anwendung 
erregender  Mittel,  sowohl  innerer  als  äusserer,    ist  auch  dann,    wenn    die 
Krankheit  bereits  unter  dem  Bilde  der  sogenannten  torpiden  Amaurose  fort- 
besteht, positiv  schädlich,    mindestens  unnütz.  Es  gilt  diess  wenigstens  vom 
Strychnin,  von   der   Pulsatilla,    vom    Phosphor,    von  der  Elektricität,    vom 
Ammonium,  von  den  Naphthen,  von  den  ätherischen  Ölen.  Diese  und  ähn- 
liche Mittel  dürften  ihre  Aufnahme  in  die  Therapie  gegen  Amaurosis  gröss- 
tenteils der  Annahme  verdanken,  dass  dieser  letztern  eine  Art  von  Schwäche 
oder  Lähmung  der  Netzhaut  zu  Grunde  liege.     Die    sorgfältige    Benützung 
des  Augenspiegels  wird  wohl  bald  im  Stande  sein,  den    alten    Schlendrian 
auszumerzen,    dass    man    bei   jeder    Amblyopie    gleich    mit    äussern  oder 


Entzündung  der  Netzhaut  —  chronische.  131 

selbst  innern  Reizmitteln  bei  der  Hand  ist.  —  Nach  einigen  Beobachtun- 
gen von  Ruele  (Bildliche  Darstellung  der  Krankheiten  etc.)  dürfte  nach 
vorausgeschickter  Antiphlogose  die  vorsichtige  Verabreichung  von  Eisen- 
oder Chinapräparaten  von  Autzen  sein.  In  einem  Falle  glaube  ich  durch 
die  nachträgliche  Anwendung  des  Elixir.  aeid.  Halleri  einige  Besserung 
erzielt  zu  haben.  —  Einreibungen  von  Jodkalium-  oder  Morcurial- 
salben  an  die  Stirn  und  Schläfe  sind  ,  wenn  auch  vielleicht  ohne 
Nutzen  (?),  doch  mindestens  nicht  schädlich,  ausser  sie  werden  zu  lange 
fortgesetzt. 

J.  N.,  50  Jahre  alt,  Tischler,  früher  angeblich  stets  gesund,  jetzt  aber  (durch 
Kummer  und  Nahrungssorgen  ?)  sehr  herabgekonnnen,  wurde  am  21.  December  1854 
als  erblindet  vorgeführt.  Blick  und  Haltung  eines  Amaurotischen,  Divergenz  der  Seh- 
achsen,  die  ziemlich  rein  schwarzen  Pupillen  weiter,  als  bei  gleicher  Beleuchtung  im 
normalen  Zustande.  Der  Mann  kann  nicht  mehr  allein  gehen.  Er  nimmt,  mit  dem 
Rücken  zum  Fenster  gewendet,  grössere  und  hellfarbige  Objecte,  z.  B.  die  Hand,  das 
Gesicht,  das  weisse  Halstuch  einer  vor  ihm  stehenden  Person  wahr  ;  dabei  bemerkt  man 
aber,  dass  er  nicht  die  Macula  lutea,  sondern  eine  seitlich  gelegene  Partie  dem  Objecte 
gegenüber  stellt.  Auf  dem  linken  Auge  ist  von  der  Sehkraft  nicht  viel  mehr  als  deut- 
liche Lichtempfindung  übrig.  Iris  lichtgraublau,  trag  beweglich ;  Pupillen  rund,  circa 
2 '/2 — 3'"  Durchmesser,  verengen  sich  beim  Blick  gegens  Fenster  höchstens  auf  2'". 
Auf  der  Sclera  einige  schiefergraue  Punkte  an  den  Eintrittsstellen  früher  erweiterter 
Ciliararterien.  —  Anfang  der  Sehstörung  vor  3'/2  Jahren.  Er  bemerkte  an  einem  hellen 
Fiühlingsmorgen  bei  einer  Militärparade,  dass  er  Personen  auf  höchstens  15 — 20  Schritte 
gut  erkennen  konnte,  auf  grössere  Distanz  aber  alle  Objecte  wie  durch  Nebel  sah.  In 
seiner  Arbeit  war  er  noch  nicht  gehindert ,  bloss  stärkeres  Licht  musste  er  meiden. 
Im  September  war  er  bereits  genöthigt,  einen  Arzt  zu  consultiren,  welcher  das  Übel 
für  beginnende  Cataracta  gehalten  zu  haben  scheint,  weil  er  ihm  nichts  ordinirte,  und 
ihn  im  Frühlinge  wieder  kommen  hiess.  Allniälig  erstreckte  sich  die  Trübung  auch  auf 
das  Erkennen  naher  Objecte,  so  dass  er  nur  gröbere  Arbeiten  verrichten  konnte.  An 
trüben  Tagen  sah  er  besser,  als  wenn  die  Sonne  schien.  Im  nächsten  Frühlinge  (1853) 
war  jedoch  diese  Verschlimmerung  wieder  zurückgegangen,  so  dass  er  jenen  Arzt  erst 
im  Herbtte  aufsuchte,  als  das  Übel  neuerdings  ärger  geworden  war.  und  zwar  ärger 
als  im  Herbste  1852.  Er  konnte  nur  bloss  bei  Tageslicht  noch  etwas  arbeiten,  und 
bemerkte  besonders  Morgens  beim  Erwachen  Funkensehen,  welches  immer  einige  Mi- 
nuten andauerte,  ausserdem  auch  beim  Husten,  Niesen,  Lastenheben  u.  dgl.  hervor- 
gerufen wurde.  Manchmal  kam  es  ihm  vor,  als  senkten  sich  glühende  Sägespäne  vor 
seinen  Augen  in  der  Luft  herab.  Allmälig  war  es  so  weit  gekommen,  dass  er  ;ille 
Arbeit  aufgeben  musste,  ja  dass  er  endlich  (im  Sommer  1854)  nur  nach  Sonnenuntergang 
noch  allein  auszugehen  was;te.  Nun  hatte  sich  nebst  der  Photopsie  auch  das  Vor- 
schweben dunkler  Flecke  und  Streifen  oder  Wolken  eingestellt,  und  er  sah  jetzt  an 
hellen  Tagen  besser,  als  an  trüben,  nur  durften  die  Objecte  nicht  von  der  Sonne  be- 
schienen   und   nicht   glänzend    sein,   weil    ihm   sonst   die   Augen    leicht    übergingen    und 

9* 


132  Netzhaut. 

schmerzten.  Lichte  Gegenstände  schienen  ihm  mit  einem  Spinnengewebe  überzogen  zu 
sein.  —  Diagnosis  mich  diesen  'Erhebungen  allein  :  Amblyopie,  höchst  wahrscheinlich 
Retinitis  chronica.  Die  Untersuchung  mit  dem  Augenspiegel  bestätigte  diese  Annahme' 
Die  durchsichtigen  Siedien  normal.  Die  Sehnervenpapille  nicht  scharf  begrenzt,  mit 
verwaschenen  Rändern,  schmutzig  röthlich;  in  der  nächsten  Umgebung  einige  Gefäss- 
zweigehen  durch  graubraune  Trübungen  unterbrochen,  die  Gegend  der  Macula  lutea 
licht-    und    schwarzgrau    marmorirt.  Kein    ätiologisches    Moment    mit    Bestimmtheit  zu 

ermitteln.  Der  Kranke  will  früher  stark  an  Fussschweissen  gelitten  haben,  die  olm- 
gelahr  seit  eben  so  langer  Zeit  nachgelassen  haben  sollen.  Anfangs  Blutegel  an  die 
Schläfe  und  innerlich  Tart.  stibiatus  refr.  dosi,  und  durch  längere  Zeit  die  Füsse  in 
trockne  warme  Tücher  und  in  Wachstaffet  eingehüllt,  dann  Veratrinsalbe  an  die  Stirn 
und  Schläfe  eingerieben.  Nicht  eine  Spur  von  Besserung.  Mitte  Jänner  Sublimatcur 
nach  Dzondi.  Als  der  Kranke  bis  auf  12  Pillen  des  Tages  gestiegen  war,  erfolgte  Ab- 
nahme der  Photopsie,  Zunahme  des  Gesichtes ;  er  konnte  bereits  die  vorgehaltenen 
Finger  in  grösserer/ Distanz  gut  zählen.  Die  nun  wieder  mehr  hervortretende  Empfind- 
lichkeil gegen  das  Licht  machte  das  Tragen  blauer  Brillen  räthlich.  Bei  der  Anwendung 
von  lauen  Bädern  nach  beendeter  Cur  trat  wieder  Verschlimmerung  ein,  wesshalb  nach 
einiger  Zeit  dieselbe  Cur  noch  einmal  wiederholt  wurde.  Die  jetzt  eintretende  Besserung 
ging  so  weit,  dass  der  Mann  selbst  die  Zeiger  einer  kleinen  Taschenuhr  richtig-  angeben, 
und  die  mit  Kreide  auf  schwarze  Tafeln  geschriebenen  Buchstaben  auf  10—12  Schritte 
erkennen  konnte.  Nun  wurde  noch  durch  einige  Zeit  ein  Decoctum  chinae  bei  guter 
Kost  verabreicht,  zuletzt  wegen  noch  immer  anhaltender  Empfindlichkeit  gegen  stärkeres 
Licht  Conium  maculatum.  Mitte  April  verliess  der  Kranke  die  Anstalt.  Anfangs  Juni 
(1855)  besuchte  er  die  Anstalt  wieder,  uns  zu  zeigen,  dass  die  erzielte  Besserung  In- 
stand habe.  Auffallend  und  mir  unerklärlich  war,  dass  er  im  Allgemeinen  entfelntere 
Gegenstände  besser  erkannte,  als  nahe.  Versuche  mit  Convexgläsern  habe  ich  leider 
nicht  angestellt.  Etwas  Ähnliches  bemerkte  ich  auch  bei  G.  K.,  dessen  Krankengeschichte 
oben  bei  der  Nyktalopie  (S.  114)  mitgetheilt  wurde,  als  er  mich  Ende  Juli  1855  besuchte. 
Er  war  in  Bezug  auf  das  Erkennen  sehr  ferner  Objecte  mit  seinem  Sehvermögen  fast 
vollkommen  zufrieden,  nur  Physiognomien  von  mehr  als  5 — 6  Sehritte  entfernten  Perso- 
nen vermochte  er  noch  nicht  auszunehmen. 

Folgende  2  Beobachtungen  sind  aus  Puiete's  letzt  citirtem  Werke  entlehnt  :  „Ein 
zart  gebautes,  etwas  chlorotisehes  Mädchen  von  21  Jahren,  welches  sich  mit  Weissnähen 
ernährte,  hatte  ohne  nachweissbare  Schädlichkeit,  ohne  Schmeszen  und  sonstige  Er- 
scheinungen zuerst  am  linken  und  später  auch  am  rechten  Auge  eine  Abnahme  des 
Sehvermögens  verspürt,  die  es  ihr  unmöglich  machte,  ihr  Geschäft  fortzusetzen.  Das  Auge 
zeigte  nichts  Abnormes,  die  Pupille  war  normal  und  vollkommen  beweglich  beim  Lichtreize. 
Bei  der  Untersuchung  des  linken  Auges  mit  dem  Spiegel  bei  erweiterter  Pupille  sah 
man  die  Sehnervenpapille  gesund,  die  Retina  aber  in  ihrem  ganzen  Umfange  getrübt, 
daher  die  Centra  Ige  fasse  etwas  verschleiert.  Nebst  passender  Diät  einige  Schröpfköpfe 
an  die  Schläfe  und  innerlich  Tart.  tarlaris.  mit  Extr.  taraxaei.  Nachdem  die  Kranke  dieses 
Mittel  etwa  8  Tage  genommen  hatte,  wurden  14  Tage  hindurch  Einreibungen  von  Jod- 
kalisalbe in  die  Umgegend  der  Augen  gemach!  und  innerlich  Jodkali  gegeben.  Unter 
der     Einwirkung    dieser     Mittel     besserte    sich     das    Sehvermögen  .    ohne    dass    die    Trü- 


Apoplexie  der  Netzhaut.  133 

bung  der  Retina,  welche  mit  dem  Augenspiegel  zu  verschiedenen  -Zeiten  unter- 
sucht wurde,  sich  vermindert  hatte.  Didier  winde  jetzt  zum  Gebrauche  des  Eisens 
geschritten  ,  nach  dessen  längerer  Anwendung  sieh  das  Sehvermögen  bedeutend  ver- 
besserte, aber  die  Retina  niehl  wieder  aufgehellt  wurde.  „Ahnliche  Zustände  habe 
ich  (Ruetc)  sehr  häufig  beobachtet  und  dabei  leider  die  Erfahrung  gemacht,  dass  selten 
eine  bleibende  Heilung  zu  erzielen  ist.  Gar  häufig  erfolgen  nämlich,  meistens  ohne 
besondere  auffallende  Schädlichkeiten,  lleeidive,  die  dann  immer  schlimmer  sind,  als  der 
erste  Anfall." 

„Ein  3S  Jahre  alter  Schriftsetzer  behauptete  seit  einigen  Wochen  eine  bedeutende 
Abnahme  seines  Sehvermögens  des  linken  Auges,  ohne  dass  er  davon  eine  besondere 
Ursache  anzugeben  vermochte,  bemerkt  zu  haben.  Auch  uns  war  es  unmöglich,  bei  dem 
anscheinend  guten  Gesundheitszustande  des  Kranken  eine  ausreichende  constitutionelle 
Ursache  aufzufinden.  Das  Ansehen  des  Auges  war,  bis  auf  eine  geringe  Erweiterung 
und  Trägheit  der  Pupille  und  rauchige  Farbe  des  Augenhintergrundes,  vollkommen 
normal.  Bei  der  Untersuchung  mit  dem  Augenspiegel  fand  sich  die  Retina  stark  nebel- 
förmig  getrübt,  so  dass  sie  die  Gentralgefässe  etwas  umschleierte ;  die  Papilla';"  nervi 
optici  war  verhältnissmässig  gross,  hatte  ganz  in  der  Mitte  einen  schwarzen  Fleck,  auf 
diesen  folgte  eine  kleine  weisse  Scheibe,  auf  diese  ein  breiter  grauröthlicher  Ring,  der 
an  der  äussern  Grenze  von  einem  weissen  Ringe  eingeschlossen  wurde ;  die  Gentral- 
gefässe verzweigten  sich  in  der  Peripherie  sehr  frühzeitig  mit  zahlreichen  Ästen.  Die 
Diagnose  wurde  auf  Retinitis  gestellt,  in  der  Mitte  des  Sehnerven  mit  einem  etwas  ver- 
alteten kleinen  Blutextravasate,  und  mit  einem  entzündlichen  Exsudate  in  der  Substanz 
des  Nerv,  opticus,  wovon  der  graurothe  Ring  abzuleiten  war.  Eine  strenge  Antiphlogose 
mit  der  entsprechenden  Diät,  zur  Nachcur  Chinin  und  Eisen  stellten  den  Kranken  in 
wenigen  Wochen  vollkommen  wieder  her,  wobei  auch  der  graurothe  Ring  fast  ganz 
verschwand  " 

5.  Amblyopie  (Amaurosis)  in  Folge  von  Netzhatitbluturig, 
Apoplexia  retinae.  Die  Retinalupoplexie  tritt  nach  Verletzungen,  nach 
Blendung  und  übermässiger  Anstrengung  der  Augen,  aber  auch  ohne 
diese  und  überhaupt  ohne  bestimmt  nachweisbare  Ursachen  auf.  Ich  beob- 
achtete sie  öfter  an  kurzsichtigen  Augen.  Ob  Rigidität  der  Arterien  dazu 
besonders  disponire,  konnte  ich  nicht  eruiren,  obgleich  sich  dieses  Leiden 
in  einigen  Fällen  als  gleichzeitig  vorhanden  constatiren  Hess.  Mecha- 
nische Hyperämie  und  Blutaustretung  in  der  Netzhaut  kommt  auch  bei 
Krankheüen  in  der  Schädelhöhle  vor,  wenn  der  Rücklluss  des  Blutes  durch 
die  Vena  ophlhalmica  erschwert  ist,  wovon  später.  —  Bei  einem  Knaben 
von  etwa  14  Jahren,  welcher  in  Folge  schlechter  und  unzureichender 
Nahrung  sehr  herabgekommen  und  an  zahlreichen  Stellen  der  Körper- 
oberfläche mit  kleinen  Ecchymosen  bedeckt  war,  fand  ich  auch  an  den 
Netzhäuten  viele  kleine  Blutaustretungen,  welche  ich  als  Ursache  der  sehr 
weit  vorgeschrittenen  Amblyopie  betrachten  mtisste,  um  so  mehr ,    als  die 


134  Netzhaut. 

Sehstörürig  und  das  Allgemeinleiden  nach  dem  Gebrauche  von  China  mit 
Elixir.  acid.  Hallcri  bei  besserer  Kost  in  Zeit  von  einigen  Wochen  fast 
ganz  behoben  wurde.  Überhaupt  kann  über  das  Auftreten  der  Retinal- 
apoplexie  im  Allgemeinen  dasselbe  gesagt  werden,  wie  über  Choiioidal- 
blutungen  und  über  Blutergüsse  im  Glaskörper.  *) 

Blutaustretungen  in  der  Netzhaut  verursachen  Sehstörung  entweder 
an  und  für  sich,  durch  die  Grösse,  Lage  oder  Zahl  der  Herde,  oder 
aber  durch  die  nachfolgende  Reaction.  Die  Sehstörung  kann  demnach 
fehlen  oder  relativ  gering  sein ;  sie  kann  plötzlich  —  wie  mit  einem 
Schlage,  —  aber  auch  allmalig  mehr  und  mehr  hervortreten.  Plötzlich 
auftretende  Sehstörung  erregt  stets  Verdacht  auf  Apoplexie  im  Auge  oder 
in  den  Centralorganen.  Kleine  Extravasate  stören  das  Gesicht  an  und 
für  sich  nur  dann,  wenn  sie  in  oder  nahe  an  dem  Centrum  der  Netzhaut 
auftreten;  peripherische  werden  erst  bei  grösserer  Ausdehnung  nach- 
theilig. Was  solche  Blutungen  bedenklich  macht,  ist  theils  die  Wieder- 
kehr an  verschiedenen  Stellen,  zu  verschiedenen  Zeiten,  selbst  ohne  weitere 
äussere  Veranlassung,  theils  die  reactive  Entzündung  in  mehr  weniger 
grosser  Ausdehnung. 

Rücksichtlich  der  Behandlung  können  wir  füglich  auf  das  über  Blut- 
ergüsse in  den  Glaskörper  Gesagte  (2.  Bd.  S.  132  und  3.  Bd.  S.  1 0 j 
verweisen. 

Folgende  Beobachtung  von  Ruete  (bildl.  Darst.)  mag  als  Beispiel  dienen :  „Ein 
Schriftsetzer  von  36  Jahren,  etwas  hagerer  Constitution  und  von  blassem  Aussehen,  be- 
hauptete, in  einer  Nacht  plötzlich  mit  dem  linken  Auge  fast  erblindet  zu  sein,  nachdem 
er  in  Folge  einer  heftigen  Gemüthsbewegung  an  Kopfschmerz  und  etwas  Schwindel  ge- 
litten hatte.  Bei  der  Untersuchung  zeigte  sich  die  Pupille  etwas  erweitert  und  träge  ; 
die  Farbe  des  Augenhintergrundes  aber  und  die  übrigen  Gewebe  des  Auges,  selbst  die 
Blutgefässe  der  Conjunctiva  boten  nichts  vom  gesunden  Zustande  Abweichendes  dar; 
auch  hatte  der  Kranke  durchaus  nicht  an  subjeetiven  Licht-  und  Farbenerscheimingen 
gelitten,  sondern  klagte  nur  über  einen  dicken  schwarzen  Nebel  vor  dem  Auge,  der  ihn 
verhinderte,  auch  selbst  helle  grosse  Gegenstände  deutlich  zu  sehen.  Bei  der  Unter- 
suchung mit  dem  Augenspiegel  zeigten  sich  die  brechenden  Medien  normal,  eben  so  der 
N.  opticus  und  die  dort  hervortretenden  Centralgefässe.  In  einiger  Entfernung  aber  von 
diesem,  namentlich  in  der  Gegend  des  direeten  Sehens  lagen  im  Niveau  der  Retina  eine 
grosse  Zahl  kleiner,  unregelmässig  begrenzter  rother  Flecken,    unter  denen    in  der    Mitte 


')  liei    Amblyopie    unil    Amaurosis  nach  heftigem  Zorne  oder  Schrecken,    wovon    bei  altern  Schriftstellern   Beobach- 
tungen  nullit   sin   ,   durfte   wohl   Blutaustretnng   im   Auge   oier  auch  im   Gehirne   zu   Grunde   liegen.      In   einem    ton 

Rosina    nutuetheilten     Falle    fand    man    im    srossen    Gehirn    lahlteiche    Bluipunkte  i   Erweichung  des  kleinen 

Gehirnes 


Apoplexie   der  Netzhaut.  135 

ein  verhältnissmässig  grosser  und  dunkler  Fleck  zu  sehen  war.  Nach  ol>en  hin  verlief 
noch  ein  dunkles  Gefiiss,  dessen  feinere  Aste  von  den  Flecken  bedeckt  wurden.  Es 
unterlag  keinem  Zweifel,  dass  man  hier  eine  frisch  entstandene  Capillarapoplcxie  in  der 
Netzhaut  vor  sich  hatte.  Zur  Beseitigung  des  Ühels  wurden  Schröpf  köpfe,  halte  Über- 
schläge, kühlende  Abführungsmittel,  Schonung  der  Augen,  geistige  und  körperliche  Ruhe 
und  eine  massige  Diät  anempfohlen.  Unter  dieser  Behandlung  hesserte  sich  das  Seh- 
vermögen allmälig.  und  als  das  Auge  nach  2  Monaten  von  mir  wieder  untersucht  wurde, 
waren  die  rothen  Flecken  fast  ganz  verschwunden.  Jetzt  wurden  zur  Nachcur  Martialia 
empfohlen,  unter  deren  Einwirkung  das  Sehvermögen  beinahe  ganz  wieder  hergestellt 
ist."  „Derartige  feine  apoplektische  Ergüsse  könnten    bei  oberflächlicher  Bet  achtung 

allenfalls  mit  einer  Capillarhyperämie  verwechselt  werden.  Berücksichtigt  man  aber,  be- 
sonders bei  Anwendung  stärkerer  Vergrösserungen,  den  Gefässcharakter  der  letzteren, 
so  wird  ein  solcher  Fehler  in    der  Diagnose  nicht  so  leicht  vorkommen." 

Dass  Hämorrhagie  der  Netzhaut  und  die  hiedurch  zunächst  bedingte  Erblindung, 
welche  man  nach  dem  Augenspiegelbefunde  für  eine  peripherische  halten  möchte,  auch 
durch  ein  Leiden  der  Centralorgane,  und  zwar  durch  Druck  auf  die  Hirnblutleiter  bedingt, 
sein  könne,  hat  Dr.  Türh  *  durch  eine  eben  so  sorgfältige  und  verlässliche,  als  anato- 
misch wichtige  und  interessante    Beobachtung  nachgewiesen. 

Eine  37jährige  Kranke,  welche  in  den  letzten  10 — 11  Monaten  amaurotisch  gewe- 
sen war,  starb  in  Folge  einer  etwas  mehr  als  wallnussgrossen  Krebsgeschwulst  an  der 
obern  Fläche  des  linken  Vorderlappens  vom  grossen  Gehirn.  Die  Geschwulst  hatte,  ins- 
besondere auch  durch  consecutive  Schwellung  des  Gehirnes,  einen  vorwaltend  linkerseits 
tiefgreifenden  Detritus  der  innern  Schädelfläche  bewirkt.  Der  Druck,  den  die  Sehnerven, 
namentlich  das  Chiasma,  an  der  Schädelbasis  erlitten,  musste  als  Ursache  der  Amaurosis 
angenommen  werden.  Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Sehnerven  zeigte  dieselben 
Veränderungen,  wie  in  andern  Fällen,  wo  dieselben  gleichfalls  eine  Compression  erlitten 
hatten.  (Grosse  Körnchenzellen  im  Chiasma,  von  da  gegen  die  Netzhaut  hin  allmälig 
an  Zahl  gering,  rückwärts  dagegen  bis  zum  Corpus  geniculatum  sehr  zahlreich.)  In  der 
Netzhaut  beider  Augen  fand  T.  sehr  zahlreiche,  kleine,  hellrothe  Blutextravasate  von  der 
Grösse  der  kleinsten,  dem  freien  Auge  noch  wahrnehmbaren  Punkte  bis  zu  der  eines 
Hirsekornes.  Diese  Extravasate  fanden  sich  am  vordem  Abschnitte  der  Retina  bedeu- 
tend zahlreicher  und  grösser  als  am  hintern,  und  im  linken  Auge  an  Jrösse  und  Zahl 
überwiegend  über  jene  des  rechten.  Die  Gefässe  der  Netzhaut  waren  kaum  blutreicher 
als  gewöhnlich;  wenige  derselben  iu  einer  kurzen  Strecke  zu  beiden  Seiten  von  kleinen 
Blutpunkten  umgeben.  Die  Stäbchenschicht  war  verschwunden,  die  Körnerschicht  noch 
ziemlich  deutlich.  Neubildungen  zeigten  sich  nirgends.  In  der  Chorioidea  war  nach 
Entfernung  der  Retina  keine  Spur  von  Extravasat,  auch  beim  ungewöhnlichen  Blut- 
reichthuni  wahrnehmbar.  Linse  und  Glaskörper  normal.  Dieser  Hämorrhagie  lag  weder 
ein  dyskrasischer  Process,  Scorbut  u.  dgl.,  noch  Entzündung,  noch  atheromatöse  Erkran- 
kung der  Netzhautgefässe,  welche  bekanntlich  in  andern  Geweben  nicht  selten  Veran- 
lassung   zur    Blutung    gibt,    zu    Grunde,    und    T.    kommt    so  zu    dem  Schlusse,    dass  der 


')  ZeUselir.    d.  Wiener  Ante,    1Ö53,  Nr.  3.      Prag.  Vierteljalirschr.    B     39. 


136  Netzhaut. 

erschwerte  Rückiluss  des  venösen  Blutes  von  der  Retina  zum  Gehirn  d;is  veranlassen  de 
Moment  war.  Denn  durch  den  Druck  der  Aftermasse  war  die  Sattellehne  grösslentiteü' 
xersiürt,  dadurch  «las  Band  niedergedrückt,  welches  die  AusführungssteUe  des  Sinus 
petrosus  superior  in  den  Sinus  basilaris  brückenartig  überwölbt,  mithin  den  Rückfluss 
des  Blutes  behindert  oder   erschwert. 

Ich  war  voriges  .Jahr  nicht  wenig  überrascht,  in  einem  Falle  completer  Amaurosis 
bei  einem  Mädchen  von  22  Jahren  die  Netzhäute  von  zahlreichen  kleinen  Ecchyinosen 
durchsetzt  zu  linden  (mit  dein  Augenspiegel),  nachdem  die  Erhebung  des  Status  praesens 
und  der  Anamnesis  zur  Diagnbsis  eines  Centralleidens  mit  Druck  wahrscheinlich  Me- 
ningitis ad  basin  cerebri  —  geführt  hatte.  Ich  erwähne  dieses  Falles  nur,  um  die  Be- 
merkung zu  machen,  dass  der  ophthalmoskopische  Befund,  wenn  er  auf  Hyperämie, 
Apoplexie  oder  Entzündung  der  Netzhaut  deutet,  an  und  für  sich  noch  nicht  zu  dem 
Schlüsse  berechtigt,  man  habe  es  mit  einer  peripherischen  Amaurosis  zu  thun  ;  das 
peripherische  Leiden  kann  eben  Folge  eines  centralen  sein.  Es  dürfte  diese  Bemerkung 
besonders  für  jene  riothwendig  sein,  welche  die  ophtha Imos  ;opische  Untersuchung,  wo 
nicht  überschätzen,  doch  dem  anderweitigen  Examen  vorausschicken  und  eben  desshalb 
leicht  davon  präoecupirt  werden. 

6.  Amblyopie  (Amaurosis)  in  Folge  von  Verkiiltiing — Amb'yopia 
rheumatica.  Wenn  in  Folge  von  Verkantung  Trübung  oder  .Verlust  des 
Sehvermögens  auftritt,  und  nach  dem  Ensemble  der  Erscheinungen  blo.-s 
auf  ein  Leiden  des  Auges ,  in  specie  der  Netzhaut  geschlossen  werden 
kann,  so  ist  allerdings  a  priori  nicht  in  Abrede  zu  stellen,  dass  die  Af- 
fection  auch  auf  die  Net '.haut  allein  beschränkt  sein  könne,  und  es  lassen 
sich  Gründe  für  die  Annahme  anführen,  dass  dieselbe  in  Hyperämie  und 
seröser  Durchleuchtung  oder  Ausschwitzung  bestehe;  es  wird  indess  aus 
der  Zusammenhaltung  hieher  gehörender  Beobachtungen,  namentlich  aus 
dem  Verlaufe  und  den  Ausgängen  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  Chorioidea 
jederzeit,  wenn  nicht  vorwaltend?  so  doch  gleichzeitig  mitergriffen  sei. 
Desshalb  habe  ich  die  Atlection  als  Chorioiditis  rheumatica  im  2.  Bande 
S.  218  geschildert,  und  füi>e  nur  noch  hinzu,  dass  dieses  Leiden  eine 
nicht  seltene  Quelle  der  gleichfalls  schon  geschilderten  Netzhautablösung 
(III.  B.  S.  119)  bildet.  —  In  andern  Fällen  dagegen  liegt  der  durch  Yer- 
kältung  veranlassten  Erblindung  ein  krankhafter  Process  nicht  am  Bulbus, 
sondern  in  der  Schädelhöhle  zu  Grunde.  Es  nutss  hier  ausdrücklich  be- 
merkt werden,  dass  bei  rein  peripherischer  rheumatischer  Amblyopie 
nicht  selten  Lähmung  des  Levator  palpebrae  sup.,  des  Muse,  rectus  exler- 
nus,  irgend  eines  oder  mehrerer  anderer  Augenmuskel  und  davon  ab- 
hängig: Doppeltsehen  ,  Schwindel,  Eingenommenheit  des  Kopfes,  Üblig- 
keiten  vorhanden  sein,  und  den  minder  geübten  und  minder  aufmerk- 
samen Beobachter  leicht  zur  Annahme    eines    centralen    Leidens    verleiten 


Retiialanibivopie  von —  Verkaltuiii;  —  Cynteubildung.     137 

können.  Ist  der  Schwindel  bloss  vom  Doppeltsehen  abhängig',  so  ver- 
schwindet er  sammt  den  Brechneigung  heim  Verbinden  des  afficirten  Auges. 
Ist  bloss  der  Levator  palpebrae  gelahmt,  so  ist  die  Afiection  als  periphe- 
risch anzusehen.  Ebenso  spricht  Ödem  des  Lides  oder  der  Conjunctiva 
bulbi,  stärkere  Injection  der  Ciliargefässe  u.  dgl.  für  bloss  peripherische 
Afiection.  Wenig  verlässlich,  wenn  auch  immer  beachtenswerlh,  dürfte 
der  Umstand  sein,  ob  die  Verkühlung  eine  rein  locale  oder  eine  allge- 
meine war. 

7.  Cystenbildung  in  der  Netzhaut.  Dr.  von  Gi*aefe*)  hat  vier 
Fälle  von  Cysticercus  der  Netzhaut  beobachtet.  Es  wird  genügen,  eine 
dieser  exäeten  Beobachtungen  hier  auszugsweise  aufzunehmen. 

Fine  Fnm,  28  Jahre  alt,  von  gesundem  Aussehen,  ohne  Cfstic.erk.en  an  der  Körper- 
oberflache und  ohne  Bandwurmbeschwerden  (welche  in  einem  andern  Falle  vorhanden 
waren),  hatte  3  Wochen  vor  ihrem  Erscheinen  auf  Grafts  Klinik  einen  Nebel  vor  dem 
linken  Auge  bemerkt,  welcher  zuerst  den  mittlem  Theil  des  Gesichtsfeldes  einnahm,  und 
sich  dann  allmälig  nach  den  Seiten  ausbreitete.  Unter  dem  Ophthalmoskop  zeigten  sich 
Linse  und  Glaskörper  klar,  aber,  den  mittlem  Theil  der  Netzhaut  bedeckend,  erschien  ein 
glänzend  grüner  Körper,  welcher  mit  einem  überall  nach  aussen  convexen  kreisrunden 
Grenzrande  gegen  die  benachbarte,  vollkommen  gesunde  Netzhaut  scharf  abschnitt.  Bei- 
der Untersuchung  im  umgekehrten  Bilde  zeigte  sich  derselbe  als  eine  vollkommen  runde, 
grünliche  Blase,  im  Durchmesser  etwa  4mal  so  gross,  als  der  Sehnerveneintritt,  der 
Netzhaut  fest  aufsitzend,  und  mit  der  vordem  Wand  in  den  Glaskörper  hineinragend.  Aus 
den  unigebenden  normalen  Netzhautpartien  zogen  sich  einige  spitzenförmig  endigende 
Gefässe  auf  die  seitlichen  Theile  der  Blase  in  die  Höhe.  In  der  Mitte  der  vordem  Wand 
gewahrte  man  einen  mehr  undurchsichtigen  und  weissen  knopfartigen  Appendix.  Derselbe 
sprang  mehr  als  die  übrigen  Theile  der  vordem  Wand  in  das  Innere  des  Auges  hervor, 
obwohl  der  Grad  dieses  Hervortretens  in  verschiedenen  Momenten  der  Beobachtung  etwas 
variirte.  Ebenso  konnte  einige  Verschiebung  des  Knopfes  an  der  Blase  selbst  deutlich 
nachgewiesen  werden,  vom  Centrum  der  Blase  nach  der  Seite  hin.  Ich  bemühte  mich 
vergeblich,  einzelne  Theile  von  dem  Knopfe  oder  wo  möglich  einen  denselben  tragenden 
Halstheil  zu  entdecken ,  und  konnte  desshalb  zu  keinem  positiven  Resultate  gelangen, 
weil  das  Bild  überhaupt  wie  leicht  verschleiert  erschien,  ein  Anblick,  welcher  mich  im 
Verein  mit  dem  Vorhandensein  der  oben  geschilderten  aufsteigenden  Gelassäste  zu  der 
Überzeugung  brachte,  dass  die  ganze  Blase  noch  mit  einer  feinen  Umhüllungsmembrart 
bekleidet  sei,  was  sich  später  noch  klarer  herausstellte  und  auch  in  andern  Fällen 
beobachtet  wurde.  Bei  vollständig  fixirter  Sehachse  sah  ich  an  einzelnen,  oft  gleichzeitig  an 
mehreren  Theilen  der  Blase  Abflachungen  oder  napfförmige  Vertiefungen  entstehen,  welche 
die  im  Ruhezustand  sphärische  Form  mannigfach  veränderten  — Drei  Wochen  später  halte 
sich  die  Blase  ungefähr    '/3   diametral  vergrössert.       Der    Knopf  sass  jetzt    nicht  mehr  im 

*>  Archiv   für  Ophthalmologie     1.  B.  1    Ahth.   S.  457  u.  2.  Aöth.  S.   3^6. 


138  Netzhaut. 

Centrum,  sondern  dicht  unter  dem  obern  Rande ,  und  zwar  inmitten  eines  blasigen  Vor- 
sprunges ,  welcher  wie  eine  zweite  kleinere  Blase  aus  der  frühem  hervorgewachsen  zu 
sein  schien.  Der  Kopf  des  Entozoon  war  also  durch  die  Umhüllungsmembran  heraus- 
getreten, und  man  erkannte  an  ihm  jetzt  nicht  allein  deutliche  seitliche  Anschwellungen, 
sondern  auch  den  früher  vermissten  Halstheil,  welcher  bald  gestreckt,  bald  eingezogen 
wurde.  Das  Sehen  war  jetzt  bis  auf  einen  schwachen  Lichtschein  nach  aussen  und  unten 
erloschen.  —  Zehn  Wochen  später  hatte  die  Blase  ihr  grünliches  Aussehen  verloren  und 
war  stärker  durchscheinend ,  die  Gefässe  waren  zum  Theil  spurlos  verschwunden.  Da- 
gegen war  der  blasenförmige  Appendix  vergrössert,  so  dass  er  ungefähr  das  Volumen 
der  ursprünglichen  Blase  erreicht  hatte,  eine  grünliche  Farbe  darbot  und  von  der  frühern 
Blase  durch  eine  Einschnürung  abgegrenzt  erschien.  —  Fünf  Monate  nach  der  1.  Beob- 
achtung war  die  erste  Blase  vollständig  zerfallen,  und  sah  man  an  deren  Stelle  nur  eine 
faltige,  auf-  und  abschwankende,  durchscheinende  Membran  ohne  bestimmte  Contouren. 
Auch  die  zweitentwickelte  Blase  war  mit  ähnlichen  Membranen  bedeckt.  Trotzdem  war 
das  Thier  nicht  abgestorben;  der  Kopf  mit  dem  Halstheil  lag  jetzt  ganz  gegen  die  Nase 
zu,  so  dass  man  die  Kranke  stark  nach  rechts  blicken  lassen  musste  ,  um  ihn  zu  sehen. 
—  Von  dem  ursprünglich  projeetirten  Einstiche  durch  die  Sclera  stand  Gräfe  später  ab,  weil 
das  Sehvermögen  nicht  zu  retten  war.  Die  örtliche  Anwendung  von  wnrmwidrigen 
Mitteln  (Einträuflungen  von  filicinsaurem  Kali,  4  Gran  auf  1  Unze,  später  von  einem 
Santoninpräparate)  hatte  selbst  nach  monatelanger  Fortsetzung  keinen  Erfolg  auf  die 
Tödtung  des  Thieres.  Der  Wurm  zeigte  sich  noch  8  Monate  nach  der  1 .  Beobachtung 
lebendig. 

8.  Amaurosis  von  Markschwammablagerung  in  der  Netz- 
haut. Die  primitive  Ablagerung  von  Krebs,  und  zwar  als  Medullar-Carcinom 
oder  als  Melanose  in  der  Netzhaut  ist  durch  genaue  Leichenuntersuchungen 
nachgewiesen.  Der  Ausgangspunkt  ist  bald  die  flache  Ausbreitung  in  mehr 
weniger  grosser  Ausdehnung,  bald  die  Papille  des  Sehnervens;  in 
mehreren  Fällen  wurde  gleichzeitig  Ablagerung  im  Stamme  der  Seh- 
nerven gefunden. 

Die  Ablagerung  erfolgt  in  den  meisten  Fällen  ganz  unvermerkt,  in 
andern  nach  leichten  Irritationszufällen  am  Bulbus.  Die  Abnahme  der  Seh- 
kraft, obwohl  der  Natur  der  Sache  nach  einer  der  ersten  Zufälle,  wird 
desshalb  meistens  erst  bei  zimlicher  Ausbreitung  des  Übels  wahrgenommen. 
Die  an  die  Ablagerung  gebundene  Sehstörung  kann  eine  Zeit  lang  auch 
bloss  auf  einen  Theil  der  Netzhaut  beschränkt  sein,  daber  z.  B.  auch  als 
Hemiopie  auftreten,  wie  ich  es  in  einem  Falle  bestimmt  beobachtet  habe. 
Dagegen  machen  sich  der  Umgebung  des  Kranken,  namentlich  bei  Kindern, 
die  bekanntlich  am  häufigsten  davon  befallen  werden,  zwei  andere  Er- 
scheinungen sehr  bald  bemerkbar:  Erweiterung  der  Pupille  und  ein  eigen- 
thumliches  Leuchten  oder  Funkeln  des  Augengrundes.  Die  Erweiterung  der 


Retinalamaurose  —  Markschwaiiim  der  Netzhaut.         139 

Pupille  ist  hier  nicht  einfach  von  der  Aufhebung  der  Perceptionsfähigkeit  der 
Netzhaut  abhängig,  denn  sie  macht  sich  auch  bei  bloss  monolateraler  Allection 
geltend;  sie  ist  wenigstens  mitbedingt  durch  gehinderte  Leitungsfähigkeit 
der  Ciliarnerven,  durch  Druck  auf  dieselben  (Infiltration  der  Chorioidea?), 
daher  auch  die  Farbe  und  Beweglichkeit  der  Iris  in  ähnlicher  Weise  wie 
bei  Chorioiditis  verändert  erscheint.  Das  Funkeln  oder  Leuchten  des  Augen- 
grundes, bald  gold-  oder  pomeranzengelb,  bald  grau-  oder  silberweiss, 
bei  Kindern  gewöhnlich  der  erste  Verräther  des  Übels,  und  anfangs  nur 
bei  gewissen,  dem  Einfallen  und  der  Reflexion  des  Lichtes  günstigen  Stel- 
lungen bemerkbar,  wird  in  dem  Masse  auffallender ,  als  die  Netzhaut  in 
grösserer  Ausdehnuno-  infiltrirt  wird  und  weiter  und  weiter  vor  die  Brenn- 
weite  der  durchsichtigen  Medien  des  Auges  rückt.  Der  Arzt  kann  dann 
auch  schon  mit  freiem  Auge  mehr  weniger  deutlich  die  unebene  Oberfläche 
der  Masse  und  die  Gefässe  unterscheiden,  welche  derselben  den  röthlichen 
Anstrich  geben;  es  sind  diess  entweder  die  Centralgefässe  der  Netzhaut 
—  wenigstens  zu  Anfang  —  oder  aber  neuentwickelte  Ramificationen  im 
Pseudoplasma  selbst.  Wie  dick  oder  mächtig  die  Masse  sei ,  lässt  sich 
mit  blossem  Auge  kaum  ermessen;  gewöhnlich  wird  man  nach  dem  blossen 
Anblicke  verleitet,  die  Masse  noch  tief  hinten  befindlich  anzunehmen,  wo 
sie  doch  schon  weit  nach  vorn  vorgerückt  ist.  Der  Augenspiegel  wird 
über  beides,  das  Verhalten  der  Gefässe  und  das  Vorgerücktsein  des  Pseu  lo- 
plasma,  gewiss  verlässliche  Aufschlüsse  geben.  Mir  ist  indess  seit  zwei 
Jahren  kein  Fall  dieser  Krankheit  vorgekommen.  Die  Unterscheidung  dieser 
Krankheit  von  Vorwärtsdrängung  der  Netzbaut  durch  serösen  Erguss  (siehe 
oben :  Netzhautablösung)  oder  durch  feste  Exsudate  (Chorioiditis  traumatica, 
tuberculosa  etc.),  welche  bisher  nur  in  einzelnen  Fällen  und  da  oft  bloss 
mit  Wahrscheinlichkeit  gemacht  werden  konnte,  dürfte  von  nun  an  wohl 
viel  leichter  und  sicherer  möglich  sein. 

Diese  Unterscheidung  fällt  leider  wieder  weg,  wenn  bei  dem  allmä- 
ligen  Vorwärtsdriugen  des  Parasiten  die  Linse  getrübt  und  mehr  weniger 
vorwärts  gedrängt  worden  ist,  wenn  Blut  oder  eiterartiges  Exsudat  in  die 
vordere  Kammer  ergossen  worden  ist.  Hiezu  bedarf  es  bald  nur  einiger 
Wochen,  bald  vieler  Monate.  Aber  nach  und  nach  wird  auch  die  Linse 
gleich  dem  Glaskörper  zum  Schwinden  gebracht  oder  seitwärts  gedrängt. 
Dabei  ist  der  Bulbus  mehr  weniger  hart,  vergrössert  und  schmerzhaft 
geworden,  bietet  das  Auge  überhaupt  die  Erscheinungen  dar,  welche  im 
II.  B.  S.  212  angeführt  wurden  Endlich  wird  auch  die  Hornhaut  getrübt, 
von  Gefässen  durchzogen,  dann  erweicht  und  durchbrochen,  oder  aber  die 


140  Netzhaut. 

schon  früher  an  einer  oder  der  andern  Stelle  ihres  vordem  Umganges 
staphylomatös  hervorragende  Sclera  gestattet  dein  Sarcome  Durchtritt  nach 
aussen  unter  die  Bindehaut,  wobei  die  Cornea  nach  der  entgegengesetzten 
Seite  hin  verdrängt  wird. 

Nach  erfolgtem  Durchbruche  der  Cornea  oder  Sclera  tritt  der  Mark- 
schwamm als  eine  weiche,  dunkelgelbe  oder  livide,  bucht  blutende,  bis- 
weilen fluctuirende ,  einen  Abscess  vortäuschende,  endlich  exulcerirende 
oder  vielmehr  verjauchende  Masse  hervor,-  der  längst  heräbgekommeue 
Kranke  verfällt  nun  zusehends  und  wird  von  hektischem  Fieber  vollends 
consumirt.  Er  erliegt  den  Folgen  dieser  Ablagerung  aufs  Auge,  oder 
neuen,  kurz  nacheinander  dazu  tretenden  Ablagerungen  im  Gehirn,  in  den 
Lungen,  u.  s.  w. 

Der  Miirkschwamm  der  Netzhaut  kommt  am  häufigsten  im  Kindes-, 
am  seltensten  im  Mauiiesalter  vor.  Nach  FtitsckFs*~)  Zusammenstellung 
der  bis  zu  seiner  Zeit  bekannten  Beobachtungen  fällt  die  grosse  Zahl  der 
Erkrankungen  zwischen  das  3.  und  5.  Jahr,  die  kleinste  zwischen  das 
20.  und  30.  Jahr.  Das  Übel  befällt  meistens  nur  Ein  Auge,  und  zwar 
häufiger  das  linke  als  das  rechte.  Eine  auffallend  grosse  Zahl  der  Befal- 
lenen (26  unter  72)  wurde  als  scrophulös  bezeichnet,  doch  ist  die  Zahl 
derer,  von  denen  ausdrücklich  gesagt  wird,  sie  seien  übrigens  gesund 
gewesen,  weit  grösser  (38).  Als  excitirende  Momente  sind  die  verschie- 
densten Dinge  bezeichnet  worden.  Rücksichllich  der  ziemlich  oft  beob- 
achteten und  desshalb  auch  beschuldigten  traumalischen  Einwirkungen  be- 
merkt  Mahenzie,  es  möge  wohl  auch  das  der  Fall  sein,  dass  die  bereits 
Erkrankten,  namentlich  Kinder,  wegen  des  mangelhaften  Gesichtes  sich 
an's  Auge  stossen.  Interessant  sind  zwei  Beobachtungen  von  Ed.  Jäger 
(über  Staar  und  Staaroperationen),  wo  die  Entwicklung  von  Markschwamm 
unmittelbar  nach  Blendung  durch  intensives  Licht  auftrat.  Die  Ablagerung, 
welche  in  beiden  Fällen  durch  längere  Zeit  mit  dem  Spiegel  beobachtet 
und  verfolgt  wurde,  ging  in  beiden  zwar  nicht  von  der  Retina,  sondern 
von  der  Chorioidea  aus  (der  eine  Fall  wurde  gleich  nach  der  Exstirpatio 
bulbi  anatomisch-mikroskopisch  untersucht),  und  zwar  in  beiden  genau 
von  der  Gegend  des  directen  Sehens.  Im  Ganzen  genommen  müssen 
wir  gestehen,  dass  wir  über  die  Hauptsache  der  Ätiologie,  über  die 
Disposition  nicht    mehr    wissen,    als    dass    ein    Allgeineinleidcn    überhaupt 

*j  Die  bosttrtigoa   Schwanimjeschwülsle  'le»  Augapfels,  Freiburir  im  Rms^an   ls:'l 


Retinalaniaurose —  Markschwamni  der  Netzhaut.        141 

ati^enornmen  werden  muss,  weil  auch  dann,  wenn  die  Exstirpation  des 
Bulbus  zu  einer  Zeit  vorgenommen  wird,  wo  das  Übel  anatomisch  noch 
rein  auf  den  Bulbus  beschrankt  erscheint,  nachträglich  Ablagerungen  in 
der  Orbita  oder  in  andern,  selbst  entfernten  Organen  auftreten. 

Die  Prognosis  ist  demnach  jederzeit  traurig.  Makenzie  hat  bemerkt, 
rdass  die  Affection  auf  dem  Boden  des  Auges  wohl  drei  Jahre  lang 
gleichsam  geschlafen  hat,  aber  binnen  einigen  Wochen,  nachdem  sie  ein- 
mal vorwärts  zu  schreiten  begonnen  hatte,  die  ganze  Cavität  des  Bulbus 
einnahm,  denselben  um  mehr  als  das  Dreifache  v ergrösser te,"  und  dann 
rasch  in  Verjauchung  überging.  Derselbe  Auetor  führt  auch  einige 
Sectionsergebnisse  an,  welche  völlig  für  die  Ansicht  sprechen,  dass  auch 
i\\e  zeitig  vorgenommene  Exstirpatio  bulbi  nicht  im  Stande  sein  würde, 
das  Individuum  zu  retten. 

Er  untersuchte  ein  von  Dr.  Montealh  im  ersten  Stadium  dieser  Krankheit  exstirpirles 
Auge  von  einem  etwa  3jährigen  Kinde  unmittelbar  nach  der  Operation.  Iris  und  Chorioidea 
unversehrt ;  die  Netzhaut,  obgleich  hie  un  da  mangelhaft  und  zerrissen,  doch  noch  so 
weit  ganz,  dass  sie  der  ganzen  innern  Oberfläche  der  Chorioidea  einen  weissen  Überzug 
gab  :  die  Markschwammmasse,  welche  den  ganzen  Raum  der  Glasfeuchtigkeit  und  Linse 
einnahm,  halte  sich  von  der  Sehnervenpapille  aus  entwickelt  und  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  die  Hyaloidea  vor  sich  her  gedrängt,  denn  „sie  war  in  eine  Membran  eingehüllt, 
wie  die  der  Membrana  hyaloidea."  Der  Sehnerve  ausserhalb  der  Sclerotica  schien  nicht 
krank  zu  sein.  Einige  Monate  nach  der  Operation  hatte  sich  die  Augenhöhle  mit  einer 
neuen  Geschwulst  gefüllt,  und  das  Kind  starb  bald  nachher.  In  der  Augenhöhle  sass 
eine  kranke  Masse,  welche  sich  aus  dem  Schnittende  des  Sehnerven  erhoben  hatte,  und 
dieselbe  Beschaffenheit  zeigte,  wie  die  früher  im  Bulbus  vorgefundene.  In  der  Schädel- 
höhle fanden  sich  die  Sehnerven  von  ihrem  Ursprünge  bis  zum  Chiasma  gesund,  vor 
demselben  aber  war  der  der  kranken  Seite  bis  zum  foramen  opticum  so  dick  wie  ein 
Mittelfinger;  im  for.  opt.  war  er  wie  durch  eine  Ligatur  eingeschnürt,  bei  seinem  Eintritte 
in  die  Oibita  jedoch  breitete  er  sich  wieder  aus,  so  dass  er  den  Zwischenraum  zwischen 
den  M.  rectis  ausfüllte.  —  Mahenzip  bemerkt  noch,  es  seien  Fälle  vorgekommen,  wo  sich 
die  Geschwulst,  vom  Ende  des  Opticus  ausgehend,  zwischen  die  Sclerotica  und  Chorioidea 
gedrängt  hatte,  während  in  andern  Fällen  der  Schwamm  aus  dem  Sehnerven  noch  vor 
seinem  Eintritte  ins  Auge  entstanden  war,  und  die  Zerstörung  dieses  Organes  durch  sei- 
nen Druck  von  aussen  her  bewirkt  hatte.  Er  spricht  überdiess  von  dem  Entstehen  meh- 
rerer schwammiger  Gewärhse  nach  einander  an  verschiedenen  Stellen,  z.  B.  eines  hinter 
der  Sclerotica,  ein  anderes  zwischen  dieser  und  der  Chorioidea  und  ein  drittes  zwischen 
dieser  und  der  Retina,  welche  dann  zusammen  fortschreiten. 

Unter  etwa  7  Fällen,  wo  ich  Markschwatnin  der  Netzhaut  in  früheren  Stadien  mit 
Sicherheit  diagnosticirt  hatte,  weiss  ich  von  fünfen,  dass  sie  gestorben  sind.  Ein  Kind 
erlag,  nachdem  ein  anderer  Arzt  die  von  mir  verweigerte  Exstirpation  vorgenommen  halte. 
Ein  Fall  ist  in  Professor   Fischers  Lehrbuch  S.    353  beschrieben.     „B.    Caroline,  7  Jahre 


142  Netzhaut. 

alt,  von  sehr  zartem  Körperbau,  erethisch-scrofulöser  Constitution,  Kind  gesunder  Land- 
lente,  war  von  Geburt  an  stets  sehr  schwächlich,  aber  ausser  öfterem  Abgang  von  Peit- 
schen und  Spulwürmern  hatte  man  an  ihr  nichts  von  Krankheit  bemerkt.  Von  ihren  2 
Geschwistern  hatte  blos  die  ältere  eine  Drüsengeschwulst  am  Halse.  Das  Augenleiden 
begann  vor  10  Wochen;  ihre  Schwester  hatte  sie  beim  Spielen  mit  dem  Finger  in's  rechte 
Auge  geslossen.  Darauf  Schmerz  von  kurzer  Dauer,  am  andern  Tage  geringe  Röthe  im 
innern  Winkel ;  das  Mädchen  lief  wieder  munter  wie  früher  herum.  Am  3.  Tage  gleichmäßige 
starke  Röthe  des  Auges,  leichte  Geschwulst  der  Lider  und  dumpfer  Schmerz.  Aufschlagen 
kalten  Wassers.  Nach  einigen  Tagen  waren  Röthe  und  Geschwulst  verschwunden.  Etwa 
14  Tage  später  fiel  dem  Vater  eine  Entfärbung  des  Auges  auf,  und  es  zeigte  sich,  dass 
das  Kind  das  Sehvermögen,  selbst  die  Lichtempfindung  verloren  hatte,  obschon  sie  etwas 
lichtscheu  war.  Während  dieser  ganzen  Zeit  hatte  sie  zeitweilig  dumpfe  Schmerzen  im 
Auge  gehabt.  Ein  Arzt  ordinirte  eine  weisse  Salbe  und  braune  Tropfen.  Die  Steigerung 
der  Schmerzen  bestimmte  den  Vater,  das  Kind  auf  die  Augenklinik  zu  bringen  (27.  Oct. 
1841).  Wir  fanden  unter  der  Conj.  bulbi  rings  um  die  Cornea  ein  schütteres  Gefässnetz, 
Sclera  und  Cornea  normal,  die  früher  blaue  Iris  schmutzig  grau,  unbeweglich,  die  Pupille 
stark  und  ungleichniässig  erweitert.  Man  konnte  durch  die  vollkommen  durchsichtigen 
Medien  in  die  Tiefe  des  Auges  sehen.  Dort  bemerkte  man  eine  ziemlich  senkrecht  auf 
der  Sehachse  stehende  runde,  im  Ganzen  flache,  doch  durch  Erhabenheiten  unebene, 
ockergelbe  Fläche,  deren  innerer  Rand  weiter  nach  vorn  stand,  als  der  äussere.  Auf 
dieser  Fläche  schwebten  leichte  orangegelbe  Flocken,  welche  beim  Bewegen  des  Auges 
sich  ebenfalls  zu  bewegen  schienen.  Sah  man  gegen  die  der  Nase  zugekehrte  Wandung 
des  Augapfels,  so  schien  sich  jene  gelbliche  Platte  auf  dieselbe  fortzusetzen,  doch  so, 
dass  sie  hier  etwas  coucav,  mehr  uneben,  stellenweise  unterbrochen  aussah,  während  die 
äussere  Wandung  ein  mehr  dunkles,  fast  meergrünes  Aussehen  darbot.  Bei  den  verschie- 
denen Bewegungen  zeigte  jene  Platte  einen  ei^enthümlichen,  opalähnlichen  Glanz.  Das 
Allgemeinbefinden  Hess  keine  Störung  wahrnehmen.  Das  linke  Auge  gesund,  doch  em- 
pfindlich gegen  stärkeres  Licht.  Heilversuche  mit  Jodkali  äusserlich  und  innerlich  blie- 
ben fruchtlos.  Nachdem  das  Mädchen  in  ihre  Heimat  zurückgekehrt  war,  entwickelte 
sich  das  Übel  allmälig  weiter  bis  zum  Durchbruche,  worauf  Verjauchung,  Zehrfieber  und 
ohngefähr  im  11.  Monate  der  Tod  eintrat." 

Der  einzige  Fall,  in  welchem  es  mir  erlaubt  wurde,  nach  dem  Tode  das  Auge  zu 
exstirpiren,  betraf  ein  Mädchen  von  3 '/2  Jahren  (Petrak  Anna).  Die  Mutter  hatte  es  am 
26.  März  1853  auf  die  Klinik  gebracht,  weil  ihr  ein  gewisses  Funkeln  des  Ausres  im 
Dunkeln  und  Erblindung  desselben  aufgefallen  war  Die  Dauer  wurde  auf  etwa  6  Monate 
angegeben.  Sehr  zarter  Kürperbau,  keine  deutlichen  Merkmale  von  Scrofulosis  ;  die  Iris 
grau,  die  Haare  blond,  das  rechte  Auge  gesund.  Am  linken  die  objeetiven  Erscheinungen 
ohngefähr  wie  im  vorigen  Falle.  Der  Tod  erfolgte  am  20.  Juni  fB53  unerwartet  nach 
Convulsionen,  ehe  die  Geschwulst  noch  bis  an  die  Linse  herangerückt  war  Untersuchung 
30  Stunden  nach  dem  Tode.  Der  am  Bulbus  sitzende  etwa  4'"  lange  Stumpf  des  Seh- 
nerven nächst  dem  Bulbus  etwas  dicker,  als  weiter  hinten,  ohne  dass  deutliche  Infiltration 
nachgewiesen  werden  konnte.  Der  Bulbus  wurde  durch  einen  Schnitt  von  vorn  nach 
hinten  in  eine  obere  und  untere  Hälfte  zerlegt.  Die  Iris  auf  einen  schmalen  Saum  ge- 
schrumpft,  die  Linse  etwas  vorwärtsgedrängt,  dahinter  eine  kleine  Portion  durchsichtigen 


Orbitalamniirose.  143 

Glaskörpers ;  der  Raum  zwischen  der  Linse  und  der  Chorioidea  mit  Ausnahme  dieses 
Glaskörperrestes  ausgefüllt  von  einer  gelhlich-weissen,  von  zahlreichen  Gefässreiserchen 
durchsetzten  .Masse  ausgefüllt;  diese  Masse,  im  Allgemeinen  breiartig,  gleichsam  in  ein 
Gerüst  oder  Flechtvverk  von  Gefässchen  inliltrirt,  war  nach  vorn  bis  zum  Ausfliessen 
erweicht,  nur  vor  der  Sehnervenpapille  etwas  consistenter ;  von  der  Netzhaut  keine  Spur. 
Die  Chorioidea  zum  Theil  ohne  Pigment,  2'"  nach  aussen  vom  hintern  Pole  in  einer 
Ausdehnung  von  2 — 3  Quadratiinien  von  derselben  Masse  infiltrirt  und  daselbst  auch  mit 
der  unterliegenden  Sclera  verwachsen.  Die  Besichtigung  des  Präparates  selbst,  welches 
in  der  hiesigen  Sammlung  der  Augenklinik  aufbewahrt  wird,  lässt  keinen  Zweifel  übrig, 
dass  in  diesem  Falle  die  Infiltration  von  der  Sehnervenpapille  ausgegangen  war,  die  Un- 
tersuchung des  übrigen  Körpers  wurde  verweigert. 


B.    Orbitalamaurose. 

Die  Erkrankung-  des  Sehnerven  in  der  Orbita  vom  Bulbus  bis  zum 
Chiasma)  geht  entweder  von  ihm  selbst  (Nervenmark,  Central-Arterie 
und  Vene,  Nervenscheide),  oder  von  den  umgebenden  Gebilden  (Orbital- 
fett, Muskeln,  Beinhaut  etc.)  aus.  Die  selbständigen  Affectionen  lassen 
sieh  während  des  Lebens  wohl  kaum  jemals  mit  Sicherheit  erkennenf 
Heister  sah  complete  Amaurose  bei  einem  Soldaten,  dem  eine  Bleikugel 
von  der  einen  Schläfe  zur  andern  mitten  durch  den  Kopf  gegangen  war. 
die  Wunde  heilte,  die  Blindheit  blieb,  die  Bulbi  zeigten  sonst  keine  merk- 
liehe Veränderung.  Nach  Makenzie  besitzt  Prof.  Schmidler  zu  Freiburg  ein 
Präparat,  welches  ein  Aneurysma  der  Arteria  centr.  retinae  darstellt,  ent- 
nommen von  einer  Badenschen  Prinzessin,  welche  lange  Zeit  blind  war, 
und  Plenk,  Richter  und  A.  zu  Hilfe  gerufen  hatte;  sie  sah  ein  wenig, 
wenn  sie  abwärts  schaute ;  die  Aneurysmen  compriinirten  die  Sehnerven. 
Beer  bezieht  sich  auf  Sectionen ,  welche  ihm  Verhärtung  und  Verwach- 
sung der  Sehnerven  mit  ihren  Scheiden  als  Ursache  der  Amaurosis  er- 
wiesen hatten;  in  drei  Fällen  fand  er  Hydatiden  zwischen  den  Scheiden 
des  Sehnerven,  von  deren  Vorkommen  auch  andere  Beobachter  sprechen. 
Demours  fand  eimal  einen  Tuberkel,  einmal  einen  Eiterherd  im  Seh- 
nerven. Böhm  (das  Schielen  und  der  Sehnenschnitt,  Berlin  1845,  S.  448) 
fand  bei  einem  an  Lungenschwindsucht  gestorbenen  19jährigen  Jünglinge 
dessen  rechtes  Auge  vom  6.  Lebensjahre  an  nach  aussen  und  oben  ab- 
gelenkt, allmälig  aus  der  Orbita  vorgetreten  und  zwar  amblyopisch,  je- 
doch durchaus  nicht  amaurotisch  gewesen  war,  den  Sehnerven  um  das 
Mehrfache  verlängert  und  zu  einem  spindelförmigen  Neuroma  angeschwollen 
(nach  der  Zeichnung  gegen  2  Zoll  lang  und  an    3/4    Zoll    dick).     Nur  der 


144  Netzh-uit. 

vorder- te,  dem  Bulbus  zunächst  befindliche  Theil  erschien  eine  kurze 
Strecke  von  natürlicher  Beschaffenheit,  ebenso  der  hinterste  nächst  dein 
gleichfalls  normalen  Chiasma.  Die  weisse,  spindelförmige,  namentlich  in 
der  Peripherie  hart  anzufühlende  Nervengeschwulst  sah  auf  dem  Quer- 
dmehschniUe  fein  maschenartig  aus  und  bestand  wesentlich  aus  dem  ver- 
dickten Neurilem.  Durch  die  mikroskopische  Untersuchung  Hessen  sich 
noch  bestimmter  der  in  die  Geschwulst  eintretende  Nerve  und  die  krank- 
haft vermehrten  fibrösen  Fascikeln  des  Neurilems  unterscheiden,  deren 
dichteres  Gewebe  nach  dem  Umfange  der  Geschwulst  hin  die  Oberhand 
gewann.  Der  Atrophie  des  Sehnerven  gedenken  viele  Aticioren,  doch  wit 
dieselbe  wohl  jederzeit  conseculiv,  häufig  nach  Phthisis  bulbi,  seltener 
nach  Krankheiten  der  Netzhaut  oder  nach  Affectionen  in  der  Schädelhöhfe. 
Die  Atrophie  erstreckte  sich  meistens  nur  bis  zum  Chiasma,  nach  Einigen 
auch  darüber  hinaus,  und  zwar  auf  derselben  Seite,  obwohl  auch  Beob- 
achtungen bekannt  sind  (>on  Sömmering,  Ackermann,  Michaelis,  Wenzel 
und  A.),  wo  die  Atrophie  jenseits  des  Chiasma  auf  der  entgegengesetzten 
Seite  bis  zu  den  knieförmigen  Körpern  fortgegangen  sein  soll. 

Von  den  Krankheiten  der  Augenhöhle ,  welche  durch  Compression 
oder  Zerrung  des  Sehnerven  störend  auf  dessen  Function  einwirken  und 
sich  bei  höheren  Graden  vorzüglich  durch  veränderte  Lage  und  Beweg- 
lichkeit des  Bulbus  verrathen,  werden  wir  in  einem  spätem,  eigens  hiefiir 
bestimmten  Abschnitt  sprechen.  Es  musste  ihrer  an  dieser  Stelle  bloss 
desshalb  gedacht  werden,  weil  Amaurosis  eine  Zeit  lang  das  einzige  oder 
doch  vorwaltende  Symptom  sein  kann,  das  sie  verursachen. 

C.    Cerebralamaurose. 

Amblyopie  und  Amaurosis  sind  oft  Symptome  von  anatomisch  nach- 
weisbarer Erkrankung  sowohl  des  grossen  ah  des  kleinen  Gehirnes  oder 
ihrer  Hiil/en,  von  Erkrankung  des  Sehnerren  im. erhall)  der  Sritadel- 
höhle  In  der  Regel  sind  dann  nebsMem  noch  andere  Symptome  vor- 
handen, welche  wenigstens  so  weit  zu  schüessen  erlauben,  dass  der  Sitz 
des  Grundleidens  in  der  Schädelhöhle  zu  suchen  sei.  Hoch  kommen  auch 
Falle  vor,  wo  durch  mehr  weniger  lange  Zeit  solche  anderweitige  Zufälle 
fehlen  oder  sehr  unbestimmt  ausgesprochen  sind.  So  wie  demnach  das 
Nichtauffinden  von  Netzhautveranderungen  mit  dem  Augenspiegel  nicht  zu 
dem  Schlüsse  berechtigt,    in  einem    speciellen    Falle    könne  die  Amblyopie 


Cerebralaniaurose.  145 

oder  Amaurose  nicht  durch  primäre  AfFection  der  Netzhaut  allein  bedingt 
sein,  und  so  wie  selbst  bei  ophthalmoskopisch  wahrnehmbaren  Verände- 
rungen des  Auges  immer  noch  in  Erwägung  zu  ziehen  ist,  ob  dieselben 
nicht  als  secundäre  zu  betrachten  seien,  wie  z.  B.  Atrophie  der  Retina 
in  Folge  von  Compression  des  Chiasma,  oder  mechanische  Hyperämie  der 
Netzhaut  in  Folge  von  Compression  des  Sinus  cavernosus  u.  s.  w. ,  so 
erlaubt  dagegen  auch  das  Fehlen  der  anderweitigen  sogenannten  ence- 
phalischen  Erscheinungen  noch  nicht  die  Ausschliessung  von  Cenlralleiden, 
selbst  nicht  von  anatomisch  nachweisbaren. 

Die  Erscheinungen,  auf  welche  man  zu  achten  hat,  wenn  sich's  darum 
handelt,  zu  bestimmen,  ob  die  Sehstörung  von  einem  Leiden  der  Central- 
organe  herstamme,  sind  sehr  zahlreich  und  mannigfaltig.  Man  hat  dafür 
zu  sorgen,  nicht  nur  dass  man  keine  derselben  übersieht,  sondern  auch 
dass  man  sie  in  ihrer  Reihenfolge,  wie  sie  nach  einander  auftreten,  und 
in  ihrer  Beziehung  zum  Augenleiden  gehörig  auffasse.  Nirgend  weniger 
als  bei  den  Amaurosen  kann  allgemein  medicinische  Bildung  in  Bezug 
auf  Diagnosis,  Prognosis  und  Therapie  entbehrt  werden;  der  Oculist  hört 
hier  auf,  Specialist  zu  sein.  Die  Lehre  von  den  Amaurosen  fällt  mit  der 
Lehre  von  den  Krankheiten  des  Nervensystems  zusammen.  Demnach 
wird  man  auch  in  einer  Abhandlung  über  die  Amaurosen  nicht  eine  förm- 
liche Darstellung  der  Lehre  von  den  Krankheiten  des  Gehirnes  suchen, 
deren  Kenntniss  hier,  als  anderweitig  erworben,  vorausgesetzt  werden 
muss.  Eine  gedrängte  Schilderung  der  Erscheinungen  jedoch,  welche  bei 
encephalischer  Amaurosis  vorkommen,  und  ebenso  eine  übersichtliche  Zu- 
sammenstellung der  Affectionen,  als  deren  vorwaltendes  Symptom  Am- 
blyopie oder  Amaurosis  beobachtet  wurde,  erläutert  durch  verlässliche 
Kranken-  und  Sectionsbefunde,  dürfte  zur  leichteren  Orientirung  in  diesem 
weiten  Gebiete  dem  Leser  einigen  Nutzen   gewähren. 

Die  Erscheinungen  am  Sehorgane  selbst  sind,  wenn  auch  nicht  pa- 
thognomonisch,  doch  in  vielen  Fällen  immerhin  eigenthümlich  genug,  um 
einige  diagnostische  Anhaltspunkte  zu  gewähren.  —  a)  zunächst  ist  zu 
bemerken ,  dass  die  Sehsiörung  bei  centralen  Amaurosen  sich  immer  auf 
das  ganze  Gesichtsfeld  bezieht.  Amblyopie  oder  Amaurosis,  welche  bloss 
auf  das  Centrum  oder  bloss  auf  die  Peripherie  der  Netzhaut  bezogen 
werden  kann,  ist  sicher  niemals  centralen  Ursprunges.  Es  ist  auch 
keine  verlässliche  Beobachtung  bekannt,  wo  Hemiopie  von  einer  ana- 
tomisch   nachweisbaren    Veränderung-    der    Centralorg-ane    hätte    abgeleitet 

O  o  O 

Arlfs  Augenheilkunde  III,  2.  10 


146  Netzhaut. 

werden  können.  Ruete's  Ausspruch  (Seite  il9),  dass  Krankheiten  des 
Sehhügels  oder  der  einen  Hälfte  der  Vierhügel  fast  immer  eine  Stö- 
riuiof  der  Function  der  Retina  derselben  Seite  in  beiden  Augen  zur 
Folge  haben,  muss  jedenfalls  erst  durch  Thatsachen  erwiesen  wer- 
den. —  Die  Sehstörung  tritt  bald  plötzlich,  bald  allmälig  auf,  in 
der  Regel  zunächst  nur  auf  Einem  Auge;  sie  bleibt  selten  auf  Ein 
Auge  beschränkt,  auch  wenn  die  encephalische  Affection  zunächst  nur 
die  eine  Hemisphäre  betrifft.  Sie  kann  trotz  des  Fortbestandes  der 
Hirnkrankheit  mit  deutlichen  Re-  und  selbst  mit  Intermissionen  auftre- 
ten, was  seine  Erklärung  in  der  bald  mehr  bald  weniger  hervor- 
tretenden, die  Hirnaffection  begleitenden  Hyperämie  finden  dürfte.  — 
Sie  ist  nicht  sowohl  von  Scotomen  (dunkeln  oder  hellen)  als  vielmehr 
von  Hallucinationen  begleitet;  auch  ist  die  Empfindlickheit  der  Augen 
gegen  das  Licht  im  Allgemeinen  eher  vermindert,  als  vermehrt,  ausser 
bei  Hyperämie,  bei  Meningitis  ad  basin  und  bei  Hydrocephalus  acutus  in 
der  ersten  Zeit. 

6)  Im  Allgemeinen  hat  der  alte  Erfahrungssntz  seine  Giltigkeit,  dass 
bei  Hirndruck  die  Pupille  erweitert  ist,  doch  kann  auch  bei  completer  en- 
cephalischer  Amaurose  der  Durchmesser  der  Pupille  ein  mittlerer  sein, 
und  während  des  unstäten  Hin-  und  Herbewegens  der  Bulbi  —  wie  bei 
chronischem  Hydrocephalus  so  oft  —  selbst  Schwankungen  zwischen  Er- 
weiterung und  beträchtlicher  Verengerung  darbieten.  Die  Erweiterung  ist 
eine  gleichmässige,  wobei  freilich  nicht  übersehen  werden  darf,  dass  leichte 
Abweichungen  von  der  Kreisform,  namentlich  bei  nicht  zu  enger  Pu- 
pille, häufig  auch  an  ganz  gesunden  Augen  beobachtet  werden  können. 
Die  Schwärze  der  Pupille  leidet  nur  im  Verhältniss  zur  Erweiterung  der- 
selben ,  erst  nach  langem  Bestände  encephalischer  Amaurosen  scheint 
die  Durchsichtigkeit  der  Netzhaut  und  der  Pigmentgehalt  der  Chorioidea 
so  zu  leiden,  dass  der  Grund  des  Auges  mehr  Licht  als  im  normalen 
Zustande  reflectirt. 

c)  Die  Stellung  und  die  Beweglichkeit  der  Augen  kann  in  ein- 
zelnen Fällen  viel  zur  Entscheidung  der  Frage  über  den  Sitz  des  Leidens 
beitragen.  Geht  die  Sehkraft  des  einen  Auges  rasch  verloren,  so  bleibt 
die  Stellung  und  Beweglichkeit  normal,  ausser  es  leidet  ein  oder  der  an- 
dere Muskel  wegen  primärer  oder  vom  Gehirn  ausgehender  Affection. 
Erblindet  ein  Auge  allmälig,  während  das  andere  gesund  oder  doch  relativ 
besser  ist,    so  reicht  dieser  Umstand  allein  hin,    eine  instinctinässige  (re- 


Cerebralaiiiaurose.  147 

flectirle)  Ablenkung  des  schwächeren  Auges  zu  bewirken.  Bei  Erwachsenen 
erfolgt  diese  Ablenkung  meistens  auswärts  als  Strabismus  divergens;  es 
tritt  dasselbe  ein,  wie  bei  Hornhaut-  oder  Linsentrübungen  (I.  B.  S.  262 
und  II.  B.  S.  281).  Ist  die  Sehkraft  beiderseits  gleichmässig  erloschen 
oder  hochgradig  geschwächt,  gleichviel  ob  langsam  oder  schnell,  so  ist  die 
Stellung  der  Sehachsen  parallel  oder  blos  ein  wenig  divergent,  und  die 
weit  geöffneten  Augen  irren  entweder  unstät  umher  oder  stieren  in  un- 
bestimmte Ferne  hinaus.  Unter  Berücksichtigung  dieser  Momente  deutet 
Ablenkung  eines  oder  beider  Augen  von  der  gewöhnlichen  Haltung,  ins- 
besondere aber  Unbeweglichkeit  nach  einer  oder  der  andern  Richtung 
(Muskella'hmung)  in  allen  Fällen  auf  centrale  Ursache  der  Amblyopie  oder 
Amaurose,  wenn  nicht  etwa  wie  bei  rheumatischer  Bulbär-  oder  bei  Or- 
bitalamaurose,  die  Muskelaffection  aus  einem  peripherischen  Leiden  abge- 
leitet werden   muss. 

Die  Erscheinungen,  welche  bei  encephalischer  Amblyopie  und  Amau- 
rosis in  den  übrigen  Organen  vorkommen,  sind  leider  (für  den  Diagno- 
stiker) in  vielen  Fällen  namentlich  zu  Anfang  noch  nicht  vorhanden,  zum 
Theil  auch  zweideutig.  Um  so  sorgfältiger  müssen  sie  aufgesucht,  um  .so 
schärfer  aufgefasst  und  in  ihre  wahre  Beziehung  zum  Augenleiden  gabracht 
werden,  a)  Die  geistigen  Functionen,  Gedächtniss,  Urtheil,  u.  s.  w.  sind 
bei  Kindern  rücksichtlich  ihrer  Entwicklung,  bei  Erwachsenen  rücksichtlich 
ihrer  Störung  zu  berücksichtigen.  Veränderung  der  Gemüthsstimmung, 
des  Gesichtsausdruckes,  Theilnahmlosigkeit ,  Schlafsucht  u.  dergl.  b)  Be- 
sichtigung und  Betastung  des  Schädels.  Bei  Amaurosis  von  chronischem 
Hydrocephalus  fand  ich  am  häufigsten  den  queren  Durchmesser  des  Schä- 
dels (von  einem  Schläfetheil  des  Felsenbeines  zum  andern)  auffallend  ver- 
grössert ;  seltener  ist  das  Cranium  an  der  Stelle  der  grossen  Fontanelle 
stark  hervorgetrieben;  in  diesem  letzteren  Falle  sind  bisweilen  auch  die 
Bulbi  glotzend  (Herabdrückung  der  obern  Orbitalwand).  —  Krankheiten 
der  Schädelwandungen^  welche  durch  Druck  nach  innen  nachtheilig  wirken, 
lassen  sich  bisweilen  auch  durch  Hervorragungen  an  der  Aussenfläche  er- 
kennen. Andere,  zum  Beispiel  Tophi,  geben  vielleicht  Anhaltspunkte  für 
die  Existenz  ähnlicher  Affectionen,  die  nach  innen  wirken.  Spuren  von 
vorausgegangenen  Verletzungen  des  Kopfes  verdienen  besonders  dann  Be- 
rücksichtigung, wenn  seit  der  Verletzung  irgend  welche  Gesundheitsstö- 
rungen bestehen,  die  darauf  bezogen  werden  können.  Doch  ist  zu  bemer- 
ken, dass  erfahrungsgemäss  Jahre  vergehen  können,  ehe  der  Verletzte  von 
deutlichen  Zufällen  einer  Hirnkrankheit  befallen  wird.       Der  Kranke  denkt 

10* 


148  Netzhaut. 

zur  Zeit,  wo  sein  Gesieht  gestört  wird,  vielleicht  gar  nicht  mehr  an  die 
Verletzung.  —  c)  Kopfschmerzen  (Eingenommenheit,  Schwere  des  Kopfes 
u.  dgl.),  verschiedenartig  nach  Intensität,  Qualität  und  Typus  sind  ein  häu- 
figer Vorläufer  und  Begleiter  von  Amblyopie  und  Amaurosis.  Zu  bemerken 
ist,  dass  auch  die  chronische  Retinitis  häufig  von  mehr  weniger  lebhaften 
Schmerzen  in  der  Stirn  -  oder  Scheitelgegend  begleitet  wird ,  und  dass 
manche  Individuen  die  Krankheit  (Erblindung)  dem  Symptome  (den  Kopf- 
schmerzen) zuschreiben,  weil  sie  die  Kopfschmerzen  früher  bemerkten,  als 
die  noch  in  zu  geringem  Grade  vorhandene  Abnahme  des  Gesichtes.  — 
d)  Schwindel,  bald  mit  Hyperämie,  bald  mit  Anämie  im  Zusammenhange 
stehend,  ist  häufig  auch  bloss  durch  Lähmung  eines  geraden  oder  schiefen 
Augenmuskels  bedingt,  fordert  daher  jederzeit  zur  genauesten  Prüfung  der 
Muskelfunctionen  auf.  Mehr  hierüber  bei  den  Krankheiten  der  Augen- 
muskel. —  e)  Störungen  in  andern  Sinnesorganen,  Gehör,  Geruch,  der 
Sensibilität  im  Bereiche  des  Trigeminus  u.  s.  w.  —  f)  Störungen  der  Mo- 
tilität im  Bereiche  des  Facialis,  Trigeminus  u.  s.  w.  Bei  rechtsseitiger 
Affection  des  N.  opticus  und  des  Oculomotorius  oder  Abducens  treten  die  Läh- 
mungserscheinungen  am  Gesichte,  an  der  Zunge,  am  Zäpfchen,  an  den 
Extremitäten  linkerseits  auf.  Epileptische  Anfälle,  Contracturen,  Lähmungen. 
—  g)  Gehemmte  peristaltische  Bewegung,  Torpor  in  der  Entleerung  der 
Fäces  oder  des  Harnes  u.  dgl.  —  h)  Gastrische  Erscheinungen,  Erbrechen, 
Üblichkeiten  u.  dergl.  sind  theils  Vorboten,  theils  Begleiter  encephalischer 
Amaurosen. 

Die  krankhaften  Vorgänge  und  Veränderungen  im  Gehirne  und  in 
seinen  Hüllen,  welche  Amblyopie  oder  Amaurosis  im  Gefolge  haben,  sind 
ausserordentlich  mannigfaltig  und  verschieden  in  Bezug  auf  ihren  Sitz 
(Knochen,  Meningen,  Schlagadern  an  der  Basis,  Hirnanhang,  einzelne  Re- 
gionen des  grossen  und  kleinen  Gehirnes),  auf  ihre  Natur  und  anatomische 
Beschaffenheit  (Veränderungen  des  Zusammenhanges ,  des  Volumens,  der 
Textur,  Neubildungen  u.  s.  w.),  und  in  Bezug  auf  die  entfernteren  Veran- 
lassungen dazu  (Störungen  der  Kreislaufsorg ane,  äussere  Gewaltthäligkei- 
ten,  Dyskrasien,  namentlich  Lues,  Krebs,  Tuberkel  u.  s.  w.).  Diese  letz- 
teren insbesondere  sind  geeignet,  Licht  auf  die  Natur  des  krankhaften 
Vorganges  im  Gehirne  zu  werfen.  Schon  dieser  Umstand  allein  fordert 
bei  jeder  Amaurosis  zu  einer  vollständigen  Durchmusterung  des  ganzen 
Körpers,  aller  Organe,  Systeme  und  Functionen,  sowie  zu  einer  scrupu- 
lösen  Erhebung  der  amunnetischen  Momente  vor,    während  und  nach  dein 


Cerebralaiiiaurose.  149 

Eintritte  des  Augenleidens  auf.  Leider  müssen  wir  bei  deirf  gegenwärti- 
gen Stand  der  Diagnostik  der  Gehirnkrankheiten  uns  nur  zu  oft  begnügen, 
zu  wissen,  dass  überhaupt  ein  solches  Centralleiden  vorhanden  ist;  auf 
die  Bestimmung  des  Sitzes  der  Aflection  müssen  wir  meistens  verzichten; 
auf  die  Natur  derselben  Iässt  sich  grösslenlheils  nur  mit  Wahrscheinlich- 
keit schliessen;  eher  noch  lässt  sich  angeben,  diese  oder  jene  Affection 
könne  nicht  zu  Grunde  liegen.  Immerhin  ist  auch  damit  schon  Einiges 
gewonnen,  das  uns  bestimmte  Anhaltspunkte  zur  Prognosis  gibt,  und,  wo 
nicht  directe,  so  doch  indireete  Indicationen  zum  therapeutischen  Ver- 
fahren. Wer  durch  seine  Behandlung  nicht  schadet,  hat  viel  voraus  nicht 
nur  vor  Demjenigen,  der  blindlings  eingreift,,  sondern  auch  vor  dem,  der 
nichts  thut. 

Die  Literatur  ist  reich  an  Beobachtungen  über  Amaurosen,  leider 
arm  an  verlässlichen  und  vollständigen.  Den  einen  fehlt  die  anatomische 
Begründung,  welche  vor  Erfindung  des  Augenspiegels  zum  Theil  unmög- 
lich war;  die  andern  liefern  wohl  mitunter  gute  Sectionsbefunde,  aber  — 
mit  wenig  Ausnahmen  —  keine  gehörige  Angabe  der  Erscheinungen  wäh- 
rend des  Lebens. 

Über  Aufforderung  meines  verehrten  Lehrers  Fischer  hatte  ich  zum  Gegenstande 
meiner  Inauguraldissertation  (1839)  einige  Beobachtungen  sogenannter  organischer  Amau- 
rosen gewählt  und  daran  eine  übersichtliche  Zusammenstellung  der  mir  zugänglichen 
Beobachtungen  früherer  Zeiten  gereiht.  Die  nachfolgenden  Fälle  sind  grösstenteils 
dieser  Schrift  entlehnt. 

1.  Amaurosis,  in  Folge  von  Verletzungen  am  Kopfe. 

In  Folge  von  Verletzungen  nicht  bloss  des  Auges  und  seiner  nächsten 
Umgebungen,  sondern  auch  von  entfernteren  Regionen  des  Kopfes  ist 
Amaurosis  als  erstes  oder  doch  eminentes  Symptom  bald  sogleich ,  bald 
erst  nach  längerer  Zeit  beobachtet  worden.  In  manchen  Fällen  entwickelt 
sich  die  Hirnkrankheit,  deren  Symptom  die  Amaurosis  ist,  unmittelbar  aus 
der  Verletzung;  in  andern  gibt  diese  gleichsam  nur  den  Impuls  zur  Ent- 
wicklung einer  Hirnkrankheit,  auf  dieselbe  Weise,  wie  wir  schon  beim 
Markschwamm  der  Netzhaut  bemerkt  haben.  Zu  den  ersteren  gehören 
Knocheneindrücke,  Fissuren  an  der  Schädelbasis  (Keilbein),  Blutauslretung, 
Aneurysma,  Entzündung  der  Hirnhäute,  des  Gehirnes  mit  ihren  verschiedenen 
Ausgängen,  zu  den  letzteren  die  Entwickelung  von  Markschwamm  und 
von  Processen ,  denen  Tuberculosis  zu  Grunde  liegt.  Zur  Erläuterung 
einige  Beispiele. 


150  Netzhaut. 

Eine  zweiundvierzigjährige  gesunde  und  klüftige  Frau  fiel  rücklings  auf  der  Strasse 
nieder,  indem  sie,  ein  Brett  voll  gebackenen  Brotes  nach  Hause  tragend,  auf  den  glatten 
Steinen  ausglitt.  Man  brachte  sie  scheintodt  nach  Hause.  Nach  einer  Stunde  war  das 
Bewusstsein  und  die  Bewegung  zurückgekehrt,  das  Gesicht  beider  Augen  verloren  ;  nur 
mit  dem  linken  Auge  glaubte  die  Kranke,  wenn  sie  es  nach  oben  wandte,  eine  geringe 
Lichtempfindung  zu  verspüren.  Die  erweiterten  Pupillen  waren  nur  wenig  beweglich 
und  etwas  unregelmässig  verzogen  ;  sonst  an  den  Augen  keine  Veränderung  wahrnehm- 
bar. Zugleich  heftiger  drückender  Kopfschmerz  in  der  Stirn,  und  andere  Symptome 
eines  Extravasates  in  der  Schädelhöhle.  (?)  Tod  nach  vierundzwanzig  Stunden.  Bei 
der  Section  eine  kleine  sugillirte  Stelle  unter  der  Galea  aponeurotica  an  der  Stelle 
des  Hinterhauptes  ,  auf  welche  die  Frau  gefallen  war.  Bei  der  Herausnahme  des 
Gehirnes  kam,  als  die  grossen  vordem  Lappen  aufgehoben  wurden,  eine  wullnussgrosse, 
blaurolhe  Geschwulst  zum  Vorschein,  tcelche  den  Türkensättel  bedeckte,  nach  dem  rechten 
Schläfenbein  hin  sich  erstreckte,  und  in  den  Boden  der  dritten  Hirnhöhle  und  das  Tuber 
cinereum  eine  Vertiefimg  eingedrückt  hatte.  Ebenso  wurden  das  Chiasma  und  die  Seh- 
nerven, doch  mehr  der  rechte,  als  der  linke,  zusammengedrückt.  Nach  Herausnahme 
des  Gehirns  zeigte  sich,  dass  die  Geschwulst  aus  dem  Canalis  caroticus  dexter  heraus- 
kam, und  aus  einem,  von  der  äussern  Haut  der  geborstenen  Carotis  gebildeten  Sacke 
bestand,  der  geronnenes  Blut  enthielt;  nach  Abspülung  des  Inhaltes  entdeckte  man,  dass 
die  Carotis  dextra  da,  wo  sie  aus  dem  Sinus  cavernosus  heraustrat,  geborsten  war. 
Sonst  war  nirgends  etwas  Krankhaftes  zu  finden.  (Slilling  in  Amnions  Zeitschr.  III.  B. 
S.  465.) 

Ein  alter  Mann,  welcher  mit  einem  Karren  überfahren  worden  war,  wurde  in's 
Spital  aufgenommen.  Es  war  eine  Fractur  nebst  einer  Depression  des  einen  Scheitel- 
beines vorhanden.  Der  Mann  besass  sein  Bewusstsein,  gab  aber  langsam  Antworten, 
war  stöckisch  und  gänzlich  blind.  Herr  Gunning  entfernte  eine  Portion  des  Scheitel- 
beines mit  der  Trephine,  und  hob  den  deprimirten  Knochen  empor.  Die  Operation  be- 
wirkte indessen  keine  Änderung  in  den  Symptomen.  Etwa  36  Stunden  nach  dem 
Ereignisse  wurde  der  Puls  häufig,  und  der  Patient  begann  irre  zu  reden.  Er  blieb 
des  Sehvermögens  gänzlich  beraubt,  glaubte  eingebildete  Gegenstände  zu  scheu,  war 
sich  aber  der  vor  seinen  Augen  befindlichen  gänzlich  unbewusst.  Tod  nach  Ablauf  des 
fünften  Tages.  Man  fand  die  Hirnhäute  entzündet  und  mit  Eiter  und  Lymphe  verun- 
reinigt. An  der  Basis  des  Schädels  war  eine  Querfractur ,  welche  sich  durch  das 
Keilbein  erstreckte,  mit  so  verschobenen  Bruchrändern,  dass  sie  auf  die  Sehnerven 
unmittelbar  hinter  den  Augenhöhlen  drückten,  und  sich  so  der  gänzliche  Verlust  des 
Gesichtes  erklärte.  (Brodie ,  bei  Make/nie ,  Krankheiten  des  Auges ,  Weimar  1832 
S.  771.) 

Ein  zwölfjähriger  Knabe  empfing  in  der  Schule  mit  der  Schärfe  eines  breiten 
Lineals  wegen  Trägheit  im  Lernen  einen  Schlag  auf  des  rechte  Seilenwandbein.  Die 
Wunde  war  klein ,  heilte  aber  erst  nach  sechs  Jahren  ganz  zu.  Bald  nachher  nahm 
das  Sehvermögen  ab,  allmälig  bis  zur  völigen  Blindheit.  In  der  letzten  Zeit  traten  auch 
epileptische  Anfälle  ein.  Man  versuchte  die  Trepanation ,  fand  jedoch  den  Knochen 
an  der  Stelle  der  Narbe  nicht  einmal  missfähig,  geschweige  denn  krankhaft.  Nach 
Entfernung  des    mit  der  Trephine  abgelösten  Knochenstückes  trat  etwas  Blut   und   seröse 


Cerebralnmaiiroso.  151 

Flüssigkeit  zwischen  dein  Knochen  und  der  harten  Hirnhaut  hervor.  Letztere  schien 
nicht  verändert  zu  sein.  Den  nächsten  Tag  hatte  die  Pupille  jedes  Auges  ihre  natür- 
liche Sensibilität  wieder  erlangt,  indem  sie  sich  je  nach  dem  Grade  dos  Lichtes  erwei- 
terte und  zusammenzog,  aber  die  Blindheit  blieb  absolut,  wie  vor  der  Operation.  Drei 
Tage  nach  der  Operation  starb  der  Patient.  —  Man  fand  den  Knochen  und  die  dura 
mater  überall  gesund.  Unter  dem  Theile,  wo  letztere  durch  die  Trephine  blossgelegt 
worden  war,  also  unter  der  Stelle  der  ursprüglichen  Verwundung  bot  die  pia  mater 
die  Zeichen  chronischer  umschriebener  Entzündung  dar.  Als  in  das  Gehirn  eingeschnitten 
wurde,  fand  man  es  bis  zu  einem  beträchtlichen  Grade  verhärtet,  und  diese  Verhärtung 
halle  sich  auf  den  ganzen  mildem  Lappen  des  Gehirnes  ausgebreitet,  begann  auf  der 
Oberfläche,  und  setzte  sich  durch  das  Gehirn  bis  zur  Basis  des  Schädels  fort.  (Howship, 
bei  Makenz-ie  I.  c.  782.) 

Bei  einem  44  Jahre  allen  Manne  stellte  sich  nach  einem  Falle  auf  das  Hinter- 
haupt allmälig  Gesichtsschwäche  und  Schielen  (Schiefsehen  ?)  ein ;  nach  drei  Jahren 
kam  dazu  heftiger  Schmerz  im  Hinterhaupte,  stierer  Blick,  Erweiterung  der  rechten 
Pupille,  endlich  gänzlicher  Verlust  des  Gesichtes  und  der  Sprache  bei  ungestörter 
Geistesthätigkeit.  —  Man  fand  zwei  Drittel  vom  linken  Lappen  des  kleinen  Gehirnes 
in  einen  Brei  verwandelt,  die  umgebende  Arachnoidea  zerstört,  die  dura  mater 
innen  braunroth ,  aussen  vom  Knochen  abgelöst.  (Monod  in  Andrals  Clinique  me- 
dicale,  T.  V.  p.  496.) 

Ein  Frauenzimmer  hatte  in  ihrem  15.  Jahre  einen  nicht  gerade  heftigen  Schlag 
auf  die  rechte  Seite  ihres  Kopfes  erhalten.  Er  verursachte  augenblicklich  sehr  heftigen 
Schmerz,  wurde  aber  nicht  weiter  berücksichtigt,  weil  man  weiter  keine  Folgen  beob- 
achtete, nur  stellte  sich  öfter  Kopfweh  ein,  welches  immer  in  dem  geschlagenen  Theile 
begann.  —  Nachdem  sie  solchen  Anfällen  über  dreissig  Jahre  ausgesetzt  gewesen  war, 
wurde  sie  trag  und  manchmal  stupid  und  schläfrig,  ohne  dass  man  dafür  eine  andere 
Ursache  hätte  angeben  können.  Dieser  Zustand  verschlimmerte  sich,  so  dass  es  in  den 
letzten  1  '/2  Jahren  ihres  Lebens  sehr  schwer  war,  sie  wach  zu  erhalten ;  wenn  sie  aber 
einmal  wachte,  und  sollte  es  auch  nur  auf  '/2  Stunde  sein,  so  entfaltete  sie  den  ganzen 
natürlichen  Glanz  ihrer  Unterhaltung;  dann  verfiel  sie  wieder  in  Schlaf,  ohne  dass  man 
sie  aus  demselben  aufrütteln  konnte.  Ihr  Sehvermögen  hatte  allmälig  abgenommen,  so 
dass  sie  einige  Zeit  vor  dem  Tode  fast  in  gänzliche  Dunkelheit  gehüllt  war.  Sie  starb 
unter  Convulsionen. —  Eine  Portion  des  rechten  Seitenwandbeines  von  der  Grösse  eines 
Kronthalers  gerade  da,  wo  der  Schlag  eingewirkt  und  der  Kopfschmerz  immer  begon- 
nen hatte,  zeigte  eine  sehr  dunkle  Farbe.  Der  Knochen  war  von  innen  aus  fast  gänz- 
lich absorbirt  und  durchsichtig  ;  die  dura  mater  daselbst  durch  Absorption  verschwun- 
den; die  Hirnportion  darunter  verhärtet,  scirrhös  und  dunkellivid,  und  zwar  durch  den 
ganzen  mittlem  Lappen  des  Gehirnes  ;  die  Sehnerven  an  ihrem  Ursprünge  zusammenge- 
drückt wie  ein  Band.  Sonst  weder  in  der  Schädelhöhle  noch  im  Thorax  oder  Unter- 
leibe eine  erhebliche  Abnormität.     (Hoicship  bei  Mäkenzie  1.  c.  S.    783.) 

Ein  eilfjähriges  Mädchen,  lange  Zeit  zu  Kopfweh  mit  Schwäche  des  Sehvermögens 
und  einer  eigenthümlichen  Empfindlichkeit  der  Bedeckungen  des  Kopfes  geneigt,  ver- 
letzte   sich   durch   einen    Fall    (Herbst  1814)  an  der  Stirn,    und  litt  seitdem  an  Kopfweh 


152  Netzhaut. 

und  häufigem  Nasenbluten.  Einige  Monate  später  (Ende  December)  kamen  zu  dem  ge- 
steigerten Kopfweh  noch  Fieber,  Empfindlichkeit  gegen  das  Licht  und  gegen  Geräusch, 
Schielen  und  convulsivische  Paroxysmen,  die  eine  Zeit  lang  alle  halbe  Stunden  zurück- 
kehrten. Im  März  1815  trat  auffallende  Besserung  bezüglich  der  Kopfsymptome  ein, 
wogegen  sich  scrofulöse  Geschwülste  am  Hals  und  Beine  entwickelten.  Nach  etwa 
einjährigem  Bestände  dieser  Besserung  (im  Mai  1816)  bemerkte  man  wieder  Verschlim- 
merung, namentlich  Steigerung  der  Empfindlichkeit  gegen  Licht  und  Geräusch,  Schielen 
und  allmälige  Abnahme  der  Sehkraft  bis  zur  völligen  Blindheit  (im  Juli).  Tod  im  October ; 
die  Geisteskräfte  waren  ungeschwächt  geblieben.  —  Bei  der  Section  fand  man  eine 
tcalhtussgrosse  Geschwulst  auf  dem  Türkensattel  sitzen,  welche  das  Chiasma  comprimirte; 
sie  bestand  aus  einer  Marksubstanz  von  gelblicher  Farbe  und  war  von  einer  dünnen 
und  feinen  Haut  bedeckt.  (Tuberkel?)  (Beob.  v.  Dr.  Hay,  aus  Abercrombie's  patholog. 
und  praktischen  Untersuchungen  über  die  Krankheiten  des  Gehirns  entlehnt  von  Mahenzie 
1.  c.  S.  797). 

Bei  einem  siebenjährigen  Kuaben  stellten  sich  nach  einem  Falle  auf  die  Stirn 
Kopfschmerzen  ein,  nach  einigen  Monaten  Amblyopie  und  Amaurosis,  dann  auch  Epi- 
lepsie, allmälig  zunehmende  Schwäche  der  Extremitäten,  endlich  Lähmung  derselben, 
Coma  und  Tod ;  die  Geisteskräfte  waren  bis  auf  die  letzten  Tage  ungestört.  Dauer 
der  Krankheit  fünf  Vierteljahre.  —  Eine  weisse,  flache,  fesie,  bohnengrosse  Geschwulst 
unter  dem  Chiasma;  in  den  Ventrikeln  12  Unzen  klarer  Flüssigkeit;  der  rechte  Lappen 
des  kleinen  Gehirnes  verhärtet,  der  linke  in  eine  eiterfönnige  scrofulöse  Masse  ver- 
wandelt. (Abercrombie,  des  malad,  de  l'enceph.,  trad.  de  l'anglais  par  Gendrin,  Brux. 
1837.  Edit.  III.  p.  210.) 

2.  Amaurosis  in  Folge  von  Circulationsstörungen  im  Kopfe. 

Schwächung  der  Sehkraft  ist  ein  häufiges  Symptom  von  activer,  pas- 
siver oder  mechanischer  Hyperämie  in  der  Schädelhöhle;  zur  vollständi- 
gen und  anhaltenden  Erblindung  jedoch  kommt  es  in  der  Regel  nur  dann, 
wenn  Hämorrhagie  mit  Zertrümmerung  oder  Compression  der  betreffenden 
Fasern  eingetreten  ist,  wenn  erweiterte  uud  rigide  Gefässe  oder  förmliche 
Aneurysmen  auf  den  Sehnerven  drücken,  wenn  nebst  der  Hyperämie  be- 
reits Ausscheiduug  von  Serum  zwischen  den  Meningen,  in  den  Ven- 
trikeln oder  Entwickelung  von  Neoplasmen  u.  dergl.  besteht.  Bei  be- 
trächtlicher Hyperämie  des  Gehirnes  sind  in  der  Regel  auch  die  Zeichen 
von  Hyperämie  am  Bulbus,  namentlich  an  der  Binde-,  Netz-  und  Aderhaut 
nachweisbar,  und  bei  der  acliven  und  mechanischen  sind  zugleich  mehr 
weniger  deutlich  ausgesprochene  subjeelive  Erscheinungen  vorhanden, 
welche  auf  Erregung  der  Fasern  des  Opticus  deuten ,  Empfindlichkeit 
gegen  das  Licht,  Sehen  von  Flammen,  Funken,  Blitzen  u.  dergl,  oder 
förmliche  Hallucinationen,  Sehen  von  äusserlich  nicht  vorhandenen  Gegen- 
ständen.    Dieser    innige    Zusammenhang    lässt   sich,    wo  nicht    völlig,    so 


Cercbralaniaiirosc.  1 53 

doch  grösstenteils  schon  aus  der  nahen  und  innigen  Beziehung  erklären, 
in  welcher  die  Arteria  Ophthalmien  zu  den  Hirnarterien  und  die  Vena 
ophthalmica  zu  den  Hirnblutleitern,  namentlich  zum  Sinus  cavernosus 
steht.  —  Was  die  Apoplexie  betrifft,  so  ist  zu  bemerken,  dass  Schwächung 
oder  Aufhebung  der  Sehkraft  bisweilen  eine  Zeit  lang  das  eminente,  wenn 
auch  nicht  gerade  einzige  Symptom  eines  kleinen  Extravasates  sein,  und 
in  sofern  als  Vorbote  der  Apoplexie  betrachtet  werden  kann,  als  über 
kurz  oder  lang  an  mehreren  Stellen  oder  in  grösserer  Menge  Hämorrhagie 
mit  eclatanlen  anderweitigen  Zufällen  dazu  tritt.  —  Sorgfältiges  Forschen 
nach  primären  oder  consecutiven  Gefässerkrankungen  und  Circulations- 
störungen,  z.  B.  Druck  auf  die  Jugular-  oder  absteigende  Höhlvene,  Krank- 
heiten der  Aorta,  des  Herzens,  der  Lunge  u.  s.  vv.  wird  demnach  in  allen 
Fällen  von  Amaurosis  nothwendig  sein,  wo  die  Ursache  derselben  nicht 
schon  klar  zu  Tage  liegt. 

Eine  53jährige  Stubenmagd,  seit  4  Jahren  nicht  mehr  menstruirt,  litt  schon  vor  20 
Jahren  an  Blutungen  aus  den  Mastdannvenen.  Vor  10  Jahren  ohngefähr  erkrankte  sie 
angeblich  an  einem  biliösen  Fieber,  seit  welcher  Zeit  heftige  Kopfschmerzen,  grosse  Mat- 
tigkeit, Herzklopfen  imd  Abnahme  des  Sehvermögens  die  Patientin  quälten.  Bei  der 
Untersuchung  fand  man :  das  Aussehen  beider  Augen  matt,  die  obern  Lider  etwas  herab- 
hängend, schwer  beweglich,  die  Scleralbindehaut  von  einigen  Gefässen  durchzogen,  die 
Sclera  schmutzig,  bleifarben,  die  braune  Iris  wie  ausgewaschen,  am  rechten  Auge 
ganz  unbeweglich,  am  linken  auf  starkes  Licht  schwach  reagirend  ,  die  weiten  Pupillen 
eckig,  rauchig,  das  Sehvermögen  des  rechten  Auges  aufgehoben,  das  des  linken  bis  auf 
undeutliches  Wahrnehmen  grösserer  Gegenstände  beschränkt.  Zeitweiliges  Funkensehen, 
heftige  drückende  Schmerzen  im  Vorderkopfe,  gestörte  Verdauung,  Stuhlverstopfung.  Bei 
der  Untersuchung  des  Herzens  fand  man  die  Erscheinungen  von  Insufficienz  der  Aorta- 
klappen mit  Erweiterung  des  linken  Ventrikels.  Man  behandelte  die  Kranke  durch  einige 
Wochen  mit  Tonico-solventibus,  bis  sie  ohne  bekannte  Ursache  von  einem  Erysipel  be- 
fallen wurde,- das  am  linken  obern  Lide  mit  Abscessbildung  endete.  Nach  einigen  Tagen 
magerte  die  Kranke  zusehends  ab,  litt  an  anhaltenden  Kopfschmerzen  und  Schlaflosigkeit, 
und  war  psychich  sehr  verstimmt.  Endlich  verfiel  sie  in  Geistesabwesenheit  mit  zeit- 
weiligen heftigen  Delirien  und  starb.  Sectionsbefund  :  Insufficienz  der  Aorlaklappen  in 
Folge  von  Verknöcherung  derselben,  Erweiterung  des  linken  Ventrikels,  Erweiterung  der 
rechten  Carotis  um  beiläufig  ein  Drittel,  atheromatöse  Ablagerungen  an  ihrer  innern 
Fläche;  die  Art.  ophthalm,  rechterseits  gleichfalls  erweitert,  ihre  Glashaut  auf  ähnliche 
Weise  verändert,  der  Sehnerve  dieser  Seite  vom  Chiasma  bis  zum  Bulbus  in  einen  dünnen 
Strang  verwandelt,  der  Sehnerve  dieser  Seite  anscheinend  unverändert.  Ausserdem  im 
linken  vordem  grossen  Gehirnlappen  in  der  Gegend  des  Corpus  striatum  ein  anscheinend 
einige  Wochen  alter  apoplektischer,  wallnussgrosser  Herd.  In  der  Leber  eine  taubenei- 
grosse  Angiotelektasie.  Die  Untersuchung  der  Augen  wurde  leider  nicht  gestattet.  (Bfadig 
Zeitschrift  der  Gesellschaft  der  Wiener  Ärzte,  1851,  6.  Heft  S.  423). 


154  Netzhaut. 

Ein  Herr  von  48  Jahren,  stark  und  plethorisch,  Gastronom  und  fröhlicher  Lebemann, 
litt  seit  einigen  Tagen  an  congestiver  Amblyopie.  Diese  offenbarte  sich  durch  die  ge- 
wöhnlichen Symptome,  und  der  Kranke  sah  ausserdem  alle  Gegenstände  roth.  Drei  Tage 
hindurch  stellte  ihm  Carron  du  Villards  die  Nothwendigkeit  eines  reichlichen  Aderlasses 
vor;  er  aber  weigerte  sich  hartnäckig.  Als  sich  einige  apopleklische  Erscheinungen  (?) 
zu  denen  der  Amaurose  gesellten,  Hess  er  sich  8—10  Blutegel  an  den  After  setzen.  Als 
diese  eine  halbe  Stunde  gesogen  hatten,  rief  er  aus,  er  sehe  nur  Blut,  und  fiel  bewussl- 
los  nieder.  C.  liess  ihm  sogleich  zur  Ader;  er  erhielt  sein  Bewusstsein  wieder,  allein 
das  Sehvermögen  auf  dem  rechten  Auge  war  durch  ein  Blutextravasat  in  dem  Humor 
aqueus  getrübt  (?),  und  kehrte  nicht  wieder.  In  der  Nacht  erfolgte  ein  zweiter  Anfall; 
es  wurde  ein  zweiter  Aderlass  gemacht;  der  Mund  war  etwas  verzerrt  und  die  Bewe- 
gung der  Zunge  gehemmt.  Diese  Symptome  verschwanden  nach  einiger  Zeit  bei  einer 
zweckmässigen  Behandlung.  Das  extravasirte  Blut  wurde  resorbirt,  und  die  andern 
amaurotischen  Erscheinungen  sind  jetzt  alle  verschwunden  ,  nur  sieht  der  Mann  auf  dein 
rechten  Auge  etwas  schlechter,  als  auf  dem  linken.  (Carron  du  Villards  prakt.  Handb. 
der  Augenkrankh.  übers,  von  Schnackenberg,  1841  S.  352.)  —  Diese  Beobachtung,  wie 
viel  sie  auch  zu  wünschen  übrig  Iässt,  scheint  doch  desshalb  beachtenswerth,  weil  hier 
höchst  wahrscheinlich  Apoplexie  im  Auge  mit  Apoplexie,  wenigstens  mit  bedeutender 
Hyperämie  des  Gehirnes  zugleich  statt  gefunden  hat. 

Ein  67  Jahre  alter  Mann  war  vor  21  Jahren  zuerst  am  rechten,  dann  am  linken  Auge 
erblindet,  allmälig,  ohne  Schmerzen  an  den  Augen,  jedoch  unter  Kopfschmerzen.  Später 
traten  zuweilen  arthritische  Augenentziindungen  ein,  welche  jedoch  immer  behoben  wur- 
den, ohne  dass  die  Augen  dadurch  eine  merkliche  Veränderung  erlitten.  Als  Professor 
Beck  (ohngefähr  im  4.  Jahre)  die  Augen  sah,  fand  er  rechterseits  die  Cornea  und  Iris 
normal,  die  Pupille  erweitert  und  starr,  die  Conjunctivalgefässe  varicös,  die  Sclerotica 
schmutzig  gelb,  die  Linse  weiss  und  an  die  Iris  angedrückt,  das  Auge  hart  anzufühlen, 
frei  beweglich;  linkerseits  dieselben  Veränderungen,  nur  die  Linse  grünlich,  und  das  Auge 
nicht  härter.  Der  Zustand  änderte  sich,  zeitweilige  entzündliche  Zufälle  an  den  Augen 
abgerechnet,  im  Verlaufe  vieler  Jahre  nicht;  auch  das  Allgemeinbefinden  war  im  Ganzen 
gut,  bis  etwa  '/4  Jahr  vor  dem  Tode,  wo  sich  bedeutende  Abnahme  der  Kräfte,  Appetit- 
losigkeit, Schwerathmigkeit,  Anschwellung  der  Füsse  und  Herzklopfen  bei  ungestörter 
Gehirnthätigkcit  und  ohne  Fieber  einstellten.  Es  bildeten  sich  Aphthen  und  zuweilen  trat 
Erbrechen  einer  schwärzlichen  Flüssigkeit  ein.  Erst  einige  Tage  vor  dem  Tode  zeigte 
sich  die  geistige  Thätigkeit  auffallend  gesunken.  —  In  der  Bauchhöhle  fand  man:  Über- 
füllnng  der  Venen,  des  Darmcanals  und  der  Pfortaderzweige  der  sonst  nicht  veräederten 
Leber,  den  sehr  ausgedehnten  Magen  mit  einer  dünnen  schwarzen  Flüssigkeit  gefüllt,  seine 
Wandungen  verdünnt  und  mürbe,  ohne  Ulceration  oder  Gangrän,  die  Venen  an  seiner 
innern  Fläche  varicös,  die  Milz  etwas  vergrössert.  In  der  Brusthöhle:  die  Lungen 
normal,  die  Vorkammern  des  Herzens  von  geronnenem  Blute  stark  ausgedehnt,  die  Sub- 
stanz des  Herzens  welk,  die  Semilunarklappen  der  Aorta  verknöchert.  In  der  Schädel- 
höhle: hochgradiger  Hydrops  membranaruin  cerebri,  die  Venen  mit  Blut  überfüllt,  die 
Hirnsubstanz  etwas  verweicht,  die  Art.  carotis  int.  in  ihrem  Verlaufe  unter  den  Sehnerven 
und  im  fjanz-en  Sinus  cavernosus  beiderseits  verknöchert  und  in  ihrem  Lumen  erweitert, 
beide  Sehnerven  atrophisch,  um  die  Hälfte  dünner,  welk,  grau,  und  so  weich,  wie  sonst 


Cercbralamniirose.  155 

die  Geruchsnerken.  —  Das  rechte  Auge  zeigte  verminderte  Wölbung  der  Cornea,  keinen 
Humor  aqueus  (?),  die  Iris  braungelb,  sonst  normal,  eben  so  die  Pupille;  die  Chorioidea 
auf  beiden  Flächen  gelbbraun,  aber  pigmentlos,  sehr  verdickt,  auf  der  Schnittfläche  sil- 
bergrau. Von  der  Retina  konnte  keine  Spur  aufgefunden  werden,  und  es  war  höchst 
wahrscheinlich,  dass  sie  mit  der  Chorioidea  verwachsen  war.  Die  Hyaloidea  stellte  sich 
in  der  ganzen  Ausbreitung  bis  in  die  tellerförmige  Grube  verknöchert  dar,  die  Hyaloidea 
cellularis  war  verdickt,  partienweise  verknorpelt  und  verknöchert,  die  Zellen  mit  einer 
weiss  geronnenen  Masse  angefüllt.  Die  Linse  undurchsichtig,  weiss,  fest,  die  Kapsel  an 
ihrer  hintern  Wand  stellenweise  ossificirt.  Am  linken  Auge:  die  Hornhaut  flach,  die 
Augenkammer  klein,  wenig  Humor  aqueus  ;  Iris,  Chorioidea  und  Sclera  normal.  Zwischen 
Sclera  und  Chorioidea  eine  ungewöhnliche  Menge  Flüssigkeit.  Kein  Scleralstaphylom. 
Die  Retina  fester  und  dicker;  auf  ihrer  äussern  Oberfläche  viele  rothe  Flecke,  welche 
nnter  der  Loupe  etwas  erhaben,  gleichförmig,  im  Centrum  dichter  waren,  und  sich  un- 
merklich in  einzelne  dünne  Fädchen  verloren.  Die  Retina  sonst  von  mehreren  Blutge- 
fässen durchzogen.  Die  Glasfeuchtigkeit  im  Auge  grünlich,  nach  ihrer  Entleerung  voll- 
kommen durchsichtig,  hell  und  farblos.  Die  Linse  etwas  vergrössert  und  meergrün.  Der 
Sehnerve  in  beiden  Augenhöhlen  so  wie  in  der  Schädelhöhle.  —  Diese  Beobachtung  ist 
leider  sehr  unvollständig,  und  in  Bezug  auf  den  Augenbefund  gewiss  irrig  aufgefasst. 
Am  rechten  Auge  hatte  man  offenbar  den  Ausgang  von  Chorioiditis  mit  verkalktem  Ex- 
sudat vor  sich.  Dennoch  ist  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die  Erkrankung  im  Gefäss- 
system  der  Augenkrankheit  vorausging  und  zu  Grunde  lag.  (Amnion  Zeitschr.  V.  B.  S. 
191.)  Eine  ähnliche  Beobachtung  findet  sich  bei  Mahenzie  I.  c.  S.  777  betreffend  einen 
57  Jahre  alten  blinden  Taglühner,  beobachtet  von  Spurgin.  Die  Section  ergab  ein  Aneu- 
rysma am  circulus  arter.  WUlisii,  welches  auf  den  rechten  Sehnerven  drückte,  nebstdem 
einen  Eiter-  und  einen  apoplektischen  Herd  im  grossen  Gehirne,  Verdickung  der  Scheide 
des  rechten  Sehnerven.  Auch  hier  bot  die  Retina  eine  röthlich-graue  Farbe  dar  und  war 
von  zahlreichen  Gefässverästlungen  der  Centralvene  durchzogen,  dabei  die  hintere  Kapsel 
der  Krystalllinse  ganz,  die  Linse  halb  verdunkelt  und  letztere  bis  auf  die  Hälfte  ihres 
natürlichen  Volumens  geschwunden.  Zu  bemerken  ist  noch,  dass  kurz  vor  dem  Tode 
bei  völliger  Blindheit  und  bei  völliger  Unbeweglichket  der  Pupillen  die  des  rechten  Auges 
erweitert,  die  des  linken  verengert  war,  wofür  in  dem  Sectionsbefunde  kein  Erklärungs- 
grund aufzufinden   war. 

Bei  einem  im  68.  Jahre  apoplektisch  gestorbenen  Manne  hatte  sich  14  Jahre  vorher 
Abnahme  der  Sehkraft  gezeigt,  welche  sich  bestimmt  als  Amblyopie  kund  gab,  und  sich 
allmälig  zu  völliger  Amaurose  steigerte.  Später  wurde  auch  das  Gehör  auffallend  schwä- 
cher. Drei  Jahre  vor  dem  Tode  wurde  ein  apoplektischer  Anfall  beobachtet,  nach 
welchem  Lähmung  der  Gliedmassen,  vorzüglig  auf  der  rechten  Seite,  zurückblieb. 
Die  Sprache  war  lallend  und  unverständlich ;  über  Kopfschmerzen  klagte  er  niemals. 
An  den  Augen  und  Lidern  war  nie  etwas  Abnormes  in  Bezug  auf  Bau,  Stellung  oder 
Bewegung  zu  bemerken:  die  Pupille  verharrte  in  einem  Mittelzustande  zwischen  Veren- 
gerung und  Erweiterung.  Eine  speeifische  Dyskrasie  als  auf  die  Krankheit  Einfluss 
nehmend  konnte  nicht  vorgefunden  werden  ;  man  nahm  an ,  das  die  ausschweifende 
Lebensweise,  die  der  Mann  geführt  (in  Venere  et  Baccho)  ,  besonders  der  Missbrauch 
geistiger  Getränke  bei  dem  Mangel  körperlicher  Thätigkeit  zur  Entstehung  des  Übels 
Anlass    gegeben   habe.  —  Es    wurde    nur   die  Untersuchung  des   Kopfes  und  der  Augen 


156  Netzhaut. 

gestattet,  obgleich  die  Untersuchung  des  ganzen  Körpers  zu  wünschen  war,  da  die 
Zeichen  allgemeiner  Wassersucht  sich  vorfanden.  Die  Schädelknochen  ungewöhnlich 
dick  und  ohne  Diploe;  Wasseranhäufung  zwischen  den  Hirnhäuten;  Verknöcherung  an 
der  Art.  vertebralis,  basiliaris ,  fossae  Sylvii  und  Carotis  cerebralis ;  keine  Hirnhöhlen- 
wassersucht.  Der  rechte  Thalamus  opt.  war  durch  eine  trichterförmige  Höhle,  welche 
harte,  callöse,  gelblichbraune  Ränder  und  Wände  hatte,  und  weder  Eiter  noch  Blut  ent- 
hielt, grösstenteils  zerstört.  Diese  Höhle  setzte  sich,  schmäler  werdend,  bis  auf  die 
Corpora  geniculata  fort.  Der  linke  Sehhügel  war  verkleinert,  von  der  weissen  Substanz 
kaum  noch  eine  Spur  vorhanden.  (Offenbar  Folgen  früherer  Apoplexie.')  Die  Sehnerven 
beiderseits  geschwunden,  auf  der  linken  Seite  mehr,  als  auf  der  rechten,  und  zwar  vor 
ihrem  Ursprünge  über  das  Chiasma  fort  bis  zu  den  Bulbis,  in  der  Augenhöhle  am  mei- 
sten. In  den  Bulbis  keine  besondere  Veränderung,  ausser  dass  in  der  Retina  des  rech- 
ten Auges  die  Macula  lutea  nicht  wahrgenommen  werden  konnte.  Professor  Beck,  der 
diese  Beobachtung  mittheilt,  bemerkt  noch,  der  schnelle  Tod  möge  wohl  nicht  allein 
vom  Gehirn,  sondern  vom  Herzen  oder  von  den  Lungen  ausgegangen  sein.  {Amnion 
1.  c.  V.  B.  S.  447.) 

Ich  wurde  vor  Kurzem  von  einem  alten,  übrigens  sich  ganz  wohl  befindenden  Herrn 
wegen  plötzlicher  Erblindung  des  rechten  Auges  consultirt.  Da  ich  keine  Veränderung 
im  Auge  und  aucli  sonst  keine  Veranlassung  zur  Blindheit  auffinden  konnte,  aber  stark 
rigide  Arterien  bemerkte,  so  zog  ich  aus  diesen  Umständen  die  Vermuthung,  es  sei  die 
Blindheit  wohl  Folge  einer  kleinen  Hämorrhagie  im  Gehirn  und  stützte  hierauf  meine 
Ordination  ;  vierzehn  Tage  darauf  las  ich  in  der  Zeitung,  dass  der  Mann  an  Apoplexie 
gestorben  sei. 

3.  Amaurosis  in  Folge  von  Lues. 

Besonderen  Schwierigkeiten  unterliegt  die  Diagnosis  syphilitischer  Lei- 
den der  Centralorgane  dann,  wenn  die  Affection  als  umschriebene  Entzün- 
dung- der  Hirnmasse  mit  consecutiver  Selerosirung  und  Atrophirung  auftritt, 
wenn  die  anderweitigen  Manifestationen  der  Syphilis  in  den  allgemeinen 
Decken,  in  den  Schleimhäuten,  im  Knochengerüste  nie  eminent  auftraten, 
nicht  beachtet  wurden,  oder  auch  fehlten,  wenn  die  Merkmale  der  pri- 
mären Infection  (Narben)  nicht  aufzufinden  sind,  wenn  die  Infectioii  auf  un- 
gewöhnlichem Wege  (nicht  von  den  Genitalien  aus)  erfolgte,  wenn  die  Lues 
angeboren  ist.  Möge  das  Gesagte  genügen,  den  Praktiker  aufmerksam  zu 
machen,  dass  er  bei  unklaren  Fällen  nicht  vergesse,  an  Syphilis  zu  denken. 
Ein  Übersehen  dieser  Art  möchte  um  so  mehr  bedauerlich  sein,  als  ge- 
rade solche  Fälle  in  der  Regel  noch  Heilung  gestalten,  sich  selbst  über- 
lassen dagegen  wohl  immer  traurig  enden. 

Ein  Mann  von  43  Jahren,  welcher  in  Folge  von  Lues  und  Mercurialkachcxie  bereits 
die  Knochen  der  Nasenhöhle  verloren  hatte,  erblindete  nach  heftigen  Kopfschmerzen  auf 
beiden  Augen  nach  und  nach  gänzlich.  Die  Untersuchung  nach  mehrmonatlichem  Bestände 


Ccrcbralaniaurose.  157 

des  Augenleidens  zeigte:  die  Bulbi  und  die  Iris  frei  beweglich,  die  Pupillen  erweitert,  in 
der  Tiefe  eigentümlich  getrübt,  die  Thränenfortleitung  ungestört.  Der  Tod  erfolgte  ohn- 
gefähr  4  Jahre  später,  in  Folge  von  Entzündung  der  Schleimhaut  des  Darmcanalcs.  Bei 
Eröffnung  der  Schädelhöhle  und  der  Augen  fand  man  :  die  Schädelknochen  sehr  dick, 
vorzüglich  in  der  Gegend  der  Glahella;  auf  der  innern  Fläche  der  linken  Seite  eine 
nicht  unbedeutende  Exostose;  die  Crista  galli  durch  Caries  gestört,  vom  Siebbein  fast 
keine  Spur,  auch  der  Türkensattel  bereits  von  Caries  angegriffen ;  die  harte  Hirnhaut 
verdickt,  die  Gehirnmasse  härter  als  gewöhnlich,  die  Sehnerven  hinter  dem  Chiasma 
dünner,  vor  demselben  dagegen  auffallend  dicker  durch  Volumszunahme  ihrer  Hülle;  die 
fibröse  Scheide  des  Sehnerven  in  der  Orbita  sehr  verdicht  und  härter  ;  zwischen  der  fibrösen 
Hülle  und  dem  eigentlichen  Neurilyma  starke  lymphatische  Ausschwitzungen  ,  das  Neu- 
rilyma  glänzender  und  härter,  als  gewöhnlich ;  die  einzelnen  Nervenfäden  der  Nerven- 
masse mehr  auseinander  gedrängt;  die  Art.  centralis  nächst  dem  Bulbus  erweitert  und 
mit  Blut  überfüllt.  Im  Bulbus  ausser  Pigmentarmuth  der  Chorioidea  und  Verdünnung 
der  Netzhaut  keine    erhebliche  Abnormität.     (Amnion,  Zeitschrift,  II.  B.  S.  285.) 

Ein  38  Jahre  alter  Mann,  welcher  sehr  kachektisch  aussah,  über  heftige  Kopf- 
schmerzen und  allgemeine  Kraftlosigkeit  klagte,  wandte  sich  an  Amnion  (ibid.  S.  290) 
wegen  Trübung  seiner  sonst  immer  gut  gewesenen  Sehkraft.  Amnion  überzeugte  sich, 
dass  der  Mann  syphilitisch  gewesen  war,  und  fand  eine  ziemlich  grosse  Perforation  des 
harten  Gaumens.  Dem  Tode  gingen  die  Erscheinungen  von  Meningitis  vorher.  Die  Hirn- 
schale an  einigen  Stellen  ungewöhnlich  dick,  an  andern  regelwidrig  dünn.  Auf  dem  Türhen- 
sallel  der  Knochen  mürb,  cariös,  von  Jauche  durchdrungen;  die  Glandula  pituitaria  fast 
ganz  zerstört.  Auf  der  Schädelbasis  ungefähr  3  Unzen  röthlich  gefärbter  Flüssigkeit; 
die  ganze  Oberfläche  der  Arachnoidea  mit  plastischem  Exsudate  bedeckt,  das  Gehirn  un- 
gewöhnlich weich,  die  3.  Hirnhöhle  und  der  Zugang  zur  Sylvischen  Wasserleitung  sehr 
erweitert,  in  den  erweiterten  Seitenventrikeln  mehrere  Unzen  hellgelber  Flüssigkeit.  Die 
Sehnerven  hinter  dem  Chiasma  sehr  dünn  und  weich,  ebenso  dieses  selbst,  vor  demselben 
jedoch  voluminös,  und  zwar  durch  Verdickung  der  fibrösen  Hülle,  die  man  als  Fortsetzung 
der  dura  mater  zu  betrachten  pflegt;  zwischen  der  fibrösen  Hülle  und  dem  Neurilyma  kein 
Exsudat.  In  den  Bulbis  —  mit  erweiterter  Pupille  —  nichts  Abnormes. 

Wilson  in  London  wurde  zu  einem  Kranken  gerufen,  über  welchen  er  folgende 
Mittheilung  erhielt.  Im  Frühling  1803,  als  die  Influenza  sehr  herrschend  war,  wurde 
Hr.  C,  ein  muskulöser  Mann  von  28  Jahren  ,  von  einem  sehr  heftigen  tiefsitzenden 
Schmerze  in  der  Höhle  des  linken  Auges  befallen.  Ein  streng  antiphlogistisches  Ver- 
fahren, von  einem  ausgezeichneten  Arzte  empfohlen,  wurde  eine  beträchlliche  Zeit  ohne 
Erfolg  fortgesetzt.  Nachher  wurden  Medicamente,  welche  in  nervösen  Krankheiten  Er- 
leichterung zu  verschaffen  geeignet  sind,  in  grossen  Quantitäten  angewendet.  Diess  sowohl 
als  Veränderung  des  Wohnortes  und  verschiedene  andere  Mittel  blieben  fruchtlos.  All- 
mälig  wurde  linkerseits  das  Ohr  taub,  der  M.  levator  palpebrae  und  der  rectus  internus 
paralytisch,  und  das  Auge  bei  stark  erweiterter  Pupille  blind.  Dazu  kam  Verziehung  des 
Mundes  nach  der  rechten  Seite,  ausserordentliche  Heiserkeit  und  bis  zur  Unverständlichkeit 
bebinderte  Aussprache.  Endlich  verlor  er  die  Fähigkeit,  feste  Substanzen  zu  schlucken, 
konnte  selbst  Flüssigkeiten  nur  mit  grosser  Schwierigkeit  zu  sich  nehmen  und  musste 
den  Speichel,  den  er  weder  zu  schlucken  noch  auszuwerfen  vermochte,    mit  der  Zunge 


158  Netzhaut. 

aus  dem  Munde  zu  fördern  trachten.  Dabei  die  hartnäckigste  Stuhlverstopfung.  —  Als 
Wilson  den  Kranken  besuchte,  fand  er  auch  die  rechten  Extremitäten  vollständig  gelähmt. 
Nebst  sehr  heftigem  Schmerze  in  der  linken  Augenhöhle  bestand  auch  noch  beträcht- 
licher Schmerz  in  den  Halswirbeln  und  auf  der  Höhe  der  Schulter.  Lag  der  Kranke  im 
Bette,  so  war  er  nicht  im  Stande,  seinen  Kopf  vom  Kissen  zu  erheben;  er  konnte  fast 
gar  nicht  schlafen,  und  der  quälende  Schmerz  liess  nicht  einen  Augenblick  nach,  man 
sah  seinem  Tode  stündlich  entgegen. —  Wilson  erfuhr,  dass  der  Patient  vor  ^Anfang  der 
Krankheit  zu  2 — 3  31alen  Chancres  und  beginnende  ßubonen  gehabt  hatte,  dass  ihm  da- 
gegen Quecksilber  verordnet  worden  war,  bis  die  örtlichen  Zufälle  verschwanden,  und 
dass  der  behandelnde  Arzt  die  Heilung  dann  für  vollständig  erklärt  hatte.  Den  Sommer 
vor  seiner  Krankheit  hatte  er  sich  beim  Springen  im  Rücken  Weh  gethan.  und  eine  kurze 
Zeit  darauf  entstand  ein  Bubo  in  der  rechten  Leiste.  Dieser  Wurde  mit  besonderer 
Sorgfalt  behandelt,  und  zwar  unter  der  Voraussetzung,  dass  er  venerischer  Art  sein 
könnte.  Er  suppurirte  und  heilte  endlich,  ohne  dass  Quecksilber  angewendet  worden 
war.  —  Da  Wilson  in  der  Gestalt  des  einen  Beines  des  Patienten  etwas  Eigenthüm- 
liches  bemerkte,  so  bat  er  um  Erlaubniss,  dasselbe  untersuchen  zu  dürfen,  und  als  der 
Strumpf  abgenommen  war,  bemerkte  er  nicht  nur  eine  Narbe  von  beträchtlicher  Aus- 
breitung, sondern  auch,  dass  die  Tibia  sehr  aufgetrieben  sei.  Der  Patient  empfand  aber 
in  diesem  Knochen  keinen  Schmerz.  Er  schrieb  mit  seiner  linken  Hand  nieder,  dass  er 
mehrere  Jahre  vorher  einen  heftigen  Schlag  auf  dieses  Bein  bekommen  habe,  und  dass 
ein  grosses  Knochenstück  abgegangen  sei ;  er  konnte  sich  indess  nicht  entsinnen,  ob  er 
damals  Quecksilber  bekommen;  er  glaube  nicht,  dass  die  Knochenkrankheit  damals  für 
venerisch  gehalten  worden  sei.  Er  erinnerte  sich  nicht,  jemals  Flecken  auf  der  Haut 
oder  Geschwüre  im  Schlünde  gehabt  zu  haben,  und  sein  gegenwärtiges  Übel  sei  noch 
von  keinem  der  consultirten  Arzte  jemals  für  venerisch  gehalten  worden.  —  Als  Wilson 
den  Nacken  des  Patienten  untersuchte,  fand  er  mehrere  Wirbelbeine  sehr  aufgetrieben  ; 
er  entdeckte  auch  eine  grosse  Geschwulst  am  Acromion  der  rechten  Scapula  und  eine 
beträchtliche  Auftreibung  längs  der  Spina  dieses  Knochens.  Die  rechte  Clavicula  war 
wenigstens  3mal  so  dick  als  im  natürlichen  Zustande,  und  auch  am  Oberarmknochen 
konnte  man,  da  die  Muskeln  geschwunden  waren,  ein  wenig  über  der  Insertion  des  M. 
deltoideus  eine  Anftreibung  wahrnehmen.  Da  diese  Geschwülste  venerischer  Natur  sein 
konnten,  so  hielt  Wilson  die  Anwendung  des  Quecksilbers  für  gerechtfertigt.  Die  Ver- 
wandten befürchteten ,  dass  die  ausserordentliche  Schwäche  und  der  allein  Anscheine 
nach  baldige  Tod  den  Versuch  nutzlos  machen  würden  ,  willigten  endlich  doch  ein, 
indem  der  Tod,  wenn  nicht  etwas  gethan  und  zwar  schnell  gethan  wurde,  unvermeidlich 
zu  sein  schien.  Demgemäss  wurde  1  Drachme  starke  Mercurialsalbe  mit  5  Gran  Campher 
jeden  Abend  in  die  Haut  eingerieben.  Nach  4  Tagen  wurde  der  Mund  vom  Quecksilber 
afficirt ;  nach  10  Tagen  war  das  Schlucken  schon  nicht  mehr  so  schwierig,  der  Patient 
hatte  guten  Schlaf,  und  nach  14  Tagen  waren  seine  Schmerzen  beinahe  vergangen,  die 
Geschwulst  der  Clavicula  hatte  sichtlich  abgenommen,  und  die  Muskeln  des  Patienten 
waren  weit  voller  und  fester ;  der  Patient  konnte  sich  wieder  durch  die  Sprache  ver- 
sländlich machen.  Jetzt  wurde  die  Salbe  auch  des  Morgens  zu  1  Drachme  eingerieben, 
und  ihr  Gebrauch  durch  11  Wochen  fortgesetzt.  Gegen  den  letzteren  Theil  dieser  Zeit, 
als  Patient  ganz  bequem  schlucken  konnte,  nahm  er  täglich  etwa  8  Unzen  der  Decoctio 
SarsapariHae  composita  und  dann  und  wann  irgend  ein  China prä'parat.  —  Obschon  während 


Cerebralaniaurose.  159 

dieser  Cur  der  Mund  beträchtlich  afficirt  war,  so  nahm  der  Patient  doch  taglich  an 
Kräften  zu  und  war  vor  Beendigung  der  Cur  fett  geworden.  Seine  Muskeln  hatten  bei- 
nahe ihre  ursprüngliche  Stärke,  seine  Glieder  ihre  frühere  Bewegungsfähigkeit  erhalten; 
die  Schmerzen  waren  ganz  beseitigt,  und  die  Verdickung  der  Knochen  hatte  sehr  ab- 
genommen. Seine  Heilung  war  mit  folgenden  Ausnahmen  vollkommen  und  halte  sich 
—  zur  Zeit  der  Veröffentlichung  des  Falles  —  über  2  Jahre  so  erhalten.  Die  Pupille 
des  I.  A.  blieb  etwas  erweitert  und  das  Lid  konnte  nicht  so  hoch  wie  ehedem  gehoben 
werden;  aber  der  Patient  konnte  Gegenstände  und  Farben  einigermassen  mit  diesem 
Auge  erkennen,  und  selbst  kleine  Gegenstände,  wenn  er  sich  einer  grünen  Planbrilte 
bediente  und  nur  dieses  eine  Auge  anwendete.  Bei  gleichzeitigem  Gebrauch  beider 
Augen  sah  er  noch  doppelt.  Er  sprach  immer  mit  einer  sehr  heisern  Stimme,  aber 
seine  Aussprache  war  ziemlich  deutlich.  (Makenzäe,  Krankh.  des  Auges,  Weimar  1832, 
S.  806.) 


4.  Amaurosis  nach  Unterdrückung  der  Transpiration,  Men- 
struation, purulentcr  Ausflüsse  u.  dergl. 

Die  nachstehenden  Beobachtungen  haben  den  Zweck,    aufmerksam  zu 
machen,  dass  bestimmte  Angaben  der  Kranken  über  unterdrückte  Ausschei- 
dungen, sie  mögen  nun  von  selbst  oder  auf  besonderes  Nachfragen  gemacht 
werden,    immerhin  volle  Beachtung  verdienen.       Man  wird  sich  allerdings 
hüten  müssen,  dass  man  nicht  ohne  weiteres  post  hoc  propter  hoc  schliesse, 
denn  es  kann  ein  Hirnleiden  ganz  unabhängig  von  einem  solchen  Momente 
entstanden,  ja  es  kann  sogar  das  Ausbleiben  einer  Ausscheidung  Folge  der 
bereits  bestehenden   Encephalopathie  sein ;    nichts  desto  weniger   bleibt  es 
Thatsache ,    dass  in  einzelnen  Fällen  z.  B.  Verkältung  ebenso  gut  Ursache 
des  Hirnleidens  wird,    als  eine  traumatische  Einwirkung,    und  es  wird  die 
richtige  Auffassung    des   ursächlichen  Zusammenhanges    zwischen   dem    in 
Rede  stehenden  Momente   und    der  Krankheit,  als  deren   Symptom  Amau- 
rosis besteht,  offenbar  von  grösstem  Einflüsse  auf  die  Prognosis  und  The- 
rapie sein.     Von  minderem  Einflüsse,  wenn  gleich  an  und  für  sich  wichtig» 
ist  die    Frage ,    ob  die  Amaurosis ,    wenn  sie    in  der   That  als    Folge    der 
unterdrückten  Ausscheidung  zu    betrachten    ist,    in  einem  speciellen  Falle 
durch  primäre  oder   secundäre    Netzhautaffection    bedingt  sei.      Dass    Me- 
ningitis ,    Encephalitis ,    besonders  aber   Hydrocephalus  in    manchen  Fällen 
das  Mittelglied  ist,  steht  fest;  dass  in  andern  Fällen  Entzündung  der  Netz- 
und  Aderhaut  die    Folge  solcher    Unterdrückungen  sei,    kann    auch    kaum 
bezweifelt  werden.    Ob  und  auf  welche  andere  Weise  sonst  noch  Amaurosis 
durch  Suppression    hervorgerufen   werde,    bleibt    ferneren    Beobachtungen 
und  Untersuchungen    anheimgestellt. 


160  Netzhaut. 

Ein  etwa  30  Jahre  alter  Schriftsetzer  litt  seit  4  Jahren  an  Amaurose,  die  sich,   an- 
geblich nach    starkem  Tanzen    und  Erkältung  des    schwitzenden  Kopfes,    allmälig  auso-e- 
bildet  halte.    '  Das  Gesicht  verlor    sich   in   einen   immer  dichter  werdenden  Nebel;    kein 
Ungestaltet-  kein  Funkensehen;    Zufalle  der  Reizlosigkeit,  keine  Entwicklung  von  Blut- 
gefässen;   träge,    massig  erweiterte,    kreisrunde,    etwas  rauchige  Pupille.       Periodisches 
heftiges  Kopfweh ,    besonders    in  der    linken  Seite    über    der  Stirn ;    Schielen ;    die  linke 
Augenbraue  höher  gezogen.      Spater  Anfälle  von  Krämpfen   in  den  Extremitäten  mit  ße- 
wusstlosigkeit,   zuweilen  unfreiwillige  Ausleerung  des  Urins  und  des  Stuhls,  beständiges 
Gefühl  von  Taubheit  in  der  linken  Seite.      Doch  ging  Patient  noch  am  Tage  vor  seinem 
Tode  aus,  welcher  nach  einem  heftigen  Krampfanfalle  plötzlich  erfolgte.  —  Sehr  dünner 
Schädel,    der  Schuppentheil  des  linken  Schläfebcines    wie  ein  Kartenblatt.       Der  Kranke 
halte  ein  Cauterium   von  Höllenstein  nach  Gräfe  auf  den  Scheitel  gelegt,    und    oft    noch 
geargwöhnt,    die  immer  wachsenden    Kopfschmerzen    möchten  von    einer  zu  tiefen  Ein- 
wirkung des  Mittels  herrühren.     Es  fand  sich  aber  kaum  in  der  Kopfschwarte  eine  Spur 
davon,    im  Schädel    und   innerhalb  desselben  gar  nichts,    was  darauf   hingedeutet  hätte. 
Die  Hirnhäute  waren  sehr  blutreich,  das  Gehirn  quoll  stark  hervor.     Als  man  durch  Ho- 
rizontalschnitte   bis  in  die    Nähe  der    Decke  des    linken  Seitenventrikels    kam,    hob  sich 
dasselbe  beträchtlich,  platzte  und  entleerte  eine  grosse  Menge  (11  '/2  Tassen  voll)  bräun- 
lichrothen,  schmutzigen  Wassers.      Der  linke  Seitenventrikel  übermässig  ausgedehnt;   der 
ganze  linke  verdere  Lappen    erstreckte  sich  weit  über  die    Mitte    nach  der  rechten  Seite, 
beengte  den  rechten  vordem  Lappen,  und  hatte  ihn  zum  Theil  aus  seiner  Lage  gedrängt. 
Das  Pavimentum,  besonders  nach  vorn  zu,    der  gestreifte  Körper  und  ein  Theil  des  Seh- 
hügels  auf  der  linken  Seite  waren  zerstört,  und  in  eine  gelbbräunliche  schmierige  Masse 
verwandelt.      Die  Marksubstanz  des  ganzen    linken  Hirnlappens  war  viel  dünner,    als  im 
natürlichen  Zustande,  und  zum  Theil,  besonders  nach  unten  zu,  in  jene  gelbbraune  Masse 
verwandelt.     An  der  Basis  cerebri  erstreckte   sich    diese  Entartung    bis  zur  Gland.  pitui- 
taria ,    welche  sehr  klein  war.       Das  Ghiasma  war  bräunlich ,    an  der  Oberfläche  sowohl 
als  im    Innern    fast    ohne  Marksubstanz,    platt,    zusammengeschrumpft    und    wie    durch- 
löchert;   ebenso  die  Sehnerven  sowohl  hinter  dem  Ghiasma  als  bis  zu  den  Bulbis  faden- 
artig, nicht  zum  4.  Theile  so  dick    als  im  gesunden  Zustande,    ohne  deutliche  Marksub- 
stanz;  der  linke  war  noch  dünner  und  zugleich  länger,    indem  das  Ghiasma  etwas  nach 
der  rechten  Seite   hinüber   gedrängt    lag.       Der    rechte  Seitenventrikel  war  ebenfalls  mit 
Wasser  gefüllt,    welche  nur  eine    leise  bräunliche    Färbnng  hatte,    aber  nicht  so  ausge- 
dehnt.      Diese    Section    der  Augen   wurde    nicht    gestattet.       [Andrea  bei   Amnion  1.  c* 
V.  B.  S.  409.) 

Eine  ähnliche  Beobachtung  machte  Kölscher  (Annalen,  2.  Band)  bei  einem  2?jährigen 
starken  und  sonst  ganz  gesunden  Mädchen.  Sie  hatte  in  Folge  einer  starken  Erkältung 
unter  heftigen  Kopfschmerzen  ihr  Gesicht  verloren,  schien  aber  ausserdem  eine  untadel- 
hafte  Gesundheit  zu  gemessen.  Die  Pupillen  stark  erweitert,  und  bei  starkem  Licht- 
reize sich  langsam  contrahirend,  der  Blick  stier,  sonst  nichts  Abnormes.  Setaceum  am 
Nacken,  dann  die  Scluniercur;  am  7.  Tage,  als  erst  3  Drachmen  ung.  cincreum  einge- 
rieben waren,  starb  die  Kranke  plötzlich.  Gehirnhäute,  Mark-  und  Uindcnsubstanz  des 
Gehirnes  normal;  in  beiden  Seitenventrikeln  12 — 14  Unzen  klares  Serum.  Weder  die 
Thalami  noch  die  Optici  selbst  zeigten    eine  pathologische  Veränderung. 


Cerebraläftiaürosisi  1 63 

Mttkenzie  I.  c.  S.  787  beruft  sich  auf  zwei  Beobachtungen  von  Arrachart,  welche 
W'ohl  kaum  anders  gedeutet  werden  können,  als  dass  die  Erblindung  durch  ein  Hirn- 
leiden  in  Folge  unterdrückter  Transpiration  gewesen  sei,  wenn  gleich  keine  Seclion 
zum  Beweise  des  ersten  Theiles  dieser  Behauptung  vorliegt.  Eine  junge  Frau  hatte 
wahrend  der  höchsten  Sommerhitze  eine  Last  Wasche  nach  dem  Flusse  getragen,  und 
von  Schweiss  triefend  ihre  Hände  in'e  Wasser  getaucht.  Es  üherfiel  sie  halle,  ihre  Haut 
wurde  augenblicklich  trocken,  und  binnen  einer  Viertelstunde  war  sie  blind.  Der  zweite 
Fall  betrifft  einen  sehr  corpulenten  jungen  Mann,  der  eine  Zeit  lang  in  einem  stark  ge- 
heizten Zimmer  sich  aufgehalten,  und  dasselbe  dann  mit  Schweiss  bedeckt  verlassen 
hatte.  Die  kalte  Luft  unterdrückte  plötzlich  den  Schweiss.  Er  legte  sich  mit  heftigen 
Kopfschmerzen  zu  Bette  und  erwachte  den  andern  Morgen  blind.  In  beiden  Fällen 
blieben  die  Pupillen  schwarz,  erweitert  und  unbeweglich,  die  Augen  stier,  die  Haut 
trocken. 

In  einem  von  tlotcship  erzählten  Falle  war  beinahe  völlige  Blindheit  bei  einem  al- 
ten Manne,  welcher  stark  an  Fussschwcissen  litt  und  auf  den  Bath  eines  Nachbars  die 
Blätter  von  Bumex  auf  die  Fusssohlen  gelegt  halte,  noch  während  der  Anwendung  die- 
ses Mittels,  und  zwar  binnen  einer  Stunde  eingetreten.  Dieser  raschen  Abnahme  der 
Sehkraft  war  grosse  Übligkeit  und  heftiger  Schmerz  über  der  Stirn  vorangegangen,  wel- 
che sich  schon  eine  halbe  Stunde  nach  dem  Gebrauche  des  Bumex  eingestellt  hattent 
Der  Mann  wurde  wieder  gesund,  nachdem  man  Blasenpflaster  hinter  die  Ohren  und  an 
die  Seitentheile  der  Füsse  gelegt,  kleine  Gaben  Calomel  in  Zwischenräumen  verabreich, 
und  die  Füsse  früh  und  Abends  in  warmes  Wasser  gesetzt  und  darauf  sehr  warm  in 
Flanell  gewickelt  hatte.  Kopfschmerz  und  Amblyopie  nahmen  schon  24  Stunden  nach 
Legung  der  Vesicalore  merklich  ab,  und  wichen  endlich  vollständig,  als  die  Mercurialcur 
den  Mund  im  hohen  Grade  zu  afliciren  begonnen  hatte. 

Ein  Frauenzimmer  von  etwa  40  Jahren  bekam  während  einer  Fussreise  bei  sehr 
warmer  Witterung  die  Katamenien  und  trank,  während  sie  sehr  erhitzt  war,  reichlich 
kalte  saure  Milch.  Fast  augenblicklich  darauf  entstand  Beklemmung  in  der  Präcordinl- 
gegend,  Kopfweh  und  gänzliches  Ausbleiben  des  Blutflusses,  einige  Stunden  später  Stei- 
gerung des  Kopfschmerzes,  Zeichen  von  Hemiplegie  und  Amaurosis  des  linken  Auges. 
Durch  reichlichen  örtlichen  und  allgemeinen  Aderlass,  durch  Blasenpflaster  und  Purgan- 
zen wurde  beträchtliche  Erleichterung  erlangt,  aber  die  Affection  des  Auges  blieb  die- 
selbe. Die  Menstruation  blieb  aus,  als  sie  sich  der  Zeit  nach  halle  einstellen  sollen.  Dr. 
Brown,  der  Beobachter  dieses  Falles,  richtete  nun  seine  Behandlung  auf  Wiederherstel- 
lung des  Monatflusses  ;  nach  6  Monaten  kam  derselbe  wieder  zum  Vorschein,  und  bald 
darauf  war  das  Sehvermögen  vollkommen  wieder  hergestellt. 

Eine  Dame  von  30  Jahren  war  während  der  Menstruation  Strapatzen  Und  der  Kälte 
ausgesetzt ,  so  dass  dieselbe  zu  zeitig  aufhörte.  Nachher  fand  sie  sich  einige  Tage 
ausserordentlich  matt,  schwerfällig  und  niedergeschlagen.  Der  Puls  war  natürlich ;  sie 
klagte  über  schwaches  Kopfweh ;  ihr  Aussehen  Hess  mehr  eine  Seelenstörung  als  ein 
körperliches  Leiden  befürchten.  Dr.  Abercrombie  sah  die  Frau  den  15.  Tag;  sie  war  in 
ihrem  Benehmen  wunderlich,  schroff  und  geistesabwesend,  aber  immer  noch  dafür  em- 
pfänglich,   wenn  sie    angeredet  wurde;   sie    klagte    über  schwaches    Kopfweh;    der  Puls 

^Arlt's  Augenheilkunde  III,  2.  11 


162  Netzhaut. 

war  etwas  häufig.  Den  16.  war  sie  sehr  herabgestimmt,  den  17.  und  18.  in  einem  Zu- 
stande von  fast  vollständigem  Coma.  Nachdem  sie  den  19.  reichlich  mit  Crotonöl  pur- 
girt  worden  war,  war  sie  für  Alles  empfänglich,  und  es  blieb  kein  beunruhigendes 
Symptom  zurück,  als  dass  sie  zuweilen  die  Gegenstande  verdreht  und  doppelt  sah  ;  ein 
andermal  war  ihr  Sehvermögen  ganz  natürlich  ;  der  Puls  häufig,  die  Zunge  belegt.  Nach 
emigen  Tagen  klagte  sie  wieder  über  Kopfweh,  sprach  bisweilen  unzusammenhängend, 
und  sah  undeutlicher  bei  erweiterter  Pupille;  endlich  wurde  der  Puls  immer  frequenter, 
die  Kräfte  nahmen  ab,  und  sie  starb  ohne  Coma.  Man  fand  die  Ventrikel  durch  Fl  üs- 
sigkeit  ausgedehnt,  Septum  und  Fornix  erweicht,  sonst  keine  krankhafte  Veränderung. 
(Makenzie  I.  c.  S.  785  und  786.) 

Beer  (Lehre  der  Augenkrankheiten,  Wien  1792,  II.  B.  S.  57)  erzählt,  dass  ein  18jäh- 
riges  Mädchen,  welche  eines  Morgens  im  Winter  während  ihrer  Periode  mit  blossen 
Füssen  in  die  Küche  geeilt  war,  die  einen  marmornen  Fussboden  hatte,  in  10  Minuten 
so  blind  wurde,  dass  sie  nicht  die  mindeste  Empfindung  von  der  hellbrennenden  Flamme 
auf  dem  Herde  halle,  jedoch  durch  Wiederherstellung  der  Menstruation  wieder  vollkom- 
men geheilt  wurde. 

Oslander  (Nachrichten  von  Wien  ,  Tübingen  1817  S.  76)  erzählt  folgende  Be- 
obachtung von  Beer.  Ein  Fuhrmann  von  45  Jahren  machte  bei  nasser  und  kalter  Wit- 
terung eine  Heise.  Der  Ausfluss  aus  Fussgeschwüren,  die  seit  vielen  Jahren  offen  ge- 
wesen waren,  wurde  unterdrückt,  und  der  Mann  in  Folge  dessen  blind.  Nach  14  Tagen 
wurde  er  in's  Spital  gebracht.  Er  sah  nicht  einmal  ein  helles  Fenster;  die  Pupille  war 
länglich  und  ausserordentlich  erweitert.  Beer  stellte  eine  günstige  Prognose,  besonders 
da  der  Patient  inwendig  im  Auge  Lichtempfindungen  halte  (?)  und  zwar  ohne  Varico- 
sität  und  ohne  Veränderung  in  den  Feuchtigkeiten.  Er  hatte  mehr  als  20  solcher  Amau- 
rotischer dadurch  geheilt,  dass  er  den  purulenten  Ausfluss  wieder  herstellte,  und  ver- 
ordnete deingeiuäss  Senfpflaster  von  der  Grösse  einer  Hand  auf  die  Geschwüre  an  bei- 
den Unterschenkeln,  Fussbäder  mit  Senf  geschärft,  und  innerlich  Pulver  aus  :  sulfur. 
aurati  antim.  gr.  unum,  Camphorae  gr.  duo,  Flor,  sulfuris  gr.  sex,  Sacchari  gr.  decem, 
täglich  3  Stück.  Die  Senfpflaster  wurden  täglich  erneuert,  und  den  10.  Tag  begann  das 
Sehvermögen  zurückzuckehren.  Nach  30  Tagen  war  das  Sehvermögen  fast  vollständig 
wieder  hergestellt.     (Makenzie  I.  c.  S.  786.) 

5.  Amaurosis  in  Folge  von  GesehwüBsten  in  der  Scbädei- 
liölile,  Tuberkeln,  Sarkomen,  Fibroiden,  Cyste». 

Verschiedene  Geschwülste  und  Neubildungen  in  der  Scha'delhohle, 
bald  aus  dyskrasischen  Leiden  hervorgehend  (Tuberkel,  Medullarsarkorn, 
Lues),  bald  spontan,  bald  nach  den  verschiedensten  äussern  Veranlassun- 
gen (Trauma,  Verkältung),  bald  endlich  so  zu  sagen  proprio  motu  sich 
entwickelnd,  wirken  störend  auf  die  Fortleitung  und  Peffeeption  des  Re- 
tinaleindruckes  entweder  dadurch,  dass  sie  einen  permanenten  Druck  aus- 
üben, oder  dadurch,  dass  sie  zu  activer  oder  mechanischer  Hyperämie  mit 
Ue  -  oder  Intermissionen,  oder  aber  zu  Exsudationen  an  der  Basis  des  Ge- 


Cerebralaniaiii-ose.  163 

hirnes ,  am  Chiasma ,  in  den  Ventikcln  u.  s.  w.  die  nächste  Veranlassung 
abgeben.  Schon  dieser  allgemeine  Gesichtspunkt,  von  welchem  man  bei 
den  Geschwülsten  in  der  Schädelhöhle  als  Ursache  von  Amaurosis  aus- 
zugehen hat,  mag  genügen,  die  Schwierigkeiten  anzudeuten,  mit  welchen 
hier  die  Diagnostik  im  Allgemeinen  zu  kämpfen  hat. 

H.  Anna,  26  Jahre  alt,  von  zarter  Constitution,  litt  in  ihren  Kinderjahren  an  einem 
Ausflüsse  aus  dem  rechten  Ohre,  welcher  allmälig  verschwand,  in  den  letzten  3  Jahren 
jedoch  wieder  auftrat  und  noch  fortbesteht,  Von  3  verschiedenen  Wechselfieberanfällen 
im  16.,  17.  und  18.  Jahre  blieben  keine  Folgen  zurück.  Die  Periode  stellte  sich  vom 
15.  Jahre  bis  zur  ersten  Schwangerschaft  im  25.  Jahre  immer  regelmässig  ein.  Die 
Entbindung  war  leicht,  die  Lochien  flössen  durch  3  Wochen  gehörig,  die  Milchsecretion 
war  spärlich.  Am  3.  Tage  nach  der  Entbindung  verliess  sie  das  Bett,  um  wieder  zu 
arbeiten.  Koch  denselben  Tag  stellte  sich  heftiges  Erbrechen  ein,  ohne  Schmerzen  im 
Unterleibe,  und  kehrte  durch  14  Tage  mehrmals  wieder.  Dazu  gesellten  sich  reissend- 
stechende,  remittirende  Schmerzen,  bald  in  der  Stirn,  bald  im  Scheitel,  bald  in  der 
Schläfe,  sich  bisweilen  his  zum  Unterkiefer  erstreckend;  ähnliche  Schmerzen  zeigten 
sich  auch  in  den  obern  Extremitäten.  Als  endlich  das  Erbrechen  aufhorte,  bemerkte  die 
Kranke  Abnahme  des  Gesichtes  auf  dem  rechten ,  und  nach  fünf  Wochen  auch 
auf  dem  linken  Auge;  drei  Wochen  später  erblindete  sie  auf  beiden  Augen  gänzlich, 
ohne  Störung  der  Beweglichkeit  der  Augen  oder  der  Lider.  In  der  li.  Woche  nach 
der  Entbindung  wurde  auf  der  Klinik  von  Prof.  Fischer  folgender  Zustand  aufgenommen : 
Gänzlicher  Verlust  des  Sehvermögens,  die  Pupillen  gleichmässig  und  stark  erweitert,  die 
Iris  völlig  unbeweglich,  der  Blick  eigenthümiieh  stupid,  sonst  an  den  Augen  nichts  Ab- 
normes; Forldauer  der  Schmerzen  mit  nächtlicher  Verschlimmerung,  serös-puriformer 
Aiisfluss  aus  dem  rechten  Ohre.  Im  übrigen  Körper  keine  merklichen  Gesundheitsstö- 
rungen, doch  wurde  die  physicalische  Untersuchung  der  Brustorgane  damals  (1837) 
nicht  vorgenommen.  —  Man  glaubte  Verkältung  als  Ursache  des  Leidens  annehmen  zu 
dürfen,  und  leitete  eine  dieser  Voraussetzung  entsprechende  Behandlung  ein.  (Anfangs 
Tart.  stibiatus,  dann  Vesicantien,  Dzondische  Schwitzbäder,  u.  dgl.)  Der  Zustand  änderte 
sich  nicht  wesentlich,  bis  zu  Ende  der  4.  Woche  der  Behandlung  in  einer  Nacht  nach 
enormer  Steigerung  der  Kopfschmerzen  ßewusstlosigkeit ,  Convulsionen ,  beständiges 
Schreien,  dann  aber  ein  Zustand  allgemeiner  Lähmung  eintrat,  und  nach  mehrmaliger 
Wiederholung  solcher  Anfälle  der  Tod  in  der  8.  Woche  erfolgte.  —  Die  Schädelknochen 
dünn;  im  hintern  Theil  der  dura  mater  über  der  linken  Hemisphäre  an  einer  handteller- 
grossen  Stelle,  und  in  einer  kleinern  Strecke  auch  an  der  rechten  Hemisphäre  zahl- 
reiche, kleine,  ziemlich  feste  Erhabenheiten,  denen  kleine  Grübchen  an  der  Glastafel 
entsprachen.  Die  linke  Hemisphäre  sah  schon  von  aussen  grösser  aus,  als  die  rechte, 
die  dura  mater  daselbst  straff  gespannt,  ihre  Gefässe  von  Blut  strotzend.  In  den  Seiten- 
ventrikeln eine  massige  Menge  trüben  Serums,  Septum  und  Fornix  erweicht.  Im  hintern 
Kappen  der  linken  Hemisphäre  eine  mehr  als  hühnereiijrosse  Geschwulst  (Tuberkel),  ein- 
gesenkt in  die  Hirnsubstanz,  an  der  Oberfläche  nueben,  innen  fest,  gelblich,  homogen, 
ohne  Spur  von  Gelassen,  mit  dem  Messer  in  Form  schmieriger  Körner  abkratzbar.  Beim 
Einschneiden  der  kleinen  an  der  Oberfläche  befindlichen  Höcker  fand  man  ihre  Substanz 

fr* 


1G4  Netzhaut. 

in  der  Mitte  erweicht  und  in  eine  grünliche  dicke  Flüssigkeit  verwandelt.  In  der  Hülfe 
dieser  Geschwult  befand  sieh  eine  fast  thalergrosse  Stelle,  wo  die  etwas  verdickten 
Hirnhäute  bloss  und  deutlich  unterscheidbar  da  lagen.  Die  angrenzende  Hirnsubstanz 
war  im  Zustande  der  weissen  Erweichung.  Diese  Ablagerung  hatte  bereits  die  äussere 
Grenze  des  linken  Sehhügels  erreicht.  In  der  Umgebung  des  Trichters  und  des  Chiasma 
fand  sich  plastisches  Exsudat  in  solcher  Menge,  dass  die  Hypophyse  stark  niedergedrückt 
und  athrophisch  erschien;  eine  geringe  Exsudatmenge  befand  sich  in  der  Syl vischen 
Grube  und  nach  hinten  an  den  Schenkeln  des  grossen  Gehirns  und  am  Föns  Varoli.  — 
In  beiden  Lungenspitzen  mehrere  haselnussgrosse  Cavernen ,  in  der  übrigen  Lun°;e 
gruppenweise  zerstreute  Irische  Tuberkelinfiltrate.  Auch  in  der  Leber  und  im  untern 
Theile  des  Ileuin  Tuberkel,  theils  erweicht,  theils  roh.  Geringe  Abmagerung  des 
Körpers. 

Ein  Knabe  von  7  Jahren,  von  einem  phthisischen  Vater  gezeugt  und  deutliche  Merk- 
male der  Scrufolosis  darbietend,  litt  nach  einem  Falle  auf  den  Kopf  seit  längerer  Zeit 
an  Schmerz  im  Kacken  und  an  zeitweiliger  Steifheit  der  Extremitäten ;  dazu  gesellten 
sich  allmälig  langsame  Sprache,  Schielen,  Gesichtsschwäche  und  Lähmung  der  linken 
Körperhälfte,  dann  leichter  Husten,  später  Diarrhöe,  reichliche  Schweisse  und  Abmage- 
rung. Am  10.  Juni  1839  fanden  wir  nebst  dein  Erwähnten  die  Pupille  des  nach  innen 
abgelenkten  rechten  Auges  sehr  erweitert  und  unbeweglich,  das  Gesicht  völlig  erloschen; 
mit  dem  linken  Auge  wurden  noch  grössere  Gegenstände  wahrgenommen ;  das  Gehör 
ungestört;  der  rechte  Mundwinkel  nach  abwärts  gezogen,  die  Zunge  beim  Vorstrecken 
links  abweichend,  häufiges  Ächzen,  Stirnkopfsclunerzen,  der  Kopf  nach  links  gezogen; 
die  linken  Extremitäten  gelähmt,  in  der  rechten  Contracturen ;  Lungentuberkel  durch 
Percussion  und  Ausculation  nachweisbar ;  leichter  Husten,  häufige  Diarrhöe.  Bis  zum 
Tode  am  10.  August  keine  wesentlichen  neuen  Erscheinungen.  Die  pia  mater  stark  serös 
inhltrirt,  die  Wandungen  der  mit  Serum  reichlich  angefüllten  Ventrikel  fast  breiartig  er- 
weicht. Im  vordem  Lappen  der  linken  Hemisphäre  nahe  an  der  Sichel  ein  haselnuss- 
grosser,  in  der  Mitte  erweichter  Tuberkel;  im  hinlern  Lappen  drei  solche  Tuberkel;  im 
rechten  Lappen  des  kleinen  Gehirnes  ein  hühnereigrosser,  im  Schenkel  des  Gehirnes  zur 
Varolsbrücke  ein  wallnussgrosser  Tuberkel.  Die  Lungen  von  unzähligen  theils  aggregir- 
ten,  theils  solitären  frischen  Tuberkeln  durchsetzt;  in  Leber,  Milz  und  Nieren  gleichfalls 
Tuberkel  u.  s.  w.  Die  Sehnerven  in  der  Schädelhöhle  ohne  merkliche  Veränderung; 
die  Augen  durften  nicht  untersucht  werden. 

„Juvencula  20  annorum  gutta  serena  laboraverat  a  line  anni  1759.  post  vomitum 
spontaneum  14  dieruni  postque  trimestrem  defectuni  catameniorum.  Datis  purgantibus  vo- 
mitus  ecssaverat,  redierant  menses  visusque.  Toto  anno  optime  valuit.  Sub  linein  anni 
1760.  menses  deüciunt,  vomitus  redit,  perit  visus.  Eo  in  statu  in  nosocomiuin  iuferlur. 
Video  amaurosin,  quae  cum  iminobili  utraquae  pupilla  inter  diein  noctemque,  inio  posthac 
de  die  album  inter  nigrumque  distingueret.  Cum  anno  elapso  purgantibus  sanitatem  et 
visionem  recuperasset,  eadem  ipsi,  sed  jam  incassuni,  praescripsi.  Cuinquc  demum  pur- 
gantibus opio  interposito  vomitum  superassem,  menses  et  visus  deficere  pergehant. 
Amaurosis  jain  bis  vomitum  dititurnum  atque  violentum,  vomilus  jam  bis  retardatos  in- 
sequebatur  menses  ;  unde  in  mensium  defectuin,  si  uon  omnis,  saltem  aliqua  causa  vomitus 
viderelur   refundenda.     Quare    postquam  appetitus   bonos  rediisset,    methodica  ad  menses 


CerchralamauroMC  1 R5 

revocändos  cura,  eapuenorijuvante,  quaevis  empyrica  prudenter  adhibita  fnit.  Cum  demum 
niliil  juväret,  nisi  quod  semel  iterumque  levc  quöddam  inilium  mensium  vid-ecetur  con- 
snici,  tandcm  post  nloeticum  purgans  balneaque  vaporis  machinae  tortilis  ad  arterias 
durales  admotae  auxilium  ad  trcs  usque  varias  vices  adhibui  circa  id  tempus,  quo  men- 
ses redire  debuissent.  Sed  frustra.  Diu  demum  post  menses  rediere,  sed  irregulariter 
semper,  vomilus  nonnisi  raro  rediit,  passirn  adhuc  bonus  appetitns,  bona  digestio,  ^gestio 
commoda,  virium  torositatisquc  incrementum.  Ast  vero  omnin  hacc  cum  perseverante 
amaurosi  et  eonlinuo  repetcntibus  capitis  atque  oculorum  doloribus.  Videbatur  c\  hisce 
concludi  oporlcre,  quod  visus  olim  rediisset  ad  catameniorum  rcstilutionem,  quia  necdum 
quid  nolabiliter  aut  laesi  aut  impacti  obtructique  in  cncephalo  erat,  jain  vero  ex  vomi- 
luum  tum  repetitioue,  tum  diuturnitate  Vitium  topicum  in  cranio  foret,  proptcr  quod  gutta 
sereua  ad  restitutos  menses  percnnasset:  quodque  proinde  occnsio  opportuna  ad  esset 
ejus  curam  cauterio  acluali  tcutandi,  id  quod  lutum,  quod  securum  quod  nunquam  ooxium, 
saepc  vero  efficacissimum  hucusque  credideramus.  Die  4.  er<jo  Junii  haue  opcrationem 
fecimus.  Prima  nocte  vix  dormivil  et  dolorem  in  utroque  cervicis  latere  conquesta  est; 
altera  die  melius,  tertia  bene  se  habuit  excepta  febricula,  quarta  pejus.  Sanguinem  misi- 
iiius.  Jamque  vox  deficere  incepit  et  caput  liebes  fieri.  Medio  die  5.  periit.  Praeter 
seqnelas  ustionis  reperta  est  peculiaris  infundibuli  mutatio.  Infundibülum  maximum  fuit, 
8  —  9  linearum  diametrum  Habens ;  rephtum  fnit  materia  g'risea,  quae  partim  pullacca, 
partim  calcaria  fnit;  concretum  erat  cum  pia  matre  optieos  insolvente;  insidebat  preme- 
bafque  ipsum  opficorum  coalitum,  non  quidem  ita,  ut  n.  optici  post  coalitum  marcescerent, 
sed  saltem  sie,  ut  videretur  illorum  actio  interturbata  fuisse,  puellaque  caeca  fuisse  man- 
sura,  etiamsi  male  band  successiset  operatio.  Pulmones  ubiqne,  ne  minima  quidem  plaga 
excepta,  indissolubiliter  cum  omnibus  in  thorace  partibus  mutuisque  inter  se  lobis  con- 
nati  erant."     (De  Haen,  ratio  medendi.     Edit.  II.  Vindob.   1763.  P.  VI.  pag.  264.) 

Im  Juni  1829  kam  eine  35  Jahre  alte  Bauersfrau  von  robuster  Constitution  wegen 
einer  schnell  entstandenen  Amaurose  des  rechten  Auges,  begleitet  von  starken  Kopf- 
schmerzen auf  der  rechten  Seite,  zu  Dr.  Wedeland.  Ihre  Periode,  seit  mehreren  Jahren 
allinälig  immer  spärlicher,  war  seit  einigen  Wochen  ausgeblieben.  Nach  Aderlässen, 
Blutegeln  und  Vesicatoren  daselbst  und  Verabreichung  drastischer  Purgirmittel  schien  sie 
fast  völlig  hergestellt  zu  sein.  Im  October  kam  sie  ins  Hospital  zurück,  mit  massig  ge- 
schwächtem Sehvermögen,  aber  heftigen  Kopfschmerzen.  Blutegel  um  das  rechte  Auge, 
nach  und  nach  spanische  Fliegen,  Einreibungen  von  Belladonnasalbe,  ein  Haarseil  am 
Nacken,  Eisumschläge  auf  den  Kopf,  innerlich  Eisen-  und  Aloepräparate,  zuletzt  Mer- 
curialeinreibungen  bis  zur  Salivation  —  dessen  ungeachtet  Abnahme  der  Sehkraft,  Stei- 
gerung der  Kopfschmerzen,  nach  einigen  Monaten  totale  Erblindung,  erst  auf  dem  linken 
dann  auf  dem  rechten  Auge.  Als  sie  im  Juni  1830  zum  3.  Male  in's  Spital  kam,  klagte 
sie  nebst  wüthenden  Kopfschmerzen  noch  über  heftige  Schlingbeschwerden,  die  sie  einer 
vermeintlichen  Geschwulst  am  Halse  zuschrieb;  überdiess  waren  die  Augen  und  Augen- 
lider völlig  gelähmt.  In  Kurzem  trat  der  Tod  ein.  —  Unter  der  dura  mater  am  hinter- 
sten Theile  des  Seitenvvandbeines  und  dem  vordersten  des  Hinterhauptbeines  längs  des 
Sichelblutleiters  viele  weisse  Drüsen,  welche  mit  der  Gehirnsubstanz  unzertrennlich  fest 
zusammenhingen;  auf  der  linken  Seite  in  der  Mitte  einer  ähnlichen  Adhärenz  sass  ein 
Knochensplitter    von   '/2    Zoll  Länge,    welcher  das    Gehirn  mit    seinen  entblössten    Enden 


Ifiß  Netzhaut. 

berührte.  In  eleu  Ventrikeln  die  gewöhnliche  Menge  Feuchtigkeit.  Der  rechte  Sehnervc 
ziemlich  rund,  der  linke  dagegen  ganz  flach,  klein,  leer,  die  thalam.  nerv,  oplic.  dünn 
und  klein.  Die  Glandula  piluitaria  bis  zur  Grösse  eines  Eies  angeschwollen ;  bei  ihrer 
Durchschneidung  wurden  grössere  und  kleinere  Knochens  tu  cke,  welche  durch  ihre  ganze 
Texlur  hindurch  incrustirt  waren,  und  sehr  viel  Eiter  mit  Blutwasser  gemischt,  in  und  unter 
derselben  gefunden.  Die  Seih»  turcica  war  an  ihrer  Basis  vom  Knochenbrand  ergriffen. 
Der  Eiter,  welcher  den  linken  Augennerven  umgab ,  hatte  seinen  Ursprung  von  dein 
letztgenannten  Eiterherde.  —  Ausserdem  fand  man  die  rechte  Lunge  überall  durch 
eine  Pseudomembran  mit  der  pleura  costalis  vereinigt.  (Neaermann  bei  Amnion  1.  c.  5.B. 
S.  36«.) 

Andral  (Krankh.  der  Nervenh.,  übersetzt  von  Behrend  p.  274)  bemerkt,  dass  unter 
zwanzig  von  ihni  beobachteten  Füllen  von  Tuberkeln  im  kleinen  Gehirne  das  Gesicht 
siebenmal  geschwächt  oder  aufgehoben,  der  Sitz  der  Tuberkel  jedoch  ein  sehr  ver- 
schiedener war.  —  Bei  einem  Manne  von  neunundzwanzig  Jahren  trat  zuerst  heftiger 
Kopfschmerz  auf,  dann  allmälige  Beeinträchtigung  des  Gesichtes  und  der  Bewegung  in 
den  linken  Extremitäten,  ein  Jahr  spater  Anäthesie  in  der  linken  Gesichtshälfte,  welche 
jedoch  nur  durch  zwei  Monate  anhielt,  im  dritten  Jahre  fast  vollständige  Amaurosis  mit 
ziemlich  engen  Pupillen,  Schmerz  im  Hinterhaupte,  Lähmung  der  linken  Kürperhälfte, 
häufiger  Husten  und  anhaltende  Dyspnoe,  Blässe  der  Haut,  Abmagerung,  zeitweilig 
Diarrhöe,  zuletzt  plötzlich  Peritonitis  mit  tödtlichem  Ausgange.  —  Im  grossen  Gehirne 
nichts  Krankhaftes;  im  rechten  Lappen  des  kleinen  Gehirnes  eine  harte,  weissgelbliche, 
nirgends  erweichte  Masse,  welche  alle  Charaktere  eines  Tuberkels  darbot.  In  den 
Lungen  Miliartuberkeln;  im  Ileuni  Tuberkelgeschwüre  und  Perforation.  {Andral.  Clin, 
niedic.  T.  V.  p.  506.) 

Ein  Mächden  von  1  ;!/4  Jahren,  welche  an  crusta  lartea  gelitten  und  davon  in 
kurzer  Zeit  durch  Waschungen  befreit  worden  war,  fin<j  bald  darauf  an  mit  dem  rech- 
ten Auge  nach  aussen  zu  schielen;  einige  Tage  später  trat  vollkommene  Lähmung  des 
obern  Lides  dazu,  so  dass  man  wohl  auf  Lähmung  des  Nervus  oculomotorius  zu  schliessen 
berechtigt  war.  Auf  die  Anwendung  wurmtreibender  Mittel  waren  vier  Spulwürmer 
abgegangen,  die  Ptosis  jedoch  nicht  gehoben.  Professor  von  Amman,  dem  die  Kranke 
jetzt  vorgestellt  wurde,  fand  ausser  der  Ptosis  und  der  Ablenkung  des  Bulbus  nach 
aussen  nichts  Krankhaftes  am  Auge.  (Erweiterung  der  Pupille  dürfte  wohl  übersehen 
worden  sein.)  Das  Kind,  welches  früher  laufen  konnte,  war  jetzt  nicht  mehr  dazu  zu 
bringen,  war  verdriesslich,  wollte  immer  getragen  sein,  und  liess  dabei  den  Kopf  auf 
die  Seite  hängen.  Sie  schlief  mit  an  den  Leib  angezogenen  Beinen,  bohrte  sich  mit 
dein  Kopfe  in  die  Kissen,  und  erschrack  oft  im  Schlafe;  dabei  das  Aussehen  inunter,  die 
Wangen  geröthet,  der  Appetit  gering,  die  Verdauung  in  Ordnung.  Man  schloss  auf 
Hydrocephalns  chronicus  mit  Druck  auf  den  N.  oculomotorius,  und  verabreichte  unter 
andern  Calomel,  Magnesia,  aethiops  antimonialis,  rheuni,  lihrillae  artemisiae,  Zug- 
pflästerchen  hinter  die  Ohren.  Nach  3 — i  Wochen  hatten  sich  die  Zeichen  des  Turgors 
zum  Kopfe  gemindert,  das  Kind  fing  an  zu  laufen  und  zu  spielen,  und  abermals  vier 
Wochen  später  ülFnele  sie  auch  das  Auge  beinahe  vollkommen,  ohne  indess  den  geraden 
Blick  wieder  erlangt  zu  haben.  Verlässliche  Sehpioben  waren  bei  dem  Kinde  unmöglich. 
Als  man  sich  der  Hoffnung  völliger  Genesung  hingab,  traten  auf  einmal  heftige  Convul- 
* 


Olchi'alamaurosc.  167 

sinnen  »'in,  und  das  Kind  erlag  in  wenigen  Stunden.  —  Die  Gefässe  der  Hirnhäute  und 
de*  Uirnsubstanz  von  Bltit  strotzend,  die  Seitenventrikel  mit  Wasser  gefüllt,  der  plexus 
chorioideus  erweicht,,  auch  an  der  Basis  cerebri  viel  wässrige  Flüssigkeit.  Daselbst 
ein  wallnussgrosser  Tuberkel,  hinter  dem  Chiasma  zwischen  den  beiden  Sehnerven, 
mehr  auf  der  rechten  Seite;  diese  Geschwulst  halle  den  rechten  Sehnerven,  welcher 
dicker  war,  als  der  linke,  ganz  auf  die  Seite  gedrängt.  Weder  bei  der  Seclion  des 
Auges  noch  des  übrigen  Körpers  fand  sich  etwas  Krankhaftes.  „Der  der  Geschwulst 
nach  zu  urtheilen  gewiss  sehr  bedeutende  Druck,  welchen  der  rechle  Sehnerve  erlitt, 
fand  hinler  dem  Chiasma  statt;  dass  aber  die  kleine  Patientin  mit  dem  linken  Auge 
sehr  gut  sehen  konnte,  unterlag  keinem  Zweifel.  Ob  neben  der  Muskellähmung  am 
rechten  Auge  auch  Amaurosis  bestand,  konnte  nicht  bestimmt  ermittelt  werden,  war 
jedoch  schon  nach  einigen  Andeutungen  der  Pflegerin  des  Kindes  sehr  wahrscheinlich." 
{Zeis  bei  Amnion  I.  c.  IV.  B.  S.   169.) 

Ein  Mädchen  von  24  Jahren,  von  gesundem  Aussehen,  seit  dem  17.  Jahre  immer 
regelmässig  menstruirend,  war  ohne  bekannte  Veranlassung  in  ihrem  19.  Jahre  von 
Kopfschmerzen  befallen  worden,  welche  sie  von  Zeit  zu  Zeit  zwangen,  durch  einige 
Tage  liegen  zu  bleiben.  Zu  Anfang  ihres  23.  Jahres  stellte  sich  bei  gesteigerten  Kopf- 
schmerzen Abnahme,  endlich  völliger  Verlust  der  Sehkraft  ein.  Seitdem  verloren  sich 
die  Kopfschmerzen.  An  den  Augen  Hess  sich  ausser  starker  Erweiterung  der  unbeweg- 
lichen Pupillen  nichts  Abnormes  wahrnehmen.  Einige  Monate  vor  dem  Tode  traten  von 
Zeit  zu  Zeit  epileptische  Anfälle  ein,  welche  Anästhesie  der  linken  Gesichtshälfte  bei 
ungestörter  Motilität,  dagegen  Schwäche  der  rechten  Oberextremität  bei  ungestörter 
Sensibilität  daselbst,  endlich  Unvermögen,  den  Harn  und  bisweilen  den  Stuhl  zurück- 
zuhalten, hinterliessen.  Ausser  Schwäche  des  Gedächtnisses  waren  die  geistigen  Func- 
tionen ungestört.  In  den  übrigen  Organen  und  Functionen  keine  Abnormität  zu  eruiren, 
der  Puls  jedoch  immer  klein,  schwach,  beschleunigt.  Der  Tod  erfolgte  plötzlich  nach 
einem  Anfalle  mit  Lähmung  sämmtlicher  Extremitäten,  Turgor  des  Gesichtes',  weit  ge- 
öffneten Augen,  Schaum  vor  dem  Munde,  äusserst  schwachem ,  frequentem  und  unregel- 
mässigein  Pulse  u.  s.  w.  —  Der  Körper  nicht  abgemagert,  die  Haut  weder  rauh  noch 
schuppig,  die  Jugularvenen  slrotzenil,  die  Lippen  blau,  der  linke  Mundwinkel  nach 
unten  gezogen.  Die  Schädelhöhle  geräumig,  die  Knochen  dünn,  besonders  linkerseits; 
zahlreiche  Pacchionische  Drüsen.  Mitten  in  der  linken  Hemisphäre  eine  ganseigrosse 
Geschwulst,  beim  Einschneiden  resistent  und  fast  knirschend,  in  der  Mitte  weissgrau, 
knorpelartig  hart,  an  der  Peripherie  weich,  theils  gelblich,  theils  weissgrau,  von  Ge- 
lassenen durchzogen ,  an  der  Oberfläche  mit  einer  dünnen  gefässreichen  Membran  um- 
hüllt {Medullär -Sarkom).  Die  angrenzende  Hirnmasse  im  Zustande  der  gelben  und 
weissen  Erweichung.  Die  linke  Heinisphäre  erschien  durch  diese  Geschwulst  vergros- 
sert,  die  Meningen  darüber  straff  ausgespannt,  die  Hirnmündung  verstrichen,  die  Sichel 
rechts  gedrängt.  Die  Wandungen  der  Seitenventrikel  zäh,  von  klarem  Serum  stark 
ausgedehnt,  rechts  weit  mehr  als  links.  Der  linke  Thalamus  ganz  nach  vorn  gedrängt 
und  das  Corpus  geniculatum  stark  eingedrückt.  Im  Tractus  opticus  ausser  leichter  Atrophie 
keine  Veränderung.  In  den  Eingeweiden  der  Brust-  und  Bauchhöhle  keine  bemerkens- 
werthe  Abnormität. 

Dupetu  (Revue  med.  Juni  1835)  beobachtete  einen  Fall,  in  welchem  Erblindung 
zuerst  eintrat,    dann  Verlust  des  Geruches  und  unvollständige   Lähmung    der    empfinden- 


168  Netzhaut. 

den  und  bewegenden  Thätigkeit  in  den  obern  Extremitäten.  Äusseriich  auf  der  rechten 
Seite,  dem  Seitenwandbein  entsprechend,  war  eine  Geschwulst  wahrzunehmen.  Die 
intellectuellen  Functionen  niedergedrückt,  nicht  aufgehoben.  Apoplektischer  Tod.  Das 
rechte  Seitenwandbein  emporgehoben,  von  innen  verdünnt  und  theilweise  zerstört.  An 
der  innern  Fläche  der  dura  ma'er  daselbst  eine  scirrhöse  Geschwulst ,  welche  theils  nach 
aussen,  theils  nach  innen  auf  das  Gehirn  gedrückt  hatte.  Sie  hing  fest  an  der  Innen-' 
flache  der  dura  mater,  und  war  unten  von  der  Arachnoidea  und  pia  mater  bedeckt, 
(Amman  1,  c.  V.  B.  S.  198.) 


D.  Spinalamaurose. 


Amblyopie  und  Amaurose,  abhängig  von  Tabes  dorsualis,  bietet  so 
eigenthümliche  Erscheinungen  am  Auge  dar,  dass  man  in  Fällen,  wo  das 
Augenleiden  zeitig  auftritt,  schon  durch  dasselbe  allein  zur  Vermuthung, 
wo  nicht  zur  Gewissheit  des  Grundleidens  geführt  wird.  Immer  sind  beide 
Augen  zugleich  und  in  völlig  oder  beinahe  gleichem  Grade  ergriffen ; 
immer  entwickelt  sich  die  Abnahme  der  Sehkraft  allmälig,  und  steigert 
sich  nach  Verlauf  von  vielen  Monaten  oder  Jahren  stetig  und  unaufhaltsam 
zur  completen  Amaurosis,  Die  weit  geöffneten  Augen  bieten  schon  früh- 
zeitig  das  Eigenthümliche  des  amaurotischen  Blickes,  des  nicht  gehörigen 
Fixirens  der  Objecte  dar,  und  immer  betrifft  die  Abnahme  der  Sehkraft 
die  ganze  Netzhaut,  wird  das  Sehfeld  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  gleich- 
massig  dunkler.  Je  weniger  der  Kranke  sieht,  desto  enger  sind  die  Pu- 
pillen; ich  sah  sie  in  einigen  Fällen  von  nur  etwa  1/2//'  Durchmesser. 
Immer  ist  die  vordere  Kammer  auffallend  klein ,  die  Linse  und  die  Iris 
sind  nahe  an  die  Cornea  gerückt,  letztere  demnach  stark  nach  vorn  ge- 
wölbt. Mydriatica,  selbst  in  starker  Dosis,  sind  nicht  im  Stande,  die  Pu- 
pille zu  dem  gewöhnlichen  Grade  zu  erweitern.  Alle  Erscheinungen  von 
Reizung,  Congestion  oder  Entzündung  am  Auge  fehlen;  die  Anwendung 
der  Loupe  und  des  Augenspiegels  sichert  vor  Verwechslung  mit  chroni- 
scher Regenbogen-  oder  Netzhautentzündung.  Sorgfältige  Untersuchung 
und  Beobachtung  des  Verhaltens  der  Unterextremitäten  beim  Stehen,  Gehen 
u.  s.  \v.,  der  Function  der  Harnblase,  des  Darmcanals  u,  s.  w,  geben  bald 
Aufschluss^  von  wo  das  Augenleiden  eigentlich  ausgeht. 

Nach  Romberg,*)    dem  wir  eine  ausgezeichnet  treue  Schilderung  der 
Tabes  dorsualis  verdanken,    fand  sich    in  den  Fällen,    wo  Amaurose  vor-« 

)  Lehrbuch  .ler  .Ncrvmikratililieitcu  des  Mcnsuli«  i,   Berlin    13115,   I.   S.  799. 


Spina!-  Sympathische  Amaurose.  169 

banden  war,  fast  immer  Atrophie  des  Sehnerven,  des  Chiasma  und  der 
Sehstreifen;  auch  die  Thalami,  einer  oder  beide,  waren  entweder  ge- 
schwunden oder  zeigten  Veränderungen  ihres  Gefüges  oder  ihrer  Farbe. 
,,Bei  einem  Arzte,  welcher  nach  heftigen  Gemütlisaffecten  und  starken  Er- 
kältungen auf  seinen  Berufsreisen  im  40.  Jahre  von  Paresis  der  untern 
Extremitäten  und  von  Amblyopie  befallen,  und  unter  zunehmenden  Er- 
scheinungen von  Tabes  dorsualis  endlich  ganz  amaurotisch  geworden  war, 
fand  Froriep  in  Gegenwart  Rombergs  das  Rückenmark  auf  "/3  vom  Volumen 
eines  damit  verglichenen  Rückenmarkes  von  einem  gleich  alten  Manne  (52 
Jahre)  geschwunden.  Die  Atrophie  war  auf  den  untern  Theil  der  hintern 
Stränge  und  Nervenwurzeln  beschränkt.  Die  Marksubstanz  der  ersteren 
war  fast  ganz  geschwunden,  so  dass  sie  wie  durchsichtig  von  graugelber 
Farbe  erschienen;  die  hintern  Wurzeln  waren  des  Nervenmarkes  verlustig 
und  hatten  ein  wässriges  Aussehen."  Speciell  sind  von  diesem  Falle  die 
Veränderungen  des  Sehorganes  nicht  angegeben. 

Ätiologie,  Prognosis  und  Therapie  dieses  Augenleidens  sind  leider 
die  des  Rückenmarkleidens.  Der  Augenspiegelbefund  ist  zur  Zeit  noch 
unbekannt.  Meine  Beobachtungen  dieses  Leidens  fallen  in  die  früheren 
Jahre. 


E.  Sympathische  Amaurosen. 

Es  liegen  verlässliche  Beobachtungen  von  Amblyopie  und  Amaurose 
vor,  wo  man  nicht  im  Stande  war,  anato?nische  Veränderungen  in  der 
Netzhaut,  im  Sehnerven,  in  den  Centralorganen  nachzuweisen,  und  wo 
man  eine  solche  Veränderung  auch  während  des  Lebens  schon  aus  dem 
Grunde  nicht  supponiren  kann,  weil  die  Sehstörung  nur  transitorisch  auf- 
tritt, oder  weil  die  Beseitigung  der  Ursache  in  zu  kurzer  Zeit  auch  Be- 
seitigung der  Augenaaffection  zur  Folge  hat.  Man  denke  nur  an  die  Störung 
der  Sehkraft  bei  gewissen  AfFectionen  sensitiver  Zweige  des  Trigeminus, 
an  Amblyopie  und  Amaurosis  bei  Vergiftungen,  in  gewissen  Zeitabschnitten 
der  Schwangerschaft  u.  s.  w.,  und  man  wird  den  Gebrauch  des  Ausdruckes 
sympathische  Amaurosis  vorläufig  wohl  unentbehrlich  finden.  Wir  müssen 
es  spätem  Forschungen  überlassen,  den  Zusammenhang  nachzuweisen. 
In  vielen  Fällen,  die  man  bisher  als  zu  dieser  Gruppe  gehörig  bezeichnen 
konnte ,    wird  wohl   die  Ophthalmoskopie    noch  Aufschluss    über    den   Sitz 


170  Netzhaut. 

und  die  Natur  dos  Leidens  geben;  ob  in  allen,  bleibt  dahingestellt.  So 
gut  als  die  Amaurose  bestehen  auch  andere  Neurosen,  ohne  dass  man 
auf  eine  anatomisch  nachweisbare  centrale  oder  peripherische  Veränderung 
der  betroffenen  Nerven  hinweisen  kann.  Wir  müssen  uns  in  den  ein- 
zelnen Fällen  vorläufig  begnügen,  wenn  es  gelingt,  die  entfernteren  Ur- 
sachen zu  erkennen,  weil  dann  öfters  wenigstens  auf  empirische  Weise 
Anhaltspunkte  für  das  ärztliche  Handeln  gewonnen  werden  können.  Zur 
Erläuterung  einige  hierher  gehörige  Arten. 

1.  Amaurosis  in  Folge  von  Irritationen  im  Bereiche  des  I. 
oder  2.  Astes  des  Trigemiims.  „Es  sind  zahlreiche  Fälle  bekannt, 
in  welchen  die  Exstirpation  von  Geschwülsten ,  welche  mit  den  Zweigen 
des  V.  Nervenpaares  in  Berührung  standen,  und  das  Ausziehen  cariöser 
Zähne  die  Mittel  gewesen  sind,  das  Sehvermögen  plötzlich  herzustellen." 
Makenzie  1.  c.  S.  8 18. 

Ein  gesunder  Mann  von  mittleren  Jahren  eonsultirte  Herrn  Howship  we<jen  einer 
kleinen  Geschwulst  auf  dein  Scheitel.  Es  waren  wenigstens  10  Jahre  her,  dass  er  die- 
selbe bemerkt  hatte,  und  er  hielt  es  für  die  Folge  eines  Schlages.  Sie  war  nie 
schmerzhaft  gewesen,  aber  seit  einigen  Jahren  wurde  er  von  Kopfweh  geplagt,  welches 
allmalig  häufiger  wurde;  überdiess  war  er  seit  2  Jahren  nicht  im  Stande,  selbst  die 
grösste  und  deutlichste  Schrift  zu  lesen.  Drückte  man  auf  die  Geschwulst  in  der 
Kopfhaut,  so  verursachte  diess  weder  Schmerz  noch  irgend  eine  Empfindung.  H.  rieth 
zur  Exstirpation,  welche  mittelst  zweier  elliptischer  Schnitte  durch  die  Bedeckungen 
und  jenseits  der  Basis  der  Geschwulst  ausgeführt  wurde.  Die  eingeschlossene  Portion 
Kopfhaut  nebst  der  Geschwulst  selbst  wurde  sodann  vom  Pericranium,  mit  welchem  sie  in 
Berührung  stand,  lospräparirt.  Zwei  kleine  Gefässe  wurden  unterbunden,  und  die  Be- 
deckungen mit  Heftpflastern  ziemlich  aneinander  gebracht.  Nach  3  Wochen  lösten  sich  die 
Ligaturen,  und  die  Wunde  heilte  vollständig.  Die  Geschwulst  war  ein  starker  knorpeliger 
Balg  gewesen,  welcher  in  der  Zellhaut  unter  der  Cutis  gesessen  hatte;  innen  war  sie 
mit  einer  gelben  purulenten  Flüssigkeit  gefüllt,  deren  dicke  Theile  einen  käseartigen 
Niederschlag  an  den  Wandungen  gebildet  hatten.  —  Der  Patient  hatte  bei  der  Operation 
nicht  über  1  Unze  Blut  verloren,  fühlte  aber  ganz  unerwartet  am  folgenden  Abende 
seinen  Kopf  mehr  erleichtert,  als  viele  Monate  vorher.  Er  fand,  dass  sein  Unwohlsein 
und  sein  Kopfschmerz  von  Tag  zu  Tag  abnahmen  und  behauptete  auch,  worüber  mau 
sich  einiger maass'en  wunderte,  dass  sein  Sehvermögen  weit  heller  und  deutlicher  werde. 
Als  die  Wunde  geheilt  war,  hatte  er  alle  Reste  des  Kopfschmerzes  verloren,  und  sein 
Sehvermögen  hatte  sich  in  solchem  Grade  gebessert,  dass  er  jetzt  abermals  im  Staude 
war,  so  kleine  Schrift  wie  vor  10  Jahren  zu  lesen;  auch  ist  weder  der  Kopfschinerz 
noch  die  Alfection  des  Sehvermögens  nach  dieser  Zeit  wieder  zurückgekehrt. 

Ein  .Mann  von  30  Jahren  wurde  plötzlich  von  heftigem  Schmerze  ergriffen,  welcher 
von  der    linken    Schläfe    nach    dem    Auge    und    nach    dem    Antlitze    auf   derselben    Seite 


Sympathische  Amaurose.  171 

schoss,  und  einer  Erkältung  zugeschrieben  wurde.  Dieser  Schmerz  dauerte  mehrere 
Tage,  gab  sieh  dann,  kehrte  aber  periodisch  zurück.  Wach  Verlauf  von  2  Monaten 
hatten  die  Anfälle  eine  solche  Heftigkeit  erreicht,  dass  der  Patient  glaubte,  das  Auge 
werde  aus  der  Höhle  herausgedrängt.  Da  Patient  zugleich  bemerkte,  dass  er  auf 
diesem  Auge  sein  Sehvermögen  verloren  habe,  suchte  er  ärztliche  Hilfe.  Nach  ßiuonal- 
licher  fruchtloser  Behandlung  begann  die  linke  Wange  zu  sehwellen,  und  in  der  Nacht 
flössen  mehrere  Löffel  voll  blutigen  Eiters  zwischen  der  Conjuncliva  und  dem  untern 
Augenlide  aus.  Hierauf  gab  sich  die  Geschwulst,  und  der  Schmerz  nahm  ab,  aber  die 
Blindheit  blieb  so  vollständig  wie  zuvor.  Nach  3  Wochen  fand  ein  ähnlicher  Auslluss 
statt,  und  während  der  nächsten  6  Monate  kehrte  er  zuweilen  zurück.  Zu  Anfang  des 
3.  Jahres  war  die  Affection  so  arg  geworden,  dass  der  Patient  sich  das  Auge  exslir- 
piren  lassen  wollte.  Dr.  Gälenzowski  fand  die  Pupille  des  gänzlich  erblindeten  Auges 
erweitert.  Er  glaubte,  dass  sich  in  der  Kieferhöhle  Eiter  gebildet  habe  und  sich  längs 
des  Augenhöhlenanlheiles  des  Oberkieferknochens  fortpflanzte.  Diese  Annahme  bestimmte 
ihn  zu  genauer  Untersuchung  der  Zähne,  und  diese  erwies  einen  der  Kieferhöhle  ent- 
sprechenden cariösen  Zahn.  Dieser  wurde  sofort  ausgezogen  und  man  fand  an  seiner 
Wurzel  einen  Holzsplitter  von  3'"  Länge,  der  wahrscheinlich  von  einem  Zahnstocher 
zurückgeblieben  war.  Nachdem  nun  eine  Sonde  in  die  Kieferhöhle  eingeführt  und 
wieder  herausgenommen  worden  war,  ergossen  sich  einige  Tropfen  einer  serös-puru- 
lenten  Flüssigkeit,  und  9  Tage  nachher  hatte  der  Patient  sein  Sehvermögen  vollständig 
wieder  erlaugt. 

Es  linden  sich  hie  und  da  in  der  Literatur  verschiedene  ähnliche 
Beobachtungen,  wie  die  beiden  vorstehenden,  aus  Makenzie  I.  c.  S.  818 
entlehnten,  nur  lassen  viele  derselben  auch  eine  andere  Deutung-  zu,  wie 
namentlich  die,  wo  Sehstörung  nach  Verletzungen  sensitiver  Zweige  des 
Trigeminus  beobachtet  wurde ,  wovon  wir  schon  oben  gesprochen  haben, 
in  diesen  beiden  Fällen,  wenigstens  in  dem  Howship'schen  kann  aber 
kaum  bezweifelt  werden,  dass  die  Amaurosis  rein  sympathisch  war.  Die 
Empirie  wendet  seit  undenklichen  Zeiten  eine  Menge  Mittel  im  Bereiche 
der  Ausstrahlungen  der  sensitiven  Zweige  des  Trigeminus  an ,  um  Am- 
blyopie und  Amaurose  zu  beheben ,  und  gewiss  nicht  jederzeit  ohne  Er- 
folg. Die  meisten  dieser  gegen  Amaurosis  empfohlenen  und  zum  Theil 
auch  wirksamen  örtlichen  Reizmittel  (an  die  Stirn,  Schläfe,  Bindehaut 
u.  s.  w.)  können  wohl  nur  dadurch  ihre  Wirksamkeit  auf  den  Sehnerven 
und  die  Netzhaut  entfalten ,  dass  sie  den  Trigeminus  peripherisch  erregen. 
Es  wird  hier  ein  Sinnesnerve  erregt ,  gleich  wie  in  motorischen  Nerven 
Reflexaction  auf  peripherische  Reizung  sensitiver  Nerven  auftritt. 

Auf  ähnliche  Weise  sind  meines  Erachtens  wohl  auch  manche  Fälle  von 
Amaurosis  nach  unterdrücktem  Schnupfen,  von  Entzündung  der  Schleimhaut 
in  der  Highinors-,  Stirn-  oder  Keilbeinshöhle  zu  erklären,  jene  Fälle  natürlich 


172  Netzhaut. 

abgerechnet ,  wo  gleichzeitig  entzündliche  Proeesse  im  Auge,  in  der  Or- 
bita oder  in  der  Schädelhöhle  bestehen.  Es  verdient  der  Zustand  der 
Schleimhaut  in  diesen  Höhlen  die  volle  Aufmerksamkeit  des  Arztes  bei 
Amaurosen  unbekannten  Ursprunges  gewiss  in  eben  so  hohem  Grade,  als 
der  Zustand  der  Cutis  und  der  übrigen  Gebilde,  in  welchen  die  sensitiven 
Zweige  des  Trigeminus  ausstrahlen.  Der  günstige  Erfolg  bezüglich  der 
Sehstörung,  welcher  durch  die  Behandlung  der  in  Rede  siehenden  Schleim- 
hautpartien  erzielt  wurde,  dürfte  zugleich  als  Beweis  für  ein  bloss  sym- 
pathisches Mitleiden  des  Sehnerven  zu  betrachten  sein. 

Wahrscheinlich  gehört  hierher  auch  jene  Form  von  Amaurosis,  welche 
sich  auf  dem  einen  Auge  entwickelt,  wenn  das  andere  durch  heftige 
Entzündung  und  Eiterung  verloren  gegangen  ist.  (Vergl.  Iritis  und  Cho- 
rioditis.)  Die  starke  Erweiterung  der  Pupille  und  der  Mangel  aller  ent- 
zündlichen Erscheinungen  am  Auge  schon  zu  Anfang  der  allmälig  und 
unaufhaltsam  erfolgenden  Erblindung  macht  diess  wahrscheinlich;  doch 
fehlen  einerseits  noch  Untersuchungen  mit  dem  Augenspiegel,  andererseits 
noch  genaue  mikroskopische  Zergliederungen  des  Seh-  und  der  Ciliar- 
nerven in  solchen  Fällen. 

2.  Amaurosis  in  Folge  abnormer  Zustände  der  Xer- 
dauungsorgane  (Würmer,  Gastricismen ,  Fäcalmassenanhäufung  u.  dg].). 
Was  bei  1.  der  Trigeminus,  ist  bei  2.  vielleicht  der  Sympathicus,  während 
in  andern  Fällen  die  Unterleibsaflection  wahrscheinlich  dadurch  Sehstörung 
bewirkt,  dass  sie  Hyperämie  oder  Entzündung  in  den  Centralorganen  oder 
im  Bulbus  veranlasst.  Amaurosis  in  Folge  von  Würmern  dürfte  bei 
weitem  nicht  so  häufig  vorkommen ,  als  man  in  früheren  Zeiten  anzu- 
nehmen pflegte;  doch  liegen  keine  hinreichenden  Gründe  vor,  dieses  Mo- 
ment als  Ursache  von  Amaurosis  in  vorhinein  in  Abrede  zu  stellen, 
spricht  im  Gegentheile  die  Analogie  mit  andern  nervösen  Zufällen  als 
Symptomen  von  Helminthen,  besonders  bei  Taenia ,  nebst  mehr  weniger 
verlässlichen  Beobachtungen  dafür.  Auf  eine  gewisse  Eigentümlichkeit 
der  Symptome  am  Auge ,  welche  man  sonst  wohl  der  Amaurosis  ex  hel- 
minthiasi  zuschrieb,  dürfte  indess  kein  Gewicht  zu  legen  sein,  da  der- 
selbe Symptomencomplex  nach  anderweitig  bedingt  sein  kann;  ja  es  darf 
selbst  der  Abgang  von  Würmern  (Theilen  davon)  noch  nicht  als  sicheres 
Moment  zu  der  Annahme  leiten,  dass  in  einem  gegebenen  Falle  die  Seh- 
störung durch  Würmer  im  Dannkanale  bedingt  sei,  weil  immer  noch  der 
Fall  denkbar  ist,  dass  trotz  jener  Anwesenheit  von  Enlozoeu  die  Amaurosis 


Sympathische  Am  «tu  rose.  173 

durch  Hirnhiberkel,  Hydrocephalus  u.  s.  w. ,  oder  durch  krankhafte  Pro- 
cesse  im  Bulbus  (z.  B.  Cysticercus ,  Retinitis  u.  dergl.)  bedingt  werde. 
Es  wird  daher ,  ehe  man  eine  rigorose  anlhelmintische  Behandlung  gegen 
Amaurosis  eiideitet,  jederzeit  nothwendig  sein,  nicht  nur  dass  der  Abgang 
von  Würmern  wirklich  beobachtet  wurde,  sondern  auch,  dass  man  minde- 
stens gute  Gründe  hat,  anderweitige  Ursachen  der  Sehstörung  als  nicht 
vorhanden  anzunehmen.  —  Auch  für  die  sogenannte  gastrische  Amaurosis 
gibt  es  keine  pathognomonischen  Erscheinungen  am  Auge  selbst,  und  kann 
die  Diagnosis  gleichfalls  nur  unter  Berücksichtigung  aller  Momente  mit 
mehr  weniger  AVahrscheinlichkeit  gestellt  werden.  —  Dasselbe  gilt  von  der 
Sehstörung  in  Folge  angehäufter  Fäcalmassen  im  Dickdarme  Qamaurosis 
e  viscerum  obstrucüone) ,  bei  welcher  übrigens,  so  wie  bei  der  vorher- 
gehenden Art,  alle  Sorgfalt  anzuwenden  ist,  dass  man  nicht  die  Wirkung 
oder  das  Coexistens  (die  Indigestion  und  Obstipation  in  Folge  von  Erkran- 
kung der  Centralorgane)  für  die  Ursache  annehme. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdient  hier  wohl  die  Hemiopie,  welche 
beinahe  in  allen  Fällen ,  die  ich  bei  verschiedenen  Auetoren  notirt  fand 
oder  selbst  beobachtete,  mit  Störungen  in  den  Unterleibsorganen,  nicht 
aber  mit  nachweisbaren  Veränderungen  in  den  Centralorganen  oder  im 
Auge  selbst,  zusammenvorkam.  Vergl.  das  in  den  physiologischen  Bemer- 
kungen S.  55  hierüber  Gesagte.  Schon  das  momentane  Auftreten  und 
Wiederverschwinden  der  Anfälle  von  Hemiopie  lässt  kaum  eine  andere 
Deutung  zu,  als  dass  hier  eine  rein  sympathische  Einwirkung  zu  Grunde 
liege,  und  das  Auftreten  nach  Diätfehlern  nach  Gemüthsaffecten  bei  hy- 
sterischen, hypochondrischen,  übermässig  reizbaren  Individuen  ist  gewiss 
geeignet ,  dieser  Deutung  vor  allen  andern  Wahrscheinlichkeit  zu  ver- 
schaffen. 

3.  Amaurosis  in  Folge  von  Affectionen  des  Uterus ,  na- 
mentlich in  den  ersten  Monaten  der  Schwangershaft,  scheint  bisweilen 
bloss  auf  einem  sympathischen  (durch  die  Nerven  vermittelten)  Leiden 
des  Sehuerven  zu  beruhen.  Nach  Beobachtungen  von  Sennert,  Beer  u.  A. 
tritt  Amaurosis  bisweilen  gleich  zu  Anfang  der  Schwangerschaft  auf,  und 
verschwindet  dann  wieder  von  selbst.  In  einem  von  Beer  beobachteten 
Falle  stellte  sich  Amaurosis  in  drei  nach  einander  folgenden  Schwanger- 
schaften bald  nach  der  Conception  ein,  verschwand  nach  der  Entbindung 
das  1.  und  2.,  nicht  aber  das  3.  Mal.  Dieser  letztere  Umstand  erregt 
Verdacht,    ob  hier  der  Amaurosis  nicht  ein  directes  Leiden  im  Sehnerven 


174  Netzhaut. 

oder  im  Gehirne  zu  Grunde  gelegen  sei ,  welches  durch  die  Gravidität 
jedesmal  gesteigert  wurde,  bis  es  endlich  bleibende  Erblindung  zur  Folge 
hatte.  Beer  bemerkt  übrigens  ausdrücklich,  dass  man  jene  Amaurose, 
welche  bei  Schwangern  oft  nach  und  nach  und  meistens  erst  gegen  das 
Ende  der  Schwangerschaft  und  bei  der  Entbindung  entsteht,  nicht  hierher 
rechnen  dürfe,  indem  diese,  wie  schon  Morgagni  bemerkt,  offenbar  durch 
Anhäufung  des  Blutes  im  Kopfe  und  in  den  Augen  veranlasst  werde.  Er 
betrachtet  die  Amaurosis  von  Schwangerschaft  in  der  ersten  Zeit  als  eine 
Art  Indiosynkrasie,  und  erwähnt  in  einer  Anmerkung,  dass  „er  eine  Frau 
gesehen  habe,  welche,  so  oft  sie  Chocolade  trank,  sich  heftig  erbrechen 
musste,  und  auf  einige  Stunden  stockblind  war;  das  Gesicht  kam  sogleich 
wieder,  sobald  die  Neigung  zum  Erbrechen  verschwand.  Ich  hielt  diesen 
Zufall  für  eine  Folge  der  Anstrengung  beim  Brechen ;  da  ich  aber  bei 
andern  Gelegenheiten  die  Kranke  erbrechen  sah ,  ohne  dass  sich  dieser 
Zufall  ereignete,  so  untersagte  ich  die  Chocolade,  und  seither  blieb  der  An- 
fall auch  ganz  aus."    (1.  c.  1792  S.  44.) 

4.  Amaurosis  in  Folge  von  Giften.  Ob  der  von  Beer  ange- 
schuldigte Missbrauch  bitterer  Mittel  (Quassia,  Centaureum ,  Cichoreum 
und  dergi.)  Amaurosis  bedinge ,  möchte  wohl  noch  weiterer  Bestätigung 
bedürfen ,  da  trotz  des  Fortbestandes  solchen  Missbrauches  in  späteren 
Zeiten  weiter  keine  derartigen  Beobachtungen  gemacht  worden  zu  sein 
scheinen,*)  Dasselbe  gilt  meines  Erachtens  auch  vom  Tabak,  welchem 
Makenzie  eine  direct  nachtheilige  Einwirkung  auf  die  Sehkraft  zuzu- 
schreiben geneigt  ist,  während  Beer  das  Vorkommen  von  Amaurosis  bei 
Tabakrauchern  von  dem  Speichelverlusle  ableiten  will.  Letzterer  gedenkt 
u.  A.  eines  Falles  bei  Amaurosis  von  einer  alten  Frau,  welche  täglich 
4  Lolh  Tabak  zu  schnupfen  pflegte.  Exacte  Beobachtungen  liegen  keine 
vor.  Belladonna,  Hyosciamus  und  Datura  slramonium  wirken  speeiüsch 
auf  die  Ciliar-,  nicht  aber  auf  die  Sehnerven;  sie  bewirken  nur  Mydriasis, 
nicht  aber  Amaurosis,  es  sei  denn  nach  innerlichem  Gebrauche,  durch 
Hyperämie  der  Centralorgane.  Ebenso  dürften  wühl  auch  andere  Narco- 
tica  nur  durch  active  oder  passive  Hirnhyperämie  und  durch  De'ijd^sion  der 
Hirnthätigkeit  überhaupt  wirken.  Beer  erzählt,  dass  er  selbst  im  Jahre 
1804    in    Folge    einer    zufälligen    Vergiftung    mit    Opium    durch    mehrere 


'')  Die    Erscheinungen  nach    übermässigen  Galicn    von  Chinin,  als  :    Ohrensausen,  Schwindel,    Schwerhörigkeil,  Ver> 
minderung  'ler  Sehkran  n.  s.  w.  sind  wohl   durch  Htpcritmie  in  dei    Schidethühle  bcdingl. 


Sympathische  Amaurose.  175 

Stunden  ausser  Stand  gesetzt  blieb,  die  ihn  umgebenden  Objecte  zu  er- 
kennen. Sicher  gestellt  und  höchst  wahrscheinlich  specifisch  ist  die  lah- 
mende Einwirkung  des  Bleies  auf  die  Sehkraft.  Die  Amaurosis  durch 
Bleivergiftung  tritt  nach  Guepin*^  bald  allein,  i.  e.  noch  vor  Entwickelung 
der  übrigen  Erscheinungen  der  Bleivergiftung,  und  zwar  allmälig  auf,  bald 
rasch  mit  den  gewöhnlichen  Zufällen  der  Bleikolik  und  auch  mit  Hirn- 
zufallen. Man  findet  nebst  mehr  weniger  hochgradiger  und  completer 
Sehstörung  die  Pupillen  sehr  stark  erweitert,  die  durchsichtigen  Medien 
normal,  weder  Schmerzen  noch  abnorme  Injeclion  an  den  Augen.  Bei 
Anwendung  der  gegen  die  Intoxication  angezeigten  Behandlung  verschwin- 
det diese  Amaurosis  (nach  Guepin  und  Deval)  leicht  und  in  wenig  Tagen, 
bisweilen    selbst  in  einigen  Stunden. 


5.  Amaurosis    als  Symptom    allgemeiner   Erschöpfung  und 
Entkräftung  lässt  sich  gleichfalls  rücksichtlich  ihrer  nächsten  Ursache  vor- 
läufig noch  nicht  genauer  bestimmen.  Es  liegen  verlässliche  Beobachtungen 
vor,  wo  man  starken  Blutverlust,  erschöpfende  Diarrhöe,  Speiehelfiuss,  wider- 
natürlichen Samenverlust,  zu  langes  Säugen,    anhaltendes  Fasten,  Kummer 
und  Nahrungssorgen ,    Typhus  u.  dergl.    als  die  entfernteren  Ursachen  von 
Amblyopie    oder  Amaurosis    annehmen   musste.      Der   Beweis  dafür  wurde 
dadurch  geliefert,    dass  die  Sehstörung    unmittelbar   nach    einem  der    ge- 
nannten   Momente   auftrat,    durch    Beseitigung  desselben    allein  oder  doch 
unter  Beihilfe    roborirender    Behandlung   behoben  wurde ,    und  wohl   auch 
nach  Wiederkehr  solcher  Momente  neuerdings  auftrat.     Fälle,  wo  während 
oder  unmittelbar  nach  starken  Aderlässen  Amaurosis  eintrat,  scheinen  in  frü- 
heren Zeilen  oft  vorgekommen  zu  sein,    und   finden  sich  zahlreich  in  Trnka 
de  Krzowitz  historia   amauroseos  aufgeführt.       Unter  den  spontanen  Blut- 
verlusten   sind  es  besonders  die    Metrorrhagien,    nach  welchen  Amaurosis 
temporär    oder   bleibend    beobachtet  wurde.      Carron  du  Villards    erzählt 
von  einer  Frau  mit  Gebärmutterkrebs,    welche   nach  jeder  Blutung   durch 
8 — 10  Tage    blind  wurde,    und   zuletzt,    einige   Wochen   vor    dem    Tode, 
blind  blieb.     In  einem  von  mir  beobachteten  Falle  erfolgte  die  Erblindung 
successiv  nach  mehrmals  wiederholter   Metrorrhagie    in  Zeit  von  6  Tagen 
und  blieb  die    der  Anämie    entgegen   gestellte    Behandlung  fruchtlos,    ob- 
wohl ich  weder  in  der  Netzhaut  (bei  sehr  oft  und  zu  verschiedenen  Zeiten 
—  im  Verlaufe  eines  Jahres  —  wiederholter  Ophthalmoskopie)  noch  in  den 

'-")  Annales   cTocuIist.  par  Fl.   Cuvier  1847,   T.   XV. 


176  Netzhaut. 

Centralorganen  ein  Leiden  objeetiv  nachzuweisen  vermochte.  Die  Pupillen 
waren  gleich  von  Anfang-  an  starr  und  auffallend  erweitert.  Es  muss  je- 
doch noch  hervorgehoben  werden,  dass  nach  den  obgenannten  und  ähn- 
lichen schädlichen  Einflüssen  weit  häufiger  blos  Schwächung  der  Accoin- 
modationsthätigkeit  als  wirkliche  Amblyopie  und  Amaurosis  beobachtet 
wird,  ein  Zustand,  der  in  früheren  Zeiten  gewöhnlich  als  Amblyopie  oder 
Hebetudo  visus  aufgefasst  wurde.  (Siehe  später:  Kraekheiten  der  Mus- 
keln). Ebenso  muss  noch  ausdrücklich  bemerkt  werden,  dass  jene  Fälle 
nicht  hieher  gehören,  wo  sich  bei  Individuen,  die  durch  deprimirende  Ein- 
flüsse in  der  Ernährung  sehr  herabgekommen  sind ,  allmälig  schleichende 
Entzündung  in  der  Netz-,  Ader-  oder  Regenbogenhaut  entwickelt,  wie 
z.  B.  in  den  von  Makenzie  nach  dem  Hungertyphus  beobachteten  Fällen 
von  Erblindung.     (Yergl.  Iritis  chronica  im  2.  Bande.) 


ix.  asncii. 

Die   Organe  der   Bewegung  und  der   Accom- 

modation. 


A.     Anatomisch-physiologische  Bemerkungen. 

Der  Bulbus  eines  Erwachsenen  mis'st  vom  vordem  bis  zum  hintern 
Pole  10,5'" — 11'"  (äussere  Augen-  oder  Sehachse),  vom  Centrum  der 
Descemet'schen  Haut  bis  zur  Macula  lutea  9,5'" — 10'"  (innere  Augenachse), 
im  Äquator  von  aussen  nach  innen  meistens  eben  so  viel  wie  in  der 
äussern  Augenachse  (horizontaler  Querdurchmesser),  von  oben  nach  unten 
dagegen  selten  eben  so  viel,  meistens  l/s"(,  selbst  \"'  weniger  (verticaler 
Querdurchmesser).  Doch  gibt  es  auch  Bulbi,  an  denen  der  verticale 
Äquatorialdurchmesser  grösser  ist,  als  der  horizontale,  ohne  dass  man 
dieses  Verhältniss  zu  irgend  einem  Momente  in  Beziehung  bringen  kann. 
Er  stellt  demnach  nicht  sowohl  eine  Kugel,  als  vielmehr  ein  Ellipsoid  dar, 
und  erscheint  überdies  da,  wo  sich  die  M.  recti  anlegen  und  inseriren, 
mehr  weniger  abgeplattet  oder  flach  gedrückt,  so  dass  eigentlich  die  schrä- 
gen Querdurchmesser  (von  oben -aussen  nach  innen -unten,  besonders 
aber  der  von  oben -innen  nach  unten  -  aussen)  die  grössten  sind. 

Er  liegt  oder  schwebt  als  ein  ohngefähr  120 — 130  Gran  schwerer 
Körper  frei  im  Eingange  der  Orbita,  nirgends  fest  an's  Knochengerüst  ge- 
heftet, ringsum  von  weichen,  nachgiebigen,  elastisch -dehn-  und  drück- 
baren und  von  muskulösen  Gebilden  umgeben ,  und  dennoch  seine  Lage 
mit  einer  gewissen    Beharrlichkeit  behauptend.      Von  Natur  aus  bald  tiefer 

Arll's  Angenh.illuinde   111,  2.  12 


178  Augenmuskeln. 

bald  flacher  liegend,  trilt  er  momentan  bei  erhöhtem  Gefässturgor  stärker 
hervor,  bei  reichlichem  Säfteverluste  (Hämorrhägie,  Diarrhöe  u.  dgl.)  merk- 
lich zurück,  wogegen  mechanische  Hyperämie  in  dem  retrobulbären  Fett- 
polster mehr  eine  habituelle  stärkere  Vorlagerung  (Glotzauge),  starke 
Abmagerung  aber  ein  mehr  weniger  auffallendes  Zurücksinken  in  die 
Orbita  (Hohlauge)  bewirkt.  Durch  die  Muskeln  scheint  eine  Veränderung 
der  Lage  des  Bulbus  in  toto  nicht  bewerkstelligt,  vielmehr  gerade  das 
Balancement  in  loco  vermittelt  zu  werden  (Antagonismus  zwischen  den 
geraden  und  schiefen) ;  nur  heftige  Contraction  des  M.  orbicul.  palp.  ver- 
mag den  Bulbus  etwas  rückwärts  zu  drängen.  Von  der  Veränderung  d<?r 
Lage  des  Bulbus  bei  Strabismus ,  Luscitas  u.  dgl.  wird  weiter  unten  die 
Rede  sein.  —  Als  mittlere  Lage  in  Bezug  auf  die  Tiefe  kann  jene  be- 
zeichnet werden,  wo  eine  gerade  Linie,  vom  obern  zum  untern  Augen- 
höhlenrande gezogen,  gleich  einer  Tangente  das  an  den  Bulbus  ange- 
schmiegte  obere  Lid  berührt,  während  eine  gerade  Linie,  von  der  Inser- 
tion des  äussern  Augenlidbandes  zur  Insertion  des  innern  Augenlidbandes 
gezogen,  den  gerade  nach  vorn  gerichteten  Bulbus  etwas  hinter  der  An- 
heftungslinie  des  M.  rect.  externus  und  internus  durchbohren  und  knapp 
hinter  der  Linse  vorbeistreichen  würde.  —  Der  Abstand  des  hintern 
Poles  vom  vordem  Umfange  des  Foramen  opticum  beträgt  im  Mittel  V". 
Der  Abstand  vom  obern  Orbitalrande  beträgt  circa  3'",  vom  untern  etwa 
2  — 21/2"/;  ebenso  ist  der  Abstand  vom  äussern  Orbitalrande  jederzeit 
merklich  (um  2'")  grösser,  als  der  vom  innern.  (Der  Eingang  der  Orbita 
misst  von  oben  nach  unten  circa  15'",  von  aussen  nach  innen  circa  18"'). 
Unter  ihm  liegen,  abgesehen  vom  Orbitalfette,  der  untere  gerade  und 
schiefe  Augenmuskel,  welche  ihn,  bei  einem  gewissen  Grade  von  Span- 
nung sämmtlicher  Muskeln,  gleichsam  tragen  oder  stützen;  über  ihm  liegt 
zunächst  die  Sehne  des  Muse,  obliquus  superior,  dann  der  M.  rectus  supe- 
rior  und  der  M.  levator  palp.  superioris,  überdiess  gegen  die  Schläfe  hin 
die  untere  und  obere  Thränendrüse,  gegen  die  Nase  hin  die  Rolle  des 
M.  obliquus  superior,  von  welcher  eine  Art  Sehnenscheide  oder  zellig 
fibröses  Gewebe  zur  Tunica  vaginalis  bulbi  herabsteigt,  in  dieselbe  pinsel- 
förmig ausstrahlt,  und  gewissermaassen  als  lockeres  Aufhängeband  des 
Bulbus  betrachtet  werden  kann.  Dieses  ziemlich  feste,  jedoch  elastisch - 
dehnbare  Gewebe  verschmilzt  nicht  nur  mit  der  Tunica  vaginalis  bulbi, 
sondern  auch  mit  der  Scheide  des  Muse,  rectus  superior,  und  erschwert 
dessen  Durehschneidung,  wenn  man  den  Schnitt  nicht  knapp  durch  dessen 
Insertion  am  Bulbus  führt.  Will  man  die  Sehne  des  Obl.  suj>.  von  der 
Rolle  bis  zum  Bulbus  präpariren,    so  muss    man  dieses  Gewebe,    welches 


Anatomie  —  Physiologie.  179 

nächst  der  Rolle  eine  förmliche  Scheide  bildet,  aufschlitzen;  nächst  dem 
Bulbus  tritt  dann  die  dünne  Sehne  aus  demselben  heraus,  um  zwischen 
dem  Reclus  super,  und  dem  Bulbus  durch  die  Tunica  vaginalis  bulli  an 
die  Sclera  zu  gelangen.  —  An  der  Schläfeseite  bedeckt  ihn  der  Muse, 
rectus  externus  und  gleich  darüber  ein  Theil  der  Thränendrüse ,  an  der 
Nasenseite  dagegen  der  M.  rectus  internus.  Auch  hier  findet  man  eine 
Art  lockerer  Befestigung  des  Bulbus  an  den  Orbitalrand,  indem  sowohl 
am  äussern  als  am  innern  Augenwinkel  noch  eine  Strecke  rückwärts  vom 
Augenlidbande  ein  zellig- fibröses  Gewebe  von  der  Periorbita  zum  Bulbus 
hinüberstreieht,  und  sich  mit  der  Tunica  vaginalis  bulbi  und  deren  Fort- 
sätzen (zu  den  Muskeln  und  zu  den  Augenlidern)  verbindet,  während 
sonst  ringsum  der  Raum  zwischen  den  Augenmuskeln  und  der  Periorbita 
einfach  mit  Fettgewebe  ausgepolstert  erscheint.  Durch  diese  zeilig-fibrösen 
Fortsätze  zur  Beinhaut  ist  eigentlich  das  Gehäuse  des  Bulbus,  die  Tunica 
vaginalis ,  und  somit  auch  der  Bulbus  selbst  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
in  seiner  Lage  gesichert,  ohne  dass  der  Bulbus  heftigen  Erschütterungen 
(z.  B.  beim  Springen,  Reiten  u.  dgl.)  ausgesetzt  wird.  —  Die  Spalte, 
welche  die  innig  an  ihn  angesehnüegten  und  gewölbt  über  ihn  verlaufen- 
den, weil  innen  und  aussen  an  den  tiefer  gelegenen  Orbitalrand  gehef- 
teten Lider  zwischen  sich  lassen ,  und  welche  bald  enger  bald  weiter  ge- 
schlitzt erscheint,  ist  jederzeit  noch  etwas  enger,  als  dass  der  Bulbus  frei 
durchschlüpfen  könnte;  es  bedarf  selbst  nach  Durchschneidnng  des  Opticus 
und  der  Muskeln  einer  gewissen  Gewalt,  ihn  durch  diesen  Isthmus  heraus 
zu  zwängen  und  ebenso,  ihn  durch  denselben  wieder  zu  reponiren.  — 
In  seinem  hintern  Umfang  inseriren  sich  nebst  dem  Oplibus  die  Enden 
der  Muse,  obliqui  (in  dem  Zwischenräume  zwischen  dem  Rectus  super, 
und  externus),  im  übrigen  umgibt  ihn  daselbst  das  Orbitalfett,  auf  dessen 
eminente  Zusammendrückbarkeit  und  Elasticität  wir  schon  bei  den  anatom. 
Bemerkungen  über  den  Sehnerven  aufmerksam  gemacht  haben. 

Die  vier  geraden  Augenmuskeln  entspringen  sämmtlich  am  Umfange 
des  Sehnervenloches,  welches  nächst  der  Spitze  der  Orbita  schief  durch 
die  innere  Wandung  derselben  heraustritt,  und  zwar  in  dem  Winkel,  wo 
die  obere  Wand  der  Orbita  an  die  innere  stösst.  Denkt  man  sich  den 
Kopf  in  aufrechter  Haltung,  so  würde  eine  Nadel,  2 — 3'"  über  dem  innern 
Augenlidbande  eingestossen,  und  einerseits  horizontal,  andererseits  parallel 
zur  vertikalen  Medianebene  des  Kopfes  (also  längs  der  innern  Wandung 
der  Orbita)  fortgeführt,  über  i1//'  (meistens  l%")  tief  eingedrungen  sein 
müssen,  ehe  sie  den  Opticus  bei  seinem  Austritte  aus  den  Foramen  opti- 

cum  träfe.     Die  Entfernung  der  äussern  Lidcommissur  vom  Sehnervenloche 

i  o* 

1  ~ 


180  Augenmuskeln. 

ist  nahezu  dieselbe,  weil  der  äussere  Orbitalrand  weiter  rückwärts  liegt, 
als  der  innere.  Kennt  man  nun  die  Lage  des  Bulbus  am  Eingänge  in  die 
Orbita  und  die  Insertionslinien  der  geraden  Augenmuskeln  am  Bulbus  selbst' 
so  kennt  man  auch  ihre  Länge,  da  sie  bis  zum  grössten  Umfange  des 
Bulbus  geradlinig  verlaufen,  und  es  ergibt  sich  von  selbst,  da  der  Bulbus 
der  innern  Wandung  etwas  näher  liegt  und  die  Pupille  nach  vorn  gerich- 
tet ist,'dass,  wenn  der  R.  internus  l%"  lang  ist,  ihm  der  ziemlich  hori- 
zontal nach  vorn  verlaufende  R.  superior  an  Länge  olmgefähr  gleich  kommt, 
der  ziemlich  stark  abwärts  abweichende  inferior  1 — 2'",  und  der  am  wei- 
testen hinten  entspringende  und  am  stärksten  nach  aussen  abweichende 
R.  externus  mindestens  3'"  länger  ist.  Rücksichtlich  der  Dicke  steht  der 
R.  internus  oben  an,  dann  folgt  der  externus,  dann  der  inferior,  zuletzt 
der  superior,  ein  Verbältniss,  welches  wohl  mit  dem  Überwiegen  der 
Function  im  Einklänge  stellt,  da  der  superior  relativ  am  wenigsten  in 
Anspruch  genommen  wird. 

Die  Recti  inseriren  sich  in  die  Selera  mit  kurzen,  aber  breiten  und 
dünnen  Sehnen  rings  um  die  Cornea  in  einer  Entfernung  vom  Rande  der- 
selben, welche  im  Mittel  3"'  angeschlagen  werden  kann.  Die  Sehnen 
sind  im  Allgemeinen  3  V2'" — 4'"  breit,  die  des  externus  um  ife'a  schmäler, 
dagegen  aber  auch  die  längste.  Die  Insertionslinien  sind  flach  bogen- 
förmig geschweift,  in  der  Mitte  weiter  nach  vorn  reichend,  als  zu  beiden 
Seiten.  Der  Scheitel  oder  Mittelpunkt  dieser  Insertionslinie  liegt  beim 
internus  höchstens  2,/2/",  beim  externus  mindestens  3'"  vom  Rande  der 
Cornea  entfernt.  Beim  superior  und  inferior  steht  dieser  Mittelpunkt  fast 
constant  3"'  vom  Hornhaulrande  ab  (in  der  Richtung  eines  Meridianes, 
den  man  sich  vom  Centrum  der  Cornea  durch  diesen  Mittelpunkt  zum 
hintern  Pole  gezogen  denkt),  während  das  innere  Ende  der  Insertionslinie 
der  Cornea  fast  um  V"  näher  liegt  als  das  äussere.  Die  Mittelpunkte  der 
Inser.tionslinien  des  in-  und  externus  liegen  im  horizontalen  Meridiane, 
ebenso  der  des  superior  im  vertiealen,  der  des  inferior  weicht  jedoch 
um  beiläufig  1/„'"  nach  der  Nase  zu  von  letzterem  ab.  Ein  Reifen,  durch 
fliese  Mittelpunkte  um  den  vordem  Umfang  des  Bulbus  gelegt,  würde  irn 
vertiealen  Durchmesser  etwa  8'",  im  horizontalen  etwa  9'"  messen,  wenn 
ein  Reifen  um  den  grössten  Umfang  des  Bulbus  (Äquator)  gelegt,  verti- 
•al  9 — IOYjj'",  horizontal  101/,, — ll'"  messen  würde.  Dieser  Reifen. 
Mich  die  Insertionslinien  gezeichnet,  fällt  nahezu  mit  dem  hintern  Ende 
'es  Corpus  ciliare  (an  der  Innenfläche)  zusammen,  und  verläuft  Ohngefähr 
1  der  Mitte  zwischen  dem  Äquator  bulbi  und  dem  Hornhantrande. 


Anatomie  —  Physiologie.  181 

Diese  Verhältnisse  suchte  ich  so  gut   sich's    hei  einer  einfachen  schematischen  Plan- 
zeichnung ihun  licss,  durch  die  beisleliende  Figur  anschaulich  zu  machen.       Sie  müssen 

nicht  nur  bei  den  Betrachtungen  über  die  Function 
der  Augenmuskeln  wohl  erwogen  werden,  sie  sind 
auch  von  grossem  praktischen  Werlhe  bei  der  zu 
thcrapeutischcnZwccken  npthigen  Muskeldurchschnei- 
dung.    Die  geraden  Linien  ab  und  cd  stehen  senk- 

-      -  ,"     -,i.>_  :■: [•;,...•  recht   aufeinander   und    schneiden  sich    in  o,    dein 

1.      \  '  S  Mittelpunkte    der    Hornhaut    fg-h.i;     der     punktirte 

Kreis  abcd  ist  um  den  Punkte,    '/„'"  auswärts   von 
o  beschrieben.      Die  Mittelpunkte  der    geschweiften 
Insertionslinieu  des  in-  und  externus  liegen  im  ho- 
rizontalen Durchmesser  ab,  der  Mittelpunkt  der  In- 
sertionslinie  vom  superior  c  fällt  in  den  verticalen  Durchmesser,  der  vom  inferior  dagegen 
etwa    %'"   einwärts  davon,  d.  h.  der  internus  und  inferior  liegen  einander  näher,  als  di 
übrigen  Muskeln.     Wenn  ich  an  gefrorenen   Köpfen    mit  einer  feinen  Säge  einen  Durch- 
schnitt durch  die  Mittelpunkte  der  Insertionslinien  des  superior  und  inferior  bis  zu  ihrem 
Ursprünge    am  Sehnervenloche    führen ,    also    diese    Muskeln    ihrer    ganzen   Länge    nac  " 
halbiren  wollte,    so  durfte  derselbe  an  der  Gesichtsfläche  nicht  vertical  herablaufen,  son- 
dern es  musste  der  untere  Orbilalrand  näher  an  der  Nase  durchschnitten  werden,  als  de 
obere  (etwa  uns   2'").     Während  in  obiger  Figur  die  Breite  der  Sehnen,  ihre  Entfernung 
vom  Hornhautrande  und  ihre  relative  Lage  zu  diesem  durch  die  dicken  Linien  bezeichnet 
wurden ,    mussten  ihre  gegenseitigen  Abstände    von    einander    oder    ihre  Zwischenräume 
wegen    der  horizontalen  Projection   beinahe  um  das  Doppelte    zu  gross  ausfallen. 

Indem  die    geraden  Augenmuskeln   von    der  Spilze    der  Orbita  diver- 
girend  vorwärts  treten,  verlaufen  sie  ausserhalb  der  Tunica  vaginalis  bulbi 
und  sind,  so  wie  hinten  yom  Opticus,  so  vorn  vom  Bulbus  durch  das  Or- 
bitalfett geschieden.       Erst    vom  Äquator   bulbi   an  schmiegen  sie  sich  an 
denselben   an,    liegen  jedoch    noch    immer    ausserhalb    der    Scheidenhaut, 
welche  sie  erst  knapp  vor  ihrer  Insertion  so  schräg  durchbohren,  dass  sie 
eine  kurze  Strecke  in  (nicht  innerhalb)    derselben  verlaufen,    daher  einen 
Überzug  von  ihr  erhalten,    welcher    mit  dem  Perimysium    musc.  ein  Con- 
tinuum  bildet.     Kur  die   bald    mehr  bald  weniger   kurzen  sehnigen   Enden 
der  Recti  liegen  bereits  innerhalb  der  Scheidenhaut,  welche  sich  über  den- 
selben nach  vorn  fortsetzt,  um  sich  im  Verein  mit  der  äarüber  befindlichen 
Tunica    conjunetiva    am   Rande   der   Hornhaut    anzuheften.      Wenn    Einige 
meinten,    dass  die  sehnigen  Enden  der  Recti  mit  ihren  Seitenrändern  bo- 
genförmig unter  einander  zusammenhängen,  so  halten  sie  wohl  die  Tunica 
vaginalis  bulbi  vor  Augen,  welche  allerdings  eine  gewisse  Verbindung  der 
Muskelsehnen   unter  einander  vermittelt  (seitliche  Imagination).     Wird  die 
Sehne  eines    Rectus  durchschnitten,    dann  ist  es    eben  diese    Invagination, 
dieser  namentlich   an  den   Seitenrändern    noch    unverändert  fortbestehende 


182  Augenmuskeln. 

Zusammenhang  mit  der  Scheidenhaut,  welcher  den  Muskel  noch  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  an  den  Bulbus  bindet.  Die  Angabe,  dass  die  Recti 
noch  hinter  der  Einpflanzung  ihrer  Sehnenfasern  in  die  Sclera,  welche 
allerdings  nicht  in  einer  mathematischen  Linie  stattfindet,  sondern  oft  noch 
Nebenausläufer  zeigt,  durch  kurzen  Zellstoff  straff  angeheftet  sei,  und 
zwar  bis  zum  Äquator  bulbi,  ist  eben  so  unrichtig,  als  wenn  man  eine 
solche  Anheftung  von  der  Tunica  vaginalis  behaupten  wollte.  Hat  man 
die  Binde-  und  Scheidehaut  in  einer  den  Muskelinscrtionslinien  entspre- 
chenden Kreislinie,  und  hierauf  auch  die  Muskelsehnen  selbst  mit  möglich- 
ster Schonung  aller  übrigen  Verbindungen  durchschnitten  —  wie  bei  der 
Exstirpatio  bulbi  nach  Bonnet  —  so  kann  man  mit  einem  dünnen  Scalpell- 
hcfte  den  Bulbus  aus  einer  innen  ganz  glaten  Schale  lösen,  welche  nur 
im  hintern  Umfange  noch  durch  die  M.  obliqui  und  den  N.  opticus  mit 
demselben  zusammenhängt  (rings  um  den  Opticus  noch  durch  die  Ciliar- 
nerven und  hintern  Ciliargefässe),  Nichts  ist  leichter,  als  sich  davon  zu 
überzeugen,  dass  der  Muskelbauch  selbst  bis  gegen  den  Äquator  hin  — 
an  seiner  Innenfläche  von  einer  ganz  glatten  Membran  —  der  Scheiden- 
haut —  überzogen  ist. 

Die  Conjunctiva  bulbi  erstreckt  sich  am  obern  und  untern  Umfange 
des  Bulbus  noch  circa  1 1/2"',  am  innern  und  äussern  noch  mindestens  2"' 
über  die  Muskelenden  rückwärts,  und  man  kann  besonders  bei  etwas 
flacher  liegenden  Augen  sehr  leicht  die  Muskelfasern  des  in-  und  exter- 
nus  durch  die  Binde-  und  Scheidenhaut  durchscheinen  sehen;  dass  man  den 
silberartigen  Glanz  der  Sehnen  nicht  sieht,  kann  als  Beweis  dienen  dafür, 
dass  sie  nicht  bloss  durch  die  durchsichtige  Binde-  sondern  auch  durch 
die  bloss  durchscheinende  Scheidenhaut  gedeckt  sind.  Die  Lage  der  Mus- 
keln lässt  sich  übrigens  leicht  nach  den  gleichfalls  von  der  Scheidenhaut 
gedeckten  vordem  Ciliargefässen  erkennen,  welche  aus  den  Muskelbäu- 
chen heraus  unter  die  Scheiden-  und  Bindehaut  treten,  ein  Merkmal, 
welches  sich  bei  der  Myotomie  besonders  dann  als  sehr  schätzbar  erweist, 
wenn  der  Patient  das  Auge  sehr  stark  verdreht. 

Die  fixen  Punkte  der  beiden  schiefen  Augenmuskeln  liegen  an  der 
Basis  orbitae,  also  den  fixen  Punkten  der  Recti  entgegengesetzt.  Über 
die  Lage  der  Rolle,  durch  welche  der  vom  Sehnervenloche  herkommende 
Obliquus  snperior  mit  seiner  dünnen  und  glatten  Sehne  verläuft,  kann 
man  sich  leicht  unterrichten,  wenn  man  einen  Finger  knapp  hinter  dem 
Eingange  der  Orbita  gegen  den  innersten  Theil  der  obern  Orbitalwand 
drückt.  Von  hier  steigt  die  runde  Sehne  in  der  oben  beschriebenen  Scheide 
nach  hinten    und    aussen  herab,    wird    vor    ihrem    Eintritte    zwischen  den 


Anatomie  —  Physiologie.  183 

Rectus  superior  und  den  Bulbus  flach  und  fächerartig,  dringt  dann  durch 
die  Scheidenhaut,  und  verschmilzt  mit  der  Sclerotica  in  einer  gegen  3'" 
angen  Bogenlinie,  deren  Convexität  nach  hinten  und  aussen  sieht,  deren 
inneres  Ende  etwas  weiter  hinten  liegt  und  vom  N.  Opticus  3V2 — 4'"  ab- 
steht, wahrend  der  Abstand  des  äussern  (mehr  nach  vorn  gelegenen) 
Endes  vom  Opticus  6 — T"  beträgt.  —  Der  Obliquus  inferior  entspringt 
vom  Orbilalrande  des  Oberkiefers  unmittelbar  nach  aussen  vom  Thränen- 
sacke,  läuft  von  da  zwischen  dem  Orbitalfett  über  dem  Boden  der  Augen- 
höhle aus  -  und  ein  wenig  ab  -  und  rückwärts,  bis  er  unter  dem  Rectus  inferior 
zu  liegen  kommt,  wo  er  sich  ohngefähr  3'"  hinter  dem  Orbitalrande  befindet. 
An  der  Kreuzungsslelle  mit  dem  R.  inferior  hängt  er  mit  der  Scheide  des- 
selben durch  ein  zellig -fibröses  Gewebe  zusammen,  jenseits  dessen,  er 
seine  Richtung  ändert,  indem  er  sich  nicht  nur  stark  aufwärts,  sondern 
auch  merklich  rückwärts  krümmt,  um  dann  an  der  Schläfeseite  des  Bul- 
bus, unmittelbar  an  dessen  Scheidehaut  anliegend,  zwischen  dieser  und 
dem  Rectus  externus  zum  hintern  und  obern  Umfange  des  Bulbus  zu  gc- 
langen.  Sein  an  Dicke  beinahe  den  Rectis  gleichkommender  Muskelbauch 
wird  zwischen  dem  R.  externus  und  Bulbus  auffallend  breit  und  dünn, 
durchdringt  die  Scheidenhaut  in  der  Gegend  des  obern  Randes  des  R. 
externus,  und  inserirt  sich  mit  unmerklich  kurzen  Sehnenfasern  in  die 
Sclera  in  einer  mindestens  5'"  langen  Bogenlinie,  deren  Convexität  nach 
oben  und  vorn  gerichtet  ist,  und  deren  vorderes  Ende  etwa  T"  vom  Opti- 
cus absteht,  während  das  hintere  etwa  2 — 3'"  davon  entfernt  ist. 

Während  sich  durch  die  Mittelpunkte  der  Insertions-  und  Ursprungsstellen  des  R. 
superior  und  inferior  einerseits,  und  durch  die  gleichen  Punkte  des  R.  internus  und 
externus  andererseits  bequem  eine  Ebene  legen  lässt,  wovon  die  letztere  so  ziemlich 
durch  die  Mitte  der  Pupille,  die  erstere  aber  daneben  (an  der  Nasenseite)  vorbeistreicht, 
lässt  sich  für  die  Sehne  des  Obliqus  superior  und  für  den  Muskelbauch  des  Obliqus 
inferior  durchaus  keine  solche  Ebene  finden.  Es  war  diess  wenigstens  an  Chromsäure- 
präparaten  sowohl  als  an  festgefrornen  Köpfen  durchaus  unmöglich,  und  eine  aufmerk- 
same Vergleichung  des  Verlaufes  liess  auch  weiter  keine  Hoffnung  auf  eine  solche  Mög- 
lichkeit aufkommen.  *)     Gibt   es    aber    keine   gemeinschaftliche    Ebene    für    die    Obliqui, 


*)  Ruete  Lehrbuch  der  Ophlh.  2.  Aufl.  S.  34  sagt:  „Geht  man  in  der  Richtung,  welche  die  Sehne  des  Obl.  zu- 
perior  von  der  Trochlea  bis  zur  Insertion  am  Bulbus  verfolgt,  weiter  nach  unten  und  hinten,  so  trifft  man  etwas 
über  dem  obern  Rande  des  R.  externus  auf  die  Insertion  des  Obl.  inferior.  Von  der  Insertion  setzt  sich  die 
Sehne  dieses  Muskels  schräg  nach  unten  und  vorn  in  derselben  Richtung,  wie  die  Sehne  des  Obl.  superior, 
aber  in  umgekehrter  Ordnung  nach  unten  und  vorn  in  den  Muskel  fort,  der,  unter  dem  R.  inferior  liegend,  vom 
Buden  der  Orbita,  nahe  dem  Ausgange  zwischen  dem  Cnnalis  infraorbitalis  und  dem  Thränenbein  entspringt. 
Zieht  man  vom  Ursprünge  des  Obl.  inferior  eine  Linie  anfwärts  bis  zur  Trochlea,  von  dieser  bis  zus  Insertion  der 
Sehne  der  Obl.  superior,  und  von  da  zur  Insertion  des  Obl.  inferior  bis  zu  seinem  Ursprünge,  so  beschreibt  man 
eine  ziemlich  regelmässige  Ellipse.  Der  Durchmesser  des  Auges,  welcher  normal  zu  der  Ebene  dieser  Ellipse  steht , 


184  Augenmuskeln. 

dann  gibt    es   meines  Erachtens    auch    keine    gemeinschaftliche    Achse,    um    welche    die 
Obliqui  den  Bulbus  drehen   könnten,    sondern    es   muss,   nachdem    die   Unverrückbarkeit 
des  Drehpunktes  des  Bulbus  anderweitig  constatirt  ist,    für  jeden  Obliquus    für  sich    erst 
die  Achse  gesucht  werden,   um  welche  er  den  Bulbus  zu  drehen  vermag.       So  wie  der 
Obl.  superior  in  der  Rolle  unter  einem  spitzigen  Winkel  umbiegt,    nimmt  auch  der  Obl. 
inferior  nach  dem  Durchgange  durch    die   zellig- fibröse  Masse,    welche    ihn    an  den  R. 
inferior  heftet,  eine  andere  Richtung  an,  wenn  gleich  unter  einem  sehr  stumpfen  Winkel. 
Wird  die  erste    Portion  des  Obl.  inferior    (vom    Ursprünge    bis    zum    R.  inferior)    durch 
eine  Durchschnittsebene  in  eine  vordere  und  hintere  Hälfte  getrennt,  so  liegt  die  zweite 
Hälfte  jederzeit  hinter  dieser  Durchschnittsebene,  und  wird  der  Schnitt  so  geführt,    dass 
er  diese  halbirt,  so  trifft  dieser  Durchschnitt  auch  niemal  mit  dem  Verlaufe  der  Sehne  des 
Obl.  superior  zusammen.     Der  Obl.  inferior  bietet  demnach  eine  doppelte  Krümmung  dar 
einmal  nach  der  Fläche    (die  Concavität    zum    Bulbus    gerichtet) ,    und    das    andere  Mal 
nach  den  Rändern  (die  Concavität  rückwärts  gerichtet).    —    Denkt  man  sich  den  Bulbus 
durch  den  Äquator  in  eine  vordere  und  hintere  Hälfte  getrennt,  so  liegen  die  Insertious- 
linien  beider  Obliqui  in  der  hintern  Hälfte,  doch  so,    dass  die  vordem  Enden  der  Inser- 
tionslinien  nur  wenig  vom  Äquator  abstehen.      Denkt  man  sich  den  Bulbus  in  eine  äus- 
sere und  innere  Hälfte  geschieden    (mittelst  eines  Meridians  durch  den  vordem  und  hin- 
tern Pol),    so  liegen  die  Inserlionslinien    in    der  äussern  Hälfte,    doch  so,    dass  die  des 
Obl.  superior  nahe  an  den  Meridian  fällt.      Denkt   man   sich  endlich  den   Bulbus    in  eine 
obere  und  untere  Hälfte  getheilt,  so  fallen  die  beiden  Inserlionslinien  in  die  obere  Hälfte1 
doch  so,  dass  die  des  Obl.    inferior  nur  mit  ihrer  grössern    hintern  Hälfte    in    die    obere 
Hemisphäre  fällt.     Die    Mittelpunkte  der  Insertionslinien  der   beiden  Obliqui    liegen  dem- 
nach in  dein  hintern,  äussern  und  obern  Viertel  des  Bulbus,  und  sind  von  einander  nur  unge- 
fähr 4'"  weit  entfernt.     Ihre  hintern    Enden    liegen  einander  etwas  näher,    ihre  vordem 
beträchtlich  weiter  von  einander. 

Die  Nerven,  welche  für  die  Bewegungsorgane  des  Bulbus  bestimmt 
siud,  sind  bekanntlich  der  3.,  4.  und  6.  Hirnnerve.  Der  N.  oculomotorius 
versieht  den  R.  internus,  superior,  inferior  und  den  Obl.  inferior  (nebst- 
dem  den  levator  palpebrae  superioris  und  mittelst  der  radix  brevis 
des  Ganglion  ciliare  die  Iris  und  den  Ciliarmuskel) ;  der  N.  trochlearis 
ist  für  den  Obl.  superior,  der  N.  abduecns  für  den  R.  externus  allein  be- 
stimmt. —  Die  Arterien  der  Muskeln  des  Augapfels  kommen  durchaus 
von  der  Art.  ophthalmica,  und  geben  nach  vorn  die  bereits  beschriebenen 
vordem  Ciliararterien  ab.  Sie  sind  sammt  und  sonders  viel  zu  dünn,  als 
dass  von  ihrer  Durchschneidung  eine  .stärkere  Blutung   zu  besorgen  wäre. 

Der  Oculomotorius ,  welcher  an  der  Basis  encephali  zwischen  den  Himschenkcln  zu 
Tage  tritt,  und  dann  an  der  Seite  des  Türkcnsattels  in  einer  Falte  der  harten  Hirnhaut 
über  dem  Sinus  cavernosus,  wo  er  1 — 2  Fädchen  vom  Carotidengeflecht  aufnimmt,  zur 
Fissura  orbit.    superior    verläuft,    kann   mit    seine  Wurzeln    im  Gehirne    weit    rückwärts 

ist  die  Drehungsachse  für  die  M.  obliqui."     Ich  bin  nach  meinen  Untersuchungen  durchaus  nicht  im  Stande,  für 

die    beiden   Obliqui  eine   gemeinschaftliche  Khunc   zu  linden,  welche  zugleich,    wi«   Ruete  will,  durch   den   Dreh- 
punkt  des   Auges   ginge. 


Physiologie.  185 

verfolgt  werden,  nach  Sömmering  bis  fast  auf  die  Wand  der  Ilirnhohlcn',  nach  Gull  bis 
unter  den  Pons  Varoli,  nach  Malacarne  kommt  er  vom  obern  Schenkel  des  kleinen  Gehirnes 
und  von  der  Seite  der  Valvula  cercbelli,  wo  auch  der  N.  trochlearis  entspringt.  —  Der  Tro- 
chlearis  s.  pathetiens  entspringt  hinter  den  Vierhügeln  aus  der  markigen  Querstreifnng 
der  Hirnklappe,  steigt  an  den  Schenkeln  des  grossen  Gehirnes  zur  Basis  cerebri  hinab, 
und  läuft  in  einer  Falte  der  harten  Stirnbaut  über  dein  Sinus  cavernosus  zur  obern  Au- 
genhöblenspalte.  —  Der  N.  ahducens  kommt  zwischen  der  Pyramide,  Olive  und  dem  Pons 
Varoli  zum  Vorschein ,  dringt  hinter  dem  processus  clinoideus  posterior  durch  die  harte 
Hirnhaut  in  den  Sinus  cavernosus,  wo  er  mit  Zweigen  vom  Sympathicus  in  Verbindung 
steht,  und  tritt  an  der  äussern  Seite  des  Oculomotorius  und  des  Raums  I.  seu  Ophthal- 
mitis trigemini  in  die  obere  Augenhöhlenspalte.  —  Nach  Faesebech  soll  der  N.  oculomo- 
torius auch  zum  M.  obliq.  superior  und  zum  M  Rectus  externus  feine  Zweigchen  senden.  — 
Alle  diese  Nerven  und  nebstdem  noch  der  Rani,  ophth.  trigemini  treten  durch  die  obere 
Augenhöblenspalte  in  die  Orbita,  während  die  Vena  ophthalmica  durch  diese  Spalte  rück- 
wärts zum  Sinus  cavernosus  verläuft. 

Die  Function  der  Augenmuskeln  ist  eine  mehrfache.  Sie  erhalten  den 
Bulbus  in  einem  gewissen  Grade  von  Spannung-,  sie  verlängern  ihn  behufs 
der  Einrichtung  fürs  Erkennen  naher  Objecte  in  der  Richtung  der  Seh- 
achse durch  seitliche  Compression,  und  sie  verändern  die  Stellung  der 
Sehachsen  derart,  dass  sie,  bald  mehr  bald  weniger  zu  einander  geneigt, 
jedem  beliebigen  Punkte  im  Horopter  zugewendet  werden  können.  Dass 
die  Netzhaut  als  eigentlicher  Regulator  ihrer  Function  betrachtet  werden 
müsse,  haben  wir  bereits  S.  48  angegeben. 

Jeder  Muskel  wird  im  Momente  der  erhöhten  Contraction  kürzer, 
dicker,  und  falls  er  gekrümmt  verläuft,  der  geraden  Richtung  mehr  weniger 
genähert.  Da  nun  sämmtliche  Recti  und  Obliqui  (der  Obl.  superior  von 
der  Rolle  an)  bogenförmig  über  eine  mehr  weniger  grosse  Strecke  des 
Bulbus  verlaufen,  so  ist  an  die  Spannung  jedes  einzelnen  sowohl  als  aller 
zusammen  zugleich  ein  gegen  den  Bulbus  gerichteter  Druck  gebunden, 
entsprechend  der  Kraft,  mit  welcher  die  Spannung  geschieht,  und  der 
Krümmung,  welche  zwischen  den  Anhaltspunkten  statt  findet.  Dieser  Druck 
geht  offenbar,  da  die  Muskelkrümmung  über  den  Äquator  bulbi  streicht, 
von  diesem  aus  gegen  das  Centrum  (Drehpunkt),  so  dass  also  bei  erhöh- 
ter Muskelcontraction  die  Durchmesser  des  Bulbus  im  Äquator  verkürzt 
werden  müssen,  wenn  eine  Formveränderung  des  Bulbus  überhaupt  mög- 
lich ist. 

Der  Bulbus  enthält  im  normalen  Zustande  nicht  so  viel  Flüssigkeit, 
als  er  seinem  Lumen  nach  enthalten  könnte.  Er  enthält  jenen  Grad  von 
Spannung,  den  er  darbietet,  nicht  durch  sein  Contentum  allein,  sondern 
erst  unter  Beihülfe  der  muskulösen  Gebilde,  welche  theils  in,  theils  ausser 
ihm  liegen.      Sein  Lumen  wird  durch   den  Ciliarkörper,    die  Zonula  Zinna 


186  Augenmuskeln. 

und  die  vordere  Kapsel  samtnt  der  Krystalllinse  wie  durch  ein  Diaphragma 
in  einen  vordem  und  hintern  Raum  geschieden,  wovon  der  erstere  das 
Kammerwasser,  der  letztere  den  elastisch  biegsamen  Glaskörper  enthält. 
Beide  Contenta  sind  gleich  andern  Flüssigkeiten  incompressibel.  Das  ge- 
nannte Diaphragma  steht  nur  durch  die  sehnige  Anheftung  des  Ciliarmus- 
kels  an  den  vordersten  Rand  der  Sclera  und  an  den  hintersten  Rand  der 
Cornea  mit  der  Wandung  des  Bulbus  in  fester  Verbindung ,  und  diese 
Wandung  zeigt  daselbst  an  ihrer  Ausseiiseite  eine  kreisförmige  Einschnü- 
rung, indem  die  Cornea  gleich  einem  Kugelsegmente  von  kleinerem  Ra- 
dius aus  dem  Ellipsoitle ,  welches  die  Sclera  darstellt,  sich  emporwölbt. 
Diese  Scheidewand  kann  durch  den  an  ihrer  Peripherie  zwischen  sie  und 
die  Bulbuswandung  eingeschobenen  Ciliarmuskel  in  eine  der  jeweiligen 
äussern  Muskelspannung  adäquate  Spannung  versetzt  werden  ,  und  sichert 
eben  durch  den  Zug  nach  innen  den  Fortbestand  jener  kreisförmigen  Ein- 
schnürung, mithin  auch  die  Wölbung  der  Cornea,  trotzdem  dass,  wie  wir  weiter- 
hin sehen  werden,  der  Bulbus  durch  die  Recti  und  Obliqui  seitlich!  comprimirt 
werden  kann.  Ohne  eine  solche  Stütze  von  innen  müsste  die  besondere 
Wölbung  der  Cornea  gleichsam  in  der  allgemeinen  des  Bulbus  aufgehen^ 
Dass  aber  der  Bulbus  seine  gewöhnliche  Spannung  erst  durch  die 
Beihilfe  der  genannten  Muskel  erhält,  ergibt  sich  aus  mehren  Thatsachen. 
Schon  unmittelbar  nach  dem  Tode,  wo  höchstens  von  vermindertem  Blutge- 
halte,  durchaus  aber  noch  nicht  von  erheblichem  Flüssigkeitsverlust  durch  Ver- 
dunstung die  Rede  sein  kann,  erscheint  der  Bulbus  weniger  gespannt,  das 
Auge  gebrochen.  Lässl  man  einen  frischen  Bulbus  einige  Zeit  im  Wasser 
liegen,  so  imbibirt  er  in  den  hintern  Augenraum  so  viel  Flüssigkeit,  als 
er  überhaupt  in  sein  Lumen  aufnehmen  kann,  und  erscheint  dann  hart,  wie 
eine  aufs  höchste  gr füllte  Blase.  —  Wird  das  genannte  Diaphragma  zer- 
stört, wie  bei  der  Reclination,  so  erscheint  der  Bulbus  unmittelbar  dar- 
nach, auch  wenn  kein  Tröpfchen  Contentum  ausgeflossen  ist,  minder  ge- 
spannt und  bleibt  (auch  nach  andern  Stäaroperationen)  so  lange  etwas 
weicher,  bis  ein  neues  Diaphragma  zwischen  Humor  aqueus  und  vitreus 
hergestellt  ist  und  dem  Ciliarmuskel  von  innen  her  die  gehörige  Stütze 
gibt.  Coccius  überzeugte  sich  (nach  mündl.  Mittheilung)  von  der  Ver- 
minderung der  Spannung  des  Bulbus  bei  Kaninchen  nach  Erschlaffung  der 
Muskeln  durch  Chloroformnarkose.  Aus  diesen  Thatsachen  ergibt  sich 
auch,  dass  die  natürl.  Spannung  des  Bulbus  nicht  etwa  ein  Ergebniss  der 
Elasticität  der  Sclera  und  Cornea  ist,  welche  überhaupt,  was  Ausdehnbar- 
keit betrifft,  nach  vollendetem  Wachsthum  nicht  buch  angeschlagen  werden 
kann.     Übrigens  ist  es  eine    bekannte  Sache,    dass  der    Bulbus    beim  Be- 


Physiologie.  187 

tasten  im  normalen  Zustande  bei  weitem  nicht  hart  oder  prall  erscheint, 
wie  eine  vollständig  gefüllte  Blase,  und  der  praktische  Arzt  hat  so  zu 
sagen  taglich  Gelegenheit,  aus  erhöhter  Resistenz  oder  einer  gewissen 
Prallheit  des  Bulbus  auf  Exsudation  im  hintern  Augenrauine  (Chorioiditis? 
Hydrops  corporis  vitrei)  zu  schliessen. 

Thatsachen,  welche  beweisen,  dass  die  geraden  Augenmuskeln  im 
Verein  mit  den  schiefen  im  Stande  sind,  bei  durchbrochener  oder  nach- 
giebiger Wandung  des  Bulbus  oder  bei  Verminderung  seines  Inhaltes 
(Phthisis  et  atrophia  bulbi)  einen  bedeutenden  Druck  auf  den  Bulbus 
auszuüben,  haben  wir  bereits  im  1.  Bande  S.  225,  238  und  245,  zum 
Theil  auch  im  2.  Bande  an  verschiedenen  Stellen  angeführt.  Dass  aber 
die  Recti  im  Verein  mit  den  Obliquis  auch  im  normalen  Zustande  einen 
mehr  weniger  starken  Druck  auf  den  Bulbus  auszuüben  vermögen,  ergibt 
sich  schon  aus  der  einfachen  Betrachtung  der  fixen  und  der  Insertions- 
punkte  dieser  Muskeln.  Diese  verhalten  sich  zum  Bulbus  nicht  wie  Tan- 
genten, wie  noch  immer  behauptet  wird,  sondern  verlaufen,  noch  ehe  sie 
sich  fest  mit  ihm  verbinden,  eine  mehr  weniger  lange  Strecke  gekrümmt 
über  seine  grösste  Wölbung  am  Äquator,  wo  die  Sclera  zugleich  auf- 
fallend dünn  ist.  Wer  nicht  Gelegenheit  hat,  an  hart  gefrorenen  Köpfen 
die  geeigneten  Durchschnitte  mit  einer  dünnen  Säge  zu  machen,  sehe  sich 
getreue  Abbildungen  an,  namentlich  die  auf  der  8.  Tafel  von  Sömmering 
(Abbildungen  des  menschl.  Auges,  Frankfurt  a.  M.  1801),  und  die  Zie- 
hung gerader  Linien  vom  Ursprünge  der  Recti  bis  zu  ihren  Insertions- 
stellen  beantwortet  diese  Frage  so  zu  sagen  von  selbst.  Eine  seitliche 
Compression  des  Bulbus  durch  die  Recti  würde  jedoch  nicht  möglich  sein, 
wenn  nicht  die  Obliqui,  mit  ihren  fixen  Punkten  am  Eingange  der  Orbita 
gelegen,  sich  am  hintern  und  äussern  Umfange  des  Bulbus  inserirten,  und 
dem  Zuge  der  Recti  nach  hinten  widerstrebend,  gleichzeitig  auch  vermöge 
ihres  bogenförmigen  Verlaufes  über  die  grösste  Wölbung  des  Bulbus  die 
comprimirende  Wirkung  unterstützen  müssten.  Die  Obliqui  sind  ohne 
Zweifel  Antagonisten  der  Recti,  so  fern  sie  die  Zurückziehung  des  Bulbus 
durch  letztere  verhindern.  Dieser  Gegensatz  und  somit  auch  der  daran 
gebundene  seitliche  Druck  auf  den  Bulbus  ist  (mindestens  im  wachen  Zu- 
stande) ein  permanenter.  Er  steigt,  wie  wir  später  zeigen  werden,  bei 
der  Einrichtung  des  Auges  für  nahe  Objecte,  und  lässt  sich  dann ,  wie 
Gräfe  zuerst  beobachtet  hat,  direct  an  der  Steigerung  des  Centralvenen- 
pulses  mit  dem  Augenspiegel  nachweisen. 

Die  Spannung  des  Bulbus  im  normalen  Zustande  ist  jederzeit  viel  zu 
gross ,    als  dass    eine  Abplattung    desselben  durch    das  ihn  hinten  umfan- 


18S  Augenmuskeln. 

geiule  Fettgewebe  bewirkt  werden  könnte,  wenn  es  auch  wirklieh  mög- 
lich wäre,  dass  der  Bulbus  gegen  dasselbe  angedrückt  werden  könnte 
Ein  harter  Körper  kann  durch  Andrücken  an  einen  weichen  nicht  abge- 
plattet werden.  Die  merkwürdig  hohe  Zusammen drückbarheit  und  Elasti- 
cität  des  retrobulbären  Fettgewebes  ist  uns  ein  Postulat  aus  der  freien 
Beweglichkeit  des  Sehnerven  in  demselben.  Vermöge  dieser  Eigenschart 
gestattet  dieses  Fettgewebe  ganz  gewiss  ein  eben  so  leichtes  und  freies 
Rück-  und  Vorwärtstreten  der  hintern  Bulbuswand ,  ohne  welches  —  da 
ein  Ausweichen  der  Cornea  nach  vorn  laut  Beobachtung  nicht  stattfindet, 
und  die  Contenla  bulbi  so  gut  als  gar  nicht  compressibel  sind  —  eine 
seitliche  Compression  des  Bulbus  durch  die  Recli  und  Obliqui  nicht  ge- 
dacht werden  könnte.  Um  so  viel  als  der  Bulbus  von  den  Seiten  her  com- 
primirt  wird,  um  so  viel  oder  doch  nicht  um  viel  weniger  muss  derselbe 
in  der  Achse  verlängert  werden,  durch  Rückwärtsweichen  seiner  hintern 
Wandung.  Mehr  hierüber  bei  der  Besprechung  der  Accommodation,  Kurz- 
und  Weitsichtigkeit. 

Das  Studium  der  Function  der  einzelnen  Augenmuskeln  wird  wesent- 
lich erleichtert,  wenn  man  eine  alte  irrige  Vorstellung  aufgibt,  die  nämlich, 
dass  bei  erhöhter  Wirkung  (Verkürzung)  des  einen  die  übrigen  oder  doch 
seine  Antagonisten  erschlafft  seien,  statt  dass  man  sagen  sollte,  sie  wer- 
den bei  gleicher  Spannung  nur  um  so  viel  länger,  als  die  Verkürzung  des 
die  Ablenkung  vermittelnden  es  nach  der  jeweiligen  Lage  des  Bulbus  er- 
heischt. Das  Irrige  dieser  Vorstellung  tritt  scharf  hervor  in  dem  daraus 
consequent  gefolgerten  Schlüsse,  dass,  wenn  man  den  Muskeln  überhaupt 
eine  comprimirende  Wirkung  auf  den  Bulbus  einräume,  dann  bei  Contrac- 
tion  des  einen  und  Erschlaffung  der  übrigen  Muskeln  dieselbe  Erscheinung 
eintreten  müsse ,  wie  beim  Drucke  des  Fingers  auf  eine  hinter  der  Ora 
serrata  gelegene  Partie ,  nämlich  subjective  Lichtempfmdung.  Wenn  aber 
ein  Muskel,  z.  B.  der  R.  externus,  durch  den  Nerveneinfluss  verkürzt  wird, 
um  das  Hornhautccntrum  nach  seiner  Seite  hin  zu  rollen,  so  darf  man 
sich  nicht  vorstellen,  dass  sein  Antagonist  (der  R.  internus)  erschlafft, 
minder  gespannt  werde.  Er  wird  diess  in  diesem  Momente  eben  so  we- 
nig als  alle  übrigen;  alle  beharren  in  dem  gleichen  Grade  der  Spannung, 
nur  dass,  wenn  wir  bei  obigem  Beispiele  bleiben,  der  R.  internus  in  dem- 
selben, und  der  R.  superior  und  inferior  in  etwas  geringerem  Masse  län- 
ger werden,  während  der  externus  und  mit  ihm  zugleich,  nur  in  geringe- 
rem Masse,  die  beiden  Obliqui  kürzer  werden.  Der  Bulbus  dreht  sich  um 
den  in  seinein  Centrum  gelegenen  Drehpunkt  (um  eine  durch  denselben 
laufende  Achse)  wie  eine  Rolle  um  die  Spindel.      Die  Spannung  des  ver- 


Physiologie.  189 

kürzten  Muskels  und  folglich  auch  sein  Druck  gegen  den  Bulbus  ist  nicht 
grösser  als  die  des  länger  werdenden  Antagonisten,  sonst  könnte  der  Bul- 
bus nicht  in  jedem  Momente  des  Überganges  von  einer  Stellung  zur  an- 
dern (vom  inriern  zum  äussern  Augenwinkel)  als  ruhend  betrachtet  wer- 
den, wie  er  es  doch  offenbar  ist,  wenn  ich  z.  B.  diese  Zeile  von  Anfang 
bis  zu  Ende  lese.  Es  ist  ein  stetes  Fortschreiten  von  einem  Punkte  zum 
andern,  etwa  so,  wie  wenn  an  einem  über  eine  Rolle  verlaufenden  Seile 
jederseits  ein  gleich  schweres  Gewicht  hängt,  die  Gewichte  auf-  und  ab- 
steigen können ,  ohne  dass  die  Spannung  des  Seiles  auf  der  einen  Seite 
ab-,  auf  der  andern  zunimmt,  und  ohne  dass  der  Druck,  den  das  Seil 
gegen  den  fixen  Punkt  der  Rolle  hin  ausübt,  auf  der  einen  Seite  grösser 
wäre,  als  auf  der  andern. 

Jeder  Bulbus  für  sich  kann  mit  einem  Fernrohre  verglichen  werden, 
welches  für  verschiedene  Entfernungen  eingestellt  (eingeschoben  oder  aus- 
gezogen), übrigens  aber ,  in  seinem  Schwerpunkte  befestigt,  bei  jeder  be- 
liebigen Einstellung  oder  Länge  mit  dem  Objectivglase  nach  verschiedenen 
Richtungen  (innerhalb  eines  gewissen  Kreises)  gelenkt  werden  kann,  je- 
doch so,  dass  dabei  sein  Schwerpunkt  immer  nahezu  an  derselben  Stelle 
im  Räume  bleibt.  Man  denke  sich  nun  zwei  solche  für  beliebige  Distan- 
zen einstellbare  (aecomodirbare)  und  um  je  einen  fixen  Punkt  bewegliche 
Fernröhre  nebeneinander  auf  einen  z.  B.  100  Fuss  entfernten  Punkt  ein- 
gestellt und  gerichtet,  und  in  dieser  Einstellung  und  Neigung  zu  einander 
verharrend,  nach  und  nach  auf  andere,  in  der  Horizontalen  links  und 
rechts  gelegene  Punkte  gelenkt,  so  werden  diese  Punkte  offenbar  in  einer 
krummen  Linie  liegen,  welche  man  erhält,  wenn  man  durch  die  beiden 
fixen  Punkte  der  Fernrohre  und  durch  den  Punkt,  auf  den  sie  ursprüng- 
lich gerichtet  wurden,  einen  Kreis  beschreibt.  Die  Distanz  der  beiden 
fixen  Punkte  der  Fernröhre  bildet  dann  eine  Sehne  dieses  Kreises.  Es 
können  aber  die  beiden  Fernröhre  unbeschadet  ihrer  Einstellung  und  ge- 
genseitigen Neigung  zu  einander  nicht  bloss  in  der  Horizontalen  bis  zu 
einer  gewissen  Grenze  links  und  rechts  herumbewegt  werden,  sondern 
auch  in  der  Verticalen  auf-  und  abwärts,  und  der  Kreuzungspunkt  ihrer 
verlängert  gedachten  Achsen  wird  jetzt  ebenfalls  eine  Kreislinie  beschrei- 
ben. Den  Radius  dieses  Kreises  bildet  aber  eine  gerade  Linie,  welche  man 
erhält,  wenn  man  jenen  Kreuzungspunkt  verbindet  mit  dem  Mittelpunkte 
der  Distanz  zwischen  den  fixen  Punkten  der  Fernröhre.  Würde  man  nun 
noch  unter  Beobachtung  derselben  Bedingungen  die  Fernröhre  so  lenken, 
dass  der  Kreuzpunkt  ihrer  verlängerten  Achsen  nach  und  nach  auf  ver- 
schiedene Punkte  in  den  dazwischen  liegenden  Quadranten,  z.  B.  links  und 


190  Augenmuskeln. 

oben  oder  rechts  und  unten  u.  s.  w.  zu  liegen  käme,  so  würden  sämmtliche 
Tunkte,  welche  jener  Kreuzungspunkt  nach  und  nach  (sowohl  in  den  hori- 
zontalen, als  in  den  verticalen  und  in  den  schiefen  oder  Zwischenrichtun- 
gen) durchlaufen  hat,  die  Oberfläche  eines  Sphäroides  darstellen,  oder 
gleichsam  eine  hohle  Schale,  deren  Gestalt  sich  mathematisch  bestimmen 
lassen  würde.  Diese  sphäroidale  Fläche  oder  Schale  mag  dem  Leser  einen 
ungefähren  Begriff  geben  von  dem,  was  man  Horopter  nennt.  Stellen  wir 
die  Fernröhre  ceteris  paribus  für  500  statt  für  100  Fuss  ein,  so  werden 
bloss  die  beschriebenen  Kreise  grösser,  wir  erhalten  statt  des  engeren 
einen  weiteren  Horopter.  Da  die  Augen  gleich  den  supponirten  Fernroh- 
ren für  verschiedene  Distanzen  eingestellt  und  dann  unter  einer  sich  stets 
bleibenden  Neigung  der  Sehachsen  zu  einander  herum  bewegt  werden 
können ,  so  gibt  es  für  jedes  Individuum  (mit  gleichen  Augen)  so  viele 
Horopter,  als  Distanzen  der  Sehweite.  Die  Sehweite  ist  aber  bei  allen 
Individuen  auf  einen  gewissen  Spielraum  angewiesen;  sie  reicht  z.  B. 
beim  normalen  Auge  nicht  unter  5",  bei  Kurzsichtigen  wohl  näher,  z.  B. 
bis  auf  3",  dann  aber  auch  nicht  so  weit,  z.  B.  nur  auf  9".  Die  mittlere 
Sehweite  bezeichnet  man  dann  der  Kürze  halber  wohl  auch  mit  dem  Aus- 
drucke Mesoropter.  Näheres  hierüber  bei  der  Kurz-  und  Weitsichtigkeit. 
Wir  wollten  hier  vorläufig  nur  so  viel  erörtern,  als  zum  Verständniss  der 
Bewegung  der  Augen  und  ihrer  Beziehung  zur  Aceomodation  erspriess- 
lich   und  nothwendig  erschien. 

Durch  die  Augenmuskeln  kann  die  Stellung  der  Bulbi  mit  der  gröss- 
ten  Leichtigkeit  und  Behendigkeit  so  verändert  werden,  dass  jederzeit  nicht 
nur  das  Centrum  einer  jeden  Netzhaut  der  Reihe  nach  irgend  einem  und 
demselben  Punkte  des  Gesichtsfeldes  zugewendet  wird,  sondern  auch  zu- 
gleich die  übrigen  Partien  der  Netzhaut  eines  jeden  Auges  dieselbe  rela- 
tive Lage  zu  je  einem  Objecte  des  Gesichtsfeldes  einnehmen.  Das  Erslere 
wird  vorzugsweise  durch  die  Recti,  das  Letztere  vorzugsweise  durch  die 
Obliqui  bewirkt.  Die  Bewegungen,  welche  zum  Zwecke  haben,  das  Gen- 
tium der  Netzhäute  je  einem  beliebigen  Punkte  des  Gesichtsfeldes  gegen- 
über zu  stellen,  sind  Gegenstand  des  Bewusstwerdens,  sie  mögen  nun  di- 
rect  vom  Willen  oder  als  Reflexbewegungen  von  der  Netzhaut  aus  ange- 
regt werden;  sie  treten  theils  als  assoeiirte,  theils  als  aecomodative  Be- 
wegungen in  die  Erscheinung  (Bewegungen  in  demselben,  Horopter,  Richt- 
bewegungen und  Abänderung  des  Horopters).  Die  dabei  nothwendig  und 
unabhängig  vom  Bewusstsein  stattfindende  Thätigkeil  der  Obliqui,  sofern 
sie  nicht  etwa  die  Wirkung  der  Recti  unterstützt,  erscheint  gleichsam  als 
coordinirte  Correction ;  sie  verhindert,  dass  bei  den  asso ehrten  oder  aeco- 


Physiologie.  191 

modativcn  Bewegungen  nicht  etwa  relativ  verschiedene  peripherische  Par- 
tion der  einen  und  der  andern  Netzhaut  einem  und  demselben  seillichen 
Objecte  des  Sehfeldes  zugewendet  werden;  sie  erhält  so  zu  sagen  die 
correspondirende  Lage  der  correspondirenden  Meridiane  der  Netzhaut  auf- 
recht. Die  Recti  können  nämlich  vermöge  ihres  Ursprunges  und  vermöge 
ihrer  Insertion  am  Bulbus,  wenn  wir  uns  diesen  als  nur  in  seinem  Mittel- 
punkte unverrückbar,  übrigens  aber  in  jeder  Richtung  um  denselben  dreh- 
bar denken,  wie  er  es  in  der  That  auch  ist,  höchstens  so  viel  bewirken, 
dass  sie  jederzeit  die  Macula  lutea  jedes  Auges  einem  und  demselben  be- 
liebigen Objecte  gegenüber  stellen ,  d.  h.  dass  sich  beide  Sehachsen  bald 
in  einem  nahen,  bald  in  einem  fernen,  bald  in  einem  gradaus,  bald  in  einem 
links,  rechts,  oben  u.  s.  w.  gelegenen  Objecte  treffen;  sie  können  aber  nicht 
verhüten,  dass  sich  der  Bulbus  bei  diesen  Übergängen  zugleich  um  die 
Sehachse  drehe,  was  bei  dem  raschen  Wechsel  der  Objecte  in  ihrer  Di- 
stanz unvermeidlich  sein  würde,  wenn  nicht  gleichzeitig  die  Obliqui  in 
Thätigkeit  treten,  um  einer  jeden  Netzhaut  dieselbe  relative  Stellung  zum 
Sehfelde  zu  sichern.  Man  wird  die  Notwendigkeit  einer  solchen  Correc- 
tion  leicht  einsehen,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  Lage  der  Recti  um  den 
Bulbus  keine  symmetrische  ist,  und  dass  die  Sehachse  nicht  mit  der  Achse 
des  pyramidalen  Baumes  zusammenfällt,  an  dessen  Spitze  die  Ursprünge, 
an  dessen  Basis  die  Insertionen  der  Becti  liegen. 

Denjenigen,  welche  sich  aus  eigener  Anschauung  eine  klare  Ansicht  über  die  hier 
in  Betracht  kommenden  mechanischen  Verhältnisse  machen  wollen,  empfehle  ich,  sich 
Bulbi  in  Chromsäure  zu  erhärten  (altmälig,  damit  sie  nicht  einschrumpfen),  an  denen 
die  Recti  etwas  bis  zum  Äquator,  die  Obliqui  bis  zur  Kreuzung  mit  den  Rectis  gelassen 
sind,  jedoch  so,  dass  sie  bis  genau  zu  ihren  Insertionslinien  von  der  übrigens  ganz  rein 
präparirten  Sclera  nach  Bedarf  abgehoben  werden  können.  Durch  jeden  der  so  zubereite- 
ten Bulbi  steche  man  eine  etwa  l'/2"  lange  Nadel  vom  Hornhautcentrum  zum  hintern 
Pole  durch,  um  sich  die  Sehachse  genau  vorstellen  zu  können.  Ebenso  führe  man  eine 
zweite  Nadel  im  Äquator  horizontal  mitten  durch  den  Bulbus.  Eine  dritte,  vertical  im 
Äquator  durchgeführt,  dürfte  schon  überflüssig  sein,  um  sich  die  nöthigen  Durchschnitls- 
ebenen  durch  den  Bulbus  richtig  vorstellen  zu  können.  Mittelst  Wachskugeln  an  der  in- 
nern  und  äussern  Wandung  der  Orbita  eines  Schädels  befestige  man  nun  die  von  den 
Schläfen-  nach  der  Nasenseite  durchgeführte  Nadel  im  Eingange  der  Augenhöhle,  und 
schütze  den  Bulbus  gegen  Drehung  allenfalls  noch  durch  eine  Wachsunterlage  am  untern 
Orbitalrande.  Kann  man  sich  die  Insertionslinien  der  Obliqui  bei  dieser  nun  möglichst 
naturgetreuen  Lage  des  Bulbus  nicht  klar  vorstellen,  so  nehme  man  einen  aufgesägten 
Schädel  und  entferne  die  obere  Wandung  der  Orbita.  Damit  die  Nadel,  welche  die 
Sehachse  vorstellt,  parallel  zur  verticalen  Medianebene  des  Kopfes  gehe,  demnach  bei 
horizontalem  Verlaufe  von  vorne  nach  hinten  senkrecht  auf  der  verticalen  Antlitzfläche 
stehe,  muss  die  Wachskugcl  zur  Aufnahme  der  zweiten  Nadel  an  der  Schläfseite  v  o  r 
dem  Orbilalrande  angebracht  werden. 


192  Augenmuskeln. 

Die  Bestimmung  des  Antheiles,  welchen  jeder  einzelne  Muskel  an  den 
verschiedenen  Bewegungen  und  Haltungen  des  Augapfels  nimmt,  ist  un- 
erlässlich  zur  Beurtheilung  von  Krankheitsfällen ,  z.  B.  bei  Lähmung  eines 
oder  mehrer  Augenmuskeln;  sie  ist  aber  äusserst  schwierig  und  bis  jetzt 
nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  möglich,  weil  kein  Muskel  für  sich 
allein  wirkt,  sondern  immer  alle  zugleich  thätig  sind,  weil  die  Abände- 
rung in  der  Stellung  des  Bulbus,  wenn  auch  vorzüglich  durch  Verkürzung 
eines  oder  zweier  Muskeln  bewirkt,  dennoch  immer  durch  Mitwirkung 
eines  oder  mehrer  Muskeln  unterstützt,  und  durch  entsprechende  Verlän- 
gerung nicht  bloss  eines  ,  sondern  zweier  oder  dreier  zugleich  antagoni- 
stisch moderirt  wird,  weil  dabei  immer  die  frühere  Stellung  von  mehr 
weniger  bedeutendem  Einflüsse  ist,  und  endlich  weil  überdiess  die  Grup- 
pirung  der  verkürzten  Muskeln  und  der  Grad  ihrer  Verkürzung  verschieden 
ausfallen  muss,  je  nachdem  dieselbe  Bewegung  in  einem  engen  oder  in 
einem  weiten  Horopter  ausgeführt  wird.  —  Die  wichtigsten  Momente  zur 
Beurtheilung  der  Betheiligung  eines  Muskels  sind:  die  Stelle  des  Ursprun- 
ges (eigentlich  des  fixen  Punktes)  und  der  Insertion,  die  Richtung  der 
Insertionslinie  und  die  Lage  ihres  Mittelpunktes ,  die  Krümmung  des  Mus- 
kels oder  der  Sehne  zwischen  dem  fixen  Punkte  und  der  Insertion,  die 
Dicke,  Breite  und  Länge  der  Muskelbäuche  und  Muskelsehnen,  und  die 
relative  Lage  longitudinaler  und  transversaler  Durchschnittsebenen  der 
Muskeln  und  ihrer  Endsehnen  zum  Drehpunkte  und  zu  gewissen,  durch 
denselben  geführten'  Durchschnittsebenen  des  Bulbus.  Mit  Rücksicht  auf 
diese  Momente  lässt  sich  über  die  Wirkung  jedes  einzelnen  Muskels,  je- 
doch ganz  im  Allgemeinen,  ohngefähr  Folgendes  mit  Bestimmtheit   angeben. 

Der  R.  internus  rollt  das  vordere  Ende  der  Sehachse  (Hornhaut- 
centrum) horizontal  ein-,  der  Ft.  externus  dagegen  auswärts,  vorausgesetzt, 
dass  die  Obliqui  und  die  andern  beiden  Recti  dabei  einander  das  Gleich- 
gewicht halten.  Denn  würde  in  demselben  Momente,  wo  der  R.  internus 
kürzer  wird,  z.  B.  der  R.  superior  kürzer,  als  der  R.  inferior,  so  müsste 
die  Pupille  nach  innen  und  oben  gerollt  werden.  —  Ebenso  würde,  da  bei 
Verkürzung  des  R.  internus,  mit  welchem  immer  auch  eine  mehr  weniger 
geringe  Verkürzung  des  R.  superior  und  inferior  zugleich  erfolgt,  das 
Gegengewicht  durch  den  R.  externus  im  Verein  mit  den  beiden  Obliquis 
hergestellt  wird,  der  Ausfall  eines  Obliquus,  z.  B.  des  Obl.  superior,  das 
bewirken,  dass  der  Bulbus  nicht  bloss  ein  wenig  um  die  Sehachse  gedreht 
würde,  wobei  der  R.  superior  etwas  gegen  die  Schläfe  hin  verrückt  wer- 
den müsste,  sondern  auch,  dass  die  Pupille  stärker  nach  innen  und  zu- 
gleich ein  wenig  nach  oben  abgelenkt  werden  würde,  als  wenn  der  Rectws 


Physiologie.  193 

externus  in  seinem  Antagonismus  gegen  den  R.  internus  durch  beide 
Obliqui  zugleich  unterstützt  wird.  —  Eine  Ebene,  mitten  durch  die  Inser- 
tionslinien  dieser  beiden  Recti  und  durch  den  Bulbus  bis  zum  Sehnerven- 
loche  geführt,  geht  durch  den  Drehpunkt  des  Auges,  trennt  den  Bulbus 
in  eine  untere  und  obere  Hälfte,  und  die  durch  den  Drehpunkt  verlau- 
fende vertikale  Äquatorialachse,  steht  senkrecht  auf  dieser  Ebene ;  wenn 
sich  demnach  die  Pupille  in  dieser  Ebene  links  oder  rechts  wendet,  so 
ist  jene  vertikale  Äquatorialachse  seine  Drehungsachse,  d.  h.  die  Drehungs- 
achse für  den  R.  internus  und  externus. 

Der  R.  superior  rollt  das  Hornhautcentrum  nach  oben,  jedoch  nicht 
vertikal,  sondern  ein  wenig  zur  vertikalen  Medianebene  des  Kopfes  zunei- 
gend ;  bei  der  Abwärtsrollung  des  Bulbus  durch  den  R.  inferior  tritt  die 
Zuneigung  zur  vertikalen  Medianebene  noch  etwas  stärker  hervor.  Eine 
Ebene,  mitten  durch  die  Insertionslinien  und  weiterhin  mitten  durch  die 
Muskelbäuche  des  R.  superior  und  inferior  bis  zum  Sehnervenloche  gelegt, 
geht  nicht  durch  den  Drehpunkt,  sondern  streicht  an  der  Nasenseite  neben 
ihm  vorbei :  sie  steht  überdiess  nicht  vertikal  auf  der  Horizontalen,  son- 
dern neigt  sich  unten  etwas  zur  Nase  herüber.  Hienach  lässt  sich  die 
gemeinschaftliche  Drehungsachse  für  diese  beiden  Recti  an  und  für  sich 
so  wie  bei  den  andern  beiden  bestimmen.  Soll  der  Bulbus  um  eine  von 
der  Nasen-  zur  Schläfeseite  parallel  zur  Anllitzfläche  durch  den  Dreh- 
punkt verlaufende  Achse  gerollt  werden  (vertikal  auf-  und  abwärts),  so 
kann  diess  durch  die  in  Rede  stehenden  Recti  allein  nicht  bewirkt  werden; 
es  ist  diess  nur  dann  möglich,  wenn  zugleich  die  beiden  Obliqui  und  der 
R.  externus  verkürzt  werden,  was  —  relativ  zum  R.  internus  —  natür- 
lich in  verschiedenem  Grade  statt  finden  wird,  je  nachdem  die  Pupille  da- 
bei in  der  Mitte  der  Lidspalte  oder  in  der  Nähe  des  innern  oder  äussern 
Augenwinkels  auf-  und  abwärts  steigen  soll. 

Der  Obl.  superior  rollt  das  Hornhautcenlrum  nach  unten  und  aussen, 
dreht  aber  zugleich  den  Bulbus  ein  wenig  oben  herüber,  so  dass  das 
obere  Ende  der  vertikalen  Äquntorialachse  etwas  zur  Nase  zugeneigt,  der 
Bulbus  in  dieser  Richtung  ein  wenig  um  die  Sehachse  gedreht  werden 
kann;  der  Obl.  inferior  rollt  das  Hornhautcentrum  nach  oben  und  aussen, 
und  kann  zugleich  eine  Drehung  des  Bulbus  um  die  Sehachse  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  bewirken,  wenn  ihm  nämlich  der  Obl.  suerior 
hierin  nicht  als  Antagonist  entgegentritt.  Diese  Wirkungsweise  ist  con- 
statirt  durch  die  unmittelbare  Beobachtung,  für  den  Obl.  superior  bei  Läh- 
mung des  Nerv,  oculomotorius,    für    den    Obl.    inferior   bei    Lähmung    des 

Arifs  AuecnlieiRun.le  II,    2.  13 


194  Augenmuskeln. 

N.  troehlearis.  Ist  der  Reclus  externus  vollständig-  gelähmt-  oder  so  durch- 
schnitten, dass  er  auch  nicht  mittelst  der  seitlichen  Invaginalion  in  der  Tunica 
vaginalis  auf  den  Bulbus  wirken  kann,  dann  kann  der  Bulbus  niemals  über 
die  Mitte  der  Lidspalte  hinaus  nach  aussen  gerollt  werden.  Rücksichtlich 
der  Drehungsachsen  für  die  Obliqui  wage  ich  keine  bestimmte  Ansicht 
auszusprechen;  es  finden  in  ihren  Insertionslinien,  welche  ziemlich  bogen- 
förmig und  überdiess  schräg  verlaufen  (nicht  quer  auf  die  Richtung  der 
Muskel-  und  Sehnenfasern),  sowohl  in  Bezug  auf  die  durchschnittliche 
(mittlere)  Richtung  als  in  Bezug  auf  die  relative  Lage  und  Distanz  vom 
hintern  Pole  bei  verschiedenen  Individuen  sehr  erhebliche  Variationen 
statt.  Macht  man  keinen  Anspruch  auf  grosse  Genauigkeit,  so  kann  man 
sich  eine  gerade  Linie,  vom  äussern  Rande  der  Cornea  zum  irihern  Rande 
des  Sehnerveneintrittes  durch  den  Drehpunkt  gezogen,  als  gemeinschaft- 
liche Drehungsachse  der  Obliqui  denken. 

Bei  der  Betrachtung  des  Antheiles,   welchen    die    verschiedenen  Mus- 
keln  zusammen     an   der    Hervorrufung    und    Erhaltung     einer   bestimmten 
Stellung  des  Blickes  nehmen,    muss  jederzeit   zugleich    auf  den  jeweiligen 
Horopter  Rücksicht  genommen  werden.     Bei  den  bisherigen  Angaben  über 
die  Wirkungsweise  der  einzelnen   Muskeln    haben    wir    auf  den    Horopter 
keine  Rücksicht  genommen,  oder  vielmehr    wir    haben  von  der  accommo- 
dativen    Thätigkeit    des    Sehorganes    vorläufig  Umgang    genommen.     Unser 
Blick  wechselt  aber  beständig  nicht  nur  in    Bezug  auf  rechts,  links,   oben, 
unten,  und  die  Zwischenrichtungen,  sondern  auch  in  Bezug  auf  die  Distanz 
in  jeder  möglichen  Richtung. — Der  Blick   gradaus  und    in  weitem  Horop- 
ter, wie  etwa  in  einer  Ebene    nach   den    Grenzen    des   Horizontes ,  dürfte 
wohl    als    Mittelstellung,    als    jener    Stand    des    Auges    betrachtet   werden 
können,  bei  welchem  sämmtliche  Recti  und  Obliqui  in    gleicher  Weise    in 
Anspruch  genommen    werden,   d.    h.  das  Mittel    zwischen    äusserster  Ver- 
kürzung und  Verlängerung  darbieten.     Er  wird  kurzweg  auch  als  Zustand 
der  Ruhe  bezeichnet,  was  nur  in  Bezug  auf  die  Accommodationsthätigkeit 
als  richtig  zugegeben  werden  kann.  —  Je  enger  der  Horopter  wird,  desto 
kürzer  werden  die  beiden  Recti  interni,    zugleich    auch ,  nur   in  minderern 
Grade,  der  R.  superior  und  inferior,  während  der  R.  externus  in  gleichem, 
die  Obliqui  dagegen  in  viel    geringerem    Masse    länger   werden,  überdiess 
aber  sämmtliche   Recti   und    Obliqui  in    erhöhte    Spannung  gerathen.     Das 
Gesammtergebniss  ist  nicht  nur  Näherung   der  Pupillen  zu    einander,  son- 
dern auch  —  wovon  wir  später  noch    sprechen  werden  —  Erhöhung  der 
seitlichen    Compression   des    Bulbus   und    entsprechende    Verlängerung   der 
Sehachse.    In  diesem  Zustande  nun  kann    der   Blick    in  demselben  Horop- 


Physiologie  195 

ter  herumgeführt  werden,  und  geschieht  diess  in  der  Horizontalen,  d.  h. 
gerade  von  links  nach  rechts  oder  umgekehrt,  so  wird  in  dein  relativen 
Verhältniss  der  oben  als  Antagonisten  bezeichneten  Muskelgruppen  nichts 
verändert,  als  dass  die  einen  kürzer,  die  andern  länger  werden.  Wird  der 
Horopter  noch  enger,  so  steigt  die  Zuneigung  der  Pupillen  zu  einander 
und  die  Spannung  sännntlicher  Muskel  noch  mehr,  ohne  Behinderung  der 
Beweglichkeit  der  Bulbi  nach  der  einen  oder  der  andern  Seite  hin.  — 
Beim  Blicke  des  einen  Auges  nach  innen  und  oben  ist  der  Blick  des  an- 
dern entweder  gleichfalls  nach  innen  und  oben  gerichtet  (enger  Horopter), 
oder  aber  nach  aussen  und  oben.  Das  eine  wird  zunächst  durch 
den  R.  internus  und  superior,  das  andere  durch  den  R.  exlcrnus  und  s;u- 
perior  bewirkt ;  die  Wirkung-  der  Obliqui  dabei  ist  theils  eine  die  Richtung- 
unterstützende, theils  eine  die  relativ  gleiche  Stellung  der  Netzhäute  ver- 
mittelnde. Da  die  Verkürzung-  des  R.  internus  und  superior  eine  soh-he 
Drehung  des  Bulbus  zur  Folge  haben  müsste,  dass  das  obere  Ende  der 
vertikalen  Äquatoriale chsc  (oder  des  vertikalen  Meridianes)  sich  der  ver- 
tikalen Medianebene  des  Kopfes  nähern  müsste,  so  muss  die  gleichzeitig 
eintretende  Verkürzung  des  Obl.  inferior  diese  Drehung  verhindern  oder 
doch  so  moderiren ,  dass  jene  Annäherung  der  obern  Achsenenden  auf 
beiden  Augen  in  gleichem  Maasse  statt  findet.  Die  Verkürzung  des  Obl. 
inferior  muss  um  so  stärker  sein,  je  mehr  der  R,  internus  und  superior 
contrahirt  sind,  d.  h.  je  näher  das  oberhalb  der  Horizontalen  befindliche 
Objeet  an  das  Auge  herangerückt  wird.  Geht  aber  der  Blick  des  einen 
Auges  nach  innen  und  oben,  der  des  andern  nach  aussen  und  oben,  so 
wird  diese  Correctur  auf  dem  zweiten  Auge  (die  Verhinderung  der  zu 
starken  Ablenkung  des  obern  Endes  der  vertikalen  Achse)  durch  den  Obl. 
superior  vermittelt,  —  Beim  Blicke  des  einen  Auges  nach  innen  und 
unten  nimmt  das  zweite  Auge  dieselbe  Stellung  an,  oder  die  nach  unten 
und  aussen.  Die  gleichzeitige  Verkürzung  des  R.  internus  und  inferior 
bei  entsprechender  Verlängerung  des  R.  externus  und  superior  müsste  aber 
das  untere  Ende  der  vertikalen  Augenachse  näher  an  die  vertikale  Me- 
dianebene bringen;  es  wird  daher  die  Aufgabe  des  Obl.  superior,  die 
Rollung  nach  unten  zu  unterstützen,  zugleich  aber  auch,  unter  entspre- 
chender Gegenwirkung  des  Obl.  inferior,  die  genannte  Drehung  der  ver- 
tikalen Achse  zu  moderiren,  indem  er  das  obere  Ende  derselben  zur  Me- 
dianebene herüber  hält.  Geht  aber  der  Blick  des  zweiten  Auges  nach 
unten  und  aussen,  so  übernimmt  auf  diesem  Auge  der  Obl.  inferior  in 
entsprechender  Gegenwirkung  gegen  den  Obl.  superior  die  Correctur  der 
verticalen  Achse  (der  Meridiane), 

13* 


196  Augenmuskeln. 

I\aoh  meiner  Überzeugung  bleiben  die  vertikalen  Äqnatorialachhsen,  oder,  was  auf 
Eins  hinauskommt,  die  vertikalen  Meridiane  der  beiden  Netzhäute  einander  nicht  bei  allen 
Stellungen  der  Bulbi  parallel.  Sie  verlaufen  beide  zu  einander  parallel,  mithin  beide 
vertikal,  wenn  wir  auf  entfernte  Objecte  gerade  vor  uns  blicken;  sie  treten  oben  etwas 
auseinander,  wenn  wir  in  die  Ferne  aufwärts  blicken;  sie  neigen  sich  unten  zu  einan- 
der beim  Blicke  nach  unten,  und  zwar  um  so  mehr,  je  näher  an  die  Augen  das  fixirte 
Objcc.t  gerichtet  wird.  Da  die  Durchführung  dieses  Thema,  welches  mit  der  Lehre  von 
der  Identität  der  einzelnen  Netzhautpunkte  als  etwas  Angeborenem  innigst  zusammenhängt, 
hier  zu  weit  führen  würde,  so  genüge  es,  bloss  darauf  hingewiesen  zu  haben,  und  noch 
einige  darauf  Bezug  habende  Thatsachen  in  Kürze  anzuführen.  Beim  Blicke  nach  unten 
waltet  eine  entschiedene  Tendenz  zu  stärkerer  Convergenz  der  Sehachsen  ob.  Wollen 
wir  in  die  Ferne  blicken,  so  neigen  wir,  falls  das  Object  nicht  über  der  Horizontalen 
liegt,  den  Kopf  ein  wenig  vorwärts,  wodurch  die  Stellung  der  Sehachsen  relativ  zur 
Orbita  eine  aufwärts  gerichtete,  also  der  geringeren  Convergenz  der  Sehachsen  günsti- 
ger wird.  Hingegen  halten  wir  alle  feinen,  nur  in  grosser  Nähe  deutlich  erkennbaren 
Objecte  unterhalb  der  Horizontalen  vor  die  Augen,  weil  bei  vorwaltender  Thätigkeit 
(Verkürzung)  der  untern  geraden  Augenmuskeln  ein  gewisser  Grad  von  Convergenz  der 
Sehachsen  eo  ipso  gegeben  ist.  Wird  von  den  Augen  gefordert,  nach  unten  in  grosse 
Ferne  zu  schauen,  z.  B.  von  einem  Thurme,  also  die  Sehachsen  bei  abwärts  gerichtetem 
Blicke  mehr  auseinander  zu  halten,  so  müssen  nicht  nur  beide  Obliqui  superiores,  sondern 
auch  wahrscheinlich  beide  Recti  externi  in  viel  mehr  erhöhte  Thätigkeit  treten,  als  wenn 
dasselbe  Object  in  gleicher  Entfernung  gerade  vor  den  Augen  läge.  Es  ist  wahrschein- 
lich, dass  hierin  der  Grund  des  Schwindels  liegt,  wenn  beim  Herabblicken  von  einer 
steilen  Höhe  diese  ungewohnte  Stellung  und  Haltung  von  den  Augen  verlangt  wird. 
Die  betreffenden  Muskeln  gerathen  bei  dieser  ungewöhnlichen  Combination  und  Kraft- 
anstrengung in  zitternde  Bewegungen,  was  den  Eindruck  macht,  als  bewegten  sich  die 
Objecte  des  Sehfeldes. 

Diese  kurzen  und  mehr  allgemein  gehaltenen  Andeutungen  über  die  Function  der 
Augenmuskeln  überhaupt  und  im  Besondern  mögen  vorläufig  genügen.  Die  nachfolgenden 
Erörterungen  über  die  Accomodation,  über  Kurz-  und  Weitsichtigkeit,  über  Muskelläh- 
mungen u.  s.  w.  werden  ohnehin  noch  erheischen,  hie  und  da  genauer  darauf  einzugehen. 

Über  die  Accommodation,  das  Eiiirichtungsveriiiügeii  der  Augen. 

Unser  Auge  stellt  eine  Camera  obscura  vor.  Die  Hornhaut  mit  dem 
Krystallkörper  und  dem  zwischen  beiden  eingeschlossenen  Kammerwasser 
bildet  das  Objectiv  oder  Sammelglas,  die  Netzhaut  den  Schirm  und  der 
Glaskörper  das  Zwischenmedium  zwischen  beiden.  Unter  die  wesentlichen 
Bedingungen  des  deutlichen  Sehens  gehört  die,  dass  die  auf  der  Netzhaut 
entworfenen  Bilder  der  Objecte  bis  zu  einem  gewissen  Grade  scharf  be- 
grenzt sind,  dass  die  Netzhaut  jederzeit  in  der  der  jeweiligen  Object- 
distanz  entsprechenden  Vereinigungsweite  liegt.  Sollen  Objecte  von  sehr 
diiferenter  Entfernung  auf  dein  Schirme  einer  Camera  obscura  scharf  ab- 
gebildet werden,  so  kann  diess  nur  nach  und  nach  und  nur  mittelst  Ver- 
änderungen  in  der  Camera  selbst    geschehen  ;  denn    die  Bilder  naher  Ob- 


Physiologie  —  Accomiliodatron.  197 

jecte  werden  weiter  hinter  der  Sammellinse  entworfen,  als  die  von  ent- 
fernteren Ob  jeden.  Dieser  Anforderung  kann  auf  mehrfache  Weise  Ge- 
nüge geleistet  werden:  a)  indem,  wenn  nahe  Objecto  abgebildet  werden 
sollen,  der  Schirm  zurückgestellt  oder  das  Objectiv  vorgerückt,  überhaup 
die  Distanz  zwischen  Objectiv  und  Schirm  vergrössert  wird;  fr)  indem  zu 
demselben  Zwecke  eine  Linse  von  kleinerem  Radius  gewählt,  die  Wöl- 
bung der  Sammellinse  erhöht  wird ;  oder  c)  indem  in  den  Breehungsver- 
hältnissen  zwischen  der  Sammellinse  und  den  Medien  vor  oder  hinter  der- 
selben entsprechende  Veränderungen  angebracht,  z.  B.  behufs  der  Abbildung 
naher  Objecte  eine  Linse  von  einem  grösseren  Brechungsindex  (grösserer  Dich- 
tigkeit) eingesetzt  oder  die  Brechungskraft  (Dichtigkeit)  des  vor  oder  hinter 
der  Linse  gelegenen  Mediums  nach  Erforderniss  vermindert  wird.  Bei 
gleichzeitiger  Anwendung  zweier  dieser  Mittel  würde  natürlich  von  jedem 
derselben  viel  weniger  gefordert  werden,  um  dasselbe  Resultat  zu  erzielen. 
Seit  Kepler  nachgewiesen  hat,  dass  im  Auge  dieselben  dioptrischen 
Verhältnisse  obwalten,  wie  in  einer  Camera  obscura,  wurde  ziemlich  all- 
gemein angenommen,  dass  im  Auge  behufs  des  Deutlichsehens  naher  und 
ferner  Objecte  auch  Veränderungen  der  einen  oder  der  andern  Art  vor 
sich  gehen,  dass  das  Auge  ein  Accommodationsvermögen  besitze.  Nur 
wenige  Forscher  meinten,  das  Auge  sei  schon  an  und  für  sich  so  beschaf- 
fen, dass  eine  Änderung  seines  Refractionszustandes  zu  diesem  Behufe 
nicht  nothwendig  sei.  So  meinte  Treviranus  in  dem  geschichteten  Baue 
der  Krystallinse,  in  ihrer  gegen  den  Kern  hin  schichtenweise  zunehmen- 
den Dichtigkeit  das  Mittel  gefunden  zu  haben,  dass  sowohl  nahe  als  ferne 
Objecte  auf  der  Netzhaut  deutlich  abgebildet  werden  könnten.  Diese  An- 
sicht ist  theils  theoretisch  —  von  Kohlrausch  —  theils  factisch  durch 
Beobachtungen  (wovon  später)  widerlegt  worden.  Eben  so  ist  die  An- 
nahme, dass  die  Netzhaut  im  hintern  Pole  eine  nach  innen  hervorsprin- 
gende Falte  darbiete,  und  die  Bilder  entfernter  Objecte  auf,  die  Bilder 
naher  Objecte  neben  dieser  Falte  (also  weiter  hinten)  entworfen  würden, 
schon  dadurch  widerlegt  worden,  dass  man  die  Nichtexistenz  einer  solchen 
Falte  während  des  Lebens  nachgewiesen  hat  (durch  Untersuchung  von 
Hingerichteten  unmittelbar  nach  dem  Tode,  durch  den  Augenspiegel).  Die 
Abänderung  des  Refractionszustandes  behufs  des  Deutlichsehens  von  Ob- 
jecten sehr  differenter  Entfernung,  schon  früher  aus  den  Versuchen  von 
Scheiner,  Mile,  Volkmann  u.  A.  bestimmt  gefolgert,  ist  seit  der  Erfindung 
des  Augenspiegels  Thatsache  der  unmittelbaren  Beobachtung,  und  es  kann 
von  nun  an  nur  noch  die  Frage  sein,  auf  welche  Weise  die  Accomoda- 
tion  des  Auges  für  verschiedene    Sehweiten    vermittelt    werde,  für  welche 


198 


Augenmuskeln. 


Distanzen  der  Objecte  und  bis  zu  welchem  Grade  solche  Veränderungen 
gefordert  werden. 

„Man  lasse,  indem  man  ein  normales  Auge  mit  dem  Augenspiegel  untersucht,  das- 
selbe einen  Gegenstand  lixiren,  der  von  ihm  eben  so  weit  entfernt  ist,  als  ein  Faden, 
den  man  quer  vor  dem  Glase  der  Beleuchtungslampe  aufgespannt  hat.  Der  Beobachter 
sieht  alsdann  die  Elemente  der  Netzhaut  und  das  Bild  des  Fadens  gleich  deutlich.  Rückt 
man  nun,  während  der  Beobachtete  fortwahrend  jenen  Gegenstand  fixirt,  den  Faden 
seinem  Auge  näher  oder  ferner,  so  wird  er  im  Netzhaulbilde  undeutlich,  oder  verschwin- 
det gänzlich,  während  die  Retinatheile  deutlich  bleiben,  Man  ersieht  daraus,  dass  Netz- 
hautbilder von  verschiedenen  entfernten  Gegenständen  in  der  That  nicht  gleich  deutlich 
sind.  Alsdann  stelle  man  den  Faden  wieder  so.  dass  man  ihn  im  Netzhautbilde  gleich- 
zeitig mit  den  Gelassen  deutlich  erscheinen  sieht,  und  lasse  das  beobachtete  Auge  einen 
Funkt  fixiren,  welcher  (in  derselben  Richtung)  entweder  viel  weiter  oder  viel  näher  ist, 
als  der,  auf  den  es  vorher  gerichtet  war;  sogleich  sieht  man  Netzhaut  und  Flammenbild 
verschwimmen  und   undeutlich  werden."     {Helmhoh,  Augenspiegel,   1851   S.   37.) 

Hält  man  eine  undurchsichtige  Platte  (Kartenblatt)  mit  zwei  feinen  Offnungen  (Na- 
delstichen), welche  nicht  ganz  so  weit  von  einander  abstehen,  als  der  Durchmesser  der 
Pupille  beträgt  (also  etwa  1'"^  nahe  vor  das  Auge  (weniger  als  5y2'"),  und  visirt  nun 
durch  diese  Öffnungen  in  einer  Linie  gerade  vor  sich  hin  auf  einen  feinen  Gegenstand, 
etwa  eine  Nadel  vor  einem  lichten  Hintergründe,  welche  in  dieser  Linie  fortbewegt 
werden  kann,  so  erscheint  die  Nadel,  nahe  hinter  der  Plattte  gehalten  :  doppelt,  dann, 
bis  zu  einer  gewissen  Entfernung  fortgerückt:  einfach,  endlich,  über  eine  gewisse  Grenze 
entfernt  :  wieder  doppelt.  Der  Raum,  in  welchem  die  Nadel  einfach  erscheint,  heisst 
die  deutliche  Sehweite  ;  sein  GrenzpunUt  gegen  das  Auge  her:  der  Nahepunkt)  der  ent- 
gegengesetzte :  der  Fernpunkt.  Die  Lage  des  Nahepunktes  ist  in  der  Regel  5  (4 — 6) 
Zoll  vor  dem  Hornhautcentruin,  ausnahmweise  (bei  sehr  Kursichtigen)  jedoch  bis  auf  2 
und  seihst  1 Y,  Zoll  herangerückt.  Der  Ort  des  Fernpunktes  Iässt  sich  nur  an  solchen 
Augen  genau  bestimmen,  an  welchen  er  abnorm  nahe  gerückt  ist  (bei  Kurzsichtigen), 
indem  bei  beträchtlicher  Entfernung  eines  so  kleinen  Objectes,  wie  bei  diesem  Versuche, 
nicht  nur  der  Sehwinkel  (Netzhautbild),  sondern  auch  die  Lichtmenge  (scheinbarer  Glanz 
des  Netzhauthildes)  und  die  Energie  der  Netzhaut  (Feinheit  des  Gesichtes)  von  bedeu- 
tendem Einflüsse  auf  die  Wahrnehmung  des  Doppelbildes  sind. 

„Betrachtet  man  nach  Scheiner 's  Angabe  durch  eine  solche  Platte  mit  2  Öffnungen 
zwei  Nadeln,  deren  eine  näher,  die  andere  ferner  aufgesteckt  ist,  so  nämlich,  dass  beide 
in  die  Sehachse  und  innerhalb  der  Grenze  des  deutlichen  Sehens  zu  stehen  kommen,  so 
erscheinen  zunächst  zwei  lichte  Kreise,  welche  sich  zum  Thcil  dechen,  und  in  diesem 
mittlem  (lichteren)  Theile  die  Nadeln.  Fixirt  man  nun  beliebig  die  eine  ober  die  an- 
dere Nadel,  so  erscheint  jedesmal  die  nicht  fixirte  doppelt  und  nur  die  fixirte  einlach. 
Der  Grund  ist  Folgender.     Es  sei  in  Fig.   1 


& 


Physiologie 


Acoomnioriatioii. 


199 


a  die  entferntere  Stecknadel  und  das  Auge  auf  diese  gerichtet.  Es  sei  ferner  b  die 
zu  nahe  gelegene  Nadel,  und  Im  das  doppelle  Kartenloch.  Die  von  a  ausgehenden 
Strahlen  al  und  am  werden  auf  der  Netzhaut  bei  a'  vereinigt,  die  von  b  einfallenden 
Strahlen  bl  und  bm  vereinigen  sich  dagegen  erst  hinter  derselben  bei  b'.  Daher  treffen 
die  Strahlen  von  6,  welche  durch  l  ins  Auge  dringen,  die  Netzhaut  bei  s,  wahrend  die 
durch  m  auffallenden  dieselbe  bei  r  treffen.  So  entstehen  zwei  blasse  Bilder  bei  s  und  r, 
statt  eines  einzigen  und  intensiv  beleuchteten  bei  a'.  —  Fixirt  man  dagegen  6,  so  er- 
scheint dieselbe  einfach  und  a  wird  doppelt.      Der  Grund  hievon  ergibt  sich  aus  Fig.  2. 


Rj:z 


(b~~.     :z>^~ 


Da  das  Auge  für  b  passend  eingerichtet  ist,  so  vereinigen  sich  die  Lichtbündel  bl 
und  bin  auf  der  Netzhaut  und  fonniren  ihr  Bild  im  Achsenpunkte  des  Auges  bei  b'.  Un- 
ter diesen  Umständen  liegt  a  zu  fern ,  die  Strahlen  am  und  al  haben  ihren  Focus  bei  x 
und  der  ausfahrende  Strahl  Ix  geht  weiter  nach  s,  desgleichen  geht  mx  weiter  nach  r, 
so  dass  sich  zwei  blasse  Bilder  bei  r  und  s  statt  eines  einzigen  bei  b  gestalten.  —  Die 
Richtigkeit  dieser  Deutungen  ergibt  sich  aus  Folgendem.  Verschliesst  man  während  der 
Beobachtung  das  eine  der  Kartenlöcher,  so  verschwindet  im  ersten  Experimente,  bei  un- 
gehöriger Nähe  der  Nadel,  das  Bild  der  entgegengesetzten  Seite,  im  2.  Versuche  dagegen, 
wo  die  Nadel  zu  fern  steht,  das  Bild  der  entsprechenden  Seite.  Man  erinnere  sich  zu- 
nächst an  die  Erfahrung,  dass  die  Lage,  in  welcher  uns  Gegenstände  erscheinen,  die  um- 
gekehrte von  der  ist,  in  welcher  ihr  Bild  auf  der  Netzhaut  sich  wirklich  darstellt.  Ver- 
schwindet bei  unpassender  Nähe  der  Nadel  das  gegenüber  liegende  Bild  ,  so  musste  das 
Netzhautbildchen  auf  der  Seite  des  verschlossenen  Loches  liegen,  eine  Anordnung,  welche 
nur  möglich  ist,  wenn  die  gebrochenen  Lichtstrahlen  erst  hinter  der  Netzhaut  vereinigt 
werden,  wie  Fig.  1  angibt.  Wenn  dagegen  bei  ungeeigneter  Entfernung  des  Objectes 
Verschluss  eines  Kartenloches  das  Bild  der  entsprechenden  Seite  verschwinden  macht, 
so  müssen  diessmal  Kartenloch  und  Netzhautbildchen  auf  entgegengesetzten  Seiten  gele- 
legen  sein.  Fig.  2  zeigt,  dass  dieser  Fall  durch  eine  Kreuzung  der  Lichtstrahlen  vor  der 
Netzhaut  bedingt  ist.  Beide  Fälle  beweisen  also ,  dass  das  Licht  zu  naher  und  zu  fer- 
ner Objecte  nicht  auf  der  Netzhaut,  sondern  respective  hinter  nnd  vor  ihr  vereinigt  wird, 
und  zwar  nach  Gesetzen,  welche  durch  die  Theorie  der  Linsengläser  gegeben  sind." 
(Vpikmann  in   Wagners  Handwörterbuch  III.  B.  S.  207). 

Durch  Anwendung  des  Scfeewiej-'schen  Versuches  auf  das  exstirpirte  Auge  eines 
weissen  Kaninchens  hat  Volkmauti  (Neue  Beitr.  zur  Physiol.  des  Gesichtssinnes,  1836 
S.  109)  nachgewiesen,  dass  Magendie,  Bitter,  Haiddt  u.  A.  Unrecht  hatten,  wenn  sie 
behaupteten,  dass  selbst  im  todten  Auge  die  Bilder  von  Objecten  der  differentesten  Di- 
stanzen gleich  deutlich  entworfen  werden.  Er  Hess  Licht  aus  verschiedenen  Entfernun- 
gen durch  zwei  solche  Öffnungen,  wie  beim  Schei?ier' sehen  Versuche  in  die  Pupille 
fallen  und  beobachtete  die  Lichtbilder  am  hintern  Umfange  des  Bulbus.  Bei  einer  be- 
stimmten Entfernung  des  Lichtes  vom  Auge  saben  die  beiden  Öffnungen    nur  Ein  Licht- 


200 


Aiiiieiiiiiu.skeln. 


bild;  bei  Annäherung  des  Lichtes  bis  auf  nur  einige  Zoll,  so  wie  bei  beträchtlicher  Ent- 
fernung desselben  entstanden  zwei  Lichtbilder.  —  Im  Jahre  1850  habe  ich  mit  meinem 
Assistenten  Dr.  Seydl  ähnliche  Versuche,  jedoch  mit  Menschenaugen  vorgenommen.  Der 
Bulbus  —  nach  Abstreifung  des  Epithels  der  Cornea  —  wurde  auf  einen  Ring  gelegt,  dann 
in  der  Gegend  des  hintern  Poles  ein  Stück  Sclera  und  Chorioidea  entfernt.  Zum  Ob- 
jecte  wurde  grosse,  von  der  Sonne  beschienene  Druckschrift  gewählt;  nur  bei  bestimm- 
ter Distanz  derselben  von  der  Cornea,  zwischen  5  und  9  Zoll,  konnte  der  Beobachter 
die  Buchstaben  von  der  Netzhaut  ablesen. 

„Es  sei  in  Fig.  3  kk  eine  Karle,    in  welche    man  ein    feines   Loch  bei  b  gestochen, 
und  l  und  m  zwei  Stecknadeln,  welche  man,    in  einiger  Entfernung'  hinter  einander,  in 


der  Visirlinie  aufgerichtet  hat.  (Miles  Versuch.)  Befindet  sich  nun  //*  in  passender  Seh- 
weite, und  folglich  /  in  zu  grosser  Ferne,  so  bemerkt  man  bei  seitlicher  Verschiebung 
der  Karte,  dass  die  sich  anfänglich  deckenden  Nadeln  aus  einander  treten.  Die  in  pas- 
sender Sehweite  aufgesteckte  Nadel  m  behauptet  bewegungslos  ihren  Stand,  die  zu  fern 
liegende  Nadel  /  dagegen  bewegt  sich  mit  dem  Diopter  in  entsprechender  Richtung.  — > 
Befindet  sich  aber  die  entferntere  Nadel  in  passender  Sehweite  und  steht  m  dem  Auge  zu 
nahe,  so  dreht  die  Erscheinung  sich  uin,  die  entfernte  Nadel  bleibt,  wenn  der  Diopter 
verschoben  wird,  ruhig,  und  bloss  das  Bild  der  zu  nahe  gelegenen  Nadel  bewegt  sich, 
diessmal  in  der  entgegengesetzten  Richtung  des  Kartenloches.  —  Die  Erklärung  des 
Phänomens  liegt  offenbar  in  Folgendem.  Abstrahirt  man  vom  Einflüsse  der  Karte,  welche 
einen  Theil  des  Lichtes  auffängt,  so  sendet  jede  Nadel  einen  divergirenden  Lichtkegel 
ins  Auge,  dessen  Basis  die  Weite  der  Pupille  rs  ist.  Gesetzt,  /  hefinde  sich  in  passen- 
der Sehweite,  so  würde  das  divergirende  Strahlensystem  vis  bei  e  vereinigt.  Hier  kann 
Verschiebung  der  Karte  keine  Verrückung  des  Netzhautbildes  und  folglich  auch  keine 
Bewegung  der  durch  dasselbe  bedingten  Gesichtserscheinung  veranlassen.  Denn  wenn 
die  Diopteröffnung  in  der  Weise  verrückt  würde,  dass  nur  der  Strahl  Ir  ins  Auge  fallen 
könnte,  so  müsste,  weil  e  der  Focus  aller  Strahlen  ist,  auch  Ir  nach  c  kommen,  wie  die 
Figur  angibt.  Anders  verhält  es  sich  mit  dem  zu  nahe  liegenden  Lichtpunkte  m.  Indem 
das  von  ihm  ausgehende  Licht  erst  hinter  der  Netzhaut  bei  x  vereinigt  wird,  bildet  sich  auf 
dieser  ein  Zerstreuungskreis  vom  Durchmesser  tu.  Befindet  sich  nun  das  Kartenloch  in  der 
Verlängerung  der  Sehachse,  so  gelangt  der  Lichtstrahl  mb  nach  e  und  die  Bilder  der  Na- 
deln decken  sich;  verschiebt  man  nun  die  Karte  so,  dass  nur  der  Strahl  i»r  von  m  aus 
ins  Auge  gelangt,  so  schneidet  der  ausfahrende  Strahl  rx  die  Netzhaut  bei  /  und  die 
Nadelbilder  trennen  sich.  Der  Grund,  warum  in  dem  einen  Falle  die  Bewegung  des 
Bildes  der  des  Diopters  folgt,  in  dem  andern  entgegengesetzt,  ergibt  sich  aus  dein,  w  as 
bei  Erörterung  des  ScAemer'schen  Versuches  angegeben  wurde."    (Vulkmann  ibid.  S.  299.*) 


')  Sehr  ausfuhrlilii-h,  klar  und  t: i'iia  hat  mein,  ilcr  W'isscnsoliifi  leider  zu  früh  entrissener  Freund  I>r.  Herrn  Mayer 
in  Komotttu  die  Erscheinungen  In  im  ScAemer'schcu  und  IrYfe'schen  Versuche  «ls  Beweismittel  Inr  das  Bestehen 
einer  willkürlichen  Accomodiition  in    der  Prager    medic.  Vierletiehrschrift  lt.  28  |  1850)  u    i:.  3'^  (l&äl)  erörtert. 


Physiologie  —  Acroiimiodutioii.  201 

Jedes  Auge  hat  vermöge  seines  Baues  einen  bestimmten  Refractions- 
zustand,  gegeben  durch  die  Krümmungs-  und  Brechungsverhaltnisse  sei- 
ner durchsichtigen  Medien  und  durch  die  Distanz  der  Netzhaut  von  dem 
Objective  (Hornhaut,  Kammerwasser  und  Linse).  Verschiedenheiten  hierin 
bezeichnen  wir  mit  den  Ausdrücken :  kurzsichtiger,  normaler  und  fernsich- 
tiger Bau  des  Auges,  ohne  vorläufig  anzugeben,  worin  speciell  diese  Ver- 
schiedenheiten begründet  sind.  Ehe  wir  demnach  in  Betrachtung  ziehen 
können,  worin  die  jeweilige  temporäre  Abänderung  des  Refractionszustandes 
behufs  des  Deutlichsehens  für  verschiedene  Distanzen  —  die  Accomoda- 
tion  —  bestehe,  müssen  wir  erst  untersuchen,  für  welche  Distanz  das 
normale  Auge  an  und  für  sich,  d.  h.  vermöge  seines  Baues  eingerichtet 
sei.  Man  könnte  sich  nämlich  denken,  der  Refractionszustand  des  norma- 
len Auges  entspreche  einer  gewissen  mittlem  Distanz,  und  es  müsse  der- 
selbe verändert  werden,  nicht  nur  wenn  nähere,  sondern  auch  wenn  ent- 
ferntere Objecte  deutlich  gesehen  werden  sollen ;  oder  es  könnte  sich  er- 
geben, dass  das  Auge  im  ruhenden  Zustande  —  ohne  Zuthun  der  accomoda- 
tiven  Thätigkeit  —  für  parallele  Strahlen ,  mithin  für  unendlich  oder  doch 
sehr  ferne  Objecte  eingerichtet  sei,  und  eine  Accommodation  nur  für  näher 
gelegene  Objecte  gefordert  werde.  Wir  werden  aber  nachzuweisen  ver- 
suchen, dass  der  Refractionszustand  normaler  Avgen  für  mittlere  Di- 
stanzen eingerichtet  ist,  dass  für  grössere  Distanzen  eine  Abänderung 
nicht  stattfindet,  sehr  entfernte  Objecte  demnach  nicht  auf,  sondern  ein 
wenig  vor  der  Netzhaut  abgebildet  werden,  und  dass  eine  Abänderung  im 
Refractionszustande  nur  behufs  des  Deutlichsehens  näher  gelegener  Ob- 
jecte erfolgt,  so  dass  demnach  der  Ausdruck:  „das  Auge  accommodirt  sich" 
nichts  anderes  bedeutet,  als :  das  Auge  ändert  seine  dioptrischen  Verhält- 
nisse behufs  des  Deutlichsehens  naher  Objecte. 

Die  Brennweite  der  Hornhaut  sammt  dem  Kammerwasser  und  der 
Linse  beträgt  im  normalen  Auge  kaum  jemals  weniger  als  6'",  niemals 
mehr  als  7"'.  (Achse  des  Glaskörpers.)  Das  Objectiv  des  normalen  Men- 
schenauges  ist  demnach  eine  Sammellinse  von  kurzer  Brennweite.  Bei 
Linsen  von  kurzer  Brennweite  tritt  aber  eine  merkliche  Zunahme  der  Ver- 
einigungsweite oder  Bilddistanz  nur  bei  kürzeren  Objectdistanzen  hervor, 
werden  demnach  auch  erhebliche  Veränderungen  in  dem  Refractions- 
zustande, z.  B.  erhebliche  Rückstellung  des  Schirmes,  nur  behufs  der  Ab- 
bildung naher  und  sehr  naher  Objecte  nothwendig.  Hätte  das  Objectiv 
des  menschlichen  Auges  eine  noch  kürzere  Brennweite,  etwa  nur  von  3"', 
dann  würde  die  Vereinigungsweite  für  Objecte  sehr  verschiedener  Distan- 
zen   einen    noch    viel  geringeren    Spielraum    darbieten,    es    würden,    wie 


202  Augenmuskeln. 

H.  Mayer  durch  Versuche  ermittelt  hat,  die  Bilder  von  Objccten  aus  7"  Di- 
stanz nur  etwa  710"'  weiter  rückwärls  entworfen  werden,  als  die  Bilder 
von  unendlich  entfernten  Objeeten.  Bei  einer  Linse  von  61/,,'"  Brenn- 
weite ist  aber  eine  Veränderung  der  Vereinigungsweite  (Verschiebung  des 
Schirmes  der  Netzhaut;  von  nicht  viel  über  %M  hinreichend,  wenn  so- 
wohl von  solchen  Objeeten,  deren  Strahlen  als  nahezu  parallel  betrachtet 
werden  können,  als  auch  von  solchen,  die  nur  5"  entfernt  sind,  deutliche 
Bilder    entworfen  werden    sollen.       Nennen  wir    in  der  bekannten  Formel 

J i_  _   j_  die  Bilddistanz    a,  die  Objectdistanz  «,    und  b  =  %%'" 

a  b  a 

die  Brennweite  der  Sammellinse    unseres  Auges,    und  substituiren  wir    in 

_    1_  ab 

der  Gleichung  a   ~~  d\  jv —       a_b       nach    und    nach    verschiedene 

yib    ~~aj 

Werthe  von  a,  so  erhalten  wir  beispielweise  folgendes  Schema  : 

Ist  a  == 


CO 

so 

ist 

a  =  6,5000'" 

Ist 

a   =40"        SO 

ist 

a  =  6,5881'" 

000' 

n 

55 

a  z=  6,5003'" 

,, 

«  =20"       „ 

55 

«  =  6,6809'" 

500' 

n 

„ 

a  =  6,5005'" 

J7 

^=15"       „ 

57 

a  =  6,7435'" 

100' 

i) 

57 

a  =  6,5029'" 

n 

«  =  10" 

55 

a  zz  6,8722'" 

20' 

55 

n 

a  =6,5146'" 

55 

« =  i%*  » 

55 

a  =  7,0059"' 

10' 

55 

» 

et  =  6,5294"' 

55 

«==    5"       „ 

JJ 

a  =  7,2897  " 

5' 

n 

n 

a  ==  6,5592'" 

ist  «  =  4"  so  ist  « 

==  7,5180'" 

» 

Cl     __     ö           „        . 

a 

=  7,9322"' 

„  «  =  2"  .,  „  a  =  8,9428'"*) 
Für  alle  über  5  Fuss  betragenden  Objectdistanzen  ist  der  Durchmes- 
ser der  Pupille  relativ  so  klein,  dass  die  Strahlen,  welche  von  irgend 
einem  Punkte  aus  solchen  Entfernungen  auf  das  entsprechende  Hornhaut- 
areal fallen,  als  zu  einander  (zum  Achsen-  oder  Richtungsstrahle)  nahezu 
parallel  betrachtet  werden  können.  Dass  dem  wirklich  so  sei,  zeigt  schon 
die  Möglichkeit,  ein  Auge,  welches  auf  mindestens  5  Fuss  Distanz  aecom- 
modirt  ist,  mit  dem  Augenspiegel  im  aufrechten  Bilde  ohne  Concavglas  zu 
untersuchen.     (Vergl.  III.  B.  S.  83   und  die  zugehörige  Fig.  auf  S.  78.) 

Richten  wir  den  Blick  auf  ein  nahes  kleines  Object,  z.  B.  auf  einen 
Buchstaben,  so  liegt  es  in  unserer  Willkür,  bei  unveränderter  Distanz  ihn 
deutlich  oder  undeutlich  zu  sehen,  sobald  die  Distanz  nicht  weniger  als  5 

*)  0,4555  Wiener  Linien  =  1  Millimeter;  12'"  =  1",  12"  ==  1'.  Dieses  Schema  kann  allerdings  nicht  slreug 
auf  das  Auge  angewendet  werden,  da  dessen  Sammellinse  eine  zusammengesetzte  i-t.  es  handelt  sich  hier  aber 
auch  nur   um  eine   annäherungsweise  Angabc  oder  um   eine  Hinweisung   ,ml    cm  Analogun. 


Physiologie  —  Aecommotlcifion.  203 

und  nicht  mehr  als  12 — 15  Zoll  beträgt.  Es  wird  diess  dadurch  ermög- 
licht, dass  man  bei  unverrücktem  Blicke  auf  das  Object  sein  Auge  in  jenen 
Zustand  versetzt,  in  welchem  es  sich  beim  gedankenlosen  Yor-sich-hin- 
starren  befindet;  hiebei  wird  das  Object  undeutlich,  auch  wenn  es  in  der 
gehörigen  Distanz,  z.  ß.  8  Zoll,  und  gegenüber  der  Macula  lutea  liegt,  es 
bekommt  prismatische  Farbensäöme,  erscheint  wohl  auch  2 — 3fach. 

Auf  eine  sehr  einfache  Weise  lassen  sich  die  dabei  vorkommenden  Phänomene  an 
einem  einfachen  vertikalen  oder  horizontalen  feinen  Striche  (mit  Tinte  auf  weissem  Pa- 
piere beobachten.    (  | [•)     Zuerst    betrachte    man   eine    jede    dieser    Figuren    in    zu 

grosser  Nähe ,  etwa  bei  4  Zoll  Distanz.  An  der  Stelle  des  vertikalen  Striches  sieht  man 
jetzt  5  Streifen,  in  der  Mitte  einen  ziemlich  schwarzen,  dann  zwei  orangengelbe,  zu 
äusserst  2  blaue,  alle  ohne  scharfe  Begrenzung.  Mit  dem  rechten  Auge  sehe  ich  nur 
den  einen  blauen  Streifen  (links),  und  glaubte,  ehe  ich  auf  die  blaue  Färbung  gehörig 
aufmerkte,  zwei  dunkle  Streifen  zu  sehen,  besonders  wenn  ich  mein  Auge  nur  auf  etwa 
5  Zoll  näherte.  Je  näher  man  dem  Objecte  rückt,  desto  breiter  und  undeutlicher  wer- 
den die  Streifen,  je  weiter  man  sich  entfernt,  desto  schmäler  und  markirter,  bis  man 
endlich  zu  einer  Distanz  (5  Zoll  für  das  normale  Auge)  kommt,  wo  man  im  Stande  ist, 
den  schwarzen  Strich  einfach  und  deutlich  zu  sehen.  Nun  kommt  ein  gewisser  Spiel- 
raum (bei  meinem  Auge  zwischen  6  und  12  Zoll),  wo  man  nach  Willkür  die  eine  oder 
die  andere  Erscheinung  hervorrufen  kann,  nämlich  den  Strich  deutlich  oder  mit  Farben- 
säuinen  (scheinbar  doppelt  oder  3fach)  zu  sehen ,  je  nachdem  man  scharf  fixirt  oder 
den  Blick  gleichsam  vor  sich  hinstarren  lässt.  Bei  8  Zoll  Distanz  kann  ich  die  Streifen 
viel  weiter  auseinander  treten  machen,  als  bei  10  Zoll,  und  bei  mehr  als  12  Zoll  bin  ich, 
ohne  die  Sehachse  zu  verrücken,  auf  keine  Weise  mehr  im  Stande,  das  Phänomen  des 
Undeutlich-,  Farbig-  und  Mehrfachsehens  hervorzubringen.  Ich  kann  von  da  ab  bis  zu 
20  Zoll  und  darüber  den  Strich  immer  nur  einfach  und  schwarz  sehen  ,  bis  er  endlich 
bei  circa  30  Zoll  trotz  aller  Anstrengung  constant  undeutlich  zu  werden  anfängt.  — 
Befindet  sich  das  fixirte  Object,  z.B.  ein  Punkt  (.),  näher  als  5  Zoll  vor  dem  Auge,  so  fällt 
die  Vereinigungsweite  der  von  ihm  ins  Auge  gelangenden  Strahlen  hinter  die  Netzhaut, 
diese  wird  mithin  nicht  von  der  Kegelspitze,  sondern  von  dem  Kegelquerschnitte,  also 
von  einem  Zerstreuungskreise  getroffen,  welcher  farbig  erscheint,  weil  eben  die  ver- 
schieden brechbaren  blauen,  gelben  und  rothen  Strahlen  noch  nicht  wieder  vereinigt  sind. 
Wenn  aber  drr  fixirte  Punkt  sich  in  einer  Distanz  befindet,  in  welcher  unter  Zuthun  der 
aecommodativen  Thätigkeit  Deutlichsehen  stattfinden  kann,  z.  B.  bei  7  Zoll,  der  Expe- 
rimentator aber  absichtlich  die  Accommodationsorgane  nicht  in  Wirksamkeit  treten  lässt, 
so  fällt  die  Vereinigungsweite  gerade  so  wie  im  vorigen  Falle  hinter  die  Netzhaut,  (das 
Object  liegt  relativ  zu  dem  jetzigen  Refractionszustande  des  Auges  zu  nahe),  und  es 
tritt  dieselbe  Erscheinung  auf,  die  am  meisten  brechbaren  blauen  Strahlen  erscheinen 
an  der  Peripherie  des  Kegelquerschniltes.  Das  Auge  hat  sich  dabei  freiwillig  der 
Adaptation  begeben.  Wird  nun  das  Object  so  weit  gerückt,  dass  die  von  ihm  ausge- 
henden Strahlen  schon  vermöge  des  Baues  des  Auges  ihre  Vereinigungsweite  in  der 
Netzhant  finden,  so  hört  der  Einfluss  der  Willkür  auf,  das  Auge  müsste  denn  im  Stande 
sein,  sich  für  eine  geringere  Distanz  einzurichten,  was  ich  nicht  kann,  ohne  ein  ande- 
res Object,  etwa  eine  Nadelspitze,  zwischen  jenes  Object  und  das  Auge  einzuschieben. 
Die  Strahlen  des  in   Rede  siebenden    Punktes  würden  sich  dann  vor  der  Netzhaut  ver- 


204  Augenmuskeln. 

einigen,    und    die    Regenbogenfarben    müssten    in    umgekehrter    Ordnung    auftreten,    die 
blauen  nach  innen,  die  rothen  nach  aussen. 

Ich  halte  diesen  Versuch,    bei  welchem    sich    ein    nebenstehender    Beobachter  leicht 
überzeugen    kann,    dass  die  Sehachse  des  e.\|>erimentirenden  Auges  nicht  verrückt  wird, 
und  bei   welchem  die    Pupille    wahrend    des    Deutlichsehens  etwas  enger,    während  des 
Undeut'ichsehens  etwas  weiter  wird,    für  mindestens  eben  so  beweisend,    dass  wir  eine. 
Aceommodation  und  zwar  eine  willkürliche   besitzen,  als  die  Versuche  von  Scheiner  und 
Nile,  bei  welchen  noch  manche  andere   Verhältnisse  in  Betracht  kommen.     Er  zeist  uns 
unter  ganz  natürlichen  Verhältnissen  an,    bis  zu  welcher  Grenze  ein  Object,  so  fern  es 
nicht  an  und  für  sich  zu  gross  ist,  dem  Auge  genähert  werden  kann,    bevor  es  anf'ä  gt 
(wegen  fehlerhafter  Vereinignngsweite)    undeutlich    zu  werden;    er    zeigt    uns  die  durch 
die    dioptrischen  Verhältnisse    gezogene    diesseitige  Grenze  oder    den  ISahepunkt  des  deut- 
lichen Sehens.  Nach  einer  andern  Richtung  hin   lehrreich  finde  ich  Versuche  mit  einer  ein- 
fachen Kerzenflamine.    Diese  sehe  ich  nicht  nur  bei  5,  sondern  auch  noch  bei  3  Zoll  Dislnnz 
einfach  und  scharf  begrenzt.      Diess   enthält    einen  Widerspruch   mit   dem  Vorhergehen- 
den, jedoch  nur  scheinbar.      Die  Pupille  wird  nämlich  bei  dieser  Annäherung  des  (star- 
ken) Lichtes  so  eng,    dass  die   Spitze  des    innern    Lichtkegels    hinter  die    Netzhaut  fällt, 
doch  sein  Querschnitt  auf  der  Netzhaut  sehr  klein  ausfällt,    auf  dieselbe  Weise,  wie  wir 
durch  Vorhalten    einer  kleinen    KartenblattöfFnung  vor   die    Hornhaut    sogleich    bewirken 
können,    dass  ein  zu  nahe,    z.  B.    3  Zoll  vorgehaltener  Buchstabe  vollkommen  deutlich 
wird   (Einschränkung    der    Zerstreuungskreisc).       Wahrscheinlich    kommt    hier   auch    der 
Umstand  in  Anschlag,    dass  das    Bild   einer    Kerzenflamme    bei  so    grosser    Nähe  bereits 
einen  so  grossen  Theil  der  Netzhaut    einnimmt,    dass  seine  Per  pherie   bereils    auf  Netz- 
hautp.'itien   fällt,    welche  schon  weit  von  der  Macula  lutea  entfernt  sind,  für  welche  mit- 
hin die  Erregung  durch  den  Zerstreuungskreis    schon  viel  zu  schwach  ist,    als  dass  sie 
sich  im  Bewusstseiu   gegenüber  der  ungleich  stärkern  Erregung  des  Ccntrunis  der  Netz- 
haut geltend  machen  könnte.     Trete  ich  nun  allmälig  von  der  Flamme  zurück,  so  bleibt 
sie  deutlich   (scharf  begrenzt)  bis  zur  Distanz  von  5  Fuss.    Will  ich  während  dieses  Ztt- 
rückweichens  das  Phänomen    des   Undeutlichsehens    hervorrufen,    so    bringe    ich    es    bei 
7 — 10  Zoll  wohl  zu  Stande,  jedoch  nur  so,   dass  ein  schwacher  Hof  erscheint,    offenbar 
desshalb,    weil  bei  so  naher  Lichtquelle  die  Netzhaut  von  der  intensiv  beleuchteten  Mitte 
des  Kegelquerschnittes  zu  stark  erregt  ist,    als  dass  die  schwächer   beleuchtete  Periphe- 
rie eine    hinreichend    starke    Empfindung    bewirken    könnte,    wobei  wohl    auch  noch  in 
Betracht  kommt,    dass  beim  künstlichen  Lichte  die  Zahl  der  brechbarsten    blauen  Strah- 
len eine  relativ  sehr  geringe  ist.     Bin  ich  über  5  Fuss  Distanz  weg  gerückt,  so  werden 
die  Contouren  der  Flamme  verwischt    und  die  schmale  Spitze  erscheint  zwieselig,    dann 
(weiter)  wird  die  Flamme  von  zwei  matten  seitlichen  Nebenflammen,  später  aber  ringsum 
von  einem  immer  breiteren  Hofe  umgeben,  bis  endlich  ein   förmlicher  Strahlenkranz  (wie 
bei  den  Sternen)  erscheint,  der  die  nun  kleiner  erscheinende  Klamme  speichenartig  um- 
gibt.    Dass  diese  Erscheinungen    um  die   Flamme  Zerstreuungskreisc    wegen    nicht    ent- 
sprechender Vereinigungsweite  sind,    scheint  mir  dadurch  bewiesen  zu   werden,  dass  sie 
nicht  auftreten,    sobald    man    vor   das   Auge   die    enge  Öffnung   eines  Kartenblattes    oder 
ein  entsprechendes  (schwaches)  Concavglas  vorhält. 

Der  Versuch    mit  einer  Kerzenflamme    ist  meines    Erachtens    geeignet 

zu  zeigen,    dass  unser  Auge    an    und  für    sich    nicht    für  völlig    parallele 


Physiologie —  Aecoiiiii9od;tHoii.  205 

Strahlen  oder  für  unendlich  weite  Distanzen  eingerichtet  ist,  sondern  für 
Strahlen,  die  noch  ein  wenig  divcrgiren ,  für  Strahlen  ans  ungefähr  5 — (5 
Fnss  Entfernung,  und  dass  alle  weiter  entfernten  Objecte  streng  genom- 
men schon  mit  mehr  weniger  beträchtlichen  Zerstreuungsareisen  gesehen 
werden,  d.  h.  dass  Strahlen,  Welche  von  einem  über  diese  Distanz  ent- 
fernten Punkte  in  unser  Auge  gelangen,  schon  mehr  weniger  weit  vur  der 
Netzhaut  vereinigt  werden.  Bei  sehr  grossen  Distanzen  fallen  die  Zer- 
streuungskreise  schon  so  beträchtlich  aus,  dass  sie  stark  in  einander  grei- 
fen und  das  Deutlichsehen  verhindern;  bei  geringeren  Distanzen,  z.  B.  20, 
15  Fuss ,  ist  die  lichtärmere  Peripherie  relativ  zum  helleren  Mittelpunkte 
des  Kegelquerschnittes  nicht  nur  viel  zu  schmal,  sondern  auch  viel  zu 
lichtarm,  als  dass  die  durch  diese  Peripherie  gesetzte  Erregung  der  Netz- 
haut sich  neben  der  durch  das  Centrum  gesetzten  in  der  Wahrnehmung 
geltend  machen  könnte. 

Wir  dürfen  übrigens  bei  unseren  Betrachtungen  über  die  Accommo- 
dation  und  das  deutliche  Sehen  einen  Umstand  nicht  ausser  Acht  lassen 
der  bei  allen  Sammellinsen  stattfindet.  Die  Vereinigungsweite  der  Licht- 
strahlen kann  nämlich  streng  genommen  nicht  als  ein  Punkt,  sondern  muss 
als  eine  Linse  (die  Brennlinie)  aufgefasst  werden,  als  eine  Reihe  hinter 
einander  gelegener  Punkte,  welche  bei  ein  und  derselben  Linse  um  so, 
länger  ausfällt,  je  grösser  die  Öffnung  der  Linse  (Pupille)  ist,  und  je  mehr 
sich  die  einfallenden  Lichtstrahlen  dem  Parallelismus  nähern,  d.h. je  grösser 
die  Objectdistanz  ist.  Anschaulich  machen  kann  man  sich  die  hier  obwal- 
tenden Verhältnisse,  welche  sich  übrigens  streng  mathematisch  nachweisen 
lassen,  in  dem  von  Czermak  angegebenen  Experimente  mit  einein  hori- 
zontal vor  dem  Auge  aufgespannten  weissen  Faden.  Fixirt  man  an  die- 
sem z.  B.  einen  10"  entfernten  Punkt,  so  erscheint  der  Faden  eine  kurze 
Strecke  vor  und  eine  merklich  längere  Strecke  hinter  diesem  Punkte  noch 
einfach;  weiter  von  jenem  Punkte  entfernt,  und  zwar  sowohl  diess-  als  jen- 
seits erscheint  dann  der  Faden  doppelt  (in  Zerstreuungskreisen),  und  wei- 
chen die  Doppelbilder  diesseits  sehr  rasch ,  jenseits  sehr  allmälig  ausein- 
ander. Wird  ein  nur  6"  entfernter  Punkt  fixirt,  so  erscheint  der  Faden 
nicht  nur  diess-.  sondern  auch  fenseits  viel  früher  doppelt,  als  im  vorigen 
Falle.  Auf  demselben  Gesetze  beruht  auch  die  bekannte  Erscheinung,  dass 
man  in  einem  Zimmer  die  Brennweite  eines  starken  Convexglases  viel 
leichter  bestimmen  kann,  als  die  von  schwachen  Nummern,  wenn  man  das 
Bild  der  Fensterrahmen  auf  der  gegenüberstehenden  Zimmerwand  benützt. 

Es  ist  somit  dem  normalen  Auge  ohne  alles  Zuthun  der  accommodati- 
ven  Thätigkeit   schon    durch  die    angegebenen    physikalischen  Verhältnisse 


20G  Auseiimuskt'Iii. 

ein  grosser  Spielraum  in  der  Weite  des  deutlichen  Sehens  dargeboten, 
indem  1.  sein  Objectiv  von  kurzer  Brennweite  für  die  Distanzen  von  5' 
bis  oo  nicht  einmal  6  Hundertstel  einer  Linie  Abänderung-  in  der  Ver- 
einigungsweite verlangen  würde,  2.  Strahlen  von  einem  über  5'  entfernlen 
Punkte  auf  ein  relativ  so  kleines  Hornhautareal  fallen,  dass  sie  bereits  als 
zum  Achsenstrahle  nahezu  oder  völlig  parallel  betrachtet  werden  müs- 
sen ,  3.  die  Vereinigung  der  Lichtstrahlen  streng  genommen  nicht  in 
einem  Punkte,  sondern  in  einer  Reihe  hintereinander  gelegener  Punkte  stalt 
findet,  welche  um  so  länger  ausfällt,  je  grösser  die  Objectdistanz  ist,  und  4.  die 
Zerstreuungskreise,  welche  bei  grösseren  Distanzen  der  leuchtenden  Punkte 
auf  der  Netzhaut  entstehen,  für  massige  Entfernungen  verschwindend  klein 
und  matt  ausfallen,  daher  nicht  empfunden  werden. 

In  diesem  letzteren  Momente  ist  nun  auch  die  Fähigkeit  gegeben,  im 
Fernsehen  eine  Schärfe  zu  erlangen,  welche  das  normale,  jedoch  im  Fern- 
sehen nicht  geübte  Auge  nicht  besitzt.  Diese  Schärfe  im  Fernsehen  setzt 
nicht  nur  die  grösste  Feinheit  des  Gesichtssinnes  voraus,  d.  h.  die  Fähig- 
keit, zwei  nahe  an  einander  abgebildete  Punkte  noch  als  getrennt  aufzu- 
fassen, welche  wir  auch  für\s  Nahesehen  bei  verschiedenen  Individuen 
verschieden  ausgebildet  finden  (theils  durch  die  Organisation  der  Netz- 
haut, theils  durch  Übung),  sondern  auch  die  Fertigkeit  von  Zerstreuungs- 
kreisen  %u  abstrahiren,  die  Wahrnehmung  derselben  zu  ignoriren  (unter- 
drücken), nur  die  relativ  am  intensivsten  beleuchteten  Centra  der  Kegel- 
querschnitte allein  zur  Wahrnehmung  gelangen  zu  lassen.  Die  oben  an- 
gegebene Distanz  von  beiläufig  5 — 6'  ist  demnach  nicht  der  Fernpunkt 
des  ruhenden  (nicht  in  accomodative  Thätigkeit  versetzten)  Auges,  son- 
dern gewissermassen  der  Mittelpunkt  des  deutlichen  Sehens  der  durch  den 
Bau  des  Auges  gegebenen  Sehweite.  Die  Lage  des  Fernpunktes  der  deut- 
lichen Sehweite  hängt  nicht  bloss  von  der  Vereinigungsweite  der  Licht- 
strahlen ab,  sondern  auch  von  der  Grösse  und  Beleuchtung  der  Objecto 
und  von  der  Fähigkeit  der  Netzhaut,  Objecte  unter  einem  möglichst  klei- 
nen Sehwinkel  noch  zu  unterscheiden  und  von  Zerstreuungskreisen  zu  ab- 
strahiren. Ein  Auge,  welches  in  allen  Distanzen  zwischen  5  und  45  Zollen 
Druckschrift  von  V"  Höhe  deutlich  und  sicher  lesen  kann,  hat  gewiss 
eine  ganz  gute  Sehweite ,  aber  vielleicht  nur  für's  Erkennen  kleiner  und 
naher  Objecte;  denn  es  kann  trotzdem  seine  Sehweite  für  grössere  Ent- 
fernungen eine  mittelmässige  sein,  und  es  vermag  vielleicht  die  Zeiger 
einer  Thurmuhr  auf  2000  Schritte  nicht  zu  erkennen,  während  ein  anderes, 
das  beim  Lesen  auch  nicht  mehr  leistet,  dieselbe  Uhr  unter  denselben 
Verhältnissen  auf  3000  Schritte  bestimmt  erkennt. 


Physiologie  —  Aeeoniniodaiion.  207 

Die  Accommodalion  oder  Einstellung  des  Auges  für  nahe  Objecfe 
geschieht  durch  Verlängerung  des  Bulbus  in  der  Sehachse,  durch  Zurück- 
drängung der  hintern  Wand  des  Bulbus,  durch  Rückstellung  der  Macula 
lutea  und  ihrer  Umgebung,  Die  vermittelnden  Organe  hiezu  sind  einer- 
seits die  geraden  und  schiefen  Augenmuskeln,  andererseits  der  Ciliar- 
muskel,  indem  sie  gleichzeitig  in  erhöhte  Spannung  versetzt  werden.  In 
dem  Momente,  wo  der  Impuls  zum  Nahesehen  vom  Sensorium  commune 
ausgeht,  gerathen  sämmtliche  Recti  und  Obliqui  in  erhöhte  Spannung  und 
comprimiren  den  Bulbus  so ,  dass  seine  Äquatorialdurchmesser  entspre- 
chend kürzer  werden.  Der  zum  Ausweichen  bestimmte,  weil  incompres- 
sible  Glaskörper  drängt  rück-  und  vorwärts.  Sein  Andrang  nach  vorn 
wird  aber  verhindert  oder  ausparirt,  indem  das  vor  ihm  befindliche  Dia- 
phragma durch  den  gleichzeitig  in  erhöhte  Contraction  versetzten  Ciliar- 
muskel  in  adäquate  Spannung  gebracht  wird.  Also  muss  der  gesammte 
Druck  nach  hinten  gehen,  die  Retina  sammt  der  Chorioidea  und  Sclera 
zurückweichen.  Die  Hornhaut  bleibt  dabei  gewiss,  die  Linse  höchst  wahr- 
scheinlich in  ihrer  Form  und  Lage  unverändert.  Ist  letzteres  richtig,  dann 
bleibt  der  optische  Mittelpunkt  oder  Kreuzungspunkt  der  Richtungslinien 
dabei  unverrückt.  Die  gleichzeitig  erfolgende  Verengung  der  Pupille  ist 
eine  einfach  concomitirende  Erscheinung,  welche  die  Accommodation  nicht 
vermittelt,  nur  begünstigt. 

Diese  Ansicht  über  die  Accommodation  ist  der  Hauptsache  nach  nicht  neu.  Schon 
Kepler  scheint  sich  für  Verlängerung  der  Sehachse  behufs  des  Nahesehens  entschieden 
zu  haben.  Hätte  man  die  Anwesenheit  und  Function  des  Ciliarmuskels  früher  gekannt, 
und  hätte  man  sich  über  Lage  und  Thätigkeit  der  geraden  und  schiefen  Augenmuskeln 
nicht  irrige  Vorstellungen  gemacht,  so  würde  man  sich  wohl  die  mannigfachen  Einwen- 
dungen dagegen  erspart  haben.  —  Wenn  man  meinte ,  die  Recti  müssen  bei  vereinter 
Wirkung  den  Bulbus  zurückziehen,  so  übersah  man  die  antagonistische  Wirkung  der 
Obliqui.  Von  einer  Abplattung  des  Bulbus  durch  das  retrobulbäre  Fellpolster  könnte, 
auch  wenn  man  eine  Zurückziehung  zugäbe,  dennoch  nicht  die  Rede  sein,  da  jenes 
elastische  Gewebe  jedenfalls  viel  weniger  resistent  ist,  als  der  Bulbus.  —  Dass  der 
Bulbus  durch  die  vereinte  Wirkung  der  Obliqui  der  vertikalen  Medianebene  genähert 
werden  könne,  ist  unmöglich,  weil  die  Obliqui  sich  unweit  vom  hintern  Ende  der  Seh- 
achse inseriren,  also  nur  dieses,  nicht  aber  die  ganze  Achse  und  mit  ihr  den  Mittelpunkt 
des  Auges  einwärts  rücken  können.  —  Die  Veränderlichheit  der  Form  des  Bulbus 
konnten  nur  jene  in  Abrede  stellen,  welche  sich  denselben  als  bis  aufs  Höchste  gefüllt 
dachten ,  und  selbst  die  bekannte  Thatsache  nicht  beachteten ,  dass  man  die  Hornhaut 
schon  durch  einen  leichten  Druck  mit  dem- Finger  abplatten,  und  auf  diese  Weise  den 
Refractionszustand  ändern  kann ,  wie  diess  Kurzsichtige  in  Ermanglung  einer  Brille  zu 
thun  pflegen.  —  Die  Möglichkeit  einer  Compression  des  Bulbus  durch  die  Recti  und 
Obliqui  konnte  man  nur  dann  bezweifeln,  wenn  man  die  Ursprungs-  und  Anheftungs- 
stellen  dieser  Muskeln    und  ihren  gekrümmten  Verlauf   zum  Bulbus    nicht   genau  kannte, 


208  Augenmuskeln. 

und  demgemäss  von  tangentialer  Richtung  derselben  zum  Bulbus  sprach,  oder  wenn 
man  sich,  wie  z.  B.  Stellwag  gethan,*)  eine  ganz  unrichtige  Zeichnung  vom  Bulbus 
und  den  Muskeln  machte,  in  dieser  das  Parallelogramm  der  Kräfte  verzeichnete,  und 
daraus  mittelst  Rechnung  folgerte:  die  hier  geforderte  Formveränderung  des  Bulbus 
sei  unmöglich.  —  Einseitiger  Druck  auf  die  Bulbuswand  und  Retina ,  und  sofort  Ent- 
stehen subjeetiver  Lichterscheinungen  war  bei  zugestandener  Einwirkung  der  Muskeln 
auf  den  Bulbus  nur  für  jene  zu  besorgen,  welche  meinten,  es  könne  ein  Muskel  allein 
oder  überwiegend  auf  den  Bulbus  drücken,  es  könne  z.  B.  während  der  Verkürzung 
des  R.  internus  der  R.  externus  erschlafft  sein  und  somit  der  R.  internus  allein  auf  den 
Bulbus  drücken.  —  An  Form  -  und  Lageveränderung  der  Cornea  und  selbst  der  Linse 
war  allerdings  zu  denken,  so  lange  man  nicht,  wusste,  dass  der  Ciliarinuskel  durch 
adäquate  Spannung  der  Scheidewand  zwischen  Humor  aqueus  und  H.  vitreus  den  Ein- 
fluss  der  Recti  und  Obliqui  auf  dieselben  aufwiegt,  oder  doch  auf  ein  Minimum  reducirt. 
A  priori  musste  man  dann  aber,  wenn  eine  solche  adäquat  gespannte  Scheidewand 
nicht  angenommen  wurde,  wohl  eher  an  Abplattung  als  an  erhöhte  Wölbung  der  Cor- 
nea denken;  denn  nach  Wegfall  jener  Scheidewand  müsste  die  besondere  Wölbung 
der  Cornea  in  die  allgemeine  des  Bulbus,  der  Sclera  übergehen.  —  Ein  von  Ruete  vor- 
gebrachter Einwurf,  dass  nämlich  nach  Aufhebung  der  Accommodation  in  Folge  von  Bella- 
donna oder  trotz  plötzlich  eingetretener  Kurzsichtigkeit  dennoch  die  Bewegungen  des 
Bulbus  vollkommen  frei  von  statten  gehen,  würde  auch  dann,  wenn  man  annähme,  dass 
die  das  Auge  bewegenden  Muskeln  ganz  allein  die  Accommodation  vermitteln,  durchaus 
nichts  beweisen,  weil  Herabsetzung  oder  Steigerung  des  Tonus  der  Muskeln  ihre  Ver- 
kürzungs-  und  Verlängerungsfähigkeit  nicht  aufhebt.  Um  bei  einem  schon  einmal  ge- 
brauchten Vergleiche  zu  bleiben:  wennj  zwei  Gewichte  an  einer  über  eine  Rolle  ver- 
laufenden Schnur  befestigt  sind,  so  können  sie  in  jeder  beliebigen  Stellung  stehen  blei- 
ben, gleich  hoch,  eines  tiefer,  eines  höher,  sofern  sie  gleich  schwer  sind;  ob  jetzt  jedes 
Gewicht  =  1  Loth  oder  =  1  Pfund,  das  ändert  in  der  Beweglichkeit  nichts,  wenn  wir 
von  der  Reibung  zwischen  Spindel  und  Rolle  absehen ;  im  ersten  Falle  ist  die  Span- 
nung der  Schnur  und  somit  auch  der  Druck  auf  die  Rolle  geringer ;  die  Drehung  der  Rolle 
erheischt  in  dem  einen  Falle  nicht  mehr  Kraft  als  in  dem  andern.  —  Auch  das  angeb- 
lich unveränderte  Fortbestehen  der  aeeoinmodativen  Thätigkeit  nach  Durchschneidung 
eines  oder  des  andern  Augenmuskels  kann  nicht  als  Beweis  gegen  den  Einfluss  der 
Augenmuskeln  auf  die  Accommodation  dienen,  denn  niemals  ist  es  ein  Muskel  alleii^ 
der  in  erhöhte  Spannung  geräth,  und  wird  der  Ausfall  des  einen  noch  immer  mehr 
weniger  genügend  durch  andere  gedeckt,  wie  aus  dem  früher  Gesagten  hinreichend  er- 
hellt, und  zweitens  wird  der  Bulbus  dem  Einflüsse  des  durchschnittenen  Muskels  nicht 
so  leicht  ganz  entzogen,  wie  wir  bei  der  Betrachtung  der  Schieloperation  sehen  wer- 
den. Übrigens  hat  A.  von  Gräfe,  an  dessen  exaeter  Beobachtung  wohl  niemand  zweifeln 
wird,  im  Archiv  für  Ophthalmologie  I.  B.  I.  Abth.  sich  über  den  Einfluss  der  Rcct' 
und  Obliqui  auf  die  Spannung  des  Bulbus  so  klar  und  bestimmt  ausgesprochen,  dass  ich 
hier  kaum  etwas  Besseres  thun  ,  als  einige  Stellen  wörtlich  citiren  kann.  „Bei  den  ae- 
eoinmodativen Bewegungen  treten  alle  Augenmuskeln  mehr  in  Wirksamkeit  und  wenn 
der  eine  oder  der  andere  für  die  Stellung  der  Hornhaut  den  Ausschlag  gibt,  so  ist  diees 
die  Folge  der  überwundenen,  aber  dennoch  fortexistirenden  Resistenz  seitens  der  andern 

*)  Denkschriften  der  kuiserl .  Acndemic  der  Wissenschaften,  Wien,    lt<j.'*      Julf,   Bd.   \. 


Physiologie  —  Acconimodation*  209 

Muskeln.  Iliefür  geben  namentlich  P"ällc  von  Muskcllähmiiiigen  schöne  Reiche.  Während 
in  solchen  Fällen  die  Einrichtung  des  Auges  bei  der  assoeiirten  Bewegung  nach  einer 
gewissen  Richtung  vollkommen  normal  sein  kann ,  weicht  nicht  selten  das  Auge  ab, 
wenn  wir  ganz  dieselbe  Richtung  behufs  der  Acconimodation  für  einen  nahe  liegenden 
Gegenstand  in  Anspruch  nehmen,  weil  sich  bei  höherer  Spannung  säinintlicher  Augen- 
muskeln der  ausbleibende  Zug  des  gelähmten  Muskels  störend  für  die  Stellung  des 
Auges  herausstellt,  während  derselbe  Muskel  bei  den  seitlichen  Bewegungen  im  Zustande 
physiologischer  Erschlaffung  ist,  und  desshalb  die  aufgehobene  Innervation  desselben 
keine  Störungen  macht.  Ebenso  habe  ich  neuerdings  durch  Beobachtungen  des  Vcnen- 
pulses  auf  der  Netzhaut  Gelegenheit  gehabt ,  mich  davon  zu  überzeugen,  dass  dieser 
Puls  bei  Acconimodation  in  die  Nähe  zunimmt,  was  entschieden  für  die  Vermehrung  des 
seillichen  Muskeldruckes  spricht."  (S.  36).  —  „Handelt  es  sich  einfach  um  die  Richtung 
der  Sehachse,  so  ist  hiezu  keine  besondere  Energie  seitens  der  Augenmuskeln  nöthig, 
denn  das  Auge  ist  eine  leicht  bewegliche,  um  ihr  Centrum  drehbare  Kugel.  Handelt  es 
sich  dagegen  um  die  Acconimodation  für  die  Nähe ,  so  gerathen  alle  Muskeln ,  wenn 
auch  in  verschiedenem  Grade,  in  Spannung  und  üben  einen  seitlichen  Druck  auf  den 
Bulbus  aus.  Hierbei  zeigt  sich  nicht  selten  die  Insuffizienz  des  paretisehen  Muskels  ;  so 
kommt  es  zuweilen  bei  pathologischer  Schwäche  des  Abducens  vor,  dass  beim  gleich- 
zeitigen Gebrauch  beider  Augen  ein  geradeaus  vor  dem  Kranken  liegender  entfernter 
Gegenstand  richtig  fixirt  wird,  während  bei  Annäherung  desselben  auf  dem  erkrankten 
Auge  pathologische  Convergenz  sich  einstellt.  Noch  beweisender  sind  Experimente 
mit  Brillengläsern ,  weil  hiebei  auch  die  Sehachse  des  gesunden  Auges  nicht  verrückt, 
demnach  auch  jede  synergische  Muskelcontraction  an  dem  erkrankten  Auge  vermieden 
wird;  setzt  man  z.  B  dem  erwähnten  Kranken  eine  Concavbrille  auf  und  zwingt  hie- 
durch  die  Augen,  bei  gleichbleibender  Stellung  des  Objectes  einen  höhern  ßrechzustand 
anzunehmen,  so  sieht  man  die  pathologische  Ablenkung  eintreten,  oder  eine  vorhandene 
sich  vermehren.  Dasselbe  sah  ich  einige  Male  bei  Lähmung  des  R.  superior  oder  infe- 
rior, wo  für  ein  entferntes  geradeaus  liegendes  Object  ebenfalls  die  Sehachse  eingerich- 
tet werden  konnte,  während  sie  bei  Annäherung  desselben  an  das  kranke  Auge  dem 
paralysirten  Muskel  entgegengesetzt  abwich."  (S.  53.) 

Eine  merkliche  Einschränkung  oder  selbst  Aufhebung  der  Acconimodation  ist  demgemäss 
bisher  bloss  bei  Lähmung  mehrerer  Muskeln  beobachtet  worden.  Dass  bei  Lähmung 
säinintlicher  vom  N.  oeulomotoriüs  versorgten  Muskeln  die  Acconimodation  aufgehoben  oder 
doch  sehr  geschwächt  sei,  darin  stimmen  alle  bisher  bekannt  gewordenen  Beobachtungen 
überein;  nur  Ruete  will  in  einem  Falle  das  Gegentheil  beobachtet  haben,  und  beruft  sich 
in  der  2.  Auflage  seines  Lehrbuches  S.  179  auf  eine  gleiche,  noch  nicht  veröffentlichte 
Beobachtung  von  //.  Müller.  Wenn  ich  recht  verstehe,  so  ist  der  Fall,  auf  den  sich 
Ruete  bezieht,  derselbe,  welchen  R.  Ulrich  in  seiner  Prof.  Ruete  gewidmeten  Schrift: 
„De  catoptrices  et  dioptrices  in  oculoruni  niorbis  cognoseentis  usu  atque  utililatc"  als 
Beweis  anführt,  dass  die  Acconimodation  nicht  von  den  Augenmuskeln  abhänge.  Ein  22 
Jahre  alter  Schuster  bot  angeblich  seit  seinem  3.  Lebensjahre  nach  überstandenen  Ma- 
sern eine  vollständige  Lähmung  säinintlicher  Augenmuskeln  mit  Ausnahme  des  Obl.  su- 
perior dar.  „Praeter  musculos  levatores  palpebrarum  ceteri  quoque  musculi,  qui  nervi 
oculomotorii  ramis  gaudent  et  musc.  recti  externi  in  amböbüs  oculis  paralysi  .  erant 
affecti.  Axes  optici  in  parallelismum  atque  etiaiu  in  divergentiam  erant  direeli,  nc- 
que  reeta    intrörsüm    aut    exlrorsum    aut    sursum    aut    denique  deorsum,    neque    deorsmn 

Arlfs  Augenheilkunde  lil,  2.  14 


210  Augenmuskeln. 

et  introrsiuu  mit  sursum  et  introrsuin  ant  denique  sursum  et  extrorsum  pupilla  volvi 
poterat,  Bulbus  oculi ,  id,  quod  ex  experhnentis  saepissime  institutis  patefactum  est 
atque  aperte  poterat  distingui,  circa  euni  solum  axin,  qui  oblique  ab  exteriore  cor- 
neae parte  ad  inlerioia  et  posteriora  horizontal iter  tendit ,  musculi  obliqui  superioris 
actione  deorsum  et  extrorsum  circumgyrabatur,  qua  in  rotatione  sentper  segmentum 
circuli ,  qui  ex  centro  pupillae  oblique  extrorsum  actus  potest  cogitari ,  sequi  vide- 
batur.  Pupula  non  solum  propriis  motibus  normalibus  gaudebat  atque  extracto  belladonnae 
instillalo  justo  modo  poterat  dilatari,  sed  vel  potius  tarn  vivaces  prae  se  ferebat  oscilla- 
tiones,  ut  bippum  fere  aequarent.  Neque  vero  oculorum  sensibilitas  optica,  neque  facul- 
tas illa  peculiaris  variis  rerum  distantiis  sese  aecommodandi  ullo  modo  pertubata  ac  di- 
ininuta  erat;  imo  vero  tanta  aderat,  ut  aciculam  Hin"»-  tantnin  ob  oculis  remotam  probe 
posse  discerni,  experimenta  Myopometri  ope  instiluta  palam  facerent.  Objecta,  quae  pro-- 
pius  oculis  adinovebantur,  geminata  apparebant;  omnia  vero  et  cominus  et  eminus  collo- 
cata,  eo  situ,  quo  revera  utebantur,  in  conspectum  veniebant,  ita  ut  ereeta  erecto  quo- 
que  situ,  inversa  inverso  pereiperentur.  —  Quae  omnia  quum  ita  se  haberent,  paralyseos 
causam  in  cerebro  esse  sitam,  nemo  est,  qui  lieget.  Hac  autem  ex  morbi  historia  multa 
eaque  gravissima  ,  quae  pbysiologiam  informent,  possunt  repeti  et  concludi:  I.  Repugnat 
baec  observatio  eorum  opinioni,  qui  mutationes  illas  oculorum  internas  in  bulbi  musculo- 
tum  actione  positas  esse  volunt.  II.  Neque  minus  eorum  conjeeturam  refutat,  qui  eorun- 
dem  musculorum  opem  requiri  opinantur.  ut  res  eo  situ,  quo  revera  gaudent,  pereipiau- 
tur.  III.  Maxiine  probabile  reddit,  indem  ad  motum  incitari  haud  fibris  crassioribus,  sed 
potius  fibrillis  tenuioribus  nervi  oculomotorii,  quae  radice  brevi  ganglii  ciliaris  interce- 
dente,  a  nervo  sympathico  in  ipsum  immittuntur." 

Diese  Beobacbtung  scheint  mir  bei  weitem  nicht  exaet  zu  sein  ,  um  für  das  in  Rede 
stehende  Thema  überhaupt  benutzt  werden  zu  können.  Zunächst  ist  es  durchaus  uner- 
wiesen, dass  die  Ursache  der  Lähmung  im  Gehirne  lag,  müsste  sogar,  wenn  man  diess 
annähme,  ein  anderweitig  erwiesener  Satz  aufgegeben  werden,  der  nämlich,  dass  die 
Kreisfasern  der  Iris  unter  dem  Einflüsse  des  N.  oculomotorius  stehen,  denn,  wie  war 
es  möglich,  dass  die  Bewegungen  der  Iris  sich  in  jeder  Beziehung  normal  verhielten. 
wenn  eine  centrale  Lähmung  des  N.  oculomotorius  stattfand?  Lag  aber,  und  das  ist  ge- 
wiss, kein  Centralleiden  zu  Grunde,  dann  fragt  sich's ,  ob  die  Bulbi  fix  standen  wegen 
Muskellähniuug  oder  wegen  eines  andern,  vielleicht  mechanischen  Hindernisses  in  der 
nächsten  Nähe  des  Bulbus.  Wir  wollen  hier  noch  nachholen ,  dass  der  Kranke  angeb- 
lich während  der  Masern  an  einer  Entzündung  der  Augen  gelitten  hatte.  Ich  wüsste 
nicht,  wo  und  was  für  ein  Leiden  in  der  Schädelhöle  im  Stande  wäre,  eine  beidersei- 
tige Lähmung  gerade  nur  des  3.  und  6.  Hirnnervens  bei  Integrität  aller  übrigen  sensitiven 
und  motorischen  Nerven  und  der  Geislesfunctionen  etc.  hervorzurufen.  —  Der  Kranke 
konnte  aecommodiren;  wir  haben  keine  Ursache  diess  zu  bezweifeln.  Die  Acconnnoda- 
tion  ist  ein  Act  der  Willkür.  Wenn  nun  der  N.  oculomotorius  central  gelähmt  war,  wo- 
durch sollte  noch  eine,  die  Accoinmodation  vermittelnde  Veränderung  im  Innern  des  Bul- 
bus bewirkt  werden  können,  da  nun  in  den  Ciliarnerven  keine  dem  Willenseinflusse  ge- 
horchenden Fasern  mehr  thätig  sein  konnten  ?  Schliesslich  wollen  wir  nur  noch  hervorheben, 
dass  auch  das  unter  II.  aufgestellte  Corollarium  von  Ulrich  unrichtig  ist;  denn  wenn  im 
normalen  Zustande  die  Augen  nach  links  bewegt  werden,  und  hieraus  die  Vorstellung 
entsteht,  dass  das  übjeet,  dem  die  Macula  lutea  jetzt  zugelenkt  wird,  links  von  der  senkrech- 
ten   Medianebene    gelegen    war,     so  musste    hier    zu  demselben    Behufe    der    ganze    Kopf 


Physiologie  —  Arcoiiimotlatioii.  211 

links  bewegt  worden,  blieb  somit    das  Verhältniss  zur  Vorstellung  im    Wesentlichen  das- 
selbe.    (Vergl.  III.  ß.  S.  49.) 

Übrigens  ist  aus  Ruete's  Angaben,  wenn  er  behauptet,  eine  Schwächung  des  Accom- 
modationsvermügens  nach  vollkommener  Lähmung  aller  Äste  des  N.  oculomotorius  sei 
kaum  wahrzunehmen,  und  beziehe  sich  auf  die  Accommodation  für  nahe  Objecte,  nicht 
recht  zu  entnehmen,  was  er  eigentlich  von  der  Accommpdationsthätigkeit  verlangt,  um 
so  mehr  als  er  selbst  in  der  2.  Auflage  S.  207  noch  anführt:  „Hält  man  ein  kleines  Lü- 
chelchen eines  Kartenblattes  unmittelbar  vor  das  Auge,  so  ist  man  doch  noch  im  Stande, 
Objecte  in  verschiedener  "Entfernung  deutlich  zu  erkennen."  Ein  solches  Diaphragma 
leistet  dieselben  Dienste  ja  auch  an  einer  Glaslinse,  also  ganz  gewiss  ohne  Muskelthätig- 
keit.  Durch  eine  solche  Öffnung  kann  nicht  nur  ein  normales,  sondern  auch  ein  fern- 
sichtiges, also  der  Accommodation  mehr  weniger  verlustiges  Auge  bei  2 — l'/2Zoll  Di- 
stanz noch  lesen  —  wegen  Reduction  der  Zerstreuungskreise  auf  Punkte. 

Eine  andere  Beobachtung  von  Lähmung  sämmtlicher  vom  N.  oculomotorius  versehe- 
nen Muskeln  hat  Ruete  selbst  in  seinen  1843  erschienenen  klinischen  Beiträgen  veröffent- 
licht, und  darauf  die  Behauptung  aufgestellt,  „dass  das  Accommodationsvermögen  durch 
vollständige  Lähmung  aller  Aste  des  N.  oculoiuot.  nur  so  wenig  geschwächt  werde,  dass 
diess  kaum  wahrnehmbar  sei."  Cramer  (über  das  Accommodationsvermögen,  übersetzt 
von  Doden,  S.  166)  hat  gegen  diese  Beobachtung  Bedenken  erhoben,  welche  gewiss 
alle  Beachtung  verdienen.  „Dass  eine  Frau  aus  der  Arbeiterclasse  im  Alter  von  44  Jah- 
ren noch  ein  solches  Accommodationsvermögen  besessen  haben  sollte,  wie  Ruete  angibt, 
grenzt  fast  an's  Unglaubliche.  Sie  war  nicht  kurzsichtig  —  denn  sie  sah  eine  Nadel 
deutlich  in  der  Entfernung  von  4  Meter  vom  Auge  —  und  ihr  kürzester  Gesichtsabstand 
sollte  100  Millimeter,  nicht  ganz  4  Zoll,  betragen  haben."  —  „Bei  Menschen  von  gerin- 
ger Bildung  wird  man  in  der  Regel  nicht  im  Stande  sein,  allein  durch  das  Beschauen 
einer  Nadel  —  wie  bei  Ruete  —  mit  völliger  Sicherheit  den  kürzesten  Gesichtsabstand 
zu '  ermitteln."  (Vergl.  Prag.  Vierteljahrschr.  I.  B.  2.  Quartal,  S.  285).  —  „Bei  den 
Prüfungen  der  Sehweite,  sei  es  durch  die  gewöhnlichen  Leseproben,  oder  durch  die  Be- 
stimmung des  Minimum  im  Netzhaulwinkel  oder  durch  optometrische  Instrumente,  gelingt 
es  uns  freilich  für  Paralysen  einzelner  Augenmuskel  im  Allgemeinen  nicht,  erhebliche 
Veränderungen  im  Nah-  und  Fernpunkte  nachzuweisen  ;  dennoch  finden  Störungen  in 
der  Accommodation  statt.  Wird  das  Auge  nach  der  Seite  des  geschwächten  Muskels 
gerichtet,  so  finden  wir  die  Accommodation  allemal  etwas  beschränkter  und  unstät, 
mühsam."     {Gräfe,  Archiv  I.  B.  1.  Abtlu  7—16.) 

Positiv  beweisend  für  unsere  Ansicht  ist  die  durch  Sectionen  von  mir 
nachgewiesene  Verlängerung  des  Bulbus  in  der  Richtung  der  Sehachse 
bei  reiner  oder  mit  centralen  Hornhautflecken   complicirter  Kurzsichtigkeil. 

Vielfältige  und  aufmerksame  Beobachtung  und  Vergleichung  kurzsich- 
tiger und  fernsichtiger  Augen  mit  normalen  führte  mich  zunächst  zur 
Überzeugung,  dass  die  Hornhaut  bei  jenen  nicht  stärker,  bei  diesen  nicht 
schwächer  gewölbt  sei.  Den  vorzüglichsten  Anhaltspunkt  hiefür  lieferte 
die  Betrachtung  und  Vergleichung  der  Cornealspiegelbilder,  welche  ich  auch 
bei  eclatanter  Kurzsichtigkeit  nicht  kleiner  fand,  als    hei  Fernsichtigkeit. 

14* 


212  Augenmuskeln. 

Die  vorläufige  Andeutung  dieses  Sachverhaltes,  welche  ich  im  1.  Bande  auf  S  175 
kurz  hingeworfen  hatte,  hat  Herrn  SteHwag  i^on  Carion  zu  einer  Bemerkung  veranlasst, 
zu  der  er  in  Bezug  auf  Form  sowohl    als  Inhalt  gewiss  nicht  berechtigt  war.     Nach  dci 


i  ,i         i  . 


Formel  =  —    I  4-     - —  1   berechnet  St.,  dass  ein   1000'"  entfernter  Fenster- 

«  V  P  a  7 

balken  von  576'"  Länge  ein  Spiegelbild  von  1,005'"  geben  würde,  wenn  mau  den  Ka- 
dius  der  Cornealvorderflächc  auf  '5,195'"  annimmt,  dagegen  nur  1,149'",  wenn  mau  — 
„was  sicherlich  eine  relativ  ungeheure  Differenz  ist"  —  den  Radius  der  Cornealvordcr- 
fläche  auf  4'"  steigen  lässt.  „Das  Spiegelbild  der  Cornea  von  4'"  Radius  erscheint  um 
0,144'"  länger,  als  bei  gleichen  Umständen  das  Spiegelbild  einer  Cornea  von  3,495'" 
Radius.  —  Wer  mit  freiem  Auge,  oder  doch  ohne  zusammengesetzte  Apparate  und  Berech- 
nungen Grbssenunlerschie.de  von  0,144'"  schätzen  kann,  muss  jedenfalls  ein  mehr  als  ge- 
wöhnliches Beurtheilungsver mögen  hüben,  ich  traue  diese  Schärfe  weder  mir,  noch  IL  Prof 
Arlt  zu,  und  muss  daher  das  Spiegelbild  der  Cornea  bezüglich  seiner  Grösse  jedenfalls 
als  ein  ganz  unbrauchbares  diagnostisches  Hilfsmittel  erklären."  Don  der  s  erzählt  in  seiner 
Abhandlung  über  die  Nahrungsstoffe  (übersetzt  von  Bergralh)  S.  28,  „er  sei  einmal  zu- 
gegen gewesen,  als  ein  Alathematiker  wissenschaftlich  bewies,  dass  ein  Tisch  auf  einer 
Treppe  unmöglich  nach  oben  getragen  werden  könne,  während  ein  anderer,  wenig  hie. 
durch  abgeschreckt,  es  inzwischen  einmal  versuchte  und  —  ihn  hinauf  brachte.  Ubi  re- 
rum  testimonia  adsunt,  muss  sogar  die  Mathematik  nachgeben."  Ich  that  ohngefähr  das- 
selbe, Hess  mir  Metallconvexspiegel  von  3'/2'"  und  4'"  Radius  schleifen,  und  dann, 
als  sogar  Kinder  die  Differenz  in  der  Grösse  der  Spiegelbilder  wiederholt  und  bestimmt 
unterschieden,  zum  Überfluss  noch  einen  von  S3/,'"  Radius,  und  auch  da  lässt  sieh  mit 
völliger  Bestimmtheit  angeben,  welches  Bild  kleiner,  welches  grösser  sei.  Das  kann 
Jeder  nachmachen  ;  darüber  gibt's  weiter  keine  Polemik.  Hat  Stellwag  vielleicht  schlecht 
gerechnet?  oder  sind  seine  Suppositionen  unpassend  gewählt? 

Einen  weitern  Anhaltspunkt  gab  die  Lage  der  Iris  relativ  zur  Cornea, 
und  daraus  liess  sieh  auch  leicht  erklären,  wie  sich  die  Ansicht,  Kurz- 
sichtigkeit beruhe  auf  stärkerer  Wölbung,  Fernsichtigkeit  auf  Verflachung 
derselben,  halte  entwickeln  und  so  lange  erhalten  können.  Um  die  Lage 
der  Iris  richtig  zu  beurtheilen,  muss  man  das  Auge  gerade  von  vorn,  nicht 
von  der  Seite  her  betrachten.  Man  lege  ein  Planconvexglas  mit  der  ebe- 
nen Fläche  auf  ein  Blatt  Papier,  allenfalls  auf  einige  Zeilen  eines  Buches, 
und  man  wird  ans  Experimenten  hieunt  leicht  entnehmen,  was  obiger  Rath 
bedeuten  will.  In  der  angegebenen  Stellung  nun  denke  man  sich  Ebenen 
gelegt:  1.  durch  die  Basis  der  Cornea  oder  den  vordersten  Band  der 
Sclera,  etwa  wie  wenn  man  ein  Staarmesser  durchführen  wollte;  2.  durch 
den  grössten  Kreis  oder  den  Ciliarrand,  und  3.  durch  den  kleinsten  Kreis 
oder  den  Pupillarrand  der  Iris,  üiess  thue  man  nun  a)  bei  eclatanter 
reiner  Kurzsichligkeit,  b)  bei  einem  in  höherem  Grade  fernsichügen,  und 
c)  bei  einem  normalen  Auge.  Man  wird  nun  leicht  bemerken,  dass  bei 
einem  exquisit  kurzsichtigen  Auge  die  1.  und  2.  Ebene  weit,  die  2.  und 
3.  dagegen  wenig  oder  gar    nicht    von    einander    abstehen,    d.  h.  dass  die 


Physiologie  —  Accoiuniodation.  213 

Iris  (der  grosse  und  kleine  Kreis)  auch  bei  ziemlich  enger  Pupille  nahezu 
in  Einer  Ebene,  aber  tief  hinler  der  Hornhaut  liegt,  dass  hingegen  bei 
einem  exquisit  weitsichtigen  Auge  die  1.  und  2.  Ebene  einander  sehr 
nahe  liegen,  die  3.  dagegen  merklich  vor  der  2.,  d.  h.  die  Iris  des  weit- 
sichtigen Auges  in  toto,  besonders  aber  mit  ihrem  Pupillarrande  weit  nach 
vorn  liegt,  und  stark  nach  vorn  ausgebaucht  ist.  —  Richtig  ist,  dass  bei 
Kurzsichligkeit  die  vordere  Kammer  grösser,  bei  Weitsichtigkeit  dagegen 
kleiner  ist;  nur  liegt  der  Grund  davon  nicht  in  veränderter  Wölbung  oder 
Lage  der  Cornea,  sondern  in  veränderter  Lage  und  Wölbung  der  Iris, 
und  die  Alleren  haben  etwas,  das  der  Schärfe  ihrer  Beobachtung  nicht 
entgangen  war,  blos.-;  irrig  gedeutet. 

Die  Lage  des  Ciliarrandes  der  Iris  ist  gegeben  durch  die  Dicke  oder 
Mächtigkeit  des  Ciliarmuskels  (des  Ligamentum  ciliare  früherer  Auetoren)? 
denn  es  ist  gewiss,  dass  die  Iris  mitten  aus  demselben  herauskommt  dass 
die  Iris  mit  der  Cornea  nicht  unmittelbar  zusammenhängt,  dass  mithin,  je 
stärker  entwickelt  der  Ciliarmuskel  ist,  desto  weiter  hinten  auch  der  Ci- 
liarrand  der  Iris  liegt.  Wo  der  Ciliarmuskel  wenig  entwickelt  ist,  da  legt 
sich  auch  der  grösste  Kreis  der  Iris  mehr  weniger  nahe  an  die  Peripherie 
der  Descemet'schen  Haut  .an. 

Die  Lage  des  Pupillarrandes  der  Iris  zeigt  uns  jederzeit  auch  die 
Lage  der  vordem  Kapsel ,  sobald  die  Linse  nicht  aus  ihrer  Befestigung 
gelöst  oder  in  ihrem  Volumen  geschrumpft  ist.  Tiefe  Lage  des  Pupillar- 
randes deutet  demnach,  falls  die  Pupille  nicht  über  2 — 21/2"/  erweiter 
ist,  jederzeit  auf  tiefe  Lage  der  Linse,  und  umgekehrt,  so  dass  wir  also 
—  mit  Bezug  auf  das  Frühere  —  sagen  dürfen:  Bei  Kurzsichtigkeit  liegt 
die  Linse  (vordere  Kapsel)  tiefer,  bei  Weitsichtigkeit  näher  hinter  dem 
Hornhautcentrum. 

Es  ist  eine  allgemein  bekannte  und  anerkannte  Thatsache,  dass  durch 
anhaltendes  Betrachten  naher  kleiner  Gegenstände  (insbesondere  beim  Ge 
brauche  des  Mikroskopes)  normale  Augen  Erwachsener  vorübergehend  — 
auf  Minuten  oder  Stunden,  jugendliche  Augen  (bis  zu  den  Pubertätsjahren) 
bleibend  kurzsichtig  werden.  Man  kann  nicht  anders,  als  annehmen,  dass 
die  Behufs  des  Nachsehens  eingeleitete  Veränderung  in  den  dioplrischen 
Verhältnissen  des  Auges  so  lange  fortbestehe,  als  die  Kurzsichtigkeit  an- 
hält, also  bei  permanenter  Kurzsichtigkeit  stationär  geworden  sei.  Sind 
diese  Sätze  richtig,  dann  müsste,  wenn  die  Accommodation  durch  stärkere 
Wölbung  der  Cornea  vermiltelt  würde,  an  Augen,  welche  auf  diese  Weise 
kurzsichtig  geworden  sind,  auch  die  Cornea  stärker  gewölbt  gefunden 
werden.     Dasselbe  mit   auch  in    Bezus-  auf  die  Form-    und   La^everände- 


214  Augenmuskeln, 

ruiig-  der  Linse.  Ist  aber  unsere  Ansicht  über  die  Aeeuminodation  richtig, 
dann  mnss  in  solchen  Augen  der  Durchmesser  des  Auges  in  der  Seh- 
achse verlängert,  die  hintere  Wandung  des  Bulbus  zurückgedrängt  gefun- 
den werden.  Und  so  ist  es  in  der  That.  Bei  allen  rein  Kurzsichtigen, 
welche  nur  bei  höchstens  6  Zoll  Distanz  noch  lesen  können,  besonders 
aber  bei  jenen,  welche  bereits  Glaser  unter  6  Zoll  Brennweite  nöthig 
haben,  lässt  sich  die  Verlängerung  des  Bulbus  nach  hinten  schon  während 
des  Lebens  bestimmt  nachweisen,  indem  man  das  Auge  möglichst  stark 
nach  innen  und  oben  wenden  lässt ,  und  nun  das  untere  Lid  nächst  der 
äussern  Commissur  mittelst  des  Zeige-  oder  kleinen  Fingers  so  weit  als 
möglich  hinter  den  Bulbus  drängt.  Auf  diese  Weise  ist  bloss  eine  bei- 
läufige Schätzung  möglich,  welche  nur  durch  Vergleich  mit  normalen 
Augen  Werth  erhält.  An  den  Augen  verstorbener  kurzsichtiger  Personen 
lässt  sich  aber  eine  genaue  Messung  anstellen,  wenn  man  die  Augen  mög- 
lichst bald  herausnimmt.  Ich  werde  weiter  unten  den  Befund  solcher 
Augen,  von  deren  Kurzsichtigkeit  im  Leben  ich  mich  überzeugt  hatte, 
ausführlich  mittheilen,  und  will  nur  noch  hervorheben ,  dass  eben  dieser 
Befund  auch  das  letzte  Bedenken  beseitigt ,  welches  sich  allenfalls  noch 
gegen  das  Rückwärtsweichen  der  hintern  Bulbuswand  bei  der  Aeconimoda- 
tion  erheben  Hesse.  Es  ist  diess  das  Bedenken,  ob  nicht  etwa  die  bei 
dieser  Rückwärtsdrängung  noth wendig  stattfindende  Compression  und  Ver- 
schiebung der  Netzhautelemente  der  Function  derselben  nachtheilig  wer- 
den möchte.  Dass  die  Contenta  des  Bulbus  bei  der  Accommodation  unter 
erhöhten  Druck  versetzt  werden,  ist  durch  den  Augenspiegel  nachgewie- 
sen. Dieser  Umstand  ist  weit  entfernt,  die  Sensibilität  der  Netzhaut  zu 
vermindern,  scheint  sie  im  Gegcntheil  sogar  zu  erhöhen,  eine  Ansicht, 
die,  wenn  ich  mich  recht  erinnere,  schon  Brewster  in  den  dreissiger  Jah- 
ren ausgesprochen  hat,  und  welche  mit  Stromeier's  Behauptung,  dass  die 
optische  Sensibilität  mit  der  Muskelaction  steige  und  falle,  *)  völlig  im, 
Einklänge  steht.  Dass  aber  eine  Verschiebung  der  Netzhautelemente 
welche,  wenn  auch  in  noch  so  geringem,  dennoch  in  einigem  Grade  stall 
finden  zu  müssen  scheint,  ohne  Störung  der  optischen  Sensibilität  der 
Netzhaut  statt  finden  könne,  ist  eben  factisch  nachgewiesen  durch  den 
wirklichen  Bestand  einer  solchen  Ausbuchtung  oder  Verlängerung  an 
Augen,  welche  in  jeder  Beziehung  normal  sind  —  bis  auf  den  Refrac- 
tionszustand  —  welche  sogar  ein  noch  feineres  (schärferes)  Gesicht  dar- 
zubieten pflegen,  als  Augen  ohne  solche  Ausbuchtung.  Kann  nun  diese 
nicht  als  Vitium  primae  formalionis   angenommen   werden,  so  musste  eine 

*)   De   cumhiiiatione  actioms   nervorum   et  molonorum   et  sensoiioniin   eto.     hilangac    18.59. 


Physiologie  —  Aceoiiiniodation.  215 

solche  Verschiebung  auch  ohne  Nächtheil   für   die  optische  Sensibilität  er- 
folgen können. 

In  welcher  Beziehung  stehen  nun  die  angeführten  Thatsachen  der  Beobachtung  an 
kurz-  und  weitsichtigen  Augen  zu  einander  und  zur  Accominodation  ?  —  Ein  Knabe 
beschäftigt  sich  wiederholt  und  anhaltend  mit  der  Betrachtung  kleiner  Gegenstände,  und 
hält,  entweder  weil  es  der  Sehwinkel  oder  die  Beleuchtung  erheischt,  oder  auch  nur  aus 
üliler  Gewohnheit  dieselben  so  nahe,  dass  die  Accommodatiönsorgane  in  erhöhten  An- 
spruch genommen  werden.  Erhöhte  Spannung  der  Becti  und  Obliqui  sowohl  als  des 
Ciliarmuskels  dauern  länger  an  und  kehren  öfter  wieder.  Die  hintere  Wandung  des 
Bulbus  in  einem  Umkreise,  dessen  Centruin  die  Macula  lutea,  dessen  Peripherie  ohnge- 
t'ähr  die  Gegend  der  Insertion  der  beiden  Obliqui  bezeichnet,  mnss  dabei  rückwärts  ge- 
drängt werden,  im  Gentium  am  meisten,  gegen  die  Peripherie  hin  weniger  und  weniger. 
Die  Locomotion,  welche  die  Macula  lutea  zu  inachen  hat,  wenn  sie  aus  der  Lage,  die 
der  Buhe  der  Accoimriodaüonsoi'gane  entspricht,  in  jene  übergeht,  die  dein  höchsten 
Grade  ihrer  Spannung  entspricht,  wird,  aufs  Höchste  angeschlagen,  nicht  viel  über  eine 
halbe  Linie  betragen.  Besitzt  die  Sclera  bereits  ihren  gehörigen  Grad  von  Festigkeit, 
so  weicht  die  hintere  Wandung  eben  nur  um  so  viel  zurück,  als  der  seitliche  Druck  er- 
heischt; sie  tritt  sodann  in  ihrer  frühere  Lage  zurück,  in  demselben  Masse,  als  die  seit- 
liche Compression  nachlässt.  Diese  Wiederherstellung  der  normalen  Form  ist  theils  in 
der  Dicke  und  Elasticität  der  Sclera  selbst,  theils  in  der  Elasticität  des  incrompressibeln 
Glaskörpers  und  des  compressibeln  retrobulbären  Fettgewebes  gegeben;  wenn  aber 
die  Sclera  noch  weich  und  nachgiebig  ist,  wie  vor  der  völligen  Entwicklung  der  Bulbi 
(zur  Zeit  der  Pubertät),  so  kann  die  häufige  Wiederkehr  und  stundenlange  Andauer  hö- 
herer Spannung  leicht  eine  Ausdehnung  derselben  zur  Folge  haben,  welche  nach  dem 
Aufhören  des  erhöhten  Druckes  nicht  mehr  zurückgeht.  Da  aber  die  Gefässe  im  Innern 
des -Auges  unter  einem  permanenten  Drucke  stehen,  entsprechend  der  Spannung  der 
Wandungen  des  Bulbus,  so  ist  mit  obigem  Momente  der  Anstoss  zum  Ausscheiden  von 
Serum  aus  den  Gefässen  gegeben,  und  es  wird  einerseits  in  den  Glaskörper,  anderer- 
seits in  die  Augenkammer  so  viel  Flüssigkeit  mehr  ausgeschieden,  als  die  Baumerweite- 
rung  eben  gestattet.  So  entsteht  Vermehrung  der  Glasfeuchtigkeit  und  bei  höheren 
Graden  von  Ectasie  der  hintern  ßulbuswand  (Staphyloma  posticum  Scarpae)  auch  Ver- 
flüssigung des  Glaskörpers,  zunächst  in  der  Gegend  des  hintern  Poles,  allmälig  weiter 
und  weiter  nach  vorn  vorschreitend,  endlich  wohl  auch  den  ganzen  Glaskörper  bis  auf 
eine  wenig  mächtige  Lage  an  der  vordem  Peripherie  nächst  dein  Corpus  ciliare  betref- 
fend. —  Hält  die  Scheidewand  zwischen  Kammerwasser  und  Glaskörper  gehörig  Stand, 
wenn  nämlich  der  Ciiiarmuskel  gehörig  entwickelt  ist,  dann  steht  während  der  erhöhten 
Spannung  der  Accommodatiönsorgane  der  hintere  Augenrauin  unter  etwas  grösserem  Drucke, 
als  der  vordere,  der  Bückfluss  durch  die  hintern  Ciliarvenen  wird  etwas  beeinträchtigt, 
die  vordem  Ciliarvenen  erscheinen  etwas  stärker  injicirt  —  eine  Erscheinung,  die  man 
während  der  Entwicklung  und  des  Fortschreitens  der  Kurzsichtigkeit  häufig  sehen  kann 
—  und  die  Menge  des  Kammerwassers  steigt,  die  vordere  Kammer  wird  grösser, 
die  Cornea  und  Linse  rücken  allmälig  weiter  von  einander.  Die  Vergrösserung  der 
vordem  Kammer  wird  überdiess  noch  dadurch  befördert,  dass  sich  der  Ciiiarmuskel 
in  Folge  der  häufigeren  Übung  mehr  entwickelt.  Die  Vergrösserung  der  vordem 
Kammer    ist    somit    etwas    Consecutives     oder    Secundäres ,     daher    auch    nicht    absolut 


216  Augenmuskeln. 

Notwendiges,  weil  nur  von  einem  der  Momente,  nämlich  von  der  kräftigen  Gegen- 
wirkung  des  Ciliarmuskcls  abhängig.  Dennoch  wird  sie  bei  hinterer  Ectasie  des  Bulbus 
selten  vennisst.  Wo  sie  aber  —  bei  unveränderter  Wölbung  der  Cornea  und  unab- 
hängig von  entzündlichen  Leiden  der  Iris  oder  Chorioidea,  so  wie  von  Krankheiten  dir 
Linse  und  des  Glaskörpers  mit  Schrumpfung  vorhanden  ist,  gestattet  ?ie  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit den  Rückschluss  auf  hintere  Ausdehnung  der  Sclera.  Ich  bin  auf  diese  Weise 
in  der  Leichenkainmer  in  den  Besitz  einiger  Bulbi  mit  hinterer  Ectasie  gekommen,  von  denen 
sich  auch  bei  zweien  nachher  eruiren  liess,  dass  Kurzsichtigkeit  vorhanden  gewesen  war. 
Man  könnte  gegen  die  Beweiskraft  der  hintern  Ectasie  für  unsere  Ansicht  vielleicht 
noch  einwenden,  dass  Augen,  an  denen  man  dieselbe  beobachtet,  allerdings  kurzsich- 
tig sein  müssten,  dass  aber  der  Ectasie  wohl  andere  Ursachen,  als  die  von  uns  suppo- 
nirte,  zu  Grunde  liegen.  Es  könnte  vielleicht  diese  Ectasie  schon  ein  Vitium  primae 
formationis  sein,  oder  es  könnte  dieselbe  in  einer  angeborenen  mangelhaften  Resistenz 
der  Sclera  gleichsam  vorbereitet  sein,  wofür  sich  das  oft  beobachtete  gleichzeitige  Vor- 
kommen von  Kurzsichtigkeit  in  Familien  geltend  machen  Hesse,  oder  endlich  es  könnte, 
wie  A.  von  Gräfe  anzunehmen  scheint,  dieselbe  die  Folge  eines  entzündlichen  Leidens 
der  Sclera  und  Chorioidea  —  (Sclerotico-chorioiditis  posterior)  sein.  —  Folgendes  ist's, 
was  ich  diesen  Annahmen  entgegen  zu  setzen  habe.  Zunächst  kann  durchaus  nicht  zuge- 
geben werden,  dass  der  hintern  Ectasie  des  Bulbus  immer  ein  entzündlicher  Process  der 
Sclera  und  Chorioidea  als  Ursache  oder  auch  nur  als  vorhergehendes  und  disponirendes 
Moment  zu  Grunde  liege,  kann  vielmehr  mit  Bestimmtheit  behauptet  werden,  dass  die 
entzündlichen  Erscheinungen  im  Grunde  des  Auges,  welche  in  manchen  solcher  Fälle 
entweder  mit  dem  Augenspiegel  oder  am  Leichentische  nachgewiesen  werden  können, 
etwas  Accessorisches  oder  Consecutives  sind.  Der  Augenspiegel  kann  natürlich  nur 
nachweisen,  dass  ein  Auge  kurzsichtig  ist,  nicht  aber,  wodurch  die  Kurzsichtigkeit  be- 
dingt sei.  Ich  habe  an  zahlreichen  Individuen  mit  Kurzsichtigkeit  höheren  Grades  die 
Verlängerung  des  Bulbus  in  der  Sehachse  auf  die  oben  angegebene  Weise  constatirt, 
darunter  aber  viele  gefunden,  bei  denen  die  optische  Sensibilität  vollkommen  intacl  war, 
welche  sich  in  der  ihrem  Refraclionszustande  angemessenen  Sehweite  des  besten  Ge- 
sichtes erfreuten,  bei  denen  durch  die  Probe  mit  einer  Kartenblattöffnung  jeder  Verdacht 
auf  Amblyopie  ausgeschlossen  werden  konnte.  Und  das  bei  Individuen,  die  seit  20—3') 
Jahren  ohngefähr  in  gleichem  Grade  kurz-  und  dabei  scharfsichtig  geblieben  waren. 
Da  kann  ich  unmöglich  annehmen,  dass  ein  entzündliches  Leiden  der  Sclera  u.  Chorioidea 
in  der  Gegend  der  Macula  lutea  statt  gefunden  habe.  Die  Ophthalmoskopie  ergab  in  den 
von  mir  untersuchten  Fällen  dieser  Kategorie  gar  nichts  oder  die  Zeichen  von  Rareüci- 
rung  des  Chorioidealgewebes.  Wahr  ist  es,  mau  trifft  an  Augen  mit  eclatanter  hinterer 
Ectasie  und  Kurzsichtigkeit  nicht  selten  die  Erscheinungen  von  Amblyopie,  unter  dein 
Augenspiegel  von  Apoplexie  oder  Entzündung  im  Grunde  des  Auges;  diese  sind  aber 
später  aufgetreten,  als  die  Kur/sichtigkeit;  sie  sind  consecutiv,  in  so  fern  die  Disposition 
zur  Blutaustretung  in  der  Ectasie  gegeben  ist.  Diese  Disposition  liegt  nicht  nur  in  der 
bei  solchen  Augen  zum  Sehen  nöthigen  erhöhten  Ausdehnung  und  unzureichenden  Re- 
sistenz der  Bulbuswand,  welche  um  so  geringer  sein  muss,  je  weiter  die  Ectasie  bereit 
gediehen  ist;  sie  liegt  auch  in  der  Verödung  zahlreicher  Gcfässslämmchen  von  den  hin- 
tern Ciliargefässen,  welche  bei  hochgradiger  Rareficirung  der  Retina,  Chorioidea  und  Sclera 
(Ausdehnung  auf  einen  grossem  Flächenraum)  unter  Mithilfe  der  Senescenz  des  Indi- 
viduums dazulritt.  —  Ein     angeborener  Zustand  kann  die  in   Rede  stehende   Ectasie   dess- 


Physiologie  —  Accommodation.  217 

halb  nichl  sein,  weil  sie  ohne  h'urzsichligkeit  nicht  gedacht  werden  kann,  and  bei  In- 
dividuen beobachte!  wird,  die  erst  mit  der  Zeit  kurzsichtig  geworden  sind.  Eben  so 
wem'«'  ist  man  berechtigt ,  eine  besondere  Disposition  dazu  anzunehmen,  ausser  der 
Weichheit  und  Nachgiebigkeit  der  Sclera  im  jugendlichen  Alter,  man  nuisste  denn  aus 
Vorliebe  für  diese  Idee  die  Thatsachen  ignoriren,  welche  statistische  Beobachtungen 
über  das  Vorkommen  der  Kurzsichtigkeit  bei  den  verschiedenen  Völkern  und  Stünden 
geliefert  haben.  —  Ein  Umstand  ist  es  noch,  welcher  gegen  alle  die  genannten  drei 
Annahmen  spricht,  nämlich  das  durch  Sectionen  sowohl  als  durch  Beobachtung  an  Le- 
benden constatirte  Vorkommen  der  in  Bede  stehenden  Ectasie  an  AugenK  welche  um- 
schriebene centrale  Trübungen  in  den  durchsichtigen  Medien  darbieten.  Ich  besitze 
mehrere  solche  Präparate,  welche  mir  völlig  unverständlich  sein  würden,  wenn  ich  nicht 
wüsste,  dass  Individuen  mit  solchen  Trübungen  genöthigt  sind,  alle  kleineren  Objeete, 
welche  sie  deutlich  sehen  wollen,  relativ  näher  an  das  Auge  zu  bringen,  als  ceteris 
paribus  andere,  dass  sieh  mithin  zu  der  Trübung  des  Gesichtes  noch  Kurzsichtigkeit  ge- 
sellt.    (Vergl.  I.  B.  S.  260.) 

Eine  Thatsache  müssen  wir  endlich  noch  hervorheben,  welche  zwar  nicht  direct 
als  Beweis  für  unsere  Theorie  angeführt  werden  kann,  welche  aber,  da  sie  mit  der- 
selben in  vollem  Einklänge  steht,  dazu  beiträgt,  selbe  plausibel  zu  machen.  Das  anhal- 
tende und  oft  wiederholende  Betrachten  naber  Objeete  führt  in  späteren  Jahren  nicht  nur 
nicht  zu  stationärer  Kurzsichtigkeit,  sondern  sogar  entweder  einfach  zu  Ermüdung  und 
Augenmattigkeit  oder  selbst  zu  Fernsichtigkeit,  zu  insufficienter  oder  gänzlich  mangeln- 
der Accommodation.  So  lange  die  Sclera  noch  nachgiebig  ist,  kann  übermässige  und 
anhaltende  Spannung  bleibende  Ausdehnung  derselben  zur  Folge  haben;  ist  aber  die 
Sclera  einmal  gehörig  resistent  geworden,  dann  wird,  wenn  anhaltend  erhöhte  Span- 
nung der  Muskeln  eintritt,  eher  Ermüdung  und  Nachlass  der  Muskelspannung  eintreten, 
als  Ausdehnung  der  Sclera,  und  dieses  Nachlassen  erfolgt  zunächst  in  jenem  Accommo- 
dationsorgane,  welches  nicht  direct  vom  Willen  abhängig  ist,  in  dem  Ciliarmuskel.  So 
wie  diess  erfolgt,  leistet  die  Scheidewand  zwischen  Humor  aqueus  und  vitreus  nicht  mehr 
den  gehörigen  Widerstand,  und  es  kommt  consecutiv  zur  Abnahme  des  Humor  aqueus, 
zur  Verkleinerung  der  vordem  Augenkammer,  ein  Zustand,  der,  wenn  er  nur  einiger- 
niassen  bestimmt  ausgesprochen  ist,  ohneweiters  und  sicher  zu  schliessen  gestattet,  dass 
die  Accommodation  entweder  geschwächt  oder  aufgehoben  sei.  Die  senile  Presbyopie 
ist  nicht  Folge  mangelhafter  Ernährung  und  dadurch  bedingter  Abnahme  der  Angenr 
(luida.  sondern  Folge  der  zunehmenden  Bigididät  der  Sclera  einer-  und  der  abnehmen- 
den Muskelenergie  andererseits. 

Indirect  wird  die  Richtigkeit  unserer  Theorie  dadurch  bewiesen,  dass 
keine  andere  Theorie  der  Accommodation  weiter  möglich  ist.  Die  Mo- 
mente, an  die  man  appelliren  könnte,  sind:  Verengerung  der  Pupille,  er- 
höhte Wölbung  der  Hornhaut  oder  der  Linse,  Vorwärtsrückung  der  Linse 
und  allenfalls  eine  Combination  von  zweien  dieser  Momente.  Von  Ver- 
änderung der  Brechungsverhältnisse  kann  nicht  die  Rede  sein,  da  wir 
kein  Organ  kennen,  welches  den  hiezu  nölhigen  Druck  zu  liefein  im 
Stande  wäre.  Welchen  Antheil  die  Iris  etwa  an  der  Accommodation  haben 
könne,  werden  wir   weiter    unten  erörtern:    dass    die  blosse  Verengerung 


2!8  Augenmuskeln. 

der  Pupille  beim  Nahesehen  nicht  den  nöthigen  dioplrisehen  Anforderun- 
gen genügen  kann,  bedarf  keines  weitem  Nachweises.  Auch  an  erhöhte 
Krümmung  der  Cornea  denkt  heut  zu  Tage  wohl  Niemand  mehr,  nachdem 
das  Nichteintreten  derselben  wiederholt  durch  verschiedene  Methoden,  und 
von  den  tüchtigsten  Beobachtern,  Senf,  Cramer,  Hetmhoh,  constatirt  ist 
Die  auf  Lage-  oder  Formveränderung  der  Linse  basirten  Theorien  schei- 
tern vor  allem  an  der  constatirten  Beobachtung,  dass  manche  Augen, 
bei  denen  die  Linse  fehlte  und  durch  ein  entsprechendes  Convexglas 
ersetzt  wurde,  Accommodation  zeigten.  Diese  Fälle  beweisen  wenigstens 
so  viel  mit  Bestimmtheit,  dass,  wenn  'ja  Veränderungen  der  Linse  (in 
Form  oder  Lage)  einen  Antheil  an  der  Accommodation  haben,  dieser  ein 
relativ  sehr  geringer  sei,  dass  man  somit  vollkommen  zu  der  Behauptung 
berechtigt  ist,  die  geraden  und  schiefen  Augenmuskeln  im  Verein  mit  dem 
Ciliarmuskel  seien  wahrscheinlich  die  einzigen,  sicher  jedoch  die  bei 
weitem  überwiegenden  Organe  der  Accommodation. 

Sollte  die  Vorrückung  der  Linse  allein  den  optischen  Anforderungen  genügen,  so 
inüsstc  die  Excursion  nach  den  Berechnungen  von  Olbers,  Moser  und  Senff  \'2'"  oder 
noch  etwas  mehr  betragen.  Mit  der  Linse  niüsste  dann  natürlich  auch  die  Iris,  wenig- 
stens der  Pupillarrand  derselben  beim  Nahesehen  vorwärts  rücken.  Wenn  aber  bei  der 
Accotninodation  Form  und  Lage  der  Hornhaut  unverändert  bleiben,  so  ist  auch  ein 
solches  Vorrücken  der  Linse  in  toto  unmöglich,  weil  der  Humor  aqueus  incompressibel 
ist,  und  ein  leerer  Raum,  wohin  das  Kammerwasser  etwa  entweichen  könnte,  nirgends 
existirt.  Weder  der  PeftYsche  noch  der  vermein! liehe  Fontanasehc  Kanal  (Iluek's)  kön- 
nen dieser  Ansicht  den  gewünschten  Dienst  erweisen.  Übrigens  führt  diese  Ansicht  zu 
einer  Consequenz,  welche  deren  Absurdilät  handgreiflich  macht.  Gibt  man  nämlich  zu, 
dass  anhaltendes  und  öfter  wiederkehrendes  Nahesehen  kurzsichtig  macht,  dann  muss  in 
jedem  auf  diese  Weise  kurzsichtig  gewordenen  Auge  die  Linse  weiter  vorn  liegen,  die 
vordere  Kammer  kleiner  sein.  Ullrich  hat  keinen  Anstand  genommen,  offen  auszuspre- 
chen, was  bei  Andern  eben  nur  zwischen  den  Zeilen  zu  lesen  ist.  „Myopiae  causae 
variae  possunt  afferri.  Subita  musculi  tensoris  chorioideae  eontraelione  spastica,  et  nervi 
sympathici  irritatione  et  ad  nervorum  ciliarium  systema  irradiatione  orta,  lens  crystallina 
nonnunquam  nimis  antrorsum  agilur,  ita  ut  radiorum  ex  rebus  Ionginquis  emanantiinn 
focus  ante  retinam  cadat."  —  „Occurrunt  praeterea  saepe,  teste  experienlia  quolidiana, 
qui  longa  continua  consuetudine  propiora  et  subtiliora  ferc  sola  inspiciendi,  remotiora 
distinete  visendi  facultatem  sensim  amittant,  itaque  myopiam  acquirant."  —  „Si  haec 
myopia  jam  diu  in  veter  ayit,  nulla  oculi  exercilatione  distantia  visus  polest  pfolongari. 
Namque  tensoris  chorioideae  fibrae  musculares  hoc  in  myopiae  genere  in  continua  cön- 
tractione  perdurantes,  magis  magisque  abbreviantur  et  intumeseunt,  quo  fit,  ut  lens  cry- 
stallina in  perpcluum  nimis  antrorsum  prolnidatur."  (I.  c.  p.  58  et  59.)  Wenn  nun 
auch  Volkmann,  auf  Sturm's  theoretische  Deductionen  sich  stützend,  und  nach  ihm  Knete 
eine  viel  geringere  Excursion  der  Linse  nach  vorn  genügend  finden  (etwa  nur  ',„'"  wie 
Valentin  angegeben  hat),  so  macht  diess  den  Widerspruch  mit  der  Beobachtung  au 
kurzsichtigen    Augen    nur    geringer,    ohne    ihn    aufzuheben.     Dasselbe  Argument  müssen 


Physiologie  —  Accoinmoclatioii.  219 

wir  auch  der  Theorie  Stellwags  (Ophthalmologie,  S.  431)  entgegenstellen,  welcher  be- 
rechnet, dass  eine  Vorwärtsrückung  «ler  Linse  um  :t/, „'"  allen  Anforderungen  genügen 
würde,  und  den  Schwierigkeiten  rucksichtlich  des  Kammer wassers  dadurch  zu  entgehen 
nieint,  dass  er  annimmt,  die  vordere  Kammer  werde,  indem  die  Linse  in  der  ."Mitte  vor- 
gedrängt werde,  an  der  Peripherie  dadurch  grosser,  dass  die  Iris  seitlich  auf  die  Linse 
drücke.  Letzlere  Annahme  werden  wir  bei  Besprechung  der  Theorie  von  Gramer  in  Be- 
zug auf  ihre  Haltbarkeit  untersuchen,  und  begnügen  uns  hier  nur  nachzuweisen,  dass 
Stellwäg  consequenter  Weise,  und  mit  noch  bestimmteren  Ausdrücken,  dieselbe  absurde 
Behauptung  wie  Ullrich  aufstellt,  indem  er  S.  439  sagt  :  „Die  dioptrisehen  Verhältnisse 
des  Auges  machen  es  für  den  ersten  .Augenblick  wahrscheinlich,  dass  die  Weitsichtig- 
keit in  einer  normwidrigen  Vorrückung  der  Linse  begründet  sei.  Eine  nähere  Betrach- 
tung der  Dinge  lehrt  jedoch,  dass  die  der  Presbyopie  entsprechende  Stellung  nicht  als 
eine  abnorme  gelten  könne,  dass  die  Weitsichtigkeit  nur  auf  dem  Unvermögen  des  Ac- 
commodationsmuskcls  beruhe,  den  Krystalllibrper  in  die  für  geringere  Sehweiten  erforder- 
tliche  vorgerückte  (!)  Lage  zu  versetzen.  Wohl  aber  steht  es  fest,  dass  hohe  Grade 
von  Kurzsich ligkeit  in  normwidrigen  Sellungen  der  Linse  begründet  seien,  auf  Fixation 
des  Krystallk'örpers  in  einer  abnorm  vorgerückten  Lage  beruhen,  und  sofort  bedingt  wer- 
den durch  widernatürliche  Länge  der  Glaskörperachse  bei  normwidrig  kleinem  Ab- 
stände der  Linse  von  der  Hornhaut  (!).  Es  können  diese  Missverhältnisse  zwi- 
schen den  Achsen  des  Kanimermeniscus  und  des  Glaskörpers- acquirirt  werden,  sind  mit- 
unter jedoch  auch  angeboren." 

In  neuester  Zeit  haben  Cramer  in  Groningen'")  und  Helmholz'""')  unabhängig  von 
einander  die  auch  schon  in  früheren  Zeiten  namentlich  von  Huek  ausgesprochene  An- 
sicht wieder  aufgenommen,  dass  die  Linse  behufs  des  Nahesehens  convexer  werde.  Sie 
stützen  dieselbe  auf  die  Messung  der  Purkinje-Sanson'schen  Spiegelbilder.  Diese  erhält 
man  bekanntlich,  wenn  man  in  einem  dunkeln  Räume  ein  Licht,  z.  B.  eine  Kerzenflainme 
in  der  Entfernung  von  1 — 2  Fuss  seitlich  vor  ein  Auge  hält,  und  von  der  andern  Seite 
in  die  Pupille  blickt.  Um  jedoch  nicht  durch  andere  Spiegelbilder  gestört  zu  werden, 
muss  der  Beobchter  an  der  seinem  Gesichte  zugewendeten  Seite  der  Flamme  einen 
schwarzen  und  matten  Schirm  so  anbrigen,  dass  sein  Gesicht  dabei  völlig  beschattet  er- 
scheint, und  der  Schirm  kein  Licht  auf  das  Auge  reflectirt.  Lä'sst  man  jetzt  das  zu  beob- 
achtende Auge  (in  gleicher  Höhe  mit  dem  des  Beobachters  und  mit  der  links  oder  rechts 
zur  Seite  befindlichen  Flamme)  eine  solche  Stellung  annehmen,  dass  das  Spiegelbild  der 
Cornea,  welches  nicht  bloss  die  Flamme,  sondern  auch  den  obersten  Theil  der  Kerze 
deutlich  wiedergibt  (verkleinert  und  aufrecht),  noch  im  Bereiche  der  Pupille  und  zwar 
nächst  dem  Rande  derselben  (z.  B.  nächst  dem  äussern)  zu  stehen  kommt,  so  wird  man 
diametral  entgegengeselzt  (also  nächst  dem  innern  Pupillarrande)  einen  zwar  relativ  sehr 
kleinen,  doch  ziemlich  hellen  und  scharf  begrenzten  Beflex  bemerken,  welcher  sich  als 
das  der  hintern  Kapsel  angehörige  Flammenbild  erweist  (daher  verkehrt  erscheint).  Min- 
der leicht  ist  es ,  das  der  vordem  Kapsel  angehörende  Reflexbild  zu  erkennen ,  denn  es 
tritt  nur  als  ein  matter  (lichtarmer)  länglicher  Lichtschein  ohne  deutliche  Begrenzung  auf, 
weicher    seine    relative  Stellung  zu  den  beiden  andern  bei  der    leisesten  Bewegung    des 

')  Tyilsuhnft  der  Maalschnmiy  vor  Genceskunde,  und  Physiolog.   Abhandlung  über  das  Accßmmodalionsvermügen   der 
Augen,   deutsch  von  Duden,  T.eer    l &5 "■. 
'")  Monatsberichte    der    Berliner    Akadem  e  .1853   i-'ehruar,   und  :    Über    die  Accominodation    des    Auge-   im   Archiv   für 
Ophthalmologie    I.  ß.  1!.  Abtiicil.  .1855,  S.   1-   71. 


220  Augenmuskeln. 

Bulbus  in  entgegengesetzter  Richtung  ändert,  und  sich  demnach  bald  hinter  dein  Cor- 
neal-  bald  hinter  dem  Hinterkapselreflexe  verbirgt.  Streicht  die  Sehachse  des  beobach- 
teten Auges  nicht  um  viele,  sondern  nur  am  wenige  Grade  neben  der  Flamme  vorbei, 
so  erscheinen  die  genannten  3  Bilder  nicht  so  sehr  neben-,  als  vielmehr  hinter  einander, 
und  man  sieht  dann  deutlich,  dass  das  Cornealbild  am  weitesten  vorn,  das  Vorderkapsel- 
bild am  weitesten  hinten,  das  Hinterkastelbild  dazwischen  (näher  dem  Cornealbilde)  liegt. 
—  Kennt  man  diese  Erscheinungen  aus  vielfältiger  Betrachtung  mit  freiem  Auge,  dann 
wird  es  auch  nicht  schwer  halten,  sie  mit  einer  Brücke"  sehen  Loupe  oder  mit  einem 
Fernrohre  unter  10 — 20facher  Vergrösserung  zu  beobachten.  Cramer  und  Helmholz,  jeder 
in  einer  andern  Weise,  haben  nun  eigene  Apparate  construirt,  um  diese  Bilder  bei  sol- 
cher Vergrösserung  und  bei  möglichster  Ruhe  des  beobachteten  sowohl  als  des  beobach- 
tenden Auges  wahrnehmen  und  in  Bezug  auf  relative  und  absolute  Lage  und  Grösse 
während  verschiedener  Refraction  des  beobachteten  Auges  messen  und  vergleichen  zu 
können.  Rücksichtlich  der  Beschreibung  derselben  müssen  wir  auf  die  oben  citirten 
Schriften  verweisen,  und  uns  hier  auf  auszugsweise  Mittheilung  der  Beobachtungsresul- 
tate beschränken.  Nach  dem,  was  ich  gesehen,  freilich  nur  mit  Hilfe  einer  Brücke'schen 
Loupe,  möchten  die  Schlüsse  in  Bezug  auf  Lage-  und  Grösseveränderung  des  Vorder- 
kapselbildes wohl  nicht  mit  so  viel  Bestimmtheit  und  Präcision  zulässig  sein,  als  Cramer 
und  Helmhoh  sie  aufgestellt  haben. 

Das  Hornhautbild  erleidet  bei  der  Accommodation  durchaus  keine  Veränderung.  Hierin 
stimmen  beide  Auetoren  überein,  und  Cramer  konnte  auf  diese  Weise  auch  im  Radius 
der  vordem  Corncalfläche  keinen  Unterschied  zwischen  kurz-  und  weitsichtigen  Augen 
finden.  Hiedurch  erhielt  der  bereits  anderweitig  gefundene  Satz,  dass  die  Accommodation 
nicht  durch  Veränderung  der  Cornealvvölbung  vermittelt  werde,  eine  neue  Stütze.  —  Bei 
der  Einrichtung  des  Auges  für  die  Nähe  rückt,  nach  Cramer,  das  Vorderkapselbild  in  die 
Mitte  zwischen  das  Gorneal-  und  das  Hintei  kapselbild,  wenn  es  beim  Fernsehen  nahe 
an  dem  letzteren  lag;  zugleich  wird  es  heller  und  kleiner,  woraus  sich  ergibt,  dass  beim 
Nahesehen  die  vordere  Kapsel  gewölbter  wird.  Nach  Helmhoh'  rücken  zwei  Spiegel- 
bildchen, welche  der  vordem  Kapsel  angehören  (durch  eine  eigene  Vorrichtung  des  Ap- 
parates erzeugt),  näher  aneinander  und  werden  kleiner,  was  auf  dieselbe  Ursache,  stär- 
kere Wölbung  der  Vorderkapsel,  und  zwar  mit  viel  mehr  Sicherheit  deutet:  —  Rück- 
sichtlich des  Bildes  an  der  hintern  Kapsel  ist  Cramer  geneigt,  anzuehmen,  dass  dasselbe 
bei  der  Accommodation  weder  in  Bezug  auf  die  Lage,  noch  in  Bezug  auf  die  Grösse  eine 
Änderung  erleidet,  ohne  das  Gegentheil  bestimmt  auszuschliessen ;  Helmhoh  dagegen 
nahm  in  beiden  Beziehungen  eine  Veränderung  wahr  und  erklärt  nach  Berücksichtigung 
aller  hier  in  Rechnung  kommender  Momente,  dass  durch  die  Accommodation  der  wahre 
Ort  des  mittlem  Theiles  der  hintern  Kapsel  nicht  merklich  verrückt  werde,  die  bestimmt 
wahrgenommene  Grösseveränderung  des  betreffenden  Bildchens  jedoch  wenigstens  zum 
Theil  auf  Verkleinerung  des  Krümmungsradius  oder  hinlern  Linseiifläehc  bezogen  werden 
müsse.  Siel/war/  (in  einem  an  Cramer  gerichteten  und  von  diesem  milgclhcillcn  Schrei- 
ben) folgert  aus  physikalischen  Gesetzen,  dass  eine  vermehrte  Wölbung  der  vordem 
Kapsel  allein,  ohne  gleichzeitige  stärkere  Wölbung  der  hintern  Kapsel  nicht  vorkommen 
könne,  was  also  für  Helmholzens  Beobachtung  spricht.  Helmhoh  fand  mit  Hilfe  der 
Spiegelbilder  den  Radius  der  Vorderfläche  der  Linse  in  Millimetern:  bei  0.  II.  =  11,9, 
bei  B.  P.  -=  8,8,  bei  I.  II.  —  10.4,  bei  zwei  todten  Linsen  ==  10,2  und  8,9,  den  Ra- 
dius der  Hinlerfläche    bei  0.  IL  =  5,83,    bei  B.  P.  —  5,13,    bei  I.   II.  5,37,    bei  den 


Physiologie  —  Aecommodation.  221 

Indien  =  5,86  und  5, «9.  Die  Dicke  der  Linse  in  der  Achse  berechnete  er  bei 
0.  11.  auf  3,148,  bei  B.  P.  auf  3,635,  bei  I.  II.  auf  3,402  Millimeter.  Addirt  man  hiezu 
die  Höhe,  welche  die  Wölbung  der  Linse  in  der  Pupille  beim  Nahesehen  beträgt,  so  er- 
hält man  für  0.  H.  3,414,  für  B.  P.  3,801,  für  I.  II.  3,555  Millimeter  Dicke  der  Linse, 
welche  bei  den  Todten  ■=  4,2  und  4,3  Millim.  gefundeil  wurde.  —  Stelltoag  (in  obigem 
Schreiben)  geht  von  folgenden  Prämissen  aus.  Die  innere  optische  Achse  =9,534'",  Tiefe 
der  Augenkammer  in  der  Sehachse  =  0,8'",  Brennweite  der  Cornea  =  13,35'",  Bre- 
chungsexponent des  Kammerwassers  =  1,337,  des  Glaskörpers  =  1,339,  und  des  Kry- 
stallkörpers  =  1,418  (Totalindex,  durch  Rechnung  bestimmt),  ferner  Radius  der  vordem 
Linsenfläche  =  3,071'",  der  hintern  Linseufläche  =  2,2'",  Achsenlänge  oder  Dicke  der 
Linse  =  2,0'",  und  die  Vereinigungsvvcite  des  Auges  für  parallele  Strahlen  =  6,731"' 
hinter  dem  hintern  Scheitelpunkte  der  Linse.  Damit  nun  Krümmungsänderungen  der  bei- 
den Convexitäten  des  Krystallkörpers  die  Aecommodation  des  Auges  für  ein  Object  von 
100"'  (8'/^")  bewerkstelligen  können,  muss  der  Radius  der  vordem  Linsenfläche  sieb 
auf  2,517'",  der  Radius  der  hintern  auf  1,762"'  verkürzen,  die  Achse  des  Krystallkörpers 
mithin  sich  auf  2,48'"  verlängern,  vorausgesetzt,  dass  mit  dem  Wechsel  der  Krümmungen 
der  einzelnen  Krystallschichten  der  imaginäre  Totalindex    der  Linse   derselbe  bleibt. 

Als  Organ,  welches  diese  nicht  unbeträchtliche  Veränderung  der  Form  der  Linse  (Ab- 
nahme der  Durchmesser  im  Äquator,  Zunahme  des  Durchmessers  in  der  Achse)  zunächst 
vermitteln  soll,  wird  die  Iris  im  Verein  mit  der  Ciliarnuiskel  (Bri  cke's  tensor  chorioideae)  be- 
zeichnet. Diese  Ansicht  wird  theils  auf  anatomische  Verhältnisse,  theils  auf  Thatsa  eben  der  Be- 
obachtung bei  obigen  Untersuchungen  und  bei  Experimenten  an  Thieraugen  gestützt.  Cra- 
mer  behauptet  zunächst,  es  liege  die  Iris  nicht  nur  im  kleinen    Kreise,  sondern  durchaus 

—  vom  Pupillar-  bis  zum  Ciliarrande  an  der  vordem  Kapsel,  Zonula  Zinnii  und  den 
Ciliarfortsätzen  an,  so  dass  eine  hintere  Augenkammer  nicht  existire,  und  es  liege'  in 
normalen  Augen  der  Pupillarrand  (eine  Ebene  durch  denselben  gelegt)  um  0,44  Par. 
Linien  weiter  vorn,  als  der  Ciliarrand  (Ebene  durch  denselben  gelegt)  sei  demnach  die 
Iris  kuppelartig  vorwärts  gewölbt,  so  dass  ihre  Radinifasern  bogenförmig  gekrümmt  über 
die  Linse  verlaufen,  daher  bei  gleichzeitiger  Contraction  der  Girculärfas'ern,  in  denen  sie 
den  zweiten  Stützpunkt  fänden,  auf  den  peripherischen  Theil  der  Vorderfläche  der  Linse 
drücken  können.  Übrigens  sei  die  Lage  der  Fasern  des  Cilürmuskcls  so,  wie  Brücke  sie  an- 
gegeben, daher  Verkürzung  derselben  im  Stande  sei,  den  Ciliarrand  der  Iris  rückwärts-  zu 
ziehen,  wodurch  zugleich  die  Ciliarfortsätze  einwärts  gedrängt,  und  mittelst  des  im  Petifsbhea 
Canale  enthaltenen  Wassers  ein  Druck  auf  den  Raud  der  Linse  ausgeübt  werden  könne. 

—  Nach  Helmhoh  kann  man  sich  durch  Versuche  mit  seinem  Ophthalmometer  überzeu- 
gen, dass  der  peripherische  Theil  der  Iris  beim  Nahesehen  sich  nach  hinten  bewege, 
während  der  Pupillarrand  deutlich  nach  vorn  weiche.  Dagegen  soll  ein  Vorwärtsrücken 
des  Pupillarrandes  bei  einfacher  Verengerung  der  Pupille  durch  Lichtreiz  (ohne  Accom- 
modationsänderung)  in  normalen  Augen  gar  nicht  eintreten,  bei  Augen  mit  etwas  weite- 
rer Pupille,  wie  bei  Kurzsichtigen,  nur  in  geringem  Grade.  —  Um  nachzuweisen,  dass 
im   Auge  selbst  gelegene  Muskelfasern  es  seien,    welche  die    Aecommodation    vermitteln, 

nahm  Gramer  das  Auge  eines  so  eben  durch  Hängen  getödteten,  etwa  5  Wochen  allen 
Seehundes  (phoca  litoreus),  entfernte  von  demselben  alle  Muskeln,  legte  hinten  einen 
Theil  Glaskörper  durch  vorsichtige  Beseitigung  einer  Partie  Sclera,  Chorioidea  und  Re- 
tina bloss,  und  brachte  das  so  präparirte  Auge,  mit  der  Cornea  auf  einem  hölzernen  Ringe 
ruhend,    über  die  Öffnung  der  Objectiv- Platte  eines  Mikroskopes.      Mittelst  einer  genau 


222  Augenmuskeln. 

richtigen  Stellung  dos  Mikroskdpes  und  des  Spiegels  konnte  er  nun  die  Flnmme  eines 
ungefähr  35  Centimeter  entfernten  Lichtes  auf  der  hintern  Fläche  des  Glaskörpers  sehr 
deutlich  vergrössert  wahrnehmen.  Liess  er  nun  auf  beide  Seiten  der  Cornea  den  Strom 
eines  elektro-magnetischen  Rotationsapparates  einwirken,  und  beobachtete  während  dessen 
die  Flamme  auf  der  hintern  Fläche  des  Glaskörpers  bei  lüfacher  Vergrösserung ,  so 
wurde  jedesmal  hei  der  Durchströmung  die  Flamme  breiter,  undeutlicher  und  weniger 
begrenzt,  was  man  übrigens  auch  mit  freiem  Auge  bemerken  konnte.  Wenn  ein  so  be- 
handeltes Auge  nach  sehr  lange  fortgesetzten  Versuchen  untersucht  wurde,  so  zeigte  die 
Linse  eine  Kriimmungs Vermehrung  in  solchem  Grade,  dass  die  Form  der  Pupille,  wie  sie 
selbe  während  des  Contractionszustandes  erhielt,  als  eine  Erhöhung  auf  der  Linsenvor- 
derfläche vollkommen  sich  ausdrückte.  Wenn  er  an  frischen  und  noch  nicht  viel  zu  die- 
sem Experimente  verwendeten  Augen  durch  die  Cornea  eine  Staarnadel  bis  zur  Pupille 
in's  Auge  geführt,  sodann  unter  die  Iris  durch  bis  zu  ihrem  Ursprungscirkel  gedrungen, 
und  im  Zurückziehen  den  ganzen  von  der  Staarnadel  getroffenen  Irisbogen  durchschnit- 
ten (ein  Coloboma  totale  gebildet)  hatte,  so  bewirkte  der  elektr.  Strom  nicht  mehr  wie 
früher  eine  Verengerung  der  Pupille  noch  Veränderung  des  Refractionszustandes.  —  Bei 
einem  fernem  Versuche  bewirkte  der  elektr.  Strom  nach  Entfernung  der  Cornea  und 
Iris  so  gut  wie  gar  keine  Veränderung  in  der  Refraction  ,  doch  war  selbst  dem  blossen 
Auge  während  der  Dauer  des  elektr.  Stromes  jedesmal  eine  Anspannung  der  Ciliarfort- 
sät/e  bemerklich,  wodurch  nach  Crainers  Dafürhalten  der  Anlheil  des  M.  tensor  chorioi- 
deae  an  der  Accommodation  nachgewiesen  erscheint. 

Ich  habe  die  Versuche  weder  mit  dem  Cramer'schen  noch  mit  dem  Helmhofo' sehen 
Apparate  nachgemacht.  Was  sie  also  über  die  Veränderung  der  Lage  und  Form  der  Spie- 
gelbilder bei  der  Accommodation  angeben,  muss  ich  gelten  lassen,  obgleich  die  beidersei- 
tigen Angaben  einige  wesentliche  Widersprüche  enthalten.  Dass  durch  die  aus  jenen 
Beobachtungen  gefolgerte  Veränderung  der  vordem  und  hintern  Linsenoberfläche  allein 
oder  auch  nur  vorzüglich  die  Accominodation  vermittelt  werde,  halte  ich  für  unmöglich. 
Es  spricht  dagegen  alles,  was  ich  bisher  über  die  Accommodation  und  ihre  Abnormitäten 
erfahren  und  beobachtet  habe. 

Nach  Stellwag's  Berechnung,  wenn  wir  deren  oben  mitgetheilte  Prämissen  als  rich- 
tig annehmen,  müsste  die  Linsenachse  schon  behufs  der  Accommodation  für  8"  um  '/.2"J 
verlängert  werden,  vorausgesetzt,  dass  mit  dem  Wechsel  der  Krümmung  der  einzelnen 
Krystallschichten  der  imaginäre  Totalindex"- der  Linse  derselbe  bleibe.  Da  aber  die  er- 
höhte Wölbung  der  Linse  offenbar  nur  durch  die  weiche,  kalbflüssige,  im  Brechungsindex 
vom  Humor  aqueus  und  vitreus  gewiss  nur  wenig  abweichende  Rindensubstanz  vermit- 
telt werden  kann,  so  ist  eben  diese  Voraussetzung  noch  sehr  in  Frage  gestellt.  Stellir«*? 
hat  bereits  in  seiner  1853  erschienenen  Ophthalmologie  S.  431  die  unseres  Erachtens 
ganz  richtige  Behauptung  aufgestellt,  „dass  wegen  der  grossen  Übereinstimmung  der 
Brechungsverhältnissc  in  den  äussern  Krystalllagen  und  den  umgebenden  Medien  unge- 
heuere Verkürzungen  und  Verlängerungen  der  Radien  erforderlich  wären,  um  merkbare 
Differenzen   in  der  Brennweite  des  dioptrischen  Apparates  zu  bedingen." 

Aber  angenommen,  es  genügten  die  aus  der  Veränderung  der  Rcflexbilder  gefolger- 
ten Veränderungen  in  der  Wölbung  der  Linse  dem  dioptrischen  Bedürfnisse,  dann  muss 
consequenter  Weise  auch  angenommen  werden,  dass  bei  Myopia  acquisita  die  Linse 
wegen  übermässig  langer  seitlicher  Compfession  ihre  Elasticität  zum  Theil  eingebfiest 
habe,   dass  dieselbe  nicht  mehr  zu  ihrer  normalen  Form  zurückkehre,  mithin   in  den  Aqua- 


Physiologie  —  Acroiiiinoilnfsoii.  223 

korialdnrchmessern  verkürzt,  im  Äfchsendurchniesser  verlängert  bleibe.     Diess  will  Cramer 
(S.   180)  auch  wirklich  so  gefunden  haben.      „In  Betreff  der  La  ige  der  Linsenachse,    so 
wie  der  Entfernung  ihrer  vordem  Fläche  von  der  Cornea,    habe  ich  ebenfalls  bei  Kurz- 
sichtigen vielfach  exptrimenlirt.      Hier  ergab  der  Apparat  auf's  Deutlichste,  dass:    a)   die 
Entfernung  des  Cornealbildchens  von  dein  von   der  hinlern  Linsenflache  erzeugten,    wie- 
wohl darin  das    Lebensalter  u.  s.  vv.    einigen    Unterschied    begründet,    bei  Kurzsichtigen, 
bei  normalem  Gesichte  und  bei  Fernsichligen  sich    ganz  gleich  verhalt;    dass  b)  die  Ent- 
fernung des  Cornealbildchens    von  dem    von  der  Vorderfläch«  der   Linse  erzeugten,     bei 
Kurzsichtigen  sehr  klein  sich  darstellt,    im  Vergleich  zu    Personen    mit    normalam  Auge, 
oder,    wo  der  Unterschied  noch  etwas  beträchtlicher  sich  zeigt,    zu  Fernsichtigen,    und 
endlich    c)  dass  die  Entfernung  des  von  der  Vorderfläche    der  Linse    herrührenden  Spie- 
gelbildchens   bis  zu  dein   von  deren  hinteren    Fläche  erzeugten,    in  den  auf  diese  Weise 
angestellten  Versuchen  bei  Kurzsichligen  im  Verhältnisse  zu  Personen   mit  normalem  Ge- 
sicht und  noch  etwas  mehr  bei  Ferusichtigkeit,  als  sehr  gross  sich  darstellt."     Das  heisst 
mit  wenig  Worten :    bei  Kurzsichtigen    liegt  die  vordere   Fläche  der   Linse  näher  an  der 
Cornea,    weil  die  Achse  der  Linse  viel  länger  ist.  —  Diese  Angaben  stehen  im  directen 
Widerspruche  mit  der  Beobachtung  an  Lebenden,    mit  den  Sectionsergebnissen,    mit  den 
Angaben  von  Heimhole.     Ich  will  kein  Gewicht  auf  den  Umstand  legen,  dass  ich  in  kei- 
nem der  von    mir  anatomisch    untersuchten  kurzsichtigen  Augen    den  Achsendurchmesser 
der  Linse  =  2'",    sondern    mehr  weniger  darunter    gefunden  habe;    die  Beobachtung  an 
Lebenden  reicht  hin,  das  zu  widerlegen,  nnd  ich  brauche  desshalb  hier  wohl  einfach  auf 
das  über  die  Lage  der  Iris  Gesagte  surückzuweisen.     Helmholz  selbst  fand   bei  der  etwas 
kurzsichtigen  0.  H.  den  Abstand  der  Pupillarebene  vom  Scheitel  der  Hornhaut  —  4,024mm, 
während  die  andern  beiden,  ziemlich  gleich  alten  Individuen  (B.  P.  und  I.  H.)  nur  3,507 
und  3,739mm-  zeigten.     Ausserdem  aber  ergibt  sich,  völlig  im  Widerspruche  mit  Cramers 
Angaben,  aus  den  oben  mitgetheilten  Ziffern  von  Heimholt,   dass  gerade  bei  der  etwas  kurz- 
sichtigen 0.  H.  die  Linse  die  kürzeste  Achse  zeigte,  und  sowohl  die  vordere  als  die  hintere 
Linsenfläche  die  relativ  geringste  Wölbung  erwiesen.     Wenn  aber  Cramers  und  Helmhohens 
Angaben  sich  widersprechen,  so  muss  die  Beobachtung  des  einen  oder  des  andern  falsch 
sein,  und  scheint  auch  ihre  Untersuchungsmethode  noch  beträchtliche  Fehler  zuzulassen. 
Was  nun  die  Organe  betrifft,  welche  die  Linse  seitlich  comprimiren  sollen,  so  steht 
die  Cramer'sche,  von  Helmhoh  gebilligte  Theorie  in  directem  Widerspruche  mit  erwiese- 
nen Thatsachen.    —    Die  Lage  der  Iris ,    wie  sie   uns  durch    das    Kammerwasser  und  die 
Hornhaut  gerade  von  vorn  angesehen  erscheint,  weicht  von  der  wirklichen  nicht  viel  ab. 
Dass  das  Weitervorwärtsliegen  des  Pupillarrandes  relativ  zum  Ciliarrande  bei  der  Betrachtung 
gerade  von  vorn  nicht  ein  blos  scheinbares  (vom  Austritte  der  Lichtstrahlen  aus  der  Cor- 
nea in  der  Luft  abhängiges)  ist,  ergibt  sich  schon  aus  dein  Umstände,  dass  man  die  Iris 
bei  Mangel  oder  Verschrumpfung  der  Linse  vollkommen  in  Einer  Ebene  liegen  sieht.   Eine 
deutliche  Wölbung  der  Iris  zwischen  Ciliar-  und  Pupillarrand  sieht  man  aber  an   norma- 
len Augen  nicht.     Sie  streicht  vielmehr  auch  bei  enger  Pupille  geradlinig  vom  Ciliarrande 
bis  zu  dem  Wulste,  der  den  Annulus  minor  und  die  äussere  Grenze  des  Schädelmuskels 
bezeichnet,  oder  sie  zeigt  sogar  nicht  weit  vom  Ciliarrande,  ungefähr  da,  wo  hinter  ihr 
die  Firsten  der  Cilarfortsätze  liegen,    eine  ringförmige  Vertiefung  oder    Furche,    welche 
sich  bei  seitlich  einfallendem  Lichte  auf  der  einen  Seite  durch  Schaltenbildung,    auf  der 
andern  durch  hellere  Beleuchtung  kund  gibt.     Dieses  Verhalten  zeigt  die  Iris,  sobald  die 
Pupille  nicht  sehr  weit  ist,  gleichviel,  ob  das  Auge  für  die  Nähe  oder  für  die  Ferne  ein- 


224  Augenmuskeln 

gerichtet  ist.  Zur  Beurtheilung  der  Lage  der  Iris,  n;mientlie!i  ihres  milderen  Theiles.  ist 
die  Betrachtung  des  Auges  von  der  Seite  her  eben  so  schlecht,  als  zur  Entscheidung  der 
Frage,  ob  Exsudatpunkte  in  der  Substanz  der  Hornhaut  oder  an  der  Desceinet'chen  Haut 
sitzen.  Wenn  man  ein  Planconvexglas  auf  eine  gerade  Linie  legt  (einen  etwa  1"  langen 
Strich  mit  Tinte  auf  weissem  Papier),  und  nun  von  der  Seite  her  darauf  sieht,  so  er- 
scheint der  Strich  bogenförmig  gewölbt,  sein  mittlerer  Theil  scheint  sich  gegen  den  Schei- 
tel der  convexen  Fläche  zu  erheben.  Dieser  Unistand  muss  bei  der  Beobachtung  des 
Vorwärtstreten s  des  Pupillarrandes  wohl  erwogen  werden,  wenn  man  das  Auge  von  der 
Seite  her  betrachtet.  Ich  finde,  wenn  ich  einen  jungen  nicht  kurzsichtigen  Mann  unver- 
riiekt  auf  einen  etwa  12  Fuss  entfernten  Punkt  blicken  lasse,  wobei  die  Pupille  bei  seit- 
lich gestelltem  Lichte  etwa  3'"  im  Durchmesser  hat,  dass  Verengerung  der  Pupille  durch 
blosses  Annähern  des  Lichtes  auf  das  zweite  Auge  bis  auf  etwa  1 1/2'"  Durchmesser  ein 
sehr  deutliches  Vorrücken  der  Iris  wahrnehmen  lässt,  was  mit  der  Angabe  von  Helm- 
hoh  nicht  übereinstimmt.  Dieses  Vorrücken  ist  zum  Theil  reell,  weil  der  an  der  flach 
gewölbten  Kapsel  anliegende  Pupillarrand  offenbar  aufsteigen  muss,  theils  ein  schein- 
bares, durch  die  Strahlenbrechung  wie  in  dem  Versuche  mit  dem   Glase  bedingtes. 

Gegen  die  Angabe ,  dass  bei  der  Einrichtung  des  Auges  für  die  Nähe  der  grosse 
Kreis  ein  wenig  rückwärts  gezogen  wird,  habe  ich  nichts  einzuwenden,  ich  glaube  die- 
ses Zurückweichen  bei  forcirter  Accommodation  selbst  mit  freiem  Auge  wahrgenommen 
zu  haben,  und  finde  in  der  mit  der  Pupillenverengerung  beim  Accommodiren  gleichzeitig 
erfolgenden  Contraction  des  Ciliarinuskels,  aus  dessen  Mitte  die  Iris  heraustritt,  die  hin- 
reichende   Erklärung  dafür. 

Die  Behauptung  Cramer  s,  dass  es  keine  hintere  Kammer  gebe,  ist  irrig.  Die  Iris 
liegt  weder  auf  der  Zonula  Zinnii  an,  noch  auf  den  Firsten  der  Ciliarfortsätze;  erst  gegen 
den  Pupillarrand  hin  nähert  sie  sich  der  Kapsel  mehr  und  mehr,  bis  sie  völlig  an  ihr 
anliegt.  Ich  zweifle,  dass  irgend  Jemand  zahlreichere  Achsendurchschnitte  des  Auges  in 
möglichst  frischem  und  im  gefrornen  Zustande  gemächt  hat,  als  ich.  Cramer  will  zwischen 
Iris  und  Zonula  Zinnii  kein  Eis  gefunden  haben  ;  ich  habe  es  gefunden.  Bei  der  Durch- 
schneidungsmethode,  die  ich  im  1.  Bande  angeführt  habe,  fand  ich  nicht  nur  die  vordere, 
sondern  auch  die  hintere  Kammer  in  dem  Masse  geräumig,  als  der  Ciliarmuskel  mehr 
entwickelt  war.  Auch  an  Chromsäurepräparaten  fand  ich  die  Iris  nicht  an  der  Zonula 
anliegen,  obwohl  man  auf  diese  Präparate  in  Bezug  auf  die  Lage  der  Iris  wenig  Gewicht 
legen  darf,  da  die  Linse  immer  stark  aufgequollen  oder  aber  bereits  so  hart  geworden 
ist.  dass  sie  beim  Versuche  der  Durchschneidung  meistens  in  den  Glaskörper  hineinge- 
drängt wird.  Cramer  hätte  offenbar  besser  gethan,  statt  eines  schematischen,  seiner 
Theorie  zu  Liebe  nur  zu  sehr  idealisirten  Durchschnittes  lieber  einen  möglichst  getreuen, 
nach  der  Natur  gezeichneten  abzubilden.  Leider  ist  auch  die  von  Hclmhoh  gelieferte 
Abbildung  rücksichtlich  des  Corpus  ciliare  von  der  Art,  dass  ich  bis  jetzt  noch  nicht  im 
Stande  war,  einen  solchen  oder  auch  nur  einen  ähnlichen  Durchschnitt  des  Bulbus  zu 
erhalten.  —  Ausserdem  gibt  es  noch  eine  Erscheinung  während  des  Lebens,  die  ich  mir 
nicht  erklären  kann,  wenn  zwischen  Iris  und  Zonula  Zinnii  nicht  eine  gewisse  Menge 
wässriger  Flüssigkeit  vorhanden  ist.  Wir  haben  ihrer  bereits  im  2.  Bande  bei  der  Pupil- 
lenbildung erwähnt.  Wenn  man  in  einem  Falle,  wo  die  Pupille  durch  eine  centrale  Horn- 
hautnarbe verdeckt,  und  der  Pupillargrund  ganz  oder  doch  theilweise  frei  ist.  behufs  der  Pupil- 
lenbildung einen  etwa  2'"  langen  Einstich  in  die  Cornea  macht,  und  das  Messer  beim 
Zurückziehen  etwas  dreht,    so  dass  die  Wunde    momentan    klall't  und  der  Humor  aqueus 


Physiologie —  A<  commorintion.  225 

ausströmt,    so    wird    in   der  Reggj    die  nächste  Partie  Iris    mit  berausgestülpt,    und  zwar 
blasenartig,  wenn  nicht  auch    der  Pupillarrand  mit  in  die  Wunde    vorfällt.     Woher  diese 
längst  gekannte  Erscheinung,  wenn  die  Iris  überall  an  der  gespannten  Zonula  Ziunii  und 
Kapsel  anliegt?    Müsste    die   Iris    nicht  nach    dein  Gesetze  der  Attraction  zwischen  zwe 
feuchten  Platten  an  der  Zonula  halten    bleiben?    Wenn  aber  Wasser    dahinter    ist,    dann 
ist's  begreiflich,  warum  sie   überhaupt  und  in  specie  blasenartig  vorgedrängt  wird.  Etwa* 
Ähnliches    findet    statt,    wenn    man    den    Durchbruch  eines  nahe  am  Rande    der  Cornea 
sitzenden  kleinen  Geschwüres  beobachtet,    wozu  namentlich  bei    Conjunctivitis  scrof'ulosa 
sich  oft  Gelegenheit  darbietet.    Das  Geschwür  durchbohrt  die  Desceinet'sche  Haut ;  kaum 
entleert  sich  ein  Theil  des  Kammerwassers,  wird  auch  schon  die  Öffnung  durch  die  bla- 
senartig hineingeschobene  Iris  verstopft,    die  sich  sofort  bis    zur   Grösse  einer  Erbse  er- 
hebt u.  s.  w.  —  Beim  normalen  Auge  ist  gewiss  eine  hintere  Augenkammer  vorhanden, 
liegt  nur  der  kleine  Kreis  der  Iris  an  der  Kapsel  an.    Bei     Augen,  deren  Accomniodation 
verloren  oder  doch  nicht  ausdauernd  ist  (Fernsichtigkeit  und  Augenmattigkeit)  und  deren 
Pupille  immer  relativ  sehr  eng  erscheint,  scheint  die  Iris  bis  gegen   den   Rand  der  Linse 
hin  (Insertion  der  Zonula  in  die  Kapsel)  an  derselben  anzuliegen,  da  man  in  dein  Grade 
der  Wölbung,  den  die  Iris  dann  darbietet,    so  ziemlich  den  Grad  der  Wölbung   und    die 
Grösse  der  Linse  erkennt. 

Die  Annahme,  dass  die  Iris  durch  seitlichen  Druck  auf  die  Linse  zur  Accommoda- 
tion  beitrage,  steht  mit  Thatsachen  der  Beobachtung  in  directem  Widerspruche.  Nicht 
bloss  bei  vollständigem  Coloboma  iridis,  sondern  auch  bei  Synechia  anterior  und  nach 
künstlicher  Pupillenbildung  besteht  entschieden  noch  die  Fähigkeit,  sich  für  nahe  Ob- 
jecte  einzurichten.  Wenn  die  Iris  seitlich  auf  die  Linse  drückt,  welche  Gestalt  nimmt 
denn  die  Linse  an,  sobald  die  Iris  wie  beim  Coloboma  totale  an  einer  Stelle  fehlt?  Wie 
können  Augen,  an  denen  ein  Theil  des  Pupillenrandes  in  eine  seitliche  Hornhautnarbe 
eingewachsen  ist,  noch  ein  ganz  gutes  Gesicht  für  nah  und  fern  besitzen?  In  diesen 
Fällen  mangelt  ja  der  Druck  der  Iris  auf  der  einen  Seite ;  muss  da  die  Wölbung  der 
Linse  nicht  unregelmässig  werden?  Ich  habe  bereits  früher  (S.  136,  B.  II.)  eines  Beam- 
ten erwähnt,  dem  ich  auf  beiden  Augen  eine  künstliche  Pupille  nach  innen  und  unten 
angelegt  habe,  welcher  aber  trotzdem  selbst  bei  6  Zoll  Distanz  ganz  kleinen  Druck  mit 
Ausdauer  lesen  kann,  und,  wenn  er  auf  die  Jagd  geht,  bloss  Nr.  20  concav  braucht, 
wesshalb  ihn  wohl  Niemand  für  kurzsichtig  erklären  oder  ihm  die  Accommodationsfähig- 
keit  absprechen  wird. 

Cramer's  Versuche  an  Seehundsaugen  beweisen  eben  nichts  weiters  als  dass  Iris 
und  Ciliarmuskel  durch  den  elektrischen  Strom  noch  eine  Zeitlang  nach  dem  Tode  in 
Contraction  versetzt  werden  können.  Wurde  durch  diese  Contraction  blos  die  Linse 
verändert?  behielt  dabei  die  hinten  (respective  oben)  blossgelegte  Glaskörperflüssigkeit 
dasselbe  Niveau  und  dieselbe  Wölbung?  Gewiss  liegt  die  Annahme  viel  näher,  dass 
durch  Contraction  der  iris  und  des  Ciliarmuskels  eher  der  Humor  vitreus  verdrängt  als 
die  Linse  in  ihrer  Form  verändert  wurde.  Wenn  nachträglich  in  einer  Anmerkung  ge- 
sagt wird,  er  habe  an  Augen,  mit  denen  er  durch  lange  Zeit  experimentirt  hatte,  einen 
förmlichen  Abdruck  des  Pupillarringes  bemerkt,  so  weiss  man  wieder  nicht,  ob  nicht 
an  einem  hinten  geöffneten  Auge  schon  der  blosse  Druck  des  Glaskörpers  und  der 
Linse,  welcher  jetzt  von  der  durch  den  elektrischen  Strom  gespannten  Iris  durch  längere 
Zeit  allein  getragen  werden  musste,  Schuld  jenes  Abdruckes  war.  Mir  ist  Letzteres  allein 
das  Wahrscheinliche,  denn  wenn  die  Linse  allmälig  ihre  Elasticität  verloren  hatte,  warum 

Arlt's  Augenheilkunde  III,  2.  J^3 


226  Augenmuskeln. 

fand  man  denn  dann  blos,  jenen  Andruck,  warum  denn  nicht  die  Äquatorialdurchmesser 
kleiner  und  den  Achsendurchmesser  grösser,  wie  es  doch  erwartet  werden  musste,  wenn 
die  Accommodation  seitliche  Compressiun  der  Linse  erfordert?  —  Wie  aber  das  Experi- 
ment nach  Durchschneidung  der  Iris  vom  Ciliar-  bis  zum  Pupillarrande  in  der  von  Gra- 
mer angegebenen  Weise  zu  Gunsten  dieser  Theorie  sprechen  soll,  ist  noch  weniger  zu 
begreifen,  da  die  Angabe  fehlt,  ob  der  Humor  aqueus  erhalten  oder  abgeflossen  war 
Aber  auch  zugegeben,  das  Karamerwasser  war  da,  und  blieb  auch  beim  Elektrischen  ganz 
erhalten:  war  auch  die  Zonula  Z.  unverletzt  geblieben?  Man  hat  alle  Ursache  zu  ver- 
mnthen,  dass  bei  dieser  Operation  auch  die  vordere  Wand  des  Petit'schen  Canales  ver- 
letzt wurde,  somit  auch  die  Function  des  Ciliarmuskels  nicht    mehr  eintreten  konnte. 

Am  wenigsten  Vertrauen  erregend  für  seine  Theorie  ist  das,  was  Gramer  über  die 
Anatomie  der  Chorioidea  und  des  Ciliarmuskels  und  über  die  Erscheinungen  nach  der 
Anwendung  von  Belladonna  angegeben  hat.  Er  behauptet  S.  97  :  „das  Stroma  der  Cho- 
rioidea sei  hinten  im  Auge  bis  an  die  Ora  serrata  innig  mit  der  Sclerotica  verwachsen- 
von  der  Ora  serrata  an  aber  sei  die  Verbindung  der  Chorioidea,  folglich  auch  des  51. 
tensor  chorioideae  mit  der  Sclerotica  viel  lockerer,  bis  zu  der  Stelle,  wo  sich  der  M. 
tensor  chorioideae  an  die  Hinterwand  des  Canalis  Schlemmii  inserirt."  Diese  Angabe  ist 
grundfalsch ;  man  braucht  eben  nur  Augen  zu  seciren,  sich  davon  zu  überzeugen.  Was 
den  Verlauf  der  Muskelfasern  in  dem  sogenannten  Ciliarbande  (vergl.  II.  B.  S.  149)  be- 
trifft, so  ist  nach  dem,  was  ich  gesehen,  die  von  Kölliher  fast  unverändert  wiedergege- 
bene ßoicw(an'sche  Abbildung  am  meisten  der  Natur  getreu,  und  sehe  ich  nicht  ein,  was 
Gramer  bestimmen  konnte,  dieselbe  zu  tadeln.  Der  Ciliermuskel  entspringt  mit  einer 
doppelten  Wurzel,  die  man  wohl  als  seine  Sehne  und  seinen  einzigen  fixen  Punkt  be- 
trachten darf,  theils  von  der  Sclera  (nach  hinten  und  aussen  vom  Schlemm'schen  Ca- 
nale),  theils  von  elastischen  Fasern,  welche  zwischen  der  Cornea  und  der  Descemet'- 
schen  Haut  (an  der  Innenseite  des  Schient /tischen  Canales)  herkommen,  und  strahlt  von 
da  theils  nach  innen  (gegen  die  Iris),  theils  nach  hinten  (gegen  die  Ciliarfortsätze),  theils 
endlich  nach  aussen  und  hinten  (gegen  die  Ora  serrata  hin)  gleichsam  fächerförmig  aus 
(auf  einer  von  vorn  nach  hinten  geführten  Durchschnittsfläche).  Ist  die  Boirman-Köl- 
liker'sche  Abbildung  richtig,  dann  lässt  der  Faserzug  nur  die  Deutung  zu,  dass  Verkür- 
zung der  Fasern  die  Ciliarfortsätze  etwas  nach  aussen  zieht,  mithin  die  fest  damit  ver- 
wachsene Zonula  Z.  in  eben  dieser  Richtung  anspannt,  und  da  diese  unelastisch  und  un- 
nachgiebig ist,  die  Linse,  während  des  Andranges  des  Glaskörpers  von  hinten,  in  ihrer 
Lage  zum   Corpus  ciliare  und  zur  Cornea  sichert. 

Über  die  Wirkung  der  Belladonna  auf  das  Accommodationsvermögen  bemerkt  Gra- 
mer, „dass  nach  Application  derselben  an  dem  mittelsten  Bilde,  bei  dem  Sehen  in  mög- 
lichster Nähe  oder  in  die  Ferne  eine  unbeträchtlichere  Verrüekurtg  als  unter  andern  Um- 
ständen wahrgenommen  werde;"  er  findet  darin  einen  Beweis,  dass  das  Aoeomtnodations- 
r  er  mögen  auf  Anwendung  eines  Mtjdriaticum  sich  um  ein  Weniges  verringert.  So  viel  ich, 
gehört  und  selbst  erfahren  habe,  nimmt  aber  die  volle  Einwirkung  der  Belladonna  (bis 
weiter  keine  Ausdehnung  der  Pupille  mehr  erfolgen  kann)  dem  Auge  die  Fähigkeit,  sich 
für  nahe  Gegenstände  einzurichten,  fast  ganz.  Wenn  nun  dennoch  eine  solche  Verrük- 
kung  des  der  Vorderfläche  der  Liuse  angehörigen  Reflexbildes  beobachtet  wurde,  dass 
man  sie  nur  als  eine  minder  beträchtliche  bezeichnen  musste,  so  erregt  dieses  gegründeten 
Verdacht,  ob  nicht  diese  Verrückung  durch  irgend  einen  andern  Umstand  bewirkt  wurde. 
Gramer   schliesst   aus    Versuchen    mit    seinem    Apparate,    dass  der  Relraclionszusland  des 


Physiologie  —  Acfonmiodntioii.  227 

Auges  im  Zustande  der  Buhe  (d.  h.  ohne  dass  die  Accoiumodationsorgane  in  Anspruch 
genommen  werden)  für  etwa  43  Centimeter  eingerichtet  sei.  Bei  einem  Militärärzte  nun, 
dessen  Nahepunkt  25  Centimeter  vor  dein  Auge  lag,  bewirkte  Einträuflung  eines  Tropfens 
Solut.  extr.  bellad.  die  Hinausrückung  bis  auf  <10  Centini.  Somit  war  offenbar,  wenigstens 
in  diesem  Falle,  die  Accommodation  so  gut  als  aufgehoben.  —  Für  sehr  beachtenswerth 
halte  ich  eine  Angabe  von  A.  v.  Graefe  (Archiv  I.  B.  1.  Abth.  S.  315)  über  das  Ver- 
hältniss  zwischen  Mydriasis  und  Accommodation.  „Zuweilen  sehen  wir  die  Accommo- 
dationslähmung  theils  spontan,  thcils  durch  therapeüt.  Agentia  verschwinden,  wahrend 
doch  die  Mydriasis  gar  nicht  oder  nur  unvollkommen  zurückgeht,  u.  umgekehrt  habe  ich 
einen  Kranken  beobachtet,  bei  welchem  die  Mydriasis  verschwand,  aber  die  Accommo- 
dationslähmung  nur  eine  geringe  Besserung  erfuhr."  —  Wenn  Leute,  deren  Pupille  durch 
Belladonna  stark  erweitert  ist,  auch  nicht  mehr  in  so  weite  Ferne  sehen,  wie  vordem, 
so  ist  diess  nicht  ein  Zeichen,  dass  eine  Beschränkung  der  Accommodationsthätigkeit 
nach  dieser  Richtung  eingetreten  sei,  denn  eine  solche  existirt  nicht,  sondern  es  ist  das 
schlechtere  Sehen  in  grösseren  Distanzen  lediglich  dadurch  zu  erklären,  dass  bei  relativ 
zu  weiter  Pupille  die  Zerstreuungskreise  zu  gross  ausfallen,  als  dass  sie  noch  in  der 
Empfindung  unterdrückt  werden  könnten. 

Indirect  dient  auch  die  Untersuchung  mit  dem  Augenspiegel  zum  Be- 
weise für  unsere  Theorie.     Wird  der  untersuchte  Bulbus    mit  dem   Finger 
comprimirt,  so  tritt  dieselbe  Erscheinung  auf,  wie  bei  forcirler  Accommo- 
dation,   nämlich   Pulsation    der   Centralavene,    wie   bereits    oben    erwähnt 
wurde.     Dieses    Phänomen    zeigt,    dass    in  dem    zweiten  Falle  so  gut  wie 
in  dem  ersten  erhöhter  Druck  statt  findet.  Nun  meint  Stellwag  und  Helm- 
holz,  es  könne  der  Glaskörper  durch    erhöhte  Spannung    der  Iris  und  des 
Ciliarmuskels    unter    grössern    Druck    versetzt   werden    (Gräfes  Archiv  S. 
68);  diess  ist  jedoch   nicht  möglich,  ohne  dass  die  Form  des  Bulbus  ver- 
ändert, d.  h.  ohne  dass    der   Bulbus   seiflich    durch    die  Recti    comprimirt, 
mithin  in  der  Richtung  der  Sehachse  verlängert  wird;  denn  der  Glaskörper 
müsste,  falls  ihn  der  Ciliarmuskel  seitlich  comprimirte,  um    eben  so  viel  in 
der  tellerförmigen  Grube  oder  nach  hinten  ausweichen,  und  die  Sclerotica 
müsste  dem  Ciliarmuskel  folgen,  also  durch  die  Luft  einwärts  gedrückt  werden. 
Einen  schlagenden  Beweis  gegen    alle  auf  Lage-  oder  Formverände- 
rung des    Krystallkörpers    basirten    Accommodationshypothesen    liefert   die 
Thatsache,  dass  mitunter  Staaroperirte  vorkommen,  welche    mit    einer  und 
derselben  Brille  sowohl  in  der  Nähe  als  in  der    Ferne  deutlich  sehen,  bei 
denen  sich  durch  Versuche  nachweisen  lässt,  dass  sie  einen  mehr  weniger 
hohen  Grad  von  Accommodationsvermögen  besitzen.    Man  hat  die  Beweis- 
kraft  dieser    seit    geraumer   Zeit    zur   Sprache    gebrachten    Thatsac  he    au 
mehrfache  Weise  zu  beseitigen  gesucht,   indem    man    die  Thatsache  selbs 
läugnete,  sie  auf  Täuschung  zurückführen  wollte,  oder  für  Fälle,  wo  diess 
nicht    wohl    möglich   war,    annahm,    dass    entweder  die    Linse    regenerirt 

15* 


228  Augenmuskeln. 

worden  sei,  oder    dass  der   nach  vorn   gewölbte  Glaskörper  die  Rolle  der 
Linse  übernommen  habe. 

Beobachtungen,  wo  ein  mehr  weniger  gutes  Accommodationsvermögen 
nach  Staaroperationen  bestand,  finden  sich  nach  Cramer  bei  Haller,  Janin, 
Pellier,  Gleise,  Hichfer  und  Andern.  Home  stellte  an  einem  durch  die 
Extraction  vom  Staare  befreiten  21jährigen  Matrosen  zahlreiche  Beobach- 
tungen (mit  Engte field  und  Ramsden)  an,  bei  denen  sich  unter  andern 
auch  herausstellte,  dass  derselbe  im  Sc/ie^er'scheh  Versuche  einen  aufge- 
spannten Faden  zwischen  83/,0  und  13'/,  „Zoll  Entfernung  einfach  sehen  konnte, 
folglich  ein  ziemlich  bedeutendes  Einrichtungsvermögen  entschieden  nachwies 
—  Maunoir*)  hatte  einen  Jüngling  von  17  Jahren  1834  auf  dem  linken, 
1835  auf  dem  rechten  Auge  durch  Discission  operirt;  dieser  erhielt  ein 
so  gutes  Sehvermögen,  dass  er  mit  einem  und  demselben  convexen 
Glase  in  den  verschiedensten  Entfernungen  deutlich  sah."  Er  Hess 
sich  sogar  in  ein  Wettschiessen  ein;  das  Ziel  war  200  Schritte  ent- 
fernt; er  machte  4  Schüsse,  welche  alle  die  Scheibe  trafen,  und  er 
gewann  einen  Preis.  Das  Glas ,  dessen  er  sich  beim  Schiessen  be- 
diente, und  das  er  auch  auf  der  Jagd  trägt,  war  dasselbe ,  mit  dem  er 
bei  Maunoir  einen  sehr  kleinen  Druck  mit  der  grössten  Leichtigkeit 
las."  Auch  Stellwag  von  Carion**)  macht  eine  hierauf  bezügliche  Mit- 
theilung. „Besonders  auffallend  war  mir  das  Accommodationsvermögen 
eines  vor  der  Trübung  seiner  Krystallkörper  sehr  kurzsichtigen  jüdi- 
schen Religionslehrers.  Nach  der  Operation  las  er  klein  gedruckte 
Schrift  prompt,  unterschied  aber  auch  weit  entfernte  Gegenstände ,  z.  B. 
das  Fensterkreuz  eines  gewiss  300  Schritte  entfernten  Flügels  des  hie- 
sigen Krankenhauses  ganz  deutlich  und  rein."  Zwei  von  mir  gemachte 
Beobachtungen  habe  ich  bereits  im  2.  Bande  S.  347  angedeutet.  Der 
Mann,  welcher  mit  einer  Brille  von  3"  Brennweite  nach  der  Natur  zeich- 
nete (ich  besitze  noch  eine  solche  Zeichnung),  war  früher  kurzsichtig  ge- 
wesen; diese  Beobachtung  schliesst  sich  somit  an  die  Stellwag* sehe  an 
Der  andere,  ein  Jüngling  von  19  Jahren,  einer  Familie  angehörend,  von 
der  noch  2  Mitglieder  ohngefähr  in  demselben  Alter  Cataracta  bekommen 
hatten,  konnte  Druckschrift  von  nicht  ganz  V"  Höhe  (wie  ohngefähr 
Jägers  Nro.  8 — 9)  mit  einem  Glase  von  3'/a  Zoll  Brennweite  in  den  Di- 
stanzen von  6"  bis  24"  bequem,  mit  Anstrengungung,  und  wie  es  schien 
mehr  errathend,  auch  noch  bei  30  Zoll  lesen,  und  gab  die  Zeiger  einer 
mindestens  500  Schrille  entfernten  Thurinuhr    richtig  an.     Er    war    früher 

•)  Annales  d'oculisl.   par.  Fl.   Cunier  T.  IX.   y.    14. 
**)  Zeitschrift  der  Wiener   Aule   1650,  3.  H.  S.  »95. 


Physiologie  —  Acroniniodatioii.  229 

nicht  kurzsichtig  gewesen  und  hatte  bis  in  sein  16.  Jahr   überhaupt  nichts 
von  einem  Augenübel   gewussl.     Die   Probe    mit  dem  Scheiner'schen  Ver- 
suche habe  ich  nicht  gemacht.     Ich  halte  sie  nicht  für  untrüglich,  wie  ich 
spater  noch  nachweisen    werde.     Dagegen    habe    ich    die   Seliproben  nicht 
nur   auf   der    Klinik,    sondern    auch    in  Gegenwart  des    Herrn  Prof.  Ryba 
öfters  wiederholt.     Zur  Zeit  dieser  Proben    war  das    eine  Auge    1 y2,    das 
andere   gegen  3/4  Jahre    operirt.     Der  junge    Mann  befindet  sich   jetzt    in 
Amerika.     Dieser  Fall  reiht  sich  an  den  von  Maunoir  und   von    Home  an. 
—   Volkmann  (W.  Hnndw.  S.    305),    der  wenigstens   in    dem    Home'schen 
Falle    Accommodation   zugeben    muss,    sucht     die    auf    Linsenveränderung 
basirte  Hypothese  nun  dadurch  zu  retten,    dass  er  sagt,  da  die  Sehproben 
erst  4  Jahre  nach  der  Operation    angestellt  wurden,    so  sei  hier  wohl  an 
Regeneration  der  Linse  zu  denken.     Dasselbe    Bedenken    treffe  auch  zwei 
von  ihm  selbst  gemachte  Beobachtungen,   wo  nach  der  Staaroperation  Ac- 
commodation bestand.    Ich  glaube    im  2.  Bande  S.  246 — 249  hinreichende 
Gründe  dafür  angeführt  zu  haben,  dass  man    durchaus  nicht  berechtigt  ist, 
an  eine  Regeneration    der   Linse    nach  Staaroperationen  zu  glauben.     Man 
verlangt  nicht  weniger,  als  dass  die  eingerollte  und  eingeschrumpfte  Kap- 
sel wieder   normal   werde.     Man   vergisst ,    dass    bei   solchen   Operationen 
ein  Zeitpunkt  hätte   eintreten  müssen,  wo  sie,  ob  der  vom  Rande  her  vor- 
rückenden frischen  Linsensubstanz,  die  doch  wohl  nicht  gleich  regelmässig 
begrenzt  sein  konnte,  alles  undeutlich  und    verworren  sahen.     Die  Unter- 
suchung mit  dem  Augenspiegel  wird  dem  Streite  bald  ein  Ende  machen.  — 
Für    den  Fall,    als    man    dennoch    zugeben    müsste ,    dass    Accommodation 
trotz  nicht  regenerirter  Linse  bestehe,    hat   man    endlich    noch  in  vorhin- 
ein an  eine  Erklärung  gedacht,    die   nicht   nur   der  Beobachtung,    sondern 
auch  den  einfachsten  physikalischen    Gesetzen  widerspricht,    nämlich    dass 
der  Glaskörper  nach  Verlust  der  Linse    sich  in   der    tellerförmigen    Grube 
vorwärts  wölbe,  und  unter  dem  Drucke  des  Ciliarkörpers    eine   bald  mehr 
bald  weniger  starke  Convexität  annehmen  könne.  Stellwag  (Ophthalmologie) 
hält  sich  nach  Untersuchungen  am  Cadaver  zu  der  Annahme  einer  solchen 
Convexität  der  tellerförmigen  Grube  für  berechtigt.    Allerdings,  wenn  man 
die  Hornhaut  und  Iris  beseitigt  hat,  und  nun  den  hinten  anfliegenden  Bul- 
bus betracliet,  wird  man  die  tellerförmige   Grube  vorwärts  gewölbt  finden- 
So  verhält  sich's  aber  nicht   während  des   Lebens.     Die  Untersuchung  mit 
freiem  Auge  und  mit  dem  Augenspiegel  kann  das  nachweisen.  Wenn  nach 
einer  Staaroperation  Heilung  eingetreten    ist,  so  streicht  eine  Scheidewand, 
gebildet  von  der   hintern  Kapselwand  und    gegen    die    Peripherie   hin    von 
Zipfeln    der    vordem   Kapsel    (mit    mehr    weniger   Linsenresten,    zwischen 


230  Augenmuskeln. 

Vorder-  und  Hinterkapsel  eingeschlossen)  in  einer  Ebene  zwischen  Glas- 
körper und  Kammerwasser  quer  durch  das  Auge,  mit  ihrer  Peripherie 
mittelst  der  Zonula  Zinnii  an  den  Firsten  der  Ciliarfortsätze  haftend.  Diese 
ebene  Scheidewand  bietet  dem  Ciliarmuskel  den  Angriffspunkt  nach  innen, 
und  bildet  so  das  Mite!,  der  Cornea  ihre  specielle  Wölbung-  zu  sichern, 
wenn  aecommodative  Bewegungen  eintreten.  Erst  wenn  diese  Scheide- 
wand einen  gewissen  Grad  von  Festigkeit  erlangt  hat,  sind  die  Accomo- 
dationsorgane  im  Stande,  den  Glaskörper,  somit  die  hintere  Bulbuswand, 
zum  Ausweichen  nach  hinten  zu  bringen.  Hierin,  nicht  in  der  restituirten 
Linse,  liegt  der  Grund  des  allmäligen  Besserwerdens  des  Gesichtes,  respec- 
tive  des  Wiedereintretens  des  Accommodationsvermögens  bei  Staaroperir- 
ten.  Hierin  findet  die  alte  Begel,  Staargläser  erst  nach  Verlauf  von  eini- 
gen Monaten  zu  erlauben,  ihre  rationelle  Begründung;  denn  Accommoda- 
tionsbestrebungen  in  zu  früher  Zeit  würden  nachtheilig  einwirken,  die 
Cornea  verflachen.  Übrigens,  wenn  auch  der  Glaskörper  nach  vorn  eine 
convexe  Oberfläche  annähme,  das  könnte  in  der  Vereinigungsweite  der 
Lichtstrahlen  keinen  Unterschied  von  irgend  einer  Bedeutung  bewirken. 
Denn  der  Brechungsindex  des  Kammerwassers  ist  =  1,337,  der  des  Glas- 
körpers =  1.339,  mithin  wird  es  ziemlich  gleiehgiltig  sein,  ob  die  Tren- 
nungsfläche zwischen  beiden  plan  oder  mehr  weniger  convex  ist.  Jeder 
Versuch,  einen  noch  nachweisbaren  Grad  von  Accommodation  auf  diese 
Weise  zu  erklären,  verstösst  demnach  gegen  die  Gesetze  der   Physik. 

Die  Ergebnisse  an  Staaroperirten  sind  von  hohem  Werthc  für  die  Lehre  von  der 
Accomodation.  In  der  Regel  findet  man,  dass  auch  nach  vollkommen  gelungener  Staar- 
operation  wenig  oder  kein  Accomtnodationsvermöcren  besteht.  Es  besitzen  aber  auch  die 
meisten  Staarkranken,  weil  über  das  40.  Jahr  mehr  weniger  weit  hinaus,  schon  vor  der 
Staarbildung  bereits  sehr  wenig  oder  gar  keine  Accommodation.  Datirt  die  Staarbildung 
von  den  Kinderjahren,  so  ist  die  Prüfung  des  Sehvermögens  schon  in  Bezug  auf  die 
Schärfe,  wie  denn  erst  in  Bezug  auf  die  Accommodation  eine  missliche  Sache;  sie  müs- 
sen das  genauere  Sehen  erst  lernen.  Demnach  resullircn  nur  jene  wenigen  Individuen, 
welche  im  Kindes-  und  Knabenalter  gut  sahen  und  noch  vor  Eintritt  des  40.  Jahres  von 
Cataracta  befallen  wurden.  Deren  Zahl,  an  sich  schon  gering,  wird  noch  vermindert 
dadurch,  dass  nicht  bei  allen  die  Pupille  ganz  frei  und  rein  wird,  und  dass  auch  von 
diesen  nicht  alle  die  zu  x  erlässlichen  Sehproben  gehörige  Bildung  besitzen.  —  Ganz  ent- 
gangen scheint  den  Vertheidigern  der  Linsenveränderungstheorie  der  allbekannte  Aus- 
spruch der  Augenärzte,  dass  Individuen,  welche  vor  der  Cataractabildung  kurzsichtig 
waren,  im  Allgemeinen  nach  der  Operation  ein  besseres  Sehvermögen  darbieten.  Beer 
1.  c.  IL  B.  S.  338  spricht  diese  Thatsache  in  Folgendem  aus  :  „Staarblinde,  welche  vor 
der  Entstehung  der  Cataracta  schon  sehr  Cernsichtig  waren,  werden  es  nach  der  Opera- 
tion noch  mehr  sein.  Desto  mehr  erfreuen  sich  diegenigen  ihres  wiedererhaltenen  Ge- 
sichtes, welche  vor  der  Entstehung  des  Stnares  sehr  kurzsichtig  waren."     Will  man  etwa 


Physiologie  —  Aecommoriation.  231 

Beer  nicht  glauben,  weil  er  alt  ist,  so  überzeuge  man  sich  doch  selbst;  auch  Stetlwag's 
auf  Ziffern  gestützte  Beobachtung  an  dem  jüdischen  Religionslehrer  besagt  ja  dasselbe. 
Warum  sehen  aber  Kurzsichtige  nachher  besser  als  solche,  die  nicht  kurzsichtig  waren? 
Weil  sich  bei  ihnen  die  Linse  regenerirt,  oder  die  tellerförmige  Grube  vorwölbt  ?  oder 
—  weil  der  Bulbus  in  der  Sehachse  verlängert  ist?  —  Ich  halte  es  vorläufig  nicht  für 
einen  blossen  Zufall,  dass  die  Beobachtung  von  Hunte,  Maunoir  und  die  zweite  von  mir 
gerade  junge  Leute  zwischen  dem  17.  und  21.  Jahre  betreffen  ;  ob  auch  die  Operations- 
methode einen  Einlluss  habe,  ist  zweifelhaft ;  Maunoir  will  der  Discission  in  dieser  Be- 
ziehung einen  Vorzug  einräumen;  Hume  hatte  aber  extrahirt. 

Nachträglich  muss  ich  noch  bemerken,  das  Volkmanris  Behanptung.  „nur  Versuche 
nach  dem  Principe  des  Scheiner'schen  gäben  über  die  Gegenwart  des  Accommodations- 
vermögens  sichere  Auskunft,"  keineswegs  als  massgebend  betrachtet  werden  kann.  Hat 
doch  Volhmann  selbst  in  seinen  neuen  Beiträgen  zur  Physiologie  des  Gesichtssinnes 
(Leipzig  1836  S.  161)  angeführt,  „er  kenne  kein  besseres  Mittel,  um  die  Weit-  oder 
Kurzsichtigkeit  zu  schätzen,  als  das  Auge  an  einer  wohlgedruckten  Schrift  unter  verschie- 
denen Entfernungen  zu  erproben.  Die  verschiedenen  Optometer  haben  sich  auch  in  dem 
optischen  Institute  von  Tauber  als  unpraktisch  erwiesen.  Ein  sehr  auffallendes  Beispiel 
lieferte  mir  ein  Mann  von  vortrefflichem  Gesicht,  der  in  Porterfields  Versuch  (Optometer) 
die  aufgesteckte  Nadel  durchaus  nur  zwischen  5  und  7  Zoll  einfach  sehen  konnte.  Da- 
gegen vermochte  ich  mit  meinem  sehr  kurzen  Gesichte  die  Nadel  in  einer  Distanz  von 
3 '/2  — 15  Zoll  einfach  zu  sehen.  Offenbar  hindert  das  Optometer  gewisse  Augen  in  der 
freien  Ausübung  der  Accommodationskraft."  Gewiss  ist,  dass  wenn  durch  ein  doppeltes 
Kartenloch  eine  Nadel  in  verschiedenen  Entfernungen  einfach  gesehen  werden  kann;  an 
dem  Vorhandensein  des  Accommodationsvermögens  nicht  gezweifelt  werden  kann  ; 
gewiss  aber  auch,  dass  wenn  ein  zu  diesem  Experimente  Verwendeter  die  Nadel  nicht 
in  verschiedenen  Distanzen  einfach  sehen  kann,  derselbe  dennoch  ein  gutes  oder  doch 
ziemlich  gutes  Accommodationsvermögen  besitzen  kann.  Ich  bediene  mich  daher  zur  Be- 
urtheilung  des  Refractionszustandes  und  der  Accommodationskraft  seit  mehreren  Jahren 
nur  noch  ausnahmsweise  eines  Optometers,  und  zwar  eines  nach  Volkmanris  Angabe 
höchst  zweckmässig  in  Halle   angefertigten. 

Schliesslich  sei  noch  erwähnt,  dass  die  Thatsachen,  welche  uns  die  vergleichende 
Anatomie  in  Bezug  auf  das  Accommodatii>nsvermögen  bietet,  ganz  geeignet  sind,  die  hier 
entwickelte  Theorie  vor  allen  andern  plausibel  erscheinen  zu  machen.  Indem  wir  in  die- 
ser Beziehung  auf  die  vergleichende  Anatomie  und  Physiologie  von  Bergmann  und  Leuckarl 
(Stuttgart  1855)  verweisen,  können  wir  nicht  umhin,  wenigstens  eine  Stelle  (S.  478) 
wörtlich  hier  anzuführen.  „Für  die  Ansicht,  dass  Formveränderung  des  Auges  im  All- 
gemeinen als  Mittel  der  Anpassung  bei  den  Wirbelthieren  vorkommt,  sprechen  besonders 
einige  Beobachtungen  an  Säugethieren.  Thiere,  welche  abwechselnd  in  dor  Luft  und  im 
Wasser  leben,  wie  die  Seehunde,  müssen  entweder  in  der  Luft  sehr  kurzsichtig  und  im 
Wasser  sehr  weitsichtig  sein,  oder  die  Anpassungsfähigkeit  in  sehr  hohem  Grade  haben. 
Wenn  wir  bei  diesen  also  eine  ganz  eigenthümliche  Einrichtung  finden,  welche  auf  Form- 
veränderung des  Auges  deutet,  so  dürfen  wir  wohl  darin  einen  Fingerzeig  sehen.  Es 
ist  aber  bekannt,  dass  bei  Seehunden  der  vorderste  Theil  der  Sclera,  an  welchen  sich 
die  Hornhaut  setzt,  einen  breiten  festen  Gürtel  bildet,  welcher  durch  eine  weit  schmälere 
Portion  (ebenfalls  einen  Gürtel  um  das  Auge  bildend)  mit  der  derben  Sclerotien  des  Au- 
gengrundes verbunden  ist.  An  den   festen  vordem  Gürtel  setzen  sich  die  geraden  Augen- 


232  Augenmuskeln. 

muskeln  an.  Durch  deren  Mitwirkung  kann  sowohl  eine  Fonnveränderung  des  Bulbus 
bewirkt  werden,  bei  welcher  die  nachgiebige  Zone  der  Sclera  entweder  mehr  hervor- 
gepresst  wird,  so  dass  das  Auge  sich  verkürzt,  oder  es  wird  vielleicht  durch  die  auf- 
liegenden Muskeln  diese  nachgiebigere  Stelle  nach  innen  gedrückt  und  dadurch  das  Auge 
verlängert.  Ganz  besonders  geeignet  zur  Formänderung  dürften  aber  die  beiden  Obliqui 
sein.  —  Zu  Gunsten  der  Fonnveränderung  des  Auges  durch  die  Muskeln  spricht  auch, 
dass  man  bemerkt  hat,  wie  die  Muskeln  des  Meinen  Elephantenauges  bedeutend  ausge- 
bildet sind,  so  dass  ihre  Stärke  mehr  im  Verhältniss  zur  Dicke  der  Sclera  als  zur  Grösse 
des  Auges  abgemessen  zu  sein  scheint." 

B.  Abnormitäten  und  Krankheilen. 
Kurzsichtigkeit  (Myopia). 

Die  Myopie  lässt  sich  füglich  als  jener  bleibende  B  efractionszustand 
des  Auges  bezeichnen ,  bei  ivelchcm  der  optische  Mittelpunkt  seines  Ob- 
jectives  (Kreuzungspunkt  der  Richtungslinien)  und  der  Schirm  (Macula 
lutea  und  Umgebung)  abnorm  tceit  von  einander  abstehen.  Der  Grund 
hievon  liegt  nach  unserer  Überzeugung-  in  stationärer  Verlängerung  des 
Bulbus  in  der  Sehachse  auf  Kosten  der  hintern  Wand,  nicht  aber  in  stär- 
kerer Wölbung  der  Hornhaut,  wie  man  früher  meinte,  noch  in  Vorwärts- 
lagerung oder  vermehrter  Convexität  des  Krystallkörpers,  wie  man  nach 
den  Acconnnodationstheorien  von  Huek,  S/ellivag,  Cramcr  und  Heiniholz 
annehmen  müsste.  Diesen  Fehler  von  Erhöhung  des  Brechunosindex  der 
Hornhaut  oder  Linse  abzuleiten,  dazu  fehlen  die  Prämissen  der  Beobach- 
tung; ob  Verflüssigung  des  Glaskörpers  (Herabsetzung  seines  Brechunos- 
index) an  und  für  sich  Kurzsiclitigkeit  erzeuge,  ist  gleichfalls  nuch  nicht 
direct  nachgewiesen;  sie  scheint  aber  an  der  frühern  Vereinigung  der 
Lichtstrahlen  (durch  Vorwärtsrückung  des  optischen  Mittelpunktes)  einigen 
Antheil  zu  nehmen,  und  demnach  da,  wo  sie  vorkommt  (bei  höheren  Gra- 
den von  Kurzsiclitigkeit),  in  Anschlag  gebracht  werden   zu  müssen. 

Abnorm  grosser  Abstand  des  optischen  Mittelpunktes  von  der  Ma- 
cula lutea  lässt  sich  an  jedem  normalen  Auge  erzielen,  wenn  man  ihm  ein 
Convexglas  vorhält.  Der  optische  Mittelpunkt  fällt  bei  der  Combination 
der  Sammellinse  des  Auges  mit  einer  Glaslinse  nicht  mehr  in  die  Nähe 
des  hintern  Poles  des  Krystallkörpers,  sondern  weiter  vorwärts,  und  zwar 
je  nach  der  Stärke  des  Convexylases,  in  die  Mitte  des  Krystallkörpers  oder 
selbst  mitten  in  die  Pupille.  Der  optische  Mittelpunkt  des  so  bewaffne- 
ten Auges  steht  demnach  abnorm  weit  von  der  Netzhaut  ab.  Auf  diese 
Weise  kann  ein  Jeder  durch  Vorhalten  eines  Convexglases  die  Erschei- 
nungen der  Kurzsichtigkeit    an    sich    selbst    sludiren,    und    zwar    in  allen 


Kurzsichtigkeit  —  Kennzeichen.  233 

Abstufungen,  wenn  er  von  den  schwächsten  Nummern,  etwa  80"  oder  60" 
Brennweite,  zu  immer  stärkeren  aufsteigt. 

Das  nothwendige  und  unmittelbare  Ergebniss  dieses  abnorm  grossen 
Abstandes  zwischen  dem  optischen  Mittelpunkte  und  der  Netzhaut  ist,  dass 
die  Distanz  der  Objecte,  welche  auf  der  Netzhaut  abgebildet  werden  sol- 
len ,  eine  kürzere  sein  muss ,  als  beim  normalen  Auge,  und  zwar  unter 
übrigens  gleichen  Umständen  um  so  kürzer,  je  länger  jener  Abstand,  je 
kurzsichtiger  das  Auge  ist.  Ein  Kurzsichtiger  sieht  daher  Objecte  von 
einer  gewissen  Entfernung,  in  welcher  sie  einem  normalen  Auge  noch 
deutlich  oder  doch  ohne  merklich  störende  Zerstreuungskreise  erscheinen, 
bereits  undeutlich  oder  gar  nicht,  weil  die  je  einem  leuchtenden  Punkte 
des  Objectes  entsprechenden  Strahlen  schon  mehr  weniger  weit  vor  der 
Netzhaut  vereinigt  werden  und  die  Netzhaut  erst  als  Kegelquerschnitte 
treffen,  welche  mehr  weniger  in  einander  übergreifen  oder  auch  schon  je 
auf  ein  so  grosses  Netzhautareal  vertheilt  werden,  dass  jedes  empfindende 
Netzhautelement  viel  zu  wenig  Licht  von  dem  betreffenden  Sirahlenkegel 
erhält,  als  dass  es  noch  zur  Empfindung  angeregt  werden  könnte.  Die 
Kurzsicht  ig  Iteit  schliesst  demnach  die  Wahrnehmung  unendlich  weit  ent- 
fernter Objecte  nicht  aus,  wenn  dieselben  nur  ein  hinreichend  intensives 
Licht  liefern,  und  der  Sehwinkel  nicht  zu  klein  ist.  (Sterne.) 

Bei  Myopie  müssen  die  Objecte  relativ  näher  an  das  Auge  gebracht 
werden,  als  im  normalen  Zustande,  wenn  die  ihnen  entsprechenden  Bilder 
nicht  vor,  sondern  auf  der  Netzhaut  entworfen  werden  sollen.  Es  gibt 
aber  noch  andere  Zustände,  welche  eine  abnorme  Annäherung  der  Objecte 
behufs  des  Deutlichsehens  erheischen.  Die  vorzüglichsten  sind:  vermehrte 
Wölbung  der  Cornea,  centrale  Trübungen  der  durchsichtigen  Medien,  ge- 
ringere Energie  der  Netzhaut.  Diese  Zustände  können  vorhanden  sein, 
ohne  dass  der  Befractionszustand  des  Auges  eine  bleibende  Umwandlung 
in  den  der  Myopie  erlitten  hat;  sie  können  aber  auch  bereits  zu  dieser 
geführt  haben,  oder  sie  können  später  zu  dieser  hinzugetreten  sein.  Dann 
hat  man  es  aber  nicht  mit  einfacher  oder  reiner,  sondern  mit  complicirter 
Kurzsichtigkeit  zu  thun,  und  muss  das  gegenseitige  Verhältniss  erst  durch 
ein  genaues  Examen  vermittelt  werden.  Die  Nichtbeachtung  dieses  Verhältnis- 
ses ist  Schuld,  dass  noch  immer  nicht  nur  Laien,  sondern  selbs  Arzte  und 
Schriftsteller  keinen  klaren  Begriff  von  der  Kurzsichtigkeit  haben,  und  Augen 
für  kurzsichtig  halten,  welche  nichts  weniger  als  kurzsichtig  sind.  Wir 
werden  zunächst  nur  von  der  einfachen  oder  reinen  Kurzsichtigkeit  handeln. 
Die  Kurzsichtigkeit  kommt  in  sehr  verschiedenen  Graden  vor.  Von  den 
exstremsten  Fällen,  wo  z.  B.  Buchslaben  mittlerer  Grösse  nur  bei  2"  Distanz  ge- 


234  Augenmuskeln. 

lesen  werden  können,  gibt  es  allmälige  Übergänge  bis  zu  solchen  Fällen, 
wo  man  in  Zweifel  kommt,  ob  man  ein  normales  oder  ein  kurzsichtiges 
Auge  vor  sich  habe.  Niedrige  Grade  werden  bei  dem  gewöhnlichen  Seh- 
bedürfnisse gar  nicht  bemerkt,  während  höhere  Grade  unter  allen  Verhält- 
nissen —  mit  Ausnahme  weniger  Verrichtungen  —  das  Mangelhafte  des 
Gesichtes  fühlbar  machen.  Druckschriften  von  bestimmter  Grösse  können 
als  das  einfachste  Mittel  zur  Beurtheilung  der  Sehweite  benützt  werden. 
Doch  ist  zu  bemerken,  dass  es  Leute  gibt,  welche  bei  den  Proben  mit 
dem  Lesen  mittelgrossen  Druckes  sowohl  als  mit  Optometern  eine  geringe 
Sehweite  ausweisen ,  und  dennoch  in  mittlem  und  grössern  Entfernungen 
nicht  so  schlecht  sehen ,  als  andere ,  welche  bei  diesen  Proben  in  einer 
viel  grösseren  Entfernung  deutlich  sehen.  *)  —  Augen,  welche  bis  zu  24 
Zoll  Distanz  noch  mittelgrosse  (circa  3/^'J  hohe)  Druckschrift  lesen  können, 
reichen  für  die  gewöhnlichen  Anforderungen  an  das  Gesicht  bequem  aus, 
und  lassen  ihre  Mangelhaftigkeit  im  Vergleich  zu  völlig  normalen  Augen 
nur  dann  bemerken,  wenn  es  sich  um  das  Erkennen  und  Unterscheiden 
sehr  entfernter  Objecte  handelt,  wie  etwa  beim  Schiessen,  beim  Erkennen 
einer  Thurmuhr  u.  dgl.  (Niedrige  Grade  von  Kurzsichtigkeit).  Leute,  welche 
höchstens  bis  zur  Distanz  von  circa  14  Zoll  lesen  können,  fühlen  das  Be- 
dürfniss,  ihr  Gesicht  durch  Gläser  zu  unterstützen,  bereits  beim  Herum- 
gehen auf  der  Gasse,  beim  Erkennen  von  Personen  auf  15 — 20  Schritte, 
beim  Blicke  auf  die  Tafel  in  Hörsälen  u.  s.  w.  (Mittlere  Grade).  Doch  kann 
der  Gebrauch  von  Augengläsern  noch  immer  ohne  Gefahr  der  persönli- 
chen Sicherheit  im  Freien  umgangen  werden,  sobald  der  Kurzsichtige  noch 
auf  mehr  als  8  Zoll  Distanz  Mitteldruck  lesen  kann.  (Hohe  Grade.)  Solche 
endlich,  die  nur  bis  auf  höchstens  4  Zoll  noch  lesen  können,  sehen  selbst 
grössere  Gegenstände  undeutlich,  sobald  sie  über  2 — 3  Schritte  entfernt 
sind,  und  eine  grosse  Zahl  solcher  Augen  ist  bereits  zugleich  amblyopisch. 
(Höchster  Grad.) 

Je  bestimmter  die  Kurzsichtigkeit  ausgesprochen  ist,  desto  sicherer 
lassen  sich  auch  die  Grempunkte  des  deutlichen  Seitens  angeben,  und 
zwar  nicht  bloss  der  Nahe-,  sondern  auch  der  Fcrnpunht.  In  Bezug  auf 
die  Objecle,  welche  in  Distanzen  zwischen  diesen  Grenzpunkten  Haien, 
verhält   sich  das    kurzsichtige  Auge    im  Allgemeinen    genau    so    wie  das 

")  Man  hat  den  Znsland,  wo  ein  Auge  relativ  zu  seinem  Verhalten  gegen  kleine  Objecte  in  naher  und  massiger 
Entfernung  selbst  grössere  Gegenstände  auffallend  schlecht  oder  gar  nicht  sieht,  sobald  diese  über  eine  gewisse 
Grenze  hinausgeruckt  sind,  Dlyopia  in  Distans  genannt,  und  A.  von  Graefs  (Archiv  f.  Ophth.  II.  B.  1.  Ablh.  S.  159) 
hat  denselben  durch  den  Nachweis  erklärt,  dass  ein  solches  luge,  sobald  ihm  eine  scharfe  Accommodation  un- 
möglich ist,  nicht  mehr  den  relativ  günstigsten,  sondern  gerade  den  conträren  ReFrartionnziistand  annimmt,  also 
bri  der  Bemühung,  /.»  weit  entfernte  Objecle  tu  erkennen,    unwillkürlich  für  die  Nähe  eingerichlel  wird 


Kurzsichtigkeit  —  Kennzeichen.  235 

normale;  es  sieht  dieselben  unter  den  allgemeinen  Bedingungen  deutlich, 
ja  es  zeigt  im  Allgemeinen  sogar  eine  grössere  Schärfe  (Feinheit)  des 
Gesichtes,  indem  dasselbe  Object  bei  der  gleichen  Distanz  auf  seiner  Netz- 
haut ein  grösseres  Bild  entwirft,  als  im  normalen  Auge,  weil  eben  die 
Netzhaut  weiter  vom  optischen  Mittelpunkte  absteht  (III.  B.  S.  41).  Zu  die- 
sem auf  der  Strahlenbrechung  beruhenden  Momente  kommt  noch,  dass  in 
solchen  Augen  häufig  die  Energie  der  Netzhaut  (durch  Übung)  beträcht- 
lich gesteigert  ist.  Daher  sehen  Kurzsichtige  winzige  Objecte  in  gehöriger 
Nähe  oft  schärfer,  als  Normalsichtige  selbst  mit  Hilfe  einer  Loupe.  — 
Gleichwie  der  Fernpunkt  des  deutlichen  Sehens  beim  kurzsichtigen  Auge 
in  einer  bestimmten,  dem  Auge  näher  gerückten  Entfernung  liegt,  ist  in 
der  Begel  auch  der  Nahepunkt  demselben  genähert  bis  auf  4,  3,  selbst 
2  Zoll.  Da  aber  der  Nahepunkt  schon  im  normalen  Auge  nur  etwa  5'" 
vor  dem  Hornhautcentrum  liegt,  und  da  derselbe  auch  beim  höchsten  Grade 
von  Kurzsichtigkeit  bis  auf  höchstens  l^'Nähe  herangerückt  erscheint,  so 
ergibt  sich,  dass  Augen,  deren  Fernpunkt  nur  2 — 3"  weit  absteht,  der 
accommodativen  Thätigkeit  keinen  Spielraum  mehr  gestatten,  Augen  da- 
gegen, deren  Fernpunkt  z.  B.  14",  Nahepunkt  4"  oder  3"  absteht,  noch 
ein  beträchtliches  Accommodationsvermögen  besitzen.  Im  kurzsichtigen 
Auge  sind  demnach  der  accommodativen  Thätigkeit  im  Allgemeinen  um 
so  engere  Schranken  gesetzt,  je  näher  der  Fernpunkt  herangerückt,  d.  A# 
je  kurzsichtiger  es  ist.  Doch  kommen  Fälle  vor,  wo  der  Nahepunkt  nicht 
so  nahe  liegt,  als  man  nach  der  Heranrückung  des  Fernpunktes  erwar- 
ten sollte,  wo  das  Auge  z.  B.  nur  zwischen  6  und  5  Zoll  mittleren  Druck 
lesen  kann,  während  andere  zwischen  6  und  3  Zoll  lesen. 

Durch  Vorhalten  eines  entsprechenden  Concavglases  vor  das  kurz- 
sichtige Auge  kann  der  Abstand  des  optischen  Mittelpunktes  von  der  Netz- 
haut verkleinert,  mithin  dem  des  normalen  Auges  gleich  gemacht  werden. 
Ist  nun  der  accommodativen  Thätigkeit  noch  ein  grosser  Spielraum  gelas- 
sen, wie  in  der  Begel  in  Augen,  deren  Fernpunkt  nicht  unter  8  Zoll  ab- 
steht, so  kann  ein  so  bewaffnetes  Auge  fast  für  alle  Distanzen  mit  einem 
normalen  in  Concurrenz  treten,  und  es  kommt  mit  dieser  Correction  sei- 
nes Bcfractionszustandes  dem  normalen  Auge  um  so  näher,  je  weniger 
kurzsichtig  es  ist,  und  je  grössere  Excursionen  seiner  Netzhaut  (hintern 
Wand)  noch  gestattet  sind. 

Beim  Vorhalten  einer  dunklen  Metallplatte  oder  eines  Kartenblattes 
mit  einer  engen  Öffnung  nahe  vor  der  Cornea  kann  das  rein  kurzsichtige 
Auge  die  zu  Leseproben  verwendete  Schrift  eben  so  weit  wie  ein  nor- 
males Auge  lesen,    oder  doch  in  viel  grösserer  Distanz,    als  ohne  dieses 


236  Augenmuskeln. 

Hilfsmittel.  Der  Grund  hievon  liegt  darin,  dass  die  Zerstreuungskreise  auf 
Minima  reducirt  werden.  Dasselbe  suchen  Kurzsichtige,  wenn  sie  in  Ent- 
fernungen noch  deutlich  sehen  wollen,  wo  die  Zerstreuungskreise  bereits 
zu  gross  ausfallen,  durch  Verengerung  der  Lidspalle  {Blinzeln,  fiveivj  zu  be- 
werkstelligen. Der  Nutzen  des  Blinzeins  sowohl  als  der  engen  Diopteröffnun- 
gen  ist  jedoch  ein  sehr  beschränkter,  da  mit  der  Enge  der  Öffnung  aucMdie 
Abnahme  der  Lichtmenge  steigt ,  welche  von  je  einem  Punkte  des  licht- 
sendenden Objectes  zur  Netzhaut  gelangen  kann,  mithin  bei  grösseren  Entfer- 
nungen das  Netzhautbild  um  so  lichtärmer  wird,  je  enger  die  Diopteröffnung  ist. 

Mit  Hilfe  der  eben  besprochenen  Merkmale  lässt  sich  die  reine  Kurz- 
sichtigkeit  leicht  von  den  obgenannten  Zuständen  unterscheiden ,  welche 
mit  derselben  eben  nichts  gemeinschaftlich  haben,  als  dass  die  betreffende 
Person  die  Objecte ,  die  sie  noch  relativ  gut  sehen  will ,  abnorm  nahe  an 
das  Auge  bringen  muss.  Das  rein  kurzsichtige  Auge  sieht  die  Objecte, 
die  ihm  hinreichend  genähert  sind  ;  eben  so  deutlich  und  im  Allgemeinen 
noch  schärfer,  als  das  normale  Auge;  sein  Gesicht  kann  durch  entspre- 
chende Concavgläser  für  dieselben  Distanzen  wie  das  normale  adoptirt 
werden,  und  enge  Öffnungen,  nahe  vor  das  Auge  gehalten,  erweitern  die 
Sehweite  für  massige  Distanzen  um  ein  Beträchtliches.  Ich  habe  noch  nie 
eine  Person  mit  anderweitig  nachweisbarer  vermehrter  Wölbung  der  Cornea 
gefunden,  welche  ein  auch  nur  dem  normalen  Auge  an  Schärfe  gleich- 
kommendes Gesicht  gehabt  hätte,  auch  nicht  bei  beliebig  grosser  Annähe- 
rung der  Objecte.  Dass  Leute  mit  centralen  Hornhaut-  oder  Linsentrübun- 
gen keine  Gläser  finden,  welche  der  Mangelhaftigkeit  ihres  Gesichtes  ab- 
zuhelfen vermöchten,  weiss  jeder  Optiker.  Selbst  wenn  zugleich  Kurzsich- 
ti^keit  neben  einer  solchen  Trübung  vorhanden  ist,  leisten  Concavgläser 
nicht  den  gleichen  Dienst,  wie  bei  reiner  Kurzsichtigkeit.  Die  geringere 
Energie  der  Netzhaut  verräth  sich  besonders  bei  der  Probe  mit  einer  engen 
Öffnung.     (Vergl.  III.  B.  S.  99.) 

Der  Kurzsichtige  (mittlem  und  höhern  Grades)  blickt  im  Allgemeinen 
mit  etwas  mehr  convergenlen  Sehachsen  herum.  Gibt  man  ihm  ein  Buch 
zum  Lesen,  so  hält  er  es  im  Gegensätze  zum  Weitsichtigen  nicht  unter, 
sundern  mehr  gerade  vor  oder  selbst  etwas  über  den  Augen,  zumal  wenn 
er  angewiesen  wird,  in  grösstmöglicher  Entfernung  zu  lesen.  Er  neigt 
daher  auch  den  Kopf  eher  etwas  vor-  als  rückwärts.  Seine  Bulbi  fühlen 
sich  (bei  höheren  Graden)  härter  an.  zeigen  besonders  zur  Zeit,  wo  das  Übel 
noch  im  Entstehen  und  Zunehmen  begriffen  ist,  stärkere  Inject  ion  der  Ciliar- 
gefässe,  selbst  der  Conjuncliva  bulbi  et  palpebrarum,  und  relativ  (zum  Lichte in- 
ilusse  und  zur  Distanz  der    iixirten  Objecte)  grössere  Pupillen;    ihre  \  er- 


Kurzsichtigkeit  —  Kennzeichen.  237 

länge  rung  in  der  Sehachse,  welche  sich  oft  schon  aus  dem  Hervorragen  aus 
der  Orbita  (Glotzen)  vermuthen  Iässt ,  kann  bei  den  höhern  und  höchsten 
Graden  auf  die    oben    angegebene  Weise   bestimmt  nachgewiesen  werden. 

Ist  ein  Auge  in  höherem  Grade  kurzsichtig  als  das  andere,  so  kann 
man  diess  bei  nur  einigermassen  erheblicher  Differenz  schon  vor  Anstellung 
der  Sehproben  an  der  Verlängerung  in  der  Sehachse  und  an  der  dadurch 
bedingten  Prominenz  dieses  Bulbus  erkennen.  Über  die  Lage  der  Iris  in 
kurzsichtigen  Augen  haben  wir  das  Nöthige  bereits  auf  S.  212  angegeben. 

Da  nur  mittlere  und  höhere  Grade  von  Kurzsichtigkeit  Untauglichkeit 
zu  gewissen  Beschäftigungen  und  Dienstleistungen  (ohne  Unterstützung 
durch  Concavgläser)  untauglich  machen,  so  sind  dem  Arzte  schon  in  dem 
bisher  geschilderten  Verhalten  kurzsichtiger  Augen  wohl  hinreichende  und 
verlässliche  Mittel  gegeben,  um  mit  Bestimmtheit  ein  Gutachten  abgeben 
zu  können.  Es  bietet  aber  auch  noch  die  Untersuchung  mit  dem  Augen- 
spiegel einen  Anhaltspunkt  von  objectiver  Giltigkeit  dar,  zumal  wenn  man 
demjenigen,  der  ein  normales  Auge  besitzt  und  während  der  Unter- 
suchung mit  möglichster  Anstrengung  für  die  Nähe  accommodirt,  diess 
letztere  durch  ein  Mydriaticum  unmöglich  macht.  Ausserdem  liefern  auch 
Augengläser  ein  Mittel,  Simulanten  zu  entlarven.  Hält  man  demjenigen, 
welcher  sich  anstellt,  als  könne  er  z.  B.  nur  bis  8  Zoll  Distanz  lesen, 
ein  Concavglas  vor,  etwa  von  8 — 10  Zoll  Brennweite,  so  wird  er,  falls 
er  wirklich  kurzsichtig  ist,  mit  dieser  Unterstützung  nahezu  eben  so  gut 
sehen,  wie  ein  Normalsichtiger,  falls  er  aber  normalsichtig  ist,  das  Vor- 
halten eines  solchen,  und  selbst  eines  schwächeren  (etwa  bis  zu  Nr.  12) 
nicht  lange  aushalten.  Es  kann  aber  ein  normales  Auge  durch  methodishe 
Übung  mit  Concavgläsern  sich  in  kurzer  Zeit  einüben,  auch  mit  Concav- 
gläsern  ziemlich  gut  zu  sehen,  ohne  desshalb  bleibend  kurzsichtig  zu  werden. 
Daher  ist  die  Probe  mit  Concavgläsern  nicht  allgemein  verlässlich.  Setzt 
man  aber  einem  wirklich  kurzsichtigen  Auge  eine  massig  convexe  Brille 
vor,  und  zwar  von  solcher  Convexität,  dass  ein  normales  Auge  damit 
noch  in  einer  bestimmten  Distanz  lesen  kann,  wie  etwa  mit  den  Nummern 
zwischen  15  und  20",  so  wird  es  damit  nicht  lesen  können,  ausser  in  sehr 
grosser  Nähe,  und  es  wird  gewiss  nie  einen  Betrüger  geben,  der  die  Probe 
mit  coik  aven  und  die  Gegenprobe  mit  convexen  Gläsern  zu  bestehen  vermöchte. 

Sectionsbefunde  kurzsichtiger  Augen  haben  bisher  ganz  gefehlt.  Bloss  Prof.  Ritter- 
rich*)  führte  in  der  medicinischen  Gesellschaft  zu  Leipzig  (Sitzung  vom  26.  Februar 
1839)  den  Sectionsbefund  der  Augen  eines  stets  kurzsichtig  gev\esencn  Buchdruckers  an, 
der    sein   Leben    durch  Selbstmord  geendet  halte.  Die  Augapfel  waren    birnförrnig,    vorn 

*)  Schmidt's  Jahrb.   1842  Bd.  36,  S.   138. 


238 


Augenmuskeln. 


breit,  hinten  schmäler  gestaltet,  und  die  hintere  Hälfte  der  Sclerotica  verdünnt.  Ob  der 
gelehrte  Beobachter,  welcher  diesen  Zustand  für  einen  angeborenen  zu  halten  geneigt 
ist,  den  Befund  irgendwo  anders  ausführlich  notirt  habe,  ist  mir  unbekannt. 

Ich  besitze  jetzt  die  Augen  von  vier  Kurzsichtigen.  Zwei  davon  kannte  ich  wäh- 
rend des  Lebens  sehr  gut,  den  Kreisarzt  Seh.,  der  im  72.,  und  die  Witwe  meines  Leh- 
rers F.,  die  im  53.  Jahre  starb.  Die  beiden  andern  waren  Männer  von  30  und  38  Jah- 
ren; auf  ihre  Augen  wurde  ich  bei  meinen  Operationscursen  durch  die  auffallende  Tiefe 
der  vordem  Augenkammer  aufmerksam,  was  mich  zur  Herau  snahme  der  Bulbi  bestimmte; 
beide  hatten,  wie  ich  nachher  erfuhr,  Concavgläser  getragen,  welche  ich  mir  verschaffte, 
um  ihre  Brennweite  zu  erfahren;  diese  betrug  bei  dem  einen  7,  bei  dem  andern  10  Zoll. 
Die  Section  fand  bei  allen  zwischen  30 — 40  Stunden  nach  dem  Tode  statt. 


Kamen  und 
Alter 

I. 

F.  Seh.  72  J. 

II. 

F.  Macha,  38  J. 

III. 

Jos.  Fabian,  36  J. 

IV. 

Anna  F.,    53  J. 

Stand          II    Medic.  Doctor        Kattundrncker 

Zimmerwichser      Professorsgaltin 

Nummer  der 

letzt  benutzten 

Gläser 

14" 

10" 

7" 

3%" 

Äussere  Augen- 
achse (Sehachse) 

R—  12'/a'" 
L-13'" 

ru.l— 12  y2'"  r— 14  ir-isy,"1 

1 

Äquatorial- 
durchmesser 

Hör.  und  vertic. 
beiders.  —  11 1/3'" 

Hör.  und    Vert. 

R-ny2<», 

L-ll3//" 

R  bor.  —  11 '/3'" 
vert.  —   12"', 

L  hör.  —  11  »/,"' 
vert.  —  12'" 

Hör.  und  vert. 
R  -   ll3//" 
L   -  11%'" 

Tiefe  der 
Aiigenkammer 

R  ii.  L  -  1'" 

R  -  1  y4"' 
L  nicht  gemessen 

r  -  v/r 

L  nicht  gemessen 

R  -  VW" 
L  nicht  gemessen 

Achse  der  Linse 

nicht  gemessen          R  —  l3/,'"             R  —  l7/8'"              R  —  '7s'" 

Bei  keinem  dieser  Augen  bot  die  Hornhaut  eine  Abnormität  in  Bezug  auf  Dicke, 
Durchsichtigkeit  oder  Wölbung  (nach  den  Spiegelbildern  geschätzt)  dar.  Die  Lage  der 
Bulbi  konnte  nur  bei  IV.  als  glotzend  bezeichnet  werden,  und  hier  hatte  ich  die  Ver- 
längerung der  Bulbi  schon  während  des  Lebens  mit  Sicherheit  erkannt.  Auffallend  war 
mir  die  Dicke  der  Augenmuskeln,  besonders  des  Rect.  internus  und  des  Obl.  inferior  be1 
III.,  welcher  an  Tuberculosis  pulm.  gestorben,  und  bei  IV.,  welche  nach  mehrjährigem 
Leiden  zum  Skelett  abgemagert  war.  Der  Ciliarinuskel  war  bei  IV.  circa  %"*,  bei  III.  aber 
nahezu  '/2"'dick  (an  der  dicksten  Stelle,  von  aussen  nach  innen).  Bei  III.  betrug  der  Absland 
einer  durch  den  Ciliarrand  der  Iris  gelegten  Ebene  vom  Centrum  der  Descemet'schen  Haut 
1  y3'",  so  dass  demnach  Ciliar-  und  Pupillarrand  der  Iris  in  einer  und  derselben  Ebene  lagen. 

Was  nun  die  Sclera  betrifft,  so  erschien  diesselbe  bei  I.  auch  im  hintern  Umfange 
normal,  und  konnte  die  Achsenverlängerung  nur  durch  die  Messung  erkannt  werden, 
während  bei  den  übrigen  die  Bulbi  nicht  nur  durch  ihre  bimförmige  Gestalt,  sondern 
auch  durch  bläuliche  Färbung  in  der  Umgebung  des  hintern  Poles  auffielen.  Die  Zer- 
legung der  Bulbi  in  eine  obere  und  untere  Hälfte,  welche  bei  den  letzten  3  Indiv.  nur 
an   dem    rechten  Auge   vorgenommen  wurde,    erwies  alsbald,    dass  diese  Verfärbung  nur 


Kurzsichtigkeit  —  Kennzeichen.  239 

vom  Durchscheinen  der  verdünnten  und  ausgedehnten  Sclera  herrührte.  Mit  der  Sclera 
waren  auch  die  Chorioidea  und  Retina  ausgedehnt,  indem  sie  sehr  einfach  anlagen,  ohne 
mit  ihr  verwachsen  zu  sein.  Die  Macula  lutea  fehlte  in  keinem  Falle,  stand  aher  etwas 
weiter  vom  Eintritte  der  Centralarterie  ab ;  bei  IV.  betrug  der  Abstand  des  Foramen 
coeciun  vom  Centrum  der  Sehnervenpapille  2 '/,'".  Mikroskopisch  hübe  ich  diese  Par- 
tien nicht  untersucht.  Bios  bei  IV.  bot  die  Netzhaut  ein  etwas  abnormes,  punkt-  oder 
fleckweise  etwas  trüberes  Aussehen  dar,  und  erschien  die  Mitte  der  Macula  lutea  braun- 
schwarz, beim  Abheben  von  der  Chorioidea  durchlöchert. 

Bei  A.  F.  (IV.)  bot  die  bedeutend  verdünnte  und  ausgedehnte  Chorioidea  in  der  Ge- 
gend des  hintern  Poles  ein  marmorirtes  Aussehen  dar,  bedingt  durch  beinahe  gänz- 
lichen Mangel  des  Pigmentes  an  einer  rundlichen  Stelle  von  etwas  über  2'"  Durchmes- 
ser, welche  sich  unmittelbar  an  die  Schläfeseite  der  Sehnervenpapille  anschloss,  und 
nur  hie  und  da  Punkte,  Streifen  und  Fleckchen  braunen  Pigmentes  zeigte.  Der  grösste 
Pisrmentfleck  haftete  in  der  Chorioidea  gerade  an  der  Stelle  der  Macula  lutea.  In  der 
nächsten  Umgebung  dieses  Fleckes  erscheint  die  in  dieser  ganzen  Gegend  halbdurch- 
sichtige Chorioidea  unter  derLoupe  leicht  getrübt,  bläulich  weiss,  wahrscheinlich  von  Exsu- 
dat durchsetzt,  doch  mit  der  Sclera  nicht  verwachsen,  bloss  durch  die  ein-  und  austre- 
tenden Nerven  und  Gefässe  (wie  gewöhnlich)  verbunden.  Ich  hatte,  um  diese  Verhält- 
nisse im  Zusammenhange  gehörig  überblicken  zu  können,  das  linke  Auge  so  geöffnet, 
dass  ein  senkrecht  auf  die  Sehachse  durch  den  Bulbus  durchgeführter  Schnitt  nur  die 
staphylomatös  vorgetriebene  Partie  des  Bulbus  abtrennte,  und  somit  das  Präparat  noch 
heute  bequem  von  vorn  angesehen  werden  kann.  Ich  muss  zum  Verständniss  dieses  Befun- 
des noch  anführen,  dass  A.  F.  durch  viele  Jahre  Nr.  4  concav  getragen,  in  den  letzten 
6—7  Jahren  aber  zu  Nr.  3  l/2  gegriffen  hatte.  Sie  war  von  früher  Jugend  an,  wo  sie 
die  Blattern  überstanden  hatte,  in  hohem  Grade  kurzsichtig  gewesen,  und  hatte  nament- 
lich nach  zurückgelegtem  30.  Jahre  wegen  congestiv-entzündlicher  Erscheinungen,  wel- 
che Amaurosis  befürchten  Hessen,  oft  ärztliche  Hilfe  in  Anspruch  genommen.  Auf  dem 
linhen  Auge  hatte  sie  in  den  letzteren  4 — 5  Jahren  die  Zeichen  centraler  Netzhautamau- 
rosis  dargeboten,  indem  sie  auch  bei  grösster  Annäherung  der  Objecte  nur  mit  den  seit- 
lichen Partien  der  IVetzhaut  sah,  und  weder  Concavgläser  noch  feine  Kartenblatlöffnun- 
gen  das  directe  Sehen  mit  der  Macula  lutea  ermöglichten.  Ich  hatte  ihr  desshalb  auch 
in  den  letzten  3  Jahren  das  Tragen  von  Augengläsern  gänzlich  untersagt,  obwohl  sie 
dadurch  in  einen  Zustand  von  Unthätigkeit  versetzt  war,  der  ihrem  regen  Geiste  grosse 
Opfer  kostete.  Während  der  Krankheit,  der  sie  nach  anderthalbjährigem  Leiden  unter- 
lag, hatte  sich  der  Zustand  ihrer  Augen  —  mit  Ausnahme  der  centralen  Lähmung  am 
linken  Auge  —  merklich  gebessert,  indem  sie  namentlich  nicht  mehr  so  sehr  von  feu- 
rigen und  farbigen  Erscheinungen  und  von  zeitweiligem  Halbsehen  geplagt  wurde,  eine 
Besserung,  die  ich  dem  Unistande  zuzuschreiben  geneigt  bin,  dass  die  Patientin  sich 
jetzt  auch  des  Schreibens,  Strickens  u.  dgl.  beinahe  gänzlich  enthalten  musste.  Ich 
will  noch  hinzufügen,  dass  A.  F.  in  ihrer  Kinderjahren  gleich  ihren  3  Geschwistern  sich 
eines  normalen  Gesichtes  erfreut  hatte,  und  dass  von  diesen  nur  ein  Bruder  (Med. 
Doctor)  kurzsichtig  ist.  Soll  ich  nun  meine  Ansicht  über  diesen  Fall  abgeben,  so  lautet 
sie  dahin,  dass  A.  F.  nicht  desshalb  kurzsichtig  wurde,  weil  Chorioiditis  in  der  Gegend 
des  hintern  Poles  statt  gefunden  hatte,  sondern  dass  in  ihren  Augen,  nachdem  sie  in 
höherem  und  höchstem  Grade  kurzsichtig  geworden  waren,  partielle  Chorioiditis,  an  der 
Macula    lutea  zuletzt  auch  Retinitis    aufgetreten  ist,    höchst  wahrscheinlich  bedingt  durch 


240  Augenmuskeln. 

zeitweilig  auftretende  kleine  Apoplexien,  welche  ihren  Grund  entweder  darin  fanden, 
dass  bei  der  starken  Rückwärtsdrängung  der  hinter  Wandung  der  Rückfluss  durch  die 
hintern  Ciliarvenen  behindert  war,  oder  darin,  dass  nach  Momenten  stärkerer  Ausdeh- 
nung der  aller  Elasticität  verlustigen  hintern  Wandung  ein  Moment  eintrat,  wo  die 
Gefässe  der  Chorioidea  und  Retina  unter  geringerem  Drucke  standen.  Nachzutragen 
habe  ich  noch,  dass  der  Glaskörper  ohngefähr  in  seiner  hintern  Hälfte  verflüssigt  war, 
und  zwar  in  beiden  Augen,  und  dass  die  Kranke  sich  häufig  nicht  bloss  über  fliegende 
Mücken,  die  sie  nie  verliessen,  sondern  auch  —  wenigstens  in  den  letzten  Jahren  — 
über  dunkle  und  feurige  Scotome  beklagt  hatte. 

Ich  sehe  demnach  in  den  genannten  4  Fällen  ein  und  dasselbe  Grundleiden,  nur 
in  sehr  verschiedenem  Grade  ausgesprochen,  und  diess  ist  ein  Grund  mehr,  der  mich 
bestimmt,  das  Vorhandensein  von  Veränderungen  in  der  Chorioidea  und  Retina  nicht  als 
das  primäre,  sondern  nur  als  etwas  zu  den  höchsten  Graden  von  Kurzsichtigkeit  zufällig, 
nicht  nothwendig  Hinzutretendes  zu  betrachten.  Ich  habe  in  der  Zeit  von  10  Jahren 
an  vielen  Augen  zufällig  (in  der  Leichenkammer)  Ausbuchtungen  der  hintern  Wandung 
gefunden,  ihre  Bedeutung  aber  viele  Jahre  nicht  gekannt.  Unter  den  Präparaten,  wel- 
che ich  als  Staphyloma  posticum  Skarpae  aufbewahre,  finden  sich  mehrere  mit  centra- 
len Hornhautnarben,  eines  auch  mit  Centralkapselstaar  grösserer  Ausdehnung  (Pyrami- 
denstaar).  Bei  einem  der  ersten  dieser  Präparate*)  war  ich  geneigt,  den  nächsten  Grund 
dieser  Ausbuchtung  in  senilem  Schwunde  der  Sclera  zu  suchen,  weil  der  Zufall  mich 
diesen  Befund  gerade  bei  sehr  alten  Individuen  hatte  finden  lassen.  Später  aber,  als 
ich  ihn  mehrmals  mit  centralen  Trübungen  der  durchsichtigen  Medien  und  auch  bei  jün- 
geren Individuen  gefunden  hatte,  musste  an  einen  Zusammenhang  dieser  Momente  ge- 
dacht werden,  und  jetzt,  wo  ich  das  Staphyloma  posticum  in  verschiedenem  Grade  be 
erwiesener  Massen  Kurzsichtigen  gesehen  habe,  bleibt  nichts  übrig,  als  anzunehmen, 
dass  jene  centralen  Trübungen  zu  Kurzsichtigkeit  führten,  und  somit  dasselbe  bewirkten, 
was  an  andern  Augen  einfach  durch  unzweckmässige  Verwendung  der  Augen  in  der 
Jugend  zu  Stande  gebracht  worden  war. 

Wir  können  nun  noch  ein  objeetives  Merkmal  der  Kurzsichtigkeit  aufstellen,  doch 
nur  für  die  höheren  und  höchsten  Grade.  Es  ist  diess  die  Rareficirung  der  Chorioidea 
und  ihres  Pigmentes  in  der  Gegend  des  hintern  Poles,  welche  sich  mit  dem  Augenspie- 
gel nachweisen  lässt.  Solche  Augen  lassen  sich  bequem  im  umgekehrten  Bilde  ohne 
Hilfe  eines  Convexglases  in  der  Distanz  von  12—8  Zoll  untersuchen.  Man  kann  diese 
Veränderung  des  Augengrundes  auch  an  Augen  finden,  welche  —  abgesehen  von  der 
Kurzsichtigkeit  —  ein  ganz  gutes  Gesicht  besitzen. 

Ätiologie.  Die  Kurzsichligkeit  ist  bekanntlich  in  civilisirten  Ländern 
eine  sehr  häufige  Erscheinung-,  und  auch  da  unter  gewissen  Ständen  ungleich 
häufiger,  als  unter  andern.**)  Sie  kommt  unstreitig  am  häufigsten  bei  jenen 
Individuen  vor,  welche  im  Knaben-  oder  selbst  schon  im  Kindesalter  an- 
haltend und  vorwaltend  mit  der  Betrachtung  feiner  Objecte  (Lesen,  Schrei- 

*)  Prager  medie.  Vierteljahrschrifl  1817,  2.  B.  S.  58. 
*')   Furnari  (Ann.   d'Oculisl.  T.   X.  p.   115)    fand  bei    den   Kabylen  fast  durchaus  grosse,  hervorragende   Augen,    doch 
keine  Kurzsichtigen.     Er    fand     die  Pupille   bei    diesen  Völkerschaften  relativ  enge    und   die  Iris  vorwärts  gewölbt, 
daher  die  vordere  Kammer  kleiner,  Ins  und  Cornea  haben    einen  kleinem  Umfang  als  bei  den  Europaern. 


Ktirzsichtigki'it  —  Ätiologie.  241 

ben,  Zeichnen,  Sticken,  Nähen  u.  dgl.)  beschäftigt  wurden,    und  tritt  mei- 
stens erst  um  das  12.  —  16.  Jahr  herum  so  deutlich  in  die  Erscheinung, 
dass    sie    bemerkt    wird.     Vor   dem    7.  Jahre    habe    ich   noch  keinen  Fall 
reiner  Kurzsichtigkeit  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt,  gleich  wie  mir  nur 
selten  ein  Fall  von  Kurzsichligkeit  höheren  Grades  vorgekommen  ist,  welche 
sich  in  Augen  entwickelt  halte,    wo  sie  nicht  schon  vor  dem  Eintritte  der 
Pubertät    in    einem    gewissen  Grade   bestanden   hatte.     Manche   betrachten 
ihre  Kurzsichtigkeit   als    erblich  ,    weil  Eltern    oder  Geschwister  gleichfalls 
kurzsichtig   waren ,    oder    weil    sie    ihr  Übel    schon    zur  Zeit    des    ersten 
Schulbesuches    bemerkt   haben    wrollen.     Mir    fehlen    hierüber  verlässliche 
Beobachtungen.     Wenn  übrigens  bei  Kindern  kurz-  oder  schwachsichtiger 
Eltern  Kurzsichtigkeit   auftritt,    so  ist  wohl  auch  an  unwillkürliches  Nach- 
ahmen der  Manieren  der  Eltern  zu  denken,    und  wenn  Kurzsichtigkeit  bei 
mehreren  Geschwistern  vorkommt,  so  wird  noch  untersucht  werden  müssen, 
ob    nicht   alle    eben    solchen   Verhältnissen    bei   der  Erziehung   ausgesetzt 
waren,  von  denen  es  erwiesen  ist,  dass  sie  Kurzsichtigkeit  herbeizuführen 
vermögen.    Wir  wollen  demnach  Erblichkeit  der  Kurzsichtigkeit  oder  doch 
eine    gewisse  Disposition    hiezu   nicht   gerade   in  Abrede  stellen,   glauben 
jedoch,    dass  Fälle,    wo  es  den  Anschein  dazu  hat,    mit  grosser  Vorsicht 
aufzunehmen    sein   werden.     Das  jugendliche  Alter   bietet   in  der  Weich- 
heit  und  Dehnbarkeit    der  Sclerotica   an  sich  schon  die  hinreichende  Dis- 
position zu  diesem  Zustande,  der  sich  im  Mannesalter,  wenn  das  Auge  bis 
dahin  völlig  frei  geblieben,  nur  nach  ganz  besonderen  Veranlassungen  ent- 
wickeln kann.    Ich  habe  von  einigen  Collegen  die  Klage  gehört,  dass  sie, 
obwohl   sie   sich   noch   in  den  zwanziger  Jahren  des  besten  Gesichtes  für 
nah  und  fern  erfreut  hatten,    später  durch  anhaltende  Studien,    besonders 
aber  durch  Arbeiten   mit  der  Loupe  oder  mit  dem  Mikroskope  kurzsichtig 
geworden    seien ,    indem    sie    bei   weitem   nicht  mehr  in  so  grosse  Ferne 
deutlich  sähen,  wie  vordem.     Wenn  ich  aber  den  Refractionszustand  unter- 
suchte,   so  zeigte  sich's,    dass  keine  Kurzsichtigkeit  eingetreten  war,  son- 
dern nur  Abnahme  der  Schärfe  des  Gesichtes  für  grössere  Distanzen,  dass 
sogar  der  Nahepunkt  nicht  mehr  5 ,    sondern  6  Zoll   und  darüber  vor  der 
Hornhaut  lag.     Bei  vernachlässigter  Übung  in  Fernsehen  kann  die  Schärfe 
des  Gesichtes  in  dieser  Richtung  sehr  bedeutend  abgenommen  haben,   ob- 
wohl das  Auge  fernsichtig  geworden  ist.  —  Die  grössere  Zahl  der  Kurz- 
sichtigen gehört  dem  männlichen    Geschlechte  an,  was  sich  aus  den  (spä- 
ter   angeführten)    äussern    Veranlassungen    erklärt.     Oft   ist  nur   das  eine 
Auge  kurz-,  das  andere  normal-  oder  weitsichtig;  sind  beide  Augen  kurz- 
sichtig, so  sind  sie  es  selten  in  ganz  gleichem  Grade. 

Arll'«  Augenheilkunde  III,  2.  16 


242  Augenmuskeln. 

Anhaltende,  oder  oft,  lange  und  in  kurzen  Zwischenräumen  wieder- 
kehrende Accommodation  (Anstrengung-  zum  Erkennen  naher  kleiner  Ob- 
jecte)  und  jugendliches  Alter  sind  die  Factoren  der  Kurzsichtigkeit.  Die 
Veranlassungen  hiezu  sind  mannigfaltig  und  theils  in ,  theils  ausser  dem 
Auge  gelegen.  Zu  den  ersteren  gehören:  centrale  Trübungen  der  durch- 
sichtigen Medien  und  angeborene  oder  erworbene  geringe  Energie  der 
Netzhaut,  zu  den  letzteren:  übermässiges  Beschäftigen  mit  kleinen  Objec- 
ten,  unzeitiger  und  unzweckmässiger  Gebrauch  von  Brillen,  Loirpen,  Mikro- 
skopen,  unzureichende  Beleuchtung,  zu  grosse  Annäherung  der  Objecte 
u.  dgl.  —  Centrale  Hornhaut-  oder  Linsentrübungen  geben  Veranlassung 
zur  Kurzsichtigkeit,  wenn  sie  —  ohne  Bücksicht  auf  Ausdehnung  und  Be- 
grenzung —  halbdurchsichtig  oder  stark  durchscheinend  sind ,  oder  aber 
wenn  sie  völlig  oder  nahezu  undurchsichtig,  dabei  jedoch  kleiner  als  die 
Pupille  sind.  Im  letztem  Falle  benehmen  sie  nicht  nur  eine  Quantität 
Licht,  sondern  verkürzen  auch  durch  Ausschluss  der  Achsen-  und  nächst 
gelegenen  Strahlen  die  Brennweite  des  Auges,  und  machen  aus  diesen 
Gründen  ein  stärkeres  Annähern  aller  Gesichtsobjecte ,  mithin  Forcirung 
der  Accommodationsorgane  nothwendig;  in  ersterem  Falle  wirken  sie  theils 
durch  Abhaltung  von  Lichtstrahlen  auf  die  Helligkeit  des  Netzhautbildes, 
theils  durch  Zerstreuung  eines  Theiles  der  durchgelassenen  Strahlen  (Dif- 
fusion) auf  die  scharfe  Begrenzung  desselben  beeinträchtigend,  und  laden 
hiedurch  zu  stärkerer  Annäherung  der  feinern  Gesichtsobjecte  ein.  Sind 
beide  Hornhäute  getrübt ,  so  können  beide  Augen  den  Befractionszustand 
und  die  Merkmale  kurzsichtiger  Augen  acquiriren ,  sobald  das  betreffende 
Individuum  noch  jung  ist  und  einem  oder  dem  andern  der  äussern  Ver- 
anlassungsmomenle  ausgesetzt  wird;  ist  nur  das  eine  Auge  getrübt,  oder 
das  eine  wenig,  das  andere  mehr,  so  wird,  wenn  überhaupt  Kurzsichtig- 
keit eintritt,  gewöhnlich  das  reine  oder  weniger  getrübte  kurzsichtig,  und 
das  andere,  falls  nicht  etwa  Schielen  oder  einfache  Vernachlässigung  des- 
selben (Abstrahiren  von  seiner  Erregung)  erfolgt ,  wird  nur  für  mittlere 
und  grössere  Distanzen  benützt.  Doch  können  in  Fällen  monolateraler 
Trübung  auch  beide  Augen  kurzsichtig  werden.  Man  mag  sich  diess  er- 
klären, wie  man  will,  das  Factum  ist  richtig;  ich  habe  es  —  anfangs  zu 
meiner  Verwunderung  —  oft  genug  beobachtet.  Ich  will  jedoch  nicht 
behaupten,  dass  ,  wenn  ich  das  maculöse  Auge  presbyopisch ,  das  kurz- 
sichtige dagegen  rein  fand,  dieses  letztere  auch  zur  Zeit  der  Entwicklung 
der  Kurzsichtigkeit  von  jeder  Trübung  frei  gewesen  sei,  da  bekanntlich 
nicht  gar  tief  greifende  Hornhautnarben  bei  jugendlichen  Individuen  bis- 
weilen von  selbst  spurlos  verschwinden.   —   Unter  den  äussern  Veranlas- 


Kurzsichtigkeit  —  Verlauf  —  Felgen  —  Behandlung.         243 

sungen  ist  wohl  übermässige  Beschäftigung  mit  Lesen,  Schreiben  u.  dgl. 
in  früher  Jugend  die  häufigste,  zumal  wenn  die  Kinder  dazwischen  wenig 
ins  Freie  kommen.  Viele  bringen  die  Gesichlsobjecte,  z.  B.  das  Papier, 
näher,  als  zum  Deutlichseilen  nothwendig  ist,  entweder  einfach,  weil  sie 
es  bei  andern  so  sahen,  weil  sie  gleich  beim  ersten  Unterrichte  nicht  an 
die  zweckinässigste  Distanz  (10 — 12")  gewöhnt  wurden,  weil  sie  schon 
von  der  Beschäftigung  mit  feinen  Spielsachen  in  den  Kinderjahren  an  zu 
starke  Annäherung  der  Ohjecle  gewohnt  sind,  oder  dcsshalb,  weil  sie 
dazu  genöthigt  sind:  durch  die  relativ  zu  grosse  Höhe  des  Tisches,  durch 
zu  geringe  Beleuchtung  der  Objecte  (in  dunklen  Lehrsälen,  bei  unzuläng- 
lichem künstlichem  Lichte),  blasse  Tinte,  schlechte  Druckerschwärze,  zu 
kleine  oder  zu  eng  an  einander  gedrängte  Buchstaben,  zu  fein  geschnit- 
tene Federn,  zu  wenig  lichtes  Papier,  oder  durch  bereits  eingetretene  Er- 
müdung des  Auges  und  momentane  Schwächung  der  Sehkraft  wegen  be- 
reits zu  lange  fortgesetzter  monotoner  Beschäftigung  (ohne  Abwechslung, 
ohne  gehörige  Pausen).  Gesunkene  Energie  der  Netzhaut  scheint  auch 
die  Ursache  zu  sein,  dass  sich  die  Kurzsichtigkeit  —  auch  ohne  voraus- 
gegangene Entzündung  an  den  Augen  —  nach  Scharlach,  Masern,  Blattern, 
Typhus  u.  dgl.  leicht  entwickelt,  wenn  die  Kinder  noch  vor  völliger  Er- 
holung zu  angestrengtem  Betrachten  naher  Objecte  zugelassen  oder  an- 
gehalten werden.  Hier  tritt  indess,  wie  wir  später  sehen  werden,  häufi- 
ger Augenmattigkeit  ein. 

Dass  wiederholte  und  anhaltende  Beschäftigung  mit  dem  Mikroskope 
oder  mit  Loupen  temporär  oder  bleibend  zu  Kurzsichtigkeit  führt  oder  die 
schon  vorhandene  mehr  weniger  steigert,  ist  Thatsache  der  Beobachtung. 
Dasselbe  gilt  vom  unzeitigen  und  unzweckmässigen  Gebrauche  coneaver 
Brillen.  Auf  welche  Weise  diess  geschehe,  werden  wir  weiter  unten  bei 
Besprechung  des  Brillengebrauch.es  erörtern. 

Verlauf,  Folgen.  Die  Kurzsichtigkeit  entwickelt  sich  wahr- 
scheinlich immer  nur  allmälig  und  stufenweise  bis  zu  einem  gewissen 
Grade,  wie  er  eben  durch  die  genannten  ätiologischen  Momente  bedingt 
wird.  Dass  Congestionen  zum  Kopfe  und  zu  den  Augen  die  Entwicklung 
begünstigen  oder  gar  herbeiführen  sollten,  halte  ich  für  eben  so  wenig 
erwiesen,  als  Ruete's  Annahme,  dass  ein  Krampf  im  Ciliamervensysteme 
plötzlich  oder  periodisch  Kurzsichtigkeit  bewirken  könne.  Die  Hyperämie, 
die  sich  namentlich  während  der  Entwicklung  und  des  Fortschrittes 
der  Kurzsichtigkeit  in  den  Conjunctival-  und  Subconjunctivalgefässen 
zeigt,  ist  das  Consecutive  und  Begleitende,  nicht  aber  Theilerschei- 
nung  einer   als    Ursache    supponirten    Congestion.    —   Wo  '  die    genann- 

16* 


244  Augenmuskeln. 

ten    ursächlichen    Momente    vermieden    werden    können,    macht   das    Übel 
weiter   keine    Fortschritte,    und    die    Kurzsichtigkeit   gehört    unter    dieser 
Bedingung  durchaus  nicht  zu  den  Übeln,  welche  schlimme  Folgen  für  das 
Sehvermögen  in  sich  einschliessen.   Eine  Ausnahme  machen   vielleicht  nur 
die  höhern  und  höchsten  Grade,  und   das    in    der    Regel   nur    im    höhern 
Alter  oder  bei  irrationellem  Gebahren.    Was  man  den  kurzsichtigen  Augen 
allgemein  nachrühmt,  dass  sie  bei  angestrengten  feinen  Arbeiten  ungewöhn- 
lich lange  ausdauern   und   Erstaunliches  leisten,    ist  für    niedere,    mittlere 
und  selbst  höhere  Grade  nach    meinen  Beobachtungen  vollkommen  richtig. 
Sie  verfallen  in   spätem    Jahren   weder   der    Weitsichtigkeit    noch    —  bei 
gleicher  Anstrengung  —  der  Augenmattigkeit   (Kopiopie).  —  Niedere  und 
selbst  mittlere  Grade   verlieren    oder  vermindern    sich    bisweilen   bei    ver- 
nünftigem Gebrauche   der  Augen  in   den    Jahren,   wo    das  normale    Auge 
für  sehr  nahe  Distanzen  mehr  weniger  zu    verlieren  pflegt  (nach  dem  40. 
Jahre).  Höhere  Grade  bleiben   stationär  oder  nehmen  um  diese  Zeit  selbst 
etwas  zu.     Bei    den    höchsten   Graden    tritt    bisweilen    centrale   Netzhaut- 
amblyopie  hinzu,  leidet  überhaupt    das  Sehvermögen  leicht  durch  Glaskör- 
per-Verflüssigung und  Opacitäten,   durch   Pigmentabnahme   in    der  Gegend 
des  hintern  Poles  (Blendung,  Lichtscheue)  und  selbst  durch  mehr  weniger 
ausgedehnte  Netzhaut-  und  Chorioidealapoplexien. 

Behandlung.  Von  Heilung  der  Kurzsichtigkeit  kann  mit  Berücksichti- 
gung aller  Umstände,  der  Veränderungen  im  Auge  und  der  Verhältnisse  der 
betreffenden  Individuen,  nur  in  sehr  beschränktem  Maasse  die  Rede  sein.  Bei 
minderen  und  selbst  vielleicht  auch  noch  bei  mittlem  nicht  inveterirten  Graden 
liesse  sich  wohl  vom  theoretischen  Standpunkte    aus    eine  Retablirung  der 
normalen  Form  erwarten,  an  welche  bei  höhern  Graden  gar  nicht  zu  den- 
ken ist;  allein  man  wird  in  der   Wirklichkeit    wohl    selten  ein  Individuum 
finden,  welches   die  nöthige    Zeit,    Geduld   und  Ausdauer  hätte,    das  hiezu 
Nöthige  zu  unternehmen.    Zur  Durchschneidung  eines  oder  mehrerer  Mus- 
keln, welche  übrigens  schon   a    priori   manches  Bedenken  gegen  sich  hat, 
wird  sich  wohl  kaum  Jemand  entschliessen,  der  nicht  in  sehr  hohem  Grade 
kurzsichtig  ist,  und  in  letzterem  Falle  kann  sie  offenbar  wenig  oder  nichts 
leisten.     Das  länger   fortgesetzte  Aufbinden  eines   mit  Eisenfeilspänen  ge- 
füllten Säckchens  auf  das  Auge    bei  Rückenlage   des  Kranken    hat    mir  in 
einem  Falle  von  Keratokonus,  trotzdem  ich  die  Cur  durch  oft  und  in  kur- 
zen Zwischenräumen  wiederholte  Entleerung  des  Kammerwassers  zu  unter- 
stützen bemüht  war,  nicht  den  geringsten  Dienst  geleistet,  daher  ich  schon 
vermöge  der  Analogie  von  einem  ähnlichen   Verfahren   bei  Kurzsichtigkeit 
nichts  erwarte.     Das    von    Berthold   in    Göttingen  vorgeschlagene  Myopo- 


Kurzsichtigkeit  —  ConcavbriMrn.  245 

diorihoticon  —  berechnet  auf  suceessive  Weiterrückimg  des  Buches  beim 
Lesen  —  scheint  Andern  eben  so  wenig-  genützt  zu  haben,  wie  mir  bei 
einigen  mit  hinreichender  Beharrlichkeit  fortgesetzten  Versuchen,  denn  man 
hat  seit  der  Bekanntgebung  desselben  weiter  nichts  davon  gehört.  Kurz- 
sichtige entsprechende  Convexgläser  tragen  zu  lassen,  was  ebenfalls  em- 
pfohlen worden  ist,  habe  ich  noch  nicht  versucht.  Von  länger  fortgesetz- 
ter, jedoch  massiger  Anwendung  des  Atropinum  sulfuricum  (etwa  1 
Gran  auf  1  Drachme  Fett,  täglich  2 — 3mal  erbsengross  an  die  Stirn  ein- 
gerieben) stünde  allerdings  ein  Erfolg  wenigstens  gegen  das  Fortschreiten 
des  Übels  bei  sonst  zweckmässigem  Verhalten  zu  erwarten,  falls  sich  die 
Angabe  A.  v.  Gräfe 's  weiter  bestätigen  sollte,  dass  dieses  Mittel  nicht 
bloss  auf  die  in,  sondern  auch  auf  die  ausser  dem  Bulbus  gelegenen 
Muskeln  erschlaffend  einwirkt.  Ein  Nachtheil  steht  davon  nicht  zu  be- 
sorgen, da  ich  dieses  Mittel  in  der  angegebenen  Art  wegen  beginnender 
Cataracta  bei  einigen  Individuen  ohne  allen  Nachtheil  durch  2—3  Jiihre 
angewendet  habe.  Ich  gedenke  die  Versuche  bei  Kurzsichtigkeit  vorzu- 
nehmen, sobald  mir  dazu  geeignete  Individuen  vorkommen. 

Können  wir  auch  die  Kurzsichtigkeit  nicht  heilen,  so  können  wir  doch 
—  wie  wir  bereits  gethan  —  auf  jene  Umstände  aufmerksam  machen 
durch  deren  Vermeidung  sich  das  Entstehen  und  Fortschreiten  dieses 
Übels  verhindern  lässt,  und  es  erübrigt  nur  noch,  jenes  Mittel,  welches 
gewissermassen  zur  Unschädlichmachung  dieses  Übels  angewendet  wird, 
die  Concavbrillen  und  ihr  Verhältniss  zum  Auge  einer  nähern  Betrachtung 
zu  unterwerfen. 

Die  Erfindung  der  Brillen  ist  unstreitig  eine  der  folgenreichsten  und  wohlthätigsten, 
die  je  gemacht  worden  sind.  Der  gelehrte  Franziskanermönch  Roger  Bäcon  (geh.  1214), 
der  die  Verwendung  convexer  Linsen  als  Vergrösserungsgläser  zuerst  einführte,  scheint 
auch  die  Wirkung  der  concaven  und  convexen  Glaser  als  Brillen  bereits  gekannt  zu 
haben,  obwohl  man  ihre  Erfindung  gewöhnlich  dem  Mönche  Alex,  de  Spina  zu  Pisa  zu- 
schreibt, welcher  '  1313  starb,  und  auf  einer  Grabschrift  in  Florenz  der  Edelmann  Sal- 
viano  degli  Armati  (gest.  1317)  als  Erfinder  der  Brillen  genannt  wird.  Um  dieselbe  Zeit 
sollen  jedoch  die  Berylle  (Brillen)  in  Flandern  schon  längst  im  Gebrauche  gewesen 
sein  .*)  Sie  blieben  aber  mehrere  Jahrhunderte  lang  der  Gegenstand  der  Bewunderung, 
bis  Kepler  (1604)  ihre  Wirkungsweise  untersuchte,  und  darüber  Aufschluss  gab.  „Kepler  n 
war  von  seinem  Patron  Dielrichstein  die  Frage  vorgelegt  worden,  auf  welche  Weise 
Brillen  das  Sehen  unterstützen.  Die  erste  Antwort,  welche  er  gab,  lief  darauf  hinaus, 
der  Nutzen    der   convexen    Gläser   bestehe   darin,  dass    sie  die    Gegenstände  grösser    er- 

*)  Nach  Ceesemaeker  (Cunier  annal.  d'oculisl.  T.  XVII.  Splbr.  1S4<>)  war  Bacon  in  der  belgischen  Landschaft 
Wallonien  zu  Antin  geboren,  und  kannte  die  in  seinem  Vatertande  gemachte  Erfindung  der  Brillen  wahrschein- 
lich schon  vor  seiner  Versetzung  an  die  Universität  zu  Oxford;  gewiss  ist,  dass  er  das  Glas  zu  stinen  opti- 
sche [uslrünraenten  aus  Belgien  nach  England  bezog 


246  Augenmuskeln. 

scheinen  Hessen.  Aber  sein  P;itron  bemerkte  ihm  dagegen,  wenn  die  Gegenstände  mit 
Hilfe  dieser  Gläser  deutlicher  gesehen  werden  in  Folge  der  Vergrösserung,  so  konnten 
coneave  Gläser  keinen  Nutzen  bringen,  indem  sie  die  Gegenstände  verkleinerten.  Die  auf- 
fallende Ähnlichkeit  zwischen  Versuchen  mit  der  Camera  obscura  und  der  Art,  wie  das 
Sehen  im  Auge  vermittelt  wird,  ist  von  Baph'sta  Porta  hervorgehoben  worden,  welcher 
die  Pupille  dem  Loch  im  Fensterladen  verglich,  aber  in  den  Irrthuin  verfiel,  anzunehmen, 
dass  die  Krystalllinse  der  Hand  entspreche,  auf  welche  die  Bilder  fallen.  In  den  Para- 
lipomena  ad  Yitellionem  zeigte  nun  Kepler,  dass  diese  Function  von  der  Retina  ausgeübt 
wird,  und  gab  zuerst  ein  deutliche  Erklärung  von  der  Wirkung  der  Linsen,  sowohl  in- 
nerhalb als  ausserhalb  des  Auges,  dass  sie  nämlich  die  Strahlen  von  einem  Lichtbüschel 
convergirend  oder  divergirend  machen.  Er  erklärte  jetzt,  dass  convexe  Gläser  dem  Seh- 
vermögen fernsichtiger  Personen  zu  Hilfe  kommen,  indem  sie  die  Richtungen  divergi- 
render  Strahlen  von  einem  nahen  Gegenstande  so  verändern,  dass  sie  nachher  auf  das 
Auge  so  fallen  müssen,  als  ob  sie  von  einem  entfernten  Gegenstande  ausgegangen  seien, 
und  dass  coneave  Gläser  den  Kurzsichtigen  unterstützen,  indem  sie  eine  entgegenge- 
setzte Wirkung  auf  Strahlen  hervorbringen,  welche  von  einem  entfernten  Gegenstande 
kommen."     {Makenzie  1.  c.  S.  700.) 

Ein  Concavglas,  5  —  6"'  vor  der   Hornhaut    angebracht,  bildet  mit  der 
Sammellinse  des  Auges  eine  Combination,  deren  optischer  Mittelpunkt  wei- 
ter hinter  der  Cornea,  also  näher  gegen  die  Retina  hin  liegt.     Wenn  also 
die    von    einem    Objectpunkte    ausgehenden    Strahlen    vermöge   relativ    zu 
grosser  Objectdistanz  sich    schon    vor   der   Netzhaut    vereinigen    müssten, 
so  vereinigen  sie  sich,  falls  das  Concavglas    entsprechend  gewählt  ist,  bei 
dieser  Combination  auf  (in)  der  Netzhaut.     Die  Concavgläser  nutzen  also, 
indem  sie  die  zu  wenig  divergent   zum  Auge    gelangenden   Strahlen  jedes 
Lichtkegels  so  stark  divergent  machen  (zerstreuen),  dass  dieselben  dann  durch 
die  Medien  des  Auges    in   der   zum  Deutlichsehen    nöthigen  Concentration 
gerade  auf  oder    in   der  Netzhaut   vereinigt   werden.     Je   näher    demnach 
das   zu    sehende    Object    liegt,     d.    h.    je     mehr    divergent    die   von    ihm 
ausfahrenden  Strahlenkegel  auf  die    Hornhaut    gelangen,    desto    schwächer 
muss  das  Concavglas,  desto  länger   seine    (negative)  Brennweite  sein,  und 
denken   wir    uns    ein   kurzsichtiges    Auge    aller   aecommodativen    Thittig- 
keit  verlustig,   so     muss    dasselbe    successiv    mit    Gläsern    verschiedener 
Brennweite    bewaffnet   werden,    wenn    die    Bilder    verschieden    entfernter 
Objecte  auf  seiner  Netzhaut  scharf  abgebildet  werden    sollen.    Indem  aber 
diese  Combination  gestattet,  die  Vereinigungsweite  durch  verschieden  starke 
Gläser  beliebig  —  bis  zu    gewissen    Grenzen   —  abzuändern,    kann    auch 
die  Thätigkeit   der   hiezu   bestimmten   Accommodationsorgane    leicht    mehr 
weniger  beschränkt    werden,  und    muss  es    um    so    mehr,    je    stärker   die 
Concavgläser  sind,  je  weiter  rückwärts  die  Vereinigungsweite    durch    die- 
selben bereits  verrückt  ist.  —  Nach    dem    eben    Gesagten    wird    es    nicht 


Kiirzsichtigkeit —  Concavbrillen.  247 

schwer  sein,  einzusehen,  auf  welche  Weise  Cqncavbrillen  leicht  ein  nor- 
males Auge,  das  sich  ihrer  häufig  bedient,  kurzsichtig,  und  ein  kurzsich- 
tiges, das  dieselben  für  relativ  zu  nahe  Distanzen  benutzt  (relativ  zu  scharfe 
Gläser  trägt) ,  noch  mehr  kurzsichtig  machen  müssen,  mindestens  können. 
Jede  solche  Brille  rückt  nothwendig  nicht  nur  den  Fern-  sondern  auch 
den  Nahepunkt  weiter  vom  Auge.  Soll  man  dieses  mit  der  Brille  noch  in 
eben  solcher  Nähe  deutlich  sehen,  wie  ohne  dieselbe,  so  müssen  die 
Accommodationsorgane  in  erhöhte  Thätigkeit  gesetzt  werden,  mithin  eben 
so  wie  bei  angestrengtem  Sehen  in  die  Nähe  überhaupt  wirken.  —  Ein 
anderer,  notwendiger,  jedoch  minder  erheblicher  Nachtheil  ist  der,  dass 
jede  Concavbrille  in  dem  Masse,  als  sie  zerstreut,  auch  weniger  Licht- 
strahlen von  jedem  leuchtenden  Punkte  in's  Auge  gelangen  lässt,  und  über- 
diess  noch  eine  gewisse  Menge  davon  durch  Reflexion  an  ihrer  Oberfläche 
versplittert.  Daher  sind  diejenigen,  welche  längere  Zeit  Concavbrillen  ge- 
tragen haben,  nach  Ablegimg  derselben  eine  Zeit  lang  etwas  empfindli- 
cher gegen  denselben  Grad  von  Beleuchtung,  den  sie  mit  den  Brillen  gut 
vertrugen.  —  Ein  dritter  Übelstand,  dass  die  Objecte  verkleinert  gesellen 
werden,  tritt  nur  dann  hervor,  wenn  die  Brillen  zu  scharf  sind  oder  für 
relativ  zu  geringe  Distanzen  gebraucht  werden. 

Brillen  dürfen  im  Allgemeinen  nur  bei  einfacher  (nicht  complicirter) 
Kurzsichtigkeit  getragen  werden.  Bei  Trübungen  in  den  durchsichtigen 
Medien  ist  die  Lichtmenge  ohnehin  schon  beschränkt,  und  wird,  wenn  noch 
das  Tragen  von  Brillen  dazu  kommt,  die  Anstrengung  der  Netzhaut  leicht 
zu  einer  gefährlichen  Höhe  hinaufgeschraubt.  Ebenso  ist  bei  sehr  hohen 
Graden  von  Kiirzsichtigkeit  (Fernpunkt  für  Lesen  mittlem  Druckes  4"  oder 
darunter)  das  Tragen  einigermassen  scharfer  Gläser  um  so  gewagter,  je 
mehr  bereits  die  Zeichen  von  Glaskörperverflüssigung,  Netzhauthyperästhesie, 
intraoculärer  Apoplexie  u.  dgl.  ausgesprochen  sind,  und  kann  im  Allgemei- 
nen bloss  das  Tragen  einer  relativ  zu  schwachen  Brille  gestattet  werden. 
Bei  der  Frage,  ob  überhaupt  eine  Brille  gebraucht  werden  soll,  wird  übri- 
gens noch  zu  erwägen  sein,  ob  die  Kurzsichtigkeit  nicht  erst  im  Entste- 
hen begriffen  ist,  ob  eine  Retablirung  zum  normalen  Zustande  nicht  durch 
Ruhe  des  Auges  (Abänderung  der  Verhältnisse,  unter  denen  das  Übel  ent- 
stand) noch  erwartet  werden  könne,  ob  nicht  wenigstens  auf  Abnahme  des 
durch  übermässige  Anstrengung  in  jüngster  Zeit  gesteigerten  Übels  ge- 
rechnet werden  dürfe.  Denn  bei  geringen  Graden  ist  entweder  gar  keine 
Brille  oder  nur  zu  besondern  Zwecken  und  bloss  auf  die  Zeit  solcher 
Zwecke  zu  gestatten. 


248  Augenmuskeln. 

Wie  stark  (von  welcher  Brennweite)  soll  die  Brille  sein?*)  Diess 
hängt  ab  von  dem  Grade  der  Kurzsichtigkeit  und  von  dem  Zwecke  (der 
Distanz,  in  welche  sie  tragen  soll).  Dass  hiebei  zugleich  auf  die  Grösse 
der  Objecte  und  auf  die  Beleuchtung  Rücksicht  zu  nehmen  sei,  versteht 
sich  gewissermassen  von  selbst.  In  einem  zu  dunklen  Lokale  wird  man 
eben  so  leicht  einen  Missgriff  begehen,  als  in  einem  zu  lichten,  oder  un- 
zweckmässig (durch  Doppel-  oder  stark  reflectirtes  u.  dgl.  Licht)  erhell- 
ten. —  Der  Fernpunkt  des  deutlichen  Sehens  ist  der  Ruhepunkt  des  kurz- 
sichtigen Auges;  er  bezeichnet  den  in  dem  Baue  begründeten  Refractions- 
zustand  desselben ,  der  eben  durch  die  Brille  corrigirt  werden  soll.  Man 
kann  ihn  auf  verschiedene  Weise  ermitteln,  am  einfachsten  und  im  Allge- 
meinen mit  hinreichender  Schärfe  und  Verlässlichkeit  durch  Leseproben  mit 
3/4- — V"  hoher  Druckschrift.  Man  gibt  dem  Brillencandidaten  das  Buch  in  die 
Hand,  lässt  ihn  dasselbe  so  weit  von  den  Augen  halten,  als  es  ohne  merk- 
liche Beeinträchtigung  der  Deutlichkeit  und  ohne  Blinzeln  geschehen  kann, 
und  misst  während  dem  mit  einem  Zollstabe  die  Distanz  zwischen  Auge 
und  Druck  (in  der  Richtung  der  Sehachse).  —  Die  Distanz  des  Fernpunktes 
multiplicirt  mit  der  Distanz,  in  welcher  deutlich  gesehen  werden  soll,  und 
dividirt  durch  die  Differenz  derselben,  gibt  im  Allgemeinen  die  Brennweite 
des  gesuchten  Glases.  Wenn  nun  ein  Kurzsichtiger  bis  auf  höchstens  5" 
Distanz  lesen  kann,  aber  bei  ungefähr  10''  Distanz  lesen  oder  eine 
ähnliche  Beschäftigung  vornehmen  will,   so  braucht  er  hiezu  Nro.  10,  weil 

5.10 

ttz v     =  10.      Soll  er  Noten  lesen,    also  etwa    bei   15",    so  braucht 

10  —  5 


*)  Die  Oplilier  bezeichnen  heutzutage    die  Brillen    ziemlich  allgemein    nach    der  Brennweile  in  Zollen  (in  Österreich 
nach  dem  Wiener  Masse),    und  halten    von  Concavgläsern  die  Nummern  von  2"  bis  36"  vorräthig.     Zwischen   2 
und  7  findet  man  Abstufungen  zu  «/,,  selbst  zu  •/,  Zoll,   von  7—18  zu  1   Zoll,  dann  20,  22,  24,  27,  30,  33,  36. 
Die    letztern  6   kommen  indessen  selten    in  Anwendung  (oder  doch  nur  als  sogenannte   Conservationshrillen  mehr 
als  Luxus-  und  Modeartikel),  und   die   unter  4"  könnten  füglich  gestrichen    werden,     Handelt  es  sich  um  die  Be- 
stimmung   der   Brennweite  irgend  eines  vorliegenden     Concavglases,    so    kann    man  dieselbe  annähernd  schützen 
nach  dem  Grade,    iu    welchem  es   Gegenstände   von    bestimmter    Entfernung  verkleinert  zei<rl ;    man    kann   durch 
Vergleichung  mit  coneaven   Gläsern  von  bekannter  Brennweite   der  Wahrheit  sehr  nahe  kommen;  die  nothwendige 
Genauigkeit  lässt  sich  jedoch  nur  dadurch  erhallen,    wenn  man   das  Concavglas  an   ein  stärkeres   Convexglas  von 
bekannter    Brennweile    anlegt  und   nun    die  Brennweite  dieser  Combination  nach    der  bei    Convexgläsern    üblichen 
Methode   ermittelt,    was  jedoch  ziemlich  schwierig  und   umständlich   ist.     Am  besten  ist,    man    hält    das    fragliche 
Concavglas,  dessen  Brennweite  man  nach   dem  Grade  der  Verkleinerung  beiläufig  ennitUlt  hat,  .in   ein  Com-exs;lns 
von  nahezu  derselben  Brennweite,   visirt  durch   diese  Combination  nach  einer  fernen  Thurmspilze  ,    und   gibt  Acht, 
ob    die  Thurmspilze  fest  an  demselben    Orte  gesehen  wird,    wenn  man   die  Combination  leicht  vor  dein  Auge  hin 
und   herschiebt.     Gesetzt,   man   hätte  aus  dem  Grade  der  Verkleinerung  crmessen,    dass  die  Brennweite  nicht  slär 
ker  als  7,   nicht  schwächer  als  9  sei;  man  lege   nun  $  convex  an  das  fragliche  Concavglas  ;   hat  diess   die  Brenn- 
weite von  8",   so  wird  die  visirte  Tlmrnispitzc  sich  bei    raschem   Hin-  und  Herschieben  der  Combination  VOI  dem 
Auge  eben  so  wenig  bewegen,  als  wenn  man    ein  Planglas  zu   diesem  Experimente  benutzte.    Von  der  Hichtigkeil 
dieser  Angabe  kann  man  sich   überzeugen,  wenn   man  ein  ganz   schwach   coneaves    Glas,    das  gar    keine  Verklei- 
nerung mehr    wahrnehmen  lässt,   etwa  36  odor  48    vor  dem   Auge    hin   und   her  bewegt 


Ktirzsichtigkeit  —  Concavbrillen.  249 

5.15 
er  hiezu  Nro.  7V23  weil       '         ==  71/».    Für  die  Distanz  von  12  Fuss,  etwa 

12.12.5  720 

um  in  einem  Hörsaale  auf  die  Tafel  zu  sehen,  ist  ■  —  —^-.  =  5,18". 

Für  alle  grösseren  Distanzen  kann  dieser  Factor  =r  oo   angesehen  werden, 
gibt  mithin  die  Distanz  des  Fernpunktes  der  deutlichen  Sehweite  auch  die 


C£r-V> 


Brennweite  des  zu  wählenden  Glases  I  =5  I.  Es  ist  je- 
derzeit gerathen,  die  Brille  um  einen  halben  oder  ganzen,  und  wenn  über- 
haupt nur  schwächere  Gläser  gefordert  werden,  selbst  um  einige  5  Zoll 
schwächer  zu  geben,  als  die  Rechnung  ausweist,  weil  dann  der  Brillen- 
träger weniger  Gefahr  läuft,  sein  Auge  kurzsichtiger  zu  machen,  wenn  er 
das  Glas  auch  für  etwas  nähere  Distanzen  benützt.  Gleichwie  ein  norma- 
les Auge  durch  Übung  im  Fernsehen  eine  grössere  Schärfe  hierin  erlan- 
gen kann  durch  die  Fertigkeit,  von  Zerstreuungskreisen  zu  abstrahiren, 
kann  auch  ein  kurzsichtiges  Auge,  welches  diese  Fertigkeit  durch  Nicht- 
übung  eingebüsst  hat,  dieselbe  wieder  allmälig  erlangen,  nachdem  ihm 
die  Möglichkeit  hiezu  durch  die  Correction  seines  Refractionszustandes 
wieder  gegeben  ist.  Man  wird  demnach  auch  finden,  dass  bei  zweck- 
mässigem Gebrauche  concaver  Brillen  die  Fähigkeit,  entferntere  Objecte 
auszunehmen,  allmälig  erstarkt,  ohne  dass  die  Kurzsichtigkeit  abgenommen 
hat,  und  es  ist  somit  dem  Kurzsichtigen  überhaupt  und  dem  Brillenträger 
insbesondere  zu  empfehlen,  sein  Auge  so  viel  als  möglich  im  Fernsehen 
zu  üben. 

Sollen  die  Gläser,  welche  doch  eigentlich  nur  zur  Unterstützung  des 
Auges  für  die  Ferne  bestimmt  sind,  beständig  getragen  oder  beim  Nahe- 
sehen abgelegt  werden  ?  Es  scheint  ganz  von  selbst  verständlich ,  dass 
letzteres  der  Fall  sein  müsse.  Diess  ist  jedoch  nicht  allgemein  der  Fall. 
Ich  habe  über  diesen  Punkt  die  Äusserungen  von  sehr  vielen  Kurzsichti- 
gen, namentlich  auch  von  Ärzten,  denen  ich  eine  genaue  Selbstbeobach- 
tung zutrauen  durfte,  eingeholt,  aber  durchaus  widersprechende  Angaben 
erhalten.  Die  Einen  behaupten,  dass  sie  das  beständige  Tragen  der  Bril- 
len nicht  aushalten,  dass  sie  die  Brille,  auch  wenn  sie  damit  lesen  können, 
dennoch  ablegen  müssen,  um  einem  gewissen  Gefühle  von  Angegriffensein 
der  Augen  zu  entgehen ,  und  dass  sie  desshalb  dieselbe  nur  gerade  da 
tragen,  wo  sie  ihnen  unentbehrlich  oder  doch  bequem  ist.  Andere  nicht 
minder  achtbare  Gewährsmänner  versicherten  mich.,  dass  sie  mit  ihrem 
Gesichte  weit  besser  daran  seien,  seit  sie  die  Brille  von  Früh  bis  Abends 


250  Augenmuskeln. 

conlinuirlicli  tragen,  indem  sie  nicht  nur  das  früher  beim  Wechseln  ge- 
fühlte Missbehagen  verloren,  sondern  auch  an  Ausdauer,  ja  selbst  an  Seh- 
weite gewonnen  haben.  Ich  könnte  hier  Männer  von  bekanntem  Namen 
nennen.  Eine  Zeit  lang  meinte  ich,  diess  könne  nur  bei  schwachen  Glä- 
sern (über  Nro.  10  aufwärts)  der  Fall  sein,  doch  fand  ich  mehrere  dar- 
unter, welche  stärkere  Gläser,  selbst  bis  zu  Nr.  6  trugen.  Da  ich  keinen 
Grund  kenne,  warum  in  dem  einen  Falle  das  continuirliche,  in  dem  andern 
das  unterbrochene  Brillentragen  besser  ist,  so  kann  ich  auch  keinen  an- 
dern Rath  geben ,  als  durch  Selbstbeobachtung  den  Modus  ausfindig  zu 
machen,  der  in  jedem  speciellen  Falle  dem  Auge  zuträglicher  ist.  .  Häu- 
figer Wechsel  ist  jedenfalls  nicht  nur  unbequem  und  für  die  Accommo- 
dationsorgane,  denen  immer  ein  anderer  Grad  von  Spannung  aufgedrun- 
gen wird1,  ermüdend,  sondern  auch  für  die  Netzhaut,  die  bald  mehr  bald 
weniger  Licht  erhält,  nicht  ohne  allen  Nachtheil.  Wer  seine  Brillen  be- 
ständig tragen  will,  nehme  die  Gläser  etwas  schwächer,  als  er  sie  für  die 
Ferne  eigentlich  braucht,  und  halte  dann  die  nahen  Objecte  (das  Buch 
beim  Lesen)  so  weit  als  möglich  entfernt.  Die  Frakliii  sehen  Brillen ,  in 
der  obern  Hälfte  des  Rahmens  ein  stärkeres,  in  der  untern  ein  schwäche- 
res Glas  enthaltend,  dürften  auch  nur  wenigen  Augen  zusagen,  daher  es 
wohl  kommt,  dass  sie  heutzutage  gar  nicht  mehr  gebräuchlich  sind.  Häu- 
figer findet  man,  dass  Kurzsichtige  ziemlich  schmale  ovale  Brillen  tragen, 
und  behufs  des  Lesens  oder  Schreibens  über  oder  unter  dem  Rahmen 
wegsehen,  wenn  sie  dazwischen  wieder  in  die  Ferne  zu  blicken  haben. 
Andere  halten,  wenn  sie  in  ungewöhnliche  Entfernungen  sehen  wollen, 
vor  die  Brille  noch  eine  Lorgnette  von  minder  starken  Gläsern. 

Eine  ebenso  schwierig  zu  entscheidende  Frage  ist  die ,  ob  bei  ver- 
schiedenem Refraclionszustande  beider  Augen  verschiedene  Gläser  getra- 
gen werden  sollen.  Geringe  Differenzen  in  der  Lage  des  Fernpunktes 
kommen  bei  den  meisten  Kurzsichtigen  vor.  Dass  diese  keine  differenten 
Gläser  erfordern,  leuchtet  von  selbst  ein.  Dann  gibt  es  bekanntlich  Leute, 
die  sich  für  die  Nähe  des  einen,  für  die  Ferne  des  andern,  und  für  mitt- 
lere Distanzen  beider  Augen  bedienen.  Diese  brauchen  keine  Gläser.  Wenn 
aber  die  Differenz  in  der  Kurzsichtigkeit  mehrere  Zoll  beträgt  (bei  hohen 
Graden  von  Kurzsichtigkeit  kann  eine  Differenz  von  1,  selbst  */„  Zoll  rela- 
tiv eben  so  beträchtlich  sein),  so  ist  es  der  Theorie  angemessen,  Gläser 
von  verschiedener  Brennweite  zu  geben.  Es  sind  mir  aber  in  frühern  Jah- 
ren, wo  ich  streng  nach  der  allgemein  gegebenen  Regel  verfuhr,  viele 
Individuen  vorgekommen,  die  sich  mit  so  gewählten  Gläsern  durchaus  nicht 
zurecht  finden  konnten,    und  ich  bin  daher   bald  zu  dem  Verfahren  über- 


Kurzsichtigkcit  —  Concavbrillen.  251 

gegangen,  dass  ich  für  beide  Augen  in  der  Regel  gleiche  Nummern  gehe,  und 
zwar  ohngefähr  dem  Mittel  entsprechend,  wenn  die  Sehkraft  der  in  der  Seh- 
weite beträchtlich  differirenden  Augen  ziemlich  gleich  ist,  bei  ungleicher  Seh- 
kraft dagegen  mich  nach  dem  Refractionszustand  des  bessern  Auges  richte. 
Nicht  ohne  Einfluss,  wenn  gleich  minder  wichtig,  ist  die  Stellung  der 
Gläser  vor  den  Augen,  ihre  Centrirung,  Grösse,   Form,  Reinheit  u.  s.  w. 
Ob  die  Gläser  biconcav  oder  convex -concav  (periskopisch)  seien,    macht 
bei    Kurzsichtigen   wenig  Unterschied,    wenn    sie    nur    aus    krystallheller, 
durchaus   homogener  Glasmasse,    nach    regelrechten   Kugelflächen    und  so 
geschliffen  sind,  dass  die  grösste  Wölbung  der  einen  Fläche  der  grössten 
Wölbung  der  andern  entspricht,  und  wenn  überdiess  die  auf  diese  Weise 
entstandene    dünnste  Stelle  des  Glases   relativ    zum   Rande   gerade    in  der 
Mitte  liegt  (Centrirung).     Letztere  Eigenschaft   kann  auch   bei  ganz  guten 
Gläsern  leicht  verloren  gehen,   wenn  beim  Einschleifen  (Anpassen  für  den 
Rahmen)  an  einer  Seite  mehr  abgenommen  wird,    als  an  der  andern.     Ist 
auf  diesen   Umstand,    gegen    welchen    beim    Einschleifen    in    ovale   Rah- 
men viel  leichter  Verstössen  wird,  die  gehörige  Rücksickt  genommen  wor- 
den, dann  stehen  —  für  Kurzsichtige  —  die  ovalen  Gläser  den   kreisrun- 
den an  Güte  nicht   nach,    nur    dürfen    sie  nicht  gar  zu    klein  sein.       Nur 
wenn  der  Kurzsichtige  die  Gläser  auch  zum  Lesen,   Schreiben  u.  dgl.  be- 
nützen will,  sind  runde,   oder  doch  hübsch  gross  ovale  und  zugleich  pe- 
riskopische Gläser  vorzuziehen.     Auch  das  beste  und  passendste  Glas  ver- 
stösst  gegen  seinen  Zweck,  das  Auge  so  viel  als  möglich  ohne  nachthei- 
lige Nebenwirkungen  zu   unterstützen,    wenn  es  vor   dem  Auge    zu    nahe 
oder  zu  fern  oder  schräg  steht,    oder  wenn  die  Centra  der  beiden  Gläser 
erheblich  weniger  oder   mehr  von  einander   abstehen,    als  die  Centra  der 
Pupillen  beim  Blicke   in   mittlere   Entfernungen    (etwa  5 — 10   Fuss),    oder 
endlich  wenn    das   eine  Glas   hoch    (nächst  dem  Augenbrauenbogen) ,    das 
andere  tiefer    (nächst    der  Wange)  vor   dem  Auge  steht,    wie   man   diess 
leider  so  häufig  sieht.     Ein  gut  gewähltes  Glas  wirkt  zu  scharf,    wenn  es 
dem  Auge  näher  gebracht  wird,  als  bei  der  Probe,  daher  auch  Kurzsich- 
tige, wenn  sie  etwas  weiter  sehen  wollen,  ihre  Brille  gewissermassen  un- 
willkürlich gegen  die  Augen  drücken.     Bei  schiefer  Stellung  des  Gestelles 
wird  immer  ein  Glas  mehr,    das  andere  weniger  vom  Auge  abstehen.     Je 
weiter  vom  Centrum  des  Glases  ab  die  verlängert  gedachte  Sehachse  durch 
das  Glas  streicht,  desto  mehr  wirkt  das  Glas  wie  ein  Prisma,  also  das  einfal- 
lende Licht  von  dem  brechenden  Winkel  (Centrum  des  Glases)  ablenkend,  so 
dass  das  Auge,  um  dem  Doppeltsehen  zu  entgehen,  durch  excessive  Contraction 
des  betreffenden  Muskels  nach  seiner  Seite  hin  gedreht,  in  widernatürliche 


252  Augenmuskeln. 

Spannung  versetzt  werden  muss.  (Siehe  prismatische  Gläser  bei  Muskelläh- 
mung.) Am  leichtesten  werfen  sich  die  Gestelle  von  Hörn ,  so  dass  dio 
anfangs  richtige  Stellung  der  Gläser  bald  eine  fehlerhafte  wird.  Oft  genug 
aber  nehmen  sich  die  Optiker  nicht  die  Mühe,  Gestelle  auszusuchen,  welche 
der  Gesichtsbildung  der  Brillenbedürftigen  entsprechen.  Der  Arzt  wird 
daher  im  Interesse  des  Consulenten  in  der  Regel  nichts  Überflüssiges  thun, 
wenn  er  ihn  auf  die  genannten  Umstände  aufmerksam  macht,  oder  wenn 
er  die  nöthigen  Masse  selbst  vornimmt,  als:  Abstand  zwischen  den  Pu- 
pillen, Lage  der  Augen  (flach  oder  tief),  Höhe  des  Nasenrückens,  Breite 
des  Gesichtes  (Abstand  der  einen  Schläfe  von  der  andern) ,  und  wenn  er 
überdiess  denselben  nach  geschehener  Wahl  noch  zur  Prüfung  aller  Ver- 
hältnisse zu  sich  bestellt.  Die  Brille,  fortan  ein  integrirender  Bestandtheil 
des  Gesichtsorganes,  steht  wohl  dafür,  dass  Arzt  und  Optiker  nicht  mit 
ein  paar  Minuten ,  die  Candidaten  nicht  mit  ein  paar  Groschen  kargen. 

Werden  die  besprochenen  Rücksichten  eingehalten,  dann  sind  Con- 
cavbrillen  nicht  nur  nicht  schädlich,  sondern  eine  wahre  Wohlthat  für  den 
Kurzsichtigen.  Ein  passendes  Glas  zeigt  die  Objecte  in  der  Distanz ,  für 
welche  es  gewählt  ist,  deutlich,  scharf  begrenzt ,  ohne  Farbensäume,  und 
erst  dann  kleiner,  wenn  die  Objecte  näher  gebracht  werden,  als  der  Refrac- 
tionszustand  und  die  Accommodationsthäligkeit  es  gestatten.  Sind  die  Glä- 
ser zu  scharf,  schlecht  geschliffen  oder  schlecht  gestellt,  so  machen  sie 
beim  Tragen  ein  Gefühl  von  Unbehagen,  Schwindel,  Schmerzen  in  der 
Supraorbitalgegend  und  werden  desshalb  nicht  vertragen,  ausser  das  Auge 
bringt  es  dahin  —  womit  man  gewöhnlich  über  den  Fehler  hinwegzugleiten 
sucht  —  sich  daran  zu  gewöhnen,  d.  h.  durch  mannigfache  reactive  Thä- 
tigkeit,  welche  nicht  immer  ohne  erheblichen  Nachtheil  bleibt,  die  Fehler 
gewissermassen  auszupariren.  An  passende  Brillen  braucht  sich  das  Auge 
nicht  erst  zu  gewöhnen. 

Weitsichtigkeit  (Presbyopia). 

Die  Weitsichtigkeit  beruht  auf  dem  Unvermögen,  das  Auge,  icelches 
entfernte  Objecte  deutlich  zu  sehen  vermag,  für  das  Sehen  näherer  Objecte 
einzustellen,  und  gibt  sich  demnach  durch  abnorm  weiten  Abstand  des 
Nahepunktes  der  deutlichen  Sehweite  von  dem  Auge  kund.  Der  Grund 
hievon  liegt  nicht  in  einer  Formveränderung  des  Auges ,  sondern  in  Rigi- 
dität der  Sclera  und  verminderter  Energie  der  Accommodalionsorgane, 
besonders  des  Ciliarmuskels.  Hält  man  vor  ein  normales  Auge  ein  Con- 
cavglas,  durch  welches  der  Nahepunkt  mehr  weniger  weit  vom  Auge  weg- 


Weitsichtigkeit  —  Kennzeichen.  253 

gerückt  wird,  so  kann  man  sich  vom  Verhalten  des  fernsichtigen  Auges 
in  optischer  Beziehung  leicht  eine  richtige  Vorstellung  machen.  Nur  pa- 
rallel oder  wenig  divergent,  mithin  aus  grösserer  Entfernung  kommende 
Strahlen  werden  auf  der  Netzhaut,  stärker  divergirende,  von  nahen  Objec- 
ten  ausgehede  dagegen  werden  hinter  der  Netzhaut  vereinigt,  treffen 
diese  mithin  als  Kegelquerschnitte,  weil  die  Netzhaut  nicht  der  optischen 
Anforderung  entsprechend   rückwärts  gedrängt  werden  kann. 

Die  Weitsichtigkeit  wird  gewöhnlich  erst  dann  Gegenstand  der  Wahr- 
nehmung, wenn  der  Nahepunkt  des  deutlichen  Sehens  bereits  weiter  vom 
Auge  absteht,  als  es  die  gewöhnlichen  Beschäftigungen  erheischen,  also 
wenn  z.  B.  das  Buch  beim  Lesen  bereits  weiter  als  10 — 12  Zoll  entfernt 
gehalten  werden  muss,  oder  wenn  Gegenstände,  welche  selbst  ein  norma- 
les Auge  vermöge  ihrer  Feinheit  näher  bringen  muss,  undeutlich  oder  gar 
nicht  erkannt  werden  können,  z.  B4  beim  Nadeleinfädeln,  Federschneiden. 
Es  sind  aber  auch  jene  Augen  bereits  weitsichtig,  welche  z.  B.  mittleren 
Druck  nicht  mehr  bei  5",  sondern  erst  bei  6",  7"  u.  s.  w.  deutlich  und  ohne 
Farbensäume  sehen.  Andrerseits  gehört  es  keineswegs  zum  Begriffe  der 
Fern-  oder  Weitsichtigkeit,  dass  das  Gesicht  auch  für  sehr  grosse  Distan- 
zen ein  scharfes  sei;  es  ist  sogar  nicht  selten  der  Fall,  dass  Personen, 
deren  Nahepunkt  6,  7,  10"  u.  s.  w.  vom  Auge  absteht,  auch  in  grossen, 
selbst  in  mittelgrossen  Distanzen  weit  schlechter  sehen,  als  früher,  wo  der 
Abstand  des  Nahepunktes  noch  normal  war,  und  es  findet  sich  diess  auch 
bei  Leuten,  welche  z.  B.  bei  7 — 10  Zoll  vollkommen  deutlich  und  scharf 
sehen,  wo  also  weder  an  eine  Trübung  der  durchsichtigen  Medien  noch 
an  eine  Affection  der  Netzhaut  gedacht  wrerden  kann. 

Da  die  Menge  der  von  einem  leuchtenden  Punkte  in  das  Auge  ge- 
langenden Lichtstrahlen  (bei  gleich  grosser  Pupillenöffnung)  abnimmt,  wie 
die  Quadrate  der  Entfernung  desselben  zunehmen,  so  ist  dem  Weitsich- 
tigen starke  Beleuchtung  der  Objecte,  eben  weil  er  sie  abnorm  weit  vom 
Auge  halten  muss,  ein  wesentliches  Bedürfniss  zum  Erkennen  derselben. 
Desshalb  verräth  sich  das  Übel  gewöhnlich  zuerst  während  des  Arbeitens 
bei  künstlicher  Beleuchtung.  Das  Arbeiten  strengt  mehr  an ,  feinere  Ar- 
beiten können  wohl  noch  bei  Tages-  aber  nicht  mehr  bei  Kerzenlicht  ver- 
richtet werden.  Der  Weitsichtige  stellt  sich  beim  Lesen  gern  mit  dem 
Bücken  an's  Fenster,  um  das  Buch  in  stärkere  Beleuchtung,  die  Augen 
dagegen  in  Schatten  zu  bringen  und  die  ohnehin  gewöhnlich  engeren  Pu- 
pillen zu  erweitern ;  aus  demselben  Grunde  pflegen  Weitsichtige  bei  künst- 
licher Beleuchtung  das  Buch  hinter  das  Kerzenlicht  zu  halten,  und  die 
Augen  von  oben  mit  der  Hand  zu  beschatten.     Gibt  man  dem  Weitsichti- 


254  Augenmuskeln. 

gen,  der  nur  noch  etwa  bei  14 — 16  Zoll  und  darüber  lesen  kann,  und 
sich  noch  keiner  Brillen  bedient  hat,  ein  Buch  zum  Lesen  frei  in  die  Hand, 
so  wird  man,  wenn  er  seine  gewohnte  Haltung  annimmt,  hierin  das  Ge- 
gentheil  von  der  des  Kurzsichtigen  finden ;  er  hält  das  Buch  nicht  nur  weit 
entfernt,  sondern  auch  mehr  nach  unten,  der  Brust  genähert;  heisst  man  ihn 
das  Buch  so  weit  als  möglich  nähern,  oder  ist  er  bereits  so  weitsichtig,  dass 
er  nur  noch  mit  Mühe  ohne  Brillen  lesen  kann,  so  wird  man  bemerken, 
dass  dieses  Abwärtshalten  des  Buches  nicht  zufällig  geschieht,  sondern  zur 
Weitsichtigkeit  in  Beziehung  steht,  dass  die  Person  nämlich  die  Lider  fest 
zusammenkneift,  und  dieselben  an  den  Bulbus  andrückt  und  daher  runzelt, 
wohl  desshalb ,  weil  es  bei  dieser  Position  dem  Orbicularis  möglich  wird, 
den  Bulbus  mittelst  des  obern  Lides  von  oben  her  zu  comprimiren  und 
hiedurch  zur  Verlängerung  der  Sehachse  behilflich  zu  sein.  Der  Beweis 
für  diese  Deutung  lässt  sich  in  einzelnen  Fällen  dadurch  herstellen,  dass 
der  Kranke,  der  bei  14  Zoll  liest,  wenn  er  das  Buch  vor  die  Brust  hält, 
bei  derselben  Distanz  nicht  zu  lesen  vermag,  sondern  erst  bei  einer  merk- 
lich grössern,  sobald  man  das  Buch  gerade  dem  Gesichte  gegenüber  oder 
etwas  höher  vorhält.  Das  Blinzeln  der  Kurzsichtigen  behufs  des  Fern- 
sehens erfolgt  ohne  gewaltsame  Contraction  des  M.  orbicularis ;  das  Zu- 
kneipen  der  Weitsichtigen  verräth  die  gewaltsame  Intention  deutlich  durch 
die  Bunzelung  der  Lider  und  durch  die  baldige  Ermüdung.  Diese  gibt 
sich  in  manchen  Fällen  auch  durch  ein  rasches  Zucken  oder  Vibriren 
(Muskelspiel)  an  den  Lidern  kund.  Ich  habe  übrigens  auch  Weitsichtige 
beobachtet,  welche  mittlem  Druck  ohne  Anstrengung  bei  16 — 20  Zoll  Di- 
stanz ,  denselben  oder  feineren  Druck  aber  auch  bei  6 — 7  Zoll,  doch  nur 
auf  kurze  Zeit  und  unter  sichtlich  gewaltsamem  Zukneipen  der  Lider  lesen 
können.  Ob  sie  hiedurch  die  rigide  hintere  Wandung  temporär  zum  Zu- 
rückweichen oder  die  Cornea  zu  stärkerer  Krümmung  zwingen,  weiss  ich  nicht. 
Auf  Beschränkung  der  Zerstreuungskreise  kann  es  dabei  nicht  abgesehen 
sein,  denn  die  Verengerung  der  Lidspalte  bleibt  noch  immer  weit  hinter 
der  in  solchen  Fällen  stets  auffallend  engen  Pupille  zurück,  was  beim  Blin- 
zeln der  Kurzsichligen  nicht  der  Fall  ist.  —  Durch  entsprechende  Convex- 
gläser  kann  das  weilsichtige  Auge  behufs  des  Erkennens  naher  und  fei- 
nerer Objecte  dem  normalen  um  so  mehr  nahe  gebracht  werden,  je  gerin- 
ger die  Weitsichtigkeit  und  je  grösser  somit  der  Spielraum  ist,  welcher 
der  aecommodativen  Thäligkeit  übrio-  blieb.  Je  schärfere  Gläser  bereits 
nothwendig  sind,  desto  näher  liegen  der  Nah-  und  Fernpunkt  des  deutli- 
chen Sehens  für  das  bewaffnete  Auge   an  einander. 

Nach  den  eben  genannten  Merkmalen  wird  es  nicht  schwer  sein,  die 


Weitsichtigkeit  —  Kennzeichen  —  Ätiologie.  255 

Weitsichtigkeit  von  jenen  Zuständen  zu  unterscheiden,  welche  in  funetio- 
neller  Rücksicht  einige  Ähnlichkeit  damit  haben,  nämlich  Schwäche  des 
Gesichtes  wegen  Trübungen  in  den  durchsichtigen  Medien  oder  wegen 
Retinalleiden,  und  einfache  Augenmattigkeit  oder  Kopiopie.  (Vergl.  die  be- 
treffenden Abschnitte.) 

Die  am  Auge  sichtbaren  Merkmale  der  Weitsichtigkeit  sind  so  charak- 
teristisch, dass  man  beim  Anblicke  solcher  Augen,  ohne  über  die  Sehweite 
auch  nur  ein  Wort  gehört  zu  haben,  nur  an  Weitsichtigkeit,  Kopiopie  oder 
angeborene  Retinalamblyopie  denken  kann.  Im  weitsichtigen  Auge  liegt 
die  Linse  der  Cornea  näher,  als  im  normalen,  um  so  mehr,  je  höher  der 
Grad  von  Fernsichtigkeit  ist  (3/4/y/ — Vs*"0'  Auch  die  Iris  liegt  weiter  vorn 
(relativ  zur  Basis  corneae),  und  zwar  in  toto ,  nicht  bloss  mit  dem  Pupil- 
larrande,  sondern  auch  mit  dem  Ciliarrande.  Ein  Staarmesser,  an  der  Grenze 
zwischen  Cornea  und  Sclera  durch  das  Auge  geführt  (senkrecht  auf  die 
Sehachse),  würde  knapp  vor  dem  Ciliarrande  vorbeistreichen,  und  je  nach 
dem  Grade  der  Wölbung  der  Iris  mehr  weniger  von  dieser  wegnehmen. 
Man  sieht,  dass  sich  die  Iris  schon  bald  innerhalb  des  Ciliarrandes  an  die 
Linse  anschmiegt,  viel  früher  als  in  normalen  oder  kurzsichtigen  Augen, 
indem  der  kuppelartig  gewölbte  Theil  derselben  die  Krümmung  der  Linse 
gleichsam  im  Abdrucke  wieder  gibt,  wie  ein  feuchtes  Tuch,  das  sich  an 
einen  festen  Körper  anlegt  und  dessen  Form  erkennen  lässt.  Die  Iris 
zeigt  daher  bald  ferner,  bald  näher  dem  Ciliarrande  einen  zu  diesem  con- 
centrischen  Ring,  welcher  namentlich  bei  dunkelbraunen  Regenbogenhäuten 
hellgelb  und  gewissermassen  glänzend  aussieht,  und  sich  durch  die  Con- 
touren  bei  seitlich  einfallendem  Lichte  als  seichte  Furche  erweist,  dadurch 
entstanden,  dass  die  früher  (nach  aussen)  an  den  Ciliarkörper  geheftete 
Iris  plötzlich  durch  die  Linse  vorwärts  gedrängt,  gleichsam  geknickt  wird. 
(Vergl.  II.  Band,  Seite  23,  Anmerk.)  Ein  solcher  Ring,  nur  gewöhnlich 
von  kleinerem  Diameter,  kommt  übrigens  auch  an  vielen  nicht  weitsich- 
tigen Augen  vor.  —  Die  Pupille  zeigt  einen  auffallenden  Grad  habitueller 
Verengerung  (l1/« — 1'")  trotz  freier  und  lebhafter  Beweglichkeit  und  bei 
prompter  und  hinreichender  Erweiterbarkeit  durch  Belladonna.  Dass  das 
presbyopische  Auge  mit  dem  Augenspiegel  leichter  im  aufrechten  Bilde 
untersucht  werden  könne,  wurde  bereits  erwähnt. 

Ätiologie.  Die  Beschränkung  oder  Aufhebung  der  Accommoda- 
tionsthätigkeit  behufs  des  Sehens  naher  Objecte  tritt  im  höhern  Alter  so 
gewöhnlich  ein,  dass  in  dieser  Beziehung  der  Name  Presbyopie  (jiQsgßvg, 
Greis)  gerechtfertigt  ist.  Mit  Ausnahme  der  Kurzsichtigen  gibt  es  nur  we- 
nig Augen ,  welche  nach  dem  40.  längstens  50.  Jahre  noch  feine  Objecte 


256  Augenmuskeln- 

bis  zu  5  Zoll  nahe  bringen  können.     Durch  dieses  Verhalten  schliesst  sich 
die  Presbyopie  an  andere  senile  Erscheinungen  an,   Rigidität  der  Arterien, 
Greisbogen  der  Hornhaut,    Abnahme    der    Muskelkräfte  u   s.  w.,    und    sie 
zeigt  in  Bezug  des  frühern  oder  spätem  Eintrittes  und  der  raschern  oder 
langsamem  Entwicklung  ganz  dieselben  Schwankungen,  wie  die  genannten 
und  andere  Zufälle  der  Senescenz.      Sie  kommt  aber  auch,    weil  von  der 
Muskelthätigkeit  abhängig,    in  früheren  Jahren  vor,    wenngleich  selten  im 
hohen  Grade  und  selten  stationär.      Die  Ursachen  vorzeitiger  Entwicklung 
sind:    vorwaltende  Verwendung  des  Gesichtes  für  die  Ferne,   wie  bei  Jä- 
gern, Seeleuten,    unzweckmässiger  oder  übermässiger  Gebrauch  von  Con- 
vexgläsem  (Loupen),  anhaltendes  Weinen,  Kummer,  Sorgen  und  deprimi- 
rende  allgemeine  Einflüsse  überhaupt,  so  wie  andererseits  forcirte  Muskel- 
anstrengungen im  Allgemeinen,  und  übermässige  Anstrengung  der  Accom- 
niodationsorgane  insbesondere,  letztere  beiden  jedoch  nur  dann,  wenn  die 
Sclera  bereits  zu  resistent  ist,  als  dass  ein  entsprechendes  Nachgeben  der- 
selben stattfinden    könnte.       Die    frühere    Entwicklung  der  Weitsichtigkeit 
bei  Leuten,  welche  sich  von  Jugend  auf  wenig  mit  der  Betrachtung  naher 
feiner  Gegenstände  befassten,  beruht  wohl  darauf,  dass  die  Fertigkeit,  das 
Auge  für  solche  Objecte  einzustellen ,  nie  recht  zur  Ausbildung  kam.     Auf 
ähnliche  Weise  wirkt  der  anhaltende  Gebrauch  von  Loupen  oder  Convex- 
brillen  beim  Arbeiten,    wenn  dabei    die  Accommodationsorgane    gleichsam 
überflüssig  gemacht  werden.      Denn    indem  das  Convexglas    Strahlen,    die 
sich  ausserdem  erst  hinter  der  Netzhaut  vereinigen  würden,  so  bricht,  dass 
sie  sich  eben  auf  der  Netzhaut  vereinigen,  wird  die  aecommodative  Thätig- 
keit    der    Anstrengung    überhoben,    welche    sie    bei   unbewaffnetem   Auge 
machen    müsste ,    um    die    Netzhaut   gerade    in    die  Vereinigungsweite    zu 
stellen.     Ist  aber  ein  Convexglas  nicht  zu  stark,    leistet  es  eben   nur  das, 
was  das  Auge  durch  seine  aecommodative  Thätigkeit  nicht  bewirken  kann, 
enthebt  es  somit  das  Auge  nicht  jeder  Anstrengung,  dann  wirkt  das  Con- 
vexglas auch  nicht  nachtheilig  auf  die  Accommodationsfähigkeit.      Nehmen 
wir  an,  es  müsse,   damit  ein  Object  von  bestimmter  Grösse,    Beleuchtung 
und  Distanz  deutlich  gesehen  werden  könne,  die  Netzhaut  um  1/,i'"  zurück- 
gestellt werden.      Besässe  nun  das    hiezu  verwendete  Auge  die  Fähigkeit» 
durch  die  aecommodative  Thätigkeit  die  Netzhaut  um  xjJ"  zurückzustellen, 
so  würde  jedes  Convexglas    bei    anhaltendem  Gebrauche    die  aecommoda- 
tive Thätigkeit  ausschliessen;    vermöchte  das  Auge    aber  die  Netzhaut  nur 
um  y4'"  zurückzudrängen,    so  wird  ein  Glas,    welches  die  Vereinigungs- 
weite um  1/4'"  verkürzt,  diesem  Auge  das  Deutlichsehen  ermöglichen,  aber 
auch  der    aecommodativen   Thätigkeit   noch   zu    thun    überlassen,    was  sie 


Weitsichtigkeit—  Ätiologie.  257 

leisten  kann,  nämlich  die  Netzhaut  um  lj4"'  zurückzulsellen ,  und  das  Auge 
lauft  auch  bei  fortwährendem  Gebrauche  eines  solchen  Glases  zu  obigem 
Zwecke  nicht  Gefahr,  seine  Accoinmodationskraft  durch  Unthätigkeit  ein- 
zubüssen.  In  der  Behauptung,  dass  der  Gebrauch  von  Loupen  Veranlas- 
sung gebe  einmal  zu  Weit-,  ein  andermal  zu  Kurzsichtigkeit,  liegt  kein 
Widerspruch.  Ist  eine  Loupe  zu  dem  Zwecke,  für  welchen  sie  angewen- 
det wird,  hinreichend  stark,  so  wird  sie  nie  Veranlassung  zu  Kurzsichtig- 
keit geben;  ist  sie  aber  relativ  zu  schwach,  so  dass  der  aecomodativen 
Thätigkeit  noch  immer  viel  übrig  bleibt,  um  das  Auge  richtig  einzustellen, 
so  kann  anhaltende  Arbeit  trotz  der  Loupe  zur  Kurzsichtigkeit  führen,  so- 
bald die  Sclera  noch  die  zu  bleibender  Formveränderung  nöthige  Biegsam- 
keit und  Dehnbarkeit  besitzt.  Ist  jedoch  unter  denselben  äussern  Verhält- 
nissen die  hintere  Bulbuswand  bereits  so  resistent ,  dass  die  zum  Deut- 
lichsehen erforderliche  Rückwärtsdrängung  derselben  nur  mit  grossem 
Kraftaufwande  bewirkt  und  unterhalten  werden  kann,  so  werden  die  Accom- 
modationsorgane ,  besonders  die  Ciliarmuskel  zunächst  ermüdet ,  allmälig 
geschwächt,  so  dass  die  Accomodation  für  grössere  Nähe  immer  nur  auf 
eine  kurze ,  nach  und  nach  immer  kürzere  Zeit ,  endlich  gar  nicht  mehr 
ausgehalten  wird.  Ist  nun  die  Kraft  des  Ciliarmuskels  vermindert,  so  ver- 
mag er  das  Diaphragma  zwischen  Glaskörper  und  Kammerwasser  nicht  mehr 
in  der  gehörigen  Spannung  zu  erhalten,  steht  somit  bei  forcirtem  Accom- 
modationsbestreben  das  Kammerwasser  unter  höherem  Drucke,  und  nimmt 
allmälig  ab,  Linse  und  Iris  bekommen  eine  weiter  nach  vorn  gerückte  Lage, 
und  die  Accommodation  für  grosse  Nähe  wird  in  demselben  Grade  weni- 
ger lang  ausgehalten.  Die  Abnahme  des  Kammerwassers  ist  demnach 
nicht  Ursache  der  Weitsichtigkeit,  sie  ist  nur  Folge  der  verminderten 
Energie  des  Ciliarmuskels.  Daher  kann  Weitsichtigkeit,  wenigstens  tem- 
porär, uud  in  geringerem  Grade  auch  eine  Zeit  lang  anhaltend  ohne  Ver- 
engerung der  vorderen  Augenkammer  bestehen.  —  Hiemit  haben  wir  auch 
die  merkwürdige  Thatsache  begreifen  gelernt,  auf  welche  Sichel  zuerst 
aufmerksam  gemacht  hat,  dass  nämlich  Knaben,  welche  bereits  im  14.  oder 
15.  Lebensjahre  stehen,  und  früher  sich  wenig  mit  anhaltendem  Nahe- 
sehen beschäftigten,  wie  namentlich  Knaben  vom  Lande,  selten  kurz-,  son- 
dern meistens  weitsichtig  werden,  und  an  den  Erscheinungen  der  Amblyopie 
presbyticrae  (Kopiopie)  zu  leiden  anfangen,  wenn  sie  plötzlich  zu  anhalten- 
dem Betrachten  naher  und  feiner  Objecte  als  Lehrlinge,  z.  B.  bei  Uhrmachern, 
Goldarbeitern,  Graveuren  u.  dgl.  angehalten  werden,  während  Knaben  aus 
der  Stadt  und  überhaupt  solche,  die  schon  früher  sich  vorwaltend  mit  Nahe- 
sehen   beschäftigten,   eher    der    Kurzsichtigkeit    verfallen.     Betrachten  wir 

Arlt's  Augenheilkunde  111,2.  17 


258  Augenmuskeln. 

die  Sclera  jugendlicher  Individuen,  so  finden  wir,  dass  sie  nahezu  bis  zum 
Eintritte  der  Pubertät  ein  mehr  bläuliches  Aussehen  hat,  weil  sie  noch 
dünn  und  daher  durchscheinend  ist;  später  wird  sie  im  Allgemeinen  mehr 
weiss  ,  also  wohl  auch  dichter  und  resistenter.  —  Wie  es  kommt ,  dass 
anhaltendes,  durch  längere  Zeit  häufig  wiederkehrendes  Weinen  die  Accom- 
modationskraft  temporär  oder  bleibend  schwächt,  weiss  ich  nicht.  Thatsache 
ist,  dass  man  nach  dieser  Ursache  oft  bei  noch  sehr  jugendlichen  Individuen 
die  Augenkammer  auffallend  eng  findet.  Wahrscheinlich  ist  es  die  schwächende 
Kraft,  welche  die  gedrückte  Gemüthsstimmung  auf  die  muskulösen  Gebilde, 
insbesondere  auf  den  Ciliarmuskel  ausübt.  Ist  diess  richtig ,  dann  reiht 
sich  diese  Ursache  in  ihrer  Wirkungsweise  an  andere  ähnliche  Momente 
an,  schwere  Krankheiten  (Typhus,  Scharlach  etc.),  erschöpfende  Diarrhöen, 
reichlichen  Blutverlust,  Ausschweifungen,  Onanie,  anhaltendes  Nachtwachen 
(auch  ohne  Anstrengung  der  Sehkraft). 

Die  Entwicklung  der  Weitsichtigkeit  ist  meistens  eine  langsame,  stu- 
fenweise fortschreitende,  es  müssten  denn  besondere  Ursachen  heftig  ein- 
wirken, und  in  solchen  Fällen  kann  man  wohl  meistens  —  nach  Besei- 
tigung dieser  Ursachen  —  wieder  alltnälige  Erstarkung  der  Accomoda- 
tionskraft  bis  zu  einem  gewissen  Grade  erwarten ,  es  müsse  denn  das 
Individuum  schon  sehr  gealtert  sein.  Eine  merkwürdige,  bisher  noch  nicht 
erklärte,  vielleicht  weil  zu  selten  vorkommende  Erscheinung  ist  die,  dass 
bisweilen  Personen  im  hohen  Greisenalter  die  Convexgläser  zum  Lesen, 
Schreiben  u.  dgl.  nicht  mehr  bedürfen,  die  ihnen  durch  viele  Jahre  hin- 
durch dazu  unentbehrlich  gewesen  waren.  Sollte  etwa  Verflüssigung  des 
Glaskörpers  oder  vermehrte  Dichtigkeit  der  Linse  bei  ungestörter  Durch- 
sichtigkeit hievon  die  Ursache  sein?  Ich  kenne  diese  Thatsache  Mos  aus 
einigen  verlässlichen  Erzählungen ;  sie  ist  übrigens  auch  schon  von  Makenzie 
I.  c.  S.  707  bemerkt  worden. —  An  und  für  sich  bereitet  die  Weitsichtigkeit 
dem  Sehvermögen  keine  Gefahr;  sie  kann  aber  bei  unzweekmäsigem  Ge- 
bahren,  namentlich  durch  unzweckmässig  gewählte  und  gebrauchte  Convex- 
gläser zur  Hyperpresbyopie  (Übersichtigkeit)  gesteigert  werden,  welche  nur 
bei  beständigem  Gebrauche  solcher  Gläser  noch  ein  leidliches  Sehen  gestat- 
tet, gleichwie  sie  andrerseits  bei  forcirter  Accommodalion  ohne  gehörige 
Unterstützung  indirect  zu  Hyperästhesie ,  Hyperämie ,  Apoplexie  und  Ent- 
zündung der  Netzhaut  Veranlassung  gibt.  Mehr  hierüber  bei  der  Kopiopie. 

Hyperpresbyopie  ist  jener  Refractjonszuständ  des  Auges,  bei  welchem  weder  diver- 
gent, noch  parallel ,  sondern  bloss  convergent  zum  Auge  gelangende  Strahlen  eines 
lichtsendenden  Punktes  auf  der  Netzhaut  in  einem  Punkte  derselben  vereinig!  werden 
können,  daher  das  Sehen  nur  durch  Vorhallen    eonvexer  Glaser  vermittelt  werden  kann, 


Weitwichtigkeit  —  Übersichtigkett  —  Convexbrillen.  259 

welche  so  stark  sind,  dass  sie  auch  die  divergent  auffallenden  Sirahlen  in  eonvergenlc 
verwandeln.  In  diesem  Zustande  befinden  sich  bekanntlich  alle  Augen,  denen  die  Kry- 
stalllinse  fehlt,  und  zwar,  falls  nicht  früher  bedeutende  Kurzsichtigkeil  bestanden  hatte, 
in  sehr  hohem  Grade.  Niedrigere  Grade,  wo  z.  B.  für  gewöhnliche  Verrichtungen,  auf 
der  Gasse  u.  dgl.  massig  starke  (10 — 30"),  zum  Lesen  dieselben  oder  stärkere  Gläser 
(bis  zu  6")  getragen  werden  müssen,  trifft  man  mitunter  bei  älteren  Personen,  welche 
sich  nach  und  nach  an  immer  stärkere  Gläser  gewöhnt  haben.  Seltener  kommen  Hyper- 
presbyopische jugendlichen  Alters  vor;  hier  ist  der  Fehler  wohl  meistens  als  angeboren 
zu  betrachten;  er  zeigt  sich  wenigstens  schon  zur  Zeit,  wo  die  Kinder  zu  lernen  anfan- 
gen sollen.  Er  kann  leicht  mit  Stumpfheit  der  Netzhaut  verwechselt  werden.  Versuche 
mit  engen  Diopteröffnungen  können  A'ifschluss  geben.  Mit  dem  Augenspiegel  ist  die 
Untersuchung  im  aufrechten  Bilde  schon  bei  5 — 6"  Distanz  möglich.  Zu  empfehlen  ist 
das  Tragen  convexer  Brillen,  deren  Stärke  durch  Versuche  ermittelt  werden  muss. 

Hyperpresbyopische  halten  gleich  jenen,  die  an  Amblyopie  oder  Stumpfheit  der  Netz- 
haut leiden,  die  Objecte,  die  sie  besser  sehen  wollen,  nicht  wie  man  nach  dem  Refra- 
ctionszustande  erwarten  sollte,  weiter,  sondern  näher,  gleich  sehr  Kurzsichtigen,  und 
kneifen  die  Lider  dabei  stark  zusammen.  Für  sie  gibt  es  überhaupt  keine  Distanz,  in  der 
sie  deutlich  sehen  könnten;  immer  sehen  sie  nur  mittelst  Zerstreuungskreisen.  Demnach 
gibt  nebst  der  Lichtmenge,  welche  das  jeweilige  Sehobject  ins  Auge  senden  kann,  mit- 
hin dessen  Annäherung  und  die  relativ  geringste  Grösse  der  Zerstreuungskreise,  den 
Ausschlag  für  die  Haltung  der  Objecte,  zumal  die  Accommodation  nicht  fehlt.  Ihre 
Netzhaut  liegt  vor  der  Brennweite  des  dioptr.  Apparates. 

Nach  A.  von  Gräfe  (Archiv  IL  B.  1.  Abth.  S.  181)  kann  man  durch  Vorhalten  eines 
starken  Concavglases  (5 — 6")  vor  ein  gesundes  Auge  den  Zustand  der  Hyperpresbyopie 
studiren.  „Nimmt  man  eine  grössere  Druckschrift  recht  nahe  an  das  so  bewaffnete  Auge, 
so  kann  man  dieselbe  entziffern,  freilich  der  mangelnden  Übung  wegen  nicht  so  gut  als 
Hyperpresbyopische;  entfernt  man  sie  aber  über  8,  12,  16  Zoll,  so  breiten  sich  die  Zer- 
streuungskreise der  einzelnen  Buchstaben  über  die  Intervalle  aus,  und  die  Schrift  läuft 
undeutlich  durch  einander.  Wir  überzeugen  uns  hiebei,  dass  die  relative  Grösse  der  Zer- 
streuungskreise zu  dem  Bilde  wächst,  wenn  das  Object  über  die  genannte  Gränze  ent- 
fernt wird,  ein  Resultat,  das  auch  a  priori  voraus  zu  sehen  war.  Jeder  Punkt  der  Aussenwelt 
gibt  offenbar,  je  näher  er  bei  einem  Hyperpresbyopischen  ans  Auge  gebracht  wird,  auch 
einen  desto  grösseren  Zerstreuungskreis.  Aber  diese  Vergrösserung  der  Kreise  geschieht 
nicht  in  dem  umgekehrten  Verhältnisse  der  Quadrate  der  Entfernungen,  d.  h.  in  dem 
Verhältnisse,  in  welchem  die  Flächenausdehnung  der  Bilder  auf  der  Netzhaut  steigt,  son- 
dern in  einem  langsameren  Verhältnisse."  Bei  sehr  grosser  Annäherung  (4 — 5")  des 
Sehobjectes  (Druckschrift)  sind  also  die  Zerstreuungskreise  relativ  zu  den  stark  erleuch- 
teten Centris  der  Netzhautbilder  nicht  so  gross,  wie  bei  geringer  Annäherung  (z.  B.  8 — 10"). 
Von  Heilung  der  Weitsichtigkeit  kann  keine  Rede  sein ,  sobald  sie 
ausschliesslich  oder  vorwaltend  Folge  der  Senescenz  ist.  Von  der  Be- 
handlung der  anderweitig  bedingten ,  welche  meistens  noch  als  Kopiopie 
zur  Beobachtung  kommt,  wollen  wir  weiter  unten  sprechen.  Nebst  ratio- 
nellem Gebrauche  der  Augen  sind  Convexgiäser  alles,  was  wir  dem  Pres- 
byopischen  empfehlen  können.    Convexgiäser  sollen  das  Auge  beim  Lesen, 

Schreiben    u.  dgl.  unterstützen,    ohne   es  aller  aecommodativen  Thätigkeit 

17* 


260  Augenmuskeln. 

zu  überheben,  wenn  solche  noch  vorhanden  ist.  Sie  wirken  dadurch,  dass 
sie  die  von  relativ  zu  nahen  Objectpunkten  ausfahrenden,  mithin  relativ  zu 
divergent  zum  Auge  gelangenden  Lichtstrahlen  minder  divergent  machen, 
oder,  was  die  Sache  allgemeiner  bezeichnet,  in  Combination  mit  der  Sam- 
mellinie des  Auges  dessen  Brennweite  verkürzen,  dabei  mehr  Licht  von 
jedem  einzelnen  leuchtenden  Punkte  ins  Auge  gelangen  und  die  Objecte 
vergrössert  erscheinen  lassen,  sobald  diese  etwas  weiter  entfernt  liegen, 
als  die  Focaldistanz  dieser  Combination  eigentlich  gestattet.  Sie  schrän- 
ken demnach  die  accommodative  Thätigkeit  des  Auges  um  so  mehr  ein, 
je  weniger  sie  dieselbe  nöthig  machen  ,  d.  h.  je  mehr  sie  die  Focaldistanz 
verkürzen  (den  Nahepunkt  an  das  Auge  heranrücken),  und  können  der 
Sehkraft  einerseits  durch  Zuführung  von  relativ  zu  viel  Licht  und  Über- 
reizung der  Netzhaut,  andererseits  aber  auch  dadurch  nachtheilig  werden, 
dass  das  Auge  die  Fähigkeit  verlernt,  in  weite  Ferne  deutlich  zu  sehen 
(Objecte  unter  kleinem  Sehwinkel  und  relativ  matter  Beleuchtung  zu  er- 
kennen ,  und  von  Zersreuungskreisen  zu  abstrahiren).  Alle  diese  nach- 
theiligen Nebenwirkungen  werden  durch  gehörig  gewählte  Brillen  bei 
rationellem  Gebrauche  der  Augen  vermieden. 

Um  dem  Fernsichtigen  eine  angemessene  Brille  zu  wählen,  muss  man 
die  Grenze  kennen",  bis  zu  welcher  heran  er  noch  deutlich  sieht,  und  die 
Distanz ,  in  welcher  er  seine  Arbeilen  verrichten  will  oder  muss.  Bei 
12  Zoll  Abstand  des  Nahepunktes  vom  Auge  ist  eine  schwächere  Brille 
ausreichend,  als  bei  16  oder  20  Zoll.v  Wer  schreiben  oder  lesen  will, 
was  recht  gut  bei  10 — 12  Zoll  geschehen  kann,  braucht  eine  schwächere 
Brille,  als  wer  mit  Objecten  arbeitet ,  die  wegen  grosser  Feinheit  oder 
wegen  mechanischer  Verhältnisse  mindestens  auf  8  Zoll  genähert  werden 
müssen.  Den  Nahepunkt  bestimmt  man  am  bequemsten  und  im  Allge- 
meinen auch  mit  hinreichender  Sicherheit  durch  Leseproben  mit  mittlerem 
oder  etwas  grösserem  Drucke.  Die  Brennweite  (Nummer)  des  zu  wählen- 
den Glases  wird  auf  dieselbe  Weise  wie  bei  Kurzsichtigen  berechnet.  Ein 
Witsichtiger,  der  nur  bei  14",  nicht  aber  bei  13"  lesen  kann,  braucht  demnach, 

14.10  140 

um  bei  10"  lesen  zu  können,  Nr.  36,  weil  -r-. — 77—  =  — -. —  —    35*) 

'  14 — 10  4  J 

'■)  Für  Weitsichtige  führt  Plössl  in  Wien  folgende  Nummern:  80,  60,  48,  40,  36,  33,  30,  27,  24,  22,  20,  18,  17, 
16,  u.  s.  w.  bis  7,  von  da  immer  zu  Vj  Zoll  bis  Vj2,  dann  zu  '/,,  Zoll  bis  2,  welche  letzteren  Reihen  jedoch 
nur  bei  Hyperpresbyopiseheu,  namentlich   bei   Staaroperirten  in  Anwendung  kommen. 

Die  Brennweite  eines  convexen  Glases  lasst  sich  bis  zu  der  hier  erforderlichen  Genauigkeit  leicht  ermitteln, 
wenn  man  in  einem  Zimmer  mit  einem  einzigen  Fenster,  welchem  einerseits  der  freie  Himmel,  andererseits  eine 
weisse  glatte  Wand  (Fläche)  mindestens  20  Fuss  gegenübersteht,  das  fragliche  Glas  in  allmiilig  steigender  Ent- 
fernung senkrecht  vor  iliese  Wand  hält,  und  die  Distanz  mit  dem  Zollstabe  miss»,  bei  welcher  das  auf  dir  Wand 
entworfene   Fensterbild   in  den  schärfsten  Umrissen  erscheint,     nichtig     geschliffene,    aus  reinem   Glas  bestehende 


Weitsichtigkeit  —  Convexb  rillen.  261 

Bei  Weitsichtigen  ist  die  Rücksicht  auf  die  Beleuchtung;  und  Grösse  der 
Objeete  bei  den  Sehproben  noch  viel  wichtiger,  als  bei  Kurzsichtigen.  Bei 
matter  Beleuchtung  und  bei  zu  feinein  oder  blassem  Drucke  wird  der 
Nahepunkt  leicht  zu  fern  angenommen ,  ebenso  wenn  der  Brillencandidat 
sich  einige  Stunden  oder  Tage  vorher  sehr  angestrengt  hat ,  durch  depri- 
mirende  Einflüsse  herabgestimmt  oder  geschwächt  ist.  Die  Folge  der 
Nichtbeachtung  dieser  Umstände  ist  die  Wahl  eines  mehr  als  nothwendig 
starken  Glases.  Andrerseits  kann  aber  auch  eine  Brille,  welche  zur  Ar- 
beit bei  Tageslicht  eben  hinreicht ,  zur  Arbeit  bei  künstlichem  Lichte  zu 
schwach  sein.  Man  hat  daher  Tag-  und  Nachtbrillen ,  jene  schwächer, 
diese  stärker  gegeben.  Ich  bin  von  diesem  theoretisch  gerechtfertigt 
scheinenden  Usus  seit  langem  abgegangen,  ausser  in  jenen  seltenen  Fäl- 
len, wo  so  zu  sagen  gar  kein  Accommodationsvermögen  mehr  besteht. 
Wenn  der  Brillenträger  für  eine  helle  Flamme  sorgt  und  sich  den  Ob- 
jecten  weniger  nähert,  kann  er  auch  bei  künstlicher  Beleuchtung  mit  dem- 
selben Glase  auskommen,  wie  bei  Tage.  Leute,  welche  Nachts  mit  einer 
stärkern  Brille  arbeiten ,  müssen  sich  derselben  in  kurzer  Zeit  auch 
bei  Tage  bedienen ,  während  sie  —  nach  Beobachtung  an  andern  zu 
schliessen ,  —  mit  der  schwächern  Tagesbrille  jahrelang  ausgekommen 
sein  würden,  wenn  sie  sich  immer  nur  einer  und  derselben  Brille  bedient 
hätten.  Ein  anderer  Umstand,  welcher  in  kurzer  Zeit  den  Gebrauch  stär- 
kerer Brillen  nothwendig  machen  kann,  ohne  dass  eine  oder  die  andere 
der  obgenannten  Veranlassungen  zur  Weitsichtigkeit  eingewirkt  hat,  liegt 
darin  ,  dass  diejenigen ,  welche  ihrem  Auge  die  Unterstützung  durch  eine 
Brille  zu  lange  versagt  haben,  die  Gewohnheit,  die  Objeete  in  grösserer 
Entfernung  zu  halten,  nachher  beim  Brillengebrauche  nicht  wieder  ablegen, 
somit  die  aecommodative  Thätigkeit  gar  nicht  oder  viel  zu  wenig  in  An- 
spruch nehmen.  Wrir  haben  aber  bereits  früher  auf  das  allgemeine  Gesetz 
hingedeutet ,    dass    muskulöse  Organe    durch  Unthätigkeit  oder  zu  geringe 

und  gut  polirte  Gläser  geben,  wenn  sie  nicht  zu  klein  sind,  auch  in  den  niedrigeren  Nummern  (von  36—60) 
noch  hinreichend  deutliche  Bilder,  wenigstens  an  hellen  Tagen;  doch  lassen  sich  bei  diesen  Nummern  einige 
Zoll  Abweichungen  von  der  Brennweite  nicht  erkennen,  und  man  muss  sich  begnügen,  zu  bestimmen,  ob  die 
Brennweite  z.  B.  näher  an  60  oder  näher  an  48  liegt.  Da  das  Fenster  nicht  paralleles,  sondern  noch  divergi- 
rendes  Licht  zum  Glase  sendet,  so  gibt  der  Abstand  desselben  von  der  Wand  natürlich  auch  dann  nicht  genau 
die  Brennweite ,  wenn  das  Bild  in  den  schärfsten  Umrissen  erscheint.  Will  man  diesen  Fehler  vermeiden,  so 
nehme  man  sich  die  verschiedenen  Nummern  von  einem  verlässlichen  Optiker  und  einen  Stab  yon  60  Zoll  Länge, 
den  man  wagrecht  (also  senkrecht  auf  die  Wand)  gerade  der  Mitte  des  Fensters  gegenüber  hält,  nehme  nun  ein 
Glas  nach  dem  andern  und  notire  an  dem  Stabe  die  Distanz,  bei  welcher  Nr.  10,  12,  15,  20  u.  s.  w.  das 
schärfste  Bild  zeigt.  Durch  wiederholte  Versuche  kann  man  sich  einen  ziemlich  genauen  Massstab  verfertigen.  — 
Die  Prüfung  der  Convexgläser  mittelst  direct  auffallenden  Sonnenlichtes  (Strahlen)  ist  nicht  leichter,  dagegen 
nothwendig,  wenn  sich's  um  die  Entfernung  der  Centrirung  handelt ;  nur  bei  regelmässig  geschliffenen  und  gut 
centrirten  Gläsern  erscheint  die  lichte  Scheibe  (in  der  Focaldistanz)  vollkommen  rund  (auf  einem  normal  stehen- 
den Schirme),  scharf  begrenzt  und  in  der  Mille  des  dunklen  Hofes. 


262  Augenmuskeln. 

Übung  ebenso  geschwächt  werden ,  wie  übermässige  Anstrengung  ihre 
Kräfte  erschöpft,  hingegen  massige,  adäquate  Thätigkeit ,  unterstützt  durch 
Abwechslung  und  Ruhe,  dieselben  stärkt  oder  doch  in  ihrer  Kraft  erhält. 
Rücksichtlich  der  Form,  Fassung.  Stellung  etc.  gelten  für  die  Con- 
vexgläser  im  Ganzen  dieselben  Vorschriften,  wie  bei  den  Concavbrillen. 
Die  concav-convexen  (periskopischen)  verdienen  hier  unbedingt  den  Vor- 
zug vor  den  plan-  oder  doppelt-convexen.  Ebenso  sollten  diese  Gläser 
stets  kreisrund,  oder,  wenn  ja  oval,,  mindestens  so  gross  sein,  dass  sie 
unten  völlig  oder  nahezu  an  die  Wange  anliegen ,  damit  bei  abwärts  ge- 
wendetem Blicke  die  Sehaxe  durch  das  Centrum  gehen  könne.  Desshalb 
muss  auch  der  Steg  über  die  Nase  stark  gebogen  sein,  und  zwar  bei  sehr 
hoher  Nasenwurzel  nicht  blos  mit  aufwärts,  sondern  zugleich  auch  mit 
vorwärts  gerichteter  Convexität,  weil  sonst  die  Gläser  zu  weit  von  den 
Augen  entfernt  stehen  würden.  Der  Abstand  der  Pupillen  von  einander, 
nach  welchem  sich  der  Abstand  der  Mittelpunkte  der  Gläser  richtet .  ist 
nicht  beim  Blick  in  die  Ferne,  sondern  beim  Blicke  auf  10 — 12  Zoll  Di- 
stanz zu  messen.  Die  Bügel  müssen  so  schliessen,  dass  die  Gläser  immer 
in  gleichem  Abtande  vor  den  Augen  erhalten  werden;  je  weiter  sich  das 
Glas  vom  Auge  entfernt ,  desto  stärker  wirkt  es.  Für  Weitsichtige  sind 
Lorgnetten  und  die  leider  wieder  in  Aufnahme  gekommenen  Nasenzwicker 
durchaus  verwerflich,  denn  beim  Lesen ,  Schreiben  u.  dgl.  ist  eine  regel- 
rechte und  stets  gleichmässige  Stellung  der  Gläser  vor  den  Augen  von 
ungleich  wirksamerem  Einflüsse  ,  nls  beim  Betrachten  entfernter  Objecte 
durch  Concavgläser. 

Augenmattigkeit,  Kopiopie,   Languor    oeuli.*) 

Dieser  Zustand  äussert  sich  zunächst  durch  den  Mangel  an  Ausdauer, 
vorzeitige  Ermüdung  der  Augen  beim  Betrachten  naher  Gegenstände.  Das 
Auge,  welches  übrigens  vollkommen  gesund  sein  kann  ,  in  die  Ferne  gut 
oder  doch  leidlich  gut  sieht,  und  die  Accommodationsfähigkeit  noch  in 
mehr  weniger  hohem  Grade  besitzt ,  hält  blos  die  Accommodation  für 
nahe  und  feine  Objecte  nicht  lange  genug  aus  ,  und  zwar  wegen  ver- 
minderter, unzureichender  Energie  der  Accommodationsorgane :  diese  kön- 
nen die  zum  Naheschen  nöthige  Spannung  nicht  hinreichend  lange  auf 
der  gehörigen  Höhe  erhalten ;  das  Auge  muss  einige     Zeit    ausruhen ,   um 

•)  Von  früheren  Auetoren  Amblyopie  ex  abusu  visus  (Beer),  von  spätem  Hebetudo  visus  (Jungken,  Böhm)  genannt, 
nach  Sichel  Amblyopie  prcsbylifjuc ,  nach  Vclrequin  Kopiopie  (von  y-07TC(XO)  ich  ermüde,  lasse  nach),  nach 
Makenzie  Asthenopie.  Das  Übel  ist  zunächst  nicht  ein  Leiden  der  Netzhaut,  sollte  daher  auch  nicht  Amblyopie 
genannt  werden.  Das  Gesicht  kann  dabei  vollkommen  scharf  sein,  dalier  auch  nicht  stumpf  (hebes)  genannt 
werden,  was  doch  visus   vel  audilus  hebes  bei    den  Classikern  bedeutet. 


Aiigenmattigkcit  — Ätiologie.  263 

wieder  zu  Kräften  zu  kommen ,  oder  es  muss  durch  Convcxgläser  der 
Mühe  überhüben  werden ,  sich  für  die  relativ  zu  grosse  Nähe  zu  accom- 
modiren. 

Die  Kopiopie  gibt  sich  dem  Kranken  gewöhnlich  durch  das  Gefühl 
von  Spannung  oder  Druck  in  oder  über  den  Augen  kund  ,  anfangs  nur 
nach  tagelanger  Anstrengung,  bei  Professionisten,  Schustern,  Schneidern 
u.  dgl.  die  letzten  Tage  der  Woche,  später  schon  jeden  Abend,  wenn 
viel  bei  künstlichem  Lichte  gearbeitet  werden  muss,  endlich  auch  selbst 
schon  unter  Tags,  nach  einigen  Stunden,  und  beim  höchsten  Grade  des 
Übels  ist  das  Auge  zu  jeder  Arbeit  unfähig.  Seltener  und  nur  nach  den 
bei  der  Ätiologie  der  Weitsichtigkeit  angeführten  deprimirenden  Einflüssen, 
wird  der  Verlust  der  Accommodationsenergie  gleichsam  plötzlich  in  mehr 
weniger  hohem  Grade  entwickelt  bemerkt.  Besteht  die  Kopiopie  ohne 
eigentliche  Stumpfheit  der  Sehkraft  und  in  sonst  gesunden  Augen,  so  er- 
kennt das  Auge  die  Gegenstände  anfangs  der  Arbeit  recht  gut,  und  wenn 
nicht  bereits  ein  höherer  Grad  von  Presbyopie  eingetreten  ist,  auch  in 
der  gewohnten  Entfernung.  Zunächst  sucht  sich  der  Kranke  durch  stär- 
kere Beleuchtung  und  durch  Wegrückung  der  Objecte  über  die  gewohnte 
Distanz  zu  helfen;  allein  über  kurz  oder  lang  stellt  sich  das  Gefühl  von 
Ermüdung,  Abspannung,  Druck  in  den  Augenhöhlen  ein,  der  Blick  wird 
unsicher,  allmälig  getrübt.  Mnn  meint,  man  müsse  etwas  vom  Auge  weg- 
wischen, und  in  der  That,  die  hiezu  nöthige  Pause  reicht  anfangs  hin,  das 
Auge  wieder  für  einige  Zeit  zur  Arbeit  tauglich  zu  machen.  Bei  fortge- 
setzter Anstrengung,  besonders  bei  reizbarem  Nervensysteme,  gesellt  sich 
alsbald  ein  bedeutender ,  zusammenziehender  Schmerz  über  den  Augen- 
brauen dazu  ,  die  Augen  fangen  an  öfter  zu  übergehen ,  zu  thränen  und 
zu  zittern ,  gleich  dem  ausgetreckten  Arme,  der  eine  relativ  zu  schwere 
Last  halten  soll.  Das  Zittern  nimmt  der  Kranke  nicht  als  solches  wahr, 
sondern  als  Hin-  und  Herschwanken  oder  Durcheinanderschwirren  der 
Buchstaben,  Noten  u.  dgl.  Endlich  erscheinen  die  Gegenstände  farbig  ein- 
gesäumt, doppelt,  theilweise  verwischt  oder  wie  in  Nebel  eingehüllt.  Bei 
fortgesetzter  Anstrengung  können  auch  Schwindel ,  Brechneigung ,  Er- 
brechen auftreten.  Mückensehen  in  verschiedener  Form  begleitet  sehr 
häufig  auch  diesen  Zustand,  wie  überhaupt  alle  Abnormitäten  des  Refraclions- 
zustandes  und  ungenügende  Accommodation.  In  die  Ferne  sehen  solche 
Kranke  nach  wie  vor,  und  im  Freien  fühlen  sie  überhaupt  von  ihrem  Leiden 
nichts.  (Ist  Ungleichheit  der  Sehkraft,  z.  B.  wegen  leichter  Hornhautrübung 
des  einen  Auges,  die  Ursache  der  Kopiopie,  so  treten  die  genannten  Zu- 
fälle nur  in  dem  bessern,  zum  Naheselien  benützten  Auge  auf.) 


264  Augenmuskeln. 

Der  Blick  solcher  Augen  ist  matt  (langitfdus),  des  gewöhnlichen  Gra- 
des von  Glanz  und  Feuer  mehr  weniger  verlustig.  Sind  die  Augen  durch 
Arbeit  überreizt,  so  erscheinen  die  Lider  an  den  Rändern  leicht  geröthel, 
wohl  auch  etwas  angelaufen,  die  Episcleralgefässe  stärker  injicirt ;  sie  sind 
gegen  grelles,  namentlich  reflectirtes  Licht,  gegen  raschen  Wechsel 
zwischen  Licht  und  Schatten  ,  gegen  kalte  Luft,  Tabakrauch  u.  dgl.  ab- 
norm empfindlich,  und  thränen  leicht,  wogegen  sie  des  Morgens  beim  Er- 
wachen wie  ausgetrocknet  erscheinen,  so  dass  die  Lider,  obwohl  nicht 
verklebt,  nur  mühsam  und  unter  Schmrez  geöffnet  werden  können.  Diese 
Zufälle  deuten  mehr  weniger  schon  auf  Hinzutreten  von  Reizung  und  Hy- 
perämie der  Netzhaut.  —  Rücksichtlich  der  Lage  der  Iris  und  Linse  ver- 
halten sich  solche  Augen  meistens  so  wie  weitsichtige,  auch  in  jenen  Fäl- 
len, wo  sie  noch  im  Stande  sind,  selbst  bei  5  Zoll  Distanz  feine  Objecte 
deutlich  zu  erkennen.  Die  Pupille  ist  im  Allgemeinen  enger,  auch  wenn 
noch  keine  Zeichen  von  Netzhautreizung  vorhanden  sind. 

Häufig  kommt  dieser  Zustand  bei  Leuten  vor,  bei  denen  sich  Pres- 
byopie wegen  Senescenz  entwickelt ;  er  erreicht  indess  hier  nicht  so  ott 
einen  hohen  Grad,  weil  solche  Leute  bald  darauf  kommen,  dass  sie  ihre 
Augen  zur  Arbeit  durch  Brillen  unterstützen  müssen,  und  weil  bei  höheren 
Graden  von  Weitsichtigkeit  sich  das  Lesen,  Schreiben  u.  dgl.  ohne  Brillen 
von  selbst  verbietet.  Wenn  jedoch  die  Senescenz  etwas  früher  eintritt, 
wenn  man  den  Gebrauch  der  Brillen  aus  Eitelkeit  verschmäht  oder  aus 
dem  sonderbaren  Grunde,  weil  man  dieselben  dann  nie  wieder  werde  ab- 
legen können,  oder  wenn  relativ  zu  schwache  Brillen  gewählt  wurden,  so 
geschieht  wohl  auch  hier  dasselbe,  was  sonst  nur  dann  der  Fall  ist,  wenn 
jüngere  Leute  davon  befallen  werden.  Die  Ursachen  sind  dieselben,  welche 
wir  bei  der  Presbyopia  praematura  angegeben  haben,  übermässige  Anstren- 
gung, deprimirende  Einflüsse ,  Weinen ,  Nachtwachen  u.  s.  w.  Nebstdem 
aber  gibt  Ungleichheit  der  Sehkraft  beider  Augen  häufig  Veranlassung 
zu  diesem  Zustande.  Vergl.  Hornhauttrübung  I.  B.  S.  261  und  Amblyopie 
III.  B.  S.  103.  —  Bei  Kurzsichtigen  können  wohl  in  Folge  übrrmässiger 
Anstrengung  die  Zufälle  von  Überreizung  und  Hyperämie  (selbst  Apoplexie 
und  Entzündung)  der  Netzhaut  auftreten  ;  von  einem  Nachlassen  der  Ac- 
commodationskrafl,  von  einem  Zurückgehen  auf  grössere  Entfernung  beim 
Arbeiten  habe  ich  nie  etwas  gehört,  noch  beobachtet.  Bei  Schielenden 
wird  die  Accommodation  für  feinere  Objecte  sehr  häufig  nicht  lange  ab- 
gehalten ;  doch  waltet  hier  nicht  einfache  Schwäche  der  Accommodations- 
organe  ob,  sondern  müssen  noch  andere  (später  erörterte)  Momente  mit 
in  Anschlag  gebracht  werden. 


Aiigeiuuattigkeit  —  Prognosis  —  Therapie.  265 

Die  Prognosis  ist  im  Allgemeinen  günstig  zu  stellen,  was  die  Erhal- 
tung der  Sehkraft  betrifft,  unter  Umständen  auch  günstig  rücksichtlich  der 
völligen  Wiederherstellung  des  normalen  Zustandes.  Die  Heilung  ist  müh- 
sam, erfordert  von  Seite  des  Kranken  viel  Ausdauer.  Gefährlich  wird  der 
Zustand  nur  durch  das  seeundäre  Netzhautleiden.  Bei  Weitsichtigkeit  wegen 
Senescenz  lassen  sich  die  Zufälle  durch  passende  Convexgläser  und  eine 
vernünftige  Augendiätetik  beseitigen.  Bei  einfacher  Kopiopie  jugendlicher 
Individuen  in  Folge  übermässiger  Anstrengung  der  Augen  oder  deprimi- 
render  Einflüsse  lässt  sich  an  völlige  Behebung  denken,  sobald  —  was 
freilich  oft  unmöglich  —  den  Augen  und  dem  Körper  die  nöthige  Buhe 
und  Erholung  verschafft  werden  kann.  Bei  Kopiopie  wegen  Ungleichheit 
der  Sehkraft  fragt  sich's  nebstdem ,  ob  diese  beseitigt  werden  kann  ;  wo 
nicht,  so  kann  meistens  nur  von  Besserung  oder  temporärer  Beseitigung 
der  Zufälle  die  Rede  sein. 

Die  Behandlung  erfordert  zunächst  Eruirung  und  gehörige  Würdigung 
der  ätiologischen  Momente.  Bald  ist  die  übermässige  Anstrengung ,  bald 
die  Senescenz,  Depression  der  Körperkräfte,  oder  Ungleichheit  der  Seh- 
kraft der  vorwaltende  Factor.  In  allen  Fällen  besteht  demnach  die  erste 
Indication  darin,  dass  dem  Auge  durch  Wochen  —  Monate  Ruhe  und  Fr- 
holung  gestattet  werde.  Dieser  Indication  wird  bald  schon  durch  Ein- 
schränkung, bald  auch  nur  durch  gänzliche  Enthaltung  vom  Lesen,  Schrei- 
ben u.  dgl.  genügt  werden  können.  Ein  vortreffliches  Mittel,  solche  Augen 
trotz  Beschäftigung  nicht  anzutsrengen,  bieten  Convexgläser,  nur  müssen 
sie,  wenn  sich  das  Auge  noch  aecommodiren  kann ,  schwach  sein.  Zu 
diesem  Behufe  ist  es  wünschenswerth,  Gläser  von  100,  90,  80,  75,  70, 
65  u.  s.  w.  bis  40  zu  besitzen,  um  auch  den  geringsten  Abstufungen  der 
Accommodationskraft  gebührend  Rechnung  tragen  zu  können.  Wird  das 
Auge  eben  hinreichend,  aber  auch  nicht  mehr,  unterstützt,  dann  kann 
massige,  lieber  öfter  als  länger  vorgenommmene  Übung  sogar  wohlthätig 
auf  die  geschwächten  Accommodationsorgane  einwirken,  gleichwie  der 
Reconvalescent  von  einer  schweren  Krankheit  seine  Muskelkräfte  durch 
massige,  nicht  zu  einförmige  und  nie  bis  zur  Ermüdung  fortgesetzte  Übung 
stärkt,  durch  Unthätigkeit  hingegen  ebenso  wie  durch  forcirte  Anstren- 
gung schwächt.  Besonders  wohlthätig  sind  die  meines  Wissens  zuerst 
von  Böhm  empfohlenen  blassblauen  schwachen  Convexgläser ,  besonders 
in  jenen  Fällen ,  wo  sich  bereits  ein  mehr  weniger  hoher  Grad  von  Ere- 
thismus der  Netzhaut  dazu  gesellt  hat.  In  dem  Masse,  als  die  Accom- 
modationsorgaae  erstarken ,  geht  man  von  stärkeren  zu  schwächeren 
Nummern    über.     Am    fühlbarsten    macht   sich    der  Nutzen  entsprechender 


266  Augenmuskeln. 

Convexgläser  bei  jenen,  welche  durch  die  Verhältnisse  gezwungen  sind,  zu 
arbeiten.  Man  muss  aber  diejenigen,  welche  über  die  Wirkung  dieser  Unter- 
stützung entzückt  sind,  ausdrücklich  ermahnen,  sich  nicht  zu  vergessen, 
und  bei  der  Arbeit  es  nie  bis  zur  Ermüdung  kommen  zu  lassen ,  sondern 
gleich  jenen,  die  keine  Brillen  brauchen,  öfter  kleine  Pausen  und  Ab- 
wechslung im  Arbeiten  eintreten  zu  lassen.  Auch  sollen  sie  allmälig  wie- 
der anfangen,  zeitweise  ohne  Brillen  zu  arbeiten,  falls  sie  dieselben  nicht 
etwa  wegen  Presbyopie  bleibend  bedürfen.  Fleissige  Bewegung  im  Freien, 
wo  möglich  Aufenthalt  auf  dem  Lande,  in  Gebirgsgegenden.  Öfteres 
Waschen  oder  Anspritzen  der  Augen  mit  frischem  Wasser.  Augendouche 
mittelst  besonderer  Apparate.  Ein  sehr  einfacher  Apparat  ist  eine  Bohre 
von  Glas  oder  Blech,  an  beiden  Enden  umgebogen,  im  geraden  Mittelstück 
etwa  30 — 36  Zoll  lang,  das  eine  Ende  in  eine  aufwärts  gerichte  Spitze 
zulaufend,  und  mit  einer  Öffnung  versehen,  welche  etwa  eine  Stricknadel 
aufnehmen  könnte,  das  andere  Ende  schräg  abgestuzt  und  dem  Mittel- 
stücke parallel  abwärts  gerichtet,  so  dass  es  etwa  6  Zoll  tief  in  ein 
Gefäss  voll  Wasser  eingetaucht,  das  Ganze  somit  als  Heber  benützt 
werden  kann,  den  man  durch  Ansaugen  der  Luft  am  spitzigen  Ende  in 
Thätiffkeit  setzen  kann.  Will  man  statt  eines  etwa  strohhalmdicken  Strah- 
les  mehre  feine  haben  (Regendouche) ,  so  verbindet  man  einen  an  einer 
Wand  aufgehängten  Wasserbehälter  mit  einem  etwa  4 — 5  Fuss  langen 
Rohre,  welches  durchaus  oder  doch  unten  biegsam  (von  Kautschuk,  Gutta- 
percha) ist,  und  unten  mit  einem  Hahne  (zum  Absperren)  und  einer  Brause 
versehen  ist.  Der  Wasserstrahl  wird  an  die  geschlossenen  Lider  durch 
2 — 5  Minuten,  mehrmals  des  Tages  geleitet.  Wird  die  Douche  nicht  ver- 
tragen, oder  liegen  sonst  Gründe  dagegen  vor,  so  vsähle  man  Waschun- 
gen mit  Wasser  und  Branntwein  (Franzbranntwein  oder  Cognac  mit  4 — 2 
Theilen  Wasser)  oder  mit  Spir.  roris  marini ,  mit  Oleum  foeniculi  aetbe- 
reum  in  Weingeist  gelöst  *)  und  mit  Wasser  verdünnt,  oder  bestreiche  die 
Umgebung  der  Augen  mit  Himly's  Balsamum  ophthalmieum,**)  mit  Cölner 
Wasser  oder  ähnlichen  Mitteln.  —  Die  allgemeine  Behandlung  erfordert 
unter  Berücksichtigung  des  ätiologischen  Momentes  fleissige  Bewegung  im 
Freien,  Aufheiterung  des  Gemülhes  (wozu  die  Prognosis  wesentlich  bei- 
tragen wird),  gute  Kost ,  nach  Zulass  des  allgemeinen  Befindens  und  der 
sonstigen  Verhältnisse  Fluss-  oder  Seebäder,  Mineralsäuren,  Eisen-  oder 
Chinapräparate,  u.  dgl. 

*)  Der  wesentliche  Bcslandtlieil  des  Romer shausen  sehen  Augenwassers. 
•*)  Rpe  :  Biils.  peruviani  gult.  sex,  Olei  lavendulae,  olei  caryophyiloram,  olei  succini  rectiffc.  ana  galt,  quatuor  Spir. 
villi  rctilic.  unc.  ilimidiani.     M.  el  posl  sulTic    mareral.   ultra  per  gOMyp.  D.   5.    LllgeDbllsdm. 


Augenmattigkcit  —  Therapie  —  Beispiele.  267 

„Ein  verdienstvoller  Mann  wurde  am  Ende  eines  heftigen  und  langwierigen  Nerven- 
fiebers  von  einer  solchen  Augenschwäche  befallen,  dass  er  einige  Zeit  hindurch  in  der 
schrecklichsten  Besorgniss  lebte,  sein  Gesicht  völlig  zu  verlieren  ;  diese  An^st  wurde 
noch  üherdiess  durch  das  Achselzucken  der  Ärzte  und  durch  die  tätliche  Abnahme  der 
Sehkraft  mächtig  unterstüzt,  so  dass  ich  den  Leidenden  in  der  traurigsten,  mitleidswür- 
digsten Stimmung  antraf,  als  ich  gerufen  wurde.  Man  rieth  ihm  Dunkelheit  des  Zim- 
mers, den  Dunst  des  Cülner  "Wassers,  und  ein  Augenwasser  aus  gleichen  Theilen  Brun- 
nenwasser und  Weingeist,  wobei  er  sich  aber  sehr  übel  befand.  Ich  empfahl  leicht  zu 
verdauende  Nahrungsmittel  in  massigen,  vertheilten  Mahlzeiten,  ein  Gläschen  guten  Wein, 
Bewegung  des  Körpers  in  freier,  reiner  Luft,  Übung  der  Augen  in  einem  ganz  gleich- 
massig  vertheilten  hellen  Lichte,  und  endlich  besonders  öfters  flüchtiges  Anschauen  feiner 
Kupferstich-  und  Mineraliensammlungen,  welchen  Bath  der  Leidende  auch  sehr  gern 
befolgte,  weil  er  mit  seinen  Neigungen,  vor  welchen  man  ihn  doch  ernstlich  warnte, 
übereinstimmte.  Der  gute  Mann  unterhielt  sich  nun  mit  seinen  Freunden  täglich  über 
verschiedene  Stücke  seiner  trefflichen  Sammlungen  und  vergass  bald  seinen  Kummer  ; 
denn  die  Gesichtsschwäche,  von  welcher  man  schon  einen  schwarzen  Staar  prophezei- 
hen  wollte,  verschwand  in  weniger  als  3  Wochen  so  vollkommen,  dass  der  Wieder- 
genesene seine  Augen  wie  vor  der  Krankheit  gebrauchen  und  anhaltend  anstrengen 
konnte."     (Beer,  Pflege  gesunder  und  geschwächter  Augen.  S.  143.) 

Im  November  1842  kam  ein  Fräulein  von  beiläufig  20  Jahren  zu  mir,  mit  der  Klage, 
dass  sie  seit  einigen  Wochen  nicht  mehr  im  Stande  sei,  längere  Zeit  zu  nähen  oder  zu 
lesen,  was  sie  doch  bis  tief  in  die  N'-tcht  hinein  zu  thun  gewohnt  gewesen  sei;  es  fange 
ihr  das  rechte  Auge  an  weh  zu  thun  und  zu  thränen,  und  bei  fortgesetzter  Anstrengung 
verwirren  sich  ihr  die  Gegenstände  so  durcheinander,  dass  sie  die  Arbeit  längere  Zeit 
bei  Seite  zu  legen  genöthigt  sei ;  sie  bat  um  so  dringender  um  Hilfe,  da  sie  mit  dem 
linken  Auge  ohnehin  wenig  sehe,  selbst  einen  '/2  Zoll  hohen  Druck  nur  mit  Mühe  lesen 
könne.  Wie  lange  sich  das  linke  Auge  in  diesem  Zustande  befinde,  wisse  sie  nicht;  sie 
habe  es  vor  einigen  Wochen  beim  Schliessen  des  rechten  bemerkt,  da  ihr  die  Augen 
matt  zu  werden  anfingen.  Nachdem  der  erethisehe  Zustand  des  rechten  Auges  durch 
entsprechende  Diät  und  Behandlung  beseitigt  war,  begann  ich  die  Behandlung  des  lin- 
ken Auges  nach  Cuniers  Vorschlage  mit  einem  coneav-convexen  Glase  von  3  Zoll  Brenn- 
weite, durch  welches  sie  deu  Titel  der  Prager  Zeitung  gut  zu  lesen  vermochte.  Da 
selbst  durch  viertelstundenlange  Übung  keine  Beizungssymptome  herbeigeführt  wurden, 
verminderte  ich  die  Brennweite  täglich  um  '/2  Zoll  bis  zu  Nro.  7,  dann  in  grössern 
Zwischenräumen  um  einen  ganzen  Zoll  bis  zu  Nro.  17,  endlich  um  3—4  Zoll  bis  zu 
Nro.  27.  Den  20.  December  las  sie  bereits  einen  Druck  von  nicht  ganz  1  Linie  Höhe, 
und  zwar  ohne  Glas  und  bei  9 — 10  Zoll  Distanz.  Die  Heilung  ist  dauerhaft ;  sie  ver- 
trägt jetzt  (mehrere  Jahre  später)  wieder  stundenlang  Anstrengung  der  Augen. 

Ein  Mädchen  von  ungefähr  26  Jahren  consultirte  mich  wegen  Schwäche  des  rech- 
ten Auges  ;  mit  dem  linken,  sagte  sie,  habe  sie  von  Jugend  auf  nicht  gut  gesehen.  Sie 
klagte  über  Erscheinungen,  die  ich  damals  (im  Jahre  1840)  auf  Amblyopia  eretisthico- 
congestiva  hohen  Grades  bezog,  welche  aber,  wie  mir  erst  im  spätem  Jahre  klar  wurde, 
zunächst  von  Asthenopie  ausgingen.  Sie  hatte  im  16.  Jahre  an  Bleichsucht  gelitten  und 
bot  den  sogenannten  Habitus  leucophlegmaticus  dar;  die  Menstruation  war  sparsam,  die 
Leibesöffnung  habituell  sehr  träge.  Sie  war  in  der  grössten  Angst  zu  erblinden,  da  die 
Mittel,    die  ihr    ein  berühmter  Augenarzt   gerathen  (zeitweilig   Schröpfköpfe  an  die  Wir- 


268  Augenmuskeln. 

belsäule,  Pillen  mit  Aloe  und  Castoreum),  nicht  die  geringste  Besserung,  erstere  sosjar 
vorübergehende  Verschlimmerung  herbeigeführt,  und  ein  zweiter  Arzt  ihren  Verwandten 
erklärt  hatte,  es  sei  schwarzer  Staar  zu  befürchten.  Ich  fnnd  die  linke  Hornhaut  (in 
Folge  einer  in  früher  Jugend  überstandenen  Entzündung)  nur  ganz  wenig  getrübt,  un- 
gefähr so,  wie  wenn  sie  mit  einer  ganz  dünnen  Lage  Milch  überzogen  wäre.  Sie  hatte 
vor  dem  Entstehen  dieser  Gesichtsschwäche  (des  rechten  Auges)  viele  Nächte  hindurch  ge- 
wacht und  vorgelesen  —  bei  einer  schwer  kranken  Mutter  —  und  anhaltend  feine 
weibliche  Arbeiten  verfertigt.  Ich  liess  mich  bei  der  Behandlung  besonders  durch  diesen 
letztern  Umstand  bestimmen,  ohne  genauere  Einsicht  in  die  Natur  des  Übels  am  rechten 
Auge  gewinnen  zu  können,  schlug  mehrere  Curmethoden  ein,  darunter  auch  die  zu 
Marien-  und  das  Jahr  darauf  zu  Carlsbad,  und  nachdem  Pillen  mit  Sulfas  ferri  und  Aloe 
einige  Besserung  bewirkt  zu  haben  schienen,  Franzensbrunnen  beim  Aufenthalte  in  einer 
amnuthigen  Gebirgsgegend.  Ich  hatte  aber  der  Kranken  wohl  am  meisten  dadurch  genützt, 
dass  ich  ihr  die  Furcht  vor  Erblindung  benommen,  die  sie  Tag  und  Nacht  gequält,  und 
durch  eine  zweckmässige  Augendiätetik.  Erst  im  Verlaufe  der  Zeit  sah  ich  ein,  dass 
Enthaltung  der  Augen  von  Anstrengung  die  Hauptsache  war.  Es  sind  nun  15  Jahre 
verflossen,  und  die  Kranke,  mittlerweile  auc  h  in  bessere  Verhältnisse  gesetzt,  muss  wohl 
auf  jede  längere  Anstrengung  der  Augen  verzichten,  erfreut  sich  aber  forwährend  eines 
ungetrübten  Gesichtes.  —  Die  vorstehenden  beiden  Beobachtungen  habe  ich  1844  in  der 
Prager  Vierteljahrschrift  auf  S.  60  und  61  des  4.  Bandes  mitgetheilt.  Einige  andere, 
zum  Theil  hieher  gehörende  Beobachtungen  folgen  in  dem  Abschnitte  über  Strabismus. 
Als  Beispiel  plötzlich  entstandener  Accommodationsparesis  mag  folgender  Fall  dienen. 
Kohn  M.,  37  Jahre  alt,  Buchhalter  in  einem  Handlungshause,  consultirte  mich  am  2.  Mai 
1854,  weil  er  seit  einigen  Tagen  nicht  mehr  lesen  oder  schreiben  konnte,  obwohl  er 
bis  in  die  jüngste  Zeit  den  ganzen  Tag  zu  schreiben  und  bis  spät  in  die  Nacht  zu  lesen 
pflegte,  und  diess  auch  ohne  alle  Beschwerde  und  Anstrengung  konnte.  —  Er  hatte  vor 
5  Tagen  seiner  Gewohnheit  gemäss  nach  dem  Mittagessen  sich  eine  Cigarre  angezündet  ; 
kaum  hatte  er  '/3  davon  geraucht,  als  ihm  unwohl  wurde,  so  dass  er  beinahe  vom  Stuhle 
gefallen  wäre.  Da  er  ganz  blass  und  kalt  geworden  war,  hatte  man  ihn  mit  kaltem 
Wasser  bespritzt,  und  ihm  dann  Brausepulver  verabreicht.  Er  versichert  einige  Minuten, 
ang  gar  nichts  gesehen  und  irre  geredet  zu  haben.  Nachdem  er  sich  in  Zeit  von  drei 
Stunden  wieder  völlig  erholt  hatte,  ging  er  auf  die  Schreibstube,  fand  aber  zu  seinem 
Schrecken,  dass  er  die  eigelaufenen  Briefe  nicht  lesen  konnte.  Er  ging  also  nach  Hanse 
und  legte  sich  nieder.  Es  erfolgten  einige  diarrhoische  Entleerungen  bei  anhallender  Nei- 
gung zum  Erbrechen  und  Eingenommenheit  des  Kopfes,  und  der  Schlaf  war  unruhig. 
Bis  zum  4.  Tage  hatten  sich  die  Zufälle  allmälig  verloren,  mit  Ausnahme  von  Appetit- 
losigkeit; er  konnte  auch  wieder  etwas  lesen,  aber  nur  wenige  Minuten  und  mit  Anstren- 
gung. Experimente  bestätigten,  dass  er  in  die  Ferne,  so  wie  früher,  ganz  gut  sah,  und  dass 
sich  die  Störung  des  Gesichtes  bloss  auf  das  Erkennen  und  Betrachten  naher  Objechte 
bezog.  Er  las  Druck  von  1'"  Höhe  bei  12 — 15  Zoll,  doch  nur  ganz  kurze  Zeit,  und  je 
näher  desto  schlechter;  convex  60  und  noch  mehr  48  erleichterten  das  Lesen  und  ge- 
statteten Annäherung  bis  auf  8  Zoll,  Objectiv  boten  die  Augen  nichts  Abnormes  dar 
als  matten  Blick,  starke  Wölbung  der  im  Ganzen  weit  vorn  liegenden  Iris  und  Einheit 
der  Pupillen.  Wurde  ein  Finger  bis  auf  3"  genähert,  so  stellten  sich  beide  Bulbi 
gehörig  einwärts  und  konnten  auch  eine  geraume  Zeit  lang  in  dieser  Stellung  erhalten 
werden.    Wurde  ihm  convex  9  vorgehalten,    so  musste  er  die  Schrift  bis  auf  mindestens 


Lähmung  im  Allgemeinen.  269 

7"  nähern,  um  sie  noch  lesen  zu  können.  Durch  eine  etwa  '/,/"  grosse  Kartenblatt- 
Öffnung  las  er  mit  jedem  Atiiie  zwischen  5  und  12"  auch  den  feinsten  Druck.  —  Ich 
Hess  den  Mann  bloss  viel  in's  Freie  gehen,  diät  leben  und  nichts  arbeiten.  Nach  8  Ta- 
gen konnte  er  wieder  wie  früher  lesen  und  schreiben.  Sein  Nahepunkt  lag  jetzt  6"  vor 
den  Augen. 

Augenmuskellähmung,  Paresis  et  Paralysis  niuscul.  bulbi. 

Die  hieher  gehörenden  Zustände  wurden  in  früherer  Zeit,  je  nachdem 
man  die  eine  oder  die  andere  hervorstechende  Erscheinung  vorzüglich  in's 
Auge  fasste,  bald  als  Luscitas  (Schiefstehen  des  Auges)  oder  Strabismus 
usciosus  (unbewegliches  Schielen),  bald  als  Dipliopia  (binoculares  Dop- 
peltsehen), wohl  auch  einfach  als  Strabismus  (bewegliches  oder  concomi- 
tirendes  Schielen,  z.  B.  die  Trochlearislähmung)  aufgefasst  und  beschrie- 
ben. Wir  können  hier  diese  generellen,  auf  viele  unter  sich  ganz  ver- 
schiedene Zustände  anwendbaren  Namen  nur  in  so  fern  zulassen,  als  sie 
sich  bloss  auf  verminderte  oder  aufgehobene  Contractionsfähigkeit  (Inner- 
vation) der  Muskeln  des  Bulbus  beziehen.  Von  jener  Diplopie  oder  Unbe- 
weglichkeit  des  Bulbus  ,  welche  z.  B.  auf  Anwachsung  desselben  an  ein 
Augenlid  u.  dgl.  beruht,  kann  demnach  hier  eben  so  wenig  die  Rede  sein, 
als  von  der  durch  Verdrängung  des  Bulbus  aus  seiner  Lage  (z.  B.  durch 
Geschwülste  in  der  Orbita)  bedingten. 

Die  Lähmung  tritt  in  sehr  verschiedenen  Graden  auf,  für  welche  die 
Ausdrücke  Paresis  und  Paralysis  nur  annäherungsweise  genügen.  Die  Ab- 
stufungen von  der  leichtesten  noch  wahrnehmbaren  Insufficienz  bis  zur 
completen  Aufhebung  der  Function  eines  Muskels  sind  so  zu  sagen  un- 
endlich. Auch  rücksichtlich  der  Zahl  der  ergriffenen  Muskeln  kommen 
mannigfaltige  Combinationen  vor.  Die  einfachsten  Fälle  sind  die,  wo  bloss 
einer  der  Recti  gelähmt  ist,  doch  kommt  dies  gewöhnlich  nur  beim  R. 
externus  vor;  complicirter  sind  schon  die  Fälle,  wo  die  vom  N.  oculo- 
motorius  versehenen  Recti  sammt  dem  Obl.  inferior  gelähmt  erscheinen  ; 
grosse  diagnostische  Schwierigkeiten  bietet  die  Lähmung  des  Obl.  superior 
dar,' zumal  wenn  sie  noch  mit  Lähmung  irgend  eines  andern  Muskels,  z.  B- 
des  R.  externus  zugleich  vorkommt,  und  am  schwierigsten  sind  jene  Fälle» 
wo  an  beiden  Augen  zugleich  Lähmung  einzelner,  ungleichnamiger  Mus- 
keln vorkommt.  Die  richtige  Auffassung  solcher  Fälle ,  sie  mögen  nun 
einfach  oder  combinirt  sein,  wird  übrigens  häufig,  zumal  nach  längerem 
Bestände,  noch  dadurch  erschwert,  dass  mannigfache  Reflexwirkungen  und 
secundäre  Contracturen  in  andern  Muskeln  auftreten.  So  leicht  es  dem- 
nach in  einzelnen  Eällen  ist,  die  Lähmungeines  oder  mehrerer  Muskeln  zu 
erkennen,   so   schwierig   ist  in  andern  schon  die  Bestimmung,  ob  Muskel- 


270  Augenmuskeln. 

lähmung  überhaupt ,  an  welchem  Auge ,  in  welchen  Muskeln  und  in  wie 
hohem  Grade  vorhanden  sei,  an  welche  sich  dann  erst  die  im  Allgemeinen 
noch  viel  schwierigere  Eruirung  des  ursächlichen  Momentes  anreihen  kann. 

Die  eminenten  Erscheinungen  der  Muskellähmung  sind  im  Allgemeinen  : 
gehinderte  Beweglichkeit  des  Bulbus  nach  einer  oder  der  andern  Richtung, 
bald  mit  bald  ohne  Abnormität  in  der  Stellung  desselben,  und  Doppeltsehen 
beim  Gebrauche  beider  Augen,  woran  sich  noch  Schwindel,  unsichere  Orien- 
tirung,  ungenügende  Accommodation  und  Sensibilitätsslörungen  anreihen. 

Abnormitäten  in  der  Stellung  und  Beweglichkeit  des  Bulbus,  an  wel- 
chem ein  oder  mehrere  Muskeln  insufficient  sind,  geben  sich  überhaupt  nur 
bei  Affeetation  der  Recti,  und  auch  da  nur  bei  höheren  Graden  und  bei  ge- 
wissen Richtungen  der  Sehachsen  kund,  da  nämlich,  wo  die  einfache  oder 
die  erhöhte  Mitwirkung  des  betroffenen  Muskels  in  Anspruch  genommen 
wird.  „Um  die  ausbleibende  Wirkung  eines  Augenmuskels  kenntlich  zu 
machen,  müssen  wir  das  Auge  derjenigen  Stellung  zuführen,  in  welcher 
die  Zusammenziehung  des  afficirten  Muskels  beansprucht  wird."  Dieser 
Ausspruch  A.  von  Gräfe  s  enthält  den  leitenden  Grundsatz,  von  dem  man 
bei  Beui'theilung  sowohl  der  Stellung  der  Cornea  als  des  Auftretens  der 
Doppelbilder  auszugehen  hat. 

Das  Gefühl  von  Schwindel  fehlt  bei  frischen  Fällen  von  Muskelläh- 
mung selten,  und  zwar  nicht  nur 'beim  monoculären  Sehen  (mit  dein  affi- 
cirten Auge) ,  sondern  auch  beim  binoculären.  Der  Kranke  hat  auf  dem 
betroffenen  Auge  die  feste  Haltung  und  die  richtige  Orientirung  im  Seh- 
felde mehr  weniger  verloren ;  er  irrt  sich  im  Urtheile  in  Bezug  auf  die 
Lage  (rechts,  links,  oben,  unten)  oder  Richtung  (grad  oder  schräg),  mitunter 
auch  in  Bezug  auf  die  Entfernung  und  auf  die  Grösse  der  Objecte.  Man 
kann  das  eine  durch  Vorhalten  eines  Prisma,  das  andere  durch  Vorhalten 
eines  coneaven  oder  convexen  Glases  leicht  an  sich  nachmachen.  —  In 
manchen  Fällen  von  Muskellähmung  findet  man  die  Sensibilität  der  Haut 
in  der  Umgebung  des  Auges  oder  auch  an  der  Hornhaut  verminder.t,  je- 
doch, wie  es  scheint,  nicht  als  Effect  oder  Symptom,  sondern  vielmehr 
als  Coexistenz.  In  andern  leidet  consecutiv  die  Sensibilität  der  Netzhaut, 
und  es  muss,  da  diese  auch  aus  andern  Ursachen  gesunken  sein  kann, 
jederzeit  das  gegenseitige  Verhalten  erst  eruirt  und  constatirt  werden. 

Unter  den  Zufällen,  durch  welche  sich  die  Verminderung  oder  Auf- 
hebung der  Function  eines  Augenmuskels  kundgibt,  nimmt  das  Doppelt- 
sehen beim  binoculären  Sehacte  die  erste  Stelle  ein.  Der  von  Paresis 
oder  Paralysis  eines  (mehrerer)  Augenmuskels  Befallene  bemerkt  zu  seinem 
Schrecken,  dass  er  beim  Gebrauche  beider  Augen  doppelt,  beim  Verschluss 


Lähmung  im  Allgemeinen  —  Diplopie.  27i 

des  einen  oder  fies  andern  Auges  einfach  sieht.  Er  bemerkt  diess  bald 
unter  allen  Umständen,  bald  nur  beim  Anblick  entfernter  und  heller,  bald 
nur  beim  Betrachten  naher  Objecto,  ein  andermal  nur,  wenn  die  Objecto 
des  directen  Sehens  sich  rechts  oder  links  von  der  vorticalen  Merid ian- 
ebene  des  Kopfes,  oder  aber  nur  wenn  sie  sich  unter  oder  über  der  Hori- 
zontalen befinden  (z.  B.  beim  Stiegensteigen1,  beim  Blick  auf  die  Zimmer- 
decke, eine  Thurmspitze).  In  Fällen  geringer  Affection  tritt  die  Diplopie 
beim  gewöhnlichen  Sehen  bisweilen  nicht  als  solche  deutlich  auf,  indem 
sich  die  Doppelbilder  noch  mehr  weniger  decken,  daher  der.  scheinbar 
noch  einfach  gesehene  Gegenstand  nur  auf  der  einen  Seite  wie  von 
einem  Schalten  oder  Farbenstreifen  eingesäumt  oder  wie  verunstaltet  (in 
die  Breite  oder  Länge  gezogen)  erscheint.  Wo  immer  ein  Kranker  über 
solche  Zufälle  klagt,  hat  man  Ursache,  an  insuff'iciente  Wirkung  eines  oder 
mehrerer  Muskeln  behufs  der  richtigen  (correspondirenden)  Stellung  des 
Bulbus  zu  denken,  vorausgesetzt,  dass  keine  Diplopia  monocularis  oder 
eine  Krankheit  in  dem  einen  Bulbus  selbst  (Keratokonus ,  Luxation  der 
Linse,  beginnende  Netzhautablösung)  vorwaltet. 

Obwohl  unsere  frühern  Erörterungen  über  das  Sehen  bei  nicht  adaptirtem  Refra- 
ctionszustande  genügen  dürften,  begreiflich  zu  machen,  dass  Zerstreuungskreise  unter  ge- 
wissen Umständen  Doppeltsehen  (mit  einem  Auge)  veranlassen  können,  so  halte  ich  es 
doch  nicht  für  überflüssig,  hier  noch  einige  Bemerkungen  über  die  Diplopia  und  Polyopia 
monocularis  einzuschalten,  zumal  der  Gegenstand  in  früherer  und  späterer  Zeit  zu  man- 
nigfachen irrigen  Deutungen  und  Hypothesen  Veranlassung  gegeben  hat.  —  Das  Dop- 
peltsehen mit  Einem  Auge  kommt  vor  bei  rein  Kurz-  oder  Weitsichtigen,  bei  Hyperpres- 
byopischen,  bei  leichten  Trübungen  in  den  durchsichtigen  Medien,  mithin  immer  nur 
unter  Umständen,  wo  die  Bedingungen  zu  Zerstreuungskreisen  in  nicht  entsprechender 
Vereinigungsweite  oder  in  Diffusion  der  von  den  Objecten  kommenden  Lichtstrahlen 
vorhanden  sind.  Demgemäss  kann  auch  jeder  Normalsichtige  die  Phänomene  des  mon- 
oculären  Doppelt-  und  Mehrfachsehen  leicht  an  sich  beobachten,  wenn  er  sein  Auge 
durch  Vorhalten  eines  entsprechend  -starken  Concav-  oder  Convexglases  weit-  oder 
kurzsichtig  macht.  Mir  gelingt  insbesondere  das  Doppeltsehen  entfernter  Thurmspitzen, 
Blitzarbeiter  u.  dgl.  sehr  leicht  durch  Convexgläser  von  30 — 36  Zoll.  Das  Doppeltsehen 
macht  sich,  wenn  nicht  Diffusion  des  Lichtes  obwaltet,  nur  bei  nicht  adaptirtem  Refra- 
ctionszustande  geltend,  also  bei  Kurzsichtigen  nur  an  Objecten,  welche  jenseits  des  Fern- 
punktes der  deutlichen  Sehweite  liegen,  bei  Fernsichtigen  an  zu  stark  genäherten  Obje- 
cten (und  somit  kann  auch  ein  Normalauge  bei  zu  grosser  Annäherung  feiner  Objecte  die- 
selben doppelt  sehen),  bei  Hperpresbyopischen  in  allen  beliebigen  Distanzen,  vorausgesetzt, 
dass  noch  die  anderweitigen  Bedingungen  vorhanden  sind.  Die  letzteren  beziehen  sich 
nebst  der  leichten  Erregbarkeit  der  Netzhaut  als  Grundbedinnung  auf  die  Helligkeit,  den 
Sehwinkel,  die  Dimensionen  und  die  Richtung  der  Objecte.  Was  die  Helligkeit  betrifft, 
so  kommt  es  nicht  sowohl  auf  die  Menge  des  Lichtes  an,  welches  ein  Object  zum  Auge 
sendet,  als  vielmehr  auf  den  Contrast  zur  Umgebung  oder  Unterlage.  Daher  eignen  sich 


272  Augenmuskeln. 

verticale  und  horizontale  Tintenstriche  auf  weissem  Papier,  Blitzableiter  oder  Thurinspilzen 
vor  dein  Firmamente  so  gut  zu  diesen  Experimenten,  wie  eine  schmale  Goldleiste  oder 
eine  Millykerze  auf  mattem  Hintergrunde.  Sind  die  Netzhaulbilder  zu  gross ,  so  treten 
die  Doppelbilder  nicht  genug  aus  einander.  Lange  und  schmale  Objecto  werden  leich- 
ter doppelt  gesehen,  runde  dagegen  vielfach  oder  bloss  einfach  und  von  einem  Hofe 
oder  Farbenkranze  umgeben.  Die  Verdopplung  eines  langen  Objectes  gelingt  leichter, 
wenn  dasselbe  senkrecht  steht,  und  die  Doppelbilder  treten  caeteris  paribus  weiter  aus 
einander,  als  wenn  dasselbe  Object  eine  horizontale  Lage  hat.  Die  Erklärung  hievon 
liegt  in  dem  von  Moser,  Meyer,  Fick  u.  A.  nachgewiesenen  Umstände,  dass  die  Hornhaut 
von  oben  nach  unten  stärker  als  von  einer  Seite  zur  andern  gewölbt  ist.  —  Kurzsich- 
tige sehen  den  Mond  doppelt,  aber  nur  den  Halb-  nicht  den  Vollmond,  nicht  den  Abend- 
oder einen  andern  hellen  Stern.  Leute  ohne  Krystalllinse  beschweren  sich  gewöhnlich, 
dass  sie  glänzende  Objecte,  z.  B.  Metallknöpfe,  Goldleisten ,  entfernte  Kerzenlichter  dop- 
pelt oder  mehrfach  sehen.  Ebenso  fällt  Leuten  mit  beginnender  Cataracta  häufig  zuerst 
auf,  dass  sie  die  Kerzen  am  Altare  vervielfältigt  sehen.  Exudatstreifen  oder  Membranen 
in  der  Pupille  bewirken  Doppelt-  oder  Mchrfachsehen  nicht  durch  Zerfällen  der  Licht- 
kegel in  mehrere,  ausser  unter  Verhältnissen,  die  wir  bei  den  entoptischen  Erscheinun- 
gen angegeben  haben,  sondern  analog  den  durchscheinenden  oder  halbdurchsichtigen 
Hornhaut-  und  Linsentrübungen  durdi  Diffusion  des  Lichtes  und  Zerstreuungskreise. 

Die  aus  der  insuffieienten  Wirkung  eines  oder  mehrerer  Muskeln  her- 
vorgehenden Zufalle  werden  mannigfaltig  modificirt  und  mehr  weniger 
verwischt  dadurch,  dass  die  Affection  bald  plötzlich  in  hohem  Grade,  bald 
unvermerkt  und  alltnälig  mehr  und  mehr  auftritt,  dass  sie  auf  einem  ge- 
wissen Grade  stehen  bleibt  oder  ganz  von  selbst  wieder  abnimmt ,  haupt- 
sächlich aber  dadurch,  dass  nach  längerem  Bestände  bald  Reflexwirkung 
in  andern  Muskelgruppen ,  bald  Sinken  der  Energie  der  Netzhaut  oder 
beides  zugleich  eintritt.  Vermöge  des  unwiderstehlichen  Dranges,  der  vor 
allem  durch  das  Doppeltsehen  lästigen  Functionsstörung  abzuhelfen,  das 
Doppeltsehen  zu  elidiren  oder  unschädlich  zu  machen,  entstehen  alsbald 
Reflexbewegungen,  bald  in  dem  Antagonisten  desselben  Auges ,  damit  das 
Doppelbild  auf  eine  mehr  peripherische  Stelle  der  Netzhaut  falle  und  so- 
mit leichter  unterdrückt  werden  könne,  bald  in  dem  gleichnamigen  oder 
gleichseitigen  Muskel  des  andern  Anges,  gleichsam  als  ginge  der  vom 
Sensorium  ausfahrende,  bald  für  die  gleichnamigen  (bei  den  Accommoda- 
tivbewegungen),  bald  für  die  gleichseitigen  (bei  den  Richtbewegungen)  be- 
stimmte Gesainmlimpuls  jetzt,  wo  der  eine  davon  gelähmt  ist ,  auf  den 
andern  allein  über.  Hier  wirkt  meines  Wissens  vorzüglich  der  Umstand 
entscheidend,  ob  beide  Augen  in  der  Sehkraft  und  Refraction  beträchtlich 
differiren  oder  mehr  weniger  gleich  sind.  So  fand  ich  bei  einigen  Kran- 
ken mit  Lähmung  des  Rect.  externus  an  dem  Auge,  dessen  sie  sich  zum 
schärferen  Sehen  bedienten,  dass  sie  nach  einiger  Zeit  anfingen,]  mit  dem 


Lähmung  im  Allgemeinen  —  Doppeltsehen.  273 

schwächern  Auge  einwärts  zu  schielen,    also  das .  Bild  des    nicht    affieirlen 
Auges  unterdrücken  lernten.      Ausserdem  aber  wird  das  Doppellsehen  ge- 
wöhnlich durch    erhöhte    Contraction    des  Antagonisten    auf   dein    afiicirten 
Auge  elidirt,    das    Hornhautcentrum    z.  B.    bei    Lähmung    des    R.  externus 
endlich  über  die    Mitte  der   Lidspalte   gegen  den    innern  Winkel  abgelenkt 
ein  Effect,    der    nur  durch    Hinzutreten    excessiver  Contraction  des  R.  iu_ 
lernus,    nicht  aber  durch  Lähmung  des   R.  externus  allein  bedingt  werden 
kann.  —  Andere  Kranke    beseitigen  das   Doppeltsehen   und  den  Schwindel 
durch  Zukneipen  der  Lider.    Fast  ohne  Ausnahme  wird  man  aber  bemerken 
dass  solche    Kranke   durch  schiefe    Haltung  des   Kopfes  dem   Doppeltsehen 
so  viel  als  möglich  zu  entgehen  suchen,    indem  sie  ihn  bald  um  die  ver- 
tikale, bald  um  die  horizontale  quere  Achse  oder  um  beide  zugleich  dre- 
hen.    (Am  besten  beurlheilt  man  diess    nach  dem  Stande  des  Kinnes  zum 
Brustbeine.)      So  hält  z.  B.  ein  Kranker,  dem  der  R.  externus  des  linken 
Auges  gelähmt  ist,    und  der  desshalb    alle  Objecte    doppelt  sieht,    welche 
gerade  vor  ihm    (in  der  vertikalen  Medianebene)   und  von  da   im  Sehfelde 
links  liegen,  sein  Gesicht  links  gedreht,  damit  beide  Augen  mehr  weniger 
rechts  gerichtet  seien ,    um  die  gerade  vor   dem   Körper    befindlichen  Ob- 
jecte einfach  sehen  zu  können.     Ist  aber  bereits  excessive  Contraction  des 
Antagonisten,    im  obigen    Falle  Einwärtsschielen  des    linken  Auges  einge- 
treten,   dann  hält  der  Kranke  den  Kopf  entgegengesetzt,    im  obigen  Falle 
etwas  rechts  gedreht,    weil  so   die  Elidirung  des  dem    linken  Auge  ange- 
hörenden  Bildes    leichter  gelingt.    —    Das  Doppelbild    kann  aber  auch  aus 
andern  Gründen  der  Wahrnehmung  entgehen,  und  zwar  entweder  weil  es 
mit  dem  des  gesunden  Auges  noch  theilweise  zusammenfällt  (bei  gewissen 
Distanzen  und  Richtungen,  bei  geringer  Musl-.elinfficienzj,  oder  weil  es  be- 
reits einer  sehr  peripherischen  Netzhautstelle  angehört  (bei  completer  Läh- 
mung   und    in   Folge  von    Reflexwirkungen),    oder  weil    die    Energie    der 
Netzhaut   des  afficirten  Auges    zu  gering  ist,    als  dass    sich  die   schwache 
Erregung  des  Sensorium  von    hier   und    im  Gegensatze    zu  der  vom   nor- 
malen Auge  ausgehenden    Erregung  geltend    machen  könnte.       Im  Allge- 
meinen wird  man  jedoch  finden,    dass  bleibende  und  unter  allen  Umstän- 
den herrschende  Unterdrückung  des    Doppelbildes    bei  passiver  Ablenkung 
der  Sehachse  (Luscitas,  Muskellähmung)  weit  seltener    und  erst  nach  sehr 
langer  Dauer  zu  Stunde  kommt,    während  bei  der  (später  zu  besprechen- 
den) activen  Ablenkung  (Strabismus,  excessive  Muskelcontraction)  Doppelt- 
sehen gar  nicht  oder    nur  unter  besondern  Verhältnissen  vorkommt.      Das 
binoculäre  Doppeltsehen    bildet  somit    das  coiislanteste  Symptom    und  em- 
pfindlichste Reagens  für  Muskelinsufficienz,    respective  Lähmung. 

ArlfsÄujreiilieilliiiiuk-  HI,  2.  "IS 


274  Augenmuskeln. 

Unter  Berücksichtigung  des  eben  Gesagten  wird  es  in  jedem  spe- 
ciellen  Falle  möglich  sein,  auch  solche  Muskellähmungen  zu  erkennen,  die 
sich  nicht  sogleich  durch  abnorme  Stellung  der  Hornhaut  und  gehinderte 
Beweglichkeit  das  Bulbus  verrathen ,  wenn  man  ohngefähr  folgendermassen 
vorgeht.  Zunächst  lasse  man  den  Kranken  den  Kopf  ganz  gerade  halten 
(am  besten  durch  einen  Gehilfen  fixiren) ,  so  dass  sowohl  die  vertikale 
Median  -  als  die  Gesichts  -  oder  Antlitzebene  senkrecht  auf  der  Hori- 
zontalen stehen ;  sodann  halte  man  die  Objecte ,  mit  denen  man  auf  Dop- 
peltsehen reagiren  will,  vorerst  dem  Gesichte  gerade  gegenüber,  und 
zwar  in  einer  Entfernung,  in  welcher  solche  Objecte  vermöge  ihrer  Grösse 
und  Beleuchtung  und  vermöge  des  Refractionszustandes  der  Augen  ohne 
besondere  Anstrengung  der  Accommodationsorgane  noch  deutlich  gesehen 
werden  können  (ohngefähr  im  Mesorocter).  Zu  den  Proben  wähle  man 
Objecte,  welche  lang  und  schmal,  scharf  begrenzt  und  hell  oder  glänzend 
sind,  und  sorge  dafür,  dass  sie  zur  Unterlage  (dem  Hintergründe)  gehörig 
contrastiren.  Das  Gesichtsfeld  des  Kranken  für  die  angegebene  Entfer- 
nung (also  die  Horopterfläche  oder  vielmehr  Schale)  denke  man  sich  in 
4  Quadranten  getheilt,  durch  Verlängerung  der  vertikalen  Medianebene  und 
einer  auf  der  Antlitzfläche  senkrecht  stehenden  horizontalen  Ebene  in  der 
Höhe  der  Auy enlidspalte.  Den  Punkt  im  Gesichtsfelde ,  wo  diese  beiden 
Ebenen  sich  schneiden,  welcher  mithin  gerade  mitten  vor  dem  Kranken 
und  in  gleicher  Höhe  mit  seinen  Augen  liegt,  wählen  wir  als  Mittel-  oder 
Ausgangspunkt,  und  führen  das  Probeobject  von  da  zuerst  in  der  Hori- 
zontalen (wo  die  Horopterschale  von  der  Horizontalebene  getroffen  wird) 
links  und  rechts  so  weit,  als  es  ohne  Ausschluss  des  einen  oder  andern 
Auges  durch  den  Nasenrücken  geschehen  kann,  dann  in  der  Vertikalen 
(Durchschnitt  des  Horopters  und  der  vertikalen  Medianebene)  auf-  und 
abwärts,  endlich  in  den  Zwischenrichtungen  (Quadranten)  nach  rechts  und 
oben,  links  und  oben  u.  s.  w.  Sind  die  Erscheinungen ,  welche  sich  hie- 
bei  in  Bezug  auf  die  Stellung  des  vordem  Poles  der  Hornhaut  und  auf 
die  Lage  der  Doppelbilder  ergeben ,  für  die  gewählte  mittlere  Sehweite 
erhoben,  dann  prüfe  man  das  Verhalten  der  Augen  nach  denselben  Merk- 
malen in  grösserer  Nähe  und  Ferne,  je  nach  Zulass  des  Refractionszustandes. 
Wo  man  Grund  hat,  theil weise  Deckung  der  Doppelbilder  anzunehmen, 
kann  man  ein  Auseinandertreten  derselben  dadurch  bewirken,  dass  man 
mit  dem  Objecte  weiter  oder  näher  rückt,  dass  man  es  aus  dem  Centrura 
des  Gesichtsfeldes  rechls,  links  u.  s.  \v.  bringt,  die  horizontale  Richtung 
desselben  in  die  vertikale  verwandelt,  und  wo  diess  alles  nicht  ausreicht, 
vor  das  eine  Auge  ein  violettes  Piano  las  hält.     Wo  das  Doppelbild  wegen 


Lähmung  im  Allgemeinen  —  Doppeltsehen.  275 

relativ  zu  schwacher  Erregung-  der  einen  Netzhaut  nicht  wahrgenommen 
wird,  kann  man  dasselbe  in  der  Wahrnehmung  dadurch  auftauchen  machen, 
dass  man  vor  das  seh  kräftigere  Auge  ein  hinreichend  dunkelfarbiges  (blaues) 
Planglas  hält.     (Böhm,  Gräfe.) 

Wenn  sich  die  Doppelbilder  in  Bezug  auf  Helligkeit  und  Deutlichkeit 
nahezu  oder  völlig  gleichen ,  wie  bei  geringer  Insuffieienz  eines  Rectus 
oder  bei  Lähmung  eines  Obliquus,  so  lässt  sich  durch  Vorhalten  irgend 
eines  farbigen  Glases  vor  das  eine  Auge  leicht  bemerkbar  machen,  welches 
Bild  dem  rechten  .  welches  dem  linken  Auge  angehöre.  Ausserdem  aber 
lässt  sich  das  Bild  des  afficirten  Auges  leicht  daran  erkennen ,  dass  es 
minder  hell  und  scharf  erscheint,  weil  es  einer  mehr  gegen  die  Peri- 
pherie gelegenen  Netzhautstelle  angehört,  oder  schief  gestellt  ist,  wenn 
die  Thätigkeit  eines  Obliquus  gestört  ist  (wegen  Insuffieienz  eines  der 
Obliqui  oder  eines  Antagonisten  derselben  bei  einer  bestimmten  Stellung). 
Doch  kann  schon  durch  abwechselndes  Verdecken  bald  des  einen  bald 
des  andern  Auges  und  Angabe  des  Kranken,  welches  der  Bilder  ver- 
schwindet, in  den  meisten  Fällen,  falls  nicht  schon  die  falsche  Stellung 
der  Hornhaut  und  die  gehinderte  Beweglichkeit  des  Bulbus  nach  irgend 
einer  Richtung  hin  ausreicht,  ermittelt  werden,  ob  die  Muskelinsufficienz 
am  linken  oder  rechten  Auge  hafte.  Man  wird  bei  Verdeckung  des  ge- 
sunden Auges  die  Bemerkung  machen,  dass  dasselbe  hinter  der  Hand  eine 
abnorme  Stellung  annimmt  und  behält,  so  lange  das  afficirte  zum  Fixiren 
verwendet  wird.  Es  stellt  sich  auswärts :  wenn  an  dem  afficirten  Auge 
der  R.  externus ,  einwärts :  wenn  der  R.  internus,  nach  innen  und  unten : 
wenn  der  Trochlearis,  aufwärts:  wenn  der  R.  superior  des  andern  Auges 
gelähmt  ist.  Ist  auf  diese  Weise  sichergestellt,  welches  Auge  leidet,  so 
ergibt  sich  aus  dem  Verhalten  des  Doppelbildes ,  welcher  Muskel  leidet 
und  bis  zu  welchem  Grade.  Man  braucht  sich  dann  nämlich  nur  gegen- 
wärtig zu  halten,  dass  jede  Erregung  der  Netzhaut  so  empfunden  wird, 
als  ginge  sie  von  einem  Punkte  des  Gesichtsfeldes  aus ,  welcher  in  der 
Richtung  einer  Linie  liegt,  die  man  sich  von  der  getroffenen  Netzhaut- 
stelle durch  den  Kreuzungspunkt  der  Richtungslinien  gezogen  und  bis  zum 
Gesichtsfelde  verlängert  zu  denken  hat  (Projection  der  Empfindung).  Wenn 
daher  z.  B.  das  linke  Auge  nach  innen  abgelenkt  ist,  während  das  rechte 
seine  Sehachse  auf  das  zur  Probe  dienende  Object  richtet,  so  wird,  weil 
jetzt  im  linken  Auge  das  Bild  dieses  Objectes  auf  eine  von  der  Macula 
lutea  einwärts  gelegene  Stelle  fällt,  das  Object  von  dem  linken  Auge 
weiter  links  gesehen ,  als  von  dem  rechten.  Mithin  lässt  sich  schliessen, 
dass  wenn  das  Doppelbild   als  dem  linken  Auge  angehörig   und  als  gegen 

18* 


276  Augenmuskeln. 

die  linke  Seite  des  Kranken  gerückt  erkannt  wird,  das  linke  Auge  ein- 
wärts gelenkt  sein  müsse,  und  zwar  um  so  viele  Grade,  als  die  Mes- 
sung und  Berechnung  nach  der  Verrückung  des  Doppel büdes  ergibt.  (Dop- 
p eltsehen  mit  gleichnamigen  Bildern.)  Wenn  dagegen  dasselbe  Auge  nach 
aussen  abgelenkt  ist,  demnach  das  Bild  des  von  dem  rechten  Auge  fixir- 
ten  Objeeles  in  dem  linken  Auge  auf  eine  von  der  Macula  lutea  aus- 
wärts gelegene  Stelle  fällt,  so  wird  dieses  Auge  die  Empfindung  weiter 
rechts  versetzen ,  als  das  direct  sehende  rechte  Auge ,  das  dem  linken 
Auge  angehörende  Bild  erscheint  somit  rechts  gelegen.  (Doppeltsehen  mit 
gekreuzten  Bildern.)  Erscheint  der  vordere  Pol  des  einen  Auges  tiefer 
gestellt,  als  an  dem  andern  Auge,  so  wird  das  diesem  Auge  angehörende 
Bild,  weil  auf  einem  unter  dem  hintern  Pole  gelegenen  Punkte  entworfen, 
im  Gesichtsfelde  höher  als  das  des  andern  Auges  erscheinen.  Gräfe 
(Archiv  f.  Ophth.  I.  B.  I.  Abth.  S.  85)  hat  zuerst  angegeben,  wie  man  sich 
mittelst  Prismen  (mit  brechenden  Winkeln  von  3,  4 — 12  Grad)  die  Ver- 
hältnisse des  Doppeltsehens  auf  exacte  Weise  versinnlichen  kann.  „Da  ein 
Prisma  das  Licht  nach  seiner  Basis  hin  ablenkt,  so  wird  es,  vor  ein  Auge 
gehalten,  den  Lichteinfall  gerade  in  derselben  Weise  verändern,  als  wenn 
das  Auge  mit  seinem  vordem  Pole  gegen  die  Basis  des  Prisma  abgelenkt 
wäre,  wobei  das  Doppelbild  nach  der  entgegengesetzten  Seite  pro- 
jicirt  wird." 

„Die  Berechnung  der  pathologischen  Stellung  des  Au^es  und  der  Lage  des  Doppel- 
bildes, welche  oft  von  hohem  physiologischen  und  diagnostischem  Interesse  ist,  pflege  ich 
auf  folgende  Weise  vorzunehmen.  Eine  grosse  Tafel,  welche  in  sehr  viele  numerirte 
Quadrate  getheilt  ist,  wird  in  einer  möglichst  weiten  Entfernung  vom  Kranken  aufge- 
stellt. Vor  derselben  ist  auf  einer  entsprechenden  Vorrichtung  ein  scharf  begrenzter, 
leuchtender  Körper,  am  besten  ein  kleines  Licht,  verschiebbar.  Der  Kopf  des  Kranken 
wird  nun  genau  so  fixirt,  dass  die  Angesichtsflache  der  Tafel  parallel  bleibt  und  hierauf 
das  Licht  vom  Centrum  der  Tafel  allmälig  nach  oben,  unten  und  beiden  Seiten  bewegt; 
für  eine  jede  Stellung  des  Lichtes  wird  das  Quadrat  markirt,  in  welche  das  Doppelbild 
hält.  Da  nun  die  Entfernung  der  Tafel  vom  Kopfe  gegeben  ist,  so  liisst  sich  die  Excen- 
tricität  des  Netzhautbildes  (Entfernung  desselben  vom  Netzhautcentrum)  im  kranken  Auge 
leicht  bestimmen,  denn  es  verhält  sich  die  scheinbare  Disianz  der  beiden  Bilder  zu  dieser 
Excentricität,  wie  sich  die  Entfernung  der  Tafel  vom  Auge  verhält  zur  Entfernung  des 
Kreuzuugspunktes  der  Richtstrahlen  von  der  Netzhaut.  Die  gefundene  Excentricität  des 
Netzhauthildes  gibt  uns,  auf  den  Drehpunkt  bezogen,  den  Bo<jen  der  Drehung  ;  über  die 
Richtung  derselben  kann  kein  Zweifel  existiren,  da  sie  den  Gesetzen  der  Protection  <>'e- 
mäss  immer  der  scheinbaren  Verrückung  des  Doppelbildes  entgegengesetzt  sein  muss, 
und  zwar  diametral  entgegengesetzt,  weil  Ohject  und  Netzhautbild  genau  in  eine  Meri- 
dianebene fallen.  —  Ist  die  Abweichung  der  Sehachse  im  paralysirlen  Auge  von  der 
Sehachsenstelluiig  des  gesunden  bestimmt,  diese  letztere  aber  durch  die  Verhältnisse  der 
Fixation   gegeben,    so    können    wir  auf  die  absolute    Lage  der  Sehachse    im    paralysirlen 


Lähmung  im  AlIgemtMueu  —  Ätiologie  —  Therapie.         277 

Auge,  d.  h.  deren  Abweichung  von  der  ursprünglichen  Gleichgew  ichtsstellungj  als  welche 
die  auf  der  Angesichtsflüche  senkrechte  Richtung  angesehen  wird.  Die  Neigung  des  Dop- 
pelbildes eines  vertikalen  Gegenstandes  nniss  in  entgegengesetzter  Richtung  auf  den  vei- 
tikalen  Meridian  des  paralysirten  Auges  übertragen  werden,  so  dass  auch  für  jede  Stel- 
lung der  Sehachse  die  Richtung  der  Meridiane  ermittelt  werden  kann,  vorausgesetzt,  dass 
der  vertikale  Meridian  des  gesunden  Auges  in  vertikaler  Richtung  verharrt,  das  gesunde 
Auge  also  ein  in  der  Mittellinie  (vertikalen  Meridianebene)  liegendes  Ohject.  gleichviel 
ob  nach  oben  oder  unten,  nur  nicht  seitlich  nach  oben  oder  unten  liegendes  fixirt.  *)  — 
Ein  anderes  Mittel,  die  Excentricität  der  Bilder  direct  zu  bestimmen,  besteht  in  der  An- 
wendung prismatischer  Gläser.  Die  Stärke  des  Prisma,  welches  die  Doppelbilder  an  ein- 
ander bringt,  wird  direct  zu  dieser  Bestimmung  benutzt ;  doch  ändert  jede  Verschiebung 
des  Prisma  gegen  die  Achse  der  einfallenden  Strahle  dessen  Brechkraft,  und  werden  die 
nahe  an  einander  gebrachten  Bilder  durch  willkürliche  Muscelcontractionen  im  kranken 
oder  gesunden  Auge  leicht  verschmolzen,  daher  dieses  Mittel  nur  zur  approximativen 
Schätzung  geeignet  ist.  Wegen  Vermeidung  des  letztgenannten  Übelstandes  verdient  daher 
eine  andere  Anwendungsweise  der  prismatischen  Gläser  den  Vorzug.  Nachdem  die  Distanz 
der  Doppclbilder  an  der  Tafel  für  eine  bestimmte  Stellung  markirt  ist,  wird  das  kranke 
Auge  geschlossen  und  die  Ermittlung  der  Excentricität  auf  das  gesunde  Auge  übertra- 
gen, welches  in  der  frühem  Fixation  verharrte.  Ein  Prisma  wird  nun  so  vor  das  Auge 
geschoben,  dass  es  mit  seiner  Basis  die  Hälfte  der  Pupille  deckt,  während  die  andere 
Hälfte  frei  ist;  hiedurch  entsteht  Diplopia  mouocularis;  das  eine  Bild  rührt  von  dem 
frei  durch  die  Pupille  einfallenden  Lichte,  das  andere  von  dem  im  Prisma  gebrochenen 
Lichte  her.  Es  ist  leicht,  dem  Prisma  durch  Drehung  eine  solche  Stellung  zu  geben, 
dass  das  excentrische  Bild  nach  Richtung  des  früher  gesehenen,  auf  der  Tafel  markirten 
Doppelbildes  projicirt  wird  ;  dass  es  vollends  mit  diesem  zusammenfalle,  hängt  nur  von 
der  Stärke  des  gewählten  Prisma  ab,  und  diese  bestimmt  den  Grad  der  Excentricität." 
(A.  von  Gräfe  Archiv  für  Üphth.  I.  B.    1.  Abth.  S.    13-16.) 

Die  Muskellähmungen  sind  keine  häufige,  wenn  gleich  auch  nicht  gar 
seltene  Erscheinung.  Ihr  Vorkommen  ist  weder  an  ein  Geschlecht,  noch 
an  ein  bestimmtes  Alter,  oder  an  eine  Körperhälfte  besonders  gebunden. 
Ihre  Ursachen,  noch  lange  nicht  hinreichend  bekannt,  und  in  speciellen 
Fällen  bald  sehr  leicht,  bald  sehr  schwer  oder  gar  nicht  bestimmbar, 
machen  desshalb  zunächst  die  Eintheilung  in  Lähmungen  centralen  (von 
den  Nerven  innerhalb  der  Schädelhöhle  ausgehenden)  und  peripherischen 
(in  der  Orbita  oder  im  Muskelbauche  selbst  gelegenen)  Ursprunges  prak- 
tisch brauchbar.  Genaue  Kenntniss  der  Anatomie  überhaupt,  so  wie  des 
Ursprungs,  Verlaufes  und  der  Verzweigung  der  Nerven  insbesondere  thut 
hier  ebenso  noth,  wie  richtige  und  vollständige  Erhebung  aller  krankhaf- 
ten Zufälle  nicht  nur  am  Auge,  sondern  auch  im  übrigen  Körper.  Vergl. 
über  Cerebralamaurosen  S.  144 — 149.  Was  die  peripherischen  Augen- 
muskellähmungen betrifft,    so  gilt  von  ihnen   besonders  obige  Behauptung. 

*)   Meines  Erachtens  darf  das  vom   gesunden  Auge   fixirte  Object  auch  nicht  bedeutend   über  oder  unter  derHorizun- 
talen  (höher  oder  tiefer  als  die  Augen)   liegen,    wenn   der  vertikale  Meridian  streng  senkreclil  bleiben   soll. 


278  Augenmuskeln. 

dass  wir  ihre  nächsten  Ursachen  im  Allgemeinen  noch  wenig  kennen. 
Viele  Fälle  sind  rheumatischen  Ursprunges,  namentlich  durch  Zugluft  auf 
die  Augengegend  bedingt;  es  sprechen  dafür  Beobachtungen,  wo  die  be- 
stimmte Angabe  des  Patienten,  die  unmittelbare  Aufeinanderfolge  und  der 
Erfolg  der  auf  diese  Voraussetzung  gestützten  Therapie  vorliegen.  Das- 
selbe gilt  auch  in  Bezug  auf  Syphilis ,  welche ,  wenn  gleich  selten ,  Läh- 
mung eines  oder  des  andern  Augenmuskels  zur  Folge  hat,  ohne  dass  der 
Sitz  des  Processes  allemal  in  die  Schädelhöhle  verlegt  werden  kann.  Die 
Symptomatologie  der  Entzündung  eines  Muskels  oder  seiner  Zellscheiile 
ist  noch  nicht  bekannt,  wenigstens  nicht  hinreichend  sichergestellt.  Un- 
erwiesen, wen  gleich  nicht  unwahrscheinlich,  ist  die  Lähmung  eines  und 
des  andern  Augenmuskels  in  Folge  übermässiger  Anstrengung ,  nach  for- 
cirler  Hallung  des  Bulbus  in  einer  ungewöhnlichen  Richtung.  Ich  kenne 
einige  Fälle,  wo  Kranke  diess  als  Ursache  bezeichneten.  Zu  erwähnen  ist 
endlich  noch  der  progressiven  Muskeliusuffieienz,  welche  den  Antagonisten 
eines  habituell  excessiv  contrahirlen  Muskels  vermöge  mangelhafter  Übung 
und  Ernährung  trifft,  besonders  den  Rectus  externus  bei  inveterirtem  Stra- 
bismus convergens  continuus.  Unter  den  Weingeistpräparaten  der  Prager 
Augenklinik  befindet  sich  auch  ein  Auge  mit  einer  erbsengrossen  melano- 
lischen  Ablagerung  im  Muskelbauche  des  Rectus  externus ;  doch  ist  mir 
über  den  Fall  nichts  bekannt,  da  das  Präparat  aus  früheren  Zeiten  stammt. 

Viele  Muskellälimungen  verlieren  sich  allmälig  von  selbst  oder  unter 
entsprechender  Behandlung;  andere  sind  schon  vermöge  der  sie  bedingen- 
den Ursache  unheilbar.  Alter  auch  an  und  für  sich  heilbare  Muskelläli- 
mungen können  unheilbar  werden,  wenn  der  Muskel  in  Folge  länger  auf- 
gehobener oder  beträchtlich  verminderter  Thätigkeit  bereits  atrophisch  ge- 
worden oder  fettig  entartet  ist.  Hiezu  gibt  nicht  nur  der  (Monate,  Jahre) 
lange  Fortbestand  der  Lähmung  selbst,  sondern  auch  erhöhte  Conlraction 
des  Antagonisten,  Veranlassung,  wie  wir  weiter  unten  bei  Besprechung 
des  Strabismus    sehen  werden. 

Bei  der  Behandlung  wird  man  sich  zunächst  an  die  Behebung  der 
Ursachen  zu  hallen  haben,  wenn  solche  noch  fortwirken  und  sich  über- 
haupt beseitigen  lassen,  wie  z.  B.  Syphilis,  Blutergüsse  u.  dgl.  Sodann  ist 
auf  Anregung  der  Function  des  Muskels  hinzuwirken.  Diess  können  wir 
auf  doppeltem  Wege:  a~)  indem  man  das  gesunde  Auge  schliessen  und 
mit  dem  erkrankten  Bewegungen  nach  der  Seite  des  afficirten  Muskels  in- 
tendiren  lässl;  b)  indem  man  die  Cutis  der  Umgebung  des  Auges  durch 
verschiedene  Mittel  reizt.  Das  erstere  Mittel  wird  besonders  dann  zu 
versuchen  sein,    wenn  der  afficirle    Muskel  einige  Thätigkeit    noch  besitzt 


Lähmung  des  M.  r.  externus.  279 

oder  bereits  wieder  erlangt  hat.  Massige,  der  Krall  des  Muskels  entspre- 
chende und  methodisch  fortgesetzte  Übung  vermag  dieselbe  zu  starken, 
und  andererseits  wird  auf  diese  Weise  zugleich  dein  Eintreten  bleibender 
Contra ctur  des  Antagonisten  vorgebeugt.  Wo  bereits  Contra ctur  des  An- 
tagonisten eingetreten  und  noch  einigermassen  Hoffnung  auf  Wiederher- 
stellung der|  Function  des  gelähmten  Muskels  vorhanden  ist,  wird  durch 
die  Durehschneidung  des  ersteren  wenigstens  ein  unüberwindliches  Hin- 
derniss  der  letzteren  beseitigt.  Dr.  A.  von  Gräfe  hat ,  so  viel  ich  mich 
auf  mündliche  Mittheilungen  hierüber  erinnere,  auf  diese  Weise  sehr  be- 
friedigende Resultate  erhalten.  Die  Anwendung  äusserer  Reizmittel  ist 
von  altersher  in  Gebrauch,  und  namentlich  gegen  rheumatische  Lähmungen 
empfohlen  worden.  Die  vorzüglichsten  sind  :  trockene  warme  Tücher  oder 
Säckchen  mit  aromatischen  Kräutern,  Einreibungen  von  Veratrin-  oder 
Mercurdeuterojoduretsalbe,  an  die  Stirn  und  Schläfe,  fliegende  Vesicantien 
(täglich  ein  Stück  von  der  Grösse  des  Nagelgliedes  des  Daumens  an  eine 
andere  Stelle  der  Stirn  und  Schläfe  angelegt),  Einstreuen  von  Strychnin 
(Y16 — Vi 2  Gran)  an  eine  der  Epidermis  entblösste  Stelle,  Anwendung  des 
magneto-elektrischen  Stromes  an  verschiedenen  Stellen  des  obern  Augen- 
höhlenrandes und  an  den  Augenwinkeln ,  Ammoniakdämpfe  an  die  Binde- 
haut bei  offen  gehaltenem  Auge  u.  dgl.  Ich  habe  Lähmungen  verschie- 
denen Grades,  besonders  die  am  häutigsten  vorkommenden  des  R.  exter- 
nus  unter  Anwendung  eines  und  des  andern  der  genannten  Mittel  in  Zeit 
von  einigen  (2  bis  10)  Wochen  zurückgehen  sehen,  weiss  indess  auch, 
dass  mitunter  solche  Fälle  ohne  alle  Behandlung  mit  der  Zeit  von  selbst 
zurückgehen,  bin  somit  nicht  im  Stande,  für  die  Wirksamkeit  derselben 
direet  einzustehen ,  obwohl  mir  ihre  Anwendung  durchaus  rationell  er- 
scheint, indem  wir  durch  Erregung  sensitiver  Nerven  (des  Trigeminus) 
auf  motorische  einzuwirken  suchen.  Mit  Ausnahme  des  Strychnin  und  der 
Elektricität,  bei  deren  Anwendung  jederzeit  grosse  Vorsicht  nöthig  ist, 
kann  man  mit  den  genannten  Mitteln  wohl  nie  schaden.  Von  der  Acu- 
punetur,  welche  bisweilen  zu  Neuralgien  Veranlassung  geben  soll,  habe 
ich  seit  vielen  Jahren  keinen  Gebrauch  mehr  gemacht,  da  ich  dabei  in 
einigen  Fällen  keine  Besserung  hatte  eintreten  sehen. 

Bei  Lähmung  des  ML  reetus  externtis  s.  ahdneens  steht, 
wenn  sie  vollständig  und  noch  nicht  mit  Contractur  oder  excessiver  Con- 
traction  des  R.  internus  complicirt  ist,  der  vordere  Pol  des  Auges  nahe- 
zu in  der  Mitte  der  Lidspalte ,  sobald  das  gesunde  Auge  ein  Object  im 
Mittelpunkte  des  seiner  Antlitzfläche  gerade  gegenüber  liegenden  Gesichts- 
feldes fixirt.     Bei  engem  Horopter  werden   also  gelegene    Objecte  einfach. 


280  Augenmuskeln. 

bei  weitem  dagepen  doppelt  gesehen.     Hat  man  das  Object  unter  der  an- 
gegebenen Bedingung  so  weit  vom  Antlitze  entfernt,    dass  es  bereits  an- 
fängt doppelt  oder  breiter  (durch  theilweise  Deckung)  zu  ersehenen,  und 
führt  man  es  in  der  Vertikalen  aufwärts,  so  nähern  oder  decken  sich  die 
Doppelbilder,  wogegen  sie  beim  Abwärtsführen  des    Objectes  (in  der  ver- 
tikalen Medianebene    und   in  gleicher  Distanz  vor  den  Augen)  weiter  aus- 
einander weichen.      Geht    man ,    sich   in  der    Horizontalen    (d.  h.  stets   in 
gleicher  Höhe  mit  den  Augen  über  dem  Fussboden)  haltend,  mit  dem  Ob- 
jeete    von    der    Medianebene    nach    der    entgegensetzten    Hemisphäre    des 
Gesichtsfeldes,  z.  B.  bei  Lähmung  des  R.  externus  der  linken  Seite  rechts 
von  der  vertikalen  Medianebene),    so    wird  das    Object    einfach    gesehen, 
hingegen  doppelt  mit    immer  weiter  auseinander  tretende«  Bildern,  sobald 
man  in  der  gleichnamigen    (linken)    Hemisphäre    sich  mehr  und  mehr  von 
der  Medianebene  entfernt.*"')     Hat  man  einen  langen  geradlinig  begrenzten 
Gegenstand  gewählt,  z.  B,  eine  Stricknadel,  und  wird  derselbe  immer  senk- 
recht   auf  der   Horizontalen    gehalten ,    so  nimmt  der  Kranke    leicht  wahr, 
dass  das    Doppelbild  dem  wahren  parallel    und  zur    gleichnamigen  (linken) 
Seite  steht.     Dabei  sieht  man,    dass  das  betroffene  Auge  dem  Objecte  bei 
der  Bewegung    nach    der    gleichnamigen    Seite    um    so  weniger    folgt,   je 
ärger  die  Affection   des    R.  externus  ist.      Bei   sehr    geringem  Grade    der 
Affection    kann    das  Auge    noch  so  weit    auswärts    gerollt   werden ,    dass 
der  Hornhautrand  an  die  äussere  Commissur  zu  stehen  kommt,    somit  die 
Muskelinsuflicienz  sich  nur  durch  das  Dopfteltsehen  kund  gibt.     Wählt  man 
(bei  richtig  gehaltenem  Kopfe  des  Kranken)    in  der  gleichseitigen  (linken ) 
Hemisphäre  einen  Punkt,  etwa  20  oder  30  Grad  von  dein  Mittelpunkte  des 
Gesichtsfeldes    abstehend    und  in  gleicher    Höhe    mit  demselben ,    d.  h.  in 
der    Horizontalen,    so  erscheinen  die    Bilder   vertikal    neben  einander  und 
um  ein  Bestimmtes,  z.  B.  6  Zoll  von  einander  abstehend;    geht  man  aber 
in  unverändertem  Abstände  von  der  Antlitzfläche  sowohl   als  von  der  Me- 
dianebene der  Horizontalen  aufwärts,  so  rückt  das  Doppclbild  dem  wahren 
näher  (als  6  Zoll)    und    neigt  sich   überdiess    mit    seinem  obem    Ende  zu 
demselben;    bringt  man  dagegen  das  vertikal  gehaltene  Object  unter  den- 
selben Bedingungen  tiefer  und  liefer  unter  die   Horizontale,    so  treten  die 
Bilder  weiter  auseinander,  und  die  untern  Enden  der  Bilder  stehen  weiter 
von  einander  ab,  als  die  obern. 

'")  Trilt  hit-bei  die  frappante  Erscheinung  ein,  dass,  wenn  man  sich  dem  Extrem  der  seitlichen  Verschiebung  nähert. 
die  Doppelbilder  nicht  mehr  propui lionirt  auseinander  «eichen,  so  ist  diess  wahrscheinlich  dadurch  bedingt,  das* 
der  R.  internus  dci  gesunden  Auges,  indem  er  sich  dem  Summum  der  Contracliun  nähert,  so  wie  alle  an. lern 
Muskeln,  sich  relativ  weniger  verkürzt,  daher  das  wahre  Bild  dem  Falschen  naher  rückt,  trotzdem  man  weiter 
nach  aussen    gehl. 


Lähmung  «los  M.  r.  externus.  281 

Nehmen  wir  an,  der  R    extern us  des    linken  Auges  wäre  gelähmt.     Reim    Beilliclien 

Blick  nach  oben  soll  rler  vordere  Pol  dieses  Auges  nach  aussen  und  oben,  also  die  Ma- 
cula lutea  nach  innen  und  unten  gewendet  werden.  Dieser  Effect  wird  im  normalen  Zu- 
stande erzielt  durch  erhübte  Contra etion  des  R.  externus,  R.  superior  und  01)1.  inferior 
unter  entsprechender  Gegenwirkung  des  R.  internus,  R.  inferior  und  Obl.  superior.  Fällt 
nun  der  Zug  des  R.  externus  ganz  (oder  theilweise)  weg,  so  ist  die  Wirkung  des  R. 
internus  relativ  prävalirend,  die  Einwärtsroll  an  g  der  M.  lutea  ungenügend,  das  Lichtbild 
trifft  also  eine  von  der  M.  lutea  einwärts  gelegene  Stelle,  erregt  somit  die  Empfindung, 
als  befände  sich  das  Objcct  weiter  links  von  der  Medianebene.  Dasselbe  wird  der  Fall 
sein  beim  seitlichen  Blick  nach  unten,  wo  der  R.  externus,  R.  inferior  und  Obl.  superior 
die  Ablenkung  bewirken,  und  zwar  wegen  Ausfall  des  R.  externus  ungenügend.  Das 
Ungenügende  der  Ablenkung,  mithin  auch  die  Excentricität  des  Lichtbildes  wird  aber  in 
letzterem  Falle  beträchtlicher  sein,  als  in  ersterem,  weil  der  R.  internus  als  Antagonist 
des  R.  externus  und  Obl.  superior  in  Bezug  auf  die  Einwärtsrollung  der  Macula  lutea 
durch  den  ihm  näher  liegenden  R.  inferior  weit  mehr  unterstützt  wird,  als  beim  Blick 
nach  oben  und  aussen  durch  den  R.  superior.  Zugleich  muss  aber  in  dem  einen  wie 
in  dem  andern  Falle  eine  Drehung  um  die  Sehachse  erfolgen.  Denn  eine  Ebene,  durch 
die  Ursprünge  des  R.  superior  und  inferior  am  Sehnervenloche  und  durch  die  Mittelpunkte 
ihrer  Insertionslinien  in  der  vordem  Hemisphäre  des  Bulbus  gelegt,  streicht  an  der  In- 
nenseite des  Drehpunktes  vorbei,  und  muss,  wenn  die  Obliqui  den  hintern  Pol  einwärts 
zu  rollen  streben,  die  verstärkte  Wirkung  des  R.  inferior  den  untersten  Punkt  des  Bul- 
bus (das  untere  Ende  der  vertikalen  Achse)  weiter  nach  innen  ablenken,  als  der  R.  su- 
perior beim  Blick  nach  oben,  weil  die  Insertion  des  R.  inferior  näher  am  R.  internus 
liegt,  als  die  des  R.  superior. 

Über  den  Einfiuss  der  Abducenslähmung  auf  die  aecommodative  Thä- 
tigkeit  des  Auges,  welcher  bisher  unbeachtet  geblieben  war,  bemerkt  A. 
von  Gräfe  (Archiv  I.  B.  I.  Abth.  S.  53):  „Da  bei  der  Accomniodation 
(für  die  Nähe)  alle  Muskeln  in  (erhöhte)  Spannung  gerathen,  so  zeigt  sich 
hiebei  nicht  selten  die  Insuffizienz  des  parethischen  Muskels.  So  kommt  es 
zuweilen  bei  pathologischer  Schwäche  des  Abducens  vor,  dass  beim  gleich- 
zeitigen Gebrauche  beider  Augen  ein  gradaus  vor  dem  Erkrankten  liegen- 
der entfernter  Gegenstand  richtig  iixirt  wird,  während  bei  Annäherung  des- 
selben auf  dem  erkrankten  Auge  pathologische  Convergenz  sich  einstellt, 
Noch  beweisender  sind  Experimente  mit  Brillengläsern,  weil  hierbei  auch 
die  Sehachse  des  gesunden  Auges  nicht  verrückt,  demnach  auch  jede 
synergische  Muskelcontraction  an  dem  erkrankten  Auge  vermieden  wird ; 
setzt  man  z.  B.  dem  erwähnten  Kranken  eine  Coneavbrille  auf  und  zwingt 
hiedurch  die  Augen ,  bei  gleich  bleibender  Stellung  des  Objectes  einen 
höhern  Brechzustand  anzunehmen,  so  sieht  man  oft  die  pathologische  Ab- 
lenkung eintreten  oder  eine  vorhandene  sich  vermehren." 

Anfang  März  1850  consultirte   mich  eine    circa  2R  Jahre  alte    Frau  vom  Lande    we- 
gen Doppellsehen,    welches  seit  Weihnachten    bestand.     Sie  war  von    kräftigem   Korper- 


282  Augenmuskeln. 

bau  und  gesundem  Aussehen.  Als  sonderbar  hob  sie  hervor,  dass  sie  mit  jedem  Auge 
für  sich  einfa'h.  mit  beiden  Augen  zugleich  doppelt  sehe.  An  der  Stellung  ihrer  Augen 
war  keine  Abnormität  wahrzunehmeil.  Hielt  ich  ihr  einen  Finger  vertikal  gerade  dem 
Gesichte  gegenüber,  etwa  20  Zoll  entfernt,  so  bemerkte  sie  einen  zweiten,  etwa  2  Zoll 
rechts  davon  abstehend,  ziemlich  gleich  deutlich.  Erst  vor  einigen  Tagen  war  sie  an 
einen  Wagen  angerannt,  das  Doppelbild  für  das  wahre  haltend.  Ging  ich  mit  dem  Fin- 
ger weiter  zurück,  so  traten  die  Bilder  weiter  auseinander,  und  das  rechte  wurde  un- 
deutlicher. Bei  der  Prüfung  der  Beweglichkeit  der  Bnlbi  zeigte  sich,  dass  das  linke 
vollkommen  frei  war,  das  rechte  dagegen  nicht  gehörig  gegen  den  äussern  Win- 
kel hin  gestellt  werden  konnte.  Rückte  ich  nun  mit  dem  Finger  bei  20  Zoll  Enlfernung 
von  der  Medianebene  in  die  linke  Hälfte  des  Sehfeldes  der  Kranken,  so  näherten  sich 
die  Bilder  mehr  und  mehr  bis  zur  völligen  Deckung;  rückte  ich  dagegen  in  die  rechte 
Hemisphäre  des  Sehfeldes,  so  traten  die  Bilder  auf  3 — 4  Zoll  auseinander.  Sie  konnte 
mit  jedem  Auge  allein  lesen,  doch  mit  dem  rechten  nicht  lange.  Die  Sehweite  dieses 
Auges  schien  nicht  verändert  zu  sein  ,  doch  gab  die  Kranke  an,  dass  sie  mit  demselben 
die  Lettern  etwas  kleiner  und  minder  schwarz  sehe,  als  mit  dem  linken.  In  der  Horn- 
haut, Iris,  Pupille  u.  s.  w.  konnte  ich  keine  Abnormität  wahrnehmen.  Es  war  nun  ge- 
wiss, dass  ich  es  mit  Paresis  des  R.  externus  am  rechten  Auge  zu  tliun  hatte.  Damit 
stimmten  nun  auch  die  anderweitigen  Angaben  der  Kranken  zusammen.  Die  Frau  war 
zuerst  von  heftigen  Kopfschmerzen  in  der  rechten  Seite,  dann  von  Schwindel,  Üblich- 
keiten und  Erbrechen,  endlich  von  Doppeltsehen  befallen  worden.  Da  sie  habituell  an 
Stuhlverstopfung  litt  und  sehr  spärlich  menstririrte,  so  waren  ihr  Blutegel  und  Abführmittel 
verabreicht  worden.  Die  Kopfschmerzen  verminderten  sich  jedoch  erst  dann  merklich,  als 
die  Frau  eine  Änderung  in  ihrer  Wohnung  hatte  vornehmen  lassen.  Sie,  die  schon  frü- 
her einmal  an  acutem  Rheumatismus  gelitten  hatte  und  endlich  durch  die  Moorbäder  in 
Marieubad  gänzlich  davon  befreit  worden  war,  hatte  im  Herbste  ein  neugebautes  Zimmer 
bezogen,  welches  mit  einem  daranstossenden  durch  einen  gemeinschaftlichen  Ofen  be- 
heizt wurde,  und  daher  ausserordentlich  feucht  war.  Nach  Beseitigung  dieses  Übel- 
slandes  waren,  wie  gesagt,  die  Kopfschmerzen  viel  gelinder  und  seltener  geworden,  aber 
das  Doppeltsehen  bestand  fort,  obwohl  das  rechte  Auge,  welches  eine  Zeit  lang  (im 
Jäner)  ganz  gegen  den  innern  Winkel  verdreht  gewesen  war,  sich  allmälig  wieder  bes- 
ser stellte.  Von  einem  allgemeinen  oder  centralen  Leiden  liess  sich  nichts  nachweisen. 
Die  auf  die  Annahme,  dass  hier  einfach  Paresis  rheumat.  vorhanden  sei,  gestützte  The- 
rapie hatte  bald  complete  Heilung  zur  Folge. 

Mitte  Ocloher  1849  consultirte  mich  ein  Student,  17  Jahre  alt,  gut  gewachsen,  von 
gesundem  Aussehen,  bisher  stets  gesund  und  unter  günstigen  Verhältnissen  lebend,  we- 
gen Doppeltsehen,  welches  sich  zu  Ende  der  Ferienzeit  ohne  bekannte  Veranlassung 
eingestellt  hatte,  sowohl  an  nahen  als  fernen  Ohjeclen  bemerkt  wurde,  und  durch  com- 
plete Lähmung  des  R.  externus  am  rechten  Auge  bedingt  war.  Di  sich  durchaus  keine 
anderweitigen  krankhaften  Erscheinungen,  als  das  Doppeltsehen,  die  Unbeweglichkeit  des 
Bulbus  nach  aussen  und  zeitweilig  etwas  dumpfe  Kopfschmerzen  nachweisen  Hessen, 
giipponirte  ich  Verkältung  als  die  wahrscheinliche  Ursache,  und  wandte  durch  einige  Zeit 
erst  Elektricität,  dann  Slrychnin  endermatisch  an.  Wegen  Nichterfolg  von  Besserung  blieb 
der  Kranke  aus,  und  ich  sah  ihn  erst  wieder,  als  er  am  4.  Jäner  unter  der  Diagnosis 
Vitium  organ.  cerebri  auf  eine  Internabtheilung  des  Spitales  aufgenommen  worden  war. 
Es  war  nämlich    im  Spätherbste    unter    anhaltenden  dumpfen  Schmerzen  im  Hinterhaupts 


Lähmung  «los  M.  r.  extern  US.  283 

Stottern  und  bald  darauf  Schwache  der  linken  obern  und  untern  Extremitateil  eingetre- 
ten, welche  um  Weihnachten  in  förmliche  Paresis  übergangen  war.  Mitte  Jäner  stellte; 
sich  Fieber  ein,  der  Kopfschmerz  wurde  viel  heftiger,  das  Sprechen  sehr  erschwert,  in  der 
rechten  Gesichtshälfte  traten  bisweilen  Zuckungen  ein  und  die  Zunge  wich  beim  Iler- 
vorstrecken  merklich  nach  rechts  ab.  Nach  Anlegung  von  Blutegeln  hinter  den  Ohren 
am  20.  Jäner  und  spontaner  Blutentleerung  aus  der  Nase  am  22.,  traten  die  Kopfschmer- 
zen bloss  bei  Bewegung  ein,  und  lobte  der  Kranke  seinen  Zustand  Ende  Jäner  jedoch 
kehrten  sowohl  der  Kopfschmerz  als  häufige  Convulsionen  zurück,  der  Kranke  verlor  am 
4.  Februar  das  Bewusstsein  und  starb  am  5.  Die  Pupille  des  stark  einwärts  gewende- 
ten rechten  Auges  war  stets  enger,  als  die  des  linken,  das  Sehvermögen  bestand,  wurde 
jedoch  in  der  letzten  Zeit  nicht  näher  geprüft.  Die  von  Prof.  Engel  vorgenommene 
Seclion  ergab  eine  fibröse  Geschwulst  an  der  Basis  cerebri  mit  Meningitis  und  Apople- 
xie als  Ursache  der  Erscheinungen.  Diese  Geschwulst  bestand  aus  einem  weichfa^rigen, 
dichten  blutgefässreichen  Stroma  mit  peripherisch  eingelagerten  rundlichen  und  geschwänz- 
ten Zellen.  Sie  war  wallnussgros,  an  der  Oberfläche  gelappt,  hart,  fest,  dem  Anscheine 
nach  fasrig,  weiss,  blutleer,  und  lag  rechterseits  an  der  Medulla  oblongata  längs  dersel- 
ben. Sie  ging  von  der  Medulla  oblongata  und  zwar  von  der  Gegend  des  Corpus  rhom- 
boid.  und  olivare  dextrum  aus,  so  dass  die  Pyramiden  und  Oliven  sammt  den  Hülsen- 
strängen und  dem  obersten  Theile  des  Corpus  restiforme,  und  ein  grosser  Theil  der 
Brückenarme  und  der  brückenförmigen  Rindenschicht  in  dieselbe  entartet  erschienen. 
Die  Dura  mater  der  Schädelbasis  daselbst  verdünnt.  Die  innern  Hirnhäute  an  der  Schä- 
delbasis, besonders  rechterseits  vom  Pons  Varoli  und  zwar  vom  vordem  Ende  desselben 
bis  zum  hintern  Ende  des  Olivenkernes  und  von  da  1  Zoll  auswärts  gegen  das  kleine 
Gehirn  sehr  verdickt,  hart,  theils  gelb,  theils  weiss  gefärbt,  mit  einer  festen  gelben  Ge- 
rinnung und  Serum  infihrirt.  Unter  und  zwischen  denselben  an  der  rechten  Seite  des 
Pons  ein  scharf  abgegrenztes  dunkles  Blutgerinnsel. 

Lähmung   der   vom  -N.  oculomotorius   versorgten  Muskeln. 

Bei  peripherischen  Anlässen  kann  ein  und  der  andere  Rectus  für  sich  er- 
griffen sein,  der  R.  internus,  superior  oder  inferior,  doch  auch  zwei  oder 
drei  zugleich.  Öfters  geschieht  es,  dass  der  Levator  palpebrae  superioris 
allein  ergriffen  wird.  Von  isolirter  Lähmung  des  Obliquus  inferior  ist  mir 
kein  Fall  bekannt.  Lähmung  centralen  Ursprunges  erstreckt  sich  immer 
auf  alle  vom  Oculomotorius  versehenen  Muskeln,  demnach  auch  mittelst 
der  Radix  brevis  ganglii  ciliaris  auf  die  Iris  und  den  Ciliarmuskel,  nur  ist 
sie  nicht  immer  complet  und  dann  nicht  in  allen  Zweigen  (Muskeln)  gleich 
stark  ausgesprochen  (nicht  gleich  stark  in  die  Erscheinung  tretend).  Wenn 
noch  einige  Contractionsfähigkeit  besteht,  so  kann  es  leicht  den  Anschein 
haben  ,  als  sei  der  R.  superior ,  besonders  aber  der  R.  inferior  nicht  so 
sehr  afficirt,  wie  der  R.  internus,  weil  jener  durch  den  Obl.  inferior,  dieser 
durch  den  ganz  unversehrten  Obl.  superior  theilweise  unterstützt  wird. 
Ich  halte  es  für  hinreichend  ,  hier  nur  die  Erselieinumen  bei  cujnpleter 
Lähmung   der   vom  N.  oculomotorius   versehenen  Muskeln    zu  besprechen, 


2M  Augenmuskeln. 

weil,    wer  diese  kennt,    auch  im  Stande  sein  wird,  die  Lähmung   einzelner 
Muskeln  zu  erkennen  und  richtig  zu  beurtheilen. 

Zunächst  hängt  das  obere  Lid  schlaff  vor  dem  Auge  herab  ,  und  die 
Lidspalte  erscheint  geschlossen.  Bemüht  sich  der  Kranke  ,  sie  zu  öffnen, 
so  klafft  dieselbe  noch  etwa  auf  2 — 3  Linien ,  doch  nicht  wegen  Contra- 
clion  des  Levator,  sondern  wegen  Nachlass  in  der  Wirkung  des  Orbicularis 
palpebrarum.  In  der  Regel  werden  hiebei  auch  die  Augenbrauen  etwas 
emporgehalten.  Hebt  man  das  Lid  empor  —  am  besten  bei  Verdickung 
des  nicht  afficirten  Auges  —  so  steht  die  Pupille  in  der  Mitte  der  Lid- 
spalte oder  weiter  nach  aussen,  und  kann  nur  wenig  oder  gar  nicht  ein- 
wärts, dagegen  vollständig  auswärts  gestellt  werden.  Ist  noch  keine  ex- 
cessive  Contraction,  Contractur  des  R.  externus,  eingetreten,  so  ist  der 
Pupille  noch  ein  ziemlicher  Spielraum  zu  Excursionen  zwischen  der  Mitte 
der  Lidspalte  und  dem  äussern  Winkel  gestattet ,  indem  sie  bei  Nachlass 
der  erhöhten  Contraction  des  R.  externus,  wenn  man  den  Blick  nach  innen 
anstreben  lässt,  vermöge  der  Elasticität  der  Umhüllungen  des  Bulbus  und 
des  Sehnerven  gegen  die  Mitte  der  Lidspalte  zurückkehrt.  Die  Beweg- 
lichkeit nach  oben  und  gerade  nach  unten  erscheint  beschränkt  oder  auf- 
gehoben. Beim  Versuche,  gerade  abwärts  zu  blicken,  wird  die  Pupille 
etwas  nach  unten  und  aussen  bewegt,  doch  mehr  ruck-  oder  stossweise, 
als  gleichmässig  fortschreitend.  An  den  Episcleralgefässen  in  der  Gegend 
des  R.  internus  lässt  sich  leicht  bemerken ,  nach  der  Veränderung  ihrer 
relativen  Richtung  und  Stellung  zu  den  Lidern,  dass  dabei  der  Bulbus  um 
eine  von  vorn  nach  hinten  laufende  Achse  gedreht  wird ,  so  dass  der 
oberste  Punkt  der  Cornea  etwas  zu,  der  unterste  etwas  von  der  vertikalen 
Medianebene  abgelenkt  wird,  Erscheinungen,  welche  durch  die  Wirkung 
des  Obl.  superior  zu  Stande  gebracht  werden,  welcher  durch  den  Impuls, 
das  Auge  abwärts  zu  stellen ,  allein  in  Thätigkeit  versetzt  werden  kann, 
ohne  dass  ihm  der  Obl.  inferior  das  Gleichgewicht  zu  halten  vermag. 
Eine  andere  und  zwar  CO ntinuir liehe  Folge  der  alleinigen  Wirkung  des 
Trochlearis  ,  der  tiefere  Stand  der  Hornhaut  relativ  zu  der  des  gesunden 
Auges,  lässt  sich  selten  unmittelbar  wahrnehmen,  weil  die  Hornhaut  hiezu 
meistens  zu  weit  über  die  Mitte  der  Lidspalle  hinüber  abgelenkt  ist. 
Sie  lässt  sich  aber,  gleich  der  continuirlichen  Drehung  des  Bulbus  um  die 
Sehachse,  an  dem  Stande  des  Doppelbildes  nachweisen.  —  Die  Lage  des 
Bulbus  erscheint  etwas  flacher,  indem  von  der  rückhaltenden  Krall  (den 
Rectis)  drei  Viertel ,  von  der  entgegenwirkenden  (den  Obliquis)  die 
Hälfte  ausfällt. 


Lähmung  der  vom  IV.  oeulomot.  versehenen  Muskeln.     2*5 

Das  Doppelbild  erscheint  auf  der  dein  afficirten  Auge  entgegenge- 
setzten Seite  (wegen  Divergenz  der  Sehachsen")  etwas  höher  als  das 
wahre  und  schräg.  Diess  ergibt  sich  im  Allgemeinen  aus  der  dreifachen 
Drehung,  welche  der  afficirte  Bulbus  erfahren  hat,  Am  meisten  ist  er 
um  die  vertikale  Achse  gedreht,  der  vordere  Pol  aus-,  der  hintere  ein- 
wärts; sodann  um  die  horizontale  gerade  oder  die  Sehachse,  und  zwar 
mit  Herüberneigung  des  obern  Endes  der  verticalen  Achse  (oder  ^cs  ver- 
ticalen  Netzhautmeridian  es)  zur  Medianebene;  endlich  um  die  horizontale 
Transversalachse,  so  dass  das  Hornhautcentrum  etwas  tiefer  steht  als 
die  Mac.  lutea.  Die  Lage  des  Doppelbildes  lässt  sich  am  besten  mit  einem 
dünnen  lichten  Stabe  wahrnehmbar  machen.  Zunächst  halte  man  ihn  ver- 
tical  und  in  gleicher  Höhe  mit  den  Augen  in  der  mit  dem  afficirten  Auge 
gleichnamigen  Hälfte  des  Sehfeldes.  Sobald  die  Pupille  nicht  über  die; 
Mittellinie  einwärts  gestellt  weiden  kann,  wird  auf  der  entgegengesetzten  Seite 
des  wahren  ein  Doppelbild  erscheinen,  um  so  weiter  von  demselben  ab- 
stehend, je  weiter  man  ihn  nach  dem  entgegengesetzten  Ende  des  Sehfeldes 
hin  bewegt,  oder  je  weiter  man  sich  mit  demselben  von  dem  Antlitze  ent- 
fernt. Überdiess  steht  das  Doppelbild  schief,  oben  zu  dem  wahren  zuge- 
neigt, weil  der  Obl.  superior,  seines  Antagonisten  (des  Obl.  inferior)  ver- 
lustig, das  obere  Ende  des  vertikalen  Netzhautmeridianes  zur  vertikalen 
Ebene  zuneigt,  das  Lichtbild  des  obern  Stabendes  mithin  auf  eine  relativ 
weniger  auswärts  gelegene  Netzhautstelle  fällt,  mithin  auch  auf  eine  dem 
wahren  Bilde  nähere  Stelle  des  Sehfeldes  bezogen  wird.  Fixirt  der  Kranke 
statt  des  Stabes  eine  lange  Stange,  so  bemerkt  er  auch,  dass  das  obere 
Ende  des  Doppelbildes  seinem  Antlitze  näher  gelegen  erscheint,  als  das 
untere.  Diese  Erscheinung  hängt  meines  Erachtens  damit  zusammen,  dass 
der  Bulbus  beim  Ausfall  des  Obl.  inferior  durch  den  Obl.  superior  zu- 
gleich um  die  transversale  horizontale  Achse  gedreht  steht,  so  dass,  wäh- 
rend beim  Blick  nach  dem  Centrum  des  Sehfeldes  an  dem  gesunden  Auge 
Hornhautcentrum  und  Macula  lutea  in  der  Horizontalen  liegen,  an  dem 
afficirten  Auge  ersteres  etwas  unter,  letztere  etwas  über  derselben  liegt, 
was  für  die  Empfindung  bei  dem  Abgange  des  leitenden  Maassstabes  (des 
Muskelgefühles  im  R.  inferior,  der  sonst  diese  Lage  bewirkt)  dasselbe  ist^ 
als  ob  der  Stab  der  Netzhaut  schräg  gegenüber  gestellt  wäre,  mit  dem 
einen  Ende  näher,  mit  dem  andern  weiter.  Ganz  dasselbe  bewirken  wir 
an  einem  gesunden  Auge  durch  Vorhalten  eines  Prisma;  auch  hier  wird  das 
Auge  gewissermassen  dem  Objecte  schief  gegenüber  gestellt,  und  wer 
es  nicht  wüsste,  dass  ein  vorgehaltenes  Glas  prismatisch  geschliffen  sei, 
würde  ein  hierauf  betrachtetes    Object    für    schief  öder    anderswo  stehend 


Ü86  Augenmuskeln. 

halten,  weil  die  Veränderung-  der  Stellung  seines  Auges  zum  Objecte  nicht 
durch  Muskelaetion  zum  Bewusstsein  gebracht  wurde.  —  Dass  das  Doppel- 
bild  etwas  höher  erscheint,  bemerkt  der  Kranke  leichter,  wenn  man  ihm 
den  Stab  horizontal  vorhält,  und  nicht  weit  von  der  Horizontalen  abweicht; 
geht  man  tiefer  herab,  so  kommt  man  auf  einen  Punkt,  wo  das  Doppel- 
bild mit  dem  wahren  gleich  hoch  steht,  dann  aber,  beim  weitern  Herab - 
gehen  auf  Punkte,  wo  es  relativ  tiefer  steht,  indem  die  Pupille  des  affi- 
cirten  Auges  durch  den  Obl.  superior  allein  nicht  so  tief  herabgerollt 
werden  kann,  wie  die  des  gesunden  Auges  durch  den  R.  inferior  und 
superior,  mithin  das  Object  in  demselben  auf  einer  höhern  Netzhautstelle 
abgebildet  wird.  Kranke  mit  Oculomotoriuslähmung  kommen  daher,  falls 
das  affieirte  Auge  nicht  geschlossen  gehalten  wird,  besonders  beim  Stiegen- 
steigen  in  Verlegenheit;  doch  machen  auch  im  Zimmer  die  Wandungen, 
auf  der  Strasse  die  Gebäude  auf  sie  den  Eindruck,  als  hingen  sie  oben 
herüber  und  drohten  mit  Einsturz. 

Die  Sinnestäuschung  ist  hier  so  unerträglich,  dass,  wenn  man  das 
affieirte  Auge  behufs  der  Aufnahme  der  Erscheinungen  offen  halten  lässt, 
der  Kranke  bald  das  affieirte,  bald  das  gesunde  Auge,  so  gut  es  eben 
geht,  verdreht,  sich  dem  Doppeltsehen  unwillkürlich  entzieht,  und  die 
Untersuchung  überhaupt  nicht  lange  aushält.  Er  bekommt  Schwindel,  wird 
blass,  hinfällig,  zur  Ohnmacht  geneigt.  Meistens  wird  das  befallene  Auge 
über  den  Mittelpunkt  der  Lidspalte  auswärts  gelenkt,  so  dass  das  Bild  von 
Objecten  in  der  Medianebene  schon  auf  eine  sehr  peripherische  Stelle  der 
Netzhaut  fällt,  zumal  bei  engem  Horopter.  Überdiess  kann  das  Auge  nur 
ungenügend  oder  gar  nicht  für  die  Nähe  eingerichtet  werden,  erscheinen 
die  Bilder  naher  Objecte  auch  aus  diesem  Grunde  undeutlich.  Wenn  aber 
auch  der  Kranke  seine  Aufmerksamkeit  auf  die  Wahrnehmung  des  afficir- 
ten  Auges  lenkt,  so  hält  er  die  gleichzeitige  Fixirung  des  Objectes  mit 
dem  gesunden  Auge  meistens  nicht  lange  aus  und  verdreht  dasselbe  ver- 
schiedenartig, meist  nach  dem  äussern  Winkel  hin. 

Die  Pupille  des  afficirten  Auges  erscheint  bei  vollständiger  Oculomo- 
toriuslähmung massig  erweitert,  gewöhnlich  Vl^"  im  Durchmesser,*) 
rund  oder  ein  wenig  oval  (von  oben  nach  unten  länger),  durchaus  starr 
und  unbeweglich.  Sie  verengert  sich  nicht,  wenn  man  auf  dasselbe  oder 
auf  das  aridere  Auge  nach  längerer  Beschattung  volles  Licht  einwirken 
lässt,  wogegen  die  des  andern  Auges  normal  reagirt ,  wenn  das  kranke 
Auge  abwechselnd  Licht  und  Schatten  ausgesetzt  wird.    Sie  verengert  sich 

")  Ohngefahr  eben  »o  gross,   wie  caeleiia  pnriLus  auf  dem  ji.dcni   (gesondeu)  Auge  beim  Bl.ck  in  die  Ferne. 


Lähmung  der  vom  IN',  oculomot.  versehenen  Muskeln.         28*7 

nicht,  wenn  man  den  Kranken  ein  nalies,  und  erweitert  sieh  nicht,  wenn 
man  ihn  ein  entferntes  Object  fi.xiren  heisst.  Aber  sie  erweitert  sich  in 
der  gewöhnliehen  Stärke  (auf  4'"  und  darüber)  nach  Einträuflung  von 
Atropin.  *) 

Das  von  completer  Oculomotoriuslähmung  befallene  Auge  ist  der 
Accommodation  mehr  weniger  verlustig,  es  ist  eine  Abänderung  seines 
Refractionszustandes,  wie  sie  das  Erkennen  feiner  Gegenstände  bis  zur 
Annäherung  auf  5  Zoll  erfordert,  nicht  mehr  möglich;  der  Nahepunkt  isl 
auf  8",  10"  u.  s.  w.  hinausgerückt.  Ich  zweifle,  dass  man  jemals  Fälle 
von  Oculomotoriumslähmung  mit  unversehrter  oder  auch  nur  relativ  guter 
Accommodation  finden  werde;  nur  muss  man  nicht  Fälle  als  Gegenbeweis 
benützen,  wo  die  Muskeln  durch  mechanische  Hindernisse,  Krankheiten  in 
der  Orbita,  in  der  Rollung  des  Bulbus  gehindert  sind.  Gerade  wenn  ein 
Bulbus  völlig  starr  steht  und  nach  keiner  Richtung  hin  bewegt  werden 
kann,  liegt  die  Annahme  viel  näher,  dass  sie  nur  mechanisch  gehindert 
sind,  ohne  desshalb  auch  ihren  Tonus  und  ihre  Contractionsfähigkeit  ver- 
loren zu  haben,  als  die  Annahme,  dass  eine  wirkliche  Lähmung  sämmtlicher 
Muskeln  obwalte,  welche  nicht  nur  jede  Ablenkung  der  Sehachse,  sondern 
allerdings  auch  jede  erhöhte  Spannung,  mithin  auch  die  Accommodation 
unmöglich  machen  muss. 

Hiemit  im  Einklänge  steht  die  Thatsache  der  Beobachtung,  dass  in 
solchen  Fällen  die  optische  Sensibilität,  die  Energie  der  Netzhaut  eine 
Zeit  lang  etwas  vermindert  erscheint.  Zwei  Facta  sind  es,  welche  diess 
direct  anzeigen:  Der  Kranke  sieht  Objecte  in  der  deutlichen  Sehweite 
etwas  kleiner,  und  er  sieht  ferne  Objecte  minder  deutlich,  als  mit  dem 
gesunden  Auge.  Ich  weiss  bestimmt,  dass  einige  Kranke  ein  Zweigroschen- 
stück (Kupfer)  für  ein  Groschenstück  hielten,  welches  sie  bei  derselben 
Distanz  (15—25")  nachher  mit  dem  gesunden  richtig  erkannten.  Entweder 
es  verhält  sich  mit  der  Sensibilität  der  Netzhaut  so  wie  mit  der  Empfind- 
lichkeit der  Cutis  oder  Cornea,  welche  bisweilen  bei  Muskellähmungeu 
vermindert  ist,  oder  es  hängt  dieses  Phänomen  von  der  geringern  Span- 
nung der  Netzhaut    ab,    wenn   unsere    oben    ausgesprochene    Vermuthung 

f)  Diese  Erscheinung  ist  zu  Gunsten  der  Ansicht  aufgeführt  worden,  dass  die  Belladonna  reizen  I  auf  die  vom  N. 
sympathicns  versehenen  Radialfaseru  der  Iris  wirke;  sie  beweist  jedoch  nichts  weiter,  als  dass  die  Kreisfaseni 
der  Iris  nach  Lähmung  des  Nerven,  der  ihre  Contraction  bis  zum  höchsten  Grade  vermittelt,  nicht  auch  schon 
alle  ihre  Spannkraft  verloren  haben.  Nimmt  man  Aufhebung  der  Spannkraft  in  den  Ciliarfasem  der  Iris  als  die 
eigentliche  Wirkung  der  Belladonna  an,  so  wird  nicht  nur  die  Erscheinung  erklärt,  dass  erst  nach  dem  Eintreten 
dieser  Erschlaffung  die  Radialfasern  sich  frei  und  ohne  Gegenzug  conlrahiren  können,  sondern  auch  die  Wirkung 
der  Belladonna  auf  die  Iris  in  Einklang  gebracht  mit  der  Wirkung  derselben  auf  andere  Sphinktern!.  Donders 
hat  bekanntlich  nachgewiesen,  dass  die  in  den  Bindehaulsack  eingeträufelte  Atropinlösung  in  das  Kammerwasser 
aufgenommen   und   demnach  mit  der  Iris   in  unmittelbaren   Contact    gebracht  werde. 


288  Augenmuskeln. 

g 

richtig  ist,  dass  durch  Erhöhung  der  Spannung  der  Netzhaut  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  die  Schärfe  des  Gesichtes  gesteigert  wird. 

Folgende  Bemerkung',  obwohl  in  mehrfacher  Beziehung  Unvollständig  (aus  dem 
Jahre  1844),  dürfte  trotzdem  in  andern  Beziehungen  heinerkenswerth  sein,  wenigstens 
zur  Anreihung  analoger  Fälle.  Eine  35  Jahre  alte  Witwe,  übrigens  ganz  gesund,  litt 
seit  einigen  Wochen,  als  sie  zu  mir  kam,  an  Doppeltsehen,  dessen  Entstehen  sie  anhal- 
tender Anstrengung  mit  Handschuhnähen,  da  sie  drei  Kinder  enähren  musste,  zuschrieb 
Ich  notirte  folgenden  Zustand.  Die  Lidspalte  beiderseits  gleich;  steht  die  linke  Pupille 
in  der  Mitte  der  Lidspalte,  so  steht  die  rechte  auswärts,  und  der  innere  Band  der  Cornea 
in  der  Mitte  der  Lidspalte.  Die  Bulhi  von  normaler  Grosse  und  Lage.  Wird  beim  Blicke 
gradaus  das  linke  Auge  mit  der  Hand  verdeckt,  so  stellt  sich  das  rechte  Auge  grade, 
kann  aber  bei  der  grössten  Anstrengung  nicht  gehörig  einwärts  gestellt  werden,  immer 
bleibt  der  innere  Comealrand  noch  mindestens  2"'  von  der  halhinondl'ärbigen  Falte  entfernt. 
JVflc/t  aussen  kann  das  rechte  Auge  so  vollkommen  bewegt  werden,  wie  das  linke,  in 
allen  Bewegungen  ganz  freie ;  nach  oben  kann  dasselbe  so  weit  bewegt  werden,  wie 
das  linke,  nur  weicht  es  dabei  etwas  nach  aussen  ab  ;  nach  unten  kann  es  nicht  gestellt 
werden,  es  hleibt  beim  stärksten  Abwärtswenden  des  linken  Auges  um  mindestens  I"' 
zurück  und  weicht  dabei  etwas  nach  aussen  ab.  Ist  die  Pupille  des  linken  gradaus  ge- 
richtet, so  steht  die  Pupille  des  rechten  nicht  bloss  auswärts,  sondern  auch  zugleich  ein 
wenig  höher,  was  sich  nach  dein  Stande  des  untern  Lides  leicht  erkennen  lässt.  —  Die 
Pupille  des  rechten  Auges  ist  immer  etwas  grösser,  als  die  des  linken,  etwa  ls/,"'— 2'", 
wenn  diese  1'/,"' — 1  '/2'"  misst,  übrigens  vollkommen  rund  und  schwarz,  die  Iris  bei- 
derseits etwas  trag  beweglich.  Hält  die  Kranke  das  linke  Auge  zu,  so  drehen  sich  alle 
Gegenstände,  so  dass  sie  nicht  gehen  kann  ;  mit  beiden  Augen  zugleich  sieht  sie  dop- 
pelt, mit  gekreuzten  Bildern,  doch  nur  in  der  Ferne  und  hei  gewissen  Stellungen  naher 
Gegenstände.  (Dieses  .Verhalten  bedaure  ich  nicht  näher  ermittelt  zu  haben.)  Sie  kann 
sich  auch  des  rechten  Auges  allein  bedienen,  wenn  sie  das  linke  auswärts  ablenkt,  hält 
diess  jedoch  nicht  lange  aus.  Bei  zugehaltenem  linken  Auge  sieht  sie  übrigens  alle 
Objecte  so  rein,  wie  mit  dem  linken,  liest  auch  mit  dem  rechten,  aber  die  Buchstaben 
erscheinen  ihr  etwas  kleiner;  sie  liest  einen  '//"  hohen  Druck  mit  dem  rechten,  wie 
mit  dem  linken  Auge  allein,  doch  nicht  anhaltend  und  zwar  bei  5"  so  gut  wie  bei  12". 
(Weiter  wurde  die  Sehweite  nicht  geprüft.)  —  Ich  wandte  einige  Zeit  Reizmittel  in  der 
Umgebung  des  Auges  an,  und  schritt  endlich  (im  October  1844)  zur  Durchschueidung 
des  R.  externus  am  rechten  Auge.  Dieses  stellte  sich  nun  gerade,  aber  nun  schielte 
das  linke  auswärts,  ohne  Doppeltsehen.  Nach  einigen  Wochen,  als  in  den  gelähmten 
Muskeln  des  rechten  Auges  (R.  internus  und  inferior)  einige  Beweglichkeit  eingetreten 
war,  durchschnitt  ich  den  R.  externus  am  linken  Auge.  Die  Sehachsen  konnten  sich  nun 
im  Objecte  kreuzen,  ohngefähr  zwischen  8  —  40  Zoil.  Aber  die  Kranke  kam  schon  wenige 
Tage  nach  der  Operation  nicht  mehr  zu  mir,  bis  Ende  Mai  1846,  um  sich  neuerdings 
operiren  zu  lassen.  Ich  erfuhr  nun,  dass  sie  nach  der  Operation  des  linken  Auges  die- 
ses fortwährend  verbunden  getragen  hatte,  um  mit  dem  rechten,  eUnt&lig  ganz  <>'ut  ge- 
wordenen, so  wie  vordem  arbeiten  zu  können.  Sie  wollte  jetzt  wieder  mit  beiden  ar- 
beiten, um  das  rechte  nicht  für  immer  allein  zu  gebrauchen  und  anzustrengen.  —  Ich 
fand  das  rechte  Auge  etwas  mehr  vorstehend,  als  das  linke,  scheinbar  grösser,  seine 
Bewegliehkeil    nach     allen     Richtungen    frei  ,    nur    nach    innen    und    aussen    ein     wenig 


Lähmung  der  vom  N.ociilomot.  versehenen  Muskeln.        289 

• 

beschränkt,  beim  stärksten  Einwärtswenden  mit  dem  Corncahande  noch  gegen  V"  von  der 
halbmondförmigen  Falte  abstehend,  die  Sehkraft  und  alle  Gebilde  desselben  normal.  Das 
linke  Auge  durch  das  herabgesunkene  obere  Lid  verdeckt,  stand  zu  meinem  Erstaunen 
ganz  unbeweglich  mit  der  Pupille  in  der  Mitte  der  Lidspalte,  konnte  weder  ein-  noch  aus-, 
weder  auf-  noch  abwärts  bewegt  werden.  Wenn  die  Kranke  gradaus  blickt,  so  schielt 
sie  nicht  und  sieht  einfach;  wenn  sie  nach  irgend  einer  andern  Richtung  blickt,  sieht 
sie  doppelt.  Bemüht  sie  sich,  mit  dem  linken  Auge  grade  auswärts  zu  blicken,  so  wen- 
det sich  die  Pupille  ein  wenig  nach  unten  und  aussen,  ohne  jedoch  in  dieser  Lage  fixirt 
zu  werden  ;  sie  kehrt  bald  wieder  in  ihre  frühere  Stellung  zurück.  Bei  dieser  Wendung 
nach  unten  und  aussen  dreht  sich  der  Bulbus  um  die  Sehachse.  Die  Iris  hat  nämlich 
unter  der  Pupille  einen  dunkelbraunen  Punkt.  Bei  ruhiger  Stellung  steht  dieser  Punkt 
ohngefähr  '/,'"  einwärts  von  dem  verticalen  Durchmesser  der  Irisebene.  Bei  der  ge- 
nannten Bewegung  steht  dieser  Punkt  einige  Augenblicke  senkrecht  unter  dem  Centrum 
der  Pupille.  Diese  Achsendrehung  ist  offenbar  Folge  des  Obl.  superior.  Heisst  man  die 
Kranke  aufwärts  blicken,  so  rollt  sich  der  Bulbus  ein  wenig  (kaum  merklich)  in  entge- 
gengesetzter Richtung  (wohl  in  Folge  der  Erschlaffung  des  Obl.  superior).  Über  den 
Stand  des  Doppelbildes  habe  ich  leider  nichts  notirt,  als  dass  das  dem  linken  Auge  an- 
gehörige  etwas  höher  stand,  als  das  des  rechten.  Die  Iris  war  trag  beweglich,  die 
Pupille  etwas  grösser,  als  auf  dem  rechten  Auge,  überdiess  oval,  im  senkrechten  Durch- 
messer 2 '4'",  im  queren  2'".  Mit  diesem  Auge  allein  konnte  Druckschrift  von  1'"  Höhe 
mühsam  bei  circa  7",  ziemlich  gut  von  9 — 15  Zoll  gelesen  werden,  während  das  rechte 
Auge  denselben  Druck  schon  von  5,  mit  Anstrengung  selbst  von  4  Zoll  an  lesen  konnte. 
Verschiedene  Heilversuche  mit  Veratrin,  Strychnin,  Acupunctür  und  Elektricität  blieben 
ohne  Erfolg  und  die  Kranke  wurde  am  20.    März  1847  aus  der  Behandlung  entlassen. 

Elisab.  V.,  37  Jahre  alt,  consultirte  mich  wegen  Doppelsehen.  Ich  fand  das  linke 
Auge  in  jeder  Beziehung  normal.  Rechts  wird  die  Lidspalte  bis  auf  etwa  3'"  geöffnet, 
die  Falle  des  oberen  Lides  ist  verstrichen.  Die  Pupille  weicht,  wenn  das  linke  Auge 
grädaus  sieht,  etwa  l'"-nach  aussen  ab.  Doppeltsehen  mit  gekreuzten  Bildern.  Bei  Ver- 
schluss des  linken  Auges  kann  die  rechte  Pupille  noch  etwas  über  die  Mittellinie  ein- 
wärts gerollt  werden.  Lässt  man  die  Kranke  mit  beiden  Augen  aufwärts  blicken,  so 
bleibt  das  rechte  Auge  etwas  zurück,  und  die  Divergenz  tritt  deutlicher  hervor;  ebenso 
bleibt  das  rechte  Auge  beim  Blicke  nach  unten  etwas  zurück,  und  die  Divergenz  ist 
ebenfalls  deutlicher.  Die  Pupille  des  rechten  Auges  misst  etwa  1  '/3 — 1  '/2 ,  wenn  die  des 
linken  1'"  Durchmesser  zeigt.  Bei  Verschluss  des  linken  Auges  kann  sie  mit  dem  rech- 
ten lesen,  am  besten  zwischen  15 — 20",  weniger  gut  bei  10 — 12",  gar  nicht  mehr  un- 
ter 7".  Durch  eine  Kartenblattöffnung  von  1'"  Durchmesser  liest  sie  bei  5",  durch  en- 
gere Offnungen  noch  näher.  Beim  Blick  auf  Gegenstände  im  Zimmer  befällt  sie  Schwin- 
del, und  sie  kann,  wenn  das  rechte  Auge  geschlossen  wird,  nicht  über's Zimmer  gehen, 
wird  selbst  beim  Sitzen  schwindlich.  Hält  sie  beide  Augen  offen,  so  vermischen  sich 
ihr  alle  Gegenstände,  und  das  rechte  Auge  schliesst  sich  unwillkürlich.  Sie  meint  — 
wenn  beide  Augen  geöffnet  sind  —  der  Fussboden  erhebe  sich  je  weiter  je  mehr,  glaubt 
auf  ebener  Strasse  die  Füsse  mehr  heben  zu  müssen,  wie  beim  Bergsteigen.  —  Sie  ist 
von  schwächlicher  Constitution,  blass,  doch  sonst  angeblich  gesund.  Sie  führt  eine  siz- 
zende  Lebensweise,  indem  sie  sich  durch  Handschuhnähen  ernährt.  Sie  gibt  an,  dass 
sie  an  demselben  Zustande  schon  vor  5  Monaten  gelitten  habe,  nur  in  geringerem  Grade, 
und  dass    sie    von    selbst  nach  etwa  6  Wochen  davon   genesen  sei.      Der  jetzige  Anfall 

Arll's  AuScnUeilliunde  III,  2.  19 


290  Augenmuskeln. 

besteht  seit  8  Tagen,  ohne  dass  man  im  Stande  ist,  ein  bestimmtes  Moment  als  Ur- 
sache bezeichnen  zu  können.  Das  erste  Symptom  war  Schwindel.  —  Ich  ordinirte  vor- 
läufig nichts,  indem  ich  die  Kranke  erst  beobachten  wollte  ;  sie  kam  jedoch  nicht  mehr 
zu  mir. 

Lähmung  des  Trochlearis  kommt  relativ  am  seltensten  vor,  und 
ist  am  schwierigsten  zu  erkennen.  Die  wichtigsten  Vorarbeiten  zur  Dia- 
gnosis  dieses  Leidens  verdanken  wir  Szokalsky,  Ruete  und  Donders,  die 
förmliche  Diagnostik  aber  A.  von  Gräfe  im  Archiv  für  Opth.  I.  B.  I.  Abth. 
S.  1  bis  81.  Die  hier  folgende  Darstellung  ist  der  eben  genannten  Ab- 
handlung entlehnt. 

Die  Stellung  der  Hornhaut  scheint  beim  Blick  geradeaus  ziemlich 
normal  zu  sein,  erweist  sich  jedoch  bei  genauer  Prüfung,  während  ein 
bestimmter  Punkt  scharf  angesehen  wird ,  als  etwas  höher  und  um  eine 
Spur  nach  innen  gelenkt.  Wird  während  des  Fixirens  vor  das  gesunde 
Auge  die  Hand  vorgeschoben,  so  bemerkt  man,  dass  die  Hornhaut  des  affi- 
cirten  Auges  aus  ihrer  frühern  Lage  ein  wenig  nach  unten  und  aussen 
rückt,  also  früher  unrichtig  stand.  (Beobachten  wir,  was  während  dieses 
Vorganges  die  Hornhaut  des  gesunden  Auges  unter  der  deckenden  Hand 
thut,  so  sehen  wir,  dass  dieselbe  etwas  nach  innen  und  unten  steht,  so 
lange  das  kranke  Auge  fixirt,  nach  dem  bekannten  Gesetze,  dass,  wenn 
auf  dem  einen  Auge  der  afficirte  Muskel  in  erhöhten  Anspruch  genommen 
wird ,  auf  dem  andern  Ablenkung  nach  der  Seite  der  associirten  Muskel 
eintritt.)  Wird  das  Object  in  der  Medianebene  nach  unten  geführt ,  so 
bleibt  das  afficirte  Auge  mehr  und  mehr  zurück  und  weicht  mehr  und 
mehr  nach  innen  ab.  Gehen  wir  dagegen  mit  dem  Objecte  in  der  Me- 
dianebene nach  oben  ,  so  verschwindet  entweder  hart  an  der  Horizontal- 
ebene oder  ein  Weniges  über  derselben  jede  Spur  von  fehlerhafter  Stel- 
lung. Dasselbe  findet  statt,  wenn  wir  in  dem  obern  Theile  des  Sehfeldes 
nach  rechts  oder  links  herüber  gehen.  Verrücken  wir  ihn  aber  in  der 
untern  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  seitlich,  so  treten  verschiedene  Stellungen 
auf.  Rückt  der  Gegenstand  nach  der  dem  betroffenen  Auge  entgegen- 
gesetzten Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  so  bleibt  das  Auge  in  Bezug  auf  die 
Senkung  der  Cornea  immer  mehr  zurück ,  in  Bezug  auf  die  Einwärtsrol- 
lung  immer  weniger;  wird  hingegen  das  Object  nach  unten  und  aussen 
von  dem  afficirten  Auge  gebracht ,  so  weicht  die  Stellung  des  afficirten 
Auges  von  der  des  gesunden  sowohl  in  der  einen  als  in  der  andern  Be- 
ziehung allmälig  immer  weniger  ab. 

Beim  Blick  nach  oben  findet  Einfachsehen  statt;  so  wie  aber  der  Ge- 
genstand   in   der  Medianebene    sich    der  Horizontalen  nähert,  tritt  Diplopie 


Lähmung  des  Trociilearis.  291 

-. 

ein,  mit  gleichnamigem,    also  durch  Convcrgenz  der  Sehachsen  bedingtem 
Doppelbilde.    Zugleich  steht  das  Bild  des  kranken  Auges  beträchtlich  tiefer, 
als  das  des  gesunden,   und  überdicss  schief  gestellt.     Ein  vcrlical  vorge- 
haltenes   schmales    und    langes  Objcct    erscheint   nämlich    mit   dem  obern 
Ende    zur  Medianebene    (einwärts)    geneigt,    überdiess    «her   auch  weiter 
von  der  Antlitzebene  entfernt ,    als    mit  dem  untern  Ende  (umgekehrt  wie 
bei  Lähmung   des  Oculomotorius  ,    respective   des  R.  inferior).     Geht  man 
mit  dem  Objecte  in  der  Medianebene  unter  die  Horizontale  hinab,  so  tre- 
ten   die  Doppelbilder   sowohl   in   ihrem   seitlichen  Intervall  als  im  Höhen- 
unterschied immer  mehr  auseinander ,    und    auch  die  Schiefheit  nimmt  um 
Einiges  zu.     Geht   man   ferner   mit  dem  stark  unter  der  Horizontalen  be- 
findlichen Gegenstande  nach  der  Seite  des  gesunden  Auges    über  die  Me- 
dianebene hinüber ,    so    nimmt  sowohl  die  Schiefheit  als  der  seitliche  Ab- 
stand mehr  und  mehr  ab,  der  Höhenunterschied  wird  aber  immer  beträcht- 
licher ,    so  dass  für  die  äusserste  Stellung   des  Objectes ,   in   welcher  ge- 
meinschaftlich gesehen  werden  kann,  die  Doppelbilder  beinahe  gerade  über 
einander  liegen.     Geht   man    dagegen   mit   dem  unter  der  Horizontalebene 
befindlichen  Objecte    auf  der  Seite   des  kranken  Auges  weiter  und  weiter 
von   der  Medianebene   seitlich   herüber ,    so   nimmt   der   Höhenunterschied 
rasch,  der  seitliche  Abstand  langsamer  ab,    und  die  Schiefheit  wird  immer 
beträchtlicher,    doch  nur  in  der  Zuneigung  zur  Medianebene,    nicht  in  der 
Abneigung  von    der  Antlitzebene.     Bei  den  Versuchen  über  der  Horizon- 
talen lässt  sich  das  Doppellsehen  in  der  dem  gesunden  Auge  entsprechen- 
den Hälfte  des  Gesichtsfeldes  noch  um  einen  geringen  Winkel  hinauf  ver- 
folgen, dann  verschwindet  es;  auf  der  dem  kranken  Auge  entsprechenden 
Hälfte  schneidet  es  ,   je  weiter  man  seitlich  vorrückt ,    desto   genauer  mit 
der  Horizontalen  ab. 

Die  spontane  Kopfhaltung  der  Kranken  ist  ziemlich  charakteristisch. 
Anfangs  tragen  sie  den  Kopf  gerade  nach  vorn  (um  die  transversale  Achse 
gedreht),  um  alle  Objecte  möglichst  in  den  obern  Theil  des  Gesichtsfeldes 
zu  bringen  und  so  das  Doppeltsehen  zu  umgehen.  Sehr  bald  jedoch 
drehen  sie  den  Kopf  gleichzeitig  auch  um  die  verticale  Achse  nach  der 
entgegengesetzten  Seite,  damit  sie  die  Gegenstände  nicht  bloss  nach  oben, 
sondern,  auch  in  der  mit  dem  afficirten  Auge  gleichnamigen  Hälfte  des 
Gesichtsfeldes  sehen,  denn  für  diese  Stellung  fühlen  sie  sich  im  Einfach- 
sehen am  sichersten ,  und  zwar  um  so  mehr ,  wenn  durch  beginnende 
Secundärcontractur  des  Obl.  inferior  die  Grenze  des  Doppeltsehens  sich 
auf  der  gesunden  Seite  über  die  Horizontalebene  erhebt.  Je  entschie- 
dener die  Vermehrung  in  der  Spannung  des  Obl.  inferior  wird,  desto  aus- 

19* 


292  Augenmuskeln. 

geprägter  Wird  auch  die  Kopfdrehung  um  die  verticale  Achse.  Später  wenn 
die  schielende  Stellung  durch  das  ganze  Gesichtsfeld  geht,  pflegt  auch  die 
angenommene  Kopfhaltung  in  gewissem  Grade  aus  Gewohnheit  fortzube- 
stehen, wird  aber  doch  weniger  forcirt,  da  ihre  Zweckmässigkeit  für  den 
Sehact  mehr  und  mehr  erlischt.  Der  Kranke  kann  nun  die  Doppelbilder 
nicht  mehr  in  eins  zusammenschmelzen  ,  und  muss  sich  dadurch  helfen, 
dass  er  entweder  ein  Auge  schliesst,  oder  dass  er  ein  Doppelbild  physio- 
logisch unterdrückt,  oder  dadurch,  dass  er  es  durch  die  Contraction  eines 
andern  Augenmuskels  so  weit  ablenkt ,  bis  es  der  grossen  Excentricität 
wegen  an  störendem  Einfluss  auf  das  Sehvermögen  verliert. 

„Das  Sehvermögen  war  in  keinem  unserer  Fälle  erheblich  gestört,  so 
dass  die  Tragweite  selbst  für  die  kleinsten  Objecte  von  der  des  gesunden 
nicht  wesentlich  abwich.  Die  Accommodation  zeigte  sich  ziemlich  normal; 
nur  in  der  Richtung  nach  unten  und  innen  schien  sie  weniger  andauernd 
und  weniger  excursiv,  offenbar  wegen  der  mühsamen  Einstellung  der  Seh- 
achsen."    (Gräfe.) 

Zur  beispielweisen  Erläuterung  will  ich,  obwehl  mir  zwei  eigene  Beobachtungen 
zu  Gebote  stehen,  einen  von  A.  v.  Gräfe  (Archiv.  I.  B.  2.  Abth.  S.  313)  beschriebenen 
Fall  wählen,  da  derselbe  nicht  nur  wegen  exaeter  Beobachtung,  sondern  auch  wegen 
Complication  der  Trochlearislähninng  mit  Abducenslähmung  ein  ganz  besonderes  Inter- 
esse hat. 

„Ein  Kleidermacher  von  49  Jahren  hatte  vor  geraumer  Zeit  einen  Chanker  gehabt, 
der  schnell  und  ohne  Spuren  zu  hinterlassen  heilte.  In  seinem  36.  Lebensjahre  hatte  er 
abermals  einen  Chanker,  welcher  längere  Zeit  bestand,  und  dem,  wie  er  angibt,  nach 
Jahresfrist  andauernde  Hautausschläge  folgten.  Diese  haben  sich  in  den  letzten  Jahren 
wiederholt,  auch  sind  mehrere  Abscesse  am  Halse  vorhanden  gewesen,  die  eröffnet  wer- 
den mussten.  Der  letzte  derselben  bestand  vor  einem  Jahre,  mit  ihm  zugleich  ein  an- 
derer über  der  Articulatio  sternoclavicularis.  Vor  4  Jahren  hatte  Pat.  zuerst  Taubheit 
des  Gefühls  in  der  rechten  Schulter  bemerkt,  so  wie  Schmerzen  im  rechten  Arm  mit 
bedeutender  Schwäche  bei  der  Arbeit.  Vor  3  Jahren  fing  das  jetzige  Augenleiden  mit 
Blendung  und  mangelhafter  Ausdauer  bei  der  Arbeit  an;  Doppeltsehen  will  der  Kranke 
zuerst  vor  5  Monaten  beobachtet  haben. 

Bei  der  Untersuchung  fand  ich  den  rechten  Arm  nur  um  weniges  schwächer,  als 
den  linken,  dagegen  ausgeprägte  paralytische  Erscheinungen  in  den  Augenmuskeln.  Am 
auffallendsten  war  zunächst  die  Lähmung  im  linksseitigen  M.  abducens  ;  die  Cornea  konnte 
nur  um  einen  geringen  Winkel  (etwa  10  Grad)  über  die  Mittellinie  nach  aussen  gerich- 
tet werden  und  auch  diess  geschah  unter  zuckenden,  zum  Theil  auch  unter  rollenden 
Stössen.  Mit  den  objeetiven  Zeichen  übereinstimmend  war  die  Diplopie  ;  je  mehr  das 
Qbject  auf  die  linke  Seite  des  Gesichtes  herüber  bewegt  wnrde,  desto  mehr  wuchs  die 
Entfernung  des  gleichnamigen  Doppelbildes.  Höhenunterschied  und  Schiefheit  wurden 
in  der  horizontalen  Visirebene  nicht  angegeben.  Bewegte  ich  das  Object  nach  unten, 
so  zeigten  die  Doppelbilder  die  Eigenschaften,  welche  auf  die  linksseitige  Paralyse  des 
M.  abducens  nicht  zu  beziehen  waren,    es  trat  nämlich  ein    namhafter    Höhenunterschied 


Lähmung  des  Trochlearis.  293 

zwischen  den  beiden  Bildern  auf,  so    dass  das  linke  Bild  höher,  das  rechte  tiefer  stand  , 
da    vollends  die    Diplopie  im    ganzen  untern    Theil  des   Gesichtsfeldes,  selbst   wenn  man 
ziemlich    stark  nach    rechts    hinüberging,    vorhanden  war,    so  musste    noch  eine    andere 
Affection,  als  die  linksseitige  Abducenslähmung  aufgesucht  werden.     Ich  hielt  das  Objecl 
nach  unten  und  etwas  rechts  herüber,  um  dem  linken  Auge  die  Fixation  zu  ermöglichen, 
und    glaubte  mich    schon  bei    aufmerksamer  Inspection    der  Sehachsenrichtung  zu  über- 
zeugen,   dass  nun    das  rechte  Auge  nach   innen  und  oben  vom  Objecl  vorbeischoss.     In 
der   That  ergab    sich,  dass  beim  Schluss   des  linken  Auges  die  Cornea  des   rechten  sich 
nach    aussen  und    unten  verrückte.     Im    obern  Theile    des  Gesichtsfeldes   standen,  wenn 
das    Object  rechts    gehalten  wurde,    die  beiden    Sehachsen  richtig    und  es  fand  Einlach- 
seheu   statt.     So    konnte  kein    Zweifel    bestehen,    dass    eine   Parese  in    den  nach   unten 
ziehenden    Muskeln  des   rechten  Auges    vorhanden  sei,    und  es  fragte  sich  nur  noch,  ob 
der   R.  inferior    oder  der    Obl.  superior    betheiligt  war.     Die  pathologische  Convergenz, 
welche   beim  Blick    nach  unten    statt  fand,  sprach   schon  von  Anfang   an  für  eine  Affe- 
ction des  Trochlearis,  und  doch  hätte   dieses  Symptom  hier  wegen  der  linksseitigen  Ab- 
ducenslähmung    tauschen  können,    da  bekanntlich  auch  bei  Abducenslähmutig  mehr  Nei- 
gung zur  Convergenz  der  nach  unten  als  der  nach  oben  gerichteten  Sehachsen  vorhan- 
den   ist.     Freilich    war  bei    dem  Kranken    die  Zunahme    der  Convergenz,  wenn  man  in 
der  31edianebene  das  Object  herabsenkte,    zu  auffallend,  als  dass  man  dieselbe  hätte  auf 
Abducenslähmung   gründen  können,  sofern  nämlich    bei  letztgenannten  Lähmungen  wohl 
oberhalb    der    horizontalen    Visirebene    ein   erhebliches    Schwanken    der  Convergenz    (je 
nach   der  Höhe),  unterhalb    der  horizontalen    Visirebene  aber    nur  eine  geringfügige  und 
zuweilen  gar  keine  Zunnahme  der  Convergenz  (nach  unten  hin)  nachweisbar    ist.     Auch 
hätte  sich    füglich  die  Convergenz  nicht  bis  gegen    den  äussersten  Theil  des  Gesichtsfel- 
des nach  rechts,  wenn  auch  in  abnehmender  Weise  wie  hier,  erhalten  können.    Trotzdem 
lag  die  Idee   einer  seeundären  Contractur  im  R.   internus  des  rechten  Auges,  wie  solche 
so    häufig  bei  Paralyse    des  Antagonisten  im    andern  Auge  vorkommt,  immer  noch  nahe 
genug,    um   positivere    Beweisgründe    wünschen vverth    zu   machen.     Zum    Glück    für  die 
Diagnose  gab  der  Kranke  eine  deutliche  Schiefheit  des    rechten  Bildes  an  ;  dasselbe  war 
mit   seiner  obern    Extremität  nach    links  geneigt,    also    ganz    conform  einer   Trochlearis- 
parese,  entgegengesetzt  einer  Parese    des  R.  inferior.     Um  nun  die  weitern  controlliren- 
den   Merkmale  zu   gewinnen,  ging  ich  mit    dem  Objecte    im  untern    Theil  des  Gesichts- 
feldes von  rechts  nach  links  herüber,    erwartend,  dass  die  Schiefheit    in  dieser  Richtung 
continuirlich    abnehmen  würde.     Dem    war  nicht  so;    freilich  gab  Pat.    zuweilen  auf  der 
erstem  Hälfte  der  Bahn  (von  rechts  bis  zur  .Medianebene)  einige  Verringerung  der  Schief- 
heit an,  aber  von  der  31ittellinie  bis  zur    äussersten  Haltung  nach  links  wurde  gar  keine 
Abnahme,  zuweilen  sogar  eine  Zunahme  der  Schiefheit  bemerkt.  Diese  Störung  der  Symp- 
tomengruppe hätte  ich  auf  Grund  der  linksseitigen  Abducenslähmung  voraussehen  sollen, 
denn  auch  Paralysen  des  R.  internus  und    des  R.  externus  bedingen  bei  diagonaler  Stel- 
lung   des  Objectes    Schiefheiten,  welche  mit    der  physiologischen  Neigung  der  Meridiane 
in  Zusammenhang  gebracht  werden  müssen.    Demzufolge  hätte  bei  beschränkter  Beweg- 
lichkeit nach  aussen  und  unten  eine    scheinbare  Schiefheit  des  linken  Bildes  nach  rechts 
herüber    stattfinden  müssen,    welche   die   scheinbare,  durch    Trochlearislähmung   bedingte 
entgegengesetzte  Schiefheit  des  rechten  Bildes  nothwendig  steigern  müsste.    Diess,  glaube 
ich,  erklärt  genügend  die  ausbleibende  Abnahme  der  Schiefheit  nach  links  und  hat  diese 
Ansicht   im  weitern    Verlaufe    der    Krankheit  ihre    Bestätigung    gefunden.     -  Vollständig 


294  Augenmuskeln. 

charakteristisch  war  das  Wachsen  des  Höhenunterschiedes  der  Bilder,  wenn  man  mit 
dem  Objecto  von  rechts  nach  links  herüberging,  und  konnte  schon  durch  Inspection  an 
der  Sehachsenrichtung  erkannt  werden.  Ebenso  fehlt  das  Näherliegen  des  rechten  Bil- 
des nicht.  Die  Beweglichkeit  der  Sehachse  nach  innen  —  unten  war  beim  Verschluss 
des  linken  Auges  bedeutend  verringert.  Die  Kopfhaltung  zeigte  sich  etwas  anders,  als 
bei  einfacher  Trochlearislähmung.  Während  sonst  die  Kranken  den  Kopf  nach  der  affi- 
cirten  Seite  und  gleichzeitig  nach  vorn  drehen,  war  bei  diesem  Pat.  der  obere  gleich- 
namige Theil  des  Gesichtsfeldes  dem  Einfachsehen  erhalten,  und  er  trug  den  Kopf  etwas 
nach  vorn  geneigt,  aber  gleichzeitig  nach  links  um  die  Vertikalachse  gedreht.  —  Das 
Sehvermögen  zeigte  sich  auf  beiden  Augen  gleich;  ein  gewisser  Grad  von  Accommoda- 
tionsparese  mit  Erweiterung  des  Mesoropter  schien  schon  von  früher  her  vorhanden  zu 
sein.  —  Das  Allgemeinbefinden  war  sehr  gestört ;  Pat.  klagte  über  fortwährendes  Brau- 
sen im  Kopfe,  grosse  Schwäche  und  Abnahme  des  Körpervolums. 

Als  Grund  der  beiderseitigen  Lähmung  wurde  die  inveterirte  Lues  aufgefasst;  ob 
eine  materielle  Veränderung  an  der  Basis  cranii  zugegen  war,  und  welche,  blieb  unent- 
schieden, weil  die  nöthigen  Anhaltspunkte  für  die  Bestimmung  fehlten.  Ich  verordnete 
Kali  jodatum,  und  schon  nach  einigen  Wochen  zeigte  sich  eine  Besserung  beider  Muskel- 
lähnmngen,  so  jedoch,  dass  die  Lähmung  des  Abducens  schneller  rückgängig  wurde,  als 
die  des  Trochlearis.  Als  mich  kürzlich  der  sich  für  vollständig  geheilt  ansehende  Kranke 
besuchte,  war  die  Abducenslähmung  verschwunden,  das  Doppeltsehen  nach  unten  jedoch 
noch  künstlich  (durch  viollete  Gläser)  nachweisbar.  Jetzt  zeigte  sich  zu  meiner  grossen 
Freude  eine  volle  Übereinstimmung  der  Symptome  mit  den  für  Trochlearis-paralyse  als 
charakteristisch  angegebenen,  denn  trotz  des  geringen  gegenseitigen  Abstandes  der  Dop- 
pelbilder, der  noch  übrig  war,  konnte  nun  die  früher  durch  Abducenslähmung  gestörte 
continuirliche  Zunahme  der  Schiefheit  von  links  nach  rechts  deutlich  genug  nachgewie- 
sen werden.  —  In  therapeutischer  Beziehung  war  es  erfreulich,  dass  alle  übrigen  Krank- 
heitserscheinungen, die  Schwäche  im  Arm,  das  Brausen  im  Kopf  mit  der  Augenmuskel- 
lähinung  vollständig  rückgängig  wurden,  dass  das  Aussehen  und  Befinden  des  Kranken 
sich  bedeutend  besserte  und  das  Körpergewicht  erheblich  zunahm.  Das  Kali  jodatum 
(gegen  2  Unzen)  wude  mit  kurzen  Unterbrechungen  circa  8  Wochen  gebraucht. 


Schielen  (Strabismus). 

Schielen  heisst  ein  Auge  (dessen  Sehachse')  von  dem  Gegenstände 
ablenken,  welchen  das  andere  fixirt.  Die  Ablenkung  ist  activ,  beruht 
auf  cxcessiver  Contraction  (später  auf  Confractur)  eines  oder  mehrerer 
Muskeln,  und  erfolgt  im  Allgemeinen  unwillkürlich  und  trotz  alles  An- 
kämpfens  des  Willens  dagegen.  Mit  dieser  activen  Ablenkung  zugleich 
erfolgt  Unterdrückung  der  Wahrnehmung  des  Gegenstandes,  den  das 
andere  Auge  fixirt. 

Willkürlich  zu  schielen  vermögen  nur  wenige,  und  das  meist  jugend- 
liche Individuen.  Wenn  Jemand,  wie  diess  gewöhnlich  zu  physiologischen 
Zwecken  geschieht,    seine  Aufmerksamkeit  auf  einen  entfernteren  Gegen- 


Schielen  —  Kennzeichen.  295 

stand  richtet,  aber  die  Sehachsen  in  einem  naher  gelegenen  Punkte  sich 
schneiden  lässt,  indem  er  sich  einen  solchen  imaginirt,  so  kann  man  nicht 
sagen,  er  schiele,  sofern  er  nämlich  jenen  Gegenstand  weder  mit  dem 
einen  noch  mit  dem  andern  Auge  fixirt,  sondern  denselben  beiderseits  auf 
excentrischen  Netzhautstellen  zur  Abbildung  bringt,  daher  mit  keinem  Auge 
direct  sieht.  Auch  das  kann  man  nicht  Schielen  nennen,  wenn  Jemand 
die  Sehachse  des  einen  oder  des  andern  Auges  nicht  auf  das  Object  rich- 
tet, welches  gesehen  werden  soll,  sondern  neben  demselben  aus  dem 
Grunde  vorbeischiessen  lässt,  weil  das  directe  Sehen  unmöglich  ist.  z.  B. 
wegen  centraler  Undurchsichtigkeil  der  Medien  oder  wegen  centraler  Un- 
tauglichkeit  der  Netzhaut.  Es  ist  diess  nur  dann  möglich ,  wenn  das  an- 
dere Auge  nicht  zum  Sehen  verwendet  wird  oder  ganz  erblindet  ist. 
Einigen  wir  uns  endlich  dahin ,  dass  wir  das  Zurückbleiben  des  einen 
Auges  hinter  den  Bewegungen  des  andern  wegen  mechanischer  Hinder- 
nisse (Verwachsung,  Muskellähmung),  mithin  die  passive  Ablenkung  des 
einen  Auges  von  dem  Gegenstande,  den  das  andere  frei  bewegliche  Auge 
verfolgt,  nicht  unter  einem  gemeinschaftlichen  Namen  mit  der  activen  Ab- 
lenkung zusammenfassen,  so  haben  wir  für  den  Ausdruck  Schielen  oder 
Strabismus  einen  ganz  bestimmten  Begriff  festgestellt,  einen  Begriff,  wel- 
cher im  Wesentlichen  das  enthält,  was  seit  J.  Müller*}  als  Strabismus 
concomitans  beschrieben  wurde,  in  welchen  dagegen  das,  was  man  über 
Strabismus  lusciosus  gesagt  hat,  nicht  gehört. 

Das  Schielen  tritt  entweder  nur  zeitweilig  auf,  und  zwar  nicht  bloss 
das  will-  sondern  auch  das  unwillkürliche,  oder  —  wie  in  den  meisten 
Fällen  —  conlinuirlich.  Auf  das  zeitweilige  Auftreten  des  unwillkürlichen 
Schielens  übt  bald  die  Accornmodation,  bald  der  Wille,  bald  auch  das  All- 
gemeinbefinden bestimmend  ein.  Manche  schielen  nur  beim  Betrachten 
naher,  andere  nur  beim  Betrachten  entfernter  Objecte.  Manche  können 
(namentlich  dann,  wenn  sie  auf  schärferes  Sehen  verzichten)  das  Schielen 
durch  erhöhten  Willenseinfluss  auf  mehr  weniger  lange  Zeit  vermeiden; 
andere  verfallen  in  diesen  Zustand  gerade,  wenn  sie  ihn  zu  vermeiden 
bemüht  sind,  und  noch  andere  dann,  wenn  sie  sich  unwohl,  verlegen 
u.  dgl.  fühlen.  —  Das  conünuirliche  Schielen  tritt  entweder  immer  an  dem- 
selben! Auge  in  die  Erscheinung  (Str.  non-alternans) ,  oder  bald  an  dem 
einen,  bald  an  dem  andern,  jedoch  in  letzterem  Falle  immer  in  derselben 
Richtung  (niemals  z.  B.  auf  dem  einen  Auge  ein-,  dann  auf  dem  andern 
auswärts)  und  in  demselben  Grade  (Str.  alternans).  Die  häufigste  Rich- 
tung ist  die  nach  innen,  Str.  convergens  (als  alternans  oder  non-alternans), 

*)  Zur  vergleichenden  Physiologie  des  Gesichtssinnes,  Leipzig,    Ib^ti. 


296  Augenmuskeln. 

bedingt  durch  exeessive  Contraetion  oder  Contractur  des  R.  internus  allein, 
oder  des  R.  superior  oder  R.  inferior  zugleich,  wodurch  das  Schielen  nach 
innen- oben  oder  nach  innen -unten  zu  Stande  kommt;  seltener  ist  das 
Auswärtsschielen ,  Str.  divergens  (gleichfalls  als  alternans  oder  non-alter- 
nans),  bedingt  durch  exeessive  Contraetion  des  R.  externus,  am  seltensten 
die  Ablenkung  nach  oben,  Str.  sursum  vergens,  und  die  nach  unten, 
Str.  deorsum  vergens.  In  Folge  von  Lähmung  des  Obl.  superior  oder  des 
Obl.  inferior  kann  durch  seeundäre  Contractur  des  Antagonisten  (Obl.  in- 
ferior, respective  superior)  das  von  Einigen  beobachtete  Radschielen  (mit 
Drehung  des  Bulbus  um  die  Sehachse)    zu  Stande  kommen. 

Jedes  Schielen  höheren  Grades  verräth  sich  durch  die  abweichende 
Stellung  der  Cornea  zu  dem  fixirten  Objecte.  Wo  die  fehlerhafte  Stel- 
lung wegen  geringer  Abweichung  nicht  sogleich  augenfällig  wird,  braucht 
man  nur,  während  der  Kranke  zur  Fixirung  eines  Objectes  angewiesen 
wird,  vor  das  eine  Auge  die  flache  Hand  vorzuschieben;  das  gesunde 
Auge  bleibt  dabei  ganz  ruhig,  das  schielende  verlässt  aber  seine  fehler- 
hafte Stellung  zu  dem  Objecte  augenblicklich,  und  stellt  sich  mit  der  Seh- 
achse auf  dasselbe  ein,  falls  es  überhaupt  noch  zum  directen  Sehen  und 
zum  Wahrnehmen  jenes  Objectes  geeignet  ist.  Hiebei  ist  jedoch  nöthig, 
dass  der  Kopf  des  Schielenden  früher  in  die  normale  Stellung  gebracht 
und  während  der  Proben  darin  erhalten  werde.  Auf  die  im  Ganzen  ge- 
nommen seltenen  Fälle ,  wo  sich  das  schielende  Auge  nach  Verdeckung 
des  gesunden  nicht  mit  der  Sehachse  zum  Objecte  einstellt,  sondern  mit 
derselben  gleichsam  daneben  vorbeischiesst,  werden  wir  später  zu  spre- 
chen kommen.  —  Ein  anderes  Merkmal  des  schielenden  Auges  besteht 
darin,  dass  es  nach  allen  Richtungen  hin  frei  bewegt  leerden  kann,  be- 
sonders wenn  das  gesunde  Auge  mit  den  Fingern  zugedrückt  wird.  Auch 
hievon  gibt  es  Ausnahmen,  theils  bei  frischen,  theils  bei  inveterirten  Fäl- 
len des  alternirenden  und  nicht-alternirenden  Schielens.  Wenn  sich  näm- 
lich Schielen  (z.  B.  einwärts)  in  Folge  von  Lähmung  eines  Muskels  (des 
R.  externus)  entwickelt,  so  kann  zur  Zeit,  wo  die  Lähmung  noch  nicht 
völlig  verschwunden  ist,  die  Beweglichkeit  des  Bulbus  nach  dieser  Seile 
noch  beschränkt  oder  aufgehoben  sein.  Eben  so  wird,  wenn  die  exees- 
sive Contraetion  des  ablenkenden  Muskels  lange  bestanden  und  zu  förm- 
licher Contractur  (mit  bleibender  Verkürzung  und  Rigidität)  geführt  hat, 
die  Beweglichkeit  nach  der  entgegengesetzten  Seite  theils  hierdurch,  theils 
aber  auch  und  zwar  in  noch  höherem  Grade  dadurch  beschränkt,  dass 
der  Antagonist  in  Folge  geringerer  Übung  atrophisch  geworden  ist.  Nur 
wo  diese  Momente  wegen  hochgradiger   und  viele  Jahre  lang  andauernder 


Schielen  —  Kennzeichen.  297 

Ablenkung  stark  entwickelt  sind,  kann  das  schielende  Auge  nicht  über  die 
Mitte  der  Lidspalte  nach  der  entgegengesetzten  Richtung  hinübergestellt, 
oder  auch  selbst  nicht  in  der  Mitte  erhalten  werden.  —  Hieran  reiht  sich 
ein  drittes  Merkmal,  nämlich  dass  das  schielende  Auge  dem  gesunden  bei 
allen  Bewegungen  folgt,  und  zwar  unter  gleicher  oder  doch  nahezu  glei- 
cher Neigung  seiner  Sehachse  zu  der  des  gesunden  Auges,  so  lange  dieses 
sich  in  demselben  Horopter  bewegt  (seinen  Refractionszustand  nicht  ändert). 
Im  gesunden  Zustande  schneiden  sich  die  Sehachsen  in  dem  fixirten  Ob- 
jectpunkte  unter  einem  bestimmten  Winkel,  welcher  für  denselben  Horop- 
ter derselbe  bleibt,  für  jeden  weitern  Horopter  spitziger,  für  jeden  engem 
minder  spitzig  wird.  Reim  Einwärtsschielen  schneidet  die  Sehachse  des 
schielenden  Auges  die  des  fixirenden  vor  dem  Objecte,  und  zwar  unter 
einem  um  so  weniger  spitzigen  Winkel,  je  höher  der  Grad  der  Ablen- 
kung ist;  wird  das  Object  in  demselben  Horopter  hin  und  her  bewegt, 
so  folgt  ihm  auch  das  schielende  Auge  unter  demselben  Winkel.  (Beim 
Übergänge  des  Sehobjectes  in  die  obere  oder  in  die  untere  Hälfte  des 
Gesichtsfeldes  ändert  sich  der  Neigungs-  oder  Schielwinkel  trotz  dem, 
dass  der  Horopter  nicht  geändert  wird.)  Wird  das  Object  weiter  entfernt, 
so  bleiben  die  Verhältnisse  dieselben,  nur  ist  der  Winkel,  unter  dem  sich 
die  Sehachsen  schneiden,  ein  mehr  spitziger.  Ausnahmen  hievon  kommen 
nur  dann  vor,  wenn  Rigidität  des  ablenkenden  Muskels  oder  Paresis  des 
Antagonisten  besteht.  Rei  Str.  divergens  liegt  der  Winkel,  unter  dem 
sich  die  Sehachsen  schneiden,  hinter  den  Augen.  Die  Sehachsen  sind  also 
bei  einem  und  demselben  Kranken  für  eine  bestimmte  Sehweite  des  fixi- 
renden Auges  an  eine  bestimmte  Neigung  zu  einander  gebunden,  welche 
sich  —  mit  Ausnahme  der  angedeuteten  Complicationen  —  nur  mit  der 
Zu-  oder  Abnahme  des  Übels  selbst  ändert  (Schielwinkel).  —  Hieraus  er- 
gibt sich  ein  viertes  Merkmal  des  Strabismus.  Wenn  man  einem  Schie- 
lenden, während  er  angewiesen  wird,  ein  bestimmtes  Object  zu  fixiren, 
die  Hand  vor  das  ßxirende  Auge  schiebt,  und  nun,  während  das  schie- 
lende Auge  ßxirt,  den  Stand  des  hinter  der  Hand  befindlichen  Auges 
beobachtet,  so  findet  man,  dass  dieses  aus  der  normalen  in  eine  fehler- 
hafte Stellung  übergegangen  ist.  Es  steht  einwärts:  wenn  das  nun  fixirende 
Auge  früher  einwärts  stand,  auswärts:  wenn  dieses  auswärts  stand, 
dagegen  abwärts :  wenn  das  andere  Auge  früher  aufwärts  schielte, 
und  aufwärts :  wenn  das  andere  abwärts  schielte.  Wird  nämlich  das 
gesunde  Auge  verdeckt,  so  muss,  um  dem  für  gewöhnlich  excessiv 
contrahirten  Muskel  entgegenzuwirken,  der  Antagonist  des  schielenden 
Auges  in  erhöhte  Thätigkeil  versetzt  werden;  der  hiezu  nöthige  verstärkte 


298  Augenmuskeln. 

Impuls  trifft  aber  immer  zugleich  auch  den  associirten  Muskel  des  andern 
Auges,  springt  gleichsam  auf  denselben  über,  da  wir  nicht  im  Stande 
sind,  diesen  Impuls  willkürlich  auf  ein  Auge  allein  wirken  zu  lassen. 
Schielt  demnach  z.  B.  das  linke  Auge  auswärts,  so  muss  der  R.  internus 
desselben  in  erhöhte  Thätigkeit  versetzt  werden,  um  das  Auge  dem  Ob- 
jecte  gerade  gegenüber  zu  stellen  (und  zu  erhalten),  und  der  Impuls  hiezu 
geht  gleichzeitig  und  unwillkürlich  auf  den  R.  externus  des  rechten 
Auges  über.  Schielt  das  linke  Auge  aufwärts,  so  sind  die  beiden  R.  in- 
feriores in  derselben  Lage,  wie  früher  der  linke  R.  internus  und  der  rechte 
R.  externus.  Zu  bemerken  ist  noch,  dass  das  Auge  hinter  der  Hand  genau 
oder  doch  nahezu  um  eben  so  viele  Grade  abgelenkt  erscheint,  als  früher 
das  schielende.  —  Ein  Kranker,  der  mit  dem  linken  Auge  einwärts  schielt, 
erhält  aber  auch  schon  bei  beiderseits  offener  Lidspalte  nicht  bloss  an 
dem  linken,  sondern  auch  an  dem  rechten  Auge  den  R.  internus  in  ex- 
cessiver  Contraction,  und  bei  einem  Kranken,  der  auswärts  schielt ,  Xindet 
dasselbe  Verhältniss  in  Bezug  auf  die  beiden  R.  externi  statt.  Beim  Aus- 
oder Einwärtsschielen  leiden  immer  beide  gleichnamige  Muskeln,  nicht 
bloss  der  des  abgelenkten  Auges.  Beim  wechselnden  Schielen  gibt  sich 
diess  kund,  eben  weil  die  Sehkraft  einen  solchen  Wechsel  gestattet,  ent- 
weder rein  nach  Willkür  oder  nach  Zulass  der  Sehweite  des  einen  und 
des  andern  Auges.  Auch  beim  nicht-wechselnden  Schielen  ist  es  möglich, 
das  für  gewöhnlich  schielende  Auge  eine  Zeit  lang  grade  zu  halten,  doch 
nur  unter  der  Bedingung,  dass  das  andere  jetzt  in  derselben  Richtung 
und  in  demselben  Grade  abgelenkt  wird.  Ist  jedoch  die  Sehkraft  des  be- 
ständig schielenden  Auges  sehr  gesunken,  so  vermag  sich  dasselbe  nur 
auf  kurze  Zeit  oder  gar  nicht  mehr  in  die  Einstellung  zum  Objecte  zu 
behaupten.  Aber  gerade  in  solchen  Fällen  zeigt  sich  das  Mitleiden  des 
gleichnamigen  Muskels  an  dem  andern  Auge  besonders  eclatant  an  der 
Kopfhaltung  des  Schielenden.  Ein  Kranker,  der  mit  dem  linken  Auge 
einwärts  schielt,  hält,  um  Objecte  in  der  Medianebene  seines  Gesichtsfel- 
des zu  fixiren,  den  Kopf  um  die  verticale  Achse  rechts  gedreht.  Gibt  man 
ihm  ein  Buch  in  die  Hand,  so  hält  er  es  nicht  gerade  dem  Gesichte  gegen- 
über, sondern  etwas  schräg,  mit  der  linken  Seite  zur  Antlitzfläche  geneigt. 
Umgekehrt  ist  dieses  Verhalten  bei  einem  mit  dem  linken  Auge  auswärts 
Schielenden.  Hiedurch  wird  erreicht,  dass  der  ablenkende  Muskel  des 
schielenden  Auges  nicht  so  stark  contrahirt  zu  werden  braucht,  wie  wenn 
die  Antlitzfläche  dem  Objecte  gerade  gegenüber  gehalten  werden  muss. 
Führt  man  diese  letztere  Lage  durch  Correction  der  Haltung  des  Kopfes 
oder  des  Objectcs  herbei,  so  findet  man,  dass  beim   Einwärtsschielen  z.  B. 


Schielen  —  Kennzeichen.  299 

des  linken  Auges  die  Cornea  desselben  weiter  einwärts  gerollt  wird,  weil 
jetzt  die  Cornea  des  rechten  Auges   ganz    oder   nahezu    in  der    Mitte  der 
Lidspalte  stehen  muss,  um  das  Object  zu  fixiren.    Bei  der  spontanen  Rechts- 
drehung des  Kopfes    oder   bei  Herüberrückung   des  Objectes    in  die    linke 
Hälfte  des  Gesichtsfeldes    ist  demnach    der  R.  internus  des    linken  (schie- 
lenden) Auges  nur  wenig  oder  gar  nicht  mehr  contrahirt,    als  der  R.  in- 
ternus des  rechten  Auges,    während  bei  gezwungener  Haltung  des  Kopfes 
oder    des    Objectes    die    erhöhte    Contraction    des   R.  internus   am    linken 
Auge    allein   die  Ablenkung  der    Sehachse    (Erhaltung   des    Schielwinkels) 
vermitteln  muss.     Der   Kranke   überlässt    sich    aber  der    spontanen    Kopf- 
drehung   oder    Objectverschiebung   um    so    lieber,    als    er    dadurch    nicht 
nur  grössere   Freiheit   in  den    assoeiirten    und    besonders    in  den  aecom- 
modativen  Bewegungen  erhält,   sondern  auch  das  Entstellende  seines  Feh- 
lers bis  zu  einem  gewissen  Grade  maskirt,    i.  e.  die   relativ  stärkere  Ab- 
lenkung der   linken   Hornhaut   gegen   den    innern   Winkel   verhindert  oder 
doch  vermindert.     Laien  lassen  sich  auch  auf  diese  Weise  täuschen,   und 
meinen,  das  Schielen  sei  manchmal  gar  nicht  oder  nur  in  geringem  Grade 
vorhanden,   auch  in  Fällen,  wo  dasselbe  ganz  gewiss  continuirlich  besteht. 
Wenn   wir  einen  Schielenden    (bleiben  wir    bei  dem    gewählten  Beispiele : 
mit  dem  linken  Auge  einwärts)  längere    Zeit  bei  seinem  Thun  und  Lassen 
(unvermerkt)  beobachten,    so  werden  wir  auch  finden,    dass  er  den  Kopf 
noch  nach  einer    andern  Richtung  dreht,    nämlich  etwas   zur  Schulter  der 
betreffenden  (linken)  Seite    neigt,    ein  Beweis  mehr  dafür,    dass    auch  an 
dem    andern   (rechten)  Auge    der   gleichnamige    (innere)  Muskel    excessiv 
contrahirt  ist.     Es  tritt  hier  dasselbe  Verhalten  ein,    wie  wenn  der  Anta- 
gonist (R.  externus)  des  nicht  schielenden  (rechten)  Auges  insufficient  ist. 
Die  Haltung  eines  continuirlich  Schielenden    ist  eine    ganz    andere  als  die 
eines  Einäugigen,    selbst  dann,    wenn  das  schielende  Auge  sich  gar  nicht 
mehr  zu  deutlichen  Wahrnehmungen  eignet.  —  Aus  diesem  Verhalten  re- 
sultirt  aber  auch,  dass  nach  längerem  Bestände  des  continuirlichen  Schie- 
lens nicht  nur  an  dem  schielenden,  sondern  auch  an  dem  ßxirenden  Auge 
excesswe  Contraction,  endlich  Contractur  des  betreffenden  (gleichnamigen) 
Muskels   und  Atrophie   des  Antagonisten    eintritt,    wenn    gleich    auf  dem 
fixirenden  Auge  in  geringerem  Grade,    als    auf  dem  schielenden.     Leute, 
welche  durch  viele  Jahre   mit   dem   einen  Auge   stark    einwärts   geschielt 
haben,    können  daher    auch  das    fixirende    nicht  gehörig  auswärts  stellen. 
Dieser    für   die  Operationslehre  wichtige    Satz    erhält  eben  durch  die   un- 
mittelbaren   Ergebnisse    der    Muskeldürohschneidung    selbst    weitere    Be- 
stätigung.      Es  liegt  demnach  kein  Widerspruch    in  der   Behauptung,    das 


300  Augenmuskeln. 

Schielen  könne  immer  nur  an  einem  Auge  auftreten,  aber  die  nächste  Ursache 
davon,  die  Muskelcontraction,  bestehe  immer  an  beiden  Augen  zugleich. 

Das  schielende  Auge  wird  nicht  zum  directen,  sondern  nur  zu  in- 
directem  Sehen  verwendet.  Der  Schielende  gebraucht  zum  Betrachten  der 
Objecte  jederzeit  nur  das  eine  Auge,  und  nimmt  dieselben  nur  mit  dem 
fixirenden  Auge  wahr;  er  sieht  daher  auch  niemals  doppelt,  selbst  nicht 
in  der  ersten  Zeit  der  Affection,  wenn  man  jene  Fälle  richtig  auffasst, 
wo  Doppeltsehen  die  Veranlassung  zum  Schielen  gibt.  In  diesem  letzten 
Falle  befinden  sich  nicht  nur  jene,  welche  von  Lähmung  irgend  eines 
Augenmuskels  befallen  wurden,  sondern  gewissermassen  auch  jene,  bei 
denen  die  Wahrnehmung  des  jeweiligen  Gesichtsobjectes  mit  dem  einen 
Auge  durch  undeutliche  Wahrnehmung  desselben  mit  dem  andern  Auge 
gestört  wird,  wegen  Trübung  in  den  durchsichtigen  Medien,  wegen  Dif- 
ferenz im  Refractionszustande  oder  wegen  Netzhautaffection.  Beim  Dop- 
peltsehen wegen  Muskellähmung  treten  die  Bilder  in  der  Wahrnehmung 
räumlich  getrennt,  im  Gesichtsfelde  auseinander  gehalten  auf,  beim  Dop- 
peltsehen aus  den  letztgenannten  Ursachen  decken  sich  dieselben,  werden 
nicht  als  neben,  sondern  gleichsam  als  auf  oder  in  einander  liegend 
wahrgenommen.  In  dem  einen  wie  in  dem  andern  Falle  kann  Schielen 
eintreten,  damit  das  Doppelbild  unterdrückt  werde.  Das  Doppeltsehen  ist 
nicht  ein  Symptom,  welches  das  Schielen  begleitet,  sondern  ein  Act,  wel- 
cher leicht  zum  Schielen  Veranlassung  gibt,,  wie  wir  bei  der  Ätiologie 
unten  zeigen  werden.  —  Dass  das  schielende  Auge  nicht  zum  directen 
Sehen  verwendet  werde ,  sieht  man  schon  aus  der  Stellung  desselben  zu 
dem  Objecte,  welches  eben  betrachtet  wird.  Dass  es  aber  auch  nicht 
durch  indirectes  Sehen  Kenntniss  von  den  Gegenständen  bringt,  welche 
das  andere  Auge  sieht,  ergibt  sich  leicht  aus  dem  momentanen  Ver- 
schwinden der  Wahrnehmung  des  fixirten  Objectes,  sobald  man  vor  das 
frxlrende  Auge  die  Hand  vorschiebt.  Erst  wenn  das  schielende  Auge  sich 
zum  Objecte  eingestellt  hat,  wird  dieses  wieder  wahrgenommen.  Wie  es 
komme,  dass  das  von  dem  gesunden  Auge  fixirte  Object  von  dem  schie- 
lenden nicht  wahrgenommen  werde,  trotzdem  es  auch  auf  diesem  ein 
Netzhautbild  entwirft,  wissen  wir  nicht.  Wenn  wir  sagen,  die  Wahrneh- 
mung werde  unterdrückt,  so  ist  diess  nur  ein  figürlicher  Ausdruck,  wel- 
cher insofern  gut  gewählt  erscheint,  als  er  gewissermassen  das  Active 
dabei  anzeigt.  Denn  auch  bei  Lähmung  eines  und  des  andern  Muskels 
wird  auf  dem  Auge,  dessen  Achse  nicht  auf  das  Object  gerichtet  ist, 
irgendwo  seitlich  von  der  Macula  lutea  ein  Bild  des  Objectes  entworfen, 
aber  dennoch  wahrgenommen,    und  zwar    trotz    oft  sehr  bedeutender  Ex- 


Schielen  —  Kennzeichen.  301 

centricität,  merklich  gesunkener  Netzhautenergie  und  langem  Bestände 
des  Leidens.  Man  muss  demnach  annehmen,  dass  die  active  Ablenkung 
des  Auges  zugleich  eine  Bedingung  für  die  Unterdrückung  der  Wahr- 
nehmung der  von  dem  andern  Auge  gesehenen  Objecte  in  sich  einschliesst. 
So  lange  ein  von  Muskellähmung  oder  mechanischer  Ablenkung  eines 
Auges  Befallener  es  nicht  zur  activen  Ablenkung  des  betroffenen  (oder 
des  andern)  Auges  gebracht  hat,  gelingt  es  ihm  nicht,  der  Wahrnehmung 
des  Doppelbildes  zu  entgehen,  ausser  durch  Zukneipen  oder  erst  nach 
sehr  langer  Zeit,  wenn  die  Netzhautenergie  sehr  gesunken  ist.  Beim 
Schielen  hingegen  findet  selbst  bei  einer  sehr  geringen  Ablenkung,  also 
bei  sehr  geringer  Excentricität  des  Netzhautbildes,  schon  keine  Wahrneh- 
mung des  Objectes  (kein  Doppeltsehen)  statt,  auch  in  Fällen,  wo  die 
Energie  der  Netzhaut  des  abgelenkten  Auges  der  des  fixirenden  völlig 
gleich  geschätzt  werden  muss,  und  wo  überhaupt  kein  Grund  vorliegt, 
eine  merkliche  Differenz  in  dem  Netzhautbilde  des  einen  und  des  andern 
Auges  (in  Bezug  auf  Begrenzung  und  Helligkeit)  anzunehmen.  Schielende 
können  es  bisweilen  dahin  bringen,  dass  sie  doppelt  sehen,  d.  h.  auch 
mit  dem  abgelenkten  Auge  das  von  dem  andern  fixirte  Object  wahrnehmen, 
aber  nur  dann ,  wenn  sie  mit  der  Schärfe  der  Fixation  nachlassen ,  auf 
dieselbe  Weise,  wie  Gesunde  doppelt  sehen  können,  sobald  sie  ihre  Auf- 
merksamkeit auf  Objecte  lenken,  welche  diess-  oder  jenseits  ihres  Ho- 
ropters liegen,  oder  wenn  sie,  wie  Böhm  *)  zuerst  gezeigt  hat ,  vor  das 
bessere  Auge  ein  dunkelfarbiges  Glas  halten,  oder  endlich,  wenn  sie  ihre 
Aufmerksamkeit  auf  ein  in  der  Richtung  der  Sehachse  des  schielenden 
Auges  gelegenes  Object  zu  lenken  im  Stande  sind.  Auch  nach  der  Mus- 
keldurchschneidung sieht  man  bisweilen  bei  Fortbestand  von  wirklichem 
Schielen  Doppeltsehen  auftreten,  wenn  nämlich  die  Durchschneidung  insuf- 
ficient  ist,  das  Auge  wohl  noch  in  der  frühern  Richtung,  aber  nicht  mehr 
so  stark  wie  früher  abgelenkt  erscheint.  (Dem  nach  excessiver  Rück- 
lagerung des  Muskels  entstehenden  Doppeltsehen  liegt  nicht  Schielen  zu 
Grunde,  sondern  Luscitas,  gleichbedeutend  mit  Muskelinsufficienz.)  —  Das 
schielende  Auge  ist  aber  nie  völlig  unthätig,  sobald  es  überhaupt  noch 
sehfähig  ist.  Es  vermittelt  durch  indirectes  Sehen  die  Erweiterung  des 
Sehfeldes  nach  der  gleichnamigen  Seite  hin.  Ein  Schielender  hat  ein 
weiteres  Gesichtsfeld  als  ein  Einäugiger.  Zur  Erweiterung  des  Sehfeldes 
kann  natürlich  nur  die  innere  Netzhauthälfte  des  schielenden  Auges  dienen, 
gleichviel  ob  dasselbe  ein-  oder  auswärts  abgelenkt  wird.    Man  lasse  ein 

(»  Das  Schieleuund  der  Seheinschniü  in  seinen  Wirkungen   auf  Stellung  und  Sehkraft  der  Augen,  Berlin    1855. 


302  Augenmuskeln. 

Object,  z.  B.  einen  Finger  auf  der   Seite   des   schielenden  Auges    allmälig 
von  rückwärts  vorrücken ;  er  wird  wahrgenommen  noch  bevor  er  in  jenen 
Theil  des  Gesichtsfeldes  vorgerückt    ist,  wo  ihn    das  gesunde  Auge  sehen 
kann.  —  Aus  dem  Gesagten  erklären    sich    nun   einige  interessante  That- 
sachen  der  Beobachtung  beim  anhaltenden  und  nicht-alternirenden  Schielen. 
So  wie   in    andern    Sinnesorganen   sinkt    auch    die   Energie   der   Netzhaut 
durch  Mangel  an  Übung,  und    das  schielende  Auge    wird  nach  lange  be- 
stehendem häufigen  oder    continuirlichen  Ausschluss  vom  directen  Sehen 
amblyopisch.  Die  Amblyopie  kann    durch  methodische    und    länger  fortge- 
setzte Übung  wieder  behoben  werden,    falls    sie  nicht  schon  so  lange  be- 
steht, dass  in  der  Netzhaut  bereits    bleibende  Veränderungen  (Gewebsum- 
wandlungen)  eingetreten  sind.     Für  die  Netzhaut  ist    aber   nicht  bloss  das 
directe,  sondern  auch  das  iudirecte  Sehen  eine,  wenn  gleich  ungenügende 
Übung.     Daher   versinkt  jene    Partie   der    innern    Netzhauthälfte,    welche 
zu  indirectem  Sehen   verwendet  wird,    nicht  in  so    bedeutenden  Torpor; 
daher  kommt  es   bei  inveterirten  und  aus  früher  Jugend  datirenden  Fällen, 
dass  ein    solches   Auge   —  nach   Verdeckung   des   gesunden  —  nicht  mit 
der  Mac.  lutea,  sondern  mit  einer  einwärts  von  derselben  liegenden  Stelle 
dem  Objecte,  das  gesehen  werden  soll,  zugewendet  wird.  —  Diese  That- 
sache  gibt  uns  auch  Aufschluss  über  das  Verhalten  des  schielenden  Auges 
beim    gemeinschaftlichen     Sehacte.     Wenn    man   nämlich    bei    inveterirtem 
Einwärtsschielen  findet,  dass  eine  von  der  Macula  lutea  einwärts  gelegene 
Netzhautstelle  noch  die  relativ   grösste    Empfindlichkeit    bewahrt    hat,    und 
desshalb  dem  zu  sehenden    Objecte   gegenüber   gestellt   werden  muss,    so 
könnte  man  meinen,  das  Einfallen    des  Lichtes   von  den  Objecten   des  di- 
recten Sehens,  die  Formation  von  Bildern  der  Objecte  des  directen  Sehens 
auf  dieser  Stelle  sei  es,  welche  derselben    diese   überwiegende   Empfäng- 
lichkeit bewahrt  habe,  weil  eben    diese    Partie   beim   Einwärtsschielen    am 
meisten   Licht   erhalte    und    am   meisten  angeregt,    in    Thätigkeit    erhalten 
werde.     Dem  kann    aber    nicht    so  sein,    weil  auch  bei  inveterirtem  Aus- 
wärtsschielen, wo  eine  von  der    Mac.    lutea    auswärts   gelegene   Stelle    in 
derselben  Lage  zu  den  direct    gesehenen  Objecten    sein    musste,  dennoch 
die  relativ  grösste  Empfänglichkeit    der  Netzhaut  gleichfalls  an    einer  ein- 
wärts   von   der    Mac.    lutea    gelegenen    Stelle    erscheint,  und  ein  solches 
Auge,  wie  Böhm  zuerst  hervorgehoben  hat,  wenn   es    bei  Verschluss    des 
andern  ein  Object  fixiren    soll,    jene   einwärts    gelegene    Stelle    dem  Ob- 
jecte zuwendet.     Es  ist    einleuchtend,  dass    der    Grund    hievon    nur  darin 
liegen  kann,  dass  auch  beim  Auswärtsschielen    eine  von    der  Mac.  lutea 
einwärts  gelegene  Stelle  es  ist,  welche  fungirt,  d.  h.  welche  das  indirecte 


Schielen  —  Kennzeichen.  303 

Sehen  nach  der  betreffenden  Seite  hin,  i.  e.  die  Erweiterung  des  Sehfel- 
des vermittelt,  Das  schielende  Auge,  in  Bezug  auf  die  Objecto  des  direc- 
ten  Sehens  völlig  unthätig,  fungirt  also  nur  mit  einer  kleinen  Partie  der 
Wem  Netzhauthälfte,  mit  jener  nämlich,  welche  jenem  Theile  des  ge- 
sammten  Gesichtsfeldes  gegenüberliegt,  der  von  dem  schielenden  Auge 
allein  beherrscht  werden  kann.  Dieser  Theil  des  Sehfeldes  liegt  natür- 
lich in  der  gleichnamigen  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  beginnt  von  der  Me- 
dianebene bald  mehr  bald  weniger  entfernt  je  nach  der  Höhe  des  Nasen- 
rückens (der  Grenze  für  das  Sehfeld  des  gesunden  Auges)  und  erstreckt 
sich  von  da  auswärts.  Demnach  hat  der  Einwärtsschielende  ein  kleineres, 
der  Auswärtsschielende  ein  grösseres  Gesichtsfeld  als  der  Nichtschielende. 
Beim  Nichtschielenden  zerfällt  das  Gesichtsfeld  in  drei  Regionen,  eine 
mittlere  grösste,  die  von  beiden  Augen  zugleich  beherrscht  wird  (ge- 
meinschaftliches Sehfeld),  und  zwei  kleinere  seitliche,  deren  jede  nur  dem 
betreffenden  Auge  allein  angehört.  Beim  Schielenden  fungirt  das  abge- 
lenkte Auge  bloss  in  der  ihm  allein  angehörenden  Region.  Merkwürdig 
bleibt  hiebei,  dass  beim  Schielenden  für  diese  Region  eine  andere  Netz- 
hautpartie fungirt,  als  beim  Nichtschielenden,  und  zwar  beim  Einwärts- 
schielen eine  relativ  zum  Gesunden  weiter  vorn,  beim  Auswärtsschielen 
eine  relativ  weiter  hinten  (gegen  die  Mac.  lutea  hin)  gelegene,  dass  aber 
trotzdem  eine  Beirrung  der  Orientirung  im  Gesichtsfelde  nicht  beobachtet 
wird.  Hält  man  einem  mit  dem  linken  Auge  continuirlich  einwärts  Schie- 
lenden ein  Object  in  der  Mitte  des  Gesichtsfeldes  gegenüber,  so  sieht  er 
es  einfach,  und  zwar  mit  dem  rechten  Auge;  geht  man  nun  mit  dem  Ob- 
jeete  in  der  linken  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  weiter  und  weiter  von  der 
Medianebene  seitlich  ab,  bis  endlich  das  rechte  Auge  durch  den  Nasen- 
rücken vom  Sehen  ausgeschlossen  wird,  so  wird  das  Wahrnehmen  des 
Objectes  nicht  unterbrochen,  sondern  durch  indirectes  Sehen  des  schie- 
lenden Auges  vermittelt.  Wo  das  eine  Auge  aufhört,  fängt  das  andere 
an,  und  bei  stetigem  Fortschreiten  des  Objectes  erfolgt  auch  die  Wahr- 
nehmung stetig,  ohne  Absatz  oder  Sprung,  ohne  Beirrung  in  der  Orien- 
tirung im  Gesichtsfelde.  Ist  die  Sehkraft  des  schielenden  Auges  nicht  sehr 
gesunken,  so  tritt  in  dem  Momente,  wo  das  gesunde  wegen  des  Nasen- 
rückens nicht  mehr  fixiren  kann,  plötzlich  eine  Veränderung  in  der  Stel- 
lung beider  Augen  ein;  das  gesunde  flieht  in  den  innern  Winkel,  das 
früher  schielende  stellt  sich,  so  lange  es  noch  möglich  ist,  in  die  visio 
direeta,  bis  endlich,  bei  noch  weiter  gehender  seitlicher  Ablenkung  des 
Objectes,  auch  mit  diesem  Auge  nur  noch  eine  immer  schwächer  wer- 
dende Wahrnehmung  des  Objectes  möglich  wird. 


304  Augenmuskeln. 

Das  Sinken  der  Sehkraft  des  schielenden  Auges  erfolgt  in  sehr  vielen 
Fällen,  die  man  als  nicht-alternirende  bezeichnen  muss,  lange  nicht  in  so 
hohem  Grade,  als  es  nach  dem  Gesagten  geschehen  sollte.  Der  Grund 
davon  liegt  darin,  dass  das  Auge,  welches  jedesmal  abgelenkt  wird,  so 
oft  es  sich  um  genaues  Erkennen  handelt,  beim  gewöhnlichen  Sehen  noch 
mehr  weniger  oft  zum  directen  Sehen  benützt  wird,  d.  h.  dass  der  Kranke 
unter  Umständen  sich  des  in  Rede  stehenden  Auges  bedient,  während  er 
das  bessere  ablenkt.  Wenn  Objecte,  welche  in  der  betreffenden  Hälfte 
des  Gesichtsfeldes  so  weit  seitlich  liegen,  dass  sie  nur  von  dem  schie- 
lenden Auge  wahrgenommen  werden  können ,  die  Aufmerksamkeit  des 
Kranken  erregen,  so  muss  vermöge  des  Dranges,  dieselben  hinreichend 
deutlich  zu  sehen,  entweder  der  Kopf  so  gedreht  werden,  dass  der  Nasen- 
rücken dem  andern  Auge  nicht  entgegentritt,  oder  es  muss  das  betref- 
fende Auge  auswärts  gerollt,  mit  der  relativ  empfindlichsten  Stelle  dem 
Objecte  zugewendet  werden.  Da  aber  jetzt  ein  sehr  starker  Impuls  auf 
den  R.  externus  ausgesendet  werden  muss,  um  den  excessiv  contrahirten 
R.  internus  zu  überwinden,  und  da  ein  solcher  Impuls  nie  auf  den  R.  ex- 
ternus allein  gehen  kann,  sondern  immer  auch  auf  den  R.  internus  des 
andern  Auges,  so  erfährt  dieser  gleichfalls  einen  stärkern  Impuls,  und  das 
früher  gerad  stehende  Auge  muss  jetzt  einwärts  schielen,  so  lange,  als 
sich  das  schielende  Auge  in  der  Visio  directa  zu  behaupten  vermag. 

Dass  diess  sich  so  verhalte,  sieht  man  bei  Paresis  des  R.  externus,  z.  B.  des  lin- 
ken Auges.  Hält  man  den  Augen  ein  Object  in  der  rechten  Hälfte  des  gemeinschaftli- 
chen Sehfeldes  vor,  so  verhält  sich  der  Kranke  in  jeder  Beziehung  wie  ein  Gesunder. 
Geht  man  aber  in  die  Medianebene,  oder  bei  sehr  geringer  InsufTicienz  des  R.  externus 
oc.  sin.  in  die  linke  Hälfte  des  gemeinschaftlichen  Sehfeldes,  so  entsteht  Doppeltsehen, 
indem  die  Cornea  des  linken  Auges  nicht  genügend  auswärts  rückt.  Verdeckt  man  nun 
das  rechte  Auge  durch  Vorschieben  der  Hand,  so  wird  das  afficirte  Auge  augenblick- 
lich so  weit  auswärts  gerollt,  dass  directes  Sehen  möglich  ist.  Der  R.  externus,  bei 
Öifnung  beider  Augen  insufficient,  erhält  jetzt  gleichsam  Kraft  genug,  das  Auge  mit  der 
Sehachse  einzustellen;  wenn  man  aber  das  rechte  Auge  hinter  der  Hand  beobachtet,  so 
findet  man,  dass  es  nicht  in  der  Visio  directa,  sondern  nach  innen  abgelenkt  steht,  ein- 
wärts schielt,  und  ist  der  Kranke  im  Stande,  das  linke  Auge  eine  Zeit  lang  in  der  Visio 
directa  zu  erhalten,  so  bleibt  das  rechte  in  der  fehlerhaften  Stellung  und  gibt  (bei  glei- 
cher Sehkraft  beider  Augen)  das  schwächere  (rechts  gelegene)  Doppelbild.  Das  Sen- 
sorium  commune,  um  das  Object  mit  dem  linken  Auge  direct  zu  sehen,  sendet  auf  den 
geschwächten  äussern  Muskel  des  linken,  unwillkürlich  aber  auch  auf  den  R.  internus 
des  rechten  Auges  einen  stärkern  Impuls.  Machen  wir  dasselbe  Experiment  in  der  rech- 
ten Gesichtshälfte  des  Kranken,  wo  von  dem  R.  externus  des  linken  Auges  keine  erhöhte 
Thätigkcit  in  Anspruch  genommen  wird,  so  tritt  in  dem  verdeckten  rechten  Auge  keine 
solche  Ablenkung  ein. 


Schielen  —  Kennzeichen.  305 

In  den  eben  erörterten  Verhältnissen  liegt  bei  sehr  vielen  Schielen- 
den der  Grund ,  dass  sie  sich  mehr  weniger  häufig  und  auf  eine  mehr 
weniger  lange  Zeit  nicht  des  gesunden ,  sondern  des  schielenden  Auges 
zum  directen  Sehen  bedienen,  sobald  die  Sehkraft  dieses  letzteren  es  ge- 
stattet. Ein  anderer  Grund  liegt  darin,  dass  das  gesunde  Auge  bei  vielen 
Schielenden  ob  der  excessiven  Contraction  des  gleichnamigen  Muskels  nur 
mit  Anstrengung  in  der  zum  directen  Sehen  nöthigen  Stellung  erhalten 
werden  kann,  daher  das  directe  Sehen  wegen  Ermüdung  des  Antagonisten 
zeitweilig  aufgeben,  und  seine  Rolle  auf  einige  Zeit  dem  andern  Auge, 
falls  diess  hiezu  lauglich  ist,  überlassen  muss.  Allerdings  wird,  wenn  der 
Kranke  eine  beliebige  Stellung  zum  Objecte  annehmen  kann,  der  Anta- 
gonist des  excessiv  contrahirten  Muskels  unterstützt  durch  die  Drehung 
des  Kopfes;  doch  ist  auch  diese  Aushilfe  nicht  unbeschränkt,  namentlich 
da,  wo  das  Object  nicht  beliebig  gestellt  werden  kann.  Von  der  Richtig- 
keit des  Gesagten  kann  man  sich  leicht  überzeugen,  wenn  man  einen 
Schielenden  zwingt,  bei  streng  normal  gehaltenem  Kopfe  einem  Objecte 
gerade  in  der  Medianebene  oder  in  der  dem  gesunden  Auge  entsprechen- 
den Hälfte  des  Gesichtsfeldes  durch  längere  Zeit  seine  Aufmerksamkeit  zu 
widmen.  Ein  drittes,  im  Ganzen  seltenes  Moment  zum  Vertauschen  der 
Rolle  des  directen  Sehens  liegt  in  der  Ungleichheit  des  Refractionszu- 
standes  der  beiden  Augen,  welche,  wie  wir  weiterhin  sehen  werden,  ent- 
weder schon  vor  dem  Schielen  bestand ,  und  als  Ursache  desselben  zu 
betrachten  sein  kann,  aber  auch  oft  genug  erst  in  Folge  des  Schielens 
entsteht  oder  doch  durch  dasselbe  vermehrt  wird.  Hier  wirkt  dann  die 
Distanz  des  Gegenstandes  der  Aufmerksamkeit,  nicht  seine  Lage  in  der 
rechten  oder  linken  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  massgebend. 

Über  das  Accommodationsvermögen  des  schielenden  Auges  kann  ich  nicht  viel  Po- 
sitives angeben,  da  ich  auf  diesen  Punkt  in  früherer  Zeit  nicht  genug  aufmerksam  war. 
Aus  dem  über  das  Verhalten  beim  gemeinschaftlichen  Sehacte  Gesagten  ergibt  sich,  dass 
sich  das  Accommodationsvermögen  bei  verschiedenen  Individuen  verschieden  verhalten 
werde.  Im  Allgemeinen  lässt  sich  wohl  sagen,  dass  mit  der  Abnahme  der  Sehkraft  des 
schielenden  Auges  wegen  mangelhafter  Übung  auch  die  Accommodationskraft  all— 
mälig  erlahme.  Wenn  man  behauptet,  in  Folge  von  Strabismus  convergens  entwickle 
sich  Myopie,  in  Folge  von  Strab.  divergens  Presbyopie,  so  habe  ich  dagegen  nur  zu 
erinnern,  dass  ich  bestimmte  Beobachtungen  habe,  wo  auswärts  Schielende  auf  beiden 
Augen  kurzsichtig  waren  (ohne  Trübung  der  durchsichtigen  Medien).  Böhm,  welcher 
dem  Verhalten  des  schielenden  Auges  in  Bezug  auf  den  Refractionszustand  zuerst  beson- 
dere Aufmerksamkeit  gewidmet  hat,  hat  sich  durch  das  Verhalten  solcher  Augen  zu  Con- 
vexgläsern  zu  der  unhaltbaren  Ansicht  verleiten  lassen,  dass  das  schielende  Auge  pres- 
byopiscb  sei,  nicht  bedenkend,  wie  A.  v.  Q-räfe  bemerkt,  dass  solche  Augen  schon  wegen 
der    gesunkenen  Energie    der  Netzhaut    durch  Convexgläser  im    Erkennen  naher  Gegen- 

Arlt»  Augenheilkunde  III,  1.  20 


306  Augenmuskeln. 

stände  unterstützt  werden  können.  Nicht  die  Stellung  des  Auges  ist  es,  welche  den 
Refractionszustand  des  abgelenkten  Auges  ändern  kann,  sondern  nur  die  Art  und  Weise, 
wie  dasselbe  noch  von  Zeit  zu  Zeit  gebraucht  wird.  Dass  Differenz  in  der  Sehweite 
beider  Augen  auch  ohne  Strabismus  und  bloss  in  Folge  fehlerhafter  Verwendung  des 
einen  und  des  andern  vorkommt,  ist  ein  eben  nicht  seltener  Fall.  —  Auch  über  den 
Einfluss  des  Schielens  auf  die  Acconunodationsthätigkeit  des  andern,  für  gewöhnlich  nicht 
schielenden  Auges,  orlaube  ich  mir  kein  bestimmtes  Urtheil,  obwohl  einige  Beobachtun- 
gen dafür  sprechen,  dass  ein  solcher  Einfluss  —  wenigstens  in  manchen  Fällen  — 
bestehe. 

Ätiologie.  Die  Entstehung  des  Schielens  fällt  meistens  in  das  Kin- 
des- und  Knabenalter.  Angeboren  kann  man  höchstens  die  Ursache,  z.  B. 
Sehschwäche,  nicht  aber  das  Schielen  selbst  nennen;  es  kann  erst  wäh- 
rend oder  nach  der  Regelung  der  associirten,  und  accommodativen  Bewe- 
gungen, also  wohl  nicht  leicht  vor  der  zweiten  Hälfte  des  ersten  Lebens- 
jahres in  Erscheinung  treten.  Seltener  entwickelt  sich  Schielen  im  Jüng- 
lings-, Mannes-  oder  Greisenalter.  —  Die  Veranlassungen  zum  Schielen 
sind  mannigfaltig.  Wir  theilen  sie  (mit  Guerin)*)  in  solche,  welche  zu- 
nächst die  Muskeln  treffen,  und  in  solche,  welche  vom  Auge,  von  Hin- 
dernissen in  der  Function  desselben  ausgehen,  und  unterscheiden  in  diesem 
Sinne  Str.  muscularis  und  Str.  opticus.  Der  Umstand,  dass  das  durch 
längere  Zeit  constant  oder  vorwaltend  häufig  abgelenkte  Auge  an  Sehkraft 
einbüsst,  macht  in  vielen  Fällen  die  Entscheidung  der  Frage  schwierig, 
in  einzelnen  selbst  unmöglich,  ob  das  abgelenkte  Auge  schon  vorher  func- 
tionsuntüehlig  war,  zumal  von  den  Kranken  als  Entstehungsursache  oft 
rein  zufällige  und    unwesentliche  Momente  bezeichnet    zu  werden  pflegen. 

Strabismus  opticus.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  erfolgt  die  Ablenkung 
des  einen  Auges  desshalb,  weil  dasselbe  dem  andern  in  der  Sehkraft  oder 
Sehweite  beträchtlich  nachsteht,  und  das  bessere  Auge  in  seiner  Function 
beirrt.  Dieser  Fall  kann  eintreten  bei  massigen  Trübungen  der  durch- 
sichtigen Medien,  bei  Amblyopie,  bei  relativer  Kurz-  oder  Weitsichtigkeit 
d^s  einen  Auges.  Wenn  unter  solchen  Umständen  das  eine  Auge  einen 
deutlichen ,  das  andere  einen  undeutlichen  Eindruck  auf  das  Sensorium 
commune  liefert,  fällt  der  Gesammteindruek  geringer  aus,  als  der  des 
bessern  Auges  allein.  Vergl.  Hornhauttrübungen,  I.  B.  S.  259 — 265.  Das 
schwächere  Auge  wird  im  Dienste  des  gemeinschaftlichen  Sehactes  abge- 
lenkt, um  dem  bessern  allein  das  Sehen  zu  überlassen.  Man  muss  anneh- 
men, dass  die  active  Ablenkung  zur  Erleichterung  der  Unterdrückung  des 
schwächeren  Eindruckes  diene.  Offenbar  wird  der  Eindruck,  den  das  von 
dem  bessern  Auge    fixirte  Object   in    dem    schwächern    Auge    hervorrufen 

*)  Gaz.   med.   de  Hans,    1841,  Nr.  6.  " 


Schielen  —  Ursachen.  307 

kann,  vermöge  der  Ablenkung-  des  Bildes  auf  eine  excentrische ,  mithin 
stumpfere  Netzhautpartie  mehr  weniger  abgeschwächt,  so  dass  es  schon 
aus  diesem  Grunde  leichter  wird,  von  ihm  zu  abstrahiren.  Es  muss  aber 
dem  Acte  der  Ablenkung  noch  ein  anderer  directer  Einfluss  auf  die  Unter- 
drückung der  Wahrnehmung  zugeschrieben  werden.  Denn  wir  sehen,  dass 
bei  passiver  Ablenkung  (luscitas)  das  Doppelbild  sich  dennoch  dem  Kran- 
ken aufdrängt,  trotzdem  das  betreffende  Netzhautbild  auf  eine  sehr  weit 
gegen  die  Peripherie  hin  gelegene  Stelle  fällt,  und  dass  selbst  bei  Monate 
langer  Dauer  dieses  Zustandes  das  Abstrahiren  von  dem  Doppelbilde  nicht 
gelingt;  hingegen  finden  wir  Fälle  von  Schielen,  wo  der  Eindruck  in  dem 
schielenden  Auge  vermöge  der  Beschaffenheit  der  durchsichtigen  Medien, 
der  allgemeinen  Energie  der  Netzhaut  und  vermöge  relativ  sehr  geringer 
Excentricität  des  Netzhautbildes  ein  sehr  lebhafter,  und  von  dem  des 
andern  Auges  bezüglich  der  Intensität  nur  wenig  verschiedener  sein 
müsste,  aber  trotzdem  —  ohne  besondere  Hilfsmittel  —  nicht  wahrge- 
nommen wird.  Bei  den  nach  oben  oder  unten  Schielenden  beträgt  die 
Ablenkung  äusserst  wenig,  nach  dem  relativen  Stande  der  Pupille  höch- 
stens 1'",  mehr  schon  (1  —  3'")  bei  den  Auswärts-schielenden;  die  höch- 
sten Grade  von  Ablenkung  kommen  beim  Einwärtsschielen  vor.  Auch  die- 
ser Umstand  zeigt,  dass  der  Grad  der  Ablenkung  allein  nicht  das  Mass- 
gebende für  die  Unterdrückung  der  Wahrnehmung  sei.  Die  Annahme, 
dass  der  Sehnerve  geknickt  oder  gedrückt  und  hiedurch  die  Unterdrückung 
des  Doppelbildes  vermittelt  werde,  ist  durch  gar  nichts  erwiesen,  hat  so- 
gar von  Seite  der  Anatomie  und  Physiologie  entschiedene  Gründe  gegen 
sich.  Wenn  wir  auch  nicht  angeben  können ,  auf  welche  Weise  es  ge- 
schehe, dass  mit  der  activen  Ablenkung  die  Unterdrückung  des  Doppel- 
bildes ipso  actu  zu  Stande  kommt,  so  darf  uns  das  doch  nicht  bestimmen, 
die  Thalsache  selbst  in  Zweifel  zu  ziehen,  oder  sogar  uns  vorzuspiegeln 
die  Schielenden  sähen,  wenigstens  anfangs,  doppelt.  Es  ist  wahr,  der  Arzt 
ist  im  Stande,  den  Schielenden  unter  Verhältnisse  zu  bringen,  wo  es  sich 
durch  die  Wahrnehmung  des  Kranken  bestätigt,  dass  beide  Netzhäute  ein 
Bild  von  je  einem  Objecte  erhalten,  i.  e.  wo  Schielende  doppelt  sehen, 
gleichwie  eines  und  das  andere  dieser  Verhältnisse  und  hiemit  auch  Dop- 
peltsehen dem  Schielenden  bisweilen  vom  Zufalle  dargeboten  werden.  Aber 
man  verdrehe  doch  die  Thatsachen  nicht,  indem  man  behauptet,  der  Schie- 
lende sehe  unter  allen  Umständen  doppelt,  müsse  doppelt  sehen,  falls  er 
darauf  achte,  und  es  könne  demnach  auch  ein  Auge  nie  zu  dem  Behüte 
der  Förderung  des  gemeinschaftlichen  Sehactes  abgelenkt  werden,  weil 
sonst  Doppellsehen,  mithin  noch  ärgere  Sehstörung  eintreten  müsste.    Eine 

20* 


308  Augenmuskeln. 

solche  Argumentation    kann  man  höchstens  jenen  vorhalten ,    welche  noch 
nicht  Gelegenheit  hatten ,    Schielen  so  zu   sagen    unter   ihren  Augen    ent- 
stehen zu  sehen.  —  Wenn  man  eine  grössere  Zahl  von  Schielenden  genau 
untersucht,  so  fällt  schon  das  auf,  dass  relativ  viele  noch  Hornhauttrübun- 
gen darbieten,    und  dass  auch    unter  den    übrigen    noch    einige  sind,    bei 
denen  es,   wo  nicht  gewiss,    so  doch  höchst  wahrscheinlich  ist,    dass  sie 
früher  an  leichten  Hornhauttrübungen  litten.     Diesem  Ergebnisse  lässt  sich 
allerdings    entgegenhalten,    dass    viele    Individuen    mit    ein-  oder   beider- 
seitigen Hornhauttrübungen    nicht     schielen.       Hier  kommen   aber  mehrere 
Umstände  in  Erwägung  zu  ziehen.      Erstens  finden  wir  oft  ein  erstaunlich 
gutes  Gesicht  bei  Hornhautflecken,  welche  andern,  ganz  gewiss  störenden, 
ganz  ähnlich  sehen.       Zweitens    kann    eine    Trübung    so  stark  sein,    dass 
sie  aufhört,    eine  Störung    für  die   Function  des  andern  Auges  zu  setzen. 
Je  stärker  die  Trübung,    desto    schwächer   die  Wahrnehmung,    desto  ge- 
ringer also  auch  die  Störung   für  die    Function  des    andern  Auges.     Viele 
Trübungen  sind  anfangs  so  in  -  und  extensiv,  dass  sie  gar  keine  oder  nur 
sehr  schwache  Wahrnehmungen    zu    Stande   kommen    lassen ;    werden    sie 
auch  mit  der  Zeit  kleiner  und  dünner,  so  geschieht  diess  so  allmälig,  dass 
das  Auge   längst    vom    gemeinschaftlichen  Gebrauche    ausgeschlossen   und 
amblyopisch    geworden    sein    kann,    wenn    endlich   die    Cornea    die  Theil- 
nahme  am  Sehen  wieder  gestatten  würde.     Andrerseits  ist  nicht  zu  über- 
sehen, dass  bei  Schielenden  mit  bedeutender,    selbst  undurchsichtiger  und 
ausgedehnter  Hornhauttrübung    das   Schielen    trotzdem    von    der    Hornhaut 
aus  veranlasst  worden  sein  kann,  indem  anfangs  nur  leichte  Trübung  oder 
Facettirung  durch  längere  Zeit  bestand.      Drittens  muss  die  Beschäftigung 
die  Gebrauchsweise  der  Augen ,    während  der    ersten  Zeit    des    Bestandes 
solcher  halbdurchsichtiger  Trübungen  berücksichtigt  werden.      Es  ist  klar, 
dass  sie  nur  dann  störend    auf  die  Function  des  andern  Auges  einwirken, 
wenn  sich's  um  deutliches    Erkennen    feiner  oder   aber   entfernter  Objecte 
handelt.     Desshalb  kommt  auch  Schielen  im  1.  Lebensjahre  so  selten  vor, 
und  auch  da  nur  in  der  2.  Hälfte.   Desshalb  schielen  auch  viele  nur  dann, 
wenn  sie  etwas  genauer   sehen  wollen,  besonders  in  der  ersten  Zeit.    Dess- 
halb   kann    man  auch    in    solchen    Fällen    die    Entwicklung  oder  doch  das 
Bleibendwerden    des    Schielens  verhindern,    wenn    man  die    Kinder  fleissig 
in's  Freie  bringen,  nicht  mit  winzigen  Suchen  spielen,    nicht  lesen  lernen 
u.  s.  w.  lässt,    bis  solche  Trübungen  behoben    oder  bis  die  Sehachsen  zu 
einander  in  ein  festeres  Verhältniss    getreten  sind.       Denn  es  ist  viertens 
nicht  zu  verkennen,  dass  dieselbe  Veranlassung  bei  Erwachsenen  nicht  so 
leicht  zu  Schielen  führt,    als  bei  Kindern.       Es  ist  bekannt,    dass    Kinder 


Schielen—  Ursachen.  309 

leichter  willkürlieh  schielen  können,  als  Erwachsene.  Gleichwie  dem 
AVillen,  ist  auch^später  der  von  der  Netzhaut  und  dem  Sensorium  com- 
mune angeregten  Reflexthätigkeit  ein  geringerer  Einiluss  auf  die  Abände- 
rung in  der  Stellung  der  Augen  zu  einander  gestattet.  An  diese  That- 
sache  schliesst  sich  auch  die  analoge  an,  dass  bei  Kindern  leicht  Schielen 
durch  unwillkürliches  Nachahmen  zu  Stande  kommt,  was  bei  Erwachsenen 
nicht  der  Fall  ist.  Der  fünfte  Punkt  endlich,  der  hier  in  Erwägung  zu 
ziehen  kommt,  ist  der,  dass  die  Ablenkung  des  störenden  Auges  nicht  das 
einzige  Hilfsmittel  ist,  welches  dem  Organismus  zu  Gebote  steht,  um  den 
störenden  Einfluss  zu  beseitigen,  sondern  dass  wir  auch  ganz  einfach  von 
demselben  abstrahiren  lernen  können.  Das  schwächere  Auge  folgt  dann 
dem  bessern  in  allen  seinen  Bewegungen  entsprechend,  nimmt  aber  doch 
keine  Notiz  von  dem  fixirten  Objecte.  Demgemäss  gibt  es  viele  Indivi- 
duen mit  ungleicher  Sehkraft  beider  Augen,  denen  man  nicht  das  Ge- 
ringste ihres  Zustandes  anmerkt ,  welche  wohl  selbst  auch  sich  desselben 
gar  nicht  bewusst  sind,  welche  aber  ganz  gewiss  zu  feinern  Arbeiten, 
zum  genauen  und  scharfen  Sehen,  sich  nur  des  einen  Auges  bedienen. 
Hievon  kann  man  sich  leicht  überzeugen,  wenn  man  findet,  dass  sie,  wäh- 
rend sie  z.  B.  lesen,  durch  plötzliches  Vorschieben  der  flachen  Hand  vor 
das  bessere  Auge  einen  Augenblick  unterbrochen  werden ,  bis  sich  das 
schwächere  Auge  etwas  genauer  mit  der  Sehachse  einstellt.  Es  ist  näm- 
lich bei  vielen  solchen  Individuen  das  schwächere  Auge  zwar  nicht  merk- 
lich abgelenkt,  aber  doch  auch  —  wie  die  momentane,  wenn  auch  äusserst 
geringe  Änderung  seiner  Stellung  zeigt,  nicht  ganz  genau  mit  seiner  Seh- 
achse eingestellt,  oder,  wie  die  momentane  Unterbrechung  im  Sehacte 
zeigt,  nicht  für  dieselbe  Distanz  eingerichtet,  also  wohl  am  genauem  Sehen 
nicht  direct  betheiligt  gewesen.  Wenn  man  dasselbe  Experiment  bei  In- 
dividuen mit  völlig  oder  nahezu  gleicher  Seh-  und  Accommodationskraft 
beider  Augen  vornimmt,  so  bemerkt  man  nichts  von  einer  solchen  mo- 
mentanen Unterbrechung  des  Sehactes  oder  von  Abänderung  in  der  Stel- 
lung des  frei  bleibenden  Auges.  —  Dass  es  unter  den  Individuen  mit  un- 
gleicher Sehkraft  und  Sehweite  beider  Augen  einige  gibt,  welche  mit  dem 
bessern  Auge  besser  sehen,  wenn  auch  das  schwächere  geöffnet  ist,  kann 
nicht  als  Einwurf  gegen  die  obige  Behauptung  dienen.  Es  ist  gewiss,  dass 
das  Sensorium  stärker  angeregt  wird,  wenn  Licht  durch  zwei,  als  wenn 
es  bloss  durch  ein  Auge  einwirkt.  Bei  sehr  grellem  Lichte,  z.  B.  Sehen 
gegen  die  untergehende  Sonne  oder  in  einen  Hochofen ,  temperiren  wir 
die  Erregung  sogar  unwillkürlich  durch  Verschluss  des  einen  Auges.  Wenn 
wir  also  finden,    dass    das  Öffnen   des    schwächern  Auges  das  Sehen    des 


3 1 0  Augenmuskeln. 

bessern  unterstützt,  so  muss  jedenfalls  dabei  auf  den  Grad  der  Beleuch- 
tung Rücksicht  genommen  werden,  und  ist  schon  a  priori  wahrscheinlich, 
dass  es  Verhältnisse  gibt,  wo  der  Function  des  bessern  Auges  die  stär- 
kere Erregung  des  Sens.  commune  durch  das  Einfallen  des  Lichtes  von 
dem  schwächern  Auge  her  zu  Guten  kommt.  —  Bei  all  dem  bleibt  es 
Thatsache,  dass  bei  weitem  die  meisten  Individuen  mit  frischen  (noch  nicht 
seit  langer  Zeit  bestehenden)  leichten  Trübungen  der  Hornhaut  oder  der 
Linse  sich  über  Blendung  des  gesunden  Auges  durch  das  kranke  bekla- 
gen; auch  bei  älteren  Trübungen  gilt  diess  von  einer  relativ  grossen, 
wenn  auch  vielleicht  nicht  von  der  Mehrzahl.  Blendung  durch  das  diffuse 
Licht  solcher  Trübungen  kann  es  nicht  sein,  denn  ganz  in  derselben  Weise 
beklagen  sich  auch  jene,  deren  Sehkraft  auf  dem  einen  Auge  in  Folge 
von  Netzhautleiden  geschwächt  ist,  auch  wenn  die  Amblyopie  ohne  ge- 
steigerte Empfindlichkeit  des  kranken  Auges  besteht.  —  Sind  die  voran- 
stehenden Sätze  richtig,  so  ist  Schielen  sehr  häufig  die  Folge  von  Trü- 
bung der  durchsichtigen  Medien,  von  Amblyopie  oder  relativer  Kurz- 
oder Weitsichtigkeit  des  Auges;  es  ist  eine  Reflexbewegung ,  im  Dienste 
des  Sehactes  hervorgerufen;  das  schwächere  Auge  wird  abgelenkt  und 
hiemit  von  der  unmittelbaren  Betheiligung  am  directen  Sehen  ausge- 
schlossen ,  damit  das  Sehen  mit  dem  gesunden  Auge  besser  von  statten 
gehen  könne. 

Die  eben  aufgestellte  Ansicht  über  die  Entstehung  des  Schielens  ist  nicht  neu.  Sie 
wurde  der  Hauptsache  nach  bereits  von  Buffon  vertreten.  „Nach  Buffon*)  erzeugt  die 
Ungleichheit  der  Augen  in  8  Fallen  im  Durchschnitte  dreimal  Strabismus.  Da  alsdann 
der  Eindruck  auf  das  eine  Auge  beträchtlich  schwächer  ist,  als  auf  dein  andern,  so  kann 
er  leicht  gänzlich  vernachlässigt  werden,  und  statt  dass  das  schwächere  Auge  auf  die 
Gegenstände,  welche  sich  ihm  darbieten,  fixirt  sein  sollte,  schweift  es  umher  und  weicht 
von  der  richtigen  Sehachse  ab.  In  manchen  Fällen  scheint  sogar  ein  ins tinc (massiges  Be- 
streben vorhanden  zu  sein,  das  schwache  Auge  noch  viel  weiter  zu  verdrehen,  und  es  so 
weit  nach  einwärts  nnter  das  obere  Augenlid  zu  wenden,  dass  es  keinen  Eindruck  mehr 
empfangen  kann,  und  dass  desshalb  das  gesunde  Auge  allein  noch  Eindrücke  aufnimmt." 
(Makenzie  1.  c.  S.  244.)  Enthält  auch  diese  Anschauung  noch  manches  Inthümliche,  so 
hat  sie  doch  nach  unserer  Ansicht  die  Hauptsache  angedeutet,  nur  nicht  richtig  forniulirt. 
Was  von  Makenzie  als  instinetmässiges  Bestreben  bezeichnet  wird,  ist  die  Zweckmässig- 
keit der  reflectirten  Bewegungen,  welche  nach  uns  unbekannten  Gesetzen  erfolgen, 
sobald  es  sich  darum  handelt,  Hindernisse  einer  Function  zu  beseitigen  oder  möglichst 
unschädlich  zu  machen,  und  welche  uns  am  Auge  nicht  minder  in  Staunen  zu  versetzen 
im  Stande  sind,  wie  in  andern  Organen.  Ich  sah  einen  Kranken,  dem  linkerseits  das 
obere  Lid  fehlte,  jedesmal  beim  Lidschluss  den  linken  Bulbus  abwärts  rollen  und  die 
Hornhaut  unter  dem  untern  Lide  bergen,  während  das  rechte  Auge  mit  normalen  Lidern 

")  Dissertation   Mir  la   cause  du   slraiusme.      Memoire«    de    l'andfmie    de«  sci»uces  pour   1713.     Ainstrrdjiu    1*43. 


Schielen  —  Ursachen.  31) 

sich  ganz  normal  verhielt,  i.  e.  beim  Lidschiusa  sich  mit  der  Pupille  nach  oben  —  innen 
stellte.     Diese  gegen  alle  Gewohnheil  vorkommende  Rollung,    noch  dazu  der  des  andern 
Bulbus  entgegengesetzt,  die  kein    Mensch  sonst    zu  Stande  bringen  würde  ;   sie  war   un- 
willkürlich erfolgt,  sei  es,  um  dem  Lichte    den  Zutritt  während  des  Schlafes  zu  wehren, 
oder    um  beim  Lidschlage    die  Cornea    rein  zu   fegen  und    zu  benetzen,    und  somit    vor 
Trübung  und  Zerstörung  zu  sichern.     Es  ist  diess  derselbe  Kranke,  den  ich  zur  Aufl'an- 
gung  des  Secretes    der  Thränendrüse  —  ohne  Beimischung    von  Bindehautsecret  —  be- 
nützt habe,  und  dessen  ich  bei  den  Krankheiten  der  Thriinenorgane  noch  gedenken  werde. 
Einen  ähnlichen   Fall  erzählt  A.  v.  Gräfe  (im  Archive  für  Ophthalmologie  I.  B.  IL  Abth. 
S.  290).  —  Ich  bekam  diese  Tage  zufällig  Gelegenheit,  einen  Mann  zu  untersuchen,  wel- 
cher mich  durch  die  Zweckmässigkeit  reflectirter  Bewegungen  der  untern  Lider  in  Stau- 
nen versetzte.     Er  hatte    in  früher    Jugend  an    Augenenlzündungen  gelitten,  und   bot  in 
Folge    derselben  auf  beiden  Augen    leichte  Hornhauttrübungen    dar,  welche    meine  Auf- 
merksamkeit   erregten,  als  er  mir  einen  Kranken   vorführte.     Die  Trübungen  waren  halb 
durchsichtig  und  bedeckten  beiderseits  ohngefähr  die  untere  Hälfte  der  1 '/2 — 1'"  grossen 
Pupillen.     Meine    Frage,  wie    er  sehe,    beantwortete  er  damit,    dass  er,  bereits  45  Jahre 
alt,    noch  immer    gut  zeichnen    und  graviren  könne,   und  auch  so   ziemlich  in  die  Ferne 
sehe.     Als  ich   nun  Sehproben  mit  den  Jäger  sehen    Schriftmustern  vornahm,  und  ihn  zu 
immer    feineren  Drucksorten    übergehen  Hess,    erhob  er    die  untern  Lider  so  weit  in  die 
Höhe,  dass  sie    die  Trübung  fast  ganz  verdeckten,  was   besonders  dann  auffiel,  wenn  er 
das  Buch  über  der  Horizontalen  halten   musste.     Was  sonst  kein  Mensch  bei  allem  Auf- 
wände   von  Fleiss   und  Anstrengung    zu  bewirken    im  Stande    sein  würde,   war  hier  im 
Dienste  des  Sehactes,  um  die  Blendung  durch  die  Hornhauttrübungen  zu  beseitigen,  von 
selbst   eingetreten.  —  In    neuerer  Zeit  hat  besonders  Böhm    auf  eine  sehr  einleuchtende 
Weise  nachgewiesen,  dass  die  Ungleichheit   des  Eindruckes,  i.  e.  die  Störung  der  Func- 
tion des  bessern  Auges  durch  das  schwächere  es  ist,  welche  die  Ablenkung  des  schwä- 
cheren Auges  bedingt,  indem  er  zeigte,  dass  durch  Vorhalten  eines  entsprechend  getrüb- 
ten   (blauen)  Planglases  vor  das    gesunde  Auge,  also    gleichsam  durch  Ausgleichung  der 
Sehkraft    beider  Augen  das  Schielen  behoben    werden  kann,  wenn  die  consecutive  Mus- 
kelerkrankung  noch    nicht    weit    gediehen   ist.     Bekanntlich    hatte  Buffon    zu  demselben 
Zwecke  ein  Convex-  oder  Concavglas  vor.  dem  gesunden  Auge  tragen  zu  lassen  empfohlen. 
Die  Ablenkung  des  schwächern  Auges  von  dem  Gegenstande,   welchen  das  stärkere 
fixirt,   ist  zunächst   nur  eine    gegen  die    gewöhnlichen  Gesetze    der  Muskelthätigkeit  auf- 
tretende  Reflexaction.     Sie   erfolgt  vorerst   nur  dann,    wenn  es  sich   um  Erreichung  des 
Zweckes    handelt,  tritt    aber  späterhin    meistens  permanent    auf,  d.  h.    auch  dann,  wenn 
sie  nicht  nothwendig  wäre.     Sie  erfolgt  nach   jener  Richtung,  wo  der  Zweck  am  leich- 
testen erreicht  wird.    Fast  alle  Fälle  von  Str.  opticus,  welche  aus  früher  Jugend  datiren, 
zeigen    Convergenz,    die   später     entstandenen    (namentlich    bei    Erwachsenen)    dagegen 
Divergenz ,    ausser    die    von    Sehstörung    des    einen    Auges    Befallenen   sind    kurzsichtig 
oder  beschäftigen  sich  vorwaltend  mit    der  Betrachtung  naher  Objecte.     Dass  das  diver- 
girende     Schielen     eines     contraetös     oder    amblyopisch    werdenden    Auges     aus    einer 
Art  Vernachlässigung,    aus  einem    gewissen  Gehenlassen   des  schwächern  Auges  hervor- 
gehen könne,  halte  ich  für  unwahrscheinlich,     Die  Kranken  müssten  eine  Zeit  lang  dop- 
pelt sehen,  wovon  selbst  Aufmerksame  und  Verständige  nichts  bemerken.    Zwischen  dem 
Blick  eines  Schielenden  und  eines  Cataractösen    oder  Amaurotischen  ist  ein  grosser  Un- 
terschied.    Wenn    letztere  nicht  fixiren  können,    in's  Unbestimmte  hinausstarren,  und  da- 


312  Augenmuskeln. 

her  die  Sehachsen  in  keinem  Punkte  zur  Kreuzung  bringen,  so  ist  diess  noch  kein  Schie- 
len. Leute,  welche  beiderseits  Cataracta  oder  Amaurosis  darbieten,  können  trotzdem 
noch  die  Sehachsen  in  dem  eigenen  Finger,  in  verschiedenen  Entfernungen  vorgehalten, 
sich  kreuzen  lassen,  was  Schielende  nicht  vermögen.  Man  kann  nur  dann  sagen,  ein 
unilateral  Cataractöser  oder  Amblyopischer  schiele,  wenn  das  gesunde  Auge  abgelenkt 
wird,  sobald  dasselbe  durch  die  vorgeschobene  Hand  verdeckt  und  somit  das  an  Amblyo- 
pie oder  unvollständiger  Cataracta  leidende  Auge  gezwungen  wird,  sich  dem  Sehobjecte 
gerade  gegenüber  zu  stellen.  —  Dass  nur  gewisse  Grade  von  Schwäche  des  einen  Au- 
ges zu  Strabismus  führen,  hat  schon  Makenzie  (1.  c.  S.  243)  bemerkt.  „Die  häufigste 
Ursache  von  Strabismus  scheint  unvollkommenes  Gesicht  (wegen  Kurzsichtigkeit  oder 
wegen  eines  angeborenen  Fehlers  der  Retina)  zu  sein.  Das  verdrehte  Auge  steht  fast 
in  jedem  Fall  an  Reizempfänglichkeit  dem  andern  beträchtlich  nach.  Ich  bediene  mich 
des  Wortes  beträchtlich,  weil  man  viele  Individuen  trifft,  deren  Augen  nur  etwas  un- 
gleich sind,  und  die  nicht  schielen,  dagegen  auch  wieder  andere,  welche  von  Geburt 
an  eine  vollständige,  oder  fast  vollständige  Amaurosis  des  einen  Auges  ghabt  haben, 
und  doch  ganz  frei  von  Strabismus  sind."  In  dem  einen  Falle  ist  die  Differenz  in  der 
Erregung  zu  gering,  in  dem  andern  zu  bedeutend,  als  dass  sich  die  schwächere  neben 
der  stärkern  geltend  machen  könnte.  Man  sieht  aber  leicht  ein,  dass  es  hiebei  auch  auf 
die  Verwendung  der  Augen  ankommt.  So  lange  nicht  scharfe  Bilder  gefordert  werden, 
gibt  die  schwächere  Erregung  keinen  Grund  zur  Ablenkung,  ja  es  kann  das  Schielen  so- 
gar auf  Kosten  der  Deutlichkeit  noch  vermieden  werden,  wenn  nicht  bereits  habituelle 
Contraction  oder  förmliche  Contractur  des  ablenkenden  Muskels  eingetreten  ist.  —  Sehr 
geeignet,  dieses  Verhältniss  klar  darzustellen,  sind  Fälle  von  Schielen,  wo  das  eine  Auge 
merklich  kurz-,  das  andere  weitsichtig  ist.  Solche  Individuen  lenken  beim  Betrachten 
naher  Gegenstände,  z.  B.  beim  Lesen  das  weit-,  beim  Blick  in  die  Ferne  dagegen  das 
kurzsichtige  Auge  ab.  Die  Ablenkung  erfolgt  bei  der  Mehrzahl  nach  innen,  seltener  nach 
aussen,  vielleicht  desshalb,  weil  der  Zustand  meistens  aus  früher  Jugend  datirt.  Es  gibt 
aber  darunter  einige,  welche  bei  mittleren  Distanzen  nicht  schielen,  sondern  beide  Augen 
richtig  einstellen  und  zugleich  zum  Fixiren  verwenden.  Sehr  bestimmt  konnte  ich  mich 
von  diesem  Vorkommen  bei  einem  Mitschüler  überzeugen,  den  ich  vom  Gymnasium  her 
als  einwärts  schielend  kannte.  Ich  traf  ihn  zu  einer  Zeit,  wo  ich  mich  ganz  besonders 
für  die  Schieloperation  interessirte,  auf  der  Gasse,  und  meinte  während  der  Unterredung 
mit  ihm,  er  habe  sich  operiren  lassen,  denn  er  bot  keine  Spur  von  Schielen  dar.  Er 
war  aber  über  meine  Frage  verwundert,  und  erklärte  mir,  dass  er  noch  immer  schiele, 
aber  nur  manchmal.  Sehproben  an  nahen  und  fernen  Objecten  stellten  nun  klar  heraus, 
dass  er  nur  beim  Sehen  auf  Objecte  von  mittlerer  Entfernung  nicht  schielte,  dagegen 
schielen  musste,  wenn  er  den  Stand  der  Zeiger  auf  meiner  Taschen-  oder  auf  der  ge- 
rade in  der  Nähe  befindlichen  Thurmuhr  angeben  sollte,  u.  dgl.  Weitere  Versuche 
ergaben,  dass  das  eine  Auge  massig  kurz-,  das  andere  weitsichtig  war.  —  Zur  weitern 
Erörterung  und  Nachweisung  der  vorstehenden  Behauptungen  mögen  noch  folgende  Be- 
obachtungen dienen. 

Ein  Mädchen,  das  ich  zufällig  traf,  klagte,  dass  ihr  beim  Nähen  oder  Lesen  die 
Augen  leicht  ermüden,  so  dass  sie  niemals  lange  arbeiten  könne  ;  wolle  sie  aber  einen 
feineren  Druck  lesen,  oder  z.  B.  eine  Nadel  einfädeln,  so  müsse  sie  schielen,  das  rechte 
Auge  nach  innen  ablenken,  obwohl  sie  ausserdem  einen  ganz  geraden  Blick  hat.  Sie 
konnte  in  meiner  Gegenwart  auch  mit  richtig  gestellten  Augen  mittlem  Druck  (1'"  hoch) 


Schielen  — Ursachen  —  Beispiele.  313 

lesen  ;  dabei  verwirrten  sich  ihr  aber  die  Buchstaben  bald  durch  einander,  so  dass  sie 
entweder  aufhören  oder  das  rechte  Auge  ablenken  musste.  Während  sie  auf  dem  linken 
Auge  sich  einer  sehr  guten  Sehkraft  erfreut,  vermag  sie  mit  dem  rechten  allein  nur  einen 
2'"  hohen  Druck  zu  lesen.  Sie  ist  weder  kurz-  noch  weitsichtig ;  man  bemerkt  sonst 
nichts  Abnormes  an  ihren  Augen;  über  die  Entstehung  weiss  sie  nichts  Verlässliches  an- 
zugeben, da  das  Übel  seit  früher  Jugend  besteht. 

Th.  R.  wurde  1842  von  mir  an  Strab.  converg.  oc.  sin.  operirt,  und  durch  die 
Durchschneidung  beider  Recti  interni  so  geheilt,  dass  die  Augen  ihre  normale  Beweg- 
lichkeit behielten  und  bei  allen  Richtungen  gehörig  standen.  Aber  sie  vermochte  Monate 
lang  nicht  anhaltend  zu  nähen  oder  zu  lesen,  die  Augen  fingen  an  zu  thränen,  die  Buch- 
staben verwirrten  sich,  und  in  der  Superorbitalgegend  traten  drückende  Schmerzen  ein. 
Später  verlor  sich  diess,  aber  die  Kranke  sah  manchmal  entfernte  Gegenstände  doppelt, 
und  die  Mutter  bemerkte,  dass  das  Mädchen  beim  Arbeiten  wieder  etwas  schielte.  Die 
Untersuchung  ergab,  dass  sie  bald  ein-  bald  auswärts  schielte,  und  zwar  mit  dem  lin- 
ken Auge,  an  dessen  Cornea  ich  jetzt  eine  leichte  Trübung  von  der  Pupille  (die  Folge 
einer  scrofulösen  Augenentzündung)  bemerkte.  Wenn  sie  einen  entfernten  Gegenstand 
genauer  sehen  wollte,  erschien  das  mattere  Bild  links,  beim  Betrachten  eines  nahen  Ob- 
jeetes  dagegen  rechts;  für  gewöhnlich  aber,  wenn  man  mit  ihr  sprach,  schielte  sie  nicht. 

Ein  Candidat  der  Medicin,  auf  dem  rechten  Auge  kurz-,  auf  dem  linken  weitsichtig, 
und  dem  gemäss  alternirend  auswärts  schielend,  war  desswegen  von  einem  Arzte  ope- 
rirt worden,  doch  ohne  Erfolg.  Ich  rieth  ihm  die  Sehweite  durch  entsprechende  Gläser- 
für mittlere  Distanzen  auszugleichen  und  dann  sich  zu  bemühen,  mit  beiden  Augen  die 
Objecte  zu  fixiren  (nach  Jurin's  Methode — s.  weiter  unten).  Durch  Beharrlichkeit  hierin 
hatte  er  es  nach  mehreren  Monaten  so  weit  gebracht,  dass  er  mit  beiden  Augen  zugleich 
lesen  konnte,  aber  er  sah  dann  nicht  so  gut,  als  wenn  er  eines  der  Augen  allein  be- 
nützte und  das  andere  ein  wenig  (kaum  merklich)  abweichen  Hess.  Am  26.  März  1843, 
anderthalb  Jahre  nach  der  Operation,  nolirte  ich  folgenden  Zustand.  Die  Differenz  in  der 
Sehweite  scheint  geringer  zu  sein,  als  früher.  (Ich  habe  leider  weder  die  Nahe-  und 
Fernpunkte,  noch  die  Brennweite  der  Gläser  verzeichnet.)  „Lasse  ich  ihn  die  Augen- 
gläser ablegen,  die  er  seit  Ertheilung  meines  Rathes  auf  der  Gasse  zu  tragen  pflegt,  so 
kann  er  in  der  Eutfernung  von  8"  Druck  von  nicht  ganz  l'"Höhe  nicht  lesen,  so  lange 
er  (wie  ich  sehe  und  er  selbst  angibt)  die  Sehachsen  im  Objecte  sich  kreuzen  lässt;  !er 
kann  aber  sogleich  lesen,  wenn  er  entweder  die  linke  Pupille  etwas  über  l\"'  aus- 
wärts ablenkt  oder  aber  die  rechte  beiläufig  %'".  Liest  er  mit  dem  linken  Auge,  so 
sieht  er  viel  deutlicher,  wenn  er  das  rechte  Auge  circa  1%'",  als  wenn  er  es  nur  etwa 
%'"  ablenkt;  bei  dieser  Ablenkung  geht  die  rechte  Pupille  nach  aussen  —  oben.  Zur 
Fixirung  ferner  Gegenstände  kann  nur  das  linke  Auge  verwendet  werden,  indem  dabei 
das  rechte  jederzeit  noch  um  beiläufig  '/2'"  auswärts  gelenkt  wird.  Wird  aber  vor  das 
rechte  Auge  ein  Concavglas  (von  16  —  20")  vorgehalten,  so  kann  er  mit  diesem  Auge 
auch  ferne  Objecte  fixiren,  muss  aber,  um  sie  deutlich  zu  sehen,  das  linke  noch  gegen 
1/.i'"  ablenken ;  mit  beiden  Augen  zugleich  kann  er  ferne  Gegenstände  auch  bei  Armi- 
rung  des  rechten  mit  dem  Concavglase  nicht  deutlich  sehen."  Bei  einer  spätem  Unter- 
suchung machte  derselbe  die  Bemerkung,  dass  wenn  er  eine  Zeit  lang  mit  beiden  Augen 
zugleich  gelesen,  was  er  nur  mit  Anstrengung  und  auf  Kosten  der  Deutlichkeit  konnte, 
zunächst  neben  dem  wahren  Bilde  ein  Schattenbild  auftrete,  welches  erst  langsam,  dann 
aber    mit  beschleunigter  Geschwindigkeit  wegrückt,    um    endlich  plötzlich  zu  verschwin- 


314  Augenmuskeln. 

den;  nun  wusste  er,  dass  er  wieder  schiele,  indem  er  wieder  ganz  deutlich  —  mit  dem 
linken  Auge  allein  sah.  Die  Geschwindigkeit  des  Auseinanderweichens  der  Doppelbilder 
verglich  er  mit  der  Geschwindigkeit  der  Annäherung  einer  Luftblase  auf  einer  Flüssig- 
keit nahe  am  Rande  des  Gefässes,  die  sich  erst  ganz  allmälig,  dann  aber  in  raschem 
Fluge  demselben  nähert  und  verschwindet.  Sobald  er  die  dem  Schielen  entgegenstre- 
bende Anstrengung  aufgeben  musste ,  verschwand  die  Undeutlichkeit  und  ein  Moment 
darauf  das  Doppelbild. 

Am  8.  Juni  1841  operirte  ich  einen  Candidaten  der  Rechtswissenschaft*)  wegen 
Strab.  conv.  des  linken  Auges,  mit  welchem  er  kleineren  Druck  nicht  lesen  konnte.  Die 
Ablenkung  betrug  gegen  3'";  er  war  etwas  kurzsichtig  und  schielte,  gleich  seiner  Schwe- 
ster, ohne  bekannte  Veranlassung  von  Jugend  auf.  Die  Muskeldurschneidnng  wurde 
beiderseits  vorgenommen,  am  linken  Auge  mit  etwas  stärkerer  Lösung.  Unmittelb;ir  darauf 
entstand  leichte  Divergenz;  der  Kranke  sah  rechts  vor  dem  vorgehaltenen  Objecte  ein 
zweites  minder  deutliches,  dem  linken  Auge  angehörend.  Nach  Vernarbung  der  Wunden 
wich  das  linke  Auge  sogar  wieder  ein  wenig  einwärts  ab.  Fleissige  Übung  im  Fern- 
sehen behob  diesen  Übelstand  in  Kurzem.  Ende  Juni  waren  die  Wunden  ganz  vernarbt, 
die  Beweglichkeit  und  Stellung  beider  Augen  ganz  normal ;  nur  zu  lesen  vermochte  der 
Pat.  noch  nicht  mit  beiden  Augen,  weil  ihm  immer  über  der  wahren  eine  Schattenzeile 
schwebte,  welche  jene  zum  Theil  verdeckte.  Ich  rieth  dem  Kranken  auf's  Land  zu  ge- 
hen, viel  in  die  Ferne  zu  schauen,  und  vorzugsweise  das  linke  Ange  zu  üben.  Anfang 
August  fand  ich  eine  geringe  Abweichung  des  rechten  Auges  nach  aussen,  aber  nur  dann, 
wenn  der  Pat.  mit  dem  linken  deutlich  sehen  wollte ;  hingegen  stellte  sich  das  linke  etwas  ein- 
wärts, wenn  das  rechte  einen  feinern  Gegenstand  fixirte ;  geschah  das  Fixiren  mit  bei- 
den Augen  —  was  dem  Pat.  bei  einiger  Bemühung  möglich  war  —so  war  der  Gesannnt- 
eindruck  weniger  deutlich  wegen  eines  über  und  neben ,  und  zum  Theil  auch  auf  dem 
deutlichen  Bilde  schwebenden  Schattenbildes.  Die  linke  Pupille  stand  ein  wenig  höher, 
als  die  rechte  (das  Schielen  hatte  eigentlich  nach  innen  —  oben  stattgefunden)  ;  die 
Augen  waren  nach  allen  Seiten  frei  beweglich  und  die  Sehkraft  des  linken  um  Vieles 
verbessert.  Anfang  März  1843  notirte  ich  folgenden  Befund  :**)  „Im  gewöhnlichen  Zu- 
stande erkennt  man  jetzt  an  der  relativen  Stellung  der  Augen  kein  Schielen,  aber  man 
muss  wenigstens  einen  geringen  Grad  supponiren,  weil  er  doppelt  sieht,  und  zwar  er- 
scheint das  mattere,  dem  linken  Auge  angehörende  Bild  rechts  von  dem  deutlichen  (also 
Divergenz  des  linken  Auges).  Der  Kranke  wird  aber  von  demselben  jetzt  nicht  mehr 
belästigt,  wenigstens  im  Arbeiten  nicht  mehr  behindert,  da  er  das  Schattenbild  nur  dann 
wahrnimmt,  wenn  er  seine  Aufmerksamkeit  darauf  lenkt.  Je  ferner  der  fixirte  Gegen- 
stand liegt,  und  je  weniger  der  Kranke  sich  bemüht,  denselben  genau  zu  sehen,  desto 
weiter  treten  die  beiden  Bilder  auseinander.  Bemüht  er  sich,  einen  nahen  Gegenstand, 
z.  B.  ein  Wort,  eine  Ziffer,  getiau  zu  sehen,  so  sieht  er  auch  doppelt,  aber  dann  liegt 
das  dem  linken  Auge  angehörende  Bild  lins  von  dem  deutlichen  (des  rechten  Auges). 
Er  zeichnete  mir  bei  diesen  Versuchen  Folgendes  auf:  909090.  Liest  er  die  Zahl  90  so, 
wie  er  gewöhnlich  zu  lesen  pflegt,  so  erscheint  noch  ein  undeutlicher  90,  ein  Schatten- 
bild rechts  —  oben  von  dem  wirklichen;    beim    genaueren    Betrachten  aber  erscheint  es 


*)  Beiträge  zur  Lehre  vom  Schielen  und    Messen    Heilung  durch    den    Muskelschnitl  von  Dr.  Arlt,    medic.   Jahrb.   de» 

österr.  Staates,  1842,   ».,  2.,  3.    Heft. 
*')  Vergl.  Präger  Vieilelj.ihrschnft,  IV.  Band,  S.  H5 


Schielen  —  Ursachen  —  Beispiele.  315 

links  —  oben,  und  bei  einem  mittleren  Grade  von  Anstrengung  füllt  es  auf  das  deut- 
liehe, doch  so,  dass  es  dieses  nur  zum  Theile  deckt,  indem  es  blos  etwas  höher  steht. 
Beim  Übergange  vom  gewöhnlichen  zum  aufmerksamen  Betrachten,  wo  also  das  Schatten- 
bild von  rechts  nach  links  rückt,  sehe  ich  —  bei  unveränderter  Lage  des  Buches —  die 
linke  Pupille  deutlich  von  aussen  nach  innen  rücken.  Das  Höherstehen  des  matteren 
Bildes,  seine  Distanz  von  dem  deutlichen  in  verticaler  Richtung,  ist  bedeutender,  wenn 
er  aufwärts  gelegene  Gegenstände  betrachtet,  geringer,  wenn  er  nach  unten  befindliche 
Objecte  ansieht,  wird  also  durch  übermässige  Contraction  des  M.  rectus  superior  bewirkt. 
Wäre  diese  Complication  mit  Strab.  sursum  vergens  nicht  vorhanden,  so  musste  bei  mitt- 
lerer Intention  das  matte  Bild  mit  dem  deutlichen  congruiren,  mithin  die  Perception  mit 
beiden  Augen  minder  klar  und  deutlich  als  mit  dem  bessern  Auge  allein  sein.  Wir  sahen 
diess  in  dem  vorhergehenden  Falle;  wenn  sich  die  Bilder  ganz  decken,  kann  sie  der 
Kranke  nicht  mehr  als  zwei,  sondern  nur  als  eins  wahrnehmen. 

Ein  31ädchen,  bei  welchem  in  Folge  acuter  Bindehautblennorrhöe  ein  durchbohren- 
des, jedoch  ohne  Synechie  wieder  vernarbendes  Hornhautgeschwür  am  rechten  Auge 
entstanden  war,  fing  an,  mit  diesem  Auge  auswärts  zu  schielen  während  der  Zeit,  als 
das  grösstentheils  vor  der  Pupille  sitzende,  flacher  und  rein  gewordene,  mithin  das  Ge- 
sicht nur  wenig  störende  Geschwür  allmälig  vernarbte.  Wer  die  Kranke  nach  vollende- 
ter Vernarbung  sieht,  findet  die  Pupille  bis  auf  einen  nach  innen  und  oben  befindlichen 
kleinen  Theil  verdeckt  durch  eine  beinahe  ganz  undurchsichtige  Narbe,  zu  welcher  ein 
Flügelfell  vom  innern  Winkel  her  verläuft.  Es  gab  demnach  eine  Zeit  für  diese  Kranke, 
wo  das  Sehvermögen  des  rechten  Auges  noch  nicht  sozusagen  aufgehoben  war,  sondern 
noch  in  einem  hohen  Grade  bestand,  mithin  störend  auf  das  Gesicht  des  linken  Auges 
einwirkte,  und  desshalb  die  Ablenkung  desselben  eine  gleichsam  instinetmässig  herbeige- 
geführte  Abhilfe  war;  nachdem  diese  Ablenkung  einige  Zeit  behufs  des  Deutlichsehens 
mit  dem  andern  Auge  nothwendig  gewesen  war,  blieb  sie  stationär  auch  dann,  als  die 
Trübung  intensiv  geworden,  mithin  das  Schielen  nicht  mehr  nothwendig  war.  So  wie  in 
diesem,  verhält  es  sich  auch  in  vielen  andern  analogen  Fällen,  namentlich  bei  allmälig 
entwickelter  Cataracta.  Andererseits  ist  es  gewiss,  dass  Hornhauttrübungen,  namentlich 
in  früher  Jugend  entstanden,  allmälig  geringer  werden  und  selbst  verschwinden  ;  das  Schie- 
len aber,  durch  dieselben  eingeleitet,  besteht  fort,  weil  die  Muskelcontraction  einmal 
habituell  geworden  ist. 

Ein  Schuhmacher  wurde  von  einem  Epitelialkrebs  nächst  dem  äussern  Winkel  des 
linken  Auges  durch  Pasta  muriatis  zinci  geheilt.  Die  äussere  Hälfte  des  untern  Lides 
war  nun  durch  die  Vernarbung  aus-  und  abwärts  gestülpt,  die  äussere  Commissur  nach 
unten  —  aussen  abgezogen.  Der  früher  ganz  gesunde  Bulbus  wurde  in  der  Folge  öfters 
von  Entzündungen  befallen  und  die  Hornhaut  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  leicht  getrübt. 
Nach  Beseitigung  der  entzündlichen  Zufälle  wurde  der  Kranke  aus  der  Anstalt  entlassen, 
kam  aber  bald  wieder,  weil  die  Augen  bei  der  Arbeit  bald  mit  Thränen  überliefen  und 
ermüdeten.  Es  wurde  desshalb  die  Tarsoraphie  nach  Walther  gemacht,  das  Ectropium 
gehoben,  und  die  Commissur  schloss  wieder  an  den  Bulbus  an,  nur  stand  das  obere 
Lid  ein  wenig  tiefer,  als  das  des  rechten  Auges.  Der  Mann  kehrte  abermals  zu  seiner 
Arbeit  zurück,  bemerkte  aber  bald,  dass  er,  wenn  er  etwas  genauer  sehen  wollte,  das 
linke  Auge  zukneipen  oder  verbinden  musste.  Eine  Zeit  lang  —  wo  er  viel  arbeiten 
musste,  hatte  er  das  linke  Auge  bei  der  Arbeit  immer  verbunden  gehalten  ;  dann  aber 
fand  er,  dass  diess  nicht  mehr  nöthig  sei.     Als   ich  ihm  zufällig  einmal  begegnete,  etwa 


316  Augenmuskeln. 

%  Jahr  nach  der  Operation,  fand  ich  Strabismus  sursum  vergens  oc.  sin.  Er  hatte  also 
unwillkürlich  das  Auge  allmälig  ein  wenig  aufwärts  unter  das  obere  Lid  stellen  gelernt, 
um  mit  dem  rechten  Auge  allein  zu  sehen ,  und  diese,  zunächst  nur  für's  Arbeiten  er- 
forderliche und  erspriessliche  Stellung  blieb  nun  auch  beim  gewöhnlichen  Sehen.  Der 
Mann  hatte  niemals  die  Erscheinung  von  Doppeltsehen  bemerkt  und  wusste  nicht,  dass 
er  schiele.     Ich  habe  ihn  noch  durch  einige  Jahre   in  diesem  Zustande  beobachtet. 

Ein  Candidat  der  Chirurgie,  dem  ich  wegen  Str.  divergens  oc.  dextri  amblyopici  bei- 
derseits den  R.  externus  durchschnitten  hatte,  wurde  längere  Zeit  als  geheilt  betrachtet, 
da  er  nicht  schielte.  Nach  etwa  '/4  Jahre,  wo  ich  ihm  mehrmal  auf  der  Gasse  begeg- 
nete, fiel  mir  auf,  dass  er  das  rechte  Auge  zuzudrücken  pflegte.  Er  sagte,  er  thue  es, 
um  die  ihm  Entgegenkommenden  schon  aus  der  Ferne  zu  erkennen.  Genaue  Untersu- 
chung stellte  heraus,  dass  er  nicht  kurzsiehtig  war,  und  dass  ihn  das  rechte  Auge  auch 
im  Erkennen  naher  Gegeustände,  wenn  sie  etwas  feiner  waren,  hinderte.  Ich  munterte 
ihn  auf,  sich  trotzdem  zu  bemühen,  beide  Augen  zu  gebrauchen,  und  damit  sich  das 
rechte  Auge  durch  Übung  stärke,  das  linke  bisweilen  zu  verschliessen.  Doch  fand  ich, 
etwa  '/i  ^anr  später,  Strab.  converg.  des  rechten,  noch  immer  merklich  schwächern 
Auges.  Die  Ablenkung  nach  aussen  war  wegen  starker  Rückwärtslagerung  des  R.  ex- 
ternus nicht  leicht  möglich;  des  Zukneipens  suchte  sich  der  junge  Mann  zu  enthalten; 
also  wurde  —  zur  Reseitigung  des  störenden  Eindruckes  —  das  Auge  unbewusst  und 
unwillkürlich  nach  innen  abgelenkt. 

Strabismus  muscularis.  Wir  wählen  diesen  Ausdruck  nur,  um  damit 
anzudeuten,  dass  die  Veranlassung-  zum  Schielen  nicht  von  fehlerhafter 
Beschaffenheit  des  Auges  selbst  ausgeht.  Die  entfernteren  Ursachen  sind 
mannigfaltig-,  d)  Zunächst  gehört  hierher  das  willkürliche  oder  absicht- 
liche Schielen.  Kinder  bringen  diess  bisweilen  zu  Stande,  zur  Unterhal- 
tung ihrer  Gespielen  oder  aus  Muthwillen,  um  Schielende  zu  verspotten. 
Leider  werden  manche  davon  nach  öfterer  Wiederholung  mit  unwillkürli- 
chem Schielen  gestraft.  Ich  kenne  wenigstens  zwei  Fälle,  wo  diess  ganz 
bestimmt  der  Fall  war;  bei  beiden  war  das  rechte  Auge  das  continuirlich 
oder  doch  für  gewöhnlich  abgelenkte,  in  dem  einen  Falle  ein-,  in  dem 
andern  auswärts,  b)  Hieran  reiht  sich  zunächst  das  Schielen  aus  Nach- 
ahmung ,  ohne  Absicht,  ohne  Willenseinfluss ,  als  eine  Art  Chorea  minor. 
Ob  die  Einwirkung  der  Phantasie  das  Mittelglied  sei,  wie  Ritterich*)  in 
seiner  an  positiven  Thatsachen  reichen  Schrift  über  das  Schielen  meint, 
wagen  wir  nicht  zu  entscheiden.  Wer  die  Geschichte  der  Chorea  kennt, 
wird  wenigstens  die  Zulässigkeit  der  Annahme  dieses  Momentes  als  Ur- 
sache des  Schielens  nicht  in  vorhinein  bestreiten,  c)  Desshalb  nahm  ich 
auch  keinen  Anstand,  der  Angabe  einiger  Kranken,  dass  sie  in  Folge  von 
Schrecken  oder  Furcht  schielend  geworden  seien,  Glauben  zu  schenken, 
weil  auch  andere    Muskeln    und    Muskelgruppen    durch    solche   Aflecte    zu 

')  Das  Schiele»  und  sein«  Heilung,   Leipzig   181M. 


Schielen  —  Ursachen.  317 

regelwidrigen  Actionen  gebracht  werden,  d)  Nicht  minder  schwierig  zu 
erklären  und  constatiren  ist  das  Entstehen  des  Schielens  von  fehlerhafter 
Verwendung  der  Augen,  vom  Sehen  nach  der  Quaste  einer  Mütze,  der 
Masche  eines  Häubchens,  dem  Perpendikel  einer  Wanduhr  u.  dpi. ,  oder 
vom  Zunahehalten  kleiner  Objecte,  Spielsachen  u.  s.  w. ,  welche  Momente 
namentlich  von  altern  Beobahtern  angeführt  werden.  Es  bleibt  dabei 
immer  zu  bedenken,  was  Böhm  dagegen  einwendet,  nämlich  ob  nicht  zur 
Zeit,  wo  das  eine  oder  das  andere  stattfand,  beretis  eine  andere  Ursache, 
namentlich  Schwäche  der  Sehkraft  des  einen  Auges  bestand,  und  das  Fixi- 
ren von  Objecten  nur  die  entfernte,  die  Ungleichheit  der  Sehkraft  aber  die 
nächste  Veranlassung  zur  Ablenkung  des  Auges  abgab.  Was  mir  aber 
trotzdem  die  ältere  Ansicht  als  haltbar  erscheinen  lässt,  ist  der  Umstand, 
dass  ich  in  solchen  Fällen,  wo  diese  oder  ähnliche  Momente  beschuldigt 
wurden ,  beinahe  immer.,  das  rechte  Auge  schielend  fand ,  und  dass  sogar 
die  Richtung  der  Ablenkung  mit  der  Angabe  der  Kranken  übereinstimmte. 
(Vergl.  meinen  Aufsatz  über  das  Schielen  in  den  österr.  Jahrbüchern,  S.  98.) 
Besonders  auffallend  war  mir,  dass  ein  junger  Mann,  welcher  angab,  er 
sei  in  seinem  6.  Jahre  in  Folge  dessen  schielend  geworden,  weil  er  immer 
nach  der  Bandage  seines  linken  gebrochenen  Unterschenkels  hinabgesehen 
habe,  mit  dem  rechten  Auge  nach  innen  —  unten  schielte,  also  gerade  in 
einer  Richtung,  die  der  Angabe  entsprach,  obwohl  der  Kranke  nichts  davon 
wissen  konnte,  dass  sein  Auge  nicht  wie  gewöhnlich  nach  innen,  sondern 
zugleich  nach  einer  äusserst  seltenen  Nebenrichtung  abwich.  Ich  konnte 
es  nun  wohl  auch  nicht  mehr  als  zufällig  betrachten,  wenn  Leute  nach 
innen  und  oben  schielten,  welche  das  Schielen  vom  Schauen  nach  der 
Quaste  einer  Mütze  ableiteten.  Es  sind  verschiedene  Erklärungen  versucht 
worden,  um  den  Zusammenhang  zwischen  der  Ablenkung  des  Auges  und 
den  Angaben  der  Kranken  oder  ihrer  Eltern  begreiflich  zu  machen  (Beer, 
3 oh.  Müller,  Ritterich).  Wenn  sich  auch  keine  derselben  als  haltbar  er- 
wies, so  war  man  doch  desshalb  noch  nicht  berechtigt,  den  Knoten  zu 
zerhauen,  um  sich  aller  Unbequemlichkeit  dadurch  zu  entheben,  dass  man 
die  Möglichkeit  der  Entstehungsweise  in  vorhinein  negirte.  Die  Angaben 
denkender  Männer  ohne  weiteres  unter  die  Ammenmärchen  verweisen, 
heisst  wohl  sich  selbst  den  Weg  der  weitern  Beobachtung  und  Forschung 
versperren,  möglicherweise  auch  den  praktischen  Arzt  verleiten,  dass  er, 
beim  Entstehen  des  Übels  consultirt,  Umständen  kein  Gewicht  mehr  beilegt, 
welche  am  Ende  doch  Einfluss  auf  das  Übel  haben  können.  Nach  meiner 
Meinung  lässt  sich  die  Entstehung  des  Schielens  in  Folge  der  obgenannten 
Veranlassungen   mit   unsern    bisherigen    physiologischen  Kenntnissen  leicht 


318  Augenmuskeln. 

in  Einklang  bringen.  Die  Kreuzung  der  Sehachsen  in  beträchtlich  seitlich 
von  der  Medianebene  gelegenen  Objecten  kann  nur  mit  grosser  Anstren- 
gung längere  Zeit  erhalten  werden.  Wird  aber  die  Aufmerksamkeit  lange 
oder  oft  und  in  kurzen  Zwischenräumen  auf  so  gelegene  Objecte  gerich- 
tet, und  können  die  Sehachsen,  respective  Bulbi  wegen  Ermüdung  der  Mus- 
keln nicht  mehr  in  der  zur  Kreuzung  im  Objecte  nöthigen  Richtung  er- 
halten werden,  so  tritt  die  Kreuzung  vor  oder  hinter  dem  Objecte  ein, 
je  nach  dem  Verhalten  des  Refractionszustandes  und  der  Accommodations- 
organe  (für  die  betreffende  Entfernung  des  Objectes),  und  es  tritt  Undeut- 
lichsehen durch  theilweises  Aliseinanderweichen,  später  selbst  Doppeltsehen 
mit  völlig  gelrennten  Doppelbildern  ein.  Diese ,  aus  ungenauer  oder  gar 
nicht  erfolgender  Kreuzung  der  Sehachsen  im  Objecte  entstehende  Func- 
tionsstörung  zu  beseitigen,  wird  das  eine  Auge  abgelenkt,  damit  das  an- 
dere ungestört  die  Betrachtung  des  Objectes  fortsetzen  könne  *).  Es  tritt 
hier  etwas  Ähnliches  ein,  wie  —  nach  A.  v.  Gräfe1  s  stricter  Nachweisung 
—  bei  Myopia  in  distans**),  wo  der  Kurzsichtige  beim  Blick  auf  Objecte, 
die  weit  jenseits  seines  Fernpunktes  liegen,  wenn  also  eine  scharfe  Accom- 
modation  unmöglich  ist,  sein  Auge  nicht  mehr  für  die  grösste,  ihm  noch 
mögliche  Ferne  einrichtet,  sondern  für  grössere  Nähe,  demnach  bei  Rich- 
tung des  Blickes  auf  zu  ferne  Objecte  denselben  Refractionszustand  an- 
nimmt, wie  bei  Accommodation  für  grosse  Nähe.  Ist  aber  diese  Erklä- 
rung für  stark  excentrisch  vom  Mittelpunkt  des  Gesichtsfeldes  gelegene 
Objecte  richtig,  dann  begreifen  wir  auch,  warum  bei  Kurzsichtigkeit  leicht 
Schielen  entstehen  kann,  denn  nämlich,  wenn  die  Objecte  so  nahe  ge- 
halten werden,  dass  bei  Kreuzung  der  Sehachsen  im  Objecte  nicht  so 
lange  ausgehalten  werden  kann,  als  das  Individuum  es  von  seinen  Augen 
fordert,  mithin  die  Netzhautbilder  nicht  auf  völlig  correspondirenden  Stellen 
erhalten  werden  können.  Hierin  fände  denn  auch  die  Beobachtung  ihre 
Erklärung,  /")  dass  Kinder  besonders  nach  schweren  Krankheiten  durch 
Anstrengung  der  Augen  mit  Lesen,  Schreiben,  feinen  Spielsachen  u.  dgl' 
leicht  schielend  werden.  Wir  wiederholen ,  dass  in  solchen  Fällen  auch 
Ungleichheit  der  Sehkraft  oder  der  Sehweite  zu  Grunde  liegen  kann  ,  da- 
mit man  nicht  meine,  wir  wollen  die  eben  genannte  Erklärungsweise  auf 
alle  solche  Fälle  angewendet  wissen.      Es  ist  eben  Sache  des  praktischen 


*)  Wenn   ein  nahes  Objecl   stark  seillich  abliegt,    so  wird   zur  PixirUDg  desselben  auch  von    jedem   Auge   ein    anderer 
Grad   von   Spannung  der  Accommoilationsorgane    gefordert  ;     es  wäre  wohl  möglich,    dass  dieser  Umstand   an  sick 
schon  hinreicht,  Undeutlichsehen  tu    bewirken,   und  somit   auch    Schielen  als  Abhilfe  gegen  die  Funclionsstorung 
einzuleiten. 
•c)  Archiv  für  Ophthalmologie,  II.  C.  1.  Abth.  S.  158  (16H  — 163.) 


Schielen  —  Ursachen.  319 

Arztes  in  jedem  speziellen  Falle  so  sicher  als  möglich,  die  Ursache  der 
Krankheit  zu  ermitteln,  weil  diess  ein  reeller  Gewinn  für  die  Behandlung 
ist,  zu  welcher  ja  auch  die  Prophylaxis  gehört,  g)  Über  die  Entstehung  des 
Schielens  in  Folge  von  Muskellähmung  haben  wir  uns  bereits  ausgespro- 
chen, h)  Minder  sicher  gestellt  ist  die  Entstehung  desselben  aus  Con- 
vulsionen,  aus  tonischen  oder  klonischen  Krämpfen  eines  oder  mehrerer 
Muskeln  des  Augapfels ,  weil  es  in  solchen  Fällen  immer  schwer  zu  ent- 
scheiden sein  wird,  ob  nicht  vielmehr  Paresis  des  (der)  Antagonisten  schuld 
sei.  A  priori  ist  wohl  nichts  gegen  den  Übergang  temporärer  Ablenkung 
in  bleibende  einzuwenden,  zumal  wenn  jene  länger  angedauert  hat  oder 
häufig  und  in  kurzen  Zwischenräumen  wiedergekehrt  ist. 

Ausser  den  genannten  sind  noch  mehrere   andere  Momente  als  Ursachen  des  Schie- 
lens  angenommen  worden,  meines  Erachtens  jedoch  theils  mit  Unrecht,  theils  ohne  ge- 
nügende Gründe.     Mangel,  Zerreissung,  normwidrige  Anheftung  oder  Degeneration  eines 
Muskels    durch  Entzündung,    melanotische  Ablagerung    u.  dgl.    vermag  niemals    direct  zu 
Strabismus    zu  führen,   bloss  zu    gehemmter  Beweglichkeit    des  Bulbus  (luscitas),  welche 
allerdings  unter  besondern  Umständen  (wegen  Doppeltsehens)  zu  activer  Ablenkung  nach 
der    entgegengesetzten  Seite    Anlass   geben    kann.     Ebenso    ist  Schiefstellung    der  Linse, 
wenn    auch  an    schielenden  Augen  nachgewiesen,    gewiss  nicht  als  Ursache  des  Strabis- 
mus zu  betrachten.     Eher  möchte  sie  als  Folge  zu  betrachten  sein,  da  es  nicht  unwahr- 
scheinlich   ist,  dass    der  Bulbus    durch  einseitig    prävalirenden  Zug    und  Druck  der  Mus- 
keln in  seiner  Form  auf  ähnliche  Weise  verändert  wird,  wie  das  Knochengerüst  in  Folge 
ungehöriger  Muskelthätigkeit,  und  dann  wohl  auch  die  Linse,  relativ  zur  Hornhaut  sowohl 
als  zum    hintern  Pole  (der  Mac.  lutea),    anders  gelagert  sein  könnte.     Die  Schiefstellung 
der  Linse    kann  übrigens    aus  andern  Ursachen,  z.  B.  in  Folge  eines  seitlichen  Corneal- 
durchbruch.es,  an  schielenden  Augen  so  gut   vorkommen,  wie  an  nicht  schielenden,  mit- 
hin als  zufällige  Complication.     Schiefstellung  der  Linse  kann  den  Kranken  nicht  bestim- 
men,   eine  andere    Stelle,  als   die  Macula    lutea  dem  Objecte,  das    gesehen  werden    soll, 
gegenüber  zu  stellen.     Man  vergesse  nicht,  dass  das  Auge  abgelenkt  wird,  nicht  um  mit 
demselben    zu  sehen,    sondern  um   dasselbe  von  der  Theilnahme  am  Sehacte  des  andern 
Auges    auszuschliessen.  —  Gründe    welche  gegen    J.  Müller 's    Annahme  von    angeborner 
Incongruenz    der  Netzhäute    als  Ursache    des   Schielens    sprechen,  haben   wir  bereits    im 
2.  Bande    S.  282   angeführt.     In    neuester  Zeit    hat  A.    v.  Gräfe    (Archiv.  I.  B.    I.  Abth. 
S.   105)  einen  exact  beobachteten  Fall  von  Strabismus  beschrieben,  welcher  allerdings  ge- 
eignet erscheint  dafür  su  sprechen,  dass  die  Macula  lutea  vermöge  primärer  Bildung  nicht  im 
hintern  Pole,  sondern  excentrisch,    in  specie  nach  innen   von  der  Sehnerveneintrittsstelle 
gelegen   sein  könne.     Wenn    man  aber  diesen  Fall  mit  jenen  vergleicht,  in  welchen  der 
Umstand,  dass  die  relativ  empfindlichste  Stelle  der  Netzhaut  einwärts  vom  hintern  Pole  liegt, 
offenbar    als  Folge    des  seit  früher  Jugend    bestehenden  Schielens  erklärt    werden  muss, 
wie  diess  Gräfe  in  mehreren  genau  beobachteten  Fällen  auch  selbst  erklärt,  so  findet  — 
meines  Erachtens  —  doch    nur  ein    Gradunterschied  statt.     Mir    ist  es  nicht  wahrschein- 
lich, dass  ein  so  wichtiger  Bildungsfehler,  wie  Ektopie  der  Mac.  lutea,  ohne  alle  ander- 
weitigen Bildungsfehler    vorkommen  könne.     Bedenken    erregt  es  auch,  dass  ein  solcher 


320  Augenmuskeln. 

Fehler   bloss  an   Einem  Auge    auftreten  soll.     Und    zugegeben,  die  Macula    lutea,  mithin 
gewissermassen  die  ganze  Netzhaut,  habe  von  Geburt  aus   eine  andere  Lage,  so  begreifen 
wir  die  Ablenkung  der  geraden  Augenachse,  welche  jetzt  nicht  mehr  zugleich  Sehachse 
ist,  nur   dann,  wenn    man  dasselbe    Gesetz  für    die  Augenbewegungen    annimmt,  wie  im 
normalen    Zustande,  nämlich    dass  das    Auge  mit    der  relativ    empfindlichsten  Stelle  dem 
Objecte    der   Aufmerksamkeit   zugelenkt   werden    muss.     Oder    soll    man    annehmen,    die 
zweckmässige  Bewegung  der  Bulbi,  die   bald  als  associirte,  bald  als  accommodative  auf- 
tritt, beruhe  nicht  auf  der  Sensibilitätsvertheilung   in  der  Netzhaut,    sondern  sei  schon  in 
der    Innervation  der    Muskeln  präformirt?    Wird  aber    das  mit  Ektopie  der  Netzhaut  be- 
haftete  Auge    abgelenkt,    um    die  empfindlichste    Stelle  dem    Objecte  gegenüberzustellen, 
also  um  mit  beiden  Augen  zu  sehen,  so  könnte  man  nicht  von  Schielen  sprechen.     Und 
doch  fand  in    allen  den  Fällen,  die  man    auf  Incongruenz  der  Netzhaut  beziehen  wollte, 
weder  gleichzeitiges  Fixiren  mit  beiden  Augen,  noch  eine  solche  Stellung  des  betreffen- 
den Auges    statt,  dass    die  empfindlichste   Stelle  dem    Objecle  gegenüber  zu  liegen  kam, 
sondern    das  Auge    wurde  so  gestellt,  dass  seine    empfindlichste  Stelle  nicht  am  Sehacte 
des    andern  Auges    participiren  konnte.     Es    bleibt  also    noch  immer  am  wahrscheinlich- 
sten, dass  eine  vom  hintern  Pole  einwärts  gelegene  Stelle  der  Netzhaut  die  grösste  Em- 
pfindlichkeit nicht  wegen  primärer  Bildung  besass,  sondern  vermög  Übung  durch  indirec- 
tes  Sehen    in  der  oben  angegebenen  Weise    acquirirte.     Dass  aber,  wenn  die  Mac.  lutea 
aus  was    immer  für  einem  Grunde  am  Sehen    verhindert  wird,  irgend  eine  seitliche,  na- 
mentlich eine  einwärts  von  ihr  oder  selbst  von  der  Sehnervenpupille  gelegene  Netzhaut- 
stelle einen  staunenswerthen  Grad  von  Empfänglichkeit  acquiriren  könne,  sobald  das  Hiu- 
derniss    von  der    ersten  Jugend  auf  besteht,    dafür  kann  ich  besonders  mit  einer  bereits 
vor  10  Jahren  gemachten  Beobachtung  einstehen.     G.  E.  v.  W.,  12  Jahre  alt,  auf  beiden 
Augen    an    Cat.    nucl.    Station,    leidend ,    deren    Gegenwart    erst    zur    Zeit    des    Zahnens 
nach  Convulsionen    bemerkt  worden    war,  hatte    unter  ganz  besonderer  Bemühung  eines 
Arztes  lesen  und  schreiben  gelernt  (Anfangs  mit  fast  zollhohen  Charakteren),  und  konnte, 
bevor  ich  die  Cat.  des  linken  Auges  durch  Discission  operirte,  selbst  Buchstaben  von  2'"  Höhe 
und    entsprechender  Dicke    lesen,  besonders    mit  dem  rechten,  mehr  geübten  Auge.     Sie 
musste    aber  jedesmal,    wenn  sie  etwas  genau    sehen  wollte,  das  betreffende  Auge  stark 
einwärts   rollen,  um    neben  der    Linsentrübung    vorbei    zu  sehen.     Desshalb  konnte    man 
eigentlich  auch  nicht  sagen,  sie  schiele,  und  wenn    sie  eben  nichts  fixirte,  so   boten  ihre 
Augen  einen  leichten  Grad  von  Nystagmus,  wenigstens  nicht  jene  Buhe  und  symmetrische 
Stellung  dar,  die  wir  an  normalen  Augen  zu  finden  gewohnt  sind.    Um  zu  lesen,  musste 
sie  die  Schrift   auf  beinahe  zwei  Zoll  nähern  und  das    betreffende  Auge  so  stark  in  den 
innern  Winkel  stellen,  dass  man  annehmen  musste,  das  Netzhautbild  falle  auf  eine  1 — l1//" 
einwärts    von  der   Sehnervenpapille  gelegene    Stelle.     Dieses    Verhältniss  blieb    dasselbe, 
als  die    Pupille    vollkommen   schwarz  geworden    war,  und    durch    mehrere   Jahre  schien 
es,  dass    durch  die  Operation  nichts    gewonnen  worden  sei,  indem  zum  genauem  Sehen 
naher  Objecte    das    operirte  Auge   immer  wie    früher  einwärts   gestellt  wurde  (bei  Ver- 
schluss des  rechten).    Erst  im  Verlaufe  mehrerer  Jahre  gewann  die  Sehkraft  in  der  Rich- 
tung   der  Sehachse,  und   somit  für  das  Erkennen    entfernter  Objecte.     Convexgläser  von 
allen    möglichen  Brennweiten  vermochten  nicht,    die  Sehkraft  zu  heben,  auch  nicht  nach 
methodischer  Übung.     Der   Erfolg  der  Operation    des  linken  Auges  war  eben  nicht  hin- 
reichend,   die  ängstliche    Mutter  des  Mädchens    zur  Operation    des  rechten  Auges  aufzu- 
muntern.    Vergl.  II.  B.  S.  282.  —  Halten    wir  die  für  und  wider  die  Miilhvache  Hypo- 


Schielen  —  Behandlung  —  orthopädische.  321 

these  zur  Zeit  vorliegenden  Gründe  einander  gegenüber,  so  erscheint  es  bei  aller  Ach- 
tuno- vor  den  von  Gräfe  dafür  aufgeführten  Gründen  vorläufig  nicht  gerechfertigt,  sie 
als  feststehend  anzunehmen,  bis  nicht  die  Autopsie  (am  Cadaver  oder  mittelst  des  Augen- 
spiegels) ihr  entscheidendes   Wort  abgegeben  haben  wird. 

Die  nächste  Ursache  des  Schielens  besteht  in  der  excessiven  Con- 
traction  eines  oder  zweier  Muskeln.  Ein  gewisser  Grad  von  Rigidität, 
von  bleibender  Verkürzung  und  Mangel  an  Ausdehnungsfähigkeit  tritt  erst 
nach  langem  Bestände  anhaltenden  Schielens  ein.  Die  nachtheilige  Wir- 
kung dieses  Zustandes  wird  bei  inveterirten  Fällen  noch  unterstützt  und 
gesteigert  durch  das  gegenteilige  Verhalten  des  Antagonisten.  Desshalb 
sind  Fälle  mit  freier  Beweglichkeit  des  Bulbus  nach  der  entgegengesetzten 
Richtung  ceteris  paribus  leichter  zu  heilen.  —  Zu  berücksichtigen  ist  ferner 
der  Zustand  der  Sehkraft  und  Sehweite  des  schielenden  Auges  (relativ 
zum  andern).  Wo  man  erwarten  darf,  die  Sehkraft  und  Sehweite  des 
schielenden  Auges  der  des  andern  völlig  oder  doch  nahezu  gleich  zu 
brino-en,  lässt  sich  viel  sicherer  auf  Besserung  oder  Behebung  der  fehler- 
haften Stellung,  wo  nicht  auf  gänzliche  Heilung  rechnen.  Wo  hingegen 
die  Sehkraft  bedeutend  gesunken  ist,  und  besonders  da,  wo  nur  eine  ein- 
wärts vom  hintern  Pole  gelegene  Netzhautstelle  noch  ein  leidliches  Sehen 
vermittelt,  ist  höchstens  auf  Verbesserung  der  Stellung  zu  rechnen.  : — 
Viel  kommt  auch  auf  Verständigkeit  und  festen  Willen  des  Schielenden 
an,  wenigstens  da,  wo  der  Einfluss  des  Willens  nicht  durch  optische  Hin- 
dernisse oder  durch  Erkrankung  der  Muskel  paralysirt  wird.  Mit  Recht 
bemerkt  Ritterich,  dass  Mädchen,  welche  das  Interesse  für  ihr  Äusseres 
weit  mehr  spornt  (und  wohl  auch  ihre  Erzieher),  das  Schielen  häufiger 
wieder  ablegen,  als  Knaben. 

Seit  Dieffenbach's  genialer  Anwendung  der  Myotomie  auf  das  Auge  *) 
ist  die  Heilung  des  Schielens  durch  die  Durchschneidung  des  verkürzten 
Muskels  eine  Thatsache,  glänzend  gegenüber  den  schwierigen  und  so  oft 
erfolglosen  Methoden,  welche  die  frühere  Zeit  diesem  so  arg  entstellen- 
den Übel  entgegen  zu  setzen  vermochte.  Sie  ist  im  Stande,  dem  Unglück- 
lichen die  richtige  Stellung  des  Auges  so  zu  sagen  augenblicklich  wieder- 
zugeben, und  meistens  auch  ohne  weitere  Bemühung  zu  sichern.  Einen 
directen  Einfluss  auf  die  Sehkraft,  wie  man  anfangs  hoffte,  hat  sie  jedoch 
nicht,  und  ebenso  wenig  kann  und  darf  sie  auch  heutzutage  als  das  ein- 
zige Mittel  gegen  das  Schielen  erklärt  werden,  wozu  es  eine  Zeit  lang 
den  Anschein  hatte,  denn  nicht  jeder  Fall  von  Strabismus  erheischt  die 
Myotomie,  und  nicht  alle  Fälle,  welche  nicht  ohne  Myotomie  geheilt  wer- 

**)  Im  December  1839.     Medicia.  Zeitung  vom  Vereine  für  Heilkunde  in   Preussen  Nr.  51. 
Arlt'i  Augenheilkunde  III.  2.  21 


322  Augenmuskeln. 

den  können,  lassen  Heilung  durch  dieselbe  zu.  Dass  durch  ungehörige 
Anwendung  derselben  der  Zustand  schlimmer,  statt  besser  gemacht  werden 
kann,  wird  ihr  als  solcher  Niemand  zur  Last  legen. 

Wo  das  Schielen  eben  im  Entstehen  begriffen  ist,  und  noch  nicht 
als  continuirlich  bezeichnet  werden  kann,  lässt  sich  seine  Etablirung  bis- 
weilen dadurch  verhüten ,  dass  man  die  entfernteren  Ursachen  beseitigt 
oder  unschädlich  macht,  und  auf  die  Willenskraft  des  Kranken  einzuwir- 
ken sucht.  Zunächst  untersuche  man,  ob  nicht  etwa  optische  Hindernisse 
vorhanden  seien  und  sich  beseitigen  lassen.  Kann  man  hierüber  nicht 
in's  Klare  kommen,  wie  so  häufig  bei  kleinen  Kindern,  wenn  sie  keine 
sichtbaren  Abnormitäten  darbieten,  und  liegen  nicht  etwa  ganz  bestimmte 
und  glaubwürdige  Anschuldigungen  von  enlfernbaren  Momenten  (Willkür, 
Nachahmung,  fehlerhafter  Verwendung)  vor,  so  lasse  man  fleissig  acht 
geben,  unter  welchen  Verhältnissen  die  Ablenkung  auftritt  oder  gesteigert 
wird,  und  empfehle  die  Fernhaltung  solcher  Verhältnisse  nach  Möglichkeit. 
Je  öfter  das  Auge  in  die  fehlerhafte  Stellung  geräth,  und  je  länger  es 
jedesmal  in  derselben  verharrt,  desto  mehr  droht  Gefahr,  dass  es  endlich 
beständig  in  derselben  verbleibe.  So  oft  das  Kind  in  der  fehlerhaften 
Stellung  des  Auges  betreten  wird,  suche  man  es  derselben  zu  entreissen. 
In  manchen  Fällen  genügt  es,  das  Kind  einfach  anzureden  und  zum  rich- 
tigen Blick  aufzumuntern,  in  andern  muss  man  das  Fixiren  von  Objecten 
dadurch  unterbrechen,  dass  man  mit  der  Hand  vor  dem  Gesichte  vorbei- 
streicht oder  die  Augen  einigemal  nach  einander  schliessen  und  öffnen, 
und  dann  den  Blick  auf  andere  Objecte  lenken  und  für  einen  andern  Ho- 
ropter einrichten  lässt,  bei  Convergenz  für  einen  weitern,  bei  Divergenz 
für  einen  engern.  In  manchen  Fällen,  namentlich  bei  optischen  Hinder- 
nissen, müssen  gewisse  Beschäftigungen  (mit  feinen  Spielsachen,  Lesen? 
Stricken  u.  dgl.)  für  eine  Zeit  lang  ganz  untersagt  werden;  in  andern, 
namentlich  bei  Neigung  zur  Kurzsichtigkeit  oder  bei  angeborener  Stumpf- 
heit der  Netzhaut  oder  bei  allgemeiner  Muskelschwäche  (nach  schweren 
Krankheiten)  erweist  es  sich  nützlich,  die  Kinder  häufig  in's  Freie  zu 
bringen  und  überhaupt  Einförmigkeit  in  der  Beschäftigung  (im  Gebrauche 
der  Augen)  nach  Möglichkeit  zu  verhüten.  —  Der  Einfluss  des  Willens 
kann  bisweilen,  wie  Jurin  empfohlen  hat,  dadurch  angeregt  und  zweckmässig 
geleilet  werden,  dass  man  das  gesunde  Auge  durch  die  vorgehaltene 
Hand  verdeckt,  und  den  Schielenden,  der  nun  das  kranke  Auge  gerad 
stellt,  anweist,  dieses  Auge  auch  nach  Entfernung  der  Hand  auf  das  Ob- 
jeet  zu  richten.  Hat  er  hierin  einige  Fertigkeit  erlangt,  so  steht  zwar 
das  gesunde  Auge  fehlerhaft;    manche  bringen    es  aber    doch  dahin,  dass 


Schielen  —  Behandlung  —  orthopädische.  323 

sie.  indem  sie  mit  der  Schärfe  der  Fixation  nachlassen,  das  rasche  Fliehen 
des  einen  Auges  in  den  Winkel  temperiren  und  dann  —  zunächst  eine 
kurze  Zeit  —  beide  Augen  richtig  einstellen.  Besonders  gelingt  diess, 
wenn  nach  der  Muskeldurchschneidung  noch  ein  geringer  Grad  von  Schie- 
len fortbesteht.  Verständige  Patienten  nehmen  diese  Übungen  selbst  vor, 
mit  Hilfe  eines  Spiegels. 

Wo  Ungleichheit  der  Sehkraft  zu  Grunde  liegt,  erweist  sich  der  eben 
besprochene  Vorgang  häufig  als  ungenügend,  auch  wenn  er  gehörig  durch- 
geführt wird,  dann  nämlich,  wenn  der  schwächere  Eindruck  schon  beim 
gewöhnlichen  Sehen  und  nicht  bloss  beim  Fixiren  und  genauem  Betrach- 
ten von  Objecten  sich  geltend  macht.  In  solchen  Fällen  sind  Versuche  mit 
Schielbrillen  zu  empfehlen.   Es  sind  deren  3  verschiedene  Arten  bekannt. 

Die  ältesten  sind  ein  Paar  dunkle  Kapseln,  nussschalenähnlich,  jede  in  der  Mitte  mit 
einer  kleinen  Öffnung  oder  mit  einer  horizontalen  Spalte  versehen ,  welche  an  normalen 
Augen  gerade  vor  die  Pupillen  zu  stehen  kommen  würden.  Diese  Brillen  sind  verworfen 
worden,  indem  man,  und  zwar  mit  Recht,  behauptete,  das  einmal  schielende  Auge 
könne  dadurch  nicht  gezwungen  werden,  seine  fehlerhafte  Stellung  zu  verlassen  und 
durch  die  Öffnung  durchzusehen.  Vielleicht  wirken  sie  aber  auch  nicht  auf  diese,  ihnen 
zngemuthete  Weise.  Es  fordert  immerhin  zur  Vorsicht  auf,  wenn  genaue  Beobachter, 
wie  Ritterich ,  sich  für  deren  Wirksamkeit  aus  Erfahrungsgründen  erklären.  Seit  der 
Einführung  der  stenopäischen  Brillen  von  Ponders  möchte  wohl  die  Wirkungsweise  der 
alten  Schielbrillen  anders  zu  interpretiren  sein.  Es  liegt  wenigstens  sehr  nahe,  anzu- 
nehmen, dass  die  Schielbrillen,  die  wenigstens  doch  nichts  anderes  sind,  als  stenopäische, 
geeignet  seien,  das  schielende  Auge  zum  Mitsehen  geeignet  zu  machen,  indem  sie  die 
Differenz  der  Sehkraft  beider  Augen  mehr  weniger  ausgleichen.  Es  ist  wenigstens  auf- 
fallend, dass  Rilterich  ausdrücklich  bemerkt,  er  habe  bei  Hornhauttrübungen  Nutzen  von 
Schielbrillen  beobachtet.  Es  Hesse  sich  aber  auch  denken,  dass  Kinder  durch  Schiel- 
brillen gezwungen  werden,  das  Schielen  aufzugeben,  weil  sie  durch  dieselben  gezwungen 
sind,  das  nicht  schielende  Auge  immer  in  der  Mitte  der  Lidspalte  zu  halten,  somit 
alle  Objecte  geradeaus  anzusehen,  und  die  Schiefhaltung  des  Kopfes  zu  vermeiden. 
Dann  würden  sich  diese  Schielbrillen  in  ihrem  Wirkungskreise  an  einige  andere  mecha- 
nische Vorrichtungen  anschliessen,  deren  wir  weiter  unten  gedenken  werden,  und  zu 
denen  besonders  das  bekannte  Volksmittel  gehört,  die  gerade  Haltung  des  Kopfes  durch 
eine  steife  Cravatte  zu  erzwingen.  Wie  dem  auch  sei,  das  steht  fest,  dass  es  verschie^ 
dene  Mittel  gibt,  welche  ganz  gewiss  nützlich  sind,  trotzdem  wir  nicht  wissen,  wie  sie 
nützen.  —  Die  zweite  Art  von  Schielbrillen  ist  von  Böhm  angegeben  und  wenigstens  in 
einigen  Fällen  mit  Erfolg  angewendet  worden.  Es  wird  in  einem  gewöhnlichen  BriU 
lengesteile  vor  dem  schielenden  schwächern  Auge  ein  farbloses,  vor  dem  gesunden  ein 
mehr  weniger  intensiv  blaues  Glas  getragen,  um  den  Eindruck  des  gesunden  Auges 
abzuschwächen  und  hiedurch  Gleichheit  der  Eindrücke  zu  erzielen.  „Da  es  sich  nicht 
ausführen  lässt,"  —  wie  Böhm  meint  —  „die  gesunkene  Sehkraft  des  erkrankten 
Auges  zur  Zeit  in  ein  gleiches  Verhältniss  mit  der  des  andern  Auges  zu  erheben, 
so  steht  es  uns    doch    frei,    in   umgekehrter    Weise    die    Sehkraft    des    gesunden   Auges 

2i* 


324  Augenmuskeln. 

auf  unschädliche  Weise    vorläufig  in  so  weit  herahzuslimnien,    dass  beide  Netzhäute  von 
einem    lichlgebendcn    Punkte     wieder    in    gleicher    Weise    gereizt,     mithin    heide    Bulbi 
einem    gleichen    Reflexeinflusse    auf    die    Muskelgruppen    ausgesetzt  werden."     Die  blaue 
Farbe  des  einen    Glases    muss    um    so    intensiver   sein,   je    bedeutender  der  Unterschied 
in  der   Sehkraft    der    Augen    ist,    und    die    Objecte  müssen  in  einem  gemilderten  blauen 
Lichte  erscheinen.     „Erscheinen    die  Gegenstände    noch  in  demselben  Grade  blauer  Fär- 
bung, den  man  dem  Glase    des    gesunden   Auges  gegeben  hat,   so    ist  der  Reflexeinfiuss 
auf  diesem  Auge   noch   nicht   genügend  herabgestimmt,    und  muss  eine  intensivere  Fär- 
bung gewählt  werden,    bis    durch   die    möglich    werdende    Mitlhätigkeit  des  schwächern 
Auges  eine    ungefähre    Ausgleichung    zur  mittlem  Helligkeit  beider  Gläser  erfolgt."     Er- 
scheinen   dagegen    die  Objecte    in  ihrer  natürlichen  Farbe,    so    ist  das  Glas    zu  intensiv 
blau,    fungirt    bloss    das    schwächere    Auge ,    und    wird  das  gesunde  vom  Sehact  ausge- 
schlossen." —  Eine  dritte  Art  von  Brillen,  welche  ich  bei  A.  v.  Gräfe  nach  verrichteter 
Schieloperation    behufs    der   völligen    Geradestellung   des    Bulbus    mit   Nutzen    anwenden 
sah,  besteht  in  gewöhnlichen  Brillen    mit  Plangläsern,    welche  zum  vierten  oder  dritten 
Theil,  zur  Hälfte    oder  zu  2  Dritleln    (von  der  Schläfen-  oder  Nasenseite  her)  undurch- 
sichtig gemacht  werden  können.     Wenn    Jemand  mit  dem  linken  Auge  einwärts  schielt, 
und    das   rechte    Auge    an  der  Nasenseite  zum  Theil  verdeckt  wird,    so  kann  dieses  die 
betreffende  Region  des  Gesichtsfeldes  nicht  mehr  beherrschen,  und  das  linke  Auge  wird 
häufiger  veranlasst,    für  die    linke  Hälfte   des  Gesichtsfeldes  zu  fungiren.     Zugleich  wird 
der   Kranke    zur   geraden   Kopfhaltung    gezwungen.     Dieses    Mittel   ist  meines  Erachtens 
nicht  nur  bequemer,  sondern  auch  zweckmässiger,  als  die  von  Darwin  empfohlene  künst- 
liche Papiernase,    ein    senkrechter    Steg  auf  dem  Nasenrücken,    welcher  jedes  Auge  so 
ziemlich  auf  die  gleichnamige  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  anweist  und  das  Vorherrschen  des 
einen  in  dem  Gebiete  des  andern  verhindert."  *)    Darwins  Patient  war  ein  fünfjähriges, 
äusserst  fügsames  und  gescheidtes  Kind.     Es  schielte  einwärts,  bald  mit  dein  einen,  bald 
mit  dein  andern  Auge.     Wenn   der    Gegenstand    ihm    auf   der  rechten  Seite  vorgehalten 
wurde,  so  sah  es  denselben  mit  dem  linken  Auge,  und  umgekehrt.     Wurde  ihm  ein  Ge- 
genstand in  gerader  Richtung  vorgehalten,  so  drehte  es  den  Kopf  ein  wenig  auf  die  eine 
(rechte)  Seile,  betrachtete  ihn  nur  mit  dem  entfernteren  (rechten)  Auge,  und  schielte  mit 
dem  andern.     War  es  endlich  müde,    den    Gegenstand    mit    diesem  Auge  zu  betrachten, 
so  drehte  es  den  Kopf  auf  die    entgegengesetzte    Seite  (links),  und  betrachtete  nun  den 
Gegenstand    eben    so    leicht    mit    dem   andern    (linken)    allein.     Das  Kind    erkannte  und 
nannte  Buchstaben  in  gleichen  Entfernungen  mit  dem  einen  Auge  so  leicht,  wie  mit  dem 
andern  ,   und    es    liess    sich    überhaupt    kein  Unterschied    zwischen    beiden  Augen  wahr- 
nehmen.   Man  betrachtete  das    Übel  als  Folge  übler  Gewohnheit.    Darwin  gab  den  Rath, 
eine  künstliche    Papiernase,    einen     Zoll    über    der  natürlichen  emporragend,    tragen  zu 
lassen.     Das  Kind  fing  an,    statt  den  Kopf  zu  drehen  ,    um  nach  seitlichen  Gegenständen 
zu  schauen,  dieselben  mit  dein  betreffenden,  nicht  wie  früher  mit  dem  entfernteren  Auge 
zu  fixiren.     Der  Heilplan  wurde  jedoch  nicht  beharrlich  ausgeführt,    und  nach  5  Jahren 
fand ' Darwin  den  Zustand  wie  früher.     Nun  wurde  eine  Scheidewand  von  Messingblech, 
mit  schwarzer  Seide  überzogen,    auf  der  Nase    befestigt,    mittelst  Spangen,  welche  von 
der  Nasenwurzel  um  den  Kopf   liefen.     Sie    erhob  sich  gegen  2'/2"  hoch  über  der  Nase. 
Beim  Tragen   derselben  fand  es  die  Patientin  bald  weniger  unbequem,    seitlich  gelegene 
Gegenstände  mit  dem  Auge  zu  beti  achten,  welches  denselben  am   nächsten   lag,  statt  dass 
")  Makenzie  1    .-.  S,  247. 


Schielen  —  Behandlung  —   Operation.  325 

sie  früher  das  entferntere  dazu  verwendet  hatte.  Nachdem  diese  Gewohnheit  durch  wo- 
chenlangen Gehrauch  des  Instrumentes  geschwächt  worden  war,  wurden  der  Patientin 
zwei  Stückchen  Holz  von  der  Dicke  eines  Federkieles,  ganz  geschwärzt  bis  auf  '/,'  von 
der  Spitze  aus,  häufig  vorsehalten,  um  darnach  zu  sehen.  Das  eine  wurde  auf  die  eine 
Seite  der  Extremität  des  Instrumentes  ,  das  andere  auf  die  andere  Seile  desselben  ge- 
halten. Auf  diese  Weise  gelang  es,  dass  die  Patientin  in  der  nächsten  Woche  eine  halbe 
Minute  lang  beide  Sehachsen  auf  denselben  Gegenstand  richten  konnte.  Indem  sie  diese 
Übung  vor  einem  Spiegel  fast  jede  Stunde  des  Tages  wiederholte,  war  sie  in  der  3. 
Woche  im  Stande  ,  eine  ganze  Minute  lang  mit  beiden  Augen  zugleich  zu  lesen.  Nach 
länger  fortgesetzter  Übung  erlangte  sie  die  Fähigkeit, auch  entferntere  Objecte  (bis  zu  4  oder  5') 
mit  beiden  Augen  zugleich  zu  fixiren,  wesshalb  Daripin  vollständige  Heilung  vorhersagte." 
Über  die  Anwendung  prismatischer  Gläser,  von  denen  sich  in  vielen  Fällen  Nutzen 
erwarten  lässt ,  besitze  ich  noch  keine  eigenen  Erfahrungen.  Vielleicht  dass  Gräfe  uns 
bald  mehr  hierüber  mittheilt. 

Wo  die  Sehkraft  des  Auges  in  Folge  von  Unthäligkeit  gesunken  ist, 
versuche  man  dieselbe  erst  durch  methodische  Übung  so  weit  als  möglich 
zu  heben,  ehe  man  irgend  ein  Heilverfahren  gegen  das  Schielen  selbst 
einschlägt.  Das  gesunde  Auge  werde  mehrmals  des  Tages  auf  einige  Zeit 
wohl  verschlossen,  mittelst  der  Finger  oder  eines  gut  anliegenden  Verban- 
des, anfangs  nur  3 — 4mal  des  Tages  und  auf  einige  Minuten,  später  gra- 
datitn  öfter  und  länger.  Bei  hochgradiger  Amblyopie  gelingt  es  meistens 
nur  mittelst  convexer  Gläser,  das  Auge  noch  zur  Thäligkeit  anzuregen, 
oder  doch  in  relativ  kürzerer  Zeit.  Ist  es  gelungen,  die  Sehkraft  völlig 
oder  doch  nahezu  wieder  herzustellen,  dann  darf  man  erwarten,  das  Schie- 
len auf  orthopädischem  Wege  zu  beheben.  Die  Angabe  glaubwürdiger 
Auetoren,  wie  Beer,  dass  Schielen  auf  diese  Weise  geheilt  worden  sei, 
lässt  sich  durch  Gründe  a  priori  nicht  widerlegen,  und  diejenigen,  welche 
dagegen  eifern,  dürften  bei  Empfehlung  orthopädischer  Regeln  nach  ver- 
richteter Muskeldurchschneidung  wohl  etwas  inconsequent  werden.  Wenn 
aber  auch  die  Beseitigung  des  Schielens  auf  diesem  Wege  allein  nicht  ge- 
lingt, so  hat  man  durch  diese  Übungen  gleichsam  der  Operation  schon 
vorgearbeitet.  Denn  je  mehr  das  Auge  zum  directen  Sehen  geeignet  wurde, 
desto  leichter  kann  es,  der  Fessel  des  verkürzten  Muskels  durch  die  Ope- 
ration entledigt,  zu  den  Objecten  richtig  eingestellt  werden,  weil  eben  die 
Netzhautfunction  der  Regulator  der  Muskelthätigkeit  ist ;  und  je  mehr  es 
gelungen  ist,  die  freie  Beweglichkeit  des  schielenden  Auges  vor  der  Ope- 
ration wieder  herzustellen,  durch  Übung  und  Kräftigung  des  Antagonisten, 
desto  sicherer  wird  man  bemessen  können,  bis  zu  welchem  Grade  man 
bei  der  Operation  von  den  —  später  anzugebenden  —  Mitteln  Gebrauch 
machen  darf,  das  Auge  nach  der  entgegengesetzten  Seite  beweglich  zu 
machen.     Die  Complication    des    continuirlichen    Schielens    mit   Insuffieienz 


326  Augenmuskeln. 

des  Antagonisten  wegen  Mangel  an  hinreichender  Übung  desselben  musä 
vor  der  Operation  so  viel  als  möglich  beseitigt  werden.  Denn,  wenn  der- 
selbe erst  nach  der  Operation  wieder  zu  voller  Thätigkeit  gelangt,  kann 
seine  Wirkung  leicht  zu  beträchtlich  ausfallen;  das  Auge  steht  dann  nach 
der  Operation  eine  Zeit  lang  richtig,  wird  aber  allmälig  nach  der  ent- 
gegengesetzten Seite  abgelenkt,  vielleicht  nur  desshalb,  weil  die  Durch- 
schneidung und  Rücklagerung  des  Muskels  nach  der  zur  Zeit  der  Opera- 
tion vorhandenen  Contractionskraft  des  Antagonisten  berechnet  Wurde. 

Je  mehr  das  Auge  von  jeder  anderweitigen  Abnormität  als  der  der 
Ablenkung  frei  ist,  mit  desto  mehr  Aussicht  auf  günstigen  Erfolg  kann  die 
Operation  unternommen  werden.  Als  völlige  Heilung  kann,  streng  genom- 
men, nur  jener  Zustand  bezeichnet  werden,  wo  sowohl  die  associirten  als 
die  accommodativen  Bewegungen  wieder  zur  Norm  zurückgeführt  wurden. 
Diess  ist  im  Allgemeinen  nur  dann  möglich ,  wenn  das  früher  schielende 
Auge  unter  allen  Verhältnissen  am  Sehacte  Theil  nehmen  kann,  und  wenn 
es  die  Function  des  andern  Auges  nicht  durch  Lieferung  eines  schwächern 
Eindruckes  stört.  Wo  demnach  beträchtliche  Differenz  in  der  Sehkraft  oder 
Sehweite  beider  Augen  besteht,  wird  man  sich  häufig  bloss  mit  Verbesse- 
rung der  Stellung  des  Auges  begnügen  müssen;  das  Auge  weicht  dann 
unter  allen  Umständen  in  der  frühern  Richtung,  nur  in  geringerem  Grade 
ab,  oder  es  stellt  sich  bei  gewissen  Richtungen  des  Blickes  und  Distanzen 
der  Objecte  gehörig  ein,  bei  andern  nicht.  Man  kann  aber  auch,  und  das 
bei  ganz  gehörig  ausgeführter  Operation,  in  solchen  Fällen  beträchtlich 
differenter  Sehkraft  oder  Sehweite  eine  mehr  weniger  penible  Verschlim- 
merung herbeiführen,  wenn  nämlich  nach  erfolgter  richtiger  Einstellung 
der  durch  das  gesunde  Auge  zu  Stande  kommende  Eindruck  durch  den 
des  kranken  geschwächt,  mithin  der  gemeinschaftliche  Sehact  unerträglich 
wird.  Unter  solchen  Umständen  ist  es  als  ein  Glück  zu  betrachten,  wenn 
der  Operirte  allmälig  von  dem  Eindrucke  des  schwächern  Auges  abstra- 
hiren  lernt,  ohne  das  Auge  neuerdings  zu  verdrehen ;  aber  nicht  selten 
erfolgt  letzteres,  nach  der  frühem  oder  nach  der  entgegengesetzten  Rich- 
tung, bald  mit,  bald  ohne  Doppeltsehen.  Letzleres  kann  die  Operirten  Mo- 
nate, Jahre-lang  belästigen.  —  Bei  ungehörig  verrichteter  Operation  bleibt 
die  Ablenkung  in  der  frühern  Richtung  zurück  (Schielen),  oder  erfolgt  ge- 
hinderte Beweglichkeit  nach  dieser  Richtung  mit  beständiger  oder  mit  tem- 
porärer, nur  bei  gewissen  Richtungen  und  Distanzen  hervortretender  Ab- 
lenkung nach  der  entgegengesetzten  Seite  (Luscitas).  —  Dem  Auge  selbst 
bereitet  die  Operation  keine  Gefahr;  wenn  hie  und  da  ein  Fall  mit  Ge- 
fährdung oder  Verlust  des  Sehvermögens  oder  Augapfels  vorgekommen  ist. 


Schielen  —  Behandlung  —  Operation.  327 

so  müssen  ganz  absonderliche  Fehler  von  Seile  des  Arztes  oder  des  Kran- 
ken vorgefallen  sein.  Am  Ende  kann  seihst  eine  leichte  Schnittwunde 
eines  Fingers  gefährlich  werden,  die  in  tausend  und  abermals  tausend  Fäl- 
len ohne  alle  Gefahr  verläuft.  Der  operative  Eingriff,  den  die  Muskel- 
durchschneidung setzt,  soll  und  kann  jederzeit  so  geringfügig  sein,  dass 
die  Heilung  in  8—14  Tagen  ohne  weiteres  Zuthun  erfolgt. 

Vor  der  Operation  muss  nebst  der  Sehkraft,  Sehweite,  Beweglich- 
keit der  Bulbi  u.  s.  w.  auch  noch  der  Grad  der  Ablenkung  bei  mittleren 
Distanzen  ermittelt  werden,  um  zu  bestimmen,  ob  man  die  Durchschnei- 
dung auf  beiden  oder  nur  auf  dem  einen  Auge,  und  in  welcher  Ausdeh- 
nung man  dieselbe  werde  vorzunehmen  haben.  Den  Grad  der  Ablenkung 
zu  bestimmen  ,  kann  man  sich  füglich  an  den  Stand  des  Hornhautrandes 
relativ  zum  innern  oder  äussern  Augenwinkel  halten  ,  wenn  die  Hornhaut 
des  andern  Auges  in  der  Mitte  der  Lidspalte  steht  {bei  gerade  gehalte- 
nem Kopfe).  Im  normalen  Zustande  kann  der  Hornhautrand  einwärts  bis 
zur  halbmondförmigen  Falte,  auswärts  bis  zur  Commissur  gestellt  werden 
Beim  Schielen,  besonders  beim  convergirenden,  kann  der  Rand,  selbst  die 
Hälfte  der  Hornhaut  verborgen  werden.  Diese  excessive  Bewegbarkeit  soll 
bis  auf  die  Norm  (nie  viel  darüber)  beschränkt  werden.  Als  leichte  Grade 
kann  man  beim  Strab.  convergens  jene  Fälle  bezeichnen,  wo  bei  oben  be- 
zeichnetem Stande  des  andern  Auges  der  Hornhautrand  des  schielenden 
höchstens  2'"  weiter  einwärts  steht;  als  mittlere  Grade ,  wo  derselbe  an 
die  halbmondförmige  Falte  zu  stehen  kommt;  als  höchste  Grade,  wo  von 
der  Hornhaut  schon  ein  Theil  verborgen  ist.  Zwei  Linien  Ablenkung  nach 
aussen  sind  ohngefähr  so  hoch  anzuschlagen  wie  eine  Linie  nach  innen, 
wenn  sich's  um  den  Einfluss  der  Ablenkung  auf  das  Operationsverfahren 
handelt.  Bei  geringer  Ablenkung  ist  nämlich  meistens  schon  die  unilate- 
rale Operation  hinreichend,  und  muss  der  Schnitt  auf  die  Sehne  des  Mus- 
kels beschränkt  werden ;  bei  mittlem  Graden  ist  es  in  der  Regel  besser, 
beide  Augen  zu  operiren ,  und  auch  hier  zunächst  nur  die  Sehnenfasern 
zu  durchschneiden ;  man  kann  zwar  durch  ausgiebige  Erweiterung  der  Wunde 
(Schlitzung  der  T.  vaginalis  bulbi  nach  oben  und  unten)  Geradstellung  des 
Bulbus  erzielen,  doch  nur  für  gewisse  Richtungen  und  Distanzen,  und  riskirt 
unvollständige  Beweglichkeit  nach  Seite  des  durchschnittenen  Muskels  oder 
Abweichung  nach  der  entgegengesetzten  Seite  mit  Doppeltsehen.  Bei  höhern 
Graden  lässt  sich  auch  diese  Geradstellung  durch  unilaterale  Operation  nicht 
mehr  erzielen,  geschweige  denn  das  Schielen  beheben.  Betrüge  z.  B.,  wenn 
bei  gerader  Kopfhaltung  die  Pupille  des  im  Mesoropter  und  in  der  Median - 
ebene  fixirenden  Auges  nahezu  in  der  Mitte  der  Lidspalte  steht,  die    Ab- 


328  Augenmuskeln. 

weiclmng  des  schielenden  Auges ,  nach  dem  Stande  des  Hornhautrandes 
vergleichungsweise  gemessen ,  drei  Linien ,  so  kann  die  Correction  nur 
durch  bilaterale  Durchschneidung  exact  und  ohne  Nachtheil  für  die  nor- 
male Beweglichkeit  erzielt  werden ,  und  es  darf  die  Stellung  des  erst- 
operirten  nur  um  \  '/2  ,  höchstens  2'"  verbessert  werden  ,  damit  für  das 
andere  noch  mindestens  i'"  zur  Correction  übrig  bleibt.  Es  ist  aber  viel 
schwieriger,  hierin  zu  wenig,  als  zu  viel  zu  thun.  Zu  bewirken,  dass  das 
Auge  nur  um  i'"  nach  der  entgegengesetzten  Seite  gelenkt,  werde,  erfor- 
dert vom  Operateur  weit  grössere  Dexterität ,  als  grössere  Ablenkungen 
herbeizuführen.  Ich  zweifle,  dass  es  möglich  ist,  das  Auge  weniger  als 
s/4/"  abzulenken.  Das  einzige  Mittel,  geringere  Effecte  zu  erzielen,  wäre 
vielleicht,  nur  einen  Theil,  etwa  3/4  der  Sehne,  und  nach  einigen  Tagen 
den  Rest  zu  durchschneiden.  Doch  fehlen  .mir  hierüber  Versuche.  (Vom 
horizontalen  Einschneiden  der  Bindehaut  oder  von  der  sogenannten  sub- 
conjunctivalen  Muskeldurchschneidung  habe  ich  a  priori  wegen  der  Dehn- 
barkeit der  Bindehaut  nichts  erwartet.) 

Dicffenbach  operirte  ohngefähr  «auf  folgende  Weise.  Ein  hinter  dem 
Kranken  stehender  Gehilfe  fixirte  die  Lider,  und  zog  sie  besonders  in  dem 
betreffenden  Winkel  aus  einander.  Ein  zur  Seite  stehender  Gehilfe  über- 
nahm die  Haltung  eines  spitzen  Häkchens  ,  welches  der  Operateur  nächst 
dem  betreffenden  Hornhautrande  in  die  Bindehaut  eingesenkt  hatte,  um  den 
Bulbus  nach  der  entgegengesetzten  Richtung  zu  fixiren.  Der  Operateur 
setzte  ein  zweites  solches  Häkchen  über  dem  betreffenden  Muskel,  etwas 
rückwärts  von  dessen  Insertion,  in  die  Bindehaut  ein,  und  durchschnitt  nun  mit 
einer  nach  der  Schneide  (rabenschnabelähnlich)  gekrümmten  Scheere  die 
durch  die  Spannung  zwischen  den  Häkchen  entstandene  ,  horizontal  ver- 
laufende Bindehautfalte  etwas  hinter  der  Insertioiislinie  des  Muskels.  Nach 
Stillung  der  Blutung  (oder  Abtupfung  mittelst  eines  Schwämmchens)  um- 
ging er  den  Muskel  mit  einem  bogenförmig  gekrümmten  stumpfen  Haken 
(Krümmungsradius  circa  21/„///),  zog  den  Muskel  hervor,  und  durehschnit1 
ihn  nun  quer  (von  unten  nach  oben)  mit  der  neben  dem  Haken  eingeführ- 
ten Scheere.  —  Dieser  Vorgang  erlitt  mannigfaltige  Modifikationen,  welche 
aufzuzählen  höchstens  historisches  Interesse  halten  Würde.  Als  Nachtlieile 
kann  man  bezeichnen:  dass  zwei  geübte  Gehilfen  nothwendig  sind,  dass 
sie  leicht  Ecchymosen  veranlasst,  dass  sie  beim  Hervorziehen  des  Muskels 
mit  dem  Haken  starke  Schmerzen  erregt,  und  dass  der  Muskel  leicht  zu 
weit  von  seiner  Insertionsstelle  durchschnitten  wird.  Ich  beschränke  mich 
auf  die  Angabe  des  Verfahrens .  welches  ich  seit  dem  Jahre  1840  an- 
wende, und  für  ebenso  zweckmässig  als  einfach  halte. 


Schielen  —  Behandlung  —  Operation.  329 

Ich  lasse  das  (zunächst)  nicht  zu  operirende  Auge  mit  der  Hand  zu- 
halten oder  fest  verbinden,  damit  der  Kranke  das  andere  besser  in  seine 
Gewalt  bekomme  und  nach  der  entgegengesetzten  Seite  richten  könne. 
(Der  leichtern  Verständlichkeit  wegen  nehmen  wir  an,  es  sei  der  R.  in- 
ternus des  linken  Auges  zu  durchschneiden.)  Während  nun  der  Kranke 
ein  links  gelegenes  Object  fixirt,  und  der  Assistent  mit  der  linken  Hand 
das  obere ,  mit  der  rechten  das  untere  Lid  fixirt ,  besonders  den  innern 
Winkel  bloss  legend,  fasse  ich  mit  einer  mittelgrossen  2?/ö/«er'schen  Pin- 
cette  (in  der  linken  Hand ,  mit  auf-  und  abwärts  federnden  Armen)  die 
Bindehaut  höchstens  3"'  vom  Hornhautrande  entfernt*),  hebe  die  Binde- 
haut etwas  vom  Bulbus  ab,  dass  sie  eine  Falte  bildet,  schneide  diese  knapp 
an  der  Pincette  (an  der  der  Cornea  zugewandten  Seite)  mit  einer  Dieffen- 
&«cÄ'schen  Scheere,  die  Convexität  nach  unten  gerichtet,  vertikal  ein,  und 
erweitere  die  Wunde  auf-  und  abwärts  bis  auf  etwa  4'"  Länge.  Sofort 
setze  ich  die  Pincette  in  derselben  Haltung  senkrecht  oder  unter  einem 
wenig  spitzigen  Winkel  zwischen  den  Wundrändern  vor  dem  bloss  noch 
von  der  T.  vagin.  umhüllten  Muskel  auf  die  Sclera  auf,  gehe  mit  der  Pin- 
cette ,  sie  allmälig  bis  auf  4'"  öflhend  und  dabei  an  den  Bulbus  andrük- 
kend,  ein  wenig  rückwärts,  gleichsam  um  den  Muskel  aus  der  Wunde  her- 
vorzuholen, und  fasse  ihn  nun  wie  ein  Flügelfell  durch  Schliessen  der 
Pincette.  Unmittelbar  darauf  schiebe  ich  das  untere  Blatt  der  Scheere, 
welches  nicht  scharf  spitzig  ist,  gleich  einem  Haken  von  unten  zwischen 
der  Sclera  und  dem  Muskel  bis  zu  dessen  obern  Ende  hinauf,  drehe  die 
Scheere  nun  so,  dass  beide  Blätter  (das  eine  vor,  das  andere  hinter  dem 
Muskel)  flach  am  Bulbus  liegen,  und  durchschneide  somit  in  1 — 2  Zügen 
den  Muskel  in  seiner  Sehne  und  so  knapp  als  möglich  an  der  Sclera.  Hie- 
mit  kann  die  Operation  —  in  Zeit  von  1  Minute  —  beendet  sein.  Wenn 
man  jedoch  die  Arme  der  Pincette  nicht  genug  öffnete,  oder  wenn  man 
die  Scheere  nicht  hinter  der  Muskelsehne  hinauf,  sondern  unten  oder  oben 
durch  dieselbe  durchführte,  so  sind  Fasern  ungetrennt  geblieben,  und 
machen  noch  die  Einführung  eines  stumpfen  Häkchens  (halb  so  gross  als 
das  Die ffenbacV 'sehe)  notwendig.  Wo  man  Ursache  hat,  unvollständige 
Trennung  anzunehmen,  vertausche  man  sofort  die  Pincette  mit  diesem  in 
Bereitschaft  liegenden  Häkchen,  und  sondire,  von  der  Mitte  der  Wunde, 
wo  die  Sclera  bloss  liegt,  knapp  an  dieser  auf-  und  abwärts  streifend,  wo 
die  noch  zu  durchschneidende  Partie  sitzt,  was  man  leicht  an  dem  Wider- 

)  Nach  manchen,  selbst  noch  In  neuester  Zeit  erschienenen  bildlichen  Darstellungen  der  Operation  möchte  man 
glauben,  der  R.  internus  müsse  nicht  2%  höchslens  3,  sondern  mindestens  4  "  weit  vom  Hornhaulrandc  durch- 
schallen werden. 


330  Augenmuskeln. 

stände  erkennt,  auf  den  das  Häkchen  beim  Anziehen  nach  vorn  stösst. 
Wo  diess  der  Fall  ist,  führe  man  die  Scheere  neben  dem  Häkchen  wie 
an  einer  Leitungssonde  ein,  und  durchschneide  jedoch  nur  die  Sehnenfasern, 
die  man  mit  dem  Häkchen  hervorholt,  ohne  die  Wunde  bis  in  die  seitliche 
Invagination  des  Muskels  zu  erweitern.  —  Ob  man  am  rechten  oder  am 
linken  Auge,  im  innern  oder  im  äussern  Winkel  zu  operiren  hat,  das 
ändert  weder  die  Rolle  der  Hände,  noch  die  Haltung  der  Instrumente,  nur 
dass  beim  R.  externus  des  linken  und  beim  R.  internus  des  rechten  Auges 
Scheere  und  Pincette  beim  Muskelschnitte  sich  kreuzen  müssen,  damit  der 
Muskel  zwischen  der  gefassten  Stelle  und  der  Sclera,  nicht  aber  auf  der 
andern  Seite  der  Pincette  (im  Muskelfleische)  durchschnitten  werde. 

Möge  man  aber  auf  diese  oder  eine  andere  Weise  operiren:  wesent- 
lich ist  nur  das ,  dass  der  Muskel  so  knapp  als  möglich  am  Bulbus ,  also 
in  seiner  Sehne  durchschnitten  werde,  und  dass  man  die  T.  vagin.  weder 
nach  oben  noch  nach  unten  hin  zu  weit  schlitze.  Das  vordere  Ende  des 
Muskels  steckt  in  der  von  ihm  äusserst  schräg  durchbohrten  T.  vagin. 
wie  in  einer  Scheide,  und  hängt  mit  derselben  so  fest  zusammen,  dass 
sich  der  Muskel  nicht  aus  dieser  Invagination  herausziehen  kann.  Die  eben 
gegebene  Vorschrift  gründet  sich  auf  dieses  anatomische  Verhalten  und 
auf  den  Vorgang  der  Heilung  der  Wunde,  wie  man  ihn  theils  während 
des  Lebens,  theils  bei  der  Section  von  Operirten  beobachtet  hat.  (Zu 
letzterer  halte  ich  2mal  Gelegenheit.)  Die  Muskelvvundränder,  man  möge 
nun  in  dem  sehnigen  oder  im  fleischigen  Theile  durchschnitten  haben,  tre- 
ten nicht  mehr  mit  einander  selbst  in  Verbindung,  weder  unmittelbar,  noch 
durch  eine  Zwischenmasse,  wie  man  in  früherer  Zeit  meinte ,  sondern  das 
hintere  Stück  zieht  sich,  so  weit  es  eben  die  Verhältnisse  gestarffen,  zu- 
rück und  verwächst  mit  den  nächst  angrenzenden  Gebilden,  während  das 
vordere  Stück,  falls  ein  solches  sitzen  geblieben ,  allmälig  schrumpft,  oder 
aber  wuchert  und  nachträglich  abgetragen  werden  muss.  Den  Muskel 
nicht  knapp  an  der  Sclera  abschneiden,  heisst  also  eigentlich  so  viel,  als 
vorn  ein  Stück  von  ihm  excidiren,  mithin  den  ohnehin  kürzern  (contra- 
hirten)  Muskel  noch  kürzer  machen.  Wird  aber  der  Muskel  knapp  an  der 
Sclera  abgeschnitten,  so  hängt  er  durch  die  ihn  hier  fest  umhüllende  T. 
vagin.  beiderseits  (oben  und  unten)  mit  dem  Bulbus  zusammen,  und  kann 
sich  an  diesem  nur  so  weit  zurückziehen ,  als  es  eben  die  Dehnbarkeit 
der  T.  vagin.  und  die  Grösse  der  Eröffnung  derselben  gestattet.  Wurde 
die  T.  vagin.  so  weit  geschlitzt,  dass  der  darin  haftende  Muskel  sich  bis 
zum  Äquator  bulbi  zurückziehen  kann,  und  dort  anheilt,  so  sinkt  der  Ein- 
fluss,    den  dieser  Muskel  fernerhin    noch    auf  den  Bulbus  üben  kann,    so 


Schielen  —  fletraiidlurfg  —  Operation,  331 

ziemlich  auf  Null  herab,  trotzdem  der  nächste  Zweck,  Wiedervereinigung 
des  vordem  Muskelendes  unmittelbar  mit  dem  Bulbus,  erreicht  ist.  —  Wird 
aber  der  Muskel  dort  durchschnitten,  wo  er  bereits  aus  der  T.  vagin.  heraus- 
getreten ist,  so  hängt  er  mit  derselben  höchstens  noch  durch  das  in 
die  T.  vagin.  übergehende  Perimysium  zusammen,  und  kann  nur  mit  die- 
sem und  mit  dem  benachbarten  fettreichen  Bindegewebe  verwachsen.  Die 
Folge  davon  ist  zunächst  eine  mehr  weniger  starke  Beeinträchtigung  der 
Beweglichkeit  des  Bulbus  nach  dieser  Seite,  und  gibt  sich  bald  unmittel- 
bar nach  der  Operation,  bald  erst  nach  erfolgter  Veranlassung  kund.  Ein 
geringerer,  wenn  gleich  noch  immer  beachtenswerther  Übelstand  ist  — ■ 
nach  solcher  Durchschneidung  des  R.  internus  —  Rückwärtsziehung  der 
Caruncula  und  der   halbmondf.  Falte. 

Die  nächste  Aufgabe  der  Operation,  zu  bewirken,  dass  der  Muskel 
Um  ein  Gewisses  C3//"  bis  172"')  weiter  rückwärts  an  die  Sclera  an- 
heile, wird  nicht  erreicht,  wenn  auch  nur  einige  Fasern  (oben  oder  unten) 
ungetrennt  blieben.  Dass  der  Muskel  vollständig  getrennt  sei,  erkennt  man 
häufig  noch  vor  Anwendung  der  Hakensonde  an  dem  Klaffen  der  Wunde 
bei  Wendung  des  Auges  nach  der  entgegengesetzten  Seite.  Wo  die 
Sclera  —  nach  Beseitigung  des  Blutes  —  mitten  in  der  Wunde  rein  weiss 
zu  Tage  liegt,  kann  man  überzeugt  sein,  dass  der  Muskel  völlig  durch- 
schnitten ist.  Wo  hingegen  die  Beweglichkeit  nach  der  betreffenden  Seite 
zu  sehr  beschränkt  erscheint,  hat  man  gewiss  die  T.  vagin.  zu  reichlich 
geschlitzt. 

Nach  vollendeter  Durchschneidung  lasse  man  das  andere  Auge  öffnen, 
um  die  Stellung  beider  Bulbi  zu  prüfen.  Nach  Durchschneidung  eines 
R.  internus  wird  man  zunächst  finden,  dass  der  Bulbus  etwas  aus  der 
Orbita  vorgetreten  ist.  War  die  Ablenkung  gering,  so  stehen  vielleicht 
schon  jetzt  die  Bulbi  für  alle  Richtungen  und  Distanzen  richtig  oder  doch 
zu  Objecten,  welche  in  Distanz  von  1 — 3  Fuss  in  der  Medianebene  vor- 
gehalten werden.  Tritt  für  grössere  Entfernungen  noch  etwas  Convergenz 
ein,  so  darf  man  bei  entsprechender  Nachbehandlung  völlige  Heilung  er- 
warten; tritt  hingegen  sichtliche  Divergenz  oder  doch  Doppeltsehen  mit 
gekreuzten  Bildern  auf,  so  hat  man  zu  viel  gelöst,  und  muss  von  den  — 
weiter  unten  angegebenen  —  Mitteln  gegen  das  weitere  Zurückweichen 
des  Muskels  bei  der  Anheilung  Gebrauch  machen.  War  die  Ablenkung 
hochgradig,  so  wird,  falls  man  mit  der  Trennung  nicht  zu  freigebig  war, 
das  operirte  Auge  noch  schielen,  oder  aber,  falls  dieses  sich  in  der  Visio 
directa  zu  behaupten  vermag,  das  andere,  nur  das  eine  sowohl  als  das 
andere  in  geringerem  Grade,  als  vordem.    Diess  ist's,  was  man  in  solchen 


332  Augenmuskeln. 

Fällen  eben  zunächst  anzustreben  hatte.  Denn  wird  nun  an  dem  zweiten 
Auge  die  Durchschneiduno-  dem  Reste  der  Ablenkung  (dem  jetzigen  Schiel- 
winkel) entsprechend  vorgenommen,  so  ergänzt  dieser  Act  den  ersten. 
Wem  dieses  etwa  nicht  glaubwürdig  erscheint,  der  versuche  es  nur  ein- 
mal, die  Tenotomie  blos  an  dem  nicht  schielenden  Auge  vorzunehmen; 
bei  geringen  Graden  von  Schielen  kann  hiedurch  allein  schon  Heilung  be- 
wirkt werden.  —  Allerdings  könnte  man  die  richtige  Einstellung  der  Seh- 
achsen dadurch  erzwingen,  dass  man  an  dem  eben  operirten  Auge  die 
Trennung  der  T.  vagin.  noch  in  ausgedehnterem  Masse  vornähme;  hie- 
durch würde  man  aber  eben  nicht  eigentliche  Heilung,  sondern  höchstens 
Verbesserung  des  Schielens  erzielen;  es  würde  das  operirte  Auge  höch- 
stens für  einige,  niemals  aber  für  alle  Richtungen  und  Distanzen  richtig 
eingestellt  werden  können.  —  Wenn  man  mit  der  Durchschneidung  an 
dem  2.  Auge  wartet,  bis  am  1.  feste  Vernarbung  eingetreten  ist,  so  wird 
man  meistens  finden,  dass  entweder  dieses  noch  einmal  operirt  werden 
muss  (falls  sich  noch  ein  hoher  Grad  von  Schielen  erhalten  hat),  oder  dass 
die  Operation  des  2.  Auges  sehr  schwierig  wird,  weil  sie  (wenn  nur  noch 
ein  geringer  Rest  von  Schielen  geblieben)  auf  das  Minimum  der  Ablösung 
beschränkt  werden  muss.  Falls  aber  auch  durch  die  unilaterale  Operation 
bei  höheren  Graden  von  Schielen  der  Zweck  rücksichtlich  der  Stellung  der 
Sehachsen  so  weit  erreicht  worden  ist,  dass  man  sich  damit  begnügen 
kann,  so  wird  doch  dem  kosmetischen  Zwecke  immer  mehr  weniger  Ein- 
trag gethan  durch  die  ungleiche  Lage  der  Bulbi ,  die  hier  immer  schon 
auffallend  hervortritt,  und  durch  die  fortbestehende  Schiefhaltung  des 
Kopfes,  welche  oft  nur  mit  grosser  Mühe  abgelegt  werden  kann',  während 
sie  bei  der  bilateralen  Operation  so  zu  sagen  durch  den  Operationsact 
selbst  beseitigt  wird. 

Bei  der  völligen  Gefahrlosigkeit  der  Operation  stellt  der  beiderseitigen  Durchschnei- 
dung in  einer  Sitzung  (oder  wenig  Tage  nach  einander)  nichts  entgegen,  als  die  Furcht, 
das  Einwärtsschielen  in  Auswärtsschielen  mit  Doppelsehen  zu  verwandeln.  Dass  diesem 
üblen  Zufalle  vorgebeugt  werden  könne,  ergibt  sich  wohl  aus  dem  bereits  Gesagten; 
dass  ihm  aber  auch  wieder  abgeholfen  werden  könne,  hat  A.  von  Gräfe  durch  eine  Reihe 
glänzender  Erfolge  bei  inverterirtem  Auswärtsstehen  der  Bulbi  nach  excessiver  Internus— 
durchschneidung  dargethan.  So  viel  ich  weiss,  war  die  Mehrzahl  in  diesem  schlimmen 
Zustand  nicht  durch  die  bilaterale,  sondern  durch  unilaterale  Internusdurchschneidung  ver- 
setzt worden.  Das  Umschlagen  in  luseiöse  Auswärtsstellung  dürfte  demnach  mindestens 
eben  so  oft  nach  unitaleraler  Durchschneidung  zu  fürchten  sein,  ja  noch  öfter,  indem 
man,  um  die  (jleradestelluiig  zu  erzwingen,  den  Muskel  zu  weit  zurücklagern,  das  Auge 
dem  Einflüsse  des  Muskels  zu  viel  entziehen  und  dasselbe  somit  gleichsam  verstümmeln 
muss.  Übrigens  liegt  der  Grund  des  Umschlagcns  in  Sirabismus  nach  der  entgegen- 
gesetzten Richtung  in  vielen  Fällen  gewiss  nicht   in  fehlerhafter  Verrichtung  der  Opera- 


Schielen  —  Behandlung  —  Operation.  333 

tion,  oder  doch  nicht  vorzüglich  in  dieser,  sondern  vielmehr  darin,  dass  Augen  opcrirt 
werden,  die  überhaupt  durch  die  Operation  nicht  geheilt  werden  können,  weil  Compli- 
cationen  (optische  Hindernisse,  IVluskelinsufficienz)  vorhanden  sind,  welche  erst  halten 
beseitigt  werden  müssen,  wenn  die  Operation  nicht  so  zu  sagen  „auf  gut  Glück" 
unternommen  werden  sollte.  Es  gibt  Leute,  welche  nach  vollkommen  richtig  ver- 
übter Operation  wieder  schielen  müssen,  wenn  sie  mit  dem  andern  Auge  gut  sehen 
wollen  ;  ist  die  Ablenkung  nach  der  frühem  Richtung  unmöglich,  so  erfolgt  sie  nach 
der  entgegengesetzten  Seite  um  so  leichter,  je  weiter  der  Muskel  rückwärts  gelauert 
worden  war. 

Die  Wunde  bedarf  kaum  einer  Nachbehandlung.  Zur  Linderung  des 
brennenden  oder  drückenden  Schmerzes  mag  man  durch  einige  Stunden 
kalte  Überschläge  machen  lassen.  Einschränkung  des  Kranken  auf's  Zimmer 
wird  höchstens  aus  Rücksicht  auf  die  Stellung  der  Bulbi  nothwendig.  Be- 
deutende Ecchymosen  habe  ich  nicht  mehr  gesehen,  seit  ich  in  der  oben 
beschriebenen  Weise  und  ohne  Lidhalter  operire.  Wenn  man  an  der 
Sclera  einen  Stumpf  zurückliess,  bei  Durchschneidung  im  Muskelfleische, 
so  heilt  die  Wunde  langsam ,  und  es  erheben  sich  dann  häufig  von  dein 
Stumpfe  aus  Wundgranulationen,  welche  man  zu  ätzen  empfohlen  hat. 
Wenn  mir  dieser  Zufall  —  wie  in  der  ersten  Zeit  mehrmal  —  begegnete, 
so  wartete  ich ,  bis  die  Wucherung  an  der  Basis  durch  die  immer  näher 
zusammenrückende  Bindehaut  bis  auf  einen  dünnen  Stiel  eingeschnürt 
worden  war,  wo  sie  sich  dann  leicht  mit  einer  flach  gebogenen  oder 
geraden  Scheere  abtragen  Hess.  —  Wichtiger  ist  die  sogenannte  ortho- 
pädische Nachbehandlung.  Die  Grundsätze  derselben  sind  im  Wesentlichen 
dieselben,  wie  die,  welche  wir  der  Operation  vorauszuschicken  empfohlen 
und  oben  angegeben  haben.  Wer  sich  die  Mühe  genommen ,  Schielende 
ohne  Operation  zu  heilen,  wird  sich  im  Allgemeinen  auch  zu  helfen  wissen, 
wenn  nach  der  Operation  noch  ein  geringer  Grad  von  Schielen  zurück 
bleibt.  Nur  gegen  geringe  Reste  hilft  die  Orthopädie  in  Fällen,  wo  sie 
nicht  auch  ohne  Operation  ausreichend  gewesen  wäre.  Wo  dem  Erfolge 
der  Operation  nicht  schon  in  vorhinein  eine  zweifelhafte  Prognosis  zu 
stellen  war  (wegen  Complicationen ,  von  denen  oben  die  Rede  war),  und 
wo  dieselbe  richtig  ausgeführt  wurde,  da  stehen  die  Bulbi  meistens  schon 
unmittelbar  nach  der  Operation  richtig,  und  das  Verhalten  der  Kranken 
muss  in  Bezug  auf  den  Gebrauch  der  Augen  in  den  ersten  Tagen  und 
Wochen  nur  so  eingerichtet  werden,  dass  die  richtige  Einstellung  nicht 
durch  fehlerhafte  Verwendung  wieder  verrückt  werde.  Bei  insufficienter 
Wirkung  der  Operation  hat  man  empfohlen,  das  noch  fehlerhaft  stehende 
Auge  fleissig  so  verwenden  zu  lassen,  dass  der  Antagonist  mehr  in  An- 
spruch genommen  werde,    die  Wunde  mehr  klaffe,  und  der  Muskel  weiter 


334  Augenmuskeln. 

li inten  anheile.  Dagegen  ist  nichts  einzuwenden,  sobald  nicht  zu  viel  ver- 
langt, andrerseits  aber  auch  die  Sache  nicht  zu  weit  getrieben  wird.  Wie 
aber  bei  excessiver  Wirkung  der.  Operation  das  Zu-weit-zurückweichen 
des  durchschnittenen  Muskels  dadurch  verhindert  werden  soll,  dass  man 
den  Kranken  anweist,  nach  der  Seite  des  durchschnittenen  Muskels  zu 
schauen  (bei  Durchschneidung  des  linken  R.  internus  nach  rechts),  ist  mir 
unbegreiflich.  Denn  hiedurch  wird  offenbar  die  Zurückziehung  des  abge- 
lösten Muskels  eher  begünstigt  (indem  ja  der  R.  internus  jetzt  den  Bulbus 
einwärts  rollen,  mithin  in  erhöhte  Thätigkeit  gerathen  muss,  wie  er  es 
denn  auch  thut,  so  gut  es  eben  seine  Verbindung  mit  dem  Bulbus  noch 
gestattet.)  Will  man  das  Zu-weit-zurückweichen  des  abgelösten  Muskels 
durch  Orthopädie  verhüten,  so  muss  man  überhaupt  jede  Seitenbewegung 
und  jeden  Gebrauch  sowohl  für  grössere  als  für  nähere  Distanzen  (accom- 
modative  Bewegung)  verbieten.  Am  ehesten,  wenn  überhaupt  etwas,  kann 
noch  das  helfen,  dass  man  beide  Augen  durch  einige  Tage  wohl  ver- 
schlossen halten  lässt.  Bedeutendes  darf  man  aber  auch  von  diesem  Ver- 
fahren nicht  erwarten,  und  es  wird  bei  offenbarer  Divergenz  unmittelbar 
nach  der  Operation  besser  sein,  statt  die  beste  Zeit  zu  erfolgreichem  Han- 
deln verstreiehen  zu  lassen,  lieber  sogleich  zu  einem  operativen  Verfahren 
zu  schreiten,  indem  man  entweder  das  vordere  Ende  des  abgelösten  Mus- 
kels mittelst  eines  oder  zweier  Hefte  an  die  Binde-  und  Scheidenhaut 
nächst  der  Cornea  befestigt,  oder  indem  man  überdiess  den  R.  externus 
mit  möglichst  geringer  Wundgrösse  durchschneidet.  —  Bei  veralteter  Aus- 
wärtsstellung des  Bulbus  hat  A.  v.  Gräfe  das  Guerin'sche  Verfahren,  zweck- 
mässig modificirt,  mit  dem  besten  Erfolge  angewendet.  Zunächst  wird  im 
innern  Winkel  die  Bindehaut  eingeschnitten,  und  der  zu  weit  rückgelagerte 
oder  mit  dem  Bulbus  gar  nicht  in  directe  Verbindung  getretene  Muskel 
präparirt,  um  ihn  zur  Wiedervereinigung  mit  der  Sclera  geeignet  zu 
machen.  Sodann  wird  der  R.  externus  durchschnitten  und  der  hiebei  ab- 
sichtlich (in  der  Sclera)  sitzen  gelassene  Stumpf  mit  einer  Fadenschlinge 
gefasst,  um  hiemit  den  Bulbus  bis  zur  Wiederanheilung  des  R.  internus 
genügend  einwärts  gelenkt  zu  erhalten.  Nach  2 — 3  Tagen  wird  der 
Faden   entfernt. 


Augenzittern  (Nystagmus  bulbi). 

Mit  diesem  Terminus  pflegt  man  jenen  Zustand  der  Bulbi  zu  bezeich- 
nen,   wo  dieselben  in  beständiger  oscillirender  oder  rotirender  Bewegung 


Augenzittern.  335 

sind,  welche  nicht  nur  unwillkürlich  fortbesteht,  sondern  auch  beim  Bestre- 
ben, den  Blick  fest  auf  irgend  ein  Object  zu  heften,  noch  stärker  in  die 
Erscheinung  tritt.  Manche  Augen  bieten  nur  oscillirende  Bewegungen 
dar,  d.  i.  eine  Reihe  ganz  kleiner  und  rascher  Schwankungen  oder  Dre- 
hungen um  eine  durch  den  Äquator  bulbi  gehende  Achse,  demnach  wohl 
vermittelt  durch  kurz  auf  einander  folgende  kleine  Contractionen  und  Ex- 
tensionen gerader  Augenmuskeln,  besonders  des  R.  internus  und  R.  exler- 
nus  (Nystagmus  oscillatorius).  An  andern  bemerkt  man  beständig,  beson- 
ders aber  beim  Bestreben,  irgend  ein  Object  genauer  zu  sehen,  kleine 
rotirende  Bewegungen  um  eine  ohngefähr  vom  vordem  zum  hintern  Pole 
verlaufende  Achse,  also  wohl  durch  die  M.  obliqui  vermittelt  (Nyst.  rota- 
torius),  während  noch  andere  gewissermassen  ein  Gemisch  von  beiden 
darbieten,  doch  so,  dass  bald  das  eine,  bald  das  andere  vorherrschend  in 
die  Erscheinung  tritt.  —  Dieser  Zustand  ist  an  und  für  sich  kein  Gegen- 
stand der  Behandlung,  denn  er  ist  immer  nur  die  Folge  anderer  Übel ; 
aber  seine  Betrachtung  ist  so  sehr  geeignet,  auf  den  Act  des  Sehens  über- 
haupt Licht  zu  werfen,  dass  wir  nicht  umhin  können,  ihn  einer  etwas 
weitläufigeren  Erörterung  zu  unterwerfen,  als  bisher  geschehen  ist. 

Man  wird  diesen  Zustand  niemals  treffen,  wenn  auch  nur  eines  der 
beiden  Augen  ein  vollkommenes  Gesicht  besitzt.  Das  Gesicht  ist  aber  nicht 
fehlerhaft,  weil  Nystagmus  vorhanden  ist,  sondern  der  Nystagmus  ist  ganz 
bestimmt  jederzeit  die  Folge  mangelhaften  Gesichtes.  Der  Nystagmus  wird 
—  mit  sehr  wenigen  Ausnahmen  —  nur  an  Individuen  beobachtet,  welche 
Fehler  des  Gesichtes  beider  Augen  seit  der  Zeit  des  1.  Lebensjahres  an 
sich  tragen,  Trübungen  der  durchsichtigen  Medien  oder  Amblyopie  aus 
was  immer  für  Ursachen.  Wenn  sich  solche  Zustände  in  späterer  Zeit 
entwickeln,  namentlich  wenn  beiderseitige  Cataracta  oder  Amaurosis  ent- 
steht, so  pflegen  die  Bulbi  wohl  auch  häufig  in  Schwankungen  zu  gera- 
then;  diese  erfolgen  jedoch  bei  weitem  nicht  so  rasch  und  sind  vielmehr 
dem  stets  unbefriedigt  bleibenden  Drange  zu  sehen  zuzuschreiben.  Wenn 
das  Sehhinderniss,  die  Hornhauttrübung,  die  Cataracta  bei  Zeiten,  ehe  noch 
unheilbare  Abstumpfung  der  centralen  Netzhautpartie  dazugetreten  ist,  be- 
seitigt wurden,  so  schwindet  der  Nystagmus,  und  zwar  auch  dann,  wenn 
die  Functionsfähigkeit  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  nur  auf  dem 
einen  Auge  wieder  hergestellt  wurde. 

Obwohl  es  bei  Nystagmus  schwer  ist  zu  bestimmen,  ob  beide  Augen 
zugleich  richtig  zu  den  Objecten  eingestellt  werden,  so  gibt  es  doch  Fälle, 
wo  wenigstens  keine  merkliche  Ablenkung  des  einen  Auges  stattfindet. 
Wenn  aber  auch  das  eine  Auge  entschieden  abgelenkt  wird,  so  partieipirt 


336  Augenmuskeln. 

es  doch  an  den  oscillirenden  oder  rotirenden  Bewegungen  des  andern. 
Auch  ein  ganz  erblindetes,  z.  B.  phthisisches  Auge  participirt  am  Nystag- 
mus des  andern.  In  den  meisten  Fällen  wird  aber,  wenn  beide  sehfähig 
sind,  auch  das  zum  Betrachten  von  Objecten  verwendete  bessere  Auge 
nicht  mit  dem  Netzhautcentrum  dem  Objecte  zugewendet,  sondern  mit  einer 
excentrischen  Region.  Der  Nystagmus  hindert  übrigens  nicht,  dass  sowohl 
assoeiirte  als  aecommodative  Bewegungen  auftreten,  wenn  auch  nicht  mit 
jener  Ruhe  und  Stetigkeit  im  Fortschreiten,  wie  im  gesunden  Zustande. 
Vergl.  III.  B.  S.  48. 

Ich  glaube  nicht  zu  irren,  wenn  ich  annehme,  der  Nystagmus  erfolge 
im  Dienste  des  Sehactes.  Dieser  kann  nicht  gehörig  erfolgen,  weil  ent- 
weder ein  unvollständiges,  zu  lichtarmes  Bild  entworfen  wird,  oder  weil 
durch  eine  ausgedehnte  centrale  Trübung  die  Mac.  lutea  vom  Sehen  aus- 
geschlossen wird,  oder  wegen  Blendung  (durch  diffuses  oder  reflectirtes 
Licht,  bei  durchscheinenden  Trübungen,  bei  Chorioidealspaltung  —  Colo- 
boma,  bei  Pigmentmangel  —  Albinismus)  oder  endlich  wegen  Netzhaut-, 
Sehnerven-,  Hirnleiden  —  Hydrocephalus  chronicus.  Ist  nun  die  Netzhaut 
aus  was  immer  für  einer  Ursache  schon  in  früher  Jugend  in  ihrer  Function 
gehindert,  und  zwar  auf  beiden  Augen,  ist  der  Eindruck,  den  sie  dem  Sen- 
sorium  bringt,  ungenügend,  so  tritt  Nystagmus  auf,  als  eine  Reihe  rasch 
auf  einander  folgender  Reflexbewegungen,  um  dadurch,  dass  dieselbe  Netz- 
hautstelle rasch  nach  einander  wieder  von  denselben  Lichtstrahlen  getrof- 
fen wird,  ehe  noch  die  Schwingungen  von  der  nächst  vorhergehenden  Erre- 
gung verschwunden  sind,  zu  potenziren.  Die  Schwingungen  oder  Rotati- 
onen erfolgen  meines  Erachtens  rascher,  als  man  eine  Flamme  im  Kreise 
herumzudrehen  im  Stande  ist.  Vergl.  III.  B.  S.  34.  So  wie  ein  gesundes 
Auge  ein  Object,  das  wegen  zu  geringer  Erregung  der  Netzhaut  schon 
jenseits  der  Gränze  der  Wahrnehmung  liegt,  noch  wahrnehmen  kann,  so- 
bald dieses  in  rasche  Bewegung  geräth,  so  möchte  ich  sagen,  erkennt  das 
mit  unvollständiger  Sehkraft  ausgerüstete  Auge  Objecte  oder  sieht  sie  doch 
besser,  sobald  dieselben  rasch  hinter  einander  demselben  vorgeführt  wer- 
den. Denn  es  ist  wohl  eins,  ob  das  Object  sich  so  bewegt  oder  das 
Auge.  Desshalb,  wenn  ich  nicht  irre,  tritt  der  Nystagmus  besonders  dann 
auf,  wenn  siclvs  darum  handelt,  irgend  ein  Object  genauer  zu  erkennen. 
Gäbe  es  also  auch  ein  Mittel,  den  Nystagmus  zu  heben :  könnte  ich  nicht 
zugleich  das  Sehhinderniss  beseitigen,  so  würde  ich  auch  jenes  Mittel  un- 
benutzt lassen. 

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X.  Buch. 
Die  Augenlider,  palpebrae, 


A,     Anatomisch  -  physiologische  Bemerkungen. 

Die  conslituirenden  Theile  der  Augenlider  sind:  die  Haut,  der  Kreis- 
oder Schliessmuskel ,  die  beiden  Lidknorpel,  welche  die  Meibom' sehen 
Drüsen  in  sich  einschliessen ,  innen  mit  der  Bindehaut  überzogen  sind, 
und  durch  die  obere  und  untere  Augenlidbinde  (fascia  tarso-orbitalis  sup. 
etinf,),  so  wie  durch  das  innere  und  äussere  Augenlidband  (ligamentum 
canthi  seu  palp.  intern,  et  extern.)  mit  dem  Orbitalrande  des  Knochen- 
gerüstes verbunden  werden ;  längs  ihres  freien  Randes  sind  die  Haar- 
zwiebeln der  Cilien  zwischen  dem  Schliessmuskel  und  dem  Knorpel  ein- 
gepflanzt, und  in  den  convexen  Rand  des  oberen  Knorpels  inserirt  sich 
(mittelbar)  der  Aufheber  des  oberen  Lides ,  welcher  hinter  der  obern 
Augenlidbinde  auf-  und  rückwärts  verläuft  (zur  Spitze  der  Orbita).  Im 
innern  Augenwinkel  liegen  die  Thränenröhrchen, 

1.  Lage.  Die  Haut,  in  der  Gegend  der  Augenbrauen  ungewöhnlich 
dick,  und  unterhalb  des  untern  Augenhöhlenrandes  besonders  fettreich,  ist 
im  Bereiche  der  Augenhöhlenöffnung  ungemein  dünn  (gegen  die  Lidränder 
hin  wie  Papier),  fettlos,  sehr  dehnbar  und  mit  der  2.  Lage  (dem  Orbicular- 
muskel)  durch  ein  sehr  lockeres  Bindegewebe  verbunden;  bloss  an  den 
Augenlidbändern,  besonders  am  innern,  dem  sie  unmittelbar  aufliegt,  und 
an  den  Lidrändern  haftet  sie  fest;  sonst  lässt  sie  sich  überall  leicht  in 
Falten  erheben  und  isoliren,  ist  zu  blutigen  und  serösen  Infiltrationen  sehr 
geneigt ,    dagegen    der  Entwicklung   von  Furunkeln  und  Balggeschwülsten 

Arlfs  Augenheilkunde  III,  2.  22 


338  Augenlider. 

nur  noch  in  der  Nähe  des  Orbitalrandes    günstig.     Durch  zahlreiche  ,    nur 
äusserst  feine  Schmeerdrüschen  wird  die  Cutis  der  Lider  nicht  nur  geschmei- 
dig erhalten,  sondern  auch  in  demselben  Maasse,  wie  die  Cutis  überhaupt, 
gegen  Benetzung   geschützt.     Dass  der  Augenlidhaut    auch    die  Schwciss- 
kanälchen  nicht  abgehen,   sieht  man  beim  Schwitzen.     Die  Haarbildung  ist 
nur   durch   äusserst   dünne    und    farblose  Härchen  vertreten ,    welche  vom 
Orbitalrande  gegen  die  Cilien  hin  allmälig  an  Zahl  und  Grösse  abnehmen. 
2.   Lage.     Der   Augenlidschliessmuskel    reicht    als    ein    membranartig 
dünner  Kreismuskel ,   dessen  Fasern   grösstenteils    zu    demselben  Gebilde 
zurückkehren,  von  dem  sie  entspringen,    mit  seinen  peripherischen  Fasern 
oben  bis  unter  die  Augenbrauen,    unten  bis  vor  die  Fossa  canina,    aussen 
etwa   Y2"  UDer  den  Orbitalrand  hinaus,  während  die  innersten  (kürzesten) 
Fasern  längs  der  Lidränder  und  knapp  an  denselben  verlaufen.     Die  mei- 
sten Fasern  desselben  entspringen  vom  Ligatn.  palpebr.  internum  ,    einem 
dichten,  zelligfibrösen  Bändchen,  welches  knapp  vor  der  Thränensackrinne 
vom  Stirnfortsatze  des  Oberkieferknochens  entspringt,  mit  auf-  und  abwärts 
gerichteten  Flächen    circa    3'"    lang  horizontal  auswärts  verläuft,    und  an 
eben  diesen  Flächen  den  Muskelfasern  zur  Anheftungsstelle  dient,  während 
der  vordere,  etwas  abwärts  gerollte  Rand  mit  der  Cutis,  der  hintere  dage- 
gen mit  dem  Thränensacke  fest  zusammenhängt.   Obwohl  dieses  Rändchen 
von  vorn  nach  hinten  l1/«  — 2'"  breit  ist,  reichen  seine  Flächen  doch  nicht 
hin,    die  zahlreichen  Muskelfasern  alle  aufzunehmen,   sondern  es  inseriren 
sich  viele  derselben  noch  an  der  Leiste  des  Oberkieferknochens  vor   dem 
Thränensacke,  während  andere  vom  Thränenbeinkamme  (hinter  und  beson- 
ders über  dem  Thränensacke)    aus    der  Tiefe  kommen  ,    um  an  dem  Ver- 
laufe der  mehr  oberflächlich  entsprungenen  Theil  zu  nehmen.      An  seiner 
Peripherie   hängt   er   oben   mit  Fasern  des  Muse,  frontalis  und  Corrugator 
superciliorum,  unten  mit  dem  M.  zygomaticus  minor  und  levator  alae  nasi 
et    labii   superioris    zusammen.     Die   über  den  Orbitalrand  hinausragenden 
Fasern   liegen   nicht   dicht   aneinander ,    sondern   lassen  Lücken    zwischen 
sich,  durch  welche  dichtere  Bindegewebfasern  vom  Corium  und  Panniculns 
adiposus  der  Cutis  zu  der  Unterlage  des  Muskels  streichen.    Diese  Binde- 
gewebsfasern   heften  den    Muskel  gewissermassen   an  die  Cutis,    und  ver- 
mitteln   die  Hereinziehung    der   benachbarten  Cutis    über    den  Orbitalrand, 
sobald    die   peripherischen  Fasern    des  Kreismuskels   sich  stark  verkürzen. 
Besonders  zahlreich  und  viel  straffer  angezogen  sind  die  genannten  Binde- 
gewebsfasern in  der  Gegend  der  äusseren  Commissur  der  Lider  zwischen 
der  Cutis    und    den    unter    den    Muskelfasern    liegenden    fibrösen    Gebilden 
(Ligamentum  palp.  externum  und  Periosteum),  so  dass  die  zwischen  ihnen 


Anatomie.  339 

durchgehenden  Muskelfasern  an  ihrer  Umhiegungsstelle  vom  obern  zum 
uniern  Lide  sich  nie  weit  von  ihrer  Unterlage  entfernen,  also  auch  die 
Cutis,  in  welche  sich  übrigens  manche  Fasern  zu  inseriren  scheinen,  hier 
nie  so  bedeutend  verschieben  können,  wie  oben  und  unten.  —  Über  der 
obern  und  untern  Augenlidbinde  und  über  dem  Knorpel  liegen  die  Muskel- 
fasern mehr  gedrängt  aneinander,  aber  sehr  dünn;  erst  gegen  den  Lidrand 
hin,  besonders  am  untern  Lide,  liegen  sie  nicht  nur  dicht,  sondern  auch 
dicker  oder  mächtiger,  und  wurden  desshalb  vom  Albinus  als  eigener 
Muskel  beschrieben.  Diese  Lage  (portio  minor)  ist  es,  welche  den  Lid- 
schluss  zunächst  bewirkt,  während  die  peripherische  Cportio  major)  mehr 
die  Herbeiziehung  der  Cutis  und  der  Augenbrauen  behufs  kräftigeren  Lid- 
schlusses und  stärkerer  Beschattung  des  Auges  vermittelt.  Längs  des  Lid- 
randes von  der  äusseren  Commissur  bis  zu  den  Thränenpunkten  bedecken 
die  innersten  Fasern  zunächst  das  dunkelfarbige  Bindegewebe,  in  welchem 
die  Haarzwiebeln  der  Cilien  eingebettet  sind,  dann  streichen  sie  quer  über 
das  vertikale  Anfangsstück  der  Thränenröhrchen,  und  umhüllen  dann  diese 
letzteren  von  drei  Seiten,  bloss  deren  Innenseite  zur  unmittelbaren  Anlage- 
rung der  Bindehaut  an  dieselben  frei  lassend,  bis  diese  Kanälchen  kurz 
vor  ihrer  Einsenkung  in  den  Thränensack  endlich  ringsum  von  ihnen  um- 
fangen werden. 

3.  Lage.  Diese  Lage,  welche  hauptsächlich  von  der  obern  und  untern 
Augenlidbinde,  von  dem  äussern  und  innern  Augenlidbande  und  von  den 
Knorpeln  gebildet  wird ,  und  vermöge  ihres  unmittelbaren  Überganges  in 
die  Beinhaut  am  Orbitalrande  gewissermassen  als  Ergänzung  des  Knochen- 
gerüstes betrachtet  werden  kann,  Iässt  sich  trotz  des  sehr  lockeren,  dnreji 
äusserst  dehnbares  Bindegewebe  vermittelten  Zusammenhanges  der  Muskel- 
schicht  mit  derselben  desshalb  nicht  gar  leicht  bloss  legen  und  als  Conti- 
nuum  präpariren,  weil  die  Augenlidbinde  nicht  straff  gespannt  igt  und 
stellenweise  nicht  nur  sehr  dünn  ,  sondern  auch  durchbrochen,  oder  doch 
bloss  von  Bindegewebe  gebildet  erscheint.  In  der  Nähe  des  Orbitalrandes 
jedoch,  besonders  vor  der  Thränendrüse,  und  an  einzelnen  breiteren,  sehnen- 
artig glänzenden  Streifen  ist  die  fibröse  Natur  dieser  Fascie  nicht  zu  ver- 
kennen. Man  kann  diese  Fascie  gewissermassen  als  Fortsetzung  der 
Beinhaut  betrachten,  indem  man  sich  vorstellt,  die  Beinhaut  steige  vom 
Orbitalrande  herab,  um  den  Knorpel  an  seiner  Aussenfläche  als  Perichon- 
drium  zu  überziehen,  schlage  sich  auf  dessen  Innenfläche  um,  und  streiche 
dann,  mit  dem  absteigenden  Blatte  verschmolzen,  wieder  aufwärts,  jedoch 
nicht  um  wieder  zum  Orbitalrande  zurückzukehren,  sondern  um  zur  Fascia 
s.  tunica  vaginalis  Bulbi  zu  gelangen.      Über  dem  Orbital-    oder  convexen 

22* 


340  Augenlider. 

Rande  des  Tarsus  trennt  sich  nämlich  von  der  in  Rede  stehenden  Augenlid- 
fascie  eine  zellig-fibröse  Membran  als  Unterlage  der  Conjunctiva  palp.  ab, 
schlägt  sich  mit  derselben  auf  den  Bulbus  und  verschmilzt  hier  mit  der 
T.  vaginalis.  Nebstdem  aber  geht  von  der  Innenfläche  der  Augenlidfascie, 
wo  hinter  ihr  die  Thränendrüse  liegt,  ein  Ausläufer  ab,  welcher  sich  zwi- 
schen die  obere  und  untere  Thränendrüse  einschiebt,  und  erstere  stützt, 
indem  er  sich  hinter  ihr  in  die  Periorbita  inserirt.  In  der  Mitte  des  oberen 
Lides,  wo  sich  der  M.  levator  palp.  super,  in  die  Augenlidfascie  mit  einer 
gegen  xj<1"  breiten  dünnen  Sehne  inserirt,  schickt  sie  einen  ziemlich  star- 
ken, zellig-fibrösen  Überzug  für  diesen  Muskel  ab,  so  wie  sie  endlich 
weiter  einwärts  (gegen  die  Nase)  durch  eine  solche  Fortsetzung  mit  der 
Scheide  zusammenhängt,  welche  die  Sehne  des  M.  obl.  super,  umhüllt.  Im 
Bereiche  des  untern  Lides  verhält  sie  sich  zur  Bindehaut  und  T.  vagin# 
bulbi  so,  wie  oben;  unter  ihren  äussern  drei  Viertheilen  birgt  sie  blos 
Orbitalfett,  gegen  den  Thränensack  her  aber  bedeckt  sie  unmittelbar  den 
Ursprung  des  M.  obl.  inferior,  und  dann  die  äussere  (kleinere)  Hälfte  des 
Thränensackes ,  mit  dessen  fibrösem  Überzuge  sie  einwärts  einer  schräg 
aufsteigenden  Linie  verschmilzt,  welche  vom  Ansatzpunkte  des  innern 
Randes  des  Obl.  inf.  bis  zum  Ligam.  palp.  internum  aufsteigt.  —  Sowohl 
hinter  dem  bereits  beschriebenen  inneren  Augenlidbande  als  auch  hinter 
dem  etwas  dichteren,  zellig-fibrösen  Gewebe,  welches  als  Continuum  der 
genannten  Fascie  zwischen  den  äussern  Enden  der  Lidknorpel  und  dem 
benachbarten  Theile  des  Orbitalknochenrandes  ausgespannt  ist,  und  das 
äussere  Augenlidband  genannt  wird ,  befindet  sich  eine  ziemlich  mäch- 
tige Lage  dichten  und  fettlosen  Bindegewebes,  welches  zur  Befestigung  des 
genannten  Fasciengerüstes  an  das  Skelett  bestimmt  zu  sein  scheint,  ohne 
die  Beweglichkeit  des  von  demselben  getragenen  Bulbus  zu  beeinträchtigen. 
Die  Knorpel  können  füglich  als  elastisch-biegsame  Träger  der  Mei- 
bom'schen  Drüsen  betrachtet  werden,  indem  gerade  nur  so  viel  Bandfaser- 
knorpelmasse vorhanden  zu  sein  scheint,  als  zum  Binden  dieser  Drüsen 
erforderlich  ist.  In  der  Mitte  ist  der  obere  4'"  (3l/2 — 4V2),  der  untere 
2'"  breit.  Ihre  Länge  beträgt  mehr  als  1".  Gegen  die  Schläfe  hin  enden 
sie  mehr  zugespitzt;  unmittelbar  an  ihr  inneres,  quer  abgestutztes  Ende 
legt  sich  das  Anfangsstück  eines  jeden  Thränenröhrchens.  Die  Acini  der 
Meibom' sehen  Drüsen,  mitten  in  der  Knorpelsubstanz  eingebettet,  daher  an 
der  Aussenfläche  (nach  Beseitigung  der  Cutis  und  des  Muskels)  so  gut  wie 
an  der  Innenfläche  durch  die  (beinahe  durchsichtige)  Bindehaut  als  gelb- 
liche Körnchen  sichtbar,  sind  reihenweise  von  oben  nach  unten  um  je 
einen  Ausführungsgang  gruppirt.      Die  Ausführungsgänge  münden  in  einer 


Anatomie.  341 

Reihe  neben  einander  am  Lidrande,  welche  der  innern  scharfen  Kante  des- 
selben näher  liegt,  als  der  äussern  stumpfen,  und  theils  durch  die  blosse 
Ansicht,  theils  durch  Ausquetschen  des  wasserhellen  flüssigen,  doch  fetti- 
gen Secretes  leicht  erkannt  werden  kann.  Fest  oder  talgähnlich  wird  das 
Seeret  dieser  Drüsen  nur  durch  Vertrocknen  an  der  Luft  oder  nach  lan- 
ger (krankhafter)  Zurückhaltung  im  Ausführungsgange.  Die  Linie,  in  wel- 
cher die  Mündungen  der  Meibom'schen  Drüsen  liegen,  ist  zugleich  die 
Marke  zwischen  Cutis  und  Conjunctiva.  Die  Follikel  sowohl  als  die  Aus- 
fiihrungsgänge  sind  mit  Pllaslerepitelium  ausgekleidet. 

Der  Lidrand  zeigt  sowohl  an  dem  untern  als  an  dem  obern  Lide 
deutlich  eine  innere  scharfe ,  vom  Knorpel  gebildete ,  und  eine  äussere 
mehr  stumpfe  von  der  Cutis  gebildete  Kante,  aus  welcher  die  Wimpern 
in  einer  Reihe  längs  derselben,  doch  nicht  einzeln,  sondern  immer  zu  meh- 
reren über  einander  stehend  (besonders  am  obern  Lide)  hervorsprossen. 
Sind  die  Lider  geschlossen,  so  berühren  sie  sich  mit  ihren  linearen  Rand- 
flächen (zwischen  der  äussern  und  innern  Kante)  vollkommen ,  ohne  zwi- 
schen sich  und  dem  Rulbus  einen  Raum  (dreikantigen  Kanal,  Thränenbach) 
übrig  zu  lassen,  wie  ich  nach  Durchschnitten  an  gefrornen  Köpfen  mit 
Restimmtheit  behaupten  darf.  Die  Zwiebeln  der  Wimperhaare  liegen  am 
obern  Lide  etwa  1"',  am  untern  3j4c'"  tief  (von  der  Randfläche  des  Lides 
an  gerechnet)  in  einem  etwas  dunkelfarbigen  Rindegewebe  eingebettet, 
zwischen  dem  Knorpel  und  den  Schliessmuskelfasern ,  daher  das  Lid ,  so 
weit  die  Cilien  hinreichen,  auch  etwas  dicker  ist,  als  höher  oben  (respect. 
tiefer  unten).     An  den  Zwiebeln   befinden  sich  zahlreiche  Talgdrüschen. 

4.  Lage.  Der  Aufheber  des  obern  Augenlides  (M.  levator  palp.  su- 
per.) entspringt  am  obern  Umfange  des  Sehnervenloches ,  hängt  Anfangs 
noch  mit  dem  M.  r.  internus  und  r.  superior  zusammen,  trennt  sich  von 
letzterem,  den  er  in  seinem  Laufe  nach  vorn  von  obenher  bedeckt,  erst 
in  der  Gegend  des  Bulbus,  und  breitet  sich  dann,  ringsum  von  einem  ziem- 
lich mächtigen  Fettlager  eingehüllt,  fächerartig  aus,  und  verliert  sich  mit 
einer  dünnen  breiten  Sehne  in  die  oben  beschriebene  Augenlidfascie,  welche 
somit  seine  Verbindung  mit  dem  Lidknorpel  vermittelt.  Er  steht  demnach 
mittelst  dieser  Fascie  auch  mit  den  obgenannten  Ausläufern  derselben  in 
Verbindung. 

Ihre  Arterien  erhalten  die  Lider  theils  von  der  Carotis  interna  (vor- 
züglich von  der  Nasenseite  her)  durch  die  Art.  ophthalmica  mittelst  der 
art.  supraorbitalis,  palpebralis  (interna),  frontalis  und  lacrymalis,  theils  von 
der  Carotis  externa  (vorzüglich  von  aussen  und  unten  her)  durch  die 
Art.  maxillaris  externa  s.  facialis   mittelst  der  Art.  angularis ,    durch  die 


342  Augenlider. 

Art.  temporalis  (superficialis)  mittelst  der  art.  transversa  faciei  und  zygo- 
niatico-orbitalis  (s.  supraorbitalis  externa),  endlich  durch  die  Art.  maxil- 
laris  externa  mittelst  des  Ram.  temporalis  profundus  und  der  art.  infra- 
orbitalis.  So  wie  an  der  Iris  kann  man  auch  den  Lidern  einen  äussern 
grössern  und  innern  kleinern  Gefässkranz  unterscheiden,  gebildet  durch 
directe  und  anastomosireude  Zweige  der  genannten  Arterien.  Der  grössere 
entspricht  der  Lage  nach  ohngefähr  dem  Orbitalrande,  und  ist  besonders 
oben  (unter  den  Augenbrauen)  deutlich  als  Kranz  ausgesprochen;  der 
kleinere  schlingt  sich  nahe  um  die  Lidspalte,  verläuft  dem  Lidrande  pa- 
rallel Und  nur  1 — l1/»'"  davon  entfernt,  mithin  nächst  dem  Haarzwiebel- 
boden zwischen  dem  Tarsus  und  M.  orbicularis.  Vom  innern  Winkel  her 
wird  er  durch  zwei  Endäste  der  Art.  ophthalmica  gebildet.  Da,  wo  die 
Art.  ophthalmica  unterhalb  der  Trochlea  aus  der  Orbita  heraustritt,  sendet 
sie  die  art.  palpebr.  interna  seu  tarsea  superior  ab  ,  welche  alsbald  den 
genannten  Verlauf  nimmt,  während  der  zweite  Ast,  die  art.  palp.  interna 
seu  tarsea  inferior  erst  unter  dem  innern  Theile  des  Ligam.  palp.  inter- 
num  abwärts  dringen  muss,  um  an  den  Lidrand  zu  gelangen.  Diesen 
beiden  Asten  kommen  vom  äussern  Winkel  her  verschiedene  Zweige  ent- 
gegen, vorzüglich  aber  zwei  Endzweige  der  art.  lacrimalis  als  art.  palp. 
externa  s.  tarsea  superior  und  inferior,  und  schliessen  den  ziemlich  spiz^ 
zigen  Bogen  etwa  2'"  jenseits  der  äussern  Commissur  (dem  dünnen  Haut- 
bändchen  zwischen  den  Lidknorpeln).  —  Die  Venen  der  Augenlider,  flacher 
und  grösstenteils  unmittelbar  unter  der  Haut  gelegen,  und  in  ihrem  Ver- 
laufe den  Muskelfasern  viel  weniger  als  die  Arterien  entsprechend,  tre- 
ten erst  gegen  den  Orbitalrand  hin  in  grosse  Äste  zusammen ,  welche 
bereits  unter  der  Fascie  liegen  und  daselbst  eine  Art  Kranz  bilden ,  aus 
welchem  ihr  Blut  theils  in  die  Tiefe  zur  Vena  ophthalmica  fliesst  ^  welche 
im  innern  Augenwinkel  beginnt  und  durch  die  obere  Augenhöhlenspalte 
zum  Sinus  cavernosus  führt,  theils  zur  Vena  facialis  mittelst  der  Vena 
supraorbitalis  (längs  des  Augenbrauenrunzlers) ,  der  Vena  angularis  (die 
mit  der  ophthalmica  anastomosirt) ,  Vena  temporalis  superficialis,  trans- 
versa faciei  und  andere  kleinere  Zweige.  —  Die  Saugadern  folgen  dem 
Verlaufe  der  Venenstämme. 

Mit  sensitiven  Nervenfasern  werden  die  Lider  sehr  reichlich  ver- 
sehen vom  1.  und  2.  Aste  des  Trigeminus,  mit  motorischen  der  Aufheber 
des  Obern  Lides  vom  Oculomotorius^  der  Schliessinuskel  vom  Facialis;  mit 
den  Gefässen  verbreiten  sich  Fasern  vom  Sympalhicus. 

Die  Augenlider  dienen  den  Augen  nicht  bloss  zum  Schutze  gegen 
fremde  Körper,  grelles  Licht,    grosse  Hitze  oder  Kälte  u.  dgl..  sie  stehen 


Physiologie.  343 

auch  zur  Secretion,  Verkeilung  und  Fortschaffung  der  Thränen  in  naher 
Beziehung,  und  vermögen  seihst  den  Sehact  direct  zu  beeinflussen,  theils 
durch  Temperirung  des  Lichtes,  theils  durch  Druck  auf  den  Bulbus.  So 
lange  der  Bulbus  nicht  so  weit  in  die  Orbita  zurücksinkt,  dass  eine  gerade 
Linie,  vom  äussern  Orbitalrande  bis  zur  Anheftungsstelle  des  innern  Au- 
genlidbandes am  Oberkieferknochen  gezogen,  durch  oder  gar  über  die 
Cornea  hinwegstreicht  —  und  ein  so  starkes  Zurücksinken  kommt  wohl 
nur  bei  äusserster  Abmagerung  vor  —  so  lange  muss  auch  der  Muse, 
orbicularis  mit  seiner  innern  Portion  gewölbt  (die  Convexität  nach  vorn 
gerichtet)  über  den  Bulbus  verlaufen.  Demnach  schmiegen  sich  die  Lider 
stets  an  den  Bulbus  an,  und  kann  niemals  Luft  zwischen  ein  Lid  und  den 
Bulbus  eindringen,  ausser  bei  sehr  tiefliegenden  Augen  während  rascher 
Lidbewegungen,  was  dann  ein  klackendes  oder  quatschendes  Geräusch 
(Schotengeräusch)  erzeugt.  Da  nun  der  höchste  Punkt  des  Augapfels 
höher  (weiter  vorn)  liegt,  als  die  fixen  Punkte  des  Orbicularis,  und  dem- 
nach die  Lider  beim  Schlüsse  durch  den  Orbicularis  am  Bulbus  aufsteigen 
müssen,  so  erhellt,  dass,  wenn  ein  Lid  aus  was  immer  für  einer  Ursache 
umstülpt  ist,  die  Umstülpung  bei  jeder  stärkern  Contraction  des  Schliess- 
muskels  stärker  hervortreten  müsse.  —  Zurückdrücken  kann  der  Schliess- 
muskel  den  Bulbus  nur  bei  geschlossenen  Lidern  und  excessiver  Con- 
traction ;  eine  Compression  (Formveränderung)  des  Bulbus  kann  hiebei 
wahrscheinlich  nicht  statt  finden,  weil  das  retrobulbäre  Fettgewebe  com- 
pressibel  ist.  Wenn  aber  der  Bulbus  bei  offener  Lidspalte  abwärts  ge- 
richtet ist,  kann  der  Orbicularis  allem  Anscheine  nach  wohl  mittelst  des 
obern  Lides  auf  den  Bulbus  so  drücken,  dass  derselbe  in  der  Sehachse 
etwas  verlängert  wird.  Vergl.  oben  über  Weitsichtigkeit.  —  Zu  bemerken 
ist,  dass  wir  willkürlich  und  je  nach  Bedürfniss  bald  die  Portio  major, 
bald  die  Port,  minor  s.  interna  vorzugsweise  in  Wirksamkeit  treten  lassen 
können,  indem  wir  bei  relativ  geringer  Contraction  des  Muse.  Albini  die 
Stirn-,  Schläfen-  und  Wangenhaut  stark  hereinziehen,  oder  aber  gewisser- 
massen  nur  den  M.  Albini  wirken  lassen.  Wollen  wir  ein  Auge  allein 
schliessen,  so  ist  diess  wohl  immer  nur  mittelst  der  Portio  major  und 
minor  zugleich  möglich.  Zu  bemerken  ist  ferner,  dass  wir,  wenn  wir  bei 
Fixirung  eines  Gegenstandes  die  Lidspalte  verengern  wollen ,  nur  das 
untere  Lid  hinaufziehen,  dass  wir  diess  wenigstens  thun  können,  ohne 
den  Stand  des  obern  Lides  merklich  zu  ändern.  Es  ist  also  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  eine  selbständige  und  isolirte  Bewegung  des  untern 
Lides  gestattet.  —  Die  Hebung  des  obern  Lides  wird  durch  den  vom  N. 
oculomutorius  versehenen  Augenlidheber  vermittelt;  zur  Senkung  des  untern 


344  Augenlider. 

Lides  ist  kein  eigener  Muskel  vorhanden.  Die  Hebung  des  obern  und  die 
Senkung  des  untern  Lides  ist  aber  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch 
vom  M.  rectus  sUperior  und  inferior  abhängig.  Sobald  der  M.  orbicularis 
nicht  entgegenwirkt,  muss  bei  Abwärtsrollung  der  Hornhaut  durch  den  R. 
inferior  auch  das  untere  Lid  abwärts  gezogen  werden,  weil  die  Tunica 
vaginalis  bulbi  durch  die  unter  der  Lidbindehaut  fortgehende  Fascie  mit 
der  Fascia  tarso-orbitalis  in  Verbindung  steht.  Auf  gleiche  Weise,  nur 
in  geringerem  Grade,  muss  auch  das  obere  Lid  schon  vermöge  dieses 
Zusammenhanges  der  Fascien  etwas  gehoben  werden,  sobald  der  R.  superior 
die  Pupille  aufwärts  rollt,  und  auch  das  untere  Lid  folgt  dem  Zuge  dieses 
Muskels.  Desshalb  kann  die  Stellung  des  Bulbus  nur  bei  gelindem  Wech- 
sei  zwischen  Öffnung  und  Schliessung  der  Lidspalte  ruhig  bleiben,  hat 
jeder  starke  Lidschlag  auch  momentane  Bewegung  des  Augapfels  zur  Folge. 
—  Da  ferner  die  Augenlidbinde  auch  mit  jener  Fascie,  welche  die  Thrä- 
nendrüse  stützt,  in  continuirlichem  Zusammenhange  steht,  so  wirkt  der  Lid-* 
schlag  in  ähnlicher  Weise  bethätigend  auf  die  Thränensecretion  ein,  wie 
die  Thätigkeit  der  Kaumuskeln  auf  die  Speichelsecretion.  Auf  den  durch 
die  Thätigkeit  des  Schliessmuskels  in  Gang  gesetzten  und  erhaltenen 
Mechanismus  der  Fortleitung  der  Thränen  können  wir  erst  im  nächsten 
Buche  eingehen,  und  begnügen  uns  vorläufig  nur  mit  der  Bemerkung,  dass 
insufficiente  oder  aufgehobene  Action  des  M.  orbicularis  jederzeit  Thränen- 
träufeln  —  von  gehinderter  Ableitung  der  Thränen  im  Gefolge  hat.  — 
Wenn  bei  Ectropium  von  Substanzverlust  der  Cutis  die  Fascia  tarso-orbi- 
talis unversehrt  ist,  so  ist  Heilung  viel  leichter  möglich,  als  wenn  wegen 
Zerstörung  und  Verschrumpfung  dieser  Fascie  der  convexe  Rand  des 
Knorpels  gegen  den  Orbitalrand  gezogen  oder  gar  mit  demselben  ver- 
wachsen ist.  —  Wenn  excessive  Contraction  des  Orbicularis  durch  längere 
Zeit  besteht  oder  häufig  nach  einander  erfolgt,  so  wird  der  Rückfluss  des 
Blutes  aus  den  Hautvenen  behindert ;  die  Folgen  davon  sind :  Austritt  von 
Serum  (Ödem)  und  Erweiterung  der  Venen  (oder  beides).  Daher  findet  man 
bisweilen  schon  nach  anhaltendem  Weinen  die  Lidränder  etwas  angelau- 
fen. —  Das  Überfliessen  der  Thränen  wird  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
verhindert  durch  die  BeÖlung  des  Lidrandes  mittelst  der  Meibomschen 
Drüsen.  Wo  deren  Mündungen  obliterirt  oder  durch  ein  operatives  Ver- 
fahren zerstört  sind,  leiden  die  Kranken  häufig  an  Excoriationen  der  Lid- 
ränder. Ob  sich  die  Thränen  mit  dem  Secrete  der  Meibom'schen  Drüsen 
mischen,  ist  meines  Wissens  noch  unerwiesen.  —  Indem  die  Fasern  des 
Schliessmuskels  bis  zur  äussern  Kante  des  Lidrandes  reichen,  würden  sie 
die  unter  ihnen  liegenden  Wimpern  gegen  den  Bulbus  drücken,  wenn  nicht 


Krankheiten  —  Entzündungen.  345 

die  innere  scharfe,  vom  Knorpel  gebildete  Kante  eine  stützende  Unterlage 
gewahrte;  wo  demnach  diese  Kante  abgeflacht  ist,  erhalten  die  Cilien  eine 
einwärts  gekehrte  Richtung.  —  Wenn  bei  Personen,  deren  Bulbi  von  Natur 
aus  eine  mehr  flache  Lage  hatten,  Abmagerung,  Zurücksinken  der  Bulbi 
und  Runzelung  der  Haut  eintritt,  so  sind  die  Lider  (von  einem  Winkel 
zum  andern)  relativ  zu  lang  und  können  sich  längs  der  Ränder  nicht  mehr 
genau  an  den  Bulbus  anschmiegen,  besonders  in  der  innern  Hälfte;  die 
Bindehaut  der  Lider,  nicht  für  den  Contact  mit  der  Luft  geschaffen,  er- 
leidet zunächst  vom  Lidrande  aus  dieselben  Veränderungen,  wie  aus  ihren 
Höhlen  vorgefallene  Schleimhäute  (Vagina,  Rectum)  und  wird  eben  dess- 
halb  und  wegen  Verlängerung  des  Lidrandes  auswärts  gestülpt,  während 
in  andern  Fällen  unter  den  gleichen  mechanischen  Verhältnissen  heftigere 
Contractionen  des  M.  orbicularis,  durch  Reizung  der  Bindehaut  oder  des 
Bulbus  (fremde  Körper,  Verwundungen,  Entzündungen)  angeregt,  zu  Ein- 
wärtsstülpung  des  verlängerten  Lidrandes  führen.  Diese  Verhältnisse  machen 
sich  jedoch  nur  an  dem  untern  Lide  geltend.  —  Soll  dem  Streben  des  M. 
orbicularis  und  corrugator  superciliorum  entgegengewirkt,  das  obere  Lid 
behufs  einer  Operation  am  Bulbus  mit  den  Fingern  fixirt  werden,  so  muss, 
da  der  Muskelzug  nach  unten  und  einwärts  geht,  der  Gegenzug  die  Rich- 
tung nach  oben  und  einwärts  nehmen.  Vergl.  II.  B.  S.  305.  —  Sind  in 
der  Gegend  der  Augenlider  Einschnitte  zu  machen  oder  Hautstücke  aus- 
zuschneiden, so  macht  es  schon  die  Kosmetik  wünschenswerth,  sich  wo 
möglich  nach  dem  Verlaufe  der  Muskelfasern  zu  halten. 

B.  Krankheiten  der  Augenlider,'"'') 

I.    Entzündliche  Zustände. 

1.  Die  phlegmonöse  und  erysipelatöse  Hautentzüudung  kommt  selten 
auf  die  Lider  allein  beschränkt  vor,  und  bietet,  auch  wenn  dieses  der  Fall 
ist,  keine  Besonderheiten  dar.  Man  hat  eben  nur  Acht  zu  geben,  dass 
man  die  entzündlichen  Erscheinungen  nicht  auf  eine  blosse  Hautaffection 
bezieht,  wo  dieselben  durch  anderweitige  Affectionen  (Thränensackentzün- 
dung,  Bindehautblennorrhöe,  Gerstenkorn,  heftige  Chorioiditis  u.  dergl.) 
bedingt  sind.  Ist  Eiterung  eingetreten,  so  mache  man  Incisionen  nach  dem 
Verlaufe  der  Fasern  des  Schliessmuskels ,  bevor  es  noch  zu  Eitersenkung 
oder  ausgebreiteter  Zerstörung  der  Cutis  gekommen  ist,  —  Nach  Erysipel 

*).  Dasjenige,  was  sich  bei  Kennlniss  der  Anatomie  schon  nach  den  allgemeinen  mcdicinisch-chirurgischen  Grundsäz- 
zen  erkennen  und  behandeln  lässt,  z.  B.  Verletzungen,  Verbrühungen,  Rothlauf  der  Lider  u.  s.  w,  glaube  ich 
hier  füglich   übergehen   zu  dürfen. 


346  Augenlider. 

bleibt  besonders  bei  scrofulösen  Individuen  gern  eine  blasse,  schmerzlose, 
pastöse  Anschwellung  der  Lider  zurück,  bisweilen  so  bedeutend,  dass  die 
Lidspalte  kaum  geöffnet  werden  kann.  Einreibungen  von  Jodkaliumsalbe, 
besonders  aber  Aufstreichen  von  Jodtinctur  erwiesen  sich  —  bei  allge- 
meiner Behandlung  —  als  die  wirksamsten  Mittel  gegen  dieses  lästige 
und  hartnäckige  Übel. 

2,  Furunkeln  entwickeln  sich,  so  viel  ich  bis  jetzt  beobachten  konnte, 
nur  in  der  Gegend  des  Orbitalrandes,  namentlich  unterhalb  der  Augen- 
brauen, und  bieten  nichts  besonders  dar.  Man  hat  sich  nur  zu  hüten,  dass 
man  diese  umschriebene  Entzündung,  die  sehr  bald  zugespitzt  erscheint 
und  an  der  Spitze  einen  gelben  Punkt  wahrnehmen  lässt,  nicht  mit  um- 
schriebener Hautentzündung  als  Folge  von  Periostitis  und  Caries  verwech- 
selt, welche  besonders  in  der  äussern  Hälfte  des  Orbitalrandes  gern  ihren 
Sitz  aufschlägt.  Auch  hier  erfordert  die  Gefahr  der  Eitersenkung  bei 
Zeiten  eine  hinreichend  ausgiebige  Incision.  Carbunkeln  an  den  Lidern 
sah  Carron  du  Villards  nach  der  Aufnahme  deletärer  Stoffe  in  die  Haut- 
follikel  entstehen. 

3.  Grosse  Ähnlichkeit  mit  der  eben  besprochenen  Form  bieten  um- 
schriebene Entzündungen  des  Unterhautzellgeivebes  dar,  welche  besonders 
in  der  Nähe  des  obern  Augenhöhlenrandes  vorkommen  und  bedeutende 
Schwellung  des  ganzen  Lides  verursachen.  Ich  sah  diese  Form  bis  jetzt 
nur  bei  jungen  Leuten.  Meistens  bildet  sich  sehr  bald  über  der  zuerst 
infillrirten  Stelle  ein  gelber  Fleck,  wo  der  massenhaft  angesammelte  Eiter 
durchscheint.  Näher  gegen  den  Lidrand  hin  oder  in  der  Gegend  der 
Commissuren  führt  die  Entzündung  des  subcutanen  Bindegewebes  nur  zu 
kleinen  oberflächlichen  Eiterherden  ohne  beträchtliche  Infiltration  der  Um- 
gebung. Einfache  Incision  reicht  hin ,  dem  Processe    ein  Ende  zu  machen. 

1.  Als  Entzündung  der  Meibom' sehen  Drüsen  fassen  wir  die  unter 
dem  Namen  Gersten-  und  Hagelkorn  (Hordeolum  et  Chalazion)  bekannte 
Affection  der  Lider  auf.  —  Das  Gerstenkorn  wird  seit  Himly  gewöhnlich 
als  Furunkel  des  Lides  betrachtet.  Wenn  man  jedoch  Gelegenheit  hat, 
diese  Affection  vom  ersten  Beginn  an  zu  beobachten,  so  überzeugt  man 
sich  bald,  dass  dieselbe  nicht  von  der  Cutis  ausgeht,  und  noch  weniger 
von  einem  Hautfollikel,  wie  der  Furunkel,  sondern  dass  die  Cutis  erst 
consecutiv  ergriffen  wird,  in  Folge  von  Ablagerung  eines  umschriebenen 
Exsudates  am  Knorpel  selbst,  welches  im  Allgemeinen  um  so  früher 
schmilzt,  je  rascher  die  Setzung  desselben  erfolgte ,  und  je  näher  die 
Cutis  demselben  liegt.  Das  Gerstenkorn  sowohl  als  das  Hagelkorn  kommt 
jederzeit    nur    im  Bereiche  oder  zunächst  des  Knorpels   vor.     Erfolgt  die 


Entzündungen —  Gersten-  Hagelkorn.  347 

Exsudalablagerung  an  der  äussern  Fläche  des  Knorpels  nahe  am  Lid- 
rande oder  nächst  der  äussern  oder  innern  Commissur,  und  in  kurzer  Zeit, 
so  verräth  sie  sich  zunächst  durch  leichte  Rölhe  und  ödematöse  Schwel- 
lung der  darüber  liegenden  Cutis,  begleitet  von  um  so  heftigem  stechen-' 
den  oder  drückenden  Schmerzen,  Thränenfluss  und  Lichtscheu,  je  weni- 
ger die  Cutis  wegen  Raschheit  der  Ablagerung  oder  wegen  Fixirung  an 
der  Knorpel  und  das  Augenlidband  nachgeben  kann.  Längs  des  Lidran- 
des, wo  die  Cutis  am  dünnsten  ist  und  am  wenigsten  ausweichen  kann, 
wird  demnach  die  über  dem  Exsudate  liegende  Partie  sehr  bald  hoch- 
uud  dunkelroth ,  dann  in  der  Mitte  gelb,  zugespitzt  und  in  3  —  5  Tagen 
durchbrochen;  in  der  Gegend  der  Augenlidbänder  dagegen,  wo  die  Cutis 
dicker  und  minder  straff  angeheftet  ist  kommt  es  erst  nach  stärkerem 
Ödem  der  Umgebung  und  unter  heftigen  Schmerzen  zum  Durchbruche  der 
Cutis  und  Entleerung  des  Abcesses  (ohne  Pfropf,  und  ohne  bleibend  sicht- 
bare Narbe  wie  beim  Furunkel).  Mitunter  erfolgt  auch  Resorption  ohne 
Entstehung  eines  gelben  Punktes.  Man  kann  dann  eben  nur  durch  Beta- 
sten mit  dem  Finger  an  der  Empfindlichkeit  und  Härte  einer  umschriebe- 
nen Stelle  erkennen,  woher  die  Zufälle  stammen.  Dasselbe  ist  der  Fall, 
wenn  die  Ablagerung  des  Exsudates  höher  oben  (respective  unten)  oder 
an  der  Innenfläche  des  (obern)  Lides  stattfand,  und  entweder  Resorption, 
oder  aber  Durchbruch  durch  die  Bindehaut  erfolgt.  Dann  pflegt  die  Affec- 
tion  scheinbar  an  Wichtigkeit  noch  dadurch  zu  gewinnen,  dass  wohl  auch 
Odem  der  Conj.  bulbi  dazu  kommt,  wenn  das  Exsudat  rasch  in  Schmel- 
zung geräth.  Beim  Furunkel  ist  die  Stelle  (der  Follikel),  von  welcher 
die  Affection  ausgeht,  gleich  beim  Beginn  der  Zufälle  an  der  Haut  sicht- 
bar, und  bleibt  es  bis   zur  Ausstossung  durch  Eiterung. 

Nicht  selten  kommt  es  nicht  zum  Durchbruche,  weder  nach  aussen, 
noch  nach  innen,  und  auch  nicht  zu  baldiger  Resorption.  Diess  geschieht 
in  einigen  Fällen  wahrscheinlich  desshalb,  weil  die  Setzung  des  Exsuda- 
tes allmälig  und  ohne  beträchtliche  Erweichung  und  seröse  Durchfeuch- 
tung  der  Umgebung  erfolgt  und  zunimmt;  in  andern  Fällen  scheint  die 
Nachgiebigkeit  der  das  Infiltrat  bedeckenden  Gebilde  die  Ursache  zu  sein, 
dass  weder  heftige  Schmerzen  noch  bedeutende  Schwellung  auftreten, 
Muskel  und  Cutis  darüber  bloss  verdrängt,  nicht  aber  durchbohrt  werden. 
Diess  ist  der  Fall,  wenn  die  Infiltration  etwas  weiter  vom  Lidrande  ent- 
fernt oder  nächst  des  convexen  Knorpelrandes  stattfindet.  Hier  werden 
die  Muskelfasern  erst  dann  auseinander  gedrängt  und  die  Cutis  darüber 
geröthet  und  gespannt,  wenn  die  Geschwulst  die  Grösse  einer  halben 
Zuckererbse  oder  Haselnuss  erreicht  hat.  Nur  wenn  das  Infiltrat  nicht  über 


348  Augenlider, 

2"'  Weit  vom  Lidrande  sein  Centrum  hat  und  eine  beträchtliche  Grösse 
erlangt,  geschieht  es  bisweilen  nach  langem  Bestände,  dass  die  darüber 
gespannte  und  dunkelroth  gewordene  Haut  an  der  erhabensten  Stelle  ver- 
schwärt. Dieser  Ausgang,  der  übrigens  nicht  nothwendig  völlige  Entlee- 
rung oder  Resorption  des  Infiltrates  zur  Folge  hat,  kann  auch  durch  Auf- 
legen von  Pflastern  oder  Cataplasmen  herbeigeführt  werden.  Diess  sind 
die  sogenannten  Hagelkörner.  Wir  halten  sie  nach  der  Ansicht  der  mei- 
sten Beobachter,  wenn  auch  nicht  für  verhärtete,  so  doch  für  solche  Ger- 
stenkörner, welche  weder  durch  Resorption,  noch  durch  Eiterung  und 
Ausstossung  bald  beseitigt  wurden.  Andere  haben  sie  für  Balggeschwülste 
oder  für  ein  Product  chronischer  Entzündung  des  Lidknorpels  erklärt. 

Ganz  analog  ist  der  Process,  wenn  die  Entzündung  von  Meiboiri  sehen 
Follikeln  ausgeht,  welche  an  der  Innenfläche  des  Knorpels  und  nahe  an 
der  Bindehaut  liegen.  Der  Ausgangspunkt  liegt  hier  wegen  der  Durch- 
sichtigkeit der  Bindehaut  klar  zu  Tage.  Auch  hier  tritt  der  doppelte 
Fall  ein,  dass  entweder  rasche  Ablagerung,  Eiterung  und  Entleerung  oder 
aber  allmälige  Ausscheidung  und  Anhäufung  von  Exsudat  mit  Verdrän- 
gung und  Wucherung  der  Bindehaut  erfolgt.  Letzteres  findet  besonders 
dann  statt,  wenn  der  Sitz  der  Exsudation  an  oder  unweit  von  dem  Lid- 
rande ist.  Bei  Untersuchung  des  schmerzhaften ,  lichtscheuen  und  häufig 
thränenden  Auges  findet  man,  dass  hinter  einer  Stelle,  wo  der  Lid- 
rand etwas  röther  und  wohl  auch  dicker  erscheint ,  ein  Follikel  oder 
ein  Ausführungsgang  mit  Eiter  gefüllt  ist,  falls  man  die  Aftection  nicht 
schon  so  zeitig  zu  Gesicht  bekommt,  wo  bloss  Röthe  und  Schwellung  der 
afficirten  Stelle  zu  sehen  ist.  Später  sieht  man  wohl  auch  die  Ausmiin- 
dungsstelle  des  betroffenen  Drüsenstranges  als  weissen  Punkt  an  der  dun- 
kelrothen  und  geschwellten  Stelle  des  Lidrandes.  Man  kann  dann  der 
Aftection  rasch  ein  Ende  machen,  indem  man,  scheinbar  noch  untersu- 
chend, den  Lidrand  zwischen  die  Daumen  bringt,  und  den  Eiter  aus  dem 
Ausführungsgange  ausdrückt.  Liegt  der  Eiterherd  weiter  hinter  dem  Lid- 
rande, so  ind^cire  man  die  ihn  bedeckende  Bindehaut.  —  In  andern  Fäl- 
len kommt  es  nicht  zur  Eiterung  oder  doch  nicht  zur  Beendigung  des 
Processen  trotz  theilweiser  eifriger  Schmelzung,  sondern  es  wird  die  Binde- 
haut an  der  betreffenden  Stelle  allmälig  emporgehoben,  wohl  auch  ver- 
dickt, und  es  bildet  sich,  wenigstens  am  Lidrande,  eine  dem  äussern 
Hagelkorn  ganz  analoge  Erscheinung.  Es  erhebt  sich  nämlich  von  der 
innern  Lidkante  eine  dunkelrothe  Geschwulst  oder  Excrescenz,  welche  an 
der  innern  (dem  Bulbus  zugewendeten  Fläche)  platt,  an  der  in  die  Lid- 
spalte hereinragenden  Seite  etwas  gewölbt,   und  an  dem    convexen  Rande 


Entzündungen  —  Gersten-  Hagelkorn.  349 

dazwischen  scharfkantig  ist.  Trägt  man  eine  solche  Excrescenz  mit  einer 
Seheere  ab,  was  im  Allgemeinen  das  beste  Mittel  zu  ihrer  Beseitigung  ist, 
so  erhält  man  eine  ähnliche  Masse  als  Inhalt  derselben ,  wie  wenn  man 
die  als  Chalazien  bekannten  Geschwülste  untersucht.  Hinter  solchen  Ex- 
crescenzen  findet  man  dann  den  entsprechenden  Drüsenstrang  noch  von 
gerötheter  und  geschwellter  Bindehaut  bedeckt,  oder  schiefergrau,  später 
obliterirt.  Überhaupt  findet  man  bei  Individuen ,  welche  an  äussern  oder 
innern  Gersten-  oder  Hagelkörnern  gelitten  haben,  selten  einmal  alle  Mei- 
bom'schen  Drüsen  normal.  Eine  häufige  Folge  solcher  Exsudationen  sind 
die  an  der  Innenfläche  des  Tarsus  sitzenden  Kalkconcremente,  welche  man 
wohl  auch  als  Thränensteine  beschrieben  hat ,  oder  noch  immer  für 
Product  eingedickten  Drüsenschmeeres  hält.  Sie  sind  an  der  Innenfläche 
dasselbe,  was  die  verkalkten  Chalazien  an  der  Aussenfläche. 

Balggeschwülste  habe  ich  wohl  ziemlich  oft  über  oder  nächst  dem  Orbitalrande, 
niemals  aber  im  Bereiche  der  Lidknorpel  gefunden.  Die  Geschwülste,  welche  von  jeher 
Chalazien  genannt  wurden,  kommen  aber  immer  nur  im  Bereiche  des  Tarsus  vor.  Sie 
sitzen  jederzeit  mit  breiter  Basis  (wie  eine  halbirte  Kugel)  fest  auf  dem  Knorpel,  und 
lassen  sich  nur  mit  diesem  zugleich  verschieben.  Sie  zeigen  nie  eine  besondere,  innen 
glatte  Hülle ,  nie  einen  honig-  oder  breiartigen  Inhalt,  niemals  Haarbildung,  die  in  den 
am  Orbitalrande  sitzenden  häufig  vorkommt.  Öffnet  man  eine  solche  Geschwulst,  so 
findet  man,  falls  sie  noch  nicht  über  3 — 4  Wochen  besteht,  eine  doppelte  Masse  als  In- 
halt, nämlich  eine  citerartige  Flüssigkeit,  und  eine  halbfeste,  sulzartige,  lichlgraue  Sub- 
stanz, welche  sich  jedoch  nur  durch  Druck  aus  der  Wunde  ausquetschen  lässt,  und  etwas 
körnig  ist,  ähnlich  dem  Parenchym  einer  weichen  Pflaume  oder  weissen  Kirsche.  Diese 
Masse  zeigt  unter  dem  Mikroskope  nebst  Exsudatkörnern  und  Fettkugeln  zahlreiche  Epi- 
telialzellen.  Öffnet  man  später,  etwa  bis  zur  8.  Woche,  so  findet  man  neben  dieser 
Masse  nur  noch  ein  wenig  Flüssigkeit,  und  zwar  trüb  ,  nur  wenig  Eiterkugeln  enthal- 
tend, oder  auch  klar  und  dünn.  Noch  später  ist  auch  von  dieser  nichts  mehr  vorhanden, 
umschliesst  das  etwas  verdichtete  umgebende  Bindegewebe  bloss  die  genannte  sulzige, 
jedoch  etwas  derbere  und  schwerer  ausdrückbare  Masse.  Oft  kann  man  sie  nicht  ganz 
entfernen.  Diess  ist  indess  kein  Hinderniss  gegen  die  Heilung.  Die  auf  den  Einschnitt 
und  das  Ausdrücken  folgende  Reaction  reicht  in  der  Regel  hin,  völlige  Resorption  der 
zurückgebliebenen  Reste  in  8 — 14  Tagen  einzuleiten.  Bei  Balggeschwülsten  genügt  be- 
kanntlich die  einfache  Incision  und  Entleerung  des  Inhaltes  nicht.  Wenn  aber  solche 
Geschwülste  sich  viele  Monate  lang  überlassen  bleiben,  und  nicht  entweder  spontaner 
Durchbruch  und  Entleerung  durch  die  Cutis  oder  Conjunctiva,  oder  spontane  gänzliche 
Resorption  eintritt,  so  pflegt  der  Rest  des  Infiltrates  endlich  zu  verkalken.  Dass  solche 
Geschwülste  jemals  den  Herd  zur  Krebsablagerung  abgeben,  ist  unwahrscheinlich;  das 
Infiltrat  ist  und  bleibt  structurlos. 

Umstülpt  man  ein  Lid,  welches  eine  solche  Geschwulst  darbietet,  so  wird  man  häufig 
finden ,  dass  die  Bindehaut  an  der  entsprechenden  Stelle  und  in  demselben  Umfange, 
wie  aussen  die  Basis  derselben,  geröthet  und  sammtartig  aufgelockert  erscheint.  Hat 
die  Geschwulst  schon  lange  gedauert,  so  findet  man  wohl  auch  mitunter  den  Rand  dieser 


350  Augenlider. 

gerütheten    und    gewilisteten    Partie   etwas    über    die   nächste  Umgebung  umgeschlniren. 
In  vielen  Fällen  erscheint  die   Mitte  dieser   Stelle  längs  eines  Drüsenstranges  livid  ;    sel- 
tener geschieht  es,  dass  man  daselbst  eine  kleine  Öffnung  findet,  durch  welche  man  mit 
einer  Sonde  in  das  Innere  der  Geschwulst  eindringen  kann.     Auch  kommt  es  vor,  dass 
am  Rande    einer   solchen    Öffnung    oder    mitten   darin    eine  polypenähnliche   Excrescens 
sitzt.  —  Diese  Befunde    erklären    sich    auf  folgende    Weise.     Das   in  einem  der  äussern 
Knorpelfläche  näher  liegenden  Follikel  abgelagerte  Exsudat   wird  durch  die  Muskelfasern 
an  den  Knorpel  angedrückt,  und  verursacht,  so  wie  äusserlich  an  der  darüber  gespannten 
Cutis,  so  innen  an  der  Bindehaut  Hyperämie  und  Lockerung;    allmälig    scheint  auch  der 
Tarsus  in  der  Mitte  erweicht  zu  werden,  und  es  kommt  dann  endlich  zum  Durchbruche 
desselben  und  zur  Entleerung  des  flüssigen  Antheiles  der  Exsudatmasse.     Blitlels  solchen 
Durchbruches  scheint    bisweilen  völlige  Resorption  des  Exsudates  eingeleitet  zu  werden. 
Diesen  Vorgang  führen  wir  sicherer  und  schneller  herbei,  wenn  wir,  wie  Makenzie  1.  c. 
S.   139  zuerst    empfohlen,    das    unistülpte    Lid    mitten   in    der    afficirten  Stelle    incidiren, 
durch  den  Knorpel  und  in  der  Richtung  des  entsprechenden  Drüsenstranges,  sodann  das 
Lid  zwischen  den  Fingern  von  oben   nach  unten  zusammendrücken,  und  den  festen  Theil 
des  Inhaltes  auspressen.     Man  überzeugt  sich  dabei  leicht,  dass  der  Knorpel  in  der  Mitte 
der  afficirten  Stelle  nicht    verdickt  oder  verhärtet,    eher  verdünnt  und  (in  früherer  Zeit) 
etwas  erweicht  ist.  Der  oben  erwähnte  reichliche  Gehalt  an  Pflasterepitelien  dürfte  wohl 
von  der  Innenfläche  eines  Drüsenfollikels  herrühren;    ich  habe  mich  versichert,  dass  sie 
nicht  von  der  Bindehaut  durch  Abstreifung  kommen  konnten.     Wo  es  gelingt ,    den  ge- 
nannten festweichen  Theil  des  Inhaltes    ganz    oder  grösstentheils  zu  entfernen,   ist  auch 
der  Process  beendet;    die  Wunde  vernarbt  in  wenig  Tagen,  und  in  Zeit  von  2 — 3  Wo- 
chen ist  in  manchen   Fällen    keine   Spur    der  Affection    mehr  vorhanden.     Niemals,  auch 
dann  nicht,    wenn  grosse  Chalazien   viele  Monate    lang  bestanden  hatten,    sah  ich  weder 
merkbaren  Substanzverlust  des  Knorpels,  narbige  Einziehung  oder  Verschrumpfung,  noch 
Vergrüsserung  oder  Verdickung  des  Knorpels  zurückbleiben,  gleichviel  ob  bereits  Durch- 
brucb  nach  innen  erfolgt  war  oder  nicht.     Alle   diese   Umstände   sind  wohl  hinreichend, 
zu  zeigen,  dass  hier  keine  Entzündung  der  Knorpelsubstanz  stattfinde,    sondern  Ablage- 
rung von   Exsudat    an    der    Oberfläche,    oder   was   am  wahrscheinlichsten  ist,    in  einen 
Meibom'schen  Follikel  selbst. 

Ich  kann  zwischen  Gersten-  und  Hagelkorn  untereinander,  und  zwischen  diesen  und 
den  an  der  Innenfläche  des  Tarsus  vorkommenden  Abscesschen  und  kleinen  Geschwül- 
sten, die  sichtlich  von  den  Drüsenfollikeln  ausgehen,  keinen  wesentlichen  Unterschied 
finden.  Si  alle  lassen  sich  auf  eine  umschriebene  Ablagerung  eines  Exsudates  zurück- 
führen, welches  nicht  organisationsfähig  ist  und  bald  rasch,  bald  langsam  schmilzt,  so- 
fern es  nicht  durch  Resorption  beseitigt  wird,  oder  aber  verkalkt.  Nicht  äussere  Unir 
stände,  wie  namentlich  die  oft  beschuldigte  Einwirkung  von  Kälte,  sondern  die  mehr 
weniger  schnelle  Setzung  des  Exsudates  und  die  anatomischen  Verhältnisse  bestimmen 
die  fernere  Gestallung  des  Processes   und  dessen  Ausgänge. 

Die  Behauptung,  dass  die  Bildung-  von  Gersten-  und  Hagelkörnern 
mit  Scrofulosis  (Tuberculosis)  in  ursächlichem  Zusammenhange  stehe,  hat 
zwar  mehrseitigen  Widerspruch  erfahren  ,  ist  aber  trotzdem  in  der  gan- 
zen bisher  aufgestellten  Ätiologie  die  einzig  haltbare  und  auf  wirkliche 
Beobachtungen  gestützte.    Die  Beschuldigungen  von  Unreinlichkeit,  Trunk- 


Entzündung  der  Ilnarzwiebeldrüspn.  .351 

sucht  u.  s.  vv.  beruhen  auf  Verwechslung  des   Zufälligen  mit  dem  Wesent- 
lichen.  Die  in  Rede  stehenden,  von  den   Meibom'schen    Drüsen  ausgehen- 
den Affectionen,  und  in  specie  die  Gersten-  und  Hagelkörner  kommen  bei 
Individuen  vor,  die  unter  den    günstigsten  Verhältnissen  und  aufs  zweck- 
mässigste  leben,  kehren    oft,   hartnäckig,    und    wohl    auch  zu    bestimmten 
Zeiten  wieder,  wechseln  mit  einander  und    mit   andern    offenbar  scrofulö- 
sen  Affectionen,  und  treten  überhaupt  von  äussern    Einflüssen  unabhängig 
auf.    Um  diess  zu  constatiren,  genügt   es  natürlich  nicht,  dass  man  solche 
Individuen  etwa  ein-  oder  zweimal  im  Leben    sieht ;    man    muss    sie  viele 
Jahre,  in  ihren  häuslichen  Verhältnissen  und  als  Familienglieder  beobachten. 
Ob  wir  im    Stande    seien,    Resorption    einzuleiten,    etwa  durch   kalte 
Umschläge,  ist  wohl  dadurch  noch  nicht  bewiesen,  dass  es  bisweilen  nach 
Anwendung  derselben  nicht  zum  Aufbruche   kommt;  denn   diess  geschieht 
—  vielleicht  eben  so  oft  —   auch  ohne  alles  Zuthun,   und  noch  öfter  tritt 
ungeachtet    gehörig   angewandter    Umschläge     Durchbruch    ein.     Will    der 
Kranke  gerade  etwas  thun,  so  mag   er  sich  warme    Breiumschläge   (Sem- 
mel in  Milch)  auflegen ;    sie    lindern   den   Schmerz ,    und    befördern    wohl 
auch  die  Eiterung.     Bei  starkem  Ödem  lasse    man    das  Auge  einfach  oder 
mit  erwärmten  trockenen  Compresschen  bedecken.  Sobald  der  Eiter  durch- 
scheint, kann  man  ihn  durch  einen   Einstich    oder    auch  durch  Druck  ent- 
leeren.    Gegen  die  öftere  Wiederkehr   scheint    das    Einreiben    von   rother 
Präcipitatsalbe  (1 — 3  Gran  auf  1  Dr.)  an  die  Lidränder  einigen  Nutzen  zu 
gewähren;  doch  bleibt  immer  die  Allgemeinbehandlung  zu  diesem  Zwecke 
das  wirksamste.    Bei  Chalazien  können  sich   die  Kranken  nicht  immer  so- 
gleich zur  Incision  entschliessen.     Man  versuche  Einreibungen  von  Salben 
mit  rothem  Präcipitat,  Jodkalium,  Mercurdeuterojoduret    (l/3 — %  Gran  auf 
1  Dr.)  In  den  meisten  Fällen   reicht  man    damit   nicht  aus ,   verlieren    die 
Kranken  die  Geduld    und    entschliessen    sich    zu   der    anfangs   proponirten 
Incision.     Das   Auflegen   von    Pflastern    oder     Cataplasmen    bei    Chalazien 
führt  leicht  zu  partieller  Schmelzung   des  Exsudates   und   zum  Durchbruch 
der  Haut,  bevor  noch  das  ganze  Infiltrat  zur  Elimination  geeignet  ist,  und 
der  Kranke  muss  lange  mit    einem  geschwürigen    Augenlide    herumgehen. 
Das  Eindringen   mit   einem   zugespitzten     Lapis    infernalis    in   die  Öffnung 
kann    dann    noch     am    ehesten     die    Schmelzung    und    die    Heilung    be- 
schleunigen. 

5.  Als  Lidrandentzündung  (Blepharadenitis  ciliaris)  bezeichnet  man 
gewöhnlich  eine  längs  des  Augenlidrandes  sich  zeigende  Entzündung,  für 
deren  Ausgangspunkte  oder  Herde  man  die  um  die  Haarzwiebeln  gele- 
genen Drüschen  hält;  frühere  Auetoren    beschrieben  die  hieher  gehörigen 


352  Augenlider. 

Formen  unter  den  Namen  Psorophthalmia,   Lippitudo  ulcerosa.  Tinea,  Her- 
pes oculi  inflamm.,  Ophthalmia  tarsi  u.  s.  w. 

Wenn  gleich  die  am  Lidrande  selbständig  vorkommenden  entzündlichen  Affeclionen, 
sowohl  in  Bezug  auf  den  Sitz  oder  Ausgangspunkt,  als  auch  in  Bezug  auf  ihre  ätiologi- 
schen Momente  nicht  als  ein  und  derselbe  Process  zu  betrachten  sind  ,  so  getraue  ich 
mich  doch  in  Ermanglung  genügender  Untersuchungen  zur  Zeit  noch  nicht,  eine  streng 
nosologische  Sonderung  derselben  zu  unternehmen,  und  will  demnach  nur  beschreiben, 
was  ich  beobachtet,  und  sondern,  was  schon  jetzt  behufs  der  Prognosis  und  Therapie 
gesondert  werden  kann  und  muss.  Ich  wähle  den  Namen  Blepharadenitis,  weil  es  am 
wahrscheinlichsten  ist,  dass  die  um  die  Haarzwiebeln  der  Cilien  gelegenen  Drüschen 
(Zeis)  der  gemeinschaftliche  Krankheitsherd  sind,  und  weil  ich  die  Zahl  der  Benennungen 
nicht  ohne  gute  Gründe  vermehren  mag.  Die  verschiedenen  Formen  von  Entzündungen 
am  Lidrande  gehören  im  Allgemeinen  nicht  nur  unter  die  häufigsten,  sondern  auch  unter 
die  hartnäckigsten  Augenkrankheiten  und  verdienen  nicht  nur  wegen  ihrer  Rückwirkung 
auf  die  Bindehaut,  sondern  auch  wegen  mannigfacher  Entstellung,  zu  der  sie  führen, 
dass  sie  fernerhin  einer  grösseren  Aufmerksamkeit  und  strengeren  Forschung  gewürdigt 
werden,  als  bisher  leider  geschehen  ist. 

Eine  Form  von  Blepharadenitis  ciliaris  kommt  am  häufigsten  mit  Con- 
junctivitis scrofulosa,  doch  auch  ohne  diese  vor.  An  einer  oder  an  meh- 
reren isolirten  Stellen  des  obern  oder  untern  Lides  oder  beider  zugleich 
sieht  man  eine  leichte  knotige  Schwellung  und  Röthung  des  Lidrandes, 
und  darüber  an  der  Basis  der  Cilien  eine  Kruste,  welche  fest  an  der  Cutis 
haftet.  Sucht  man  diese  Kruste  abzustreifen,  was  oft  schwierig  und  nur 
mittelst  der  Nägel  oder  eines  zugeschärften  Hölzchens  (Zahnstochers) 
möglich  ist,  so  erscheint  die  Cutis  darunter  ganz  dünn  und  roth,  oder  der 
Epidermis  verlustig,  oder  auch  mit  einem  Grübchen  versehen,  welches  oft 
noch  mit  etwas  Eiter  gefüllt  ist.  Diese  Krusten  hängen  geAvöhnlieh  so 
fest  an  den  sie  durchbrechenden  Cilien,  dass  bei  Entfernung  derselben  ein 
und  das  andere  Wimperhaar  mitgeht;  sie  sind  keineswegs  bloss  vertrock- 
neter Schleim  oder  Drüsensecret,  sondern  führen  namentlich  an  der  Basis 
immer  eine  Menge  Epidermiszellen  mit  sich.  —  Ganz  dieselbe  Form  findet 
man  auch  häufig  bei  Leuten,  die  an  Thränensackblennorrhöe  leiden,  und 
zwar  hier  fast  immer  nur  an  den  Lidern  derselben  Seite. 

An  diese  Form  (die  solitäre)  schliesst  sich  eine  andere,  seltener  vor^ 
kommende  an,  die  nämlich,  wo  Schwellung,  Röthung,  Eiter-  und  Krusten- 
bildung längs  des  ganzen  Lidrandes  auftreten,  und  wo  besonders  die  Ver- 
dickung des  Lidrandes  (Fylosis)  stark  ausgesprochen  erscheint.  Nach 
dieser  oft  Monate,  Jahre  lang  und  ganz  für  sich  allein  bestehenden  Form 
entsteht  leicht  Distichiasis  und  nehmen  manchmal  die  Wimpern,  wenn  auch 
nicht  gegen  den  Bulbus  hineinsprossend,  doch  eine  sehr  sparrige  Rich- 
tung an.     Verlust    der  Cilien  erfolgt   hier  selten,  und  zwar  desshalb,  weil 


Entzündung  des  Augenlidrandes.  353 

es   nicht  zur  Vereiterung,   sondern  zur   Hyperfrophirung  und  Sclerosirung 
des  die  Haarzwiebel  umgehenden  Bindegewebes  kommt. 

Die  gefährlichste,  hartnäckigste  und  leider  auch  nicht  die  seltenste 
Form  ist  die  zur  Vereiterung  des  Haarzwiebelbodens  führende  Form.  Diese 
Affection  findet  sich  immer  an  beiden  Lidern,  längs  des  ganzen  Randes,  und 
auch  immer  auf  beiden  Augen  zugleich.  Sie  besteht  in  der  Bildung  kleiner 
über  die  Umgebung  gar  nicht  oder  kaum  merklich  emporragender  Eiter- 
punkte, meist  so  gelegen,  dass  mitten  aus  je  einem  solchem  Abscesscheri 
ein  Wimperhaar  hervorsprosst ;  seltener  sitzen  welche  an  der  linearen 
Fläche  des  Lidrandes  selbst.  Die  frisch  entstandenen  liegen,  wenn  der 
Lidrand  nicht  schon  mit  Krusten  b%deckt  war,  frei  zu  Tage  ;  andere  sind 
durch  Krusten  verdeckt.  Beim  Versuche,  solche  Krusten  abzuheben  und 
zu  beseitigen,  folgen  oft  ganze  Schollen  von  Epidermis  längs  eines  grossen 
Theiles  des  Lidrandes  und  bis  über  den  Haarzwiebelboden  hinauf  (hinab); 
darunter  erscheint  dann  die  Cutis  nur  von  dünner  Epidermis  bedeckt  und 
roth,  nächst  den  Wimpern  oft  ohne  Epidermis,  leicht  blutend,  an  der  Basis 
einer  und  der  andern  Cilie  selbst  (nach  Beseitigung  des  Eiters)  mit  einem 
mehr  weniger  tiefen  und  breiten  Grübchen  versehen.  Wird  eine  aus 
einem  Abscesschen  hervorsprossende  Cilie  ausgezogen,  so  entleert  sich 
der  Eiter;  das  Ausziehen  selbst  ist  für  das  Nachwachsen  einer  Cilie  an 
derselben  Stelle  nicht  hinderlich,  befördert  aber  auch  die  Heilung  nicht. 
Die  Cilien  gehen  erst  nach  langer  Dauer  der  Krankheit  und  oft  wieder- 
holter Eiterbildung  an  derselben  Stelle  bleibend  verloren  (Madarosis),  doch 
immer  nur  theilweise;  die  durch  Nachwuchs  ersetzten  sind  dann  dünner, 
kürzer,  blässer,  und  meist  in  einzeln  stehende  Büschel  zusammengedrängt 
(wohl  durch  die  Narbenbüdung).  Noch  bevor  diess  eintritt,  sieht  man 
schon,  dass  längs  der  Linie,  in  welcher  die  Abscesschen  nach  einander 
zu  wiederholten  Malen  gesessen,  eine  Art  von  Furche  oder  seichter  Ver- 
tiefung entstanden  ist.  Gleichzeitig  bemerkt  man  auch,  wie  die  Bindehaut 
über  die  andere  Kante  des  Lidrandes  gegen  jene  Furche  hingezogen  wird 
(Ectropium  conjunctivae),  demnach  die  Lidränder  gleichsam  roth  einge- 
säumt erscheinen.  Wenn  die  Krankheit  einmal  so  weit  gediehen  ist,  wird 
man  auch  meistens  schon  die  Mündungen  der  Meibom'schen  Drüsen  nicht 
mehr  auffinden  können,  und  hiemit  ist  bereits  ein  Zustand  eingetreten, 
welcher  keine  Restitutio  ad  integrum  (nach  meinen  bisherigen  Erfahrungen) 
mehr  zulässt.  Die  Lidrander  schliessen  nicht  mehr  genau  an  den  Bulbus 
an,  der  Kranke  leidet  nebst  der  abscheulichen  Entstellung  auch  noch  fort- 
während an  Thränenträufeln,  an  Excoriationen  und  an  grosser  Empfind- 
lichkeit   der  Augen.     Immer    findet   man    bei    dieser    Form    die    Coujunct, 

Arli's  Augenheilkunde,  111.  2.  23 


354  Augenlider. 

palp.  über  dem  Tarsus  sammtartig  aufgelockert  und  gleichmässig  geröthet, 
im  Übergangstheile  dagegen  und  am  Bulbus  normal.  Umschriebene  Exsu- 
dationen  an  der  Conjunet.  bulbi  gehören  hier  zu  den  Seltenheiten.  Nach 
sehr  Janger  Dauer  wird  die  Conj.  palp.  oberflächlich  sehnenartig  glänzend 
(wie  mit  Milch  übergössen),  öfter  jedoch  punktförmig  marmorirt  (durch 
verkalkte  Exsudate  in  den  Meibom'schen  Follikeln.) 

Nicht  gefährlich,  nur  äusserst  lästig  ob  Unterhaltung  eines  gereizten 
Zustandes  der  Bindehaut  und  hartnäckig  ob  häufiger  Rückfälle  sind  jene 
Formen  von  Augenlidrandentzündung,  welche  sich  durch  die  Bildung  fei- 
ner Schüppchen  und  leichte  Röthung  der  Haut  längs  der  äussern  Lidkante 
manifestirt.  Bläschenbildung  oder  andofe  Erscheinungen  als  die  eben  ge- 
nannten zu  beobachten  ist  mir  nie  gelungen. 

Ein  unbedeutendes  Leiden  ist  die  Bildung  kleiner  Bläschen  an  der 
linearen  Fläche  des  Lidrandes,  deren  ich  nur  desshalb  erwähne,  weil  sie 
Empfindlichkeit  der  Augen  und  selbst  Schmerzen  verursachen,  und  als 
Ursache  dieser  Zufälle  leicht  übersehen  werden  können.  Ich  fand  sie  bei 
sonst  ganz  gesunden  Individuen,  die  mich  bloss  desshalb  consultirten,  viel 
öfter  jedoch  bei  Katarrh,  chron.  Blennorrhoe  und  Trachom.  Es  sind  halb- 
kugliche.  höchstens  mohnkorngrosse,  hyaline  oder  auch  etwas  trübe  Er- 
höhungen mit  flüssigem  Inhalte  auf  der  innern  Kante  oder  an  den  Aus- 
mündungsstellen der  Meibom'schen  Drüsen.  Ich  drücke  sie  gewöhnlich 
dadurch  aus,  dass  ich  den  Nagel  des  Daumens  anlege  und  auswärts  streife. 
Schmerzen,  Lichtscheu  und  Thränenfluss  sind  nun  bald  vorüber.  Selten 
sind  mehr  als  1 — 2  solche  Bläschen  zugleich  vorhanden;  aber  bei  man- 
chen Individuen  kehren  sie  eine  Zeit  lang  öfter  und  an  verschiedenen 
Stellen  wieder. 

Die  ersten  3  Formen  (die  solitäre,  hypertrophirende  und  exuleerirende) 
sind  nach  ihrem  Vorkommen,  wenn  nicht  immer,  so  gewiss  in  den  meisten 
Fällen  scrofulösen  Ursprunges  ;  die  4.  Form  hängt  vielleicht  mit  abnorm 
zarter  Organisation  der  Haut  zusammen,  indem  sie  oft  bei  Individuen  vor- 
kommt, die  sonst  gesund  sind,  besonders  wenn  sie  blond  sind  oder  mehr 
flach  liegende  Augen  haben  ;  doch  habe  ich  sie  auch  bei  offenbar  scrofu- 
lösen Individuen  ohne  diese  Beschaffenheit  der  Haut  und  ohne  Glotzaugen 
gesehen.  Ungeregelte  Lebensweise,  Nachtwachen,  Arbeiten  beim  Feuer. 
Aufenthalt  in  staubiger  oder  sonst  verunreinigter  Atmosphäre  u.  dgl.  Kön- 
nen wohl  den  Zustand  verschlimmern,  schwerlich  aber  die  Krankheit 
selbst  jemals  —  bei  sonst  gesunden  Individuen  —  erzeugen. 

Bei  der  Behandlung  muss  vor  allein  für  Beseitigung  der  eben  er- 
wähnten  und  ähnlicher  Schädlichkeiten    gesorgt,  und  nach  Möglichkeit  auf 


Entzündung  des  Augenlidrandes  —  Phthiriasis.  355 

das  etwa  zu  Grunde  liegende  Allgemeinleiden  eingewirkt  werden.  Die 
örtliche  Behandlung  erfordert  zunächst  sorgfältige  Entfernung  des  Eiters 
und  der  Krusten,  so  oft  sich  solche  gebildet  haben.  Diese  halten  den 
darunter  gebildeten  Eiter  zurück,  und  verhindern  auch  die  Application  der 
nöthisren  Arzneistoffe  auf  die  erkrankten  Stellen  selbst.  Die  der  Ablösung 
vorauszuschickende  Erweichung  durch  Kataplasmen  oder  durch  Anhalten 
eines  feuchlwannen  Schwammes  erfolgt  leichter,  wenn  man  den  Abend 
vorher  die  Lidränder  mit  Ol  oder  Fett  bestreichen  liess.  Bei  der  solitären 
und  selbst  bei  der  tylolischen  oder  hypertrophirenden  Form  reicht  in  der 
Regel  das  Einreiben  (nicht  blosses  Aufpinseln)  einer  Salbe  aus  1 — 3  Gran 
rolhen  Präcipitates  auf  1  Dr.  Fett  an  die  Lidränder  (vor  dem  Einschlafen) 
zur  Heilung  hin,  bei  grosser  Empfindlichkeit  mit  einigen  Tropfen  Tinct 
opii  crocata,  bei  starker  Wulstung  mit  1  Gran  Camphora  rasa  vermischt. 
Reaction,  des  Morgens  durch  Röthe  und  grössere  Empfindlichkeit  der 
Augen  sich  kund  gebend ,  ist  erwünscht,  und  darf  nicht  sogleich  zur 
Schwächung  der  Dosis,  sondern  zunächst  nur  zur  seltenern  Anwendung, 
jeden  2.  oder  3.  Tag,  bestimmen.  Sind  starke  Excoriationen  vorhanden, 
so  schicke  man  den  Gebrauch  einer  Salbe  von  2 — 3  Gran  weissen  Prä- 
cipitats  allein  oder  mit  eben  so  viel  Zinkblumen  voraus,  oder  bestreiche 
die  wunden  Stellen  mit  einer  schwachen  Lösung  von  Sublimat  oder  Sal- 
peters. Silber.  Bei  förmlicher  Induration  des  Lidrandes  bediene  man  sich 
einer  Salbe  aus  1/3 — 1/Q  Gran  Mercurdeuterojoduret,  doch  vorsichtig,  dass 
nichts  davon  zwischen  die  Lidspalte  eindringe.  —  Bei  der  exculceriren- 
den  Form  leistet  unter  den  genannten  Mitteln  der  weisse  Präcipitat  (allein 
oder  mit  Zinkblumen)  noch  am  meisten,  wenn  überhaupt  nicht  schon  Obli- 
teration  der  Meibom'schen  Drüsenmündungen  eingetreten  ist;  weit  wirk- 
samer, und  selten  im  Stiche  lassend,  ist  seine  Verbindung  mit  Theer  (nach 
Emery:  praeeip.  albi  gr.  4 — 6,  picis  liq.  scr.  i,  ung.  comm.  dr.  1)  täg- 
lich 2  — 3mal  auf  die  sorgfältig  gereinigten  Lidränder  aufgepinselt.  ..Wo 
grössere  Abscesse  und  Excoriationen  vorhanden,  habe  ich  Mäkenzie's 
Ralh,  diese  Stellen  nachdrücklich  mit  Lapis  inf.  zu  touchiren,  mehrfach 
bewährt  gefunden.  Das  oben  erwähnte  Ectropium  conjunctivae  habe  ich 
in  einigen  Fällen  vermindert  oder  beseitigt  durch  Bestreichen  des  sammt- 
artig  aufgelockerten  Tar.saltheiles  der  Bindehaut  mit  reinem  oder  durch 
Kali  nitricum  geschwächtem  Höllenstein.  —  Bei  der  Form,  welche  durch 
die  Bildung  kleiner  Schüppchen  an  den  Cilien  und  durch  fortwährende 
Empfindlichkeit  gegen  kalte  Luft,  Staub,  Kerzenlicht  u.  s.  w.  lästig  wird, 
erzielt  man  Heilung  —  wenigstens  für  einige  Zeit  oder  doch  Linderung 
durch     schwache     Präcipitatsalben    oder    durch     Waschungen    mit    einer 

23* 


356  Augenlider. 

schwachen    Sublimatsolution    oder    einer    Mischung    von    Franzbranntwein 
und  Wasser. 

Ob  es  eine  primäre  Entzündung  des  Knorpels  gebe,  ist  unerwiesen  ;  wenigstens  sind 
uns  die  Symptome  derselben  noch  nicht  bekannt.  Wir  wissen,  dass  in  Folge  von  Tra- 
choma  der  Knorpel  nach  merklicher  Verdickung  oft  sehr  bedeutend  einschrumpft,  in 
Folge  von  Blennorrhoe  dagegen  breiter,  länger  und  dicker  wird;  ich  habe  auch  einige 
Fälle  gesehen,  wo  der  Knorpel  ohne  vorausgegangene  Blennorrhoe  nach  allen  Dimen- 
sionen fast  um  die  Hälfte  vergrössert  war;  trotzdem  war  es  mir  bisher  nicht  möglich, 
genauere  Einsicht  in  den  Process  zu  gewinnen,  und  lasse  ich  die  Frage  lieber  offen.  Ich 
zweifle,  dass  heutzutage  noch  jemand  die  Ansicht  verfechten  werde,  die  Bildung  der  so- 
genannten Hagelkörner  gehe  aus  Entzündung  der  Knorpelsubstanz  hervor.  In  dem  Falle, 
den  Hasner  1.  c.  S.  243  als  Ausgang  von  Knorpelentzündung  in  Hypertrophie  und  Yer- 
knöcherung  angesehen  hat,  ist  ein  diagnostischer  Irrthum  unterlaufen,  wie  ich  bereits  in 
der  Prager  Vierteljahrschrift  18.  B.  S.  51  nachgewiesen  habe.  (Vergl.  auch  Pih  über 
Keratitis,  Pr.  Vlljschr.  20.  B.  S.  39.) 

6.  Eine  Entzündung-  des  Augenlidrandes  kann  leicht  vorgetäuscht, 
vielleicht  auch  wirklich  hervorgebracht  werden  durch  das  Vorkommen  von 
Läusen  an  den  Cilien,  weil  dieselben,  wie  ich  gesehen,  ausserordentlich 
klein  sind  und  für  Schüppchen  imponiren,  oder  weil  sie  sich,  wie  Chelius 
angibt,  tief  in  die  Haut  eingraben.  Ich  wurde  zuerst  durch  den  sparrigen 
Stand  der  Cilien  auf  diese  Thierchen  aufmerksam  gemacht.  Mit  Hilfe 
einer  Loupe,  und  bei  guter  Beleuchtung  und  aufmerksamer  Betrachtung 
auch  mit  freiem  Auge,  erkennt  man  bestimmt,  was  man  vor  sich  hat.  In 
einem  Falle  war  bloss  der  linke  obere  Augenlidrand  inficirt ;  in  einem 
andern  beide  obere  Lider.  In  diesem  wurde  in  Zeit  von  10  Tagen  Hei- 
lung erzielt  durch  Einreibung  von  Ung.  cinereum;  in  jenem  erfolgte  einige 
Tage,  nachdem  ich  ihn  gesehen,  der  Tod  in  Folge  von  Medullarsarkom 
der  Leber.  Scarpa  entdeckte  mittelst  einer  Loupe  Läuse  an  der  Basis 
der  Cilien  als  Ursache  einer  hartnäckigen  Ophthalmie,  und  Chelius  führt 
an,  dass  er  zwei  ähnliche  Fälle  beobachtet  habe. 


IL    Pseudoplasmen. 

1.  Cysten  werden  am  Lidrande  als  Hirsekorn  (milium)  und  als  Was- 
serbläschen (hydatis),  gegen  den  Orbitalrand  hin  als  Breigeschwülste 
(atheroma)  beobachtet.  Erstere  sitzen  unmittelbar  unter  oder  in  der  Cutis, 
letztere  in  den  meisten  Fällen  (nach  meinen  Beobachtungen  in  allen)  an 
der  Augenlidfascie  oder  an  der  Beinhaut.  —  Das  Wasserbläschen  sitzt 
immer  irgendwo  nahe  am  Lidrande  als  eine  ganz  ohne  Zufälle  entstandene 
und    fortbestehende   helle    Cyste  von  der  Grösse  eines  Hirse-  oder  Hanf- 


Pseiirioplasiiien —  Cysten  —  Warzen  —  Teleangiektasie.      357 

korns.  Zur  bleibenden  Beseitigung  genügt  vielleicht  die  einfache  Incision ; 
ich  pflege  nachher  noch  ein  Stückchen  zu  cxcidiren.  —  Das  Hirsekorn 
erreicht  gewöhnlich  nur  am  Lidrande  die  Grösse  der  Frucht,  der  es  an 
Farbe  gleicht;  kleinere  solche  Körner  entwickeln  sich  oft  in  grosser  An- 
zahl weiter  entfernt  vom  Lidrande  hei  Individuen,  welche  dieselbe  AlFection 
der  Talgdrüsen  auch  an  andern  Stellen  der  allgemeinen  Bedeckung  dar- 
bieten; selten  kommen  linsengrosse  vor.  Nach  Einritzung  der  sie  um- 
gebenden dünnen  Hülle  kann  man  ihren  Inhalt  ausdrücken.  —  An  diese 
Affection  reiht  sich  eine  Art  diffuser,  flächenartig  ausgebreiteter  Schmeer- 
ansammlung  unter  der  äusserst  dünnen  Cutis  ober-  und  unterhalb  des 
innern  Augenwinkels.  Ich  habe  diese  in  hohem  Grade  entstellende  AlFec- 
tion bisher  nur  bei  älteren  fettleibigen  Individuen  beobachtet,  und  keinen 
Anstand  genommen,  da  die  Haut  bereits  sehr  runzlig  war,  ganze  Stücke 
derselben  sammt  der  Schmeermasse  zu  excidiren,  elliptische,  nach  der 
Richtung  der  Orbicular fasern  laufende  Falten  bis  zu  2  und  3'"  Breite  ent- 
fernt, und  den  kosmetischen  Zweck  ohne  Nachtheil  und  vollständig  er- 
reicht. —  Die  Ausschälung  der  Balggeschwülste  geschieht  nach  den  von 
der  Anatomie  und  Chirurgie  gegebenen  Vorschriften.  Wenn  die  Ge- 
schwülste grösser  als  ein  Taubenei  waren,  gleichviel  ob  sich  die  Cutis 
darüber  noch  in  Falten  fassen  liess  oder  nicht,  und  ob  sie  von  ausge- 
dehnten Gefässen  mehr  oder  weniger  geröthet  war,  so  glaubte  ich  immer 
im  Interesse  der  Heilung  zu  handeln,  wenn  ich  vor  der  Ausschälung  ein 
elliptisches  Stück  Haut  ausschnitt,  nach  der  Richtung  der  Muskelfasern; 
die  einsinkenden  Wundränder  lassen  sich  dann  leichter  (ohne  Einrollung) 
vereinigen,  und  man  erspart  sich  das  nachträgliche  Excidiren  einer 
Hautfalte. 

2.  Warzen  bieten  an  der  Augenlidhaut  die  gewöhnlichen  Merkmale 
dar,  und  sind  mit  den  Knoten  bei  beginnendem  Epitelialkrebs  nicht  zu 
verwechseln.  Ganz  kleine  warzenähnliche  Excrescenzen  habe  ich  mehr- 
mal an  der  linearen  Fläche  des  Lidrandes  als  Ursache  einer  beständigen 
Reizung  des  Auges,  namentlich  der  Bindehaut  beobachtet.  Es  sind  kleine, 
unebene,  harte,  weiss  aussehende  Erhöhungen  mit  scharf  abgegrenzter 
Basis.  Ich  trug  sie  mit  einer  flach  gebogenen  dünnen  Scheere  ab;  sie 
bestanden  grösstentheils  aus  Epidermis.  Zur  Stillung  der  "Blutung  und 
zur  sicherern  Verhütung  der  Wiederkehr  betupfte  ich  die  Wunde  mit 
Hollenstein.  Die  Bildung  von  Condylomen  bei  Lues  dürfte  unter  die  Sel- 
tenheiten gehören. 

3.  T eleaiujyektasien  in  der  Haut  kommen  an  den  Lidern  nicht  gar 
selten  vor,  bald   flach   (Feuermäler),    bald   erhaben    (Blutschwamm,    Maul- 


358  Augenlider. 

beergeschwulst),  bald  klein  in  der  Fläche  der  Haut  oder  am  Lidrande,  bald 
ausgebreitet  und  über  den  Lidrand  bis  zur  Innenfläche  des  Lides  über- 
greifend. In  andern  Fällen  entwickelt  sich  die  erectile  Geschwulst  unter 
der  Haut,  und  greift  erst  nach  beträchtlicher  Vergrösserung  in  diese  über. 
Die  Grundsätze  der  Diagnostik  und  Therapie  als  aus  der  Chirurgie  bekannt 
voraussetzend,  will  ich  bloss  bemerken,  dass  mir  die  Heilung  flacher 
Angyektasien  durch  Aufschlagen  von  Aqua  Goulardi  mittelst  Leinwand- 
bäuschehen gelungen  ist,  wenn  dieselbe  frühzeitig  (vor  Ablauf  der  dritten 
Woche  nach  der  Geburt)  und  fleissig  vorgenommen  wurde,  und  dass  ich 
mich  bei  grösseren  und  tiefer  eingreifenden  Ektasien  der  Unterbindung 
mittelst  zweier  durch  die  Basis  durchgeführter  (stärkerer)  Insektennadeln 
mit  dem  gewünschten  Erfolge  bedient  habe.  Die  grosse  Dehnbarkeit  der 
Haut  gestattet  die  Anwendung  dieses  Mittels  hier  wohl  bei  grösserem  Um- 
fange, als  an  andern  Körperstellen.  Für  efd-  oder  maulbeerartige  Ekta- 
sien empfiehlt  Chelius  die  einfache  Unterbindung  oder  auch  die  Abtragung 
mit  der  Scheere.  Zur  Einimpfung  der  Kuhpocken  bei  noch  nicht  geimpf- 
ten Kindern  (nach  Carron  du  Villards)  hatte  ich  noch  keine  Gelegenheit. 
Es  versteht  sich  übrigens  von  selbst,  dass  man,  wo  ein  Wachsen  der 
Affection  bemerkt  wird,  und  nicht  dringende  Gegenanzeigen  da  sind,  die 
Operation  durchaus  nicht  verschieben  darf.  Eine  ausgezeichnete  Abhand- 
lung über  Naevus  maternus  und  Aneurysma  per  anastomosin  an  den  Augen- 
lidern und  in  der  Orbita,  mit  trefflichen  Beobachtungen  von  Hodijson 
Young,  John  Bell,  Allan  Bums,  Travers  und  Wardrop  findet  man  bei 
Maken%ie   1.  c.  S.   148—157. 

4.  Der  Krebs  ist  an  den  Augenlidern  —  meines  Wissens  —  nur  als 
Epitelialkrebs  beobachtet  worden,  *)  und  zwar  als  flacher,  als  drusiger 
und  als  warziger.  Die  Stellen ,  wo  ich  ihn  (seinen  Ausgangspunkt)  sah, 
waren:  unterhalb  der  äussern  Commissur,  in  der  Mitte  des  untern  Lides 
nächst  dem  Sande ,  tiefer  unten  gegen  den  Orbitalrand  hin ,  unter-  und 
oberhalb  des  innern  Augenlidbandes. 

a)  Der  flache  Epitelialkrebs  beginnt  bekanntlich  mit  der  Bildung  klei- 
ner lichter  Knötchen  in  der  Haut,  die  sich  verschieden  an  einander  rei- 
hen (zu  kleinen  Wülsten),  und  bisweilen  eine  inselförmig  eingeschlossene 
gesunde  Partie  umfassen,  durch  zahlreiche  venöse  Gefässchen  ein  röth- 
lich-marmorirtes  oder  gestreiftes  Aussehen  bekommen,  dann  sich  bald  mit 
gelben  Borken  belegen,  unter  welchen  man  zunächst  bloss  eine  exeoriirte, 


*)  Ich   fuljre  in   der  Terminologie     und   Beschieiluing  der  h i <•  h c r  gehörenden   AlTeclionen   der  Darstellung    von   iWm/j . 
Pathologie   und    Therapie  der  Pseiidoplumtn.     Wien     1854. 


Pseiidoplnsmeii   —    Krebs.  359 

weiterhin  eine  geschwürige  Fläche  findet,  welche  eine  dünneitrige  Flüssig- 
keit absondert,  harte  Ränder  zeigt,  zeitweilig  wohl  scheinbar  sich  schliesst 
(durch  ein  dünnes  Häutchen),  bald  aber  wieder  aufbricht,  und  in  diesem 
Zustande  Monate,  ja  Jahre  lang  verharren  kann,  ohne  beträchtlich  grösser 
oder  tiefer  zu  werden.  Dabei  ist  die  Afleotion  fast  Schmerzlos,  oder  tre- 
ten bloss  flüchtige  Stiche  ein.  Erst  nach  jahrelangem  Bestände  greift  die 
ÄfFection  theils  tiefer,  theils  weiter  um  sich,  und  zerstört  nicht  nur  die 
Haut  durch  Schmelzung  des  immer  wieder  mit  solchen  Tuberkeln  iuliltrir- 
ten  Randes,  sondern  auch  alle  unterliegenden  Gebilde  des  untern,  dann 
auch  des  obern  Lides,  endlich  selbst  den  blossgelegten  Bulbus  und  die 
knöcherne  Wandung  der  Orbita  (bis  zur  Communicalion  mit  der  Nasen-, 
Highmors-,  selbst  der  Schädelhöhle).  Erst  wenn  die  ÄfFection  über  die 
Haut  hineingegriffen  hat,  pflegen  heftige  Schmerzen  einzutreten,  und  erst, 
wenn  eine  beträchtliche  Geschwürsfläche  vorhanden  ist,  schwellen  die 
Lymphdrüsen  (um  die  Parolis)  an.  Dann  entsteht  auch  Schlafmangel,  Ab- 
magerung, üble  Gesichtsfarbe,  Zehrfieber.  „Innere  Organe  werden  von 
diesem  Processe  nie  ergriffen:  auch  findet  man  bei  den  Leichenuntersu- 
chungen nie  an  einem  Eingeweide  irgend  eine  andere  Krebsform."  (Schuh.) 

„Die  Ursachen  der  Entstehung  sind  selten  klar.  Meistens  Iässt  sich 
keine  äussere  Veranlassung  auffinden;  das  innere  ursächliche  Moment  ist 
in  der  Regel  vorwaltend  und  liegt  in  einer  eigentümlichen  Blutmischung, 
die  sich  nur  bei  Menschen  über  40  Jahren  entwickelt.  Hier  kann  die 
geringste  mechanische  Reizung  hinreichen,  um  in  einer  exeoriirten  oder 
in  Granulation  begriffenen  Stelle  eine  solche  Umstimmung  im  Bildungs- 
processe  hervorzurufen,  dass  es  zum  Hautkrebse  kommt.  Es  lässt  sich 
aber  nicht  läugnen,  dass  die  Krankheit  nicht  selten  rein  örtlich  sei,  indem 
sie  gegen  die  Regel  bei  blühenden  Männern  und  Weibern  in  den  zwan- 
ziger Jahren  vorkommt,  und  aus  zufälligen  Wunden  durch  mechanische 
oder  dynamische  Misshandlung  sich  herausbildet."  (Schuh.)  In  einigen 
von  mir  beobachteten  Fällen  hatte  sich  das  Übel  bei  Individuen,  die  sonst 
für  gesund  erklärt  werden  konnten,  und  noch  nicht  über  36  Jahre  alt 
waren,  ohne  bekannte  Veranlassung  entwickelt. 

„Da  der  flache  Krebs  am  häufigsten  unter  allen  bösartigen  Geschwül- 
sten als  örtliche  Krankheit  auftritt  und  immer  einen  sehr  langsamen  Ver- 
lauf beobachtet,  so  leistet  die  chirurgische  Behandlung  sehr  oft  (?)  radi- 
cale  Hilfe.  Hat  man  alles  Krankhafte  beseitigt,  so  sind  Recidiven  selten, 
falls  noch  keine  Drüsenanschwellungen  bestehen.  Die  Beseitigung  ge- 
schieht durch  Ätzmittel  oder  durch  Exstirpation."  (Schuh.)  Am  Auge  habe 
ich  auch    unter  den    günstigsten  Ätispicien    nicht    so    glückliche    Resultate 


360  AugeiDlider. 

erhalten,  auch  nicht  von  Andern  trotz  Beobachtung  aller  Regeln  der  Kunst 
erhalten  sehen. 

In  dein  1.  Falle  (1841)  trat  nach  vollkommener  Zerstörung  durch  Chlorzink  (Pasta 
aus  7  Gran  mit  1  Skr.  Mehl  nach  Canquoiri)  Heilung  ein,  und  hatte  auch  die  Beseiti- 
gung des  durch  Zerstörung  der  äussern  Commissur  entstandenen  Ectropium  palp.  infer. 
mittelst  der  Tarsorapie  nach  Wallher  (etwa  i/.i  Jahr  später)  keine  Rccidive  zur  Folge  ; 
diese  trat  erst  3/.,  Jahre  später  ein,  konnte  aber  trotz  nochmaliger  energischer  Zerstörung 
durch  obige  Pasta  und  trotz  allgemeiner  Behandlung  nicht  für  die  Dauer  verhütet  wer- 
den. Als  ich  den  Mann  in  seinem  42.  Jahre  (9  Jahre  nach  der  1.  Behandlung)  das  letzte 
Mal  sah,  bot  er  durch  Blosslegung  und  theilweise  Zerstörung  der  Orbitalwandung  (untere 
und  innere)  einen  fürchterlichen  Anblick  dar.  —  In  zwei  andern  Fällen,  wo  die  Affec- 
tion  noch  auf  eine  so  kleine  Partie  beschränkt  war,  dass  Prof.  Pilha,  der  die  Exstir- 
patioti  vornahm,  nicht  nur  diese,  sondern  auch  die  Vereinigung  der  Wunde  so  gut,  als 
man  nur  wünschen  konnte,  durchzuführen  vermochte  (bei  einem  Manne  von  etwa  36 
und  einer  Frau  von  50  Jahren),  trat  ebenfalls  nach  Jahresfrist  abermals  Infiltration  ein. 
—  Die  von  mir  im  August  1844  nicht  bloss  durch  Exstirpation,  sondern  auch  durch 
Transplantation  eines  Hautstückes  operirte  36jährige  Bäuerin  Marek  Katharina,  deren 
Krankengeschichte  aasner  I.  c.  S.  258  mitgetheilt,  um  ein  neues  Verfahren  der  Blepharo- 
plastik  zu  beschreiben,  war  im  Jahre  1847  nicht  mehr  geheilt,  denn  sie  kam  am  1. 
December  1846  reeidiv  auf  die  Augenklinik  und  wurde  von  da  an  Dr.  Hasner  gewiesen, 
der  die  Exstirpation  und  Blepharoplastik  am  14.  December  1845  vorgenommen  hatte. 
Wie  Hasner  diese  Kranke,  deren  Rccidive  auch  von  Dr.  Pih  constatirt  wurde,  noch  im 
Jahre  1847  „vollkommen  hergestellt1'  linden  konnte,  ist  mir  unbegreiflich. —  Ob  in  zwei 
andern  Fällen  die  Heilung  dauerhaft  gewesen,  weiss  ich  nicht;  die  Kranken  sind  mir 
nicht  mehr  zu  Gesicht  gekommen. 

b)  Der  drusige  oder  alveolare  Epilelialhrebs,  welcher  sich  nicht  bloss 
nach  der  Flache,  sondern  auch  nach  der  Tiefe  ausdehnt,  und  nicht  nur  in 
der  Haut,  sondern  auch  im  Unterhautzellgewebe  und  in  den  Muskelfasern 
abgelagert  wird,  kommt  bald  als  umschriebene  Geschwulst,  bald  auch  in- 
filtrirt  vor.  Es  bilden  sich  in  oder  unter  der  Haut  ein  oder  mehrere 
runde,  harte  und  bei  stärkerem  Drucke  schmerzhafte  Knötchen,  welche  an 
und  für  sich  oder  durch  Verschmelzen  mehrerer  zur  Grösse  einer  Erbse' 
höchstens  einer  Wallnuss  anwachsen,  bevor  sie  aufbrechen,  was  in  Zeit 
einiger  Wochen  oder  Monate  geschieht.  Nach  dem  Wundwerden  zeigt 
sich  keine  Höhle,  da  die  Haut  sehr  allmälig  durch  den  Krebs  verdrängt 
wurde,  welcher  früher  keine  Verjauchung  einging.  Die  offene  Stelle  ist 
dunkel-  bisweilen  braunrolh  und  ziemlich  eben.  Wenn  das  sehmutzig- 
weisse ,  dünne  Secret  nicht  fleissig  abgespült  wird ,  verbreitet  es  einen 
üblen  Geruch  oder  vertrocknet  zu  Krusten.  Bisweilen  bilden  sich  strei- 
fenweise Überhäutungen  oder  wirkliche  grubige  Narben.  Die  Ränder 
sind  aufgeworfen,  mehr  weniger  nach  aussen  gekehrt,  und  rundliche  Wülste 
darstellend  oder  rundlich  eingekerbt.    Die  benachbarten  Lymphdrüsen  wer- 


Paralystische  Affectioncn.  361 

den  hier  gewöhnlich  sehr  bald  in  dieselbe  Metamorphose  gezogen.  Dann 
ist  die  Aussicht  auf  günstigen  Erfolg  der  Exslirpatiön  sehr  gering.  „Unter 
den  Krebsformen  am  Auge  ist  der  Epitelialkrebs  (als  flacher  und  alveo- 
larer) der  einzige,  den  ich  ausser  dem  Marksehwamme  beobachtete.  Er 
entsteht  immer  an  der  vordem  Gegend  der  Schleimhaut  des  Augapfels, 
der  Lider ,  oder  von  der  Caruncula  in  Form  eines  oder  mehrerer  Knöt- 
chen." (Schuh J  Ich  habe  in  2  Fällen  von  solcher  Infiltration  des  untern 
Lides  die  Exstirpation  und  darauf  die  Blepharoplastik  nach  Dieffenbach 
vorgenommen,  vor  2  und  vor  1  Jahr,  bis  jetzt  jedoch  noch  nichts  über 
das  fernere  Verhalten  erfahren. 

cj  In  früheren  Jahren  glaube  ich  auch  den  warzenähnlichen  Epitelial- 
krebs nach  der  Schilderung,  die  Schuh  davon  entwirft,  beobachtet  zu 
haben,  und  zwar  am  obern  Lide.  Da  ich  indessen  weder  eine  Operation 
noch  eine  genauere  Untersuchung  vornahm ,  so  will  ich  für  dieses  Vor- 
kommen nicht  einstehen.  Nach  Schuh  erscheint  derselbe  in  Form  von 
einfachen  warzenähnlichen  Kolben ,  welche  Epitelialzellen  als  Belegmasse 
und  eingeschlossen  enthalten,  und  kommt  vorzüglich  in  der  Haut  des  Ge- 
sichtes, seltener  in  andern  Gegenden  vor.  Schuh  beobachtete  diese  Affec- 
tiou  an  der  Ober  -  und  an  der  Unterlippe ,  am  Nasenflügel  und  an  der 
Wange,  in  4  Fällen  nach  Verletzungen,  im  5.  ohne  äussere  Veranlassung. 
Das  rasche  Wachsen  bestimmte  ihn  bei  Zeiten  zur  Operation. 


III.  Motilitätsstörungen. 

1.  Ich  wurde  mehrmals  wegen  unwillkürlichen  Zittems  der  Augen- 
lider um  Rath  gefragt.  Bei  genauerer  Nachforschung  erfuhr  ich,  dass 
dasselbe  vorzüglich  nach  angestrengtem  Sehen  bemerkt  worden  war;  doch 
trat  es,  einmal  entstanden,  auch  ausser  der  Zeit  der  Beschäftigung  ein, 
nicht  continuirlich,  nur  weilenweise.  Wo  ich  einen  solchen  Anfall  zu 
beobachten  Gelegenheit  halte,  konnte  ich  leichte  vibrirende  Bewegungen 
oder  Zuckungen  bemerken,  doch  nur  an  den  untern  Lidern,  einer-  oder 
beiderseits.  Das  häufige  Vorkommen  dieses  Zustandes  an  Augen  mit  un- 
genügender Accommodationskraft  und  nach  übermässig  langer  Anstrengung 
der  Sehkraft  liess  den  ursächlichen  Zusammenhang  hiemit  nicht  verkennen 
und  bezeichnete  mir  dieses  Übel  als  relative  Insufßcienz  des  Orbicular- 
muskels.  Nur  in  einigen  wenigen  Fällen  schien  Verkältung,  namentlich 
Zugluft  die  Veranlassung  dazu  gegeben  zu  haben.  Übergang  in  förmliche 
Paresis  oder  Paralysis   habe  ich  nie  beobachtet.       Das  Übel  schwindet  bei 


362  Augenlider. 

einem  den  ursächlichen  Momenten  entsprechenden  Verhalten  und  Heilver- 
fahren. (Viel  Bewegung  im  Freien,  Waschen  mit  spirituös- aromatischen 
Flüssigkeiten,    kalte  Douche  —  trockne  Wärme,  aromat.  Kräuterkissen.) 

2.  Ein  gewisser  Grad  von  Insuffizienz  des  Schliessmuskels  wird  nicht 
selten  bei  alten  Leuten  bemerkt,  welche  früher  fettreich  waren,  mehr  flach 
liegende  Augen  hatten,  und  nun  starke  Faltung  oder  Runzelung  der  Lid- 
haut darbieten.  Der  Arzt  wird  entweder  wegen  Thränenträufeln  oder 
wegen  Zufällen  chronischen  Bindehäutcatarrhes  oder  endlich  wegen  Aus- 
wärtsstülpung  des  Lidrandes,  selbst  des  ganzen  untern  Lides  consultirt. 
Diess  ist  nämlich  die  Reihenfolge  der  Zufälle ,  welche  daraus  entstehen, 
dass  die  Fasern  des  Muse.  Albini  nicht  mehr  im  Stande  sind ,  beim  ge- 
wöhnlichen Lidschlage  das  untere  Lid  gehörig  an  den  Bulbus  anzudrücken. 
Spirituös-aromatische  Einreibungen  in  die  Cutis ,  mit  Kampher  bestrichene 
Kräuterkissen,  Waschungen  mit  Solul.  Lapid.  divini  oder  Collyr.  adstr.  lu- 
teum wie  bei  chronischem  Catarrh,  und  ähnliche  Mittel  können  bloss 
zu  Anfang  nützen;  wo  bereits  Ektropium  besteht,  vermag  nur  die  Tarso- 
raphie  nach  Wal/her  abzuhelfen ;  weniger  zu  empfehlen  ist  hier  das  Aus- 
schneiden eines  keilförmigen  Stückes  aus  dem  relativ  zu  langen  Lide 
nach  Adams. 

3.  Die  von  mangelhafter  Innervation  abhängige  Lähmung  des  Schliess- 
muskels gibt  sich  in  den  geringsten  Graden  bloss  durch  Thränenträufeln, 
in  mittleren  Graden  überdiess  durch  insufficiente  Wirkung  beim  Versuche, 
das  Auge  fest  zu  schliessen ,  in  den  höchsten  Graden  durch  beständiges 
Offenstehen  der  Lidspalte  (Mangel  des  Lidschlages)  und  Abstehen  oder 
vielmehr  Nicht-anschliessen  des  untern  Lides  an  den  Bulbus  kund;  später 
kann  auch  Umstülpung  dieses  Lides  dazu  treten.  Je  nach  der  Stelle,  wo 
der  Nerv,  facialis  ergriffen  ist,  beschränkt  sich  die  Lähmung  bloss  auf  den 
Schliessmuskel  (selten) ,  auf  mehrere  oder  auf  alle  von  diesem  Nerven 
versehene  Muskeln,  erscheint  der  Stand  der  Augenbraue  höher ,  der  Mund 
nach  der   andern  Seile  verzogen,    der    Nasenflügel    eingesunken,  u.  s.  w. 

—  Von  peripherischen  Veranlassungen  kennen  wir  nur:  Verkältung,  Ver- 
letzungen, Druck  durch  Geschwülste  oder  infütrirte  Drüsen  (an  der  Paro- 
tis, zwischen  Unterkiefer  und  Zitzenfortsatz),  Knochenerkrankung  im  Ver- 
laufe des  Fattopischen  ('anales.  Die  centralen  Ursachen  sind  die  in  der 
Schädelhöhle  gelegenen  Veränderungen.  —  Die  günstigste  Prognosis  ge- 
statten die  Fälle  von  Verkältung  oder  von  Druck,  der  sich  beseitigen  lässt. 

—  Rücksichtlich  der  Behandlung  können  wir  füglich  auf  das  bei  der  Läh- 
mung der  Augenmuskeln  Gesagte  verweisen. 


Spastische  Affectionen*  363 

4.  Wenn  der  Aufheber  des  obe.rn  Lides  insnfßcient  ist,  weil  dieser 
für  ihn  zu  schwer  geworden,  so  hat  mau  den  Zustand  Vorfall  des  obern 
Lides,  ptosis  palp.  genannt,  wahrend  man  die  xun  mangelhafter  Innervation  des 
Aufhebemuskels  abhängigen  Zustande  als  Atoriie  und  als  Lähmung-  desselben 
bezeichnet.  —  Um  diese  Zustände,  welche  beim  ersten  Anblicke  bloss  ein 
Herabhängen  des  Lides  über  den  Bulbus  darbieten,  nicht  zu  yerwechseln, 
untersuche  man  zunächst,  ob  nicht  eine  mechanische  Ursache  davon  auf- 
gefunden werden  könne,  in  Vergrößerung  des  Lides  (seiner  einzelnen 
Gebilde)  oder  in  abnormen  Adhäsionen.  Bei  chronischen  Bindehautentzün- 
dungen (Blennorrhoe,  Trachom,  umschriebenen  Bindehautwucherungen,  z.  B. 
um  fremde  Körper)  wird  das  Lid  in  der  Regel  nicht  zur  normalen  Höhe 
emporgehoben.  Bei  manchen  Individuen  kommt  eine  so  starke  Faltung 
der  Haut  des  obern  Lides  vor,  dass  sich  dieselbe  förmlich  über  den  Lid- 
rand herablegt,  und  zwar  nicht  bloss  nach  entzündlichen  Affectionen,  son- 
dern auch  ohne  bekannte  Veranlassung  oder  als  Vitium  primae  formalio- 
nis.  Dieser  Übelstand  lässt  sich  durch  Ausschneiden  einer  entsprechen- 
den Falte  (nach  der  Richtung  der  Muskelfasern)  beseitigen.  Bei  der  an- 
geborenen Ptosis,  die  ich  in  hohem  Grade  nur  auf  einem,  in  massigem 
Grade  auch  auf  beiden  Augen  beobachtet  habe,  kann  durch  Excision  einer 
solchen  Hautfarbe  nur  Verbesserung  des  Lidstandes  erreicht  werden,  wenn 
die  Bewegungen  des  Lides  ganz  fehlen  (Mangel  des  Levator?)  oder  nur 
in  sehr  beschränktem  Masse  gestaltet  sind.  —  Geringere  Energie  (Atonie) 
des  Augenlidhebers  beobachtet  man  nach  langwierigen  Augenentzündun- 
gen mit  anhaltender  oder  häufiger  excessiver  Action  des  Schliessmuskels 
und  bei  alten  Leuten.  Die  Behandlung  ist  analog  der  bei  Insuffizienz 
des  Schliessmuskels  angegebenen.  —  Lähmung  des  Augenlidhebers  kommt 
meistens  mit  Lähmung  der  übrigen  vom  N.  oculomotorius  versehenen  Mus- 
keln, doch  auch  für  sich  allein  vor.  Sie  kann  rheumatischer  Natur  sein  und 
lässt  sich  dann  noch  am  leichtesten  heilen,  kommt  aber  auch  nach  Ver- 
letzungen oder  bei  Druck  auf  den  Levator  in  der  Orbita  vor. 

5.  Spastische  Cuntractionen  des  Schliessmuskels  sind  am  häufigsten 
bedingt  durch  Reizung  der  sensitiven  Zweige  des  Trigeminus,  welche  das 
Auge  und  die  Lider  versorgen.  Sie  kommen  demnach  in  verschiedenem 
Grade  und  in  verschiedener  Dauer  vor:  bei  Reizung  durch  fremde  Körper, 
durch  Entzündung,  durch  Pseudoplasmen  oder  Entozoen,  sind  immer  von 
Lichtscheu  und  Thränenfluss ,  meistens  auch  von  Schmerzen  begleitet,  und 
bieten,  wenn  nicht  einen  continuirlichen,  so  doch  mehr  einen  re-  als  inler- 
mittirenden  Typus  dar.  Hiedurch  unterscheiden  sie  sich  zunächst  von  den 
Conlractionen,  welche  die  Anfälle  von  Neuralgien  des  Trigeminus  beglei- 


364  Augenlider. 

ten,  deren  Sitz  meistens  der  Rani,  supraorbitalis  oder  infraorbitalis  ist. 
Falle  von  Neuralgia  ciliaris ,  der  mehrere  Auctoren  erwähnen ,  habe  ich 
bisher  noch  keine  beobachtet.  Ohne  Schmerzen  und  ohne  Lichtscheue 
bestehen  jene  Contractionen ,  welche  die  Bedeutung'  der  Chorea  minor 
haben,  und  selten  auf  den  Schliessmuskel  allein  beschränkt  sind.  Sie 
treten  auch,  was  ich  gesehen,  nur  auf  einer  Gesichtshälfte  auf.  Hievon 
verschieden  ist  eine  eigenthümliche  Art  von  Blepharospasmus ,  welche  ich 
bisher  bei  vier  Individuen  beobachtet  habe.  Plötzlich  und  ohne  alle  Vor- 
oder Nebenerscheinungen  werden  die  Augen  auf  einige  Secunden ,  höch- 
stens auf  2 — 3  Minuten  krampfhaft  geschlossen,  und  der  Betroffene  ist  um 
keinen  Preis  im  Stande,  sie  zu  öffnen,  ausser  mit  den  Fingern,  ja  biswei- 
len auch  da  nur  mit  Mühe  und  Anstrengung.  Ist  der  Anfall  vorüber,  so 
fühlt  der  Kranke  sich  auch  wieder  völlig  wohl.  Nach  häufiger  und  inten- 
siver  Wiederholung,  wobei  das  Auge  etwas  mehr  thränt,  stellt  sich  ein 
hyperämischer  Zustand  der  Bindehaut  ein,  und  die  Hautvenen  der  Lider 
erscheinen  etwas  erweitert.  Sonst  ist  weder  an  den  Lidern  noch  an  den 
Bulbis  irgend  eine  Abnormität  wahrnehmbar,  auch  keine  Sensibilitätsstörung- 
nachweisbar,  weder  während,  noch  ausser  der  Zeit  der  Anfälle.  Auf  die 
Häufigkeit  und  Intensität  der  Anfälle  scheinen  auch  äussere  Einflüsse  nicht  be- 
stimmend einzuwirken;  sie  kommen  auf  der  Gasse  —  und  der  Kranke  muss 
stehen  bleiben,  beim  Essen,  beim  Lesen,  beim  Niehtstliun.  Die  Individuen 
waren  alle  zwischen  55  und  72  Jahre  alt,  3  Kl  an  n  er  (1  Jude,  2  Beamte),  1  Frau 
(Jüdin),  hager,  gesund  aussehend,  ohne  erhebliche  Gesundheitsstörungen. 

Bei  dem  1.  Kranken,  einem  Handclsmanne  von  65  Jahren,  versuchte  ich  nach  ein- 
ander Flores  zinci,  Valerianas  zinci,  Magist.  bismuthi,  Cupr.  ammoniacale,  ohne  Erfolg, 
bis  ich  endlich  —  nach  .4c/.  Schmidt  —  in  der  Gegend  des  Zitzenfortsatzes  ein  Causti- 
cum  anwandte,  Pasta  von  Chlorzink.  Die  Anfälle  blieben  durch  beinahe  3/4  Jahre  gänz- 
lich aus,  kehrten  allmälig  wieder,  und  wurden  durch  Wiederholung  desselben  Mittels 
bleibend  —  bis  zu  dem  5  Jahre  später  erfolgten  Tode  —  beseitigt.  Der  eine  von  den 
beiden  Beamten  (aus  Graz)  consultirte  mich  auf  seiner  Durchreise  nach  Karlsbad ;  ich 
rieth  ihm  dasselbe  Mittel,  habe  aber  weiter  nichts  erfahren.  Der  Andere  leitete  sein 
Leiden  von  anstrengenden  Arbeiten  bei  grellem  Lichte  und  von  Blendung  durch  Schnee- 
licht  ab;  doch  war  die  Sehkraft  gut,  und  ein  Netzhautleiden  nicht  nachzuweisen.  Er 
war  etwas  empfindlich  gegen  grelles  Licht,  trug  aber,  als  ich  ihn  sah,  bereits  längere 
Zeit  blaue  Brillen.  Merkwürdig  war  bei  diesem  Manne,  dass  er  die  Anfälle  abkürzen, 
meistens  im  Entstehen  ersticken  konnte,  wenn  er  anfing  zu  pfeifen;  auch  das  Violin- 
spielen hatte  denselben  Effect,  nicht  aber  das  blosse  Anhören  von  Musik  (was  ich  ver- 
suchsweise vornehmen  liess).  Er  war  ohngefähr  6  Wochen  nach  Entstehung  des  Übels 
nach  Wien  gegingen  und  dort  durch  3  Wochen  mit  Belladonnasalhcn,  Valeriana,  Tinct. 
oastorei  und  einigen  andern  Mitteln  behandeil  worden,  ohne  Besserung,  und  kam  im  fi. 
Monate   der  Krankheitsdauer  nach  Frag,  wo  auch  wir  mehrere  Mittel  (Veratrinsalbe,  Flor. 


Entropium.  365 

zinci,  con.  maculatum)  ohne  Erfolg;  anwandten.  Zur  energischen  Anwendung  obiger 
Ätzpasta  konnte  er  sich  nicht  entschliessen,  da  sein  Zustand  schon  durch  da»  blosse 
Auflegen  der  Kantharidenpflästerchen,  wie  er  angab  ,  bedeutend  verschlimmert  worden 
sei.  —  Der  Frau  ordinirte  ich  Ferrum  carbon.  sachar.  mit  extr.  conii  macul.  Dass  nach 
8  "Wochen  Besserung  eingetreten  war,  berichtete  mir  ihr  3Iann;  ob  Heilung  erfolgte,  ist 
mir  unbekannt  geblieben. 

Einen  eigenthümlichen  Fall  von  Blepharospasmus  bei  einem  jungen  Manne,  dem 
ein  Apfel  auf  das  linke  Auge  geworfen  worden  war,  hat  A.  v.  Gräfe  im  Archiv  f.  0. 
I.  B.  1.  Abth.  S.  440  beschrieben.  Ein  Theil  des  Aepfelstieles  war  in  den  Bindehautsack 
eingedrungen  gewesen  und  daselbst  '/,  Stunde  geblieben.  Unmittelbar  darauf  war  an 
der  betroffenen  Seite  permanenter  Lidkrampf  aufgetreten,  welcher  nur  für  eine  kurze 
Periode  eine  Unterbrechung  erlitten  hatte.  In  jener  Periode,  wo  er  allein  fähig  gewesen 
war,  die  Lider  zu  öffnen ,  versichert  er  zwar  alle  Gegenstände  mit  diesem  Auge  er- 
kannt, aber  dabei  eine  durch  das  ganze  Gesichtsfeld  verbreitete  rothe  Färbung  wahr- 
genommen zu  haben.  Als  ihn  Gräfe  einige  Monate  nach  Entstehung  des  Übels  sah, 
waren  die  Lider  des  linken  Auges  fest  geschlossen  ;  das  rechte  Auge,  für  gewöhnlich 
frei  von  spastischen  Anfällen,  zeigte  nur  während  des  Heftigwerdens  der  Contractionen 
an  dem  linken  einiges  Zucken  an  den  Lidrändern.  Suchte  man  die  Lider  des  linken 
Auges  zu  öffnen,  so  äusserte  Pat.  den  lebhaftesten  Schmerz,  und  fing  unwillkürlich 
an,  nicht  bloss  die  Gesichtszüge  stark  zu  verzerren,  sondern  auch  die  Extremitäten 
convulsivisch  zu  bewegen.  Dagegen  konnten  die  Lider  in  einer  der  Lidspalte  zuführen- 
den Richtung  (der  Wirkung  des  Orbicularis  conform)  dislocirt  und  an  einander  ge- 
schoben werden  ,  ohne  dass  Pat.  dadurch  im  mindesten  belästigt  wurde,  wie  auch  die 
einfache  Berührung  der  Hauptpartien  keineswegs  von  Hyperästhesie  derselben  zeigte. 
Während  der  Chloroformbetäubung  hörte  der  Krampf  vollkommen  auf,  und  Hessen  sich 
die  Lider  leicht  öffnen.  Der  Bulbus  erschien  gesund,  die  Pupille  normal  gross  und 
beweglich ,  nirgends  war  eine  Spur  eines  fremden  Körpers  oder  einer  Texturverände- 
rung wahrzunehmen.  Kurz  nach  dem  Zurückkehren  des  Bewusstseins  stellte  sich  der 
Krampf  ganz  unverändert  wieder  ein.  Nach  Anwendung  verschiedener  äusserer  und 
innerer  Mittel  trat  statt  Besserung  Verschlimmerung  des  Zustandes  ein,  indem  namentlich 
auch  allgemeine  Convulsionen  nicht  nur  auf  Versuche,  die  Lider  auseinander  zu  ziehen, 
sondern  auch  von  selbst  anfallsweise  sich  einstellten.  Anfangs  wollte  Gr.  die  subcutane 
Durchschneidung  der  zum  Orbicularis  gehenden  Facialäste  vornehmen,  entschloss  sich 
jedoch ,  nach  einer  Consultation  mit  Romberg,  zur  subcutanen  Durchschneidung  des 
Superorbitalnerven  ,  indem  das  Übel  als  ein  von  pathologischer  Erregung  der  Gefühls- 
nerven ausgehender  Reflexkrampf  aufgefasst  wurde.  Der  Erfolg  entsprach  der  Erwartung 
vollständig  und  bleibend.  Gräfe  erklärt  sich  nach  Erwägung  aller  hier  denkbaren  Deu- 
tungen für  die,  dass  durch  Trennung  des  Superorbitalnerven  und  Aufhebung  der  von 
diesem  abhängigen  Empfindlichkeit  der  Muskelfasern,  welche  durch  jede  Dehnung  des 
Muskels  gesteigert  wurde,  die  Hyperästhesie  des  M.  orbicularis  und  somit  auch  die  hievon 
abhängigen  Reflexvvirkungen  behoben  wurden. 

IV.  Fehlerhafte  Lage,  Verwaltung,  Trennung,  Zerstörung. 

1.  Entropium,  die  Umstülpung  des  Lidrandes  nach  innen,  so  dass  die 
Cutis  den  Bulbus  berührt,  kommt  häufiger  an  dem  untern  als  an  dem  obenr 


366  Augenlider. 

Lide  vor.  Sie  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  der  blossen  Einwärtswendung 
der  Cilien,  welche  entweder  blos  auf  abnormen!  Hervorsprossen  der  Cilien 
beruht  (Distichiasis) ,  wobei  die  Lage  des  Lidrandes  ganz  normal  sein 
kann,  oder  auf  Verlust  (Abschliff)  der  innern  Kante  (Trichiasis) ,  welche 
allerdings  bei  weiterer  Entwicklung  des  Übels  zur  Einstülpung  des  Lid- 
randes seihst  führen  kann.  Auf  die  Zufalle  und  ühlen  Folgen  der  Einwärts- 
wendung des  Lidrandes  haben  wir  bereits  im  I.  Bande  S.  128  aufmerksam 
gemacht. 

Das  wichtigste  Moment  zur  Einwärtsstülpung  der  Lider  bildet  lange, 
anhaltende  oder  häufig  wiederholte,  excessive  Contraction  des  Schliess- 
muskels,  in  specie  der  innern  Portion  (Muse.  Albini).  Für  sich  allein 
jedoch  scheint  dieses  Moment,  das  bei  jeder  Art  von  Entropium  eine  wohl 
zu  berücksichtigende  Rolle  spielt ,  Entropium  nicht  bewirken  zu  können. 
Die  mitwirkenden  Momente  sind:  Verschrumpfung  der  Bindehaut  und  des 
Tarsus  mit  Abrundung  der  innern  Kante,  Verengerung  der  Lidspalte  vom 
äussern  Winkel  her  (Blepharophimosis) ,  ödemalöse  Schwellung  der  Cutis, 
oder  endlich  Zurücksinken  des  früher  flach  gelegenen  Bulbus ,  wobei  das 
Lid  relativ  zu  lang  ist  und  die  Cutis  stark  gerunzelt   erscheint. 

Von  der  Einwärtswendung  des  Lidrandes  ,  welche  in  Folge  von  Ver- 
schrumpfung der  Bindehaut  und  des  Tarsus  mit  Verlust  der  innern  Lid- 
kante, also  nur  als  höherer  Grad  von  Trichiasis  auftritt,  und  welche  man 
Entr.  organicum  genannt  hat,  war  bereits  im  I.  Bande  S.  128  die  Rede, 
und  wurde  eben  daselbst  S.  144  — 147  das  dagegen  anzuwendende  Heil- 
verfahren  angegeben. 

Ebenso  wurde  dort  S.  129  der  Blepharophimosis  und  S.  143  der  da- 
gegen anzuwendenden  Operation  gedacht. 

Blepharospasmus  allein  scheint  nur  dann  Entropium  bewirken  zu  können, 
wenn  er  durch  Behinderung  des  Blutrüektlusses  starke  ödematöse  Schwel- 
lung der  Cutis  bewirkt  hat,  und  auch  diese  Fälle  sind  —  nach  meinen 
Beobachtungen  —  äusserst  selten,  und  betreffen  nur  das  untere  Lid.  Man 
hat  diese  Form  Entr.  spasticum  genannt.  Sollten  die  gegen  den  Blepharo- 
spasmus empfohlenen  Mittel  bei  fleissiger  Reposition  des  Lides  nicht  aus- 
reichen, so  wäre  wohl  die  von  Heidenreich  empfohlene  subcutane  Durch- 
schneidung des  Schliessmuskels  gerechtfertigt,  welche  nach  Einschiebung 
einer  Hornplatte  keine  Schwierigkeiten  macht,  auf  die  über  dem  Tarsus 
gelegenen  Fasern  zu  beschränken  ist,  und  der  Sicherheit  wegen  an  zwei 
Stellen  (gegen  die  Enden  des  Knorpels  hin)  vorgenommen  wird. 

Die  Ursache  des  sogenannten  Entr.  senile  hat  man  wohl  vorzuglich 
desshalb  in  Erschlaffung  der    Haut  cresucht.    weil  die  Ausschneidung  einer 


Entropium.  367 

Hautfalte  genügt,  dasselbe  zu  beseitigen.  Das  Missverhältniss  Zwischen 
Cutis  und  Bindehaut ,  wie  man  sich  ausgedrückt  hat,  ist  nur  ein  coexisti- 
rendes  Moment.  Es  kommt  dieses  Entropium  immer  nur  an  dem  untern 
Lide  vor,  wo  man,  wenn  die  Ursache  in  der  Haut  läge,  eher  ein  Herab- 
sinken des  Lides  und  Auswärtsstülpung  erwarten  sollte.  Man  sieht  es,  wo 
die  oben  bezeichneten  Momente  vorhanden  sind,  also  meistens  nur  bei 
alten  Leuten,  nicht  selten  entstehen,  wenn  solche  Individuen  durch  Einfallen 
eines  fremden  Körpers,  nach  einer  am  Bulbus  vorgenommenen  Operation, 
durch  eine  anderweitig  entstandene  Entzündung  oder  Reizung  zu  öfterem 
oder  vehementerem  Lidsclilusse  veranlasst  wurden.  Allerdings  kommen 
auch  Leute  vor,  die  von  einer  solchen  Veranlassung  nichts  wissen.  Nach 
längerem  Verbinden  des  Auges  findet  man  eine  solche  Einwärtsstülpung 
mitunter  auch  bei  jüngeren  Individuen,  wenn  auch  nicht  gerade  Blepharo- 
spasmus vorhanden  war.  —  Oft  genügt  die  Beseitigung  der  Veranlassung, 
das  Entfernen  eines  Staubkornes ,  einer  am  äussern  Winkel  eingebogenen 
Cilie  u.  dgl.,  und  das  nachträglich  eine  Zeit  lang  fleissig  vorgenommene 
Reponiren  des  fehlerhaft  gestellten  Lides.  Oder  man  fixire  eine  Falte  der 
dünnen  überschüssigen  Haut  durch  Collodium  oder  ein  Englischpflaster. 
Bei  inveterirten  Fällen  hilft  nur  ein  operativer  Eingriff  radical.  —  a)  Will 
man  nach  dem  Vorgange  von  CaUisen,  Helling  u.  A.  ein  lang-elliptisches 
Hautstück  durch  Bestreichen  mit  Nordhäuser  Schwefelsäure  zerstören ,  so 
lasse  man  einen  Gehülfen  dafür  sorgen  (mittelst  Anhalten  von  Löschpapier), 
dass  keine  Thränen  auf  die  betreffende  Stelle  fliessen ,  und  fahre  mit  dem 
getränkten  Asbestpinsel  oder  Besenrülhchen  2 — 3mal  über  die  Haut,  pa- 
rallel dem  Lidrande  und  so,  dass  der  obere  Rand  des  zu  verschorfenden 
(2 — 3'"  breiten)  Streifens  höchstens  2'",  aber  auch  nicht  weniger  als 
\'"  von  der  Cilienreihe  entfernt  sei.  Nur  messerscheue  Individuen  dürf- 
ten dieses  Verfahren  dem  Ausschneiden  der  Hautfalte  vorziehen.  —  h~)  Zum 
Fassen  eines  3 — 5'"  breiten  und  10— 14"'  langen  Hautstreifens  haben 
Himly,  Beer,  La?igenbeck  u.  a.  die  sogenannten  Entropiumzangen  ange- 
geben. Jüngken  hat  gezeigt,  dass  diese  Instrumente  entbehrlich  sind. 
Man  fasst  je  nach  der  Erschlaffung  der  Haut  und  dem  Grade  der  Ein- 
wärtswendung des  Lidrandes  eine  mehr  weniger  breite  Hautfalte  mit  Dau- 
men und  Zeigefinger  jener  Hand,  mit  der  man  später  die  Scheere  (eine 
gerade)  führen  will,  überzeugt  sich  durch  Rollen  zwischen  den  Fingern, 
dass  man  keine  Muskelfasern  mitgefasst  habe,  legt  dann  an  der  Nasenseite 
der  Finger  eine  Pincette  an,  die  man  dem  hinter  dem  Kranken  stehenden 
Gehilfen  übergibt,  an  der  Schläfenseite  eine  zweite,  die  man  mit  der  an- 
dern Hand  hält,    ergreift  nun  mit  der  früher  zur  Faltenbildung  verwende- 


368  Augenlider. 

ten  Hand  die  Scheere  und  excidirt  die  jetzt  durch  die  Pincetten  gespannte 
Hautfalte  in  einem  Zuge,  die  Scheere  beim  Schneiden  etwas  nachschie- 
bend. Die  Pincetten  müssen  so  angelegt  und  die  Scheere  muss  so  ge- 
führt werden,  dass  der  obere  Wundrand  zum  Lidrande  nahezu  parallel 
und  von  demselben  weder  über  2'"  noch  unter  i'"  entfernt  verläuft.  Die 
Wunde  wird  dann  durch  4 — 5  blutige  Hefte  vereinigt.  Kommt  die  Narbe 
weiter  als  %"'  vom  Lidrande  zu  liegen,  so  nützt  die  Excision  gewöhnlich 
nichts,  wegen  der  grossen  Dehnbarkeit  der  Cutis.  Damit  man  kein  zu 
breites  Stück  excidire ,  überzeuge  man  sich  vor  Anlegung  der  Scheere, 
ob  der  Kranke  das  Auge  noch  zu  schliessen  vermöge.  —  c)  Statt  dieser 
Methode  habe  ich  in  neuester  Zeit  das  von  Rau  *)  empfohlene  Gaillard'sche 
Verfahren,  etwas  modificirt,  angewendet,  und  zwar  mit  dem  besten  Er- 
folge. Man  fasst  eine  Hautfalte  mit  Daumen  und  Zeigefinger  der  linken 
Hand,  mitten  unter  dem  Lidrande,  sticht  an  der  Nasenseite  der  Finger  eine 
leicht  gekrüminte  Nadel  mit  einem  Faden  von  unten  nach  oben  (an  der 
Basis  der  Falte),  und  1 — 2'"  davon  entfernt  wieder  von  oben  nach  unten, 
nimmt  dann  dasselbe  Manöver  mit  einer  zweiten  Nadel  an  der  Schläfen- 
seite der  Finger  vor,  und  knüpft  nun  die  Enden  des  1.  und  2.  Fadens, 
je  für  sich,  fest  zusammen,  wodurch  die  Falte  an  2  Stellen  (4 — 6"'  von 
einander  entfernt)  fixirt  und  abgeschnürt  erscheint.  Nach  48  —  60  Stun- 
den werden  die  Ligaturen  entfernt.  Die  Fäden  dürfen  nicht  zu  dünn  sein 
und  nicht  zu  knapp  abgeschnitten  werden  ,  damit  sie  nicht  zu  bald  durch- 
schneiden und  damit  ihre  Entfernung  nicht  durch  das  Anschwellen  der 
Cutis  zu  sehr  erschwert  werde.  Nach  einigen  Tagen  verliert  sich  die 
Schwellung  und  allmälig  auch  die  Faltung  der  Cutis,  und  die  Heilung 
ist  erreicht. 

2*  Die  Umstülpung  des  Lides  nach  aussen,  ectropium,  findet  entwe- 
der längs  des  ganzen  Lidrandes  statt  oder  vorzugsweise  an  einem  Winkel, 
gegen  den  andern  hin  sich  allmälig  verlierend.  Diess  kann  sowohl  an 
dem  obern  als  an  dem  untern  der  Fall  sein.  Dieser  Zustand  ist  jederzeit 
entstellend  und  durch  beständige  Reizung  lästig;  in  gewissen  Fällen  sehliesst 
er  auch  die  Unmöglichkeit  in  sich,  den  Bulbus  zu  bedecken  (Lagophthal- 
mus).  —  Bei  jedem  Ectropium,  es  mag  wodurch  immer  bedingt  sein,  sind 
3  Momente  ins  Auge  zu  fassen:  1.  dass  die  Bindehaut  der  Lider,  nicht 
für  den  Contact  mit  der  Luft  geschaffen,  wenn  auch  anfangs  gesund,  all- 
mälig dieselben  Veränderungen  erleidet,  wie  die  Schleimhaut  der  Vagina. 
des  Uterus,  des  Rectums  bei  Vorfall  dieser  Organe  aus  ihren  Höhlen.  2.   dass 

)   Gräfes  Archiv  fur  Ophth.   I.   B.  II     Vblh     S.    176. 


Ectropium.  369 

der  Knorpel  (oft  mich  die  äussere  Commissur),  sei  es  durch  diesen  Vor- 
gang in  der  Bindehaut,  sei  es  durch  Zerrung,  verlängert  wird,  wenigstens 
am  Lidrande,  was  man  durch  vergleichende  Messung  des  andern  Lides 
leicht  constatiren  kann,  und  3.  dass  die  innere  Portion  des  Schliessmus- 
kels  (M.  Albini),  welche  bei  jedem  vollständigen  Ectropium  den  Lidrand 
mit  jedem  Augenlidschläge  an  die  Cutis  andrückt,  somit  am  Bulbus  ab- 
wärts (rückwärts.)  anstatt  aufwärts  (vorwärts)  streift,  in  permanente  Con- 
traction,  endlich  wohl  auch  in  Contractur  und  Verkürzung  geräth.  Wenn 
gleich  der  Entwurf  des  Heilplanes  vorzüglich  durch  Berücksichtigung  der 
sogenannten  entfernteren  Ursache  bestimmt  wird,  so  muss  doch  jedem  die- 
ser Momente  dabei  Rechnung  getragen  werden,  um  so  mehr,  je  stärker 
dasselbe  ausgesprochen  ist. 

«)  Die  günstigste  Prognose  gestattet  das  Ectropium  als  Folge  chro- 
nischer   oder     chronisch    gewordener    Bindehäulblennorhöe,     gewöhnlich 
als  Ectr.  sarcomatosum  beschrieben.     Es  kommt   häufiger   an  dem    untern, 
als  an  dem  obern  Lide,  selten  an  beiden  zugleich  vor.  —  Bei  frisch  ent- 
standenen Fällen    (nach  Weinen,    ungeschicktem  Abziehen  der  Lider  vom 
Bulbus  u.  dgl.)  'genügt    oft   die  einfache  Reposition,    indem   man    das  Lid 
an  den  Cilien    oder   an    der  Cutis  nächst  derselben  fasst ,    und  den  Kran- 
ken  nach   der   entsprechenden  Richtung    blicken  lässt,    nöthigenfalls  noch 
den    kleinen  Finger    der   andern  Hand   behufs    der  Rückdrängung   auf   die 
jiitte  des  convexen  Lidrandes  aufsetzt.  —  Auch  bei  länger  dauernden  und 
allmälig  entstandenen  Ectropien  dieser  Art    genügt   bisweilen    die  Reposi- 
tion,   doch  geschieht  es  hier  leicht,    dass  nach    einigen  Augenlidschlägen 
die  Umstülpung  wieder  da  ist.  Dann  lasse  man    nach  vorgenommener  Re- 
position   beide  Augen    geschlossen    halten ,    bedecke    das  Auge   noch    vor 
Entfernung  des  Fingers  mit  Charpie,  bis  zur  völligen  Ausfüllung  der  Au- 
gengrube und  führe,  um  einen  permanenten  Druck  zu  erhalten,  eine  Binde 
um  den  Kopf.     Sollte  sich  zeigen ,  dass  trotzdem    das  Lid  sich  unter  dem 
Verbände  wieder  umstülpte,  so  verklebe  man  vor  Anlegung  desselben  nicht 
nur    das    kranke ,    sondern    auch    das  gesunde  Auge    mit  Englischpflaster. 
Wo  starke  Wucherung  dor  Bindehaut   nicht  nur    im  Tarsal-  sondern  auch 
im  Übergangstheile  besteht,  kann  man  die  Reposition  leichter  bewerkstel- 
ligen und  erhalten,  wenn  man  vorher  zahlreiche  seichte  Einschnitte  macht, 
stark  wuchernde  Papillen  mit  einer  flach  gebogenen  Scheere  abträgt,    und 
das  Ganze  recht  ausbluten  lässt.    Mit  Excisionen  aus  dem  Übergangstheile 
sei  man  vorsichtig,  weil  Substanzverluste  der  unter  der  Bindehaut  liegen- 
den Fascie  später  leicht  zu  Entropium  führen  können.    Dasselbe  gilt  auch 
von  der  intensiven  Atzung  mit  Lapis  infernalis,  welche  überhaupt  so  lange, 

Arlt's  Augenheilkunde  IH,  2.  24 


370  Augenlider. 

als  Verbinden  des  Auges  noth  thut,  nicht  wohl  anwendbar  ist  (wegen  der 
Sehorfbildung).  Diese  oder  auch  andere  Mittel  anwenden  und  dabei  die 
Bindehaut  nicht  vor  dem  Contact  mit  der  Luft  bewahren,  heisst  ohngefahr 
so  viel,  als  ein  aus  seiner  Höhle  vorgefallenes  Organ  auf  solche  Weise 
zum  Zurückweichen  bestimmen  wollen.  —  Wo  Reposition  und  Druckver- 
band, unterstützt  durch  Touchiren  mit  Cuprum  sulfur.  in  der  Zwischenzeit, 
nicht  genügen,  weil  der  Knorpel  wegen  langen  Bestandes  bleibend  verlängert 
ist,  wo  wenigstens  eine  Rccidive  zu  besorgen  steht  oder  eintritt,  weil  trotz 
längerer  Behandlung  in  der  eben  angegebenen  Weise  das  Lid  sich  nicht 
gehörig  an  den  Bulbus  anlegte,  bleibt  nichts  übrig,  als  die  Excision  eines 
keilförmigen  Stückes  nach  Adams  oder,  falls  Ausdehnung  der  äussern  Com- 
missur  üderwiegend  Schuld  wäre,  die  Tarsoraphie  nach  Ph.  von  Walther 
zu  machen.  Wie  breit  der  zu  excidirende  Keil  am  Lidrande  sein  soll, 
ergibt  sich,  wenn  man  die  Länge  des  betreffenden  Lidrandes  vom  Thränen- 
punkte  bis  zur  äussern  Commissur  mit  einem  längs  der  Cilien  angelegten 
Faden  misst,  und  mit  dem  andern  Lide  vergleicht.  Dann  fasst  man  mit 
einer  Pincette  oder  Kornzange,  einen  Arm  an  die  Cutis,  den  andern  an 
die  Bindehaut  gelegt,  das  Lid  unweit  der  äussern  Commissur,  führt  mit 
einem  bauchigen  Messer  zwei  Schnitte  vom  Lidrande  gegen  die  Wange, 
deren  Anfänge  so  weit  von  einander  abstehen,  als  das  Lid  zu  lang  ist, 
deren  Enden  etwa  5 — 6"'  vom  Lidrande  entfernt  in  der  Cutis  zusammen- 
stossen,  fasst  hierauf  eine  gerade  Scheere,  und  schneidet  mit  dieser,  einen 
Arm  in  die  Hautwunde,  den  andern  an  tue  Bindehaut  angelegt,  diese  und 
die  zwischenliegenden  Gebilde  auf  der  einen  wie  auf  der  andern  Seite 
der  Kornzange  durch.  Das  ausgeschnittene  Stück  bildet  gewissermassen 
ein  Tetraeder.  Um  die  Entstehung  eines  Coloboms  zu  verhüten,  excidire 
man  kein  zu  breites  Stück  (am  Lidrande),  verrichte  den  Schnitt  durch  die 
Haut  lieber  mit  dem  Messer,  obwohl  er  gleich  auch  mit  der  Scheere  ge- 
macht werden  könnte,  lege  stets  die  umschlungene  Naht  an,  und  führe 
die  oberste  Nadel  knapp  an  den  Cilien  nicht  etwa  bloss  durch  die  Cutis, 
sondern  knapp  vor  dem  Knorpel,  nicht  durch  diesen  selbst.  Es  eignet 
sich  übrigens  dieses  Verfahren  auch  für  manche  Fälle  von  Ectropium  wegen 
Verkürzung  der  Cutis  oder  der  Augenlidbinde,  so  wie  für  Fälle,  wo  ein 
Krebs  oder  eine  Teleanyyektasie  von  geringem  Umfange,  aber  bis  auf 
den  Knorpel  oder  die  Conjuncl.  eingreifend  excidirt  werden  soll.  — 
Die  Tarsoraphie  nach  Walther  ist  gewissermassen  nur  eine  Übertragung 
des  Adams'' sehen  Verfahrens  auf  die  äussere  Commissur.  Die  mit  dein 
Messer  zu  führenden  Schnitte  haben  den  Zweck,  sowohl  vom  obern  als 
vom    untern  Lide    nächst    des    äussern  Knorpelendes    einen  Streifen,    etwa 


Ectropium  —  Operation.  371 

2'"  lang,  1''/ breit,  abzutragen  und  convergiren  gegen  die  Schläfe  hin;  die 
auf  diese  Weise  wund  gemachten  Lidränder,  an  denen  keine  Haarzwiebeln 
sitzen  geblieben  sein  dürfen,  werden  durch  die  umschlungene  Naht  ver- 
einigt, um  das  früher  umstülpt  gewesene  Lid  an  das  andere  zu  heften, 
dadurch  zu  spannen  und  an  den  Bulbus  zu  ziehen.  Bei  beiden  Methoden 
dürfte  die  Durchschneidung  des  M.  orbicularis  einen  wesentlichen  Anlheil 
an  der  Heilung  haben. 

b)  An  die  eben  besprochene  Form  reiht  sich  das  Ectropium  von  in- 
sufficienter  oder  fehlender  Muskelaction,  ectrop.  senile  et  paralyticum, 
von  welchem  bereits  oben  die  Rede  war.  Es  kommt  nur  am  untern  Lide 
vor.  Bei  der  einen  wie  bei  der  andern  Art  ist  das  Verfahren  nach 
Walther  oder  auch  nach  Adams  anzuwenden,  sobald  keine  Aussicht  mehr 
vorhanden  ist,  das  Grundleiden  zu  beheben,  oder  wenn  das  Ectropium 
trotzdem  fortbesteht. 

c)  Das  durch  Zerstörung  der  äussern  Commissur  eingeleitete  Ectr. 
palp.  inferioris  wird,  falls  nicht  mit  zu  bedeutendem  Hautverluste  verbun- 
den, einfach  durch  die  Tarsoraphie  beseitigt  werden  können,  wenn  man 
die  beiden  Schnitte  durch  die  Haut  so  lang  und  allenfalls  geschweift  führt, 
als  es  die  Excision  einer  Narbe  oder  eines  Krebsinfiltrates  erheischt,  uud 
nöthigenfalls  die  Wundränder  unterminirt,  um  sie  zur  Vereinigung  nach- 
giebig zu  machen. 

d)  Die  grössten  Schwierigkeiten  setzen  der  Heilung  die  durch  Ver- 
kürzung der  Lidhaut  bedingten  Ectropien  entgegen.  (Diese  Bezeichnung 
ist  nicht  genau ;  ich  behalte  sie  bei,  weil  sie  bequem  und  durch  langen 
Usus  eingebürgert  ist.)  Bei  der  ungewöhnlichen  Verschieb-  und  Dehn- 
barkeit der  Augenlidhaut  können  Streifen  von  3 — 4"'  Breite  (von  oben 
nach  unten)  verloren  gehen ,  durch  Verbrühung,  Ätzung,  Verletzungen 
u.  dgl.,  ohne  dass  Ectropium  entsteht.  Es  pflegen  aber  viel  kleinere 
Substanzverluste  der  Haut  Ectropium  zu  erzeugen,  wenn  die  Verletzung, 
Eiterung  und  Narbenbildung  tiefer,  bis  auf  die  Fascia  tarso-orbitalis  ein- 
gegriffen hat,  wenn  diese  verkürzt,  und  somit  der  convexe  Rand  des 
Knorpels  gegen  den  Orbitalrand  hingezogen  ist.  Darum  führt  Caries  am 
Orbitalrande  in  der  Gegend  der  Thränendrüse  oder  am  Jochbeine,  was 
von  Ammon  *)  zuerst  mit  klaren  Worten  auseinander  gesetzt  hat,  so  leicht 
zu  einer  der  schlimmsten  Formen  von  Ectropium,  wenn  auch  gerade  nicht 
viel  Cutis  verloren  ging.  Man  muss  demnach  unterscheiden,  ob  bloss  die 
Cutis,    oder    zugleich   auch    die  Augenlidbinde   verkürzt  ist,    in    welchem 


'•)  Zeitschrift  für  Ophthalmologie,  I.  B.  S.  36—51.     (1830.)  . 

24* 


372  Augenlider. 

Falle  die  Cutis  an  einer  Stelle  an  den  Orbitalrand  fixirt  erseheint.  — 
Ectfopien  von  blossem  Hautverluste  können  sich  allmälig  von  selbst  ver- 
lieren, wie  ich  nach  ziemlich  ausgebreiteten  Substanzverlusten  in  Folge 
von  Thränensackentzündung  einige  Male  beobachtet  habe.  Ob  die  von 
hichter,  Beer  u.  A.  empfohlenen  Einreibungen  der  verkürzten  Haut  mit 
Öl ,  so  wie  das  Sireichen  und  Dehnen  derselben  von  directem  Nutzen 
seien,  ist  noch  nicht  entschieden;  jedenfalls  sind  sie  gut,  den  Kranken  zu 
beschäftigen,  bis  die  letzten  Nachklänge  der  Entzündung  vorüber  sind,  da 
operative  Eingriffe  vor  vollkommen,  beendetem  Vernarbungsprocesse  leicht 
zu  Eiterung,  Ausreissen  der  Hefte,  Absterben  von  Hautzipfeln  u.dgl.  füh- 
ren. —  Ectropien  mit  Verkürzung  der  Augenlidbinde  und  Fixirung  einer 
Hautpartie  an  den  Orbitalknochenrand  sind  immer  schwieriger  zu  heben, 
nicht  sowohl  desshalb ,  weil  die  genannte  Fascie  und  die  Cutis  in  hin- 
reichendem Umfange  getrennt  werden  müssen,  um  den  Knorpel  mobil  zu 
machen,  sondern  vielmehr  desshalb,  weil  nachträglich  der  Knorpel  leicht 
wieder  gegen  den  Knochen  hingezogen  wird.  —  Die  Verhältnisse  gestal- 
ten sich  hier  nach  Sitz  und  Umfang  der  Zerstörung  und  Verwachsung  so 
mannigfaltig,  dass  wir  es  nicht  wagen,  in  Delailschilderungen  einzugehen. 
Wer  mit  den  Grundsätzen  der  Chirurgie  überhaupt  und  den  plastischen 
insbesondere  vertraut  ist,  für  den  dürfte  eine  Übersicht  der  vorzüglichsten 
bisher  versuchten  Methoden  genügen ,  um  in  jedem  speciellen  Falle  eine 
derselben  unverändert,  oder  den  Umständen  gemäss  modiiieirt,  anzuwenden. 

Der  Kürze  und  leichtem  Verständigkeit  wegen  wollen  wir  den  Vorgang  bei  Ectr. 
des  untern  Lides  schildern;  es  wird  nicht  schwer  sein,  bei  Ectr.  des  obern  Lides  die 
nöthigen  Änderungen  zu  trefFen.  Die  hier  zu  besprechenden  Methoden  datiren  aus  den 
letzten  24  Jahren,  indem  alle  frühern  Heilversuche,  auf  die  Erzielung  breiter  Narben  be- 
rechnet, als  illusorisch  mit  Recht  verlassen   worden  sind. 

1.  Verfahren  nach  Sanson.  Man  führt  mit  einem  bauchigen  Scalpell  zwei  Schnitte 
senkrecht  durch  die  Cutis  und  die  Fasern  des  Schliessmuskels.  Der  eine  beginnt  unter- 
halb der  äussern  Cominissur ;  beide  vereinigen  sich,  V-förmig  convergirend.  etwa3/,  1" 
unter  der  Mitte  des  Lidrandes.  Der  Lappen  wird  an  der  Spitze  mit  einer  Pincette  ge- 
fasst,  und  bis  gegen  den  Tarsus  hin  lospräparirt.  Könnte  jetzt  das  Lid  noch  nicht  leicht 
und  vollständig  reponirt  werden,  wegen  Verkürzung  der  Augenlidbinde  oder  wegen  zu 
starker  Bindehautwucherung,  so  müsste  erstere  knapp  am  Orbitarlrande  eingeschnitten, 
aus  letzterer  eine  Partie  excidirt  werden.  Durch  die  Reposition  wird  der  V-förmige, 
aus  Cutis  und  Muskelfasern  bestehende  Lappen  hinaufgezogen;  ihn  in  dieser  Lage  zu 
fixifen,  vereinig!  man  die  Wunde  unterhalb  der  Spitze  desselben  durch  die  umschlungene 
Naht  (2  Nadeln),  die  Seitenränder  durch  Knopf-  oder  fortlaufende  (Kürschner-)  Nähte. 
Ist  ihr  Tarsus  beträchtlich  verlängert,  und  lässt  sich  wegen  langer  Dauer  dieses  Zu- 
standes  nicht  auf  baldige  Rückbildung  dieser  Verlängerung  rechnen,  so  beginne  mau 
diu  Schnitt  an  der  Schläfenseite1  nicht  unterhalb  dei   Commissur,    sondern    \om  Lidrande 


Ectropium  —  Blepharoplastik.  373 

selbst,  und    excidire   ejn    Stück    aus    dein  Lide,    wie   bei  Adnrn's  Verfahren,    um  das  Lid 
durch  Verkürzung  in  transversaler  Richtung  gespannt  zu  erhalten. 

2.  Methode  von  Chelius.  *)  Mit  einem  nahe  am  Lidrande  und  längs  desselben  ge- 
führten Schnitte  trennt  man  die  Haut,  und  unterminirt  diese  von  hier  aus  gegen  den 
Orbitalrand  hin.  bis  der  Tarsus  frei  emporgezogen  und  in  die  gehörige  Lage  gebracht 
werden  kann.  Durch  einige  senkrechte  Schnitte  wird  die  innere  Portion  des  Sehliess- 
muskels  nachgiebig  gemacht;  sollte  Wucherung  der  Bindehaut  die  Resorption  erschwe- 
ren, so  werden  longitudinalc  Stücke  excidirt ;  zuletzt  wird  noch  die  äussere  Commissur 
einige  Linien  weit  in  horizontaler  Richtung  eingeschnitten.  Um  nun  das  Lid  in  der  na- 
türlichen Lage  zu  erhalten,  soll  man  zwei  Fadenschlingcn  durch  den  am  Lidrande 
sitzenden  Hautstreifen  ziehen  und  mittelst  Heftpflastern  an  der  Stirne  befestigen,  und  die 
bloss  gelegte  Stelle  des  Lides  mit  Charpie  bedecken.  Nach  Chelius  nützt  dieses  Ver- 
fahren hauptsächlich  desshalb,  weil  die  Lidhaut  mit  andern  Stellen  des  unterliegenden 
Zellgewebes  in  Berührung  gebracht  und  durch  die  Vernarbung  der  Wunde  im  äussern 
Winkel  das  Lid  transversal  gespannt  werde.  Er  bemerkt,  dass  die  durch  dieses  Ver- 
fahren erzielten  Resultate  selbst  in  Fällen  höchst  bedeutender  Hautverkiirzurig  über  alle 
Erwartung  glücklich  waren.  Eine  zweckmässig  erscheinende  Modifikation  hat  liuete  **) 
angegeben,  indem  er,  statt  die  äussere  Commissur  einfach  zu  spalten,  empfiehlt,  ohnge- 
fähr  wie  bei  der  Tarsoraphie,  vom  äussern  Ende  des  Schnittes  an  bis  etwa  2 — 3  Linien 
in  den  Tarsalrand  des  obern  und  untern  Lides  ein  Stückchen  mit  der  Scheere  abzu- 
tragen, wodurch  das  Lid  schon  eine  bessere  Stellung  erhält.  Die  Fadenschlingen,  die 
auch  Ruete  trotzdem  noch  anwendet,  werden  nach  3 — 4  Tagen  entfernt. 

3.  Fr.  Jägers  Verfahren.  ***)  Mit  einem  convexen  Scalpell  wird  ein  Schnitt,  pa- 
rallel dem  Lidrande  und  2 — 3'"  davon  entfernt,  von  der  Cutis  aus  durch  das  ganze  Lid, 
nötigenfalls  auf  einer  untergeschobenen  Hornplatte  ,  geführt,  so  dass  gleichsam  eine 
zweite  Lidspalte  entsteht.  Von  der  dem  Orbitalrande  zugewendeten  Wundlefze  aus 
dringt  man  nun  mit  einem  Messer  unter  die  an  den  Knochen  fixirte  Haut  und  löst  die 
Adhäsionen,  wo  und  soweit  solche  bestehen,  bis  die  Haut  nachgiebig  erscheint.  Dann 
excidirt  man  aus  der  Brücke ,  welche  der  Lidrand  bildet,  ein  Stück,  so  lang  als  die 
Differenz  gegen  die  Länge  des  andern  Lides  beträgt,  wodurch  die  zwischen  der  natür- 
lichen und  künstlichen  Lidspalte  bestandene  Brücke  in  eine  äussere  und  innere  Portion 
zerfällt  wird.  Beide  werden  nun  auf's  Sorgfältigste  durch  die  umschlungene  Naht  ver- 
einigt, somit  die  Brücke  wieder  hergestellt,  aber  nicht,  mehr  schlaff,  sondern  über  den 
Bulbus  gespannt.  Durch  Vereinigung  der  horizontalen  Wunde  mittelst  Khopfnähten  wird 
die  nachgiebig  gemachte  Haut  vom  Orbitalrande  gegen  die  Brücke  hergezogen.  —  Die- 
ses Verfahren  schliesst  grosse  Gefahr  in  sich,  ein  Coloboma  palpebrae  zu  erhalten,  daher 
bei  der  Excision  des  Stückes  aus  der  Brücke  und  bei  der  Wiedervereinigung  wohl  die 
grösste  Vorsicht  nöthig  ist.  —  Die  Ablösung  der  Haut  vom  Knochen  ist  übrigens  nicht 
immer  möglich,  wie  von  Amnion  in  dem  oben  citirten  Aufsatze  bereits  bemerkt  hat.  Es 
bleibt  dann  nichts  übrig ,  als  die  in  die  Knochennarbe  hineingezogene  Hautpartie  mit 
zwei  Schnitten  zu  umfassen ,  welche  gegen  die  Peripherie  der  Orbita  hin  convergiren, 
diese  Partie  abzutragen  oder  doch  wund  zu  machen,  und  die  angrenzende  Haut  nach 
gehöriger  Unterminirung  über  dieser  Partie  zusammen  zu  heften. 

*)  Handbuch  der  Augenheilkunde,   1838  S.   157,  und  Fischer,   dissertatio    de  eclropiu,    Heidelberg   1830. 
"*)   Lehrbuch  der  Ophthalm.   2.   Aufläse,  2.   B.   S.  58. 
***)  J.   G.  Dreyer,  nova  blejiharoplastices  melhodus,   Vinbob.   1831. 


374  Augenlider. 

4.  Nach  Fricke  *)  werden  stärkere  Narben  mit  zwei  Schnitten  umgangen,  schmale 
und  feine  Narben  mit  leichten  Messerzügen  durchschnitten.  Der  Schnitt  muss  parallel 
mit  dem  Tarsus  über  das  ganze  Augenlid  geführt  werden,  und  man  muss  sich  mit  dem- 
selben möglichst  fern  vom  Lidrande  halten,  um  Haut  zur  Anheftung  des  einzupflanzenden 
Stückes  zu  ersparen.  Die  Ränder  der  durchschnittenen  Haut  werden  von  einem  Gehilfen 
sorgfältig  von  einander  gezogen  ,  und  man  trennt  das  Zellgewebe  und  den  Orbicular- 
muskel  bis  zur  Conjunctiva  selbst,  ohne  diese  zu  verletzen.  (Ich  habe  in  einem  Falle 
auch  die  Bindehaut  durchschnitten,  wie  bei  Jäger's  Methode,  ohne  Naehtheil.)  —  Die 
Wunde  wird  nun  genau  gemessen,  und  ihre  Dimensionen  auf  jenen  Theil  der  Stirnhaut, 
der  sich  etwas  nach  aussen,  zwei  Linien  oberhalb  des  Orbitalrandes  befindet,  übertragen, 
und  die  Haut  mit  genau  in  einander  fallenden  Schnitten  bis  zum  Muskel  getrennt.  Das 
einzupflanzende  Stück  muss  mit  Berücksichtigung  der  nachträglichen  Schrumpfung  der 
Haut  eine  Linie  länger  und  ebensoviel  breiter  sein.  Der  Haullappen  wird  nun  losgelöst 
und  der  nach  aussen  geführte  Schnitt  in  dem  Grade  weiter  nach  unten  und  aussen  ge- 
führt, dass  beim  Einpassen  des  Lappens  in  die  Lidwunde  keine  Zerrung  oder  Faltung 
der  Haut  stattfindet.  Die  zwischen  dem  innern  Schnitte,  welcher  den  Lappen  bildet,  und 
dem  äussern  Winkel  der  Wunde  des  Augenlides  bestehende  Brücke  wird  nun  durch- 
schnitten und  ein  so  grosses  Hautstück  herausgenommen,  dass  nächstdem  der  Hautlappen 
genau  in  den  dadurch  entstandenen  Zwischenraum  passt.  Am  untern  Augenlide  wird 
das  Hautstück  in  derselben  Entfernung  und  Richtung  wie  beim  obern  Lide  von  der 
Wange  genommen.  Nach  Stillung  der  Blutung  wird  der  Lappen  in  die  Wunde  gelegt 
und  die  Vereinigung  zuerst  am  obern  durch  8 — 10,  dann  am  untern  Rande  durch  6  —  8 
Knopfnähte  auf  das  Genaueste  bewerkstelligt.  Das  Augenlid  wird  locker  mit  Charpie 
bedeckt,  und  diese  mit  schmalen  Heftpflasterstreifen  befestigt,  die  äussere  Wunde  mit  in 
Ol  getauchter  Charpie  belegt.  Die  Nähte  werden  nach  2mal  34  Stunden  entfernt,  die 
Vereinigung  durch  Heftpflaster  geschützt.  (Nach  Bedürfniss  modificirt,  lässt  sich  dieses 
Verfahren  —  das  zu  Grunde  liegende  Princip  —  auch  zum  Ersätze  gänzlich  oder  theil— 
weise  verlorener  Lider  verwenden.  Hasner  **)  hat  auf  diese  Weise  in  einem  Falle  die 
innere  Partie  des  obern  und  untern  Lides  zugleich  aus  der  Haut  der  Nase,  in  einem  an- 
dern Falle  mehr  als  die  Hälfte  des  untern  Lides  aus  der  Haut  der  Stirnglatze  ersetzt.) 

5.  Das  von  Dieffenbach  ***)  aufgestellte  Verfahren  ist,  wenn  eine  zu  bedeutende 
Zerstörung  diese  Behandlungsweisen  nicht  zulässt  oder  ein  völliger  Verlust  eines  Augen- 
lides besteht,  offenbar  das  zweckmässigste,  sowohl  hinsichtlich  des  leichteren  Gelingens, 
als  auch  der  geringen  Deformität,  welche  zurückbleibt.  Man  beginne  mit  der  Exstirpa- 
tion  der  Narbe  (des  Krebses)  durch  eine  dreieckige  Wunde,  wobei  man  den  Lidrand 
oder  doch  von  der  Lidbindehaut  so  viel  als  möglich  erhält.  Die  Basis  des  Dreieckes 
bildet  die  Wunde  längs  des  Lidrandes  (in  der  Cutis  oder  bei  Zerstörung  des  Lides  in 
der  Bindehaut)  von  einem  Winkel  zum  andern  ;  die  Spitze  liegt  unter  der  Mitte  des  Lid- 
randes auf  der  Wange,  etwa  1  Zoll  davon  entfernt,  und  wird  durch  zwei  dahin  conver- 
girende  Schnitte  gebildet,  welche  nebst  dem  Narben-  (oder  krebsig-inßltrirten)  Gewebe 
auch  gesunde  Cutis  mit  fortnehmen  werden,  da  sie  gradlinig  verlaufen  müssen. 

*)  Die  Beschreibung    dieser  und   der  folgenden   Methode   ist  nach   Chelins  gegeben,    nach   dessen  Ansahen    Ick   muh 
bei  meinen   Operationen   gehalten   habe.     Eine    treffliche    Abhandlung  über    Blepharoplastik   von   Prof.    Beck   Rudel 
man   in  Ammons  Monatschrift,    1.   B.   S.   24—50.     (INÜS.) 
;  )   Entwurf  zu  einer  anatom.   Begründung   der  Augenkrankheiten,  S.  248. 
•*')  Caspar'«  Wochenschrift  1855,  Nr.  1. 


Verwachsung  —  Spaltung  —  Mangel  —  Epicanthus.        375 

Hat  man  nun  eine  ganz  reine  V-förmige  Wunde  vor  sich,  so  Führl  man  vom  äussern 
Augenwinkel  aus  einen  Schnitt  nach  der  Schläfe  ohngefähr  in  der  Richtung  der  Lid- 
spalte, um  etwa  2'"  länger  als  diese.  Vom  Ende  dieses  Schnittes  wird  nun  parallel  zu 
dem  äussern,  jenes  Dreieck  begrenzenden  Schnitte  ein  fünfter  Schnitt  geführt,  und  eben 
so  weit  oder  noch  etwas  tiefer  herab,  als  die  Spitze  des  Dreiecks  herabreicht.  Der 
hiedurch  entstandene  viereckige,  an  seiner  untern  Seite  allein  nicht  umschriebene  Lap- 
pen wird  nun  mit  Zurücklassung  der  Fettlage  durch  flach  geführte  Messerzüs>e  getrennt, 
und  nach  Stillung  der  Blutung  und  Reinigung  der  früher  entblössten  dreieckigen  Stelle 
auf  diese  so  herüber  gelegt,  dass  sein  oberer  Rand  jetzt  die  Stelle  des  Augenlid- 
randes einnimmt,  oder,  wo  dieser  noch  vorhanden  ist,  sich  an  denselben  anlegt,  sein 
innerer  Rand  aber  an  den  längs  der  Nase  herablaufenden  Rand  des  obgenannten  Drei- 
ecks zu  liegen  kommt.  Man  heftet  ihn  nun  zuerst  am  innern  Augenwinkel  mit  einer 
Knopfnaht,  vereinigt  hierauf  den  Wundsaum  der  Conjunctiva  mit  dem  obern  Rande 
des  Hautlappens  (oder,  wenn  Lidrand  erhalten  worden  war ,  an  die  Cutis  desselben) 
durch  feine  Knopfnähte  oder  eine  fortlaufende  Naht  und  dann  eben  so  an  dem  innern 
Rande,  nachdem  man  zuvor  den  entsprechenden  Rand  der  Dreieckwunde  eine  Linie 
breit  vom  Grunde  gelöst  hat.  Der  äussere  Winkel  wird  durch  keine  Naht  befestigt, 
sondern  man  legt  den  äussern  Theil  des  herübergezogenen  Lappens  hier  nur  an.  Die 
auswärts  vom  Lappen  unbedeckt  bleibende  dreieckige  Wunde  wird  mit  Charpie  bedeckt, 
und  über  das  Ganze  legt  man  mehrere  Heftpflasterstreifen,  um  den  Lappen  gehörig  an- 
zudrücken. —  Die  Nachbehandlung  wird  nach  den  allgemeinen  Grundsätzen  der  Trans- 
plantation   geleitet. 

Chelius  bemerkt,  dass  er  die  unbedeckt  bleibende  Wunde  mit  Vortheil  durch  die 
Naht  vereinigt  habe.  Ich  fand  diess  bestätigt  und  verkleinere  sie  immer  nur  durch  1 — 2 
Insektennadeln  von  dem  Winkel  her,  den  der  obere  und  äussere  Wundrand  bilden- 
Hiedurch  wird  die  Basis  des  Lappens  dem  Auge  etwas  genähert,  die  Spannung  desselben 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  (zum  einfachen  Anliegen)  gemindert.  Ich  führe  den  in 
der  Richtung  der  Lidspalte  gegen  die  Schläfe  hin  zu  machenden  Schnitt  nicht  horizontal, 
sondern  immer  etwas  abwärts  geneigt,  damit  der  Zipfel,  welcher  dann  gegen  den  Thrä- 
nensack  hin  zu  liegen  kommt,  weniger  stumpfwinklich  ausfalle.  Auch  fand  ich,  dass  es 
sehr  zweckmässig  ist,  den  in  die  Gegend  des  äussern  Augenwinkels  zu  liegen  kommen- 
den Zipfel  an  das  nöthigenfalls  etwas  aufzufrischende  obere  Lid  oder  doch  an  die  Cutis 
auswärts  von  demselben  sehr  genau  durch  Hefte  zu  befestigen.  Für  Unterhaltung  des 
Anliegens  der  transplantirten  Partie  sorgt  man  wohl  besser  durch  einen  leichten  Verband 
mit  Charpie  als  durch  unmittelbar  auf  die  Haut  gelegte  Heftpflaster. 

3.  Von  der  Verwachsung  eines  oder  beider  Lider  mit  dem  Bulbus 
(Symblepharon)  und  von  der  Verwachsung-  der  Lider  unter  einander 
{Auch y lob lepharon)  haben  wir  bereits  im  I.  B.  S.  125  und  155  das  Nöthige 
mitgetheilt.  Da  es  sich  nach  der  Trennung  des  Lides  vom  Bulbus  darum 
handelt,  die  eine  Wundflache  zu  decken,  besonders  dort,  wo  beide  an 
einander  stossen,  also  dort,  wo  die  Übergangsfalte  verlaufen  sollte,  so 
kann  man,  wie  ich  mit  bleibendem  Erfolge  gethan,  *)  bei  nicht  gar  zu 
breiter  Verwachsung  nach    vollendeter   Trennung   die    Wiederverwachsung 

*)  Prager  Vierteljahrschnfl   1854,  ß.  41,   S.   165. 


376  AügiMiäMler. 

leicht  dadurch  verhüten,  dass  man  die  Wunde  am  Bulbus  heftet,  indem 
man  mittelst  einer  krummen  Nadel  einen  Faden  durch  die  Bindehaut  und 
die  subconjunctivale  Fascie  von  dem  einen  Wundrande  zu  dem  andern 
durchführt.  Gegen  die  Cornea  hin  kann  die  Wunde  ungedeckt  bleiben, 
wenn  nur  in  der  Tiefe  (gegen  die  Peripherie  hin)  die  Vereinigung  durch 
ein  oder  zwei  Hefte  vollständig  ist. 

4.  Spaltung  des  Lides  (coloboma)  ist  als  angeborener  Zustand  nur 
an  dem  obern  Lide  beobachtet  worden  (von  mir  am  linken  Auge).  Hey- 
fehle?'  (Amnions  Zeitschr.  I.  S.  480)  sah  bei  einem  3monatlichen  Kinde 
eine  Spalte  der  Oberlippe,  des  obern  Lides  und  der  Iris  zugleich  (auf 
der  linken  Körperhälfte).  Sie  kann  auch  in  Folge  von  Verletzungen  oder 
Operationen  zurückbleiben,  wenn  die  schnelle  Vereinigung  nicht  zu  Stande 
kam.     Das  Verfahren  dagegen  ist  analog  dem  bei  der  Hasenscharte. 

Die  verschiedenen  Verletzungen  der  Lider,  mit  oder  ohne  Trennung 
des  Zusammenhanges,  erheischen  wohl  für  denjenigen,  der  die  Anatomie 
kennt  und  allgemeine  chirurgische  Bildung  besitzt,  keine  besondere  Bespre- 
chung. Nur  das  sei  noch  besonders  hervorgehoben,  dass  auch  scheinbar 
geringfügige  Verletzungen  dieser  Gegend  eine  sehr  genaue  Untersuchung 
erheischen,  damit  man  nicht  etwa  gleichzeitige  Verletzungen  des  Bulbus 
oder  der  Orbitalwandungen  übersehe.  (Vergl.  über  Amaurosis  und  Krank- 
heiten der  Orbita.) 

5.  Mangel  der  Lider  ist  selten  als  angeborener  Zustand  beobachtet 
worden;  Zerstörung  derselben  kann  auf  verschiedene  Weise  zu  Stande 
kommen,  nach  Verletzungen,  durch  Krebs,  durch  Lupus,  durch  Lues.  Nach 
den  letztern  beiden  Affeetionen  und  nach  Verbrühungen  wird  auch  die 
Blepharoplastik,  das  einzige  noch  übrige  Mittel,  nicht  selten  unausführbar, 
weil  die  Haut  weit  über  den  Orbitalrand  hinaus  zerstört  erscheint. 

6.  Einen  angeborenen  Fehler  au  den  Lidern  hat  von  Amnion  (Zeit- 
schrift, I.  S.  533)  unter  dem  Namen  Epicanthus  (y.avO-og  der  Winkel)  be- 
schrieben. Er  kommt  —  nach  meinen  Beobachtungen  —  nur  bei  sehr 
flachem  Nasenrücken  vor,   und  besteht  darin,  dass  vor  jedem  innern  Augen- 

'winkel  eine  Hautfalte  vom  obern  zum  untern  Lide  gespannt  verläuft.  Will 
das  Individuum  von  dieser  Entstellung  befreit  sein,  so  excidire  man,  nach 
Amnions  Angabe,  mitten  auf  der  Nase  einen  Hautstreifen,  vertical,  etwa 
1"  lang  und  3 — 5'"  breit,  und  vereinige  die  Wunde  durch  die  blutige 
Naht,  wodurch  die  Hautfalte  vor  dem  innern  Augenwinkel  ausge- 
glättet wird. 


XI.  Buch. 


Die   Thränenorgane« 


A.  Anatomisch-physiologische  Bemerkungen. 

Ausschliesslich  zur  Bildung-  und  Fortleitung-  der  Thränen  dienen  die 
Thränendrüse  mit  ihren  Ausführungsgängeri  und  der  Thränenschlauch  mit 
den  Thränenröhrchen ;  die  zwischen  beiden  Organen  eingeschobenen  Lider 
betheiligen  sich  durch  das  Bindehautsecret  an  der  Bildung,  und  durch  die 
Form,  Lage  und  Bewegung  der  Lider  an  der  Fortleitung  der  Thränen- 
flüssigkeit. 

I  Die  Thränendrüse  gehört  zu  den  acinösen  Drüsen  und  stimmt 
im  Baue  mit  den  Speichel-  und  Milchdrüsen  überein.  In  der  Thränen- 
drüsengrube  und  unmittelbar  hinter  der  Augenlidbinde  gelegen ,  wird  ihr 
oberer,  bei  weitem  grösserer  Theil  durch  eine  von  der  Audenlidbinde  rück- 
wärts laufende  Fascie  (Lig.  Sömmeringi)  an  den  Stirnknochen  befestigt, 
während  der  unter  dieser  Fascie  gelegene  kleinere  Theil  bis  zum  con- 
vexen  Rande  des  Knorpels  herabreicht  und  von  der  Bindehaut  nur  durch 
jene  dünne  Fascie  getrennt  wird,  die  als  Unterlage  der  Bindehaut  vom 
Lide  zum  Bulbus  streicht.  Die  obere  Partie  misst  von  vorn  nach  hinten 
9'",  in  der  Breite  5—6'",  in  der  Dicke  21/„///,  die  untere  ist  4—  5'"  lang 
(von  der  Schläfe  gegen  die  Nase),  3'"  breit  (von  vorn  nach  hinten),  \'" 
dick.  Hat  man  die  Lidbinde  längs  des  Orbitalrandes  (in  der  äussern  Hälfte) 
eingeschnitten,  so  kann  man  die  obere  Drüse  mit  dem  Scalpellhefte  leicht 
von  der  Beinhaut  ablösen,  wenn  man  die  Vertiefung,  die  hier  der  Knochen 
bildet,    gehörig   berücksichtigt.   —    Die  grösstenteils  für  diese  Drüse  be- 


378  TliräiBeiiorgaiie. 

stimmte  Thränendrüsenarterit  kommt  von  der  Art.  ophthalmiea,  ausnahms- 
weise durch  die  obere  Augenhöhlenspalte  von  der  Art.  meningea  media, 
und  dringt  in  die  obere  Drüse  von  deren  unteren,  etwas  concaven  Fläche, 
in  die  untere  vom  hintern  Rande  her  ein.  Die  Vena  labrym.  führt  in  die 
Vena  ophthalmiea.  Der  Nerv,  lacrym.  ist  ein  Zweig  vom  1.  Aste  des  N. 
trigeininus.  —  Die  Ausführungsgänge,  wegen  ihrer  Feinheit  erst  in  spätem 
Zeiten  mit  Sicherheit  nachgewiesen,  6 — 10  an  Zahl,  münden  in  den  Binde- 
hautsack  nächst  dem  convexen  Rande  des  obern  Lidknorpels  (im  äussern 
Drittel  desselben). 

Die  Thränendrüse  liefert  wahrscheinlich  den  grössten  Theil  der  Flüs- 
sigkeit, welche  den  Bulbus  befeuchtet.     (Vergl.  I.  B.  S.  6.) 

Ich  habe  im  Sommer  1854  Gelegenheit  gehabt,    einen  jungen  Mann    zu  beobachten, 

bei  welchem  eine   wahre  Thränendrüsenfistel  bestand.     Die  Bindehaut  war  in  Folge  von 

Lupus    grösstentheils    zerstört;    in    der    Gegend    des    äussern  Augenwinkels  bestand  eine 

kleine,    von  Schleimhaut    eingesäumte  Öffnung,    aus  welcher  beständig  eine  wasserklarc 

Flüssigkeit  aussickerte.     Diese    wurde    mittelst    kleiner    Sauggläschen    aufgefangen;    man 

konnte  in  einer  halben  Stunde,    besonders    wenn  man  den  Bulbus  an  der  mit  trockenen 

Borken    besetzten    Hornhaut   rieb,    beinahe  10  Gran   Flüssigkeit  gewinnen.     Dieselbe  re- 

agirte  schwach  alkalisch,  schmeckte  salzig,  und  hatte  ein  speeifisches  Gewicht  von  1,0086 

bei  20°  Celsius.     Das    Mikroskop    zeigte    in    derselben    ausser  einer  geringen  Menge  von 

Epitelien    keine    andern    morphologischen    Bestandteile.     Die    qualitative  Analysis,  unter 

der  Leitung  des  Herrn  Dr.  Lerch  vorgenommen,  ergab:   Wasser,  Chlornatrium,  Albumin- 

natron  und  Spuren  von  Fett.  Der  von  Chlornatrium  befreite  Rückstand  enthielt  nach  dem 

Verbrennen:  kohlensaures  Natron,  schwefelsauren  und  phosphorsauren  Kalk  und  Magnesia 

Die  quantitative  Analyse  gab  in  100  Tbeilen:  98,223   %  Wasser,    1,257   %   Chlornatrium 

n  ton  o/    I  Albumin  =  0,504  %,     c  v  ,. 

O,o20  %   >  i/o?     Spuren  von  rett. 

i  Salze        =  0,016  %, 

II.  Der  Thräiienschiaucli,  ein  häutiger  Kanal  von  3/4 — 1  Zoll 
Länge,  vermittelt  im  Verein  mit  den  Thränenröhrchen  die  Communication 
des  Bindehautsackes  mit  dem  untern  Nasengange.  Er  verläuft  vom  innern 
Augenwinkel  zur  Seite  der  Nasenhöhle  zwischen  dieser  und  dem  vorder- 
sten Theile  der  Augen-  und  Highmorshöhle  beinahe  gradlinig  herab,  je- 
doch nicht  senkrecht,  sondern  stark  nach  hinten  und  ein  wenig  nach 
aussen  abweichend.*)  Er  wird  durch  eine  deutliche  Einschnürung,  oll 
durch  eine  förmliche  Falte,  in  eine  obere  weitere  und  untere  engere  Partie, 
den  Thränemack  und  Thränennasengang  geschieden. 

Der  Thränemack  liegt  in  der  Thränonsaekiinne,  welche  vom  Thra- 
nenbein  und  vom  Stirnfortsatze  des  Oberkieferknochcns  gebildet  wird,  und 

*)  Der  Winkel,  den  der  Thränenschlauch  durch  seine  Abweichung  nnoh  hinten  mit  dem  Boden  dei  Nasenhöhle  bil- 
det, l.eirrigt  im  Mittel  6.S";  der  durch  die  seitliche  Dcclination  gebildete  Winkel  Mir  verticalen  Hedianebene 
schwankt  zwischen   o   und   10° 


Anatomie.  379 

ist  in  der  vordem  Hälfte  seines  Ümfanges  bloss  von  Weichgebildeh  be- 
deckt.  Indem  die  Beinhaut  sich  von  der  vorspringenden  Leiste  des  ge- 
nannten Fortsatzes  über  die  vordere  äussere  Wand  desselben  bis  zum  Thrä- 
nenbeinkamme  fortsetzt,  und  mit  der  eigentümlichen  Haut  des  Thränen- 
sackes  innigst  zusammenhängt,  umschliesst  sie  denselben  ringsum,  hält  ihn 
am  Knochengerüste  fest  und  verstärkt  seine  Resistenz.  Nur  nach  unten- 
aussen  entfernt  sich  die  Beinhaut  von  dem  in  den  Nasengang  hinabstei- 
genden Thränenschlauche ,  indem  sie  auf  die  genannte  Leiste  übergeht; 
auf  diese  Weise  entsteht  ein  mehr  weniger  grosser ,  bloss  von  lockerem 
Bindegewebe  ausgefüllter  Raum  zwischen  Beinhaut  und  Thränenschlauch, 
gegen  welchen  hin  der  Thränensack  bald  mehr  bald  weniger  ausgestülpt 
erscheint,  und  eine  Art  Sinus  oder  Blindsack  bildet.  An  der  vordem  oder 
Antlitzfläche  wird  die  Wandung  des  Thränensackes  noch  durch  Fasern  der 
Augenlidbinde  verstärkt ,  welche  sich  in  einer  von  unten-aussen  schräg 
nach  oben-innen  aufsteigenden  Linie  anheftet.  Der  hinter  der  Augenlid- 
binde liegende  Theil  der  bloss  häutigen  Wandung  des  Thränensackes  sieht 
gegen  das  Auge  hin.  Auf  der  Antlitzfläche  des  Thränensackes  liegt  der 
M.  orbicularis,  dessen  Sehne  etwa  1 — l1/»"'  unterhalb  seines  obern  Endes 
(Kuppel)  quer  über  ihn  wegstreicht  und  mit  ihm  fest  zusammenhängt.  Die 
von  der  obern  und  untern  Fläche  dieses  sehnigen,  mit  dem  vordem  Rande 
etwas  abwärts  gekrempten  Bändchens  von  circa  3'"  Länge  entspringenden 
Muskelfasern  sind  auf  dem  Thränensacke  in  der  Regel  {'"  mächtig,  wäh- 
rend die  darüber  liegende  Cutis  fettlos  und  fast  papierdünn  ist.  Die  Augen- 
höhlenfläche des  Thränensackes  wird  von  jenen  Muskelfasern  bedeckt, 
welche  von  der  Crista  lacrymalis  aus  vorwärts  verlaufen,  die  Thränen- 
röhrchen  zwischendurch  treten  lassen,  und  mit  den  weiter  vorn  entsprun- 
genen Fasern  des  Orbicularis  sich  vereinen;  sie  sind  von  Homer  als  be- 
sonderer Muskel  (des  Thränensackes)  beschrieben  worden.  An  dieser 
Fläche  ist  der  Thränensack  vom  Bindehautsacke  und  von  der  Thränen- 
karunkel  durch  Orbitalfett  geschieden.  Die  Durchmesser  der  länglich-ei- 
förmigen ,  jedoch  von  vorn-aussen  nach  hinten-innen  abgeplatteten  Höh- 
lung des  Thränensackes  sind:  von  oben  nach  unten  5'",  von  vorn  nach 
hinten-aussen  2'",  von  aussen  nach  innen-hinten  V".  Bei  hohem  Nasen- 
rücken ist  der  Thränensack  geräumiger  und  die  Antlitzfläche  desselben 
schmäler,  als  bei  Plattnasen;  bei  jenen  ist  die  Abdachung  der  vordern- 
äussern  Wandung  von  der  Leiste  des  Oberkiefernasenfortsatzes  steil,  bei 
diesen  mehr  flach.  Da  wo  die  Antlitz-  und  Augenhöhlenfläche  zusammen- 
stossen,  und  zwar  hinter  dem  Augenlidbande,  inseriren  sich  die  Thränen- 
röhrchen.     Die  hintere  und  innere    Wandung  des  Thränensackes  geht  un- 


380  Thräiienui-gaiie. 

mittelbar  in  den  Thränennasengang  über,  die  vordere  und  äussere  erst 
nach  Bildung  eines  mehr  weniger  tiefen  Sinus  oder  Blindsackes ,  dessen 
wir  schon  erwähnten.  Der  Durchmesser  der  Ausmündting  in  den  Nasen- 
gang variirt  zwischen  3/4  und  5/4'",  während  der  Nasengang  unterhalb 
dieser  Stelle  allinälig  weiter  wird. 

Der  Thränennasengang  ist  die  unmittelbare,  zunächst  durch  die  eben 
angedeutete  Verengerung  oder  Einschnürung  abgegrenzte  Fortsetzung  des 
Thränensackes.  Sie  ist  mehr  walzenförmig,  wenn  gleich  noch  immer  etwas 
seitlich  abgeplattet,  und  grösstentheils  in  dem  3 — 4"'  langen  Knochen- 
kanale  eingeschlossen  ,  welcher  im  Oberkiefer  zwischen  der  Nasen-  und 
Kieferhöhle  herabsteigt.  Unterhalb  der  Anlagerung  der  untern  Nasen- 
muschel, wo  der  Knochenkanal  endet,  erstreckt  sich  der  häutige  Nasen- 
gang, beträchtlich  weiter  werdend  ,  an  der  äussern  Wandung  der  Nasen- 
höhle zwischen  Knochen  und  Schleimhaut  noch  eine  Strecke  von  2 — 4"' 
herab,  und  durchbohrt  letztere  unter  einem  mehr-weniger  spitzigen  Winkel 
mit  einer  relativ  engen  Öffnung,  welche,  wenn  sie  sehr  eng  ist,  das  blind- 
sackige  Ende  des  Thränennasen ganges  vor  dessen  Mitte  durchbohrt.  Die 
innerste  Portion  des  Nasenganges  ist  demnach  an  der  Innenfläche  von  einer 
mehr  weniger  breiten  Schleimhautfalte  gebildet,  während  sie  an  der  Aussen- 
seite  am  Knochen  liegt  und  ohne  Faltung  in  die  Nasenschleimhaut  übergeht. 

Die  Nasenmündung  des  Thränenschlauches  liegt  1 — l1/**"  rückwärts 
vom  Eingänge  in  die  Nase  (unten  vom  Nasenloche  gerechnet),  und  3 — 5"' 
über  dem  Boden  der  Nase.  Sie  ist  jederzeit  von  oben  nach  unten  länger, 
als  in  die  Quere  f  uncj  varjjrt  zwischen  einer  Art  Ritze  oder  Spalte  von 
3/4///  Länge  und  2/5"'  Breite  bis  zu  einem  Oval  von  %'"  Länge  und  1  bis 
1 1/,2'"  Breite.  Je  kleiner  diese  Öffnung,  desto  tiefer  liegt  sie  (und  umge- 
kehrt), und  desto  breiter  und  dünner  ist  die  Schleimhautfalte,  welche  den 
untersten  Theil  der  innern  Wandung  bildet.  Diese  Duplicatur  oder  Klappe 
liegt,  wenn  die  Mündung  nicht  hoch  oben  und  von  V"  Durchmesser  oder 
darüber  ist,  immer  an  der  äussern  Wandung  an,  weil  sie  selbst  sehr  dünn 
(bisweilen  wie  feines  Papier),  und  weil  die  Schleimhaut  hier  stets  mit  einer 
zähen,  eiweiss-  oder  sulzähnlichen  Flüssigkeit  überzogen  ist.  Man  ist  da- 
her an  Cadavern  auch  nach  Entfernung  der  untern  Nasenmuschel  sehr  oft 
nicht  im  Stande,  die  Mündung  zu  sehen,  wenn  mau  nicht  erst  jenes  Seeret 
sorgfältig  abgewischt  hat.  In  mehreren  Fällen  fand  ich  eine  Furche  oder 
Rinne  in  der  Schleimhaut  der  äussern  Nasenwand  ,  welche  gleichsam  als 
Fortsetzung  des  Thränennasenganges,  erst  abwärts,  dann  bogenförmig  vor- 
wärts gegen  das  Nasenloch  verlief;  in  einigen  Fällen  war  diese  Rinne 
gegen    %'"  tief. 


Anatomie.  381 

Der  Thronen  schlauch  wird  von  einer  eigenthi&nlichen,  weissen,  ziem- 
lich festen,  aus  Iongitudinal ,  quer  und  spiralförmig  verlaufenden  Binde- 
gewebsfasern zusammengesetzten  Membran  gebildet,  welche  innen  mit  der 
Schleimhaut  verschmilzt,  aussen  mit  der  Beinhaut  verbunden  ist.  Die  Bein- 
haut hängt  fesler  am  Thränenschlauche,  als  am  Knochen,  daher  Sunden 
selir  leicht  zwischen  ihr  und  dem  Knochen  fortgeschoben  werden  können. 
Die  innere  Wandung  der  in  die  Nasenhöhle  hinabreichenden  Portion  be- 
steht bloss  aus  einer  dünnen  Schleimhautduplicatur.  Die  Schleimhaut  zeigt 
im  Wesentlichen  dieselben  Eigenschaften,  wie  die  Schneider'sche  Haut  der 
Nasenhöhle;  sie  ist  überall7  mit  Ausnahme  der  genannten  Duplicatur,  ohn~ 
gefähr  72"-  dick,  sehr  gefässreich  und  daher  röthlich,  weich,  gleichsam 
schwammig  und  mit  kleinen  Hügelchen  besetzt,  mit  zahlreichen  Schleim- 
drüschen versehen.  Im  Thränensacke  zeigt  sie  hie  und  da  kleine  Fält- 
chen  und  erscheint  in  den  meisten  Cadavern  etwas  blasser;  im  Nasengang 
sieht  man  oft  grössere  Follikel,  deren  Mündung,  mitunter  bis  i'"  lang, 
meistens  ab-,  selten  aufwärts  gerichtet  ist. 

Um  sich  üher  die' anatomischen  Verhaltnisse  am  Thränensacke  zu  unterrichten,  ent- 
ferne man  zuerst  ein  Stück  Haut,  etwas  grösser,  als  der  Umfang  des  Thränensackes, 
dann  die  Fasern  des  M.  orbiculaiis,  unterhalb  der  Sehne  desselben.  Nun  hat  man  eine 
weisse  sehnige  Membran  vor  sich,  welche  die  Antlitzflache  des  Thränensackes  deckt. 
Von  der  Mitte  des  Augenlidbandes  sieht  man  eine  weisse  Linie  nach  unten-aussen  bis 
zum  scharfen  Orbitalrande  nächst  der  Insertion  des  M.  obl.  inferior  streichen.  An  die- 
ser Linie  hängt  die  Fascia  tarso-orbitalis  mit  dem  Thränensack  zusammen.  Hinter  ihr 
streicht  die  Orbitalfläche  der  häutigen  Wandung  des  Thränensackes  rückwärts  zur  Crista 
lacrymalis.  An  der  Antlitzfläche  ist  der  sehnige  Überzug  des  Thränensackes,  den 
man  uls  Fortsetzung  der  Beinhaut  über  den  Thränensack  betrachten  kann,  stärker  als 
an  der  Orbitalfläche.  Schneidet  man  die  Sehnenhaut  der  Antlitzfläche  in  der  Richtung 
der  genannten  Linie  ein,  so  kann  es  leicht  geschehen,  dass  man  mit  dem  Messer  wohl 
durch  die  genannte  Sehnen-,  nicht  aber  durch  die  Schleimhaut  des  Thränensackes 
eindringt,  besonders  in  der  untern  Hälfte  dieser  Strecke,  denn  in  dieser  ist  der  Zusam- 
menhang zwischen  der  Sehnen-  und  Schleimhaut  oft  ein  sehr  lockerer ,  weil  sich  letz- 
tere von  ersterer  entfernen  muss ,  um  in  den  weiter  hinten  gelegenen  Eingang  zum 
Thränennasencanale  zu  gelangen.  Eben  dieses  Auseinanderweichen  der  beiden  Mem- 
branen scheint  die  buchtige  Erweiterung  des  Thränensackes  nach  unten,  vorn  und  aussen 
zu  begünstigen,  bisweilen  zu  einem  förmlichen  Divertikel,  ohne  dass  man  berechtigt 
ist,  diess  schon  als  krankhaft  anzusehen,  weil  geringere  Grade  davon  fast  constant  vor- 
handen sind. 

Um  den  Thränenschlauch  in  seinem  ganzen  Umfange  ohne  Formveränderung  über- 
sehen zu  können,  muss  man  ihn  von  seiner  Innenseite  aus  bloss  legen  und  öffnen. 
Nach  Entfernung  des  Schädelgewölbes  sammt  dem  Gehirne,  des  Unterkiefers  und  der 
hintern  Schädelhälfte  durchsäge  man  den  Kopf  von  vorn  nach  hinten.  Zuerst  führe  man 
einen  Schnitt  durch  die  Weichtheile  an  der  Antlilzfläche  in  einer  geraden  Linie,  welche 
von  der  Stirnglatze  am  innern  Ende  des  Ligam.  palp.  intern,  und  knapp  am  Nasenflügel 


3S2  Thräiienorgane. 

herahstreicljt,  also  oben  der  Medianebene  näber  liegt,  als  unten.  Dann  führe  man  die 
in  diesem  Schnitte  angelegte  Säge  so,  dass  sie  beim  tiefern  Eindringen  knapp  an  der 
innern  Wandung  des  Thränenschlauches  vorbeistreicht.  Es  wird  nun  nicht  schwer  sein, 
mit  Meisse!  und  Knochenscheere  die  dünne  Knochenplatte  zu  entfernen,  welche  den 
Thränenschlauch  von  innen  deckt,  und  den  blossgelegten  Schlauch  dann  aufzuschlitzen, 
zunächst  nur  von  oben  bis  zur  Ansatzlinie  der  Nasenmuschel.  —  Ist  letztere  nicht  schon 
beim  Durchschneiden  mit  fortgenommen  worden,  so  excidire  man  ihre  vordere  Hälfte 
bis  an  die  Wurzel,  deren  Beseitigung  man  lieber  erst  später  vornimmt. 

Ich  finde  die  alte  Eintheilung  des  Thränenschlauches  in  Thränensack  und  Nasengang 
trotz  des  Widerspruches  von  Osborne  *)  und  Hasner  **)  gerechtfertigt,  weil  ich  mich 
durch  eigene  Untersuchungen  überzeugt  habe,  dass  u.  A.  Huschke's  ***)  Angabe  ganz 
richtig  ist:  „Die  Stelle  des  Überganges  des  Thränensackes  in  den  Thränennasengang 
wird  durch  eine  schwache  Verengerung,  zuweilen  auch  durch  eine  im  Innern  hervor- 
springende Falte  der  Schleimhaut,  aus  welcher  beide  gebildet  sind  ,  bezeichnet."  Um 
ganz  sicher  zu  gehen  ,  ersuchte  ich  Herrn  Prof.  Bochdalek,  mir  den  ganzen  Thränen- 
schlauch sammt  den  Thränenröhrchen  mit  Wachs  zu  injiciren.  Mehrfache  Injectionen 
bestätigten  genau  ,  was  ich  auch  ohne  sie  oft  gesehen  hatte.  Eben  so  haben  mir  auch 
Durchschnitte  von  gefrornen  oder  in  Chromsäure  erhärteten  Köpfen  sehr  instruetive  Prä- 
parate geliefert,  welche  den  Vergleich  des  Thränenschlauches  mit  einem  umgestürzten 
Flaschenkürbis  (Hasner)  als  völlig  unpassend  darthun.  Der  Thränennasengang,  deutlich 
vom  Thränensacke  durch  eine  mehr  weniger  beträchtliche  Einschnürung  abgeschieden, 
wird  abwärts  allmälig  weiter  und  bildet  vor  seiner  relativ  engen  Ausmündung  in  die 
Nase  in  den  meisten  Fällen  eine  bedeutende  Erweiterung  oder  Tasche ,  welche  sich  be- 
sonders nach  hinten  weit  ausdehnt,  und  gegen  welche  die  Öffnung  in  die  Nasenhöhle 
sehr  klein  erscheint.  Manchmal  ist  der  Nasengang  unten  viel  weiter,  als  der  Thränensack. 
In  den  Thränensack  münden  sich  die  Thränenröhrchen,  ein  oberes 
und  unteres,  dünne  häutige  Canälchen  von  3  —  4'"  Länge  und  etwa  1/3"> 
im  Lichten.  Jedes  derselben  beginnt  am  Nasenrande  des  Lidknorpels  mit 
einer  punktförmigen  Öffnung,  dem  Thränenpunkle,  mitten  in  einer  kleinen 
warzenähnlichen  Erhabenheit,  dem  Thränenwärzchen ,  dringt  zuerst  senk- 
recht zwischen  der  Cutis  und  Conjunctiva  etwa  3/4"'  tief  ein,  genau  an 
das  Ende  des  Lidknorpels  angefügt,  durch  denselben  steif  erhalten,  und 
vor  Compression  geschützt,  wendet  sich  dann,  etwas  weiter  werdend,  fast 
rechtwinklich  einwärts,  den  Schenkeln  der  hufeisenähnlichen  Hautfalte  fol- 
gend, welche  die  Thränenkarunkel  umschliesst,  und  senkt  sich  sofort  hinter 
der  äussern  Hälfte  des  Augenlidbandes  in  den  Thränensack  ein,  gemein- 
schaftlich mit  dem  andern,  meistens  jedoch  durch  eine  Schleimhauldupli- 
catur  getrennt.  Indem  sie  die  Thränensackwandung  schief  durchbohren, 
erscheint  ihre  Mündung,  von  innen  her  angesehen,  durch  ein  Schleiinhaut- 
fällchen  gedeckt,  auf  ähnliche  Weise,  wie  die  Harnleiter   beim  Einmünden 

")  Darstellung  des  Apparates    der  Thränenableilunff,  Prag   1835. 
*•)  Beiträge  zur  Physiologie  and  Pathologie  des  Thränenableitungsappamles,  Prag  1850. 
•**)  Gingeweidelehre,  Leipzig   1814. 


Physiologie.  383 

in  die  Harnblase.    Ihre  Öffnung  am  Thränenwärzchen  ist  stets  dein  Bulbus 
zugewendet,  und  wird  erst  bei  etwas  abgezogenem  Lide  sichtbar. 

Die  Thränenröhrchen  werden  von  einer  ähnlichen,  jedoch  viel  dünnern 
Membran  wie  der  Thränensack  gebildet,  welche  in  den  Thränenwärzchen 
zu  einem  derben  weissen  Ringe  anschwillt,  wodurch  ihre  Mündung  stets 
rund  und  offen  erhalten  wird.  Ihre  schleimhäutige  Auskleidung  ist  analog 
der  Bindebaut  äusserst  dünn,  glatt  und  blass,  ohne  Flinnnerepitel.  Aussen 
sind  die  Thränenröhrchen  von  Fasern  des  M.  orbicularis  (et  Hörnen)  um- 
geben, an  welche  sich  die  Cutis  anschmiegt;  nur  hinten-oben  scheint 
die  Bindehaut  (so  weit  sie  reicht)  unmittelbar  an  ihnen  anzuliegen.  Eine 
schwarze  Borste,  in  dieselben  eingeführt,  scheint  besonders  durch  die 
Bindehaut  deutlich  durch. 

Durch  die  Thränenröhrchen  und  den  Thränenschlauch  treten  fort- 
während Thränen  in  den  untern  Nasengang.  Blut  oder  andere  gefärbte 
Flüssigkeiten  gelangen  in  kurzer  Zeit  aus  dem  Bindehautsacke  in  die  Nase. 

Das  Secret  der  Thränendrüse  und  der  Bindehaut  ist  auch  im  ruhigen 
Zustande,  d.  h.  wenn  die  Secretion  nicht  durch  besondere  Reize  gestei- 
gert wird,  immer  in  grösserer  Menge  vorhanden,  als  durch  Verdunstung 
und  Absorption  an  der  Bindehaut  verbraucht  wird.  Immer  ist  ein  Über- 
schuss  zur  Aufnahme  für  die  Thränenpunkte  vorhanden. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  an  dem  stets  feuchten  Bulbus  beständig  eine  ge- 
wisse Menge  von  Flüssigkeit  verdunstet,  um  so  mehr,  je  trockener  die  Luft  ist,  und  je 
mehr  frische  Luftschichten  rasch  nach  einander  mit  dem  Bulbus  in  Berührung  kommen. 
Es  "ist  auch  nach  den  lebhaften  Resorptionserscheinungen,  welche  die  Bindehaut  zeigt, 
anzunehmen,  dass  ein  Theil  derselben  von  ihr  absorbirt  werde.  Es  lässt  sich  aber  auch 
bestimmt  nachweisen,  dass  immer  noch  ein  Überschuss  zur  Absorption  für  die  Thränen- 
punkte übrig  bleibt.  Bevor  wir  die  beweisenden  Thatsachen  hiefür  anführen,  müssen  wir 
noch  erinnern,  dass  die  Secretion  der  Thränen  nicht  nur  durch  gewisse  Gemüthsaffecte, 
sondern  auch  durch  Reizung  der  Bindehaut,  der  Cutis  an  den  Lidern,  der  Schleimhaut 
in  der  Nase  und  im  Thränenschlauche,  durch  grellen  Lichteinfluss  und  Reizung  des  Tri- 
geminus  gesteigert  werde;  wir  müssen  insbesondere  noch  hervorheben,  dass  der  Augen- 
lidschlag selbst  in  directer  Beziehung  zur  Thränensecretion  steht,  so  dass  häufiges  Blin- 
zeln oder  anhaltend  spastische  Contractionen  des  Orbicularis  auf  ähnliche  Weise  ver- 
mehrte Secretion  bewirken,  wie  das  Kauen  und  Saugen  bei  den  Speicheldrüsen.  —  Das 
Thränenträufeln  bei  Blennorhöe  des  Thränensackes,  bei  Thränensackfistel  u.  s.  w.  kann 
nicht  als  Beweis  für  die  oben  aufgestellte  Behauptung  benutzt  werden,  weil  dasselbe 
ebensowohl  von  Hypersecretion  in  Folge  des  gereizten  Zustandes  als  von  gehinderter 
Fortleitung  der  Thränen  abgeleitet  werden  kann.  Aber  es  sind  Fälle  bekannt,  wo  die 
thränenableitenden  Organe  ohne  alle  Spur  von  Reizung  undurchgängig  waren  und  Thrä- 
nenträufeln bestand.  So  habe  ich  einen  Fall  beobachtet,  wo  die  Thränenröhrchen  von 
einer  Glasscherbe  durchschnitten  worden  und  sofort  verwachsen  waren,  und  wo  ohne  alle 
Spur  von  Reizung  nach  mehreren  Monaten    noch  Thränenträufeln    den  Verwundeten  be- 


384  Thräiieiiorgane. 

lastigte.  —  Eine  viel  öfter  vorkommende  und  meines  Erachtens  völlig  eempetonte  Tat- 
sache ist  das  Vorkommen  von  Thränenträufeln  bei  Lähmung  des  N.  facialis.  Ich  bin  von 
Kranken  wegen  Thränenträufeln  consultirt  worden,  bei  denen  ich  durchaus  keine  Ursache 
dieses  Übels  auffinden  konnte,  bis  ich  die  Lider  fest  schliessen  liess  und  fand,  dass  der 
Orbicularis  zwar  noch  nicht  seine  ganze  Function,  aber  doch  bereits  an  Energie  einge- 
büsst  hatte.  Noch  erfolgte  der  Schluss  des  Auges,  noch  schlössen  die  Lider  an  den  Bul- 
bus, und  doch  war  bereits  Thränenträufeln  vorhanden  ,  weil  —  wie  wir  später  zeigen 
werden  —  wegen  Paresis  des  Orbicularis  die  Thränen  nicht  mehr  fortgeleitet  weiden 
konnten.  Hier  kann  durchaus  von  keiner  Hypersecretion ,  sondern  nur  von  gehinderter 
Fortleitung  die  Rede  sein.  —  Man  kann  übrigens  bei  jedem  Menschen,  sowohl  am  obern 
als  am  untern  Lide  eine  Flüssigkeitssäule  sehen,  welche  in  der  Rinne  steht,  die  durch 
das  Anliegen  des  Lidrandes  an  den  Bulbus  gebildet  wird.  Sie  reicht  vom  äussern  Winkel 
bis  zur  halbmondförmigen  Falte,  z.  B.  bei  gradaus  gerichtetem  Blicke  bis  zu  den  Thrä- 
neii punkten,  welche  sich  bei  dieser  Stellung  gerade  an  die  Rinne  legen,  die  durch  das 
Anschmiegen  der  halbmondförmigen  Falte  an  den  Bulbus  gebildet  wird.  Ebenso  sind 
die  halbmondförmige  Falte  und  die  Karunkel  immer  nicht  bloss  feucht,  sondern  deutlich 
mit  Flüssigkeit  bedeckt,  was  dieser  Gegend  schon  in  alten  Zeiten  den  Namen  Thränensee 
verschafft  haben  mag.  —  Ich  kann  demnach  der  Annahme  von  Ihjrtl  u.  A.,  dass  der 
Thränenahleitungsapparat  nur  bei  erhöhter  Thränensecretion,  beim  Weinen,  beim  Über- 
gänge in  die  Kälte  u.  dgl.  in  Anspruch  genommen  werde,  durchaus  nicht  beistimmen, 
und  bin  überzeugt,  dass  fortwährend  nicht  nur  Secretion,  sondern  auch  Fortleitung 
überschüssiger  Thränen  stattfinde.     Es  fragt  sich  nur,  tote  die  Fortleitung  erfolge. 

In  die  Flüssigkeitssäulen  längs  des  obern  und  untern  Lides  und  im 
innern  Winkel  sind  die  stets  offenen  Thränenpunkle  continuirlich  einge- 
taucht, dalier  auch  die  kapillären  Thränenröhrchen  stets  mit  Flüssigkeit 
gelullt.  Luft,  mit  Gewalt  in  diese  Röhrehen  eingepresst,  muss  schon  nach 
einigen  Contraetionen  des  orbicularis  et  Horneri  ausgetrieben  werden,  und 
im  normalen  Zustande  lässt  sich  niemals  Luft  in  den  Thränenröhrchen  auflinden. 
Die  senkrechten  Anfangsstücke  der  Thränenröhrchen  werden  vermög  ihrer  Fügung 
an  das  quer  abgestützte  Knorpelende  durch  die  darüber  laufenden  Muskelfasern  wohl  au 
den  Bulbus  angedrückt,  niemals  jedoch  conipriuiirt.  Es  ist  irrig,  wenn  man  angibt,  beim 
Lidschlusse  werden  die  Thfänenwärzchen  vorgeschoben,  etwa  wie  die  Fühlhörner  einer 
Schnecke.  Ein  solches  scheinbares  Hervortreten  bewirkt  man  nur ,  wenn  das  Lid  mit 
dem  Finger  abgezogen,  und  nun  der  Versuch  gemacht  wird,  die  Lider  zu  schliessen. 
Eben  so  wenig,  wie  von  einem  isolirten  Hervortreten,  konnte  ich  mich  je  von  einer 
spontanen  oder  durch  Reizung  bedingten  Verengerung  oder  Erweiterung  der  Thränen- 
punkte  überzeugen.  Die  Tlräneuwärzchen  verhalten  sich  bei  dem  Acte  der  Thränen- 
fortleitung  rein  passiv,  wie  die  Enden  von  Capillarröhrchen.  Wenn  auch  die  Thiäncii- 
röhrchen  besonders  an  der  knieförmigen  Umgebung  etwas  weiter  werden,  selbst  bis  zu 
2/3'"  im  Lumen,  so  bleiben  sie  trotzdem  immer  noch  einfache  Capillarröhrchen,  stets  von 
Flüssigkeit  gefüllt  und  dieselbe  festhaltend,  so  lange  ihnen  ihr  Contenttim  nicht  von 
aussen  her  oder  durch  Compression  entzogen  wird.  Eine  solche  Compression  können 
die  unmittelbar  auf  ihnen  liegenden  Fasern  des  Seh  liess-  und  Horner'schen  Muskels  in 
ihrer  mittleren  Portion  üben,  indem  sie  beim  Lidschlusse  kürzer  und  dicker  werden.  Die 
Ausmündung  der  Thränenröhrchen  in  den  Thränensack,  hinter  oder  etwas  unterhalb  der 


Physiologie.  385 

innen)  Hälfte  des  Augenlidbandes  gelegen,  kann  beim  Lidschlusse  nicht  coniprimirt  wer- 
den. Es  ist  wenigstens  Thatsache,  dass  manche  Menschen  durch  heftiges  Schneuzen 
Flüssigkeit  und  seihst  Luft  durch  die  Thränenpunkte  austreiben  können  (bei  offenen  oder 
doch  nicht  fest  verschlossenen  Lidern),  ohne  Zeichen  eines  Thränenschlauchleidens  dar- 
zubieten, und  dass  bei  Blennorhöe  des  Thränensackes  in  der  Regel  das  trübe  Conlentum 
desselben  durch  die  Thränenröhrchen  in  den  Bindehautsack  gedrückt  werden  kann.  Ein 
ventilähnlicher  Verschluss  des  Thränensackes  durch  die  Schleimhautfalte  an  der  Einmün- 
dung der  Thränenröhrchen  in  denselben  kann  also  nicht  angenommen  werden,  und  die 
Thränenrührchen  sind  somit  als  beiderseits  stets  offene,  in  der  Mitte  etwas  weitere  und 
comprimirbare  Capillarröhfchen  zu  betrachten. 

Auch  der  Thränenschlauch,  von  der  Kuppel  des  Thränensackes  bis 
hinab  zur  Naseninündung,  ist  gewiss  nicht  mit  Luft,  sondern  mit  Flüssig- 
keit gefüllt.  Diese  besteht  nicht  bloss  aus  Thränen,  sondern  auch  aus  einer 
ziemlich  dicken,  der  Schleimhaut  anhaftenden  Lage  eiweissähnlichen  Secretes. 
Es  existirt  demnach  vor  der  Nasenmündung  des  Thränenschlauches  bis  zu 
den  Thränenpunkten  und  von  da  bis  zum  äussern  Winkel  (längs  der  Lid- 
ränder) eine  continuirliche  Flüssigkeitssäure,  welche,  wie  wir  weiter  zeigen 
werden,  durch  den  Lidschlag  zum  allmäligen  Weiterrücken  gegen  die  Nase 
hin  bestimmt  wird. 

Von  dem  Vorhandensein  eines  schleim-  oder  eiweissähnlichen  Überzuges  imThränen- 
schlauche  kann  man  sich  an  jedem  Cadaver  überzeugen.  Sehr  oft  fand  ich  auch  noch 
Thränenflüssigkeit  in  dem  Thränensacke,  wenn  ich  ihn  so  eröffnete,  dass  er  dabei  nicht 
coniprimirt  wurde.  Man  hat  bisher  bei  Aufstellung  physicalischer  Theorien  über  die 
Fortleitung  der  Thränen  weder  das  continuirliche  Vorhandensein  fortzuleitender  Flüssig- 
keit durch  Thatsachen  nachzuweisen  unternommen,  noch  auch  die  Frage,  ob  der  Thränen- 
schlauch Luft  oder  Wasser  enthalte,  bestimmt  aufgeworfen,  geschweige  denn  zu  beant- 
worten gesucht.  Gleichsam  als  selbstverständlich  setzen  die  Einen  Wasser  voraus  (Heber- 
theorie), die  Andern  Luft  (Aspirationstheorie).  Schon  aus  den  oben  angeführten  Dimen- 
sionen des  Thränenschlauchlumens  ergibt  sich  als  höchst  wahrscheinlich,  dass  derselbe 
mit  Flüssigkeit  gefüllt  sein  werde.  Das  im  Cadaver  gemessene  Lumen  muss  wohl  wäh- 
rend des  Lehens,  wo  die  sehr  blutreiche,  gegen  V2'"  dicke  Schleimhaut  turgescirt,  noch 
als  etwas  geringer  angenommen  werden.  Durch  die  an  der  Schleimhaut  haftende  zähe 
Schleimschicht  wird  es  noch  mehr  vermindert,  so  dass  man  den  ganzen  Canal  als  ein 
so  enges  Rohr  zu  betrachten  berechtigt  ist,  in  welchem  sich  die  Attraction  fester  auf 
flüssige  Theile  geltend  macht.  Die  Nasenmündung  ist  wahrscheinlich  immer  durch  Flüs- 
sigkeit geschlossen,  was  jedoch  nicht  hindert,  dass  bei  extrem-heftiger  Exspiration  (Mund 
und  Nase  verschlossen)  ein  oder  das  andere  Luftbläschen  durchgetrieben  werden  kann. 
Diess  sind  jedoch  nur  Ausnahmen,  vielleicht  nur  bei  etwas  weiterer  oder  krankhaft  ver- 
änderter Nasenmündung  möglich.  —  Direct  beweisend,  dass  im  Thränensacke  keine  Luft 
sei,  scheint  mir  ein  Experiment,  dessen  Hasner  im  gegenteiligen  Sinne  erwähnt.  Wenn 
man  bei  festem  Verschlusse  des  Mundes  und  der  Nase  möglichst  stark  inspirirt,  so  sinkt 
die  Gegend  des  Thränensackes  nicht  ein,  und  sie  erheht  sich  nicht  bei  eben  solchem 
Exspiriren.  Ich  habe  viele  Ärzte  zu  diesem  Experimente  aufgefordert;  wir  konnten  nie 
weder    ein  Sinken    noch    Heben    wahrnehmen.     Auch  empfand  keiner  von  uns  in  dieser 

Arlfs  Augenheilkunde  III,  2.  25 


386  Tliräneiiorgane. 

Gegend  ein  Gefühl  von  Spannung  wie  etwa  am  Trommelfelle.  Man  muss  aber  bei  die- 
sem Experimente  die  Augen  offen  halten  und  auf  einen  bestimmten  Punkt  richten  lassen, 
weil  sonst  synergische  Contractionen  des  M.  orbicularis  oder  Bewegungen  des  Bulbus 
Täuschungen  veranlassen  können.  Bei  Einigen  trat  während  forcirter  Exspiration  ein 
oder  das  andere  Luftbläschen  (nie  ein  Luftstrom)  unter  hörbarem  Knistern  aus  dem  Thrä- 
nenpunkte,  bei  dem  einen  links,  bei  dem  andern  rechts,  obwohl  durchaus  kein  Unter- 
schied zwischen  beiden  Augen,  überhaupt  keine  Abnormität  in  der  Thränenleitung  wahr- 
genommen werden  konnte. 

Der  M.  orbicularis,  der  Augenlidschlag  ist  das  Agens  und  der  Regu- 
lator für  die  Fortleitung  der  Tliränen  in  die  Nase.  Im  Momente  des 
Augenlidschlusses  wird  der  Thränensack  sammt  den  Thränenröhrchen  etwas 
comprimirt  durch  die  Anschwellung  der  contrahirten  Muskelfasern  des^  Or- 
bicularis und  durch  die  gleichzeitig  erfolgende  rückwärts  ziehende  Wir- 
kung des  Horner'schen  Muskels.  Sind  die  Wandungen  des  Thränensackes 
hinreichend  resistent,  und  ist  das  Contentum  desselben  incompressibel,  so 
muss  eine  entsprechende  Menge  davon  entweichen,  natürlich  dorthin,  wo 
gar  kein  oder  ein  relativ  geringerer  Widerstand  obwaltet.  Diess  geschieht 
im  normalen  Zustande  nach  dem  Thränennasengange  hin,  in  welchem  also 
die  Flüssigkeit  fortrücken,  und  aus  welchem  ein  Tröpfchen  in  die  Nase 
treten  muss.  In  dem  Momente,  wo  mit  der  Öffnung  der  Lidspalte  die 
Compression  der  Thränenröhrchen  und  des  Thränensackes  nachlässt,  und 
der  Thränensack  sein  eigentliches  Lumen  wieder  gewinnt,  muss  Flüssig- 
keit aus  dem  Thränensee  nachrücken,  um  den  leeren  Raum  zu  füllen.  Es 
ist  einleuchtend,  dass  ein  Zurücktreten  von  der  Nase  her  nicht  statt  linden 
kann,  weil  sonst  eine  lange  Flüssigkeitssäule  gehoben  werden,  und  die 
bereits  in  die  Nasenhöhle  gelangte  Portion  wieder  eindringen  müsste.  Auf 
diese  Weise  werden  die  Thränenwärzchen  zu  Saugwärzchen.  Die  in  der 
Rinne  zwischen  jedem  Lidrande  und  dem  Augapfel  befindliche  und  durch 
Adhäsion  an  den  festen  Theilen  festgehaltene  Flüssigkeit  kann  nur  durch 
die  angegebene  Assuction  der  Thränenröhrchen,  niemals  aber,  wie  ge- 
wöhnlich angenommen  wird ,  durch  die  Bewegung  der  Lider  als  solche, 
durch  Erfolgen  des  Abschlusses  der  Lidspalte  vom  äussern  zum  Innern 
Winkel  hin  und  zum  Fortrücken  gegen  den  innern  Winkel  gebracht,  ge- 
schweige denn  in  die  Thränenröhrchen,  welche  gefüllt  und  capillär  sind, 
hineingepresst  werden. 

Dass  der  Thränensack  im  Momente  des  Lidschlusses  comprimirt  werde,  folgere  ich 
nicht  bloss  aus  anatomischen  Thatsachen  als  möglich  und  wahrscheinlich,  sondern  auch 
aus  vielfältigen  Beobachtungen  von  Thränenfisteln  als  wirklich.  Befindel  sich  in  einer 
Fistelöffnung  Flüssigkeit^  so  sieht  man  sie  im  Momente  des  Lidschlusses  steigen,  im  Mo- 
mente der  Lidöffnung  fallen.  Besonders  instruetiv  sind  Fälle,  wo  die  Grösse  der  Öffnung 
gestattet,    in  die  Tiefe,    bis    an    die  Öffnung    der    häutigen  Wandung  des  Thränensackes 


Physiologie.  387 

selbst  zu  blicken.  Man  übersehe  dabei  nicht,  dass  im  Momente  des  Lidschlusses  auch 
die  Thranenrührchen  comprimirt  werden  müssen ,  demnach  in  diesem  Momente  keine 
Flüssigkeit  vom  Bindehautsacke  nachrücken  oder  gar  hineingepresst  werden  kann.  Dass 
der  Lidschluss  vom  äussern  zum  innern  Winkel  erfolge,  ist  eine  blosse  Annahme;  eben 
so  wem'""  lässt  sich  beweisen,  dass  die  Lidspalte  dabei  vorn  hermetisch  abgeschlossen 
werde.  Das  Eintreten  von  Flüssigkeit  in  die  Thranenrührchen  kann  absolut  erst  nach 
vorübergegangenem  Lidschlusse  erfolgen,  nicht  während  desselben. 

Dass  aber  die  Fortleitung  der  Thränen  von  der  Action  des  M.  orbicularis  abhänge, 
zeigen  Fälle  von  Lähmungen  desselben.  Bei  Lähmung  des  Orbicularis  ist  Thränenträu- 
feln  eine  constante  Erscheinung.  Sie  tritt  früher  auf,  als  die  Veränderung  der  Stellung 
der  Augenlider  und  Thränenpunkte.  Sie  war  in  einigen  Fällen  das  erste  Symptom  und 
machte  mich  erst  aufmerksam  auf  die  übrigen  Erscheinungen,  welche  die  unvollständige 
Lähmung  des  N.  facialis  beurkunden.  Erst  der  Umstand,  dass  der  über  Thränenträufeln 
klagende  Kranke  die  Lidspalte  der  betroffenen  Seite  nicht  so  kräftig  zu  schliessen  ver- 
mochte, wie  die  andere,  bestimmte  mich,  die  Haltung  der  Gesichtsmuskeln  genau  zu 
controlliren.  Gerade  diese  Fälle  sind  es,  in  welchen  das  Thränenträufeln  nicht  als  Folge 
von  Hypersecretion  betrachtet  werden  kann,  da  die  Lider  noch  an  den  Bulbus  an- 
schliessen  ;  sie  sind  es,  welche  sowohl  die  Heber-  als  die  Aspirationstheorie  als  unhalt- 
bar erweisen.  —  Der  Bespiration  kann  nur  insofern  ein  Einfluss  auf  diesen  Vorgang  zu- 
geschrieben werden,  als  sie  durch  Verdampfung  von  Flüssigkeit  an  der  Nasenmündung 
des  Thränenschlauches  auf  den  Stand  der  Flüssigkeitssäule  in  diesem  engen  Canale  ein- 
zuwirken vermag.  Wird  an  einem  Capillarrohre  der  unterste  Tropfen  entfernt,  sei  es 
durch  Verdunstung,  sei  es  durch  Abwischen  o.  dg!.,  so  muss  die  ganze  Flüssigkeits- 
säule nachrücken.  Während  des  Schlafes  scheint  dieser  Einfluss  allein  hinzureichen, 
das  Hinabrücken  der  ohnehin  geringeren  Menge  von  Secret  zu  bewirken,  wiewohl  es 
noch  nicht  ausgemacht  ist,  ob  nicht  auch  während  des  Schlafes  von  Zeit  zu  Zeit  Con- 
tractionen  des  M.  orbicularis  erfolgen.  Bei  kleinen  Kindern  habe  ich  mich  von  deren 
zeitweiligem  Eintreten  überzeugt. 

Gegen  die  von  E.  H.  Weber  angedeutete  und  von  Hasner  weiter  ausgeführte  Theorie 
der  Aspiration  hat  Hyrtl  mit  Becht  bemerkt,  dass  die  Thranenrührchen  zu  wenig  steif 
seien,  um  durch  Luftdruck  nicht  comprimirt  zu  werden.  Nach  Hasner  sollen  bei  jeder 
Einathmung,  welche  mittelst  der  Nase  zu  Stande  kommt,  zugleich  mit  der  Luft  auch  die 
Thränen  in  den  luftverdünnten  Baum  des  Schlauches  eingezogen  werden.  „Durch  Er- 
weiterung der  Lungenhöhle  im  Moment  der  Inspiration  wird  die  Luft  in  dem  gesammten 
Schlauche  verdünnt,  und  es  drängt  die  äussere  Luft  auf  die  Thränen  im  See,  welche 
somit  in  den  Schlauch  gelangen.  Sowohl  durch  die  aus  dem  Thränenschlauche  in  die 
Nasenhöhle  drängende  Luft,  als  durch  die  eigene  Schwere  wird  die  Klappe  (an  der 
Nasenmündung)  bei  jeder  Inspiration  geöffnet."  „DieThränenableitung  kann  natürlich  nur 
dann  vor  sich  gehen,  wenn  der  Mund  geschlossen  ist;  jedes  Offnen  des  Mundes  schliesst 
die  Nasenhöhle  ganz  von  der  Bespiration  aus."  „Das  Schliessen  der  Lider  ist  zur  Auf- 
saugung der  Thränen  nicht  nothwendig,  schon  bei  massiger  Verengerung  der  Lidspalte 
tauchen  beide  Thränenpunkte  in  den  See,  und  es  steht  besonders  der  untere  jederzeit 
zur  Absorption  der  geringen  Menge  Flüssigkeit,  welche  sich  an  dem  Lidrande  angesam- 
melt hat,  bereit."  „Im  Momente  der  Exspiration  wird  die  Verschliessung  der  am  Über- 
gange des  Thränenschlauches  in  die  Nasenhöhle  befindlichen  Klappe  eine  vollkommene 
Isolirung  beider  Cavitäten  von  einander  zu  Stande  gebracht." —  Gegen  diese  Sätze  s  pre- 

25* 


388  Thräiienorgane. 

chen  mehrere  Tbatsacben.  Wir  können  Stunden  lang  bloss  durch  den  Mund  athnien, 
ohne  dass  Thränenträufeln  eintritt,  während  längere  Unterbrechung  des  Augenlidschlages, 
absichtlich  oder  bei  anhaltendem  Betrachten  eines  Gegenstandes,  die  Augen  übergehen 
macht.  Ich  kenne  eine  Frau,  deren  Nasenhöhle  vollständig  und  luftdicht  von  der  Ra- 
chen- und  Mundhöhle  abgeschlossen  ist  (in  Folge  von  Narben  nach  syphilitischen  Ge- 
schwüren), welche  aber  keine  Spur  von  Thränenträufeln  darbietet,  obwohl  kein  Grund 
vorhanden  ist,  bei  ihr  eine  Verminderung  der  Thränensecretion  überhaupt  anzunehmen. 
Nasenpolypen ,  welche  den  Luftstrom  hermetisch  abschliessen ,  machen  kein  Thränen- 
träufeln, so  lange  sie  nicht  bis  zur  Conipression  des  Thränennascnganges  vorgerückt 
sind.  —  Ich  habe  mich  bei  einer  Menge  von  Thränensackfisteln  durch  Einträufeln  von 
Cochenilletinclur  in  den  Bindehautsack  überzeugt,  dass  diese  Flüssigkeit  nach  einigen 
Augenlidschlägen  in  der  Fistelöffnung  zum  Vorschein  kam,  obgleich  die  sorgfältigste 
Sondirung  sowohl,  als  gehörig  angestellte  Injectionen  (so  wie  auch  heftige  In-  und  Ex- 
spirationen bei  Verschluss  des  Mundes  und  der  Nase)  völlige  Undurchgängigkeit  des 
Thränennasenganges  erwiesen.  Also  bei  sicher  gestelltem  Ausschlüsse  des  Einflusses  der 
Respiration  gelangt  das  Contentum  des  Bindehautsackes  dennoch  nicht  nur  in  den  Thrä- 
nensack  ,  sondern  auch  bis  vor  die  äussere  Fistelöffnung.  Hierin  liegt  auch  zugleich  — 
nebenbei  gesagt  —  eine  Widerlegung  der  Pitit'schen,  auf  verschieden  lange  Arme  ge- 
stützten Hebertheorie  und  gegen  die  Annahme,  dass  der  Horner'sche  Muskel  den  Thrä- 
nensaek  während  des  Lidschlusses  erweitere.  Bei  der  Thränensackfistel  mit  hermetischem 
Verschlusse  des  Thränennasenganges  sind  die  Verhältnisse  wie  im  normalen  Zustande, 
mit  dem  Unterschiede ,  dass  an  die  Stelle  des  Thränennasenganges  der  Fistelgang  ge- 
treten ist ;  wie  früher  in  die  Nase,  kommen  jetzt  die  Thränen  auf  die  Wange.  —  Be- 
kanntlich gibt  es  auch  Thränensackfisteln,  wo  sich,  bei  Abwesenheit  jeder  Spur  von  Ent- 
zündung, aus  einer  haarfeinen  Öffnung  von  Zeit  zu  Zeit  ein  Tröpfchen  klarer  und  dün- 
ner Flüssigkeit  entleert,  welche  sich  als  Thränenflüssigkeit  erweisen  lässt.  An  diese 
scheint  Hastier  nicht  gedacht  zu  haben,  als  er  1.  c.  S.  47  behauptete:  „Die  dauernde 
Thränensehlauchfistel  sei  niemals  das  Symptom  einer  Verwachsung  oder  Undurchgängig- 
keit des  Schlauches,  sondern  stets  nur  jenes  der  Caries  des  Thräncnbeins."  Wenigstens 
bei  den  längst  bekannten  Haarfisteln  kann  man  mit  Bestimmtheit  die  Anwesenheit  von 
Caries  in  Abrede  stellen,  obwohl  auch  von  einer  Menge  anderer,  lange  dauernder  Fi- 
steln dasselbe  behauptet  werden  muss. 

Hyrll's  Ansicht  geht  dahin,  dass  der  Horner'sche  Muskel  und  der  M.  orbicularis  bei 
jedem  Augenlidschlage  den  Thränensack  erweitern,  und  dadurch  ein- Nachrucken  der 
Flüssigkeit  bedingen,  wobei  noch  Absperrung  von  der  Nasenhöhle  durch  die  Klappe  am 
untern  Ende  des  Nasenganges  vorausgesetzt  wird.  Wäre  diese  Ansicht  richtig,  so  müsste 
man  bei  Thränensackfisteln  im  Momente  des  Lidschlusses  die  Flüssigkeit  in  der  Haut- 
öffnung sinken  sehen.  Irrig  ist  übrigens  die  von  Hyrtl  aufgestellte  Behauptung,  dass  bei 
Dncryocystoblennostasis  in  der  Hegel  kein  Thränenträufeln  vorhanden  sei,  und  dass  die 
Thränenröhrchen  nur  während  des  Weinens  beschäftigt  werden.  Nach  dem ,  was  ich 
beobachtet  habe,  kommen  die  Kranken  mit  Dacryocystoblennostasis  eben  nicht  wegen 
Schmerzen  oder  wegen  der  Geschwulst,  sondern  lediglich  oder  doch  vorzüglich  wegen 
der  Belästigung  durch  Thränenträufeln  beim  Arbeiten,  Ausgehen  u.  dgl.  zum  Arzte.  Dem- 
nach müssen  die  Fälle,  in  welchen  kein  Thränenträufeln  stattfindet,  wohl  als  Ausnahmen 
betrachtet  werden,  vielleicht  dadurch  bedingt,  dass  alimälig  weniger  Thränen  ausgeschie- 
den werden.  —  Mit  Unrecht    zeiht  Hasner  den   Veteranen    .1.   0,   Richter   eines  Irrthums, 


Physiologie.  389 

wenn  dieser  behauptet,  dass  bei  Blennorrhoe  des  Thranensackes  dieser  immerfort  noch 
durch  frisch  nachrückende  Thränen  ausgedehnt  werde,  „indem  das  Contentum  des  Thrä- 
nenschlauches  bei  Dacryocyslestatis  nur  aus  dem  Schleimsecret  des  Schlauches  selbst  be- 
stehe, welches  hei  Verschliessung  der  Nasalöffnung  nicht  ahflicsseii  könne."  Mir  scheint, 
dass  der  alte  Richter  viel  genauer  beobachtet  und  untersucht  hat.  Das  Contentum  blen- 
norhöischer  Thränensacke  besteht  in  der  That  aus  einem  Gemenge  von  Secret  des  Thra- 
nensackes und  von  Thränen.  Dass  trotz  hermetischen  Abschlusses  des  Thränennasen- 
ganges  auch  bei  Blennorrhoe  des  Thranensackes  noch  Flüssigkeit  aus  dem  ßindehaut- 
sacke  aufgenommen  werden  könne,  davon  kann  man  sich  überzeugen,  wenn  man  in 
solchen  Fällen  Cochenillentinctur  in  den  Bindehautsack  einträufelt,  diese  nach  einiger 
Zeit  rein  ausspült ,  und  nun  das  Thiäncnsackconlcntum  durch  die  Thränenpunkte  aus- 
drückt. —  Nach  Ross  soll  der  Lidschluss  vom  äussern  zum  innern  Winkel  erfolgen  ,  die 
Flüssigkeit  gegen  den  Thränensee  und  aus  diesem  in  die  Thränenröhrchen  u.  s.  w.  ger 
presst  werden.  Wir  haben  schon  oben  bemerkt,  dass  diess  unerwiesene  Annahmen  sind, 
die  sich  wohl  auch  kaum  je  beweisen  lassen  werden.  Beim  gewöhnlichen  Lidschlage 
wird  übrigens  die  Lidspalte  gar  nicht  völlig  geschlossen ;  das  obere  Lid  nähert  sich  dem 
untern,  ohne  es  völlig  zu  erreichen. 

Schliesslich  will  ich  noch  hervorheben,  dass  die  Anwesenheit  von  etwas  Luft  im 
Thränensacke  den  oben  dargestellten  Mechanismus  der  Thränenfortleitung  nicht  unmög- 
lich mache.  Ich  hatte,  als  ich  diess  niederschrieb,  eben  eine  Patientin  vor  mir  —  und 
ich  erinnere  mich ,  in  einigen  Fällen  Ahnliches  beobachtet  zu  haben  —  welche  nicht 
im  mindesten  von  Thränenträufeln  belästigt  wird,  und  ihre  Augen  überhaupt  jetzt  für 
vollkommen  gesund  erklärt,  bei  welcher  jedoch  das  Entweichen  von  Luft  aus  dem  Thrä- 
nensacke in  die  Nase  deutlich  fühlbar  ist,  wenn  ich  den  Thränensack  mit  dem  Fh;ger 
coinprimire.  Diese  Patientin,  vor  14  Jahren  von  mir  von  einer  beiderseitigen  Thränen- 
sackfistel  nach  der  gewöhnlichen  Methode  geheilt  —  (Dauer  der  Behandlung  durch  2 
Jahre  ,  zuletzt  Tragen  \on  Bleinägeln  durch  beinahe  1  '/2  Jahre),  —  wandte  sich  jetzt 
nicht  wegen  der  Augen  an  mich,  sondern  wegen  Tuberculosis  pulmonum.  Links  war 
ausser  der  Narbe  keine  Spur  von  dem  frühern  Leiden  aufzufinden  ;  rechts  bestand  an  der 
Stelle  der  Fistel  eine  schon  von  weitem  auffallende  trichterförmige  Einziehung  der  Cutis" 
Aber  auch  hier  ist  kein  Thränenträufeln  vorhanden  und  auch  der  Thränensack  ganz  ge- 
wiss nicht  obliterirt.  Das  Eintreten  von  Luft  in  den  Thränensack  erfolgt  beim  Schneu- 
zen, Husten  u.  dgl.,  da  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die  Nasenüffnung  des  Thränen- 
schlauches  durch  das  längere  Tragen  der  Stifte  so  erweitert  worden  ist,  dass  der  Luft- 
eintritt nicht  mehr  völlig  abgehalten  werden  kann.  Die  zu  dein  oben  beschriebenen 
Mechanismus  erforderliche  Flüssigkeitssäule  existirt  demnach,  sobald  Luftblasen  im  Thrä- 
nensacke sind,  noch  längs  der  Wandungen  desselben.  Es  besteht  keine  solide,  sondern 
eine  im  Innern  mehr  weniger  Luftbläschen  haltende  Flüssigkeitssäule,  und  diese  Luft— 
bläschen  entweichen  bei  Compression  der  Thränensacke  unter  leichtem  Knistern  und  Ge- 
fühl von  Prickeln  im  Finger.  Ich  selbst  bin  im  Stande,  beim  starken  Schneuzen  Luft 
durch  die  Thränenröhrchen  auszupressen,  wenn  ich  an  heftigem  Schnupfen  leide,  und 
doch  halte  ich  meine  Thränenorgane  für  ganz  gesund.  —  Ich  würde  diesem  Gegenstande 
nicht  so  viel  Raum  gewidmet  haben,  wenn  nicht  die  Ansichten,  die  man  über  die  Fun- 
ction des  Thränenschlauches  hat,  von  so  bedeutendem  Eiuflusse  auf  die  Behandlung  seiner 
luankheilen  wären. 


390  Thrfuienorgane. 

B.  Krankheiten. 

a.  Der  Thränendrüse  und  ihrer  Ausführungsgänge. 

1.  Die  Entzündung  der  Thränendrüse  ist  mir  nicht  aus  eigener  Be- 
obachtung bekannt.  Ausser  Joh.  Ad.  Schmidt*')  äussern  sich  alle  Schrift- 
steller dahin,  dass  diese  Affection  eine  sehr  seltene  sei.  Die  acute  Form 
soll  sich  durch  Trockenheit  des  Auges,  heftigen,  tiefgreifenden  Schmerz, 
entzündliche  Geschwulst  des  obern  Lides  und  Verdrängung  des  Augapfels 
nach  vorn,  innen  und  unten  kundgeben,  und  mit  Eiterung  und  Durehbiueh 
des  obern  Lides  enden.  Wenn  diese  oder  ähnliche  Erscheinungen  auf- 
treten, wird  man  jedenfalls  wohl  zu  untersuchen  haben,  ob  sie  nicht  bloss 
von  Zellgewebs-  oder  aber  von  Beinhautentzündung  und  nachfolgender 
Caries  bedingt  seien,  welche  gerade  in  dieser  Gegend  nicht  selten  vor- 
kommt. Nach  Makenzie  (I.  c.  S.  89)  hat  Todd  auch  chronische  Thränen- 
drüsenentzündung  beobachtet,  mit  allinäliger  Vergrösserung  der  Drüse, 
welche  leicht  für  krebsige  Entartung  gehalten  werden  könne.  Bei  scro- 
fulösen  Individuen  soll  spontane,  chronisch-entzündliche  Vergrösserung  der 
Thränendrüse  vorkommen.  In  4  von  Makenzie  ausführlich  mitgeth eilten 
Beobachtungen  (von  Todd,  O'Beirne,  Lawrence  und  Daniel)  wurde  die 
Diagnosis  durch  Exstirpation  der  taubenei-  bis  wallnussgrosseu  Geschwulst 
constatirt.  In  3  Fällen  davon  waren  heftige  Schläge  auf  die  Gegend  der 
Thränendrüse  vorausgegangen.  In  keinem  dieser  Fälle  hatte  weder  die 
Entartung  noch  auch  die  Entfernung  der  Drüse  Trockenheit  des  Auges 
zur  Folge;  in  dem  letzlern  soll  das  Auge  (nach  radicaler  Heilung  durch 
die  Exstirpation)  fähig  gewesen  sein,  eben  so  viel  Timmen  zu  vcrgiessen, 
wie  das  andere. 

2.  Schwund  der  Thränendrüse  und  fettige  Entartung  habe  ich  nur  ein- 
mal im  Cadaver  gefunden,  und  zwar  wohl  als  Folge  von  Obliteration 
ihrer  Ausführungsgänge  bei  Trachoma.  Siehe  I.  B.  S.  128.  Dass  Trocken- 
heit der  Conjunctiva  Folge  von  Erkrankung  dieser  Membran  selbst,  nicht 
aher  der  Thränendrüse  sei,  ergibt  sich  aus  dem,  was  wir  S.  126, 
B.  I.  über  Xerophthalmus  bemerkt  haben.  Vergl.  unten  Verödung  des 
Thn  nensäckes. 

3.  Als  Thränensackgeschwul.st,  dacryops,  haben  Ad.  Schmidt  und 
J.  G.  Beer  eine  mit  wasserklarer  und  salzig  schmeckender  Flüssigkeil  ge- 
füllte Geschwulst  an  der  innern  Fläche  des  obern  Lides  beschrieben, 
welche  selbst  die  Grösse  einer  Wallnuss  erreichen  können  soll,  und  beim 

J  I  ii   i    rlic  Krankheiten  .!".-•  Tnr&neiiorgans,    Wien   1803. 


Krankheiten   der  Thränendrüse.  391 

Weinen  grösser  wird.  Diese  Umstände  und  der  Sitz  in  der  Gegend ,  wo 
die  Aüsführungsgänge  der  Thränendrüse  liegen,  bestimmten  zu  der  An- 
nahme, dass  die  Geschwulst  als  Ausdehnung  eines  Ausführungsgano-es  in 
Folge  von  Obliteralion  seiner  Mündung,  oder  als  Ergnss  von  Tliränen- 
flüssigkeit  in  das  umgebende  Bindegewebe  nach  Zerreissung  eines  Aus- 
führungsganges zu  betrachten  sei.  „Wenn  die  Geschwulst  von  aussen 
künstlich  geöffnet  worden  ist,  und  der  Kranke  weint,  so  lliesst  eine  be- 
deutende Menge  reiner  Thränenfeuchligkeit  aus  der  Öffnung,  und  erweist 
sieh  als  solche  durch  ihren  salzigen  Geschmack."  (Beer  I.  c.  IL  B.  S.  593.) 
Nach  Beer  ist  die  Krankheit  nicht  leicht  zu  heilen,  weil  leicht  —  nach 
absichtlicher  oder  zufälliger  (?)  Eröffnung  von  aussen  ein  Haarfistel  zu- 
rückbleibe, wenn  der  Sack  nicht  vernichtet  wird.  Beer  empfiehlt  die 
Blosslegung  von  der  Bindehaut  aus  und  das  Durchziehen  eines  dicken 
Seidenfadens.  Beer  führte  die  Enden  desselben  durch  die  Cutis  und  be- 
festigte sie  auf  der  Stirn;  es  dürfte  wohl  auch  zulässig  sein,  den  Faden 
durch  die  Bindehaut  ein-  und  wieder  auszustechen,  die  Enden  zum  äussern 
Winkel  herauszuleiten  und  daselbst  zu  befestigen,  bis  die  beabsichtigte 
Reaetion  erfolgt  ist. 

4.  Als  Eydatide  der  Thränendrüse  beschreiben  dieselben  Auetoren 
eine  im  Parenchym  der  Drüse  sitzende  Cyste,  welche  durch  rasches 
Wachsthum  und  Druck  nicht  nur  dem  Augapfel  Gefahr  bringt,  sondern 
selbst  den  Tod  herbeiführen  kann  (eine  Beobachtung  von  Schmidt,  eine 
von  Beer).     Vergl.  Cysten   in  der  Orbita  im  XII.  Buche. 

Eie  Soldat  bekam  nach  überstandenem  Typhus  stumpfen,  tiefsitzenden  Druck  im 
Auge.  In  der  3.  Woche  wurde  der  Schmerz  heftig,  erstreckte  sich  auf  die  Hälfte  des 
Kopfes,  das  Auge  wurde  roth  und  vorgetrieben.  In  der  4.  Woche  Schlaflosigkeit  wegen 
unerträglicher  Schmerzen,  Erblindung  des  noch  stärker  vorgetriebenen  Auges,  Vordrän- 
gung  der  nicht  geschwollenen  Lider,  in  der  Gegend  der  Thränendrüse  eine  harte  Ge- 
schwulst, die  man  für  einen  Steatom  halten  konnte.  Nach  einigen  Tagen,  ehe  es  noch 
zu  der  von  Ad.  Schmidt  beschlossenen  Exstirpation  kam,  verfiel  der  Patient  in  einen 
Zustand  kvon  Schlafsucht,  Bewusstlosigkeit,  unwillkürlicher  Entleerung  von  Urin  und 
Stuhl ;  einige  Stunden  später  erfolgte  der  Tod.  Bei  der  Section :  die  Venen  und  Sinus 
des  Gehirnes  mit  Blut  überfüllt ;  kein  Erguss  in  den  Ventrikeln.  Als  der  Augenhöhlen- 
fortsatz des  Stirnbeins  ohne  Verletzung  des  Periosteums  weggenommen  wurde,  drang 
eine  schwappende  Geschwulst  aus  dem  Schläfewinkel  der  Augenhöhle  hervor.  Man  fand 
die  3Iuskeln ,  den  Sehnerven  und  die  übrigen  Nerven  gezerrt  und  verlängert,  die  Vena 
ophth.  sehr  ausgedehnt,  die  Thränendrüse  kleiner  als  gewöhnlich,  die  Acini  auf  der  Ge- 
schwulst kleiner  und  auseinander  gedrängt,  die  vor  der  Geschwulst  liegenden  grösser 
und  mehr  zusammenhängend.  Die  Geschwulst  hatte,  von  hinten  nach  vorn  gemessen, 
1"  Durchmesser,  senkrecht  und  transversal  etwas  weniger  als  1".  Sie  drängte  sich  auf 
das  äussere  Segment    des  Augapfels    und    hatte   ihn    gegen    die  Nase    hin    und  vorwärts 


392  Thräiienorgane. 

verschoben.  Sie  hatte  eine  äussere  und  eine  innere  Hülle.  Die  äussere  bestand  aus 
dicker  Zellmembran.  Zwischen  ihr  und  der  innern  Hülle  befand  sich  eine  Quantität  ln- 
terstitialflüssigkeit.  Die  innere  Hülle  war  sehr  zart,  halb  durchsichtig  und  enthielt  eine 
klare  Flüssigkeit.  Die  äussere  Membran  konnte  nicht  leicht  von  den  gestreuten  Acinis 
getrennt  werden.  Die  innere  konnte  recht  gut  von  der  äussern  Hülle  weggenommen  • 
werden.     (Entlehnt  aus  Mahenzie  1.  c.  S.   103.) 

b.  Der   'I 'Iiräiienröhrchen   und    Tliränenpunkte. 

Die  Zeichen  von  Entzünditng  kommen  an  den  Thränenröhrchen  sehr 
selten  zur  Beobachtung.  Nur  in  einigen  Fällen  sah  ich  die  schleimhäutige 
Auskleidung  derselben  an  der  Mündung  geröthet,  aufgelockert  und  ge- 
schwellt, so  dass  die  Thränenwärzchen  merklich  vergrössert  und  die  Thrä- 
nenpunkte  verengert  erschienen.  In  allen  diesen  Fällen  war  zugleich  Blen- 
norrhoe des  Thränensackes  zugegen,  und  die  Bindehaut  bot  die  Erschei- 
n  ingen  von  Trachoma  oder  von  chronischer  Blennorhöe  dar;  nur  in'  einem 
einzigen  Falle  schien  dieses  Leiden  auf  die  Thränenwärzchen  allein  be- 
schränkt zu  sein. 

Vor  Wunden  sind  die  Thränenröhrchen  vermöge  ihrer  Lage  ziemlich 
geschützt.  Ad.  Schmidt,  J.  N.  Fischer  u.  A.  erzählen  Fälle,  wo  quer  ver- 
laufende Schnittwunden  wieder  so  verheilten,  dass  die  Durchgängigkeit  der 
Canälchen  nicht  aufgehoben  wurde.  Ich  habe  einen  Fall  beobachtet,  wo 
beide  Thränenröhrchen  von  einer  Glasscherbe  durchschnitten  worden  wa- 
ren, und  die  Vernarbung  zu  Undurchgängigkeit  derselben  führte,  welche 
sich  noch  mehrere  Monate  nachher  durch  Thränenträufeln  kund  gab.  — 
Bei  unvorsichtigem  Sondiren  dieser  dünnen  Schläuche  soll  auch  Zerreis- 
suiig  derselben  vorgekommen  sein. 

Ich  habe  einen  jungen  Mann  gesehen,  bei  dem  in  Folge  heftigen  Schmerzens  bei 
zugepressten  Augenlidern  Luft  in  das  subcutane  Bindegewebe  ausgetreten  war,  unmittel- 
bar nachdem  er  sich  an  einen  Nagel  gestossen  hatte.  Eine  leichte,  gegen  4'"  lange 
Hautaufschärfung,  schräg  von  unten  und  innen  nach  oben  und  aussen  über  die  innere 
Hälfte  des  Ligam.  palp.  intern,  streichend  ,  deutete  die  Richtung  an,  in  welcher  der  Na- 
gel den  innern  Augenwinkel  getroffen  hatte.  Es  war  kein  Knochenbruch,  auch  keine 
Blutunterlaufung  aufzufinden.  Die  das  untere  Lid  bedeutend  aufblähende  Luft,  welche 
sich  unter  einem  eigentümlich  prickelnden  Gefühle  (für  den  betastenden  Finger)  seit- 
wärts verdrängen  Hess,  hatte  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nicht  den  viel  resistenteren 
Thränensack,  sondern  das  dünne  untere  Thränenröhrchen  irgendwo  durchrissen,  als  der 
Verletzte  bei  den  reichlich  zuströmenden  Thränen  heftig  schneuzte.  Einen  ähnlichen  Fall 
hat  A.  v.  Gräfe  (Archiv  I.  B.  I.  Ahth.  S.  288)  beschrieben.  —  Bei  eiriem  an  Trachoma 
conjunctivae  und  Blennorrhoca  sacri  lacrimalis  leidenden  alten  Weibe,  deren  Thränen- 
wärzchen die  obgenannte  Schleimhautwulstung  darboten,  riss,  als  ich  laues  Wasser  in 
das  untere  Röhrchen  einspritzte,  dasselbe  ein  und  Wesa  das  Wasser  unter  die  Haut  des 
Lides  austreten.  Sowohl  die  Luft  in  dem  eisten,  als  das  Wasser  in  dein  zweiten  Falle 
sind  nach  einigen  Tagen  ohne  weilern  Nachtheil  allmälig  verschwunden. 


Krankheiten  der  Thröuenröhrchen.  393 

Verstopfung  der  Tliränenröhrchen  durch  kalkige  Concremente,  deren 
Tracers  u.  A.  gedenken,  ist  mir  bisher  nicht  vorgekommen.  Hasner  fand 
einmal  im  untern  Tliränenröhrchen  eine  Cilie,  welche  noch  so  weit  her- 
ausragte, dass  er  sie  mit  einer  Pincette  fassen  konnte.  Convolute  von 
verfilzten  Fadenpilzen  in  dem  zu  einer  Höhle  erweiterten  untern  Tliränen- 
röhrchen, ohne  anderweitige  Erkrankung  des  Thränenschlauches  fand  A.  v. 
Gräfe  (1.  c.  S.  284)  bei  einer  jungen  Frau.  Die  erbsengrosse  Geschwulst 
konnte  für  ein  Gerstenkorn  oder  Alherom  gehalten  werden;  die  Heilung 
wurde  durch  Incision  vom  Bindehautsacke  aus  bewirkt.  Mit  einer  dicken, 
grüngelben,  schme  er  ähnlichen  Materie  ausgefüllt  fand  ich  das  untere  Thrä- 
nenröhrchen  bei  einem  Manne,  der  seit  mehr  als  einem  Jahre  an  Thrä- 
nenträufeln  des  rechten  Auges  litt,  und  fruchtlos  mit  verschiedenen  Mit- 
teln behandelt  worden  war. 

Als  ich  nach  der  Ursache  des  von  einer  merklichen  Injection  der  Bindehaut  im  in- 
nern  Winkel  begleiteten  Thränenträufelns  forschte,  fiel  mir  zunächst  das  Weitoffenstehen 
des  Thränenpunktes  und  weiter  eine  abnorme  Dicke  des  Lides  an  der  Stelle  auf,  wo 
das  Tliränenröhrchen  senkrecht  in  das  Lid  eindringt.  Indem  ich  nun  den  Zeigefinger  an 
die  äussere  Fläche  anlegte ,  und  mit  einem  Daviel'schen  Löffel  an  der  innern  Seite 
gegen  den  Thränenpunkt  streifend  drückte,  entleerte  sich  ein  dünner  Cylinder  der  ge- 
nannten Materie.  Dieses  Manöver  wurde  immer  nach  einigen  Tagen  wiederholt  und 
darauf  jedesmal  eine  Injection  lauen  Wassers  gemacht,  in  der  Zwischenzeit  aber  eine 
Salbe  von  rothem  Präeipitat,  nach  einigen  Wochen  von  Deuterojodur.  hydrarg.  an  die 
äussere  Lidfläche  dieser  Gegend  eingerieben.  Nach  und  nach  nahm  die  Menge  dieser 
Masse  ab,  und  nach  10  Wochen  war  der  Mann  vollständig  geheilt.  Diese  Masse  war 
wohl  kein  Product  des  Thränenröhrchens  selbst ;  mir  ist  es  am  wahrscheinlichsten,  dass 
sie  von  einem  Follikel  einer  Meibom'schen  Drüse  ausging,  welcher,  durch  Ansammlung 
seines  Secretes  ausgedehnt  und  verdünnt,  endlich  eine  Öffnung  in  das  Thränenröhrchen 
erhalten  hatte. 

Verwachsung  der  Mündung  findet  man  nicht  selten  nach  chemischen 
Verletzungen,  nach  Blattern,  besonders  aber  bei  Individuen,  welche  lange 
an  jener  Form  von  Blepharadenitis  gelitten  haben,  die  sich  durch  Bildung 
kleiner  Abscesse  an  der  Basis  der  Cilien,  bleibenden  Verlust  derselben, 
lineare  Einschrumpfung  der  Cutis,  Obliteration  der  Mündungen  der  Mei- 
bom'schen Drüsen  und  Ectropium  conjunctivae  charakterisirt.  Am  untern 
Lide  ist  dieser  Zustand  häufiger,  als  am  obern.  -  Die  Function  des  obern 
Thränenröhrchens  reicht  dann  bisweilen  hin,  das  Thränenträufeln  zu  ver- 
mindern oder  zu  verhüten.  Bei  Xerophthalmus  in  Folge  von  Trachoma 
habe  ich  auch  die  Tliränenröhrchen  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  oblite- 
rirt  gefunden.  Nach  Bowman  lässt  sich  die  Fortleitung  der  Thränen  bei 
Verschluss  der  Thränenpunkte  wieder  herstellen,    wenn  man  das  Thränen- 


394  Thräiieuorgane. 

röhrchen  vom  Bindehautsacke  aus  aufschlitzt;  die  Spalte  schliesst  sich  auch 
ohne  Einlegung  des  von  Jüngken  hiezu  vorgeschlagenen  Bleidrahtes  nicht. 

Veränderte  Stellung  der  Thränenpunkte  (relativ  zum  Bulbus)  kann 
bei  verschiedenen  Abnormitäten  der  angrenzenden  und  benachbarten  Ge- 
bilde vorkommen,  bei  En-  und  Ectropium  der  Lider,  bei  stärkerer  In- 
filtration der  Bindehaut,  bei  Volumenzu-  oder  Abnahme  der  Karunkel,  der 
halbmondförmigen  Falte,  oder  des  Bulbus,  bei  Pterygium  und  Symblepha- 
ron ,  nach  ausgedehnter  Verschwörung  der  Cutis  über  dem  Thränensacke 
u.  s.  w.  —  Geschwülste,  welche  die  Stellung  der  Thränenpunkte  verän- 
dern, können  eines  oder  das  andere  zugteich  comprimiren. 

c.  Des  Thränensackes  und  Thränennasenganges. 

Ein  entzündlicher  Zustand  der  Schleimhaut  des  Thränenschlauches 
kommt  wahrscheinlich  sehr,  oft  vor,  ohne  dass  wir  ihn  erkennen.  Es 
liegt  sehr  nahe,  anzunehmen,  dass  bei  jedem  heftigen  Nasenkatarrh  auch 
die  Schleimhaut  des  Thränenschlauches  mitleidet,  sobald  Thränen  trau  fein, 
stärkere  Injection  der  Bindehaut  im  innern  Augenwinkel  und  ein  Gefühl 
von  Drücken  und  Spannen  in  der  Gegend  des  Thränensackes  hinzutreten. 
Doch  können  alle  diese  Erscheinungen  sowohl  einzeln  als  zusammen  auch 
anders  gedeutet,  mithin  nicht  als  beweisend  für  Katarrh  des  Thränen- 
schlauches aufgestellt  werden.  Sicher  lässt  sich  die  katarrhalische  Affec- 
tion  des  Thränenschlauches  wohl  erst  dann  erkennen,  wenn  sie  chronisch 
geworden  ist,  als  sogenannte 

I.  Blennorrhoe  des  Thränensackes. 

Symptome.  In  der  Begel  ist  es  das  Thränenträuj'eln,  welches  den 
Kranken  bestimmt,  einen  Arzt  zu  consultiren;  sehr  oft  auch  sind  die  Be- 
schwerden vorhanden,  welche  chronischer  Bindehautkatarrh  dem  Kranken 
zu  verursachen  pflegt.  (Vergl  I.  B.  S.  11.)  Die  objecliven  Merkmale  dieses 
letzteren  fehlen  fast  niemals;  die  Bindehaut  bietet  durchaus  oder  bloss  im 
innern  Winkel  abnorme  Injection,  meistens  auch  Lockerung,  Schwellung 
und  abnorme  Secretion  dar.  Untersucht  man  genauer,  so  findet  man  schon 
nach  kurzem  Bestände  dieser  Ail'ection  den  Thränensack  erweitert,  daher 
die  Cutis  über  ihm  mehr  weniger  deutlich  emporgehoben,  was  sich  bei 
unilateraler  Ail'ection  leicht  durch  Vergleich  mit  der  andern  Seile  erkennen 
lässt.  Bald  früher,  bald  später  steigt  die  Geschwulst  so  hoch,  dass  sie 
dem  Kranken  selbst  auffällt;  sie  bildet  dann  eine  erbsen-,  bohnen-  bis 
haselnussgrosse  Geschwulst,  welche  entweder  bloss  unterhalb  des  Augenlid- 
bandes   oder    auch    oberhalb    desselben     hervortritt,    und    nach   Massgabe 


Blennorrhoe  des  Thränenschlauches  —  Sympt.  —  Verl.      395 

ihrer  Grösse  und  Dauer  endlich  wohl  auch  eine  bläulich-rothe  Farbe  an- 
nimmt. Die  Geschwulst  entspricht  nach  Lage  und  Form  im  Allgemeinen 
dem  Thränensacke,  lässt  sich  weder  verschieben  noch  umgreifen,  und  sitzt 
mit  breiter  Basis  auf.  Drückt  man  auf  dieselbe,  ohne  die  Thränenröhrchen 
zu  verschliessen,  so  kann  man  eine  trübe,  schleimig-eiterige,  mitunter 
auch  theilweise  klare  und  eiweissähnliche  Flüssigkeit  gegen  die  Bindehaut 
hin  entleeren.  Seltener  ist  es  möglich,  das  Contentum  in  die  Nase  zu 
drangen.  Nach  längerem  Bestände  und  bei  grösserer  Ausdehnung  des 
Thränensackes  gelingt  jedoch  bisweilen  die  Entleerung  weder  nach  der 
einen  noch  nach  der  andern  Richtung.  Um  die  Entleerung  durch  das  obere 
oder  durch  das  untere  Thränenröhrchen  zu  bewirken,  muss  man  die  ana- 
tomischen Verhältnisse  genau  berücksichtigen. 

Verlauf  und  Ausgänge.  Die  Schleimhaut  des  Thränenschlauches 
wird  bei  diesem  Zustande  dunkelroth,  dicker,  wulstiger,  dabei  anfangs 
lockerer  und  mürber,  später  aber  rostbraun  oder  schiefergrau,  derb,  dichter, 
bisweilen  warzig  oder  drüsig.  Ihre  Schwellung  oder  Hypertrophirung  kann 
im  Thränennasengange  schon  an  und  für  sich  zur  unmittelbaren  Berührung 
ihrer-  Wandungen,  somit  zur  Impermeabilität  für  Flüssigkeiten  führen, 
welche  nicht  mit  ungewöhnlicher  Kraft  hindurch  getrieben  werden.  Eigent- 
liche Stricturen  und  Verwachsungen  kommen  erst  in  Folge  von  Geschwürs- 
bildung zu  Stande,  wovon  wir  weiter  unten  sprechen  werden.  Diese 
Schwellung  und  Hypertrophirung  kann  einfach  zurückgehen,  aber  auch, 
namentlich  im  Thränensacke,  wenn  dieser  stark  ausgedehnt  wurde,  einer 
Art  von  Atrophie  weichen;  die  Mucosa  wird  alsdann  dünn,  glatt  und  blass, 
serösen  Häuten  ähnlich. 

Mit  der  Schleimhaut  wird  allmälig  auch  die  eigenthümliche  Haut  des 
Thränenschlauches  und  die  damit  innig  zusammenhängende  Beinhaut  an- 
fangs lockerer  und  weicher ,  so  dass  beide  an  Resistenz  verlieren.  In 
manchen  Fällen  partieipiren  diese  auch  an  der  entzündlichen  Infiltration, 
und  tragen  wesentlich  zur  Erzeugung  der  Geschwulst  in  der  Gegend  des 
Thränensackes  bei.  Diese  pflegt  dann  minder  scharf  abgegrenzt  zu  sein, 
als  wenn  sie  bloss  durch  Ausdehnung  des  Thränensackes  bewirkt  wird, 
und  verschwindet  nur  zum  Theil,  wenn  man  auch  alles  Contentum  aus 
dem  Thränensacke  entleert.  (Vergl.  Polypenbildung  weiter  unten.) 

Aus  der  entzündlichen  Erweichung  der  die  Schleimhaut  umschliessen- 
den  Weichgebilde  erklärt  sich  die  allmälige  Erweiterung  des  Thränen- 
sackes selbst  bei  noch  nicht  völlig  aufgehobener  üurchgängigkeit  des 
Tiiränennasenganges.  Wenn  nämlich  im  Momente  des  Augenlidschlusses 
der  Muse,  orbicularis  die  Thränenröhrchen    und    den  Thränensack  couipri- 


396  Thränenorgane. 

mirt,  und  das  Contentum  wegen  verminderter  oder  aufgehobener  Durch- 
gängigkeit  des  Thränennasenganges  schwer  oder  gar  nicht  entweichen 
kann,  so  gibt  zunächst  die  bloss  von  Weichtheilen  gebildete  (erweichte) 
Wand  des  Thränensackes  nach,  und  wird,  da  sie  sich  (wegen  Mangel  an 
Elasticilät)  nicht  auf  ihr  früheres  Lumen  zusammenzieht,  allmälig  ausge- 
dehnt. So  entsteht  nach  jedem  Augenlidschage  etwas  Raum  in  dem  mo- 
mentan erschlafften  Thränensacke,  in  welchen  ein  entsprechendes  Quantum 
von  Flüssigkeit  nachrücken  kann,  und  so  sammeln  sich  Schleimhautsecret 
und  Thränenflüssigkeit  im  Thränensacke  an,  und  füllen  denselben  wieder 
völlig  aus.  —  Diese  Ausdehnung  erfolgt  vorzugsweise  nach  vorn  (unten 
und  aussen).  Die  anatomischen  Verhältnisse  gestatten  zunächst  eine  Er- 
weiterung des  Sinus  oder  Recessus ,  welcher  sich  nach  vorn,  unten  und 
aussen  von  der  Einmündung  in  den  Thränennasengang  befindet.  Ist  diese 
Erweiterung  erfolgt,  dann  ist  auch  die  Lage  dieser  Mündung  relativ  zum 
Hohlräume  des  Thränensackes  eine  andere,  eine  mehr  schräge  geworden, 
und  die  Entleerung-  vielleicht  schon  hiedurch  erschwert.  —  Der  Druck, 
den  diese  Erweiterung  nach  vorn,  unten  und  aussen  ausübt,  ist  in  man- 
chen Fällen  so  gross,  dass  die  Knochenleiste  des  Nasenfortsatzes  vom 
Oberkiefer,  welche  die  Thränensackgrube  bilden  hilft,  verdrängt  und  theil- 
weise  resorbirt  wird  ;  sie  steht  dann  deutllich  weiter  vor  und  fühlt  sich 
scharfkantig  und  zackig  an.  —  In  andern,  selteneren  Fällen  vergrössert 
sich  der  Thränensack  vorzüglich  nach  hinten  und  aussen,  so  dass  die 
Fossa  sacci  lacrym.  allmälig  verstreicht,  und  man  nach  Aufschlitzung  der 
vordem  Wandung  in  eine  zwischen  dem  Bulbus  und  der  innern  Orbital- 
wand rückwärts  reichende,  in  dieser  Richtung  bis  9'"  tiefe  Höhle  gelangt, 
welche  überdiess  wohl  auch  noch  ein  oder  das  andere  Divertikel  zeigt. 
—  Nach  der  Kuppel  hin  erweitert  sich  der  Thränensack  immer  relativ 
am  wenigsten.  Auch  auf  Kosten  der  Thränenröhrehen  wird  man  kaum 
jemals  eine  erhebliche  Erweiterung  wahrnehmen  können. 

Wir  müssen,  da  die  gegentheilige  Behauptung  aufgestellt  worden  ist, 
ausdrücklich  wiederholen,  dass  zur  Entwicklung  dieser  oft  enormen  Aus- 
dehnung des  Thränensackes  keineswegs  eine  völlige  Undurch gängigkeit 
des  Thränennasenganges,  wenigstens  keine  bleibende  erforderlich  sei.  Es 
kommen,  wenn  auch  seltener,  dennoch  ganz  bestimmt  Fälle  vor,  wo  sich 
die  Kranken  von  den  Beschwerden,  welche  die  Geschwulst  erregt,  und 
wozu  selbst  mechanische  Behinderung  des  Sehens  naher  Objecte  kommen 
kann,  von  Zeit  zu  Zeit  dadurch  befreien,  dass  sie  —  ohne  ärztliche  An- 
leitung oder  anatomische  Kenntnisse  —  die  Geschwulst  mit  dem  Finger 
zusammendrücken,    und    den    Kopf    vorwärts    neigend    einen    Strom  zäher, 


Blennorrhoe  des  Thräiiciischlauches  —  Folgezustände.       397 

eivveiss-  oder  gallertähnlicher  und  eitrig  untermischter  Flüssigkeit  durch 
die  Nase  entleeren.  Hierzu  ist  nicht  sowohl  Gewalt,  als  nielmehr  Einhal- 
tung einer  gewissen  Richtung  erforderlieh.  Wahrscheinlich  ist  in  solchen 
Fällen  nur  in  früherer  Zeit  eine  so  starke  entzündliche  Schwellung  der 
Schleimhaut  im  Thränennasengange  vorhanden,  dass  derselbe  schwer  oder 
gar  nicht  durchgängig  ist,  und  tritt  allmälig  mit  Atrophirung  der  Schleim- 
haut im  Thränensacke  auch  Anschwellung  im  Thränennasengange  ein.  Ist 
dann  der  Thränensack  einmal  auf  das  Drei-  und  Mehrfache  seines  Lu- 
mens ausgedehnt,  so  reicht  die  nun  relativ  viel  zu  geringe  Compression, 
welche  der  Muse,  orbic.  allenfalls  noch  auszuüben  vermag,  durchaus  nicht 
hin,  den  Thränensack  so  weit  als  nothwendig  zu  entleeren,  wenn  gleich  der 
Ausweg  jetzt  nicht  mehr  versperrt  ist.  Für  solche  Fälle  wählte  man  in 
früherer  Zeit  den  Namen  Atonia  oder  Hernia  sacci  lacrimalis  (Heister  1716), 
einen  Ausdruck,  der  heutzutage  wohl  nur  in  so  fern  beibehalten  werden 
könnte,  als  man  dabei  den  Verlust  der  Contractilität  und  Resistenz  der  sub- 
mueösen  Fasern  des  Thränensackes  vor  Augen  hat,  falls  nicht  etwa  auch 
wirkliche  Muskelatrophie  (durch  Druck)    nachgewiesen  werden    sollte. 

Ist  aber  das  Schleimhautgewebe  allmälig  durch  Atrophirung  ganz  ver- 
ändert, blass,  glatt  und  derb  geworden,  dann  sondert  es  nicht  mehr  eine 
schleimig-eitrige,  sondern  eine  vorwaltend  oder  ausschliesslich  synovia- 
oder  gallertähnliche  Flüssigkeit  ab.  Diese  Umwandlung  des  Thränensackes 
in  eine  Art  seröse  Blembran  und  diese  Veränderung  der  Secretion  ist  es, 
welche  dem  von  Ariel  (1712)  eingeführten  Namen  Hydrops  sacci  lacry- 
malis dieselbe  Berechtigung  gibt,  mit  welcher  man  auch  bei  der  Gallen- 
blase, den  Muttertrompeten  etc.  unter  gleichen  Verhältnissen  von  Hydrops 
spricht.  Beer  reservirte  diesen  Terminus  bloss  für  jenen  Zustand,  wo  der 
stark  ausgedehnte  Thränensack  weder  nach  dem  Auge  noch  nach  der  Nase 
hin  entleert  werden   kann. 

Zu  dem  Processe  der  Hypertrophirung  der  Schleimhaut  gesellt  sich 
in  seltenen  Fällen  die  Bildung  von  kleinen  Wärzchen  und  Polypen,  wel- 
che in  den  Thränensack  hineinwuchern,  und  denselben  sogar  beträcht- 
lich ausdehnen  können.  In  einem  von  Walther  beobachteten  Falle  hatte 
ein  solcher  Polyp  die  Grösse  einer  Haselnuss,  und  Blasius  exstirpirte 
einen  wallnussgrossen,  welcher  nächst  dem  Eingange  in  den  Thränen- 
nasengang  mit  einer  dünnen  Wurzel  aufsass ,  und  die  häutige  Wandung 
sammt  der  Cutis  bis  gegen  das  Wangenbein  hin  ausgedehnt  hatte.  In 
neuester  Zeit  hat  A.  von  Gräfe  (Archiv)  2  Fälle  von  Thränensackpolypen 
beobachtet. 

Weit    häufiger    als    die    eben    genannten    consecutiven    Zustände    der 


398  Thränenorgane. 

Thränenschlauchblennorrhöe  ist  die  katarrhalische  Vereiterung  oder  Phthise 
der  Schleimhaut.  *)  Die  chronische  katarrhalische  Entzündung  geht  hier 
wie  in  andern  Schleimhäuten  bisweilen  an  und  für  sich  und  ohne  weitere 
Veranlassung  allmälig,  öfters  aber  nach  Einwirkung  äusserer  Schädlich- 
keiten unter  den  Erscheinungen  einer  acuten  Entzündung  in  Vereiterung 
und  Verschwörung  über.  Das  erkrankte  Gewebe  wird  an  einer  oder  der 
andern  Stelle  eitrig  infiltrirt  und  schmilzt.  Dieser  Schmelzungsprocess  be- 
grenzt sich  entweder  in  dem  submucösen  Gewebe,  und  führt  dann  zur 
narbigen  Einziehung  und  Verengerung  (Stricturen) ,  oder  bei  grösserer 
Ausdehnung  zur  Verwachsung  des  Canales  (Obliteration,  Verödung),  oder 
der  Process  greift  bis  auf  die  Beinhaut,  die  Muskelschicht  und  die  Cutis 
über,  und  veranlasst  Blosslegung  des  Knochens  oder  Durchbruch  der  häu- 
tigen Wandung  des  Thränensackes  unter  den  Erscheinungen  der  soge- 
nannten Dacryocystitis,  deren  Folge  dann  gewöhnlich  durch  mehr  weniger 
lange  Zeit  eine  Thränensackßstel  ist.  Da  von  diesen  beiden  letzteren  Zu- 
ständen weiter  unten  ausführlicher  gesprochen  werden  muss,  so  genüge 
es  indessen,  ihren  Zusammenhang  mit  der  Blennorrhoe  vorläufig  angedeu- 
tet zu  haben.  —  Die  Stricturen  des  Thränennasenganges  kommen  an  ver- 
schiedenen Stellen  vor,  am  häufigsten  an  der  Einmündung  in  den  Thränen- 
sack  oder  in  den  untern  Nasengang.  Auf  die  totale  Verwachsung  des 
Thränennasenganges  und  auf  die  spontane  Verödung  des  Thränensackes 
kommen  wir  gleichfalls  später   zurück. 

Es  gibt  Individuen,  bei  denen  die  Blennorrhoe  des  Thränenschlauches 
mit  bald  geringerer  bald  stärkerer  Erweiterung  Jahre  lang  fortbesteht, 
ohne  andere  Beschwerden  mit  sich  zu  führen ,  als  die  der  Blennorrhoe  an 
und  für  sich  zukommenden,  i.  e.  ohne  zeitweilig  auftretende  ThränensacR- 
entzündung.  Viele  derselben  fühlen  sich  bei  trockenem  heiterem  Wetter 
minder  oder  gar  nicht  belästigt,  halten  sich  wohl  auch  eine  Zeit  lang  für 
geheilt,  oder  sie  helfen  sich,  so  gut  es  eben  geht,  durch  Entleerung  nach 
oben  oder  unten.  Bei  manchen  vermindert  sich  selbst  das  Thränenttäufein 
bis  zu  einem  wenig  und  selten  incommodirenden  Grade,  und  die  Blennor- 
rhoe mit  oder  ohne  sichtbare  Geschwulst  bleibt  bei  wechselnder  Besserung 
und  Verschlimmerung  Jahre  lang  auf  einer  gewissen  Stufe  stehen.  — 
Fälle,  wo  die  Ausdehnung  noch  nicht  so  weit  gediehen  ist,  dass  sich  die 
Einschnürung  durch  das  Augenlidband  bemerklich  macht,  wo  die  Blennor- 
rhoe nicht  aus  unbeseitigbaren  Hindernissen  der  Thränenableilung  (/..  B. 
Verwachsung  der  Nasenmündung  in  Folge  von  Lues)  hervorgegangen  ist. 
oder  bereits  selbst  zu  solchen  geführt  hat  (durch  katarrhalische  Yerschwä- 

°)  VeYgl.   Rokitansky  Handbuch  der  patholug     Vnalomie.     Wien,    i^ll     li.  I    S-  fi'J     55. 


Blennorrhoe  des  Thränenschlauches  —  Ätiologie.  399 

rung).  und  wo  die  (spater  zu  erörternden)  entfernteren  ätiologischen  Mo- 
mente keine  unüberwindlichen  Hemmnisse  entgegensetzen,  lassen  unter 
entsprechender  Behandlung  und  bei  zweckmässigem  Verhalten  des  Kranken 
völlige  oder  doch  temporäre  Heilung  zu.  Ich  habe  einige  Fälle  beobachtet, 
wo  die  Individuen  nach  dem  Auftreten  einer  verschärften  Entzündung  unter 
den  Erscheinungen  der  Dacryocystitis  mit  oder  ohne  Durchbruch  der  vor- 
dem Wandung  des  Thränensackes  wenigstens  für  lange  Zeit  (ob  bleibend, 
weiss  ich  nicht)  von  den  seit  Monaten  —  Jahren  bestehenden  Zufällen 
einfacher  Thränenschlauchblennorhöe  befreit  wurden.  Es  scheint  hier 
dasselbe  vorzugehen,  wie  beim  Pannus  nach  Einimpfung  blennorrhoischen 
Secretes.  Die  acute  Entzündung  bewirkt  Verflüssigung  und  Resorption 
des  erstarrten  Exsudates. 

Vorkommen  und  Ursachen.  Vor  dem  7.  Lebensjahre  scheint  die 
Blennorrhoe  des  Thränenschlauches  sehr  selten  zu  sein,  ausser  bei  here- 
ditärer Syphilis;  später  entsteht  sie  bei  beiden  Geschlechtern  in  verschie- 
denen Perioden,  beim  weiblichen  etwas  häufiger.  Ich  habe  die  schon  von 
Platner  gemachte  Bemerkung  bestätigt  gefunden,  dass  die  Mehrzahl  der 
von  Krankheilen  des  Thränenschlauches  Befallenen  eine  flache  Nasen- 
wurzel darbieten :  doch  habe  ich  auch  bei  normaler  und  gerade  entgegen- 
gesetzter Nasenbildung  oft  genug  solche  Leiden  beobachtet.  Die  Zahl  der 
linkerseits  Erkrankten  überwiegt  die  der  andern  nicht  beträchtlich.  Beider- 
seitiges Leiden  kommt  relativ  selten  vor. 

In  seltenen  Fällen  ist  die  Blennorhöe  des  Thränenschlauches  nach- 
weisbar Folge  blennorrhoischer,  durch  Infection  erzeugter  Erkrankung  der 
Bindehaut;  das  oben  geschilderte  Bindehaulleiden  ist  meistens  als  conse- 
cutiv,  mitunter  auch  als  coexistirend  zu  betrachten.  Ziemlich  oft  kommt 
Thränenschlauchblennorrhöe  bei  Individuen  vor,  welche  an  Trachoma  con- 
junctivae leiden.  Eine  auffallend  häufige  gleichzeitige  Aftection  ist  Blephara- 
denitis ,  mit  Bildung  kleiner  Abscesschen  oder  blosser  Knötchen  am  Lid- 
rande, und  zwar  meistens  unilateral,  wenn  das  Thränenschlauchleideu  uni- 
lateral ist. 

Am  häufigsten  findet  man  die  Thränenschlauchblennorhöe  (und  ihre 
Folgezustände)  bei  Individuen,  bei  denen  die  Schleimhaut  der  Nasen-  und 
Rachenhöhle  in  ähnlicher  Weise  leidet,  wovon  man  sich  leicht  überzeugen 
kann,  wenn  man  bei  jedem  Thränensackkranken  diese  Höhlen  genau  unter- 
sucht. Es  ist  eine  durchaus  irrige  Auffassung  des  Verhältnisses  beider  Affec- 
tionen  zu  einander,  wenn  man  behauptet,  die  Affection  des  Thränenschlauches 
sei  durch  das  Leiden  der  Nasenhöhle  bedingt;  „diess  mag  wohl  in  einzel- 
nen   Fällen    stattfinden,    im    Allgemeinen    aber    müssen    beide    Affeclionen 


400  Thränenorgane. 

als  neben  einander  bestehend  und  durch  eine  gemeinschaftliche  Ursache 
bedingt  und  unterhalten  betrachtet  werden.  Gleichwie  die  meisten  und 
hartnäckigsten  Fälle  von  Schwerhörigkeit  in  Folge  von  chronischem  Katarrh 
des  Mittelohres  entstehen,  welcher  nur  als  Theilerscheinung  gleicher  Affee- 
tion  der  Schleimhaut  des  Rachens,  der  Nasen-,  Keilbeins-  und  Highmors- 
höhle zu  betrachten  ist,  wird  man  auch  die  Blennorrhoe  des  Thränen- 
schlauches  und  ihre  Folgen  selten  für  sich  isolirt  antreffen.  Bei  Gehör- 
leiden ist  man  geneigt,  die  Ursache  ihrer  Hartnäckigkeit  in  der  wenig  zu- 
gänglichen Lage  der  Organe  zu  suchen;  der  Thränenschlauch  steht  örtli- 
chen Mitteln  hinreichend  ofTen,  und  dennoch  hat  man  sich  hier  nicht  weniger 
über  die  Unzulänglichkeit  der  örtlichen  Behandlung  zu  beklagen.  Der  ge- 
meinschaftliche Grund  unserer  Ohnmacht  gegenüber  diesen  Schleimhaut- 
leiden der  Nasen-  und  ihrer  Nebenhöhlen  liegt  darin,  dass  dieselben  fast 
ohne  Ausnahme  mit  allgemeinen  Gesundheitsstörungen  und  mit  unzweck- 
mässigen Lebensverhältnissen  zusammenhängen,  somit  vorzugsweise  eine 
allgemeine  pharmaccutische  und  diätetische  (leider  oft  nicht  mögliche) 
Behandlung  erfordern.  —  Man  findet  solche  Schleimhautleiden  dieser  Re- 
gionen bekanntlich  am  häufigsten  bei  Scrofulosis ;  sie  bleiben  auch  bei 
früher  Gesunden  oft  nach  acuten  Exanthemen  (Blattern,  Masern,  Scharlach) 
zurück;  sie  entwickeln  sich,  wenn  sonst  gesunde  Individuen  zur  Zeit,  wo 
sie  von  einfachem  Nasenkatarrh  befallen  sind ,  den  regelmässigen  Verlauf 
und  Ausgang  in  Genesung  durch  unzweckmässiges  Verhalten,  namentlich 
durch  wiederholte  Verkältung  dieses  Leiden  in  einen  chronischen  Zustand 
überführen;  sie  stellen  sich  allmälig  ein  beim  Bewohnen  feuchter,  beson- 
ders neugebauler  oder  frisch  ausgeweisster  Stuben.  Daher  dürfte  auch 
das  ganz  entschieden  häufigere  Vorkommen  von  Thränensackfisteln  bei  der 
ärmeren  Volkseiasse  zu  erklären  sein. 

Blennorrhoe  des  Thränenschlauches  und  ihre  Folgezustände  können 
endlich  bedingt  sein  durch  mechanische  Verstopfung  der  Nasenmiindung 
desselben,  durch  Polypen,  durch  Narben-  und  Geschwürsbildung,  nament- 
lich in  Folge  von  Syphilis  und  von  ßlatterneruption,  durch  fremde  Körper 
(z.  B.  eine  Erbse)  im  untern  Nasengange  u.  dgl.  Dasselbe  kann  gesche- 
hen, wenn  der  in  dünnen  Knochen  eingeschlossene  Thränennasengarig 
durch  Pseudoplasmen  im  mittlem  Nasengange  oder  in  der  HighmorshöbJe 
durch  Schleimanhäufung  in  dieser,  durch  Knochenauflreibung  u.  dgl  com- 
primirt  wird.  (Ich  habe  in  mehreren  Ca  da  v  er  n  mit  Verlust  der  Nasen- 
knorpel  und  Blennorhöe  des  Thränenschlauches  den  untern  Theil  desselben 
in  einen   fibroiden  Strang  verwandelt  gefunden.) 


Entzündung  des  Thränensackes  —  Symptome.  401 

IL  Entzündung  des  Thränensackes,  Dacryocystitis. 

Symptome.  Dieser  Ausdruck  wurde  für  jenen  Zustand  eingeführt, 
wo  nebst  der  Schleimhaut  und  der  Tunica  propria  des  Thränensackes  auch 
die  über  demselben  gelegene  Cutis  entzündet  ist.  Sie  charakterisirt  sich 
jederzeit  durch  eine  der  Lage  und  der  Form  des  Thränensackes  entspre- 
chende, mehr  weniger  deutlich  umschriebene,  und  mehr  weniger  empor- 
ragende rothe,  wärmere,  gegen  Druck  empfindliche  und  anfangs  pralle 
Geschwillst  Niemals  lässt  sich,  sobald  die  entzündlichen  Zufälle  einiger- 
massen  heftig  sind,  der  Thränensack  gegen  die  Nase,  meistens  auch  nicht 
gegen  das  Auge  hin  entleeren. 

Bei  acutem  Verlaufe  wird  sie  durch  starke  ödematöse  (daher  weiche 
und  unschmerzhafte,  weder  von  merklicher  Temperaturerhöhung  noch  von 
erheblicher  Röthe  begleitete)  Anschwellung  der  nächsten  Umgebung,  na- 
mentlich der  Augenlider  begleitet.  Sehr  oft  ist  auch  die  Conjuncliva  bulbi 
besonders  in  der  innern  Hälfte  gerölhet  und  stark  serös  infiltrirt  Da  ein 
solches  Odem  auch  bei  acuten  Bindehautentzündungen,  bei  Periostitis,  bei 
Hordeolum  und  bei  subcutaner  oder  in  der  Orbita  sitzender,  eitrig  schmel- 
zender Bindegewebsinfiltration  vorkommt,  und  da  auch  das  Erysipel  die- 
ser Gegend  ähnliche  Erscheinungen  erregt,  so  kann  eben  nur  eine  genaue 
Untersuchung  des  Thränensackes  vor  Verwechslung  schützen.  Denn  die 
übrigen  Zufälle,  als  :  Thränenträufeln,  Schmerz  in  der  betreffenden  Ge- 
gend (gewöhnlich  als  tiefsitzend,  bohrend  und  äusserst  heftig  bezeichnet), 
Gefühl  von  Trockenheit  der  entsprechenden  Nasenhälfte  und  Fiebererschei- 
nungen sind  nicht  constant  und  auch  nicht  ausschliesslich  dieser  Affeetion 
zukommend. 

Verlauf  und  Ausgänge.  Je  rascher  und  heftiger  sich  diese  Zu- 
fälle entwickeln,  desto  sicherer  und  früher  kommt  es  zum  Durchbruche. 
Die  Geschwulst  wird  an  einer  unterhalb  des  Aug-enlidbandes  gelegenen 
Stelle  erhabener,  dann  weich  und  schwappend  und  lässt  allmäüg  den  in 
der  Tiefe  gebildeten  Eiter  durchscheinen,  der  sich  endlich  entleert.  — 
Bei  minder  stürmischem  Auftreten  geschieht  es  bisweilen,  dass  die  Er- 
scheinungen allmälig  zurückgehen  und  entweder  völlige  Genesung  eintritt 
oder  über  kurz  oder  lang  die  Zeichen  einfacher  Blennorhöe  (wieder)  auf- 
tauchen. Auch  nach  erfolgtem  Durchbruche  kann,  selbst  wenn  vor  der 
Dacryocystitis  Blennorrhoe  bestanden  hatte,  permanente  oder  doch  tempo- 
räte  Heilung  eintreten,  obwohl  die  Hinterlassung  einer  Thränensackßstel 
der  häufigere  Ausgang  ist. 

Afll's.  Augenheilkunde,  HI.2.  26 


402  Thräiienorgane. 

In  andern  Fällen  entwickelt  sich   die  obgenannte  Thränensackenlzün- 

dung  langsam  und  ohne  heftige  Zufälle,  namentlich  ohne  beträchtliches 
Odem  der  Umgebung.  Diess  geschieht  nur  dann,  wenn  schon  längere  Zeit 
Thränenschlauchblennorrhöe  bestanden  hat  und  die  katarrhalische  Ver- 
schwörung an  der  vordem  Wandung  spontan  auftritt.  Die  Haut  über  dem 
Thränensacke  wird,  gleichviel  ob  dieser  schon  beträchtlich  ausgedehnt  war 
oder  nicht,  unterhalb  des  Augenlidbandes  dunkelroth,  livid.  wärmer  und 
schmerzhaft;  dabei  erhebt  sich  die  Geschwulst  mehr  und  wird  bald  weich, 
teigig  anzufühlen;  sofort  zeigen  sich  ein  oder  mehrere  Eilerherde  unter 
der  unterminirten  Cutis,  durchbrechen  jedoch  diese  gar  nicht,  oder  esst 
spät  und  nicht  immer  an  diesen  Stellen,  die  dann  einsinken,  sondern  bis- 
weilen weit  davon  entfernt  im  Bereiche  des  untern  Lides  oder  selbst  erst 
vor  dem  Oberkiefer-  oder  Wangenbeine,  einen  oder  mehrere  fistulöse 
Gänge  bildend,  welche  unter  dem  Muse,  orbicularis  verlaufen. 

Solche  Fälle  sind  —  meines  Erachtens  —  seit  Richter  und  Beer  als  Anchylops  (ro- 
senartige Nasenwinkelgeschwulst,  Zellgewebsentzündung  über  dem  Thränensacke)  auf- 
gefasst  und  beschrieben  worden.  Es  genügt,  die  betreffenden  Beschreibungen  z.  B. 
von  Beer  *)  genau  durchzugehen,  um  diese  Behauptung  so  zu  sagen  zwischen  den  Zei- 
len seihst  herauszulesen.  Ich  habe  noch  nie  einen  Fall  von  sogenanntem  Ankylops  ohne 
Erkrankung  des  Thränenschlauches  zu  sehen  bekommen.  Andreae  **)  und  andern  scheint 
es  ebenso  gegangen  zu  sein. 

Der  Durchbruch  des  Thränensackes  erfolgt  in  der  Regel  nach  vorn  unterhalb  des 
Augenlidbandes;  doch  sind  auch  Fälle  bekannt,  wo  die  Entleerung  durch  das  Thränen- 
bein  geschah,  und  Beer  ***)  citirt  einen  Fall  von  Vogel,  wo  sich  das  Contentum  des 
Thränensackes  durch  die  äussere  Wandung  unter  der  Cutis  und  dem  Schliessinuskel  ent- 
eerte  und  bis  unter  den  äussern  Augenwinkel  hin  vordrang. 

In  Folge  dieses  Vorganges  bleiben  gern  schwer  oder  gar  nicht  heil- 
bare Thränensackfisteln  zurück.  Da  derselbe  ohne  Zweifel  oft  das  Re- 
sultat spontaner  katarrhalischer  Verschwärung  der  Schleimhaut  ist,  und 
diese  nicht  selten  an  mehreren  isolirten  Herden  nach  einander  oder  zu- 
gleich auftritt,  so  darf  es  uns  nicht  wundern,  dass  wir  bei  den  betreifen- 
den Individuen  nach  diesem  Vorgange  theils  Stricturirung  oder  wirkliche 
Verwachsung  im  Thränennasengange,  theils  auch  Blosslegung  des  Kno- 
chens (Thränenbeins  oder  Oberkiefers)  finden.  Die  letztere  Complication 
hat  man  insgemein  als  cariöse  Thränensackfistel  (mit  Caries  complicirte) 
bezeichnet,  obgleich  Blosslcffiino-  des  Knochens  noch  nicht  Caries  ist.  Die 
Blosslegung  des  Knochens  ist  demnach  in  der  Regel  der  consecutive, 
durch   die  katarrhalische   Phthlsis  und  durch    die  corrodirende  Jauche  be- 

")  I.  c.  B.  I.  S.  331-339. 
''*)  Grundriss  der  Augenheilkunde,  Leipzig,  1846,  II.  Th.  S.  99. 
"**)  I  ehre  von  den  Augenkrankheiten,  Wienj   1792,  I     l  li    S.  131. 


Entzündung  des  Thränensackes — Ausgänge  —  Ätiologie.     403 

dingte  Zustand.  Nur  bei  Syphilis  und  bei  Tuberculosis  ist  bisweilen  wahre 
und  vom  Knochen  selbst,  nicht  vom  Thränensack  aus  entstehende  Caries 
vorhanden,  der  Thränensack  möglicherweise  consecutiv  ergriffen. 

Ein  viel  seltenerer  Ausgang  der  Thränensackentzündung  ist  der  in  gegen- 
seitige Verwachsung  seiner  Wandungen  und  theilweise  oder  gänzliche 
Verödung  des  Thränensackes.  Sie  erfolgt  auf  dieselbe  Weise,  wie  die 
Stricturirung  und  Verwachsung  des  Thränennasenganges,  in  Folge  oft 
wiederkehrender  und  ausgebreiteter  Geschwürsbildung;  daher  geht  ihr  ge- 
wöhnlich der  Bestand  einer  Thränensackfistel  oder  öfter  wiederkehrende 
Thränensackentzündung  voraus.  Bei  der  totalen  findet  man  den  Sack 
einige  Zeit  von  einer  harten  oder  doch  prallen  Masse  ausgefüllt,  allmälig 
eingezogen,  bisweilen  trichterförmig  (an  der  frühern  Fistelmündung).  Ein- 
spritzungen in  die  Thränenröhrchen  gehen  weder  in  die  Nase,  noch  be- 
wirken sie  Aufblähung  des  Thränensackes;  ist  die  oberste  Partie  noch 
frei,  so  können  sie  durch  das  andere  Thränenröhrchen  regurgitiren.  Das 
anfangs  starke  Thränenträufeln  vermindert  sich  mit  der  Abnahme  der  ent- 
zündlichen Erscheinungen  und  Consolidirung  des  Narbengewebes,  tritt  je- 
doch hei  gesteigerter  Thränenabsonderung  immer  mehr  weniger  belästi- 
gend wieder  auf.  Ob  diese  Erscheinung  von  verminderter  Absonderung 
der  Thränen  oder  aber  von  vermehrter,  gleichsam  vicarirender  Aufsau- 
gung durch  die  Bindehaut  herrühre,  wissen  wir  nicht. 

Die  Ätiologie  der  Thränensackentzündung  ist  im  Allgemeinen  die  der 
Thränenschlauchblennorrhöe.  Sie  entsteht  wahrscheinlich  niemals,  ohne 
dass  Katarrh  oder  Blennorrhoe  durch  einige  Zeit  vorausgegangen  ist  und 
ist  dann  nur  als  Steigerung  dieser  erstem ,  als  Übergreifen  der  Entzün- 
dung auf  die  Cutis  zu  betrachten;  sie  entwickelt  sich,  wie  gesagt,  entwe- 
der spontan  durch  Entstehung  kleiner  Eiterherde  in  der  blennorrhoisch- 
afficirten  Schleimhaut,  oder  als  Steigerung  durch  das  Hinzutreten  äusserer 
Schädlichkeiten,  vielleicht  auch  in  Folge  übermässiger  Ausdehnung,  wenn 
diese  rascher  erfolgt.  Auch  in  Folge  von  Entzündung  der  Schleim-  und 
Beinhaut  der  Highmorshöhle,  bedingt  durch  Zahncaries,  sah  icJi  Entzün- 
dung des  Thränensackes  entstehen. 

III.    Thränensackfistel,    Fistula   sacci  lacrimalis. 

minder  richtig  Thränenfistel  nennen  wir  jede  Öffnung,  welche  vom  Thrä- 
nensacke  nach  aussen  durch  die  Cutis  führt,  und  entweder  ein  erst  vor 
Kurzem  nach  Dacryocystitis  entstandenes  Geschwür  darstellt,  oder  an  der 
Cutis  bereits  mehr  weniger  callöse  Ränder  oder  Wucherungen  zeigt. 

26* 


404  Thränenorgane. 

Symptome.  Die  Thränensacköffnung  befindet  sieh  jederzeit  unter- 
halb des  Augenlidbandes,  bald  gerade  nach  vorn,  bald  mehr  zur  Seite 
nach  Aussen;  die  Hautöffnung  liegt  der  Thränensacköffnung  gegenüber 
oder  tiefer  unten,  bisweilen  auch  weit  nach  aussen,  gegen  das  Wangen- 
bein hin.  Es  können  übrigens  auch  mehrere  Hautöffnungen  und  Hohl- 
gänge zur  Thränensacköffnung  führen.  Dte  Hautöffnung  bildet  ein  ver- 
schieden grosses  offenes  oder  durch  Borken  verdecktes  Geschwür,  mit 
frisch-infiltrirten  oder  bereits  callösen  Rändern  umgeben;  die  sogenann- 
ten Haarfisteln  zeigen  bloss  eine  haarfeine,  nur  durch  das  Aussickern 
einer  wasserklaren  Flüssigkeit  erkennbare  Mündung. 

Wenn  die  Hautöffnung  nicht  zu  weit  vom  Thränensacke  entfernt  liegt, 
und  die  Infiltration  der  Umgebung  nicht  mehr  beträchtlich  ist,  wird  man 
immer  finden,  dass  die  in  derselben  stehende  Flüssigkeit  mit  dem  Auo-en- 
lidschlage  steigt  und  fällt.  Wird  der  Thränensack  von  oben  her  mit  dem 
Finger  comprimirt,  so  entleert  sich  sein  Contentum  durch  die  Hantöffnung. 
Träufelt  man  nach  solcher  Entleerung  in  den  Bindehautsack  eine  gefärbte 
Flüssigkeit  (Cochenilletinctur,  Safranwasser  u.  dgl.),  so  tritt  diese  nach 
mehrmals  erfolgtem  Augenlidschlage  zur  Hautöffnung  heraus;  dasselbe  ge- 
schieht mit  Injectionen  durch  die  Thränenröhrchen.  Diese  Zeichen  setzen 
die  Durchgängigkeit  der  Thränenröhrchen  voraus.  Ist  die  Hautöffnung  nicht 
zu  weit  unten  oder  seitlich,  so  kann  man  mit  einer  Sonde  nicht  nur  in 
den  Thränensack  eindringen,  sondern  auch  seine  Dimensionen ,  namentlich 
über  das  Augenlidband  hinauf  ermitteln,  und  befindet  sich  die  Hautöffnung 
nicht  zu  tief  unten,  so  gelingt  auch  die  Einführung  der  Sonde  in  den 
Thränennasengang,  falls  dieser  nicht  verwachsen  ist.  Mit  Hilfe  eines  und 
des  andern  dieser  Kennzeichen  wird  man  jederzeit  im  Stande  sein,  zu 
bestimmen,  ob  eine  in  dieser  Gegend  befindliche  Hautöffnung  in  den 
Thränensack  führe  oder  nicht.  Die  Angaben  des  Kranken  über  das  Vor- 
ausgegangene können  wohl  in  der  Regel  nützliche  Fingerzeige  geben, 
aber  auch  leicht  irre  leiten. 

Ätiologie.  Eine  Thränensackfislel  entsteht  immer  nur  in  Folge  von 
Thräncnsackentzündung.  Es  ist  weder  wahrscheinlich,  noch  durch  sichere 
Beobachtungen  constatirt,  dass  einfache  Verwundungen  der  vordem  Wand 
des  Thränensackes  ein  solches  Leiden  bedingen  können.  Auch  die  Ent- 
stehung aus  Entzündung  des  benachbarten  Bindegewebes  (Anchylops),  ja 
selbst  die  aus  Caries  am  Thränenbeine  ist  problematisch,  mindestens  viel 
seltener,  als  Einige  angenommen  haben.  Wenn  bei  Syphilitischen  oderScro- 
fulösen  neben  Caries  am  Thränen-  oder  Oberkieferbeine  eine  Thränen- 
sackfistel  vorkommt,  so  ist  noch  nicht  erwiesen,  dass  diese  die  Folge  von 


Thräiiciisarklistcl  —  Dklgnosis  —  Ätiologie.  405 

joner  sei;  die  Caries  hindert  nicht,  dass  eine  Thränensaekaffection  auch 
ans  einer  andern  Ursache,  z.  B.  allgemeiner  Schleimhauterkrankung  der 
Nasen-  und  ihrer  Nebenhöhlen  entstehe.  Die  Caries  kann  auch  seeundär, 
Folge  länger  dauernder  Knochenenthlössung  durch  das  Schleimhaut» 
geschwür  sein. 

Nicht  jede  Thräncnsackentziindung  hinterlässt,  auch  wenn  es  zum 
Aufbruche  des  Thränensackes  gekommen  ist,  desshalb  schon  eine  Fistel. 
Diess  geschieht  nur  dann,  wenn  die  Durchgängigkeit  des  Thränennasen- 
canales  nicht  bald  wieder  hergestellt  wird.  In  manchen  Fällen  von  Dacryo- 
cystitis  schliesst  sich  die  Öffnung  wohl  auch  bei  verminderter  Weg- 
samkeit  des  Thränennasenganges ,  aber  es  kommt  nach  kürzern  oder  län- 
gern Pausen  immer  wieder  zum  Aufbruche,  bis  endlich  die  Öffnung  blei- 
bend wird,  oder  der  Thränensack  verödet.  Der  eigentliche  Grund  des 
Fortbestandes  der  Thränensacköffnung  ist  demnach,  falls  nicht  etwa  über- 
diess  Caries  vorhanden  ist,  in  der  verminderten  oder  aufgehobenen  Durch- 
gängigkeit des  Thränennasenganges  zu  suchen.  Auf  welche  Weise  diese 
herbeigeführt  und  unterhalten  werden  könne,  ergibt  sich  aus  dem,  was 
wir  über  die  Ätiologie  und  den  Verlauf  der  Thränenschlauchblennorrhöe 
gesagt  haben.  Zur  Eruirung  des  Zustandes  des  Thränennaseneanales  ist 
die  Untersuchung  desselben  mit  einer  Sonde  nothwendig,  wovon  wir  weiter 
unten  sprechen  werden. 

Behandlung.  Bei  einer  grossen  Zahl  von  Thränenschlauchleiden 
lässt  sich  auf  Wiederherstellung  des  normalen  Zustandes  gar  nicht  rech- 
nen; man  muss  sich  begnügen,  schlimmeren  Zufällen  vorzubeugen,  oder 
an  die  Stelle  des  grösseren  Übels  ein  kleineres  zu  setzen.  So  z.  B. 
können  wir  viele  Fälle  von  Blennorrhoe  nicht  heilen ,  aber  wir  können 
viel  Erspriessliches  thun  und  rathen,  um  den  Übergang  in  Ektasie  und  in 
Fistelbildung  zu  verhüten ;  wir  können  manche  Thränensackfistel  nicht 
heilen,  aber  durch  Verödung  des  Thränensackes  so  weit  unschädlich  ma- 
chen, dass  dem  Kranken  bloss  das  weit  weniger  lästige  ThränenträufeJn 
übrig  bleibt. 

Bei  jedem  Thränenschlauchleiden  muss  vor  allem  auf's  Sorgfältigste 
erhoben  werden,  wodurch  dasselbe  bedingt  und  unterhalten  werde,  um 
sich  und  den  Kranken  nicht  unnöthig  zu  plagen.  Man  begnügt  sich  nur 
zu  leicht  mit  der  Erkenntniss  der  am  Thränenschlauche  vorhandenen  Ab- 
normitäten und  einer  dagegen  gerichteten  örtlichen  Behandlung;  es  muss 
aber  jedenfalls  nicht  nur  die  Nasen-  und  Rachenhöhle  genau  untersucht, 
sondern  es  muss  auch  weiterhin  so  viel  als  möglich  eruirl  werden,  ob 
und    welche  Regelwidrigkeilen    im  Allgemeinbefinden    und  in    den  diäleti- 


406  Thränenorgane. 

sehen  Verhältnissen  des  Kranken  vorkommen,  die  mit  der  örtlichen  Affec- 
tion  in  ursächlichen  Zusammenhang  gebracht  werden  können  und  müssen. 
Welche  Momente  hier  vorzüglich  in  Betracht  zu  ziehen  seien,  wurde  be- 
reits bei  der  Ätiologie  der  Thränenschlauchblennorhöe  angedeutet.  Es 
ist  einleuchtend,  dass  ohne  Beseitigung  derselben  auch  durch  die  zweck- 
mässigste  örtliche  Behandlung  an  eine  dauerhafte  Heilung  nicht  zu  den- 
ken sei.  Leider  ist  eine  der  Causalindication  entsprechende  allgemeine, 
diätetische  und  pharmaceutische  Behandlung  bei  vielen  Individuen  un- 
möglich oder  aber  fruchtlos,  wenn  auch  keine  an  und  für  sich  unbesei- 
tigbaren  örtlichen  Hindernisse,  wie  z.  B.  Strictuirung  oder  Obliteration  des 
Thränennasenganges  vorhanden  sind. 

a)  Bei  Blennorrhoe  des  Thränenschlauches  überzeuge  man  sich  zu- 
nächst, ob  sie  etwa  durch  rein  locale  Hindernisse  bedingt  ist,  z.  B.  Nasen- 
polypen, fremde  Körper,  und  entferne  dieselben.  Sind  solche  mechanische 
Hindernisse  von  der  Art,  dass  sie  nicht  beseitigt  werden  können,  wie  z.  B. 
Narben  nach  Syphilis,  so  kann  die  Blennorrhoe  nicht  anders  als  durch 
Verödung  des  Thränensackes  gehoben  werden.  Bei  syphilitischer  Schleim- 
oder  Beinhautentzündung  muss  erst  der  Erfolg  einer  entsprechenden  all- 
gemeinen Behandlung  abgewartet  werden.  Ebenso  muss  bei  Scrofulosis 
und  bei  andern,  durch  regelwidrige  diätetische  Verhältnisse  herbeigeführ- 
ten Schleimhautlciden  vor  allem  diesen  Momenten  nach  allgemeinen  thera- 
peutischen Grundsätzen  Rechnung  getragen  werden. 

Sodann  suche  man  so  viel  als  möglich  zu  eruiren ,  ob  nicht  etwa 
durch  die  Blennorrhoe  selbst  schon  unheilbare  Veränderungen  herbei- 
geführt worden  seien,  Stricturen  oder  Verwachsung  des  Thränennasen- 
ganges, starke  Ektasie  des  Thränensackes  mit  mehr  weniger  Atrophirung 
der  Schleimhaut,  Obliteration  der  Thränenröhrchen.  Die  Möglichkeit,  den 
Thränensack  nach  der  Nase  hin  zu  entleeren,  schliesst  Stricturen  des  Thrä- 
nennasenganges nicht  aus,  und  die  Unmöglichkeit  setzt  noch  keineswegs 
nothwendio-  Verwachsung;  voraus.  Ohne  Anwendung  der  Sonde  nach  künst- 
lieber  Eröffnung  des  Thränensackes  können  wir  oft  nur  mit  Wahrschein- 
lichkeit auf  die  Beschaffenheit  der  Schleimhaut  schliessen.  Wenn  die 
Blennorrhoe  schon  lange  bestanden  hat,  wenn  beim  Ausdrücken  längere 
Zeit  ein  sehr  dickes  und  eiterförmiges  oder  ein  blutstriemiges,  oder  gar 
ein  übelriechendes  Secret  sich  zeigt,  wenn  der  Thränensack  bereits  eine 
deutlich  umschriebene  bohnenförmige  oder  noch  grössere  Geschwulst  bil- 
det, wenn  seine  häutige  Wandung  und  die  nächste  Umgebung  chronisch 
infiltrirt  und  indurirt  erscheint,  besonders  aber,  wenn  bereits  Dacryo- 
cystitis   und   temporäre  Fistelbildung  ein  oder  mehrere  Male   intercurrirle : 


Behandlung  der  ThräneiischlauchbJennorrhöe.  407 

dann  kann  man  mit  mehr  weniger  Wahrscheinlichkeit  annehmen,  das§ 
nicht  mehr  einfache  Aufwulslung  der  Schleimhaut,  sondern  schon  katarrha- 
lische Verschwörung,    Stricturirung  oder   selbst   Obliteration  des  Thränen- 

nasenganges  eingetreten  sei. 

Stellt  sich  die  Wahrscheinlichkeit  überwiegend  für  einfache  Blennor- 
rhoe {mit  blosser  Schwellung  oder  llypeiirophirung)  heraus,  so  lasse  man 
bei  der  allgemeinen  diätetischen  und  (wo  solche  nölhig  erscheint)  pharma- 
ceutischen  Behandlung  das  Contentum  fleissig  ausdrücken  und  3 — 4mal 
des  Tages  unmittelbar  nach  möglichst  vollständiger  Entleerung  ein  Colhj- 
rium  icie  beim  chronischen  Bindehautkalarrh  in  den  innern  Winkel  träu- 
feln. Dabei  muss  der  Kranke  einige  Minuten  eine  solche  Lage  annehmen, 
dass  das  Collyrium  von  den  Thränenröhrchen  gut  aufgenommen  werden 
könne.  Vor  dem  Einschlafen  lasse  man  Unguentum  cinereum  an  die  Ge- 
gend des  Thränensackes  und  die  nächste  Umgebung  einreihen;  zu  länge- 
rem Gebrauche  eignet  sich  besser  eine  Salbe  aus  3 — G  Gran  weissem  Prä- 
cipitat  oder  Jodkalium  auf  1  Drachme  Fett.  In  einigen  Fällen  hat  mir  das 
Aufstreichen  von  Tinct.  jodinae  auf  die  Gegend  des  Thränensackes  treff- 
liche Dienste  geleistet,  wie  diejenigen  wissen,  welche  in  den  letztverflos- 
senen Jahren    meine  Klinik  besuchten. 

Ich  ziehe  die  Einträuflung  adstringirender  Collyrien  nach  jedesmaliger  Ausdrückung 
des  Thränensackes  den  Einspritzungen  durch  die  Thränenröhrchen  vor.  Eine  hinreichend 
feine  Spritze  ,  dass  die  Thränenröhrchen  nicht  zu  sehr  ausgedehnt  werden,  und  die  ge- 
hörige Eertigkeit,  dass  weder  Zerrung  und  Schmerzen,  vielwenigcr  denn  Zerreissungen 
bewirkt  werden,  kann  und  soll  sich  jeder  aneignen,  der  Augenheilkunde  betreihen  will; 
aber  die  Einspritzungen  müssen ,  wenn  man  damit  etwas  ausrichten  will,  mindestens  des 
Tages  einmal  gemacht  werden,  und  das  ist  bei  einer  Cur,  die  im  Allgemeinen  auf  Mo- 
nate, nicht  auf  Wochen  zu  berechnen  ist,  wohl  in  Anschlag  zu  bringen.  Da  die  Binde- 
haut ohnehin  fast  ohne  Ausnahme  die  Zeichen  chronischen  Katarrhes  darbietet,  so  wird 
ihr  Zustand  solche  Einträuflungen  kaum  je  contraindiciren.  Ich  bediene  mich  meistens 
des  Lapis  divinus  oder  des  Sullas  zinci  ;  die  Lösungen  von  Arg.  nitricum  zersetzen  sich 
vor  der  Aufsaugung  und  verursachen  leicht  die  bekannte  Verfärbung  nicht  nur  der  Cutis, 
sondern  auch  der  Bindehaut. 

Zur  Injection  nimmt  man  eine  AneVsche  Spritze,  am  besten  mit  einem  geraden  An- 
satzrohr, das  wenigstens  vorn  nicht  über  l/3  Pariser  Linie  dick  sein  darf,  daher  aus  Gold 
angefertigt  wird.  Um  dieses  Rohr  bequem  einzubringen,  ist  es  bisweilen  nöthig,  den 
Thränenpunkt  durch  vorläufige  Einführung  einer  dünnen  ungeknöpften  Sonde  etwas  aus- 
zudehnen. Die  zur  Sondirung  vorgeschlagenen  Schweinsborsten  können  meines  Erach- 
tens  vorn  nie  so  abgerundet  werden  ,  dass  sie  nicht  kratzen.  —  Man  wählt  zum  Ein- 
spritzen gewöhnlich  den  untern  Thränenpunkt,  nicht  weil  er  weiter,  sondern  in  der 
Regel  bequemer  gelegen  ist.  Will  man  das  untere  Thränenröhrchen  der  linken  Seite 
sondiren  oder  injiciren  ,  so  setze  man  den  Kranken  so,  dass  sein  Kopf  mit  der  linken 
Hand  leicht  an  eine  Wand  oder  Sessellehne  angedrückt  werden  kann ,    ziehe  das  untere 


408  Thräneiiorgane. 

Lid  mit  dem  Zeigefinger  der  linken  Hand  aus-,  mit  dem  Mittelfinger  etwas  abwärts,  und 
führe  die  Sonde  (Spritze)  etwa  eine  halbe  Linie  tief  ein,  in  einer  Position,  welche  o-e— 
stattet,  die  Richtung  der  Sonde  (Spritze)  sofort  so  zu  ändern,  dass  sie  dem  ferneren  Verlaufe 
des  Thränenröhrchens  entspricht.  Behufs  der  Einspritzung  soll  man  nicht  bis  unter  das 
Augenlidband,  sondern  nur  etwa  2 — 3'"  weit  vordringen. 

Hat  man  nach  längerer  Fortsetzung  dieser  Behandlung  (einige  Mo- 
nate) oder  gleich  anfangs  (aus  den  oberwähnten  Zufällen)  die  Überzeu- 
gung gewonnen,  dass  dieselbe  nicht  ausreicht,  und  wünscht  der  Patient 
von  den  lästigen  Zufällen  der  Blennorrhoe  befreit  zu  sein,  selbst  auf  die 
Gefahr  hin,  dass  ihm  möglicherweise  für  immer  etwas  Thränenträufeln 
zurückbleibe,  so  schreite  man  zur  Eröffnung  des  Thränensackes,  und  ver- 
suche, ob  nicht  jetzt  sich  der  normale  Zustand  des  Thränenschlauches 
wieder  herstellen  lasse,  ehe  man  zum  letzten  Mittel,  der  Verödung  schrei- 
tet. Dieser  Eingriff  wird  in  den  Augen  des  Patienten  besonders  dann  ge- 
rechtfertigt erscheinen,  wenn  bereits  Dacryocystitis  und  temporäre  Fistel- 
bildung vorhanden  waren,  oder  wenn  der  Thränensack  sehr  stark  ausge- 
dehnt ist. 

Die  Eröffnung  des  Thränensackes  ist  nicht  schwer,  sobald  derselbe  von  Schleim 
mehr  weniger  ausgedehnt  ist.  Da  man  sie  aber  doch  vorher  an  Cadavern  geübt  haben 
mnss,  besonders  um  das  Sondiren  zu  lernen ,  so  will  ich  hier  die  von  mir  schon  1841 
angegebene  und  seitdem  geübte  Methode  der  Eröffnung  und  Sondirung  beschreiben. 

Das  Messer,  dessen  ich  mich  bediene,  ist  ein  einfaches  Spitzbistourie ;  die  Sonde  ist 
nicht  geknöpft,  sondern  stellt  einen  langgestreckten  ,  an  der  Spitze  und  Basis  wohl  ab- 
gerundeten Kegel  dar;  sie  ist  ohngefähr  4"  lang,  an  der  Spitze  etwa  '/3,  an  der  Basis 
3/4"  im  Durchmesser,  am  besten  von  Silber.  Beide  Instrumente  können  immer  mit  der 
rechten  Hand  geführt  werden. 

Soll  der  linke  Thränensack  eröffnet  werden,  so  greife  man,  wenn  der  Kopf  hinten 
gestützt  ist,  mit  der  linken  Hand  über  die  Stirn  des  Kranken  so  herüber,  dass  man  <*ie 
Augenlider  mit  dem  an  die  äussere  Commissur  angelegten  Daumen  stark  aus-  und  etwas 
aufwärts  ziehen  kann,  um  das  Augenlidband  zu  spannen  und  vortreten  zu  machen.  Um 
die  Führung  des  Messers  nicht  zu  hindern,  muss  der  Vorderarm  oberhalb  der  Stirn  zu 
liegen  kommen.  Wer  diess  nicht  gut  zu  Stande  bringt,  kann  die  Hand  auch  vor 
der  Wange  so  anlegen  ,  dass  er  die  äussere  Commissur  mit  dem  Mittel-  oder  Zeige- 
finger auswärts  ziehen  kann.  (Bei  der  Operation  auf  der  rechten  Seile  legt  man  die 
Finger  der  linken  Hand  an  das  Seilenwnndbein  und  spannt  die  Lider  mit  dem  Daumen 
nach  aussen  und  oben.)  Hierauf  nimmt  man  das  Messer,  dessen  Klinge  nicht  über  1  '/' 
lang  sein  soll,  so  in  die  rechte  Hand,  dass  der  Daumen  auf  die  eine,  Zeige-  und  .Mittel- 
finger (mit  der  Pulpa)  auf  die  andere  Seite  zu  liegen  kommen,  die  Schneide  zur  Holil- 
hand  gerichtet,  und  führt  dasselbe  in  einer  Ebene,  die  ich  die  Operationsebene  zu  nen- 
nen pdege.  Um  diese  zu  bestimmen,  denke  man  sich  eine  Linie  (Sonde)  von  der  Spitze 
der  Nase  zur  äussern  Commissur  gezogen,  und  durch  den  Punkt,  der  diese  halbirt,  so 
wie  durch  den  Halbirungspuirfct  der  gespannten  Sehne  des  Orbieularmuskels  eine  Ebene 
so  gelegt,    dass    dieselbe    senkrecht  auf  jener  Linie  (Sonde)  stehen  würde.     Ist  mm  das 


Behandlung  der  Thriineiischlatiehblennorrhöe.  409 

Messer  so  mit  der  Spitze  unter  dem  Mittelpunkte  der  genannten  Sehne  angesetzt,  dass 
seine  Schneide  (verlängert  gedacht)  die  gedachte  Linie  (Sonde)  halhiren  würde,  so  stösst 
man ,  die  Hand  mit  dem  kleinen  und  Ringfinger  an  die  Wange  stützend  •),  dasselbe 
senkrecht  (d.  i.  bei  verticaler  Haltung  des  Kopfes  mit  horizontal  verlaufendem  Kücken) 
etwa  2'"  tief  ein,  hebt  nun  ,  ohne  aus  der  Operationsebene  zu  weichen,  und  ohne  tiefer 
einzudringen  oder  die  Spitze  zurückzuziehen,  das  Heft  so  weit  empor  (gegen  den  ober- 
sten Theil  der  Nasenwurzel),  bis  der  Rücken  der  Klinge  beinahe  an  der  Cutis  anliegt, 
und  stösst  es  etwa  2 — 3'"  abwärts  (mit  nach  unten  ,  ein  wenig  nach  hinten  und  aus- 
wärts gerichteter  Spitze),  so  dass  die  Hautwunde  2 — 3'"  lang  wird.  Ist  das  Messer 
richtig  geführt ,  so  bleibt  es ,  falls  es  noch  tiefer  hinabgestossen  wird,  frei  stehen,  und 
seine  Schneide  sieht  gegen  die  genannte  Halbirungslinie  hin.  Will  man  die  Hautwunde 
grösser  haben ,  so  bewirke  man  diess  durch  Senkung  des  Heftes  beim  Zurückziehen, 
nicht  durch  tieferes  Hinabstossen. 

Man  kann  sich  den  Einstichspunkt  auch  dadurch  ermitteln,  dass  man  bei  angespannter 
Orbicularmuskelsehne  mit  dem  Finger  die  Leiste  des  Oberkiefernasenfortsatzes  aufsucht, 
welcher  die  Thränensackgrube  bilden  hilft.  Jene  Sehne  und  diese  Leiste  bilden  einen 
Winkel,  in  dessen  Spitze  man  das  Messer  ansetzen,  und  dessen  Raum  man  durch  die 
Schnittlinie  halbiren  soll.  Schlemm  empfiehlt  das  Messer  nach  gehörig  angesetzter  Spitze 
mit  ab-  und  auswärts  gewendeter  Schneide  gleich  von  oben  nach  unten  so  einzusenken, 
als  wollte  man  mit  derselben  auf  den  Winkel  des  Unterkiefers  der  entgegengesetzten 
Gesichtshälfte  vordringen.  Hyrtls  Rath,  den  Thränensack  unterhalb  des  Augenlidbandes 
quer,  d.  i.  parallel  diesem  Rande  aufzuschlitzen  ,  scheint  keinen  Anklang  gefunden  zu 
haben,  die  Wunde  würde  alsdann  die  Muskelfasern  quer  vom  Augenlidbande  trennen. 
Bei  unserer  Methode  werden  die  Muskelfasern  nur  getrennt,  nicht  quer  durchschnitten. 
Pouteaus  Vorschlag,  die  Eröffnung  vom  Bindehautsacke  aus  vorzunehmen,  ist  mit  Recht 
verworfen  worden.  Das  Augenlidband  mit  zu  durchschneiden,  wie  Richter  gethan,  ist 
mindestens  überflüssig,  wenn  auch  vielleicht  nicht  direct  nachtheilig;  wir  glauben  nicht, 
dass  dabei  die  Thränenröhrchen  durchschnitten  werden  möchten,  weil  sie  sich  nie  bis 
zur  Mitte  des  Augenlidbandes  hin  erstrecken.  —  Wir  rathen,  mit  dem  Messer  nicht  gleich 
ab-  sondern  erst  rückwärts  einzustechen,  weil  man  sonst  leicht  ausserhalb  des  Thränen- 
sackes  herabgleiten  kann.  Dass  man  die  vordere  Wand  des  Schlauches  durchbohrt  habe, 
erkennt  man  bei  einiger  Übung  am  Gefühle,  so  gut  jeder  Geübte  es  fühlt,  ob  er  mit  dem 
Keratom  in  die  Augenkammer  oder  bloss  in  die  Cornea  eingedrungen  ist.  —  Die  Abda- 
chung der  häutigen  Wandung  des  Thränensackes  von  der  Oberkieferleiste  zum  Thränen- 
kainm  ist  steiler  bei  hoher,  flacher  bei  niedriger  Nasenwurzel ;  unsere  Methode  berück- 
sichtigt diese  anatomische  Verschiedenheit,  indem  sie  die  Lage  der  Operationsebene  vom 
Bau  der  Nase  abhängig  macht.  Das  Messer  wird  somit  immer  senkrecht  auf  die  Wan- 
dung des  Thränensacks  (die  tangirende  Ebene)  aufgesetzt,  und  gleitet  demnach  weder 
nach  aussen  noch  nach  innen  davon  ab,  was  bei  der  geringen  Breite  des  Thränensackes 
leicht  geschehen  könnte,  wenn  man  z.  B.  gerade  von  vorn  nach  hinten  (also  parallel  der 
Medianebene  des  Kopfes)  einstechen   würde. 

Ist  der  Thränensack  eröffnet,  so  nimmt  man  die  Sonde  so  wie  früher  das  Messer 
zwischen  die  Finger,  und  führt,  sich  auf  dieselbe  Weise  an  die  Wange  stützend,  ihr 
dickeres  Ende  in  derselben  Richtung  ein,   wie  beim  Einstiche  das  31esser.     So  wie  man 

;')  Wird  die  Hand  frei  gehalten, so  kann  man  die  Kraft,    mit  der   man  sticht,  nicht   so   gut    bemessen. 


410  Thräiiennrgane. 

fühlt,  dass  man  an  die  hintere  (harte)  Wand  des  Thränensackes  anstösst,  hebt  man  ihr 
dünneres  Ende,  die  Operationsebene  verlassend,  so  gegen  den  Orbita Irand  empor,  das« 
sie  ohngefähr  2 — 3'"  einwärts  von  der  Incisura  supraorbitalis  knapp  an  die  Cutis  anzu- 
liegen kommt.  Hat  man  bei  dieser  Bewegung  die  hintere  Wandung  nicht  mit  der  Sonde 
verlassen,  so  braucht  man  sie  jetzt  nur  in  der  gegebenen  Richtung  an  der  hintern  Wand 
ohne  allen  Druck  herabgleiten  zu  lassen,  und  ist  mit  ihr  sicher  im  Thränennascngange. 
Die  Stelle,  wo  der  Nervus  supraorbitalis  aus  der  Orbita  heraustritt,  lässt  sich  auch  in 
jenen  Fällen,  wo  derselbe  durch  einen  förmlichen  Canal  verläuft,  jederzeit  an  einer 
Einkerbung  des  Orbitalrandes  erkennen,  wenn  man  diesen  von  unten  her  betastet.  — ■ 
Bei  hohem  Nasenrücken  und  stark  vorspringendem  Augenbrauen  bogen  muss  man  die 
Sonde  ein  wenig  krümmen  und  bei  rückwärts  gewendeter  Convexität  einführen,  weil 
man  sonst  sich  leicht  an  der  bisweilen  ziemlich  stark  entwickelten  Falte  zwischen  Thrä- 
nensack  und  Thränennasengang  verfangen ,  die  Schleimhaut  und  selbst  den  Knochen 
durchstossen  konnte.  Bei  der  entgegengesetzten  Gesichtsbildung  kann  man,  wenn  man 
die  Sonde  nicht  an  der  hintern  Wandung  anliegen  und  herabgleiten  lässt,  leicht  in  den 
nach  vorn  und  aussen  gelegenen  Sinus  des  Thränensackes  kommen,  und  dieser  unan- 
genehme Zufall  ereignet  sich  noch  leichter ,  wenn  man  der  Sonde  eine  zu  starke  Ten- 
denz nach  aussen  gibt,  sie  oben  weiter  als  höchstens  3"'  von  der  genannten  Einker- 
bung einwärts  anlegt.  —  Stösst  man  auf  ein  Hinderniss,  so  wende  man  ja  keine  Ge- 
walt an,  sondern  ziehe  die  Sonde  ein  wenig  zurück  und  corrigire  ihre  Richtung ;  man 
konnte  sonst  leicht  nach  durchstossener  Wandung  des  Thränenschlauches  zwischen  ihm 
und  dem  Knochen  in  die  Nasenhöhle  dringen.  Geschähe  eine  solche  Forcirung  bei  zu 
weit  vorwärts  gerichtetem  oder  gar  nicht  im  Thränensacke  befindlichen  untern  Ende 
der  Sonde,  so  könnte  man  —  wie  es  wirklich  geschehen  ist  —  vor  dem  Thränensacke 
und  selbst  vor  dem  Oberkieferknochen  hinab  dringen,  gleichwie  man  bei  zu  starker  Ab- 
lenkung nach  aussen  in  die  Augenhöhle  gelangen  würde. 

Die  Sonde  genau  und  sicher  in  der  Richtung  des  Thränenschlauches  einführen  zu 
können,  ist  von  grösster  Wichtigkeit.  Denn  käme  man  bei  einem  Kranken  nicht  bis  in 
die  Nase,  ohne  Weichtheile  zerrissen  zu  haben,  so  kann  man  rur  dann  auf  Verwach- 
sung schliessen,  wenn  man  sicher  ist,  dass  man  die  Sonde  nicht  nur  iniThränensehlauche, 
sondern  auch  in  der  gehörigen  Richtung  bewegt.  Diese  Sicherheit  lässt  sich  nur  durch 
vielfache  und  wiederholte  Übung  gewinnen.  Mir  sind  einige  Fälle  vorgekommen  ,  wo 
man  Undurchgängigkeit  des  Thränennasenganges  angenommen  hatte ,  und  dennoch  die 
Sonde  ohne  Zerreissung  von  Weichtheilen  durchgeführt  werden  konnte. 

Statt  der  von  Stahl  (1702)  zuerst  vorgeschlagenen  und  von  Louis  Petit  geübten 
Eröffnung  des  Thränensackes  empfahl  Anel  (1712)  das  obere  Thränenröhrchen  zur  Ein- 
führung einer  dünnen  Sonde  in  den  Thränenschlauch  zu  benützen,  und  La  Forest  (1730) 
führte  eine  ohngefähr  S-förmige  gekrümmte  Sonde  durch  die  Nase  ein  ,  welches  Ver* 
Fahren  später  von  Dubais  und  von  Gensoul  (in  Lyon)  nach  zweckmässiger  Verbesserung 
der  Sonde  mehr  in  Aufnahme  gebracht  wurde.  —  AneTs  Methode  lässt  sich  nicht  ohne 
bedeutende,  und  daher  leicht  nachtheilige  Zerrung  der  Thränenröhrchen,  wenn  auch  ohne 
Verletzung  der  häutigen  Wandung  des  Thränenschlauches,  ausführen  ;  diese  Anwendung 
der  Sonde  gibt  uns  nie  einen  sichern  Aufschluss  über  die  Beschaffenheit  des  Thränen- 
nasencanales  und  kann  auch  dem  therapeutischen  Zwecke  (der  mechanischen  Dilatation) 
niemals  entsprechen,  da  eine  viel  zu  dünne  Sonde  genommen  werden  muss.  —  Die 
Einfuhrung    der   Gensouf sehen   Sonden    und    Katheter    kann    an  Cadavern    leicht  so  ein- 


Behandlung  der  Thränenschlauehbk'iinorrhöc.  411 

geübt  werden,  dass  man  darin  nicht  nur  Fertigkeit,  sondern  auch  eine  gewisse  Sicher- 
heit erlangt.  Wer  indess  die  Nasenmündimg  des  Thränenschlauclies  aus  vielfacher  An- 
schauung kennen  gelernt  hat,  wird  es  begreiflich  finden,  dass  diese  Methode  so  un- 
schuldig nicht  ist,  als  manche  glauben  machen  wollen.  Diese  Mündung  ist  oft  so  klein 
und  dazu  noch  durch  ein  papienlünnes  Schleimbautfältchen  gedeckt,  dass  man,  selbst 
wenn  sie  dem  Auge  zugänglich  wäre,  beim  Eindringen  mit  den  genannten  Instrumenten 
noch  oft  genug  gewaltsame  Zerrung,  wo  nicht  Zerreissung  bewirken  würde.  Wenn  wir 
nurh  dieser  Schleimhautfalte  nicht  die  Bedeutung  eines  Luftventils  zuschreiben  können,  so 
halten  wir  doch  schon  die  gewaltsame  Ausdehnung,  geschweige  denn  Einrisse  dersel- 
ben für  nichts  weniger  als  gleichgiltig.  Überdiess  kann  eine  stark  nach  der  betreffen- 
den Seite  herüberstehende  Nasenscheidewand,  abnorme  Gestalt  der  Nasenmuskel,  vor 
allem  aber  Schwellung  und  Verdickung  der  Schneidcr'schen  Haut  bedeutende,  selbst 
unüberwindliche  Hindernisse  entgegensetzen.  Und  ist  man  glücklich  eingedrungen,  so 
fehlt  ein  Hauptvortheil  der  durch  die  künstliche  Öffnung  von  oben  eingeführten  Sonde, 
man  kann  nicht  wie  dort  das  Gefühl  des  Widerstandes  zur  Beurlheilung  der  Beschaffen- 
heit der  Schleimhaut  benützen.  Die  von  oben  frei  eingeleitete  Sonde  versetzt  so  zu 
sagen  unsern  Tastsinn  mitten  in  den  Thränenschlauch. 

Desshalb  hat  die  Sondirung  durch  eine  von  selbst  erfolgte  oder  absichtlich  gemachte 
Öffnung  an  der  vordem  Wand  des  Thränensackes  unläugbare  Vortheile.  Hasner,  1.  c.  S. 
61,  welcher  der  Ansicht  ist,  „dass  man  die  Zerreissung  der  Klappe  an  der  Nasenmün- 
dung bei  vorsichtiger  Führung  des  Gensoul' sehen  Cylinders  stets  vermeiden  könne,"  be- 
hauptet, dass  man  durch  die  Führung  der  Sonde  von  Oben  nach  Abwärts  dieses  Organ 
selbst  bei  der  vorsichtigen  Führung  unter  20  in  19  Fällen  perforiren  oder  spalten  müsse. 
Die  Klappe  sei  nämlich  schräg  über  den  Thränenschlauch  gespannt,  und  jedes  Instrument, 
welches  in  dem  letztern  abwärts  geführt  werde,  müsse  dieselbe  vor  sich  her  drängen, 
spannen  und  zerreissen."  Es  ist  nicht  schwer,  an  Cadavern  den  Beweis  zu  führen,  dass 
diese  Angabe  ganz  irrig  ist.  Legt  man  den  obern  Theil  der  Sonde  2  —  3'"  einwärts 
von*  der  Incisura  supraorbitalis  an  den  Augenhöhlenrand,  so  gleitet  ihr  unteres  Ende 
immer  an  der  äussern  Wandung  des  untern  Nasenganges  herab,  und  man  wird  bei  die- 
sem Vorgange  die  Klappe  kaum  in  1  von  20  Fällen  verletzen.  —  Wenn  Hasner  S.  90 
sagt,  „er  sondire  nur  m  solchen  Fällen,  wo  die  Dacryocystitis  eine  Complication  ande- 
rer Krankheiten  des  Thränenschlauclies  sei,  z.  B.  bei  Verwachsung  des  Maxillarstückes," 
so  ist  wohl  nur  die  Einführung  der  Sonde  von  oben  gemeint,  die  doch  verworfen  wird  ; 
wir  begreifen  übrigens  nicht,  wie  man  z.  B.  Verwachsung  des  Maxillarstückes  schon  vor 
der  Anwendung  der  Sonde  diagnosticiren  könne,  um  sich  erst  durch  eine  solche  Com- 
plication zur  Anwendung  der   Sonde  bestimmen  zu  lassen. 

.  Unmittelbar  nach  der  Eröffnung  des  Thränensackes  schreite  man  noch 
nicht  zur  Untersuchung  mit  der  Sonde,  sondern  bloss  zu  Einspritzungen 
lauen  Wassers,  um  das  in  demselben  angesammelte  Secret  völlig  zu  be- 
seitigen. Das  Engerwerden  und  Verwachsen  der  Öffnung  verhindere  man 
durch  Einlegen  von  Charpie,  welche  jedoch  gerade  nur  so  tief  eingescho- 
ben werden  darf,  als  der  Zweck  erheischt.  Ist  die  Absonderung  der 
Schleimhaut  des  Thränensackes  sehr  reichlich,  so  dass  sie  denselben  in 
24   Stunden    wieder    beträchtlich    ausdehnen    oder    gar   den    Charpiepfropf 


412  Thränenorgane. 

herausdrangen  würde,  so  muss  die  Einspritzung  täglich  2inal  vorgenom- 
men werden.  Nach  einigen  Tagen  gehe  man  zu  adstrtnjßr enden,  allmälig 
stärkeren  Einspritzungen  über  (mit  Zincum  aceticum  oder  sulfuricum, 
Lapis  divinus,  Argentum  nitricum).  —  Ist  die  Secretion  minder  reichlich 
und  minder  dick  geworden,  so  lege  man  bei  abwärts  gerichtetem  Spritzen- 
schnabel den  Finger  so  an,  dass  nichts  neben  der  Spritze  oder  durch  die 
Thränenpunkte  zurück  kann,  um  die  Flüssigkeit  wo  möglich  in  die  Nase 
zu  treiben,  falls  dieselbe  nicht  schon  auch  ohne  diese  Beihilfe  dahin  ab- 
geflossen sein  sollte,  was  in  vielen  Fällen  gleich  bei  den  ersten  Ein- 
spritzungen geschieht.  Erst  jetzt  ist  es  erlaubt,  den  Thränenschlauch  mit 
der  Sonde  zu  untersuchen.  In  Fällen,  wo  die  Injection  gleich  anfangs 
oder  doch  in  kurzer  Zeit  frei  in  die  Nase  abfloss,  und  wo  man  nicht 
Ursache  hat,  Stricturen  zu  vermuthen,  ist  es  gar  nicht  nothwendig  zu 
sondiren.  Wenn  dann  der  Thränensack  zum  normalen  Volumen  zurück- 
gekehrt ist  und  seine  Wandung  nicht  mehr  infillrirt  erscheint,  wenn  sein 
Secret  nicht  mehr  trüb ,  sondern  eiweissähnlich  ist,  und  auch  der  Zustand 
der  Schleimhaut  der  Nase  keine  weitem  Befürchtungen  erregt,  so  lege 
man  keine  Charpie  mehr  in  die  Öffnung,  sondern  bedecke  diese  bloss 
mit  englischem  Pflaster,  und  lasse  sie  sich  allmälig  schliessen.  Sollten 
die  Ränder  callös  geworden  sein,  so  werden  sie  durch  Scarification  oder 
einen  dünnen  Cylinder  von  Lapis  infernalis  wund  gemacht.  In  sehr  kleine 
Öffnungen  schiebe  man  ein  Splitterchen  Lapis  oder  einen  in  Salpetersäure 
getauchten  Silberdraht. 

Zu  den  Einspritzungen  bediene  ich  mich  einer  durchaus  gläsernen  Spritze,  welche 
ohngefähr  einen  Esslöffel  Flüssigkeit  fasst,  3/4"  dick  und  4 — 5"  lang  ist,  und  in  ein  etwa 
Rabenfeder-dickes,  leicht  gebogenes,  gut  abgerundetes  Rohr  endet.  Die  Charpiewieken 
schiebe  ich,  wenigstens  später,  nicht  mit  der  Sonde  ein,  um  jede  Verletzung  und  Zer- 
rung fern  zu  halten.  Ich  bilde  etwa  7 — 8  "  lange  und  1"'  dicke,  fest  zusammengedrehte 
Cylinder  aus  Charpie,  welche  (durch  das  Umschlagen)  vorn  gut  abgerundet  sind,  und 
mache  sie  durch  wiederholtes  Eintauchen  der  vordem  Hälfte  in  eine  Gummilösung  hart 
und  glatt,  so  dass  sich  diese  steife  Hälfte  bequem  einlegen,  die  biegsame  mit  engli- 
schem Pflaster  an  die  Haut  wohl  befestigen  lässt. 

Zeigt  sich  die  Untersuchung  mit  der  Sonde  nothwendig,  so  lasse 
man  den  Kranken  so  sitzen,  dass  man  seinen  Kopf  mit  der  linken  Hand 
fixiren  kann,  und  sorge  dafür,  dass  er  nicht  während  des  Sondirens, 
gegen  welches  Manche  ausserordentlich  empfindlich  sind  (bis  zum  Ohn- 
mächtigwerden),  in  die  Hand  greife.  Auch  in  krankhaft  erweiterten 
Tliränensäcken  liegt  der  Eingang  in  den  Nasencanal  zu  unters t  nach  hin- 
ten und  innen,  daher  man  sich  immer  an  die  Rinne  des  Thränenbeines  zu 
halten    hat.     Stosst    man    auf  Hindernisse,    so    ziehe    man    die  Sonde    ein 


Behandlung  der  Thränensaekentzündung.  413 

wenig-  zurück,  und  corrigire  nötigenfalls  ihre  Richtung.  Bei  Verengerung 
durch  einfache  Hypertrophirung  lässt  sich  die  Sonde  hinabschieben,  aber 
unter  dem  Gefühle,  als  würde  sie  etwa  zwischen  zwei  Fingern  gehalten. 
Stricturen  fühlen  sich  hart  an.  Polypöse  Excrescenzen  am  Eingange  in 
den  Nasencanal  lassen  sich  umgehen.  Entblösste  oder  cariöse  Knochen- 
partien sind  rauh,  letztere  zugleich  mürb;  bei  Caries  pflegt  die  silberne 
Sonde  schwarz  zu  werden.  Ob  eine  Verwachsung  häutig  oder  cylindrisch 
sei,  dürfte  sich  durch  die  Sonde  kaum  ermitteln  lassen,  hat  auch,  da  beide 
unheilbar  sind,  nichts  zu  bedeuten. 

Schwankt  man  zwischen  Stricturirung  und  einfacher  Hypertrophie 
so  führe  man  sogleich,  oder  bei  grosser  Empfindlichkeit  erst  nach  einigen 
Tagen  eine  Darmsaite  ein,  Violin  E  oder  A.  Ein  gradgestrecktes  Stück,, 
gegen  l'/a"  lang,  wird  an  dem  einen  Ende  gut  abgerundet,  an  dem 
andern  hakenförmig  umgeknickt,  so  dass  4 — W"  zur  Befestigung  ausser- 
halb des  Thränensackes  abgebogen  erscheinen.  Dickere  Saiten  müssen 
an  der  Einknickungsstelle  zugleich  mit  einem  Messer  etwas  eingekerbt 
werden ,  damit  sie  die  Knickung  behalten ,  weil  sie  sonst  beim  Erweichen 
mit  in  den  Thränenschlauch  hineingezogen  werden.  Die  Saite  kann  24 
Stunden  liegen  bleiben;  neben  ihr  muss  noch  eine  Charpiewieke  einge- 
legt werden,  damit  sich  die  HautölFnung  nicht  vor  der  Zeit  verengere. 
Vor  ihrer  Entfernung  lasse  man  laues  Wasser  in  die  Nase  ziehen,  um  den 
an  ihrem  untersten  Ende  etwa  angetrockneten  Nasenschleim  zu  erwei- 
chen, damit  er  nicht  beim  Zurückziehen  der  Saite  die  Schleimhaut  aufritze. 
Sind  Stricturen  vorhanden,  so  erscheint  die  Saite  an  den  betreffenden  Stel- 
len minder  aufgequollen  oder  eingeschnürt.  An  stärkeren  Saiten  (A  und  D) 
treten  solche  Einschnürungen  deutlicher  hervor. 

Nur  bei  einfacher  Hypertrophie  kann  man  auf  Wiederherstellung 
des  normalen  Zustandes  rechnen.  Blosslegung  des  Knochens  im  Thrä- 
nennasengange  ist  der  Stricturirung  gleich  zu  achten,  im  Thränensacke 
kann  sie  ohne  erheblichen  Nachtheil  heilen ,  obwohl  sie  die  Prognosis  im 
Allgemeinen  trübt.  Die  Sorge  für  Entfernung  des  Secretes  durch  die 
Hautöffnung  ist  (nebst  der  etwa  nöthigen  allgemeinen  Behandlung)  das 
Beste  und  Einzige,  was  hier  zunächst  geschehen  kann,  und  schon  dieser 
Umstand  zeigt  die  Überlegenheit  dieser  Methode  (der  Eröffnung  des  Thrä- 
nensackes) über  alle  andern.  Bei  Verwachsungen,  bei  deutlichen  Strictu- 
ren, bei  Geschwüren  im  Thränennasencanale  verzichte  man  auf  Wieder- 
herstellung der  Durchsichtigkeit  desselben,  wenigstens  auf  bleibende,  und 
schlage  dem  Krankdn  die  Verödung  des  Thränensackes  vor. 

Ist  Aussicht  vorhanden,    die  Schleimhaut  (wenigstens  im  Nasengange) 


414  Thräiienorgane. 

zum  normalen  Zustande  zurückzuführen,  und  ist  diess  bei  gehöriger  all- 
gemeiner diätetischer  und  pharmaceutischer  Behandlung  (wo  solche  nöthig) 
nicht  schon  unter  einfachen  Einspritzungen  gelungen,  so  wende  man  ge- 
gen die  Hypertrophie  der  Schleimhaut  noch  mechanische  Qdilatirende,  com- 
primirende)  Mittel  an.  —  Das  zweckmässigste  unter  den  zahlreichen  hiezu 
vorgeschlagenen  Mitteln  dürften  Bleidrähte  sein,  wenn  man  von  dünneren 
Cla!"  Durchmesser)  allmälig  zu  dickeren  (1'")  übergeht.  Man  nimmt  ein 
Stück  von  beinahe  t%"  Länge,  rundet  es  an  dem  einen  Ende  glatt  ab, 
und  biegt  es  an  dem  andern  hakenförmig  um,  so  dass  der  kürzere  Schen- 
kel etwa  */«,"  lang  wird.  Das  Ende  dieses  Schenkels  muss  bis  über  den 
Orbitalrand  hinabreichen,  damit  es  an  diesem  eine  feste  Stütze  finde.  Die- 
ser Draht  kann  mehrere  Tage  liegen  bleiben.  Fände  man  sein  unteres 
Ende  mit  vertrockneten  S.chleimkrusten  belegt,  so  müsste  es  etwas  verkürzt 
werden.  Der  Übergang  zu  stärkeren  Drähten  kann  in  Zeit  von  8 — 14 
Tagen  gemacht  werden ,  bei  geringeren  Dickenunterschieden  auch  früher. 
Der  stärkste  Draht  muss  in  der  Regel  mehrere  Monate  lang  getragen,  je- 
doch von  8  zu  8  Tagen  immer  untersucht,  und  falls  er  rauh  (erodirt  oder 
incrustirt)  befunden  würde,  mit  einem  frischen  vertauscht  werden.  Wenn 
dann  durch  die  Hautöffnung  kein  schleimig-eitriges  Secret  mehr  zum  Vor- 
schein kommt,  lasse  man,  bevor  man  zur  Verschliessung  der  Hautöffnung 
schreitet,  erst  noch  einige  Zeit  wieder  einen  dünnem  Stift  tragen,  um  zu 
sehen ,  ob  dann  auch  der  dickere  wieder  ohne  Hinderniss  durch  den  Na- 
sencanal  geführt  werden  kann.  Immer  wird  man  aber  jetzt  die  Hautöffnung 
zu  eng  finden,  daher  durch  ein  Stückchen  Pressschwamm  erweitern  müs- 
sen. Noch  besser  ist  es,  einige  Tage  vor  Verschliessung  der  Öffnung  gar 
nichts  in  den  Thränennasengang  einzulegen,  dabei  aber  die  Hautöffnung  mit 
englischem  Pflaster  und  Collodium  luftdicht  verschlossen  zu  halten.  Zeigt 
sich  dann  der  Thränennasengang  nicht  nur  offen ,  sondern  auch  noch  hin- 
reichend weit,  so  schreite  man  zur  bleibenden  Verschliessung  der  künst- 
lichen Ölfnung.  —  Der  andern  Mittel  werden  wir  weiter  unten  (beim  ge- 
schichtlichen Überblicke)   gedenken. 

Ist  endlich  auf  bleibende  Wiederherstellung  der  Durchgängigkeit  des 
Thränennasenc anales  nicht  zu  rechnen,  so  schlage  man  dem  Kranken  die 
Verödung  des  Thränensackes  vor.  Behufs  dieser  muss  zunächst  für  eine 
grössere  Öffnung  gesorgt  werden,  durch  Einlegen  von  Pressschwamm  oder 
durch  Schlitzung,  selbst  bis  über  das  innere  Augenlidband  hinauf.  Will 
man  sich  zur  Verödung  des  Lapis  bedienen,  so  wird  eine  wiederholte 
nachdrückliche  Touchirung  der  ganzen  Schleimhautfläche  nölhig  und  auch 
da  ist  der  Erfolg  noch    nicht  ganz  sicher.     Veilässlicher    wirken    Mineral- 


Behandlung  der  Thränensaekfistel.  415 

säuren,  deren  Einführung  (mit  einem  Asbestpinsel  oder  Tropfgläschen) 
jedoch  grosse  Vorsicht  erheischt.  Das  gebräuchlichste  Mittel  ist  das  Glüh- 
eisen, das  beste  der  Middeldorpf1  sehe  galvanokaustische  Apparat,  welcher 
in  neuester  Zeit  von  Gräfe  zu  diesem  Zwecke  angewendet  wurde. 

6)  Bei  der  Thränensackentzündung  kann  man  auf  Zertheilung  nur 
dann  hoffen,  wenn  sie  noch  nicht  bis  zur  Eiterbildung  vorgeschritten  ist. 
Örtliche  Blutentziehungen  und  kalte  Umschläge  habe  ich  zu  diesem  Zwecke 
fruchtlos  angewandt ;  hingegen  sah  ich  mehrmals  beim  Gebrauche  trockener 
warmer  Tücher  die  Erscheinungen  in  wenig  Tagen  zurückgehen  und  den 
frühern  Zustand  wiederkehren.  Ob  das  Einziehen  von  warmem  Wasser 
oder  von  Wasserdämpfen  in  die  Nase  von  Nutzen  sei,  blieb  mir  unent- 
schieden. Andrea  *)  empfiehlt  bei  minder  stürmischem  Auftreten  Fomen- 
tationen  mit  in  Bleiessig  getränkten  Bäuschchen.  —  Ist  die  Entzündung  so 
weit  vorgeschritten,  dass  der  in  der  Tiefe  gebildete  Eiter  durchzuscheinen 
beginnt,  so  ist  es  das  beste,  den  Thränensack  an  der  erhabensten  Stelle, 
doch  nicht  zu  tief  unten,  mit  einer  Lanzette  zu  eröffnen.  Man  erspart 
dem  Kranken  die  an  den  spontanen  Durchbruch  der  Haut  gebundenen 
Schmerzen  und  man  erhält  statt  einer  mehr  weniger  grossen,  unregel- 
mässigen  und  wohl  auch  noch  unbequem  gelegenen  Öffnung  eine  lineare, 
3—  4'"  lange  Wunde,  welche  man  nachträglich,  falls  es  nöthig  werden 
sollte,  zu  Einspritzungen  und  zum  Sondiren  benützen  kann.  —  Hat  man  ge- 
öffnet, oder  war  bereits  spontaner  Durchbruch  erfolgt ,  so  entleere  man 
den  Thränensack  durch  allmälig  verstärkten  Druck  von  oben  und  von  der 
Seite  her  und  durch  Einspritzen  lauen  Wassers,  und  bedecke  die  Öffnung 
mit  etwas  Charpie  und  einem  Heftpflaster.  Sind  die  Wund-  oder  Ge- 
schwürsränder noch  stark  infiltrirt,  roth  und  empfindlich,  so  lasse  man 
noch  durch  einige  Tage  Cataplasmata  einollientia  anwenden  oder  doch  das 
Auge  trocken  verbunden  tragen.  —  Nach  einigen  Tagen  wird  sich  dann 
nach  der  Beschaffenheit  des  Thränensackinhaltes,  nach  dem  freien  oder 
gehinderten  Abflüsse  der  Injectionen  nach  der  Nase,  vorzüglich  aber  aus 
genauer  Würdigung  der  anatomischen  und  ätiologischen  Momente  bestim- 
men lassen,  ob  man  die  Wunde  sich  schliessen  lassen  oder  aber  durch  Ein- 
legen von  Charpiewieken  offen  erhalten  soll,  um  weiterhin  ganz  so  zu  ver- 
fahren, wie  bei  Blennorrhoe  nach  geschehener  Eröffnung  des  Thränensackes. 

c)  Bei  der  Thränensaekfistel  entsteht  zunächst  die  Frage,  wodurch 
dieselbe  erhalten  werde,  ob  bloss  durch  verminderte  oder  aufgehobene 
Durchgängigkeit  des  Thränennasencanales,  oder  zugleich  durch  Blosslegung 

*)  Grundriss.der  Augenheilkunde,  Leipzig,  1846,  II.  B.  S,  106. 


416  Thränenorgane. 

oder  wirkliche  Caries  des  Knochens.  Zur  Beantwortung  dieser  Frage  wird 
die  Anwendung  der  Sonde  nöthig,  auch  dann,  wenn  ein  manifestes  Hin- 
derniss  der  Durchgängigkeit,  z.  B.  ein  Nasenpolyp  vorliegt.  Wäre  dem- 
nach die  Hautöffhung  nicht  bequem  gelegen,  so  müsste  entweder  dieselbe 
entsprechend  erweitert  werden  (am  besten  durch  Schützling  gegen  das 
Augenlidband  hin),  oder  man  müsste  einen  frischen  Einstich  so  wie  bei 
Blennorrhoe  machen  (bei  zu  entfernt  gelegenen  FistelöfFnungen).  Weiter- 
hin kommt  in  Bezug  auf  Diagnosis,  Prognosis  und  Therapie  derselbe  Vor- 
gang, wie  wir  ihn  bei  der  Blennorrhoe  nach  Eröffnung  des  Thränensackes 
angegeben  haben,  in  Anwendung. 

d)  Die  Complication  mit  Caries  erfordert  rücksichtlich  der  örtlichen 
Behandlung  vorzüglich  Sorge  für  möglichst  freien  Abfhiss  des  Secretes 
und  fleissige  Beseitigung  desselben  durch  Einspritzungen  mit  lauem  Was- 
ser. Die  allgemeine,  diätetische  und  pharmaceutische  Behandlung  des  zu 
Grunde  liegenden  Allgemcinleidens  ist  wenigstens  nicht  minder  wichtig. 

C,     Geschichtliche  Bemerkungen. 

Bis  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhundertes  gebrauchte  man  für  die  verschiedenen  krank- 
haften Zustande  des  Thränenschlauches  im  Allgemeinen  den  Namen  Thränenfistel ,  die 
man  in  mehrere  Grade  eintheilte.  Als  1.  Grad  bezeichnete  man  ohngefähr  das,  was  wir 
als  Blennorhöe  besprochen  haben;  der  2.  Grad  kam  mit  dem  iiberein,  was  wir  als  Thra- 
nensackentzündung  geschildert  haben.  Diese  beiden  Grade  (mit  Einschluss  der  Hernia 
nach  Heister,  und  des  Hydrops  nach  Ancl)  wurden  auch  unechte  oder  verborgene  Fistel 
genannt.  Den  3.  Grad  bildete  die  wirkliche  Fistel  als  echte  und  einfache,  und  den  4. 
Grad  (nach  Einigen)  die  mit  Caries  verbundene  ,  als  coniplicirte  Fistel.  —  Diese  allge- 
meine Benennung  scheint  sich  theils  wegen  mangelhafter  Kenntniss  der  Anatomie  — 
obwohl  schon  Vesale  und  Fallopius  den  Thränenschlauch  genau  kennen  gelehrt  hatten  — 
theils  aber  und  vorzüglich  dcsshalb  so  lange  erhalten  zu  haben,  weil  man  das  aus  den 
Thriinenpunkten  oder  der  Fistel  entleerte  Secret   für  das  Product   eines  im  Thräoensacke 

sitzenden  Geschwüres  hielt.     Erst  die  Arbeiten  von  Ad.  Schmidt  und  J.  G.  Beer  zu  An- 

f 

fang  des  jetzigen  Jahrhundertes    brachten    mehr   Einsicht    in  die  Nosologie  des  Thranen- 
schlauches,  obgleich  auch  sie  noch  manches  zu  wünschen  übrig  Hessen. 

Rücksichtlich  der  Therapie  sah  man,  wie  Himhj  bemerkt,  diese  Krankheiten  na- 
mentlich im  vorigen  Jahrhunderte  noch  zu  viel  von  einem  mechanischen  Gesichtspunkte 
an,  indem  man  nur  Eröffnung  oder  Erweiterung  des  Thränennascncanales  durch  mecha- 
nische Mittel  zu  erreichen  suchte;  in  spaterer  Zeit  verfielen  Manche  in  den  entgegenge- 
setzten Fehler,  sahen  bloss  auf  kranke  Erregung,  gar  nicht  auf  mechanische  Verenge- 
rung; in  der  neuesten  Zeit  ist  man  wieder  zur  bloss  mechanischen  Auflassung  einseitig 
zurückgekehrt.  „Die  allgemeine  Behandlung  der  Grundkrankheiten  ist  sehr  häufig  die 
Hauptsache;  doch  können  Wir  durch  örtliche  Mittel  allerdings  bedeutend  mitwirken,  und 
in  manchen  Fällen  durch  sie  allein  helfen."  *) 

*)  Himly,      die  Krankkeiten  und  Misaliildmitj  des  menschlichen  Auges,  Ppus  poslhamiun.  Berlin  1S43.  I.  Tli.  S    323. 


Geschichtliche  Bemerk tuigcn  über  Tliriinriisackkrankheitcn.  417 

Das  älteste  Verfahren,  das  man  der  Thränensackfistcl  (den  Thräncnschlauchleiden 
überhaupt)  entgegensetzte,  ist  die  von  Cehus  beschriebene  Ausrottung  oder  Verödung 
des  Thräueiisackes  mit  dem  Messer  oder  dem  Glüheisen. 

Sodann  (zur  Zeit  des  Archigenes ,  Paul  von  Aegina,  Rkaz-es)  verfiel  man  auf  den 
Versuch,  mittelst  Durchbohrung  des  Thränonbciiies  einen  neuen  Weg  für  die  Thränen 
zu  gewinnen.  Doch  unterschied  Rhazes  bereits  zwischen  verschiedenen  Zustünden,  und 
empfahl  nebst  der  Cauterisation  und  der  Thränenbeindurchbohrung  für  besondere  Fälle 
die  Compression  des  ausgedehnten  Thränensackes,  für  andere  dagegen  Injectionen  in 
denselben.  —  Neben  diesem  Verfahren,  welches  bis  zu  Anfang  des  vorigen  Jahrhunder- 
tes  am  meisten  geübt  wurde,  wandte  man  bei  Ausdehnung  des  Thränensackes  continuir- 
liche  Compression  an  (Verduc  1685),  wozu  von  Stahl,  Sharp,  Hennemann  u.  A.  eigene 
Instrumente  erfunden  wurden. 

Die  3.  Hauptmethode  hat  die  Wiederherstellung  der  Durchgüngigkeit  des 
Thränenschlauches  zum  Ziele;  wir  finden  sie  bereits  in  Avicenna's  Verfahren,  Ein- 
ziehen eines  Fadens  in  den  Canal  vertreten,  doch  erst  seitAnel  (1712)  weiter  ausgebildet. 
Durch  beinahe  anderthalb  Jahrhunderte  ging  das  Streben  der  tüchtigsten  Chirurgen  dahin, 
zu  diesem  Zwecke  geeignete  Mittel  und  Methoden  aufzufinden.  —  Anel  führte  täglich 
eine  silberne  oder  goldene  Sonde  durch  das  obere  Thränenröhrchen  bis  in  die  Nase  hinab, 
und  machte  durch  das  untere  Einspritzungen  mit  der  nach  ihm  benannten  Spritze.  Mä- 
jean  führte  auf  demselben  Wege  mittelst  einer  geöhrten  Sonde,  die  er  mit  einer  Sonden- 
platte in  der  Nase  auffing  und  hervorzog,  einen  Faden  durch  den  ganzen  Canal,  mittelst 
dessen  er  eine  Charpiemesche  in  den  Thränennasengang  hinaufleitete,  die  er  dann  mittelst 
eines  zweiten,  an  dieselbe  angeknüpften  Fadens  wieder  herausbeförderte,  um  sie  täglich 
durch  eine  neue ,  allmälig  dickere  zu  ersetzen.  Cabauis  benützte  einen  auf  gleiche 
Weise  eingeführten  Faden  zur  Einziehung  einer  biegsamen  Röhre  in  die  Nasenmündung, 
um  durch  diese  die  Einspritzungen  zu  machen.  —  Mejean's  Verfahren  führte  zur  Erfin- 
dung der  sogenannten  Sondenfänger,  um  die  Sonde  aus  der  Nase  hervorzuziehen,  und 
wurde  mit  wenig  Abänderungen,  wovon  die  wesentlichste  die,  dass  man  statt  des  Thrä- 
nenpunktes  die  künstliche  Öffnung  an  der  vordem  Wand  des  Thränensackes  benutzte, 
bis  in  die  neuere  Zeit  geübt.  Cabanis  Vorgang  wurde  bald  durch  die  folgende  (La 
Forest'sche)  Methode  überflüssig.  —  Diese  Methoden  trifft  mindestens  der  Vorwurf,  dass 
sie  die  Thränenröhrchen  mehr  als  zulässig  ausdehnen  und  leicht  zerreissen« 

La  Forest  (1739)  und  fast  100  Jahre  später  Dubois  und  Gensoul  schoben  eine 
eigentümlich  gekrümmte  Sonde  durch  die  IVöse  bis  in  den  Thränensack  hinauf,  um  den 
Nasengang  zu  erweitern;  zu  Injectionen  bedienten  sie  sich  ähnlich  geformter  Röhrchen. 
Gensoul  gab  der  Sonde  die  doppelte  Krümmung,  welche  die  jetzt  üblichen  Instrumente 
besitzen  und  verband  sie  auch,  wenn  bedeutende  Verengerungen  gehoben  werden  sollten, 
mit  einem  Ätzmittelträger.  Über  den  diagnostischen  und  therapeutischen  Werth  dieser 
Methode  haben  wir  uns  oben  ausgesprochen. 

J.  Louis  Petit  (1734)  brachte  die  von  Stahl  (1702)  vorgeschlagene  Eröffnung  des 
Thränensackes  unter  dem  Augenlidbande  in  Aufnahme.  Er  drang  mit  einem  einerseits 
gefurchten  Bistourie  unterhalb  des  Augenlidbandes  in  den  Thränensack,  stiess  an  der 
Furche  eine  Hohlsonde  nach  ,  und  schob  nach  Entfernung  des  Messers  in  der  Sonden- 
rinne eine  Rougie  in  den  JSasengang  hinab.  Die  Modifikationen  dieses  Verfahrens  bezie- 
hen sich  hauptsächlich  auf  die  sogenannten  Dilationsmiltel  und  auf  die  Art  ihrer  Ein- 
führung. Sein  Schüler  Desault  (1770)  leitete  über  einer  in  den  Canal  eingeführten  Sonde 

Arlt's  Augenheilkunde  III,  2.  27 


418  Thräiicnorgane. 

ein  silbernes  Röhrchen  in  denselben,  in  welchem  er  dann  mit  der  Sonde  einen  Faden 
hinnbscbob,  den  der  Kranke  hervorschneuzen  musste;  diesen  Faden  benützte  er  so  wie 
Mejean  zur  Einführung  allmälig  verstärkter  Meschen.  Giraud  bediente  sich  zur  Einfüh- 
rung des  Fadens  durch  jenes  Röhrchen  einer  dünnen,  unten  mit  einem  Knöpfchen,  oben 
mit  einem  Öhr  versebenen  Stahlfeder  (Bellocq  sc\\e  Röhre).  Dieses  Verfahren  fand  trotz 
seiner  Schiuerzhaftigkeit  viel  Aufnahme ,  wurde  namentlich  auch  von  Walter  und  Chelhts 
zu  dem  Zwecke  adoptirt,  um  mittelst  des  Fadens  nach  und  nach  stärkere  Fadenbüscheln 
von  der  Nase  aus  in  den  Nasengang  hinaufzuziehen.  Himly  wählte  zur  Einführung  des 
leitenden  Fadens  eine  etwa  spannenlange  Darmseite,  oder  wo  diese  nicht  durchdrang' 
die  Mc/can'sche  Sonde,  was  denn  auch  Walthcr  und  Chelius  annahmen,  und  J.  N.  Fischer 
leitete  eine  etwas  dickere  ,  jedoch  locker  gedrehte  Seidenschnur  mittelst  einer  E-Darm- 
saite  durch  den  Thränenschlauch ,  welche  (an  dem  täglich  einzuziehenden  Stücke)  mit 
Flüssigkeiten  oder  Salben  imprägnirt  wurde.  —  Diese  Methoden  müssen  wohl  alle  die 
an  der  Nasenmündung  befindliche  Falte  mehr  weniger  verletzen. 

Die  Benützung  von  Darmsaiten  zur  Dilation  des  Nasenganges,  schon  von  Stahl  ein- 
geführt, kam  erst  durch  Richter  (1770),  noch  mehr  aber  durch  Beer  (1790)  in  Ge- 
brauch. Ihre  Anwendungsweise  haben  wir  bereits  oben  angegeben.  Man  verband  damit 
Einspritzungen  oder  bestrich  die  Saite  mit  Salben.  Beer  bediente  sich  bloss  langer  Sai- 
ten ;  Andere  Hessen  nachträglich  noch  durch  längere  Zeit  Bleinägel  tragen.  —  Das  täg- 
lich nothwendige  Zurückziehen  und  Einlegen  frischer  Saitenstücke  ist  unbequem  und 
leicht  verletzend  ;  zum  Tragen  langer  Saiten ,  welche  über  die  Stirn  herablaufen  müssen, 
wie  die  Fischer  sehe  Seidenschnur,  entschliessen  sich  die  wenigsten  Kranken. 

Die  schon  seit  früheren  Zeiten  üblichen  Bleidrähte  versah  Scarpa  (1801)  oben  mit 
einer  Platte,  welche  nicht  nur  das  Hinabsinken  des  Stiftes  bis  auf  den  Nasenboden  ver- 
hindern, sondern  auch  auf  den  ausgedehnten  Thränensack  comprimirend  wirken  soll 
Der  ziemlich  schwere  und  bloss  durch  die  Platte  gestützte  Stift  macht  durch  anhaltenden 
Druck  die  Muskelfasern  allmälig  atrophisch,  und  bewirkt  leicht  die  Bildung  einer  trichter- 
förmigen Grube. 

Endlich  wurden  silberne,  goldene  oder  bleierne  Röhrchen,  wie  solche  schon  in  frühern 
Zeiten,  namentlich  von  Plattner  (1724)  nach  Durchbohrung  des  Thränenbeins  eingeheilt 
worden  waren,  später  von  Faubert  (1750),  Walther,  Ware,  besonders  aber  von  Du- 
puytren (1812)  in  den  Thränennasencanal  eingelegt  (allenfalls  auch  mit  Gewalt  einge- 
trieben) und  eingeheilt. 

Wie  früher  das  eben  beschriebene,  der  Kunst  und  Wissenschaft  wahrlich  nicht  zur 
Ehre  gereichende  Verfahren  schien  in  neuester  Zeit  die  Verödung  des  Thränensttckes  zur 
allgemeinen  Methode  erhoben  werden  zu  wollen,  nachdem  P.  Biagini  den  noch  weiter 
durch  Beobachtungen  zu  bestättigenden  Satz  aufgestellt  hat,  dass  nach  Verödung  des 
Thränensackcs  sich  auch  die  Absonderung  der  Thränenflüssigkeit  vermindere ,  und  die 
Thränendrüse  atrophisch  werde.  Biagini  fand  bei  einem  von  Camici  durch  Verödung 
des  Thränensackes  von  einer  Thräncnsackfistel  geheilten  Individuum  bei  der  Section  den 
saecus  und  duetus  lacryni.  obliterirt,  in  zcllig  fibröses  Gewebe  verwandelt,  nnd  die  Thrä- 
nendrüse an  dieser  Seite  viel  kleiner,  atrophisch.  Zur  Untersuchung  der  Thränendrüse 
hatte  ihn  der  Umstand  bewogen  ,  dass  der  von  der  Thräneusackfistel  Gebeilte  nur  höch- 
stens an  einem  geringen  und  nicht  lästigen  Thränenflussc  gelitten  halle. 


XII,  Blich. 

Die  Augenhöhle,  Orbita. 


A,     Anatomisch  -physiologische  Bemerkungen, 

Das  Knochengerüst  der  Augenhöhle  kann  als  eine  Pyramide  betrach- 
tet werden,  deren  Basis  von  oben  nach  unten  circa  15'",  von  innen  nach 
aussen  circa  18'"  misst,  und  deren  Spitze  ohngefähr  21'"  hinter  der  Basis 
liegt.  Im  Kindesalter  ist  die  Achse  der  Orbita  relativ  zu  den  Durch- 
messern der  Basis  unverhältnissmässig  kurz.  Die  Basis  bildet  der  Orbital- 
rand, welcher  an  der  Schläfenseite  weiter  hinten  liegt,  als  an  der  Nasen- 
seite. Die  obere  Wand  wird  vom  horizontalen  Theile  des  Stirnbeines, 
nächst  der  Spitze  jedoch  vom  kleinen  Flügel  des  Keilbeines  gebildet;  sie 
ist  stark  ausgehöhlt,  besonders  gegen  die  Schläfenseite  hin,  wo  sie  die 
Thränendrüsengrube  bildet,  und  trennt  die  Augenhöhle  von  der  vordem 
Schädelgrube.  Der  Stirnbeinknochen  ist  hier  meistens  sehr  dünn,  häufig 
stark  durchscheinend,  bisweilen  selbst  durchlöchert.  Die  Anheftungsstelle 
der  Trochlea  am  Übergange  der  obern  in  die  innere  Orbitalwand  bezeich- 
net ohngefähr  die  Mitte  der  Stirnhöhle,  welche  sich  von  da  aus-,  ab-, 
rück-  und  vorwärts  erstreckt.  Die  äussere  ziemlich  senkrecht  stehende 
Wandung  wird  grösstenteils  durch  den  grossen  Flügel  des  Keilbeines, 
vorn  jedoch  vom  Jochfortsatze  des  Stirnbeines  (oben)  und  vom  Joch- 
beine (unten)  gebildet.  Der  grosse  Flügel  des  Keilbeines  trennt  die  Augen- 
höhle durch  eine  meist  bis  zum  Durchscheinen  dünne  Platte  von  der 
mittlem  Schädelgrube ,  vorn  aber  gemeinschaftlich  mit  dem  Joch-  und 
Stirnbeine   von  der  Schläfengrube.     Die   innere  Wand,    grösstenteils  von 

27* 


420  Augenhöhle. 

der  Papierplatte  des  Siebbeins  gebildet,  vorn  aber  vom  Augengrubenlheile 
des  Thränenbeins,  hinten  vom  kleinen  Flügel  des  Keilbeines  (bisweilen 
auch  von  einem  Theile  des  Gaumenbeines)  ergänzt,  dacht  sich  vom  Stirn- 
beine angefangen  allmälig  nach  aussen  ab,  so  dass  sie  ohne  Bildung  eines 
besondern  Winkels  in  die  untere  Wand  übergeht.  Sie  trennt  die  Augen- 
von  der  Nasenhöhle  und  ist  unter  allen  die  dünnste.  Die  untere,  von  vorn 
nach  hinten  allmälig  aufsteigende  Wand  wird  grösstentheils  vom  Ober- 
kieferknochen gebildet,  hinten  von  einem  kleinen  Theile  des  Gaumenbei- 
nes, vorn  und  aussen  vom  Jochbeine  ergänzt,  und  trennt  die  Augen-  von 
der  Highmorshöhle.  An  ihr  verläuft  der  Canal,  der  den  Nervus  und  die 
Arteria  infraorbitalis  von  der  untern  Augenhöhlenspalte  zur  Antlitzfläche 
leitet,  und  in  seinem  hintern  Theile  bisweilen  nicht  gedeckt,  sondern  als 
Furche  erscheint. 

An  der  Spitze  der  Orbita,  und  zwar  in  dem  Winkel,  wo  die  obere 
und  innere  Wand  zusammenstossen,  tritt  das  Schnerrenloch  durch  den 
kleinen  Flügel  des  Keilbeines  zur  Orbita  herab.  Auswärts  davon,  wo  die 
obere  und  äussere  Wandung  an  einander  stossen  sollten,  befindet  sich 
zwischen  den  Keilbeinflügeln  die  gegen  3/4"  lange  und  1 — 2"'  breite  obere 
Augenhöhlenspalte,,  durch  welche  die  bereits  früher  erwähnten  Nerven  aus 
der  mittlem  Schädelgrube  in  die  Orbita  treten,  die  Vena  ophthalmica  da- 
gegen zurück  läuft.  Die  äussere  und  untere  Wand  sind  in  ihren  hintern 
zwei  Dritteln  durch  die  zwischen  dem  grossen  Flügel  des  Keilbeines  und 
dem  Oberkieferknochen  verlaufende  untere  Augenhöhlenspalle  von  einander 
geschieden.  Die  Orbita  communicirt  durch  diese  Spalte  mit  der  Flügel- 
gaumengrube,  und  erhält  durch  sie  von  dem  aus  dem  Foramen  rotundum 
der  mittlem  Schädelgrube  austretenden  2.  Aste  des  Trigeminus  den  Haut- 
wangen- und  den  Unteraugenhöhlen-Nerven,  so  wie  von  der  Carotis  ex- 
terna (mittelst  der  innern  Kieferarterie)  die  Art.  infraorbitalis,  an  welcher 
die  gleichnamige  Vene  zurückläuft.    Sie  ist  länger  und  breiter  als  die  obere. 

An  der  Bildung  des  Augenhöhlenrandes  betheiligen  sieh  drei  Knochen. 
Der  dem  Stirnbein  angehörende  Theil  beginnt  nahe  über  der  Kuppel  des 
Thränensackes  ziemlich  abgerundet,  bietet  dann  eine  mehr  weniger  tiefe 
Einkerbung  dar,  welche  die  Austrittsstelle  des  Nervus  und  der  Art.  supra- 
orbitalis  bezeichnet,  wird  von  da  auswärts  immer  schärfer,  und  ragt  vor 
der  Thränendrüsengrube  am  weitesten  herab.  Der  Jochbeintheil  beginnt 
ohngefähr  1/<i"  oberhalb  der  äussern  Commissur,  geht  erst  ziemlich  flach 
(ohne  einen  Vorsprung  zu  bilden)  in  die  äussere  Orbitalwand  über,  springt 
dann,  an  den  untern  Umfang  der  Orbita  gelangt,  stark  vor,  so  dass  hinter 
ihm    eine  seichte    Grube  entsteht,    und    endet    ohngefähr  in    der  Mitte  des 


Anatomie  —  Physiologie.  421 

untern  Augenhöhlenumfanges  oder  noch  etwas  weiter  nach  innen.  Der 
Orbitalrand  des  Oberkieferknochens  ist  nur  im  Bereiche  des  untern  Orbi- 
talumfanges  und  vor  der  untern  Hälfte  der  Thränensackrinne  einigermassen 
scharf,  an  der  Innenseite  der  Orbita  durch  eine  bisweilen  sehr  stumpfe 
Leiste  angedeutet,  und  verflacht  sich  in  die  innere  Wand. 

Die  Beinhaut  der  Augenhöhle  (Periorbita)  bildet  nicht  nur  eine  un- 
mittelbare Fortsetzung  der  Beinhaut  des  Gesichtes,  sondern  erhält  gewis- 
sennassen  noch  einen  verstärkenden  Überzug  von  der  harten  Hirnhaut 
durch  das  Sehnervenloch  und  die  obere  Augenhöhlenspalte.  Sie  ist  be- 
trächtlich dick  und  fest,  an  der  freien  Fläche  platt,  an  der  andern  Fläche 
mit  den  Knochen,  wo  diese  platt  sind,  nur  locker  verbunden  ;  nur  an  den 
Rändern,  Nähten  und  Spalten  der  Knochen,  und  an  den  Insertionsstellen 
der  Muskeln,  der  Rolle  und  über  der  Thränendrüse  lässt  sie  sich  nicht 
leicht  vom  Knochen  abschaben.  Der  Thränensack  ist  gleichsam  zwischen 
zwei  Platten  derselben  eingeschoben.  In  der  hintern  Hälfte  liegen  die 
Muskeln  (der  Levator  palpebrae  oben,  der  Obl.  super,  und  R.  internus 
innen,  u.  s.  w.)  unmittelbar  an  der  Periorbita;  erst  in  ihrem  weitern  Ver- 
laufe nach  vorn  ist  eine  mehr  weniger  mächtige  Lage  fettreichen  Binde- 
gewebes (Orbitalfett)  dazwischen  eingeschoben. 

Das  Fettgewebe  der  Orbita,  welches  gleichsam  zur  Ausfüllung  der 
Zwischenräume  zwischen  den  Wandungen  und  den  einzelnen  Gebilden  der 
Orbita  dient,  ungemein  weich,  in  grossen  Zellen  eingeschlossen  und  ela- 
stisch ist,  kann  füglich  in  eine  centrale  und  peripherische  Lage  geschie- 
den werden,  welche  in  den  Zwischenräumen  der  R.  recti  mit  einander 
zusammenhängen.  Die  centrale  Lage  wird  seitlich  von  den  geraden  Au- 
genmuskeln, vorn  vom  Bulbus  begrenzt,  in  der  Mitte  vom  Sehnerven 
durchbohrt.  Die  peripherische  Lage,  vorn  durch  die  Augenlidbinde  und 
Augenlidbänder  begrenzt,  schiebt  sich  zwischen  die  Orbitalwand  und  die 
von  dieser  an  den  Bulbus  tretenden  Muskeln  ein,  und  hat  ihre  grösste 
Mächtigkeit  unmittelbar  hinter  dem  Orbitalrande  und  hinter  der  Augenlid- 
binde, oben  besonders  zwischen  dem  Levator  palp.  und  dem  Knochen  von 
der  Thränendrüse  bis  zur  Trochlea,  unten  vorn  Ursprünge  des  M.  obliquus 
inf.  bis  zu  dem  zelligfibrösen  Gewebe,  welches  hinter  dem  Ligatn.  palp. 
extern,  zur  Periorbita  streicht.  —  Wo  es  gilt,  ohne  Verletzung  wich- 
tiger Gebilde  in  das  Bereich  des  Orbitalfettes  einzudringen,  führe  man 
oben  zwischen  der  Thränendrüse  und  Trochlea,  unten  zwischen  dem  Ur- 
sprünge des  M.  obl.  inf.  und  der  äussern  Commissur  einen  Schnitt  nahe 
am  Orbitalrande  und  längs  desselben  durch  die  Cutis,  den  M.  orbicularis 
und  die  Augenlidbinde.     Es    wird  dann  in  der  Regel  möglich  sein,  mittelst 


422  Augenhöhle. 

dünner  Platten  oder  stumpfer  Haken  oben  die  Thränendrüse,  den  Levator 
palp.  oder  die  Sehne  des  Obl.  superior,  unten  den  Obl.  inferior  und  den 
Bulbus  zur  Seite  zu  schieben  und  vor  Verletzung  zu  schützen.  Auch 
dann,  wenn  z.  B.  eine  Geschwulst  zwischen  R.  sup.  und  Levator  palp.  zu 
beseitigen  wäre,  halte  ich  diesen  Weg  für  besser,  als  dass  man  nach 
Schlitzung  der  äussern  Commissur  vom  Bindehautsacke  aus  eindringt,  es 
müsste  denn  das  Augenlid  durch  die  orbitale  Geschwulst  umstülpt  und  die- 
ser Weg  gleichsam  durch  die  Hervortreibung  der  Bindehaut  selbst  als  der 
leichtere  angedeutet  sein. 

Diese  Andeutungen  dürften  hinreichen  zur  Orientirung  bei  Verletzun- 
gen und  Krankheiten  der  Orbita  und  der  Organe  in  den  angrenzenden 
Höhlen,  Dem  Anatomen  sind  auch  die  undurchsichtigen  Theile  durchsich- 
tig.   Die  Anatomie  ist  die  Fackel  der  Chirurgie. 

B.    Krankheiten  der  Orbita. 

Die  Affcctionen,  welche  hier  zu  besprechen  sind,  gehen  aus:  a)  von 
den  knöchernen   Wandungen,  ihrem    fibrösen  Überzuge,  oder  den  angren- 
zenden Höhlen ;  b)  von  dem  Fett-  und  Bindegewebe ;   c)  von  den  Gefäs- 
sen,  welche  durch  diese  Gebilde  zum  Bulbus  verlaufen.     Sie  gefährden  je 
nach   ihrer  Beschaffenheit   und  Ausbreitung   bald  nur  die  Lage  und  Func- 
tion des  Auges  oder  seiner  Hilfsorgane,   bald  auch  die  Existenz  des  Bul- 
bus, ja  des  Individuums.   Ihre  Diagnosis  ist,  im  Allgemeinen,  um  so  schwie- 
riger,  je  tiefer   die  Affection  sitzt,  und  je    weniger  sie  noch  an  Ausbrei- 
tung  gewonnen  hat.     Die  Erscheinungen,   welche  die  Aufmerksamkeit  des 
Arztes    auf   eine  Affection    in  der  Tiefe    der  Orbita   zu  lenken   vermögen, 
sind  im  Allgemeinen:    Schmerzen  daselbst  oder    im  Verlaufe  von  Zweigen 
des  1.  und  2.  Astes  des  Trigeminus,  welche  die  Orbita  passiren  oder  zum 
Bulbus   treten;    Doppeltsehen    mit  verminderter  oder   aufgehobener   Action 
eines,  mehrerer,  aller  Muskeln;  Verdrängung  des  Bulbus  aus  seiner  Lage, 
nach   vorn,  nach    der  der  Affection    entgegengesetzten  Seite,    oder  beides 
zugleich ;  Zeichen  von  Druck  auf  den  Sehnerven  oder  die  Netzhaut,  durch 
Abnahme   der   Sehkraft    oder   durch   Lichterscheinung-en.     So    lang-e   nicht 
einer   und  der    andere  dieser   Zufälle  vorhanden   ist,  wird  man  kaum  eine 
Ahnung  von  einer    tiefern  Orbitalaffection   haben  können.     Es    kann  aber 
auch  jeder   derselben,    mit    Ausnahme    der   wirklichen    Verdrängung    des 
Bulbus,  anderweitig   bedingt  sein,  und  es  wird    bei  der  Diagnosis  nur  das 
Vorhandensein  von  mehreren  und  zugleich  der  Umstand  entscheiden  kön- 
nen, dass  dieselben  nicht  auf  eine  Affection    des  Bulbus  oder  der  Organe 
in  den  Nachbarhöhlen  der  Orbita  bezogen  werden  können. 


Krankheiten  —  Aneurysma  —  Teleangyektasie.  423 

Da  die  Verdrängung  des  Bulbus  aus  seiner  Lage  ein  Symptom  der  meisten  Orbit;« I- 
affectionen  ist,  so  erscheint  es  schon  desshalb  nothwendig,  zu  untersuchen,  ob  dasselbe 
oder  ähnliches  nicht  auch  anderweitig  bedingt  werden  könne.  Flachcrc  Lage  des  Bul- 
bus kann  den  minder  Geübten  leicht  zur  Annahme  von  Vergrösserung  desselben  ver- 
leiten ,  und  umgekehrt  kann  Verlängerung  des  Bulbus  in  der  Richtung  der  Sehachse  für 
einen  leichten  Grad  von  Exophthalmus  imponiren.  Flachere  Lage  beider  Bulbi  kann 
ohne  alle  anderweitigen  Abnormitäten  als  einfaches  Glotzauge  bestehen,  aber  auch  Symp- 
tom sein  von  Herabdrängung  der  obern  Orbitalwand  durch  Hydrocephalus  (connatus 
chronicus),  von  Hypertrophie  und  Sclerosis  der  Orbitalknochen,  oder  von  Hyperämie  und 
Hypertrophie  des  Orbitalfetlgewebes  bei  Struma  und  Herzkrankheiten.  In  welcher  Weise 
die  Muskeln  die  Lage  des  Bulbus  beeinflussen  ,  haben  wir  bereits  im  9.  Buche  angege- 
ben. Zu  erwähnen  ist  hier  noch  der  sogenannte  Prolapsus  bulbi  (ptosis),  welcher  nur 
auf  gewaltsame  Weise  zu  Stande  kommt.  „Ein  auf  einem  kleinen  Handschlitten  sitzen- 
der Knabe  rannte  im  Herabfahren  über  eine  Anhöhe  seinen  aufwärts  kriechenden  Kame- 
raden mit  der  Deichsel  des  Schlittens  über  den  Haufen.  Man  trug  den  bewusstlosen 
Knaben  mit  blutendem  Gesichte  nach  Hause.  Die  dünne  Deichsel  hatte,  durch  das  obere 
Lid  in  die  Augenhöhle  gedrungen,  den  rechten  Bulbus  luxirt.  Der  gerufene  Wundarzt 
war  eben  im  Begriffe,  den  auf  der  Wange  liegenden  Augapfel  wegzuschneiden,  als  er 
durch  einen  Laien  daran  gehindert  wurde,  welcher  meinte,  dazu  wäre  noch  immer  Zeit. 
Das  getrennte  Lid  wurde  geheftet  und  der  Bulbus  durch  eine  Art  Suspensorium  mit  Heft- 
pflasterstreifen gehoben.  Diesen  Vorgang  erzählten  uns  mehrere  verlässliche  Augenzeu- 
gen. Nach  etwa  12  Jahren  sahen  wir  den  Verletzten  selbst.  Ausser  einer  bedeuten- 
den, wagrechten  Narbe  am  obern  Lide  fanden  wir  am  Auge  nichts  Abnormes ;  er  konnte 
es  frei  nach  allen  Richtungen  bewegen,  und  las  damit  den  kleinsten  Druck."  (J.  JV.  Fi- 
scher, Lehrbuch,  1846,  S.  35.)  Makenzie  erzählt  in  der  London  med.  Gaz.  1838  einen 
Fall  von  Ophthalmoptosis  bei  einem  Manne  ,  welche  vor  5  Jahren  entstanden  war,  als 
derselbe  eine  schwere  Last  auf  dem  Rücken  trug.  Er  wurde  Gegenstand  der  Beobach- 
tung, als  er  sich  wegen  einer  katarrhalisch-rheumatischen  Augenentzündung  im  Spitale 
befand.  Man  bemerkte,  dass  der  Augapfel  auf  der  Wange  vorgefallen  war,  als  der 
Kranke  einmal  abwärts  blickte,  und  dass  derselbe  wieder  zurückgebracht  wurde,  indem 
dfr  Kranke  den  Kopf  in  die  Höhe  hob  und  das  Auge  rieb.  Das  Merkwürdigste  war, 
dass  bei  diesem  Vorfalle  die  Retina  fortwährend  ihre  Function  erfüllte.  (Chelius  Hand- 
buch, 1839,  II.  B.  S.  185.)  Der  Wiederholung  solcher  Vorfälle  Hesse  sich  wohl  durch 
Verengerung  der  Lidspalte  (Tarsoraphie)  vorbeugen.  (Vergl.  III.  B.  8.  Buch.  S.  29.) 
Dass  endlich  der  Bulbus  auch  durch  Ödem  seiner  Umgebung  hervorgedrängt  werden 
könne,  wenn  acute  Ablagerung  namentlich  von  eitrigem  Exsudate,  in  demselben  statt- 
findet, wurde  bei  den  Krankheiten  der  Chorioidea  bemerkt. 

I.  Krankheiten  der  Gefässe. 

a)  Aneurysma  der  Art.  ophthalmica  wurde  durch  Section  constatirt 
von  Guthrie  und  Carron  du  Villards.  In  Guthrie's  Fall  bestand  das  Übel 
auf  beiden  Seiten,  hatte  Verdrängung  der  Bulbi,  doch  keine  Blindheit  be- 
wirkt, und  ein  zischendes  Geräusch  (wohl  auch  Pulsation?)  wahrnehmen 
lassen.  Die  nussgrossen  Geschwülste  hatten  auch  den  Rückfluss  des  Blutes 
durch  die  Vena  ophthalmica  sehr  behindert.     Wodurch  der  Tod  veranlasst 


424  Augenhöhle. 

wurde,  und  wie  die  übrigen  Kreislauforgane  beschaffen  waren,  findet  sieh 
bei  Makenzie  (1.  c.  S.  291,  von  wo  diese  Notiz  entlehnt  ist),  nicht  ange- 
geben. Burk  (the  lancet,  Manch.  136)  unterband  bei  einem  Aneurysma, 
welches  nach  einem  Schlage  auf  den  Kopf  entstanden  war,  die  Carotis  mit 
glücklichem  Erfolge.     QChelius  1.  c.  S.  459). 

6)  Von  Teleancjyektasia  oder  Aneur.  per  anastomosin  in  der  Tiefe 
der  Orbita  findet  man  bei  Makenzie  (1.  c.  S.  283)  zwei  vollständige  und 
genaue  Beobachtungen  von  Travers  und  Dalrymple.  Die  Krankheit  ent- 
wickelte sich  plötzlich  und  ohne  bekannte  Veranlassung  bei  Frauen  von 
34  und  44  Jahren,  bei  der  einen  in  den  ersten,  bei  der  andern  in  den 
letzten  Monaten  der  (sechsten)  Schwangerschaft,  bei  beiden  auf  der  linken 
Seite.  Den  Beginn  der  Krankheit  bezeichneten  plötzlicher  Eintritt  heftiger 
Schmerzen  im  Auge  und  in  der  entsprechenden  Kopfhälfte  und  eine  ei- 
genthümliche  Empfindung-  von  Knallen,  Krachen  oder  Rauschen  in  der 
Orbita ;  dazu  traten  bald  Odem  der  Lider,  Hervortreibung  derselben  und 
des  Bulbus,  starke  Injection  an  letzterem,  Abnahme  der  Sehkraft  und  ge- 
hinderte Function  einzelner  Muskeln.  Entscheidend  für  die  Diagnosis  war 
das  Auftreten  pulsirender  Geschwülste  zwischen  dem  vor-  und  seitwärts 
gedrängten  Bulbus  und  dem  Orbitalrande  (in  T.  Falle  unterhalb  des  Bul- 
bus und  über  dem  innern  Augenlidbande,  in  D.  Falle  im  Bereiche  des  untern 
Lides),  deren  Grösse  und  Pulsation  durch  jede  Aufregung  gesteigert  wurde. 
Diese  Geschwülste,  allmälig  an  Grösse  zunehmend,  und  von  verdickter 
Haut  überzogen,  waren  theils  weich  wie  lockere  Wolle,  theils  derb  und 
elastisch  anzufühlen,  licssen  sich  durch  Rückwärtsdrücken  compriiniren, 
und.gaben  dann  deutlich  das  Gefühl  der  Pulsation.  Druck  auf  den  Stamm 
der  gemeinschaftlichen  Carotis  machte  die  Pulsation  gänzlich  verschwin- 
den ;  Compression  der  Art.  temporalis,  angularis  und  maxillaris  hatte  keinen 
Einfluss  auf  die  Geschwulst.  Die  Venen  des  obern  Lides  und  an  den 
Seiten  der  Nase  waren  varicös.  —  Da  rasches  Wachsen  und  Gefahr  für 
das  Leben  zu  besorgen  stand,  wurde  die  Unterbindung  der  Carotis  —  in 
beiden  Fällen  mit  glücklichem  Erfolge  —  unternommen.  —  Wegen  einer 
crcctilen  Geschwulst  in  der  rechten  Orbita  eines  5  Monate  alten  Kindes 
unternahm  Walton  (Med.  Tim.  Juli  1852)  die  Unterbindung  der  Car.  cotnm. 
d.  ohne  nachtheiligen  Einfluss  (?)  auf  die  Gesundheit  des  Kindes.  Pulsa- 
tion war  nicht  deutlich,  aber  mit  dem  Stethoskope  hörte  man  ein  Blasen 
in  den  Arterien  (?)  der  Augenhöhle.  —  Carron  du  ViUards  erwähnt  einer 
vorwaltend  durch  Venenerweiteruiig:  bedingten,  daher  nicht  pulsirenden  Ge- 
schwulst in  der  Orbita  eines  8  Monate  allen  Kindes,  die  er  durch  Exstir- 


Entzündung  des  Oibitnläettgewebes.  425 

palion  und  Unterbindung-  von  3  ziemlich  grossen  Arlericnzweigen  glücklich 
beseitigte  (1.  c.  S.  319.) 

II.  Krankheiten  des  Fettgewebes. 

a)  Entzündung  des  Fett-  und  Bindegewebes  kommt  meistens  mit 
Periostitis,  doch  auch  für  sich  allein  vor,  und  zwar  sowohl  in  acuter  als 
in  chronischer  Form.  So  lange  die  AfFeclion  noch  auf  einen  kleinen  Herd 
beschränkt  ist,  können  die  Erscheinungen  auch  durch  den  Sitz  (im  retro- 
bulbären oder  im  peripherischen  Fettgewebe)  modificirt  werden.  —  Die 
selbstständige  acute  Form  ist  entweder  traumatischen  Ursprunges,  beson- 
ders wenn  fremde  Körper  eingedrungen  sind,  oder  metastatisch,  bei  Pyämie, 
nach  Typhus.  Das  letztere  Vorkommen  versichert  Carron  d.  V.  bei  der 
österreichisch-sardinischen  Armee  1818  beobachtet  zu  haben.  Heftiger 
Schmerz  und  Gefühl  von  Druck  in  der  Tiefe  der  Orbita,  Vordrängung  des 
Bulbus,  Abnahme  und  Erlöschen  des  Sehvermögens  unter  Lichterscheinun- 
gen, ödematöse  Schwellung  der  Conj.  bulbi  und  der  Lider,  dabei  heftige 
Fieberzufälle,  wohl  auch  Delirien,  entwickeln  sich  rasch  nach  einander  und 
verkündigen  den  Ausgang  in  Eiterung,  der  vielleicht  nur  bei  zeitig  und 
energisch  angewandter  Antiphlogose  verhütet  werden  kann.  Entwickelt 
sich  die  Entzündung  in  dem  peripheren  Fettgewebe,  unweit  von  der  Lid- 
binde, so  tritt  die  Schwellung  zunächst  an  einem  Lide  und  viel  früher  auf, 
wird  der  Bulbus  mehr  nach  der  Seite  als  nach  vorn  verdrängt,  und  ge- 
staltet sich  die  Prognosis  für  die  Erhaltung  des  Sehvermögens  und  des 
Bulbus  günstiger.  In  beiden  Fällen  muss  man  dem  Eiter  so  bald  als  mög- 
lich freien  Abfluss  zu  verschaffen  suchen.  —  In  einem  von  Deval*)  nach 
Scharlach  beobachteten  Falle  von  schnell  aufgetretenem  Exophthalmus  scheint 
acutes  Ödem  des  Orbitalfettgewebes  statt  gefunden  zu  haben.  —  Bei 
scrofulösen  Kindern  bildet  sich  bisweilen  Eiferansammlung  hinter  dem 
Bulbus  unter  minder  stürmischen  Zufällen,  namentlich  ohne  heftige  Schmer- 
zen und  ohne  Fieber;  da  man,  wenn  der  Eiter  sich  selbst  einen  Ausweg 
durch  die  Cutis  nächst  dem  Orbitalrande  gebahnt  hat,  oder  wenn  die  Er- 
öffnung vorgenommen  wurde,  in  solchen  Fällen  fast  immer  mit  der  Sonde 
auf  entblössten,  necrotischen  oder  cariösen  Knochen  stösst,  so  bleibt  es 
unentschieden,  ob  diese  Affection  nicht  gleich  vom  Knochen  ausgegangen 
sei.  Doch  versichert  Carron  d.  F.,  solche  kalte  Abscesse,  wie  er  sie  nennt, 
auch  ohne  Knochenleiden  beobachtet  zu  haben.  Vielleicht,  dass  die  Ab- 
lagerung und  Schmelzung  von  Tuberkeln  im  Orbitalfette  die  Ursache  sol- 
cher Abscesse  ist.  —  Je  tiefer  die  Affection  sitzt  und  je  acuter  sie  auf- 

*)  Cunier  annales  iP'icul.   Th.   21. 


426  Augenhöhle. 

tritt,  desto  mehr  droht  Gefahr  der  Erblindung  und  Zerstörung  des  Bulbus, 
der  consecutiven  Erkrankung  des  Knochens,  des  Ergriffenwerdens  der 
Hirnhäute. 

Auf  eine  Hervordrängung  des  Bulbus  durch  chronische  Entzündung 
und  Hypertrophirung  des  Fett-  und  Bindegewebes  der  Orbita  hat  Sichel*) 
aufmerksam  gemacht.  Wir  theilen,  statt  der  allgemeinen  Schilderung,  lieber 
zwei  seiner  Beobachtungen  mit. 

Ein  Frauenzimmer  von  22  Jahren  halte  Hervortreten  des  linken  Auges  seit  etwa  1 
Jahre  bemerkt ;  in  den  letzten  6  Wochen  hatte  das  Übel  rascher  zugenommen.  Das  Auge 
war  gerade  nach  vorn  vorgetrieben,  etwa  1 — 3'",  weniger  frei,  doch  nach  allen  Rich- 
tungen beweglich,  beim  Anführen  etwas  resistenter.  Die  Augenhöhle  Hess  ihren  Inhalt 
rings  um  das  Auge  wulstig  vorragen,  die  Falte  des  obern  Lides  war  zum  Theil  verstrichen, 
doch  konnte  man  nirgends  eine  härtere  oder  erhabenere  Stelle  entdecken  ;  das  Sehen 
war  nur  wenig  gestört  (wie  ?).  Die  Kranke  war  von  lymphatischer  Constitution,  zu 
Kopfcongcstionen  geneigt,  sonst  gesund.  Sichel  diagnosticirte  Hypertrophie  des  Zell- 
Fcltgewcbes  mit  leichter  chronischer  Entzündung  und  seröser  Infiltration.  Blutegel  aus 
Perinäum,  ein  Purgans  mit  Scaminonium,  Fussbäder  mit  Salz  und  Asche,  reichliche  Ein- 
reibungen von  Ung.  neapol.  an  die  Stirn  und  Schläfe,  dann  Calomel  bis  zur  Salivation. 
Anfangs  nahm  der  Exophthalmus  noch  beträchtlich  zu,  die  Lider  wurden  roth  und  etwas 
ödemalös,  ebenso  die  Conj.  bulbi,  und  die  Kranke  hatte  heftige  Schmerzen  in  der  Or- 
bita. Nach  einem  Aderlasse  und  20  Blutegeln  vor  dem  linken  Ohre  beim  Fortgcbrauche 
der  Quecksilbersalbe  und  des  Calomels  nahmen  alle  Erscheinungen  allmälig  ab,  und  die 
Kranke  wurde  nach  längerem  innerlichen  und  äusserlichen  Gebrauche  von  Jodkalium 
ganz  gesund,  und  war  es  noch  ein  Jahr  später.  —  Bei  einer  38jährigen  Frau  ragte  der 
linke  Augapfel  bedeutend  mehr  hervor  als  der  rechte,  war  hart  anzufühlen,  und  schein- 
bar grösser.  Die  starke  Erweiterung  der  Pupille  erwies  sich  beim  Versuche  mit  einer 
engen  Kartcnblattöffnung  bloss  als  Mydriasis,  indem  die  Kranke  durch  dieselbe  fast  ganz 
deutlich  sah.  Man  konnte  keine  umschriebene  Geschwulst  zwischen  Bulbus  und  Orbi- 
talwand, noch  in  der  Tiefe  entdecken  ;  der  nach  keiner  Richtung  hin  abgelenkte  Bulbus 
liess  sich  weniger  leicht  rückwärts  drängen,  als  im  normalen  Zustande,  doch  leichter, 
als  in  Fällen,  wo  umschriebene  und  harte  Geschwülste  in  der  Orbita  sitzen.  Die  Falte 
des  obern  Lides  war  fast  ganz  verstrichen.  Zugleich  war  Hypertrophie  des  Herzens  zu- 
gegen, die  Schläge  heftig,  aussetzend,  der  Herzstoss  fühl-  und  sichtbar.  Aderlass,  Ca- 
lomel mit  Digitalis,  3Iercurialeinreibungen.  Mit  dem  Eintritte  der  Salivation  auffallende 
Besserung.  Schon  nach  8  Tagen  war  die  Mydriasis  verschwunden,  der  Bulbus  fast  in 
die  normale  Lage  zurückgekehrt.  Sichel  sah  sie  nach  6  Jahren  noch  vollkommen  geheilt. 
b)  Das  mehr  weniger  starke  Hervortreten  der  Bulbi  bei  Individuen, 
welche  an  Struma  und  excentrischer  Hypertrophie  des  linken  Herzventri- 
kels leiden,  dürfte  zunächst  auf  Blutüberfüllung  und  Hypertrophie  des 
Orbitalfeltgewcbes  beruhen.  Dafür  spricht  wenigstens  ein  Sectionsbericht 
von  Ileussinger  **),  welcher  die  hinter  den  sonst  normalen  Bulbis  befind- 

|  Bullet.  gen.  de  ihcr      Hai   1846. 
"*)  Casper'n  Wochenschrift  1851,    Nr.   I 


Apoplexie  und  Geschwülste  in  der  Orbita.  427 

liehe  Fettmasse  um  mehr  als  das  Doppelte  vermehrt,  eompacter,  mehr  dem 
Rindertalge  ähnlich  und  von  gesättigter  gelber  Farbe,  dabei  die  Thränen- 
drüsen  fast  um  die  Hälfte  kleinerfand,  als  im  Normalzustände.  Dr.  Hel/J'l  *), 
der  die  bisher  bekannten  Beobachtungen  zusammenstellte,  bemerkt,  dass 
Antiphlogosis,  namentlich  Blutentziehungen,  zu  denen  man  sich  durch  die 
Gehirnerscheinungen  und  Athmungsbeschvverden  eingeladen  sehen  könnte, 
durchaus  verderblich  wirken,  dagegen  der  lange  fortgesetzte  Gebrauch 
von  Eisenpräparaten  (bei  Menstruationsanomalien  mit  Aloe  und  Myrrha)  bei 
Fleischkost  und  Aufenthalt  im  Freien  entschieden  nützen.  Heussinger  sah 
Heilung  (?)  nach  der  Cur  in  Driburg,  in  einem  andern  Falle  nach  Ferrum 
carbon.  saccharatum. 

c)  Bluterguss  m  das  retrobulbäre  Fettgewebe  kommt  meistens  nur 
in  Folge  tief  eindringender  Verletzungen,  doch  auch  spontan  vor.  Letzteres 
ist  constatirt  durch  eine  Beobachtung  von  J.  N.  Fischer  (Lehrbuch  S.  359). 
Bei  einer  sonst  ganz  gesunden  Frau  war  seit  dem  Aufhören  der  Men- 
struation allmälig  Hervortreibung  des  linken  Bulbus,  ohne  Aufhebung  des 
Sehvermögens  eingetreten.  Nach  mehrjähriger  Dauer  dieses  Zustandcs 
bildete  der  des  Sehvermögens  allmälig  beraubte  Bulbus  sammt  den  blau- 
rothen  Lidern  hervorgetrieben,  eine  hühnereigrosse,  aus  einzelnen  Knollen 
zusammengesetzt  erscheinende  Geschwulst.  Wegen  heftiger  Schmerzen 
schritt  man  zur  Ausleerung  der  Orbita.  Die  eine  Zeit  lang  für  melanotisch 
gehaltene  Geschwulst  wurde  später  von  Rokitansky  als  aus  einzelnen  (zu 
verschiedenen  Zeiten  erfolgten)  apoplektischen  Herden  des  Orbitalzellge- 
webes bestehend  erklärt.  —  A.  von  Gräfe  (Archiv  I.  B.  1.  Abth.  S.  424) 
diagnosticirte  Bluterguss  in  der  Nähe  der  Spitze  der  Orbita  bei  einem 
19jährigen  Handwerksburschen,  welcher  nach  anhaltender  Feuerarbeit 
plötzlich  von  Doppeltsehen  befallen  worden  war  (4  Tage  vor  der  Con- 
sultation)..  Ein  sehr  genau  angestelltes  Examen  ergab :  vollkommene  Läh- 
mung des  M.  rect.  inferior,  superior  und  obl.  superior,  unvollkommene 
des  M.  rect.  internus  und  externus,  Integrität  des  Obl.  inferior;  dabei 
Verminderung  der  Sehkraft,  und  leichte  Vorwärtslagerung  des  linken  Bul- 
bus. Gänzlicher  Mangel  von  Gehirnerscheinungen ;  Gefühl  von  Druck  in 
der  Tiefe  der  Orbita ;  Schmerz  nur  beim  Versuche,  den  Bulbus  zurückzu- 
drücken, wobei  die  Resistenz  ergab,  dass  die  Vorlagerung  nur  durch  Ver- 
drängung, nicht  durch  Muskellähmung  bedingt  sein  konnte.  Alle  diese  Um- 
stände, zusammengehalten  mit  einander  und  mit  dem  plötzlichen  Auftreten 
und   dem  Mangel    aller    entzündlichen   Zufälle    berechtigten    zur  Diagnosis 

*J  Ibid.  1*49,  Nr.  30 


428  Augenhöhle. 

auf  Bluterguss,  welche  überdiess  in  der  raschen  Rückbildung  aller  Zufälle 
(binnen  14  Tagen)  weitere  Bestätigung  fand.  Verordnet  wurden:  Ruhe 
des  Auges  und  des  Körpers,  Blutegel,  kühlende  Abführmittel.  —  Bei  reich- 
lichen Orbitalblutergiessungen  nach  dem  Eindringen  fremder  Körper  in  die 
Orbita  oder  nach  Fissuren  der  Orbitalvvandung  in  Folge  von  heftigen 
Stössen  oder  Schlägen  an  den  Kopf,  empfiehlt  Carron  du  Villards  bei 
Zeiten  durch  tiefe  und  gehörig  breite  Einstiche  zwischen  Bulbus  und  Or- 
bital wand  und  durch  Einspritzungen  das  Blut  zu  entleeren,  bevor  es  noch 
durch  Zersetzung  und  Erregung  von  Entzündung,  Eiterung  u.  s.  w. 
schlimmere  Folgen  herbeiführt.  Carron  d.  V.  fand  in  einem  Falle,  wo  er 
nach  einer  Schädelfractur  Bluterguss  in  die  Orbita  diagnosticirt  hatte,  nahe 
am  Sehnervenloche  eine  Fractur  und  die  Art.  und  Vena  ophth.  zerrissen. 
—  Wenn  die  Blutung  noch  fortbesteht,  soll  man  sie  durch  Kälte  und  Druck- 
verband zu  beschränken  suchen.  Wo  starke  Reaction  droht  oder  schon 
da  ist:  rigorose  Antiphlogose. 

d)  Balggeschwülste,  Lipome,  Sarkome,  verschiedene  Formen  von 
Krebs  (Gallert-,  Faser-  und  melanotischer)  und  Hydatiden  (Echinococcus, 
Acephalocystis)  im  Orbitalfette  sind  durch  Beobachtungen  constatirt.  Die 
Erscheinungen  sind  die  der  Verdrängung  des  Bulbus  und  der  Lider,  und 
werden  zunächst  durch  den  Sitz  (im  retrobulbären  oder  im  peripherischen 
Fellgewebe),  weiterhin  durch  die  Grösse,  die  Consistenz  (Inhalt)  und  das 
mehr  weniger  langsame  Wachen  mannigfach  modificirt.  Eine  exacte  diffe- 
rentielle  allgemeine  Diagnostik  ist  wohl  zur  Zeit  noch  nicht  möglich.  Wer 
das  Verhalten  dieser  Geschwülste  in  andern  Körperregionen  kennt,  wird 
bei  genauer  Untersuchung  in  einzelnen  Fällen  die  Diagnosis  mit  mehr  we- 
niger Wahrscheinlichkeit,  in  andern  höchstens  bis  zur  Ausschliessung  einer 
und  der  andern  Form  stellen  können.  —  Von  welcher  Natur  die  Geschwulst 
auch  sei :  immer  kann  nur  das  Messer  noch  Hilfe  leisten.  Je  länger 
die  Operation  aufgeschoben  wird,  desto  schwieriger  wird  dieselbe.  Auch 
ist  zu  bemerken,  dass  durch  Vcrgrösserung  dieser  Geschwülste  vorzugs- 
weise die  obere  Wand  der  Orbita  der  Gefahr  der  Verdünnung  und  Durch- 
bohrung ausgesetzt  wird.  Ob  der  Bulbus  werde  erhallen  werden  können, 
lässt  sich  oft  erst  während  der  Operation  bestimmen,  je  nachdem  die  Ge- 
schwulst in  die  Tiefe  greift,  und  von  welcher  Beschaffenheit  sie  ist.  Bei 
Hydatiden  genügt  die  einfache  Incision  und  Entleerung.  Nicht  immer  ge- 
hen die  einzelnen  Cysten  gleich  nach  Eröffnung  der  gemeinschaftlichen 
Hülle  ab.  Bei  Balggeschwülsten  kann,  falls  sich  die  Hülle  nicht  ganz  be- 
seitigen lässt,  die  Verödung  durch  Eiidegen  von  Charpie,  Atzen  mit  Lapis 
u  dgl.  noch  erzielt  werden ;  doch  hüte  man  sich,  zu  heftige  Reaction  her- 


Knochen-  und  BcinhautafTectioiien.  429 

beizuführen,  nicht  nur  wegen  des  Bulbus,  sondern  auch  wegen  Meningi- 
tis. Das  durch  Zerrung  des  Sehnerven  aufgehobene  Sehvermögen  kann 
allmälig  wiederkehren;  doch  sind  auch  Fälle  bekannt,  wo  das  noch  vor- 
handene Sehvermögen  durch  die  nachfolgende  Entzündung  zu  Grunde  ging. 
Auch  ist  die  Exstirpation  nicht  immer  ohne  Gefahr  für  das  Leben  (durch 
Meningitis).  Eine  Sammlung  instruetiver  Beobachtungen  findet  man  bei 
Mäkemie  1.  c.  S.  260—283. 

III.  Krankheiten  der  Periorbita  und  der  Knochen. 

a)  Die  Entzündung  des  Knochens  und  der  Beinhaut,  sowohl  die  acute 
als  die  chronische,  lässt  sich  bei  nur  einigermassen  tieferem  Sitze  bloss 
nach  den  Erscheinungen  kaum  jemals  von  der  Fettgewebsentzündung  unter- 
scheiden. Glücklicherweise  kommt  sie  meistens  am  Orbilalrande  oder 
doch  nicht  weit  hinter  demselben  vor.  Sie  entsteht  bald  primär,  nach 
Verwundungen  und  Stössen,  nach  Verhüttung,  bei  Syphilis,  bei  Scrophulosis 
(Tuberculosis),  bald  seeundär  in  Folge  von  Krankheiten  der  in  der  Orbita 
liegenden  Organe  oder  bei  Krankheiten  der  Nachbarhöhlen.  (Einen  Fall 
von  Periostitis  an  der  untern  Wand  der  Orbita  in  Folge  von  Entzündung 
in  der  Highmorshöhle  hat  J.  N.  Fischer  —  Lehrb.  S.  70  —  beschrieben; 
ich  habe  zwei  solche  Fälle  beobachtet.  Fälle  von  Periostitis  und  Caries 
der  Orbita  nach  Entzündung  der  Schleimhaut  der  Stirnhöhlen  sind  von 
Richter,  Beer  u.  A.  veröffentlicht  worden.  —  Die  Ausgänge  sind  die 
der  Knochen-  und  Beinhautentzündung  überhaupt,  Zertheilung,  meistens 
Eiterung  mit  Blosslegung ,  Caries  und  Necrosis  der  betroffenen  Partie, 
selten  Hyperostosis  und  Exostosis.  In  einem  von  A.  v.  Gräfe  beobach- 
teten Falle  von  Caries  an  der  obern  Wand  erfolgte  Tod  durch  Zerstörung 
derselben  und  Vorfall  von  Hirnsubstanz  in  die  Orbita.)  Rücksichtlich  der 
der  Prognosis  und  Behandlung  können  wir  auch  hier  füglich  auf  die  all- 
gemeinen medicinischen  und  chirurgischen  Grundsätze  verweisen.  Ammon's 
Rath,  bei  Abscessen  von  Caries  am  Orbitalrande  die  Hautöffnung  nicht  ge- 
rade über  der  cariösen  Partie,  sondern  etwas  entfernt  vorzunehmen,  hat 
den  Zweck,  zu  verhüten,  dass  späterhin  Haut  und  Knochennarbe  nicht  auf 
einander  fallen,  und  die  Haut  nicht  so  tief  in  die  Knochengrube  hineinge- 
zogen werden  könne.  (Gute  Beobachtungen  hieher  gehöriger  Affectionen 
findet  man  bei  Makenzie  1.  c.,  und  zwar  einen  Fall  von  Periostitis,  Hype- 
rostosis und  Verlust  beider  Augen,  beobachtet  von  Howskip  und  Ware, 
mehrere  Fälle  von  Exostosis  von  Lukas,  Anderson,  Jourdain,  Acrel  u.  A., 
von  Ostcosarcoma  von  Astley  Cooper  und  CramptonJ) 

h)  Verletzungen    der  Knochen  der  Orbita    sind    nicht  selten    bei  un- 
scheinbaren Verletzungen  der  Lider  beobachtet  worden. 


430  Augenhöhle. 

Contusioiten,  bewirkt  durch  einen  Fall.  Stoss,  Schlag  ü.  dgl.  auf  den 
Orbitalrand,  oder  auch  selbst  auf  eine  andere  Gegend ,  namentlich  auf  das 
Hinterhaupt,  können  zu  einer  Reihe  krankhafter  Veränderungen  in  der 
Orbita  Veranlassung  geben,  welche  von  Verletzung  des  Knochens  direct 
(Quetschung,  Fractur)  oder  indirect  (Fractur  durch  Contrecoup)  ausgehen. 
Diese  Veränderungen  bestehen  in  der  Entwicklung  von  Balggeschwülsten 
(nächst  der  gequetschten  Stelle),  von  Periostitis  und  Ostitis  mit  dem  Aus- 
gange in  Genesung,  Hyperostosis ,  Exostosis ,  Caries  und  Necrosis  (letzte- 
res besonders  bei  scrofulösen  Kindern),  Aneurysma  oder  von  Bluterguss  in 
die  Orbita  (bei  Fracturen).  Zu  bemerken  ist  überdiess,  dass  nach  heftigen 
Contusionen ,  nicht  nur  des  obern,  sondern  auch  des  untern  Orbitalrandes 
Fracturen  des  Augenhöhlentheiles,  des  Stirnbeines  mit  Bluterguss  in  die 
Schädelhöhle,  die  Entstehung  von  Meningitis  oder  von  Abscessen  im  Ge- 
hirne beobachtet  worden  sind.  Vergl.  Retinalamblyopie  S.  103 — 106.  Das 
Vorliegen  solcher  Thatsachen  ist  wohl  hinreichend,  den  Arzt  bei  derlei 
Verletzungen  zur  genauesten  Untersuchung  und  zur  grössten  Vorsicht  bei 
der  Prognosis,  so  wie  zur  sorgfältigsten  Überwachung  und  Behandlung  des 
Verletzten  aufzufordern.  Da  die  genannten  Veränderungen  nicht  immer 
der  Verletzung  auf  dem  Fusse  folgen,  die  Verletzten  sich  mitunter  längere 
Zeit  wohl  fühlen  können,  kann  der  Nachweis  des  Zusammenhanges  für 
den  Gesichtsarzt  grossen  Schwierigkeiten  unterliegen.  Rücksichtlich  der 
Behandlung  verweisen  wir  auf  das  S.  106  Gesagte  und  auf  die  allgemei- 
nen Regeln  der  Therapie. 

Bei  Wunden  der  Augenhöhlen-  oder  Schläfengegend  (in  der  Rich- 
tung gegen  die  Orbita)  wird  zunächst  untersucht  werden  müssen,  ob  der 
verletzende  Körper  in  die  Orbita  oder  noch  tiefer  eingedrungen,  und  ob 
derselbe  ganz,  oder  theilweise  (abgebrochen)  oder  gar  nicht  entfernt  wor- 
den sei.  Hiebei  ist  zu  erinnern,  dass  der  gespannte  Bulbus  in  dem  wei- 
chen Fettpolster  leicht  ausweichen  konnte,  dass  mithin  Unversehrtheit  des- 
selben noch  nicht  zu  dem  Schlüsse  berechtigt,  der  fremde  Körper  könne 
nicht  tiefer,  selbst  bis  zur  entgegengesetzten  Wand  vorgedrungen  sein,  weil 
etwa  nach  der  Richtung,  den  der  fremde  Körper  von  aussen  her  nahm, 
der  Bulbus  hätte  durchbohrt  werden  müssen.  Obwohl  Fälle  bekannt  sind, 
wo  fremde  Körper  (selbst  spitzige)  jahrelang  oder  zeitlebens  in  verschie- 
denen Gebilden,  selbst  im  Gehirne  getragen  wurden,  erscheint  es  doch 
gerathen,  dieselben,  sobald  sie  nur  zugängig  sind ,  selbst  mit  Gewalt  aus- 
zuziehen, nöthigenfalls  mit  Aufopferung  des  Augapfels,  weil  die  Fälle  der 
Einkapslung  doch  ungleich  seilen  sind  gegenüber  jenen,  wo  durch  die 
nachfolgende  Entzündung   nicht  nur  das  Auge  zerstört,    sondern  auch  der 


Druck  auf  die  Orbital  Wandungen.  431 

Tod  herbeigeführt  wurde.  (Gern  würde  ich  eine  Reihe  von  Beobachtun- 
gen, durch  die  man  sich  am  besten  instruiren  kann ,  hier  anführen ,  wenn 
mich  nicht  der  Raum  drängte.  Auch  über  dieses  Capitel  findet  man  bei 
Mahenzie  1.  c.  S.  6 — 30  eine  Sammlung  lehrreicher  Beispiele.) 

c)  Formvieränderungen  betreffen  die  ganze  Orbita  als  Verengerung 
oder  Erweiterung,  oder  nur  die  eine  und  die  andere  Wand  durch  Ver- 
drängung des  Knochens  von  innen  oder  von  aussen  her.  —  Vergrösse- 
rung  der  Orbita  und  Zurücksinken  des  Bulbus,  analog  der  Vergrösserung 
der  Schädelhöhle,  kann  wahrscheinlich  auch  durch  senilen  Knochenschwund 
bedingt  werden;  durch  Druck  von  Seite  ihres  Inhaltes  wird  sie  herbeige- 
führt bei  beträchtlicher  Vergrösserung  des  Bulbus,  Hypertrophirung  des 
Fettgewebes,  Entwicklung  von  Geschwülsten  in  der  Orbita.  Wir  haben 
schon  früher  bemerkt,  dass  es  vorzüglich  die  obere  (coneave)  Wandung 
ist,  welche  verdrängt  wird,  und  fügen  nur  noch  hinzu,  dass  nicht  die 
Usur  des  Knochens  und  der  Druck  auf  das  Gehirn  allein  es  ist,  was  Ge- 
fahr bringt,  sondern  dass  oft  schon  früher  Periostitis,  Eiterung  oder  Me- 
ningitis auftritt.  —  Verkleinerung  entwickelt  sich,,  wenigstens  bei  jugend- 
lichen Individuen,  nach  Verlust  oder  Schwund  des  Bulbus,  bei  Hypertrophie 
und  Sclerosis  des  Knochens,  welche  indess  wohl  nur  selten  auf  die  Or- 
bitalwandungen beschränkt  auftritt,  am  häufigsten  bei  chronischem  und 
angeborenem  Hydrocephalus  (Verkürzung  und  Compression  von  oben  nach 
unten).  Am  häufigsten  erfolgt  Verdrängung  und  Usur  der  einen  und  der 
andern  Orbitalwand  (mit  oder  ohne  Caries)  in  Folge  von  Ausdehnung  der 
Nachbarhöhlen,  besonders  aber  in  Folge  von  Geschwülsten,  die  sich  da- 
selbst entwickeln.  Diese  sind  an  der  innern  Wand:  die  Nasen-  und  Stirn- 
höhle, welche  letztere  sich  zugleich  an  der  obern  Wand  aus-  und  rück- 
wärts ausbreitet;  an  der  untern  Wand:  die  Oberkiefer-  und  gegen  die 
Spitze  hin  die  Keilbeinshöhle;  an  der  äussern  Wand:  die  Schläfen-,  die 
Flügelgaumen-  und  die  mittlere  Schädelgrube,  welche  gerade  hinter  der 
Orbita  liegt;  an  der  obern  Wand  die  Schädelhöhle  mit  der  vordem  Grube. 
Die  Erscheinungen  im  Bereiche  der  Orbita  sind  in  der  Regel  die  des 
Druckes  auf  die  Muskeln  oder  ihre  Nerven  (luscita,  ptosis),  auf  den  Opti- 
cus, Bulbus,  die  Ciliarnerven  (Abnahme  des  Sehvermögens,  Exophthalmus, 
Mydriasis),  auf  Zweige  des  Trigeminus  (Neuralgie,  neuroparalitische  Er- 
scheinungen an  der  Binde-  Hornhaut  u.  s.  w);  es  können  aber  auch  die 
Zufälle  von  Entzündung  der  Periorbita  und  des  Orbitalfettgewebes  auf- 
unil  in  den  Vordergrund  treten.  In  dem  einen,  wie  in  deni  andern  Falle 
werden  daher  die  Nachbarhöhlen   und  Organe  einer  genauen  Durchmuste- 


432  Augenhöhle. 

rung   zu  entwerfen    sein.     (Lehrreiche  Beispiele  hieber  gehörender  Aflec- 
tionen  findet  man  bei  Makenzie  1.  c.  S.  59 — 84.) 


C.  Operationen  in  der  Orbita. 

Die  manuellen  Eingriffe  bei  Abseessen  in  der  Augenhöhle,  bei  durch 
Caries  und  Necrosis  bedingten  Fisteln,  behufs  der  Abstemmung  von  Exo- 
stosen, der  Ausrottung  von  Geschwülsten  u.  s.  w.  gestalten  sich  nach  dt  n 
individuellen  Verhältnissen  so  verschieden,  dass  sich  ausser  den  bereits 
gegebenen  Andeutungen  keine  allgemeinen  Vorschriften  oder  Normen  auf- 
stellen lassen.  Wir  beschränken  uns  daher  bloss  auf  die  Beschreibung 
des  Verfahrens  bei  der  Ausrottung  des  Bulbus  und  bei  der  Ausrottung 
des  gesammten  Inhaltes  der  Orbita.  Beide,  obwohl  wesentlich  verschie- 
den, wurden  bisher  unter  dem  gemeinschaftlichen  Namen  Exstirpatio  bulbi 
zusammengefasst. 

Die  Ausrottung  des  Bulbus  allein  genügt  und  ist  nothwendig,  wenn  die  Ablage- 
gerung  medullärer  oder  nielanotischer  Krebsniasse  bloss  auf  die  Gebilde  des  Bulbus  be- 
schränkt ist,  oder  nach  Durchbruch  der  Sclera  doch  nicht  weit  rückwärts  gedrungen 
ist.  Die  Lage  und  Beschaffenheit  des  Bulbus  und  die  Ananmesis  kann  hierüber  wohl 
meistens  Aufschluss  geben.  Zeigt  sich  während  der  Operation,  dass  die  Krebsniasse 
weiter  rückwärts  greife,  als  man  angenommen  hatte,  so  lässt  sich  das  Entartete  noch 
immer  nachträglich  entfernen.  Die  Beschränkung  der  Ausrottung  auf  den  Bulbus  hat 
aber  nicht  bloss  den  Vortheil  der  leichtern  Ausführbarkeit,  sie  bringt  auch  das  Leben 
des  Kranken  nicht  so  leicht  in  Gefahr,  wie  die  Ausrottung  des  gesammten  Orbitalinhal- 
tes. Wo  es  sich  bloss  um  Volumensverminderung  des  übermässig  ausgedehnten  (staphy- 
lomatösen)  Bulbus  handelt,  wird  man  besser  thun,  bloss  die  l'unction,  oder  die  partielle 
Abtragung  (vergl.  Hornhautstaphylom)  oder,  wie  ich  in  neuester  Zeit  mit  dem  besten 
Erfolge  gethan,  die  Einziehung  eines  Fadens  und  Belassung  bis  zu  hinreichender  Reaction 
vorzunehmen  (nach  Flarer). 

Behufs  der  Ausschälung  des  Bulbus  aus  der  Tunica  vaginalis  (nach 
BonneV)  wird  der  Kranke  narkotisirt  und  bequem  gelagert.  Der  Operateur 
stellt  sich  an  die  rechte  Seite  des  Kranken,  ein  Gehilfe,  der  das  obere 
und  untere  Lid  mit  hakenförmig  gekrümmten,  an  die  innere  Fläche  der 
Lider  einzusetzenden  Platten  (Elevateurs  nach  Desmarres}  auseinander 
zu  ziehen  hat,  zur  Kopfseite,  und  ein  zweiter  Gehilfe,  der  das  Abtupfen 
des  Blutes  besorgt,  zur  linken  Seite  des  Bettes.  Der  Operateur  fasst  den 
Bulbus  mittelst  eines  spitzigen  (einfachen  oder  doppelten)  Hakens,  so  dass 
er  nicht  leicht  ausreissen  kann,  und  führt  mittelst  eines  bauchigen  MeS- 
sers  einen  Bogenschnitt  von  einem  Winkel  zum  andern  erst  am  untern, 
dann  am  obern  Umfange  des  Bulbus,  um  die  Binde-  und  Scheidenhaut  in 
der  Gegend  hinter  der   Insertion  der  M.  recti   zu  trennen,  ergreift  sodaun 


Operationen  in  der  Orbita.  433 

eine  flach  gebogene  Scheere,  durchschneidet  die  Recti  nahe  an  ihrer  In- 
sertion, lost  nun  mit  der  Scheere  (geschlossen)  oder  mit  dem  Sealpell- 
hei'le  die  Sclcrotica  ringsum  von  der  T.  vaginalis  bis  zum  hintern  Umfange 
des  Bulbus,  wo  er  nun  bloss  die  beiden  M.  obliqui  und  den  N.  opticus 
mit  der  Scheere  (vom  äussern  oder  innern  Winkel  aus)  zu  durchschnei- 
den hat.  Die  Blutung  ist  in  der  Regel  unbedeutend  und  wird  leicht  durch 
Einspritzen  kalten  Wassers  gestillt.  So  wie  diess  geschehen,  wird  es  leich 
sein,  mit  dem  Auge  oder  doch  mit  dem  Finger  zu  erkennen,  ob  man  alles 
krankhaft  Entartete  mit  weggenommen,  worüber  in  der  Regel  auch  die  Be- 
sichtigung des  Exstirpirten  Aufschluss  gibt.  Sollte  die  Blutung  stärker 
sein,  so  fülle  man  die  Grube  mit  Charpie  aus,  einfach  oder  mit  einer  Lö- 
sung von  Hesselbach'schem  Pulver  getränkt,  und  führe  dann  eine  Binde 
über  die  Lider  um  den  Kopf.  Die  Charpie  wird  nach  24  Stunden  entfernt 
und  die  Wunde  dann  einfach  gereinigt  und  verbunden. 

Die    Entfernung  sämmtlicher    Weichtheile  aus    der  Orbita   (mit  Ein- 
schluss    der  Thränendrüse)  wird  nothwendig,    wenn  bösartige    Pseudoplas- 
men    sich    über    den    Bulbus     hinaus    oder    bis    zum    Sehnervenloche    er- 
strecken.    Vorbereitung,    Gehilfen  und.  Instrumente  wie  bei  der   Ausschä- 
lung.     Das    erste    Operätionsmoment     besteht    hier    in    der    Spaltung   der 
äussern  Commissur  durch  einen  horizontalen  Schnitt  bis  über  den  Orbital- 
rand hinaus.     Sind  die  Lider  dicht   über  den  stark  hervorgetriebenen,  von 
harten    Geschwülsten    umgebenen    Bulbus    gespannt,    so  löse    man  sie  von 
diesem    Schnitte    aus    gegen    den    innern    Winkel  hin  los,  mit  möglichster 
Schonung   ihrer  Bindehaut,    oder  trage    am  äussern  Winkel  ein    Stück  ab, 
wie    bei  der    Tar.soraphie,  um    die  Lider   dann  freier   auseinander  drängen 
lassen  zu  können.     Der  Bulbus  muss    hier  meistens  mit  den  Fingern  nach 
der    andern  Seite    gedrängt  werden,  wenn    man  mit  dem  Messer  zwischen 
der    harten,  hühnerei-   bis  faustgrossen  Geschwulst    und  dem  Orbitalrande 
in    die  Tiefe    dringen  will.     Der    Blutung  wegen    beginne  man    am  untern 
Rande.   Ob  man  nun  zum  weitern  Eindringen  das  Messer  oder  die  Scheere 
gebrauchen    soll,  wird    sich  im   Momente    des    Operirens  selbst    ergeben 
nur  halte    man  sich  die  Lage   und  Richtung  der  Orbitalwandungen  gegen- 
wärtig  und  verletze  nicht   unnöthiger  Weise  die  Bindehaut.     Wo  und  so- 
bald es  nur  thunligh  ist,  führe   man  den  Finger  als  Leitungssonde  und  an 
diesem  das  schneidende  Instrument  ein.    Ist  es  möglich,  das  Pseudoplasma 
sammt    seiner  Umhüllungsmembran   (von  verdichtetem   Bindegewebe)  ohne 
Zerstücklung    auszuschälen,    oder    unmittelbar   längs  der   glatten   Beinhaut 
vorzudringen,    so  erleichtert   man  sich   das  Beseitigen   des    gleichsam  den 
Stiel    des  Pseudoplasma    bildenden  tiefsten  Theiles,   welcher  oft  mürb  und 

Arll's  Augenheilkunde  111,  2.  28 


434  Augenhöhle. 

brüchig  ist,  und  sich  nicht  gut  mit  Pincetten  fassen  lässt.  Für  den  Fall, 
als  die  Entartung  irgendwo  fest  am  Knochen  sässe,  soll  man  Meissel  und 
Schabeisen  in  Bereitschaft  haben.  Ganz  in  der  Tiefe  kann  man  wohl  nur 
mit  der  Scheere  an  dem  als  Leitungssonde  eingeführten  Finger  operiren. 
Man  erinnere  sich  der  Entfernung  des  Sehnervenloches  von  der  Orbital- 
öffnung und  der  Lage  der  obern  Augenhöhlenspalte.  —  Die  Blutung  sucht 
man  zunächst  durch  Einspritzen  von  Eiswasser  zu  stillen ;  sollte  die  Art. 
ophth.  (die  weit  hinten  noch  an  der  Schläfeseite  des  Opticus  liegt)  stark 
spritzen,  so  würde  man  sie  torquiren  müssen,  was  indess  wohl  nicht  leicht 
vorkommen  wird.  Die  Blutung  ist  meistens  venös,  oft  sehr  reichlich.  Ich 
bin  ihrer  immer,  wenn  nicht  einfach  durch  Eiswasser  und  Tomponade,  so 
mit  Hesselbach'' schem  Pulver  Herr  geworden.  Sollte  das  Glüheisen  not- 
wendig werden,  so  sei  es  von  kleinem  Umfange  und  werde  weder  der 
obern  Wand  noch  der  obern  Augenhöhlenspalte  nahe  gebracht,  weil  sonst 
leicht  Meningitis  entstehen  kann.  —  Die  Thränendrüse  zurückzulassen  ist 
nur  dann  zulässig,  wenn  man  nicht  wegen  Krebs  exstirpirt.  —  Schliess- 
lich wird  die  Wunde  am  äussern  Winkel  durch  die  Naht  vereinigt  und 
die  Orbita  schichtenweise  mit  kleinen  Charpieballen  ausgefüllt.  Wegen  der 
Gefahr  nachträglicher  Blutung  muss  der  Kranke  durch  24—48  Stunden 
unter  steter  Obsorge  bleiben. 


Systematische  Übersicht. 


Diiideliant. 

I.         Anatomie   und  Physiologie    I.  1 

Entzündung:     Cataniius              (Ophthalmia  catarrhalis)  —  8 

(ophth.    cat.    pustularis) —  9 

(ophth.  erysipelatosa) —  10 

(ophth.  senilis) —  11 

ßSennorhoca        (acuta,  Ophthalmoblennorrhoe:!)  —  18 

(chron.,    blepharobletinorrhoea)  —  23 

(gonorrhoica) —  43 

(neonatorum)    —  51 

(sporadica)    —  46 

(atmosphaerica)    —  47 

(militaris,    aegyptiaca,    contag.)  —  63 

Conjunctivitis  membranacea —  85 

Conjunctivitis  scrofulosa    —  88 

Trachoma              (Conjunctivitis    trachomatosa)...  —  106 

Symblepharon    posterius —  125 

Xerophthalmus —  126 

.  (87) 

Distichiasis )  —  128 

Trichiasis    \  —  (\i7>) 

Entropium —  128 

(141) 

Blepharophimosis —  129 

(143) 

Pannus  —  130 

(33,  89) 
Keratektasia  (hydrops  canierac, 

staphyloma  pelluc.  sphaer.).  —  130 
C'onjunct.  bei  Exanthemen,  Blattern,  Masern, 
Scharlach,    chronisch.  Hautaus- 
schlägen    —  148 

28* 


436 


Systematische  Übersicht 


ISänfieliaut. 

fremde  Körper, 
Trennung, 
Verwachsung  : 


Erguss :      von 


Pseudoplasmen 


'Flii'ässeiitiariicikeS. 
II.   Hornhaut. 

Anatomie  und 
Entzündung  : 


Verletzung, 
fremde  Körper, 

Erweichung : 

Geschwüre : 


^  Laesiones  traumaticae 
)         —        cliciuicae 


Blut. 
Luft, 
Serum, 

Eiter, 


Symblepharon!    anterius 

Anchyloblepharon     

Pterygium 

eccbymoma  conj 

emphysema    conj 

oedema  conj 

abscessus  conj 


Partielle  Wucherung' 

Cysten  und  Entozoen  

Warzen  (Verrucae  conj.)  . 
Krebs  (Carcinoma  conj.). 
Krankheiten    derselben 


Physiologie.. 
Keratitis 


Trübungen : 


scrofulosa 

K.  rheumatica  

K.  traumatica   

mechanische     Verletzungen 

Fremde  Körper 

chemische         Verletzungen 

Malaria  corneae 

(Neuroparalyt.  Affectionen)  ... 
Vlcera  corneae 

(Regeneration  de'   Hornhaut)... 

(Narbenbildung)   

Unguis  (onyx) 

Hypopium  (Vergl.  Iritis) 

K  eratokele 

Perforatio  corneae   

Fistula  corneae     

Prolapsus  iridis  (clavus) 

Synechia  anterior  (atresia  pup.) 

Catar.  caps.  centr.  anterior 

Staphyloma    corneae    (opacum) 

Phthisis    ei   applanatio    corneae 

Pbthisis  bulbi    

(Sectionsbef.J 

Defectus  pelluciditatiscongen 

Arcus  senilis   (Geroutoxon)     

Entzündungsresiduen  an  der  Wasserhaut... 

am  Kpithclium 

in  der  Horiihautsuhstauz 


151 
155 

156 
157 
158 
168 
168 
168 
169 
166 
169 
170 
167 
172 

174 
183 
192 
203 
203 
•203 
207 
211 
180 
213 
215 
221 
222 
222 
224 
225 
227 
229 

2m 

232 

236 
214 
245 

245 

(II  171) 

252 
253 
^54 
255 

256 


Systematische   Übersieht. 


437 


Band.  Seite. 

Hornhaut. 

Formfehler:        Abnorme  Wölbung,  (Staphyloma  pelhcidum.) 

Keratoconus  I.  278 

Keratoectasia  ex  panno  —  130 

Kerntoectasia  ex  ulcere  corneae       —  224 

Abnorme  Grösse —  284 

III.  Leder-  und  Sclieideliaut.  (Sclera  et  Tunica  vaginalis  bulbi.) 

Anatomie  und  Physiologie    II.  1 

Entzündung:       Sderitis                  simplex  et  substant —  4 

complic.  et  conseeul —  11 

Verletzung:      Vulnera —  15 

Rupturae —  16 

Ausdehnung:    Staphyloma          sei.  posticuin —  19 

(III.   215  u.  237 

anticum lt.  20 

OL  46,  7  5) 

laterale  —  21 

(II.  160,  175) 

Pseudoplasmen:  Krebs                       (sarcom.  medull.  et  mellan.)...       (II.  237) 

IV.  Regenbogenhaut. 

Anatomie  und  Physiologie —  22 

Entzündung:       Iritis                         im  Allgemeinen    —  35 

(Synechia  posterior)    —  41 

(Atresia  pupillae  —  42 

(Catar.  aecreta)    —  43 

(Hypopium)  —  43 

(209,  229) 

(Hydromeningitis) —  45 

I.  traumatica —  55 

I.  rheumatica —  62 

I.  syphilitica —  65 

I.  scrofulosa —  71 

I.  innominata  (chronica) —  78 

Lagen-  und  Farbenveränderung  (Schlottern,  Vorfall  etc.) —  104 

(I.  229) 

Atrophie:            Atrophia  iridis   (atroph,  bulbi) —  105 

(47) 

Pseudoplasmen:  Krebs                       sarcoma  medull.  et  melan —  106 

Cysticercus          (iridis,  camerae  ant.)  —  108 

(110) 

Motilitätsstörung  Mydriasis              (paralytica  et  spastica) —  112 

Myosis                     paralytica  et  spastica)    —  118 

Mangel,Spalte:   Irideremia             (congenita,  acquisita) —  119 

Coloboma              (congenitum,  acquisitum) —  122 

Pupillenbildung —  131 

V.  Ader haut  (Ciliarkörper). 

Anatomie  und  Physiologie —  147 


438 

Aderliaut. 

Entzündung: 


Systematische  Übersicht. 


Chorioiditis 


Verletzung: 
Bluterguss  : 


Apoplexia 


im  Allgemeinen    

(Sectionsergebnisse)  

Ch.  simplex  (ex  congest.) 
Ch.  arthritica,  Glaucoma... 
Ch.  pyaemica  (metast.)   ... 

Ch.  syphilitica 

Ch.  scrofulosa  (tubercul.) 

Ch.  rheumatica 

Ch.  traumatica 

(panophthalmitis) 

externa  et  interna  


Band. 


II. 


Seite. 


Serumerguss  :     Hydrops 
Pseudoplasmen :  Cysticercus 

Krebs 
Spaltung:  Coloboma 

Pigmentmangel :  Leucosis 


inter  scler.  et  chor.  . ., 

echinococcus  (?) 

sarc.  medull.  et  melan 
(siehe  Col.  iridis)  


congenita  

acquisita  (atroplüa  chorioidae). 


158 

—  159 

—  184 

—  190 

—  209 

—  210 

—  212 

—  218 

—  224 

—  228 

—  231 

(III.  10) 

—  234 

—  235 

—  236 
—  238 

(122) 

—  238 
(III.  240) 


VI.    Hrystallkörper. 

Anatomie   und  Physiologie II. 

Entzündung  der  Linsenkapsel  (?)  — 

Cataracta 


Trübung  : 

Schrumpfung:     Catar.  vieta 

Dislocirung: 


lenticularis 

capsularis 

spuria  (Auflagerung)    

membranacea   (secundaria). . . 

arida  siliquata  

cystica  (tremula,  natalitis)  ... 
Prolapsus  lentis  per  scleram 

in  cameram 

Luxatio  caps.  et  lentis.  (Senkung  der  Linse) 


Verletzung:  Verwundung  der  Kapsel,  Erschütterung  (s.  cat.  vieta) 


Staaroperation :  Extractio 
Dislocatio 
Discissio 


(totatalis,  parital.)  

(reclinatio,  depressio) 

(Keratonyxis,  Scleronyxis) 
(Anzeigen,  Folgen) 


VII.  (Glaskörper. 

Anatomie,  Physiologie III. 

Entzündung  (?)  Exsudate  im  Glaskörper  — 

Bluterguss  

Verflüssigung    

Cysticercus    


239 
263 
250 
260 
264 
267 
269 
270 
271 
271 
275 

(111.  5) 

245 

(267) 

298 
326 
335 
338 

1 

20 
11 
15 
23 


Systematische  Übersicht.  439 

*  III.  Netzhaut  und  Sehnerve.  Band.  Seite 

Anatomie U*.  24 

Physiologie                                            (Theorie  des  Sehens) —  31 

(Entoptische  Erscheinungen) —  —  57 

(Augenspiegel) —  63 

Amblyopie  und  Amaurosis  im  Allgemeinen...  —  89 

Retiualleidcn       angeborene  Schwäche —  99 

mangelhaftnr  Farbensinn —  101 

angeborner  Nachtnebel —  101 

Mangel  an  Übung —  102 

(320) 

Erschütterung —  103 

Blendung    —  106 

Hemeralopie —  109 

Nyktalopie —  112 

Entzündung  der  Netzhaut —  116 

(Ablösung  der  Netzhaut) —  119 

Bluterguss —  133 

Verkältung  (Serumerguss) —  136 

Cystenbildung  —  137 

Markschwamm —  138 

Orbitalamaurose  im  Allgemeinen —  143 

(Krankheiten  der  Orbita) —  422 

Cerebralamaurose  im  Allgemeinen —  144 

Verletzungen  am  Kopfe —  149 

Circulationsstörungen  —  152 

Syphilis —  156 

Unterdrückte  Ausscheidungen..  —  159 
Geschwülste    in    der    Schädel- 
höhle   —  162 

Spinalamaurose —  168 

Sympathische  Amaurose  im  Allgemeinen —  169 

Vom  Trigeminus —  170 

von  Unterleibsleiden —  172 

von   Uterusleiden —  173 

in  Folge  von  Giften    —  174 

von  Erschöpfung —  175 

IX.  Augenmuskeln  (Accommodation). 

Anatomie —  177 

Physiologie —  185 

(Accommodationstheorie) —  196 

Accmmoda-    Kurzsichtigkeit       (Myopia)  —  232 

tionsfehler:    Weitsichtigkeit       (Presbyopia) —  252 

Übersichtigkeit       (Hyperpresbyopia) —  258 

Augenmattigkeit   (Kopiopia,  Asthenopia) —  262 

Brillen  concave  —  245 

convexe —  259 


4W 


Systematische  Übersicht. 


Aug-eumuskeln. 

.Motilitätsstörung :  Paralysis 


Lähmung  der  Augenmuskeln... 

(Doppeltsehen,  binoculäres 

—  tnonoculäres) 

Lähmung  des  musc.  r.  externus 

Oculomotoriuslähmung  

Trochlearislähmung 

Schielen  (Operation) 

Augenzittern 


Strabismus 
Nystagmus 
\.  Augenlider. 

Anatomie,  Physiologie  

Entzündung  :         Hautentzündung  Phlegmone 

Erysipel , 

Chron.  Ödem 

Furunkel , 

Zellgewebsentzünduiig',  Ahscess 

Drüsenentzündung  Hordeolum  ... 

Chalazion 


Pseudoplasmen 


Motilitätsstör, 


Lähmung 


Krampr 


Fehlerh.  Lage:      Entropium 


Ectropium 


Verwachsung  :  Symblepharon 


Blepharitis  marginal is 

(Phthiriasis) 

Milium  i 

Hydatis 

Atheroma l 

Warzen  ( Verruca)  

Teleangyektasia 

Krebs  (epitelioma) 

Zittern  der  Lider 

Insufficienz  des  Schliessmuskels 
Lähmung  des  Schliessmuskels  . 
blepharoptosis  paralyt l 

mechan.  (ptosis)  \ 
Spastische  Contraction 

(blepharospasinus) 
von  Bindehautschrumpfung  ... 


von  Blepharospasmus 

senile 

sarcomatosuni 

senile  et  paralyticum . 

von  Hautvcrlust , 

(Blepharoplastik) 

posterius  


anterins 


Anchyloblepharoo 


land.  Sejle. 

III.  269 

—  270 

—  271 

—  279 

—  283 

—  290 

—  294 

—  334 

—  337 

—  345 

—  346 

—  346 

—  346 

—  347 

—  351 

—  356 

—  356 

—  357 

—  357 

—  358 

—  361 

—  362 

—  362 

—  363 

—  3G3 

(I.  91) 

—  366 
(I.  118,  143) 

—  366 

—  366 

—  368 

—  371 

—  371 

—  (374) 

—  375 

(I  125) 

—  375 

(I.  155) 

—  375 

(I.  157^ 


Systematische  Übersicht.  441 

Band.  Seile. 

Augenlider. 

Spaltung:               t'olohoina          congenitum III.  376 

Mangel:                  Defcctus  et  destrnetio  pafp —  376 

(Epicanthus) —  376 

XI.  'flTEiräiienorg-nnt'. 

Anatomie:                                               der  ThränendrQse —  377 

des  Thränenschlauches —  378 

der  Thränenröhrchen  -  382 

Physiologie                                           (Theor.d. Fortleitung  d.Thränen)  —  383 

Krankheiten:           der  Thräiiendrüse —  390 

der  Thränenröhrchen —  392 

des  Thränenschlauches —  394 

Blennorrhoea  sacci  lacrym —  394 

(Atonia  sacci  1.) ,  qq» 

(Hydrops  sacci  1.) j 

Dacryocystitis —  401 

(Anchylops) —  (402) 

Fistula  sacci  lacrym —  404 

(Geschichtliche  Notizen  : —  (416) 

XII.  Orbita. 

Anatomie,  Physiologie  —  419 

Krankheiten   der  Orbita                        im  Allgemeinen  —  422 

(Exophthalmus!  —  423 

(Prolapsus  s.  ptosis    hulbij -  423 

der  Gefässe      aneurysma  arter    ophth —  423 

teleangyektasia  orh —  424 

des  Fettgewebes  Entzündung —  425 

%        (acutes    Odem) 

(Eiteransammlung) 

(Tuberkelablagerung) 

(Hypertrophie) —  426 

Hyperämie 

Apoplexie  —  427 

Geschwülste —  428 

der  Knochen  und  Beinhaut —  429 

Entzündung  —  429 

(Caries,  Necrosis; 

(Hyperostosis,  Exostosis) 

(Osteosarcoma) 

Verletzungen   —  429 

Formveränderung  (l'sur)     —  431 

Operationen  in  der  Orbita    (exstirpatio  bulbij —  432 


29 


Prag, 

Druck  der  k.   k.  Hofhnchdnickerei  von  Göltlieb  II  ;ase  Söhne 

1859. 


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