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Full text of "Die Lyrischen Meisterstücke;"

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1 


Die  Meisterstucke  der  deutschen  Lyrik.   IV 


DIE   LYRISCHEN    MEISTERSTUCKE 

VON 

JOHANN  WOLFGANG  VON  GOETHE 

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129 


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DIE 

LYRISCHEN 

MEISTERSTUCKE 

VON 

GOETHE 

ZWEITER  BAND 


l-MIT-EinLEITUnC-UnD-ANMEßKUflGEn 
W  _^m     VON     ^^m. 


RICMARDMMEYER, 


LEIPZIG 

•VERLAGVOttWILnELMWEICnER- 


DIE 

LYRISCHEN   MEISTERSTÜCKE 

VON 

JOHANN    WOLFGANG 

VON    GOETHE 

IN    ZWEI    BÄNDEN 


Mit  Einleitung  und  Anmerkungen 

von 

RICHARD   M.  MEYER 


ZWEITER    BAND 


Leipzig:  "Wilhelm  Weicher,  Inselstrasse  lo,  p.r. 

Paris  :    A.   Perche,  45  Rue  Jacob 

Bruxelles  :    Spineux   &   Cie,   3    Rue   du  Bois  Sauvage 

Lausanne:    Edwin  Frankfurter,   12  Grand-Chene 

London  &  Glasgow  :  Gowans  &  Gray,  Ltd. 

1908 


INHALT 
GEDICHTE.      ZWEITER   THEIL 

SONXTTE  SEITE 

Mächtiges  UberrascJun         ------         i 

Rtisezehrung     --------I 

Abschied-  --------2 

Epoche    ---------3 

VERMISCHTE  GEDICHTE 
KLiggesang        --------^ 

NLahomets  Gesang       _.-----        6 

Gesang  der  Geister  über  den  Wassern      -  -  -  -        8 

Meine  Göttin    -  -  -  -  -  -  -  -lO 

Harzreise  im  IVinter  -  -  -  -  -  -12 

An  Schivjger  Kronos  -  -  -  -  -  "*5 

IVandrers  Sturmlied  -  -  -  -  -  -  -16 

Seefahrt  -  -  -  -  -  -  -  "  -20 

Prometheus        -  -  -  -  ■  ~  "  -21 

Ganijtned  -  -  -  -  -  -  *  "-3 

Grunzen  der  Menschheit      -  -  -  -  -  "-4 

Das  Göttliche -  -  -26 

Lilt's  Park i!^ 

Liebebedürfniss  -  -  -  -  -  -  -  "3- 

Morgenklagen   -  -  -  -  -  -  -  "33 

Der  Besuch       -  -  -  -  -  -  -  "35 

Der  Becher       -  -  -  -  -  -  -  "37 

Nachtgedanken  -  -  -  -  -  -  -  "3^ 

An  Lida  .-------38 


vi  INHALT 

SEITE 
Im  Vorübergehn  -  -  -  -  -  -  "38 

AUS  WJLIIELM  MEISTER 

Heiss  mich  nicht  reden,  he'tss  mich  schiveigen  -  -  "39 

Nur  iver  die  Sehnsucht  kennt          -           .  .  -  .      ^o 

So  las  st  mich  scheinen,  bis  ich  iver  Je         -  -  -  .      40 

IVer  sich  der  Einsamkeit  ergibt       -           -  -  -  "41 

An  die  Thüren  ivill  ich  schleichen  -           -  -  -  -      42 

Pi^er  nie  sein  Brot  mit  Thronen  ass          -  -  -  -     42 
Fhiline    -.------.42 

ANTIKER  FORM  SICH  NÄHERND 
Warnung  -._-._--      44 

Einsamkeit         --------      44 

Erivählter  Fels  ---..--44 

Spiegel  der  Muse        -  -  -  -  -  -  -45 

Schiveizeralpe  --------4^ 

AN  PERSONEN 
Ilmenau  -------«-46 

KUNST 
Der  Wandrer  --.-----52 
Amor  als  Landschaf tsmahler  -  -  -  •  "59 

ALTERSLYRIK 

Trilo^ie  der  Leidenschaft 

An  Werther       -------      61 

Elegie        -  -  -  -  -  -  -  "63 

Aussöhnung         -  -  -  -  -  -  -68 

Aolsharfen         -  -  -  -  -  -  -  -68 

Mai 70 

Zivischen  beiden  Welten       -  -  -  -  -  "7* 

GOTT   UND   WELT 

Proamion  -  -  -  -  -  -  -  "7' 

Weltseele  --------72 


INHALT  VM 

SEITE 
Dauer  im  Wechsel      -  -  -  -  -  -  "73 

Eins  und  Alles  --.-----'7<f 

Vermächtniss     -  -  -  -  -  -  -  -76 

Metamorphose  der  Thiere     -  -  -  -  -  "77 

Die  Reliquien  Schill::  rs  -  -  -  -  -  -80 

Urivorte.      Orphisch  -  -  -  -  -  -  -81 

HoivarJs  Ehr  engedächt  niss  -  -  -  -  -  -83 

Lebensgenuss      --------      84 

Schlusspoetik      -  -  -  -  -  -  -  -      %± 

Zahme  Xenien 

Wenn  im  Unendlichen  dasselbe  -  -  -  -      85 

Vom  Vater  hab'  ich  die  Statur         -  -  -  -      86 

Theilen  kann  ich  flieht  das  Leben      -  -  -  -      86 

VERSTREUTE    LYRIK 

AUS  PANDORA  [1808] 
Der  Seligkeit  Eülle  die  hab'  ich  empfunden  /      -  -  -      86 

Wer  "von  der  Schönen  zu  scheiden  •verdammt  ist  -  "      ^7 

AUS  WILHELM  MUSTERS  WANDERJAHREN   [1821] 
Ein  Wunder  ist  der  arme  Mensch  geboren  -  -  -      88 

AUS  FAUST,   ZWEITER  THl.IL  [1831] 
Trauergesang    -  -  -  -  -  -  -  -89 

Lied  des  Lynceus         --.--._^0 

WEST-ÖSTLICHER    DIVAN   [1814-1819] 
Hegire     ---------      go 

Seiigt  Sehnsucht  -  -  -  -  -  -  -9z 

Versunken  -  -  -  -  -  -  -  "93 

Schlechter  Trost  -  -  -  -  -  -  "93 

"  Die  Jahre  nahmen  dir,  du  sagst,  so  vieles  "  -  -  -      94 

An  Suleika        ........      94 

Gingo  biloba       -  -  -  -  -  -  -  "95 

Volk  und  Knecht  und  Uberzvinder  -  -  -  "95 


viii  INHALT 

SEITE 
Hatem     ---------^6 

An  "vollen  Büschelziveigen    -           -           »           -  -  -^y 

Deinem  Blick  mich  zu  bequemen      -           -           -  -  -      97 

IViederßnden      -           -           -           -           -           -  -  -98 

In  tausend  Formen  magst  du  dich  verstecken,      -  -  -      99 

Vermächtniss  altpersischen  Glaubens         -           -  -  -    loo 

£inlass    -           -           -           -           -           -           -  '  -103 

Lasst  mich  iveinen/   umschränkt  von  Macht      -  -  -    104 

LETZTES    LIEDERBUCH 

CHINESISCH-DEUTSCHE  JAHRESZEITEN  [1827] 

Ziehn  die  Schafe  von  der  JViese,    -           -           -  -  -105 

D'dmmrung  senkte  sich  von  oben      -           -           -  •  -105 

ABSCHIEDSKLÄNGE 

CURISTMNE 

Du  versuchst.  0  Sonne,  vergebens  -           -           -  -  -106 

£in  rascher  Sinn,  der  keinen  Ziveifel  hegt,       -  -  -    106 

LOKD  BYRON   [1829] 

Ein  freundlich  IVort  kommt  eines  nach  dem  andern  -  -    106 

An  Lord  Byron           -           -           -           -           -  -  -107 

AN  DIE  NEUNZEHN  FREUNDE  IN  ENGLAND 

Worte,  die  der  Dichter  spricht       -           -           -  -  -    I07 

DICHTUNG  UND  WELT 

Dem  au/gehenden  Vollmonde            -           -           -  -  -lOo 

Früh  ivenn  Thal,   Gebir^  und  Garten      -           -  -  -    108 

IVenn  ich  mir  in  stiller  Seele          -          -           -  -  -    109 

Worte  sind  der  Seele  Bild —            -           -           -  -  -    109 


T.   W.  VON    GOETHE 

GEDICHTE.   ZVrEITE?.  THEIL.    1815 
50 NETTE 

EIN  Strom  entracscht  um--    '  ^  ' 

Dem  Ocean  «ich  cüig  2_     .::_..  . 
Was  aoch  sich  spiegeln  mag  von    Grund  zu 

Gnioden, 
Er  wandeit  miaiifhaltsam  fort  za  Thale. 

Dämonisch  aber  stürzt  mit  einem  Male — 

Ihr  folgten  Berg  und  Wald  in  Wirbelwinden — 

Sich  Oreas,  Behagen  dort  za  finden. 

Und  hemmt  den  Lauf,  begränzt  die  weite  Schale« 

Die  Welle  sprüht,  nnd  staunt  zurück  und  weichet. 
Und  schwillt  bergan,  sich  immer  selbst  zu  trin  ken ; 
Gehemmt  ist  nun  zum  Vater  hin  das  Streben. 

Sie  schwankt  und  ruht,  zum  See  zurückgedeichet ; 
Gestirne,  spiegelnd  sich,  beschaun  das  Blinken 
Des  Wellenschlags  am  Fels,  ein  neues  Leben« 

ENTW^ÖHNEN  sollt'  ich  mich  vom  Glanz  der 
Blicke, 
Mein  Leben  sollten  sie  nicht  mehr  Terschöncn« 
130  I 


J.   W.   VON   GOETHE 

Was   man    Geschick    nennt,    l'ässt    sich    nicht 

versöhnen, 
Ich  weiss  es  wohl  und  trat  bestürzt  zurücke 

Nun  wusst'  ich  auch  von  keinem  weitern  Glücke  ; 
Gleich  fing  ich  an  von  diesen  und  von  jenen 
Nothwend'gen  Dingen  sonst  mich  zu  entwöhnen: 
Nothwendig  schien  mir  nichts  als  ihre  Blicke. 

Des  Weines  Gluth,  den  Vielgenuss  der  Speisen, 

Bequemlichkeit  und  Schlaf  und  sonst' ge  Gaben, 
Gesellschaft  wies  ich  weg,  dass  wenig  bliebe. 

So  kann  ich  ruhig  durch  die  Welt  nun  reisen  : 
Was  ich  bedarf  ist  überall  zu  haben. 
Und  Unentbehrlichs  bring'  ich  mit — die  Liebe. 


Abschied 

WAR  unersättlich  nach  viel  tausend  Küssen, 

Und  musst'  mit  Einem  Kuss  am  Ende  scheiden. 
Nach  herber  Trennung  tiefempfundnen  Leiden 
War  mir  das  Ufer,  dem  ich  mich  entrissen, 

Mit  Wohnungen,  mit  Bergen,  Hügeln,  Flüssen, 

So  lang  ich's  deutlich  sah,  ein  Schatz  der  Freuden; 
Zuletzt  im  Blauen  blieb  ein  Augenweiden 
An  fernentwichnen  lichten  Finsternissen. 

Und  endlich,  als  das  Meer  den  Blick  umgränzte, 
Fiel  mir  zurück  in's  Herz  mein  heiss  Verlangen; 
Ich  suchte  mein  Verlornes  gar  verdrossen. 

Da  war  es  gleich  als  ob  der  Himmel  glänzte  ; 

Mir  schien,  als  wäre  nichts  mir,  nichts  entgangen. 
Als  hätt'  ich  alles,  was  ich  je  genossen. 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Epoche 

MIT  Flammenschrift  war  innigst  eingeschrieben 
Petrarca's  Brust,  ror  allen  andern  Tagen, 
Charfreitag.      Eben  so,  ich  darf's  wohl  sagen, 
Ist  mir  Advent  von  Achtzehnhundert  sieben. 

Ich  fing  nicht  an,  ich  fuhr  nur  fort  zu  lieben 

Sie,  die  ich  früh  im  Herzen  schon  getragen, 
Dann  wieder  weisHch  aus  dem  Sinn  geschlagen, 
Der  ich  nun  wieder  bin  an's  Herz  getrieben. 

Petrarca's  Liebe,  die  unendlich  hohe. 

War  leider  unbelohnt  und  gar  zu  traurig. 
Ein  Herzensweh,  ein  ewiger  Charfreitag  ; 

Doch  stets  erscheine,  fort  und  fort,  die  frohe, 
Süss,  unter  Palmenjubel,  wonneschaurig, 
Der  Herrin  Ankunft  mir,  ein  ew'ger  Maitag. 

VERMISCHTE   GEDICHTE 

Klaggesang 
von  der  edlen  Frauen  des  Asan  Aga,  aus  dem  Ldorlack'tschen 

WAS  ist  Weisses  dort  am  grünen  Walde  ? 

Ist  es  Schnee  wohl  oder  sind  es  Schwäne  ? 

War'  es  Schnee,  er  wäre  weggeschmolzen  ; 

Wären's  Schwäne,  wären  weggeflogen. 

Ist  kein  Schnee  nicht,  es  sind  keine  Schwäne, 

's  ist  der  Glanz  der  Zelten  Asan  Aga. 

Niederlicgt  er  drin  an  seiner  Wunde  ; 

Ihn  besucht  die  Mutter  und  die  Schwester, 

Schamhaft  säumt  sein  Weib,  zu  ihm  zu  kommen. 

3 


J.    W.    VON   GOETHE 

Als  nun  seine  Wunde  linder  wurde, 
Liess  er  seinem  treuen  Weibe  sagen  : 
"  Harre  mein  nicht  mehr  an  meinem  Hofe, 
Nicht  am  Hofe  und  nicht  bei  den  Meinen.'* 

Als  die  Frau  dies  harte  Wort  vernommen, 
Stand  die  Treue  starr  und  voller  Schmerzen, 
Hört  der  Pferde  Stampfen  vor  der  Thüre, 
Und  es  deucht  ihr,  Asan  kam',  ihr  Gatte, 
Springt  zum  Thurme,  sich  herab  zu  stürzen. 
Angstlich  folgen  ihr  zwei  liebe  Töchter, 
Rufen  nach  ihr,  weinend  bittre  Thränen  : 
*'  Sind  nicht  unsers  Vaters  Asan  Rosse, 
Ist  dein  Bruder  Pintorowich  kommen  !  " 

Und  es  kehret  die  Gemahlin  Asans, 
Schiinst  die  Arme  jammernd  um  den  Bruder  : 
"  Sieh  die  Schmach,  o  Bruder,  deiner  Schwester  ! 
Mich  Verstössen,  Mutter  dieser  fünfe  !  " 

Schweigt  der  Bruder,  ziehet  aus  der  Tasche, 

Eingehüllet  in  hochrothe  Seide, 
Ausgefertiget  den  Brief  der  Scheidung, 
Dass  sie  kehre  zu  der  Mutter  Wohnung, 
Frei  sich  einem  andern  zu  ergeben. 

Als  die  Frau  den  Trauer-Scheidbrief  sähe, 
Küsste  sie  der  beiden  Knaben  Stirne, 
Küsst'  die  Wangen  ihrer  beiden  Mädchen. 
Aber  ach  !    vom  Säugling  in  der  Wiege 
Kann  sie  sich  im  bittern  Schmerz  nicht  reissen  ! 

Reisst  sie  los  der  ungestüme  Bruder, 
Hebt  sie  auf  das  muntre  Ross  behende, 
Und  so  eilt  er  mit  der  bangen  Frauen 
G'rad  nach  seines  Vaters  hoher  Wohnung. 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Kurze  Zeit  war*s,  noch  nicht  sieben  Tage  ; 
Kurze  Zeit  g'nug  ;   von  viel  grossen  Herren 
Unsre  Frau  in  ihrer  Witwen-Trauer, 
Unsre  Frau  zum  Weib  begehret  wurde. 

Und  der  grösste  war  Imoski's  Cadi ; 
Und  die  Frau  bat  weinend  ihren  Bruder: 
**  Ich  beschwüre  dich  bei  deinem  Leben, 
Gib  mich  keinem  andern  mehr  zur  Frauen, 
Dass  das  Wiedersehen  meiner  Heben 
Armen  Kinder  mir  das  Herz  nicht  breche  !  " 

Ihre  Reden  achtet  nicht  der  Bruder, 

Fest,  Imoski's  Cadi  sie  zu  trauen. 

Doch  die  Gute  bittet  ihn  unendlich  : 

'*  Schicke  wenigstens  ein  Blatt,  o  Bruder, 

Mit  den  Worten  zu  Imoski's  Cadi : 

Dich  begrüsst  die  junge  Wittib  freundlich. 

Und  lässt  durch  dies  Blatt  dich  höchlich  bitten, 

Dass,  wenn  dich  die  Suaten  herbegleiten. 

Du  mir  einen  langen  Schleier  bringest, 

Dass  ich  mich  vor  Asans  Haus  verhülle. 

Meine  lieben  Waisen  nicht  erblicke." 

Kaum  ersah  der  Cadi  dieses  Schreiben, 
Als  er  seine  Suaten  alle  sammelt. 
Und  zum  Wege  nach  der  Braut  sich  rüstet, 
Mit  den  Schleier,  den  sie  heischte,  tragend. 

Glücklich  kamen  sie  zur  Fürstin  Hause, 
Glücklich  sie  mit  ihr  vom  Hause  wieder. 
Aber  als  sie  Asans  Wohnung  nahten. 
Sahn  die  Kinder  oben  ab  die  Mutter, 
Riefen  :    "  Komm  zu  deiner  Halle  wieder  ! 
Iss  das  Abendbrot  mit  deinen  Kindern  !  '* 
Traurig  hört'  es  die  Gemahlin  Asans, 

5 


J.   W.    VON   GOETHE 

Kehrete  sich  zu  der  Suaten  Fürsten : 
*'  Lass  doch,  lass  die  Suaten  und  die  Pferde 
Halten  wenig  vor  der  Lieben  Thiire, 
Dass  ich  meine  Kleinen  noch  beschenke." 

Und  sie  hielten  vor  der  Lieben  Thüre, 
Und  den  armen  Kindern  gab  sie  Gaben  ; 
Gab  den  Knaben  goldgestickte  Stiefel, 
Gab  den  Mädchen  lange  reiche  Kleider, 
Und  dem  Säugling,  hültios  in  der  Wiege, 
Gab  sie  für  die  Zukunft  auch  ein  Röckchen. 

Das  beiseit  sah  Vater  Asan  Aga, 

Rief  gar  traurig  seinen  lieben  Kindern  : 

"  Kehrt  zu  mir,  ihr  lieben  armen  Kleinen  ; 

Eurer  Mutter  Brust  ist  Eisen  worden, 

Fest  verschlossen,  kann  nicht  Mitleid  fühlen." 

Wie  das  hörte  die  Gemahlin  Asans, 
Stürzt'  sie  bleich  den  Boden  schütternd  nieder, 
LTnd  die  Seel'  entfloh  dem  bangen  Busen, 
Als  sie  ihre  Kinder  vor  sich  fliehn  sah. 


Mahomets  Gesang 

SEHT  den  Felsenquell, 

Freudehell, 

Wie  ein  Sternenblick  ; 

Über  Wolken 

Nährten  seine  Jugend 

Gute  Geister 

Zwischen  Klippen  im  Gebüsch, 

Jünglingfrisch 

Tanzt  er  aus  der  Wolke 

Auf  die  Marmorfelsen  nieder, 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Jauchzet  wieder 
Nach  dem  Himmel. 

Durch  die  Gipfelg'änge 
Jai2t  er  bunten  Kieseln  nach. 
Und  mit  frühem  Führertritt 
Reisst  er  seine  Bruderquellen 
Mit  sich  fort. 

Drunten  werden  in  dem  Thal 
Unter  seinem  Fusstritt  Blumen, 
Und  die  Wiese 
Lebt  von  seinem  Hauch. 

Doch  ihn  hält  kein  Schattenthal, 

Keine  Blumen, 

Die  ihm  seine  Knie'  umschlingen, 

Ihm  mit  Liebes- Augen  schmeicheln: 

Nach  der  Ebne  dringt  sein  Lauf 

Schlangenwandelnd. 

Bäche  schmiegen 

Sich  geselHg  an.      Nun  tritt  er 

In  die  Ebne  silberprangend. 

Und  die  Ebne  prangt  mit  ihm. 

Und  die  Flüsse  von  der  Ebne 

Und  die  Bäche  von  den  Bergen 

Jauchzen  ihm  und  rufen  :    Bruder  ! 

Bruder,  nimm  die  Brüder  mit. 

Mit  zu  deinem  alten  Vater, 

Zu  dem  ew'gen  Ocean, 

Der  mit  ausgespannten  Armen 

Unser  wartet. 

Die  sich  ach  !    vergebens  öffnen, 

Seine  Sehnenden  zu  fassen  ; 

Denn  uns  frisst  in  öder  Wüste 


J.   W.    VON   GOETHE  % 

V 

Gier'ger  Sand  ;   die  Sonne  droben 
Saugt  an  unserm  Blut ;   ein  Hügel 
Hemmet  uns  zum  Teiche  !    Bruder, 
Nimm  die  Bri.ider  von  der  Ebne, 
Nimm  die  Brüder  von  den  Bergen 
Mit,  zu  deinem  Vater  mit ! 

Kommt  ihr  alle  ! — 
Und  nun  schwillt  er 
Herrlicher  ;   ein  ganz  Geschlechte 
Trägt  den  Fürsten  hoch  empor  ! 
Und  im  rollenden  Triumphe 
Gibt  er  Ländern  Namen,  Städte 
Werden  unter  seinem  Fuss. 

Unaufhaltsam  rauscht  er  weiter, 
Lässt  der  Thürme  Flammengipfel, 
Marmorhäuser,  eine  Schöpfung 
Seiner  Fülle,  hinter  sich. 

Cedernhäuser  trägt  der  Atlas 
Auf  den  Riesenschultern  :   sausend 
Wehen  über  seinem  Haupte 
Tausend  Flaggen  durch  die  Lüfte, 
Zeugen  seiner  Herrlichkeit. 

Und  so  trägt  er  seine  Brüder, 
Seine  Schätze,  seine  Kinder, 
Dem  erwartenden  Erzeuger 
Freudebrausend  an  das  Herz. 


Gesang   der   Geister  üher  den   Wassern 

DES  Menschen  Seele 
Gleicht  dem  Wasser : 
Vom  Himmel  kommt  es. 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Zum  Himmel  steigt  es, 
Und  wieder  nieder 
Zur  Erde  muss  es, 
Ewig  wechselnd. 

Strömt  von  der  hohen 
Steilen  Felswand 
Der  reine  Strahl, 
Dann  stäubt  er  lieblich 
In  Wolkenwellen 
Zum  glatten  Fels, 
Und  leicht  empfangen, 
Wallt  er  verschleiernd, 
Leisrauschend, 
Zur  Tiefe  nieder. 

Ragen  Klippen 
Dem  Sturz  entgegen, 
Schäumt  er  unmuthig 
Stufenweise 
Zum  Abgrund. 

Im  flachen  Bette 

Schleicht  er  das  Wiesenthal  hin. 

Und  in  dem  glatten  See 

Weiden  ihr  Antlitz 

Alle  Gestirne. 

Wind  ist  der  Welle 
Lieblicher  Buhler  ; 
Wind  mischt  vom  Grund  aus 
Schäumende  Wogen. 

Seele  des  Menschen, 
Wie  gleichst  du  dem  Wasser  ! 
Schicksal  des  Menschen, 
Wie  gleichst  du  dem  Wind  ! 


J.   W.    VON   GOETHE 

Meine   Gottin 

WELCHER  Unsterblichen 
Soll  der  höchste  Preis  sein  ? 
Mit  niemand  streit'  ich, 
Aber  ich  geb'  ihn 
Der  ewig  beweglichen, 
Immer  neuen, 
Seltsamen  Tochter  Jovis, 
Seinem  Schooskinde, 
Der  Phantasie. 

Denn  ihr  hat  er 

Alle  Launen, 

Die  er  sonst  nur  allein 

Sich  vorbehält. 

Zugestanden, 

Und  hat  seine  Freude 

An  der  Thörin. 

Sie  mag  rosenbekränzt 
Mit  dem  Lilienstengel 
Blumenthäler  betreten, 
Sommervögeln  gebieten. 
Und  leichtnährenden  Thau 
Mit  Bienenlippen 
Von  Bliithen  saugen : 

Oder  sie  mag 

Mit  fliegendem  Haar 

Und  düsterm  Blicke 

Im  Winde  sausen 

Um  Felsen  wände, 

Und  tausendfarbig. 

Wie  Morgen  und  Abend, 

Immer  wechselnd, 

lO 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Wie  Mondesblicke, 
Den  Sterblichen  scheinen. 

Lasst  uns  alle 
Den  Vater  preisen  ! 
Den  alten  hohen, 
Der  solch  eine  schöne 
Unverwelkliche  Gattin 
Dem  sterblichen  Menschen 
Gesellen  mögen  ! 

Denn  uns  allein 
Hat  er  sie  verbunden 
Mit  Himnielsband, 
Und  ihr  geboten. 
In  Freud'  und  Elend, 
Als  treue  Gattin 
Nicht  zu  entweichen. 

Alle  die  andern 
Armen  Geschlechter 
Der  kinderreichen 
Lebendigen  Erde 
Wandeln  und  weiden 
In  dunkelm  Genuss 
Und  trüben  Schmerzen 
Des  augenblicklichen 
Beschränkten  Lebens, 
Gebeugt  vom  Joche 
Der  Nothdurft. 

Uns  aber  hat  er 
Seine  gewandteste 
Verzärtelte  Tochter, 
Freut  euch  !   gegönnt. 
Begegnet  ihr  lieblich, 

II 


J.    \V.    VON   GOETHE 

Wie  einer  Geliebten  ! 
Lasst  ihr  die  Würde 
Der  Frauen  im  Haus  ! 

Und  dass  die  alte 
Schwiegermutter  Weisheit 
Das  zarte  Seelchen 
Ja  nicht  beleid'ge ! 

Doch  kenn'  ich  ihre  Schwester, 
Die  ältere,  gesetztere, 
Meine  stille  Freundin  : 
O  dass  die  erst 
Mit  dem  Lichte  des  Lebens 
Sich  von  mir  wende, 
Die  edle  Treiberin, 
Trösterin  HolFnuns  ! 


Harzretse  im   Wtnter 

DEM  Geier  gleich. 

Der  auf  schweren  Morgenwolken 

Mit  sanftem  Fittig  ruhend 

Nach  Beute  schaut, 

Schwebe  mein  Lied. 

Denn  ein  Gott  hat 
Jedem  seine  Bahn 
Vorgezeichnet, 
Die  der  Glückliche 
Rasch  zum  freudigen 
Ziele  rennt : 
Wem  aber  L^nglück 
Das  Herz  zusammenzog, 
Er  sträubt  vergebens 

12 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Sich  gegen  die  Schranken 
Des  ehernen  Fadens, 
Den  die  doch  bittre  Schere 
Nur  einmal  lös't. 

In  Dickichts-Schauer 
Drängt  sich  das  rauhe  Wild, 
Und  mit  den  Sperlingen 
Haben  länost  die  Reichen 
In  ihre  Sümpfe  sich  gesenkt. 

Leicht  ist's  folgen  dem  Wagen, 
Den  Fortuna  führt, 
Wie  der  gemächliche  Tross 
Auf  gebesserten  Wegen 
Hinter  des  Fürsten  Einzug. 

Aber  abseits  wer  ist's  ? 

In's  Gebüsch  verliert  sich  sein  Pfad, 

Hinter  ihm  schlagen 

Die  Sträuche  zusammen. 

Das  Gras  steht  wieder  auf. 

Die  Ode  verschlingt  ihn. 

Ach,  wer  heilet  die  Schmerzen 

Dess,  dem  Balsam  zu  Gift  ward  ? 

Der  sich  Menschenhass 

Aus  der  Fülle  der  Liebe  trank  ? 

Erst  verachtet,  nun  ein  Verächter, 

Zehrt  er  heimlich  auf 

Seinen  eignen  Werth 

In  ung'nügender  Selbstsucht. 

Ist  auf  deinem  Psalter, 
Vater  der  Liebe,  ein  Ton 
Seinem  Ohre  vernehmlich, 
So  erquicke  sein  Herz  1 

»3 


J.   W.   VON   GOETHE 

Offne  den  umwölkten  Blick 
Über  die  tausend  Quellen 
Neben  dem  Durstenden 
In  der  Wüste. 

Der  du  der  Freuden  viel  schaffst, 
Jedem  ein  überfliessend  Mass, 
Segne  die  Brüder  der  Jagd 
Auf  der  Fährte  des  Wilds 
Mit  jugendlichem  Uberrauth 
Fröhlicher  Mordsucht, 
Späte  Rächer  des  Unbills, 
Dem  schon  Jahre  vergeblich 
Wehrt  mit  Knütteln  der  Bauer. 

Aber  den  Einsamen  hülF 

In  deine  Goldwolken ! 

Umgib  mit  Wintergrün, 

Bis  die  Rose  wieder  heranreift, 

Die  feuchten  Haare, 

O  Liebe,  deines  Dichters  ! 

Mit  der  dämmernden  Fackel 

Leuchtest  du  ihm 

Durch  die  Furten  bei  Nacht, 

Über  grundlose  Wege 

Auf  öden  Gefilden  ; 

Mit  dem  tausendfarbigen  Morgen 

Lachst  du  in's  Herz  ihm  ; 

Mit  dem  beizenden  Sturm 

Trägst  du  ihn  hoch  empor  ; 

Winterströme  stürzen  vom  Felsen 

In  seine  Psalmen, 

Und  Altar  des  lieblichsten  Danks 

Wird  ihm  des  gefürchteten  Gipfels 

Schneebehangner  Scheitel, 


»4 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Den  mit  Geisterreihen 
Kränzten  ahnende  Völker. 

Du  stehst  mit  unerforschtem  Busen 

Geheimnissvoll  offenbar 

Über  der  erstaunten  Welt, 

Und  schaust  aus  Wolken 

Auf  ihre  Reiche  und  Herrlichkeit, 

Die  du  aus  den  Adern  deiner  Brüder 

Neben  dir  wässerst. 


jin  Schwager  Kronos 

SPUDE  dich,  Kronos! 
Fort  den  rasselnden  Trott ! 
Bergab  gleitet  der  Weg  ; 
Ekles  Schwindeln  zöoert 

o 

Mir  vor  die  Stirne  dein  Zaudern. 
Frisch,  holpert  es  gleich, 
Über  Stock  und  Steine  den  Trott 
Rasch  in's  Leben  hinein  ! 

Nun  schon  wieder 
Den  erathmenden  Schritt 
Mühsam  Berg  hinauf! 
Auf  denn,  nicht  träge  denn, 
Strebend  und  hoffend  hinan  ! 

Weit,  hoch,  herrlich  der  Blick 
Rings  in's  Leben  hinein. 
Vom  Gebirg'  zum  Gebirg' 
Schwebet  der  ewige  Geist, 
Ewigen  Lebens  ahndevoll. 

Seitwärts  des  Uberdachs  Schatten 
Zieht  dich  an, 

»5 


J.   W.   VON   GOETHE 

Und  ein  Frischung  verheissender  Blick 
Auf  der  Schwelle  des  Mädchens  da. 
Labe  dich  ! — Mir  auch,  Mädchen, 
Diesen  schäumenden  Trank, 
Diesen  frischen  Gesundheitsblick  ! 

Ab  denn,  rascher  hinab  ! 
Sieh,  die  Sonne  sinkt ! 
Eh'  sie  sinkt,  eh'  mich  Greisen 
Ergreift  im  Moore  Nebelduft, 
•    Entzahnte  Kiefer  schnattern 
Und  das  schlotternde  Gebein. 

Trunknen  vom  letzten  Strahl 
Reiss  mich,  ein  Feuermeer 
Mir  im  schäumenden  Aug', 
Mich  geblendeten  Taumelnden 
In  der  Hölle  nächtliches  Thor. 

Töne,  Schwager,  in's  Hern, 

Rassle  den  schallenden  Trab, 

Dass  der  Orcus  vernehme :   wir  kommen, 

Dass  gleich  an  der  Thüre 

Der  Wirth  uns  freundlich  empfange. 

Wandrers  Sturmlied 

WEN  du  nicht  verlassest,  Genius, 
Nicht  der  Regen,  nicht  der  Sturm 
Haucht  ihm  Schauer  über's  Herz. 
Wen  du  nicht  verlassest,  Genius, 
Wird  dem  Regengewölk, 
Wird  dem  Schlossensturm 
Entgegen  singen. 
Wie  die  Lerche, 
Du  da  droben. 
i6 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Den  du  nicht  verlassest,  Genius, 
Wirst  ihn  heben  liber'n  Schlammpfad 
Mit  den  Feuerflügeln  ; 
Wandeln  wird  er 
Wie  mit  Blumenfüssen 
Über  Deukalions  Fluthschlamm, 
Python  tödtend,  leicht,  gross, 
Pythius  Apollo. 

Den  du  nicht  verlassest,  Genius, 
Wirst  die  wollnen  Flügel  unterspreiten. 
Wenn  er  auf  dem  Felsen  schläft. 
Wirst  mit  Hüterfittigen  ihn  decken 
In  des  Haines  Mitternacht. 

Wen  du  nicht  verlassest,  Genius, 
Wirst  im  Schneegestöber 
Wärmumhüllen  ; 

Nach  der  Wärme  ziehn  sich  Musen, 
Nach  der  Wärme  Charitinnen. 

Umschwebet  mich,  ihr  Musen, 

Ihr  Charitinnen  ! 

Das  ist  Wasser,  das  ist  Erde 

Und  der  Sohn  des  Wassers  und  der  Erde, 

Über  den  ich  wandle 

Güttergleich. 

Ihr  seid  rein,  wie  das  Herz  der  Wasser, 
Ihr  seid  rein,  wie  das  Mark  der  Erde, 
Ihr  umschwebt  mich  und  ich  schwebe 
Über  Wasser,  über  Erde, 
Göttergleich. 


Soll  der  zurückkehren 
Der  kleine,  schwarze,  feurige  Bauer  ? 
181  17 


J.   W.   VON   GOETHE 

Soll  der  zurückkehren,  erwartend 

Nur  deine  Gaben,  Vater  Bromius, 

Und  hellleuchtend  umwärmend  Feuer  ? 

Der  kehren  muthig  ? 

Und  ich,  den  ihr  begleitet, 

Musen  und  Charitinnen  alle. 

Den  alles  erwartet,  was  ihr, 

Musen  und  Charitinnen, 

Umkränzende  Seligkeit 

Rings  um's  Leben  verherrlicht  habt, 

Soll  muthlos  kehren  ? 

Vater  Bromius ! 
Du  bist  Genius, 
Jahrhunderts  Genius, 
Bist,  was  innre  Giuth 
Pindarn  war, 
Was  der  Welt 
Phöbus  Apoll  ist. 

Weh  !   Weh  !    Innre  W^ärme, 

Seelenwärme, 

Mittelpunkt ! 

Glüh  entgegen 

Phüb'  Apollen  ; 

Kalt  wird  sonst 

Sein  Fürstenblick 

Über  dich  vorübergleiten, 

NeidgetrofFen 

Auf  der  Ceder  Kraft  verweilen, 

Die  zu  grünen 

Sein  nicht  harrt. 


Warum  nennt  mein  Lied  dich  zuletzt? 
Dich,  von  dem  es  begann, 
x8 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Dich,  in  dem  es  endet, 

Dich,  aus  dem  es  quillt, 

Jupiter  Pluvius  ! 

Dich,  dich  strömt  mein  Lied, 

Und  kastalischer  Quell 

Rinnt  ein  Nebenbach, 

Rinnet  Massigen, 

Sterblich  Glücklichen 

Abseits  von  dir. 

Der  du  mich  fassend  deckst, 

Jupiter  Pluvius ! 

Nicht  am  Ulmenbaum 

Hast  du  ihn  besucht, 

Mit  dem  Taubenpaar 

In  dem  zärtlichen  Arm, 

Mit  der  freundlichen  Ros'    umkränzt, 

Tändelnden  ihn,  blumenglücklichen 

Anakreon, 

Sturmathmende  Gottheit ! 

Nicht  im  Pappelwald 
An  des  Sybaris  Strand, 
An  des  Gebirges 
Sonnebeglänzter  Stirn  nicht 
Fasstest  du  ihn, 
Den  Blumen-sinuenden 
Honig-lallenden 
Freundlich  winkenden 
Theokrit. 

AVenn  die  Räder  rasselten 

Rad  an  Rad  rasch  um's  Ziel  weg, 

Hoch  flog 

Sieodurchglühter 

Jünglinge  Peitschenknall, 


J.    W.    VON   GOETHE 

Und  sich  Staub  wälzt', 

Wie  vom  Gebirg'  herab 

Kieselwetter  in's  Thal, 

Glühte  deine  Seel'  Gefahren,  Pindar, 

Mmh.— Glühte  :— 

Armes  Herz  ! 

Dort  auf  dem  Hügel, 

Himmlische  Macht  I 

Nur  so  viel  Gluth, 

Dort  meine  Hütte, 

Dorthin  zu  waten  ! 

Seefahrt 

LANGE    Tag'    und    Nächte    stand    mein    Schiff 

befrachtet ; 
Günst'ger  Winde  harrend,  sass  mit  treuen  Freunden, 
Mir  Geduld  und  guten  Muth  erzechend, 
Ich  im  Hafen. 

Und  sie  waren  doppelt  ungeduldig  : 
Gerne  gönnen  wir  die  schnellste  Reise, 
Gern  die  hohe  Fahrt  dir  ;    Güterfülle 
Wartet  drüben  in  den  Welten  deiner, 
Wird  Rückkehrendem  in  unsern  Armen 
Lieb'  und  Preis  dir. 

Und  am  frühen  Morgen  w^ard's  Getümmel, 
Und  dem  Schlaf  entjauchzt  uns  der  Matrose, 
Alles  wimmelt,  alles  lebet,  webet. 
Mit  dem  ersten  Segenshauch  zu  schiffen. 

Und  die  Segel  blühen  in  dem  Hauche, 
Und  die  Sonne  lockt  mit  Feuerliebe  ; 
Ziehn  die  Segel,  ziehn  die  hohen  Wolken, 
Jauchzen  an  dem  Ufer  alle  Freunde 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Hoffbnngslieder  nach,  im  Freudetaumel 
Reisefreoden  wähnend,  wie  des  Einschiffmorgens, 
Wie  der  ersten  hohen  Stemennächte. 

Aber  gottgesandte  Wechselwindc  treiben 
Seitwärts  ihn  der  vorgesteckten  Fahrt  ab. 
Und  er  scheint  sich  ihnen  hinzugeben. 
Strebet  leise  sie  zu  überlisten. 
Treu  dem  Zweck  auch  auf  dem  schieren  We^e. 

Aber  aus  der  dumpfen  grauen  Ferne 
K"n:!f:  le'^ewandelnd  sich  der  Sturm  an. 


D-:  ::  i- 

Vögel  nieder  auPs  Gewässer, 

Dr::.  ::     r: 

^^J^. sehen  schwellend  Herz  darnieder. 

V:L  -:  ...^ 

r  :.     Vor  seinem  starren  Wüthen 

Mi:'-V'l: 

:::   :fr:  klag  die  Segel  nieder, 
"Zsterfüllten  Balle  spielen 

Wir.!  L^ 

"    "en. 

U-   -     r: 

'-'- drüben  stehen 

F.c.:.-:'_ 

r ,  beben  auf  dem  Festen  : 

Ach,  War- 

Ach,  er  s-o 

r    :■:  e:  nicht  hier  geblieben  ! 

\'erschlagen  weg  vom  Glücke ! 

-  Grunde  gehen  ? 
iie,  ach,  er  könnte !   Götter  ! 

D               - 

männlich  an  dem  Steuer  ; 

-  ^-^ielen  Wind  und  Wellen; 

Wi 

icht  mit  seinem  Herzen: 

L:.^   ,....- 

:  die  grinune  Tiefe, 

_    ,         i  oder  landend, 

Seinen  G .: 

::z::.. 

Promrtbcus 

EEDEC'"~     vinen  Himmel,  Zeus, 
Mit  Wl.  .  it, 

n 


J.    W.    VON   GOETHE 

Und  übe,  dem  Knaben  gleich, 

Der  Disteln  köpft, 

An  Eichen  dich  und  Bergeshöhn  ; 

Iviusst  mir  meine  Erde 

Doch  lassen  stehn, 

Und  meine  Hütte,  die  du  nicht  gebaut, 

Und  meinen  Herd, 

Um  dessen  Gluth 

Du  mich  beneidest. 

Ich  kenne  nichts  Ärmeres 

Unter  der  Sonn',  als  euch,  Götter  ! 

Ihr  nähret  kümmerlich 

Von  Opfersteuern 

Und  Gebetshauch 

Eure  Majestät, 

Und  darbtet,  wären 

Nicht  Kinder  und  Bettler 

Hoffnungsvolle  Thoren. 

Da  ich  ein  Kind  war. 

Nicht  wusste  wo  aus  noch  ein. 

Kehrt'  ich  mein  verirrtes  Auge 

Zur  Sonne,  als  wenn  drüber  war' 

Ein  Ohr,  zu  hören  meine  Klage, 

Ein  Herz,  wie  mein's, 

Sich  des  Bedrängten  zu  erbarmen. 

Wer  half  mir 

Wider  der  Titanen  Ubermuth  ? 

Wer  rettete  vom  Tode  mich. 

Von  Sklaverei  ? 

Hast  du  nicht  alles  selbst  vollendet, 

Heilig  glühend  Herz  ? 

Und  glühtest  jung  und  gut, 

22 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Betrogen,  Rettungsdank 
Dem  Schlafenden  da  droben  ? 

Ich  dich  ehren  ?     Wofür  ? 

Hast  du  die  Schmerzen  gelindert 

Je  des  Beladenen  ? 

Hast  du  die  Thränen  gestillet 

Je  des  Geängsteten  ? 

Hat  nicht  mich  zum  Manne  geschmiedet 

Die  allmächtige  Zeit 

Und  das  ewige  Schicksal, 

Meine  Herrn  und  deine  ? 

Wähntest  du  etwa, 

Ich  sollte  das  Leben  hassen, 

In  Wüsten  fliehen. 

Weil  nicht  alle 

Blüthenträume  reiften  ? 

Hier  sitz'  ich,  forme  Menschen 

Nach  meinem  Bilde, 

Ein  Geschlecht,  das  mir  gleich  sei, 

Zu  leiden,  zu  weinen. 

Zu  geniessen  und  zu  freuen  sich, 

Und  dein  nicht  zu  achten, 

Wie  ich  1 


Ganymed 

WIE  im  Morgenglanze 

Du  rings  mich  anglühst, 

Frühling,  Geliebter  1 

Mit  tausendfacher  Liebes wonne 

Sich  an  mein  Herz  drängt 

Deiner  ewigen  Wärme 

«3 


J.   W.    VON   GOETHE 

Heilig  Gefühl, 
Unendliche  Schöne  ! 

Dass  ich  dich  fassen  möcht* 
In  diesen  Arm  ! 

Ach  an  deinem  Busen 

Lieg'  ich,  schmachte, 

Und  deine  Blumen,  dein  Gras 

Drängen  sich  an  mein  Herz. 

Du  kühlst  den  brennenden 

Durst  meines  Busens, 

Lieblicher  Morgenwind  ! 

Ruft  drein  die  Nachtigall 

Liebend  nach  mir  aus  dem  Nebelthal. 

Ich  komm',  ich  komme  ! 
Wohin  ?   Ach,  wohin  ? 

Hinauf!    Hinauf  strebt's. 

Es  schweben  die  Wolken 

Abwärts,  die  Wolken 

Neigen  sich  der  sehnenden  Liebe. 

Mir!    Mir! 

In  euerm  Schoose 

Aufwärts ! 

Umfangend  umfangen  ! 

Aufwärts  an  deinen  Busen, 

Alliebender  Vater  ? 


G ranzen  der  Menschheit 

WENN  der  uralte 
Heilige  Vater 
Mit  gelassener  Hand 
24 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Aus  rollenden  Wolken 
Segnende  Blitze 
Über  die  Erde  sät, 
Küss'  ich  den  letzten 
Saum  seines  Kleides, 
Kindliche  Schauer 
Treu  in  der  Brust. 

Denn  mit  Göttern 
Soll  sich  nicht  messen 
Irgend  ein  Mensch. 
Hebt  er  sich  aufwärts, 
Und  berührt 

Mit  dem  Scheitel  die  Sterne, 
Nirgends  haften  dann 
Die  unsichern  Sohlen, 
Und  mit  ihm  spielen 
Wolken  und  Winde, 

Steht  er  mit  festen 
Markigen  Knochen 
Auf  der  wohlgegriindeten 
Dauernden  Erde  ; 
Reicht  er  nicht  auf, 
Nur  mit  der  Eiche 
Oder  der  Rebe 
Sich  zu  vergleichen. 

Was  unterscheidet 
Götter  von  Menschen  ? 
Dass  viele  Wellen 
Vor  jenen  wandeln. 
Ein  ewiger  Strom  : 
Uns  hebt  die  Welle, 
Verschlingt  die  Welle, 
Und  wir  versinken. 

2S 


J.   W.   VON   GOETHE 

Ein  kleiner  Ring 
Begränzt  unser  Leben, 
Und  viele  Geschlechter 
Reihen  sich  dauernd 
An  ihres  Daseins 
Unendliche  Kette. 


Das   Göttliche 

EDEL  sei  der  Mensch, 
Hülfreich  und  gut ! 
Denn  das  allein 
Unterscheidet  ihn 
Von  allen  Wesen, 
Die  wir  kennen. 

Heil  den  unbekannten 

Höhern  Wesen, 

Die  wir  ahnen  ! 

Ihnen  gleiche  der  Mensch  ; 

Sein  Beispiel  lehr'  uns 

Jene  glauben. 

Denn  unfühlend 

Ist  die  Natur : 

Es  leuchtet  die  Sonne 

Über  Bös'  und  Gute, 

Und  dem  Verbrecher 

Glänzen,  wie  dem  Besten, 

Der  Mond  und  die  Sterne. 

Wind  und  Ströme, 
Donner  und  Hagel 
Rauschen  ihren  Weg, 
Und  ergreifen, 
26 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Vorübereilend, 
Einen  um  den  andern. 

Auch  so  das  Glück 
Tappt  unter  die  Menge, 
Fasst  bald  des  Knaben 
Lockige  Unschuld, 
Bald  auch  den  kahlen 
Schuldigen  Scheitel. 

Nach  ewigen,  ehrnen, 
Grossen  Gesetzen 
Müssen  wir  alle 
Unseres  Daseins 
Kreise  vollenden. 

Nur  allein  der  Mensch 
Vermag  das  Unmögliche : 
Er  unterscheidet, 
Wählet  und  richtet ; 
Er  kann  dem  Augenblick 
Dauer  verleihen. 

Er  allein  darf 
Dem  Guten  lohnen, 
Den  Bösen  strafen, 
Heilen  und  retten. 
Alles  Irrende,  Schweifende 
Nützlich  verbinden. 

Und  wir  verehren 
Die  Unsterblichen, 
Als  wären  sie  Menschen, 
Thäten  im  Grossen, 
Was  der  Beste  im  Kleinen 
Thut  oder  möchte. 


J.   W.    VON   GOETHE 

Der  edle  Mensch 
Sei  hülfieich  und  gut ! 
Unermiidet  schaff'  er 
Das  NützHche,  Rechte, 
Sei  uns  ein  Vorbild 
Jener  geahneten  Wesen ! 


LU?s  Park 

IST  doch  keine  Menagerie 

So  bunt,  als  meiner  Lili  ihre  ! 

Sie  hat  darin  die  wunderbarsten  Thiere 

Und  kriegt  sie  'rein,  weiss  selbst  nicht  wie. 

O,  wie  sie  hüpfen,  laufen,  trappeln, 

Mit  abgestumpften  Flügeln  zappeln, 

Die  armen  Prinzen  allzumal, 

In  nie  gelöschter  Liebesqual ! 

Wie  hiess  die  Fee  : — Lili  ? — Fragt  nicht  nach  ihr  ! 
Kennt  ihr  sie  nicht,  so  danket  Gott  dafür. 

Welch  ein  Geräusch,  welch  ein  Gegacker, 
Wenn  sie  sich  in  die  Thüre  stellt 
Und  in  der  Hand  das  Futterkörbchen  hält ! 
Welch  ein  Gequiek,  welch  ein  Gequacker  ! 
Alle  Bäume,  alle  Büsche 
Scheinen  lebendig  zu  werden  : 
So  stürzen  sich  ganze  Heerden 
Zu  ihren  Füssen  ;   sogar  im  Bassin  die  Fische 
Patschen  ungeduldig  mit  den  Köpfen  heraus. 
Und  sie  streut  dann  das  Futter  aus 
Mit  einem  Blick — Götter  zu  entzücken. 
Geschweige  die  Bestien.     Da  geht's  an  ein  Picken, 
28 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

An  ein  Schlürfen,  an  ein  Hacken  ; 

Sie  stürzen  einander  über  die  Nacken, 

Schieben  sich,  drängen  sich,  reissen  sich, 

Jagen  sich,  ängsten  sich,  beissen  sich, 

Und  das  all  um  ein  Stückchen  Brot, 

Das,  trocken,  aus  den  schönen  Händen  schmeckt. 

Als  hätt'  es  in  Ambrosia  gesteckt. 

Aber  der  Blick  auch  !    der  Ton, 

Wenn  sie  ruft :   Pipi !    Pipi ! 

Zöge  den  Adler  Jupiter's  vom  Thron ; 

Der  Venus  Taubenpaar, 

Ja,  der  eitle  Pfau  sogar. 

Ich  schwöre,  sie  kämen, 

Wennn  sie  den  Ton  von  weitem  nur  vernähmen. 

Denn  so  hat  sie  aus  des  Waldes  Nacht 

Einen  Bären,  ungeleckt  und  ungezogen, 

Unter  ihren  Beschluss  herein  betrogen. 

Unter  die  zahme  Kompagnie  gebracht. 

Und  mit  den  andern  zahm  gemacht : 

Bis  auf  einen  gewissen  Punkt,  versteht  sich  ! 

Wie  schön  und  ach,  wie  gut 

Schien  sie  zu  sein  !    Ich  hätte  mein  Blut 

Gegeben,  um  ihre  Blumen  zu  begiessen. 

*' Ihr  sagtet:   Ich!   Wie?  Wer?" 

Gut  denn,  ihr  Herrn,  grad  aus  :    Ich  bin  der  Bär  ; 

In  einem  Filetschurz  gefangen. 

An  einem  Seidenfaden  ihr  zu  Füssen. 

Doch  wie  das  alles  zugegangen. 

Erzähl'  ich  euch  zur  andern  Zeit ; 

Dazu  bin  ich  zu  wüthig  heut. 

Denn,  ha  !    steh'  ich  so  an  der  Ecke, 
Und  hör'  von  weitem  das  Geschnatter, 

29 


J.    W.    VON   GOETHE 

Seh'  das  Geflitter,  das  Geflatter, 

Kehr'  ich  mich  um 

Und  brumm', 

Und  renne  rückwärts  eine  Strecke, 

Und  seh'  mich  um 

Und  brumm', 

Und  laufe  wieder  eine  Strecke, 

Und  kehr'  doch  endHch  wieder  um. 

Dann  fängt's  auf  einmal  an  zu  rasen, 

Ein  mächt'ger  Geist  schnaubt  aus  der  Nasen, 

Es  wildzt  die  innere  Natur. 

Was,  du  ein  Thor,  ein  Häschen  nur  ! 

So  ein  Pipi,  Eichhörnchen,  Nuss  zu  knacken! 

Ich  sträube  meinen  borst'gen  Nacken, 

Zu  dienen  ungewöhnt. 

Ein  jedes  aufgestutzte  Bäumchen  höhnt 

Mich  an  !    Ich  flieh'  vom  Boulingreen, 

Vom  niedlich  glatt  gemähten  Grase  ; 

Der  Buchsbaum  zieht  mir  eine  Nase, 

Ich  flieh'  ins  dunkelste  Gebüsche  hin. 

Durchs  Gehäge  zu  dringen, 

Über  die  Planken  zu  springen  ! 

Mir  versagt  Klettern  und  Sprung, 

Ein  Zauber  bleit  mich  nieder. 

Ein  Zauber  häkelt  mich  wider. 

Ich  arbeite  mich  ab,  und  bin  ich  matt  genung. 

Dann  lieg'  ich  an  gekünstelten  Kaskaden, 

Und  kau'  und  wein'  und  wälze  halb  mich  todt, 

Und  ach  !    es  hören  meine  Noth 

Nur  porzellanene  Oreaden. 

Auf  einmal  !    Ach,  es  dringt 
Ein  seliges  Gefühl  durch  alle  meine  Glieder ! 
Sie  ist's,  die  dort  in  ihrer  Laube  singt  ! 
30 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Ich  höre  die  liebe,  liebe  Stimme  wieder, 
Die  ganze  Luft  ist  warm,  ist  bliithevoll. 
Ach,  singt  sie  wohl,  dass  ich  sie  hören  soll  ? 
Ich  dringe  zu,  tret'  alle  Strauche  nieder. 
Die  Büsche  fiichn,  die  Bäume  weichen  mir, 
Und  so — zu  ihren  Füssen  liegt  das  Thier. 

Sie  sieht  es  an  :   "  Ein  Ungeheuer,  doch  drollig  ! 

Für  einen  Bären  zu  mild, 

Für  einen  Pudel  zu  wild. 

So  zottig,  tapsig,  knollig  !  " 

Sie  streicht  ihm  mit  dem  Füsschen  übern  Rücken ; 

Er  denkt  im  Paradiese  zu  sein. 

Wie  ihn  alle  sieben  Sinne  jucken  ! 

Und  Sie,  sieht  ganz  gelassen  drein. 

Ich  küss'  ihre  Schuhe,  kau'  an  den  Sohlen, 

So  sittig,  als  ein  Bär  nur  mag  ; 

Ganz   sachte   heb'    ich    mich    und    schwinge    mich 

verstohlen 
Leis  an  ihr  Knie — am  günst'gen  Tag 
Lässt  sie's  geschehn  und  kraut  mir  um  die  Ohren 
Und  patscht  mich  mit  muthwillig  derbem  Schlag  ; 
Ich  knurr',  in  Wonne  neu  geboren  ; 
Dann  fordert  sie  mit  süssem,  eitlem  Spotte : 
Allons  tout  doux  !  eh  la  menotte  l 
Kt  f altes  Serviteur 
Comme  un  jolt  Seigneur. 
So  treibt  sie's  fort  mit  Spiel  und  Lachen  ! 
Es  hofft  der  oft  betrogne  Thor ; 
Doch  will  er  sich  ein  bischen  unnütz  machen, 
Hält  sie  ihn  kurz  als  wie  zuvor. 

Doch  hat  sie  auch  ein  Fläschchen  Balsam-Feuers, 

Dem  keiner  Erde  Honig  gleicht, 

W^ovon  sie  wohl  einmal,  von  Lieb'  und  Treu' erweicht, 

3« 


J.   W.    VON   GOETHE 

Um  die  verlechzten  Lippen  ihres  Ungeheuers 

Ein  Tröpfchen  mit  der  Fingerspitze  streicht 

Und  wieder  flieht  und  mich  mir  überlässt, 

Und  ich  dann,  losgebunden,  fest 

Gebannt  bin,  immer  nach  ihr  ziehe, 

Sie  suche,  schaudre,  wieder  fliehe — 

So  lässt  sie  den  zerstörten  Armen  gehn, 

Ist  seiner  Lust,  ist  seinen  Schmerzen  still  ; 

Ha !  manchmal  lässt  sie  mir  die  Thür  halb  offen  stehn, 

Seitblickt  mich  spottend  an,  ob  ich  nicht  fliehen  will. 

Und  ich  ! — Götter,  ist's  in  euren  Händen, 
Dieses  dumpfe  Zauberwerk,  zu  enden. 
Wie  dank'  ich,  wenn  ihr  mir  die  Freiheit  schafft  ! 
Doch  sendet  ihr  mir  keine  Hülfe  nieder — 
Nicht  ganz  umsonst  reck'  ich  so  meine  Glieder, 
Ich  f  ühPs  !   Ich  schwör's  !   Noch  hab'  ich  Kraft. 

JLiebebedürfniss 

WER  vernimmt  mich  ?  Ach,  wem  soll  ich's  klagen? 

Wer's  vernähme,  würd'  er  mich  bedauern? 

Ach  !   die  Lippe,  die  so  manche  Freude 

Sonst  genossen  hat  und  sonst  gegeben, 

Ist  gespalten,  und  sie  schmerzt  erbärmlich. 

Und  sie  ist  nicht  etwa  wund  geworden. 

Weil  die  Liebste  mich  zu  wild  ergriffen, 

Hold  mich  angebissen,  dass  sie  fester 

Sich  des  Freunds  versichernd  ihn  genösse: 

Nein,  das  zarte  Lippchen  ist  gesprungen. 

Weil  nun  über  Reif  und  Frost  die  Winde 

Spitz  und  scharf  und  lieblos  mir  begegnen. 

LTnd  nun  soll  mir  Saft  der  edlen  Traube, 
Mit  dem  Saft  der  Bienen  bei  dem  Feuer 

J2 


GEDICHTE.     ZWEITER    THEIL 

Meines  Herds  vereinigt,  Lindrung  schaffen. 
Ach,  was  will  das  helfen,  mischt  die  Liebe 
Nicht  ein  Tröpfchen  ihres  Balsams  drunter  ? 


Morgen  klagen 

O  DU  loses,  leidigliebes  Mädchen, 
Sag  mir  an,  womit  hab'  ich's  verschuldet, 
Dass  du  mich  auf  diese  Folter  spannest, 
Dass  du  dein  gegeben  Wort  gebrochen  ? 

Drucktest  doch  so  freundlich  gestern  Abend 
Mir  die  Hände,  lispeltest  so  lieblich  : 
Ja,  ich  komme,  komme  gegen  Morgen 
Ganz  gewiss,  mein  Freund,  auf  deine  Stube. 

Angelehnet  Hess  ich  meine  Thüre, 

Hatte  wohl  die  Angeln  erst  geprüfet 

Und  mich  recht  gefreut,  dass  sie  nicht  knarrten. 

Welche  Nacht  des  Wartens  ist  vergangen  ! 
Wacht'  ich  doch  und  zählte  jedes  Viertel ; 
Schlief  ich  ein  auf  wenig  Augenblicke, 
War  mein  Herz  beständig  wach  geblieben, 
Weckte  mich  von  meinem  leisen  Schlummer. 

Ja,  da  segnet'  ich  die  Finsternisse, 
Die  so  ruhig  alles  überdeckten, 
Freute  mich  der  allgemeinen  Stille, 
Horchte  lauschend  immer  in  die  Stille, 
Ob  sich  nicht  ein  Laut  bewegen  möchte. 

*'  Hätte  sie  Gedanken  wie  ich  denke, 
Hätte  sie  Gefühl,  wie  ich  empfinde, 
Würde  sie  den  Morgen  nicht  erwarten. 
Würde  schon  in  dieser  Stunde  kommen." 
132  33 


J.   W.    VON   GOETHE 

Hüpft'  ein  Kätzchen  oben  übern  Boden, 
Knisterte  das  Mäuschen  in  der  Ecke, 
Regte  sich,  ich  weiss  nicht  was,  im  Hause 
Immer  hofft'  ich,  deinen  Schritt  zu  hören, 
Immer  glaubt'  ich,  deinen  Tritt  zu  hören. 

Und  so  lag  ich  lang'  und  immer  länger, 
Und  es  fing  der  Tag  schon  an  zu  grauen. 
Und  es  rauschte  hier  und  rauschte  dorten. 

*'  Ist  es  ihre  Thüre  ?      Wär's  die  meine  !  " 
Sass  ich  aufgestemmt  in  meinem  Bette, 
Schaute  nach  der  halb  erhellten  Thüre, 
Ob  sie  nicht  sich  wohl  bewegen  möchte. 
Angelehnet  blieben  beide  Flügel 
Auf  den  leisen  Angeln  ruhig  hangen. 

Und  der  Tag  ward  immer  hell  und  heller  ; 
Hört'  ich  schon  des  Nachbars  Thüre  gehen. 
Der  das  Taglohn  zu  gewinnen  eilet. 
Hört'  ich  bald  darauf  die  Wagen  rasseln. 
War  das  Thor  der  Stadt  nun  auch  eröffnet. 
Und  es  regte  sich  der  ganze  Plunder 
Des  bewegten  Marktes  durch  einander. 

Ward  nun  in  dem  Haus  ein  Gehn  und  Kommen 
Auf  und  ab  die  Stiegen,  hin  und  wieder 
Knarrten  Thüren,  klapperten  die  Tritte ; 
Und  ich  konnte  wie  vom  schönen  Leben 
Mich  noch  nicht  von  meiner  Hoffnung  scheiden. 

Endlich,  als  die  ganz  verhasste  Sonne 
Meine  Fenster  traf  und  meine  Wände, 
Sprang  ich  auf  und  eilte  nach  dem  Garten, 
Meinen  heissen,  sehnsuchtsvollen  Athem 
Mit  der  kühlen  Morgenluft  zu  mischen. 
Dir  vielleicht  im  Garten  zu  begegnen  : 

34 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Und  nun  bist  du  weder  in  der  Laube 
Noch  im  hohen  Lindengang  zu  finden. 


Der  Besuch 

MEINE  Liebste  wollt'  ich  heut  beschleichen, 
Aber  ihre  Thüre  war  verschlossen. 
Hab'  ich  doch  den  Schlüssel  in  der  Tasche ! 
Offn'  ich  leise  die  geliebte  Thüre  ! 

Auf  dem  Saale  fand  ich  nicht  das  Mädchen, 
Fand  das  Mädchen  nicht  in  ihrer  Stube  ; 
Endlich,  da  ich  leis  die  Kammer  öffne, 
Find'  ich  sie,  gar  zierlich  eingeschlafen, 
Angekleidet  auf  dem  Sopha  liegen. 

Bei  der  Arbeit  war  sie  eingeschlafen  ; 
Das  Gestrickte  mit  den  Nadeln  ruhte 
Zwischen  den  gefaltnen  zarten  Händen  ; 
Und  ich  setzte  mich  an  ihre  Seite, 
Ging  bei  mir  zu  Rath',  ob  ich  sie  weckte. 

Da  betrachtet'  ich  den  schönen  Frieden, 
Der  auf  ihren  Augelidern  ruhte  : 
Auf  den  Lippen  war  die  stille  Treue, 
Auf  den  Wangen  Lieblichkeit  zu  Hause, 
Und  die  Unschuld  eines  guten  Herzens 
Regte  sich  im  Busen  hin  und  wieder. 
Jedes  ihrer  Glieder  lag  gefällig 
Aufgelöst  vom  süssen  Götterbalsam. 

Freudig  sass  ich  da,  und  die  Betrachtung 
Hielte  die  Begierde,  sie  zu  wecken, 
Mit  geheimen  Banden  fest  und  fester. 

35 


J.   W.    VON   GOETHE 

O  du  Liebe,  dacht'  ich,  kann  der  Schlummer, 
Der  Verräther  jedes  falschen  Zuges, 
Kann  er  dir  nicht  schaden,  nichts  entdecken. 
Was  des  Freundes  zarte  Meinung  störte  ? 

Deine  holden  Augen  sind  geschlossen, 
Die  mich  offen  schon  allein  bezaubern  ; 
Es  bewegen  deine  süssen  Lippen 
Weder  sich  zur  Rede  noch  zum  Kusse  ; 
Aufgelöst  sind  diese  Zauberbande 
Deiner  Arme,  die  mich  sonst  umschlingen. 
Und  die  Hand,  die  reizende  Gefährtin 
Süsser  Schmeicheleien,  unbeweglich. 
Wär's  ein  Irrthum,  wie  ich  von  dir  denke. 
War'  e«  Selbstbetrug,  wie  ich  dich  liebe, 
Müsst'  ich's  jetzt  entdecken,  da  sich  Amor 
Ohne  Binde  neben  mich  gestellet. 

Lange  sass  ich  so  und  freute  herzlich 
Ihres  Werthes  mich  und  meiner  Liebe  ; 
Schlafend  hatte  sie  mir  so  gefallen, 
Dass  ich  mich  nicht  traute,  sie  zu  wecken. 

Leise  leg'  ich  ihr  zwei  Pomeranzen 

o  

Und  zwei  Rosen  auf  das  Tischchen  nieder  ; 
Sachte,  sachte  schlich  ich  meiner  Wege. 
Oilnet  sie  die  Augen,  meine  Gute, 
Gleich  erblickt  sie  diese  bunte  Gabe, 
Staunt,  wie  immer  bei  verschlossnen  Thüren 
Dieses  freundliche  Geschenk  sich  finde. 

Seh'  ich  diese  Nacht  den  Engel  wieder, 
O,  wie  freut  sie  sich,  vergilt  mir  doppelt 
Dieses  Opfer  meiner  zarten  Liebe. 

36 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Der  Becher 

EINEN  wohlgeschnitzten  vollen  Becher 
Hielt  ich  drückend  in  den  beiden  Händen, 
Sog  begierig  süssen  Wein  vom  Rande, 
Gram  und  Sorg'  auf  einmal  zu  vertrinken. 

Amor  trat  herein  und  fand  mich  sitzen, 
Und  er  lächelte  bescheiden-weise, 
Als  den  Unverständigen  bedauernd. 

"  Freund,  ich  kenn'  ein  schöneres  Gefässe, 
Werth,  die  ganze  Seele  drein  zu  senken  ; 
Was  gelobst  du,  wenn  ich  dir  es  gönne, 
Es  mit  anderm  Nektar  dir  erfülle  ?  " 

O,  wie  freundlich  hat  er  Wort  gehalten  ! 
Da  er,  Lida,  dich  mit  sanfter  Neigung 
Mir,  dem  lange  Sehnenden,  geeignet. 

Wenn  ich  deinen  lieben  Leib  umfasse, 
Und  von  deinen  einzig  treuen  Lippen 
Langbewahrter  Liebe  Balsam  koste. 
Selig  Sprech*  ich  dann  zu  meinem  Geiste ; 

Nein,  ein  solch  Gefäss  hat  ausser  Amorn 
Nie  ein  Gott  gebildet  noch  besessen  ! 
Solche  Formen  treibet  nie  Vulcanus 
Mit  den  sinnbegabten  feinen  Hämmern  ! 
Auf  belaubten  Hügeln  mag  Lyäus 
Durch  die  ältsten,  klügsten  seiner  Faunen 
Ausgesuchte  Trauben  keltern  lassen. 
Selbst  geheimnissvoller  Gährung  vorstehn  : 
Solchen  Trank  verschafft  ihm  keine  Sorgfalt ! 

37 


J.   W.   VON   GOETHE 

Nachtgedanken 

EUCH  bedaur'  ich,  ungliickserge  Sterne, 
Die  ihr  schön  seid  und  so  herrlich  scheinet, 
Dem  bedrängten  Schitfer  gerne  leuchtet, 
Unbelohnt  von  Göttern  und  von  Menschen  : 
Denn  ihr  liebt  nicht,  kanntet  nie  die  Liebe  ! 
Unaufhaltsam  führen  ew'ge  Stunden 
Eure  Reihen  durch  den  weiten  Himmel. 
Welche  Reise  habt  ihr  schon  vollendet, 
Seit  ich  weilend  in  dem  Arm  der  Liebsten 
Euer  und  der  Mitternacht  vergessen  ! 

j4n  Li  da 

DEN  Einzigen,  Lida,  welchen  du  lieben  kannst, 

Forderst  du  ganz  für  dich,  und  mit  Recht. 

Auch  ist  er  einzig  dein  ; 

Denn,  seit  ich  von  dir  bin, 

Scheint  mir  des  schnellsten  Lebens 

Lärmende  Bewegung 

Nur  ein  leichter  Flor,  durch  den  ich  deine  Gestalt 

Immerfort  wie  in  Wolken  erblicke  : 

Sie  leuchtet  mir  freundlich  und  treu. 

Wie  durch  des  Nordlichts  bewegliche  Strahlen 

Ewige  Sterne  schimmern. 

Im   Voruhergehn 

ICH  ging  im  Felde 
So  für  mich  hin. 
Und  nichts  zu  suchen, 
Das  war  mein  Sinn. 

38 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Da  stand  ein  Blümchen 
Sogleich  so  nah, 
Dass  ich  im  Leben 
Nichts  lieber  sah. 

Ich  wollt'  es  brechen, 
Da  sagt'  es  schleunig  : 
Ich  habe  Wurzeln, 
Die  sind  gar  heimlich. 

Im  tiefen  Boden 
Bin  ich  gegründet. 
Drum  sind  die  Blüthen 
So  schön  gerundet. 

Ich  kann  nicht  liebeln, 
Ich  kann  nicht  schränken  ; 
Musst  mich  nicht  brechen, 
Musst  mich  verpflanzen. 

Ich  ging  im  Walde 
So  vor  mich  hin  ; 
Ich  war  so  heiter, 
Wollt'  immer  weiter — 
Das  war  mein  Sinn. 


AUS    WILHELM    MEISTER 
Mhnon 

HEISS  mich  nicht  reden,  heiss  mich  schweigen, 
Denn  mein  Geheimniss  ist  mir  Pflicht ; 
Ich  möchte  dir  mein  ganzes  Innre  zeigen, 
Allein  das  Schicksal  will  es  nicht. 

39 


J.    W.   VON   GOETHE 

Zur  rechten  Zeit  vertreibt  der  Sonne  Lauf 
Die  finstre  Nacht,  und  sie  muss  sich  erhellen  ; 
Der  harte  Fels  schliesst  seinen  Busen  auf, 
Missgönnt  der  Erde  nicht  die  tiefverborgnen  Quellen. 

Ein  jeder  sucht  im  Arm  des  Freundes  Ruh, 
Dort  kann  die  Brust  in  Klagen  sich  ergiessen  ; 
Allein  ein  Schwur  drückt  mir  die  Lippen  zu, 
Und  nur  ein  Gott  vermas  sie  aufzuschliessen. 


Dieselbe 

NUR  wer  die  Sehnsucht  kennt 

Weiss,  was  ich  leide! 

Allein  und  abgetrennt 

Von  aller  Freude, 

Seh'  ich  an's  Firmament 

Nach  jener  Seite. 

Ach  !   der  mich  liebt  und  kennt 

Ist  in  der  Weite. 

Es  schwindelt  mir,  es  brennt 

Mein  Eingeweide. 

Nur  wer  die  Sehnsucht  kennt 

W^eiss,  was  ich  leide ! 

Dieselbe 

SO  lasst  mich  scheinen,  bis  ich  werde; 
Zieht  mir  das  weisse  Kleid  nicht  aus  ! 
Ich  eile  von  der  schönen  Erde 
Hinab  in  jenes  feste  Haus. 

Dort  ruh'  ich  eine  kleine  Stille, 
Dann  öffnet  sich  der  frische  Blick, 
40 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Ich  lasse  dann  die  reine  Hülle, 
Den  Gürtel  und  den  Kranz  zurück. 

Und  jene  himmlischen  Gestalten 
Sie  fragen  nicht  nach  Mann  und  Weib, 
Und  keine  Kleider,  keine  Falten 
Umgeben  den  verklärten  Leib. 

Zwar  lebt'  ich  ohne  Sorg'  und  Mühe, 
Doch  fühlt  ich  tiefen  Schmerz  genung. 
Vor  Kummer  altert'  ich  zu  frühe  ; 
Macht  mich  auf  ewi^  wieder  jung  ! 


Harfenspieler 

WER  sich  der  Einsamkeit  ergibt, 
Ach  !    der  ist  bald  allein  ; 
Ein  jeder  lebt,  ein  jeder  liebt, 
Und  lässt  ihn  seiner  Pein. 

Ja  !   lasst  mich  meiner  Qual ! 
Und  kann  ich  nur  einmal 
Recht  einsam  sein, 
Dann  bin  ich  nicht  allein. 

Es  schleicht  ein  Liebender  lauschend  sacht. 

Ob  seine  Freundin  allein  ? 

So  überschleicht  bei  Tag  und  Nacht 

Mich  Einsamen  die  Pein, 

Mich  Einsamen  die  Qual. 

Ach  werd'  ich  erst  einmal 

Einsam  im  Grabe  sein. 

Da  lässt  sie  mich  allein  ! 

4X 


J.   W.   VON   GOETHE 

Derselbe 

AN  die  Thiiren  will  ich  schleichen, 
Still  und  sittsam  will  ich  stehn  : 
Fromme  Hand  wird  Nahrung  reichen. 
Und  ich  werde  weiter  gehn. 
Jeder  wird  sich  glücklich  scheinen, 
Wenn  mein  Bild  vor  ihm  erscheint ; 
Eine  Thr'äne  wird  er  weinen, 
Und  ich  weiss  nicht  was  er  weint. 

Derselbe 

WER  nie  sein  Brot  mit  Thränen  ass, 

Wer  nie  die  kummervollen  Nächte 

Auf  seinem  Bette  weinend  sass, 

Der  kennt  euch  nicht,  ihr  himmlischen  Ivlächte. 

Ihr  führt  in's  Leben  uns  hinein, 
Ihr  lasst  den  Armen  schuldig  werden, 
Dann  überlasst  ihr  ihn  der  Pein  : 
Denn  alle  Schuld  rächt  sich  auf  Erden, 


Ihm  färbt  der  Morgensonne  Licht 

Den  reinen  Horizont  mit  Flammen, 

Und  über  seinem  schuld'gen  Haupte  bricht 

Das  schöne  Bild  der  ganzen  Welt  zusammen. 


Phiiine 

SINGET  nicht  in  Trauertönen 
Von  der  Einsamkeit  der  Nacht ; 

42 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Nein,  sie  ist,  o  holde  Schönen, 
Zur  Geselligkeit  gemacht. 
Wie  das  Weib  dem  Mann  gegeben 
Als  die  schönste  Hälfte  war, 
Ist  die  Nacht  das  halbe  Leben, 
Und  die  schönste  Hälfte  zwar. 

Könnt  ihr  euch  des  Tages  freuen, 
Der  nur  Freuden  unterbricht  ? 
Er  ist  gut,  sich  zu  zerstreuen  ; 
Zu  was  anderm  taugt  er  nicht. 

Aber  wenn  in  nächt'ger  Stunde 
Süsser  Lampe  Dämmrung  fliesst. 
Und  vom  Mund  zum  nahen  Munde 
Scherz  und  Liebe  sich  ergiesst ; 

Wenn  der  rasche  lose  Knabe, 
Der  sonst  wild  und  feurig  eilt, 
Oft  bei  einer  kleinen  Gabe 
Unter  leichten  Spielen  weilt ; 

Wenn  die  Nachtigall  Verliebten 
Liebevoll  ein  Liedchen  singt. 
Das  Gefangnen  und  Betrübten 
Nur  wie  Ach  und  Wehe  klingt : 

Mit  wie  leichtem  Herzensregen 
Horchet  ihr  der  Glocke  nicht, 
Die  mit  zwölf  bedächt'gen  Schlägen 
Ruh  und  Sicherheit  verspricht ! 

Darum  an  dem  langen  Tage 
Merke  dir  es,  liebe  Brust : 
Jeder  Tag  hat  seine  Plage 
Und  die  Nacht  hat  ihre  Lust. 

43 


J.   W.   VON   GOETHE 

ANTIKER    FORM    SICH    NÄHERND 

Warnung 

WECKE  den  Amor  nicht  auf!     Noch  schläft  der 
liebliche  Knabe  ; 
Geh,  vollbring'  dein  Geschäft,  wie  es  der  Tag 
dir  gebeut ! 
So  der  Zeit  bedienet  sich  klug  die  sorgliche  Mutter, 
Wenn  ihr  Knäbchen  entschläft,  denn  es  erwacht 
nur  zu  bald. 

Einsamkeit 

DIE  ihr   Felsen   und  Bäume  bewohnt,  o  heilsame 
Nymphen, 
Gebet  jeglichem  gern,  was  er  im  Stillen  begehrt! 
Schaffet  dem   Traurigen  Trost,  dem  Zweifelhaften 
Belehrung, 
Und  dem  Liebenden  gönnt,  dass  ihm  begegne  sein 
Glück. 
Denn  euch  gaben  die  Götter,  was  sie  den  Menschen 
versagten, 
Jeglichem,  der  euch  vertraut,  tröstlich  und  hülflich 
zu  sein. 

Eviv'dhiter  Fels 

HIER    im    Stillen   gedachte   der    Liebende   seiner 

Geliebten  ; 
Heiter  sprach  er  zu  mir :    Werde  mir  Zeuge,  du 

Stein  ! 
Doch  erhebe  dich  nicht,  du  hast  noch  viele  Gesellen  ; 

44 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Jedem  Felsen  der  Flur,  die  mich,  den  Glücklichen, 
nährt, 
Jedem  Baume  des  Walds,  um  den  ich  wandernd  mich 
schlinge  : 
Denkmal  bleibe  des  Glücks !  ruf  ich  ihm  weihend 
und  froh. 
Doch  die  Stimme  verleih*  ich  nur  dir,  wie  unter  der 
Menge 
Einen  die  Muse  sich  wählt,  freundlich  die  Lippen 
ihm  küsst. 

Spiegel  der  Muse 

SICH  zu  schmücken  begierig  verfolgte  den  rinnenden 

Bach  einst 
Früh  die  Muse  hinab,  sie  suchte  die  ruhigste  Stelle. 
Eilend  und  rauschend  indess  verzog  die  schwankende 

Fläche 
Stets  das  bewegliche  Bild  ;    die  Göttin  wandte  sich 

zürnend  ; 
Doch  der  Bach  rief  hinter  ihr  drein  und  höhnte  sie: 

Freilich 
Magst  du  die  Wahrheit  nicht  sehn,  wie  rein  dir  mein 

Spiegel  sie  zeiget ! 
Aber  indessen  stand  sie  schon  fern,  am  Winkel  des 

Seees, 
Ihrer  Gestalt  sich  erfreuend  und  rückte  den  Kranz 

sich  zurechte. 

Sch'welz,eraipe 

WAR  doch  gestern  dein  Haupt  noch  so  braun  wi< 
die  Locke  der  Lieben, 
Deren  holdes  Gebild  still  aus  der  Ferne  mir  winkt; 

45 


J.   W.    VON   GOETHE 

Silbergrau  bezeichnet  dir  früh  der  Schnee  nun  die 
Gipfel, 
Der  sich  in  stürmender  Nacht  dir  um  den  Scheitel 
ergoss. 
Jugend,  ach  !    ist  dem  Alter  so  nah,  durch's  Leben 
verbunden, 
Wie  ein  beweglicher  Traum  Gestern  und  Heute 
verband. 


AN   PERSONEN 
Ilmenau 

am  3 .  September  1 7  8  3 

ANMUTHIG  Thal !   du  immergrüner  Hain  ! 
Mein  Herz  begrüsst  euch  wieder  auf  das  beste  ; 
Entfaltet  mir  die  schwerbehangnen  Äste, 
Nehmt  freundlich  mich  in  eure  Schatten  ein. 
Erquickt  von  euren  Höhn,  am  Tag  der  Lieb'  und 

Lust, 
Mit  frischer  Luft  und  Balsam  meine  Brust ! 

Wie  kehrt'  ich  oft  mit  wechselndem  Geschicke, 

Erhabner  Berg  !    an  deinen  Fuss  zurücke. 

O  lass  mich  heut  an  deinen  sachten  Höhn 

Ein  jugendlich,  ein  neues  Eden  sehn  ! 

Ich  hab'  es  wohl  auch  mit  um  euch  verdienet: 

Ich  sorge  still,  indess  ihr  ruhig  grünet. 

Lasst  mich  vergessen,  dass  auch  hier  die  Welt 
So  manch  Geschöpf  in  Erdefesseln  hält, 
Der  Landmann  leichtem  Sand  den  Samen  anvertraut 
Und  seinen  Kohl  dem  frechen  Wilde  baut, 
46 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Der  Knappe  karges  Brot  in  Klüften  sucht. 
Der  Köhler  zittert,  wecn  der  Jäger  flucht. 
\  erjüngt  euch  mir,  wie  ihr  es  oft  gethan, 
Als  fing'  ich  heut  ein  neues  Leben  an. 

Ihr  seid  mir  hold,  ihr  gönnt  mir  diese  Träume, 
Sie  schmeicheln  mir  und  locken  alte  Reime. 
Mir  wieder  selbst,  von  allen  Menschen  fern. 
Wie  bad'  ich  mich  in  euren  Dü.'ten  gern  ! 
Melodisch  rauscht  die  hohe  Tanne  wieder, 
Melodisch  eüt  der  Wasserfall  hernieder  ; 
Die  Wolke  sinkt,  der  Nebel  drückt  in's  Thal, 
Und  es  ist  Nacht  und  Dämmrung  auf  einmal. 

Im  finstern  Wald,  bei'm  Liebesblick  der  Sterne, 
Wo  ist  mein  Pfad,  den  sorglos  ich  verlor  ? 
Welch  seltne  Stimmen  hör'  ich  in  der  Ferne  ? 
Sie  schallen  wechselnd  an  dem  Fels  empor. 
Ich  eile  sacht  zu  sehn,  was  es  bedeutet. 
Wie  von  des  Hirsches  Ruf  der  Jäger  still  geleitet. 

Wo  bin  ich  ?   ist's  ein  Zaubermährchen-Land  : 
Welch  nächtliches  Gelag  am  Fuss  der  Felsen  wand? 
Bei  kleinen  Hütten,  dicht  mit  Reis  bedecket. 
Seh'  ich  sie  froh  an's  Feuer  hingestrecket. 
Es  dringt  der  Glanz  hoch  durch  den  Fichten-Saal; 
Am  niedern  Herde  kocht  ein  rohes  Mahl  ; 
Sie  scherzen  laut,  indessen  bald  geleeret 
Die  Flasche  frisch  im  Kreise  wiederkehret. 

Sagt,  wem  vergleich'  ich  diese  muntre  Schaar  ? 

Von  wannen  kommt  sie  :    um  wohin  zu  ziehen  ? 

Wie  ist  an  ihr  doch  alles  wunderbar  ! 

Soll  ich  sie  grossen  r   soll  ich  vor  ihr  fliehen  ? 

Ist  es  der  Jäger  wildes  Geisterheer  ? 

Sind's  Gnomen,  die  hier  Zauberkünste  treiben  ? 

47 


J.   W.    VON   GOETHE 

Ich  seh'  im  Busch  der  kleinen  Feuer  mehr  ; 

Es  schaudert  mich,  ich  wage  kaum  zu  bleiben. 

Ist's  der  Agyptier  verdächtiger  Aufenthalt  ? 

Ist  es  ein  flüchtiger  Fürst  wie  im  Ardenner-Wald  ? 

Soll  ich  Verirrter  hier  in  den  verschlungnen  Gründen 

Die  Geister  Shakespeare's  gar  verkörpert  finden  ? 

Ja,  der  Gedanke  führt  mich  eben  recht : 

Sie  sind  es  selbst,  wo  nicht  ein  gleich  Geschlecht ! 

Unbändig  schwelgt  ein  Geist  in  ihrer  Mitten, 

Und  durch  die  Rohheit  fühl'  ich  edle  Sitten. 

Wie  nennt  ihr  ihn  ?    Wer  ist's,  der  dort  gebückt 
Nachlässig  stark  die  breiten  Schultern  drückt  ? 
Er  sitzt  zunächst  gelassen  an  der  Flamme, 
Die  markige  Gestalt  aus  altem  Heldenstamme. 
Er  saugt  begierig  am  geliebten  Rohr, 
Es  steigt  der  Dampf  an  seiner  Stirn  empor. 
Gutmüthig  trocken  weiss  er  Freud'  und  Lachen 
Im  ganzen  Cirkel  laut  zu  machen. 
Wenn  er  mit  ernstlichem  Gesicht 
Barbarisch  bunt  in  fremder  Mundart  spricht. 

Wer  ist  der  andre,  der  sich  nieder 
An  einen  Sturz  des  alten  Baumes  lehnt, 
Und  seine  langen  feingestalten  Glieder 
Ekstatisch  faul  nach  allen  Seiten  dehnt. 
Und,  ohne  dass  die  Zecher  auf  ihn  hören, 
Mit  Geistesflug  sich  in  die  Höhe  schwingt. 
Und  von  dem  Tanz  der  himmelhohen  Sphären 
Ein  monotones  Lied  mit  grosser  Inbrunst  singt  ? 

Doch  scheinet  allen  etwas  zu  gebrechen. 
Ich  höre  sie  auf  einmal  leise  sprechen. 
Des  Jünolings  Ruhe  nicht  zu  unterbrechen. 
Der  dort  am  Ende,  wo  das  Thal  sich  schliesst, 

48 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

In  einer  Hütte,  leicht  gezimmert, 

Vor  der  ein  letzter  Blick  des  kleinen  Feuers  schim- 
mert, 

Vom  Wasserfall  umrauscht,  des  milden  Schlafs 
geniesst. 

Mich  treibt  das  Herz  nach  jener  Kluft  zu  wandern. 

Ich  schleiche  still  und  scheide  von  den  andern. 

Sei  mir  gegrüsst,  der  hier  in  später  Nacht 
Gedankenvoll  an  dieser  Schwelle  wacht ! 
Was  sitzest  du  entfernt  von  jenen  Freuden  ? 
Du  scheinst  mir  auf  was  Wichtiges  bedacht. 
Was  ist's,  dass  du  in  Sinnen  dich  verlierest. 
Und  nicht  einmal  dein  kleines  Feuer  schürest  ? 

**  O  fraae  nicht !    denn  ich  bin  nicht  bereit, 
Des  Fremden  Neugier  leicht  zu  stillen  ; 
Sogar  verbitt'  ich  deinen  guten  Willen  ; 
Hier  ist  zu  schweigen  und  zu  leiden  Zeit. 
Ich  bin  dir  nicht  im  Stande  selbst  zu  sagen 
Woher  ich  sei,  wer  mich  hierher  gesandt ; 
Von  fremden  Zonen  bin  ich  her  verschlagen 
Und  durch  die  Freundschaft  festgebannt. 

Wer  kennt  sich  selbst  ?  wer  weiss  was  er  vermag  ? 

Hat  nie  der  Muthige  Verwegnes  unternommen  ? 

Und  was  du  thust,  sagt  erst  der  andre  Tag, 

War  es  zum  Schaden  oder  Frommen. 

Liess  nicht  Prometheus  selbst  die  reine  Himmelsgluth 

Auf  frischen  Thon  vergötternd  niederfliessen  ? 

Und  könnt'  er  mehr  als  irdisch  Blut 

Durch  die  belebten  Adern  giessen  ? 

Ich  brachte  reines  Feuer  vom  Altar  ; 

Was  ich  entzündet,  ist  nicht  reine  Flamme. 

133  49 


J.   W.   VON   GOETHE 

Der  Sturm  vermehrt  die  Gluth  und  die  Gefahr, 
Ich  schwanke  nicht,  indem  ich  mich  verdamme. 

Und  wenn  ich  unklug  Muth  und  Freiheit  sang 
Und  Redlichkeit  und  Freiheit  sonder  Zwang, 
Stolz  auf  sich  selbst  und  herzliches  Behagen, 
Erwarb  ich  mir  der  Menschen  schöne  Gunst : 
Doch  ach  !   ein  Gott  versagte  mir  die  Kunst, 
Die  arme  Kunst,  mich  künstlich  zu  betragen. 
Nun  sitz'  ich  hier  zugleich  erhoben  und  gedrückt, 
Unschuldig  und  gestraft,  und  schuldig  und  beglückt. 

Doch  rede  sacht !   denn  unter  diesem  Dach 

Ruht  all  mein  Wohl  und  all  mein  Ungemach  : 

Ein  edles  Herz,  vom  Wege  der  Natur 

Durch  enges  Schicksal  abgeleitet. 

Das,  ahnungsvoll,  nun  auf  der  rechten  Spur 

Bald  mit  sich  selbst  und  bald  mit  Zauberschatten 

streitet. 
Und  was    ihm    das    Geschick    durch    die    Geburt 

geschenkt 
Mit  Müh  und  Schweiss  erst  zu  erringen  denkt. 
Kein  liebevolles  Wort  kann  seinen  Geist  enthüllen 
Und  kein  Gesang  die  hohen  Wogen  stillen. 

Wer  kann  der  Raupe,  die  am  Zweige  kriecht, 
Von  ihrem  künft'gen  Futter  sprechen  ? 
Und  wer  der  Puppe,  die  am  Boden  liegt. 
Die  zarte  Schale  helfen  durchzubrechen  ? 
Es  kommt  die  Zeit,  sie  drängt  sich  selber  los 
Und  eilt  auf  Fittigen  der  Rose  in  den  Schoos. 

Gewiss,  ihm  geben  auch  die  Jahre 
Die  rechte  Richtung  seiner  Kraft. 
Noch  ist  bei  tiefer  Neigung  für  das  Wahre 
Ihm  Irrthum  eine  Leidenschaft. 

so 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Der  Vorwitz  lockt  ihn  in  die  Weite, 

Kein  Fels  ist  ihm  zu  schroff,  kein  Steg  zu  schmal ; 

Der  Unfall  lauert  an  der  Seite 

Und  stürzt  ihn  in  den  Arm  der  Qual. 

Dann  treibt  die  schmerzlich  überspannte  Regung 

Gewaltsam  ihn  bald  da  bald  dort  hinaus, 

Und  von  unmuthiger  Bewegung 

Ruht  er  unmuthig  wieder  aus. 

Und  düster  wild  an  heitern  Tagen, 

Unbändig  ohne  froh  zu  sein. 

Schläft    er,    an    Seel'    und    Leib    verwundet     und 

zerschlagen, 
Auf  einem  harten  Lager  ein: 
Indessen  ich  hier  still  und  athmend  kaum 
Die  Augen  zu  den  freien  Sternen  kehre. 
Und,  halb  erwacht  und  halb  im  schweren  Traum, 
Mich  kaum  des  schweren  Traums  erwehre.*' 

Verschwinde  Traum  ! 

Wie  dank'  ich,  Musen,  euch  ! 
Dass  ihr  mich  heut  auf  einen  Pfad  gestellet. 
Wo  auf  ein  einzig  Wort  die  ganze  Gegend  gleich 
Zum  schönsten  Tage  sich  erhellet ; 
Die  Wolke  flieht,  der  Nebel  fällt. 
Die  Schatten  sind  hinweg.       Ihr  Götter,  Preis  und 

Wonne  ! 
Es  leuchtet  mir  die  wahre  Sonne, 
Es  lebt  mir  eine  schönre  Welt ; 
Das  ängstliche  Gesicht  ist  in  die  Luft  zerronnen, 
Ein  neues  Leben  ist's,  es  ist  schon  lang  begonnen. 

Ich  sehe  hier,  wie  man  nach  langer  Reise 
Im  Vaterland  sich  wieder  kennt, 
Ein  ruhig  Volk  in  stillem  Fleisse 
Benutzen,  was  Natur  an  Gaben  ihm  gegönnt. 

51 


J.    W.    VON   GOETHE 

Der  Faden  eilet  von  dem  Rocken 

Des  Webers  raschem  Stuhle  zu  ; 

Und  Seil  und  Kübel  wird  in  längrer  Ruh 

Nicht  am  verbrochnen  Schachte  stocken  ; 

Es  wird  der   Trug  entdeckt,   die   Ordnung    kehrt 

zurück, 
Es  folgt  Gedeihn  und  festes  irdisches  Glück. 

So  niüg',  o  Fürst,  der  Winkel  deines  Landes 
Ein  Vorbild  deiner  Tage  sein  ! 
Du  kennest  lang  die  Pflichten  deines  Standes 
Und  schränkest  nach  und  nach  die  freie  Seele  ein. 
Der  kann  sich  manchen  Wunsch  gewähren, 
Der  kalt  sich  selbst  und  seinem  Willen  lebt ; 
Allein  wer  andre  wohl  zu  leiten  strebt, 
Muss  fähig  sein,  viel  zu  entbehren. 

So  wandle  du — der  Lohn  ist  nicht  gering — 
Nicht  schwankend  hin,  wie  jener  Sämann  ging, 
Dass  bald  ein  Korn,  des  Zufalls  leichtes  Spiel, 
Hier  auf  den  Weg,  dort  zwischen  Dornen  fiel ; 
Nein  !    streue  klug  wie  reich,  mit  männlich  stäter 

Hand, 
Den  Segen  aus  auf  ein  geackert  Land  ; 
Dann  lass  es  ruhn  :   die  Ernte  wird  erscheinen 
Und  dich  beglücken  und  die  Deinen. 


KUNST 
Der   Wandrer 

WANDRER 

GOTT  segne  dich,  junge  Frau, 
LTnd  den  säugenden  Knaben 

52 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

An  deiner  Brust  ! 

Lass  mich  an  der  Felsenwand  hier, 

In  des  Ulmbaums  Schatten, 

Meine  Bürde  werfen, 

Neben  dir  ausruhn. 

FRAU 

Welch  Gewerbe  treibt  dich 
Durch  des  Tages  Hitze 
Den  staubigen  Pfad  her  ? 
Bringst  du  Waaren  aus  der  Stadt 
Im  Land  herum  ? 
Lächelst,  Fremdling, 
Über  meine  Frage  ? 

WANDRER 

Keine  Waaren  bring'  ich  aus  der  Stadt  : 
Kühl  wird  nun  der  Abend. 
Zeige  mir  den  Brunnen, 
Draus  du  trinkest. 
Liebes  junges  W^eib  ! 

VRAU 

Hier  den  Felsenpfad  hinauf. 
Geh  voran  !    Durch's  Gebüsche 
Geht  der  Pfad  nach  der  Hütte, 
Drin  ich  wohne, 
Zu  dem  Brunnen, 
Den  ich  trinke. 

WANDRER 

Spuren  ordnender  Menschenhand 
Zwischen  dem  Gesträuch  ! 
Diese  Steine  hast  du  nicht  gefügt, 
Reichhinstreuende  Natur  ! 

53 


J.    W.    VON   GOETHE 

FRAU 

Weiter  hinauf! 

WANDRER 

Von  dem  Moos  gedeckt  ein  Architrav  ! 
Ich  erkenne  dich,  bildender  Geist ! 
Hast  dein  Siegel  in  den  Stein  gepr'ägt. 

FRAU 

Weiter,  Fremdling  ! 

WANDRER 

Eine  Inschrift,  über  die  ich  trete  ! 
Nicht  zu  lesen  ! 
Weggewandelt  seid  ihr, 
Tiefgegrabne  Worte, 
Die  ihr  eures  Meisters  Andacht 
Tausend  Enkeln  zeigen  solltet. 

FRAU 

Staunest,  Fremdling, 
Diese  Stein'  an  ? 
Droben  sind  der  Steine  viel 
Um  meine  Hütte. 

WANDRER 

Droben  ? 

FRAU 

Gleich  zur  Linken 
Durch's  Gebüsch  hinan  ; 
Hier. 

WANDRER 

Ihr  Musen  und  Grazien  ! 

FRAU 

Das  ist  meine  Hütte. 
54 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

WANDRER 

Eines  Tempels  Trümmer ! 

FRAU 

Hier  zur  Seit'  hinab 
Quillt  der  Brunnen, 
Den  ich  trinke. 

WANDRER 

Glühend  webst  du 
Über  deinem  Grabe, 
Genius  !   über  dir 
Ist  zusammengestürzt 
Dein  Meisterstück, 
O  du  Unsterblicher  ! 

FRAU 

Wart',  ich  hole  das  Gefäss 
Dir  zum  Trinken. 

WANDRER 

Epheu  hat  deine  schlanke 

Götterbildung  umkleidet. 

Wie  du  emporstrebst 

Aus  dem  Schutte, 

S'äulenpaar ! 

Und  du  einsame  Schwester  dort, 

Wie  ihr. 

Düstres  Moos  auf  dem  heiligen  Haupt, 

Majestätisch  trauernd  herabschaut 

Auf  die  zertrümmerten 

Zu  euren  Füssen, 

Eure  Geschwister  ! 

In  des  Brombeergesträuches  Schatten 

Deckt  sie  Schutt  und  Erde, 

55 


J.   W.    VON   GOETHE 

Und  hohes  Gras  wankt  drüber  hin. 

Schätzest  du  so,  Natur, 

Deines  Meisterstücks  Meisterstück  ? 

Unempfindlich  zertrümmerst  du 

Dein  Heiligthum  : 

Säest  Disteln  drein  ? 

FRAU 

Wie  der  Knabe  schläft ! 
Willst  du  in  der  Hütte  ruhn, 
Fremdling  ?  Willst  du  hier 
Lieber  in  dem  Freien  bleiben  ? 
Es  ist  kühl !    Nimm  den  Knaben, 
Dass  ich  Wasser  schöpfen  gehe. 
Schlafe,  Lieber!   schlaf! 

WANDRER 

Süss  ist  deine  Ruh  ! 

Wie's,  in  himmlischer  Gesundheit 

Schwimmend,  ruhig  athmet ! 

Du,  geboren  über  Resten 

Heiliger  Vergangenheit, 

Ruh  ihr  Geist  auf  dir  ! 

Welchen  der  umschwebt, 

Wird  in  Götterselbstuef  ühl 

Jedes  Tags  geaiessen. 

Voller  Keim  blüh'  auf, 

Des  glänzenden  Frühlings 

Herrlicher  Schmuck, 

Und  leuchte  vor  deinen  Gesellen  ! 

Und  welkt  die  Blüthenhülle  weg, 

Dann  steig'  aus  deinem  Busen 

Die  volle  Frucht, 

Und  reife  der  Sonn'  entgegen  ! 


56 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

FRAU 

Gesegne's  Gott ! — Und  schl'äft  er  noch  ? 

Ich  habe  nichts  zum  frischen  Trunk, 

Als  ein  Stück  Brot,  das  ich  dir  bieten  kann. 

WANDRER 

Ich  danke  dir. 

Wie  herrlich  alles  blüht  umher 

Und  grünt ! 

FRAU 

Mein  Mann  wird  bald 

Nach  Hause  sein 

Vom  Feld.      O  bleibe,  bleibe,  Mann  ! 

Und  iss  mit  uns  das  Abendbrot. 

WANDRER 

Ihr  wohnet  hier  ? 

FRAU 

Da,  zwischen  dem  Gemäuer  her. 
Die  Hütte  baute  noch  mein  Vater 
Aus  Ziegeln  und  des  Schuttes  Steinen. 
Hier  wohnen  wir. 
Er  gab  mich  einem  Ackersmann, 
Und  starb  in  unsern  Armen. — 
Hast  du  geschlafen,  liebes  Herz  ? 
Wie  er  munter  ist,  und  spielen  will  ! 
Du  Schelm  ! 

WANDRER 

Natur  !    du  ewig  keimende, 
Schaffst  jeden  zum  Genuss  des  Lebens, 
Hast  deine  Kinder  alle  mütterlich 
Mit  Erbtheil  ausgestattet,  einer  Hütte. 
Hoch  baut  die  Schwalb'  an  das  Gesims, 

57 


J.    W.    VON   GOETHE 

Unfühlend,  welchen  Zierrath 

Sie  verklebt ; 

Die  Raup'  umspinnt  den  goldnen  Zweig 

Zum  Winterhaus  für  ihre  Brut ; 

Und  du  flickst  zwischen  der  Vergangenheit 

Erhabne  Trümmer 

Für  deine  Bedürfniss' 

Eine  Hütte,  o  Mensch, 

Geniessest  über  Gräbern  !  — 

Leb'  wohl,  du  glücklich  Weib  ! 

FRAU 

Du  willst  nicht  bleiben  ? 

WANDRER 

Gott  erhalt'  euch, 
Segn'  euern  Knaben  ! 

FRAU 

Glück  auf  den  Weg  ! 

WANDRER 

Wohin  führt  mich  der  Pfad 
Dort  über'n  Berg  ? 

FRAU 

Nach  Cuma. 

WANDRER 

Wie  weit  ist's  hin  ? 

FRAU 

Drei  Meilen  gut- 

WANDRER 

Leb'  wohl ! 

O  leite  meinen  Gang,  Natur  ! 

Den  Fremdlings- Reisetritt, 

58 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Den  über  Gräber 

Heiliger  Vergangenheit 

Ich  wandle. 

Leit'  ihn  zum  Schutzort, 

Vor'ra  Nord  gedeckt, 

Und  wo  dem  Mittagsstrahl 

Ein  Pappel  Wäldchen  wehrt. 

Und  kehr'  ich  dann 

Am  Abend  heim 

Zur  Hütte, 

Vergoldet  vom  letzten  Sonnenstrahl  ; 

Lass  mich  empfangen  solch  ein  Weib, 

Den  Knaben  auf  dem  Arm  ! 


Amor  als  Landschaftsmahier 

SASS  ich  früh  auf  einer  Felsenspitze, 
Sah  mit  starren  Augen  in  den  Nebel  ; 
Wie  ein  grau  grundirtes  Tuch  gespannet 
Deckt'  er  alles  in  die  Breit'  und  Höhe. 

Stellt'  ein  Knabe  sich  mir  an  die  Seite, 
Sagte  :    Lieber  Freund,  wie  magst  du  starrend 
Auf  das  leere  Tuch  gelassen  schauen  ? 
Hast  du  denn  zum  Mahlen  und  zum  Bilden 
Alle  Lust  auf  ewig  wohl  verloren  ? 

Sah  ich  an  das  Kind  und  dachte  heimlich  : 
Will  das  Bübchen  doch  den  Meister  machen  ! 

Willst  du  immer  trüb'  und  müssig  bleiben, 
Sprach  der  Knabe,  kann  nichts  Kluges  werden 
Sich,  ich  will  dir  gleich  ein  Bildchen  mahlen, 
Dich  ein  hübsches  Bildchen  mahlen  lehren. 

59 


J.    W.    VON   GOETHE 

Und  er  richtete  den  Zeigefinger, 
Der  so  röthlich  war  wie  eine  Rose, 
Nach  dem  weiten  ausgespannten  Teppich, 
Fing  mit  seinem  Finger  an  zu  zeichnen: 

Oben  mahlt'  er  eine  schöne  Sonne, 
Die  mir  in  die  Augen  mächtig  glänzte. 
Und  den  Saum  der  Wolken  macht'  er  golden, 
Liess  die  Strahlen  durch  die  Wolken  dringen  ; 
Mahlte  dann  die  zarten  leichten  Wipfel 
Frisch  erquickter  Bäume,  zog  die  Hügel, 
Einen  nach  dem  andern,  frei  dahinter  ; 
Unten  liess  er's  nicht  an  Wasser  fehlen. 
Zeichnete  den  Fluss  so  ganz  natürlich, 
Dass  er  schien  im  Sonnenstrahl  zu  glitzern, 
Dass  er  schien  am  hohen  Rand  zu  rauschen. 

Ach,  da  standen  Blumen  an  dem  Flusse, 
Und  da  waren  Farben  auf  der  Wiese, 
Gold  und  Schmelz  und  Purpur  und  ein  Grünes, 
Alles  wie  Smaragd  und  wie  Karfunkel  ! 
Hell  und  rein  lasirt'  er  drauf  den  Himmel 
Und  die  blauen  Berge  fern  und  ferner, 
Dass  ich  ganz  entzückt  und  neu  geboren 
Bald  den  Mahlcr,  bald  das  Bild  beschaute. 

Hab'  ich  doch,  so  sagt'  er,  dir  bewiesen, 
Dass  ich  dieses  Handwerk  gut  verstehe  ; 
Doch  es  ist  das  Schwerste  noch  zurücke. 

Zeichnete  darnach  mit  spitzem  Finger 
Und  mit  grosser  Sorgfalt  an  dem  Wäldchen, 
Grad  an's  Ende,  wo  die  Sonne  kräftig 
Von  dem  hellen  Boden  widergiänzte. 
Zeichnete  das  allerliebste  Mädchen, 
Wohlgebildet,  zierlich  angekleidet, 
60 


GEDICHTE.     ZWEITER   THEIL 

Frische  Wangen  unter  braunen  Haaren, 
Und  die  Wangen  waren  von  der  Farbe, 
Wie  das  Finger  eben,  das  sie  gebildet. 

O  du  Knabe  !    rief  ich,  welch  ein  Meister 
Hat  in  seine  Schule  dich  genommen, 
Dass  du  so  geschwind  und  so  natürlich 
Alles  klug  beginnst  und  gut  vollendest  ? 

Da  ich  noch  so  rede,  sieh,  da  rühret 

Sich  ein  Windchen,  und  bewegt  die  Gipfel 

Kräuselt  alle  Wellen  auf  dem  Flusse, 

Füllt  den  Schleier  des  volikommnen  Madchens, 

Und  was  mich  Erstaunten  mehr  erstaunte. 

Fängt  das  Mädchen  an  den  Fuss  zu  rühren. 

Geht  zu  kommen,  nähert  sich  dem  Orte, 

Wo  ich  mit  dem  losen  Lehrer  sitze. 

Da  nun  alles,  alles  sich  bewegte, 
Bäume,  Fluss  und  Blumen  und  der  Schleier 
Und  der  zarte  Fuss  der  Allerschönsten  ; 
Glaubt  ihr  wohl,  ich  sei  auf  meinem  Felsen, 
Wie  ein  Felsen,  still  und  fest  geblieben  ? 


ALTERSLYRIK 

Trilogie  der  Leidenschaft 

An    Werthdr 

NOCH  einmal  wagst  du,  vielbeweinter  Schatten, 
Hervor  dich  an  das  Tageslicht, 
Begegnest  mir  auf  neu  beblümten  Matten 
Und  meinen  Anblick  scheust  du  nicht. 

6i 


J.    W.    VON   GOETHE 

Es  ist  als  ob  du  lebtest  in  der  Frühe, 
Wo  uns  der  Thau  auf  Einem  Feld  erquickt, 
Und  nach  des  Tages  unwillkommner  Mühe 
Der  Scheidesonne  letzter  Strahl  entzückt ; 
Zum  Bleiben  ich,  zum  Scheiden  du  erkoren, 
Gingst  du  voran — und  hast  nicht  viel  verloren. 

Des  Menschen  Leben  scheint  ein  herrlich  Leos  : 
Der  Tag,  wie  lieblich,  so  die  Nacht,  wie  gross  ! 
Und  wir,  gepflanzt  in  Paradieses  Wonne, 
Geniessen  kaum  der  hocherlauchten  Sonne, 
Da  kämpft  sogleich  verworrene  Bestrebung 
Bald  mit  uns  selbst  und  bald  mit  der  Umgebung  ; 
Keins  wird  vom  andern  wünschenswerth  ergänzt. 
Von  aussen  düstert's,  wenn  es  innen  glänzt. 
Ein  glänzend  Äussres  deckt  mein  trüber  Blick, 
Da  steht  es  nah — und  man  verkennt  das  Glück. 

Nun  glauben  wir's  zu  kennen  !    Mit  Gewalt 
Ergreift  uns  Liebreiz  weiblicher  Gestalt: 
Der  Jüngling,  froh  wie  in  der  Kindheit  Flor, 
Im  Frühling  tritt  als  Frühling  selbst  hervor. 
Entzückt,  erstaunt,  wer  dies  ihm  angethan  ? 
Er  schaut  umher,  die  Welt  gehört  ihm  an. 
In*s  Weite  zieht  ihn  unbefangne  Hast, 
Nichts  engt  ihn  ein,  nicht  Mauer,  nicht  Palast  ; 
Wie  Vögelschaar  an  Wäldergipfeln  streift, 
So  schwebt  auch  er,  der  um  die  Liebste  schweift, 
Er  sucht  vom  Äther,  den  er  gern  verlässt, 
Den  treuen  Blick,  und  dieser  hält  ihn  fest. 

Doch  erst  zu  früh  und  dann  zu  spät  gewarnt, 
Fühlt  er  den  Flug  gehemmt,  fühlt  sich  umgarnt. 
Das  Wiedersehn  ist  froh,  das  Scheiden  schwer, 
Das  Wieder-Wiedersehn  beglückt  noch  mehr 

62 


ALTERSLYRIK 

Und  Jahre  sind  im  Augenblick  ersetzt  ; 
Doch  tückisch  harrt  das  Lebewohl  zuletzt. 

Du  lächelst,  Freund,  gefühlvoll  wie  sich  ziemt : 
Ein  grässlich  Scheiden  machte  dich  berühmt ; 
Wir  feierten  dein  kläglich  Missgeschick, 
Du  liessest  uns  zu  Wohl  und  Weh  zurück  ; 
Dann  zog  uns  wieder  ungewisse  Bahn 
Der  Leidenschaften  labyrinthisch  an  ; 
Und  wir  verschlungen  wiederholter  Noth, 
Dem  Scheiden  endlich — Scheiden  ist  der  Tod ! 
Wie  klingt  es  rührend  wenn  der  Dichter  singt. 
Den  Tod  zu  meiden,  den  das  Scheiden  bringt  ! 
Verstrickt  in  solche  Qualen  halbverschuldet 
Geb'  ihm  ein  Gott  zu  sasen  was  er  duldet. 


Elegie 

Und  wenn  der  Mensch  in  seiner  Qual  verstummt, 
Gab  mir  ein  Gott  zu  sagen  was  ich  leide. 

WAS  soll  ich  nun  vom  Wiedersehen  hoffen, 
Von  dieses  Tages  noch  geschloss'ner  Blüthe  ? 
Das  Paradies,  die  Hölle  steht  dir  offen  ; 
Wie  wankelsinnig  regt  sich's  im  Gemüthe  ! — 
Kein  Zweifeln  mehr  !    Sie  tritt  an's  Himmelsthor, 
Zu  ihren  Armen  hebt  sie  dich  empor. 

So  warst  du  denn  im  Paradies  empfangen. 
Als  wärst  du  werth  des  ewig  schönen  Lebens  ; 
Dir  blieb  kein  Wunsch,  kein  Hoffen,  kein  Verlangen, 
Hier  war  das  Ziel  des  innigsten  Bestrebens, 
Und  in  dem  Anschaun  dieses  einzig  Schönen 
Versiegte  gleich  der  Quell  sehnsüchtiger  Thränen. 

63 


J.   W.   VON   GOETHE 

Wie  regte  nicht  der  Tag  die  raschen  Flügel, 
Schien  die  Minuten  vor  sich  her  zu  treiben  ! 
Der  Abendkuss,  ein  treu  verbindlich  Siegel : 
So  wird  es  auch  der  nächsten  Sonne  bleiben. 
Die  Stunden  glichen  sich  in  zartem  Wandern 
Wie  Schwestern  zwar,  doch  keine  ganz  den  andern. 

Der  Kuss  der  letzte,  grausam  süss,  zerschneidend 
Ein  herrliches  Geflecht  verschlunoner  Minnen. 
Nun  eilt,  nun  stockt  der  Fuss  die  Schwelle  meidend, 
Als  trieb'  ein  Cherub  flammend  ihn  von  hinnen  ; 
Das  Auge  starrt  auf  düstrem  Pfad  verdrossen. 
Es  blickt  zurück,  die  Pforte  steht  verschlossen. 

Und  nun  verschlossen  in  sich  selbst,  als  hätte 
Dies  Herz  sich  nie  geöffnet,  selige  Stunden 
Mit  jedem  Stern  des  Himmels  um  die  Wette 
An  ihrer  Seite  leuchtend  nicht  empfunden  ; 
Und  Missmuth,  Reue,  Vorwurf,  Sorgenschwere 
Belasten's  nun  in  schwüler  Atmosphäre. 

Ist  denn  die  Welt  nicht  übrig  ?   Felsen  wände 
Sind  sie  nicht  mehr  gekrönt  von  heiligen  Schatten  ? 
Die  Ernte  reift  sie  nicht?   Ein  grün  Gelände 
Zieht  sich's  nicht  hin  am   Fluss  durch  Busch  und 

Matten  ? 
Und  wölbt  sich  nicht  das  überweltlich  Grosse, 
Gestaltenreiche,  bald  gestaltenlose  ? 

Wie  leicht  und  zierlich,  klar  und  zart  gewoben. 
Schwebt,  Seraph  gleich,  aus  ernster  Wolken  Chor, 
Als  glich'  es  ihr,  am  blauen  Äther  droben. 
Ein  schlank  Gebild  aus  lichtem  Duft  empor  ; 
So  sahst  du  sie  in  frohem  Tanze  walten 
Die  lieblichste  der  lieblichsten  Gestalten. 

64 


ALTERSLYRIK 

Doch  nur  Momente  darfst  dich  unterwinden 

Ein  Luftgebild  statt  ihrer  fest  zu  halten  ; 

In's  Herz  zurück,  dort  wirst  dü's  besser  finden, 

Dort  regt  sie  sich  in  wechselnden  Gestalten  ; 

Zu  vielen  bildet  Eine  sich  hinüber, 

So  tausendfach,  und  immer  immer  lieber. 

Wie  zum  Empfang  sie  an  den  Pforten  weilte 
Und  mich  von  dannauf  stufenweis  beolückte  ; 
Selbst  nach  dem  letzten  Kuss  mich  noch  ereilte, 
Den  letztesten  mir  auf  die  Lippen  drückte: 
So  klar  beweglich  bleibt  das  Bild  der  Lieben, 
Mit  Flammenschrift,  in's  treue  Herz  geschrieben. 

In's  Herz,  das  fest  wie  zinnenhohe  Mauer 
Sich  ihr  bewahrt  und  sie  in  sich  bewahret, 
Für  sie  sich  freut  an  seiner  eignen  Dauer, 
Nur  weiss  von  sich,  wenn  sie  sich  offenbaret, 
Sich  freier  fühlt  in  so  geliebten  Schranken 
Und  nur  noch  schlägt,  für  alles  ihr  zu  danken. 

War  Fähigkeit  zu  lieben,  war  Bedürfen 
Von  Gegenliebe  weggelöscht,  verschwunden  ; 
Ist  Hoffnungslust  zu  freudigen  Entwürfen, 
Entschlüssen,  rascher  That  sogleich  gefunden  ! 
Wenn  Liebe  je  den  Liebenden  begeistet. 
Ward  es  an  mir  auf's  lieblichste  geleistet ; 

Und  zwar  durch  sie  ! — Wie  lag  ein  innres  Bangen 
Auf  Geist  und  Körper,  unwillkommer  Schwere: 
Von  Schauerbildern  rings  der  Blick  umfangen 
Im  wüsten  Raum  beklommner  Herzensleere  ; 
Nun  dämmert  Hoffnung  von  bekannter  Schwelle, 
Sie  selbst  erscheint  in  milder  Sonnenhelle. 

Dem  Frieden  Gottes,  welcher  euch  hienieden 
Mehr  als  Vernunft  beseliget — wir  lesen' s — 

134  6; 


J.   W.    VON   GOETHE 

Vergleich'  ich  wohl  der  Liebe  heitern  Frieden 
In  Gegenwart  des  allgeliebten  Wesens  ; 
Da  ruht  das  Herz  und  nichts  vermag  zu  stören 
Den  tiefsten  Sinn,  den  Sinn  ihr  zu  gehören. 

In  unsers  Busens  Reine  wogt  ein  Streben, 

Sich  einen  Höhern,  Reinern,  Unbekannten 

Aus  Dankbarkeit  freiwillig  hinzugeben, 

Enträthselnd  sich  den  ewig  Ungenannten  ; 

Wir  heissen's:   fromm  sein! — Solcher  seligen  Höhe 

Fühl'  ich  mich  theilhaft.  wenn  ich  vor  ihr  stehe. 

Vor  ihrem  Blick,  wie  vor  der  Sonne  Walten, 
Vor  ihrem  Athem,  wie  vor  Frühlingslliften, 
Zerschmilzt,  so  langst  sich  eisig  starr  gehalten, 
Der  Selbstsinn  tief  in  winterlichen  Grüften  ; 
Kein  Eigennutz,  kein  Eigenwille  dauert. 
Vor  ihrem  Kommen  sind  sie  weggeschauert. 

Es  ist  als  wenn  sie  sagte  :   "  Stund'  um  Stunde 
Wird  uns  das  Leben  freundlich  dargeboten. 
Das  Gestrige  Hess  uns  geringe  Kunde, 
Das  Morgende,  zu  wissen  ist's  verboten  ; 
Und  wenn  ich  je  mich  vor  dem  Abend  scheute, 
Die  Sonne  sank  und  sah  noch  was  mich  freute. 

Drum  thu'  wie  ich  und  schaue,  froh  verständig, 
Dem  Augenblick  in's  Auge  !    Kein  Verschieben  ! 
Begegn'  ihm  schnell,  wohlwollend  wie  lebendig. 
Im  Handeln  sei's  zur  Freude,  sei's  dem  Lieben  ; 
Nur  wo  du  bist  sei  alles,  immer  kindlich. 
So  bist  du  alles,  bist  unüberwindlich." 

Du  hast  gut  reden,  dacht'  ich,  zum  Geleite 
Gab  dir  ein  Gott  die  Gunst  des  Augenblickes, 
Und  jeder  fühlt  an  deiner  holden  Seite 
66 


ALTERSLYRIK 

Sich  Augenblicks  den  Günstling  des  Geschickes  ; 
Mich  schreckt  der  Wink  von  dir  mich  zu  entfernen, 
Was  hilft  es  mir  so  hohe  Weisheit  lernen ! 

Nun  bin  ich  fern  !    Der  jetzigen  Minute 
Was  ziemt  denn  der  ?   Ich  wüsst'  es  nicht  zu  sagen ; 
Sie  bietet  mir  zum  Schönen  manches  Gute, 
Das  lastet  nur,  ich  muss  mich  ihm  entschlagen  ; 
Mich  treibt  umher  ein  unbezwinglich  Sehnen, 
Da  bleibt  kein  Rath  als  gränzenlose  Thränen. 

So  quellt  denn  fort !   und  fiiesset  unaufhaltsam  ; 
Doch  nie  gelang's  die  innre  Gluth  zu  dämpfen  ! 
Schon  rast's  und  reisst  in  meiner  Brust  gewaltsam, 
Wo  Tod  und  Leben  grausend  sich  bekämpfen. 
Wohl  Kräuter  gäb's,  des  Körpers  Qual  zu  stillen  ; 
Allein  dem  Geist  fehlt's  am  El ntschluss  und  Willen, 

Fehlt's  am  Begriff:   wie  sollt'  er  sie  vermissen? 
Er  wiederholt  ihr  Bild  zu  tausendmalen. 
Das  zaudert  bald,  bald  wird  es  weggerissen, 
Undeutlich  jetzt  und  jetzt  im  reinsten  Strahlen  ; 
Wie  könnte  dies  geringstem  Tröste  frommen. 
Die  Ebb'  und  Fluth,  das  Gehen  wie  das  Kommen  ? 


Verlasst  mich  hier,  getreue  Weggenossen  ! 
Lasst  mich  allein  am  Fels,  in  Moor  und  Moos  ; 
Nur  immer  zu  !    euch  ist  die  Welt  erschlossen, 
Die  Erde  weit,  der  Himmel  hehr  und  gross  ; 
Betrachtet,  forscht,  die  Einzelheiten  sammelt, 
Naturgeheimniss  werde  nachgestammelt. 

Mir  ist  das  All,  ich  bin  mir  selbst  verloren, 
Der  ich  noch  erst  den  Göttern  Liebling  war ; 
Sie  prüften  mich,  verliehen  mir  Pandoren, 

67 


J.    W.    VON   GOETHE 

So  reich  an  Gütern,  reicher  an  Gefahr ; 
Sie  drängten  mich  zum  gabesehgen  Munde, 
Sie  trennen  mich,  und  richten  mich  zu  Grunde. 

Aussöhnung 

DIE    Leidenschaft    bringt    Leiden!  — Wer    be- 
schwichtigt 
Beklommnes  Herz  das  allzuviel  verloren  ? 
Wo  sind  die  Stunden,  überschnell  verflüchtigt  ? 
Vergebens  war  das  Schönste  dir  erkoren  ! 
Trüb'  ist  der  Geist,  verworren  das  Beginnen  ; 
Die  hehre  Welt  wie  schwindet  sie  den  Sinnen  ! 

Da  schwebt  hervor  Musik  mit  Engelschwingen, 

Verflicht  zu  Millionen  Tön*  um  Töne, 

Des  Menschen  Wesen  durch  und  durch  zu  dringen, 

Zu  überfüllen  ihn  mit  ew'ger  Schöne  : 

Das  Auoe  netzt  sich,  fühlt  im  höhern  Sehnen 

Den  Götter-Werth  der  Töne  wie  der  Thränen. 

Und  so  das  Herz  erleichtert  merkt  behende 

Dass  es  noch  lebt  und  schlägt  und  möchte  schlagen. 

Zum  reinsten  Dank  der  überreichen  Spende 

Sich  selbst  erwidernd  willig  darzutragen. 

Da  fühlte  sich — o  dass  es  ewig  bliebe  !  — 

Das  Doppel-Glück  der  Töne  wie  der  Liebe. 


Äolsharfen 
Gespräch 

KR 

ICH  dacht'  ich  habe  keinen  Schmerz 
Und  doch  war  mir  so  bang  um's  Herz, 
68 


ALTERSLYRIK 

Mir  war's  gebunden  vor  der  Stirn 
Und  hohl  im  innersten  Gehirn — 
Bis  endlich  Thrän'  auf  Thräne  lliesst, 
Verhaltnes  Lebewohl  ergiesst. — 
Ihr  Lebewohl  war  heitre  Ruh, 
Sie  weint  wohl  jetzund  auch  wie  du. 

SIE 

Ja  er  ist  fort,  das  muss  nun  sein  ! 
Ihr  Lieben,  lasst  mich  nur  allein, 
Sollt'  ich  euch  seltsam  scheinen. 
Es  wird  nicht  ewig  währen  ! 
Jetzt  kann  ich  ihn  nicht  entbehren, 
Und  da  muss  ich  weinen 


ER 

Zur  Trauer  bin  ich  nicht  gestimmt 

Und  Freude  kann  ich  auch  nicht  haben  : 

Was  sollen  mir  die  reifen  Gaben, 

Die  man  von  jedem  Baume  nimmt ! 

Der  Tas  ist  mir  zum  Uberdruss, 

Langweilig  ist's,  wenn  Nächte  sich  befeuern  ; 

Mir  bleibt  der  einzige  Genuss 

Dein  holdes  Bild  mir  ewig  zu  erneuern, 

Und  fühltest  du  den  Wunsch  nach  diesem  Segen, 

Du  kämest  mir  auf  halbem  Weg  entgegen. 

SIE 

Du  trauerst  dass  ich  nicht  erscheine, 
Vielleicht  entfernt  so  treu  nicht  meine. 
Sonst  war'  mein  Geist  im  Bilde  da. 
Schmückt  Iris  wohl  des  Himmels  Bläue  ? 
Lass  regnen,  gleich  erscheint  die  Neue, 
Du  weinst !    Schon  bin  ich  wieder  da. 

6g 


J.   W.    VON   GOETHE 

ER 

Ja  du  bist  wohl  an  Iris  zu  vergleichen  ! 
Ein  liebenswürdig  Wunderzeichen. 
So  schmiegsam  herrlich,  bunt  im  Harnionie 
Und  immer  neu  und  immer  gleich  wie  sie. 


Mai 

LEICHTE  Silberwolken  schweben 
Durch  die  erst  erwärmten  Lüfte, 
Mild,  von  Schimmer  sanft  umgeben, 
Blickt  die  Sonne  durch  die  Düfte  ; 
Leise  wallt  und  drängt  die  Welle 
Sich  am  reichen  Ufer  hin, 
Und  wie  reingewaschen  helle. 
Schwankend  hin  und  her  und  hin, 
Spiegelt  sich  das  junge  Grün. 

Still  ist  Luft  und  Lüftchen  stille  ; 
Was  bewegt  mir  das  Gezweige  ? 
Schwüle  Liebe  dieser  Fülle, 
Von  den  Bäumen  durch's  Gesträuche. 
Nun  der  Blick  auf  einmal  helle. 
Sieh  !    der  Bübchen  Flatterschaar, 
Das  bewegt  und  regt  so  schnelle, 
Wie  der  Morgen  sie  gebar, 
Flügelhaft  sich  Paar  und  Paar. 

Fangen  an  das  Dach  zu  flechten  ;  — 
Wer  bedürfte  dieser  Hütte  .'* 
L^nd  wie  Zimmrer,  die  gerechten, 
Bank  und  l'ischchen  in  der  Mitte  ! 
Und  so  bin  ich  noch  verwundert, 
Sonne  sinkt,  ich  fühl'  es  kaum  ; 

70 


ALTERSLYRIK 

Und  nun  führen  aber  hundert 
Mir  das  Liebchen  in  den  Raum, 
Tag  und  Abend,  welch  ein  Traum  ! 


Zivischen  beiden   Wehen 

EINER  Einzigen  angehören, 
Einen  Einzigen  verehren 
Wie  vereint  es  Herz  und  Sinn  ! 
Lida!    Glück  der  nächsten  Nähe, 
William  !    Stern  der  schönsten  Höhe, 
Euch  verdank'  ich  was  ich  bin. 
Tag'  und  Jahre  sind  verschwunden. 
Und  doch  ruht  auf  jenen  Stunden 
Meines  Werthes  Vollsewinn, 


GOTT   UND   WELT 

Procemion 

IM  Namen  dessen,  der  Sich  selbst  erschuf! 
Von  Ewigkeit  in  schaffendem  Beruf; 
In  Seinem  Namen,  der  den  Glauben  schafft, 
Vertrauen,  Liebe,  Thätigkeit  und  Kraft ; 
In  Jenes  Namen,  der,  so  oft  genannt. 
Dem  Wesen  nach  blieb  immer  unbekannt : 

So  weit  das  Ohr,  so  weit  das  Auge  reicht, 

Du  findest  nur  Bekanntes  das  Ihm  gleicht, 

Und  deines  Geistes  höchster  Feuerflug 

Hat  schon  am  Gleichniss,  hat  am  Bild  genug  ; 

Es  zieht  dich  an,  es  reisst  dich  heiter  fort, 

Und  wo  du  wandelst,  schmückt  sich  Weg  und  Ort  ; 

71 


J.   W.   VON   GOETHE 

Du  zahlst  nicht  mehr,  berechnest  keine  Zeit, 
Und  jeder  Schritt  ist  Unermesslichkeit. 


Was  war'  ein  Gott,  der  nur  von  aussen  stiesse, 
Im  Kreis  das  All  am  Finger  laufen  Hesse  ! 
Ihm  ziemt's,  die  Welt  im  Innern  zu  bewegen, 
Natur  in  Sich,  Sich  in  Natur  zu  hegen. 
So  dass  was  in  Ihm  lebt  und  webt  und  ist, 
Nie  Seine  Kraft,  nie  Seinen  Geist  vermisst. 

Im  Innern  ist  ein  Universum  auch  ; 
Daher  der  Völker  löblicher  Gebrauch, 
Dass  jeglicher  das  Beste  was  er  kennt, 
Er  Gott,  ja  seinen  Gott  benennt. 
Ihm  Himmel  und  Erden  übergibt, 
Ihn  fürchtet,  und  wo  möglich  liebt. 


JVeltseele 

VERTHEILET  euch  nach  allen  Regionen 
Von  diesem  heil'uen  Schmaus ! 
Veroeistert  reisst  euch  durch  die  nächsten  Zonen 
In's  All  und  füllt  es  aus  ! 

Schon  schwebet  ihr  in  ungemess'nen  Fernen 
Den  sel'gen  Göttertraum, 
Und  leuchtet  neu,  gesellig,  unter  Sternen 
Im  lichtbesäten  Raum. 

Dann  treibt  ihr  euch,  gewaltige,  Kometen, 
In's  Weit'  und  Weitr'  hinan. 
Das  Labyrinth  der  Sonnen  und  Planeten 
Durchschneidet  eure  Bahn. 
7i 


GOTT   UND   WELT 

Ihr  greifet  rasch  nach  ungeformten  Erden 
Und  wirket  schöpfrisch  jung, 
Dass  sie  belebt  und  stets  belebter  werden, 
Im  abgemess'nen  Schwung. 

Und  kreisend  führt  ihr  in  bewegten  Lüften 
Den  wandelbaren  Flor, 

Und  schreibt  dem  Stein  in  allen  seinen  Grüften 
Die  festen  Formen  vor. 

Nun  alles  sich  mit  göttlichem  Erkühnen 
Zu  übertreffen  strebt ; 
Das  Wasser  will,  das  unfruchtbare,  grünen 
Und  jedes  Staubchen  lebt. 

Und  so  verdrangt  mit  liebevollem  Streiten 
Der  feuchten  Qualme  Nacht  ; 
Nun  glühen  schon  des  Paradieses  Weiten, 
In  überbunter  Pracht. 

Wie  regt  sich  bald,  ein  holdes  Licht  zu  schauen, 
Gestaltenreiche  Schaar, 
Und  ihr  erstaunt,  auf  den  beglückten  Auen, 
Nun  als  das  erste  Paar, 

Und  bald  verlischt  ein  unbegränztes  Streben 
Im  sel'gen  Wechselblick. 

Und  so  empfangt,  mit  Dank,  das  schönste  Leben 
Vom  All  in's  All  zurück. 


Dauer  im    Wechsel 

HIELTE  diesen  frühen  Segen 
Ach,  nur  Eine  Stunde  fest ! 
Aber  vollen  Blüthenregen 
Schüttelt  schon  der  laue  West. 

73 


J.   W.    VON   GOETHE 

Soll  ich  mich  des  Grünen  freuen 
Dem  ich  Schatten  erst  verdankt  ? 
Bald  wird  Sturm  auch  das  zerstreuen, 
Wenn  es  falb  im  Herbst  geschwankt. 

Willst  du  nach  den  Früchten  crreifen. 
Eilig  nimm  dein  Theil  davon  ! 
Diese  fangen  an  zu  reifen 
Und  die  andern  keimen  schon  ; 
Gleich  mit  jedem  Reaengusse 
Ändert  sich  dein  holdes  Thal, 
Ach,  und  in  demselben  Flusse 
Schwimmst  du  nicht  zum  zweitenmal. 

Du  nun  selbst  !    Was  felsenfeste 
Sich  vor  dir  hervorgethan, 
Mauern  siehst  du,  siehst  Paläste 
Stets  mit  andern  Augen  an. 
Weggeschwunden  ist  die  Lippe, 
Die  im  Kusse  sonst  genas, 
Jener  Fuss,  der  an  der  Klippe 
Sich  mit  Gemsenfreche  mass, 

Jene  Hand,  die  gern  und  milde 
Sich  bewegte  wohlzuthun. 
Das  gegliederte  Gebilde, 
Alles  ist  ein  andres  nun. 
Und  was  sich  an  jener  Stelle 
Nun  mit  deinem  Namen  nennt. 
Kam  herbei  wie  eine  Welle 
Und  so  eilt's  zum  Element. 

Lass  den  Anfang  mit  dem  Ende 
Sich  in  Eins  zusammenziehn  ! 
Schneller  als  die  Gegenstände 
Selber  dich  vorüberfliehn. 


74 


GOTT    UND    WELT 

Danke,  dass  die  Gunst  der  Musen 
Unvergängliches  verhelsst, 
Den  Gehalt  in  deinem  Busen 
Und  die  Form  in  deinem  Geiste 


Eins  und  Alles 

IM  Gränzenlosen  sich  zu  finden 
Wird  gern  der  Einzelne  verschwinden, 
Da  lös't  sich  aller  Uberdruss  ; 
Statt  heissem  Wünschen,  wildem  Wollen, 
Statt  l'äst'gem  Fordern,  strengem  Sollen, 
Sich  aufzusehen  ist  Genuss. 

Weltseele  komm  uns  zu  durchdringen  ! 
Dann  mit  dem  Weltfjeist  selbst  zu  ringen 
Wird  unsrer  Kräfte  Hochberuf. 
Theilnehmend  führen  gute  Geister, 
Gelinde  leitend,  höchste  Meister,' 
Zu  dem  der  alles  schafft  und  schuf. 

Und  umzuschaffen  das  Geschaffne, 
Damit  sich's  nicht  zum  Starren  waffne, 
Wirkt  ewiges  lebend'ges  Thun. 
Und  was  nicht  war,  nun  will  es  werden. 
Zu  reinen  Sonnen,  farbigen  Erden, 
In  keinem  Falle  darf  es  ruhn. 

Es  soll  sich  regen,  schaffend  handeln. 
Erst  sich  gestalten,  dann  verwandeln  ; 
Nur  scheinbar  steht's  Momente  still. 
Das  Ew'ge  regt  sich  fort  in  allen : 
Denn  alles  muss  in  Nichts  zerfallen. 
Wenn  es  im  Sein  beharren  will. 

75 


J.   W.    VON   GOETHE 

Vermächtnlss 

KEIN  Wesen  kann  zu  Nichts  zerfallen! 
Das  Ew'ge  regt  sich  fort  in  allen, 
Am  Sein  erhalte  dich  beglückt ! 
Das  Sein  ist  ewig  :   denn  Gesetze 
Bewahren  die  lebend'gen  Schätze 
Aus  welchen  sich  das  All  geschmückt. 

Das  Wahre  war  schon  längst  gefunden, 
Hat  edle  Geisterschaft  verbunden, 
Das  alte  Wahre  fass  es  an  ! 
Verdank'  es  Erdensohn  dem  Weisen, 
Der  ihr  die  Sonne  zu  umkreisen 
Und  dem  Geschwister  wies  die  Bahn. 

Sofort  nun  wende  dich  nach  innen. 
Das  Centrum  findest  du  dadrinnen 
Woran  kein  Edler  zweifeln  mag. 
Wirst  keine  Regel  da  vermissen : 
Denn  das  selbstständige  Gewissen 
Ist  Sonne  deinem  Sittentag. 

Den  Sinnen  hast  du  dann  zu  trauen, 
Kein  Falsches  lassen  sie  dich  schauen, 
Wenn  dein  Verstand  dich  wach  erhält. 
Mit  frischem  Blick  bemerke  freudig. 
Und  wandle  sicher  wie  geschmeidig 
Durch  Auen  reichbegabter  Welt. 

Geniesse  massig  Füll*  und  Segen, 
Vernunft  sei  überall  zugegen 
Wo  Leben  sich  des  Lebens  freut. 
Dann  ist  Vergangenheit  beständig, 
Das  Künftige  voraus  lebendig, 
Der  Augenblick  ist  Ewigkeit. 
76 


GOTT   UND   WELT 

Und  war  es  endlich  dir  gelungen, 
Und  bist  du  vom  Gefühl  durchdrungen 
Was  fruchtbar  ist,  allein  ist  wahr, 
Du  prüfst  das  allgemeine  Walten, 
Es  wird  nach  seiner  Weise  schalten, 
Geselle  dich  zur  kleinsten  Schaar. 

Und  wie  von  Alters  her  im  Stillen 
Ein  Liebewerk  nach  eignem  Willen 
Der  Philosoph,  der  Dichter  schuf. 
So  wirst  du  schönste  Gunst  erzielen  ; 
Denn  edlen  Seelen  vorzufühlen 
Ist  wünschenswerthestcr  Beruf. 


Metamorphose  der  Thiere 

WAGT  ihr,  also  bereitet,  die  letzte  Stufe  zu  steigen 
Dieses  Gipfels,  so  reicht  mir  die  Hand  und  öffnet 

den  freien 
Blick  in's  weite  Feld  der  Natur.      Sie  spendet  die 

reichen 
Lebensgaben  umher,  die  Göttin  ;   aber  empfindet 
Keine  Sorge  wie  sterbliche  Fraun  um  ihrer  Gehörnen 
Sichere  Nahrung  ;    ihr  ziemet  es  nicht  :   denn  zwie- 
fach bestimmte 
Sie  das  höchste  Gesetz,  beschränkte  jegliches  Leben, 
Gab  ihm  gemess'nes   Bedürfniss,  und  ungemessene 

Gaben, 
Leicht  zu  finden,  streute  sie  aus,  und  ruhig  begünstigt 
Sie  das  muntre  Bemühn    der  vielfach    bedürftigen 

Kinder  ; 
Unerzogen  schwärmen  sie  fort  nach  ihrer  Bestim- 
mung. 

17 


J.    W.    VON   GOETHE 

Zweck  sein  selbst  ist  jegliches  Thier,  vollkommen 

entspringt  es 
Aus  dem  Schoos  der  Natur  und  zeugt  vollkommene 

Kinder. 
Alle  Glieder  bilden  sich  aus  nach  ew'gen  Gesetzen 
Und  die  seltenste  Form  bewahrt  im  Geheimen  das 

Urbild. 
So    ist   jeglicher    Mund    geschickt   die    Speise    zu 

fassen 
Welche  dem  Körper  gebührt,  es  sei  nun  schwächlich 

und  zahnlos 
Oder    mächtig    der    Kiefer   gezahnt,   in  jeglichem 

Falle 
Fördert  ein  schicklich  Organ  den  übrigen  Gliedern 

die  Nahrung. 
Auch  bewegt  sich   jeglicher   Fuss,  der  lange,  der 

kurze, 
Ganz  harmonisch  zum  Sinne  des  Thiers  und  seinem 

Bedürfniss. 
So  ist  jedem  der  Kinder  die  volle  reine  Gesundheit 
Von  der   Mutter   bestimmt :    denn   alle   lebendigen 

Glieder 
Widersprechen  sich  nie  und  wirken  alle  zum  Leben. 
Also   bestimmt    die    Gestalt   die   Lebensweise   des 

Thieres, 
Und  die  Weise  zu  leben  sie  wirkt  auf  alle  Gestalten 
Mächtig  zurück.      So  zeiget  sich  fest  die  geordnete 

Bildung, 
Welche  zum  Wechsel  sich  nei<it  durch  äusserlich 

wirkende  Wesen. 
Doch    im    Innern    befindet    die    Kraft   der   edlern 

Geschöpfe 
Sich   im    heiligen   Kreise    lebendiger   Bildung    be- 
schlossen. 

78 


GOTT   UND   WELT 

Diese   Gränzen   erweitert   kein    Gott,  es   ehrt   die 

Natur  sie  : 
Denn  nur  also  beschränkt  war  je  das  Vollkommene 

möglich. 

Doch    im    Innern   scheint    ein    Geist    gewaltig   zu 

ringen, 
Wie  er  durchbräche  den  Kreis,  Willkür  zu  schaffen 

den  Formen 
Wie  dem  Wollen  ;   doch  was  er  beginnt,  beginnt  er 

vergebens. 
Denn  zwar  drängt  er  sich  vor  zu  diesen  Gliedern, 

zu  jenen. 
Stattet  mächtig  sie  aus,  jedoch  schon  darben  dagegen 
Andere  Glieder,  die  Last  des  Übergewichtes  ver- 
nichtet 
Alle  Schöne  der  Form  und  alle  reine  Bewegung. 
Siehst    du    also    dem    einen    Geschöpf   besonderen 

Vorzug 
Irgend  gegönnt,  so  frage  nur  gleich,  wo  leidet  es 

etwa 
Mangel  anderswo,  und  suche  mit  forschendem  Geiste; 
Finden  wirst    du    sogleich    zu    aller    Bildung    den 

Schlüssel. 
Denn  so  hat  kein  Thier,   dem  sämmtliche  Zähne 

den  obern 
Kiefer  umzäunen,  ein  Hörn  auf  seiner  Stirne  getragen, 
LTnd  daher  ist  den  Löwen  gehörnt  der  ewigen  Mutter 
Ganz  unmöglich  zu  bilden  und  böte  sie  alle  Gewalt 

auf; 
Denn  sie  hat  nicht  Masse  genug  die    Reihen   der 

Zähne 
Völlig  zu  pflanzen  und  auch  Geweih  und  Hörner  zu 

treiben. 

79 


J    W.    VON   GOETHE 

Dieser  schöne  Begriff  von  Macht  und   Schranken, 

von  Willkür 
Und  Gesetz,  von   Freiheit  und  Mass,  von  beweg- 
licher Ordnung, 
Vorzug  und  Mangel,  erfreue  dich  hoch  ;  die  heilige 

Muse 
Bringt  harmonisch    ihn  dir,   mit    sanftem    Zwange 

belehrend. 
Keinen  hohem  Begriff  erringt  der  sittliche  Denker, 
Keinen  der  thätige  Mann,  der  dichtende  Künstler  ; 

der  Herrscher, 
Der  verdient  es  zu  sein,  erfreut  nur  durch  ihn  sich 

der  Krone. 
Freue    dich,    höchstes    Geschöpf    der    Natur,    du 

fühlest  dich  fähig 
Ihr  den  höchsten   Gedanken,  zu  dem   sie  schaffend 

sich  aufschwang, 
Nachzudenken.     Hier  stehe  nun  still  und  wende  die 

Blicke 
Rückwärts,  prüfe,  vergleiche,  und  nimm  von  Munde 

der  Muse, 
Dass   du  schauest,  nicht    schwärmst,  die    liebliche 

volle  Gewissheit. 


Die   Reliquien   Schillers 

IM  ernsten  Beinhaus  war's  wo  ich  beschaute 
Wie  Schädel  Schädeln  angeordnet  passten  ; 
Die  alte  Zeit  gedacht'  ich,  die  ergraute. 

Sie  stehn  in  Reih'  geklemmt  die  sonst  sich  hassten, 
Und  derbe  Knochen  die  sich  tödtlich  schlugen 
Sie  liegen  kreuzweis  zahm  allhier  zu  rasten. 

Entrenkte  Schulterblätter  !   was  sie  trugen 
80 


GOTT    UND   WELT 

Fragt  niemand  mehr,  und  zierlich  thät'ge  Glieder, 

Die  Hand,  der  Fass  zerstreut  aus  Lebensfugen. 
Ihr  Müden  also  lagt  vergebens  nieder, 

Nicht  Ruh  im  Grabe  Hess  man  euch,  vertrieben 

Seid  ihr  herauf  zum  lichten  Tage  wieder, 
Und  niemand  kann  die  dürre  Schale  lieben. 

Welch  herrlich  edlen  Kern  sie  auch  bewahrte. 

Doch  mir  Adepten  war  die  Schrift  geschrieben 
Die  heil'gen  Sinn  nicht  jedem  offenbarte. 

Als  ich  in  Mitten  solcher  starren  Menge 

Unschätzbar  herrlich  ein  Gebild  gewahrte, 
Dass  in  des  Raumes  Moderkält'  und  Enae 

Ich  frei  und  wärmefühlend  mich  erquickte, 

Als  ob  ein  Lebensquell  dem  Tod  entspränge. 
Wie  mich  geheimnissvoll  die  Form  entzückte  ! 

Die  gottgedachte  Spur  die  sich  erhalten  ! 

Ein  Blick  der  mich  an  jenes  Meer  entrückte, 
Das  fluthend  strömt  gesteigerte  Gestalten. 

Geheim  Gefäss,  Orakelsprüche  spendend  ! 

Wie  bin  ich  werth  dich  in  der  Hand  zu  halten. 
Dich  höchsten  Schatz  aus  Moder  fromm  entwendend 

Und  in  die  freie  Luft,  zu  freiem  Sinnen, 

Zum  Sonnenlicht  andächtig  hin  mich  wendend. 
Was  kann  der  Mensch  im  Leben  mehr  gewinnen, 

Als  dass  sich  Gott-Natur  ihm  offenbare  ? 

Wie  sie  das  Feste  lässt  zu  Geist  verrinnen. 

Wie  sie  das  Geisterzeuste  fest  bewahre. 


Urworte.       Orph'isch 

AAIMßX,    DÄMON 

WIE  an  dem  Tag,  der  dich  der  Welt  verliehen, 
Die  Sonne  stand  zum  Grusse  der  Planeten, 
135  8i 


J.   W.    VON   GOETHE 

Bist  alsobald  und  fort  und  fort  gediehen, 
Nach  dem  Gesetz  wonach  du  angetreten. 
So  musst  du  sein,  dir  kannst  du  nicht  entfliehen, 
So  sagten  schon  Sibyllen,  so  Propheten  ; 
Und  keine  Zeit  und  keine  Macht  zerstückelt 
Geprägte  Form  die  lebend  sich  entwickelt. 

TTXH,    DAS    ZUFÄLLIGE 

Die  strenge  Gr'anze  doch  umgeht  gefällig 
Ein  Wandelndes,  das  mit  und  um  uns  wandelt ; 
Nicht  einsam  bleibst  du,  bildest  dich  gesellig, 
Und  handelst  wohl  so  wie  ein  andrer  handelt : 
Im  Leben  ist's  bald  hin-  bald  wiederfällig. 
Es  ist  ein  Tand  und  wird  so  durchgetandelt. 
Schon  hat  sich  still  der  Jahre  Kreis  gerundet, 
Die  Lampe  harrt  der  Flamme  die  entzündet. 

EPfiS,    LIEBE 

Die  bleibt  nicht  aus!  —  Er  stürzt  vom  Himmel  nieder, 
Wohin  er  sich  aus  alter  Ode  schwang. 
Er  schwebt  heran  auf  luftigem  Gefieder 
Um  Stirn  und  Brust  den  Frühlingstag  entlang. 
Scheint  jetzt  zu  fliehn,  vom  Fliehen  kehrt  er  wieder, 
Da  wird  ein  Wohl  im  Weh,  so  süss  und  bang. 
Gar  manches  Herz  verschwebt  im  Allgemeinen, 
Doch  widmet  sich  das  edelste  dem  Einen. 

AXArKH,    NÖTHIGUNG 

Da  ist's  denn  wieder  wie  die  Sterne  wollten  ; 

Bedingung  und  Gesetz  und  aller  Wille 

Ist  nur  ein  Wollen,  weil  wir  eben  sollten. 

Und  vor  dem  Willen  schweigt  die  Willkür  stille  ; 

Das  Liebste  wird  vom  Herzen  weggescholten. 

Dem  harten  Muss  bequemt  sich  Will'  und  Grille. 

8a 


GOTT   UND    WELT 

So  sind  wir  scheinfrei  denn  nach  manchen  Jahren 
Nur  enger  dran  als  wir  am  Anfang  waren. 

EAIIIS,    HOFFNUNG 

Doch  solcher  Granze,  solcher  ehrnen  Mauer 

Höchst  widerwärt'ge  Pforte  wird  entriegelt, 

Sie  stehe  nur  mit  alter  Felsendauer  ! 

Ein  Wesen  regt  sich  leicht  und  ungezügelt : 

Aus  Wolkendecke,  Nebel,  Regenschauer 

Erhebt  sie  uns,  mit  ihr,  durch  sie  beflügelt, 

Ihr  kennt  sie  wohl,  sie  schwärmt  durch  alle  Zonen  ; 

Ein  Flügelschlag — und  hinter  uns  Äonen! 

Hoivards  Ehremed'dchtniss 

WENN  Gottheit  Camarupa^  hoch  und  hehr, 
Durch  Lüfte  schwankend  wandelt  leicht  und  schwer. 
Des  Schleiers  Falten  sammelt,  sie  zerstreut, 
Am  Wechsel  der  Gestalten  sich  erfreut. 
Jetzt  starr  sich  halt,  dann  schwindet  wie  ein  Traum, 
Da  staunen  wir  und  trau'n  dem  Auge  kaum  ; 

Nun  regt  sich  kühn  des  eignen  Bildens  Kraft, 
Die  Unbestimmtes  zu  Bestimmtem  schafft ; 
Da  droht  ein  Leu,  dort  wogt  ein  Elephant, 
Kameles  Hals,  zum  Drachen  umgewandt. 
Ein  Heer  zieht  an,  doch  triumphirt  es  nicht, 
Da  es  die  Macht  am  steilen  Felsen  bricht  ; 
Der  treuste  Wolkenbote  selbst  zerstiebt 
Eh'  er  die  Fern'  erreicht,  wohin  man  liebt. 

Er  aber,  Howard,  gibt  mit  reinem  Sinn 
Uns  neuer  Lehre  herrlichsten  Gewinn. 
Was  sich  nicht  halten,  nicht  erreichen  lasst, 

83 


J.    W.    VON   GOETHE 

Er  fasst  es  an,  er  hält  zuerst  es  fest ; 
Bestimmt  das  Unbestimmte,  schränkt  es  ein, 
Benennt  es  treffend  ! — Sei  die  Ehre  dein  ! — 
Wie  Streife  steigt,  sich  ballt,  zerflattert,  fällt, 
Erinnre  dankbar  deiner  sich  die  Welt. 


Lehensgenuss 

"  WIE  man  nur  so  leben  mag  ? 
Du  machst  dir  gar  keinen  guten  Tag  !  '* 
Ein  guter  Abend  kommt  heran. 
Wenn  ich  den  ganzen  Tag  gethan. 

Wenn  man  mich  da-  und  dorthin  zerrt 
Und  wo  ich  nichts  vermag. 
Bin  von  mir  selbst  nur  abgesperrt. 
Da  hab'  ich  keinen  Tag. 

Thut  sich  nun  auf  was  man  bedarf 
Und  was  ich  wohl  vermag, 
Da  greif  ich  ein,  es  geht  so  scharf, 
Da  hab'  ich  meinen  Tag. 

Ich  scheine  mir  an  keinem  Ort, 
Auch  Zeit  ist  keine  Zeit, 
Ein  geistreich-aufgeschloss'nes  Wort 
Wirkt  auf  die  Ewigkeit. 


Schlusspoetik 

SAGE,  Muse,  sag'  dem  Dichter 
Wie  er  denn  es  machen  soll  r 
Denn  der  wunderlichsten  Richter 
Ist  die  liebe  Welt  so  voll. 
84 


GOTT   UND    WELT 

Immer  hab'  ich  doch  den  rechten 
Klaren  Weg  im  Lied  gezeigt, 

Immer  war  es  doch  den  schlechten 
Düstren  Pfaden  abaeneigt. 

Aber  was  die  Herren  wollten 
Ward  mir  niemals  ganz  bekannt ; 
Wenn  sie  wüssten  was  sie  sollten, 
War'  es  auch  wohl  bald  genannt. 

**  Willst  du  dir  ein  Mass  bereiten  ; 
Schaue  was  den  Edlen  misst. 
Was  ihn  auch  entstellt  zu  Zeiten, 
Wenn  der  Leichtsinn  sich  vergisst. 

Solch  ein  Inhalt  deiner  Sänge 
Der  erbauet,  der  gefällt. 
Und,  im  wüstesten  Gedränge, 
Dankt's  die  stille  bess're  Welt. 

Frage  nicht  nach  anderm  Titel, 
Reinem  Willen  bleibt  sein  Recht ! 
Und  die  Schurken  lass  dem  Büttel, 
Und  die  Narren  dem  Geschlecht.'* 


Z,ahme   Xenien 

WENN  im  L^nendlichen  dasselbe 
Sich  wiederholend  ewig  lliesst. 
Das  tausendfältige  Gewölbe 
Sich  kräftig  in  einander  schliesst ; 
Strömt  Lebenslust  aus  allen  Dingen, 
Dem  kleinsten  wie  dem  grössten  Stern, 
Und  alles  Drängen,  alles  Ringen 
Ist  ewige  Ruh  in  Gott  dem  Herrn. 

85 


J.    W.    VON   GOETHE 

VOM  Vater  hab'  ich  die  Statur, 
Des  Lebens  ernstes  Führen, 
Von  Mütterchen  die  Frohnatur 
Und  Lust  zu  fabuliren. 
L^rahnherr  war  der  Schönsten  hold, 
Das  spukt  so  hin  und  wieder, 
Urahnfrau  liebte  Schmuck  und  Gold, 
Das  zuckt  wohl  durch  die  Glieder. 
Sind  nun  die  Elemente  nicht 
Aue  dem  Complex  zu  trennen, 
Was  ist  denn  an  dem  ganzen  Wicht 
Oriainal  zu  nennen  ? 


THE  IL  EX  kann  ich  nicht  das  Leben, 
Nicht  das  Innen  noch  das  Aussen, 
Allen  muss  das  Ganze  geben. 
Um  mit  euch  und  mir  zu  hausen. 
Immer  hab'  ich  nur  geschrieben 
Wie  ich  fühle,  wie  ich's  meine, 
Und  so  spalt'  ich  mich,  ihr  Lieben, 
Und  bin  immerfort  der  Eine. 


VERSTREUTE    LYRIK 

AUS    PANDOP.A    [i8c8] 

DER  Seligkeit  Fülle  die  hab'  ich  empfunden  ! 
Die  Schönheit  besass  ich,  sie  hat  mich  gebunden  ; 
Im  Frühlingsgefülge  trat  herrlich  sie  an. 
Sie  erkannt'  ich,  sie  ergriff  ich,  da  war  es  gethan  ! 
Wie  Nebel  zerstiebte  trübsinniger  Wahn, 
Sie  zog  mich  zur  Erd'  ab,  zum  Himmel  hinan. 
86 


VERSTREUTE    LYRIK 

Du  suchest  nach  Worten  sie  wüidig  zu  loben, 
Du  willst  sie  erhöhen  ;    sie  wandelt  schon  oben. 
Vergleich'  ihr  das  Beste  ;   du  hältst  es  für  schlecht. 
Sie  spricht,  du  besinnst  dich  ;   doch  hat  sie  schon 

Recht. 
Du  stemmst  dich  entgegen  ;  sie  gewinnt  das  Gefecht. 
Du  schwankst  ihr  zu   dienen,   und   bist   schon  ihr 

Knecht. 

Das  Gute,  das  Liebe,  das  mag  sie  erwidern. 
Was  hilft  hohes  Ansehn  ?      Sie  wird  es  erniedern. 
Sie  stellt  sich  an's  Ziel  hin,  beßügelt  den  Lauf; 
Vertritt  sie  den  Weg  dir,  gleich  hält  sie  dich  auf. 
Du  willst  ein  Gebot  thun,  sie  treibt  dich  hinauf. 
Gibst   Reichthum   und  Weisheit  und   alles  in   den 
Kauf. 

Sie  steiget  hernieder  in  tausend  Gebilden, 
Sie  schwebet  auf  Wassern,  sie  schreitet  auf  Gefilden, 
Nach  heiligen  Massen  erglänzt  sie  und  schallt, 
Und  einzig  veredelt  die  Form  den  Gehalt, 
Verleiht  ihm,  verleiht  sich  die  höchste  Gewalt, 
Mir  erschien  sie  in  Juoend-,  in  Frauen-Gestalt. 


WER  von  der  Schönen  zu  scheiden  verdammt  ist, 
Fliehe  mit  abgewendetem  Blick  ! 
Wie  er,  sie  schauend,  in  Tiefsten  entflammt  ist. 
Zieht  sie,  ach  !    reisst  sie  ihn  ewig  zurück. 

Frage  dich  nicht  in  der  Nähe  der  Süssen : 
Scheidet  sie?  scheid'  ich?    Ein  grinnniger  Schmerz 
Fasset  im  Krampfdich,  du  liegst  ihr  zu  Füssen 
Und  die  Verzweiflung  zerreisst  dir  das  Herz. 

87 


J.    W.    VON    GOETHE 

Kannst    du    dann  weinen    und    siehst   sie    durch 

Thiänen, 
Fernende  Thränen,  als  wäre  sie  fern  : 
Bleib' !     Noch   ist's   möglich !       Der    Liebe,   dem 

Sehnen 
Neigt  sich  der  Nacht  unbeweglichster  Stern. 

Fasse  sie  wieder  !    Empfindet  selbander 
Euer  Besitzen  und  euren  Verlust ! 
Schlägt  nicht  ein  Wetterstrahl  euch  auseinander  ; 
Inniger  dränget  sich  Brust  nur  an  Brust. 

Wer  von  der   Schönen  zu  scheiden  verdammt  ist, 
Fliehe  mit  abegewendetem  Blick  ! 
Wie  er,  sie  schauend,  im  Tiefsten  entflammt  ist. 
Zieht  sie,  ach  !    reisst  sie  ihn  ewig  zurück. 


AUS    WILHELM   MEISTERS   WANDER  JAHREN 

[1821] 

EIN  Wunder  ist  der  arme  Mensch  geboren. 

In  Wundern  ist  der  irre  Mensch  verloren. 

Nach  welcher  dunklen,  schwer  entdeckten  Schwelle 

Durchtappen  pfadlos  ungewisse  Schritte  ? 

Denn  in  lebendigem  Himmelsglanz  und  Mitte 

Gewahr'  empfind'  ich  Nacht  und  Tod  und  Hülle. 


Bist  noch  so  tief  in  Schmerz  und  Qual  verloren. 
So  bleibst  du  doch  zum  Jugendgllick  geboren  ; 
Ermanne  dich  zu  rasch  gesundem  Schritte, 
Komm  in  der  Freundschaft  Himmelsglanz  und  Helle, 
Empfinde  dich  in  treuer  Guten  Mitte, 
Da  spriesse  dir  des  Lebens  heitre  Quelle. 


VERSTREUTE    LYRIK 

AUS    FAUST,    ZWEITER   THEIL   [1831] 

Trauergesang 

NICHT  allein! — wo  du  auch  weilest, 
Denn  wir  glauben  dich  zu  kennen, 
Ach  !    wenn  du  dem  Tag  enteilest, 
Wird  kein  Herz  von  dir  sich  trennen. 
Wüssten  wir  doch  kaum  zu  klagen, 
Neidend  sinken  wir  dein  Loos  : 
Dir  in  klar-  und  trüben  Tagen 
Lied  und  Muth  war  schön  und  gross. 

Ach  !   zum  Erdengliick  geboren, 
Hoher  Ahnen,  grosser  Kraft, 
Leider  !    früh  dir  selbst  verloren, 
Jugendblüthe  weggerafft. 
Scharfer  Blick  die  Welt  zu  schauen, 
Mitsinn  jedem  Herzensdrang, 
Liebesoluth  der  besten  Frauen 
Und  ein  eigenster  Gesang. 

Doch  du  ranntest  unaufhaltsam 
Frei  in's  willenlose  Netz, 
So  entzweitest  du  gewaltsam 
Dich  mit  Sitte,  mit  Gesetz  ; 
Doch  zuletzt  das  höchste  Sinnen 
Gab  dem  reinen  Muth  Gewicht, 
Wolltest  Herrliches  gewinnen, 
Aber  es  gelang  dir  nicht. 

Wem  gelingt  es  ? — Trübe  Frage, 
Der  das  Schicksal  sich  vermummt, 
Wenn  am  unglückseligsten  Tage 
Blutend  alles  Volk  verstummt. 

89 


J.    W.    VON   GOETHE 

Doch  erfrischet  neue  Lieder, 
Steht  nicht  länger  tief  gebeugt : 
Den  der  Boden  zeugt  sie  wieder, 
Wie  von  je  er  sie  gezeugt. 


Lied  des  Lynceus 

ZUM  Sehen  geboren. 

Zum  Schauen  bestellt, 
Dem  Thurme  geschworen, 
Gefällt  mir  die  Welt. 
Ich  blick'  in  die  Ferne, 
Ich  seh'  in  der  Näh, 
Den  Mond  und  die  Sterne, 
Den  Wald  und  das  Reh. 
So  seh'  ich  in  allen 
Die  ewige  Zier, 
Und  wie  mir's  gefallen 
Gefair  ich  auch  mir. 
Ihr  Glücklichen  Auoen 

Ö  o 

Was  je  ihr  gesehn. 
Es  sei  wie  es  wolle. 
Es  war  doch  so  schön  ! 


WEST-ÖSTLICHER  DIVAN  [1814-1819] 

Hegire 

NORD  und  West  und  Süd  zersplittern, 

Throne  bersten,  Reiche  zittern. 
Flüchte  du,  im  reinen  Osten 
.Patriarchenluft  zu  kosten, 
90 


WEST-ÖSTLICHER    DIVAN 

Unter  Lieben,  Trinken,  Singen 
Soll  dich  Chisers  Quell  verjüngen. 

Dort  im  Reinen  und  im  Rechten 
Will  ich  menschlichen  Geschlechten 
In  des  L'"rsprungs  Tiefe  dringen, 
Wo  sie  noch  von  Gott  empfingen 
Himmelslehr'  in  Erdesprachen, 
Und  sich  nicht  den  Kopf  zerbrachen. 

Wo  sie  Väter  hoch  verehrten ; 
Jeden  fremden  Dienst  verwehrten ; 
Will  mich  freun  der  Jugendschranke: 
Glaube  weit,  eng  der  Gedanke, 
Wie  das  Wort  so  wichtig  dort  war, 
Weil  es  ein  gesprochen  Wort  war. 

Will  mich  unter  Hirten  mischen. 
An  Oasen  mich  erfrischen, 
Wenn  mit  Caravanen  wandle, 
Schawl,  Caffee  und  Moschus  handle  ; 
Jeden  Pfad  will  ich  betreten 
Von  der  Wüste  zu  den  Städten. 

Bösen  Felsweg  auf  und  nieder 
Trösten,  Hafis,  deine  Lieder, 
Wenn  der  Führer  mit  Entzücken 
Von  des  Maulthiers  hohem  Rücken 
Singt,  die  Sterne  zu  erwecken 
Und  die  Räuber  zu  erschrecken. 

Will  in  Bädern  und  in  Schenken, 
Heil'ger  Hafis,  dein  gedenken  ; 
Wenn  den  Schleier  Liebchen  lüftet. 
Schüttelnd  Ambralocken  düttet. 
Ja  des  Dichters  LiebeHüstern 
Mache  selbst  die  Huris  lüstern. 


91 


J.    W.   VON   GOETHE 

Wolltet  ihr  ihm  dies  beneiden, 
Oder  etwa  gar  verleiden  ; 
Wisset  nur,  dass  Dichterworte 
Um  des  Paradieses  Pforte 
Immer  leise  klopfend  schweben 
Sich  erbittend  ew'ges  Leben. 


Selige  Sehnsucht 

SAGT  es  niemand,  nur  den  Weisen, 
Weil  die  Menoe  gleich  verhöhnet, 
Das  Lebend'ge  will  ich  preisen 
Das  nach  Flammentod  sich  sehnet. 

In  der  Liebesnächte  Kühlung, 
Die  dich  zeugte,  wo  du  zeugtest. 
Überfällt  dich  fremde  Fühlung 
Wenn  die  stille  Kerze  leuchtet. 

Nicht  mehr  bleibest  du  umfangen 
In  der  Finsterniss  Beschattung, 
Und  dich  reisset  neu  Verlangen 
Auf  zu  höherer  Begattung. 

Keine  Ferne  macht  dich  schwierig. 
Kommst  geflogen  und  gebannt, 
Und  zuletzt,  des  Lichts  begierig. 
Bist  du  Schmetterling  verbrannt. 

Und  so  lang  du  das  nicht  hast, 
Dieses :    Stirb  und  werde  ! 
Bist  du  nur  ein  trüber  Gast 
Auf  der  dunkeln  Frde. 


92 


WEST-ÖSTLICHER    DIVAN 

Versunken 

VOLL  Locken  kraus  ein  Haupt  so  rund!  — 
Und  darf  ich  dann  in  solchen  reichen  Haaren 
Mit  vollen  Händen  hin  und  wieder  fahren, 
Da  fi.ihl'  ich  mich  von  Herzensgrund  gesund. 
Und  kliss'  ich  Stirne,  Bogen,  Auge,  Mund, 
Dann  bin  ich  frisch  und  immer  wieder  wund. 
Der  fünfgezackte  Kamm  wo  sollt'  er  stocken  ? 
Er  kehrt  schon  wieder  zu  den  Locken. 
Das  Ohr  versagt  sich  nicht  dem  Spiel, 
Hier  ist  nicht  Fleisch,  hier  ist  nicht  Haut, 
So  zart  zum  Scherz,  so  liebeviel ! 
Doch  wie  man  auf  dem  Köpfchen  kraut, 
Man  wird  in  solchen  reichen  Haaren 
Für  ewig  auf  und  nieder  fahren. 
So  hast  du,  Halis,  auch  gethan, 
Wir  fangen  es  von  vornen  an. 

Schlechter  Trost 

MITTERNACHTS  weint'  und  schluchzt'  ich, 

Weil  ich  dein  entbehrte. 

Da  kamen  Nachtgespenster 

Und  ich  schämte  mich. 

Nachtgespenster,  sagt'  ich, 

Schluchzend  und  weinend 

Findet  ihr  mich,  dem  ihr  sonst 

Schlafendem  vorüberzogt. 

Grosse  Güter  vermiss'  ich. 

Denkt  nicht  schlimmer  von  mir 

Den  ihr  sonst  weise  nanntet, 

Grosses  Übel  betrifft  ihn  ! — - 

93 


J.   W.   VON   GOETHE 

Und  die  Nachtgespenster 
Mit  langen  Gesichtern 
Zogen  vorbei, 
Ob  ich  weise  oder  thörig 
Völlig  unbekümmert. 


"DIE  Jahre  nahmen  dir,  du  sagst,  so  vieles : 
Die  eigentliche  Lust  des  Sinnespieles, 
Erinnerung  des  allerliebsten  Tandes 
Von  gestern,  weit-  und  breiten  Landes 
Durchschweifen  frommt  nicht  mehr ;    selbst  nicht 

von  Oben 
Der  Ehren  anerkannte  Zier,  das  Loben 
Erfreulich  sonst.      Aus  eignem  Thun  Behagen 
Quillt  nicht  mehr  auf,  dir  fehlt  ein  dreistes  Wagen  ! 
Nun  wüsst*  ich  nicht  was  dir  Besondres  bliebe  ?  " 

Mir  bleibt  genug  !    Es  bleibt  Idee  und  Liebe ! 


jt4n   Suleika 

DIR  mit  Wohlgeruch  zu  kosen, 
Deine  Freuden  zu  erhöhn. 
Knospend  müssen  tausend  Rosen 
Erst  in  Gluthen  untergehn. 

Um  ein  Fläschchen  zu  besitzen 
Das  den  Ruch  auf  ewig  hält, 
Schlank  wie  deine  Fingerspitzen, 
Da  bedarf  es  einer  Welt ; 

Einer  Welt  von  Lebenstrieben, 
Die  in  ihrer  Fülle  Drang 

94 


WEST-ÖSTLICHER    DIVAN 

Ahneten  schon  Bulbuls  Lieben, 
Seeleregenden  Gesang. 

Sollte  jene  Qual  uns  quälen, 
Da  sie  unsre  Lust  vermehrt  ? 
Hat  nicht  Myriaden  Seelen 
Timurs  Herrschaft  aufgezehrt  ? 


G'tngo  h'iloha 

DIESES  Baums  Blatt,  der  von  Osten 
Meinem  Garten  anvertraut, 
Gibt  geheimen  Sinn  zu  kosten, 
Wie's  den  Wissenden  erbaut. 

Ist  es  Ein  lebendig  Wesen, 
Das  sich  in  sich  selbst  getrennt  ? 
Sind  es  zwei,  die  sich  erlesen, 
Dass  man  sie  als  Eines  kennt? 

Solche  Frage  zu  erwidern 
Fand  ich  wohl  den  rechten  Sinn  ; 
Fühlst  du  nicht  an  meinen  Liedern, 
Dass  ich  eins  und  doppelt  bin  ? 


SULEIKA 

VOLK  und  Knecht  und  Uberwinder 
Sie  gestehn,  zu  jeder  Zeit : 
Höchstes  Gluck  der  Eidenkinder 
Sei  nur  die  Persönlichkeit. 

Jedes  Leben  sei  zu  führen. 

Wenn  man  sich  nicht  selbst  vermisst  ; 

Alles  könne  man  verlieren. 

Wenn  man  bliebe  was  man  ist. 

95 


J.   W.    VON   GOETHE 

HATEM 

Kann  wohl  sein  !    so  wird  gemeinet ; 
Doch  ich  bin  auf  andrer  Spur : 
Alles  Erdenglück  vereinet 
Find'  ich  in  Suleika  nur. 

Wie  sie  sich  an  mich  verschwendet, 
Bin  ich  mir  ein  werthes  Ich  ; 
Hätte  sie  sich  weggewendet, 
Augenblicks  verlor'  ich  mich. 

Nun  mit  Hatem  war's  zu  Ende  ; 
Doch  schon  hab'  ich  umgelos't : 
Ich  verkörpre  mich  behende 
In  den  Holden,  den  sie  kos't. 

Wollte,  wo  nicht  gar  ein  Rabbi, 
Das  will  mir  so  recht  nicht  ein, 
Doch  Ferdusi,  MotanabbI, 
Allenfalls  der  Kaiser  sein. 


Hat 


em 


LOCKEN,  haltet  mich  gefangen 
Im  dem  Kreise  des  Gesichts  ! 
Euch  geliebten  braunen  Schlangen 
Zu  erwidern  hab'  ich  nichts. 

Nur  dies  Herz,  es  ist  von  Dauer, 
Schwillt  in  jugendlichstem  Flor  ; 
Unter  Schnee  und  Nebelschauer 
Ras't  ein  Ätna  dir  hervor. 

Du  beschämst  wie  Morgenröthe 
Jener  Gipfel  ernste  Wand, 
96 


WEST-ÖSTLICHER    DIVAN 

Und  noch  einmal  fühlet  Hatem 
Frühlingshauch  und  Sommerbiand. 

Schenke  her  !   Noch  eine  Flasche  ! 
Diesen  Becher  bring'  ich  ihr  ! 
Findet  sie  ein  Häufchen  Asche, 
Sagt  sie  :  der  verbrannte  mir. 

AN  vollen  Büschelzweigen, 
Geliebte,  sieh  nur  hin  ! 
Lass  dir  die  Früchte  zeigen 
Umschalet  stachlig  grün. 

Sie  hängen  längst  geballet, 
Still,  unbekannt  mit  sich, 
Ein  Ast  der  schaukelnd  wallet 
Wiegt  sie  geduldiglich. 

Doch  immer  reift  von  Innen 
Und  schwillt  der  braune  Kern, 
Er  möchte  Luft  gewinnen 
Und  sah'  die  Sonne  gern. 

Die  Schale  platzt  und  nieder 
Macht  er  sich  freudig  los ; 
So  fallen  meine  Lieder 
Gehäuft  in  deinen  Schoos. 


DEINEM  BHck  mich  zu  bequemen, 
Deinem  Munde,  deiner  Brust, 
Deine  Stimme  zu  vernehmen 
War  die  letzt'  und  erste  Lust. 

Gestern,  ach,  war  sie  die  letzte. 
Dann  verlosch  mir  Leucht'  und  Feuer, 

lae  Q7 


J.    W.    VON   GOETHE 

Jeder  Scherz  der  mich  ergetzte 
Wird  nun  schuldenschwer  und  theuer. 

Eh'  es  Allah  nicht  gefällt 
Uns  auf's  neue  zu  vereinen, 
Gibt  mir  Sonne,  Mond  und  Welt 
Nur  Geleoenheit  zum  Weinen. 


Wiederfinden 

IST  es  möglich  !    Stern  der  Sterne, 
Drück'  ich  wieder  dich  an's  Herz  ! 
Ach,  was  ist  die  Nacht  der  Ferne 
Für  ein  Abgrund,  für  ein  Schmerz  ! 
Ja  du  bist  es  !    meiner  Freuden 
Süsser,  lieber  Widerpart  ; 
Eingedenk  veroangner  Leiden 
Schaudr'  ich  vor  der  Gegenwart. 

Als  die  Welt  im  tiefsten  Grunde 
Lag  an  Gottes  ew'ger  Brust, 
Ordnet'  er  die  erste  Stunde 
Mit  erhabner  Schüpfungslust, 
Und  er  sprach  das  Wort :    Es  werde  ! 
Da  erklang  ein  schmerzlich  Ach  ! 
Als  das  All  mit  Machtgebärde 
In  die  Wirklichkeiten  brach. 

Auf  that  sich  das  Licht  :   so  trennte 
Scheu  sich  Finsterniss  von  ihm, 
Und  sogleich  die  Elemente 
Scheidend  auseinander  fliehn. 
Rasch,  in  wilden  wüsten  Traumen 
Jedes  nach  der  Weite  rang, 
98 


WEST-OSTLICHER    DIVAX 

Starr,  in  ungemess'nen  Räumen, 
Ohne  Sehnsucht,  ohne  Klang. 

StumDi  war  alles,  still  und  öde. 
Einsam  Gott  zum  erstenmal ! 
Da  erschuf  er  Morgenrüthe, 
Die  erbarmte  sich  der  Qual ; 
Sie  entwickelte  dem  Trüben 
Ein  erklingend  Farbenspiel, 
Und  nun  konnte  wieder  lieben 
Was  erst  auseinander  fiel. 

Und  mit  eiligem  Bestreben 
Sucht  sich  was  sich  angehört ; 
Und  zu  ungemess'nem  Leben 
Ist  Gefühl  und  Blick  gekehrt. 
Sei's  Erareifen,  sei  es  Raifen, 
Wenn  es  nur  sich  tassr  und  hält ! 
Allah  braucht  nicht  mehr  zu  schaffen, 
Wir  erschalfen  seine  T^  eJt. 

So,  mit  morgenrothen  Flügeln, 
Riss  es  mich  an  deinen  Mund, 
L^nd  die  Nacht  mit  tausend  Siegeln 
Kräfti'Tt  sternenhell  den  Bund. 
Beide  sind  wir  auf  der  Erde 
Musterhaft  in  Freud'  und  Qual, 
L^nd  ein  zweites  Wort :    Es  werde  ! 
Trennt  uns  nicht  zum  zweitenmal. 


IN  tausend  Formen  magst  du  dich  verstecken, 
Doch,  Allerliebste,  gleich  erkenn'  ich  dich  ; 
Du  magst  mit  Zauberschleiern  dich  bedecken, 
All  gegen  wärt' ge,  gleich  erkenn'  ich  dich. 

99 


J.    W.    VON   GOETHE 

An  der  Cypresse  reinstem,  jungem  Streben, 
Allschöngewachs'ne,  gleich  erkenn'  ich  dich  ; 
In  des  Canales  reinem  Wellenleben, 
Allschmeichelhafte,  wohl  erkenn'  ich  dich. 

Wenn  steigend  sich  der  Wasserstrahl  entfaltet 
Allspielende,  wie  froh  erkenn'  ich  dich  ; 
Wenn  Wolke  sich  gestaltend  umgestaltet, 
Allmannigfalt'ge,  dort  erkenn'  ich  dich  ;  ■ 

An  des  geblümten  Schleiers  Wiesenteppich, 
Allbuntbesternte,  schön  erkenn'  ich  dich  ; 
Und  greift  umher  ein  tausendarm'ger  Eppich, 
O  Allumklammernde,  da  kenn'  ich  dich. 

Wenn  am  Gebirg  der  Morgen  sich  entzündet, 
Gleich,  Allerheiternde,  begrüss'  ich  dich. 
Dann  über  mir  der  Himmel  rein  sich  rundet, 
Allherzerweiternde,  dann  athm'  ich  dich. 

Was  ich  mit  äusserm  Sinn,  mit  innerra  kenne, 
Du  Allbelehrende,  kenn'  ich  durch  dich  ; 
Und  wenn  ich  Allahs  Namenhundert  nenne. 
Mit  jedem  klingt  ein  Name  nach  für  dich. 


Vermächtniss  altper suchen   Glaubens 

WELCH  Vermächtniss,  Brüder,  sollt'  euch  kommen 
Von  dem  Scheidenden,  dem  armen  Fronmien, 
Den  ihr  Jüngeren  geduldig  nährtet, 
Seine  letzten  Tage  pflegend  ehrtet  ? 

Wenn  wir  oft  oesehn  den  König  reiten, 
Gold  an  ihm  und  Gold  an  allen  Seiten, 
Edelstein'  auf  ihn  und  seine  Grossen 
Ausgesät  wie  dichte  Hagelschlossen, 


WEST-ÖSTLICHER    DIVAN 

Habt  ihr  jemals  ihn  darum  beneidet  ? 
Und  nicht  herrlicher  den  Blick  geweidet, 
Wenn  die  Sonne  sich  auf  Morgenflügeln 
Darnawends  unzähl'gen  Gipfelhügeln 

Bogenhaft  hervorhob  ?     Wer  enthielte 
Sich  des  Blicks  dahin  ?      Ich  fühlte,  fühlte 
Tausendmal,  in  so  viel  Lebenstagen, 
Mich  mit  ihr,  der  kommenden,  getragen 

Gott  auf  seinem  Throne  zu  erkennen. 
Ihn  den  Herrn  des  Lebensquells  zu  nennen, 
Jenes  hohen  Anblicks  werth  zu  handeln 
Und  in  seinem  Lichte  fortzuwandeln. 

Aber  stieg  der  Feuerkreis  vollendet, 
Stand  ich  als  in  Finsterniss  geblendet, 
Schlug  den  Busen,  die  erfrischten  Glieder 
Warf  ich,  Stirn  voran,  zur  Erde  nieder. 

Und  nun  sei  ein  heiliges  Vermächtniss 
Brüderlichem  Wollen  und  Ged'ächtniss : 
Schtverer  Dienste  tägliche  Beivahrung, 
Sonst  bedarf  es  keiner  Offenbarung. 

Regt  ein  Neugeborner  fromme  Hände, 
Dass  man  ihn  sogleich  zur  Sonne  wende. 
Tauche  Leib  und  Geist  im  Feuerbade  ! 
Fühlen  wird  es  jeden  Morgens  Gnade. 

Dem  Lebendigen  übergebt  die  Todten, 
Selbst  die  Thiere  deckt  mit  Schutt  und  Boden, 
Und,  so  weit  sich  eure  Kraft  erstrecket, 
Was  euch  unrein  dünkt,  es  sei  bedecket. 

Grabet  euer  Feld  in's  zierlich  Reine, 
Dass  die  Sonne  gern  den  Fleiss  bescheine  ; 

lOI 


J.    W.    VON   GOETHE 

Wenn  ihr  Bäume  pflanzt,  so  sei's  in  Reihen, 
Denn  sie  lässt  Geordnetes  gedeihen. 

Auch  dem  Wasser  darf  es  in  Canälen 
Nie  am  Laufe,  nie  an  Reine  fehlen  ; 
Wie  euch  Senderud  aus  Bergrevieren 
Rein  entspringt,  soll  er  sich  rein  verlieren. 

Sanften  Fall  des  Wassers  nicht  zu  schwächen, 
Sorgt,  die  Gräben  fleissig  auszustechen  ; 
Rohr  und  Binse,  Molch  und  Salamander, 
Ungeschöpfe,  tilgt  sie  mit  einander  ! 

Habt  ihr  Erd'  und  Wasser  so  im  Reinen, 
Wird  die  Sonne  gern  durch  Lüfte  scheinen. 
Wo  sie,  ihrer  würdig  aufgenommen, 
Leben  wirkt,  dem  Leben  Heil  und  Frommen. 

Ihr,  von  Müh  zu  Mühe  so  gepeinigt. 
Seid  getrost,  nun  ist  das  All  gereinigt, 
Und  nun  darf  der  Mensch  als  Priester  wagen 
Gottes  Gleichniss  aus  dem  Stein  zu  schlagen. 

Wo  die  Flamme  brennt  erkennet  freudig, 
Hell  ist  Nacht  und  Glieder  sind  geschmeidig. 
An  des  Herdes  raschen  Feuerkräften 
Reift  das  Rohe  Thier-  und  PHanzensäften. 

Schleppt  ihr  Holz  herbei,  so  thut's  mit  Wonne, 
Denn  ihr  tragt  den  Samen  ird'scher  Sonne  ; 
Pflückt  ihr  Pambeh,  mögt  ihr  traulich  sagen  : 
Diese  wird  als  Docht  das  Heil'ge  tragen. 

Werdet  ihr  in  jeder  Lampe  Brennen 
Fromm  den  Abglanz  höhern  Lichts  erkennen, 
Soll  euch  nie  ein  Missaeschick  verwehren 
Gottes  Thron  am  Morgen  zu  verehren. 


WEST-OSTLICHER    DIVAN 

Da  ist  unsers  Daseins  Kaisersiegel, 
Uns  und  Engeln  reiner  Gottesspiegel, 
Und  was  nur  am  Lob  des  Höchsten  stammelt 
Ist  in  Kreis'  um  Kreise  dort  versammelt. 

Will  dem  Ufer  Senderuds  entsagen, 
Auf  zum  Darnawend  die  Flügel  schlagen, 
Wie  sie  tagt  ihr  freudig  zu  begegnen 
Und  von  dorther  ewig  euch  zu  segnen. 


E'miajs 

HURI 

HEUTE  steh'  ich  meine  Wache 
Vor  des  Paradieses  Thor, 
Weiss  nicht  grade  wie  ich's  mache, 
Kommst  mir  so  verdächtig  vor  ! 

Ob  du  unsern  Mosleminen 
Auch  recht  eigentlich  verwandt  ? 
Ob  dein  Kämpfen,  dein  Verdienen 
Dich  an' 8  Paradies  gesandt : 

Zählst  du  dich  zu  jenen  Helden  : 
. Zeige  deine  Wunden  an. 
Die  mir  Rühmliches  vermelden. 
Und  ich  führe  dich  heran. 

DICHTER 

Nicht  so  vieles  Federlesen  ! 
Lass  mich  immer  nur  herein  ; 
Denn  ich  bin  ein  Mensch  gewesen 
Und  das  heisst  ein  Kämpfer  sein. 

Schärfe  deine  kräft'gen  Blicke  ! 
Hier  durchschaue  diese  Brust, 

103 


J.    W.    VON   GOETHE 

Sieh  der  Lebens- Wunden  Tücke, 
Sieh  der  Liebes-Wunden  Lust. 

Und  doch  sang  ich  glaub' ger  Weise  : 
Dass  mir  die  Geliebte  treu, 
Dass  die  Welt,  wie  sie  auch  kreise, 
Liebevoll  und  dankbar  sei. 

Mit  den  Trefflichsten  zusammen 
Wirkt'  ich,  bis  ich  mir  erlangt 
Dass  mein  Nam'  in  Liebesflaramen 
Von  den  schönsten  Herzen  prangt. 

Nein  !   du  wählst  nicht  den  Geringern 
Gib  die  Hand,  dass  Tag  für  Tag 
Ich  an  deinen  zarten  Fingern 
Ewigkeiten  zählen  mag. 


LASST  mich  weinen  !   umschränkt  von  Nacht, 

In  unendlicher  Wüste. 

Kamele  ruhn,  die  Treiber  dessgleichen, 

Rechnend  still  wacht  der  Armenier  ; 

Ich  aber,  neben  ihm,  berechne  die  Meilen 

Die  mich  von  Suleika  trennen,  wiederhole 

Die  wegeverlängernden  ärgerlichen  Krümmungen. 

Lasst  mich  weinen  !    das  ist  keine  Schande. 

Weinende  Männer  sind  gut. 

Weinte  doch  Achill  um  seine  Briseis  ! 

Xerxes  beweinte  das  unerschlagene  Heer, 

Über  den  selbstgeniordeten  Liebling 

Alexander  weinte. 

Lasst  mich  weinen  !    Thränen  beleben  den  Staub. 

Schon  grunelt's. 

104 


LETZTES    LIEDERBUCH 

CHINESISCH-DEUTSCHE   JAHRESZEITEN    [1827] 

III 

ZIEHN  die  Schafe  von  der  Wiese, 
Liegt  sie  da,  ein  reines  Grün, 
Aber  bald  zum  Paradiese 
Wird  sie  bunt  geblümt  erblühn. 

Hoffnung  breitet  leichte  Schleier 
Nebelhaft  vor  unsern  Blick  : 
Wunscherfüllung,  Sonnenfeier, 
Wolkentheilung  bring'  uns  Glück. 


VIII 

DÄMMRUNG  senkte  sich  von  oben, 
Schon  ist  alle  Nähe  fern  ; 
Doch  zuerst  emporgehoben 
Holden  Lichts  der  Abendstern  ! 
Alles  schwankt  in's  Ungewisse, 
Nebel  schleichen  in  die  Höh  ; 
Schwarzvertiefte  Finsternisse 
Wiederspiegelnd  ruht  der  See. 

Nun  am  östlichen  Bereiche 

Ahn'  ich  Mondcnglanz  und  -Gluth, 

Schlanker  Weiden  Haargezweige 

Scherzen  auf  der  nächsten  Fluth. 

Durch  bewegter  Schatten  Spiele 

Zittert  Luna's  Zauberschein, 

Und  durch's  Auge  schleicht  die  Kühle 

Sänftigend  in's  Herz  hinein. 


J.   W.    VON   GOETHE 
ABSCHIEDSKLÄNGE 

CHRISTIANE 

Den   6.   Juni   l8l6 

DU  versuchst,  o  Sonne,  vergebens 
Durch  die  düstren  Wolken  zu  scheinen ! 
Der  ganze  Gewinn  meines  Lebens 
Ist  ihren  Verlust  zu  beweinen. 


[1816] 

EIN  rascher  Sinn,  der  keinen  Zweifel  hegt, 
Stets  denkt  und  thut  und  niemals  überlegt. 
Ein  treues  Herz,  das  wie  empfängt  so  gibt, 
Geniesst  und  mittheilt,  lebt  indem  es  liebt. 
Froh  glänzend  Auge,  Wange  frisch  und  roth. 
Nie  schön  gepriesen,  hübsch  bis  in  den  Tod. 

Da  blickt'  ich  ihn  noch  manchmal  freundlich  an 
Und  habe  leidend  viel  für  ihn  gethan. 
Indess  mein  armes  Herz  im  Stillen  brach. 
Da  sagt'  ich  mir :   bald  folgst  du  ihnen  nach  ! 
Ich  trug  des  Hauses  nun  zu  schwere  Last, 
Um  seinetwillen  nur  ein  Erdengast. 


LORD   BYRON   [1829] 

EIN  freundlich  Wort  kommt  eines  nach  dem  andern 
Von  Süden  her  und  bringt  uns  frohe  Stunden  ; 
Es  ruft  uns  auf,  zum  Edelsten  zu  wandern. 
Nicht  ist  der  Geist,  doch  ist  der  Fuss  gebunden. 
106 


ABSCHIEDSKLANGE 

Wie  soll  ich  dem,  den  ich  so  lang  begleitet, 
Nun  etwas  Traulichs  in  die  Ferne  sagen  ? 
Ihm,  der  sich  selbst  im  Innersten  bestreitet. 
Stark  angewohnt  das  tiefste  Weh  zu  tragen. 

Wohl  sei  ihm  doch  wenn  er  sich  selbst  empfindet  ! 
Er  wage  selbst  sich  hoch  beglückt  zu  nennen, 
Wenn  Musenkraft  die  Schmerzen  überwindet ; 
Und  wie  ich  ihn  erkannt,  mög'  er  sich  kennen. 


yln  Lord  Byron 

STARK  von  Faust,  gewandt  im  Rath 
Liebt  er  die  Hellenen  ; 
Edles  Wort  und  schöne  That 
Füllt  sein  Aug'  mit  Thränen. 

Liebt  den  Säbel,  liebt  das  Schwert, 
Freut  sich  der  Gewehre  ; 
Sah'  er,  wie  sein  Herz  begehrt, 
Sich  vor  muth'gem  Heere  ! 

Lasst  ihn  der  Historia, 
Bändigt  euer  Sehnen  ; 
Ewig  bleibt  ihm  Gloria, 
Bleiben  uns  die  Thränen. 


AN   DIE    NEUNZEHN    FREUNDE    IN   ENGLAND 
JVeimary  den  28.  August,   1831 

WORTE,  die  der  Dichter  spricht, 
Treu,  in  heimischen  Bezirken, 
Wirken  gleich,  doch  weiss  er  nicht, 
Ob  sie  in  die  Ferne  wirken. 

107 


J.   W.   VON   GOETHE 

Briten  !    habt  sie  aufgefasst : 

'*  Thätigen  Sinn,  das  Thun  gezügelt  ; 

Stetig  Stieben,  ohne  Hast.'* 

Und  so  wollt  ihr's  denn  besiegelt. 


DICHTUNG    UND    WELT 
Dem  aufgehenden  Vollmonde 

Dornburg,    25.    August    l8z8 

WILLST  du  mich  sogleich  verlassen  ! 
Warst  im  Augenblick  so  nah  ! 
Dich  umiinstern  Wolkenmassen 
Und  nun  bist  du  gar  nicht  da. 

Doch  du  fühlst  wie  ich  betrübt  bin, 
Blickt  dein  Rand  herauf  als  Stern  ! 
Zeugest  mir  dass  ich  geliebt  bin, 
Sei  das  Liebchen  noch  so  fern. 

So  hinan  denn  !    hell  und  heller, 

Reiner  Bahn,  in  voller  Pracht! 

Schlägt  mein  Herz  auch  schmerzlich  schneller, 

Uberselig  ist  die  Nacht. 

Dornburg,   September   1828 

FRÜH  wenn  Thal,  Gebirg  und  Garten 
Nebelschleiern  sich  enthüllen. 
Und  dem  sehnlichsten  Erwarten 
Blumenkelche  bunt  sich  füllen  ; 

Wenn  der  Äther,  Wolken  tragend, 
Mit  dem  klaren  Tage  streitet, 
108 


ABSCHIEDSKLÄNGE 

Und  ein  Ostwind,  sie  verjagend, 
Blaue  Sonnenbahn  bereitet ; 

Dankst  du  dann,  am  Blick  dich  weidend, 
Reiner  Brust  der  Grossen,  Holden, 
Wird  die  Sonne,  röthlich  scheidend, 
Rings  den  Horizont  vergolden. 


WENN  ich  mir  in  stiller  Seele 
Singe  leise  Lieder  vor  : 
Wie  ich  fühle,  dass  sie  fehle. 
Die  ich  einzig  mir  erkor  ; 
Möcht'  ich  hoffen,  dass  sie  sänge, 
Was  ich  ihr  so  gern  vertraut. 
Ach,  aus  dieser  Brust  und  Enge 
Drängen  frohe  Lieder  laut ! 


WORTE  sind  der  Seele  Bild— 
Nicht  ein  Bild  !    sie  sind  ein  Schatten  ! 
Sagen  herbe,  deuten  mild 
Was  wir  haben,  was  wir  hatten. — 
Was  wir  hatten  wo  ist's  hin  ? 
Und  was  ist's  denn  was  wir  haben  ? 
Nun,  wir  sprechen  !     Rasch  im  Fliehn 
Haschen  wir  des  Lebens  Gaben. 


lOq 


ANMERKUNGEN 

BAND    I 

I.  Hollenfahrt  Jesu  Christi.  Das  Gedicht  des  sechs- 
zehnjährigen Goethe  wurde  in  einer  obskuren 
Frankfurter  Zeitschrift  '-'Die  Sichtbaren"  1766 
gedruckt.  "  Ich  hätte  mögen  toll  darüber  werden," 
schrieb  der  Dichter  12.  Oktober  1767  an  seine 
Schwester,  als  er  erfuhr,  dass  "  die  vermaledeite 
Wochenschrift"  sein  Produkt  veröffentlicht  hatte, 
'•'  und  noch  dazu  mit  dem  J.  W.  G.,"  also  einer  in  der 
Vaterstadt  leicht  verständlichen  Andeutung  des 
Verfassers. — Erst  Februar  1 8z6  wurde  das  Gedicht  in 
dem  Originalabdruck  von  Eckermann  wieder  ent- 
deckt, der  es  allzusehr  lobt  (vgl.  Goethes  Gespräche 
mit  Eckermann  16.  Feb.  1826).  Goethe,  der  schon 
in  "Dichtung  und  Wahrheit"  aus  ungenauer  Erin- 
nerung von  dem  Gedichte  gesprochen  hatte,  meinte 
nun,  es  sei  vielleicht  von  seiner  frommen  Freundin 
Frl.  V  Klettenberg  veranlasst  worden.  Die  Dichtung 
steht  natürlich  noch  unter  dem  Einfluss  der  gleich- 
zeitigen, besonders  der  geistlichen  Dichtung  ;  pathe- 
tische Reime  wie  ''Triumphe:  Sumpfe"  fing  der 
junge  Goethe  schon  damals  selbst  an,  als  gesucht  zu 
verspotten.  Überhaupt  trägt  das  Gedicht  einen 
stark  rhetorischen  Charakter  ;  die  Anschaulichkeit 
reiferer  Dichtungen  darf  man  hier  noch  nicht  suchen. 
Immerhin  ist  zu  beachten,  wie  Goethe  durch  eine 
durchgeführte  Personifikation  der  Hölle  bestrebt  ist 
der  Gefahr  vager  Allgemeinheit  zu  entgehen. 
Spätere  Eigenheiten  sind  in  der  starken  Ausarbeitung 
des — freilich  durch  die  Sache  selbst  gegebnen!  — 
Gegensatzes  von  Hell  und  Dunkel  angedeutet;  auch 
ist  die  Wahl  des  Stoffes  doch  bezeichnend  :  wie  im 
*•'  Faust  "   wird    der    Sieg    Gottes    über    den    Teufel 

1x0 


ANMERKUNGEN 

dargestellt  (vgl.  besonders  Str.  9  !), — Metrisch  ist 
das  Gedicht  recht  gewandt;  nur  die  veralteten  Flick- 
formen des  Verbums  ('•' stirbet,"  "lieget"  u.  dgl.) 
verraten  noch  Unsicherheit. — Eine  ähnliche  Situation 
wie  in  den  ersten  Strophen  schildert  Goethe  in  dem 
merkwürdigen  Fragment  "der  ewige  Jude":  die 
Heimkehr  Christi  zu  den  Menschen.  Wie  weit  steht 
aber  da  die  Vergegenwärtigung  ab  von  diesen 
ängstlichen  "an  jenen  Ort,"  '''aus  den  dunklen 
Orten !  "  Ebenso  widerstrebt  dem  späteren  Goethe 
die  hier  mit  aller  Härte  ausgedrückte  Anschauung 
der  ewigen  Verdammnis  durchaus. 

S.  6.  Brief  an  Riese.  J.  J.  Riese  war  ein  drei  Jahr 
älterer  studirender  Landsmann  Goethes,  an  den  er 
von  Leipzig  aus  einen  mit  Versen  untermischten 
Brief  richtet. — Die  leichte  Handhabung  der  unglei- 
chen Verse  hat  man  nicht  mit  Unrecht  besonders 
auf  das  Vorbild  Hagedorns  zurückgeführt.  Der 
jugendliche  Dilettant  versucht  alle  Künste  der  an- 
gesehenen Meister.  Der  Manier  seiner  Zeit  gehört 
ebensowohl  das  antikisirende  Spiel  mit  "  Zephyr  " 
und  "Nord"  an,  als  wiederum  die  Unbestimmtheit 
von  Ausdrücken  wie  "  den  Ort."  Auch  die  epigram- 
matische Zuspitzung  der  Schlusszeile  gehört  hierher; 
solche  Momente  lassen  jetzt  noch  keine  reine  Lyrik 
aufkommen. 

8.7.  An  die  Mutter.  Ein  etwas  mühsam  durchgeführtes 
Gleichnis  schädigt  den  Eindruck  der  herzlichen 
Worte.  Die  "Bilderjagd"  hatte  vor  allem  Ewald 
V.  Kleist  in  Blüte  gebracht. 

S.  8.  Wie  Eugen  WolfF  in  seiner  nützlichen  Ausgabe 
"Der  junge  Goethe"  hervorhebt,  ist  dies  die  erste 
Probe  eines  von  Goethe  für  Gesang  und  Komposi- 
tion bestimmten  Liedes.  Str.  i,  "Bettler  oft  zum 
Throne...'^:  vielleicht  eine  Anspielungauf  ein  berühm- 
tes Impromptu  Voltaires,  in  dem  er  sich  "  zum 
König  träumte."  Str.  2,  "  Lust"  im  erotischen  Sinn. 
"Neid'scher  Seide  "  :  die  Seide  der  Bluse  neidet  ihm 
den  Anblick  der  Brust,  gönnt  ihn  dem  Liebhaber 
nicht.  Str.  3,"  von  dem  Gefieder"  :  von  den  Flügeln, 
mit  denen  der  Schlafgott  ausgestattet  ist.  Die  Kon- 
struktion der  Schlusszeilen  ist  ein  wenig  gewaltsam, 

III 


ANMERKUNGEN 

ohne  dass  die  Absicht,  die  stammelnde  Verwirrung 
des  Liebenden  zu  malen,  vorausgesetzt  werden 
dürfte. 

S.  9.  An  meine  Lieder.  Str.  2,  ''Er,  dem  ich  euch  sang, 
mein  Freund"  :  Behrisch,  der  das  "Buch  Annette  " 
mit  seiner  zierlichen  Handschrift  hergestellt  hat. 

S.  9.  Zueignung.  Der  Dichter  stellt  sich  in  der  her- 
kömmlichen Rolle  des  anakreontischen  Dichters  dar, 
der  "  am  Rand  des  Bachs  "  improvisirt.  Rasch  geht 
er  aber  von  der  Konvention  zur  Wirklichkeit  über 
und  nimmt  auf  seinen  Gesundheitszustand  und  die 
dadurch  erforderte  Diät  ganz  realistisch  Rücksicht. 
Str.  2,  '•'  blinzt  "  :  sieht  mit  halb  geschlossenem  Auge. 
Str.  3,  "  Halb  scheel,  halb  weise  "  :  eine  jener  mild- 
ironischen Teilungen,  w^ie  Goethe  sie  liebt ;  so  im 
"Faust"  :  "  Halb  Kinderspiel,  halb  Gott  im  Herzen." 
Str.  4:  die  üblichen  Stufen  des  anakreontischen 
Liebesverhältnisses.  "Dem  Abgrund,"  grammatisch 
abhängig  von  "  in  der  Nähe  "  =  '•'  nah." 

S.  IG.  M^ahrer  Genuss  :  ursprünglich  als  ein  moralisches 
Strafgedicht  an  den  Fürsten  von  Dessau  gedacht, 
dessen  illegitimen  Sohn  jener  Behrisch  zu  erziehen 
hatte ;  allmählich  aller  direkten  Beziehungen  ent- 
kleidet. Str.  2  :  die  freiwillige  Gebundenheit  ist 
ein  Lieblingsgedanke  Goethes.  Str.  4,  "  Wollüstig 
nur  an  meiner  Seite...,"  Str.  5,  "des  Liebsten 
Füsse..."  :  ererbte  Wendungen  der  epigrammatischen 
Liebespoesie. 

S.  12.  NeujahrslieJ.  Goethe  war  am  7  Dez.  1768  von 
einem  Rückfall  schwerer  Krankheit  befallen  worden  ; 
kaum  genesen,  beruhigt  er  seine  durch  die  Nachricht 
geängstigten  Freunde.  Er  lässt  ein  Bänkelsängerlied 
drucken,  wie  sie  damals  noch  wirklich  auf  den 
Strassen  gesungen  wurden,  und  schickt  es  nach 
Leipzig  zur  Verteilung  an  seine  dortigen  Freunde. — 
Da  eben  erst  "  diätetische  Ruh  "  ihm  "  den  Daumen 
auf  die  Augen  "  gedrückt  hatte,  ist  es  natürlich,  dass 
sein  bänkelsängerisches  Neujahrslied  sich  zu  einer 
Parade  der  Lebensalter  vor  Amor  gestaltet.  Er 
selbst  nennt  sich  an  letzter  Stelle  als  einen,  der  den 
Freuden  der  Liebe  entsagt.  Ein  wehmütig-lächeln- 
des  Lied!      Str.    i,   "kömmt":    dialektische  Form. 

113 


ANMERKUNGEN 

"Devisen":    Sprüche,   etwa    auf  ändern    gedruckt, 
wie  sie  der  Bänkelsänger  verkauft. 

S.  14.  An  Madcmoiselle  Oeser,  die  liebenswürdige  und 
gescheite  Tochter  seines  Leipziger  Zeichenlehrers, 
die  ihm  den  bildungsfrohen  Ton  der  Universitätsstadt 
gegenüber  der  heimischen  Rückständigkeit  vertritt. 
Str.  I,  •' Mennonist  ":  eine  pietistische  Sekte.  Str. 
2,  "  Cortex  China"  :  Chinarinde.  Str.  3:Boucher 
als  Vertreter  der  Eleganz,  Gerhard  Dow  als  Reprä- 
sentant der  nüchternen  Sachlichkeit.  "Tisane": 
Krankensuppe.  Str.  4,  •'•'  Halb  siech,  und  halb 
gesund "  :  aus  dem  ersten  Abschnitt  wieder  auf- 
genommen. "Alraune":  zauberkräftige  Wurzel- 
geister. Str.  6,  "rechte  gute  Leute"  :  für  "recht 
gute  Leute."  Str.  8,  "das  Frauenzimmer":  alt- 
modischer Ausdruck  für  die  Gesamtheit  der  weib- 
lichen Umgebung.  "Herr  Schübler"  :  Daniel 
Schiebeier,  der  am  Schlüsse  seiner  Romanze  "Pygma- 
lion "  den  Amor  nach  Hamburg  weist ;  "Statuen  wirst 
du  finden,  so  schöne  macht  ein  Künstler  nie  "  (Eugen 
Wolff).  Str.  IG,  "aus  Bergamo":  die  Bergamasken 
waren  in  der  italienischen  Komödie  die  Tölpel,  wie 
noch  in  Sliakespeares  "' Sommernachtstraum." 
"  Grandison  "  :  Richardsons  Mustermensch  be- 
herrschte die  Lektüre  der  "Provinz."  Str.  14, 
"mein  böses  Mädchen"  :  Käthchen  Schönkopf 
Str.  17,  "fatale"  :  mir  vom  Schicksal  bestimmt. 

3.  20.  Sehnsucht.  Das  Gedicht  erschien  erst  1793  in  der 
Zeitschrift  "  Urania  "  mit  dem  Hinweis  :  Melodie: 
O  Vater  der  Barmherzigkeit.  Der  pietistische  Ton 
verweist  in  frühe  Zeit,  ebenso  der  Stil  zumal  der 
ersten  Strophe.  Str.  3,  "ausgefüllt"  :  terminus 
technicus  der  pietistischen  Sehnsucht  nach  Gott. 

S.  20.  Sesenheimer  Liederbuch  :  der  erste  Klang  reiner 
Liebeslyrik.  Die  Deminutiva  bilden  die  Kinder- 
sprache nach. 

Erivache,  Friederike.  Str.  I,  "Geschwister":  die 
beiden  Schwestern  Friederike  und  "' Olivia,"  die — • 
Str.  3 — bei  einander  schlafen.  Str.  2 :  die  laut- 
singende Nachtigall  wagt  die  Schlafende  nicht  zu 
wecken,  während  die  andern  Vögel  leise  flüstern. 
Am  Ende  beginnt  Philomele  denn  doch  zu  singen, 

137  „3 


ANMERKUNGEN 

aber  noch  immer  schlummert  Friederike.  Das 
Gedicht  ist  gewiss  aus  unmittelbarem  Erlebnis  in 
Sesenheim  entstanden. 

S.  22.  Elegie.  Str.  2:  das  doppelte  "dir"  entspricht 
einer  syntraktischen  Neigung  Goethes.  Wie  im 
"Neujahrslied"  werden  die  Lebensalter,  unter  dem 
Zeichen  der  Hoffnung  diesmal,  verglichen :  die 
Gaukelnden,  spielenden  Kinder ;  die  Jungfrau,  die 
fühlt  und  hofft ;  der  reife  Mann,  der  sät  und  hofft. 

S.  23.  Empßndsamkeit.  Str.  i,  "Zauberspiegel":  wie 
etwa  im  "  Macbeth  "  oder  in  Feenmärchen  derartige, 
das  Ferne  vergegenwärtigende  Spiegel  eine  Rolle 
spielen. 

S.   24.     An  Liii\  Kampf  zwischen  Liebe  und  Scheiden. 

S.  25.  Ihr  'verblühet...  '.  aus  dem  Schauspiel  mit  Gesang 
"Erwin  and  Elmire,"  das  auf  eine  Romanze 
Goldsmiths  zurückgeht. 

S.  25.  An  den  Herzog.  "  Umschwänzen,"  sonst  "um- 
schwänzeln": liebedienerisch  umkreisen.  "  Umkre- 
denzen":  neugebildetes  Wort  für  die  dienstfertigen 
Höflinge. 

S.  26.  An  den  Herzog',  ein  freundliches  Mahngedicht 
an  den  Fürsten,  im  Ton  etwa  an  den  "'  ewigen 
Juden  "  erinnernd.  Das  Gedicht  wurde  durch  einen 
Bauern  überreicht,  als  der  Herzog  Frau  v  Stein 
auf  ihrem  Gute  Kochberg  in  dem  benachbarten 
Herzogtum  Meiningen  besuchte. 

S.  27.  Warum  gabst  du  uns...  :  die  erste  und  eins  der 
schönsten  unter  jenen  philosophischen  Dichtungen 
Goethes,  die  für  ihn  so  charakteristisch  sind  wie  für 
Schiller  dessen  ganz  anders  geartete  Gedankenlyrik. 
Goethe  spielt  hier  mit  dem  Gedanken  der  Seelen- 
wanderung, indem  er  das  Schicksal  befragt,  was  ihn 
zu  der  Geliebten  zwinge.  Str.  i,  "  Wähnend  "  : 
hoffend,  und  dabei  doch  "Hangend  und  bangend" 
"  Gewühle  "  :  ein  Goethischer  Ausdruck  für  das 
unruhige  Treiben  der  Welt,  oder,  wie  hier,  des 
Herzens.  Str.  2,  "Dumpf"  :  ohne  klare  Absicht 
und  Einsicht.  "  Schweben  "  :  sich  ohne  feste  Grund- 
lage hin  und  her  bewegen.  Das  ganze  Gedicht  ist 
erfüllt  von  solchen  Ausdrücken,  die  der  Dichter  sich 
zu  seinem  individuellsten  Gebrauch  geprägt  hatte. 

"4 


ANMERKUNGEN 

Str.  4,  "  wie  die  reinste  Nerve...":  Gleichnis  von  der 
wohlgestimmten  Saite. 

S.  29.  Und  ich  geh...  Str.  i,  "Wiese"  :  zunächst  ganz 
wörtlich  zu  verstehen  von  der  Wiese  an  der  sein 
Gartenhaus  lag.  Str.  2,  '•'  des  Herren  "  :  des  Herzogs. 
Die  zweite  Strophe  ist  wieder  fast  ganz  in  jener 
Geheimsprache  persönlicher  Prägungen  verfasst. 

S.  29.  Aus  dem  Zauberthal.  Str.  I,  "umtrübt'':  trübend 
umgiebt. 

S.    30.      Um  Mitternacht^^ :   ein  Elfenlied. 

S.  30.  Sag,  ich' s  euch...  Str.  2,  "  Freud- und  Schmerzen  " : 
so  liebt  Goethe  die  beiden  sich  ergänzenden  Pluralia 
oder  ähnliche  zusammengehörige  zu  Einem  Begrifi 
zusammenzuziehn.  '•'  Dichte,  dichte,  dicht  "  : 
emphatische  Wiederholung. 

S.  32.  Cupido,  loser  eigensinniger  Knabe...:  ein  Gedicht,  das 
Goethe  besonders  lieb  war.  Am  6  April  1829  hat 
er  mit  Eckermann  über  seinen  Ton  und  die  laut- 
malende Kraft  des  Versmasses  lehrreich  gesprochen. 

S.  33.  Zueignung:  ursprünglich  als  Prolog  zu  den 
didaktischen  ■'•Geheimnissen  "  gedacht.  Das  Gedicht 
ist  für  Goethes  Auffassung  seines  Dichterberufs 
aufklärend  wie  kein  zweites  und  zugleich  ein 
Meisterstück  anschaulicher  Allegorie.  Str.  i :  das 
physische  Emporsteigen  als  Bild  des  geistigen. 
Str.  2-3:  eine  Kunst  der  Beobachtung  und  Schil- 
derung von  Wolkengestalten,  wie  sie  nur  dem 
geübten  Auge  des  Meteorologen  gelingen  konnte! 
Str.  7  :  die  Wahrheit,  in  deren  Dienst  er  zur  Zeit  des 
"  Sturmes  und  Dranges  "  mit  vielen  Gespielen 
"geirrt"  hatte,  während  er  jetzt  mit  seiner  neuen 
klassicistischen  Erkenntnis  alleinsteht;  noch  hatte 
er,  als  er  dies  schrieb,  die  Stellung  nicht  wiederero- 
bert, die  ihm  sonst  "  Götz  "  geschaffen  hatte.  Str.  8, 
"Übermensch":  das  durch  Nietzsche  berühmt 
gewordene  Wort,  von  Goethe  nicht  zuerst  geprägt, 
stammt  bei  jenem  von  hier.  Str.  9  :  der  ewige  Kon- 
flikt zwischen  P^ita  contemplativa  und  activa. 
Str.  11:  der  wunderbare  Schleier,  wohl  dem  der 
Leukothea  bei  Homer  nachgebildet,  kehrt  am 
Schluss  der  "  Helena"  im  zweiten  l'eil  des  "  Faust" 
wieder. 

"5 


ANMERKUNGEN 

S.  36.  Vorklage.  Goethe  hat  das  Un künstlerische,  das 
eigentlich  in  jeder  Gedichtsammlung  liegt,  durch 
feinsinnige  Anordnung  zu  überwinden  gewusst,  wie 
zuerst  Wilhelm  Scherer  gezeigt  hat. 

S.  37.  Heidenröslän :  individualisirende  Bearbeitung 
eines  Volksliedes,  im  Ton  diesem  gleichend. 

S.  38.  Der  Musensohn  :  Mittelpunkt  einer  Gruppe  von 
Liedern,  die  Komposition  und  Gesang  erfolgreich 
herausfordern. 

S.   39.      Gefunden  :  bezieht  sich  auf  Christiane  Vulpius. 

S.  41.  Der  GoldschmieJgeseU.  Ein  Reim  ist  durch  alle 
Strophen  durchgeführt. 

S.  42.  Glück  und  Traum  :  ein  frühes  Gedicht,  das  unter 
den  lebensvolleren  ein  wenig  leer  wirkt;  es  ist  um 
die  schöne  Schlusswendung-  gedichtet. 

S.  43.  An  Luna:  ebenfalls  ein  älteres  Gedicht.  Str.  i, 
'•'  das  erste  Licht  "  ist  natürlich  die  Sonne.  Str.  2, 
'•Durch  das  g'läserne  Gewitter":  durch  das  ver- 
gitterte  Fenster. 

S.  44.  N'dJie  des  Geliebten:  1795  als  Gegenstück  zu 
einem  Lied  der  Dichterin  Friederike  Brun  verfasst, 
welches  beginnt:  ''Ich  denke  dein,  v^enn  sich  im 
Blütenregen  Der  Frühling  malt."  Die  Melodie — 
Zelter  hatte  das  erste  Lied  komponirt — hatte  nach 
Goethes  späterem  Geständnis  an  Zelter  für  ihn 
'•'einen  unglaublichen  Reiz;"  er  eignete  sie  sich 
an,  indem  er  ihr  ein  eigenes  Gedicht  unterlegte. 

S.  47.  Meeres  Stille — Glückliche  Fahrt :  Meisterstücke  der 
Lautmalerei. 

S.  48.  Mut:  hiess  ursprünglich  '•' Eislebenslied," 
womit  das  vom  Eislauf  genommene  Gleichnis  klarer 
angedeutet  wird. 

S.  48.  Willkommen  und  Abschied:  aus  dem  Sesenheimer 
Liederbuch.  Der  Seelenzustand  des  aufgeregten 
Reiters  ist  mit  grossartiger  Kunst  wiedergegeben. 

S.  49.  Neue  Liebe  neues  Leben:  an  Lili  ;  ebenso  das 
folgende. 

S.  52.  Mit  einem  gemahlten  Band.  Dieser  damals  beliebte 
Liebesgruss  ward  an  Friederiken  gesandt. 

S.  53.  An  Lottchen:  wieder  eins  jener  wunderbaren 
Gedichte,  in  denen  des  Dichters  persönlichstes 
Empfinden     sich     zu     Weltempfindung    erweitert — 

116 


ANMERKUNGEN 

Gedichte,  wie  es  sie  vor  Goethe  nicht  gab.  ''  Ohne 
Sturm  und  ohne  Ruh  "  :  ohne  rechte  Anstrengung 
und  ohne  rechte  Ruhe.  '-'Die  so  oft  dich  trog'': 
man  beachte  die  Kraft  dieser  kurzen  inhaltsvollen 
Zeile! 

S.  54.  Auf  dem  See.  Die  Empfindungen  des  Dichters,  der 
auf  dem  Boot  langsam  dem  Ufer  zu  treibt  und  aus 
der  Allheit  der  Natur  heraus  ins  fest  Umgrenzte 
fährt  wird  mit  wunderbarer  poetischer  Kraft  ohne 
alle  Hilfsmittel  poetisirender  l'echnik  gegeben. 

S.  56.  Frühzeitiger  Frühling  :  "  wahrscheinlich  1801 
entstanden,  als  Goethe  nach  schwerer  Krankheit  den 
frühzeitigen  Frühling  dieses  Jahres  seinem  Land  gut 
Oberrossla  bei  Weimar  genoss  "  (L.  Blume  in  seiner 
guten  kommentirten  Auswahl  Goethischer  Gedichte). 

S.  58.  Rastlose  Liebe:  Ilmenau  6  Mai  1786  entstamien  ; 
kurz  vorher  hatte  Goethe  aus  dem  Städtchen 
geschrieben:  "Hier  ist  den  ganzen  Morgen  Schnee." 
Leidenschaftlichster  Ausdruck  der  Liebesunruhe; 
ein  so  individuelles  Seelengemälde,  wie  sie  die  Lyrik 
erst  seit  Goethe  kennt. 

S.  59.  Schäfers  Klagelied :  bildet  mit ''Jägers  Abendlied  "' 
und  "Wandrers  Nachtlied "  eine  Gruppe  von 
Seelengemälden,  die  durch  eine  geeignete  Scenerie 
und  ein  sorgsam  gewähltes  Kostüm  in  ihrer 
Wirksamkeit  verstärkt  werden.  Das  Gedicht  ist 
volkstümlich  gehalten  und  bedient  sich  wirklicher 
Reminiscenzen  aus  dem  Volkslied,  Es  ist  die 
träumerische  Stimmung  eines  mit  halbem  Anteil  an 
den  Dingen  in  der  Natur  dahinlebendeii  Mannes  zu 
vergegenwärtigen,  wie  sie  Goethe  etwa  bei  geschäft- 
lichen Ritten  überkommen  mochte.  Der  Hauptton 
liegt  auf  dem  Unwillkürlichen,  Instinktiven  der 
Empfindung  und  Handlung. 

S.  59-  Trost  in  Thränen.  Auch  hier  sind  die  beiden  ersten 
Strophen  nahezu  wörtlich  einem  Volkslied  ent- 
nommen. Str.  3,  "  Vertraue  den  Verlust  "  :  komme 
vertrauend  über  den  Verlust  fort  (nicht  etwa: 
"  Vertraure"!). 

S.  61.  Nachtgesang:  ebenfalls  durch  ein  Volkslied  (und 
seine  Melodie!)  angeregt,  diesmal  aber  ein  italien- 
isches mit  dem  Refrain:   "Dormi,  che  vuoi  di  piu?" 

117 


ANMERKUNGEN 

In  jeder  Strophe  wird  ein  Vers  der  vorigen  auf- 
genommen und  als  musikalisches  Thema  variirt,  wie 
denn  überhaupt  das  Lied  mehr  eine  musikalische 
Stimmung  erwecken  als  einen  bestimmten  Inhalt 
bergen  soll.  Es  ist  auf  diese  Weise  ganz  auf  zwei 
Reime  gestellt,  die  zugleich  die  herrschenden 
Gedanken  tragen  :  den  Gegensatz  der  träumerischen 
Ruhe  auf  dem  Lager,  in  der  der  halb  Schlummernde 
sich  den  "ewigen  Gefühlen  hingiebt,"  zu  dem 
''irdischen  Gewühl"  des  hellen  lauten  Tages. 
Selten  hat  selbst  Goethe  den  melodischen  Reiz  dieser 
Komposition  erreicht. 

S.  6i.  Sehnsucht  :  wahrscheinlich  an  die  jugendlich 
liebliche  Silvie  v.  Ziegesar  gerichtet,  die  in  einem 
nah  gelegnen  "  Bergschloss "  den  Stammsitz  ihrer 
Familie  hatte. — Die  mehrmalige  Verwandlung  des 
Liebenden — in  den  Vogel,  den  Stern, — bis  amSchluss 
der  Beglückte  in  seiner  wahren  Gestalt  der  Geliebten 
zu  Füssen  liegt  ist  ein  Märchenmotiv,  das  auch  in 
dies  Gedicht  einen  volkstümlichen  Zug  trägt. 
Str.  2,  "  Umfittigen  "  :  kühne  Neubildung  im  Sinne 
von  '"'umkreisen  mit  schlagenden  Fittigen."  Str.  3, 
"Sie  wandelt  am  Bache  die  Wiesen  entlang":  die 
typische  Situation  der  Liebenden  bei  Goethe. 

S.  63.  An  Mignon.  Der  Titel  ist  nicht  klar,  da  eine 
weibliche  Person  (Str.  4)  spricht;  ist  etwa  "an" 
hier  so  zu  verstehn,  dass  das  Gedicht  an  den  Mignon 
-cyklus  anzuhängen  wäre  ? — Auch  hier  liegt  eine 
fremde,  wieder  eine  italienische  Anregung  vor.  Die 
"schöne  Mailänderin,"  die  der  Dichter  in  Castel 
Gandolfo  geliebt  hatte,,  entliess  ihn  mit  den  Worten  : 
"  Ihr  seid  glücklich. ..Schon  lange  seh  ich  vor  meinem 
Fenster  Schiffe  kommen  und  abgehn,  ausladen,  und 
einladen  ;  das  ist  unterhaltend,  und  ich  denke 
manchmal,  woher  und  wohin  dies  alles  "  (v.  Loeper 
in  seiner  grundlegenden  kommentirten  grösseren 
Ausgabe  der  Gedichte).  Man  denkt  an  Tennyson's 
"Lady  von  Shalott "  :  die  stille  beschauliche 
Einsamkeit  der  Frau  im  Gegensatz  zu  dem 
"Gewühle"  der  arbeitsamen  Männer. — Das  Reim- 
paar "  Schmerzen  :  Herzen  "  ist  durch  alle  Strojihen 
durchgeführt,      Goethes     jetziger      Neigung      ent- 

118 


ANMERKUNGEN 

sprechend,  die  zwischen  den  Gliedern  eines  Gedichts 
gern  verbindende  "  Verzahnungen  "  anbringt.  Es 
ist  der  häufigste  Reim  der  deutschen  Sprache,  aber 
wie  wirkt  er  hier  so  gar  nicht  trivial,  so  aus  der 
Situation  heraus  neu  erfunden!  Str.  4,  "Herz  im 
Herzen  "  :  das  innerste  des  Herzens,  cor  cordls. 

S.  64.  An  ein  goldnes  Herz  :  wieder  ein  Lililied,  Die 
Nachbarschaft  ist  durch  das  Spiel  mit  dem  Worte 
''Herz"  (Str.  2)  veranlasst. 

S.  65.  Wandrers  NachÜieJ.  "  Am  Hang  des  Ettersberg, 
den  12  Februar  76"  steht  auf  der  Handschrift. 
Dieser  wunderschöne  Ausdruck  einer  tiefen  Nacht- 
stimmung bringt  wieder  das  unruhige  Treiben  der 
Welt  zu  der  Sehnsucht  nach  Ruhe  in  Gegensatz. 
V.  2  und  V.  6  in  ihrer  kühnen  Konstruktion 
entsprechen  sich  refrainartig. 

S.  65.  Ein  gleiches.  Dies  berühmte  Nachtlied  schrieb 
Goethe  in  der  Nacht  vom  6  zum  7  Sept.  1780  mit 
Bleischrift  auf  die  Wand  des  Bretterhäuschens  auf 
dem  Gickelhahns,  dem  höchsten  Berge  bei  Ilmenau. 
"Noch  im  August  1831,  also  ein  halbes  Jahrhundert 
nach  ihrer  Entstehung  und  kurz  vor  seinem  Tode, 
"  recognoscirte  "  er  sie  an  Ort  und  Stelle  "  (Briefwech- 
sel mit  Zelter,  280).  Als  er  damals  das  Lied 
überlas — wusste  später  sein  Begleiter  zu  berichten — 
strömten  ihm  die  Tränen  über  die  Wangen.  Die 
Augen  trocknend,  soll  er  mit  wehmütigem  Ausdruck 
die  Worte  wiederholt  haben:  "Warte  nur,  balde, 
balde  ruhest  du  auch  1  " 

S.  65.  Jägers  Abendlied:  eins  der  schönsten  unter  den 
herrlichen  Mondliedern  Goethes. — Der  Reim  mit 
"  Bild  "  ist  nur  durch  die  erste  Hälfte  durchgeführt. 

S.  dd.  An  den  Ädond  :  ursprünglich  19  Januar  1778  an 
Frau  V.  Stein  übersandt  als  ein  Klagelied,  nachdem 
sich  die  junge  Christiane  v  Lassberg  in  der  Um 
ertränkt  hatte  und  der  Dichter  des  "Werther"  für 
ihren  Selbstmord  verantwortlich  gemacht  worden 
war.  Das  Gedicht  musste  daher  später  starke,  nicht 
immer  glückliche  Änderungen  erleiden.  Die  ur- 
sprüngliche Fassung  in  den  "Briefen  an  Frau  v. 
Stein  "...  Der  Dichter  wandelt  wieder  am  Fluss  die 
Wiese    entlang    und    hört    in    der  still   gewordenen 

1:9 


ANMERKUNGEN 

Natur  nur  noch  die  ewigen  Elementartöne.  Die 
Stimmung  milder  Menschenscheu  überkommt  den 
Einsamen  und  die  einzelnen  Strophen  lässt  er  sich 
von  dem  treueren  Freund,  dem  Fluss,  reihe  nach 
zuflüstern. 

S,  67.  Gesellige  Lieder  :  für  eine  wirkliche  Tafelrunde 
von  Freunden  verfasst. 

S.  67.  Bundeslied.  Dies  Gedicht  ist  älter  und  schon  1775 
auf  die  Hochzeit  eines  Freundes  gedichtet. 

S.  69.  Tischlied.  ••' Die  erste  Strophe  ist  eine  freie  Wieder- 
gabe der  zweiten  Strophe  des  bekannten  Studenten- 
liedes aus  dem  12  Jahrhundert:  Meum  est  propositum 
in  taberna  mori "  (v.  Loeper).  Dies  war  von  Bürger 
verdeutscht  worden  ;  man  schrieb  es  dem  Engländer 
Walter  Map  zu.  Wie  im  Original  wird  in  jeder 
Strophe  ein  Reim  viermal  wiederholt. — Das  Hoch 
gilt  zuerst  dem  Fürsten  als  dem  Mittelpunkt  des 
Kreises,  dann  den  Herrscherinnen  über  die  Herzen 
der  Genossen,  diesen  selbst,  schliesslich  allen  in 
braver  Gesinnung  Verwandten. 

S.  71.  Gcneralbeichte  :  der  Titel  vielleicht  von  Schiller. 
Das  Alotiv  der  scherzhaften  Beichte  ist  in  der  mittel- 
alterlichen Dichtung  und  in  der  Zeit  des  Humanismus 
beliebt :  für  Goethe  scheint  (nach  Vosslers  Nachweis) 
ein  solches  Gedicht  des  Lorenzo  de  Medici  als  Vorbild 
gedient  zu  haben.  Der  Protest  gilt  dem  philiströsen 
Lebensdilettantismus,  der  keine  günstige  Gelegenheit 
rechtschaffen  auskostet. 

S.  72.  O^ne  Tafel  :  Bearbeitung  eines  Scherzgedichts 
von  La  Motte  mit  dem  Refrain  '•'  Va-t'en  voir  s'ils 
viennent,  Jean."'  Der  Schluss  gehört  Goethe,  "der 
das  biblische  Gleichnis  von  den  geladenen  Gästen, 
Lucas  14,  17-23,  von  früh  an  poetisch  zu  verwenden 
liebte  "  (v.  Loeper) — Die  Reihenfolge  ist  ungefähr 
dieselbe  wie  im  •'■' Neujahrslied." 

S.  74.  Rechenschaft  :  veranlasst  durch  einen  Brief  von 
Goethes  Freund  Zelter  vom  30  Dec.  1809  :  «<Fast 
hätte  ich  aber  auch  Lust,  die  deutschen  Poeten  bei 
Ihnen  zu  verklagen,  die  sich  in  ihren  Liedern  gar  zu 
ernsthaft  ausgeben,  und  ich  dächte,  Sie  redeten  die 
guten  Leute  einmal  fröhich  an,  sich  nicht  gar  zu 
pensiv  und  finster  vernehmen  zu  lassen  ;   man  müsste 

I2Q 


ANMERKUNGEN 

ja  wohl  des  Wimmerns  und  Ächzens  im  gemeinen 
Leben  sich  voll  ersättigen  können."  Schon  am  14 
Feh.  1810  empfing  Zelter  das  Gedicht,  das  er  nun 
seinerseits  sofort  komponirte :  eine  gemeinsame 
Arbeit  zu  polemischen  Zwecken,  wie  wenn  Goethe 
mit  Heinrich  Meyer  Manifeste  gegen  neue  Richtun- 
gen der  Malerei  ergehn  liess.  Im  Übrigen  ist  dies 
Aufzählen  guter  Werke,  auch  eine  Art  von  General- 
beichte, ein  Gegenstück  zu  dem  Katalog  böser 
Werke  z.  B.  der  Hexen  im  '-'Macbeth."  Str.  3, 
'•'Kegel"  :  eigentlich  uneheliches  Kind,  hier  (dem 
Reim  zu  lieb  !)  überhaupt  für  ein  schwächliches, 
zurückgesetztes  Wesen.  "Mannsen"  :  volkstümlich 
lustiger  Ausdruck.  Str.  5,  '«'wollte  mich  erneuen  ": 
gegen  die  Goethe  unsympathischen  Bestrebungen 
der  Patrioten,  auf  ganz  neue  Wege  zu  lenken,  die 
freilich  eine  grössere  Berechtigung  hatten,  als  der  für 
die  Kontinuität  der  Kultur  fürchtende  Dichter  glaubte. 
Str.  6,  "  Druckser  "  :  der  sich  mit  falscher  Beschei- 
denheit duckt  und  ächzt.  Str.  7  :  die  Ungerechtig- 
keit der  Schlussstrophe  ist  nur  aus  der  allgemeinen 
Stellung  Goethes  zu  begreifen,  der  nun  einmal  im 
kulturellen  Fortbau  auf  der  alten  Basis  durch  keine 
deutschtümliclien  Tendenzen  behindert  sein  wollte. 

S.  78.  ^rgo  bibamus.  Auch  dies  noch  heut  gern  gesun- 
gene Lied  verdankt  einer  äussern  Anregung  seine 
Entstehung.  Goethe  erzählte  März  18 10  von  dem 
wunderlichen  Schulmann  Basedow,  mit  dem  er  einst 
zusammengereist,  und  der  zu  behaupten  pflegte,  "  die 
Konklusion  ergo  bibamus  passe  zu  allen  Prämissen. 
Es  ist  schönes  Wetter,  ergo  bibamus !  Es  ist  ein 
hässlicher  Tag,  ergo  bibamus!  Wir  sind  unter 
Freunden,  ergo  bibamns !  Es  sind  fatale  Burschen 
in  der  Gesellschaft,  er^ro  bibamus."  Dies  reg-te 
Goethes  Gesellschafter,  den  Philologen  Riemer,  zu 
einem  Gedicht  an,  dem  wiederum  Goethe  selbst  das 
seine  folgen  Hess.  Str.  3,  "  sich  schmorgt  "  : 
vulgärer  Ausdruck,  etwa  :   in  Fetzen  abfällt. 

S.  79.  Balladen  :  episch-lyrische  Dichtungen,  an  denen 
vor  allem  das  berülimte  Balladenjahr  1797,  das  Jahr 
des  Wetteifers  mit  Schiller,  reicli  war. 

S.   79.      Mignon.       1784     für     den     Roman     "  Wiliielm 

121 


ANMERKUNGEN 

Meister  "  gedichtet.  Das  wunderbare  Lied  gibt  der 
Sehnsucht  Goethes  nach  Italien  Ausdruck,  die  ihn  vor 
seiner  Reise  fast  krank  maciite.  Wie  die  Land- 
schafter jener  Tage  erst  die  Vegetation  zeichnen, 
sie  dann  durch  eine  heroische  Architektur  beleben, 
so  geht  auch  der  Dichter  %'or  ;  die  dritte  Strophe 
malt  dann  den  Weg  über  die  Alpen  zu  dem  ersehnten 
Ziele.  Str.  3  :  dass  die  Cäsur  den  niederstürzenden 
Bach  teilt  (•'•und  über  ihn  die  Fluth"),  pries  der  ber- 
ühmte Ästhetiker  Vischer  als  eine  besondere  Schönheit 
des  an  ergreifender  Lautmalerei  reichen  Gedichtes. 

S.  80.  Der  Sänger  :  um  1783.  Die  typische  Situation 
des  Sängers  bei  Hofe  zum  Ruhm  des  Dichters  ausge- 
deutet, dem  seine  göttliche  Gabe  reichster  Lohn  ist. 
Schiller  äusserte  ähnliche  Gedanken. 

S.  81.  Da$  Veilchen',  schon  von  1774.  Die  stille  Erge- 
benheit hinsterbender  Liebe  an  einem  volkstümlichen 
Symbol  Tcrherrlicht ;  es  ist  Goethes  •'*  Ritter  Toggen- 
barg." 

S.  82.  Erltönig  :  1782  für  das  Singspiel  "  die  Fischerin  " 
gedichtet,  von  der  Sängerin  Corona  Schröter,  der 
Freundin  des  Dichters,  zuerst  komponirt  und  ge- 
sungen. Der  ••Erlkönig"  ist  eigentlich  ein  Elfen- 
könig, der  die  geheimnisvoll  unheimliche  Stimmung 
des  unbelebten  nächtlichen  Waldes  darstellt.  Das 
Gedicht  ist  ein  durchaus  '•'  modernes,"  indem  es  den 
pathologischen  Zustand  des  aufgeregten  und  nicht 
zn  beruhigenden  Kindes  mit  grösster  Kunst  des  Ein- 
fuhlens  veranschaulicht ;  und  doch  gehört  es  in  jene 
gern  mit  volkstümlichen  Alärchenmotiven  arbeitende 
Zeit. 

S.  83.  Der  Fischer  :  etwa  von  1778.  Goethe  19  Jan. 
1779  an  P''2U  ^-  Stein  :  '•' Diese  einladende  Trauer  hat 
was  gefahrlich  anziehendes  wie  das  Wasser  selbst, 
and  der  Abglanz  des  Himmels,  der  aus  beiden  leuch- 
tet, lockt  uns."  Ibsen  hat  dieselbe  Kraft,  die  lockt 
und  zieht,  auf  seine  Art  in  dem  fremden  Mann  der 
'•'Frau  von  Meere"  symbolisirt. 

S.  84.  Der  König  in  Thule  :  die  älteste  Ballade  Goethes, 
1773  anzusetzen.  **  Thule"  bezeichnet  von  den 
Alten  her  ein  in  romantischer  Ferne  liegendes 
Eiland. 

122 


ANMERKUNGEN 

85.  Der  Schatzgräber  :  1797  durch  ein  Bild  angeregt. 
In  einer  Übersetzung  einer  Schrift  Petrarcas  fand 
Goethe  eine  Abbildung  mit  der  '•'  artigen  Idee,  dass 
ein  Kind  einem  Schatzgräber  eine  leuciitende  Schale 
bringt."  Die  Schale  ward  dem  Dichter  zum  Sinnbild 
fröhlichen  Lebensgenusses  und  so  entstand  die  eigen- 
tümliche episch-lyrisch-didaktische  Kunstwerk. — 
Man  beachte  die  Kunst  der  Reimordnung,  die  sym- 
bolisch "Kreis  um  Kreise"  zieht. 

86.  Der  Zauberlehrling  :  1797  nach  einer  Erzählung 
bei  Lucian,  der  ähnliche  Sagenmotive  bei  neueren 
Völkern  zur  Seite  stehen.  Das  Gedicht  tritt  drama- 
tisch auf  als  Monolog  des  Lehrlings,  den  am  Schluss 
der  Meister  ablöst.  Str.  i,  <'Wort  und  Werke" 
gehören  zu  jedem  Zauberbrauch  :  Zauberspruch  und 
rituelle  Handlung. 

89.  Die  Braut  -von  Korinih  :  4-5  Juni  1797  ;  nach 
einer  antiken  Quelle.  Das  Interesse  für  die — 
vorzugsweise  slavischen — Vampyrsagen  half  der 
Entstehung.  Mit  dem  ''  König  in  Thule  "  und  dem 
"  Gott  und  der  Bajadere  "  bildet  das  Gedicht  den 
Höhepunkt  der  Goethischen  Balladenkunst.  Den 
persönlichen  Anteil  des  Dichters  erweckte  seine 
Abneigung  gegen  die  neu  auftauchende  romantische 
Religiosität  und  Unduldsamkeit.  Str.  4,  '"'Dass  er 
angekleidet..."  :  der  Dichter  Chamisso  entdeckte 
auf  seiner  Weltumsegelung,  dass  der  Vers  eine 
Hebung  zu  viel  hat.  Str.  7,  "Ceres  Gabe"  :  Brot 
(vgl.  Str.  14);  die  Toten  schlürfen  Wein,  nehmen 
aber  keinerlei  feste  Nahrung  zu  sich.  Die  Kunst 
der  Sprache  und  des  Versbaus  ist  auch  hier 
unvergleichlich.  "Wie  kontrastiren  die  lang 
gezogenen  ersten  Verse  mit  dem  kosenden  Getändel 
der  zwei  kurzen  Zeilen,  und  wie  innig  sind  sie  durch 
den  langen  feierlichen  Schlussvers  zusammengehalten, 
grade  wie  Tod  und  Leben,  wie  Grabesschauer  und 
stammelndes  Liebesgeflüster  in  der  Ballade  sich 
verweben  "  (M.  Carriere). 

96.  Der  Gott  und  die  Bajadere  :  6-9  Juni  1797,  also 
unmittelbar  nach  der  '•'  Braut  von  Korinth  "  gedichtet. 
Nach  indischer  Quelle,  aus  der  Goethe  den  grossen 
auch      christlichen      Gedanken      der      Entsühnung 

123 


ANMERKUNGEN 

durch  liebende  Aufopferung  heraus  las.  Str.  i, 
•'Mahadöh""  :  der  grosse  Gott.  Eigentlich  ist  es 
Wischnu,  der  in  mancherlei  Gestalten  auf  Erden 
wandelt.  Diese  Mischung  des  Göttlichen  und 
Menschlichen  bildet  der  starke  Rhythmuswechsel 
ab.  Str.  9  :  das  Bild  der  Schlusstrophe  ward  durch 
Andachtsgemälde  an  die  Hand  gegeben,  in  denen  die 
Heilige  unten  im  Sarkophag  beigesetzt  wird  und 
oben  in  den  Lüften  von  Christus  empfangen. 

S.  99.  Paria.  Goethe  lernte  die  indische  Quelle  früh 
kennen  und  trug  sich  1816-1821  mit  der  Idee,  die 
dann  durch  die  Tragödie  ''le  Paria"  von  Casimir 
Delavignefreigemacht  wurde.  Wie  der  greise  Dichter 
Trilogien  liebt,  hat  er  auch  diesen  Stoff  in  eine  solche 
gelegt.  Str.  i,  *<die  Bramen : "  den  Stand  der 
Priester;  '-'die  Rajas "  :  die  Fürsten.  Str.  2:  der 
Paria  nährt  sich  von  dem,  das  die  höheren  Stände 
verwerfen.  Str.  5  :  der  Anblick  göttlicher  Schön- 
heiten stört  die  Andacht  der  Frommen  in  manch 
indischer  Legende. 

S.  105.  Elegien.  Die '•' Römischen  Elegien  "  entstanden 
erst  in  Deutschland  nach  der  Heimkehr,  als  der 
Dichter  sich  eine  Fortdauer  der  italienischen 
Zustände  an  Christianens  Seite  vorzutäuschen 
suchte.  L  :  die  vorbereitende  Stimmung,  wie 
im  Anfang  von  "Romeo  und  Julia."  IL,  "das 
traurige  Spiel "  :  Goethe  blieb  dem  Kartenspiel 
abgeneigt,  das  in  jenen  Jahren  erst  so  recht  die 
Gesellschaft  eroberte.  —  "Alalbrough"  :  Malbrouck 
s^en  va-t-en  guerre,  mirontonton,  mirontain.  V.:  ^'noc- 
turna "veriate  manu,  "versate  diurna.^^ — Dass  die  Plastik 
wesentlich  auf  den  Tastsinn  angewiesen  sei,  hatte 
Goethes  Lehrer  Herder  verkündigt.  —  "Seinen 
Triumvirn"  :  den  "Triumvirn  der  Liebe,"  Catull, 
Tibull,  Properz.  VII.  "Jupiter  Xenius,"  der  Hüter 
der  Fremden,  der  "  wirthliche  Gott." — "Cestius' 
Mal,"  wo  der  Friedhof  der  Nichtkatholiken  war. 
VIII.  "Als  ein  besonderes  Kind"  :  ein  Kind  von 
eigener  Art.  XI.  Auch  die  berühmte  Schilderung 
der  antiken  Göttertypen  bildet  Anregungen  Herders 
genial  weiter.  Xll.  "Der  Profane"  der  nicht  in 
die  Mysterien  eingeweiht  war. — Goethe  scheint  die 

124 


ANMERKUNGEN 

Einführung  des  Neophyten  nach  dem  Bild  der  Frei- 
maurerweihe zu  schildern  ;  mit  Wieland  gehörte  ei 
seihst  der  Loge  an.  XIII.  :  Verteidigung  der  für 
die  "  Elegien  "  gewählten  Kunstform. — '•'  Dich, 
Aurora  "  :  die  Morgenstunde  gehörte  zu  den  liebsten 
Arbeitszeiten  des  Dichters. — XV.  :  der  Poet  hatte  auf 
Kaiser  Hadrians  Reisen  das  Epigramm  gedichtet: 
"Ich  möchte  nicht  die  Welt  regieren,  Durch  Eng- 
land irren,  bei  den  Skythen  frieren  !  "  Der  Kaiser 
replicirte:  "Und  ich  möcht'  nicht  wie  Florus  in  den 
Gassen  mich  von  den  Wirtshauswanzen  plagen 
lassen!" — "Grösseres  sähest  du  nichts..."  :  wieder 
eine  lateinische  Reminiscenz  aus  Horaz,  Carmen 
taeculare  V.  g  :  ^'•Alme  Sol...possis  nihil  urbe  Roma  viser e 
maius  \'^  "glücklicher  Räuber"  :  die  Sage  vom  Raub 
der  Sabinerinnen  und  überhaupt  vom  Ursprung 
Roms. 
S.  122.  Amyntas.  Goethe  notirt  19  Sept  1797  im  Tage- 
buch der  Schweizerreise:  "Ein  Apfelbaum,  mit 
Epheu  umwunden,  gab  Anlass  zur  Elegie  Amyntas." 
Er  dachte  an  sein  Liebesverhältnis  mit  Christianen, 
das  ihm  so  vielfach  abgeraten  wurde  und  dessen 
Gefahren  er  selbst  auch  erkannte,  ohne  verzichten 
zu  können. — Die  Liebe  zu  den  Elementarmächten 
gestellt 
S.  125.  Die  Metamorphose  der  Pßanzen.  1798  gedichtet, 
gibt  sich  dies  wunderbare  Lehrgedicht  als  ein 
Versuch  Christianen  in  die  Grundanschauungen 
von  Goethes  Entwicklungslehre  der  Pflanzen 
einzuführen.  Eigentlich  ist  es  wohl  doch  mehr  ein 
Versuch,  zwischen  den  getrennten  Reichen  der 
Forschung  und  der  Dichtung  nach  dem  Muster  der 
Alten  eine  Brücke  zu  schlagen.  An  ein  grosses 
Lehrgedicht  über  die  Natur  hat  Goethe  lange 
gedacht;  nur  dies  Bruchstück  und  die  "Metamor- 
phose der  Thiere  "  kam  zu  stände. 
S.  129.  Hermann  und  Dorothea  :  1796  als  Ankündigung 
des  gleichnamigen  Epos  an  Schiller  gesandt.  Im 
Bewusstsein  iiirer  Gemeinschaft  verkündet  der 
Freund  dem  Freunde,  wie  kein  Pliilisterium  und 
keine  Splitterrichterei  ihn  in  der  Nachfolge  der 
Alten  beirren  soll,  die  seit  der  italienischen  Reise,  sein 


ANMERKUNGEN 

unerschütterliches  Evangelium  geworden  war.  Neben 
der  Dichtung  (Römische  Elegien  !)  kommt  auch 
seine  Lebenshaltung  zur  Sprache,  die  in  dem  Liebes- 
verhältnis zu  Christianen  :  "der  Heuchelei  dürftige 
Maske  verschmäht!  "  Doch  geht  der  Vers  <'Dass 
kein  Name  mich  täuscht..."  wohl  speciell  auf  die 
Kämpfe  gegen  Newton  und  seine  Farbenlehre. 
"Erst  die  Gesundheit  des  Mannes..."  :  des  Philo- 
logen Wolf,  der  die  Einheit  der  homerischen  Gedichte 
bestritt;  "des  Dichters  Geist..."  :  J.  H.  Voss. 
131.  Epigramme  :  1790  in  Venedig  entstanden,  "ein 
poetisches  Tagebuch  von  Goethes  Aufenthalt  in  Vene- 
dig." Str.  2,  "die  Wiege  Virgils"  :  "  bei  Man- 
tua,  den  Grenzbezirk  Italiens  anzudeuten."  Str.  3, 
"  Vetturine  "  :  die  Lohnkutscher,  denen  man  sich  für 
die  Reisen  in  Italien  anvertraute  ;  "die  Dogane  "  :  das 
Zollamt;  "Rinaldo"  :  den  paradiesisch  verzauberten 
Rinaldo  hat  Goethe  selbst  zum  Gegenstand  einer  Kan- 
tate nach  Ariost  gemacht.  Str.  4,  "Faustinen  "  :  die 
Geliebte  der  "Elegien."  Str.  5,  "Daphne"  :  die  in 
einen  Lorbeer  verwandelte  Nymphe.  Str.  7  :  bezieht 
sich  auf  Frau  v.  Stein,  die  er  seit  der  Flucht  nach 
Italien  verloren  hatte.  Str.  20,  "der  neue  geflügelte 
Kater"  :  der  Markuslöwe,  den  Gegensatz  antiker 
und  mittelalterlicher  Kunst  auszudrücken,  Str.  22, 
"Jupiter  Pluvius  "  :  der  Gott  des  Regens.  Str.  29: 
ungerechte  Klage  des  Dichters,  der  den  Wohlklang 
der  italienischen  Sprache  einseitig  beneidet.  Str. 
34  :  schönes  Dankwort  an  Carl  August. 


126 


ANMERKUNGEN 

BAND   II 

S.  I.  Sonette  :  entstanden  Winter  1807-8,  als  eine  in 
Jena  erscliienene  Ausgabe  von  Petrarcas  Sonetten 
und  der  Aufenthalt  des  eifrig  sonettirenden  Roman- 
tikers Zacharias  Werner  den  Dichter  reizten,  sich  in 
dieser  Form  breiter  zu  versuchen,  die  er  erst  abgelehnt, 
dann  nur  gelegentlich  angev^'-andt  hatte.  Die  Sonette 
gelten  überwiegend  Minna  Herzlieb,  der  Pflegetochter 
jenes  Verlegers  Frommann,  bei  dem  die  Petrarca- 
Ausgabe  herausgekommen  war.  Man  darf  sie  nicht 
zu  den  höchsten  Kunstleistungen  des  Dichters  rechnen, 
der  in  der  musikalischen  Lyrik  seinen  Thron  hatte. 
Doch  haben  sie  für  die  Einbürgerung  des  Sonetts 
viel  geleistet,  das  eine  Zeit  lang  alleinige  Domäne 
der  Romantii^er  bleiben  zu  sollen  schien. 

S.  I.  Mächtiges  Überraschen  :  der  Strom — wie  in  "  Maho- 
mets  Gesang "  und  sonst — als  Gleichnis  für  die 
"dämonische"  Persönlichkeit;  Ureas,  die  Berg- 
nymphe, als  Vertreterin  des  unerwarteten  Lebense- 
reignisses :  der  Liebe.  Der  Dichter,  auf  dem 
gleichmässigen  Wege  ins  All,  wird  durch  dies 
Erlebnis  in  seiner  Rulie  aufgestört  ;  aber  die  Aufre- 
gung ballt  sich  in  die  glatte  Kunstform  des  Sonetts 
zusammen. 

S.  3.  Epoche,  Am  i  Advent  1807,  29  Nov.,  begegnete 
der  Dichter  Minna  Herzlieb  zum  ersten  Mal  im 
Frommannschen  Hause. 

S.    3.     Kluggesang  :   nach  dem  Serbischen. 

S.  6.  Mahomets  Gesang  :  1772-73  als  Dialog  für  das 
Mahomet-Drama  gedichtet.  In  dem  Propheten  sieht 
der  Dichter  das  Wesen  des  Genies  verkörpert  und 
schildert  in  dem  poetischen  Bilde  des  Felsenquells  die 
typische  Entwicklung  der  grossgeistigen  Erol)ercr. 

127 


ANMERKUNGEN 

S.  8.  Gesang  der  Geister  über  den  fVassern  :  1779  ^^^  ^^^ 
Schweizer  Reise  den  Wasserfällen  abgelauscht.  Man 
beachte,  wie  prachtvoll  sich  der  Rhythmus  und  die 
Klangfarbe  jeder  Bewegung  des  Gedankens  ansch- 
miegen ! 

S.  10.  Meine  Göttin  :  15  Sept.  1780  an  Frau  v.  Stein 
geschickt.     Str.  3, ''Sommervögel"  :  Sclimetterlinge. 

S.  12.  Harzreise  im  Winter  :  die  Reise  fand  29  Nov.-i 
Dez.  1777  statt  ;  sie  galt  eigentlich  einem  unglück- 
lichen Hypochonder,  Plessing,  der  sich  hilfesuchend 
an  den  Dichter  gewandt  hatte.  Goethe  hat  selbst 
anlässlich  einer  Abhandlung  von  1820  (•'•'Über 
Goethes  Harzreise  im  Winter,  von  Dr  Kannegiesser  ") 
sich  in  ausführlichem  Kommentar  über  das  schwierige 
Gedicht  geäussert.  Str.  2  und  6  beziehen  sich  auf 
Plessing,  den  er  als  Verteter  des  unglücklichen 
Lebensverfehlens  zu  sich  selbst  in  mitleidsvollen 
Gegensatz  bringt.  "Seine  herzliche  Teilnahme 
ergiesst  sich  im  Gebet "  (Str.  7).  Str.  8,  "  die  Brüder 
der  Jagd"  :  "der  Dichter  erinnert  sich  seiner  engver- 
bundenen Freunde,  welche  grade  in  dieser  Jahreszeit 
und  Witterung  eine  bedeutende  Jagd  unternehmen, 
um  das  in  gewisser  Gegend  sich  mehrende  Schwarz- 
wildpret  zu  bekämpfen."  Str.  10,  '•' des  gefürchteten 
Gipfels..."  :  der  Brocken  ist  der  Sitz  mancher 
Spuksage.  Str.  11  "Du  stehst..."  :  "'  Hier  ist  leise 
auf  den  Bertrbau  bedeutet.     Der  unerforschte  Busen 

o  o 

des  Hauptgipfels  wird  den  Adern  seiner  Brüder 
entgegengesetzt.  Die  Metalladern  sind  gemeint,  aus 
welchen  die  Reiche  der  Welt  und  ihre  Herrlichkeit 
gewässert  werden." 

S.  15.  An  Schivager  Kronos '.  IG  Okt.  1774  im  Postwagen 
gedichtet.  "  Schwager  "  :  volkstümlich  gemütliche 
Benennung  für  den  Postillon.  Str.  i  :  dein  Zaudern 
verursacht  mir  ein  Gefühl  des  Unbehagens,  eine  Art 
Seekrankheit,  wie  man  sie  beim  Boot  fühlen  kann, 
wenn  es  zu  lang  an  der  Landungsstelle  hält. — Die 
Fahrt  wird  Sinnbild  des  Lebens  und  seiner  wechseln- 
den Momente.  Str.  5  "Entzahnte  Kiefer"  :  die 
ihre  spitzen  Nasen  verloren  haben.  Str.  6  "Trunk- 
nen..."  :  kühne  latinisirende  Konstruktion. 

S.    16.      PVandrers  Sturmlied  :  aus  der  Zeit  vor  der  Abreise 

128 


ANMERKUNGEN 

nach  Wetzlar.  April  1772.  '•'  Ich  sang  diesen 
Halbunsinn  leidenschaftlich  vor  mich  hin,  da  mich 
ein  schreckliches  Wetter  unterwegs  traf,  dem  ich 
entgegengehn  musste."  Str.  i  :  der  '•' Genius  "  wie 
das  Daimonion  des  Sokrates.  als  ein  selbständiger 
Schutzgeist  des  '•'  dämonischen  "  Menschen  gedacht. 
Str.  2,  ''Deukalions  Flutschlamm"  :  der  nach  Ablauf 
der  Sintflut  auf  der  Erde  geblieben  war.  Str.  5,  "der 
Sohn  des  Wassers  und  der  Erde''  :  der  durchnässte 
Boden.  Str.  7,  '•' Der  kleine  schwarze  feurige  Bauer '' 
ist  als  ein  wirklich  auf  dem  Wege  erblickter  aufzu- 
fassen. "Vater  Bromius  ■'  :  Bacchus.  Str.  8  :  eine 
Art  Gedankenfiucht  ist  für  die  Improvisation  char- 
akteristisch. Die  "  Musen  und  Charitinnen,"  kaum 
angerufen,  sind  Begleiterinnen  geworden  ;  die  Nen- 
nung des  Bromius  führt  zu  seiner  Anrede,  da  der 
duchnässte  Dichter  sich  nach  dem  wärmenden  Trunk 
sehnt  :  höchster  Schwung  der  Poesie  und  realistische 
Wiedergabe  der  Stimmung  unmittelbar  verschwistert. 
Str.  9,  "Mittelpunkt"*:  ein  Lieblingsausdruck  aus 
den  ästhetischen  Theorien  des  jungen  Goethe,  hier 
ohne  Vermittlung  herausgeschleudert.  Str.  11, 
•'Tändelnden  ihn"  :  wieder  jener  Latinismus.  Die 
folgenden  Verse  erfüllt  von  Erinnerungen  an  Dicht- 
ungen des  Anakreon,  Theokrit,  Horaz. — Der  Schluss 
kehrt  wieder  von  der  den  Wanderer  geleitenden  Muse 
zur  prosaischen  Wirklichkeit  zurück. 

20.  Seefahrt:  1776  entstanden,  als  die  grosse  Wendung 
im  Leben  des  Dichters  auch  wohlwollende  Freunde 
mit  Sorge  erfüllte  (v.  Loeper).  Inhaltlich  stehen 
"  Meeresstille  "  und  "  Glückliche  Fahrt  "  nahe. 
Str.  2,  "Rückkehrendem"  :  Latinismus.  Str.  3, 
"entjauchzt"  :  weckt  durch  Jauchzen.  Str.  4, 
"  Einschiffmorgens  "  :  Morgen  des  EinschifTens. — 
Die  Meisterscliaft  in  Beherrschung  der  neugewon- 
nenen Form  der  "freien  Riiytiimen  "  zeigt  sich 
besonders  in  der  Schilderung  des  heranbrausenden 
Sturms. 

21.  Prometheus  :  1774  gedichtet,  ein  selbständiger 
Monolog  neben  dem  begonnenen  Drama.  Die 
Stimmung  des  genialen  Individualismus  hat  niemals 
grossartigeren   Ausdruck  gefunden.      Aber  Prome- 

188  Z29 


ANMERKUNGEN 

theus  ist  nicht  schlechtweg  Goethe  1 — Berühmt  ward 
die  Dichtung  noch  durch  die  Rolle,  die  sie  in  dem 
Kampf  zwischen  den  Philosophen  Mendelssohn  und 
Jacobi  um  Lessings  Spinozismus  spielte  :  Lessing 
hatte  das  Gedicht  seinem  Inhalt  nach  gebilligt,  was 
den  Theisten  Alendelssohn  entsetzte. 

S.  23.  Gani/med  '.  etwa  gleichzeitig  oder  (nach  Köster) 
schon  etwa  um  1772.  Das  aus  der  Frühlingserde 
dringende  Lebensgefühl  hebt  den  Dichter  gleichsam 
physisch  in  die  Höhe,  wie  Ganymed  zu  Zeus 
emporgetragen  wurde. 

S.  24.  Gräfizen  der  Menschheit  :  gleichsam  ein  Widerruf 
des  '•'  Ganymed,"  in  dem  der  begeisterte  Mensch  sich 
''aufwärts  hob."  Str.  2,  "Berührt  mit  dem  Scheitel 
die  Sterne"  :  horazische  Reminiscenz. 

S.  26.  Das  Göttliche  :  1775?  Dem  didaktischen  Ton  ent- 
sprechend sind  die  freien  Rhythmen  zu  gleichartigeren 
Strophen  geordnet.  Str.  7,  "Er  kann  dem  Augen- 
blick Dauer  verleihen  "  :  in  Goethes  Ausdruckweise 
das  besondere  Vorrecht  des  verewigenden  Dichters. 

S.  28.  Lili's  Park  :  natürlich  aus  der  Zeit  des  Kampfes 
mit Lilis Koketterie.  Str.  6,  "  Filetschurz"  :  "Knoten 
einer  weiblichen  Handarbeit"  (v.  Loeper). 

S.  32.  Liebebed'iirfniss  :  2  Nov.  1776  unter  dem  Titel  "  An 
den  Geist  des  Johannes  Secundus,"  des  durch  sein 
Gedichtbuch  " Basia " ("Küsse ") berühmten  Human- 
isten. 

S.  33.  Morgenklagen  :  "aus  der  Zeit  der  ersten  Verbin- 
dung mit  Christiane  Vulpius,  dem  Hochsommer 
1788;"  inhaltlich  den  "Römischen  Elegien"  nahe 
verwandt. 

S.  35.  Der  Besuch  :  gleicher  Zeit  und  gleicher  Art. 
Wir  besitzen  eine  Handzeichnung  Goethes,  die 
Christianen  so  auf  dem  Sofa  schlafend  darstellt. 
Str.  5,  "Hielte"  :  veraltete  Form. 

S.  37.  Der  Becher  :  Sept.  1771.  Str.  4,  "  Lida  "  :  Kose- 
form für  Frau  v.  Stein. 

S.    38.     Nachtgedanken  :  20  Sept.  1781  an  Frau  v.  Stein. 

S.   38.     An  Lida  :  Okt.  1781  an  Frau  v.  Stein. 

S.  38.  Im  Vorübergehn  :  1813,  als  Goethe  sein  25  jähriges 
Jubiläum  mit  Christiane  feiern  konnte.  Volkstüm- 
lich, dem  "  Heideröslein  "  zu  vergleichen;   auch  die 

130 


ANMERKUNGEN 

ungenauen  Reime  wie  "  schleuning  :  heimlich"  sind 
wohl  archaisirender  Absicht  zuzuschreiben. 

S.    39.      Aus  Wilhelm  Meister  ',   1783-95  entstanden. 

S.  40.  So  lasst  mich  scheinen .. .  :  aus  der  Situation  im  Roman 
zu  verstehen  :  Mignon  ist  in  ein  weisses  Gewand 
gekleidet,  '"'Den  Gürtel  und  den  Kranz"  :  Symbole 
der  Jungfräulichkeit. — Im  übrigen  zeigen  grade 
diese  tief  ergreifenden  Gedichte,  mit  welcher  Kraft 
Goethe  in  seinen  Figuren  allgemein  menschliche 
Empfindungen  restlos  auszudrücken  verstanden  hat. 

S.  42.  Philine  :  die  Repräsentantin  heiterer,  ja  lockerer 
Lebensanschauung  im  Roman.  Str.  7,  ''Jeder  Tag 
hat  seine  Plage "  :  ein  bekanntes  Bibelwort  halb 
parodistisch  fortgesetzt. 

S.  44.  Antiker  Form  sich  nähernd  :  ungefälliger  Gesamttitel 
für  eine  Reihe  von  Dichtungen  in  antiken  Massen, 
zumeist  Epigrammen  im  alten  Sinn  des  Wortes. 
"Erwählter  Fels"  :  auf  einem  Stein  im  Weimarer 
Park  noch  heut  zu  lesen.  ''Schweizeralpe"  :  1797 
auf  der  Schweizerreise  gedichtet ;  damals  begann  der 
Dichter  zu  ergrauen. 

S.  46.  An  Personen  :  die  Überschrift  ist  nicht  schön. 
Aber  da  der  Dichter  seine  poetischen  Hervorbringun- 
gen sonst  als  "  Bruchstücke  einer  grossen  Beichte" 
zusammenfasste,  musste  er  wohl  die  abgrenzen,  die 
einer  mehr  äusserlichen  Anregung  ihr  Dasein  ver- 
danken. Freilich  befinden  sich  unter  diesen  auch 
Dichtungen  von  persönlichstem  Charakter,  wie 
gleich  "  Ilmenau." 

S.  46.  Ilmenau.  "Am  3  Sept.  1783  "  Goethe  hatte  sich 
bemüht,  in  Ilmenau,  wo  sonst  der  Herzog  gern  zur 
Jagd  weilte,  das  alte  Bergwerk  wieder  in  Betrieb  zu 
bringen.  Nun  stand  dessen  Wiedereröffnung  bevor  : 
das  gab  wohl  den  äussern  Anlass  zu  der  herrlichen 
Dichtung.  Der  Dichter  übersieht  bei  dieser  Gele- 
genheit sein  ganzes  bisheriges  Wirken  in  den  Landen 
des  Herzogs;  als  seine  eigentliche  Aufgabe  erscheint 
ihm  die  Einwirkung  auf  den  Fürsten,  aus  dessen  vom 
Ungestüm  verwirrter  Seele  das  edle  Metall  heraus- 
zuholen ist."  Bedenkt  man,  wie  diese  Verse  sich 
unmittelbar  an  den  Herzog  selbst  richten,  so  erstaunt 
man  über  den  tapfern  Freimut  des  Mannes,  den  man 


ANMERKUNGEN 

so  oft  als  unterwürfigen  Höfling  zu  schildern  gewagt 
hat, — Die  poetische  Situation   ist  die,  dass  nach  der 
Anstrengung    einer    Jagd    der    Herzog    mit    seinem 
Gefolge  im  Walde  ausruht  ;   Goethe  sitzt  an  dem  an- 
gezündeten Herdfeuer  und   betrachtet  nachdenkend 
die  Gruppe.      Er  erinnert  sich  früherer  Besuche  in 
diesem  Tal.      Str.  z,  •'•'  Erhabner  Berg  "  :  der  Gickel- 
hahn,  auf  dem  das  "  Abendlied '"  entstand;  "sachte 
Hölin  "  :   sanft  ansteigende.      Str.  3  :  Klage  über  die 
übertriebene    Jagdlast    des    Herzogs  ;    sie    kehrt    in 
Goethes  Briefen  wieder.     ''Der  Knappe"  :   nämlich 
der  Bergknappe.      Str.  4,  ••Melodisch":   die  Worte 
fordern  kühn  zur  Würdigung  von  des  Dichters  eigner 
melodischer  Kunst  auf.     Str.  7,  "der  Jäger  wildes 
Geisterheer  ;  "    das    Heer    des     "  wilden     Jägers  ;  " 
"Ägyptier;"  französische  Benennung  der  Zigeuner. 
;  <•'  wie  im  Ardennerwald  "  :  Anspielung  auf  Shake- 
speares •'•'Wie  es  auch  gefällt."     Str.  8  und  9  :  Por- 
traits    zweier  Hofleute,   von    denen  einer   jedenfalls 
Goethes   "  Urfreund,"  v.   Knebel,   ist,   der  die  erste 
Bekanntschaft    mit    dem    Herzog    vermittelt    hatte. 
"Ekstatisch    faul"    :    in  wahrer    Begeisterung    der 
Trägheit,   in    begeistertem   Genuss    des    Nichtstuns. 
Str. 10  iSchilderung  Karl  Augusts.      "  So  war  er  ganz 
und  gar,"  sagte  Goethe  nach  dem  Tode  des  Herzogs 
zu  Eckermann,  •'•'es  ist  darin  nicht  der  kleinste  Zug 
übertrieben."   Str.  11  :  Anrede  an  das  eigne  Selbst  des 
Dichters.    Str.  la,  "Von  fremden  Zonen  "  :  natürlich 
nicht  geographisch  zu  verstehen,  sondern  von  dem 
Exil  aus  rein   poetischer  Lebenstätigkeit.      Str.  13  : 
Selbstanklagen  des  Dichters,  der  sich  so  kühn  an  so 
schwierige  Aufgaben  gemacht.      Str.  14  :  der  Erfolg 
des  "  Götz,"  dem  Goethe  seine    Dichterkrone  ver- 
dankte.    Str.  15  :  das  Gedicht  kehrt  zu  dem  Herzog 
zurück.     "  Durch  enges  Schicksal  abgeleitet  "  :   wie 
Hamlet  durch  eine  zu  grosse  Aufgabe,  ist  der  "dä- 
monisch "  veranlagte    Fürst    durch   deren  Kleinheit 
gefährdet  :  sie  zwingt  ihn  zu  zweckloser  Vergeudung 
seiner  Kräfte;    "Und  was    ihm    das  Geschick..."   : 
Goethe  schrieb  Okt.  1780  an  Lavater  :   "Herrschaft 
wird  niemand  angeboren,  und  der  sie  ererbte,  muss 
sie    so    bitter   gewinnen    als    der   Eroberer."     Man 

132 


ANMERKUNGEN 

denke  auch  an  die  berühmten  Verse  '•'  Was  du  ererbst 
von  deinen  Vätern  hast,  erwirb  es  um  es  zu  be- 
sitzen ;  "  doch  ist  dort  ein  inneres  Aneignen  gemeint, 
hier  eine  unnütze  Bemühung.  Str.  17  :  dass  der 
Herzog  sich  waghalsig  überflüssigen  Gefahren  aus- 
setzte, bildet  ebenfalls  ein  Hauptthema  der  Klagen 
in  Goethes  Briefen  an  Frau  v.  Stein.  Str.  18  :  die 
Vision  schwindet  und  beruhigt  sieht  der  Dichter 
nun  auch  das  Gute  um  ihn  her.  Str.  20,  '•'  der 
Winkel  deines  Landes "  :  Ilmenau  war  eine  wei- 
marische Enklave.  Str.  21  :  •'•'jener  Sämann"  : 
Matth.  13. 

S.  52.  Ddr  IVatidrer  :  in  Wetzlar  1772  entstanden,  ein 
Reflex  der  Wanderungen  des  unruhvollen  Junglings, 
ins  heroische  der  Landschaft  hineinstilisirt.  Das 
Gedicht  gehörte  von  Anfang  an  zu  den  meistbewun- 
derten.— Das  Bild  der  Landschaft  rollt  sich  wie  aul 
einem  Fries  ab  ;  Glieder  :  die  säugende  Frau,  mit 
der  der  Wandrer  spricht;  der  Wandrer  in  Betrach- 
tung der  Tempeltrümmer ;  an  der  Wiege  des 
schlafenden  Knaben;  Gebet;  Abschied. — ••'Diese 
Steine  hast  du  nicht  gefügt  "  :  die  Natur  wandelt 
die  W'erke  der  Kunst  wieder  in  Natur  um,  gleicht 
sie  sich  an.  Diese  Berührungen  von  alter  Kunst 
und  Natur  bilden  den  gedanklichen  Inhalt  des 
Gedichtes,  wie  der  Gegensatz  des  ruhelosen  Wan- 
derers zu  der  idyllischen  Stille  der  an  ihrer  Scholle 
festgewurzelten  Landleute  den  Stimmungsgehalt 
schartet.  (Ahnlich  der  grosse  Gegensatz  von  Ruhe 
und  Bewegung  in  ''Hermann  und  Dorothea.'') 
*•'  Ihr  Musen  und  Grazien  "  :  Wielandischer  Ausruf. 
"Welchen  der  umschwebt..."  :  wie  in  "Wandrers 
Sturmlied  "  latinisirende  Konstruktion  :  quem  tu 
]S/lelpomene... — Der  Schluss  wendet  das  Gedicht  zur 
Allegorie  auf  den  Dichter,  der  über  Gräber  vorwärts 
muss,  über  die  verehrten  Gräber  früherer  Kunst. — 
Ein  herzlich  gefühlter  Wunsch  des  "Unbehausten  " 
als  Sciilussakkord. 

S.  59.  Amor  als  Lands chaftsmahltr  :  von  der  italienischen 
Reise  wie  das  Gedicht  "  Cupiilo,  loser  eigensinniger 
Knabe." — Ein  reizendes  Märchen  in  der  Art  der 
Sage  von  Pygmalion,       \^'ie  in   "Ilmenau"  taucht 


ANMERKUNGEN 

die  helle  Landschaft,  durch  den  Geist  von  dem  Nebel 
befreit,  aus  der  Dämmerung  hervor. 

S.  6l.  Trilogie  der  Leidemchaft  :  nur  die  beiden  letzten 
Gedichte  gehören  innerlich  zusammen ;  das  dritte 
hat  Goethes  Neigung  zu  Trilogien  hinzugesellt, 
weil  es  an  die  Perioden  jugendlicher  Leidenschaft 
erinnert.  Goethe  sagt  i  Dez.  1831  zu  Eckermann: 
*'Dann  wollte  Weygand  eine  neue  Ausgabe  meines 
Werther  veranstalten  und  bat  mich  um  ein  Vorrede, 
welches  mir  denn  ein  höchst  willkommner  Anlass 
war,  mein  Gedicht  an  Werther  zu  schreiben.  Da 
ich  aber  noch  immer  einen  Rest  jener  Leidenschaft 
(zu  Ulrike  v.  Levetzow)  im  Herzen  hatte,  so  gestal- 
tete sich  das  Gedicht  wie  von  selbst  als  Introduktion 
zu  jener  Elegie.  So  kam  es  denn,  dass  alle  drei 
jetzt  beisammenstehenden  Gedichte  von  demselben 
liebesschmerzlichen  Gefühl  durchdrungen  worden 
und  jene  "Trilogie  der  Leidenschaft"  sich  bildete, 
ich  weiss  nicht  wie." 

S.  61.  An  V/erther.  Str.  i:  <' in  der  Frühe"  :  zu  jener 
frülien  Zeit,  da  Goethe  und  Werther  Altersgenossen 
waren.  Str.  2  :  Schilderung  typisclien  Lebenslaufes  ; 
man  vergleiche  die  *•' Orphischen  Urworte."  Str.  5, 
"Ein  grässlich  Scheiden"  :  halb  ironische  Erinne- 
rung an  Werthers  Selbstmord.  "  Gieb'  ihm  ein 
Gott"  :  Anspielung  auf  die  berühmten  Verse  des 
"  Tasso  "  :  "  Und  wenn  der  Mensch  in  seiner  Qual 
verstummt,  gab  mir  ein  Gott  zu  sagen  was  ich 
leide" — Die  Schlussverse  führen  zu  der  "Elegie" 
über. 

S.  63.  Elegie  :  die  sogenannte  Marienbader  Elegie. 
Goethes  Zeugnis  :  "Ich  schrieb  das  Gedicht  un- 
mittelbar als  ich  von  Marienbad  abreiste  und  ich 
mich  noch  im  vollen  frischen  Gefühl  des  Erlebten 
befand.  Morgens  acht  Uhr  auf  der  ersten  Station 
schrieb  ich  die  erste  Strophe  und  so  dichtete  ich  im 
Wagen  fort  und  schrieb  von  Station  zu  Station  das 
im  Gedächtnis  Gefasste  nieder,  so  dass  es  Abends 
fertig  auf  dem  Papiere  stand  "  Diese  Angal)en 
scheinen  nicht  völlig  genau,  geben  aber  jedenfalls 
die  Energie  zutreffend  wieder,  mit  der  Goethe  die 
ungeheuere    Gemütserschütterung    dichterisch    ver- 


ANMERKUNGEN 

arbeitete.  Es  handelte  sich  um  die  leidenschaftliche 
Liebe,  die  den  Dichter  zu  der  jungen  Ulrike  v. 
Levetzow  ergriffen  hatte.  Str.  6  :  der  höcliste 
Ausdruck  der  verzweifelnden  Leidenschaft,  in  dem 
alles  zu  wanken,  ja  zu  vergehn  scheint,  was  der 
Greis  in  einem  langen  Leben  als  die  selbstverständ- 
liche Grundlage  aller  Existenz  angesehen.  Str.  7  : 
wiederum  die  Vision  der  Geliebten,  wie  sie  aus  der 
erregten  Stimmung  körperhaft  hervorgezaubert 
wird.  Str.  13,  '"'Dem  Frieden  Gottes..."  :  Paulus 
an  die  Phillipper  4,  7.  Str.  23,  ''Pandoren"  : 
deren  Büchse  als  verhängnisvolles  Geschenk  alle 
Übel  enthielt. 

S.  68.  Aussöhnung  :  Marienbad  19  Aug.  1823.  Vor 
allem  hatte  das  Klavierspiel  der  Virtuosin  Fr.  v. 
Szymanowska  ihn  begeistert  und  beruhigt.  Die 
melodische  Überwindung  des  grenzenlosen  Schmer- 
zes im  Liede  hat  kein  ergreifenderes  Denkmal  als 
dies  Gedicht  gefunden,  das  in  seinem  unmittelbaren 
Anschluss  an  das  vorige  das  wirklich  Erlebte  un- 
mittelbar mit  gewaltiger  Kraft  in  die  Sphäre  des 
poetischen  Erlebnisses  hebt. 

S.  68.  Aolsharfen  :  Sommer  1882  ;  die  beliebte  Spiel- 
erei der  Äolsharfen,  an  Bäumen  befestigter  Saiten, 
die  der  Wind  zum  Tönen  brachte,  wird  von  Goethe 
symbolisch  umgedeutet  auf  jene  Stimmen,  die  die 
Gemütserregung  aus  der  Natur  heraushört.  Die 
Träne  erscheint  auch  hier  als  einzig  mögliche 
Losung  der  ungeheuren  Spannung. 

S.  70.  Mai  :  2  Januar  1818.  Ein  Bild  von  Corot! 
Amoretten  durchfliegen  den  wunderschönen  Früh- 
lingstag. 

S.  71.  Zivischen  beiden  fVe/ten  :  aus  der  Zeit  der  Liebe 
zu  Frau  v.  Stein  und  an  sie  gerichtet  ;  sie  und 
Shakespeare  als  Schutzgötter  seines  irdischen  und 
geistigen  Lebens. 

S.  71.  Gott  um/  Welt  :  Gedankendichtung  des  Greises, 
vorzugsweise  mit  Schelling  übereinstimmend  ;  spino- 
zistisch  schon  im  Titel  :  '^  Jeus  sive  natura/  " 

S.  71.  Proamion  :  Anruf  Gottes,  feierlich  theologisch 
gehalten.  Str.  2,  "Du  findest  nur  Bekanntes..."  : 
weil  "alles  Vergängliche   nur  ein   Gleichnis,"  nur 

135 


ANMERKUNGEN 

Abglanz  des  Unfassbaren  ist.  "Hat  schon  am 
Gleichniss"  :  '«Am  farbigen  Abglanz  haben  wir  das 
Leben,"  wie  es  im  "'Faust"  heisst...  Str.  3,  '■  Was 
war  ein  Gott.,."  :  die  berühmte  Erklärung  gegen 
einen  ausserweltlichen  Gott. 

S.  72.  Weltseele  :  Wohl  1881-2;  zuerst  '«Weltschö- 
pfung"" genannt.  Es  ist  ein  Gegenstück  zum 
Schluss  der  "Helena"  im  >'•' Faust,"  w^o  sich  die 
beseelenden  Kräfte  der  Natur  wieder  in  sie  auflösen  : 
so  verteilen  sie  sich  hier  nach  allen  Regionen  und 
erfüllen  es  mit  Leben.  Str.  5,  "Den  wandelbaren 
Flor"'  :  die  Wolken.  Str.  6,  "Das  Wasser  will 
grünen  "  :  "'  will  Leben  zeugen." 

S.  73.  Dauer  im  Wechsel  :  etwa  gleichzeitig.  Str.  2, 
"Ach.  und  in  demselbem  Flusse..."'  :  ein  Spruch  des 
Heraklit,  der  den  unaufhörlichen  Fluss  der  Dinge 
ausdrückt.  Alles  wandelt  sich  ;  nur  dem  Dichter 
ist  es  gegeben,  das  Vorüberfliehende  festzuhalten, 
dem  Moment  Dauer  zu  verleihen. 

S.  75.  Eins  und  Alles  \  Okt.  1821.  Der  Geist  des  Ein- 
zelnen, des  Forschers  oder  Dichters  wird  jenen 
Naturseelen  verglichen,  die  in  unaufhörlichem 
Wandel  die  Welt  durchfliegen  und  beleben.  Die 
Sehnsucht  Werthers,  sich  im  Universum  aufzulösen, 
um.  der  drückenden  Schranke  Individualität  ledig  zu 
werden,  kehrt  bei  dem  Greis  wieder,  aber  hofl^end, 
wo  Werther  klagte! — "'Weltseele"  :  im  Anschluss 
an  Schellings  Terminologie  die  Gesamtheit  der 
belebenden  Kräfte  oder  ihre  Quintessenz.  Die 
beiden  letzten  Verse  werden  von  dem  nächsten 
Gedicht  widerrufen. 

S.  76.  Vermacht niss.  Eckermann  1 2  Feb.  1 829  :"' Goethe 
lieset  mir  das  frisch  entstandene,  überaus  herrliche 
Gedicht  :  Kein  Wesen  kann  zu  nichts  zerfallen. 
Ich  habe,  sagte  er,  dieses  Gedicht  als  Widerspruch 
der  Verse  :  -denn  alles  muss  zu  nichts  zerfallen, 
Avenn  es  im  Sein  beharren  will,'  geschrieben, 
welche  dumm  sind  und  welche  meine  Berliner 
Freunde  bei  Gelegenheit  der  naturforschenden 
Versammlung  zu  meinem  Arger  in  goldenen 
Buchstaben  ausgestellt  haben."  Tatsächlich  han- 
delt es  sich  nur  um  eine  stärkere  Betonung  der  im 

136 


ANMERKUNGEN 

Wechsel  beharrenden  Individualität.  Es  ist  wirk- 
lich das  Vermächtnis  seiner  letzten  Philosophie, 
deshalb  auch  in  pathetischem  Tone  vorgetragen, 
der  doch  die  Anwendung  selbst  ein  wenig  prosai- 
scher Kunstausdrücke  nicht  verschmäht.  Str.  i, 
'•'Das  Sein  ist  ewig"  :  eben  jene  Weltseele  des 
vorigen  Gedichts.  Str.  2  und  3  im  Anschluss  an 
Kant  :  "  der  bestirnte  Himmel  über  mir  und  das 
moralische  Gesetz  in  mir  "  als  die  beiden  erhaben- 
sten Dinge.  Parallelismus  des  Kosmos,  der  Welt 
mit  ihrem  geordneten  Aufbau,  und  des  Mikrokos- 
mos, des  Menschen.  Ebenso  oben  S.  72  :  *'  Im 
Innern  ist  ein  Universum  auch."  Str.  4  :  '"'die 
Sinne  trügen  nicht!  "  Str.  6  :  •'•'Geselle  dich  zur 
kleinsten  Schaar  "   :  der  der  Auserwählten. 

S.  77.  Melamorphosi  der  Thiere  :  ungewissen  Ursprungs. 
— Auch  hier  wird  die  Dauer  im  Wechsel  verkündet  : 
wie  durch  alle  Metamorphosen  hindurch  die  Art 
der  Tiere  sich  behauptet — womit  die  Grenze  von 
Goethes  •'*'  Darwinismus  "  ausgesprochen  ist. — 
"Zweck  sein  selbst  ist  jegliches  Thier  "  :  Ableh- 
nung der  Teleologie,  die  alle  Tiere  zur  Nahrung  für 
andre  und  schliesslich  zum  Besten  des  Menschen 
erschaffen  sein  lässt.  '•'  Und  die  seltenste  Form 
bewahrt  im  Geheimen  das  Urbild"  :  der  Gedanke 
einer,  lediglich  theoretischen,  Urpflanze,  einer  allen 
wechselnden  Gestaltungen  zu  gründe  liegenden 
'•'  Urpflanze."  "Doch  im  Innern..."  :  der  "  Bildungs- 
trieb," der  entwickelnd  wirkt. 

S.  80.  Die  Reliquien  Schillers  :  so  nennt  Goethe^  das 
Gedicht  an  Zelter,  24  Okt.  1827;  sonst  die  Über- 
schrift :  "Bei  Betrachtung  von  Schillers  Schädel." 
17  Sept.  1826,  als  der  Schädel  in  das  Piedestal  der 
Danneckerschen  Schillerhüste  auf  der  Weimarer 
Bibliothek  niedergelegt  wurde. ..Die  Terzinen  sind 
vielleicht  symbolisch  für  das  Ineinandergreifen  der 
Glieder  im  menschlichen  Körper  gemeint.  Die 
ersten  Worte  erinnern  an  die  Hamlets  auf  dem 
Kirchhof.  Die  Schlussverse  enthalten  wieder  jene 
pantheistiche  Anschauung  von  dem  Dauer  des 
Göttlichen  durch  allen  Wechsel  der  Erscheinungs- 
formen hindurch. 

137 


ANMERKUNGEN 

S.  8i.  Ur-worte.  Orphisch.  Es  gelüstet  den  Greis,  die 
Summe  seiner  Welterkenntnis,  soweit  sie  das 
Menschenschicksal  betrifft,  in  geweihter  Form 
niederzulegen  ;  er  wählt  das  Kleid  des  uralten 
mystichen  Sängers,  Das  Gedicht  entsteht  Okt. 
1817  unter  Mitwirkung  mythologischer  Studien — 
Der  Lebenslauf  wird  als  ein  fest  geformtes  Natur- 
produkt aufgefasst,  der  durch  fünf  notwendige 
Entwicklungsstufen  hindurchgehe.  Die  Geburt 
giebt  die  unveränderliche  Grundlage  :  die  Indivi- 
dualität erscheint  als  ein  nicht  weiter  aufzulösendes 
"Urphänomen."  Dazu  gesellt  sich  dann  die  Summe 
der  zufälligen,  d.  h.  vom  Wesen  des  Individuums 
unabhängigen  Einflüsse.  Die  Reife  der  Persönlichkeit 
offenbart  sich  sodann  in  ihrem  Begehren  der  Aussen- 
welt  gegenüber,  bis  das  Schicksal  zur  Entsagung 
zwingt ;  doch  bleibt  die  Hoffnung  auf  immer  neue 
Gestalten  des  individuellen  Lebens.  Str.  i  :  das 
Urphänomen  der  angeborenen  Eigenschaften  astro- 
logisch poetisirt.  "Geprägte  Form"  :  wieder  die 
Lehre  von  der  Unvergänglichkeit  des  Lebendigen. 
Str.  3,  '<Er  "  :    Eros. 

S.  83.  Hotvardi  EhrengeJächtn'iss,  April  oder  Mai  1821 
zum  Gedächtnis  des  Begründers  der  wissenschaft- 
lichen Meteorologie  verfasst,  nachdem  Goethe  schon 
15  Dez.  18 17  die  von  Howard  gekennzeichneten 
Wolkenformen  (Cirrus,  Stratus,  Cumulus)  in  Verse 
gesetzt  hatte.  Str.  i,  '"Camarupa"  :  die  indische 
Wolkengöttin. — Die  Wolken  als  Sinnbild  des  ewig 
Wechselnden.  Str.  2  :  wieder  eine  Anspielung  auf 
eine  bekannte  Hamletstelle. 

S.  84.  Lebensgenuss  :  1821. — Schlusspoetik  ;  abschliessende 
Rückblicke  auf  Kunst  und  Lebenskunst  unter  Hin- 
blick auf  die  zeitgenössische  Kritik.  "Was  den  Edlen 
misst"  ;  was  den  Massstab  für  den  Edlen  hergiebt ; 
"dem  Geschlecht"  ;  ilirer  eignen  Generation,  mit 
der  die  Narren  vergehn. 

S.  85.  Zahme  Xenien  :  so  im  Gegensatz  zu  den  "  wilden  " 
Xenien  des  Kampfes  gegen  den  Dilettantismus 
genannt,  übrigens  vielfach  schärfer  als  Goethes 
damalige  Xenien;  lehrhaft-lyrischer  Natur.  Goethe 
liielt  diese  Improvisationen  des  Ärgers  oder  "Über- 

138 


ANMERKUNGEN 

muts  "  in  Schreibtisch  zurück;  sie  wurden  aus  dem 
Nachlass  veröffentlicht.  ''Vom  Vater..."  :  eine 
scherzhafte  Analyse  der  docli  unteilbaren  Individua- 
lität, wie  manche  gleichzeitige  Sprüche  gegen  die 
Originalitätssucht  der  jungen  Generation  gerichtet. 
"  Theilen  kann  ich  nicht  das  Leben"  ;  wiederum  die 
Lehre  von  der  Unveränderlichkeit  der  Individualität 
durch  allen  Wechsel  der  "Häutungen,"  der  Reife- 
formen hindurch. 

S.  86.  Versireute  Lyrik  \  Epos  und  Drama  des  Greises 
geben  ihm  Gelegenheit  zu  lyrischen  Ergüssen  von 
unvergleichlicher  Schönheit,  wie  es  sonst  das  Leben 
tat. 

S.  86.  Aus  Pandora.  "Der  Seligkeit  Fülle..."  :  die  heisse 
Lebens-  und  Liebessehnsucht  des  reifenden  Jünglings 
wird  von  dem  Greis  noch  einmal  mit  wunderbarer 
Kraft  ausgesungen.  Die  Bewegung  der  Form  ist 
freier  dem  Inhalt  angepasst,  als  sonst  in  den  meisten 
Altersdichtungen.  Ein  Reflex  der  letzten  Liebe  ist 
schwerlich  zu  verkennen.  Str.  i  :  "das  Ewig- 
Weibliche  zieht  uns  hinan." — "Wer  von  dem 
Schönen  zu  scheiden  verdammt  ist"  :  das  ergreifende 
Abschiedslied  an  die  unüberwindliche  Schönheit  I 

S.  88.  Aus  Wilhelm  Meisters  Wanderjahren  :  die  beiden 
sich  antwortenden  Strophen  sind  glossenartig  auf 
dieselben  Reime  gestellt.  Wie  hierin  zeigt  sich 
romantischer  Einflussauch  in  dem  starken  Gebrauch 
des  romantischen  Lieblingswortes  "  Wunder." 

S.  89.  Aus  Faust,  zxveitem  Thcil.  Trauergesang  :  auf  Lord 
Byron.  Ued  des  Lynceus  :  vielleicht  das  schönste 
Lied  des  goethischen  Greisenalters.  Wie  in  jenem 
Gesang  aus  "Pandora"  von  der  Schönheit  der  Frau, 
nimmt  er  hier  von  der  des  Lebens  tief  bewegten 
Abschied.  Der  Türmer  als  Abbild  des  auf  höchster 
Warte  stehenden  Dichters. 

S.  90.  Westöstlicher  Divan  :  die  Selbststilisirung,  mit  der 
Goethe  sich  der  allzuhoch  angewachsenen  Kultur 
erledigt  und  sich  in  den  nur  unmittelbar  von  der 
Natur  belehrten  Sänger  des  Orients  wandelt,  macht 
ihn  noch  einmal  für  eine  reiche  Produktion  lyrisch- 
betraciitender  Poesie  fruchtbar.  Wir  liaben  hier  nur 
rein     lyrische     Stücke     auswählen     können;      der 

139 


ANMERKUNGEN 

"Divan  "  erhält  seinen  eigentümlichsten  Wert  aber 
grade  durch  die  eigentümliche  bunte  Mischung 
seiner  Elemente — auch  dem  dichterischen  Rang  nach 
ist  keine  Sammlung  Goethes  so  ungleich  wie  diese. 

S.  90.  Hegire  oder  Hedschra  :  die  epochemachende 
Flucht  des  Propheten  Mahomed,  von  der  der  Islam 
seine  Zeitrechnung  datirt.  Str.  i  ;  Anspielung  auf 
die  gewaltigen  Zeitereignisse  der  napoleonischen 
Periode.  ••Chiser"  :  der  Vertreter  ewiger  Jugend 
in  der  morgenländischen  Legende.  Str.  5  :  Hafis, 
der  berühmteste  Lyriker  des  Orients,  dessen  von 
Hammer-Piirgstall  übersetzte  Gedichte  zu  den 
wichtigsten  Fermenten  des  ''Divans"  gehören, 
wird  zum  Führer  in  der  orientalischen  Dichtung 
gewählt.  Str.  6,  "die  Huris"  :  die  himmlischen 
Jungfrauen  des  islamitischen  Paradieses. 

S.  9z.  Selige  Sehnsucht  :  bei  diesem  mystischen  Gedicht 
ist  an  die  Allsehnsucht  von  '■  Eins  und  Alles  "  zu 
erinnern,  freilich  aber  auch  zu  beherzigen,  dass 
Goethe  sich  hier  mehr  noch  zum  Interpreten  orien- 
talischer Mystik  als  eigner  Gefühle  macht! 

S.  94.  An  Suleika.  Der  Name  der  persischen  Geliebten 
gilt  im  "Divan  "  der  Freundin  Marianne  v.  Wille- 
mer. Str.  I  :  das  Rosenöl  wird  aus  Tausenden  von 
Rosen  hergestellt.    Str.  3,  '•Bulbul"'  :  die  Nachtigall. 

S.  95.  Gingo  biloba  :  allegorische  Ausdeutung  des  eigen- 
tümlich gespaltenen  Blattes  dieser  Pflanze. 

S.  95.  Volk  und  Knecht...  :  auch  hier  beschäftigt  den 
Dichter,  wenn  auch  in  spielender  Form,  das  Pro- 
blem von  Dauer  und  Verwandlung.  Str  6, 
Ferdusi,  Motanabbi   ;  orientalische  Dichter. 

S.  96.  Hatem.  Unter  diesem  Namen  versteckt  Goethe 
in  anmutigem  Reimspiel  (Str.  3)  seinen  eignen 
Namen. 

S.  97.  An  'Vollen  Büschelziveigen...  :  ging  dem  Dichter 
unter  den  Kastanien  der  Heideli)erger  Schlosster- 
rasse auf. 

S.  98.  Wiederßmlen  ;  die  grossartige  Anwendung  orien- 
talisch-pantheistisch  Naturphilosophie  zur  Verherr- 
lichung der  Geliebten.  Str.  2  ;  der  Schmerz  der 
uranfänglichen  Trennung.  Str.  4,  "Sie  entwi- 
ckelte ■'  ;  das  Wort  noch   prägnant  genommen  ;   sie 

140 


ANMERKUNGEN 

wickelte  aus  dem  Trüben,  Farblosen  ein  helle« 
Farbenspiel.  Der  Mythos  Piatons  von  der  Liebe 
als  Wiedervereinig'uno-  der  einstmals  2:etrennten 
Elemente  leise  berührt. 
S.  99.  In  tausend  Formen  :  der  Pantheismus  der  Liebe  in 
geistreichstem  Ausdruck,  in  Anlehnung  an  die 
orientalische  Verherrlichung  des  einen  Gottes  unter 
tausend  Namen. 
S.  100.  Vermächtniss  altpersischen  Glaubens.  Der  Dicliter 
Tersetzt  sich  aus  dem  Kreis  der  Mahomedaner  in  den 
der  persischen  Feueranbeter  Str.  3,  "Darnawend"  : 
die  iiöchste  Spitze  des  Eiburs  am  Kaspischen  Meer. 
An  ihn  knüpfen  sich  viele  Wundersagen.  Str.  4, 
"Bogenhaft  hervorhob*'  :  die  aufsteigende  Sonne 
beschreibt  einen  Bogen  am  Horizont.  Str.  16, 
'•Pambeh"  :  Baumwolle.  Str.  19,  '•' Senderud  "' :  der 
Strom  an  dem  Ispahan  liegt. 
S.  103.  Einlass.  Der  Dichter  benutzt  die  Maske  des 
islamischen  Ketzers,  um  sich  mit  den  Anforderungen 
heimischer  Orthodoxie  auseinander  zusetzen. 

S.  IC4.  Lasst  mich  iveinen  \  der  unmittelbare  Ausdruck 
starker  Empfindung  als  ein  weiteres  befreiendes 
Geschenk  ursprünglicherer  Verhältnisse. 

S.  105.  Chinesisch-deutsche  Jahres-  und  Tageszeiten.  Der 
Dichter,  durch  neue  Lektüre  angeregt,  sucht  sich 
die  Gemeingiltigkeit  seiner  Empfindungen,  wie  einst 
an  persischen,  so  jetzt  an  chinesischen  Zuständen  zu 
vergegenwärtigen,  die  ihm  das  Bild  alter  gefestigter, 
reinlicher  Kultur  geben.  III.  :  eine  syml)olische 
Anwendung  der  geliebten  Meteorologie. 

S.  106.  Abschiedsklänge  :  unter  diesem  Titel  fasse  ich  die 
letzten  Dichtungen  von  persöiilicliem  Charakter 
zussammen.  '•  Du  versuclist...'' :  unter  dem  unmittel- 
baren Eindruck  Christianens  Todes  verfasst. — "Ein 
rascher  Sinn..."'  :  abwägendes  Urteil  des  Liebenden. 

S.  106.  Ein  freundlich  Wort...  \  in  erwiderung  einer 
Zusendung  von  Lord  Byron. 

S.  107.  An  Lora  Byron  :  nach  seinem  Tod  ;  ein  anderer 
Threnos  in  den  zweiten  Teil  des  '•' Faust"  eingelegt ; 
8.  o. 

S.  107.  An  die  neunzehn  Freunde  in  England  :  auf  Carlyles 
Veranlassung  hatten   ihm  19  englische  Verehrer  ein 

141 


ANMERKUNGEN 

Petschaft  überschickt,  das  eine  sich  in  den  Schwanz 
beisende  Schlange  darstellte  und  Goethes  Worte 
trug  <<Ohne  Hast,  ohne  Rast."  Goethe  umschreibt 
nun  diese  seine  eigenen  Worte. 
S  io8.  Dornburg  :  der  letzte  Cykius  goethischer 
Gelegenheitsdichtung. 


ENDE    DES    ZWEITEN    BANDES 


14a 


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