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Full text of "Die Mode; Menschen und Moden im achtzehnten Jahrhundert. Nach Bildern und Stichen der Zeit ausgewählt"

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Antobte  Watteau,  Iris 


Die  Mode.  18.  Jatrh.  1 


DIE    MODE 

Menschen   und  Moden 
im    achtzehnten  Jahrhundert 

Nach  Bildern   und  Stichen   der  Zeit   ausgewählt  von 

Dr.  Oskar  Fischel 

Text  von 

Max  von  Boehn 


Zweite  verbesserte  Auflasre 


MÜNCHEN  /  BEI  F.  BRUCKMANN  A.-G. 


Alle  Rechte,  besonders  das  für 
fremdsprachliche  Ausgaben,  vorbehalten 


Klischees  und  Druck  von  F.  Bruckmann  A.G.,  München  1919 


Das  Bild  der  Mode  menschlich  und  ohne  Verzerrung  zu 
geben,  hat  dieses  Bändchen  sich  zum  Ziel  gesetzt.  Der 
Text  schildert  als  Parallele  dazu  das  Leben  in  seinen  geistigen, 
politischen  und  künstlerischen  Faktoren,  kurz  alles,  was  die 
Abbildungen  schuldig  bleiben  müssen.  Ganz  ineinander  auf- 
gehen können  Bild  und  Wort  hier  naturgemäß  nicht.  Niemand 
wird  vernünftigerweise  zu  allem,  was  an  kulturellen  Regungen 
einer  Zeit  besprochen  wird,  eine  Illustration  aus  der  Mode 
erwarten  dürfen,  so  wenig,  wie  es  notwendig  scheint,  zu 
einem  Bilde,  das  sich  von  selbst  erklärt,  nochmals  eine 
Paraphrase  in  Worten  zu  geben. 

Nur,  wer  Text  und  Bild  als  ein  Ganzes  nimmt,  wird 
das,  was  der  Titel  verspricht  —  »Menschen  und  Moden«  — 
finden. 

Für  eine  kurze  Spanne  Zeit  ist  hier  versucht,  was  für 
die  gesamte  Kostümgeschichte  geleistet  werden  sollte:  die 
äußere  Erscheinung  einer  Epoche  im  Spiegel  ihrer  Kunst 
zu  geben,  aufrichtig,  aber  ohne  die  Schärfe  oder  Ueber- 
treibung,  die  bisher  fast  stets  in  Kostümgeschichten  beliebt 
worden  ist. 

Denn  nicht  die  Kuriosa  und  Absonderlichkeiten  in 
dem  Bilde  früherer  Zeiten,  so  wenig  wie  lokale  Besonder- 
heiten sollte  man  suchen,  sondern  das  Typische,  Normale 
und  gesetzmäßig  Entwickelte  der  Tracht.  Wer  sich  wirklich 
mit  Empfinden  und  Gehaben  einer  Epoche  vertraut  machen 
kann,    wird  auch  für  die  unserem  Gefühl  widersprechenden 


2076800 


Formen  der  älteren  Moden  nicht  die  besser  wissende  Kritik 
und  den  Spott  erübrigen  können,  in  denen  lange  Zeit  das 
Interesse  an  diesem  Teil  der  Kulturgeschichte  sich  erschöpft 
hat.  So  wurde  hier  versucht,  neben  der  Mode  und  der 
geistigen  Erscheinung  der  Zeit  zugleich  soviel  wie  angängig 
von  der  Szenerie  des  Lebens  in  Wohnungen,  Möbeln,  Gärten 
anzudeuten,  kurz  die  Kunst  als  Zeugin  für  das  gesamte 
Leben  aufzurufen.  Denn  die  Maler  sind  die  unbefangensten 
und  zuverlässigsten  Schilderer.  Die  Illustration  ist  darauf 
bedacht  gewesen,  nur  authentisches  Material,  das  als  Ur- 
kunde für  die  äußere  Erscheinung  der  Zeit  gelten  kann,  zu 
bieten.  Bei  der  Anordnung  desselben  ist  wie  beim  17.  Jahr- 
hundert der  Versuch  gemacht  worden,  eine  möglichst  chrono- 
logische Ordnung  durchzuführen.  In  den  Fällen,  in  denen 
die  Originale  der  Bilder  oder  Stiche  ein  Datum  tragen  oder 
dasselbe  auf  andere  Weise  zu  ermitteln  war,  ist  es  der  Unter- 
schrift hinzugefügt  worden.  Zwischen  diese  zeitlich  fest  be- 
grenzten Bilder  sind  jene  eingeschaltet  worden,  deren  Datum 
nur  annähernd  zu  bestimmen  war.  Dieses  Verfahren  schließt 
Irrtümer  nicht  aus,  wer  aber  die  Schwierigkeiten  der  Materie 
kennt,  wird  die  Arbeit  mit  Nachsicht  aufnehmen. 

Die  Verfasser  möchten  an  dieser  Stelle  Herrn  Dr.  Doege 
auf  das  wärmste  für  die  große  und  selbstlose  Liebenswürdig- 
keit danken,  mit  der  sie  von  ihm  bei  ihren  Studien  über  die 
Mode  gefördert  und  unterstützt  wurden. 

MAX  V.  BOEHN  DR.  OSKAR  FISCHEL 


Für  das  Abbildungsmaterial  sind  die  Vorlagen  besonders  folgenden 
Sammlungen  entnommen : 

der  Freiherrlich LipperheideschenKosiümbibHothek,  dem  K.  Kunst- 
gewerbemuseum, dem  K.  Kupferstichkabinett,  dem  Hohenzollern- 
Museum,  dem  Kaiser-Friedrich-Museum  in  Berlin,  der  K.  Neuen 
Pinakothek,    der    Graphischen  Sammlung,    dem    Nation^lmuseum 
und    der    K.  Residenz  in    München,    der  Bibliolheque  nationale, 
dem  Cabinet  des  Estampes    in   Paris,    dem    British   Museum  und 
dem    South    Kensington    Museum    in  London,    dem  Museum    in 
Versailles,  der  Kaiserl.  Gemäldegalerie,  der  Albertina,  der  Hof- 
bibliothek, der  Galerie  Liechtenstein  in  Wien. 
Auch  an  dieser  Stelle  sei  der  Dank  der   Herausgeber  und  des  Ver- 
lags für  das  Entgegenkommen,   mit  dem  von  staatlicher  und  privater  Seite 
das  Unternehmen  unterstützt  wurde,  zum  Ausdruck  gebracht. 

Ganz  besondere  Dankbarkeit  schulden  Verfasser  und  Verlag  den 
Vorständen  der  Kunstgewerbemuseums-  und  Lipperheideschen  Kostüm- 
bibliothek  urd  des   Kupterstichkabinetts  in   Berlin. 


Chodaiüiecki ,  JJjg 


Chodowiecki,  ijSi 


MENSCHEN    UND    MODEN   IM 
ACHTZEHNTEN  JAHRHUNDERT 


Inhalts-Übersicht 

1 .  Kapitel : 

Politik  S.  I    —  Empfindung  S.  5  —  Rousseau  S.  6  —  Einfluß  Frankreichs 
S.  8  —  Deutsch  und  französisch  S.  12  —   Standesvorurteile  S.  16  —  Rang 
und  Titel  S.  18  —  Die  Bekenntnisse  S.  21    —    Die  Jesuiten  S.  26  —  Er- 
ziehung S.  29. 

2.  Kapitel: 

Die  Moral  S.  38  —  Empfindung  und  Empfindelei  S.  47  —  Klopstock  S.  49 

—  Werther  S.  50  —   Bildungsbedürfnis  S.  52  —   Norden  und  Süden  S.  54 

—  Friedrich  der  Große  S.  58  —  Der  Aberglaube  S.  60  — ■  Abenteurer  S.  66. 

3.  Kapitel: 

Die  Kunst  S.  71  —  Architektur  S.  74  —  Der  Klassizismus  S.  77  —  Romantik 
S.  79  —  Malerei  S.  79  —  Das  Porträt  S.  85  —  Das  Pastell  S.  86  —  Die 
Silhouette  S.  88  —  Das  Interieur  S.  90  —  Das  Mobiliar  S.  94  —  Das 
englische  Möbel  S.  100  —  Das  Briefschreiben  S.  104  —  Gartenkunst  S.  108 
—  Das  Porzellan  S.  iii. 

4.  Kapitel: 

Die  Mode  S.  121  —  Die  Damenmode  S;  124  —  Die  Fontange'  S.  128  — 
Der  Reifrock  S.  130  —  Das  Schnürleib  S.  13S  —  Die  Adrienne  S.  145  — 
Der  Caraco  S.  148  —  Stoffe  und  Farben  S.  148  —  Das  Brautkleid  S.  151 

—  Unterkleider  S.  152  —  Die  Spitzen  und  Wäsche  S.  156  —  Die  Frisur 
S.  158  —  Puder  S.   172  —  Schminke  S.  174    —  Die  Mouches  S.  177  — 

Der  Schuh  S.  178. 

5.  Kapitel: 

Die  Herrenmode  S.  181  —  Gilets  S.  186  —  Das  Beinkleid  S.  186  —  Spitzen 
S.  189  —  Der  Degen  S.  190  —  Hofaniformen  S.  194  —  Der  englische  Anzug 
S.  197  —  Die  Frisur  S.  198  —  Die  Perncke  S.  200  —  Puder  und  Schminke 
S.  206  —  Der  Hut  S.  207  —  Die  Orden  S.  208  —  Kleiderordnungen  S.  209 

—  Uniformierungssucht  S.  2 1 4.  —  Die  Uniform  S.  2 1 7  —  Das  Modejournal  S.  2  20. 

6.  Kapitel: 

Zustände  S.  224  —  Reisen  S.  228  —  Reinlichkeit  S.  232  —  Essen  S.  235 

—  Vergnügungen  S.  241  —  Das  Spiel  S.  244  —  Die  Jagd  S.  246  —  Das 
Theater  S.  248  —  Die  Heilkunde   S.  252   —  Die  Klöster  S.  254   —    Die 

Zeitungen  S.  256. 


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yacques-Andre  Portaii,  Bildnis  einer  Dame 


Die  Mode.   18.  Jährt.   2 


Besser,  Pauker  tind  Trompeter  aus  dem  Königsberger  Krönungswerk  ijoi 

Eine  spätere  Epoche  hat  das  i8.  Jahrhundert  mit  Vorliebe  VoUtik 
das  der  Aufklärung  genannt,  und  wenn  die  Zeitgenossen 
desselben  in  seinen  letzten  Jahrzehnten  von  ihrer  eigenen 
Zeit  sprachen,  so  bezeichneten  sie  sich  mit  Stolz  als  Ange- 
hörige des  »philosophischen«  Zeitalters.  Wie  bedenklich  es 
auch  sein  mag,  einen  Zeitabschnitt  von  solcher  Länge  mit 
einem  Worte  charakterisieren  zu  wollen,  wie  bedenklich  es  zumal 
bei  diesem  vielgestaltigsten  und  an  Gegensätzen  reichsten  Jahr- 
hundert der  Weltgeschichte  ist,  in  dem  sich,  wie  Johannes  Scherr 
so  hübsch  ausgeführt  hat,  in  einer  wahrhaft  kaleidoskopischen 
Buntheit  der  Kontraste  das  kühnste  Denken  und  die  raffinierteste 
Genußsucht,  philisterhafte  Verknöcherung  und  revolutionärstes 
Wollen,  kolossale  Laster  und  reinsterldealismus,  zynischer  Skep- 
tizismus und  kindlichster  Glaube,  verhärtetster  Egoismus  und 
sentimentalste  Schwärmerei  zusammenfanden,  so  scheint  es  uns 
doch  heute  beim  Rückblick  auf  jene  Zeit,  daß  man  mit  Recht 
die  »Aufklärung«  als  die  wesentlichste  und  wichtigstealler  Er- 
scheinungen, die  das  Jahrhundert  geboten,  bezeichnen  darf. 
Die  »Aufklärung«  im  Sinne  der  Befreiung  von  der  Theologie 
zur  Philosophie,  der  Emanzipation  vom  sklavischen  Dogma  zum 
freien    Denken. 

Die  neuen  Wege,   welche  die  Großtat  Luthers  der  Menschheit 
gewiesen,   sind   zwei   Jahrhunderte  hindurch  nicht  von  ihr  be- 


DieMode.  IS.Jahih   2,A. 


Besser,  die  Herren  Hofgerichtsräie  aus  dem  Königsberger  Krönungswerk  lyoi 


gangen  worden.  Die  geistigen  Fesseln,  welche  die  Theologen 
des  Luthertums  in  dieser  Zeit  der  protestantischen  Welt  anlegten, 
waren  nicht  minder  drückend,  nicht  weniger  eng,  als  es  da? 
Lehrgebäude  gewesen,  in  dem  die  katholische  Kirche  vor  Luther 
den  Geist  gefangen  gehalten  hatte.  Erst  das  i8.  Jahrhundert 
ist  reformatorisch  weitergeschritten,  indem  es  sich  der  Führung 
der  Theologie  entzog,  indem  es  von  theologischen  Voraus- 
setzungen völlig  absah  und  sich  der  Erkenntnis  vom  Wesen 
der  Dinge  auf  Wegen  zu  nähern  versuchte,  die  ihre  Richtschnur 
vom  Denken,  nicht  vom  Glauben  empfingen.  Die  neue  Welt- 
betrachtung, welche  der  Menschheit  eine  neue  Weltanschauung 
bescherte,  hat  dann,  als  sie  aus  der  Studierstube  des  Philo- 
sophen auf  den  Marktplatz  trat,  die  hergebrachte  Ordnung  der 
Gesellschaft  in  ihren  Grundlagen  erschüttert,  und  jenen  enormen 
Umschwung  herbeigeführt,  der  die  zweite  Hälfte  des  i8.  Jahr- 
hunderts so  wesentlich  und  so  merkwürdig  von  der  ersten  unter- 
scheidet. 

Wer  heute  an  die  Geschichte  jener  Zeit  herantritt  und  mit 
den  Vorurteilen,  welche  der  Geschichtsunterricht  der  Schule 
uns  zu  vermitteln  pflegt,  das  i8.  Jahrhundert  als  eine  Ein- 
heit zu  begreifen  sucht,  wird  bald  gewahr  werden,  daß  sich 
etwa  zwischen  1740  und  1760  ein  Bruch  vollzieht,  der  das 
Jahrhundert  in  zwei  Hälften  spaltet,  in  zwei  Teile  zerlegt,  die 
von  Grund  aus  verschieden,  zwei  Körper  bilden.  Der  erste 
gehört  in  seiner  Geschichte  und  Kultur  noch  völlig  dem  Mit- 
telalter an.  Er  ist  überlebt  und  tot,  der  zweite  aber  beginnt  die 
neue   Zeit.     Der   Geist,  der  ihn  erfüllte,  ist  noch  lebendig,  sein 


Erbe  nährt  uns  noch  heute.  Die  erste  Hälfte  des  Jahrhunderts 
sieht  im  Fürsten  den  absoluten  Herrscher,  der  in  Sonnenhöhe 
von  seinen  »Subjekten«  entfernt,  für  Wohl  und  Wehe  derselben 
unempfänglich,  für  ihre  Wünsche  unerreichbar  ist.  Der  Adel 
seines  Hofes  ist  seine  Welt,  der  Genuß  der  einziee  Zweck  seines 


Hyaänthe  lügaud,  Ludwig  XI V. 

Daseins.  König  Friedrich  I.  von  Preußen  verbrauchte  für  seinen 
Hof  820000  Taler,  soviel  wie  die  ganze  übrige  Verw^altung 
kostete.  Die  vorzüglichsten  Repräsentanten  dieser  Art  Herr- 
scher sind  in  Frankreich  Ludwig  XV.,  in  Deutschland  August 
der  Starke  und  Max  Emanuel  von  Bayern.  Die  Pracht  ihres 
Hofhaltes,  der  verschwenderische  Luxus  ihrer  Bauten  sind 
in   den  Augen  der  Zeitgenossen  glänzende  Ruhmestitel,  Ver- 


Bonnard,  Dame  7?iit  langem  Schal 

dienste,  der  Unsterblichkeit  wert  und  50  Jahre  später  sind  die 
Könige,  wie  Friedrich  der  Große,  Joseph  IL,  Katharina  von 
Rußland,  stolz,  sich  als  die  ersten  Diener  ihrer  Staaten  fühlen 
zu  dürfen.  Friedrich  II.  nennt  sich  den  roi-philosophe,  Stanis- 
laus  von  Polen  den  philosophe  bienfaisant,  Kaiser  Joseph 
einen  Schätzer  des  Menschengeschlechts.  Ehemals  war  der 
Untertan  nur  geduldet,  weil  er  die  Mittel  zur  Befriedigung  der 
Launen  seines  erhabenen  Herrn  zu  schaffen  hatte,  er  wurde 
nicht  gefragt,  besaß  kein  Urteil  und  erstarb  in  ehrfurchtvollster 
Bewunderung.  Jetzt  bildet  sein  Wohl  den  Angelpunkt  der  Ge- 
danken des  Herrschers,  den  Markstein  seiner  Taten.  Der  Adel 
war  alles  gewesen,  der  Bürger  nichts.  Jetzt  hatte  der  letztere 
sein  Haupt  erhoben   und  setzte  der  Weltklugheit  der  Hofleute 


Bonnard,  Dame  mit  Schürzchen 


duns 


die  Tugend   des  Biedermanns,   dem  berechnenden  Verstand  das 
fühlende   Herz   entgegen. 

Einer  Epoche  der  Aeußerlichkeit,  die  nur  die  Form  geschätzt  Empß, 
hatte,  folgte  eine  solche  der  Innerlichkeit,  die  das  Wesen  suchte 
und  es  in  der  Empfindungssphäre  des  Gefühlslebens  zu  finden 
meinte.  Der  Endzweck  des  Lebens  war  nicht  mehr  der  Genuß, 
sondern  das  Glück,  nicht  länger  die  Befriedigung  der  Lust, 
sondern  die  Erfüllung  der  Pflicht.  Es  war  ein  gewaltiger 
Umschwung  der  Anschauungen,  der  sich  auf  allen  Gebieten 
des  menschlichen  Geistes  geltend  machte,  der  wie  ein  schöpfe- 
risches »es  werde«  die  Wissenschaft,  die  Kunst,  die  schöne 
Literatur  zu  neuem  Leben  erweckte.  Und  diesen  Umschwung 
verdankte   die  Welt  die  Philosophie,  welche  die  Erziehung  der 


Menschheit  der  Theologie  entwunden  hatte,  verdankte  Deutsch- 
landinsbesondere Christian  Wolff,  einem  Denker,  der  in  seinen 
eigenen  Werken  und  mehr  noch  durch  die  zahllosen  Schriften 
seiner  Schüler  seine  Zeitgenossen  zuerst  zu  philosophischem 
Denken  erzog,  zu  einer  Lehre,  deren  Endzweck  die  Beförderung 
der  Tugend,  der  moralische  Fortschritt  war.  Und  wie  er  am 
Beginn  des  Jahrhunderts,  so  steht  am  Ende  desselben  Kant, 
der  einem  zwiespältigen  und  zerrissenen  Volk  in  dem  ehernen 
Pflichtgebot  seines  kategorischen  Imperativs  ein  Fanal  errich- 
tete, dessen  Licht  die  Irrenden  auf  den  rechtem  Weg  zusammen- 
geführt hat. 
Rousseau  Wie  Weitgehend  aber  auch  der  Einfluß  der  Wolff  und  Kant 
auf  die  Bildung  ihrer  Zeitgenossen  gewesen  sein  mag,  tiefer 
im  Innersten  bewegt,  hinreißender  ergriffen  hat  sie  doch  noch 
ein  anderer  und  das  war  Jean  Jacques  Rousseau.  Die  ganze 
zweite  Hälfte  des  i8.  Jahrhunderts  steht  unter  seinem  Zeichen. 
Wie  die  Astrologen  einst  dem  Sternbild,  welches  in  der  Geburts- 
stunde eines  Menschen  im  Zenith  steht,  eine  bestimmende  Ge- 
walt über  das  ganze  Leben  des  Neugeborenen  zuschrieben, 
so  beherrscht  Rousseau  die  Menschheit,  deren  Gedanken  und 
Gefühle  er  in  seinen  Bann  zwingt.  Er  leiht  der  Sehnsucht 
eines  ganzen  Zeitalters  die  leidenschaftlichsten  Worte,  den 
flammendsten  Ausdruck.  Der  Philosoph  wird  zum  Propheten 
und  verkündet  einen  neuen  Glauben,  dessen  einziges  Evange- 
lium die  Natur  ist.  Er  selbst  führt  ein  Leben  in  Jammer  und 
Elend,  aber  die  Feder  des  armseligen  Notenschreibers  stößt 
Könige  von  ihren  Thronen  und  weist  der  Weltgeschichte 
neue  Bahnen.  Er  bezaubert  die  strengen  Denker  wie  Kant, 
in  dessen  Rechtslehre  sein  Einfluß  so  unverkennbar  ist,  und 
die  Dichter,  wie  Goethe.  Herder  ruft  ihn  zu  seinem  Führer 
an,  Joseph  IL.  geht  an  Voltaires  Haus  vorüber,  aber  Rous- 
seau zu  besuchen,  läßt  er  sich  nicht  nehmen.  Der  »Emile« 
und  die  »Neue  Heloise«  machten  Rousseau  zum  Abgott  aller 
feurigen  schwärmerischen  Seelen.  Mendelssohn  berichtet  uns, 
wie  man  sich  damals  seine  Bücher  aus  den  Händen  gerissen  hat. 
Das  Berauschende  seiner  freisinnigen  Ideen  und  das  Verfüh- 
rerische seines  Stiles  machten  seine  Werke  zu  einer  gefährlichen 
Lektüre.  Wenn  man  weiß,  daß  sie  den  berühmten  Maler  Maurice 
Quentin  de  laTour  um  den  Verstand  brachten,  so  wundert  man 
sich  nicht,  daß  Geliert  seine  Freundin,  die  Demoiselle  Lucius 


direkt  vor  ihnen  warnt,  ja  der  Beichtvater  der  Fürstin  Lori  Liech- 
tenstein würde  ihr  noch  eher  gestattet  haben,  Voltaire  zu  lesen 
als  Rousseau.  Daß  die  katholische  Kirche  seine  Schriften  unter 
die    verbotenen    Bücher    zählte,    hinderte   die   Domherren   der 


Hyacinihe   Rigaud,    Herzogin  Elisabeth   Charlotte  von   Orleans 
»  Liselotte  <■ 

rheinischen  Stifte  nicht,  seine  Büste  in  ihren  Zimmern  an  die 
Stelle  der  Mutter  Gottes  zu  setzen.  Unannehmlichkeiten  zog 
das  nur  Laien  zu,  wie  etwa  Meinhardt,  der  mit  seinem  Zög- 
ling, dem  Grafen  Moltke,  Wien  besuchte  und  im  Besitz  des 
»Emile«  betroffen,  froh  sein  mußte,  mit  Konfiskation  des 
Buches   davonzukommen. 

Die  Ideen  der  Aufklärung,  wie  sie  außer  Rousseau,  wenn  auch 
in  anderem  Sinne,  Voltaire  und  die  Enzyklopädisten  vertraten, 


verbreiteten  sich  um  so  schneller  und  unaufhaltsamer,  als  diese 
Autoren  Französisch  schrieben,  also  in  der  Sprache,  die  der 
gesamten  kultivierten  Welt  geläufig  war,  vielen  sogar  vertrauter 
als  ihre  Muttersprache.  Der  besonders  von  deutschen  Schrift- 
stellern der  folgenden  Zeit  den  Deutschen  des  i8.  Jahrhunderts 
so  oft  gemachte  Vorwurf  der  Französelei  verliert  bei  gewissen- 
hafter Untersuchung  seine  Berechtigung.  Deutschland  und 
das  Deutsche  Reich  waren  in  jener  Zeit  weder  ein  geogra- 
phisch noch  politisch  feststehender  Begriff.  An  seinen  Gren- 
zen verschmolz  es  nach  allen  Seiten  mit  den  Nachbarländern 
zu  staatlich  zusammengehörigen  Gebilden.  Die  tonangebende 
Macht  im  Reiche,  das  Kaiserliche  Haus,  wurzelte  in  seiner  Herr- 
schaft hauptsächlich  in  außerdeutschen  Gebieten,  in  Ungarn, 
Böhmen,  den  Niederlanden,  Neapel ;  die  Kurfürsten  von  Sachsen 
waren  Könige  von  Polen,  die  Kurfürsten  von  Brandenburg 
Könige  von  Preußen,  die  Kurfürsten  von  Hannover  Könige 
von  England,  der  Landgraf  von  Hessen-Cassel  König  von 
Schweden.  Oldenburg  gehörte  zu  Dänemark,  Pommern  zu 
Schweden.  Der  Kurfürst  Max  Emanuel  hat,  solange  er  lebte, 
nicht  aufgehört,  nach  einer  ausländischen  Krone  zu  trachten, 
gleichviel,  ob  sie  ihm  in  Spanien,  in  Ungarn,  in  Neapel,  Bel- 
gien oder  sonstwo  zu  winken  schien,  und  noch  Karl  Theodors 
höchster  Wunsch  war  es,  Bayern  dranzugehen,  um  König  von 
Burgund  zu  werden.  Die  Aufhebung  des  Ediktes  von  Nantes 
füllte  die  deutschen  protestantischen  Staaten  Baden,  Hessen, 
Braunschweig  mit  Refugiers,  besonders  die  Mark  Brandenburg. 
So  war  z.  B.  in  Berlin  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  jeder 
dritte  Mensch  ein  Franzose.  Diese  Refugierten,  welche  ihrem 
Glauben  zuliebe  Heim.at  und  Besitz  unter  tausend  Gefahren 
verließen,  waren  nicht  nur  durch  die  Stärke  ihres  Charakters 
hervorragende  Menschen,  sie  waren  auch  Leute,  die  eine  feinere 
Ges  ttung,  eine  höhere  Kultur  mitbrachten  und  in  der  neuen 
Heimat  verbreiteten.  In  der  Mark  Brandenburg  sollen  sie  allein 
43  unbekannte  Arten  von  Gewerben  eingeführt  haben.  Lud- 
wig XIV.  hat  allen  Ernstes  daran  gedacht,  sich  zum  Kaiser 
von  Deutschland  wählen  zu  lassen.  Und  wenn  er  die  Mehr- 
zahl der  deutschen  Fürsten  durch  Subsidienzahlungen  an  Frank- 
reich fesselte,  so  darf  man  gegen  die  Empfänger  deswegen  noch 
nicht  den  Vorwurf  des  Undeutschen  erheben.  Sie  waren  infolge 
der  Geldarmut  ihrer  im  Dreißigjährigen  Kriege  völlig   ausge- 

8 


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Antoine  Watteau,  Junges  Mädchen 


Die  Mode.   18.  Jatrh.   3 


Watteau,  Der  Maler  selbst  und  Herr  von  yulienne 


sogenen  Länder  geradezu  auf  diese  Subsidien  angewiesen.  Der 
enge,  auf  die  Nationalität  beschränkte  »Patriotismus«,  wie  wir 
ihn  heute  verstehen,  ist  erst  im  19.  Jahrhundert  entstanden. 
Jene  Zeit  kannte  ihn  gar  nicht.  Wenn  die  deutschen  Höfe 
damals  von  Franzosen  wimmelten,   Friedrich  der  Große  sich 


für  seine  Steuerunternehmungen  Scharen  französischer  Beamten 
kommen  ließ,  so  zogen  nicht  weniger  Deutsche  nach  Frankreich. 
Wenn  ein  preußischer  Feldherr  wie  Herzog  Ferdinand  von 
Braunschweig  äußerte:  »Es  ist  für  jeden  deutschen  Offizier 
eine  Ehre,  in  französischen  Diensten  zu  stehen«,  so  darf  man 
sich  nicht  wundern,  daß  die  Marschälle  Frankreichs  mehr  als 
einen  Ausländer  in  ihren  Reihen  zählen,  den  Schweden  Grafen 
Löwendal,  Moritz  von  Sachsen,  den  Sohn  Augusts  des  Star- 
ken u.  a.  Ja  ganze  Regimenter  des  französischen  Heeres,  wie 
Royal  Allemand,  Royal  Deux-Ponts,  Royal  Etranger  u.  a. 
rekrutierten  sich  dauernd  aus  Deutschland.  Ist  nicht  dagegen 
Prinz  Eugen  von  Savoyen  kaiserlicher  Feldherr  geworden  und 
rechnen  wir  den  »edlen  Ritter«  nicht  zu  den  Unseren?  Graf 
Schulenburg  verrichtete  seine  glänzenden  Waffentaten  im 
Dienste  Venedigs,  Graf  Lippe  in  dem  Portugals,  der  Schotte 
Keith  im  Solde  Preußens.  Der  deutsche  Graf  Goerz  war  schwe- 
discher, mehrere  Grafen  Bernstorff  dänische  Minister.  Daß 
ein  Staatsmann  oder  ein  Feldherr  nacheinander  verschiedenen 
Herren  verschiedener  Länder  diente,  erregte  weder  Aufsehen 
noch  Anstoß.  Nicht  die  Zugehörigkeit  zu  dieser  oder  jener 
Nation  gab  den  Ausschlag  bei  der  Beurteilung  eines  Mannes, 
sondern  die  Zugehörigkeit  zur  guten  Gesellschaft.  Diese  war 
international,  weltbürgerlich,  ihre  Formen  aber,  ihre  Sprache, 
ihre  Sitten,  ihre  Kunst  und  ihre  Mode  war  französisch.  Dieses 
Ueberwiegen  der  französischen  Kultur  datierte  seit  den  Glanz- 
tagen Ludwigs  XIV.,  seit  der  Sonnenkönig  auf  dem  Gipfel 
politischer  Macht  sich  nicht  mit  Unrecht  als  den  Herrscher 
der  Welt  betrachten  konnte.  Von  ihm  empfing  sie  Krieg  oder 
Frieden,   von   ihm   Kunst   und   Bildung. 

Und  was  hätte  das  Deutschland  von  damals  dieser  Macht  und 
diesem  Glanz  auch  entgegensetzen  können?  Politisch,  wie 
Pufendorf  das  Reich  charakterisierte,  eine  krankhafte  Zwitter- 
bildung, ein  monströser  Körper,  der  aus  mehreren  Hundert 
theoretisch  gleichberechtigter  Staaten  zusammengesetzt  war, 
»Staaten«,  unter  denen  sich  Reichsdörfer  von  500  Einwohnern, 
Reichsritter  über  Vs  Quadratmeile  befanden,  Miniaturdespoten, 
die  das  Recht  über  Leben  und  Tod,  Krieg  und  Frieden,  Zölle  und 
Steuern  nicht  tiur  besaßen,  sondern  auch  ausübten.  Fürst  Hya- 
zinth von  Nassau-Siegen  ließ  1707  einen  Bauern  aus  keinem 
anderen   Grunde  hinrichten,    als  um  zu  zeigen,   daß  er  auch 

10 


Antoine  Watteau,  Das  sog.  Firmenschild  des  Gersaint  (rechte  Hälfte) 

als  Besitzer  einer  halben  Grafschaft  Herr  über  Leben  und  Tod 
sei.  Der  Herzog  von  Sachsen-Weimar  bekriegte  den  Fürsten  von 
Schwarzburg;  Mainz  und  Würzburg,  Meiningen  und  Koburg 
haben  gegeneinander  die  Waffen  ergriffen.  Herr  v.  Flemming  auf 
Weissig  überzog  mit  seinem  Heere  von  30  Mann  die  Staaten  der 
Herzogin- Witwe  von  Sachsen- Weißenfels  mit  Krieg ;  Lächerlich- 
keiten, die  den  Zeitgenossen  gar  nicht  zum  Bewußtsein  kamen. 


II 


Deutsch  und  So  wenig  wie  Deutschland  als  Staat  sich  mit  Frankreich,  so 
französisch  ^gj^jg  konnte  die  deutsche  Literatur  sich  mit  der  französi- 
schen messen.  Wie  hätte  neben  der  Formvollendung,  der  glatten 
Eleganz  der  Corneille  und  Racine,  dem  Witze  Molieres  und 
Boileaus  der  Schwulst  bestehen  können,  den  die  Lohenstein 
und  andere  in  einer  holperigen  Sprache  von  sich  gaben,  oder 
jene  entsetzlichen  Romane  AntonUlrichs  von  Braunschweig,  von 
denen  Liselotte  trotz  ihrer  Neigung  für  den  blutsverwandten 
Autor  gestand,  sie  könne  täglich  nur  einige  Seiten  davon  auf 
dem  Kackstuhl  lesen.  Das  Deutsche,  wie  man  es  im  Beginne 
des  i8.  Jahrhunderts  schrieb  und  sprach,  ist  eine  plumpe,  mit 
Fremdwörtern  infizierte  Sprache,  deren  grammatikalisch  un- 
gefügen Bau  die  Schriftsteller  nur  mit  Gewalttätigkeit  hand- 
haben können.  Wie  schwerfällig  drücken  sich  selbst  solche 
Deutsche  aus,  die  eine  Vorliebe  für  ihre  Muttersprache  haben, 
wie  Liselotte  oder  Friedrich  Wilhelm  L,  wie  wenig  können  auch 
sie,  um  ihre  Gedanken  klar  zu  machen,  das  fremde  Idiom,  sei 
es  selbst  nur  in  einigen  Worten  oder  Phrasen,  entbehren.  Im 
Munde  des  sächsischen  Postmeisters  Trömel,  der  sich  als  Dichter 
Jean  Chretien  Toucement  nannte,  wird  dieses  Kauderwelsch 
der  damaligen  Umgangssprache  absichtlich  oder  unabsichtlich 
geradezu  burlesk.  Unter  diesen  Umständen  kann  es  nicht 
wundernehmen,  daß  die  Deutschen  der  höheren  Klassen,  welche 
die  Elemente  einer  feineren  Gesittung  von  Frankreich  empfingen, 
besonders  die  Höfe  und  der  Adel  sich  auch  mit  Vorliebe  der 
französischen  Sprache  zum  Ausdruck  ihrer  Gedanken  bedien- 
ten. Das  ganze  Jahrhundert  hindurch  bleibt  Französisch  die 
Sprache  des  Weltmanns.  Baron  Pöllnitz  am  Beginn,  Graf 
Lamberg  am  Schluß  legen  ihre  mondainen  Erinnerungen  so 
gut  Französisch  nieder  wie  der  Italiener  Casanova.  Friedrich 
der  Große  schreibt,  spricht,  dichtet  lebenslang  besser  Fran- 
zösisch als  Deutsch,  ebenso  wie  seine  boshafte  Schwester,  die 
Markgräfin  von  Bayreuth.  Voltaire  schreibt  1750  aus  Pots- 
dam :  Ich  befinde  mich  hier  in  Frankreich.  Man  spricht  nur 
unsere  Sprache.  Das  Deutsche  ist  bloß  für  Soldaten  und  Pferde. 
Kaiser  Franz,  der  Gemahl  der  Maria  Theresia,  lernte  über- 
haupt nie  ordentlich  Deutsch.  Die  Prinzessin  Eleonore  Oet- 
tingen-Spielberg  fing  erst  an,  Deutsch  zu  lernen,  nachdem  sie 
sich  mit  dem  Fürsten  Liechtenstein  vermählt  hatte  und  konnte 
es  sich  in  einem  halben  Jahrhundert  doch  nicht  zu  eigen  machen. 

\2 


Antoine  Watteau,  Cavaliei 


Die  Mode.   18.  Jahrh.  4 


AniuDie  i'y  uucau.  I^ii  inemciulii  des  Gersaint  (  .umL/iHiiC) 


13 


Watteau- Liotard,  Franzusisclu  Scliauspiehzen 

Der  Marquis  de  Boufiflers  übersetzt  während  eines  Aufenthalts 
in  Wien  Wielands  Grazien  in  das  Französische  und  begeisterte 
die  Damen  dadurch  für  die  deutsche  Sprache.  Fräulein  von 
Pannwitz  korrespondiert  mit  ihrem  Bräutigam,  dem  Herrn  von 
Voß,  Französisch,  gerade  so  wie  Wieland  mit  Sophie  von  Guter- 
mann. Deutsche,  die  in  Paris  ihren  Wohnsitz  nahmen,  be- 
herrschten die  Sprache  ihrer  neuen  Heimat  bald  besser  als  die 
des  Mutterlandes,  wie  etwa  Grimm  oder  der  berühmte  Kupfer- 
stecher Wille,  während  im  umgedrehten  Fall  Franzosen,  wie 
Henri  de  Gatt,  der  Vorleser  Friedrichs  des  Großen,  40  Jahre 
und  länger  in  Deutschland  angesessen  sein  konnten,  ohne  je 
seine   Sprache  zu   lernen. 

Erst  von  jenen  Tagen  an,  da  Christian  Thomasius  1687  in 
Leipzig  das  erste  auf  deutschen  Universitäten  in  deutscher 
Sprache  gehaltene  Kolleg  ankündigte,  eine  Tat,  welche  der 
Senat  als  entehrend  für  die  Hochschule  ansah,  ist  die  deutsche 
Sprache  langsam  zu   Ehren  gekommen.     Thomasius   Beispiel 


14 


Watteau- Basan,  Italienis 


cuau^j'teitr 


folgte  erst  1705  Professor  Buddeus  in  Jena.  Eine  systematische 
literarische  Pflege  wurde  ihr  aber  erst, zu  teil,  als  Gotsched  zu 
diesem  Zweck  1727  in  Leipzig  eine  Gesellschaft  gründete, 
welcher  bald  an  anderen  Orten,  wie  z.  B.  in  Jena  Tochter- 
gesellschaften zur  Seite  traten.  Diese  absichtliche  Pflege  des 
Deutschen  betont  bewußt  und  gewollt  den  Gegensatz,  in  dem 
sich  das  Bürgertum  zu  dem  Adel  fühlte.  Sie  bildet  eines  der 
stärksten  Elemente  in  der  Reaktion  der  aufkommenden  deut- 
schen bürgerlichen  Gesellschaft,  gegen  die  französierten  höfischen 
und  adligen  Kreise  der  vornehmen  Welt.  Der  Verachtung  des 
Heimischen,  wie  jene  sie  affektierten,  stellten  sie  die  Ueberschät- 
zung  desselben  entgegen,  ein  Umstand,  der  die  scharfe  äußere 
Trennungder  beiden  Stände  geistig  noch  bedeutend  vertiefte.  Die 
Gesellschaft  jener  Zeit  gliederte  sich  in  Stände,  die  gegeneinander 
mitsoviel  Rechten  und  Pflichten  Verbarrikadiertwaren,  daß  deren 
Wahrung  nicht  nur  für  den  einzelnen,  sondern  auch  für  die  Staa- 
ten als  Ganzes  den  Gegenstand  eifersüchtigster  Sorge  bildete, 

15 


Standes-    Dcf  Wert,   den   man  auf  diese  Standesvorrechte   legte,   erhellt 
für  uns  aus  der  Wichtigkeit,  mit  der  dazumal  diese  Quisquilien 
behandelt  wurden,  hat  doch   ein  Leibniz   sich   literarisch  damit 
befaßt,  sind  doch  die  Berichte  der  Diplomaten  zum  größten  Teil 
mit  nichts  anderem   angefüllt.     Freiherr  von  Widmann,  öster- 
reichischer Gesandter  in  München,  schreibt  1750  21  Folioseiten 
nach  Wien  über  die  Streitigkeiten,   die  er  bei  seinem  Empfang 
am   kurbayerischen    Hofe   hatte  und  die  Memoiren   der  Mark- 
gräfin Wilhelmine   von  Bayreuth  behandeln   in  breitester  Aus- 
führlichkeit die  ewigen  Rangstreitigkeiten    zwischen  dem  Hof- 
personal, den   Streit  um   Lehnstüle    und  Tabourets,    um    den 
Vortritt   und   dergleichen.     Nie   vergißt   sie   zu    erwähnen,   bis 
in    welches    Vorzimmer    ihr    die    Kaiserin,    die    Königin    von 
Preußen  (ihre  Mutter!)  und  die  verschiedenen  minderen  fürst- 
lichen  Personen  entgegenkommen.    Diese  lästigen  Weitläufig- 
keiten  der   Etikette   veranlaßten  schließlich,  daß  an   einzelnen 
Höfen,  z.  B.  am  preußischen,  von  den  Gästen  um  den  Vortritt, 
um  die  Plätze  an  der  Tafel  usw.  gelost  wurde.     Wie  besonders 
der  Vortritt  vor  anderen  den  Damen  am  Herzen  lag,  beweisen 
die  mannigfaltigsten  kleinen  Ereignisse  der  Zeit.     Als  der  Her- 
zog Ulrich  von  Meiningen  Frankfurt  a.  M.  besuchte,  verdrängte 
beim   offiziellen  Empfang   eine   fremde  Dame   die  Stadtschult- 
heißin    Textor    geborene    Lindheimer    gewaltsam    von    ihrem 
Platz;  wenn  der  Kurfürst  von  Bayern  in  Nymphenburg  Soupers 
gab,  entstand  zwischen   den   Hofdamen   und    den   Gesandten- 
Frauen  ein  solches  Wettrennen  um  den  Vortritt  in  den  Speise- 
saal, daß  die  alten  Oberhofmeisterinnen    den   freigebig  ausge- 
teilten Püffen  und  Rippenstößen   weichen  mußten.      Wie   ein- 
mal ein  solcher  Streit  um  den  Vortritt,  den   1747  in  Meiningen 
Frau  von  Gleichen  und  Frau  von  Pfaffrath  geb.  Gräfin  Solms 
miteinander  ausfochten,  sogar  zum  Kriege  führte,  mag  man 
in  der  Geschichte  des  sogenannten  Wasunger  Krieges  bei  Gustav 
Freytag  nachlesen.    Uebrigens  wurden  diese  Dinge  auch  außer- 
halb Deutschlands  mit  der  gleichen  Wichtigkeit  behandelt.    Aus 
Liselottens     Briefen     erfährt   man,   daß     den    Besuchen    ihres 
Schwiegersohnes,   des  Herzogs  von  Lothringen,   wochenlange 
Korrespondenzen  über  seine  Ansprüche  auf  einen  Sitz  im  Arm- 
stuhl und  dergleichen  vorauszugehen  pflegten  und  die  Titulatur 
des  Königs  von  Dänemark  in  ihren  Briefen,  dem  sie  durchaus 
nicht  das  Prädikat  Majestät  geben  will,  verursacht  ihr  und  ihren 

16 


Frani,ois  le  Maine,  Picknick 


Die  Mode.  1?.  Jährt.  5 


D£eMode,18.Jahrh.    2.  A- 


Ratgebern  das  größte  Kopfzerbrechen.  Ebenso  verrufen  wie 
der  französische  Hof,  dessen  Kleinlichkeit  in  Titeln  Casanova 
verspottet,  vv^ar  jener  der  Großherzoge  von  Toscana.  Nannte 
man  in  Versailles  die  römischen  principi  nur  Marquis  und  einen 
titellosen  Mann  nicht  monsieur,  sondern  nur  sieur,  so  machten 
die  letzten  Fürsten  aus  dem  Hause  der  Medici  solche  Ansprüche 
im  Zeremoniell,  daß  es  z.  B.  bei  dem  Besuch  des  Königs  von 
Dänemark  erst  langer  Verhandlungen  des  Kammerherrn  von 
Ahlefeldt  bedurfte,  ehe  ein  Zusammentreflfen  der  Herrscher 
ermöglicht  werden  konnte.  Ganz  besonders  war  allerdings 
der  immerwährende  Reichstag  in  Regensburg  ein  Schauplatz 
nie  endender  Streitigkeiten  über  Rang-  und  Zeremonialfragen, 
einem  Thema,  dessen  eingehender  Erörterung  Johann  Georg 
Keyßler,  der  als  Hofmeister  zweier  Freiherren  von  Bernstorff  1730 
dort  weilte,  in  seiner  Reisebeschreibung  zwölf  eng  gedruckte 
Quartseiten  widmet.  Er  verleiht  dabei  auch  seiner  und  aller 
Beteiligten  höchster  Verwunderung  darüber  Ausdruck,  daß  der 
damalige  französische  Gesandte  von  Chavigny  jedem  Anspruch 
sofort  nachgebe  und  setzt  ganz  naiv  hinzu,  daß  er  durch  diese 
Nachgiebigkeit  seine  politischen  Absichten  allerdings  wesentlich 
zu  fördern  pflege. 
Rang  und  Da  Rang  und  Titel  zu  gesellschaftlichen  Ansprüchen  berech- 
^*"^  tigten,  so  war  das  Streben  nach  solchen  allgemein.  Der 
Adel  war  käuflich,  zumal  hat  ihn  der  Kurfürst  Karl  Theodor 
von  Bayern  während  seines  Reichsvikariates  billig  abgegeben. 
Für  900  bis  1000  Gulden  konnte  man  Reichsgraf,  für  600  bis 
700  Gulden  Reichsfreiherr  werden  und  für  400  bis  500  Gulden 
hatte  man  schon  den  niederen  Adel.  Die  mindere  Bürgerschaft 
der  Reichsstädte  staffelte  sich  z.  B.  in  Nürnberg  in  »Ehrbare 
und  Veste«,  »Ehrbare  und  Wohlführnehme«,  »Ehrbare  und 
Fürnehme«.  Da  aber  diese  Titel  den  Ehrgeizigen  noch  nicht 
genügten,  so  bemühten  sie  sich  eifrig  um  die  Rats- und  Konsul- 
titel auswärtiger  Fürsten;  so  eifrig,  daß  der  Rat  1722  ein  kaiser- 
lichesVerbot  gegen  diese  Titeljagd  erwirkte.  Der  brave  Nettelbeck 
erzählt  voll  Spott,  wie  einer  seiner  Bekannten,  ein  armer  Teufel, 
nachdem  er  von  der  reichen  Erbschaft  seiner  Tochter  eine 
größere  Summe  erhalten,  sich  als  dringendste  Notwendigkeit 
zuerst  gleich  den  Titel  eines  »Licentrats«  kauft,  der  ihm,  nach- 
dem er  alles  vertan  hat,  auch  schließlich  als  einzige  Errungen- 
schaft kurzen  Glückes  verbleibt.   Friedrich  Nicolai,  der  1781  die 

18 


Watteau,  Häuslidu  Beschäftigung 

Reichsstadt  Ulm  besuchte,  bemerktmit  einem  Erstaunen,  welches 
an  jemand,  der  Berliner  Verhältnisse  gewöhnt  war,  nicht  ganz 
natürlich  erscheint,  den  Unterschied,  der  dort  das  Patriziat  von 
der  Bürgerschaft  trennte.  In  Gesellschaften  mußte  jedermann 
nach  seinem  Range  gesetzt  werden.  Die  Bürgermeister  führten 
das  Prädikat  »Wohlgeborene  Herrlichkeiten«,  die  Ratsherren 
»Hoch  und  Wohlweise«,  ein  Bürger  hatte  den  Anspruch  auf  den 
Titel  »Ehrbarer«,  ein  Kaufmann  auf  »Edler  und  Vester«,  ein 
Patrizier  aber  bekam  »Wohlgeboren«  und  wenn  sein  Sohn  etwa 
einen  akademischen  Grad  erwarb,  so  stand  diesem  der  Titel 
»Hochedelgeboren«  zu.  Die  zunehmende  Aufklärung  hat  die 
Titel  in  Deutschlandwenigstensvereinfacht.  Einerderersten.der 
sich  von  seinen  Freunden  die  Titulaturen  verbat,  war  der  Dichter 
Gleim,  weil  er  »der  Einfalt  griechischer  Helden  näherkommen 
wollte«.  Im  Jahre  1794  erließ  auch  ein  Adliger,  der  schlesische 
Graf  Schlabrendorf,  einen  Aufruf  an  seine  Standesgenossen  zum 
Verzicht  auf  bloße  Titel.  Das  Gefühl  aber  von  dem  Wesens- 
unterschied der  Stände  war  zu  tief  eingewurzelt,  als  daß  es  mit 


19 


der  Abschaffung  einzelner  Prädikate  und  Titulaturen  hätte  aus- 
gerottet werden  können.  Wenn  gelegentlich  eine  Frau  von  Wöll- 
warth  auf  Neubronn  erklären  konnte:  »Adel  und  Bürgerstand 
seien  zwei  verschiedene  Menschenrassen,  deren  Trennung  auch 
im  Jenseits  fortdauern  werde«,  so  sprach  sie  damit  nicht  nur 
eine  persönliche  Meinung  aus  oder  urteilte  im  Sinne  des  Adels, 


yakobvan  Schuppen,  Prinz  Eugen  von  Savoyen,  ijiS 


nein,  sie  wußte  nur  zu  gut,  daß  der  Bi^irger  selbst  so  dachte, 
hat  doch  der  Mangel  an  Selbstachtung,  der  die  Mehrzahl  aus- 
zeichnete, der  Ueberhebung  des  Adels  nur  zu  viel  Vorschub  ge- 
leistet. Männer  von  der  Bedeutung  eines  Moser,  eines  Pütter 
sind  stolz  darauf,  wenn  sie  im  Bade  Pyrmont  in  adlige  Kreise 
gezogen  werden;  Helferich  Peter  Sturz  ist  glücklich,  wenn  er 
sein  Frühstück  in  Gemeinschaft  Adliger  einnehmen  darf,  und 
was  soll  man  sagen,  wenn  Daniel  Schubart,  den  der  Herzog  von 
Württemberg  zehn  Jahre  wider  Recht  und  Gerechtigkeit  auf 
dem  Hohenasperg  gefangen  gehalten  hatte,  nach  seiner  Frei- 


?Q 


lassung  an  Posselt  schreibt:  der  Herzog  habe  sich  bei  einer 
Unterredung  so  huldreich  gezeigt,  daß  aller  Groll  seines  Herzens 
gegen  ihn  wie  Xachtgewölk  verschwunden  sei!  ?  Das  \'orurteil 
der  Stände  gegeneinander  ist  im  Laufe  des  i8.  Jahrhunderts 
zwar  nicht  ausgeglichen  worden,  noch  1781  schreibt  Philippine 
Engelhardt  aus  Cassel  an  Bürger,  daß  man  ihr  in  bürgerlichen 
Kreisen  den  Verkehr  mit  Adligen  sehr  verüble,  aber  der  intime 
geistige  Verkehr  in  den  Adel-  und  Bürgerstand  je  länger  je  mehr 
miteinander  traten,  lehrte  sie,  ihre  Ansichten  unter  höflichen 
äußeren  Formen  zu  verbergen.  Drei  Faktoren  haben  dieses 
Einandernäherbringen  wesentlich  gefördert.  Erstens  der  Um- 
stand, daß  im  Laufe  des  Jahrhunderts  die  geistige  Bildung  als 
höchstes  Gut  anerkannt  wurde  und  daß  der  Wetteifer  im  Er- 
werb und  im  Genuß  derselben  Adlige  und  Bürgerliche  zu- 
sammenführte. In  dieser  Beziehung  ist  vor  allem  der  hol- 
steinische Adel  vorangegangen.  Zweitens  indem  der  Hang  des 
Jahrhunderts  zur  Mystik  die  geheimen  Gesellschaften  und 
an  ihrer  Spitze  die  Freimaurerei  begünstigte,  deren  End- 
zweck neben  der  Ausbreitung  der  Aufklärung  die  Milderung 
der  Standesunterschiede  war,  und  schließlich  der  Pietismus. 
Die  Anhänglichkeit  an  ein  bestimmtes  Bekenntnis,  der  Fanatis- 
mus für  ein  solches,  wie  sie  das  kirchliche  Leben  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts  gekennzeichnet  hatten,  war  unter  dem  Einfluß 
der  französischen  Kultur  einer  großen  Gleichgültigkeit  gegen 
dasselbe  gewichen.  1720  schreibt  Liselotte:  »Ich  bin  weder 
reformiert  noch  katholisch  noch  lutherisch,  sondern  eine  gute 
Christin«,  aber  die  Toleranz,  für  welche  diese  Aeußerung  der 
Fürstin  ein  so  beredtes  Zeugnis  ablegt,  war  bei  der  Mehrzahl 
der  Angehörigen  der  oberen  Klassen  in  eine  völlige  Indifferenz 
umgeschlagen,  während  die  große  Masse  in  stumpf  sinnigerWerk- 
heiligkeit  verharrte.  Gegen  beide,  die  Lauheit  der  einen,  wie  den 
Buchstabenglauben  der  anderen  richtet  sich  der  Pietismus.  Wie 
einst  im  15.  Jahrhundert  die  Gottesfreunde  und  Mystiker  das 
in  scholastische  Spitzfindigkeiten  zerfaserte  Christentum  aus 
der  Nüchternheit  bloßer  Verstandesspielereien  in  die  herzliche 
Wärme  einfältigen  Kinderglaubens  gerettet  hatten,  so  flüch- 
teten jetzt  Spener  und  die  Seinen  ihr  Luthertum  aus  der  Er- 
starrung des  Dogmas  in  die  Innerlichkeit  ihres  Gefühls.  Der 
nach  Tausenden  zählende  Anhang  von  Bekennern,  den  Spener 
fand,  bewies,  wie  lebhaft  das  Bedürfnis  war,  dem  er  entgegen- 

21 


kam.  Die  heftige  Feindschaft  der  orthodoxen  Geistlichkeit, 
der  er  allenthalben  begegnete,  zeigte,  welche  Gefahr  die  herr- 
schende Kirche  in  dieser  Bewegung  sah.  Die  Verfolgungen, 
die  der  Pietismus  zu  erleiden  hatte,  schlössen  um  alle,  die 
sich  zu  ihm  hielten,  ein  enges  Band  der  Gemeinsamkeit,  die 
durch  einen  süßlichen  Gefühlskultus,  eine  seltsame  Art  weiner- 
licher Gottesverehrung,  demütigender  Gleichstellung  vor  dem 
Lamm  dazu  gelangte,  die  Standesunterschiede,  wenigstens  in 
kleinem  Kreise  zum  ersten  Male  völlig  zu  verwischen.  An  den 
hochfrommen  Höfen  der  Reuß,  der  Stollberg,  der  Wittgenstein 
und  anderer  verkehrten  Handwerksgesellen  auf  einem  sonder- 
baren Fuß  der  Gleichheit  mit 
den  regierenden  Herrschaf- 
ten. So  fuhr  z.  B.  ein  Herzog 
von  Sachsen -Saalfeld  einige 
fromme  Schusterweiber,  um 
den  Heiland  zu  ehren,  in  eige- 
ner Person  öffentlich  spazie- 
ren und  Graf  Zinzendorf  grün- 
dete seine  neue  Gemeinschaft 
als  Gemeinde  von  »Brüdern«. 
Wie  ein  Komet  seinen  leuch- 
tenden Schweif,  so  zog  Spener 
einen  Schwärm  von  Enthusia- 
sten und  Erweckten  aller  Art 
nach  sich.  Die  Abschließung 
von  der  »argen  Welt«  führte 
zu  einem  Konventikelwesen, 
in  dem  Unheilige  wie  Eva  von 
Buttlar  und  ihre  Rotte  und 
Heilige  wie  Fräulein  v.  Kletten- 
berg, Goethes  schöne  Seele,  ihr 
Wesen  mit  gleicher  Unbefan- 
genheit trieben. 
Der  allgemeine  Zug  der  Zeit 
nach  Aufklärung  hat  den  Pro- 
testantismus dann  zu  völligem 
Rationalismusgeführt,zu  einer 
Nonchalance,  die  z.  B.  den  zum 
Katholizismus  übergetretenen 


Antoine  Watteau,  Studie 


22 


Johann  August  Starck  jahrzehntelang 
als  lutherischen  Oberhofprediger  in 
Darmstadt  fungieren  lassen  konnte, 
die  Herder  das  Bedauern  abnötigte, 
daß  er  nicht  Kardinal  werden  könne. 
Die  protestantische  Predigt  ver- 
flachte zu  bloßer  Nützlichkeitslehre. 
Schiller  sagte  von  Herders  Predig- 
ten, daß  man  sie  ebensogut  in  einer 
Moschee  halten  könne.  Wenn  die 
Gleichgültigkeit  gegen  die  offenbarte 
Religion  auch  so  zur  Modesache  ge- 
worden war,  daß  beispielsweise  Ra- 
bener,  der  Geliert  bittet,  einen  Hof- 
meister zu  besorgen,  welcher  den 
Kindern  eines  Beamten  in  Dresden 
auch  Religionsunterricht  geben  soll, 
ihn  beschwört,  diesen  Umstand 
geheim  zu  halten,  damit  es  dem 
Beamten  nicht  schade,  so  hat 
sie  doch  damals  durchaus  nicht 
dazu  geführt,  daß  die  Konfes- 
sionen sich  gegenseitig  Duldung 
gewährt  hätten.  Der  Westfäli- 
sche Friede  hatte  zwar  die 
Gleichberechtigung  des  katholi- 
schen, lutherischen  und  refor- 
mierten Bekenntnisses  feierlich 
verbürgt,  aber  das  war  eine 
schöne  Theorie,  von  der  die 
Wirklichkeit  weit  genug  ent- 
fernt lag.  Nicht  nur  in  den 
kaiserlichen  Erblanden  war  die 
katholische  die  einzig  erlaubte 
Religion,  auch  in  Bayern  war 
den  Protestanten  jede  Ansied- 
lung  verboten.  Unter  den  Kur- 
fürsten Johann  Wilhelm  und 
Karl  Philipp  sind  die  Refor- 
mierten der  Pfalz  in  jeder  Weise 


Studien  von  Antoine  Watteau 


23 


drangsaliert  worden ;  aus  Salzburg  hat  der  Erzbischof  Freiherr 
V.  Firmian  1731  Tausende  von  Lutheranern  und  Reformierten  aus- 
gewiesen. Die  Duldung,  welche  Karl  XII.  den  Protestanten  Schle- 
siens ausgewirkt  hatte,  ist  ihnen  nach  dem  Tode  des  Königs  tun- 
lichstverkümmert worden.  In  den  paritätischen  Reichsstädten  war 
man  übereingekommen,  alle  Aemter  vom  Bürgermeister  bis  zum 
Nachtwächter  zwischen  Katholiken  und  Protestanten  entweder 
zu  teilen  oder  sie  wenigstens  abwechselnd  zu  besetzen,  gerade 
wie  in  Osnabrück  abwechselnd  den  Bischofsstuhl  mit  Katholiken 
und  Protestanten.  Das  waren  Uebereinkommen,  welche  die 
Quelle  endlosen  Haders  geworden  sind.  Den  gegenseitigen 
Haß,  der  das  ganze  Jahrhundert  latent  blieb,  konnte  der  gering- 


J.ouis  de  Silvestre,  König  August  II.  von  Polen  und 
König  Friedrich  Wilhelm  I.  von  Preußen 

24 


Kurfürst  Ka>i.  Alo^h  von  txiyern  im  j 


üi^dkosuirn 


Die  Mode,  18.  Jatrh  6 


Aiiinlia  Maria  Josepha,  AiojuiMi/i  von  Bayern,  im  yagdkostüm 


Die  Mode,  18.  Jahrb.? 


Antoirte  Pisne,  Friedrich  d.  Gr.  und  seine  Schwester  VVilhelmine  als  Kinder 

fügigste  Anlaß  zu  offener  Flamme  auflodern  lassen,  wie  1750 
in  Oehringen,  wo  es  erst  dem  Einrücken  einer  ansbachischen 
Grenadier-Kompagnie  gelang,  die  Zwistigkeiten  zu  schlich- 
ten, welche  zwischen  Katholiken  und  Protestanten  wegen  einer 
nach  gregorianischem  Kalender  zu  bestimmenden  Feier  des 
Osterfestes  ausgebrochen  waren ;  oder  1781  in  Wallthüren,  wo 
drei  protestantische  Grafen  Leiningen  mit  ihrem  Anhang  die 
Fronleichnamsprozession  gestört  hatten,  und  es  eines  Aufgebots 
von  600  Mann  würzburgischer  Truppen  bedurfte,  um  die  Ruhe 


25 


wiederherzustellen.  Daß  im  Laufe  des  i8.  Jahrhunderts  einmal 
die  Truppen  eines  protestantischen  Staates  den  Kirchenstaat 
besetzt  hatten,  ist  heute  ziemlich  in  Vergessenheit  geraten,  und 
doch  stand  1708  General  v.  Arnim  mit  mehreren  preußischen 
Regimentern  vor  der  Einnahme  Roms,  und  König  Friedrich  I. 
freute  sich  schon  auf  die  päpstlichen  Kanonen,  die  man  ihm  für 
sein  schönes  Zeughaus  mitbringen  werde.  Als  Papst  Clemens  XI. 
und  Kaiser  Joseph  I.,  in  dessen  Armee  die  brandenburgischen 
Hilfsvölker  marschierten,  sich  aber  versöhnten,  blieb  der  Welt 
die  Wiederholung  eines  Sacco  di  Roma  erspart.  Daß  es  da, 
wo  die  eine  Partei  notorisch  im  Uebergewicht  war,  an  offener 
oder  versteckter  Gewalt  nicht  gefehlt  hat,  versteht  sich  von 
selbst.  In  Thorn  ließen  die  Jesuiten  1724  zehn  Protestanten, 
an  ihrer  Spitze  den  Bürgermeister  Rösner,  hinrichten,  weil  der 
Janhagel  eine  ihrer  Prozessionen  gestört  hatte.  Die  Schauer- 
geschichten, welche  in  späterer  Zeit  entsprungene  Mönche  wie 
Feßler  und  andere  erzählten,  die  von  Klöstern  zu  berichten 
wußten,  in  denen  des  Protestantismus  Verdächtige  ewig  ein- 
gekerkert wurden,  mögen  auf  Uebertreibung  beruhen,  indessen 
ist  noch  in  Wiblingen  in  Schwaben  ein  Jurist  Nickel  wegen 
Gottlosigkeit  enthauptet  worden.  Er  hatte  nichts  getan  als 
im  Wirtshaus  einige  Voltairesche  Ideen  zum  besten  gegeben. 
In  Frankreich,  dem  ja  die  Protestanten  fehlten,  spitzte  sich 
der  vorhandene  Gegensatz  der  Meinungen  auf  einen  Kampf 
zwischen  strenggläubigen  und  freisinnigen  Katholiken,  auf  die 
leidenschaftlich  geführten  Kontroversen  zwischen  Jansenisten 
und  Jesuiten  zu.  Wenn  Liselotte  1701  ihrer  herzlieben  Amelisse 
schreibt:  »Die  frantzösischen  katholischen  seien  nicht  so  albern 
wie  die  teutschen,  es  ist  gantz  ein  andere  sach  mit,  schier 
als  wens  eine  andere  Religion  were.  Man  ist  nicht  obligiert,  an 
bagatelle  und  alberne  mirakel  zu  glauben«,  so  wird  man  diese 
Anschauungen  und  diese  Praxis  wohl  auf  die  konzilianten  Hof- 
theologen beschränken  müssen,  denn  die  Fälle  der  Calas,  der 
Sirven,  d'Etallondes  und  anderer,  die  törichte  oder  imaginäre 
Vergehen  gegen  die  Kirche  blutig  büßen  mußten,  beweisen  zu 
Die  deutlich  das  Gegenteil.  Die  Abneigung  gegen  die  Gesellschaft 
Jesu  wuchs  mit  der  Zunahme  ihrer  Macht  und  wußte  ihren 
Namen  in  gehässigster  Weise  mit  allem  in  Verbindung  zu 
bringen,  was  geeignet  war,  sie  verächtlich  zu  machen.  Die 
absichtliche  Art,  in  der  Pascal  ihre  Lehren  entstellte,  die  Lügen 

26 


Nicolas  Lancret,  Die  Tänzerin  Camargo 


Die  Mode.  18.  Jahrh.  8 


.1. 


bif;.  ^ 


27 


der  hysterischen  Cadiere,  die  unglücklichen  Spekulationen  eines 
Pater  Lavalette,  alles  mußte  herhalten,  um  die  Moral  des  Ordens 
zu  verdächtigen,  seine  Mitglieder  als  lasterhaft  und  verrucht 
zu  brandmarken.  Endlich  gelang  es  dem  vereinten  Haß  der  Auf- 
geklärten, den  gefürchteten  Orden  zu  stürzen.  Man  hatte  weder 
offene  Gewalt  gescheut,  zu  der  Aranda  in  Spanien  griff,  noch 
List  wie  Pombal,  der  ein  Attentat  auf  den  König  Joseph 
von  Portugal  bestellte,  dessen  Sühne  zu  einer  wahren  Orgie 
seiner  Privatrache  wurde.  Wieviel  Habgier  und  Eigennutz  zu 
der  Aufhebung  des  Ordens  beigetragen  haben,  ist  wohl  noch 
nie  untersucht  worden.  Hört  man  aber,  daß  allein  in  Bayern 
zwölf  Häuser  der  Gesellschaft  Jesu  bestanden,  so  begreift  man, 
wie  groß  die  Anzahl  derjenigen  sein  mußte,  die  von  der  Kon- 
fiskation der  Ordensgüter  Gewinn  zogen.  Die  berühmte  Bulle 
»Dominus  ac  Redemptor  noster«,  mit  der  Clemens  XIV.  1773 
die  Aufhebung  der  Gesellschaft  verkündete,  löste  einen  Jubel 
ohnegleichen  aus.  Es  war  in  der  Tat  der  größte  Triumph, 
welcher  der  Aufklärung  beschieden  war.  Die  Sorge  der  weit- 
sichtigen Kaiserin  Maria  Theresia,  daß  nun  die  Vormauer  aller 
Autoritäten  ins  Wanken  gekommen  sei,  beachtete  nicht  ein- 
mal ihr  Sohn.  Mit  der  ihm  eigenen  Ueberstürzung,  er  tat,  wie 
Friedrich  IL  von  ihm  sagte,  stets  den  zweiten  Schritt  vor  dem 
ersten,  fuhr  Joseph  IL  auf  dem  Wege  der  Unterdrückung  fort 
zu  reformieren,  und  glaubte  mit  der  den  Fürsten  eigenen  Ueber- 
schätzung  ihrer  selbst,  daß  er  nur  zu  wollen  habe,  um  die  Ge- 
bräuche und  Gewohnheiten  langer  Jahrhunderte  von  heute  auf 
morgen  zu  ändern.  Er  starb,  ohne  daß  selbst  die  Partei  der 
Aufgeklärten    ihres    Sieges    recht    froh    geworden   wäre.      Die 

Furcht  vor  den  Jesuiten  ließ  kein 
Gefühl  der  Sicherheit  aufkom- 
men, injederneuen  geistigen  Rich- 
tung der  Zeit  witterte  man  ihren 
Einfluß,  hinter  allem,  was  sich 
ereignete,  ihre  geheimnisvolle 
Macht.  Der  alte  Friedrich  Nico- 
lai stand  in  seinen  Zeitschriften 
förmlich  Wache  gegen  die  Ge- 
sellschaft und  zog  sich  nicht  mit 
Unrecht  den  Spottnamen  des 
Parrocel,  Der  Gruß  Jesuitenriechers  zu.   Am  längsten 


28 


Ghunhattista  Tiepolo,  Aus  den  Fresken  der  J'il/u  Valmarana.    ijjj 


Die  Mode.   18.  Jahrh.   9 


Fan  Loo,  Porträtstudie 

haben  Friedrich  der  Große  und  Katharina  II.  sie  in  ihrem 
Bestände  geschützt.  Beiden  schien  ihre  Tätigkeit  als  Pädagogen 
unentbehrHch,  zumal  in  einer  Zeit,  wo  ihre  seit  zwei  Jahrhun- 
derten bewährte  Methode  wie  ein  Fels  in  der  Hochflut  täg- 
lich neu  auftauchender  Erziehungsmethoden  stand. 
Es  war  nur  natürlich,  daß  der  Umschwung  des  geistigen  Erziehung 
Lebens,  der  sich  in  der  Mitte  des  i8.  Jahrhunderts  vollzog, 
sich  auch  sogleich  in  einem  Drängen  nach  erzieherischen  Re- 
formen äußerte.  Erst,  indem  man  sie  der  Jugend  einpflanzt, 
können  neue  Errungenschaften  des  Geistes  zu  dauernder  Wir- 
kung gebracht  werden.  Gerade  wie  im  17.  Jahrhundert  hatte 
man  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  unter  der  Erziehung  des  Welt- 
mannes  nichts   anderes  verstanden,   als  eine  Dressur  zum  Ka- 


29 


Gravelot,  Cavalier 


30 


Gravelot,  Cavalier 


31 


valier.  Außer  den  ritterlichen  Künsten  lernte  ein  solcher  viel- 
leicht noch  Französisch,  in  Oesterreich  und  Süddeutschland 
allenfalls  Italienisch.  Gelehrtes  Wissen  zu  erwerben  galt  bei 
vornehmen  Leuten  direkt  für  unschicklich.  Wie  Liselotte  es 
einmal  ausdrückt  »junge  Leute  von  qualitet  sollen  weißen,  daß 
sie  hertz  haben,  sonst  kommt  es  gar  zu  doctorisch  herauß«. 
Und  wenn  sie  ein  ander  Mal  schreibt  »lateinisch  ist  nur  vor 
Pedanten«,  so  begreift  man,  daß  Friedrich  Wilhelm  L  einen 
seiner  gewöhnlichen  Tobsuchtsanfälle  bekam,  als  er  seinen  Sohn 
beim  Einpauken  von  mensa  mensae  antraf.  Um  seinen  Sohn 
herzhaft  zu  machen,  ließ  ein  anderer  Hohenzoller,  der  Mark- 
graf von  Ansbach,  in  seinem  Zimmer  junge  Bären  aufziehen, 
eine  Maßregel,  von  welcher  er  erst  absah,  als  eins  der  heran- 
gewachsenen Tierchen  sich  anschickte,  einen  Diener  zu  ver- 
zehren. Weltbildung  erwarb  ein  Kavalier  nicht  auf  Univer- 
sitäten, sondern  auf  Reisen,  gewöhnlich  auf  der  sogenannten 
großen  Tour,  die  ihn  in  Begleitung  seines  Hofmeisters  durch 
Deutschland  und  Italien,  später  hauptsächlich  an  den  franzö- 
sischen Hof  führte.  War  die  Erziehung  der  männlichen  Jugend 
derhöherenStände  schon  einehöchst  unzulängliche  —  Georglll. 
von  England  konnte  z.  B.  zehn  Jahre  alt,  weder  Deutsch  noch 
Englisch  —  so  war  die  der  Mädchen  vollends  ganz  vernach- 
lässigt und  diejenigen,  welche  später  die  Lücken  derselben  aus- 
zufüllen wußten,  wie  die  Markgräfin  Wilhelmine  von  Bayreuth, 
Herzogin  Anna  Amalia  von  Sachsen-Weimar,  Katharina  IL, 
können  ihre  schlechte  und  oberflächliche  Erziehung  meist  auch 
durch  ganz  ungeeignete  Individuen  nicht  genug  beklagen.  Der 
Mangel  an  geeigneten  Erziehern  wurde  auch  sehr  drückend 
empfunden.  Der  spätere  Fürst  Kaunitz  z.  B.  beschwert  sich 
1745  gegen  seinen  Vater,  daß  er  in  Brüssel  keinen  passenden 
Hofmeister  für  seine  Kinder  finden  könne.  Geliert  sah  sich, 
um  diesem  Uebelstande  zu  steuern,  veranlaßt,  in  Leipzig  ein 
Kolleg  über  die  Eigenschaften  eines  Hofmeisters  zu  lesen.  Lief 
schon  die  Erziehung  der  oberen  Stände  rein  auf  eine  Abrichtung 
zu  gewissen  äußeren  Formen  hinaus,  so  war  die  der  Jugend 
der  übrigen  Stände  vollends  vernachlässigt,  und  beschränkte 
sich  in  der  Hauptsache  auf  eine  gründliche  Verachtung  der 
deutschen  Sprache.  Den  Oldenburger  Schülern  wurde  noch 
1704  verboten,  außerhalb  der  Schule  etwas  anderes  als  Latein 
zu  sprechen.    1709  schreibt  August  Hermann  Francke,  daß  kein 

Z2 


y.  B.  Siiiiion  Cliardin,  Die  Lektüre 


Die  Mod«.   18.  Jatrt.    10 


DieMode.18.  Jatrh.  2.  A. 


Nicolas  Lanc7et,  Schäferszene 


Student  der  Theologie  in  Halle  imstande  sei,  einen  richtigen 
deutschen  Brief  zu  schreiben,  ja  der  Hofmeister  von  Louise 
Adelgunde  Kulmus,  der  späteren  Frau  Gottsched,  verwies  ihr 
das  Schreiben  deutscher  Briefe  als  »gemein«.  Und  selbst  in 
der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  noch  schreiben  Lauckhard 
und  sein  Vater  an  Professor  Semler  lieber  Lateinisch  als  Deutsch. 
Wie  traurig  es  um  den  Unterricht  überhaupt  aussah,  lehrt 
Winkelmanns  Jugendgeschichte.  Wenn  Friedrich  Nicolai  auf 
seiner  Reise  feststellt,  daß  man  in  Bayern  etwa  nur  in  jedem 
dreißigsten  Dorf  einen  Schulmeister  finde,  so  paßt  das  dazu, 
daß  auch  in  Oesterreich-Schlesien  nur  etwa  der  fünfund- 
zwanzigste Teil  der  Bevölkerung  Schulunterricht  empfing,  und 
daß  in  Krain  die  Geistlichkeit  in  ihren  Predigten  das  Lernen 
von  Lesen  und  Schreiben  als  »Teufelswerk«  bezeichnete.  Ganz 
in  diesem  Sinne  erzählt  Serafina  Feliziani,  die  »Gräfin«  Cagliostro 
einmal  ihren  Anbetern,  daß  man  in  Rom  Mädchen,  die  ehrbar 
und  tugendhaft  werden  sollten,  weder  Lesen  noch  Schreiben  lehre. 
Als  Rousseau  nun  der  Menschheit  zurief,  tut  das  Gegenteil  des 
Herkömmlichen  und   Ihr  werdet  das  Rechte  tun,  da  sproßten 


34 


Nicolas  Lancret,  Nicaise 

die  pädagogischen  Systeme  aus  dem  Boden  wie  die  Blumen  im 
Mai.  Man  wollte  abseits  von  der  verkünstelten  Gesellschaft 
mit  ihrer  Schablonenkultur  Individuen  erziehen,  freie  Menschen 
in  freier  Natur.  Wie  die  vergangene  Generation  die  Ritter- 
Akademien  und  die  Kadetten- Anstalten  zur  Dressur  ihrer  Jugend 
errichtet  hatte,  so  gründete  man  jetzt  »  Philanthropine«.  Basedow 
in  Dessau,  Salzmann  in  Schnepfental,  Campe  in  Hamburg  u.  a. 
wirkten  im  Sinne  individualistischer  Erziehung,  um  wenigstens 
das  künftige  Geschlecht  dem  wahren  Menschentum  nahe  zu 
bringen.  Als  aber  Herr  v.  Rochow  die  Wohltaten  der  Schule  auch 
der  Landbevölkerungzuteil  werdenlassen  wollte, dabedeuteteihn 
ein  preußischer  Minister,  innezuhalten,  denn  der  gemeine  Mann 
habe  nur  Gehorsam  zu  lernen.  Das  geschah  durch  den  gleichen 
Herrn  von  Zedlitz,  der  einst  Gottfried  August  Bürger  nicht  als 
Lehrer  anstellen  wollte,  damit  die  Jugend  keinen  Hang  zu  der 
alle   Seelenkraft   untergrabenden    Poeterei  bekomme. 


35 


An  Schonungslosigkeit  gegen  die  Kinder  ließ  es  allerdings 
auch  diese  Generation,  die  selbst  noch  in  sklavischem  Gehor- 
sam aufgewachsen  war,  nicht  fehlen.  Ismael  Mengs  hat  Anton 
Rafael  und  Therese  Concordia  Mengs  zu  Künstlern  erprügelt, 


Daulli,  Ludwig  XV.  lyjS. 

eine  pädagogische  Kunst,  die  Rafael  an  seinen  eigenen  Kindern 
30  Jahre  später  ebenfalls  übte,  Casanova  erzählt,  wie  er  sie 
fast  zu  Krüppeln  geschlagen  hätte.  Aus  Wahrheit  und  Dichtung 
erfahren  wir,  wie  unbarmherzig  der  Rat  Goethe  gegen  Wolf- 
gang und  Cornelia  verfuhr,  wie  der  berühmte  Zimmermann  Sohn 
und  Tochter  durch  seine  Härte  zur  Verzweiflung  trieb.  Mit 
dieser  Strenge  hängt  wohl  auch  die  uns  so  seltsam  anmutende 
Frühreife  der  Menschen  jener  Zeit  zusammen.    Die  damalige 

36 


R.HotiStor.  nac^-.  Zoaz 


i^iezzolmto 


WILLIAM   PITT,   ENGLISCHER    STAATSMANN 


Gesellschaft  entließ  ihre  Angehörigen  in  einem  Alter,  in  dem  sie 
noch  Kinder  waren,  als  fertig  ins  Leben.  Moritz  von  Sachsen 
wohnt  als  Dreizehnjähriger  der  Schlacht  von  Malplaquet  bei, 
Prinz  Max  von  Württemberg  ficht  mit  14  Jahren  schon  in  der 
Schlacht  von  Pultusk  mit :  Leopold  von  Gerlach  ist  1780  noch 
minderjährig  aber  schon  kgl.  Regierungsrat.  Sophie  von  Pann- 
witz ist  vierzehnjährig  schon  Hof-  und  Staatsdame  der  Königin 
von  Preußen,  ihr  späterer  Mann,  Johann  Ernst  von  Yoß  mit 
18  Jahren  Geheimrat  mit  Sitz  und  Stimme  am  Oberappellations- 
gericht in  Berlin;  ihre  Tochter  heiratet  mit  14 Jahren,  Wielands 
Tochter  mit  15,  Goethes  Mutter  mit  17  usw.  Diese  Frühreife 
hängt  wohl  damit  zusammen,  daß  man  den  Unterricht  fast 
npch  in  den  W^indeln  beginnen  ließ.  Sieht  man  selbst  von 
Wunderkindern  wie  ^vlozart  und  dem  kleinen  Heinecken,  derein 
Jahr  alt  den  Pentateuch  auswendig  konnte,  völlig  ab,  so  bleibt  es 
doch  noch  wunderlich  genug,  daß  Emilie  Basedow  noch  nicht 
vier  Jahre  alt  Französisch  spricht,  Wieland  seinen  Unterricht 
schon  mit  3V2  Jahren  beginnt,  Seume  sich  auf  die  Zeit,  in  der 
er  nicht  hätte  lesen  und  schreiben  können,  überhaupt  nicht 
mehr  besinnen  kann.  Welche  \'orwürfe  man  auch  immer  der 
heutigen  Schule  machen  mag,  man  muß  als  Anerkennung 
wenigstens  gestehen,  daß  sie  ihren  Vernichtungskampf  gegen 
den  Geist   der  Kinder  erst   in  einem  späteren  Alter    aufnimmt. 


Watteau,  Die  Göttin  Ki  Mao  Sao 

27 


Nicola 


Im  Winler 


Die  Moral 


D 


ie  Unbefangenheit,  mit  welcher  noch  das  i6.  Jahrhundert 
seine  naive  Sinnlichkeit  zur  Schau  getragen  hatte,  war 
im  Laufe  des  17.  unter  den  Nachwehen  des  furchtbaren 
großen  Krieges  zu  völliger  Zügellosigkeit  entartet.  Im  18.  Jahr- 
hundert werden  die  moralischen  Anschauungen  der  Gesellschaft 
dann  so  laxe,  daß  die  Unsittlichkeit  geradezu  als  Folgeerschei- 
nung der  Toleranz  wirkt.  Wenn  Fürsten  und  hohe  Herren  sich 
ihrer  Liebschaften  früher  noch  geschämt  hatten,  und  wenigstens 

38 


Nicolaus  Lancret,  Am  Morgen 

eine  weitere  Oeffentlichkeit  nicht  gerade  zu  Zeugen  ihrer  Eska- 
paden einluden,  so  macht  das  Beispiel  Ludwig  XIV.  die  Unmoral 
nunmehr  zum  guten  Ton.  Eine  Maitresse  zu  haben,  gehörte 
für  einen  Herrscher  absolut  zur  Notwendigkeit,  und  Fürsten, 
die  keine  Herzensneigung  zu  einer  anderen  als  der  eigenen  Frau 
fühlen,  halten  sich  eine  maitresse  en  titre,  um  ihrer  höfischen 
Pflicht  zu  genügen.  So  Friedrich  I.  von  Preußen  die  Gräfin 
Wartenberg,  Kaiser  Karl  VI.  die  Gräfin  Althann,  Georg  III.  von 
England,  u.  a.  Ludwig  XIV.  war  in  der  Nachgiebigkeit  gegen 
seine  zärtlichen  Neigungen  durch  keine  Skrupel  des  Gewissens 
behindert  worden;  er  hatte  aber  die  Rücksichten,  die  er  seiner 
königlichen  Würde  und  dem  öffentlichen  Anstand  schuldete, 
nie  aus  den  Augen  verloren.  Er  gab  seinen  Maitressen  hohe 
Titel  und  Hofstellen,  ja,  er  hat  die  letzte  derselben,  Frau  von 
Maintenon,  sogar  zur  linken  Hand  geheiratet,  sein  Verkehr  mit 
diesen  Damen  bewegte  sich  stets  in  Formen,  deren  Feinheit 
von  derihm  eigenen  Ritterlichkeitgegen  dasweiblicheGeschlecht 
diktiert  wurde.    Sofort  nach  seinem  Tode  ward  das  anders.   Der 


39 


Herzog  von  Orleans,  Regent  für  den  unmündigen  Ludwig  XV., 
kannte  nur  noch  ein  Gesetz:  sich  zu  amüsieren.  Er  suchte 
seine  Unterhaltung  in  einem  Kreise,  dessen  Eingeweihte  sich 
mit  Stolz  Roues,  d.  h.  von  allen  Lastern  Geräderte  nannten, 
und  auf  den  Ton,  den  er  damit  angab,  stimmte  sich  sofort 
die  gesamte  gute  Gesellschaft.  Was  Liselotte,  die  brave  Mutter 
des  Regenten,  über  das  Treiben  und  die  Anschauungen  der 
Pariser  vornehmen  Welt  an  ihre  Korrespondentinnen,  auch  an 
die  Unverheirateten  derselben  berichtet,  stellt  alles  in  Schatten, 
was  unsere  Zeit  an  Skandalprozessen  an  den  Tag  gebracht  hat. 
Dieser  Gesellschaft  galt  die  eheliche  Treue  nicht  nur  als  lächer- 
lich, nein,  sie  hielt  sie  geradezu  für  einen  groben  Verstoß  gegen 
den  guten  Ton,  nur  dann  verzeihlich,  wenn  die  Gatten,  wie 
etwa  die  herzoglichen  Paare  von  Luxemburg  und  von  Bouffiers 
miteinander  in  einer  viereckigen  Ehe  lebten.  Die  Treue,  die 
Ludwig  XV.  jahrelang  seiner  Gattin  bewahrte,  empörte  den 
Hof,  und  seine  Umgebung  ruhte  nicht,  bis  sie  ihn  debauchiert. 
Als  ähnliche  Manöver  bei  seinem  Enkel  mißglückten,  verfiel  der- 
selbe rettungslos  der  Lächerlichkeit.  Das  geringe  Ansehen,  in 
dem  Ludwig  XVL  bei  seinem  Volk  stand,  verdankte  er  der 
Verachtung,  mit  der  die  Höflinge  über  seine  Sittenstrenge 
urteilten.  Es  war  ein  Ruhm,  sittlich  ohne  Vorurteil  zu  sein ; 
als  die  Tischgenossinnen  der  Madame  de  Chauvelin  in  einem 
Vaudeville  1733  als  die  sieben  Todsünden  auf  die  Pariser 
Bühne  gebracht  wurden,  waren  sie  stolz  darauf  und  der  Herzog 
von  Richelieu  verdankte  seine  sprichwörtlichen  Erfolge  bei  den 
Frauen  nur  dem  Umstand,  daß  er  der  berüchtigste  Don  Juan 
seiner  Zeit  war.  Die  Damen  wetteiferten  darin,  sich  für  ihn 
bloßstellen  zu  dürfen,  Frau  von  Polignac  und  die  Marquise 
de  Nesle  haben  sich  seinetwegen  sogar  auf  Pistolen  duelliert. 
Maitresse  des  Königs  zu  werden,  war  das  höchste  Ziel,  das 
dem  Ehrgeiz  der  Frauen  vorschwebte,  das  zu  erreichen  Intriguen 
über  Intriguen  sogar  aus  den  Pensionaten  der  vornehmen  Klöster 
heraus  angesponnen  wurden.  Der  Adel  rechnete  es  zu  den 
Privilegien  seiner  Kaste,  dem  Herrscher  die  Maitressen  aus 
seinen  Kreisen  zu  liefern.  Die  Pompadour  hatte  gegen  den 
Haß  des  Hofes  nur  aus  dem  Grunde  zu  kämpfen,  weil  sie 
eine  Bürgerliche  war,  und  Friedrich  Wilhelm  H.  von  Preußen 
kuppelte  man  Julie  von  Voß,  Gräfin  Sophie  Dönhoflf  nur  zu, 
um   die  gehaßte  Bürgerliche  Rietz-Enke-Lichtenau   zu  stürzen. 

40 


James '^Vatson  r.t       =i::.^,,-j  Mezzotinto  Bruckmaim. 

JUNGES    MADCHEN   MIT    SPITZENMANTILLE 


12 


August  dem  Starken  stellte  man  vor,  daß  er  sich  auch  eine 
Maitresse  aus  dem  polnischen  Adel  wählen  müsse,  damit  man 
in  Polen  nicht  eifersüchtig  darauf  werde,  daß  der  König  diese 
Ehre  bisher  nur  Deutschen  habe  zuteil  werden  lassen.  Die  Ver- 
hältnisse lagen  in  Deutschland  durchaus  nicht  anders  als  in 
Frankreich.  Man  war  hohen  und  höchsten  Ortes  in  Bezug  auf  die 
Moral  außerordentlich  tolerant.  Die  Königin  Sophie  Charlotte 
von  Preußen  gab  einst  während  eines  Aufenthalts  in  Leipzig 
ihrem  königlichen  Wirt  August  dem  Starken  einen  Ball  und 
hatte  sich,  wie  Pöllnitz  sehr  witzig  erzählt,  als  besonderen  Spaß 
ausgedacht,  nicht  nur  die  gerade  in  Gunst  befindliche  Maitresse 
des  Königs,  sondern  auch  die  in  Ungnade  gefallenen  heimlich 
zu  diesem  Fest  einzuladen,  so  daß  zu  ihrem  höchsten  Ergötzen 
der  Monarch,  als  er  ganz  unerwartet  die  Gräfin  Königsmark, 
die  Fürstin  von  Teschen,  Frau  von  Haugwitz  und  Frau  von 
Esterle  traf,  sich  einem  Quartett  von  Geliebten  gegenübersah. 
Diese  Konnivenz  der  Höfe  blieb  sich  das  ganze  Jahrhundert 
über  ziemlich  gleich.  Herzog  Karl  Eugen  von  Württemberg  be- 
suchte mit  Franziska  von  Hohenheim  die  deutschen  Höfe  lange 
ehe  er  die  Dame  geheiratet  hatte,  und  später  noch  empört  sich 
die  Gräfin  Voß  darüber,  daß  die  Königin  von  Preußen  den 
Markgrafen  von  Ansbach  und  Lady  Craven  empfängt.  Es  muß 
allerdings  zugestanden  werden,  daß,  wenn  in  Deutschland  auch 
die  moralischen  Anschauungen  von  dergleichen  Frivolität  waren 
wie  in  Frankreich,  die  Betätigung  derselben  doch  jener  Grazie 
entbehrt,  die  in  Frankreich  selbst  die  Tugend  weniger  lang- 
weilig macht  als  anderswo.  Es  liegt  etwas  Wüstes  und  Rohes, 
etwas  brutal  Täppisches  in  der  Art,  wie  viele  deutsche  Fürsten 
jener  Zeit  sich  auslebten.  Man  denke  nur  an  den  Herzog  von 
Mecklenburg,  der  Frau  von  Wolffrath  zu  seiner  Maitresse  machte, 
nachdem  er  eben  ihren  Mann  hatte  hinrichten  lassen,  oder 
an  den  Markgrafen  von  Baden-Durlach,  der  seineTage  in  einem 
Harem  von  i6o  Gartenmägdlein  zubrachte,  oder  an  den  Herzog 
von  Württemberg,  der  seine  Kinder  von  fünf  Maitressen  unter- 
einander verheiratete.  Man  war  in  England  dazumal  gewiß 
nicht  sittenstrenger  als  auf  dem  Kontinent,  aber  alle  Reisenden 
englischer  Nationalität,  die  in  jenen  Jahrzehnten  Deutschland 
besuchten,  fällt  es  auf,  wie  völlig  gleichgültig  man  hier  gegen 
jedes  Gefühl  äußeren  Anstandes  sei.  Lady  Montague  schreibt 
aus  Wien,  daß  jede  Dame  von   Stande  ihren   Cicisbeo  habe 

42 


Frangois  Boucher,  Familienbild,  ijjg 

daß  diese  Verhältnisse  ebenso  bekannt  wie  selbstverständlich 
seien  und  in  allen  Gesellschaften  respektiert  würden.  In  späterer 
Zeit  berichtet  Sir  William  Wraxall  vom  Hofe  in  Cassel,  daß 
die  Mißachtung  des  Schicklichkeitsgefühls  geradezu  wie  etwas 
Geheiligtes   betrachtet  werde. 

Unter  diesen  Umständen  mußte  die  Opposition,  die  aus  bürger- 
lichen Kreisen   gegen   das   lockere  Treiben   an  den  Höfen  und 


43 


?^, 


Festbau  auf  der  Place  Louis  le  Grand,  174J 

unter  dem  Adel  laut  wurde,    ganz    von  selbst  auf  den   Weg 
der  Tugend  gedrängt  werden.    So   sehen  wir  denn  auch,   daß 
die  Wochenschriften,  die  so  ziemlich  mit  dem  Anfang  des  Jahr- 
hunderts zu  erscheinen  beginnen,  und  sich  in  immer  steigender 
Zahl  an  die  bürgerliche  Familie  wenden,  direkt  auf  moralische 
Wirkung  zielen,  genau  wie  die  englischen  Vorbilder,  denen  sie 
nachgeahmt  sind.  Während  Gottsched  und  seine  blaustrümpfige 
Frau    in    ihrer    pedantischen    Art    mit    der    Verbesserung    der 
deutschen  Sprache  die  Deutschen  auf  rein  verstandesmäßigem 
Wege  zur  Tugend  bilden  wollten,  machte  Geliert  die  Pflege  der 
Tugend  zur  Sache  des  Herzens  und  des  Gefühls,  und  beginnt 
damit  jene  Epoche  der  Empfindsamkeit,  welche  für  die  Menschen 
der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  so  charakteristisch  ist. 
Diese  Richtung  auf  das  Schwärmerische  und  Gefühlvolle  wurde 
ganz  wesentlich  unterstützt  durch  die  Literatur,  die  einen  ganz 
anderen  Charakter  annimmt.   An  Stelle  der  schwülstigen  Roman- 
ungeheuer, die  ihre  ledernen  Helden-,  Haupt-  und  Staatsafifären 
in   dicken   Quartanten   abhandeln,    treten    die  Romane,    deren 
Aktionsgebiet  im  menschlichen  Herzen  allein  liegt,   ein  Unter- 
schied,  der  sofort  in  die  Augen  springt,   vergleicht   man  etwa 
den   ersten  dieser  neuen  Art:    Gellerts  schwedische  Gräfin  mit 

46 


Lohensteins  asiatischer  Banise  oder  des  Herzogs  von  Braun- 
schweig Octavia,  die  noch  die  Unterhaltung  der  vorigen  Ge- 
neration gebildet  hatten.  Wenn  Zoten  und  Zweideutigkeiten 
sich  selbst  in  den  Versen  der  Dichterinnen  jener  Epoche  breit 
gemacht  hatten,  man  lese  einmal  die  Gedichte  der  Sidonia 
Hedwig  Zäunemann,  um  sich  einen  Begriff  von  dem  Geschmack 
und  dem  Zartgefühl  einer  Zeit  zu  machen,  in  der  eine  Jungfrau 
einer  Freundin  derartige  Gedichte  zur  Hochzeit  verfertigen 
konnte,  so  werden  sie  jetzt  durch  sentimentale  Wendungen 
ersetzt.  Die  Dichter  entrücken  die  Liebe  der  Sinnlichkeit  und 
verpflanzen  sie"  in  die  Seele  an  die  Seite  der  Freundschaft, 
die  bald  einen  ebenso  breiten  Raum  einnimmt.  Jetzt  erst 
scheinen  die  Menschen  sich  bewußt  geworden  ,zu  sein,  daß  sie  Empfindung 
eine  Seele  haben  und  die  Neuheit  der  Entdeckung  reißt  sie  Empßndeiei 
zumUeberschwangfort,  zu  einer  Schwelgerei  der  Gefühle,  welche 
bald  jede  echte  Empfindung  in  bloße  Empfindelei  ausarten 
läßt.  So  gesteht  Charlotte  von  Clausewitz  ihrer  Freundin  Elise 
von  Bernstorff,  daß  ihr  der  tote  Baum  im  Garten  lieber  sei  als 
der  grüne,  weil  er  besser  zu  ihrer  Stimmung  passe.  Tausend 
bis  dahin  unbekannte  Gefühle  und  Gefühlchen  werden  tändelnd 
gepflegt,  man  rührt  sich  und  andere,  schwelgt  in  Tränen  und 
Seufzern.  Heftige  Gefühlsausbrüche  werden  guter  Ton,  Um- 
armungen, Küsse,  Tränenströme,  Ohnmächten  gehören  zu  den 
alltäglichen  Umgangsformen  beider  Geschlechter.  Bürger  be- 
dankt sich  überschwenglich  bei  Miller  für  die  wollüstigen  Trä- 
nen, die  er  beim  Siegwart  habe  weinen  dürfen,  Friedrich  der  Große 
bricht  beim  Rezitieren  französischer  Verse  konvulsivisch  in 
Tränen  aus.  Prinz  Ferdinand,  Prinz  Heinrich,  preußische 
Generale  weinen  bei  jeder  Gelegenheit,  ebenso  wie  de  Catt, 
der  nie  versäumt,  die  vergossenen  Zähren  in  seinem  Journal 
zu  buchen.  Die  Dichterjünglinge  des  Hainbundes  vergießen  so- 
viel Tränen,  wie  sie  Verse  machen,  ja  selbst  der  nüchterne  Voß 
steigert  sich  in  einen  wahren  Rausch  tränenseliger  Ueberschweng- 
lichkeit  hinein.  Man  führt  ein  Tagebuch,  um  es  andere  lesen  zu 
lassen,  wie  die  Prinzessin  Heinrich,  die  es  in  Magdeburg  bevor- 
zugten Hofdamen  zu  lesen  gibt  und  sie  durch  diesen  Blick  in 
ihr  Herz  »innig  rührt«.  Man  spiegelt  die  eigene  schöne  Seele 
in  der  fremden  und  wird  nicht  müde,  sich  selbst  und  anderen 
ein  Theater  seelischer  Sensationen  vorzuspielen.  Gustav  Gott- 
hardt  von  Blücher,  ein  Bruder  des  Fürsten,  hatte  über  seinem 

47 


Pietro  Longhi-,  Die  Tanzstunde,  I74J- 


Bette  die  Modelle  des  Sarges  seiner  Gattin  und  seines  eigenen 
mit  den  zärtlichsten  Inschriften.  Sie  war  1772  gestorben,  er 
starb  1808.  Die  Stammbücher,  die  bis  dahin  ausschließliches 
Eigentum  der  Studenten  und  im  Laufe  der  Zeit  zum  Tummel- 
platz rohester  Zoterei  ausgeartet  waren,  wandern  in  den  Besitz 
zartfühlender  Jünglinge   und  Jungfrauen   und  werden  Tempel, 

48 


Figurine  für  ein  Ballett 


Die  Mode.  18.  Jahrli.  13 


in  denen  die  Herzen  der  Empfindsamen  den  Gefühlen  ewiger 
Liebe,  unvergänglicher  Freundschaft  die  süßesten  Worte  leihen. 
In  jedem  Park  gehört  ein  Freundschaftstempel  zu  den  unent- 


Ckarditi,  Die  Tanzstunde^  ^74S 


behrhchen  Requisiten  gerührter  Stimmungsmacherei.  Friedrich 
der  Große  weiht  in  Sanssouci  einen  solchen  dem  Andenken 
seiner  Schwester,  Gleim  richtet  sich  in  seinem  Hause  in  Halber- 
stadt einen  Freundschaftstempel  ein,  in  dem  er  die  Bildnisse 
seiner  zahllosen  Freunde  numeriert  und  etikettiert  bewahrt,  wie 
die  Kräuter  in  einem  Herbarium. 
Wie  Oel  ins  Feuer  so  goß  die  Literatur  von  Zeit  zu  Zeit  immer   Kiopitock 


Di«  Mode.  18.  Jahrh.  2.  A. 


49 


wieder  neues  wonniges  Gift  in  die  Herzen  der  Gefühlvollen. 
Klopstock  riß  durch  den  feurig  leidenschaftlichen  Schwung 
seiner  Sprache,  durch  das  Fremdartige  seiner  ungereimten 
Strophen  die  Seelen  in  die  Höhe  unbegreiflich  erhabener  Vor- 
stellungen und  füllte  sie  mit  Idealen,  weit  ab  von  den  ausge- 
tretenen Pfaden  der  Alltäglichkeit.  Der  Messias  war  das  erste 
Werk  der  deutschen  schönen  Literatur,  das  ein  lautes  Echo  in 
ganz  Deutschland  weckte.  Es  gab  den  Lesern  etwas  Höheres, 
als  sie  bis  dahin  je  empfangen  hatten.  Er  wirkte  mit  der  Kraft 
eines  Elementarereignisses,  das  alles  mit  sich  fortreißt.  So 
voll  waren  die  Köpfe  davon,  daß  die  Synode  in  Magdeburg 
unter  dem  Vorsitz  des  Hofpredigers  Sack  einmütig  beschloß, 
daß  die  eine  Hauptfigur  der  Dichtung,  der  gefallene  Engel 
Abbadonna  unbedingt  selig  werden  müsse,  und  in  Wahrheit  und 
Dichtung  teilt  Goethe  etwas  von  der  Wirkung  des  Buches  in 
der  Kinderstube  mit,  als  er  und  Cornelia  das  verzweifelnde 
Gespräch  zwischen  Satan  und  Adramelech  mit  verteilten  Rollen 
aufsagen  und  durch  ihre  Leidenschaft  eine  tragikomische  Kata- 
strophe herbeiführen.  Aus  den  Gebieten  des  Uebersinnlichen 
führten  dann  Richardsons  Romane,  die  in  aller  Hand  waren, 
die  Gemüter  der  Exaltierten  wieder  in  die  bürgerliche  Sphäre 
sanften  Empfindens  zurück,  wo  sie  mit  Clarissa  und  Pamela, 
mit  Grandison  und  Lovelace  schwärmen  durften,  um  sich  bald 
darauf  von  Ossian  mit  der  schmerzlichen  Süßigkeit  einer  nebel- 
haften Schwermut  durchschauern  zu  lassen,  um  schließlich 
durch  den  Werther  vollends  um  Vernunft  und  Besinnung 
gebracht  zu  werden. 
Werther  Man  hat  die  Wirkung  von  Goethes  Roman  das  Wertherfieber 
genannt  und  mit  um  so  größerem  Rechte,  als  man  sich  heute 
kaum  noch  einen  Begriff  davon  machen  kann,  wie  tief  und 
wie  weit  der  Einfluß  dieses  Buches  damals  ging.  Daß  sein  Ver- 
fasser mit  einem  Schlage  ein  berühmter  Mann,  der  Lieblings- 
dichter seines  Volkes  wurde,  daß  Auflage  der  Auflage,  Nach- 
druck dem  Nachdruck,  Uebersetzung  der  Uebersetzung,  Nach- 
ahmung der  Nachahmung  folgte,  will  wenig  besagen.  Dieses 
Schicksal  haben  viele  Autoren  mit  ihren  Büchern  geteilt.  Hier 
aber  hatte  ein  Dichter  ofifenbart,  was  ein  ganzes  Volk  empfand, 
das  Buch  schien  mit  dem  Herzblut  der  Zeitgenossen  geschrieben. 
Es  drang  in  alle  Kreise,  sogar  in  die  Hütte  leibeigener  Bauern, 
Ernst  Moritz  Arndt   besann   sich   darauf,   es   im   Hause   seiner 

SO 


Jean  Marc  Nattier,   Mme.  Viäoire  de  France,  Tochter  Ludwig  XV.  als  Diana 


Bildungs- 
bedürfnis 


Eltern  gesehen  zu  haben  ;  es  brachte  die  Studenten,  wie  Matthison 
bekannte,  aus  Roheit  und  Verwilderung  zu  feinerer  Sitte;  es 
drängte  sich  in  Aeußerlichkeiten  selbst  der  Tagesmode  auf. 
Lauckhard  erzählt  von  der  nächtlichen  Prozession,  die  unter 
Trauergesängen  die  gute  Gesellschaft  Wetzlars  im  Frühjahr  1776 
nach  Werthers  Grab  führte,  und  von  wievielen  wissen  wir, 
denen  in  jenen  Jahren  der  freiwillige  Tod  Werthers  der  Weg- 
weiser in  die  Freiheit  wurde?  In  Linz  sah  Nicolai  Werther 
sogar  als  tragisches  Ballett,  in  Wien  Werther  und  Lottchen  als 
Feuerwerk. 

Die  Erhebung  des  deutschen  Volkes,  das  Entstehen  der  neuen 
Gesellschaft,  die  gleich  entfernt  von  den  Vorrechten  des  Adels, 
den  Vorurteilen  der  Gelehrten  und  der  Roheit  des  Pöbels 
ihre  Mitglieder  unter  den  »Gebildeten«  sucht,  dankt  die  Nation 
der  schönen  Literatur  und  ihrer  Pflege,  in  welcher  sich  die 
besten  und  edelsten  Geister  zusammenfanden,  in  welcher  sie 
ihre  höchste  Aufgabe  sahen.    Das  Erringen  dieser  Bildung  war 

52 


'■f^^ 


«Bi   r^Hß^  ^" 


Boucher,  La  belle  botiqueiicre 


Die  Mode.  18,  'atr}.  15 


Chardin,  Der  Zeichenunterricht 


indessen  außerordentlich  schwer,  da  nur  die  Begüterten  im  Besitz 
von  Bibliotheken  waren  und  imstande,  sich  Bücher  zu  beschaffen. 
Aus  Winkelmanns  und  Bürgers  Briefen  wissen  wir,  wie  schwierig 
es  war,  überhaupt  nur  die  Bücher  zu  erhalten,  deren  man  be- 
durfte, und  daß  Winkelmann  einen  ihm  wenig  zusagenden 
Posten  beim  Grafen  Bünau  nur  annimmt,  weil  er  da  an  eine 
große  Bibliothek  kommt.  Aus  Cassel  schreibt  1781  Georg  Forster 
an  Jacobi,  daß  dort  kein  Buch  zu  sehen  sei,  gerade  wie  Reb- 
mann in  Köthen  nur  Bibel  und  Gesangbuch  findet.  Perthes, 
gewiß  ein  Sachverständiger,  berichtet  uns,  daß  nur  die  wenigsten 
kleinen  Städte  Buchhandlungen  besaßen,  daß  z.  B.  zwischen 
Regensburg  und  Tirol  nur  in  Augsburg  und  im  ganzen  Nord- 
westen nur  in  Münster  eine  solche  zu  finden  gewesen  sei.  Die 
Erscheinungsart  der  Bücher,  die  damals  nur  zweimal  im  Jahr, 
zur  Oster-  und  Herbstmesse,  auf  den  Markt  kamen,  machte 
aber  die  Buchhandlungen  geradezu  zu  Mittelpunkten  des  lite- 
rarischen Verkehrs  und  auf  diese  Weise  ganz  von  selbst  Leipzig 
als  Zentrale  des  Buchhandels  zur  Zentrale  des  ganzen  geistigen 

53 


Deutschlands,  zu  dessen  Provinzen  Oestcrreich  und  Süddeutsch- 
land   aber    nicht    gehörten.      Wie    stark    auch    der    Gegensatz 
Norden  und   zwischcu   dem  KathoHzismus   des   Südens  und  dem  Protestan- 
tismus des  Nordens  sein  mochte,   weit  stärker  war  noch  jener. 


Chardin,  Die  Gouvernante 

der  dadurch  entstand,  daß  der  Süden  ganz  unliterarisch  war. 
In  Oesterreich  wütete  die  Zensur  so  systematisch,  daß  man 
sich  schließlich  gezwungen  sah,  das  Verzeichnis  der  verbotenen 
Bücher  zu  verbieten,  damit  man  aus  demselben  nicht  die  guten 
Bücher  kennen   lerne !    Das   kleine  Bayern  von   damals   zählte 

54 


Jacques- Andre  Portail,  Ein  Duett 


D;«  Mode.    18.  Jalirt.    16 


Chardin,  Das  Tischgebet 


zwar  28000  Kirchen  und  200  Klöster  mit  5000  Mönchen,  aber 
der  einzige  Verleger  Grätz,  der  es  seit  undenklichen  Zeiten 
gewagt  hatte,  sich  darin  anzusiedeln,  büßte  durch  schikanöse 
Prozesse  seiner  Verfolger  binnen  kürzester  Zeit  sein  Vermögen 
ein.      Das    Land    war    von   der    geistigen    Bewegung,    die    das 

55 


Ckard'm,  Die  Briefsieglerin 


übrige  Deutschland  ergriffen  hatte,  so  völlig  ausgeschlossen, 
als  läge  es  auf  einem  anderen  Planeten,  so  daß  Riehl  einmal 
mit  Recht  sagen  konnte,  das  bayerische  Volk  sei  aus  dem  17. 
in  das  19.  Jahrhundert  geschritten,  ohne  etwas  vom  18.  zu 
merken.  In  der  Reichsstadt  Ulm  machte  man  sich  ein  Ver- 
dienst daraus  nichts  zu  lesen.  Man  hatte  dort  nicht  einmal 
den  Versuch  gemacht,  eine  Lesegesellschaft  zu  gründen,  wie  an 
anderen  Orten,  wo  sie  allerdings  als  Institute,  welche  die  Auf- 
klärung förderten,  bald  genug  von  der  Polizei  verboten  wurden, 
denn  selbstverständlich  kann  es  keiner  Regierung  erwünscht 
sein,  denkende  Untertanen  zu  haben.  Nicht  einmal  die  Sprache 
war  ein  Bindemittel  zwischen  Nord  und  Süd.  Das  Schrift- 
deutsch, wie  es  sich  im  Lauf  des  Jahrhunderts  herausbildete, 

S6 


Chardin,  Dame  mit  Drehorgel 

machte  man  im  Süden  als  »lutherisch  Deutsch«  verdächtig,  und 
die  Norddeutschen  wiederum  gaben  vor,  die  Sprache  der  anderen 
gar  nicht  zu  verstehen.  Möchte  man  der  sympathischen  Pfälzerin 
Liselotte  nicht  beinahe  gram  werden,  wenn  sie  »das  verfluchte 
Oesterreichisch  wohl  eine  abscheuliche  sprach«  nennt  ?  Die 
spinöse  Markgräfin  von  Bayreuth  kann  von  dem  österreichischen 
Kauderwelsch  der  Kaiserin  Amalie,  die  sie  in  Frankfurt  besucht, 
nur  hie  und  da  ein  Wort  verstehen  und  Friedrich  Nicolai,  auch 
ein  Berliner,  begleitete  seine  Reisebeschreibung  gar  mit  einem 
Wörterbuch  des  »Wiener  Rotwelsch«,  wie  er  den  herzigen 
Wiener  Dialekt  artigerweise  nennt.  Keyßler,  der  im  ersten 
Drittel   des  i8.  Jahrhunderts  in  Süddeutschland  war,   bemerkt, 

57 


ihr  Große 


daß  man  aus  dem  mittäj^lichen  Strich  unseres  geliebten  Vater- 
landes ruhig  wegbleiben  könne,  da  unsere  Muttersprache  im 
Munde  von  Schwaben,  Bayern,  Oesterreichern  ohnehin  nicht 
zu  verstehen  sei.  Goethe  erzählt  umständlich  genug,  wie  er 
unter  dem  unerträglichen  Hofmeistern  der  Leipziger,  die 
seinen  oberdeutschen  Dialekt  lächerlich  fanden,  gelitten  hat, 
und  Lauckhard  nennt  das  Deutsch  der  Straßburger  das  jäm- 
merlichste, ihre  Aussprache  die  allergröbste,  widerlichste  und 
abscheulichste,  die  man  hören  könne.  Zu  dem  literarischen 
Uebergewicht  des  Nordens  trat  der  Ruhm  der  Heldentaten  Fried- 
Friedrich  richs  dcs  Großeu,  von  dem,  wie  Goethe  sagte,  die  deutsche  Lite- 
ratur den  ersten  wahren  und  höheren  Lebensgehalt  empfing,  von 
dessen  strahlendem  Namen  auch  ein  Abglanz  auf  die  Deutschen 
als  Nation  fiel.  Noch  während  des  Siebenjährigen  Krieges  hatte 
sich  selbst  im  Lager  seiner  Gegner  eine  Fritzische  Partei  gebildet. 
Wie  es  in  Frankfurt  zuging,  erzählt  ja  in  anschaulicher  Weise 
Wahrheit  und  Dichtung.  Daß  man  sogar  in  Leipzig  preußisch 
gesinnt  sei  trotz  der  Kontribution  von  900000  Talern,  schreibt 
1757  Kleist  an  Gleim.  In  Rom  trank  der  Kardinal  Albani  mit 
Ostentation  auf  das  Wohl  des  Ketzerkönigs.  Zur  Zeit  des  baye- 
rischen Erbfolgekrieges  war  in  München  kein  Haus,  in  dem  man 
nicht  das  Bildnis  Friedrichs  H.  gefunden  hätte,  man  verehrte  ihn 
als  Schutzgott  Bayerns.  Immermanns  Vater  pflegte  zu  erzählen, 
daß,  wenn  bei  den  Revuen  in  Körbelitz  Friedrich  IL  die  Front 
heraufgeritten  sei,  in  lautloser  Stille  jeder  die  Empfindung  ge- 
habt habe,  es  komme  der  liebe  Gott.  Diese  Bewunderung  aber 
blieb  auf  die  überragende  Persönlichkeit  beschränkt.  Man  fühlte 
Fritzisch,  nicht  preußisch,  denn  der  Gedanke  an  nationale  Neu- 
gestaltung etwa  fehlte  der  Zeit  völlig,  deren  Ideen  ganz  auf  Huma- 
nität im  allgemeinen,  auf  Menschenglück  und  Menschenwohl- 
fahrt gerichtet  waren.  Die  Verfolgung  dieser  idealen  Ziele  mußte 
indessen  fortwährend  auf  die  Schranken  stoßen,  welche  unhalt- 
bare politische  und  gesellschaftliche  Zustände  jeder  realen  Bestä- 
tigung entgegensetzten.  Der  Widerspruch  zwischen  hochsin- 
nigem Wollen  und  unmöglichem  Können  hat  zu  der  Erbitterung 
geführt,  welche  gerade  die  Menschenfreunde  an  der  friedlichen 
Besserung  alles  Bestehenden  verzweifeln  ließ,  so  daß  sie  mit  Fritz 
Stollberg  den  Ausbruch  der  französischen  Revolution  als  die  Mor- 
genröte der  Freiheit  begrüßten.  Diese  unerträgliche  Enge  der 
Verhältnisse  hat  so  viel  dazu  beigetragen,  daß  der  Sturm  und 

58 


Surugue  nach  Nicolas  Coypel,  Madame  de  X.  (Mouchy),  1746 

Drang  jener  Periode  lediglich  auf  literarischem  Gebiete  hausen, 
sich  nur  in  Aeußerlichkeiten  betätigen  konnte.  Sie  hat  ver- 
schuldet, daß  so  viele  dieser  Stürmer  und  Dränger  ihre  besten 
Kräfte  in  einer  seelischen  Schwelgerei  von  Gefühlen  und  Stim- 
mungen nutzlos  verpufiften,   daß   so  viele  andere  sich  in  einem 


59 


Aberglaube 


Fran^ois  Boucher,  Schlittenfahrt. 

Hang  nach  dem  Wunderbaren  verloren,  der  sie  hinter  geheimen 
Gesellschaften,  illuminaten  und  Freimaurern,  Magnetismus  und 
Mesmerismus,  Kabbala  und  Rosenkreuzerei  Aufschlüsse  über 
die  letzten  Geheimnisse  der  Menschheit  suchen  ließ, 
fl"-  So  begleitet  eine  starke  Utiterströmung  des  Aberglaubens  die 
Fluten  der  Aufklärung,  die  sich  im  i8.  Jahrhundert  durch  die 
Köpfe  ergossen.  Wenn  in  diesen  wirbelnden  Fluten  viele  Vor- 
urteile, viel  auf  mangelnder  Kenntnis  beruhender  Aberwitz  zu- 
grunde ging,  ebensoviel  blieb  bestehen.  Die  Aufklärer  kämpften 
wohl  erfolgreich  gegen  die  Religion,  aber  indem  sie  den  Glauben 
erschütterten,  befestigten  sie  nur  den  Aberglauben.  Wenn  man 
die  Aufklärung  von  dieser  Seite  aus  betrachtet,  so  glaubt  man 
ein  Satyrspiel  vor  sich  zu  sehen,  in  dem  die  Geste  des  Fort- 
schritts höhnend  persifliert,  der  Ausdruck  geistiger  Würde  zur 
grinsenden  Fratze  verzerrt  wird.  Man  glaubte  nicht  mehr  an 
Gott,  aber  die  gleichen  Menschen,  welche  stolz  darauf  waren, 
sich  von  der  offenbarten  Religion  emanzipiert  zu  haben,  zwei- 
felten durchaus  nicht  an  der  Existenz  des  Teufels.   Im  Jahre  1727 

60 


Piclro  Lo/i^hi.    DtDiie  bci  iUr  Toiklte 


veranstalteten  der  berüchtigte  Herzog  von  Richelieu,  der  Kar- 
dinal von  Sinzendorf  und  ein  Graf  Merode  in  Wien  eine  Teufels- 
beschwörung. Als  der  Böse  aber  nicht  erschien,  erschlugen  die 
drei  Herren  im  Zorn  ihrer  Enttäuschung  den  Magus.  Bei 
einer  ähnlichen  Veranlassung  erging  es  mehreren  Damen  der 
Pariser  vornehmsten  Gesellschaft  noch  übler.  Die  Hexe,  welche 
ihnen  versprochen  hatte,  den  Teufel  zu  beschwören,  forderte, 
daß  sie  sich  ganz  ausziehen  sollten,  da  die  Etikette  verlange, 
vor  dem  Höllenfürsten  nackt  zu  erscheinen.  Sie  schloß  die 
vorschriftsmäßig  Entkleideten  dann  in  ein  Zimmer  ein  und  ent- 
fernte sich  mit  Kleidern  und  Schmuck  derselben.  Die  blamierten 
Teufelsfreundinnen  wurden  erst  am  anderen  Tage  zwar  nicht 
vom  Teufel  selbst,  aber  von  seinen  Helfershelfern,  der  Polizei, 
höchst  beschämt  befreit.  Ungeheures  Aufsehen  machte  durch 
ihren  unglücklichen  Ausgang  die  Teufelsbeschwörung,  welche 
der  Studiosus  Weber  in  der  Christnacht  1716  in  einem  Wein- 
berg bei  Jena  vornahm.  Der  Unvorsichtige  erstickte  im  Kohlen- 

61 


dampf  und  erntete  statt  der  Schätze,  die  er  hatte  heben  wollen, 
den  zweifelhaften  Nachruhm,  der  Teufel  habe  ihm  den  Hals 
umgedreht.  Der  Glaube  an  Zauberei  und  Hexen  saß  trotz  Spee, 
Becker  und  Thomasius  fest  in  den  Köpfen.  Wilhelmine  von 
Grävenitz,  die  Landverderberin  Württembergs,  wurde  angeklagt, 
den  Herzog  Eberhard  Ludwig  bezaubert  zu  haben,  gerade  wie 
Fräulein  von  Neitzschitz  den  Kurfürsten  von  Sachsen.  Auch 
Liselotte  ist  fest  davon  überzeugt,  daß  ihr  Schwiegersohn  von 
Madame  de  Craon  durch  Eingeben  einer  bezauberten  Muskat- 
nuß zur  Gegenliebe  gezwungen  worden  sei.  In  Turin  wurde 
ein  Mann  gehängt,  weil  er  die  Absicht  gehabt  habe,  den  König 
durch  Sympathie  zu  töten.  In  Szegedin  verbrannte  man  1729 
den  Stadtrichter  nebst  seiner  Frau  und  34  Leidensgefährten 
wegen  Zauberei.  In  Deutschland  erlitt  zu  Würzburg  in  der 
Person  der  siebenzigjährigen  Nonne  Maria  Renata  Singer  die 
letzte  Hexe  den  Feuertod  am  21.  Juni  1749.  Niemals  fand 
die  Kabbala  so  viel  Gläubige  als  in  der  Zeit,  da  man  zwar 
mit  dem  Jenseits  aufgeräumt  hatte,  aber  doch  der  Zukunft  ihre 
Rätsel  zu  entreißen  wünschte.  Die  Gräfin  Cosel,  Maitresse 
Augusts  des  Starken,  hat  die  letzten  Jahrzehnte  ihres  Lebens 
ganz   in  der  Beschäftigung  mit  dieser  hebräischen  Geheimlehre 

zugebracht,  der  zu  Liebe 
Duchanteau  zum  Juden- 
tum übertrat.  Casanova  ver- 
dankte die  Mittel  zu  seinem 
Aufwand  zum  guten  Teil 
seinen  kabbalistischen  Ora- 
kelkünsten, in  denen  der 
Regensburger  Kapuziner- 
pater Tertius  mit  ihm  riva- 
lisierte. 

Aller  Aufklärung,  aller 
Fortschritte  der  Naturfor- 
schungzum Trotz  hieltauch 
das  ganze  18.  Jahrhundert 
noch  an  einer  Lieblingsidee 
des  Mittelalters  fest,  näm- 
lich an  jener  der  Verwand- 
lung minderwertiger  Me- 
Louis  Tocque,  Der  Opernsänger  Jcliole  falle  in  Gold.    DieAlchimi- 


64 


#' 


Jean  Ilonori  Fragonard,  La  Coqtutte 


Die   Mode,   18.  Jahrh.   1« 


^    ;    ■  i)/'  *5/.'tffir77«MWC;'.'.Ä' TT'. \>',ic;.v-.-,i- ji  rat.- •,•-•; 


Ch.  N.  Cochin,  M?ne.  de  Potnpadour  und  der  Vicomte  de  Kuntm  ais 
Aas  und  Galathea  auf  dem  Theater  von   Versailles,  174g 

sten  zählten  Kaiser  und  Könige,  Adel  und  Geistlichkeit,  Ge- 
lehrte und  Ungelehrte,  Männer  wie  Frauen  zu  ihren  Adepten. 
Wenn  man  Wraxall  Glauben  schenken  will,  so  wären  allein  in 
Wien  3000  Personen  mit  Alchimie  beschäftigt  gewesen.  Kaiser 
Franz,  die  Könige  Friedrich  I.  von  Preußen,  August  der  Starke, 
Kurfürst  Max  Joseph  von  Bayern,  der  Landgraf  von  Hessen- 
Homburg,  Graf  Ingelheim,  Fürstbischof  von  Würzburg,  die 
Mutter  Katharinas  der  Zweiten  haben  unablässig  laboriert  und 
ihr  gutes  Gold,  statt  es  zu  vermehren,  ebenso  durch  den  Rauch- 
fang verflüchtigt,  wie  der  Pastor  Lauckhard,  der  Maler  Heinecken, 
die  Marquise  d'Urfe,  Fräulein  v.  Klettenberg  u.  a.  Sogar  ein 
schlichter  Leinenweber  wie  der  Großvater  von  Karl  Rosenkranz, 
der  in  Buchholz  bei  Rostock  lebte,  vertat  sein  sauer  verdientes 
Geld  in  alchimistischen  Versuchen.  Man  wundert  sich  nicht, 
wenn  man  Fürsten  sinnlosen  Chimären  nachjagen  sieht,  schrieb 
doch  Graf  Manteuffel  1738  an  Christian  Wolf:  »Deutschland 
wimmelt  von  Fürsten,  von  denen  drei  Viertel  kaum  gesunden 
Menschenverstand  haben«,  daß  aber  Gelehrte,  wie  der  Anatom 
Sömmering,  denkende  Köpfe  wie  Georg  Forster,  sich  ernstlich 
mit  Goldmacherei  beschäftigten,  das  darf  uns  befremden.  Hätten 
sie  doch  Veranlassung  genug  gehabt,  eine  Sache  mit  Mißtrauen 


Die  Mode.  18.  Jalirli.   2.  A. 


65 


zu  betrachten,  der  sich  so  viele  Abenteurer  ihrer  Zeit  eifrig  wid- 
meten. Der  Elsässer  Jude  Simon  Wolff,  der  als  Graf  Saint- 
Germain  Europa  düpierte  und  mehrere  hundert  Jahre  alt  seih 
wollte,  zeigte  Ludwig  XV.,  wie  man  aus  mehreren  kleinen 
Diamanten  einen  großen  macht,  und  verwandelte  zu  Casanovas 
Zerstreuung  ein   i2-Sous-Stück  in   pures  Gold.     Freilich  hatte 


yean  Etienne  Liotard,  jDie  schöne  Leserin<(^^  I7J2 

er  sich  in  der  Person  des  berühmten  Abenteurers  ein  ungläubiges 
Publikum  ausgesucht.  Besserais  irgendjemand  wußte  Casanova, 
wie  man  die  Schwächen  der  Menschen  zu  seinem  Vorteil  aus- 
nützt. Wie  er  Frau  von  Urfe  durch  alchimistische,  magische  und 
kabbalistische  Spaße  um  die  geringen  Reste  ihres  Verstandes  und 
die  großen  ihres  Vermögens  brachte,  muß  man  sich  von  dem 
amüsanten  Hochstapler  selbst  erzählen  lassen. 
Abenteunr  Kein  Zeitalter  ist  überhaupt  Abenteurern  aller  Art  so  günstig 
gewesen,  wie  das  i8.  Jahrhundert,  kaum  eines  hat  ihnen  so 
seltsame  und  so  romantische  Schicksale  bereitet.  Ein  kleiner 
westfälischer  Adliger,  Theodor  von   Neuhof,   wird   König  von 

66 


M.  A.  Parelle,  Proz'oking  fidelity,     iTjj 


Die  Mode,  18.  Jatrk.  19 


Fratifois  Boiicher,  Matquise  de  Pompadour 

Corsica  und  stirbt  im  Schuldturm  zu  London ;  ein  Pastors- 
sohn aus  Halle,  Struensee,  wird  Premier-Minister  in  Dänemark 
und  endet  auf  dem  Schafott;  ein  kurländischer  Gutsbesitzers- 
sohn, Bühren,  wird  Regent  von  Rußland  und  besteigt  auf 
dem  Umweg  über  Sibirien  schließlich  den  Thron  seines  Heimat- 

67  5- 


h  'Mm 

Chevillet^  Die  Schwester  des  Künstlers 

landes;  der  Holländer  Ripperda  wird  spanischer  Minister,  der 
Franzose  Bonneval  türkischer  Pascha.  Lord  Baltimore,  der 
S,  30000  im  Jahre  zu  verzehren  hat,  lebt  mit  seinem  Harem  von 
acht  Frauen  immer  auf  Reisen,  um  den  Ort  nicht  zu  kennen,  an  dem 
man  ihn  begraben  wird.  Charles  Wortley  Montague,  der  erste 
Europäer,  der  als  Kind  geimpft  wurde,  war  Straßenkehrer, 
Fischer,  Maultiertreiber  in  Portugal,  Lakei,  Student  in  Göttingen, 
Postillon,  Kutscher  und  Gott  weiß  was  noch  alles.  Wenn  im  An- 
fang des  Jahrhunderts  krippenreitende  Kavaliere  von  Hof  zu 
Hof  ziehen,  um  für  ihre  Spaße  Unterkunft  und  Kost  zu  finden, 
wie  Pöllnitz,   Bielefeld  u.  a.,  so  werden   gegen  das  Ende  dieses 


68 


Lepicie,  Die  Jugend  ah  Alter  verkleidet  (Mme.  Coyfel),  lysr 

Zeitraumes  aus  den  Spaßmachern  Magier  und  Adepten,  welche 
den  Aberglauben  ihrer  Zeitgenossen  für  ihre  Bedürfnisse  in 
klingende  Münze  umzusetzen  verstehen.  Dazu  gehören  vor 
allem  Cagliostro,  dem  kein  Betrug  fremd  blieb,  der  Wunder- 
täter Gaßner,  welcher  Teufel  austrieb,  der  Goldmacher  Sehfeld, 
der  Leipziger  Gastwirt  Schrepfer,  dessen  Person  ihren  geheim- 
nisvollen Schatten  noch  in  Wilhelm  v.  Kügelgens  Jugend  warf. 
Und  diese  Abenteurer  begleitet  eine  Schar  von  Sonderlingen 
und  Originalen  aller  Art,  Menschen,  deren  verschrobene  Eigen- 
art nie  besser  gedieh,  als  in  einem  Zeitalter,  in  dem  Glaube, 
Aberglaube  und  Unglaube  sich  ebenso  unklar  durcheinander 

69 


wirrten  wie  politische  und  soziale  Rechte  und  Pflichten.  Edward 
Wortley  Montague,  der  in  der  höchsten  Sphäre  geboren,  nur 
in  der  niedrigsten  leben  konnte;  der  Ritter  d'Eon,  der  sein 
Geschlecht  wechselte,  wie  andere  das  Hemd;  der  Maronit 
Baron  Antonio  de  Burkana,  der  nur  seinem  Stammbuch  zu 
Liebe  reiste;  der  geheimnisvolle  Baron  Franck  in  Offenbach; 
der  Schwindler  Orffyraeus,  der  das  Perpetuum  mobile  erfunden 
haben  wollte  und  beabsichtigte,  von  dem  ergaunerten  Geld  in 
Karlshafen  ein  Tugendhaus  mit  einer  Weisheitsschule  zu  errich- 
ten ;  Mesmer,  der  bei  der  Ausbeutung  des  von  ihm  entdeckten 
tierischen  Magnetismus  nie  den  Charlatan  verleugnete,  der  die 
blinde  Pianistin  Therese  von  Paradies  in  Wien  sehend  gemacht 
haben  w^ollte  und  sich  in  Paris  dazu  herbeiließ,  den  Schoßhund 
von  Sophie  Arnould  zu  behandeln,  und  viele,  viele  andere 
mehr,  deren  Leben  und  Taten  einen  so  farbenreichen  Einschlag 
im  Gewebe  der  Geschichte  einer  Zeit  bildet,  die  auf  nichts 
so  stolz  war,  wie  auf  ihre  Philosophie,  ihr  klares  und  kühles 
Denken  und  mit  deren  Dünkel  darauf  doch  nichts  stärker 
kontrastiert,  als  der  Umstand,  daß  gerade  diese  Leute  ein  so 
gläubiges   Publikum   fanden. 


Sog.  Krinolinengruppe  mit  August  III. 

70 


Meißener  Porzellan 


Der  übermächtige  Einfluß,  welchen  die  Aera  Ludwigs  XIV.  Die  Kumt 
auf  die  Politik,  die  Gesellschaft  und  die  Literatur  der 
europäischen  Kulturvölker  ausübte,  macht  sich  auch  in 
der  Kunst  geltend.  Das  italienische  Barock  erobert,  von  Le 
Brun  und  Le  Pautre  französiert,  als  Stil  Louis  Quatorze  die 
Welt.  Und  da  diese  Vorherrschaft  der  französischen  Kunst 
auch  durch  das  ganze  i8.  Jahrhundert  hindurch  anhält,  hat 
man  sich  daran  gewöhnt,  die  historischen  Stile,  welche  die  Kunst 
dieses  Zeitraums  bestimmen,  das  Rokoko  und  den  Zopf  nach 
den  französischen  Königen,  deren  Regierungen  diese  Jahrzehnte 
ausfüllen,  auch  als  Stil  Louis  Quinze  und  Louis  Seize  zu  be- 
zeichnen und  doch  kann  nichts  irriger  sein.  Man  würde  für 
das  Rokoko,  welches  man  allgemein  Louis  Quinze  zu  nennen 
pflegt,  richtiger  Regence  sagen.  Und  insofern  der  sogenannte  Stil 
Louis  Seize  nichts  anderes  ist  als  eine  Vorblüte  des  später  Empire 
genannten  Stils,  die  sich  aber  unter  Ludwig  XV.  entfaltete, 
würde  man  die  Bezeichnung  Louis  Seize  am  besten  ganz  fallen 
lassen.  Künstlerisch  beginnt  das  i8.  Jahrhundert  mit  dem  Tode 
Ludwigs  XIV.  Gerade  wie  die  französische  Gesellschaft  ordent- 
lich aufzuatmen  scheint  in  dem  Augenblick,  da  der  Tod  des 
Königs  sie  von  dem  unerträglich  gewordenen  Joch  der  Etikette 
befreit,  wie  sie  sich  Hals  über  Kopf  in  den  tollsten  Wirbel  der 
Vergnügungen  und  Zerstreuungen  stürzt,  geradeso  entzieht  sich 
die  Kunst  den  strengen  Regeln,  denen  sie  bis  dahin  gehorchen 
mußte.  An  die  Stelle  der  Regelmäßigkeit  tritt  die  Willkür, 
die  Laune  wird  zum  obersten  Gesetz.  Alles  gerät  in  Fluß,  die 
geraden  Linien  beginnen  sich  zu  schwingen,  die  tragenden 
Glieder  krümmen  sich,  das  rein  Zufällige  ersetzt  die  Sym- 
metrie. Feierlich  undpomphaft  wie  der  Alexandriner  der  Tragödie 
erscheint  das  Barock  neben  der  lustigen  Sorglosigkeit  des  Ro- 
koko, das  unbekümmert  um  eine  pedantische  Ordnung  alles 
auf  den  Kopf  stellt  und  durcheinander  wirft.  Aus  dem  Chaos 
scheinbarer  Unordnung  erwächst  dann  jene  Kunst  der  Ca- 
price,  deren  graziöse  Neckerei  immer  das  Unerwartete  bringt, 
welche  spielt  und  tändelt  und  scherzt,  eine  Kunst,  deren 
bezaubernder  Reiz  in  einer  unvergleichlichen  Anmut  liegt. 
Ihre  Gebilde  sind  rätselhaft  und  unverständlich,  Wunder- 
blumen einer  daseinstrunkenen  Phantasie,  nicht  zu  fassen 
und  nicht  zu  beschreiben,  wie  Schöpfungen  einer  gesetzlosen 
Natur,    die    der   Uebermut    mit    der   Schönheit    zeugte.     Eine 

71 


yean  Bapüste  Van  Loo,  Forträtstudie 

ausgelassene  Kunst  für  eine  ausgelassene  Gesellschaft,  beider 
Geburtsstunde  schlug  in  den  Jahren,  da  Laws  Aktienschwindel 
den  Parisern  die  Fata  morgana  unermeßlicher  Reichtümer 
vorschwindelte.  Müheloser  Reichtum  und  genialer  Leichtsinn 
sind    denn    auch    die    Elemente    dieses    Stils,    der    in    seinen 


72 


Mc  Ar  daü  r.axii.  fii.  is 


^^^zz^■ti^^to  Bracknvann 


MARY"  DUCHESS    OF    All  CAS  TER 


Schöpfungen   einen   undefinierbaren    Duft  von   der   unbeküm- 
merten Lebenslust   einer  Zeit   bewahrt   hat,   die  genießen,   nur 
genießen   und  nichts   als   genießen   wollte. 
Die  Gesellschaft  des  Rokoko  hat  ihren  Chronisten  in  der  Kunst 
gefunden.  Keine  Feder  wäre  imstande  gewesen,  die  Verfeinerung 
ihres  Lebensgenusses,  die  Schwelgerei  ihrer  raffinierten  Kultur 
zu  beschreiben.  Aus  dem  überschwenglichen  Reichtum  der  spie- 
lenden Linien  dieser  Kunst  aber,  deren  ruheloser  Flug  allen  Ge- 
setzen der  Vernunft  zu  spotten,  alle  Regeln  der  Schwerkraft  in 
Frage  zu  stellen  scheint,  klingt  die  gleiche  Lebensfreude,  die- 
selbe übermütige  Verantwortungslosigkeit  wie  aus  dem  berühm- 
ten Geständnis  jener  großen  Lebenskünstlerin  der  Zeit  »nach 
uns   die  Sintflut«.    Für  das  Urteil   einer  späteren  Zeit  hat  sich 
dann  auch,  wie  sonst  bei  keiner  Epoche  der  Weltgeschichte 
die    Kunst    dieser   Zeit   völlig    mit    ihrem    Geist    identifiziert. 
Wer  die  Kunst  des  Rokoko  kennt,  der  glaubt,  die  ganze  Zeit 
zu   kennen,   gerade    als    pulsiere    in    diesen    tollen    seltsamen 
Schnörkeln    noch    ein    geheimnisvolles    Leben,    als    kose    ein 
leises  Geflüster    der  Vergangenheit  zärtlich    mit    der  Gegen- 
wart.  Der  neue  Stil  ist  zwar  in   Frankreich  entstanden    und 
hat  sich  von   dort  aus  verbreitet,  wie  aber  seine  Väter  keine 
Franzosen    waren,    Oppenort  war  Niederländer,    Meissonnier 
Italiener,  so   hat  er  bei  seinem   Fluge    über  die  Grenzen  das 
spezifisch   Französische  überall  so   mit  der  fremden  Eigenart 
vermischt,  daß   das  englische,   das  spanische,  das  italienische 
Rokoko  etwas  von  dem  ursprünglichen  Pariser  Rokoko  durch- 
aus Verschiedenes  geworden  ist.   Seine  eigentliche  Blüte  hat 
dieser    Stil    überhaupt    erst    in    Deutschland    getrieben.     Das 
landläufige  Vorurteil,    als    habe    man    sich    im    Zeitalter    der 
Ludwige  in   Deutschland  damit  begnügt,  den   Stil  der  Fran- 
zosen einfach  zu  kopieren,  hat  schon  vor  einem  Menschen- 
alter Gurlitt  dahin  widerlegt,  daß  in  jener  Zeit  die  deutsche 
Baukunst    genau  so  reich  an    nationalen   Eigentümlichkeiten 
war,  wie    nur    in  irgend  einer  anderen   Blütezeit  der  Kunst. 
Es  ist  bezeichnend    für  die   nüchterne  Art  des   19.  Jahrhun- 
derts, daß   überhaupt  erst  ein  Kunstgelehrter  kommen  mußte, 
um  der  Welt  die  Augen  für  den  Reiz  eines  Stils  zu  ö£fnen, 
den  man  nur  deshalb  solange  verachtet  hatte,  weil  man  seiner 
schöpferischen   Fülle  impotent  gegenüberstand,  weil   man  zu 
arm  an  Empfindung  war,  um  künstlerische  Werte  zu  genießen, 

73 


die  sich  nur  fühlen,  aber  nicht  rechnerisch  nachprüfen  lassen. 
Als  Gurlitt  endlich  sehen  gelehrt  hatte,  da  erkannte  man 
plötzlich,  welche  Perlen  feinsten  Rokokos  Deutschland  besitzt 
und  mußte  alsbald  inne  werden,  daß  die  reichsten  und  köst- 
lichsten Schöpfungen  dieses  Stils  entweder  von  Deutschen 
oder  von  Ausländern  auf  deutschem  Boden  ausgeführt  wurden. 
Es  ist  gerade  als  habe  der  fremde  Zaubertrank  die  Phantasie 
deutscher  Künstler  in  einen  Rausch  versetzt,  dessen  Ekstase 
ihrem  künstlerischen  Vermögen  Flügel  lieh.  Aller  Erden- 
schwere entkleidet,  waltet  ihr  schöpferischer  Geist  fessellos  im 
Reiche  der  Schönheit,  in  dem  alle  Schranken  der  Möglichkeit 
gefallen  sind.  Es  entstehen  Formen  so  neu,  so  kühn  und  viel- 
gestaltig, daß  neben  ihnen  die  vergangene  Kunst  arm  erscheint, 
daß  ihr  unerschöpflich  quellender  Reichtum  jeder  kommenden 
Kunst  einen  Vorwurf  bedeutet. 
Architehur  Die  damalige  Zeit  kannte  an  Monumentalbauten  nur  Kirchen 
und  Schlösser,  die  Richtungen,  nach  denen  sich  ihr  Leben  in  der 
Oeffentlichkeit  dokumentierte,  bedurften  keines  weiteren  Aus- 
drucks, höchstens,  daß  katholische  Gegenden  noch  den  Kloster- 
bau forderten.  Kasernen,  Bahnhöfe  und  Fabriken  sind  erst  im 
nächsten  Jahrhundert  hinzugekommen.  Wenn  wir  uns  aber  heute 
in  den  Ländern  deutscher  Zunge  umsehen,  ob  wir  den  Rhein 
entlang  wandern  oder  die  Donau,  ob  wir  die  alte  Kaiserstadt 
Wien  besuchen  oder  die  still  gewordenen  Residenzen  der  Kleinen 
und  Allerkleinsten,  ob  wir  die  von  Bergeshöhen  herab  herrschen- 
den Gotteshäuser  und  Abteien  oder  die  in  grünender  Wildnis 
verborgenen  Schlößchen  aufsuchen,  welche  Fülle  der  Gesichte 
offenbart  sich  da,  wieviel  Schönheit,  wieviel  Mannigfaltigkeit, 
wieviel  Zweckmäßigkeit !  Weiträumige  Kirchen  für  den  Schöpfer 
der  Welt  und  herrliche  Paläste  für  ihre  Herren,  schimmernde 
Hallen  für  lauten  Prunk  und  lauschige  Winkel  für  stille  Freuden, 
wie  mannigfaltig  alles  und  wie  zweckmäßig  immer,  geordnet  von 
einem  Geschmack,  der  das  größte  wie  das  kleinste  mit  gleicher 
Lust  behandelt,  um  im  ganzen  wie  im  einzelnen  stets  das  höchste 
künstlerische  Wohlgefühl  auszulösen.  Die  ganze  Zeit  ist  in  diesen 
Bauten!  Den  spanischen  Pomp  des  Kaiserhofes  verkündet  der 
großzügige  Stil  der  Hildebrand  und  der  Fischer  von  Erlach, 
aus  dem  Zwinger  Pöppelmanns  quillt  förmlich  die  unverwüst- 
liche Lebenslust  seines  königlichen  Bauherrn,  aus  der  heiteren 
Anmut  von  Knobelsdorfifs  Sanssouci  lächelt  der  souveräne  Geist 

74 


Daniel  Chodoiuiecki,  Gesellschaf tsbiUi,  1754 

seines  philosophischen  Königs.  Wie  vieles  auch  zerstört  ist,  und 
durch  die  Restauratoren  täglich  weiter  beschädigt  wird,  selbst 
in  ihrer  Degradation  zu  Ministerien  oder  Schulen  haben  diese 
Bauwerke  einen  Charakter  künstlerischen  Adels  bewahrt,  den 
die  Folgezeit,  selbst  wenn  sie  es  wollte,  ihren  Schöpfungen  nicht 
hatgeben  können.  Der  Stil,  der  in  der  Ausführung  von  Schlössern 
und  Kirchen  den  ganzen  verschwenderischen  Reichtum  seines 
Könnens  an  den  Tag  legt,  offenbart,  wenn  er  kleineren  Objekten 
gegenüber  zum  [Maßhalten  gezwungen  ist,  erst  recht  die  originale 
JCraft  seiner  ganz  neuen  schöpferischen  Möglichkeiten.  München 
erfreut  sich  z.  B.  in  Haus  und  Kirche  der  Brüder  Asam  eines 
solchen  Bauwerks,  dessen  persönliche  Eigenart  und  hohe  künst- 
lerische Bedeutung  ihm  einen  ersten  Platz  unter  den  Baudenk- 
malen Deutschlands  sichern.  Freilich  ist  dies  ein  Grund,  der 
heutzutage  so  bedeutungslos  erscheint,  daß  man  für  den  Fort- 
bestand von  Haus  und  Kirchlein  fürchten  muß.  Vielleicht  machen 
beide  bald  einem  jener  Protzenkästen  Platz,  wie  sie  so  bösartig 
in  die  feingestimmten  Straßenbilder  der  Promenaden-,  Pranner- 
oderTheatinerstraße  hineingespuckt  haben  ?   Das.Hauszum  Fal- 


75 


Nattier,  Mme.  Anne  Henriette  de  France,  Tochter  Ludwig  XV.,  17s 4 

ken  in  Würzburg,  die  Böttingerschen  Häuser  in  Bamberg,  das 
Wespiensche  Haus  in  Aachen  und  viele,  viele  andere  zeigen  das 
Rokoko  in  glücklichster  Anwendung  auf  Privatbauten.  Gurlitt 
hat  mit  schöner  Wärme  nachgewiesen,  daß  es  ferner  gerade 
diesem   Stil  vorbehalten  war,  die  offene  Frage  der  protestan- 

76 


yean  Marc  Nattier,  Mme.  Adelaide^  Tochter  Ludzuig  X  V. 

tischen  Predigtkirche  inBährs  Dresdener  Frauenkirche  meister- 
haft zu  lösen. 

Der  Wechsel  des  Geschmacks,  der  um  die  Wende  des  Jahr-  Der  KUsti- 
hunderts  sich  von  der  höfischen  Kultur  abwandte,  tat  zugleich  ^'"««'•' 
mit  ihr  die  höfische  Kunst  in  Bann.  Das  Akademische,  Regel- 
gerechte, das  der  tolle  Uebermut  des  Rokoko  nur  zurückgedrängt 
hatte,  triumphierte  in  Gestalt  der  Antike.  Man  wollte  vornehme 
Einfachheit  an  Stelle  der  fratzenhaften  Schnörkel  und  Voluten. 
Das  Natürliche,  zu  dem  man  um  jeden  Preis  zurückzukehren 
suchte,  schien  sich  noch  am  reinsten  in  der  schlichten  Einfalt 
der  Alten  zu  bieten.  Ein  Menschenalter  vor  der  großen  Re- 
volution ist  die  Antike  bereits  das  Schibboleth  des  Heils.  Die 
unvermutete  Entdeckung  Pompejis,  die  aus  langer  Vergessenheit 


77 


auftauchenden  Tempel  Siziliens  und  Unteritaliens,  die  Unter- 
suchung der  Ruinen  von  Athen  und  Spalato  vereinigen  sich, 
um  der  auf  angstvoller  Suche  nach  ursprünglicher  Kunst  be- 
griffenen Menschheit  das  Ideal  vorzutäuschen,  nach  dem  sie 
strebte.  Der  Einfluß  der  Winckelmann,  Caylus,  Adam,  die  ästhe- 
tischen Erörterungen  der  Diderot,  Lessing  und  anderer  taten 
dann  das  Ihre,  um  alle  Gebildeten  mit  dem  Gedanken  vertraut  zu 
machen,  daß  der  Antike  der  Vorzug  in  jedem  Sinne  gebühre. 
Bei  der  Wiederherstellung  des  alten  guten  Geschmacks  griff  man 
denn  auch  mit  beiden  Händen  in  den  Formenschatz  der  antiken 
Architektur,  zu  deren  herber  Strenge  dann  unter  den  geschickten 
Händen  der  Künstler  des  i8.  Jahrhunderts  so  viel  Zierliches 
und  Allerliebstes  hinzutrat,  daß  aus  der  klassischen  Kunst  die 
puppige  Eleganz  wurde,  die  wir  heute  Zopfstil  nennen.  Die 
Kunstanschauung  der  Zeit  erhob  die  Nachahmung  zum  leitenden 
Grundsatz  ihres  Schaffens,  aber  man  konnte  sich  doch  nicht  ver- 
hehlen, wie  gewaltsam  die  Anpassung  vor  sich  ging,  mit  der 
man  das  moderne  Gegenwartsleben  in  die  Säulenhallen  und 
Pilasterstellungen  zwängte.  Auf  dem  Wege  der  Nachahmung 
konnte  man  ja  ebenso  gut  versuchen,  andere  Gebiete  der  Stilge- 
schichte  zur  Verwendung  zu  erobern,  als  gerade  nur  die  allein- 
seligmachende Antike.  So  begegnen  wir  auch  wirklich  schon  in  der 
Mitte   des  i8.  Jahrhunderts  Versuchen   in   gotischer  Baukunst. 


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Jean  Marc  Nattier,  Maria  Leszcynska,  Gemahlin  Ludwig  XV.,  ijjj 

78 


Zcßany,  Bildnis  eines  Ehepaares 


D  ;  e  M  o  d  e ,  18.  Jatrt,  21 


Der  Schotte  William  Adam  baute  in  diesem  Stil  Douglas  Castle,  Romantik 
Robert  Morris  Inverary  Castle,  Wyatt  nur  wenige  Jahre  später 
Fonthill  Abbey  für  den  reichen  Sonderling  William  Beckford. 
Der  romantische  Geschmack  sucht  im  Mittelalter  nach  Sensa- 
tionen. Er  läßt  Macpherson  sich  hinter  Ossian  verstecken,  den 
armen  Chatterton  seine  Gedichte  einem  imaginären  Thomas 
Rawley  in  den  Mund  legen,  diktiert  Horace  Walpole  sein  Schloß 
von  Otranto,  durch  ihn  erwächst  aber  auch  langsam  wieder 
ernsthaftes  Verständnis  für  die  Jahrhunderte  hindurch  als  bar- 
barisch verschriene  Gotik.  In  Straßburg  trat  der  jugendliche 
Goethe  mit  Ehrfurcht  vor  das  Münster  und  bildete  mit  seinem 
Gefühl  gewissermaßen  das  Bindeglied  zweier  Generationen; 
denn  wenn  er  als  Jüngling  mit  seiner  Bewunderung  allein  stand, 
so  sah  er  als  Greis  die  Gotik  überschwenglich  gefeiert.  Die 
schulmeisterliche  Richtung  des  Anlehnens  an  berühmte  Vor- 
bilder, die  im  19.  Jahrhundert  in  der  Kunst  zum  Durchbruch 
kam  und  unter  der  Lava  ihrer  Pedanterie  alle  \"ersuche  eigen- 
tümlichen Schaffens  erstickte,  beginnt  sich  schon  mehrere  Jahr- 
zehnte früher  durchzuringen.  Es  heißt  ganz  in  diesem  Sinne 
gedacht,  wenn  Friedrich  der  Große  sich  einmal  gegen  Henri 
de  Catt  rühmt,  er  habe  in  Potsdam  im  kleinen  die  schönsten 
Bauten  der  ganzen  Welt  kopieren  lassen,  und  später  in  Berlin 
Gebäude  aufgeführt,  deren  Originale  in  Rom,  in  Wien,  in  Eng- 
land und  anderswo  zu  finden  waren.  Man  denkt  unwillkürlich 
an   Hadrian.  ■ 

Auf  diesem  Wege,  der  sie  aus  freiester  Ungebundenheit  in  Malerei 
die  Enge  akademischer  Bevormundung  führte,  wird  die  Archi- 
tektur von  den  Schwesterkünsten  Malerei  und  Bildhauerei  ge- 
treulich begleitet.  Das  Jahrhundert,  welches  die  Malerei  mit 
Watteau  beginnt,  beendet  sie  mit  David.  Antoine  Watteau ! 
Klingt  der  weiche  Schmeichellaut  des  Namens  nicht  wie  ein 
Zauberwort,  ein  »Sesam,  öffne  dich!«,  das  den  Eintritt  in 
selige  Gefilde  erschließt,  wie  ein  Wegweiser  nach  Cythere?  Bei 
seinem  Klang  erstehen  vor  unserem  Auge  alle  jene  anmut- 
vollen Bilder  ungetrübten  Glücks,  wo  unter  ewig  blauem  Him- 
mel Schäfer  und  Schäferinnen  kosen,  wo  holde  Unschuld  und 
verführerische  Sinnlichkeit  miteinander  tändeln,  wo  die  mur- 
melnde Quelle  und  der  leise  Zephyr  wie  in  der  gleichen  süßen 
Melodie  die  Sprache  der  Liebe  reden.  Eine  Welt  der  Schön- 
heit  und   der  Fr^eude,   die  Heimat  der  Sehnsucht,  jeder  Atenj- 

79 


Pietro  Longhi,   Carneval,  Pal.  Grassi,   Venedig 

zug  ist  Heiterkeit  und  Lust,  unter  dem  Lächeln  ihrer  Sonne 
erblüht  dem  Wunsch  auch  die  Erfüllung,  denn  die  rohe  Wirk- 
lichkeit ist  verbannt  und  die  häßHche  Wahrheit!  Eine  schmei- 
chelnde Kunst,  Zufluchtsort  für  die  von  allen  Genüssen  über- 
zeizten  Sinne  einer  ermüdeten  Gesellschaft,  deren  raffinierter 

80 


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Pietro  Longhi,    Carneval,  Pal.  Grassi,   Venedig 

Kultur  sie  eine  ebenso  verfeinerte  Xatur  entgegenstellt,  Bauern 
und  Bäuerinnen,  Schäfer  und  Schäferinnen,  aber  in  Seide  und 
Spitzen  mit  Puder  und  Parfüm.  Zeigt  uns  Watteau  den  Geist 
seiner  Zeit  im  heiteren  Gleichmaß  eines  Genusses,  den  eine 
schönheitsdurstige  Aesthetik  im  Zaume  hält,  so  malt  ihn  Boucher 


Die  Mode.  18.  Jahrb.  2.  Ä. 


De  Troy,   Toiktte  pour  le  Bai,  gesl.  von  Beauvarlet 


im  Chanipagnerrausch  der  Lust  unter  dem  Stachel  zügelloser 
Sinnlichkeit.  Er  male  Götter  oder  Sterbliche,  Wesen  der  Erde 
oder  der  Fabel,  Menschen  oder  Tiere,  immer  geilt  die  Woll- 
lust durch  ihre  Adern  und  buhlt  aus  ihren  Blicken.  Seinen 
Göttinnen  und  Menschen  ist  die  Nacktheit  nur  ein  kokettes 
Spiel  der  Entkleidung,  ihre  Haltung  ist  schmachtend,  ihr 
Lächeln  zweideutig,  sie  stammen  aus  Paphos  und  wollen  eben 
dahin  zurück.  Boucher  ist  der  Maler  der  lüsternen  Grazien, 
die  Wirkung,  auf  die  er  ausgeht,  der  Kitzel  der  Sinne.  Da- 
durch ward  er  zum  Abgott  seiner  blasierten  Zeitgenossen. 
Ebenso    fruchtbar    wie  vielseitig   hat    er   allem,    was    mit  der 

82 


De  Troy,  Retour  du  Bai,  gest.  von  Beauvarlet 


Kunst  der  Zeit  zusammenhing,  seinen  Stempel  aufgedrückt. 
Mit  ihm  ging  die  frivole  Zeit  zu  Grabe,  denn  als  er  starb, 
war  die  Tugend  in  der  Mode,  anständig  zu  sein  war  guter 
Ton  und  die  Schwelgereien  Bouchers  wurden  durch  die  pro- 
grammatische Tugendlangweilerei  eines  Greuze  verdrängt. 
Wie  in  Boucher  das  übersteigerte  Glücksgefühl  des  Rausches 
zum  Ausdruck  kommt,  so  stimmt  der  Engländer  Hogarth  sein 
Werk  auf  die  Ernüchterung.  In  langen  Bilderfolgen  schildert 
er  die  Ehe  nach  der  Mode,  den  Lebenslauf  einer  Dirne  und 
andere  Vorwürfe  von  der  Schattenseite  der  Gesellschaft.  Wo 
die   Gegensätze   von    Gut   und   Böse    in   der  sozialen   Welt  so 

83  6- 


unvermittelt  neben  einander  lagen,  bedurfte  es  für  einen  Künst- 
ler wie  Hogarth  nur  einer  unmerklichen  Korrektur  der  Wirk- 
lichkeit, um  aus  ihren  barocken  äußeren  Formen  die  Kari- 
katur zu  machen,  um  die  Lüge  ihrer  Zustände  mit  grellem 
Hohn  zu  beantworten.  Hogarth  entstellt  seine  Zeit  wie  im  Zerr- 
spiegel,  eine  bittere  Simplizissimusstimmung  spricht  aus  allen 


Z.  Tocqtie,   Kaiserin  Elisabeth  von  Rußland 

seinen  Bildern.  Wahr,  aber  mit  Liebe  gesehen,  erscheint  uns 
dagegen  das  i8.  Jahrhundert,  betrachten  wir  es  in  den  Werken 
von  Chardin  oder  Chodowiecki.  Da  wird  die  ganze  putzige 
Gegenständlichkeit  der  Perückenzeit  wieder  lebendig,  jugend- 
licher Ungestüm  im  Haarbeutel  und  zarte  Tugend  im  Reifrock, 
der  gravitätische  Ernst  einer  Zeit,  die  gar  zu  gern  klassisch 
sein  wollte  und  der  der  Zopf  doch  hinten  hing!  Zumal  ist  uns 
Chodowiecki,  der  bis  in  sein  hohes  Alter  rastlos  fleißig  war 

84 


und  die  Lebensäußerungen  mehrerer  Generationen  mit  seinem 
Stift  begleitet  hat,  nichts  von  alledem  schuldig  geblieben,  was  die 
Urgroßväterzeit  interessant  machen  kann.  Er  zeigt  uns  nicht  nur 
ihre  Wesenheit  in  der  äußeren  Erscheinung,  er  schildert  uns  auch 
die  Form  ihres  Verkehrs,  den  Ausdruck  ihrer  Gefühle  und  die  An- 
schauungen, in  denen  sich  ihr  Geist  bewegte.  Chodowiecki  ist 
kein  großer,  aber  ein  überaus  sympathischer  Künstler,  einer  von 
den  guten  Beobachtern  mit  scharfem  Blick.  Er  weiß  die  trockene 
Anmut  des  Lebens  und  der  Sitten  seiner  Zeit  mit  einer  haus- 
backenen Ehrlichkeit  aufzufassen  und  wiederzugeben,  die  etwas 
Rührendes  hat.  Sein  Oeuvre,  das  mehr  als  2000  Blätter  umfaßt, 
vermittelt  eine  Kenntnis  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts, 
die  man  von  den  Schöpfungen  der  großen  Kunst  damaliger 
Zeit  nicht  erwarten  darf.  Während  Chodowiecki  seine  Blättchen 
schuf,  kommandierte  ja  in  der  großen  Kunst  die  Antike  und  über- 
schrie den  matten  Widerspruch  der  eingeschüchterten  Natura- 
listen, die  sich  mit  ihrer  Freude  an  Leben  und  Wirklichkeit  auf 
die  bescheidene  Enklave  des  Porträts  beschränkt  fanden. 
Die  Porträtkunst  als  solche  hat  vielleicht  nie  größere  Triumphe  Das  Porträt 
gefeiert  als  im  18.  Jahrhundert.  Das  Erbe  der  großen  Meister 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  trug  ihr  Wucherzinsen  in  der 
glänzenden  Vollendung  der  malerischen  Technik.  Dazu  in 
beiden  Geschlechtern  Objekte,  die  nicht  bedeutend,  sondern 
schön  sein  wollten,  wo  die  Alten  sich  rosig  schminkten,  um 
jung,  und  die  Jungen  sich  weiß  puderten,  um  alt  zu  scheinen, 
wo  Herren  und  Damen  in  der  Sorgfalt  der  Toilette,  im  Reich- 
tum der  Kleidung  sich  selbst  wie  Kunstwerke  zurechtmachten. 
Der  Erscheinung  dieser  überfeinerten  Gesellschaft,  deren  Raffine- 
ment für  ein  so  ganz  anders  geartetes  Geschlecht  wie  das  unsere 
immer  einen  Beigeschmack  des  Perversen  behält,  hat  die  Bild- 
niskunst um  so  größeren  Charme  zu  leihen  gewußt,  als  sie 
den  größten  Wert  auf  die  Wiedergabe  der  Kleidung  legte. 
Die  Menschen  jener  Zeit  waren  weit  entfernt  von  jener  blöden 
Biedermeiermeinung,  die  das  Aeußere  gering  schätzt,  um  das 
Wissen  zu  überschätzen.  Sie  wußten  recht  wohl,  daß  viel 
Lernen  reine  Popo-Arbeit  sei,  die  jeder  Esel  auch  leisten  kann, 
daß  aber  nur  ein  kultivierter  Mensch  imstande  ist,  sich  gut 
anzuziehen.  Sie  verlangten  daher  mit  Recht,  sorgfältig  gemalt 
zu  werden.  Sie  waren  überzeugt,  daß  Kleider  nicht  nur  einen 
wesentlichen,   sondern   in  den  meisten  Fällen  auch  den   besten 

85      . 


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William  Hogarth,  Selbstbildnis.,  1738 


Teil  der  Menschen  ausmachen.  So  sehen  wir  denn,  daß  in  den 
Gemälden  wie  in  den  Stichen  ein  fabelhaftes  Können  ver- 
schwendet wird,  um  den  Glanz  von  Atlas  und  Seide,  den 
Schimmer  des  Sammets,  die  Wärme  des  Pelzwerks,  die  zarte 
Musterung  der  Spitzen,  das  Feuer  der  Juwelen  in  einer  stupenden 
Weise  wiederzugeben.  Und  zu  dem  Aufwand,  den  die  Malerei 
in  Oel-  und  Wasserfarben,  den  Miniaturen,  Schwarzkunstblätter 
Das  P^teii  und  Farbstichc  treiben,  tritt,  eine  neue  Technik,  das  Pastell. 
Sie  versteht  die  flüchtige  Grazie,  den  Duft  des  Augenblicks 
festzuhalten  und  beherrscht  wie  kein  anderer  jene  mondäne 
Eleganz,  die  an  der  Oberfläche  liegt.  Das  Pastell  ist  die  Kunst 
des  gepuderten  Jahrhunderts,  die  schöne  Rosalba  Carriera 
führte  es  im  Triumph  durch  die  Welt  der  Höfe.  Und  wenn 
wir  die  umfangreiche  Sammlung  ihrer  köstlichen  Porträts  in 
Dresden  betrachten,  so  fühlen  wir  uns  mitten  in  die  Zeit  ver- 
setzt, die  leichten  Sinnes  ihre  Denkmäler  aus  Porzellan,  ihre 
Bilder  aus  buntem  Staub  formte.  Der  lächelnde  Skeptizismus 
eines   Geschlechts,   das  wie  Madame    de  la  Verrue  »fit    pour 

86 


"W:  Dickmson  nach.  Re^Tiolds  ;  Mezzotinto  Bmckmaim. 

ELISABETH    COMTESS    OF   DERBY 


plus  grande  surete  son  paradis  dans  la  terre«,  blickt  aus  der 
zarten  Harmonie  halber  Töne  und  gebrochener  Farben,  der 
leisen  Musik  neutraler  Hintergründe,  die  den  Blick  auf  den 
Dargestellten  allein  konzentrieren.  Ein  Menschenalter  später 
und  das  bloße  Bildnis  wandelt  sich  unter  den  Händen  der 
Reynolds,  Romney,  Gainsborough  zum  Bild.  Die  Distinktion 
der  Farbe  ist  die  gleiche  geblieben,  aber  die  Wärme  des  Kolorits 
kündet  ein  anderes  Geschlecht,  der  Hintergrund,  der  das  Auge 
in  weite  Fernen  grünender  Landschaft  lockt,  teilt  dem  Be- 
schauer etwas  von  der  schwärmenden  Empfindung  mit,  die 
hier   Maler   und   Gemalte   erfüllt. 

Auch  die  Porträts  der  Deutschen  Graff,  Tischbein  u.  a.  zeigen 
uns  andere  Gesichter,  schlichte  Menschen,  die  gern  auf  den 
Pomp  theatralischer  Aufmachung  verzichten,  wie  er  noch 
30  Jahre  früher  selbst  dem  einfachsten  Bürgersmann  unerläßlich 
gewesen   wäre.      Keine     bauschenden     Seidenvorhänge     mehr, 


Daniel  Chodowucki,  Die  Schwestern  Quantin,  17J8 

87 


Alexandre  Roslin,  Jean  de  Betzkoy  (Bruder  der  Gegenüberstehenden) 

prunkende  Säulen  und  gewaltige  Architekturen  sind  verschwun- 
den. Einfache  Menschen  in  bescheidener  Tracht  und  ruhiger  Hal- 
tung stehen  vor  uns.  Das  wirklich  intime  Bildnis  dieser  Zeit  aber 
müssen  wir  ganz  wo  anders  suchen,  nicht  der  Pinsel  in  der 
Hand  des  Künstlers  hat  es  uns  hinterlassen,  sondern  wir  danken 
es  vielmehr  der  Kunstfertigkeit  des  Amateurs.  Die  Schere  ist 
es,  die  uns  den  Schattenriß  gab.  Gelehrte  wie  Leisching, 
Die  Siihouttu  Grünstein,  Pazaurek  u.  a.  haben  die  Geschichte  der  Silhouette 
gründlich  untersucht  und  ihre  Ahnen  im  Altertum  bei  der 
Tochter  des  Dibutades  gefunden,  die  den  Schatten  ihres  Ge- 
liebten im  Umriß  auf  der  Felswand  festgelegt,  oder  in  den 
»ombres  chinoises«  des  fernen  Ostasiens  vermutet,  sie  haben 
auch  nachgewiesen,  daß  Scherenbilder  bereits  seit  dem  Jahre 

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Roslin,  Anastasia,  Landgräfin  von  Hessen, geb.  Prinzessin  Trubetzkoy 


1631  in  Deutschland  gefunden  wurden,  daß  sie  bereits  von 
Swift  erwähnt  werden,  aber  was  macht  das  aus?  Das  erklärt 
noch  lange  nicht,  woher  der  Schattenriß  so  plötzlich  in  der 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts  in  Paris  auftaucht,  warum  ihm  der 
unbeliebte  Finanzminister  Etienne  de  Silhouette  seinen  Namen 
leihen  mußte.  Stammt  nun  die  Erfindung  oder  Wiederein- 
führung auch  aus  Frankreich,  ihre  eigentliche  Heimat  hat  die 
Silhouette  doch  erst  in  Deutschland  gefunden.  Während  man 
sie  in  Frankreich  bald  wieder  fallen  ließ,  hat  man  diese  Kunst- 
fertigkeit in  Deutschland  mit  dem  größten  Eifer  ausgeübt,  mit 
solcher  Liebe  gepflegt,  daß  man  das  bloße  Spiel  wirklich  zur 
Kunst  erhob.  Die  früheste  Erwähnung  findet  sich  wohl  in 
Briefen  der  Landgräfin  Karoline  von  Hessen,  die  1760  der  Prin- 

89 


zeß  Amalie  Silhouetten  sendet.   Bald  aber  wird  die  Kunst  ihrer 
Anfertigung  zum  Gesellschaftsspiel.   Biester  schreibt  1775  aus 
Bützow,  es  herrsche  eine  Wut  von  Schattenrissen.   Alle  Damen 
handhabten   den  Storchschnabel   und  als   Lavater  an  die  Aus- 
arbeitung seiner   Physiognomik   geht,   gerät  ganz  Deutschland 
in  Aufregung.   Sportmäßig  werden  Silhouetten  gesammelt  und 
ihm  gesandt.  Jeder  möchte  in  dem  großen  Werk  des  berühmten 
Schweizers  aufgenommen  sein  und  Frau  Rat  Goethe  ist  bitter- 
böse,  daß   sie   zu   den   Zurückgewiesenen   gehört!      Man   malt 
die  Schattenrisse,  sticht  sie  in  Kupfer,   schneidet  sie  aus.   Man 
zeichnet  den  schwarzen   Grund  sorgfältig  mit   Deckweiß   aus 
und  schafft   auf   diese  Weise   wirklich   die   reizendsten  kleinen 
Kunstwerke.   Man  hängt  sie  an  die  Wand,  klebt  sie  in  Albums, 
trägt  sie  als  Schmuck,    schleift  sie  in   Gläsern,    malt  sie  auf 
Tassen,  schließlich  genügt  das  Profilbrustbild  nicht  mehr,  man 
fertigt  Silhouetten  in  ganzen  Figuren,  sogar  in  Lebensgröße, 
die  man  auch  zu   Gruppenbildern  vereinigt.     1780  erschienen 
gleich   auf  einmal   drei  gedruckte  Leitfaden    zum  Silhouetten- 
zeichnen,  allerorten   gab   es  Künstler,   die  sie   für  Geld   anfer- 
tigten, überall  fanden  sich  Sammler.   Goethe  sucht,  wie  Lavater 
und  Merck,   die  Charaktere  nach  Schattenrissen  zu  beurteilen, 
und  verliebt  sich  in  Charlotte  von  Stein  bei  dem  Anblick  ihrer 
Silhouette,   die   Zimmermann   ihm   mitteilt.      Er   findet   in    der 
traurigen   Kampagne   von  1792   in   dieser  Kunst  eine  willkom- 
mene  Zerstreuung  und  sammelt  noch  als  Greis  Schattenrisse 
für   Marianne   von   Willemer. 
Das  inutieur  Wie    das    Rokoko    in    erster  Linie   Gesellschaftskunst    ist,    so 
entfaltet  es  auch  seine  feinsten  Reize  in  der  Ausstattung  der 
Innenräume,   da  hat  es  seine  intimsten   Wirkungen  zur  Gel- 
tung gebracht.     Die  Zeit  beanspruchte  keinen  Komfort,  man 
kannte    den    Begriff    gar    nicht,    aber    man    forderte    Kunst, 
Kunst  bis  in  den  unscheinbarsten  Gebrauchsgegenstand  hinein. 
Man  war  der  prunkenden  Staatsräume  des  Barock  ebenso  müde, 
wie  der   steifen   Etikettenformen   des   Verkehrs  und  flüchtete 
aus  der  stilisierten  Pracht  der  Säle  und  Galerien  in  die  Traulich- 
keit der  kleinen  Salons,  in  kosige  Winkel  des  Behagens  und 
der  Intimität.    Im  Schmuck  und  in  der  Ausstattung  derartiger 
Privatzimmer  haben   die  Stile  des   18.  Jahrhunderts  wohl  das 
Höchste  geleistet,  was  der  Kunst  in   dieser  Beziehung  über- 
haupt erreichbar  ist.     Aehnliches  haben  frühere  Zeiten  nicht 

90 


Troost^  St.  Nikolausfest  in  einan  holländischen  Hause,  lyöi 

erstrebt,  spätere  nicht  erreicht.  Mit  der  Freiheit  des  Stils, 
dessen  phantastische  Laune  an  Wänden  und  Plafonds  einen 
Zierat  von  unbeschreiblicher  Grazie  erblühen  läßt,  vereint 
sich  die  unermüdlich  Neues  schaffende  Phantasie  der  Künst- 
ler und  die  vollendete  Technik  des  Handwerkers,  um  Räume 
zu  schaffen  und  einzurichten,  deren  Geschmack  das  ganze 
Raffinement  einer  hochkultivierten  Gesellschaft  atmet.  Das 
Kunstbedürfnis  der  Zeit,  das  sich  bis  auf  das  geringste  Blätt- 
chen Gebrauchspapier  erstreckte  —  Boucher,  Cochin,  Saint 
Aubin,  Bartolozzi  u.  a.  haben  Geschäftspapiere,  Visitenkarten, 
Billetts,  Annoncen,  Rechnungen  entworfen,  Watteau,  Chardin 
u.  a.  Ladenschilder  gemalt  —  stellte  die  bedeutendsten  Künstler 
in  den  Dienst  der  Dekoration,  und  befruchtete  ihren  Geist 
mit  immer  neuen,  originellen  Ideen.  Man  sparte  weder  die 
kostbarsten  Hölzer  noch  die  seltensten  Marmorsorten,  das 
überreich  verwendete  Gold  wußte  man  durch  die  verschieden- 
artigste Tönung  unaufdringlich  zu  machen,  jedem  Material 
verstand  man  durch  eigenartige  Verwendung  noch  neue  Reize 
abzugewinnen.   Seitdem  der  Architekt  Leblond  durch  die  Ein- 

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Cornelis  l'roost,  Holländische  Wochenstube 

fügung  großer  Spiegel  ein  völlig  neues  Element  in  die  Aus- 
stattung gebracht  hatte,  faßte  man  eine  Vorliebe  für  sie,  kein 
Raum,  den  nicht  Spiegel  belebten  und  erhellten.  Die  Mark- 
gräfin von  Bayreuth  berichtet  mit  Stolz  von  der  Menge  der- 
selben in  den  Zimmern  ihrer  Mutter.  Der  Architekt  Miquc 
war  der  erste,  der  bei  der  Einrichtung  des  Boudoirs  in  Petit 
Trianon  auch  die  Fensterverkleidung  durch  Spiegel  bewerk- 
stelligte. Man  hat  Kabinette  hergestellt,  deren  Wände  und 
Decke  ganz  mit  Spiegeln  belegt  waren,  in  den  römischen 
Palästen  wurden  dem  kostbaren  Material  zuliebe  Flecken  und 
Sprünge  mit  Blumen  übermalt.  An  anderen  Orten,  z.  B.  in 
der  Würzburger  Residenz,  gab  man  den  Spiegelgläsern  durch 
Eglomisemalereien  ein  noch  reicheres  Ansehen.  Tändelndes 
Rankenwerk,  aus  dem  Vollen  geschnitzt,  überspielt  die  Wände 
und  rahmt  um  Spiegel  und  Bilder  wie  in  dem  köstlichen 
Bibliothekraum  Knobelsdorffs  in  Sanssouci,  wie  in  der  Amalien- 
burg  Cuvillies,  »der  künstlerisch  reichsten  Anlage,  welche 
dieser  Stil  überhaupt  zur  Durchführung  gebracht  hat«.  Man 
spannt  reich  gemusterte  Seidenstoffe  über  die  Mauern  oder 
Gobelins  nach  Boucher  und  Watteau,  Goya  entwirft  neue  Serien 
von   Hautelisse-Tapeten    für    den   Escorial.       Olavides   ließ   in 


92 


Corne/is  Troost,  Holländische  Villa  tnit  Lustboot 

Lyon  eine  Tapete  für  sein  spanisches  Palais  weben,  dessen 
Muster  in  Gold  auf  silbernem  Grunde  ausgeführt  war.  Der 
Pfalzgraf  von  Zweibrücken  hatte  für  Schloß  Karlsberg  eine 
Atlastapete  mit  Darstellungen  von  Vögeln  ausführen  lassen, 
die  aus  den  richtigen  Federn  dieser  Tiere  gebildet  waren.  Er 
hatte  eigens  zu  diesem  Zwecke  die  kostbarsten  ornithologi- 
schen  Sammlungen  gekauft.  Man  führt  nicht  nur  das  Parkett 
der  Fußböden,  sondern  die  ganzen  Wände  in  Marketterie  aus, 
wie  in  dem  Kabinett  der  Casa  del  Labrador  in  Aranjuez,  das 
mit  Piatina  eingelegt  ist  und  Millionen  gekostet  haben  soll. 
In  Tsarskoje  Selo  befand  sich  ein  Zimmer,  dessen  Wände 
ganz  mit  Bernstein  belegt  waren,  ein  Geschenk  Friedrich  IL  an 
die  Kaiserin  Katharina.  Schließlich  wird  es  Mode,  die  Zimmer 
von  Künstlerhand  ausmalen  zu  lassen.  Von  dem  berühmten 
Tiermaler  Huet  stammte  die  Mode  der  Affenkabinette,  deren 
bekanntestes  sich  wohl  in  Chantilly  befindet.  Van  Spaendonck 
hat  das  Boudoir  der  Tänzerin  Duthe  mit  einer  Dekoration 
von  Blumengirlanden  versehen,  deren  leichte  Grazie  von  un- 
vergleichlichem Reiz  ist.  Fragonard  malte  das  Boudoir  einer 
anderen  Theaterprinzessin,  der  Guimard.  Boucher  ein  Zimmer 
für  seinen  Freund  Desmarteau.    Später,   als  der  erste  Vorstoß 


93 


der  Antike  erfolgte,  war  in  Frankreich  Rousseau  de  la  Rot- 
tiere berühmt  für  seine  Zimmer  im  pompejanischen  Stil. 
Das  Mobiliar  Wie  man  sich  in  der  Dekoration  von  der  wuchtigen  Pracht 
des  Barock  abwandte,  so  ersetzte  man  auch  das  schwerfällige 
Mobiliar  dieser  Zeit  durch  leichtere  und  bequemere  Stücke. 
Zur  Zeit  Ludwigs  XIV.  hatte  man  den  Pomp  silberner  Möbel 
geliebt,   d.   h.   solcher,    die    über  einem   hölzernen   Kern    ganz 


Wille  nach  Tocque,  Marquis  de  Marigny^  lyöi 

mit  getriebenen  Silberplatten  belegt  waren,  in  Whitehall  hatte 
Karl  II.  mehrere  Zimmer  in  dieser  Weise  ausstatten  lassen, 
Friedrich  Wilhelm  I.  Millionen  an  sein  silbernes  Mobiliar  im 
Berliner  Schloß  gewandt.  Als  Lady  Montague  Wien  besuchte, 
war  in  den  Häusern  des  hohen  Adels  silbernes  Mobiliar  etwas 
ganz  Gewöhnliches.  Nur  einzelne  Stücke  sind  im  Laufe  der 
Zeiten  dem  Schmelztiegel  entgangen,  zahlreich  finden  sie  sich 
heute  noch  im  Schlosse  Rosenborg  in  Kopenhagen.  Der  ver- 
feinerte Geschmack  fand  an  solchen  Prunkstücken  keine  Freude 


94 


^^«it^jt;~j/;X 

Morean,  Les  delices  de  la  Maternite.   ijjö 


Die  Mode.   18.  Jatrh.   24 


mehr,  nur  für  einige  barbarische  Höfe,  wie  die  zu  Petersburg, 
Madrid  und  Lissabon  hat  der  Pariser  Goldschmied  Germain 
auch  später  noch  silberne  und  vergoldete  Toiletten  geliefert. 
Man  betrachtete  Gerät  und  Geschirr  aus  edlem  Metall  als 
Kapitalsanlage,  so  investierte  Friedrich  Wilhelm  I.  in  seinem 
Silbergeschirr  i'/2  Millionen  Taler;  Friedrich  der  Große  1743 
ebensoviel  in  seinem  goldenen  Tafelservice;  Maria  Theresia 
in  ihrem  goldenen  Service  1 300  000  Gulden,  und  das  Tafel- 
service, das  Max  Emanuel  von  Bayern  hatte  aus  Dukatengold 
anfertigen  lassen,  diente  ihm  in  der  zweiten  Hälfte  seiner  Regie- 
rung in  Augsburg  als  willkommenes  A^ersatzstück.  An  Stelle 
der  schweren  Formen  treten  leichtere  und  zweckmäßigere.  Der 
rohe  Prunk   des   protzigen  Materials   verschwindet  hinter  dem 


¥ 


A 


j  '-^J^^. 


Dame  mit  Fächer 


Dame  mit  Fiaschetto 


Nymphenbxirgcr  Porzellan 

95 


Raffinement  der  künstlerisch  vollendeten  Ausführung.  Was 
die  Pariser  Kunsttischlerei  im  Laufe  des  i8.  Jahrhunderts  in 
dieser  Art  geschaffen  hat,  läßt  sich  weder  beschreiben  noch 
durch  Abbildung  verdeutlichen.  Man  muß  die  Sammlungen 
des  Louvre-Museums,  der  Wallace  Collection  im  Hertford- 
house,  den  Jones  bequest  im  South  Kensington  Museum  ge- 
sehen haben,  um  einen  Begriff  von  der  Vollendung  dieser 
Möbel  zu  bekommen.  Zu  den  kostbarsten  Hölzern  Indiens: 
Mahagoni-,  Rosen-,  Veilchen-,  Tulpen-,  Amaranthen-,  Am- 
boina-,  Ebenholz  fügte  man  Schildpatt  und  Perlmutter,  Gold- 
und  Silberintarsien,  Einlagen  von  Pietra  dura,  Inkrustationen 
von  Sevres-  und  Wedgwoodplatten,  Mosaik  aus  glänzenden 
Vogelfedern,  Eglomise-Malereien,  alles  das  verbunden  und  zu- 
sammengestimmt durch  Bronzen,  deren  köstliche  Arbeit  an 
Feinheit  der  Tönung  und  Präzision  der  Ausführung  ihresgleichen 
heute  nicht  einmal  mehr  in  Goldschmiedearbeiten  findet.  Die 
Reihe  dieser  Künstler  beginnt  die  Familie  Boulle,  die  der 
von  ihr  geübten  Technik  der  Marketterie  ja  den  Namen  ge- 
geben hat.  Die  Tüchtigkeit  ihres  Könnens  hätte  wohl  den  Wech- 
sel des  Stils  überlebt,  aber  das  Feuer,  das  am  30.  August  1720 
ihre  Ateliers  zerstörte,  vernichtete  ihren  Wohlstand.  Andre 
Charles  Boulle  war  in  seine  Arbeiten  so  verliebt,  daß  er  sich 
nicht  entschließen  konnte,  sie  abzuliefern  und  sie  unter  dem 
Vorwand,  daß  sie  noch  nicht  fertig  seien,  im  Hause  behielt. 
Diese  Vorliebe  wurde  ihm  zum  Verhängnis,  denn  die  erwähnte 
Katastrophe  zerstörte  die  Früchte  und  den  Wert  jahrelanger 
Arbeit.  Wie  die  Boulle  deutschen  Ursprungs,  so  waren  auch 
ihre  Nachfolger  die  Oeben,  Riesener,  Weißweiler,  Benemann, 
Schwerdfeger  u.  a. ,  die  im  18.  Jahrhundert  den  Ruhm  des 
Pariser  Kunsthandwerks  bildeten,  größtenteils  Deutsche.  Ihrer 
Kunst  verdanken  die  berühmtesten  Stücke  jener  Zeit  ihre  Ent- 
stehung. So  das  .Rollbureau  Ludwigs  XV.,  an  dem  neun  Jahre 
lang  mit  einem  Kostenaufwand  von  72yys  Livres  (nach  heu- 
tigem Geldwert,  das  Livre  zu  M.  2,40  gerechnet,  M.  174660) 
gearbeitet  wurde,  der  monumentale  Schmuckschrank  Marie  An- 
toinettes  usw.  Mit  der  Schönheit  der  Möbel  harmoniert  der 
kostbare  Bezug  aus  gestickter,  bemalter,  gewirkter  Seide,  die 
Farbenpracht  der  Tapisserien,  der  Glanz  der  Lustres  und  Ge- 
räte. Im  Hotel  der  Madame  de  la  Verrue  hatte  der  geringste 
Kronleuchter  loooo  Taler  gekostet,   Prinz  Eugen  bezahlte  die 

96 


Alexandre  kuiiin.   Ainaceiic  Ln> istine  von  Sachsen- Tescketi.    ijSz 


Die  Mode.   18.  Jahrh.   25 


y.  K.  Seekatz,  Die  Goethesche  Familie  im  Schäfer koslüfti  aus  dem  Besitz  Bettina  s 
V.  Arnim,  gemall  1762 


DieMode.18.  Jahrh.  2.  A. 


97 


seinen  das  Stück  mit  20000  Talern.  Die  Bronzen  der  Caffieri, 
Gouthiere,  Thomire,  ihre  Möbelbeschläge,  Uhren,  Leuchter, 
Feuerböcke  wurden  mit  Gold  aufgewogen.  Dem  unglücklichen 
Gouthiere  blieb  die  Dubarry  für  einige  Arbeiten,  die  er  in 
ihrem  Schlosse  Luciennes  ausgeführt  hatte,  756000  Livres 
schuldig  und  stürzte  den  Künstler  dadurch  ins  Elend. 
Wenn  auch  in  der  Reinheit  des  Entwurfs  und  der  Vollen- 
dung der  Technik  den  Pariser  Arbeiten  dieser  Zeit  der  Vor- 
rang gebührt,  so  beanspruchen  doch  auch  die  außerhalb  Frank- 
reichs Grenzen  hergestellten  Möbel  einen  hohen  Rang.  Die 
Mannigfaltigkeit  der  Formen,  in  der  z.  B.  deutsche  Schreiner 
das  Thema  Kommode  abwandeln,  ist  unbeschreiblich.  Man 
findet  in  Grundriß,  Aufbau  und  Profilen  immer  Neues  und 
Gefälliges.   Die  Hoppenhaupt,  Nahl,  Kambly,  Hülsemann  u.  a. 


De  Carmontelle,  Mme.  Hirault  und  Mme.  de  Sechelle,  lyöj 

98 


Carmontdle ,  Der  elfjährige  Mozart,  ijöj 

dürfen  sich  mit  ihren  Arbeiten  wohl  neben  Pariser  Stücken 
sehen  lassen,  zumal  wenn  sie  im  Auftrag  fürstlicher  Mäzene 
schufen.  Die  prächtigen  Schränke  aus  Salzdahlum,  heute  in 
verschiedene  Museen  zerstreut,  sind  in  Entwurf  und  Ausführung 
ebenso    vollendet   wie   die   Möbel,    die   Friedrich   II.   sich    aus 


99 


Zedernholz  mit  Beschlägen  von  Silber,  aus  Schildpatt  mit  Platten 
von  Amethyst  fertigen  ließ.  David  Röntgen  aus  Neuwied  genoß 
eine  europäische  Berühmtheit.  Für  einen  seiner  Sekretäre,  die 
ihrer  vielen  geheimen  Fächer  und  Schnurrpfeifereien  wegen  boites 
ä  surprises  genannt  wurden,  zahlte  Ludwig  XVI.  Soooo  Livres. 


Raffad  Mengs,   Marie  Louise  von  Parma,   Gattin  König 
Karls  IV.  von  Spanien 

Ein  hervorragendes  Stück  aus  seinen  Ateliers  ist  heute  noch 
im  Schloß  Monbijou. 
Das  englische  Geuz  eigene  Wege  wandelte  die  englische  Dekoration  und 
Möbelkunst  des  i8.  Jahrhunderts.  Das  englische  Rokoko,  wie 
die  Chippendale  es  verkörpern,  besteht  eigentlich  aus  einer 
sonderbaren   Mischung.    Sein   Grundbestand  ist  französisches 

100 


Möbel 


yaninet,  Königin  Marie  AntoinetU,    177  J 


Die  Mode.  18.  Jahrh.  26 


Daniel  Chodowiecki,   Prinzessin  Sophie  Wilhelmine  von   Preußen, 
1767  vermählt  mit  dem  Erbstatthalter  von  Oram'en  _ 

Rokoko,  aber  dies  ist  so  stark  mit  chinesischen  und  selbst 
gotischen  Elementen  verquickt,  daß  etwas  durchaus  Neues 
daraus  geworden  ist.  Das  gleiche  Unglück  wie  den  Boulle 
ist  auch  dem  jüngeren  Chippendale  zugestoßen.  Am  5.  April 
1755  brannte   sein  Laden   in  St.  Martins  Lane  aus,   eine  Kata- 

lOI 


Strophe,  die  auch  in  diesem  Fall  die  Aenderung  eines  Stiles 
beleuchtet.  In  England  haben  die  wissenschaftlichen  Reisen 
und  praktischen  Versuche  der  Brüder  Adam  die  Antike  früher 
als  auf  dem  Kontinent  in  Mode  gebracht.  Die  Nachfolger 
der  Chippendale,  George  Hepplewhite  und  Thomas  Sheraton 
führen  ihr  Mobiliar  schon  mit  starkem  Anklang  an  klassische 
Vorbilder  aus.  Der  erstere  mit  der  leicht  englisierten  Anmut 
des  Louis  Seize-Stils,  der  letztere  mehr  in  den  strengeren  For- 
men des  sogenannten  Empire.  Was  den  englischen  Möbeln 
aber  ein  ganz  besonderes  Gepräge  gab,  war  ihr  Charakter, 
das  Zweckmäßige,  Schöne  und  Bequeme  zu  vereinigen,  ein 
Vorzug,  der  später  das  Möbel  der  Biedermeierzeit  so  stark 
beeinflußt  hat.  In  Inventaren  des  Berliner  Schlosses  finden 
sich  schon  im  Jahre  1713  englische  Möbel  aufgeführt,  und 
mit  der  zunehmenden  Beeinflussung  des  Kontinents  durch  eng- 
lische Philosophie,  Literatur  und  Sitte  wächst  auch  der  Import 
englischer  Möbel  und  Geräte.  Man  gewann  langsam  auch  bei 
uns  Verständnis  für  englischen  Komfort.  Die  Modejournale 
enthalten  in  jeder  Nummer  Anzeigen  englischer  Waschmaschi- 
nen, Apparate  zur  Zimmergymnastik,  Motionsstühle  gegen  Hypo- 
chondrie u.  dgl.,  und  auf  der  Leipziger  Messe  1797  schätzt  man 
die  Einfuhr  englischer  Luxusartikel  auf  £800000,  die  der  Frank- 
furter Messe  des  gleichen  Jahres  auf  i  Million  Pfund  Sterling. 
Das  18.  Jahrhundert  hat  den  Vorrat  von  Möbeln,  den  es 
überkommen   hatte,   ganz  bedeutend  vermehrt.    Einmal  hat   es 


Ä.  Aubin,  Prottienade 


102 


Kaiserin  Katharina   von  Rußland  (Berliner 
Porzellan) 


die  Formen  der  Sitz- 
möbel, wie  Kanapees, 
Lehnstühle  und  Sessel 
in  geradezu  unendlicher 
•  Mannigfaltigkeit  ausge- 
staltet. Die  spätere  Zeit 
hat  darin  kaum  etwas 
Neues  geschaffen.  Dann 
aber  hat  es  endgültig 
mit  der  Truhe  gebro- 
chen und  die  Kommode 
an  ihre  Stelle  gesetzt. 
Schließlich  hat  es  aus 
dem  Kabinettschränk- 
chen  den  Schreibtisch 
gemacht.  Der  Sekretär, 
das  Rollbureau, der  Kau- 
nitz  und  andere  heute 
Das  Brief-  uoch  gebräuchliche  Formcu  des  Schreibtisches  stammen  so  gut 
schreiben  ^^^  diescr  Zeit  wie  viele,  viele  andere,  die  heute  vergessen  sind, 
wie  etwa  das  Miniaturmöbel,  das  man  in  Frankreich  »  bonheur 
du  jour«  nannte,  und  das  in  keinem  Schlafzimmer  einer  Dame 
von  Welt  fehlen  durfte,  gehörte  doch  beim  Einschlafen  ihr 
letzter,  wie  beim  Erwachen  ihr  erster  Gedanke  ihrer  Korre- 
spondenz. Wir  sind  im  briefschreibenden  Jahrhundert,  an 
dessen  Beginn  wir  eine  so 
schreibfrohe  Seele  finden 
wie  Liselotte,welcher  Brief  e 
von  25  Seiten  eine  Kleinig- 
keit waren,  die  von  der  Prin- 
zeß von  Wales  Antworten 
von  28,  33,  ja  45  Seiten  er- 
hielt. Ihr  Zeitgenosse  Phi- 
lipp Jakob  Spener  empfing 
jährlich  etwa  1000  Briefe, 
von  denen  er  zwei  Drittel 
selbst  zu  beantworten  pfleg- 
te, und  diese  Leidenschaft 
für  das  Korrespondieren 
nahm  zu,  je  weiter  das  Jahr-  Taraval,  J.  J.  Rousseau 


104 


Bartolozzi  ,i,. 


-',«»u    Uuu.^c.     A.v.c    Mu 


Auhc. 


Die  Mode.  18.  J»lirh.   27 


hundert  vorschritt.  Männer,  welche  wie  Geliert  bessernd  aufweite 
Kreise  wirken  wollten,  unterhielten  eine  ausgebreitete  Korre- 
spondenz zum  Teil  mit  ihnen  persönlich  ganz  Unbekannten.  Pri- 
vate Korrespondenzen,  besonders  der  ausgedehnte  Briefwechsel 
Julie  Bondelis  gewannen  Rousseaus  Anschauungen  mehr  An- 
hänger als  seine  Bücher.  Voltaire,  der  sich  ',als  geistiger  Patriarch 
Europas  fühlte,  korrespondierte  mit  der  halben  Welt  und 
konnte  Casanova  1760  bei  einem  Besuch  in  Ferney  eine  Samm- 


Dti  Greux,  Kaiserin  Maria  Theresia 


lung  von  50000  an  ihn  gerichteter  Briefe  zeigen.  Lavater,  der 
jahrelang  der  Prophet  der  stillen  Gemeinde  der  Empfindsamen 
in  Deutschland  war,  schrieb  seine  Zirkelbriefe,  wie  Friedrich 
Nicolai  sie  nennt,  unter  der  Voraussetzung,  daß  jeder  der- 
selben an  30 — 40  Orten  bekannt  werden  würde.  »Denn  es  war 
überhaupt  eine  so  allgemeine  Ofifenherzigkeit  unter  den  Men- 
schen«, sagt  Goethe,  »daß  man  mit  keinem  einzelnen  sprechen 
oder  an  ihn  schreiben  konnte,  ohne  es  zugleich  als  an  mehrere 

105 


gerichtet  zu  betrachten.  Man  spähte  sein  eigen  Herz  aus  und 
das  Herz  der  anderen  und  bei  der  Gleichgültigkeit  der  Regie- 
rungen gegen  eine  solche  Mitteilung,  bei  der  durchgreifenden 
Schnelligkeit  der  Taxisschen  Posten,  der  Sicherheit  des  Siegels, 
dem  leidlichen  Porto  griff  dieser  sittliche  und  literarische  Ver- 
kehr bald  weiter  um  sich.   Solche  Korrespondenzen,  besonders 

mit  bedeutenden  Perso- 
nen, wurden  sorgfältig 
gesammelt  und  alsdann 
bei  freundschaftlichen 
Zusammenkünften  aus- 
zugsweise vorgelesen 
und  so  ward  man,  da 
politische  Diskurse  we- 
nig Interesse  hatten,  mit 
der  Breite  der  morali- 
schen Welt  ziemlich  be- 
kannt.« Das  Briefschrei- 
ben, das  Weltdamen  eine 
Forderung  der  Mode 
war,  wurde  den  Blau- 
strümpfen zur  Pflicht. 
MadameGeoffrin  schrieb 
aus  Prinzip  täglich  min- 
destens zwei  Briefe  und 
Madame  du  Deffand 
schrieb  auch  nicht  das 
kleinste  Billett,  ohne 
nicht  vorher  mehrere 
Brouillons  davon  aufzu- 
setzen. So  entstanden  dann  jene  Briefwechsel,  von  denen  Goethe 
einmal  sagt,  daß  die  neuere  Welt  sich  über  ihren  Geha;ltsmangel 
verwundere, Ergüsse  einerSchreibwut,die  so  tyrannisch  herrschte, 
daß  auch  der  Trägste  ihr  gehorchen  mußte  ;  wenn  sich  z.  B. 
ein  Brieffauler  wie  Graf  Stadion  auch  dadurch  der  Qual  des 
Selbstschreibens  entzog,  daß  er  die  Liebesbriefe,  auf  die  seine 
Schöne  ein  Recht  hatte,  von  seinem  Sekretär  La  Roche  schrei- 
ben ließ.  Leuchsenring,  ein  Apostel  der  Empfindsamkeit,  reiste 
mit  mehreren  Schatullen  voller  Briefe  von  Freunden,  die  er 
Dritten  mitzuteilen  pflegte,   und  wenn  wir  heute  diese  Leiden- 


Raffael  Mengs,  Zwei  spanische  Infanten 


io6 


Joseph  Wright,  Die  Luftptviipe ,  ijög 


Schabkunst  von  Green 


Schaft  für  das  Korrespondieren  nicht  mehr  verstehen,  so  müssen 
wir  uns  erinnern,  daß  auch  die  Modeliteratur  von  damals  die- 
sem Hang  eitler  und  lügnerischer  Selbstbespiegelung  Vorschub 
leistete.  Von  Richardsons  Clarissa  bis  zu  den  frivolen  »Liaisons 
dangereuses«  Choderlos  de  Laclos  beherrscht  die  so  ganz 
unwahrscheinliche  Form  des  Romans  in  Briefen  die  Lesewelt 
und  ein  so  langweiliges  und  konfuses  Buch  wie  »Sophiens 
Reise  von  Memel  nach  Sachsen«  erlebt  Auflage  über  Auflage, 
während  man  schon  nach  dem  fünften  oder  sechsten  Brief 
von  keiner  der  handelnden  Personen  mehr  weiß,whichiswhich  ? 
Heute  lächeln  wir  über  die  Periode  der  Empfindsamkeit,  die 
der  Gesellschaft  zwischen  1760  und  1790  so  sichtbar  ihren 
Stempel  aufgedrückt  hat.  Heute  schickt  es  sich,  seine  Gefühle 
zu  verbergen,  Tränen,  Küsse,  Umarmungen  sind  so  gut  aus 
der  Mode  gekommen  wie  das  Briefschreiben,  das  wir  alten 
Damen  überlassen,  die  sich  nichts  Dringenderes  anzuvertrauen 
haben  als  die  Geheimnisse  anderer  Leute.  Unser  Verkehr 
bewegt  sich  in  anderen  Formen,  unser  Geist  wandelt  andere 
Bahnen,    nur    eine   Erbschaft  jener   Zeit,    die    auf    das   engste 


107 


mit  ihrer  Empfindelei  zusammenhängt,  ist  uns  geblieben:  der 
englische  Garten. 
irienhunsi  ßis  zur  Mitte  des  i8.  Jahrhunderts  gehorchten  Park  und 
Garten  dem  architektonischen  Gesetz,  welches  den  Bau  diktiert 
hatte,  den  sie  umgaben.  Ihre  Wege  und  Alleen  setzten  die  Per- 
spektiven der  Säle  und  Galerien  fort,  ihre  Anlage  samt  Wasser- 
künsten undBoskettswar  geometrisch,  Bäume  und  Büsche  stan- 
den unter  der  Schere,  es  war  eine  künstlerisch  geordnete  und 
eingerichtete  Natur  zum  Gebrauch  für  vornehme  Leute.  Als 
nun  die  Rückkehr  zur  Natur  das  Schlagwort  der  Gesellschaft 
wurde,  als  es  Mode  wurde,  Empfindungen  zu  haben  und  zu 
zeigen,  da  sah  man  sich  voller  Enttäuschung  in  Gärten,  deren 
regelmäßige  Anlage  so  gar  nicht  zu  den  neuen  ungeregelten 
Gefühlen  paßte.  Man  verlangte  nach  einer  natürlichen  Natur 
im  Gegensatz  zu  dieser  künstlich  hergerichteten,  im  Gegen- 
satz auch  zur  wirklichen  Natur,  an  der  erst  das  nächste  Ge- 
schlecht Genuß  finden  sollte.  Dies  Verständnis  für  landschaft- 
liche Schönheit  ist  erst  am  Ende  des  Jahrhunderts  zum  Durch- 
bruch gekommen.  Diesem  Bedürfnis  trug  die  Anlage  der 
Parks  Rechnung,  wie  es  in  England  Mode  geworden  war, 
wo  bereits  im  Anfang  des  Jahrhunderts  Pope  und  Addison 
ihre  Gärten  einfach  der  Natur  überlassen  hatten.  Die  Freude 
an   dem  Zufälligen,  Regellosen  einer  ungehindert   schaltenden 


Panini,  Gustav  III.  von  Schweden  beim  Papst,  iTjo 

io8 


F.  Cotes,  Mary  Lady  Boynton,  ijjo 


Schabkunst  von  Waison 


109 


Natur  führte  dann  dazu,  diesen  Zufälligkeiten  bewußt  nach- 
zuhelfen, das  Regellose  künstlich  herzustellen.  Durch  William 
Chambers  wurde  die  Aufmerksamkeit  auf  die  chinesischen 
Gärten  gelenkt,  deren  geschickte  Anlage  auch  auf  dem  kleinsten 
Raum   das  Bild  einer  ganzen  Landschaft  vorzutäuschen  weiß. 

Chambers  schuf  1763  in 
Kew  Garden  bei  Rich- 
mond  die  Anlage,  welche 
ganz  Europa  als  muster- 
gültig ansah  und  sich 
beeiferte,  überall  nach- 
zuahmen. Es  wurden 
jene  Parks  angelegt,  die 
darauf  berechnet  waren, 
Empfindungen  zu  erre- 
gen, Stimmungen  auszu- 
lösen. Tempel,  Altäre, 
künstliche  Ruinen,  Bau- 
ernhütten,Einsiedeleien, 
Kapellen,  Pyramiden, 
Moscheen,  Grotten,  Grä- 
ber, Denkmäler —  nichts 
wurde  gespart,  um  der 
Seeledes Wanderers  Ein- 
drücke zu  vermitteln, 
welche  Regungen  sanf- 
ter    Schwärmerei     und 

stillen     Nachsinnens, 
Schrecken  oder  Entzük- 
ken    erzwingen    sollten. 

Auf  Wilhelmshöhe 
täuschten  in  der  Grotte 
des  Pluto  feuergelbe 
Glastüren  einen  schauer- 
lichen Feuerpfuhl  vor,  in  unterirdischen  Gewölben  saßen  Wachs- 
figuren von  Tempelrittern,  Mönchen,  Einsiedlern  wie  in  Laxen- 
burg  oder  Monrepos  bei  Ludwigsburg.  Der  Park  sollte  die 
bessere  Welt  darstellen,  in  die  man  so  gerne  geflüchtet  wäre, 
darum  führten  seine  Anregungen  in  zeitliche  oder  räumliche 
Fernen,   in  das  Altertum   zu  den  Gräbern  Homers  und  Virgils, 


Galaanzug  König  Gustav  III.   von  Schweden 


HO 


die  besonders  beliebt  waren,  oder  nach  China,  das  man  sich 
gern  als  Heimat  beschaulicher  Glückseligkeit  vorstellte,  in 
chinesische  Dörfchen,  von  denen  eines  die  Kolonie  Mulang 
bei  Kassel  zur  Erhöhung  der  Wahrscheinlichkeit  noch  mit 
afrikanischen  Mohren  besiedelt  wurde !  Der  verdrehte  Graf 
Hoditz,  der  in  seinem  Leben  fünf  Millionen  Taler  verschwen- 
dete, glaubte  sein  Roßwalde  in  ein  Arkadien  umgeschaffen 
zu  haben,  als  es  ihm  gelungen  war,  seinen  Hörigen  Schäfer- 
spiele einzudrillen,  die  sie  gelegentlich  im  Park  improvisieren 
mußten  ;  liebten  die  Schäfer  und  Schäferinnen  aber  zu  realistisch, 
so  setzte  es  Prügel.  Graf  Moritz  Brühl  arbeitete  das  Röder  Tal 
bei  Seifersdorf  in  der  Lausitz  ästhetisch  empfindsam  um,  Goethe 
spricht  einmal  in  seinen  Briefen  an  Carl  August  tadelnd  von 
»Seifersdorfisiren«.  Berühmt  war  der  Park  des  Baron  Peter 
Braun  in  Schönau  bei  Wien,  für  dessen  Anlage  sich  der  Besitzer 
ruinierte. 

Fast  alle  kontinentalen  Parks  sind  damals  in  englischem  Sinne 
umgestaltet  worden  und  ihren  Anlagen  nach  bis  heute  auch 
geblieben,  wenn  die  Mehrzahl  der  sentimentalen  Baulichkeiten 
inzwischen  natürlich  auch  verschwunden  ist.  Damit  es  dem 
Geschmack  nicht  an  einem  Leitfaden  zur  Sentimentalität  fehle, 
gab  ihm  der  Däne  Hirschfeld  in  fünf  Quartanten  seine  Theorie 
der  Gartenkunst,  die  alle  Rezepte  zur  Erregung  sanfter  Trauer 
und  stillen  Entzückens  zum  Schwärmen  ä  la  St.  Preux  und 
Heloise   mitteilt. 

Gelegentlich  der  Charakterisierung  des  Rokoko  ist  schon  dar- 
auf hingewiesen  worden,  daß  die  reichsten  Schöpfungen  dieses 
Stils  diejenigen,  welche  seine  Gestaltungsmöglichkeiten  am 
wildesten  ausgebildet  zeigen,  auf  deutschem  Boden  entstanden 
sind.  Deutschland  hat  aber  nicht  nur  in  der  Architektur  und 
den  dekorativen  Künsten  das  in  Phantasie  und  Laune  über- 
schäumende Rokoko  gezeitigt,  es  hat  mehr  getan,  indem  es 
für  diesen  Stil  gerade  das  Material  erfand,  das  seiner  kapri- 
ziösen Kunst  zu  vollem  Ausleben  verhalf:  das  Porzellan. 
Sich  heute  das  i8.  Jahrhundert  ohne  das  Porzellan  vorzustellen, 
erscheint  gerade  so  unmöglich,  wie  Biedermeier  ohne  die  Litho- 
graphie zu  denken  oder  das  zweite  Kaiserreich  ohne  den  Photo- 
graphen. Das  chinesische  Porzellan  war  in  Europa  seit  langem 
bekannt  und  hochgeschätzt  —  August  der  Starke  gab  Friedrich 
Wilhelm  L  für  einige  besonders  schöne  Vasen  ein  ganzes  Regi- 

III 


ment  Soldaten  —  es  in  seiner  eigenen  Masse  nachzumachen, 
war  aber  noch  nicht  dauernd  geglückt.  Es  ist  bekannt,  wie  der 
Arkanist  Johann  Friedrich  Böttger  von  August  dem  Starken  zum 
Goldmachen  angestellt,  durch  Zufall  mit  der  Porzellanerde 
bekannt  wurde  und  eine  Erfindung  machte,  die  wenigstens 
indirekt  gutes  Gold  einbrachte.  Seit  1713  zum  ersten  Male 
die  Leipziger  Messe  mit  Böttgerscher  Ware  beschickt  werden 
konnte,  eroberte  sich  das  sächsische  Porzellan  den  europäischen 


y.  H.  Tischbein,  Lessing 

Markt.  Es  trat  anfänglich  in  der  Maske  seiner  ostasiatischen 
Heimat  auf,  denn  die  Bizarrerie  des  chinesischen  Stils  führte 
eben  ihren  ersten  siegreichen  Vorstoß  gegen  die  Kunst  des 
Westens  aus.  Chinesisches  Porzellan,  chinesischer  Lack,  chine- 
sische Seiden  waren  die  begehrtesten  Luxusartikel;  glocken- 
behängte Pagoden,  schwebende  Brücken  von  Bambusrohr, 
bezopfte  Chinesen  mit  langen  Pfeifen  waren  so  beliebte  Elemente 
der  Dekoration,  daß  sie  aus  dem  Rokoko  nicht  mehr  verschwun- 
den sind,  ja,  wie  Edmond  de   Goncourt  einmal  sehr  hübsch 


112 


^ 


11 

"I^^^^^^H 

L 

sagt:  China  zu  einer  Provinz  des  Rokoko  machten.  Trotz 
der  eifersüchtigen  Hut,  mit  der  die  Fabrikation  in  Meißen 
bewacht  wurde,  gelang  es  auf  die  Dauer  weder  das  Fabrikat 
für  chinesisch  auszugeben,  noch  auch  das  Geheimnis  der  Her- 
stellung zu  bewahren.  1718  entstand  in  Wien  eine  Porzellan- 
fabrik, der  seit  den  vierziger  Jahren  weitere  Manufakturen  in 
Berlin,  Fürstenberg,  Frankenthal,  Nymphenburg  usw.  folgten. 
In    ihren    Erzeugnissen    verkörpert    sich    heute    für    uns    das 


Graff,  Frau  Böhme,  Goethes  Freundin  in  Leipzig 

18.  Jahrhundert,  dessen  Anschauungen  wir  in  der  anmutigen 
Form  des  Gebrauchsgeräts  so  gut  wiederfinden  wie  in  der 
preziösen  Grazie  der  zierlichen  Figürchen  und  Vasen.  Indem 
man  dies  köstliche  Material  dem  eigenen  Bedürfnis  anpaßte, 
fand  man  auch  sofort  den  Stil  dafür.  Die  Meißner  Manufaktur 
wirkte  auf  diesem  Gebiet  ebenso  schöpferisch  wie  bahnbrechend 
und  hat  für  alle  Zeiten  die  Grenzen  abgesteckt,  jenseits  deren 
der  Porzellanstil  sich  nicht  wagen  darf,  will  er  sich  nicht 
selbst  aufgeben.   Ein  günstiger  Zufall  war  es,  der  die  neue  Kunst 


D  i  e  M  o  d  e.  18.  Jahrh.  2.  A. 


113 


auch  sofort  vor  dankbare  Aufgaben  stellte,  als  es  galt,  für  die 
neuen  Luxusgetränke  Kaffee,  Tee  und  Schokolade  Gefäße  zu 
bilden,  und  der  glänzenden  Lösung,  die  sie  in  ihren  Bechern 
und  Tassen  für  diese  Aufgabe  fand,  hatte  die  Porzellankunst 
es  zu  danken,  daß  die  vornehme  Gesellschaft  damit  begann, 
ihre  ganze  Tafel  mit  Porzellan  zu  besetzen.  Bis  dahin  hatten 
Reiche  von  Silber  oder  Vermeil,  minder  Begüterte  von  Zinn 
oder  Steingut  gegessen,  den  Tafelschmuck  fertigte  der  Kon- 
ditor aus  Zucker  oder  Dragant.  Alle  diese  Materialien  ver- 
drängt jetzt  das  Porzellan.  Seit  1734  liefert  Meißen  Tafel- 
service, bei  denen  Form  und  Malerei  um  den  Vorrang  zu 
streiten  scheinen,  liefert  es  jene  Serien  von  Gruppen  und  Fi- 
guren, die  in  Modellierung  und  Bemalung  auf  kleinstem  Raum 
das  höchste  künstlerische  Vermögen  ihrer  Bildner  verraten. 
Ob  es  nun  Meißner  Schäfer  und  Schäferinnen,  Fischer,  Jäger. 
Bauern  sind,  oder  Nymphenburger Kavaliere  und  Damen,  immer 
sind  es  Angehörige  der  vornehmen  Welt,  die  wir  vor  uns  haben, 
immer  lächelt  aus  ihren  süßen  Gesichtchen  die  kokette  Schelmerei, 
tragen  sie  die  ländliche  Maskerade  mit  derselben  Ziererei  v^^ie 
den  spitzenbesetzten  Putz,  immer  ist  ihr  Tun  das  gleiche  leichte 
Getändel.  Die  Gruppen  bringen  diese  herzigen  Dämchen  und 
allerliebsten  Herrchen  in  Situationen  voll  schalkhaften  Humors 
und  drolliger  Neckerei,  wo  die  leise  Affektation  ihrer  Haltung 
die  gesenkten  Köpfchen  und  gespreizten  Fingerchen,  die  tän- 
zelnden Beinderln  und  gebauschten  Röcke  uns  verraten,  was 
man  in  der  Perückenzeit  unter  Grazie  verstand,  wie  man  sich 
hielt,  als  das  Menuett  den  Rhythmus  der  Bewegung  angab. 
Zu  diesen  Tischdekorationen  und  Gebrauchsgefäßen  tritt  bald 
der  ganze  Kleinkram  der  Bedürfnisse  des  Luxus  an  Dosen, 
Flakons,  Stockgriffen,  Etuis,  Vasen,  Uhrgehäusen,  Potpourris 
etc.  Das  Porzellan  scheint  sich  geradezu  die  ganze  Kultur 
untertänig  machen  zu  wollen  und  vergißt  wie  ein  glücklicher 
Eroberer  die  Grenzen  seiner  Macht.  Die  Freude  an  dem  herr- 
lichen Material  verleitet  den  berühmten  Kandier  dazu,  sich 
an  die  Ausführung  einer  überlebensgroßen  porzellanenen  Reiter- 
statue Augusts  HL  von  Polen  zu  wagen  und  läßt  Carl  IIL 
von  Spanien  in  seinen  Schlössern  Zimmer  völlig  mit  Relief- 
platten von  Porzellan  auskleiden,  ein  Unternehmen,  bei  dem 
das  Mißverhältnis  zwischen  dem  erzielten  Resultat  und  der 
aufgewandten  Mühe  deutlich  darauf   hinweist,   welche  Schran- 

114 


ken  der  Leistungsfähigkeit  dieses  festen,  aber  spröden  und 
technisch  unzuverlässigen  Materials  gezogen  sind. 
Das  Porzellan  errang  sich  seinen  Platz  bald  auch  in  der 
Dekoration.  Entweder  belegte  man  wie  in  dem  Zimmer  des 
Grafen  Dubsky  in  Brunn  die  Wände  mit  vielen  Hundert  kleiner 
Platten  von    Porzellan   oder  man   überzog  sie   mit  hölzernem 


Chodowiecki,  Minna  von  Barnhelm,  1770 


Schnitzwerk,  das  auf  tausend  kleinen  und  kleinsten  wie  in  zu- 
fälligem Spiel  entstandenen  Vorsprüngen  und  Konsolen  Raum 
zur  Aufstellung  von  Tassen,  Vasen  und  Figuren  bot,  während 
dahinter  befestigte  Spiegel  das  unruhige  Spiel  des  Lichts  auf 
Farben  und  Glasur  steigerten  und  vervielfältigten.  August  der 
Starke  errichtete  für  seine  Porzellansammlung  ein  eigenes  Schloß, 
das  japanische  Palais,  dessen  Erdgeschoß  für  chinesisches  und 
japanisches  Geschirr  bestimmt  war,   während  das   erste  Stock- 

116 


Drouais,   Cotnte  Philippe  de  Vaudreuil 


Stich  von  Henri  Chef  er 


117 


werk  dem  Meißener  Porzellan  vorbehalten  blieb.  Bei  der  Ein- 
richtung war  der  Gedanke  maßgebend,  daß  in  jedem  Zimmer 
Porzellan  von  einer  Farbe  vorherrschen  sollte.  In  der  Schloß- 
kapelle waren  nicht  nur  die  großen  Statuen,  sondern  auch 
Kanzel  und  Altar  in  Porzellan  projektiert.  Als  der  Pariser 
Kunsttischler  Martin  Carlin  begann,  seine  Möbel  mit  Sevres- 
platten  zu  inkrustieren,  fand  sein  Geschmack  solchen  Beifall, 
daß  die  Herzogin  von  Valentinois  sich  1778  in  Longchamps 
in  einer  ganz  mit  Porzellanplatten  belegten  Kutsche  zeigte, 
eine  Uebertreibung  der  Mode,  ähnlich  jener,  deren  sich  die 
Pompadour  schuldig  machte,  als  sie  bei  der  Vorliebe  des  Hofes 
für  Blumen  aus  Porzellan  in  ihrem  Lustschloß  Bellevue  ein  Treib- 
havts  einrichtete,  das  nur  parfümierte  Porzellanblumen  enthielt. 


Im   Garten  zu  Beloeil 


120 


Nicolas  Lavreince,  Das  Andenken 


Die  Mode.   18.  Jährt.   29 


Hubert,    Voltaire  am  Schreibtisch 

Die  Vorherrschaft,  die  Ludwig  XIV.  in  Europa  ausübte,  du  Modi 
hat  sich  zwar  auf  allen  Gebieten  des  Lebens  in  Politik, 
Kunst  und  Literatur  gleichmäßig  geäußert,  sich  doch 
aber  auf  keinem  anderen  so  augenfällig  zur  Geltung  gebracht 
als  auf  dem  der  Mode.  Alle  Unterschiede,  welche  bis  dahin  der 
Kleidung  einzelner  Länder  und  Städte  ein  gewisses  charak- 
teristisches Gepräge  verliehen  hatten,  verschwinden  mehr  und 
mehr  vor  der  unaufhaltsam  vordringenden  französischen  Mode. 
Alle  Ordnungen  und  \^erbote  sind  vergebens.  Nichts  vermag 
ihren  Siegeszug  aufzuhalten.  Die  Kleidung  der  Gesellschaft 
wird  im  Lauf  des  i8.  Jahrhunderts  überall  die  gleiche,  nämlich 
die  französische,  und  in  diesem  Sinne  sprach  Caraccioli  damals 
mit  Recht  von  dem  französischen  Europa.  Die  Geschichte  der 
französischen  Mode  wird  dadurch  ganz  von  selbst  zu  einer 
Modegeschichte  Europas,  das  Vorbild  des  Hofes  von  Versailles 
beeinflußt  die  Gesellschaft  in  Paris,  und  von  da  aus  die  übrige 
Welt.  Die  Mode  wirkte  sicher,  wenn  sie  auch  beim  Herab- 
steigen der  sozialen  Stufenleiter  die  untersten  Schichten  eben- 
sogut später  erreichte  wie  die  räumlich  entfernter  Wohnenden. 
Jeder  formte  sich  doch  nach  besten  Kräften  nach  ihrem  Bilde. 
Und  wenn  das  Pariser  Muster  auch  nicht  überall  erreicht  wurde, 
so  blieb  es  doch  das  Ideal,  nach  dem  man  strebte. 
Es  ist  ja  auch  ganz  selbstverständlich,  daß  man  schneller  dazu 
gelangte,  die  äußeren  Formen  der  bewunderten  französischen 
Kultur  anzunehmen  als  ihren  Geist.  Wer  sich  französisch  klei- 
dete, dokumentierte  schon  dadurch  seine  Zügehörigkeit  zu  einer 


121 


höheren  Klasse,  und  diese  Tendenz,  sich  dem  französischen 
Geschmack  anzupassen,  wurde  von  Frankreich  aus  um  so  syste- 
matischer unterstützt,  als  die  französischen  Manufakturen  zum 
größten  Teil  Luxusartikel  produzierten:  Sammet-  und  Seiden- 
stoffe, Spitzen,  Tressen  u.  dergl.  Seit  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  hatte  man  in  Paris  begonnen,  .'die  Monat  ein- 


Louis-Michel  Van  Loo,  Detiis  Diderot 

mal  eine  vollständig  nach  neuester  Mode  kostümierte  lebens- 
große Puppe  nach  London  zu  senden:  »die  große  Pandora« 
in  Staatstoilette,  »die  kleine  Pandora«  in  Neglige  gekleidet. 
Diese  Puppe  der  Rue  Saint  Honore  wurde  anfänglich  im  Hotel 
Rambouillet  zurecht  gemacht  mit  der  gern  geleisteten  Hilfe 
der  berühmten  Mademoiselle  de  Scudery,  jener  fruchtbaren 
Romanschriftstellerin,  die  man  zwar  nicht  mehr  liest,  aber  aus 


122 


Hoffmanns  Erzählungen  so  gut  kennt.  Diese  Puppe  wanderte 
so  regelmäßig  über  den  Kanal,  daß  selbst  Kriegszeiten  die 
englischen  Damen  nicht  der  Möglichkeit  beraubten,  sich  all- 
monatlich über  die  letzte  Pariser  Mode  zu  orientieren.  Mitten 
im  Spanischen  Erbfolgekriege  bestellte  König  Georg  I.  von  Eng- 
land die  ganze  Ausstattung  seiner  deutschen  Schwiegertochter 
in  Paris.  Die  feindlichen  Generale  erlaubten  Pandora  stets  frei 
zu  passieren,  eine  Galanterie,  der  erst  ein  Barbar,  wie  Napo- 
leon, ein  Ende  machte.  Als  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
die  englischen  Damen  auf  den  Besuch  Pandoras  zu  verzichten 
gezwungen  waren,  sahen  sie  sich,  wie  Mrs.  Bury-Palliser  be- 
dauernd bemerkt,  leider  genötigt,  sich  nach  eigenem  Geschmack 
zu  kleiden.  Nachdem  sie  der  Not  gehorchend  einmal  in  diesen 
Fehler  verfallen  mußten,  haben  sie  ihn  leider  als  Gewohnheit 
einwurzeln  lassen;  von  dem  Resultat  kann  jeder  Besucher  Eng- 
lands sich  schaudernd  überzeugen.  Mit  der  Zeit  reiste  Pan- 
dora auch  nach  anderen  Orten  als  gerade  nur  nach  London 
und  formte  nach  ihrem  Bilde  in  Rußland  wie  in  Deutschland 
und  Italien  aus  der  Europäerin  die  Pariserin.  Wir  wollen  aber 
nicht  verschweigen,  daß  es  schon  im  18.  Jahrhundert  Leute 
gab,  welche  behaupteten,  daß  Pandora  im  Ausland  stets  die 
Moden  von  vorgestern  und  nicht  die  von  heute  trüge;  so  findet 
die  Fürstin  Liechtenstein  die  Damen  des  Ansbacher  Hofes 
angezogen  und  dekolletiert,  wie  sie  es  nie  gesehen,  und  Nico- 
lai konstatiert  bei  seiner  Reise  durch  Deutschland,  daß  das 
vornehme  Frauenzimmer  in  Augsburg,  Stuttgart  und  anderswo 
sich  zwar  französisch  kleide,  aber  nach  der  vorletzten  Mode! 
Als  der  Großfürst  Paul  von  Rußland  1782  in  Frankfurt  a.  M. 
den  Adel  der  Umgebung  empfängt,  da  findet  sein  Hof,  daß 
die  Kleider  desselben  einer  Mode  angehören,  die  mindestens 
40  Jahre  alt  sein   müsse. 

Die  Mode,  in  welcher  die  Frau  aus  dem  17.  ins  18.  Jahrhun- 
dert schritt,  war  in  der  zweiten  Hälfte  der  langen  Regierungs- 
zeit Ludwigs  XIV.  entstanden  und  hat  mit  geringfügigen  Ver- 
änderungen fast  40  Jahre  gedauert.  Ihre  Stetigkeit  darf  man 
wohl  auf  die  ernste  Sinnesweise  der  Dame  zurückführen,  die 
in  jenen  Jahrzehnten  am  französischen  Hofe  den  Ton  angab, 
der  Marquise  von  Maintenon.  Der  Anzug  der  Dame  bestand, 
soweit  er  sichtbar  war,  aus  drei  Hauptstücken,  der  Taille  mit 
zwei  Röcken.     Die  Taille,   tief  und   spitz   geschnürt,   ließ  Hals 

124 


Nicolas  Lazreince,  Junges  MädcJun 


Di«  Mode.   18.  Jahrb.  30 


Zpffatiy,  Thomas  King  und  Mrs.  Baddely  in  der  Heimlichen  Vermählung^  1772 

Schabkunst  von  Earlom 

und  Unterarme  frei,  ein  Decollete,  an  das  sich  die  schöne  Welt 
zwar  sehr  rasch,  MoraHsten  und  Geistliche  aber  nur  sehr  lang- 
sam gewöhnten.  In  Wien  hat  ein  Prediger  sich  damals  in  seinem 
Eifer  so  weit  hinreißen  lassen,  daß  er  in  der  Hofkirche  äußerte, 

125 


er  wünsche,   der  Adler  des   Evangelisten  Johannes  solle  den 

Damen  auf  die  entblößten  Brüste  seh ,  und  sich  weigerte, 

dem  öffentlichen  Aergernis  durch  Abbitte  Genüge  zu  tun.  Man 
beauftragte  also  Abraham  a  Santa  Clara  mit  einer  Korrektur 
der  anstößigen  Bemerkung  und  der  fromme  Mann  äußerte  am 
nächsten  Sonntag  von  der  Kanzel,  er  bedaure  die  Unanständig- 
keit,  zu  der  sich   sein  Vorredner  habe   hinreißen  lassen   herz- 


Rat  Goethe 


lieh,  ginge  es  aber  nach  seinen  Wünschen,  so  müsse  nicht 
ein  Adler,  sondern  der  Ochse  des  Evangelisten  Matthäus  dies 
Geschäft  besorgen ! 

Das  Kleid  bestand  aus  zwei  Röcken,  von  denen  der  untere 
rund  geschnitten  und  meist  garniert  war,  der  obere  aber 
vorn  aufgeschnitten,  nach  rückwärts  hochgenommen  in  langer 
Schleppe  nachfloß.  Um  das  auf  ihm  lastende  Gewicht  der 
Schleppe  tragen  zu  können,  war  der  untere  Rock  abgesteift 
und  enthielt,  um  seine  runde  Form  zu  behalten,  eiserne 
Reifen  im  Futter.    Während  Taille  und  Schlepprock,  in  Frank- 

126 


reich  Manteau  genannt,  in  Farbe  und  Stoff  gleich  waren,  so 
durfte  das  Unterkleid  verschieden  sein.  Es  wurde  gestickt 
und  besetzt  und  trug,  seitdem  der  Falbala,  was  wir  heute 
Volant  nennen,  erfunden  war,  kaum  noch  anderen  Besatz 
als  solchen.  Ein' glücklicher  Zufall  hat  uns  den  Namen  dessen 
bewahrt,  der  den  Falbala  erfand,  er  hieß  Langlee.  Liselotte 
schreibt   einmal   wie    sie    angezogen    ist:    »Alle   meine   Unter- 


Frati  Rat  Goethe 


rock  sind  mit  Nesteln  an  mein  Leibstück  gebunden  und  le 
Manteau  ist  auf  mein  Leibstück  genehet.«  Das  Leibstück 
ist  die  Taille,  die  mit  dem  Korsett  in  eins  gearbeitet  war. 
also  in  diesem  Fall  die  ganze  Last  der  Röcke  zu  tragen 
hatte.  Die  Erscheinung  einer  Dame  in  dieser  Tracht  war 
nicht  nur  vorteilhaft,  sondern  auch  würdevoll  und  ansehnlich, 
wozu  die  Schleppe  nicht  wenig  beitrug.  Damit  der  Wetteifer 
der  Damen,  den  sie  in  der  Länge  ihrer  Schleppen  entfalteten, 
nicht  zu  weit  gehe,  wurden  genaue  Vorschriften  darüber  er- 
lassen;   so   durfte  in  Frankreich  nur  die  Königin  eine  ii  Ellen 

127 


lange  Schleppe  tragen,  während  die  Prinzessinnen  je  nach 
dem  Grade  ihrer  näheren  oder  weiteren  Blutsverwandtschaft 
mit  dem  König,  sich  mit  solchen  von  fünf  bis  neun,  Herzo- 
ginnen aber  mit  Schleppen  von  drei  Ellen  Länge  begnügen 
mußten  (die  alte  französische  Elle  ungefähr  im  20cm).  Wenn 
die  Schleppe  schon  das  ihre  dazu  beitrug,  die  Erscheinung 
der  Dame  in  die  Länge  zu  ziehen,  so  wurde  diese  Richtung 
nach  dem  Stattlichen  noch  bestärkt  durch  den  Kopfputz, 
Die-Fontangi  dic  Fontangc.  Bussy-Rabutin,  das  bekannte  Klatschmaul,  er- 
zählt die  Geschichte  ihrer  Entstehung  folgendermaßen.  Auf 
einer  Hofjagd  in  Fontainebleau  war  der  Geliebten  des  Königs, 
der  Herzogin  von  Fontanges,  die  Frisur  aufgegangen  und 
da  sie  nicht  daran  denken  konnte,  sie  gleich  wieder  richten 
zu  lassen,  band  sie  ihr  Haar  geschwind  über  der  Stirn  mit 
einer  Schleife  zusammen.  Der  verliebte  König  fand,  daß  ihr 
dieses  Arrangement  vorzüglich  zu  Gesicht  stände  und  bat 
sie,  sich  nie  mehr  anders  zu  frisieren,  Grund  genug  auch 
für  alle  übrigen  Damen  des  Hofes,  den  königlichen  Wunsch 
zu  befolgen.  Aus  dieser  Frisur,  welche  die  Haare  über  der 
Stirn  aufbaute,  entstand,  als  man  dieses  Auftürmen  nicht 
hoch  genug  fortsetzen  konnte,  unter  Zuhilfename  einer  Coif- 
füre  endlich  die  berühmte  Fontange,  welche  das  kurze  Glück 
ihrer  Erfinderin  um  Jahrzehnte  überlebte.  Es  war  ein  Kopf- 
putz aus  Leinwand,  von  etwa  zwei  Fuß  Höhe,  der  sich  in 
der  Form  von  Orgelpfeifen  auf  einer  Wulst  aufbaute,  die 
in  das  Haar  hineingearbeitet  wurde.  Metallstäbe  gaben 
diesem  Gerüst  Halt  und  Fagon,  so  daß  der  Abbe  Vertot 
sagte,  die  Damen  müßten  sich  eigentlich  vom  Schlosser  fri- 
sieren lassen.  Diese  Coiffüre  wurde  durch  Bänder,  Locken 
und   allerhand   Zie-  ^  <i 

rat  auf  das  mannig-  -—  /«^  -^A^ 

faltigste  ausgeputzt; 
man  kannte  schließ- 
lich 20  verschiedene 
Arten  der  Fontange, 
von  denen  Lady 
Montague  beson- 
ders jene  derWiener 
Damen  auffielen. Sie 
nennt    sie    eine  Elle    Bunbury,  Tanzgruppe 


128 


Hu'iert  Droiiais,  Of^sc  du  Barry 

hoch  aus  unzähligen  Ellen  schweren  Bandes  in  drei  bis  vier 
Stockwerken  errichtet,  mehrere  Reihen  dicker  mit  Diamanten 
und  Perlen  besetzter  Nadeln  standen  etwa  drei  Zoll  aus  dem  Kopf 
hervor  und  schienen  dem  Gebäude  Halt  zu  geben.  Montesquieu 
schrieb  1721  in  den  persischen  Briefen  :  es  gab  eine  Zeit,  wo  man 
wegen  der  unermeßlichen  Höhe  der  Fontange  das  Gesicht  eines 
Frauenzimmers  in  der  Alitte  ihrer  Figur  sah.  Daß  Edelsteine  der 
beliebteste  Schmuck  der  Fontange  waren,  nimmt  nicht  wunder. 
Mit  Erstaunen  erfährt  man  aber  die  Tatsache,  welche  Frau 
von  Maintenon  1692  einer  ihrer  Freundinnen  berichtet,  daß 
nämlich  die  Coiffüre  der  Duchesse  du  Maine  so  viel  Gold  und 
Edelsteine  enthielt,  daß  sie  mehr  gewogen  habe,  als  der  ganze 
Körper  ihrer  Trägerin.  Der  erste,  welcher  sich  gegen  diese 
Ausschreitungen  der  Mode  wandte,  war  Ludwig  XIV.  selbst. 
Aber  merkwürdig,   der  Wunsch   eines  verliebten  Königs   hatte 


Die  Mode,  18.  Jatit.  2,  A. 


12g 


zwar  die  Fontange  in  die'  Mode  gebracht,  aber  der  Befehl  des- 
selben Herrschers  konnte  sie  nicht  wieder  abschaffen.  Frau 
von  Sevigne  schreibt  1691  ihrer  Tochter :  ganz  Versailles  sei 
in  Aufruhr,  weil  der  König  die  Fontangen  verboten  habe.  Ein 
Sturm  im  Glase  Wasser.  Dangeau  erzählt,  daß  nur  die  im 
Exil  in  St.  Germain  lebende  Königin  von  England  Maria  von 
Modena  dem  Könige  zu  Gefallen  ihre  Coiffüre  bedeutend  nied- 
riger gemacht  habe,  um  den  Damen  ein  gutes  Beispiel  zu 
geben.  Die  verbotene  Fontange  existierte  noch  länger  als  20 
Jahre  und  mehr  als  einmal,  berichtet  der  Herzog  von  St.  Simon, 
habe  Ludwig  XIV.  sich  darüber  beklagt,  daß  seine  Macht  nicht 
so  weit  reiche,  um  den  Damen  eine  Coiffüre  zu  verbieten,  die 
ihm  mißfiele.  Endlich  schlug  ihre  Stunde.  Im  Jahre  1714  war 
eine  englische  vornehme  Dame,  die  Herzogin  von  Shrewsbury 
beim  Diner  des  Königs  in  Versailles  Zuschauerin,  und  mit 
Bezug  auf  ihren  niedrigen  Kopfputz  äußerte  der  König,  die 
französischen  Damen  wüßten  doch  gar  nicht,  was  ihnen  stände, 
sonst  würden  sie  sich  ebenso  frisieren.  Dies  war  ein  Wort 
zur  rechten  Zeit!  Am  anderen  Morgen  hatten  die  Damen  des 
Hofes  ihre  Coiffüren  um  zwei  Stockwerke  niedriger  gemacht 
und  damit  die  neue  Mode  inauguriert.  So  hat  der  Sonnen- 
könig, ehe  sein  Gestirn  erlosch,  wenigstens  noch  den  Beginn 
jenes  großen  Umschwungs  mitangesehen,  der  unmittelbar  nach 
seinem  Tode  einsetzt,  um  in  der  Gesellschaft,  der  Kunst,  der 
Mode,  der  ganzen  Kultur  mit  einem  Wort,  eine  neue  Aera 
heraufzuführen. 

Wie  immer  in  diesen  Dingen  schwankte  die  Mode  von  einem 
Extrem  zum  anderen.  Hatte  sie  eben  die  Frisuren  mittelst 
der  Fontange  nicht  hoch  genug  aufbauen  können,  so  verbot 
sie  im  nächsten  Augenblick  mit  den  Coiffüren  auch  die  kunst- 
reichen Frisuren.  Die  Damen  sahen  sich  auf  ihr  eigenes  Haar 
beschränkt,  das  sie  nun  auf  einmal  nicht  glatt,  nicht  flach 
genug  um  den  Kopf  legen  konnten.  Einige  Löckchen  an  den 
Schläfen  war  alles,  was  die  Mode  duldete.  Die  systematische 
Uebertreibung,  in  der  aber  das  Wesen  der  Frauenmode  be- 
schlossen ist,  suchte  sich  einen  anderen  Tummelplatz  und  fand 
Dtr  Reifroch  ihn  im  Rock.  Die  Fontange  verschwindet,  der  Reifrock  erscheint 
und  gibt  der  Mode  des  Rokoko  ihre  eigentümliche  Signatur. 
Der  Reifrock  war  durchaus  nicht  neu.  Das  16.  Jahrhundert 
hatte  ihn  als  Vertugadin  gekannt  und  im  17.  Jahrhundert  hatte  er 

130 


Daniel  Choäowiecki,  Der  Künstler  tualt  die  Gattin  des  Strasnik  Czacl:!  (Aus : 
Von  Berlin  nach  Danzig)^  ^77 J 

der  spanischen  ^lode  den  grotesken  Charakter  verliehen,  der  uns 
an  den  Porträts  des  Velasquez  so  frappiert.  Er  war  nie  so  ganz 
verschwunden,  denn  wenn  Liselotte  1702  ein  Kleid  beschreibt, 
das  die  Königin  von  Spanien  ihrer  Schwester,  der  Duchesse  de 
Bourgogne  schenkt,  und  sagt:  Im  Unterrock  seynd  eiserne 
Reiffen,  unten  weit,  im  Heraufgehen  enger,  so  gibt  sie  damit 
ein  gut  getroffenes  Bild  der  Krinoline.  Aber  in  dieser  Form  war 
der  Reifrock  nur  ein  unsichtbares  Hilfsmittel  der  Toilette  ge- 
wesen, um  die  Last  der  schweren  Robe  tragen  zu  helfen,  von 
jetzt  an  drängt  er  sich  vor,  denn  er  gibt  der  Trägerin  einen 
ganz  veränderten  Umriß.  Als  Tugendwächter  —  \'ertugadin  — 
war  er  verabschiedet  worden,  als  Hühnerkorb  —  panier  — 
kam  er  wieder.  Soweit  die  Nachrichten  gehen,  erschien  er, 
von  England  kommend,  zum  erstenmal  1719  in  Paris  auf  dem 
Theater.  Es  hat  fast  den  Anschein,  als  hätten  ihn  die  italie- 
nischen Komödianten,  die  der  Herzog  von  Orleans  nach  Paris 
zurückrief,  mitgebracht.  Allgemeines  Gelächter  empfing  ihn : 
sein  Sieg  war  entschieden.  Die  heftigen  Anfeindungen,  denen 
er  vonseiten  der  Geistlichkeit  ausgesetzt  war,  ein  Mitglied 
der  Sorbonne,  J.  J.  Duget,  machte  ihn  zum  Studium  einer 
( jewissensangelegenheit  für  Beichtväter,   haben   ihm  nicht   ge- 

131  9* 


Ans  iLes  C/iansons  de  La  Borde  f.,  IJJS 


132 


Ses  TCux  Com  £erines  an  ioar 
Comme  fon   cocnr  a  L  amour 


^us  iLes  Chansotxs  de  La  Borde t^  i-jyj 


133 


schadet,  denn  ehe  der  Erzbischof  von  Paris  Kardinal  de  No- 
ailles  dazu  kam,  das  Tragen  des  Reifrockes  zu  verbieten, 
hatte  ihn  ein  Lustspieldichter  Legrand  1722  in  einer  Posse 
so  verhöhnt,  daß  der  Kirchenfürst  seine  Absicht  aufgab.  Ueber 
40  Jahre  hat  er  geherrscht  und  das  Bild  der  weiblichen 
Erscheinung  bestimmt.  Die  Reifröcke  waren  anfänglich  rund 
und  bestanden  aus  fünf  Reihen  von  Reifen,  die  sich  nach 
oben  verjüngten  und  durch  Wachstuch  miteinander  ver- 
bunden waren.  Das  Geräusch,  das  sie  beim  Tragen  machten, 
zog  ihnen  den  Namen  Kreischerinnen  —  Criardes  —  zu.  Dann 
nahm  man  an  Stelle  dieses  häßlichen  Stoffes  Wolle,  Baumwolle 
oder  Seide  und  begann  die  Abwechslung  in  der  Veränderung 
der  Form  zu  suchen.  Man  machte  den  Reifrock  tonnen- 
förmig  oder  gab  ihm  seit  dem  Beginn  der  vierziger  Jahre 
die  ovale  Gestalt  einer  Ellipse,  indem  man  ihn  von  vorn  und 
hinten  flach  zusammendrückte.  Dann  hob  man  ihn  an  den 
Seiten  durch  Aufbinden  von  Poches  über  die  Hüften  hinaus, 
so  hoch,  daß  der  Ellenbogen  einen  bequemen  Ruheplatz  dar- 
auf fand,  und  gab  ihm  eine  Größe,  die  den  untersten  Reifen 
7  —  8  Ellen,  den  obersten  etwa  noch  4  Ellen  messen  ließ.  Die 
Damen,  welche  solch  einen  Käfig  trugen,  konnten  nur  seitwärts 
durch  die  Türen  gehen,  der  Herr,  der  sie  führte,  mußte  einen 
Schritt  vor  oder  hinter  ihnen  zurückbleiben.  Wenn  sie  sich 
setzten  oder  mehrere  beisammen  waren,  so  beanspruchten  sie 
dreimal  soviel  Platz  als  bisher.  Der  weimarische  Hofpage  Karl 
Freiherr  von  Lyncker  besann  sich  darauf,  daß,  wenn  die  Herzo- 
gin Anna  Amalia  Sonntags  in  ihrer  Glaskutsche  ausfuhr,  ihr 
Reifrock  zu  beiden  Fenstern  weit  herausragte.  Zu  manchen 
Bällen  in  Paris  und  den  Hofbällen  in  Berlin  enthielt  die  Ein- 
ladung den  Vermerk:  »Die  Damen  ohne  Reifröcke«.  Das 
veranlaßte  sofort  Zank  und  Streit.  In  Versailles  fand  man 
es  der  Würde  der  Königin  nicht  entsprechend,  daß  die  Prin- 
zessinnen, die  rechts  und  links  von  ihr  saßen,  sie  mit  ihren 
Reifröcken  vollständig  verdeckten,  es  wurde  also  angeordnet, 
daß  die  Stühle  neben  Maria  Lesczynska  frei  bleiben  sollten. 
Nun  verlangten  aber  die  Prinzessinnen  von  Geblüt,  daß  auch 
sie  durch  leere  Sessel  von  den  Herzoginnen  geschieden  würden 
und  die  Herzoginnen  wollten  nicht  mehr  unmittelbar  neben 
den  Gräfinnen  Platz  nehmen.  Es  entstand  ein  Aufruhr,  der 
den  Frieden  des  Hofes  gefährdete   und  den  zu  beschwichtigen 

134 


erst  der  Weisheit  des  Premierministers,  des  Kardinals  Fleury,  ge- 
lang. Er  ließ  leere  Tabourets  zwischen  Prinzessinnen  und  Herzo- 
ginnen einschieben,  Herzoginnen  und  Gräfinnen  aber  mußten 
nebeneinander  sitzen  bleiben  und  sich  mit  Reifröcken  und  Schick- 


y.  M.  Moreau  lej'..  In  der  Loge,  1774 

sal  abfinden,  so  gut  sie  konnten.  Diese  Haupt-  und  Staatsaffäre 
findet  ein  Gegenstück  in  Deutschland,  wo  die  Pfarrerin  in 
Fürstenau  mit  Rücksicht  auf  ihren  Reifrock  zwei  Kirchen- 
stühle für  sich  allein  beanspruchte  und  es  darüber  sogar  zum 
Prozeß   kommen   ließ. 

Der  Reifrock  verbreitete  sich  mit  großer  Schnelligkeit  in  alle 
Kreise.    In    Paris   gehen   in   den   zwanziger  Jahren    schon    die 


Mägde  darin  auf  den  Markt,  während  die  deutschen  Damen 
viel  weniger  nachsichtig  gegen  ihr  Küchenpersonal  waren.  Sie 
ließen  den  niederen  Ständen  das  Tragen  des  Reifrockes  ver- 
bieten, in  Sachsen  hat  man  1743  im  Dorfe  Dennschütz  zwei 
Bauernmädchen  prozessiert,  weil  sie  in  Paniers  gingen,  und 
1751    in   Dresden   zwei   Dienstmädchen   gestraft,   weil   sie    sich 

erfrecht  hatten,  im  Reifrock 
die  Kirche  zu  besuchen.  Als 
den  Leipziger  Mädchen  1750 
der  Reifrock  von  der  Obrig- 
keit genommen  wurde,  gestat- 
tete man  ihnen  zur  Entschädi- 
gung eine  »Commode«  zu  tra- 
gen, was  wir  heute  Cul  de 
Paris  nennen.  Der  Reifrock 
drang  bis  in  die  klösterlichen 
Erziehungsinstitute,  trotzdem 
die  Geistlichen  eine  Gewissens- 
frage daraus  machten,  ob  Klo- 
sterfrauen ihren  Klosterfräu- 
lein den  Reif  rock  gedulden  dür- 
fen ?  Die  kleinsten  Mädchen 
trugen  ihn  wie  die  ältesten  Da- 
men. Hat  doch  1737  Frau  von 
Bussy  in  Verdun,  die  ihr  Leben 
bis  auf  1 1 1  Jahre  gebracht  hatte, 
sterben  müssen,  weil  sie  beim 
Anprobieren  eines  neuen  Reif- 
rockes einen  Fehltritt  tat.  Beim 
Hinfallen  beschädigte  sich  die 
alte  Dame  tödlich,  während  der 
neue  Reifrock  glücklicherweise  keinen  Schaden  nahm.  Man  be- 
nutzte bald  statt  der  eisernen  oder  hölzernen  Reifen,  welche  man 
anfangs  verwendet  hatte,  solche  von  Fischbein  und  der  enorme 
Bedarf  an  diesem  Material  — brauchte  man  doch  zu  einem  ge- 
wöhnlichen Reifrock  fünf,  zu  einen  sogenannten  englischen  aber 
acht  Reifen  —  veranlaßte  die  Generalstaaten  von  Holland,  schon 
im  Jahre  1722  zur  Gründung  einer  Aktiengesellschaft  mit  600000 
Gulden  Grundkapital,  zu  keinem  anderen  Zweck,  als  zum  Wal- 
fischfang.  In  Paris  schwankte  der  Preis  eines  Paniers  zwischen 

136 


Valtaire 

Kleine  Wiederholung  der  177s  'V'"-  Friedrich 
d.  Gr.  an  Voltaire  geschetikten  Büste 


Watteau  de  Lille,  Im  Park  (Zeichnung) 


Die  Mode.   18.  Jahrk.  32 


10  —  15  Livres  [i  Livrc  nach  heutigem  Geldwert  M.  2,40].  in 
Leipzig  kostete  auch  ein  Reifrock  mindestens  8  Taler  [was 
heute  ungefähr  72-75  M.  gleichkommen  würde].  Wenn  man 
auch  damals  noch  keine  Witzblätter  im  heutigen  Sinne  kannte, 
an  Spott,  der  über  den  Reifrock  ausgeschüttet  wurde,  hat  es 
nicht  gefehlt.     Auf  der   Bühne   wurde   er  vom   Harlekin   ver- 


J.  M.Moreau  U  j ,  Illustration  zu  Koussea:i,  Notivclle  IJeloise,  1:74 

höhnt,  in  Liedern,  Karikaturen  und  Flugschriften  lächerlich 
gemacht,  von  der  Kanzel  wurde  gegen  ihn  geeifert.  Das  hat 
ihm  alles  nichts  geschadet,  denn  als  er  zu  verschwinden  be- 
gann, da  wich  er  nicht  der  Vernunft  oder  Einsicht,  sondern 
der  Veränderungslust  der  Mode.  Die  Pariser  Schauspielerinnen 
Clairon  und  Hus  sollen  um  1760  eine  Form  des  Reifrocks 
lanziert  haben,  die  von  den  Hüften  nur  bis  zum  Knie   reichte 


137 


und  in  einem  Volant  endigte.  Man  nannte  sie  in  Frankreich 
halbe  Paniers  oder  Jansenistinnen,  in  Deutschland  Springrock 
oder  Hänschen,  bald  aber  wurde  diese  kleinere  Form  durch 
eine  neue  Erfindung  verdrängt.  Monsier  Pamard  gab  den  Damen 
die  «Considerations«,  Gerüste  in  der  Gestalt  von  Turnüren,  die 
rechts  und  links  auf  beiden  Hüften  befestigt  wurden  und  den 
großen  Reifrock  entbehrlich  machten.  Diese  beiden  Haupt- 
formen bestanden  nebeneinander  fort.  Die  eine  zum  großen 
Putz,  die  andere  zum  bequemen  Anzug.  Auf  den  reizenden 
Wiener  Ansichten  von  Janscha  und  Schütz  erkennt  man  in 
der  Staffage,  die  diese  Blätter  so  wundernett  macht,  wie  der 
große  breite  und  der  kleine  runde  Reifrock  gleicherweise  beim 
Spaziergang  getragen  wurden.  Der  eine  mit  langer  Robe  und 
kleiner,  zum  Anknöpfen  eingerichteter  Schleppe,  der  andere 
mit  einem  völlig  fußfreien  Kleid.  Als  in  den  siebziger  Jahren 
die  Aufmerksamkeit  der  Mode  sich  fast  ausschließlich  der  Fri- 
sur zuwendet,  wird  der  Rock  vernachlässigt.  Der  große  Panier 
verschwindet  allmählich  ganz  und  hält  sich  nur  noch  als  Zere- 
monienkleid des  Hofes.  In  Versailles  hat  er  noch  die  ersten 
Stürme  der  Revolution  erlebt.  Die  letzte  Dame,  die  sich  einen 
Reifrock  für  ihre  Vorstellung  bei  der  Königin  bestellte,  war 
wohl  Frau  v.  Lostanges,  die  am  31.  August  1789  an  Made- 
moiselle  Motte  102  Livres  für  ihn  bezahlte.  Er  versank  dann 
mit  allem  übrigen  Brimborium  des  Hofes  und  hat  sich  nur 
noch  am  Hofe  von  St.  James  bis  zum  Tode  der  Königin 
Charlotte  und  noch  länger  am  sächsischen  Hofe  in  Dresden 
behauptet. 

So  groß  die  Veränderung  war,  die  der  Rock  der  Damen  im 
18.  Jahrhundert  erlitt,  so  gering  war  diejenige  der  Taille.  Diese 
behielt  im  großen  Ganzen  die  Form,  welche  sie  unter  Lud- 
wig XIV.  erhalten  hatte,  sehr  tief  und  sehr  spitz  schnürend, 
Hals  und  Unterarme  freilassend.  Der  Aermel,  der  am  Ellen- 
bogen in  weiter  Manschette  endigte,  hat  diese  überaus  kleid- 
same Form  beinahe  ein  Jahrhundert  beibehalten.  Man  nannte, 
wie  der  Mercure  galant  von  1688  berichtet,  die  drei-  oder  mehr- 
fache Reihe  Spitzen,  in  denen  er  aufhörte,  »Engageantes«. 
^af  Das  weibliche  Wesen  war  von  seinem  zartesten  Alter  an,  die 
meisten  Tag  und  Nacht,  mit  dem  Schnürleib  gepanzert,  dessen 
Planchette  aus  einer  Eisen-oder  Stahlschiene  bestand,  die  3/4 
Ellen  lang,  etwa   i   Finger  breit  und   1/4  Zoll  stark  war,  ein 

138 


Marteriustrumeiit,  gegen  dessen  gesundheitschädigende  Wir- 
kung sich  i\erzte,  wie  der  Breslauer  Gottlieb  Oelsner,  schon 
1/54  vergebens  wandten,  an  das  Frau  v.  Genlis  noch  fünfzig 
Jahre  später  nur  mit  Entsetzen  denken   konnte.     Gräfin  Elise 


Ouvrier,  Nach  Schen.iu,  Die  Entstehung  der  Malerei 

von  BernsdortT  erzählt,  daß  viele  Damen,  die  Abends  in  Gesell- 
schaft gingen,  schon  am  frühen  IMorgen  mit  dem  Schnüren 
begannen  und  damit  von  Viertelstunde  zu  Viertelstunde  fort- 
fuhren. Gräfin  Franziska  Krasinska  berichtet,  daß  ihre  Taille 
den  Umfang  einer  halben  Elle  (30cm?)  nicht  überschritt. 
Rousseau,  Winslow,  Buffon,  Sömmering  u.  a.  haben  gegen  das 

139 


Schnürleib  geeifert,  mit  dem  gleichen  Mangel  an  Erfolg;  erst 
am  Ende  des  Jahrhunderts  hat  es  der  Mode  gefallen,  dasselbe 
ganz  vorübergehend  zu  beseitigen.  Anfänglich  hatte  man  als 
Besatz  der  Taille  nur  vorn  am  Ausschnitt  ein  Schleifchen — 
»Masche«,  wie  man  damals  sagte  —  als  Postillon  d'amour  ge- 
steckt. Diese  kleidsame  Verzierung  aber  fand  lebhaften  Bei- 
fall und  in  der  Mitte  des  Jahrhunderts  war  die  ganze  Kor- 
sage in  Schleifen  aufgelöst.  Später  trug  man  das  Korsett  aus 
schwarzem  Taft  oder  gelbem  Batist  auch  über  dem  Kleid. 

Die  Mode  der  doppelten  Röcke  behielt  man 
auch  im  i8.  Jahrhundert  bei,  wie  früher  der 
untere  Rock,  so  wurde  jetzt  der  Reifrock 
sichtbar  getragen.  Anfänglich  hob  man  den 
oberen  Rock  nicht,  sondern  öfTnete  ihn  nur 
vorn  in  Dreieckform,  als  dann  in  den  fünf- 
ziger Jahren  der  Reifrock  an  Umfang  verlor, 
und  das  Kleid  kürzer,  schließlich  völlig  fuß- 
frei wurde,  raffte  man  den  oberen  Rock  in 
drei  großen  Bäuschen  rückwärts  und  an  den 
Seiten.  Da  der  Reifrock  zu  sehen  war,  so 
wurde  er  aus  den  gleichen  Stoffen,  wenn 
auch  in  anderen  Farben  verfertigt,  wie  das 
Ueberkleid  und  meist  reich  garniert,  wcJzu 
seine  Form  ja  auch  geradezu  herausforderte. 
In  mehreren  Etagen  umzogen  ihn  Volants, 
Rüschen,  Bänder,  Blumen,  Festons,  Tressen, 
Spitzen,  Passementerien,  Borten,  Pompons, 
Stickereien,  alles  auf  das  kunstreichste  ge- 
arbeitet und  arrangiert.  Sehr  beliebt  waren 
die  italienischen  Blumen,  die  in  italienischen 
Nonnenklöstern  gemacht  wurden,  und  vo  n  den 
Damen  sehr  geschätzt  wurden.  Goethe  erzählt,  wie  er  als  halb- 
wüchsiger Jüngling  Myrten  und  Zwergröslein  für  seine  Schwester 
besorgte  —  weniger  aus  brüderlicher  Liebe,  als  um  bei  der  Ge- 
legenheit —  »Sie«  sehen  zu  können.  Der  Marquis  de  Bom- 
belles  beschrieb  dem  Baron  von  Gleichen  zwei  Hofroben  der 
Königin  von  Portugal.  Auf  der  einen  sah  man  in  Stickerei  ein 
Portal,  dessen  Säulen  der  Richtung  der  Beine  folgten.  Sie 
trugen  ein  Fronton  aus  dem  ein  Wasserfall  von  —  Gaze  her- 
vorbrach.   Auf  der  anderen  waren  Adam  und  Eva  dargestellt, 


Goethe 


140 


in  ihrer  Mitte  der  verhängnisvolle  Apfelbaum,  aus  dessen  Höhe 
die  Schlange  herabkam.  Zur  Herstellung  einer  großen  Robe 
waren  drei  Leute  nötig.  Die  Taille  fertigte  der  Schneider,  den 
Rock  die  Schneiderin,   den  Besatz  aber  lieferte  die  Marchande 


Goethe 

de  mode,  deren  Garnituren  fast  die  Hauptsache  waren.  Man 
hatte  1/79  ^50  verschiedene  Arten  derselben,  die  in  Paris  alle 
ihre  bezeichnenden,  zum  Teil  sehr  drolligen  Xamen  trugen, 
»soupirs  etouffes«,  »regrets  superflus«,  »oeil  abattu«,  »plaintes 
indiscretes«,  »composition  honnete«,  »desirs  marques«,  »doux 
sourire  «  etc.  etc.     Eine  solche  Toilette  kostete   10500  Livres, 


141 


für  die  bloße  Garnierung  eines  großen  Hofkleides  berechnete 
der  Schneider  Lacoste  einmal  3500  Franken.  Die  Prinzessin  de 
Solre  zahlte  1789  an  Mademoiselle   Eloffe   nur  für  ihren  Reif- 


Damel  Chodowiecki,  Lotte,  iffS 

rock  1382  Livres,  ja  Frau  von  Matignon  wies  ihrer  Schnei- 
derin für  eine  besonders  gelungene  Robe  eine  Leibrente  von 
600  Livres  jährlich  an.  Als  Frau  von  Genlis  in  ihren  Denk- 
würdigkeiten auf  diese  Mode  ihrer  Jugend  zu  sprechen  kommt, 

142 


sagt   sie,   daß   nichts   der   Pracht   gleichkam,   den   der  Anblick 
einer  Gesellschaft   reich   gekleideter  Hofdamen  jener  Zeit   bot. 


Daniel  Chodowteckt,  Wei  thei ,  J'j'jj 

Sie  hätten  einem  kostbaren  Spalier  von  Gold,  Silber,  Perlen 
und  Edelsteinen  geglichen.  Das  Kleid,  in  dem  Katharina  II. 
1775  den  türkischen  Gesandten  empfing,  war  außer  mit  Dia- 
manten  mit  4200  großen   und  schönen  Perlen   bestickt.     Und 

143 


nun  stelle  man  sich  vor,  daß  die  Kaiserin  Elisabeth  von  Ruß- 
land, welche  1761  starb,  eine  Garderobe  hinterließ,  welche 
15000  derartig  kostbare  Kleider  enthielt!  Sie  hatte  sie  teils 
nur  einmal,  teils  nie  angehabt.  Welch  ein  Fortschritt  gegen 
die  Zeit,  als  Peter  der  Erste  die  Kleider  seiner  Zarina  auf  dem 


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Jcui.c  Doii.oilMIc  ..11  l\ilni,.i,l,-  .L-  TuK 

Modekitp/er,  ITJJ 

Trödel  kaufte!  Gräfin  Czernicheff  büßte  1770  auf  einer  Reise 
durch  Schiffbruch  158  Kleider  ein.  Die  Garderobe  der  Frau 
von  Bühren,  der  Gattin  des  Günstlings  der  Kaiserin  Anna, 
wurde  auf  500000  Rubel  geschätzt.  Dagegen  erscheint  der 
Aufwand  Marie  Antoinettes  geradezu  bescheiden.  Wir  erfah- 
ren von  Madame  Campan,  daß  die  Königin  im  Sommer  und 
im  Winter  nie  mehr  als   36  Roben   im  Gang  hatte,    12  Staats- 


144 


Angelica  Kauffmann,  Louisa  Hamtnond 


Die  Mode.   18.  Jahrh.  33 


kleider,  12  große  Reifröcke  ilnd  ebensoviele  Hauskleider  von 
Phantasiestoffen.  Eine  rechte  Kleidernärrin,  wenn  auch  in 
bescheideneren  Grenzen  als  die  russische  Kaiserin,  muß  die 
Markgräfin  Sybille  Auguste   von  Baden  gewesen  sein,   die  sich 


Modekupfer,  177J 

für  ihr  Lustschloß  Favorite  vierzigmal  porträtieren  ließ,  jedes- 
mal in  einer  anderen  Toilette.  Neben  dieser  Zeremonien-  und 
Staatsrobe  setzt  sich  im  Laufe  des  Jahrhunderts  noch  ein  an- 
derer Schnitt  durch,  der  für  Neglige  galt  und  seinen  Namen 
häufiger  wechselte  als  seine  Form.  Unter  Neglige  verstand 
man  damals  jedes  Kleid,  das  nicht  für  große  Gala  bestimmt 
war,  also  auch  jedes  Haus-,  Straßen-,  und  Reisekleid.  Bei  Die  AdHtnne 
diesem  neuen  Kleid  waren  Taille  und  Rock  in  eins  geschnitten. 


Die  Mode,  18.  Jahrb.  2.  A. 


145 


Perücken 


Es  war  weit,  lang  und  umhüllte,  ohne  am  Gürtel  eingenommen 
zu  sein,  seine  Trägerin  nur  ganz  lose,  ihr  die  Gestalt  eines 
Kegels  gebend.  Es  ist  das  Kostüm  mit  der  weiten  Rücken- 
falte, in  dessen  legeren  Wurf  Watteau  auf  seinen  Bildern  die 
Frauen  am  liebsten  kleidet.  Es  trat  zugleich  mit  der  Einfüh- 
rung des  Reifrocks  auf  und  begegnete  starker  Mißbilligung. 
Liselotte,  welche  findet,  daß  man  »kammermegtisch«  darin  aus- 
sehe, schreibt  1721  ihre  Meinung  ganz  unverhüllt:  »Die  weitte 
rock,  so  man  überall  tragt,  seind  mein  aversion,  stehet  inso- 
lent, als  wenn  man  auß  dem  Bett  kommt.  Die  mode  von  den 
wüsten  rocken  kompt  von  Madame  von  Montespan  so  es  trug, 
wenn  sie  schwanger  war.  Madame  d'Orleans  hat  sie  wieder 
auf  die  Bahn  bracht.«  Diejenige,  welche  dieses  Kleid  in  die 
Mode  lancierte  und  ihm  den  Namen  »Adrienne«  gab,  war  die 
Schauspielerin  Madame  Dancourt,  die  den  Schnitt  1703  zuerst 
auf  der  Bühne  trug.  Sie  spielte  in  der  Komödie  Andrienne 
von  Baron  die  Glycerie  und  trat  darin  der  Situation  ihrer  Rolle 
entsprechend  in  diesem  Umstandskieide  auf.  Die  Aversion  der 
guten  Pfälzerin  ist  nicht  leicht  zu  begreifen,  denn  diese  weiten 
Kleider  erforderten  ebensogut  das  Korsett,  wie  der  große  Habit, 
ihr  Neglige  bestand  nur  für  das  Auge  in  dem  losen  Wurf  ihrer 
Falten.  Wie  aber  das  Neue  Gegner  schon  aus  dem  Grund  fin- 
det, weil  es  neu  ist,  so  wurde  diese  »Adrienne«  1730  in  Wien 
verboten.  Die  Frauen  sollten  nicht,  wie  Keyßler  schreibt,  um 
ihre  Fleischbänke  desto  besser  auslegen  zu  können,  in  fran- 
zösischen Säcken  zur  Kirche  kommen.  Zu  den  Zeiten  der 
Montespan  hatte  dieses  Umstandskleid  den  Namen  »Innocente« 
geführt.  Dann  hieß  es  »Adrienne«  oder  »Volante«,  führte  auch 
eine  Zeitlang  nach  der  Gattin  des  Malers  Pater  die  Bezeich- 
nung »Hollandaise«.    In  England  nannte  man  die  weiten  Klei- 

146 


der  1/54  »Carclinals«,  »Trollo- 
pies  «  ,     »  Slammerkins  «  ,      in 
Deutschland  am  liebsten  Kon- 
tusche.   In  Gellerts   Lustspiel 
»Die  kranke   Frau«   bildet   die 
neue  Adrienne  der  Frau  Ste- 
phan den  Drehpunkt  des  gan- 
zen Stückes.      Die  Kontusche 
gewährte    reisenden    Prinzes- 
sinnen    eine    Art    Inkognito. 
So   erfindet  die  Markgräfin  von  Bayreuth,  als  sie  zur  Krönung 
nach  Frankfurt  reist,  für  sich  und  ihre  Hofdamen  einen  beson- 
deren Schnitt  derselben.   Als  Marie  Antoinette  1778  zum  ersten 
Male   in   anderen  Umständen   war,   brachte   sie   ihr  Umstands- 
kleid als  »Levite«  in  die  Mode.    Sie  ließ  sich  auch  von  Madame 
Vigee  Lebrun  in  diesem  Kostüm 
n-mlen,  als  das  Bild  aber  im  Salon 
von  1 783  ausgestellt  wurde,  erregte 
es  beim  Publikum  solchen  Anstoß, 
daß  es  entfernt  werden  und  durch 
ein  Porträt  in  großem  Putz  ersetzt 
werden  mußte.  Dieser  Form  fügte 
die  Vicomtesse  de  Jaucourt  1781 
noch   eine  Schleppe   Ȋ  queue  de 
singe«   hinzu.   Als  die  Dame  zum 
ersten  Male   im  Garten  des  Palais  Luxembourg  in  geschwänz- 
ter Affenform   promenierte,   trieb   sie   der   Hohn    der  Spazier- 
gänger.in  die  Flucht.  Man  nannte  den  Schnitt  auch  »Polonaise«, 
Pierrot,  Circassienne,  robe  a  la  turque.älaCreoleetc.  Schließlich 
wird   hoch   und   geschlossen    mit   langen   Aermeln   die  Robe   ä 
l'Anglaise    daraus,    wie   sie 
Reynolds,Gainsboroughu.a. 
^^.^^  so   oft   mit    ihren    schönen 

Modellen  gemalt  haben.  Es 
ist  das  Kostüm,  aus  dem 
einige  Jahre  später  das  an- 
tike wird,  wie  es  einzelne 
besonders  mutige  Damen 
auch  schon  früher  zu  tragen 
versucht  haben.  Die  schöne 


rj^^'i-^-'-j'' 


147 


10* 


Elisabjpth  Chudleigh,  als  nachmals  vermählte  Herzogin  von 
Kingston  durch  ihren  famosen  Bigamieprozeß  so  bekannt  ge- 
worden, erschien  1749  auf  einem  Subskriptionsball  in  Somerset 
House  in  London  als  Iphigenie  vor  dem  Opfer,  vv^urde  aber 
ihrer  dürftigen  Bekleidung  v^egen  auf  Veranlassung  des  Hofes 
aus  dem  Saal  gewiesen,  während  Corona  Schröter,  die  1778 
ihr  antikisierendes  Gewand  »in  edler  attischer  Eleganz«  auch 
auf  der  Straße  trug,  in  dem  Weimar  der  Geniezeit  nur  Bewun- 
derung erntete. 
Dtr  Caraco  Seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts  bildet  sich  noch  ein  anderes 
Negligekostüm  heraus,  der  Caraco.  So  nannte  man  eine  Taille 
mit  Schößen,  die  ihre  Einführung  in  die  Mode  dem  Herzog  von 
Aiguillon  verdanken  soll,  welcher  1768  bei  seiner  Reise  durch 
Nantes  die  dortigen  Bürgerfrauen  damit  bekleidet  sah.  Im 
Grunde  genommen  ist  der  Caraco  aber  wohl  nichts  anderes 
als  der  für  die  Damenmode  adaptierte  Herrenfrack.  Der  Schnitt 
des  Kleidungsstückes  hat  sehr  oft  gewechselt  und  dem  Caraco, 
den  man  auch  Casaque  und  Casaquin  nannte,  die  allerver- 
schiedensten  Formen  gegeben.  Manchmal  waren  die  Schöße 
rückwärts  sehr  kurz,  —  »Caraco  pet  en  l'air«  —  ,  dann  ver- 
längerte man  sie  gelegentlich  sogar  bis  zur  Schleppe,  dann 
wieder  fielen  sie  nicht  flach  auf  den  Rock,  sondern  man 
bauschte  sie  um  die  Hüften.  Mal  waren  es  mehrere  Schöße, 
mal  nur  einer,  kurz,  man  hat  diesem  Kleidungsstück,  das  sehr 
beliebt  war  und  bis  in  die  Mitte  der  neunziger  Jahre  getragen 
wurde,  die  mannigfaltigste  Abwechslung  zu  geben  gewußt,  zu- 
mal es  stets  von  anderer  Farbe  und  anderem  Stoff  gewählt 
war  als   der   dazu   gehörige   Rock. 

Solange  der  große  Reifrock  getragen  wurde,  dessen  Form 
und  Umfang  schöne  Stoffe  voll  zur  Geltung  brachte,  waren 
Seide,  Damast,  Brokat  außerordentlich  beliebt.  Wir  können 
die  herrlichen  Muster  und  Farben  derselben  noch  auf  den 
Bildern  jener  Zeit  bewundern.  In  der  Delikatesse  seiner  Farben 
ist  das  Rokoko  ja  heute  noch  nicht  übertroffen.  Die  matten 
Töne  seines  Blau,  Rosa,  Grün  müssen  in  ihrer  zarten  Nuan- 
cierung, im  Raffinement  ihrer  Zusammenstellung  für  das  Auge 
von  unbeschreiblichem  Reiz  gewesen  sein.  So  besaß  i734 
Frau  von  Bülow  geb.  von  Arnim  ein  Schleppkleid  aus  Taffet 
mit  eingewebten  Jonquillen,  für  das  sie  40  Reichstaler,  nach 
heutigem  Geldwert  etwa  600  Mark,  bezahlt  hatte.   In  den  späte- 


Stoffe 
und  Farbtn 


148 


ren  Jahren  der  Regierung  Ludwigs  XV.  bewegten  sich  die 
bevorzugten  Farben  auf  einer  Skala  zwischen  tiefem  sattem 
Rot  und  Lichtbraun,  während  die  ersten  Jahre  Ludwig  XVL 
durch  die  Vorliebe  für  ein  in  das  Violette  spielendes  Braun 
gekennzeichnet  werden,  das  man  fiohfarben  nannte  und  in 
den  verschiedensten  Schattierungen  besaß.  Da  gab  es  die 
Farben:  Junger  und  alter  Floh,  Flohkopf,  Flohrücken,  Floh- 
bauch, Flohschenkel,  Floh  im  Milchfieber  usw.  In  Gelb  war 
die  beliebteste  Xüance  ein  blasses  Blond,  das  von  der  Farbe 
des  Haares  der  Königin  Marie  Antoinette  genommen  w-ar, 
später  ersetzte  es  ein  tiefer  gefärbtes  Chamois,  das  man  ge- 
schmackvollerweise »caca  Dauphin«  oder  gar  »merde  d'oie« 
nannte.  Man  schwelgte  in  Paris  förmlich  darin,  den  Mode- 
farben die  verdrehtesten  Xamen  zu  geben:  Rinnstein,  Straßen- 
schmutz, Londoner  Rauch,  Nymphenschenkel,  Nönnchenbauch. 
Karmeliterbauch,  vergifteter  Affe,  sterbender  Affe,  lustige  Witwe, 
traurige  Freundin,  der  auferstandene  Tote,  Stutzers  Eingeweide, 
kranker  Spanier,  Verstopftenfarbe,  Pockenkrank  usw.  ist  eine 
Blütenlese  der  törichten  Xamen.  die  man  sich  gefiel,  den  ein- 
zelnen Schattierungen  von  Gelb  und  Grün  beizulegen. 
Die  Gold-  und  Silberbrokate  des  i8.  Jahrhunderts  sind  in  ihrer 
Qualität   unübertroffen   geblieben.      Man   fertigte  goldstoffene 


Chodozviecki,   >  Wallfahrt  nach  Französisch-Btichholzi,  ^77S 

149 


Roben  auch  ganz  ohne  Naht,  deren  Preis  aber  so  exorbitant 
war,  daß  ihn  Marie  Lesczynska  unerschwinglich  fand.  Gräfin 
Stroganow  wurde  1763  in  Berlin  der  Königin  vorgestellt  in  einem 
Kleide  von  Goldbrokat,  besetzt  mit  Silberspitzen  und  garniert 
mit  Juwelen  für  20000  Rubel  »wie  eine  Sonnengöttin«,  schreibt 
Graf  Lehndorff.  Für  die  Börsen  Minderbemittelter  gab  es 
bedruckte  Baumwollstoffe  und  Kattune,  die  sich  aller  obrig- 
keitlichen Verfolgung  zum  Trotz  siegreich  durchgesetzt  haben. 
Friedrich  Wilhelm  L,  der  die  Erzeugnisse  seiner  Tuchmanu- 
fakturen schützen  wollte,  bestrafte  das  Tragen  englischer 
bedruckter  Baumwollzeuge  mit  dem  Halseisen.  In  Leipzig 
wurde  der  Kattun  noch  1750  ausdrücklich  verboten.  Am 
heftigsten  aber  wütete  man  in  Frankreich  gegen  die  »Indienne«. 
Diese  billigen,  leichten,  mit  schönen  Mustern  und  in  leuch- 
tenden Farben  bedruckten  Stoffe  wurden  gegen  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  nicht  so  bald  bekannt,  als  die  Regierung 
ihre  Konkurrenz  für  die  kostbaren  Gewebe  der  französischen 
Seidenindustrie  fürchtete  und  ihren  Gebrauch  verbot.  Daraus, 
daß  sich  von  1697— 1715  25  Verbote  einander  folgten,  geht 
schon  hervor,  wie  wenig  sie  nutzten,  und  in  dieser  Einsicht 
griff  das  Gouvernement  zu  wahrhaft  drakonischen  Maßregeln. 
Man  bedrohte  1717  die  Händler,  die  noch  ferner  diese  ver- 
pönten Stoffe  einführen  oder  verkaufen  würden,  mit  der 
Galeerenstrafe,  man  ließ  den  Frauen  und  Mädchen  des  Bürger- 
standes öffentlich  solche  Kleider  vom  Leibe  reißen.  Noch 
1755  wurde,  wie  Grimm  schreibt,  die  Verurteilung  zu  den 
Galeeren  ausgeführt,  es  nutzte  alles  nichts.  Der  Verbrauch 
bedruckter  Kattune  für  Kleider,  Möbel  und  Tapeten  stieg 
mit  jedem  Jahre.  Es  wurde  schließlich  ein  Sport,  gerade 
diese  Stoffe  zu  benutzen,  die  verboten  waren  und  nur  als 
Konterbande  ins  Land  kommen  konnten.  Die  Pompadour 
war  1755  stolz  darauf,  daß  in  ihrem  Schlößchen  Bellevue  alle 
Möbel  mit  geschmuggeltem  Kattun  bezogen  waren.  Endlich 
gab  die  Regierung  nach.  1760  wurden  die  Verbote  aufgehoben 
und  zu  den  ersten,  die  sich  auf  die  Herstellung  von  Indienne 
warfen,  gehörte  der  bekannte  Glücksritter  Casanova.  In  der 
zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  verdrängten  dann  die  leichten 
englischen  Gewebe  Musselin,  Battist,  Linon  die  Kattune.  Die 
Eleganz  beruht  nicht  mehr  auf  der  Kostbarkeit  der  Stoffe, 
oder  dem  Geschmack  ihrer  Musterung,  sondern  auf  der  Fein- 

150 


J.  M.  Mo)cau  ...  }'.,  I..jidez-vous pour  Marly,  jyjö 

heit  des  Fadens.  Die  Dubarry  kaufte  sich  ein  Stück  indischen 
Musselin,  ausreichend  für  vier  ganze  Kleider,  das  nur  15  Unzen 
wog.  Man  trug  diese  leichten  Gewebe  mit  Vorliebe  ganz 
weiß,  aber  es  ist  merkwürdig,  daß  das  Brautkleid  damals 
durchaus  nicht  immer  weiß  war.  Eine  deutsche  Braut  des  Das 
Mittelstandes  trug  1750  bei  der  Trauung  einen  Rock  von  brauner, 
mit  roten  und  gelben  Blumen  durchwirkter  Seide  und  dazu 
eine  Schnürbrust  von  grasgrünem  gros  de  Tours,  mit  Gold 
gesteppt.  Am  französischen  Hof  und  in  der  vornehmen  Ge- 
sellschaft trug  das  Brautpaar  am  Hochzeitstag  Goldbrokat 
auf  schwarzen  Grund.  Wir  begegnen  in  französischen  Mode- 
journalen  z.  B.  Brautkleidern   in  Blau   und   nur  in  den  oberen 


BraiilkUiJ 


151 


St.  Aubin,  Au  moins  soyez  discret 


St.  Aubin,  Coviptez  sur  mes  serments 


Kreisen  Deutschlands  setzt  sich  im  Laufe  des  Jahrhunderts 
das  reine  Weiß  für  diesen  Zweck  durch.  Das  Brautkleid  von 
Fräulein  v.  Pannewitz,  die  1751  heiratete,  besteht  aus  weißem 
Moire  mit  silbernen  Blumen  und  kostet  1000  Taler,  Fräulein 
V.  Alvensleben,  die  1761  heiratet,  trägt  weiße  Seide  mit  Silber 
broschiert.  Als  Dorothea  Schlözer  1787  in  Göttingen  zum 
Dr.  phil.  promoviert,  kleidet  sie  sich  auf  Wunsch  der  Mutter 
»wie  eine  Braut«  ganz  in  weißen  Musselin  mit  weißer  Flor- 
Frisur,  nur  Rosen  und  Perlen  im  Haar. 
Unierhieider  Wenn  man  sich  vorstellt,  daß  der  große  und  weite  Reifrock 
den  Unterkörper  der  Frauen  zwar  bedeckte,  aber  doch  so 
gut  wie  gar  nicht  schützte,  so  würde  man  glauben  müssen, 
die  Trägerinnen  desselben  hätten  aus  Rücksichten  der  Gesund- 
heit und  des  Anstandes  gern  zur  Hose  gegriffen,  aber  dem 
war  durchaus  nicht  so.  Es  galt  sogar  direkt  für  unschick- 
lich, und  nur  von  alten  Damen,  wie  Liselotte,  hört  man,  daß 
sie  wollene  Hosen  tragen,  sonst  war  es  nur  in  gewissen  Fällen 
als  Ausnahme  gestattet.  Selbst  die  Mägde  des  Herrn  Hope 
in  Amsterdam  zogen  Hosen  nur  an,  wenn  sie  Fenster  putzten. 
Die  Holländerinnen  legten  sonst  nur  zum  Schlittschuhlaufen 
solche  von  schwarzem  Sarnmet  an.  Casanova,  unzweifelhaft 
ein  kompetenter  Sachverständiger  in  allen  Fragen,  welche  die 
Dessous  des  schönen  Geschlechts  betreffen,  konstatiert  mit 
Mißbilligung,   wenn   eine  Dame,   der  er   den  Hof  macht,  etwa 

152 


lySs 

Maonsin  des  MoiJes 


D|-e  Mode.    18.  Jahtfi.    34 


Hosen  von  grünem  Sammet  trägt.  Der  liebenswürdige  Schwere- 
nöter geht  sogar  so  weit,  Damen,  mit  denen  er  im  Postwagen 
zusammenfährt,  Vorwürfe  darüber  zu  machen,  daß  sie  schwarze 
Beinkleider  anhaben.  Eine  Ausnahme  von  dieser  Regel  machten 
nur  die  Tänzerinnen  auf  dem  Theater,  welche  Hosen  tragen 
mußten  und  denen  in  Spanien  z.  B.  bei  Strafe  verboten  war, 
sie  bei  ihren  Sprüngen  sehen  zu  lassen.  Casanova  erzählt  von  der 
Prima  Ballerina  Nina  in  Barcelona  eine  famose  Geschichte.  Durch 
die  Lebhaftigkeit  ihres  Temperamentes  hingerissen,  gab  sie  eines 
Abends  bei  der  Rebaltade —  einem  Rückwärtssprung  mit  Pirouette 
—  ihrem  Reifrock  einen  solchen  Schwung,  daß  das  verpönte 
Kleidungsstück  ganz  und  gar  zu  sehen  war,  und  mußte  demgemäß 
eineGeldstrafezahlen.  Wütend  darüber  zog  sie  am  nächsten  Abend 
ihre  Höschen  erst  gar  nicht  an  und  gab  bei  der  Rebaltade  auch  dem 
ganzen  ParterreGelegenheit,  sich  davon  zu  überzeugen.  Als  sie  dar- 
über vom  Gouverneur  zu  Rede  gestellt  wurde,  erwiderte  sie  ganz 
kalt:  »Es  ist  mir  nur  verboten,  meine  Hosen  zu  zeigen,  und  ich 
glaube,   kein  Mensch   kann   behaupten,  daß  er   sie   heute  abend 


Zoffany,  Garrick  und  Mrs.  Pritchard  in  y Macbeths,  1776     Schabkumt  von  Val.  Green 


153 


gesehen  hat.«  Unterröcke  waren  selbstverständlich  unerläßlich. 
Auf  den  obersten  derselben,  der  oft  sichtbar  wurde  und  in 
Deutschland   auch   den  Namen  »Appetitröckl«  führte,  wendete 


),  BwnfiimrwP'ii'yi.wiiH.n.iniiwii.i 


y.  M.  Moreaii  le  j ,  ^La  declaration  de  la  Grossesse<,  1776 


man  viel  Sorgfalt.  Er  wurde  aus  Seide  gefertigt,  gestickt, 
mit  Gold  und  Silber  bordiert  und  wir  hören,  daß  besonders 
die  schottischen  Damen  ihre  Jupons  außerordentlich  reich 
ausgestattet  haben,  da  die  engen  Gänge  und  Treppen  ihrer 
alten  Häuser  sie  fortwährend  nötigten,  ihre  Reifröcke  auf- 
zuklappen. Als  die  leichten  Musselinkleider  Mode  wurden, 
kamen    die  Unterröcke    aus    dem    gleichen   Stoffe    auf.     Man 

154 


benötigte  dieselben  stets  in  größerer  Anzahl,  so  daß  z.  B. 
Sophie  Arnould  1789  aus  ihrem  Landhause  in  Clichy  gleich 
17   weiße   Unterröcke    aus   Battist    und   Baumwolle   gestohlen 


y.  M.  Moreau  le  j.,  Dame  du  palais  de  la  Reine,  1777 


werden  konnten.  Zur  \'ervollständigung  der  Toilette  gehörte 
noch  das  Fichu,  das  kreuzweise  gebunden  den  Ausschnitt  be- 
deckte und  kurz  vor  der  Revolution  als  »Trompeuse«  bis 
zum  Kinn  hinaufstieg,  und  die  Schürze,  die  man  auch  außer- 
halb des  Hauses  trug.  Ein  kokettes  Tändelschürzchen,  das 
der  Trägerin  das  Aussehen  einer  Soubrette  gab,  und  deswegen, 
als  die  Mode  aufkam,  von  den  Müttern  in  Acht  und  Bann 
getan  wurde.    Die  Marschallin  von  Luxemburg  schenkte  ihrer 

155 


Enkelin,  der  Herzogin  von  Lauzun,  um  sie  auf  die  Lächerlich- 
keit dieser  Mode  aufmerksam  zu  machen,  eine  Schürze  aus 
Rupfen,  über  und  über  mit  den  kostbarsten  Spitzen  besetzt. 
In  England  wurde  die  Schürze  aus  Spitzen  die  Rage  der 
schönen  Welt,  trotzdem  sich  einige  Dandies  gegen  sie  er- 
klärten. In  Bath  ging  einer  derselben,  Richard  Nash  —  »le 
beau  Nash«  —  soweit,  der  Herzogin  von  Queensberry,  als 
sie  mit  einer  Schürze  im  Wert  von  £  200  zu  einer  Reunion 
kam,  dieselbe  abzureißen  und  in  die  Ecke  zu  werfen. 
Der  Luxus  in  der  Wäsche  erstreckte  sich  nicht,  wie  heutzu- 
tage, auf  den  häufigen  Wechsel  derselben.  Der  Kurfürst  von 
der  Pfalz  z.  B.  gab  seiner  Tochter,  die  den  Bruder  Ludwigs  XIV., 
den  Herzog  von  Orleans,  heiratete,  nur  sechs  Tag-  und  sechs 
Nachthemden  in  ihren  Trousseau,  genug,  w'enn  man,  wie  Scarron 
von  den  Damen  seiner  Zeit  sagt,  gewohnt  ist,  nur  einmal  im 
Monat  das  Hemd  zu  wechseln.  Die  achtzigjährige  Marquise 
von  Coislin  äußerte  sich  einmal  sehr  ungehalten  zu  Chateau- 
briand über  ihre  Kammerjungfer,  die  ihre  Wäsche  so  oft  wechsle. 
»Was  hat  das  für  einen  Sinn«,  sagte  sie,  »zu  meiner  Zeit  hatten 
wir  nur  2  Hemden,  die  man  erneuerte,  wenn  sie  verbraucht 
waren.  Aber  wir  trugen  dafür  seidene  Roben.«  Fürst  Kheven- 
hüller  stellte  fest,  daß  sich  in  der  Ausstattung  der  Erzher- 
zogin Josepha  1767  zwar  90  seidene  Kleider  befanden,  aber  nur 
wenige  und  schlechte  Wäsche.  »Ich  war  sehr  schlecht  ausge- 
stattet nach  Rußland  gekommen«,  schreibt  Katharina  IL  in 
ihren  Memoiren,  »ein  Dutzend  Hemden  war  meine  ganze  Wäsche.« 
Man  legte  mehr  Wert  darauf,  daß  die  Wäsche  kostbar  aus- 
gestattet, als  daß  sie  sauber  war.  Kaum  eine  Zeit  war  z.  B. 
in  der  Verwendung  von  Spitzen  so  verschwenderisch  wie  das 
18.  Jahrhundert.  Man  trug  sie  nicht  nur  als  Besatz  an  Klei- 
dern und  Leibwäsche,  man  garnierte  auch  die  Bettwäsche  damit 
Madame  de  Crequy  besucht  einmal  die  Herzogin  de  la  Ferte- 
und  findet  sie  in  einem  Bett,  dessen  Spitzengarnitur  40000  Taler 
gekostet  hatte.  Die  Marquise  von  Pompadour  besaß  ein  Spit- 
zenkleid von  points  d' Angleterre,  das  ihr  22500  Francs  (etwa 
60000  M.)  gekostet  hatte.  Die  Spitzenmantillen,  mit  denen 
man  den  Ausschnitt  bedeckte,  waren  ebenfalls  kostspielige 
Artikel,  man  bezahlte  sie  mit  100  Dukaten  und  mehr.  Im 
Trousseau  der  französischen  Prinzessin,  die  1739  den  Infanten 
von  Spanien  heiratete,  befanden  sich  für  625  000  Francs  Spitzen 

156 


Gallerle  des  Modes 


Die  Mode,    18.  Jahrh.   35 


Daniel  Chodmviecki,  Friedrich  d.  Gr.,  die  Parade  abnehmend,  1777 

und  noch  1786  schreibt  Swinburne  aus  Paris,  daß  man  im 
Trousseau  jeder  vornehmen  Braut  allein  an  Spitzen  für  etwa 
£  5000  finden  könne.  In  Baden  war  es  1739  guter  Ton,  für 
beide  Geschlechter  die  spitzenbesetzte  nasse  Wäsche  zum 
Trocknen  vor  seinem  Fenster  aufzuhängen,  dazwischen  pro- 
menierte dann  die  elegante  Welt  und  bewunderte  die  ausge- 
breiteten Herrlichkeiten.  Viele  konnten  sich  von  ihren  Spitzen 
nicht  trennen.  Aurora  V.  Königsmarck  nahm  ein  Vermögen 
ah  Spitzen  in  den  Sarg  mit,  ebenso  wie  der  Herzog  von 
Alba,  der  1739  in  Paris  mit  allen  seinen  Spitzen  begraben 
wurde.  In  England  war  man  nicht  weniger  toll  auf  Spitzen 
wie    in    Frankreich    und    anderswo.     Die   Königin   Anna    gab 


157 


z.  B.  im  Jahr  1712  für  Spitzen  £  1418  aus.  Ein  Kopfputz 
aus  Points  de  Bruxelles  kostete  1719  &  30  -40.  Auf  zwei 
Millionen  Pfund  Sterling  berechnete  man  im  Durchschnitt 
die  jährliche  Einfuhr  an  flandrischen,  französischen  und  italie- 
nischen Spitzen.  Aus  patriotischen  Rücksichten  begann  man 
unter  der  Regierung  Georgs  II.  die  englischen  Spitzen  zu 
bevorzugen.  Bei  der  Hochzeit  des  Prinzen  von  Wales  1736 
trug  die  ganze  Hofgesellschaft  ausschließlich  Spitzen  englischen 
Ursprungs,  nur  der  Herzog  von  Malborough  machte  eine 
Ausnahme,  er  trug  Brüsseler  Kanten.  Eine  der  berühmt 
schönen  Misses  Gunning,  Anna  Herzogin  von  Hamilton,  seit 
1759  Herzogin  von  Argyll,  führte  in  den  vierziger  Jahren  die 
Spitzenfabrikation  in  Schottland  ein.  Regierung  und  Private 
vi^etteiferten  darin,  die  heimische  Produktion  in  Flor  zu  brin- 
gen. Unnachsichtlich  wurden  ausländische  Spitzen  konfisziert. 
So  revidierte  die  Steuerbehörde  drei  Tage  vor  der  Hochzeit  der 
Prinzessin  Auguste  mit  dem  Herzog  von  Braunschweig  die  Werk- 
stätte der  Hofmodistin  und  nahm  ohne  Barmherzigkeit  die  ferti- 
gen Galakleider  fort,  soweit  sie  mit  ausländischen  Spitzen  oder 
anderen  geschmuggelten  Artikeln  besetzt  waren.  Auf  der  Straße 
riß  man  den  Frauen  aller  Stände  Hauben  und  Besätze  weg. 
In  Dublin  verbanden  sich  1755  die  jungen  Herren  zu  einem 
Verein,  welcher  alle  Damen,  die  französische  Spitzen  tragen 
würden,  boykottieren  wollte.  Seit  1756  die  Blonde  auftauchte,  1768 
Hammond  in  Nottingham  eine  Maschine  erfand,  welche  den  Tüll 
—  den  man  zuerst  Fond  de  Bruxelles  nannte  —  auf  mechanischem 
Wege  herstellte,  kommt  die  Spitze  allmählich  außer  Mode. 
Die  indischen  Musseline  verdrängen  sie  wenigstens  aus  der 
Toilette,  denn  als  Besatz  der  Bettwäsche  bleibt  sie  in  Ehren. 
Als  1778  Georg  III.  und  die  Königin  Charlotte  das  Töchter- 
chen des  Herzogs  von  Chandos  aus  der  Taufe  hoben,  da  war 
der  kleine  Täufling  so  in  Spitzen  eingehüllt,  daß  er  während 
der  Zeremonie  in  seinem  Tragkissen  erstickte.  Die  Ehre  der 
königlichen  Patenschaft  hatte  »Georgiana  Carolina«  das  Leben 
gekostet. 
Die  Frisur  Die  Frisur  der  Damen  entwickelte  sich  im  Gegensatz  zum  Um- 
fang ihrer  Röcke.  Als  der  Reifrock  am  größten  war,  war 
sie  ganz  klein.  Als  Reifrock  und  Kleid  enger  und  kürzer 
wurden,  nahm  sie  in  der  gleichen  Proportion  zu  wie  jene  ab. 
Auf  die  hochansteigenden  Fontangen  folgte  eine  Frisur,  welche 

158 


»füll»!! 


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Rosmaesler,  Promenade  in  Leipzigs  ^777 

alles  Haar  knapp  und  flach  um  den  Kopf  legte,  fast  möchte 
man  sagen  anklebte.  Man  trug  dazu  kleine  Spitzenhäubchen, 
die  man  1731  Fledermäuse  nannte,  wenn  sie  tief  bis  in  das 
Gesicht  reichten.  Seit  1760  etwa  beginnt  sich  eine  Verän- 
derung geltend  zu  machen.  Das  Haar  wird  über  der  Stirn 
hoch  toupiert,  und  fällt  hinter  den  Ohren  in  langen,  meist 
nach  vorn  gelegten  Locken  auf  den  Hals.  Die  Frisur  wird 
kunstreicher  und  umständlicher  in  ihrer  Herstellung.  Man 
braucht  den  Friseur  dazu.  Der  erste  Mann,  der  in  Paris 
Damen  frisierte,  war  Mr.  Frison,  neben  ihm  waren  Larseneur 
und  Dage  berühmt.  Der  letztere  besonders  dadurch  bekannt 
daß  er  sich  geweigert  hatte,  die  Pompadour  zu  frisieren.  Der 
Matador  der  Pariser  Friseure  war  aber  doch  Legros,  der  sich 
vom  Küchenjungen  zum  Herrscher  über  die  Köpfe  der  Damen- 
welt aufschwang,  der  das  Haaremachen  zur  Kunst  erhob.  Er 
veröffentlichte  1765  ein  methodisches  Werk  über  die  Kunst, 
jede  Dame  nach  der  Eigenart  ihres  Charakters  zu  frisieren  und 
eröffnete  gleichzeitig  eine  Akademie,  die  in  drei  Klassen  ein- 
geteilt. Wißbegierige  in  alle  Geheimnisse  des  Metiers  einweihte. 

160 


Ward,  Louisa,    ijSö 


Die  Mode.  le.'Jatrli.  36 


Nicolas  Lav7eince,  La  Soubrette  confidente 


Die  Frisur  wird  zur  Hauptsache  der  Toilette.  Erfindungsgabe 
und  Phantasie  werden  nur  noch  in  ihrem  Dienst  gebraucht. 
Eine  neue  Frisur  wird  zum  Ereignis.  1772  bereits  zeigte  das 
Pariser  Modejournal,  der  »Courier  de  la  Mode«  in  jedem  seiner 


Die  Mode.  18.  Jahrb.  2.  A. 


l6l 


11 


Hefte  96  verschiedene  Arten  Frisuren  an,  im  ganzen  Jahre 
bringt  es  diese  Zahl  auf  3744  Beispiele.  Der  berühmte  Legros 
gehörte  zu  den  Opfern  der  Katastrophe,  welche  gelegentlich 
der  Feste  zur  Vermählung  Marie  Antoinettes  auf  dem  Platze 
Ludwigs  XV.  in  Paris  vielen  Hundert  Menschen  das  Leben 
kostete,  er  erstickte  in  der  Menge.  Aber  sein  Verlust  bedeutete 
nichts.  In  wenigen  Jahren  war  die  Zahl  der  Damencoiffeure 
in  Paris  allein  auf  600  gestiegen.  Die  Damen,  die  Friseure, 
die  Putzmacherinnen  und  Kammerjungfern  wetteiferten  in  der 
Erfindung  neuer  und  immer  neuer  Frisuren.  Alle  Gebiete  der 
Natur  und  des  Wissens  wurden  geplündert.  Die  Mythologie 
und  die  Neuigkeiten  des  Tages  mußten  Vorwürfe  liefern  nur 
zum  Besten  neuer  Ideen  für  die  Frisur.  Nichts  war  so  wider- 
sinnig und  so  abgeschmackt,  nichts  so  verkehrt  und  so  son- 
derbar, daß  es  nicht  zu  einer  Damenfrisur  benutzt  worden  wäre. 
Sonne,  Mond  und  Sterne,  Meere  und  Wälder,  Tier  und  Men- 
schen sah  man  auf  den  Köpfen  der  Schönen.  Eine  Fregatte 
mit  allen  Segeln  war  nichts  Ungewöhnliches  als  Coiffüre  und 
nachdem  nichts  mehr  übrig  zu  sein  schien,  blieb  es  doch  noch 
der  Herzogin  von  Chartres  vorbehalten,  mit  dem  »Pouf  au 
sentiment«  etwas  völlig  Neues  zu  lancieren.  Sie  trug  in  dieser 
Frisur  Figuren  ihres  kleinen  Sohnes  und  seiner  Amme,  ihres 
Lieblingspapageien  und  Mohren,  verflochten  in  Locken  ihrer 
männlichen  Verwandten,  ihres  Mannes,  ihres  Vaters  und  Schwie- 
gervaters !  ?  Der  eigentliche  Wahnsinn  beginnt  aber  doch  erst 
in  dem  Augenblick,  in  welchem  Marie  Antoinette  am  10.  Mai  1774 
Königin  wird.  Sie  war  jung,  schön,  töricht  und  schlecht  be- 
raten und  stürzte  sich  wirklich  Hals  über  Kopf  in  die  Mode, 
so  daß  sie  im  ersten  Jahre  nach  ihrer  Thronbesteigung  nur  für 
Putz  und  Tand  bereits  300000  Francs  Schulden  gemacht  hatte. 
Ihr  Coiffeur  war  Leonard  Autier,  der  berühmte,  der  große 
Leonard,  der  bis  zu  14  Ellen  Gaze  in  eine  einzige  Coiffüre 
hineinarbeitete  und  dessen  Prinzip  es  war,  niemals  Spitzen  zu 
verwenden.  Der  Coiffeur  en  titre  der  Königin  war  Larseneur, 
ein  alter  Mann  ohne  Geschmack,  den  sie  aber  aus  Mitleid  nicht 
abschaffen  wollte.  Sobald  er  fertig  war,  zerstörte  sie  seine 
Arbeit,  Leonard  kam  und  frisierte  sie  aufs  neue.  Marie  An- 
toinette konnte  sich  nicht  von  ihm  trennen  und  nahm  ihn  sogar 
auf  die  unglückliche  Flucht  nach  Varennes  mit,  deren  verfehl- 
ten Ausgang  er  durch  sein  Zuspätkommen  verschuldet  haben 

162 


soll.  Die  Putzmacherin  der  Königin  war  Mlle.  Bertin.  Mit 
beiden  »arbeitete«  die  Königin  mehrere  Male  in  der  Woche 
und   kreierte    die   Moden,    um   die   sich   die   Pariserinnen   aller 


LaV7-eince,  La  consolation  de  l' absence 

Klassen  dann  förmlich  gerissen  haben.  Jede  wollte,  wie  Ma- 
dame Campan,  die  Kammerfrau  Marie  Antoinettes,  in  ihren 
Memorien  schreibt,  dieselben  Modelle  tragen  wie  die  Königin, 
und  man  beschuldigte  die  Fürstin,  daß  sie  durch  ihre  Launen 
der  Verschwendung  Vorschub  leiste  und  den  finanziellen  Ruin 
Frankreichs  befördere.  Mlle.  Bertin  wurde  der  Minister  der 
Mode  genannt   und   sie  fühlte   sich   auch   als   solcher.     Einmal 


163 


11* 


Nicolas  Lavreince,  Qu^en  dit  fabbe  ? 

kam  eine  Dame  in  ihren  Laden  und  verlangte  Coiffüren  von 
der  neuesten  Mode.  »Zeigen  Sie  der  Dame  die  Modelle  der 
letzten  Woche«,  befahl  sie  darauf  einem  ihrer  Fräulein.  Als 
die  Käuferin  schüchtern  zu  bemerken  wagte,  daß  sie  die  neue- 
sten, nicht  die  der  letzten  Woche  sehen  wollte,  erhielt  sie  von 
der  Bertin  die  stolze  Antwort:     »Dann  müssen  Sie   noch   acht 


164 


Nicolas  Lavreince,  Le  Billet-doux 


Tage  warten,  die  Königin  und  ich  haben  beschlossen,  die  neue- 
ste Mode  erst  in  der  nächsten  Woche  erscheinen  zu  lassen.« 
Von  ihrer  Arroganz  und  Einbildung  können  die  Memoiren  der 
Zeit  überhaupt  nicht  genug  berichten.  Trotz  der  exorbitanten 
Preise,  welche  die  Gunst  des  Hofes  ihr  zu  nehmen  erlaubte, 
machte  sie  im  Jahre  1787  einen  Bankerott   von   zwei  Millionen 

165 


Passiva.  Marie  Antoinette  war  so  stolz  auf  ihre  Erfindungs- 
gabe, daß  sie  sich  für  ihre  Mutter  in  der  neuen  Mode  malen 
ließ.  Die  Kaiserin  Maria  Theresia  sandte  das  Bild  aber  zu- 
rück mit  der  Bemerkung,  es  läge  wohl  eine  Verwechslung  vor, 
so  könne  vielleicht  eine  Schauspielerin  aussehen,  aber  nicht 
die  Königin  von  Franljreich !  Die  Frisuren  wurden  jetzt  so 
extravagant  nach  Größe  und  Zusammensetzung,  wie  man  sich 
heute  doch  kaum  noch  vorstellen  kann.  Die  Baronin  Ober- 
kirch erzählt,  daß  bei  Damen  mittlerer  Größe  das  Kinn  genau 
in  der  Mitte  zwischen  den  Fußspitzen  und  dem  Gipfel  der 
Frisur  lag.  Madame  Campan  sagt,  daß  die  Damen  sich  nicht 
mehr  in  ihren  Kutschen  setzen  konnten,  sie  mußten  sich  auf 
den  Boden  derselben  knien  und  den  Kopf  zum  Fenster  hinaus- 
stecken, gerade  so  wie  ihnen  das  Tanzen  große  Mühe  verur- 
sachte, da  sie  sorgfältig  danach  trachten  mußten,  Zusammen- 
stöße mit  den  Kronleuchtern  zu  vermeiden.  Graf  Vaublanc 
schreibt  in  seinen  Erinnerungen,  zu  wie  wenig  geschickten 
Bewegungen  die  Tänzerinnen  durch  diese  Rücksicht  oft  ge- 
zwungen waren.  So  soll  es  wirklich  vorgekommen  sein,  daß 
eine  Dame  ihre  Coiffüre  an  dem  Lüster  eines  Pariser  Cafe- 
hauses in  Brand  gesteckt  hat.  Um  der  Mißbilligung  der  alten 
Tanten  und  Schwiegermütter  zu  entgehen,  konnten  sich  junge 
Frauen  »ä  la  bonne  maman«  frisieren  lassen.  Dann  kamen 
Ressorts  in  die  Frisur,  die  auf  einen  Druck  dieselbe  höher 
oder  niedriger  machten.  Es  war,  als  hätte  eine  Raserei  diese 
Köpfe  ergriffen,  die  sich  nicht  genug  falsches  Haar,  Federn, 
Bänder,  Blumen,  Vögel  aufsetzen  konnten  und  nur  begierig 
waren,  für  diese  Chiffons  immer  neue  Arten  des  Arrangements 
zu  erfinden.  Madame  de  Matignon  abonnierte  sich  bei  dem 
Friseur  Beaulard  und  zahlte  ihm  24000  Livres  jährlich,  wofür 
er  verpflichtet  war,  ihr  täglich  eine  neue  Coiffüre  zu  liefern. 
Die  Mode  wechselte  so  rasch,  daß  Leonard,  wenn  er  von  der 
gestrigen  Mode  sprach,  nur  »ehemals«  zu  sagen  pflegte.  Die 
Schwierigkeit,  eine  so  komplizierte  Frisur  herzustellen,  sie  über 
Kissen  und  Drahtgestellen  aufzubauen,  ihr  durch  Pomaden 
Halt  zu  geben,  sie  zu  pudern  usw.,  erforderte  die  Arbeit  von 
Stunden  und  es  kann  nicht  wundernehmen,  daß  die  Damen 
sich  dieser  Prozedur  nicht  alle  Tage  unterwerfen  konnten. 
Selbst  vornehme  Damen  ließen  sich  nur  alle  8  bis  14  Tage 
neu  frisieren,  ärmere  noch  viel  seltener  und  wir  hören  davon, 

166 


Bandouin-Moreau^  Le  coucher  de  la  Mariee 

daß  Frauen  und  Mädchen  des  Mittelstandes  einen  Monat  und 
länger  ihr  Haar  in  der  gleichen  Frisur  beließen,  ohne  es  doch 
in  der  Zwischenzeit  kämmen  zu  können.  Was  dieser  Mangel 
an  Reinlichkeit  für  Folgen  hatte,  läßt  sich  denken.  Es  war 
das  goldene  Zeitalter  des  Ungeziefers,  dem  die  Damen  mit 
ihren  »grattoirs«,  langen  Kopfkratzern  aus  Gold  oder  Elfenbein, 

167 


Be7ij.  West,  Kdnig'm  Charlotte  von  England  und  ihre  Tochter,  1778 

Schabkunst  von  V.  Green 


natürlich  nicht  beikommen  konnten.  Die  Markgräfin  von  Bay- 
reuth notiert  bei  ihrem  Empfang  in  Hof,  daß  die  Haare  der 
adligen  Damen  voller  Schmutz  und  Unrat  gewesen  seien  und 
was  Casanova  einmal  in  dieser  Hinsicht  für  Beobachtungen 
auf  dem  Kopf  einer  Augsburgerin  machte,  teilt  er  in  seinen 
Memoiren  sehr  ergötzlich  mit.  Katharina  II.  verbot  die  Fri- 
suren höher  zu  tragen  als  V4  russische  Elle.  Ihre  Schwieger- 
tochter Maria  Feodorowna  mußte  sich  deswegen  einen  Teil 
ihrer  schönen  Haare  abschneiden  lassen.  Nach  einigen  Jahren 
änderte  sich  die  Mode  insofern,  als  die  Coiffüre  nicht  mehr 
in  das  Haar  hineingearbeitet,  sondern  als  Haube  oder  Hut 
besonders  aufgesetzt  wurde.  Man  frisierte  sich  einfacher, 
angeblich  dem  Beispiel  Marie  Antoinettes  folgend,  der  während 
ihres  ersten  Wochenbettes  das  Haar  sehr  stark  ausgegangen 
war.  Man  toupierte  es  nicht  mehr,  sondern  wickelte  es  in  Locken 
und  ließ  es  rückwärts  bis  zur  Taille  offen  herabfließen.  Im  Auf- 
stecken der  Bonnets  und  Hüte  waltete  die  Phantasie  nun  un- 

168 


G aller ie  des  Modes 


Die  Mode.    18   Jatrh.    37 


unischränkt  weiter.  Drahtgestelle  mit  Flor  überzogen,  Formen 
ausStroh  und  Filz  wurden  derTummelplatz  der  launischen  Mode, 
wo  sie  Federn,  Blumen,  Bänder,  Schleifen,  Agraffen  u.  a.  in  der 
buntesten  und  bizarrsten  Mannigfaltigkeit  durcheinander  wir- 
belte. Ebenso  barock  wie  die  Formen  der  Frisuren,  Coiffüren 
und  Hüte  waren  die  Namen,  welche  man  ihnen  beilegte.  Denn 
so  gut  wie  jede  Nuance  jeder  Farbe  einen  besonderen  Namen 
erhielt,  gab  man  jeder  Frisur,  jeder  Coiffüre,  jedem  Hut  einen 
eigenen  Namen.  Diese  Bezeichnungen,  die  mit  dem  eigent- 
lichen Wesen  des  Gegenstandes  natürlich  nicht  das  mindeste 
zu  tun  hatten,  entlehnte  man  Tagesereignissen,  dem  Brand  der 
Oper,  dem  Freiheitskriege  der  Amerikaner,  dem  Halsbandpro- 
zeß, man  nahm  Verbrecher  zu  Paten,  wie  den  abscheulichen 
Desrues  oder  Erfinder  wie  Montgolfier.  Man  entlieh  ihn  am 
liebsten  dem  Theater.  So  begegnen  wir  Namen  wie  ä  ITnde- 
pendance,  ä  la  Bostonienne,  ä  la  Philadelphie,  ä  la  nouvelle  Angle- 
terre,  ä  la  Belle  Poule,  au  glorieux  d'Estaing,  ä  la  Desrues,  ä  la 
Montgolfiere,  ä  la  Figaro,  ä  l'Almaviva,  ä  la  Suzanne,  ä  la  Vol- 
taire, ä  la  nouvelle  Ciarisse, 
ärAndrosmane,auBandeau 
d'amour,  le  Chien  couchant, 
au  Parterre  galant,  au  Cerf 
volant,  ä  la  douce  Raillerie, 
ä  la  Randan,  ä  la  Baillard, 
ä  la  Zinzara,  ä  la  Tarare,  ä 
la  nouvelle  Omphale,  ä  la 
Marlborough,  ä  la  grande 
Pretention,  au  Papillon  con- 
stant,  au  galant  Desespoir, 
au  Plaisir  de  la  Cascade  usw. 
usw.  Wenn  man  bedenkt, 
daß  es  allein  1779  ^^  P^" 
riser  Modehandel  200  ver- 
schiedene Häubchen  gab, 
von  denen  jedes  im  Preise 
zwischen  10  und  100  Livres 
schwankend,  einen  beson- 
deren Namen  trug,  so  be- 
greift man  leicht,  daß  zwi- 
GeigenspieUr  Italien.  Porzellan       schen    Himmel    und   Erde, 


170 


Der  Handkuß^  Biskuit,  Wien.    Von  Anton  Graßl 

auf  und  unter  derselben  nichts  davor  sicher  war,  der  Verbin- 
dung von  einigen  Ellen  Band,  Flor  und  Federn  seinen  Xamen 
leihen  zu  müssen.  Dieselben  Bezeichnungen  begegnen  uns  auch 
in  Deutschland.  Wenn  Chodowiecki  oder  Riepenhausen  uns 
die  Moden  von  Berlin,  Göttingen  oder  Leipzig  entwerfen,  be- 
dienen sie  sich  der  gleichen  Xamen  wie  die  Pariser  Mode- 
zeitungen. Zu  den  Formen,  die  sich  fast  das  ganze  Jahr- 
hundert hindurch  behaupteten,  gehörte  die  Dormeuse,  ein 
Xame,  der  einer  Haube  zukam,  die  vielfach  wirklich  als  Xacht- 
haube  benutzt  wurde,  wegen  ihrer  Einfachheit  aber  auch  von 
älteren  Damen  gern  getragen  wurde.  So  sieht  Goethe  z.  B. 
Frau  von  La  Roche  stets  in  einem  »netten  Flügelhäubchen«. 
Den  X'amen  hat  man  dann  gelegentlich  im  Jahre  1758  z.  B.  auch 
einem  Topfhut  beigelegt,  wie  man  ihn  1909  wieder  liebt,  als  ob 
man  Mademoiselle  Bertin  Recht  geben  wollte,  die  einmal  sagte: 
»II  n'y  a  rien  de  nouveau  dans  ce  monde  que  ce  qui  est  oublie.« 
Sehr  drollig  war  die  Coiffüre  ä  la  Therese,  eine  Kopfbedeckung 
wie  ein  Kutschdach,  die  man  auf-  und  zuklappen  konnte,  prak- 


171 


tisch  und  kokett  zugleich.     Diderot  erzählt,   wie  gewandt  seine 
kleine  Tochter  ihm  die  Vorzüge   dieser  Kalesche   auseinander- 
zusetzen wußte.     Für   die   englische  Dame   war  der  Hut   nicht 
nur  der  wesentlichste  Bestandteil  der  Toilette,   er  erst  gab   ihr 
das  Cachet  der  Eleganz,   sondern   sie   verstand   auch,   ihn   mit 
besonderem  Schick  aufzusetzen  und  mit  feinster  Koketterie  zu 
tragen.     Wer  sich  von  Bildern,    Farbstichen   oder  Schabkunst- 
blättern her  auf  die  Porträts  der  schönen  Engländerinnen  jener 
Zeit  besinnt,   wird  das  Entzücken  begreifen,   mit   dem   der  be- 
kannte     Zeitungsschreiber 
und    Pamphletist     Linguet 
erklärte,   wenn  Homer  die 
Engländerinnen       gekannt 
hätte,  so  würde  er  der  Ve- 
nus als  Attribut    der  Gra-^ 
zien     nicht     einen     Gürtel, 
sondern     einen    englischen 
Hut    gegeben    haben.     Die 
reizenden      Londonerinnen 
jener    Zeit    erfreuten     sich 
aber    auch    einer    Einrich- 
tung, welche  man  heute,  wo 
man    stets    auf    der  Suche 
nach  neuen  Berufen  für  die 
Frau  ist,    eigentlich    nach- 
ahmen könnte.   Die  schöne 
Schauspielerin  Mrs.  Abing- 
ton,   welche   am  Drurylane 
Theater   engagiert    war    und    dort    als   Extrahonorar    für   ihre 
Toiletten  £  500  jährlich  bezog,  fuhr  in  ihren  Mußestunden  um- 
her und   erteilte  Rat   und   Auskunft   in    Modeangelegenheiten, 
welche  Nebenbeschäftigung  ihr  im  Jahr  etwa  £  1500  bis  £,  1600 
eingebracht  haben  soll. 

Alle  Frisuren  hatten  nur  einen  Zug  miteinander  gemein,  sie 
waren  alle  gepudert.  In  den  Zeiten  Ludwigs  XV.  und  Lud- 
wigs XVL  puderte  sich  die  ganze  feine  Welt,  Männer,  Frauen 
Kinder  stäubten  sich  ihr  Haar  dick  mit  Reismehl  ein.  Das 
graue  Haar  machte  alle  miteinander  gleich  alt.  Sich  alt  zu 
machen,  war  der  gute  Ton,  das  Haar  zu  pudern  etwas  so 
Selbstverständliches,    daß    Friedrich    Nicolai   in   Augsburg  ein 


Moreau,  Alte  Dame 


172 


Gnadenbild  der  heiligen  Jungfrau  sah,  dem  an  hohen  Festen 
die  Perücke  frisch  gepudert  wurde.  Für  das  Privileg.  Puder 
erzeugen  zu  dürfen,  zahlte  Pietro  Capranica  dem  Senat  in  Ve- 
nedig 2000  Dukaten  jährlich,  aber  sein  Puder  brachte  ganze 
Schwärme   von    ekelhaftem    Gewürm   hervor.     Erst  sein   Sohn 


y.  M.  Moreau  Uj.,  Illustration  zu  Rousseau,  Emi/e,  ijjg 

führte  den  Reispuder  ein.  Erst  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts 
setzt  eine  Bewegung  gegen  den  Haarpuder  ein,  die  Gründe 
der  Reinlichkeit  und  der  Philanthropie  miteinander  verbunden 
gegen  das  Pudern  ins  Feld  führt.  Man  machte  geltend,  daß 
der  enorme  Verbrauch  an  Weizenmehl  dem  Volk  die  notwen- 
digsten Nahrungsmittel  verteuere  und  wenn  das  Haarpudern 
als  allgemeiner  Verbrauch  auch  erst  im  letzten  Jahrzehnt  des 
i8.  Jahrhunderts  verschwunden  ist,   der  Beginn   der  Bewegung 

173 


Chodow'ucki,  jy8o 


liegt  weiter  zurück.  1764 
sah  Casanova  auf  einem 
Ball  des  Herzogs  von  Cum- 
berland  Lady  Grafton  mit 
ungepudertem,  zwanglos  in 
die  Stirn  fallendem  Haar, 
eine  Frisur,  welche  von 
allen  Anwesenden  gemiß- 
billigt wurde  und  daher 
binnen  einem  halben  Jahr 
in  ganz  England  allgemein 
getragen  wurde.  Sie  inau- 
guriert die  Mode,  welche 
uns  auf  den  Köpfen  der 
Modelle  von  Reynolds  und  Gainsborough  so  entzückt.  Auf 
dem  Kontinent  hat  es  weit  länger  gedauert,  bis  man  sich  des 
Puders  entwöhnte.  Noch  in  den  achtziger  Jahren  berichten 
Reisende  aus  England  mit  Erstaunen,  daß  selbst  zierlich  ge- 
kleidete Damen  sich  nicht  zu  pudern  pflegten. 
Schminie  Das  künstlich  grau  gemachte  Haar  schadete  selbst  dem  jugend- 
lichen Teint,  wenn  es  ihn  nicht  ganz  tötete.  So  zog  das 
Pudern  ganz  von  selbst  das  Schminken  nach  sich.  Alfred 
Franklin,  dessen  Studien  wir  so  schätzbares  Material  zur  Kul- 
turgeschichte der  Moden,  Trachten,  Sitten  und  Gewohnheiten 
verdanken,  sagt  einmal  sehr  witzig:  Die  Dichter  des  18.  Jahr- 
hunderts hätten  ihre  Heldinnen  sich  freigebig  küssen 
vmd  noch  verschwende- 
rischer Tränenströme  ver- 
gießen lassen,  während  sie 
sich  vor  gar  nichs  so  sehr 
hätten  hüten  müssen,  wie 
gerade  davor.  Denn  ihre 
Schminke  gestattete  ihnen 
derartig  heftige  Gefühle  gar 
nicht.  An  das  Waschen 
brauchte  die  Modedame  von 
damals  nicht  zu  denken,  aber 
das  Schminken  durfte  sie 
nicht  vergessen.  Wenn  sie 
das  Gesicht   weiß   angelegt 


Chodowiecki,  ijSo 


174 


Chodmviecki,  lySo 


hatte,  zog  sie  die  Brauen 
mit  Schwarz  nach,  malte 
die  Adern  schön  blau  und 
dann  wurden  die  Lichter 
mit  Rot  aufgesetzt.  Das  Rot 
war  die  Hauptsache.  Der 
gute  Ton  verbot  den  an- 
ständigen Frauen,  sich  das 
Rot  natürlich  aufzulegen, 
nur  die  Damen  von  einem 
gewissen  Metier  durften 
sich  mittels  Rot  »schön« 
machen,  d.  h.  die  Xatur 
nachahmen,     die     anderen 


mußten  es  ä  tranchant  auflegen,  d.  h.  so,  daß  man  hundert 
Stund  weit  sah,  daß  dieses  Rot  Kunst  sei.  Man  hatte  das 
Rot  nicht  nur  in  den  verschiedensten  Nuancen  und  Zusammen- 
setzungen trocken  und  flüssig,  man  suchte  auch  in  der  Art, 
wie  man  es  auflegte,  Gefühle  und  Stimmungen,  sogar  Standes- 
unterschiede auszudrücken,  wie  sich  denn  die  Damen  des 
Versailler  Hofes  brandrote  abgezirkelte  Flecke  dicht  unter 
die  Augen  legten.  »Ob  die  Frauen  in  Paris  schön  sind?« 
schreibt  Leopold  Mozart  1763  an  seine  Frau,  »das  ist  unmöglich 
zu  sagen,  denn  sie  sind  gemalt  wie  die  Nürnberger  Puppen 
und  durch  diese  widerwärtigen  Kunstgriffe  derartig  entstellt, 
daß  eine  von  Natur  schöne  Frau  in  den  Augen  eines  ehrlichen 
Deutschen  völlig  unkennt- 
lich wird.«  Man  besaß  an 
Rot  allein  zehn  verschie- 
dene Sorten  und  hat  trotz- 
dem in  Paris  versucht,  an 
seiner  StelleLila  aufzulegen. 
Martin  in  Paris  führte  eins 
der  gesuchtesten  rouge,  von 
dem  der  Topf  zwischen  60 
und  80  Louisdor  kostete. 
Wie  stark  der  Verbrauch 
war,  kann  man  beurteilen, 
wenn  man  hört,  daß  z.B.  Ma- 
dame Dugazon  im  Jahrei/Si       Chodowiecki,  1780 


175 


Chodowieckiy  ijSo 

bei  dem  Parfümeur  Montclar  sechs  Dutzend  Töpfe  Rot  kaufte, 
den  Topf  zu  sechs  Francs.  Der  Chevalier  d'Elbee  schätzte  zur 
gleichen  Zeit  den  jährlichen  Verbrauch  in  Frankreich  allein 
auf  zwei  Millionen  Töpfe.  Die  Damen  hatten  ihre  Schmink- 
döschen  stets  bei  sich  und  erneuerten  sich  ungeniert,  wenn 
sie  es  nötig  fanden.  Der  Gebrauch  war  so  natürlich,  daß 
man  sogar  die  Leichen  schminkte.  Mrs.  Oldfield,  eine  be- 
kannte englische  Schauspielerin,  hatte  in  ihrem  letzten  Willen 
festgesetzt,  wie  sie  zum  Begräbnis  geschminkt  sein  wollte. 
Keyßler  sieht  in  Rom  1730  die  Leiche  des  Kardinals  Pamphili 
rot  geschminkt  aufgebahrt. 

In  Frankreich  war  die  Gewohnheit  am  tiefsten  eingewurzelt, 
Madame  de  Monaco  schminkte  sich  auch  noch,  als  sie  zur 
Guillotine  gefahren  wurde.  In  anderen  Ländern  schminkte 
man  sich  wohl  auch,  aber  man  trug  das  Rot  doch  nicht  so 
fingerdick  auf.  Nicolai  fällt  es  z.  B.  1781  in  Stuttgart  ange- 
nehm   auf,    daß   das   Frauenzimmer  von   Stand   sich   das   Rot 


Chodowiecki,  lySo 


176 


zart  und  natürlich  auflegt.  Maria  Lesczynska  konnte  ihren 
Widerwillen  gegen  die  französische  Art  des  Schminkens  nie 
verbergen  und  erschien  zu  Casanovas  Erstaunen  sogar  un- 
geschminkt bei  ihrem  Diner.  Die  Infantin  Marie  Therese  von 
Spanien,  w^elche  1745  den  Dauphin  heiraten  sollte,  war  nur 
durch  einen  Befehl  des  Königs  zu  bewegen,  sich  Rot  auf- 
zulegen. Man  fürchtete,  ihr  Bräutigam  würde  sich  vor  einer 
Ungeschminkten  grausen.  Am  Wiener  Hofe  durften  sich  die 
Damen  nicht  schminken,  wenn  Hoftrauer  war.  So  wurde  es 
ihnen  z.  B.  beim  Tode  des  Kaisers  Franz  ausdrücklich  ver- 
boten. Joseph  n.  verbot  1787  die  weiße  Schminke  gänzlich 
als  der  Gesundheit  schädlich  und  legte  auf  die  rote  eine 
hohe  Steuer.  Wie  der  Haarpuder  die  Unsauberkeit  des  Kopfes 
beförderte,  so  verursachten  die  Schminken,  vielfach  mit  giftigen 
Substanzen  versetzt,  Hautausschläge,  Augenkrankheiten  und 
dauernde  Kopfschmerzen.  Aus  diesem  allgemeinen  Gebrauch 
des  Schminkens  erklärt  sich  das  krasse  Rot  vieler  Damen- 
bildnisse der  Zeit.  Die  Maler  mußten  ihre  Modelle  eben  ge- 
schminkt malen,  weil  es  für  schön  galt.  Die  meisten  haben 
sich  damit  abgefunden,  der  berühmte  Grenze  allerdings  weigerte 
sich,  die  Dauphine  zu  porträtieren,  weil  sie  sich  so  rot  an- 
gestrichen  habe. 

Den  Abschluß  der  Gesichtstoilette  bezeichnete  das  Anbringen  Die  Mouches 
der  Mouches,  kleiner  Fleckchen  aus  gummierter  schwarzer 
Seide  oder  Papier,  die  schon  seit  den  Zeiten  Heinrichs  IV. 
Mode,  den  Höhepunkt  ihrer  Beliebtheit  doch  erst  im  18.  Jahr- 
hundert erreichen.  Man  hatte  sie  in  den  verschiedensten 
Formen    als    Sterne,    Halbmonde,    Sonnen,    Kreise,  Vierecke, 


Chodowiecki  ij8o 
Die  Mode,  18.  Jahrh.  2,  A. 


177 


12 


Chodou'iecki  lySo 


Herzen,  selbst  in  der  Ge- 
stalt von  Tieren  und  Män- 
nerchen.  Es  war  durch- 
aus nicht  gleichgültig,  an 
welche  Stellen  des  Gesich- 
tes man  diese  Fleckchen 
pappte.  Man  gab  ihnen  je 
nach  ihrem  Sitz  beson- 
dere Namen.  Mitten  auf 
der  Stirn  hieß  die  Mouche 
die  Majestätische,  auf  der 
Nase  die  Unverschämte, 
am  Auge  die  Leidenschaft- 
liche, am  Mundwinkel  die 
Küssefreudige,  auf  der  Lippe  die  Kokette,  inmitten  der  Wange 
die  Galante,  zwischen  Mund  und  Kinn  die  Verschwiegene, 
auf  einem  Pickelchen  endlich  die  Diebin.  Seit  der  berühmte 
Kanzelredner  Massillon  in  einer  seiner  Predigten  gegen  den 
Gebrauch  der  Mouches  geeifert  und  sich  ironisch  gewundert 
hatte,  daß  man  sie  nicht  überall  hinklebe,  entschlossen  sich 
die  Damen  wirklich  dazu,  sie  auch  auf  dem  Busen  anzubringen, 
ja  die  geheimen  Memoiren  der  Zeit  versichern,  sie  hätten  sich 
mit  diesen  sichtbaren  Stellen  noch  nicht  begnügt.  Einen  Augen- 
blick lang  trug  man  eine  Mouche  von  schwarzem  Sammet  so 
groß  wie  ein  Pflaster  auf  der  rechten  Wange  und  nannte 
sie  die  Zahnschmerzliche.  Madame  Cazes  trieb  diese  Mode 
ins  Extreme,  als  sie  diese  Sammetpflaster  noch  mit  Diamanten 
besetzte. 
Dtr  Schuh  Die  Chaussüre  der  Damen  war  der  bekannte  Stöckchenschuh, 
ein  Halbschuh,  der  mittels  eines  etwa  sechs  Zoll  hohen  Ab- 
satzes den  Hacken  in  die  Höhe  schob  und  den  ganzen  Fuß 
nach  vorn  drängte,  wo  die  Zehen  in  scharfer  Spitze  zusamrhen- 
gepreßt  wurden.  Der  Schuh  bestand  aus  Stofif,  aus  Seide  oder 
Leinen  und  wurde  je  nach  Laune  oder  Geschmack  reich  mit  Stik- 
kerei  verziert,  denn  der  kurze  Reifrock  ließ  ihn  ja  voll  zur  Geltung 
kommen.  Lederschuhe  gab  es  nicht.  Das  schöne  Geschlecht  ging 
selten  odernie  aus.  Der  Hauptschmuck  des  Schuhes  bestand  nächst 
seiner  Kleinheit  in  den  Schuhschnallen  oder  Schleifen,  die 
ihn  vorn  zu  schließen  schienen.  Eine  Zeitlang  hatte  man  in 
Paris   auch    an   der   Naht   des   Hakens   kleine   Schmuckstücke, 


1/8 


die  man  »Venez-y-voir«  nannte  und  gern  aus  Smaragden 
wählte.  Man  kann  sich  wohl  denken,  daß  es  für  die  Damen, 
die  in  ein  enges,  tiefschnürendes  Korsett  eingepanzert  waren 
und  turmhohe  Frisuren  zu  balancieren  hatten,  keine  geringe 
Aufgabe  war.  sich  in  diesem  Schuhwerk  zu  bewegen.  An 
schnelles  Gehen  war  überhaupt  nicht  zu  denken.  Als  Casanova 
einmal  in  \'ersailles  den  Damen  der  Königin  begegnet,  die 
aus  irgendeinem  Grunde  genötigt  waren,  sich  sehr  rasch  in 
einen  anderen  Raum  zu  begeben,  sieht  er  sie  mit  hochgeho- 
benen Reifröcken  in  halb  huckender  Stellung  mit  krummen  Knien 
eilends  davonhatschen,  und  als  er,  der  die  Damen  dieses  Hofes 
überhaupt  sehr  häßlich  fand,  sich  erkundigte,  warum  sie  sich 
gar  so  grotesk  bewegen,  hört  er,  das  müßten  sie,  sonst  fielen 
sie  unfehlbar  der  Länge  nach  hin.  Der  Zustand  der  Straßen 
erlaubte  ja  auch  in  damaliger  Zeit  gar  kein  Ausgehen  zum 
\'ergnügen.  In  London  trugen  die  Frauen,  mußten  sie  aus 
dem  Hause,  hohe,  runde,  eiserne  Maschinen,  wie  kleine  Stelzen, 
am  Fuß,  sonst  begnügte  man  sich  im  Garten  oder  auf  den 
seltenen  Promenaden  ein  wenig  herumzutrippeln.  Erst  als 
der  berühmte  Arzt  Tronchin  es  unternahm,  die  Krankheiten 
dadurch  zu  heilen,  daß  er  ihnen  mittels  einer  naturgemäßen 
Lebensweise  vorbeugte,  und  den  Frauen  als  Heilmittel  gegen 
das  Modeleiden  der  Vapeurs  fleißige  Bewegung  in  freier  Luft 
empfahl,  griffen  sie  zu  den  langen  Stöcken  aus  spanischem 
Rohr  und  »tronchinierten«  ein  wenig  damit  [was  wir  heute 
müllern  nennen].  Ein  anderer  Arzt,  Roussel.  wandte  sich  als- 
bald heftig  gegen  diesen  Gebrauch,  denn  das  unnütze  Spazieren- 
gehen schade  dem  Temperament  der  Frauen  und  verwirre 
ihre  Ideen.  In  den  achtziger  Jahren  nahmen  die  Damen  den 
Herrenschuh  mit  flachem  Absatz  an,  der  sich  im  letzten  Jahr- 
zehnt zur  völlig  absatzlosen  flachen  Sandale  wandelt.  Der 
immer  offen  getragene  Hals  hätte  eigentlich  nach  Schmuck 
verlangen  sollen,  aber  das  war  merkwürdigerweise  nicht  der 
Fall.  Man  trug  zur  Zeit  Ludwigs  XV.  um  den  Hals  gern 
kleine  Rüschen  aus  Spitze  oder  Band,  aber  weder  Steine  noch 
Perlen.  Diamanten  besetzten  die  Korsage  und  hingen  in  rie- 
sigen Fassungen  in  den  Ohren,  krönten  auch  die  Frisur,  aber 
Hals  und  Busen  blieben  frei  von  ihnen,  an  den  Armen  trug 
man  Perlenschnüre  mit  einem  Medaillon  als  Schloß,  im  Gürtel 
gern  zwei  Uhren  mit  Berlock  wie  die  Herren.  Unter  Ludwig  XVI. 

179  12- 


Francesco  Bartolozzi,  Comte  de  Caglloitro^  lySi 

trugen  Frauen  und  Mädchen  gern  ein  schmales  Band  um  den 
Hals,  an  dem  vorn  am  langen  Ende  ein  Kreuzchen  oder  Me- 
daillon hing.  Als  die  Empfindsamkeit  Mode  war,  fertigte  man 
Schmucksachen  aus  Haaren  und  trug  sie  als  Ringe,  Armbänder 
und   Ketten. 


i8o 


Während  die  Damenmode  zur  Zeit  Ludwigs  XIV.  Tod 
eine  so  völlige  Veränderung  erleidet,  hat  die  Herren- 
kleidung ihre  Form  noch  lange  beibehalten.  Der  Mann 
trug  in  den  letzten  Jahren  der  Regierung  des  Sonnenkönigs 
einen  Rock,  der  etwa  bis  zum  Knie  reichte,  Justeaucorps  oder 
Surtout  hieß  und  geschlossen  getragen  wurde,  so  daß  man 
die  darunter  getragene  fast  ebenso  lange  Schoßweste  gar  nicht 
oder  kaum  sah.  Dazu  gehörte  ein  kurzes  Beinkleid  und  Knie- 
strümpfe, die  .über  der  Hose  befestigt  wurden.  Ein  spitzen- 
besetztes Halstuch  vervollständigte  den  Anzug.  Dieses  wurde 
seit  1692  in  einer  besonderen  Form  getragen,  der  man  den  Namen 
»Steinkerke«  beilegte.  Als  die  französische  Armee  unter  dem 
Marschall  von  Luxembourg  gegen  die  Holländer  unter  dem 
Prinzen  von  Oranien  im  Felde  lag,  da  überfielen  die  letzteren  eines 
Morgens  die  Franzosen  bei  dem  Dorfe  Steinkerke  so  plötzlich,  daß 
die  französischen  Kavaliere  keine  Zeit  mehr  fanden,  ihre  Hals- 
tücher in  die  üblichen  eleganten  Schleifen  zu  binden,  sondern 
sich  begnügen  mußten,  sie  umzuschlingen  und  die  langen  Zipfel 
schnell  durch  ein  Knopfloch  des  Rockes  zu  stecken.  Nachdem 
der  Ueberfall  mit  einem  glänzenden  Siege  der  Franzosen  endete, 
trugen  die  Offiziere  ihre  Halstücher  fortan  nie  mehr  anders 
und  machten  ihre  Manier  sofort  zur  allgemeinen  Mode,  der 
sogar  die  Damen  folgten.  Die  Steinkerke  ist  bis  tief  in  das 
18.  Jahrhundert  hineingetragen  worden.  Der  Schnitt  des  Herren- 
anzuges änderte  sich  nach  Ludwigs  XIV.  Tod  eigentlich  nur 
dadurch,  daß  man  die  Schöße  des  Rockes  und  der  Weste  mit 
Wachstuch,  Crin  oder  Papier  abzusteifen  begann,  so  daß  sie 
von  den  Hüften  ebenso  abstanden  wie  der  Reifrock  von  der 
Taille  der  Damen.  Dadurch  öffnete  sich  vorn  der  Rock,  den 
man  von  nun  an  nicht  mehr  zuknöpfte  und  ließ  die  Weste 
sehen,  die  immer  noch  mit  langen  Schößen  bis  auf  die  Hälfe 
des  Oberschenkels  reichte.  Die  Aermel  des  Rockes  endigten 
am  Ellenbogen  in  einer  weiten  Stulpe,  aus  welcher  der  Hemd- 
ärmel bis  an  das  Handgelenk  hervorbauschte,  wo  er  in  einer 
Spitzenmanschette  endigte.  Erst  seit  etwa  1730  beginnt  "man 
die  Kniehose  über  dem  Wadenstrumpf  mit  einer  Schnalle  zu 
schließen  und  hat  dadurch  jenes  Kostüm  hergestellt,  das  man 
bis  etwa  1760  getragen  hat.  Für  den  Soldaten  waren  die  langen 
Röcke  mit  den  abstehenden  Schößen-  unpraktisch  und  so  be- 
ginnt man,  zuerst  zur  Erhöhung  der  Beweglichkeit  des  Militärs 

181 


Utietine  Aubry,  Abschied  von  der  Avuite 

die  Schöße  vorn  zu  beschneiden,  so  daß  das  Bein  in  seiner 
Bewegung  nicht  gehemmt  wird.  Unter  dem  Einfluß  des  Militärs 
nimmt  auch  der  Rock  des  Zivils  langsam  die  gleiche  Form 
an.  Man  schneidet  die  Rockschöße  vorne  schräg  ab,  die  Aermel 
werden  lang  und  eng  und  so  entsteht  allmählich  der  Frack. 
Während  die  Weste  in  ihren  Dimensionen  zurückgeht,  ihr 
Schnitt  enger  und  ihre  Schöße  kürzer  werden,  behält  man 
Kniestrumpf  und  Kniehose  bei  und  der  Schnitt  der  Herren- 
kleidung, der  die  ganze  zweite  Hälfte  des  i8.  Jahrhunderts 
beherrschte,  ist  fertig.  Dieses  Kostüm  war  reich  und  farben- 
prächtig, denn  im  Gegensatz  zu  heute,  wo  die  männliche 
Kleidung  in  der  Farbe  unansehnlich  geworden  ist  und  sich 
auch  in  derberer  Qualität  der  Stoffe  wesentlich  von  jener  der 
Damentoilette  unterscheidet,  waren  dazumal  beiden  Geschlech- 
tern alle  Stoffe  und  alle  Farben  gemeinsam.  Ein  verliebtes 
Mädchen  konnte  aus  ihrer  Adrienne  für  den  Schatz  einen 
Rock  schneidern,  wie  es  z.  B.  Mademoiselle  Silvestre  für  den  der 
elterlichen  Zucht  entronnenen  Philipp  Caffieri  tat.  Ludwig  XIV. 
trug  1697  ein  Habit  aus  Goldbrokat,  dick  mit  Gold  bestickt,  wäh- 

182 


IVatteau  de  Lille^  La  Loterie  Rovale 

rend  man  in  der  Folgezeit  auf  die  Brokate  verzichtete  und  den 
Luxus  mehr  in  der  kostbaren  Stickerei  suchte.  Ludwig  XV.  trug 
gelegentlich  der  dreitägigen  Festlichkeiten  zur  Hochzeit  seines 
Dauphin  drei  Kostüme,  von  denen  jedes  auf  15000  Livres  zu 
stehen  kam.  Für  ihn  entwarf  der  berühmte  Kupferstecher 
Eisen  die  Zeichnung  der  Stickereien  zu  den  Hof  kleidern,  fiel 
aber  in  dauernde  Ungnade,  als  er  die  Dummheit  beging,  für 
sich  selbst  einen  Rock  mit  den  gleichen  Verzierungen  machen 
zu  lassen  und  darin  an  den  Hof  zu  gehen.  Man  stickte  die 
Herrenröcke  und  Westen  in  Gold  und  Silber,  bunter  Seide, 
Füttern  und  Pailletten,  wobei  man  darauf  zu  achten  hatte, 
daß  Sammetkleider  reicher  gestickt  sein  mußten  als  solche 
von  Atlas.  Wenn  z.  B.  die  Weste  aus  Silber-  oder  GoldstofY 
bestand,  so  mußten  die  Aufschläge  des  Rockes  von  demselben 
Stoff  sein  und  mit  der  Stickerei  der  Weste  übereinstimmen. 
In  der  Garderobe  des  preußischen  Ministers  Freiherrn  von 
Bülow  befanden  sich  1734  außer  anderem  ein  Purpurkleid  mit 
Silber  bestickt  und  tafifetene   Weste   dazu ;    ein   kaffeebraunes 


183 


Kleid  mit  goldenen  Troddeln;  ein  olivefarbenes  Kleid  ganz 
mit  Silber  bestickt.  Für  die  Bestickung  eines  seiner  Kleider 
mit  Silber  (man  nannte  damals  auch  den  Herrenanzug  »Kleid«) 
hatte  Herr  von  Bülow  180  Taler  gegeben,  für  eine  einzelne 
Prachtweste  70  Taler,  und  das  war  verhältnismäßig  billig.  In 
einer  Rechnung,  die  der  Schneider  Langner  1740  Friedrich  dem 
Großen  überreichte,  erscheint  der  Macherlohn  eines  Rockes 
mit  10  Talern,  der  Stoff  mit  20  Talern,  der  Besatz  mit  sil- 
bernen Marlytressen  dagegen  mit  85  Talern.  Der  Silbersticker 
Jean  Pally  berechnete  dem  Könige  für  die  in  Silber  ausge- 
führte Stickerei  eines  blauen  Rockes  und  ebensolcher  Weste 
1000  Taler,  wo  man,  um  zum  heutigen  Geldwert  dieser  Summe 
zu  gelangen,  mit  fünf  multiplizieren  muß.  Friedrich  H.,  der 
als  junger  Mann  auf  einen  prächtigen  Anzug  Wert  legte  und 
in  der  Farbe  desselben  blau  und  silber  anscheinend  ebenso 
bevorzugte,  wie  bei  dem  Bezug  seines  Mobiliars,  ließ,  um 
immer  schöne  Stickereien  zu  erhalten,  Künstler  von  weither 
kommen.  So  finden  wir  in  seinen  Diensten  einen  böhmischen 
Sticker,  Heynitschek,  und  später  Joseph  Genelli  aus  Kopen- 
hagen, den  Großvater  des  berühmten  Bonaventura  Genelli. 
Die  Verschwendung  in  Farbe  und  Stickereien  nahm  noch 
zu,  so  daß  Melchior  Grimm  im  April  1760  aus  Paris  schreibt: 
»Die  Pracht  der  Anzüge  bei  der  Hochzeit  des  Herzogs  von 
Chartres  war  bis  zum  Exzeß  übertrieben.  Wohin  soll  dieser 
Überschwang  des  Luxus  noch  führen?  Vor  15  Jahren  erfand 
man  für  den  Männeranzug  Stoffe  von  drei  Farben  und  glaubte, 
eine  so  frivole  Mode  könne  nicht  von  Dauer  sein.  Seitdem 
aber  hat  man  das  Geheimnis  ergründet,  für  eine  ganze  Palette 
von  Farben  aller  möglichen  Schattierungen  auf  dem  Rücken 
eines  Mannes  Platz  zu  finden.  Heute  ist  man  schon  soweit,  die 
Gold-  und  Silberstickereien  ebenso  abzutönen  und  mit  Pailletten 
zu  vermischen.  Wäre  ich  König  von  Frankreich,  so  würde  ich 
für  meine  Person  diese  gotischen  Moden  ablegen,  die  aus  einem 
bekleideten  Franzosen  das  unwürdigste,  unbedeutendste  und 
lächerlichste  Geschöpf  machen,  das  jemals  auf  zwei  Beinen  ging.« 
Um  das  Jahr  1780  war  die  Farbenzusammenstellung  des  Her- 
renanzuges etwa  folgende:  Blauer  Frack,  lila  Weste,  gelbe 
Hose ;  nußbrauner  Frack  mit  Kragen  von  schwarzem  Sam- 
met  und  einer  Doppelreihe  Knopflöcher,  die  mit  Gold  einge- 
faßt waren,   kirschrote,   goldgalonierte   Weste,   schwarze  Sam- 

184 


jfamnet,  L' indiscretion 


Die  Mode,  18.  Jährt.  39 


y aninet,  Lhweu  difficile,    lySy 


Die  Mode,  18.  Jahrh.  40 


methose,  grauseidene  Strümpfe.  Man  benähte  auch  die  Röcke 
mit  goldenen  und  silbernen  Tressen,  ein  Besatz,  der  gewisse 
Gefahren  mit  sich  brachte.  In  Paris  war  es  nämlich  eine  Zeit- 
lang Mode  geworden,  daß  die  Damen  als  Handarbeit  im  Salon 
Tressen  aufdröselten  und  den  gewonnenen  Goldfaden  verkauf- 


Anton  Hickd,    Charles  yanies  Fox,    englischer  Staats- 
vtinister 


ten.  Wenn  sie  nun  Mangel  an  Stoff  hatten,  so  fielen  sie  mit 
ihren  Scheren  über  die  anwesenden  Herren  her.  schnitten  ihnen 
mit  sanfter  Gewalt  die  Tressen  von  den  Röcken  und  »parfi- 
lierten«  sie.  Als  die  Mode  einfacher  wurde,  behielt  man  Sticke- 
reien und  Galons  den  Hofkleidern  vor,  besetzte  aber  dafür 
die  Fräcke  mit  Knöpfen  so  groß  wie  ein  Fünffrankentaler. 
Man  fertigte  sie  aus  kostbaren  Stoffen  oder  trug  darin  Minia- 
turgemälde unter  Glas,  z.  B.  eine  Folge  der  Medaillen  der  römi- 
schen Kaiser,  die  ]\Ietamorphosen  Ovids,  die  berüchtigten  Po- 
sturen  Aretins,  Rebusse  u.  a.  Der  Herzog  von  Artois  trug 
einst  statt  der  Knöpfe  eine  ganze  Garnitur  von  Uhren  und  wußte. 

185 


wie  ein  Witzbold  sagte,  doch  nie,  was  die  Glocke  geschlagen 
hatte.  Diese  Knöpfe  waren  so  teuer,  daß  ein  damit  besetzter 
ganz  einfacher  Frack  ebensoviel  kostete  wie  ein  gestickter 
Giieis  oder  galonierter.  Zur  gleichen  Zeit  trieb  man  auch  einen  großen 
Luxus  in  Phantasiewesten.  Die  Baronin  Oberkirch  schreibt, 
daß  ein  eleganter  Herr  sie  dutzend-  oder  gar  hundertweise 
besaß.  1786  war  es  Mode,  immer  ein  Dutzend  Westen  mit 
Szenen  aus  den  beliebtesten  Theaterstücken :  Figaros  Hoch- 
zeit, Richard  Löwenherz  u.  a.  zu  kaufen.  1787  trug  man  in 
Paris  solche,  worauf  <lie  Eröffnung  der  Notabeinversammlung 
durch  Ludwig  XVL  nach  einem  Kupferstich  gestickt  war.  Man 
hatte  die  Westen  auch  in  gewirkten  Stofifen,  was  etwas  bil- 
liger war.  Da  gab  es  z.  B.  violetten  Moiree  mit  grünen  Afifen, 
die  silberne  Sonnenschirme  trugen;  rauchbraune  mit  weiß  und 
grünen  Bordüren,  auf  denen  sich  die  Tiere  der  hohen  oder 
niederen  Jagd,  Fischerei  und  Vogelfang  u.  dgl.  befanden.  Am 
Das  Beinkleid  geringsten  war  die  Veränderung,  welche  das  Beinkleid  durch- 
gemacht hat.  Man  schloß  es  vorn  durch  einen  Latz,  was  man 
in  Frankreich  »au  pont«  oder  »ä  la  Bavaroise«  nannte.  Die 
beiden  Schlitze  rechts  und  links  suchte  man  durch  zwei 
Uhrketten  zu  verstecken,  an  denen  viele  Berlocks  hingen. 
Beim  Gehen  hatte  der  Träger  darauf  zu  achten,  daß  Ketten 
und  Anhänger  ein  liebliches  Klingeln  hören  ließen.  Man 
konnte  im  Hervorbringen  desselben  in  Paris  eigenen  Unter- 
richt nehmen.  Gleichzeitig  versuchte  man,  an  Stelle  dieser 
zweischlitzigen  Klappe  einen  Schlitz  einzuführen,  eine  Form, 
die  in  Spanien  zum  Gegenstand  der  Verfolgung  von  selten 
der  Inquisition  gemacht  wurde.  Man  verbot  solche  Bein- 
kleider, bestrafte  nicht  nur  die  Träger,  sondern  auch  die 
Schneider,  die  sie  machten.  Als  alles  nichts  half,  bediente 
sich  der  Großinquisitor  von  Spanien  desselben  drastischen 
Mittels,  welches  einst  ein  Pariser  Kürschner  mit  Erfolg  an- 
gewendet hatte,  um  den  Herren  das  Tragen  von  Muffen 
aus  Stoff  statt  solcher  aus  Pelzwerk  zu  verleiden.  Dieser 
hatte  eine  prachtvolle,  reich  besetzte  Muffe  aus  Sammet  an- 
fertigen lassen  und  schenkte  sie  dem  Henker  mit  der  Be- 
dingung, sie  bei  der  nächsten  Hinrichtung  auch  öffentlich 
zu  tragen.  »Monsieur  de  Paris«  tat  das  mit  Vergnügen  und 
da  kein  anständiger  Mensch  das  tragen  konnte,  was  der 
Henker  trug,    waren    die   Stoffmuffen   von    dem   Tage   an   für 

186 


Thomas  Gainsborough ,  George  IV.  als  Prince  of  Wales,  178s 

Schabkunst  von  Raph.  Smith 


die  Pariser  eleganten  Herren  erledigt.  Man  griff,  wie  gesagt, 
in  Spanien  zu  dem  gleichen  Mittel  und  ließ  einen  Erlaß 
an  die  Kirchtüren  anschlagen,  der  das  Tragen  von  Hosen 
mit  Schlitz  dem  —  Henker  —  erlaubte!  Friedrich  der  Große 
griff  zu  nicht  minder  drastischen  Mitteln,  wenn  er  den  Herren 
vom  Hofe  eine  Mode  verleiden  wollte.  1770,  als  die  großen 
Herrenmuffen  Mode  waren,  sah  er  in  seinem  Vorzimmer  ein 
schönes   Exemplar  liegen,   das   einem  Herrn   von  Kameke  ge- 

188 


hörte.  Er  nahm  die  Muffe  und  warf  sie  in  das  Kaminfeuer, 
damit  waren  sie  bei  Hofe  aus  der  Mode. 
Die  Kniehose  blieb  dabei  halbweit.  Erst  nach  1780  wurde  es 
Mode,  sie  ganz  enganliegend  zu  tragen,  so  daß  sie  die  Schenkel 
deutlich  modellierte.  »Der  Herr  steckt  darin  wie  in  einem  Hand- 
schuh«, schreibt  Mercier.  »Adam  war  mit  einem  Feigenblatt 
bedeutend  anständiger  gekleidet.«  Dies  war  eine  Mode,  welche 
der  Papst  im  Gebiete  seiner  weltlichen  Macht  alsbald  verbot. 
Der  Herzog  von  Artois  trug  sie  so  eng,  daß  er  sie  nur  an- 
legen konnte,  wenn  er  in  das  Kleidungsstück,  das  mehrere 
Bediente  halten  mußten,  von  oben  hineinsprang.  Von  dem 
Herzog  von  Guines  erzählt  der  Herzog  von  Levis,  daß  er  sich 
zu  jedem  Anzug  zwei  Paar  Beinkleider  machen  ließ,  eins,  in 
dem  er  sitzen  konnte,  ein  anderes,  in  dem  das  nicht  möglich 
war.  Kaiser  Alexander  I.  von  Rußland  konnte  sich,  wie  die 
Gräfin  Potocka  erzählt,  nicht  setzen  aus  Furcht,  die  Hosen 
zu  zerplatzen.  Hosenträger,  wie  die  Herren  sie  heute  tragen, 
kamen  erst  1792  allgemein  auf.  Vorher  bedienten  sich  nur 
Greise  und  Kinder  derselben. 

Zur  Vervollständigung  der  großen  Toilette  gehörten  die, Man-  Spitztn 
schetten  und  das  Halstuch,  welches  später  durch  das  Gefältel 
des  Jabots  ersetzt  wurde.  Mit  den  weiten  und  langen  Man- 
schetten, die  über  die  Hände  fielen,  und  Pleureuses  genannt 
wurden,  trieb  man  einen  kolossalen  Luxus.  Mercier,  der  eine 
Beschreibung  von  Paris  und  den  Parisern  jener  Zeit  hinterlassen 
hat,  schreibt,  daß  man  ein  schmutziges  oder  gar  kein  Hemd, 
aber  kostbare  Spitzen  trug,  sagte  doch  das  18.  Jahrhundert: 
den  Mann  erkennt  man  an  seinen  Spitzen.  Das  ist  in  einem 
Fall  sogar  im  Wortsinn  wahr  geworden.  Als  während  der  Pöbel- 
revolte, die  Lord  Gordon  1780  angezettelt  hatte,  London  an 
36  Stellen  zugleich  in  Flammen  stand,  die  Gefängnisse  gestürmt 
und  ihre  Insassen  in  Freiheit  gesetzt  wurden,  warf  eine  Rotte 
Übeltäter  den  Earl  of  Effingham  in  die  Themse,  wo  er  ertrank. 
Seine  Leiche  konnte  nur  an  den  Spitzenmanschetten  erkannt 
werden,  die  er  getragen.  Der  Erzbischof  von  Cambray  besaß 
1764  vier  Dutzend  Paare  Manschetten  von  Malines  und  Valen- 
ciennes-Spitzen,  Ludwig  XVL  1792  noch  57  Paar  Spitren- 
manschetten.  Man  trug  sie  so  breit,  daß  der  sparsame  Fried- 
rich der  Große  vor  den  Augen  de  Gatts  einige  Paar,  die  er 
eben   erhalten  hatte,   mit  der  Papierschere   auseinanderschnitt. 

189 


Die  Herren  trieben  in  der  Verwendung  von  Spitzen  den  glei- 
chen Aufwand  wie  die  Damen.  Der  Herzog  von  Penthi6vi*e 
zahlte  1738  für  ein  spitzenbesetztes  Nachthernd  520  Livres. 
Casanova  trug  Spitzenhemden  für  50  Louisd'ors  und  reiche 
Leute  ließen  aXich  die  Livreen  ihrer  Domestiken  reich  mit  Spit- 
zen besetzen.  Als  der  englische  Gesandte  Lord  Stairs  1719  in 
Paris  einzog,  waren  die  Kleider  seiner  Dienerschaft  mit  Silber- 
spitzen  ganz  bedeckt. 

Mäntel  waren  durchaus  kein  allgemein  gebräuchliches  Klei- 
dungsstück, konnte  doch  Malherbe  sich  nicht  anders  gegen  die 
Kälte  schützen,  als  daß  er  14  Hemden  und  12  Paar  Strümpfe 
übereinander  zog.  Unter  Ludwig  XIV.  hatte  man  den  ärmel- 
losen Radmantel  gehabt,  der  etwa  zwei  Finger  breit  über  das 
Knie  hinab  reichte  und  dessen  einer  Zipfel  über  die  Schulter 
geschlagen  wurde.  Diese  Art  Mäntel  aus  rotem  Stoff  blieb  in 
Venedig  noch  lange  als  Inkognitokleidung  in  Gebrauch.  Man 
verdeckte  sein  Gesicht  zur  Hälfte  damit  und  ersparte  auf  diese 
Weise  alle  Komplimente.  Die  Herrenüberzieher  mit  Ärmeln 
»Casaque  d'hiver  ä  la  Brandebourg«  genannt  und  die  Redingote, 
die  1725  aus  England  nach 
Paris  kam,  durfte  man  an- 
fangs nur  auf  Reisen  tra- 
gen, beileibe  nicht  in  der 
Stadt,  Keyßler  findet  es 
z.  B.  sehr  lächerlich,  daß 
die  Leute  in  Mailand  bei 
schlechtem  Wetter  Regen- 
mäntel überziehen. 
Der  Degen  Unerläßlich  gehört zurKlei- 
dung  des  Kavaliers  der  De- 
gen, den  das  ganze  Jahr- 
hundert hindurch  kein  Herr 
der  besseren  Gesellschaft 
entbehren  konnte.  In  der 
Zeit  der  weit  abstehenden 
Röcke  trug  man  ihn  hori- 
zontal ;  englische  Degen  mit 
Griffen  von  brillantiertem 
Stahl  waren  die  kostbarsten. 
Es  ist  so  gut  wie  selbstver-      v.  Göz,  Supplement  des  Graceseffanees^ij  83 


190 


ständlich,  daß  das  beständige  Tragen  einer  Waffe  zum  Ge- 
brauch derselben  ordentlich  herausfordern  mußte,  und  wie 
seine  Vorgänger  ist  denn  auch  das  i8.  Jahrhundert  noch  er- 
füllt vom  Lärm  der  Duelle.  Casanova  beschwert  sich  einmal 
darüber,  daß  man  jeden  Augenblick  bereit  sein  müsse,  wegen 
irgendeiner  Bagatelle  den  Degen  zu  ziehen,  denn  für  rauflustige 
und  händelsüchtige  Leute  war  ein  Vorwand,  sich  zu  schlagen, 
bald  gefunden.  Herr  von  Blücher  ließ  seine  Söhne,  darunter 
den  späteren  Fürsten,  in  die  Welt  ziehen,  ohne  ihnen  etwas 
anderes  mitzugeben,  als  den  Rat.  sich  vor  allem  und  immer 
in  Avantage  zu  setzen  d.  h.  jeden  Gegner  sofort  zu  schlagen. 
Zweikämpfe,  die  aus  irgendeinem  Grunde  nicht  sofort  aus- 
getragen werden  konnten,  blieben  oft  Jahr  und  Tag  in  der 
Schwebe,  wie  das  Duell  zwischen  dem  Grafen  Max  Adam  Zobor 
und  dem  schwedischen  Gesandten  am  kaiserlichen  Hof  Hen- 
ning V.  Strahlenheim.  Der  ungarische  Graf  hatte  in  Gegen- 
wart des  anderen  geäußert,  auf  die  Gesundheit  des  Großtürken, 
des  Rakoczy  und  des  Königs  von  Schweden  trinke  kein  ehr- 
licher Mann,  hatte  ä  tempo  ein  paar  ordentliche  Ohrfeigen 
erhalten  und  hatte  dann  alle  Mühe,  sich  von  dem  durch  das 
Völkerrecht  geschützten  Gesandten  Genugtuung  zu  verschaffen. 
Die  Duellwut,  die  besonders  auf  den  Universitäten  grassierte, 
auch  Goethe  hatte  das  seine  1767  in  Leipzig  mit  dem  Livländer 
Gustav  Bergmann,  ergriff  die  Theologen  so  gut  wie  die  Stu- 
denten anderer  Fakultäten.  Besonders  berüchtigt  waren  in 
Deutschland  die  Universitäten  Jena  und  Gießen.  Man  hat  das 
Tragen  des  Degens,  wie  es  in  Hannover  schon  seit  1731  den 
Lakaien.  Handwerkern,  Gesellen,  der  studierenden  Jugend  u.  a. 
untersagt  war,  auch  in  Halle  1750  den  Studenten  überhaupt 
verboten.  Denn  daß  ein  Student  Duell  kniff,  wie  Bürger  1770 
in  Göttingen,  der  den  Rektor  um  seinen  Schutz  anfleht,  als 
ihn  der  Mecklenburger  Jakob  Ludwig  Ratje  beleidigt  hatte, 
dürfte  wohl  ein  Ausnahmefall  geblieben  sein.  Das  Duellieren 
war  indessen  durchaus  kein  Vorrecht  ungebärdiger  Jugend. 
Im  Jahre  1729  beabsichtigten  die  Könige  Friedrich  Wilhelm  L 
von  Preußen  und  Georg  IL  von  England  allen  Ernstes,  ihre 
Differenzen  mittels  eines  Zweikampfes  im  Angesicht  ihrer  Heere 
zu  erledigen,  wie  einst  die  trojanischen  Helden.  Der  regierende 
Fürst  Leopold  von  Anhalt  forderte  den  General  von  Grumb- 
kow,  konnte  seinen  Gegner  aber,  wie  die  Prinzessin  Wilhelmine 

191 


erzählt,  nicht  zum  Stehen  bringen.  Ganz  allmählich  setzten 
sich  mildere  Sitten  durch.  Wenn  in  Wien  bei  Beginn  des  Jahr- 
hunderts in  einem  Duell  noch  beide  Gegner  Graf  Collalto  und 
Graf  Sinzendorf  fallen,  wenn  der  Fürst  Czartoryski  die  Hand 
seiner  reichen  Geliebten  nur  dadurch  gewinnen  kann,  daß  er 
seinen  Mitbewerber  um  ihre  Gunst  im  Duell  tötet,  so  ist  das 
Duell  am  Ende  des  Jahrhunderts  ein  Schauspiel  geworden, 
dessen  Aufführung  in  Paris  z.  B.  1790  30  Wagen  voll  Damen 
beiwohnen.  Lauckhard  war  1777  in  Straßburg  schon  aufge- 
fallen, wie  fein  und  manierlich  die  dortigen  Offiziere  mit  ein- 
ander verkehrten.  Er,  der  den  rohen  Ton  deutscher  Univer- 
sitäten gewöhnt  war,  schob  das  feine  Benehmen  auf  den 
Wunsch,  Duelle  möglichst  zu  vermeiden.  Diese  Gesinnung 
brach  sich  jedenfalls  Bahn ;  denn  1792  erließen  gerade  in  dem 
ehedem  so  berüchtigten  Jena  300  Studenten  einen  Aufruf  an 
die  anderen  Universitäten  wegen  gänzlicher  Abschaffung  der 
Zweikämpfe. 

Dieser  Vorschlag  mußte  ihnen  um  so  natürlicher  erscheinen, 
als  mit  der  weiten  Verbreitung  des*  englischen  bürgerlichen  An- 
zugs das  Degentragen  außer  Gebrauch  kam.  In  England  trugen 
Fußgänger  nie  Degen.  Er  gehörte  dort  nur  zur  Gala  und  in 
der  Tat  paßte  er  schlecht  zu  dem  legeren  Schnitt  des  englischen 
Anzugs.  In  Deutschland  allerdings  fiel  es  dem  schwedischen 
Reisenden  Björnstahl  noch  1774  als  bemerkenswert  auf,  daß 
der  Fürst  Karl  von  Nassau-Usingen  ohne  Degen  ging. 
Das  Kostüm  der  Herren  war  in  jeder  Beziehung  außerordent- 
lich reich  und  leistete  der  Prunksucht  und  der  Verschwen- 
dung jeden  denkbaren  Vorschub.  Der  Aufwand,  den  die 
Herrentoilette  erforderte,  war  nicht  geringer,  als  jener  der 
Damen,  im  Gegenteil.  Frau  v.  Sevigne  entwirft  ein  Budget 
für  ihren  Schwiegersohn,  den  Grafen  Grignan,  der  nicht  ein- 
mal in  Paris,  sondern  in  der  Provinz  lebte,  und  rechnet  dabei 
für  seine  Toilette  20000  Francs  jährlich,  für  seine  Frau  da- 
gegen nur  6000  Francs.  Ludwig  XIV.  trug  als  Garnitur  bei 
der  Audienz  des  persischen  Gesandten  1715  für  12 '/a  Million 
Diamanten  an  Rock  und  Hut.  Er  erlag  unter  der  Last  der- 
selben, schreibt  der  Herzog  von  Saint  Simon.  Der  Kurfürst 
Max  Emanuel  von  Bayern  besaß  eine  Garnitur  Diamantknöpfe, 
an  welcher  er  20  Jahre  hindurch  gesammelt  hatte.  Die  Kleider- 
garnituren August  des  Starken  in  Smaragden,    Saphiren,  Rubi- 

192 


"Q 


nen,  Diamanten,  welche  Keyßler  1729  im  Grünen  Gewölbe  zu 
Dresden  bewunderte,  können  wir  auch  heute  noch  dort  sehen 
und  schätzen.  Es  gab  Privatleute,  welche  hinter  dieser  Pracht 
nicht  zurückstanden.    Die  Garderobe  des  sächsischen  Premier- 


Heideloff- Stadler,  Carl  Eugen,  Herzog  7'on  Wih-ttemberg 


ministers  Grafen  Brühl  enthielt  500  Anzüge,  47  Pelze,  13  Muf- 
fen, 75  Degen,  102  Taschenuhren,  87  Ringe,  63  Riechfläsch- 
chen  usw.  Mr.  Damer,  der  Gatte  der  englischen  Bildhauerin, 
der  sich  täglich  mindestens  dreimal  umzuziehen  pflegte,  hinter- 
ließ 1776  eine  Garderobe  im  Werte  von  &  15000;  ein  Glücks- 
ritter wie  Casanova  erzählt  mit  Stolz  von  sich,  daß  der  An- 
zug, in  dem  er  1766  in  Lyon  ein  Fest  besucht:  Rock  von 
aschgrauem  geschorenem  Sammet  mit  Gold  und  Silber  ge- 
stickt, Uhren,  Dose,  Schuhschnallen  usw.  150000  Francs  wert 
war.  Auch  für  den  berühmten  österreichischen  Staatskanzler 
Fürsten  Kaunitz  war  die  Kleidung  eine  der  Hauptangelegen- 
heiten des  Lebens,  aber  im  Gegensatz  zu  seinem  sächsischen 
Kollegen  trug  er  sich  zwar  sehr  geschmackvoll,  aber  stets  ein- 
fach,  nie   reich   oder  gestickt.      Wenn    nun    auch    nicht  jeder 


D£e  M  ode.   18.  Jahrh.  2.  A. 


193 


Herr  zu  solchen  Ausgaben  gezwungen  war,  so  blieb  doch  für 
solche,  die  der  besseren  Gesellschaft  angehörten,  die  Toilette 
immer  höchst  kostspielig.  Am  Hofe  der  1740  gestorbenen  Kaiserin 
Anna  war  es  verboten,  zweimal  in  dem  gleichen  Anzug  bei  Hof 
zu  erscheinen.  Wer  da  von  den  Herren  etwa  nur  3000  Rubel 
im  Jahr  für  seine  Toilette  auszugeben  hatte,  der  spielte  eine 
Hof-  ärmliche  Figur.  Am  kurfürstlichen  Hofe  in  München  existier- 
mformen  ^^^  ^  -^  ^^  Galatage,  an  denen  die  Hofleute  jedesmal  in  einem 
anderen  Anzug  kommen  mußten.  Da  war  es  natürlich  eine 
große  Erleichterung  für  sie,  als  der  Kurfürst  Max  Joseph  HL 
für  den  Aufenthalt  in  Nymphenburg  eine  besondere  Hofuni- 
form einführte,  die  aus  einem  grünen  Rock  mit  weißen  Auf- 
schlägen und  weißer  Weste  bestand.  Ebenso  hatte  der  Land- 
graf von  Hessen-Kassel  für  jedes  seiner  Schlösser  besondere 
Uniformen  eingeführt.  Die  Hofuniform,  die  Maria  Theresia 
für  Laxenburg  vorschrieb,  bestand  für  die  Damen  aus  roten, 
Silber-  oder  goldgewirkten  Roben  mit  einem  Ausputz  von  Blon- 
den, für  Herren  in  Fracks  von  rotem  Tuch  nebst  grünen 
goldbordierten  Westen.  Die  Dresdener  Hofuniform  war  für 
die  Damen  Weiß  mit  Gold,  für  die  Herren  Scharlach  mit 
Gold.  Den  Herren,  die  ihn  bei  seinen  Reisen  auf  die  ver- 
schiedenen kleinen  Lustschlösser  begleiteten,  gab  Ludwig  XV. 
1748  eine  Hofuniform  in  Grün  und  Gold.  Katharina  H.  schrieb 
1783  den  Herren  Hofuniformen  in  der  Farbe  ihrer  Provinzen 
vor,  gleichzeitig  nahm  sie  auch  den  Damen  das  Modekleid 
und  gab  ihnen  einen  russischen  Kaftan  von  rotem  Sammet. 
Manche  Privatpersonen  in  außergewöhnlicher  Stellung  machten 
das  nach.  So  führte  die  Pompadour  in  ihrem  Schlößchen  Bellevue 
Hofuniformen  der  Herren  von  rotem  Tuch  ein,  der  Herzog  von 
Choiseul  erfand  für  Chanteloup  eine  Uniform  in  Grün  mit  gol- 
denen Brandebourgs.  Andere  kleideten  sich  aus  Ersparnisrück- 
sichten als  Abbes,  schwarz  mit  kurzem  Mäntelchen  und  Kra- 
gen, wie  z.  B.  Herder  während  seiner  Reise  mit  dem  Prinzen 
von  Schleswig  oder  Winckelmann  in  Rom,  wo  überhaupt  alle 
Welt  bis  zum  Ofenheizer  des  Papstes  hinunter  als  Abbate 
gekleidet  ging.  Wer  von  Herren  aber  die  halb  geistliche  Klei- 
dung des  Abbe  nicht  annehmen  konnte,  der  gab  vor,  in  Trauer 
zu  sein.  So  mokiert  sich  der  Abbe  Galiani  einmal  über 
die  reisenden  Kavaliere,  die  sich  aus  Geiz  immer  in  Trauer 
kleideten. 

194 


Andre   Vincent^  Kreidezeichnung 


195 


13* 


Gainsboroughy  Porträtstudie 


196 


Zu  Hause  legte  man  die  kostbaren  gestickten  Kleider  natür- 
lich ab,  wenn  man  deswegen  auch  noch  nicht,  wie  Lauck- 
hards  Freunde  im  Semlerschen  Hause  zu  Halle  gleich  ganz 
nackt  zu  gehen  brauchte;  man  bediente  sich  der  Schlafröcke, 
die  im  i8.  Jahrhundert  für  Herren  Mode  werden.  Man  trug 
sie  nicht  nur  im  Kreise  der  Familie,  sondern  durfte  auch  Be- 
suche darin  empfangen,  wie  Gottsched  in  einem  gründamast- 
nen,  rotgefütterten  Schlafrock  Goethes  Visite  annimmt.  Un- 
zählige Porträts  jener  Zeit  zeigen  uns  denn  auch  Gelehrte, 
Künstler,  Musiker  u.  a.  im   Schlafrock. 

Unter  Neglige  verstand  man  damals  jeden  Anzug,  der  nicht  DerengUscht 
für  Besuch  bei  Hofe  oder  große  Gesellschaft  bestimmt  war,  ""^ 
also  den  einfachen  Alltagsanzug  und  je  weiter  der  Kreis  der- 
jenigen wurde,  welche  den  Verkehr  an  Höfen  oder  in  höfischen 
Kreisen  nicht  suchten  oder  die  großen  Kosten,  welche  der 
französische  Anzug  verursachte,  nicht  erschwingen  konnten,  je 
mehr  die  bürgerliche  Gesellschaft  an  Selbstgefühl  gewann,  desto 
größer  wurde  auch  die  Anzahl  jener,  die  das  bürgerliche  Ne- 
gligekleid dauernd  dem  höfischen  vorzogen.  Wie  eine  Reak- 
tion gegen  das  prunkvolle  und  kostspielige  französische  Hof- 
kleid beginnt  das  einfache  Gewafcid  des  englischen  Bürgers  sich 
in  Europa  auszubreiten,  im  Gefolge  des  Siegeszuges,  den  die 
englische  Literatur  über  den  Kontinent  hält.  Der  Rock  kehrt 
wieder,  bequem  im  Schnitt,  Tuch  statt  Seide  oder  Sammet, 
also  dauerhaft  im  Stoff;  dunkel-  statt  hellfarbig,  also  praktisch 
im  Tragen.  Als  der  preußische  Gesandte  von  Cocceji  1760 
aus  England  zurückkam,  kaufte  ihm  die  Prinzessin  von  Preu- 
ßen den  schwarzen  Tuchrock  ab,  den  er  sich  in  London  hatte 
machen  lassen  und  spielte  ihn  in  einer  Lotterie  unter  den  Her- 
ren des  Hofes  aus.  Zu  solchen  Tuchröcken  trug  man  lederne 
Beinkleider  und  hohe  Stiefel  und  das  Kostüm,  wie  es  Goethe 
im  Werther  vorbildlich  beschreibt,  ist  fertig.  »Es  hat  schwer 
gehalten,«  läßt  Goethe  seinen  Helden  schreiben,  »bis  ich  mich 
entschloß,  meinen  blauen  einfachen  Frack,  in  dem  ich  mit  Lotte 
zum  erstenmal  tanzte,  abzulegen.  Auch  habe  ich  mir  einen 
machen  lassen,  ganz  wie  den  vorigen,  Kragen  und  Aufschlag 
und  auch  wieder  so  gelbe  Weste  und  Beinkleid  dazu.«  Wenn 
Werther  dann  in  seinem  Abschiedsbriefe  sagt:  »In  diesen 
Kleidern,  Lotte,  will  ich  begraben  sein,«  so  war  das  für  das 
empfindsame  Geschlecht  von  damals  Grund  genug,  um  ebenso 

197 


gekleidet  sein  zu  wollen.    Es  ist  das  Gewand,  in  dem  wir  uns 
die  brausende  Jugend  der  Stürmer  und  Dränger  vorstellen  dür- 
fen,  die   Genies    der  Wertherzeit,    deren    ungestümer  Protest 
gegen  all  das  Überlebte  und  Verknöcherte  in  der  Gesellschaft 
am  heftigsten   in  der  nachlässigen  Art  zur  Geltung  kam,  wie 
sie  sich  kleideten.    Der  Genieapostel  Christoph  Kaufmann  aus 
Winterthur  ging  nicht  allein  mit  offenen  ungekämmten  Haaren, 
sondern  ließ  auch  die  Brust  bis  zum  Nabel  unbedeckt.     Ein 
junger  Mann  dagegen,  der  sich  sorgfältig  kleidete,  wie  z.  B. 
Goethe,  galt,  wie  Jerusalem  1772  aus  Wetzlar  an  Eschenburg 
schreibt,  für  einen  Geck.    Alle  diese  Genies  wähnten  sich  der 
Freiheit  schon  nahe  durch  die  Befreiung  von  Zopf  und  Perücke, 
in  denen  sie  mit  Recht  eine  starke  Beschränkung  der  indivi- 
duellen Freiheit  empfanden.    Die  sorgfältige  Frisur,  welche  die 
Toilette    eines   gut   gekleideten    Herrn    erforderte,    war   nicht 
weniger  mühevoll  herzustellen,  wie  diejenige  der  Damen  und 
ebenso  schnell  zerstört;    sie  legte  dem  Träger  den  Zwang  auf, 
sich  sehr  ruhig  und  gesittet  zu  benehmen,    wie  es  uns  u.  a. 
auch  Goethe  in  seinen  Straßburger  Erinnerungen  so  hübsch 
beschreibt. 
Die  Frisur   Unter  Ludwig  XIV.  war  die  große  Allongeperücke  aufgekom- 
men, zu  der  sich   der  Monarch  selbst  aber  erst  bequemte,  als 
er    sein    schönes   Haar,  auf  das  er    sehr   eitel    gewesen    war, 
verlor.    Wie  die  Fontange  der  Damen  stieg  die  Herrenperücke 
über  der  Stirn  hoch  auf,  meist  gescheitelt  und  in  zwei  Türme 
dressiert,  dann  floß  sie  in  langen  Locken  bis  fast  an  die  Taille. 
Man  fertigte  sie  aus  Menschenhaar,  bei  der  starken  Nachfrage 
genügte  das  aber  bei  weitem  nicht,  so  daß    man  schließlich 
zu  Roßhaar    und  Wolle    greifen    mußte.     Anfänglich    blond, 
hellbraun  oder  schwarz,    beginnt   bald  das   Pudern   derselben 
aufzukommen,    das    sich    etwa    um    das    Jahr  1700    allgemein 
durchgesetzt   hat.    Das  Beispiel   des  Sonnenkönigs   wirkte   wie 
immer  unwiderstehlich.    Niemand  war,  der  nicht  die  pomphaft 
majestätische    Wolkenperücke    angenommen    hätte,    und    das 
trotz  ihres  hohen  Preises  und  der  hohen  Steuern,  die  z.  B.  1698 
in  Preußen  darauf  gelegt  wurden.     Die  große  Allongeperücke 
war    schwer,    heiß    und  sehr    kostspielig,    1000    Taler    konnte 
eine   solche  von  blondem   Haar  kosten,  ein   Preis,  den    man, 
um  auf  den  heutigen  Geldwert  zu  kommen,  mit  fünf  multi- 
plizieren muß.    Bergholz  erzählt  in  seinen  Erinnerungen  von 

198 


Thomas  Rozvlandson,  Vauxhall  gardens^  ijSs 

dem  russischen  Großkanzler  Golowkine,  der  1721  den  Herzog 
von  Holstein  in  einem  Zimmer  empfing,  dessen  größter  Schmuck 
eine  riesige  blonde  Perücke  war.  Der  Kanzler  war  zu  geizig, 
dieses  kostbare  Stück  zu  tragen.  Sogar  die  Geistlichkeit  beider 
Konfessionen  grifif  zu  ihr.  Katholiken  mußten  sie  beim  Messe- 
lesen abnehmen,  sie  sollten  nicht  falsches  Haar  tragen,  weil 
der  Kopf  die  Weihen  empfangen  habe,  eine  Vorschrift,  welche 
Bullen  der  Päpste   Benedikt  XHL  und   Klemens  XL  wieder- 


199 


holt  einschärften.  Schließlich  brachte  man,  um  dieser  Unbe- 
quemlichkeit abzuhelfen,  in  der  Perücke  eine  kleine  Klappe  an, 
welche  während  der  Messe  gestattete,  die  Tonsur  zu  entblößen. 
Der  Kardinal  Ganganelli,  später  als  Papst  Klemens  XI V.  genannt, 
war  zu  seiner  Zeit  der  einzige  Angehörige  des  Kardinalkollegiums, 
der  keine  Perücke  trug.  Die  protestantischen  Geistlichen  hatten, 
wie  gewöhnlich,  erst  auf  das  heftigste  gegen  die  Perücke  als 
einen  neuen  Fallstrick  des  bösen  Feindes  gezetert,  als  sie  sich  dann 
aber  auch  entschlossen,  sie  aufzusetzen,  taten  sieeshauptsächlich, 
weil  es  den  katholischen  Geistlichen  verboten  war.  40  fanatische 
Flugschriften  wurden  über  die  Perückenfrage  zwischen  den 
hadernden  Konfessionen  gewechselt.  Die  Protestanten  haben 
dafür  noch  Jahrzehnte  länger  an  ihr  festgehalten  als  die  übrige 
Menschheit;  wenn  Torheiten  und  Irrtümer  nur  alt  sind,  werden 
sie  von  selbst  ehrwürdig.  Nach  dem  Tode  Ludwig  XIV.  tritt 
mit  dem  Wechsel  in  der  Kleidung  auch  ein  solcher  in  der 
Perücke  ein.  Sie  türmt  sich  nicht  mehr  so  hoch  auf  und  die 
Ueberfülle  ihrer  Locken  wird  an  den  Seiten  gekürzt,  rück- 
wärts aber  in  einen  Beutel  gesteckt,  in  Frankreich  Crapaud 
genannt.  Die  Haarbeutelfrisur  bestimmt  das  Bild  der  männ- 
lichen Mode  im  18.  Jahrhundert.  Der  Beutel  aus  Seide  oder 
gummiertem  Tuch  wurde  mit  einer  großen,  breiten,  im  Nacken 
sitzenden  Schleife  geschlossen  oder  mittels  eines  Bandes  ge- 
halten, welches  leicht  um  den  Hals  lag.  Das  Seitenhaar  flog 
in  offenen  Löckchen  oder  wurde  zu  festen  Rollen  gewickelt, 
die  einfach,  doppelt  oder  gar  mehrfach  an  den  Schläfen  lagen. 
Als  die  Damenfrisuren  unter  Ludwig  XVI.  so  extravagante 
Dimensionen  annahmen,  gab  es  Herrenfrisuren  ä  la  nouvel 
Adonis,  die  zwanzig  dicke  runde  Locken  um  den  Männerkopf 
legten.  Das  Stirnhaar  wurde  toupiert,  lange  Jahre  hindurch 
in  der  geschwungenen  Vergette,  eine  Mode,  welcher  die  Damen 
ebenfalls  huldigten,  wie  denn  überhaupt  die  Haartracht  für 
beide  Geschlechter  zwischen  1740  und  1760  ziemlich  die  gleiche 
war.  Die  Mode  der  Haarfrisur  wechselte  häufig,  wenn  sich 
Die  Perücke  auch  bald  gcwissc  Formen  der  Perücke  —  denn  bei  den  Herren- 
frisuren handelt  es  sich  fast  immer  nur  um  eine  solche  — 
als  Standesabzeichen  einbürgerten.  Die  Encyclopedie  peru- 
quiere  beschrieb  1764  schon  115  verschiedene  Sorten  von  Pe- 
rücken. Die  englischen  Perückenmacher  richteten  1762  eine 
Eingabe  an   den  König,  er  möge  befehlen,  daß  alle  Männer 

200 


^^'V^?^ 


bfl 


Perücken  tragen  sollten,  sonst  könnte  ihr  Gewerbe  nicht  be- 
stehen. Die  große  Perruque  carree,  auch  spanische  genannt, 
blieb   dem   Kaiser   und   den   höchsten   Standespersonen   vorbe- 


IVaiteau  de  Lille,  La  piude  Melisse 

Aus  der  Galerie  des  ModeSy  1/8/ 

halten.  Am  österreichischen  Hofe  Karls  VI.  war  sie  ein  aus- 
schließliches Vorrecht  des  Kaisers  und  den  Hofleuten  nur 
während  des  Aufenthalts  in  Laxenburg  oder  der  Favorite 
erlaubt.  Dann  aber  trugen  z.  B.  Advokaten  andere  Perücken 
als  Geistliche,  Kaufleute  andere  als  der  Adel,  zumal  aber  hat 
das  Militär  eine  besondere  Frisur  gepflegt,  den  Zopf.  Man 
schreibt  seine  Erfindung  Friedrich  Wilhelm  I.  von  Preußen 
zu.  wahrscheinlicher  ist   seine  Herkunft   aus  China,  das  ja  ge- 

201 


rade  damals  Europa  mit  den  Erzeugnissen  seiner  künstlerischen 
Kultur  erstaunte  und  entzückte.  Jedenfalls  entsprach  seine 
Form  dem  pedantischen  und  sparsamen  Sinn  des  Königs,  der 
in  seiner  Jugend  die  große  Perücke  nur  mit  Widerwillen  ge- 


Watieau  de  Lille,  yLa  belle  Lyonnaise*. 

Aus  der  Galerie  des  Modes,  lySs 

tragen  hatte,  war  sie  ihm  doch  schon  deswegen  verhaßt,  weil 
sie  aus  Frankreich  kam.  Wenn  er  den  Zopf  nun  auch  nicht  zu 
erfinden  brauchte,  jedenfalls  hat  er  ihn  in  seine  Armee  ein- 
geführt, die  fast  ein  Jahrhundert  lang  den  steifen  bebänderten 
Zopf  im  Nacken  trug.  Da  die  Heere  der  übrigen  europäischen 
Staaten  sich  nach  dem  preußischen  Muster  richteten,  so  ver- 
breitete   sich    der    preußische    Zopf    über    die  Welt;    in    der 

202 


französischen  Armee  wurde  er  nebst  dem  Puder  zuerst  wieder 
abgeschafft,  aber  auch  erst  1803  durch  den  Marschall  Junot. 
Für  solche,  die  nicht  zum  Militär  gehörten,  galt  der  Zopf 
eigentlich   nicht  als   schicklich.    In  Deutschland   hat   ihn  wohl 


Watteau  de  Lille,  iAussi  brillante  .'^ 

Aus  der  Galerie  des  Modes,  178; 

der  Herzog  Karl  August  von  Sachsen-Weimar,  der  als  Oberst 
der  preußischen  Armee  angehörte,  zuerst  abgelegt.  Wie  die 
Mode  aber  auch  wechseln  mochte,  wie  verschieden  die  Formen 
der  Perücke  der  Privatleute,  des  Zopfes  bei  den  Soldaten  war, 
pudern  mußten  sie  sich  alle  miteinander.  Man  hat  damals 
Aufstellungen  zu  machen  versucht  über  die  enormen  Mengen 
von  Reis-   und  Weizenmehl,  welche  alljährlich   an  den  Köpfen 

203 


der  Menschheit  zerstäubten  und  schließlich  durch  die  hohen 
Ziffern  erschreckt  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  die  Gepu- 
derten als  Volksfeinde  gebrandmarkt,  welche  das  Nahrungs- 
mittel des  Volkes  geringschätzten.  Bis  dahin  aber  war  es  un- 
erläßlich für  jeden,  der  zur  besseren  Klasse  gerechnet  sein 
wollte,  sich  auch  das  Haar  mit  Puder  einzustäuben.  Die  gleich- 
mäßige Verteilung  desselben  war  eine  Frage  von  größter 
Wichtigkeit.  Vornehme  Leute  hatten  eigene  Kabinetts  zu 
diesem  Zwecke.  Der  Puder  wurde  gegen  die  Decke  gestäubt 
und  fiel  von  da  wie  ein  zarter  Schnee  auf  die  Köpfe  herab, 
indessen  der  also  Behandelte  sein  Gesicht  während  der  Mani- 
pulation in  eine  Tüte  steckte,  damit  ihm  das  feine  Pulver 
nicht  in  Augen,  Mund  und  Nase  käme.  Sich  pudern  zu  kön- 
nen, war  nicht  jedermanns  Sache,  sich  pudern  zu  dürfen  nicht 
jedermann  erlaubt.  Auf  der  hohen  Karlsschule  durften  nur 
Adelige  und  Offizierssöhne  sich  pudern,  die  anderen  nicht. 
Auch  den  Stipendiaten  der  Tübinger  Hochschule  war  es  unter- 
sagt. Sich  pudern  zu  dürfen,  war  eben  das  Vorrecht  einer 
höheren  Klasse.  So  zahlte  auf  der  Donaufahrt  von  Regens- 
burg nach  Wien  die  »gemeine«  Person  für  ihren  Schiffsplatz 
nur  zwei  Gulden,  die  »gepuderte«  dagegen  einen  Dukaten. 
Wir,  die  wir  seit  Jahren  gewohnt  sind,  daß  ein  Herr,  der 
nicht  wie  ein  Musikschüler  aussehen  will,  seinen  Kopf  scheren 
lassen  muß  wie  ein  Zuchthäusler,  begreifen  die  Wichtigkeit 
gar  nicht  mehr,  die  damals  die  Frisur  auch  für  Männer  hatte. 
Ein  kahler  Kopf  war  eine  Schande  im  i8.  Jahrhundert,  daher 
die  Sorgfalt,  mit  der  man  das  Haar  pflegte,  um  es  so  lang 
wie  möglich  zu  erzielen.  Fürst  Belgiojoso  in  Mailand  ließ 
sich  jeden  Monat  einen  Friseur  aus  Paris  kommen,  um  stets 
nach  der  neuesten  Mode  frisiert  zu  sein.  Die  Perücke  war 
übrigens  der  Frisur  aus  eigenem  Haar  vollkommen  gleich- 
wertig. Man  trug  sie  ganz  offen  und  schämte  sich  derselben 
nicht,  ja  als  einst  der  englische  General  Lord  Albemarle  sich 
das  Gesicht  verbrannt  hatte,  und,  um  es  zu  verbergen,  seine 
Perücke  schief  aufsetzte,  machten  es  ihm  alle  Offiziere  seiner 
Truppen  sofort  nach.  Wohlhabende  hatten  mehrere  Perücken, 
wenn  auch  vielleicht  nicht  alle  in  demselben  Maßstab  wie  der 
Graf  Brühl,  welcher  1500  besaß,  »viel  für  einen  Mann  ohne 
Kopf«,  soll  Friedrich  der  Große  von  ihm  gesagt  haben.  Es 
galt  in   manchen  Kreisen  für  reinlicher,  Perücken  zu  tragen, 

204 


Ulrich  Wertmüller,  Maria  Antoinette  mit  ihren  Kindern,  iyi,j 


205 


als  das  eigene  Haar,  was  man  bezweifeln  möchte,  wenn  man 
an  die  Beschreibung  denkt,  welche  die  Markgräfin  von  Bay- 
reuth entwirft,  als  sie  von  ihrem  Empfang  in  Hof.  den  Herren 
von  Reitzenstein  und  ihren  Perücken  voller  Läuse  spricht. 
Wenn  der  Kopf  eingefettet  und  mit  Puder  dick  bestreut  sein 
mußte,  war  das  allerdings  oft  von  zweifelhafter  Sauberkeit. 
Aus  diesem  Grunde  hatte  Casanova  als  Knabe  eine  blonde 
Perücke  zu  tragen.  Als  der  französische  Marschall  Conflans 
in  rundgeschnittenem  Haar  ging  und  diese  Mode  beim  Militär 
einzuführen  versuchte,  wurde  ihm  entgegnet,  daß  das  unsauber 
sei,  denn  wenn  die  Soldaten  sich  nicht  mehr  Zöpfe  flechten 
und  Locken  wickeln  müßten,  dann  würden  sie  sich  überhaupt 
nicht  mehr  kämmen.  In  Wien  dagegen  durften  die  Kellner 
sich  nicht  frisieren  und  pudern,  sondern  mußten  das  Haar 
rund  verschnitten  tragen.  Jedenfalls  waren  die  Perücken  sehr 
heiß  am  Kopf,  und  so  gut  wie  man  die  gestickten  Kleider 
im  Hause  ablegte,  hängte  man  auch  die  Perücke  an  den 
Nagel  und  trug  eine  Mütze  oder  ein  Tuch.  So  beschreibt 
Goethe  den  Hofrath  Hüsgen,  der  immer  eine  weiße  Glocken- 
haube trug.  So  ging  auch  Voltaire  in  Ferney  am  liebsten 
ohne  Perücke,  und  viele  Künstler  haben  sich  selbst  in  der 
Nachtmütze  porträtiert,  wie  Chardin,  La  Tour,  Georg  Friedrich 
Schmidt,  Bernhard  Vogel,  Preisler,  Haid  u.  a.  Während  des 
ganzen  Jahrhunderts  war  auch  der  Bart  streng  verpönt,  nur 
Schauspieler,  welche  Mörder  oder  Straßenräuber  spielten, 
trugen  einen  Schnurrbart.  Der  bekannte  Schwärmer  Edelmann 
erregte  durch  seinen  langen  Bart  mehr  Aufsehen  als  durch 
seine  heterodoxen  Anschauungen,  ja  der  Bildhauer  Permoser, 
welcher  ebenfalls  einen  Bart  trug,  fühlte  sich  gedrungen,  zur 
Entschuldigung  dieses  ganz  ungewöhnlichen  Vorgehens  ein 
amüsantes  kleines  Buch  zu  schreiben.  Der  Maler  Gabr.  Andr. 
Donath,  der  um  1735  in  Dresden  lebte,  trug  einen  langen  Bart 
in  Papilloten  von  Papier,  der  Genfer  Liotard  war  in  Paris  durch 
seinen  langen  Bart  mindestens  ebenso  berühmt  wie  durch  seine 
Pastelle  und  Miniaturen. 
Puderund  Die  grau  gepuderten  Herren  mußten  sich  so  gut  schminken 
wie  die  gepuderten  Damen.  Puder  und  Schminke  verwischen 
auch  bei  ihnen  die  Altersunterschiede.  Wir  können  uns  aller- 
dings vorstellen,  daß  der  60jährige  Chevalier  de  Malezieux 
trotz  seiner  rot  gefärbten  Backen  keinen  Eindruck  auf  Sophie 

206 


Schminke 


Arnould  machte  oder  der  80jährige  Chevalier  d'Arcigny,  der 
nahezu  ebenso  alte  Herzog  von  Villars  mit  ihren  rot  und  weiß 
geschminkten  Gesichtern,  ihren  falschen  Gebissen  von  Elfen- 
bein, ihren  von  Ambra  duftenden  Perücken  und  den  button- 
holes  aus  Tuberosen,  Narzissen  und  Jasmin,  Casanova  recht 
lächerlich   erschienen. 

Erst  seit  der  Perückenzeit  hörte  der  Mann  auf,  beständig  den  Der  Hut 
Hut  zu  tragen.  xA.lle 
Bilder  des  17.  Jahr- 
hunderts, welche  Ge- 
sellschaften, Mahl- 
zeiten, Bälle,  Unter- 
haltungen darstellen, 
zeigen  die  Herren  mit 
bedecktem  Haupt. 
Seit  die  Perücke  auf- 
kommt, ist  das  nicht 
mehr  angängig.  Hat 
derHerr  den  Hut  bis 
dahin  nicht  abge- 
nommen, so  setzt  er 
ihn  nun  nicht  mehr 
auf.  Das  ganze  18. 
Jahrhundert  hin- 
durch trug  der  Mann 
seinen  Hut  unterm 
Arm.  Ob  Perücke 
oder  eigenes  Haar, 
gleichviel,  den  Hut 
hätten     beide     nicht 

geduldet.  Erst  in  der  Zeit,  als  der  einfachere  Anzug  über 
den  Kanal  zu  uns  kommt,  als  die  jungen  Männer  ihr  eigenes 
Haar  offen  und  ungepudert  zu  tragen  beginnen,  kommt  der 
große  runde  Filzhut  auf,  der  Quäkerhut  Franklins,  welcher 
1786  die  Pariser  so  enthusiasmierte  und  den  Ahnherrn  un- 
seres Zylinders  darstellt.  Der  Hut,  dessen  Platz  stets  unter 
dem  Armwar,  hatte  aufgeschlagene  Krempen,  nach  deren  ver- 
schiedener Fassonierung  sein  Name  wechselte,  war  mit  Goldtres- 
sen und  Federborte  besetzt  und  meist  aus  Filz.  Im  17.  Jahrhun- 
dertkommtin  Frankreich derHutausFilziniitation  auf,  wie  Alfred 


Goethe,  Relief  von  J.  V.  Melchior 


207 


Franklin  recht  witzig  sagt,  gleichsam  wie  eine  Vorahnung  des 
Ideals  der  Industrie  des  19.  Jahrhunderts  »ein  billiger  Gegen- 
stand von  minderer  Qualität,  der  alle  Eigenschaften  der  besse- 
ren zu  besitzen  scheint«.  Diese  Hüte  von  Halbfilz  »demi  castor« 
wurden  verboten,  ohne  daß  dieses  Verbot  eine  besondere  Wir- 
kung gehabt  hätte.  Wie  man  jetzt  die  Damen  einer  gewissen 
Klasse  als  demi-monde  bezeichnet,  so  nannte  man  sie  damals, 
als  diese  halbechten  Hüte  aufkamen,  demi-castor. 
Die  französische  Mode  dringt  unaufhaltsam  vor  und  beseitigt 
nicht  nur  die  Reste  sogenannter  Volkstrachten,  sondern  auch 
die  Amtstracht.  Selbst  an  dem  so  konservativen  Kaiserhof 
in  Wien  verdrängt  die  französische  Mode  die  alte  spanische 
schwarze  Hoftracht  mit  ihren  kurzen  spitzenbesetzten  Mänteln, 
roten  Strümpfen  und  roten  Schuhen.  Maria  Theresias  loth- 
ringischer Gemahl,  der  nur  Französisch  sprach,  trug  sich  auch 
am  liebsten  französisch.  1765  schaffte  Kaiser  Joseph  zum  Ent- 
setzen der  alten  Hofherren  das  spanische  Mantelkleid  endgültig 
ab.  Das  Vordringen  der  Mode  auch  in  die  niederen  Stände 
war  ein  Punkt,  der  von  den  Angehörigen  der  oberen  Klassen 
so  schmerzlich  empfunden  wurde,  daß  sie  es  nicht  ertragen 
zu  können  glaubten,  blieben  als  sichtbare  Auszeichnung  doch 
Die  Orden  nicht  einmal  mehr  die  Orden  ihnen  allein!  Bis  in  den  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts  waren  unter  den  wenigen  Orden,  die  es 
überhaupt  nur  gab,  der  des  Goldenen  Vlieses  und  der  dänische 
Elefantenorden  wohl  die  angesehensten  gewesen.  Dann  aber 
begannen  alle  die  unzähligen  deutschen  Fürsten  Orden  zu  stif- 
ten;  schöne,  bunte,  glänzende  Orden,  mit  deren  Stern  und  Band 
sie  ihr  Kleid  schmückten,  durch  deren  Verleihung  an  andere 
sie  aus  der  Masse  der  Höflinge  gewissermaßen  einen  Klub 
vertrauter  Freunde  heraushoben.  Wie  lange  aber  dauerte  es, 
und  das  Tragen  eines  Ordens  bedeutete  nicht  einmal  mehr 
die  Zugehörigkeit  zu  einer  besonderen  Klasse  der  Gesellschaft. 
Man  konnte  sie  ja  überall  kaufen.  Casanova  hält  mit  seiner 
Meinung  über  die  Orden,  die  für  niemand  mehr  eine  Auszeich- 
nung seien  und  nur  Dummköpfen  Eindruck  machten,  nicht 
zurück.  Er  kauft  sich  aber  trotzdem  einen,  denn  die  Dummen 
wurden  schon  damals  nicht  alle.  Den  Michaelsorden  konnte 
man  für  billiges  Geld  von  den  Höflingen  des  Kurfürsten  von 
Köln  haben  und  der  Markgraf  von  Bayreuth,  der,  wie  seine 
bissige  Schwiegertochter  bemerkt,  beim  Ordensfest  ein  so  feier- 

208 


1787 

Magasin  des  Modes 
Wintertoilelie 


Die   Mode,    18.  Jahrh.    43 


liches  Wesen  annahm,  wie  Hanswurst  als  Kaiser  im  Mond, 
verkauft  nachher  ungeniert  seinen  Roten  Adlerorden.  Der  arme 
Henri  de  Catt  allerdings,  der  Vorleser  Friedrichs  des  Großen, 
ist  recht  hereingefallen,  als  er  einem  italienischen  Grafen  für 
200  Louisdor  einen 
falschen  preußi- 
schen Orden  auf- 
hängen will. Durch 
das  ganze  Mittel- 
alter geht  der 
Kampf,  den  die 
Obrigkeiten  mit- 
tels ihrer  Kleider- 
ordnungen gegen 
den  Luxus  und  die 
Verschwendungs  - 
sucht  ihrer  Unter- 
tanen geführt  ha- 
ben, einKampf,  der 
in  erster  Linie  der 
Aufrechterhaltung 
äußerlich  sichtba- 
rer Standesunter- 
schiede galt.  Er  ist 
nie  erloschen, denn 
er  war  immer  ver- 
geblich, aber  er  hat 
sich  bis  zum  Aus- 
gang des  i8.  Jahr- 
hunderts ununter- 
brochen fortge- 
setzt. Wie  man  in 
einigen  Staaten  die  Einfuhr  verschiedener  Stoffe  und  Spitzen 
untersagte,  um  die  heimische  Industrie  zu  schützen,  so  verbot 
man  auch  den  Angehörigen  gewisser  Stände  das  Tragen  mancher 
Modeartikel,  weil  die  Herren  sich  absolut  nicht  in  den  Ge- 
danken finden  wollten,  daß  die  äußerliche  Sichtbarkeit  der 
Standesunterschiede  verschwinden  könnte.  Die  Fontangen 
wurden  z.  B.  1698  in  Leipzig,  1705  in  Zwickau  verboten, 
ebenso    der    Gebrauch    der    Mouche.      Daß    in    Sachsen    den 


Kleider- 
Ortintiiijjen 


y.  H.  JV.  Tiscilbein,  Goethe  in  Roi. 


D{e  Mode.    18.  Jahrh.  2.  A. 


209 


14 


Dienstmädchen  das  Tragen  der  Reifröcke  untersagt  war,  ist 
schon  erwähnt  worden.  Man  wollte  den  niederen  Ständen 
auch  vorschreiben,  welche  Sorten  von  Pelzwerk  sie  tragen 
durften.  L.  Bartsch  hat  über  die  Prozesse,  welche  oft  da- 
raus entstanden  sind,  die  amüsantesten  Tatsachen  beigebracht. 
Darüber,  »was  jedem  in  seinem  Stand  in  Bekleidungen  zu- 
gelassen oder  verboten  ist«,  Verbote  der  Hofifart,  wonach  sich 
Bürger  nach  Unterschied  der  Stände  zu  verhalten  haben, 
sind  z.  B.  in  Nürnberg  1693,  in  Stettin  1708,  in  Stralsund  1729, 
in  Gotha  1737,  in  Fulda  1766  erschienen,  das  letzte  natür- 
lich in  Mecklenburg  1786.  Ganz  besonders  hatten  es  die 
regierenden  Herren  auf  die  goldenen  und  silbernen  Tressen, 
Besätze  und  Stickereien  abgesehen,  welche  sie  Bürgersleuten 
nicht  gönnen  wollten.  In  Kur-Bayern,  das  in  Reglemen- 
tierungssucht und  polizeilicher  Bevormundung  der  Unter- 
tanen auf  das  erfolgreichste  mit  Preußen  wetteiferte,  das 
seinen  Bauern  vorschreiben  wollte,  zu  welchen  Stunden  das 
Vieh  im  Stalle,  an  welchen  auf  der  Weide  zu  sein  habe, 
die  Höhe  des  Tagelohnes  ohne  Rücksicht  auf  Angebot  und 
Nachfrage  zu  regeln  unternahm,  wo  man  selbst  die  Größe 
der  Baumaterialien  vorschrieb,  untersagte  man  1749  dem  Volk 
die  Verwendung  von  Gold-  und  Silberstoffen  und  Besätzen 
und  schritt,  um  diesem  Verbot  Nachdruck  zu  geben,  am 
Neujahrsmorgen  1750  zum  Angriff  gegen  die  Kirchgängerinnen 
vor.  Ohne  Schonung  wurden  ihnen  die  goldenen  Riegelhauben 
und  Bruststücke  entrissen  und  konfisziert.  Manche,  die  be- 
sonders schlau  hatten  sein  wollen,  und  ihre  Riegelhauben 
erst  in  der  Kirche  aufgesetzt  hatten,  mußten  sie  beim  Ver- 
lassen derselben  doch  noch  hergeben.  Den  Ratsfrauen,  gegen 
die  man  nicht  ganz  so  brutal  vorzugehen  wagte,  wurde  zur 
Strafe   Militär  ins   Haus   einquartiert. 

Am  rigorosesten  in  dieser  Beziehung  war  man  in  den  kleinen 
Gemeinwesen  staatlicher  und  städtischer  Republiken.  Die  Schwei- 
zerinnen waren  daheim  durch  Kleiderordnungen  so  beschränkt, 
daß  sie,  wie  Keyßler  findet,  deshalb  mit  solcher  Vorliebe  aus- 
ländische Badeorte  besuchen,  ja  viele  derselben  sich  vor  der 
Heirat  schriftlich  die  Versicherung  geben  ließen,  daß  sie  jedes 
Jahr  ihre  Badereise  ins  Ausland  sollten  machen  dürfen.  In 
Genua  war  den  verheirateten  Damen  nur  im  ersten  Jahr  des 
Ehestandes  erlaubt,  bunte  Farben  zu  tragen,  nachher  mußten 

210 


des  Ornies  in  Fa 


sie  egal  schwarz  gehen.  In  den  deutschen  Reichsstädten,  wo 
das  Tragen  von  Federhut  und  Degen  allein  den  Patriziern 
vorbehalten  war,  in  denen  Ratsherren,  Geschlechtern,  gemei- 
nem Volk,  Handwerkern,  Mägden  usw.  für  jeden  sich  im  Leben 
bietenden  Vorfall  wie  Taufe,  Hochzeit,  Beerdigung  usw.  genau 
vorgeschrieben  war,  was  sie  tragen  mußten,  kommt  die  lokale 
Tracht,  in  der  sich  noch  Reste  alter  Moden  des  i6.  und  17. 
Jahrhunderts  konserviert  hatten,  allen  Ge-  und  Verboten  zum 
Trotz  doch  in  Abnahme.  Keyßler  fand  schon  1730  in  Heil- 
bronn, daß  die  eigentümliche  Trauerkleidung  der  dortigen  Frau 
so  ziemlich  verschwunden  sei  und  in  Ulm  bemerkte  Nikolai 
1781,  daß  hauptsächlich  nur  noch  die  Dienstmädchen,  wenn 
sie  zu  Hochzeiten,  Kindstaufen  und  Leichen  einluden,  jedes- 
mal anders  gekleidet  sein  müßten.  Am  längsten  hat  sich  merk- 
würdigerweise Straßburg,  das  doch  seit  1681  zu  Frankreich 
gehörte,  eine  altreichsständische  Einfachheit  bewahrt.  Der  be- 
rühmte Rechtslehrer  Pütter  beobachtete  das  noch  in  der  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts,  während  zu  Goethes  Zeiten  die  städtische 


ZW 


Gesellschaft  sich  schon  französisch  kleidete,  und  die  deutsche 
Tracht  sich  auf  die  Landbewohner  beschränkte.  Als  er  die 
Schwestern  Brion  aus  Sesenheim  nach  Straßburg  bringt,  sind 
sie  dort  die  einzigen  in  deutscher  Kleidung.  Wieder  einige 
Jahre  später  findet  Lauckhard  nur  noch  die  dienende  Klasse 
in   der  alten   Tracht. 

In  bezug  auf  die  Kleidung  sind  Befehle  ebenso  machtlos  wie 
Verbote.  König  Friedrich  Wilhelm  L  von  Preußen  kleidete 
einmal  .bei  einer  Truppenrevue,  der  die  französische  Gesandt- 
schaft beiwohnte,  die  verachteten  Profossen  in  die  eleganteste 
Pariser  Modetracht.  Gerade  in  jenen  Jahren  erlitt  die  eng- 
lische Regierung,  welche  nach  dem  Unglückstage  von  Culloden 
den  Schotten  das  Tragen  des  Kilt  verboten  hatte,  einen  Fehl- 
schlag. Sie  hat  es  auch  nicht  durchsetzen  können,  daß  ihr 
Befehl,  an  Stelle  des  Schurzes  Beinkleider  zu  tragen,  befolgt 
worden  wäre.  Im  Gegenteil,  die  französische  Mode  hat,  wie 
manche  alte  Bilder  von  Bonnie  Prince  Charlie  und  anderen 
Kavalieren  zeigen,  eine  Verbindung  mit  dem  Kilt  eingegangen, 
eine  Art  Zweiteilung  des  Mannes  geschaffen,  von  oben  bis 
zum  Gürtel  ist  er  Franzose,  von  da  bis  zu  den  Füßen  Schotte. 
Unter  den  Regierungen  der  Könige  Karl  III.  und  Karl  IV. 
dringt  die  französische  Mode  auch  nach  Spanien  vor  und  be- 
hauptet sich  neben  der  schwarz  gehaltenen  Volkstracht.  Man 
nennt  sie  auch  beim  Zivil  »Militärkleidung«  und  selbst  die 
ältesten  Leute  tragen,  wenn  sie  ihr  heimisches  Schwarz  einmal 
ablegen,  im  französischen  Kostüm  Rosa  oder  Himmelblau. 
Überzeugt  von  dem  Mißerfolg  polizeilicher  Verbote,  versucht 
es  1781  der  Großherzog  Leopold  von  Toskana,  seinem  Adel 
durch  freundliches  Zureden  den  Luxus  in  der  Kleidung  ab- 
zugewöhnen und  hat  auch  vorübergehende  Erfolge  insofern, 
als  eben  in  Florenz  eine  Zeitlang  die  einfachen  Schnitte  und 
Farben  Mode  werden.  Ein  Anonymus  veröffentlichte  (im  Wien 
Josephs  IL)  1786  einen  Vorschlag,  der  genaue  Unterschiede 
festsetzte  für  die  Kleidung  aller  Stände  und  Berufe,  wo  für 
alle  Abstufungen  der  Beamten,  Lakaien  u.  a.  gewissenhafte 
Vorsorge  getroffen  war.  Andere  versuchen  die  Standesunter- 
schiede, welche  eine  gleiche  Kleidung  allerorten  äußerlich 
völlig  zu  verwischen  im  Begriff  ist,  dadurch  zur  Geltung  zu 
bringen,  daß,  wie  z.  B.  ein  Freiherr  von  Schröder  damals  vor- 
geschlagen hat,  jedermann  durch   ein  gewisses  Kleinod,   das  er 

212 


L.  Pk.  Debticourt,  Le  Metmet  de  la  Mariee,  1786 

sichtbar  zu  tragen  habe,  seine  Zugehörigkeit  zu  dieser  oder 
jener  Klasse  dokumentieren  müsse.  Der  Marquis  Caraccioli 
wollte,  daß  Achselbänder  von  gewisser  Form  und  Farbe  die- 
sem Zwecke  dienen   sollten,  Vorschläge,  die  selbstverständlich 


213 


ebenso  ins  Wasser  fielen  wie  das  Unternehmen,  eine  National- 
tracht einzuführen,  die  den  beständigen  Wechsel  der  Mode 
verhindern  sollte.  In  Deutschland  sind  derartige  Ideen,  wie 
sie  z.  B.  Justus  Moser  oder  der  bekannte  Pamphletist  Weck- 
herlin  in  seinen  Chronologen  vertrat,  wie  sie  später  Bertuch 
in  seinem  Journal  des  Luxus  und  der  Moden  zur  Diskussion 
stellte,  über  das  Papier,  auf  dem  sie  erörtert  wurden,  nicht 
lebendig  geworden.  Nur  in  Schweden  hat  man  sich  ernsthaft 
damit  befaßt.  1773  hat  die  schwedische  patriotische  Gesell- 
schaft eine  Preisfrage  zur  allgemeinen  Beantwortung  gestellt, 
ob  es  nicht  für  Schweden  vorteilhaft  sein  würde,  eine  National- 
tracht anzunehmen  und  schon  im  Jahre  darauf  65  verschiedene 
motivierte  Antworten  erhalten,  die  größtenteils  bejahend  aus- 
fielen. 1778  erließ  Gustav  III.  wirklich  eine  Verordnung,  die 
beiden  Geschlechtern  eine  Nationaltracht  vorschlug,  ein  Kostüm, 
welches  der  König,  seine  Brüder  und  der  ganze  Hof  auch 
wirklich  eine  Zeitlang  getragen  haben.  Es  war  nach  den  er- 
haltenen Abbildungen  zu  urteilen,  nichts  anderes  als  die  Zeit- 
mode verquickt  mit  einigen  Elementen  der  Tracht  des  15.  Jahr- 
hunderts. Der  König  hatte  nicht  viel  Glück  mit  seiner  Er- 
findung. »Im  Putze  Gustavs  III.  und  seiner  Günstlinge«,  schreibt 
der  Herzog  von  Levis,  »bemerkte  man  mit  Erstaunen  etwas 
Weibisches  und  Weichliches,  das  einen  gewissen  Verdacht 
hinsichtlich  seiner  Sitten  zu  bestätigen  schien.«  Als  er  in 
Petersburg  so  erschien,  nannte  ihn  Katharina  II.  nur  König 
Harlekin.  Es  war  ein  Versuch  genau  nach  dem  Muster  des- 
jenigen, den  die  Brüder  Ludwigs  XVI.  in  Versailles  unternommen 
hatten,  als  sie  1777  für  sich  und  ihr  Gefolge  gelegentlich  des 
Besuches  Kaiser  Josephs  IL  von  ihrem  Hofschneider  Sarrazin 
ein  Kostüm  entwerfen  ließen,  das  sich  mit  Wams  und  Puffen 
an  jenes  der  Zeit  Heinrichs  IV.  anlehnte,  und  nur  am  Hofe 
vorübergehend  zur  Geltung  gekommen  ist. 
Uniformie-  Dieser  Wunsch,  durch  Verschiedenheiten  in  der  Kleidung- 
btande  und  Volker  vonemander  scheiden  zu  wollen,  die  sich 
gerade  in  dieser  Zeit  des  Weltbürgertums  einander  zu  nähern 
beginnen,  müßte  wundernehmen,  hinge  diese  Neigung  nicht 
auf  das  engste  mit  einer  anderen  Eigenschaft  des  18.  Jahr- 
hunderts zusammen,  der  Uniformierungswut.  Die  aufgeklärten 
Volksbeglücker  leiden  an  derselben  Reglementierungssucht  und 
Gleichmacherei   wie  Tyrannen  und  Republikaner.     Man  baut 

214 


f^    ~ 


bia 


Reynolds,  Herzog  und  Herzogin  vott  Hamilton 

ganze  Städte  nach  einförmigen  Plan,  wie  in  Deutschland  Mann- 
heim und  Karlsruhe,  neue  Stadtviertel  wie  Dorotheen-  und 
Friedrichstadt  in  Berlin;    als  Pombal   nach  dem  großen  Erd- 


215 


beben  das  zerstörte  Lissabon  wieder  aufbaut,  da  geschieht  es 
in  der  Form  einer  Kaserne.  Eine  Riesenprachtfassade  nach 
dem  Tajo,  dahinter  in  abgezirkelten,  uniform  ausgestalteten 
Rechtecken  die  neuen  Stadtteile,  wo  jedes  Handwerk  nur  in 
einer  bestimmten  Straße  wohnen  soll.  Madrid,  Salamanca, 
Paris,  London,  Turin,  Petersburg  und  viele,  viele  andere  Orte 
tragen  heute  noch  die  Spuren  der  ästhetischen  Uniform,  die 
ihnen  das  i8.  Jahrhundert  angelegt.  Wie  die  kurbayerische 
Regierung  alles  regeln  will,  was  die  Untertanen  tun  und  lassen, 
so  mischt  sich  auch  Struensee  während  der  kurzen  Zeit  seiner 
Macht  durch  einen  Regen  von  Erlassen  und  Verordnungen 
in  die  persönlichsten  Angelegenheiten  seiner  Dänen,  um  sie  mit 
Gewalt   glücklich   zu   machen,   gerade   so   wie  Joseph  IL   seine 

Oesterreicher.  Der  Sturm  und 
Drang  der  Aufklärungsperiode 
war  die  natürliche  Reaktion 
gegen  diese  schnöde  Mißach- 
tung der  persönlichen  Freiheit. 
Wie  man  die  Städte  am  lieb- 
sten in  gleicher  Form  gesehen 
hätte,  so  würde  man  am  lieb- 
sten auch  jedermann  ein  glei- 
ches Kleid  gegeben  haben. 
Selbstverständlich  steckte  man 
die  Zöglinge  der  Erziehungs- 
institute undWaisenhäuser  zu- 
erst in  Uniform.  Auf  dem  Phi- 
lanthropin in  Heidenheim  tru- 
gen die  Kinder  braunroten 
Berkan  mit  blau  atlassnen  Auf- 
schlägen und  Stahlknöpfen,  da- 
zu weiße  runde  Hüte  mit  blauen 
Federbüschen ;  auf  dem  in 
Dessau  weiße  Röcke  mit  hell- 
blauem Brustlatz,  in  Schnep- 
fenthal rote  Jacken.  Der  Her- 
zog von  Württemberg  wollte 
sein  ganzes  Land  uniformieren 

.  "       und  gab  wenigstens  dem  ganzen 

Magasin  des  Modes,  iy86  Volk  seiner  Hof-,  Militär-  und 


2l6 


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Barlolozzi  nach  Sir  Joslnia  Reynolds^  Lady  Fester .  i^Sj 


Die  Mode.   18.  Jahrh.   45 


Zivilbeamten  Uniformen.  Katharina  IL  erließ  1783  einen 
Ukas,  mittels  dessen  in  Esthland,  Livland  und  Ingermann- 
land  Männer  und  Frauen  eine  bestimmte  Provinzialkleidung 
erhielten.  Herr  von  Corberon,  1775 — 1780  Attache  der  fran- 
zösischen Gesandtschaft  iin  Petersburg,  schreibt  diese  Ver- 
ordnungen dem  Wunsche  der  Kaiserin  zu.  ihre  Schwieger- 
tochter am  Tragen  französischer  Moden  und  Pariser  Coif- 
füren  zu  hindern.  Der  knappe  Schnitt  der  männlichen  Klei- 
dung und  die  bunte  Farbe  derselben  forderte  ordentlich  dazu 
heraus,  den  Zusammenschluß  Befreundeter  durch  die  gleiche 
Art  der  Kleidung  zu  dokumentieren,  die  genialische  Jugend  ging 
ä  la  Werther,  der  Schillersche  Kreis  in  Jena  trug  als  Zeichen 
seiner  Zusammengehörigkeit  dunkelblauen  Frack  mit  himmel- 
blauem Futter  und  silbernen  Knöpfen,  die  Ritterschaft  in  West- 
falen gab  sich  selbst  eine  nach  den  Kreisen  in  ihren  Farben 
unterschiedene  Uniform  usw.  Die  stehenden  Heere,  die  sich  du  Umßi 
nach  dem  Dreißigjährigen  Kriege  zu  einer  bleibenden  Ein- 
richtung entwickeln,  kennen  Uniformen  erst  seit  dem  Ende 
des  17.  Jahrhunderts.  Wenn  sie  den  Schnitt  derselben  ur- 
sprünglich dem  der  gewöhnlichen  Männerkleidung  entlehnen, 
so  entwickeln  sie  aus  ihm  allmählich  ihren  Bedürfnissen  ent- 
sprechend eine  neue  Form.  Die  Rockschöße  werden  erst  mit 
ihren  Enden  an  den  Seiten  zusammengenommen,  dann  zum 
I^Vack  abgeschnitten,  das  Beinkleid  wird  eng,  die  Gamasche 
bedeckt  oder  ersetzt  den  seidenen  oder  wollenen  Zwickel- 
strumpf. Die  Wechselwirkung  zwischen  Zivil-  und  Militär- 
kleid war  um  so  reger,  als  die  Unterschiede  in  Schnitt  und 
Farbe  zwischen  denselben  so  sehr  geringe  waren.  Die  mili- 
tärische Uniform  gewann  schließlich  ein  starkes  Uebergewicht 
dadurch,  daß  sie,  ebenso  wie  das  englische  Bürgerkleid  es 
tat,  dem  kostspieligen  französischen  Moderock  einen  Anzug 
gegenüberstellte,  der  praktisch  und  wohlfeil  war.  In  gewissem 
Sinne  hat  diese  Wechselwirkung  ja  bis  heute  nicht  aufgehört. 
Wenn  im  Augenblick,  wo  wir  dies  schreiben,  unsere  Mode- 
herren im  unförmigen  Schnitt  ihrer  Kleider  dem  perversen 
(ieschmack  des  halb  barbarischen  Amerika  huldigen,  so  wett- 
eifern unsere  Militärs  erfolgreich  mit  der  zivilistischen  Ge- 
schmacklosigkeit und  wandeln  als  lebende  Karikaturen  stolz 
in  zu  weiten  Hosen,  zu  langen  Röcken  und  zu  großen  Mützen 
umher.    (Das   war  1908!) 

217 


Dieses  Uebergewicht  gewann  die  Uniform  im  i8.  Jahrhundert, 
trotzdem  ihre  Träger  verachtet  waren.  Denn  im  damaligen 
Deutschland  war  ein  Soldat  nicht  viel  besser  angesehen  als 
ein  Zuchthäusler.  Der  moralische  Zustand  des  Militärs,  dessen 
Freiwillige  sich  nur  aus  der  Hefe  der  Bevölkerung  rekrutier- 
ten, während  der  Rest  aus  Geworbenen  bestand,  die  mit  Be- 
trug oder  Gewalt  enrolliert  waren,  ließ  die  Bürger  mit  Ab- 
scheu auf  die  Soldaten  blicken,  deren  Umgang  sie  flohen.  Im 
Ansehen  stand  unbedingt  das  preußische  Heer  als  solches 
obenan,  seit  Friedrich  IL  es  in  seinen  Kriegen  zu  unvergeß- 
lichen Heldentaten  geführt  hatte,  aber  im  privaten  Leben  ging, 
wer  es  konnte,  den  Angehörigen  dieser  Armee  weit  aus  dem 
Wege,  Offizieren  wie  Gemeinen.  Die  Erinnerungen  der  Bräker, 
Nettelbeck,  Seume,  Lauckhard  u.  a.  erzählen  die  Gründe  dazu 
ja  anschaulich  genug.  Der  Zustand  der  übrigen  Armeen  aber 
konnte  wahrlich  keine  Achtung  beanspruchen.  In  Oesterreich, 
wo  die  Offiziersstellen  bis  1809  käuflich  waren,  galt  der  Dienst 
der  eigenen  Bereicherung  im  Frieden  wie  im  Kriege.  Von 
den  135000  Mann,  die  bei  Karls  VL  Tode  auf  dem  Papiere 
standen,  waren  de  facto  nur  68000  unter  den  Waffen,  die 
Löhnung  der  übrigen  steckten  die  Vorgesetzten  ein.  Die  Ver- 
waltung des  Generalkriegskommissariates  machte  reich.  Wie 
Prinz  Eugen  und  der  Markgraf  Ludwig  von  Baden  im  Be- 
ginne des  Jahrhunderts  geklagt  hatten,  war  die  Armee  auch 
später  noch  in  Feindes-  wie  in  Freundesland  auf  Plünderung 
angewiesen.  Der  berüchtigte  Oberst  Menzel  erbeutete  drei 
Millionen  Gulden  im  Felde,  den  Freiherrn  von  der  Trenk  ließ 
Maria  Theresia  seiner  Schandtaten  wegen  auf  dem  Spielberg 
sterben.  Das  kurbayerische  Militär  bestand  aus  15000  Mann, 
von  denen  aber  nur  3000  unter  Gewehr  standen,  die  mit  ihren 
39  Generalen  monatlich  93000  Gulden  verbrauchten.  Wenn 
die  Frau  eines  Offiziers  in  anderen  Umständen  war,  so  er- 
hielt sie  für  ihr  erwartetes  Kind  ein  Offizierspatent,  dessen 
Einkünfte  ihr  auch  dann  verblieben,  wenn  das  Kind  tot  zur 
Welt  kam  oder  eine  Tochter  war.  Als  dieses  Heer  während 
des  Siebenjährigen  Krieges  im  Mai  1758  im  Felde  war,  erbat 
der  Kurfürst  für  seine  Soldaten  zwei  Monate  Urlaub,  damit 
sie  sich  erholen  könnten!  Kurpfalz  hielt  5500  Mann  mit 
21  Generalen  und  die  Groteske  dieser  Zustände  vervollstän- 
digt der  Betrieb  derselben.    Der  schwäbische  Kreis   gab  seinen 

218 


yohn  Rapliael  Smith,  Lott:  a 


II  (.j/'/c/S 


Truppen  die  Artillerie  nicht  mit  ins  Feld,  weil  sie  sie  am  Ende 
verlieren  könnten.  In  Mainz  standen  die  Festungswerke  unter 
der  Obhut  des  Hofgärtners,  von  dem  die  Ingenieure  sich  im 
Bedarfsfall  die  Schlüssel  erbitten  mußten.  Als  Spanien  1762 
mit  Portugal  im  Kriege  lag,  war  das  spanische  Heer  bereits 
an  die  portugiesische  Grenze  vorgerückt  und  stand  im  An- 
gesicht des  Feindes,  als  man  erst  bemerkte,  daß  man  ver- 
gessen  hatte,   das   Pulver  mitzunehmen ! 

Von  Herrschern  war  wohl  Friedrich  Wilhelm  I.  von  Preußen 
der  erste,  welcher  immer  Uniform  trug,  die  französischen  Könige 
legten  nie  eine  solche  an.  Graf  Valentin  Esterhazy  schreibt 
in  seinen  Erinnerungen,  daß  der  Dauphin  1764  zum  größten 
Erstaunen  des  Hofes  zum  erstenmal  die  Uniform  seines  Regi- 
ments angelegt  habe,  man  hätte  das  vorher  nie  bei  Hofe  gesehen. 
Erst  Ludwig  XVI.  pflegte  am  Nachmittag  stets  Uniform  zu 
tragen.     Kaiser  Joseph  eiferte  auch  darin  seinem  bewunderten 


219 


Vorbild  Friedrich  dem  Großen  nach,  daß  er  fast  nur  Uniform 
trug  und  höchst  selten  das  gestickte  Hofkleid  anlegte.  Da  er 
die  Uniform  auch  auf  Reisen  trug,  so  gab  er  damit  ein  gern 
befolgtes  Beispiel,  1772  schreibt  Abbe  Galiani  aus  Neapel  an 
Grimm,  daß  die  reisenden  Prinzen  alle  in  der  Uniform  ihrer 
Regimenter  erscheinen.  Friedrich  der  Große  verzichtete  bald 
auf  den  Luxus  einer  geschmackvollen  Kleidung  nach  der  Mode 
und  legte  ausschließlich  Uniform  an  ;  als  er  starb,  bestand  seine 
ganze  Garderobe  aus  5  Uniformen,  8  Westen,  4  Paar  Hosen, 
6  Paar  Stiefel,  10  Paar  weißen  und  5  Paar  schwarzseidenen 
Strümpfen  nebst  16  schlechten  Hemden.  Sein  Nachfolger  ver- 
kaufte  alles   zusammen   für  400  Taler. 

Die  Frage  des  Schneiders  und  der  Schneiderin  war  in  jener 
Zeit  selbstverständlich  ebenso  wichtig  wie  heute.  Wer  im 
Hause  arbeiten  ließ,  wie  Goethes  in  Frankfurt,  dem  konnte 
es  wohl  blühen,  daß  er,  wenn  er,  wie  Wolfgang  mit  seiner 
Garderobe  in  eine  elegante  Stadt  wie  Leipzig  kam,  als  komische 
Figur  aufs  Theater  gebracht  wurde.  Die  Reklame  mancher 
heutiger  Schneider,  daß  sie  Durchreisenden  binnen  einem  Tag 
einen  Anzug  machen,  war  damals  schon  etwas  Altes.  Casanova 
erhielt  in  Neapel  binnen  24  Stunden  ein  Gewand,  ebenso  wie 
Graf  Tiretta  in  Paris.  In  Wien  zeigte  der  Schneider  Otto  1781 
an,  daß  er  ein  Kleid  auf  Wunsch  in  sieben  Stunden  liefere. 
Auch  die  Konfektion  geht  bis  in  den  Anfang  des  18.  Jahrhun- 
derts zurück.  Für  Paris  ist  sie  seit  1716  nachgewiesen.  Nach 
der  Angabe  des  Voyageur  fidele  hatte  ein  Schneider  in  St.  Denis 
fertige  Kleider  für  Männer,  Frauen  und  Kinder  auf  Lager. 
In  London  konnte  man  aber,  wie  wir  von  Reisenden  wissen, 
schon  vorher  Kleider  und  Wäsche  fertig  kaufen. 
Das  18.  Jahrhundert  hat  auf  dem  Gebiet  der  Mode  eine  Er- 
scheinung gezeitigt,  welche  die  Vorwelt  nicht  kannte,  das 
Modejournal.  Seit  1672  schon  hatte  zwar  der  Mercure  ga- 
lant, dem  von  1717  bis  1792  der  Mercure  de  France  folgte, 
die  schöne  Welt  regelmäßig  darüber  unterrichtet,  was  in  Ver- 
sailles oder  in  Paris  elegant  war,  hatte  erzählt,  wie  und  womit 
man  sich  amüsierte,  was  man  trug  usw.  Da  aber  beiden  Zeit- 
schriften die  Bilder  fehlten,  kann  man  sie  wohl  nur  als  Vorläufer 
des  eigentlichen  Modejournals  betrachten.  Erst  die  »Galerie  des 
Modes«  und  der  »Courrier  des  Modes«,  welche  in  Paris  seit 
den  siebziger  Jahren  des  18.  Jahrhunderts  herausgegeben  wur-  . 

220 


John  Hoppner,  Mrs.  Ben-vcll 

den,  halfen  diesem  Uebelstande  ab  und  brachten  allen  Herren 
und  Damen,  welche  sich  für  ]\Iode  und  Eleganz  interessierten, 
nicht  nur  Beschreibungen,  sondern  bis  ins  Detail  getreue  Ab- 
l)ildungen  dessen,  was  in  Paris  getragen  wurde.  Die  künstlerisch 
vollendeten  Abbildungen  dieser  Zeitschriften  dienten  dann  den 
außerfranzösischen  Publikationen  als  \'orlagen.  Die  Taschen- 
bücher und  Almanache,  welche  damals  in  Deutschland  erblühten 
und  sich  mit  ihrem  Inhalt  vorwiegend  an  das  schöne  Geschlecht 
wandten,  haben  aus  dieser  französischen  Quelle  eifrig  geschöpft, 
und  ihre  Leserinnen  auf  diesem  kleinen  Umwege  mit  den  Pariser 
Dioden  bekannt  gemacht.  Die  reizenden  kleinen  Bilder,  welche 
bei  der  Umwertung  aus  dem  französischen  Original  in  das 
deutsche  durch  die  Meisterhand  eines  Chodowiecki,  eines 
Riepenhausen  u.  a.  an  Charme  entschieden  gewannen,  erschie- 
nen aber  nur  einmal  im  Jahr.  Da  war  es  sicherlich  ein  äußerst 
glücklicher  Gedanke  des  unternehmenden  J.  J.  Bertuch  in 
Weimar,    eine   Zeitung   herauszugeben,    die  wenigstens   jeden 


221 


G.  Morland,  Das  Picknick 

Monat  einmal  über  die  Veränderungen  der  Mode  berichten 
wollte,  und  sein  »Journal  des  Luxus  und  der  Moden«,  welches 
1/86  zu  erscheinen  begann,  erwies  sich  denn  auch  als  äußerst 
glückliche  Spekulation.  Die  feinen  und  mit  größter  Delika- 
tesse ausgemalten  Modekupfer  verschafften  ihm  ebensoviele 
Freunde  wie  die  literarisch  wertvollen  Texte,  an  denen  Gelehrte 
wie  Hufeland,  Böttiger,  Hirt  u.  a.  sich  beteiligten.  Wie  ein 
roter  Faden  zieht  sich  durch  die  Korrespondenz  der  Frau 
Rat  mit  ihrem  Wolfgang  die  Sorge  um  diese  roten  Heftchen, 
die  sie  mit  Ungeduld  erwartet  und  schmerzlich  vermißt,  wenn' 
sie  mal  ausbleiben.    Gegen  Ende  des   i8.   und  zu  Beginn  des 


222 


19-  Jahrhunderts  werden  die  Modejournale  immer  zahlreicher 
und  erscheinen  auch  immer  häufiger,  schließlich  sogar  all- 
wöchentlich. Als  die  Pariser  Ereignisse  das  Erscheinen  neuer 
Moden  verhindern,  da  beginnt  der  Schwabe  Heideloff  1794 
in  London  seine  Galery  of  Fashion  herauszugeben  und  gibt 
für  einige  Jahre  damit  den  Ton  der  ]\Iode  an.  welche  indessen 
bald   genug  wieder  ihren  Thron   in  Paris   autschlue. 


Hiepenhausen,  Ahnanachkupfer 


223 


D 


Zustände  1  \as  Aussehcn  der  Städte  im  18.  Jahrhundert  vermag  man 
sich  gut  vorzustellen,  sind  uns  doch  in  gemalten  und  ge- 
stochenen Prospekten  jener  Zeit  Bilder  genug  erhalten. 
Betrachtet  man  nun  z.  B.  die  Ansichten  Canalettos  von  Dresden 
und  Pirna,  die  Kupferstichfolgen,  welche  Nürnberg,  Augsburg. 
München.  Göttingen,  Berlin  u.  a.  darstellen,  so  fällt  es  auf, 
daß  die  bedeutendsten  Architekturen  sowohl  der  öffentlichen 
wie  der  Privatgebäude  fast  alle  auf  das  i/.  Jahrhundert  hin- 
weisen, daß  nur  vereinzelte  Bauwerke  im  18.  Jahrhundert  ent- 
standen zu  sein  scheinen.  Damit  stimmt  auch  das  Erinnerungs- 
bild, das  sich  Goethe  an  Frankfurt  bewahrt  hatte,  wo  nichts 
architektonisch  Erhebendes  zu  sehen  gewesen  sei,  alles  auf 
eine  längst  vergangene  Zeit  hingedeutet  habe;  damit  stimmt 
auch  der  Eindruck,  den  Nikolai  1781  auf  seiner  Reise  durch 
Deutschland  von  den  großen  süddeutschen  Reichsstädten  emp- 
fängt. Die  Nachwirkungen  des  verheerenden  Dreißigjährigen 
Krieges  dauern  bis  tief  in  das  18.  Jahrhundert  hinein.  Erst 
1787  z.  B.  errichtet  man  in  Wittenberg  die  Eibbrücke  neu, 
welche  die  Schweden  1637  verbrannt  hatten.  Wenn  man  die 
Ansichten,  die  Salomon  Kleiner  etwa  1710  von  Wien  und  seinen 
Vorstädten  verfertigt  hat,  mit  jenen  vergleicht,  welche  Janscha, 
Schütz,  Ziegler  ca.  80  Jahre  später  ausführten,  so  ist  man  er- 
staunt über  die  geringen  Veränderungen,  die  in  der  Zwischen- 
zeit eingetreten  sind.  Wenn  die  Kulturfortschritte  der  Kaiser- 
stadt so  geringe  waren,  so  nimmt  es  nicht  wunder,  daß  klei- 
nere Städte  noch  viel  weiter  zurückblieben,  so  daß  man  z.  B., 
wenn  man  neue  Pläne  der  Städte  benötigte,  immer  wieder  auf 
die  Merlans  zurückgreifen  konnte,  die  doch  schon  hundert 
Jahre  alt  waren.  K.  Fr.  von  Klöden  schreibt  noch  im  Beginn 
des  19.  Jahrhunderts  über  Preuß.  Friedland:  Dieses  Gepräge 
des  17.  Jahrhunderts  trug  nicht  bloß  die  Schule,  sondern  die 
ganze  Stadt  in  ihren  Einrichtungen,  ihren  Lebensbedürfnissen, 
ihrem  Kulturzustand,  ihrer  Sprache,  ihrer  überaus  einfachen 
Häuslichkeit  und  nicht  minder  ihren  Anschauungen.  Wenn 
fürstliche  Luxusbauten  wie  das  Schloß  Salzdahlum,  das  Opern- 
haus in  Ludwigsburg,  nur  in  Fachwerk  ausgeführt  wurden, 
so  ist  es  selbstverständlich,  daß  die  Privathäuser  der  Bürger 
noch  weit  bescheidener  waren.  Erst  seit  1768  hört  man  z.  B. 
auf,  die  Dächer  in  Weimar  mit  Stroh  zu  decken.  Wenn,  wie 
es  in   Halle   1730  geschah,  alle   Häuser  der  Stadt  auf  Befehl 

224 


17SS 

Magasin  des  Modes 
Straßenkleid 


Die  Mode,    18.  Jalirh.    46 


//.  IV.  Btmbury\  Morgen- Unter 'all im j 

gelb  angestrichen  wurden,  oder  man  in  Jena  zu  diesem  Zweck 
die  grüne  Farbe  vorzog,  so  mag  der  Anblick  freilich  nichts 
Erhebendes  gehabt  haben,  wie  denn  Nikolai  einmal  klagt,  daß 
man  etwas  Schönes  im  modernen  reinen  Stil  nur  in  Hamburg 
oder  Plön  finde,  wo  wenigstens  die  Galgen  aus  korinthischen 
Säulen  bestünden.  In  Florenz  fand  Keyßler  in  den  Bürger- 
häusern statt  der  Fensterscheiben  Papier,  und  wenn  selbst  im 
Schlosse  zu  Bayreuth  die  meisten  Fenster  zerbrochen  waren,  so 
war  es  ja  noch  ein  Vorzug,  daß  die  Häuser  in  Nürnberg,  Alt- 
dorf, Regensburg,  Ulm  wenigstens  Butzenscheiben  aufwiesen ! 
Die  Reinlichkeit  der  Straßen  ließ  für  unsere  Begriffe  alles  zu 
wünschen  übrig.  Liselotte  schrieb  einmal:  Nichts  ist  stinken- 
der und  sauischer  als  Paris,  aber  die  Berichte  über  andere 
Städte  wie  Berlin,  Hamburg,  Rom,  IMadrid  usw.  lauten  ebenso 
ungünstig.  Als  König  Karl  HI.  und  sein  Minister  Esquilache 
unternahmen,    die  Straßen    von   Madrid    säubern    zu    wollen. 


Die  Mode,   18.  Jatrb.  2.  A. 


22- 


15 


verfaßte  die  Korporation  der  Aerzte  eine  Denkschrift,  in  der 
sie  ausführte,  die  Luft  von  Madrid  sei  so  gesund,  daß  es  höchst 
gefährlich  sein  würde,  sie  durch  ReinHchkeit  ändern  zu  wollen  ! 
Mit    der  Beleuchtung    stand    es    nicht    besser.      Berlin   besaß 


Vigee-Lebrun,  Damenbildnis 

Straßenbeleuchtung  seit  1682,  Wien  seit  1687,  langsam  folgen 
die  übrigen  deutschen  Städte.  1702  Leipzig,  1705  Dresden, 
1765  Braunschweig  usw.  Aber  diese  Beleuchtung  ist  cum  grano 
salis  zu  verstehen.  In  Berlin  wie  in  München  brannten  die 
Laternen  im  Sommer  nie  und  auch  im  Winter  nur,  wenn  nicht 
Mondschein  im  Kalender  stand.   Stuttgart  wurde  nur  beleuchtet, 

226 


wenn  der  Herzog  anwesend  war,  Städte  von  der  Bedeutung 
wie  Nürnberg,  Augsburg,  Ulm  besaßen  1781  überhaupt  noch 
keine  regelmäßige  Straßenbeleuchtung!  Auch  die  Beleuchtung 
der   Innenräume   war  bescheiden.     Der  englische  Gesandte   in 


Vigee-Lebrun,  Die  Schauspielerin  Mole-Raymoud 


Berlin,  Lord  Malmesbury  erzählt  1767,  daß  die  Schloßzimmer 
auch  bei  Hoffesten  nur  durch  eine  Kerze  beleuchtet  wurden, 
die  Königin  und  der  Hof  mußten  im  Finstern  warten,  bis  der 
König  anstecken  ließ.  Selbst  im  Salon  der  Gräfin  Dubarry  in 
\'ersailles  trug  der  Lüster  nur  6  Kerzen.  Ebenso  langsam 
beginnt   man  die  Straßen  ordentlich  zu  pflastern.     In  Potsdam 


227 


IS* 


nötigte  der  Schmutz  alle,  die  sich  in  Gesellschaft  begaben  und 
nicht  eigene  Equipage  besaßen,  auf  Stelzen  zu  gehen.  In  Wien 
fiel  es  Nikolai  sehr  auf,  daß  bei  Staub  die  Straßen  täglich  zwei- 
mal gesprengt  wurden.  Oeffentliche  Promenaden  erhielten  Ber- 
lin erst  durch  Friedrich  den  Großen  im  Tiergarten,  Wien  durch 
Joseph  II.  im  Prater  und  im  Augarten.  So  unansehnlich  wie 
die  Häuser  von  außen,  so  unbequem  waren  sie  im  Innern. 
Man  denke  nur  an  die  Beschreibung,  die  Goethe  von  seinem 
Vaterhaus  macht  und  an  die  Szene,  die  er  mit  dem  alten  Rat 
hat,  als  er  ihm  die  praktische  Einrichtung  der  Leipziger  Wohn- 
häuser rühmt.  Nürnberg  fand  Nikolai  150  Jahre  zurück  in 
allem,  was  die  Einrichtung  der  Zimmer  und  die  Ausnutzung 
des  Raumes  beträfe,  nur  Wien  fand  Gnade  vor  seinen  Augen. 
Die  Einrichtung  der  Läden  war  höchst  primitiv.  Das  Brett, 
welches  nachts  das  Fenster  verschloß,  wurde  am  Tage  als  Tisch 
herausgeklappt,  so  daß  der  Käufer  auf  der  Straße  blieb.  So 
wird  es  uns  beschrieben  und  so  zeigen  es  die  Bilder.  Als  der 
Franzose  Gonord,  ein  Silhouettenkünstler,  in  Wien  1782  einen 
Laden  eröffnete,  erregte  es  Erstaunen  und  Mißbilligung,  daß 
er  abends  sogar  sein  Fenster  beleuchtete.  Fachwerkhäuser, 
Schindel-  und  Strohdächer  machen  Brände  zur  größten  Gefahr. 
Nur  sehr  allmählich  wird,  vielfach  zwangsweise,  die  Feuerver- 
sicherung eingeführt,  welche  großem  Widerstand  begegnet, 
denn,  sagen  in  Württemberg  die  Prälaten :  Womit  soll  denn 
Gott  strafen,  wenn  alles  versichert  ist? 
Rnsen  Dem  Zustaud  der  städtischen  entsprach  jener  der  Land- 
straßen. Oesterreich  hatte  die  besten,  Süddeutschland  gute, 
die  schlechtesten  Preußen,  das  erst  seit  1787  Chausseen  erhält. 
Friedrich  IL  hatte  eine  Abneigung  gegen  den  Bau  von  Chaus- 
seen gehabt,  »damit  die  fremden  Fuhrleute  auf  den  schlechten 
Wegen  desto  länger  liegen  bleiben  und  mithin  mehr  ver- 
zehren müssen«.  Man  rechnete  damals  in  Süddeutschland 
etwa  15  bis  18  Meilen  täglich  zurücklegen  zu  können,  während 
das  in  Norddeutschland  unmöglich  war.  Die  Markgräfin  Wil- 
helmine fährt  von  Hof  bis  Schleiz  neun  Stunden,  Casanova 
von  Magdeburg  nach  Berlin  drei  Tage.  Im  Auslande  war  es 
nicht  besser.  Winckelmann  braucht  im  Trentino  einen  ganzen 
Tag,  um  zwei  Meilen  zurückzulegen,  1758  von  Rom  nach  Neapel 
fünf  Tage.  Dabei  sind  Wagen  und  Wege  so,  daß  man  weder 
sitzen,  noch  stehen,  noch  liegen  kann.   Die  Schnellpost,  welche 

228 


Romney,  Lady  Hamilton  am  Spinwad 


Die  Mode.   18.  Jahrh.  47 


Vigie-Lebrun,  Harfenspielerin 


229 


Casanova  in  fünf  Tagen  von  Lyon  nach  Paris  bringen  soll, 
ist  ein  ovaler  Kasten,  der  schwankt  wie  ein  Schiff  im  Sturm 
und  den  Unglücklichen  sofort  mit  Vehemenz,  seekrank  macht. 
So  reiste  denn  auch  nur,  wer  absolut  mußte.  Kant  z.  B.  ist 
sein  lebelang  nie  über  den  Umkreis  von  Königsberg  hinaus- 
gekommen.      Bei 

den    schlechten 
Wegen    sind   Un- 
fälle etwas  Selbst- 
verständliches. 
Winckelmanns 
Freund  Berg  aus 
Livland  hatte  1767 
auf  derReise  durch 

Frankreich  bei 
Avignon  einenUn- 
fall,  dessen  Folgen 
ihn  zwingen,  6  Wo- 
chen das  Zimmer 
zu  hüten.  Der 
Fürstin  Liechten- 
stein bricht  der 
Wagen  zweimal 
zwischen  Mün- 
chen und  Ansbach. 
Die  Dichterin   Si- 

donia  Hedwig 
Zäunemann  er- 
trinkt auf  der 
Reise  von  Erfurt  nach  Ilmenau  in  einem  angeschwollenen 
Fluß.  Wer  damals  eine  Reise  tat,  der  konnte  was  erzählen! 
Seit  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  hatte  der  Freiherr 
V.  Lilien  Fahrposten  eingeführt  im  Dienste  der  Taxisschen 
Post.  Die  Meile  kostete  26  Kreuzer,  mit  Extrapost  i'/z  Taler; 
die  preußischen  Postwagen  waren  nur  auf  den  Hauptlinien 
bedeckt,  sonst  offen.  Alle  20  Meilen  wurde  umgepackt.  Die 
Reisekosten  berechnete  Schlözer  für  eine  Person  auf  einen 
Dukaten  für  die  laufende  Meile.  Wen  nun  die  hohen  Kosten 
nicht  abhielten,  der  scheute  außer  schlechten  Straßen  und 
schlechtem   Fuhrwerk  vielleicht  noch   die  eroben   Postillione. 


Reynolds^    Contemplation 


230 


Friedrich  der  Große  erzählte  de  Catt  eine  köstliche  Geschichte, 
die  einem  seiner  französischen  Bekannten  zwischen  Potsdam 
und  Berlin  passiert  war.  Monsieur  Cogolin,  dem  der  Wagen 
in  dem  mahlenden  Sand  zu  langsam  vorwärts  kommt,  glaubt, 
den  Postillion  durch  Stockschläge  aufmuntern  zu  sollen. 
Ganz  unversehens  aber  steigt  dieser  ab,  setzt  den  Koffer  des 
Franzosen  auf  die  Straße, 
zieht  diesen  selbst  aus 
dem  Wagen  und  verhaut 
ihn  nach  besten  Kräften, 
dann  läßt  er  ihn  neben 
seinem  Gepäck  stehen  und 
fährt  davon,  so  daß  der 
Franzmann  mit  seinem 
Koffer  auf  dem  Rücken 
zu  Fuße  nach  Berlin 
laufen  muß,  und  auf 
seine  Beschwerde  vom 
König  obendrein  noch 
ausgelacht  wird.  Dit 
große  Unsicherheit  der 
Straßen  war  wohl  ein 
Hauptgrund,  der  das 
Reisen  zum  bloßen  Ver- 
gnügen nicht  gerade  rät- 
lich machte.  Das  i8. Jahr- 
hundert war  das  der 
großen  Straßenräuber  und  R^y^oids,  Lady  Caroline  Price 
Mordbrenner,    die    gleich 

in  ganzen  Banden  die  Gegenden  unsicher  machten,  und  mit 
offener  Gewalt  plünderten  und  raubten.  Italien,  Frankreich, 
Deutschland,  England  gaben  sich  darin  nichts  nach.  Sie 
haben  um  ihre  Lips  Tullian  und  Nickel  List,  um  Mandrin 
und  Cartouche,  Rinaldo  Rinaldini,  Highwaymen  usw.  auch 
den  gleichen  Nimbus  der  Romantik  gewoben.  In  London 
ging  niemand  ohne  Waffen  aus,  denn  am  hellen  Tage  über- 
fielen die  Gauner  in  den  belebtesten  Straßen  der  Stadt  die 
Wagen,  schnitten  die  Riemen  durch,  in  denen  die  Kutschkästen 
hingen  und  nahmen  den  Insassen  alle  Wertsachen  ab.  Die 
Unternehmer    des   Vergnügungsetablissements   in   Vauxhall, 


231 


nS6 


Älagasin  des  Modes 


nss 


das  vor  dem  Tore  lag,  gaben  bekannt,  daß  der  Weg  bis 
Westminsterbridge  abends  beleuchtet  und  gegen  Straßenräuber 
bewacht  werde. 
R.iniichktii  Wer  sich  vom  Standpunkte  heutiger  Verwöhnung  aus  über 
die  schlechten  Straßen  jener  Zeit  und  zumal  über  ihren  un- 
glaublichen Schmutz  wundern  wollte,  der  darf  nicht  vergessen, 
daß  ein  Geschlecht,  welches  in  seinen  Wohnungen  und  an 
sich  selbst  den  Begriff  der  Reinlichkeit  überhaupt  nicht  kannte, 
darin  eben  gar  nicht  anspruchsvoll  war.  Die  Galerie  vor  den 
Zimmern  der  Prinzessin  Wilhelmine  im  Berliner  Schloß  be- 
nutzten die  Wachen  als  Abort,  denn  besondere  Einrichtungen 
dafür  waren  damals  noch  lange  nicht  allgemein.  Ist  doch 
selbst  im  Schlosse  zu  Versailles  der  erste  Heu  d'aisance  erst 
unter  Ludwig  XVI.  angelegt  worden,  und  diente  nur  für  den 
König  und  die  Königin.  Henri  de  Gatt  kann  es  im  Kloster 
Grüssau  vor  Unsauberkeit  und  schlechter  Luft  kaum  aushalten, 
so  wenig  wie  Keyßler  in  der  »Schweinerey«  des  Dogenpalastes 
in  Venedig.   Liselotte  findet  in  Saint  Gloud  vor  Wanzen  keinen 


232 


Bartolozzi  nach  Sir  Joshua  Reynolds,  Jane  Counless  of  Harrington  mit  Kindern 


Die  Mode.   18.  Jatrh.   48 


y} 


Schlaf  und  sie  tröstet  sich  nur  mit  dem  Schicksal  ihrer  Tochter, 
der  Königin  von  Sizilien,  der  es  in  ihren  Betten  nicht  besser 
geht.  Ebensowenig  wie  Klosetteinrichtungen  gab  es  Bade- 
zimmer. Die  eine  Badewanne  in  Versailles  war  vermauert 
worden  und  wurde,  als  man  sie  zufällig  auffand,  als  Schale 
für  einen  Springbrunnen  in  den  Park  der  Pompadour  ver- 
setzt. Ludwig  XIV.  hatte  nur  gebadet,  wie  St.  Simon  erzählt, 
als  er  noch  verliebt  war.  Dieser  große  Herrscher  pflegte 
sich  beim  Aufstehen  mit  einem  in  Parfüm  getauchten  Tuch 
das  Cesicht  abzuwischen,  ein  Edelmann  goß  ihm  ein  paarTropfen 
Rosen-  und  Orangenwasser  über  die  Fingerspitzen  und  damit 
war  er  fertig.  Wenn  in  einer  Anleitung  zum  guten  Ton  zum 
Gebrauch  für  die  höheren  Stände  noch  1782  vor  dem  Ge- 
brauch des  Wassers  zum  W^aschen  gewarnt  wird  und  dafür 
Parfüm  empfohlen  wird,  wenn  man  liest,  daß  es  gut  sei,  sich 
beinahe  täglich  die  Hände 
und  fast  ebenso  oft  das 
Gesicht  zu  waschen,  so 
wundert  man  sich  über 
nichts  mehr.  Kaiserin  Anna 
von  Rußland  brauchte 
niemals  Wasser  zu  ihrer 
Toilette,  sondern  rieb  sich 
mit  Butter  ab.  Liselotte, 
die  ihre  Tageseinteilung 
einmal  genau  beschreibt, 
bemerkt,  daß  sie  sich  nach 
dem  Aufstehen  die  Hände 
wäscht,  das  ist  alles,  und 
darum  suchen  wir  in  den 
Prachträumen  jener  Zeit 
den  Waschtisch  ganz  ver- 
geblich. Es  gibt  detail- 
getreue Abbildungen  der 
WohnzimmerLudwigXIV., 
des  Prinzen  Eugen  u.  a., 
sie  zeigen  keine  Spur  von 
einem  Waschtisch.  Die 
Waschbecken,  die  uns  aus 
jener    Zeit    erhalten     sind,       Magasin  des  Modes,  iy88 


233 


Watteau  de  Lille,  tAiinable  Colinette*.    (Modekupfer) 

Aus  der  Galerie  des  Modes,  178g 

haben  die  Größe  etwa  von  Fingerbowls,  ■  wie  wir  uns  ihrer 
bei  Tisch  nach  dem  Obstessen  bedienen.  Nimmt  man  dazu, 
daß  diese  Herrschaften,  Herren  wie  Damen,  alle  schnupften 
(Tabakdosen  waren  die  beliebtesten  Geschenke  für  Damen, 
zur  Ausstattung  Marie  Antoinettes  gehörten  52  goldene 
Dosen,  der  Prinz  Conti  hinterließ  800  Dosen,  Graf  Brühl 
ebenso  viele),  so  kann  man  sich  vorstellen,  wie  sauber  sie 
ausgesehen  und  wie  sie  —  gerochen  haben.  Liselotte  sagt 
vom  Schnupftabak,  daß  er  stinkend  und  allen  Damen 
schmutzige  Nasen  mache.  Die  schöne  Aurora  von  Königs- 
marck  roch  so  übel,  daß  August  der  Starke  ihr  eine  andere 
vorzog;     von    der    Frau    Friedrichs    des    Großen    sagte    ihre 

234 


liebende    Schwägerin :    Sie    stinkt    entsetzlich.     Der    berühmte 
Anton  Magliabecchi   wusch   sich   nie   und   war  ebenso  berüch- 
tigt  durch   seine  Unreinlichkeit   wie   der  unsterbliche  Leibniz. 
Die  Aversion   Liselottens    gegen    das    Baden    —   sie    schreibt 
einmal:    »Baden  wäre  meine  sache  nicht,  habe  diese  lust  mein 
lebe  lang  nicht  begreifen  können«  —  dauert   das   ganze  Jahr- 
hundert hindurch   an.     Goethe  rechnet   das  Baden   im  fließen- 
den Wasser  unter  die  »damaligen  Verrücktheiten«  seiner  Jugend 
und   als    er    und    die   Grafen   Stolberg    in    Darmstadt,    in    der 
Schweiz  sich  im  Freien  baden,  da  ziehen  sie  ihren  Gastgebern 
Merck  und  Lavater  den  größten  Verdruß  zu;    die  Rechtgläu- 
bigkeit des  Theologiestudenten  Seume  wird   1780   vom  Kon- 
sistorium  in  Leipzig  in   Zweifel  gezogen,   weil   er   sich   zu  oft 
gebadet   hätte!      Es   war  etwas   so   Ungewöhnliches,    sich   die 
Zähne  zu  putzen,  daß  Fürst  Kaunitz  eine  Hauptaffäre  daraus 
machte,  die  er,  unbekümmert  um  Ort  und  Gesellschaft,  un- 
mittelbar nach  dem  Essen,  noch  bei  Tische  sitzend,  vornimmt. 
In  späteren  Jahren  wurde  den  französischen  Prinzen  die  Zähne 
einmal   im  Monat  von  einer  eigens  damit  beauftragten  Person 
gereinigt.  Daß  der  Jenenser  Student  Bartholomäus  Fischenich 
seine  Nägel  pflegte,  erschien  Charlotte  von  Schiller  so  lächer- 
lich,  daß   sie  über  ihn   schreibt:    »F.  putzt   die   Nägel   fleißig. 
Wir  haben  ausgedacht,   er  könne   darauf  reisen   und   wie   ein 
Zahnarzt    seine   Kunst    ausbieten.      Damen    werden    bald    für 
wichtig  halten,    schöne  Nägel  zu  haben.«     Sie  ahnt  also  die 
Manicure !     Diesen  Anschauungen  entsprachen   die  Manieren. 
Noch   Ludwig  XIV.  aß  mit  den   Fingern  und  zu  seiner  Zeit    Essen 
tauchte  beim  Essen  jeder  mit  seinem  Löffel  in  alle  Schüsseln. 
Zum   Vorlegen   bedienten   sich   die  Damen   ihrer  zehn  Finger. 
Gabeln   sowie   der  Gebrauch   besonderer  Löffel   zum  Vorlegen 
kommen  erst  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  im  allgemeinen 
Gebrauch.    In  Hamburg  erhielt  man  schon  in   den  achtziger 
Jahren    »auf   englische  Art«    zu   jedem   Gericht  reine  Messer 
und   Gabeln,   in  Wien   noch   nicht,   da  empfing  jeder  Gast  eine 
silberne   dreizinkige  und  eine  stählerne  zweizinkige  Gabel,   um 
sich  ihrer  zum  Nehmen  und  Essen  zu  bedienen,  dagegen  stän- 
dig reine  Löffel.     In  Wien  erhielt  man  auch  zum  Dessert  eine 
reine    Serviette,    die    man    aber    nicht    brauchen    durfte.      Das 
Essen   war  überhaupt  in   dieser  Zeit  eine  wichtige  Angelegen- 
heit.   Man  aß  unendlich  viel   mehr  als  heute,  wenn  auch  der 

235 


berühmte  Josef  Kohlnicker  aus  Passau,  der  auf  einen  Sitz 
zwei  gebratene  Kälber  verzehrte,  12  Maß  Wein  dazu  trank 
und  in  den  Pausen  Filzhüte  knusperte,  ein  ausnahmsweiser 
Vielfraß  gewesen  sein  dürfte !  Man  servierte  die  Mahlzeiten 
in  Trachten,  so  daß  immer  mehrere  Gerichte  auf  einmal  auf 
dem  Tische  standen.  Der  erste  Gang  bestand  etwa,  wie  es 
Keyßler  aus  Genf  beschreibt,  nur  aus  gekochten  Speisen,  der 
zweite  nur  aus  gebratenen,  der  dritte  nur  aus  gebackenen, 
der  vierte  brachte  endlich  das  Dessert.  Ein  Diner  des  18.  Jahr- 
hunderts würde  im  20.  mindestens  für  zehn  ausreichen.  Darum 
verbrachte  man  auch  viel  Zeit  bei  Tische.  In  den  Villeggia- 
turen  der  vornehmen  Venezianer  herrschte  eine  Zeitlang  die 
Sitte,  eine  Mahlzeit  in  drei  verschiedenen  Sälen  einzunehmen, 
in  einem  Suppe  und  Fleisch,  im  zweiten  Braten,  im  dritten 
die  Süßigkeiten.  Kaffee  und  Liköre  wieder  in  eigenen  Kios- 
ken. In  Magdeburg  dauerte  ein  Diner,  wie  Frau  v.  Voß 
schreibt,  einen  halben  Tag,  ein  Fastenessen  in  Wien  immerhin 
fünf  Stunden.  Die  gewöhnliche  Tafel  des  Wiener  Bürgers 
war  mittags  mit  zehn  bis  zwölf  Speisen  besetzt,  bei  festlichen 
Schmausen  gab  es  24  Schüsseln.  Da  erschien  den  Wienern 
das  Menü,  welches  die  Zöglinge  der  orientalischen  Akademie 
erhielten,  natürlich  sehr  mäßig,  die  armen  Hascherin  kriegten 
ja  auch  mittags  nur  fünf  und  abends  gar  nur  drei  Gänge ! 
Im  Gegensatz  dazu  begnügten  sich  die  »Hungerpreußen«  mit 
zwei  Schüsseln,  wofür  sie  von  den  Phäaken  des  Südens  auch 
gründlich  verachtet  wurden.  Am  Hofe  Friedrich  Wilhelms  I. 
mußte  man  nach  dem  Bericht  seiner  Tochter  von  dem 
Geruch  satt  werden  und  am  kurbayerischen  Hof  scheint  es 
nicht  immer  viel  besser  gewesen  zu  sein,  wenigstens  schreibt 
Graf  Lynar  1762  aus  Nymphenburg,  man  bekomme  wenig 
zu  essen  und  alles  sei  kalt.  Casanova  bewirtet  die  Hof- 
gesellschaft des  Kurfürsten  von  Köln  in  Brühl  mit  einem 
Dejeuner  von  24  Schüsseln,  ungerechnet  die  Austern  und 
das  Dessert  und  er  verzehrt  ein  andermal  in  Mailand  mit 
sieben  anderen  30D  Austern  und  20  Flaschen  Sekt.  Dem 
Thermometermacher  Reaumur  verdankte  man  es.  Gefrorenes 
herstellen  zu  können,  eine  kulinarische  Kunst,  die  auch  als- 
bald eifrig  ausgeübt  wurde.  Frau  Rat  allerdings  goß  noch 
das  Eis,  das  der  Königsleutnant  ihren  Kindern  schickte,  fort, 
denn   das    könne    unmöglich    gesund    sein.     Ein    ganz   beson- 

236 


yn^fi^ssf 


L'^iäs-Philibert  Debucotirt,  La  rose  mal  de/endue 


derer  Feinschmecker  war  jedenfalls  der  Graf  Manderscheidt- 
Blankenheim,  Bischof  von  Wiener-Neustadt,  der,  um  seine 
Hechte  ja  recht  schmackhaft  zu  bekommen,  sie  —  mit 
Forellen  füttern  ließ.  Eine  größere  Rolle  als  das  Essen 
spielte,  wenigstens  im  Anfang  des  Jahrhunderts,    das  Trinken, 

237 


zumal  in  Deutschland.  Lord  Chesterfield  schreibt,  daß  man 
an  den  Höfen  der  geistlichen  Kurfürsten  in  Trier  und  Mainz 
gesoflfen  habe  wie  die  Vandalen,  Baron  Pöllnitz  wird  in 
Würzburg  acht  Tage  lang  gar  nicht  nüchtern,  der  Mark- 
graf von  Bayreuth  betrinkt  sich  täglich  nur  dreimal.  König 
Friedrich  Wilhelm  I.  und  August  der  Starke  gründen  mit- 
einander die  Societe  des  Antisobres.  Als  Keyßler  1730  in 
Florenz  weilt,  erzählt  man  ihm,  daß  der  Großherzog  —  der 
letzte  Medici  —  seit  einem  halben  Jahr  nicht  mehr  nüchtern 
geworden  sei.  Liselotte,  die  mit  ihrer  gewohnten  Offenher- 
zigkeit 1699  schreibt:  »das  sauffen  ist  gemein  bei  die  weiber«, 
erzählt  1722  die  Geschichte  vom  kaiserlichen  Gesandten  Grafen 
Sintzendorff,  der  sich  in  Rheims  an  Champagner  so  sternvoll 
getrunken,  daß  er  »zweimal  24  Stundt  wie  eine  bestia  ist  liegen 
geblieben«.  Sogar  am  Hof  des  Kronprinzen  Friedrich  in  Rheins- 
berg betrinkt  sich  die  Gesellschaft  nach  dem  Bericht  Baron 
Bielefelds  derart,  daß  sie  im  Suff  alles  Geschirr  kurz  und  klein 
schlägt,  genau  wie  in  Nymphenburg,  wo  bei  der  Einweihung 
der  Magdalenen-Kapelle  im  Rausch  des  Finale  für  200  Taler 
Gläser  zerbrochen  wurden.  Die  Gläser  standen  bei  Mahlzeiten 
nicht  auf  dem  Tisch.  Man  mußte  sie  sich  zum  Trinken  fordern, 
außer  bei  den  parties  fines,  wo  keine  Diener  zugegen  waren. 
Unser  heutiger  Gebrauch  stammt  erst  seit  der  Revolution. 
So  waren  denn  die  Gäste  in  Wien  z.  B.  gewohnt,  bei  ihrem 
Couvert  eine  Liste  der  Weine  zu  finden,  die  sie  verlangen 
konnten.  Darin  suchte  ein  Gastgeber  den  anderen  zu  über- 
treffen. Bis  zu  18  verschiedene  Sorten  wurden  angeboten, 
eine  Unsitte,  die  der  französische  Gesandte  de  Bussy  dadurch 
persiflierte,  daß  er  einmal  eine  »Liste  von  Weinen,  die  ich 
nicht  habe«,  auflegte.  Wenn  Trinken  und  Betrinken  nicht 
nur  an  den  Höfen  allgemeine  Sitte  war,  sondern  es  auch  in 
Bürgerkreisen  zum  guten  Ton  gehörte,  sich  zu  berauscli^n, 
wie  Winckelmann  mit  gutem  Humor  von  seinen  Räuschen 
berichtet,  wenn  man  in  Nürnberg  z.  B.  fremde  Gäste  nicht 
im  eigenen  Hause  bewirtet,  sondern  sie  ins  Wirtshaus  führt, 
und  ihnen  einen  Rausch  anhängt,  so  erlaubt  das  einen  Rück- 
schluß auf  die  Manieren,  die  im  übrigen  den  Verkehr  be- 
stimmten. Die  Prinzessin  Wilhelmine,  die  vom  Hofe  ihres 
königlichen  Vaters  her  an  Zoten,  Zweideutigkeiten,  und  Stock- 
prügel gewöhnt  war,   ist  doch   noch   überrascht  durch  die   un- 

238 


anständige  Unterhaltung,  die  der  Erbprinz  von  Hessen-Darm- 
stadt mit  seiner  Schwester  führt  und  chokiert  durch  die  freien 
Manieren  der  Herzogin  von  Württemberg.  Liselotte,  die  an 
einem  Hofe  lebte,  der  in  der  Welt  als  das  Musterbild  des 
feinsten  Tons  galt,  schreibt  1702:  Am  Hof  weiß  niemand, 
was  Politesse  ist  als  der  König  und  der  Dauphin,  die  gelten 
am  artigsten,  so  am  plumpsten  sind  und  wenn  sie  ein  anderes 
Mal  den  Lieblingswitz  des  großen  Dauphins  erzählt,  der  darin 
bestand,  den  Damen,  die  im  Begriffe  waren,  sich  zu  setzen, 
die  Hand  mit  aufgerichtetem  Daumen  unterzuhalten,  so  darf 
man  ihr  wohl  recht  geben,  daß  das  plumpe  Spaße  waren. 
Friedrich  August  IL  von  Sachsen-Polen  hielt  sich  noch  Hof- 
narren, deren  Roheiten  sein  größtes  Vergnügen  bildeten.  Der 
allgemein  im  18.  Jahrhundert  noch  herrschende  Ton  würde 
uns  wohl  heute  sehr  befremden.  Auf  der  einen  Seite  im  Ver- 
kehr mit  Hochstehenden  eine  Etikette,  die  bei  der  Aufwar- 
tung vor  Kaiser  und  Kaiserin  die  spanische  Reverenz  ver- 
langt, d.  h.  ein  Niederfallen  auf  beide  Knie,  auf  der  anderen 
Seite  eine  Rücksichtslosigkeit  gegen  Gleichberechtigte  oder 
Niederstehende,  die  erstaunt.  In  studentischen  Kreisen  galt 
die  gröbste  Roheit  und  Unflätigkeit  für  Witz,  Lauckhard  ist 
ein  klassischer  Zeuge  dafür.  Im  Siegwart  kommt  es  vor,  daß 
Herren  sich  in  Dämengesellschaft  ohrfeigen,  daß  der  Puder 
stäubt.  Militär  und  Kaufleute  waren,  wie  Dorothea  Schlegel- 
Veith  berichtet,  nicht  weniger  roh,  besonders  in  Berlin,  und 
als  das  Geniewesen  Mode  war,  da  durchbrachen  die  Stürmer 
und  Dränger  absichtlich  wieder  die  Schranken,  di.e  der  gute 
Ton  aufzurichten  begonnen  hatte.  Charlotte  v.  Stein  schreibt 
an  Zimmermann,  daß  der  Herzog  Karl  August  selbst  so  sehr 
Kraftbursche  geworden  sei,  daß  er  finde,  Leute  mit  Anstand 
und  feinen  Manieren  könnten  unmöglich  ehrliche  Männer  sein. 
Die  bequemen  Manieren  dringen  auch  in  die  Damenwelt,  so- 
gar an  den  Hof.  Die  Gräfin  Voß  beschwert  sich  bitter  dar- 
über, daß  die  Damen  sich  begnügen,  als  Gruß  mit  dem  Kopf 
zu  nicken,  anstatt  sich  mit  den  Knien  ehrbar  und  feierlich 
herabzusenken  und  langsam  und  stattlich  wieder  zu  erheben. 
Erst  das  häufige  Zusammenkommen  der  Geschlechter  ver- 
feinerte die  Sitten.  Auch  dafür  gab  Frankreich  das  Vorbild. 
Die  schöngeistigen  Pariser  Salons,  die  berühmt  gewordenen 
Bureaux  d'esprit    der   Damen    Tencin,    Geoffrin,    Lespinasse, 

240 


du  Deffand  u.  a.,  die  in  ihren  geselligen  Zusammenkünften 
die  geistreichsten  Männer  mit  den  schönsten  Frauen  zusam- 
menführten, gaben  den  Ton  einer  verfeinerten  Gesellschaft, 
die  in  ganz  Europa  bewundert  und  nachgeahmt  wurde.  Die 
Frau  der  bürgerlichen  Kreise  lebt  im  i8.  Jahrhundert  sehr 
abgeschlossen;  eine  Geselligkeit  außer  dem  Hause  existierte 
eigentlich  nur  für  Männer.  Mit  Ausnahme  der  seltenen  großen 
Familienschmäuse  war  die  Frau  so  ziemlich  auf  das  Kaffee- 
kränzchen beschränkt,  dessen  Auftauchen  wir  an  der  Hand 
der  Spottbilder  bis  in  das  erste  Drittel  des  Jahrhunderts  ver- 
folgen können.  In  Nürnberg  wurden  zu  Damengesellschaften 
nicht  einmal  die  einheimischen  Herren  zugelassen.  Die  Männer 
gingen  ins  Wirtshaus  und  begannen  sich  in  Klubs  nach  eng- 
lischem Muster  zusammenzuschließen.  J749  erhält  Berlin  seinen 
Montagsklub,  vorwiegend  literarischen  Charakters,  dem  u.  a. 
Lessing,  Nikolai,  Ramler  angehört  haben.  1752  gründet  der 
Assessor  v.  Wülben  in  Hannover  einen  Klub  mit  geselligem 
Endzweck.  Aus  Italien  und  Frankreich  werden  Kaffeehäuser 
und  Konditoreien  bei  uns  eingeführt,  deren  Wirte  denn  auch 
lange  Zeit  Ausländer  waren.  In  München  Tambosi,  in  Berlin 
Josty,  d'Heureuse,  Spargnapani,  in  Weimar  Ortelli,  Predari, 
Horny,   in   Kassel   Beneze   usw. 

Mehr  Vergnügen  verschafften  sich  die  Höfe  und  Adelskreise,  Verpuiguvofn 
deren  raison  d'etre  wie  heute  einzig  in  der  Zerstreuung  be- 
stand. Kaiserin  Katharina  II.  schildert  in  ihren  Erinnerungen 
die  Maskenbälle,  die  ihre  Vorgängerin  auf  dem  Throne  zu 
veranstalten  liebte,  alle  Herren  mußten  als  Damen,  alle  Damen 
als  Herren  gekleidet  erscheinen.  Graf  Lehndorff  erzählt  von 
derartigen  Soupers  beim  Prinzen  von  Preußen  und  fügt  hinzu, 
besonders  spaßhaft  habe  der  Bischof  von  Breslau,  Graf  Schaff- 
gotsch,  als  Dame  ausgesehen.  Während  des  Siebenjährigen 
Krieges  residierte  der  preußische  Hof  in  Magdeburg,  aber 
auch  während  der  trübsten  Zeiten  desselben  verzeichnet  das 
Tagebuch  der  Frau  v.  Voß  nichts  als  Schlittenfahrten,  Schäfer- 
spiele, Cafes  coiffes  und  andere  Amüsements.  Prinzessin 
Amalie  veranstaltet  einmal  ein  Fest,  zu  dem  alle  Herren  sich 
als  Damen,  alle  Damen  sich  als  Herren  verkleiden  müssen. 
In  Wien  waren,  solange  ein  Türkenkrieg  dauerte,  Masken- 
bälle überhaupt  nicht  erlaubt,  während  die  großen  Schlitten- 
fahrten,  das   Hauptvergnügen   der   vornehmen  Wiener  Gesell- 

Die   Mode.   18.  Jahrfe.  2.  A.  24I  16 


Schaft,  nicht  auszusetzen  brauchten.  Eine  solche  Schlitten- 
fahrt, zu  der  der  Schnee  oft  erst  in  die  Stadt  gebracht  werden 
mußte,  kostete  den  teilnehmenden  Herren  500  Louisdors  und 
mehr.  Die  Schlittenequipage  eines  Grafen  veranschlagte  Nikolai 
auf  30000  bis  70000  Gulden.  Zur  Zeit,  als  Lady  Montague 
sich  in  Wien  aufhielt,  veranstaltete  man  »Merenden«,  Abend- 
gesellschaften, bei  denen  um  2  Uhr  nachts  das  Souper  serviert 
wurde,  und  um  3  Uhr  der  Ball  begann.  Ein  Hauptvergnügen 
der  Höfe  waren  die  »Wirtschaften«,  Feste,  bei  denen  die  An- 
wesenden sich  als  Bauern  maskierten  und  für  den  Abend  die 
Etikette  beiseite  legten.  In  einem  Brief  vom  13.  Juli  1700 
beschreibt  Leibniz  der  Kurfürstin  Sophie  eine  Wirtschaft, 
die  der  preußische  Hof  in  Charlottenburg  als  Jahrmarkt  ge- 
spielt hat.  Von  dem  Ton  kann  man  sich  einen  Begriff  machen, 
wenn  man  hört,  daß  die  Prinzessin  Wilhelmine  in  Bayreuth 
eine  Wirtschaft  veranstaltet,  bei  der  sich  die  Gesellschaft  im 
»Wirtshaus  zur  guten  Frau  ohne  Kopf«  versammelt.  Auch 
an  dem  feierlichen  Wiener  Hofe  waren  die  Wirtschaften  ein 
Hauptvergnügen.  Man  rechnete,  daß  eine  solche  jedem  der 
Teilnehmer  für  sich  und  seine  Dame  auf  3000  Gulden  zu 
stehen  käme.  Als  Kaiser  Joseph  II.  1777  auf  dem  Wege  nach 
Paris  durch  Stuttgart  kam,  hatte  er  die  Einladung  des  Her- 
zogs, bei  ihm  abzusteigen,  abgelehnt  und  verlangt,  im  Gast- 
haus zu  wohnen.  Da  ließ  der  Herzog  an  dem  Residenzschloß 
ein  großes  Schild  anbringen:  Wirtshaus  zum  römischen  Kaiser, 
verkleidete  sich  als  Wirt,  den  Hof  als  Dienstpersonal  und 
zwang  den  überraschten  Monarchen  auf  diese  Weise,  doch 
seine  Gastfreundschaft  anzunehmen.  Der  Hof  der  Herzöge 
von  Württemberg  gehörte  im  18.  Jahrhundert  überhaupt  zu 
den  brillantesten  in  Europa.  Man  konnte  sich  im  Karneval 
nirgends  besser  unterhalten,  als  in  Stuttgart.  Alle  Dienstag 
und  Freitag  um  5  Uhr  war  Oper,  alle  Montag  und  Donners- 
Buiie  tag  abends  von  8  bis  2  Uhr  Redoute.  Der  Besuch  derselben, 
auf  denen  es  sehr  frei  zuzugehen  pflegte,  war  den  Beamten 
mit  Frau  und  Töchtern  befohlen,  wer  nicht  hinging,  dem 
wurde  zur  Strafe  ein  Vierteljahrsgehalt  abgezogen.  In  Augs- 
burg fanden  im  Januar  und  Februar  in  den  Drei  Mohren 
Maskenbälle  statt,  die  um  so  besuchter  waren,  als  die  übrigen 
Reichsstädte  Nürnberg,  Ulm,  Biberach,  Nördlingen,  Hall  u.  a. 
solche  Vergnügungen    nicht   kannten.       Wie    ein   preußischer 

242 


Werbeoffizier,  der  lange  in  Süddeutschland  in  Garnison  stand, 
1785  berichtet,  war  die  Lebensart  dieser  Reichsstädte  sehr  ein- 
förmig. N-ur  mit  Heilbronn  und  seinen  modernen  Einwohnern 
macht  er  eine  Ausnahme.  Zu  den  Zeiten  Lady  Montagues 
hatte  das  En- 
tree      zu      den 

öffentlichen 
Bällen  in  Wien 

der   Dame 
nichts  und  dem 
Herrn   einen 
Dukaten   ge- 
kostet. 70  Jahre 
später    kostete 
das    Entree  zu 
den    Redouten, 
die  im  Fasching 

dreimal  wö- 
chentlich in  der 
Hofburg  statt- 
fanden, nur 
noch  zwei  Gul- 
den. Oeffent- 
liche  Bälle  wa- 
ren eine  Not- 
wendigkeit zu 
einer  Zeit,  in 
der  turmhohe 
Schranken  den 
Adel  vom  Bür- 
gerstand schie- 
den. Als  der 
Adel  in  Dessau 
einen  Ball  gab, 

lud  er  aus  dem  Philanthropin  natürlich  nur  die  adeligen  Schüler 
ein.  Da  diese  aber  ohne  Begleitung  eines  Lehrers  nicht  aus- 
gehen durften,  ein  bürgerlicher  Schulmeister  aber  ganz  un- 
möglich auf  einen  Ball  Adeliger  zugelassen  werden  konnte, 
so  mußte  für  den  Abend  ein  italienischer  Edelmann  engagiert 
werden,   um   die   Knaben   zu  begleiten.     Nur  auf  öffentlichen 


243 


16* 


Bällen,  gar  auf  Redouten,  konnten  Adelige  und  Bürgerliche 
miteinander  tanzen.  Viel  bewunderte  Vergnügungsetablisse- 
ments, deren  Einrichtungen  überall  nachgeahmt  wurden,  waren 
in  London  Ranelagh  und  Vauxhall  gardens.  Sie  konkurrierten 
so  erfolgreich  mit  den  Subskriptionsbällen  der  Therese  Cor- 
nelys,  der  Freundin  Casanovas,  daß  diese  berühmte  Vergnü- 
gungskünstlerin 1797  im  Schuldgefängnis  in  Fleetstreet  starb, 
nachdem  ihr  Millionen  von  Pfund  Sterling  durch  die  Hände 
gegangen  waren.  Zu  ihren  Bällen  hatte  man  nie  weniger  als 
zwölf  Billetts  nehmen  können,  welche  neun  Pftmd  kosteten 
und  dabei  belief  sich  die  Zahl  ihrer  Subskribenten  auf  ca.  3000. 
Man  tanzte  unter  hundert  verschiedenen  Namen,  was  man 
heute  Kontertänze  nennt:  Pavanen,  Couranten,  Quadrillen, 
Menuetts,  seit  dem  Siebenjährigen  Kriege  bürgert  sich  in  der 
vornehmen  Gesellschaft  Frankreichs  die  Allemande  ein,  jener 
überaus  graziöse  Tanz,  den  das  berühmte  Blatt  Saint  Aubin's 
»Le  bal  pare«  darstellt,  und  für  den  Johann  Sebastian  Bach 
so  viele  seiner  Kompositionen  geschrieben  hat.  Bei  dem  jün- 
geren Geschlecht  werden  diese  Tänze,  die  so  viel  Geschick, 
so  viel  Grazie  und  Anmut  verlangen,  seit  der  Mitte  des  Jahr- 
hunderts durch  den  Walzer  verdrängt,  der  sich  binnen  kür- 
zester Zeit  zum  Alleinherrscher  der  Ballsäle  aufschwingt.  Er 
ist  in  den  sechziger  Jahren  schon  so  verbreitet,  daß  Goethe 
in  Straßburg  das  Walzen  lernen  muß,  um  in  Gesellschaft  mit- 
tun zu  können. 
Das  Spitl  Alles,  was  das  18.  Jahrhundert  an  Zerstreuungen  kannte,  wird 
aber  in  Schatten  gestellt  durch  das  Spiel.  Eine  wahre  Spiel- 
wut scheint  die  Zeit  ergriffen  zu  haben.  Hoch  und  nieder, 
arm  und  reich,  Höfe,  Adel,  Bürger  und  kleine  Leute,  alle 
huldigen  dem  Glücksspiel,  keine  Gesellschaft  ohne  Kartenspiel, 
kein  Zirkel  ohne  Falschspieler.  Niemand  tanzt  mehr,  beklagt 
sich  Liselotte,  alles  spielt  und  70  Jahre  später  findet  Goethe, 
daß  sein  Vater  ihm  einen  großen  Schaden  zugefügt  habe,  indem 
er  ihn  vom  Spiel  abgehalten  und  fügt  hinzu,  das  Spiel  sei  jungen 
Leuten  doch  sehr  zu  empfehlen,  denn  eine  Gesellschaft  ohne 
Kartenspiel  ließe  sich  ja  gar  nicht  denken,  Grundsätze,  denen 
auch  Lesing,  der  eine  Jeuratte  war  wie  nur  eine,  nur  zu  eifrig 
huldigte.  Vermögen,  Ehre,  guter  Ruf,  Anstand  und  Sitte  werden 
in  die  Schanze  geschlagen,  um  dem  Spiel  zu  fröhnen.  Die 
Gräfin   Sintzendorff   verspielt  20000   Gulden   in   einem  Winter, 

1 
244 


Debucourt,  La  Noce  au  chäteau,  178g 

die  Fürstin  Auersperg  verliert  ihre  ganze  Mitgift,  12000  Dukaten, 
an  einem  Abend.  Der  Abt  vom  Heiligen  Kreuz  in  Donau- 
wörth spielte  so  leidenschaftlich,  daß  das  Kloster  eine  Besitzung 
nach  der  anderen  verkaufen  muß.  Die  Frau  des  Malers  J.  B. 
Tiepolo  verspielte,  während  ihr  Mann  verreist  war,  alle  Skizzen 
-ihres  Mannes,  sogar  ihr  Landhaus  mit  allen  seinen  Fresken. 
Der  Herzog  und  die  Herzogin  von  Glocester,  die  sich  1783 
in  Ansbach  aufgehalten  haben,  verlassen  es  nach  ^ji  Jahren 
mit  Hinterlassung  von  150000  Gulden  Spielschulden.  Ein  Graf 
Schwerin  verspielt  sein  ganzes  Vermögen  und  abenteuert  dann 
mit  dem  blutbefleckten  Sterbehemd  und  Ordensband  seines 
vor  Prag  gefallenen  Onkels,  die  er  für  Geld  sehen  läßt  oder 
versetzt,  solange  in  der  Welt  umher,  bis  ihn  der  König  auf- 
greifen und  in  Spandau  internieren  läßt,  wo  er  mit  dem  Abschaum 
der  Festungsgefangenen  weiterspielt.  In  Regensburg  wird  eine 
Dame    am   Spieltisch    von   der   Geburt    überrascht    und    wenn 


245 


Keyßler  von  zwei  Damen  erzählt,  welche  24  Stunden  hinter- 
einander fortspielten,  so  übertrifft  sie  Casanova,  der  in  Sulzbach 
eine  Partie  mit  dem  Chevalier  d'Entragues  ununterbrochen 
42  Stunden  hindurch  fortsetzte.  Nikolai  schätzte  das  Karten- 
geld, welches  die  Bedienten  erhielten,  für  Berlin  allein  auf 
etwa  30000  Taler  im  Jahr  und  dieser  allgemeinen  Spielwut 
huldigt  selbst  die  Geistlichkeit.  Die  Oratorianer  in  Genua 
ließen  ihre  Gäste  auf  der  Vigna  des  Klosters  spielen,  aber 
nicht  um  Geld,  sondern  um  Paternoster  und  Ave  Maria,  die 
der  Verlierende,  ehe  er  sich  in  die  Stadt  zurückbegab,  vor 
einem  Kruzifix  abbeten  mußte.  In  Venedig  errichtete  der  Rat 
den  Ridotto,  ein  Gebäude,  welches  ausschließlich  dem  Glücks- 
spiel gewidmet  war,  wo  an  60  bis  80  Tischen  gespielt  wurde, 
wo  aber  das  Bankhalten  nur  den  Patriziern  erlaubt  war,  die 
dazu  Amtstracht  und  die  große  Wolkenperücke  anlegen  mußten. 
1709  sprengte  König  Friedrich  von  Dänemark  im  Ridotto  die 
Bank.  Der  Schelm  Casanova,  auf  dessen  unterhaltende  Me- 
moiren man  immer  wieder  zurückkommen  muß,  wenn  man 
sich  mit  der  Kulturgeschichte  des  18.  Jahrhunderts  beschäftigt, 
bekennt  ja  oft  genug,  wie  gewinnbringend  das  Bankhalten  war. 
Er  selbst  und  ein  ganzes  Heer  von  Abenteurern  seiner  Gattung 
bestritten  ihren  gan&en  Lebensunterhalt  durch  das  Spiel  und 
sind  beständig  auf  Reisen,  um  die  Gesellschaft  ztl' schröpfen ; 
denn  gespielt  wird  immer  und  überall  und  von  jedermann. 
Bei  dieser  allseitigen  Neigung  zum  Spiel  begreift  man  erst 
das  Staunen,  mit  dem  der  Marquis  von  Chastellux  1782  von 
seinem  Besuch  beim  General  Nelson  in  Amerika  berichtet, 
wo  in  einem  Aufenthalt  von  mehreren  Tagen  nie  gespielt 
worden  sei.  Um  von  dieser  Disposition  der  Menschheit  zu 
profitieren,  führten  damals  fast  alle  Regierungen  die  Geld- 
lotterien ein  oder  das  Zahlenlotto,  welches  Italiener  mit  Be- 
willigung der  hohen  Obrigkeiten  nach  Oesterreich,  Preußen, 
Württemberg,  Bayern,  Hessen-Kassel  usw.  brachten.  Den  Ge- 
winn am  Wiener  Lotto  veranschlagte  Schlözer  für  das  Jahrzehnt 
Die  Jagd  von  1759  bis  1769  auf  21  Millionen  Gulden.  Nächst  dem  Spiel 
war  der  vornehmste  Zeitvertreib  hoher  Herren  wie  im  17.  Jahr- 
hundert die  Jagd,  die  so  manche  Existenz  auf  dem  Thron, 
besonders  die  der  spanischen  und  französischen  Bourbons  ganz 
ausgefüllt  hat.  Wer  das  Tagebuch  liest,  welches  Ludwig  XVI. 
führte,  das  über  die  Tage,  welche  die  wichtigsten   und  folgen- 

246 


schwersten  seiner  Regierung  werden  sollten,  nichts  zu  bemerken 
weiß,  als  die  Anzahl  der  Tiere,  die  der  Monarch  erlegte,  wird 
sich  über  die  Rolle,  die  der  imbecille  König  gespielt  hat,  nicht 
mehr  wundern.  Das  Vorrecht  der  Jagd  wurde  mit  der  größten 
Unbarmherzigkeit  und   der  grausamsten   Härte  ausgeübt,  die 


Joseph  Boze^  Mirabeau 

Untertanen,  welche  in  so  vielen  Staaten  nicht  einmal  das  Recht 
besaßen,  ihre  Fluren  gegen  das  Wild  zu  schützen,  wurden  dann 
noch  gezwungen,  das  erlegte  Wildbret  zu  kaufen  und  teuer 
zu  bezahlen.  Ein  Wilddieb  soll  nach  den  Lehren  des  Geh.  Rat 
von  Ickstadt  zwar  nicht  das  erstemal,  wohl-  aber  im  Wieder- 
betretungsfalle  mit  dem  Tode  bestraft  werden.  Man  bezahlte 
Schußgelder  für  erlegte  Wilddiebe.     Im  kaiserlichen  Hofhalt, 


247 


der  jährlich  mehr  als  3  Millionen  kostete,  verschlang  die  Jagd 
nicht  den  geringsten  Teil.  Jedesmal,  das  der  Kaiser  auf  Jagd 
ging,  kostete,  wenn  er  über  Mittag  ausblieb,  30CO  Gulden  und 
brauchte  er  bei  weiten  Entfernungen  Postpferde,  noch  1000 
Taler  mehr.  Es  gab  leidenschaftliche  Jagdfreunde,  wie  den 
Grafen  Christian  Ernst  Pappenheim,  welcher  Jäger  blieb  auch 
nach  seiner  Erblindung,  ein  Umstand,  der  heute  nicht  mehr 
befremdet,  wo  auf  den  großen  höfischen  Treibjagden  auch 
ein  Stockblinder  Massen  von  Wild  zur  Strecke  bringen  kann. 
Die  Jagd,  die  wie  eine  furchtbare  Last  auf  die  Untertanen 
drückte,  war  es  auch,  welche  die  meiste  Erbitterung  erregte 
und  die  ersten  Symptome  der  Unbotmäßigkeit  zeitigte.  Als 
1789  Graf  Wilczek  in  gewohnter  Weise  seinen  Bauern  das  Jagen 
ansagen  läßt,  d.  h.  ihnen  bedeutet,  daß  sie  wieder  einmal  für 
einige  Wochen  ihre  Arbeiten  liegen  zu  lassen  haben,  um  Treiber 
zu  machen,  da  erscheinen  nur  sechs  von  ihnen,  aber  nicht 
als  Treiber,  sondern  um  mitzujagen.  Es  gab  auch  unter  den 
Damen  leidenschaftliche  Freundinnen  dieses  rohen  Vergnü- 
gens. Liselottens  drollige  Jagdabenteuer  mag  man  sich  von 
ihr  selbst  erzählen  lassen.  In  Deutschland  war  die  Kurfür- 
stin Amalie  von  Bayern  eine  eifrige  Jägerin,  welche  zu  diesem 
Sport  grüne  Manneskleider  mit  kleiner  weißer  Perücke  an- 
legte, während  Fräulein  v.  Pannewitz  für  diesem  Zweck  ein 
Kostüm  von  rotem  Samniet  mit  dreieckigem  Hütchen  besaß. 
Die  »große  Landgräfin«  Karoline  von  Hessen  hat  sich  in  der 
Jagduniform  ihres  Schwiegervaters:  rot  mit  goldener  Litze, 
schwarzer  Krawatte  und  Dreispitz  malen  lassen. 
ixii  Theaier  Bcvor  wir  einen  flüchtigen  Blick  auf  das  Theater  jener  Zeit 
werfen,  müssen  wir  uns  klar  machen,  daß  die  abstrusen  Ideen, 
die  mit  dem  Theater  den  Begriff  von  Bildungsanstalt  verbinden, 
Ideen,  die  man  im  20.  Jahrhundert  endlich  wieder  über  Bord 
geworfen  hat,  dem  18.  Jahrhundert  fremd  waren  und  erst  im 
Laufe  desselben  mit  dem  Erstarken  des  Bürgertums  erwachen. 
Das  Theater  war  damals  —  Gurlitt  hat  das  so  sehr  hübsch 
ausgeführt  —  eine  Schaubühne,  bei  der  nicht  die  Handlung 
die  Hauptsache  war,  sondern  die  pompöse  Dekoration  und 
Comparserie.  Das  Auge  sollte  in  erster  Linie  unterhalten  wer- 
den, das  Ohr  kam  erst  an  zweiter  Stelle.  So  war  die  große  Oper 
ein  Schauplatz  der  Prachtentfaltung  fürstlicher  Höfe.  Vier 
Generationen  der  berühmten  Künstlerfamilie  der  Bibbiena  haben 

248 


Älorland,  The  squires  door,    1790 


Die  Mode.  18   Jahrh.  50 


Diiponl  nach  Gainsborough^  Königin  Charlotte  von  England,  ijqo 


249 


dieser  Kunst  der  Illusion  ihre  Talente  geliehen,  die  verschwen- 
derischsten Fürsten  der  Zeit,  August  der  Starke,  Karl  Eugen 
von  Württemberg,  den  ganzen  Luxus  ihrer  Hoihaltungen  in 
ihren  Dienst  gestellt.  In  Wien  kostete  die  Inszenierung  jeder 
neuen  Oper  60000  Gulden,  in  Dresden  kamen  einzelne  Ballette 
auf  36000  Taler,  in  Stuttgart  erhielt  der  Tänzer  Vestris  für 
sich  allein  für  sechs  Monate  12000  Gulden,  Zahlen,  die  man, 
um  den  heutigen  Geldwert  zu  erhalten,  mit  3  multiplizieren 
muß.  Das  war  die  alte  italienische  Oper  mit  ihrem  sinnlosen 
Text,  bei  der  es  auf  Sinn  und  Verstand  gar  nicht  ankam,  aber 
auf  dankbare  Arien  für  die  großen  Sterne.  Jahrzehntelang 
dichtete  damals  Metastasio  in  Wien  die  Libretti,  welche  jeder 
Hofkomponist  Salieri,  Graun,  Hasse  u.  a.  dann  nach  eigenem 
Gefallen  komponierte.  Die  Ausführenden  waren  meist  italie- 
nische Castraten,  die  sich  an  manchen  Bühnen  bis  in  den  An- 
fang des  19.  Jahrhunderts  behauptet  haben.  Diese  Unglück- 
lichen bezogen  solche  Gehalte,  daß  in  Italien  damals  mancher 
Vater  seinen  Sohn  verstümmeln  ließ,  damit  er  einmal  die  Stütze 
seiner  Familie  werden  könne.  Einer  der  berühmtesten  von  ihnen 
war  wohl  Farinelli,  außerordentlich  durch  seine  Stimme,  die  22> 
ganze  Töne  beherrschte,  ohne  zu  fistulieren,  und  seine  Schick- 
sale. Als  er  von  1734  bis  1736  in  London  sang,  war  die  Gesell- 
schaft im  Delirium.  Das  Glaubensbekenntnis:  es  gibt  nur  einen 
Gott,  vermehrte  man  um  den  Zusatz:  und  nur  einen  Farinelli. 
Dann  ging  er  für  ein  Jahrgehalt  von  50000  Francs  nach  Spa- 
nien, um  26  Jahre  lang  im  Dienste  zweier  geisteskranker  Könige 
zu  stehen.  Zehn  Jahre  lang  sang  er  Abend  für  Abend  die  glei- 
chen vier  Arien,  ohne  je  vor  Fremden  oder  im  Theater  auf- 
treten zu  dürfen.  , 
Der  Zutritt  in  die  Opernhäuser,  deren  Pforten  auch  in  pro- 
testantischen Ländern  meist  nur  im  Fasching  geöffnet  waren, 
war  umsonst.  Der  Hof,  der  sie  unterhielt,  nahm  die  besten 
Plätze  für  sich.  Die  Herrschaften  saßen  vorn  im  Parkett, 
die  übrigen  nach  Rang  und  Würden.  Der  beste  Platz  war  im 
Proszenium  auf  der  Bühne  selbst  und  diese  Gewohnheit,  von 
der  Liselotte  schreibt:  die  leutte  stellen  sich  so  haufenweis 
auf  das  Theater,  daß  die  Schauspieler  keinen  Platz  haben, 
existierte  noch  in  Goethes  Jugendzeit  in  Frankfurt.  Da  die 
höfische  Gunst  sich  ausschließlich  der  prachtvollen  Oper  zu- 
wandte,  blieb   das  Schauspiel    dem  Hanswurst  oder  schlimme- 

250 


ren  Unterhaltungen  wie  den  Tierhetzen.  In  Wien  wohnte  1781 
Nikolai  einer  \'orstellimg  im  Hetztheater  bei,  in  der  ein  fettes 
Schwein  von  zwei  Wölfen  lebendig  gefressen  wurde.  Katho- 
lische Gegenden  kannten  noch  eine  Art  moralischer  Theater, 
wie  Jesuitenkomödien,  welche  biblische  und  profane  Vorwürfe, 
wie  etwa  die  Geschichte  von  Abraham  und  Isaak  mit  Perseus 
und  Andromeda  auf 

das  wunderlichste 
durcheinander  misch- 
ten, oder  gar  wie  die 
regulierten  Chorher- 
ren in  Wengen  1783 
das  Lustspiel  von 
Engel  »Der  Edel- 
knabe« mit  Hinzu- 
fügung von  Isaak  und 
Ismael  in  ein  Sing- 
spiel verrührten. 
Einen  Platz   für  sich 

beanspruchten  die 
Autos  sacramentales, 
wie  sie  der  sächsische 
Gesandte  v.  Gleichen 
in  Spanien  sah.  Man 
sah  da  etwa  einen 
Jahrmarkt,  auf  dem 
Christus  und  die  hei- 
lige Jungfrau  Buden 
halten,  während  der 
Teufel  und  die  sieben  Todsünden  Konkurrenzgeschäfte  auf- 
gemacht haben.  Die  armen  Seelen  kommen  in  Haufen  und 
wenden  ihre  Kundschaft  natürlich  den  letzteren  zu.  Unser 
Herr  und  seine  göttliche  Mutter  teilen  sich  ihren  Verdruß 
über  den  schlechten  Geschäftsgang  in  einem  pas  de  deux 
mit,  worauf  sie  sich  kurz  entschließen,  und  die  Konkurrenz 
mit  Peitschen  vertreiben.  Bei  der  Darstellung  der  Verkündi- 
gung sah  man  Maria  beim  Kohlentopf  sitzen  und  den  als 
Stutzer  gekleideten  Engel  Gabriel  zur  Schokolade  einladen. 
Er  muß  leider  danken,  da  er  schon  bei  Gottvater  eingeladen 
sei.    Nach  vielen  gegenseitigen  Komplimenten  tritt  der  Heilige 


Anton  Graff,  Schiller 


251 


Geist  ein  und  tanzt  mit  Maria  einen  Fandango.  In  dem  Auto 
von  der  Entstehung  des  Christusordehs  erfährt  man,  daß 
der  Heiland  sich  darum  bewirbt,  Ordensritter  von  San  Jago 
zu  werden.  Dieser  Orden  ist  sehr  stolz  und  nimmt  nur  Leute 
von  ältestem  Adel  in  seine  Reihen  auf.  Es  ist  also  unmöglich, 
daß  er  unseren  Herrn  akzeptiert,  dessen  Vater  ein  Zimmer- 
mann war  und  dessen  Mutter  sich  mit  Nähen  ernährte. 
Immerhin  erkennt  das  Kapitel  an,  daß  ja  gewisse  Rücksichten 
in  diesem  Falle  genommen  werden  könnten,  und  so  schreitet 
man  dazu,  für  den  Heiland  einen  besonderen  Orden,  den 
Christus-Orden  zu  stiften. 

Zur  gleichen  Zeit,  als  Gluck  und  Mozart  die  deutsche  Musik 
von  der  Alleinherrschaft  des  italienischen  Stiles  zu  befreien 
suchen,  als  Bach  und  Händel  dem  veralberten  religiösen  Schau- 
spiel das  Oratorium  entgegensetzen,  Geister,  viel  zu  groß, 
als  daß  ihre  Zeitgenossen  sie  mehr  als  halb  hätten  verstehen 
können,  ersteht  auch  das  deutsche  Schauspiel  wieder.  In  den 
Truppen  der  Koch,  Ackermann,  Döbbelin,  Schuch  erwächst 
eine  deutsche  bürgerliche  Nationalbühne,  welcher  Lessing  mit 
seiner  Minna  von  Barnhelm  1765,  mit  seiner  Emilia  Galotti 
1773,  den  Lebensodem  einhaucht.  1768  gründet  die  Herzogin 
Amalie  in  Weimar  ein  Theater,  um  Geschmack  und  Sitten 
des  Volkes  zu  verbessern  und  zu  verschönern,  welches  jeder- 
mann dreimal  wöchentlich  umsonst  besuchen  durfte.  1776 
wird  das  Burgtheater  in  Wien  begründet,  die  klassische  Stätte 
deutscher  Schauspielkunst,  1779  das  National-Theater  in  Mann- 
heim, lange  Jahre  das  Vorbild  Deutschlands. 
P"  Eines  recht  geringen  Ansehens  hat  sich  im  18.  Jahrhundert 
die  ärztliche  Kunst  und  der  ärztliche  Stand  erfreut.  Liselotte, 
welche  ja  nie  ein  Hehl  aus  ihrer  Meinung  machte,  schreibt: 
Die  Doktoren  wissen  nichts  als  purgieren,  Aderlassen  und 
Klystieren,  und  kein  Todesfall  passiert  in  der  königlichen 
Familie,  den  sie  nicht  den  Aerzten  zur  Last  legt.  Viel  mehr 
noch  als  heute  sind  sympathetische  und  Geheimmittel  im  Ge- 
brauch:  Bezoar  Kugeln,  Mylady  Kent-Pulver  u.  a.,  ja,  als  Augs- 
burgs Handel  schon  ganz  darniederliegt,  besteht  die  Ausfuhr 
der  Stadt  hauptsächlich  in  allerlei  Geheimmitteln :  Schauers 
Balsam,  Elixier  des  Doktor  Kieso,  philosophisches  Goldsalz 
werden  in  ganz  Deutschland  verlangt.  Die  Pocken  grassieren 
fürchterlich,  töten  oder  entstellen  den  vierten  Teil  der  Mensch- 

252 


heit,  aber  trotzdem  gewinnt  die  Schutzpockenimpfung'  nur 
langsam  an  Boden.  Als  1777  der  Kurfürst  von  Bayern  an 
den  Pocken  erkrankt,  ^da  läßt  ihn  der  Leibarzt  Sänfiftl  ein 
Muttergottesbild  verschlucken,   und  als    das   nichts  nützt,    da 


Jarques\Louis  Dnvid^  Marquise  d' Orvillicrs 

hilft  eben  nix  mehr!  Mau  tröstet  sich  über  die  eigene 
Hilflosigkeit,  wie  der  protestantische  Theologe  Süßmilch,  der 
in  der  großen  Kindersterblichkeit  eine  weise  Einrichtung  Gottes 
erblickte,  welche  wenigstens  die  eine  Hälfte  der  Menschheit 
den  Verführungen  dieser  Welt  entziehen  wolle.  •  Der  Krebs 
wurde  als  etwas  Lebendes  betrachtet,  ein  Wesen,  das  man 
mit  Kalbfleisch  füttern   müsse,  damit  es   nicht  sterbe  und  den 


253 


Kranken 'nach  sich  ziehe.  War  jemand  von  einem  tollen  Hund 
gebissen  worden,  so  genoß  er  in  der  Schweiz  die  rohe  Leber 
des  erkrankten  Tieres,  in  Kur-Bayern  war  es  in  solchen  Fällen 
verboten,  sich  auf  eine  andere  als  allein  auf  die  göttliche 
Hilfe  zu  verlassen.  1784  waren  zwölf  Personen  von  einem 
tollen  Hund  gebissen  worden.  Man  nötigte  sie,  zu  Fuß  nach 
St.  Hubert  in  Flandern  zu  wallfahrten.  Nachdem  sie  dort 
acht  Tage  lang  nur  kaltes  Schweinefleisch  genossen  und  Weih- 
wasser dazu  getrunken  hatten,  wurde  ihnen  die  Kopfhaut  ge- 
öffnet und  eine  kleine  Partikel  von  der  Stola  des  Heiligen 
eingeheilt.  Den  Arzt  aber,  der  sich  unterstanden  hatte,  einen 
dieser  Kranken  zu  behandeln,  bestrafte  man.  Bei  solchen  An- 
schauungen hatten  die  Kranken  doch  wirklich  recht,  wenn  sie 
ebensogut  grüne  Seife  innerlich  gebrauchten,  wie  es  der  Kur- 
fürst von  Trier  sechs  Jahre  lang  tat,  oder  ihre  Zuflucht  zu 
einem  der  geweihten  Mittel  nahmen,  mit  denen  die  Klöster 
einen  so  schwunghaften  Handel  trieben.  Da  gab  es  in  Tegernsee 
St.  Quirinsöl,  in  Eichstädt  St.  Gertraudsöl,  das  Kloster  Scheyern 
verkaufte  jährlich  etwa  40000  geweihte  Kreuzchen  usw. 
Die  Kiös/er  Dcu  Platz,  dcu  hcutc  im  öß'entlichen  Leben  das  Militär  be- 
ansprucht, nahm  damals  in  katholischen  Gegenden  die  Geist- 
lichkeit ein.  Kur-Trier  zählte  90  Klöster,  Kur-Bayern  28000 
Kirchen  und  200  Klöster  mit  5000  Mönchen,  Oesterreich  un- 
ter Karl  VL  über  2000  Klöster  für  beide  Geschlechter  mit 
63000  Insassen.  In  Bayern  bestand  der  dritte  Teil  des  Jahres 
aus  Feiertagen,  die  mit  Prozessionen,  Wallfahrten  und  Gottes- 
diensten ausgefüllt  wurden.  Während  der  Fasten  schleppten 
besonders  Eifrige  riesige  hölzerne  Kreuze  durch  die  Straßen, 
um  dem  Heiland  nachzufolgen,  geißelten  sich  öffentlich,  zogen 
am  Fuß  eiserne  Ketten  mit  schweren  Kugeln  nach  wie  Bau- 
gefangene und  trieben  allerhand  andere  Selbstkasteiungen,  wie 
man  sie  auf  alten  Veduten  der  Wiener  Straßen  dargestellt 
sieht.  Für  Oesterreich  verbot  schon  Maria  Theresia  diesen 
Unfug.  Wie  man  heute  oft  sieht,  daß  geschmacklose  Eltern 
ihre  kleinen  Knaben  in  Militärtracht  stecken,  als  Husaren 
oder  Dragoner  herumlaufen  lassen,  als  sei  die  Uniform  ein 
Spielzeug  und  das  Tragen  derselben  ein  Vergnügen,  so  konnte 
man  damals  in  katholischen  Gegenden  Kinder  als  Jesuiterchen, 
Benediktinerchen,  Karmeliterchen  auf  den  Straßen  sehen.  Ja, 
Casanova   bemerkt  in   Spanien  Frauen   in   der  Kapuzinerkutte 

254 


Henry  Danloux,  M'"e  de  Nauzieres 


und  erfährt,  daß  das  ein  Akt  der  Frömmigkeit  sei,  denn  die 
Betreffenden  trügen  dieselbe  auf  dem  bloßen  Leib  ohne  Hemd, 
Im  Gerundio  de  Campazas  wird  uns  verraten,  daß  die  Frauen 
sich  zwar  gern  als  Mönche  trügen,  für  die  Kutten  aber  bes- 
sere Stoffe  wählten.  Heute  denken  Unwissende,  wenn  sie  vom 
Kloster  hören,  gleich  an  Barbara  Ubryk,  während  im  i8.  Jahr- 
hundert ein  großer  Teil  gerade  der  Nonnenklöster  nichts  an- 
deres war,  als  Stätten  der  Ruhe,  wohin  man  sich  zurückzog, 
wie  heute  in  ein  Sanatorium.  Madame  du  Deft'and,  der  be- 
kannte Blaustrumpf,  die  Herzogin  v.  Choiseul  u.  a.  wohnten 
im  Kloster,  weil  es  billig  war,  Fräulein  v.  Osterhausen,  die 
verabschiedete  Maitresse  August  des  Starken,  begibt  sich  zu 
den  Ursulinerinnen  in  Prag,  juchhet  aber  tagsüber  in  der 
Stadt  umher!  Es  ging  auch  in  den  Klöstern  durchaus  nicht  etwa 
langweilig  zu.  Die  Pfalzgräfin  Louise  Hollandine,  Aebtissin  von 
Maubuisson,  eine  Tante  Liselottens,  hatte  14  natürliche  Kin- 
der und  zu  jedem  einen  anderen  Vater,  es  wird  ihr  also  die 
Zeit  nicht  lang  geworden  sein,  und  wie  lustig  es  in  den  Sprech- 
zimmern italienischer  Nonnenklöster  sein  konnte,  wo  sogar 
Bälle  abgehalten  wurden,  berichten  außer  anderen  auch  Keyß- 
1er  und  Casanova,  der,  wenn  man  von  seiner  Frivolität  ganz 
absieht,  eine  erwiesenermaßen  durchaus  glaubwürdige  und  zu- 
verlässige Quelle  ist.  Der  protestantische  Pfarrerssohn  Lauck- 
hard,  der  sich  ein  Kloster  wohl  auch  anders  vorgestellt  hatte, 
ist  ganz  erstaunt,  daß  es  bei  den  Augustinerinnen  in  Metz 
höchst  fidel  zugeht.  Franz  X.  Bronner  erzählt  aus  dem  Kloster 
zum  Hl.  Kreuz  in  Donauwörth,  daß  ein  beliebtes  Gesellschafts- 
spiel der  Mönche  darin  bestand,  Frauen  und  Mädchen  die 
Waden  zu  messen,  daß  man  sich  in  bunter  Reihe  im  Kreise 
auf  den  Boden  setzte  und  unter  den  Röcken  und  Kutten 
Schuh  suchen  spielte. 
.-D«  Zeitungen  als  Organe  der  öffentlichen  Meinung  kommen  noch 
nicht  ni  Betracht.  1784  zahlte  ganz  Deutschland  kaum  217  Zei- 
tungen, unter  denen  eigentlich  nur  Schlözers  Staatsanzeigen 
eine  Rolle  spielen.  Man  nannte  ihn  seiner  Veröffentlichungen 
wegen  die  Geißel  der  deutschen  Reichsfürsten.  Maria  Theresia 
soll  bei  Erwägung  jeder  neuen  Maßregel  gesagt  haben,  was 
wird  wohl  Schlözer  dazu  sagen !  Er  schrieb  in  Göttingen, 
wohin  ein  Strahl  der  englischen  Preßfreiheit  fiel,  an  anderen 
Orten   würde   es   ihm   wohl   nicht   möglich   gewesen   sein,  sich 

256 


Sir  Thomas  Lawj-ence,  Miss  Farren,  ijgs 


Die  M  ode.    18.  Jahrh.    51 


Die  Modfi.   IS.  Jahrk.,  2.  A 


17 


Girodet,  Dfei  musizierende  Damen 

gefürchtet  zu  machen.  Das  oft  zitierte  Wort  Friedrichs  des 
Großen :  Gazetten  dürfen  nicht  genieret  werden,  darf  man 
beileibe  nicht  so  verstehen,  als  habe  es  etwa  für  Preußen  Gel- 
tung gehabt.  In  Preußen  bestand,  wie  Lessing  1769  an  Nicolai 
schrieb,  die  Freiheit  darin,  so  viele  Sottisen  gegen  die  Reli- 
gion, als  man  wolle,  zu  Markte  zu  bringen,  in  allen  übrigen 
Rücksichten  war  Preußen  das  sklavischste  Land  in  Europa, 
wie  Alfieri  1770  bemerkt,  eine  einzige  ungeheure  Wachtstube. 
Graf  Ernst  von  Manteuffel  hatte  schon  1735  an  Prof.  Wolf 
in  Marburg  geschrieben :  »Jeder  Untertan  in  diesem  Lande, 
von   welchem   Stande  er  auch   sei,   ist  ein   geborener  Sklave.« 


258 


Jt-h.  Baptist  von  Lanipi,  Kaiserin  Maria  Feodorcmma  von  Rußland 


Die  Mode.    18.  Jahrb.  52 


,,^k^i 


VERLAG  VON  F.  BRUCKMANN  A.-G.,  MÜNCHEN 


DIE    MODE 

Menschen  und  Moden  im  17.,  18.  und  19. Jahrhundert 

Nach  Bildern  und  Kupfern  der  Zeit 

Mit  Text  von  Max  von  Boehn 

Sechs  wunderhübsck    ausgestaltete  Bändchen    mit  fast   1200  Abbildungen    in  Ein-  und  Vier- 
farbendruck, handkoloriertem  Lichtdruck,  Mezzotintogravüre,  Rötel-,  Sepia-  und  Duplexdruck 

Das    siebzehnte  Jahrhundert 

(2.  Aufl.  Frühjahr  1920);  in  violettem  Pappband  M.  15. — 

Das   achtzehnte  Jahrhundert 

(2.  verbesserte  Aufl.);  in  violettem  Pappband  M.  18. — 

Das  neunzehnt e Jahrhundert 

I.  Band:  1790 — 1817  Directoire  —  Empire  —  Befreiungskriege  (^.  Aufl.  Frühjahr  1920) 
II.  Band :    1818 — 1842  Restauration  —  Biedermeierzeit  (4.  vermehrte  Aufl.) 
III.  Band:    1843 — 1878  4" er    Revolution    —    Zweites    Kaiserreich  (4.  Aufl.  Frühjahr  1920) 
in  violetten  Pappbänden;   jeder  Band    M.  15. — 

Im  Dezember  1919  erschien: 

Das  neunzehnte  Jahrhundert 

IV.  Band:  1879  —  1914.  In  violettem  Pappband  M.  18. — 

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Das  neunzehnte  Jahrhundert  in  4  Pappbänden  M.63.  — ;  in  4  Halblederbänden  M.  123.— 

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bildungen geschmückten  Bändchen  enthalten  eine  allerliebste  Kultur-, 
Kostüm- und  Kunstgeschichte  vergangener  Jahrhunderte,  nicht  wissenschaftlich 
erschöpfend,  aber  wertvoll  anmutig  und  lebendig.  Der  temperamentvolle 
amüsante  Text  und  die  fein  gewählten  Illustrationen  geben  ein  lebenswarmes 
Bild  jener  Zeiten,  ihrer   Menschen   und  ihrer  Moden. 

Den  Bändchen  wurde  von  Seiten  des  Publikums  und  der  Presse  ungeteilter 
Beifall  gespendet: 

>Selten  ist  eine  glückliche  Idee  glänzender  verwirklicht  worden,  als  mit  diesem 
ebenso  lehrreichen  wie  ergötzlichen  Zeitspiegel.  Der  Reichtum  der  teils 
schwarzen,  teils  farbigen  Illustrationen,  für  die  sich  die  Herausgeber  alle  Schätze 
der  großen  Sammlungen  und  der  bildenden  Kunst  nutzbar  zu  machen  verstanden 
haben,  ist  ebenso  groß  wie  die  Sorgfalt,  Findigkeit  undDeHkatesse  der  Auswahl 
und  die  Feinheh  der  technischen  Reproduktion.  Schlechtweg  vorzüglich  ist  auch 
die  typographische  und  buchbinderische  Ausstattung:  alle  Kräfte  haben  hier 
harmonisch  zusammengewirkt,  ein  buchtechnisches  Kunstwerk  zuwege  zu 
bringen.«  Literarisches   Echo 

»  .  .  .  Doch  nachdem  man  das  Buch  so  im  ersten  entzuckten  Ansturm  durch- 
genascht hat,  möge  man  sich  soviel  Zeit  nehmem,  es  auch  zu  lesen.  Ein  wohl- 
unterrichteter, ausnehmend  geschmackvoller  Mann  dient  uns  als  Führer;  dabei 
ein  kunstvoller  Stilist,  der  uns  mit  sicherer  Leichtigkeit  durch  die  Wirrnis 
eines  komplizierten  Jahrhunderts  geleitet.«  Neue  Freie  Presse 

Die  Bände  sind  in  den  meisten  Buchhandlungen  vorrätig. 


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Miniaturen  und  Silhouetten 

Ein  Kapitel  aus  Kulturgeschichte  und  Kunst 

von  MAX  VON   BOEHN 

3.  Auflage.    Oktavformat.     Mit  200  Abbildungen. 
Schön  gebunden  M.  15.  — .   In  Halbpergamentband  M.  30. — , 

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turen und  Silhouetten  geben  in  farbiger  Fülle  eine  reizende  Vorstellung  von 
dieser  liebenswürdigen  Kunst  unserer  Voreltern.  Der  heiter-geistvolle  Text  des 
wohlunterrichteten  Verfassers  geleitet  uns  mit  sicherer  Leichtigkeit  in  eine  ent- 
zückende kleine  Welt  voll  Anmut  und  Freude,  in  der  wir  gern  für  ein  paar 
Stunden  die  Not  der  Gegenwart  vergessen.  Für  geschmackvolle  Menschen 
gibt  es  keine  willkommenere  Gabe  als  dieses    Buch    Max  von  Boehns. 

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Die  deutschen  Volkstrachten 

Gesammelt  zu   Beginn   des  20.  Jahrhunderts 

Nach    dem    Leben    aufgenommen     und    beschrieben    von    Rose    Julien 

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sind  auch  als  Einzelblätter  im  Verlag  von  F.  Bruckmann  A.-G.,  München, 
Text  Seite:  erschienen: 

7   Rigaud,  Liselotte,  Pigmentdruck,   Folio  1.50  Mk.  (ca.  20:30  cm) 

41  Canaletto,  Altmarkt  zu  Dresden    Pigmentdruck,   Folio  1.50  Mk.  (ca  20:  30  cm). 

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Knhledr-  (ca  30:40cm)  25. —  Mk.;  färb.  Medici-Druck  (38:  -ii^li  cm)  27. —  Mk. 

56  Chardin,  Die  Briefsieglerin,  Pigmentdruck,  Folio  1.50  Mk. ;  Imperial  Kohledruck 

25.— Mk. 
66  Liotard,  Uie  schöne  Leserin,  Pigmentdruck,  Folio  i  50  Mk. 
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I   Watteau,     Der   Tanz    (ganzes    Bild),     einfarb.    Pigmentdruck,    Folio    1.5}  Mk.; 

Imperial  Kohledruck  25  —  Mk 
S  Lancret,  Tänzerin  Camargo (ganzes  Bild),  einfarbig. Pigmentdruck,  Folio  i.soMk.; 
Faksimile  Me^zotintogravüre  (44    64  cm)  10. —  Mk. 
14  Boucher,  Madame  de  Pompadour,  einfarb.  Pigmentdruck,  Folio  1.50  Mk.;  Imperial 

Kohledruck  25. —  Mk. 
20  Zoffany,   Bildnis  eines  Ehepaares,  einfarb.   Pigmentdruck,  Folio  1.50  Mk. 


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den  Gedanken  zweckmäßiger  weiblicher  Körperbildung,  den    es    nach  ver- 
schiedenen Gesichtspunkten  ausbaut  und,  indem  es  Anwendung  und  Wirkung 
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mit  neuen  Kulturfragen  verbindet.  —   Mitarbeiter    an    dem  Buche  sind: 
Dr.  F  Giese,  Dorothee  Günther,  Dr.  K.  Hagemann,  Dr.  Auguste  Hohbaum, 
Dr.  Müller- Freienfels,  Dr.  Freiherr  von  Oeynhausen,  die  Tän- 
zerin  Ellen  Petz,    Professor  P.  Schnitze -Naumburg, 
Dr.   Frank  Thieß,    Professor    F.  Winter, 
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