ODONTOLOOISCHE STUDIEN II
DIE MORPHOGENIE
DER PRIMATENZÄHNE
EINE WEITERE BEGRÜNDUNG UND
AUSARBEITUNG DER DIMERTHEORIE
VON
PROF. DR. L. BOLK
DIREKTOR DES ANATOMISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT AMSTERDAM
-w~
\SI4-
West Virginia University Libraries
VIPIfHIIlRIIIII
3 0802 101932001 4
ffCS
-
F.
ODONTOLOOISCHE STUDIEN II
DIE MORPHOGENIE
DER PRIMATENZÄHNE
EINE WEITERE BEGRÜNDUNG UND
AUSARBEITUNG DER DIMERTHEORIE
VON
PROF. DR. L. BOLK
DIREKTOR DES ANATOMISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT AMSTERDAM
MIT 61 ABBILDUNGEN IM TEXT UND 3 TAFELN
JENA
VERLAG VON GUSTAV FISCHER
1914
^3?
wY
Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort.
Die zweite meiner odontologischen Studien bildet gewissermaßen
eine Fortsetzung der ersten und schließt sich dann auch ihrem Inhalt
nach, unmittelbar letzterer an. Dennoch trägt der Inhalt der vor-
liegenden einen ganz anderen Charakter. Die erste Studie hat, der
Hauptsache nach, zwei Probleme zum Gegenstand. Erstens die Onto-
genese des Säugerzahnes und zweitens die Beziehung zwischen dem
Gebiß der Eeptilien und der Säuger. Beide Probleme stehen im un-
mittelbaren Zusammenhang miteinander. Und in jener Studie habe
ich mich bemüht die Ansichten, wozu ich auf Grund mehrjähriger
Untersuchung bezüglich der genannten Probleme gelangt war, in knapper
Form mitzuteilen. Es wurde dabei hauptsächlich von ontogenetischen
Beobachtungen an Primaten- und Reptiliengebissen Ausgang genommen.
Als wichtigstes Ergebnis dieser Untersuchungen gelangte ich, was die
Entstehung des Säugerzahnes betrifft, zu Ansichten, welche ich kurzhin
als die Dimertheorie der Zähne zusammengefaßt habe.
Die vorliegende Studie nun hat den Zweck, das Gebiß der Pri-
maten von den Prinzipien aus, welche in. dieser Theorie niedergelegt
sind, zu beleuchten. Diese Untersuchung wurde jedoch nicht a posteriori
angestellt; denn ehe ich zum Niederschreiben meiner theoretischen
Ansichten überging, waren die vergleichend anatomischen Unter-
suchungen, welche in der vorliegenden Studie mitgeteilt werden, schon
zum größten Teile fertig. Und die Konzipierung meiner Theorie stützte
sich daher nicht allein auf ontogenetische Beobachtungen, sondern
auch auf morphologische Erscheinungen, welche das Gebiß der Pri-
maten bot. Für eine Begründung und Darstellung meiner Theorie
eigneten sich aber ontogenetische Beobachtungen weit besser als morpho-
logische Zustände. Daher war in der ersten Studie nur von jenen die
Rede. Diese zweite Studie nun hat die ausgebildeten Zahnformen
der Primaten zum Gegenstand. Es wird hierin versucht, diese Formen
in ihrer historischen Entwicklung verständlich zu machen mit Hilfe
der Dimertheorie.
Es stellt somit die vorliegende Studie eine Vervollständigung
der ersten dar, insoweit jene sich mit der Genese der Zahnformen be-
schäftigt. Über das zweite der dort besprochenen Probleme: die Be-
ziehung zwischen Reptilien- und Säugergebiß, wird in der vorliegenden
Studio nicht gesprochen. Das bliebe für eine der folgenden Studien
vorbehalten, denn die dritte wird, ihrem Inhalt nach, sich wieder
enger an die zweite anschließen. Ich beabsichtige darin, die Anomalien
in Zahnform und Gebißkonstruktion der Primaten systematisch ab-
zuhandeln unter Benutzuno; des im hiesigen Institut sich findenden
IV Vorwort.
außerordentlich reichhaltigen Materials. Wir werden dabei besonders
die Relation zwischen den anomalen Zahnformen und den Prinzipien
der Dimertheorie betonen.
Es bildet - - wie aus dem Obenstehenden hervorgeht — diese
zweite Studie mit der ersten eine Einheit. Ich möchte auf diese Tatsache
besonderen Nachdruck legen. Denn es folgt hieraus, daß eine frucht-
bare kritische Beurteilung meiner Theorie erst nach Kenntnisnahme
des Inhalts beider Studien gegeben werden kann. Zwar bildet auch
die nächstfolgende einen integrierenden Bestandteil meiner Arbeit
über die Zahnformen, ein Urteil über meinen Standpunkt läßt sich
aber schon ganz gut gewinnen aus diesen beiden ersten Heften.
Die vorliegende Arbeit zerfällt in zwei Unterteile. Im ersten
Teil ist die Entwicklung der Zahnformen der Primaten im allgemeinen
verfolgt und dargestellt worden, wie sich allmählich aus der einfachen
Zahnform durch Aktivierung der morphogenetischen latenten Potenzen,
welche in jedem Zahnkeim seiner dinieren Natur gemäß enthalten sind,
die mehr komplizierte Zahnstruktur herausgebildet hat. Der zweite
Teil beschäftigt sich mit dem Gebiß der Primaten als Ganzes. Hier
ist versucht worden, die phylogenetischen Abänderungen und Speziali-
sierungen systematisch zu verfolgen, welchen das Primatengebiß unter-
worfen gewesen ist. Hierbei konnten kurze Bemerkungen über stammes-
geschichtliche Fragen nicht ganz umgangen werden. Ich habe mich
jedoch möglichst bemüht, die auf Beobachtung fußenden Tatsachen
auf den ersten Plan zu stellen und niemals Meinung oder Behauptung
im Kleide einer Tatsache zu stecken.
Amsterdam, Februar 1914.
Inhalt.
Seite
Vorwort III- VIII
Allgemeiner Teil.
Die Entwicklung' der einzelnen Zahnformen.
Einleitende Bemerkungen 1 — 4
Erstes Hauptstück.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne 5 — 96
A. Die Dreihöcker phase.
Der kegelförmige Zahn ist nicht notwendig als der meist primitive
zu betrachten (5). Es tritt diese Form nicht selten als Anpassungs-
erscheinung auf (6). Es ist wahrscheinlich, daß das Grundelement des
Säugerzahnes ein dreispitziges Gebilde war (7). Der dreispitzige Rep-
tilienzahn ist nicht durch Verwachsung entstanden (7). Roses Unter-
suchung über die Zahnentwicklung von Chamäleon (8). Burckhardts
Kritik auf diese Untersuchung (8). Unzulänglichkeit der Röseschen
Beobachtungen als Beweis, daß die Trikonodontie durch Verwachsung
entstanden ist (8). Die Theorie von Mar eth Tims über die Entstehung
der Molaren (9). Harrisons Stellungnahme in der Konkreszenzfrage
in Hinsicht auf die Zähne von Hatteria (9). Kükenthals Ansicht über
die Entstehung der Trikonodontie und deren Begründung (10). Depen-
dorfs Kritik zur Kükenthalschen Meinung (11). Die Bezeichnungs-
weise der Höcker und Spitzen (11). Begriff und Anwendung von Kronen-
formel (12). Die Wing eschen Kronenformeln (12). Die Bezeichnung
der Wurzel (13). Die Formel des primitiven Zahnes (13). Die erste
Differenzierung der mesozoischen Säugerzähne ist eine Wurzelverdoppe-
lung (13). Osborns Entwicklungsstufen des Trituberculartypus (13).
Die Beziehung der Schmelzorgane zur Wurzelbildung und die Ursache
der Wurzelverdoppelung(14). Die genetische Bedeutung der Wurzeln(lß).
An den Zähnen der ältesten triassischen Säuger ist von einer Dimerie noch
nichts zu sehen (17). Diese Tatsache steht nicht in Widerspruch zum Prin-
zip meiner Theorie (17). Die Bedeutung des lingualen Cingulum an den
Zähnen der Trikonodonten (18). Kommt die primitive trikonodonte
Zahnform noch bei den Primaten vor? (18).
B. Die Sechs h öcker phase.
Die Transgressionshypothese der Trituberculartheorie (19). Die Un-
richtigkeit derselben auf Grund embryologischer Tatsachen (19). Os-
borns Stellungnahme der ontogenetischen Bedenken gegenüber (20).
i p 2
Die erste Höckermanifestation des Deuteromer; Kronenformel — — —
(20). Gidleys Nachweis, daß solche Zähne bei jurassischen Säugern
vorkommen (20). Widerspruch dieser Tatsache mit der Transgressions-
hypothese (21). Auftreten einer lingualen Wurzel (22). Die Entstehung
der lingualen Wurzel ist nicht mit der Transgressionshypothese in Über-
einstimmung zu bringen (22). Wird dagegen durch die Dimertheorie
VI Inhalt.
leicht erklärt (22). Über das Vorkommen von dreiwurzeligen Zähnen
l P 2
mit der Kronenformel bei den rezenten Primaten (23). Über
dessen Vorkommen bei den eocänen Urprimaten (25). Weitere Ent-
l P 2
wicklung des Deuteromer; Kronenformel — — -- (25). Beispiele von
Zähnen mit dieser Formel (26). Vollständige Ausbildung des Deuteromer;
1 P 2
Kronenformel — — (26). Seltenheit dieser Struktur bei den Primaten
3 J-> 4
(26). Die sechshöckerige Entwicklungsstufe im System Cope-Osborn
ist nicht mit der meinigen identisch (27).
Die Anlage aller Zähne halten vollständig die gleichen Potenzen
inne, die Verschiedenheit der Form ist nur die Folge von Verschieden-
heit in der Entwicklung der einzelnen Potenzen (28). Ahrens Stand-
punkt in dieser Frage (28). Die Formrelationen von Caninus und In-
zisivi zum Sechshöckertypus (28). Die in der Literatur sich findenden
Ansichten über den Caninus als modifizierter Prämolar (Rose, Leche,
Stehlin) (29). Die Formgleichheit von Caninus und Incisivi (29). Die
Heterodontie ist nicht unbedingt von der Dimerie abhängig (30). Der
Begriff der Äquipotentie der Zahnanlagen in der Literatur (30). Die
bezügliche Ansicht von d'Eternod (30). Jene von Aeby, Zucker-
kandl, Dependorf, Adloff (31). Die Meinung Rütimeyers über
die Beziehung zwischen Prämolaren und Molaren der Ungulaten (32).
Diesbezügliche Äußerungen von Huxley und Topinard (33).
Über die morphologische Bedeutung der Eckzähne (33). Primaten-
canini mit geringer Beteiligung des Deuteromer (34). Solche mit aus-
giebiger Entwicklung der deuteromeren Potenzen (35). Die genetische
Bedeutung des Tuberculum dentis oder Basalhöckers von de Terra
(36). Die Eckzähne des Menschen und der Anthropomorphen sind in
ihrer Zusammensetzung nichthomologe Bildungen (36). Anomalien
der Eckzahnform als Folgen seiner dinieren Natur (38). Die zwei ver-
schiedenen Formen der Zweiwurzeligkeit des Eckzahnes (38). Die Ver-
doppelung des Eckzahnes in Beziehung zu seiner Dimerie (39). Der
Eckzahn der Säugetiere entspricht nicht einem Kegelzahn der Rep-
tilien (40).
Die Incisivi als spezialisierte Formen (41). Bei den Incisivi sind
die drei Spitzen des Protomer durchgehend gleichmäßig entwickelt
(41). Die primitive Gestalt der Incisivi bei den Carnivoren (42). Mor-
phologische Andeutungen der ursprünglichen Trikonodontie bei den
Incisiven der Primaten (43). Über die Beteiligung des Deuteromer an
der Bildung der Incisivi (44). Die Basalhöcker und Incisorenhöcker
von de Terra (44). Ursache der Formdifferenz zwischen oberen und
unteren Incisivi (45). Die Manifestation des Deuteromer an den oberen
Incisivi des Menschen (45). Formvariationen der Incisivi beim Menschen,
und ihre Erklärung (46). Über die Bedeutung und Entstehung über-
zähliger Incisivi (47). Schizogene Variationen (49).
Unterschied zwischen Halbaffen und Affen in der Kronenstruktur
der Prämolarenreihe (51). Die Prämolaren der wahren Affen sind nicht
als primitive Formen zu betrachten (51).
C. Die Doppelhöckerphase.
Über den Wert einer prinzipiellen Gegenstellung zwischen Molaren
und, Antemolaren (52). Eine genauere Kenntnis des Marsupialier-
gebisses ist notwendig für die Lösung des Molarenproblems (53). Die
beschränkte Bedeutung der Trituberculartheorie (53). Der typische
Gegensatz in Struktur der Molaren und Antemolaren (54). Die Be-
deutung und Entstehungsweise der beiden bukkalen Molarenhöcker (55).
Die Verdoppelung des /"-Höcker (56). Die genetische Beziehung der
Höcker Pa und Pp zum Mutterhöcker P (57). Die gegebene Erklärung
der Entstehung des Molarentypus ist in Übereinstimmung mit den
embryologischen Beobachtungen (58). Scotts Ansichten über die
Entstehung der molarisierten Prämolarenform (59). Prinzipielle Diffe-
renz zwischen dem Standpunkt von Scott und jenem des Autoren (59).
Seite
Inhalt VII
Seite
Das „Protopecten", die primitivste Form des Leistensystems (61).
Die Begriffe „Schizopecten" und ,,Diplopecten" (61). Übereinstimmen-
des und Differentes in der Cope-Osbornschen Theorie und der meinigen
(62). Gidleys Bedenken gegen die Trituberculartheorie (63).
Die Kronenformel — - — (63). Das Vorkommen der Formel
Pa
— (64). Die Molaren der Arktopitheken sind reduzierte und nicht
primitive Formen (64). Weitere Differenzierung der Molaren: Ent-
i Pa Pp 2
stehung der Formel — (65). Graduelle Entstehung verschiedener
Kronen mit der vorangehenden Formel (66). Die Stellung der Molaren
von Avahis im System (68). Reduktion der vollständigen Molaren-
formel durch Verlust von Nebenspitzen (70). Das Studium des Pro-
simiergebisses ist notwendig für das Verständnis jenes der Affen (71).
Das Leistensystem der Affenmolaren als Leitfaden beim Studium der
Differenzierung dieser Zähne (72). Die Grunderscheinung im Ent-
wicklungsgang der Affenmolaren (72). Systematische Übersicht über
die Differenzierung der Primatenmolaren (73). Über die Zwischen-
tuberkel (74). In welcher Beziehung steht das Leistensystem der Cerco-
pithecidenmolaren zu jenen der Anthropoiden ? (80). Individuelle Varia-
tionen bei Siamangmolaren bringen die Entscheidung dieser Frage (81).
Das Leistensystem an den oberen Molaren von Dryopithecus (82).
Die primitive Beschaffenheit der menschlichen Molaren (83). Reduk-
tionserscheinung an den menschlichen Molaren (84).
D. Das Carabellische Höckerchen.
Über den Entwicklungsgrad des Tuberkulum(85). Definition (85).
Es kommt nicht ausschließlich beim Menschen vor (86). Vorkommen bei
Prosimiae (87). Bei Simiae (87). Die Ansicht von de Terra über die
Verbreitung des Höckerchens (88). Es kommt auch außerhalb des Pri-
matenstammes vor (88). Die Ansichten über die Bedeutung des Höcker-
chens in der Literatur (89). Der Wert des Gebisses als Grundlage für
Verwandtschaftshypothesen (89). Die Dimertheorie in der bis jetzt
gegebenen B'assung ist zu beschränkt für die Erklärung des Höcker-
ehens (91). Die genetische Bedeutung des Tuberkulum (91). Cara-
belli ist die Manifestation einer dritten Zahngeneration (91). Begründung
dieser Ansicht (92). Schlußfolgerungen aus der behaupteten Bedeutung
des Höckerchens (93).
Zweites Hauptstück.
Die Differenzierung der Unterkieferzähne 96 — 114
Der Entwicklungsgang der unteren Zähne war ein anderer als
jener der oberen (96). Prinzip der Morphogenese der unteren Zähne
(97). Die Differenz in der Ausbildung unterer und oberer Zähne kommt
auch in den bestehenden Differenzierungstheorien von Scott und
Cope-Osborn schon zum Ausdruck (97). Die Ursache des ungleichen
Entwicklungsganges (98). Der Grundtypus des Säugetiergebisses war
isognath (99). Die sich einstellende Anisognathie war der erste Anlaß
für die verschiedene Differenzierung oberer und unterer Zähne (99).
Systematische Übersicht der allmählich sich komplizierenden gegen-
seitigen Beziehungen zwischen oberen und unteren Zähnen (100). Über-
sicht über die Formentwicklung des unteren Molaren (110). Die ver-
schiedene Lagerung des Basalsaumes bei oberen und unteren Zähnen
und die Bedeutung dieser Tatsache (111). Fortsetzung der Entstehungs-
geschichte der unteren Molarenform (111). Der Entwicklungsgang des
Primatengebisses zielt dahin, die Anisomorphie zwischen oberen und
unteren Molaren auszugleichen (113). Die Form des Zahnes ist in jeder Ent-
wicklungsstufe das Resultat der Einwirkung biomechanischer Einflüsse
(113). Von den Wurzeln der unteren Zähne (113).
Drittes Hauptstück.
Über das Wesen der Zahnkonkreszenz 115 — 127
Einleitendes (115). Der Standpunkt von Depenüori in der
Konkreszenzfrage (116). Die Entstehung der Zähne bei den Teleostomen
VIII Inhalt.
Seite
(117). Unterschied der Zahnentwicklung bei Teleostomen und Selachiern
(118). Die Differenz in den Ansichten von Owen und Hertwig (119).
Über die Entstehungsweise der Ersatzleiste (120). Anschluß an die ältere
Vorstellung von Owen und K Olli k er (121). Bei den höheren Verte-
braten entstehen die Zähne nicht autochthon, sondern verdanken einer
Matrix ihre Entstehung (122). Meine frühere Auffassung über das
Wesen der Zahnkonkreszenz habe ich aufgeben müssen (124). Die Dimerie
ist nicht die Folge von einer Konkreszenz, sondern von dem Ausbleiben
einer räumlichen und zeitlichen Sonderung (125). Es kommt vielleicht
schon bei gewisser Theriodontia zur Entstehung dimerer Zähne (125).
Spezieller Teil.
Das Primatengebiß als Ganzes.
Allgemeine Bemerkungen 128—131
Die zusammengesetzten Zähne der Urprimaten sind höckerreicher
als die der rezenten Formen (128). Es gibt zwei Phasen im Werdegang
des Primatengebisses, eine Evolutionsphase und eine Spezialisierungsphase
(128). Merkmale der ersten Phase(129). Die Grunderscheinung der zweiten
Phase (129).
Viertes Hauptstück.
Das Unterkiefergebiß der Primaten 131-163
Das Unterkiefergebiß einiger eocäner Primaten (131). Die Prä-
molaren (132). Schlossers Meinung, daß die rezenten Primaten nicht von
den bekannten eocänen Formen abstammen können, weil die Zähne der
letzteren komplizierter sind, ist nicht aufrecht zu halten (133). Die Molaren
der eocänen Primaten (134). Das Unterkiefergebiß der Prosimiae (136).
Die Prämolaren (137). Die Molaren (139). Die eigenartige Gestalt des ersten
Molaren bei den Indrisinae (140). Vergleichung der Unterkieferzähne
heutiger Prosimiae und solcher eocäner Primaten (142). Das Unterkiefer-
gebiß der platyrrhinen Affen (143). Die Molarenformel (144). Die Prä-
molaren (145). Die Bedeutung der Molarisierung des dritten Prämolaren
der platyrrhinen Affen (146). Die Reduktion der Wurzelzahl bei den
amerikanischen Affen (147). Die Milchmolaren der Platyrrhinen (149).
Die Cope- Osbornsche Theorie und die Milchmolaren (150). Die
Wurzeln der Milchmolaren des platyrrhinen Gebisses (152). Das Unter-
kiefergebiß der katarrhinen Primaten (153). Die permanenten Molaren
(154). Korrelativerscheinungen in der Struktur oberer und unterer Mo-
laren (155). Die Höckerzahl der unteren Molaren beim Menschen (155;.
Reduktionserscheinungen im Unterkiefergebiß des Menschen (156). Die
Prämolaren (157). Die Kronenstruktur der Milchmolaren (158). Ver-
gleichung zwischen Milchmolaren und Prämolaren (158). Die Milchmolaren
stellen nicht mehr primitive Formen dar (159). Ein Gebiß ist primitiver,
je ähnlicher Milchmolaren und Prämolaren einander sind(159). In der Be-
ziehung zwischen der Struktur von Milchmolaren und Prämolaren ist das
menschliche Gebiß am meisten spezialisiert (161).
Fünftes Hauptstück.
Das Oberkiefergebiß der Primaten 164 — 18]
Das Oberkiefergebiß eocäner Primaten (164). Die Zwischen-
tuberkel in den Molaren der eocänen Primaten (166). Der hintere
Zwischenhöcker bei rezenten Primaten (167). Die Bedeutung der
Zwischenhöcker (168). Das Oberkiefergebiß der Halbaffen (169). Die
Prämolaren (170). Die Molaren der Halbaffen (171). Die Molaren vom
Geschlecht Lemur sind wahrscheinlich simplifizierte Formen (172). Das
Oberkiefergebiß der platyrrhinen Affen (174). Reduktionserscheinungen
am Gebiß der Platyrrhinen (175). Die Kronenformel der Prämolaren
(175). Die Molaren der Platyrrhinen (176). Die Milchmolaren der ameri-
kanischen Affen (178). Die oberen Backzähne der katarrhinen Primaten
(179). Die Zähne der Anthropomorphen (180). Schluß (181).
Allgemeiner Teil.
Die Entwicklung der einzelnen Zahnformen.
Einleitende Bemerkungen.
Die Basis, auf welche die nachfolgende Geschichte der Morpho-
genese der Primatenzähne aufgebaut ist, wird von den Tatsachen ge-
liefert, welche in der ersten dieser Studien nachgewiesen sind. Zuerst
ist darin festgestellt worden, daß der Säugerzahn durch Vereinigung
der Keime zweier Primärzähne entstanden ist, welche einander als
eine ältere und eine jüngere Generation verwandt waren. Und wahr-
scheinlich ist, daß diese Zähne nicht einfache Kegelzähne waren, wie
es wohl meistenfalls behauptet wird, sondern dreispitzige Zähne, wo-
bei die Spitzen als eine mittlere Hauptspitze und zwei Nebenspitzen
zu deuten sind. Die Hauptspitze ist das Homologon des einfachen
Kegelzahnes, die Nebenspitzen sind durch Differenzierung daraus her-
vorgegangen. Die dreispitzige oder trikonodonte Urform stellt somit
ein einheitliches Gebilde dar.
Durch die Verbindung zweier solcher Elemente zu einem einzigen
Element, erlangte der Säugerzahn somit den Charakter eines „dinieren"
Gebildes, das Homologon der älteren Generation, das man sich an der
bukkalen Seite des Zahnes zu denken hat, wurde als das „Protomer"
unterschieden, jenes der jüngeren Generation als das „Deuteromer".
Diese Grundanschauung über die Natur des Säugerzahnes ist bestim-
mend für die Richtung, worin sich eine vergleichende Untersuchung,
angestellt mit dem Zweck, die historische Entwicklung der Zahndiffe-
renzierung kennen zu lernen, bewegen muß. Denn es konzentriert sich
die Untersuchung in die Fragestellung, welcher Teil des Zahnes gehört
dem Protomer an und welcher dem Deuteromer, und weiter, auf welche
Spitzen der ursprünglich trikonodonten Urelemente sind die Höcker
bei jedem Zahn zurückzuführen. Diese Frage ist natürlich nicht sofort
für jeden Zahn zu beantworten. Durch eine systematische Untersuchung
muß zuerst der allgemeine Entwicklungsgang der Zahndifferenzierung
ausfindig gemacht werden. Ich habe das nun, unter Zugrundelegung der
beiden oben kurz angedeuteten Entstehungsprinzipien für die Primaten
vorgenommen und werde das Resultat dieser Arbeit in zwei Abschnitten
zur Darstellung bringen. In dem ersten Abschnitt wird eine theoretische
Auseinandersetzung gegeben, von der Weise, in welcher ich mir die all-
mähliche Entwicklung der verschiedenen Zahnformen im Gebiß der
Primaten denke. Dieser Abschnitt stellt somit den allgemeinen Teil
dar. Der zweite Abschnitt trägt einen mehr speziellen Charakter, da
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 1
2 Allgemeiner Teil.
in demselben die Gebisse der einzelnen Primatengeschlechter syste-
matisch im Licht der im ersten Teil dargestellten allgemeinen Gesichts-
punkte betrachtet werden sollen. Unter Primaten fasse ich in dieser
Arbeit sowohl die Halbaffen als die wahren Affen zusammen.
Ob in den Hauptzügen die hier gegebene Darstellung auch auf
andere Ordnungen der Säugetiere übertragbar ist, betrachte ich wohl
als wahrscheinlich, es sollte jedoch durch besondere Prüfung die allge-
meine Gültigkeit festgestellt werden müssen. Vorläufig möchte ich mich
vor Verallgemeinerung hüten. Unter Beibehaltung der Grundanschau-
ung, daß die Dimertheorie für alle Säugerzähne gilt, ist im folgenden
also immer nur von Primatenzähnen die Rede. In jenen Fällen, in den
ich jetzt schon der Überzeugung bin, daß diese Erscheinung eine mehr
allgemeine Bedeutung für die Geschichte des Säugergebisses hat, werde
ich das ausdrücklich hervorheben. Und letzteres kann ich schon am
Eingang meiner Darstellung tun bezüglich einer Erscheinung, die wohl
die Bedeutung eines die Zahndifferenzierung beherrschenden Gesetzes
hat. Dieses Entwicklungsgesetz ist folgenderweise zu formulieren: Bei
der Differenzierung des Säugerzahnes hat das Protomer immer eine
wichtigere Rolle gespielt, als das Deuteromer; bei progressiver Ent-
wicklung ist es immer vorangegangen, bei regressiver Entwicklung
erweist es sich als das mehr resistente Element. Eine zweite Gesetz-
mäßigkeit ist die folgende: Bei der Differenzierung der Höcker jedes der
beiden Bestandteile des Säugerzahnes werden die beiden Haupthöcker,
sowohl jener des Protomer als jener des Deuteromer, immer den Cha-
rakter vom Hauptbestandteile des Zahnes bewahren; bei progressiver
Entwicklung äußert sich der Fortschritt zuerst an ihnen, und erst an
zweiter Stelle an den ursprünglichen Nebenspitzen, bei regressiver
Entwicklung erweisen sie sich immer resistenter als die Nebenspitzen.
In gewissem Sinne verhalten sich somit bei der Differenzierung die
Nebenspitzen zu der ihnen zugehörigen Hauptspitze, wie das Deutero-
mer sich zum Protomer verhält. Das Hauptelement der Zähne ist und
bleibt aber immer der Haupthöcker des Protomer. Bei höchstgradiger
Reduktion oder einfachster Entwicklung des Zahnes ist es dieser Höcker,
der zuletzt übrig bleibt, oder sich allein entwickelt. Diese Ungleich-
wertigkeit der den Säugerzahn zusammensetzenden Teile erleichtert
die Erkenntnis des Differenzierungsganges wesentlich. Es fängt das
Deuteromer seine Beteiligung an der Bildung des Zahnes an als ein
einfaches Akzessorium zum Protomer, und allmählich, nachdem letzteres
schon eine höhere Entwicklungsstufe erreicht hat, fängt auch das
Deuteromer an sich weiter zu differenzieren und größeren Anteil an
der funktionell mehr vollkommenen Gestalt des Zahnes zu nehmen,
wie sie uns besonders in den Molaren entgegentritt. Es ist die Ursache
dieser Differenz zwischen den beiden Bestandteilen des Zahnes nicht
unschwer einzusehen. Denn das Protomer verhält sich zum Deutero-
mer als eine ältere Generation einer jüngeren gegenüber. Letztere, die
bei den reptilienartigen Stammformen angewiesen war, auch einmal
als freier, selbständiger Zahn zu funktionieren, hat bei der Ausbildung
des Säugergebisses, unter Verwachsung mit der lingualen Seite des
Zahnes der älteren Generation, ihre Selbständigkeit eingebüßt. Und
den zeitlichen Vorsprung, den letzterer in der Entwicklung besitzt,
behält er bei. Er entfaltet seine morphologischen Entwicklungsten-
denzen am ehesten und am vollständigsten. Die zeitliche Auffolge in
Die Entwicklung der einzelnen Zahnformen. 3
der Differenzierung, welche den beiden Elementen in der Reihe der
Reptilien zukam, bleibt erhalten, wenn beide zu einem einheitlichen
Gebilde verlötet sind in beziig auf den Differenzierungsgang. Das
Protomer behält die Führung. Und in der ersten Differenzierungsphase
werden wir dann auch letztgenanntes immer den Hauptteil des Zahnes
bilden sehen, während das Deuteromer anfänglich nur als ganz rudi-
mentäres Gebilde sich an der Innenseite des Protomeren findet, um
erst allmählich die ihm innewohnenden Entwicklungstendenzen völlig
zu entfalten. Zu obenstehendem sei jedoch sofort zugefügt, daß diese
Beziehungen bei den oberen Zähnen sich viel schärfer äußern als bei
den unteren Zähnen. Als einleitende Bemerkung muß ich an dieser
Stelle kurz auf eine Schlußfolgerung eingehen, welche sich in der
ersten dieser Studien findet. Bei der Diskussion über die ursprüngliche
Form des Säugergebisses habe ich im vierten Hauptstück jener Studie
als meine Meinung ausgesprochen, daß die Säugerzähne entstanden sein
sollten durch Konkreszenz zweier trikonodonter Zähne. Die Trikono-
dontie war ein von den Reptilien vererbtes Merkmal. Als ideale, voll-
ständig schematische Ausgangsform mußte somit ein Zahn betrachten
werden mit sechs Höckern, drei in einer Linie an der Außen- und
drei ebenfalls in einer Linie an der Innenseite. Auf eine Ausarbeitung
dieser Idee habe ich damals verzichtet, eben weil ich das als Haupt-
gegenstand der vorliegenden Arbeit bestimmt hatte. Nun kann jene
Darstellung leicht zu Mißverständnissen Anlaß geben, nämlich dann,
wenn man jene ideale Ausgangsform als reelles Beginnstadium der
Säugetierzähne auffaßt, was mir niemals im Sinne gelegen hat. Denn
das Deuteromer, das seiner Potenz nach ein trikonodonter Zahn ist,
ist nicht in solcher ausgebildeten Form zur Konkreszenz gekommen.
Die Verschmelzung darf man sich nur denken als eine zwischen Zahn-
keimen und nicht eine von ausgebildeten Formen. Und in dieser zu-
sammengesetzten Anlage ist zwar die Potenz zur Ausbildung zweier
trikonodonter Zähne enthalten, aber in welcher historischen Aufeinander-
folge diese Potenzen sich morphologisch manifestierten und in welchem
Grade sie sich in jedem besonderen Fall entfaltet haben, das eben muß
Gegenstand spezieller Untersuchung sein. Die Hauptsache dabei ist zu-
nächst festzustellen, welchen Zahnteil man dem Protomer und welchen
man dem Deuteromer zuweisen muß. In keinem Fall ist der Differenzie-
rungsgang derart zu denken, daß am Anfang der Entwicklungsreihe sich
ein wohlausgebildeter, sechshöckeriger Zahn findet, und die verschie-
denen Zahnformen, mit ihrer wechselnden, aber meistenfalls geringeren
Höckerzahl durch Reduktion von Höckern davon abzuleiten sind.
Dann sollte der Hauptcharakter der Entwicklung eine Anpassung an
die Funktion durch Regression bestehender Höcker gewesen sein, was
eben nicht der Fall gewesen ist. Im Gegenteil. Bei der phylogenetischen
Entwicklung sind die morphologischen Anlagepotenzen, welche in-
folge der Verschmelzung zweier Keime von trikonodonten Zähnen in
jedem Säugerzahn enthalten sind, in immer vollständiger Weise zur
Evolution gekommen, allerdings bei den verschiedenen Zähnen des
Gebisses in verschiedenem Maße, wodurch der heterodonte Charakter
des Säugergebisses entstand. Diese morphologische Komplizierung ist
stufenweise in ganz regelmäßiger, sogar gesetzmäßiger Weise vor sich
gegangen. Über das Wesen der Konkreszenz sehe man übrigens den
besonderen, diesem Begriff gewidmeten Hanptstück.
4 Allgemeiner Teil.
Die oben kurz angedeutete Gedanke ist, meine ich, in meiner
ersten Studie nicht genügend zu ihrem Kecht gekommen. Man konnte
vielleicht aus jener Arbeit den Eindruck bekommen, daß ich der An-
sicht war, die historische Differenzierung des Säugerzahnes trüge der
Hauptsache nach den Charakter von Rückbildung bestehender Höcker
zu einer geringeren Zahl. Diese Interpretierung möchte ich schon an
dieser Stelle, kürzlich als nicht meiner Ansicht entsprechend, zurück-
weisen.
Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen gehe ich zur Aus-
einandersetzung meiner Theorie über die Zahndifferenzierung über.
Eine für die Einteilung der Materie wichtige Erscheinung ist die Tat-
sache, daß die Differenzierung der Unterkieferzähne nicht ganz mit
jener der oberen übereinstimmt; nur in gewissen Beziehungen sind die
Differenzierungsgeschichten beider Zahnreihen einander gleich. Be-
kanntlich besteht auch bei der Trituberkulartheorie von Cope-Osborn
eine Differenz zwischen den Entwicklungsmodi oberer und unterer
Molaren, die Transgression der Höcker, welche gewissermaßen den
Kernpunkt jener Theorie darstellt, sollte für die oberen und unteren
Molaren in verschiedener Weise verlaufen sein. Es ist nun merkwürdig,
daß in der von mir zu gebenden Differenzierungsgeschichte obere und
untere Zähne ebenfalls einen selbständigen Entwicklungsweg gegangen
sind, sei es auch nicht bedingt durch eine verschieden verlaufende
Höckertransgression, die meiner Meinung nach nicht stattgefunden hat,
sondern in ganz anderer Weise. Diese Tatsache gibt einen Grund ab,
um die Morphogenese von Ober- und Unterkieferzähnen gesondert ab-
zuhandeln. Nur für die Frontzähne — Incisivi und Canini — war eine
solche Trennung nicht geboten, und ich werde dann auch bei den auf
diese Zahnarten bezug habenden allgemeinen Bemerkungen obere und
untere gemeinschaftlich besprechen.
Erstes Hauptstück.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne.
Es sind in der Morphogenese der oberen Zähne drei Phasen zu
unterscheiden, welche ich für eine bequeme Übersicht je in einem be-
sonderen Abschnitt besprechen werde. Nach der für jede Phase meist
typischen Erscheinung unterscheide ich diese drei Phasen wie folgt:
A. die Dreihöckerphase,
B. die Sechshöckerphase,
C. die Doppelhöckerphase.
Diese Einteilung hat zwar eine morphologische Grundlage, aber
es sei sofort bemerkt, daß auch sie, wie jedwede Einteilung in einem
komplizierten Entwicklungsvorgang, etwas artifizielles hat. Ich fange
mit der ersterwähnten Phase an.
A. Die Dreihöckerphase.
Was die Urform des Säugerzahnes betrifft, ist schon in der ersten
dieser Studien — S. 95 — hervorgehoben, daß es gar nicht notwendig
ist, anzunehmen, ja sogar weniger wahrscheinlich ist, daß die Ursäuger
ein rein haplodontes, d. h. aus einfachen Kegelzähnen aufgebautes
Gebiß besessen haben. Der Kegelzahn ist wie alle anderen Zahnformen
zu betrachten als eine, einer bestimmten Funktion angepaßte Form,
und man findet dieselbe nur dort in reiner Gestalt, wo die Beute nur
ergriffen zu werden braucht. Dann stellen die spitzen Kegel vorzügliche
hakenförmige Organe dar, zwischen welchen die Beute gefaßt wird.
Als ein sehr lehrsames Beispiel zum Beweise, daß Kegelzähne nicht die
ursprünglichsten Formen darstellen, sondern als spezialisierte Formen
auftreten können, kann ich folgende Beobachtung mitteilen. Wenn
man das Gebiß eines erwachsenen Scyllium stellare untersucht, dann
konstatiert man, daß es im Oberkiefer und Unterkiefer aus einfachen
Kegelzähnen besteht, welche mit einer ziemlich breiten Basis in der
Schleimhaut befestigt sind. Vergleicht man mit diesem Gebiß jenes
eines jungen Tieres, dann erweisen sich die Zähne von so ganz anderer
Gestalt, daß man anfänglich — wie es auch mir geschah — der Ansicht
sein konnte, es läge ein Irrtum in der Bestimmung vor. Doch ist dem
nicht so, wie Kontrolltiere, und besonders Exemplare verschiedenen
Alters sofort beweisen. Bei einem Tiere von 12 cm Totallänge ähneln
sich die Gebißzähnchen den Hautzähnchen noch sehr. Sie sind stark
abgeplattet und besitzen fünf fast gleichgroße Spitzchen . Das unpaarige
mittelste ragt nur wenig hervor. Mit zunehmendem Alter stellt sich eine
6 Erstes Hauptstück.
Umänderung der Form ein. zunächst an den der Medianlinie am nächsten
sich befindenden Zähnchen. Die mittelste Spitze wird größer, dagegen
die beiden an den Ecken sich findenden kleiner. Dieser Vorgang geht
in progressiver Richtung immer weiter, und bei einem Tier von ungefähr
30 cm kommen die beiden ursprünglich äußersten Spitzen gar nicht
mehr zur Entwicklung, während die mittlere einen schon stark hervor-
ragenden Stachel darstellt. Die Zähne sind dreispitzig geworden. An
den Ecken der Mundöffnung, wo die Zähnchen kleiner bleiben, trifft
man noch alle Übergangsstadien von fünfspitzigen Formen an. Auf
dem eingeschlagenen Weg schreitet jedoch die Vereinfachung immer
weiter fort, und mit zunehmendem Alter treten jetzt, zunächst im vor-
deren Teil des Gebisses, große einfache Stachelzähne auf, bis die mehr-
spitzigen Formen fast ganz aus dem Gebiß verschwunden sind. Nur
an den Mundecken trifft man bei den kleineren Zähnen beim erwachsenen
Tier noch vereinzelt solche an, welche neben der Hauptspitze noch
zwei rudimentäre Nebenspitzchen aufweisen. Die der Form nach rück-
läufige Zahndifferenzierung bei Scyiiium stellare bildet ein Gegenstück
zu jener bei Chlamydoselachus anguineus, von dem Kose berichtet,
daß die erste Zahngeneration ein- oder zweispitzig ist, dann folgen
größere dreispitzige Zähnchen, während beim erwachsenen Tier fünf-
spitzige Zähne vorkommen1). Dieser Fall beweist, daß ein Kegelzahn
zwar die einfachst denkbare Form des Zahnes ist, aber daß er aus
ursprünglich komplizierteren Formen durch Reduktion entstehen kann,
wenn die Funktion es erheischt. Zwar ist dieses Beispiel den niedrigsten
Wirbeltieren entnommen, aber ein prizipieller Unterschied in der
Differenzierungsweise von Haifischzähnen und Reptilienzähnen be-
steht nicht. Denn bei beiden Ordnungen stellt der Zahn ein einheit-
liches Element dar, die Komplikationen der Schneide sind nicht die
Folge von Konkreszenz, sondern Differenzierungserscheinungen. An
genannter Stelle habe ich in der ersten Studie weiter darauf hingewiesen,
daß die in der Literatur nicht seltene Verweisung nach dem Krokodilen-
gebiß als hypothetische haplodonte Ausgangsform des Säugergebisses
weniger berechtigt ist, da wahrscheinlich bei diesen Formen die Kegel-
gestalt der Zähne auch einen sekundäreren Erwerb darstellt, hervorge-
rufen durch die Verlängerung der Kiefer und Ausbildung der Schnauze
zu einem ausgezeichneten Greiforgan. Diese Behauptung gewinnt an
Wahrscheinlichkeit durch die Tatsache, daß die ersten Zähnchen, welche
bei Crocodellus porosus zur Anlage gelangen, und noch frei an der Ober-
fläche entstehen, um nachträglich in der Tiefe des Mesenchyms zu
senken, wo sie resorbiert werden, nicht kegelförmig, sondern abgeplattet
sind. Der mesenchymatöse Kern dieser Zähnchen wird von Rose sogar
als eine Doppelpapille beschrieben2). Auch der thekodonte Charakter
des Krokodilengebisses darf nicht als eine Vorstufe von diesem zum
Säugergebiß gedeutet werden. Denn diese Befestigungsweise am
Kiefer kam auch bei anderen Sauropsiden (Sauropterygier) vor, und
wird dann auch von Burckhardt als ein primitives Merkmal aufge-
faßt3). Der ebenfalls sich besonders in älterer Literatur findende Hin-
1) 0. Rose, Über die Zahnentwicklung von Chlamydoselachus anguineus.
Morph. Arb. 1894, Bd. IV.
2) C. Rose, Über die Zahnentwicklung der Krokodile. Morph. Arb., Bd. III,
S. 203.
3) R. Burckhardt, Das Gebiß der Sauropsiden. Morph. Arb., Bd. V, S. 267.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 7
weis auf das Delphinengebiß als Muster einer ursprünglichen Form des
Säugegebisses, wird jetzt wohl allgemein als irrtümlich zurückgewiesen.
Es ist wohl als feststehend zu betrachten, daß die Meinung, wie
dieselbe z. B. durch Schlosser in scharfer Formulierung niederge-
schrieben ist: ,,Als die ursprünglichste Form aller Säugetierzähne
dürfen wir wohl den Kegelzahn betrachten, eine Zahnform, die sich
bei den Delphinen nahezu unverändert erhalten hat"1)- nicht aufrecht
gehalten werden kann, da es sich hier zweifelsohne um eine sekundäre
Erscheinung handelt, Schon kurz nach dem Erscheinen der zitierten
Arbeit von Schlosser schreibt Kükenthal: „Zweifellos ist das Gebiß
der Bartenwale als eine Anpassung an das Wasserleben zu betrachten'1'2).
Es liegt somit kein zwingender Grund vor, um sich die Urform des
Säugerzahnes als einen einspitzigen Kegelzahn zu denken, die andere,
bei den Reptilien so häufig vertretene Form, der dreispitzige Zahn, er-
scheint in ungezwungener Weise als eine den gestellten Ansprüchen
besser angepaßte Form. Denn es war eben ein mit der Entstehung der
Säuger aufs innigste^ verbundener Fortschritt, daß die Beute oder die
Nahrung in der Mundhöhle einer mechanischen Verkleinerung unterlag.
Formen mit einem aus Kegelzähnen zusammengesetzten Gebiß eigneten
sich dazu nicht, wohl solche Formen, bei den die seitlich komprimierten
Zähne eng aneinanderschlossen und Ober- und Unterkiefergebiß wie
eine Schere das Futter zerschneiden konnten. Und wenn man bei den
Reptilien die seitlich komprimierten Zähne untersucht, dann findet
man sie, wenigstens' die größeren, sehr häufig dreispitzig. Wie gesagt,
bin ich der Meinung, daß diese Dreispitzigkeit nicht die Folge ist von
Konkreszenz, sondern eine Differenzierungserscheinung. Solche drei-
spitzige Zahnformen glaube ich dann auch als Grunclelemente der
Säugerzähne ansehen zu müssen.
Die Frage nach der Bedeutung der Dreispitzigkeit der Reptilien-
zähne werde ich etwas näher ins Auge fassen. Die Möglichkeit, daß diese
Mehrspitzigkeit durch Verwachsung mehrerer Einzelzähne entstanden
ist, also infolge von Konkreszenz zustande kam, habe ich bei
meinen Untersuchungen am Reptiliengebiß besonders berücksichtigt.
Es ist mir jedoch bis jetzt noch keine einzige Erscheinung bekannt ge-
worden, welche zugunsten dieser Meinung angeführt werden konnte.
Es ist von Rose der Versuch gemacht worden, die Mehrspitzigkeit der
Reptilienzähne durch Verwachsung von Einzelzähnen in der Längs-
richtung zu erklären3). Er wählte dazu als Untersuchungsobjekt das
Chamäleon, dessen hintere Zähne bekanntlich in stark ausgesprochener
Weise dreispitzig sind. Und der Autor glaubt, daß er auf Grund seiner
Beobachtungen zur Behauptung berechtigt ist, daß für die von ihm
vertretene Verwachsungstheorie die Zahnentwicklung von Chamäleon
geradezu einen schlagenden Beweis bietet (1. c. S. 573). Schwalbe,
der sich prinzipiell in diesem Punkte Rose anschloß4), drückt sich
jedoch hinsichtlich der Befunde von jenem Autor etwas anders aus, indem
1) M. Schlosser, Die Differenzierung des Säugetiergebisses. Biol. Zentralbl.
1890, Bd. IV. S. 238.
2) W. Kükenthal, Über den Ursprung und die Entwicklung der Säugetier-
zähne. Jen. Zeitschr. f. Naturw.. N. F.. Bd. XIX. S. 476.
3) C. Rose, Über die Zahnentwicklung von l'hamaeleon. Anat.Anz.,Bd. XIII.
4) G. Schwalbe, Über eine seltene Anomalie des Milchgebisses des Menschen.
Morph. Arb., Bd. III.
8 Erstes Hauptstück.
er anführt: „Zweifellos hat Rose nachgewiesen, daß die hinteren drei-
spitzigen Zähne durch Verwachsung dreier einzeln angelegter Zahn-
scheibchen entstellen." Das ist eine mehr beschränkte Deutung der
Rose sehen Befunde, als die von diesem Autor selbst gegebene. Und
ganz mit Recht weist Burckhardt1) darauf hin, daß eine separierte
Anlage von drei Dentinscherbehen auf die fast gleichgroße Spitze eines
dreispitzigen Zahnes für eine eventuelle Konkreszenz gar nicht beweisend
ist. Diese Erscheinung stellt einen notwendigen histiogenetischen Diffe-
renzierungsgang dar, denn, fragt genannter Autor, wie müßte die Krone
des Zahnes denn sonst entstehen? Doch glaube ich, daß dieser Autor
etwas zu weit geht, wenn er als Beweis von Konkreszenz fordert, daß
die Produkte verschiedener Zahnsäckchen sekundär verschmelzen. Als
Beweis einer stattgefundenen Verschmelzung genügt der Hinweis einst-
maliger Individualität der die Verwachsung angehenden Elemente.
Und dafür genügen als Beweis die von mir in der ersten Studie be-
schriebenen Erscheinungen, welche dartun, daß das Schmelzorgan
kein einheitliches, sondern ein mehrfaches Gebilde ist. In der genannten
Studie habe ich diesen Beweis für die Säugerzähne im allgemeinen und
die Primatenzähne auch besonders erbracht2).
Bringt nun die Rose sehe Arbeit etwas, das auf eine mehrfache
Natur des Schmelzorganes, eine Dreifachheit also in longitudinaler
Richtung, hinweist ? In keiner Hinsicht ist das der Fall. Er führt als
Beweise seiner Meinung an, daß er bei einer sehr frühen Anlage des
letzten Molaren eines 22 cm langen Tieres zwei Papillen dicht neben-
einander beobachtet hat. Der Autor bildet dieselben in Fig. 5 ab.
Nun sind diese Papillen — wenn man wirklich das Bild in dem Röse-
schen Sinne deuten will, in einer frontalen Ebene gelagert, und können
deshalb schwerlich als ein Beweis von Verwachsung in sagittaler Rich-
tung angeführt werden. Dann gibt der Autor ein paar Bilder sehr
schräger Schnitte durch den letzten Molar eines 9 cm langen Tieres.
Es standen ihm gar keine Embryonen, sondern nur jugendliche Tiere
zur Verfügung. Diese Bilder geben Raum zur Vermutung, daß die
Dentinablagerung bei den Zähnen nicht von einer einzigen Stelle aus-
geht. Ganz beweisend sind die Bilder auch für diese Frage eben nicht.
Denn daß in Fig. 6 zwei isolierte Dentinplatten in einem gemeinschaft-
lichen Schmelzorgan eingedrungen erscheinen, kann auch ein durch
die sehr unregelmäßig schräg verlaufende Schnittrichtung verursachtes
Trugbild sein.
Ich kann in der Rose sehen Arbeit über Chamäleon dann auch
keinen einzigen Beweis finden, weder für die Berechtigung seiner oben
zitierten Schlußfolgerung, noch für die Konkreszenztheorie im Röse-
schen Sinne überhaupt. Und wo es sich, wie der Autor meint, um einen
schlagenden Beweis handelt für die Richtigkeit einer auch damals
schon angefochtenen Theorie, wäre es gewiß erwünscht gewesen, wenn
der Autor durch eine mehr vollständige Beschreibung und mehrere
1) R. Burckhardt, Das Gebiß der Sauropsiden. Morph. Art»., Bd. V, S. 377.
2) Notiz bei der Korrektur. Es hat jüngst Ahrens Bedenken geäußert gegen
die von mir dem Schmelzseptum zuerkannte Bedeutung. Ahrens: Die Entstehung
des Schmelzstranges am Schmelzorgan von Schweineembryonen. Sitzungsber.
Gesellsch. f. Morph, u. Phys. in München 1913. Ich werde in einer besonderen
Veröffentlichung die Frage der Bedeutung des Schmelzseptum eingehend behandeln.
Nur hier sei kurz mitgeteilt, daß die Beobachtungen von Ahrens nicht genügen,
um die von mir dem Schmelzseptum zuerkannte Bedeutung zu widerlegen.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 9
Abbildungen den Leser zu einer mehr vollständigen Beurteilung des
Falles instand gesetzt hätte.
Auch Marett Tims kommt in seiner sehr eigentümlichen Theorie
über die Entstehung der Säugetierzähne1) zur Ansicht, daß nicht nur
eine Fusion von Einzelzähnchen in longitudinaler Richtung stattge-
funden hat, sondern daß sogar dieser Vorgang der einzige je statt-
gefundene Modus von Verwachsung darstellen sollte. Allerdings sollte
das nur für die Molaren gelten, bei den Prämolaren hat niemals eine
solche Konkreszenz sich vollzogen, diese Zähne sind reine Differen-
zierungsprodukte. In welcher Weise die inneren Höcker der Molaren
nach der Ansicht des genannten Autors entstehen, ist mir aus seiner
Arbeit nicht recht deutlich geworden. Die eigenartige Auffassung des
Autors und der Gegensatz zwischen dem Entwicklungsgang von
Prämolaren und Molaren wird vielleicht etwas erklärt durch die Tat-
sache, daß er die Ansicht über die Evolution der Prämolaren auf Grund
von hauptsächlich vergleichend-anatomischen Untersuchungen bei
Carnivorengebissen aufgebaut hat, und seine Meinung über die Ent-
stehung der Molaren auf embryologische Untersuchungen an Roden-
tiergebissen stützt. Daß die Untersuchung solcher fragmentarischer
Gebisse nicht gerade förderlich ist für die die Konzeption des Gedankens,
daß es etwas Gemeinschaftliches für alle Elemente des Gebisses geltendes
gibt, liegt auf der Hand.
Was nun die behauptete Konkreszenz in longitudinaler Richtung
bei den Molaren betrifft, muß der Autor die Erklärung abgeben: ,,I have
not yet seen anyactual fusion of enamelgerms." Er genügt sich mit einer
Verweisung nach Roses Befunde an Chamäleon, und führt dazu die
Untersuchung Harris ons über die Entstehung des Gebisses bei
Hatteria an2). Dieser Hinweis ist sehr merkwürdig, denn Harris on
erklärt sich in dem zitierten Aufsatz gerade ein Gegner der Konkre-
szenztheorie zu sein. Die Ergebnisse und Schlußfolgerungen dieses
Autoren werde ich hier kurz einschalten. Die sogenannten Fusions-
erscheinungen in longitudinaler Richtung am Gebiß von Hatteria sind
zweierlei Art. Am meisten bekannt sind die Frontzähne. Diese sollten
durch Fusion oder Konkreszenz von zwei oder drei Zähnen entstanden
sein. Über diese Bildungen äußert sich Harris on, 1. c. S. 148, in
folgender Weise: ,,A more recent view that the form of the front-teeth
is due to fusion is ea qually erroneous. There is no fusion, and the appea-
rances are entirely due to the close relations of the simple sub-coical
teeth to the bone, wich grows out some distance beyond the germs and
is subject to the grinding action of the opposing jaw after the enamel
and dentine are worn away." Diese Bildung bei Hatteria kann somit
nicht weiter als Beweis von longitudinaler Verwachsung angeführt
werden
Die zweite Erscheinung, welche bei Hatteria eine Konkreszenz
vorzutäuschen scheint, hat Harris on selbst zum ersten Male beschrieben.
Es betrifft die Zähne im Unterkiefer der von diesem Autor sogenannten
„alternating Dentition", welche die zweite und dritte Dentition bei
Hatteria repräsentieren sollten. Hiervon gibt der Autor folgendes an:
1) Tims H. W. Marett, The evolution of the teeth in the mammalia.
Journ. of Anat. and Phys. 1903, Vol. XXXVII.
2) Harrison, H. S.. Hatteria punctata, its Dentition and its Incubation
Period. Anat. Anz. 1902, Bd. XX.
10 Erstes Hauptstiick.
„All the alternatiiig teeth in the lower jaw (except porhaps the first
three) become fused together. The enamelorganes appear to remain
to some extend undependent, the pulpcavities of the fully fornier
tooth do not communicate directly with one another. We have here a
clear case of concrescence with result not in the formation of a true
multieusped tooth but rather of a serrated dentonal ridge." Ich erinnere
daran, daß ich früher schon auf Lophiurus amboinensis hingewiesen
habe, wo ein gleicher Vorgang stattgefunden hat. Der hintere Teil
vom Ober- und Unterkiefer wird von einer ununterbrochenen
Zahnbeinleiste gedeckt, welche wie der Hornbesatz bei den Kiefern
der Testudinaten funktioniert. Die Grenzen der ursprünglichen Zähne
sind kaum zu erkennen, da ihre freien Spitzen abgekaut sind. Will
man diese Bildung als Zeugnis für longitudinale Konkreszenz anführen,
dann kann auch der Hornkiefer der Testudinaten mit gleichem Rechte
als solche gelten. Ähnlicher Meinung ist auch Harris on. Denn am
Schlüsse seiner Aufsäzte führt er aus : It is of little value to the uphol-
ders of the concrescence-theory to show that concrescence may at present
occasionally occur, unless evidence is brought forward as to its effi-
ciency as an evolutionary process. Concrescence in Hatteria does
not pave the way to the formation of tricuspid or multicuspid tooth.
The evidence derived from Hatteria is rather adverse than favou-
rable to it."
Es ist mir ganz unbegreiflich, daß Timms auf diesen Aufsatz
von Harris on verweist, als Stütze für seine Meinung, daß ,,an antero-
posterior fusion of the tooth of the same dentition in the true molar
regions appears to be the only Solution of the difficulty in accounting
for the duplex condition of the true molars of the greater number of
mammals". \~y
Wir konstatieren somit, daß bis jetzt noch kein einziger Beweis
erbracht worden ist, daß jemals eine longitudinale Verwachsung von
Zähnen zu Individuen einer höheren Ordnung stattgefunden hat.
Alles was man darüber bis jetzt in der Literatur findet, ist reine Hypo-
these. Kükenthal, der einer der ersten war, um diese Konkreszenz-
hypothese in der neueren Literatur wieder in den Vordergrund zu
bringen, hat auch keinen einzigen Grund für sie anführen können.
In seinem Vortrag über den Ursprung der Säugerzähne1) geht er aus
von der Überlegung, daß bei Säugetieren, deren Kiefer sich verlängern,
die Backzähne sich in eine Mehrzahl von konisch zugespitzten reptilien-
zahnartigen Gebilde teilen, und fragt dann: sind nicht die Backzähne
ebenso entstanden durch Zusammentreten einfacher konischer Reptilien-
zähne infolge von Kieferkürzung? Darauf gibt der Autor folgende
Antwort (1. c. S. 476): ..Die ältesten bekannten Säugetiere, z. B.
Trikonodon, zeigen Backzähne von für unsere Hypothese geforderten
typischen Bau. je drei gleichartige, hintereinander liegende, konische
Kronenteile, die miteinander verschmolzen sind." Hier wird einfach
die Verschmelzung postuliert, ohne daß der geringste Beweis dafür
erbracht wird.
Adloff, der die Kükenthalsehe Theorie verteidigt: Kon-
kreszenz bis zum trikonodonten und trituberkularen Typus, und
1) W. Kükenthal, Über den Ursprung und die Entwicklung der Säugetier-
zähne. Jen. Zeitschr. f. Naturw., N. F., 1892, Bd. XIX.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. \\
dann weitere Ausbildung durch Differenzierung, hat ebensowenig bis
jetzt auch nur den geringsten Beweis zur Begründung dieser Meinung
anführen können.
Das Unzulängliche der von Küken thal und A dl off angeführten
sogenannten Beweise für die Konkreszenztheorie ist dann von Depen-
dorf in einer eingehenden kritischen Abhandlung dargetan1). In dieser
kommt der Autor auf seine ursprüngliche Meinung, daß die Konkreszenz-
theorie für eine Erklärung der Entstehung der Säugetierzähne richtig
sein sollte, zurück, und betont, daß alle jene Erscheinungen, welche
bei der Anlage der Zähne bis jetzt als Verwachsungserscheinungen ge-
deutet wurden, gerade in umgekehrtem Sinne aufgefaßt werden müssen.
Alle jene Fälle, bei denen bisher von einer Verschmelzung die Rede
war, sind also das Gegenteil: Trennungsvorgänge (1. c. S. 552).
Im Prinzip bin ich mit dieser Meinung von Dependorf einverstanden,
in der Ausarbeitung jedoch, welche er in dem erwähnten Aufsatz gibt,
kann ich mich ihm nur zum Teil anschließen. Doch werde ich im
Hauptstück „Über das Wesen der Zahnkonkreszenz" besonders auf
diesen Punkt eingehen.
Auch von Osborn wird der trikonodonte Zahn -- den man bei
den mesozoischen Säugetieren so ungemein häufig vertreten findet —
als eine primitive Phase in der Entwicklung des Säugerzahnes be-
trachtet. Anfänglich hat dieser Zahn nur eine einzige Wurzel. Die
drei Spitzen der Krone sind jedoch nicht vollständig gleichwertige
Gebilde, ein Umstand, der sofort ins Auge gefaßt zu werden verdient.
Jene, welche die Mitte einnimmt, ist genetisch die ältere, und auch
meistenfalls die größte. Sie ist das Grundelement des Zahnes und ent-
spricht den nicht mit Nebenspitzen versehenen einfachen Kegelzahn.
Die beiden andern sind wirkliche Nebenspitzchen, können der mittleren
an Größe gleichkommen — wie z. B. bei den drei oberen und unteren
Molaren von Trikonodon ferox (Osborn 1907, Fig IIa)2) sind jedoch
meistenfalls kleiner. Sie sind keine primären Elemente, sondern Diffe-
renzierungen aus der Basis der Hauptkegel hervorgegangen. Bei der
Wahl der Nomenklatur der Spitzen habe ich diesem Umstand Rechnung
getragen. Die Hauptspitze, sowohl vom Protomer als vom Deuteromer
werde ich mit einem lateinischen Buchstaben andeuten und zwar jene
des Protomer mit P, jene des Deuteromer mit D. Die Nebenspitz-
chen dagegen bezeichne ich mit Ziffern, und zwar jene des Protomer mit
i und 2, jene des Deuteromer mit j und 4. Diese Bezeichnungsweise
erschien mir am meisten empfehlenswert und bevorzugte ich nicht nur
weil sie die meist indifferente ist, sondern auch weil sich mit ihrer Hilfe
in bequemster Weise zum Ausdruck bringen läßt, was ich die „Kronen-
formel" des Zahnes nennen will. Was ich darunter verstehe und von
welchem Nutzen solche Formel für eine vergleichende Untersuchung
des Zahnes ist, werde ich gleich auseinandersetzen.
Die Hauptaufgabe bei dem Verfolgen der allmählichen Diffe-
renzierung der Zähne ist die Homologie der Höcker und, soweit möglich,
1) T. Dependorf, Zur Frage der sogenannten Konkreszenztheorie. Jen.
Zeitschr. f. Naturw. 1906, Bd. XLII.
2) Ich werde in dieser Arbeit öfters auf Figuren und Text vom Sammel-
werk verweisen, worin durch Gregory die von Cope- Osborn erschienenen Publi-
kationen über ihre Differenzierungstheorie zusammengefaßt sind (Evolution of
mammalian molar teeth, to and from the triangulär type. New York 1907.) Ich
werde das immer in der abgekürzten, hier angewendeten Weise tun.
12 Erstes Hauptstück.
auch jene der Wurzel festzustellen. Wenn man nun für die Bezeichnung
jedes Höckers statt einen Namen als Symbol einen Buchstaben oder
Ziffer wählt, dann kann man leicht in jedem gegebenen Falle die Morpho-
logie der Krone durch Nebeneinanderstellung der Symbole, zum Aus-
druck bringen. Und wenn man dann einer bestimmten, durch die
Natur des Kronenreliefs von selber angewiesenen Methode dabei folgt,
kann man in dieser Weise nicht nur das Vorkommen überhaupt
der Höcker, sondern auch ihre Lagerung zueinander zur Schau
bringen. Die Zusammensetzung des Zahnes aus einem Protomer und
Deuteromer bestimmt in natürlicher AVeise die Schreibweise der Formel,
indem die Symbole der Höcker beider Teile durch eine horizontale
Linie getrennt werden. Oberhalb der Linie finden sich dann die Sym-
bolen der Protomerenhöcker, unterhalb der Linie jene des Deuteromer.
Es sind oben die Symbole genannt, mit welchen ich die sechs Höcker,
welche der Säugerzahn in Anlage enthält, unterscheide, und ich werde
jetzt an einigen Beispielen zeigen, wie sich diese zur Aufstellung von
Kronenformeln verwenden lassen.
Der einfachste Fall ist wohl jener, bei dem die Zahnkrone
nur aus dem Haupthöcker des Protomer besteht. Dann wird die
Kronenformel aus dem einzelnen Buchstaben P bestehen. Denkt
man sich nun einen Zahn, dessen Krone aus den Haupthöckern beider
Odontomeren — also des Protomer und des Deuteromer — besteht.
P
Von diesem Zahn lautet die Kronenformel: -_. Durch diese einfache
Schreibweise ist man sofort über die morphologische Zusammen-
setzung des bezüglichen Zahnes orientiert. Denkt man sich nun den
Fall, daß vom Protomer auch die beiden Nebenspitzchen entwickelt
sind, vom Deuteromer jedoch nur die Hauptspitze. Ein solches Kronen-
I P 2
relief wird durch die Formel — ^ — zum Ausdruck gebracht. Und
nehmen wir als letztes Beispiel den Fall, daß an einem Zahn sämtliche
Höcker zur Ausbildung gelangt sind, dann wird dieser Zustand durch
I P 2
die Formel n ausgedrückt. Der Vorteil der Anwendung solcher
Kronenformeln springt sofort ins Auge. Man umgeht lange Um-
schreibungen, und durch Nebeneinanderstellung solcher Formeln ist
man imstande, mit einem Blick die morphologischen Beziehungen
mehrerer Zähne zueinander zu übersehen. Auch weitere Details in dem
Vorkommen der Höcker, oder ihrer Beziehung zueinander, kann man
durch einfache Hilfsmittel zum Ausdruck bringen. Sind z. B. die
beiden Hauptspitzen des Zahnes nur da, und sind sie miteinander
verwachsen, dann kann man das in der Formel folgenderweise aus-
drücken \--f\. Es sind somit die Kronenformeln für die einzelnen Zähne
ebenso leicht zu hantierende Hilfsmittel bei der vergleichenden Unter-
suchung wie die Gebißformel für das ganze Gebiß. Die hier beschriebene
Methode ist nicht neu. Es hat schon Winge im Jahre 1882 eine der-
artige Methode angedeutet1). Er bezeichnete die Höckerchen mit den
Zahlen 1 — 7 und fügt auch diese, in einer tabellarischen Übersicht der
1) H. Winge, Om Pattedyrenes Tandskifte Vidensk. Meddelelser fra d.
naturhist. Forening i Kjöbenhavn 1882.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 13
Entwicklung der Säugerzähne, jedesmal in einer Figur derart zusammen,
daß Homologie und Topographie sofort ersichtlich sind. Es muß
wundernehmen, daß eine, soweit mir bekannt, vom genannten Verfasser
inaugurierte, so äußerst bequeme Methode in der Literatur nicht schon
lange eingebürgert ist. Leider kann ich auf die Details der Winge sehen
Abhandlung, als in der mir unverständlichen dänischen Sprache ge-
schrieben, nicht eingehen.
Es ist schon im Voraus bemerkt, daß ich auch der Entwicklung
der Wurzel bei meiner theoretischen Auseinandersetzung Rechnung
tragen werde. Und es erscheint dabei erwünscht, auch diese in besonderer
Weise zu unterscheiden. Nun ist der trikonodonte Zahn, da er nur einem
einzigen Element des Gebisses entspricht, ursprünglich wohl ein-
wurzelig gewesen. Diese Primärwurzel werde ich in der Folge mit A
bezeichnen. Warum ich hier von Primärwurzel spreche, wird bald
deutlich werden. Kurz zusammengefaßt ist mithin die primitive Zahn-
form als eine einwurzelige mit der Kronenformel i P 2 anzudeuten.
Die erste Erscheinung einer höheren Ausbildung glaube ich nicht
im Kronenteil, sondern im Wurzelteil des Zahnes suchen zu müssen.
Wenn man die verschiedenen Abbildungen trikonodonter Zähne von
mesozoischen Säugern — wie sie sich z. B. in Osborn 1907 in über-
großer Zahl finden — durchmustert, dann fällt es auf, daß meistenteils
diese Zähne zweiwurzelig sind. Das gilt nicht nur von den postkaninen
Zähnen, sondern auch der Eckzahn besitzt nicht selten zwei Wurzeln,
die wie bei den weiter nach hinten folgenden als eine vordere und
hintere gestellt sind. Die amerikanischen Forscher spenden dieser Er-
scheinung nur wenig Aufmerksamkeit, was nicht wundern darf, da ihre
Theorie sich hauptsächlich mit den weiteren Entwicklungsphasen
beschäftigt. Nur vorübergehend hat Osborn in einer Ableitung der
Trituberkularform die Wurzel als systematisches Kriterium ver-
wendet. In einem Aufsatze von 1888 im ..AmericanNaturalist" erschienen,
stellt der Autor folgende Entwicklungsstufe für den Trituberkular-
typus auf: a) Haplodonter Typus: Einfacher kegelförmiger Zahn.
Wurzel einfach und mehr von der Krone abgesetzt. Dieser Typus
ist noch nicht unter den primitiven Mammalien aufgefunden, b) Pro-
todonter Subtypus: Die Zahnkrone mit einem Hauptkegel und
Nebenspitze, die Wurzel mit Längsfurche. Beispiel: Dromatherium
vom amerikanischen Trias, c) Trikonodonter Typus: Die Krone ist
verlängert mit einer zentralen und zwei Nebenspitzen und zwei-
facher Wurzel. Beispiel: Trikonodon. In der bekannten Weise
leiten die amerikanischen Forscher von letzterer Form ihren Trituber-
kulartypus ab.
Aus obigem geht hervor, daß eine zweifache Wurzel eine bei
der Entwicklung der Säugetiere sehr früh auftretende Erscheinung ist.
Bekanntlich kann sie auch schon bei Reptilien auftreten. Wir müssen
etwas tiefer auf diese Erscheinung eingehen, denn die Beantwortung
der Frage, woher die Zweizahl der Wurzel bei den Zähnen der primi-
tivsten Säuger stammt, ist von prinzipieller Bedeutung. Im allgemeinen
wird der Wurzelteil der Zähne bei der Diskussion über Zahndiffe-
renzierungen zu viel außer Acht gelassen. Und doch ist es nicht von
der Hand zu weisen, daß die Geschichte des AVurzelteiles und jene
des Kronenteiles der Zähne in einer gewissen Abhängigkeit voneinander
verlaufen müssen. Denn die Differenzierung des einen Abschnittes
14 Erstes Hauptstück.
muß jene des anderen beeinträchtigen. Krone und Wurzel oder Wurzel-
komplex bilden eine funktionelle Einheit und daher soll man auch in
morphologischem Sinne die beiden Teile nicht in allzu starkem Gegen-
satz zueinander bringen, unter Hinweis darauf, daß die Wurzel nur
sekundäre Bildungen sind. Denn man behalte im Auge, daß auch die
Modellierung des intraalveolaren Teiles der Zähne durch die Aktivität
des Schmelzorganes zustande kommt. Es ist dieses Organ das, wie es
von Brunn zuerst in überzeugender Weise nachwies1), durch Ein-
wucherung in bestimmter Richtung im basalen Teil der Zahnpapille
die Zahl und Stellung der Wurzeln bestimmt. Bildung und Um-
bildung am Wurzelteil der Zähne kommt somit durch das nämliche
Organ zustande, welches dem Kronenteil das Emaille liefert und da-
durch auch am Zustandekommen des Kronenreliefs beteiligt ist. Nach
von Brunn ist sogar die schmelzbildende Funktion nur als eine akzes-
sorische zu betrachten, die Hauptfunktion des Epithelorganes sei ge-
rade die formbestimmende (1. c. S. 381). Diese Meinung erhielt bald
eine tatsächliche Grundlage durch den von Ballowitz gemachten
Befund, daß bei den schmelzlosen Zähnen der Edentaten ein Schmelz-
organ zur Entwicklung gelangt mit allen Eigentümlichkeit dieses Organes
bei den schmelzführenden Zähnen anderer Säugetiere2). Durch Rose
ist dann später das Prinzip auch als gültig erkannt für die placoiden
Zähne3). Auch der Umstand, daß, oftmals eine Anomalie in der Aus-
bildung der Krone mit einer solchen der Wurzel verknüpft ist, weist auf
die enge Beziehung beider Zahnabschnitte hin.
Da nun von der Seite der Konkreszenztheoretiker die Zweizahl
der Wurzel bei den so primitiv gestalteten Zähnen wie jene von Tri-
konodon und dessen Verwandten als ein Beweis angesehen werden
kann, daß auch dieser Zahn schon durch Verwachsung von zwei Einzel-
zähnen entstanden sein sollte, was meiner Meinung nach bestimmt
unrichtig ist, werden wir auf die Genese dieser beiden Wurzeln etwas
näher eingehen. Es ist wohl nicht zweifelhaft, daß die beiden Wurzeln,
welche als eine vordere und hintere nebeneinander gelagert sind, aus
der ursprünglichen Primärwurzel A entstanden sind. Im Anschluß
an die Verlängerung der Krone in mesio-distaler Richtung, erlangte
auch die Wurzel eine mehr plattenförmige Gestalt. Dann trat in der
Mitte eine Längsfurche auf, wie es von Osborn gerade als Kenn-
zeichen seines protodonten Subtypus hervorgehoben wird, und indem
die Furche tiefer eindrang, zerlegte sie schließlich die ursprüngliche
Wurzel in eine vordere und hintere Hälfte. Die beiden Wurzeln sind
somit Schwestergebilde, sie stellen keine primären Bildungen dar,
es sind Sekundärwurzeln, die in besonderer Weise bezeichnet werden
müssen. Ich werde sie, um ihre Beziehung zur Primärwurzel A zum
Ausdruck zu bringen, als Ax und A2 unterscheiden. Die vordere bezeichne
ich als Ax. Ich bemerke jedoch, daß, wiewohl der zweiwurzelige tri-
konodonte Zahn aus dem einwurzeligen hervorging, und die Krone
des Zahnes mithin keine morphologisch höhere Ausbildung aufwies,
es doch, meiner Ansicht nach, die Verlängerung und Abplattung der
1) A. v. Brunn, Über die Ausdehnung des Schmelzorganes und seine Be-
deutung für die Zahnbildung. Arch. f. mikroskop. Anat. 1887, Bd. XXIX.
2) E. Ballowitz, Das Schmelzorgan der Edentaten usw. Arch. f. mikroskop
Anat. 1892.
3) C. Rose, Über die Zahnentwicklung der Fische. Anat. Anz. 1894, Bd. IX.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 15
Krone war, welche den Impuls zur Wurzelverdoppelung abgab. In
dieser Beziehung zwischen Kronen- und Wurzelteü des Zahnes, stimme
ich mit Leche.1) überein, der zu dem folgenden Schluß kam:
„Alle äußeren Einwirkungen greifen in erster Instanz die Zahnkrone
an. Die Differenzierung, die Komplikation der Krone ist deshalb das
primäre Moment und zieht die Komplikation der Zahnwurzel nach
sich" (1. c. S. 536).
Es erhebt sich nun die Frage, welches die Ursache gewesen sein
kann, daß die Primärwurzel sich spaltete, denn die Abplattung dieser
Wurzel war zwar eine Vorbedingung für die Furchen- und Spaltbildung,
aber letztere folgte nicht notwendig aus ersterer. Nun ist es leicht
einzusehen, daß die Verdoppelung der Wurzel von Nutzen war, da hier-
durch eine widerstandskräftigere Befestigung im Kiefer ermöglicht
wurde, besonders wenn die beiden Wurzeln mehr oder weniger diver-
gieren. Aber diese Tatsache ist immerhin nur als das Resultat der Teilung
zu betrachten, und darf nicht als die Veranlassung dazu aufgefaßt
werden. Es kommt mir am wahrscheinlichsten vor, daß die Wurzel-
spaltung eine Äußerung des nämlichen Prinzipes ist, das bei dem Zu-
standekommen der inneren Struktur des Skelettes eine hervorragende
Stelle einnimmt, das bekannte Prinzip des größten Widerstandes bei
möglichst wenig Substanz. Denn ist die Wurzelspaltung einmal fertig
und divergieren dazu die Sekundärwurzeln noch ein wenig, dann stellen
sie gleichsam die beiden Pfeiler eines Gewölbes dar, das die Krone trägt.
Dem auf letzteres ausgeübte Druck vermögen sie ebenso großen Gegen-
druck zu bieten, als wenn der Raum zwischen ihnen mit Substanz
ausgefüllt wäre. Das Verschwinden der zwischen den beiden Wurzeln
sich ursprünglich findenden Substanz ist somit in gleichem Sinne als
eine Inaktivitätsatrophie zu betrachten, als das Verschwinden von
Knochensubstanz im Innern der Skeletteile mit Aussparung der Tra-
jektorensysteme.
So erscheint somit auch die erste höhere Differenzierung im
Wurzelteil des Zahnes als die Äußerung einer funktionellen Anpassung.
Denn der bei den Säugetieren zur Entwicklung kommende Kauakt
setzte die Zähne einem gesteigerten Druck aus. Und auf diese höhere
Beanspruchung reagierte die Zahnform durch Umbildung in ein,
in mechanischer Hinsicht vollkommeneres Gebilde. Es darf uns dann
auch nicht wundern, daß diese höhere Form zuerst bei den hinteren
Zähnen auftritt, die vorderen, welche die ursprüngliche Aufgabe des
Ergreifens der Beute behielten, bewahrten die ursprüngliche Form.
Bekanntlich waren die älteren Anatomen der Ansicht, daß ein zwei-
wurzeliger Zahn ein typisches Säugermerkmal sein sollte. So z. B.
Owen2): ,,Any organic fossil which exhibits a tooth implanted by
two fangs in a double socket must he mammiferous' . Dieser Stand-
punkt ist jedoch jetzt verlassen. Es kommen unter den fossilen Sauro-
psiden Formen mit zweiwurzeligen Zähnen vor3).
Durch den oben entwickelten Gesichtspunkt erlangt die Anatomie
auch des Wurzelteiles vom Zahn, die Zahl der Wurzel und ihre Stellung
zueinander eine mehr mechanische Bedeutung. Es muß jedoch gegen
1) W. Lee he, Studien über die Entwicklung des Zahnsystems bei den
Säugetieren. Morph. Jahrb. 1892, Bd. XIX.
2) R. Owen, Odontographie, Bd. I, S. 25.
3) Zittel, Paläontologie, Bd. I, 3, S. 753.
16 Erstes Hauptstück.
eine Verallgemeinerung des vorgetragenen Gesichtspunktes zur Er-
klärung aller morphologischer Erscheinungen im Wurzelkomplex der
Zähne sofort gewarnt werden. Denn wie bald dargelegt werden soll,
ist das Vorkommen von allen Wurzeln nicht in obenstehender Weise
zu erklären. Wäre das der Fall, dann sollten sämtliche Wurzeln auf die
Primärwurzel ,-1 des trikonodonten Zahnes zurückgeführt werden
müssen. Und das ist nicht der Fall. Gleich wie der Kronenteil ist auch
der Wurzelteil des Zahnes ein Resultat von Differenzierung und Kon-
kreszenz, und es sei gerade Aufgabe besonderer Untersuchung, zu
bestimmen, welchen Anteil beide Vorgänge am definitiven Zustande
genommen haben. In dieser Hinsicht ist die Dirne rtheorie der Zahn-
entwicklung in ihrer methodischen Ausarbeitung sowohl der Trituber-
kulartheorie als der geläufigen Konkreszenztheorie überlegen. Denn
erstere bringt nur ein System von Homologien der Molarenhöcker
und letztere stellt jemand für das Dilemma: entweder muß jedem
Höcker ursprünglich eine eigene Wurzel besessen haben, wie z. B.von
Gorjanovic-Kramberger behauptet wird, oder die Wurzeln haben
gar keine entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Erstere Auffassung
steht mit den paläontologischen Befunden in Widerspruch. Und bei der
zweiten Ansicht verfällt man in den Fehler, von einer morphologischen
und funktionellen Einheit einen Werdegang aufzustellen, welcher nur auf
die Erscheinungen eines Abschnittes dieser Gebilde basiert ist. Denn
es sei noch einmal wiederholt: Wurzel- und Kronenteil des Zahnes
bilden eine Einheit, und eine Untersuchung über die historische Ent-
wicklung dieser Elemente muß, um vollständig zu sein, das ganze Ge-
bilde zum Gegenstand haben.
Nun werde ich auf die interessante Frage, ob zwischen Höcker-
bildung und Wurzelzahl eine Beziehung besteht, im Laufe dieser Arbeit
nicht weiter eingehen. Nur möchte ich an dieser Stelle durch ein ein-
faches Beispiel zeigen, daß die Verhältnisse nicht so einfach sind, und
erst infolge einer systematischen Untersuchung eine richtige Deutung
erfahren können.
Bekanntlich ist der untere Eckzahn des Ersatzgebisses beim
Menschen bisweilen zweiwurzelig. Weniger bekannt darf es sein, daß
bei gewissen Affen, z. B. Macacus und Siamang der obere Eckzahn des
Milchgebisses sogar nicht selten ebenfalls zweiwurzelig ist, besonders
beim letztgenannten Affen. Leche hat nämliche Erscheinungen auch
bei Galago crassicaudatus und beim permanenten Eckzahn von Lemur
varius konstatieren können1). Auch der obere Milchcaninus des Menschen
zeigt bisweilen diese Variation. Obgleich man nun in beiden Fällen von
zweiwurzeligen Canini sprechen darf, sind demnach die beiden Fälle
in ihrem Wresen grundverschieden, was schon daraus hervorgeht, daß
beim Milcheckzahn die beiden Wurzeln als eine vordere und hintere
und beim permanenten Caninus als eine bukkale und linguale gelagert
sind. Die Wurzelverdoppelung beim Milcheckzahn — wie sie auch
gelegentlich bei den Milchincisivi niederer Affen vorkommt — ist eine
Erscheinung, identisch mit der Spaltung der Primärwurzel A bei den
mesozoischen Säugern in den beiden Sekundärwurzeln Ax und A2.
Sie wird durch das nämliche, oben namhaft gemachte Moment bedingt.
Die Wurzeln dieser Milchzähne sind immer stark seitlich abgeplattet
1) Untersuchung über das Zahnsystem lebender und fossiler Halbaffen.
Festschr. f. Gegenbaur, III, S. 139.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 17
und, wenn es nicht zu einer reellen Spaltung gekommen ist, dann trifft
man immerhin eine Furche, welche das breite, abgeplattete Ende der
Wurzel zweispitzig gestaltet. Es besteht hier somit, wie auch von
Leche angenommen wird, eine progressive Bildung. Beim permanenten
Eckzahn jedoch hat die Zweiwurzeligkeit eine ganz andere Bedeutung.
Hier ist die Erscheinung der Äußerung der Zusammensetzung des
Zahnes aus zwei Primärelementen, einem Protomer und einem Deutero-
mer, und es entspricht dann auch jede Wurzel je einem dieser Elemente.
Es sind also zwei Primärwurzeln. Ich werde noch Gelegenheit haben,
auf diese Unterschiede näher einzugehen.
Kehren wir nach diesen allgemeinen Betrachtungen über die
Anatomie der Wurzel zum Ausgangspunkt zurück.
Der dreispitzige, zweiwurzelige Zahn ist jener, den man, nach den
Darstellungen von Cope-Osborn, bei den ältesten Säugetieren im
oberen Trias am häufigsten vertreten findet. Diese Tatsache scheint
im Widerspruch zu stehen mit dem Grundsatz meiner Theorie, nach
welcher der Säugerzahn gerade ein dimeres Gebilde darstellt, aus der
Vereinigung von zwei in bukko-lingualer Richtung nebeneinander
gelagerter Zahnkeime entstanden. Und nun kommt es heraus, daß bei
den ältesten Säugern von dieser Dimerie nichts zu sehen ist. Zu diesem
Punkte möchte ich nun folgendes bemerken.
Einen Widerspruch zwischen dem Grundprinzip meiner Theorie
und den paläontologischen Befunden kann man nur dann erblicken,
wenn man der Meinung ist, daß nicht zwei Zahnkeimen die Verschmel-
zung angingen, sondern zwei wohlausgebildete dreispitzige Zähnen.
Und gegen eine solche Deutung meiner Anschauung habe ich am Ein-
gang dieser Studie ausdrücklich Stellung genommen. Es haben sich
Zahnanlagen miteinander verbunden, in der Weise, wie ich das in dem
Abschnitt ,,Über das Wesen der Konkreszenz" näher auseinandersetzen
werde. Der bukkale Komponent des Zahnes entspricht der älteren
Generation und ist daher bei dem lingualen immer in Entwicklung vor.
Bei den primitivsten Säugern darf es uns dann auch nicht wundern,
daß der ganze Zahn fast ausschließlich vom Protomer gebildet wird.
Doch ist auch bei den Trikonodonten das Deuteromer nicht ganz ab-
wesend. Ich bedauere, daß das Material mir nicht persönlich für eine
genaue Untersuchung zur Verfügung steht, und daß ich mich deshalb
mit einem Studium der Abbildungen begnügen muß, die Cope-Os-
born von den Zähnen der trikonodonten Gruppe der Ursäuger geben.
Diese Abbildungen und einige Äußerungen im Text genügen jedoch
für unseren Zweck. Wenn man nämlich die Abbildungen, welche
Cope-Osborn (0. 1907) von Zähnen aus der Gruppe der Trikono-
dontae geben, genau betrachtet, dann fällt es auf, daß mit nur wenigen
Ausnahmen diese Zähne an der Lingualseite mit einem mehr oder
weniger entwickelten Cingulum ausgestattet sind. Dieses Merkmal
ist so konstant, daß Osborn (0. 1907, S. 21) es unter den Typenmerk-
malen der Trikonodonten aufnimmt. Er gibt 1. c. für die Trikono-
dontidae folgende Typenbeschreibung: „Probably carnivorous pro-
marsupials. Molars with three stout crest cusps, the anterior and posterior
cusps derived from the crown, and a strong internal cingulum" usw.
Und auf S. LI heißt es: „The trikonodont type reappears, with the
addition of a cingulum and paired fangs in Amphilestes of the lower
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. ^
18 Erstes Hauptstück.
Jurassic and persists in Triconodon of the upper Jurassic." Es wären
noch mehrere Zitate aus der genannten Arbeit zu entnehmen, die ge-
gebenen genügen jedoch zum Beweise, daß bei den primitiven Säugern
außer den drei zum Protomer gehörigen Spitzen an der Lingualseite
des Zahnes eine Relieferscheinung hinzutritt, in der Form eines die
ganze hänge der Zahnkrone einnehmenden Bandes. Welches ist die
Bedeutung desselben und woher rührt es? Ich glaube nicht fehl zu
gehen, wenn ich dieses Cingulum als die ganz rudimentäre, noch nicht
differenzierte Manifestation des Deuteromer ansehe, also zurückführe
auf die Tätigkeit des lingualen, in der Bildung des Säugetierzahnes
aufgegangenen zweiten Zahnkeimes. Dieses Cingulum enthält somit
potentia einen dreispitzigen Zahn, und wir werden sehen, daß es nun
gerade das Hauptmerkmal der historischen Entwicklung des Säuger-
zahnes ist, daß allmählich dieses morphologische Potenz mehr apert
wird, bis als vollkommenste Form das Cingulum sich zu einem drei-
spitzigen Kronenteil herausgebildet hat. Auch an solchen Zähnen trifft
man bisweilen noch an der Lingualseite der Krone ein mehr oder weniger
entwickeltes Cingulum an. Für die Bedeutung dieser Bildung verweise
ich nach meiner ersten Studie S. 117.
Bei den primitivsten Säugerzähnen ist somit die Differenz zwischen
der Ausbildung von Protomer und Deuteromer am ansehnlichsten.
Und bei jenen Zähnen höher differenzierter Gebisse, welche funktionell
noch am meisten mit den Zähnen in dem Gebiß der Ursäuger überein-
stimmen, nämlich bei den Incisiven, hat sich dieser große Unterschied
zwischen protomerem und deuteromerem Teil des Zahnes noch be-
wahrt.
Es ist nun sehr merkwürdig und für die Ungleichwertigkeit beider
Teile des Zahnes direkt beweisend, daß, wenn bei den höheren Säugern
ein Zahn oder das ganze Gebiß einen regressiven Entwicklungsgang
eingeschlagen hat, dieser Unterschied zwischen beiden Zahnabschnitten
aufs neue immer stärker hervortritt, so daß schließlich Zähne ent-
stehen, welche jenen der Ursäuger vollständig ähnlich sind. So tritt
z. B. bei Phoca der zweiwurzelige dreispitzige Zahn wieder in so reiner
Form auf, daß er der Form nach mit einem der jurassischen Säuge-
tiere verwechselt werden konnte.
Ich möchte jetzt die Frage noch kurz berühren, ob auch
bei den jetzt lebenden Primaten dieser einfache trikonodonte Zahn
noch vorkommt. Wenn man auf die ungeheuere Zeitdauer achtet,
welche die jetzt lebenden Formen von jenen trennt, bei dem der zwei-
wurzelige trikonodonte Zahn zum ersten Male als eine höhere Stufe
der Entwicklung erschien, dann würde man nicht ohne eine gewisse*
Zurückhaltung diese Frage zustimmend beantworten. Wenn man
jedoch bedenkt, daß die phylogenetische Entwicklung des Gebisses
als Ganzes der Hauptsache nach eine fortdauernde Ungleichwertig-
machung der einzelnen Elemente ist, wobei die Progression desto
stärker sich äußert, je mehr der Zahn rückwärts gelagert ist, dann er-
scheint es weniger befremdend, daß im vorderen Teil des Gebisses
Elemente sich noch auf dieser niedrigen Stufe der Entwicklung finden.
Als Beispiel davon nenne ich an dieser Stelle nur den zweiwurzeligen,
mit seitlich komprimierter, dreispitziger Krone ausgestatteten ersten
Prämolar von Stenops gracilis und Cheirogaleus Smithii.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 19
B. Die Sechshöckerphase.
In diesem Abschnitt werden wir zunächst systematisch nach-
weisen, wie die dimere Natur des Zahnes, die bei dem rein trikonodonten
Zahn nur durch die Anwesenheit eines einfachen Cingulum an der
Innenseite der Zahnkrone sich verrät, immer deutlicher hervortritt.
Anfangend als ein niedriger Höcker an der lingualen Seite (h^ Zahnes,
werden wir es bis zur Entstehung eines vollständig dreispitzigen Ge-
bildes verfolgen. Im Anschluß daran werden" wir eine Übersicht der
Zahnformen geben, welche durch Spezialisierung als abgeleitete Formen
von diesen reinen Typen zu betrachten sind. Es wird sich in diesem
Abschnitt also zunächst um die morphologische Entfaltung des Deutero-
mer handeln, sodann um die besondere Spezialisierungen, welche zum
Teil den Charakter von Regression tragen.
Durch die höhere Differenzierung des Deuteromer wird der obere
Säugerzahn somit der Hauptsache nach in transversaler Richtung
mehr und mehr zusammengesetzt. Er bekommt eine wahre Reibefläche.
Diese höhere Ausbildung des Zahnes versucht die Trituberkulartheorie
bekanntlich durch die Transgressionshypothese zu erklären. Diese
Hypothese, welche gleichzeitig den Kernpunkt der ganzen Theorie
bildet, ist wohl einer der schwächsten und meist angefochtenen Punkte
der von den amerikanischen Paläontologen aufgestellten Trituberkular-
theorie. Wie allgemein bekannt ist, sollte die Entstehung des Tri-
tuberkulartypus in der Weise vor sich gegangen sein, daß der mittlere
Haupthöcker — der Protoconus — des trikonodonten Zahnes am
Oberkiefer lingualwärts sich vorschob, und im Unterkiefer bukkalwärts.
Dadurch entstand ein Zahn mit dreieckiger Krone, wobei die Basis
bei den oberen Molaren (denn die Cope-Osbornsche Theorie hat nur
auf die Molaren Bezug) nach außen, bei den unteren nach innen gekehrt
war. Jene Spitze, welche mit dem einfachen Kegelzahn der Reptilien
homolog ist, würde somit bei den oberen und unteren Molaren keine über-
einstimmende Stelle mehr einnehmen, oben liegt sie lingual, unten bukkal.
Gegen diese Vorstellung ist sowohl von embryologischer als von palä-
ontologischer Seite Widerspruch erhoben wTorden.
Wohl alle Forscher, welche sich mit der Ontogenese der Zähne
beschäftigt haben, sind einstimmig in ihrem Urteil, daß die Trans-
gressionshypothese nicht aufrecht erhalten werden kann, da sie im
Streit ist, besonders mit der Reihenfolge, worin die Höcker der Mahl-
zähne erscheinen. Wenn die Cope-Osbornsche Ansicht richtig wäre,
dann sollte bei den oberen Molaren ein innerer Höcker, und zwar der
vordere oder mesiale, ontogenetisch zuerst erscheinen, am frühesten
eine Dentinbildung zeigen und der erste sein, der einen Schmelzüberzug
erhielt. Das hat sich nun nicht bestätigt. Die Untersuchungen von
Taeker bei Ungulaten, von Rose beim Menschen und Marsupialiern,
von Woodward bei den Insectivoren und von Lee he bei Marsupialiern
stimmen alle darin überein, daß im Oberkiefer zunächst der vordere
bukkale Höcker — also der Paraconus von Osborn — sich bildet, und
daß der linguale, der Protoconus, erst an zwreiter oder dritter Stelle
kommt. Diese Erscheinung — die ich sowohl für platyrrhine als für
katarrhine Affen bestätigen kann — ist schwer mit dem von Cope-
Osborn aufgestellten Differenzierungsvorgang zu vereinbaren. Denn
der ursprüngliche Haupthöcker sollte doch auch ontogenetisch am
2*
20 Erstes Hauptstück.
ersten erscheinen, und seine Differenzierung jener der anderen — welche
nur Nebenhöcker waren — vorangehen. Für die unteren Molaren be-
steht dieser Widerspruch nicht, eben weil nach der Vorstellung der
amerikanischen Paläontologen der Protoconus hier nach der Außen-
seite des Zahnes rückte.
In dem schon mehrfach erwähnten Sammelwerk hebt Osborn
öfters diese Übereinstimmung zwischen den embryologischen Befunden
und seiner Differenzierungstheorie, was die unteren Molaren betrifft,
hervor. In bezug auf die oberen scheint bei 0 s b o r n die Überzeugung der
Richtigkeit seiner Theorie ins Schwanken geraten zu sein. Denn am
Schluß des Werkes (S. 227) schreibt er: ,,It must not be understood by
the reader that the author of this volume is doggedly maintaining a
theory of the origin of the upper molars, simply from personal reasons.
On the contrary he believes the question to be still sub judice and will
be the first to acknowledge his error if error ist proved to be. The author
moreover feels the füll force of the very strong evidence arrayed against
the Cope- Osborn view. The evolution of the upper molars is certainly
not so simple as it at first appeared."
Meine Bedenken gegen die Cope-Osbornsche Theorie im all-
gemeinen, und gegen die Transgressionshypothese im besonderen,
werde ich erst am Schlüsse dieses allgemeinen Teiles auseinandersetzen,
und dabei auch die von Gidley auf Grund paläontologischer Unter-
suchungen gemachten Beschwerden gegen diese Theorie kennen lernen.
Die einfachste Form der Zähne, wobei das Deuteromer einen
noch geringen Grad von Differenzierung besitzt, ist jene, wobei die
Krone außer den drei dem Protomer zugehörigen Spitzen an der Lin-
gualseite einen einfachen Höcker zeigt. Dieser neue Höcker ist nicht
durch Verschiebung einer der bereits anwesenden an diese Stelle ge-
langt, denn letztere sind noch alle da und stehen in einer geraden Linie
wie beim trikonodonten Zahn. Diese höhere Zahnform ist somit charakte-
risiert durch drei bukkale Spitzen und einen lingualen Höcker. Letz-
teier stellt den Haupthöcker des Deuteromer dar, den ich, wie vorher
gesagt, mit D bezeichne. Die Kronenformel dieses Zahnes muß daher
i P 2
folgender Weise geschrieben werden - -.
Es sei sofort bemerkt, daß diese Form, welche -- wie wir bald
zeigen werden, auch unter den jetzt lebenden Primaten gar nicht selten
ist — im System von Cope-Osborn fehlt. Gidley1) jedoch hat das
Vorkommen solcher Formen bei den Ursäugern schon ausdrücklich
betont, und zwar bei den nämlichen Säugern aus der Juraperiode,
welche Osborn für die Aufstellung seiner Trituberkulartheorie ver-
wendete. Nun standen Gidley vorzüglich erhaltene Spezimina dieser
Formen — besonders Dryolestes — zur Verfügung, deren Kronenfläche
noch nicht abgenützt waren, und welche Osborn bei seinen Studien
nicht zugänglich waren. Dieser Umstand, wie unbedeutend er erscheinen
dürfe, genügt, um das Vorkommen der Osbornschen trikonodonten
in dieser Phase der Entwicklung anzuzweifeln, und dadurch die Trans-
gressionshypothese zu erschüttern. Nach Osborn besitzt der Molar
von Dryolestes zwTei Außenhöcker und einen kräftigen Innenhöcker,
1) Evidence bearing on Tooth-Cusp Development. Proc. Washington Acad.
Sc. 1906, Vol. VIII.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 21
und indem der Autor letzteren als den nach innen gerückten Haupt-
höcker vom trikonodonten Zahn betrachtet, führt er die Molaren von
Dryolestes als Beispiel von einfachen trituberkularen Zähnen an. Die
Beobachtungen von Gidley lehren nun, daß diese Deutung unrichtig
ist, denn an der Außenseite dieser Molaren finden sich nicht zwei,
sondern drei Spitzen. Allerdings haben die Zähne eine dreieckige
Kronenfläche, mit der Basis nach außen, aber daß diese nicht durch
Verschiebung des mittleren Haupthöckers einer trikonodonten Aus-
gangsform entstanden sein kann, wird von Gidley ausdrücklich
hervorgehoben. Denn, sagt der Autor: ,,the main external cusp is
in the middle of the base of the triangle instead of forming one of its
angles." Aus dieser Bemerkung geht hervor, daß bei jenen primitiven
Formen der Innenhöcker, der als neuer Erwerb auftritt, nicht von einer
der Spitzen der trikonodonten Urformen abgeleitet werden kann, denn
letztere finden sich noch an ihrer alten Stelle, wie aus der Beschreibung
und Abbildung von Gidley genügend hervorgeht. Im Zusammenhang
mit meinen Auffassungen ist dann auch die folgende Betrachtung
dieses Paläontologen von nicht geringer Bedeutung: ,,Considering,
sagt er, the outer portion of the Dryolestes molar as homologous to
the three cones and two fangs of Triconodon, the derivation of this
type of tooth is much simplified. the spezialization has apparently
been centralized in the development of the high, narrow, heel-like
cusp and its supporting fang on the inner siele of the molar." Mit anderen
Worten ist auch Gidley der Überzeugung, es handelt sich bei diesen.
aus jüngeren Schichten des Mesozoikum stammenden Säugetieren, um
trikonodonte Zähne, bei denen ein neues Element, aus einer Spitze und
Wurzel bestehend, hinzugekommen ist. Woher es stammt, darüber
äußert Gidley sich nicht; er spricht nur von Spezialisation. Es ist
wieder zu bemerken, daß diese erste höckerige morphologische Bildungs-
stufe, welche das Deuteromer in seiner historischen Entwicklung
aufweist, an den Molaren auftritt. Die im Laufe der Entwicklung
immer stärker sich akzentuierende Heterodontie des Säugergebisses
findet ihren Angriffspunkt im hinteren Teil des Gebisses, hier treten
zuerst die weiteren Differenzierungen in die Erscheinung, und von hier
aus greifen sie weiter nach vorn über, bis zum Caninus, der sich in ganz
besonderer Richtung spezialisiert. Dieser allgemeine Entwicklungs-
gang hat zweierlei zur Folge. Zunächst, daß man bei jüngeren Tier-
formen im vorderen Abschnitt der posteaninen Gebißreihe Entwick-
lungszustände vorfindet, die bei älteren Tierformen als progressive
Erscheinungen im hinteren Abschnitt des Gebisses auftraten. Und
weiter, daß ein vollständiges, regelmäßiges Gebiß von nicht allzu stark
spezialisierter Natur, die morphologische Differenzierung des Zahnes,
in auffolgenden Entwicklungsstufen zur Schau zu bringen vermag.
Denn jeder weiter nach hinten folgende Zahn stellt gleichsam eine
höhere Bildungsphase dar. Wir werden bald einen Halbaffen anführen,
bei dem dieses in hohem Maße der Fall ist.
Wie gesagt, kann bei der Krone von Dryolestesmolaren der linguale
Höcker unmöglich durch Verschiebung von einem der drei Höcker
der dreispitzigen Ausgangsform an diese Stelle gekommen sein, er
stellt ein neues Element dar; der Keim der jüngeren Zahngeneration,
die in der Anlage des Säugerzahnes aufgegangen ist, hat angefangen
sich förmlich zu manifestieren, und hat seinen Haupthöcker zur Ent-
22 Erstes Hauptstück.
wicklung gebracht, Aber die Aktivierung der Bildungspotenzen hält
nicht mit der einfachen Ausbildung eines Höckers inne. Wie Gidley
hervorhebt, wird dieser Innenhöcker sofort bei seiner historischen Er-
scheinung von einer eigenen Wurzel getragen. Diese Tatsache ist von
besonderer Bedeutung, denn sie zeugt ebenso stark gegen die Möglich-
keit der Transgressionshypothese, als sie für die Richtigkeit der von mir
verfochtenen Anschauung spricht. Es ist früher schon betont worden,
daß eine Differenzierungstheorie, um vollständig zu sein, die morpho-
logischen Vorgänge am Wurzelabschnitt des Zahnes nicht vernachlässigen
darf. Für die Transgressionshypothese würde das Auftreten der inneren
Wurzel gewiß große Schwierigkeiten bei der Erklärung geben. Denn
wir haben gesehen, daß der dreispitzige Zahn — wovon Cope-Osborn
den trituberkularen ableiten — zwei Wurzeln besitzt, eine vordere und
eine hintere, welche, wie zwei Pfeiler eines Gewölbes die Krone tragen.
Die Achse der mittleren Hauptspitze fällt dabei mit der Hauptachse
des Gewölbes zusammen, also zwischen den beiden Wurzeln. Woher
stammt nun plötzlich beim dreieckigen Zahn die dritte innere Wurzel,
wenn die Transgressionshypothese richtig wäre ? In funktionell-mecha-
nischer Hinsicht erscheint gerade der zweiwurzelige trikonodonte Zahn
als ein vollkommenes Ganzes; der Hauptkegel bildet den Schlußstein
zwischen den beiden Pfeilern des Gewölbes, und nun würde jener an-
fangen, nach innen — resp. bei den unteren Molaren nach außen — zu
wandern, während die beiden Wurzeln ihre ursprüngliche Stellung bei-
behalten und in schwer vorstellbarer Weise von irgendwoher eine dritte
Wurzel hinzukäme. Auch die Anatomie des Wurzelabschnittes der
Zähne trägt dazu bei, die Transgressionshypothese von Cope-Osborn
als unrichtig zurückzuweisen.
Das Problem wird dagegen in einfachster und ganz natürlicher
Weise durch die Dimertheorie gelöst. Dem Innenhöcker der oberen
Molaren — von den unteren wird hier nicht gesprochen — vonDryolestes
und verwandten Formen kommt die Dignität eines ursprünglichen
Beptilienzahnes zu. Und als solcher besitzt dieses Element eine eigene
Wurzel, welche also auch eine Primärwurzel ist. Die Primärwurzel des
äußeren Abschnittes vom Säugerzahn — vom Protomer — bezeichnete
ich mit A, sie spaltet sich, wie vorher auseinandergesetzt, in die beiden
Sekundärwurzeln Ax und A2. Diese beiden Sekundärwurzeln gehören
genetisch zum protomeren Abschnitt des Zahnes, und sie bleiben dann
auch, ungeachtet der weiteren Differenzierungen, diesen Abschnitt
stützen. Die Primärwurzel des Deuteromer unterscheide ich als Wurzel
B, und, da sie genetisch zum Deuteromer gehört, teilt sie in allem auch
das Schicksal, dem dieser Teil der Zahnkrone während der weiteren
Differenzierung unterliegt. Geht der deuteromere Abschnitt der Krone
wieder zurück, dann bildet sich die Wurzel B ebenfalls zurück; ent-
faltet sich der genannte Kronenteil kräftig, dann konstatiert man
Gleiches an der Wurzel. In diesen Wechselbeziehungen äußert sich
noch die ursprüngliche Individualität, die das Deuteromer einmal als
selbständiger Zahn besaß. Die Wurzel B trägt niemals Derivate vom
Protomer, oder umgekehrt kommt niemals ein Teil des Deuteromer auf
eine der beiden Wurzeln des Protomer zu stützen, wenigstens nicht bei
den Primaten.
Wir müssen jetzt die Frage beantworten, ob Zahnformen mit
zwei äußeren Wurzeln Ax und A2, einer inneren Wurzel B und einem
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 23
I P 2
Kronenrelief, das der Formel — =— entspricht, auch bei den heute
lebenden Tieren noch vorkommt. Ich beschränke mich, dem Zweck
dieser Studie entsprechend, dabei auf die Primaten.
In seiner Untersuchung über das Milchgebiß lebender und fossiler
Halbaffen1) beschreibt Leche den zweiten oberen Milchmolaren von
Cheirogaleus Mihi wie folgt: ,,Pd3 besitzt einen Innenhöcker, welcher
sich als Leiste bis an die Hauptspitze fortsetzt und von einer besonderen
Wurzel getragen wird. P3 hat einen gut ausgebildeten Innenhöcker
ohne Leiste und die drei Wurzeln sind verwachsen, die Trennungsspuren
aber noch sichtbar. Prf3hat also hier noch den ursprünglichen
Zustand bewahrt2). Auch Propithecus zeigt etwas ähnliches, Pd3
hat eine deutliche Innenknospe und drei getrennte Wurzeln."'
Die hier von Leche hervorgehobene Tatsache erscheint mir
äußerst wichtig. Denn wenn man mit der gegebenen Beschreibung
die Abbildung vergleicht, welche der Autor z. B. in Fig. 1 vom Milch-
gebiß von Propithecus gibt, dann erfährt man, daß der zweite Milch-
molar dieses Halbaffen — und dies ist auch bei Cheirogaleus der Fall — ■
i P 2
vollständig durch die Kronenformel — =—- charakterisiert ist. Denn
an der bukkalen Seite findet sich ein stattlich entwickelter, mittlerer
Höcker von zwei Nebenspitzen flankiert.. Diese stellen das Protome r
dar, das von den zwei Sekundärwurzeln Ax und A.2 getragen wird.
Lingual findet sich das noch wenig kräftig entwickelte Deuteromer als
eine einfache Spitze, die, wie Leche ausdrücklich betont, eine eigene
Wurzel, die Hauptwurzel B, hat. In völliger Übereinstimmung mit
meiner Auffassung legt Le c he durch Spationierung des bezüglichen Satzes
Nachdruck darauf, daß der zweite Milch molar primitiver gestaltet ist,
als dessen Ersatzzahn, da jener noch drei getrennte Wurzeln besitzt,
während beim ihm ersetzenden Prämolar die drei Wurzeln miteinander
verbunden sind. Es scheint jedoch, daß Leche, was letzteres betrifft,
einen Ausnahmefall vor sich gehabt hat. Denn bei einem Cheirogaleus
Smithii fand ich den vorletzten Prämolar ebenso wie den diesen voran-
gehenden mit drei getrennten Wurzeln ausgestattet. Und Schlosser3)
beschreibt beim vorletzten Prämolar von Galago ebenfalls drei Wurzeln,
was ich für Hemigalago bestätigen kann. Das ist vorläufig jedoch Neben-
sache. Ich gab das Zitat aus Leches Arbeit nur. um herauskommen zu
lassen, daß auch dieser Autor in dem Auftreten dreier Wurzeln ein
primitives Merkmal erblickt. Der Autor gibt dieser Meinung sogar au
anderer Stelle besonderen Ausdruck. So findet sich z. B. 1. c. S. 162 die
Bemerkung, daß die doppelte Wurzel an einem Eckzahn „ein Charakter
ist. welcher jedenfalls als ein relativ ursprünglicher zu betrachten ist4'.
Die gegebenen Beispiele genügen vorläufig zum Beweis, daß der
i P 2
Zahn mit drei Wurzeln und der Kronenformel . der bei Dryolestes
und verwandten Formen als höhere Entwicklungsstufe in dem hinteren
Abschnitt des permanenten Gebisses auftritt, auch bei rezenten Formen
1) Untersuchungen über das Zahnsystem lebender und fossiler Halbaffen.
Festschr. f. Gegenbaur, Bd. III. S. 127".
2) Im Original ebenfalls gesperrt.
3) Die Affen, Lemuren usw. des europäischen Tertiärs. Wien 1887.
24
Erstes Hauptstück.
Fig. 1. Hapale.
w2 Außenseite1).
noch im vorderen Gebißteil des Milchgebisses von Halbaffen vorkommt.
Doch auch bei den wahren Affen tritt diese Zahnform in reiner Erhaltung
gelegentlich noch auf, und sogar noch im permanenten Gebiß. Zunächst
gebe ich zum Beweise in Fig. 1 eine Skizze des zweiten oberen Milch-
molaren von Hapale. von der Außenseite gesehen. Auch dieser Zahn
weist einen bukkalen, stark entwickelten Höcker (P) auf, der von zwei
Nebenspitzen (i und 2) begleitet wird. Diese liegen in einer Linie und
stellen mit den beiden Sekundärwurzeln A± und
A 2 den protomeren Abschnitt des Zahnes dar. Der
Innenhöcker ist noch niedrig; mit der ihn entsprechen-
den Primärwurzel B bildet er den deuteromeren Teil
des Zahnes. Und zum Beweise wie konservativ
diese Zahnform sich erhalten kann, wenn der Zahn
relativ wenig durch den Kauakt beansprucht wird,
sei darauf hingewiesen, daß bei Schimpanse und
Gorilla gelegentlich der erste Milchmolar noch ganz
nach dem bezüglichen Muster gebaut sein kann. Der
Zahn ist dreiwurzelig. Das Kronenrelief besteht aus einem größeren,
mittleren Außenhöcker (P), der zwischen zwei kleinen, jedoch deut-
lich differenzierten Nebenspitzchen sich erhebt (i und 2), und dazu
kommt der noch wenig entwickelte Innenhöcker. Und schließlich
findet man diesen ursprünglichen Typus auch noch
im Milchgebiß des Menschen, und zwar am ersten
Milchmolaren. Aber nicht immer. Der Wangenteil
des Zahnes kann drei Höcker tragen, einen Haupt-
höcker (P) und einen hinteren und vorderen Neben-
höcker (2 und 1). Letzterer kann jedoch fehlen.
Die linguale Seite des dreiwurzeligen Zahnes wird
durch einen Höcker repräsentiert.
Doch, wie gesagt, trifft man auch im per-
manenten Gebiß diesen Zahntypus noch in reiner
Form an. Das geht z. B. aus Fig. 2 hervor, worin
zwei Ansichten des ersten und zweiten oberen
Pia molaren von Stenops gracilis gegeben sind.
Der erste Prämolar entspricht bis auf Einzelheiten
noch einem zweiwurzeligen trikonodonten Zahn,
das Deuteromer ist nur durch ein kaum sichtbares
Cingulum vertreten, der zweite Prämolar dagegen
ist dreiwurzelig, die Krone ist aus dem protomeren
Teil mit den drei wohlausgebildeten Spitzen, deren
mittlere die größte ist, zusammengesetzt, und lingual
davon findet sich der noch einfache Innenhöcker,
der das Deuteromer darstellt. Ich möchte hier sofort
bemerken, daß das Gebiß von Stenops für eine Ein-
sicht in den Differenzierungsgang des Gebisses besonders lehrreich ist,
da in demselben die Progression der Form in regelmäßigen Abstufungen
vorliegt. Der erste und zweite Prämolar von Nycticebus tardigradus
sind jenen von Stenops sehr ähnlich. Ein weiteres Beispiel dieser
noch ziemlich primitiven Zahnform wird vom dritten Prämolaren
1) Es wird auch in dieser Arbeit die schon in vorangehenden Abhandlungen
benützte Methode befolgt, die Milchzähne mit kleinen, die permanenten Zähne
mit großen Buchstaben zu schreiben.
Fig. 2. Px und Pt
von Stenops gracilis.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 25
von Lemur gegeben, nur ist der Haupthöcker (P) hier weniger
hoch und spitz als bei Stenops und Nycticebus, dagegen mehr in der
Länge entwickelt, und sind die Nebenspitzen i und 2 nur spurweise
angedeutet. In Fig. 3 ist dieser Zahn, von der mesialen und von der
bukkalen Seite gesehen, abgebildet.
Ich begnüge mich mit den gegebenen Beispielen, welche genügend
1 P 2
dartun, daß der dreiwurzehge Zahn mit der Kronenformel — br-
auch bei den noch heute lebenden Primaten sowohl im Milchgebiß als
im permanenten Gebiß auftritt. Allerdings nur im vorderen Abschnitt
der posteaninen Reihe.
Wenden wir uns jetzt den ausgestorbenen Gliedern dieser Ordnung
zu, dann trifft man auch bei den eoeänen Primaten die bezügliche
Form an. Beim noch mit einer vollständigen Prämolarenreihe ausge-
statteten Hyopsodus entspricht der dritte Prämolar noch ganz diesem
Typus. (Vgl. Osborn: American Eocene Primates, Fig. 6.) Gleiches
ist noch der Fall bei Notharctos, bei dem der erste Prämolar schon ver-
loren gegangen ist (Osborn, 1. c. Fig. 20), sowie beim letzten und vor-
letzten Prämolar von Anaptomorphus homunculus (1. c. Fig. 25).
In sämtlichen jetzt gegebenen Beispielen war bei vollständiger
Entwicklung vom Protomer, das Deuteromer
nur durch seinen Haupthöcker vertreten.
Wir werden jetzt die nächsthöhere Stufe
der Differenzierung kennen lernen. Auch
das Deuteromer besitzt potentia den Wert
eines dreispitzigen Zahnes, und bei voll-
kommener Ausbildung wird der Höcker
D von seinen beiden Nebenspitzen 3 und
4 begleitet, wodurch der Zahn die sechs- Fig. 3. p3 von Lemur.
höckerige Gestalt erlangt. Es ist nun eine
sehr merkwürdige Erscheinung, daß diese Form, wofür die Kronen-
1 P 2
formel — =^— gilt, in der Primatenreihe sehr selten vertreten ist. Die
3 D 4
Ursache davon werden wir an geeigneter Stelle kennen lernen. Nicht
ohne Einfluß auf diese Seltenheit ist es gewiß, daß bei der progressiven
Entwicklung des Zahnes die beiden Nebenspitzen des Deuteromer
nicht gleichzeitig auftreten. Es ist eine für die richtige Deutung der
Höcker bei den höheren Zahnformen der Primaten prinzipielle Tatsache,
daß die hintere Nebenspitze des Deuteromer eine viel größere Konstanz
aufweist, als die vordere. An der Formbildung der höheren differen-
zierten Gebißelemente ist diese Spitze immer viel mehr beteiligt als die
vordere. Den Grund dieser Erscheinung werden wir zu seiner Zeit
kennen lernen. Die erste Erscheinung, welche aus der genannten all-
gemeinen Regel folgt ist. daß bei der weiteren Progression des Deutero-
mer, zuerst die hintere Nebenspitze 4 auftritt. Dadurch entsteht eine
Zahnform, deren Kronenformel wie folgt geschrieben werden muß:
1 P 2
-jz — . Auch diesen Zahntypus findet man wieder in der Prämolaren-
reihe der heutigen Halbaffen vertreten. Als Beispiel gebe ich in Fig. 4
die Skizze des dritten Prämolaren von Nycticebus tardigradus, von der
Kaufläche gesehen.
26 Erstes Hauptstück.
Das Protomer ist mit seinen drei Spitzen anwesend. Vom Deutero-
mer ist die Hauptspitze (D) ziemlich in die Länge gezogen und geht nach
hinten in die niedrige, doch scharf abgegrenzte Nebenspitze 2 über.
Eine Besonderheit, die an der gegebenen Figur sofort ins Auge fällt,
möchte ich hier nicht unerwähnt lassen. Die drei Spitzen des Protomer
liegen in einer geraden, die bukkale Kante der Kronenfläche einnehmen-
den Linie. Wenn nun, wie im vorliegenden Fall, das Deuteromer
zweispitzig geworden ist, bildet die Verbindungslinie dieser beiden
Spitzen mit jener des Protomer einen nach hinten offenen Winkel,
mit anderen Worten, die Nebenspitze 4 springt stärker palatinalwärts
vor, als die Hauptspitze. Diese Eigentümlichkeit verdient besondere
Erwähnung, da sie bei den Molaren für die richtige Deutung der Höcker
nicht ohne Gewicht ist.»
Ein weiteres Beispiel eines Zahnes mit obenstehender Kronen-
formel bietet der dritte Prämolar von Tarsius. Das Deuteromer springt
hier jedoch als Ganzes mehr lingualwärts vor, ist schärfer vom Protomer
abgesetzt als bei Nycticebus. Bei den wahren Affen
p besitzt z. B. auch der zweite Milchmolar von Chryso-
-j £ thrix diesen Entwicklungsgrad.
\ ; Eine vollständige Ausbildung des Deuteromer
bringt schließlich auch die Nebenspitze 3 zur Ent-
wicklung, wodurch der diniere Zahn sämtliche morpho-
genetische Potenzen, die in ihm aufgegangen sind,
realisiert hat. Die Kronenformel eines solchen
Zahnes muß daher folgenderweise geschrieben werden
1 P 2
0 h. — - — . Der bukkale und linguale Abschnitt des
3 D 4
Fig. 4. Nycticebus Zahnes stehen jetzt auf gleicher Differenzierungs-
tardigradus. Dritter stufe, wenigstens was den Kronenteil betrifft. Im
Prämolar. Wurzelteil bleibt der Unterschied bestehen, da,
wenigstens bei den Primaten das Deuteromer
normalerweise immer nur von der Primärwurzel B gestützt bleibt,
und eine Trennung in zwei Sekundär wurzeln wie beim Protomer,
hier unterbleibt. Und weiter sind jetzt die beiden Komponenten des
Zahnes zwar in gleichem Maße differenziert, aber dem Volum nach
bleibt der Entwicklungsgrad beider Teile immerhin ziemlich ver-
schieden. Das Protomer ist, wie es auch bei den einfacheren Entwick-
lungsphasen der Fall war, käftiger entwickelt als das Deuteromer.
Die an der letztgegebenen Kronenformel beantwortete Zahn-
form kommt bei den Primaten besonders selten vor. Er stellt gleich-
sam den idealen Primatenzahn dar, denn er entspricht jener Form,
welche notwendig entstehen muß, wenn zwei dreispitzige Reptilien-
zähne in transversaler Richtung sich zu einem einheitlichen Gebilde
verbinden. Daß man diese Form bei den Primaten so wenig antrifft,
findet seinen Grund in der Tatsache, daß, wenn das Deuteromer seine
höchste morphologische Entwicklungsstufe erreicht, im Protomer sich
schon weitere Differenzierungsvorgänge geltend machen, welche die
ursprünglichen Verhältnisse in diesem Zahnteil zerstören und den Zahn
auf eine höhere Entwicklungsstufe bringen (Doppelhöckerstufe). Die
vollständige Differenzierung des Deuteromer an sich ist, wie wir das in
dem nächsten Abschnitt zeigen werden, nicht so selten, aber daß sich
damit die rein dreispitzige Form des Protomer verbindet, das ist wohl
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 27
als eine Ausnahme zu betrachten. Ob die Koinzidenz bei anderen
Säugergruppen häufiger auftritt, bleibt dahingestellt.
Den schönsten Fall, den ich bei den Primaten von dieser Zahn-
form aufgefunden habe, ist in Fig. 5 abgebildet. Es betrifft den dritten
Prämolar von Stenops gracilis, der in der bezüglichen Figur von lingual
und etwas von der mesialen Fläche gesehen, abgebildet ist. Das Proto-
mer ist am bezüglichen Zahn merklich größer als das Deuteronier
und der kegelförmige Haupthöcker P wird von den zwei scharfspitzigen
Nebenhöckerchen i und 2 begleitet. Das Deuteromer ähnelt der all-
gemeinen Gestalt nach dem Protomer. Es ist jedoch merklich kleiner.
Die hintere Nebenspitze ist ein wenig kräftiger entwickelt als die vordere,
doch ist dieser Unterschied nicht sehr groß. Es verdient aber diese
Tatsache Erwähnung, denn sie zeugt wieder für die Gesetzmäßigkeit,
welche die funktionelle Ausbildung des Zahnes unterliegt. Bis zum
Auftreten der vollständigen Sechshöckerphase ist der Entwicklungs-
grad jedes Höckers, in Übereinstimmung mit der Reihenfolge seines
Erscheinens. Erst bei den höheren und mehr spezialisierten Formen,
wie sie uns besonders bei den Molaren der Halbaffen und Affen ent-
gegentreten, kann dieses Regelmaß gestört werden. Hier
tritt Umbildung an die Stelle der Ausbildung.
Es ist somit der diniere Säugerzahn in höchster
Ausbildung, d. h., soweit er noch vorder Ummodellierung
und Spezialisierung auftritt bei den rezenten Primaten
nur selten aufzufinden. Bei den Abbildungen der Ge-
bisse von Urprimaten, welche Osborn und Schlosser
geben, suchte ich sie vergebens. Ich möchte jedoch
die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, daß sie r
bei sehr genauem Zusehen an ganz intakten Gebissen ^grädUs10^
auch hier aufgefunden werden kann. Man beachte Dritter Prä-
doch, daß es sich bei den Urprimaten meist um sehr molar,
kleine Tierchen handelt.
Ich möchte hier gleich die Bemerkung einschalten, daß man
bei rezenten Primaten entweder als normale Erscheinung oder als
Variation sechshöckerige Molaren antrifft, aber diese sind nicht zu
identifizieren mit der Zahnform, worum es sich hier handelt. Denn
jene sind, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, als Produkte
von höherer Spezialisierung zu deuten, und entsprechen nicht dem
Zahn, der sechshöckerig ist, infolge der vollkommenen Ausbildung
vom protomeren und deuteromeren Abschnitt des Zahnes. Der sechs-
höckerige Zahn, wovon an dieser Stelle die Rede ist, besteht aus den
beiden Haupthöckern und den vier Nebenspitzen.
Bekanntlich kommt auch im von Cope-Osborn entwickelten
System eine Stufe vor, worin der Zahn sechshöckerig ist (Protoconus,
Metaconus, Paraconus, Hypoconus, Protoconulus, Metaconulus). Es
ist in der Theorie der genannten Forscher die höchste Entwicklungs-
stufe, welche erreicht werden kann, und wovon die Molaren der höheren
Primaten durch Schwund von Höckern abzuleiten sind. Es braucht
kaum besonderer Hervorhebung, daß die oben von mir dargestellte
Zahnform, mit jener von Cope-Osborn nicht identisch ist, was schon
daraus hervorgeht, daß bei den genannten Autoren diese Form ein
Endstadium darstellt, in meiner Entwicklungsreihe dagegen eine
28 Erstes Hauptstück.
Zwischenstufe. Und der Entwicklungsgang ist auch in beiden Fällen
ein prinzipiell verschiedener.
Es ist die progressive Differenzierung des Säugerzahnes bei den
Primaten jetzt bis zu dem Stadium verfolgt worden, wobei Protomer
und Deuteromer ihre morphologischen Potenzen entwickelt haben.
Es wäre an der Reihe, jetzt zur Besprechung der dritten vorher schon
von mir genannten Phase — die Doppelhöckerphase -- überzugehen.
Ich werde das jedoch noch nicht tun, denn es scheint mir empfehlens-
wert, zunächst jene Zahnformen zu besprechen, welche sich von den
bis jetzt besprochenen ableiten lassen. Es darf doch die Aufmerksamkeit
auf sich gelenkt haben, daß bis jetzt nur von Prämolaren oder Molaren
die Rede war, und es möchte den Verdacht erwecken, daß die Incisivi
und Canini einen anderen, von jenen Zahnformen verschiedenen Ent-
wicklungsgang durchlaufen haben. Und das ist nicht der Fall. Alle
Zähne ohne Ausnahme sind in derselben Weise entstanden. Ihrer An-
lage und phylogenetischen Entstehungsweise nach, gibt es kein Unter-
schied zwischen dem einfach gestalteten Schneidezahn und den zu-
sammengesetzten Molaren der Primaten. Nur die spätere Entwick-
lung hat die Ungleichheit allmählich herbeigeführt. Und daß bis jetzt
als Beispiele von den verschiedenen Entwicklungsstufen nur Molaren
und Prämolaren gewählt worden sind, findet seinen Grund darin, daß nur
an diesen Zähnen das Material von „reinen" Typen zu entnehmen ist.
Gewissermaßen stellen die Canini und Incisivi, der geläufigen Ansicht
entgegen, viel stärker spezialisierte Zähne dar als die Prämolaren
und Molaren. Denn bei letzteren kommen die Anlagepotenzen förm-
lich viel mehr zur Entwicklung als bei den ersteren. Und dennoch,
wie groß der Unterschied zwischen einem Schneidezahn und einem
Molaren vom Menschen sein mag, immerhin sind beim ersteren, sei es
spurweise, alle morphologischen Merkmale wie beim Mahlzahn gelegent-
lich aufzufinden. Die einheitliche Natur aller Zähne des Gebisses ist
eine notwendige Schlußfolgerung, wozu ich in meiner ersten Studie
auf Grund der Ontogenese gelangt bin. Die ersten Entwicklungs-
erscheinungen der Inzisivi unterscheiden sieh in nichts von jenen
eines Molaren. Bei ihrer Anlage, bei der ersten Ausbildung des Schmelz-
organes, in der etwas komplizierten Weise, die ich in der ersten Studie
habe kennen gelernt, betragen sich alle Zähne einander vollkommen
ähnlich, allen ist somit eine, sei es kurze Periode völliger Gleichwertig-
keit gemein. Die Ungleichförmigkeit kommt erst sekundär zustande.
In der von Ahrens veröffentlichten Untersuchung über die
Entwicklung der menschlichen Zähne1), die kurz nach meiner ersten
odontologischen Studie erschien, kommt der Autor zu einer vollständig
übereinstimmenden Ansicht. ,,Es fällt", sagt er S. 90, „durch diesen
Nachweis auch die letzte Abweichung in der Entwicklung der Schneide-
zähne von der der Molaren fort.'
Wir werden jetzt versuchen zu beweisen, daß diese Überein-
stimmung auch am fertigen Schneidezahn und Eckzahn sich noch
nachweisen läßt. Meiner Grundanschauung zufolge sind auch diese
Zähne diniere Bildungen, und kommt jedem der beiden Odontomeren
der Wert eines dreispitzigen Reptilienzahnes zu. Die starke Speziali-
1) H. Ahrens, Die Entwicklung der menschlichen Zähne. Habilitations-
schrift. Wiesbaden 1913.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 29
sierung dieser Zähne bewirkt, daß dieses Grundprinzip am fertigen Zahn
nicht so auffällig ist als bei den postcaninen Zähnen.
Der Hauptsache nach äußern sich diese Spezialisierungen in drei
Richtungen: a) Starke Progression des Protomer, bei geringer Ent-
faltung des Deuteromer; b) starke Progression eines der Höcker bei
Reduktion der beiden anderen, und c) Beteiligung an der Bildung
des Zahnes durch die drei Spitzen des Protomer in gleichem Maße bei
hochgradigem Verlust der Selbständigkeit der Höcker. Der sub a) ge-
nannte Vorgang ist meistenteils sowohl den Schneidezähnen als dem
Eckzahn eigen, der sub b) genannte bezieht sich mehr besonders auf
den Eckzahn, und der sub c) genannte auf die Incisivi.
Durch die stärkere Entwicklung eines der Höcker, und zwar des
Haupthöckers vom Protomer ähnelt der Eckzhan öfters sehr stark
den ihm unmittelbar nachfolgenden Prämolar. Beim Caninus der
Primaten ist aber die Beteiligung des Haupthöckers vom Protomer (P)
oftmals außerordentlich stark, so daß es den Schein hat, der Zahn
bestehe nur aus diesem Höcker, während die beiden Nebenspitzen
i und 2 entweder ganz oder bis auf geringe Spuren rückgebildet sind.
Es hat die Übereinstimmung, welche der Eckzahn nicht selten
mit einem Prämolar bildet, eben öfters in der Literatur Analß gegeben,
diesen Zahn als einen rückgebildeten oder modifizierten Prämolar zu
betrachten. So sagt Rose z. B. : „Genetisch muß der Eckzahn auf-
gefaßt werden als ein rückgebildeter Prämolar"1). Auch von Leche'2),
der besonders dabei das gelegentliche Vorkommen zweier Wurzeln
am Eckzahn zur Geltung bringt, wird dieser Zahn von einem Prä-
molarenstadium abgeleitet. Von den Sui'dae sagt Stehlin3): „Die
Zurückführung auf einen zweischneidigen, kompressen, zweiwurzeligen
prämolarenartigen Zahn, steht kein Hindernis im Wege."
Es würden sich gewiß gleichläufige Äußerungen noch wohl ver-
mehren lassen. Doch wie sehr einerseits aus den gegebenen Hinweisen
die Tatsache hervorgeht, daß die Formübercinstimmung zwischen
Eckzahn und Prämolar die Aufmerksamkeit früherer Forscher schon
auf sich gezogen hat, so bin ich doch mit der gegebenen Deutung
dieser Relation nicht einverstanden. Die Ähnlichkeit im Äußeren
beider Zahnformen ist nicht die Folge einer Reduktion bei der Ent-
stehung des Eckzahnes, sondern beruht darauf, daß beide Zähne,
Caninus und erster Prämolar, ein Urstadium in der Entwicklung aller
Elemente des Gebisses noch am besten bewahrt haben. Besonders
in den Fällen, wenn der erte Prämolar sein Deuteromer wenig oder
nicht zur Entwicklung gebracht hat. — und das ist besonders bei
den rezenten Halbaffen und den eocänen Primaten der Fall, ist die
Formgleichheit bisweilen eine sehr frappante.
Andererseits ist es bekannt, wie der Eckzahn sich bisweilen in
seiner Entwicklung so sehr den Incisivi anschließen kann, daß er dieser
Zahnform zum Verwechseln ähnlich wird. Ich erinnere dazu an den
1) C. Rose, Über die Zahnentwicklung des Menschen. Schweiz. Yiertel-
jahrsschr. f. Zahnheilk., Bd. II, S. 7.
2) W. Leche, Zur Entwicklungsgeschichte des Zahnsystems der Säugetiere.
II. Teil. Die Familie der Erinaceidae. Zoologica 1902.
3) H. G. Stehlin, Über die Geschichte des Sui'den- Gebisses. Abh. d. Schweiz.
Paläont, Gesellsch. 1899, Bd. XXVI.
30 Erstes Hauptstüek.
Lemuriden unter den Prosimiae. Auch beim Schaf hat der Eckzahn
ganz die Form eines Schneidezahnes angenommen, und Charnock
Bradley beschreibt es gerade als eine der merkwürdigsten Anomalien,
wenn der Eckzahn dieses Tieres statt „incisiform" zu sein „canini-
form" ist1). Daß bei Lemur gleichzeitig der erste Prämolar sich der
Form nach zu einem eckzahnartigen Zahn ausgebildet hat, zeigt wieder
aufs neue, daß prinzipielle Unterschiede zwischen den Zahnformen
nicht bestellen. Einen mit jenem bei den Lemuriden vollständig über-
einstimmenden Funktionswechsel von Prämolar, Caninus und Incisivus
beschreibt Stehlin (1. c. S. 182) bei der primitiven Su'idengruppe
der Cebochoeren. Auf der Grundlage einer allen gemeinsamen Grund-
form nimmt der Zahn jene Form an, welche ihm durch die von ihm
erforderten Funktion vorgeschrieben wird. Und diese Funktion ist
vor allem abhängig von dem Platz, welche der Zahn in der Gebiß-
reihe einnimmt. Wenn nötig, sollte aus einem Incisivus ein vollständig
entwickelter Molar werden können, ohne daß ein einziges neues Element
hinzuzukommen brauchte, denn potentia enthält die Anlage eines
Incisivus alle Elemente eines Molaren. Und in diesem Abschnitt
werden wir noch Incisivi kennen lernen bei Primaten, welche einem
Prämolar tauschend ähnlich sind.
Die Heterodontie findet sich zwar auch schon bei jenen Rep-
tilien, welche den Ursäugern in ihrer Organisation am nächsten stehen,
aber das Zustandekommen der Dimerie hat eine Möglichkeit geschaffen,
wodurch dieses Merkmal sich in stets progressiver Weise ausbilden konnte.
Je höher man in der Reihe der Primaten aufsteigt, desto mehr akzentuiert
sich die Verschiedenheit der Zahngruppen im Gebiß. Aber an allen ist
die potentielle Grundform, die nur bei einem Teil auch morphologisch
realisiert wurde, noch aufzufinden. Und wenn wir das Charakteristische
in dem Entwicklungsgang der Zahngruppen kurz andeuten wollten,
dann würde diese Charakterisierung folgendermaßen lauten: Die Prä-
molaren zeigen die allmähliche morphologische Realisierung der in
den Zahnanlagen beschlossenen Potenzen, der Entwicklungsgang
trägt bei diesen Zähnen den Stempel von morphologischer Vervoll-
kommnung, bei den Molaren von Differenzierung und bei den Incisivi
mit dem Caninus von Spezialisierung.
Die Idee, daß eine übereinstimmende Grundform allen Zähnen
zukommt, die Äquipotenz der Zahnanlagen, ist (wenn wir von der
Trituberkulartheorie absehen, die, wiewohl nur für die Molaren auf-
gestellt, jedoch auch die übrigen Zähne, auf einen einfachen
Reptilienzahn zurückführt), in der von mir gefaßten Weise und strenge
Durchführung in der Literatur noch nicht vertreten worden. Jedoch
sind verwandte Gedanken schon von mehreren Autoren ausgesprochen.
Am meisten nähern sich meine Meinungen und jene von d'Eternod2)
einander. Und ich werde das Übereinstimmende und das Differente
in den beiden Standpunkten kurz auseinandersetzen. Übereinstimmend
in unserer Theorie ist, was ich kurz als die „diniere" Genese des Zahnes
andeute. Für die Incisivi, Canini und Prämolaren nimmt auch d'Eter-
nod eine Entstehung durch Fusion eines dorsalen (äußeren) und
1) 0. Charnock Bradley, Dental anomalies and their significance Proc.
Nation. Veterin. Association 1907.
2) A. C. F. d'Eternod, Toutes les dents humaines sont des bicuspides
inodifiees. Verh. d. Anat. Gesellsch. Leipzig 1911, S. 144.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 31
ventralen (inneren) primären Zahn an. Bis soweit gehen wir einen
AVeg. Bezüglich der Entstehung der Molaren jedoch laufen unsere
Auffassungen auseinander. Wie ich mir die Entstehung dieser Zahn-
formen denke, wird im Laufe dieser Arbeit gezeigt werden. Von
d'Eternod wird hier eine nochmalige Fusion, jetzt in longitudinaler
Richtung von zwei Bikuspidaten postuliert, wozu gelegentlich noch eine
Konkreszenz von einfachen primären Elementen kommen kann,
woraus der fünf- resp. sechshöckerige' Molar resultiert.
Die Verwachsung in longitudinaler Richtung von Einzelzähnen
habe ich früher schon zurückgewiesen, wo von der Entstehung des
trikonodonten Zahnes die Rede war. Auch die Entstehung der
Molaren in dieser Weise muß ich aufs entschiedenste verwerfen.
Die mehr komplizierte Form der Molaren ist die Folge von Diffe-
renzierung und nicht von Konkreszenz. Abgesehen davon, daß wir
diese Differenzierung methodisch auf vergleichend-anatomischem
Wege verfolgen können, spricht auch für diese Ansicht die wichtige
von mir festgestellte, und seitdem von Ahrens1) bestätigte Tat-
sache, daß die Ontogenese der Molaren in keinem einzigen Punkt von
jener der Antemolaren abweicht. —
Es ist von d'Eternod die dimere Genese der Zähne zum ersten
Male zum Ausdruck gebracht in einer Inaugural-Dissertation eines
seiner Schüler im Jahre 1889. In dieser Dissertation2) findet sich die
folgende Bemerkung, woraus hervorgeht, daß schon durch Aeby ein
ähnlicher Gedanke ausgesprochen worden ist: Feu le professeur Aeby
a emis l'idee tres ingenieuse que chez l'homme les dents les plus
simples seraient dejä constituees par im redoublement de la forme
elementaire primitive. Les incisives et meme les canines que Ton
considere generalement comme etant des dents unicuspidees, seraient
ainsi, en realite, des bicuspidees dont un des tubercules (le posterieur)
serait considerablement atrophie. Es findet sich im Original kein
Hinweis, wo sich dieser Satz von Aeby findet, und ich habe es
auch nicht herausfinden können, weiß somit auch nicht um welche
Zeit derselbe geschrieben ist. So weit meine Literaturkenntnis geht,
scheint somit Aeby der erste gewesen zu sein, der die Formbeziehung
zwischen den Zähnen richtig erkannt hat. Allerdings beschränkt er
sich auf den Antemolaren.
Auch von Zuckerkandl ist ein ähnlicher Gedanke, aber in
noch mehr beschränkter Fassung ausgesprochen worden. ,, Man könnte",
schreibt dieser Autor, „mit einiger Berechtigung behaupten, daß Eck-
und Backenzähne Modifikationen einer und derselben Form sind"3).
Einer übereinstimmenden Meinung ist Dependorf4). Die Meinung,
daß alle Zähne auf eine gemeinschaftliche Grundform zurückzuführen
sind, findet man schließlich auch bei Adlof f , er betrachtet als eine solche
Grundform den trituberkularen Zahn C o p e s , den er durchVerschmelzung
entstanden denkt. „Meines Erachtens sind Schneidezähne, Eckzähne,
1) EL Ahrens, Die Entwicklung der menschlichen Zähne. Habilitationsschr..
München 1913.
2) E. Oltramare, Description methodique de la Dentition chez l'hoinme.
These, Geneve 1889.
3) Anatomie der Mundhöhle. Wien 1891, S. 44.
4) T. Dependorf, Zur Frage der überzähligen Zähne im menschlichen
Gebiß. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. X, S. 192.
32 Erstes Hauptstück.
Prämolaren und Molaren auf jeden Fall nur Umwandlungen einer
Grundform. Als diese Grundform könnte vielleicht die trituberkuläre
angenommen werden"1).
Wie jedoch diese Stellungnahme des genannten Autors in Über-
einstimmung zu bringen ist, mit der von ihm vielfach wiederholten
Überzeugung, daß die Molaren aus dem Material von prälaktealer,
laktealer und permanenter Dentition entstanden sind2), ist mir nicht
recht deutlich. Die Grundform aller Zähne sollte die durch Kon-
kreszenz entstandene trituberkuläre gewesen sein, und dennoch sollten
die Molaren eine ganze Dentition absorbiert haben, welche bei den
Antemolaren als selbständiges Gebiß auftritt. Wenn hat dann diese
Assimilation der Molaren stattgefunden? Vor der Differenzierung zu
höheren Säugerzähnen? Dann ist die Grundform nicht mehr die
gleiche. Oder sind zwei zu verschiedenen Dentitionen gehörigen
trituberkularen Zähne zu einem Gebilde zusammengetreten? Dann
müßten Formen entstanden sein, welche nicht verwirklicht sind.
Die Lösung dieses Widerspruches scheint mir nur jene zu sein,
daß eine der Behauptungen Adloffs verfehlt ist. Die Grundform
aller Zähne ist -- allerdings nicht in der Adloff sehen Fassung -
die gleiche, aber daraus folgt auch die Konsequenz eines gemeinsamen
Differenzierungsganges aller Zähne. Schließlich ist die Formverwandt-
schaft sämtlicher Antemolaren noch scharf betont für das Suidengebiß
durch Stehlin3). Der Caninus ist hier auf einen zweischneidigen,
zweiwurzeligen prämolarenartigen Zahn zurückzuführen, der untere
ist jedoch einer Deutung nicht so leicht zugänglich. Die Incisiven
lassen sich nach dem Verfasser auf die Form eines einfachen Prä-
molaren zurückführen. An den oberen Incisiven blickt, sagt der
Autor, die Prämolarenstruktur noch so deutlich durch, daß sie sich
am besten direkt als modifizierte Prämolaren beschreiben lassen (1. c.
S. 308).
Der einheitliche Typus wird somit für den Antemolaren wieder-
holt in der Literatur betont. Viel seltener dagegen jener zwischen
Prämolaren und Molaren. Hieran hat die Copesche Theorie mit ihrem
Dogma eines differenten Entwicklungsganges von beiden Zahngruppen
schuld. In der älteren Literatur finden sich jedoch wohl diesbezügliche
Äußerungen. So glaubte Rütimeyer seinerzeit die Prämolaren der
Ungulaten als reduzierte Molaren deuten zu sollen4). Nun ist auch hier
der Ausdruck reduzierte Molaren wieder ein wenig glücklicher. Es
sind nicht in bezug auf den Molaren reduzierte Formen, sondern ge-
wissermaßen Vorstufen, welche in allmählicher Komplikation die Struk-
tur der Molaren vorzubereiten scheinen. Auch Huxley hat die Form-
verwandtschaft zwischen Prämolaren und Molaren betont. „In Centetes",
sagt dieser Autor, ,,it is easy to trace the successive changes by wich
the simple and primitive character of the Mammalian cheek-tooth
exhibited by the most anterior praemolar passes into the complex
1) Das Gebiß des Menschen und der Anthropomorphen, S. 139.
2) Vgl. u. a. Zur Frage der Entstehung der heutigen Säugetierzahnformen.
Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop. 1903, Bd. V.
3) H. G. Stehlin, Über die Geschichte des Suidengebisses. Abh. d. Schweiz.
Paläontol. Ges., Bd. XXVI. Zürich 1899.
4) J. Rütimeyer, Versuch einer vergleichenden Odontographie der Huf-
tiere. Basel 1863.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 33
structure of the crowns of the posterior teeth"1). Schließlich sei noch
Topinard erwähnt2), der ebenfalls die Prämolaren und Molaren von
einem „gemeinsamen Typus" ableitet. Doch differiert der Standpunkt
dieses Autoren von jenem von Huxley, indem er die beiden Zahn-
gruppen in divergenter Weise aus diesem gemeinsamen Typus entstehen
läßt. ,,11 y a donc-', sagt der Autor 1. c. S. 670, unite d'origine des molaires
et premolaires superieures et inferieures. Un type commun c'est diffe-
rentie dans deux voies qui se sont divisees et ont abouti l'une aux
premolaires, l'autre aux molaires."
Wir werden jetzt eine kurze, übersichtliche Darstellung geben
von der Art der Spezialisierung von Incisivi und Canini.
Wir werden uns insbesonders bemühen, nachzuweisen, daß auch
an diesen Zähnen die beiden Odontomeren sich auffinden lassen, und
daß jedes davon die ihm gebührenden drei Spitzen besitzt.
Bisher war immer nur von den Zähnen des Oberkiefers die Rede.
In den jetzt folgenden Auseinandersetzungen wird diese Trennung
nicht durchgeführt. Denn der Grund, der mich zwang, die Ober- und
Unterkieferzähne gesondert zu behandeln, liegt für die Schneide-
und Eckzähne nicht vor. Die Divergenz des Entwicklungsganges in
beiden Gebißreihen fängt erst hinter dem Caninus an.
Beginnen wir mit dem Eckzahn. Als allgemeines Charakteristi-
kum dieses Zahnes gilt die bisweilen außerordentliche Entwicklung
des Haupthöckers (P) vom Protomer, bei geringer Entfaltung, nicht
selten völligem Fehlen der beiden Nebenspitzen i und 2. Wie stark
jedoch dieser Zahn in der Gruppe der Primaten den Eindruck macht
bei allen Geschlechtern ein homologes Gebilde zu sein, so habe ich doch
die Überzeugung gewonnen, daß dem nicht so ist. Wie unwahrschein-
lich es auch klinge, so bin ich doch überzeugt, daß z. B. der Caninus
des Menschen und jener von Gorilla oder Cynocephalus genetisch nicht
vollständig homologe Bildungen sind. Der Unterschied wird herge-
stellt durch den sehr verschiedenen Grad, in dem das Deuten» mer am
Zustandekommen des Zahnes beteiligt ist. Doch komme ich nachher
auf diesen Punkt zurück. Es wurde diese Sache nur kurz erwähnt,
um gleich festzulegen, daß die Entwicklung des Deuteromer nicht etwas
für den Canini aller Primaten Charakteristisches hat. An den Eck-
zähnen der Primaten trifft man die Spuren der Nebenspitzchen i und 2
nur selten an, und sie fehlen durchaus bei den sehr kräftig entwickelten
Zähnen des permanenten Gebisses. Dieses Fehlen kann man auch derart
deuten, daß die Nebenspitzchen zwar an der Bildung des kegelförmigen
Zahnes sich beteiligen, aber daß ihre ursprüngliche Abgrenzung voll-
ständig verloren gegangen ist. Und diese Auffassung gewinnt an
Wahrscheinlichkeit durch die Tatsache, daß bisweilen die Beteiligung
einer der Spitzen an der Bildung der Krone an der lingualen Fläche
sehr evident ist, während an der bukkalen Fläche jede Andeutung
davon fehlt. Das geht z. B. aus Fig. 6 hervor, wo ein permanenter
oberer Eckzahn von Avahis laniger, von der lingualen Seite gesehen,
abgebildet ist. Die Zahnkrone des Caninus dieses Halbaffen ist niedrig
und ziemlich stark abgeplattet, ragt nur wenig über den ersten Prä-
1) Th. Huxley, Collected Papers, Vol. IV, p. 450.
2) P. Topinard, De l'Kvolution des Molaires et Premolaires chez les
Primates et en particulier chez l'homme. L'Anthropologie 1892.
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 3
34
Erstes Hauptstück.
molar hervor. Die hintere Nebenspitze 2 ist ziemlich kräftig als selb-
ständige Hervorragung entwickelt, die vordere Nebenspitze 1 dagegen
bildet offenbar einen Teil des Vorderrandes der Krone, verursacht
jedoch keine Einkerbung in demselben und ist auch an der bukkalen
Seite nicht vom Haupthöcker abgesetzt, was an der lingualen Fläche
durch eine seichte Furche wohl der Fall ist. Bei anderen Halbaffen,
z. B. Tarsius, bilden die Nebenspitzchen 1 und 2 am Eckzahn zwei
kleine scharfe Höckerchen an der Basis des Haupthöckers, bei Stenops
lagern sie ungefähr in der Mitte vom Vorder- und Hinterrand des
schlanken Hauptkegels, bei Hemigalago, Nyctieebus und Galago ist
nur die hintere Nebenspitze angedeutet.
Doch auch bei den höheren Primaten trifft man bisweilen die
Spuren der beiden Nebenhöckerchen noch an, besonders in jenen Fällen,
in denen der Haupthöcker sich nicht so außerordentlich entwickelt
hat und die Zahnkrone mehr lanzettförmig ist, z. B. beim oberenEckzahn
des Milchgebisses von Chrysothrix und von Hapale.
Bisweilen trägt auch der obere
permanente Eckzahn des Menschen
noch deutlich die Spuren seiner drei-
spitzigen Urform an sich, wie aus
Fig. 7 ersichtlich. Der Kronenrand
wird nicht von zwei regelmäßig
verlaufenden zur Spitze konvergie-
renden Linien gebildet, sondern ist
wellenförmig, der mittlere Teil ragt
deutlich hervor und geht in eine
vordere und hintere niedrige Er-
hebung über. An der lingualen Seite
ist die Abgrenzung der drei Spitzen
ziemlich scharf ausgeprägt1).
Die gegebenen Beispiele dürften
hinreichen
Fig. 6. Oberer
Eckzahn von
Avahis Inniger.
Fig. 7. Oberer
Eckzahn des
Menschen mit An-
deutung der Drei-
spitzigkeit.
um die Beziehung des
Eckzahnes vom Primatengebiß zum
ursprünglichen trikonodonten Typus
zu beweisen. Es hat in diesen Fällen
das Protomer seine ursprüngliche Gestalt wieder mehr oder minder
zur Entwicklung gebracht. Oder sollte es heißen: seine primitive
Form noch erhalten?
Bei Primaten dagegen, bei denen die Canini sich zu den ge-
waltigen Hauern entfaltet haben, ist diese Differenzierung wohl voll-
ständig unterdrückt worden. Der Mensch zeigt in der Morphologie
seines Caninus größere Verwandtschaft zu den niederen Primaten,
besonders Halbaffen mit lanzettförmigen Canini als mit den Anthro-
poiden oder sonstigen höheren Primaten. Und dieser Unterschied
zwischen Menschen und z. B. Gorilla bezieht sich nicht nur auf die
dimensioneilen Verhältnisse, sondern auch auf die anatomische Zu-
sammensetzung, eine Folge der differenten Beteiligung des Deuteromer
an dem Aufbau des Zahnes. Denn dieser Anteil ist bei den Primaten
sehr verschieden, und man kann deutlich in dieser Hinsicht zwei Gruppen
1) Für weitere Besonderheiten solcher Formen beim Menschen verweise
ich auf die dritte dieser Studien, welche die Variationen des Gebisses behandeln wird.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne.
35
unterscheiden, nämlich eine bei der das Deuteronier sich am Eckzahn
nicht oder nur schwach manifestiert, und eine zweite Gruppe, wobei
dasselbe an der Bildung der Zahnkrone in ausgiebiger Weise teilnimmt.
Betrachten wir zunächst erstgenannte Gruppe. Wir haben aus-
einandergesetzt, daß bei den Prämolaren das Deuteronier in seiner
einfachsten Form als ein einziger niedriger Höcker erscheint, der sich
lingual des Haupthöckers vom Protomer findet. Das Homologon
dieses Höckers ist jene Erhebung, die man öfters an der inneren Seite
der Frontzähne antrifft und in der Literatur als das Tuberculum dentis
unterschieden wird. Besonders evident wird das in jenen Fällen, wenn
der Caninus in Abweichung seiner gewöhnlichen Gestalt mehr einem
Prämolaren ähnlich aussieht. Solche Fälle sind zwar ziemlich selten,
sie kommen jedoch auch bei den Primaten vor, besonders im Milch-
gebiß. So sagt z. B. Lee he1) vom oberen Milchcaninus von Adapis
magnus: ,,Er ist nicht höher, als die nachfolgenden Backenzähne und
eher prämolar- als typisch eckzahnartig/' Unter den jetzt lebenden
Primaten besitzt Hapale im Milchgebiß einen unteren Eckzahn, den
man, wenn isoliert betrachtet, schwerlich als solchen, sondern zweifels-
ohne als einen posteaninen
Zahn deuten würde. Er
gleicht seinem unmittel-
baren Nachfolger — dem
ersten Milchmolaren — nicht
nur in der Gestalt seiner
Krone, sondern, wie aus
Fig. 8 zu ersehen, sind die
Reliefmerkmale des letzt-
genannten beim Eckzahn
sogar akzentuiert. Solche
Übereinstimmungen sind
nur verständlich bei der
Annahme, daß sämtlichen
Zähnen eine gleiche Urform
zugrunde liegt, und daß
die Differenz der verschiedenen Zähne auf die ungleiche Entwicklung
der morphologischen Unterteile dieser Grundform zurückzuführen ist.
Das Tuberculum dentis des Eckzahnes ist nun bei gewissen Pri-
maten wohl, bei anderen nicht anwesend, und wenn ersteres der Fall
ist, wechselt individuell der Entwicklungsgrad ziemlich stark, und nicht
selten ist es — besonders beim Menschen — in zwei kleinere Höckerchen
geteilt. Die Affen, bei den das Tuberculum leicht nachweisbar ist,
sind überwiegend jene, bei denen der Zahn eine Länge besitzt, welche
jene der übrigen Zähne wenig übertrifft, wie beim Menschen. Es ist
bekannt, daß hier das Tuberculum in seltenen Fällen zu einem ziemlich
kräftigen Höcker heranwachsen kann. Der in Fig. 7 abgebildete Caninus
besitzt ein gut ausgebildetes Tuberculum dentis oder Basalhöcker, wie
de Terra es nennt2). Einen zweiten Fall gibt die Skizze in Fig. 9. Sie
ist nach dem Zahn angefertigt, an dem ich diese Bildung am kräftigsten
™i c
Fig. 8. Hapale.
Unterer Eckzahn und
erster Molar des
Milchgebisses.
Fig. 9.
1) W. Leche, Untersuchungen über das Zahnsystem lebender und fossiler
Halbaffen. Festschr. f. Gegenbaur, III, S. 148.
2) Odontographie der Menschenrassen, S. 235.
3*
36 Erstes Hauptstück.
entwickelt fand, und reicht bis zur Mitte des protomeren Haupthöckers.
Eine solche starke Entwicklung des Deuteromer habe ich niemals bei
einem der anderen höheren Primaten angetroffen. In seiner eben zitierten
Arbeit geht auch de Terra auf das Vorkommen und die Bedeutung
dieses Basalhöckers ein und hebt einen merkwürdigen Unterschied
zwischen Affen- und Menschencaninus hervor. Er sagt 1. c. S. 236:
„Der Basalhöcker tritt beim Affen gewöhnlich in der Zweizahl auf und
außerdem nimmt eine gegen die Spitze des Zahnes verlaufende Rinne
zwischen den Höckern ihren Anfang. Diese Rinne fehlt beim Menschen,
auch ist am bleibenden Eckzahn nur ein Höcker zu sehen. " Dieser Unter-
schied zwischen Affen- und Menschencaninus verdient scharf betont
zu werden, da ihm eine entwicklungsgeschichtliche Bedeutung zu-
kommt. Ich muß dazu jedoch zunächst die Angabe von de Terra be-
richtigen. Bei den Affen mit mächtig entwickelten Canini (Gorilla,
Hylobates, Cynocephalus usw.) verlaufen über der Krone in der Längs-
richtung zwei Rinnen oder bisweilen tief einschneidende Furchen, und
nicht eine einzige, wie de Terra angibt. Nicht immer sind beide gleich
stark entwickelt. Sie fangen an der Basis der Krone an, und strecken
sich bis zur Spitze derselben aus. Bisweilen, wie
z. B. bei Siamang (vgl. Fig. 10) sind beide Rinnen
auf die linguale Fläche gelagert, in anderen Fällen,
wenn die Krone weniger abgeplattet, mehr kegel-
förmig ist, rückt eine derselben auf die Seitenfläche.
Diese beiden Längsfurchen trifft man nicht nur bei
den Primaten, sondern auch bei den übrigen Säuge-
tieren, bei denen |die Eckzähne zu Hauern sich ent-
wickelt haben. Durch dieselben wird die Krone in
zwei Felder getrennt, ein größeres bukkales und ein
kleineres linguales. Man könnte der Ansicht sein,
Fig. 10. Siamanga diese beiden Längsfurchen besitzen keine entwick-
syndactylus. Eck- lungsgeschichtliclie, sondern nur eine mechanische
zahn- Bedeutung, da sie sich auf der Reibefläche des
Zahnes befinden. Dagegen ist die Tatsache anzuführen,
daß bei den oberen Canini von Sus babyrusa, welche bekanntlich statt
nach unten zu wachsen, gleichsam nach oben umgeklappt sind, wodurch
die ursprüngliche linguale Fläche an die Außenseite zu liegen kommt,
die beiden Rinnen auf diese Fläche bis zur Zahnspitze sich erstrecken.
Diese Rinnen oder Furchen lassen meiner Meinung nach nur eine
Deutung zu, nämlich diese, daß sie die Grenzen darstellen zwischen den
beiden Odontomeren. Bei den gewaltig entwickelten Canini der Pri-
maten besteht die Krone somit nicht, wie bei den gering entfalteten,
ausschließlich oder hauptsächlich aus dem Haupthöcker P vom Proto-
mer, sondern es hat an der Bildung dieser Krone, wenigstens der Länge
nach, der Haupthöcker D vom Deuteromer gleichen Anteil genommen,
er dehnt sich bis zur Kronenspitze aus. Man muß sich dabei denken,
daß diese Haupthöcker ihre morphologische Individualität preisgegeben
haben, und mit ihren, einander zugekehrten Flächen über ihre ganze
Länge verwachsen sind. Beim Menschen dagegen, mit seinem mehr
primitiv gestalteten Eckzahn, besteht die Krone ausschließlich aus dem
Protomer und das Deuteromer erscheint nur in der Form des sogenannten
Tuberculum, das bisweilen sich etwas mächtiger entfalten kann als
durchschnittlich, dabei jedoch immer seine morphologische Indivi
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 37
dualität behält. Daß ein Tuberculum dentis, wie beim menschlichen
Caninus, dann auch meistenfalls den Affen abgeht, ist leicht verständ-
lich. Zwar findet man, wie auch de Terra im oben zitierten Passus
bemerkt, bei den Affen bisweilen — nicht „gewöhnlich", wie de Terra
sagt - - zwei Höckerchen, aber diese entsprechen nicht dem Basal-
höcker des menschlichen Caninus, sondern sind die Nebenspitzen 3
und 4 vom Deuteromer.
Die verschiedene morphologische Natur des Eckzahnes vom Men-
schen und seiner nächsten Verwandten ist nur die Äußerung des Prin-
zipes, welches bei der historischen Entwicklung aller Zähne des Gebisses
zum Vorschein tritt. Je kräftiger sich nämlich der Zahn entwickelt,
desto ausgiebiger werden die morphologischen Potenzen, welche die
Zahnanlage enthält, aktiviert; es nimmt das Deuteromer in stets
steigendem Maße Anteil an der Zahnbildung. Die gewaltige Entwick-
lung der Canini bei den Anthropomorphen z. B. oder bei den Cyno-
cephaliden. griff auch im deuteromeren Anteil der Zahnanlage ein, aber
der Funktion dieses Zahnes gemäß dürfte sich letzterer nicht als indi-
viduelle Spitze entwickeln, sondern entwickelt sich im Zusammen-
hang mit dem protomeren Abschnitt der Zahnanlage und bildete mit
diesem einen einheitlichen Kegel.
Es erhebt sich die Frage, ob die differente morphologische Zu-
sammensetzung des Eckzahnes vom Menschen und Anthropoiden (sowie
der übrigen höheren Affen), eine Persistenz ursprünglicher Verhält-
nisse beim Menschen ist, oder eine von den Hominiden neu erworbene
Erscheinung, welche dann in jenem Sinne zu deuten sit, daß bei den
Hominiden die Verlötung beider Haupthöcker P und D infolge von
immer schwächerer Entwicklung des Zahnes wieder rückgängig ge-
worden ist. da das Deuteromer, als von Hause aus das weniger wichtige
der beiden Üdontomeren darstellend, bei der Regression die erste Stelle
einnahm. Wiewohl die Möglichkeit letzterer Auffassung unbedingt
zugegeben werden muß, — da, wie schon öfters betont wTorden ist, Pro-
gression und Regression immer den gleichen Weg folgen, nur in
entgegengesetzter Richtung, so daß z. B. bei Reduktion des Gorilla-
caninus zunächst und am meisten das Deuteromer schwinden würde — ,
so glaube ich doch nicht im Eckzahn des Menschen eine sekundär
vereinfachte Form erblicken zu dürfen. Diese Überzeugung gründet
sich auf die Überlegung, daß in der Morphogenese und in der Anatomie
des Menschenschädels jede Andeutung fehlt, daß dieser Körperteil
jemals ein Stadium mit dem stark verlängerten Gesichtsteil durch-
laufen hat, wie wir es bei den Anthropoiden antreffen, eine Ausbildung,
welche wohl mit gewaltig entwickelten Canini in engstem Konnex steht.
Ich bin geneigt, den Prognathismus der Anthropoiden von weniger
prognathen Zuständen abzuleiten, und nicht umgekehrt. Die Relation
der Canini von Anthropomorphen und Menschen zueinander möchte
ich deuten als Progression der ersteren und nicht Reduktion der letzteren.
Doch ist es hier weniger am Platze, auf diese Frage näher einzugehen.
Das oben vom Caninus Gesagte fasse ich im folgenden kurz
zusammen. Der Primateneckzahn ist ein dimerer Zahn, wobei jedoch
die Beteiligung vom Deuteromer eine sehr verschiedene ist. Das Proto-
mer trägt bisweilen noch deutlich das Kennzeichen seiner ursprüng-
lichen trikonodonten Urform, indem es neben der Hauptspitze auch die
beiden Nebenspitzen zur Entwicklung bringt. Ist nur eine derselben
38 Erstes Hauptstück.
entwickelt, dann ist es meistenfalls die hintere, also Nebenspitze 2.
Das Deuteromer trägt entweder am Aufbau der Krone in der ganzen
Länge bei, in welchem Falle zwei zur Zahnspitze sich erstreckende
Rinnen oder Furchen die Grenzen zwischen den beiden Odontomeren
markieren, oder die Krone wird nur vom Protomer gebildet und das
Deuteromer tritt dann gelegentlich als ein selbständiges Höckerchen
auf. Ist letzteres nicht der Fall, dann manifestiert sich das Deuteromer
als ein Basalsaum, der sich an der Innenfläche der Krone findet, der
aber auch, besonders bei schwach entwickelten Eckzähnen, fehlen kann.
Die Erkenntnis der dinieren Natur des Eckzahnes erklärt in ganz
natürlicher Weise Anomalien oder Strukturbesonderheiten, die bei
diesem Zahn beobachtet werden, und deren Besprechung ich, der Voll-
ständigkeit wegen und auch zur näheren Begründung des bis jetzt
über diesen Zahn gesagten, hier folgen lasse. Die erste Erscheinung
betrifft die Spaltung der Wurzel dieses Zahnes, die sogar bis zur Ver-
doppelung gehen kann. Ich erinnere daran, daß im Eingang dieser
Arbeit schon darauf hingewiesen ist, daß die Spaltung und Verdoppelung
der Eck Zahnwurzel nicht immer die gleiche Bedeutung hat. Es gibt
zwei Modifikationen derselben. Die erste trifft man im Milchgebiß
höherer Primaten oder beim permanenten Eckzahn gewisser Halb-
affen an. Dabei ist die Zahnkrone meistens durch die lanzettförmige
Gestalt gekennzeichnet, sie ist stark abgeplattet und es sind die Neben-
spitzchen 1 und 2 anwesend. Es erinnert diese Form stark an jene der
ursprünglichen trikonodonten Zähne. Das Deuteromer ist an der Zu-
sammensetzung dieser Zähne nicht oder kaum sichtbar beteiligt. Die
beiden Wurzeln nun sind in diesem Falle als eine vordere und hintere
gelagert. Diese Wurzelverdoppelung reicht mithin auf jene sehr frühe
Phase zurück, in der der trikonodonte Zahn zweiwurzelig geworden
ist, und die Wurzeln müssen als A1 und A2 unterschieden werden.
Nämliche Erscheinung habe ich auch bei den Incisivi des Milchgebisses
von Schimpanse und Macacus angetroffen.
Ganz anderer Natur ist die Zweiwurzeligkeit, welche man beim
permanenten Eckzahn des Menschen antrifft, und dessen Vorkommen
ich auch bei Semnopithecus und Macacus feststellen konnte. Die Ano-
malie ist bekanntlich im Unterkiefer des Menschen gar nicht selten,
im Oberkiefer muß ich sie als höchst selten verzeichnen. Daß es sich
in diesem Falle um eine von der vorangehenden ganz verschiedene
Anomalie handelt, geht schon daraus hervor, daß die Wurzelspaltung
jetzt nicht in einer transversalen, sondern in einer sagittalen Ebene
erfolgt ist, und die beiden Wurzeln daher eine äußere und innere sind.
Ohne Ausnahme ist die bukkale Wurzel die kräftigere. Diese Zwei-
wurzeligkeit ist jener homolog, welche man bei den vorderen Prä-
molaren nicht selten antrifft, die äußere ist die zum Protomer gehörige
Wurzel A, und die innere ist die eigene Wurzel vom Deuteromer, ist
daher als B zu bezeichnen.
Die beiden Arten von Zweiwurzeligkeit beim Eckzahn sind mit-
hin besonders charakteristisch, denn sie lehren uns die beiden Arten
der Wurzelvermehrung kennen, welche im Laufe der Phylogenese des
Säugergebisses stattgefunden haben. Die erstbeschriebene reicht
allerdings auf eine frühere Phase der Entwicklung zurück als die letzt-
beschriebene. Daraus darf man jedoch nicht den Schluß ziehen, daß
nun auch die erstere so viel seltener sein sollte als die zweitgenannte.
Die Differenyierung der Oberkieferzähne. 39
Denn Bedingung zu ihrem Auftreten ist nur, daß die Form der Krone
wieder jener in den mehr primitiven Gebissen ähnlich wird. Ein Atavis-
mus im eigentlichen Sinne liegt somit in dieser Variation nicht vor.
Die Variation zeugt vielmehr wieder dafür, daß Kronen- und Wurzel-
teil des Zahnes in unmittelbarer Abhängigkeit voneinander stehen;
nimmt die Krone eine bestimmte Form an, dann muß der Wurzelteil
eine dieser Form entsprechende Gestalt annehmen. Die erstbeschrie-
bene Zweiwurzeligkeit ist somit eine Folge von funktioneller Anpassung,
die zweitbeschriebene ist die Manifestation des dinieren Charakters
vom Eckzahn. Daß diese Variation am oberen Eckzahn so äußerst
selten ist, darf als die Folge der Raumverhältnisse angesehen werden.
Das sich früh entwickelnde Antrum Highmori ist der Entfaltung von
zwei in bukko-lingualer Richtung gelagerten Wurzeln, in Verbindung
mit der Stelle, wo der Zahn sich entwickelt, gewiß nicht günstig.
Es gibt noch eine zweite Erscheinung, welche durch die Dimerie
des Eckzahnes ihre, sonst sehr schmerige, Erklärung findet, nämlich
die sogenannte Verdoppelung des Eckzahnes. Daß eine solche Anomalie
im menschlichen Gebiß überhaupt vorkommen sollte, wird nicht von
allen Autoren zugestanden. Sehr bestimmt äußert sich in dieser Hin-
sicht z. B. de Terra1): „Überzählige Eckzähne kommen nach meiner
Ansicht nicht vor." Nun möchte ich die Frage, was das menschliche
Gebiß betrifft, vorläufig dahingestellt sein lassen; mit de Terra neige
ich der Ansicht zu, daß in mehreren der beschriebenen Fälle die Mög-
lichkeit einer Persistenz des Milchcaninus nicht von der Hand zu weisen
ist. In seinem kritischen und kasuistischen Aufsatz über die über-
zähligen Zähne führt Dependorf jedoch ein neues Beispiel von doppeltem
Caninus an, und gibt eine dreizahl Möglichkeiten, wodurch diese Ano-
malie erklärt werden konnte2). In seiner Generalisierung aber ist der
Standpunkt von de Terra gewiß unhaltbar, denn der Fall, den Se-
lenka bei Gorilla3) beschreibt und abbildet, beweist wohl aufs unzwei-
deutigste, daß wenigstens bei diesem Anthropomorphen eine solche
Verdoppelung im Oberkiefer tatsächlich vorkommen kann. Nun bietet
das Auftreten von zwei Eckzähnen in ätiologischer Hinsicht große
Schwierigkeiten, denn wie sollte eine solche Erscheinung erklärt werden,
da es niemals Säugetiere mit doppeltem Eckzahn gegeben hat? Es
wird dann auch gerade diese Erscheinung wohl als Beweis gegen die
atavistische Natur überzähliger Zähne im Gebiß überhaupt angeführt
(Dependorf). Es will mir nun scheinen, daß die Schwierigkeit durch
die diniere Natur des Eckzahnes endgültig beseitigt wird. Ein doppelter
Eckzahn sei nichts anderes, als ein in seine zwei Odontomeren zerlegter
normaler Zahn. Durch irgendwelche Ursache haben sich in einem solchen
Fall das Protomer und das Deuteromer zu zwei voneinander vollkommen
unabhängigen Zähnen entwickelt.
Der Fall Selenkas spricht durch die vorzügliche Ausführung der
Abbildung ganz zugunsten der hier gegebenen Erklärung. Denn be-
trachtet man den „normalen" Caninus genau, dann wird es sofort
deutlich, daß es sich hier gar nicht um einen normal gestalteten Eck-
zahn von Gorilla handelt, wie aus einer Vergleichung mit dem ander-
1) de Terra, Beiträge zur Odontographie der Menschenrassen, S. 217.
2) T. Dependorf, Zur Frage der überzähligen Zähne am menschlichen Ge-
biß. Zeitschr. f. .Morph, u. Anthrop. 1906, Bd. X.
3) E. Selenka, Menschenaffen. II. Lief., S. 141.
40 Erstes Hauptstück.
seitigen ersichtlich. Der ..bukkale" der zwei Eckzähne stellt einen
einfachen Kegel dar. dem jedes Relief an der Lingualseite fehlt. Die
zwei Rinnen an der Zungenfläche des Caninus bei manchen Primaten,
welche ich als die Grenzlinien zwischen den beiden Odontomeren deute,
und die bei dem anderseitigen Zahn deutlich entwickelt sind, sind am
fraglichen Zahn gar nicht ausgebildet. Es macht ganz den Eindruck,
als hätten sich die beiden Rinnen miteinander verbunden und den
Zahn in eine größere bukkale und eine kleinere linguale Hälfte zerlegt.
Und auch diese innere Hälfte hat sich zu einem vollständig glatten
Kegel ausgebildet. In der ungleichen Größe beider kommt das normale
Übergewicht vom Protomer bei der Entwicklung des Zahnes zum Aus-
druck.
Der Fall Selenkas ist somit durch die diniere Natur des Zahnes
in ungezwungener Weise zu erklären. Es ist nicht eine Verdoppelung
des Eckzahnes, sondern eine Zerlegung desselben in seine beiden Kompo-
nente. Und jedes dieser Komponente besitzt den morphologischen
Wert eines Einzelzahnes. Ich wünsche es dahingestellt sein zu lassen, ob
auch andere Fälle von Zahnverdoppelung in der gegebenen Weise zu
erklären sind. Jeder Fall muß für sich beurteilt werden. Daß z. B. das
nicht seltene Auftreten von zwei ersten Prämolaren im Oberkiefer des
Hundes in dieser Weise erklärt werden muß, bezweifle ich. Es kommt
mir als wahrscheinlich vor, daß es sich hier gar nicht um zwei erste Prä-
molaren handelt, sondern um den normalen ersten Prämolar des perma-
nenten Gebisses und den ersten Milchmolar, der bekanntlich normaliter
nicht zum Durchbruch gelangt, in den gegebenen Fällen jedoch erscheint.
Daß weiter nicht immer Zahnverdoppelung auf eine Zerlegung des
Zahnes in den beiden Odontomeren zurückzuführen ist, werden wir
weiter bei der Besprechung der Incisivi erfahren. Wir werden da eine
andere Ätiologie dieser Anomalie kennen lernen.
Noch einmal möchte ich auf die Bedeutung des Selenkaschen
Falles zurückkommen. Denn noch in einer anderen Richtung ist dieser
wichtig. Es spricht nämlich für die Richtigkeit meiner Auffassung,
daß die beiden Rinnen oder Furchen, die an der Innenseite des Eck-
zahnes sich bis zur Spitze erstrecken, in der Tat die Grenzmarken
zwischen den beiden Odontomeren sind, und daß somit das Deuteromer
bei Gorilla und bei allen Formen, wo sie auftreten, an der Zusammen-
setzung des Zahnes über seine ganze Länge beteiligt ist. Beim Menschen
fehlen die Furchen. Dagegen findet sich hier als Manifestation vom
Deuteromer nur das Tuberculum. Ich wiederhole den aus diesen Er-
scheinungen folgenden Schluß, daß der Eckzahn des Menschen seiner
Zusammensetzung nach nicht homolog ist mit jenem der meisten Primaten,
besonders nicht der Anthropoiden.
Die Besprechung des Eckzahnes der Primaten werde ich mit
folgender Bemerkung schließen: Nicht selten trifft man in der Literatur
die Behauptung, daß der Eckzahn der Säugetiere noch einem Kegelzahn
der Reptilien homolog zu stellen sei. Diese Behauptung hat sich als
unrichtig erwiesen. Abgesehen davon, daß nicht selten der Zahn seine
dreispitzige Urform deutlich zur Schau trägt, ist er auch nicht weniger
ein aus zwei Odontomeren aufgebauter ,, Doppelzahn" als die rückwärts
von ihm im Gebiß folgenden. Jeder dieser beiden Odontomeren ist
einem Reptilienzahn homolog zu stellen.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 41
Wir gehen jetzt dazu über, die zweite abgeleitete Form der doppelt
trikonodonten Grundform der Primatenzähne, welche in den Incisivi
zur Verwirklichung kam, zu betrachten.
Die Spezialisierung, welche die Incisiven aufweisen, ist jener des
Caninus geradezu entgegengestellt. Bei diesen trägt die Spezialisierung
den Charakter einer sich immer kräftiger äußernden Differenz in der
Entwicklung einer der Höcker, von einem oder von beiden Odontomeren,
und meistenfalls bis zum völligen Schwund gehender Reduktion der
Nebenhöcker. Bei den Incisiven ist ein gerade entgegengesetzter Weg
eingeschlagen worden, zwar nicht immer, sondern in den meisten Fällen.
Vorangestellt sei, daß die Beteiligung vom Deuteromer an der Bildung
dieser Zähne meistenfalls eine höchst unansehnliche ist, und nicht selten
zu fehlen scheint. Als Hauptmerkmal der Incisivi darf nun gelten, daß
die drei Höcker vom Protomer nahezu gleichen Anteil an der Bildung
des Zahnes nehmen. Das ist aber nicht immer der Fall und nun tritt
die merkwürdige und für die Deutung der Variationen in dieser Ab-
teilung des Gebisses so überaus wichtige Erscheinung auf, daß, wenn
bei den Primaten eine der Spitzen des Protomer den anderen gegenüber
reduziert erscheint, es jetzt meistenfalls die mittlere Spitze ist, also
der ursprüngliche Haupthöcker P, während die beiden Nebenspitzen
den Zahn in solchen Fällen zum größten Teil, ja sogar ganz zusammen-
stellen können. In welcher Beziehung diese Tatsache zu den Variationen
im Bereich der Incisivi steht, werden wir im Anschluß an die Be-
schreibung der normalen Erscheinungen noch kurz auseinandersetzen.
Wenden wir uns erst dem normalen Zustand zu.
Es ist die gleichmäßige Entwicklung der drei Spitzen bei den prä-
caninen Zähnen unschwer als eine funktionelle Anpassung zu erklären,
denn es würde hierduch der Zahn mehr meißeiförmig gestaltet und zum
Zerschneiden besser geeignet. Auch bei Reptilien trifft man diese
Gleichheit der Spitzen bei den Frontzähnen schon an, während bei den
weiter nach hinten folgenden, der mittlere Haupthöcker seine Prädomi-
nanz allmählich entfaltet. Zum Beispiel verweise ich nach meinem Vor-
trag auf der Versammlung der Anatomischen Gesellschaft in München,
wo in Fig. 7 die prämaxillaren Zähne von Tupinambus nigropunetatus
abgebildet sind. Der Zahnrand gibt hier nur durch zwei Einkerbungen
die Grenze zwischen den drei Urspitzen an. Es scheint die Behauptung
etwas gewagt, die drei Zacken, welche man an den Frontzähnen der
Reptilien gelegentlich antrifft, mit den Zacken am Rande der Schneide-
zähne von Säugetieren zu homologisieren. Doch wenn man den drei-
spitzigen Zahn als Grundform von den Odontomeren des Säugerzahnes
annimmt, und dazu ins Auge faßt, daß die Säugetiere diese Grundform
von den Reptilien ererbt haben, dann fällt das Gewagte in der Homo-
logisierung weg. Es muß dazu noch auf einen anderen Punkt hingewiesen
werden. Es ist bekannt, daß die Zähnelung am Rande der Schneide-
zähne nicht immer in gleicher Deutlichkeit auftritt, ja als weitere
funktionelle Anpassung nicht selten vollständig verloren geht. Es liegt
doch auf der Hand, daß die Schneidezähne desto besser ihre spezielle
Funktion erfüllen werden können, je schärfer die Schneide des Zahnes
ist, und je mehr dieselbe eine gerade Linie darstellt. Der ursprüngliche
anatomische Charakter ist dann auch meistenfalls nur spurweist1 an-
gedeutet, und die Einkerbungen gehen bisweilen rasch verloren. Nun
ist es in Verbindung damit nicht ohne Bedeutung, daß die Dreispitzig-
42 Erstes Hauptstück.
keit der Incisivi gerade dann am schärfsten ausgeprägt erscheint, wenn
von diesen Zähnen ein nur ganz untergeordneter oder gar kein Gebrauch
gemacht wird. Ersteres ist besonders bei den Carnivoren der Fall,
und abgesehen davon, daß die Incisivi bei mehreren Geschlechtern
dieser Ordnung mehr oder weniger caniniform sein können, ist die drei-
spitzige Grundform hier oftmals besonders scharf ausgeprägt. Ist der
Zahn nicht caniniform gestaltet, dann trifft man hier in vergrößertem
Maßstabe Zähne an, welche jenen, die ich in der genannten Figur
von Tupinambus abgebildet habe, besonders ähnlich sind. Man be-
trachte dazu z. B. einen eben durchbrochenen lateralen Milchincisivus
von Felis leo.
Auch wenn die Zähne gar nicht zur Verwendung kommen, also
den Weg der Reduktion schon weit zurückgelegt haben, tritt das primi-
tive Merkmal wieder deutlich zutage. So berichtet z. B. Schlosser
über die Milchincisivi der Fledermäuse1): Der Zahnwechsel erfolgt
stets vor der Geburt, die Milchzähne durchbohren niemals den Kiefer
und bleiben ganz unentwickelt2). Sie erscheinen als einwurzelige Stifte
mit dreizackiger Krone, gleich den späteren definitiven Incisiven.
Daß die anatomischen Merkmale der Grundform bei den Incisiven
so wenig deutlich sind, kann völlig durch die Anpassung an ihre Funktion
erklärt werden. Diese bewirkte zunächst eine gleichwertige Beteiligung
der Spitzen an der Ausbildung der Krone, und kann schließlich auch die
ursprünglichen Abgrenzungsspuren zum völligen Schwund bringen.
Letzteres ist jedoch beim Menschen und einigen anderen Primaten
nicht der Fall. Was den Menschen betrifft, ist es allgemein bekannt,
daß besonders die unteren Schneidezähne mit zwei Einkerbungen in
der Schneide ausgestattet sind, die kürzere oder längere Zeit erhalten
bleiben können. Sie manifestieren das Grundmerkmal der Ausgangs-
form vom Säugerzahn. Die zwei seichten Längsfurchen, welche man
an der labialen Fläche der oberen wie der unteren Schneidezähne antrifft,
weisen in gleicher Richtung darauf hin. Für das Studium dieser Erschei-
nungen eignen sich nur frisch durchgebrochene, oder noch besser aus
den Alveolaren herauspräparierte, noch nicht durchgebrochene Zähne.
Beim Menschen fehlt die typische Zähnelung an solchen Objekten niemals.
Daß sie auch z. B. bei Hylobates nicht an solchen Zähnen fehlt, ist
bereits von Kirchner betont worden3). Die Bemerkung dieses Autors,
daß bei diesem Primaten die Incisivi beim Durchbruch immer mit drei
kleinen Höckern versehen sind, kann ich bestätigen. Die Krenulierung
des Zahnrandes wird nicht durch Schmelzverdickung hervorgerufen,
die drei Höckerchen sind nicht einfache Bildungen des Emailüberzuges
wie sich leicht durch einen frontalen Längsschnitt des Zahnes beweisen
läßt. Denn auch der obere Rand des Zahnbeines ist dreihöckerig, wie
aus Fig. 11, nach einem menschlichen unteren Incisivus angefertigt,
1) Über die Deutung des Milchgebisses der Säugetiere. Verhandl. d. Deutschen
Odontol. Gesellsch. 1893, Bd. IV, S. 305.
2) Das ist jedoch nicht bei allen der Fall. Die Milchzähne brechen bei ge-
wissen Geschlechtern wohl durch, bilden ein homodontes System, und das Junge
hält sich mittels der hakenförmigen Zähnchen an den Zitzen der Mutter fest.
Leche hat auf diese Funktion hingewiesen. Für Pteropus habe ich das bestätigen
können.
3) G. Kirchner, Der Schädel des Hylobates concolor; sein Variationskreis
und Zahnbau. Inaug.-Diss., Erlangen 1895.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne.
43
Fig. 11. Frontaler
Längsschnitt
eines unteren
Incisivus vom
Menschen.
Fig. 12. Inuus
nemestrinu8.
Unterer lateraler
Incisivus.
zu ersehen ist. Die Erscheinung muß somit in einer primären Bildungs-
tendenz der Zahnpapille wurzeln.
Auch bei den übrigen Primaten trifft man die Spuren der triko-
nodontcn Natur des Protomeren nicht selten an, doch nicht bei allen
Formen mit gleicher Schärfe, und überdies ist auch hier, wie beim Men-
schen, individuelle Verschiedenheit stark ausgeprägt. Bei gewissen
Affen ist die Gestalt des lateralen Schneidezahnes, besonders im Ober-
kiefer, ziemlich stark von jenen des medialen abweichend, ist mehr
lanzett- oder kegelförmig und bildet
dann eine Übergangsstufe zwischen
medialen Incisivus und Caninus.
Man vergleiche dazu z. B. die Fig. 13.
Es nehmen nun bei den Affen offen-
bar die drei Spitzen vom Protomer
nicht immer gleichen Anteil an der
Bildung des Zahnes. Ich werde
davon an dieser Stelle zwei Beispiele
anführen. Die Fig. 12 bringt die
Umrißzeichnung eines eben durch-
gebrochenen linken unteren lateralen
Incisivus eines weiblichen Inuus
nemestrinus, von der lingualen Fläche
gesehen. Es ist ohne weiteres klar,
daß die laterale Nebenspitze (2)
an der Bildung der Krone weit weni-
ger teilnimmt, als die mittlere (P)
und die mediale (1). Nur die beiden letztgenannten bilden die eigentlich
schneidende Kante, welche mit jener des medialen Incisivus nahezu
in einer Flucht liegt. Die angeführte Form tritt bei den Cynopitheken
nicht selten auf.
Ein zweites Beispiel anderer Art bringt die Fig. 13.
lingualen Fläche gesehen sind
darin die beiden Incisivi des Ober-
kiefers und d(^ Unterkiefers von
Se mnopithecus maurus abgebildet.
Es sei auf die große Differenz
zwischen medialen und lateralen
Schneidezähnen beiläufig hin-
gewiesen. Nur erstere sind meißei-
förmig und ihre Schneide ist zier-
lich mit drei Zacken ausgestattet.
Bei den oberen sowohl als bei
den unteren Zähnen ist die
mittlere Zacke, die dem Haupt-
höcker P vom trikonodonten
Zahn entspricht, am schwächsten entwickelt, und die schneidende
Kante wird wesentlich nur von den Nebenspitzen 1 und 2 gebildet.
Es ist hier die Entwicklung also gerade an jenen der weiter nach
hinten folgenden Zähne, bei den P die Hauptmasse der Krone
formt, entgegengesetzt. Auch bei Cebus konstatiert man öfters
eine gleiche Reduktion des Höckers P, worauf ich unten noch kurz
zurückkomme. Es kann offenbar diese Reduktion des mittleren Kom-
Von der
J.,5.
J.1S.
Fig. 13. Semnopithecus maurus.
44 Erstes Hauptstück.
ponenten vom Incisivus noch weiter gehen und zum völligen Schwund
desselben führen, so daß die Krone nur aus den beiden Spitzen i und 2
aufgebaut ist. Auch diesen Zustand habe ich bei Cebus beobachtet,
und als weiteres Heispiel gebe ich in Fig. 14 die Skizze eines medialen
oberen Incisivus von Ateles ater. Es findet sich hier nur eine einzige
Einkerbung in der Schneide und nur eine einzige Rinne an der lingualen
und bukkalen Fläche des Zahnes.
Die angeführten Beispiele genügen, um die große Bedeutung
der Zähnelung der Incisivischneide ins rechte Licht zu stellen. Denn sie
beweisen, daß unter Umständen die ursprünglichen Nebenspitzen
an der Bildung eines Zahnes gleichen Anteil nehmen können, wie
die Hauptspitze, ja daß letztere sogar gänzlich schwinden und der Zahn
nur aus den beiden Nebenspitzen aufgebaut sein kann. Wir werden
bald die Beziehung dieser Erscheinung zum Auftreten gewisser Varia-
tionen in der Incisivenreihe der Primaten darlegen, und wenden uns
zunächst zu einer Betrachtung über den Anteil, den das Deuteromer
an der Bildung des Incisivi nimmt.
Dieses Odontomer manifestiert sich bei den Schneidezähnen der
Primaten in verschiedenem Grade der Entwicklung und auch indi-
viduell sehr wechselnd. Wohl immer bleibt aber
dessen Entwicklung bei jenen des Protomer zurück,
und gerade dadurch kommt die meißel- oder schaufei-
förmige Gestalt der Zähne zustande. Nicht selten
fehlt, besonders bei den unteren Incisivi, jede Spur
dieses Odontomer, und scheint der Zahn nur aus
dem protomeren Element zu bestehen. Bei den oberen
Incisivi tritt es im Vergleich zu den unteren kräftiger
auf, als das in der Literatur sogenannte Tuberculum
dentis, wofür de Terra1) die Bezeichnung „Incisiven-
Fig. 14. Ateles höcker" an deren Stelle gesetzt haben will, während
ater. Medialer er für die homologen Bildungen des Eckzahnes die
oberer Incisivus. Bezeichnung „Basalhöcker" reservieren will. Diesem
Vorschlag von de Terra muß ich entgegentreten.
Es liegt kein einziger triftiger Grund vor, um homologe Bildungen
an den verschiedenen Zähnen mit mehreren Namen zu belegen, das
bringt nur Verwirrung und gibt der Auffassung Raum, es seien
die bezüglichen Bildungen nicht einander homolog. Es erscheint
mir empfehlenswert, in der deskriptiven Anatomie den alther-
gebrachten Namen Tuberculum dentis zu behalten. Allerdings
scheint de Terra der Meinung zu sein, daß ,, Basalhöcker" und ,,In-
cisivenhöcker" nicht einander homologe Bildungen an der lingualen
Fläche von Eckzähnen und Schneidezähnen sind. Denn von dem
Incisivenhöcker führt er aus, ihre Bedeutung sei uns unbekannt und
die „Basalhöcker" kennzeichnet er als „pithekoide" Merkmale unseres
Gebisses. Nun werden wir durch letztere Bezeichnung über die Natur
jenes Höckers am Eckzahn des Menschen doch nicht unterrichtet.
Es will offenbar der Autor dadurch seiner Meinung Ausdruck geben,
daß der Eckzahnhöcker durch den Menschen von einem mehr affen-
ähnlich gestalteten Vorfahr ererbt worden ist. Aber warum solches
dann auch nicht mit den „Incisivenhöckern" der Fall gewesen
1) de Terra, Beiträge zur Odontographie der Menschenrassen.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 45
sein sollte bleibt unerklärt und ist sogar befremdend, da bei ge-
wissen Affen das Tuberculum dentis gerade auf den Incisivi un-
gleich viel stärker entwickelt sein kanji, als auf den Caninus des näm-
lichen Tieres. Besonders ist das mit dem lateralen Incisivus der Fall,
der _ z. B. bei den platyrrhinen Affen - - in solchen Fällen mehr
prämolarenförmig als incisivenförmig gestaltet ist. Auch im allgemeinen
hat die Bezeichnung „pithekoid" keinen Sinn, denn es kommen diese
lingualen Höcker an den Frontzähnen von Vertretern der verschie-
densten Ordnungen der Säugetiere vor. Sie sind Äußerungen der dimeren
Grundform des Säugerzahnes und haben daher gar keine systematisch
spezifische Bedeutung.
Wie oben betont wurde, ist das Tuberculum dentis, oder das
Deuteromer an den oberen Incisivi der Affen — wie des Menschen —
meistenteils kräftiger entwickelt als an den unteren. Diese Erscheinung
ist wieder ein neuer Beweis, wie im Zahnkeim unter dem Einfluß der
Funktion die in ihm schlummernden Bildungstendenzen aktiviert
werden können. Denn das Tuberculum findet sich besonders bei
jenen Affen stark entwickelt, bei denen ein sogenannter Überbiß
stattfindet, d. h. wo die unteren Incisivi mit ihrem oberen Rande
innerhalb der oberen Incisivi bei geschlossenem Gebiß zu liegen kommen.
Dann wird die linguale Fläche der oberen Schneidezähne zu einer Reibe-
fläche für die unteren und sie nimmt durch die stärkere Entwicklung
vom Deuteromer eine bisweilen stark ausgehöhlte Oberfläche an,
worin der Kronenrand des unteren Incisivus hin- und hergleiten kann.
Die verschiedene Stellung der oberen und unteren Incisivi zueinander
steht dann auch in direktem Konnex mit dem Entwicklungsgrad vom
Deuteromer. Es ist hier nicht die Stelle auf Einzelheiten einzugehen,
doch möchte ich einige Allgemeinheiten schildern, da dieselben
Licht werfen auf die gelegentlich vorkommenden ekzessiven Entwick-
lungen des Deuteromer an menschlichen Schneidezähnen. Am stärksten
entwickelt erscheint dieses Odontomer bei den lateralen oberen Incisivi
gewisser platyrrhinen Affen. Wenn man z. B. diesen Zahn, wenn eben
durchgebrochen, bei einem Cebus und besonders Ateles betrachtet,
dann erweist sich die Bezeichnung dieses Zahnes als monokuspidat
gar nicht zutreffend. Die Krone ist so stark bikuspidat, daß man den
Zahn, wenn isoliert vorhanden, gewiß nicht als einen Incisivus, sondern
als einen Prämolar deuten würde. Bei den unteren Incisivi fehlt da-
gegen das Deuteromer nicht selten vollständig. Und gleiches gilt natür-
lich für die stiftförmigen oberen Incisivi der kleineren Prosimiae.
Was die größeren Formen dieser Ordnung betrifft, scheint es mir nicht
ganz ausgeschlossen zu sein, daß die erhabene Leiste an der Zungen-
fläche der pfriemenförmigen unteren Incisivi, welche sich bis zur Spitze
des Zahnes erstreckt, auf das Deuteromer zurückgeführt weiden muß.
An den oberen Schneidezähnen dieser Formen finden sich wechselnde
Verhältnisse.
Bei den wahren Affen begegnet uns eine deutliche Manifestation
des Deuteromer an den unteren Incisiven nur selten. Als Beispiel
verweise ich nach Fig. 13, woraus zu ersehen, daß bei Semnopithecus
maurus dieses Odontomer als ein deutlich hervorragendes Höckerchen
am lateralen Incisivus zu sehen ist. Bei den oberen Schneidezähnen
der wahren Affen kommt es in sehr verschiedener Gestalt zur Ent-
46
Erstes Hauptstück.
wicklung. Ich werde mich hier, um kurz zu fassen, auf das Vorkommen
desselben beim Menschen beschränken.
Wenn es hier am medialen Schneidezahn seine kräftigste Ent-
wicklung erlangt, erscheint es in der Form dreier fast gleich großer
Höckerchen, welche sich auf die linguale Fläche vom Protomer, und
mit demselben verwachsen, erheben. In den Trennungsfurchen dieser
Höckerchen fangen die beiden seichten Rinnen an, welche über das
Protomer sich bis zur Schneide' des Zahnes erstrecken, und hier in den
Einkerbungen zwischen den drei Schneidezacken enden. In solchen
wohlausgebildeten - - immerhin ziemlich seltenen Fällen — tritt die
Sechshöckerigkeit der Grundform des dinieren Zahnes in schöner
Weise zutage. Vgl. die Fig. lö. Meistenteils jedoch sind nur zwei der
deuteromeren Höckerchen entwickelt, es fehlt dann, wie ich in Über-
einstimmung mit den Befunden am Protomer behaupten möchte,
das mittlere.
Am lateralen Incisivus fehlt im allgemeinen die sichtbare Beteili-
gung des Deuteromer an der Bildung des Zahnes weit häufiger als am
medialen. Und wenn es sich kräftiger manifestiert, dann tritt es meisten-
teils nur in der Form eines einzigen Höckerchens
kegelförmiger Gestalt auf, das
von der Mitte des Basalbandes
ausgeht. Dasselbe zeigt mehr
als beim medialen Incisivus die
Tendenz, eine freie Spitze zu
bilden, gleichsam ein Versuch,
sich mehr prämolarenähnlich
zu gestalten, wie es bei ge-
wissen amerikanischen Affen
normaliter der Fall ist. ,
Es ist in obenstehendem
in ganz allgemeinen Zügen nur
etwas über die morphologische Natur der menschlichen Incisivi mitgeteilt
worden. In der folgenden Studie, welche die Variationen und Anomalien
des Primatengebisses zum Gegenstand haben wird, werde ich ausführ-
lich auch auf diesen Punkt eingehen. Doch möchte ich schon an dieser
Stelle kurz auf ein paar Erscheinungen eingehen, welche das oben
Gesagte näher begründen.
Bekanntlich kann beim Menschen das Deuteromer — besonders
des lateralen Incisivus — sich bisweilen außerordentlich entwickeln.
Es gibt dabei zwei Modifikationen: entweder bleibt das stark entwickelte
Denteromer (Tuberculum dentis) mit der lingualen Fläche vom Proto-
mer verbunden, oder es ragt als freier selbständiger Höcker hervor.
Im ersteren Falle (Fig. 16 b) erlangt die Schneide des Zahnes eine eigen-
tümliche T-förmige Gestalt, und an der Wurzel des Zahnes ist von einer
Furchung wenig oder nichts zu sehen. Im zweiten Falle wird die Krone
mehr jener eines Prämolaren ähnlich, der „Innenhöcker" bildet einen
freien Kegel, und die verstärkte Entwicklung des Denteromer äußert
sich überdies durch eine Neigung zur Zweiwurzeligkeit des Zahnes
(Fig. 16a). Einen solchen Fall hat Schwalbe1) sehr eingehend be-
schrieben und deutet denselben als eine Verwachsung von zwei Zähnen
Fig. 15.
Fig. 16.
1) Morph. Arb. 1894, Bd. III.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 47
verschiedener Dentition. Es handelt sich hier jedoch um einen voll-
kommen ähnlichen Fall wie bei der Zweiwurzeligkeit des unteren Eck-
zahnes, denn auch hier sind die beiden Wurzeln als eine äußere und innere
gelagert, der topographischen Beziehung beider Odontomeren gemäß.
Ich bin der Überzeugung, daß es gelegentlich auch hier zu einer voll-
ständigen Trennung beider Komponenten des Zahnes kommen kann,
wodurch eine scheinbare Vermehrung der Incisiven zustande kommt.
Auf diese Erscheinung muß ich vorausgreifend auf Erörterungen in
der nächstfolgenden Studie etwas näher eingehen.
Es ist die Frage nach der Bedeutung überzähliger Zähne in der
Literatur besonders häufig diskutiert worden. Und in Übereinstimmung
mit den allgemeinen theoretischen Ansichten der Autoren wird die
Frage auch wohl unter dem Einfluß der Fälle, welche der Autor gerade
zur Beobachtung und Vergleichung bekam, in dieser oder jener Richtung
beantwortet. Übereinstimmung scheint auf diesem Gebiete fast un-
erreichbar zu sein. Vom reinsten Agnostizismus bis zur Alleinherrschaft
der atavistischen Erklärungsformel finden sich alle denkbaren Ab-
stufungen. Nun scheinen mir diese extremen Standpunkte beide verfehlt.
Gewiß sind nicht alle überzähligen Zähne als Rückschlagserscheinungen
zu deuten, und der Standpunkt, daß es sich bei der Zahnvermehrung
um ganz regellose Erscheinungen handelt, scheint mir ebenso ver-
werflich. Es muß gerade Aufgabe sein, zu unterscheiden, in welchen
Fällen es sich um ein Wiedererscheinen eines verloren gegangenen
Elements des Gebisses handelt, und in welchen Fällen die Erklärung
in anderer Weise gesucht werden muß. Auch der Standpunkt von
Bateson1) scheint mir, durch die gänzliche Beseitigung des Einflusses
der Erblichkeitsfaktoren, unhaltbar zu sein.
Wenn jedoch nicht alle Fälle in atavistischem Sinne zu deuten
sind, wie muß man dann jene Zahnvermehrungen deuten, welche nicht
unter diesen ätiologischen Gesichtspunkt fallen ?
Es ist bei der Besprechung des Caninus und der Incisivi schon
eine Ursache ans Licht getreten; es kann namentlich zu einer selb-
ständigen Entwicklung beider Odontomeren kommen. Ich werde jetzt
jedoch noch kurz eine andere Entstehungsweise anführen, welche ich
jedoch vorläufig nur für die Schneidezähne gelten lassen möchte.
Wenn es bei einem der Incisivi zu einer individuellen Entwicklung
beider Odontomeren kommt, dann liegen die beiden Schwesterzähne
als eine äußere und innere zueinander. In der seltsam reichhaltigen
Kollektion von Zahn- und Gebißvarietäten, welche sich im hiesigen
Institut finden, sind mehrere solcher Fälle vertreten. Häufiger findet
man bekanntlich den Fall, daß ein überzähliger Incisivus regelmäßig
in der Reihe Stellung genommen hat. Die Ansichten über die Ätiologie
dieser Anomalie laufen auseinander. Durch eine Zerlegung eines der
Schneidezähne in seine beiden Odontomeren kann eine solche Über-
zahl nicht entstanden sein, denn in solchen Fällen liegen beide Zähne
hintereinander. Rosenberg2) deutet sie in seiner eingehenden Unter-
suchung über diese Anomalie in atavistischem Sinne, und beruft sich
dabei auf die bekannte Tatsache, daß Didelphis noch im Besitz von
1) W. Bateson, On numerical Variation in teeth. Proc. Zool. Soc. London
1892.
2) E. Rosenberg, Über Umformungen an den Incisiven der zweiten Zahn-
generation des Menschen. Morph. Jahrb., Bd. XXII.
48 Erstes Hauptstück.
fünf Schneidezähnen ist. Doch waren die Urprimaten, wie wohl end-
gültig festgestellt ist, im Besitze von nur drei Incisiven. Auch aus anderen
Gründen, auf welche ich hier nicht näher eingehen kann, kann ich
mich der Erklärung von Rosenberg nicht anschließen.
Die Erklärung liegt, wie ich meine, in ganz anderer Richtung.
Wenn man die Beteiligung der drei Höcker an der Bildung der Incisivi
vergleichend-individuell untersucht, dann konstatiert man, daß beim
Menschen und einigen anderen Primatengeschlechtern der mittlere
Höcker (P) in seiner Entwicklung sehr schwankend ist. Es ist früher
schon betont, daß er bei gewissen Affen konstant fehlen kann, so daß
der Schneidezahn nur durch die beiden Höcker i und 2 gebildet ist.
Denken wir uns nun den Fall, daß die Regression des mittleren Höckers P
so weit geht, daß er in seiner Entwicklung ganz unterdrückt wird, dann
müssen die beiden Seitenhöcker 1 und 2 mit ihren einander zugekehrten
Rändern zur sekundären Verlötung kommen, um eine regelmäßig ge-
bildete Krone zu bilden. Nun ist es aber denkbar, daß diese beiden
Höcker durch das Ausbleiben der Entwicklung eines schmalen, sie
trennenden Teiles der Zahnanlage (jener Teil, woraus der mittlere Höcker
hervorgehen sollte), eine gewisse Selbständigkeit erlangen,
und dann entsteht ein Incisivus, dessen Krone in der
Mitte eingeschnitten erscheint; jede Zacke entspricht
einem der beiden Urhöcker 1 und 2, und die Spalte
manifestiert die Regression des mittleren Haupthöckers
P. Ein solcher Zahn ist in Fig. 17 abgebildet. Sie
werden in der Literatur gewöhnlich als Verwachsung
von Zähnen angeführt, ein Begriff, dem ich an diesem
Teil des Gebisses wenig zustimmen kann. Von solch
einem partiell gespaltenen Zahn läßt sich nun leicht die
vollständige Spaltung ableiten. Denn wenn die mittlere
Partie der Zahnpapille sich gar nicht entwickelt, kommt
es hier auch nicht zur Ablagerung von Zahnbein, und
die Dentinablagerung wird auf dem medialen Höcker 1 und dem
lateralen 2 gesondert vor sich gehen. Wenn die Zahnbeinschärfchen,
einander entgegenwuchernd, sich erreichen und verschmelzen, wird
noch eine einheitliche, mehr oder weniger eingeschnittene Krone
entstehen. Bleibt jedoch diese Verwachsung aus, dann entwickelt
jeder Höcker sich als ein selbständiger Zahn und die Zahl der Inci-
siven hat sich vermehrt, In dieser Weise läßt sich diese Art von
Überzahl der Incisivi in ungeschwungener Weise erklären. Und ich
möchte besonders betonen, daß wir in der vergleichenden Anatomie
und in der individuellen Variation des Schneidezahnes einen deut-
lichen Hinweis in dieser Richtung haben. Denn der mittlere Höcker
dieses Zahnes läßt sich leicht auf seinem Wege zur Reduktion ver-
folgen.
Aus der gegebenen Erklärung folgt sofort, daß in den gegebenen
Fällen von einer Verdoppelung eines Incisivus in dem wahren Sinne
keine Rede ist. Doch auch eine echte Spaltung liegt nicht vor, denn
jeder der Teilungsprodukte entspricht nur einer der drei Urspitzen
des Säugerzahnes. In Wirklichkeit beruht in diesen Fällen die Ver-
mehrung der Zahnzahl auf einem Reduktionsprozeß. Diese Ver-
mehrung der Zahnzahl zeigt Übereinstimmung mit jener, welche
durch Kükenthal bei Embryonen vom Barten wale nachgewiesen
Die Differenzierung der Oberkieferzähne.
49
ist1), bei welchen während der Entwicklung aus zusammengesetzten
Zähnen durch Auflösung einfache Kegelzähne entstehen. Ich möchte
diese Variationen als „schizogene Variationen" bezeichnen. Durch
die hier gegebene Erklärung des Entstehens überzähliger Incisiven
wird es verständlich, warum bei solchen Zähnen die Kronen nicht
immer normal geformt sind und zugespitzt enden. Aus der Literatur
führe ich folgen-
den Fall an, von
Dependorf mit-
geteilt: An Stelle
des lateralen In-
cisivus ein Zwil-
lingszahn , ver-
schmolzen aus
dem zweiten
Schneidezahn und
einem überzähli-
gen Zahn. Beide
Zahnkronen zei-
gen merkwürdiger- Fig. 18.
weise keine ein-
fache Schneide, sondern ausgeprägte Ecken, so daß sie schmalen Eck-
zahnkronen ähnlich sehen"2).
Die Vermehrung der Incisivi kommt entweder bilateral oder
einseitig vor. Bei einseitigem Vorkommen trifft man jedoch nicht
selten am anderweitigen Zahn den beschriebenen Vorgang in ver-
schiedenem Grade von unvollständiger Entwicklung an. Ein
schönes Beispiel davon lieferte mir u. a. der Schädel eines Gorilla-
männchens, wovon die Incisivi und Canini, von der palatinalen Fläche
gesehen, in Fig. 18 zur Abbildung gebracht sind. Es betrifft — wie in
der Mehrzahl der Fälle — die late-
ralen Incisivi. An der linken Seite
ist die Krone dieses Zahnes über-
mäßig breit und zeigt auf labialer
und bukkaler Fläche eine Furche,
die nach dem Rande zu tiefer ein-
schneiden, und auf dem Rande eine
scharfe Einkerbung verursachen,
welche infolge der Abnützung des
Zahnes schon zum Teil ausgeglichen
ist. An der rechten Seite finden sich
zwei vollständig getrennte ,, laterale"
Incisivi. An der linken Seite sind
daher die Dentinschärfchen, welche auf die Papillen der Spitzen i und
2 zur Ablagerung kamen, schließlich noch miteinander verwachsen,
während rechts diese Vereinigung unterblieben ist.
Zum Schlüsse gebe ich in Fig. 19 noch ein lehrreiches Beispiel
zum Beweise der Reduktion des mittleren Höckers bei den Schneide-
1) W. Küken thal, Vergleichend anatomische und entwicklungsgeschichtliche
Untersuchungen an Waltieren. Denkschr. d. med.-naturw. Ges. zu Jena 1893, Bd. III.
2) T. Dependorf, Zur Frage der überzähligen Zähne im menschlichen Gebiß.
Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. X, S. 177.
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 4
50 Erstes Hauptstück.
zahnen gewisser Affengeschlechter. Es sind drei mediale Incisivi des
Oberkiefers von Cebus capucinus abgebildet worden. In a ist der
Zustand, den man am häufigsten findet, wiedergegeben, die mittlere
Zacke ist noch anwesend, jedoch äußerts gering entwickelt, in b ist die
Krone nur aus den beiden seitlichen Spitzen zusammengesetzt, die
Schneide besitzt nur eine einzige, nahezu in der Mitte gelagerte Kerbe.
Tn c ist diese Kerbe tiefer eingedrungen, und von ihr geht eine Furche
aus, welche auf die labiale Fläche fast über die ganze Länge der Krone
zieht, auf die linguale bis zum stark entwickelten Tuberculum dentis
geht. Letzterer Fall ist als die erste Phase der Teilung zu betrachten.
Ich gebe diesen Fall auch deshalb, weil er für mich der erste Anlaß
war, um über die Ätiologie der Überzahl der Incisivi die Auffassung
zu bilden, welche ich oben auseinandergesetzt habe und in der dritten
Studie durch weitere Beweisstücke fester begründet werden soll. Die
hier beschriebene Erscheinung ist übrigens schon von Regnault1)
beobachtet worden. Er beschreibt einen oberen medialen Incisivus
vom Gorilla, und einen von Mycetes, bei dem die Krone von der Mitte
ab in zwei Teile geteilt ist.
Wir haben jetzt die morphologische Bedeutung des Caninus und
der Incisivi, in Verband mit den Prinzipien der Dimertheorie kennen
gelernt. Es dürfte aus dem Vorangehenden genügend hervorgegangen
sein, daß diese Zähne den Prämolaren nicht als primitive, sondern als
mehr spezialisiert gegenüberstehen. Wenden wir uns jetzt noch einmal
diesen Zähnen zu. Drei typische Entwicklungsstufen haben wir von
diesen Zahnformen früher kennen gelernt. Zuerst eine bei dem nur
das Protomer sich an der Bildung des Zahnes zu beteiligen scheint
und die stark komprimierte Zahnkrone, wesentlich nur vom mittleren
Haupthöcker P, bei geringer Teilnahme von den Nebenspitzen i und 2
gebildet war. Als zweite Form würde jene angeführt, an der auch das
Deuteromer gut entwickelt war, sei es auch nur durch seinen Haupt-
höcker D. Als dritte Form schließlich kam jene ziemlich seltene in Be-
tracht, bei der die drei Spitzchen des Deuteromer zur Entwicklung
gekommen waren, der mittlere Höcker D von den Nebenspitzchen 3
und 4 begleitet war. Dann ist der Zahn sechshöckerig geworden, mit
seinen beiden Haupthöckern und den vier Nebenspitzen ausgestattet.
Es ist nun selbstverständlich, daß sich zwischen dem zweiten und
dritten Typus Übergangsstufen finden, und wir werden uns jetzt zu-
nächst mit solchen beschäftigen müssen, denn die leicht verständliche
Natur dieser Zwischenphasen erleichtert die Deutung auch jener Formen,
welche als die höchst entwickelten in der Primatenreihe zu betrachten
sind und welche ich im nächsten Abschnitt als Doppelhöckertypus
beschreiben werde.
Wie früher ausdrücklich betont, ist der rein sechshöckerige Zahn —
(vgl. Fig. 5) — ■ bei den jetzt lebenden Primaten äußerst selten, denn
ist das Deuteromer so weit entwickelt, daß auch dieser Teil des Zahnes
dreispitzig geworden ist, dann sind im Protomer Differenzierungen
aufgetreten, die mit Verlust der primitiven dreispitzigen Gestalt ver-
knüpft sind. Am meisten noch trifft man in der Prämolarenreihe
1) T. Regnault, Des Malformations dentaires chez le singe. Comptes rendus
Soc. de Biol., Paris 1893, S. 931.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 51
der heutigen Primaten solche Formen, bei denen die Differenzierung
des Denteromer unvollständig ist.
Es besteht jedoch in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen
den Prosimiae und den Simiae. Denn im allgemeinen ist bei den
ersteren in der Prämolarenreihe eine graduelle Entwicklung vom mehr
einfachen zum mehr zusammengesetzten Kronenrelief zu verzeichnen,
es ist dasselbe vollkommener entwickelt, je mehr der Zahn eine rück-
wärtige Stelle in der Reihe einnimmt. Jeder Zahn bildet hier mehr
eine Zwischenstufe zwischen den ihm vorangehenden und den ihm
folgenden Element der Gebißreihe. Der letzte Prämolar kann dabei
bei gewissen Geschlechtern (Galago, Hapalemur) vollständig wie ein
Molar gebaut sein. Diese Verhältnisse, welche als primitive angesehen
werden müssen, sind für das Studium der Zahnentwicklung äußersl
wichtig, denn eine vollständige Prämolarenreihe demonstriert da-
durch, in welcher Weise das Relief der Krone von der „caniniformen"
bis zur „molariformen" Gestalt allmählich entsteht. Die Homologi-
sierung der Höcker wird dadurch wesentlich erleichtert. Etwas Über-
einstimmendes ist auch noch bei den Milchmolaren der wahren Affen
zu sehen, sei es auch schon in viel geringerem Grade, aber was ihre
Prämolaren betrifft, ist bekanntlich eine scharfe Formdifferenz zu-
stande gekommen gegenüber den Molaren. Die Prämolaren der wahren
Affen sind nicht nur einander viel ähnlicher gestaltet, sondern sie zeigen
im allgemeinen auch mehr vereinfachte Formen als jene der Halb-
affen, besonders der kleineren Vertreter dieser Ordnung. Doch muß
sofort hinzugefügt werden, daß auch bei den Prosimiae weit auseinander
gehende Zustände vorliegen, diese Ordnung ist, was die Differenzierungs-
zustände des Gebisses betrifft, viel interessanter und lehrreicher,
weil formenreicher, als die Ordnung der wahren Affen. Der Unterschied
z. B. zwischen dem Gebiß von Indris oder Avahis und jener von Galago
ist viel größer als jener, welcher zwischen zwei ausgewählten Ver-
tretern der Affenordnung aufzufinden ist.
Die scharfe Abgrenzung zwischen Prämolaren und Molaren in
bezug auf die Form ist eine im Laufe der Entwicklung zustande ge-
kommene und daher sind die Prämolaren der wahren Affen nicht als
primitive Formen zu betrachten, sei es auch, daß ihr Kronenrelief
ein ziemlich einfaches ist. Sie stellen vielmehr reduzierte Formen dar.
Höcker und Spitze, welche bei den Vorfahren der Affen diese Zähne
besessen haben, sind verloren gegangen, treten jedoch als individuelle
Variation noch bisweilen auf. Bei dieser Reduktion sind es wieder
die ursprünglichen Nebenspitzen, welche zuerst verschwinden, dem all-
gemeinen Prinzip gemäß, daß die Haupthöcker einen festeren Bestand
des Zahnes bilden. Geht auch einer dieser schließlich verloren, dann
ist es wieder jener des Deuteromer.
Ich beschränke mich hier zu diesen allgemeinen Bemerkungen,
welche in der dritten dieser Studien bei der Besprechung der Form-
abweichungen weiter ausgearbeitet werden sollen.
C. Die Doppelhöckerphase.
Nachdem wir die Evolution des Zahnes verfolgt haben bis zum
Auftreten einer sechshöckerigen Form, welche gleichsam ein zweifach
trikonodonter Zahn darstellt, mit zwei Haupthöckern und vier Neben-
4*
52 Erstes Hauptstück.
spitzen, sind wir an dem schwierigsten Punkt angelangt, den es, meiner
Meinung nach, in der Phylogenese des Zahnreliefs gibt, nämlich die
Entstehung der höher differenzierten Zähne aus den vorher beschriebenen
Formen. Ich könnte hier, der Kürze wegen, statt höher differenzierten
Formen von Molaren sprechen, da man bei den hintersten Zähnen
des Gebisses diese höheren Formen meistenteils antrifft, Es würde
jedoch eine solche Bezeichnung den Tatsachen nicht ganz genau ent-
sprechen, denn die Formen, die wir jetzt behandeln wollen, trifft man ge-
legentlich, sei es auch selten, ebenfalls schon in der Prämolarenreihe an.
Und noch in anderer Hinsicht würde eine solche bequemer scheinende
Bezeichnung bedenklich sein. Denn es sollte damit gerade der Grund-
gedanke meiner Theorie, daß alle Zähne von einer einzigen Grundform
abzuleiten sind und daß es nur einen einzigen Entwicklungsgang
gegeben hat für alle Zähne des Gebisses, wie verschieden ihre definitive
Gestalt auch sein darf, in Gefahr gebracht. Es gibt keinen Gegensatz
zwischen Molaren und Antemolaren, weder der Anlage, noch der
phylogenetischen Entwicklung nach.
Es ist nicht ganz leicht, ja man darf sagen, es bietet geradezu
Mühe, sich dieser Auffassung, welche der geläufigen so entgegengesetzt
ist, als richtig anzuerkennen. Denn es hat die Anschauung, daß ein
prinzipieller Gegensatz zwischen Molaren und Antemolaren besteht,
gewiß vieles für sich. Die Tatsache z. B., daß im Gebiß beim Übergang
der einen in die andere Abteilung die Gestalt der Zähne plötzlich eine
andere, weit mehr komplizierte wird, scheint für diese Anschauung
zu sprechen. Die Charakterisierung eines Zahnes als molariform ruft
sofort eine gewisse Formvorstellung wach. Es ist jedoch am Schlüsse
des vorangehenden Abschnittes darauf hingewiesen, daß diese Form-
differenz zwischen Molaren und Antemolaren erst im Laufe der Ent-
wicklung durch Differenzierung des Gebisses als Ganzes zustande kam;
bei älteren und ausgestorbenen Geschlechtern geht die Komplizierung
des Kronenreliefs so regelmäßig von vorn nach hinten vor sich, daß
man bisweilen im Zweifel darüber sein konnte, welcher Zahn der erste
Molar sei, wenn nicht die zweite Erscheinung, welche die Trennung
in Molaren und Antemolaren zu berechtigen scheint, Auskunft gäbe,
nämlich der Zahnwechsel. Dieser Prozeß, der zweifelsohne den vorderen
Abschnitt des Gebisses in einen Gegensatz zum hinteren stellt, trägt
gewiß viele Schuld daran, daß man nun auch einen Unterschied in der
Herkunft von Molaren und Antemolaren annahm. Am Schlüsse meiner
ersten Studie habe ich darauf hingewiesen, daß in jener Publikation
über das Ausbleiben eines Zahnwechsels im hinteren Teil des Gebisses
und über die eventuelle Bedeutung dieser Erscheinung geschwiegen
worden ist. Die Erklärung der Zusammensetzung des Gebisses aus
Molaren und Antemolaren - - zwischen welchen Zähnen ich also nur
eine einzige Differenz anerkenne, nämlich jene durch den Zahnwechsel
dargestellt -- erscheint mir eine der schwierigsten der vergleichenden
Anatomie überhaupt, und zweifelsohne die schwierigste der vergleichen-
den Anatomie des Gebisses insbesondere. Soweit ich jetzt das Gebiet
dieser Frage überschauen kann, mangelt es uns zurzeit noch an den
notwendigen paläontologischen Urkunden, besonders der Marsupialier,
um eine zusammenhängende Vorstellung über den Verlauf der Ent-
stehung dieses Prozesses zu bilden. Die ontogenetischen Untersuchungen
von der Gebißanlage der Reptilien weist auf eine bestimmte Richtung
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 53
hin, wo die Lösung des Problems gesucht werden muß. Und dieser
Hinweis stellt, wie mir klar geworden ist, uns vor die Aufgabe
der Beantwortung einer präalabelen Frage, nämlich jene der Deutung
des Marsupialiergebisses. Wenn man die richtige Antwort gefunden
hat auf die Frage, warum bei den Beutlern ein Zahnwechsel unterbleibt,
oder nur in den bekannten, äußerst beschränkten Maße vorkommt,
dann ist gleichzeitig das Problem vom Vorkommen der Molaren im
Gebiß der Placentalier gelöst. Ich bin wohl schon eine Strecke auf dem
Wege der Erklärung dieser Frage vorgedrungen, aber der dunklen
Punkte gibt es noch mehrere. So viel ist mir jedoch wohl deutlich ge-
worden, daß man über die Natur des Beutlergebisses eine etwas andere
Vorstellung sich bilden muß als die geläufige, die Frage der Homologie
dieses Gebisses ist nicht ein reines Dilemma zwischen Milchgebiß oder
permanentem Gebiß der Placentalier. Ich hoffe, nach weiteren Unter-
suchungen eine dieser Studien dem Marsupialiergebiß zu widmen
und darin auch das Vorkommen von Molaren überhaupt eingehend
zu besprechen. Ich dachte es jedoch nicht unerwünscht, an dieser Stelle
die obenstehenden Bemerkungen einzuschalten, da in ihr die Erklärung
liegt, warum ich auch jetzt noch nicht auf die Frage der Molaren
eingehen kann. Selbstverständlich hat das nur Bezug auf das Fehlen
eines Zahnwechsels, über die Genese der Form wird unten gehandelt.
Nun werden bekanntlich die Molaren bald der Milchgebißreihe
zugehörig betrachtet, bald der Reihe der permanenten Zähne und schließ-
lich auch gedeutet als entstanden aus den verschmolzenen Keimen
beider Reihen. Man vergleiche darüber Schwalbes Referat, worin
eine vollständige Übersicht über die verschiedenen Theorien bis zum
Jahre 1894 gegeben ist1). Und bei solchen Auffassungen muß natür-
lich auch die Form der Molaren etwas Eigenes, nicht mit jenen der übrigen
Zähne des Gebisses Vergleichbares erlangen2).
Am schärfsten kommt wohl der Gegensatz zwischen Molaren und
Antemolaren in der Differenzierungstheorie von Cope-Osborn zum
Ausdruck. Es hat bekanntlich diese Theorie nur auf die Molaren Bezug,
ausdrücklich — ich habe das schon früher hervorgehoben -- betonen
die Begründer dieser Theorie, daß sie für die Antemolaren keine Gel-
tung hat und daß die mehrhöckerigen Formen letzterer in ganz anderer
Weise entstanden sind. Und wenn ein Prämolar vollständig einem
Molar ähnlich ist, was das Relief der Krone betrifft, dann wird von
den Autoren diese Erscheinung als „Mimicry" gedeutet.
Die trituberkulare, besser trigonodonte Form von Cope-Os-
born wird uns in diesem Abschnitt ebenfalls begegnen, und ich werde
dann Gelegenheit haben, meine Auffssung über dieselbe mit jener der
genannten Autoren zu vergleichen.
Wie ist nun jene Zahnform, welche man meistenfalls bei den
Molaren, bisweilen auch schon bei den Prämolaren antrifft, entstanden?
Die Entstehungsweise dieser Form trägt einen etwas anderen Charakter,
als jene der bis jetzt besprochenen. Denn als Hauptmerkmal des bis
jetzt verfolgten Entwicklungsganges muß gelten, daß eine höher aus-
gebildete Form des Zahnes zustande kam durch Aktivierung von An-
1) G. Schwalbe, Über Theorien der Dentition. Verh. d. Anat. Gesellsch.,
8. Versammlung, 1894.
2) Man vergleiche weiter meinen Aufsatz: „Welcher Gebißreihe gehören die
Molaren zu. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. XVII.
54
Erstes Hauptstück.
lagen, welche im Zahnkeim durch ihre Entstehung aus zwei trikono-
donten Zähnen in nuce enthalten waren. Es ist deutlich, daß, wenn
nun einmal der Zahn eine sechshöckerige Gestalt bekommen hat, eine
weitere Ausbildung nicht mehr durch Zufügung neuer primärer Spitzen
zustande kommen kann. Höhere Formen können von jetzt nur entstehen
durch Differenzierung vom bestehenden Höcker. (Man vergleiche jedoch
bezüglich des Carabellischen Höckerchen den Inhalt des folgenden
Hauptstückes.)
Wenn man nun bei den niederen rezenten Primaten oder bei den
eocänen Urprimaten die Zähne des Oberkiefers der Reihe nach ver-
folgt, dann fällt die Tatsache auf, daß bisweilen schon der letzte Prä-
molar, aber meistenteils der erste Molar eine typische Reliefdifferenz
zeigt dem unmittelbar vorangehenden Zahn gegenüber, und zwar in
jenem Sinne, daß der bukkale Rand statt eines einzigen größeren -
von zwei kleineren Nebenspitzen meistens begleiteten Höckers
deren zwei aufweist, welche meistenteils einander an Größe gleich sind.
Wir haben es hier somit mit einer Abänderung
im protomeren Teil
des Zahnes zu tun.
Das zweite Odonto-
mer unterliegt dabei
gewöhnlich keiner
Umänderung, nur
erscheint es infolge
der Zunahme der
Länge des Zahnes
etwas kräftiger ent-
wickelt. Ich möchte
nachdrücklich be-
tonen, daß diese Er-
scheinungen nicht
zuerst studiert wer-
den müssen am per-
manenten Gebiß der
höheren Affen, auch
nicht bei jenen Prosimiergeschlechtern, bei denen die Zahl der Prä-
molaren auf zwei reduziert ist, Als Untersuchungsobjekte für die
historische Entwicklung des Gebisses wähle man nur die eocänen
Formen oder die Gebisse der rezenten Prosimiae mit noch drei Prä-
molaren. Auch das Milchgebiß der Platyrrhinen bietet in gewissen
Hinsichten ein wertvolles Material. Die Gebisse der höheren Affen
sind nur verständlich nach einer systematischen Vergleichung von mehr
primitiven Formen. Für eine direkte Untersuchung sind diese Formen
in ihrer postcaninen Gebißabteilung zu stark modifiziert.
Die oben angedeutete Abänderung in der Form des Zahnes ist
in Fig. 20 und 21 durch ein Paar einfache Skizzen illustriert. Die Fig. 20
gibt den letzten (dritten) Prämolar und ersten Molar von Tarsius wieder,
und die Fig. 21 den zweiten und dritten Milchmolar von Hapale jacchus.
Ich wählte diese Fälle, da sie auf leicht zugängliches Material Bezug
haben, und weiter, da in diesen beiden Fällen das Deuteromer auf einer
sehr niedrigen Entwicklungsstufe sich findet; denn es ist nur dessen
Haupthöcker D zur Entwicklung gekommen. Es ist noch eine dritte
Fig. 20. Tarsius spectrum.
P3 und Mx des Ober-
kiefers.
Fig. 21. Hapale jacchus.
Zweiter und dritter Milch-
molar.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 55
Überlegung, welche mich zur Wahl dieser Zähne bestimmte, nämlich
die, daß die Molaren der trituberkularen Form von Cope-Osborn
entsprechen, so daß sofort die Differenz in unseren Auffassungen be-
züglich der Entstehung dieses Typus zutage treten wird.
Wie aus einer Vergleichung beider Figuren ersichtlich, sind beide
Zahnpaare, eines einem permanenten Gebiß und eines einem Milch-
gebiß entnommen, einander außerordentlich ähnlich. Der dritte Prä-
molar von Tarsius und der zweite Milchmolar von Hapale zeigen den
Haupthöcker P und die beiden Nebenspitzen i und 2 recht deutlich, wäh-
rend bei beiden das Deuteromer nur durch dessen gering entwickelten
Haupthöcker D vertreten ist. Den Unterschied zwischen beiden Zähnen
bildet die Leiste, welche bei Tarsius D und P miteinander verbindet,
bei Hapale dagegen fehlt.
Was sieht man nun beim unmittelbar folgenden Zahn? Die
Dimensionen sind sämtlich größer, das Deuteromer ist kräftiger ent-
wickelt, aber das Protomer besitzt statt eines einzigen Höckers zwei
von gleicher Größe. In Wirklichkeit ist der hintere bei Hapale um ein
weniges kleiner. Diese Komplizierung im Kronenrelief hat keinen Ein-
fluß auf den Wurzelteil des Zahnes gehabt, denn sämtliche abgebildeten
Zähnchen besitzen die von früher schon bekannte Dreizahl der Wurzeln,
die zwei Sekundärwurzeln A1 und A2 für das Protomer und die Primäi-
wurzel B für das Deuteromer.
Welche ist nun die morphologische Bedeutung der beiden bukkalen
Höcker, welche so scheinbar unvermittelt auftreten ? Diese Frage hat
mich längere Zeit in Anspruch genommen, und es hat lange gedauert,
the ich die mich befriedigende Lösung gefunden habe. Gewissermaßen
Etand ich in diesem Punkte meiner Untersuchung über die Differen-
zierung des Kronenreliefs vor der übereinstimmenden Schwierigkeit,
wie Cope-Osborn bei ihrer Ableitung der Trituberkularform. Für diese
Autoren lautete die Frage: Wie ist aus dem trikonodonten Zahn, dessen
drei Höcker in einer Linie liegen, der Zahn mit einer trigonoclonten
Zahnkrone entstanden, bei dem die Höcker an den Ecken eines Dreiecks
sich finden: Und zur Erklärung mußten sie ihre Transgressionshypothese
einführen. Für mich gestaltete sich die Frage folgenderweise: Wie
kommt das Protomer, das dreispitzig war, eine größere mittlere Spitze
und zwei kleinere randständige Spitzen besaß, plötzlich an zwei mittlere
Spitzen, welche beide gleich groß sind und nahezu von der gleichen Dimen-
sion als die ursprüngliche einfache Hauptspitze? Anfänglich neigte ich
der Meinung zu, daß eine derselben durch Vergrößerung von einer der
Nebenspitzen 1 oder 2 entstanden wäre. Und für diese Auffassung sind
wohl Gründe anzuführen, da der in Fig. 20 und 21 wiedergegebene
Zustand nicht einer ist, der konstant auftritt. Denn in den beiden zur
Abbildung gelangten Fällen sind auch die beiden Zacken 1 und 2 des
Protomer da, und dieses trifft nicht immer zu. Nicht selten - - wir
werden davon besonders bei den höheren Primaten später mehrere
Fälle kennen lernen — sind die Nebenspitzen, entweder beide oder eine
von beiden, nicht anwesend. Solche Fälle lassen Raum für die Ver-
mutung, daß eine derselben sich kräftiger entwickelt hat und dem
ursprünglichen Haupthöcker P an Größe gleichgekommen sei. Und so
lange ich nicht die Überzeugung bekommen hätte, daß das Fehlen einer
oder der beiden Nebenzacken vom Protomer die Folge von Reduktion
ist, schien mir die obenstehende Vermutung als Erklärung der Molaren-
56 Erstes Hauptstück.
form nicht unwahrscheinlich zu sein. Die Möglichkeit eines solchen
Entwicklungsganges wurde noch verstärkt durch den Umstand, daß
im Deuteromer ein derartiger Vorgang sich tatsächlich abgespielt hat,
wie wir bald zeigen werden. Jedoch das Studium einer größeren Zahl
von niedrigen Primaten und der Abbildungen der Gebisse von Ur-
primaten überzeugte mich schließlich, daß diese Erklärungsweise nicht
die richtige sein konnte. Und es machte sich je länger desto mehr die
Überzeugung bei mir Bahn, daß die zwei gleich großen Höcker an der
bukkalen Seite der Molaren und gelegentlich des letzten Prämolaren
durch Spaltung vom primären Haupthöcker P entstanden sein müssen.
Allmählich gelangte ich zur Überzeugung, daß diese Auffassung die
richtige sein muß. Diese Überzeugung gründet sich auf mehrere Tat-
sachen. Erstens, daß die Variationen im Kronenrelief der Molaren von
den Primaten sich durch diese Auffassung in ganz ungezwungener,
natürlicher Weise erklären lassen. Auf diese Tatsache gehe ich in dieser
Schrift nicht ein. Nicht weniger Stütze fand die gegebene Erklärung
durch die Tatsache, daß durch sie eine vollkommene Übereinstimmung
erlangt wurde zwischen der phylogenetischen und ontogenetischen
Differenzierung der zusammengesetzten Molarenkrone der Primaten.
Nicht am wenigsten schließlich überzeugte mich die direkte Be-
obachtung von Übergangsformen von der Richtigkeit meiner Deutung.
Die Lösung der Frage also, vor welche ich gestellt wurde: welches
ist die morphologische Bedeutung der beiden Höcker am bukkalen
Rande der Molaren? ist somit kurz die folgende: Der Haupthöcker P
des Protomer hat sich in zwei hintereinander folgende, gleich große
Höcker differenziert, die Anlage dieses Zahnteiles ließ einen Doppel-
höcker aus sich hervorgehen. Daher bezeichnete ich diese, für die höheren
Zahnformen charakteristische Bildung als die „Doppelhöckerphase".
Die beiden Höcker zusammen stellen das Homologon des ursprünglichen
Haupthöckers P dar gleichwie die beiden Sekundärwurzeln Ax und A2
des Protomer aus dessen Primärwurzel A hervorgegangen sind. Und
ich werde, um jene Beziehung hervortreten zu lassen, den vorderen
Höcker als Pa und den hinteren als Pp unterscheiden.
Es liegt mir jetzt zunächst ob, zu beweisen, daß diese Auffassung
nicht nur eine Hypothese ist, welche in mehr oder wenig glücklicher
Weise die Erklärung der Primatenmolaren bringt, sondern einem wirk-
lich stattgefunden Vorgang entspricht. Ein solcher Beweis kann nur
geliefert werden durch den Nachweis von Tatsachen, welche diese Ver-
doppelung des Höckers P in den zwei Bildungsprodukten Pa und Pp
tatsächlich dartun. Es kommen nun unter den rezenten Prosimiae-
geschlechtern solche vor, bei denen an einem der Zähne diese Verdoppelung
in Entstehung begriffen ist, wobei zu gleicher Zeit Details ans Licht
kommen, deren Kenntnis für das Verständnis der später zu beschrei-
benden Zustände unentbehrlich ist.
Das Geschlecht, bei dem man die Entstehungsweise beider
Höcker am besten beobachten kann, ist zweifelsohne Galago mit der
Gebißformel 2 — 1 — 3 — 3. Wie ich früher schon Gelegenheit hatte zu
bemerken, kennzeichnet sich das Gebiß dieses Geschlechts dadurch,
daß der dritte Prämolar als ein Molar gebildet ist , nur die Größe
ist etwas geringer; der Zahn ist, um einen Ausdruck von Stehlin
anzuwenden, „molarisiert". Gleiches ist unter den Lemuriden auch
noch beim Geschlecht Hapalemur der Fall. Die Angabe von Hux-
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 57
ley1), daß auch Indris nämliches aufweisen sollte, beruht wohl auf dem
Irrtum, daß dieser Autor den dritten postcaninen Zahn als einen Prä-
molar deutete, statt als einen wahren Molar.
Das Deuteromer ist bei Galago stärker entwickelt als bei Tarsius,
nähert sich mehr jenem von Stenops. Und in der Tat würde der dritte
Prämolar von Stenops und Galago einander sehr ähnlich aussehen,
wenn nicht das Protomer desselben bei Stenops einen einfachen, bei
Galago einen doppelten Haupthöcker besäße. Betrachtet man nun den
zweiten Prämolar vom letztgenannten Geschlecht, dann konstatiert
man hieran den Anfang einer Verdoppelung von P. Zum Beweise gebe
ich in Fig. 22 eine Skizze der drei Prämolaren und des ersten Molaren
von Galago senegalensis, von der Außenseite gesehen.
Der erste Prämolar, der durch ein Diastem vom Caninus sowie
vom zweiten Prämolar getrennt ist, stellt einen einfach gebauten,
zweiwurzeligen, dreispitzigen Zahn dar, mit starkem Überwiegen des
Haupthöckers P und fast ohne Andeutung des Deuteromer. Von den
beiden Nebenspitzen ist die hintere (2) etwas kräftiger als die vordere (1).
Der Hinterrand des Haupthöckers ist länger als der Vorderrand. Diese
ungleiche Länge bildet gewisser-
maßen das Anfangsstadium der
Eigentümlichkeit, die der zweite / /
Prämolar zeigt. TJas Deuteromer / / ,-,,, .'; »*• r\ ,-t
ist an diesem Zahn stärker ent- / / /;'.'• | » J • / •;' .' ; ', / j
wickelt: vom Protomer ist die
hintere Nebenspitze (2) wieder
kräftiger als 1. Der Haupt-
höcker ist etwas länger als jener
vom ersten Prämolaren, und
sehr evident zeigt nun dieser
Höcker die Neigung, aus seinem
Hinterrand einen zweiten F'g- 22- Galago senegalensis. Eckzahn.
Höcker hervorgehen zu lassen. Prämolaren »»d erstei" MoIar des Oberkiefers.
Denn dieser Rand verläuft
nicht, wie der Vorderrand, in einer regelmäßig gebogenen Linie vom
erhabensten Punkt der Spitze P bis zur Basis, sondern hat einen
wellenförmigen Verlauf. Der Hinterrand des Höckers P ist somit
mit einer Erhabenheit ausgestattet.
Und wenn man jetzt den zweiten mit dem dritten Prämolaren
vergleicht, dann wird es deutlich, daß diese Erhabenheit, die beim
erstgenannten Zahn nur in Anlage da ist, beim zweitgenannten sich
zu einer wahren Spitze ausgebildet hat, von nahezu gleicher Größe als
die einfache Spitze im ersten Prämolaren.
Daß dieser neue Höcker eine wirkliche, durch Differenzierung
entstandene Neubildung ist und nicht eine Umbildung der primären
Nebenspitze 2, geht überzeugend aus der Tatsache hervor, daß diese
Nebenspitze auf dem dritten Prämolaren noch gleich kräftig an-
wesend ist als auf dem zweiten.
Das Protomer vom dritten Prämolaren hat nun statt eines ein-
fachen Haupthöckers einen zweispitzigen bekommen. Es ist das Tal
1) F. H. Huxlev, On Arctocebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, London
1864, p. 327.
58 Erstes Hauptstück.
zwischen den beiden Spitzen Pa und Pp noch ziemlich untief, aber bei
dem nächstfolgenden Zahn, dem ersten Molaren, der länger ist als der
letzte Prämolar, schneidet die Incisure tiefer ein, wodurch Pa und Pp
eine größere Individualität bekommen. Die ursprünglichen Nebenspitzen
vom Protomer, i und 2, sind auch bei diesem Molaren, ebenso wie bei
den zwei noch folgenden, scharf differenziert.
Die hier bei Galago senegalensis beschriebene Erscheinung habe
ich bei anderen Arten dieses Geschlechtes ebenfalls konstatieren können
(G. Demidoffi. elegantulus, Alleni). Unter den übrigen Prosimiae fand
ich eine geringe Andeutung der beginnenden Zweispitzigkeit des Höckers
P auch noch an den Prämolaren von Lemur. Es bleibt hier aber bei
einer äußerst geringen Erhabenheit, welche jedoch mit einer seichten
Einsenkung auf die bukkale Fläche der hinteren Hälfte vom Höcker P
korrespondiert.
Der beschriebene Fall ist sehr lehrsam, da wir dadurch Einsicht
erlangen in die genetische Beziehung der Höcker Pa und Pp zum Mutter-
höcker P. Denn eine wahre Spaltung, eine Halbierung des ursprüng-
lichen Höckers findet nicht statt. Im Gegenteil, der neue Höcker Pp
entwickelt sich aus dem Hinterrande des primären Höckers, wodurch
die Spitze von P zur Spitze von Pa wird. Gewissermaßen bleibt somit
der Urhöcker P bestehen, und ist der Höcker Pp als eine progressive
Bildung des Hinterrandes jenes Höckers zu betrachten. Diese gene-
tische Beziehung zwischen Pa und Pp darf man nicht aus dem Auge
verlieren, denn durch sie wird z. B. erklärt, warum bei Reduktion der
Molaren der Höcker Pp allmählich wieder verloren geht, während Pa
bestehen bleibt. Wäre die Doppelspitzigkeit von P durch Spaltung
entstanden, dann würden bei Reduktion die beiden Höcker wieder
zusammenfließen, in Übereinstimmung mit der schon öfters genannten
Regel, daß bei Regression des Zahnes der historisch zurückgelegte Ent-
wicklungsweg in umgekehrter Richtung wieder gefolgt wird.
Wir sehen somit, daß die gegebene Vorstellung von der Ent-
stehung zweier gleich großer Höcker im Protomer der Molaren und
gelegentlich der Prämolaren durch tatsächlich Beobachtetes gestützt
wird. Und ich bin der Überzeugung, daß bei anderen Ordnungen der
Säugetiere (z. B. Artiodactylen, Carnivoren) dieser Differenzierungs-
prozeß vergleichend-anatomisch deutlicher und vollständiger sich ver-
folgen läßt als bei den Primaten.
Wie schon bemerkt wurde, ist der vorgetragene phylogenetische
Entwicklungsgang in vollkommener Übereinstimmung mit den Ergeb-
nissen der embryologischen Untersuchungen der Zahnentwicklung. Es
ist bekannt, daß die Untersucher, welche die Richtigkeit der Tri-
tuberculartheorie an den ontogenetischen Erscheinungen geprüft haben,
einstimmig zum Schluß gelangt sind, daß diese Theorie mit den embryo-
logischen Tatsachen in Streit kommt. Denn nach dem Inhalt jener
Theorie sollte man erwarten, daß der Protoconus, der bei den Molaren
des Oberkiefers auf die linguale Seite des Zahnes gerückt sein soll,
da er das Hauptelement, den primitiven Haupthöcker des Zahnes
(homolog mit meiner Spitze P) darstellt, nun auch am frühesten eine
Dentinkappe bekäme. Solches ist nun. wie die Untersuchungen von
Täcker, Woodword, Rose u. a, ans Licht gebracht haben, nicht der
Fall. Ohne Ausnahme ist es der bukkale vordere Höcker, der bei der
ontogenetischen Entwicklung allen anderen in der histogenetischen
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 59
Differenzierung voraneilt und am frühesten zur Dentinbildimg über-
geht und einen Emailbelag bekommt: dann folgt der bukkale hintere,
der vordere linguale und schließlich der hintere linguale. Ich komme auf
diese ontogenetischen Erscheinungen noch zurück, wenn wir die weitere
Differenzierung der Molaren vollständig kennen gelernt haben. Vor-
läufig genügt es, darauf hingewiesen zu haben, daß der ontogenetische
Entwicklungsgang der Molaren parallel geht mit der von mir verfoch-
tenen Vorstellung über die phylogenetische Differenzierung. Denn
das Protomer stellt, als Vertreter der älteren Generation im dinieren
Säugerzahn, ein mehr prinzipielles Element dar, als das einer jüngeren
Generation entsprechende Deuteromer. Und im Protomer der Molaren
ist es wieder der Höcker Pa. der mehr als eine direkte Fortsetzung des
primären Haupthöckers P auftritt, als der Höcker Pp, der gleichsam
nur ein Differenzierungsprodukt desselben darstellt. Die Nebenspitzen
i und 2 spielen bei den Molaren der höheren Primaten keine Rolle mehr,
sie gehen meistenteils vollständig verloren, treten nur als Variationen
bisweilen noch auf. Dagegen weiden wir sehen, daß eine der Neben-
spitzen des Deuteromer bei den höheren Affen zu einem wichtigen Be-
standteil des Molaren sich ausbilden wird.
Die Idee, daß der Höcker Pp der Molaren eine Neuerwerbung
ist, habe ich in einem Aufsatz von Huxley schon aus dem Jahre 1864
zurückgefunden1/! An der in der Fußnote bezeichneten Stelle sagt
doch der Autor: ,,Of the two outer cusps of the molars, the anterior
represents the principal cusp of the premolars; the posterior is an
additional growth from the outer side of the heel." Die Vorstellung
der Genese von Pp stimmt wohl nicht ganz mit der meinigen überein,
sondern in unserer Auffassung über die Natur von Pa sind wir ein-
stimmig.
In einem Aufsatze über die historische Entwicklung der Prä-
molaren2) gibt W. B. Scott eine Darstellung dieser Entstehungs weise
auf Grund von Untersuchungen an paläontologischem Material, welche
in den Hauptlinien mit der von mir gegebenen ziemlich übereinstimmend
ist. Der Autor stellt sich jedoch auf den von Cope inaugurierten Stand-
punkt, daß die Evolution der Molaren in anderer Weise erfolgte als jene
der Prämolaren. Ohne Vorbehalt akzeptiert der Autor für die ersteren
die Transgressionshypothese von Cope-Osborn. und da die Entwick-
lung der Prämolaren diese Hypothese nicht zu stützen imstande ist,
muß er für letztere wohl auf einen anderen Entwicklungsgang schließen.
Die Folge davon ist, daß er in jenen Fällen, worin der letzte Prämolar
vollkommen als der unmittelbar folgende Molar gestaltet ist, dennoch
einen vollständig verschiedenen Entwicklungsgang verteidigen muß.
„Even when the premolars have become completely molariform, the
elements which correspond in functiön and position to these of the molars
are not homologous with them, the key to these homologies being given
by the position of the protocone." Zur Erläuterung sei darauf hin-
gewiesen, daß Scott bei den oberen Molaren als „Protoconus" den
lingualen vorderen Höcker bezeichnet, während bei dem gleichförmigen
letzten Prämolaren der bukkale vordere Höcker den Protoconus dar-
1) F. H. Huxley, On Arctolebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 322.- —
London 1864. —
2) W. B. Scott, The evolution of the premolar teeth in mammals. Proc.
Acad. of nat. Sc. of Philadelphia 1892.
60 Erstes Hauptstück.
stellen würde. Diese Meinung wird von Osborn geteilt. Wir werden
zum Vergleich mit dem von uns gefolgten Gedankengang eine kurze
Übersieht von der Scottschen Darstellung geben.
Der Autor geht von einem einfachen Kegelzahn mit einer einzigen
Wurzel aus. Als erste höhere Ausbildung erlangt dieser primäre Kegel
(Protoconus) an der lingualen Seite einen neuen Höcker, vom Autor
als Deuteroconus unterschieden, so daß ein bikuspidaler Zahn entsteht.
Dieser Bicuspidat bildet die Ausgangsform aller höherer Formen von
Prämolaren bei den Säugetieren. Das nächstfolgende Stadium entsteht,
wenn an der Außenseite hinter dem ersten Höcker ein zweiter ent-
steht, von Scott als Tritoconus bezeichnet. Die Krone ist jetzt also
dreihöckerig geworden und stimmt mit dem trituberkularen Molar
von Cope-Osborn überein. Dennoch besteht, wie Scott sich äußert,
keine Homologie, denn der trituberkulare Molar ist durch Transgression
aus einer trikonodonten Form entstanden. Wie stark eine aprioristische
Überzeugung der Richtigkeit einer Hypothese jemand für die richtige
Erkenntnis von Formbeziehungen blind machen kann, geht wohl stark
hervor aus Scotts weiteren Bemerkungen über die Details. Denn,
sagt er, bei diesen trigonodonten Prämolaren kommen sehr oft
„conules" zur Entwicklung — (das sind die Homologa meiner Neben-
spitzen) — und in ihrer Lagerung stimmen diese „conules" mit den kleinen
Zacken, die durch Osborn als proto- und metaconule unterschieden
sind überein und dennoch sind sie mit diesen nach der Meinung von
Scott nicht homolog. Über die Entstehungsweise des zweiten bukkalen
Höckers (der Tritocone ist identisch mit dem Pp-Wöcker in meinem
System) führt Scott an: How gradually this addition of the tritocone
may be effected, is beautifully shown in the series formed by placing
together the different varieties and species of Protogonia and Phena-
codus. Here the tritocone may be seen in all stages, from a very
minute and scarcely visible cusp, and gradually enlarging until it
reaches the size of the protocone." Ich habe oben gezeigt, daß für
eine Einsicht in die Entstehungs weise dieses Höckers unter den rezenten
Primaten im Geschlecht Galago noch ausgezeichnetes Material gegeben
ist. Als Schlußphase, welche den höchst entwickelten Prämolarenform
entspricht, betrachtet Scott jene, worin hinter dem lingualen Höcker
ein vierter erscheint, den er als Tetarconus bezeichnet.
Dieses Entwicklungsschema der Prämolaren bezeichnet Scott
als konstant, und stimmt, wie leicht ersichtlich, in seinen Hauptzügen
mit dem Entwicklungsgang des Zahnes im allgemeinen überein, wie
ich denselben vorgestellt habe. Trotzdem stehe ich auf einem Stand-
punkt, der prinzipiell von dem von Scott eingenommenen abweicht.
Scott nämlich hat den Nebenspitzen keine Aufmerksamkeit gewidmet,
weder jenen des Protomer noch jenen des Deuteromer. Der Autor
hat nur auf das Auftreten der größeren Höcker geachtet, sein Proto-
conus ist identisch mit dem Haupthöcker Pa in meinem System, sein
Deuteroconus mit dem Haupthöcker Z), sein Tritoconus mit Pp. Und
bezüglich der chronologischen Entwicklung dieser drei Höcker sind wir
einig. Auch hinsichtlich jener des Scottschen Tetarconus, der auch
meiner Meinung nach am spätesten seine wichtige Stelle im Kronen-
relief erlangt. Aber über die Herkunft dieses Höckers und seine
genetische Beziehung zu schon vorhandenen Elementen äußert Scott
sich nicht. Wir werden später dartun, daß dieser ,, Tetarconus" nichts
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 61
anderes ist, als die kräftig entwickelte Nebenspitze 4 vom Deuteromer.
Der wichtigste Unterschied zwischen Scott und mir wird dargestellt
durch meine Überzeugung, daß es für sämltiche Zähne des Gebisses
nur einen einzigen Entwicklungsgang gibt, und daß die Transgressions-
hypothese verfehlt ist, und daher der Trituberkulartypus von Cope-
Üsborn keiner reellen Ausgangsform entspricht.
Die Ansicht, daß die allmähliche Komplizierung der Prämolaren
den Schlüssel für das Verständnis der Molarenform bildet, ist bereits
1880 von Huxley formuliert worden laut folgenden Satzes: ,,In
Centetes, it is easy to trace the successive changes by which the simple
and primitive character of the Mammalian cheek-tooth exhibited by
the most anterior praemolar passes into the complex structure of the
crowns of the posterior teeth"1). Daß gleiche Erscheinung auch noch
bei rezenten Halbaffen zu konstatieren ist, habe ich oben dargelegt.
Kehren wir jetzt zu unserer eigenen Theorie zurück und betrachten
noch einmal die Fig. 20 und 21. Es ist in diesen Figuren außer der
Progression des Höckers P zu den beiden Höckern Pa und Pp noch
eine zweite Relieferscheinung ersichtlich, welche für die Deutung des
Reliefs der Molaren von großer Wichtigkeit ist. Der dritte Prämolar
von Tarsius stimmt in seinem Vorkommen sehr stark mit dem zweiten
Milch molaren von Hapale überein. Die Kronenformel für beide Zähne
1 P 2
lautet — =r— . Gleiches gilt für den ersten Molar von Tarsius und den
dritten Milchmolar von Hapale, für welche Zähne die Kronenformel
1 Pa Pp 2
Y~ — geschrieben werden muß. Es gibt aber eine Differenz. Denn
der dritte Prämolar von Tarsius besitzt eine Leiste, welche von D aus-
geht, bukkalwärts verläuft und in P übergeht. Diese Leiste fehlt bei
Hapale. Bei der weiter folgenden Besprechung werden wir nicht umhin
können, auch diese Leiste in den Kreis unserer Untersuchung zu
ziehen. Ich werde sie als das „Protopecten" des Zahnes weiter anführen,
und einen Zahn, der mit einer solchen Leiste ausgestattet ist, als „proto-
pectinisch" bezeichnen. Es wird darunter somit ein Zahn begriffen,
der nur eine einzige von D bis P verlaufende Leiste besitzt.
Wie verhält sich nun das Protopecten, wenn der Haupthöcker
des Protomer zweispitzig geworden ist ? Die Fig. 20 gibt eine deutliche
Antwort auf diese Frage. Vom Haupthöcker D gehen jetzt statt eines
einzigen, zwei Leisten aus, welche divergierend bukkalwärts ziehen und
sich mit Pa und Pp verbinden. Es macht ganz den Eindruck, als hätte
sich das Protopecten der Länge nach gespalten, wobei an der lingualen
Seite die beiden Hälften mit dem Haupthöcker D in Verbindung
blieben, an der bukkalen Seite jede Hälfte mit einem der beiden Höcker
sich verband. Diese Form des Leistensystems werde ich als „Schizo-
pecten" unterscheiden und einen damit ausgestatteten Zahn als schizo-
pectinisch bezeichnen. Ich verstehe darunter somit einen Zahn mit
einem V-förmigen Leistensystem, wobei die Leisten die beiden Höcker
Pa und Pp mit D verbinden. Wir werden später eine dritte Form
kennen lernen, welche als höhere Differenzierungserscheinung aus der
schizopectinischen entstanden ist, und die als ,,diplopectinisch" be-
zeichnet werden soll.
1) F. H. Huxley, Collected Papers, Vol. IV, p. 450.
62 Erstes Hauptstück.
Es ist wohl die richtige Stelle, um in einer kurzen Vergleichung
zu treten zwischen dem trituberkularen Zahn von Cope-Osborn
und jener Zahnform, die uns in Fig. 20 und 21 in dem dritten Milch-
molaren von Hapale und dem ersten Molar von Tarsius entegegentritt.
Denn diese Zähne entsprechen dem Anschein nach dem trituberkularen
Typus von den amerikanischen Paläontologen1). Es braucht jedoch
nicht noch einmal in Details dargetan zu werden, daß unsere Auffassungen
über die Entstehung und daher auch die Bedeutung dieser Form grund-
verschieden sind. Und jedoch ist unser Ausgangspunkt ein überein-
stimmender. Wir beide gehen von einem trikonodonten Zahn aus,
bei dem die drei Spitzen in einer geraden Linie gelegen sind. Aber
damit ist auch alles Gemeinschaftliche in unserer Darstellungsweise
gegeben. Denn von diesem Zahn leiten Cope-Osborn ihre trituber-
kulare, besser trigonodonte Form ab, mittels einer Verschiebung des
mittleren Höckers nach innen. Es will mir scheinen, daß die Autoren
zu dieser Hypothese gekommen sind infolge einer Vernachlässigung
der Nebenspitzen. Es gibt, wie schon früher betont ist, unter den meso-
zoischen Säugern Formen, bei denen an den hinteren Molaren die drei
Spitzen des trikonodonten Zahnes von gleicher Größe geworden sind
und bei denen somit der Form nach eine Unterscheidung in einen
Haupthöcker und zwei Nebenspitzen nicht berechtigt erscheint. Ich
verweise z. B. nach der Abbildung, die in C. 0. 1897 auf S. 25 in Fig. IIa
von dem Gebiß von Triconodon ferox gegeben ist. Es liegt hier jedoch
nur eine Spezialisierung des Zahnes vor, wie aus einem Vergleich mit
den vorangehenden Zähnen deutlich wird, und ihrer Natur nach sind
vordere und hintere Spitze auch dieser Zähne mit den Nebenspitzen
des trikonodonten Zahnes in seiner meist auftretenden Gestalt homolog.
Diese Tatsache ist nun, wie ich meine, von den Autoren übersehen, und
zwar deshalb, weil sie von vornherein die Prämolaren aus dem Gebiet
ihrer Vergleichung ausschalteten. Wenn ich nun noch einmal jene drei
Höcker in meiner Weise als i P und 2 bezeichne, dann denken sich die
amerikanischen Forscher, daß im Oberkiefer der Höcker P lingual-
wärts verschoben ist. Nach ihrer Meinung sollte somit die Kronen-
formel des trituberkularen (oder trigonodonten) Zahnes geschrieben
12 I Pü Pi> 2
werden müssen: -=j-, während sie von mir geschrieben wird: - .
Die Nebeneinanderstellung beider Formeln läßt scharf den großen
Unterschied in der Wertschätzung dieses Zahnes hervortreten, denn
für keinen einzigen Höcker sind wir in der Homologisierung einstimmig.
Mein Hauptbedenken, das sofort aus einer Vergleichung der For-
meln hervorgeht, ist, daß der von Cope-Osborn aufgestellte trituber-
kulare Zahn nicht vorkommt, wenigstens nicht als eine vollständig
intakte Form. Ich möchte damit nicht die Tatsache bestreiten, daß es
Molaren gibt und bei ausgestorbenen Formen gegeben hat, welche
in der Tat nur drei Höcker aufweisen, zwei an der bukkalen und einen
an der lingualen Seite. Unter den heutigen Lemuriden fand ich solche
Zähne u. a. im Oberkiefergebiß von Tarsius (zweiter und dritter Molar)
Aber diese Dreihöckerigkeit kommt zustande durch Verlust der Neben-
spitzchen i und 2, und die Kronenformel wird dadurch auf folgende
1) „The tritubercular pattern is still the prevailing one among the Lemu-
roidea." C. 0. 1907, p. 157.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 63
Pa Pf
reduziert — =— -. Aber diese Krone ist eine durch Regression ent-
standene und hat auch weiter in der Homologisierung der Höcker nichts
mit jener der amerikanischen Forscher gemein.
Bei den meisten Zähnen, welche von den amerikanischen Forschern
als trituberkular oder ihrem trituberkularen Typus entsprechend an-
gegeben werden, trifft man an der vorderen und hinteren Ecke des
bukkalen Kronenrandes die kleinen Nebenspitzchen / und 2 an. Auf
diese Tatsache ist schon von einem anderen amerikanischen Palä-
ontologen, Gidley, hingewiesen1). Dieser hatte die Gelegenheit,
besser erhaltene Zähne von Dryolestes zu untersuchen, und unter Hin-
weis auf die von Osborn von diesem Tier gegebenen Figuren (C. 0.
1907, Fig. 206) sagt der Autor: ,,But there are two important cusps not
noted bei Osborn, one an external cusp placed anterior tho themain
external cusp, the other a small but well-defined intermediate cusp
appearing on the posterior transverse ridge, thus there are fivc1) distinct
cusps instead of three, as stated by Osborn." Ich bin der Meinung,
daß, wenn man gut erhaltene, nicht abgeschliffene Molaren der meso-
zoischen Säugetiere auf das Vorkommen der Höckerchen 1 und 2 unter-
sucht, man diese wohl meistenteils antreffen wird. Diese Überzeugung
gründet sich auf meine Erfahrung, daß bei den heutigen Prosimiae
die meisten Molaren diese Spitzen noch besitzen, im Gegensatz zu den
Affen, wo sie an den Molaren weit seltener sind. Und ist einmal jener
Nachweis erbracht, wie es im Prinzip schon von Gidley geschehen ist,
dann müssen die Anhänger der Trituberkulartheorie annehmlich machen,
woher diese beiden Spitzen stammen und besonders beweisen, daß
sie nicht der vorderen und hinteren Nebenspitze des trikonodonten
Zahnes homolog sind.
Wir verfolgen jetzt unsere Auseinandersetzung der Differen-
zierung der Molaren. Der Entwicklungsgang der einfachsten bei den
1 Pa Pf> 2
Primaten vorkommenden Form mit der Kronenformel : r
haben wir jetzt kennen gelernt. Es wurde überdies schon darauf hin-
gewiesen, daß diese Krone sich vereinfachen kann durch Verlust der
beiden Nebenspitzen 1 und 2 oder von einer derselben. Es ist wohl
als eine allgemeine Regel zu betrachten, daß wenn einer der zwei ver-
loren gehe, es die hintere ist, erst an zweiter Stelle folgt die vordere.
Nach Verlust beider Spitzen bekommt der Molar somit eine Krone,
Pa Pf
deren Relief durch die Formel — =~- zum Audsruck gebracht wird;
1 Pa Pf
ist die vordere Nebenspitze noch da, dann lautet die Formel =r — — .
Beide Formeln sind bei den rezenten Primaten ziemlich selten, da bei
dieser Tiergruppe das Deuteromer der Molaren meistenfalls kompli-
zierter gestaltet ist und nicht einfach durch seinen Haupthöcker ver-
1 Pa Pf
treten. Eine Kronenformel =- — - findet man z. B. am ersten und
1) J. W. Gidley, Evedence bearing on Tooth-Cusp Development. Proc.
Washington. Acad. Sc. 1906, Vol. VIII.
1) Ich kursiviere.
64 Erstes Hauptstück.
zweiten Molaren von Lepidolemur und am dritten Molar von Nycti-
Pa Pp
cebus tardigradus. Für die Kronenformel — =— - — bieten der zweite und
dritte Molar von Tarsius, sowie der dritte von Cheirogaleus und Lemur
gute Beispiele.
Der Umstand, daß solche einfache Formeln meist im hinteren
Teil des Gebisses lokalisiert sind, gibt einen starken Grund ab für die
Vermutung, daß es sich hierbei um reduzierte Formen handelt. Es kann
nun diese Reduktion noch weiter gehen. Und übereinstimmend mit
der schon öfters erwähnten Regel sieht man dann, daß die zuletzt
entstandene Spitze am ersten wieder verloren geht. In diesem Fall
findet sich dann der Höcker Pp, und nach dessen Verlust wird die
Pa
Kronenformel auf -=r vereinfacht. Diese weitgehende Reduktion
kommt nur beim letzten Molaren vor. Sie wurde für Halbaffen das
erste Mal durch Huxley festgestellt und abgebildet1): „In Perodicticus
Potto the third upper molar has a transversely elliptical crown wich has
only two cusps, the posterior external and the posterior internal having
disappeared" (1. c, S. 324). Bei Lepidolemur ist nach Leches Abbil-
dung der Höcker Pp am dritten Molar merklich geringer entwickelt
als Pa. - - Bei Affen, besonders jenen der Neuen Welt, ist die Formel
Pa
-jr- am dritten oberen Molar gar nicht selten.
i Pa Pp 2
Bei den wahren Affen kommt die Kronenformel r — sehr
selten vor, da hier, wie schon erwähnt, als Regel das Deuteromer voll-
ständiger entwickelt ist. Im Milchgebiß der Arctopitheken treffen wir
im zweiten Molaren ein dieser Formel entsprechendes Beispiel an.
Merkwürdig ist es nun, daß die Molaren dieser niedrigsten Vertreter
der wahren Affen eine mehr reduzierte Form haben. Denn beim ersten
permanenten Molaren sind die beiden Nebenspitzen verloren gegangen,
Pa Pp
wodurch die Kronenformel dieses Zahnes die folgende wird: — =p*-,
beim zweiten Molaren ist die Reduktion sogar noch weiter gegangen.
Nicht nur ist dieser Zahn der kleinste aller postcaninen Zähne, sondern
der Höcker Pp kann individuell ganz fehlen oder ist nur eben ange-
Pa
deutet. Im ersteren Fall wird die Kronenformel somit wieder -=-.
Es ist wohl nicht zweifelhaft, daß das Gebiß der Arctopitheken nicht
nur als ein in Molarenzahl, sondern auch als ein in Zahngestalt stark
reduziertes zu betrachten ist. Ich kann dann auch die Meinung Webers2),
daß hier noch primitive Zahnformen bestehen sollten, nicht teilen.
Ich glaube, es stellt gerade das Gebiß der Arctopitheken die Richtig-
keit ins Licht jener, schon von mehreren Odontologen geäußerten Be-
hauptung, daß übereinstimmende Zahnformen eine verschiedene Ent-
wicklungsgeschichte haben können. Dieser Meinung gibt z. B. Forsyth
May or Ausdruck im folgenden Satz: „It is reasonable to conclude that
1) F. H. Huxley, On the Arcticebus Calabarensis. Proc. Zool. Soc. London
1864.
2) M. Weber, Die Säugetiere. Jena 1904.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 65
the tritubercular condition of molars is the result of similar evolution,
and by no means a primitive condition1)." Nicht weniger scharf gibt
auch Schlosser dieser Meinung Ausdruck, wenn er behauptet: „Eine
bestimmte Beschaffenheit des Gebisses ist nicht an eine gewisse Gruppe
gebunden, sondern kann innerhalb beliebiger Formenkreise wieder-
kehren. Es gibt dies einen deutlichen Fingerzeig dafür, daß die Ver-
wandtschaft zweier oder mehrerer Formen noch lange nicht durch eine
gleichartige Ausbildung der einzelnen Zähne ausgedrückt wird, es kommt
vielmehr darauf an, zu berücksichtigen, wodurch dieser momentane
Zustand veranlaßt wird2)." Und die Fragestellung, ob ein Zahn eine
primitive oder eine reduzierte Form besitzt, drängt sich schärfer auf
durch den im Laufe dieser Arbeit schon einige Male gebrachten Nach-
weis, daß bei Reduktion der einst durchlaufene normale Entwicklungs-
weg wieder in umgekehrter Richtung zurückgelegt wird, wodurch
notwendigerweise frühere, primitive Formen wieder von neuem ent-
stehen müssen. Ich glaube, daß auch Hapale wieder einen sehr guten
Beweis davon ablegt. Für eine Entscheidung, ob ein Zahn wirklich
primitiv oder infolge von Reduktion pseudoprimitiv ist, hat, wie ich
meine, vor allem das geologische Alter des Tieres eine ausschlaggebende
Bedeutung.
Es ist schon- mehrfach erwähnt worden, daß bei den Primaten-
molaren so einfach entwickelte Deuteromeren wie in den zuletzt gegebenen
Beispielen nur selten sind, weshalb man auch die dreieckige Krone
im Gebiß dieser Tiere so selten antrifft. Wohl bei den meisten Affen
— mit Ausnahme dann der Arctopitheken — und bei den meisten
Halbaffen ist dieses Odontomer in den Molaren mehrhöckerig, ent-
weder sind dessen beide Nebenspitzen entwickelt oder nur eine von
beiden.
Bezüglich des Entwicklungsgrades dieses Odontomer unter-
scheiden sich zweifelsohne die beiden Gruppen der Primaten augen-
fällig voneinander. Denn bei den Affen ist das Deuteromer bei keinem
der rezenten Formen dreispitzig. Regelmäßig fehlt hier die vordere
Nebenspitze, um als sehr bedeutungsvolle und willkommene indivi-
duelle Variation bisweilen wieder zu erscheinen. Bei den Halbaffen
dagegen ist jenes Odontomer öfters dreispitzig, und verbindet man mit
dieser Tatsache jene, daß auch die Nebenspitzen im Protomer besonders
bei den altweltlichen Affen regelmäßig fehlen, dann erscheinen die
Molaren der Prosimiae jenen der Simiae gegenüber durchschnittlich
spitzenreicher. Die Molaren der höheren Affen bringen nur als Rück-
schlagserscheinungen Spitzen zur Entwicklung, welche bei den Prosi-
miae regelmäßig vorkommende Bestandteile dieser Zähne sind.
Wenn das Deuteromer seine beiden Nebenspitzen entwickelt
hat und das Protomer seine vollständige Entfaltung noch aufweist,
i Pa Pf> 2
tritt ein Zahn auf mit der Kronenformel - — _, r . Ein solches Kronen-
3D4
relief trifft man im permanenten Gebiß des Oberkiefers bei den Affen
niemals an, bei Halbaffen ist es nicht ganz selten.
1) Forsyth Mayor, On Megaladapis madagascariensis, an extinct gigantic
Lemuroid from Madagascar. Phil. Transact. Roy. Soc. London 1894, Vol, CV, p. 22.
2) M. Schlosser, Die Affen, Lemuren usw. des europäischen Tertiärs,
Bd. I, S. 53. Wien 1887.
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 5
66 Erstes Hauptstück.
In der Prämolarenreihe weist der dritte Prämolar von Galago
und Hemigalago dieses Relief auf, das man auch beim ersten Molaren
von Avahis, Galago, Stenops, Hemigalago, Propithecus und weiter am
zweiten Molaren von Avahis, Stenops und Hemigalago konstatieren kann.
Der dritte Molar ist stets einfacher gestaltet. Aus den voranstehenden
Angaben geht schon hervor, daß ein Zahn mit dem bezüglichen Kronen-
relief im Gebiß gewissermaßen lokalisiert ist. Es findet sich der Typus
am häufigsten beim ersten Molaren. Man darf hierin den Ausdruck
einer Beziehung zwischen Form und Funktion sehen. Denn ein Zahn
i Pa Pf> 2
mit der Kronenformel - _. — ist der meist spitzenreiche, der über-
3D4 1
haupt bei den Primaten vorkommt, und er erscheint gerade an jener
Stelle des Gebisses, die der Druckwirkung am meisten ausgesetzt ist.
Von diesem Punkt nimmt sowohl nach vorn als rückwärts die Kompli-
ziertheit regelmäßig ab. Was — in Verbindung wohl mit der Nahrung -
bei den Prosimiae durch stetig zunehmende Komplikation erreicht wird,
kommt bei den Simiae viel mehr durch Größenzunahme zustande.
Und diese Vergrößerung ist mit einer gewissen Selektion verknüpft,
wobei bestimmte Höcker bevorzugt wurden und andere ausgeschaltet.
Das Gebiß der Prosimiae bietet uns daher für das Studium der Zahn-
entwicklung mehr wertvolle Dokumente als jenes der Affen, und ein
richtiger Einblick in die Natur der Affenzähne und eine richtige Homo-
logisierung der Höcker kann nur erworben werden auf Grund von bei
den Halbaffen gewonnenen Resultaten. Die Molaren der Affen sind
mehr als Endphasen einer Entwicklungsreihe zu betrachten. Und
in der großen Übereinstimmung, welche die Molaren sämtlicher
Affen jenen der Halbaffen gegenüber aufweisen, bekundet sich das
Einheitliche jener Gruppe.
Die Halbaffen dagegen geben in ihren verschiedenen Geschlechtern
deutliche Hinweise auf zwei divergierende Entwicklungsrichtungen.
Eine Linie trägt einen bestimmt progressiven Charakter und bereitet
gradatim jene Formen vor, von denen die Affenmolaren als die direkte
Fortsetzung sich vortun, eine zweite Linie trägt mehr einen regressiven
Charakter und findet bei den Affen keine Fortsetzung.
Drei Phasen der erstgenannten Entwicklungslinie, welche als
ebenso viele Vorstufen der Affen- und Menschenmolaren zu betrachten
sind, sind in den Fig. 23, 24 und 25 wiedergegeben. Die Zähne besitzen
1 Pa Pf> 2
noch alle die Kronenformel - — - . Die Fig. 23 stellt den dritten
3D4
Prämolar von Galago senegalensis dar, Fig. 24 den ersten Molar von
Stenops gracilis und Fig. 25 den ersten Molar von Avahis laniger. Sie
sind von der lingualen Seite gesehen abgebildet, während auch eine
Skizze der Kronenfläche gegeben ist. Vergleichen wir zunächst den
Entwicklungsgrad der Odontomeren miteinander.
Bei der Besprechung des Entwicklungsganges vom Deuteromer,
welcher hauptsächlich bei den Prämolaren verfolgt wurde, bildete das
Deuteromer wohl immer den kleineren Abschnitt des Zahnes, den
sogenannten Talon der Autoren. Das ist auch noch der Fall bei den auf
niedrigster Stufe der Entwicklung stehenden Zähnen, welche bereits
ins Doppelhöckerstadium getreten sind. Aber allmählich kommt jetzt
eine Volumzunahme des Deuteromer zustande, wovon die drei gewählten
Beispiele Zeugnis ablegen. Beim letzten Prämolar von Galago ist das
Die Differenzierung der Oberkieferzähne.
67
Deuteromer zwar vollständig dreihöckerig geworden, aber noch auf-
fallend kleiner als das Protomer, bei Stenops sind die Unterschiede
schon geringer und bei Avabis steht das Deuteromer im Volum jenem
des anderen Odontomer nur wenig nach. Dadurch wird somit der Zu-
stand, den man bei Affen findet, eingeleitet, denn durch die Volum-
zunahme des Deuteromer wird die Form der Krone wesentlich ver-
ändert. Das Wesen dieser Umänderung läßt sich aber erst scharf be-
tonen, nachdem wir die speziellen Spitzendifferenzierungen in jedem
der beiden Odontomeren bei den drei abgebildeten Formen näher
betrachtet haben.
Fig. 23. Galago senegalensis.
Dritter Prämolar.
Fig. 24. Stenops gracilis.
Erster Molar.
Bei Galago und Stenops ist das Vorkommen der Spitzen im Proto
mer wenig verschieden, nur sind beim letztgenannten die beiden Spitzen
Pa und Pp etwas niedriger. Bei beiden Tieren liegen die Nebenspitzen i
und 2 noch in einer Linie mit dem Doppelhöcker. Das hat sich nun bei
Avabis wesentlich geändert. Denn die Linie, welche die Nebenspitzen
hier verbindet, zieht bukkal von der Längsachse des Doppelhöckers.
Die beiden Nebenspitzen springen deutlich bukkalwärts vor. Und als
eine Erscheinung, die uns bis jetzt noch
nicht begegnete, muß das Auftreten
eines mittleren Höckerchens auf die
bukkale Fläche des Zahnes genannt
werden. Auf diese Bildung, die gelegent-
lich auch bei anderen Primaten auftritt,
werde ich hier nicht eingehen, ich schalte
sie vorläufig aus der Darstellung des
Differenzierungsganges, für den sie auch
bedeutungslos ist, aus. Hauptsache ist
es, zunächst festgestellt zu haben, daß
der Doppelhöcker P in bezug auf die Nebenspitze lingualwärts ver-
schoben erscheint und weiter, daß jede Hälfte des Doppelhöckers
bei Avahis ansehnlich niedriger und dazu breiter geworden ist.
Intensiver sind die graduellen Umgestaltungen, die an den Spitzen
des Deuteromer zu konstatieren sind. Im vorangehenden Abschnitt
ist schon die Aufmerksamkeit auf den Umstand gelenkt worden, daß
die Richtung der Spitzchen dieses Odontomer, wenn sie in der Dreizahl
entwickelt sind, mit jenen des Protomer einen nach hinten offenen
Winkel bilden. Die Kronenfläche des Zahnes wird dadurch mehr oder
weniger dreieckig, es sind eine bukkale, eine hintere und eine medio-
Fig. 25.
Avahis laniger. Erster
Molar.
68 Erstes Hauptstück.
linguale Seite ziemlich scharf voneinander abgegrenzt. Dazu kommt
noch, daß die hintere Nebenspitze 4 mehr oder weniger selbständig
hervorragt, wodurch der hintere Rand der Krone konkav wird. Auch
wenn der Haupthöcker P des Protomer sich zum Doppelhöcker ent-
wickelt hat, bleiben diese Verhältnisse bei den primitivsten dieser
Formen bestehen, wie aus Fig. 23 ersichtlich ist. Aber es tritt hierin
allmählich Veränderung auf, an der sich jedoch nicht alle Teile des
Deuteromer gleich stark beteiligen. Denn während die vordere Neben-
spitze (3), die auch, wie man sich erinnern wird, zuletzt erscheint, keine
weitere Entwicklung zeigt, nimmt die hintere Nebenspitze (4) an Größe
zu. Davon liefert der erste Molar von Stenops (Fig. 24) ein gutes Bei-
spiel. Diese Vergrößerung läßt jedoch die Spuren der Selbständigkeit
dieser Spitze nicht verloren gehen. Im Gegenteil. Zwar springt die
Spitze 4 bei Stenops weniger frei an der inneren Ecke des Hinterrandes
der Krone hervor als bei Galago, aber es entsteht eine ziemlich scharfe
Rinne zwischen dieser Spitze und dem Haupthöcker Z), besonders an der
lingualen Fläche der Krone. Im ganzen ist die Kronenfläche weniger regel-
mäßig dreieckig als bei der vorangehenden Form, denn die mesiolinguale
Seite bildet sich schon deutlicher in ein mehr mesiales und ein linguales
Stück aus, die vorläufig noch stumpfwinkelig ineinander übergehen.
Sämtliche Punkte nun, wodurch der erste Molar von Stenops sich
vom dritten Prämolar (und auch erstem Molar) von Galago unterscheidet,
sind nun beim ersten Molar von Avahis in progressiverem Maße ent-
wickelt. Die Nebenspitze 3 ist klein geblieben und lagert als eine un-
bedeutende Erhabenheit in der Mitte des vorderen Randes vom Zahn.
Sie kommt überhaupt nur beim ersten Molaren dieses Halbaffen vor,
beim zweiten ist sie vollständig reduziert. Dagegen ist die hintere
Nebenspitze 4 von gleicher Größe geworden als der Haupthöcker D
des Deuteromer. Die Folge davon ist, daß die Krone eine viereckige
Gestalt bekommen hat, aber noch nicht regelmäßig. Denn deutlich
geht der vordere oder mesiale Rand noch unter stumpfem Winkel
in den lingualen über, während der Hinterrand einen nahezu geraden
Winkel mit dem lingualen bildet.
Als meist essentieller Punkt bei dieser progressiven Entwicklung
ist aber zweifelsohne die mächtige Ausbildung der Nebenspitze 4 zu
betrachten. Diese Vergrößerung ging mit einem Ausgleich der Größen-
differenz beider Odontomeren gepaart, wodurch ein Zahn entstand,
der dem Kauakt weit besser funktionell angepaßt war, als jener mit
stark ausgesprochener Differenz zwischen Proto- und Deuteromer.
Diese Entfaltung der Spitze 4 ist in mehreren Hinsichten merkwürdig.
Denn dadurch ist die linguale Hälfte des Zahnes der bukkalen sehr
ähnlich geworden; bestehen dach von jetzt an beide aus zwei gleich-
großen Höckern. Aber wie verschieden ist die Natur der Höcker,
welche dieses Relief darstellen! Die bukkale Hälfte besteht aus einem
Doppelhöcker, aus dem Haupthöcker der primitiven trikonoclonten Ur-
form hervorgegangen. Und in der lingualen Hälfte ist der vordere Höcker
wirklich ein primitiver Haupthöcker, der hintere dagegen ist aus einer
Nebenspitze hervorgegangen. Bei genauem Zusehen jedoch findet man
bei Vergleichung der bukkalen und lingualen Hälfte beim vorliegenden
Zahn noch deutlich Anzeigen der differenten Natur der vier Spitzen,
sei es dann auch, daß sie in Größe einander wenig nachstehen. Denn
von der Verwandtschaft der beiden bukkalen Höcker zueinander legt
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. (39
die schmale erhabene Leiste, welche beide verbindet und ein wenig
nach außen geknickt erscheint, noch deutlich Zeugnis ab, während an
der lingualen Seite die ursprüngliche Selbständigkeit der beiden Höcker,
durch die Rinne welche beide trennt, bewiesen wird.
Daß übrigens der hintere linguale Höcker noch nicht in allen Hin-
sichten mit dem vorderen gleichwertig geworden ist, geht aus der
Anatomie des Leistensystems hervor. Ich erinnere daran, daß ich auf
Grund der Ausbildung dieses Systems bis jetzt zwei Formen unter-
schieden habe, nämlich protopektinische, bei denen eine einfache trans-
versale Leiste die Haupthöcker beider Odontomeren verbindet, und
schizopektinische, bei denen vom Haupthöcker D aus in divergierender
Richtung zwei Leisten zum Doppelhöcker P, also zu Pa und Pp ver-
laufen. Bei Stenops ist nun dieser zweite Typus, wie aus Fig. 24 er-
sichtlich, noch rein erhalten. Aber auch bei Avahis ist noch gleiches
der Fall, auch diese Molaren sind somit noch schizopektinisch, im Gegen-
satz zu jenen der meisten Affen, bei denen die Gleichwertigkeit zwischen
dem Haupthöcker D und der ursprünglichen Nebenspitze 4 noch voll-
kommener geworden ist. Die menschlichen Molaren stehen als schizo-
pektinisch noch auf der mehr niedrigen Stufe der Prosimiae. Unten
wird hierüber ausführlich gehandelt.
Das Kronenrelief, wie wir es jetzt bei Avahis kennen gelernt
haben, ist das meist vollständige, das man überhaupt bei den Primaten
antrifft. Es stellt eine Zwischenstufe dar zwischen den mehr einfachen —
weil primitiver — Formen anderer Prosimiae und den vereinfachten
Formen, welche wir bei den wahrenAffen kennen lernen werden. Es
ist ein Mixtum compositum von Primitivem und Progressivem. Das
Primitive wird hergestellt durch die Anwesenheit der drei gering ent-
wickelten Nebenspitzen 1, 2 und 3, das Progressive durch die Vierzahl
fast gleich großer Höcker, die mit nur wenigen Ausnahmen bei allen
Affenmolaren wiederkehren.
Die merkwürdige Ausbildung der Nebenspitze 4 der oberen
Primatenmolaren zu einem Höcker von gleicher Größe als der ursprüng-
liche Haupthöcker ist eine Erscheinung, die nicht einzig dasteht. Denn
bei dem Unterkiefergebiß werden wir einen übereinstimmenden Vor-
gang kennen lernen. Und ich bin überzeugt, daß man bei anderen
Säugerordnungen mehrere Beispiele eines solchen Entwicklungsganges
aufzufinden imstande ist. Doch werde ich auf diesen Punkt nicht
eingehen.
Nachdem wir die Molarengestalt mit dem vollständigsten Relief
in ihrer Entwicklung verfolgt haben und die Bedeutung jedes der dieses
Relief zusammensetzenden Elemente kennen gelernt, können wir dazu
übergehen, zu untersuchen, welche Varianten auf diese Form bei den
Primaten aufzufinden sind. Beschränken wir uns zunächst auf die
Prosimiae.
Propithecus und Indris gehören, was den allgemeinen Typus
ihrer Molaren betrifft, mit Avahis zusammen und stehen dadurch in
Gegensatz zu den übrigen Halbaffen. Es ist oben schon bemerkt
1 Pa Pf> 2
worden, daß die Kronenformel ^ nur für den ersten Molaren
3D4
von Avahis gilt. Denn beim zweiten Molaren ist von der Nebenspitze 3
1 Pa Pp 2
nichts mehr zu sehen und es hat dieser Zahn somit eine Formel ^ — — .
D4
70 Erstes Hauptstück.
Am dritten Molaren sind nur die Höcker Pa und D kräftig entwickelt,
3 fehlt ebenso wie 2, während Pp und 4 schwach am Hinterrand zu
erkennen sind. Es stimmen Propithecus und Indris darin mit Avahis
überein, daß auch hier die Spitze 3 nur am ersten Molaren vorkommt,
bei Indris stärker, bei Propithecus weniger stark als bei Avahis. Daß
ich dennoch eine Skizze von Avahis und nicht von Indris gab und aus-
führlicher beschrieb, findet seinen Grund darin, daß bei Indris die
hintere bukkale Nebenspitze (2) fehlt oder kaum angedeutet ist, so daß
1 Pa Pp
die Kronenformel dieses Zahnes ist: = — — . In dieser Hinsicht folgt
3D4 8
Indris wieder der schon öfters hervorgehobenen Regel: wenn eine der
beiden Nebenspitzen des Protomer verloren geht, ist es die hintere.
Bei dem zweiten Molaren sowohl von Indris als von Propithecus
fehlt, wie schon erwähnt, die Nebenspitze 3 vom Deuteromer völlig,
1 Pa Pp
wodurch die Kronenformel sich folgenderweise vereinfacht: — - — -.
D 4
Es nähert sich durch die Reduktion einer Nebenspitze in je der beiden
Odontomeren, bei der sonst schon sehr affenähnlichen Gestalt der Molaren,
der zweite Mahlzahn von Indris stark jenem der wahren Affen. Es
braucht nur noch die Nebenspitze 1 — die überdies als Variation nicht
selten bei Affen wieder erscheint — verloren zu gehen und der typische
Affenmolar ist da. Bei Propithecus geht wohl 3 verloren, aber im Proto-
mer bleiben beide Nebenspitzen im zweiten Molar bestehen. Sowohl
Indris als Propithecus besitzen einen stark reduzierten dritten Molaren
infolge sehr geringer Entwicklung von Pp und 4.
Bei Prosimiae mit einer mehr dreieckigen Gestalt der Krone, wie
in den Fig. 23 und 24 abgebildet, ist die typische vollständige Kronen-
1 Pa Pp 2
formel — „ — nicht sehr häufig vertreten. Am zahlreichsten kommt
3D4
diese Form noch vor bei Galago und Hemigalago, bei denen außer dem
dritten Prämolaren auch der erste und zweite Molar die erwähnte
Formel besitzen. Bei Stenops ist sie schon auf den ersten Molaren be-
schränkt. Bei anderen Formen findet Reduktion der Nebenhöcker in
verschiedenem Grade und an verschiedener Stelle statt. Bei Nycti-
cebus, der an keinem Zahn die Nebenspitze 3 zur Ausbildung gebracht
hat, ist die Kronenformel des ersten Molaren deshalb die folgende:
1 Pa Pp 2
— =^— - — , beim zweiten Molaren dieses Halbaffen geht 2, beim dritten
D 4
auch 4 verloren. Bei Cheirogaleus und Microcebus sind an sämtlichen
Molaren die Nebenspitzen des Protomer verloren gegangen, und da im
Deuteromer auch 3 fehlt, vereinfacht sich hier die Kronenformel auf
Pa Pp
~ eine Formel also, die bei den Molaren der Affen besonders
D4
häufig ist, Doch weicht durch das starke Hervorragen der Spitze 4
nach lingual und hinten die Gestalt der Krone dieses Prosimiers be-
trächtlich von jener der wahren Affen ab.
Eine andere Variation weist wieder das Geschlecht Hapalemur
auf, bei dem am ersten Molar die beiden Nebenspitzen des Protomer
verloren gingen, das Deuteromer jedoch dreispitzig geblieben ist, woraus
Pa Pp
folgende Kronenformel resultiert: : — ~— . Doch besitzt dieser Zahn
3D4
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 7 1
eine Besonderheit, die man auch beim Geschlecht Lemur, mit seinem
auf den Haupthöcker D reduzierten Deuteromer, antrifft und auf
welche ich im nächsten Abschnitt besonders eingehen werde. Man trifft
nämlich an diesem Zahn ein Carabellisch.es Höckerchen an.
Die angeführten Beispiele sind hinreichend für einen Eindruck
der ausgiebigen Varietäten, welche das Kronenrelief innerhalb der
Reihe der Halbaffen aufweist. Und eben dadurch ist das Studium dv^
Gebisses dieser Säugerordnung ein so lohnendes. Denn nicht allein
ist fast der ganze historische Differenzierungsgang an diesen Gebissen
abzulesen, sondern auch die Modifikationen, welche sich um jede höhere
Entwicklungsstufe gruppieren, geben eine Idee von der großen Plasti-
zität der Zahnkrone.
Und einen schärferen Gegensatz in dieser Hinsicht als zwischen
den Gebissen der Halbaffen und der wahren Affen läßt sich kaum
vorstellen. Die Mannigfaltigkeit der Krone bei den ersteren hat bei
den letzteren einer augenfälligen Einförmigkeit Platz gemacht. Die
hier in fast ungestörter Regelmäßigkeit auftretende vierhöckerige Kronen-
form sahen wir bei den Prosimiae angebahnt in den Geschlechtern
Avahis, Propithecus und Indris, die sich auch durch die Reduktion
der Prämolarenzahl auf zwei in der Zusammensetzung ihres Gebisses
den altweltlichen Affen nähern. Doch würde man irren, wenn man der
Ansicht war, daß es bei den wahren xAffen keine primitiveren Zahnformen
gibt, als bei den drei genannten Halbaffen. Die Evolution ist bei diesen
Prosimiae weitergegangen als bei gewissen Affengeschlechtern.
Es würde gewiß nicht möglich sein, auf Grund nur von einem
Studium der Zähne, ausschließlich der wahren Affen, zu einer richtigen
Auffassung über die Entstehungsweise dieser Zähne zu kommen.
Denn sie stellen zum Teil Endglieder dar, und ihr gleichartiger Bau, auf
welchen schon Giebel hinweist1), ist wenig günstig, um eine Perspektive
über den langen Differenzierungsgang, welchen sie hinter sich haben,
zu eröffnen. Doch treten wohl einige Merkmale auf, die, betrachtet
im Licht der Differenzierungsgeschichte, welche das Studium des
Prosimiergebisses enthüllt hat, von Bedeutung sind. Es sind als solche
das Auftreten überzähliger Höckerchen, aber besonders die verschie-
dene Gestalt des Leistensystems namhaft zu machen. Nun werde ich
in der vorliegenden Abhandlung nicht auf die ersterwähnten Erschei-
nungen eingehen, da ich in der dritten dieser Studien, wie schon erwähnt
worden ist, die Variationen des Primatengebisses zusammenfassend
zu bearbeiten gedenke. Selbstverständlich kommen dabei die über-
zähligen Höckerchen an den Zähnen zur Sprache und werde ich die
Bedeutung davon besonders im Lichte der in der vorliegenden Ab-
handlung ausgearbeiteten Differenzierungstheorie betrachten. Ich
muß somit für diesen interessanten Phänomenenkomplex auf die
folgende Studie verweisen. Nur ganz allgemein sei erwähnt, daß durch-
gehends bei den wahren Affen, die Nebenspitzen i, 2 und 3 entweder
vollständig oder teilweise fehlen, um als sogenannte überzählige Höcker-
chen hin und wieder aufzutreten.
An dem konstanten vierhöckerigen Typus der Affenmolaren
ist es jedoch nach systematischer Vergleichung nicht unschwer, einen
Entwicklungsgang aufzudecken, der sich an die Ausbildung der Leiste
1) C. G. Giebel, Ondontographie. Leipzig 1855.
72 Erstes Hauptstück.
oder Kamme knüpft, und die Ausbildung des Leistensystems wird
wieder bedingt durch die Beziehung des Höckers 4 (des hinteren lingualen)
zum übrigen Teil des Kronenreliefs. Es ist daher erwünscht, diese
Beziehungen zunächst systematisch zu verfolgen. Wir werden dabei
sehen, daß das Charakteristische der Evolution dieser Zähne kurzhin
im folgenden Satz zum Ausdruck gebracht werden kann: In der
Keihe der Affen macht sich die Tendenz geltend, um bei den Molaren
den Höcker 4 -- eine ursprüngliche Nebenspitze — immer mehr den
drei anderen Höckern gleichwertig zu machen, zu assimilieren; als
niedrigster Entwicklungsgrad dieser Molaren ist jener zu betrachten,
bei dem der Höcker 4 nur als ein ganz unbedeutendes Element der
Zahnkrone vorkommt; als höchste Form des Affenmahlzahnes muß
jener betrachtet werden, bei dem die Spitze 4 den anderen drei {Pa,
Pp und D) vollkommen gleichwertig geworden ist. Dieser Entwicklungs-
gang ist eigentlich nur die direkte Fortsetzung von jenem, welchen wir
bei den Halbaffen kennen gelernt haben, was wir jetzt näher ausein-
andersetzen wollen.
Die Spitze 4, das ist die hintere Nebenspitze vom Deuteromer,
ist im Laufe der Entwicklung erst nach dem Erscheinen des Haupt-
höckers D aufgetreten und ist am letzten Prämolaren und an den
Molaren der Prosimiae nicht selten. Doch fehlt sie bisweilen noch
bei den Molaren dieser Gruppe. In diesem Falle hat die Zahnkrone
die bekannte regelmäßige dreieckige Form, an der bukkalen Seite die
beiden Höcker Pa und Pp und als einzigen lingualen Höcker den
Haupthöcker D des Deuteromer. Derartige Molaren trifft man unter
den Halbaffen bei Tarsius1) und Microcebus an, unter den wahren
Affen sind nur die Arctopitheken im Besitze eines solchen Molaren-
typus. Ich verweise dazu auf die Fig. 1, 2, 3 und 4 von Tafel 1.
Auf dieser Tafel ist von den meisten Primatengeschlechtern der
erste obere Molar der linken Seite skizziert, die bukkale Seite des
Zahnes findet sich immer oben, die distale Seite rechts. Die hier
zuerst abgebildeten Molaren zeichnen sich alle durch vollständiges
Fehlen der Nebenspitze 4 aus, und weiter dadurch, daß vom Höcker D
eine Leiste nach je der beiden bukkalen Höckern zieht, Ich habe früher
darauf schon aufmerksam gemacht, daß das Auftreten dieser beiden
Leisten an die Verdoppelung des protomeren Haupthöckers gebunden
ist, Ist dieser Höcker noch einfach, dann zieht eine einzige mehr oder
weniger kräftig entwickelte Leiste vom protomeren zum deuteromeren
Haupthöcker; bei Verdoppelung des protomeren Haupthöckers scheint
es, als würde die Leiste der Länge nach gespalten, und es entsteht
die V-förmige Struktur, die man an den in Fig. 1 — 4 abgebildeten
Molaren antrifft, Zwischen den beiden Leisten findet sich eine Ver-
tiefung, die als die Zentraldepression zu bezeichnen ist und worin
die Furche, welche die beiden bukkalen Höcker voneinander trennen
kann, einmündet,
Wenn nun als Äußerung höherer Differenzierung die Neben-
spitze erscheint, dann liegt dieselbe anfänglich als ein Akzessorium
1) Schlosser bemerkt (Die Affen, Leniuren usw., p. 39), daß bei Tarsius die
Molaren noch einen schwachen zweiten Innentuberkel tragen. Es scheinen somit
mit dem phylogenetischen Entwicklungsgang parallel gehende individuelle Varia-
tionen vorzukommen. Für Hapale erwähnt auch Schlosser das Fehlen des zweiten
Innentuberkels (1. c. p. 11).
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 73
der lingualen Hälfte des distalen Kronenrandes an. Es ist der so-
genannte Talon der Autoren. Unter den Halbaffen kann man das am
schönsten wahrnehmen bei Stenops (Tafel I, Fig. 5). Die Hauptmasse
der Krone besteht aus den im bekannten Dreieck angeordneten Höcker
Pa, Pp und D, es kommen dazu die Nebenspitzchen i, 2 und 3, die uns
hier nicht weiter interessieren. Die Nebenspitze 4 dagegen liegt als
ein mehr selbständiger Unterteil der Krone außerhalb dieses Drei-
ecks, wodurch der Hinterrand eine bedeutende Konkavität erlangt.
Es interessiert uns dabei am meisten, daß die Nebenspitze 4 durch
eine Furche vom übrigen Kronenteil abgegrenzt ist. Diese Furche ist
für die Vergleichung der Affenmolaren von der größten Bedeutung,
da sie gerade den Leitfaden bei dieser Vergleichung bildet. Ich werde
sie als „hintere Schrägfurche'''' andeuten. Auch die Bezeichnung von
Topinard: ,,Sillon postcretal" ist zutreffend, denn sie verläuft hinter
der Leiste, die von D nach Pp zieht. Gerade durch diese Leiste, welche
die vordere Begrenzung der Furche bildet, erscheint letztere nicht selten
sehr tief. Es darf verwundern, daß diese Furche für vergleichend-anato-
mische Zwecke bis jetzt so wenig benutzt worden ist. Auch nicht von
Schlosser, der doch auch auf den Entwicklungsgrad von 4 ein so
großes Gewicht legt. Die hintere Schrägfurche trennt bei Stenops
die Spitze 4 vollständig vom übrigen Kronenteil ab, fängt am etwas
abgerundeten lingualen Rand des Zahnes an und endet in der Mitte
des distalen Randes (Taf. I, Fig. 5). Da die Nebenspitze 4 überdies
bei Stenops noch niedriger ist als die drei übrigen Höcker, erscheint
sie als ein der Krone fremdes, derselben angewachsenes Element.
Gleiches ist noch der Fall bei Nyeticebus (Fig. 6) und Hemi-
galago (Fig. 7). Doch ist hier die Krone als ganzes mehr viereckig
geworden. Die Schrägfurche ist jedoch noch komplett, Trigon und
Talon der Autoren bilden noch zwei wohlgetrennte Komponenten
der Krone. Was das Leistensystem betrifft, besteht auch hier noch die
V-förmige Gestalt, nur läuft die vordere Leiste nicht direkt zum
vorderen bukkalen Höcker Pa, sondern verbindet sich mit der vorderen
Nebenspitze 3. Bei Hemigalago treffen wir im Verlaufe der hinteren
Leiste eine Bildung an, die bei den jetzt lebenden Primaten selten
ist, bei den eoeänen Formen jedoch ungemein häufig war. In der Mitte
nämlich besitzt diese Leiste eine höckerförmige Anschwellung, die
eine intermediäre Spitze bildet. Dieselbe ist auf keine der Grundspitzen
des Zahnes zurückzuführen, sie ist lediglich ein Produkt der hinteren
Leiste. Diese intermediäre Spitze fand ich auch als Varietät bei Ateles,
Cebus und Mycetes wieder (Fig. 96).
Ich muß hier kurz einige Bemerkungen über diese intermediäre
Spitze einschalten, da sie nur ausnahmsweise bei den heutigen Pri-
maten in rudimentärer Form vorkommend, bei den eoeänen Primaten
dagegen ein ziemlich konstantes Merkmal der Molaren bildete. Von
Schlosser wird sie als Zwischentuberkel bezeichnet, und Osborn
führt sie als Metaconulus an. Es wird jedoch sowohl von Schlosser
als von Osborn zu den intermediären Höckerchen eins gerechnet,
welches meiner Meinung nach nicht dazu gehört. So schreibt z. B.
Schlosser 1. c. S. 21 von den oberen Molaren von Hyopsodus: Im
Oberkiefer tragen die Molaren außer den beiden Außenhöckern und dem
ursprünglichen Innenhöcker noch einen zweiten Innentuberkel und
74 Erstes Hauptstück.
außerdem noch zwei1) Zwischentuberkel im Zentrum und am Vorder-
rande des Zahnes gelegen." Und auch bei Osborn heißt es: „The
trigon was supplementing its bunodont equipment by the addition of
the little intermediate cusps „protoconule" and „metaconule"2)." Es
sind die beiden Zwischentuberkel von Schlosser identisch mit jenen
von Osborn, der „protoconule" ist jener am Vorderrande, der „meta-
conule" jener im Zentrum. Scott3) spricht ebenfalls von zwei „inter-
mediate conules, an anterior and posterior" bei den Prämolaren, und
schließt sich ganz an Osborn an, wenn er sagt: In position these
conules correspond to the proto-and metaconules of the molars, but
are obviously not homologous with them" (1. c. S. 413). Nun muß
ich mich bezüglich der Dignität beider Spitzen gegen die Deutung der
genannten Autoren erklären, denn ihrem Ursprung nach sind sie ein-
ander nicht gleichwertig. Das „Zwischenhöckerchen am Vorderrande"
von Schlosser, identisch mit dem „Protoconule" von Osborn, ist
in Wirklichkeit die primäre vordere Nebenspitze j des Deuteromer,
und dasselbe kommt auch bei den heutigen Halbaffen nicht so ganz
selten vor. Aber der „Zwischentuberkel im Zentrum" von Schlosser,
das ist der Metaconule von Osborn, läßt sich nicht auf eine primäre
Spitze oder einen solchen Höcker zurückführen, er hat sich aus dem
hinteren Bein des V-förmigen Leistensystems differenziert, er ist somit
eine „Leistenbildung", wie wir solche auch an anderer Stelle des Mahl-
zahnes bei anderen Af f enges chlechtern antreffen werden. Beide Bil-
dungen sind aber nur scheinbar, besonders durch die harmonische
Lagerung, welche sie im Reliefbild der Krone öfters einnehmen, gleich-
wertig. Mit der vorderen, dem „protoconule" von Osborn werden wir
uns an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen und uns auf das hintere
der „metaconule" beschränken. Ich führe es weiter einfach als i an.
Unter den eocänen Primaten scheint es, nach den Abbildungen von
Osborn (1. c. S. 159), sich schon bei den so einfach gebauten trigono-
donten Zähnen von Anaptomorphus differenziert zu haben.
Weiter kommt es unter den amerikanischen eocänen Primaten
noch vor bei Pelycodus, Notharctos und bei noch einem Geschlecht,
das von Osborn ebenfalls als Notharctos (sp?) angeführt wird, aber
mir unrichtig bestimmt zu sein scheint4). Besonders kräftig ist es
weiter beim Geschlecht Hyopsodus entwickelt. Nicht weniger ausgebildet
erscheint es bei dem europäischen eocänen Geschlecht Microchaerus.
In der ausführlichen Beschreibung der Zähne dieser Form, welche wir
Schlosser und Leehe verdanken, wird auch von einem Vorkommen
zweier Zwischentuberkel gesprochen. „Bei Microchaerus erinaceus,
heißt es bei Leehe 1. c, S. 156, haben Mi und M2, zwei Außen- zwei
1) Spatiinierung von mir.
2) C. 0. 1907, S. 82.
3) W. B. Scott, The evolution of the premolar teeth in mammals. Proc.
Acad. nat. Sc. Philadelphia 1892.
4) Es kommt die Abbildung der Zähne dieses Geschlechts vor in C. 0. 1907,
p. 160 und in Bull. Am. Mus. Nat. Hist. 1902, p. 191. In diesen — identischen -
Figuren gibt der Autor die Abbildung der Prämolaren und Molaren von: A Peli-
codus frugivorus, B Notharctos nunienus und C Notharctos sp. indet. Nun kann
das sub C angeführte Gebiß keinem Notharctos entstammen, denn es zeigt der
hintere Prämolar desselben zwei Außenhöcker (Pa und Pp), während dieser Zahn
bei Notharctos nur einen einzigen Außenhöcker besitzt.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 75
Zwischen- und zwei Innenhöcker"1). Auch Schlosser spricht, 1. c.
S. 32, von zwei Zwischenhöckern. Ich hebe noch einmal hervor, daß
eine solche Andeutung als Charakterisierung des Reliefs vollauf gerecht-
fertigt ist, aber daß man dabei nicht aus dem Auge lassen darf, daß
der sogenannte vordere Zwischenhöcker eine primäre Spitze darstellt,
während der hintere nur eine gewissermaßen auf einen Höcker konzen-
trierte Leiste ist. Nach den Angaben von Schlosser, Leehe und Os-
born fehlt die intermediäre Spitze bei Adapis, doch ist die hintere
von D bis Pp ziehende Leiste noch deutlich entwickelt2), während
auch die Spitze 4, sei es ziemlich klein, anwesend ist. In beiden Hin-
sichten weicht Megaladapis von Adapis ab. Denn von diesen oberen
Molaren sagt Forsyth Major: „The superior molars are of a simple
tritubercular type, there being two external and one internal cusp,
but from its anterior side a crest extends towards the outer part of the
anterior external cusp.3)". Rekapitulieren wir also die oben gegebenen
Tatsachen, dann gibt es unter den bisher bekannten eocänen Primaten
nur die Geschlechter Adapis und Megaladapis, bei denen das inter-
mediäre Höckerchen i fehlt, alle anderen weisen es in bisweilen sehr
kräftiger Entwicklung auf. Dadurch unterscheiden sich die ausgestor-
benen Halbaffen wohl stark von den rezenten, denn hier bildet es
gerade eine Ausnahme, ich traf es bei Hemigalago und Galago in
schwacher Andeutung an.
Über die Herkunft dieses Höckerchens und über die genetische
Beziehung zu den übrigen, äußern die Autoren sich nicht. Schlosser
vermeldet einfach ihr Auftreten „bei manchen Prosimiern4"). Nur
Osborn spricht als seine Meinung aus, daß „the additional secundary
cusps (protoconule [Spitze 3 mihi] and metaconule [Spitze i mihi]
evidently have no homology with each other5"). Dieser Meinung schließe
ich mich an, aber auf Grund davon, daß eines dieser Höckerchen
nicht, wie Osborn es auffaßt, ein sekundäres ist, sondern ein primäres.
Nur das andere (metaconule) ist als eine wirkliche Sekundärbildung
zu betrachten. In der weiteren Entwicklung des Primatenstammes
hat dieses intermediäre Höckerchen keine Rolle mehr gespielt, entweder
stammen die heutigen Primaten von solchen Formen ab, bei denen es
nicht vorkam, oder es hat sich im Laufe der Zeit wieder ausgeglichen
und die von D bis Pp ziehende Leiste ist wieder zu seiner primitiven
Gestalt zurückgekehrt. Der Umstand, daß ich es als Variation auch bei
Mycetes, Cebus und Ateles noch angetroffen habe (s. Tafel I, Fig. 96),
kann in zweierlei Weise gedeutet werden, entweder als Atavismus
oder als Äußerung eines der Zahnentwicklung allgemein innewohnenden
Vermögens, die hintere Leiste zu einem Tuberkel zu konzentrieren6).
In anderen Säugetierordnungen (z. B. Ungulaten) spielt jedoch dieses
intermediäre Höckerchen, wie auch die bei den Primatenzähnen eine
1) W. Leche, Untersuchungen über das Zahnsystem lebender und fossiler
Halbaffen. Festschr. f. Gegenbaur, III.
2) Vgl. C. 0. 1907, S. 158, Fig. 128.
3) Forsyth Mayor, On Megaladopis madagascarensis. Trans. Roy. Soc,
London 1894, Vol. CV.
4) M. Schlosser, Die Differenzierung des Säugetiergebisses. Biol. Centralbl.
1890, Bd. IV.
5) 1. c. S. 41.
ß) Bei der Besprechung der oberen Gebißreihe der Platyrrhinen werde
ich noch einmal auf das intermediäre Höckerchen zurückkommen.
76 Erstes Hauptstück.
unbedeutende Stelle einnehmende vordere Nebenspitze des Deutero-
mer j, eine große Rolle. Doch gehe ich auf diese Frage nicht ein. Kehren
wir nach diesem Exkurs wieder zum Studium des Leistensystems der
Primatenmolaren zurück.
Unter den wahren Affen, wenn wir die Arktopitheken weiter außer
acht lassen, weisen die Molaren von Chrysothrix noch die meist primi-
tive Gestalt auf. Denn auch bei diesen platyrrhinen Affen trifft man
zunächst das Hauptmerkmal an; eine vollständige hintere Schrägfurche,
wodurch die Spitze 4 noch immer von dem auf dem Trigon sich findenden
Leistensystem abgetrennt bleibt, während sie weiter, infolge ihrer ge-
ringen Größe, noch mehr als ein Akzessorium zur Krone erscheint.
Das Leistensystem ist noch V-förmig, das vordere Bein nimmt den
Vorderrand der Krone ein.
Ein weiterer Fortschritt findet sich bei Ateles (Fig. 9a). Die
Nebenspitze 4 ist hier nämlich von ungefähr gleicher Größe geworden
wie die drei übrigen Höcker und demzufolge ist die Form der Molaren
eine viereckige geworden. Als primitives Merkmal findet man aber
an diesem Zahn noch in den meisten Fällen eine fast vollständige hintere
Schrägfurche, wodurch die Spitze 4 von einer Beziehung zum Leisten-
system auf dem Trigon abgetrennt bleibt1). Es ist allerdings das vordere
Bein desselben sehr schwach, läuft im Vorderrand des Zahnes aus,
wodurch dessen zentrale Depression bis zum Vorderrand reicht und
hier nur einen schwach angedeuteten Abschluß findet. Die zentrale
Depression erscheint dadurch im ganzen mehr auf den vorderen Teil
des Zahnes verlegt, ein Merkmal, das allen anderen Platyrrhinen eben-
falls eigen ist. Wenn bei Ateles die intermediäre Spitze entwickelt ist,
welche ich oben bei Hemigalago beschrieb, dann ist, wie aus Fig. 96
ersichtlich, die hintere Schrägfurche in der Mitte unterbrochen. Da
solches aber kein normales Vorkommen ist, kann dieser Zustand weiter
außeracht gelassen werden. Vom Geschlecht Callithrix besitze ich
keinen Schädel, was ich bedaure, da Schlosser von den oberen Molaren
dieses Geschlechtes schreibt, daß „auch noch die Zwischenhöcker
vorhanden sind" (1. c. S. 12). Findet sich dann auch hier als Norm,
was ich bei Ateles als individuelle Variation auffand? Der Molar von
Ateles zeigt, wie gesagt, als progressive Erscheinung die Volum-
zunahme von 4, was schon ein wesentlicher Schritt auf dem Wege
der Assimilierung dieses Höckers an den drei übrigen bedeutet. Dazu
kommt noch die Tatsache, daß die hintere Schrägfurche zwar der Höcker 4
von den übrigen trennt, aber die Furche erreicht den distalen Rand
des Zahnes nicht mehr, sie endet in kurzer Entfernung von ihm. Die
Abgrenzung des hinteren lingualen Tuberkels vom übrigen Teil der Krone
ist somit nicht mehr eine absolut vollständige. Jedoch eine Beziehung
zum Leistensystem ist noch nicht zustande gekommen.
Wenn ich nun die Progression in der Entwicklung der Krone
systematisch verfolge, dann ist jetzt die Gruppe der Anthropoiden,
Gibbon und der Mensch an der Reihe. Die bezüglichen Molaren sind
in den Fig. 10 — 14 auf Tafel I abgebildet. Das Kennzeichnende in der
Struktur dieser Zähne ist folgendes : Die Spitze 4 ist nahezu von gleicher
Größe als die drei übrigen, eine Beziehung zum primitiven Leisten-
1) Ich mache bei diesen Auseinandersetzungen von dem Begriff „Trigon"
nur der Bequemlichkeit der Beschreibung wegen Gebrauch.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 77
system hat sie jedoch noch nicht erlangt, denn durch die hintere Schräg-
furche wird sie vollständig vom hinteren Bein des Leistensystems
abgeschlossen. Das ist ein Merkmal der Molaren der höchsten Pri-
matengruppe, das bestimmt als ein primitives betrachtet werden muß.
Nun ist bei den verschiedenen Geschlechtern dieser Gruppe die Aus-
bildung dieser Furche eine etwas differente. Als Regel darf gelten,
daß die Furche tiefer und vollständiger ist, je mächtiger das hintere
Bein des Leistensystems — die Crista obliqua der Autoren - - ist.
Doch schneidet die Furche bei normal gebauten Zähnen nicht mehr
im distalen Rand des Zahnes ein, sondern endet in geringer Entfernung
von diesem, nicht selten unter Bildung eines kurzen transversalen
Furchenstückes. Beim Menschen — und besonders an seinem zweiten
Molaren — kann im Anschluß an die sehr variable Entwicklung des
Höckers 4 die Schrägfurche wieder vollständig werden, und bekannt-
lich kann bei diesem Molaren der linguale hintere Höcker vollständig
fehlen. Es ist schon von vielen Autoren darauf hingewiesen, daß so
etwas jedoch nur beim Menschen vorkommt. Die Tafelfig. 10 — 14
geben einen Eindruck von dem Entwicklungsgrad der Schrägfurche.
Am stärksten fand ich sie beim Gorilla, wo sie meistenteils mit dem kurzen
transversalen Endstück abschließt. Dann folgt Siamang, von dem ich
unten eine höchst interessante Variation beschreiben werde. Beim
Schimpansen ist die Furche weniger tief, zieht sich vom Hinterrande
des Zahnes weiter zurück, wodurch der Höcker 4 schon mehr dem
übrigen Kronenteil dem hinteren Zahnrande entlang inkorporiert
wird. Am schwächsten schließlich ist die Furche beim Orang entwickelt.
Aber es muß ausdrücklich betont werden, daß diese Regression der
Furche beim Orang, zum Teil auch beim Schimpansen, nicht die Folge ist
einer Verbindung, welche die Spitze 4 mit dem Leistensystem be-
kommt, sondern lediglich eine Begleiterscheinung ist der geringeren
Reliefentwicklung des Orangmolaren überhaupt. Bekanntlich wird
hier die weniger kräftige Höckerentwicklung durch die reichhaltigen
Faltungen der Emaillbekleidung kompensiert. Was den Menschen
anbelangt, besitzt dieser am ersten Molaren wohl immer eine gut aus-
gebildete Schrägfurche, die im Verhältnis zur Größe des Zahnes
nicht weniger tief ist als jene beim Gorilla oderSiamang. Fast aus-
nahmslos schließt sie mit einem transversalen Endstück ab in kurzer
Entfernung des Hinterrandes.
Das Leistensystem zeigt bei der genannten Primatengruppe
große Übereinstimmung. In seiner Beschreibung vom Gebiß des
Menschen und der Anthropoiden beschreibt Adloff1) das Leisten-
system nur beim Schimpansen (1. c. S. 681) und beim Gorilla (S. 78). Es
fehlt auch bei Orang und Siamang nicht. Als allen gemeinsames und die
Entwicklungsstufe dieser Molaren kennzeichnendes Merkmal muß die
Tatsache gelten, daß der Höcker 4 noch nicht ins Leistensystem ein-
bezogen ist. Die vordere Leiste ist aber immer weniger kräftig entwickelt,
fehlt sogar beim Menschen meistens und erscheint nicht selten in
zwei Stücke aufgelöst; das linguale zieht vom Höcker D zum Vorder-
rand, das zweite geht vom Höcker Pa aus, zieht dem Vorderrand parallel
und begrenzt die Fovea anterior des Zahnes.
1) P. Adloff, Das Gebiß des Menschen und der Anthropornorphen. Berlin
1908.
78 Erstes Hauptstück.
Eine höhere Entwicklungsstufe der Kronenstruktur wird erreicht,
wenn der Höcker 4 Verbindung mit dem Leistensystem erlangt, wodurch
eine typische Umbildung desselben eingeleitet wird. Offenbar ist diese
Progression mehrere Male im Laufe der Entwicklung zustande ge-
kommen, denn sie findet sich bei Halbaffen und Platyrrhinen und muß
auch einmal bei den Katarrhinen stattgefunden haben. Die Weise,
in der die Verbindung in je dieser Gruppen zustande kommt, dringt
zur Annahme einer mehrfach selbständigen Entwicklung, wie aus
dem folgenden hervorgehen wird.
Unter den Halbaffen trifft man diese höhere Form der Molaren-
struktur bei den Geschlechtern Avahis (Fig. 15), Propithecus (Fig. 16)
und Indris (Fig. 17), welche in der genannten Reihefolgen den Diffe-
renzierungsgang zur Schau bringen, an. Bei Avahis ist die Schrägfurche
nicht mehr komplett, ihr Anfang findet sich noch an der lingualen
Seite des Zahnes, aber auf der Kaufläche fehlt sie. Es hat nämlich die
Spitze 4, welche, wie die Spitze D, mondsichelförmig geworden ist,
mit seinem vorderen Ende sich verbunden mit der hinteren Leiste,
die von der Spitze D ausgeht, Dadurch ist die hintere Schrägfurche
unterbrochen, und erscheint auf die linguale Fläche des Zahnes zu-
rückgedrängt. Durch diese Verbindung ist die Spitze 4 den übrigen
drei schon mehr gleichwertig geworden, nur eine geringere Größe
verrät noch ihren ursprünglich untergeordneten Rang. Bei Propithecus
und Indris geht jedoch auch dieses Merkmal verloren, und es wird die
Äquivalenz noch mehr erreicht durch das Verschwinden der hinteren
Leiste, welche bei Indris am vollständigsten ist. Aber die Verbindung,
welche bei Avahis durch Vermittlung jener Leiste zwischen den Höckern!)
und 4 zustande gekommen war, bleibt bestehen, und bei Indris haben
die beiden jetzt gleichgroßen Höcker die Form von Halbmonden, welche
mit ihren zugespitzten Enden ineinander übergehen. Beim letzt-
genannten Halbaffen hat somit das Kronenrelief ein einheitliches Gepräge
bekommen, die Spitze 4 hat ganz ihren Charakter von Akzessorium
verloren, die hintere Schrägfurche ist als solche nicht mehr zu er-
kennen, nur an der lingualen Fläche des Zahnes findet sich ein letztes
Rudiment derselben. Wir haben es bei Indris mit einer Zahnform
zu tun, die einige Verwandtschaft zu den selenodonten zeigt. Denn
auch vom ursprünglichen Leistensystem ist noch kaum eine geringe
Andeutung übrig. In seiner sehr genauen Beschreibung vom Gebiß
einiger Halbaffen, welche, wohl des wTenig charakteristischen Titels
wegen, in der Literatur fast gar keine Berücksichtigung gefunden hat,
sagt Huxley von den Molaren von Indris: Each pair of cusps is united
by a transverse ridge, and there is no oblique ridge"1). Der Autor,
der in diesem Aufsatz auch dem Leistensystem der Molaren seine Auf-
merksamkeit widmet, hat offenbar von Indris ein Exemplar mit mehr
weniger abgekauten Zähnen benützt. Denn von den zwei transversalen
Leisten ist am mir vorliegenden Schädel, an dem das Dauergebiß noch
inkomplett ist (Caninus und dritter Molar stehen im Begriff durch-
zubrechen), nichts zu sehen. Bemerkenswert ist, daß auch Huxley
auf das Fehlen der hinteren schrägen Leiste bei Indris hinweist.
1) T. H. Huxley, On the Arctocebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 314.
London 1864.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 79
Einen von dem bei den Indrisinae etwas divergenten Entwicklungs-
gang weisen die Platyrrhinen auf, wie aus den Fig. 1 (18) (Mycetes), 19
(Nyctipithecus) und 20 (Cebus) auf Tafel I und Pithecia (Tafel I, Fig. 2)
ersichtlich. Das Hauptgewicht liegt auch hier wieder auf dem Verhalten
der hinteren Schrägfurche und der Spitze 4 zum Leistensystem. Bei
Mycetes durchquert das vordere Ende von 4 die Schrägfurche und ver-
bindet sich mit der von D nach Pp verlaufenden Leiste. Auf die hintere
Hälfte des Zahnes trifft man bei diesem Affen (man vgl. auch Tafel I,
Fig. 5 und 6) nicht selten das abgetrennte Stück der Schrägfurche
noch an. Ich vermißte dasselbe bei Nyctipithecus. Es stand mir aber
von diesem Geschlecht nur ein einziger, für diese Untersuchung brauch-
barer Schädel zur Verfügung. Wie bei Mycetes können auch bei diesem
Geschlecht individuelle Variationen bestehen. Auffallend ist es jedoch,
daß die hintere Leiste bei Nyctipithecus sehr deutlich die Neigung hat,
sich hinterwärts zu verschieben. Während sie bei Mycetes noch deut-
lich vom Höcker D ausgeht und schräg nach hinten und bukkalwärts
zum Höcker Pp zieht, scheint sie bei Nyctipithecus von letzterem aus-
zugehen, verläuft mehr transversal, und spaltet sich am lingualen
Ende gabelförmig, ein Ast verbindet sich mit D, der zweite mit 4.
Diese Struktur bildet die Vorstufe zu jener, welche man beim Geschlecht
Cebus und Pithecia antrifft. Hier ist die Äquivalenz der Spitze 4,
welche bei Mycetes und Nyctipithecus angebahnt wurde, eine voll-
kommene geworden, aber in anderer Weise als bei Indris. Denn es bleibt
die hintere Leiste bestehen, löst jedoch ihre Verbindung mit dem Höcker D
vollständig, und bringt jene mit 4 dagegen zur höheren Ausbildung,
so daß sie in rein transversalem Verlauf von Pp zu 4 zieht. Das haben
die Geschlechter Cebus und Pithecia gemeinsam. Des weiteren sind
jedoch die Molaren beider Geschlechter auffallend verschieden. Bei
Cebus ist die hintere Schrägfurche jetzt als solche von der Kaufläche
ganz verschwunden, der Abschnitt der sich auf der lingualen Fläche
fand, hat eine transversale Richtung angenommen, und strebt der
Furche zu, welche von der bukkalen Seite in die zentrale Depression
ausmündet. Mit der abgeänderten Beziehung der hinteren Leiste zu
den Kronenhügeln hat der Molar von Cebus ein ganz anderes Gepräge
bekommen als jener von Mycetes oder Ateles. So lange die hintere
Leiste, von D bis Pp ziehend, einen schrägen Verlauf hat, behält der
Molar noch immer etwas in seinem Äußeren von der ursprünglichen Drei-
eckform der Mahlzähne, und haftet der Spitze 4 noch immer etwas an
von ihrer ursprünglichen Bedeutung als Nebenspitze. Sobald jedoch
die Leiste ihr linguales Ende von D auf 4 verlegt hat, ist sozusagen das
Endziel des Differenzierungsganges der Mahlzähne bei den Primaten
erreicht, und 4 ist als ein den anderen Höckern gleichwertiges Element
in der Struktur des Kronenreliefs aufgenommen. Alle Spuren seiner
primitiven Natur sind verwischt. Am meisten spezialisiert sind wohl
die Molaren von Pithecia. Da von diesem Geschlecht gute Abbildungen
in der Literatur, soweit ich sehe, nicht vorliegen, gebe ich auf Tafel 1.
Fig. 2, 3 und 4 drei Figuren derselben in vergrößertem Maßstabe. Sie
sind nach einem Schädel von Pithecia nocturna angefertigt, der sich
im Zahnwechsel befand. In Fig. 2 sind die Oberkieferzähne in dreifacher
Vergrößerung gezeichnet, in Fig. 3 jene des Unterkiefers und in Fig. 4 der
erste untere Molar bei sechsfacher Vergrößerung. Sowohl im Ober- als im
Unterkiefer waren die Milchmolaren noch nicht gewechselt, die beiden
80 Erstes Hauptstück.
vordersten permanenten Molaren sind oben und unten schon da, die
oberen Incisivi sind gewechselt, der untere mediale ebenfalls, der laterale
steht im Begriff durchzubrechen. Für die Kenntnis der Kronenstruktur
also ein sehr wertvolles Objekt. Die bekannten Runzelungen des Emails,
welche diesen Zähnen Ähnlichkeit mit jenen des Orang verleiht, sind
besonders an den permanenten Molaren sehr schön zu sehen. Doch ist
die Übereinstimmung auf dieses Merkmal beschränkt, denn das übrige
Relief ist bei Pithecia und Orang grundverschieden. Die Hügel sind
an den Zähnen des amerikanischen Affen äußerst schwach entwickelt.
Die Kaufläche wird gleichsam durch einen erhabenen bukkalen und
lingualen Rand abgegrenzt. Die hintere Schrägfurche fehlt vollständig,
dagegen ist wie bei Cebus die hintere transversale Leiste deutlich zu
erkennen. Sie war wohl auch am dritten Milchmolaren da, aber ist
hier, ebenso wie die Emailrunzelungen abgekaut. —
Von den Geschlechtern Callithrix und Lagothrix besitze ich keinen
Schädel.
In fast noch vollkommenerer Weise als bei dem Geschlecht Cebus
unter den Platyrrhinen ist die Assimilierung von 4 bei der Familie
der Cercopithecidae zustande gekommen, wie aus den Fig. 21 (Semno-
pithecus und Colobus), 22 (Cercopithecus) und 23 (Cynocephalus, Inuus,
Macacus) auf Tafel I zu ersehen ist. Alle diese Molaren stimmen darin
überein, daß die Krone in vier gleichförmig gebaute Quadranten zer-
legt werden kann; die vier Höcker Pa, Pp, D und 4 nehmen ungefähr
die Mitte eines jeden Quadranten ein. Bei Semnopithecus und Colobus
sind überdies zwei Leisten anwesend, welche die beiden vorderen
respektive die beiden hinteren Höcker miteinander verbinden. Zwischen
beiden Leisten bildet sich ein Tal aus, an dessen Boden eine von der
bukkalen und lingualen Seite kommende Furche ausläuft. Bei Cerco-
pithecus ist diese Furche stärker ausgeprägt, die vordere und hintere
Querleiste sind in der Mitte vertieft und verschmälert, die Verbindung
der Höcker wird dadurch weniger evident, und bei den Cynocephaliden
ist dieser Prozeß noch weiter fortgeschritten, denn es ist zur Entstehung
einer kreuzförmigen Furche gekommen, welche die Felder der vier
fast immer gleichgroßen Höcker scharf voneinander trennt. Die Molaren
aller katarrhinen Primatengeschlechter mit Ausnahme der Anthropoiden
und der Hominiden haben somit das Endziel des Entwicklungsganges:
vollständige Äquivalierung der Spitze 4 an den drei übrigen und Verlust
jeder Andeutung des ursprünglichen Charakters von 4 als Nebenspitze
erreicht. Sie sind gleichsam als Endformen zu betrachten.
Nun erhebt sich die Frage, in welcher Beziehung das symmetrische
Leistensystem von Semnopithecus zu dem V-förmigen der primitiver
gestalteten Zähne steht. Daß die Leiste, welche von D nach Pa verläuft,
also die vordere, homolog ist der gleichverlaufenden bei den mehr
primitiven Zahnformen, ist wohl nicht zu bezweifeln. Aber die hintere
Leiste, welche die Spitze 4 mit Pp verbindet? Wir stehen hier vor
einer Frage, welche für eine Einsicht in die verwandtschaftlichen Be-
ziehungen der Primatengeschlechter sehr bedeutungsvoll ist, denn
das Vorkommen des Leistenkomplexes auf den Molaren zeigt einen
unverkennbaren Entwicklungsgang: die schon mehrfach betonte Ten-
denz der Assimilation von 4. Je weiter dieser Vorgang fortgeschritten
ist, desto höhere Stufe nimmt das Gebiß ein. Aus diesem Grunde sind
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 81
die Zähne der Anthropoiden und des Menschen gewiß primitiver als
jene aller anderen katarrhinen Primaten.
Nun findet man unter den rezenten Geschlechtern dieser Primaten-
gruppe keine Form, welche eine Zwischenstufe zwischen den Anthro-
poiden und der Familie der Cercopithecidae einnimmt. Kein einziges
Geschlecht gibt durch sein normales Kronenrelief eine Auskunft über
die Entstehungs weise von der hinteren Querleiste der Semnopitheciden.
Es konnte somit möglich sein, daß diese hintere Querleiste zwischen
Pp und 4 abzuleiten ist von der primitiven hinteren Schrägleiste
zwischen Pp und D, wie das bei den Platyrrhinen (Cebus) zweifelsohne
der Fall ist, Eine zweite Möglichkeit ist diese, die hintere Querleiste
sei eine Neubildung, welche ganz unabhängig von der hinteren Schräg-
leiste, wTelche reduziert worden ist, sich entwickelt hat. Nun ist letzteres
in der Tat der Fall. Ich basiere die Aussage auf interessante Varia-
tionen, welche bei den ersten Molaren von Siamang zu Beobachtung
kamen und weiter auf die Kronenstruktur von Dryopithecus, welche
wir aus der genauen Beschreibung von Branco kennen.
Die bezüglichen Variationen sind in Fig. 26 abgebildet. In Fig. a
ist das normal vorkommende Kronenrelief von Siamang wiedergegeben.
Der Höcker D steht durch eine vordere Leiste mit Pa, und durch die
Fig. 26. Siamanga syndaetylus. Drei erste Molaren mit verschiedenem Kronen-
relief, a Normal, b Zwischenstufe, c Semnopithecus-Typus.
hintere Schrägleiste mit Pp in Verbindung. Die Schrägfurche trennt
die Spitze 4 fast vollständig vom übrigen Teil der Krone. Einige Male
traf ich aber den in Fig. 26 b wiedergegebenen Zustand. Die hintere
Schrägleiste ist noch entwickelt, in ihrer Mitte aber erniedrigt. Dagegen
geht von dem Höcker Pp eine kurze Leiste aus in der Richtung des
Höckers 4, welcher ebenfalls eine Leiste aussendet in der Richtung
von Pp. Aber es ist noch nicht zu einer Zusammenfließung beider Leist-
chen oder Kämmchen gekommen. Nur ist in ihrer Verbindungslinie
die hintere Schrägfurche unterbrochen. Das hintere, bukkale Ende ist
zu einer selbständigen, dem Hinterrand des Zahnes dicht genäherten.
überwiegend transversal verlaufenden Furche geworden. Unter 40 gut
erhaltenen ersten oberen Molaren kam diese Variation achtmal vor,
und weiter zweimal ein Zahn mit dem in Fig. 26c skizzierten Relief.
Die beiden von Pp und 4 ausgehenden Leistchen haben sich miteinander
verbunden und setzen eine hintere Querleiste zusammen, ganz wie wir
sie bei den Semnopitheciden kennen gelernt haben; die ursprüngliche
hintere Schrägleiste dagegen ist fast ganz verschwunden. Die hintere
Schrägfurche ist noch in einer kurzen transversalen Furche vor dein
Hinterrande zu erkennen, und das linguale Stück derselben ist aus
seiner ursprünglichen Bahn in eine mehr transversale abgelenkt worden,
um sich ungefähr im Zentrum der Krone mit der von der bukkalen
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. . 6
82 Erstes Hauptstück.
Seite herkommenden, die Hocker Pa und Pfi trennenden Furche zu
verbinden. In diesen Fällen hat der Molar von Siamanga die typischen
Merkmale eines Semnopithecuszahnes angenommen, und wenn isoliert
aufgefunden, würde er gewiß nicht als ein Gibbonzahn diagnosti-
ziert werden, aber zweifelsohne einem Vertreter des Geschlechtes
Semnopithecus zugewiesen. Sehr bemerkenswert ist weiter die folgende
Beobachtung. Einer der beiden Schädel, an dem die letztbeschriebene
Variation aufgefunden wurde, stammte von einem jungen Tier,
das noch im Besitze seines Milchgebisses war. Und nun stellte es sich
heraus, daß der zweite Milchmolar ebensoweit in der Richtung des
Semnopithecusmolaren fortgeschritten war, als der erste Dauermolar.
Solche Tatsachen weisen wohl darauf hin, daß die Persistenz primitiver
Merkmale im Milchgebiß doch nicht so stark ist als es in der Literatur
öfters vorgestellt wird. Wir haben es hier mit einer bestimmt gerichteten
Variation von unzweifelhaft progressiver Natur zu tun, und sie äußert
sich gleichzeitig im Milch- und Dauergebiß. Das ist wohl als ein Beweis
zu betrachten, daß die Verschiedenheiten zwischen Milch- und Dauer-
molaren, wenn sie vorkommen, nicht im Sinne von Progression oder
Konservatismus ursprünglicher Zustände zu deuten sind. Die Beispiele,
welche dafür angeführt werden (Cheiromys u. a.) müssen meines Er-
achtens von einem anderen Gesichtspunkt aus be-
trachtet werden. Ich werde wohl noch Gelegenheit
haben, einmal auf diesen Punkt zurückzukommen.
Die Variationen von Siamang werfen Licht
auf die Beziehung der hinteren Querleiste der Cerco-
pithecidae zu der hinteren Schrägleiste der Anthro-
poiden. Bei den Platyrrhinen (Cebus) ist die die
Fi". 27. Dryo- Höcker Pp und 4 verbindende Leiste keine Neu-
pithecus. Ober- bildung, es ist die hintere Schrägleiste, welche seine
kiefermolar. linguale Endstätte von D auf 4 verlegt hat. Aber
(Nach Branco.) j3ej ^en Katarrhinen ist die scheinbar identische Leiste
eine Neubildung, die entstanden ist unter gleichzeitigem
Verlust der primitiven hinteren Schrägieiste. In dieser einfachen Relief-
erscheinung haben wir es somit wieder mit einem prägnanten Beispiel
von Konvergenz zu tun. Die Variationen bei Siamang weisen uns
somit den Entwicklungsweg, welchen die Molaren der Semnopitheciden
zurückgelegt haben.
Sehr interessant sind nun in Verbindung mit dem Obenstehenden
die Abbildungen und die Beschreibung, welche Branco1) von den Ober-
kiefermolaren von Dryopithecus gibt (1. c. S. 35, Tafel I, Fig. 1 und 2).
Ich gebe in Fig. 27 eine vereinfachte Reproduktion der Branco sehen
Fig. 1. Denn an diesen Zähnen kommt sowohl die hintere schräge Leiste
als die hintere Querleiste vor. Durch die Anwesenheit der letzteren
fehlt die hintere Schrägfurche. Besonders an einem nicht abgeschliffenen
Exemplar (Branco, 1. c. Tafel I, Fig. 1) sind beide Kämme deutlich ent-
wickelt, doch auch am zweiten etwas abgekanteten, sind sie in der von
Branco gegebenen Abbildung beide noch zu erkennen. Und auf S. 36
erwähnt der Autor dann auch „den schrägen Kamm, welcher von dem
hinteren Außen- zum vorderen Innenhöcker verläuft, und den Quer-
1) W. Branco, Die menschenähnlichen Zähne aus dem Bohnerz der Schwä-
bischen Alb. Stuttgart 1896.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 83
kämm, welcher vom hinteren Außen- zum hinteren Innenhöcker hin-
übergeht". Der Autor beschreibt somit ausdrücklich die beiden Leisten.
Die Koinzidenz beider Kämme auf die Molaren von Dryopithecus
stellt ein für diesen Genus so spezielles Merkmal dar, daß ich mich der
Aussage Schlossers: es stellen die Dryopithecuszähne die menschen-
ähnlichsten unter allen Affenzähnen dar (1. c. S. 9) nicht völlig an-
schließen kann. Nach der Beschreibung, welche Dubois1) von den
Zähnen vom Palaeopithecus sivalensis gibt, sollten sich dessen Molaren
doch näher jenen des Menschen anschließen.
Es darf somit wohl als festgestellt betrachtet werden, daß der
hintere Querkamm bei den Cercopithecidae nicht wie bei den Cebidae
vom primitiven hinteren Schrägkamme abgeleitet werden darf, sondern
als eine Neubildung zu betrachten ist. Diese Tatsache scheint mir für
die Frage der verwandtschaftlichen Beziehungen beider Primatengruppen
äußerst wichtig.
In dem Obenstehenden ist die morphologische Entwicklung der
Primatenmolaren systematisch verfolgt worden. Ich hoffe, es ist mir
gelungen, die Überzeugung zu festigen, daß an dem Entwicklungs-
gang der Molaren ein leicht zu erkennendes Prinzip zur Basis liegt,
nämlich die Umwandlung der ursprünglichen dreieckigen Form in
eine mehr regelmäßig viereckige. Diese Ansicht ist nicht neu, sie bildet
auch den Kernpunkt der Cope-Os bornsehen Theorie. Aber in der
Weise, in der sich unsere weiteren Ansichten um diesen Punkt gruppieren,
besteht kein Anknüpfungspunkt zwischen den amerikanischen For-
schern und mir, weil unsere Auffassungen über die Entstehungs weise
der primitiven dreieckigen Zahnform grundverschieden sind. Während
meiner Ansicht nach die höhere Ausbildung der Molaren die unmittel-
bare Fortsetzung des Vorganges ist, welche die dreieckige Zahn-
form schuf, ist bei der Cope-Osbornschen Theorie der Entwicklungs-
prozeß in zwei Fragmente zerlegt. In jeder derselben herrschen ver-
schiedene Entwicklungsprinzipien vor.
Was die höhere Entwicklung der oberen Molaren der Primaten
anbelangt, kommt in derselben unbedingt dem Höcker 4 die Haupt-
bedeutung zu. Dieser Höcker, seiner Natur nach einst eine Nebenspitze
von untergeordnetem Wert, erhebt sich allmählich zu einer den drei
Grundhöckern der Molaren gleichwertigen Bildung. Und in diesem
Emporstreben sind deutlich zwei Phasen zu unterscheiden. Während
der ersten wächst der 4-Höcker bis zur Größe der Haupthöcker aus,
bleibt jedoch noch immer durch eine Furche vom übrigen Teil der
Krone getrennt und verrät dadurch noch seine untergeordnete Stelle.
In der zweiten Phase verschwindet diese Trennungsfurche und es
bekommt der 4-Höcker Beziehung zum Leistensystem. Und einmal
in dieses System einbezogen, liegt der Weg zur vollständigen Äqui-
valierung des ^-Höckers an den drei Grundhöckern des Molaren offen.
Ich mache absichtlich noch einmal auf diese Hauptlinie in dem
Entwicklungsgang der Primatenmolaren aufmerksam. Denn jener
Zahn muß als am meisten progressiv betrachtet werden, der dem End-
ziel dieses Entwicklungsganges am nächsten kommt. Und wenn wir
an diesem Maßstabe das Gebiß der Anthropoiden und des Menschen
1) E. Dubois, Über drei ausgestorbene Menschenaffen. Neues Jahrbuch
für Mineralogie, Geologie und Paläontologie 1897, Bd. I, S. 86.
6*
84 Erstes Hauptstück.
prüfen, dann erscheint die Konsequenz unabweisbar, daß von allen
katarrhinen Primaten das Gebiß gerade dieser Primatengruppe am
meisten primitiv sich erhalten hat. Von einer Entstehung des Anthro-
poiden- und Hominidengebisses aus einer Form, welche jener der jetzt
lebenden Cercopithecidae entspricht, kann daher meiner Meinung
nach keine Rede sein. Ich kann mir den Annäherungspunkt dieser
beiden Linien der altweltlichen Affen nicht anders denken, als am
spätesten an der Basis der katarrhinen Primatengruppen überhaupt.
Vielleicht liegt es jedoch noch weiter hinterwärts und fällt in den
Lemuridenkreis. Jedenfalls ist, was das Gebiß betrifft, Progression
der Molarenform nicht das Merkmal des Gebisses von Anthropoiden
und Hominiden gewesen. Ich werde jedoch an dieser Stelle auf die
systematische Anreihung der uns bekannten ausgestorbenen und der
jetzt lebenden Primat n nicht weiter eingehen. Schon die Tatsache,
daß ich bis jetzt nur über die oberen Mo aren handelte, genügt, um mich
davon abzuhalten.
Es ist in der oben gegebenen Darstellung der Entwicklung von
den oberen Molaren mehr als es bis jetzt in der Literatur üblich war,
das Leistensystem der Krone gewürdigt worden. Es war deshalb eben
für mich ein Führer, der mich den dargestellten Entwicklungsweg zu
tracieren half und wodurch die Stellung des hinteren Innenhöckers
(des ^-Höckers) meiner Meinung nach im rechten Licht erschien. Ich
kann mich dann auch nicht der Auffassung jener Autoren anschließen,
welche sich vorstellen, als sollte dieser Höcker bei den höheren Primaten
ein reduziertes Element in der Kronenstruktur darstellen. Der Molar
der Anthropoiden und Hominiden ist ein primitives Gebilde. Nichts
weist uns darauf hin, daß es einmal die höhere Entwicklungsstufe ein-
genommen hat, welche die Molaren der Cercopithecidae einnehmen.
Ich kann mich dann auch nicht der Ansicht Gaudrys anschließen,
wenn er sagt1): ,,Sur les quatre denticules dont se compose une arriere-
molaire superieure, il y en a im qui s'est successivement attenue: le
second denticule interne. Tres grand chez l'Oreopithecus devient
moindre chez le Dryopithecus et l'Orang-outan; il est saillant mais
rapetisse chez le Gorille et le Gibbon; et diminue encore chez le Chim-
panze, im peu plus chez 1' Australien, et comme l'a annonce le premier
le professeur Cope, c'est chez rhomme blanc qu'il est le plus reduit."
Die verschiedenen Entwicklungsgrade des ^-Höckers bei den Anthro-
poiden dürfen wir nicht zu einem Stückchen Entwicklungsgeschichte
derart anreihen, daß hieraus eine Reduktion des hinteren inneren
Höckers in systematischer Weise folgen würde. Es sind nur die bei den
verschiedenen Gattungen auftretenden Varianten auf dem Grundtypus,
Äußerungen des spezifischen Charakters des Gebisses als Ganzes.
Nur darin möchte ich Gaudry beistimmen, daß beim Menschen der
^-Höcker Neigung besitzt, wenigstens im zweiten und dritten Molaren
wieder ausgeschaltet zu werden. Doch glaube ich, daß man es hier mit
einer Erscheinung zu tun hat, welche nicht als die Fortsetzung eines
schon bei den Anthropoiden wirksamen Vorganges zu deuten ist,
s ondern mit einer, welche bei unserem Geschlecht ihren Anfang genommen
hat. Näheres darüber werde ich in der folgenden Studie bringen.
1) A. Gaudry, Sur la similitude des dents de rhomme et de quelques ani-
maux. L' Anthropologie 1901, T. XII, p. 514.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 85
Ehe wir jetzt zum Studium der unteren Zähne übergehen, er-
übrigt es sich, noch die Bedeutung einer Erscheinung an den oberen
Molaren zu untersuchen, von der wir bis jetzt geschwiegen haben, näm-
lich des Carabellischen Höckerchens.
D. Das Carabel tische Höckerchen.
Wir können die Besprechung der oberen Molaren nicht abschließen,
ohne auf das Vorkommen und die Bedeutung jener Bildung einge-
gangen zu sein, die zuerst an den oberen Molaren des Menschen von
Carabelli beschrieben worden ist1) und allgemein unter dem Namen
dieses Autors bekannt ist. Diese Bezeichnungsweise verdient den
Vorzug vor jener, die vom Autor selbst davon gegeben ist: „anomales
Höckerchen", denn einstweilen gibt es gelegentlich der anomalen
Spitzen und Höcker an den oberen Molaren mehrere, und weiter ist
die Bildung, sei es in verschiedenem Entwicklungsgrad, beim Menschen
so häufig, daß sie kaum als etwas Abnormales zu betrachten ist. Über
die Häufigkeit des Auftretens und die verschiedenen Modifikationen,
worin es erscheint, worüber uns Batujeff2) schon ausführlich unter-
richtet hat, werde ich in der folgenden Studie näheres auf Grund von
eigenen Beobachtungen mitteilen. Nur sei hier kurz mitgeteilt, daß ich
in dem strittigen Punkt, ob das Höckerchen je das Niveau der Kau-
fläche erreicht, mich Batujeff und Zuckerkandl3) anschließe, die
eine solche starke Ausbildung verneinen. Anderer Meinung ist Ad-
loff4). Es kommt bei Entscheidung dieser Frage natürlich zunächst
darauf an, daß man vollständig intakte Kauflächen in genügender
Zahl zu untersuchen Gelegenheit hat. Ich habe das an Tausenden von
Molaren tun können und, wie gesagt, fand ich, daß bei unversehrter
Kronenfläche Carabelli bei kräftigster Entwicklung niemals bis zum
Niveau der Spitze des lingualen Vorderhöckers reichte. Damit soll
natürlich nicht gesagt sein, daß es an dem Kauakt sich nicht beteiligt.
Eher trifft das Gegenteil zu. Je nachdem es mehr oder weniger kräftig
entwickelt ist, beteiligt es sich mehr oder weniger bald nach Abschlei-
fung des vorderen Innenhöckers an diesem Akt, aber unmittelbar
nach dem Durchbruch des Zahnes erreicht es die Reibungsebene nicht.
Die ganze Frage scheint mir jedoch von untergeordnetem Wert zu sein.
Ich werde mich im folgenden auf das Auftreten dieses Höcker-
chens im allgemeinen und auf eine Besprechung der Bedeutung desselben
beschränken. Daß Carabelli nicht ausschließlich beim Menschen auf-
tritt, wie es von de Terra5) behauptet wird (1. c. S. 161), ist schon von
Batujeff gezeigt worden. Machen wir uns dazu zunächst klar, was
man als Carabellisches Höckerchen zu verstehen hat. Die vom Autor
selbst gegebene Definition ist die folgende: „ein Höcker, welcher an der
inneren Seite der Krone der oberen Mahlzähne, in der Regel derjenigen
1) Systematisches Handbuch der Zahnheilkunde, Bd. II, S. 107. "Wien 1842.
2) N. Batujeff, Carabellis Höckerchen usw. Bull, de l'Acad. Imp. de St.
Petersburg 1896, T. Y.
3) E. Zuckerkandl, Makroskopische Anatomie der Mundhöhle, in: Scheff.
Handb. d. Zahnheilkunde.
4) P. Adloff , Das Gebiß des Menschen und der Anthropomorphen, S. 14, 126.
5) P. de Terra, Beiträge zu einer Odontographie der Menschenrassen.
Inaug.-Diss. Zürich 1905.
86 Erstes Hauptstück.
des ersten, angetroffen wird und der mit seiner Basis nahe am Halse
des Zahnes entspringt und mit seiner Spitze etwas entfernt von der
Krone frei in der Mundhöhle steht." Carabelli beschreibt hier offen-
bar den höchsten Entwicklungsgrad der Bildung, und Mühlreiter1)
hat schon nachgewiesen, daß in der Mehrzahl der Fälle nur eine Neigung
zur Bildung eines solchen ., fünften" Höckers besteht, welche durch ein
verschiedenartig entwickeltes Grübchen- und Furchensystem sich
äußert. Eine vollständige Beschreibung des Höckerchens in seinen
verschiedenen Abstufungen hat dann Batujeff gegeben.
Bei sonstigen Primaten ist das Höckerchen, nachdem letzt-
genannter Autor auf dessen Vorkommen bei Cynocephalus hingewiesen
hat, von A dl off bei einem Hylobates lar beobachtet (1. c. S. 127).
Vorher hat schon Cope darauf hingewiesen, daß es bei den Lemuren
eine konstante Erscheinung bildet: „The accessory anterior internal
tubercle is characteristic of the genus Lemur and some of its extinct
allies2)." Eine übereinstimmende Meinung haben auch Windle und
Humphreys ausgesprochen3). Daß die bezüglichen Bildungen an den
Molaren von Lemur wirklich mit dem Carabelli der menschlichen Mo-
laren homolog sind, ist auch meine Ansicht. Man könnte aber diese
Homologie auf Grund der dreieckigen Gestalt der Lemurmolaren und
dadurch das Vorkommen dieser Bildung überhaupt bei den Prosimiae
anzweifeln. Man hat sich jedoch nur die Frage vorzulegen: Stimmt die
linguale Formation an den Lemurmolaren mit der von Carabelli
gegebenen Definition überein? Und auf diese Frage muß unbedingt
eine zustimmende Antwort folgen, denn der innere Höcker der Lemur-
molaren ist zweifelsohne die Spitze D und an diese Spitze ist Carabelli
gebunden. Daß bei den Lemuren die hintere linguale Spitze außer-
ordentlich schwach entwickelt ist, sogar ganz fehlen kann, ändert an
der Hauptsache nichts. Daß jedoch unter den Prosimiae das bezügliche
Höckerchen auch bei solchen Geschlechtern auftreten kann, welche
durch eine kräftige Entwicklung des hinteren lingualen Höckers der
menschlichen Molarenform näher kommen, geht aus Fig. 28 hervor,
worin der erste Molar von Hapalemur, von der Innenseite gesehen, wieder-
gegeben ist. Auch Topinard meldet das Auftreten desselben bei
diesem Halbaffen4). Dieser Fall ist auch wichtig aus dem Grunde,
daß an diesem Zahn das Deuteromer dreihöckerig ist, welcher Umstand
die Möglichkeit beseitigt, Carabellis Höckerchen mit einer der Spitzen
des Deuteromer, die aus ihrer gewöhnlichen Stellung gerückt sein
sollte, zu identifizieren. Besonders in betreff auf die Molaren von Lemur,
welche vielleicht zu einer solchen Auffassung führen konnten, ist es
von Bedeutung, die Unabhängigkeit von Deuteromer und Carabellis
Höckerchen unzweideutig bei Hapalemur feststellen zu können. Zwar
ist das Tuberculum bei diesem Halbaffen — bei dem es auch am
dritten Milchmolaren vorkommt - - nicht so stark entwickelt, als
es beim Menschen der Fall sein kann, aber vielleicht spielt auch hier
1) Anatomie des menschlichen Gebisses, S. 68. Leipzig 1891.
2) E. D. Cope, On the tritubercular Molar in human Dentition. Journ.
of Morph. 1889, Bd. II.
3) B. C. A. Windle and J. Humphreys, Extra cusps on the human Teeth.
Anat. Anz., Bd. II.
4) P. Topinard, De l'Evolution des Molaires et Premolaires chez les Pri-
mates. L' Anthropologie 1892. p. 691.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne.
87
die individuelle Variation eine Rolle. Denn die individuellen Schwan-
kungen in der Ausbildung, welche es beim Menschen aufweist, kommen
nicht weniger auch bei anderen Primaten vor. Nur beim Geschlecht
Lemur ist es in seiner relativ beträchtlichen Entwicklung ziemlich
konstant. Bei anderen Affengeschlechtern nicht. Das geht z. B. aus
Fig. 29 hervor, worin der erste obere Molar eines Cebus fatuellus (junges
V-
Fig. 28. Erster oberer Molar von
Hapalemur.
Fig. 29. Erster oberer Molar vom
Cebus fatuellus mit Carabelli.
Tier) abgebildet ist. Während bei Cebus das Höckerchen als Ausnahme
zu betrachten ist, war es am bezüglichen Exemplar kräftig entwickelt,
wie besonders die rechtsseitige Figur, welche die Kronenfläche von
oben gesehen darstellt, sehen läßt. Auch am dritten Milchmolaren
dieses Tieres war es kräftig entwickelt.
Die größte Verbreitung des Höckerchens findet sich unter den
wahren Affen am
Gebiß von Chryso- "Ji ™2 m3 ^i ^
thrix, wo es ein
konstant vorkom-
mendes Relief an
der lingualen Fläche
mehrerer Zähne bil-
det. Das ist aus
Fig. 30 zu ersehen,
worin das ganze post-
canine Oberkiefer-
gebiß dieses Tier-
chens dargestellt ist.
In der oberen Reihe
sind Milchmolaren
und Dauer molaren
abgebildet, in der
unteren Reihe die Prämolaren. Wie diese Figuren sehen läßt, ist
Carabellis 'Höckerchen am zweiten und dritten Milchmolaren und am
ersten und zweiten permanenten Molaren entwickelt. Seine Stelle ist die
nämliche wie beim Menschen, es liegt an der Innenseite des Höckers D,
das ist die Hauptspitze des Deuteromer. Kur am zweiten Milchmolaren
Fig. 30.
Fläche.
Chrysothrix sciurea. Oberkieferzähne, linguale
Obere Reihe: Milchmolaren und permanente
Molaren; untere Reihe: Prämolaren.
erscheint es etwas weiter nach hinten gerückt.
Das genannte Affchen
88 Erstes Hauptstück.
ist weiter interessant durch das Auftreten von Carabelli auch am zweiten
und dritten Prämolaren. Zwar wechselt das Maß ihrer Entwicklung
an diesen Zähnen sehr, aber die Tatsache, daß es überhaupt an diesen
Elementen des Gebisses auftritt, beweist, daß in dieser Hinsicht kein
prinzipieller Unterschied zwischen Milchmolaren und deren Ersatz-
zähnen besteht. Auch bei einem Nyctipithecus trivirgatus konnte ich
außer am ersten und zweiten Molaren das Vorkommen des Höcker-
chens am dritten Prä molaren feststellen.
Der Standpunkt, den de Terra bezüglich dieser Bildung ver-
tritt, kommt mir nicht motiviert vor. Der Autor behauptet, den
Car ab ellischen Höcker treffe man nur beim Menschen an; was man
bei niederen Affen als solchen beschreibe, sei eine andere Bildung, die
de Terra als „Approximalhöcker" bezeichnet. Wenn man jedoch
bemerkt, daß der Autor S. 162 und 285 als Beispiele solcher „Approxi-
malhöcker" Bildungen an der bukkalen Seite der Unterkiefermolaren
abbildet und beschreibt, dann ist es deutlich, daß hier eine Verwirrung
von Reliefbildungen vorliegt. Die oben von mir beschriebenen Bildungen
liegen alle bei vierhöckerigen Molaren an der vorderen lingualen Seite
des Zahnes dem Höcker D an. Und letzteres ist, wie ich meine, das
Kriterium, welches auch von de Terra selber gestellt wird, wenn er
von diesem Höcker sagt: „Der Carabellische Höcker zeigt sich als
schwache Verdickung des medialen Zungenhöckers nahe dem Niveau
der Kaufläche"' (1. c. S. 161). Die Zurückweisung der Copeschen
Deutung des lingualen Höckers bei Lemur als Carabellis Höcker
ist dann auch nicht stichhaltig. (Ich lasse hierbei natürlich die Be-
trachtungen, welche Cope an das Vorkommen dieses Höckers bei
Lemur knüpft, ruhen.) Als erstes Argument gegen die Homologisierung
führt de Terra (1. c. S. 163) an, daß er die ganze linguale Fläche des
Zahnes einnimmt. Diese Beobachtung ist richtig, aber lediglich die
Folge davon, daß bei Lemur diese ganze Fläche des Zahnes vom Höcker
D gebildet wird, da der hintere linguale fehlt. Dieser Umstand erklärt
und widerlegt gleichzeitig das zweite Bedenken von de Terra, daß
der Höcker nicht mediolingual, sondern direkt in der Mitte der Lingual -
fläche liegt.
Das Tuberculum kommt nicht ausschließlich bei Primaten vor.
Das geht schon aus einer Bemerkung Osborns hervor1): ,,0n the
anterior side of the protocone in the upper molars we have observed
in many of the lower mammals especially in the Periptychidae (1. c.
Fig. 137) that a special cusp is developed, to wich we have given the
name protostyle. From a recent paper by Adloff we learn that this
was originally designated by Carabelli, and named by him Tuber-
culum anomale."
Das Auftreten außerhalb des Primatenstammes ist zuerst von
Windle and Humphreys betont worden: „In Canis familiaris and
vulpes, sagen diese Autoren, it is large and in Meles taxus it reaches
its maximum." Ich bin überzeugt, daß bei anderen Säugern die homo-
loge Bildung ebenfalls auftritt (ich verweise besonders auf die Ursidae)
und in hohem Maße an der Komplizierung der Zahnkrone sich beteiligen
kann (Ailurus). Doch liegt es außerhalb des Rahmens der vorliegenden
Abhandlung, auf diesen Punkt näher einzugehen. Überdies muß zu-
1) C. 0. 1907, S. 158.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 89
nächst die genetische Bedeutung dieser Bildung festgestellt sein, denn
diese hat selbstverständlich großen Einfluß auf die Diagnostizierung
derselben bei den verschiedenen Säugetiergruppen.
Nun gehen über diesen Punkt die Meinungen weit auseinander.
Batujeff, der sich bezüglich der Entstehung der Säugerzähne der
Konkreszenztheorie in Rose scher Fassung anschließt, betrachtet das
Höckerchen als einen selbständigen, den Zähnen als progressive Bildung
zugefügten konischen Zahnkeim, dabei auf die Tatsache hinweisend,
daß es am ersten Molaren — das ist am Zahn, der der größten Druck-
wirkung unterliegt — am häufigsten auftritt. Der progressive Charakter
der Bildung würde weiter auch noch aus der von Batujeff gestellten
Behauptung hervorgehen, daß das Höckerchen bei niederen Rassen
weniger häufig sein sollte als bei den Europäern. Adloff hat sich an-
fänglich dieser Meinung angeschlossen, ist jedoch später von ihr zurück-
gekommen, weil ihm das Unzutreffende der Aussage von Batujeff
deutlich geworden war. Es schließt sich jener Autor jetzt der zuerst
von Cope ausgesprochenen Meinung an, daß das Carabellische
Höckerchen einen primitiven Bestandteil der Primatenzähne darstellt,
der bereits bei Lemuren vorhanden ist. „Alle Tatsachen sprechen dafür,
daß wir es nicht mit einer gelegentlich auftretenden Variation oder mit
einer progressiven Bildung zu tun haben, sondern daß der „fünfte"
Höcker ein ursprünglich normaler Bestandteil der menschlichen Molaren
ist, der im Laufe der Stammesgeschichte der Reduktion anheimgefallen,
dessen Rückbildung jedoch noch nicht völlig beendet ist." (Das Gebiß
des Menschen, S. 127.) Dieser Satz gibt in etwas anderen Worten die
Meinung Copes wieder, der sich (1. c. S. 18) folgendermaßen geäußert
hat: ,,This Charakter is decidedly lemurine. It may be regarded as a
survival or as a character wich has persisted from the „proanthropos",
wich was itself immediately derived from lemurine ancestors."
Es begegnen uns hier also zwei kontroverse Meinungen: dem einen
Autoren ist Carabellis Höckerchen eine progressive Bildung, dem
anderen eine primitive Erscheinung. Ich kann mich weder der einen
noch der anderen Deutung anschließen. Man hat in diesen beiden
Erklärungskontroversen, wie ich meine, ein sehr lehrreiches Beispiel,
wie verfehlt es ist, die vergleichend-anatomischen Einzelerscheinungen
des Gebisses den stammesentwicklungsgeschichtlichen Doktrinen dienst-
bar machen zu wollen, besonders wenn man dabei aus dem Auge
verliert, daß vollständig homologe Bildungen an den Zähnen ganz
unabhängig voneinander entstehen können bei Tieren, welche in ihrer
historischen Entwicklung einander nur sehr entfernt und kollateral
verwandt sind. Ich möchte sogar der Meinung Ausdruck geben, daß
es kein System gibt, bei dem man so vorsichtig sein muß, um auf Grund
von Einzelerscheinungen auf Verwandtschaftsbeziehungen zu schließen,
als gerade die Zähne. Und die Ursache davon liegt nicht weit, sie gründet
in der Entstehungsweise des Säugerzahnes im allgemeinen. Alle Zähne
der Mammalier enthalten in nuce die gleichen morphologischen Po-
tenzen. Und die Entfaltung dieser Potenzen ist nicht einmal, sondern
gewiß mehrere Male im Laufe der Entwicklung zustande gekommen.
Eine gemeinschaftliche Stammform, aus welcher die Säugerzähne in
ihre verschiedenen Modifikationen als ebensoviele divergierende Ent-
wicklungslinien ausstrahlen, gibt es nicht. Es gibt einen gemeinschaft-
lichen Grundplan mit für alle Säugetierordnungen gleichen morpho-
90 Erstes Hauptstück.
genetischen Potenzen. Und wenn diese Potenzen aktiviert werden
und sich in Formausbildung realisieren, da kann es nicht wundern,
daß Formübereinstimmungen entstehen. Das Gemeinsame, das in
dem Zahnkeim verhüllt lag, wird apert. Das deutet nicht auf eine
organisatorische Verwandtschaft hin, sondern auf eine organogenetische
Äquivalentie.
In seiner grundlegenden Untersuchung rügt, und meines Erachtens
ganz zu Recht, Schlosser1) die bekannte Bezeichnung Filhols der
eocänen Primaten als Paehylemuren, wodurch dieser Autor eine nähere
Verwandtschaft zwischen jenen Primaten und Pachydermen zum Aus-
druck bringen wollte. Unbedingt schließe ich mich Schlosser an, wenn
er 1. c. S. 20 sagt: „Die Anklänge im Zahnbau jedoch, welchen Filhol
so viel Gewicht beigelegt hat, erweisen sich einfach als gleichartige
Modifikationen, hervorgerufen durch die gleichen Umstände, dürfen
aber doch wahrhaftig nicht als Beweis für die Existenz einer näheren
Verwandtschaft betrachtet werden." Ich möchte dieses Prinzip, wie
aus dem oben Gesagten hervorgeht, jedoch weiter durchführen als
Schlosser, und, ebensowenig wie eine Formübereinstimmung des
Zahnes als Ganzes als Kriterium für verwandtschaftliche Beziehungen
zwischen Säugerordnungen zu verwerten ist, ebensowenig innerhalb
einer Ordnung das Auftreten oder das Fehlen einer einzigen Relief-
erscheinung als solche gelten lassen. Wir müssen dazu zunächst —
wie es auch Schlosser getan hat — das Gebiß als Ganzes betrachten in
seiner Zusammenstellung und der Totalität seiner Merkmale.
Und wenn ich nach dieser allgemeinen Stellungnahme wieder
zum Carabelli-Höcker zurückkehre, dann deute ich denselben für ein
Verwandtschaftskriterium ebenso wertlos als z. B. der sogenannte
unpaarige hintere Höcker am unteren dritten Molaren. Oder sollte man
eine Spezies vom Geschlecht Semnopithecus, bei dem dieser Höcker
fehlt, näher verwandt denken mit Cercopithecus als mit den übrigen
Semnopithecus-Arten ? Und der Umstand, daß bei Lemur ein kräftig
entwickeltes Carabelli vorkommt, als regelmäßige Erscheinung und
beim Menschen ein relativ kleines, und dazu noch nicht immer, darf
doch keinen Grund abgeben für die Behauptung, daß beim Menschen
diese Bildung auf dem Wege der Reduktion sich findet. Die zweite
Möglichkeit, daß es beim Menschen von neuem wieder erscheint, als
Manifestierung einer in der Zahnanlage schlummernde Potenz hat
wenigstens ebenso viele Berechtigung.
Jedoch, mit diesen allgemeinen Bemerkungen darf ich nicht
abschließen. Denn wie ist das Auftreten des Carabellischen Höckerchen
mit der von mir verfochtenen Dimertheorie der Zähne in Überein-
stimmung zu bringen? Ein Produkt des Protomer kann es selbstver-
ständlich nicht sein. Doch auch zum Deuteromer kann es nicht ge-
hören. Das wird durch die Fig. 28 bewiesen, welche ich mit Absicht
gegeben habe, um jene Unmöglichkeit darzutun. Denn abgesehen davon,
daß die konstante Lagerung an der lingualen Fläche des Haupthöckers
vom Deuteromer schwer mit einer solchen Herkunft in Übereinstimmung
zu bringen ist, gibt die Fig. 28 einen Zahn wieder, dessen Deuteromer
1) M. Schlosser. Die Affen, Lemuren, Chiropteren usw. des europäischen
Tertiärs. I. Teil. Wien 1887.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 91
vollständig ist, also dreihöckerig, und gleichzeitig ist Carabellis Höcker-
chen anwesend.
Es scheint somit das Auftreten dieses Höckerchen mit meiner
Theorie im Streit zu sein, und dieser Umstand war für mich die Anregung,
etwas ausführlicher auf diese Bildung einzugehen. Ich werde nun zeigen,
daß dieser Widerspruch nicht besteht, ja daß sogar das Auftreten
dieser Bildung eine sehr willkommene Bestätigung ist für der Richtig-
keit meiner Grundanschauung über die Entstehung des Säugerzahnes.
Zur Begründung hierfür muß ich zurückgreifen auf eine Frage,
welche ich in der ersten dieser Studien schon gestellt und in all-
gemeinem beantwortet habe. Wenn es richtig ist, daß der Säuger-
zahn zwei Generationen von Reptilienzähnen entspricht, dann muß
die Bildungsstätte von neuen Zahngenerationen, welche bei den Rep-
tilien bisweilen so energisch funktioniert, in einen Zustand von Inaktivi-
tät. von Latenz geraten sein. Ich habe nun in der genannten Studie
S. 119 die Frage gestellt, ob bei den Säugern die so energische Aktivi-
tät, welche der Zahnleistenrand bei den Vorfahren besaß, völlig er-
löscht ist? Wörtlich habe ich dort auf diese Fragestellung folgendes
geantwortet: „Ich möchte diese Frage nicht unbedingt bejahend
beantworten. Es scheint mir doch nicht ganz ausgeschlossen, daß das
Cingulum, das bisweilen so kräftig entwickelt an der lingualen Seite
des Zahnes erscheint, die letzte schwache Äußerung sei für die fast gänz-
lich latente Potenz des Zahnleistenrandes zur Bildung weiterer Zahn-
generationen. Ich bin geneigt, in diesem Cingulum die zu einem band-
artigen Emaillestreifen konzentrierte Anlage aller folgenden Zahngene-
rationen zu erblicken. Allerdings nicht in der Weise, daß das Cingulum
als eine rudimentäre Zahngeneration gedeutet werden soll, es ist die
nicht weiter differenzierte Manifestation der fast unbeschränkten
Zahnbildungspotenz, welche dem freien Ende der Zahnleiste ehemals
zukam. Ganz indifferente Bildungen sind diese Erscheinungen nicht,
ich möchte dieselben als Ausdruck einer teilweisen Reaktivierung,
als Abortivanlage einer jüngeren Generation auffassen." Als ich diesen
Passus niederschrieb, schwebte mir. neben Bildungen an den Molaren
anderer Säugetiere, auch das Tuberculum Caral)elli der Primaten-
molaren im Geiste vor. Und nach eingehender Prüfung dieser Ansicht
bin ich in der Überzeugung gestärkt worden, daß in dieser Weise die
Erklärung des genannten Höckerchens gegeben werden muß. Der
Zahnleistenrand enthält als eine Matrix eine ganze Familie von auf-
einanderfolgenden Generationen von einfachen Zähnen in sich ver-
einigt. Aber es kommen davon nur zwei, in Verbindung mitein-
ander zur Entwicklung. Eine eventuelle dritte Generation mußte sich
natürlich bei völliger Ausbildung an der lingualen Seite des Deuteromer
finden. Sollte eine solche Entwicklung wirklich stattfinden, dann war
der Zahn nicht länger ein dimeres, sondern ein trimeres Gebilde, und
das neu hinzugekommene Odontomer würde neben dem Proto-
und Deuteromer als ,,Tritonier" Stelle einnehmen. Ich glaube nun,
daß das Carabelli- Höckerchen in der Tat die Manifestation dieses
Tritomer ist. Und wie ansprechend diese Erklärung erscheinen möge
im Verband mit dem ganzen Charakter meiner Theorie vom Säuger-
gebiß, werde ich doch einige spezielle Gründe entwickeln, welche die
gegebene Deutung zu stützen imstande sind.
92 Erstes Hauptstück.
Als ersten Grund führe ich die Lagerung des Höckerchens an.
( U) stark entwickelt oder nur schwach angedeutet, es behält unverändert
seine Lagerung an der lingualen Seite des sogenannten vorderen Innen-
höckers. Nun wolle man sich erinnern, daß dieser Höcker den Haupt-
höcker des Deuteromer darstellt. Und wenn man dazu bemerkt, daß
letzterer wieder dem Haupthöcker P des Protomer gegenüber liegt,
mit diesem oft durch eine Leiste verbunden ist, so finden sich bei
kräftiger Ausbildung des Carabellischen Höckerchen, die Hauptbestand-
teile dreier Zahngenerationen in einer geraden Linie, wie es mit den
ursprünglichen topographischen Verhältnissen bei den polyphyodonten
Vertebraten übereinstimmt. Ich identifiziere dann auch das Höckerchen
Carabellis mit dem Haupthöcker einer dritten Zahngeneration, der bei
Aktivierung der Anlage dieser Generation zuerst auftritt, wie auch
vom Deuteromer der Haupthöcker vor die beiden Nebenspitzen er-
scheint. Die Übereinstimmung geht jedoch noch weiter. Wir haben
gesehen, daß vom Deuteromer, nach der Entwicklung des Haupthöckers,
zuerst die hintere Nebenspitze 4 erscheint und erst an dritter Stelle
die vordere Nebenspitze 3. Ich habe nun einige Male zwei Tubercula
an der lingualen Seite des Zahnes angetroffen und .das zweite tritt
dann als das kleinere hinter dem normalen Carabellischen Höcker auf.
Eine weitere Erscheinung, welche für die Richtigkeit meiner Auf-
fassung spricht, ist die folgende. Wenn man Gelegenheit hat, eine große
Zahl vollständiger wohl erhaltener Gebisse des Oberkiefers zu unter-
suchen -- im hiesigen Institut finden sich mehrere Hundert solcher
Gebisse von Holländern, an denen kein einziger Zahn fehlt — , dann
fällt es auf, daß an jenen Gebissen, an denen das Carabelli-Höckerchen
kräftig entwickelt ist, in sehr vielen Fällen das Deuteromer der weiter
nach vorn liegenden Zähne ebenfalls eine stärkere Ausbildung als
normal aufweist.
Von dieser Koinzidenz findet sich in der Literatur schon eine sehr
überzeugende Abbildung. In dem Aufsatz von Windle und Hum-
phreys1) sind in Fig. 3 u. 4 zwei Oberkiefergebisse des Menschen ge-
zeichnet, mit dem Zweck, das stark entwickelte Carabelli-Höckerchen
zu zeigen. Gleichzeitig jedoch ist — und die Autoren machen darauf
aufmerksam - - am Caninus und an den Incisivi das Tuberculum
dentis -- das wir früher als die Manifestation des Deuteromer dieser
Zähne erkannt haben - - ebenfalls außerordentlich entwickelt, beim
Caninus bildet es eine kegelförmige Spitze. Auch von mir ist diese
Koinzidenz gesehen, und ich glaube sie ist einer sehr einfachen Er-
klärung zugänglich. In gewissem Sinne verhält sich bei den Front-
zähnen das Deuteromer wie ein eventuelles Tritomer bei den Molaren.
Die morphologischen Potenzen des Deuteromer — der zweiten Gene-
ration -- bleiben bei den Frontzähnen des Menschen während der
Entwicklung meistenteils latent, wie jene des Tritomer — der dritten
Generation -- am ersten Molaren. Ist jedoch bei einem Individuum
die Neigung, diese latenten Potenzen zu reaktivieren, stark, dann wird
sich dieselbe an den Frontzähnen durch eine kräftige Entwicklung des
Deuteromer und am ersten Molaren durch eine solche des Tritomer
äußern. Das Carabellische Höckerchen wird dadurch selbstverständlich
1) Extra cusps on the human Teeth. Anat. Anz., Bd. II.
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 93
dem Tuberculum dentis der Frontzähne nicht homolog, ihre gleichzeitige
starke Entwicklung hat jedoch eine gemeinschaftliche Ursache.
Dazu kommt noch eines. In der folgenden Studie werde ich die
Varietäten auch des ersten Molaren eingehend besprechen und mit den
erwünschten Abbildungen versehen. Ich weise an dieser Stelle jedoch
schon auf folgende Gesetzmäßigkeit hin. Es ist bekanntlich der obere
erste Molar des Menschen quadrituberkular, das Kronenrelief wird
Pa Pp
durch die Formel — -= — — ausgedrückt. Wenn nun ein Carabelli-Höcker-
chen, das ich der Einfachheit wegen als T bezeichnen werde (als ersten
Buchstaben von Tritomer und in Übereinstimmung mit P (Protomer)
und D (Denteromer) entwickelt is, dann wird die Kronenformel also
Pa Pp
D 4 . Nun ist es sehr merkwürdig, daß bei besonders starker Ent-
wicklung von T ein weiterer Ausdruck der entwicklungskräftigen
Anlage des Zahnes auftritt, indem nun auch die vordere Nebenspitze
vom Denteromer j erscheint, und die Kronenformel dadurch die
Pa Pp
folgende wird 3 D 4 . Es kann sogar noch weiter gehen, indem auch
die Nebenspitzen am Protomer wieder erscheinen. Auch von solchen
Zähnen besitze ich einige Beispiele.
Die angeführten Erscheinungen werfen nun, wie ich meine,
das rechte Licht auf die Natur von Carabelli-Höckerchen. Aus den in
dem Zahnkeim schlummernden Potenzen für die nicht mehr zur Ent-
wicklung gelangenden Zahngenerationen wird die Anlage der zuerst
folgenden ■ — dritten - - wieder teilweise aktiviert, eine Erscheinung
also, die im Prinzip übereinstimmt mit jener, welche zur Entstehung
des Elefantenmolaren Anlaß gegeben hat (vgl. Odont. Stud. 1, S. 119).
Schließlich muß ich auf eine Tatsache aus der Ontogenie der
Molaren hinweisen, welche die Richtigkeit der gegebenen Erklärung
zwar nicht unmittelbar beweist — eine absolute Beweisführung ist,
wie bei allen solchen Fragen, wohl von vornherein ausgeschlossen -
aber immerhin ihr den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit verleiht.
Es betrifft eine Tatsache, welche durch Ahrens in seiner Veröffentlichung
über die Entwicklung der menschlichen Zähne beschrieben worden ist1).
Im zweiten Hauptstück meiner ersten Odontologischen Studie habe ich
eine Bildung kennen gelernt, welche während der Differenzierung
der Schmelzpulpa im Schmelzorgan erscheint, und als Schmelzseptum
beschrieben. Die Bedeutung desselben ist dann im vierten Hauptstück
auseinandergesetzt worden. Und indem ich für die Details und Beweis-
führung auf die verzeichnete Schrift verweise, sei hier nur kurz hervor-
gehoben, daß das Schmelzseptum die Abgrenzung im Schmelzorgan
zwischen den beiden, dem Protomer und Denteromer zugehörigen
Schmelzorganabschnitten darstellt. Und der Entstehung des Säuger-
zahnes zufolge, zieht das Schmelzseptum in frühen Entwicklungs-
stadien in nahezu sagittaler Richtung durch das Organ und trennt
1) H. Ahrens, Die Entwicklung der menschlichen Zähne. Habilitationsschr.
München 1913. (Erschienen Wiesbaden 1913.)
94 Erstes Hauptstück.
dasselbe in eine bukkale - - dem Protomer - - und eine linguale -
dem Deuteromer ■ — tributäre Hälfte.
Ganz unabhängig von meiner Untersuchung hat nun Ahrens
die nämliche Bildung beim Menschen beobachtet und legt ihr den Namen
„Schmelzstrang" bei (1. c. S. 32). Der Verfasser gibt eine von vorzüg-
lichen Abbildungen begleitete Beschreibung, welche sich mit der
meinigen in allen Hauptsachen deckt, und weist auch auf das Auftreten
der von mir als Schmelznabel beschriebenen Einsenkung hin, an der
Stelle, wo das Septum ins äußere Epithel übergeht.
Nun hat Ahrens noch eine Erscheinung im Schmelzorgan be-
schrieben, welche mir bei meinen Untersuchungen nicht aufgefallen war.
Ich werde den diesbezüglichen Passus wörtlich wiedergeben: „Außer
diesem zentralen Schmelzstrang ist nun, wie aus den Fig. 14, 16', 19 zu
ersehen ist, noch eine zweite Verdichtung vorhanden, die die linguale
Seite des Schmelzorgans einnimmt, Diese wandständige Zellver-
dichtung ist bei bleibenden und Milchmolaren in gleicher Ausbildung
vorhanden, und verschwindet nach der Auflösung des Schmelzstranges
ebenfalls, wenigstens zum größten Teil."
Ich habe nach Kenntnisnahme dieser Mitteilung von Ahrens
meine menschlichen Präparate darauf nachgesehen und kann den
Befund dieses Autors bestätigen ; doch ist die individuelle Entwicklung
ziemlich schwankend. In bezug auf die Frage der Zahnentwicklung
im allgemeinen und der Bedeutung des Tuberculum Carabelli im be-
sonderen scheint mir der Befund von Ahrens von größter Wichtig-
keit, Denn es darf wohl vorausgesetzt werden, daß die Bedeutung dieser
mehr lingual gelagerten epithelialen Bildung, die jedoch, wie auch aus
den Abbildungen von Ahrens hervorgeht, nicht jene Selbständigkeit
erlangt, als das eigentliche Septum. ihrem Wesen nach keine andere
sein kann als jene von letzterem. Wenn dieses die Grenzmarke im
Schmelzorgan darstellt zwischen der protomeren und der deuteromeren
Zahngeneration, welche im Säugerzahn aufgegangen sind, dann muß
die linguale epitheliale Bildung die mediale Grenze im Schmelzorgan
der letzteren Generation darstellen, und ist die von Ahrens beschriebene
Bildung nicht anders zu deuten als in dem Sinne, daß bei den Molaren
das Schmelzorgan nicht etwa zu gleichen Hälften zum Proto- und Deu-
teromer gehört, sondern daß ein kleiner medialer Abschnitt davon zu
der auf dem Deuteromer folgenden Generation, also zum Tritomer,
gehört.
In den histologischen Differenzierungserscheinungen an der
lingualen Seite des Schmelzorgans manifestiert sich gleichsam die im
Zahnkeim des Menschen enthaltene Anlage aller Zahngenerationen
deren sukzessiven Ausbildung beim Entstehen des Säugerzahnes
unterdrückt wrorden ist, zugunsten der zwei, welche als die ersten in
der Reihe zur kräftigen Entwicklung gelangten.
Aus den verschiedenen angeführten Gründen geht hervor, daß
die Deutung des Tuberculum Carabelli als die rudimentär entwickelte
dritte Zahngeneration als stichhaltig erscheint, Mit dieser Erkenntnis
ist aber gleichzeitig ein Urteil ausgesprochen über den Wert dieses
Gebildes für stammesentwicklungsgeschichtliche Spekulationen. Jeder
Zahn von jedem Säugetier enthält in nuce das Vermögen, eine dem
Carabelli-Höckerchen der Primaten entsprechende Bildung aus sich
hervorgehen zu lassen, denn in jedem Zahnkeim ist eine ganze Zahn-
Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 95
familie vom Reptiliengebiß versteckt (für den Begriff Zahnfamilie
verweise ich nach Odontologische Studie I, S. 121). Und ebenso wie
beim Elefanten die sukzessive Ausbildung der Generationen dieser
Familien in unbeschränkter Zahl wieder von neuem in Gang gesetzt
ist, so kann unter dem Einfluß bestimmter Umstände bei anderen
Säugern auch die dritte Generation sich wieder morphologisch demon-
strieren. Eine solche Reaktivierung kann bei verschiedenen Tieren,
ob einander noch verwandt oder im System sehr weit voneinander
entfernt auftreten, wenn der Zahnkeim den diesbezüglichen Impuls
dazu empfindet. Es ist dann auch, wie ich schon hervorhob, ein
Irrtum, wenn man das Carabellische Höckerchen als eine primitive
Bildung deutet, aus dem Grunde, daß es auch bei Lemur entwickelt ist,
wie es von Cope und Adloff geschieht, oder wenn man das Fehlen
desselben bei den Anthropoiden und das häufige Auftreten beim
Menschen als ein wichtiges Moment erklärt, das Menschen und Menschen-
affen scharf scheidet, oder als Beweis anführt, „daß ihre Trennung zum
mindesten sehr weit zurückreicht", wie es Adloff tut. Man braucht
für das Erscheinen ebensowenig als für den Verlust eines Höckerchens
gar nicht Zeiträume sich zu denken, die nicht lange genug angenommen
werden können1). Doch auch als progressive Bildung in dem Sinne,
welche daran gewöhnlich in der phylogenetischen Literatur gegeben
wird, kann das Höckerchen nicht gelten. Nur in bezug auf die Form
des Zahnes und dessen Funktionsfähigkeit darf man es als progressiv
bezeichnen, denn es ist die Äußerung einer mehr kräftigen Entwicklung
und trägt gewiß zur Vergrößerung der Kaufläche beim Menschen und
bei Lemuren bei. Ob gerade hierin die Ursache des Auftretens gesucht
werden darf, möge dahingestellt sein. Daß, wie Batujeff will, die
stärkere Entwicklung beim Menschen eine Art Kompensation darstellt
für den Verlust des dritten Molaren, kann ich nicht zustimmen. Die
Tatsache, daß auch beim menschlichen zweiten Milchmolaren die Bil-
dung sehr häufig ist, ist an sich schon wenig günstig für eine solche
korrelative Beziehung. Und aus zu diesem Zweck angestellten Unter-
suchungen habe ich die Überzeugung erlangt, daß eine solche Be-
ziehung nicht besteht. Darüber werde ich in der dritten Studie
ausführlich berichten.
1) P. Adloff, Das Gebiß des Menschen und der Anthropomorphen, S. 128.
Zweites Hauptstück.
Die Differenzierung der Unterkieferzähne.
Es wird in diesem Kapitel nur von den Prämolaren und Molaren
gehandelt werden, da von Schneide- und Eckzähnen schon vorher
die Rede war.
Ein Versuch in den Entwicklungsgang der Unterkieferzähne
einzudringen, stößt auf nicht geringe Schwierigkeiten. Im Vergleich
mit der relativen Leichtigkeit, womit es gelingt, die verschiedenen
Entwicklungsphasen der oberen Zähne in einer logischen Reihe anzu-
ordnen und besonders in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Dimerie
des Säugerzahnes zu bringen, erheben sich bei den unteren Zähnen
Hindernisse, die wohl geeignet sind, Zweifel zu erwecken, ob überhaupt
jenes Prinzip auch für die Unterkieferzähne gültig sei. Die Tatsache
aber, daß ontogenetisch die Dimerie bei den unteren Zähnen mit gleich
großer Bestimmtheit festgestellt werden konnte als bei den oberen,
beseitigt wohl sofort diese Zweifel und bildet gleichzeitig eine nicht
erlöschende Anregung, um die Lösung des Problems von der Morpho-
genese der unteren Zähne versuchen zu wollen. Mehrere Male hatte
ich ein System der Höckerhomologien auf Grundlage des allgemeinen
Prinzips, daß auch der Unterkieferzahn in nuce ein zweifach trikono-
donter Zahn war, entworfen, bisweilen die Zahnformen einer größeren
Zahl von Primaten mit diesem System in Einklang gebracht, um beim
Heranziehen weiterer Formen auf Widersprüche zu stoßen, welche den
bisher gefolgten Weg als einen Irrweg kennzeichneten. Im Laufe
der Zeit haben sich dann auch meine Ansichten über die Morpho-
genese der unteren Zähne mehrere Male gewechselt.
Daß der Entwicklungsgang der unteren Zähne ein etwas anderer
gewesen sein muß als jener der oberen, leuchtet sofort aus einer ein-
fachen Vergleichung beider Gebißreihen ein. Wenn man dann auch nur
die allmähliche Komplizierung als Erscheinung an sich zur Darstellung
bringen wollte, dann würde man bald die Überzeugung erlangen, daß
etwas Übereinstimmendes in der Formgenese von oberen und unteren
Zähnen kaum zu konstatieren sei. In der festen Überzeugung jedoch,
daß der Grundtypus aller Zähne der gleiche ist, wurzelt die Aufgabe
die Formerscheinungen an beiden Reihen aus diesem Grundtypus
abzuleiten oder darauf zurückzuführen. Nur in dieser Weise kann eine
richtige Homologisierung der Kronenhöcker beider Zahnreihen erreicht
werden.
Wie aus dem vorangehenden Abschnitt zu ersehen war, gelang
es ohne große Schwierigkeit, die oberen Zähne in ihrer sukzessiven
Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 97
Differenzierung als immer vollkommenere Manifestationen des Grund-
typus kennen zu lernen. Das wurde dadurch erleichtert, daß in der
Beteiligung beider Odontomeren am Aufbau des Zahnes das Protomer
dem Deuteromer gegenüber immer bevorzugt war, und überdies in
jedem Odontomer das Hauptelement, es sei P oder D, wieder den
Nebenspitzen gegenüber im Vorrang war. Der Differenzierungsgang
der oberen Molaren geschah mit einer leicht zu erkennenden Regel-
mäßigkeit; die Vervollkommnung der Krone kam durch ein sukzessives
Hinzufügen neuer Höcker zustande. Dabei schritt die Komplizierung
in der ersten Entwicklungsphase in bukko-lingualer Richtung fort,
das ist in der Richtung, in der die beiden Odontomeren hinsichtlich
einander gelagert sind. Daher war es leicht möglich, sich von der
stufenweise zustandekommenden Vervollkommnung jedes der Odonto-
meren zu überzeugen.
Die unteren Zähne zeigen dagegen einen ganz anderen Entwick-
lungsgang. Denn hier findet die Differenzierung zunächst in sagittaler
Richtung statt, und an zweiter Stelle kommt jene in transversaler
Richtung hinzu. Mit anderen Worten: in den ersten Entwicklungs-
phasen tritt bei den oberen Zähnen die Breitenentwicklung in den Vorder-
grund, bei den unteren dagegen die Längsentwicklung. Und da erstere
der „genetischen Längsachse" des Zahnes gleichgerichtet ist, wird hier
notwendigerweise infolge der graduellen Verschiedenheit in der Diffe-
renzierungsstufe beider Odontomeren die Einsicht in den dinieren Cha-
rakter des Zahnes in erfreulicher Weise erleichtert. Nicht aber jedoch
bei den unteren Molaren. Hier findet zuerst Vergrößerung in Längs-
richtung statt. Das bringt mit sich, daß beide Odontomeren in gleicher
Intensität dem Differenzierungsreiz ausgesetzt sind, so daß eine zeit-
lich höhere Differenzierung vom Protomer dem Deuteromer gegen-
über unterbleibt. Die Folge davon ist, daß die morphologische Mani-
festation der in dem Zahnkeim sich findenden Höckeranlagen bei den
unteren Zähnen in ganz anderer Weise verlaufen muß, als bei den oberen.
Im Oberkiefer trägt die Entwicklung der Krone den Charakter einer
systematischen Addition von bestimmten Höckerchen, im Unterkiefer
wird am bestehenden Kronenteil ein hinterer Abschnitt zugefügt, der
anfänglich indifferent ist und erst im Laufe der weiteren Entwicklung
eine bestimmte Höckerdifferenzierung zu zeigen beginnt.
Die ganz verschiedene Natur des Differenzierungsganges der
oberen und unteren Zähne findet in der odontologischen Literatur
Widerklang in der Unbestimmtheit, womit eine Differenzierungstheorie,
welche für die unteren Molaren aufgestellt wurde, auch auf die oberen
angewendet wird, oder umgekehrt, wenn die Theorie auf die Erschei-
nungen der oberen Zähne basiert wurde. So ist von Scott eine Theorie
über die Morphogenese der Prämolaren aufgestellt worden, vornehm-
lich auf Grund von an der oberen Gebißreihe beobachteten Erschei-
nungen. Auch bei dieser Theorie bildet das ganz regelmäßig sukzessive
Auftreten bestimmter Höckerchen — vom Autor als Protocone, Deutero-
cone, Tritocone und Tetracone bezeichnet — an den oberen Prämolaren
die Grundlage der Theorie. Die Besprechung der unteren Prämolareu
wird durch den Autor mit der Bemerkung eingeleitet: „The develop-
ment of the inferior premolars appears to be somewhat less regulär
than that of the superior" (1. c. S. 414). Und wie abweichend von jener
der oberen Prämolaren der Autor jene der unteren sich denkt, geht
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 7
98 Zweites Hauptstück.
aus dem Schlußsatz der Vergleichung hervor: „The inferior premolars
contains three elements wich are homologous with molar cusp, the
upper premolars contain but one cusp wich can be homologous with
a molar cusp." Aus dieser Schlußfolgerung geht zur Genüge hervor,
wie schwierig es auch diesem Autor war, die Homologie zwischen den
Tuberkeln der oberen und unteren Prämolaren aufzufinden.
Ein zweites Beispiel aus der Literatur liefert die Cope-Osborn-
: che Theorie. Diese Theorie unterscheidet bekanntlich am Säuger-
molar zwei Teile: das ältere Trigon resp. Trigonid und das hinzu-
gekommene jüngere Talon resp. Talonid. Schon in bezug auf das
Trigon müssen die Autoren einen scharfen Unterschied zwischen oberen
und unteren Zähnen aufstellen, gleich am Anfang der Differenzierung
divergieren die Entwicklungsgänge beider Zahnreihen, da die Ver-
schiebung des Protoconus im Oberkiefer nach innen, im Unterkiefer
nach außen sich vollzogen haben soll. Und beim jüngeren Zahnteil
- dem Talon(id) — werden die Differenzen noch ausgiebiger. Offen-
bar ist die Theorie — im Gegensatz zu jener von Scott — - vom Stu-
dium der unteren Zähne ausgegangen, und hier berechtigt die Kon-
figuration der Zähne gewiß die Unterscheidung eines Trigonid und
Talonid. Auf die Oberkieferzähne, auf welche der Form nach die ge-
nannte Einteilung gar nicht motiviert erscheint, wird dieselbe in sehr
gezwungener Weise angewendet. Ich komme auf diesen Punkt noch
zurück.
Die Unbestimmtheit, mit der Scott, Ausgang nehmend von
den oberen Zähnen, seine Gesichtspunkte auf die unteren Zähne über-
trägt, die Gezwungenheit, mit der Cope-Osborn, von den unteren
Zähnen Ausgang nehmend, die oberen Zähne in ihrer Theorie einzu-
passen sich bemühen, beweisen schon genügend, daß die Frage, ob der
Differenzierungsgang beider Zahnreihen eine identische gewesen ist,
völlig berechtigt ist. Und dennoch ist bisher von keinem der Autoren
dieser Unterschied scharf betont.
Das Wesentliche in der Differenz des Entwicklungsganges beider
Zahnreihen habe ich oben schon kurz gestreift und ich werde jetzt näher
darauf eingehen und zunächst die Frage zu beantworten versuchen,
auf welche Ursache jene Differenz beruht. Erst nachdem wir Einsicht
darin bekommen haben, wird es möglich sein, die Homologien der
Höcker festzustellen und dieselben mit jenen der oberen Zähne zu
vergleichen.
Für die Beantwortung der gestellten Frage ist es notwendig, vom
Gebiß als Ganzes auszugehen und die gegenseitigen Beziehungen der
beiden Zahnreihen näher zu studieren.
Wenn man sich die Stammform der Primaten mit einem Gebiß
ausgerüstet vorstellen darf, wie jenes der Mehrzahl der rezenten Rep-
tilien, dann war dasselbe nach der von Ryder inaugurierten Bezeich-
nungsweise, ein isognathes1). Die beiden Zahnreihen waren gleich
weit und beim Schließen der Kiefer griffen die Zähne zwischen ein-
ander. In dem Alternieren ist schon eine Beziehung zwischen oberen
und unteren Zähnen verwirklicht, welche für die ganze weitere Diffe-
1) J. A. Ryder, On the mechanical genesis of toothforms. Proc. Acad. Nat.
Sc. Philadelphia 1878. -- Further notes on mechanical genesis of toothforms.
Ibid. 1879.
Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 99
renzierung bestimmend ist. Dieser Gebißtypus, der auch von Hensel1)
als der Grundtypus des Gebisses erkannt wurde, ist bei der Mehrzahl
der Säuger persistent geblieben. Bei einfacher Form der Zähne ist
diese Beziehung zwischen den Elementen beider Zahnreihen vorzüglich
dazu geeignet, die Funktion der Kiefer als Greiforgane durch Einklem-
mung der Beute zu stützen. Eine höhere mechanische Bedeutung
kommt einem solchen Gebiß nur in sehr beschränktem Maße zu, und
für eine höhere funktionelle Gestaltung der Zähne kann ein solches
haplodontes, isognathes Gebiß kaum Veranlassung geben.
Ganz anders gestaltet sich aber die Sache, wenn das isognathe
Gebiß einem anisognathen die Stelle räumt, wenn die Zahnreihen
ungleich weit werden und die Unterkieferzähne bei geschlossenem Munde
durch die obere Reihe umfaßt wird. Dadurch werden die mechanischen
Beziehungen zwischen beiden Reihen wesentlich geändert. Ich bin der
Ansicht, daß in diesen neuen Beziehungen zwischen Ober- und Unter-
kiefergebiß der Schlüssel liegt für die weitere Komplikation der Zähne
nicht allein, sondern auch für die Divergenz des Entwicklungsganges
beider Zahnreihen. Wie ich aus Weber2) ersehe, hat auch Winge
schon auf die Bedeutung des erwähnten Umstandes für die weitere
Zahndifferenzierung hingewiesen. Die dänische Sprache, worin die
bezügliche Veröffentlichung gestellt ist, macht sie leider für mich
unzugänglich.
Die Anisognathie des Gebisses bringt dasselbe auf eine funk-
tionell höhere Stufe. Genügt für das Ergreifen und Festklemmen der
Beute die ,, Zahnradwirkung" des isognathen Gebisses, bei dem aniso-
gnathen wird die mechanische Bedeutung eine mehr ausgiebige, denn
es gesellt sich an der erstgenannten Wirkung jene der Zahnreihen als
Ganzes hinzu. Die obere Reihe bietet in ihrer lingualen Fläche der
unteren eine Reibungsfläche, und es funktionieren beide wie eine Schere.
In bezug auf die Verkleinerung der Beute bedeutet diese „Scheren-
wirkung" gewiß einen großen Fortschritt.
In welcher Weise kann nun die Anisognathie zur Vervollkomm-
nung der einzelnen Zähne beigetragen haben ? Ich möchte dazu folgende
Gesichtspunkte anführen. Bei der Scherenwirkung der Gebißreihen
stellen die lingualen Flächen der oberen Zähne und die bukkalen der
unteren die beiden Reibungsflächen dar. Beide Flächen sind einander
aber in genetischer Hinsicht nicht homolog. Denn die linguale Seite
der oberen Zähne ist die deuteromere, das ist jene, welche im Zahnkeim
die Lagerung der latenten Anlagen weiterer Zahngenerationen ent-
spricht. Nun erhebt sich die Frage, ob von dieser Reibung der Reiz
ausgegangen ist, wodurch die latente Anlage aktiviert wurde, und das
Deuteromer zur morphologischen Manifestation gelang, anfänglich als
eine unansehnliche Verdickung an der lingualen Fläche der Zahn-
krone, welche dann später zu einem wirklichen Höcker — der Haupt-
höcker D des Deuteromer — sich gestaltete. Eine derartige Reaktion
konnte sich selbstverständlich an der unteren Gebißreihe nicht einstellen,
denn hier war es die äußere Zahnfläche — die protomere — welche
als Reibungsfläche funktionierte. An dieser Seite finden sich keine
latenten Potenzen.
1) R. Hensel, Über Homologie und Variation in den Zahnformeln einiger
Säugetiere. Morph. Jahrb., Bd. V.
2) M. Weber, Die Säugetiere, S. 172.
100
Zweites Hauptstück.
PtD
B
C
D
mata in Fig.
Von dem gegebenen Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint es
ganz rationell, daß die Anisognathie des Gebisses die Veranlassung
war, daß das Deuteromer sich an der Konfiguration der Krone der
oberen Zähne zu be-
teiligen begann und
<::-f-:-K.v- ---::f:-v-:;--- -''-■----- . an der Innenseite
<3=> <ZjEEI> <d3ü£> ^ des trikonodonten
Zahnes ein neuer
Höcker, der Haupt-
höcker D vom Deu-
teromer, sich ent-
wickelte. Einmal
entwickelt lag in
diesem Zusatz zu den
oberen Zähnen der
Ausgangspunkt für
eine Differenzierung
der unteren. Ich
werde das klar zu
machen versuchen
mit Hilfe der Sche-
31.
In Schema a ist
der einfachste Zu-
stand eines anisogna-
then Gebisses darge-
stellt; von den bei-
den Zahnreihen alter-
nieren die Elemente,
welche noch einfache,
seitlich zusammenge-
drückte Zähne sind.
Die untere Keihe
(durchgezogene Um-
risse) stellt die Unter-
kieferelemente dar.
Die Hauptspitze P ist
durch einen größeren
Punkt, angegeben.
In diesem einfachen
Zustand bestehen
noch die Spatiainter-
dentalia als Remini-
szenzen an der pri-
mitiven isognathen
Vorstufe.
Wie gesagt, be-
trachte ich die Rei-
bung der unteren
Zähne über die
linguale Fläche der oberen als den Impuls für die morphologische
Differenzierung des Haupthöckers D vom Deuteromer. Diese höhere
F
Fig. 31. Schemata zur Veranschaulichung der Wechsel-
beziehungen zwischen oberen und unteren Zähnen in den
verschiedenen Entwicklungsstadien.
Die Differenzierung der Unterkieferzähne.
101
Bildungsstufe ist in dem Schema b veranschaulicht. Infolge des Alter-
nierens der Zähne von Ober- und Unterkiefer wird bei geschlossenen
Kiefern der Höcker D in ein Spatium zwischen zwei Unterkieferzähnen
aufgenommen. Dieser ganz einfache Zustand ist in der Tat noch ver-
wirklicht — und nicht selten -- im vorderen Abschnitt des Gebisses
mancher Primaten. Ich verweise zum Beweise davon z. B. auf die
Fig. 32 und 33. In beiden Figuren sind die Kauflächen der oberen und
unteren Zähne übereinander gezeichnet, so wie sie in der Ruhelage
sich decken. Die Fig. 32 hat auf Lemur und die Fig. 33 auf Propithecus
bezug. Die Kaufläche der oberen Zähne ist punktiert angegeben und
es sind die darauf vorkommenden Höcker in ihrer Umgrenzung ein-
gezeichnet; die Kaufläche der unteren Zähne ist durchgezogen skizziert
$.
-Pl
p
1
«2
t
"l
ri
n
Fig. 32. Überdeckung der Kaufläche Fig. 33. Überdeckung der Kaufläche
beider Zahnreihen bei Lemur. beider Zahnreihen bei Propithecus.
und die Höcker sind durch Punkte angegeben. Es sei nun im Anschluß
an das Schema b in Fig. 31 auf den vorderen Gebißabschnitt sowohl von
Lemur mit drei, als von Propithecus mit nur zwei Prämolaren hingewiesen.
Bei beiden Tieren sind die unteren dieser Zähne nur mit einem einzigen
Haupthöcker ausgestattet, und beim Schließen der Kiefer lagern sie
ganz innerhalb der oberen Zahnreihe. Die topographischen Beziehungen
zwischen den beiden vorderen Prämolaren von Lemur, dem ersten
Prämolar von Propithecus und den Gegenzähnen im Oberkiefer ent-
sprechen noch vollständig dem primitivsten Zustand des anisognathen
Gebisses, welches im Schema a von Fig. 31 dargestellt ist. Der zweite
obere Prämolar von Lemur und Propithecus besitzt schon einen deut-
lichen /)-Höcker und dieser wird im Spatium interdentale der unteren
Prämolaren gefaßt, Am dritten oberen Prämolar von Lemur ist der
102 Zweites Hauptstück.
Z)-Höcker besonders kräftig entwickelt und dringt zwischen den Hinter-
land des dritten Prämolaren und den Vorderrand des ersten Molaren
vom Unterkiefer ein und wird größtenteils von diesen beiden Rändern um-
rahmt. Das Geschlecht Lemur bietet durch die kräftige Entwicklung
des D-Höckers von P3 in Verbindung mit dem ziemlich einfachen Bau
der Molaren Verhältnisse, welche viel mehr dazu beitragen, die Entwick-
lung der unteren Zähne zu begreifen, als jene bei Propithecus. Der
plötzliche Übergang des einfach gebauten letzten Prämolaren bei diesem
Tiere in den stark differenzierten ersten Molaren bietet gar keinen An-
griffspunkt für ein Verständnis der genannten Vorgänge.
Aus den gegebenen Figuren ist zu schließen, daß den Zähnen des
Oberkiefers durch die Ausbildung des D-Höckers bei der Differenzierung
die Führung zukommt. Diesen Vorrang der oberen Zähne findet man
weiter bei allen Primaten noch bestätigt durch die Konfiguration der
Incisivi. Denn bei diesen Zähnen ist die primitive Scherenwirkung
der Gebißreihen in den meisten Fällen noch erhalten, und im Anschluß
daran sieht man dann auch, daß die oberen Incisiven den D-Höcker
in oftmals sehr kräftiger Entwicklung besitzen, während an den unteren
fast jede Spur davon vermißt wird.
Das Alternieren der Zähne in Verbindung mit der Anisognathie
ist also als die Grundursache zu betrachten, daß zwischen oberen und
unteren Zähnen eine Anisomorphie zustande kam, indem die, in den
oberen Zahnkeimen schlummernden Potenzen aktiviert wurden, während
jene der unteren Keime vorläufig latent blieben.
Als nächste Entwicklungsstufe ist jene zu bezeichnen, worin
eine Reaktion der unteren Zähne auf die Entwicklung des D- Höckers
an den oberen auftritt. Diese Reaktion besteht darin, daß die unteren
Zähne anfangen, sich an ihrem distalen Ende zu verlängern und einen
napfförmig ausgehöhlten neuen Abschnitt bilden, in dem bei ge-
schlossenen Kiefern der D-Höcker der oberen Zähne aufgenommen wird.
Dieser Zahnteil ist seit Copes Differenzierungstheorie als das Talonid
bekannt, und ich werde es auch unter diesem Namen anführen. Denn
eine spezielle Bezeichnung dieses Zusatzes an den unteren Zähnen ist
nicht nur aus Bequemlichkeitsgründen erwünscht, sondern auch auf
Grund der genetischen Bedeutung dieses Zahnteiles notwendig. Bei
seinem ersten Auftreten läßt sich doch das Talonid mit einem be-
stimmten Höcker nicht homologisieren.
Die Entstehung des Talonid ist eine Korrelativerscheinung, dieser
Zahnteil eine Reaktivbildung der unteren Zähne als Anpassung an die
Entwicklung des D-Höckers der oberen. Beide Bildungen sind dann
auch durch die ganze Reihe der Primaten aneinander gebunden. Wie
stark die Zähne sich später noch weiter differenzieren dürfen, immer
wird das Talonid mit dem D-Höcker artikulieren; es bietet diesem
Höcker in seiner Konkavität eine Druckfläche.
Fragt man, warum die unteren Zähne jene Neubildung aus sich
herausgehen ließen, dann ist auch hier wieder die funktionelle Wechsel-
beziehung zwischen beiden Zahnreihen ausschlaggebend. Denn durch
die Entwicklung des Talonid wird dem D-Höcker der oberen Zähne,
der infolge des Alternierens der Zähne einem unteren Spatium inter-
dentale entsprach, eine Reibungs- und Druckfläche geboten. Das Ge-
biß wird dadurch arbeitskräftiger, in mechanischer Hinsicht erreicht
es eine höhere Bildungsstufe; denn zu der Scherenwirkung gesellt sich
Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 103
jetzt die Preßwirkung. Die erstgenannte Funktion wird sich vorläufig
noch in dem primitiven Teil der Zähne vollziehen, die letztgenannte
wird in dem jüngeren Teil der Zähne — dem Z)-Höcker der oberen und
dem Talonid der unteren — lokalisiert. Für die Erreichung dieses
Zieles standen zwei Möglichkeiten offen: es hat nämlich der untere
Zahn ein Talonid aus seinem vorderen Rande entwickeln können,
welches in funktionelle Beziehung zu dem Z)-Höcker des anstoßenden
vorderen oberen Zahnes tritt, oder es konnte das Talonid sich am di-
stalen Ende des Zahnes entwickeln und in Relation zum hinteren oberen
anstoßenden Zahn treten. Letztere Möglichkeit hat sich nun verwirk-
licht, Immer wird der D-Höcker eines Oberzahnes im Talonid jenes
Zahnes aufgenommen, der ursprünglich in seinen vor ihm gelagerten
Zwischenraum eingriff. Aus welchen Gründen sich gerade dieser Fall
verwirklicht hat, ist mir nicht recht klar geworden, es werden auch hier
wohl mechanische Bedingungen bestimmend gewesen sein, aber welche
diese waren, entgeht mir. Nur darauf möchte ich hinweisen, daß auch
bei den oberen Zähnen, wenn sie sich im Laufe der Entwicklung in
sagittaler Richtung verlängerten, diese Verlängerung durch Zuwachs
am distalen Ende zustande kam. Denn wir haben früher nachgewiesen,
daß bei der Entstehung der Doppelhöckerphase der neue Höcker Pp
aus dem Hinterrand vom Haupthöcker P entsteht.
Durch die Entstehung des Talonid war die Anisomorphie der
oberen und unteren Zähne wesentlich gesteigert. Es haben Cope-
Osborn in ihrer Theorie auch an den oberen Zähnen einen dem Talonid
der unteren entsprechenden Abschnitt — das Talon — unterschieden.
In dieser Hinsicht laufen unsere Ansichten vollständig auseinander.
Eine dem Talonid der unteren Zähne homologe Bildung fehlt an den
oberen. Bei diesen Zähnen hat immer ein sukzessiver Höckerzusatz
am schon bestehenden stattgefunden, während das Talonid eine ganz
eigentümliche Bildung ist, welche, wie schon gesagt, nicht mit einem
einzigen Höcker identifiziert werden darf. Es stellt einen, vom dinieren
Zahnkeim als Ganzes ausgehenden, nicht differenzierten distalen Zusatz
am Zahn dar, welcher zwar potentia die Anlage bestimmter Höcker
enthält, dieselbe aber erst a posteriori zur morphologischen Differen-
zierung bringt. In seiner einfachsten Form und geringsten Ausbildung
wie es uns z. B. in den Prämolaren der niederen Primaten entgegen-
tritt, besteht das Talonid dann auch aus einem etwas verbreiterten
Zahnteil mit konkaver, etwas länglicher Kronenfläche, lingual und
bukkal von einem ein wenig erhabenen Rande umgrenzt, am distalen
Rande fehlt nicht selten der Abschluß. Daß dieses Talonid nicht aus-
schließlich von einem der beiden Odontomeren gebildet wird, sondern
daß sowohl Protomer als Deuteromer sich am Aufbau beteiligen, läßt
sich mit Hilfe der Schemata in Fig. 31 unschwer zeigen. Die Kompli-
kation der oberen Zähne kam unter dem Reibungsreiz der unteren an
der lingualen Seite zustande, es wurde die Bildungsmasse des Deuteromer
aktiviert, und der Zuwachs an diesen Zähnen war daher rein deutoro-
merer Ursprung. Als Reaktion auf diese Verlängerung fangen die unteren
Zähne an sich nach hinten zu verlängern, und wie aus dem Schemata
in Fig. 31 ersichtlich, mußten sich an diesem Vorgang sowohl der proto-
mere als der deutoromere Abschnitt des Zahnes beteiligen. Es läßt
sich am besten vorstellen als eine gleich große Verlängerung beider
Abschnitte nach hinten. Der neue Zuwachs kann somit keinem be-
104 Zweites Hauptstück.
stimmten Höcker entsprechen. Erst infolge der weiteren Differenzie-
rung entstehen solche aus dem Rande des Talonid.
Bis hierher ist die mechanische Grundlage der Entstehung der
Zahnform in Verbindung mit der dimeren Natur der Zähne nicht schwer
zu hegreifen. Die erste Aktion geht von dem mobilen Unterkiefer aus:
Reibung der unteren Zähne an der Innenfläche der oberen; als Reaktion
darauf kommt an den oberen Zähnen der D-Höcker zur Entwicklung,
und als Anpassung daran entsteht auf den unteren Zähnen das Talonid.
Der Zusammenhang dieser progressiven Phasen ist ganz rationell.
In den Prämolarenabschnitt des Gebisses mancher Primaten sind
Zustände verwirklicht, welche dem Schema in Fig. 31c vollkommen
entsprechen. Die oberen Zähne besitzen einen größeren Außenhöcker
(eventuell von Nebenspitzen flankiert) und einen kleineren Innenhöcker;
die unteren eine kegelförmige vordere Hälfte, die mit den bukkalen
Spitzen der oberen alterniert und eine hintere etwas breitere Hälfte,
welche mit dem lingualen Höcker der Oberzähne artikuliert. Solche
Zähne bilden eine vorzügliche Kombination von Scheren- und Druck-
werkzeugen. — Verfolgen wir aber die Komplizierung der gegenseitigen
Beziehungen.
Gleich wie das Talonid als Anpassung an den D-Höcker der oberen
Zähne entstanden ist, bildet nun auch ersteres seinerseits wieder ein
Moment für weitere morphologische Differenzierung der Oberkiefer-
zähne. Um das verständlich zu machen, muß ich die vorher ausführlich
begründete Tatsache in Erinnerung bringen, daß der P-Höcker (Haupt-
höcker vom Protomer) der oberen Zähne als Äußerung höherer Diffe-
renzierung sich in zwei, meistenteils gleich große Höcker — Pa und Pp
- auflöst. Der mechanische Impuls zu dieser Verdoppelung — welcher
ein konstantes Merkmal aller Molaren und dazu des letzten Prämolaren
einiger Prosimiae und der eocänen Primaten ist — ging vom Talonid
aus. Für die Entstehung dieser höheren Bildungsstufe möchte ich
folgende Gesichtspunkte entwickeln.
Der D-Höcker der oberen Zähne und das mit diesem artikulierende
Talonid der unteren Zähne sind anfänglich niedriger als der übrige
Zahnabschnitt (von Cope- Osborn als Trigon resp. Trigonid bezeichnet).
Bei der vertikalen Bewegung des Unterkiefers - - die wohl als die
primitive anzusehen ist - - kommt somit der lingualen Fläche des
P-Höekers die Bedeutung von Reibungsfläche für den Außenrand des
Talonid zu. Und nun ist es als nicht unwahrscheinlich zu betrachten,
daß — da eine Verlängerung dieser Reibungsfläche den funktionellen
Wert des Gebisses steigert — unter dem Einfluß davon der P-Höcker
sich in distaler Richtung verlängerte, was in der Tat, wie seinerzeit
gezeigt wurde, bei gewissen Gebissen sehr schön zu beobachten ist.
Diese Verlängerung des Haupthöckers gestaltete sich dann zu dem
besonderen Höcker Pp. Der große Vorteil war dadurch erreicht, daß
die äußere Seite des Talonid zwischen zwei Höcker — Pa und Pp -
der oberen Zähne jgefaßt wurde. (Vgl. Fig. 31, Schema d.)
Es ist vorher öfters betont, daß das Talonid eine Komplex-
bildung ist, eine Verlängerung des Zahnes, an der beide Odontomeren
beteiligt sind. Die erste Differenzierung dieses Zahnabschnittes kam
nun unter dem Einfluß der soeben erklärten Entstehung des Pp-
Höckers an den Oberzähnen zustande. Es wird an der Innenfläche
des mehr hervorragenden protomeren Abschnittes der Oberzähne durch
Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 105
die Entstehung jenes Höckers ein Tal zwischen denselben und dem
Pa-Höcker gebildet. In diesem Tal gleitet die Außenwand des Talonid
bei der vertikalen Bewegung des Kiefers auf und nieder. Und als eine
bessere Anpassung an dieses Relief des Oberzahnes differenzierte sich
aus dem Außenrand des Talonid ein Hügel, der somit vollständig eine
Bildung des bukkalen Odontomeren oder vom Protomer war. Dieser
Höcker ist mit dem Pp-Wöcker der Oberzähne homolog zu stellen,
eine Homologisierung, welche erst später näher gegründet werden kann.
Die jetzt erreichte Entwicklungsstufe ist in Fig. 31, Schema e
dargestellt.
Indem nun im hinteren Abschnitt der unteren Zähne sich der
beschriebene Vorgang vollzog, spielte sich auch im vorderen Teil eine
progressive Entwicklung ab. Dieser Teil bleibt anfänglich, wenn sich
das Talonid ausbildet, aus einem einzigen Höcker bestehen, der seit-
lich zusammengedrückt an seinem vorderen Ende nicht selten mit
einer unansehnlichen Nebenspitze ausgestattet ist. Aus dem Verlauf
der weiteren Entwicklung muß ich schließen, daß der bisweilen sehr
kräftig entwickelte Höcker nicht ausschließlich zum protomeren Teil
des Zahnes gehört, sondern daß dessen lingualer Abhang potentia
Material des Deuteromer enthält. Denn es läßt sich bei Vergleichung
mehrerer Affendentitionen leicht feststellen, daß aus diesem Abhang
eine zweite Spitze sich entfaltet, ja es macht sogar nicht selten den
Eindruck, daß der Höcker der Länge nach in zwei Hälften: eine bukkale
und eine linguale zerlegt wird, welche beide gleich groß sind. Sehr
schön läßt sich dieser Spaltungsvorgang in seinen progressiven Ab-
stufungen als individuelle Variationen an den vordersten Prämolaren
der Primaten verfolgen. Ein sehr günstiges Objekt für diese Wahrneh-
mungen bietet der erste Prämolar von Siamang und nicht weniger der
leichter zu verschaffende erste Milchmolar des Menschen. Es wird davon
später noch besonders gesprochen werden, vorläufig begnüge ich mich
mit der Verweisung nach Fig. 34, worin der dritte untere Prämolar von
drei Individuen von Nycticebus tardigradus, von der mesialen Fläche
gesehen, abegebildet ist. Die rechte Seite jeder Skizze entspricht der
bukkalen Kante des Zahnes. Das niedrige Talonid ist durch die kegel-
förmige Vorderhälfte fast ganz verdeckt. Beim Individuum a war der
die Vorderhälfte einnehmende Höcker einfach, beim Individuum b
war dessen Gipfel durch eine kurze Furche zerklüftet und in eine etwas
größere bukkale und eine kleinere linguale Spitze zerlegt, bei c schließlich
konnte man in der Tat von zwei Höckern sprechen, von denen der
äußere der stärkere ist.
Wie gerade bemerkt wurde, ist dieser Verdoppelungs Vorgang
in der vorderen Hälfte der unteren Zähne beim ersten Milchmolaren
des Menschen in seinen verschiedenen Phasen als individuelle Variationen
leicht zu verfolgen. Eine sehr lehrreiche Serie liefert gleichfalls der
erste Milchmolar der Anthropoiden und des Menschen. Es ist in Tafel-
f igur 9 eine solche Serie abgebildet worden. Die Fig. a gibt den erwähnten
Zahn von Gorilla wieder, Fig. b von Orang, Fig. c von Schimpanse.
Fig. d von Hylobates und Fig. e vom Menschen. Man überzeugt sich,
wie allmählich die einfache Spitze, welche den Zahn bei Gorilla kenn-
zeichnet, in eine äußere und innere sich spaltet, indem der Höhenunter-
schied zwischen vorderer und hinterer Hälfte sich gleichzeitig aus-
gleicht, Das ist die Fotee davon, daß mit der Differenzieruno; der vorderen
106
Zweites Hauptstück.
b
Zahnhälfte jene des Talonid gleichen Schritt hält. Die Entfaltung der
morphologischen Potenzen geht bei den Unterkieferzähnen nicht
sukzessive, sondern es hat mehr die diniere Zahnanlage als Ganzes
zum Gegenstand. Die Frage, warum bei Gorilla der erste Milchmolar
eine mehr undifferenzierte Form besitzt als beim Menschen, können
wir hier beiseite lassen; daß es sich bei den Anthropoiden im allge-
meinen und bei Gorilla im besonderen um eine Kückbildung von einer
vorher mehr differenzierten Form handeln sollte, kommt mir nicht
wahrscheinlich vor. Der Vollständigkeit wegen sei noch
bemerkt, daß bei Orang bisweilen zwei deutlich ge-
sonderte Höckerchen vor dem Talonid sich finden und
bei Schimpanse bisweilen auch wohl, im Gegensatz zu
dem abgebildeten Zahn, ein einziger. Die individuellen
Variationen kommen hier nicht weniger als beim Men-
schen vor.
Welchen Wert haben nun diese beiden prätaloniden
Höcker, wie ich sie vorläufig kurzhin nennen will? Zur
Entscheidung dieser Frage muß man von der Tatsache
Ausgang nehmen, daß am Unterzahn die vordere und
hintere Hälfte ungleich alt sind, wie an den Oberzähnen
die bukkale und linguale Hälfte. Das Talonid ist ein
jüngerer Zuwachs, eine distale Apposition am älteren,
vorderen Teil. Diese vordere Hälfte repräsentiert — man
vergleiche die Schemata in Fig. 31 — der ursprüngliche
Zahn, der hier wie bei den einfachst gebauten aniso-
gnathen Gebissen mit den ebenfalls mehr einfach kegel-
förmigen Zähnen des Oberkiefers alterniert. Man kann
sich somit die beiden Höcker der Vorderhälfte des Unter-
zahnes als eine bukkale und linguale Spitze an jenem
einfachen Zahn denken. Und diese Überlegung macht
die Homologisierung beider Spitzen ziemlich leicht. Denn
sie können nur die Haupthöcker beider Odontomeren
darstellen und zwar der bukkale den P-Höcker des
Protomer und der linguale den D-Höcker des Deutero-
mer. Ist diese Homologisierung richtig — und es scheint
mir keine andere möglich zu sein — dann begegnet uns
hier ein Vorgang, in dem der Unterschied zwischen der
Differenzierung der oberen und unteren Zähne sich klar
und unzweideutig äußert. Man vergleiche dazu nur die
Weise, in welcher der D- Höcker bei den oberen Zähnen
entstand, mit jener bei den unteren. Im ersteren Fall
erscheint der D-Höcker zuerst als eine niedrige Er-
habenheit, eine linguale Vorwölbung am kräftigen Haupt-
höcker P des Protomeren. Gleich bei ihrer Entstehung
zeigt diese Bildung also schon eine gewisse Selbständigkeit; sie ist
morphologisch vom protomeren Haupthöcker gesondert, und je kräftiger
sich der .D-Höcker ausbildet, desto schärfer tritt diese Selbständigkeit
hervor, bis er schließlich dem P-Höcker an Größe gleich kommt. Bei
den unteren Zähnen dagegen besteht die vordere Hälfte anfänglich
nur aus einer einzigen kegelförmigen Spitze, die größer wird, bis sie
schließlich in zwei Hälften, eine äußere und eine innere, zerfällt. Hieraus
muß man schließen, daß jener einfache prätalonide Kegel potentia den
C
Fig. 34. Nyc-
tycebus tardi-
gradus. Unte-
rer dritter Prä-
molar von drei
Exemplaren.
Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 107
P-Höcker vom Protomer und den .D-Höcker des Deuteromer ent-
hält. In dieser Weise ist er dann auch in Schema a von Fig. 31 bezeichnet
worden. Die morphologische Manifestation der Dimerie des Zahn-
keimes entfaltet sich daher bei den oberen und unteren Zähnen in etwas
differenter Weise. Bei den unteren nehmen beide Odontomeren sofort
einen gleichen Anteil an der Bildung des Zahnes, ohne daß es vorläufig
zu einer morphologischen Abgrenzung zwischen den Anteilen beider
Odontomeren kommt. Erst nachdem der Zahn einen bestimmten Ent-
wicklungsgrad erreicht hat, tritt eine Trennungsfurche zwischen den
Bezirken beider Odontomeren auf. Beim oberen Zahn dagegen bildet
zuerst das Protomer die Hauptmasse des Zahnes und das Deuteromer
erscheint anfänglich als eine Nebenknospe, ein Akzessorium, an dessen
lingualer Seite, das allmählich zur Größe des protomeren Höckers
emporwächst. Es spielt sich somit im prätaloniden Teil der unteren
Zähne ein Vorgang ab, identisch mit jenem, der im Talonid konstatiert
werden konnte. Denn das Talonid stellt anfänglich eine Verlängerung
des Zahnes dar, an deren Bildung ebenfalls sowohl Protomer als Deutero-
mer sich beteiligen, ohne daß eine Trennungsmarke die Gebiete beider
Odontomeren abgrenzt. Erst später tritt in dem Talonid eine morpho-
logische Differenzierung auf, es läßt bestimmte Höcker aus sich ent-
stehen, von denen wir den zuerst erscheinenden, aus dessen bukkalem
Rand auftretenden, bereits keimen gelernt haben. Der Unterschied
in der Differenzierungsgeschichte unterer und oberer Zähne kommt
somit darauf zurück, daß die letztgenannten sich komplizieren infolge
eines sukzessiven Zuwachses von Tuberkeln, die latenten Potenzen
der Höcker werden nacheinander aktiviert; bei den unteren Zähnen
dagegen wächst der Zahnkeim als Ganzes zunächst bis zu einem ge-
wissen Grade unter Beteiligung sämtlicher Höckerpotenzen aus und
es erfolgt die morphologische Differenzierung erst nachher. Dieser
differente Entwicklungsgang wird durch die verschiedene Lagerung
beider Zahnreihen zueinander und die daraus resultierende not-
wendige Anisomorphie der Elemente beider Reihen bedingt. Diese
Ungleichförmigkeit haben wir wenigstens zum Teil schon aus den
funktionellen Beziehungen zwischen oberen und unteren Zähnen ab-
geleitet.
Daß der Haupthöcker vom Protomer und jener vom Deuteromer
miteinander verbunden eine kräftige Spitze bilden, wie im prätaloniden
Teil der unteren Zähne, ist keine isoliert dastehende Erscheinung.
Ähnliches haben wir schon einmal nachgewiesen. Ich erinnere dazu an
das vorher über die morphologische Natur der zu kräftigen Hauern
entwickelten Eckzähne gewisser Affen Gesagte. Auch diese Canini
sind nicht wie jene des Menschen ausschließlich aus dem Haupthöcker
des Protomer aufgebaut, sondern es beteiligen sich die Haupthöcker
beider Odontomeren an deren Zusammensetzung.
Nachdem wir über die essentielle Differenz in der Entwicklung
oberer und unterer Zähne orientiert sind, wobei gleichzeitig gezeigt
ist, daß die Manifestation der dinieren Natur des Säugerzahnes in beiden
Zahnreihen eine andere ist, ist es nicht schwer, die jetzt folgenden
weiteren Entwicklungsstufen zu verfolgen und in Verbindung mit
den Entwicklungserscheinungen der oberen Zähne zu bringen. Denn
auf dem eingeschlagenen Wege gehen in wechselseitiger Beziehung
beide Zahnreihen weiter, die oberen Zähne entfalten neue deuteromere
108 Zweites Hauptstück.
Höcker, die unteren lassen als Reaktion darauf auf dem Talonid die
Höcker zur morphologischen Differenzierung kommen.
Die Entstehung der Zahnform in Fig. 31/ ist uns jetzt verständ-
lich geworden, und auch die funktionelle Beziehung zwischen oberen
und unteren Zähnen in diesem Entwicklungsstadium. Es ist dieses
Schema keine rein theoretische Konstruktion. Denn bei Lemuren
z. B. ist, wie aus Fig. 32 ersichtlich, der erste Molar ganz wie im Schema/
von Fig. 31 gebaut. Der prätalonide Teil des Zahnes besitzt eine äußere
und innere Spitze, wozu am Vorderrande noch eine Nebenspitze hinzu-
kommt, welche in dem Schema nicht angedeutet ist. Das Talonid
ist breit, aber nur der bukkale Randteil trägt einen Höcker, der gleich
groß ist, wie der bukkale des prätaloniden xibschnittes.
Es ist in den vorangehenden Auseinandersetzungen dargestellt,
daß der bukkale Talonidhöcker — den ich mit Pft der oberen Zähne
identifiziere — erscheinen sollte, ehe im prätaloniden Teil die Höcker
Pa und D sich voneinander emanzipiert haben. Diese Reihefolge
in der Darstellung der Phänomenen ist eine etwas willkürliche, es
kommt nicht selten vor, daß Pa und D selbständig geworden sind,
während am Talonid noch keine deutliche Höckerbildung zustande
gekommen ist.
Über die weiteren Differenzierungserscheinungen können wir uns
kurz fassen. Gehen wir dazu wieder von dem leichter verständlichen
oberen Zahn aus. Nach der Entwicklung des Haupthöckers D tritt,
wie wir früher gezeigt haben, im Deuteromer die hintere Nebenspitze 4
auf, welche bei nicht wenigen Primaten eine Größe, wie der zugehörige
Haupthöcker D erreicht. Diese Spitze nimmt die hintere linguale Ecke
der Krone ein. (Vgl. Fig. 31, Schema g. ) Für die Vergrößerung dieser
Spitze des überzahltes ist eine Auseinanderschiebung der Höcker Pa
und D des Unterzahnes eine votwendige Vorbedingung, denn es wird
der hintere Abhang dieser Spitze 4 eingefaßt zwischen den vorderen
Abhängen der beiden genannten Höcker des Unterzahnes. Darin
äußert sich wieder eine AVechselbeziehung in der Formentwicklung
oberer und unterer Zähne. Denn so lange die Höcker P und D desünter-
zahnes noch zu einem einfachen Kegel verbunden sind, ist der prä-
talonide Abschnitt dieser Zähne schmaler als der talonide Abschnitt.
Der Zahn hat dann die eigentümliche von Topinard als ,, knöpf loch-
form" bezeichnete Gestalt1). Die Entwicklung der Spitze 4 im Ober-
zahn steht nun in korrelativer Beziehung zur Auflösung im Unter-
zahn des vorderen Kronenkegels in seinen beiden Komponenten Pa
und D, wodurch die vordere Hälfte sich verbreitert, eine gleiche trans-
versale Dimension erhält wie die hintere Hälfte, wodurch die ursprüng-
liche knopflochartige Gestalt des Unterzahnes verloren geht und
derselbe mehr regelmäßig viereckig wird.
Es ist leicht einzusehen, daß durch diese Differenzierung der
funktionelle Wert des Zahnes wieder gesteigert wird, denn war anfäng-
lich die Preßwirkung beschränkt auf den Talonid des Unterzahnes
und den Z)-Höcker des Oberzahnes, da hat die Verbreiterung des prä-
taloniden Zahnabschnittes und die sich einstellende mechanische Be-
ziehung desselben zum Höcker 4 des Oberzahnes zur Folge, daß jetzt
1) P. Topinard, De Involution des Molaires et Premolaires chez les Pri-
mates. L' Anthropologie 1902.
Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 109
auch eine Preßwirkung zwischen diesen Teilen der oberen und unteren
Zähne hinzutritt. Allerdings geschieht das unter Verlust der Scheren-
wirkung, welche anfänglich Aufgabe der bezüglichen Zahnteile war.
Der Gebißmechanismus änderte sich also nicht unwesentlich durch
diese höhere Ausbildung der Zähne. Unter dem nämlichen Gesichts-
punkt fällt die gleichzeitig stattfindende weitere Formentfaltung am
taloniden Abschnitt des Unterzahnes.
Es differenziert sich am lingualen Rande desselben ein Höcker,
der seiner Bildungsstätte entsprechend ein Produkt vom deuteromeren
Abschnitt des Zahnes sein muß, und kein anderer sein kann als die
hintere Nebenspitze 4 dieses Zahnes. Durch die Entstehung dieser
hinteren lingualen Spitze am Unterzahn wird erreicht, daß beim
Schließen der Kiefer jeder der beiden lingualen Höcker des Oberzahnes
zwischen vier Tuberkeln von Unterzähnen gefaßt wird, sie werden
in dem von vier unteren Höckern umschlossenen Tal aufgenommen
und beim Druck beider Gebißteile aufeinander in dasselbe eingesperrt.
Es vollziehen sich gelegentlich wohl noch weitere Differenzierungen
an den unteren Zähnen, dieselben sind aber von untergeordneter
Natur, betreffen weniger den Entwicklungsgang dieser Zähne im all-
gemeinen und tragen mehr einen speziellen Charakter. Von den-
selben verdient das bekanntlich nicht seltene Auftreten eines fünften
Höckers erwähnt zu werden. Am häufigsten bildet sich dieser Höcker
am bukkalen Rande des Zahnes, wie z. B. bei den Anthropoiden oder
er erscheint mehr nach hinten verschoben, wie an dem letzten Molaren
der Semnopithecidae und Cynopithecidae. Dieser dem Talonidrande
entsprossene Höcker läßt nur eine Deutung zu, Es ist die hintere Neben-
spitze 2. des Protomer, die bei den oberen Zähnen niemals eine etwas
hervorragende Bedeutung erreicht. Das Auftreten dieses Tuberkels
ist bekanntlich sehr stark wechselnd, bald entsteht er nur am dritten
Molaren (Cercopithecidae), bald an allen (Anthropomorphen) oder es
fehlt am mittleren (Mensch). In dieser Unbeständigkeit äußert sich die
ursprüngliche Natur des Höckers als Nebenspitze. Bei den Semno-
pitheken, Cynopitheken und Makaken erreicht dieser Höcker nicht
selten eine ansehnliche Größe, und wird daher wohl als dritter Lobus
dieses Zahnes angedeutet. Das Vorkommen dieses Höckers an allen
Molaren der Anthropoiden und gelegentlich auch des Menschen ist
wieder als eine primitive Erscheinung zu betrachten, eine Persistenz
eines primitiven Verhältnisses, wodurch sich aufs neue das Gebiß des
Anthropoiden und des Menschen weniger spezialisiert erweist als jenes
der meisten Affen.
Eine zweite Stelle, welche den Sitz akzessorischer Höcker sein
kann, ist der Vorderrand. Hier trifft man nicht selten ein — oder in
seltenen Fällen zwei Höckerchen an, welche die vordere Nebenspitze
von Protomer und Deuteromer entsprechen, also als Spitze 1 und 3
bezeichnet werden müssen.
Es ist im obenstehenden der Entwicklungsgang der unteren
Zähne verfolgt worden, besonders im Verband mit der Korrelation
zwischen diesen Zähnen und jenen des Oberkiefers. Der mechanische
Faktor tritt dabei in den Vordergrund, und wie ich meine, ist hier
zum ersten Male in der Literatur der Versuch angestellt worden, die
Morphogenese oberer und unterer Zähne auf Grund gegenseitiger Be-
ziehungen zur Darstellung zu bringen. Allerdings war es notwendig,
110
Zweites Hauptstück.
dabei das Prinzip in den Vordergrund zu stellen, daß obere und untere
Backzähne verschiedenen Entwicklungsgängen gefolgt sind. Die
Formübereinstimmung, welche schließlich bisweilen erzielt wird,
gründet sich nicht auf einen gleichen Entwicklungsgang, sondern
darauf, daß die morphogenetischen Potenzen in den Zähnen beider
Reihen die gleichen waren.
Fig. 35. Schemata zur Erläuterung der Entwicklung der unteren Zähne.
Wir werden jetzt noch kurz diesen Entwicklungsgang schildern
unter Beseitigung der mechanischen Einflüsse, welche formbildend
wirkten, und mehr im Verband mit der dinieren Anlage des Zahnes.
Die Fig. 35 wird uns dabei als Leitfaden dienen. Das
Schema a dieser Figur stellt die Krone des Unterzahnes
in ihrer einfachsten Gestalt dar, aufgebaut aus einem
Kegel mit einem vorderen zugespitzten und einem
distalen mehr abgerundeten Band, nicht selten mit
einem Basalsaum ausgestattet. Diese seitlich kom-
promierte kegelförmige Zahnkrone entspricht nicht
einem einzigen Höcker des später völlig entwickelten
Zahnes, sondern enthält die Haupthöcker der beiden
Odontomeren. Im Gegensatz zu den Oberzähnen
beteiligen sich sofort die beiden Odontomeren in
gleichem Maße am Aufbau des Zahnes. Der hintere
Basalsaum, der an derart gestalteten Zähnen sehr
häufig ist, und z. B. in Fig. 36 — den unteren
zweiten Milchmolar von Nyeticebus tardigradus in
oberer und hinterer Ansicht darstellend — zu ersehen
ist, hat dann auch genetisch eine andere Bedeutung
als der Basalsaum an den oberen Zähnen. Hier stellt
er das Deuteromer in seiner einfachsten Manifestation dar, beim
Unterzahn dagegen ist es die Grundmasse, aus der sich bald
das Talonid entwickeln wird. An diesem Basalsaum müssen beide
Odontomeren sich beteiligen.
Fig. 36. Nyeti-
cebus tardigradus.
Zweiter unterer
Milchmolar, avon
distal, b von oben.
Die Differenzierung der Unterkieferzähne. Hl
Der Gegensatz in der Bildlingsstelle des Basalbandes bei oberen
und unteren Zähnen hat schon die Aufmerksamkeit mehrerer Forscher
auf sich gezogen. Schon bei den niedrigsten mesozoischen Säugern
tritt es an dieser Stelle auf, wie folgender Satz von Osborn beweist:
„The premalors of Dromatherium have no trace of a cingulum. In
Microconodon they show a faint posterior cingulum"1). Gleichfalls
sagt Schlosser in seinem Aufsatz über die Differenzierung des Säuge-
tiergebisses2): „Der hinterste — obere — Pr. treibt auf seiner Innen-
seite eine Knospe, die sich allmählich zu einem größeren oder bleibenden
Iuuenhöcker auswächst. Gleich wie am oberen Prämolar, so entsteht
auch am unteren Prämolar ein Auswuchs, aber nicht auf der Innen-
seite, sondern am Hinterrande. Von derartigen Zähnen, wie die
eben geschilderten, lassen sich die Prämolaren aller Fleischfresser
inkl. Insektivoren sowie jene der Affen, Huftiere und wohl auch aller
übrigen Säuger ableiten." Man sieht, daß die differente Lagerung des
Basalsaumes an den Zähnen beider Gebißreihen von Schlosser deut-
lich erkannt ist und scharf betont wird.
Die in Fig. 35a skizzierte Zahnform ist bei den Prosimiae außer-
ordentlich häufig im vorderen Teil des Gebisses vertreten. Als Bei-
spiele nenne ich den ersten Prämolar von Propithecus, Indris, Lemur,
Tarsius; den zweiten Prämolar von Indris, Lemur, Tarsius. Bei den
Affen ist dieselbe z. B. durch den ersten Milchmolar von Hapale ver-
treten.
Das nächste Entwicklungsstadium des Unterzahnes — in Fig. 356
schematisiert — kennzeichnet sich durch die Entwicklung des Basal-
saumes zu einem wahren Talonid, wovon eine Zusammensetzung des
Zahnes aus zwei scharf von einander abgesetzten Hälften die Folge ist.
Die vordere Hälfte hat eine hohe kegelförmige Gestalt, die hintere ist
niedriger, breiter, mit konkaver Oberfläche. Das Talonid ist ebenso
wie der prätalonide Teil eine Bildung beider Odontomeren (Fig. 35, Pd).
Ich bevorzuge es von einem prätaloniden Abschnitt zu sprechen
und nicht von einem Trigonid. Denn die Bezeichnung Talonid habe
ich nur der Bequemlichkeit wegen aus der Cope-Osbornschen Nomen-
klatur entnommen, weil sie sich eingebürgert hat, und auch weil der
von mir geschilderte Differenzierungsgang dieses Zahnabschnittes in
mancher Hinsicht mit jenem von Osborn übereinstimmt. Aber für
ein dem Osbornschen Begriff Trigonid entsprechenden Zahnteil ist
in meiner Theorie kein Platz. Für diesen Begriff, ebensowenig wie für
das Trigon oder Talon, bestehen zwischen unseren Theorien keine Be-
rührungspunkte.
Die erste Höckers pezialisierung kann nun entweder im Talonid
oder im prätaloniden Teil des Zahnes auftreten. Ich wähle für diese
Übersicht den letzteren Fall. Die hier auftretende Spezialisierung be-
steht darin, daß der kegelförmige Höcker sich in zwei Spitzen teilt
(Fig. 35 c), eine bukkale und eine linguale. Erstererist der Haupthöcker P
vom Protomer, letzterer jener vom Deuteromer (D). Infolge dieser
Sonderling ist der prätalonide Abschnitt des Zahnes breiter geworden.
1) H. F. Osborn, The upper triassic mammals. Proc. Amer. Philos. Soc. 1887.
2) M. Schlosser, Die Differenzierung des Säugetiergebisses. Biol. Centralbl.
1890/91, Bd. IV, S. 238.
112 Zweites Hauptstück.
Dann folgt eine Entstehung von Höckern auf dem Rande des
Talonid. Meistenteils erscheint zuerst ein bukkaler Höcker (Fig. 3öd).
DieHomologisierung desselben bietet, wenn der weitere Differenzierungs-
gang des Zahnes unbekannt ist. Schwierigkeit. Denn man könnte ge-
neigt sein, in denselben die hintere Nebenspitze vom Protomer zu
erblicken. Die weitere Differenzierung läßt aber eine andere Homologi-
sierung als die einzig richtige erkennen. Er kann nur dem Pp-Röcker
des Oberzahnes homolog sein, denn die hintere Nebenspitze vom Pro-
tomer tritt gelegentlich später, als der sogenannte dritte bukkale
Höcker auf. Man muß sich somit denken, daß auch im Unterzahn
die Bildungsmasse des protomeren Haupthöckers zwei Höcker aus
sich hervorgehen läßt, die wie im Oberzahn als ein vorderer und hinterer
nebeneinander gelagert sind.
Daß die eben gegebene Homologisierung die richtige ist, geht, wie
gesagt, aus dem weiteren Differenzierungsvorgang am Talonid hervor.
Denn es kommt hier zur Sonderung von noch zwei Tuberkeln, einer
an der lingualen Seite, und einer an der Stelle, wo der bukkale Rand
sich im Hinterrande umbiegt (Fig. 3be und /). Der letzterwähnte
kann völlig auf den Hinterrand rücken. Von diesen beiden Differenzie-
rungsprodukten des Talonid ist der linguale der
meist konstante, der dritte bukkale, auch wohl als
unpariger hinterer Höcker angedeutet, ist in seinem
Auftreten weit mehr schwankend. Der linguale kann
nur die hintere Nebenspitze 4 vom Deuteromer dar-
stellen, der dritte bukkale die hintere Nebenspitze
2 vom Protomer.
Schließlich können am Vorderrande des Zahnes
. zwei Höckerchen erscheinen (Fig. 35g), welche auch
unterer Molar6 des wo^ zu e*nem einzigen zusammengekommen sein
Menschen. Ideale können, und dann einen etwas aufgeworfenen Vorder-
Form. rand am Zahn bilden, nach hinten durch eine trans-
versale Furche — die Fovea anterior oder vordere
transversale Furche der Autoren - - begrenzt. Diese beiden Höcker-
chen stellen die vorderen Nebenspitzen vom Proto- und Deuteromer
dar und müssen daher als 1 resp. 2 bezeichnet werden. Das in
Fig. 35g gegebene Schema stellt den meist vollständigen Unter-
kieferzahn vor, der überhaupt bei den Primaten denkbar ist. Daß
dieses Schema jedoch nicht eine abstrakte Form wiedergibt, sondern
eine gelegentlich auftretende wirkliche Form, geht aus Fig. 37 her-
vor. Diese Figur stellt einen unteren zweiten Molaren vom Menschen
dar. In seiner geradezu idealen Gestalt mit noch fast ganz intakter
Kaufläche, ist dieser Zahn der schönste Menschenmolar, den ich je
gesehen habe. Wie man sich leicht überzeugen kann, sind an diesem
Objekt sämtliche Höcker und zu Höckerchen ausgebildete Nebenspitzen
entwickelt.
Nach dieser kurzen Zusammenfassung des Entwicklungsganges
der unteren Zähne werden wir noch einmal einen Blick auf die
Differenz im Werdegang der oberen und unteren Zähne werfen.
Wenn man bei den rezenten Primaten die Gestalt der oberen und
unteren Zähne miteinander vergleicht, dann fällt es auf, daß es, was
die Anordnung der Höcker und deren Zahl betrifft, Geschlechter gibt
bei denen obere und untere Zähne einander sehr ähnlich sind, und
Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 113
daneben solche, bei denen ein wesentlicher, bisweilen sogar sehr großer
Gegensatz zwischen beiden Gruppen besteht. Selbstverständlich treten
diese Unterschiede und Übereinstimmungen am meisten bei den Molaren
hervor. Zieht man in der Vergleichung auch die Gebisse der Urpri-
niaten heran, dann ist es leicht festzustellen, daß die Differenzen
zwischen den Zähnen beider Reihen auch hier nicht gering sind. Diese
Tatsache weist auf eine bestimmte Entwicklungstendenz hin, die für
die Frage nach der verwandtschaftlichen Beziehung der Primaten
untereinander nicht ohne Bedeutung ist. Denn wenn die oberen und
unteren Molaren der Urprimaten sich durch ihre Anisomorphie kenn-
zeichnen, und bei den heutigen Primaten solche Geschlechter vorkommen,
bei welchen die Zähne einander sehr ähnlich geworden sind, dann darf
daraus der Schluß gezogen werden, daß der Entwicklungsgang dahin-
zielt, die Anisomorphie der oberen und unteren Molaren auszugleichen.
Es folgt hieraus, daß solche Gebisse als primitiver zu betrachten sind,
bei denen obere und untere Zähne ungleichförmiger sind. Dieses Prinzip
wird später Verwendung finden.
Bei der oben gegebenen Darstellung der Entstehung der Zahn-
formen war ich daraufhin bestrebt, diese Formen verstehen zu lernen,
aus den mechanischen Einflüssen, welche die obere und untere Reihe
gegenseitig aufeinander ausüben in Verbindung mit dem Grund-
prinzip meiner Dimertheorie des Säugerzahnes. Die sukzessive Ent-
faltung der höher differenzierten Zähne ist nicht lediglich eine Folge
von Mechanik, sondern das Resultat der Einwirkung mechanischer
Faktoren auf Elemente mit bestimmten morphologischen Potenzen.
Biologisches und Mechanisches wirkten bei der Entstehung des Gebisses
zusammen. Diese Zusammenwirkung hat in Verbindung mit der un-
gleichen Lage beider Zahnreihen eine Verschiedenheit im Entwicklungs-
gang zur Folge, welche oben ausführlich geschildert worden ist.
Bis jetzt war von den Wurzeln der unteren Zähne noch nicht
die Rede. Eine ähnliche Erscheinung ist hierbei zu konstatieren, wie
am Kronenteil, wenn mit den oberen Zähnen verglichen. Denn auch
die Wurzeln der unteren Zähne weichen in ihrer Differenzierungsweise
von jenen der oberen Zähne ab. Doch bleiben auch bei diesen die näm-
lichen mechanischen Faktoren als formbestimmend bestehen als bei
jenen. Es seien die Hauptpunkte der Differenzierung der Wurzeln
im Oberkiefer dazu kurz in Erinnerung gebracht. Im Anfang war der
trikonodonte Zahn einwurzelig, diese Wurzel gehört zum Protomer.
Sodann spaltet sich diese Protomerwurzel in einer vorderen und einer
hinteren, die ein Gewölbe mit vorderem und hinterem Pfeiler darstellen,
das dem auf die Krone ausgeübten Druck Widerstand leistet. Wenn
im Laufe der weiteren Kronenentwicklung das Deuteromer sich aus-
bildet, entwickelt sich gleichzeitig die zu diesem Odontomer zugehörige
Wurzel, die linguale. Eine weitere Differenzierung kommt bei den Pri-
maten nicht vor. Als Varietät kommt es bisweilen beim Menschen zu
einer Spaltung der lingualen Wurzel.
Bei den Unterzähnen verläuft die Wurzelentwicklung in etwas
abgeänderter Weise. Auch hier fängt der Zahn als ein einwurzeliges
Gebilde an. Diese Wurzel trägt die kegelförmige Krone, welche, wie
vorher auseinandergesetzt, ein Bildungsprodukt vom Proto- und
Deuteromer ist. Daher kann auch diese Wurzel strictiori sensu nicht
als vollständig homolog mit der protomeren WTurzel der oberen Zähne
ßolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. o
114 Zweites Hauptstück.
betrachtet werden. Wenn später im Unterkiefer die Zähne ein Talonid
zur Entwicklung bringen, wird letzteres gleich von Anfang an durch
eine besondere Wurzel --die Talonidwurzel — getragen. Und auch
diese ist niclil ausschließlich auf einen der beiden Odontomeren zurück-
zuführen, denn, wie vorher dargetan wurde, ist das Talonid eine Bildung
beider Odontomeren.
Wenn die Talonidwurzel der unteren Zähne entwickelt ist, dann
ist hier der Form nach ein gleiches Stadium erreicht, wie beim zwei-
wurzeligen trikonodonten Zahn des Oberkiefers. Denn dann finden sich
in beiden Kiefern Zähne, deren Krone sich auf eine vordere und hintere
Wurzel stützt, wie der Schlußstein eines Gewölbes. Bei den Unter-
kiefern bleibt bekanntlich dieser Zustand bestehen. Bisweilen spaltet
sich die vordere Wurzel, eine Erscheinung, die vielleicht zu deuten ist
als eine Auflösung dieser Wurzel in seinem proto- und deuteromeren
Komponent.
Wir schließen hiermit die Besprechung der Morphogenese der
unteren Zähne. Es war mein Zweck, in diesem Hauptstück nur die
allgemeinen Gesichtspunkte festzulegen, wozu ich durch das Studium
der Unterkieferzähne gelangt bin. eine Theorie der Morphogenese
dieses Unterteiles des Gebisses zu geben. Für die Anwendung dieser
Gesichtspunkte und gleichzeitig die weitere Begründung der Theorie
muß ich auf das Hauptstück venveisen, worin das Primatengebiß
als Ganzes besprochen wird.
Ehe ich dazu übergehe, wünsche ich in einem besonderen Kapitel
auf den Begriff der Zahnkonkreszenz im allgemeinen näher einzugehen,
denn die von mir verfochtene Uimertheorie, wie sie in dem vorangehen-
den Hauptstücke auf das Gebiß der Primaten Anwendung fand, ist
in ihrem Wesen eine bio-mechanische Theorie. Sie lehrt die Zahnformen
kennen als Resultanten von mechanischen Faktoren. Und diese Seite
der Theorie ist besonders in diesem Hauptstück in den Vordergrund
gebracht. Andererseits jedoch darf nicht übersehen werden, daß diese
mechanischen Faktoren nur die auslösenden Momente darstellen.
Sie agierten auf eine Masse, welcher bestimmte prospektive Potenzen
innewohnten, welche durch die mechanischen Impulse in bestimmter
Reihenfolge aktiviert wurden. Die Art dieser prospektiven Potenzen
wurden jedoch durch ein vorangegangenes physiologisches Geschehen —
die Vereinigung der Anlagen von primitiven Zähnen — bestimmt.
Und ich#werde jetzt auf diesen physiologischen Prozeß ausführlich ein-
gehen, auch weil darüber im Laufe der letzten Zeit meine Ansichten
ein wyenig geändert sind, und meine Vorstellung vom Prozeß sich, wie
ich glaube, geklärt hat.
Drittes Hauptstück.
Über das Wesen der Zahnkonkreszenz.
In der ersten dieser Studien ist auf S. 111 vorübergehend die
Frage gestellt worden, welches die Ursache gewesen sein kann, daß bei
der Umbildung des Reptiliengebisses zum Säugergebiß zwei Genera-
tionen einer Zahnfamilie miteinander verwachsen sind und dadurch
ein Produkt von höherem funktionellem Wert bildeten. An jener Stelle
äußerte ich mich darüber folgenderweise: „Ob die Kieferverkürzung
auch für diesen Vorgang ein ätiologisches Moment war, darüber bin
ich im unsichern. Es sind mir die Gründe, warum diese Verwachsung
zustande kam, nicht deutlich. Denn bessere Anpassung an ihre Funktion
könnte solche Formen fixiert haben, sie kann dieselbe nicht ge-
schaffen haben." Und auf S. 116 findet sich weiter der folgende dies-
bezügliche Passus: „Wir können anläßlich der Konkreszenzprobleme
wohl Betrachtungen a posteriori anstellen und darauf hinweisen, daß
das Produkt der Verwachsung ein funktionell mehr vollkommenes
Organ war, aber diese Wahrheit entledigt uns nicht der Aufgabe,
das Kausalmoment zu erforschen, welches zwei ursprünglich getrennte
Organe zwang, sich zu einem einzigen zu verbinden." In den folgenden
Seiten wünsche ich nun diese Frage näher ins Auge zu fassen. Nicht
weil es mir gelungen sein sollte, die Grundursache dieses ontogenetischen
Prozesses zu erforschen, sondern weil ich über die mechanische Seite
der Erscheinung zu einer mehr vollständigen und mehr richtigen Vor-
stellung gekommen zu sein glaube, als zur Zeit, wo ich die zitierten
Sätze schrieb. Vieles haben dazu beigetragen Untersuchungen über die
Entwicklung der Zähne und der Zahnleiste bei den Selachiern, welche
ich seitdem angestellt habe, aber auch nicht wenig eine mehr eingehende
Kenntnisnahme der Abhandlung von Dependorf über die Konkres-
zenztheorie1). Der Inhalt dieser Abhandlung war mir, als ich meine
erste Studie schrieb, nur oberflächlich bekannt, sonst würden die vom
Autor darin gemachten Bemerkungen und Auffassungen sich wohl
an gewissen Stellen meiner Studie reflektiert haben. Denn mit den in
jener Abhandlung ausgesprochenen Prinzipien kann ich mich sehr gut
vereinigen.
Fangen wir somit an, die Bemerkungen von Dependorf über
die Konkreszenz von Zähnen kurz auszuführen.
Es will mir scheinen, daß die Bedenken. welche man gegen den
Konkreszenzprozeß ins Feld führen kann, von Dependorf sehr richtig
1) T. Dependorf, Zur Frage der sogenannten Konkreszenztheorie. Jen.
Zeitschr. f. Naturw. 1906, Bd. XLII.
s*
Hß Drittes Hauptstück.
in dem folgenden Satze zur Äußerung gebracht sind: „Wirerschweren
uns ganz offenbar den genannten Vorgang in der Entwicklung des Säuger-
zahnes durch den Ausdruck „Verschmelzung". Man stellt sich darunter
einen äußerlich sichtbaren und in seiner Entwicklung nachweisbaren
aktuellen Prozeß vor, der aber in Wirklichkeit gar nicht vorhanden
sein kann" (1. c. S. 543). Diese Bedenken von Dependorf sind richtig,
besonders wenn man den Elementen, welche die Konkreszenz eingehen,
schon einen gewissen Grad von Selbständigkeit verleiht. Auch dagegen
warnte der Autor schon, wenn er gegen die Konkreszenztheorie anführte,
daß die Zahnanlagen, welche miteinander verschmelzen sollen, doch
sämtlich nahezu die gleiche Entwicklungsstufe einnehmen müssen,
denn wenn verkalkte und unverkaufte Anlagen miteinander ver-
schmolzen, dürften sie kaum ein brauchbares Gebilde abgeben.
Es ist nicht zu leugnen, daß meine Vorstellung über die Kon-
kreszenz zweier Reptilienzähne zum einheitlichen Säugerzahn wirklieh
jenen mechanischen Charakter besaß, die von Dependorf zurück-
gewiesen wird. Denn auf S. 116 meiner ersten Studie spreche ich von
einer Verbindung „zweier ursprünglich getrennter Organe". Diese Ver-
bindung dachte ich mir allerdings zustande gekommen in einem sehr
frühen ontogenetischen Entwicklungsstadium. Der an zweiter Stelle
genannten Einwurf von Dependorf, daß die Zähne, welche die Ver-
wachsung eingingen, nahezu in der gleichen Entwücklungsphase sich be-
finden müßten, war auch von mir empfunden worden. Daher behauptete
ich 1. c. S. 117: „daß eine Verwachsung der Anlagen zweier Generationen
nur denkbar ist, wenn beide in unmittelbarer Nähe voneinander liegen
und nahezu gleichweit in der Entwicklung fortgeschritten sind". Wie
man sieht, war mir die mechanistische Vorstellung, wogegen Depen-
dorf das Wort ergriff, nicht fremd. Ich war der Ansicht, daß wirklich
zwei selbständige, in sich abgeschlossene Organe beim phylogenetischen
Entstehen des Säugergebisses zu einem einzigen Gebilde zusammenge-
getreten waren, sei es dann auch, daß diese Verwachsung schon in einer
sehr frühen ontogenetischen Phase zustande kam, daß nicht Zähne,
sondern Zahnkeime zusammentraten.
Daß ich dieser Ansicht war, findet wohl hauptsächlich seinen
Grund in der Vorstellung, die man im allgemeinen aus der Literatur
über die Natur der Zahnleiste oder, wie diese Bildung auf den Vorschlag
Hertwigs auch genannt wird, Ersatzleiste erhält. Letztere Bezeich-
nung ist dem Inhalt des Wortes nach, wie ich meine, leicht irreführend
und ist vielleicht von Hcrtwig damals gewählt, um den Gegensatz
scharf hervortreten zu lassen zwischen seiner Ansicht über die Ent-
wicklung der Selaehierzähne und deren Ersatz und jene von Owen,
die auch von Leydig und Kölliker geteilt wurde. Aber durch die
Bezeichnung Ersatzleiste kommt die mitogenetische Beziehung, welche
zwischen den verschiedenen Generationen einer Zahnfamilie besteht,
nicht genügend zu ihrem Rechte.
Um die Genese der Dimerie des Säugerzahnes im rechten Licht
erscheinen zu lassen, bin ich genötigt, auf die Entwicklung der Zahn-
leiste und die Ersatzweise der Zähne, wie sie bei den Vertebraten sich
vortut, einzugehen und beschränke mich dabei natürlich auf das
Kiefergebiß.
Die einfachste Form der Zahnanlage und der Entstehung neuer
Zähne trifft man bekanntlich bei den Teleostomen. Es betragen sich
Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. 117
aber nicht alle Knochenfische gleich, und wie aus den Untersuchungen
von Friedmann1) über die Zahnentwicklung besonders des Hechtes
hervorgeht, können zwei Modifikationen, eine mehr primitive und eine
mehr progressive, bei einem Tier vorkommen. Das ist z. B. beim eben
genannten Fisch der Fall. Den einfachsten Entwicklungsmodus trifft
man hier im Überkiefer, und dieser zeigt große Übereinstimmung mit
jenem von Rose2) bei Salmo salar beschriebenen. Wenn wir den
Teil der Kieferschleimhaut, der Zähne aus sich entstehen läßt als das
„Zahnfeld" bezeichnen, dann trifft man in den erwähnten Fällen den
Zustand, daß auf diesem Feld die Zähne in ganz unregelmäßiger
Weise entstehen. Hieraus geht hervor, daß die zahnbildende Potenz
noch diffus in diesem Zahnfeld verbreitet ist. Jeder Unterteil desselben
kann zur Entstehung eines Zahnes Anlaß geben in der besonders
von Rose, Carlson3) und Friedmann geschilderten AVeise. Und
diese Entstehungsweise trägt noch ein sehr primitives Gepräge, denn
der Zahn wird noch — ungefähr in der Weise der Placoidschuppen der
Plagiostomen — in der Mundschleimhaut gebildet, Weiter kommt der
primitive Charakter sehr stark in dem Mechanismus der Zahnerneuerung
zum Ausdruck. Rose hebt (1. c. S. 661) ausdrücklich folgendes hervor:
,,Die ersten Ersatzzähne entstehen ebenfalls unmittelbar aus dem Kiefer-
epithel, und zwar meistens ohne nähere Beziehung zur Epithelscheide
ihres Vorgängers. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Ersatzzähne der
meisten Knochenfische nach dieser Grundregel angelegt werden."
Aus dieser Beobachtung Roses folgt, daß jeder Zahn eine vom Zahn-
feldepithel ausgehende selbständige Bildung darstellt, es besteht keine
histogenetische Beziehung zwischen einem Zahn und einem später
entstehenden, wie auch aus der von Rose gegebenen Abbildung zu
sehen ist. Man kann dann auch schwerlich bei dieser Form der Gebiß-
bildung von Zahngenerationen sprechen, denn es besteht keine verwandt-
schaftliche Beziehung zwischen den Zähnen. Das Zahnfeld ist noch als
Ganzes eine zahnbildende Matrix und daher kommt es mir auch weniger
richtig vor, bei dieser Form der Bezahnung und der Zahnerneuerung
von Ersatzzähnen zu sprechen. Denn bei Anwendung dieses Ausdruckes
denkt man sich eine Aufeinanderfolge von Zahngenerationen, wobei eine
jüngere Generation bestimmt ist, eine ältere, die mit dieser Anlage
in zellulärer Beziehung war, zu ersetzen. Ich möchte diese Art von
Zahnbildung und Zahnneubildung als „freie Zahnbildung" bezeichnen.
Jeder Zahn geht aus der allgemeinen Matrix, der Schleimhaut des Zahn-
feldes, hervor, eine Lokalisierung der zahnbildenden Potenzen hat noch
nicht stattgefunden. Ein Zahn ist hier weder Nachfolger eines früheren
noch Vorläufer eines zukünftigen.
Die Gebißformation im Unterkiefer des Hechtes steht auf einer
wesentlich höheren Stufe. Mit jenem des Oberkiefers hat sie als primi-
tives Merkmal gemein, daß die Zahnanlagen noch nicht in einer be-
stimmten Weise angeordnet sind, es sind im Zahnfeld die Zähne noch
unregelmäßig mehrreihig angeordnet. Aber was die Zahnerneuerung
betrifft, ist eine höhere Stufe erreicht, denn hier kann man von einem
1) Friedmann, Beiträge zur Zahnentwicklung der Knochenfische. Morph.
Arb. 1897, Bd. VII.
2) C. Rose, Über die Zahnentwicklung der Fische. Anat. Anz. 1894, Bd. IX.
3) A. Carlson, Über die Zahnentwicklung bei einigen Knochenfischen.
Zool. Jahrb., Abt. f. Anat, u. Gut. 1894, Bd. VIII.
118 Drittes Hauptstück.
echten Zahnersatz reden. Es senkt sieh nämlich die Anlage der ersten
Zähnchen in die Tiefe, der epitheliale Teil bleibt mittels eines Zellstranges
mit der Sehleimhaut verbunden. Der zuerst angelegte Zahn entwickelt
sieh weiter, und aus der lingualen Seite des Epithelstranggrundes
geht die Anlage eines zweiten Zahnes hervor, der bei der weiteren Ent-
wieklung den ersten ersetzen soll, wenn dieser abgestoßen ist. Es ist
somit ein Fortschritt in zwei Richtungen zustande gekommen. Im
Zahnfeld ist die zahnbildende Potenz nicht mehr diffus verbreitet.
Zwar sind die Anlagen der ersten Zähne noch unregelmäßig über das
ganze Zahnfeld zerstreut, aber mit der ersten histologischen Differen-
zierung dieser Zahnkeime werden gleichsam gleichviel zahnbildende
Bezirke geschaffen. Jeder Bezirk senkt sich mit der Anlage des ersten
Zähnehens in die Tiefe, und das an der Überfläche sich erstreckende Epithel
ist an der weiteren Zahnbildung nicht mehr beteiligt. Diese Schleim-
haut stellt nicht mehr eine Matrix dar, in welcher die zahnbildende Potenz
diffus verbreitet ist, es hat eine Konzentration dieser Eigenschaft an einer
iVnzahl bestimmter Stellen stattgefunden. Dieser Fortschritt in physio-
logischem Sinne hat noch einen wichtigen von morphologischer Art zur
Folge. Denn es ist in der Aufeinanderfolge der Zähne eine Gruppierung
aufgetreten. Es gibt gleich viel Gruppen, als es ursprünglich Zahnanlagen
gibt. Von jeder Gruppe funktioniert gleichzeitig nur ein einziger Zahn;
wird dieser abgestoßen, dann wird er ersetzt durch den Zahn, der aus
seiner eigenen Bildungsstätte, unmittelbar nach ihm, entstanden ist.
Beide Zähne und alle im Laufe der Zeit noch folgenden haben eine
gemeinschaftliche Matrix, sie findet sich am Grunde des in die Tiefe
gesenkten Epithelstranges. Diese Matrix bleibt fortwährend junge
Zähne produzieren, welche somit einander verwandt sind. Sie stellen
in ihrer Gesamtheit eine, aus einer unbestimmten Zahl von Generationen
zusammengesetzte ,, Zahnfamilie" dar. Diese Generationen entstehen
aus der am Ende des Zellstranges gelegenen Zellgruppe, an die die
zahnbildende Potenz gebunden ist, in ähnlicher Weise wie die zellulären
Elemente des Epidermis aus der Schicht der Basalzellen.
Diese Lokalisation des Vermögens, Zähne zu bilden im untersten
Ende der Epithelstränge bei den Teleostomen, muß man, um die Er-
scheinungen bei den höheren Vertebraten zu verstehen, nicht aus dem
Auge verlieren. Denn bei den Plagiostomen tritt durch die Entstehung
der sogenannten Ersatzleiste ein Gebilde auf, worin die Lokalisierung
jener Potenz nicht so weit durchgeführt erscheint. Wir werden jedoch
zeigen, daß ein Unterschied wesentlich nicht besteht.
In welcher Hinsicht weicht Gebißentwicklung und Zahnersatz
der Selachier nun von jenen der Knochenfische ab ? Eine erste Differenz
wird gebildet durch den Umstand, daß das Zahnfeld bei der ersten
ontogonetischen Differenzierung nicht mehr unregelmäßig angeordnete
Zähne bildet, sondern sämtliche Zahnanlagen sind konzentriert, in
den meisten Fällen in zwei Reihen, deren Elemente regelmäßig alter-
nieren, oder alle sind in einer einzigen Reihe angeordnet. Scheinbar
komme ich mit dieser Ansicht in Widerspruch mit den Befunden von
Hertwig1) und Laaser2) bezüglich der Ontogenese der Selachierzähne,
1) R. Hertwig, Über Bau und Entwicklung der Placoidschuppen und der
Zähne der Selachier. Jen. Zeitschr. f. Naturw. 1874, Bd. VIII.
2) L. Laaser, Die Zahnleiste und die erste Zahnanlage der Selachier. Inaug.-
Diss. 1903.
Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. U9
tatsächlich gilt hier jedoch nur eine andere Interpretation der Er-
scheinungen.
Hertwig scheint mir bei seinen Auseinandersetzungen zu großes
Gewicht auf die epitheliale Bildung gelegt zu haben, die er zuerst als
Ersatzleiste bezeichnete, und dadurch die histogenetische Beziehung
der Zahngenerationen zueinander weniger zu ihrem Rechte kommen
ließ. Da die Hertwigsche Untersuchung der Ausgangspunkt aller
weiteren Untersuchungen auf diesem Gebiet gewesen ist und in jenem
Aufsatz zuerst der Begriff „Ersatzleiste" in der Literatur eingeführt
worden ist, will ich kurz auf diese Untersuchung eingehen.
Zur Zeit als Hertwig seine Untersuchung veröffentlichte, war
die allgemeine Ansicht über die Entwicklung der Selachierzähne die
auch von Kölliker und Leydig geteilte, zuerst von Owen ausführ-
licher dargestellte1). Nach diesem Autor entstehen die Zähne der
Plagiostomen in einer Furche der Kieferränder auf freien Papillen,
ohne in Zahnsäckchen eingeschlossen zu werden. Der linguale Wall
dieser Rinne hat die Bedeutung einer Deckmembran (thecal lamina)
und das Epithel dieser Deckmembran geht im Grunde der Rinne in
das zahnbildende Epithel des äußeren Walles über: „The anterior lamina
of this fold, wich from its office may be termed „thecal" is continuous
with the mucous membrane at the base of the rows of teeth" (1. c.
p. 35). Nun sagt zwar Hertwig, daß er zu ganz abweichenden Er-
gebnissen gelangt ist (1. c. S. 378), aber so im Grunde verschieden sind
die Ergebnisse dieses Autoren von den Owen sehen doch nicht. Denn
in Wirklichkeit ist die Zahn- oder Ersatzleiste Hertwigs bei den Se-
lachiern eine echte, einwärts gerichtete epitheliale Falte, wie sie es
auch bei allen höheren Vertebraten ist. Nur ist der Raum zwischen
den beiden Blättern der Falte beim Embryo mit Zellen ausgefüllt.
Daß diese Zellen oder deren Abkömmlinge bei den Sauropsiden
schon und in noch höherem Maße bei den Mammalia als die Elemente
der Schmelzpulpa eine wichtige Rolle spielen, kann nur dazu beitragen,
um den Charakter einer Falte schließlich, wie es in weiter vorgerückten
Entwicklungsstadien bei den Säugetieren der Fall ist, zu verdecken.
Die ursprüngliche Natur der Bildung bleibt jedoch besonders in jungen
Stadien auch hier unverkennbar.
Nicht immer bleiben bei den Plagiostomen die zwischen den beiden
Blättern der Falte sich findenden Zellen anwesend, und es kommt vor,
daß dieses Ausfüllungsmaterial in älteren Stadien und beim erwachsene!)
Tier verloren geht, wodurch die Zahnleiste eine wirkliche Rinne im
Sinne Owens wird. Hertwig äußert sich darüber folgendermaßen:
,,Die gegebene Beschreibung weicht von den mitgeteilten Untersuchungen
von Owen, Leydig und Kölliker ab, welche an Stelle der von uns
betrachteten Epithelleiste an der Innenseite des Kieferknorpels eine
tiefe Furche und eine hohe Schleimhautfalte als Deckmembran auf den
jüngsten Zahnanlagen beschrieben haben. Die genannten Schriftsteller
haben ein Kunstprodukt bei der Untersuchung geschaffen und be-
schrieben, indem sie die Epithelleiste in zwei Hälften zerrissen haben,
wahrscheinlich um die jüngsten Zähnchen zu erblicken." Letzteres
trifft nun gewiß nicht immer zu, und zweifellos ist die Rinne im Sinne
von Owen und in der von diesem Autor gegebenen Bedeutung das
1) R. Owen, Odnntography, T. I, p. 35.
120 Drittes Hauptstück.
Primäre, der mehr kompakte leistenartige Charakter ist ein sekundärer
Erwerb, dadurch entstanden, daß die beiden Furchenwände mitein-
ander verklebt sind. Diese Verklebung bleibt bisweilen, z. B. bei
Formen mit kleinen plattenförmigen Zähnchen, aus.
Daß ich auf diesen Punkt eingehe, findet seine Ursache darin,
daß er maßgebend ist für die Bedeutung, welche meiner Meinung nach
der Zahn- oder Ersatzleiste zukommt, worüber ich mich in der ersten
Studie schon geäußert habe. Wie müssen wir uns die Beziehung
zwischen den Zuständen bei Knochenfischen und Knorpelfischen
denken ? Man denke sich, daß die Zahnanlagen, statt ungeordnet in
das Zahnfeld zerstreut zu sein, in einer einzigen oder in zwei Reihen
angeordnet sind. In letzterem Falle alternieren die Anlagen beider
Reihen miteinander. Diese Anlagen senken sich nicht, wie z. B. im
Unterkiefer von Esox, in die Tiefe, sondern bleiben an der Oberfläche.
Nun geht bei der ersten Generation jedoch nicht alles Zellmaterial
dieser Anlage in der Bildung des ersten Zahnes auf, sondern ein Teil
davon bleibt indifferent, und wenn der zuerst gebildete Zahn einen
bestimmten Entwicklungsgrad erreicht hat, geht aus jener Zellmasse
ein zweiter Zahn hervor, der von einem dritten gefolgt wird usw. Es
bleibt somit an der Stelle, wo die erste Zahnanlage sich ausbildete,
immer eine Zellmasse zurück, worin die zahnbildende Potenz lokalisiert
ist. Allmählich rücken die Zähne nach ihrer Anlage immer weiter
von ihrer Bildungsstätte ab, werden gleichsam durch die nachfolgenden
Generationen vorwärts gedrängt, indem sie wachsen und schließlich
ihre definitive Form annehmen. Jeder primäre Zahnkeim stellt somit
auch hier, wie in gewissen Fällen bei den Teleostiern eine Matrix dar,
welche eine unbegrenzte Zahl von Zähnen zu bilden imstande ist.
Die Gesamtzahl der aus einer Matrix hervorgehenden Zähne stellt eine
Zahnfamilie dar, jedes Einzelglied davon eine Generation. Doch darf
man diesen Ausdruck nicht in dem Sinne deuten, daß ein jüngerer Zahn
aus seinem Vorgänger entstanden sein sollte, die verwandtschaftliche
Beziehung ist strictiori sensu jene von aus einer gemeinschaftlichen
Mutter hervorgegangenen Geschwistern.
Waren die primären Zahnmatrices in einer einzigen Reihe gelagert,
dann alternieren die Zähne nicht, waren sie dagegen in zwei Reihen
gelagert, die miteinander alternieren, dann alternieren die Produkte
derselben natürlich auch. Beide Gebißformen kommen bei den Se-
lachiern vor.
Bis hierher über die Anlage des Zahnes selbst und die Ursache
ihrer so streng geometrischen Anordnung im Gebiß. Dasselbe entsteht
aus gleich viel zahnbildenden Matrices, als es Zahnfamilien in ihm
gibt, Für jede Familie — das sind die senkrecht auf dem Kieferrand
stehenden Zahnreihen - - gibt es also eine einzige wohlumschriebene
Bildungsstätte. Die Zahnbildungsfunktion ist somit nicht diffus ver-
breitet, weder in der sogenannten Ersatzleiste, noch im sogenannten
freien Rande derselben. Denn in diesem Rande liegen die Entwicklungs-
herde voneinander scharf abgegrenzt. Diese Lokalisierung der Bildungs-
funktion muß man für die Interpretierung der Erscheinungen bei den
höheren Vertebraten wohl im Auge behalten.
Wie ist nun diese Ersatzleiste entstanden zu denken? Die Zu-
stände, welche man bei gewissen Selachiern unmittelbar beobachten
kann, sind imstande, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Über dem
Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. 121
streifenartigen Feld, worin die Bildungsstätten der Zähne sich finden,
hat sich eine schützende Schleimhautfalte entwickelt und ist nicht nur
über die Keimzentren der Zahnfamilien hervorgewachsen, sondern
überdeckt bei vielen Knorpelfischen auch die Zähnchen während ihrer
Jugendperiode. In gleichem Sinne äußert sich Burckhardt in seiner
Darstellung der Gebißentwicklung im Hertwigschen Handbuch. Auch
dieser Autor spricht von einem Entstehen des Gebisses bei den Selachiern
unter einer „gemeinsamen Schleimhautfalte"1). Ich habe in meiner
ersten Studie diesen Vorgang als die „Operkulisierung" des Zahnfeldes
beschrieben. Als eine höhere Entwicklungsphase ist dann, wie schon
vorher betont, jener Zustand zu betrachten, wobei das untere Blatt
dieser Schleimhautfalte mit dem Epithel der Spatia interdentalia
verklebt, wodurch, immerhin sekundär, die Hertwigsche „Ersatz-
leiste" entsteht. Aber aus dem vorangehenden geht deutlich hervor,
daß ich die Deutung des Wortes nach dieser Bezeichnung weniger zu-
treffend erachte. Denn diese Leiste als solche ist nur die Trägerin,
nicht die Bildnerin der zum Ersatz dienenden Zähne. In Wirklichkeit
ist die Leiste ein Teil der Mundschleimhaut, welche durch eine über-
wuchernde Schleimhautfalte von der Oberfläche abgeschlossen ist.
Der biologische Vorgang des Ersatzprozesses ist lokalisiert im meist
nach innen gelagerten Streifen dieses Schleimhautfeldes, und auch
in diesem Streifen ist die Zahnbildungspotenz wieder in einer Anzahl
bestimmter Zellkonglomeraten lokalisiert. Ontogenetisch macht sich
bei den Formen, die bis jetzt daraufhin untersucht worden sind, diese
Operkulisierung nicht mehr erkennbar. Es macht, wie es aus den Unter-
suchungen von Hertwig und L aas er hervorgeht, den Eindruck, als
senkte sich das Epithel als eine Lamelle in der Tiefe des Bindegewebes
ein, was wohl als ein abgekürzter Entwicklungsgang zu betrachten ist.
Es kommt mir nicht unwahrscheinlich vor, daß man bei fortgesetzten
Untersuchungen an anderem Material Erscheinungen zu konstatieren
imstande sein wird, welche die Zahnleiste als die Folge eines Über-
wTucherungsprozesses erscheinen lassen. Dabei ist es erwünscht, auch
die genetische Beziehung zwischen jenen Zähnchen, welche nach den
Untersuchungen Laasers außerhalb der „Zahnleiste" gebildet werden
und den aus der Leiste hervorgehenden festzustellen. Stellen diese
aus dem von Laaser als „äußeres Zahnepithel" bezeichneten Schleim-
hautfeld entstehenden Zähnchen die ersten Generationen der Zahn-
familien dar? Oder sind es Zwischenformen zwischen den eigentlichen
Zähnen und den Placoidschuppen, welche später durch die heran-
rückenden wirklichen Zähne verdrängt werden?
Über das Wesen der Zahnleiste bei den Selachiern und ihre Ent-
stehungweise schließe ich mich somit näher der alten Vorstellung von
Owen, Kölliker und Leydig an, als jener von Hertwig. Sie ist
meiner Meinung nach nicht eine Leiste, welche, von der Oberfläche
ausgehend, in die Tiefe wucherte als eine Anpassung an den stärkeren
Ersatz der Zähne, denn dieser greift bei den Knochenfischen ebenso
Platz, obgleich es hier nicht zur Entstehung einer Ersatzleiste gekommen
ist. Und so gelange ich von selber zur Beantwortung der Frage : In welcher
Beziehung stehen bezüglich ihrer Zahnbildung und Zahnersatz die
1) R. Burckhardt, Die Verknöcherungen des Integuments und der Mund-
höhle. Hertwigs Handb. d. Entw.-Gesch., Bd. II, Teil I.
122 Drittes Hauptbtück.
Teleostomen und Plagiostomen zueinander? Bildet der Zustand bei
der ersten (huppe eine Vorstufe zu jenem der zweiten? Ich muß eine
solche Beziehung unbedingt von der Hand weisen. Man kann die
Gebißentwicklung der Selachier nicht von jener der Knochenfische
ableiten oder umgekehrt, wiewohl es a priori nicht unwahrscheinlich
ist, daß es bei den Teleostomen Formen gibt, welche eine Mittelstellung
einnehmen. Es sind bis jetzt noch wenig Formen aus dieser Gruppe
untersucht worden, und schon die makroskopische Anatomie des Ge-
bisses läßt vermuten, daß hier noch manche interessante Details ans
Licht zu bringen sind. Aber im allgemeinen betrachtet ist ein Zurück-
führen der Gebißentwicklung der Selachier auf jene der Knochenfische
nicht möglich, da ein prinzipieller Unterschied in den Formen der An-
lage und des Ersatzes besteht. Denn wenn man die Gebißanlage bei
den Selachiern mit Berücksichtigung des oben über die Operkulisierung
des Zahnfeldes Gesagten betrachtet, dann ist es klar, daß diese Zähne
noch an der Oberfläche der Schleimhaut zur Anlage kommen. Man hat
sich doch dazu nur das Operculum zurückgeschlagen zu denken, dann
sieht man sofort ein, daß die jungen Zähne in dem jetzt entblößten
Feld vollständig wie die Placoidschuppen des Tieres angelegt werden.
Bei den Knochenfischen dagegen ist der Vorgang ein ganz anderer.
Hier senkt sich, wie im Unterkiefer des Hechtes, die Anlage jedes Zahnes
oder jeder Zahnfamilie in die Tiefe, und es gibt gleich viel Verbindungs-
stränge mit dem oberflächlichen Epithel als es Zähne gibt. Hier hat
sich jede Zahnmatrix für sich durch aktive Einsenkung eine geschützte
Lage erworben, während bei den Selachiern die an der Oberfläche
verbleibenden Zahnmatrices durch eine gemeinschaftliche, über sie
hervorwachsende Schleimhautfalte gegen äußere Insulte geschützt
werden. Die Schutzvorrichtung für die zahnbildenden Matrices und
für die jungen Zähne ist : omit bei beiden Gruppen von Fischen in ganz
verschiedener Weise zustande gekommen. Aber, wie gesagt, ist es denk-
bar, daß bei den Knochenfischen eine Kombination beider Erscheinungen
auftreten kann. Wenn ich den Unterschied zwischen beiden Arten von
Gebißentwicklung durch ein ebenfalls an Hautgebilden entnommenes
Beispiel verdeutlichen wollte, dann konnte ich das vielleicht am besten
tun, indem ich Entstehung und Ersatz der Zähne bei den Knochen-
fischen mit jener der Haare, die bei den Knorpelfischen mit jener der
Nägel gleichstellte.
Die oben für die Selachier angeführten Gesichtspunkte sind maß-
gebend für die Beurteilung der Erscheinungen bei den höheren Formen.
Der dabei am meisten in den Vordergrund sich stellende Punkt ist
die Tatsache, daß die Zähne nicht autochthon entstehen, sondern in-
folge der Produktivität einer Matrix. Einen sehr instruktiven Beweis
dafür liefert weiter folgende Erscheinung. Im Gebisse der Selachier
trifft man bisweilen zwischen den normal gestalteten Zähnen solche
an, welche eine abweichende Form besitzen. Es ist nun sehr bemerkens-
wert, daß solche Varietäten nicht an vereinzelten Zähnchen auftreten,
sondern daß immer eine ganze Zahnfamilie in allen ihren Gliedern die
identische Abweichung aufweist. Ich habe davon mehrere Fälle be-
obachtet und führe in den Fig. 38 und 39 zwei Beispiele davon an. Die
Fig. 38 stellt einen Fall dar, im Unterkiefer eines noch jungen Spinax
niger beobachtet. Es ist ein Teil der Glieder von vier Zahnfamilien
gezeichnet worden. Beim jungen Spinax niger sind im Unterkiefer
Über das Wesen der Zahnkonkreszenz.
123
die Zähnehen dreispitzig, eine stark entwickelte Hauptspitze wird an
ihrer Basis von zwei kleinen Nebenspitzen flankiert. Im gegebenen
Fall nun kam zwischen den nor-
mal gebauten Zähnen eine Zahn-
familie vor, von der alle Glieder
eine Verdoppelung der Haupt-
spitze besaßen. Das zweite Bei-
spiel ist dem Gebiß eines großen
(erwachsenen ?) Exemplar von
Cephalopterus giorna entnommen.
Die Zähnchen sind hier klein,
niedrig, mit unregelmäßig, meist
fünfspitzig gestaltetem Rand,
der mittelste der Zacken ist nicht
selten etwas größer als die übrigen.
Die Zähnchen stehen ziemlich
weit auseinander. Zwischen
den normal gebildeten Elementen
dieses Gebisses traf ich nun eine
Zahnfamilie an, wovon alle Glieder
die doppelte Breite und einen
reichlich gezackten Rand hatten.
Solche Fälle beweisen wohl aufs
unzweideutigste, daß alle Gene-
rationen einer Zahnfamilie einer
gemeinschaftlichen Muttermasse
ihre Entstehung verdanken. Ist Fig. 38.
eine der Matrices durch irgend
welchen Umstand in ihrem Bildungs vermögen alteriert, dann tragen alle von
ihr produzierten Zähne das gleiche vom normalen abweichende Merkmal.
Nach dieser sehr langen Abschweifung können wir zurückkehren
zu unserem Aus-
gangspunkt, der
Natur der soge-
nannten Konkres-
zenz der Zähne.
Wir waren jedoch
wohl gezwungen,
die vorangehenden
Gesichtspunkte zu
betonen, denn es
findet sich darin die
Basis, auf die sich
die Ansichten über
diese Konkreszenz
gründen. Ich
brauche wohl nicht
weiter darauf ein-
zugehen, daß bei
den höheren Verte
braten die Bedeu
tung der Zahnleiste
Uyyv<J
• ':KVV/V\)
• Co>-\_^>^/ '..
'\V-A/Vv.
wvVV^viv:
r"7
Fig. 39.
124 Drittes Hauptstück.
und die Beziehung der Zahnkeime zu derselben die gleiche ist wie
bei den Selachiern.
Ich erinnere daran, daß eine Konkreszenz der Zähne in longi-
tudinaler Richtung bei der Entstehung des Säugergebisses aus dem
Reptiliengebiß nicht stattgefunden hat, dagegen wohl eine solche in
transversaler Richtung, indem zwei aufeinanderfolgende Glieder einer
Zahnfamilie zusammenschmolzen. Wie ich nun im Eingang dieses
Hauptstückes auseinandersetzte, war ich der Meinung, daß es sich
hierbei in der Tat einmal um eine aktive Vereinigung zweier ursprüng-
lich selbständiger Gebilde gehandelt hat, wobei notwendig, da die die
Verbindung eingehenden Elemente nicht zu viel in der Entwicklung ver-
schieden sein dürften, der Vorgang sich abgespielt haben muß bei Formen
mit einem sehr intensiven Zahnwechsel. Diesen Standpunkt habe ich
jetzt, nach näherem Eindringen in diese Seite des Gebißproblems,
verlassen. Die Erkenntnis, daß die Zähne keine autochthonen, aus einem
freien Keim entstandene Gebilde sind, sondern Produkte einer wohl
abgegrenzten Matrix, bringt die sogenannte Konkreszenz zu einer
leichter verständlichen Form zurück. Und wie schon gesagt, bin ich
jetzt überzeugt, daß Dependorf in dem zitierten Aufsatz das Richtige
getroffen hat, wenn er darin S. 543 sagt: „Wir erschweren uns ganz
offenbar den gesamten Vorgang in der Entwicklung des Säugerzahnes
durch den Ausdruck „Verschmelzung". Man stellt sich darunter einen
äußerlich sichtbaren und in seiner Entwicklung nachweisbaren Prozeß
vor, der aber in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sein kann." Diese
Bemerkung kann ich völlig unterschreiben; bei der Entstehung des
Säugerzahnes aus dem Reptilienzahn ist von einer Konkreszenz in dem
geläufigen Sinne des Wortes keine Rede gewesen. Wie hat man sich
dann diesen Vorgang zu denken ? Stellen wir uns dazu wieder die
Zahnleiste mit den am unteren Ende derselben gebundenen, vonein-
ander funktionell unabhängigen Matrices der Zahnfamilien vor. Es
gibt gleich viel solcher Keimstätten als die Summe der Zähne aus dem
Milchgebiß (Exostichos) und permanentem Gebiß (Endostichos). Daß
die Zahnleiste als solche für die Entwicklung der Zähne bedeutungs-
los ist und bei den höheren Vertebraten einzig dazu dient, die
Matrices der Zahnfamilien in eine geschützten Lage zu bringen, also
hier sekundär eine Rolle spielt, welche mit der Zahnentwicklung bei
den Teleostiern Verwandtschaft zeigt, geht daraus hervor, daß, kurz
nachdem die Entwicklung der Zähne angefangen hat, die Leiste bei
den Säugetieren verschwindet und auch die Zahnkeime für das perma-
nente Gebiß voneinander isoliert werden. Die Zahnleiste hat nur die
Aufgabe, bestimmte Zellgruppen, an denen eine wohlumschriebene
Funktion haftet, in die Tiefe zu bringen. Ihre wahre phylogenetische
Entwicklungsweise, wie dieselbe uns bei den Selachiern deutlich wird
und auch bei Reptilien noch zu erkennen ist, kann man bei Säugern
nicht mehr nachweisen. Dagegen tritt es hier deutlicher hervor,
daß die Zahnleiste als Ganzes ein Apparat ist, dem als Trägerin einer
Anzahl Keimzentren nur eine mechanische Bedeutung zukommt. Sind
die Keimzentren an ihre erwünschte Stelle gelangt, dann geht der
Apparat zugrunde und jede Keimstätte stellt ein jetzt auch räumlich
gesondertes Zellkonglomerat dar. Dieses Konglomerat, diese Matrix
lieferte nun bei den Reptilien in gewissen zeitlichen Intervallen einen
Zahn. Und die Produktion eines neuen Zahnes fing erst an, nachdem
Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. 125
der vorangehende eine schon beträchtliche Größe erreicht, ja bis-
weilen schon kürzere oder längere Zeit funktioniert hatte. Die Inter-
valle zwischen der Produktion zweier Zähne sind bekanntlich bei den
Reptilien sehr verschieden lang und die Zahl der aus jeder Matrix
entstehenden Generationen verschieden zahlreich. Immerhin kommt es
jedoch bei den Reptilien nicht zur Anlage einer folgenden Generation,
solange nicht die zuletzt entstandene einen gewissen Entwicklungs-
grad erreicht hat und der Zahn schon zu einem selbständigen Organ
herangewachsen ist. Man hat sich nun zu denken, daß bei der Ent-
stehung des Säugerzahnes die Matrix fast gleichzeitig zwei Zahn-
generationen aus sich hervorgehen läßt, und zwar in einem solchen
kurzen Intervall, daß sie faktisch gleichzeitig zur Anlage gelangen.
Nach dieser ist die Produktivität der Matrix normaliter erschöpft,
oder richtiger vielleicht, dieselbe wird unterdrückt, kann jedoch
unter Umständen, wie wir das in einem vorangehenden Kapitel
gezeigt haben, noch eine dritte Generation (das Tritomer, Cara-
bellis Höcker) entstehen lassen. (Vgl. übrigens das in der ersten
Studie über die Elefantenmolaren und die Zähne der Multituberku-
laten Gesagte.)
Wenn man die Entstehungweise der Säugerzähne in dieser Weise
auffaßt, dann wird der Begriff Zahnkonkreszenz hinfällig. Die zwei
Generationen sind nicht miteinander verwachsen, sondern sie haben
sich räumlich nicht voneinander getrennt. Auch von einer Verschmel-
zung von Zahnkeimen ist bei dieser Vorstellung nicht die Rede, denn
Zahnkeime, als isolierte, selbständige, kraft eigener Bildungsenergie
entstehende Gebilde, gibt es nicht, es gibt, an die Zahnleiste gebunden,
eine Anzahl Matrices für Zahnfamilien. Und diese Matrices pro-
duzieren bei den Säugern ohne merkbares zeitliches Intervall zwei
Zahngenerationen, die also notwendig miteinander verbunden sein
müssen.
Diese beiden Zahngenerationen haben ihre ursprüngliche topo-
graphische Beziehung zueinander jedoch bewahrt, die der Reihe
nach ältere nimmt die bukkale, die jüngere die linguale Hälfte des
zusammengesetzten Gebildes ein. Und in den vorangehenden Haupt-
stücken ist es deutlich geworden, daß, wiewohl die beiden Genera-
tionen räumlich nicht voneinander getrennt sind, primitive Ver-
hältnisse noch darin zum Ausdruck kommen, daß die ältere Genera-
tion, das Protomer, der bukkale Komponent des Zahnes, durchweg
den am kräftigsten und vollständigst entwickelten Teil des Zahnes
darstellt: die zweite Generation, das Deuteromer, kann zu einem ganz
unansehnlichen, kaum angedeuteten Höcker reduziert sein, sogar schein-
bar ganz fehlen.
Es verdient die Frage gestellt zu werden, ob der beschriebene
Vorgang auch nicht schon bei Reptilien sich abspielen kann? Die
Möglichkeit scheint mir nicht ausgeschlossen, und ich möchte dazu auf
die merkwürdige Form von Incisivi hinweisen, welche Seele y bei
gewissen Theriodontia beschreibt und abbildet1). Der Autor gibt
1) H. G. Seeley, On the nature and limits of reptilian Charakter in niani-
malian Teeth. Proc. Roy. Soc. London 1888, Vol. XLIV.
126 Drittes Hauptstück.
z. B. die Skizze eines Incisivus von Deuterosaurus von der Seite gesehen,
welche der Form nach z. B. mit einem lateralen Incisivus von Cebus
oder Ateles mit ihrem so stark entwickelten Innenhöcker (Deuteromer)
große Ähnlichkeit zeigt und weist auf diese Eigentümlichkeit besonders
hin: „the crown of the incisivi (of Theriodontia) often has a sharp
chisel-like externa I cusp, and a small internal cusp, wich gives the tooth
a mammalian aspect. This character is well seen in the Russian genus
Deuterosaurus. A similar condition but with the inner cusp less conspi-
cuous is seen in an new genus from South-Afrika allied to Deuterosaurus.
wich may be named Glaridodon" (1. c, p. 135).
Die oben gegebene Vorstellung der Entstehung des Säugerzahnes
beseitigt die Schwierigkeiten, welche mit dem Begriff Konkreszenz
der Zähne verbunden sind und auf welche Dependorf hingewiesen
hat. Es hat niemals ein Zusammentreten von zwei ursprünglich ge-
trennten primären Elementen gegeben; die Dimerie des Säugerzahnes'
b t nicht die Folge von Verwachsung, sondern von einem Ausbleiben
einer Sonderung. Eine wirkliche Verwachsung sollte stattgefunden
haben, wenn es jemals eine Konkreszenz von Zähnen in longitudinaler
Richtung gegeben hätte. Nach dem oben ausgearbeiteten Gedanken-
gang sollte ein solcher Vorgang jedoch prinzipiell verschieden gewesen
sein von der sogenannten Konkreszenz in transversaler Richtung.
Denn in jenem Falle sollten wirklich zwei oder mehr gebildete
Organe oder deren Bildungszentren miteinander Verwachsungen ein-
gegangen haben. Ein solcher Vorgang würde eine wirkliche Vereinigung
von mehreren Elementen zu einem einzigen gewesen sein; die sogenannte
Konkreszenz in transversaler Richtung ist dagegen das Unterbleiben
einer Sonderung, es ist ein „Konzentriert bleiben". Dieser Vorgang
ist somit keine Konkreszenz und darf also auch nicht als Stütze einer
behaupteten Verwachsung von Zähnen in longitudinaler Richtung an-
geführt werden. Ich wiederhole, daß ein solcher Vorgang meiner Mei-
nung nach niemals im Laufe der Phylogenese als ein allgemeines nor-
males Geschehen stattgefunden hat, wenigstens nicht beim Entstehen
der Säugerzähne. Es soll damit nicht gesagt sein, daß nicht als abnormale
Erscheinung eine Verschmelzung von hintereinanderfolgenden Zähnen
vorkommen kann. Wenn als Äußerung pathologischer Entwicklung
die nebeneinanderliegenden Matrices zweier Zahngenerationen in zellu-
lärem Znsammenhang bleiben oder kommen, muß notwendig auch
das daraus resultierende Bildungsprodukt in seiner Gestalt diesen
Vorgang verraten. Es muß sich mehr oder weniger deutlich als
aus zwei Zähnen zusammengesetzt erweisen. Ich wiederhole
jedoch, daß ein solches Geschehen meiner Ansicht nach niemals
ein Entwicklungsfaktor im normalen Werdegang der Zähne ge-
wesen ist.
Von dem oben entwickelten Standpunkt aus kommen jetzt auch
die Erscheinungen, welche ich in der ersten Studie bei der Ontogenese
der Primatenzähne beschrieben habe, in ein helleres Licht und werden
leicht verständlich. Ich erinnere daran, daß ich dort die Bildung der
lateralen Schmelzleiste im Anschluß an die Entstehung der Schmelz-
nische ausführlich beschrieben habe und weiter jene des Schmelz-
septums mit dem Schmelznabel. Für die Details muß auf jene Arbeit
verwiesen werden. Diese Erscheinungen nun, welche ich dort als Be-
Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. 127
weise einer ehemaligen Konkreszenz anführte, betrachte ich jetzt als
unvollständige Trennungsvorgänge zwischen den beiden Zahngene-
rationen. Meiner Meinung nach hat dann auch Dependorf in dieser
Materie das richtige Wort schon gesprochen, wenn er 1. c. S. 552 sagt:
Alle jene Fälle, bei denen bisher von einer Verschmelzung die Rede
war, sind also das Gegenteil: „Trennungs Vorgänge". Mit diesem Zitat
möchte ich dieses Hauptstück abschließen. Ich hoffe, daß es mir ge-
lungen sei, die Schwierigkeiten, welche dem Begriff der Zahn-
konkreszenz anhafteten, zu beseitigen und zur Klärung der wahren
Natur dieses Vorganges beigetragen zu haben.
Besonderer Teil.
Das Primatengebiß als Ganzes.
Allgemeine Bemerkungen.
Nachdem wir in besonderen Abschnitten die Evolution der oberen
und unteren zusammengesetzten Zähne der Primaten kennen gelernt
haben, werden wir in einem besonderen Abschnitt die Zähne als Kompo-
nenten der beiden Gebißreihen näher betrachten. Denn daß homologe
Zähne in dem Gebiß verschiedener Primaten stark voneinander ab-
weichende Struktur aufweisen können, ist eine allgemein bekannte
Tatsache. Das gilt jedoch wesentlich nur von den postcaninen Zähnen,
die Incisivi und Canini besitzen zwar bei den verschiedenen Geschlechtern
spezifische Kennzeichen; dieselben besitzen jedoch für die Lehre der
Entwicklung der Zahnformen nur eine sehr untergeordnete Bedeutung.
Ich werde mich darum auch im folgenden auf die postcaninen Zähne
beschränken. Und was die Frontzähne betrifft, verweise ich übrigens
auf die dritte dieser Studien, wo mit den Variationen derselben
gleichzeitig das Hauptsächliche über deren normale Form zur Dar-
stellung kommt.
Für eine leichtere Orientierung werde ich in Kürze einen allgemeinen
Gesichtspunkt angeben, der sich bei der Vergleichung der Primaten-
gebisse bemerklich macht.
Eine oberflächliche Vergleichung der Zahnstruktur von eocänen
und rezenten Primaten führt bald zur Einsicht, daß die Zähne der
eocänen Primaten im allgemeinen höckerreicher sind als jene der re-
zenten Formen, besonders der höheren Vertreter der Gruppe. Dieser
größere Höckerreichtum trägt jedoch ein ganz bestimmtes Gepräge,
denn er wird der Hauptsache nach bedingt durch die Anwesenheit
jener Höcker, welche ich in den vorangehenden Hauptstücken als Neben-
spitzen kennen gelernt habe. Diese sind an den Molaren und Prämolaren
der heutigen Affen im allgemeinen geringer entwickelt, als sie es an
den Zähnen der eocänen Vorgänger waren. Eine erste allgemeine Ver-
gleichung der Zahnstruktur der Urprimaten und der rezenten Formen
führt somit zum Schluß, daß letztere sich während der Entwicklung
der höheren Formen in der ersten Hälfte des Tertiär vereinfacht hat.
Diese Erscheinung gibt Anlaß, in dem ganzen Werdegang des Pri-
matengebisses zwei Phasen zu unterscheiden. Die erste, älteste Phase
kennzeichnet sich durch eine sukzessive Kompliziertheit der Gebiß-
elemente. Sie fängt bei den primitivsten Stammformen der Primaten
an, wenn diese sich vielleicht noch nicht einmal als besondere Gruppe
von den übrigen Säugern differenziert hatten, um ihren Höhepunkt
Das Primatengebiß als Ganzes. 129
bei den eocänen Formen zu erreichen. Für diese Phase können wir den
durchlaufenen Entwicklungsgang nur deduzieren aus den verschie-
denen Entwicklungszuständen, welche der vordere Teil des Gebisses,
die Prämolarenreihe, uns zeigt. Wir setzen dabei voraus, daß die Ent-
wicklungsstufen, welche wir in diesem Gebißteil antreffen und zu einer
vollständigen Entwicklungsreihe anzuordnen vermögen, auch einmal
von den Molaren durchlaufen sind. Diese Voraussetzung ist schon
berechtigt durch den Umstand, daß bisweilen der letzte Prämolar
vollkommen einem Molar ähnlich werden kann. Während dieser ersten
Phase sind allmählich die morphogenetischen Potenzen, welche der
diniere Zahnkeim in sich faßte, in einer Weise und Reihenfolge akti-
viert, die wir in den vorangehenden Hauptstücken geschildert haben.
In dieser Phase muß sich auch jener merkwürdige Vorgang abgespielt
haben, infolge dessen der hintere Abschnitt des Gebisses nur durch
eine einzige Dentition vertreten wurde. Diese Tatsache ist für die Mo-
laren als spezifisches Merkmal gewiß kennzeichnender als ihre Form,
denn diese kann, wie gleich hervorgehoben, auch von den Prämolaren
gelegentlich erreicht werden. Der Ausfall des hinteren Abschnittes
einer der beiden Zahnreihen, und zwar der äußeren, wie man aus den
Variationen im Molarengebiet schließen darf1), hat wohl wesentlich
dazu beigetragen, daß die Zahnkeime der hinteren Elemente der anderen
Zahnreihe ihre morphogenetischen Potenzen zu einer mehr vollständigen
Entwicklung brachten.
Eine weitere Eigentümlichkeit der ersten Entwicklungsphase
des Primatengebisses war die immer stärker hervortretende Ungleich-
förmigkeit zwischen den Zähnen beider Kiefer, worüber näheres in
dem vorangehenden Abschnitt, der über die Unterkieferzähne handelt,
auseinandergesetzt ist. Selbstverständlich nimmt diese Ungleichheit
mit dem Differenzierungsgrad der Zähne zu. Je näher der Zahn dem
Eckzahn gelegen ist. desto primitiver ist er gestaltet und desto größer
ist die Gleichförmigkeit zwischen oberem und unterem Zahn.
Kurz zusammengefaßt kennzeichnet sich somit die erste Phase
des Entwicklungsganges vom Primatengebiß durch Komplizierung
der Zahnformen, durch sich einstellende Ungleichförmigkeit der Zähne
des oberen und unteren Gebisses und durch Aufsall einer Anzahl (viel-
leicht drei) von Zähnen am hinteren Ende einer der beiden Dentitionen,
wodurch der Gegensatz zwischen Molaren und Antemolaren zustande
kommt. Das alles ist bei den eocänen Primaten erreicht.
Die meist in den Vordergrund tretende Erscheinung in der
zweiten Phase der Entwicklungsgeschichte des Primatengebisses ist
neben der Verringerung der Prämolarenzahl, das Bestreben, die Ungleich-
förmigkeit zwischen oberen und unteren Zähnen auszugleichen. Und
man kann konstatieren, daß bei den höheren Primaten dieses Ziel schon
ziemlich weit genähert werden kann, sowohl bei altweltlichen wie bei
neuweltlichen Affen. Es wurde diese größere Übereinstimmung in der
Kronengestalt zwischen oberen und unteren Zähnen zum Teil durch
Vereinfachung der Kronenstruktur infolge von Verlust bestimmter
Höcker erreicht. Und wie oben schon hervorgehoben, war es durch die
Ausschaltung besonders der ursprünglichen Nebenspitzen, daß die
1) Vgl. dazu meinen Aufsatz: Welcher Dentition gehören die Molaren an?
in Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. XVII.
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 9
I 30 Besonderer Teil.
Vereinfachung zustande kam. Die Haupthöcker P (resp. Pa und Pp)
und D. vergegenwärtigen die zwei Elemente des Reptiliengebisses,
die im Säugerzahn zusammengehalten sind. Die Nebenspitzen j, 2, 3
und 4 sind den beiden Nebenzacken homolog, welche diese zwei Grund-
elemente des Säugerzahnes als eine vordere und hintere ausstatteten.
Sie verdanken nicht selbständigen Zahnkeimen ihre Entstehung,
sondern es waren Differenzierungsbildungen der Zahnschneide, wie
wir das bei den Reptilien so überaus häufig antreffen. Und daß es nun
bei der Vereinfachung des Primatenzahnes eben diese Elemente sind,
welche wieder verschwinden, braucht uns nicht zu wundern. Es spielt
sich hier bei den Säugern ein nämlicher Vorgang ab, der auch bei
Reptilien konstatiert werden kann. Als höhere morphologische Diffe-
renzierung hat der Zahn Nebenzacken aus seiner Kante hervorgehen
lassen; wenn nun der Zahn sich wieder einfacher gestaltet, dann ist
es selbstverständlich, daß zuerst die Entwicklung der Nebenzacken
unterbleibt.
Es gibt aber eine Nebenspitze, welche, statt rudimentär zu werden
und zu schwinden, in progressiver Entwicklung bei den höheren Pri-
maten begriffen ist, es ist die hintere Nebenspitze des Deuteromer.
Eben durch diese Progression wurde die Gleichförmigkeit der oberen
und unteren Molaren erzielt.
Ich glaube, daß der hier in einer kurzen Skizze zusammengefaßte
Hauptvorgang in der Geschichte des Primatengebisses nicht ausschließ-
lich auf diese Säugergruppe Bezug hat, doch daß Übereinstimmen-
des auch bei anderen zu verzeichnen ist. Auf diesen Punkt werde ich
jedoch nicht eingehen und gehe jetzt zu der speziellen Besprechung
über, wobei ich die obere und untere Reihe gesondert behandle. Ich
fange mit dem Unterkiefergebiß an.
Viertes Hauptstück.
Das Unterkiefergebiß der Primaten.
Der Vollständigkeit wegen fange ich diese Besprechung mit der
Betrachtung einiger Gebisse von eocänen Primaten an. Ich wähle dazu
einige der am besten bekannten Glieder der von Osborn als Meso-
donten aufgestellte Gruppe, von denen ich in den Fig. 40, 41 und 42
das Unterkiefergebiß einiger Geschichter wiedergebe. Diese Figuren
sind angefertigt nach jenen, welche sich finden in der Abhandlung von
Osborn: „American eocene Primates"1)- Die Bezeichnung der Höcker
ist von mir in Übereinstimmung mit der in den vorangehenden Haupt-
stücken gegebene Differenzierungstheorie angebracht worden.
Als Ausgangspunkt der Besprechung wird uns untenstehende
Tabelle dienen, welche die Kronenformel der verschiedenen postcaninen
Zähne in übersichtlicher Weise zur Schau bringt.
Kronenformel einiger eocänen Primaten.
L^j p«
^s
P,
Ms
M^
M3
Hyopsodus
Lemoinianus
(1)
$>
€)r
I P
T
D
PaPp 2
~D~4~~
Pa Pp 2
D4
PaPp 2
Hyopsodus miticulus
©
&Y
i p
i PaPp
PaPp2
3D4
PaPp 2
D4
PaPp 2
D4
Notharctos spec. V
Q
©
tfr
i PaPp
1 PaPp
3D4
Pa Pp
3D4
PaPp 2
D4
Pelycodus nuniensis
©
®
ifr
P
— T
D l
PaPp 2
~3~V4~
PaPp 2
3D4
PaPp 2
D4
Zur Erläuterung dieser Kronenformel erinnere ich noch kurz
daran, daß die Haupthöcker wie folgt angedeutet sind: Jener des
Protomer mit P und wenn dieser Höcker sich zum Doppelhöcker diffe-
renziert hat, wird der vordere mit Pa, der hintere mit Pp angedeutet,
der deuteromere Haupthöcker ist als D bezeichnet. Die Nebenspitzen
sind folgenderweise unterschieden: die vordere dv^ Protomer als 1.
die hintere als 2, die vordere des Deuteromer als 3 und die hintere als 4.
Die Höcker des Protomer (dem bukkalen Abschnitt des Zahnes ent-
1) Bulletin of the American Museum of Natural History 19Ö2, Vol. XVI.
9*
132
Viertes Hauptstück.
sprechend) sind oberhalb, jene des Deuteromer unterhalb des hori-
zontalen Striches geschrieben. Wenn die Haupthöcker beider Odonto-
meren zu einem einzigen Kegel verbunden sind, an dem noch keine
Trennungsfurche zwischen beiden Komponenten sichtbar ist, werden
die Symbole dieser Höcker zwischen Klammern gestellt. Ein Talon
an dem noch keine weitere Höckerdifferenzierung sichtbar ist, wird
mit T angedeutet. Nach einiger Übung lassen sich diese Kronen-
formeln mit gleicher Leichtigkeit lesen als die Gebißformeln, und
orientieren sie sofort über den Entwicklungsgrad der verschiedenen
Komponenten des Gebisses.
So besagt uns die Tabelle z. B., wenn
wir zuerst die vier Prämolaren etwas näher
betrachten, daß bei je dieser vier Formen
die Prämolaren sich in hinterwärtiger Richtung
allmählich komplizieren aber nicht alle)[in
Fig. 40 Hyopsodus lemoi-
nianus. Unterkiefergebiß.
Nach Osborn 1. c. Fig. 1 a.
Fig. 41. Notharctos
spec. ? Unterkiefergebiß.
Nach Osliorn.
Fig. 42. Pelycodus nuni-
ensis. Unterkiefergebiß.
Nach Osborn.
gleichem Grade. Bei allen besitzt der erste Prämolar eine einfache
kegelförmige Krone. Für Hyopsodus (Fig. 40) geht das unmittelbar
aus der reproduzierten Osbornschen Figur hervor, für Pelycodus
und Notharctos muß man dazu wohl schließen , da auch der von
Osborn abgebildete dritte Prämolar noch eine gleiche einfache Ge-
stalt besitzt (vgl. Fig. 41 und 42). Auch Schlosser bezeichnet die
bezüglichen Zähne noch als einfache Kegel. In dem vorangehenden
Hauptstück sind die Gründe entwickelt, warum ich diesen Kronenkegel
als aus den beiden Haupthöckern der zwei Odontomeren zusammen-
gesetzt betrachte. Für Notharctos und Pelycodus gilt gleiches auch noch
für den zweiten Prämolar, vielleicht besteht hier schon eine Andeutung
eines Talon, aber dann muß er doch sehr gering entwickelt gewesen sein,
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 133
da jener sich an dem dritten Prämolar dieser beiden Gattungen zwar findet
aber noch sehr schwach entwickelt ist. Beim Geschlecht Hyopsodus da-
gegen ist der Talon am zweiten Prämolar schon ziemlich kräftig. Man ver-
gleiche dazu z. B. die Osbornsche Fig. la von H. lemoinianus (hier
reproduziert in Fig. 40) und Fig. 6 von Hyopsodus miticulus. Dieser Vor-
sprung in der Differenzierung, welcher Hyopsodus im zweiten Prämolar
aufweist, bestätigt sich beim dritten in stärkerem Maße. Es hat sich
nämlich bei H. lemoinianus die Nebenspitze / entwickelt, während bei
H. miticulus überdies der Kronenkegel sich schon in seinen beiden
Komponenten gelöst hat, und der protomere und deuteromere Haupt-
höcker selbständig geworden sind (vgl. Osborn, 1. c, Fig. 6). Daß
solches bei einer Art dieser Gattung der Fall ist, bei einer anderen noch
nicht, hat nichts Befremdendes. Ich habe früher darauf hingewiesen,
daß sogar als individuelle Variation, bei zwei Individuen derselben Art,
die kegelförmige Krön11 eines Prämolaren das eine Mal einfach sein
kann, das andere Mal durch eine deutliche Trennungsfurche in seinem
bukkalen und lingualen Komponent gelöst. Die Anthropomorphen
geben gute Beispiele davon. Der P 4 zeigt, der allgemeinen Kegel gemäß,
bei den drei genannten Gattungen weitere Fortschritte. Auch hier geht
das Geschlecht Hyopsodus an der Spitze, und zwar besonders H. mi-
ticulus, dessen vierter Prämolar vollständig „molarisiert" ist. Denn
hier finden sich im protomeren Teil die zwei bukkalen Haupthöcker
Pa und Pp, indem dazu im deuteromeren Teil die Nebenspitze 4 sich
differenziert hat. In der Molarisierung kommt Hyopsodus miticulus
jedoch Notharctos gleich, denn auch hier sind Pa und Pp diffe-
renziert, dagegen ist das Deuteromer nur durch seinen Haupthöcker
vertreten.
Auf die Tatsache, daß der letzte Prämolar bei den eocänen Pri-
maten bisweilen vollständig „molarisiert" sein kann, weist auch
Schlosser (Affen, Leniuren usw., S. 19) hin. Der Autor hebt hervor,
daß solches bei keinem der echten Affen der Fall ist, und zieht daraus
den Schluß, daß „die Pseudolemuridae in dieser Beziehung weiter fort-
geschritten sind und deshalb unmöglich als die direkten Stammeltern
der Affen angesehen werden können, denn bei keinem von diesen
letzteren hat der letzte Pr die Zusammensetzung eines M. erreicht."
Nun möchte ich über die genetische Beziehung zwischen den
echten Affen und den Pseudolemuridae keine Meinung aussprechen,
aber der Grund, auf welchen Schlosser sein abweisendes Urteil
stützt, scheint mir doch anfechtbar. Denn die Möglichkeit, daß im
Laufe der weiteren Entwicklung die Zahnformen sich vereinfacht haben,
wird dabei von vornherein beseitigt. Die konsequente Anwendung
des von Schlosser hier befolgten Prinzipes, muß dazu führen, unter
allen Umständen die Vereinfachung der Zahnkrone, als entwicklungs-
geschichtlicher Vorgang, der Zahnformen geologisch jüngerer Formen
entstehen läßt, von der Hand zu weisen. Das würde zu unüberwindlichen
Schwierigkeiten führen. Denn dann sollten z. B. die zwrei so einfach
gebauten Prämolaren von Indris oder Propithecus als primitive Formen
gedeutet werden müssen, und nicht als sekundär vereinfachte Formen.
Ich kann diesen Standpunkt nicht teilen. Die Struktur dc> (iebisses als
Ganzes hat zweifelsohne großen Einfluß auf die Gestalt der einzelnen
Zähne im Verband mit der Funktion der verschiedenen Gebiß-
abschnitte. Festgreifen, Zerreißen und Kauen sind die drei Tätig-
134 Viertes Hauptstück.
keiten des Gebisses, welche je in einem besonderen Abschnitt lokali-
siert sind, und in je derselben ist die Gestalt der Zähne in Übereinstim-
mung mit der Funktion. Die erstgenannte ist an den Frontzähnen
gebunden, die zweite an den Prämolaren, die dritte an den Molaren.
Wenn nun die Prämolaren noch vier an der Zahl sind und der hinterste
mithin ziemlich weit von der Mundöffnung entfernt ist, dann läßt es sich
unschwer einsehen, daß derselbe mehr in den Dienst der Mahlbewegung
treten kann, da das Zerreißen der Nahrung in den drei vorangehenden
genügend gesichert ist. Wenn sich dagegen die Prämolarenzahl ver-
ringert, z. B. auf zwei, wie bei gewissen Prosimiae und bei den altwelt-
lichen Affen, wird die Aufgabe, die Nahrung zu zerreißen, in nur zwei
Elementen des Gebisses lokalisiert, welche sich dieser Funktion so gut
wie möglich anpassen. Man betrachte z. B. die zwei stark seitlich kom-
primierten Prämolaren von Indris, Propithecus usw. Die Folge davon
ist, daß diese Zähne ihre frühere mehr komplizierte Gestalt, welche sie
bei den noch im Besitze von vier Prämolaren stehenden Stammformen
besaßen, preisgeben und sich vereinfachen. Aber gerade dadurch
wird der Unterschied zwischen Molaren und Prämolaren immer schärfer
ausgeprägt. In dieser Weise erkläre ich, die Erscheinung, daß mit
Verringerung der Prämolarenzahl die Unterschiede in Form zwischen
Prämolaren und Molaren akzentuiert werden, nicht ausschließlich
infolge von höher funktioneller Ausbildung der Molaren, sondern zum
guten Teil durch Vereinfachung der Prämolaren. Nun ist selbstverständ-
lich die Gestalt der Zähne eines der Primaten, z. B. des Menschen,
nicht ausschließlich durch diesen einzigen Gesichtspunkt zu erklären,
es sind mehrere Umstände, welche dafür in Betracht genommen werden
müssen. Doch ist das hier Hervorgehobene nicht jenes von der geringsten
Bedeutung.
Aus dem oben gegebenen Grunde kann ich mich dann auch
der Ansicht Schlossers: es können die Pseudolemuriden nicht die
Stammeltern der wahren Affen gewesen sein, weil ihr hinterster Prä-
molar „molarisiert" sein kann, nicht anschließen. Ob sie es wirklich
gewesen sind, darüber habe ich kein Urteil, aber das Schloss ersehe
Argument gegen eine solche Verwandtschaft, ist meiner Meinung nach
für einen so weittragenden Schluß zu schwach und anfechtbar.
Die Molaren zeigen bei den drei Geschlechtern in ihrer Diffe-
renzierung weitgehende Übereinstimmung. Sie besitzen alle eine wohl
markierte Trennung der proto- und deuteromeren Elemente und allen
Pa Pf>
ist der Besitz der typischen Molarenhöcker — =: — - gemein. Die Unter-
Jr D 4 °
schiede werden nur durch eine etwaige Entwicklung von Nebenspitzen
hergestellt und durch das Auftreten von Kämmen, welche die Höcker
unter sich verbinden. Am meisten interessiert uns die Nebenspitze 2,
die hintere des Protomer. Denn diese Spitze, der sogenannte hintere
unpaarige Höcker der Odontologen, tritt bei den eoeänen Primaten offen-
bar ziemlich häufig an den drei Molaren auf, während er bekanntlich
bei den rezenten Formen, wenn überhaupt anwesend, meistenteils (nicht
immer; [Anthropoiden, Hominiden]) auf den dritten Molar beschränkt
ist. Beim Geschlecht Hyopsodus scheint er regelmäßig an den drei
Molaren vorzukommen, denn außer den zwei in der Tabelle nahmhaft
gemachten Arten besitzt auch, nach der Osbornschen Abbildung,
Hyopsodus vicarius diesen 2- Höcker auf den drei Molaren. Auch bei
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 135
Pelycodus ist solches der Fall, bei Notharctos dagegen ist er auf den
letzten Molaren beschränkt. Das Fehlen dieses Höckers darf somit als
eine progressive Erscheinung gedeutet werden, das Vorkommen des-
selben bei rezenten Formen als ein primitives Merkmal.
Bezüglich des Vorkommens vom 2-Höcker auf den Unterkiefer-
molaren von Hyopsodus besteht ein Widerspruch in den Angaben von
Cope und den Abbildungen von Osborn. Wie oben hervorgehoben,
bildet der letztgenannte Autor einen hinteren unparigen Höcker an
sämtlichen Molaren ab bei: H. miticulus (1. c. Fig. 6), H. lemoinianus
(1. c. Fig. 7a), H. powelianus (1. c. Fig. 9), H. vicarius (1. c. Fig. 12).
Cope dagegen (American Naturalist. L885, S. 400) stellt das Geschlecht
Hyopsodus in einer Tabelle der eocänen Primaten in der Gruppe mit
vier Prämolaren und vierzackigen Unterkiefermolaren. Die Beschrei-
bung Schlossers (1. c. S. 21) stimmt mit den Abbildungen Osborns
überein.
In dem Kapitel, welches über die Morphogenese der Oberkiefer-
zähne handelt, ist ausführlich die große Bedeutung des Leistensystems
auf die Molaren für vergleichend anatomische Zwecke erörternd worden.
Aus diesem Grunde werde ich dann auch an dieser Stelle kurz das Leisten-
system, das man an den unteren Zähnen der drei vorliegenden eocänen
Primatengeschlechter antrifft, berücksichtigen. Das einfachste System
findet sich am hintersten Prämolaren als ein Querkamm, welcher die
Haupthöcker P und D miteinander verbindet. Er tritt bei den drei
Geschlechtern auf. Es verhalten sich in diesem Punkt die unteren
Zähne identisch mit den oberen. Denn wie an betreffender Stelle
auseinandergesetzt wurde, erscheint auch dort die einfachste Andeutung
des Leistensystemes als eine die Haupthöcker beider Odontomeren
verbindende Leiste. Auch die weitere Ausbildung verläuft mit jener
der oberen Zähne parallel, findet sich am vollständigsten bei Hyop-
sodus entwickelt. Denn wenn in dem Oberkiefer der Haupthöcker
des Protomer P, in den Zwillingshöckern Pa und Pp sich gelöst hat,
ist an Stelle des einfachen Querkammes eine V-förmige Leiste entstanden.
Der Höcker D steht dann durch eine Leiste mit jedem der beiden
Komponenten des protomeren Haupthöckers in Verbindung, es zieht
eine kürzere vordere in querer Richtung nach Pa und eine hintere
längere in schräger Richtung nach Pp. In der Ausbildung dieses
Systemes zeigen aber die drei Geschlechter Unterschiede. Am vollstän-
digsten ist es bei Hyopsodus entwickelt, da sämtliche Molaren hier
mit einem solchen V-förmigen Leistensystem ausgestattet sind. Bei
Pelycodus findet es sich nur auf dem ersten Molar, bei Notharctos
fehlt die hintere Schrägleiste an allen Molaren, nur die vordere Quer-
leiste ist da, Daß letztere für Homologisierung der Höcker gute Dienste
leisten kann, wird z. B. durch jene Fälle bewiesen, in denen sich vor den
Höckern Pa und D noch zwei Höcker entwickelt haben (i und 3).
Hier könnten bei etwas kräftiger Entwicklung dieser Nebenspitzen
Schwierigkeiten in der Bestimmung der Höcker sich ergeben, die
Querleiste jedoch stellt sofort die Identität der Höcker Pa und
I) fest.
Da es mir nicht im Sinne liegt, eine vollständige Morphologie
der Primatenzähne zu geben, und ich nur bezwecke, dieselben im Licht
meiner Theorie zu betrachten, beschränke ich mich, was die eocänen
Primaten betrifft, auf die drei besprochenen amerikanischen Ge-
136
Viertes Hauptstück.
schlechter und gehe jetzt zu den Unterkieferzähnen der Halbaffen
über. —
Ich werde der Besprechung dieser Formen wieder eine Tabelle
der Kronenformel zugrunde legen.
Kronenformel der unteren Zähne vom Halbaffen.
P,
^3 P*
Mx
Mt
M3
Tarsius spectrum . . .
©
O
f©3"
J PaPp
Z>4
1 Pa Pp
D 4
1 PaPp 2
T>4
Stenops gracilis . . .
©
©*
(I)2
Pa Pp
D 4
PaPp
~D~4~
Pa Pp 2
D4
Nycticebus tardigradus
©
<Qr
4%
(DPaPp
D4
Pa Pp
Pa Pp (2)
ü4
Cheirogaleus Shmithii
©
©'
(5)'
Pa Pp
D4
Pa Pp
~D~T
Pa Pp 2
D4
Galago senegalensis
©
&
Pa Pp
Pa Pp
PaPp
Pa Pp 2
D^
D 4
D4
•DA
Hemigalago Demidoffi
©
©*
Pa Pp
PaPp
D4
Pa Pp
D4
Pa Pp 2
D4
r>4
Avalm laniger ....
©*
Pa Pp
~D~~
1 Pa Pp
D(Dl)4
Pa Pp
D(D')4
Pa Pp 2
D(DX)4
Propithecus diadema .
(i)r
©'
1 Pa Pp
D4
Pa Pp
Pa Pp 2
D4
©T
g)'
1 Pa Pp
D 4
PaPp
~B~4~
Pa Pp 2
T>4
©
Or
1 Pa Pp
D4
Pa Pp
P>4
Pa Pp (2)
D4
Wir werden zuerst die in obenstehender Tabelle enthaltenen
Formen miteinander vergleichen, und sodann mit den vorher be-
sprochenen Urprimaten.
Wenn man die Variationen der Kronengestalt in der gegebenen
Tabelle betrachtet, dann erweist sich dieselbe bei den verschiedenen
Komponenten des Gebisses verschieden groß. Man könnte vielleicht
a priori geneigt sein, die größte Variabilität zu erwarten bei den Zähnen
mit mehr zusammengesetzter Struktur. Doch ist dem nicht so. Der
zweite Molar z. B. kennzeichnet sich bei den Halbaffen durch seine
Pa Pp
sehr stabile Struktur, es kehrt die Formel — -^ — — mit großer Konstanz
D 4
für die Krone dieses Zahnes wieder, nur bei Tarsius tritt noch die vordere
protomere Nebenspitze hinzu, und bei Avahis ein Höckerchen — in
der Formel mit D1 bezeichnet — worüber unten weiteres erfolgt. Daß
bei dieser Übereinstimmung in der Höckerbildung die Form des Zahnes
noch recht verschieden sein kann — und auch wirklich ist — braucht
kaum hervorgehoben zu werden.
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 137
Die Übereinstimmung ist eine vollständige für den vordersten
der Prämolaren bei jenen Geschlechtern, bei denen davon drei anwesend
sind (P2), beim zweiten Prämolaren (Pj) machen sich schon Verschieden-
heiten bemerkbar, die größte Differenz herrscht in der Kronenstruktur
des hintersten Prämolaren (P4). Der P2 besitzt immer nur eine ein-
fache, bisweilen stark komprimierte kegelförmige Krone, an der
Basis der inneren hinteren Seite kann ein Cingulum vorkommen,
aber einen wirklichen Talon vermißt man hier noch. Letzterer
tritt — ■ aber dann auch konstant — erst an dem zweiten Prämolaren
(P3) auf, sei es in wechselnder Stärke. Doch hat die Krone auch
hier noch die Form eines einspitzigen Kegels behalten, nur bei
Lemur traf ich einen mehr progressiven Zustand, da P3 hier deutlich
eine größere bukkale -- protomere Spitze trägt (P), und eine etwas
nach hinten gerichtete kleinere, innere - deuteromere Spitze (D).
Die Trennung des zusammengesetzten Kronenkegels in seinen zwei
Komponenten ist hier somit schon erfolgt. In dieser Hinsicht trägt
Lemur ein Merkmal im Gebiß, wodurch dieses Geschlecht sich
bestimmt von allen anderen Halbaffen unterscheidet, um sich den
wahren Affen zu nähern. Diese Übereinstimmung ist jedoch nicht
so groß, wie sie aus der Beschreibung von Giebel1) hervorgehen
würde. Denn daß die Lückenzähne von Lemur, wie der genannte Autor
schreibt, in Form sich ganz an Hapale und Cebus anschließen, entspricht
doch wohl nicht der Wirklichkeit. AVie verschieden übrigens die Deutung
eines Kronenreliefs bei verschiedenen Autoren sein kann, geht z. B.
daraus hervor, daß Schlosser2) von den bezüglichen Zähnen sagte:
„Die Pr haben einfachen Bau." Natürlich sind individuelle Variationen
nicht ausgeschlossen. Differenzierungen des Talon weist der P3 noch
bei keinem Halbaffen auf.
Wie gesagt, kennzeichnet sich P4 durch die größte Verschiedenheit
in der Differenzierung seiner Krone. Es sind nämlich alle Ubergangs-
stufen in der oben gegebenen Tabelle vertreten, von einem hintersten
Prämolar, der nur durch eine etwas kräftigere Entwicklung des Talon
sich vorn vorangehenden unterscheidet, also mit einer Kronenformel
1-ryj T bis zu einem Zahn, der vollkommen „molarisiert" ist, mit einer
Pa Pj)
Kronenformel — =r — — . Den einfachsten Bau trifft man sowohl bei
D 4
einem Halbaffen mit drei Prämolaren (Cheirogaleus) als bei zwei der
Prosimiae mit nur zwei Prämolaren (Propithecus, Indris). Bei Tarsius
/ \ P~
kommt dann die vordere bukkale Nebenspitze hinzu [1
D
p) (Fig. 43).
Als nächst höhere Differenzierungsstufe ist jene zu verzeichnen, bei
der beide Elemente des Kronenkegels P und D durch je eine besondere
P
Spitze repräsentiert sind: -=- T. was bei Stenops gracilis der Fall ist
(Fig. 44). Gelegentlich kann an einem solchen hintersten Prämolaren
als primitives Merkmal die protomere vordere Nebenspitze noch an-
1) C. G. Giebel, Odontographie, S. 6.
2) Die Affen, Lemuren usw., 8. 41.
138
Viertes Hauptstück.
wesend sein, wodurch die Kronenformel i — T wird, wie bei Nycti-
cebus und Lemur. Hieran schließt s'ch Avahis, dessen hinterster
( — von den zwei anwesenden) Prämolar schon den Weg zur Molari-
sierung eingeschlagen hat, indem die bukkale Seite die Zwillingshöcker
Pa, Pp trägt. Im deuteromeren Abschnitt jedoch ist es noch nicht
zu einer weiteren Differenzierung gekommen. Die Kronenformel lautet
Pa Pp
daher
D
Es nehmen aber die drei Spitzen dieses Zahnes eine sehr
Fig. 43. Untere Zähne von Tarsius. Innenseite.
Fig. 44. Untere Zähne vom Stenops gracilis.
Innenseite.
eigentümliche Stellung hinsichtlich einander ein, worüber unten noch
näheres folgt.
Den am vollständigsten entwickelten dritten Prämolar weisen
die Geschlechter Galago und Hemigalago auf. Hier ist, wie auch aus
Fig. 45 ersichtlich, der Zahn vollständig molarisiert, nur ist er um ein
Geringes kleiner als
der erste Molar. Auch
Schlosser (1. c. S. 40)
sagt von dem Ge-
schlecht Galago: „der
hinterste Pr. hat in
beiden Kiefern nahezu
die Zusammensetzung
eines M. erlangt.'1 Der
Autor deutet diese Er-
scheinung als eine
Fortschrittserschei-
nung. Wenn man je-
doch in Betracht zieht,
daß eine ähnliche Mo-
larisierung auch bei
eoeänen Formen, z. B.
Hyopsodus, Notharc-
tos auftritt, dann ist
doch immerhin die
Frage gestattet, ob
Galago und Hemi-
galago durch diese Molarisierung der hintersten P sich den übrigen Halb-
affen gegenüber als progressiv oder gerade entgegengesetzt als primitiv er-
weisen ? Für die Stellungsnahme dieser Frage gegenüber scheint mir die
Tatsache von Bedeutung, daß, wie oben auseinandergesetzt, die histo-
rische Entwicklung während des Tertiärs auf eine Konsolidierung der
Zahnformen, mit Verringerung der Zahnspitzen zustrebt. Und es finden
sich geradein der erwähnten Schi os s ersehen Arbeit mehrere Deutungen,
welche als Stütze für diese Behauptung herbeizuführen sind. So weist
der Autor an mehreren Stellen darauf hin. daß Verlust oder Reduktion
des „Vorderzackens'' an den unteren Zähnen (meine Spitze i) ein pro-
gressives Merkmal darstellt, die Persistenz davon bei den Lemuriden
ein primitiver. So z. B. auf Seite 39: „Tarsius hat noch folgende alte
Merkmale an sich: unpaarer Vorderzacken an allen M." Weiter be-
trachtet der Autor die Anwesenheit eines Hinterzackens — meine
Spitze 2 — an allen Molaren als ein primitives, der Verlust derselben
als ein progressives Merkmal. Ich stimme in beiden Deutungen mit
Fig. 45. Untere Zähne von Galago. Innenseite.
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 139
dem Autor überein, es sind Äußerungen des Prinzipes, daß Verringerung
der Zacken ein Merkmal der Zahnentwicklung der Primaten während
des Tertiärs ist. Aber warum der Autor nun auch nicht in konsequenter
Weise, dieses Prinzip für den hintersten Prämolaren gelten läßt, ist
mir nicht deutlich. Vielleicht ist seine der Cope-Os bornsehen Theorie
entnommene Ansicht, daß Molaren und Prämolaren einem verschiedenen
Entwicklungsgang gefolgt sind, darauf nicht ohne Einfluß gewesen.
Nun möchte ich durch Obenstehendes gar nicht behauptet haben
wollen, daß von sämtlichen Stammformen der Primaten der hinterste
Prämolar einmal molariform gewesen ist. Es scheint mir die Sache
etwas dunkel. Aus welchem Grunde dieser Zahn das einemal diesen
hohen morphologischen Differenzierungsgrad erreicht, das anderemal
sich in einer äußerst einfachen Form präsentiert, ist, wie ich glaube,
in jedem Falle nur vom allgemeinen Standpunkte des Gebißmechanis-
mus in Verbindung mit der Natur der Nahrung zu erklären. Wir werden
in Verbindung damit bald einen Pendant zu dem obigen Falle kennen
lernen, wobei der erste Molar deutlich eine Prämolarenfunktion erfüllt.
Man hat früher, wie ich aus Weber1) ersehe, den Galaginae die Chiro-
galei angereiht, Nebst den von dem genannten Autor namhaft gemachten
Unterschieden zwischen beiden Familien darf die so verschiedene Be-
schaffenheit des hintersten Prämolaren gewiß als ein Hauptdifferenz-
merkmal genannt werden.
Wir wenden uns jetzt den Molaren zu. Die ganze Gruppe der
Halbaffen zeigt in der Höckerdifferenzierung der unteren Molaren eine
auffallende Konstanz. Man darf kurzhin behaupten, daß die Molaren
in allen Geschlechtern vierhöckerig sind, sie besitzen den protomeren
Zwillingshöcker Pa, Pp und im deuteromeren Teil hat sich neben dem
Haupthöcker D aus dem Talonrand die Nebenspitze 4 entwickelt.
Soweit mir bekannt, wird diese vierhöckerige Krone nur in zweierlei
Weise kompliziert, erstens durch die Anwesenheit der vorderen proto-
meren Nebenspitze 1 und zweitens durch jene der hinteren protomeren
Nebenspitze 2. Eine dritte, etwas fremdartige Komplikation, welche
nur bei Avahis gefunden wird, verdient eine besondere Besprechung.
Die Nebenspitze 2 — der sogenannte dritte bukkale Höcker der
Autoren — findet sich bei den Halbaffen nur am hintersten Molaren, und
an diesem Zahn nicht einmal bei allen Geschlechtern stark entwickelt.
Beim Geschlecht Lemur kann er als individuelle Variation sogar ganz
fehlen. Dieser Zustand ist in der Tabelle dadurch zum Ausdruck ge-
bracht, daß das Symbol in der Formel zwischen Klammern gestellt
worden ist. Gleiches ist der Fall bei Nycticebus. Hierauf ist auch
durch Huxley hingewiesen worden. „In the lower jaw the fifth
cusp of the third molar was very small or obsolete in three"2). Sehr
klein ist er ebenfalls bei den Indrisinae und ist hier sogar als eine kleine
runde Erhabenheit so stark lingualwärts verschoben, daß er die hintere
Ecke des inneren Kronenrandes bildet. Nur bei Avahis nimmt er mehr
die Mitte des hinteren Randes ein. Die starke Reduktion der Zacke
bei den mir vorliegenden Exemplaren von Indrisinaeschädel läßt ver-
1) M. Weber, Die Säugetiere, S. 760.
2) T. H. Huxlev, On the Arctocebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 323.
London 1864.
140 Viertes Hauptstück.
muten, daß sie gelegentlich bei Gliedern dieser Familie fehlen kann.
In erster Linie kommt dafür das Geschlecht Indris in Betracht.
Die Nebenspitze / - vordere bukkale Nebenspitze — (vordere
Zacke von Schlosser) kommt nur bei einem einzigen Halbaffen an
allen Molaren zur Entwicklung, nämlich bei Tarsius: eine Eigentüm-
lichkeit dieser Form, auf die auch von Schlosser schon aufmerksam
gemacht worden ist, und von diesem Autor, wie ich meine, richtig als
ein primitives Merkmal bezeichnet. Sonst erscheint diese Spitze bei
den Prosimiae nur am ersten Molaren, und fehlt sogar auch an diesem
Zahn noch bei der Mehrzahl der Geschlechter. Bei Nyeticebus tritt
sie nur als individuelle Variation auf, auch bei Lemur ist der Entwick-
lungsgrad sehr wechselnd, ein vollständiges Fehlen beobachtete ich
jedoch nicht. Nur in der Familie der Indrisinae scheint sie konstant
zu sein. Das hängt wohl mit der etwas eigentümlichen Gestalt vom
ersten Molaren dieser Prosimiae zusammen, die für diese Familie etwas
Typisches zu sein scheint. Im allgemeinen sind bei den Halbaffen die
Zackenpaare der unteren Molaren einander opponiert, bei Nyeticebus,
ist das innere Paar hinsichtlich des äußeren vielleicht um ein wenig
nach hinten verschoben, aber von einem Alternieren darf man auch
hier noch nicht sprechen. Eine gleiche Lagerung nehmen die Zacken
am zweiten und dritten Molaren auch bei Indris ein, wogegen der
vorderste Molar eine ganz andere Gestalt angenommen hat. Eine sehr
gute Beschreibung der Unterkieferzähne vonlndrisinae liefertHuxley1);
er deutet jedoch den ersten Molar irrtümlicherweise als einen dritten
Prämolar. „There is", sagt der Autor, ,, in both jaws a muchgreater diffe-
rence between the second grinder and the third, them between the third
and the f ourth, so that one might suspect the third tooth to be a true
molar." Nun besitzen die Indrisinae bekanntlich in Wirklichkeit nur
zwei Prämolaren und der dritte posteanine Zahn ist nicht nur dem An-
schein nach, sondern in Wirklichkeit ein Molar. Diesen Zahn nun
beschreibt Huxley wie folgt: „In the lower jaw the first and second
grinders are unicuspidate, the third has four cusps connected in pairs
by ridges, wich are disposed obliquely from within outwards and for-
wards. The anterior external cusp is united by a curved ridge with
the margin of the large anterior basal process of the tooth, and the
posterior external cusp is connected by an oblique curved ridge with
the anterior-internal. Thus the tooth acquires a doubly crescentic,
Rhinocerotic pattern."
In Fig. 46 ist Mx und M2 von Indris, von oben und von medial ge-
sehen, skizziert. Der zweite Molar bietet nichts besonderes, die bukkalen
Zacken Pa und Pp stehen den beiden lingualen D und 4 opponiert.
Nun tritt am ersten Molaren eigentümlicherweise letztere Disposition
auch bei den beiden hinteren Höckern auf, der bukkale Pp liegt dem etwas
kleineren lingualen 4 gerade gegenüber. Die vordere Hälfte des Zahnes
jedoch erscheint an der bukkalen Fläche wie abgeschnürt von der hinteren,
und indem nun der vordere bukkale Höcker Pa die Mitte dieser Hälfte
einnimmt, ist die vordere linguale stark nach hinten verschoben und
liegt der bukkalen Einschnürungsstelle gerade gegenüber. Die beiden
vorderen Höcker alternieren daher miteinander und der Zahn erscheint
1) T. H. Huxley, On the Arctocebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 314.
London 1864.
Das Unterkiefergebiß der Primaten.
141
^z^r^
wie nach vorn ausgezogen und zugespitzt. Die vordere Spitze wird
vom Nebenhöckerchen i gebildet. Bei Avahis und Propitheeus weist
der Mx nur unwesentliche Unterschiede mit dem von Indris beschrie-
benen auf, auch was die kammartige Verbindung der beiden bukkalen
Höcker mit dem vorderen lingualen betrifft, welches aus Fig. 46 für
Indris ersichtlich ist.
Es erhebt sich die Frage, warum der erste Molar der Indrisinae
im Unterkiefer sich in so charakteristischer Weise umgestaltet hat.
Es will mir scheinen, daß die Antwort unschwer zu geben ist. Das
wesentliche in dieser Form muß in dem Gegensatz erblickt werden,
der zwischen vorderer und hinterer Hälfte des Zahnes sich ausgebildet
hat. Die hintere Hälfte für sich betrachtet, ist nach dem Typus eines
echten Molaren gebaut. Aber die vordere Hälfte nicht, Diese Hälfte
entspricht, wenn isoliert betrachtet, in ihrer Gestalt vollständig einem
l'rämolar, der Höcker Pa ist ein seitlich komprimierter, scharfkantiger
Kegel. Es vereint somit der erste Molar der Indrisinae die Merkmale
eines Molaren und eines Prämolaren in sich, der Zahn erscheint „prä-
molarisiert", nicht durch Reduktion der Höckerzahl, sondern durch
eine bestimmte Disposition der Höcker. Ist diese Tatsache einmal
festgestellt, wird es nicht schwer,
die Korrelation dieser Umgestaltung
mit dem Bau des Gebisses als
Ganzes einzusehen. Die Indrisinae
besitzen bekanntlich nur zwei Prä-
molaren. Nun macht es den Ein-
druck, als wäre dadurch die Prä-
molarenfunktion — Zerreißung des
Futters — nicht genügend gesichert,
zumal wenn man in Berücksich-
tigung zieht, daß der Caninus,
der vollkommen die Form eines
Incisivus erworben hat, an diese
Funktion, auch infolge seiner sehr horizontalen Richtung, sich nicht
beteiligen kann. Es wird dieses Defizit an Prämolarenfunktion in
vorzüglicher Weise kompensiert durch die Umbildung der vorderen
Hälfte des ersten Molaren zu einem Prämolaren. Wir haben in
dieser Differenzierung ein äußerst lehrsames Beispiel der funktio-
nellen Anpassung der Gebißelemente, wobei es jedoch immerhin eine
offene Frage bleibt, ob sich der erste Molar derart gestaltete, weil durch
Reduktion der Prämolarenzahl die richtige Funktion des Gebisses
beeinträchtigt wurde, oder ob ein Prämolar verloren ging, weil der
erste Molar einen Teil der Prämolarenfunktion übernahm. Was in diesem
Falle Ursache und was Folge war, seheint mir nicht leicht zu ent-
scheiden zu sein.
Es muß an dieser Stelle noch einer Besonderheit in der Diffe-
renzierung der Molaren von Avahis gedacht werden. Der erste Molar
diesem Geschlecht besitzt die spezielle Gestalt, die oben für die
für
der
das
vom
D-Höcker — sich erhebt. Am ersten Molaren ist es am «roßten, am
Fig. 46. Indris brevicaudatus. Erster
und zweiter Molar des Unterkiefers.
von
Familie der Indrisinae beschrieben worden ist. Als ein offenbar
das genannte Geschlecht typisches Merkmal findet sich nun an
lingualen Seite jedes Molaren ein scharf begrenztes Höckerchen,
vom hinteren Rande des vorderen lingualen Höckers - also
142
Viertes Hauptstück.
dritten hat es den geringsten Umfang (Fig. 47). Es unterliegt keinem
Zweifel, daß es regional zum D-Höcker gehört. In der Tabelle habe ich
diese Spitze als Dl eingetragen.
Wie ist nun diese Zacke, die zwischen dem deuteromeren Haupt-
höcker D und der hinteren Nebenspitze 4 dieses Odontomer erscheint,
zu deuten. Daß es kein primärer Hocker sein kann ist deutlich, denn
zwischen dem D-Höcker und dem ^-Höcker ist ein solcher nicht denk-
bar. Es scheint mir jedoch die Sache nicht schwierig zu erklären zu
sein. Wir haben gesehen, daß im Protomer aus dem Hinterrand des
Haupthöckers P ein sekundärer Höcker Pp sich bilden kann, der bei
den Molaren meistenfalls dem Urhöcker P an Größe gleichkommt.
Ich bin nun der Meinung, daß das akzessorische Höckerchen bei Avahis,
das deuteromere Homologon ist vom protomeren Pp-Höcker, mit
anderen Worten, daß ebenso wie der Haupthöcker vom Protomer
normal aus seinem Hinterrand eine zweite Zacke entstehen läßt, so
auch bei Avahis der Haupthöcker vom Deuteromer. Es ist von Bedeu-
tung, daß diese Differenzierung im lingualen Odontomer der Molaren
bei einem der Halbaffen vorkommt. Denn diese Tatsache beweist, daß
im Prinzip die Haupthöckgr beider Odontomeren sich übereinstimmend
betragen können. Inwieweit bei anderen Säugetieren diese bei Pri-
maten ausnahmsweise auftretende Erschei-
nung regelmäßiger vorkommt, ist eine Frage,
auf welche ich nicht eingehe. Es genügt an
dieser Stelle auf die Möglichkeit hingewiesen \ J r^l~^\
zu haben, damit man bei der Deutung
%
?\
Fig. 47. Avahis laniger. Linguale
Seite der Unterkieferzähne.
Fig. 48. Unterer Mx von
Siamang mit dem Höcker Dl.
der Kronenstruktur bei anderen Säugern — ich denke hier in erster
Linie an die Carnivoren — diese Möglichkeit berücksichtige.
Aber noch in anderer Richtung ist das Auftreten dieser Zacke
bei Avabis interessant. Denn sie tritt auch noch bei einer anderen
Primatengruppe auf, und zwrar bei den Anthropoiden. Ich beschränke
mich an dieser Stelle auf den Hinweis, daß die D'-Zacke besonders bei
Gorilla sehr häufig ist. Auch bei Siamang tritt dieselbe nicht selten auf
In Fig. 48 ist in vergrößertem Maßstabe ein solcher Molar von der
lingualen und oberen Fläche zur Darstellung gebracht.
Vergleicht man die Differenzierung der Unterzähne von jetzt
lebenden Halbaffen mit jener der eocänen Formen -- was durch die
gegebenen Kronenformeltabellen wesentlich erleichtert wird — dann
ist das Resultat der Vergleichung kurzhin in dem Schluß niedergelegt:
die Struktur der Zähne heutiger Halbaffen ist einfacher als jene der
eocänen Primaten. Diese Vereinfachung befällt weniger die Prämolaren,
ist dagegen an den Molaren sehr evident. Die Reduktion äußert sich
besonders an zwei Spitzen, nämlich der vorderen Nebenspitze vom
Deuteromer (Spitze 5) und der hinteren vom Protomer (Spitze 2).
Die erstere, welche bei den älteren Formen am ersten und zweiten
Molaren srar nicht selten zu sein scheint, vermißte ich bei den von mir
Das Unterkiefergebiß der Primaten.
143
untersuchton rezenten Halbaffen vollständig. Die zweitgenannte
(die hintere unpaarige Zacke der Autoren) findet sich bei den eocänen
Formen nicht selten an allen Molaren. Dies ist somit als ein primitives
Merkmal zu betrachten. Bei den Halbaffen dagegen kommt sie fast
ausnahmslos nur am dritten Molaren vor1) und kann auch hier schon
bei gewissen Gattungen (Nycticebus, Lemur) fehlen. Wir müssen uns
sofort von diesem Reduktionsvorgang an den Molaren als eine histo-
rische progressive Erscheinung wohl bewußt sein, denn dadurch er-
scheinen die Molaren der Anthropoiden und des Menschen, an dem
bekanntlich der 2-Höekcr an sämtlichen Molaren noch vorkommt, im
rechten Licht. An geeigneter Stelle wird auf diese Sache zurückge-
kommen werden. Wir gehen jetzt zur Betrachtung der unteren Zähne
von den amerikanischen Affen über.
Ich fange wieder mit einer Kronenformeltabelle jener Formen
an, welche mir zugänglich waren. Es standen mir von den Halbaffen
keine Schädel mit Milchgebiß zur Verfügung, so daß ich von diesem
Gebiß bisher keine auf eigener Beobachtung basierte Angaben machen
konnte. Von den Platyrrhinen aber hatte ich dazu wohl auf Grund
von im hiesigen Museum sich findenden Objekten Gelegenheit, Und
um nach dieser Seite hin meine Untersuchung zu vervollständigen,
habe ich in der untenstehenden Tabelle die Kronenformel der Milch-
molaren mit eingetragen. Sie sind zur leichteren Unterscheidung mit
kleinen Buchstaben wiedergegeben. Die Beziehung zwischen der Kronen-
struktur der Milchmolaren und jener der Ersatzzähne wird später noch
zur Sprache gebracht werden, wenn auch die übrigen Affen besprochen
sind. Ich verweise dazu aber jetzt schon nach Tafelfigur 10, wo man in
einfachen Skizzen die Struktur der Prämolaren und der Milchmolaren
der meisten Affengattungen in übersichtlicher Weise nebeneinander
gestellt findet. Diese Skizzen vervollständigen somit die Daten, welche
in der untenstehenden Kronenformeltabelle niedergelegt sind.
Kronenformel der unteren Zähne von Plat vrrhinen.
F.,
in.,
>»3
p
' 4
III
Mt
-»/,
M
.vi 3
C'\
P
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
Hapale \
D
D4
pa pp
d4
D4
D4
Chrysothrix . .
(p\ p
oder
\DI D
P
D
t,
d
Pa
D~4
pa pp
d 4
Pa Pp
~D4~
Pa Pp
D4
Pa Pp
I>4
1) An einem infantilen, Schädel von Hapalemur griseus, fand ich aber den
2-Höcker auch am ersten Molaren.
144
Viertes Hanptstück.
P.,
P*
M,
M„
Af,
Cebus
Mycetes
Ateles
Pithecia .
Nyctipithecus .
P
i —
D
P
i —
d
P
D
P
d
P
D
P_
d
P
D
P_
d
P
V
D
d
D
t,
d
P
T
D
P_
d
P
T
D
P_
d
P
D
Pa
B~4
papp
(3) d4
Pa
D4
papp 2
d 4
P
-T
D
pa pp
~~dlT
p
T
D
pa pp
Pa
D~4
Pa Pp
£>4
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
~15~4~
Pa Pp
D4
Pa Pp
D4
Pa Pp
D4
Pa Pp
D4
Pa Pp
~D4~
Pa Pp
Pa Pp
D4
Pa Pp
~D~4~
Pa Pp
~D~4~
Ein Blick auf obenstehende Tabelle überzeugt sofort von der sehr
großen Übereinstimmung, welche die Differenzierung der Krone bei
den Platyrrhinen aufweist. Wenn wir zunächst die Molaren ins Auge
fassen, dann trifft man das typische vierhöckerige Relief bei allen
in der Tabelle aufgenommenen Formen an. Die Vereinfachung, welche
wir schon bei den Halbaffen infolge des Verlustes der Nebenzacken
haben konstatieren können, hat bei den amerikanischen Affen weitere
Fortschritte gemacht, denn bei keinem derselben findet sich wenigstens
an den Dauermolaren eine Nebenspitze — mit Ausnahme natürlich
des ^-Höckers. Und eigentümlicherweise scheint bei dem Fortschritt,
welchen der Reduktionsprozeß bei den Platyrrhinen aufweist, auch
dieser Höcker bisweilen schon in Mitleidenschaft gezogen zu sein.
Denn nicht nur ist er wohl immer der am geringsten entwickelte Höcker
der Molaren, sondern bisweilen ist er schon als wohl differenzierter
Höcker kaum zu erkennen. Das ist z. B. der Fall bei Ateles, wo nur
ein etwas erhabener Rand an der hinteren Hälfte der lingualen Seite
des Molaren an die Stelle der hinteren lingualen Zacke tritt. Auch bei
Pithecia, bei dem die Höckerentwicklung infolge des Auftretens zahl-
reicher Rauhigkeiten im allgemeinen wenig kräftig ausgeprägt ist (vgl.
Tafelfigur 3 und 4), ist solches der Fall. Die mir vorliegenden Schädel
vom Geschlecht Ateles (A. ater, A. paniscus und A. Bartletti) stimmen
in ihrem Gebiß nicht überein mit der Charakteristik, die durch Schlosser
(1. c. S. 13) davon gegeben wird. Nach diesem Autor zeichnet sich Ateles
durch die Spitze der Höcker seiner Molaren aus, und sollte die hintere
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 145
Hälfte der unteren Molaren noch einen wohl erhaltenen dritten Höcker
wie bei Hyopsodus besitzen. An meinen Exemplaren ist weder von einer
kräftigen Entwicklung der Höcker, noch von einem hinteren unpaarigen
Höcker etwas zu seilen, auch nichts von einer Differenzierung im Sinne
der Selenodonten. So sagt auch Giebel (Odontographie S. 5) von den
unteren Molaren von Ateles: die Höcker sind nur im Rande der Krone
stark ausgebildet. Bestehen hier so starke Art unterschiede oder liegt
vielleicht eine Verwechslung mit einem der kleinen Mycetes- Arten vor?
Durch das Fehlen von Nebenspitzen wird ein typischer Gegen-
salz gebildet zwischen den Molaren der Halbaffen und den breitnasigen
Affen, besonders hinsichtlich des dritten Molaren. Denn mit nur
wenigen Ausnahmen (und dann noch als individuelle Variation) ist
der dritte Molar der Halbaffen mit einem mehr oder weniger kräftig
entwickelten 2-Höcker ausgestattet. Die Vereinfachung der Molaren-
struktur läßt sich besonders schön durch diesen Höcker zeigen. Bei
den eocänen Primaten tritt er an allen Molaren auf, bei den Halbaffen
ist er auf den dritten beschränkt und bei (\v\\ platyrrhinen Affen fehlt
er auch diesem. Daß es sich hierin um ein althergebrachtes Merkmal
der Neuwelt-Affen handelt, ist neuerdings durch die Untersuchungen
von Blüntschli1) festgestellt. Der von diesem Autor gebrachte Nach-
weis, daß Homunculus nicht, wie es von Ameghino angegeben worden
war, fünfhöckerige Molaren besitzt, sondern typisch vierhöckerige
wie die rezenten Platyrrhinen, beweist, daß die Vereinfachung der
Zahngestalt schon in der eocänen Periode sich vollzogen haben muß.
Der Verlust dieses Höckers auf dem unteren dritten Molar steht un-
zweifelhaft in Beziehung zu dem reduzierten Zustand, den der dritte
obere Molar dieser Primatengruppe aufweist. Nur ein einziges Mal
traf ich den 2-Höcker bei einem platyrrhinen Affen an, und zwar am
dritten Milchmolaren von Mycetes, dem Affen, bei welchem auch übrigens
der Hinterrand der permanenten Molaren ebenfalls die geringsten Zeichen
von Reduktion aufweist. Nach Schlosser2) besitzt das Geschlecht
Callithrix noch den 2-Höcker an sämtlichen unteren Molaren. Mir
stand kein Schädel dieser Gattung zur Verfügung.
Von den Prämolaren geben der erste und zweite zu keinen be-
sonderen Bemerkungen Anlaß. Die allgemeine Gestalt darf bei den
verschiedenen Gattungen eine etwas wechselnde sein, die Höcker-
differenzierung zeigt große Übereinstimmung. Der erste Prämolar hat
meistenfalls eine einfache kegelförmige Krone, bisweilen sind die ersten
Andeutungen einer Trennung vom P-Höcker und /^-Höcker da, wie bei
Cebus oder individuell bei Chrysothrix. Ein wirklicher Talon als be-
sonderer Zahnabschnitt wird vermißt. Davon ist erst beim zweiten
Prämolaren die Rede, doch ist er auch hier wohl immer sehr gering
entwickelt und ist nicht niedriger als die vordere Hälfte des Zahnes.
Der dritte Prämolar der Platyrrhinen ist in einer Weise diffe-
renziert, welche für diese Gruppe der Primaten fast diagnostisch ist.
Denn eigentümlicherweise hat sich der Innenrand dieses Zahnes — also
der deuteromere Abschnitt — mehr differenziert als der Außenrand.
Daher tritt bei Chrysothrix, Cebus. Mycetes und Nycticebus dieser
1) H. Blüntschli, Die fossilen Affen Patagoniens und der Ursprung der
platyrrhinen Affen. Verh. d. Anat. Gesellsch. 1913.
2) Die Affen, Lemuren usw., S. 12.
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 10
146 Viertes Hauptstück.
P
Zahn mit der seltsamen Kronenformel ^ — auf, d. h. an dem bukkalen
D ■*
Rand besteht nur ein einziger wohl ausgebildeter Höcker, an dem lingu-
alen dessen zwei. Eine solche Kronenformel ist uns bis jetzt noch nicht
begegnet. Schlosser nennt es eine sehr wesentliche Komplikation.
Ateles, der von allen in der Tabelle aufgenommenen Formen, die am
meisten vereinfachte Zahnkronen besitzt, unterscheidet sich von den
übrigen auch durch die einfache Kronenformel des dritten Prämolaren.
Dagegen ist der hinterste Lückenzahn bei Hapale vollständig vier-
höckerig geworden, und gleicht in seiner Zusammensetzung daher ganz
dem nachfolgenden Molaren, unterscheidet sich von demselben nur
durch seine Größe.
Die ,. Molarisierung" des letzten Prämolaren im Unterkiefer eines
Platyrrhinen verdient wohl besondere Beachtung, denn man steht hier
wieder vor der Frage, wie ist diese Erscheinung zu deuten, als eine
regressive oder eine progressive ? Es kommen bei den eocänen Primaten
Formen vor, bei denen der hinterste Prämolar die vollständige Zu-
sammensetzung eines Molaren erhalten hat. Das ist z. B. der Fall bei
Hyopsodus, dessen letzter Lückenzahn im Unterkiefer die Kronenformel
i Pa P-p
— - besitzt. (Auch bei rezenten Halbaffen kommt solches noch
D 4
vor.) Nun ist es denkbar, daß die Kronenformel des homologen Zahnes
Pa
bei den Platyrrhinen — — durch Verlust des P/>-Höckers aus dem obigen
hervorgegangen ist, und dann würde dieser Zahn bei den amerikanischen
Affen, ungeachtet seiner teilweisen Molarisierung, nichtsdestoweniger
eine reduzierte Form darstellen. Oder aber man kann sich denken,
daß das Auftreten des P/>-Höckers und des ^-Höckers bei Hapale
und allein des letztgenannten bei mehreren anderen platyrrhinen Ge-
schlechtern, ganz unabhängig von dem identischen Prozeß bei den
eocänen Primaten1 vor sich gegangen ist, und dann ist die Erscheinung
progressiver Natur. Man muß sich immer wohl bewußt davon sein,
daß für die Entscheidung in diesem so überaus häufig in der Odonto-
logie auftretenden Dilemma, eine feste Richtschnur fehlt, Es geht nicht
an, ein für allemal zu sagen, das einfachst Gebaute ist das Ursprüng-
lichste, das kompliziertest Zusammengesetzte das am jüngsten im Laufe
der Entwicklung aufgetretene. Denn wenn in einer jüngeren geolo-
gischen Periode ein Zahn sich progressiver zu entwickeln anfängt,
muß er dabei notwendig ähnliche Formstufen durchlaufen, welche in
früheren Perioden andere Gruppen der Primaten schon durchlaufen
haben. Man muß für eine Beurteilung sämtliche allgemeinen Er-
scheinungen in Betracht ziehen. Auch dann bleibt immerhin die
Sache oft sehr zweifelhaft. Ich werde das an den Zähnen der
Platyrrhinen leicht zeigen können.
Daß sich am hintersten Prämolaren mehrerer dieser Affenge-
schlechter der innere linguale Höcker ausgebildet hat, kann man als
eine progressive Erscheinung auf Grund folgender Überlegung deuten.
Bekanntlich ist der dritte Molar dieser Affen in den meisten Fällen sehr
klein und man kann sich leicht überzeugen, daß er an der Funktion des
Gebisses sich wenig beteiligt. Es verliert somit die Zahnreihe an seinem
hinteren Ende eine nützliche Reibungsfläche. Es liegt der Gedanke nun
Das Unterkiefergebiß der Primaten.
147
ziemlich nahe, daß die Entwicklung des inneren lingualen Höckers
am letzten Prämolaren eine Kompensation darstellen kann, für die
Reduktion der Kaufläche am hinteren Ende der Reihe. Von diesem
Standpunkt aus betrachtet, ist das Auftreten dieses Höckers als eine
funktionelle Anpassung, als eine kompensatorische Einrichtung des
Gebisses und als ein lehrsames Beispiel für dessen Plastizität zu be-
trachten. Zugleich ist dann der hinterste Prämolar in dieser Affen-
gruppe als ein progressives Element dvs (Irbisses gekennzeichnet. Zu-
gunsten dieser Ansicht läßt sich anführen, daß bei Hapale, wo die
Reduktion am Hinterende der Gebißreihe bis zum völligen Verlust
des dritten Molaren fortgeschritten ist, die Molarisierung des hintersten
Prämolaren am vollständigsten ist. Derart dargestellt liefert das Gebiß
der Platyrrhinen ein Gegenstück zu jenem der Indrisinae. Ich habe
an geeigneter Stelle auf die eigentümliche Gestalt des ersten Molaren
dieser Halbaffengruppe hingewiesen, der in seiner vorderen Hälfte
„prämolarisiert" ist und darin eine Kompensation für die Einschrän-
kung der Prämolarenfunktion auf nur zwei Prämolaren erblickt. So
sehen wir bei den Platyrrhinen bei Einschränkung der Molarenfläche
eine „Molarisierung" der anstoßenden Prämolaren. Das scheint also
ein ziemlich logischer Gedankengang zu sein.
Aber es gibt eine andere Erscheinung am Platyrrhinengebiß,
welche diese oben gegebene Betrachtung nicht so einwandfrei er-
scheinen läßt. Wenn man von den Prämolaren dieser Gruppe nicht
nur die Krone, sondern auch die Wurzelteile betrachtet, dann ist es
unverkennbar, daß wenigstens dieser Teil einen regressiven Charakter
trägt. Diese Reduktion äußert sich besonders darin, daß die Zahl
der Wurzeln bedeutend verringert ist. Das wird durch die Fig. 49,
50, 51 und 52, welche die Gebisse einiger platyrrhinen Affen,
von der Außenseite gesehen, zur Darstellung bringen, und aus unten-
stehender Tabelle, worin die Wurzelzahl an den permanenten Zähnen
für einige Gattungen mitgeteilt ist, bewiesen. Steht die Ziffer zwischen
Klammern, dann will damit gesagt sein, daß die Wurzeln zum Teil
verwachsen sind, ihre Spitze aber noch frei ist.
Wurzelzahl der Zähne einiger platyrrhiner Affen.
p.
p. -'/,
M.
•!/,
Hapale
Chrysothi
Cebus .
Mycetes
Ateles .
Pithecia
•{
oben
unten
oben
unten
oben
unten
oben
unten
oben
unten
oben
unten
I
I
I
(2)
I
I
I
(2)
I
(2)
(2)
(3)
I
I
I
2
(2)
(2)
2
3
I
I
I
2
I
I
(2)
3
I
I
I
2
I
I
I
(3)
I
I
I
(2)
I
I
I
i
I
I
I
2
I
I
(2)
(2)
(2) + 1
2
(3)
(2)
I
I
(2) + I
(2)
(3)
I
I
I
I
10*
Fig. öl
Fig. 49
Fig. 50
Fi« 52
148
Viertes Hauptstück.
Ans dieser Tabelle leuchtet sofort die starke Reduktion des Wurzel-
teiles der Zähne von den Platyrrhinen ein. Am weitesten ist dieselbe
wohl bei Pitbecia fortgeschritten, bei dem es eigentlich nur einen
einzigen Zahn im ganzen Gebiß mit mehr als einer Wurzel gibt. Es
ist diese Reduktion nur eine Teilerscheinung der im allgemeinen wenig
kräftigen Entwicklung der Gebisse von den platyrrhinen Affen, welche
wohl durch die Art
der Nahrung — weiche
Früchte, Eier u. dgl. —
bedingt ist.
Und jetzt erhebt
sich die Frage, wenn
wir die wenig kräftige
Entwicklung der Zähne
als Ganzes bei den
Platyrrhinen in Betracht
ziehen, dazu die Reduk-
tionserscheinungen, wel-
che zweifelsohne die
Wurzelabschnitte auf-
weisen, ist es dann wohl
statthaft, die teilweise
oder vollständige Molari-
sierung der Krone vom
letzten Prämolaren noch
als eine progressive Er-
scheinung zu deuten.
Zwar erscheint die ge-
gebene Erklärung: Kom-
pensation für den Ver-
lust an Kaufläche am
Hinterende , sehr an-
sprechend, aber wie ist
sie mit dem allgemeinen
Charakter des Gebisses
in Einklang zu bringen ?
Es tritt in diesem Falle
das Dilemma in scharf
umgrenzter Gestalt uns
entgegen, und ich muß
offenherzig gestehen, daß
ich zögere, eine Ent-
scheidung zu geben. Der
Mangel an einer festen Regel, um eine reduzierte Kronenkonstruktur von
einer progressiven zu unterscheiden, macht sich immer stärker fühlbar,
je mehr man in die Details der Zahnentwicklung einzudringen ver-
sucht. Auch von Leche ist die Schwierigkeit gefühlt worden1) und er
führt einen Gesichtspunkt an, der gewiß unter Umständen eine Bedeu-
tung haben kann. Im ersten Stadium der progressiven Entwicklung
Fig. 49. Gebiß von Mycetes seniculus.
P'iff. 50. Gebiß von Ateles ater.
1) W. Leche, Studien über die Entwicklung des Zahnsystems bei den Säuge-
tieren. Morph. Jahrb. 1892. Bd. XIX.
Das Unterkiefergebiß der Primaten.
149
wird die Krone vergrößert, während die Wurzel zunächst die ein-
fachere, schwächere Form beibehält, Und umgekehrt, ist ein Zahn
überflüssig geworden und fällt der regressiven Entwicklung anheim,
dann äußert sich dies in erster Linie durch Verkleinerung der Krone,
während die Wurzel länger eine relativ größere Komplikation bewahrt.
Wie gesagt glaube ich wohl, daß in besonderen Fällen diese Über-
legung für eine Entscheidung fördernd sein kann, aber daß sie in anderen
Fällen versagt, davon legen die Platyrrhinenzähne sofort Zeugnis ab.
Denn der hinterste Prämolar dieses Gebisses, über dessen Natur wir
im Unsicheren sind, ob progressiv oder regressiv, besitzt bei allen unter-
suchten Geschlechtern nur eine einzige Wurzel. Liegt hier der primitive
Zustand vor oder bereits ein Produkt von Verschmelzung ursprünglich
getrennter Wurzeln? Letzteres ist wohl höchst wahrscheinlich, um
nicht zu sagen sicher. Denn der ganze Wurzelapparat des platyrrhinen
Gebisses zeichnet sich durch weitgehende Vereinfachung aus. Also
der WurzelteD dv^ letzten Prämolaren trägt ein reduziertes Gepräge
Fig. 51. Gebiß von Cebus fatuellus.
Fig. 52. Gebiß von Pithecia nocturna.
und dennoch ist die Krone, wie z. B. bei Hapale, vollständig niolari-
form. Hier muß somit die Reduktion des Wurzelabschnittes jener der
Krone vorangegangen sein. Es geht aus diesem Beispiel hervor, daß
die Entscheidung der gestellten Frage nicht so einfach ist. Und doch
hat sie gerade großen Wert für die stammesgeschichtlichen Probleme.
Im allgemeinen habe ich stark den Eindruck bekommen, daß die Ober-
kieferzähne in diesen Problemen mehr zuverlässige Führer sind als jene
des Unterkiefers, gerade weil die Evolution da eine mehr gleichmäßig
graduelle ist.
Betrachten wir jetzt die Kronenformation der Milchmolaren,
dann läßt sich zunächst die bekannte Tatsache konstatieren, daß in
dieser Zahnreihe der Molar sich komplizierter gestaltet, je weiter er
nach hinten gelegen ist. Es stimmen darin die Milchmolaren mit den
Prämolaren überein. Weiter ist es besonders bei den Platyrrhinen
überraschend, wie sehr die Milchmolaren nicht nur in bezug auf ihr»1
Höckerdifferenzierung, sondern auch hinsichtlich ihrer allgemeinen
150 Viertes Hauptstück.
Gestalt ihren Nachfolgern ähnlich sind. Ersteres geht aus der
Tabelle, und letzteres aus den Skizzen auf Tafel II hervor. Nur der
dritte Milehinolar hat immer den Charakter eines Molaren vollständig
angenommen. Es gibt die Differenzierung dieser Zähne zu wenig
Bemerkungen Anlaß, eine zusammenfassende Vergleichung mit der
Prämolarendifferenzierung, welche wohl interessante Verhältnisse zu-
tage fördert, werde ich erst geben, wenn auch die übrigen Affen-
gruppen besprochen worden sind. Nur folgendes sei an dieser Stelle
bemerkt.
Bei der Besprechung der Molaren ist darauf hingewiesen, daß
der hintere linguale Höcker bei Ateles äußerst schwach entwickelt ist,
kaum den Charakter einer wirklichen Zacke besitzt. Es ist nun zu ver-
zeichnen, das gleiches für den letzten Milchmolaren gilt. Wir haben
schon einmal Gelegenheit gefunden, ins Licht zu stellen, daß spezielle
Merkmale der permanenten Molaren auch am Milchmolaren ausgeprägt
sein können. Das als individuelle Variation etwas von der Norm ab-
weichende Leistensystem auf dem permanenten Molaren eines Siamanga
wurde auch auf den in dem Schädel noch vorhandenen zweiten Milch-
molaren angetroffen. Diese Tatsache hat Bedeutung als Beleg für die
Einheitlichkeit in dem Differenzierungsgang von permanenten und
Milchmolaren, woran ich, auf Grund der Prinzipien der von mir ausge-
arbeiteten Differenzierungstheorie wohl nicht zweifelte, worauf ich
aber, in bezug auf die Cope-Osbornsche Differenzierungstheorie
besonders Nachdruck zu legen wünsche. Soweit mir bekannt, sind die
genannten Autoren niemals auf die Stellung, welche die Milchmolaren
in ihrem System einnehmen, eingegangen. Hat ihre Differenzierungs-
theorie, welche bekanntlich nur für die Molaren gilt, auch auf die
Milchmolaren bezug oder sollte für diese ein spezieller Entwicklungs-
modus gelten, wie ein solcher z. B. von Scott für die Prämolaren auf-
gestellt ist ? Wie gesagt, man bleibt hinsichtlich dieser Frage im Dunkeln.
Das ist einer der schwachen Punkte in der Theorie der amerikanischen
Forscher. Nimmt man an, diese Autoren seien der Meinung, daß der
Entwicklungsgang der Milchmolaren identisch sei mit jenem der per-
manenten Molaren, so widerspricht eine solche Annahme dem tat-
sächlich wahrnehmbaren Differenzierungsmodus der Höcker in der
Reihe der Milchmolaren, und dann muß man in konsequenter Weise
annehmen, daß z. B. der dritte Milchmolar von Hapale, welcher fast
vollständig wie der Ersatzzahn gebaut ist, auf ganz anderem Wege
diese Zusammensetzung erlangt hat, als der an seine Stelle tretende
Nachfolger. Da beide Zähne den gleichen mechanischen Einflüssen
unterlagen, ist eine solche Annahme wenig wahrscheinlich. Oder denkt
man sich (immer auf den Cope-Osbornschen Standpunkt sich stellend),
daß die Prämolaren einen von den Molaren wesentlich verschiedenen
Entwicklungsgang durchlaufen haben, und die Milchmolaren einen
gleichen Differenzierungsmodus wie die Prämolaren durchliefen, dann
erscheint es als eine schwierig zu lösende Frage, woher es kommt, daß
individuelle Besonderheiten an den permanenten Molaren sich an den
Milchmolaren des nämlichen Individuums wiederholen. Nur die von
mir als Grundprinzip der Gebißentwicklung verteidigte Ansicht, daß
für alle Zähne des Gebisses ein einziger Entwicklungsgang besteht,
beseitigt die Schwierigkeiten, welche bei Anwendung der Cope-
Osbornschen Theorie auf dem Milchgebiß bestehen.
Das Unterkiefergebiß der Primaten.
151
Es ist oben der reduzierte Zustund zur Sprache gebracht worden,
in dem sich der Wurzelapparat des permanenten Gebisses der Platyr-
Fig. 53. Dentitionspräparat von Hapale.
Fig. 55. Dentitionspräparat
von Cebus.
rhinen befindet. Wie steht es nun mit jenem des laktealen Gebisses.
Darüber geben die Fig. 53—58 Aufschluß. Ich habe dazu von den mir
zur Verfügung stehenden Schädeln amerikanischer Affen mit Milch-
Fig. 54. Dentitionspräparat von Chrysotrix.
Fig. 56. Dentitionspräparat
von Mycetes.
gebiß Dentitionspräparate angefertigt. Nach diesen Präparaten sind
die Fig. 53 — 57 hergestellt. Sie geben die Milchzähne mit dem Milch-
caninus und die Zahnkeime der Ersatzzähne wieder, wie sie sich in situ
152
Viertes Hauptstück.
fanden. Nur von Ateles sind die Zähne nach ans dein Schädel extrahierten
Objekten dargestellt. Ich erinnere daran, daß sämtliche unteren
Prämolaren bei den Platyrrhinen, soweit von mir untersucht, einwurzelig
sind. Man überzeugt sich leicht an diesen Figuren, daß der Wurzel-
apparat der Milchmolaren bei den Platyrrhinen eine seltene Über-
einstimmung zeigt. Kegelmäßig ist der erste und zweite Milchmolar
einwurzelig und der dritte zweiwurzelig. Nur bei Cebus ist der vorderste
der drei mit einer bis zur Mitte gespaltenen Wurzel versehen. Spuren
von Verwachsung in der Form einer seichten Furche auf der Außen-
fläche bemerkt man bei Pithecia und Cebus. Beiläufig sei darauf hin-
gewiesen, daß der Keim des ersten Prämolaren der Überfläche immer
am nächsten gerückt ist. Bei normaler Dentition erscheint dann auch
dieser Prämolar zuerst, Der dritte, dessen Keim zwischen den beiden
Wurzeln des dritten Milchmolaren gefaßt ist, kommt zuletzt zum Vor-
schein. Es wird dieser Zahn erst gewechselt, nachdem der dritte perma-
nente Molar durchgebrochen ist.
Fig. 57. Dentitionspräparat von
Pithecia.
Fig. 58. Milchzähne von Ateles ater.
Wir können jetzt unsere Betrachtungen über die Kronendiffe-
renzierung fortsetzen mit den Gebissen der katarrhinen Primaten.
Es ist auch von diesen wieder die Kronenformel der Milchmolaren in
der Tabelle aufgenommen. Nur von Colobus mußte ich auf eine solche
Angabe verzichten, es stand mir kein Material zur Verfügung. Es um-
faßt die untenstehende Tabelle Kepräsentanten der meisten Geschlechter
der katarrhinen Primatengruppen, also einschließlich des Menschen.
Ich möchte jedoch schon im voraus betonen, daß individuelle Varia-
tionen, besonders bei den Anthropoiden und Hominiden und Artvaria-
tionen bei den übrigen altweltlichen Affen, welche weiterhin kurzweg
nach dem Web ersehen System als Cercopithecidae angedeutet wrerden
sollen, ziemlich häufig sind. Die Tabelle bringt mithin jene Formeln,
welche der Norm an dem mir vorliegenden Material zu entsprechen
scheinen. Besonderheiten über Variationen folgen unten.
Es sind in der untenstehenden Tabelle die auf den Milchmolaren
bezug habenden Kronenformeln wieder mit kleinen Buchstaben ge-
schrieben worden.
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 153
Kronenformel der unteren Zähne bei katarrhinen Primaten.
P
m
P
m
M
M
M
(B
i papp
Pa
— T
D
pa pp
Pa Pp
D4
Pa Pp
Pa Pp 2
Macacus cynomolgus . . .
D4
D4
d 4
d 4
C'\
PaPp
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp 2
Inuus nemestrinus ....
W
pa pp
<>4
D4
pa pp
d 4
D4
D 4
1>4
i''\
PaPp
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp 2
Cynocephalus porcarius .
W
pa pp
d4
D
pa pp
d 4
D4
D 4
D4
Cercopithecus mona . . .
(-3
pa pp
d 4
Pa
T
D
pa pp
d 4
Pa Pp
D4
Pa Pp
D4
PaPp
1>4
Colobus ferrugineus . . .
ü
P
T
D
Pa Pp
D4
Pa Pp
D4
Pa Pp 2
D4
Semnopitbecus maurus .
(l)
ipapp
d4
Pa
i>4
pa pp
^4
Pa Pp
r>4
Pa Pp
Pa Pp 2
r>4
Siamanga syndactylus . .
Q
d
P
-T
D
papp 2
d 4
Pa Pp 2
D4
Pa Pp 2
D 4
Pa Pp 2
D4
P
D
pa pp
d 4
P
-T
D
papp 2
d4
Pa Pp 2
D.4
Pa Pp 2
D4
Pa Pp
D4
P
Pa Pp
Pa Pp 2
Pa Pp 2
Pa Pp (2)
Troglodytes niger ....
D
pa pp
d
D4
pa pp 2
d4
D4
D4
D4
ip\
Pa Pp
Pa Pp 2
Pa Pp 2
Pa Pp 2
D4
pa pp2
D4
1>4
D4
W
d 4
P
P
Pa Pp 2
Pa Pp
Pa Pp 2
D
papp 2
(I 4
D
pa pp2
d4
r>4
D4
1>4
154 Viertes Hauptstück.
Wenn wir zuerst einen Blick auf die Kronenformel der permanenten
Molaren werfen, dann tritt sofort die altbekannte Tatsache hervor,
daß zwischen den Cercopithecidae zur einen Seite und den Anthro-
pomorphen (wozu ich im weiteren auch Siamang rechne) mit dem
.Menschen zur anderen Seite eine typische Differenz besteht, Bei der
erstgenannten Gruppe ist der 2-Höcker nur am dritten Molaren bewahrt
geblieben, und noch nicht einmal bei allen Gattungen. Denn bei Cerco-
pithecus fehlt er immer und bei gewissen Arten von Semnopithecus
(S. mitratus z. B.) kann er jedoch als seltene Ausnahme gleichfalls
abwesend sein1). Daß es sich dabei um eine progressive Erscheinung
handelt, wird durch jeneT besonders bei Cynocephalus und Inuus
auftretenden Formen bewiesen, bei denen auch der Hinterrand des
zweiten Molaren noch einen deutlichen Höcker besitzt.
Ist der Verlust des 2-Höckers als eine progressive Erscheinung zu
deuten, dann folgt daraus, daß das Gebiß der Anthropomorphen und des
Menschen auch in dieser Hinsicht primitiver gestaltet ist als jenes der
übrigen katarrhinen Primaten und gleichfalls als jenes der Platyrrhinen,
bei denen der 2-Höcker sogar am dritten Molaren regelmäßig fehlt.
Denn wie allgemein bekannt, und auch aus der Tabelle ersichtlich,
kommt der bezügliche Höcker als Regel an allen permanenten Molaren
der Anthropomorphen vor. Aus welchen Gründen die unteren Molaren
dieser Primatengruppe fünfhöckerig geblieben sind, ist nicht schwer
zu erforschen. Wir brauchen dazu nur die Okklusionsverhältnisse am
Gebisse eines Gorilla mit z. B. solchen an einem Semnopithecusgebiß
zu vergleichen. Man überzeugt sich dann leicht, daß die Entwicklung
des Leistensystems an den oberen Molaren, wie es in einem voran-
gehenden Hauptstück geschildert worden ist, mit dem Verlust des
fünften Höckers in unmittelbarem Zusammenhang steht. Ich erinnere
dazu daran, daß das Leistensystem bei den Anthropomorphen wie bei
den Hominiden an den oberen Molaren noch ein sehr primitives Ge-
präge besitzt, weil der hintere linguale Höcker (der ^-Höcker) noch
nicht im System einbezogen worden und durch die hintere Schräg-
furche vom übrigen Teil der Krone getrennt ist. Vor dieser Furche zieht
ein Kamm schräg vom Z)-Höcker zum P/>-Höeker, und vom ersteren
geht noch ein zweiter Kamm aus, der zum Pa-Höcker zieht, oder wie
bei Gorilla, etwas mehr nach vorn abbiegt und sich abflachend in der
Mitte des mesialen Zahnrandes endet.
Fragt man nun, wie verhält sich bei der Okklusion das Eelief
der unteren Molaren zu jenem der oberen, dann läßt sich diese Frage
am leichtesten beim Gorilla mit seinen zapfenförmigen Höckern nach-
prüfen. Ich verweise dazu nach Fig. 59a, wrelche die Superposition der
Okklusionsfläche eines oberen und unteren Molaren vom Gorilla bringt.
Der obere Molar ist punktiert, der untere in durchgezogenem Umriß
angegeben. An diesem Superpositiousbild ist leicht zu zeigen, daß das
Relief der unteren Molaren gleichsam einen Ausguß von jenem der
oberen darstellt, Die größte Selbständigkeit kommt dem Pp-Höcker
des unteren Molaren zu, denn dieser kann mit keinem anderen durch
eine Leiste verbunden sein. Distalwärts behindert ihn darin der hintere
Schrägkamm des oberen Molaren und mesialwärts die vordere vom
Z)-Höcker des oberen Mahlzahnes ausgehende Leiste. Der P/>-Höcker
1) H. 0. Forbes, A Hand-Book to the Primates, Vol. II, p. 138. London 1892.
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 155
des unteren Molaren wird gleichsam in der zentralen Delle des oberen
Molaren eingeschlossen. Der hintere Schrägkamin des oberen Zahnes
wird nach hinten durch die bei Gorilla sehr tiefe hintere Schrägfurche
begrenzt. Dieser Furche entspricht am unteren Zahn eine niedrige aber
dennoch gut entwickelte Leiste, welche bukkalwärts in dem 2-Höcker,
lingualwärts in dem ^-Höcker endet.
Es ist nun früher ausführlich dargetan, daß die höhere Speziali-
sierung der oberen Molaren in der Weise zustande kommt, daß die
hintere Schrägfurche verschwindet und ein Querkamm sich ausbildet,
welcher vom P/>-Höcker zum ^-Höcker zieht. Denkt man sich nun in
Fig. 59a diese Leiste eingetragen, dann wird es deutlich, daß dieselbe
die Berührungsfläche des 2-Höckers vom unteren Zahn durchqueren
muß. Mit anderen Worten, es bildete sich am oberen Zahn eine Leiste
an einer Stelle, welche ursprünglich eine Einsenkung darstellte, worin
ein Höcker des unteren Zahnes gefaßt wurde. Selbstverständlich er-
forderte das Zustandekommen derselben den Verlust des Höckers am
unteren Zahn. Und in der Weise entstanden die neuen Okklusions-
verhältnisse, welche das Gebiß der Cercopithecidae kennzeichnen, wie
das in schematischer Weise in Fig. 59& zur Schau gebracht ist.
So sehen wir, daß der Verlust des 2-Höckers an den unteren
Molaren der Cercopithecidae „------ „---—>
die notwendige Vorbedingung >' '\ ? -7\v%-
für die Umgestaltung des
Leistensystems der oberen
Molaren war.
Der Mensch nimmt be-
kanntlich bezüglich des Vor-
kommens eines fünf ten Höckers
an den unteren Molaren eine
Sonderstellung ein. Am ersten Fig. 59.
Molaren ist er als ziemlich
konstant zu betrachten, am zweiten muß — wenigstens bei Europäern —
das Fehlen desselbenals Regel betrachtet werden, und der dritte entbehrt
den Höcker in etwas mehr als der Hälfte der Fälle. Es sind in der Literatur
schon manche statistischen Angaben über diese Erscheinung mitgeteilt
worden, welche von de Terra1) in übersichtlicher Weise eine Dar-
stellung erfahren haben und mit persönlichen Beobachtungen vermehrt
sind. In der dritten dieser Studien werde ich ausführlich auf diesen
Punkt eingehen, möchte jedoch schon an dieser Stelle kurz einige Er-
gebnisse eigener Untersuchungen einschalten. Es wurden diese Unter-
suchungen angestellt an vollständigen Gebissen rezenter Amsterdamer
Schädel, also an einem sehr einheitlichen Material. Es standen mir
dazu 219 Unterkiefer mit kaum usurierten Kauflächen zur Verfügung.
Jede Hälfte wurde gesondert notiert. Die Häufigkeit einiger Kombi-
nationen der Höckerzahl an den drei Molaren war die folgende:
5.5.5 in 4
Fällen
oder
0,9%
5.4.5 „ 112
5>
55
25,5%
5.4.4 „ 104
)J
??
•r>v\,
4.4.4 ,. 61
JJ
75
13,9%
4.4.5 „ 23
5?
55
5,2%
1) Odontographie der Menschemassen, S. 139.
156 Viertes Hauptstück.
Im ganzen fand ich in dieser Sammlung neun zweite Molaren
mit fünf Höckern, das ist somit ungefähr 2%. Da es sieh um ausge-
wählte, ausgezeichnet konservierte Gebisse handelt, und dazu alle
von der rezenten Bevölkerung von Amsterdam (die Beobachtungen
wurden gemacht an Crania von zwischen 1865 und 1890 verstorbenen
Leuten) ist den eben gegebenen Ziffern und prozentualen Verhältnissen
et was mehrWert beizumessen als sonstigen in der Literatur vorkommenden
statistischen Daten, welche an einem sehr gemischten Material festge-
stellt worden sind. Wenn ich meine Resultate mit jenen anderer Autoren
vergleiche, wie sie von de Terra mitgeteilt sind, dann scheint ein fünf-
höckeriger zweiter Molar an meinem Material viel seltener zu sein als
an anderen europäischen Schädeln. So fanden sich z. B. am Zucker-
kandischen Material 11,5% dieser Molaren mit fünf Höckern. Weiter
ist ein vierhöckeriger erster Molar an den Amsterdamer Schädeln auf-
fallend häufig. Ich gehe nicht auf weitere Details ein, da ich das für
die folgende Studie vorbehalte, doch möchte hier schon darauf hin-
gewiesen werden, daß der Umstand, daß mein Untersuchungsmaterial
rein städtischer Herkunft war. bei der Deutung der Erscheinungen in
Betracht gezogen werden kann.
Die Tatsache, daß beim Menschen der zweite untere Molar, wir
können kurzhin sagen vierhöckerig ist, während der dritte Molar in
ungefähr der Hälfte der Fälle noch fünfhöckerig erscheint, verleiht
der unteren Gebißreihe des Menschen ein etwas unregelmäßiges Ge-
präge. Ich glaube die Erscheinung folgenderweise beleuchten zu dürfen.
Das Gebiß des Menschen findet sich in Reduktion. Nun äußert sich
dieselbe in zweierlei Richtung, erstens in einer Verkürzung der Gebiß-
reihe und zweitens durch Vereinfachung der Kronenstruktur. Denken
wir uns zunächst, daß nur der letztgenannte Einfluß tätig war, also
eine Vereinfachung der Kronenstruktur ohne gleichzeitige Verkürzung
der Gebißreihe, dann würde schließlich eine Gebißform entstehen,
wie man bei Cynopithecus, Semnopithecus, Colobus, Macacus usw.
findet, nämlich der erste und zweite Molar vier-, der letzte Molar fünf-
höckerig. Denn der fünfte Höcker oder der sogenannte dritte Lobus
des hintersten unteren Molaren hat eine solche mechanische Bedeutung,
daß er nicht bei Anwesenheit eines gut entwickelten vierhöckerigen
oberen dritten Molaren zugrunde gehen kann. Denn es ist gerade dieser
Höcker, der den Gegendruck liefert, wodurch der letzte obere Molar
verhindert wird, sich unter dem Einfluß der auf ihn einwirkenden
Kräfte beim Verschluß des Gebisses nach hinten zu verschieben. Es
hat für den Mechanismus des Gebisses beim Ineinandergreifen der
Zähne der fünfte Höcker des dritten Molaren eine große Bedeutung,
und die Vereinfachung der Kronenstruktur, wie dieselbe einmal bei
den oben genannten Gattungen zustande gekommen sein muß, hat
gewiß vom zweiten unteren Molaren Ausgang genommen.
Eine ähnliche Vereinfachung ist nun bei den Hominiden bereits
im Gange, und hat der zweite Molar sich schon bei den kultivierten
Rassen in ein vierhöckeriges Gebilde umgestaltet, während auch der
erste Molar schon dem Einfluß dieses Vorganges unterliegt. Nun hat
sich aber beim Menschen die Reduktion des Gebisses noch in einer
zweiten Richtung zu äußern angefangen, und zwar durch eine Ver-
kürzung der Gebißreihe. Diese Verkürzung findet ihren Sitz am distalen
Ende und übt ihren Einfluß auf den dritten Molaren aus. Ich möchte
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 157
diese Reduktion als einen von der vorherbeschriebenen unabhängigen
Vorgang betrachten, mit einem etwas oüfferenten Charakter. Es handelt
sich hier nicht um eine in bestimmter Richtung verlaufende Verein-
fachung der Kronenfläche, sondern um eine Ausmerzung eines fünf-
höckerigen Elementes als ganzes. Die Resistenz des fünften Höckers
dieses Molaren gegen die Kronenvereinfachung, welche man bei den
meisten Gattungen der Cercopithecidae zu konstatieren vermag, lebt
auch diesem Höcker beim .Menschen noch inne. Und so kann es vor-
kommen, daß man in der einen Kieferhälfte einen wohlentwickelten
fünfhöckerigen dritten Molar findet, während an der anderen Seite
der Zahn vollständig fehlt.
Der etwas unregelmäßige Charakter der gesamten Kronenstruktur
der unteren Zahnreihe beim Menschen wird somit begreiflich, wenn man
sich vorstellt, daß der Reduktionsprozeß in zweierlei Weise mit etwas
verschiedener Tendenz angreift, nämlich Vereinfachung der Kronen-
struktur und Verkürzung des Gebisses. Auch am Oberkiefer ist
ähnliches zu konstatieren.
Gehen wir jetzt zur Betrachtung der Kronenformeln der Prä-
molaren über. Es wird bei dieser Übersicht von gelegentlich auftre-
tenden akzessorischen Hügeln nicht die Rede sein; ich werde mich an
die in der Tabelle niedergelegten Daten halten. Es muß aber bezüglich
der Prämolaren der Anthropomorphen eine erläuternde Bemerkung
gemacht werden. Denn die Ausbildung der Krone dieser Zähne ist
in dieser Gruppe sehr variabel, je nachdem der Zahn kräftiger oder
weniger kräftig entwickelt ist. Diese Variabilität zeigt einen bestimmten
Charakter. Die Haupthöcker der beiden Odontomeren können nämlich
zu einer einfachen kegelförmigen Krone verbunden sein, oder sie können
als getrennte Spitzen auftreten. Diese Variabilität gilt besonders für
die ersten Prämolaren und sie ist gelegentlich bei allen Genera dieser
Gruppe zu konstatieren. Falls diese Krone zweispitzig ist. erscheint
der deuteromere Höcker immer als der kleinere und scheint aus der
lingualen Hälfte der Kronenfläche sich zu erheben. Man muß es sich
daher so vorstellen, daß die bukkale Hälfte, welche sich zu der kräftigen
pyramidalen Spitze entwickelt, nur dem protomeren Abschnitt des
Zahnes entspricht, während der deuteromere Teil in dem lingualen,
mehr abgeflachten talonartigen Teil versteckt ist. In dieser Weise be-
trachtet, lassen sich die individuellen Variationen mit Recht als eine
verschieden starke Entwicklung des deuteromeren Höckers kennzeichnen.
Auch am zweiten Prämolaren ist die Konfiguration bei allen Genera
der Anthropomorphen wechselnd. Hier sind aber die Variationen in
der hinteren Hälfte der Krone lokalisiert, da die vordere wohl immer
zweispitzig ist. Die hintere Hälfte kann nun als eine einfache talonartige
Verlängerung der Krone erscheinen, oder — wie es häufig der Fall ist
zeigt sie die Anlage zweier hinterer Tuberkel, welche jedoch immer in
einem mehr niedrigen Niveau als die vorderen Spitzen verbleiben. Bei
Schimpanse und besonders bei Gorilla fand ich diese beiden hinteren
Tuberkel so häufig, als wohl differenzierte Bildungen anwesend, da Li
man diese Zähne als quadrikuspidate zu bezeichnen berechtigt ist.
Bei den übrigen Katarrhinen weisen die Prämolaren eine mehr
konstante Kronenstruktur auf, und auch die Unterschiede zwischen den
Genera sind mehr solche der allgemeinen Form als der Kronenstruktur.
Wohl bei allen ist der erste Prämolar mit einer einspitzigen Krone aus-
158 Viertes Hauptstück.
gestattet. Am bukkalen Rande des Zahnes ragt dieser Höcker stark
hervor. Die linguale Fläche fällt mehr oder weniger steil ab und ist
von einer bisweilen ziemlich scharfen und hohen Leiste in ein vorderes
und hinteres Feld getrennt. Bei Cercopithecus fehlt diese Leiste nahezu
und erscheint der Zahn stark abgeplattet. Die Emaillierung der Krone
setzt sich an der bukkalen Fläche bekanntlich eine Strecke wreit auf
der Außenseite der vorderen Wurzel fort.
Bei Semnopithecus findet sich sehr häufig auf der hinteren
Hälfte der lingualen Fläche ein Höckerchen, das jedoch nicht aus
dem lingualen Rande sich emporhebt, sondern mehr transversal
gestellt und dem Hinterrande genähert ist. Ich möchte es als die
erste Anlage vom ./-Höcker deuten. Der Grund dazu wird durch
die Kronenstriktur des zweiten Prämolaren dieses Genus geliefert,
an dem eigenartigerweise von den beiden hinteren Höckern, welche bei
den Geschlechtern Macacus, Inuus und Cynocephalus entwickelt sind,
nur der linguale vorkommt. Diese geringe Differenzierung der hinteren
Kronenhälfte von P2 bei Semnopithecus bildet eine Übergangsstufe
zu jener von Colobus, bei dem, an den mir vorliegenden drei Schädeln
(C. ferrugineus, ursinus und guereza) der P2 nur die zwei vorderen
Höcker besitzt, welche nach hinten in einer sehr gering entwickelten,
nicht weiter differenzierte Talon sich fortsetzen. Auch bei Cercopithecus
ist solches der Fall, doch sind hier Andeutungen vom Pp und vom 4-
Höcker bisweilen anwesend.
Über die Kronenstruktur der Milchmolaren können wir uns
kurz fassen. - - Von Colobus stand mir kein Schädel mit Milchgebiß
zur Verfügung. Von den Cercopithecidae gehören die beiden Milch-
molaren dem vierhöckerigen Typus an. Der Vorderrand des ersten kann
sich, wie es bei Semnopithecus und Macacus der Fall ist, nach vorn zu-
spitzen. Besonders beim letztgenannten Affen ist dann die vorderste
Spitze deutlich mit einem Höckerchen ausgestattet, bei Semnopithecus
ist dasselbe weniger deutlich.
Wenn man bei den Cercopithecidae die individuellen Variationen
des ersten Milchmolaren und des ersten Prä molaren vergleicht, dann
tritt ein merkwürdiger Gegensatz zutage, welchen man übrigens auch
bei den Anthropomorphen und beim Menschen zu konstatieren imstande
ist. Der erste Milchmolar steht nicht bei allen Individuen einer Art
auf einer gleichen Stufe der Entwicklung. Die zwei hinteren Höcker
fehlen wohl niemals, aber die vordere Hälfte des Zahnes ist in der Aus-
bildung der Höcker schwankend. In den meisten Fällen ist der Pa-
Höcker und der Z)-Höcker entwickelt, aber es können dieselben ein-
ander so nahe gerückt sein, daß es bisweilen den Eindruck macht,
als wäre nur ein einziger Höcker da, und es trägt die vordere Hälfte
deshalb einen mehr reduzierten Charakter. Die Schwankungen in der
individuellen Entwicklung sind also beim ersten Milchmolaren der ge-
nannten Affen in der vorderen Hälfte des Zahnes lokalisiert. Beim
ersten und in höherem Maße beim zweiten Prämolaren trifft man einen
geraden entgegengesetzten Zustand. Denn hier ist die vordere Hälfte
die am wenigsten variable, und es äußert sich die Variabilität gerade
in der hinteren Hälfte, die das eine Mal zwei deutlich entwickelte Höcker
aufweist, ein anderes Mal dagegen nur mit einem regelmäßigen, etwas
erhabenen Rand ohne Höckerbildung ausgestattet ist. Bei den Prä-
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 159
molaren ist der vordere Teil also immer der am stärksten entwickelte,
bei den Milchmolaren der hintere Teil.
Die Milchmolaren der Anthropoiden haben in der Literatur
mehrfach ausführliche Beschreibung erfahren (Selenka, Adloff).
Das Hauptsächlichste in ihrer Struktur wird unten hervorgehoben
werden, gleichzeitig mit einer kurzen Vergleichung zwischen der Gestalt
der Milchmolaren und derer der Ersatzzähne bei den Primaten. Für
diese Vergleichung sei auf die auf Tafel II vorkommenden Umriß-
zeichnungen der Prämolaren und ersteren Molar mit den Milchmolaren
bei verschiedenen Affen verwiesen.
Es ist eine allbekannte Tatsache, daß die Milchmolaren oftmals
in ihrer Kronenstruktur stark differieren mit ihren Ersatzzähnen.
Diese Differenzen sind nun bei den verschiedenen Gruppen der Affen
auffallend wechselnd; das eine Mal ähneln sich Prämolaren und Milch-
molaren sehr stark, das andere Mal besteht zwischen beiden ein sehr
bedeutender Unterschied. In dieser Hinsicht stellen sich die platyr-
rhinen Affen in starkem Gegensatz zu den katarrhinen, und besonders
zum menschlichen Gebiß. Die beiden Extremen werden durch die
Geschlechter Hapale und Homo gebildet. Beim erstgenannten sehen
die Zahnkronen von den Milchmolaren und den Prämolaren einander
so ähnlich aus, daß es gewiß Mühe kostet, z. B. den dritten Milchmolar
vom dritten Prämolar, wenn isoliert betrachtet, zu unterscheiden.
Beim Menschen dagegen ist der Unterschied zwischen dem fünfhöcke-
rigen zweiten Milchmolar und dem zweispitzigen zweiten Prämolar
größer als bei irgendwelchen anderen Primaten. Eine die ganze Pri-
matenreihe in bestimmter Richtung durchziehende Entwicklungstendenz
besteht hierbei jedoch nicht, nur kann man den oben hervorgehobenen
Gegensatz zwischen altweltlichen und neuweltlichen Affen konstatieren.
Diese Tatsache ruft die Gedanken wach, ob vielleicht in der Verringe-
rung der Prämolaren- und Milchmolarenzahl nicht eine Ursache ge-
geben ist für die ungleiche Entwicklung von Milchzähnen und ihrer
Ersatzzähne. Als zweites Moment, das bei der Beurteilung jenes Phä-
nomen in Betracht gezogen werden muß, gilt gewiß der überhaupt
mehr einfache Bau der Molaren der amerikanischen Affen.
Man trifft öfters in der Literatur die Behauptung, daß die
Molarzähne eine ältere Dentition des bleibenden Gebisses repräsen-
tieren sollten, und daß folglich, wenn der Zahn der ersten und
der zweiten Dentition einander unähnlich sind, der Milchzahn die
mehr primitive Gestalt erkennen lehrt, der bleibende die mehr abge-
änderte. Als klassisches Beispiel wird dann das Gebiß von Chiromys
angeführt. Die erste Dentition dieses Halbaffen ist noch, wie Leche
nachgewiesen hat, insektivorös, während das bleibende Gebiß jenem
eines Nagetieres stark ähnelt, Wiewohl ich die große Bedeutung dieser
und übereinstimmender Tatsachen völlig anerkenne, glaube ich doch
dagegen warnen zu müssen, um an diesen konkreten Fällen ein zur
Interpretierung sämlticher Erscheinungen geltendes Prinzip zu ent-
nehmen. Zunächst möchte ich mein Bedenken äußern gegen den
Standpunkt, die beiden Dentitionen als eine ältere und jüngere
einander gegenüber zu stellen. Beide Dentitionen sind gleich alt,
da sie bei den Reptilien nicht sukzessive, sondern isochron funk-
tionierten. Allerdings hat dieses Argument nur Gültigkeit für den,
1 60 Viertes Hauptstück.
der sich meiner Theorie über die Beziehung zwischen .Reptilien- und
Säugergebiß anschließt. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend scheint
mir der Schluß berechtigt, daß bei den primitiven Säugern die Ele-
mente beider Gebißreihen einander sehr ähnlich gewesen sein müssen,
und daß in beiden Gebißreihen eine sukzessive Vervollkommnung
der Zahngestalt in distaler Richtung sich ausgebildet hat. Diese
regelmäßige Komplizierung trifft man nun in der Tat beim bleibenden
Gebiß der eocänen Primaten und — sei es auch weniger — ebenfalls
bei einigen rezenten Halbaffen an. Leider ist uns das Milchgebiß der
Urprimaten nicht bekannt, aber aus den Untersuchungen von Leche
geht wohl hervor, daß wenigstens bei den Halbaffen, auch an der
ersten Dentition, eine graduelle Komplizierung der Milchmolaren,
welche mit jener der Prämolaren parallel geht, in weit höherem Grade
vorkommt als bei den Affen. Man muß dabei natürlich eine spezialisierte
Form als Chiromys nicht als Muster wählen.
Jenen Zustand sehe ich daher als den ursprünglichsten an, bei
dem der erste Milchzahn und der erste Prämolar am einfachsten ge-
staltet sind, an denen nicht mehr zur Ausbildung gelangt ist als der
Haupthöcker des Protomer mit eventuellem Zutritt einer der Neben-
spitzen oder beide. Die weiter nach hinten folgenden Zähne sind dann
vollständiger entwickelt, je mehr sie nach hinten gelegen sind. Die
Komplizierung folgt dabei in der Reihenfolge, welche wir im allgemeinen
Teil kennen gelernt haben. Also Milchgebiß und Dauergebiß zeigen in
der Gestalt ihrer Komponenten noch keinen Unterschied, wie sehrauch
die Zähne einer Gebißreihe unter sich differieren dürfen. Das ist meiner
Meinung nach die primitive Gebißform.
Dieser Zustand findet sich, wie gesagt, noch am vollständigsten
verwirklicht bei gewissen Halbaffen, besonders bei jenen, bei denen der
dritte Prämolar die Struktur eines Molaren besitzt (Galago, Hemi-
galago). Diese parallele Gestaltung beider Gebißreihen ist nun bei
den Äffen verwischt worden, und zwar infolge zweierlei Abänderungen:
die Milchmolaren haben sich immer mehr kompliziert und die Prä-
molaren sind einander ähnlicher geworden, die stufenweise Vervoll-
kommnung hat einer größeren Ähnlichkeit die Stelle geräumt. Die
Folge davon war, daß im bleibenden Gebiß der Gegensatz zwischen
Prämolaren und Molaren akzentuiert worden ist. und daß die Prämolaren
und Milchmolaren einander je länger desto stärker unähnlich geworden
sind. Jenes Gebiß muß in dieser Hinsicht als ein am meisten speziali-
siertes betrachtet werden, an dem diese beiden Vorgänge ihren höchsten
Entwicklungsgrad erreicht haben. Und von diesem Gesichtspunkt aus
betrachtet erscheint das menschliche Gebiß als am weitesten von der
Urform entfernt, läßt auch jenes der Anthropomorphen mehr oder
weniger weit hinter sich.
Wenn man nun von dem entwickelten Gesichtspunkt aus die
Gebisse der Affen vergleicht, dann stellen jene der platyrrhinen Formen
unzweifelhaft mehr primitive Formen dar als jene der katarrhinen
Primaten. Denn wie vorher schon bemerkt und wie aus den fünf Gebiß-
zeichnungen der obersten Reihe auf Tafel II leicht ersichtlich, besteht
eine auffallende Übereinstimmung in dem Kronenrelief der Milch-
molaren und ihrer Ersatzzähne. Nur der dritte Milchmolar ist durch-
schnittlich etwas höckerreicher als sein Ersatzzahn.
Das Unterkiefergebiß der Primaten. 1(3 1
Es ist schon früher öfters betont worden, daß es nicht möglich
ist, die Gebisse der katarrhinen Affen von solchen Formen abzuleiten,
wie sie bei den heutigen amerikanischen Affen auftreten. Diese Be-
hauptung war auf eine Vergleichung der Kronenstruktur bei beiden
Primatengruppen gegründet. Auch die Formrelationen zwischen den
Zähnen der ersten und zweiten Dentition bei beiden Gruppen weisen
in gleicher Richtung hin. Im allgemeinen tragen die bezüglichen Zähne
des Milchgebisses bei den Platyrrhinen einen mehr einfachen Hau. und
es hat sich zwischen den Tuberkeln ein ähnliches Leistensystem ent-
wickelt als auf die Ersatzzähne. Dieses Leistensystem trägl einen
ähnlichen Charakter als jenes auf die Molaren der neuweltlichen Affen.
Und gerade auf Grund des Vohandenseins dieses Systemes gründete
ich meine oben memorierte Aussage.
Wie gesagt, geht der Mensch bezüglich der oben erwähnten
Eigentümlichkeiten des Gebisses der höheren Primaten: starke Diffe-
renzierung der Milchmolaren und Gleichförmigkeit der Prämolaren,
an der Spitze aller Primaten. Bei keinem anderen sind die beiden Prä-
molaren (wir beschränken uns weiter auf die katarrhinen Primaten)
als Bicuspidaten einander so ähnlich. Zwar trifft man auch bei den
Anthroponiorphen bisweilen auf dem ersten Prämolar die Andeutung
eines inneren Höckers an, aber im ganzen erscheint der Zahn auch bei
dieser Gruppe als mit einer kräftig entwickelten kegelförmigen Krone
ausgestattet.
Es manifestiert sich jedoch die Sonderstellung des Menschen
in keinem Punkt so stark als in der hohen morphologischen Ausbildung
seines ersten Milchmolaren. Obgleich individuelle Verschiedenheiten
in deren Ausbildungsgrad nicht selten sind, ist jedoch gewöhnlich
dieser Zahn fünfhöckerig und stimmt die Kronenformel mithin mit
jener der bleibenden Molaren überein. Wenn eine Vereinfachung
besteht, dann tritt dieselbe nur an der vorderen Hälfte auf, wo die
beiden Tuberkel zu einem einzigen zusammentreten können.
Der hohe Grad von morphologischer Entwicklung, wozu es der
erste Milchmolar beim Menschen gebracht hat, hat den Unterschied,
der zwischen dem homoigen Zahn und dem zweiten Milchmolar bei den
Anthropoiden besteht, verwischt. Bei dieser Primatengruppe ist mü-
der letztgenannte Zahn fünfhöckerig und es ähnelt der erste Milch-
molar durch seine keglförmige Krone mehr seinem Nachfolger.
Es hat nun, wie ich meine, der hervorgehobene Unterschied
zwischen dem ersten menschlichen Milchmolar und dem überein-
stimmenden Zahn der Anthropoiden einige Bedeutung, wenn man auf
die Ursache achtet, welche vermutlich diesen Unterschied bewirkt hat.
Die Kronenstruktur eines Zahnes ist die Folge der an den Zahn gestellten
Ansprüche. Und von diesem Gesichtspunkte aus darf man sagen,
daß es beim ersten Milchzahn des Menschen die essentielle Molaren-
funktion, d. i. der Kauakt, war. der die latenten morphogenetischen
Potenzen bei diesem Zahn aktivierte und in sukzessiver Aufeinander-
folgerung die bekannten Höcker des Proto- und Deuteromer zur Ent-
faltung brachte. In stetig progressiver Entwicklung nahm der ursprüng-
lich gewiß einhöckerige Zahn allmählich die vollständige Gestalt eines
Mahlzahnes an. Warum ist das nur beim Menschen und nicht ebenso
bei den Anthropomorphen geschehen? Jedes Gebiß wird so viel Kau-
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzäline. , 11
1(32 Viertes Hanptstück.
fläche zur Entwicklung bringen, als für die richtige Verkleinerung des
Futters notwendig ist. Und wenn somit beim Menschen eine relativ
größere Kaufläche im Milchgebiß zur Entwicklung gelangte als bei
den Anthropomorphen, dann darf daraus der Schluß gezogen werden,
daß beim Geschlecht Homo das Individuum höhere Ansprüche
an seinen Milchmolaren stellt als bei den Anthropoiden. Das darf
eine rein physiologische Ursache haben, z. B. eine mehr vollkommene
Verkleinerung der Nahrung und vollständigere Durchtränkung mit
Speichel, aber es kann auch noch eine ganz andere Ursache daran zu-
grunde liegen, nämlich der ziemlich lange Zeitraum, während welcher
die Milchmolaren beim Menschen als einzige Mahlzähne vorhanden sind.
Wenn bei den Anthropoiden der erste bleibende Molar kurz nach dem
zweiten Milchmolar durchbricht, besteht bald eine hinlängliche Mahl-
fläche im Munde und es fällt die Ursache hinweg, welche den ersten
Milchmolar zu einer mehr vollkommenen Ausbildung reizte. Denn
dann üben der zweite Milch molar und der erste bleibende Molar die
Funktion aus, welche beim Menschen während längerer Zeit den beiden
Müchmolaren zuerkannt war.
Es ist nun über die Frist, die zwischen dem Durchbruch des zweiten
Milchmolaren und des ersten Dauermolaren bei den Anthropomorphen
verläuft, leider nichts genaues bekannt. Auch Selenka schweigt in
seinen bekannten Arbeiten über diesen Punkt. Nur auf S. 86 seiner
Studien über Entwicklung und Schädelbau der Menschenaffen hebt
der Autor hervor, daß bei Orang Utan — und gleiches soll von den
übrigen Anthropomorphen gelten - - der zweite Dauermolar zeitiger,
der vordere Prämolar später erscheint als beim Menschen. Die Kau-
flächen vergrößern sich also, sagt der Autor, rascher. Diese Tatsache
nun läßt vermuten, daß relativ auch der erste Molar früher erscheint
und verhältnismäßig schneller an dem Kauakt sich beteiligt als beim
Menschen. Das mir vorliegende Material von Anthropomorphen-
schädeln, gestattet nicht diese Frage auf Grund statistischer Unter-
suchungen zu entscheiden, und auch Radiogramme von Unterkiefern
jüngerer Menschenaffen, wovon ich in Tafel III, Fig. 11 (Orang),
12 (Schimpanse) und 13 (Hylobates) einige reproduziere, haben mir
der Entscheidung nicht näher gebracht. Aber von einem der ge-
schwänzten altweltlichen Affen habe ich früher den Beweis erbracht,
daß der erste Dauermolar fast unmittelbar nach dem zweiten Milch-
molar durchbricht. Man findet den für Macacus cynomolgus er-
brachten Beweis dafür in meiner Untersuchung über den Verschluß
der Schädelnähte bei den Primaten1). Es ist sehr erwünscht, daß in
dieser Richtung ausgiebige Untersuchungen angestellt werden.
Die Verzögerung des Durchbruches des ersten Molaren beim
Menschen ist, wie ich glaube, als die Ursache anzusehen, weshalb sein
erster Milchmolar sich kompensatorisch vollständiger entwickelte. Die Ur-
sache, warum der erste Dauermolar erst mehrere Jahre nach dem zweiten
Milchmolaren beim Menschen durchbricht, ist vielleicht nur eine Teil-
erscheinung der generellen Verzögerung der körperlichen Entwicklung
des Menschen im Vergleich zu den Anthropomorphen. Daß man schließ-
lich die Struktur des ersten Milchmolaren beim Menschen nicht als
die primitive annehmen darf und jene der Anthropomorphen als die
1) Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. XV, S. 58.
Das Unterkiefergebiß der Primaten. Iß3
vereinfachte, leuchtet schon aus der Überlegung ein, daß jene Struktur
uns den ersten Milchmolaren kennen lernt als einen wirklich an dem
Kauakt sich beteiligenden Zahn, es ist eine wesentliche Kaufläche zur
Entwicklung gekommen. Und das kann nur sekundär erfolgt sein
unter dem Einfluß spezifischer Momente, welche die erbliche Form-
eigenschaften des Zahnes zur völligen Entfaltung brachten.
Hiermit möchte ich meine Übersicht über das Unterkiefergebiß
der Primaten abschließen, um zu jener des Oberkiefers überzugehen.
Die allgemeinen Betrachtungen, welche sich hier und da in diesem
Hauptstück finden, sind selbstverständlich auch geltend für das
Gebiß des Oberkiefers. Ich brauche dieselben daher nicht zu wieder
holen.
11"
Fünftes Hauptstück.
Das Oberkiefergebiß der Primaten.
Wir fangen gleich mit der Besprechung der morphologischen Er-
scheinungen an der oberen Zahnreihe der Urprimaten an. Es scheint
mir am zweckmäßigsten, dabei Ausgang zu nehmen von einer Form,
deren Oberkiefergebiß zu den bestbekanntesten gehört, nämlich Hyop-
sodus. Die Besonderheiten, welche die oberen Zähne der eocänen
Primaten in Verbindung mit dem Inhalt der Dimertheorie darbieten,
werden dann von selbst zur Sprache gebracht werden können.
Für die Aufstellung der nachfolgenden Kronenformel dieses
Genus habe ich die ausgezeichneten Abbildungen benutzt, welche sich
in dem Artikel von Ösborn: American eocene Primates and the
supposed rodent family Mixodectidae1) finden. Das Gebiß der Hyop-
sodidae besitzt bekanntlich vier Prämolaren und die Kronenformel
gestaltet sich folgendermaßen:
Pr
P2
P.
'•
Mx
M2
M3
P
I P 2
1 P 2
/ P 2
1 Pa Pp
3 D 4{
I Pa Pp
3 D 4i
Pa Pp
D4
3 D i
Die obenstehende Kronenformel kehrt mit unwesentlichen Unter-
schieden auch bei den Geschlechtern Pelycodus und Notharctos wieder,
wie aus den von Osborn gegebenen Figuren ersichtlich. Nur die beiden
protomeren Nebenspitzen i und 2 wechseln in ihrem Entwicklungs-
grad bei den verschiedenen Geschlechtern, gleichwie der dritte Molar.
Das beeinflußt jedoch den Charakter der Formel nicht.
Es sagt uns die oben gegebene Kronenformel, daß Hyopsodus
im Oberkiefer ein Gebiß besitzt, dessen Prämolaren in distaler
Richtung immer komplizierter werden. Und die Komplizierung ist
derart, daß man fast die ganze Entwicklungsgeschichte der Ober-
kieferzähne an diesem einzigen Geschlecht abzulesen imstande ist,
denn jeder weiter nach hinten liegende Zahn stellt eine höhere Aus-
bildungsstufe des Zahnes dar. Der erste Prämolar besteht nur aus
einem einfachen seitlich komprimierten Kegel, der dem Haupthöcker
des Protomer entspricht. Beim zweiten Prämolar ist an der Basis
die vordere und hintere Kante dieses Kegels mit einer niedrigen Neben-
spitze ausgestattet, es sind die beiden protomeren Nebenhöckerchen.
1) Bulletin of the American Museum of Natural History 1902, Vol. XVI.
Das Oberkiefergebiß der Primaten. 165
Der dritte Prämolar ist in transversaler Richtung verbreitert, und es
hat sich an der lingualen Seite deutlich eine neue Spitze ausgebildet,
die nur den Haupthöcker des Deuteromer darstellen kann. Und beim
vierten Prämolar ist eine deuteromere Nebenspitze hinzugekommen,
und zwar die hintere. Es ist im allgemeinen Teil ausdrücklich darauf
hingewiesen worden, daß diese Reihenfolge im Erscheinen der Spitzen
bei der morphologischen Entwicklung des deuteromeren Zahnteiles
Regel bildet, zuerst tritt der Haupthöcker auf, sodann die hintere
Nebenspitze und schließlich die vordere Nebenspitze. Letztere ist
nun bei den Prämolaren von Hyopsodus nicht zur Ausbildung gelangt,
und in dieser Hinsicht werden wir bei den rezenten Halbaffen Formen
kennen lernen, bei den die Prämolaren eine mehr vollkommene Aus-
bildungsstufe erreicht haben.
Abgesehen somit vom Fehlen der vorderen deuteromeren Neben-
spitze bietet uns die Prämolaren reihe von Hyopsodus ein vollständiges
Bild von der sukzessiven Entstehung des Kronenreliefs der Überkiefer-
zähne.
Die oben für Hyopsodus geschilderte, sehr systematische Ver-
vollkommnung der Prämolarenkrone scheint bei den eoeänen Primaten
ziemlich selten zu sein. Gewöhnlich sind die Unterschiede zwischen
zwei aufeinanderfolgenden Zähnen etwas größer, was zum Teil auf die
Verringerung der Prämolarenzahl zurückzuführen ist, zum Teil auch
darauf, daß der letzte Prämolar eine noch höhere Ausbildung erlangen
kann als bei Hyopsodus, wenn nämlich im protomeren Teil der Haupt-
höcker sich verdoppelt und der Zahn deshalb mobilisiert erscheint.
Letzteres ist z. B. nach den Angaben von Schlosser bei Adapis der
Fall. Von diesem Genus sagt der genannte Autor: „J)er Pr1 (das ist der
hinterste Prämolar in der früheren Bezeichnungsweise von Schlosser)
besitzt außerdem noch einen zweiten Außenhöcker"1). Diese Molari-
sierung des hintersten Prämolaren — die auch, wie wir sehen werden,
bei einem rezenten Halbaffen vorkommt — findet man auch bei ameri-
kanischen eoeänen Primaten, und zwar bei einer Form, die Osborn,
1. c. S. 19 in Figur 20C abbildet, und als zum Geschlecht Notharctos
zugehörig bezeichnet. Ich habe früher schon Gelegenheit gehabt auf
das nicht richtige dieser Bestimmung hinzuweisen. Ein Tier, dessen
hinterster Prämolar zwei Außenhöcker in gleichgroßer Entwicklung
zeigt, darf nicht in einem Geschlecht untergebracht werden, in dem
der genannte Zahn nur einen einzigen Außenhöcker besitzt. Abgesehen
jedoch von dieser unrichtigen Bestimmung verdient die Tatsache er-
wähnt zu werden, daß auch bei neuweltlichen eoeänen Primaten eine
Molariesierung des hintersten Prämolaren zu beobachten ist. Denn
hieraus geht hervor, wie wenig dieses Merkmal sich eignet als Argu-
ment für eine behauptete genealogische Beziehung zwischen älteren
und jüngeren Formen.
Wenn man nun weiter die Kronenstruktur der oberen Molaren
bei den eoeänen Primaten betrachtet, dann zeigt dieselbe eine Eigen-
tümlichkeit, wodurch dieselbe sich sofort von jenen der rezenten Pri-
maten unterscheidet, und welche mehr als eine andere Erscheinung
eine Kluft zwischen beiden Gruppen bilden würde, wenn nicht gelegent-
lich die bezügliche Eigenartigkeit auch bei heutigen Primaten, sei es
1) Affen, Lemuren, Chiropteren usw. des europäischen Tertiärs, S. 24.
166 Fünftes Hauptstück.
ausnahmsweise, zur Entwicklung gekommen wäre. Wenn man die
Beschreibung der oberen Miliaren von eocänen Primaten in der Literatur
verfolgt, dann wird der bezüglichen Strukturerscheinung immer Er-
wähnung getan. So sagt z. B. Schlosser, 1. c. S. 21 vom Gebiß von
Hyopsodus: Im Oberkiefer tragen die Molaren außer den beiden
Außenhöckern (Pa und Pp. mihi) und dem ursprunglichen Innen-
höcker (D. mihi) noch einen zweiten Innentuberkel, der bereits eine
ziemliehe Stärke erreicht hat (4 mihi) und außerdem noch zwei Zwischen-
tuberkel, im Zentrum und am Vorderrande des Zahnes gelegen1). Es er-
scheinen dann auch die Molaren sechshöckerig und bei einer starken
Ausbildung der Höcker hegen diese sechs Höcker zu drei Paaren regel-
mäßig nebeneinander. „The upper molars", sagt Osborn (1. c. S. 181)
„progress from a triangulär, tritubercular condition, to a quadrate
sexitubercular condition." Durch die Entwicklung dieser Zwischen-
tuberkel erhalten die Zähne der eocänen Primaten eine gewisse Über-
einstimmung mit Ungulaten-Molaren, und es ist somit von Bedeutung,
daß wir die genetischen Werte derselben feststellen, denn hierin liegt,
glaube ich, der Schlüssel für die Homologisierung der Höcker der
mehr zusammengesetzten Ungulaten-Molaren. Eine wirkliche Hilfe
leistet dabei der Umstand, daß bisweilen auch bei rezenten Primaten
die homologen Bildungen noch auftreten.
Der vordere und hintere Zwischenhöcker trägt im Cope-Osborn-
schen System den Namen Protoconule resp. Metaconule, und Osborn
erwähnt ausdrücklich, daß sie schon an den Molaren der jurassischen
Säugetiere gelegentlich beobachtet wurden2).
Über die systematische Stellung des vorderen Zwischenhöckers
ist nur eine Deutung möglich, es kann nämlich nur die vordere Neben-
spitze des Deuteromer, also die j-Spitze in meiner Nomenklatur dar-
stellen. Diese Aussage gründet sich auf die Lagerung dieser Spitze
an den Prämolaren der Halbaffen, welche vollständig übereinstimmt
mit dem sogenannten vorderen Zwischenhöcker der Urprimaten.
Ich bringe dazu in Erinnerung, daß im Hauptstück über die Ent-
wicklung der oberen Zähne mehrfach ausdrücklich hervorgehoben ist,
daß die vordere deuteromere Nebenspitze, wenn sie bei den rezenten
Halbaffen in Erscheinung tritt, nicht nur vor, sondern auch immer
etwas bukkal vom deuteromeren Haupthöcker gelagert ist. Man
vergleiche dazu z. B. die Textfig. 23 und 24, sowie die Tafelfiguren 5,
6 und 7. Im allgemeinen ist bei den Prämolaren der Halbaffen diese
Spitze mehr am Vorderrande des Zahnes gelagert und nimmt auch an
den Molaren, wenn auch nur annähernd, die gleiche Lagerung ein.
Bei den eocänen Formen dagegen ist die Spitze etwas mehr nach dem
Zentrum des Zahnes gerückt, liegt mehr in der Verbindungslinie zwischen
den Höckern D und Pa und ist bei den Molaren zu einem ziemlich
konstanten Element des Zahnreliefs geworden. Über die Deutung
dieser Spitze braucht, wie ich glaube, kein Zweifel zu bestehen. Und
sie ist dann auch in der oben gegebenen Kronenformel von Hyopsodus
nach der oben gegebenen Deutung bezeichnet worden.
Ganz anderer Natur dagegen ist, wie ich meine, der hintere
Zwischenhöcker, der in seiner Entwicklung so ganz dem vorderen
1) Ich cursiviere.
2) Evolution of mammalian Molar Teeth, p. 82, Fußnote.
Das Oberkieferggbiß der Primaten. 167
ähneln kann und mit diesem in so symmetrischer Beziehung an der
Zusammensetzung der Kronenstruktur beteiligt sein kann, daß man
eine übereinstimmende genetische Herkunft hier anzuerkennen geneigt
sein könnte. Und dennoch ist dieses nicht der Fall. Der vordere
Zwischenhöcker ist eine Primärbildung, ist eine Spitze, deren Anlage
als solche in jedem Zahnkeim vorhanden ist. der hintere Zwischen-
höcker dagegen ist, was ich als eine Pseudospitze bezeichnen möchte,
hervorgegangen aus der Schmelzleiste, welche vom deuteromeren
Haupthöcker (D) zum protomeren Höcker Pp zieht.
Es sind früher einige kurze Bemerkungen eingeschaltet winden
über das ursprüngliche Leistensystem der Oberkieferzähne, und ich
hebe daraus noch einmal folgendes hervor: Das einfachste Leisten-
system trifft man bisweilen bei solchen Prämolaren, an denen nur die
Haupthöcker der beiden Odontomeren entwickelt sind. Dann zieht
die Leiste („Protopecten" habe ich sie genannt) in transversaler Rich-
tung vom Höcker P bis D. Wenn sich nun der Haupthöcker P zu
dem Zwillingshöcker Pa, Pp differenziert hat, erscheint die einfache
Leiste wie V-förmig gespalten, vom Höcker D ziehen in divergierender
Richtung Schmelzkamme zu den Höckern Pp und Pa hin. Es ist nun
der hintere Zwischenhöcker an den Molaren der eoeänen Primaten nichts
anderes als eine lokale Verdickung im hinteren Bein dieses V-förmigen
Leistensystems. Diese Spitze darf somit in genetischer Beziehung
mit den übrigen nicht als gleichwertig betrachtet werden, denn sie
entspricht nicht einer erblichen Anlagepotenz im Säugerzahnkeim1).
Die oben gegebene Deutung des hinteren Zwischenhöckers gründet
sich hauptsächlich auf Beobachtungen am Gebiß heutiger Primaten.
Denn, wie schon erwähnt, tritt dann und wann an den Molaren bestimmter
Halbaffen und Affen der hintere Zwischenhöcker noch auf an der
Stelle der Schmelzleiste, die bei verwandten Spezies oder sogar bei
anderen Individuen der nämlichen Art vom deuteromeren Haupthöcker
D zum protomeren Höcker Pp zieht. Laut einer Angabe von Schlosser
sollten beim Geschlecht Callithrix Zwischenhöcker an den oberen
Molaren zu beobachten sein. Von diesem amerikanischen Affen ist
mir das Gebiß aus eigener Wahrnehmung nicht bekannt, aber beim
Geschlecht Ateles zeigt bisweilen die hintere Schmelzleiste der oberen
Molaren in seiner Mitte eine deutliche Anschwellung, welche ich dann
auch an der betreffenden Figur auf Tafel I zum Ausdruck gebracht habe.
Einen sehr schönen Fall der Entwicklung eines hinteren Zwischen-
höckers traf ich am Gebiß eines jungen Cebus hypoleucos, der sich
noch im Zahnwechsel befand. Auf Tafel III, Fig. 14 gebe ich von diesem
Gebiß eine photographische Aufnahme. Der Zwischenhöcker erscheint
statt der Leiste, welche an dem Molaren anderer Cebusindividuen
sich vorfindet, gleichsam als das etwas erhabene Mittelstück von
letzterer. Es kommt nur an dem ersten Molaren vor und ist an der
linken Seite kräftiger entwickelt als an der rechten. Häufiger ist
dieser intermediäre Höcker am Gebiß von Mycetes aufzufinden.
In Fig. 15, auf Tafel III ist ein Gebiß von Mycetes seniculus wieder-
gegeben, an dem dieser Höcker beiderseitig sehr schön entwickelt
war am ersten und zweiten Molaren. Unter den Halbaffen traf ich
1) In der Kronenformel von Hyopsodus ist dieser Zwischenhöcker mit /
bezeichnet worden.
168 Fünftes Hauptstück.
den hinteren Zwischenhöcker an beim ersten und zweiten Molaren
eines Hemigalago Demidoffi (man vgl. die diesbezügliche Figur auf
Tafel 1) und weiter an den beiden vordersten Molaren eines Hapalemtir.
Doch in allen diesen Kälten handelt es sich offenbar entweder um eine
individuelle Variation oder um eine stark regressive Bildung. Es sind
aber diese Fälle für die richtige Interprätation des bei den eocänen
Primaten so häufig auftretenden Höckers von der höchsten Bedeutung.
Denn es ist nicht zu leugnen, daß durch die ziemlich regelmäßige Ent-
wicklung desselben das Gebiß der letztgenannten Affen ein charakte-
ristisches Gepräge erlangt. Denn der eocäne Molar besitzt dadurch
einen mehr komplizierten Charakter als jener der jüngeren Formen.
Diese Besonderheit ist jedoch nicht so befremdend, wenn man sich
erinnert, daß gleiches auch für die unteren Molaren gilt. Auch von
diesen konnte nachgewiesen werden, daß Vereinfachung der Struktur
gerade das Hauptmerkmal der späteren Entwicklung war. Und daß
die homologen Vorgänge im Ober- und Unterkiefer miteinander in
korrelativer Beziehungstehen, ist wohl nicht zu bezweifeln.
In seinen mehrfach zitierten Arbeiten über die Affen usw. des
europäischen Tertiärs erwähnt auch Schlosser an mehreren Stellen
die Zwischenhöcker der bekanntlich von ihm so genannten Pseudo-
lemuriden, und 1. c. S. 50 spricht der Autor die Vermutung aus,
daß bei den Affen ,, diese Zwischenhöcker von den Innenhöckern
absorbiert worden sind, doch ist bis jetzt noch keine Form bekannt,
an welcher dieser Prozeß direkt zu sehen wäre". Aus dem Oben-
stehenden geht hervor, daß diese Vermutung von Schlosser nicht
richtig ist, der vordere Zwischenhöcker ist die vordere deuteromere
Nebenspitze und tritt, wie wir bald näher zeigen werden, auch an
den Molaren gewisser Halbaffen noch auf, ja kann sogar als individuelle
Variation auch am ersten Molar des Menschen noch zur Entwicklung
gelangen. Der hintere Zwischenhöcker ist nicht vom hinteren lingualen
Höcker absorbiert worden, sondern hat sich bei den rezenten Primaten
abgeflacht und liegt potentia in der Crista obliqua — die von D bis Pp
ziehende Kamme — versteckt.
Der Verlust der beiden intermediär gestellten Höcker der eocänen
Primaten hat sich — wenn wir von dem gelegentlichen Auftreten bei
rezenten Formen absehen - - offenbar bei allen Nachfolgern dieser
Stammformen vollzogen. Wir vermissen dieselben fast ausnahmslos
bei den rezenten Primaten, sogar bei jenem Geschlecht, dessen Ver-
wandtschaft zu einem der eocänen Geschlechter noch am meisten ge-
sichert ist. Ich meine Tarsius. Es wird wohl allgemein eine nähere
Beziehung zwischen diesem Geschlecht und dem eocänen Anaptomorphus
angenommen, nachdem Cope zuerst für diese Verwandtschaft einge-
treten ist. Und zweifellos weist der Habitus des Gebisses als Ganzes
und die große Übereinstimmung zwischen den einzelnen Zähnen bestimmt
in dieser Richtung hin. Nun ist es merkwürdig, daß, wenn man das
Gebiß beider Formen vergleicht, nur ein einziges wesentliches Unter-
scheidungsmerkmal besteht; Anaptomorphus besitzt nämlich noch
am ersten und zweiten Molaren die Zwischenhöcker und bei Tarsius
ist keine Spur davon mehr anzutreffen. Sie sind vollständig geschwunden.
Ich stelle zum Beweise davon in Fig. 60 die Abbildungen beider Gebisse
nebeneinander. Jene von Anaptomorphus entlehne ich der Osbor ti-
schen Abhandlung: American eocene Primates, wo das Gebiß jenes
Das Oberkiefergebiß der Primaten.
169
berühmten Tierchens in Fig. 25 vollständig in vergrößertem Maßstabe
abgebildet ist.
Mit dieser Nebeneinanderstellnng beider Gebisse bezwecke ich gar
nicht Einspruch gegen die behauptete Verwandtschaft beider Formen
zu erheben, vielmehr möchte ich, unter Hinweis auf diese Verwandtschaft,
ins Licht treten lassen, welcher geringe Wert den
beiden „Zwischenhöckern" für genealogische Be-
stimmungen zukommt, eben weil der vordere nur
die Dignität einer primitiven Nebenzacke hat und der
hintere nicht einmal ein wahrer Höcker ist, sondern
als Bild imgsprodukt einer Schmelzleiste einen Pseudo-
höcker darstellt. Daß diese „Zwischenhöcker'1 bei
anderen Säugergruppen einer progressiven Entwick-
lung unterliegen, ist mit ihrer genetischen Bedeutung
nicht unvereinbar, sehen wir doch z. B., daß bei
den Primaten ebenfalls eine ursprüngliche Neben-
spitze — die hintere deuteromere - als hinterer
lingualer Höcker den ursprünglichen Haupthöckern schließlich an
Umfang gleichkommt. Hiermit breche ich die Besprechung der eoeänen
Primaten ab und wende mich zu den rezenten Halbaffen.
Die untenstehende Tabelle bringt die Kronenformel der näm-
lichen Prosimiae, von denen früher die Formeln der Unterkieferzähne
Kronenformel der oberen Zähne bei Halbaffen.
Fig. 60. .a Anapto-
morphus bonunculus,
b Tarsius spectrum.
/, *\ P*
Afx M, Mz
Stenops graeihs
Nycticebus tardigradus . .
Cheirogaleus Smithii . . .
Galago senegalensis . . .
Hemigalago Demidoffi . .
Avahis laniger
Propithecus diadema . .
Indris brevic :
Lemur catta
I P 2
I P 2
I P2
I P 2
I P 2
I P 2
I P 2
I P 2
I P 2
1 Pa Pp 2
Pa Pp
D
1 Pa Pp 3
Pa Pp
D
I P 2
D
I P 2
D
1 Pa Pp 2
D
1 Pa Pp
D4
I P2
3D 4
I P 2
3V4
1 PaPp 2
3D4
1 Pa Pp
D4
1 Pa Pp
D
I P 2
I P 2
D
I P 2
D4
I P 2
D4
PaPp
D4
1 Pa Pp 2
D4
Pa Pp
D4
1 Pa Pp 2
D
PaPp
D
i Pa Pp 2
D
1 Pa Pp
3^4
1 Pa Pp 2
3D4
1 Pa Pp 2
3D4
1 Pa Pp2
T>4
1 Pa Pp
D
I P 2
I P 2
I P 2
I P 2
3D4
1 P 2
1 P 2
3D4
I Pa Pp 2
3D4
1 Pa Pp2
3D4
PaPp
3D4
1 Pa Pp 2
3D4
1 Pa Pp2
D
Pa Pp
D
1 P 2
3D4
1 PaPp
D4
1 Pa Pp
D
Pa Pp
D
1 P 2
3^4
1 Pa Pp
D4
1 Pa Pp
D4
Pa Pp
D
D
D
D
D
170 Fünftes Hauptstück.
gegeben sind. Der erste Prämolar erweist sich bei allen als eine rein
protomere Bildung, denn bei keinem der untersuchten Schädel fand
ich ;m diesem Zahne die geringste Spur eines lingualen Höckerchens-
Ich mache an dieser Stelle noch einmal auf den Unterschied aufmerksam
zwischen der Formel des ersten Prämolaren am Ober- und Unterkiefer.
Auch am Unterkiefer besitzt der Zahn nur eine einfache komprimierte
kegelförmige Kronenspitze. Aber diese muß ein Bildungsprodukt
beider Odontomeren sein, denn bei Komplizierung spaltet sich diese
Spitze in eine bukkale und linguale Hälfte, welche sich dann weiter zu
dem P-Höcker resp. D-Höcker ausbilden. Im Oberkiefergebiß dagegen
tritt der D-Höcker, wenn er erscheint, sofort als ein zwar unansehn-
liches, aber dennoch selbständiges Höckerchen auf, ganz unabhängig
vom bestehenden Höcker, der also nur der Haupthöcker des Protomer
vergegenwärtigen kann. Daher der Unterschied in den Kronenformeln
beider ersten Prämolaren. Fast immer sind auch, sei es in sehr
wechselnder Entwicklung, die beiden protomeren Nebenspitzchen an-
wesend. Es bietet daher der bezügliche Zahn keine wesentliche Diffe-
renzen bei den Halbaffen. Nur die Relation zwischen Länge und Höhe
der kegelförmigen Spitze wechselt. Man bekommt den Eindruck,
daß es sich hier um einen Zahn handelt, der noch allgemein die ursprüng-
liche Form, welche er schon bei den eoeänen Primaten besitzt, be-
wahrt hat.
Gleiches gilt noch bei der Mehrzahl der Halbaffen für den zweiten
Prämolaren, obgleich hier schon Differenzen zwischen den verschiedenen
Gruppen zu konstatieren sind. Die vornehmste davon wird bedingt
durch die Verminderung der Prämolaren bei den Indrisinae. Der P3
hat infolgedessen die einfache Struktur des P2 bei den übrigen Halb-
affen angenommen. Indem man somit bei den meisten Prosimiae eine
höhere morphologische Ausbildung von P3 konstatiert, durch das
Auftreten des deuteromeren Haupthöckers verursacht, besitzt der
übereinstimmende Zahn bei den Indrisinae eine Kronenstruktur wie
der P2 bei den übrigen Halbaffen. Haben wir es hier mit einer Verein-
fachung zu tun, einer Anpassung der Form an eine Funktion, welche
nur infolge von Reduktion des einst vorhanden gewesenen lingualen
Höckers zustande kommen konnte ? Wenn man ins Auge faßt, daß
die übergroße Mehrzahl der Prosimiae einen P3 mit einem lingualen
Höcker (D) besitzen und dazu in Betracht zieht, daß die Indrisinae
gewiß nicht auf die niedrigste Entwicklungsstufe in der Reihe der
Prosimiae stehen, dann möchte man wohl geneigt sein, den P3 dieser
Gruppe für eine simplifizierte Form anzusehen. Und dann bietet dieser
Fall einen neuen Beleg für die schon öfters gestellte Behauptung, daß
bei Vereinfachung die Kronenstruktur zu einer phylogenetisch früher
durchlaufenen Formstufe zurückkehrt. Eine einfache Struktur ist
daher nicht notwendig der Ausdruck der Persistenz einer primitiven
Entwicklungsstufe.
Der P4 ist fast immer durch eine mehr vollständige Kronen-
entwicklung gekennzeichnet als der vorangehende. Diese höhere Aus-
bildung wird aber durch das Hinzukommen verschiedener Höcker
erreicht. War an P3 der ^-Höcker schon angelegt, dann kommt bei
P4 die vordere deuteromere Nebenspitze hinzu, war an P3 im Deute-
romer noch kein Höcker entwickelt, dann erscheint an P4 der Haupt-
höcker dieses Odontomer usw. Die höhere Entwicklung, welche P4
Das Oberkiefergebiß der Primaten. 171
dem P3 gegenüber zeigt, folgt somit der Reihenfolge in dem Auftreten
der Höcker, welche wir im allgemeinen Teil kennen gelernt haben.
Eine ganz besondere Stelle nimmt bezüglich der Differenzierung
seiner Prämolarenreihe das Geschlecht Galago und Hemigalago ein.
Denn wie aus der Kronenformel in der Taljelle ersichtlich, ist bei diesen
Halbaffen der hintere Prämolar vollständig molarisiert. Sie zeigen die
höchste Entwicklung, welche die Primatenzähne überhaupt erreichen
können, wenn man das Auftreten eines Carabellischen Höckerchens
außer acht läßt. Vom Deuteromer sind sowohl der Haupthöcker als
auch die beiden Nebenspitzen anwesend, während im protomeren Teil
des Zahnes der Haupthöcker in der Zwillingsform anwesend ist; der
Zahn besitzt, wie es in der Literatur heißt, zwei bukkale Tuberkel.
Diese Eigentümlichkeit im Galagogebiß ist schon durch Mivart be-
schrieben worden1). ,,The third upper premolar, has two large and
pretty equally developed external cusps as have also the molars"
(1. c. S. 619). Eine Tatsache, die offenbar Huxley, der ebenfalls eine
Beschreibung des Gebisses der Galaginae gibt2), entgangen zu sein
scheint, wenigstens der Autor erwähnt dieselbe nicht. Auch von späteren
Autoren ist diese Struktur des hinteren Prämolaren von Galago über-
sehen worden, denn bekanntlich beruft z. B. Schlosser sich auf die
Tatsache, daß bei den eocänen Primaten der hinterste Prämolar molari-
siert sein kann, während es bei den rezenten Halbaffen niemals der
Fall sein sollte, um seine Ansicht zu begründen, daß die eocänen Primaten
nicht als die Stammformen der heutigen Halbaffen angesehen werden
dürfen. Durch Leche ist unter Hinweis auf Galago das Unrichtige
dieser Argumentierung schon betont worden. Ich schließe mich in
dieser Hinsicht dem letztgenannten Autoren völlig an. Zwischen dem
< »berkiefergebiß der eocänen Primaten und jenem der heutigen
Halbaffen ist das hauptsächlichste Differenzmerkmal, das Auftreten
des hinteren Zwischenhöckers, welches bei den erstgenannten Formen
so überaus häufig ist. Aber, wie früher schon betont, auch bei den
rezenten Prosimiae tritt diese eigentümliche Bildung bisweilen auf,
so daß eigentlich zwischen den Gebissen beider Gruppen nur graduelle
Verschiedenheit in der Entwicklung der Spitzen zu verzeichnen ist,
und kein einziges prinzipielles Differenzmerkmal zwischen ihnen aus-
findig zu machen ist. Gegen eine Ableitung der heutigen Lemuren
von den bekannten eocänen Primaten kann man somit am Gebiß kein
Argument entnehmen.
Die Molaren der Halbaffen lassen sich im allgemeinen ihrer Ge-
stalt nach in zwei Gruppen einteilen, es gibt eine trianguläre Form
und eine mehr viereckige. Erstgenannte Form ist ziemlich selten,
findet sich in ausgesprochener Weise nur bei Tarsius und beim
Geschlecht Lemur. Das Zustandekommen dieser Form ist an der
geringen Entfaltung des deuteromeren Abschnittes des Zahnes ge-
knüpft, der nur durch den Haupthöcker vertreten ist. Ob man es hier
mit primitiven Formen zu tun hat, scheint mir nicht so leicht zu ent-
scheiden zu sein. Ich meine, es empfiehlt sich, die Geschlechter, bei
denen diese einfache Molarenstruktur anwesend ist, zu trennen und
1) St. George Mivart, Note on the Crania and Dentition of the Lemuridae.
Proc. Zool. Soc. London 1864.
2) T. H. Huxley, On the Arctoeebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 314.
London 1864.
172 Fünftes Hauptstück.
Tarsius auf diese Frage gesondert vom Geschlecht Lomir zu unter-
suchen. Es scheint mir auf Grund der großen Übereinstimmung,
vermutlich wohl der Verwandtschaft, zwischen Tarsius und Anapto-
morphus, dn ebenfalls im Besitze dreieckiger Molaren war, nicht un-
annchmlich. daß der Zustand bei Tarsius ein primitiver ist. Aber, wie
ich früher schon ausführlich auseinandergesetzt habe, es fehlt ein
zuverlässiges Mitlei. um zu entscheiden, ob ein Zahn, an dem nur die
Pa Pi>
drei Haupthöcker entwickelt sind, also mit der Kronenformel — j~-
einen sehr ursprünglichen Zustand beibehalten hat oder auf dem Wege
der Vereinfachung sich findet und daher eine alte Gestalt aufs Neue
angenommen hat. Das gilt besonders für die Molaren vom Geschlecht
Lemur, von denen ich am meisten geneigt bin, letzteres anzunehmen.
Wir haben hier zu tun mit Formen mit stark verlängerter Schnauze,
auch der Unterkiefer ist infolgedessen sehr lang geworden, zwischen
den Prämolaren haben sich daher Diastemata entwickelt und die unteren
Molaren sind ziemlich in die Länge gezogen und schmal geworden.
Die Verlängerung d#r Schnauze, welche auch, nach den Untersuchungen
von Forsyth Mayor, die Verschiebung des Canalis laerymalis aus der
Orbita auf den fazialen Teil des Schädels zur Folge hat, macht ihren
Einfluß also auch auf die Unterkieferzähne geltend. Und wenn man
die Okklusions weise der beiden Gebißreihen näher untersucht, dann
scheint es, als hätten sich die oberen Molaren, durch Verlust des hinteren
lingualen Höckers und starker Ausbildung des Cingulum inklusive Cara-
bellisches Höckerchen, der Verlängerung der unteren Molaren angepaßt.
Es scheint mir also, was das Gebiß von Lemur betrifft, am annehm-
lichsten, die dreieckige Form als eine Reduktionserscheinung zu deuten,
wie es z. B. zweifelsohne der Fall ist beim zweiten oberen Molar des
Menschen, der bekanntlich nicht selten zum Dreihöckertypus redu-
ziert ist.
Die Molaren der übrigen Halbaffen sind mehr oder weniger vier-
eckig, da die hintere Nebenspitze vom Dcuteromer anwesend ist und
bei gewissen Geschlechtern (Indrisinae) dem Haupthöcker D sogar
schon an Umfang gleichkommen kann.
Der dritte Molar zeigt nicht selten eine deutliche Reduktion.
Fast immer ist er kleiner als die vorangehenden, verrät dazu durch
iU'n Verlust von Höckern seine geringere Beteiligung an der Gebiß-
aktion. Und es braucht kaum noch einmal besonders betont zu werden,
daß es die hintere deuteromere Nebenspitze ist, welche an diesem
Molar verloren geht. Immer wieder tritt von neuem die morphogene-
tische Ungleichwertigkeit dieser Nebenspitze mit den Haupthöckern
zutage. Die Reduktion des dritten Molaren kann sogar noch weiter
gehen, so daß nur die beiden primitiven Haupthöcker übrig bleiben.
Einen solchen Fall habe ich nicht beobachtet, aber Huxley (1. c,
S. 324) schreibt von Perodicticus potto: the third upper molar has a
transversaly elliptical crown which has only two cusps, the posterior
external and the posterior internal having disappeared".
Die beiden protomeren Nebenspitzen sind in ihrer Entwicklung
sehr variabel und die Entscheidung, ob sie da sind, wird oftmals von
persönlicher Auffassung abhängig sein. Es ist wohl merkwürdig, daß
die beiden protomeren Nebenspitzen in der ganzen Entwicklungs-
geschichte des Zahnes eine so untergeordnete Rolle spielen. Zur Charak-
Das Oberkiefergebiß der Primaten. 173
teristik, wenigstens der Molaren, tragen sie niemals bei. und das darf
wohl als der Grund angesehen werden, daß ihnen bis jetzt in den Ent-
wicklungstheorien der Zahnform keine Beachtung zuteil geworden
ist. Es scheint als hätte das Protomer mit der Ausbildung der Zwillings-
höcker Pa Pp bei den Primaten das höchst Erreichbare geleistet.
Bei anderen Säugern, z. B. Carnivoren, spielen die protomeren Neben-
spitzen eine ungleich wichtigere Rolle im Zustandekommen der Zahn-
form. Größere Verschiedenheit bieten dagegen die beiden deutero-
meren Nebenspitzen. Von dem Betragen des hinteren - - dem 4-
Höcker — sind wir bei den Prosimiae schon unterrichtet. Der
vordere -- der 3-Höcker — ist in seinem Entwicklungsgrad ziemlich
schwankend, bald fehlt er, wie bei Lemur, Tarsius, Nycticebus,
Cheirogaleus, bald ist er sogar kräftig entwickelt und verleiht dann
dem Molar ein charakteristisches Gepräge. So z. B. an dem ersten
Molar der Indrisinae, besonders von Indris (bei Avahis ist er auch noch
am zweiten Molar da), an dem er sich in der Mitte des Vorderrandes
erhebt. Unmittelbar fällt dann die Ähnlichkeit auf dieses Tuberkel
mit dem sogenannten vorderen Zwischenhöcker der eocänen Primaten,
die, wie an geeigneter Stelle erwähnt, in der Tat als die vordere deutero-
mere Nebenspitze betrachtet werden muß,
Von dem hinteren Zwischenhöcker an den Molaren der eocänen
Primaten habe ich bei der Besprechung dieser Gruppe meine Ansicht
schon ausgesprochen. Ich glaube, es ist ein Pseudotuberkel, ein Bil-
dungsprodukt, gleichsam eine Konzentrierung der hinteren schrägen
Schmelzkamme, welche vom Höcker D zum Höcker Pp zieht. An dieser
Stelle möchte ich noch kurz darauf zurückkommen, da, wie schon
mehrfach erwähnt, diese Bildung auch bei Halbaffen auftritt. Bei
Hemigalago zeigt die bezügliche Leiste in der Mitte eine geringe
Anschwellung. Diese Molaren sind jedoch so klein, daß sie kaum
als ein einspruchfreies Material zu verwerten sind. Glücklicherweise
besitzen wir jedoch in Hapalemur eine Form, die das Auftreten
des hinteren Zwischenhöckers der eocänen Primaten, auch bei re-
zenten Halbaffen, unumstößlich nachweist. Es sind von Hapa-
lemur zwei Spezies bekannt: Hapalemur griseus und Hapalemur
simus. Von Beddard sind die Schädel beider Arten einer eingehenden
Vergleichung unterzogen worden1). Es wurde dabei auch besonders
auf das Gebiß geachtet, und in vergrößertem Maßstabe bildet der Autor
einen Molar von Hapalemur simus ab, an dem der hintere Zwischen-
höcker in kräftiger Ausbildung zu sehen ist. Merkwürdig ist, daß dieser
Zwischenhöcker nach der Beschreibung und Abbildung von Beddard
nur bei Hapalemur simus vorkommen sollte, bei Hapalemur griseus aber
fehlt. Mir liegt ein junger Schädel vor, der, laut der Angabe, von einem
Hapalemur griseus herstammen soll2). Die Milchmolaren sind noch
nicht gewechselt, der erste permanente Molar ist schon völlig entwickelt,
hat sich aber offenbar an dem Kauakt noch wenig beteiligt. Über-
einstimmend mit der Abbildung von Beddard findet sich nun zwischen
dem Z)-Höcker und dem P/>-Höcker ein intermediäres Tuberkel, das
1) F. E. Beddard, Notes on the Broad-nosed Lemur (Hapalemur simus).
Proc. Zool. Soc, p. 121. London 1901.
2) Es sind an diesem Schädel nicht zwei, sondern zu jeder Seite drei Incisivi
anwesend. Es macht den Eindruck, als sei ein permanenter Incisivus zwischen den
beiden Milchincisivi durchgebrochen.
174
Fünftes Hauptstück.
die Crista obliqua vertritt. Ich möchte es dahingestellt sein lassen, ob es
sich hier um eine individuelle Variation innerhalb der Spezies Hapa-
lemur griseus handelt, oder ob der Schädel nicht von einem Hapa-
lemur griseus, sondern von einem Hapalemur simus stammt. Der Schädel
ist noch zu jung, um mit Hilfe der Beddardschen Beschreibung eine
Entscheidung zu treffen. Im Vorübergehen sei darauf aufmerksam
gemacht, daß Beddard eine nicht richtige Interprätation des Zwischen-
höckers gibt, den er als das hintere linguale Tuberkel bezeichnet.
Es kommt jetzt die Besprechung des Oberkiefergebisses der platyr-
rhinen Affen an die Keihe. Für die Bemerkungen mehr allgemeiner
Art, wozu diese Gebisse Anlaß geben, verweise ich auf die Besprechung
des Unterkiefergebisses. In der untenstehenden Tabelle trifft man
wieder, wie in jener der unteren Zahnreihe, die Angaben an sowohl
für das permanente Gebiß als für die lakteale Dentition. Die Formeln
des ersteren sind mit großen, jene des letzteren mit kleinen Buchstaben
geschrieben worden.
Kronenformel der oberen Zähne von Platy rrhinen.
P,
P P
J/, A/s M 3
I P 2
D
i pj
I P 2
I P 2
I P 2
~ D
i pa pp 2
d
I P 2
D
i pa pp 2
d 4
I P 2
Pa Pp
D
Pa Pp
D 4
I Pa Pp 2
Pa (Pp)
llapale {
D
I p 2
d
I P 2
D
Pa Pp
D4
i Pa Pp 2
Pa
Chrysothrix '
D
I p 2
d
I P 2
I p 2
d
P
D
I p 2
d
P
D
P
d
P
D
D
I p 2
D
d 4
I P 2
Pa
Mycetes •
D
I p 2
D4
i pa pp 2
D 4 (i)
i Pa Pp 2
D 4 (i)
Pa Pp
D4
Pa Pp
D4
Pa Pp
r>4
D
d
P
J)
I p 2
d
P
D
P_
d
P
d 4
P
D
pa pp 2
Pa(Pp)
Cebus \
D4
Pa Pp
D4(i)
Pa Pp
D 4
D
d4
P
Pa
D(4)
papp
d(4)
I P 2
D
Pa
D
D(4)
Vergleicht man die Kronenstruktur der oberen Zähne amerikani-
scher Affen mit jenen von Halbaffen oder eoeänen Primaten, dann trifft
uns wieder die nämliche Erscheinung wie bei den unteren Zähnen:
Das Oberkiefergebiß der Primaten. 175
die Krone hat im allgemeinen eine Vereinfachung erfahren. Dieselbe
tritt, den allgemeinen Regeln folgend, am stärksten im deuteromeren
Teil des Zahnes zutage und äußert sich z. B. darin, daß die vordere
Nebenspitze des Deuteromer (die Spitze 3) in keinem einzigen Zahn
des platyrrhinen Gebi^e^ mehr als normale Bildung vertreten ist.
Nur als Variation habe ich dieselbe am zweiten und dritten Milchmolar
von Cebus bisweilen beobachtet.
Was die Gebißreihe als ganzes betrifft, so ist ebenfalls eine Reduk-
tion zu konstatieren, nämlich die des dritten Molaren. Die beigefügte
Tabelle gibt die bekannte und, wie Bluntschli gezeigt hat, für die
Kenntnis der Beziehung der Gebißformation von Platyrrhinen und
Katarrhinen so überaus wichtige Tatsache kund, daß dieser Molar bei
den amerikanischen Affen durchgehends bis auf zwei Höcker reduziert
ist, der vordere Komponent des protomeren Zwillingshöcker und der
Haupthöcker vom Deuteromer. In individuell sehr variabler Ge-
staltung kann dann noch einer der beiden Distalhöcker — es sei jener
des Protomer oder jener des Deuteromer — spurweise anwesend sein.
Bemerkenswert ist es, daß bei den Arctopitheken, deren Molarenzahl
schon auf zwei verringert ist, ebenfalls die hintere dieser beiden eine
weitgebende Reduktion zeigt, der Zahn ist nicht nur auffallend
Fig. 61. Hapale jacchus.
kleiner als der erste Molor, sondern auch der hintere Komponent
des protomeren Zwillingshöckers kann bis auf winzige Spuren ver-
schwunden sein. Es erscheint uns als eine nützliche Einrichtung
des Gebisses, daß der Zahnwechsel bei diesen Formen erst seinen An-
fang nimmt nachdem die permanenten Molaren schon durchgebrochen
sind. Das zeigt z. B. die Fig. 61, welche nach dem Schädelchen eines
Hapale jacchus angefertigt worden ist. Die beiden permanenten Mo-
laren sind schon da, während vom Milchgebiß noch kein einziger Zahn
ersetzt worden ist. Solche Verhältnisse, welche gleichsam einen retar-
dierten Zahnwechsel darstellen, und welche man im allgemeinen bei
den Platyrrhinen antrifft, dürfen als fördernd betrachtet werden für
das Zustandekommen einer endgültigen Permanenz des dritten Milch-
molaren, d. h. der Entstehung einer katarrhinen Gebißformel.
Wenn wir uns jetzt zunächst der Betrachtung der Kronenform der
permanenten Zähne zuwenden, dann konstatieren wir, wie beim Unter-
kiefergebiß, die große Einförmigkeit in der Struktur sowohl der Prä-
molaren als der Molaren. Die Prämolaren bestehen fast ausschließlich nur
aus den Haupthöckern der beiden Odontomeren, wozu sich bisweilen noch
die protomeren Nebenspitzen gesellen können. Eine graduelle höhere
Entfaltung in distaler Richtung, wie eine solche noch bei den Halb-
affen zur Beobachtung kam, findet man bei den Platvrrhinen nicht
170 Fünftes Hauptstück.
mehr. Nur der dritte Prämolar von Mycetes hat -- obgleich nicht
immer - die hintere deuteromere Nebenspitze zur Entwicklung ge-
bracht. Sonst sind die Komponenten der Prämolarenreihe — abgesehen
von der etwas kräftigen Entfaltung, die der erste Prämolar bei einigen
Geschlechtern, z. B. Chrysothrix, zeigt — einander sehr ähnlich. Und
wie früher bekannt geworden ist, trifft das nicht nur für den Kronenteil
der Zähne zu, sondern gleichfalls für den Wurzelteil.
Aber obgleich in der Differenzierung der Kronenhöcker bei den
Prämolaren der amerikanischen Affen große Übereinstimmung besteht,
ist jedoch die Gestalt dieser Zähne bei den verschiedenen Geschlechtern
recht verschieden. So zeichnen sich z. B. die Arctopitheken und unter
den Cebidae das Geschlecht Chrysothrix durch eine mehr dreieckige
Gestalt der Krone scharf von der mehr viereckigen in transversaler
Richtung ausgezogenen Gestalt der meisten übrigen Geschlechter, aus.
Dazu kommt, daß bisweilen ein ziemlich stark entwickeltes Cingulum
an der lingualen Seite des Zahnes demselben ein typisches Gepräge
verleihen kann. Wie im allgemeinen Teil schon erwähnt, begegnet
uns ein solcher z. B. an den Prämolaren von Chrysothrix.
Die Molaren sämtlicher Platyrrhinen, mit Ausnahme der Arcto-
pitheken, stimmen durch den Besitz von vier Höckern miteinander
überein. Diese Übereinstimmung in der Höckerzahl besagt jedoch
nicht eine solche auch in der Kronengestalt. Denn, wie früher schon
ausführlich auseinandergesetzt worden ist, kann man gerade bei den
platyrrhinen Primaten einen bestimmt gerichteten Entwicklungs-
gang in der Kronenstruktur stufenweise verfolgen, welcher von der
mehr dreieckigen, in bukko-lingualer Richtung etwas verlängerten
Krone von Chrysothrix mit V-förmigem Leistenkomplex allmählich zu
den mehr regelmäßig viereckigen Kronen von Cebus überführt. Mycetes
und Ateles bilden zwei typische Zwischenstufen in diesem Entwick-
lungsgang, bei dem wir, abgesehen von der Umbildung des Leisten-
systems, die alternierende Stellung der Höcker, welche bei Chrysothrix
noch besteht, für eine opponierte Platz machen sehen. Solche Um-
bildungen in der Kronenstruktur lassen sich sehr schwierig in der
Kronenformel zum Ausdruck bringen. Wäre' das vielleicht noch mög-
lich mit Bezug auf die alternierende und opponierte Stellung der
Höcker, indem man in der Formel die Symbole der Höcker in gleicher
Stellung zueinander schrieb als die Höcker in der Krone einnehmen,
für die übrigen Details verzichtet diese Methode.
Es geben die Formeln der Mahlzähne, wie sie in obenstehender
Tabelle mitgeteilt sind, zu keinen besonderen Bemerkungen Anlaß,
nur ein paar Besonderheiten, welche als individuelle Variationen zu
gelten haben, verdienen eine spezielle Erwähnung. Zuerst sei auf die
Formel der Molaren bei Ateles und Mycetes aufmerksam gemacht.
Im ersten Molar des erstgenannten und in den beiden vorderen Molaren
des letztgenannten Geschlechts traf ich als individuelle Variation in
sehr deutlicher Entwicklung den hinteren intermediären Zwischen-
höcker an. Früher habe ich schon mitgeteilt, daß ich diese Spitze
auch bei Cebus angetroffen habe und dieser Fall ist auf Tafel III,
Fig. 14 zur Abbildung gebracht, Ich konnte die Anwesenheit dieser
Spitze jedoch nur einmal unter mehr als hundert Schädeln von Cebus
feststellen, so daß es sich dabei offenbar um eine sehr große Seltenheit
handelt. Weiter war selbst in diesem Fall die Zwischenspitze nur wenig
Das Oberkiefergebiß der Primaten. 177
kräftig entwickelt. Bei Mycetes traf ich dagegen den bezüglichen
Höcker ein paarmal in schöner Ausprägung nicht nur am ersten, sondern
auch am zweiten Molaren an, bei einem ziemlich beschränkten Material
(ungefähr 20 Schädel). Die Bildung scheint hier somit häufiger zu sein.
Einen meiner Fälle habe ich auf Tafel III, Fig. 15 reproduzieren lassen.
AVie man sieht, vertritt der Zwischenhöcker hier die Stelle, welche
bei anderen Individuen durch die Schrägleiste eingenommen wird,
welche vom Höcker D zum Höcker Pp zieht; darin ist ein weiterer
Beleg für die Richtigkeit meiner Behauptung zu erblicken, daß die
bei den eocänen Primaten ziemlich regelmäßig auftretenden hinteren
Zwischenhöcker nichts anderes ist als ein Bildlingsprodukt ik-^
Schmelzes von gleichem Wert als die hintere Schrägleiste. Dem übrigen
Höckersystem stellt sich deshalb die intermediäre Spitze als ein Pseudo-
höcker gegenüber. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der hintere
intermediäre Höcker bei den Platyrrhinen häufiger angelegt wird, als
man es auf Grund der Beobachtungszahl vermuten sollte. Denn ver-
folgt man die Zahnusur bei älteren und jüngeren Schädeln, dann scheint
gerade die hintere Schrägleiste am ehesten und am meisten bei Mycetes
abgeschliffen zu werden. Eine richtige Einsicht über die Häufigkeit
des Auftretens wird man somit erst bekommen können durch Unter-
suchung jüngerer Schädel. Das gleiche trifft auch für Ateles zu. An
den Schädeln etwas älterer Individuen vermißte ich den Zwischen-
höcker, aber wenn ich an einem jungen Schädel von Ateles ater die
noch ganz im Alveolus versteckte Krone des ersten Molaren auspräpa-
rierte, erhielt ich ein Produkt mit einem prachtvoll entwickelten, scharf
begrenzten Zwischenhöcker.
Ich habe schon mehrere Male die Bedeutung hervorgehoben,
welche das Auftreten des Zwischenhöckers in den Molaren der pla-
tyrrhinen Affen hat. Bei den eocänen Primaten gerade ein fast kon-
stantes Element der Mahlzähne bildend, war er bei den rezenten Pri-
maten bis jetzt unbekannt. Und das würde man geneigt sein können,
als ein Motiv anzuführen für eine trennende Kluft zwischen den eocänen
Primaten und den Platyrrhinen. Der Nachweis des gelegentlichen Auf-
tretens des Zwischenhöckers als individuelle Variation, welcher jetzt bei
drei Geschlechtern der platyrrhinen Affen gelungen ist, ist nun gerade
als ein wertvolles Argument für die entgegengestellte Behauptung zu
benützen. Mit vollem Recht darf man solche individuelle Variationen
als wichtige Zeugnisse für eine Verwandtschaft zwischen beiden Pri-
niatengruppen ins Feld führen. Daß die Zwischenhöcker im Laufe
der Zeit im Primatengebiß allmählich geschwunden sind, ist wohl
als eine Teilerscheinung jenes mehr allgemeinen Vorganges zu deuten.
auf welche wiederholt die Aufmerksamkeit gelenkt ist, daß nämlich
der Hauptcharakter des Entwicklungsganges des Primatengebisses
während der tertiären Periode besteht in einer Vereinfachung des
Kronenreliefs, verknüpft mit der Tendenz der hinteren deutomeren
Nebenspitze, den Haupthöckern in der Entwicklung gleichzukommen.
Eine zweite Besonderheit am Gebiß der Platyrrhinen ist die
Entwicklung des Carabellischen Höckerchens, welches man z. B.
an den Molaren von Chrysothrix konstant, an solchen von Cebus
als individuelle Variation zu konstatieren vermag. Auf diese Tatsache
habe ich in dem besonderen Abschnitt, worin von dieser Bildung die
Rede ist, schon ausdrücklich hingewiesen. Sie wird hier nur der Voll-
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 12
178 Fünftes Hauptstück.
ständigkeit wegen erwähnt. Für die Bedeutung derselben sei auf den
bezüglichen Abschnitt hingewiesen.
Es erübrigt sich, jetzt noch die Kronenformel der Milchzähne einer
kurzen Betrachtung zu unterwerfen. Aus einer Vergleichung der
Kronenformel der Milchmolaren und deren Ersatzzähne im Unter-
kiefer war die große Übereinstimmung hervorgegangen in der Kronen-
struktur dieser Elemente aus den zwei Gebißreihen. Gleiches gilt
für die übereinstimmenden Zähne des Unterkiefers. Nur der dritte
Milchmolar weicht durch eine etwas komplizierte Struktur von seinem
Ersatzzahn wesentlich ab. Was die beiden ersten Milchmolaren da-
gegen anbetrifft, besitzen diese, wie die beiden ersten Prämolaren,
fast ausnahmslos die Haupthöcker P und D der beiden Odontomeren.
Es ist der Z)-Höeker am ersten Milchmolaren geringer entwickelt
als am zweiten, und auch wohl als am ersten Prämolaren, aber er ist
immerhin als wohl differenzierter Höcker zu unterscheiden. Am meisten
ähneln sich der zweite Milchmolar und der zweite Prämolar. Ersterer
hat eine etwas mehr dreieckige Krone.
Wesentliche Differenzmerkmale bietet aber der Wurzelteil der
Zähne, wie aus den Fig. 53 — 57 ersichtlich. Bei der Besprechung des
Unterkiefergebisses ist der Erscheinung Erwähnung getan, daß die
Wurzelzahl der Zähne bei den Platyrrhinen eine allgemeine Tendenz
zur Verminderung zeigt. Es ist natürlich nicht zu sagen, ob nicht
einmal alle obere Milchmolaren bei den Stammeltern der heutigen
Platyrrhinen im Besitze von drei Wurzeln waren, wie es heute tat-
sächlich beim Geschlecht Cebus noch der Fall ist, wie aus der Textfig. 55
erhellt. Aber soviel ist sicher, daß wenigstens der zweite und dritte
Milchmolar der rezenten Formen im Besitze von drei Wurzeln sind,
wodurch speziell dem zweiten Milchmolar ein wichtiges Differenz-
merkmal mit dem sonst so ähnlich aussehenden zweiten Prämolar
gegeben ist. Bei Mycetes (Fig. 56) und stärker noch bei Chrysothrix
(Figr. 54) zeigen die beiden bukkalen Wurzeln unverkennbar die Neigung
sich zu verbinden. Der dritte Milchmolar ist bei allen Platyrrhinen
ein wesentlich molariformer Zahn, d. h. der protomere Haupthöcker
hat sich als Zwillingshöcker differenziert. Und als weitere progressive
Differenzierung kann auch die hintere Nebenspitze des Deuteromer
noch hinzukommen, wie bei Chrysothrix oder Cebus.
Schließlich werden wir die Kronenformel der oberen Zähne der
altweltlichen Affen, sowie des Menschen einer kurzen Besprechung
widmen. In untenstehender Tabelle finden sich die wichtigsten Daten
niedergelegt. Es sind darin die Form ein der Milchzähne wieder mit kleinen
Buchstaben geschrieben worden. Es sind in dieser Tabelle die Daten
für die verschiedenen Geschlechter der Cercopithecidae nicht gesondert
vermeldet worden, weil solches nur zu Widerholungen Anlaß geben
würde. Die ganze Gruppe der Cercopithecidae zeigt in der Kronen-
struktur der oberen Zähne eine so große Übereinstimmung, daß es
nur die Form der Höcker, die Ausbildung der Kämme und die Maß-
verhältnisse der Krone sind, welche die Gestalt der Krone inner-
halb dieser Gruppe verschieden macht. Es ist deshalb in der Tabelle
die Gruppe als Ganzes angeführt worden. Zwar sind hin und wieder
Differenzen untergeordneter Art zu verzeichnen, welche sich jedoch
meistenfalls als individuelle Variationen erweisen. So z. B. ist nicht
Das Oberkiefergebiß der Primaten.
179
selten der erste Milchmolar am mesialen Ende des bukkalen Randes
mit einer niedrigen Spitze ausgestattet, welche als die vordere proto-
mere Nebenspitze gedeutet werden muß. Weiter findet man nicht selten
auch bei den Molaren der Hundskopfartigen, am Vorderrande die
Andeutung dieser Nebenspitze, ja es ist sogar die vordere deuteromere
Nebenspitze bisweilen zu geringer Entfaltung gelangt. Doch sind
Kronenformel der oberen Zähne katarrhiner Primaten.
A
p,
Mx
M,
M,
P
p
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
Cercopitbecidae . . .
D
pa pp
d 4
D
pa pp
d 4
D 4
D 4
D 4
P
P
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
D
P
d
D
pa pp
d 4
D 4
D 4
D 4
P
P
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
Orang
D
P
d
D
pa pp
d 4
D 4
D 4
D 4
P
P
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
Schimpanse ....
D
I P 2
D
pa pp
d 4
D 4
D 4
D 4
d
P
P
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
Gorilla
D
I P 2
D
pa pp
d 4
D 4
D 4
D 4
d
P
P
Pa Pp
Pa Pp
Pa Pp
D
i pa pp
D
pa pp
d 4
D 4
D 4
D 4
diese Erscheinungen so wechselnder Natur, daß sie schwierig als Diffe-
renzmerkmale zwischen den verschiedenen Geschlechtern dieser Gruppe
zu verwerten sind.
Es besteht zwischen den oberen Molaren der Cercopithecidae
und Anthropoidae eine größere Übereinstimmung als zwischen den
unteren Mahlzähnen beider Gruppen. Denn im allgemeinen zeichnet
sich der untere Molar der Anthropomorphen inklusive Hylobates be-
kanntlich durch den Besitz von fünf Höckern aus. während bei den
Cercopithecidae diese Zähne nur mit vier Höckern ausgestattet sind
und nur der dritte Molar bisweilen einen fünften Höcker trägt. Die
12*
180 Fünftes Hauptstück.
oberen Molaren dagegen sind sowohl bei Cercopithecidae als Anthro-
poidae vierhöckerig, und nur die Stellung der Höcker hinsichtlich
einander ist verschieden, bei der letztgenannten Gruppe stehen sie
alternierend, bei der erstgenannten in opponierter Stellung. Daß
letzterer Zustand der mehr spezialisierte oder mehr progressive ist,
habe ich schon vorher bei der Behandlung der Unterkiefermolaren
zu begründen versucht und auch auf die Beziehung hingewiesen, welche
zwischen der Spezialisierung im Ober- und Unterkiefergebiet besteht.
Ein weiteres Beispiel dieser Korrelation in dem Entwicklungs-
gang oberer und unterer Zähne glaube ich in dem Verhältnis erblicken
zu dürfen, welches beim Menschen der zweite obere Molar uns bietet.
Ich muß dazu anfangen, auf die Variabilität hinzuweisen, welche der
zweite untere Molar des Menschen zeigt. Im Gegensatz zu den Anthro-
pomorphen ist beim Menschen der genannte Zahn in überaus den
meisten Fällen nur vierhöckerig. Für die Details verweise ich auf den
bezüglichen Abschnitt, in dem von dieser Erscheinung ausführlich
die Rede war.
Es ist nun gewiß bemerkenswert, daß bekanntlich auch der
zweite obere Molar unverkennbar Neigung zeigt zur Reduktion, da er in
ungefähr der Hälfte der Fälle, statt vierhöckerig zu sein nur drei Höcker
besitzt. Seinerzeit hat Cope die Ansicht vertreten, daß solche Zähne
den primitiven Typus repräsentieren und mit der Molarenform der
Lemuren in Zusammenhang gebracht werden sollten. Gegen diese
Ansicht ist jedoch schon mehrfach Widerspruch erhoben. Ich schließe
mich in dieser Frage der Meinung u. a. Adloffs an1), daß dreihöckerige
obere Mahlzähne des Menschen sicherlich auf Reduktion beruhen.
Diese Reduktion verläuft in ganz regelmäßiger und dem Entwicklungs-
gang der Krone entsprechender Weise. Denn es ist wieder die hintere
linguale Spitze, die ursprünglich distale Nebenspitze vom Deuteromer,
welche verschwindet. Nun trifft man bei Untersuchung an einem
größeren Material bisweilen den Fall, daß der zweite Molar stärker
reduziert ist als der dritte, eine Erscheinung, der man am Unterkiefer
ungemein viel häufiger begegnet. Daß im Oberkiefer solche Fälle
vorkommen, ist an sich jedoch schon ein hinreichender Beweis, daß
auch an dieser Gebißreihe zwei Reduktionsvorgänge im Gebiete der
Molaren tätig sind: Verkürzung der Gebißreihe und Vereinfachung
der Kronenstruktur. Und nun erhebt sich die Frage, ob die Verein-
fachung, welche am zweiten oberen Molar zu konstatieren ist. nicht
mit jener am zweiten unteren in korrelativer Beziehung steht. Ich be-
schränke mich an dieser Stelle auf die Fragestellung, hoffe im nächst-
folgenden Heft näher auf diese Frage einzugehen.
Was die Kronenformel der Prämolaren der Anthropomorphen
betrifft, möchte ich noch einmal wiederholen, daß dieselben, wie sie
sich in der Tabelle finden, nur den meist vorkommenden Zustand
wiedergeben. Nicht selten trifft man im Oberkiefer dieser Affen Prä-
molaren, welche deutlich die Anlage und teilweise Ausbildung noch
zweier Höcker sehen lassen, wodurch sie sich der Molarenfonn etwas
nähern. Besonders bei Gorilla ist solches der Fall.
Was die Milchmolaren betrifft, sei nur kurz die bekannte Tat-
sache hervorgehoben, daß beim Menschen dieser Zahn eine höhere
1) Das Gebiß des Menschen und der Anthropomorphen, S. 95.
Das Oberkiefergebiß der Primaten. 131
Entwicklungsstufe aufweist als bei den Anthropomorphen. Für die
Bedeutung dieser Tatsache verweise ich auf das beim Unterkiefer-
gebiß Gesagte.
Ich wünsche hiermit diese zweite Studie zu beendigen. Ich gebe
mich der Hoffnung hin, daß die Richtigkeit der Prinzipien, welche
meiner Auffassung über die Entstehung und Differenzierung der Pri-
matenzähne zugrunde liegen, durch diese systematische Bearbeitung
des Primatengebisses wesentlich fester begründet worden ist. J);is
Gebiß der Primaten hat sich gerade durch seine ganz regelmäßige
Anordnung, die sukzessive Aufeinanderfolge einer immer mehr kom-
plizierten Kronengestalt in den Gebißreihen als ein besonders be-
quemes Untersuchungsobjekt erwiesen, um die Entwicklung der kom-
pliziert gebauten Zähne zu verfolgen. Und es scheint mir dabei nicht
ohne Bedeutung für die Richtigkeit meiner Anschauungen zu sein, daß
ich für die Erklärung der besonderen Zahnformen keine Hilfshypothesen
anzuwenden genötigt war. Ein einziger Gesichtspunkt genügt, um
die Entstehung der so verschiedenen Varianten begreiflich zu machen:
alle Zähne entstammen einem vollständig gleichwertigen Keim, und
dieser Keim enthält potentia die Anlage zweier dreispitziger Zähne.
Dieses Prinzip, wozu ich ebenfalls in der ersten Studie gekommen
war. hat sich in der vorliegenden als eine fest begründete Basis der
Dimertheorie des Säugergebisses erwiesen, und als ein sicherer Weg-
weiser auf das an Frage erregenden Erscheinungen so fruchtbare
Gebiet des Primatengebisses. Und ich bin überzeugt, daß das näm-
liche Prinzip mit nicht weniger gutem Erfolg als Anleitung bei dem
systematischen Studium der Gebisse auch anderer Säugergruppen zu
verwenden sein soll.
Druck von Anton Kämpfe in Jena.
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzäh)
9(7. Ateles.
9£. Ateles.
1. Tarsius. 2. Microcebus. 3. Lemur.
6. Nycticebus. 7. Hemigalago.
12. Gorilla. 13. Schimpanse. 14. Orani
4. Hapale.
20. Cebus. 21. Semnopithecus. 22. Mac;
I Pd P,
P X
10. Siamang. 11. Homo.
15. Avahis.
16. Propithecus. 17. Indris. 18. Mycetes. 19. Nyctipitheci
icacus. 23. Cynocephalus
Fig. 1 (1-24).
Verlas von G
Tafel I.
Fig. 4. Erster unterer Molar
von Pithecia. Vergr. 6 fach.
2. Pithecia. Milchgebiß.
Vergr. 3 fach.
Fig. 5. Mycetes.
Fig. 3. Pithecia. Milchgebiß.
Vergr. 3 fach.
Fi". 6. Mycetes. Milchgebiß.
eher in Jena.
Bolk, Die Morphogenie </>■>■ Primatenzähne.
Fig. 8. Mycetes. Milchgebiß.
Fig. 7. Mycetes.
Fig. 9.
Verlag von
Tafel IL
Ateles.
\n) '"■>
JA
Mycetes
n
(Vliiis.
Chrysothrix.
Hapale.
j\ ü %% &%
Bnnopithecus.
Inuus.
Schimpanse.
Gorilla.
'X „
h.
Orans
Siamang.
Homo.
V
u\
IN/ lo.
fo-a\ /oo\
Fig. 10.
f(l(]\
^1 [0 Q)
CUiJ
eher in Jena.
Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne.
Fig. 11. 0 ran s:.
Fig. 12. Schimpanse.
Tafel III.
Fig. 13. Siamang.
Fig. 14. Cebus.
Fig. 15. Mycetes.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Vergleichende Anatomie des menschlichen
Gebisses und der Zähne der Vertebraten.
Von
Dr. Paul de Terra,
vorm. Zahnarzt in Zürich.
Mit 200 Abbildungen im Text. 1911.
Preis: broschiert 12 Mark, gebunden 13 Mark.
Inhaltsverzeichnis: Einleitung: Terminologie. — Allgemeine Entwicklungs-
geschichte. — Zoologische Einteilung der Vertebraten. — Bedeutung des Tier-
systems. — Zeitliche Verbreitung der Tiere. — I. Abschnitt: Kopf- und Mund-
höhle. Schädel der Vertebraten. — Schädel der Säugetiere. — Kieferapparat der
Vertebraten. — Anatomie des Kauapparates. — - Entwicklung der Mundhöhle. —
Wachstum der Kieferknochen. — Verknöcherung und Verkalkung. — II. Ab-
schnitt: Die Zähne im allgemeinen. Bedeutung der Zähne. — Vorkommen
der Zähne. — Anordnung der Zähne. — Zahl der Zähne. — Form der Zähne. —
Ursprung der Zahnformen. — Entwicklung der Zahnformen. — Übergang der
Zahnformen. — Homologie der Zähne. — Makroskopischer Bau der Zähne. —
Mikroskopischer Bau der Zähne. — Entwicklung der Zähne: Zahnentwicklung der
Säugetiere. — Zahnentwicklung der niederen Vertebraten. — Zahnentwicklung der
Fische. — Zahnentwicklung der Amphibien. — Zahnentwicklung der Reptilien. —
Dentition: Dentition der Vertebraten. — Mechanismus des Durchbruches. — Erste
Dentition beim Menschen. — Zweite Dentition beim Menschen. — Dritte Dentition.
— Reduktion des Gebisses. — Höcker der Molaren. — Überzahl der Zähne. —
Heredität. — Chemische Zusammensetzung der Zähne. — Nerven und Gefäße der
Zähne. — Befestigung der Zähne. — Die Zahnformel. — III. Abschnitt: Die
Zähne nach den Klassen des Tierreiches. 1. Klasse: Die Fische. —
2. Klasse: Die Amphibien. — 3. Klasse: Die Reptilien. — 4. Klasse: Die Vögel.
— 5. Klasse: Die Säugetiere. — Das Gebiß der Affen im Vergleiche zum mensch-
lichen. — Die Bezahnung des Menschen. — Literaturverzeichnis (mit ca. 3000 Titeln).
— Register.
Zoologisches Zentralblatt, 18. Jahrg., Nr. 16/17 v. 10. Nov. 1911:
. . . Das Buch stellt ein gutes Nachschlagewerk für odontologische Fragen dar,
zumal durch die klare und reiche Gliederung und das ausführliche Register seine Handlich-
keit wesentlich erhöht wird. M. Hilzheimer (Stuttgart).
Roux' Archiv f. Entwicklungsmechanik:
. . . ein im Verhältnis zu seinem Umfange ganz ungewöhnlich reichhaltiges und
brauchbares Nachschlagewerk, dessen Wert noch durch ein etwa 3000 Nummern ent-
haltendes Literaturverzeichnis gesteigert wird, das auch den Anfänger rasch in den Stand
setzen dürfte, sich über den Rahmen des Buches hinaus über speziellere Fragen zu
unterrichten. F. A. M. W. Gebhardt.
Österreich. -ungar. Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde, Januar 1912:
. . . eine Lektüre, welche nicht bloß an sich reichlichen Genuß bringt, sondern
auch durch die allgemein bildende Erweiterung des Gesichtskreises die Berufsfreude hebt
und der mühseligen Einzelarbeit neue Beziehungen eröffnet, die nicht zuletzt für das
praktische Handeln selbst befruchtend und richtunggebend sind.
Es sei daher das gewissenhaft und umsichtig abgefaßte, vom Anfang bis
zum Ende durchaus anregend geschriebene und gediegen ausgestattete Buch nicht
bloß dem Wissenschaftler, in dessen Bibliothek es selbstverständlich gehört,
sondern insbesondere auch dem Praktike: wärmstens empfohlen.
B. Mavrhofer.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
7nnlnnicrhoc Wnrtprhimh Erklärung der zoologischen Fachausdrücke.
Z.UUIUyibWlbb WUrierUUUI. Zum Gebrauch beim Studium zoologischer,
anatomischer, entwicklungsgeschichtlicher und naturphilosophischer Werke.
Verfaßt von Prof. Dr. E. Bresslau in Straßburg i. E. und Prof. Dr. H. E. Ziegler
in Stuttgart, unter Mitwirkung von Prof. J. Eichler in Stuttgart, Prof. Dr.
E. Fraas in Stuttgart, Prof. Dr. K. Lampert in Stuttgart, Dr. Heinrich
Schmidt in Jena und Dr. J. Wilhelmi in Berlin, revidiert und heraus-
gegeben von Prof. Dr. H. E. Ziegler in Stuttgart. Zweite vermehrte und
verbesserte Auflage. Mit 595 Abbildungen im Text. (XXI, 737 S. gr. 8°.)
1912. Preis: 18 Mark, geb. 19 Mark.
Die erste Auflage des „Zoologischen Wörterbuches" erschien 1907 — 1910.
Wenige Monate nach der Vollendung war das Werk im Buchhandel schon ver-
griffen. Diese Tatsache beweist die Brauchbarkeit und Nützlichkeit des Buches.
Die zweite Auflage enthält über 5500 Artikel.
Neue Weltanschauung, 1913, Heft 2.
Die gemeinsame Arbeit dieser Herren hat unter der Leitung von Prof. Ziegler e i n
Werk geschaffen, das des höchsten Lobes würdig ist und das berufen er-
scheint, der Wissenschaft große Dienste zu leisten. Es erleichtert das
Studium selbst schwieriger Fachwerke und macht sie weiteren
Kreisen überhaupt erst zugänglich. Möge es auch in seiner neuen Gestalt
viele Freunde finden und fleißig benutzt werden.
Ans der Heimat, 1908, 5. Heft.
Wer sich eingehender mit zoologischen Studien abgegeben, ja, wer auch nur eines
der vielen narurphilosophischen Werke der Neuzeit mit Nutzen lesen will, braucht ein
solches Wörterbuch unbedingt.
Lehrbuch der vergleichenden mikroskopischen Anatomie der
Wirholfioro 1° Verbindung mit Prof. Dr. Aman n- München, Prof. Ball owitz-
",ruemere' Münster i. W., Prof. Dr. Disselhorst-Halle a. S., Prof. Dr.
v. Eggeling-Jena, Dr. V. Franz-Leipzig, Prof. Dr. Hoyer-Krakau, Prof.
Dr. R. Krause-Berlin, Prof. Dr. Boll-Berlin, Prof. Dr. Reinke- Rostock, Dr.
P. Röthig-Charlottenburg, Prof. Dr. Schaffer-Graz, Dr. Stud nicka- Brunn,
Prof. Dr. Szymonowicz-Lemberg, Prof. Dr. Tand ler- Wien, Prof. Dr.
Ziehen- Wiesbaden, Prof. Dr. Zimmermann-Bern. Herausgegeben von Prof.
Dr. med. Albert Oppel in Halle a. S.
1. Teil: Der Magen. Von Prof. Dr. A. Oppel, Mit 275 Abbildungen im
Text und 5 lithogr. Tafeln. 1896. Preis: 14 Mark.
2. Teil: Schlund und Darm. Von Prof. Dr. A. Oppel. Mit 443 Ab-
bildungen im Text und 4 lithogr. Tafeln. 1897. Preis: 20 Mark.
3. Teil: Mundhöhle, Bauchspeicheldrüse und Leber. Von Prof. Dr. A.
Oppel. Mit 679 Abbildungen im Text und 10 lithogr. Tafeln. 1900. Preis: 36 Mark.
4. Teil: Ausführapparat und Anhangdrüsen der männlichen Geschlechts-
organe. Von Dr. Rudolf Disselhorst, Prof. der Universität Halle a. S. Mit
435 Abbildungen im Text und 7 lithogr. Tafeln. 1904. Preis: 20 Mark.
5. Teil: Die Parietalorgane. Von Dr. F. K. Studnicka, Brunn. Mit
134 Abbildungen im Text und 1 lithogr. Tafel. 1905. Preis: 8 Mark.
6. Teil: Atmungsapparat. Von Prof. Dr. med. Albert Oppel. Mit
364 Abbildungen im Text und 4 lithogr. Tafeln. 1905. Preis: 24 Mark.
7. Teil: Sehorgan. Von Prof. Dr. phil. V. Franz, Leipzig-Marienhöhe.
Mit 431 Abbildungen im Text. 1913. Preis: 18 Mark.
8. Teil: Die Hypophysis Cerebri. Von Dr, phil. Walter Stendell,
Frankfurt a. M. Mit 92 Abb. im Text. (VIII, 168 S. gr. 8°.) 1914. Preis: 8 Mark.
Vergleichung des Entwicklungsgrades der Organe SCh"edenen
Entwicklungszeiten bei Wirbeltieren. Von Prof. Dr. Albert Oppel. (IV,
181 S. gr. 8°.) 1891. Preis: 7 Mark.