Skip to main content

Full text of "Die Morphogenie der Primatenzähne : eine weitere Begründung und Ausarbeitung der Dimertheorie"

See other formats


ODONTOLOOISCHE  STUDIEN    II 


DIE  MORPHOGENIE 
DER  PRIMATENZÄHNE 

EINE  WEITERE   BEGRÜNDUNG    UND 
AUSARBEITUNG  DER  DIMERTHEORIE 

VON 

PROF.  DR.  L.  BOLK 

DIREKTOR  DES  ANATOMISCHEN  INSTITUTS  DER  UNIVERSITÄT  AMSTERDAM 


-w~ 


\SI4- 


West  Virginia  University  Libraries 

VIPIfHIIlRIIIII 

3  0802  101932001  4 


ffCS 
- 


F. 


ODONTOLOOISCHE   STUDIEN    II 


DIE  MORPHOGENIE 
DER  PRIMATENZÄHNE 

EINE  WEITERE    BEGRÜNDUNG    UND 
AUSARBEITUNG  DER  DIMERTHEORIE 

VON 

PROF.  DR.  L.  BOLK 

DIREKTOR  DES  ANATOMISCHEN  INSTITUTS  DER  UNIVERSITÄT  AMSTERDAM 

MIT  61   ABBILDUNGEN  IM  TEXT  UND  3  TAFELN 


JENA 

VERLAG  VON  GUSTAV  FISCHER 

1914 


^3? 

wY 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Vorwort. 


Die  zweite  meiner  odontologischen  Studien  bildet  gewissermaßen 
eine  Fortsetzung  der  ersten  und  schließt  sich  dann  auch  ihrem  Inhalt 
nach,  unmittelbar  letzterer  an.  Dennoch  trägt  der  Inhalt  der  vor- 
liegenden einen  ganz  anderen  Charakter.  Die  erste  Studie  hat,  der 
Hauptsache  nach,  zwei  Probleme  zum  Gegenstand.  Erstens  die  Onto- 
genese des  Säugerzahnes  und  zweitens  die  Beziehung  zwischen  dem 
Gebiß  der  Eeptilien  und  der  Säuger.  Beide  Probleme  stehen  im  un- 
mittelbaren Zusammenhang  miteinander.  Und  in  jener  Studie  habe 
ich  mich  bemüht  die  Ansichten,  wozu  ich  auf  Grund  mehrjähriger 
Untersuchung  bezüglich  der  genannten  Probleme  gelangt  war,  in  knapper 
Form  mitzuteilen.  Es  wurde  dabei  hauptsächlich  von  ontogenetischen 
Beobachtungen  an  Primaten-  und  Reptiliengebissen  Ausgang  genommen. 
Als  wichtigstes  Ergebnis  dieser  Untersuchungen  gelangte  ich,  was  die 
Entstehung  des  Säugerzahnes  betrifft,  zu  Ansichten,  welche  ich  kurzhin 
als  die  Dimertheorie  der  Zähne  zusammengefaßt  habe. 

Die  vorliegende  Studie  nun  hat  den  Zweck,  das  Gebiß  der  Pri- 
maten von  den  Prinzipien  aus,  welche  in. dieser  Theorie  niedergelegt 
sind,  zu  beleuchten.  Diese  Untersuchung  wurde  jedoch  nicht  a  posteriori 
angestellt;  denn  ehe  ich  zum  Niederschreiben  meiner  theoretischen 
Ansichten  überging,  waren  die  vergleichend  anatomischen  Unter- 
suchungen, welche  in  der  vorliegenden  Studie  mitgeteilt  werden,  schon 
zum  größten  Teile  fertig.  Und  die  Konzipierung  meiner  Theorie  stützte 
sich  daher  nicht  allein  auf  ontogenetische  Beobachtungen,  sondern 
auch  auf  morphologische  Erscheinungen,  welche  das  Gebiß  der  Pri- 
maten bot.  Für  eine  Begründung  und  Darstellung  meiner  Theorie 
eigneten  sich  aber  ontogenetische  Beobachtungen  weit  besser  als  morpho- 
logische Zustände.  Daher  war  in  der  ersten  Studie  nur  von  jenen  die 
Rede.  Diese  zweite  Studie  nun  hat  die  ausgebildeten  Zahnformen 
der  Primaten  zum  Gegenstand.  Es  wird  hierin  versucht,  diese  Formen 
in  ihrer  historischen  Entwicklung  verständlich  zu  machen  mit  Hilfe 
der  Dimertheorie. 

Es  stellt  somit  die  vorliegende  Studie  eine  Vervollständigung 
der  ersten  dar,  insoweit  jene  sich  mit  der  Genese  der  Zahnformen  be- 
schäftigt. Über  das  zweite  der  dort  besprochenen  Probleme:  die  Be- 
ziehung zwischen  Reptilien-  und  Säugergebiß,  wird  in  der  vorliegenden 
Studio  nicht  gesprochen.  Das  bliebe  für  eine  der  folgenden  Studien 
vorbehalten,  denn  die  dritte  wird,  ihrem  Inhalt  nach,  sich  wieder 
enger  an  die  zweite  anschließen.  Ich  beabsichtige  darin,  die  Anomalien 
in  Zahnform  und  Gebißkonstruktion  der  Primaten  systematisch  ab- 
zuhandeln unter  Benutzuno;   des  im  hiesigen  Institut  sich   findenden 


IV  Vorwort. 

außerordentlich  reichhaltigen  Materials.  Wir  werden  dabei  besonders 
die  Relation  zwischen  den  anomalen  Zahnformen  und  den  Prinzipien 
der  Dimertheorie  betonen. 

Es  bildet  -  -  wie  aus  dem  Obenstehenden  hervorgeht  —  diese 
zweite  Studie  mit  der  ersten  eine  Einheit.  Ich  möchte  auf  diese  Tatsache 
besonderen  Nachdruck  legen.  Denn  es  folgt  hieraus,  daß  eine  frucht- 
bare kritische  Beurteilung  meiner  Theorie  erst  nach  Kenntnisnahme 
des  Inhalts  beider  Studien  gegeben  werden  kann.  Zwar  bildet  auch 
die  nächstfolgende  einen  integrierenden  Bestandteil  meiner  Arbeit 
über  die  Zahnformen,  ein  Urteil  über  meinen  Standpunkt  läßt  sich 
aber  schon  ganz  gut  gewinnen  aus  diesen  beiden  ersten  Heften. 

Die  vorliegende  Arbeit  zerfällt  in  zwei  Unterteile.  Im  ersten 
Teil  ist  die  Entwicklung  der  Zahnformen  der  Primaten  im  allgemeinen 
verfolgt  und  dargestellt  worden,  wie  sich  allmählich  aus  der  einfachen 
Zahnform  durch  Aktivierung  der  morphogenetischen  latenten  Potenzen, 
welche  in  jedem  Zahnkeim  seiner  dinieren  Natur  gemäß  enthalten  sind, 
die  mehr  komplizierte  Zahnstruktur  herausgebildet  hat.  Der  zweite 
Teil  beschäftigt  sich  mit  dem  Gebiß  der  Primaten  als  Ganzes.  Hier 
ist  versucht  worden,  die  phylogenetischen  Abänderungen  und  Speziali- 
sierungen systematisch  zu  verfolgen,  welchen  das  Primatengebiß  unter- 
worfen gewesen  ist.  Hierbei  konnten  kurze  Bemerkungen  über  stammes- 
geschichtliche Fragen  nicht  ganz  umgangen  werden.  Ich  habe  mich 
jedoch  möglichst  bemüht,  die  auf  Beobachtung  fußenden  Tatsachen 
auf  den  ersten  Plan  zu  stellen  und  niemals  Meinung  oder  Behauptung 
im  Kleide  einer  Tatsache  zu  stecken. 

Amsterdam,  Februar  1914. 


Inhalt. 


Seite 

Vorwort III- VIII 

Allgemeiner  Teil. 

Die  Entwicklung'  der  einzelnen  Zahnformen. 

Einleitende  Bemerkungen 1  —  4 

Erstes  Hauptstück. 

Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne 5  —  96 

A.  Die  Dreihöcker phase. 
Der  kegelförmige  Zahn  ist  nicht  notwendig  als  der  meist  primitive 
zu  betrachten  (5).  Es  tritt  diese  Form  nicht  selten  als  Anpassungs- 
erscheinung auf  (6).  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  das  Grundelement  des 
Säugerzahnes  ein  dreispitziges  Gebilde  war  (7).  Der  dreispitzige  Rep- 
tilienzahn ist  nicht  durch  Verwachsung  entstanden  (7).  Roses  Unter- 
suchung über  die  Zahnentwicklung  von  Chamäleon  (8).  Burckhardts 
Kritik  auf  diese  Untersuchung  (8).  Unzulänglichkeit  der  Röseschen 
Beobachtungen  als  Beweis,  daß  die  Trikonodontie  durch  Verwachsung 
entstanden  ist  (8).  Die  Theorie  von  Mar eth  Tims  über  die  Entstehung 
der  Molaren  (9).  Harrisons  Stellungnahme  in  der  Konkreszenzfrage 
in  Hinsicht  auf  die  Zähne  von  Hatteria  (9).  Kükenthals  Ansicht  über 
die  Entstehung  der  Trikonodontie  und  deren  Begründung  (10).  Depen- 
dorfs  Kritik  zur  Kükenthalschen  Meinung  (11).  Die  Bezeichnungs- 
weise der  Höcker  und  Spitzen  (11).  Begriff  und  Anwendung  von  Kronen- 
formel (12).  Die  Wing eschen  Kronenformeln  (12).  Die  Bezeichnung 
der  Wurzel  (13).  Die  Formel  des  primitiven  Zahnes  (13).  Die  erste 
Differenzierung  der  mesozoischen  Säugerzähne  ist  eine  Wurzelverdoppe- 
lung (13).  Osborns  Entwicklungsstufen  des  Trituberculartypus  (13). 
Die  Beziehung  der  Schmelzorgane  zur  Wurzelbildung  und  die  Ursache 
der  Wurzelverdoppelung(14).  Die  genetische  Bedeutung  der  Wurzeln(lß). 
An  den  Zähnen  der  ältesten  triassischen  Säuger  ist  von  einer  Dimerie  noch 
nichts  zu  sehen  (17).  Diese  Tatsache  steht  nicht  in  Widerspruch  zum  Prin- 
zip meiner  Theorie  (17).  Die  Bedeutung  des  lingualen  Cingulum  an  den 
Zähnen  der  Trikonodonten  (18).  Kommt  die  primitive  trikonodonte 
Zahnform  noch  bei  den  Primaten  vor?  (18). 

B.  Die  Sechs h öcker phase. 
Die  Transgressionshypothese  der  Trituberculartheorie  (19).   Die  Un- 
richtigkeit derselben  auf  Grund  embryologischer  Tatsachen  (19).     Os- 
borns   Stellungnahme   der   ontogenetischen   Bedenken  gegenüber  (20). 

i  p  2 
Die  erste   Höckermanifestation   des   Deuteromer;    Kronenformel  — — — 

(20).  Gidleys  Nachweis,  daß  solche  Zähne  bei  jurassischen  Säugern 
vorkommen  (20).  Widerspruch  dieser  Tatsache  mit  der  Transgressions- 
hypothese (21).  Auftreten  einer  lingualen  Wurzel  (22).  Die  Entstehung 
der  lingualen  Wurzel  ist  nicht  mit  der  Transgressionshypothese  in  Über- 
einstimmung   zu    bringen  (22).    Wird  dagegen  durch  die  Dimertheorie 


VI  Inhalt. 

leicht  erklärt  (22).     Über   das  Vorkommen  von  dreiwurzeligen  Zähnen 

l   P  2 

mit  der  Kronenformel  bei   den    rezenten  Primaten  (23).      Über 

dessen  Vorkommen  bei  den  eocänen  Urprimaten  (25).      Weitere  Ent- 

l  P  2 

wicklung   des   Deuteromer;    Kronenformel   — — --    (25).      Beispiele   von 
Zähnen  mit  dieser  Formel  (26).    Vollständige  Ausbildung  des  Deuteromer; 

1  P  2 

Kronenformel  — —  (26).    Seltenheit  dieser  Struktur  bei  den  Primaten 

3  J->  4 
(26).     Die  sechshöckerige  Entwicklungsstufe  im  System  Cope-Osborn 
ist  nicht  mit  der  meinigen  identisch  (27). 

Die  Anlage  aller  Zähne  halten  vollständig  die  gleichen  Potenzen 
inne,  die  Verschiedenheit  der  Form  ist  nur  die  Folge  von  Verschieden- 
heit in  der  Entwicklung  der  einzelnen  Potenzen  (28).  Ahrens  Stand- 
punkt in  dieser  Frage  (28).  Die  Formrelationen  von  Caninus  und  In- 
zisivi  zum  Sechshöckertypus  (28).  Die  in  der  Literatur  sich  findenden 
Ansichten  über  den  Caninus  als  modifizierter  Prämolar  (Rose,  Leche, 
Stehlin)  (29).  Die  Formgleichheit  von  Caninus  und  Incisivi  (29).  Die 
Heterodontie  ist  nicht  unbedingt  von  der  Dimerie  abhängig  (30).  Der 
Begriff  der  Äquipotentie  der  Zahnanlagen  in  der  Literatur  (30).  Die 
bezügliche  Ansicht  von  d'Eternod  (30).  Jene  von  Aeby,  Zucker- 
kandl,  Dependorf,  Adloff  (31).  Die  Meinung  Rütimeyers  über 
die  Beziehung  zwischen  Prämolaren  und  Molaren  der  Ungulaten  (32). 
Diesbezügliche  Äußerungen  von  Huxley  und  Topinard  (33). 

Über  die  morphologische  Bedeutung  der  Eckzähne  (33).  Primaten- 
canini  mit  geringer  Beteiligung  des  Deuteromer  (34).  Solche  mit  aus- 
giebiger Entwicklung  der  deuteromeren  Potenzen  (35).  Die  genetische 
Bedeutung  des  Tuberculum  dentis  oder  Basalhöckers  von  de  Terra 
(36).  Die  Eckzähne  des  Menschen  und  der  Anthropomorphen  sind  in 
ihrer  Zusammensetzung  nichthomologe  Bildungen  (36).  Anomalien 
der  Eckzahnform  als  Folgen  seiner  dinieren  Natur  (38).  Die  zwei  ver- 
schiedenen Formen  der  Zweiwurzeligkeit  des  Eckzahnes  (38).  Die  Ver- 
doppelung des  Eckzahnes  in  Beziehung  zu  seiner  Dimerie  (39).  Der 
Eckzahn  der  Säugetiere  entspricht  nicht  einem  Kegelzahn  der  Rep- 
tilien (40). 

Die  Incisivi  als  spezialisierte  Formen  (41).  Bei  den  Incisivi  sind 
die  drei  Spitzen  des  Protomer  durchgehend  gleichmäßig  entwickelt 
(41).  Die  primitive  Gestalt  der  Incisivi  bei  den  Carnivoren  (42).  Mor- 
phologische Andeutungen  der  ursprünglichen  Trikonodontie  bei  den 
Incisiven  der  Primaten  (43).  Über  die  Beteiligung  des  Deuteromer  an 
der  Bildung  der  Incisivi  (44).  Die  Basalhöcker  und  Incisorenhöcker 
von  de  Terra  (44).  Ursache  der  Formdifferenz  zwischen  oberen  und 
unteren  Incisivi  (45).  Die  Manifestation  des  Deuteromer  an  den  oberen 
Incisivi  des  Menschen  (45).  Formvariationen  der  Incisivi  beim  Menschen, 
und  ihre  Erklärung  (46).  Über  die  Bedeutung  und  Entstehung  über- 
zähliger Incisivi  (47).     Schizogene  Variationen  (49). 

Unterschied  zwischen  Halbaffen  und  Affen  in  der  Kronenstruktur 
der  Prämolarenreihe  (51).  Die  Prämolaren  der  wahren  Affen  sind  nicht 
als  primitive  Formen  zu  betrachten  (51). 

C.  Die  Doppelhöckerphase. 
Über  den  Wert  einer  prinzipiellen  Gegenstellung  zwischen  Molaren 
und,  Antemolaren  (52).  Eine  genauere  Kenntnis  des  Marsupialier- 
gebisses  ist  notwendig  für  die  Lösung  des  Molarenproblems  (53).  Die 
beschränkte  Bedeutung  der  Trituberculartheorie  (53).  Der  typische 
Gegensatz  in  Struktur  der  Molaren  und  Antemolaren  (54).  Die  Be- 
deutung und  Entstehungsweise  der  beiden  bukkalen  Molarenhöcker  (55). 
Die  Verdoppelung  des  /"-Höcker  (56).  Die  genetische  Beziehung  der 
Höcker  Pa  und  Pp  zum  Mutterhöcker  P  (57).  Die  gegebene  Erklärung 
der  Entstehung  des  Molarentypus  ist  in  Übereinstimmung  mit  den 
embryologischen  Beobachtungen  (58).  Scotts  Ansichten  über  die 
Entstehung  der  molarisierten  Prämolarenform  (59).  Prinzipielle  Diffe- 
renz zwischen  dem  Standpunkt  von  Scott  und  jenem  des  Autoren  (59). 


Seite 


Inhalt  VII 

Seite 
Das  „Protopecten",  die  primitivste  Form  des  Leistensystems  (61). 
Die  Begriffe  „Schizopecten"   und  ,,Diplopecten"  (61).    Übereinstimmen- 
des und  Differentes  in  der  Cope-Osbornschen  Theorie  und  der  meinigen 
(62).     Gidleys  Bedenken  gegen  die  Trituberculartheorie  (63). 

Die  Kronenformel  — - —   (63).       Das   Vorkommen    der    Formel 

Pa 

—  (64).     Die   Molaren   der   Arktopitheken    sind    reduzierte   und  nicht 

primitive    Formen   (64).      Weitere    Differenzierung    der  Molaren:    Ent- 

i  Pa  Pp  2 
stehung  der  Formel  — (65).  Graduelle  Entstehung  verschiedener 

Kronen  mit  der  vorangehenden  Formel  (66).  Die  Stellung  der  Molaren 
von  Avahis  im  System  (68).  Reduktion  der  vollständigen  Molaren- 
formel durch  Verlust  von  Nebenspitzen  (70).  Das  Studium  des  Pro- 
simiergebisses  ist  notwendig  für  das  Verständnis  jenes  der  Affen  (71). 
Das  Leistensystem  der  Affenmolaren  als  Leitfaden  beim  Studium  der 
Differenzierung  dieser  Zähne  (72).  Die  Grunderscheinung  im  Ent- 
wicklungsgang der  Affenmolaren  (72).  Systematische  Übersicht  über 
die  Differenzierung  der  Primatenmolaren  (73).  Über  die  Zwischen- 
tuberkel (74).  In  welcher  Beziehung  steht  das  Leistensystem  der  Cerco- 
pithecidenmolaren  zu  jenen  der  Anthropoiden  ?  (80).  Individuelle  Varia- 
tionen bei  Siamangmolaren  bringen  die  Entscheidung  dieser  Frage  (81). 
Das  Leistensystem  an  den  oberen  Molaren  von  Dryopithecus  (82). 
Die  primitive  Beschaffenheit  der  menschlichen  Molaren  (83).  Reduk- 
tionserscheinung an   den   menschlichen   Molaren  (84). 

D.  Das  Carabellische  Höckerchen. 

Über  den  Entwicklungsgrad  des  Tuberkulum(85).  Definition  (85). 
Es  kommt  nicht  ausschließlich  beim  Menschen  vor  (86).  Vorkommen  bei 
Prosimiae  (87).  Bei  Simiae  (87).  Die  Ansicht  von  de  Terra  über  die 
Verbreitung  des  Höckerchens  (88).  Es  kommt  auch  außerhalb  des  Pri- 
matenstammes vor  (88).  Die  Ansichten  über  die  Bedeutung  des  Höcker- 
chens in  der  Literatur  (89).  Der  Wert  des  Gebisses  als  Grundlage  für 
Verwandtschaftshypothesen  (89).  Die  Dimertheorie  in  der  bis  jetzt 
gegebenen  B'assung  ist  zu  beschränkt  für  die  Erklärung  des  Höcker- 
ehens  (91).  Die  genetische  Bedeutung  des  Tuberkulum  (91).  Cara- 
belli  ist  die  Manifestation  einer  dritten  Zahngeneration  (91).  Begründung 
dieser  Ansicht  (92).  Schlußfolgerungen  aus  der  behaupteten  Bedeutung 
des  Höckerchens  (93). 

Zweites  Hauptstück. 
Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne 96  —  114 

Der  Entwicklungsgang  der  unteren  Zähne  war  ein  anderer  als 
jener  der  oberen  (96).  Prinzip  der  Morphogenese  der  unteren  Zähne 
(97).  Die  Differenz  in  der  Ausbildung  unterer  und  oberer  Zähne  kommt 
auch  in  den  bestehenden  Differenzierungstheorien  von  Scott  und 
Cope-Osborn  schon  zum  Ausdruck  (97).  Die  Ursache  des  ungleichen 
Entwicklungsganges  (98).  Der  Grundtypus  des  Säugetiergebisses  war 
isognath  (99).  Die  sich  einstellende  Anisognathie  war  der  erste  Anlaß 
für  die  verschiedene  Differenzierung  oberer  und  unterer  Zähne  (99). 
Systematische  Übersicht  der  allmählich  sich  komplizierenden  gegen- 
seitigen Beziehungen  zwischen  oberen  und  unteren  Zähnen  (100).  Über- 
sicht über  die  Formentwicklung  des  unteren  Molaren  (110).  Die  ver- 
schiedene Lagerung  des  Basalsaumes  bei  oberen  und  unteren  Zähnen 
und  die  Bedeutung  dieser  Tatsache  (111).  Fortsetzung  der  Entstehungs- 
geschichte der  unteren  Molarenform  (111).  Der  Entwicklungsgang  des 
Primatengebisses  zielt  dahin,  die  Anisomorphie  zwischen  oberen  und 
unteren  Molaren  auszugleichen  (113).  Die  Form  des  Zahnes  ist  in  jeder  Ent- 
wicklungsstufe das  Resultat  der  Einwirkung  biomechanischer  Einflüsse 
(113).    Von  den  Wurzeln  der  unteren  Zähne  (113). 

Drittes  Hauptstück. 
Über  das  Wesen  der  Zahnkonkreszenz 115  —  127 

Einleitendes  (115).  Der  Standpunkt  von  Depenüori  in  der 
Konkreszenzfrage  (116).    Die  Entstehung  der  Zähne  bei  den  Teleostomen 


VIII  Inhalt. 

Seite 
(117).  Unterschied  der  Zahnentwicklung  bei  Teleostomen  und  Selachiern 
(118).  Die  Differenz  in  den  Ansichten  von  Owen  und  Hertwig  (119). 
Über  die  Entstehungsweise  der  Ersatzleiste  (120).  Anschluß  an  die  ältere 
Vorstellung  von  Owen  und  K Olli k er  (121).  Bei  den  höheren  Verte- 
braten  entstehen  die  Zähne  nicht  autochthon,  sondern  verdanken  einer 
Matrix  ihre  Entstehung  (122).  Meine  frühere  Auffassung  über  das 
Wesen  der  Zahnkonkreszenz  habe  ich  aufgeben  müssen  (124).  Die  Dimerie 
ist  nicht  die  Folge  von  einer  Konkreszenz,  sondern  von  dem  Ausbleiben 
einer  räumlichen  und  zeitlichen  Sonderung  (125).  Es  kommt  vielleicht 
schon  bei  gewisser  Theriodontia  zur  Entstehung  dimerer  Zähne  (125). 

Spezieller  Teil. 

Das  Primatengebiß  als  Ganzes. 

Allgemeine  Bemerkungen 128—131 

Die  zusammengesetzten  Zähne  der  Urprimaten  sind  höckerreicher 
als  die  der  rezenten  Formen  (128).  Es  gibt  zwei  Phasen  im  Werdegang 
des  Primatengebisses,  eine  Evolutionsphase  und  eine  Spezialisierungsphase 
(128).  Merkmale  der  ersten  Phase(129).  Die  Grunderscheinung  der  zweiten 
Phase  (129). 

Viertes  Hauptstück. 

Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten 131-163 

Das  Unterkiefergebiß  einiger  eocäner  Primaten  (131).  Die  Prä- 
molaren  (132).  Schlossers  Meinung,  daß  die  rezenten  Primaten  nicht  von 
den  bekannten  eocänen  Formen  abstammen  können,  weil  die  Zähne  der 
letzteren  komplizierter  sind,  ist  nicht  aufrecht  zu  halten  (133).  Die  Molaren 
der  eocänen  Primaten  (134).  Das  Unterkiefergebiß  der  Prosimiae  (136). 
Die  Prämolaren (137).  Die  Molaren  (139).  Die  eigenartige  Gestalt  des  ersten 
Molaren  bei  den  Indrisinae  (140).  Vergleichung  der  Unterkieferzähne 
heutiger  Prosimiae  und  solcher  eocäner  Primaten  (142).  Das  Unterkiefer- 
gebiß der  platyrrhinen  Affen  (143).  Die  Molarenformel  (144).  Die  Prä- 
molaren (145).  Die  Bedeutung  der  Molarisierung  des  dritten  Prämolaren 
der  platyrrhinen  Affen  (146).  Die  Reduktion  der  Wurzelzahl  bei  den 
amerikanischen  Affen  (147).  Die  Milchmolaren  der  Platyrrhinen  (149). 
Die  Cope- Osbornsche  Theorie  und  die  Milchmolaren  (150).  Die 
Wurzeln  der  Milchmolaren  des  platyrrhinen  Gebisses  (152).  Das  Unter- 
kiefergebiß der  katarrhinen  Primaten  (153).  Die  permanenten  Molaren 
(154).  Korrelativerscheinungen  in  der  Struktur  oberer  und  unterer  Mo- 
laren (155).  Die  Höckerzahl  der  unteren  Molaren  beim  Menschen  (155;. 
Reduktionserscheinungen  im  Unterkiefergebiß  des  Menschen  (156).  Die 
Prämolaren  (157).  Die  Kronenstruktur  der  Milchmolaren  (158).  Ver- 
gleichung zwischen  Milchmolaren  und  Prämolaren  (158).  Die  Milchmolaren 
stellen  nicht  mehr  primitive  Formen  dar  (159).  Ein  Gebiß  ist  primitiver, 
je  ähnlicher  Milchmolaren  und  Prämolaren  einander  sind(159).  In  der  Be- 
ziehung zwischen  der  Struktur  von  Milchmolaren  und  Prämolaren  ist  das 
menschliche  Gebiß  am  meisten  spezialisiert  (161). 

Fünftes  Hauptstück. 
Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten 164  —  18] 

Das  Oberkiefergebiß  eocäner  Primaten  (164).  Die  Zwischen- 
tuberkel in  den  Molaren  der  eocänen  Primaten  (166).  Der  hintere 
Zwischenhöcker  bei  rezenten  Primaten  (167).  Die  Bedeutung  der 
Zwischenhöcker  (168).  Das  Oberkiefergebiß  der  Halbaffen  (169).  Die 
Prämolaren  (170).  Die  Molaren  der  Halbaffen  (171).  Die  Molaren  vom 
Geschlecht  Lemur  sind  wahrscheinlich  simplifizierte  Formen  (172).  Das 
Oberkiefergebiß  der  platyrrhinen  Affen  (174).  Reduktionserscheinungen 
am  Gebiß  der  Platyrrhinen  (175).  Die  Kronenformel  der  Prämolaren 
(175).  Die  Molaren  der  Platyrrhinen  (176).  Die  Milchmolaren  der  ameri- 
kanischen Affen  (178).  Die  oberen  Backzähne  der  katarrhinen  Primaten 
(179).    Die  Zähne  der  Anthropomorphen  (180).    Schluß  (181). 


Allgemeiner  Teil. 


Die  Entwicklung  der  einzelnen  Zahnformen. 

Einleitende  Bemerkungen. 

Die  Basis,  auf  welche  die  nachfolgende  Geschichte  der  Morpho- 
genese der  Primatenzähne  aufgebaut  ist,  wird  von  den  Tatsachen  ge- 
liefert, welche  in  der  ersten  dieser  Studien  nachgewiesen  sind.  Zuerst 
ist  darin  festgestellt  worden,  daß  der  Säugerzahn  durch  Vereinigung 
der  Keime  zweier  Primärzähne  entstanden  ist,  welche  einander  als 
eine  ältere  und  eine  jüngere  Generation  verwandt  waren.  Und  wahr- 
scheinlich ist,  daß  diese  Zähne  nicht  einfache  Kegelzähne  waren,  wie 
es  wohl  meistenfalls  behauptet  wird,  sondern  dreispitzige  Zähne,  wo- 
bei die  Spitzen  als  eine  mittlere  Hauptspitze  und  zwei  Nebenspitzen 
zu  deuten  sind.  Die  Hauptspitze  ist  das  Homologon  des  einfachen 
Kegelzahnes,  die  Nebenspitzen  sind  durch  Differenzierung  daraus  her- 
vorgegangen. Die  dreispitzige  oder  trikonodonte  Urform  stellt  somit 
ein  einheitliches  Gebilde  dar. 

Durch  die  Verbindung  zweier  solcher  Elemente  zu  einem  einzigen 
Element,  erlangte  der  Säugerzahn  somit  den  Charakter  eines  „dinieren" 
Gebildes,  das  Homologon  der  älteren  Generation,  das  man  sich  an  der 
bukkalen  Seite  des  Zahnes  zu  denken  hat,  wurde  als  das  „Protomer" 
unterschieden,  jenes  der  jüngeren  Generation  als  das  „Deuteromer". 
Diese  Grundanschauung  über  die  Natur  des  Säugerzahnes  ist  bestim- 
mend für  die  Richtung,  worin  sich  eine  vergleichende  Untersuchung, 
angestellt  mit  dem  Zweck,  die  historische  Entwicklung  der  Zahndiffe- 
renzierung kennen  zu  lernen,  bewegen  muß.  Denn  es  konzentriert  sich 
die  Untersuchung  in  die  Fragestellung,  welcher  Teil  des  Zahnes  gehört 
dem  Protomer  an  und  welcher  dem  Deuteromer,  und  weiter,  auf  welche 
Spitzen  der  ursprünglich  trikonodonten  Urelemente  sind  die  Höcker 
bei  jedem  Zahn  zurückzuführen.  Diese  Frage  ist  natürlich  nicht  sofort 
für  jeden  Zahn  zu  beantworten.  Durch  eine  systematische  Untersuchung 
muß  zuerst  der  allgemeine  Entwicklungsgang  der  Zahndifferenzierung 
ausfindig  gemacht  werden.  Ich  habe  das  nun,  unter  Zugrundelegung  der 
beiden  oben  kurz  angedeuteten  Entstehungsprinzipien  für  die  Primaten 
vorgenommen  und  werde  das  Resultat  dieser  Arbeit  in  zwei  Abschnitten 
zur  Darstellung  bringen.  In  dem  ersten  Abschnitt  wird  eine  theoretische 
Auseinandersetzung  gegeben,  von  der  Weise,  in  welcher  ich  mir  die  all- 
mähliche Entwicklung  der  verschiedenen  Zahnformen  im  Gebiß  der 
Primaten  denke.  Dieser  Abschnitt  stellt  somit  den  allgemeinen  Teil 
dar.     Der  zweite  Abschnitt  trägt  einen  mehr  speziellen  Charakter,  da 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  1 


2  Allgemeiner  Teil. 

in  demselben  die  Gebisse  der  einzelnen  Primatengeschlechter  syste- 
matisch im  Licht  der  im  ersten  Teil  dargestellten  allgemeinen  Gesichts- 
punkte betrachtet  werden  sollen.  Unter  Primaten  fasse  ich  in  dieser 
Arbeit  sowohl  die  Halbaffen  als  die  wahren  Affen  zusammen. 

Ob  in  den  Hauptzügen  die  hier  gegebene  Darstellung  auch  auf 
andere  Ordnungen  der  Säugetiere  übertragbar  ist,  betrachte  ich  wohl 
als  wahrscheinlich,  es  sollte  jedoch  durch  besondere  Prüfung  die  allge- 
meine Gültigkeit  festgestellt  werden  müssen.  Vorläufig  möchte  ich  mich 
vor  Verallgemeinerung  hüten.  Unter  Beibehaltung  der  Grundanschau- 
ung, daß  die  Dimertheorie  für  alle  Säugerzähne  gilt,  ist  im  folgenden 
also  immer  nur  von  Primatenzähnen  die  Rede.  In  jenen  Fällen,  in  den 
ich  jetzt  schon  der  Überzeugung  bin,  daß  diese  Erscheinung  eine  mehr 
allgemeine  Bedeutung  für  die  Geschichte  des  Säugergebisses  hat,  werde 
ich  das  ausdrücklich  hervorheben.  Und  letzteres  kann  ich  schon  am 
Eingang  meiner  Darstellung  tun  bezüglich  einer  Erscheinung,  die  wohl 
die  Bedeutung  eines  die  Zahndifferenzierung  beherrschenden  Gesetzes 
hat.  Dieses  Entwicklungsgesetz  ist  folgenderweise  zu  formulieren:  Bei 
der  Differenzierung  des  Säugerzahnes  hat  das  Protomer  immer  eine 
wichtigere  Rolle  gespielt,  als  das  Deuteromer;  bei  progressiver  Ent- 
wicklung ist  es  immer  vorangegangen,  bei  regressiver  Entwicklung 
erweist  es  sich  als  das  mehr  resistente  Element.  Eine  zweite  Gesetz- 
mäßigkeit ist  die  folgende:  Bei  der  Differenzierung  der  Höcker  jedes  der 
beiden  Bestandteile  des  Säugerzahnes  werden  die  beiden  Haupthöcker, 
sowohl  jener  des  Protomer  als  jener  des  Deuteromer,  immer  den  Cha- 
rakter vom  Hauptbestandteile  des  Zahnes  bewahren;  bei  progressiver 
Entwicklung  äußert  sich  der  Fortschritt  zuerst  an  ihnen,  und  erst  an 
zweiter  Stelle  an  den  ursprünglichen  Nebenspitzen,  bei  regressiver 
Entwicklung  erweisen  sie  sich  immer  resistenter  als  die  Nebenspitzen. 
In  gewissem  Sinne  verhalten  sich  somit  bei  der  Differenzierung  die 
Nebenspitzen  zu  der  ihnen  zugehörigen  Hauptspitze,  wie  das  Deutero- 
mer sich  zum  Protomer  verhält.  Das  Hauptelement  der  Zähne  ist  und 
bleibt  aber  immer  der  Haupthöcker  des  Protomer.  Bei  höchstgradiger 
Reduktion  oder  einfachster  Entwicklung  des  Zahnes  ist  es  dieser  Höcker, 
der  zuletzt  übrig  bleibt,  oder  sich  allein  entwickelt.  Diese  Ungleich- 
wertigkeit  der  den  Säugerzahn  zusammensetzenden  Teile  erleichtert 
die  Erkenntnis  des  Differenzierungsganges  wesentlich.  Es  fängt  das 
Deuteromer  seine  Beteiligung  an  der  Bildung  des  Zahnes  an  als  ein 
einfaches  Akzessorium  zum  Protomer,  und  allmählich,  nachdem  letzteres 
schon  eine  höhere  Entwicklungsstufe  erreicht  hat,  fängt  auch  das 
Deuteromer  an  sich  weiter  zu  differenzieren  und  größeren  Anteil  an 
der  funktionell  mehr  vollkommenen  Gestalt  des  Zahnes  zu  nehmen, 
wie  sie  uns  besonders  in  den  Molaren  entgegentritt.  Es  ist  die  Ursache 
dieser  Differenz  zwischen  den  beiden  Bestandteilen  des  Zahnes  nicht 
unschwer  einzusehen.  Denn  das  Protomer  verhält  sich  zum  Deutero- 
mer als  eine  ältere  Generation  einer  jüngeren  gegenüber.  Letztere,  die 
bei  den  reptilienartigen  Stammformen  angewiesen  war,  auch  einmal 
als  freier,  selbständiger  Zahn  zu  funktionieren,  hat  bei  der  Ausbildung 
des  Säugergebisses,  unter  Verwachsung  mit  der  lingualen  Seite  des 
Zahnes  der  älteren  Generation,  ihre  Selbständigkeit  eingebüßt.  Und 
den  zeitlichen  Vorsprung,  den  letzterer  in  der  Entwicklung  besitzt, 
behält  er  bei.  Er  entfaltet  seine  morphologischen  Entwicklungsten- 
denzen am  ehesten  und  am  vollständigsten.    Die  zeitliche  Auffolge  in 


Die  Entwicklung  der  einzelnen  Zahnformen.  3 

der  Differenzierung,  welche  den  beiden  Elementen  in  der  Reihe  der 
Reptilien  zukam,  bleibt  erhalten,  wenn  beide  zu  einem  einheitlichen 
Gebilde  verlötet  sind  in  beziig  auf  den  Differenzierungsgang.  Das 
Protomer  behält  die  Führung.  Und  in  der  ersten  Differenzierungsphase 
werden  wir  dann  auch  letztgenanntes  immer  den  Hauptteil  des  Zahnes 
bilden  sehen,  während  das  Deuteromer  anfänglich  nur  als  ganz  rudi- 
mentäres Gebilde  sich  an  der  Innenseite  des  Protomeren  findet,  um 
erst  allmählich  die  ihm  innewohnenden  Entwicklungstendenzen  völlig 
zu  entfalten.  Zu  obenstehendem  sei  jedoch  sofort  zugefügt,  daß  diese 
Beziehungen  bei  den  oberen  Zähnen  sich  viel  schärfer  äußern  als  bei 
den  unteren  Zähnen.  Als  einleitende  Bemerkung  muß  ich  an  dieser 
Stelle  kurz  auf  eine  Schlußfolgerung  eingehen,  welche  sich  in  der 
ersten  dieser  Studien  findet.  Bei  der  Diskussion  über  die  ursprüngliche 
Form  des  Säugergebisses  habe  ich  im  vierten  Hauptstück  jener  Studie 
als  meine  Meinung  ausgesprochen,  daß  die  Säugerzähne  entstanden  sein 
sollten  durch  Konkreszenz  zweier  trikonodonter  Zähne.  Die  Trikono- 
dontie  war  ein  von  den  Reptilien  vererbtes  Merkmal.  Als  ideale,  voll- 
ständig schematische  Ausgangsform  mußte  somit  ein  Zahn  betrachten 
werden  mit  sechs  Höckern,  drei  in  einer  Linie  an  der  Außen-  und 
drei  ebenfalls  in  einer  Linie  an  der  Innenseite.  Auf  eine  Ausarbeitung 
dieser  Idee  habe  ich  damals  verzichtet,  eben  weil  ich  das  als  Haupt- 
gegenstand  der  vorliegenden  Arbeit  bestimmt  hatte.  Nun  kann  jene 
Darstellung  leicht  zu  Mißverständnissen  Anlaß  geben,  nämlich  dann, 
wenn  man  jene  ideale  Ausgangsform  als  reelles  Beginnstadium  der 
Säugetierzähne  auffaßt,  was  mir  niemals  im  Sinne  gelegen  hat.  Denn 
das  Deuteromer,  das  seiner  Potenz  nach  ein  trikonodonter  Zahn  ist, 
ist  nicht  in  solcher  ausgebildeten  Form  zur  Konkreszenz  gekommen. 
Die  Verschmelzung  darf  man  sich  nur  denken  als  eine  zwischen  Zahn- 
keimen und  nicht  eine  von  ausgebildeten  Formen.  Und  in  dieser  zu- 
sammengesetzten Anlage  ist  zwar  die  Potenz  zur  Ausbildung  zweier 
trikonodonter  Zähne  enthalten,  aber  in  welcher  historischen  Aufeinander- 
folge diese  Potenzen  sich  morphologisch  manifestierten  und  in  welchem 
Grade  sie  sich  in  jedem  besonderen  Fall  entfaltet  haben,  das  eben  muß 
Gegenstand  spezieller  Untersuchung  sein.  Die  Hauptsache  dabei  ist  zu- 
nächst festzustellen,  welchen  Zahnteil  man  dem  Protomer  und  welchen 
man  dem  Deuteromer  zuweisen  muß.  In  keinem  Fall  ist  der  Differenzie- 
rungsgang derart  zu  denken,  daß  am  Anfang  der  Entwicklungsreihe  sich 
ein  wohlausgebildeter,  sechshöckeriger  Zahn  findet,  und  die  verschie- 
denen Zahnformen,  mit  ihrer  wechselnden,  aber  meistenfalls  geringeren 
Höckerzahl  durch  Reduktion  von  Höckern  davon  abzuleiten  sind. 
Dann  sollte  der  Hauptcharakter  der  Entwicklung  eine  Anpassung  an 
die  Funktion  durch  Regression  bestehender  Höcker  gewesen  sein,  was 
eben  nicht  der  Fall  gewesen  ist.  Im  Gegenteil.  Bei  der  phylogenetischen 
Entwicklung  sind  die  morphologischen  Anlagepotenzen,  welche  in- 
folge der  Verschmelzung  zweier  Keime  von  trikonodonten  Zähnen  in 
jedem  Säugerzahn  enthalten  sind,  in  immer  vollständiger  Weise  zur 
Evolution  gekommen,  allerdings  bei  den  verschiedenen  Zähnen  des 
Gebisses  in  verschiedenem  Maße,  wodurch  der  heterodonte  Charakter 
des  Säugergebisses  entstand.  Diese  morphologische  Komplizierung  ist 
stufenweise  in  ganz  regelmäßiger,  sogar  gesetzmäßiger  Weise  vor  sich 
gegangen.  Über  das  Wesen  der  Konkreszenz  sehe  man  übrigens  den 
besonderen,  diesem  Begriff  gewidmeten  Hanptstück. 


4  Allgemeiner  Teil. 

Die  oben  kurz  angedeutete  Gedanke  ist,  meine  ich,  in  meiner 
ersten  Studie  nicht  genügend  zu  ihrem  Kecht  gekommen.  Man  konnte 
vielleicht  aus  jener  Arbeit  den  Eindruck  bekommen,  daß  ich  der  An- 
sicht war,  die  historische  Differenzierung  des  Säugerzahnes  trüge  der 
Hauptsache  nach  den  Charakter  von  Rückbildung  bestehender  Höcker 
zu  einer  geringeren  Zahl.  Diese  Interpretierung  möchte  ich  schon  an 
dieser  Stelle,  kürzlich  als  nicht  meiner  Ansicht  entsprechend,  zurück- 
weisen. 

Nach  diesen  allgemeinen  Vorbemerkungen  gehe  ich  zur  Aus- 
einandersetzung meiner  Theorie  über  die  Zahndifferenzierung  über. 
Eine  für  die  Einteilung  der  Materie  wichtige  Erscheinung  ist  die  Tat- 
sache, daß  die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne  nicht  ganz  mit 
jener  der  oberen  übereinstimmt;  nur  in  gewissen  Beziehungen  sind  die 
Differenzierungsgeschichten  beider  Zahnreihen  einander  gleich.  Be- 
kanntlich besteht  auch  bei  der  Trituberkulartheorie  von  Cope-Osborn 
eine  Differenz  zwischen  den  Entwicklungsmodi  oberer  und  unterer 
Molaren,  die  Transgression  der  Höcker,  welche  gewissermaßen  den 
Kernpunkt  jener  Theorie  darstellt,  sollte  für  die  oberen  und  unteren 
Molaren  in  verschiedener  Weise  verlaufen  sein.  Es  ist  nun  merkwürdig, 
daß  in  der  von  mir  zu  gebenden  Differenzierungsgeschichte  obere  und 
untere  Zähne  ebenfalls  einen  selbständigen  Entwicklungsweg  gegangen 
sind,  sei  es  auch  nicht  bedingt  durch  eine  verschieden  verlaufende 
Höckertransgression,  die  meiner  Meinung  nach  nicht  stattgefunden  hat, 
sondern  in  ganz  anderer  Weise.  Diese  Tatsache  gibt  einen  Grund  ab, 
um  die  Morphogenese  von  Ober-  und  Unterkieferzähnen  gesondert  ab- 
zuhandeln. Nur  für  die  Frontzähne  —  Incisivi  und  Canini  —  war  eine 
solche  Trennung  nicht  geboten,  und  ich  werde  dann  auch  bei  den  auf 
diese  Zahnarten  bezug  habenden  allgemeinen  Bemerkungen  obere  und 
untere  gemeinschaftlich  besprechen. 


Erstes  Hauptstück. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne. 

Es  sind  in  der  Morphogenese  der  oberen  Zähne  drei  Phasen  zu 
unterscheiden,  welche  ich  für  eine  bequeme  Übersicht  je  in  einem  be- 
sonderen Abschnitt  besprechen  werde.  Nach  der  für  jede  Phase  meist 
typischen  Erscheinung  unterscheide  ich  diese  drei  Phasen  wie  folgt: 

A.  die  Dreihöckerphase, 

B.  die  Sechshöckerphase, 

C.  die  Doppelhöckerphase. 

Diese  Einteilung  hat  zwar  eine  morphologische  Grundlage,  aber 
es  sei  sofort  bemerkt,  daß  auch  sie,  wie  jedwede  Einteilung  in  einem 
komplizierten  Entwicklungsvorgang,  etwas  artifizielles  hat.  Ich  fange 
mit  der  ersterwähnten  Phase  an. 

A.  Die  Dreihöckerphase. 

Was  die  Urform  des  Säugerzahnes  betrifft,  ist  schon  in  der  ersten 
dieser  Studien  —  S.  95  —  hervorgehoben,  daß  es  gar  nicht  notwendig 
ist,  anzunehmen,  ja  sogar  weniger  wahrscheinlich  ist,  daß  die  Ursäuger 
ein  rein  haplodontes,  d.  h.  aus  einfachen  Kegelzähnen  aufgebautes 
Gebiß  besessen  haben.  Der  Kegelzahn  ist  wie  alle  anderen  Zahnformen 
zu  betrachten  als  eine,  einer  bestimmten  Funktion  angepaßte  Form, 
und  man  findet  dieselbe  nur  dort  in  reiner  Gestalt,  wo  die  Beute  nur 
ergriffen  zu  werden  braucht.  Dann  stellen  die  spitzen  Kegel  vorzügliche 
hakenförmige  Organe  dar,  zwischen  welchen  die  Beute  gefaßt  wird. 
Als  ein  sehr  lehrsames  Beispiel  zum  Beweise,  daß  Kegelzähne  nicht  die 
ursprünglichsten  Formen  darstellen,  sondern  als  spezialisierte  Formen 
auftreten  können,  kann  ich  folgende  Beobachtung  mitteilen.  Wenn 
man  das  Gebiß  eines  erwachsenen  Scyllium  stellare  untersucht,  dann 
konstatiert  man,  daß  es  im  Oberkiefer  und  Unterkiefer  aus  einfachen 
Kegelzähnen  besteht,  welche  mit  einer  ziemlich  breiten  Basis  in  der 
Schleimhaut  befestigt  sind.  Vergleicht  man  mit  diesem  Gebiß  jenes 
eines  jungen  Tieres,  dann  erweisen  sich  die  Zähne  von  so  ganz  anderer 
Gestalt,  daß  man  anfänglich  —  wie  es  auch  mir  geschah  —  der  Ansicht 
sein  konnte,  es  läge  ein  Irrtum  in  der  Bestimmung  vor.  Doch  ist  dem 
nicht  so,  wie  Kontrolltiere,  und  besonders  Exemplare  verschiedenen 
Alters  sofort  beweisen.  Bei  einem  Tiere  von  12  cm  Totallänge  ähneln 
sich  die  Gebißzähnchen  den  Hautzähnchen  noch  sehr.  Sie  sind  stark 
abgeplattet  und  besitzen  fünf  fast  gleichgroße  Spitzchen  .  Das  unpaarige 
mittelste  ragt  nur  wenig  hervor.  Mit  zunehmendem  Alter  stellt  sich  eine 


6  Erstes  Hauptstück. 

Umänderung  der  Form  ein.  zunächst  an  den  der  Medianlinie  am  nächsten 
sich  befindenden  Zähnchen.  Die  mittelste  Spitze  wird  größer,  dagegen 
die  beiden  an  den  Ecken  sich  findenden  kleiner.  Dieser  Vorgang  geht 
in  progressiver  Richtung  immer  weiter,  und  bei  einem  Tier  von  ungefähr 
30  cm  kommen  die  beiden  ursprünglich  äußersten  Spitzen  gar  nicht 
mehr  zur  Entwicklung,  während  die  mittlere  einen  schon  stark  hervor- 
ragenden Stachel  darstellt.  Die  Zähne  sind  dreispitzig  geworden.  An 
den  Ecken  der  Mundöffnung,  wo  die  Zähnchen  kleiner  bleiben,  trifft 
man  noch  alle  Übergangsstadien  von  fünfspitzigen  Formen  an.  Auf 
dem  eingeschlagenen  Weg  schreitet  jedoch  die  Vereinfachung  immer 
weiter  fort,  und  mit  zunehmendem  Alter  treten  jetzt,  zunächst  im  vor- 
deren Teil  des  Gebisses,  große  einfache  Stachelzähne  auf,  bis  die  mehr- 
spitzigen Formen  fast  ganz  aus  dem  Gebiß  verschwunden  sind.  Nur 
an  den  Mundecken  trifft  man  bei  den  kleineren  Zähnen  beim  erwachsenen 
Tier  noch  vereinzelt  solche  an,  welche  neben  der  Hauptspitze  noch 
zwei  rudimentäre  Nebenspitzchen  aufweisen.  Die  der  Form  nach  rück- 
läufige Zahndifferenzierung  bei  Scyiiium  stellare  bildet  ein  Gegenstück 
zu  jener  bei  Chlamydoselachus  anguineus,  von  dem  Kose  berichtet, 
daß  die  erste  Zahngeneration  ein-  oder  zweispitzig  ist,  dann  folgen 
größere  dreispitzige  Zähnchen,  während  beim  erwachsenen  Tier  fünf- 
spitzige Zähne  vorkommen1).  Dieser  Fall  beweist,  daß  ein  Kegelzahn 
zwar  die  einfachst  denkbare  Form  des  Zahnes  ist,  aber  daß  er  aus 
ursprünglich  komplizierteren  Formen  durch  Reduktion  entstehen  kann, 
wenn  die  Funktion  es  erheischt.  Zwar  ist  dieses  Beispiel  den  niedrigsten 
Wirbeltieren  entnommen,  aber  ein  prizipieller  Unterschied  in  der 
Differenzierungsweise  von  Haifischzähnen  und  Reptilienzähnen  be- 
steht nicht.  Denn  bei  beiden  Ordnungen  stellt  der  Zahn  ein  einheit- 
liches Element  dar,  die  Komplikationen  der  Schneide  sind  nicht  die 
Folge  von  Konkreszenz,  sondern  Differenzierungserscheinungen.  An 
genannter  Stelle  habe  ich  in  der  ersten  Studie  weiter  darauf  hingewiesen, 
daß  die  in  der  Literatur  nicht  seltene  Verweisung  nach  dem  Krokodilen- 
gebiß als  hypothetische  haplodonte  Ausgangsform  des  Säugergebisses 
weniger  berechtigt  ist,  da  wahrscheinlich  bei  diesen  Formen  die  Kegel- 
gestalt der  Zähne  auch  einen  sekundäreren  Erwerb  darstellt,  hervorge- 
rufen durch  die  Verlängerung  der  Kiefer  und  Ausbildung  der  Schnauze 
zu  einem  ausgezeichneten  Greiforgan.  Diese  Behauptung  gewinnt  an 
Wahrscheinlichkeit  durch  die  Tatsache,  daß  die  ersten  Zähnchen,  welche 
bei  Crocodellus  porosus  zur  Anlage  gelangen,  und  noch  frei  an  der  Ober- 
fläche entstehen,  um  nachträglich  in  der  Tiefe  des  Mesenchyms  zu 
senken,  wo  sie  resorbiert  werden,  nicht  kegelförmig,  sondern  abgeplattet 
sind.  Der  mesenchymatöse  Kern  dieser  Zähnchen  wird  von  Rose  sogar 
als  eine  Doppelpapille  beschrieben2).  Auch  der  thekodonte  Charakter 
des  Krokodilengebisses  darf  nicht  als  eine  Vorstufe  von  diesem  zum 
Säugergebiß  gedeutet  werden.  Denn  diese  Befestigungsweise  am 
Kiefer  kam  auch  bei  anderen  Sauropsiden  (Sauropterygier)  vor,  und 
wird  dann  auch  von  Burckhardt  als  ein  primitives  Merkmal  aufge- 
faßt3).   Der  ebenfalls  sich  besonders  in  älterer  Literatur  findende  Hin- 


1)  0.   Rose,   Über  die  Zahnentwicklung  von  Chlamydoselachus  anguineus. 
Morph.  Arb.  1894,  Bd.  IV. 

2)  C.  Rose,  Über  die  Zahnentwicklung  der  Krokodile.    Morph.  Arb.,  Bd.  III, 
S.  203. 

3)  R.  Burckhardt,  Das  Gebiß  der  Sauropsiden.  Morph.  Arb.,  Bd.  V,  S.  267. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  7 

weis  auf  das  Delphinengebiß  als  Muster  einer  ursprünglichen  Form  des 
Säugegebisses,  wird  jetzt  wohl  allgemein  als  irrtümlich  zurückgewiesen. 
Es  ist  wohl  als  feststehend  zu  betrachten,  daß  die  Meinung,  wie 
dieselbe  z.  B.  durch  Schlosser  in  scharfer  Formulierung  niederge- 
schrieben ist:  ,,Als  die  ursprünglichste  Form  aller  Säugetierzähne 
dürfen  wir  wohl  den  Kegelzahn  betrachten,  eine  Zahnform,  die  sich 
bei  den  Delphinen  nahezu  unverändert  erhalten  hat"1)-  nicht  aufrecht 
gehalten  werden  kann,  da  es  sich  hier  zweifelsohne  um  eine  sekundäre 
Erscheinung  handelt,  Schon  kurz  nach  dem  Erscheinen  der  zitierten 
Arbeit  von  Schlosser  schreibt  Kükenthal:  „Zweifellos  ist  das  Gebiß 
der  Bartenwale  als  eine  Anpassung  an  das  Wasserleben  zu  betrachten'1'2). 

Es  liegt  somit  kein  zwingender  Grund  vor,  um  sich  die  Urform  des 
Säugerzahnes  als  einen  einspitzigen  Kegelzahn  zu  denken,  die  andere, 
bei  den  Reptilien  so  häufig  vertretene  Form,  der  dreispitzige  Zahn,  er- 
scheint in  ungezwungener  Weise  als  eine  den  gestellten  Ansprüchen 
besser  angepaßte  Form.  Denn  es  war  eben  ein  mit  der  Entstehung  der 
Säuger  aufs  innigste^  verbundener  Fortschritt,  daß  die  Beute  oder  die 
Nahrung  in  der  Mundhöhle  einer  mechanischen  Verkleinerung  unterlag. 
Formen  mit  einem  aus  Kegelzähnen  zusammengesetzten  Gebiß  eigneten 
sich  dazu  nicht,  wohl  solche  Formen,  bei  den  die  seitlich  komprimierten 
Zähne  eng  aneinanderschlossen  und  Ober-  und  Unterkiefergebiß  wie 
eine  Schere  das  Futter  zerschneiden  konnten.  Und  wenn  man  bei  den 
Reptilien  die  seitlich  komprimierten  Zähne  untersucht,  dann  findet 
man  sie,  wenigstens'  die  größeren,  sehr  häufig  dreispitzig.  Wie  gesagt, 
bin  ich  der  Meinung,  daß  diese  Dreispitzigkeit  nicht  die  Folge  ist  von 
Konkreszenz,  sondern  eine  Differenzierungserscheinung.  Solche  drei- 
spitzige Zahnformen  glaube  ich  dann  auch  als  Grunclelemente  der 
Säugerzähne  ansehen  zu  müssen. 

Die  Frage  nach  der  Bedeutung  der  Dreispitzigkeit  der  Reptilien- 
zähne werde  ich  etwas  näher  ins  Auge  fassen.  Die  Möglichkeit,  daß  diese 
Mehrspitzigkeit  durch  Verwachsung  mehrerer  Einzelzähne  entstanden 
ist,  also  infolge  von  Konkreszenz  zustande  kam,  habe  ich  bei 
meinen  Untersuchungen  am  Reptiliengebiß  besonders  berücksichtigt. 
Es  ist  mir  jedoch  bis  jetzt  noch  keine  einzige  Erscheinung  bekannt  ge- 
worden, welche  zugunsten  dieser  Meinung  angeführt  werden  konnte. 
Es  ist  von  Rose  der  Versuch  gemacht  worden,  die  Mehrspitzigkeit  der 
Reptilienzähne  durch  Verwachsung  von  Einzelzähnen  in  der  Längs- 
richtung zu  erklären3).  Er  wählte  dazu  als  Untersuchungsobjekt  das 
Chamäleon,  dessen  hintere  Zähne  bekanntlich  in  stark  ausgesprochener 
Weise  dreispitzig  sind.  Und  der  Autor  glaubt,  daß  er  auf  Grund  seiner 
Beobachtungen  zur  Behauptung  berechtigt  ist,  daß  für  die  von  ihm 
vertretene  Verwachsungstheorie  die  Zahnentwicklung  von  Chamäleon 
geradezu  einen  schlagenden  Beweis  bietet  (1.  c.  S.  573).  Schwalbe, 
der  sich  prinzipiell  in  diesem  Punkte  Rose  anschloß4),  drückt  sich 
jedoch  hinsichtlich  der  Befunde  von  jenem  Autor  etwas  anders  aus,  indem 


1)  M.  Schlosser,  Die  Differenzierung  des  Säugetiergebisses.    Biol.  Zentralbl. 
1890,  Bd.  IV.  S.  238. 

2)  W.  Kükenthal,  Über  den  Ursprung  und  die  Entwicklung  der  Säugetier- 
zähne.    Jen.  Zeitschr.  f.  Naturw..  N.  F..  Bd.  XIX.  S.  476. 

3)  C.  Rose,  Über  die  Zahnentwicklung  von  l'hamaeleon.  Anat.Anz.,Bd.  XIII. 

4)  G.  Schwalbe,  Über  eine  seltene  Anomalie  des  Milchgebisses  des  Menschen. 
Morph.  Arb.,  Bd.  III. 


8  Erstes  Hauptstück. 

er  anführt:  „Zweifellos  hat  Rose  nachgewiesen,  daß  die  hinteren  drei- 
spitzigen Zähne  durch  Verwachsung  dreier  einzeln  angelegter  Zahn- 
scheibchen  entstellen."  Das  ist  eine  mehr  beschränkte  Deutung  der 
Rose  sehen  Befunde,  als  die  von  diesem  Autor  selbst  gegebene.  Und 
ganz  mit  Recht  weist  Burckhardt1)  darauf  hin,  daß  eine  separierte 
Anlage  von  drei  Dentinscherbehen  auf  die  fast  gleichgroße  Spitze  eines 
dreispitzigen  Zahnes  für  eine  eventuelle  Konkreszenz  gar  nicht  beweisend 
ist.  Diese  Erscheinung  stellt  einen  notwendigen  histiogenetischen  Diffe- 
renzierungsgang dar,  denn,  fragt  genannter  Autor,  wie  müßte  die  Krone 
des  Zahnes  denn  sonst  entstehen?  Doch  glaube  ich,  daß  dieser  Autor 
etwas  zu  weit  geht,  wenn  er  als  Beweis  von  Konkreszenz  fordert,  daß 
die  Produkte  verschiedener  Zahnsäckchen  sekundär  verschmelzen.  Als 
Beweis  einer  stattgefundenen  Verschmelzung  genügt  der  Hinweis  einst- 
maliger Individualität  der  die  Verwachsung  angehenden  Elemente. 
Und  dafür  genügen  als  Beweis  die  von  mir  in  der  ersten  Studie  be- 
schriebenen Erscheinungen,  welche  dartun,  daß  das  Schmelzorgan 
kein  einheitliches,  sondern  ein  mehrfaches  Gebilde  ist.  In  der  genannten 
Studie  habe  ich  diesen  Beweis  für  die  Säugerzähne  im  allgemeinen  und 
die  Primatenzähne  auch  besonders  erbracht2). 

Bringt  nun  die  Rose  sehe  Arbeit  etwas,  das  auf  eine  mehrfache 
Natur  des  Schmelzorganes,  eine  Dreifachheit  also  in  longitudinaler 
Richtung,  hinweist  ?  In  keiner  Hinsicht  ist  das  der  Fall.  Er  führt  als 
Beweise  seiner  Meinung  an,  daß  er  bei  einer  sehr  frühen  Anlage  des 
letzten  Molaren  eines  22  cm  langen  Tieres  zwei  Papillen  dicht  neben- 
einander beobachtet  hat.  Der  Autor  bildet  dieselben  in  Fig.  5  ab. 
Nun  sind  diese  Papillen  —  wenn  man  wirklich  das  Bild  in  dem  Röse- 
schen  Sinne  deuten  will,  in  einer  frontalen  Ebene  gelagert,  und  können 
deshalb  schwerlich  als  ein  Beweis  von  Verwachsung  in  sagittaler  Rich- 
tung angeführt  werden.  Dann  gibt  der  Autor  ein  paar  Bilder  sehr 
schräger  Schnitte  durch  den  letzten  Molar  eines  9  cm  langen  Tieres. 
Es  standen  ihm  gar  keine  Embryonen,  sondern  nur  jugendliche  Tiere 
zur  Verfügung.  Diese  Bilder  geben  Raum  zur  Vermutung,  daß  die 
Dentinablagerung  bei  den  Zähnen  nicht  von  einer  einzigen  Stelle  aus- 
geht. Ganz  beweisend  sind  die  Bilder  auch  für  diese  Frage  eben  nicht. 
Denn  daß  in  Fig.  6  zwei  isolierte  Dentinplatten  in  einem  gemeinschaft- 
lichen Schmelzorgan  eingedrungen  erscheinen,  kann  auch  ein  durch 
die  sehr  unregelmäßig  schräg  verlaufende  Schnittrichtung  verursachtes 
Trugbild  sein. 

Ich  kann  in  der  Rose  sehen  Arbeit  über  Chamäleon  dann  auch 
keinen  einzigen  Beweis  finden,  weder  für  die  Berechtigung  seiner  oben 
zitierten  Schlußfolgerung,  noch  für  die  Konkreszenztheorie  im  Röse- 
schen  Sinne  überhaupt.  Und  wo  es  sich,  wie  der  Autor  meint,  um  einen 
schlagenden  Beweis  handelt  für  die  Richtigkeit  einer  auch  damals 
schon  angefochtenen  Theorie,  wäre  es  gewiß  erwünscht  gewesen,  wenn 
der  Autor  durch  eine  mehr  vollständige   Beschreibung  und  mehrere 

1)  R.  Burckhardt,  Das  Gebiß  der  Sauropsiden.  Morph.  Art».,  Bd.  V,  S.  377. 

2)  Notiz  bei  der  Korrektur.  Es  hat  jüngst  Ahrens  Bedenken  geäußert  gegen 
die  von  mir  dem  Schmelzseptum  zuerkannte  Bedeutung.  Ahrens:  Die  Entstehung 
des  Schmelzstranges  am  Schmelzorgan  von  Schweineembryonen.  Sitzungsber. 
Gesellsch.  f.  Morph,  u.  Phys.  in  München  1913.  Ich  werde  in  einer  besonderen 
Veröffentlichung  die  Frage  der  Bedeutung  des  Schmelzseptum  eingehend  behandeln. 
Nur  hier  sei  kurz  mitgeteilt,  daß  die  Beobachtungen  von  Ahrens  nicht  genügen, 
um  die  von  mir  dem  Schmelzseptum  zuerkannte  Bedeutung  zu  widerlegen. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  9 

Abbildungen  den  Leser  zu  einer  mehr  vollständigen  Beurteilung  des 
Falles  instand  gesetzt  hätte. 

Auch  Marett  Tims  kommt  in  seiner  sehr  eigentümlichen  Theorie 
über  die  Entstehung  der  Säugetierzähne1)  zur  Ansicht,  daß  nicht  nur 
eine  Fusion  von  Einzelzähnchen  in  longitudinaler  Richtung  stattge- 
funden hat,  sondern  daß  sogar  dieser  Vorgang  der  einzige  je  statt- 
gefundene Modus  von  Verwachsung  darstellen  sollte.  Allerdings  sollte 
das  nur  für  die  Molaren  gelten,  bei  den  Prämolaren  hat  niemals  eine 
solche  Konkreszenz  sich  vollzogen,  diese  Zähne  sind  reine  Differen- 
zierungsprodukte. In  welcher  Weise  die  inneren  Höcker  der  Molaren 
nach  der  Ansicht  des  genannten  Autors  entstehen,  ist  mir  aus  seiner 
Arbeit  nicht  recht  deutlich  geworden.  Die  eigenartige  Auffassung  des 
Autors  und  der  Gegensatz  zwischen  dem  Entwicklungsgang  von 
Prämolaren  und  Molaren  wird  vielleicht  etwas  erklärt  durch  die  Tat- 
sache, daß  er  die  Ansicht  über  die  Evolution  der  Prämolaren  auf  Grund 
von  hauptsächlich  vergleichend-anatomischen  Untersuchungen  bei 
Carnivorengebissen  aufgebaut  hat,  und  seine  Meinung  über  die  Ent- 
stehung der  Molaren  auf  embryologische  Untersuchungen  an  Roden- 
tiergebissen  stützt.  Daß  die  Untersuchung  solcher  fragmentarischer 
Gebisse  nicht  gerade  förderlich  ist  für  die  die  Konzeption  des  Gedankens, 
daß  es  etwas  Gemeinschaftliches  für  alle  Elemente  des  Gebisses  geltendes 
gibt,  liegt  auf  der  Hand. 

Was  nun  die  behauptete  Konkreszenz  in  longitudinaler  Richtung 
bei  den  Molaren  betrifft,  muß  der  Autor  die  Erklärung  abgeben:  ,,I  have 
not  yet  seen  anyactual  fusion  of  enamelgerms."  Er  genügt  sich  mit  einer 
Verweisung  nach  Roses  Befunde  an  Chamäleon,  und  führt  dazu  die 
Untersuchung  Harris ons  über  die  Entstehung  des  Gebisses  bei 
Hatteria  an2).  Dieser  Hinweis  ist  sehr  merkwürdig,  denn  Harris on 
erklärt  sich  in  dem  zitierten  Aufsatz  gerade  ein  Gegner  der  Konkre- 
szenztheorie zu  sein.  Die  Ergebnisse  und  Schlußfolgerungen  dieses 
Autoren  werde  ich  hier  kurz  einschalten.  Die  sogenannten  Fusions- 
erscheinungen in  longitudinaler  Richtung  am  Gebiß  von  Hatteria  sind 
zweierlei  Art.  Am  meisten  bekannt  sind  die  Frontzähne.  Diese  sollten 
durch  Fusion  oder  Konkreszenz  von  zwei  oder  drei  Zähnen  entstanden 
sein.  Über  diese  Bildungen  äußert  sich  Harris  on,  1.  c.  S.  148,  in 
folgender  Weise:  ,,A  more  recent  view  that  the  form  of  the  front-teeth 
is  due  to  fusion  is  ea  qually  erroneous.  There  is  no  fusion,  and  the  appea- 
rances  are  entirely  due  to  the  close  relations  of  the  simple  sub-coical 
teeth  to  the  bone,  wich  grows  out  some  distance  beyond  the  germs  and 
is  subject  to  the  grinding  action  of  the  opposing  jaw  after  the  enamel 
and  dentine  are  worn  away."  Diese  Bildung  bei  Hatteria  kann  somit 
nicht  weiter  als  Beweis  von  longitudinaler  Verwachsung  angeführt 
werden 

Die  zweite  Erscheinung,  welche  bei  Hatteria  eine  Konkreszenz 
vorzutäuschen  scheint,  hat  Harris  on  selbst  zum  ersten  Male  beschrieben. 
Es  betrifft  die  Zähne  im  Unterkiefer  der  von  diesem  Autor  sogenannten 
„alternating  Dentition",  welche  die  zweite  und  dritte  Dentition  bei 
Hatteria  repräsentieren  sollten.  Hiervon  gibt  der  Autor  folgendes  an: 

1)  Tims  H.  W.  Marett,  The  evolution  of  the  teeth  in  the  mammalia. 
Journ.  of  Anat.  and  Phys.  1903,  Vol.  XXXVII. 

2)  Harrison,  H.  S..  Hatteria  punctata,  its  Dentition  and  its  Incubation 
Period.    Anat.  Anz.  1902,  Bd.  XX. 


10  Erstes  Hauptstiick. 

„All  the  alternatiiig  teeth  in  the  lower  jaw  (except  porhaps  the  first 
three)  become  fused  together.  The  enamelorganes  appear  to  remain 
to  some  extend  undependent,  the  pulpcavities  of  the  fully  fornier 
tooth  do  not  communicate  directly  with  one  another.  We  have  here  a 
clear  case  of  concrescence  with  result  not  in  the  formation  of  a  true 
multieusped  tooth  but  rather  of  a  serrated  dentonal  ridge."  Ich  erinnere 
daran,  daß  ich  früher  schon  auf  Lophiurus  amboinensis  hingewiesen 
habe,  wo  ein  gleicher  Vorgang  stattgefunden  hat.  Der  hintere  Teil 
vom  Ober-  und  Unterkiefer  wird  von  einer  ununterbrochenen 
Zahnbeinleiste  gedeckt,  welche  wie  der  Hornbesatz  bei  den  Kiefern 
der  Testudinaten  funktioniert.  Die  Grenzen  der  ursprünglichen  Zähne 
sind  kaum  zu  erkennen,  da  ihre  freien  Spitzen  abgekaut  sind.  Will 
man  diese  Bildung  als  Zeugnis  für  longitudinale  Konkreszenz  anführen, 
dann  kann  auch  der  Hornkiefer  der  Testudinaten  mit  gleichem  Rechte 
als  solche  gelten.  Ähnlicher  Meinung  ist  auch  Harris on.  Denn  am 
Schlüsse  seiner  Aufsäzte  führt  er  aus :  It  is  of  little  value  to  the  uphol- 
ders  of  the  concrescence-theory  to  show  that  concrescence  may  at  present 
occasionally  occur,  unless  evidence  is  brought  forward  as  to  its  effi- 
ciency  as  an  evolutionary  process.  Concrescence  in  Hatteria  does 
not  pave  the  way  to  the  formation  of  tricuspid  or  multicuspid  tooth. 
The  evidence  derived  from  Hatteria  is  rather  adverse  than  favou- 
rable  to  it." 

Es  ist  mir  ganz  unbegreiflich,  daß  Timms  auf  diesen  Aufsatz 
von  Harris  on  verweist,  als  Stütze  für  seine  Meinung,  daß  ,,an  antero- 
posterior  fusion  of  the  tooth  of  the  same  dentition  in  the  true  molar 
regions  appears  to  be  the  only  Solution  of  the  difficulty  in  accounting 
for  the  duplex  condition  of  the  true  molars  of  the  greater  number  of 
mammals".  \~y 

Wir  konstatieren  somit,  daß  bis  jetzt  noch  kein  einziger  Beweis 
erbracht  worden  ist,  daß  jemals  eine  longitudinale  Verwachsung  von 
Zähnen  zu  Individuen  einer  höheren  Ordnung  stattgefunden  hat. 
Alles  was  man  darüber  bis  jetzt  in  der  Literatur  findet,  ist  reine  Hypo- 
these. Kükenthal,  der  einer  der  ersten  war,  um  diese  Konkreszenz- 
hypothese in  der  neueren  Literatur  wieder  in  den  Vordergrund  zu 
bringen,  hat  auch  keinen  einzigen  Grund  für  sie  anführen  können. 
In  seinem  Vortrag  über  den  Ursprung  der  Säugerzähne1)  geht  er  aus 
von  der  Überlegung,  daß  bei  Säugetieren,  deren  Kiefer  sich  verlängern, 
die  Backzähne  sich  in  eine  Mehrzahl  von  konisch  zugespitzten  reptilien- 
zahnartigen  Gebilde  teilen,  und  fragt  dann:  sind  nicht  die  Backzähne 
ebenso  entstanden  durch  Zusammentreten  einfacher  konischer  Reptilien- 
zähne infolge  von  Kieferkürzung?  Darauf  gibt  der  Autor  folgende 
Antwort  (1.  c.  S.  476):  ..Die  ältesten  bekannten  Säugetiere,  z.  B. 
Trikonodon,  zeigen  Backzähne  von  für  unsere  Hypothese  geforderten 
typischen  Bau.  je  drei  gleichartige,  hintereinander  liegende,  konische 
Kronenteile,  die  miteinander  verschmolzen  sind."  Hier  wird  einfach 
die  Verschmelzung  postuliert,  ohne  daß  der  geringste  Beweis  dafür 
erbracht  wird. 

Adloff,  der  die  Kükenthalsehe  Theorie  verteidigt:  Kon- 
kreszenz   bis    zum    trikonodonten    und    trituberkularen    Typus,    und 

1)  W.  Kükenthal,  Über  den  Ursprung  und  die  Entwicklung  der  Säugetier- 
zähne.   Jen.  Zeitschr.  f.  Naturw.,  N.  F.,  1892,  Bd.  XIX. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  \\ 

dann  weitere  Ausbildung  durch  Differenzierung,  hat  ebensowenig  bis 
jetzt  auch  nur  den  geringsten  Beweis  zur  Begründung  dieser  Meinung 
anführen  können. 

Das  Unzulängliche  der  von  Küken  thal  und  A  dl  off  angeführten 
sogenannten  Beweise  für  die  Konkreszenztheorie  ist  dann  von  Depen- 
dorf  in  einer  eingehenden  kritischen  Abhandlung  dargetan1).  In  dieser 
kommt  der  Autor  auf  seine  ursprüngliche  Meinung,  daß  die  Konkreszenz- 
theorie für  eine  Erklärung  der  Entstehung  der  Säugetierzähne  richtig 
sein  sollte,  zurück,  und  betont,  daß  alle  jene  Erscheinungen,  welche 
bei  der  Anlage  der  Zähne  bis  jetzt  als  Verwachsungserscheinungen  ge- 
deutet wurden,  gerade  in  umgekehrtem  Sinne  aufgefaßt  werden  müssen. 
Alle  jene  Fälle,  bei  denen  bisher  von  einer  Verschmelzung  die  Rede 
war,  sind  also  das  Gegenteil:  Trennungsvorgänge  (1.  c.  S.  552). 
Im  Prinzip  bin  ich  mit  dieser  Meinung  von  Dependorf  einverstanden, 
in  der  Ausarbeitung  jedoch,  welche  er  in  dem  erwähnten  Aufsatz  gibt, 
kann  ich  mich  ihm  nur  zum  Teil  anschließen.  Doch  werde  ich  im 
Hauptstück  „Über  das  Wesen  der  Zahnkonkreszenz"  besonders  auf 
diesen  Punkt  eingehen. 

Auch  von  Osborn  wird  der  trikonodonte  Zahn  --  den  man  bei 
den  mesozoischen  Säugetieren  so  ungemein  häufig  vertreten  findet  — 
als  eine  primitive  Phase  in  der  Entwicklung  des  Säugerzahnes  be- 
trachtet. Anfänglich  hat  dieser  Zahn  nur  eine  einzige  Wurzel.  Die 
drei  Spitzen  der  Krone  sind  jedoch  nicht  vollständig  gleichwertige 
Gebilde,  ein  Umstand,  der  sofort  ins  Auge  gefaßt  zu  werden  verdient. 
Jene,  welche  die  Mitte  einnimmt,  ist  genetisch  die  ältere,  und  auch 
meistenfalls  die  größte.  Sie  ist  das  Grundelement  des  Zahnes  und  ent- 
spricht den  nicht  mit  Nebenspitzen  versehenen  einfachen  Kegelzahn. 
Die  beiden  andern  sind  wirkliche  Nebenspitzchen,  können  der  mittleren 
an  Größe  gleichkommen  —  wie  z.  B.  bei  den  drei  oberen  und  unteren 
Molaren  von  Trikonodon  ferox  (Osborn  1907,  Fig  IIa)2)  sind  jedoch 
meistenfalls  kleiner.  Sie  sind  keine  primären  Elemente,  sondern  Diffe- 
renzierungen aus  der  Basis  der  Hauptkegel  hervorgegangen.  Bei  der 
Wahl  der  Nomenklatur  der  Spitzen  habe  ich  diesem  Umstand  Rechnung 
getragen.  Die  Hauptspitze,  sowohl  vom  Protomer  als  vom  Deuteromer 
werde  ich  mit  einem  lateinischen  Buchstaben  andeuten  und  zwar  jene 
des  Protomer  mit  P,  jene  des  Deuteromer  mit  D.  Die  Nebenspitz- 
chen dagegen  bezeichne  ich  mit  Ziffern,  und  zwar  jene  des  Protomer  mit 
i  und  2,  jene  des  Deuteromer  mit  j  und  4.  Diese  Bezeichnungsweise 
erschien  mir  am  meisten  empfehlenswert  und  bevorzugte  ich  nicht  nur 
weil  sie  die  meist  indifferente  ist,  sondern  auch  weil  sich  mit  ihrer  Hilfe 
in  bequemster  Weise  zum  Ausdruck  bringen  läßt,  was  ich  die  „Kronen- 
formel" des  Zahnes  nennen  will.  Was  ich  darunter  verstehe  und  von 
welchem  Nutzen  solche  Formel  für  eine  vergleichende  Untersuchung 
des  Zahnes  ist,  werde  ich  gleich  auseinandersetzen. 

Die  Hauptaufgabe  bei  dem  Verfolgen  der  allmählichen  Diffe- 
renzierung der  Zähne  ist  die  Homologie  der  Höcker  und,  soweit  möglich, 

1)  T.  Dependorf,  Zur  Frage  der  sogenannten  Konkreszenztheorie.  Jen. 
Zeitschr.  f.  Naturw.  1906,  Bd.  XLII. 

2)  Ich  werde  in  dieser  Arbeit  öfters  auf  Figuren  und  Text  vom  Sammel- 
werk verweisen,  worin  durch  Gregory  die  von  Cope- Osborn  erschienenen  Publi- 
kationen über  ihre  Differenzierungstheorie  zusammengefaßt  sind  (Evolution  of 
mammalian  molar  teeth,  to  and  from  the  triangulär  type.  New  York  1907.)  Ich 
werde  das  immer  in  der  abgekürzten,  hier  angewendeten  Weise  tun. 


12  Erstes  Hauptstück. 

auch  jene  der  Wurzel  festzustellen.  Wenn  man  nun  für  die  Bezeichnung 
jedes  Höckers  statt  einen  Namen  als  Symbol  einen  Buchstaben  oder 
Ziffer  wählt,  dann  kann  man  leicht  in  jedem  gegebenen  Falle  die  Morpho- 
logie der  Krone  durch  Nebeneinanderstellung  der  Symbole,  zum  Aus- 
druck bringen.  Und  wenn  man  dann  einer  bestimmten,  durch  die 
Natur  des  Kronenreliefs  von  selber  angewiesenen  Methode  dabei  folgt, 
kann  man  in  dieser  Weise  nicht  nur  das  Vorkommen  überhaupt 
der  Höcker,  sondern  auch  ihre  Lagerung  zueinander  zur  Schau 
bringen.  Die  Zusammensetzung  des  Zahnes  aus  einem  Protomer  und 
Deuteromer  bestimmt  in  natürlicher  AVeise  die  Schreibweise  der  Formel, 
indem  die  Symbole  der  Höcker  beider  Teile  durch  eine  horizontale 
Linie  getrennt  werden.  Oberhalb  der  Linie  finden  sich  dann  die  Sym- 
bolen der  Protomerenhöcker,  unterhalb  der  Linie  jene  des  Deuteromer. 
Es  sind  oben  die  Symbole  genannt,  mit  welchen  ich  die  sechs  Höcker, 
welche  der  Säugerzahn  in  Anlage  enthält,  unterscheide,  und  ich  werde 
jetzt  an  einigen  Beispielen  zeigen,  wie  sich  diese  zur  Aufstellung  von 
Kronenformeln  verwenden  lassen. 

Der  einfachste  Fall  ist  wohl  jener,  bei  dem  die  Zahnkrone 
nur  aus  dem  Haupthöcker  des  Protomer  besteht.  Dann  wird  die 
Kronenformel  aus  dem  einzelnen  Buchstaben  P  bestehen.  Denkt 
man  sich  nun  einen  Zahn,  dessen  Krone  aus  den  Haupthöckern  beider 
Odontomeren  —  also  des  Protomer  und  des  Deuteromer  —  besteht. 

P 
Von  diesem  Zahn  lautet  die  Kronenformel:  -_.     Durch  diese  einfache 

Schreibweise  ist  man  sofort  über  die  morphologische  Zusammen- 
setzung des  bezüglichen  Zahnes  orientiert.  Denkt  man  sich  nun  den 
Fall,  daß  vom  Protomer  auch  die  beiden  Nebenspitzchen  entwickelt 
sind,  vom  Deuteromer  jedoch  nur  die  Hauptspitze.   Ein  solches  Kronen- 

I    P  2 

relief  wird  durch  die  Formel  — ^ —  zum    Ausdruck    gebracht.      Und 

nehmen  wir  als  letztes  Beispiel  den  Fall,  daß  an  einem  Zahn  sämtliche 
Höcker  zur  Ausbildung  gelangt  sind,  dann  wird  dieser  Zustand  durch 

I   P  2 

die  Formel      n       ausgedrückt.     Der  Vorteil  der  Anwendung  solcher 

Kronenformeln  springt  sofort  ins  Auge.  Man  umgeht  lange  Um- 
schreibungen, und  durch  Nebeneinanderstellung  solcher  Formeln  ist 
man  imstande,  mit  einem  Blick  die  morphologischen  Beziehungen 
mehrerer  Zähne  zueinander  zu  übersehen.  Auch  weitere  Details  in  dem 
Vorkommen  der  Höcker,  oder  ihrer  Beziehung  zueinander,  kann  man 
durch  einfache  Hilfsmittel  zum  Ausdruck  bringen.  Sind  z.  B.  die 
beiden  Hauptspitzen  des  Zahnes  nur  da,  und  sind  sie  miteinander 
verwachsen,  dann  kann  man  das  in  der  Formel  folgenderweise  aus- 
drücken \--f\.  Es  sind  somit  die  Kronenformeln  für  die  einzelnen  Zähne 

ebenso  leicht  zu  hantierende  Hilfsmittel  bei  der  vergleichenden  Unter- 
suchung wie  die  Gebißformel  für  das  ganze  Gebiß.  Die  hier  beschriebene 
Methode  ist  nicht  neu.  Es  hat  schon  Winge  im  Jahre  1882  eine  der- 
artige Methode  angedeutet1).  Er  bezeichnete  die  Höckerchen  mit  den 
Zahlen  1 — 7  und  fügt  auch  diese,  in  einer  tabellarischen  Übersicht  der 

1)  H.  Winge,  Om  Pattedyrenes  Tandskifte  Vidensk.  Meddelelser  fra  d. 
naturhist.  Forening  i  Kjöbenhavn  1882. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  13 

Entwicklung  der  Säugerzähne,  jedesmal  in  einer  Figur  derart  zusammen, 
daß  Homologie  und  Topographie  sofort  ersichtlich  sind.  Es  muß 
wundernehmen,  daß  eine,  soweit  mir  bekannt,  vom  genannten  Verfasser 
inaugurierte,  so  äußerst  bequeme  Methode  in  der  Literatur  nicht  schon 
lange  eingebürgert  ist.  Leider  kann  ich  auf  die  Details  der  Winge sehen 
Abhandlung,  als  in  der  mir  unverständlichen  dänischen  Sprache  ge- 
schrieben, nicht  eingehen. 

Es  ist  schon  im  Voraus  bemerkt,  daß  ich  auch  der  Entwicklung 
der  Wurzel  bei  meiner  theoretischen  Auseinandersetzung  Rechnung 
tragen  werde.  Und  es  erscheint  dabei  erwünscht,  auch  diese  in  besonderer 
Weise  zu  unterscheiden.  Nun  ist  der  trikonodonte  Zahn,  da  er  nur  einem 
einzigen  Element  des  Gebisses  entspricht,  ursprünglich  wohl  ein- 
wurzelig gewesen.  Diese  Primärwurzel  werde  ich  in  der  Folge  mit  A 
bezeichnen.  Warum  ich  hier  von  Primärwurzel  spreche,  wird  bald 
deutlich  werden.  Kurz  zusammengefaßt  ist  mithin  die  primitive  Zahn- 
form als  eine  einwurzelige  mit  der  Kronenformel  i  P  2  anzudeuten. 

Die  erste  Erscheinung  einer  höheren  Ausbildung  glaube  ich  nicht 
im  Kronenteil,  sondern  im  Wurzelteil  des  Zahnes  suchen  zu  müssen. 
Wenn  man  die  verschiedenen  Abbildungen  trikonodonter  Zähne  von 
mesozoischen  Säugern  —  wie  sie  sich  z.  B.  in  Osborn  1907  in  über- 
großer Zahl  finden  —  durchmustert,  dann  fällt  es  auf,  daß  meistenteils 
diese  Zähne  zweiwurzelig  sind.  Das  gilt  nicht  nur  von  den  postkaninen 
Zähnen,  sondern  auch  der  Eckzahn  besitzt  nicht  selten  zwei  Wurzeln, 
die  wie  bei  den  weiter  nach  hinten  folgenden  als  eine  vordere  und 
hintere  gestellt  sind.  Die  amerikanischen  Forscher  spenden  dieser  Er- 
scheinung nur  wenig  Aufmerksamkeit,  was  nicht  wundern  darf,  da  ihre 
Theorie  sich  hauptsächlich  mit  den  weiteren  Entwicklungsphasen 
beschäftigt.  Nur  vorübergehend  hat  Osborn  in  einer  Ableitung  der 
Trituberkularform  die  Wurzel  als  systematisches  Kriterium  ver- 
wendet. In  einem  Aufsatze  von  1888  im  ..AmericanNaturalist"  erschienen, 
stellt  der  Autor  folgende  Entwicklungsstufe  für  den  Trituberkular- 
typus  auf:  a)  Haplodonter  Typus:  Einfacher  kegelförmiger  Zahn. 
Wurzel  einfach  und  mehr  von  der  Krone  abgesetzt.  Dieser  Typus 
ist  noch  nicht  unter  den  primitiven  Mammalien  aufgefunden,  b)  Pro- 
todonter  Subtypus:  Die  Zahnkrone  mit  einem  Hauptkegel  und 
Nebenspitze,  die  Wurzel  mit  Längsfurche.  Beispiel:  Dromatherium 
vom  amerikanischen  Trias,  c)  Trikonodonter  Typus:  Die  Krone  ist 
verlängert  mit  einer  zentralen  und  zwei  Nebenspitzen  und  zwei- 
facher Wurzel.  Beispiel:  Trikonodon.  In  der  bekannten  Weise 
leiten  die  amerikanischen  Forscher  von  letzterer  Form  ihren  Trituber- 
kulartypus  ab. 

Aus  obigem  geht  hervor,  daß  eine  zweifache  Wurzel  eine  bei 
der  Entwicklung  der  Säugetiere  sehr  früh  auftretende  Erscheinung  ist. 
Bekanntlich  kann  sie  auch  schon  bei  Reptilien  auftreten.  Wir  müssen 
etwas  tiefer  auf  diese  Erscheinung  eingehen,  denn  die  Beantwortung 
der  Frage,  woher  die  Zweizahl  der  Wurzel  bei  den  Zähnen  der  primi- 
tivsten Säuger  stammt,  ist  von  prinzipieller  Bedeutung.  Im  allgemeinen 
wird  der  Wurzelteil  der  Zähne  bei  der  Diskussion  über  Zahndiffe- 
renzierungen zu  viel  außer  Acht  gelassen.  Und  doch  ist  es  nicht  von 
der  Hand  zu  weisen,  daß  die  Geschichte  des  AVurzelteiles  und  jene 
des  Kronenteiles  der  Zähne  in  einer  gewissen  Abhängigkeit  voneinander 
verlaufen  müssen.     Denn  die  Differenzierung  des  einen  Abschnittes 


14  Erstes  Hauptstück. 

muß  jene  des  anderen  beeinträchtigen.  Krone  und  Wurzel  oder  Wurzel- 
komplex  bilden  eine  funktionelle  Einheit  und  daher  soll  man  auch  in 
morphologischem  Sinne  die  beiden  Teile  nicht  in  allzu  starkem  Gegen- 
satz zueinander  bringen,  unter  Hinweis  darauf,  daß  die  Wurzel  nur 
sekundäre  Bildungen  sind.  Denn  man  behalte  im  Auge,  daß  auch  die 
Modellierung  des  intraalveolaren  Teiles  der  Zähne  durch  die  Aktivität 
des  Schmelzorganes  zustande  kommt.  Es  ist  dieses  Organ  das,  wie  es 
von  Brunn  zuerst  in  überzeugender  Weise  nachwies1),  durch  Ein- 
wucherung  in  bestimmter  Richtung  im  basalen  Teil  der  Zahnpapille 
die  Zahl  und  Stellung  der  Wurzeln  bestimmt.  Bildung  und  Um- 
bildung am  Wurzelteil  der  Zähne  kommt  somit  durch  das  nämliche 
Organ  zustande,  welches  dem  Kronenteil  das  Emaille  liefert  und  da- 
durch auch  am  Zustandekommen  des  Kronenreliefs  beteiligt  ist.  Nach 
von  Brunn  ist  sogar  die  schmelzbildende  Funktion  nur  als  eine  akzes- 
sorische zu  betrachten,  die  Hauptfunktion  des  Epithelorganes  sei  ge- 
rade die  formbestimmende  (1.  c.  S.  381).  Diese  Meinung  erhielt  bald 
eine  tatsächliche  Grundlage  durch  den  von  Ballowitz  gemachten 
Befund,  daß  bei  den  schmelzlosen  Zähnen  der  Edentaten  ein  Schmelz- 
organ zur  Entwicklung  gelangt  mit  allen  Eigentümlichkeit  dieses  Organes 
bei  den  schmelzführenden  Zähnen  anderer  Säugetiere2).  Durch  Rose 
ist  dann  später  das  Prinzip  auch  als  gültig  erkannt  für  die  placoiden 
Zähne3).  Auch  der  Umstand,  daß,  oftmals  eine  Anomalie  in  der  Aus- 
bildung der  Krone  mit  einer  solchen  der  Wurzel  verknüpft  ist,  weist  auf 
die  enge  Beziehung  beider  Zahnabschnitte  hin. 

Da  nun  von  der  Seite  der  Konkreszenztheoretiker  die  Zweizahl 
der  Wurzel  bei  den  so  primitiv  gestalteten  Zähnen  wie  jene  von  Tri- 
konodon  und  dessen  Verwandten  als  ein  Beweis  angesehen  werden 
kann,  daß  auch  dieser  Zahn  schon  durch  Verwachsung  von  zwei  Einzel- 
zähnen  entstanden  sein  sollte,  was  meiner  Meinung  nach  bestimmt 
unrichtig  ist,  werden  wir  auf  die  Genese  dieser  beiden  Wurzeln  etwas 
näher  eingehen.  Es  ist  wohl  nicht  zweifelhaft,  daß  die  beiden  Wurzeln, 
welche  als  eine  vordere  und  hintere  nebeneinander  gelagert  sind,  aus 
der  ursprünglichen  Primärwurzel  A  entstanden  sind.  Im  Anschluß 
an  die  Verlängerung  der  Krone  in  mesio-distaler  Richtung,  erlangte 
auch  die  Wurzel  eine  mehr  plattenförmige  Gestalt.  Dann  trat  in  der 
Mitte  eine  Längsfurche  auf,  wie  es  von  Osborn  gerade  als  Kenn- 
zeichen seines  protodonten  Subtypus  hervorgehoben  wird,  und  indem 
die  Furche  tiefer  eindrang,  zerlegte  sie  schließlich  die  ursprüngliche 
Wurzel  in  eine  vordere  und  hintere  Hälfte.  Die  beiden  Wurzeln  sind 
somit  Schwestergebilde,  sie  stellen  keine  primären  Bildungen  dar, 
es  sind  Sekundärwurzeln,  die  in  besonderer  Weise  bezeichnet  werden 
müssen.  Ich  werde  sie,  um  ihre  Beziehung  zur  Primärwurzel  A  zum 
Ausdruck  zu  bringen,  als  Ax  und  A2  unterscheiden.  Die  vordere  bezeichne 
ich  als  Ax.  Ich  bemerke  jedoch,  daß,  wiewohl  der  zweiwurzelige  tri- 
konodonte  Zahn  aus  dem  einwurzeligen  hervorging,  und  die  Krone 
des  Zahnes  mithin  keine  morphologisch  höhere  Ausbildung  aufwies, 
es  doch,  meiner  Ansicht  nach,  die  Verlängerung  und  Abplattung  der 


1)  A.  v.  Brunn,  Über  die  Ausdehnung  des  Schmelzorganes  und  seine  Be- 
deutung für  die  Zahnbildung.    Arch.  f.  mikroskop.  Anat.  1887,  Bd.  XXIX. 

2)  E.  Ballowitz,  Das  Schmelzorgan  der  Edentaten  usw.    Arch.  f.  mikroskop 
Anat.  1892. 

3)  C.  Rose,  Über  die  Zahnentwicklung  der  Fische.   Anat.  Anz.  1894,  Bd.  IX. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  15 

Krone  war,  welche  den  Impuls  zur  Wurzelverdoppelung  abgab.  In 
dieser  Beziehung  zwischen  Kronen-  und  Wurzelteü  des  Zahnes,  stimme 
ich  mit  Leche.1)  überein,  der  zu  dem  folgenden  Schluß  kam: 
„Alle  äußeren  Einwirkungen  greifen  in  erster  Instanz  die  Zahnkrone 
an.  Die  Differenzierung,  die  Komplikation  der  Krone  ist  deshalb  das 
primäre  Moment  und  zieht  die  Komplikation  der  Zahnwurzel  nach 
sich"  (1.  c.  S.  536). 

Es  erhebt  sich  nun  die  Frage,  welches  die  Ursache  gewesen  sein 
kann,  daß  die  Primärwurzel  sich  spaltete,  denn  die  Abplattung  dieser 
Wurzel  war  zwar  eine  Vorbedingung  für  die  Furchen-  und  Spaltbildung, 
aber  letztere  folgte  nicht  notwendig  aus  ersterer.  Nun  ist  es  leicht 
einzusehen,  daß  die  Verdoppelung  der  Wurzel  von  Nutzen  war,  da  hier- 
durch eine  widerstandskräftigere  Befestigung  im  Kiefer  ermöglicht 
wurde,  besonders  wenn  die  beiden  Wurzeln  mehr  oder  weniger  diver- 
gieren. Aber  diese  Tatsache  ist  immerhin  nur  als  das  Resultat  der  Teilung 
zu  betrachten,  und  darf  nicht  als  die  Veranlassung  dazu  aufgefaßt 
werden.  Es  kommt  mir  am  wahrscheinlichsten  vor,  daß  die  Wurzel- 
spaltung eine  Äußerung  des  nämlichen  Prinzipes  ist,  das  bei  dem  Zu- 
standekommen der  inneren  Struktur  des  Skelettes  eine  hervorragende 
Stelle  einnimmt,  das  bekannte  Prinzip  des  größten  Widerstandes  bei 
möglichst  wenig  Substanz.  Denn  ist  die  Wurzelspaltung  einmal  fertig 
und  divergieren  dazu  die  Sekundärwurzeln  noch  ein  wenig,  dann  stellen 
sie  gleichsam  die  beiden  Pfeiler  eines  Gewölbes  dar,  das  die  Krone  trägt. 
Dem  auf  letzteres  ausgeübte  Druck  vermögen  sie  ebenso  großen  Gegen- 
druck zu  bieten,  als  wenn  der  Raum  zwischen  ihnen  mit  Substanz 
ausgefüllt  wäre.  Das  Verschwinden  der  zwischen  den  beiden  Wurzeln 
sich  ursprünglich  findenden  Substanz  ist  somit  in  gleichem  Sinne  als 
eine  Inaktivitätsatrophie  zu  betrachten,  als  das  Verschwinden  von 
Knochensubstanz  im  Innern  der  Skeletteile  mit  Aussparung  der  Tra- 
jektorensysteme. 

So  erscheint  somit  auch  die  erste  höhere  Differenzierung  im 
Wurzelteil  des  Zahnes  als  die  Äußerung  einer  funktionellen  Anpassung. 
Denn  der  bei  den  Säugetieren  zur  Entwicklung  kommende  Kauakt 
setzte  die  Zähne  einem  gesteigerten  Druck  aus.  Und  auf  diese  höhere 
Beanspruchung  reagierte  die  Zahnform  durch  Umbildung  in  ein, 
in  mechanischer  Hinsicht  vollkommeneres  Gebilde.  Es  darf  uns  dann 
auch  nicht  wundern,  daß  diese  höhere  Form  zuerst  bei  den  hinteren 
Zähnen  auftritt,  die  vorderen,  welche  die  ursprüngliche  Aufgabe  des 
Ergreifens  der  Beute  behielten,  bewahrten  die  ursprüngliche  Form. 
Bekanntlich  waren  die  älteren  Anatomen  der  Ansicht,  daß  ein  zwei- 
wurzeliger Zahn  ein  typisches  Säugermerkmal  sein  sollte.  So  z.  B. 
Owen2):  ,,Any  organic  fossil  which  exhibits  a  tooth  implanted  by 
two  fangs  in  a  double  socket  must  he  mammiferous' .  Dieser  Stand- 
punkt ist  jedoch  jetzt  verlassen.  Es  kommen  unter  den  fossilen  Sauro- 
psiden  Formen  mit  zweiwurzeligen  Zähnen  vor3). 

Durch  den  oben  entwickelten  Gesichtspunkt  erlangt  die  Anatomie 
auch  des  Wurzelteiles  vom  Zahn,  die  Zahl  der  Wurzel  und  ihre  Stellung 
zueinander  eine  mehr  mechanische  Bedeutung.     Es  muß  jedoch  gegen 

1)  W.  Lee  he,  Studien  über  die  Entwicklung  des  Zahnsystems  bei  den 
Säugetieren.    Morph.  Jahrb.  1892,  Bd.  XIX. 

2)  R.  Owen,  Odontographie,  Bd.  I,  S.  25. 

3)  Zittel,  Paläontologie,  Bd.  I,  3,  S.  753. 


16  Erstes  Hauptstück. 

eine  Verallgemeinerung  des  vorgetragenen  Gesichtspunktes  zur  Er- 
klärung aller  morphologischer  Erscheinungen  im  Wurzelkomplex  der 
Zähne  sofort  gewarnt  werden.  Denn  wie  bald  dargelegt  werden  soll, 
ist  das  Vorkommen  von  allen  Wurzeln  nicht  in  obenstehender  Weise 
zu  erklären.  Wäre  das  der  Fall,  dann  sollten  sämtliche  Wurzeln  auf  die 
Primärwurzel  ,-1  des  trikonodonten  Zahnes  zurückgeführt  werden 
müssen.  Und  das  ist  nicht  der  Fall.  Gleich  wie  der  Kronenteil  ist  auch 
der  Wurzelteil  des  Zahnes  ein  Resultat  von  Differenzierung  und  Kon- 
kreszenz, und  es  sei  gerade  Aufgabe  besonderer  Untersuchung,  zu 
bestimmen,  welchen  Anteil  beide  Vorgänge  am  definitiven  Zustande 
genommen  haben.  In  dieser  Hinsicht  ist  die  Dirne rtheorie  der  Zahn- 
entwicklung in  ihrer  methodischen  Ausarbeitung  sowohl  der  Trituber- 
kulartheorie  als  der  geläufigen  Konkreszenztheorie  überlegen.  Denn 
erstere  bringt  nur  ein  System  von  Homologien  der  Molarenhöcker 
und  letztere  stellt  jemand  für  das  Dilemma:  entweder  muß  jedem 
Höcker  ursprünglich  eine  eigene  Wurzel  besessen  haben,  wie  z.  B.von 
Gorjanovic-Kramberger  behauptet  wird,  oder  die  Wurzeln  haben 
gar  keine  entwicklungsgeschichtliche  Bedeutung.  Erstere  Auffassung 
steht  mit  den  paläontologischen  Befunden  in  Widerspruch.  Und  bei  der 
zweiten  Ansicht  verfällt  man  in  den  Fehler,  von  einer  morphologischen 
und  funktionellen  Einheit  einen  Werdegang  aufzustellen,  welcher  nur  auf 
die  Erscheinungen  eines  Abschnittes  dieser  Gebilde  basiert  ist.  Denn 
es  sei  noch  einmal  wiederholt:  Wurzel-  und  Kronenteil  des  Zahnes 
bilden  eine  Einheit,  und  eine  Untersuchung  über  die  historische  Ent- 
wicklung dieser  Elemente  muß,  um  vollständig  zu  sein,  das  ganze  Ge- 
bilde zum   Gegenstand  haben. 

Nun  werde  ich  auf  die  interessante  Frage,  ob  zwischen  Höcker- 
bildung und  Wurzelzahl  eine  Beziehung  besteht,  im  Laufe  dieser  Arbeit 
nicht  weiter  eingehen.  Nur  möchte  ich  an  dieser  Stelle  durch  ein  ein- 
faches Beispiel  zeigen,  daß  die  Verhältnisse  nicht  so  einfach  sind,  und 
erst  infolge  einer  systematischen  Untersuchung  eine  richtige  Deutung 
erfahren  können. 

Bekanntlich  ist  der  untere  Eckzahn  des  Ersatzgebisses  beim 
Menschen  bisweilen  zweiwurzelig.  Weniger  bekannt  darf  es  sein,  daß 
bei  gewissen  Affen,  z.  B.  Macacus  und  Siamang  der  obere  Eckzahn  des 
Milchgebisses  sogar  nicht  selten  ebenfalls  zweiwurzelig  ist,  besonders 
beim  letztgenannten  Affen.  Leche  hat  nämliche  Erscheinungen  auch 
bei  Galago  crassicaudatus  und  beim  permanenten  Eckzahn  von  Lemur 
varius  konstatieren  können1).  Auch  der  obere  Milchcaninus  des  Menschen 
zeigt  bisweilen  diese  Variation.  Obgleich  man  nun  in  beiden  Fällen  von 
zweiwurzeligen  Canini  sprechen  darf,  sind  demnach  die  beiden  Fälle 
in  ihrem  Wresen  grundverschieden,  was  schon  daraus  hervorgeht,  daß 
beim  Milcheckzahn  die  beiden  Wurzeln  als  eine  vordere  und  hintere 
und  beim  permanenten  Caninus  als  eine  bukkale  und  linguale  gelagert 
sind.  Die  Wurzelverdoppelung  beim  Milcheckzahn  —  wie  sie  auch 
gelegentlich  bei  den  Milchincisivi  niederer  Affen  vorkommt  —  ist  eine 
Erscheinung,  identisch  mit  der  Spaltung  der  Primärwurzel  A  bei  den 
mesozoischen  Säugern  in  den  beiden  Sekundärwurzeln  Ax  und  A2. 
Sie  wird  durch  das  nämliche,  oben  namhaft  gemachte  Moment  bedingt. 
Die  Wurzeln  dieser  Milchzähne  sind  immer  stark  seitlich  abgeplattet 

1)  Untersuchung  über  das  Zahnsystem  lebender  und  fossiler  Halbaffen. 
Festschr.  f.  Gegenbaur,  III,  S.  139. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  17 

und,  wenn  es  nicht  zu  einer  reellen  Spaltung  gekommen  ist,  dann  trifft 
man  immerhin  eine  Furche,  welche  das  breite,  abgeplattete  Ende  der 
Wurzel  zweispitzig  gestaltet.  Es  besteht  hier  somit,  wie  auch  von 
Leche  angenommen  wird,  eine  progressive  Bildung.  Beim  permanenten 
Eckzahn  jedoch  hat  die  Zweiwurzeligkeit  eine  ganz  andere  Bedeutung. 
Hier  ist  die  Erscheinung  der  Äußerung  der  Zusammensetzung  des 
Zahnes  aus  zwei  Primärelementen,  einem  Protomer  und  einem  Deutero- 
mer,  und  es  entspricht  dann  auch  jede  Wurzel  je  einem  dieser  Elemente. 
Es  sind  also  zwei  Primärwurzeln.  Ich  werde  noch  Gelegenheit  haben, 
auf  diese  Unterschiede  näher  einzugehen. 

Kehren  wir  nach  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  über  die 
Anatomie  der  Wurzel  zum  Ausgangspunkt  zurück. 

Der  dreispitzige,  zweiwurzelige  Zahn  ist  jener,  den  man,  nach  den 
Darstellungen  von  Cope-Osborn,  bei  den  ältesten  Säugetieren  im 
oberen  Trias  am  häufigsten  vertreten  findet.  Diese  Tatsache  scheint 
im  Widerspruch  zu  stehen  mit  dem  Grundsatz  meiner  Theorie,  nach 
welcher  der  Säugerzahn  gerade  ein  dimeres  Gebilde  darstellt,  aus  der 
Vereinigung  von  zwei  in  bukko-lingualer  Richtung  nebeneinander 
gelagerter  Zahnkeime  entstanden.  Und  nun  kommt  es  heraus,  daß  bei 
den  ältesten  Säugern  von  dieser  Dimerie  nichts  zu  sehen  ist.  Zu  diesem 
Punkte  möchte  ich  nun  folgendes  bemerken. 

Einen  Widerspruch  zwischen  dem  Grundprinzip  meiner  Theorie 
und  den  paläontologischen  Befunden  kann  man  nur  dann  erblicken, 
wenn  man  der  Meinung  ist,  daß  nicht  zwei  Zahnkeimen  die  Verschmel- 
zung angingen,  sondern  zwei  wohlausgebildete  dreispitzige  Zähnen. 
Und  gegen  eine  solche  Deutung  meiner  Anschauung  habe  ich  am  Ein- 
gang dieser  Studie  ausdrücklich  Stellung  genommen.  Es  haben  sich 
Zahnanlagen  miteinander  verbunden,  in  der  Weise,  wie  ich  das  in  dem 
Abschnitt  ,,Über  das  Wesen  der  Konkreszenz"  näher  auseinandersetzen 
werde.  Der  bukkale  Komponent  des  Zahnes  entspricht  der  älteren 
Generation  und  ist  daher  bei  dem  lingualen  immer  in  Entwicklung  vor. 
Bei  den  primitivsten  Säugern  darf  es  uns  dann  auch  nicht  wundern, 
daß  der  ganze  Zahn  fast  ausschließlich  vom  Protomer  gebildet  wird. 
Doch  ist  auch  bei  den  Trikonodonten  das  Deuteromer  nicht  ganz  ab- 
wesend. Ich  bedauere,  daß  das  Material  mir  nicht  persönlich  für  eine 
genaue  Untersuchung  zur  Verfügung  steht,  und  daß  ich  mich  deshalb 
mit  einem  Studium  der  Abbildungen  begnügen  muß,  die  Cope-Os- 
born von  den  Zähnen  der  trikonodonten  Gruppe  der  Ursäuger  geben. 
Diese  Abbildungen  und  einige  Äußerungen  im  Text  genügen  jedoch 
für  unseren  Zweck.  Wenn  man  nämlich  die  Abbildungen,  welche 
Cope-Osborn  (0.  1907)  von  Zähnen  aus  der  Gruppe  der  Trikono- 
dontae  geben,  genau  betrachtet,  dann  fällt  es  auf,  daß  mit  nur  wenigen 
Ausnahmen  diese  Zähne  an  der  Lingualseite  mit  einem  mehr  oder 
weniger  entwickelten  Cingulum  ausgestattet  sind.  Dieses  Merkmal 
ist  so  konstant,  daß  Osborn  (0.  1907,  S.  21)  es  unter  den  Typenmerk- 
malen der  Trikonodonten  aufnimmt.  Er  gibt  1.  c.  für  die  Trikono- 
dontidae  folgende  Typenbeschreibung:  „Probably  carnivorous  pro- 
marsupials.  Molars  with  three  stout  crest  cusps,  the  anterior  and  posterior 
cusps  derived  from  the  crown,  and  a  strong  internal  cingulum"  usw. 
Und  auf  S.  LI  heißt  es:  „The  trikonodont  type  reappears,  with  the 
addition  of  a  cingulum  and  paired  fangs  in  Amphilestes  of  the  lower 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  ^ 


18  Erstes  Hauptstück. 

Jurassic  and  persists  in  Triconodon  of  the  upper  Jurassic."  Es  wären 
noch  mehrere  Zitate  aus  der  genannten  Arbeit  zu  entnehmen,  die  ge- 
gebenen genügen  jedoch  zum  Beweise,  daß  bei  den  primitiven  Säugern 
außer  den  drei  zum  Protomer  gehörigen  Spitzen  an  der  Lingualseite 
des  Zahnes  eine  Relieferscheinung  hinzutritt,  in  der  Form  eines  die 
ganze  hänge  der  Zahnkrone  einnehmenden  Bandes.  Welches  ist  die 
Bedeutung  desselben  und  woher  rührt  es?  Ich  glaube  nicht  fehl  zu 
gehen,  wenn  ich  dieses  Cingulum  als  die  ganz  rudimentäre,  noch  nicht 
differenzierte  Manifestation  des  Deuteromer  ansehe,  also  zurückführe 
auf  die  Tätigkeit  des  lingualen,  in  der  Bildung  des  Säugetierzahnes 
aufgegangenen  zweiten  Zahnkeimes.  Dieses  Cingulum  enthält  somit 
potentia  einen  dreispitzigen  Zahn,  und  wir  werden  sehen,  daß  es  nun 
gerade  das  Hauptmerkmal  der  historischen  Entwicklung  des  Säuger- 
zahnes ist,  daß  allmählich  dieses  morphologische  Potenz  mehr  apert 
wird,  bis  als  vollkommenste  Form  das  Cingulum  sich  zu  einem  drei- 
spitzigen Kronenteil  herausgebildet  hat.  Auch  an  solchen  Zähnen  trifft 
man  bisweilen  noch  an  der  Lingualseite  der  Krone  ein  mehr  oder  weniger 
entwickeltes  Cingulum  an.  Für  die  Bedeutung  dieser  Bildung  verweise 
ich  nach  meiner  ersten  Studie  S.  117. 

Bei  den  primitivsten  Säugerzähnen  ist  somit  die  Differenz  zwischen 
der  Ausbildung  von  Protomer  und  Deuteromer  am  ansehnlichsten. 
Und  bei  jenen  Zähnen  höher  differenzierter  Gebisse,  welche  funktionell 
noch  am  meisten  mit  den  Zähnen  in  dem  Gebiß  der  Ursäuger  überein- 
stimmen, nämlich  bei  den  Incisiven,  hat  sich  dieser  große  Unterschied 
zwischen  protomerem  und  deuteromerem  Teil  des  Zahnes  noch  be- 
wahrt. 

Es  ist  nun  sehr  merkwürdig  und  für  die  Ungleichwertigkeit  beider 
Teile  des  Zahnes  direkt  beweisend,  daß,  wenn  bei  den  höheren  Säugern 
ein  Zahn  oder  das  ganze  Gebiß  einen  regressiven  Entwicklungsgang 
eingeschlagen  hat,  dieser  Unterschied  zwischen  beiden  Zahnabschnitten 
aufs  neue  immer  stärker  hervortritt,  so  daß  schließlich  Zähne  ent- 
stehen, welche  jenen  der  Ursäuger  vollständig  ähnlich  sind.  So  tritt 
z.  B.  bei  Phoca  der  zweiwurzelige  dreispitzige  Zahn  wieder  in  so  reiner 
Form  auf,  daß  er  der  Form  nach  mit  einem  der  jurassischen  Säuge- 
tiere verwechselt  werden  konnte. 

Ich  möchte  jetzt  die  Frage  noch  kurz  berühren,  ob  auch 
bei  den  jetzt  lebenden  Primaten  dieser  einfache  trikonodonte  Zahn 
noch  vorkommt.  Wenn  man  auf  die  ungeheuere  Zeitdauer  achtet, 
welche  die  jetzt  lebenden  Formen  von  jenen  trennt,  bei  dem  der  zwei- 
wurzelige trikonodonte  Zahn  zum  ersten  Male  als  eine  höhere  Stufe 
der  Entwicklung  erschien,  dann  würde  man  nicht  ohne  eine  gewisse* 
Zurückhaltung  diese  Frage  zustimmend  beantworten.  Wenn  man 
jedoch  bedenkt,  daß  die  phylogenetische  Entwicklung  des  Gebisses 
als  Ganzes  der  Hauptsache  nach  eine  fortdauernde  Ungleichwertig- 
machung  der  einzelnen  Elemente  ist,  wobei  die  Progression  desto 
stärker  sich  äußert,  je  mehr  der  Zahn  rückwärts  gelagert  ist,  dann  er- 
scheint es  weniger  befremdend,  daß  im  vorderen  Teil  des  Gebisses 
Elemente  sich  noch  auf  dieser  niedrigen  Stufe  der  Entwicklung  finden. 
Als  Beispiel  davon  nenne  ich  an  dieser  Stelle  nur  den  zweiwurzeligen, 
mit  seitlich  komprimierter,  dreispitziger  Krone  ausgestatteten  ersten 
Prämolar  von  Stenops  gracilis  und  Cheirogaleus  Smithii. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  19 

B.  Die  Sechshöckerphase. 

In  diesem  Abschnitt  werden  wir  zunächst  systematisch  nach- 
weisen, wie  die  dimere  Natur  des  Zahnes,  die  bei  dem  rein  trikonodonten 
Zahn  nur  durch  die  Anwesenheit  eines  einfachen  Cingulum  an  der 
Innenseite  der  Zahnkrone  sich  verrät,  immer  deutlicher  hervortritt. 
Anfangend  als  ein  niedriger  Höcker  an  der  lingualen  Seite  (h^  Zahnes, 
werden  wir  es  bis  zur  Entstehung  eines  vollständig  dreispitzigen  Ge- 
bildes verfolgen.  Im  Anschluß  daran  werden" wir  eine  Übersicht  der 
Zahnformen  geben,  welche  durch  Spezialisierung  als  abgeleitete  Formen 
von  diesen  reinen  Typen  zu  betrachten  sind.  Es  wird  sich  in  diesem 
Abschnitt  also  zunächst  um  die  morphologische  Entfaltung  des  Deutero- 
mer  handeln,  sodann  um  die  besondere  Spezialisierungen,  welche  zum 
Teil  den  Charakter  von  Regression  tragen. 

Durch  die  höhere  Differenzierung  des  Deuteromer  wird  der  obere 
Säugerzahn  somit  der  Hauptsache  nach  in  transversaler  Richtung 
mehr  und  mehr  zusammengesetzt.  Er  bekommt  eine  wahre  Reibefläche. 
Diese  höhere  Ausbildung  des  Zahnes  versucht  die  Trituberkulartheorie 
bekanntlich  durch  die  Transgressionshypothese  zu  erklären.  Diese 
Hypothese,  welche  gleichzeitig  den  Kernpunkt  der  ganzen  Theorie 
bildet,  ist  wohl  einer  der  schwächsten  und  meist  angefochtenen  Punkte 
der  von  den  amerikanischen  Paläontologen  aufgestellten  Trituberkular- 
theorie. Wie  allgemein  bekannt  ist,  sollte  die  Entstehung  des  Tri- 
tuberkulartypus  in  der  Weise  vor  sich  gegangen  sein,  daß  der  mittlere 
Haupthöcker  —  der  Protoconus  —  des  trikonodonten  Zahnes  am 
Oberkiefer  lingualwärts  sich  vorschob,  und  im  Unterkiefer  bukkalwärts. 
Dadurch  entstand  ein  Zahn  mit  dreieckiger  Krone,  wobei  die  Basis 
bei  den  oberen  Molaren  (denn  die  Cope-Osbornsche  Theorie  hat  nur 
auf  die  Molaren  Bezug)  nach  außen,  bei  den  unteren  nach  innen  gekehrt 
war.  Jene  Spitze,  welche  mit  dem  einfachen  Kegelzahn  der  Reptilien 
homolog  ist,  würde  somit  bei  den  oberen  und  unteren  Molaren  keine  über- 
einstimmende Stelle  mehr  einnehmen,  oben  liegt  sie  lingual,  unten  bukkal. 
Gegen  diese  Vorstellung  ist  sowohl  von  embryologischer  als  von  palä- 
ontologischer Seite  Widerspruch  erhoben  wTorden. 

Wohl  alle  Forscher,  welche  sich  mit  der  Ontogenese  der  Zähne 
beschäftigt  haben,  sind  einstimmig  in  ihrem  Urteil,  daß  die  Trans- 
gressionshypothese nicht  aufrecht  erhalten  werden  kann,  da  sie  im 
Streit  ist,  besonders  mit  der  Reihenfolge,  worin  die  Höcker  der  Mahl- 
zähne erscheinen.  Wenn  die  Cope-Osbornsche  Ansicht  richtig  wäre, 
dann  sollte  bei  den  oberen  Molaren  ein  innerer  Höcker,  und  zwar  der 
vordere  oder  mesiale,  ontogenetisch  zuerst  erscheinen,  am  frühesten 
eine  Dentinbildung  zeigen  und  der  erste  sein,  der  einen  Schmelzüberzug 
erhielt.  Das  hat  sich  nun  nicht  bestätigt.  Die  Untersuchungen  von 
Taeker  bei  Ungulaten,  von  Rose  beim  Menschen  und  Marsupialiern, 
von  Woodward  bei  den  Insectivoren  und  von  Lee  he  bei  Marsupialiern 
stimmen  alle  darin  überein,  daß  im  Oberkiefer  zunächst  der  vordere 
bukkale  Höcker  —  also  der  Paraconus  von  Osborn  —  sich  bildet,  und 
daß  der  linguale,  der  Protoconus,  erst  an  zwreiter  oder  dritter  Stelle 
kommt.  Diese  Erscheinung  —  die  ich  sowohl  für  platyrrhine  als  für 
katarrhine  Affen  bestätigen  kann  —  ist  schwer  mit  dem  von  Cope- 
Osborn  aufgestellten  Differenzierungsvorgang  zu  vereinbaren.  Denn 
der   ursprüngliche    Haupthöcker  sollte   doch   auch   ontogenetisch   am 

2* 


20  Erstes  Hauptstück. 

ersten  erscheinen,  und  seine  Differenzierung  jener  der  anderen  —  welche 
nur  Nebenhöcker  waren  —  vorangehen.  Für  die  unteren  Molaren  be- 
steht dieser  Widerspruch  nicht,  eben  weil  nach  der  Vorstellung  der 
amerikanischen  Paläontologen  der  Protoconus  hier  nach  der  Außen- 
seite des  Zahnes  rückte. 

In  dem  schon  mehrfach  erwähnten  Sammelwerk  hebt  Osborn 
öfters  diese  Übereinstimmung  zwischen  den  embryologischen  Befunden 
und  seiner  Differenzierungstheorie,  was  die  unteren  Molaren  betrifft, 
hervor.  In  bezug  auf  die  oberen  scheint  bei  0  s  b  o  r  n  die  Überzeugung  der 
Richtigkeit  seiner  Theorie  ins  Schwanken  geraten  zu  sein.  Denn  am 
Schluß  des  Werkes  (S.  227)  schreibt  er:  ,,It  must  not  be  understood  by 
the  reader  that  the  author  of  this  volume  is  doggedly  maintaining  a 
theory  of  the  origin  of  the  upper  molars,  simply  from  personal  reasons. 
On  the  contrary  he  believes  the  question  to  be  still  sub  judice  and  will 
be  the  first  to  acknowledge  his  error  if  error  ist  proved  to  be.  The  author 
moreover  feels  the  füll  force  of  the  very  strong  evidence  arrayed  against 
the  Cope- Osborn  view.  The  evolution  of  the  upper  molars  is  certainly 
not  so  simple  as  it  at  first  appeared." 

Meine  Bedenken  gegen  die  Cope-Osbornsche  Theorie  im  all- 
gemeinen, und  gegen  die  Transgressionshypothese  im  besonderen, 
werde  ich  erst  am  Schlüsse  dieses  allgemeinen  Teiles  auseinandersetzen, 
und  dabei  auch  die  von  Gidley  auf  Grund  paläontologischer  Unter- 
suchungen gemachten  Beschwerden  gegen  diese  Theorie  kennen  lernen. 

Die  einfachste  Form  der  Zähne,  wobei  das  Deuteromer  einen 
noch  geringen  Grad  von  Differenzierung  besitzt,  ist  jene,  wobei  die 
Krone  außer  den  drei  dem  Protomer  zugehörigen  Spitzen  an  der  Lin- 
gualseite  einen  einfachen  Höcker  zeigt.  Dieser  neue  Höcker  ist  nicht 
durch  Verschiebung  einer  der  bereits  anwesenden  an  diese  Stelle  ge- 
langt, denn  letztere  sind  noch  alle  da  und  stehen  in  einer  geraden  Linie 
wie  beim  trikonodonten  Zahn.  Diese  höhere  Zahnform  ist  somit  charakte- 
risiert durch  drei  bukkale  Spitzen  und  einen  lingualen  Höcker.  Letz- 
teier stellt  den  Haupthöcker  des  Deuteromer  dar,  den  ich,  wie  vorher 
gesagt,  mit  D  bezeichne.    Die  Kronenformel  dieses  Zahnes  muß  daher 

i  P  2 
folgender  Weise  geschrieben  werden  -         -. 

Es  sei  sofort  bemerkt,  daß  diese  Form,  welche  --  wie  wir  bald 
zeigen  werden,  auch  unter  den  jetzt  lebenden  Primaten  gar  nicht  selten 
ist  —  im  System  von  Cope-Osborn  fehlt.  Gidley1)  jedoch  hat  das 
Vorkommen  solcher  Formen  bei  den  Ursäugern  schon  ausdrücklich 
betont,  und  zwar  bei  den  nämlichen  Säugern  aus  der  Juraperiode, 
welche  Osborn  für  die  Aufstellung  seiner  Trituberkulartheorie  ver- 
wendete. Nun  standen  Gidley  vorzüglich  erhaltene  Spezimina  dieser 
Formen  —  besonders  Dryolestes  —  zur  Verfügung,  deren  Kronenfläche 
noch  nicht  abgenützt  waren,  und  welche  Osborn  bei  seinen  Studien 
nicht  zugänglich  waren.  Dieser  Umstand,  wie  unbedeutend  er  erscheinen 
dürfe,  genügt,  um  das  Vorkommen  der  Osbornschen  trikonodonten 
in  dieser  Phase  der  Entwicklung  anzuzweifeln,  und  dadurch  die  Trans- 
gressionshypothese zu  erschüttern.  Nach  Osborn  besitzt  der  Molar 
von  Dryolestes  zwTei  Außenhöcker  und  einen  kräftigen  Innenhöcker, 

1)  Evidence  bearing  on  Tooth-Cusp  Development.  Proc.  Washington  Acad. 
Sc.  1906,  Vol.  VIII. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  21 

und  indem  der  Autor  letzteren  als  den  nach  innen  gerückten  Haupt- 
höcker vom  trikonodonten  Zahn  betrachtet,  führt  er  die  Molaren  von 
Dryolestes  als  Beispiel  von  einfachen  trituberkularen  Zähnen  an.  Die 
Beobachtungen  von  Gidley  lehren  nun,  daß  diese  Deutung  unrichtig 
ist,  denn  an  der  Außenseite  dieser  Molaren  finden  sich  nicht  zwei, 
sondern  drei  Spitzen.  Allerdings  haben  die  Zähne  eine  dreieckige 
Kronenfläche,  mit  der  Basis  nach  außen,  aber  daß  diese  nicht  durch 
Verschiebung  des  mittleren  Haupthöckers  einer  trikonodonten  Aus- 
gangsform entstanden  sein  kann,  wird  von  Gidley  ausdrücklich 
hervorgehoben.  Denn,  sagt  der  Autor:  ,,the  main  external  cusp  is 
in  the  middle  of  the  base  of  the  triangle  instead  of  forming  one  of  its 
angles."  Aus  dieser  Bemerkung  geht  hervor,  daß  bei  jenen  primitiven 
Formen  der  Innenhöcker,  der  als  neuer  Erwerb  auftritt,  nicht  von  einer 
der  Spitzen  der  trikonodonten  Urformen  abgeleitet  werden  kann,  denn 
letztere  finden  sich  noch  an  ihrer  alten  Stelle,  wie  aus  der  Beschreibung 
und  Abbildung  von  Gidley  genügend  hervorgeht.  Im  Zusammenhang 
mit  meinen  Auffassungen  ist  dann  auch  die  folgende  Betrachtung 
dieses  Paläontologen  von  nicht  geringer  Bedeutung:  ,,Considering, 
sagt  er,  the  outer  portion  of  the  Dryolestes  molar  as  homologous  to 
the  three  cones  and  two  fangs  of  Triconodon,  the  derivation  of  this 
type  of  tooth  is  much  simplified.  the  spezialization  has  apparently 
been  centralized  in  the  development  of  the  high,  narrow,  heel-like 
cusp  and  its  supporting  fang  on  the  inner  siele  of  the  molar."  Mit  anderen 
Worten  ist  auch  Gidley  der  Überzeugung,  es  handelt  sich  bei  diesen. 
aus  jüngeren  Schichten  des  Mesozoikum  stammenden  Säugetieren,  um 
trikonodonte  Zähne,  bei  denen  ein  neues  Element,  aus  einer  Spitze  und 
Wurzel  bestehend,  hinzugekommen  ist.  Woher  es  stammt,  darüber 
äußert  Gidley  sich  nicht;  er  spricht  nur  von  Spezialisation.  Es  ist 
wieder  zu  bemerken,  daß  diese  erste  höckerige  morphologische  Bildungs- 
stufe, welche  das  Deuteromer  in  seiner  historischen  Entwicklung 
aufweist,  an  den  Molaren  auftritt.  Die  im  Laufe  der  Entwicklung 
immer  stärker  sich  akzentuierende  Heterodontie  des  Säugergebisses 
findet  ihren  Angriffspunkt  im  hinteren  Teil  des  Gebisses,  hier  treten 
zuerst  die  weiteren  Differenzierungen  in  die  Erscheinung,  und  von  hier 
aus  greifen  sie  weiter  nach  vorn  über,  bis  zum  Caninus,  der  sich  in  ganz 
besonderer  Richtung  spezialisiert.  Dieser  allgemeine  Entwicklungs- 
gang hat  zweierlei  zur  Folge.  Zunächst,  daß  man  bei  jüngeren  Tier- 
formen im  vorderen  Abschnitt  der  posteaninen  Gebißreihe  Entwick- 
lungszustände  vorfindet,  die  bei  älteren  Tierformen  als  progressive 
Erscheinungen  im  hinteren  Abschnitt  des  Gebisses  auftraten.  Und 
weiter,  daß  ein  vollständiges,  regelmäßiges  Gebiß  von  nicht  allzu  stark 
spezialisierter  Natur,  die  morphologische  Differenzierung  des  Zahnes, 
in  auffolgenden  Entwicklungsstufen  zur  Schau  zu  bringen  vermag. 
Denn  jeder  weiter  nach  hinten  folgende  Zahn  stellt  gleichsam  eine 
höhere  Bildungsphase  dar.  Wir  werden  bald  einen  Halbaffen  anführen, 
bei  dem  dieses  in  hohem  Maße  der  Fall  ist. 

Wie  gesagt,  kann  bei  der  Krone  von  Dryolestesmolaren  der  linguale 
Höcker  unmöglich  durch  Verschiebung  von  einem  der  drei  Höcker 
der  dreispitzigen  Ausgangsform  an  diese  Stelle  gekommen  sein,  er 
stellt  ein  neues  Element  dar;  der  Keim  der  jüngeren  Zahngeneration, 
die  in  der  Anlage  des  Säugerzahnes  aufgegangen  ist,  hat  angefangen 
sich  förmlich  zu  manifestieren,  und  hat  seinen  Haupthöcker  zur  Ent- 


22  Erstes  Hauptstück. 

wicklung  gebracht,  Aber  die  Aktivierung  der  Bildungspotenzen  hält 
nicht  mit  der  einfachen  Ausbildung  eines  Höckers  inne.  Wie  Gidley 
hervorhebt,  wird  dieser  Innenhöcker  sofort  bei  seiner  historischen  Er- 
scheinung von  einer  eigenen  Wurzel  getragen.  Diese  Tatsache  ist  von 
besonderer  Bedeutung,  denn  sie  zeugt  ebenso  stark  gegen  die  Möglich- 
keit der  Transgressionshypothese,  als  sie  für  die  Richtigkeit  der  von  mir 
verfochtenen  Anschauung  spricht.  Es  ist  früher  schon  betont  worden, 
daß  eine  Differenzierungstheorie,  um  vollständig  zu  sein,  die  morpho- 
logischen Vorgänge  am  Wurzelabschnitt  des  Zahnes  nicht  vernachlässigen 
darf.  Für  die  Transgressionshypothese  würde  das  Auftreten  der  inneren 
Wurzel  gewiß  große  Schwierigkeiten  bei  der  Erklärung  geben.  Denn 
wir  haben  gesehen,  daß  der  dreispitzige  Zahn  —  wovon  Cope-Osborn 
den  trituberkularen  ableiten  —  zwei  Wurzeln  besitzt,  eine  vordere  und 
eine  hintere,  welche,  wie  zwei  Pfeiler  eines  Gewölbes  die  Krone  tragen. 
Die  Achse  der  mittleren  Hauptspitze  fällt  dabei  mit  der  Hauptachse 
des  Gewölbes  zusammen,  also  zwischen  den  beiden  Wurzeln.  Woher 
stammt  nun  plötzlich  beim  dreieckigen  Zahn  die  dritte  innere  Wurzel, 
wenn  die  Transgressionshypothese  richtig  wäre  ?  In  funktionell-mecha- 
nischer  Hinsicht  erscheint  gerade  der  zweiwurzelige  trikonodonte  Zahn 
als  ein  vollkommenes  Ganzes;  der  Hauptkegel  bildet  den  Schlußstein 
zwischen  den  beiden  Pfeilern  des  Gewölbes,  und  nun  würde  jener  an- 
fangen, nach  innen  —  resp.  bei  den  unteren  Molaren  nach  außen  —  zu 
wandern,  während  die  beiden  Wurzeln  ihre  ursprüngliche  Stellung  bei- 
behalten und  in  schwer  vorstellbarer  Weise  von  irgendwoher  eine  dritte 
Wurzel  hinzukäme.  Auch  die  Anatomie  des  Wurzelabschnittes  der 
Zähne  trägt  dazu  bei,  die  Transgressionshypothese  von  Cope-Osborn 
als  unrichtig  zurückzuweisen. 

Das  Problem  wird  dagegen  in  einfachster  und  ganz  natürlicher 
Weise  durch  die  Dimertheorie  gelöst.  Dem  Innenhöcker  der  oberen 
Molaren  — von  den  unteren  wird  hier  nicht  gesprochen  —  vonDryolestes 
und  verwandten  Formen  kommt  die  Dignität  eines  ursprünglichen 
Beptilienzahnes  zu.  Und  als  solcher  besitzt  dieses  Element  eine  eigene 
Wurzel,  welche  also  auch  eine  Primärwurzel  ist.  Die  Primärwurzel  des 
äußeren  Abschnittes  vom  Säugerzahn  —  vom  Protomer  —  bezeichnete 
ich  mit  A,  sie  spaltet  sich,  wie  vorher  auseinandergesetzt,  in  die  beiden 
Sekundärwurzeln  Ax  und  A2.  Diese  beiden  Sekundärwurzeln  gehören 
genetisch  zum  protomeren  Abschnitt  des  Zahnes,  und  sie  bleiben  dann 
auch,  ungeachtet  der  weiteren  Differenzierungen,  diesen  Abschnitt 
stützen.  Die  Primärwurzel  des  Deuteromer  unterscheide  ich  als  Wurzel 
B,  und,  da  sie  genetisch  zum  Deuteromer  gehört,  teilt  sie  in  allem  auch 
das  Schicksal,  dem  dieser  Teil  der  Zahnkrone  während  der  weiteren 
Differenzierung  unterliegt.  Geht  der  deuteromere  Abschnitt  der  Krone 
wieder  zurück,  dann  bildet  sich  die  Wurzel  B  ebenfalls  zurück;  ent- 
faltet sich  der  genannte  Kronenteil  kräftig,  dann  konstatiert  man 
Gleiches  an  der  Wurzel.  In  diesen  Wechselbeziehungen  äußert  sich 
noch  die  ursprüngliche  Individualität,  die  das  Deuteromer  einmal  als 
selbständiger  Zahn  besaß.  Die  Wurzel  B  trägt  niemals  Derivate  vom 
Protomer,  oder  umgekehrt  kommt  niemals  ein  Teil  des  Deuteromer  auf 
eine  der  beiden  Wurzeln  des  Protomer  zu  stützen,  wenigstens  nicht  bei 
den  Primaten. 

Wir  müssen  jetzt  die  Frage  beantworten,  ob  Zahnformen  mit 
zwei  äußeren  Wurzeln  Ax  und  A2,  einer  inneren  Wurzel  B  und  einem 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  23 

I  P  2 
Kronenrelief,  das  der  Formel  — =—  entspricht,    auch  bei   den  heute 

lebenden  Tieren  noch  vorkommt.  Ich  beschränke  mich,  dem  Zweck 
dieser  Studie  entsprechend,  dabei  auf  die  Primaten. 

In  seiner  Untersuchung  über  das  Milchgebiß  lebender  und  fossiler 
Halbaffen1)  beschreibt  Leche  den  zweiten  oberen  Milchmolaren  von 
Cheirogaleus  Mihi  wie  folgt:  ,,Pd3  besitzt  einen  Innenhöcker,  welcher 
sich  als  Leiste  bis  an  die  Hauptspitze  fortsetzt  und  von  einer  besonderen 
Wurzel  getragen  wird.  P3  hat  einen  gut  ausgebildeten  Innenhöcker 
ohne  Leiste  und  die  drei  Wurzeln  sind  verwachsen,  die  Trennungsspuren 
aber  noch  sichtbar.  Prf3hat  also  hier  noch  den  ursprünglichen 
Zustand  bewahrt2).  Auch  Propithecus  zeigt  etwas  ähnliches,  Pd3 
hat  eine  deutliche  Innenknospe  und  drei  getrennte  Wurzeln."' 

Die  hier  von  Leche  hervorgehobene  Tatsache  erscheint  mir 
äußerst  wichtig.  Denn  wenn  man  mit  der  gegebenen  Beschreibung 
die  Abbildung  vergleicht,  welche  der  Autor  z.  B.  in  Fig.  1  vom  Milch- 
gebiß von  Propithecus  gibt,  dann  erfährt  man,  daß  der  zweite  Milch- 
molar dieses  Halbaffen  —  und  dies  ist  auch  bei  Cheirogaleus  der  Fall  — ■ 

i  P  2 
vollständig  durch  die  Kronenformel  — =—-  charakterisiert  ist.     Denn 

an  der  bukkalen  Seite  findet  sich  ein  stattlich  entwickelter,  mittlerer 
Höcker  von  zwei  Nebenspitzen  flankiert..  Diese  stellen  das  Protome  r 
dar,  das  von  den  zwei  Sekundärwurzeln  Ax  und  A.2  getragen  wird. 
Lingual  findet  sich  das  noch  wenig  kräftig  entwickelte  Deuteromer  als 
eine  einfache  Spitze,  die,  wie  Leche  ausdrücklich  betont,  eine  eigene 
Wurzel,  die  Hauptwurzel  B,  hat.  In  völliger  Übereinstimmung  mit 
meiner  Auffassung  legt  Le  c  he  durch  Spationierung  des  bezüglichen  Satzes 
Nachdruck  darauf,  daß  der  zweite  Milch  molar  primitiver  gestaltet  ist, 
als  dessen  Ersatzzahn,  da  jener  noch  drei  getrennte  Wurzeln  besitzt, 
während  beim  ihm  ersetzenden  Prämolar  die  drei  Wurzeln  miteinander 
verbunden  sind.  Es  scheint  jedoch,  daß  Leche,  was  letzteres  betrifft, 
einen  Ausnahmefall  vor  sich  gehabt  hat.  Denn  bei  einem  Cheirogaleus 
Smithii  fand  ich  den  vorletzten  Prämolar  ebenso  wie  den  diesen  voran- 
gehenden mit  drei  getrennten  Wurzeln  ausgestattet.  Und  Schlosser3) 
beschreibt  beim  vorletzten  Prämolar  von  Galago  ebenfalls  drei  Wurzeln, 
was  ich  für  Hemigalago  bestätigen  kann.  Das  ist  vorläufig  jedoch  Neben- 
sache. Ich  gab  das  Zitat  aus  Leches  Arbeit  nur.  um  herauskommen  zu 
lassen,  daß  auch  dieser  Autor  in  dem  Auftreten  dreier  Wurzeln  ein 
primitives  Merkmal  erblickt.  Der  Autor  gibt  dieser  Meinung  sogar  au 
anderer  Stelle  besonderen  Ausdruck.  So  findet  sich  z.  B.  1.  c.  S.  162  die 
Bemerkung,  daß  die  doppelte  Wurzel  an  einem  Eckzahn  „ein  Charakter 
ist.  welcher  jedenfalls  als  ein  relativ  ursprünglicher  zu  betrachten  ist4'. 
Die  gegebenen  Beispiele  genügen  vorläufig  zum  Beweis,  daß  der 

i  P  2 
Zahn  mit  drei  Wurzeln  und  der  Kronenformel  .  der  bei  Dryolestes 

und  verwandten  Formen  als  höhere  Entwicklungsstufe  in  dem  hinteren 
Abschnitt  des  permanenten  Gebisses  auftritt,  auch  bei  rezenten  Formen 


1)  Untersuchungen  über  das  Zahnsystem  lebender  und  fossiler  Halbaffen. 
Festschr.  f.   Gegenbaur,   Bd.   III.   S.   127". 

2)  Im   Original   ebenfalls  gesperrt. 

3)  Die  Affen,  Lemuren  usw.  des  europäischen  Tertiärs.     Wien  1887. 


24 


Erstes  Hauptstück. 


Fig.  1.     Hapale. 
w2  Außenseite1). 


noch  im  vorderen  Gebißteil  des  Milchgebisses  von  Halbaffen  vorkommt. 
Doch  auch  bei  den  wahren  Affen  tritt  diese  Zahnform  in  reiner  Erhaltung 
gelegentlich  noch  auf,  und  sogar  noch  im  permanenten  Gebiß.  Zunächst 
gebe  ich  zum  Beweise  in  Fig.  1  eine  Skizze  des  zweiten  oberen  Milch- 
molaren von  Hapale.  von  der  Außenseite  gesehen.  Auch  dieser  Zahn 
weist  einen  bukkalen,  stark  entwickelten  Höcker  (P)  auf,  der  von  zwei 
Nebenspitzen  (i  und  2)  begleitet  wird.  Diese  liegen  in  einer  Linie  und 
stellen  mit  den  beiden  Sekundärwurzeln  A±  und 
A 2  den  protomeren  Abschnitt  des  Zahnes  dar.  Der 
Innenhöcker  ist  noch  niedrig;  mit  der  ihn  entsprechen- 
den Primärwurzel  B  bildet  er  den  deuteromeren  Teil 
des  Zahnes.  Und  zum  Beweise  wie  konservativ 
diese  Zahnform  sich  erhalten  kann,  wenn  der  Zahn 
relativ  wenig  durch  den  Kauakt  beansprucht  wird, 
sei  darauf  hingewiesen,  daß  bei  Schimpanse  und 
Gorilla  gelegentlich  der  erste  Milchmolar  noch  ganz 
nach  dem  bezüglichen  Muster  gebaut  sein  kann.  Der 
Zahn  ist  dreiwurzelig.  Das  Kronenrelief  besteht  aus  einem  größeren, 
mittleren  Außenhöcker  (P),  der  zwischen  zwei  kleinen,  jedoch  deut- 
lich differenzierten  Nebenspitzchen  sich  erhebt  (i  und  2),  und  dazu 
kommt  der  noch  wenig  entwickelte  Innenhöcker.  Und  schließlich 
findet  man  diesen  ursprünglichen  Typus  auch  noch 
im  Milchgebiß  des  Menschen,  und  zwar  am  ersten 
Milchmolaren.  Aber  nicht  immer.  Der  Wangenteil 
des  Zahnes  kann  drei  Höcker  tragen,  einen  Haupt- 
höcker (P)  und  einen  hinteren  und  vorderen  Neben- 
höcker (2  und  1).  Letzterer  kann  jedoch  fehlen. 
Die  linguale  Seite  des  dreiwurzeligen  Zahnes  wird 
durch  einen  Höcker  repräsentiert. 

Doch,  wie  gesagt,  trifft  man  auch  im  per- 
manenten Gebiß  diesen  Zahntypus  noch  in  reiner 
Form  an.  Das  geht  z.  B.  aus  Fig.  2  hervor,  worin 
zwei  Ansichten  des  ersten  und  zweiten  oberen 
Pia  molaren  von  Stenops  gracilis  gegeben  sind. 
Der  erste  Prämolar  entspricht  bis  auf  Einzelheiten 
noch  einem  zweiwurzeligen  trikonodonten  Zahn, 
das  Deuteromer  ist  nur  durch  ein  kaum  sichtbares 
Cingulum  vertreten,  der  zweite  Prämolar  dagegen 
ist  dreiwurzelig,  die  Krone  ist  aus  dem  protomeren 
Teil  mit  den  drei  wohlausgebildeten  Spitzen,  deren 
mittlere  die  größte  ist,  zusammengesetzt,  und  lingual 
davon  findet  sich  der  noch  einfache  Innenhöcker, 
der  das  Deuteromer  darstellt.  Ich  möchte  hier  sofort 
bemerken,  daß  das  Gebiß  von  Stenops  für  eine  Ein- 
sicht in  den  Differenzierungsgang  des  Gebisses  besonders  lehrreich  ist, 
da  in  demselben  die  Progression  der  Form  in  regelmäßigen  Abstufungen 
vorliegt.  Der  erste  und  zweite  Prämolar  von  Nycticebus  tardigradus 
sind  jenen  von  Stenops  sehr  ähnlich.  Ein  weiteres  Beispiel  dieser 
noch    ziemlich   primitiven    Zahnform    wird   vom    dritten    Prämolaren 

1)  Es  wird  auch  in  dieser  Arbeit  die  schon  in  vorangehenden  Abhandlungen 
benützte  Methode  befolgt,  die  Milchzähne  mit  kleinen,  die  permanenten  Zähne 
mit  großen  Buchstaben  zu  schreiben. 


Fig.  2.     Px  und  Pt 
von  Stenops  gracilis. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  25 

von  Lemur  gegeben,  nur  ist  der  Haupthöcker  (P)  hier  weniger 
hoch  und  spitz  als  bei  Stenops  und  Nycticebus,  dagegen  mehr  in  der 
Länge  entwickelt,  und  sind  die  Nebenspitzen  i  und  2  nur  spurweise 
angedeutet.  In  Fig.  3  ist  dieser  Zahn,  von  der  mesialen  und  von  der 
bukkalen  Seite  gesehen,   abgebildet. 

Ich  begnüge  mich  mit  den  gegebenen  Beispielen,  welche  genügend 

1  P  2 
dartun,    daß    der  dreiwurzehge   Zahn    mit   der   Kronenformel  — br- 
auch bei  den  noch  heute  lebenden  Primaten  sowohl  im  Milchgebiß  als 
im  permanenten  Gebiß  auftritt.    Allerdings  nur  im  vorderen  Abschnitt 
der  posteaninen  Reihe. 

Wenden  wir  uns  jetzt  den  ausgestorbenen  Gliedern  dieser  Ordnung 
zu,  dann  trifft  man  auch  bei  den  eoeänen  Primaten  die  bezügliche 
Form  an.  Beim  noch  mit  einer  vollständigen  Prämolarenreihe  ausge- 
statteten Hyopsodus  entspricht  der  dritte  Prämolar  noch  ganz  diesem 
Typus.  (Vgl.  Osborn:  American  Eocene  Primates,  Fig.  6.)  Gleiches 
ist  noch  der  Fall  bei  Notharctos,  bei  dem  der  erste  Prämolar  schon  ver- 
loren gegangen  ist  (Osborn,  1.  c.  Fig.  20),  sowie  beim  letzten  und  vor- 
letzten Prämolar  von  Anaptomorphus  homunculus  (1.  c.  Fig.  25). 

In  sämtlichen  jetzt  gegebenen  Beispielen  war  bei  vollständiger 
Entwicklung  vom  Protomer,  das  Deuteromer 
nur  durch  seinen  Haupthöcker  vertreten. 
Wir  werden  jetzt  die  nächsthöhere  Stufe 
der  Differenzierung  kennen  lernen.  Auch 
das  Deuteromer  besitzt  potentia  den  Wert 
eines  dreispitzigen  Zahnes,  und  bei  voll- 
kommener Ausbildung  wird  der  Höcker 
D  von  seinen  beiden  Nebenspitzen  3  und 
4  begleitet,  wodurch  der  Zahn  die  sechs-  Fig.  3.  p3  von  Lemur. 
höckerige  Gestalt  erlangt.  Es  ist  nun  eine 
sehr  merkwürdige  Erscheinung,  daß  diese  Form,  wofür  die   Kronen- 

1  P  2 
formel  — =^—  gilt,  in  der  Primatenreihe  sehr  selten  vertreten  ist.    Die 

3  D  4 

Ursache  davon  werden  wir  an  geeigneter  Stelle  kennen  lernen.  Nicht 
ohne  Einfluß  auf  diese  Seltenheit  ist  es  gewiß,  daß  bei  der  progressiven 
Entwicklung  des  Zahnes  die  beiden  Nebenspitzen  des  Deuteromer 
nicht  gleichzeitig  auftreten.  Es  ist  eine  für  die  richtige  Deutung  der 
Höcker  bei  den  höheren  Zahnformen  der  Primaten  prinzipielle  Tatsache, 
daß  die  hintere  Nebenspitze  des  Deuteromer  eine  viel  größere  Konstanz 
aufweist,  als  die  vordere.  An  der  Formbildung  der  höheren  differen- 
zierten Gebißelemente  ist  diese  Spitze  immer  viel  mehr  beteiligt  als  die 
vordere.  Den  Grund  dieser  Erscheinung  werden  wir  zu  seiner  Zeit 
kennen  lernen.  Die  erste  Erscheinung,  welche  aus  der  genannten  all- 
gemeinen Regel  folgt  ist.  daß  bei  der  weiteren  Progression  des  Deutero- 
mer, zuerst  die  hintere  Nebenspitze  4  auftritt.  Dadurch  entsteht  eine 
Zahnform,  deren  Kronenformel   wie   folgt   geschrieben    werden    muß: 

1  P  2 

-jz — .  Auch  diesen  Zahntypus  findet  man  wieder  in  der  Prämolaren- 
reihe der  heutigen  Halbaffen  vertreten.  Als  Beispiel  gebe  ich  in  Fig.  4 
die  Skizze  des  dritten  Prämolaren  von  Nycticebus  tardigradus,  von  der 
Kaufläche  gesehen. 


26  Erstes  Hauptstück. 

Das  Protomer  ist  mit  seinen  drei  Spitzen  anwesend.  Vom  Deutero- 
mer  ist  die  Hauptspitze  (D)  ziemlich  in  die  Länge  gezogen  und  geht  nach 
hinten  in  die  niedrige,  doch  scharf  abgegrenzte  Nebenspitze  2  über. 
Eine  Besonderheit,  die  an  der  gegebenen  Figur  sofort  ins  Auge  fällt, 
möchte  ich  hier  nicht  unerwähnt  lassen.  Die  drei  Spitzen  des  Protomer 
liegen  in  einer  geraden,  die  bukkale  Kante  der  Kronenfläche  einnehmen- 
den Linie.  Wenn  nun,  wie  im  vorliegenden  Fall,  das  Deuteromer 
zweispitzig  geworden  ist,  bildet  die  Verbindungslinie  dieser  beiden 
Spitzen  mit  jener  des  Protomer  einen  nach  hinten  offenen  Winkel, 
mit  anderen  Worten,  die  Nebenspitze  4  springt  stärker  palatinalwärts 
vor,  als  die  Hauptspitze.  Diese  Eigentümlichkeit  verdient  besondere 
Erwähnung,  da  sie  bei  den  Molaren  für  die  richtige  Deutung  der  Höcker 
nicht  ohne  Gewicht  ist.» 

Ein  weiteres  Beispiel  eines  Zahnes  mit  obenstehender  Kronen- 
formel bietet  der  dritte  Prämolar  von  Tarsius.    Das  Deuteromer  springt 
hier  jedoch  als  Ganzes  mehr  lingualwärts  vor,  ist  schärfer  vom  Protomer 
abgesetzt  als  bei  Nycticebus.   Bei  den  wahren  Affen 
p  besitzt  z.  B.  auch  der  zweite  Milchmolar  von  Chryso- 

-j  £       thrix  diesen  Entwicklungsgrad. 

\  ;  Eine  vollständige  Ausbildung  des  Deuteromer 

bringt  schließlich  auch  die  Nebenspitze  3  zur  Ent- 
wicklung, wodurch  der  diniere  Zahn  sämtliche  morpho- 
genetische  Potenzen,  die  in  ihm  aufgegangen  sind, 
realisiert  hat.  Die  Kronenformel  eines  solchen 
Zahnes  muß  daher  folgenderweise  geschrieben  werden 

1  P  2 
0         h.         — - — .     Der  bukkale    und  linguale   Abschnitt    des 

3  D  4 
Fig.  4.   Nycticebus      Zahnes   stehen   jetzt   auf  gleicher  Differenzierungs- 
tardigradus.  Dritter     stufe,  wenigstens  was  den  Kronenteil  betrifft.     Im 
Prämolar.  Wurzelteil    bleibt    der    Unterschied   bestehen,    da, 

wenigstens  bei  den  Primaten  das  Deuteromer 
normalerweise  immer  nur  von  der  Primärwurzel  B  gestützt  bleibt, 
und  eine  Trennung  in  zwei  Sekundär  wurzeln  wie  beim  Protomer, 
hier  unterbleibt.  Und  weiter  sind  jetzt  die  beiden  Komponenten  des 
Zahnes  zwar  in  gleichem  Maße  differenziert,  aber  dem  Volum  nach 
bleibt  der  Entwicklungsgrad  beider  Teile  immerhin  ziemlich  ver- 
schieden. Das  Protomer  ist,  wie  es  auch  bei  den  einfacheren  Entwick- 
lungsphasen der  Fall  war,  käftiger  entwickelt  als  das  Deuteromer. 
Die  an  der  letztgegebenen  Kronenformel  beantwortete  Zahn- 
form kommt  bei  den  Primaten  besonders  selten  vor.  Er  stellt  gleich- 
sam den  idealen  Primatenzahn  dar,  denn  er  entspricht  jener  Form, 
welche  notwendig  entstehen  muß,  wenn  zwei  dreispitzige  Reptilien- 
zähne in  transversaler  Richtung  sich  zu  einem  einheitlichen  Gebilde 
verbinden.  Daß  man  diese  Form  bei  den  Primaten  so  wenig  antrifft, 
findet  seinen  Grund  in  der  Tatsache,  daß,  wenn  das  Deuteromer  seine 
höchste  morphologische  Entwicklungsstufe  erreicht,  im  Protomer  sich 
schon  weitere  Differenzierungsvorgänge  geltend  machen,  welche  die 
ursprünglichen  Verhältnisse  in  diesem  Zahnteil  zerstören  und  den  Zahn 
auf  eine  höhere  Entwicklungsstufe  bringen  (Doppelhöckerstufe).  Die 
vollständige  Differenzierung  des  Deuteromer  an  sich  ist,  wie  wir  das  in 
dem  nächsten  Abschnitt  zeigen  werden,  nicht  so  selten,  aber  daß  sich 
damit  die  rein  dreispitzige  Form  des  Protomer  verbindet,  das  ist  wohl 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  27 

als  eine  Ausnahme  zu  betrachten.  Ob  die  Koinzidenz  bei  anderen 
Säugergruppen  häufiger  auftritt,  bleibt  dahingestellt. 

Den  schönsten  Fall,  den  ich  bei  den  Primaten  von  dieser  Zahn- 
form aufgefunden  habe,  ist  in  Fig.  5  abgebildet.  Es  betrifft  den  dritten 
Prämolar  von  Stenops  gracilis,  der  in  der  bezüglichen  Figur  von  lingual 
und  etwas  von  der  mesialen  Fläche  gesehen,  abgebildet  ist.  Das  Proto- 
mer  ist  am  bezüglichen  Zahn  merklich  größer  als  das  Deuteronier 
und  der  kegelförmige  Haupthöcker  P  wird  von  den  zwei  scharfspitzigen 
Nebenhöckerchen  i  und  2  begleitet.  Das  Deuteromer  ähnelt  der  all- 
gemeinen Gestalt  nach  dem  Protomer.  Es  ist  jedoch  merklich  kleiner. 
Die  hintere  Nebenspitze  ist  ein  wenig  kräftiger  entwickelt  als  die  vordere, 
doch  ist  dieser  Unterschied  nicht  sehr  groß.  Es  verdient  aber  diese 
Tatsache  Erwähnung,  denn  sie  zeugt  wieder  für  die  Gesetzmäßigkeit, 
welche  die  funktionelle  Ausbildung  des  Zahnes  unterliegt.  Bis  zum 
Auftreten  der  vollständigen  Sechshöckerphase  ist  der  Entwicklungs- 
grad jedes  Höckers,  in  Übereinstimmung  mit  der  Reihenfolge  seines 
Erscheinens.  Erst  bei  den  höheren  und  mehr  spezialisierten  Formen, 
wie  sie  uns  besonders  bei  den  Molaren  der  Halbaffen  und  Affen  ent- 
gegentreten, kann  dieses  Regelmaß  gestört  werden.  Hier 
tritt  Umbildung  an  die  Stelle  der  Ausbildung. 

Es  ist  somit  der  diniere  Säugerzahn  in  höchster 
Ausbildung,  d.  h.,  soweit  er  noch  vorder  Ummodellierung 
und  Spezialisierung  auftritt  bei  den  rezenten  Primaten 
nur  selten  aufzufinden.  Bei  den  Abbildungen  der  Ge- 
bisse von  Urprimaten,  welche  Osborn  und  Schlosser 
geben,  suchte  ich  sie  vergebens.  Ich  möchte  jedoch 
die  Möglichkeit    nicht    von    der  Hand  weisen,  daß  sie  r 

bei  sehr  genauem  Zusehen  an  ganz  intakten  Gebissen  ^grädUs10^ 
auch  hier  aufgefunden  werden  kann.  Man  beachte  Dritter  Prä- 
doch,    daß   es  sich  bei  den  Urprimaten  meist  um  sehr  molar, 

kleine  Tierchen  handelt. 

Ich  möchte  hier  gleich  die  Bemerkung  einschalten,  daß  man 
bei  rezenten  Primaten  entweder  als  normale  Erscheinung  oder  als 
Variation  sechshöckerige  Molaren  antrifft,  aber  diese  sind  nicht  zu 
identifizieren  mit  der  Zahnform,  worum  es  sich  hier  handelt.  Denn 
jene  sind,  wie  wir  im  nächsten  Abschnitt  sehen  werden,  als  Produkte 
von  höherer  Spezialisierung  zu  deuten,  und  entsprechen  nicht  dem 
Zahn,  der  sechshöckerig  ist,  infolge  der  vollkommenen  Ausbildung 
vom  protomeren  und  deuteromeren  Abschnitt  des  Zahnes.  Der  sechs- 
höckerige  Zahn,  wovon  an  dieser  Stelle  die  Rede  ist,  besteht  aus  den 
beiden  Haupthöckern  und  den  vier  Nebenspitzen. 

Bekanntlich  kommt  auch  im  von  Cope-Osborn  entwickelten 
System  eine  Stufe  vor,  worin  der  Zahn  sechshöckerig  ist  (Protoconus, 
Metaconus,  Paraconus,  Hypoconus,  Protoconulus,  Metaconulus).  Es 
ist  in  der  Theorie  der  genannten  Forscher  die  höchste  Entwicklungs- 
stufe, welche  erreicht  werden  kann,  und  wovon  die  Molaren  der  höheren 
Primaten  durch  Schwund  von  Höckern  abzuleiten  sind.  Es  braucht 
kaum  besonderer  Hervorhebung,  daß  die  oben  von  mir  dargestellte 
Zahnform,  mit  jener  von  Cope-Osborn  nicht  identisch  ist,  was  schon 
daraus  hervorgeht,  daß  bei  den  genannten  Autoren  diese  Form  ein 
Endstadium    darstellt,    in    meiner    Entwicklungsreihe     dagegen    eine 


28  Erstes  Hauptstück. 

Zwischenstufe.  Und  der  Entwicklungsgang  ist  auch  in  beiden  Fällen 
ein  prinzipiell  verschiedener. 

Es  ist  die  progressive  Differenzierung  des  Säugerzahnes  bei  den 
Primaten  jetzt  bis  zu  dem  Stadium  verfolgt  worden,  wobei  Protomer 
und  Deuteromer  ihre  morphologischen  Potenzen  entwickelt  haben. 
Es  wäre  an  der  Reihe,  jetzt  zur  Besprechung  der  dritten  vorher  schon 
von  mir  genannten  Phase  —  die  Doppelhöckerphase  --  überzugehen. 
Ich  werde  das  jedoch  noch  nicht  tun,  denn  es  scheint  mir  empfehlens- 
wert, zunächst  jene  Zahnformen  zu  besprechen,  welche  sich  von  den 
bis  jetzt  besprochenen  ableiten  lassen.  Es  darf  doch  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  gelenkt  haben,  daß  bis  jetzt  nur  von  Prämolaren  oder  Molaren 
die  Rede  war,  und  es  möchte  den  Verdacht  erwecken,  daß  die  Incisivi 
und  Canini  einen  anderen,  von  jenen  Zahnformen  verschiedenen  Ent- 
wicklungsgang durchlaufen  haben.  Und  das  ist  nicht  der  Fall.  Alle 
Zähne  ohne  Ausnahme  sind  in  derselben  Weise  entstanden.  Ihrer  An- 
lage und  phylogenetischen  Entstehungsweise  nach,  gibt  es  kein  Unter- 
schied zwischen  dem  einfach  gestalteten  Schneidezahn  und  den  zu- 
sammengesetzten Molaren  der  Primaten.  Nur  die  spätere  Entwick- 
lung hat  die  Ungleichheit  allmählich  herbeigeführt.  Und  daß  bis  jetzt 
als  Beispiele  von  den  verschiedenen  Entwicklungsstufen  nur  Molaren 
und  Prämolaren  gewählt  worden  sind,  findet  seinen  Grund  darin,  daß  nur 
an  diesen  Zähnen  das  Material  von  „reinen"  Typen  zu  entnehmen  ist. 
Gewissermaßen  stellen  die  Canini  und  Incisivi,  der  geläufigen  Ansicht 
entgegen,  viel  stärker  spezialisierte  Zähne  dar  als  die  Prämolaren 
und  Molaren.  Denn  bei  letzteren  kommen  die  Anlagepotenzen  förm- 
lich viel  mehr  zur  Entwicklung  als  bei  den  ersteren.  Und  dennoch, 
wie  groß  der  Unterschied  zwischen  einem  Schneidezahn  und  einem 
Molaren  vom  Menschen  sein  mag,  immerhin  sind  beim  ersteren,  sei  es 
spurweise,  alle  morphologischen  Merkmale  wie  beim  Mahlzahn  gelegent- 
lich aufzufinden.  Die  einheitliche  Natur  aller  Zähne  des  Gebisses  ist 
eine  notwendige  Schlußfolgerung,  wozu  ich  in  meiner  ersten  Studie 
auf  Grund  der  Ontogenese  gelangt  bin.  Die  ersten  Entwicklungs- 
erscheinungen der  Inzisivi  unterscheiden  sieh  in  nichts  von  jenen 
eines  Molaren.  Bei  ihrer  Anlage,  bei  der  ersten  Ausbildung  des  Schmelz- 
organes,  in  der  etwas  komplizierten  Weise,  die  ich  in  der  ersten  Studie 
habe  kennen  gelernt,  betragen  sich  alle  Zähne  einander  vollkommen 
ähnlich,  allen  ist  somit  eine,  sei  es  kurze  Periode  völliger  Gleichwertig- 
keit gemein.     Die  Ungleichförmigkeit  kommt  erst  sekundär  zustande. 

In  der  von  Ahrens  veröffentlichten  Untersuchung  über  die 
Entwicklung  der  menschlichen  Zähne1),  die  kurz  nach  meiner  ersten 
odontologischen  Studie  erschien,  kommt  der  Autor  zu  einer  vollständig 
übereinstimmenden  Ansicht.  ,,Es  fällt",  sagt  er  S.  90,  „durch  diesen 
Nachweis  auch  die  letzte  Abweichung  in  der  Entwicklung  der  Schneide- 
zähne von  der  der  Molaren  fort.' 

Wir  werden  jetzt  versuchen  zu  beweisen,  daß  diese  Überein- 
stimmung auch  am  fertigen  Schneidezahn  und  Eckzahn  sich  noch 
nachweisen  läßt.  Meiner  Grundanschauung  zufolge  sind  auch  diese 
Zähne  diniere  Bildungen,  und  kommt  jedem  der  beiden  Odontomeren 
der  Wert  eines  dreispitzigen  Reptilienzahnes  zu.     Die  starke  Speziali- 


1)  H.  Ahrens,  Die  Entwicklung  der  menschlichen  Zähne.      Habilitations- 
schrift.    Wiesbaden  1913. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  29 

sierung  dieser  Zähne  bewirkt,  daß  dieses  Grundprinzip  am  fertigen  Zahn 
nicht  so  auffällig  ist  als  bei  den  postcaninen  Zähnen. 

Der  Hauptsache  nach  äußern  sich  diese  Spezialisierungen  in  drei 
Richtungen:  a)  Starke  Progression  des  Protomer,  bei  geringer  Ent- 
faltung des  Deuteromer;  b)  starke  Progression  eines  der  Höcker  bei 
Reduktion  der  beiden  anderen,  und  c)  Beteiligung  an  der  Bildung 
des  Zahnes  durch  die  drei  Spitzen  des  Protomer  in  gleichem  Maße  bei 
hochgradigem  Verlust  der  Selbständigkeit  der  Höcker.  Der  sub  a)  ge- 
nannte Vorgang  ist  meistenteils  sowohl  den  Schneidezähnen  als  dem 
Eckzahn  eigen,  der  sub  b)  genannte  bezieht  sich  mehr  besonders  auf 
den  Eckzahn,  und  der  sub  c)  genannte  auf  die  Incisivi. 

Durch  die  stärkere  Entwicklung  eines  der  Höcker,  und  zwar  des 
Haupthöckers  vom  Protomer  ähnelt  der  Eckzhan  öfters  sehr  stark 
den  ihm  unmittelbar  nachfolgenden  Prämolar.  Beim  Caninus  der 
Primaten  ist  aber  die  Beteiligung  des  Haupthöckers  vom  Protomer  (P) 
oftmals  außerordentlich  stark,  so  daß  es  den  Schein  hat,  der  Zahn 
bestehe  nur  aus  diesem  Höcker,  während  die  beiden  Nebenspitzen 
i  und  2  entweder  ganz  oder  bis  auf  geringe  Spuren  rückgebildet  sind. 

Es  hat  die  Übereinstimmung,  welche  der  Eckzahn  nicht  selten 
mit  einem  Prämolar  bildet,  eben  öfters  in  der  Literatur  Analß  gegeben, 
diesen  Zahn  als  einen  rückgebildeten  oder  modifizierten  Prämolar  zu 
betrachten.  So  sagt  Rose  z.  B. :  „Genetisch  muß  der  Eckzahn  auf- 
gefaßt werden  als  ein  rückgebildeter  Prämolar"1).  Auch  von  Leche'2), 
der  besonders  dabei  das  gelegentliche  Vorkommen  zweier  Wurzeln 
am  Eckzahn  zur  Geltung  bringt,  wird  dieser  Zahn  von  einem  Prä- 
molarenstadium abgeleitet.  Von  den  Sui'dae  sagt  Stehlin3):  „Die 
Zurückführung  auf  einen  zweischneidigen,  kompressen,  zweiwurzeligen 
prämolarenartigen  Zahn,  steht  kein  Hindernis  im  Wege." 

Es  würden  sich  gewiß  gleichläufige  Äußerungen  noch  wohl  ver- 
mehren lassen.  Doch  wie  sehr  einerseits  aus  den  gegebenen  Hinweisen 
die  Tatsache  hervorgeht,  daß  die  Formübercinstimmung  zwischen 
Eckzahn  und  Prämolar  die  Aufmerksamkeit  früherer  Forscher  schon 
auf  sich  gezogen  hat,  so  bin  ich  doch  mit  der  gegebenen  Deutung 
dieser  Relation  nicht  einverstanden.  Die  Ähnlichkeit  im  Äußeren 
beider  Zahnformen  ist  nicht  die  Folge  einer  Reduktion  bei  der  Ent- 
stehung des  Eckzahnes,  sondern  beruht  darauf,  daß  beide  Zähne, 
Caninus  und  erster  Prämolar,  ein  Urstadium  in  der  Entwicklung  aller 
Elemente  des  Gebisses  noch  am  besten  bewahrt  haben.  Besonders 
in  den  Fällen,  wenn  der  erte  Prämolar  sein  Deuteromer  wenig  oder 
nicht  zur  Entwicklung  gebracht  hat.  —  und  das  ist  besonders  bei 
den  rezenten  Halbaffen  und  den  eocänen  Primaten  der  Fall,  ist  die 
Formgleichheit  bisweilen  eine  sehr  frappante. 

Andererseits  ist  es  bekannt,  wie  der  Eckzahn  sich  bisweilen  in 
seiner  Entwicklung  so  sehr  den  Incisivi  anschließen  kann,  daß  er  dieser 
Zahnform  zum  Verwechseln  ähnlich  wird.     Ich  erinnere  dazu  an  den 


1)  C.   Rose,   Über  die  Zahnentwicklung  des  Menschen.      Schweiz.   Yiertel- 
jahrsschr.  f.  Zahnheilk.,  Bd.  II,  S.  7. 

2)  W.  Leche,  Zur  Entwicklungsgeschichte  des  Zahnsystems  der  Säugetiere. 
II.  Teil.    Die  Familie  der  Erinaceidae.    Zoologica  1902. 

3)  H.  G.  Stehlin,  Über  die  Geschichte  des  Sui'den- Gebisses.   Abh.  d.  Schweiz. 
Paläont,  Gesellsch.  1899,  Bd.  XXVI. 


30  Erstes  Hauptstüek. 

Lemuriden  unter  den  Prosimiae.  Auch  beim  Schaf  hat  der  Eckzahn 
ganz  die  Form  eines  Schneidezahnes  angenommen,  und  Charnock 
Bradley  beschreibt  es  gerade  als  eine  der  merkwürdigsten  Anomalien, 
wenn  der  Eckzahn  dieses  Tieres  statt  „incisiform"  zu  sein  „canini- 
form"  ist1).  Daß  bei  Lemur  gleichzeitig  der  erste  Prämolar  sich  der 
Form  nach  zu  einem  eckzahnartigen  Zahn  ausgebildet  hat,  zeigt  wieder 
aufs  neue,  daß  prinzipielle  Unterschiede  zwischen  den  Zahnformen 
nicht  bestellen.  Einen  mit  jenem  bei  den  Lemuriden  vollständig  über- 
einstimmenden Funktionswechsel  von  Prämolar,  Caninus  und  Incisivus 
beschreibt  Stehlin  (1.  c.  S.  182)  bei  der  primitiven  Su'idengruppe 
der  Cebochoeren.  Auf  der  Grundlage  einer  allen  gemeinsamen  Grund- 
form nimmt  der  Zahn  jene  Form  an,  welche  ihm  durch  die  von  ihm 
erforderten  Funktion  vorgeschrieben  wird.  Und  diese  Funktion  ist 
vor  allem  abhängig  von  dem  Platz,  welche  der  Zahn  in  der  Gebiß- 
reihe einnimmt.  Wenn  nötig,  sollte  aus  einem  Incisivus  ein  vollständig 
entwickelter  Molar  werden  können,  ohne  daß  ein  einziges  neues  Element 
hinzuzukommen  brauchte,  denn  potentia  enthält  die  Anlage  eines 
Incisivus  alle  Elemente  eines  Molaren.  Und  in  diesem  Abschnitt 
werden  wir  noch  Incisivi  kennen  lernen  bei  Primaten,  welche  einem 
Prämolar  tauschend  ähnlich  sind. 

Die  Heterodontie  findet  sich  zwar  auch  schon  bei  jenen  Rep- 
tilien, welche  den  Ursäugern  in  ihrer  Organisation  am  nächsten  stehen, 
aber  das  Zustandekommen  der  Dimerie  hat  eine  Möglichkeit  geschaffen, 
wodurch  dieses  Merkmal  sich  in  stets  progressiver  Weise  ausbilden  konnte. 
Je  höher  man  in  der  Reihe  der  Primaten  aufsteigt,  desto  mehr  akzentuiert 
sich  die  Verschiedenheit  der  Zahngruppen  im  Gebiß.  Aber  an  allen  ist 
die  potentielle  Grundform,  die  nur  bei  einem  Teil  auch  morphologisch 
realisiert  wurde,  noch  aufzufinden.  Und  wenn  wir  das  Charakteristische 
in  dem  Entwicklungsgang  der  Zahngruppen  kurz  andeuten  wollten, 
dann  würde  diese  Charakterisierung  folgendermaßen  lauten:  Die  Prä- 
molaren zeigen  die  allmähliche  morphologische  Realisierung  der  in 
den  Zahnanlagen  beschlossenen  Potenzen,  der  Entwicklungsgang 
trägt  bei  diesen  Zähnen  den  Stempel  von  morphologischer  Vervoll- 
kommnung, bei  den  Molaren  von  Differenzierung  und  bei  den  Incisivi 
mit  dem  Caninus  von  Spezialisierung. 

Die  Idee,  daß  eine  übereinstimmende  Grundform  allen  Zähnen 
zukommt,  die  Äquipotenz  der  Zahnanlagen,  ist  (wenn  wir  von  der 
Trituberkulartheorie  absehen,  die,  wiewohl  nur  für  die  Molaren  auf- 
gestellt, jedoch  auch  die  übrigen  Zähne,  auf  einen  einfachen 
Reptilienzahn  zurückführt),  in  der  von  mir  gefaßten  Weise  und  strenge 
Durchführung  in  der  Literatur  noch  nicht  vertreten  worden.  Jedoch 
sind  verwandte  Gedanken  schon  von  mehreren  Autoren  ausgesprochen. 
Am  meisten  nähern  sich  meine  Meinungen  und  jene  von  d'Eternod2) 
einander.  Und  ich  werde  das  Übereinstimmende  und  das  Differente 
in  den  beiden  Standpunkten  kurz  auseinandersetzen.  Übereinstimmend 
in  unserer  Theorie  ist,  was  ich  kurz  als  die  „diniere"  Genese  des  Zahnes 
andeute.  Für  die  Incisivi,  Canini  und  Prämolaren  nimmt  auch  d'Eter- 
nod   eine    Entstehung    durch   Fusion    eines    dorsalen  (äußeren)   und 

1)  0.  Charnock  Bradley,  Dental  anomalies  and  their  significance  Proc. 
Nation.  Veterin.  Association  1907. 

2)  A.  C.  F.  d'Eternod,  Toutes  les  dents  humaines  sont  des  bicuspides 
inodifiees.    Verh.  d.  Anat.  Gesellsch.    Leipzig  1911,  S.  144. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  31 

ventralen  (inneren)  primären  Zahn  an.  Bis  soweit  gehen  wir  einen 
AVeg.  Bezüglich  der  Entstehung  der  Molaren  jedoch  laufen  unsere 
Auffassungen  auseinander.  Wie  ich  mir  die  Entstehung  dieser  Zahn- 
formen denke,  wird  im  Laufe  dieser  Arbeit  gezeigt  werden.  Von 
d'Eternod  wird  hier  eine  nochmalige  Fusion,  jetzt  in  longitudinaler 
Richtung  von  zwei  Bikuspidaten  postuliert,  wozu  gelegentlich  noch  eine 
Konkreszenz  von  einfachen  primären  Elementen  kommen  kann, 
woraus  der  fünf-  resp.  sechshöckerige' Molar  resultiert. 

Die  Verwachsung  in  longitudinaler  Richtung  von  Einzelzähnen 
habe  ich  früher  schon  zurückgewiesen,  wo  von  der  Entstehung  des 
trikonodonten  Zahnes  die  Rede  war.  Auch  die  Entstehung  der 
Molaren  in  dieser  Weise  muß  ich  aufs  entschiedenste  verwerfen. 
Die  mehr  komplizierte  Form  der  Molaren  ist  die  Folge  von  Diffe- 
renzierung und  nicht  von  Konkreszenz.  Abgesehen  davon,  daß  wir 
diese  Differenzierung  methodisch  auf  vergleichend-anatomischem 
Wege  verfolgen  können,  spricht  auch  für  diese  Ansicht  die  wichtige 
von  mir  festgestellte,  und  seitdem  von  Ahrens1)  bestätigte  Tat- 
sache, daß  die  Ontogenese  der  Molaren  in  keinem  einzigen  Punkt  von 
jener  der  Antemolaren  abweicht.  — 

Es  ist  von  d'Eternod  die  dimere  Genese  der  Zähne  zum  ersten 
Male  zum  Ausdruck  gebracht  in  einer  Inaugural-Dissertation  eines 
seiner  Schüler  im  Jahre  1889.  In  dieser  Dissertation2)  findet  sich  die 
folgende  Bemerkung,  woraus  hervorgeht,  daß  schon  durch  Aeby  ein 
ähnlicher  Gedanke  ausgesprochen  worden  ist:  Feu  le  professeur  Aeby 
a  emis  l'idee  tres  ingenieuse  que  chez  l'homme  les  dents  les  plus 
simples  seraient  dejä  constituees  par  im  redoublement  de  la  forme 
elementaire  primitive.  Les  incisives  et  meme  les  canines  que  Ton 
considere  generalement  comme  etant  des  dents  unicuspidees,  seraient 
ainsi,  en  realite,  des  bicuspidees  dont  un  des  tubercules  (le  posterieur) 
serait  considerablement  atrophie.  Es  findet  sich  im  Original  kein 
Hinweis,  wo  sich  dieser  Satz  von  Aeby  findet,  und  ich  habe  es 
auch  nicht  herausfinden  können,  weiß  somit  auch  nicht  um  welche 
Zeit  derselbe  geschrieben  ist.  So  weit  meine  Literaturkenntnis  geht, 
scheint  somit  Aeby  der  erste  gewesen  zu  sein,  der  die  Formbeziehung 
zwischen  den  Zähnen  richtig  erkannt  hat.  Allerdings  beschränkt  er 
sich  auf  den  Antemolaren. 

Auch  von  Zuckerkandl  ist  ein  ähnlicher  Gedanke,  aber  in 
noch  mehr  beschränkter  Fassung  ausgesprochen  worden.  ,, Man  könnte", 
schreibt  dieser  Autor,  „mit  einiger  Berechtigung  behaupten,  daß  Eck- 
und  Backenzähne  Modifikationen  einer  und  derselben  Form  sind"3). 
Einer  übereinstimmenden  Meinung  ist  Dependorf4).  Die  Meinung, 
daß  alle  Zähne  auf  eine  gemeinschaftliche  Grundform  zurückzuführen 
sind,  findet  man  schließlich  auch  bei  Adlof  f ,  er  betrachtet  als  eine  solche 
Grundform  den  trituberkularen  Zahn  C  o  p  e  s ,  den  er  durchVerschmelzung 
entstanden  denkt.    „Meines  Erachtens  sind  Schneidezähne,  Eckzähne, 


1)  EL  Ahrens,  Die  Entwicklung  der  menschlichen  Zähne.  Habilitationsschr.. 
München  1913. 

2)  E.  Oltramare,  Description  methodique  de  la  Dentition  chez  l'hoinme. 
These,  Geneve  1889. 

3)  Anatomie  der  Mundhöhle.    Wien  1891,  S.  44. 

4)  T.   Dependorf,    Zur    Frage    der    überzähligen    Zähne   im    menschlichen 
Gebiß.     Zeitschr.  f.  Morph,  u.  Anthrop.,  Bd.  X,  S.  192. 


32  Erstes  Hauptstück. 

Prämolaren  und  Molaren  auf  jeden  Fall  nur  Umwandlungen  einer 
Grundform.  Als  diese  Grundform  könnte  vielleicht  die  trituberkuläre 
angenommen  werden"1). 

Wie  jedoch  diese  Stellungnahme  des  genannten  Autors  in  Über- 
einstimmung zu  bringen  ist,  mit  der  von  ihm  vielfach  wiederholten 
Überzeugung,  daß  die  Molaren  aus  dem  Material  von  prälaktealer, 
laktealer  und  permanenter  Dentition  entstanden  sind2),  ist  mir  nicht 
recht  deutlich.  Die  Grundform  aller  Zähne  sollte  die  durch  Kon- 
kreszenz entstandene  trituberkuläre  gewesen  sein,  und  dennoch  sollten 
die  Molaren  eine  ganze  Dentition  absorbiert  haben,  welche  bei  den 
Antemolaren  als  selbständiges  Gebiß  auftritt.  Wenn  hat  dann  diese 
Assimilation  der  Molaren  stattgefunden?  Vor  der  Differenzierung  zu 
höheren  Säugerzähnen?  Dann  ist  die  Grundform  nicht  mehr  die 
gleiche.  Oder  sind  zwei  zu  verschiedenen  Dentitionen  gehörigen 
trituberkularen  Zähne  zu  einem  Gebilde  zusammengetreten?  Dann 
müßten  Formen  entstanden  sein,  welche  nicht  verwirklicht  sind. 
Die  Lösung  dieses  Widerspruches  scheint  mir  nur  jene  zu  sein, 
daß  eine  der  Behauptungen  Adloffs  verfehlt  ist.  Die  Grundform 
aller  Zähne  ist  --  allerdings  nicht  in  der  Adloff sehen  Fassung  - 
die  gleiche,  aber  daraus  folgt  auch  die  Konsequenz  eines  gemeinsamen 
Differenzierungsganges  aller  Zähne.  Schließlich  ist  die  Formverwandt- 
schaft sämtlicher  Antemolaren  noch  scharf  betont  für  das  Suidengebiß 
durch  Stehlin3).  Der  Caninus  ist  hier  auf  einen  zweischneidigen, 
zweiwurzeligen  prämolarenartigen  Zahn  zurückzuführen,  der  untere 
ist  jedoch  einer  Deutung  nicht  so  leicht  zugänglich.  Die  Incisiven 
lassen  sich  nach  dem  Verfasser  auf  die  Form  eines  einfachen  Prä- 
molaren zurückführen.  An  den  oberen  Incisiven  blickt,  sagt  der 
Autor,  die  Prämolarenstruktur  noch  so  deutlich  durch,  daß  sie  sich 
am  besten  direkt  als  modifizierte  Prämolaren  beschreiben  lassen  (1.  c. 
S.  308). 

Der  einheitliche  Typus  wird  somit  für  den  Antemolaren  wieder- 
holt in  der  Literatur  betont.  Viel  seltener  dagegen  jener  zwischen 
Prämolaren  und  Molaren.  Hieran  hat  die  Copesche  Theorie  mit  ihrem 
Dogma  eines  differenten  Entwicklungsganges  von  beiden  Zahngruppen 
schuld.  In  der  älteren  Literatur  finden  sich  jedoch  wohl  diesbezügliche 
Äußerungen.  So  glaubte  Rütimeyer  seinerzeit  die  Prämolaren  der 
Ungulaten  als  reduzierte  Molaren  deuten  zu  sollen4).  Nun  ist  auch  hier 
der  Ausdruck  reduzierte  Molaren  wieder  ein  wenig  glücklicher.  Es 
sind  nicht  in  bezug  auf  den  Molaren  reduzierte  Formen,  sondern  ge- 
wissermaßen Vorstufen,  welche  in  allmählicher  Komplikation  die  Struk- 
tur der  Molaren  vorzubereiten  scheinen.  Auch  Huxley  hat  die  Form- 
verwandtschaft zwischen  Prämolaren  und  Molaren  betont.  „In  Centetes", 
sagt  dieser  Autor,  ,,it  is  easy  to  trace  the  successive  changes  by  wich 
the  simple  and  primitive  character  of  the  Mammalian  cheek-tooth 
exhibited  by  the   most  anterior  praemolar  passes  into   the   complex 

1)  Das  Gebiß  des  Menschen  und  der  Anthropomorphen,   S.   139. 

2)  Vgl.  u.  a.  Zur  Frage  der  Entstehung  der  heutigen  Säugetierzahnformen. 
Zeitschr.  f.  Morph,  u.  Anthrop.  1903,  Bd.  V. 

3)  H.  G.  Stehlin,  Über  die  Geschichte  des  Suidengebisses.  Abh.  d.  Schweiz. 
Paläontol.  Ges.,  Bd.  XXVI.    Zürich  1899. 

4)  J.  Rütimeyer,  Versuch  einer  vergleichenden  Odontographie  der  Huf- 
tiere.    Basel  1863. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  33 

structure  of  the  crowns  of  the  posterior  teeth"1).  Schließlich  sei  noch 
Topinard  erwähnt2),  der  ebenfalls  die  Prämolaren  und  Molaren  von 
einem  „gemeinsamen  Typus"  ableitet.  Doch  differiert  der  Standpunkt 
dieses  Autoren  von  jenem  von  Huxley,  indem  er  die  beiden  Zahn- 
gruppen in  divergenter  Weise  aus  diesem  gemeinsamen  Typus  entstehen 
läßt.  ,,11  y  a  donc-',  sagt  der  Autor  1.  c.  S.  670,  unite  d'origine  des  molaires 
et  premolaires  superieures  et  inferieures.  Un  type  commun  c'est  diffe- 
rentie  dans  deux  voies  qui  se  sont  divisees  et  ont  abouti  l'une  aux 
premolaires,  l'autre  aux  molaires." 

Wir  werden  jetzt  eine  kurze,  übersichtliche  Darstellung  geben 
von  der  Art  der  Spezialisierung  von  Incisivi  und  Canini. 

Wir  werden  uns  insbesonders  bemühen,  nachzuweisen,  daß  auch 
an  diesen  Zähnen  die  beiden  Odontomeren  sich  auffinden  lassen,  und 
daß  jedes  davon  die  ihm  gebührenden  drei  Spitzen  besitzt. 

Bisher  war  immer  nur  von  den  Zähnen  des  Oberkiefers  die  Rede. 
In  den  jetzt  folgenden  Auseinandersetzungen  wird  diese  Trennung 
nicht  durchgeführt.  Denn  der  Grund,  der  mich  zwang,  die  Ober-  und 
Unterkieferzähne  gesondert  zu  behandeln,  liegt  für  die  Schneide- 
und  Eckzähne  nicht  vor.  Die  Divergenz  des  Entwicklungsganges  in 
beiden  Gebißreihen  fängt  erst  hinter  dem  Caninus  an. 

Beginnen  wir  mit  dem  Eckzahn.  Als  allgemeines  Charakteristi- 
kum dieses  Zahnes  gilt  die  bisweilen  außerordentliche  Entwicklung 
des  Haupthöckers  (P)  vom  Protomer,  bei  geringer  Entfaltung,  nicht 
selten  völligem  Fehlen  der  beiden  Nebenspitzen  i  und  2.  Wie  stark 
jedoch  dieser  Zahn  in  der  Gruppe  der  Primaten  den  Eindruck  macht 
bei  allen  Geschlechtern  ein  homologes  Gebilde  zu  sein,  so  habe  ich  doch 
die  Überzeugung  gewonnen,  daß  dem  nicht  so  ist.  Wie  unwahrschein- 
lich es  auch  klinge,  so  bin  ich  doch  überzeugt,  daß  z.  B.  der  Caninus 
des  Menschen  und  jener  von  Gorilla  oder  Cynocephalus  genetisch  nicht 
vollständig  homologe  Bildungen  sind.  Der  Unterschied  wird  herge- 
stellt durch  den  sehr  verschiedenen  Grad,  in  dem  das  Deuten» mer  am 
Zustandekommen  des  Zahnes  beteiligt  ist.  Doch  komme  ich  nachher 
auf  diesen  Punkt  zurück.  Es  wurde  diese  Sache  nur  kurz  erwähnt, 
um  gleich  festzulegen,  daß  die  Entwicklung  des  Deuteromer  nicht  etwas 
für  den  Canini  aller  Primaten  Charakteristisches  hat.  An  den  Eck- 
zähnen der  Primaten  trifft  man  die  Spuren  der  Nebenspitzchen  i  und  2 
nur  selten  an,  und  sie  fehlen  durchaus  bei  den  sehr  kräftig  entwickelten 
Zähnen  des  permanenten  Gebisses.  Dieses  Fehlen  kann  man  auch  derart 
deuten,  daß  die  Nebenspitzchen  zwar  an  der  Bildung  des  kegelförmigen 
Zahnes  sich  beteiligen,  aber  daß  ihre  ursprüngliche  Abgrenzung  voll- 
ständig verloren  gegangen  ist.  Und  diese  Auffassung  gewinnt  an 
Wahrscheinlichkeit  durch  die  Tatsache,  daß  bisweilen  die  Beteiligung 
einer  der  Spitzen  an  der  Bildung  der  Krone  an  der  lingualen  Fläche 
sehr  evident  ist,  während  an  der  bukkalen  Fläche  jede  Andeutung 
davon  fehlt.  Das  geht  z.  B.  aus  Fig.  6  hervor,  wo  ein  permanenter 
oberer  Eckzahn  von  Avahis  laniger,  von  der  lingualen  Seite  gesehen, 
abgebildet  ist.  Die  Zahnkrone  des  Caninus  dieses  Halbaffen  ist  niedrig 
und  ziemlich  stark  abgeplattet,  ragt  nur  wenig  über  den  ersten  Prä- 


1)  Th.  Huxley,  Collected  Papers,  Vol.  IV,  p.  450. 

2)  P.   Topinard,    De  l'Kvolution    des   Molaires   et  Premolaires    chez    les 
Primates  et  en  particulier  chez  l'homme.    L'Anthropologie  1892. 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  3 


34 


Erstes  Hauptstück. 


molar  hervor.  Die  hintere  Nebenspitze  2  ist  ziemlich  kräftig  als  selb- 
ständige Hervorragung  entwickelt,  die  vordere  Nebenspitze  1  dagegen 
bildet  offenbar  einen  Teil  des  Vorderrandes  der  Krone,  verursacht 
jedoch  keine  Einkerbung  in  demselben  und  ist  auch  an  der  bukkalen 
Seite  nicht  vom  Haupthöcker  abgesetzt,  was  an  der  lingualen  Fläche 
durch  eine  seichte  Furche  wohl  der  Fall  ist.  Bei  anderen  Halbaffen, 
z.  B.  Tarsius,  bilden  die  Nebenspitzchen  1  und  2  am  Eckzahn  zwei 
kleine  scharfe  Höckerchen  an  der  Basis  des  Haupthöckers,  bei  Stenops 
lagern  sie  ungefähr  in  der  Mitte  vom  Vorder-  und  Hinterrand  des 
schlanken  Hauptkegels,  bei  Hemigalago,  Nyctieebus  und  Galago  ist 
nur  die  hintere  Nebenspitze  angedeutet. 

Doch  auch  bei  den  höheren  Primaten  trifft  man  bisweilen  die 
Spuren  der  beiden  Nebenhöckerchen  noch  an,  besonders  in  jenen  Fällen, 
in  denen  der  Haupthöcker  sich  nicht  so  außerordentlich  entwickelt 
hat  und  die  Zahnkrone  mehr  lanzettförmig  ist,  z.  B.  beim  oberenEckzahn 
des  Milchgebisses  von  Chrysothrix  und  von  Hapale. 

Bisweilen  trägt  auch  der  obere 
permanente  Eckzahn  des  Menschen 
noch  deutlich  die  Spuren  seiner  drei- 
spitzigen Urform  an  sich,  wie  aus 
Fig.  7  ersichtlich.  Der  Kronenrand 
wird  nicht  von  zwei  regelmäßig 
verlaufenden  zur  Spitze  konvergie- 
renden Linien  gebildet,  sondern  ist 
wellenförmig,  der  mittlere  Teil  ragt 
deutlich  hervor  und  geht  in  eine 
vordere  und  hintere  niedrige  Er- 
hebung über.  An  der  lingualen  Seite 
ist  die  Abgrenzung  der  drei  Spitzen 
ziemlich   scharf   ausgeprägt1). 

Die  gegebenen  Beispiele  dürften 
hinreichen 


Fig.    6.      Oberer 

Eckzahn  von 
Avahis  Inniger. 


Fig.    7.      Oberer 

Eckzahn  des 
Menschen  mit  An- 
deutung der  Drei- 
spitzigkeit. 


um    die  Beziehung   des 
Eckzahnes  vom  Primatengebiß  zum 


ursprünglichen  trikonodonten  Typus 

zu  beweisen.    Es  hat  in  diesen  Fällen 

das  Protomer  seine  ursprüngliche    Gestalt  wieder  mehr  oder  minder 

zur  Entwicklung  gebracht.      Oder  sollte   es  heißen:    seine   primitive 

Form  noch  erhalten? 

Bei  Primaten  dagegen,  bei  denen  die  Canini  sich  zu  den  ge- 
waltigen Hauern  entfaltet  haben,  ist  diese  Differenzierung  wohl  voll- 
ständig unterdrückt  worden.  Der  Mensch  zeigt  in  der  Morphologie 
seines  Caninus  größere  Verwandtschaft  zu  den  niederen  Primaten, 
besonders  Halbaffen  mit  lanzettförmigen  Canini  als  mit  den  Anthro- 
poiden oder  sonstigen  höheren  Primaten.  Und  dieser  Unterschied 
zwischen  Menschen  und  z.  B.  Gorilla  bezieht  sich  nicht  nur  auf  die 
dimensioneilen  Verhältnisse,  sondern  auch  auf  die  anatomische  Zu- 
sammensetzung, eine  Folge  der  differenten  Beteiligung  des  Deuteromer 
an  dem  Aufbau  des  Zahnes.  Denn  dieser  Anteil  ist  bei  den  Primaten 
sehr  verschieden,  und  man  kann  deutlich  in  dieser  Hinsicht  zwei  Gruppen 


1)  Für   weitere   Besonderheiten  solcher   Formen   beim   Menschen  verweise 
ich  auf  die  dritte  dieser  Studien,  welche  die  Variationen  des  Gebisses  behandeln  wird. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne. 


35 


unterscheiden,  nämlich  eine  bei  der  das  Deuteronier  sich  am  Eckzahn 
nicht  oder  nur  schwach  manifestiert,  und  eine  zweite  Gruppe,  wobei 
dasselbe  an  der  Bildung  der  Zahnkrone  in  ausgiebiger  Weise  teilnimmt. 

Betrachten  wir  zunächst  erstgenannte  Gruppe.  Wir  haben  aus- 
einandergesetzt, daß  bei  den  Prämolaren  das  Deuteronier  in  seiner 
einfachsten  Form  als  ein  einziger  niedriger  Höcker  erscheint,  der  sich 
lingual  des  Haupthöckers  vom  Protomer  findet.  Das  Homologon 
dieses  Höckers  ist  jene  Erhebung,  die  man  öfters  an  der  inneren  Seite 
der  Frontzähne  antrifft  und  in  der  Literatur  als  das  Tuberculum  dentis 
unterschieden  wird.  Besonders  evident  wird  das  in  jenen  Fällen,  wenn 
der  Caninus  in  Abweichung  seiner  gewöhnlichen  Gestalt  mehr  einem 
Prämolaren  ähnlich  aussieht.  Solche  Fälle  sind  zwar  ziemlich  selten, 
sie  kommen  jedoch  auch  bei  den  Primaten  vor,  besonders  im  Milch- 
gebiß. So  sagt  z.  B.  Lee  he1)  vom  oberen  Milchcaninus  von  Adapis 
magnus:  ,,Er  ist  nicht  höher,  als  die  nachfolgenden  Backenzähne  und 
eher  prämolar-  als  typisch  eckzahnartig/'  Unter  den  jetzt  lebenden 
Primaten  besitzt  Hapale  im  Milchgebiß  einen  unteren  Eckzahn,  den 
man,  wenn  isoliert  betrachtet,  schwerlich  als  solchen,  sondern  zweifels- 
ohne als  einen  posteaninen 
Zahn  deuten  würde.  Er 
gleicht  seinem  unmittel- 
baren Nachfolger  —  dem 
ersten  Milchmolaren  —  nicht 
nur  in  der  Gestalt  seiner 
Krone,  sondern,  wie  aus 
Fig.  8  zu  ersehen,  sind  die 
Reliefmerkmale  des  letzt- 
genannten beim  Eckzahn 
sogar  akzentuiert.  Solche 
Übereinstimmungen  sind 
nur  verständlich  bei  der 
Annahme,  daß  sämtlichen 
Zähnen  eine  gleiche  Urform 
zugrunde    liegt,    und    daß 

die  Differenz  der  verschiedenen  Zähne  auf  die  ungleiche  Entwicklung 
der  morphologischen  Unterteile  dieser  Grundform  zurückzuführen  ist. 

Das  Tuberculum  dentis  des  Eckzahnes  ist  nun  bei  gewissen  Pri- 
maten wohl,  bei  anderen  nicht  anwesend,  und  wenn  ersteres  der  Fall 
ist,  wechselt  individuell  der  Entwicklungsgrad  ziemlich  stark,  und  nicht 
selten  ist  es  —  besonders  beim  Menschen  —  in  zwei  kleinere  Höckerchen 
geteilt.  Die  Affen,  bei  den  das  Tuberculum  leicht  nachweisbar  ist, 
sind  überwiegend  jene,  bei  denen  der  Zahn  eine  Länge  besitzt,  welche 
jene  der  übrigen  Zähne  wenig  übertrifft,  wie  beim  Menschen.  Es  ist 
bekannt,  daß  hier  das  Tuberculum  in  seltenen  Fällen  zu  einem  ziemlich 
kräftigen  Höcker  heranwachsen  kann.  Der  in  Fig.  7  abgebildete  Caninus 
besitzt  ein  gut  ausgebildetes  Tuberculum  dentis  oder  Basalhöcker,  wie 
de  Terra  es  nennt2).  Einen  zweiten  Fall  gibt  die  Skizze  in  Fig.  9.  Sie 
ist  nach  dem  Zahn  angefertigt,  an  dem  ich  diese  Bildung  am  kräftigsten 


™i       c 

Fig.  8.     Hapale. 

Unterer  Eckzahn  und 

erster  Molar  des 

Milchgebisses. 


Fig.  9. 


1)  W.  Leche,   Untersuchungen  über  das  Zahnsystem  lebender  und  fossiler 
Halbaffen.    Festschr.  f.  Gegenbaur,  III,  S.  148. 

2)  Odontographie  der  Menschenrassen,  S.  235. 

3* 


36  Erstes  Hauptstück. 

entwickelt  fand,  und  reicht  bis  zur  Mitte  des  protomeren  Haupthöckers. 
Eine  solche  starke  Entwicklung  des  Deuteromer  habe  ich  niemals  bei 
einem  der  anderen  höheren  Primaten  angetroffen.  In  seiner  eben  zitierten 
Arbeit  geht  auch  de  Terra  auf  das  Vorkommen  und  die  Bedeutung 
dieses  Basalhöckers  ein  und  hebt  einen  merkwürdigen  Unterschied 
zwischen  Affen-  und  Menschencaninus  hervor.  Er  sagt  1.  c.  S.  236: 
„Der  Basalhöcker  tritt  beim  Affen  gewöhnlich  in  der  Zweizahl  auf  und 
außerdem  nimmt  eine  gegen  die  Spitze  des  Zahnes  verlaufende  Rinne 
zwischen  den  Höckern  ihren  Anfang.  Diese  Rinne  fehlt  beim  Menschen, 
auch  ist  am  bleibenden  Eckzahn  nur  ein  Höcker  zu  sehen. "  Dieser  Unter- 
schied zwischen  Affen-  und  Menschencaninus  verdient  scharf  betont 
zu  werden,  da  ihm  eine  entwicklungsgeschichtliche  Bedeutung  zu- 
kommt. Ich  muß  dazu  jedoch  zunächst  die  Angabe  von  de  Terra  be- 
richtigen. Bei  den  Affen  mit  mächtig  entwickelten  Canini  (Gorilla, 
Hylobates,  Cynocephalus  usw.)  verlaufen  über  der  Krone  in  der  Längs- 
richtung zwei  Rinnen  oder  bisweilen  tief  einschneidende  Furchen,  und 
nicht  eine  einzige,  wie  de  Terra  angibt.  Nicht  immer  sind  beide  gleich 
stark  entwickelt.  Sie  fangen  an  der  Basis  der  Krone  an,  und  strecken 
sich  bis  zur  Spitze  derselben  aus.  Bisweilen,  wie 
z.  B.  bei  Siamang  (vgl.  Fig.  10)  sind  beide  Rinnen 
auf  die  linguale  Fläche  gelagert,  in  anderen  Fällen, 
wenn  die  Krone  weniger  abgeplattet,  mehr  kegel- 
förmig ist,  rückt  eine  derselben  auf  die  Seitenfläche. 
Diese  beiden  Längsfurchen  trifft  man  nicht  nur  bei 
den  Primaten,  sondern  auch  bei  den  übrigen  Säuge- 
tieren, bei  denen  |die  Eckzähne  zu  Hauern  sich  ent- 
wickelt haben.  Durch  dieselben  wird  die  Krone  in 
zwei  Felder  getrennt,  ein  größeres  bukkales  und  ein 
kleineres  linguales.  Man  könnte  der  Ansicht  sein, 
Fig.  10.  Siamanga  diese  beiden  Längsfurchen  besitzen  keine  entwick- 
syndactylus.  Eck-  lungsgeschichtliclie,  sondern  nur  eine  mechanische 
zahn-  Bedeutung,    da    sie    sich    auf    der   Reibefläche   des 

Zahnes  befinden.  Dagegen  ist  die  Tatsache  anzuführen, 
daß  bei  den  oberen  Canini  von  Sus  babyrusa,  welche  bekanntlich  statt 
nach  unten  zu  wachsen,  gleichsam  nach  oben  umgeklappt  sind,  wodurch 
die  ursprüngliche  linguale  Fläche  an  die  Außenseite  zu  liegen  kommt, 
die  beiden  Rinnen  auf  diese  Fläche  bis  zur  Zahnspitze  sich  erstrecken. 
Diese  Rinnen  oder  Furchen  lassen  meiner  Meinung  nach  nur  eine 
Deutung  zu,  nämlich  diese,  daß  sie  die  Grenzen  darstellen  zwischen  den 
beiden  Odontomeren.  Bei  den  gewaltig  entwickelten  Canini  der  Pri- 
maten besteht  die  Krone  somit  nicht,  wie  bei  den  gering  entfalteten, 
ausschließlich  oder  hauptsächlich  aus  dem  Haupthöcker  P  vom  Proto- 
mer,  sondern  es  hat  an  der  Bildung  dieser  Krone,  wenigstens  der  Länge 
nach,  der  Haupthöcker  D  vom  Deuteromer  gleichen  Anteil  genommen, 
er  dehnt  sich  bis  zur  Kronenspitze  aus.  Man  muß  sich  dabei  denken, 
daß  diese  Haupthöcker  ihre  morphologische  Individualität  preisgegeben 
haben,  und  mit  ihren,  einander  zugekehrten  Flächen  über  ihre  ganze 
Länge  verwachsen  sind.  Beim  Menschen  dagegen,  mit  seinem  mehr 
primitiv  gestalteten  Eckzahn,  besteht  die  Krone  ausschließlich  aus  dem 
Protomer  und  das  Deuteromer  erscheint  nur  in  der  Form  des  sogenannten 
Tuberculum,  das  bisweilen  sich  etwas  mächtiger  entfalten  kann  als 
durchschnittlich,    dabei   jedoch   immer   seine    morphologische    Indivi 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  37 

dualität  behält.  Daß  ein  Tuberculum  dentis,  wie  beim  menschlichen 
Caninus,  dann  auch  meistenfalls  den  Affen  abgeht,  ist  leicht  verständ- 
lich. Zwar  findet  man,  wie  auch  de  Terra  im  oben  zitierten  Passus 
bemerkt,  bei  den  Affen  bisweilen  —  nicht  „gewöhnlich",  wie  de  Terra 
sagt  -  -  zwei  Höckerchen,  aber  diese  entsprechen  nicht  dem  Basal- 
höcker  des  menschlichen  Caninus,  sondern  sind  die  Nebenspitzen  3 
und  4  vom  Deuteromer. 

Die  verschiedene  morphologische  Natur  des  Eckzahnes  vom  Men- 
schen und  seiner  nächsten  Verwandten  ist  nur  die  Äußerung  des  Prin- 
zipes,  welches  bei  der  historischen  Entwicklung  aller  Zähne  des  Gebisses 
zum  Vorschein  tritt.  Je  kräftiger  sich  nämlich  der  Zahn  entwickelt, 
desto  ausgiebiger  werden  die  morphologischen  Potenzen,  welche  die 
Zahnanlage  enthält,  aktiviert;  es  nimmt  das  Deuteromer  in  stets 
steigendem  Maße  Anteil  an  der  Zahnbildung.  Die  gewaltige  Entwick- 
lung der  Canini  bei  den  Anthropomorphen  z.  B.  oder  bei  den  Cyno- 
cephaliden.  griff  auch  im  deuteromeren  Anteil  der  Zahnanlage  ein,  aber 
der  Funktion  dieses  Zahnes  gemäß  dürfte  sich  letzterer  nicht  als  indi- 
viduelle Spitze  entwickeln,  sondern  entwickelt  sich  im  Zusammen- 
hang mit  dem  protomeren  Abschnitt  der  Zahnanlage  und  bildete  mit 
diesem  einen  einheitlichen  Kegel. 

Es  erhebt  sich  die  Frage,  ob  die  differente  morphologische  Zu- 
sammensetzung des  Eckzahnes  vom  Menschen  und  Anthropoiden  (sowie 
der  übrigen  höheren  Affen),  eine  Persistenz  ursprünglicher  Verhält- 
nisse beim  Menschen  ist,  oder  eine  von  den  Hominiden  neu  erworbene 
Erscheinung,  welche  dann  in  jenem  Sinne  zu  deuten  sit,  daß  bei  den 
Hominiden  die  Verlötung  beider  Haupthöcker  P  und  D  infolge  von 
immer  schwächerer  Entwicklung  des  Zahnes  wieder  rückgängig  ge- 
worden ist.  da  das  Deuteromer,  als  von  Hause  aus  das  weniger  wichtige 
der  beiden  Üdontomeren  darstellend,  bei  der  Regression  die  erste  Stelle 
einnahm.  Wiewohl  die  Möglichkeit  letzterer  Auffassung  unbedingt 
zugegeben  werden  muß,  —  da,  wie  schon  öfters  betont  wTorden  ist,  Pro- 
gression und  Regression  immer  den  gleichen  Weg  folgen,  nur  in 
entgegengesetzter  Richtung,  so  daß  z.  B.  bei  Reduktion  des  Gorilla- 
caninus  zunächst  und  am  meisten  das  Deuteromer  schwinden  würde  — , 
so  glaube  ich  doch  nicht  im  Eckzahn  des  Menschen  eine  sekundär 
vereinfachte  Form  erblicken  zu  dürfen.  Diese  Überzeugung  gründet 
sich  auf  die  Überlegung,  daß  in  der  Morphogenese  und  in  der  Anatomie 
des  Menschenschädels  jede  Andeutung  fehlt,  daß  dieser  Körperteil 
jemals  ein  Stadium  mit  dem  stark  verlängerten  Gesichtsteil  durch- 
laufen hat,  wie  wir  es  bei  den  Anthropoiden  antreffen,  eine  Ausbildung, 
welche  wohl  mit  gewaltig  entwickelten  Canini  in  engstem  Konnex  steht. 
Ich  bin  geneigt,  den  Prognathismus  der  Anthropoiden  von  weniger 
prognathen  Zuständen  abzuleiten,  und  nicht  umgekehrt.  Die  Relation 
der  Canini  von  Anthropomorphen  und  Menschen  zueinander  möchte 
ich  deuten  als  Progression  der  ersteren  und  nicht  Reduktion  der  letzteren. 
Doch  ist  es  hier  weniger  am  Platze,  auf  diese  Frage  näher  einzugehen. 

Das  oben  vom  Caninus  Gesagte  fasse  ich  im  folgenden  kurz 
zusammen.  Der  Primateneckzahn  ist  ein  dimerer  Zahn,  wobei  jedoch 
die  Beteiligung  vom  Deuteromer  eine  sehr  verschiedene  ist.  Das  Proto- 
mer  trägt  bisweilen  noch  deutlich  das  Kennzeichen  seiner  ursprüng- 
lichen trikonodonten  Urform,  indem  es  neben  der  Hauptspitze  auch  die 
beiden  Nebenspitzen  zur  Entwicklung  bringt.     Ist  nur  eine  derselben 


38  Erstes  Hauptstück. 

entwickelt,  dann  ist  es  meistenfalls  die  hintere,  also  Nebenspitze  2. 
Das  Deuteromer  trägt  entweder  am  Aufbau  der  Krone  in  der  ganzen 
Länge  bei,  in  welchem  Falle  zwei  zur  Zahnspitze  sich  erstreckende 
Rinnen  oder  Furchen  die  Grenzen  zwischen  den  beiden  Odontomeren 
markieren,  oder  die  Krone  wird  nur  vom  Protomer  gebildet  und  das 
Deuteromer  tritt  dann  gelegentlich  als  ein  selbständiges  Höckerchen 
auf.  Ist  letzteres  nicht  der  Fall,  dann  manifestiert  sich  das  Deuteromer 
als  ein  Basalsaum,  der  sich  an  der  Innenfläche  der  Krone  findet,  der 
aber  auch,  besonders  bei  schwach  entwickelten  Eckzähnen,  fehlen  kann. 

Die  Erkenntnis  der  dinieren  Natur  des  Eckzahnes  erklärt  in  ganz 
natürlicher  Weise  Anomalien  oder  Strukturbesonderheiten,  die  bei 
diesem  Zahn  beobachtet  werden,  und  deren  Besprechung  ich,  der  Voll- 
ständigkeit wegen  und  auch  zur  näheren  Begründung  des  bis  jetzt 
über  diesen  Zahn  gesagten,  hier  folgen  lasse.  Die  erste  Erscheinung 
betrifft  die  Spaltung  der  Wurzel  dieses  Zahnes,  die  sogar  bis  zur  Ver- 
doppelung gehen  kann.  Ich  erinnere  daran,  daß  im  Eingang  dieser 
Arbeit  schon  darauf  hingewiesen  ist,  daß  die  Spaltung  und  Verdoppelung 
der  Eck  Zahnwurzel  nicht  immer  die  gleiche  Bedeutung  hat.  Es  gibt 
zwei  Modifikationen  derselben.  Die  erste  trifft  man  im  Milchgebiß 
höherer  Primaten  oder  beim  permanenten  Eckzahn  gewisser  Halb- 
affen an.  Dabei  ist  die  Zahnkrone  meistens  durch  die  lanzettförmige 
Gestalt  gekennzeichnet,  sie  ist  stark  abgeplattet  und  es  sind  die  Neben- 
spitzchen  1  und  2  anwesend.  Es  erinnert  diese  Form  stark  an  jene  der 
ursprünglichen  trikonodonten  Zähne.  Das  Deuteromer  ist  an  der  Zu- 
sammensetzung dieser  Zähne  nicht  oder  kaum  sichtbar  beteiligt.  Die 
beiden  Wurzeln  nun  sind  in  diesem  Falle  als  eine  vordere  und  hintere 
gelagert.  Diese  Wurzelverdoppelung  reicht  mithin  auf  jene  sehr  frühe 
Phase  zurück,  in  der  der  trikonodonte  Zahn  zweiwurzelig  geworden 
ist,  und  die  Wurzeln  müssen  als  A1  und  A2  unterschieden  werden. 
Nämliche  Erscheinung  habe  ich  auch  bei  den  Incisivi  des  Milchgebisses 
von  Schimpanse  und  Macacus  angetroffen. 

Ganz  anderer  Natur  ist  die  Zweiwurzeligkeit,  welche  man  beim 
permanenten  Eckzahn  des  Menschen  antrifft,  und  dessen  Vorkommen 
ich  auch  bei  Semnopithecus  und  Macacus  feststellen  konnte.  Die  Ano- 
malie ist  bekanntlich  im  Unterkiefer  des  Menschen  gar  nicht  selten, 
im  Oberkiefer  muß  ich  sie  als  höchst  selten  verzeichnen.  Daß  es  sich 
in  diesem  Falle  um  eine  von  der  vorangehenden  ganz  verschiedene 
Anomalie  handelt,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  die  Wurzelspaltung 
jetzt  nicht  in  einer  transversalen,  sondern  in  einer  sagittalen  Ebene 
erfolgt  ist,  und  die  beiden  Wurzeln  daher  eine  äußere  und  innere  sind. 
Ohne  Ausnahme  ist  die  bukkale  Wurzel  die  kräftigere.  Diese  Zwei- 
wurzeligkeit ist  jener  homolog,  welche  man  bei  den  vorderen  Prä- 
molaren nicht  selten  antrifft,  die  äußere  ist  die  zum  Protomer  gehörige 
Wurzel  A,  und  die  innere  ist  die  eigene  Wurzel  vom  Deuteromer,  ist 
daher  als  B  zu  bezeichnen. 

Die  beiden  Arten  von  Zweiwurzeligkeit  beim  Eckzahn  sind  mit- 
hin besonders  charakteristisch,  denn  sie  lehren  uns  die  beiden  Arten 
der  Wurzelvermehrung  kennen,  welche  im  Laufe  der  Phylogenese  des 
Säugergebisses  stattgefunden  haben.  Die  erstbeschriebene  reicht 
allerdings  auf  eine  frühere  Phase  der  Entwicklung  zurück  als  die  letzt- 
beschriebene. Daraus  darf  man  jedoch  nicht  den  Schluß  ziehen,  daß 
nun  auch  die  erstere  so  viel  seltener  sein  sollte  als  die  zweitgenannte. 


Die  Differenyierung  der  Oberkieferzähne.  39 

Denn  Bedingung  zu  ihrem  Auftreten  ist  nur,  daß  die  Form  der  Krone 
wieder  jener  in  den  mehr  primitiven  Gebissen  ähnlich  wird.  Ein  Atavis- 
mus im  eigentlichen  Sinne  liegt  somit  in  dieser  Variation  nicht  vor. 
Die  Variation  zeugt  vielmehr  wieder  dafür,  daß  Kronen-  und  Wurzel- 
teil des  Zahnes  in  unmittelbarer  Abhängigkeit  voneinander  stehen; 
nimmt  die  Krone  eine  bestimmte  Form  an,  dann  muß  der  Wurzelteil 
eine  dieser  Form  entsprechende  Gestalt  annehmen.  Die  erstbeschrie- 
bene Zweiwurzeligkeit  ist  somit  eine  Folge  von  funktioneller  Anpassung, 
die  zweitbeschriebene  ist  die  Manifestation  des  dinieren  Charakters 
vom  Eckzahn.  Daß  diese  Variation  am  oberen  Eckzahn  so  äußerst 
selten  ist,  darf  als  die  Folge  der  Raumverhältnisse  angesehen  werden. 
Das  sich  früh  entwickelnde  Antrum  Highmori  ist  der  Entfaltung  von 
zwei  in  bukko-lingualer  Richtung  gelagerten  Wurzeln,  in  Verbindung 
mit  der  Stelle,  wo  der  Zahn  sich  entwickelt,  gewiß  nicht  günstig. 

Es  gibt  noch  eine  zweite  Erscheinung,  welche  durch  die  Dimerie 
des  Eckzahnes  ihre,  sonst  sehr  schmerige,  Erklärung  findet,  nämlich 
die  sogenannte  Verdoppelung  des  Eckzahnes.  Daß  eine  solche  Anomalie 
im  menschlichen  Gebiß  überhaupt  vorkommen  sollte,  wird  nicht  von 
allen  Autoren  zugestanden.  Sehr  bestimmt  äußert  sich  in  dieser  Hin- 
sicht z.  B.  de  Terra1):  „Überzählige  Eckzähne  kommen  nach  meiner 
Ansicht  nicht  vor."  Nun  möchte  ich  die  Frage,  was  das  menschliche 
Gebiß  betrifft,  vorläufig  dahingestellt  sein  lassen;  mit  de  Terra  neige 
ich  der  Ansicht  zu,  daß  in  mehreren  der  beschriebenen  Fälle  die  Mög- 
lichkeit einer  Persistenz  des  Milchcaninus  nicht  von  der  Hand  zu  weisen 
ist.  In  seinem  kritischen  und  kasuistischen  Aufsatz  über  die  über- 
zähligen Zähne  führt  Dependorf  jedoch  ein  neues  Beispiel  von  doppeltem 
Caninus  an,  und  gibt  eine  dreizahl  Möglichkeiten,  wodurch  diese  Ano- 
malie erklärt  werden  konnte2).  In  seiner  Generalisierung  aber  ist  der 
Standpunkt  von  de  Terra  gewiß  unhaltbar,  denn  der  Fall,  den  Se- 
lenka  bei  Gorilla3)  beschreibt  und  abbildet,  beweist  wohl  aufs  unzwei- 
deutigste, daß  wenigstens  bei  diesem  Anthropomorphen  eine  solche 
Verdoppelung  im  Oberkiefer  tatsächlich  vorkommen  kann.  Nun  bietet 
das  Auftreten  von  zwei  Eckzähnen  in  ätiologischer  Hinsicht  große 
Schwierigkeiten,  denn  wie  sollte  eine  solche  Erscheinung  erklärt  werden, 
da  es  niemals  Säugetiere  mit  doppeltem  Eckzahn  gegeben  hat?  Es 
wird  dann  auch  gerade  diese  Erscheinung  wohl  als  Beweis  gegen  die 
atavistische  Natur  überzähliger  Zähne  im  Gebiß  überhaupt  angeführt 
(Dependorf).  Es  will  mir  nun  scheinen,  daß  die  Schwierigkeit  durch 
die  diniere  Natur  des  Eckzahnes  endgültig  beseitigt  wird.  Ein  doppelter 
Eckzahn  sei  nichts  anderes,  als  ein  in  seine  zwei  Odontomeren  zerlegter 
normaler  Zahn.  Durch  irgendwelche  Ursache  haben  sich  in  einem  solchen 
Fall  das  Protomer  und  das  Deuteromer  zu  zwei  voneinander  vollkommen 
unabhängigen  Zähnen  entwickelt. 

Der  Fall  Selenkas  spricht  durch  die  vorzügliche  Ausführung  der 
Abbildung  ganz  zugunsten  der  hier  gegebenen  Erklärung.  Denn  be- 
trachtet man  den  „normalen"  Caninus  genau,  dann  wird  es  sofort 
deutlich,  daß  es  sich  hier  gar  nicht  um  einen  normal  gestalteten  Eck- 
zahn von  Gorilla  handelt,  wie  aus  einer  Vergleichung  mit  dem  ander- 

1)  de  Terra,  Beiträge  zur  Odontographie  der  Menschenrassen,  S.  217. 

2)  T.  Dependorf,  Zur  Frage  der  überzähligen  Zähne  am  menschlichen  Ge- 
biß.   Zeitschr.  f.  .Morph,  u.  Anthrop.  1906,  Bd.  X. 

3)  E.  Selenka,  Menschenaffen.     II.  Lief.,  S.  141. 


40  Erstes  Hauptstück. 

seitigen  ersichtlich.  Der  ..bukkale"  der  zwei  Eckzähne  stellt  einen 
einfachen  Kegel  dar.  dem  jedes  Relief  an  der  Lingualseite  fehlt.  Die 
zwei  Rinnen  an  der  Zungenfläche  des  Caninus  bei  manchen  Primaten, 
welche  ich  als  die  Grenzlinien  zwischen  den  beiden  Odontomeren  deute, 
und  die  bei  dem  anderseitigen  Zahn  deutlich  entwickelt  sind,  sind  am 
fraglichen  Zahn  gar  nicht  ausgebildet.  Es  macht  ganz  den  Eindruck, 
als  hätten  sich  die  beiden  Rinnen  miteinander  verbunden  und  den 
Zahn  in  eine  größere  bukkale  und  eine  kleinere  linguale  Hälfte  zerlegt. 
Und  auch  diese  innere  Hälfte  hat  sich  zu  einem  vollständig  glatten 
Kegel  ausgebildet.  In  der  ungleichen  Größe  beider  kommt  das  normale 
Übergewicht  vom  Protomer  bei  der  Entwicklung  des  Zahnes  zum  Aus- 
druck. 

Der  Fall  Selenkas  ist  somit  durch  die  diniere  Natur  des  Zahnes 
in  ungezwungener  Weise  zu  erklären.  Es  ist  nicht  eine  Verdoppelung 
des  Eckzahnes,  sondern  eine  Zerlegung  desselben  in  seine  beiden  Kompo- 
nente. Und  jedes  dieser  Komponente  besitzt  den  morphologischen 
Wert  eines  Einzelzahnes.  Ich  wünsche  es  dahingestellt  sein  zu  lassen,  ob 
auch  andere  Fälle  von  Zahnverdoppelung  in  der  gegebenen  Weise  zu 
erklären  sind.  Jeder  Fall  muß  für  sich  beurteilt  werden.  Daß  z.  B.  das 
nicht  seltene  Auftreten  von  zwei  ersten  Prämolaren  im  Oberkiefer  des 
Hundes  in  dieser  Weise  erklärt  werden  muß,  bezweifle  ich.  Es  kommt 
mir  als  wahrscheinlich  vor,  daß  es  sich  hier  gar  nicht  um  zwei  erste  Prä- 
molaren handelt,  sondern  um  den  normalen  ersten  Prämolar  des  perma- 
nenten Gebisses  und  den  ersten  Milchmolar,  der  bekanntlich  normaliter 
nicht  zum  Durchbruch  gelangt,  in  den  gegebenen  Fällen  jedoch  erscheint. 
Daß  weiter  nicht  immer  Zahnverdoppelung  auf  eine  Zerlegung  des 
Zahnes  in  den  beiden  Odontomeren  zurückzuführen  ist,  werden  wir 
weiter  bei  der  Besprechung  der  Incisivi  erfahren.  Wir  werden  da  eine 
andere  Ätiologie  dieser  Anomalie  kennen  lernen. 

Noch  einmal  möchte  ich  auf  die  Bedeutung  des  Selenkaschen 
Falles  zurückkommen.  Denn  noch  in  einer  anderen  Richtung  ist  dieser 
wichtig.  Es  spricht  nämlich  für  die  Richtigkeit  meiner  Auffassung, 
daß  die  beiden  Rinnen  oder  Furchen,  die  an  der  Innenseite  des  Eck- 
zahnes sich  bis  zur  Spitze  erstrecken,  in  der  Tat  die  Grenzmarken 
zwischen  den  beiden  Odontomeren  sind,  und  daß  somit  das  Deuteromer 
bei  Gorilla  und  bei  allen  Formen,  wo  sie  auftreten,  an  der  Zusammen- 
setzung des  Zahnes  über  seine  ganze  Länge  beteiligt  ist.  Beim  Menschen 
fehlen  die  Furchen.  Dagegen  findet  sich  hier  als  Manifestation  vom 
Deuteromer  nur  das  Tuberculum.  Ich  wiederhole  den  aus  diesen  Er- 
scheinungen folgenden  Schluß,  daß  der  Eckzahn  des  Menschen  seiner 
Zusammensetzung  nach  nicht  homolog  ist  mit  jenem  der  meisten  Primaten, 
besonders  nicht  der  Anthropoiden. 

Die  Besprechung  des  Eckzahnes  der  Primaten  werde  ich  mit 
folgender  Bemerkung  schließen:  Nicht  selten  trifft  man  in  der  Literatur 
die  Behauptung,  daß  der  Eckzahn  der  Säugetiere  noch  einem  Kegelzahn 
der  Reptilien  homolog  zu  stellen  sei.  Diese  Behauptung  hat  sich  als 
unrichtig  erwiesen.  Abgesehen  davon,  daß  nicht  selten  der  Zahn  seine 
dreispitzige  Urform  deutlich  zur  Schau  trägt,  ist  er  auch  nicht  weniger 
ein  aus  zwei  Odontomeren  aufgebauter  ,, Doppelzahn"  als  die  rückwärts 
von  ihm  im  Gebiß  folgenden.  Jeder  dieser  beiden  Odontomeren  ist 
einem  Reptilienzahn  homolog  zu  stellen. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  41 

Wir  gehen  jetzt  dazu  über,  die  zweite  abgeleitete  Form  der  doppelt 
trikonodonten  Grundform  der  Primatenzähne,  welche  in  den  Incisivi 
zur  Verwirklichung  kam,  zu  betrachten. 

Die  Spezialisierung,  welche  die  Incisiven  aufweisen,  ist  jener  des 
Caninus  geradezu  entgegengestellt.  Bei  diesen  trägt  die  Spezialisierung 
den  Charakter  einer  sich  immer  kräftiger  äußernden  Differenz  in  der 
Entwicklung  einer  der  Höcker,  von  einem  oder  von  beiden  Odontomeren, 
und  meistenfalls  bis  zum  völligen  Schwund  gehender  Reduktion  der 
Nebenhöcker.  Bei  den  Incisiven  ist  ein  gerade  entgegengesetzter  Weg 
eingeschlagen  worden,  zwar  nicht  immer,  sondern  in  den  meisten  Fällen. 
Vorangestellt  sei,  daß  die  Beteiligung  vom  Deuteromer  an  der  Bildung 
dieser  Zähne  meistenfalls  eine  höchst  unansehnliche  ist,  und  nicht  selten 
zu  fehlen  scheint.  Als  Hauptmerkmal  der  Incisivi  darf  nun  gelten,  daß 
die  drei  Höcker  vom  Protomer  nahezu  gleichen  Anteil  an  der  Bildung 
des  Zahnes  nehmen.  Das  ist  aber  nicht  immer  der  Fall  und  nun  tritt 
die  merkwürdige  und  für  die  Deutung  der  Variationen  in  dieser  Ab- 
teilung des  Gebisses  so  überaus  wichtige  Erscheinung  auf,  daß,  wenn 
bei  den  Primaten  eine  der  Spitzen  des  Protomer  den  anderen  gegenüber 
reduziert  erscheint,  es  jetzt  meistenfalls  die  mittlere  Spitze  ist,  also 
der  ursprüngliche  Haupthöcker  P,  während  die  beiden  Nebenspitzen 
den  Zahn  in  solchen  Fällen  zum  größten  Teil,  ja  sogar  ganz  zusammen- 
stellen können.  In  welcher  Beziehung  diese  Tatsache  zu  den  Variationen 
im  Bereich  der  Incisivi  steht,  werden  wir  im  Anschluß  an  die  Be- 
schreibung der  normalen  Erscheinungen  noch  kurz  auseinandersetzen. 
Wenden  wir  uns  erst  dem  normalen  Zustand  zu. 

Es  ist  die  gleichmäßige  Entwicklung  der  drei  Spitzen  bei  den  prä- 
caninen  Zähnen  unschwer  als  eine  funktionelle  Anpassung  zu  erklären, 
denn  es  würde  hierduch  der  Zahn  mehr  meißeiförmig  gestaltet  und  zum 
Zerschneiden  besser  geeignet.  Auch  bei  Reptilien  trifft  man  diese 
Gleichheit  der  Spitzen  bei  den  Frontzähnen  schon  an,  während  bei  den 
weiter  nach  hinten  folgenden,  der  mittlere  Haupthöcker  seine  Prädomi- 
nanz allmählich  entfaltet.  Zum  Beispiel  verweise  ich  nach  meinem  Vor- 
trag auf  der  Versammlung  der  Anatomischen  Gesellschaft  in  München, 
wo  in  Fig.  7  die  prämaxillaren  Zähne  von  Tupinambus  nigropunetatus 
abgebildet  sind.  Der  Zahnrand  gibt  hier  nur  durch  zwei  Einkerbungen 
die  Grenze  zwischen  den  drei  Urspitzen  an.  Es  scheint  die  Behauptung 
etwas  gewagt,  die  drei  Zacken,  welche  man  an  den  Frontzähnen  der 
Reptilien  gelegentlich  antrifft,  mit  den  Zacken  am  Rande  der  Schneide- 
zähne von  Säugetieren  zu  homologisieren.  Doch  wenn  man  den  drei- 
spitzigen Zahn  als  Grundform  von  den  Odontomeren  des  Säugerzahnes 
annimmt,  und  dazu  ins  Auge  faßt,  daß  die  Säugetiere  diese  Grundform 
von  den  Reptilien  ererbt  haben,  dann  fällt  das  Gewagte  in  der  Homo- 
logisierung  weg.  Es  muß  dazu  noch  auf  einen  anderen  Punkt  hingewiesen 
werden.  Es  ist  bekannt,  daß  die  Zähnelung  am  Rande  der  Schneide- 
zähne nicht  immer  in  gleicher  Deutlichkeit  auftritt,  ja  als  weitere 
funktionelle  Anpassung  nicht  selten  vollständig  verloren  geht.  Es  liegt 
doch  auf  der  Hand,  daß  die  Schneidezähne  desto  besser  ihre  spezielle 
Funktion  erfüllen  werden  können,  je  schärfer  die  Schneide  des  Zahnes 
ist,  und  je  mehr  dieselbe  eine  gerade  Linie  darstellt.  Der  ursprüngliche 
anatomische  Charakter  ist  dann  auch  meistenfalls  nur  spurweist1  an- 
gedeutet, und  die  Einkerbungen  gehen  bisweilen  rasch  verloren.  Nun 
ist  es  in  Verbindung  damit  nicht  ohne  Bedeutung,  daß  die  Dreispitzig- 


42  Erstes  Hauptstück. 

keit  der  Incisivi  gerade  dann  am  schärfsten  ausgeprägt  erscheint,  wenn 
von  diesen  Zähnen  ein  nur  ganz  untergeordneter  oder  gar  kein  Gebrauch 
gemacht  wird.  Ersteres  ist  besonders  bei  den  Carnivoren  der  Fall, 
und  abgesehen  davon,  daß  die  Incisivi  bei  mehreren  Geschlechtern 
dieser  Ordnung  mehr  oder  weniger  caniniform  sein  können,  ist  die  drei- 
spitzige Grundform  hier  oftmals  besonders  scharf  ausgeprägt.  Ist  der 
Zahn  nicht  caniniform  gestaltet,  dann  trifft  man  hier  in  vergrößertem 
Maßstabe  Zähne  an,  welche  jenen,  die  ich  in  der  genannten  Figur 
von  Tupinambus  abgebildet  habe,  besonders  ähnlich  sind.  Man  be- 
trachte dazu  z.  B.  einen  eben  durchbrochenen  lateralen  Milchincisivus 
von  Felis  leo. 

Auch  wenn  die  Zähne  gar  nicht  zur  Verwendung  kommen,  also 
den  Weg  der  Reduktion  schon  weit  zurückgelegt  haben,  tritt  das  primi- 
tive Merkmal  wieder  deutlich  zutage.  So  berichtet  z.  B.  Schlosser 
über  die  Milchincisivi  der  Fledermäuse1):  Der  Zahnwechsel  erfolgt 
stets  vor  der  Geburt,  die  Milchzähne  durchbohren  niemals  den  Kiefer 
und  bleiben  ganz  unentwickelt2).  Sie  erscheinen  als  einwurzelige  Stifte 
mit  dreizackiger  Krone,  gleich  den  späteren  definitiven  Incisiven. 

Daß  die  anatomischen  Merkmale  der  Grundform  bei  den  Incisiven 
so  wenig  deutlich  sind,  kann  völlig  durch  die  Anpassung  an  ihre  Funktion 
erklärt  werden.  Diese  bewirkte  zunächst  eine  gleichwertige  Beteiligung 
der  Spitzen  an  der  Ausbildung  der  Krone,  und  kann  schließlich  auch  die 
ursprünglichen  Abgrenzungsspuren  zum  völligen  Schwund  bringen. 

Letzteres  ist  jedoch  beim  Menschen  und  einigen  anderen  Primaten 
nicht  der  Fall.  Was  den  Menschen  betrifft,  ist  es  allgemein  bekannt, 
daß  besonders  die  unteren  Schneidezähne  mit  zwei  Einkerbungen  in 
der  Schneide  ausgestattet  sind,  die  kürzere  oder  längere  Zeit  erhalten 
bleiben  können.  Sie  manifestieren  das  Grundmerkmal  der  Ausgangs- 
form vom  Säugerzahn.  Die  zwei  seichten  Längsfurchen,  welche  man 
an  der  labialen  Fläche  der  oberen  wie  der  unteren  Schneidezähne  antrifft, 
weisen  in  gleicher  Richtung  darauf  hin.  Für  das  Studium  dieser  Erschei- 
nungen eignen  sich  nur  frisch  durchgebrochene,  oder  noch  besser  aus 
den  Alveolaren  herauspräparierte,  noch  nicht  durchgebrochene  Zähne. 
Beim  Menschen  fehlt  die  typische  Zähnelung  an  solchen  Objekten  niemals. 
Daß  sie  auch  z.  B.  bei  Hylobates  nicht  an  solchen  Zähnen  fehlt,  ist 
bereits  von  Kirchner  betont  worden3).  Die  Bemerkung  dieses  Autors, 
daß  bei  diesem  Primaten  die  Incisivi  beim  Durchbruch  immer  mit  drei 
kleinen  Höckern  versehen  sind,  kann  ich  bestätigen.  Die  Krenulierung 
des  Zahnrandes  wird  nicht  durch  Schmelzverdickung  hervorgerufen, 
die  drei  Höckerchen  sind  nicht  einfache  Bildungen  des  Emailüberzuges 
wie  sich  leicht  durch  einen  frontalen  Längsschnitt  des  Zahnes  beweisen 
läßt.  Denn  auch  der  obere  Rand  des  Zahnbeines  ist  dreihöckerig,  wie 
aus  Fig.   11,  nach  einem  menschlichen  unteren  Incisivus  angefertigt, 


1)  Über  die  Deutung  des  Milchgebisses  der  Säugetiere.  Verhandl.  d.  Deutschen 
Odontol.  Gesellsch.  1893,  Bd.  IV,  S.  305. 

2)  Das  ist  jedoch  nicht  bei  allen  der  Fall.  Die  Milchzähne  brechen  bei  ge- 
wissen Geschlechtern  wohl  durch,  bilden  ein  homodontes  System,  und  das  Junge 
hält  sich  mittels  der  hakenförmigen  Zähnchen  an  den  Zitzen  der  Mutter  fest. 
Leche  hat  auf  diese  Funktion  hingewiesen.  Für  Pteropus  habe  ich  das  bestätigen 
können. 

3)  G.  Kirchner,  Der  Schädel  des  Hylobates  concolor;  sein  Variationskreis 
und  Zahnbau.     Inaug.-Diss.,  Erlangen  1895. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne. 


43 


Fig.  11.  Frontaler 

Längsschnitt 

eines  unteren 

Incisivus  vom 

Menschen. 


Fig.    12.      Inuus 

nemestrinu8. 

Unterer  lateraler 

Incisivus. 


zu  ersehen  ist.  Die  Erscheinung  muß  somit  in  einer  primären  Bildungs- 
tendenz der  Zahnpapille  wurzeln. 

Auch  bei  den  übrigen  Primaten  trifft  man  die  Spuren  der  triko- 
nodontcn  Natur  des  Protomeren  nicht  selten  an,  doch  nicht  bei  allen 
Formen  mit  gleicher  Schärfe,  und  überdies  ist  auch  hier,  wie  beim  Men- 
schen, individuelle  Verschiedenheit  stark  ausgeprägt.  Bei  gewissen 
Affen  ist  die  Gestalt  des  lateralen  Schneidezahnes,  besonders  im  Ober- 
kiefer, ziemlich  stark  von  jenen  des  medialen  abweichend,  ist  mehr 
lanzett-  oder  kegelförmig  und  bildet 
dann  eine  Übergangsstufe  zwischen 
medialen  Incisivus  und  Caninus. 
Man  vergleiche  dazu  z.  B.  die  Fig.  13. 
Es  nehmen  nun  bei  den  Affen  offen- 
bar die  drei  Spitzen  vom  Protomer 
nicht  immer  gleichen  Anteil  an  der 
Bildung  des  Zahnes.  Ich  werde 
davon  an  dieser  Stelle  zwei  Beispiele 
anführen.  Die  Fig.  12  bringt  die 
Umrißzeichnung  eines  eben  durch- 
gebrochenen linken  unteren  lateralen 
Incisivus  eines  weiblichen  Inuus 
nemestrinus,  von  der  lingualen  Fläche 
gesehen.  Es  ist  ohne  weiteres  klar, 
daß  die  laterale  Nebenspitze  (2) 
an  der  Bildung  der  Krone  weit  weni- 
ger teilnimmt,   als  die  mittlere  (P) 

und  die  mediale  (1).  Nur  die  beiden  letztgenannten  bilden  die  eigentlich 
schneidende  Kante,  welche  mit  jener  des  medialen  Incisivus  nahezu 
in  einer  Flucht  liegt.  Die  angeführte  Form  tritt  bei  den  Cynopitheken 
nicht  selten  auf. 

Ein  zweites  Beispiel  anderer  Art  bringt  die  Fig.  13. 
lingualen  Fläche  gesehen  sind 
darin  die  beiden  Incisivi  des  Ober- 
kiefers und  d(^  Unterkiefers  von 
Se  mnopithecus  maurus  abgebildet. 
Es  sei  auf  die  große  Differenz 
zwischen  medialen  und  lateralen 
Schneidezähnen  beiläufig  hin- 
gewiesen. Nur  erstere  sind  meißei- 
förmig und  ihre  Schneide  ist  zier- 
lich mit  drei  Zacken  ausgestattet. 
Bei  den  oberen  sowohl  als  bei 
den  unteren  Zähnen  ist  die 
mittlere  Zacke,  die  dem  Haupt- 
höcker     P     vom    trikonodonten 

Zahn  entspricht,  am  schwächsten  entwickelt,  und  die  schneidende 
Kante  wird  wesentlich  nur  von  den  Nebenspitzen  1  und  2  gebildet. 
Es  ist  hier  die  Entwicklung  also  gerade  an  jenen  der  weiter  nach 
hinten  folgenden  Zähne,  bei  den  P  die  Hauptmasse  der  Krone 
formt,  entgegengesetzt.  Auch  bei  Cebus  konstatiert  man  öfters 
eine  gleiche  Reduktion  des  Höckers  P,  worauf  ich  unten  noch  kurz 
zurückkomme.    Es  kann  offenbar  diese  Reduktion  des  mittleren  Kom- 


Von  der 


J.,5. 


J.1S. 

Fig.  13.     Semnopithecus  maurus. 


44  Erstes  Hauptstück. 

ponenten  vom  Incisivus  noch  weiter  gehen  und  zum  völligen  Schwund 
desselben  führen,  so  daß  die  Krone  nur  aus  den  beiden  Spitzen  i  und  2 
aufgebaut  ist.  Auch  diesen  Zustand  habe  ich  bei  Cebus  beobachtet, 
und  als  weiteres  Heispiel  gebe  ich  in  Fig.  14  die  Skizze  eines  medialen 
oberen  Incisivus  von  Ateles  ater.  Es  findet  sich  hier  nur  eine  einzige 
Einkerbung  in  der  Schneide  und  nur  eine  einzige  Rinne  an  der  lingualen 
und  bukkalen  Fläche  des  Zahnes. 

Die  angeführten  Beispiele  genügen,  um  die  große  Bedeutung 
der  Zähnelung  der  Incisivischneide  ins  rechte  Licht  zu  stellen.  Denn  sie 
beweisen,  daß  unter  Umständen  die  ursprünglichen  Nebenspitzen 
an  der  Bildung  eines  Zahnes  gleichen  Anteil  nehmen  können,  wie 
die  Hauptspitze,  ja  daß  letztere  sogar  gänzlich  schwinden  und  der  Zahn 
nur  aus  den  beiden  Nebenspitzen  aufgebaut  sein  kann.  Wir  werden 
bald  die  Beziehung  dieser  Erscheinung  zum  Auftreten  gewisser  Varia- 
tionen in  der  Incisivenreihe  der  Primaten  darlegen,  und  wenden  uns 
zunächst  zu  einer  Betrachtung  über  den  Anteil,  den  das  Deuteromer 
an  der  Bildung  des  Incisivi  nimmt. 

Dieses  Odontomer  manifestiert  sich  bei  den  Schneidezähnen  der 
Primaten  in  verschiedenem  Grade  der  Entwicklung  und  auch  indi- 
viduell sehr  wechselnd.  Wohl  immer  bleibt  aber 
dessen  Entwicklung  bei  jenen  des  Protomer  zurück, 
und  gerade  dadurch  kommt  die  meißel-  oder  schaufei- 
förmige Gestalt  der  Zähne  zustande.  Nicht  selten 
fehlt,  besonders  bei  den  unteren  Incisivi,  jede  Spur 
dieses  Odontomer,  und  scheint  der  Zahn  nur  aus 
dem  protomeren  Element  zu  bestehen.  Bei  den  oberen 
Incisivi  tritt  es  im  Vergleich  zu  den  unteren  kräftiger 
auf,  als  das  in  der  Literatur  sogenannte  Tuberculum 
dentis,  wofür  de  Terra1)  die  Bezeichnung  „Incisiven- 
Fig.  14.  Ateles  höcker"  an  deren  Stelle  gesetzt  haben  will,  während 
ater.  Medialer  er  für  die  homologen  Bildungen  des  Eckzahnes  die 
oberer  Incisivus.  Bezeichnung  „Basalhöcker"  reservieren  will.  Diesem 
Vorschlag  von  de  Terra  muß  ich  entgegentreten. 
Es  liegt  kein  einziger  triftiger  Grund  vor,  um  homologe  Bildungen 
an  den  verschiedenen  Zähnen  mit  mehreren  Namen  zu  belegen,  das 
bringt  nur  Verwirrung  und  gibt  der  Auffassung  Raum,  es  seien 
die  bezüglichen  Bildungen  nicht  einander  homolog.  Es  erscheint 
mir  empfehlenswert,  in  der  deskriptiven  Anatomie  den  alther- 
gebrachten Namen  Tuberculum  dentis  zu  behalten.  Allerdings 
scheint  de  Terra  der  Meinung  zu  sein,  daß  ,, Basalhöcker"  und  ,,In- 
cisivenhöcker"  nicht  einander  homologe  Bildungen  an  der  lingualen 
Fläche  von  Eckzähnen  und  Schneidezähnen  sind.  Denn  von  dem 
Incisivenhöcker  führt  er  aus,  ihre  Bedeutung  sei  uns  unbekannt  und 
die  „Basalhöcker"  kennzeichnet  er  als  „pithekoide"  Merkmale  unseres 
Gebisses.  Nun  werden  wir  durch  letztere  Bezeichnung  über  die  Natur 
jenes  Höckers  am  Eckzahn  des  Menschen  doch  nicht  unterrichtet. 
Es  will  offenbar  der  Autor  dadurch  seiner  Meinung  Ausdruck  geben, 
daß  der  Eckzahnhöcker  durch  den  Menschen  von  einem  mehr  affen- 
ähnlich gestalteten  Vorfahr  ererbt  worden  ist.  Aber  warum  solches 
dann    auch    nicht    mit    den    „Incisivenhöckern"    der    Fall    gewesen 


1)  de  Terra,  Beiträge  zur  Odontographie  der  Menschenrassen. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  45 

sein  sollte  bleibt  unerklärt  und  ist  sogar  befremdend,  da  bei  ge- 
wissen Affen  das  Tuberculum  dentis  gerade  auf  den  Incisivi  un- 
gleich viel  stärker  entwickelt  sein  kanji,  als  auf  den  Caninus  des  näm- 
lichen Tieres.  Besonders  ist  das  mit  dem  lateralen  Incisivus  der  Fall, 
der  _  z.  B.  bei  den  platyrrhinen  Affen  -  -  in  solchen  Fällen  mehr 
prämolarenförmig  als  incisivenförmig  gestaltet  ist.  Auch  im  allgemeinen 
hat  die  Bezeichnung  „pithekoid"  keinen  Sinn,  denn  es  kommen  diese 
lingualen  Höcker  an  den  Frontzähnen  von  Vertretern  der  verschie- 
densten Ordnungen  der  Säugetiere  vor.  Sie  sind  Äußerungen  der  dimeren 
Grundform  des  Säugerzahnes  und  haben  daher  gar  keine  systematisch 
spezifische  Bedeutung. 

Wie  oben  betont  wurde,  ist  das  Tuberculum  dentis,  oder  das 
Deuteromer  an  den  oberen  Incisivi  der  Affen  —  wie  des  Menschen  — 
meistenteils  kräftiger  entwickelt  als  an  den  unteren.  Diese  Erscheinung 
ist  wieder  ein  neuer  Beweis,  wie  im  Zahnkeim  unter  dem  Einfluß  der 
Funktion  die  in  ihm  schlummernden  Bildungstendenzen  aktiviert 
werden  können.  Denn  das  Tuberculum  findet  sich  besonders  bei 
jenen  Affen  stark  entwickelt,  bei  denen  ein  sogenannter  Überbiß 
stattfindet,  d.  h.  wo  die  unteren  Incisivi  mit  ihrem  oberen  Rande 
innerhalb  der  oberen  Incisivi  bei  geschlossenem  Gebiß  zu  liegen  kommen. 
Dann  wird  die  linguale  Fläche  der  oberen  Schneidezähne  zu  einer  Reibe- 
fläche für  die  unteren  und  sie  nimmt  durch  die  stärkere  Entwicklung 
vom  Deuteromer  eine  bisweilen  stark  ausgehöhlte  Oberfläche  an, 
worin  der  Kronenrand  des  unteren  Incisivus  hin-  und  hergleiten  kann. 
Die  verschiedene  Stellung  der  oberen  und  unteren  Incisivi  zueinander 
steht  dann  auch  in  direktem  Konnex  mit  dem  Entwicklungsgrad  vom 
Deuteromer.  Es  ist  hier  nicht  die  Stelle  auf  Einzelheiten  einzugehen, 
doch  möchte  ich  einige  Allgemeinheiten  schildern,  da  dieselben 
Licht  werfen  auf  die  gelegentlich  vorkommenden  ekzessiven  Entwick- 
lungen des  Deuteromer  an  menschlichen  Schneidezähnen.  Am  stärksten 
entwickelt  erscheint  dieses  Odontomer  bei  den  lateralen  oberen  Incisivi 
gewisser  platyrrhinen  Affen.  Wenn  man  z.  B.  diesen  Zahn,  wenn  eben 
durchgebrochen,  bei  einem  Cebus  und  besonders  Ateles  betrachtet, 
dann  erweist  sich  die  Bezeichnung  dieses  Zahnes  als  monokuspidat 
gar  nicht  zutreffend.  Die  Krone  ist  so  stark  bikuspidat,  daß  man  den 
Zahn,  wenn  isoliert  vorhanden,  gewiß  nicht  als  einen  Incisivus,  sondern 
als  einen  Prämolar  deuten  würde.  Bei  den  unteren  Incisivi  fehlt  da- 
gegen das  Deuteromer  nicht  selten  vollständig.  Und  gleiches  gilt  natür- 
lich für  die  stiftförmigen  oberen  Incisivi  der  kleineren  Prosimiae. 
Was  die  größeren  Formen  dieser  Ordnung  betrifft,  scheint  es  mir  nicht 
ganz  ausgeschlossen  zu  sein,  daß  die  erhabene  Leiste  an  der  Zungen- 
fläche der  pfriemenförmigen  unteren  Incisivi,  welche  sich  bis  zur  Spitze 
des  Zahnes  erstreckt,  auf  das  Deuteromer  zurückgeführt  weiden  muß. 
An  den  oberen  Schneidezähnen  dieser  Formen  finden  sich  wechselnde 
Verhältnisse. 

Bei  den  wahren  Affen  begegnet  uns  eine  deutliche  Manifestation 
des  Deuteromer  an  den  unteren  Incisiven  nur  selten.  Als  Beispiel 
verweise  ich  nach  Fig.  13,  woraus  zu  ersehen,  daß  bei  Semnopithecus 
maurus  dieses  Odontomer  als  ein  deutlich  hervorragendes  Höckerchen 
am  lateralen  Incisivus  zu  sehen  ist.  Bei  den  oberen  Schneidezähnen 
der   wahren  Affen  kommt  es  in  sehr  verschiedener  Gestalt  zur  Ent- 


46 


Erstes  Hauptstück. 


wicklung.    Ich  werde  mich  hier,  um  kurz  zu  fassen,  auf  das  Vorkommen 
desselben  beim  Menschen  beschränken. 

Wenn  es  hier  am  medialen  Schneidezahn  seine  kräftigste  Ent- 
wicklung erlangt,  erscheint  es  in  der  Form  dreier  fast  gleich  großer 
Höckerchen,  welche  sich  auf  die  linguale  Fläche  vom  Protomer,  und 
mit  demselben  verwachsen,  erheben.  In  den  Trennungsfurchen  dieser 
Höckerchen  fangen  die  beiden  seichten  Rinnen  an,  welche  über  das 
Protomer  sich  bis  zur  Schneide' des  Zahnes  erstrecken,  und  hier  in  den 
Einkerbungen  zwischen  den  drei  Schneidezacken  enden.  In  solchen 
wohlausgebildeten  -  -  immerhin  ziemlich  seltenen  Fällen  —  tritt  die 
Sechshöckerigkeit  der  Grundform  des  dinieren  Zahnes  in  schöner 
Weise  zutage.  Vgl.  die  Fig.  lö.  Meistenteils  jedoch  sind  nur  zwei  der 
deuteromeren  Höckerchen  entwickelt,  es  fehlt  dann,  wie  ich  in  Über- 
einstimmung mit  den  Befunden  am  Protomer  behaupten  möchte, 
das  mittlere. 

Am  lateralen  Incisivus  fehlt  im  allgemeinen  die  sichtbare  Beteili- 
gung des  Deuteromer  an  der  Bildung  des  Zahnes  weit  häufiger  als  am 
medialen.  Und  wenn  es  sich  kräftiger  manifestiert,  dann  tritt  es  meisten- 
teils nur  in  der  Form  eines  einzigen  Höckerchens 
kegelförmiger  Gestalt  auf,  das 
von  der  Mitte  des  Basalbandes 
ausgeht.  Dasselbe  zeigt  mehr 
als  beim  medialen  Incisivus  die 
Tendenz,  eine  freie  Spitze  zu 
bilden,  gleichsam  ein  Versuch, 
sich  mehr  prämolarenähnlich 
zu  gestalten,  wie  es  bei  ge- 
wissen amerikanischen  Affen 
normaliter  der  Fall  ist.    , 

Es  ist  in  obenstehendem 
in  ganz  allgemeinen  Zügen  nur 
etwas  über  die  morphologische  Natur  der  menschlichen  Incisivi  mitgeteilt 
worden.  In  der  folgenden  Studie,  welche  die  Variationen  und  Anomalien 
des  Primatengebisses  zum  Gegenstand  haben  wird,  werde  ich  ausführ- 
lich auch  auf  diesen  Punkt  eingehen.  Doch  möchte  ich  schon  an  dieser 
Stelle  kurz  auf  ein  paar  Erscheinungen  eingehen,  welche  das  oben 
Gesagte  näher  begründen. 

Bekanntlich  kann  beim  Menschen  das  Deuteromer  —  besonders 
des  lateralen  Incisivus  —  sich  bisweilen  außerordentlich  entwickeln. 
Es  gibt  dabei  zwei  Modifikationen:  entweder  bleibt  das  stark  entwickelte 
Denteromer  (Tuberculum  dentis)  mit  der  lingualen  Fläche  vom  Proto- 
mer verbunden,  oder  es  ragt  als  freier  selbständiger  Höcker  hervor. 
Im  ersteren  Falle  (Fig.  16 b)  erlangt  die  Schneide  des  Zahnes  eine  eigen- 
tümliche T-förmige  Gestalt,  und  an  der  Wurzel  des  Zahnes  ist  von  einer 
Furchung  wenig  oder  nichts  zu  sehen.  Im  zweiten  Falle  wird  die  Krone 
mehr  jener  eines  Prämolaren  ähnlich,  der  „Innenhöcker"  bildet  einen 
freien  Kegel,  und  die  verstärkte  Entwicklung  des  Denteromer  äußert 
sich  überdies  durch  eine  Neigung  zur  Zweiwurzeligkeit  des  Zahnes 
(Fig.  16a).  Einen  solchen  Fall  hat  Schwalbe1)  sehr  eingehend  be- 
schrieben und  deutet  denselben  als  eine  Verwachsung  von  zwei  Zähnen 


Fig.  15. 


Fig.  16. 


1)  Morph.  Arb.  1894,  Bd.  III. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  47 

verschiedener  Dentition.  Es  handelt  sich  hier  jedoch  um  einen  voll- 
kommen ähnlichen  Fall  wie  bei  der  Zweiwurzeligkeit  des  unteren  Eck- 
zahnes, denn  auch  hier  sind  die  beiden  Wurzeln  als  eine  äußere  und  innere 
gelagert,  der  topographischen  Beziehung  beider  Odontomeren  gemäß. 
Ich  bin  der  Überzeugung,  daß  es  gelegentlich  auch  hier  zu  einer  voll- 
ständigen Trennung  beider  Komponenten  des  Zahnes  kommen  kann, 
wodurch  eine  scheinbare  Vermehrung  der  Incisiven  zustande  kommt. 
Auf  diese  Erscheinung  muß  ich  vorausgreifend  auf  Erörterungen  in 
der  nächstfolgenden  Studie  etwas  näher  eingehen. 

Es  ist  die  Frage  nach  der  Bedeutung  überzähliger  Zähne  in  der 
Literatur  besonders  häufig  diskutiert  worden.  Und  in  Übereinstimmung 
mit  den  allgemeinen  theoretischen  Ansichten  der  Autoren  wird  die 
Frage  auch  wohl  unter  dem  Einfluß  der  Fälle,  welche  der  Autor  gerade 
zur  Beobachtung  und  Vergleichung  bekam,  in  dieser  oder  jener  Richtung 
beantwortet.  Übereinstimmung  scheint  auf  diesem  Gebiete  fast  un- 
erreichbar zu  sein.  Vom  reinsten  Agnostizismus  bis  zur  Alleinherrschaft 
der  atavistischen  Erklärungsformel  finden  sich  alle  denkbaren  Ab- 
stufungen. Nun  scheinen  mir  diese  extremen  Standpunkte  beide  verfehlt. 
Gewiß  sind  nicht  alle  überzähligen  Zähne  als  Rückschlagserscheinungen 
zu  deuten,  und  der  Standpunkt,  daß  es  sich  bei  der  Zahnvermehrung 
um  ganz  regellose  Erscheinungen  handelt,  scheint  mir  ebenso  ver- 
werflich. Es  muß  gerade  Aufgabe  sein,  zu  unterscheiden,  in  welchen 
Fällen  es  sich  um  ein  Wiedererscheinen  eines  verloren  gegangenen 
Elements  des  Gebisses  handelt,  und  in  welchen  Fällen  die  Erklärung 
in  anderer  Weise  gesucht  werden  muß.  Auch  der  Standpunkt  von 
Bateson1)  scheint  mir,  durch  die  gänzliche  Beseitigung  des  Einflusses 
der  Erblichkeitsfaktoren,  unhaltbar  zu  sein. 

Wenn  jedoch  nicht  alle  Fälle  in  atavistischem  Sinne  zu  deuten 
sind,  wie  muß  man  dann  jene  Zahnvermehrungen  deuten,  welche  nicht 
unter  diesen  ätiologischen  Gesichtspunkt  fallen  ? 

Es  ist  bei  der  Besprechung  des  Caninus  und  der  Incisivi  schon 
eine  Ursache  ans  Licht  getreten;  es  kann  namentlich  zu  einer  selb- 
ständigen Entwicklung  beider  Odontomeren  kommen.  Ich  werde  jetzt 
jedoch  noch  kurz  eine  andere  Entstehungsweise  anführen,  welche  ich 
jedoch  vorläufig  nur  für  die  Schneidezähne  gelten  lassen  möchte. 

Wenn  es  bei  einem  der  Incisivi  zu  einer  individuellen  Entwicklung 
beider  Odontomeren  kommt,  dann  liegen  die  beiden  Schwesterzähne 
als  eine  äußere  und  innere  zueinander.  In  der  seltsam  reichhaltigen 
Kollektion  von  Zahn-  und  Gebißvarietäten,  welche  sich  im  hiesigen 
Institut  finden,  sind  mehrere  solcher  Fälle  vertreten.  Häufiger  findet 
man  bekanntlich  den  Fall,  daß  ein  überzähliger  Incisivus  regelmäßig 
in  der  Reihe  Stellung  genommen  hat.  Die  Ansichten  über  die  Ätiologie 
dieser  Anomalie  laufen  auseinander.  Durch  eine  Zerlegung  eines  der 
Schneidezähne  in  seine  beiden  Odontomeren  kann  eine  solche  Über- 
zahl nicht  entstanden  sein,  denn  in  solchen  Fällen  liegen  beide  Zähne 
hintereinander.  Rosenberg2)  deutet  sie  in  seiner  eingehenden  Unter- 
suchung über  diese  Anomalie  in  atavistischem  Sinne,  und  beruft  sich 
dabei  auf  die  bekannte  Tatsache,    daß  Didelphis  noch  im  Besitz  von 

1)  W.  Bateson,  On  numerical  Variation  in  teeth.  Proc.  Zool.  Soc.  London 
1892. 

2)  E.  Rosenberg,  Über  Umformungen  an  den  Incisiven  der  zweiten  Zahn- 
generation des  Menschen.    Morph.  Jahrb.,  Bd.  XXII. 


48  Erstes  Hauptstück. 

fünf  Schneidezähnen  ist.  Doch  waren  die  Urprimaten,  wie  wohl  end- 
gültig festgestellt  ist,  im  Besitze  von  nur  drei  Incisiven.  Auch  aus  anderen 
Gründen,  auf  welche  ich  hier  nicht  näher  eingehen  kann,  kann  ich 
mich  der  Erklärung  von  Rosenberg  nicht  anschließen. 

Die  Erklärung  liegt,  wie  ich  meine,  in  ganz  anderer  Richtung. 
Wenn  man  die  Beteiligung  der  drei  Höcker  an  der  Bildung  der  Incisivi 
vergleichend-individuell  untersucht,  dann  konstatiert  man,  daß  beim 
Menschen  und  einigen  anderen  Primatengeschlechtern  der  mittlere 
Höcker  (P)  in  seiner  Entwicklung  sehr  schwankend  ist.  Es  ist  früher 
schon  betont,  daß  er  bei  gewissen  Affen  konstant  fehlen  kann,  so  daß 
der  Schneidezahn  nur  durch  die  beiden  Höcker  i  und  2  gebildet  ist. 
Denken  wir  uns  nun  den  Fall,  daß  die  Regression  des  mittleren  Höckers  P 
so  weit  geht,  daß  er  in  seiner  Entwicklung  ganz  unterdrückt  wird,  dann 
müssen  die  beiden  Seitenhöcker  1  und  2  mit  ihren  einander  zugekehrten 
Rändern  zur  sekundären  Verlötung  kommen,  um  eine  regelmäßig  ge- 
bildete Krone  zu  bilden.  Nun  ist  es  aber  denkbar,  daß  diese  beiden 
Höcker  durch  das  Ausbleiben  der  Entwicklung  eines  schmalen,  sie 
trennenden  Teiles  der  Zahnanlage  (jener  Teil,  woraus  der  mittlere  Höcker 
hervorgehen  sollte),  eine  gewisse  Selbständigkeit  erlangen, 
und  dann  entsteht  ein  Incisivus,  dessen  Krone  in  der 
Mitte  eingeschnitten  erscheint;  jede  Zacke  entspricht 
einem  der  beiden  Urhöcker  1  und  2,  und  die  Spalte 
manifestiert  die  Regression  des  mittleren  Haupthöckers 
P.  Ein  solcher  Zahn  ist  in  Fig.  17  abgebildet.  Sie 
werden  in  der  Literatur  gewöhnlich  als  Verwachsung 
von  Zähnen  angeführt,  ein  Begriff,  dem  ich  an  diesem 
Teil  des  Gebisses  wenig  zustimmen  kann.  Von  solch 
einem  partiell  gespaltenen  Zahn  läßt  sich  nun  leicht  die 
vollständige  Spaltung  ableiten.  Denn  wenn  die  mittlere 
Partie  der  Zahnpapille  sich  gar  nicht  entwickelt,  kommt 
es  hier  auch  nicht  zur  Ablagerung  von  Zahnbein,  und 
die  Dentinablagerung  wird  auf  dem  medialen  Höcker  1  und  dem 
lateralen  2  gesondert  vor  sich  gehen.  Wenn  die  Zahnbeinschärfchen, 
einander  entgegenwuchernd,  sich  erreichen  und  verschmelzen,  wird 
noch  eine  einheitliche,  mehr  oder  weniger  eingeschnittene  Krone 
entstehen.  Bleibt  jedoch  diese  Verwachsung  aus,  dann  entwickelt 
jeder  Höcker  sich  als  ein  selbständiger  Zahn  und  die  Zahl  der  Inci- 
siven hat  sich  vermehrt,  In  dieser  Weise  läßt  sich  diese  Art  von 
Überzahl  der  Incisivi  in  ungeschwungener  Weise  erklären.  Und  ich 
möchte  besonders  betonen,  daß  wir  in  der  vergleichenden  Anatomie 
und  in  der  individuellen  Variation  des  Schneidezahnes  einen  deut- 
lichen Hinweis  in  dieser  Richtung  haben.  Denn  der  mittlere  Höcker 
dieses  Zahnes  läßt  sich  leicht  auf  seinem  Wege  zur  Reduktion  ver- 
folgen. 

Aus  der  gegebenen  Erklärung  folgt  sofort,  daß  in  den  gegebenen 
Fällen  von  einer  Verdoppelung  eines  Incisivus  in  dem  wahren  Sinne 
keine  Rede  ist.  Doch  auch  eine  echte  Spaltung  liegt  nicht  vor,  denn 
jeder  der  Teilungsprodukte  entspricht  nur  einer  der  drei  Urspitzen 
des  Säugerzahnes.  In  Wirklichkeit  beruht  in  diesen  Fällen  die  Ver- 
mehrung der  Zahnzahl  auf  einem  Reduktionsprozeß.  Diese  Ver- 
mehrung der  Zahnzahl  zeigt  Übereinstimmung  mit  jener,  welche 
durch    Kükenthal    bei   Embryonen    vom   Barten wale    nachgewiesen 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne. 


49 


ist1),  bei  welchen  während  der  Entwicklung  aus  zusammengesetzten 
Zähnen  durch  Auflösung  einfache  Kegelzähne  entstehen.  Ich  möchte 
diese  Variationen  als  „schizogene  Variationen"  bezeichnen.  Durch 
die  hier  gegebene  Erklärung  des  Entstehens  überzähliger  Incisiven 
wird  es  verständlich,  warum  bei  solchen  Zähnen  die  Kronen  nicht 
immer  normal  geformt  sind  und  zugespitzt  enden.  Aus  der  Literatur 
führe  ich  folgen- 
den Fall  an,  von 
Dependorf  mit- 
geteilt: An  Stelle 
des  lateralen  In- 
cisivus  ein  Zwil- 
lingszahn ,  ver- 
schmolzen aus 
dem  zweiten 
Schneidezahn  und 
einem  überzähli- 
gen Zahn.  Beide 
Zahnkronen  zei- 
gen merkwürdiger-  Fig.  18. 
weise  keine  ein- 
fache Schneide,  sondern  ausgeprägte  Ecken,  so  daß  sie  schmalen  Eck- 
zahnkronen ähnlich  sehen"2). 

Die  Vermehrung  der  Incisivi  kommt  entweder  bilateral  oder 
einseitig  vor.  Bei  einseitigem  Vorkommen  trifft  man  jedoch  nicht 
selten  am  anderweitigen  Zahn  den  beschriebenen  Vorgang  in  ver- 
schiedenem Grade  von  unvollständiger  Entwicklung  an.  Ein 
schönes  Beispiel  davon  lieferte  mir  u.  a.  der  Schädel  eines  Gorilla- 
männchens, wovon  die  Incisivi  und  Canini,  von  der  palatinalen  Fläche 
gesehen,  in  Fig.  18  zur  Abbildung  gebracht  sind.  Es  betrifft  —  wie  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  —  die  late- 
ralen Incisivi.  An  der  linken  Seite 
ist  die  Krone  dieses  Zahnes  über- 
mäßig breit  und  zeigt  auf  labialer 
und  bukkaler  Fläche  eine  Furche, 
die  nach  dem  Rande  zu  tiefer  ein- 
schneiden, und  auf  dem  Rande  eine 
scharfe  Einkerbung  verursachen, 
welche  infolge  der  Abnützung  des 
Zahnes  schon  zum  Teil  ausgeglichen 
ist.  An  der  rechten  Seite  finden  sich 
zwei  vollständig  getrennte ,, laterale" 
Incisivi.    An  der  linken  Seite  sind 

daher  die  Dentinschärfchen,  welche  auf  die  Papillen  der  Spitzen  i  und 
2  zur  Ablagerung  kamen,  schließlich  noch  miteinander  verwachsen, 
während  rechts  diese  Vereinigung  unterblieben  ist. 

Zum  Schlüsse  gebe  ich  in  Fig.  19  noch  ein  lehrreiches  Beispiel 
zum  Beweise  der  Reduktion  des  mittleren  Höckers  bei  den  Schneide- 


1)  W.  Küken  thal,  Vergleichend  anatomische  und  entwicklungsgeschichtliche 
Untersuchungen  an  Waltieren.  Denkschr.  d.  med.-naturw.  Ges.  zu  Jena  1893,  Bd.  III. 

2)  T.  Dependorf,  Zur  Frage  der  überzähligen  Zähne  im  menschlichen  Gebiß. 
Zeitschr.  f.  Morph,  u.  Anthrop.,  Bd.  X,  S.  177. 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  4 


50  Erstes  Hauptstück. 

zahnen  gewisser  Affengeschlechter.  Es  sind  drei  mediale  Incisivi  des 
Oberkiefers  von  Cebus  capucinus  abgebildet  worden.  In  a  ist  der 
Zustand,  den  man  am  häufigsten  findet,  wiedergegeben,  die  mittlere 
Zacke  ist  noch  anwesend,  jedoch  äußerts  gering  entwickelt,  in  b  ist  die 
Krone  nur  aus  den  beiden  seitlichen  Spitzen  zusammengesetzt,  die 
Schneide  besitzt  nur  eine  einzige,  nahezu  in  der  Mitte  gelagerte  Kerbe. 
Tn  c  ist  diese  Kerbe  tiefer  eingedrungen,  und  von  ihr  geht  eine  Furche 
aus,  welche  auf  die  labiale  Fläche  fast  über  die  ganze  Länge  der  Krone 
zieht,  auf  die  linguale  bis  zum  stark  entwickelten  Tuberculum  dentis 
geht.  Letzterer  Fall  ist  als  die  erste  Phase  der  Teilung  zu  betrachten. 
Ich  gebe  diesen  Fall  auch  deshalb,  weil  er  für  mich  der  erste  Anlaß 
war,  um  über  die  Ätiologie  der  Überzahl  der  Incisivi  die  Auffassung 
zu  bilden,  welche  ich  oben  auseinandergesetzt  habe  und  in  der  dritten 
Studie  durch  weitere  Beweisstücke  fester  begründet  werden  soll.  Die 
hier  beschriebene  Erscheinung  ist  übrigens  schon  von  Regnault1) 
beobachtet  worden.  Er  beschreibt  einen  oberen  medialen  Incisivus 
vom  Gorilla,  und  einen  von  Mycetes,  bei  dem  die  Krone  von  der  Mitte 
ab  in  zwei  Teile  geteilt  ist. 

Wir  haben  jetzt  die  morphologische  Bedeutung  des  Caninus  und 
der  Incisivi,  in  Verband  mit  den  Prinzipien  der  Dimertheorie  kennen 
gelernt.  Es  dürfte  aus  dem  Vorangehenden  genügend  hervorgegangen 
sein,  daß  diese  Zähne  den  Prämolaren  nicht  als  primitive,  sondern  als 
mehr  spezialisiert  gegenüberstehen.  Wenden  wir  uns  jetzt  noch  einmal 
diesen  Zähnen  zu.  Drei  typische  Entwicklungsstufen  haben  wir  von 
diesen  Zahnformen  früher  kennen  gelernt.  Zuerst  eine  bei  dem  nur 
das  Protomer  sich  an  der  Bildung  des  Zahnes  zu  beteiligen  scheint 
und  die  stark  komprimierte  Zahnkrone,  wesentlich  nur  vom  mittleren 
Haupthöcker  P,  bei  geringer  Teilnahme  von  den  Nebenspitzen  i  und  2 
gebildet  war.  Als  zweite  Form  würde  jene  angeführt,  an  der  auch  das 
Deuteromer  gut  entwickelt  war,  sei  es  auch  nur  durch  seinen  Haupt- 
höcker D.  Als  dritte  Form  schließlich  kam  jene  ziemlich  seltene  in  Be- 
tracht, bei  der  die  drei  Spitzchen  des  Deuteromer  zur  Entwicklung 
gekommen  waren,  der  mittlere  Höcker  D  von  den  Nebenspitzchen  3 
und  4  begleitet  war.  Dann  ist  der  Zahn  sechshöckerig  geworden,  mit 
seinen  beiden  Haupthöckern  und  den  vier  Nebenspitzen  ausgestattet. 

Es  ist  nun  selbstverständlich,  daß  sich  zwischen  dem  zweiten  und 
dritten  Typus  Übergangsstufen  finden,  und  wir  werden  uns  jetzt  zu- 
nächst mit  solchen  beschäftigen  müssen,  denn  die  leicht  verständliche 
Natur  dieser  Zwischenphasen  erleichtert  die  Deutung  auch  jener  Formen, 
welche  als  die  höchst  entwickelten  in  der  Primatenreihe  zu  betrachten 
sind  und  welche  ich  im  nächsten  Abschnitt  als  Doppelhöckertypus 
beschreiben  werde. 

Wie  früher  ausdrücklich  betont,  ist  der  rein  sechshöckerige  Zahn  — 
(vgl.  Fig.  5)  — ■  bei  den  jetzt  lebenden  Primaten  äußerst  selten,  denn 
ist  das  Deuteromer  so  weit  entwickelt,  daß  auch  dieser  Teil  des  Zahnes 
dreispitzig  geworden  ist,  dann  sind  im  Protomer  Differenzierungen 
aufgetreten,  die  mit  Verlust  der  primitiven  dreispitzigen  Gestalt  ver- 
knüpft sind.      Am  meisten  noch  trifft   man  in  der  Prämolarenreihe 


1)  T.  Regnault,  Des  Malformations  dentaires  chez  le  singe.  Comptes  rendus 
Soc.  de  Biol.,  Paris  1893,  S.  931. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  51 

der  heutigen  Primaten  solche  Formen,  bei  denen  die  Differenzierung 
des  Denteromer  unvollständig  ist. 

Es  besteht  jedoch  in  dieser  Hinsicht  ein  Unterschied  zwischen 
den  Prosimiae  und  den  Simiae.  Denn  im  allgemeinen  ist  bei  den 
ersteren  in  der  Prämolarenreihe  eine  graduelle  Entwicklung  vom  mehr 
einfachen  zum  mehr  zusammengesetzten  Kronenrelief  zu  verzeichnen, 
es  ist  dasselbe  vollkommener  entwickelt,  je  mehr  der  Zahn  eine  rück- 
wärtige Stelle  in  der  Reihe  einnimmt.  Jeder  Zahn  bildet  hier  mehr 
eine  Zwischenstufe  zwischen  den  ihm  vorangehenden  und  den  ihm 
folgenden  Element  der  Gebißreihe.  Der  letzte  Prämolar  kann  dabei 
bei  gewissen  Geschlechtern  (Galago,  Hapalemur)  vollständig  wie  ein 
Molar  gebaut  sein.  Diese  Verhältnisse,  welche  als  primitive  angesehen 
werden  müssen,  sind  für  das  Studium  der  Zahnentwicklung  äußersl 
wichtig,  denn  eine  vollständige  Prämolarenreihe  demonstriert  da- 
durch, in  welcher  Weise  das  Relief  der  Krone  von  der  „caniniformen" 
bis  zur  „molariformen"  Gestalt  allmählich  entsteht.  Die  Homologi- 
sierung  der  Höcker  wird  dadurch  wesentlich  erleichtert.  Etwas  Über- 
einstimmendes ist  auch  noch  bei  den  Milchmolaren  der  wahren  Affen 
zu  sehen,  sei  es  auch  schon  in  viel  geringerem  Grade,  aber  was  ihre 
Prämolaren  betrifft,  ist  bekanntlich  eine  scharfe  Formdifferenz  zu- 
stande gekommen  gegenüber  den  Molaren.  Die  Prämolaren  der  wahren 
Affen  sind  nicht  nur  einander  viel  ähnlicher  gestaltet,  sondern  sie  zeigen 
im  allgemeinen  auch  mehr  vereinfachte  Formen  als  jene  der  Halb- 
affen, besonders  der  kleineren  Vertreter  dieser  Ordnung.  Doch  muß 
sofort  hinzugefügt  werden,  daß  auch  bei  den  Prosimiae  weit  auseinander 
gehende  Zustände  vorliegen,  diese  Ordnung  ist,  was  die  Differenzierungs- 
zustände  des  Gebisses  betrifft,  viel  interessanter  und  lehrreicher, 
weil  formenreicher,  als  die  Ordnung  der  wahren  Affen.  Der  Unterschied 
z.  B.  zwischen  dem  Gebiß  von  Indris  oder  Avahis  und  jener  von  Galago 
ist  viel  größer  als  jener,  welcher  zwischen  zwei  ausgewählten  Ver- 
tretern der  Affenordnung  aufzufinden  ist. 

Die  scharfe  Abgrenzung  zwischen  Prämolaren  und  Molaren  in 
bezug  auf  die  Form  ist  eine  im  Laufe  der  Entwicklung  zustande  ge- 
kommene und  daher  sind  die  Prämolaren  der  wahren  Affen  nicht  als 
primitive  Formen  zu  betrachten,  sei  es  auch,  daß  ihr  Kronenrelief 
ein  ziemlich  einfaches  ist.  Sie  stellen  vielmehr  reduzierte  Formen  dar. 
Höcker  und  Spitze,  welche  bei  den  Vorfahren  der  Affen  diese  Zähne 
besessen  haben,  sind  verloren  gegangen,  treten  jedoch  als  individuelle 
Variation  noch  bisweilen  auf.  Bei  dieser  Reduktion  sind  es  wieder 
die  ursprünglichen  Nebenspitzen,  welche  zuerst  verschwinden,  dem  all- 
gemeinen Prinzip  gemäß,  daß  die  Haupthöcker  einen  festeren  Bestand 
des  Zahnes  bilden.  Geht  auch  einer  dieser  schließlich  verloren,  dann 
ist  es  wieder  jener  des  Deuteromer. 

Ich  beschränke  mich  hier  zu  diesen  allgemeinen  Bemerkungen, 
welche  in  der  dritten  dieser  Studien  bei  der  Besprechung  der  Form- 
abweichungen weiter  ausgearbeitet  werden  sollen. 

C.  Die  Doppelhöckerphase. 

Nachdem  wir  die  Evolution  des  Zahnes  verfolgt  haben  bis  zum 
Auftreten  einer  sechshöckerigen  Form,  welche  gleichsam  ein  zweifach 
trikonodonter  Zahn  darstellt,  mit  zwei  Haupthöckern  und  vier  Neben- 

4* 


52  Erstes  Hauptstück. 

spitzen,  sind  wir  an  dem  schwierigsten  Punkt  angelangt,  den  es,  meiner 
Meinung  nach,  in  der  Phylogenese  des  Zahnreliefs  gibt,  nämlich  die 
Entstehung  der  höher  differenzierten  Zähne  aus  den  vorher  beschriebenen 
Formen.  Ich  könnte  hier,  der  Kürze  wegen,  statt  höher  differenzierten 
Formen  von  Molaren  sprechen,  da  man  bei  den  hintersten  Zähnen 
des  Gebisses  diese  höheren  Formen  meistenteils  antrifft,  Es  würde 
jedoch  eine  solche  Bezeichnung  den  Tatsachen  nicht  ganz  genau  ent- 
sprechen, denn  die  Formen,  die  wir  jetzt  behandeln  wollen,  trifft  man  ge- 
legentlich, sei  es  auch  selten,  ebenfalls  schon  in  der  Prämolarenreihe  an. 
Und  noch  in  anderer  Hinsicht  würde  eine  solche  bequemer  scheinende 
Bezeichnung  bedenklich  sein.  Denn  es  sollte  damit  gerade  der  Grund- 
gedanke meiner  Theorie,  daß  alle  Zähne  von  einer  einzigen  Grundform 
abzuleiten  sind  und  daß  es  nur  einen  einzigen  Entwicklungsgang 
gegeben  hat  für  alle  Zähne  des  Gebisses,  wie  verschieden  ihre  definitive 
Gestalt  auch  sein  darf,  in  Gefahr  gebracht.  Es  gibt  keinen  Gegensatz 
zwischen  Molaren  und  Antemolaren,  weder  der  Anlage,  noch  der 
phylogenetischen  Entwicklung  nach. 

Es  ist  nicht  ganz  leicht,  ja  man  darf  sagen,  es  bietet  geradezu 
Mühe,  sich  dieser  Auffassung,  welche  der  geläufigen  so  entgegengesetzt 
ist,  als  richtig  anzuerkennen.  Denn  es  hat  die  Anschauung,  daß  ein 
prinzipieller  Gegensatz  zwischen  Molaren  und  Antemolaren  besteht, 
gewiß  vieles  für  sich.  Die  Tatsache  z.  B.,  daß  im  Gebiß  beim  Übergang 
der  einen  in  die  andere  Abteilung  die  Gestalt  der  Zähne  plötzlich  eine 
andere,  weit  mehr  komplizierte  wird,  scheint  für  diese  Anschauung 
zu  sprechen.  Die  Charakterisierung  eines  Zahnes  als  molariform  ruft 
sofort  eine  gewisse  Formvorstellung  wach.  Es  ist  jedoch  am  Schlüsse 
des  vorangehenden  Abschnittes  darauf  hingewiesen,  daß  diese  Form- 
differenz zwischen  Molaren  und  Antemolaren  erst  im  Laufe  der  Ent- 
wicklung durch  Differenzierung  des  Gebisses  als  Ganzes  zustande  kam; 
bei  älteren  und  ausgestorbenen  Geschlechtern  geht  die  Komplizierung 
des  Kronenreliefs  so  regelmäßig  von  vorn  nach  hinten  vor  sich,  daß 
man  bisweilen  im  Zweifel  darüber  sein  konnte,  welcher  Zahn  der  erste 
Molar  sei,  wenn  nicht  die  zweite  Erscheinung,  welche  die  Trennung 
in  Molaren  und  Antemolaren  zu  berechtigen  scheint,  Auskunft  gäbe, 
nämlich  der  Zahnwechsel.  Dieser  Prozeß,  der  zweifelsohne  den  vorderen 
Abschnitt  des  Gebisses  in  einen  Gegensatz  zum  hinteren  stellt,  trägt 
gewiß  viele  Schuld  daran,  daß  man  nun  auch  einen  Unterschied  in  der 
Herkunft  von  Molaren  und  Antemolaren  annahm.  Am  Schlüsse  meiner 
ersten  Studie  habe  ich  darauf  hingewiesen,  daß  in  jener  Publikation 
über  das  Ausbleiben  eines  Zahnwechsels  im  hinteren  Teil  des  Gebisses 
und  über  die  eventuelle  Bedeutung  dieser  Erscheinung  geschwiegen 
worden  ist.  Die  Erklärung  der  Zusammensetzung  des  Gebisses  aus 
Molaren  und  Antemolaren  -  -  zwischen  welchen  Zähnen  ich  also  nur 
eine  einzige  Differenz  anerkenne,  nämlich  jene  durch  den  Zahnwechsel 
dargestellt  --  erscheint  mir  eine  der  schwierigsten  der  vergleichenden 
Anatomie  überhaupt,  und  zweifelsohne  die  schwierigste  der  vergleichen- 
den Anatomie  des  Gebisses  insbesondere.  Soweit  ich  jetzt  das  Gebiet 
dieser  Frage  überschauen  kann,  mangelt  es  uns  zurzeit  noch  an  den 
notwendigen  paläontologischen  Urkunden,  besonders  der  Marsupialier, 
um  eine  zusammenhängende  Vorstellung  über  den  Verlauf  der  Ent- 
stehung dieses  Prozesses  zu  bilden.  Die  ontogenetischen  Untersuchungen 
von  der  Gebißanlage  der  Reptilien  weist  auf  eine  bestimmte  Richtung 


Die  Differenzierung   der  Oberkieferzähne.  53 

hin,  wo  die  Lösung  des  Problems  gesucht  werden  muß.  Und  dieser 
Hinweis  stellt,  wie  mir  klar  geworden  ist,  uns  vor  die  Aufgabe 
der  Beantwortung  einer  präalabelen  Frage,  nämlich  jene  der  Deutung 
des  Marsupialiergebisses.  Wenn  man  die  richtige  Antwort  gefunden 
hat  auf  die  Frage,  warum  bei  den  Beutlern  ein  Zahnwechsel  unterbleibt, 
oder  nur  in  den  bekannten,  äußerst  beschränkten  Maße  vorkommt, 
dann  ist  gleichzeitig  das  Problem  vom  Vorkommen  der  Molaren  im 
Gebiß  der  Placentalier  gelöst.  Ich  bin  wohl  schon  eine  Strecke  auf  dem 
Wege  der  Erklärung  dieser  Frage  vorgedrungen,  aber  der  dunklen 
Punkte  gibt  es  noch  mehrere.  So  viel  ist  mir  jedoch  wohl  deutlich  ge- 
worden, daß  man  über  die  Natur  des  Beutlergebisses  eine  etwas  andere 
Vorstellung  sich  bilden  muß  als  die  geläufige,  die  Frage  der  Homologie 
dieses  Gebisses  ist  nicht  ein  reines  Dilemma  zwischen  Milchgebiß  oder 
permanentem  Gebiß  der  Placentalier.  Ich  hoffe,  nach  weiteren  Unter- 
suchungen eine  dieser  Studien  dem  Marsupialiergebiß  zu  widmen 
und  darin  auch  das  Vorkommen  von  Molaren  überhaupt  eingehend 
zu  besprechen.  Ich  dachte  es  jedoch  nicht  unerwünscht,  an  dieser  Stelle 
die  obenstehenden  Bemerkungen  einzuschalten,  da  in  ihr  die  Erklärung 
liegt,  warum  ich  auch  jetzt  noch  nicht  auf  die  Frage  der  Molaren 
eingehen  kann.  Selbstverständlich  hat  das  nur  Bezug  auf  das  Fehlen 
eines  Zahnwechsels,  über  die  Genese  der  Form  wird  unten  gehandelt. 

Nun  werden  bekanntlich  die  Molaren  bald  der  Milchgebißreihe 
zugehörig  betrachtet,  bald  der  Reihe  der  permanenten  Zähne  und  schließ- 
lich auch  gedeutet  als  entstanden  aus  den  verschmolzenen  Keimen 
beider  Reihen.  Man  vergleiche  darüber  Schwalbes  Referat,  worin 
eine  vollständige  Übersicht  über  die  verschiedenen  Theorien  bis  zum 
Jahre  1894  gegeben  ist1).  Und  bei  solchen  Auffassungen  muß  natür- 
lich auch  die  Form  der  Molaren  etwas  Eigenes,  nicht  mit  jenen  der  übrigen 
Zähne  des  Gebisses  Vergleichbares  erlangen2). 

Am  schärfsten  kommt  wohl  der  Gegensatz  zwischen  Molaren  und 
Antemolaren  in  der  Differenzierungstheorie  von  Cope-Osborn  zum 
Ausdruck.  Es  hat  bekanntlich  diese  Theorie  nur  auf  die  Molaren  Bezug, 
ausdrücklich  —  ich  habe  das  schon  früher  hervorgehoben  --  betonen 
die  Begründer  dieser  Theorie,  daß  sie  für  die  Antemolaren  keine  Gel- 
tung hat  und  daß  die  mehrhöckerigen  Formen  letzterer  in  ganz  anderer 
Weise  entstanden  sind.  Und  wenn  ein  Prämolar  vollständig  einem 
Molar  ähnlich  ist,  was  das  Relief  der  Krone  betrifft,  dann  wird  von 
den  Autoren  diese  Erscheinung  als  „Mimicry"  gedeutet. 

Die  trituberkulare,  besser  trigonodonte  Form  von  Cope-Os- 
born wird  uns  in  diesem  Abschnitt  ebenfalls  begegnen,  und  ich  werde 
dann  Gelegenheit  haben,  meine  Auffssung  über  dieselbe  mit  jener  der 
genannten  Autoren  zu  vergleichen. 

Wie  ist  nun  jene  Zahnform,  welche  man  meistenfalls  bei  den 
Molaren,  bisweilen  auch  schon  bei  den  Prämolaren  antrifft,  entstanden? 
Die  Entstehungsweise  dieser  Form  trägt  einen  etwas  anderen  Charakter, 
als  jene  der  bis  jetzt  besprochenen.  Denn  als  Hauptmerkmal  des  bis 
jetzt  verfolgten  Entwicklungsganges  muß  gelten,  daß  eine  höher  aus- 
gebildete Form  des  Zahnes  zustande  kam  durch  Aktivierung  von  An- 

1)  G.  Schwalbe,  Über  Theorien  der  Dentition.  Verh.  d.  Anat.  Gesellsch., 
8.  Versammlung,  1894. 

2)  Man  vergleiche  weiter  meinen  Aufsatz:  „Welcher  Gebißreihe  gehören  die 
Molaren  zu.     Zeitschr.  f.  Morph,  u.  Anthrop.,  Bd.  XVII. 


54 


Erstes  Hauptstück. 


lagen,  welche  im  Zahnkeim  durch  ihre  Entstehung  aus  zwei  trikono- 
donten  Zähnen  in  nuce  enthalten  waren.  Es  ist  deutlich,  daß,  wenn 
nun  einmal  der  Zahn  eine  sechshöckerige  Gestalt  bekommen  hat,  eine 
weitere  Ausbildung  nicht  mehr  durch  Zufügung  neuer  primärer  Spitzen 
zustande  kommen  kann.  Höhere  Formen  können  von  jetzt  nur  entstehen 
durch  Differenzierung  vom  bestehenden  Höcker.  (Man  vergleiche  jedoch 
bezüglich  des  Carabellischen  Höckerchen  den  Inhalt  des  folgenden 
Hauptstückes.) 

Wenn  man  nun  bei  den  niederen  rezenten  Primaten  oder  bei  den 
eocänen  Urprimaten  die  Zähne  des  Oberkiefers  der  Reihe  nach  ver- 
folgt, dann  fällt  die  Tatsache  auf,  daß  bisweilen  schon  der  letzte  Prä- 
molar, aber  meistenteils  der  erste  Molar  eine  typische  Reliefdifferenz 
zeigt  dem  unmittelbar  vorangehenden  Zahn  gegenüber,  und  zwar  in 
jenem  Sinne,  daß  der  bukkale  Rand  statt  eines  einzigen  größeren  - 
von    zwei    kleineren    Nebenspitzen    meistens    begleiteten  Höckers 

deren  zwei  aufweist,  welche  meistenteils  einander  an  Größe  gleich  sind. 

Wir  haben  es  hier  somit  mit  einer  Abänderung 
im  protomeren  Teil 
des  Zahnes  zu  tun. 
Das  zweite  Odonto- 
mer  unterliegt  dabei 
gewöhnlich  keiner 
Umänderung,  nur 
erscheint  es  infolge 
der  Zunahme  der 
Länge  des  Zahnes 
etwas  kräftiger  ent- 
wickelt. Ich  möchte 
nachdrücklich  be- 
tonen, daß  diese  Er- 
scheinungen nicht 
zuerst  studiert  wer- 
den müssen  am  per- 
manenten Gebiß  der 
höheren  Affen,  auch 
nicht  bei  jenen  Prosimiergeschlechtern,  bei  denen  die  Zahl  der  Prä- 
molaren auf  zwei  reduziert  ist,  Als  Untersuchungsobjekte  für  die 
historische  Entwicklung  des  Gebisses  wähle  man  nur  die  eocänen 
Formen  oder  die  Gebisse  der  rezenten  Prosimiae  mit  noch  drei  Prä- 
molaren. Auch  das  Milchgebiß  der  Platyrrhinen  bietet  in  gewissen 
Hinsichten  ein  wertvolles  Material.  Die  Gebisse  der  höheren  Affen 
sind  nur  verständlich  nach  einer  systematischen  Vergleichung  von  mehr 
primitiven  Formen.  Für  eine  direkte  Untersuchung  sind  diese  Formen 
in  ihrer  postcaninen  Gebißabteilung  zu  stark  modifiziert. 

Die  oben  angedeutete  Abänderung  in  der  Form  des  Zahnes  ist 
in  Fig.  20  und  21  durch  ein  Paar  einfache  Skizzen  illustriert.  Die  Fig.  20 
gibt  den  letzten  (dritten)  Prämolar  und  ersten  Molar  von  Tarsius  wieder, 
und  die  Fig.  21  den  zweiten  und  dritten  Milchmolar  von  Hapale  jacchus. 
Ich  wählte  diese  Fälle,  da  sie  auf  leicht  zugängliches  Material  Bezug 
haben,  und  weiter,  da  in  diesen  beiden  Fällen  das  Deuteromer  auf  einer 
sehr  niedrigen  Entwicklungsstufe  sich  findet;  denn  es  ist  nur  dessen 
Haupthöcker  D  zur  Entwicklung  gekommen.     Es  ist  noch  eine  dritte 


Fig.  20.  Tarsius  spectrum. 
P3  und  Mx  des  Ober- 
kiefers. 


Fig.   21.      Hapale   jacchus. 
Zweiter  und  dritter  Milch- 
molar. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  55 

Überlegung,  welche  mich  zur  Wahl  dieser  Zähne  bestimmte,  nämlich 
die,  daß  die  Molaren  der  trituberkularen  Form  von  Cope-Osborn 
entsprechen,  so  daß  sofort  die  Differenz  in  unseren  Auffassungen  be- 
züglich der  Entstehung  dieses  Typus  zutage  treten  wird. 

Wie  aus  einer  Vergleichung  beider  Figuren  ersichtlich,  sind  beide 
Zahnpaare,  eines  einem  permanenten  Gebiß  und  eines  einem  Milch- 
gebiß entnommen,  einander  außerordentlich  ähnlich.  Der  dritte  Prä- 
molar von  Tarsius  und  der  zweite  Milchmolar  von  Hapale  zeigen  den 
Haupthöcker  P  und  die  beiden  Nebenspitzen  i  und  2  recht  deutlich,  wäh- 
rend bei  beiden  das  Deuteromer  nur  durch  dessen  gering  entwickelten 
Haupthöcker  D  vertreten  ist.  Den  Unterschied  zwischen  beiden  Zähnen 
bildet  die  Leiste,  welche  bei  Tarsius  D  und  P  miteinander  verbindet, 
bei  Hapale  dagegen  fehlt. 

Was  sieht  man  nun  beim  unmittelbar  folgenden  Zahn?  Die 
Dimensionen  sind  sämtlich  größer,  das  Deuteromer  ist  kräftiger  ent- 
wickelt, aber  das  Protomer  besitzt  statt  eines  einzigen  Höckers  zwei 
von  gleicher  Größe.  In  Wirklichkeit  ist  der  hintere  bei  Hapale  um  ein 
weniges  kleiner.  Diese  Komplizierung  im  Kronenrelief  hat  keinen  Ein- 
fluß auf  den  Wurzelteil  des  Zahnes  gehabt,  denn  sämtliche  abgebildeten 
Zähnchen  besitzen  die  von  früher  schon  bekannte  Dreizahl  der  Wurzeln, 
die  zwei  Sekundärwurzeln  A1  und  A2  für  das  Protomer  und  die  Primäi- 
wurzel  B  für  das  Deuteromer. 

Welche  ist  nun  die  morphologische  Bedeutung  der  beiden  bukkalen 
Höcker,  welche  so  scheinbar  unvermittelt  auftreten  ?  Diese  Frage  hat 
mich  längere  Zeit  in  Anspruch  genommen,  und  es  hat  lange  gedauert, 
the  ich  die  mich  befriedigende  Lösung  gefunden  habe.  Gewissermaßen 
Etand  ich  in  diesem  Punkte  meiner  Untersuchung  über  die  Differen- 
zierung des  Kronenreliefs  vor  der  übereinstimmenden  Schwierigkeit, 
wie  Cope-Osborn  bei  ihrer  Ableitung  der  Trituberkularform.  Für  diese 
Autoren  lautete  die  Frage:  Wie  ist  aus  dem  trikonodonten  Zahn,  dessen 
drei  Höcker  in  einer  Linie  liegen,  der  Zahn  mit  einer  trigonoclonten 
Zahnkrone  entstanden,  bei  dem  die  Höcker  an  den  Ecken  eines  Dreiecks 
sich  finden:  Und  zur  Erklärung  mußten  sie  ihre  Transgressionshypothese 
einführen.  Für  mich  gestaltete  sich  die  Frage  folgenderweise:  Wie 
kommt  das  Protomer,  das  dreispitzig  war,  eine  größere  mittlere  Spitze 
und  zwei  kleinere  randständige  Spitzen  besaß,  plötzlich  an  zwei  mittlere 
Spitzen,  welche  beide  gleich  groß  sind  und  nahezu  von  der  gleichen  Dimen- 
sion als  die  ursprüngliche  einfache  Hauptspitze?  Anfänglich  neigte  ich 
der  Meinung  zu,  daß  eine  derselben  durch  Vergrößerung  von  einer  der 
Nebenspitzen  1  oder  2  entstanden  wäre.  Und  für  diese  Auffassung  sind 
wohl  Gründe  anzuführen,  da  der  in  Fig.  20  und  21  wiedergegebene 
Zustand  nicht  einer  ist,  der  konstant  auftritt.  Denn  in  den  beiden  zur 
Abbildung  gelangten  Fällen  sind  auch  die  beiden  Zacken  1  und  2  des 
Protomer  da,  und  dieses  trifft  nicht  immer  zu.  Nicht  selten  -  -  wir 
werden  davon  besonders  bei  den  höheren  Primaten  später  mehrere 
Fälle  kennen  lernen  —  sind  die  Nebenspitzen,  entweder  beide  oder  eine 
von  beiden,  nicht  anwesend.  Solche  Fälle  lassen  Raum  für  die  Ver- 
mutung, daß  eine  derselben  sich  kräftiger  entwickelt  hat  und  dem 
ursprünglichen  Haupthöcker  P  an  Größe  gleichgekommen  sei.  Und  so 
lange  ich  nicht  die  Überzeugung  bekommen  hätte,  daß  das  Fehlen  einer 
oder  der  beiden  Nebenzacken  vom  Protomer  die  Folge  von  Reduktion 
ist,  schien  mir  die  obenstehende  Vermutung  als  Erklärung  der  Molaren- 


56  Erstes  Hauptstück. 

form  nicht  unwahrscheinlich  zu  sein.  Die  Möglichkeit  eines  solchen 
Entwicklungsganges  wurde  noch  verstärkt  durch  den  Umstand,  daß 
im  Deuteromer  ein  derartiger  Vorgang  sich  tatsächlich  abgespielt  hat, 
wie  wir  bald  zeigen  werden.  Jedoch  das  Studium  einer  größeren  Zahl 
von  niedrigen  Primaten  und  der  Abbildungen  der  Gebisse  von  Ur- 
primaten  überzeugte  mich  schließlich,  daß  diese  Erklärungsweise  nicht 
die  richtige  sein  konnte.  Und  es  machte  sich  je  länger  desto  mehr  die 
Überzeugung  bei  mir  Bahn,  daß  die  zwei  gleich  großen  Höcker  an  der 
bukkalen  Seite  der  Molaren  und  gelegentlich  des  letzten  Prämolaren 
durch  Spaltung  vom  primären  Haupthöcker  P  entstanden  sein  müssen. 
Allmählich  gelangte  ich  zur  Überzeugung,  daß  diese  Auffassung  die 
richtige  sein  muß.  Diese  Überzeugung  gründet  sich  auf  mehrere  Tat- 
sachen. Erstens,  daß  die  Variationen  im  Kronenrelief  der  Molaren  von 
den  Primaten  sich  durch  diese  Auffassung  in  ganz  ungezwungener, 
natürlicher  Weise  erklären  lassen.  Auf  diese  Tatsache  gehe  ich  in  dieser 
Schrift  nicht  ein.  Nicht  weniger  Stütze  fand  die  gegebene  Erklärung 
durch  die  Tatsache,  daß  durch  sie  eine  vollkommene  Übereinstimmung 
erlangt  wurde  zwischen  der  phylogenetischen  und  ontogenetischen 
Differenzierung  der  zusammengesetzten  Molarenkrone  der  Primaten. 
Nicht  am  wenigsten  schließlich  überzeugte  mich  die  direkte  Be- 
obachtung von  Übergangsformen  von  der  Richtigkeit  meiner  Deutung. 

Die  Lösung  der  Frage  also,  vor  welche  ich  gestellt  wurde:  welches 
ist  die  morphologische  Bedeutung  der  beiden  Höcker  am  bukkalen 
Rande  der  Molaren?  ist  somit  kurz  die  folgende:  Der  Haupthöcker  P 
des  Protomer  hat  sich  in  zwei  hintereinander  folgende,  gleich  große 
Höcker  differenziert,  die  Anlage  dieses  Zahnteiles  ließ  einen  Doppel- 
höcker aus  sich  hervorgehen.  Daher  bezeichnete  ich  diese,  für  die  höheren 
Zahnformen  charakteristische  Bildung  als  die  „Doppelhöckerphase". 
Die  beiden  Höcker  zusammen  stellen  das  Homologon  des  ursprünglichen 
Haupthöckers  P  dar  gleichwie  die  beiden  Sekundärwurzeln  Ax  und  A2 
des  Protomer  aus  dessen  Primärwurzel  A  hervorgegangen  sind.  Und 
ich  werde,  um  jene  Beziehung  hervortreten  zu  lassen,  den  vorderen 
Höcker  als  Pa  und  den  hinteren  als  Pp  unterscheiden. 

Es  liegt  mir  jetzt  zunächst  ob,  zu  beweisen,  daß  diese  Auffassung 
nicht  nur  eine  Hypothese  ist,  welche  in  mehr  oder  wenig  glücklicher 
Weise  die  Erklärung  der  Primatenmolaren  bringt,  sondern  einem  wirk- 
lich stattgefunden  Vorgang  entspricht.  Ein  solcher  Beweis  kann  nur 
geliefert  werden  durch  den  Nachweis  von  Tatsachen,  welche  diese  Ver- 
doppelung des  Höckers  P  in  den  zwei  Bildungsprodukten  Pa  und  Pp 
tatsächlich  dartun.  Es  kommen  nun  unter  den  rezenten  Prosimiae- 
geschlechtern  solche  vor,  bei  denen  an  einem  der  Zähne  diese  Verdoppelung 
in  Entstehung  begriffen  ist,  wobei  zu  gleicher  Zeit  Details  ans  Licht 
kommen,  deren  Kenntnis  für  das  Verständnis  der  später  zu  beschrei- 
benden Zustände  unentbehrlich  ist. 

Das  Geschlecht,  bei  dem  man  die  Entstehungsweise  beider 
Höcker  am  besten  beobachten  kann,  ist  zweifelsohne  Galago  mit  der 
Gebißformel  2 — 1 — 3 — 3.  Wie  ich  früher  schon  Gelegenheit  hatte  zu 
bemerken,  kennzeichnet  sich  das  Gebiß  dieses  Geschlechts  dadurch, 
daß  der  dritte  Prämolar  als  ein  Molar  gebildet  ist ,  nur  die  Größe 
ist  etwas  geringer;  der  Zahn  ist,  um  einen  Ausdruck  von  Stehlin 
anzuwenden,  „molarisiert".  Gleiches  ist  unter  den  Lemuriden  auch 
noch   beim  Geschlecht  Hapalemur  der  Fall.     Die  Angabe  von  Hux- 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  57 

ley1),  daß  auch  Indris  nämliches  aufweisen  sollte,  beruht  wohl  auf  dem 
Irrtum,  daß  dieser  Autor  den  dritten  postcaninen  Zahn  als  einen  Prä- 
molar deutete,  statt  als  einen  wahren  Molar. 

Das  Deuteromer  ist  bei  Galago  stärker  entwickelt  als  bei  Tarsius, 
nähert  sich  mehr  jenem  von  Stenops.  Und  in  der  Tat  würde  der  dritte 
Prämolar  von  Stenops  und  Galago  einander  sehr  ähnlich  aussehen, 
wenn  nicht  das  Protomer  desselben  bei  Stenops  einen  einfachen,  bei 
Galago  einen  doppelten  Haupthöcker  besäße.  Betrachtet  man  nun  den 
zweiten  Prämolar  vom  letztgenannten  Geschlecht,  dann  konstatiert 
man  hieran  den  Anfang  einer  Verdoppelung  von  P.  Zum  Beweise  gebe 
ich  in  Fig.  22  eine  Skizze  der  drei  Prämolaren  und  des  ersten  Molaren 
von  Galago  senegalensis,  von  der  Außenseite  gesehen. 

Der  erste  Prämolar,  der  durch  ein  Diastem  vom  Caninus  sowie 
vom  zweiten  Prämolar  getrennt  ist,  stellt  einen  einfach  gebauten, 
zweiwurzeligen,  dreispitzigen  Zahn  dar,  mit  starkem  Überwiegen  des 
Haupthöckers  P  und  fast  ohne  Andeutung  des  Deuteromer.  Von  den 
beiden  Nebenspitzen  ist  die  hintere  (2)  etwas  kräftiger  als  die  vordere  (1). 
Der  Hinterrand  des  Haupthöckers  ist  länger  als  der  Vorderrand.  Diese 
ungleiche  Länge  bildet  gewisser- 
maßen das  Anfangsstadium  der 
Eigentümlichkeit,  die  der  zweite  /  / 

Prämolar  zeigt. TJas  Deuteromer  /    /    ,-,,,    .';     »*•    r\  ,-t 

ist  an  diesem  Zahn  stärker  ent-  /  /  /;'.'•  | »  J  •  /  •;' .'  ;  ',  /  j 
wickelt:  vom  Protomer  ist  die 
hintere  Nebenspitze  (2)  wieder 
kräftiger  als  1.  Der  Haupt- 
höcker ist  etwas  länger  als  jener 
vom  ersten  Prämolaren,  und 
sehr  evident  zeigt  nun  dieser 
Höcker  die  Neigung,  aus  seinem 

Hinterrand  einen  zweiten  F'g-  22-  Galago  senegalensis.  Eckzahn. 
Höcker  hervorgehen  zu  lassen.  Prämolaren  »»d  erstei" MoIar  des  Oberkiefers. 
Denn    dieser     Rand    verläuft 

nicht,  wie  der  Vorderrand,  in  einer  regelmäßig  gebogenen  Linie  vom 
erhabensten  Punkt  der  Spitze  P  bis  zur  Basis,  sondern  hat  einen 
wellenförmigen  Verlauf.  Der  Hinterrand  des  Höckers  P  ist  somit 
mit  einer  Erhabenheit  ausgestattet. 

Und  wenn  man  jetzt  den  zweiten  mit  dem  dritten  Prämolaren 
vergleicht,  dann  wird  es  deutlich,  daß  diese  Erhabenheit,  die  beim 
erstgenannten  Zahn  nur  in  Anlage  da  ist,  beim  zweitgenannten  sich 
zu  einer  wahren  Spitze  ausgebildet  hat,  von  nahezu  gleicher  Größe  als 
die  einfache  Spitze  im  ersten  Prämolaren. 

Daß  dieser  neue  Höcker  eine  wirkliche,  durch  Differenzierung 
entstandene  Neubildung  ist  und  nicht  eine  Umbildung  der  primären 
Nebenspitze  2,  geht  überzeugend  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  diese 
Nebenspitze  auf  dem  dritten  Prämolaren  noch  gleich  kräftig  an- 
wesend ist  als  auf  dem  zweiten. 

Das  Protomer  vom  dritten  Prämolaren  hat  nun  statt  eines  ein- 
fachen Haupthöckers  einen  zweispitzigen  bekommen.     Es  ist  das  Tal 


1)  F.   H.  Huxlev,  On  Arctocebus  calabarensis.    Proc.  Zool.   Soc,  London 
1864,  p.  327. 


58  Erstes  Hauptstück. 

zwischen  den  beiden  Spitzen  Pa  und  Pp  noch  ziemlich  untief,  aber  bei 
dem  nächstfolgenden  Zahn,  dem  ersten  Molaren,  der  länger  ist  als  der 
letzte  Prämolar,  schneidet  die  Incisure  tiefer  ein,  wodurch  Pa  und  Pp 
eine  größere  Individualität  bekommen.  Die  ursprünglichen  Nebenspitzen 
vom  Protomer,  i  und  2,  sind  auch  bei  diesem  Molaren,  ebenso  wie  bei 
den  zwei  noch  folgenden,  scharf  differenziert. 

Die  hier  bei  Galago  senegalensis  beschriebene  Erscheinung  habe 
ich  bei  anderen  Arten  dieses  Geschlechtes  ebenfalls  konstatieren  können 
(G.  Demidoffi.  elegantulus,  Alleni).  Unter  den  übrigen  Prosimiae  fand 
ich  eine  geringe  Andeutung  der  beginnenden  Zweispitzigkeit  des  Höckers 
P  auch  noch  an  den  Prämolaren  von  Lemur.  Es  bleibt  hier  aber  bei 
einer  äußerst  geringen  Erhabenheit,  welche  jedoch  mit  einer  seichten 
Einsenkung  auf  die  bukkale  Fläche  der  hinteren  Hälfte  vom  Höcker  P 
korrespondiert. 

Der  beschriebene  Fall  ist  sehr  lehrsam,  da  wir  dadurch  Einsicht 
erlangen  in  die  genetische  Beziehung  der  Höcker  Pa  und  Pp  zum  Mutter- 
höcker P.  Denn  eine  wahre  Spaltung,  eine  Halbierung  des  ursprüng- 
lichen Höckers  findet  nicht  statt.  Im  Gegenteil,  der  neue  Höcker  Pp 
entwickelt  sich  aus  dem  Hinterrande  des  primären  Höckers,  wodurch 
die  Spitze  von  P  zur  Spitze  von  Pa  wird.  Gewissermaßen  bleibt  somit 
der  Urhöcker  P  bestehen,  und  ist  der  Höcker  Pp  als  eine  progressive 
Bildung  des  Hinterrandes  jenes  Höckers  zu  betrachten.  Diese  gene- 
tische Beziehung  zwischen  Pa  und  Pp  darf  man  nicht  aus  dem  Auge 
verlieren,  denn  durch  sie  wird  z.  B.  erklärt,  warum  bei  Reduktion  der 
Molaren  der  Höcker  Pp  allmählich  wieder  verloren  geht,  während  Pa 
bestehen  bleibt.  Wäre  die  Doppelspitzigkeit  von  P  durch  Spaltung 
entstanden,  dann  würden  bei  Reduktion  die  beiden  Höcker  wieder 
zusammenfließen,  in  Übereinstimmung  mit  der  schon  öfters  genannten 
Regel,  daß  bei  Regression  des  Zahnes  der  historisch  zurückgelegte  Ent- 
wicklungsweg in  umgekehrter  Richtung  wieder  gefolgt  wird. 

Wir  sehen  somit,  daß  die  gegebene  Vorstellung  von  der  Ent- 
stehung zweier  gleich  großer  Höcker  im  Protomer  der  Molaren  und 
gelegentlich  der  Prämolaren  durch  tatsächlich  Beobachtetes  gestützt 
wird.  Und  ich  bin  der  Überzeugung,  daß  bei  anderen  Ordnungen  der 
Säugetiere  (z.  B.  Artiodactylen,  Carnivoren)  dieser  Differenzierungs- 
prozeß vergleichend-anatomisch  deutlicher  und  vollständiger  sich  ver- 
folgen läßt  als  bei  den  Primaten. 

Wie  schon  bemerkt  wurde,  ist  der  vorgetragene  phylogenetische 
Entwicklungsgang  in  vollkommener  Übereinstimmung  mit  den  Ergeb- 
nissen der  embryologischen  Untersuchungen  der  Zahnentwicklung.  Es 
ist  bekannt,  daß  die  Untersucher,  welche  die  Richtigkeit  der  Tri- 
tuberculartheorie  an  den  ontogenetischen  Erscheinungen  geprüft  haben, 
einstimmig  zum  Schluß  gelangt  sind,  daß  diese  Theorie  mit  den  embryo- 
logischen Tatsachen  in  Streit  kommt.  Denn  nach  dem  Inhalt  jener 
Theorie  sollte  man  erwarten,  daß  der  Protoconus,  der  bei  den  Molaren 
des  Oberkiefers  auf  die  linguale  Seite  des  Zahnes  gerückt  sein  soll, 
da  er  das  Hauptelement,  den  primitiven  Haupthöcker  des  Zahnes 
(homolog  mit  meiner  Spitze  P)  darstellt,  nun  auch  am  frühesten  eine 
Dentinkappe  bekäme.  Solches  ist  nun.  wie  die  Untersuchungen  von 
Täcker,  Woodword,  Rose  u.  a,  ans  Licht  gebracht  haben,  nicht  der 
Fall.  Ohne  Ausnahme  ist  es  der  bukkale  vordere  Höcker,  der  bei  der 
ontogenetischen   Entwicklung   allen   anderen   in    der   histogenetischen 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  59 

Differenzierung  voraneilt  und  am  frühesten  zur  Dentinbildimg  über- 
geht und  einen  Emailbelag  bekommt:  dann  folgt  der  bukkale  hintere, 
der  vordere  linguale  und  schließlich  der  hintere  linguale.  Ich  komme  auf 
diese  ontogenetischen  Erscheinungen  noch  zurück,  wenn  wir  die  weitere 
Differenzierung  der  Molaren  vollständig  kennen  gelernt  haben.  Vor- 
läufig genügt  es,  darauf  hingewiesen  zu  haben,  daß  der  ontogenetische 
Entwicklungsgang  der  Molaren  parallel  geht  mit  der  von  mir  verfoch- 
tenen  Vorstellung  über  die  phylogenetische  Differenzierung.  Denn 
das  Protomer  stellt,  als  Vertreter  der  älteren  Generation  im  dinieren 
Säugerzahn,  ein  mehr  prinzipielles  Element  dar,  als  das  einer  jüngeren 
Generation  entsprechende  Deuteromer.  Und  im  Protomer  der  Molaren 
ist  es  wieder  der  Höcker  Pa.  der  mehr  als  eine  direkte  Fortsetzung  des 
primären  Haupthöckers  P  auftritt,  als  der  Höcker  Pp,  der  gleichsam 
nur  ein  Differenzierungsprodukt  desselben  darstellt.  Die  Nebenspitzen 
i  und  2  spielen  bei  den  Molaren  der  höheren  Primaten  keine  Rolle  mehr, 
sie  gehen  meistenteils  vollständig  verloren,  treten  nur  als  Variationen 
bisweilen  noch  auf.  Dagegen  weiden  wir  sehen,  daß  eine  der  Neben- 
spitzen des  Deuteromer  bei  den  höheren  Affen  zu  einem  wichtigen  Be- 
standteil des  Molaren  sich  ausbilden  wird. 

Die  Idee,  daß  der  Höcker  Pp  der  Molaren  eine  Neuerwerbung 
ist,  habe  ich  in  einem  Aufsatz  von  Huxley  schon  aus  dem  Jahre  1864 
zurückgefunden1/!  An  der  in  der  Fußnote  bezeichneten  Stelle  sagt 
doch  der  Autor:  ,,Of  the  two  outer  cusps  of  the  molars,  the  anterior 
represents  the  principal  cusp  of  the  premolars;  the  posterior  is  an 
additional  growth  from  the  outer  side  of  the  heel."  Die  Vorstellung 
der  Genese  von  Pp  stimmt  wohl  nicht  ganz  mit  der  meinigen  überein, 
sondern  in  unserer  Auffassung  über  die  Natur  von  Pa  sind  wir  ein- 
stimmig. 

In  einem  Aufsatze  über  die  historische  Entwicklung  der  Prä- 
molaren2) gibt  W.  B.  Scott  eine  Darstellung  dieser  Entstehungs weise 
auf  Grund  von  Untersuchungen  an  paläontologischem  Material,  welche 
in  den  Hauptlinien  mit  der  von  mir  gegebenen  ziemlich  übereinstimmend 
ist.  Der  Autor  stellt  sich  jedoch  auf  den  von  Cope  inaugurierten  Stand- 
punkt, daß  die  Evolution  der  Molaren  in  anderer  Weise  erfolgte  als  jene 
der  Prämolaren.  Ohne  Vorbehalt  akzeptiert  der  Autor  für  die  ersteren 
die  Transgressionshypothese  von  Cope-Osborn.  und  da  die  Entwick- 
lung der  Prämolaren  diese  Hypothese  nicht  zu  stützen  imstande  ist, 
muß  er  für  letztere  wohl  auf  einen  anderen  Entwicklungsgang  schließen. 
Die  Folge  davon  ist,  daß  er  in  jenen  Fällen,  worin  der  letzte  Prämolar 
vollkommen  als  der  unmittelbar  folgende  Molar  gestaltet  ist,  dennoch 
einen  vollständig  verschiedenen  Entwicklungsgang  verteidigen  muß. 
„Even  when  the  premolars  have  become  completely  molariform,  the 
elements  which  correspond  in  functiön  and  position  to  these  of  the  molars 
are  not  homologous  with  them,  the  key  to  these  homologies  being  given 
by  the  position  of  the  protocone."  Zur  Erläuterung  sei  darauf  hin- 
gewiesen, daß  Scott  bei  den  oberen  Molaren  als  „Protoconus"  den 
lingualen  vorderen  Höcker  bezeichnet,  während  bei  dem  gleichförmigen 
letzten  Prämolaren  der  bukkale  vordere  Höcker  den  Protoconus  dar- 


1)  F.   H.  Huxley,  On  Arctolebus  calabarensis.     Proc.  Zool.   Soc,  p.  322.- — 
London  1864.  — 

2)  W.  B.  Scott,  The  evolution  of  the  premolar  teeth  in  mammals.     Proc. 
Acad.  of  nat.  Sc.  of  Philadelphia  1892. 


60  Erstes  Hauptstück. 

stellen  würde.  Diese  Meinung  wird  von  Osborn  geteilt.  Wir  werden 
zum  Vergleich  mit  dem  von  uns  gefolgten  Gedankengang  eine  kurze 
Übersieht  von  der  Scottschen  Darstellung  geben. 

Der  Autor  geht  von  einem  einfachen  Kegelzahn  mit  einer  einzigen 
Wurzel  aus.  Als  erste  höhere  Ausbildung  erlangt  dieser  primäre  Kegel 
(Protoconus)  an  der  lingualen  Seite  einen  neuen  Höcker,  vom  Autor 
als  Deuteroconus  unterschieden,  so  daß  ein  bikuspidaler  Zahn  entsteht. 
Dieser  Bicuspidat  bildet  die  Ausgangsform  aller  höherer  Formen  von 
Prämolaren  bei  den  Säugetieren.  Das  nächstfolgende  Stadium  entsteht, 
wenn  an  der  Außenseite  hinter  dem  ersten  Höcker  ein  zweiter  ent- 
steht, von  Scott  als  Tritoconus  bezeichnet.  Die  Krone  ist  jetzt  also 
dreihöckerig  geworden  und  stimmt  mit  dem  trituberkularen  Molar 
von  Cope-Osborn  überein.  Dennoch  besteht,  wie  Scott  sich  äußert, 
keine  Homologie,  denn  der  trituberkulare  Molar  ist  durch  Transgression 
aus  einer  trikonodonten  Form  entstanden.  Wie  stark  eine  aprioristische 
Überzeugung  der  Richtigkeit  einer  Hypothese  jemand  für  die  richtige 
Erkenntnis  von  Formbeziehungen  blind  machen  kann,  geht  wohl  stark 
hervor  aus  Scotts  weiteren  Bemerkungen  über  die  Details.  Denn, 
sagt  er,  bei  diesen  trigonodonten  Prämolaren  kommen  sehr  oft 
„conules"  zur  Entwicklung  —  (das  sind  die  Homologa  meiner  Neben- 
spitzen) —  und  in  ihrer  Lagerung  stimmen  diese  „conules"  mit  den  kleinen 
Zacken,  die  durch  Osborn  als  proto-  und  metaconule  unterschieden 
sind  überein  und  dennoch  sind  sie  mit  diesen  nach  der  Meinung  von 
Scott  nicht  homolog.  Über  die  Entstehungsweise  des  zweiten  bukkalen 
Höckers  (der  Tritocone  ist  identisch  mit  dem  Pp-Wöcker  in  meinem 
System)  führt  Scott  an:  How  gradually  this  addition  of  the  tritocone 
may  be  effected,  is  beautifully  shown  in  the  series  formed  by  placing 
together  the  different  varieties  and  species  of  Protogonia  and  Phena- 
codus.  Here  the  tritocone  may  be  seen  in  all  stages,  from  a  very 
minute  and  scarcely  visible  cusp,  and  gradually  enlarging  until  it 
reaches  the  size  of  the  protocone."  Ich  habe  oben  gezeigt,  daß  für 
eine  Einsicht  in  die  Entstehungs weise  dieses  Höckers  unter  den  rezenten 
Primaten  im  Geschlecht  Galago  noch  ausgezeichnetes  Material  gegeben 
ist.  Als  Schlußphase,  welche  den  höchst  entwickelten  Prämolarenform 
entspricht,  betrachtet  Scott  jene,  worin  hinter  dem  lingualen  Höcker 
ein  vierter  erscheint,  den  er  als  Tetarconus  bezeichnet. 

Dieses  Entwicklungsschema  der  Prämolaren  bezeichnet  Scott 
als  konstant,  und  stimmt,  wie  leicht  ersichtlich,  in  seinen  Hauptzügen 
mit  dem  Entwicklungsgang  des  Zahnes  im  allgemeinen  überein,  wie 
ich  denselben  vorgestellt  habe.  Trotzdem  stehe  ich  auf  einem  Stand- 
punkt, der  prinzipiell  von  dem  von  Scott  eingenommenen  abweicht. 
Scott  nämlich  hat  den  Nebenspitzen  keine  Aufmerksamkeit  gewidmet, 
weder  jenen  des  Protomer  noch  jenen  des  Deuteromer.  Der  Autor 
hat  nur  auf  das  Auftreten  der  größeren  Höcker  geachtet,  sein  Proto- 
conus ist  identisch  mit  dem  Haupthöcker  Pa  in  meinem  System,  sein 
Deuteroconus  mit  dem  Haupthöcker  Z),  sein  Tritoconus  mit  Pp.  Und 
bezüglich  der  chronologischen  Entwicklung  dieser  drei  Höcker  sind  wir 
einig.  Auch  hinsichtlich  jener  des  Scottschen  Tetarconus,  der  auch 
meiner  Meinung  nach  am  spätesten  seine  wichtige  Stelle  im  Kronen- 
relief erlangt.  Aber  über  die  Herkunft  dieses  Höckers  und  seine 
genetische  Beziehung  zu  schon  vorhandenen  Elementen  äußert  Scott 
sich  nicht.    Wir  werden  später  dartun,  daß  dieser  ,, Tetarconus"  nichts 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  61 

anderes  ist,  als  die  kräftig  entwickelte  Nebenspitze  4  vom  Deuteromer. 
Der  wichtigste  Unterschied  zwischen  Scott  und  mir  wird  dargestellt 
durch  meine  Überzeugung,  daß  es  für  sämltiche  Zähne  des  Gebisses 
nur  einen  einzigen  Entwicklungsgang  gibt,  und  daß  die  Transgressions- 
hypothese  verfehlt  ist,  und  daher  der  Trituberkulartypus  von  Cope- 
Üsborn  keiner  reellen  Ausgangsform  entspricht. 

Die  Ansicht,  daß  die  allmähliche  Komplizierung  der  Prämolaren 
den  Schlüssel  für  das  Verständnis  der  Molarenform  bildet,  ist  bereits 
1880  von  Huxley  formuliert  worden  laut  folgenden  Satzes:  ,,In 
Centetes,  it  is  easy  to  trace  the  successive  changes  by  which  the  simple 
and  primitive  character  of  the  Mammalian  cheek-tooth  exhibited  by 
the  most  anterior  praemolar  passes  into  the  complex  structure  of  the 
crowns  of  the  posterior  teeth"1).  Daß  gleiche  Erscheinung  auch  noch 
bei  rezenten  Halbaffen  zu  konstatieren  ist,  habe  ich  oben  dargelegt. 

Kehren  wir  jetzt  zu  unserer  eigenen  Theorie  zurück  und  betrachten 
noch  einmal  die  Fig.  20  und  21.  Es  ist  in  diesen  Figuren  außer  der 
Progression  des  Höckers  P  zu  den  beiden  Höckern  Pa  und  Pp  noch 
eine  zweite  Relieferscheinung  ersichtlich,  welche  für  die  Deutung  des 
Reliefs  der  Molaren  von  großer  Wichtigkeit  ist.  Der  dritte  Prämolar 
von  Tarsius  stimmt  in  seinem  Vorkommen  sehr  stark  mit  dem  zweiten 
Milch  molaren  von  Hapale  überein.    Die  Kronenformel  für  beide  Zähne 

1  P  2 

lautet   — =r— .  Gleiches  gilt  für  den  ersten  Molar  von  Tarsius  und  den 

dritten  Milchmolar  von  Hapale,  für  welche  Zähne  die   Kronenformel 

1  Pa  Pp  2 

Y~ —  geschrieben  werden  muß.    Es  gibt  aber  eine  Differenz.    Denn 

der  dritte  Prämolar  von  Tarsius  besitzt  eine  Leiste,  welche  von  D  aus- 
geht, bukkalwärts  verläuft  und  in  P  übergeht.  Diese  Leiste  fehlt  bei 
Hapale.  Bei  der  weiter  folgenden  Besprechung  werden  wir  nicht  umhin 
können,  auch  diese  Leiste  in  den  Kreis  unserer  Untersuchung  zu 
ziehen.  Ich  werde  sie  als  das  „Protopecten"  des  Zahnes  weiter  anführen, 
und  einen  Zahn,  der  mit  einer  solchen  Leiste  ausgestattet  ist,  als  „proto- 
pectinisch"  bezeichnen.  Es  wird  darunter  somit  ein  Zahn  begriffen, 
der  nur  eine  einzige  von  D  bis  P  verlaufende  Leiste  besitzt. 

Wie  verhält  sich  nun  das  Protopecten,  wenn  der  Haupthöcker 
des  Protomer  zweispitzig  geworden  ist  ?  Die  Fig.  20  gibt  eine  deutliche 
Antwort  auf  diese  Frage.  Vom  Haupthöcker  D  gehen  jetzt  statt  eines 
einzigen,  zwei  Leisten  aus,  welche  divergierend  bukkalwärts  ziehen  und 
sich  mit  Pa  und  Pp  verbinden.  Es  macht  ganz  den  Eindruck,  als  hätte 
sich  das  Protopecten  der  Länge  nach  gespalten,  wobei  an  der  lingualen 
Seite  die  beiden  Hälften  mit  dem  Haupthöcker  D  in  Verbindung 
blieben,  an  der  bukkalen  Seite  jede  Hälfte  mit  einem  der  beiden  Höcker 
sich  verband.  Diese  Form  des  Leistensystems  werde  ich  als  „Schizo- 
pecten"  unterscheiden  und  einen  damit  ausgestatteten  Zahn  als  schizo- 
pectinisch  bezeichnen.  Ich  verstehe  darunter  somit  einen  Zahn  mit 
einem  V-förmigen  Leistensystem,  wobei  die  Leisten  die  beiden  Höcker 
Pa  und  Pp  mit  D  verbinden.  Wir  werden  später  eine  dritte  Form 
kennen  lernen,  welche  als  höhere  Differenzierungserscheinung  aus  der 
schizopectinischen  entstanden  ist,  und  die  als  ,,diplopectinisch"  be- 
zeichnet werden  soll. 


1)  F.  H.  Huxley,  Collected  Papers,  Vol.  IV,  p.  450. 


62  Erstes  Hauptstück. 

Es  ist  wohl  die  richtige  Stelle,  um  in  einer  kurzen  Vergleichung 
zu  treten  zwischen  dem  trituberkularen  Zahn  von  Cope-Osborn 
und  jener  Zahnform,  die  uns  in  Fig.  20  und  21  in  dem  dritten  Milch- 
molaren  von  Hapale  und  dem  ersten  Molar  von  Tarsius  entegegentritt. 
Denn  diese  Zähne  entsprechen  dem  Anschein  nach  dem  trituberkularen 
Typus  von  den  amerikanischen  Paläontologen1).  Es  braucht  jedoch 
nicht  noch  einmal  in  Details  dargetan  zu  werden,  daß  unsere  Auffassungen 
über  die  Entstehung  und  daher  auch  die  Bedeutung  dieser  Form  grund- 
verschieden sind.  Und  jedoch  ist  unser  Ausgangspunkt  ein  überein- 
stimmender. Wir  beide  gehen  von  einem  trikonodonten  Zahn  aus, 
bei  dem  die  drei  Spitzen  in  einer  geraden  Linie  gelegen  sind.  Aber 
damit  ist  auch  alles  Gemeinschaftliche  in  unserer  Darstellungsweise 
gegeben.  Denn  von  diesem  Zahn  leiten  Cope-Osborn  ihre  trituber- 
kulare,  besser  trigonodonte  Form  ab,  mittels  einer  Verschiebung  des 
mittleren  Höckers  nach  innen.  Es  will  mir  scheinen,  daß  die  Autoren 
zu  dieser  Hypothese  gekommen  sind  infolge  einer  Vernachlässigung 
der  Nebenspitzen.  Es  gibt,  wie  schon  früher  betont  ist,  unter  den  meso- 
zoischen Säugern  Formen,  bei  denen  an  den  hinteren  Molaren  die  drei 
Spitzen  des  trikonodonten  Zahnes  von  gleicher  Größe  geworden  sind 
und  bei  denen  somit  der  Form  nach  eine  Unterscheidung  in  einen 
Haupthöcker  und  zwei  Nebenspitzen  nicht  berechtigt  erscheint.  Ich 
verweise  z.  B.  nach  der  Abbildung,  die  in  C.  0.  1897  auf  S.  25  in  Fig.  IIa 
von  dem  Gebiß  von  Triconodon  ferox  gegeben  ist.  Es  liegt  hier  jedoch 
nur  eine  Spezialisierung  des  Zahnes  vor,  wie  aus  einem  Vergleich  mit 
den  vorangehenden  Zähnen  deutlich  wird,  und  ihrer  Natur  nach  sind 
vordere  und  hintere  Spitze  auch  dieser  Zähne  mit  den  Nebenspitzen 
des  trikonodonten  Zahnes  in  seiner  meist  auftretenden  Gestalt  homolog. 
Diese  Tatsache  ist  nun,  wie  ich  meine,  von  den  Autoren  übersehen,  und 
zwar  deshalb,  weil  sie  von  vornherein  die  Prämolaren  aus  dem  Gebiet 
ihrer  Vergleichung  ausschalteten.  Wenn  ich  nun  noch  einmal  jene  drei 
Höcker  in  meiner  Weise  als  i  P  und  2  bezeichne,  dann  denken  sich  die 
amerikanischen  Forscher,  daß  im  Oberkiefer  der  Höcker  P  lingual- 
wärts  verschoben  ist.  Nach  ihrer  Meinung  sollte  somit  die  Kronen- 
formel   des   trituberkularen   (oder   trigonodonten)  Zahnes    geschrieben 

12  I  Pü  Pi>  2 

werden  müssen:    -=j-,  während  sie  von  mir  geschrieben  wird:  -  . 

Die  Nebeneinanderstellung  beider  Formeln  läßt  scharf  den  großen 
Unterschied  in  der  Wertschätzung  dieses  Zahnes  hervortreten,  denn 
für  keinen  einzigen  Höcker  sind  wir  in  der  Homologisierung  einstimmig. 
Mein  Hauptbedenken,  das  sofort  aus  einer  Vergleichung  der  For- 
meln hervorgeht,  ist,  daß  der  von  Cope-Osborn  aufgestellte  trituber- 
kulare  Zahn  nicht  vorkommt,  wenigstens  nicht  als  eine  vollständig 
intakte  Form.  Ich  möchte  damit  nicht  die  Tatsache  bestreiten,  daß  es 
Molaren  gibt  und  bei  ausgestorbenen  Formen  gegeben  hat,  welche 
in  der  Tat  nur  drei  Höcker  aufweisen,  zwei  an  der  bukkalen  und  einen 
an  der  lingualen  Seite.  Unter  den  heutigen  Lemuriden  fand  ich  solche 
Zähne  u.  a.  im  Oberkiefergebiß  von  Tarsius  (zweiter  und  dritter  Molar) 
Aber  diese  Dreihöckerigkeit  kommt  zustande  durch  Verlust  der  Neben- 
spitzchen  i  und  2,  und  die  Kronenformel  wird  dadurch  auf  folgende 


1)  „The  tritubercular  pattern  is  still    the  prevailing  one  among  the  Lemu- 
roidea."  C.  0.  1907,  p.  157. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  63 

Pa  Pf 
reduziert  — =— -.     Aber  diese  Krone  ist  eine   durch  Regression  ent- 
standene und  hat  auch  weiter  in  der  Homologisierung  der  Höcker  nichts 
mit  jener  der  amerikanischen  Forscher  gemein. 

Bei  den  meisten  Zähnen,  welche  von  den  amerikanischen  Forschern 
als  trituberkular  oder  ihrem  trituberkularen  Typus  entsprechend  an- 
gegeben werden,  trifft  man  an  der  vorderen  und  hinteren  Ecke  des 
bukkalen  Kronenrandes  die  kleinen  Nebenspitzchen  /  und  2  an.  Auf 
diese  Tatsache  ist  schon  von  einem  anderen  amerikanischen  Palä- 
ontologen, Gidley,  hingewiesen1).  Dieser  hatte  die  Gelegenheit, 
besser  erhaltene  Zähne  von  Dryolestes  zu  untersuchen,  und  unter  Hin- 
weis auf  die  von  Osborn  von  diesem  Tier  gegebenen  Figuren  (C.  0. 
1907,  Fig.  206)  sagt  der  Autor:  ,,But  there  are  two  important  cusps  not 
noted  bei  Osborn,  one  an  external  cusp  placed  anterior  tho themain 
external  cusp,  the  other  a  small  but  well-defined  intermediate  cusp 
appearing  on  the  posterior  transverse  ridge,  thus  there  are  fivc1)  distinct 
cusps  instead  of  three,  as  stated  by  Osborn."  Ich  bin  der  Meinung, 
daß,  wenn  man  gut  erhaltene,  nicht  abgeschliffene  Molaren  der  meso- 
zoischen Säugetiere  auf  das  Vorkommen  der  Höckerchen  1  und  2  unter- 
sucht, man  diese  wohl  meistenteils  antreffen  wird.  Diese  Überzeugung 
gründet  sich  auf  meine  Erfahrung,  daß  bei  den  heutigen  Prosimiae 
die  meisten  Molaren  diese  Spitzen  noch  besitzen,  im  Gegensatz  zu  den 
Affen,  wo  sie  an  den  Molaren  weit  seltener  sind.  Und  ist  einmal  jener 
Nachweis  erbracht,  wie  es  im  Prinzip  schon  von  Gidley  geschehen  ist, 
dann  müssen  die  Anhänger  der  Trituberkulartheorie  annehmlich  machen, 
woher  diese  beiden  Spitzen  stammen  und  besonders  beweisen,  daß 
sie  nicht  der  vorderen  und  hinteren  Nebenspitze  des  trikonodonten 
Zahnes  homolog  sind. 

Wir  verfolgen  jetzt  unsere  Auseinandersetzung  der  Differen- 
zierung der  Molaren.     Der  Entwicklungsgang  der  einfachsten  bei  den 

1  Pa  Pf>  2 
Primaten    vorkommenden    Form    mit    der    Kronenformel    :  r 

haben  wir  jetzt  kennen  gelernt.  Es  wurde  überdies  schon  darauf  hin- 
gewiesen, daß  diese  Krone  sich  vereinfachen  kann  durch  Verlust  der 
beiden  Nebenspitzen  1  und  2  oder  von  einer  derselben.  Es  ist  wohl 
als  eine  allgemeine  Regel  zu  betrachten,  daß  wenn  einer  der  zwei  ver- 
loren gehe,  es  die  hintere  ist,  erst  an  zweiter  Stelle  folgt  die  vordere. 
Nach  Verlust  beider  Spitzen  bekommt  der  Molar  somit  eine  Krone, 

Pa  Pf 
deren  Relief  durch  die  Formel — =~-  zum  Audsruck  gebracht  wird; 

1  Pa  Pf 
ist  die  vordere  Nebenspitze  noch  da,  dann  lautet  die  Formel =r — — . 

Beide  Formeln  sind  bei  den  rezenten  Primaten  ziemlich  selten,  da  bei 
dieser  Tiergruppe  das  Deuteromer  der  Molaren  meistenfalls  kompli- 
zierter gestaltet  ist  und  nicht  einfach  durch  seinen  Haupthöcker  ver- 

1  Pa  Pf 
treten.     Eine  Kronenformel =- — -  findet  man  z.  B.  am  ersten  und 


1)  J.    W.    Gidley,   Evedence  bearing  on  Tooth-Cusp  Development.    Proc. 
Washington.  Acad.  Sc.  1906,  Vol.  VIII. 
1)  Ich  kursiviere. 


64  Erstes  Hauptstück. 

zweiten  Molaren  von  Lepidolemur  und  am  dritten  Molar  von  Nycti- 

Pa  Pp 
cebus  tardigradus.    Für  die  Kronenformel  — =— - —  bieten  der  zweite  und 

dritte  Molar  von  Tarsius,  sowie  der  dritte  von  Cheirogaleus  und  Lemur 

gute  Beispiele. 

Der  Umstand,  daß  solche  einfache  Formeln  meist  im  hinteren 

Teil  des  Gebisses  lokalisiert  sind,  gibt  einen  starken  Grund  ab  für  die 

Vermutung,  daß  es  sich  hierbei  um  reduzierte  Formen  handelt.   Es  kann 

nun  diese  Reduktion  noch  weiter  gehen.     Und  übereinstimmend  mit 

der  schon  öfters  erwähnten   Regel    sieht  man  dann,    daß  die  zuletzt 

entstandene  Spitze  am  ersten  wieder  verloren  geht.     In  diesem  Fall 

findet  sich  dann  der  Höcker  Pp,  und  nach  dessen  Verlust  wird  die 

Pa 
Kronenformel    auf   -=r   vereinfacht.       Diese    weitgehende    Reduktion 

kommt  nur  beim  letzten  Molaren  vor.  Sie  wurde  für  Halbaffen  das 
erste  Mal  durch  Huxley  festgestellt  und  abgebildet1):  „In  Perodicticus 
Potto  the  third  upper  molar  has  a  transversely  elliptical  crown  wich  has 
only  two  cusps,  the  posterior  external  and  the  posterior  internal  having 
disappeared"  (1.  c,  S.  324).  Bei  Lepidolemur  ist  nach  Leches  Abbil- 
dung der  Höcker  Pp  am  dritten  Molar  merklich  geringer  entwickelt 
als  Pa.  -  -  Bei  Affen,  besonders  jenen  der  Neuen  Welt,  ist  die  Formel 

Pa 

-jr-  am  dritten  oberen  Molar  gar  nicht  selten. 

i  Pa  Pp  2 
Bei  den  wahren  Affen  kommt  die  Kronenformel  r —   sehr 

selten  vor,  da  hier,  wie  schon  erwähnt,  als  Regel  das  Deuteromer  voll- 
ständiger entwickelt  ist.  Im  Milchgebiß  der  Arctopitheken  treffen  wir 
im  zweiten  Molaren  ein  dieser  Formel  entsprechendes  Beispiel  an. 
Merkwürdig  ist  es  nun,  daß  die  Molaren  dieser  niedrigsten  Vertreter 
der  wahren  Affen  eine  mehr  reduzierte  Form  haben.  Denn  beim  ersten 
permanenten  Molaren  sind  die  beiden  Nebenspitzen  verloren  gegangen, 

Pa  Pp 
wodurch  die   Kronenformel  dieses  Zahnes  die  folgende  wird:   — =p*-, 

beim  zweiten  Molaren  ist  die  Reduktion  sogar  noch  weiter  gegangen. 
Nicht  nur  ist  dieser  Zahn  der  kleinste  aller  postcaninen  Zähne,  sondern 
der  Höcker  Pp  kann  individuell  ganz  fehlen   oder  ist  nur  eben  ange- 

Pa 

deutet.      Im  ersteren  Fall  wird  die   Kronenformel  somit  wieder  -=-. 

Es  ist  wohl  nicht  zweifelhaft,  daß  das  Gebiß  der  Arctopitheken  nicht 
nur  als  ein  in  Molarenzahl,  sondern  auch  als  ein  in  Zahngestalt  stark 
reduziertes  zu  betrachten  ist.  Ich  kann  dann  auch  die  Meinung  Webers2), 
daß  hier  noch  primitive  Zahnformen  bestehen  sollten,  nicht  teilen. 
Ich  glaube,  es  stellt  gerade  das  Gebiß  der  Arctopitheken  die  Richtig- 
keit ins  Licht  jener,  schon  von  mehreren  Odontologen  geäußerten  Be- 
hauptung, daß  übereinstimmende  Zahnformen  eine  verschiedene  Ent- 
wicklungsgeschichte haben  können.  Dieser  Meinung  gibt  z.  B.  Forsyth 
May  or  Ausdruck  im  folgenden  Satz:  „It  is  reasonable  to  conclude  that 


1)  F.  H.  Huxley,  On  the  Arcticebus  Calabarensis.  Proc.  Zool.  Soc.  London 
1864. 

2)  M.  Weber,  Die  Säugetiere.     Jena  1904. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  65 

the  tritubercular  condition  of  molars  is  the  result  of  similar  evolution, 
and  by  no  means  a  primitive  condition1)."  Nicht  weniger  scharf  gibt 
auch  Schlosser  dieser  Meinung  Ausdruck,  wenn  er  behauptet:  „Eine 
bestimmte  Beschaffenheit  des  Gebisses  ist  nicht  an  eine  gewisse  Gruppe 
gebunden,  sondern  kann  innerhalb  beliebiger  Formenkreise  wieder- 
kehren. Es  gibt  dies  einen  deutlichen  Fingerzeig  dafür,  daß  die  Ver- 
wandtschaft zweier  oder  mehrerer  Formen  noch  lange  nicht  durch  eine 
gleichartige  Ausbildung  der  einzelnen  Zähne  ausgedrückt  wird,  es  kommt 
vielmehr  darauf  an,  zu  berücksichtigen,  wodurch  dieser  momentane 
Zustand  veranlaßt  wird2)."  Und  die  Fragestellung,  ob  ein  Zahn  eine 
primitive  oder  eine  reduzierte  Form  besitzt,  drängt  sich  schärfer  auf 
durch  den  im  Laufe  dieser  Arbeit  schon  einige  Male  gebrachten  Nach- 
weis, daß  bei  Reduktion  der  einst  durchlaufene  normale  Entwicklungs- 
weg wieder  in  umgekehrter  Richtung  zurückgelegt  wird,  wodurch 
notwendigerweise  frühere,  primitive  Formen  wieder  von  neuem  ent- 
stehen müssen.  Ich  glaube,  daß  auch  Hapale  wieder  einen  sehr  guten 
Beweis  davon  ablegt.  Für  eine  Entscheidung,  ob  ein  Zahn  wirklich 
primitiv  oder  infolge  von  Reduktion  pseudoprimitiv  ist,  hat,  wie  ich 
meine,  vor  allem  das  geologische  Alter  des  Tieres  eine  ausschlaggebende 
Bedeutung. 

Es  ist  schon-  mehrfach  erwähnt  worden,  daß  bei  den  Primaten- 
molaren so  einfach  entwickelte  Deuteromeren  wie  in  den  zuletzt  gegebenen 
Beispielen  nur  selten  sind,  weshalb  man  auch  die  dreieckige  Krone 
im  Gebiß  dieser  Tiere  so  selten  antrifft.  Wohl  bei  den  meisten  Affen 
—  mit  Ausnahme  dann  der  Arctopitheken  —  und  bei  den  meisten 
Halbaffen  ist  dieses  Odontomer  in  den  Molaren  mehrhöckerig,  ent- 
weder sind  dessen  beide  Nebenspitzen  entwickelt  oder  nur  eine  von 
beiden. 

Bezüglich  des  Entwicklungsgrades  dieses  Odontomer  unter- 
scheiden sich  zweifelsohne  die  beiden  Gruppen  der  Primaten  augen- 
fällig voneinander.  Denn  bei  den  Affen  ist  das  Deuteromer  bei  keinem 
der  rezenten  Formen  dreispitzig.  Regelmäßig  fehlt  hier  die  vordere 
Nebenspitze,  um  als  sehr  bedeutungsvolle  und  willkommene  indivi- 
duelle Variation  bisweilen  wieder  zu  erscheinen.  Bei  den  Halbaffen 
dagegen  ist  jenes  Odontomer  öfters  dreispitzig,  und  verbindet  man  mit 
dieser  Tatsache  jene,  daß  auch  die  Nebenspitzen  im  Protomer  besonders 
bei  den  altweltlichen  Affen  regelmäßig  fehlen,  dann  erscheinen  die 
Molaren  der  Prosimiae  jenen  der  Simiae  gegenüber  durchschnittlich 
spitzenreicher.  Die  Molaren  der  höheren  Affen  bringen  nur  als  Rück- 
schlagserscheinungen Spitzen  zur  Entwicklung,  welche  bei  den  Prosi- 
miae regelmäßig  vorkommende  Bestandteile  dieser  Zähne  sind. 

Wenn    das    Deuteromer    seine    beiden    Nebenspitzen    entwickelt 

hat  und  das   Protomer  seine  vollständige  Entfaltung  noch  aufweist, 

i  Pa  Pf>  2 
tritt  ein  Zahn  auf  mit  der  Kronenformel   -    — _,  r    .  Ein  solches  Kronen- 

3D4 
relief  trifft  man  im  permanenten  Gebiß  des  Oberkiefers  bei  den  Affen 
niemals  an,  bei  Halbaffen  ist  es  nicht  ganz  selten. 


1)  Forsyth  Mayor,  On  Megaladapis  madagascariensis,  an  extinct  gigantic 
Lemuroid  from  Madagascar.   Phil.  Transact.  Roy.  Soc.  London  1894,  Vol,  CV,  p.  22. 

2)  M.    Schlosser,    Die   Affen,    Lemuren   usw.    des   europäischen   Tertiärs, 
Bd.  I,  S.  53.   Wien  1887. 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  5 


66  Erstes  Hauptstück. 

In  der  Prämolarenreihe  weist  der  dritte  Prämolar  von  Galago 
und  Hemigalago  dieses  Relief  auf,  das  man  auch  beim  ersten  Molaren 
von  Avahis,  Galago,  Stenops,  Hemigalago,  Propithecus  und  weiter  am 
zweiten  Molaren  von  Avahis,  Stenops  und  Hemigalago  konstatieren  kann. 
Der  dritte  Molar  ist  stets  einfacher  gestaltet.  Aus  den  voranstehenden 
Angaben  geht  schon  hervor,  daß  ein  Zahn  mit  dem  bezüglichen  Kronen- 
relief im  Gebiß  gewissermaßen  lokalisiert  ist.  Es  findet  sich  der  Typus 
am  häufigsten  beim  ersten  Molaren.  Man  darf  hierin  den  Ausdruck 
einer  Beziehung  zwischen  Form  und  Funktion  sehen.     Denn  ein  Zahn 

i  Pa  Pf>  2 
mit  der  Kronenformel  -       _.     —  ist  der  meist  spitzenreiche,  der  über- 

3D4  1 

haupt  bei  den  Primaten  vorkommt,  und  er  erscheint  gerade  an  jener 
Stelle  des  Gebisses,  die  der  Druckwirkung  am  meisten  ausgesetzt  ist. 
Von  diesem  Punkt  nimmt  sowohl  nach  vorn  als  rückwärts  die  Kompli- 
ziertheit regelmäßig  ab.  Was  —  in  Verbindung  wohl  mit  der  Nahrung  - 
bei  den  Prosimiae  durch  stetig  zunehmende  Komplikation  erreicht  wird, 
kommt  bei  den  Simiae  viel  mehr  durch  Größenzunahme  zustande. 
Und  diese  Vergrößerung  ist  mit  einer  gewissen  Selektion  verknüpft, 
wobei  bestimmte  Höcker  bevorzugt  wurden  und  andere  ausgeschaltet. 
Das  Gebiß  der  Prosimiae  bietet  uns  daher  für  das  Studium  der  Zahn- 
entwicklung mehr  wertvolle  Dokumente  als  jenes  der  Affen,  und  ein 
richtiger  Einblick  in  die  Natur  der  Affenzähne  und  eine  richtige  Homo- 
logisierung  der  Höcker  kann  nur  erworben  werden  auf  Grund  von  bei 
den  Halbaffen  gewonnenen  Resultaten.  Die  Molaren  der  Affen  sind 
mehr  als  Endphasen  einer  Entwicklungsreihe  zu  betrachten.  Und 
in  der  großen  Übereinstimmung,  welche  die  Molaren  sämtlicher 
Affen  jenen  der  Halbaffen  gegenüber  aufweisen,  bekundet  sich  das 
Einheitliche  jener  Gruppe. 

Die  Halbaffen  dagegen  geben  in  ihren  verschiedenen  Geschlechtern 
deutliche  Hinweise  auf  zwei  divergierende  Entwicklungsrichtungen. 
Eine  Linie  trägt  einen  bestimmt  progressiven  Charakter  und  bereitet 
gradatim  jene  Formen  vor,  von  denen  die  Affenmolaren  als  die  direkte 
Fortsetzung  sich  vortun,  eine  zweite  Linie  trägt  mehr  einen  regressiven 
Charakter  und  findet  bei  den  Affen  keine  Fortsetzung. 

Drei    Phasen    der   erstgenannten    Entwicklungslinie,    welche    als 

ebenso  viele  Vorstufen  der  Affen-  und  Menschenmolaren  zu  betrachten 

sind,  sind  in  den  Fig.  23,  24  und  25  wiedergegeben.    Die  Zähne  besitzen 

1  Pa  Pf>  2 
noch  alle  die  Kronenformel  -  — -        .    Die  Fig.  23  stellt  den  dritten 

3D4 

Prämolar  von  Galago  senegalensis  dar,  Fig.  24  den  ersten  Molar  von 

Stenops  gracilis  und  Fig.  25  den  ersten  Molar  von  Avahis  laniger.    Sie 

sind  von  der  lingualen  Seite  gesehen  abgebildet,  während  auch  eine 

Skizze  der  Kronenfläche  gegeben  ist.     Vergleichen  wir  zunächst  den 

Entwicklungsgrad  der  Odontomeren  miteinander. 

Bei  der  Besprechung  des  Entwicklungsganges  vom  Deuteromer, 

welcher  hauptsächlich  bei  den  Prämolaren  verfolgt  wurde,  bildete  das 

Deuteromer   wohl  immer   den   kleineren   Abschnitt   des   Zahnes,   den 

sogenannten  Talon  der  Autoren.    Das  ist  auch  noch  der  Fall  bei  den  auf 

niedrigster  Stufe  der  Entwicklung  stehenden  Zähnen,  welche  bereits 

ins  Doppelhöckerstadium  getreten  sind.    Aber  allmählich  kommt  jetzt 

eine  Volumzunahme  des  Deuteromer  zustande,  wovon  die  drei  gewählten 

Beispiele  Zeugnis  ablegen.    Beim  letzten  Prämolar  von  Galago  ist  das 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne. 


67 


Deuteromer  zwar  vollständig  dreihöckerig  geworden,  aber  noch  auf- 
fallend kleiner  als  das  Protomer,  bei  Stenops  sind  die  Unterschiede 
schon  geringer  und  bei  Avabis  steht  das  Deuteromer  im  Volum  jenem 
des  anderen  Odontomer  nur  wenig  nach.  Dadurch  wird  somit  der  Zu- 
stand, den  man  bei  Affen  findet,  eingeleitet,  denn  durch  die  Volum- 
zunahme des  Deuteromer  wird  die  Form  der  Krone  wesentlich  ver- 
ändert. Das  Wesen  dieser  Umänderung  läßt  sich  aber  erst  scharf  be- 
tonen, nachdem  wir  die  speziellen  Spitzendifferenzierungen  in  jedem 
der  beiden  Odontomeren  bei  den  drei  abgebildeten  Formen  näher 
betrachtet  haben. 


Fig.  23.     Galago  senegalensis. 
Dritter  Prämolar. 


Fig.  24.     Stenops  gracilis. 
Erster  Molar. 


Bei  Galago  und  Stenops  ist  das  Vorkommen  der  Spitzen  im  Proto 
mer  wenig  verschieden,  nur  sind  beim  letztgenannten  die  beiden  Spitzen 
Pa  und  Pp  etwas  niedriger.  Bei  beiden  Tieren  liegen  die  Nebenspitzen  i 
und  2  noch  in  einer  Linie  mit  dem  Doppelhöcker.  Das  hat  sich  nun  bei 
Avabis  wesentlich  geändert.  Denn  die  Linie,  welche  die  Nebenspitzen 
hier  verbindet,  zieht  bukkal  von  der  Längsachse  des  Doppelhöckers. 
Die  beiden  Nebenspitzen  springen  deutlich  bukkalwärts  vor.  Und  als 
eine  Erscheinung,  die  uns  bis  jetzt  noch 
nicht  begegnete,  muß  das  Auftreten 
eines  mittleren  Höckerchens  auf  die 
bukkale  Fläche  des  Zahnes  genannt 
werden.  Auf  diese  Bildung,  die  gelegent- 
lich auch  bei  anderen  Primaten  auftritt, 
werde  ich  hier  nicht  eingehen,  ich  schalte 
sie  vorläufig  aus  der  Darstellung  des 
Differenzierungsganges,  für  den  sie  auch 
bedeutungslos  ist,  aus.  Hauptsache  ist 
es,  zunächst  festgestellt  zu  haben,  daß 

der  Doppelhöcker  P  in  bezug  auf  die  Nebenspitze  lingualwärts  ver- 
schoben erscheint  und  weiter,  daß  jede  Hälfte  des  Doppelhöckers 
bei  Avahis  ansehnlich  niedriger  und  dazu  breiter  geworden  ist. 

Intensiver  sind  die  graduellen  Umgestaltungen,  die  an  den  Spitzen 
des  Deuteromer  zu  konstatieren  sind.  Im  vorangehenden  Abschnitt 
ist  schon  die  Aufmerksamkeit  auf  den  Umstand  gelenkt  worden,  daß 
die  Richtung  der  Spitzchen  dieses  Odontomer,  wenn  sie  in  der  Dreizahl 
entwickelt  sind,  mit  jenen  des  Protomer  einen  nach  hinten  offenen 
Winkel  bilden.  Die  Kronenfläche  des  Zahnes  wird  dadurch  mehr  oder 
weniger  dreieckig,  es  sind  eine  bukkale,  eine  hintere  und  eine  medio- 


Fig.  25. 


Avahis  laniger.     Erster 
Molar. 


68  Erstes  Hauptstück. 

linguale  Seite  ziemlich  scharf  voneinander  abgegrenzt.  Dazu  kommt 
noch,  daß  die  hintere  Nebenspitze  4  mehr  oder  weniger  selbständig 
hervorragt,  wodurch  der  hintere  Rand  der  Krone  konkav  wird.  Auch 
wenn  der  Haupthöcker  P  des  Protomer  sich  zum  Doppelhöcker  ent- 
wickelt hat,  bleiben  diese  Verhältnisse  bei  den  primitivsten  dieser 
Formen  bestehen,  wie  aus  Fig.  23  ersichtlich  ist.  Aber  es  tritt  hierin 
allmählich  Veränderung  auf,  an  der  sich  jedoch  nicht  alle  Teile  des 
Deuteromer  gleich  stark  beteiligen.  Denn  während  die  vordere  Neben- 
spitze (3),  die  auch,  wie  man  sich  erinnern  wird,  zuletzt  erscheint,  keine 
weitere  Entwicklung  zeigt,  nimmt  die  hintere  Nebenspitze  (4)  an  Größe 
zu.  Davon  liefert  der  erste  Molar  von  Stenops  (Fig.  24)  ein  gutes  Bei- 
spiel. Diese  Vergrößerung  läßt  jedoch  die  Spuren  der  Selbständigkeit 
dieser  Spitze  nicht  verloren  gehen.  Im  Gegenteil.  Zwar  springt  die 
Spitze  4  bei  Stenops  weniger  frei  an  der  inneren  Ecke  des  Hinterrandes 
der  Krone  hervor  als  bei  Galago,  aber  es  entsteht  eine  ziemlich  scharfe 
Rinne  zwischen  dieser  Spitze  und  dem  Haupthöcker  Z),  besonders  an  der 
lingualen  Fläche  der  Krone.  Im  ganzen  ist  die  Kronenfläche  weniger  regel- 
mäßig dreieckig  als  bei  der  vorangehenden  Form,  denn  die  mesiolinguale 
Seite  bildet  sich  schon  deutlicher  in  ein  mehr  mesiales  und  ein  linguales 
Stück  aus,  die  vorläufig  noch  stumpfwinkelig  ineinander  übergehen. 

Sämtliche  Punkte  nun,  wodurch  der  erste  Molar  von  Stenops  sich 
vom  dritten  Prämolar  (und  auch  erstem  Molar)  von  Galago  unterscheidet, 
sind  nun  beim  ersten  Molar  von  Avahis  in  progressiverem  Maße  ent- 
wickelt. Die  Nebenspitze  3  ist  klein  geblieben  und  lagert  als  eine  un- 
bedeutende Erhabenheit  in  der  Mitte  des  vorderen  Randes  vom  Zahn. 
Sie  kommt  überhaupt  nur  beim  ersten  Molaren  dieses  Halbaffen  vor, 
beim  zweiten  ist  sie  vollständig  reduziert.  Dagegen  ist  die  hintere 
Nebenspitze  4  von  gleicher  Größe  geworden  als  der  Haupthöcker  D 
des  Deuteromer.  Die  Folge  davon  ist,  daß  die  Krone  eine  viereckige 
Gestalt  bekommen  hat,  aber  noch  nicht  regelmäßig.  Denn  deutlich 
geht  der  vordere  oder  mesiale  Rand  noch  unter  stumpfem  Winkel 
in  den  lingualen  über,  während  der  Hinterrand  einen  nahezu  geraden 
Winkel  mit  dem  lingualen  bildet. 

Als  meist  essentieller  Punkt  bei  dieser  progressiven  Entwicklung 
ist  aber  zweifelsohne  die  mächtige  Ausbildung  der  Nebenspitze  4  zu 
betrachten.  Diese  Vergrößerung  ging  mit  einem  Ausgleich  der  Größen- 
differenz  beider  Odontomeren  gepaart,  wodurch  ein  Zahn  entstand, 
der  dem  Kauakt  weit  besser  funktionell  angepaßt  war,  als  jener  mit 
stark  ausgesprochener  Differenz  zwischen  Proto-  und  Deuteromer. 
Diese  Entfaltung  der  Spitze  4  ist  in  mehreren  Hinsichten  merkwürdig. 
Denn  dadurch  ist  die  linguale  Hälfte  des  Zahnes  der  bukkalen  sehr 
ähnlich  geworden;  bestehen  dach  von  jetzt  an  beide  aus  zwei  gleich- 
großen Höckern.  Aber  wie  verschieden  ist  die  Natur  der  Höcker, 
welche  dieses  Relief  darstellen!  Die  bukkale  Hälfte  besteht  aus  einem 
Doppelhöcker,  aus  dem  Haupthöcker  der  primitiven  trikonoclonten  Ur- 
form hervorgegangen.  Und  in  der  lingualen  Hälfte  ist  der  vordere  Höcker 
wirklich  ein  primitiver  Haupthöcker,  der  hintere  dagegen  ist  aus  einer 
Nebenspitze  hervorgegangen.  Bei  genauem  Zusehen  jedoch  findet  man 
bei  Vergleichung  der  bukkalen  und  lingualen  Hälfte  beim  vorliegenden 
Zahn  noch  deutlich  Anzeigen  der  differenten  Natur  der  vier  Spitzen, 
sei  es  dann  auch,  daß  sie  in  Größe  einander  wenig  nachstehen.  Denn 
von  der  Verwandtschaft  der  beiden  bukkalen  Höcker  zueinander  legt 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  (39 

die  schmale  erhabene  Leiste,  welche  beide  verbindet  und  ein  wenig 
nach  außen  geknickt  erscheint,  noch  deutlich  Zeugnis  ab,  während  an 
der  lingualen  Seite  die  ursprüngliche  Selbständigkeit  der  beiden  Höcker, 
durch  die  Rinne  welche  beide  trennt,  bewiesen  wird. 

Daß  übrigens  der  hintere  linguale  Höcker  noch  nicht  in  allen  Hin- 
sichten mit  dem  vorderen  gleichwertig  geworden  ist,  geht  aus  der 
Anatomie  des  Leistensystems  hervor.  Ich  erinnere  daran,  daß  ich  auf 
Grund  der  Ausbildung  dieses  Systems  bis  jetzt  zwei  Formen  unter- 
schieden habe,  nämlich  protopektinische,  bei  denen  eine  einfache  trans- 
versale Leiste  die  Haupthöcker  beider  Odontomeren  verbindet,  und 
schizopektinische,  bei  denen  vom  Haupthöcker  D  aus  in  divergierender 
Richtung  zwei  Leisten  zum  Doppelhöcker  P,  also  zu  Pa  und  Pp  ver- 
laufen. Bei  Stenops  ist  nun  dieser  zweite  Typus,  wie  aus  Fig.  24  er- 
sichtlich, noch  rein  erhalten.  Aber  auch  bei  Avahis  ist  noch  gleiches 
der  Fall,  auch  diese  Molaren  sind  somit  noch  schizopektinisch,  im  Gegen- 
satz zu  jenen  der  meisten  Affen,  bei  denen  die  Gleichwertigkeit  zwischen 
dem  Haupthöcker  D  und  der  ursprünglichen  Nebenspitze  4  noch  voll- 
kommener geworden  ist.  Die  menschlichen  Molaren  stehen  als  schizo- 
pektinisch noch  auf  der  mehr  niedrigen  Stufe  der  Prosimiae.  Unten 
wird  hierüber  ausführlich  gehandelt. 

Das  Kronenrelief,  wie  wir  es  jetzt  bei  Avahis  kennen  gelernt 
haben,  ist  das  meist  vollständige,  das  man  überhaupt  bei  den  Primaten 
antrifft.  Es  stellt  eine  Zwischenstufe  dar  zwischen  den  mehr  einfachen  — 
weil  primitiver  —  Formen  anderer  Prosimiae  und  den  vereinfachten 
Formen,  welche  wir  bei  den  wahrenAffen  kennen  lernen  werden.  Es 
ist  ein  Mixtum  compositum  von  Primitivem  und  Progressivem.  Das 
Primitive  wird  hergestellt  durch  die  Anwesenheit  der  drei  gering  ent- 
wickelten Nebenspitzen  1,  2  und  3,  das  Progressive  durch  die  Vierzahl 
fast  gleich  großer  Höcker,  die  mit  nur  wenigen  Ausnahmen  bei  allen 
Affenmolaren  wiederkehren. 

Die  merkwürdige  Ausbildung  der  Nebenspitze  4  der  oberen 
Primatenmolaren  zu  einem  Höcker  von  gleicher  Größe  als  der  ursprüng- 
liche Haupthöcker  ist  eine  Erscheinung,  die  nicht  einzig  dasteht.  Denn 
bei  dem  Unterkiefergebiß  werden  wir  einen  übereinstimmenden  Vor- 
gang kennen  lernen.  Und  ich  bin  überzeugt,  daß  man  bei  anderen 
Säugerordnungen  mehrere  Beispiele  eines  solchen  Entwicklungsganges 
aufzufinden  imstande  ist.  Doch  werde  ich  auf  diesen  Punkt  nicht 
eingehen. 

Nachdem  wir  die  Molarengestalt  mit  dem  vollständigsten  Relief 
in  ihrer  Entwicklung  verfolgt  haben  und  die  Bedeutung  jedes  der  dieses 
Relief  zusammensetzenden  Elemente  kennen  gelernt,  können  wir  dazu 
übergehen,  zu  untersuchen,  welche  Varianten  auf  diese  Form  bei  den 
Primaten  aufzufinden  sind.  Beschränken  wir  uns  zunächst  auf  die 
Prosimiae. 

Propithecus    und   Indris    gehören,   was   den   allgemeinen   Typus 

ihrer  Molaren  betrifft,  mit  Avahis  zusammen  und  stehen  dadurch  in 

Gegensatz  zu   den   übrigen   Halbaffen.      Es  ist   oben  schon  bemerkt 

1  Pa  Pf>  2 

worden,  daß  die  Kronenformel ^        nur  für  den  ersten  Molaren 

3D4 

von  Avahis  gilt.    Denn  beim  zweiten  Molaren  ist  von  der  Nebenspitze  3 

1  Pa  Pp  2 

nichts  mehr  zu  sehen  und  es  hat  dieser  Zahn  somit  eine  Formel ^ — — . 

D4 


70  Erstes  Hauptstück. 

Am  dritten  Molaren  sind  nur  die  Höcker  Pa  und  D  kräftig  entwickelt, 
3  fehlt  ebenso  wie  2,  während  Pp  und  4  schwach  am  Hinterrand  zu 
erkennen  sind.  Es  stimmen  Propithecus  und  Indris  darin  mit  Avahis 
überein,  daß  auch  hier  die  Spitze  3  nur  am  ersten  Molaren  vorkommt, 
bei  Indris  stärker,  bei  Propithecus  weniger  stark  als  bei  Avahis.  Daß 
ich  dennoch  eine  Skizze  von  Avahis  und  nicht  von  Indris  gab  und  aus- 
führlicher beschrieb,  findet  seinen  Grund  darin,  daß  bei  Indris  die 
hintere  bukkale  Nebenspitze  (2)  fehlt  oder  kaum  angedeutet  ist,  so  daß 

1  Pa  Pp 

die  Kronenformel  dieses  Zahnes  ist: = — — .    In  dieser  Hinsicht  folgt 

3D4  8 

Indris  wieder  der  schon  öfters  hervorgehobenen  Regel:  wenn  eine  der 

beiden  Nebenspitzen  des  Protomer  verloren  geht,  ist  es  die  hintere. 

Bei  dem  zweiten  Molaren  sowohl  von  Indris  als  von  Propithecus 

fehlt,  wie  schon  erwähnt,  die  Nebenspitze  3  vom  Deuteromer  völlig, 

1  Pa  Pp 
wodurch  die  Kronenformel  sich  folgenderweise  vereinfacht:  — - — -. 

D  4 

Es  nähert  sich  durch  die  Reduktion  einer  Nebenspitze  in  je  der  beiden 
Odontomeren,  bei  der  sonst  schon  sehr  affenähnlichen  Gestalt  der  Molaren, 
der  zweite  Mahlzahn  von  Indris  stark  jenem  der  wahren  Affen.  Es 
braucht  nur  noch  die  Nebenspitze  1  —  die  überdies  als  Variation  nicht 
selten  bei  Affen  wieder  erscheint  —  verloren  zu  gehen  und  der  typische 
Affenmolar  ist  da.  Bei  Propithecus  geht  wohl  3  verloren,  aber  im  Proto- 
mer bleiben  beide  Nebenspitzen  im  zweiten  Molar  bestehen.  Sowohl 
Indris  als  Propithecus  besitzen  einen  stark  reduzierten  dritten  Molaren 
infolge  sehr  geringer  Entwicklung  von  Pp  und  4. 

Bei  Prosimiae  mit  einer  mehr  dreieckigen  Gestalt  der  Krone,  wie 
in  den  Fig.  23  und  24  abgebildet,  ist  die  typische  vollständige  Kronen- 

1  Pa  Pp  2 
formel  —    „      —  nicht  sehr  häufig  vertreten.  Am  zahlreichsten  kommt 
3D4 

diese  Form  noch  vor  bei  Galago  und  Hemigalago,  bei  denen  außer  dem 
dritten  Prämolaren  auch  der  erste  und  zweite  Molar  die  erwähnte 
Formel  besitzen.  Bei  Stenops  ist  sie  schon  auf  den  ersten  Molaren  be- 
schränkt. Bei  anderen  Formen  findet  Reduktion  der  Nebenhöcker  in 
verschiedenem  Grade  und  an  verschiedener  Stelle  statt.  Bei  Nycti- 
cebus,  der  an  keinem  Zahn  die  Nebenspitze  3  zur  Ausbildung  gebracht 
hat,  ist  die   Kronenformel  des  ersten  Molaren  deshalb  die  folgende: 

1  Pa  Pp  2 
— =^— - — ,  beim  zweiten  Molaren  dieses  Halbaffen  geht  2,  beim  dritten 
D  4 

auch  4  verloren.    Bei  Cheirogaleus  und  Microcebus  sind  an  sämtlichen 

Molaren  die  Nebenspitzen  des  Protomer  verloren  gegangen,  und  da  im 

Deuteromer  auch  3  fehlt,  vereinfacht  sich  hier  die  Kronenformel  auf 

Pa  Pp 
~         eine  Formel  also,   die  bei  den  Molaren  der  Affen  besonders 
D4 

häufig  ist,  Doch  weicht  durch  das  starke  Hervorragen  der  Spitze  4 
nach  lingual  und  hinten  die  Gestalt  der  Krone  dieses  Prosimiers  be- 
trächtlich von  jener  der  wahren  Affen  ab. 

Eine  andere  Variation  weist  wieder  das  Geschlecht  Hapalemur 
auf,  bei  dem  am  ersten  Molar  die  beiden  Nebenspitzen  des  Protomer 
verloren  gingen,  das  Deuteromer  jedoch  dreispitzig  geblieben  ist,  woraus 

Pa  Pp 
folgende  Kronenformel  resultiert:   : — ~— .    Doch  besitzt  dieser  Zahn 

3D4 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  7  1 

eine  Besonderheit,  die  man  auch  beim  Geschlecht  Lemur,  mit  seinem 
auf  den  Haupthöcker  D  reduzierten  Deuteromer,  antrifft  und  auf 
welche  ich  im  nächsten  Abschnitt  besonders  eingehen  werde.  Man  trifft 
nämlich  an  diesem  Zahn  ein  Carabellisch.es  Höckerchen  an. 

Die  angeführten  Beispiele  sind  hinreichend  für  einen  Eindruck 
der  ausgiebigen  Varietäten,  welche  das  Kronenrelief  innerhalb  der 
Reihe  der  Halbaffen  aufweist.  Und  eben  dadurch  ist  das  Studium  dv^ 
Gebisses  dieser  Säugerordnung  ein  so  lohnendes.  Denn  nicht  allein 
ist  fast  der  ganze  historische  Differenzierungsgang  an  diesen  Gebissen 
abzulesen,  sondern  auch  die  Modifikationen,  welche  sich  um  jede  höhere 
Entwicklungsstufe  gruppieren,  geben  eine  Idee  von  der  großen  Plasti- 
zität der  Zahnkrone. 

Und  einen  schärferen  Gegensatz  in  dieser  Hinsicht  als  zwischen 
den  Gebissen  der  Halbaffen  und  der  wahren  Affen  läßt  sich  kaum 
vorstellen.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Krone  bei  den  ersteren  hat  bei 
den  letzteren  einer  augenfälligen  Einförmigkeit  Platz  gemacht.  Die 
hier  in  fast  ungestörter  Regelmäßigkeit  auftretende  vierhöckerige  Kronen- 
form sahen  wir  bei  den  Prosimiae  angebahnt  in  den  Geschlechtern 
Avahis,  Propithecus  und  Indris,  die  sich  auch  durch  die  Reduktion 
der  Prämolarenzahl  auf  zwei  in  der  Zusammensetzung  ihres  Gebisses 
den  altweltlichen  Affen  nähern.  Doch  würde  man  irren,  wenn  man  der 
Ansicht  war,  daß  es  bei  den  wahren  xAffen  keine  primitiveren  Zahnformen 
gibt,  als  bei  den  drei  genannten  Halbaffen.  Die  Evolution  ist  bei  diesen 
Prosimiae  weitergegangen  als  bei  gewissen  Affengeschlechtern. 

Es  würde  gewiß  nicht  möglich  sein,  auf  Grund  nur  von  einem 
Studium  der  Zähne,  ausschließlich  der  wahren  Affen,  zu  einer  richtigen 
Auffassung  über  die  Entstehungsweise  dieser  Zähne  zu  kommen. 
Denn  sie  stellen  zum  Teil  Endglieder  dar,  und  ihr  gleichartiger  Bau,  auf 
welchen  schon  Giebel  hinweist1),  ist  wenig  günstig,  um  eine  Perspektive 
über  den  langen  Differenzierungsgang,  welchen  sie  hinter  sich  haben, 
zu  eröffnen.  Doch  treten  wohl  einige  Merkmale  auf,  die,  betrachtet 
im  Licht  der  Differenzierungsgeschichte,  welche  das  Studium  des 
Prosimiergebisses  enthüllt  hat,  von  Bedeutung  sind.  Es  sind  als  solche 
das  Auftreten  überzähliger  Höckerchen,  aber  besonders  die  verschie- 
dene Gestalt  des  Leistensystems  namhaft  zu  machen.  Nun  werde  ich 
in  der  vorliegenden  Abhandlung  nicht  auf  die  ersterwähnten  Erschei- 
nungen eingehen,  da  ich  in  der  dritten  dieser  Studien,  wie  schon  erwähnt 
worden  ist,  die  Variationen  des  Primatengebisses  zusammenfassend 
zu  bearbeiten  gedenke.  Selbstverständlich  kommen  dabei  die  über- 
zähligen Höckerchen  an  den  Zähnen  zur  Sprache  und  werde  ich  die 
Bedeutung  davon  besonders  im  Lichte  der  in  der  vorliegenden  Ab- 
handlung ausgearbeiteten  Differenzierungstheorie  betrachten.  Ich 
muß  somit  für  diesen  interessanten  Phänomenenkomplex  auf  die 
folgende  Studie  verweisen.  Nur  ganz  allgemein  sei  erwähnt,  daß  durch- 
gehends  bei  den  wahren  Affen,  die  Nebenspitzen  i,  2  und  3  entweder 
vollständig  oder  teilweise  fehlen,  um  als  sogenannte  überzählige  Höcker- 
chen hin  und  wieder  aufzutreten. 

An  dem  konstanten  vierhöckerigen  Typus  der  Affenmolaren 
ist  es  jedoch  nach  systematischer  Vergleichung  nicht  unschwer,  einen 
Entwicklungsgang  aufzudecken,  der  sich  an  die  Ausbildung  der  Leiste 


1)  C.  G.  Giebel,  Ondontographie.    Leipzig  1855. 


72  Erstes  Hauptstück. 

oder  Kamme  knüpft,  und  die  Ausbildung  des  Leistensystems  wird 
wieder  bedingt  durch  die  Beziehung  des  Höckers  4  (des  hinteren  lingualen) 
zum  übrigen  Teil  des  Kronenreliefs.  Es  ist  daher  erwünscht,  diese 
Beziehungen  zunächst  systematisch  zu  verfolgen.  Wir  werden  dabei 
sehen,  daß  das  Charakteristische  der  Evolution  dieser  Zähne  kurzhin 
im  folgenden  Satz  zum  Ausdruck  gebracht  werden  kann:  In  der 
Keihe  der  Affen  macht  sich  die  Tendenz  geltend,  um  bei  den  Molaren 
den  Höcker  4  --  eine  ursprüngliche  Nebenspitze  —  immer  mehr  den 
drei  anderen  Höckern  gleichwertig  zu  machen,  zu  assimilieren;  als 
niedrigster  Entwicklungsgrad  dieser  Molaren  ist  jener  zu  betrachten, 
bei  dem  der  Höcker  4  nur  als  ein  ganz  unbedeutendes  Element  der 
Zahnkrone  vorkommt;  als  höchste  Form  des  Affenmahlzahnes  muß 
jener  betrachtet  werden,  bei  dem  die  Spitze  4  den  anderen  drei  {Pa, 
Pp  und  D)  vollkommen  gleichwertig  geworden  ist.  Dieser  Entwicklungs- 
gang ist  eigentlich  nur  die  direkte  Fortsetzung  von  jenem,  welchen  wir 
bei  den  Halbaffen  kennen  gelernt  haben,  was  wir  jetzt  näher  ausein- 
andersetzen wollen. 

Die  Spitze  4,  das  ist  die  hintere  Nebenspitze  vom  Deuteromer, 
ist  im  Laufe  der  Entwicklung  erst  nach  dem  Erscheinen  des  Haupt- 
höckers D  aufgetreten  und  ist  am  letzten  Prämolaren  und  an  den 
Molaren  der  Prosimiae  nicht  selten.  Doch  fehlt  sie  bisweilen  noch 
bei  den  Molaren  dieser  Gruppe.  In  diesem  Falle  hat  die  Zahnkrone 
die  bekannte  regelmäßige  dreieckige  Form,  an  der  bukkalen  Seite  die 
beiden  Höcker  Pa  und  Pp  und  als  einzigen  lingualen  Höcker  den 
Haupthöcker  D  des  Deuteromer.  Derartige  Molaren  trifft  man  unter 
den  Halbaffen  bei  Tarsius1)  und  Microcebus  an,  unter  den  wahren 
Affen  sind  nur  die  Arctopitheken  im  Besitze  eines  solchen  Molaren- 
typus. Ich  verweise  dazu  auf  die  Fig.  1,  2,  3  und  4  von  Tafel  1. 
Auf  dieser  Tafel  ist  von  den  meisten  Primatengeschlechtern  der 
erste  obere  Molar  der  linken  Seite  skizziert,  die  bukkale  Seite  des 
Zahnes  findet  sich  immer  oben,  die  distale  Seite  rechts.  Die  hier 
zuerst  abgebildeten  Molaren  zeichnen  sich  alle  durch  vollständiges 
Fehlen  der  Nebenspitze  4  aus,  und  weiter  dadurch,  daß  vom  Höcker  D 
eine  Leiste  nach  je  der  beiden  bukkalen  Höckern  zieht,  Ich  habe  früher 
darauf  schon  aufmerksam  gemacht,  daß  das  Auftreten  dieser  beiden 
Leisten  an  die  Verdoppelung  des  protomeren  Haupthöckers  gebunden 
ist,  Ist  dieser  Höcker  noch  einfach,  dann  zieht  eine  einzige  mehr  oder 
weniger  kräftig  entwickelte  Leiste  vom  protomeren  zum  deuteromeren 
Haupthöcker;  bei  Verdoppelung  des  protomeren  Haupthöckers  scheint 
es,  als  würde  die  Leiste  der  Länge  nach  gespalten,  und  es  entsteht 
die  V-förmige  Struktur,  die  man  an  den  in  Fig.  1 — 4  abgebildeten 
Molaren  antrifft,  Zwischen  den  beiden  Leisten  findet  sich  eine  Ver- 
tiefung, die  als  die  Zentraldepression  zu  bezeichnen  ist  und  worin 
die  Furche,  welche  die  beiden  bukkalen  Höcker  voneinander  trennen 
kann,  einmündet, 

Wenn  nun  als  Äußerung  höherer  Differenzierung  die  Neben- 
spitze erscheint,  dann  liegt  dieselbe  anfänglich  als   ein  Akzessorium 


1)  Schlosser  bemerkt  (Die  Affen,  Leniuren  usw.,  p.  39),  daß  bei  Tarsius  die 
Molaren  noch  einen  schwachen  zweiten  Innentuberkel  tragen.  Es  scheinen  somit 
mit  dem  phylogenetischen  Entwicklungsgang  parallel  gehende  individuelle  Varia- 
tionen vorzukommen.  Für  Hapale  erwähnt  auch  Schlosser  das  Fehlen  des  zweiten 
Innentuberkels  (1.  c.  p.  11). 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  73 

der  lingualen  Hälfte  des  distalen  Kronenrandes  an.  Es  ist  der  so- 
genannte Talon  der  Autoren.  Unter  den  Halbaffen  kann  man  das  am 
schönsten  wahrnehmen  bei  Stenops  (Tafel  I,  Fig.  5).  Die  Hauptmasse 
der  Krone  besteht  aus  den  im  bekannten  Dreieck  angeordneten  Höcker 
Pa,  Pp  und  D,  es  kommen  dazu  die  Nebenspitzchen  i,  2  und  3,  die  uns 
hier  nicht  weiter  interessieren.  Die  Nebenspitze  4  dagegen  liegt  als 
ein  mehr  selbständiger  Unterteil  der  Krone  außerhalb  dieses  Drei- 
ecks, wodurch  der  Hinterrand  eine  bedeutende  Konkavität  erlangt. 
Es  interessiert  uns  dabei  am  meisten,  daß  die  Nebenspitze  4  durch 
eine  Furche  vom  übrigen  Kronenteil  abgegrenzt  ist.  Diese  Furche  ist 
für  die  Vergleichung  der  Affenmolaren  von  der  größten  Bedeutung, 
da  sie  gerade  den  Leitfaden  bei  dieser  Vergleichung  bildet.  Ich  werde 
sie  als  „hintere  Schrägfurche''''  andeuten.  Auch  die  Bezeichnung  von 
Topinard:  ,,Sillon  postcretal"  ist  zutreffend,  denn  sie  verläuft  hinter 
der  Leiste,  die  von  D  nach  Pp  zieht.  Gerade  durch  diese  Leiste,  welche 
die  vordere  Begrenzung  der  Furche  bildet,  erscheint  letztere  nicht  selten 
sehr  tief.  Es  darf  verwundern,  daß  diese  Furche  für  vergleichend-anato- 
mische Zwecke  bis  jetzt  so  wenig  benutzt  worden  ist.  Auch  nicht  von 
Schlosser,  der  doch  auch  auf  den  Entwicklungsgrad  von  4  ein  so 
großes  Gewicht  legt.  Die  hintere  Schrägfurche  trennt  bei  Stenops 
die  Spitze  4  vollständig  vom  übrigen  Kronenteil  ab,  fängt  am  etwas 
abgerundeten  lingualen  Rand  des  Zahnes  an  und  endet  in  der  Mitte 
des  distalen  Randes  (Taf.  I,  Fig.  5).  Da  die  Nebenspitze  4  überdies 
bei  Stenops  noch  niedriger  ist  als  die  drei  übrigen  Höcker,  erscheint 
sie  als  ein  der  Krone  fremdes,  derselben  angewachsenes  Element. 

Gleiches  ist  noch  der  Fall  bei  Nyeticebus  (Fig.  6)  und  Hemi- 
galago  (Fig.  7).  Doch  ist  hier  die  Krone  als  ganzes  mehr  viereckig 
geworden.  Die  Schrägfurche  ist  jedoch  noch  komplett,  Trigon  und 
Talon  der  Autoren  bilden  noch  zwei  wohlgetrennte  Komponenten 
der  Krone.  Was  das  Leistensystem  betrifft,  besteht  auch  hier  noch  die 
V-förmige  Gestalt,  nur  läuft  die  vordere  Leiste  nicht  direkt  zum 
vorderen  bukkalen  Höcker  Pa,  sondern  verbindet  sich  mit  der  vorderen 
Nebenspitze  3.  Bei  Hemigalago  treffen  wir  im  Verlaufe  der  hinteren 
Leiste  eine  Bildung  an,  die  bei  den  jetzt  lebenden  Primaten  selten 
ist,  bei  den  eoeänen  Formen  jedoch  ungemein  häufig  war.  In  der  Mitte 
nämlich  besitzt  diese  Leiste  eine  höckerförmige  Anschwellung,  die 
eine  intermediäre  Spitze  bildet.  Dieselbe  ist  auf  keine  der  Grundspitzen 
des  Zahnes  zurückzuführen,  sie  ist  lediglich  ein  Produkt  der  hinteren 
Leiste.  Diese  intermediäre  Spitze  fand  ich  auch  als  Varietät  bei  Ateles, 
Cebus  und  Mycetes  wieder  (Fig.  96). 

Ich  muß  hier  kurz  einige  Bemerkungen  über  diese  intermediäre 
Spitze  einschalten,  da  sie  nur  ausnahmsweise  bei  den  heutigen  Pri- 
maten in  rudimentärer  Form  vorkommend,  bei  den  eoeänen  Primaten 
dagegen  ein  ziemlich  konstantes  Merkmal  der  Molaren  bildete.  Von 
Schlosser  wird  sie  als  Zwischentuberkel  bezeichnet,  und  Osborn 
führt  sie  als  Metaconulus  an.  Es  wird  jedoch  sowohl  von  Schlosser 
als  von  Osborn  zu  den  intermediären  Höckerchen  eins  gerechnet, 
welches  meiner  Meinung  nach  nicht  dazu  gehört.  So  schreibt  z.  B. 
Schlosser  1.  c.  S.  21  von  den  oberen  Molaren  von  Hyopsodus:  Im 
Oberkiefer  tragen  die  Molaren  außer  den  beiden  Außenhöckern  und  dem 
ursprünglichen   Innenhöcker   noch   einen   zweiten   Innentuberkel   und 


74  Erstes  Hauptstück. 

außerdem  noch  zwei1)  Zwischentuberkel  im  Zentrum  und  am  Vorder- 
rande des  Zahnes  gelegen."  Und  auch  bei  Osborn  heißt  es:  „The 
trigon  was  supplementing  its  bunodont  equipment  by  the  addition  of 
the  little  intermediate  cusps  „protoconule"  and  „metaconule"2)."  Es 
sind  die  beiden  Zwischentuberkel  von  Schlosser  identisch  mit  jenen 
von  Osborn,  der  „protoconule"  ist  jener  am  Vorderrande,  der  „meta- 
conule" jener  im  Zentrum.  Scott3)  spricht  ebenfalls  von  zwei  „inter- 
mediate conules,  an  anterior  and  posterior"  bei  den  Prämolaren,  und 
schließt  sich  ganz  an  Osborn  an,  wenn  er  sagt:  In  position  these 
conules  correspond  to  the  proto-and  metaconules  of  the  molars,  but 
are  obviously  not  homologous  with  them"  (1.  c.  S.  413).  Nun  muß 
ich  mich  bezüglich  der  Dignität  beider  Spitzen  gegen  die  Deutung  der 
genannten  Autoren  erklären,  denn  ihrem  Ursprung  nach  sind  sie  ein- 
ander nicht  gleichwertig.  Das  „Zwischenhöckerchen  am  Vorderrande" 
von  Schlosser,  identisch  mit  dem  „Protoconule"  von  Osborn,  ist 
in  Wirklichkeit  die  primäre  vordere  Nebenspitze  j  des  Deuteromer, 
und  dasselbe  kommt  auch  bei  den  heutigen  Halbaffen  nicht  so  ganz 
selten  vor.  Aber  der  „Zwischentuberkel  im  Zentrum"  von  Schlosser, 
das  ist  der  Metaconule  von  Osborn,  läßt  sich  nicht  auf  eine  primäre 
Spitze  oder  einen  solchen  Höcker  zurückführen,  er  hat  sich  aus  dem 
hinteren  Bein  des  V-förmigen  Leistensystems  differenziert,  er  ist  somit 
eine  „Leistenbildung",  wie  wir  solche  auch  an  anderer  Stelle  des  Mahl- 
zahnes bei  anderen  Af f enges chlechtern  antreffen  werden.  Beide  Bil- 
dungen sind  aber  nur  scheinbar,  besonders  durch  die  harmonische 
Lagerung,  welche  sie  im  Reliefbild  der  Krone  öfters  einnehmen,  gleich- 
wertig. Mit  der  vorderen,  dem  „protoconule"  von  Osborn  werden  wir 
uns  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  beschäftigen  und  uns  auf  das  hintere 
der  „metaconule"  beschränken.  Ich  führe  es  weiter  einfach  als  i  an. 
Unter  den  eocänen  Primaten  scheint  es,  nach  den  Abbildungen  von 
Osborn  (1.  c.  S.  159),  sich  schon  bei  den  so  einfach  gebauten  trigono- 
donten  Zähnen  von  Anaptomorphus  differenziert  zu  haben. 

Weiter  kommt  es  unter  den  amerikanischen  eocänen  Primaten 
noch  vor  bei  Pelycodus,  Notharctos  und  bei  noch  einem  Geschlecht, 
das  von  Osborn  ebenfalls  als  Notharctos  (sp?)  angeführt  wird,  aber 
mir  unrichtig  bestimmt  zu  sein  scheint4).  Besonders  kräftig  ist  es 
weiter  beim  Geschlecht  Hyopsodus  entwickelt.  Nicht  weniger  ausgebildet 
erscheint  es  bei  dem  europäischen  eocänen  Geschlecht  Microchaerus. 
In  der  ausführlichen  Beschreibung  der  Zähne  dieser  Form,  welche  wir 
Schlosser  und  Leehe  verdanken,  wird  auch  von  einem  Vorkommen 
zweier  Zwischentuberkel  gesprochen.  „Bei  Microchaerus  erinaceus, 
heißt  es  bei  Leehe  1.  c,  S.  156,  haben  Mi  und  M2,  zwei  Außen-  zwei 


1)  Spatiinierung  von  mir. 

2)  C.  0.  1907,  S.  82. 

3)  W.  B.  Scott,  The  evolution  of  the  premolar  teeth  in  mammals.     Proc. 
Acad.  nat.  Sc.  Philadelphia  1892. 

4)  Es  kommt  die  Abbildung  der  Zähne  dieses  Geschlechts  vor  in  C.  0.  1907, 
p.  160  und  in  Bull.  Am.  Mus.  Nat.  Hist.  1902,  p.  191.  In  diesen  —  identischen  - 
Figuren  gibt  der  Autor  die  Abbildung  der  Prämolaren  und  Molaren  von:  A  Peli- 
codus  frugivorus,  B  Notharctos  nunienus  und  C  Notharctos  sp.  indet.  Nun  kann 
das  sub  C  angeführte  Gebiß  keinem  Notharctos  entstammen,  denn  es  zeigt  der 
hintere  Prämolar  desselben  zwei  Außenhöcker  (Pa  und  Pp),  während  dieser  Zahn 
bei  Notharctos  nur  einen  einzigen  Außenhöcker  besitzt. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  75 

Zwischen-  und  zwei  Innenhöcker"1).  Auch  Schlosser  spricht,  1.  c. 
S.  32,  von  zwei  Zwischenhöckern.  Ich  hebe  noch  einmal  hervor,  daß 
eine  solche  Andeutung  als  Charakterisierung  des  Reliefs  vollauf  gerecht- 
fertigt ist,  aber  daß  man  dabei  nicht  aus  dem  Auge  lassen  darf,  daß 
der  sogenannte  vordere  Zwischenhöcker  eine  primäre  Spitze  darstellt, 
während  der  hintere  nur  eine  gewissermaßen  auf  einen  Höcker  konzen- 
trierte Leiste  ist.  Nach  den  Angaben  von  Schlosser,  Leehe  und  Os- 
born  fehlt  die  intermediäre  Spitze  bei  Adapis,  doch  ist  die  hintere 
von  D  bis  Pp  ziehende  Leiste  noch  deutlich  entwickelt2),  während 
auch  die  Spitze  4,  sei  es  ziemlich  klein,  anwesend  ist.  In  beiden  Hin- 
sichten weicht  Megaladapis  von  Adapis  ab.  Denn  von  diesen  oberen 
Molaren  sagt  Forsyth  Major:  „The  superior  molars  are  of  a  simple 
tritubercular  type,  there  being  two  external  and  one  internal  cusp, 
but  from  its  anterior  side  a  crest  extends  towards  the  outer  part  of  the 
anterior  external  cusp.3)".  Rekapitulieren  wir  also  die  oben  gegebenen 
Tatsachen,  dann  gibt  es  unter  den  bisher  bekannten  eocänen  Primaten 
nur  die  Geschlechter  Adapis  und  Megaladapis,  bei  denen  das  inter- 
mediäre Höckerchen  i  fehlt,  alle  anderen  weisen  es  in  bisweilen  sehr 
kräftiger  Entwicklung  auf.  Dadurch  unterscheiden  sich  die  ausgestor- 
benen Halbaffen  wohl  stark  von  den  rezenten,  denn  hier  bildet  es 
gerade  eine  Ausnahme,  ich  traf  es  bei  Hemigalago  und  Galago  in 
schwacher  Andeutung  an. 

Über  die  Herkunft  dieses  Höckerchens  und  über  die  genetische 
Beziehung  zu  den  übrigen,  äußern  die  Autoren  sich  nicht.  Schlosser 
vermeldet  einfach  ihr  Auftreten  „bei  manchen  Prosimiern4").  Nur 
Osborn  spricht  als  seine  Meinung  aus,  daß  „the  additional  secundary 
cusps  (protoconule  [Spitze  3  mihi]  and  metaconule  [Spitze  i  mihi] 
evidently  have  no  homology  with  each  other5").  Dieser  Meinung  schließe 
ich  mich  an,  aber  auf  Grund  davon,  daß  eines  dieser  Höckerchen 
nicht,  wie  Osborn  es  auffaßt,  ein  sekundäres  ist,  sondern  ein  primäres. 
Nur  das  andere  (metaconule)  ist  als  eine  wirkliche  Sekundärbildung 
zu  betrachten.  In  der  weiteren  Entwicklung  des  Primatenstammes 
hat  dieses  intermediäre  Höckerchen  keine  Rolle  mehr  gespielt,  entweder 
stammen  die  heutigen  Primaten  von  solchen  Formen  ab,  bei  denen  es 
nicht  vorkam,  oder  es  hat  sich  im  Laufe  der  Zeit  wieder  ausgeglichen 
und  die  von  D  bis  Pp  ziehende  Leiste  ist  wieder  zu  seiner  primitiven 
Gestalt  zurückgekehrt.  Der  Umstand,  daß  ich  es  als  Variation  auch  bei 
Mycetes,  Cebus  und  Ateles  noch  angetroffen  habe  (s.  Tafel  I,  Fig.  96), 
kann  in  zweierlei  Weise  gedeutet  werden,  entweder  als  Atavismus 
oder  als  Äußerung  eines  der  Zahnentwicklung  allgemein  innewohnenden 
Vermögens,  die  hintere  Leiste  zu  einem  Tuberkel  zu  konzentrieren6). 
In  anderen  Säugetierordnungen  (z.  B.  Ungulaten)  spielt  jedoch  dieses 
intermediäre  Höckerchen,  wie  auch  die  bei  den  Primatenzähnen  eine 


1)  W.  Leche,  Untersuchungen  über  das  Zahnsystem  lebender  und  fossiler 
Halbaffen.    Festschr.  f.  Gegenbaur,  III. 

2)  Vgl.  C.  0.  1907,  S.  158,  Fig.  128. 

3)  Forsyth  Mayor,  On  Megaladopis  madagascarensis.    Trans.  Roy.  Soc, 
London  1894,  Vol.  CV. 

4)  M.  Schlosser,  Die  Differenzierung  des  Säugetiergebisses.    Biol.  Centralbl. 
1890,  Bd.  IV. 

5)  1.  c.  S.  41. 

ß)  Bei    der    Besprechung   der   oberen   Gebißreihe   der    Platyrrhinen    werde 
ich  noch  einmal  auf  das  intermediäre  Höckerchen  zurückkommen. 


76  Erstes  Hauptstück. 

unbedeutende  Stelle  einnehmende  vordere  Nebenspitze  des  Deutero- 
mer  j,  eine  große  Rolle.  Doch  gehe  ich  auf  diese  Frage  nicht  ein.  Kehren 
wir  nach  diesem  Exkurs  wieder  zum  Studium  des  Leistensystems  der 
Primatenmolaren  zurück. 

Unter  den  wahren  Affen,  wenn  wir  die  Arktopitheken  weiter  außer 
acht  lassen,  weisen  die  Molaren  von  Chrysothrix  noch  die  meist  primi- 
tive Gestalt  auf.  Denn  auch  bei  diesen  platyrrhinen  Affen  trifft  man 
zunächst  das  Hauptmerkmal  an;  eine  vollständige  hintere  Schrägfurche, 
wodurch  die  Spitze  4  noch  immer  von  dem  auf  dem  Trigon  sich  findenden 
Leistensystem  abgetrennt  bleibt,  während  sie  weiter,  infolge  ihrer  ge- 
ringen Größe,  noch  mehr  als  ein  Akzessorium  zur  Krone  erscheint. 
Das  Leistensystem  ist  noch  V-förmig,  das  vordere  Bein  nimmt  den 
Vorderrand  der  Krone  ein. 

Ein  weiterer  Fortschritt  findet  sich  bei  Ateles  (Fig.  9a).  Die 
Nebenspitze  4  ist  hier  nämlich  von  ungefähr  gleicher  Größe  geworden 
wie  die  drei  übrigen  Höcker  und  demzufolge  ist  die  Form  der  Molaren 
eine  viereckige  geworden.  Als  primitives  Merkmal  findet  man  aber 
an  diesem  Zahn  noch  in  den  meisten  Fällen  eine  fast  vollständige  hintere 
Schrägfurche,  wodurch  die  Spitze  4  von  einer  Beziehung  zum  Leisten- 
system auf  dem  Trigon  abgetrennt  bleibt1).  Es  ist  allerdings  das  vordere 
Bein  desselben  sehr  schwach,  läuft  im  Vorderrand  des  Zahnes  aus, 
wodurch  dessen  zentrale  Depression  bis  zum  Vorderrand  reicht  und 
hier  nur  einen  schwach  angedeuteten  Abschluß  findet.  Die  zentrale 
Depression  erscheint  dadurch  im  ganzen  mehr  auf  den  vorderen  Teil 
des  Zahnes  verlegt,  ein  Merkmal,  das  allen  anderen  Platyrrhinen  eben- 
falls eigen  ist.  Wenn  bei  Ateles  die  intermediäre  Spitze  entwickelt  ist, 
welche  ich  oben  bei  Hemigalago  beschrieb,  dann  ist,  wie  aus  Fig.  96 
ersichtlich,  die  hintere  Schrägfurche  in  der  Mitte  unterbrochen.  Da 
solches  aber  kein  normales  Vorkommen  ist,  kann  dieser  Zustand  weiter 
außeracht  gelassen  werden.  Vom  Geschlecht  Callithrix  besitze  ich 
keinen  Schädel,  was  ich  bedaure,  da  Schlosser  von  den  oberen  Molaren 
dieses  Geschlechtes  schreibt,  daß  „auch  noch  die  Zwischenhöcker 
vorhanden  sind"  (1.  c.  S.  12).  Findet  sich  dann  auch  hier  als  Norm, 
was  ich  bei  Ateles  als  individuelle  Variation  auffand?  Der  Molar  von 
Ateles  zeigt,  wie  gesagt,  als  progressive  Erscheinung  die  Volum- 
zunahme  von  4,  was  schon  ein  wesentlicher  Schritt  auf  dem  Wege 
der  Assimilierung  dieses  Höckers  an  den  drei  übrigen  bedeutet.  Dazu 
kommt  noch  die  Tatsache,  daß  die  hintere  Schrägfurche  zwar  der  Höcker  4 
von  den  übrigen  trennt,  aber  die  Furche  erreicht  den  distalen  Rand 
des  Zahnes  nicht  mehr,  sie  endet  in  kurzer  Entfernung  von  ihm.  Die 
Abgrenzung  des  hinteren  lingualen  Tuberkels  vom  übrigen  Teil  der  Krone 
ist  somit  nicht  mehr  eine  absolut  vollständige.  Jedoch  eine  Beziehung 
zum  Leistensystem  ist  noch  nicht  zustande  gekommen. 

Wenn  ich  nun  die  Progression  in  der  Entwicklung  der  Krone 
systematisch  verfolge,  dann  ist  jetzt  die  Gruppe  der  Anthropoiden, 
Gibbon  und  der  Mensch  an  der  Reihe.  Die  bezüglichen  Molaren  sind 
in  den  Fig.  10 — 14  auf  Tafel  I  abgebildet.  Das  Kennzeichnende  in  der 
Struktur  dieser  Zähne  ist  folgendes :  Die  Spitze  4  ist  nahezu  von  gleicher 
Größe  als  die  drei  übrigen,  eine  Beziehung  zum  primitiven  Leisten- 


1)  Ich  mache  bei  diesen  Auseinandersetzungen  von  dem  Begriff  „Trigon" 
nur  der  Bequemlichkeit  der  Beschreibung  wegen  Gebrauch. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  77 

system  hat  sie  jedoch  noch  nicht  erlangt,  denn  durch  die  hintere  Schräg- 
furche wird  sie  vollständig  vom  hinteren  Bein  des  Leistensystems 
abgeschlossen.  Das  ist  ein  Merkmal  der  Molaren  der  höchsten  Pri- 
matengruppe, das  bestimmt  als  ein  primitives  betrachtet  werden  muß. 
Nun  ist  bei  den  verschiedenen  Geschlechtern  dieser  Gruppe  die  Aus- 
bildung dieser  Furche  eine  etwas  differente.  Als  Regel  darf  gelten, 
daß  die  Furche  tiefer  und  vollständiger  ist,  je  mächtiger  das  hintere 
Bein  des  Leistensystems  —  die  Crista  obliqua  der  Autoren  -  -  ist. 
Doch  schneidet  die  Furche  bei  normal  gebauten  Zähnen  nicht  mehr 
im  distalen  Rand  des  Zahnes  ein,  sondern  endet  in  geringer  Entfernung 
von  diesem,  nicht  selten  unter  Bildung  eines  kurzen  transversalen 
Furchenstückes.  Beim  Menschen  —  und  besonders  an  seinem  zweiten 
Molaren  —  kann  im  Anschluß  an  die  sehr  variable  Entwicklung  des 
Höckers  4  die  Schrägfurche  wieder  vollständig  werden,  und  bekannt- 
lich kann  bei  diesem  Molaren  der  linguale  hintere  Höcker  vollständig 
fehlen.  Es  ist  schon  von  vielen  Autoren  darauf  hingewiesen,  daß  so 
etwas  jedoch  nur  beim  Menschen  vorkommt.  Die  Tafelfig.  10 — 14 
geben  einen  Eindruck  von  dem  Entwicklungsgrad  der  Schrägfurche. 
Am  stärksten  fand  ich  sie  beim  Gorilla,  wo  sie  meistenteils  mit  dem  kurzen 
transversalen  Endstück  abschließt.  Dann  folgt  Siamang,  von  dem  ich 
unten  eine  höchst  interessante  Variation  beschreiben  werde.  Beim 
Schimpansen  ist  die  Furche  weniger  tief,  zieht  sich  vom  Hinterrande 
des  Zahnes  weiter  zurück,  wodurch  der  Höcker  4  schon  mehr  dem 
übrigen  Kronenteil  dem  hinteren  Zahnrande  entlang  inkorporiert 
wird.  Am  schwächsten  schließlich  ist  die  Furche  beim  Orang  entwickelt. 
Aber  es  muß  ausdrücklich  betont  werden,  daß  diese  Regression  der 
Furche  beim  Orang,  zum  Teil  auch  beim  Schimpansen,  nicht  die  Folge  ist 
einer  Verbindung,  welche  die  Spitze  4  mit  dem  Leistensystem  be- 
kommt, sondern  lediglich  eine  Begleiterscheinung  ist  der  geringeren 
Reliefentwicklung  des  Orangmolaren  überhaupt.  Bekanntlich  wird 
hier  die  weniger  kräftige  Höckerentwicklung  durch  die  reichhaltigen 
Faltungen  der  Emaillbekleidung  kompensiert.  Was  den  Menschen 
anbelangt,  besitzt  dieser  am  ersten  Molaren  wohl  immer  eine  gut  aus- 
gebildete Schrägfurche,  die  im  Verhältnis  zur  Größe  des  Zahnes 
nicht  weniger  tief  ist  als  jene  beim  Gorilla  oderSiamang.  Fast  aus- 
nahmslos schließt  sie  mit  einem  transversalen  Endstück  ab  in  kurzer 
Entfernung  des  Hinterrandes. 

Das  Leistensystem  zeigt  bei  der  genannten  Primatengruppe 
große  Übereinstimmung.  In  seiner  Beschreibung  vom  Gebiß  des 
Menschen  und  der  Anthropoiden  beschreibt  Adloff1)  das  Leisten- 
system nur  beim  Schimpansen  (1.  c.  S.  681)  und  beim  Gorilla  (S.  78).  Es 
fehlt  auch  bei  Orang  und  Siamang  nicht.  Als  allen  gemeinsames  und  die 
Entwicklungsstufe  dieser  Molaren  kennzeichnendes  Merkmal  muß  die 
Tatsache  gelten,  daß  der  Höcker  4  noch  nicht  ins  Leistensystem  ein- 
bezogen ist.  Die  vordere  Leiste  ist  aber  immer  weniger  kräftig  entwickelt, 
fehlt  sogar  beim  Menschen  meistens  und  erscheint  nicht  selten  in 
zwei  Stücke  aufgelöst;  das  linguale  zieht  vom  Höcker  D  zum  Vorder- 
rand, das  zweite  geht  vom  Höcker  Pa  aus,  zieht  dem  Vorderrand  parallel 
und  begrenzt  die  Fovea  anterior  des  Zahnes. 


1)  P.  Adloff,  Das  Gebiß  des  Menschen  und  der  Anthropornorphen.    Berlin 
1908. 


78  Erstes  Hauptstück. 

Eine  höhere  Entwicklungsstufe  der  Kronenstruktur  wird  erreicht, 
wenn  der  Höcker  4  Verbindung  mit  dem  Leistensystem  erlangt,  wodurch 
eine  typische  Umbildung  desselben  eingeleitet  wird.  Offenbar  ist  diese 
Progression  mehrere  Male  im  Laufe  der  Entwicklung  zustande  ge- 
kommen, denn  sie  findet  sich  bei  Halbaffen  und  Platyrrhinen  und  muß 
auch  einmal  bei  den  Katarrhinen  stattgefunden  haben.  Die  Weise, 
in  der  die  Verbindung  in  je  dieser  Gruppen  zustande  kommt,  dringt 
zur  Annahme  einer  mehrfach  selbständigen  Entwicklung,  wie  aus 
dem  folgenden  hervorgehen  wird. 

Unter  den  Halbaffen  trifft  man  diese  höhere  Form  der  Molaren- 
struktur bei  den  Geschlechtern  Avahis  (Fig.  15),  Propithecus  (Fig.  16) 
und  Indris  (Fig.  17),  welche  in  der  genannten  Reihefolgen  den  Diffe- 
renzierungsgang zur  Schau  bringen,  an.  Bei  Avahis  ist  die  Schrägfurche 
nicht  mehr  komplett,  ihr  Anfang  findet  sich  noch  an  der  lingualen 
Seite  des  Zahnes,  aber  auf  der  Kaufläche  fehlt  sie.  Es  hat  nämlich  die 
Spitze  4,  welche,  wie  die  Spitze  D,  mondsichelförmig  geworden  ist, 
mit  seinem  vorderen  Ende  sich  verbunden  mit  der  hinteren  Leiste, 
die  von  der  Spitze  D  ausgeht,  Dadurch  ist  die  hintere  Schrägfurche 
unterbrochen,  und  erscheint  auf  die  linguale  Fläche  des  Zahnes  zu- 
rückgedrängt. Durch  diese  Verbindung  ist  die  Spitze  4  den  übrigen 
drei  schon  mehr  gleichwertig  geworden,  nur  eine  geringere  Größe 
verrät  noch  ihren  ursprünglich  untergeordneten  Rang.  Bei  Propithecus 
und  Indris  geht  jedoch  auch  dieses  Merkmal  verloren,  und  es  wird  die 
Äquivalenz  noch  mehr  erreicht  durch  das  Verschwinden  der  hinteren 
Leiste,  welche  bei  Indris  am  vollständigsten  ist.  Aber  die  Verbindung, 
welche  bei  Avahis  durch  Vermittlung  jener  Leiste  zwischen  den  Höckern!) 
und  4  zustande  gekommen  war,  bleibt  bestehen,  und  bei  Indris  haben 
die  beiden  jetzt  gleichgroßen  Höcker  die  Form  von  Halbmonden,  welche 
mit  ihren  zugespitzten  Enden  ineinander  übergehen.  Beim  letzt- 
genannten Halbaffen  hat  somit  das  Kronenrelief  ein  einheitliches  Gepräge 
bekommen,  die  Spitze  4  hat  ganz  ihren  Charakter  von  Akzessorium 
verloren,  die  hintere  Schrägfurche  ist  als  solche  nicht  mehr  zu  er- 
kennen, nur  an  der  lingualen  Fläche  des  Zahnes  findet  sich  ein  letztes 
Rudiment  derselben.  Wir  haben  es  bei  Indris  mit  einer  Zahnform 
zu  tun,  die  einige  Verwandtschaft  zu  den  selenodonten  zeigt.  Denn 
auch  vom  ursprünglichen  Leistensystem  ist  noch  kaum  eine  geringe 
Andeutung  übrig.  In  seiner  sehr  genauen  Beschreibung  vom  Gebiß 
einiger  Halbaffen,  welche,  wohl  des  wTenig  charakteristischen  Titels 
wegen,  in  der  Literatur  fast  gar  keine  Berücksichtigung  gefunden  hat, 
sagt  Huxley  von  den  Molaren  von  Indris:  Each  pair  of  cusps  is  united 
by  a  transverse  ridge,  and  there  is  no  oblique  ridge"1).  Der  Autor, 
der  in  diesem  Aufsatz  auch  dem  Leistensystem  der  Molaren  seine  Auf- 
merksamkeit widmet,  hat  offenbar  von  Indris  ein  Exemplar  mit  mehr 
weniger  abgekauten  Zähnen  benützt.  Denn  von  den  zwei  transversalen 
Leisten  ist  am  mir  vorliegenden  Schädel,  an  dem  das  Dauergebiß  noch 
inkomplett  ist  (Caninus  und  dritter  Molar  stehen  im  Begriff  durch- 
zubrechen), nichts  zu  sehen.  Bemerkenswert  ist,  daß  auch  Huxley 
auf  das  Fehlen  der  hinteren  schrägen  Leiste  bei  Indris  hinweist. 


1)  T.  H.  Huxley,  On  the  Arctocebus  calabarensis.    Proc.  Zool.  Soc,  p.  314. 
London  1864. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  79 

Einen  von  dem  bei  den  Indrisinae  etwas  divergenten  Entwicklungs- 
gang weisen  die  Platyrrhinen  auf,  wie  aus  den  Fig.  1  (18)  (Mycetes),  19 
(Nyctipithecus)  und  20  (Cebus)  auf  Tafel  I  und  Pithecia (Tafel  I,  Fig.  2) 
ersichtlich.  Das  Hauptgewicht  liegt  auch  hier  wieder  auf  dem  Verhalten 
der  hinteren  Schrägfurche  und  der  Spitze  4  zum  Leistensystem.  Bei 
Mycetes  durchquert  das  vordere  Ende  von  4  die  Schrägfurche  und  ver- 
bindet sich  mit  der  von  D  nach  Pp  verlaufenden  Leiste.  Auf  die  hintere 
Hälfte  des  Zahnes  trifft  man  bei  diesem  Affen  (man  vgl.  auch  Tafel  I, 
Fig.  5  und  6)  nicht  selten  das  abgetrennte  Stück  der  Schrägfurche 
noch  an.  Ich  vermißte  dasselbe  bei  Nyctipithecus.  Es  stand  mir  aber 
von  diesem  Geschlecht  nur  ein  einziger,  für  diese  Untersuchung  brauch- 
barer Schädel  zur  Verfügung.  Wie  bei  Mycetes  können  auch  bei  diesem 
Geschlecht  individuelle  Variationen  bestehen.  Auffallend  ist  es  jedoch, 
daß  die  hintere  Leiste  bei  Nyctipithecus  sehr  deutlich  die  Neigung  hat, 
sich  hinterwärts  zu  verschieben.  Während  sie  bei  Mycetes  noch  deut- 
lich vom  Höcker  D  ausgeht  und  schräg  nach  hinten  und  bukkalwärts 
zum  Höcker  Pp  zieht,  scheint  sie  bei  Nyctipithecus  von  letzterem  aus- 
zugehen, verläuft  mehr  transversal,  und  spaltet  sich  am  lingualen 
Ende  gabelförmig,  ein  Ast  verbindet  sich  mit  D,  der  zweite  mit  4. 
Diese  Struktur  bildet  die  Vorstufe  zu  jener,  welche  man  beim  Geschlecht 
Cebus  und  Pithecia  antrifft.  Hier  ist  die  Äquivalenz  der  Spitze  4, 
welche  bei  Mycetes  und  Nyctipithecus  angebahnt  wurde,  eine  voll- 
kommene geworden,  aber  in  anderer  Weise  als  bei  Indris.  Denn  es  bleibt 
die  hintere  Leiste  bestehen,  löst  jedoch  ihre  Verbindung  mit  dem  Höcker  D 
vollständig,  und  bringt  jene  mit  4  dagegen  zur  höheren  Ausbildung, 
so  daß  sie  in  rein  transversalem  Verlauf  von  Pp  zu  4  zieht.  Das  haben 
die  Geschlechter  Cebus  und  Pithecia  gemeinsam.  Des  weiteren  sind 
jedoch  die  Molaren  beider  Geschlechter  auffallend  verschieden.  Bei 
Cebus  ist  die  hintere  Schrägfurche  jetzt  als  solche  von  der  Kaufläche 
ganz  verschwunden,  der  Abschnitt  der  sich  auf  der  lingualen  Fläche 
fand,  hat  eine  transversale  Richtung  angenommen,  und  strebt  der 
Furche  zu,  welche  von  der  bukkalen  Seite  in  die  zentrale  Depression 
ausmündet.  Mit  der  abgeänderten  Beziehung  der  hinteren  Leiste  zu 
den  Kronenhügeln  hat  der  Molar  von  Cebus  ein  ganz  anderes  Gepräge 
bekommen  als  jener  von  Mycetes  oder  Ateles.  So  lange  die  hintere 
Leiste,  von  D  bis  Pp  ziehend,  einen  schrägen  Verlauf  hat,  behält  der 
Molar  noch  immer  etwas  in  seinem  Äußeren  von  der  ursprünglichen  Drei- 
eckform der  Mahlzähne,  und  haftet  der  Spitze  4  noch  immer  etwas  an 
von  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  als  Nebenspitze.  Sobald  jedoch 
die  Leiste  ihr  linguales  Ende  von  D  auf  4  verlegt  hat,  ist  sozusagen  das 
Endziel  des  Differenzierungsganges  der  Mahlzähne  bei  den  Primaten 
erreicht,  und  4  ist  als  ein  den  anderen  Höckern  gleichwertiges  Element 
in  der  Struktur  des  Kronenreliefs  aufgenommen.  Alle  Spuren  seiner 
primitiven  Natur  sind  verwischt.  Am  meisten  spezialisiert  sind  wohl 
die  Molaren  von  Pithecia.  Da  von  diesem  Geschlecht  gute  Abbildungen 
in  der  Literatur,  soweit  ich  sehe,  nicht  vorliegen,  gebe  ich  auf  Tafel  1. 
Fig.  2,  3  und  4  drei  Figuren  derselben  in  vergrößertem  Maßstabe.  Sie 
sind  nach  einem  Schädel  von  Pithecia  nocturna  angefertigt,  der  sich 
im  Zahnwechsel  befand.  In  Fig.  2  sind  die  Oberkieferzähne  in  dreifacher 
Vergrößerung  gezeichnet,  in  Fig.  3  jene  des  Unterkiefers  und  in  Fig.  4  der 
erste  untere  Molar  bei  sechsfacher  Vergrößerung.  Sowohl  im  Ober-  als  im 
Unterkiefer  waren  die  Milchmolaren  noch  nicht  gewechselt,  die  beiden 


80  Erstes  Hauptstück. 

vordersten  permanenten  Molaren  sind  oben  und  unten  schon  da,  die 
oberen  Incisivi  sind  gewechselt,  der  untere  mediale  ebenfalls,  der  laterale 
steht  im  Begriff  durchzubrechen.  Für  die  Kenntnis  der  Kronenstruktur 
also  ein  sehr  wertvolles  Objekt.  Die  bekannten  Runzelungen  des  Emails, 
welche  diesen  Zähnen  Ähnlichkeit  mit  jenen  des  Orang  verleiht,  sind 
besonders  an  den  permanenten  Molaren  sehr  schön  zu  sehen.  Doch  ist 
die  Übereinstimmung  auf  dieses  Merkmal  beschränkt,  denn  das  übrige 
Relief  ist  bei  Pithecia  und  Orang  grundverschieden.  Die  Hügel  sind 
an  den  Zähnen  des  amerikanischen  Affen  äußerst  schwach  entwickelt. 
Die  Kaufläche  wird  gleichsam  durch  einen  erhabenen  bukkalen  und 
lingualen  Rand  abgegrenzt.  Die  hintere  Schrägfurche  fehlt  vollständig, 
dagegen  ist  wie  bei  Cebus  die  hintere  transversale  Leiste  deutlich  zu 
erkennen.  Sie  war  wohl  auch  am  dritten  Milchmolaren  da,  aber  ist 
hier,  ebenso  wie  die  Emailrunzelungen  abgekaut.  — 

Von  den  Geschlechtern  Callithrix  und  Lagothrix  besitze  ich  keinen 
Schädel. 

In  fast  noch  vollkommenerer  Weise  als  bei  dem  Geschlecht  Cebus 
unter  den  Platyrrhinen  ist  die  Assimilierung  von  4  bei  der  Familie 
der  Cercopithecidae  zustande  gekommen,  wie  aus  den  Fig.  21  (Semno- 
pithecus  und  Colobus),  22  (Cercopithecus)  und  23  (Cynocephalus,  Inuus, 
Macacus)  auf  Tafel  I  zu  ersehen  ist.  Alle  diese  Molaren  stimmen  darin 
überein,  daß  die  Krone  in  vier  gleichförmig  gebaute  Quadranten  zer- 
legt werden  kann;  die  vier  Höcker  Pa,  Pp,  D  und  4  nehmen  ungefähr 
die  Mitte  eines  jeden  Quadranten  ein.  Bei  Semnopithecus  und  Colobus 
sind  überdies  zwei  Leisten  anwesend,  welche  die  beiden  vorderen 
respektive  die  beiden  hinteren  Höcker  miteinander  verbinden.  Zwischen 
beiden  Leisten  bildet  sich  ein  Tal  aus,  an  dessen  Boden  eine  von  der 
bukkalen  und  lingualen  Seite  kommende  Furche  ausläuft.  Bei  Cerco- 
pithecus ist  diese  Furche  stärker  ausgeprägt,  die  vordere  und  hintere 
Querleiste  sind  in  der  Mitte  vertieft  und  verschmälert,  die  Verbindung 
der  Höcker  wird  dadurch  weniger  evident,  und  bei  den  Cynocephaliden 
ist  dieser  Prozeß  noch  weiter  fortgeschritten,  denn  es  ist  zur  Entstehung 
einer  kreuzförmigen  Furche  gekommen,  welche  die  Felder  der  vier 
fast  immer  gleichgroßen  Höcker  scharf  voneinander  trennt.  Die  Molaren 
aller  katarrhinen  Primatengeschlechter  mit  Ausnahme  der  Anthropoiden 
und  der  Hominiden  haben  somit  das  Endziel  des  Entwicklungsganges: 
vollständige  Äquivalierung  der  Spitze  4  an  den  drei  übrigen  und  Verlust 
jeder  Andeutung  des  ursprünglichen  Charakters  von  4  als  Nebenspitze 
erreicht.     Sie  sind  gleichsam  als  Endformen  zu  betrachten. 

Nun  erhebt  sich  die  Frage,  in  welcher  Beziehung  das  symmetrische 
Leistensystem  von  Semnopithecus  zu  dem  V-förmigen  der  primitiver 
gestalteten  Zähne  steht.  Daß  die  Leiste,  welche  von  D  nach  Pa  verläuft, 
also  die  vordere,  homolog  ist  der  gleichverlaufenden  bei  den  mehr 
primitiven  Zahnformen,  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln.  Aber  die  hintere 
Leiste,  welche  die  Spitze  4  mit  Pp  verbindet?  Wir  stehen  hier  vor 
einer  Frage,  welche  für  eine  Einsicht  in  die  verwandtschaftlichen  Be- 
ziehungen der  Primatengeschlechter  sehr  bedeutungsvoll  ist,  denn 
das  Vorkommen  des  Leistenkomplexes  auf  den  Molaren  zeigt  einen 
unverkennbaren  Entwicklungsgang:  die  schon  mehrfach  betonte  Ten- 
denz der  Assimilation  von  4.  Je  weiter  dieser  Vorgang  fortgeschritten 
ist,  desto  höhere  Stufe  nimmt  das  Gebiß  ein.    Aus  diesem  Grunde  sind 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  81 

die  Zähne  der  Anthropoiden  und  des  Menschen  gewiß  primitiver  als 
jene  aller  anderen  katarrhinen  Primaten. 

Nun  findet  man  unter  den  rezenten  Geschlechtern  dieser  Primaten- 
gruppe keine  Form,  welche  eine  Zwischenstufe  zwischen  den  Anthro- 
poiden und  der  Familie  der  Cercopithecidae  einnimmt.  Kein  einziges 
Geschlecht  gibt  durch  sein  normales  Kronenrelief  eine  Auskunft  über 
die  Entstehungs weise  von  der  hinteren  Querleiste  der  Semnopitheciden. 
Es  konnte  somit  möglich  sein,  daß  diese  hintere  Querleiste  zwischen 
Pp  und  4  abzuleiten  ist  von  der  primitiven  hinteren  Schrägleiste 
zwischen  Pp  und  D,  wie  das  bei  den  Platyrrhinen  (Cebus)  zweifelsohne 
der  Fall  ist,  Eine  zweite  Möglichkeit  ist  diese,  die  hintere  Querleiste 
sei  eine  Neubildung,  welche  ganz  unabhängig  von  der  hinteren  Schräg- 
leiste, wTelche  reduziert  worden  ist,  sich  entwickelt  hat.  Nun  ist  letzteres 
in  der  Tat  der  Fall.  Ich  basiere  die  Aussage  auf  interessante  Varia- 
tionen, welche  bei  den  ersten  Molaren  von  Siamang  zu  Beobachtung 
kamen  und  weiter  auf  die  Kronenstruktur  von  Dryopithecus,  welche 
wir  aus  der  genauen  Beschreibung  von  Branco  kennen. 

Die  bezüglichen  Variationen  sind  in  Fig.  26  abgebildet.  In  Fig.  a 
ist  das  normal  vorkommende  Kronenrelief  von  Siamang  wiedergegeben. 
Der  Höcker  D  steht  durch  eine  vordere  Leiste  mit  Pa,  und  durch  die 


Fig.  26.     Siamanga  syndaetylus.     Drei   erste  Molaren  mit  verschiedenem  Kronen- 
relief,    a  Normal,  b  Zwischenstufe,  c  Semnopithecus-Typus. 

hintere  Schrägleiste  mit  Pp  in  Verbindung.  Die  Schrägfurche  trennt 
die  Spitze  4  fast  vollständig  vom  übrigen  Teil  der  Krone.  Einige  Male 
traf  ich  aber  den  in  Fig.  26 b  wiedergegebenen  Zustand.  Die  hintere 
Schrägleiste  ist  noch  entwickelt,  in  ihrer  Mitte  aber  erniedrigt.  Dagegen 
geht  von  dem  Höcker  Pp  eine  kurze  Leiste  aus  in  der  Richtung  des 
Höckers  4,  welcher  ebenfalls  eine  Leiste  aussendet  in  der  Richtung 
von  Pp.  Aber  es  ist  noch  nicht  zu  einer  Zusammenfließung  beider  Leist- 
chen oder  Kämmchen  gekommen.  Nur  ist  in  ihrer  Verbindungslinie 
die  hintere  Schrägfurche  unterbrochen.  Das  hintere,  bukkale  Ende  ist 
zu  einer  selbständigen,  dem  Hinterrand  des  Zahnes  dicht  genäherten. 
überwiegend  transversal  verlaufenden  Furche  geworden.  Unter  40  gut 
erhaltenen  ersten  oberen  Molaren  kam  diese  Variation  achtmal  vor, 
und  weiter  zweimal  ein  Zahn  mit  dem  in  Fig.  26c  skizzierten  Relief. 
Die  beiden  von  Pp  und  4  ausgehenden  Leistchen  haben  sich  miteinander 
verbunden  und  setzen  eine  hintere  Querleiste  zusammen,  ganz  wie  wir 
sie  bei  den  Semnopitheciden  kennen  gelernt  haben;  die  ursprüngliche 
hintere  Schrägleiste  dagegen  ist  fast  ganz  verschwunden.  Die  hintere 
Schrägfurche  ist  noch  in  einer  kurzen  transversalen  Furche  vor  dein 
Hinterrande  zu  erkennen,  und  das  linguale  Stück  derselben  ist  aus 
seiner  ursprünglichen  Bahn  in  eine  mehr  transversale  abgelenkt  worden, 
um  sich  ungefähr  im  Zentrum  der  Krone  mit  der  von  der  bukkalen 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  .  6 


82  Erstes  Hauptstück. 

Seite  herkommenden,  die  Hocker  Pa  und  Pfi  trennenden  Furche  zu 
verbinden.  In  diesen  Fällen  hat  der  Molar  von  Siamanga  die  typischen 
Merkmale  eines  Semnopithecuszahnes  angenommen,  und  wenn  isoliert 
aufgefunden,  würde  er  gewiß  nicht  als  ein  Gibbonzahn  diagnosti- 
ziert werden,  aber  zweifelsohne  einem  Vertreter  des  Geschlechtes 
Semnopithecus  zugewiesen.  Sehr  bemerkenswert  ist  weiter  die  folgende 
Beobachtung.  Einer  der  beiden  Schädel,  an  dem  die  letztbeschriebene 
Variation  aufgefunden  wurde,  stammte  von  einem  jungen  Tier, 
das  noch  im  Besitze  seines  Milchgebisses  war.  Und  nun  stellte  es  sich 
heraus,  daß  der  zweite  Milchmolar  ebensoweit  in  der  Richtung  des 
Semnopithecusmolaren  fortgeschritten  war,  als  der  erste  Dauermolar. 
Solche  Tatsachen  weisen  wohl  darauf  hin,  daß  die  Persistenz  primitiver 
Merkmale  im  Milchgebiß  doch  nicht  so  stark  ist  als  es  in  der  Literatur 
öfters  vorgestellt  wird.  Wir  haben  es  hier  mit  einer  bestimmt  gerichteten 
Variation  von  unzweifelhaft  progressiver  Natur  zu  tun,  und  sie  äußert 
sich  gleichzeitig  im  Milch-  und  Dauergebiß.  Das  ist  wohl  als  ein  Beweis 
zu  betrachten,  daß  die  Verschiedenheiten  zwischen  Milch-  und  Dauer- 
molaren, wenn  sie  vorkommen,  nicht  im  Sinne  von  Progression  oder 
Konservatismus  ursprünglicher  Zustände  zu  deuten  sind.  Die  Beispiele, 
welche  dafür  angeführt  werden  (Cheiromys  u.  a.)  müssen  meines  Er- 
achtens  von  einem  anderen  Gesichtspunkt  aus  be- 
trachtet werden.  Ich  werde  wohl  noch  Gelegenheit 
haben,  einmal  auf  diesen  Punkt  zurückzukommen. 
Die  Variationen  von  Siamang  werfen  Licht 
auf  die  Beziehung  der  hinteren  Querleiste  der  Cerco- 
pithecidae  zu  der  hinteren  Schrägleiste  der  Anthro- 
poiden. Bei  den  Platyrrhinen  (Cebus)  ist  die  die 
Fi".  27.  Dryo-  Höcker  Pp  und  4  verbindende  Leiste  keine  Neu- 
pithecus.  Ober-  bildung,  es  ist  die  hintere  Schrägleiste,  welche  seine 
kiefermolar.  linguale   Endstätte  von  D  auf  4  verlegt  hat.    Aber 

(Nach  Branco.)  j3ej  ^en  Katarrhinen  ist  die  scheinbar  identische  Leiste 
eine  Neubildung,  die  entstanden  ist  unter  gleichzeitigem 
Verlust  der  primitiven  hinteren  Schrägieiste.  In  dieser  einfachen  Relief- 
erscheinung  haben  wir  es  somit  wieder  mit  einem  prägnanten  Beispiel 
von  Konvergenz  zu  tun.  Die  Variationen  bei  Siamang  weisen  uns 
somit  den  Entwicklungsweg,  welchen  die  Molaren  der  Semnopitheciden 
zurückgelegt  haben. 

Sehr  interessant  sind  nun  in  Verbindung  mit  dem  Obenstehenden 
die  Abbildungen  und  die  Beschreibung,  welche  Branco1)  von  den  Ober- 
kiefermolaren von  Dryopithecus  gibt  (1.  c.  S.  35,  Tafel  I,  Fig.  1  und  2). 
Ich  gebe  in  Fig.  27  eine  vereinfachte  Reproduktion  der  Branco  sehen 
Fig.  1.  Denn  an  diesen  Zähnen  kommt  sowohl  die  hintere  schräge  Leiste 
als  die  hintere  Querleiste  vor.  Durch  die  Anwesenheit  der  letzteren 
fehlt  die  hintere  Schrägfurche.  Besonders  an  einem  nicht  abgeschliffenen 
Exemplar  (Branco,  1.  c.  Tafel  I,  Fig.  1)  sind  beide  Kämme  deutlich  ent- 
wickelt, doch  auch  am  zweiten  etwas  abgekanteten,  sind  sie  in  der  von 
Branco  gegebenen  Abbildung  beide  noch  zu  erkennen.  Und  auf  S.  36 
erwähnt  der  Autor  dann  auch  „den  schrägen  Kamm,  welcher  von  dem 
hinteren  Außen-  zum  vorderen  Innenhöcker  verläuft,  und  den  Quer- 


1)   W.  Branco,  Die  menschenähnlichen  Zähne  aus  dem  Bohnerz  der  Schwä- 
bischen Alb.    Stuttgart  1896. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  83 

kämm,  welcher  vom  hinteren  Außen-  zum  hinteren  Innenhöcker  hin- 
übergeht".  Der  Autor  beschreibt  somit  ausdrücklich  die  beiden  Leisten. 

Die  Koinzidenz  beider  Kämme  auf  die  Molaren  von  Dryopithecus 
stellt  ein  für  diesen  Genus  so  spezielles  Merkmal  dar,  daß  ich  mich  der 
Aussage  Schlossers:  es  stellen  die  Dryopithecuszähne  die  menschen- 
ähnlichsten unter  allen  Affenzähnen  dar  (1.  c.  S.  9)  nicht  völlig  an- 
schließen kann.  Nach  der  Beschreibung,  welche  Dubois1)  von  den 
Zähnen  vom  Palaeopithecus  sivalensis  gibt,  sollten  sich  dessen  Molaren 
doch  näher  jenen  des  Menschen  anschließen. 

Es  darf  somit  wohl  als  festgestellt  betrachtet  werden,  daß  der 
hintere  Querkamm  bei  den  Cercopithecidae  nicht  wie  bei  den  Cebidae 
vom  primitiven  hinteren  Schrägkamme  abgeleitet  werden  darf,  sondern 
als  eine  Neubildung  zu  betrachten  ist.  Diese  Tatsache  scheint  mir  für 
die  Frage  der  verwandtschaftlichen  Beziehungen  beider  Primatengruppen 
äußerst  wichtig. 

In  dem  Obenstehenden  ist  die  morphologische  Entwicklung  der 
Primatenmolaren  systematisch  verfolgt  worden.  Ich  hoffe,  es  ist  mir 
gelungen,  die  Überzeugung  zu  festigen,  daß  an  dem  Entwicklungs- 
gang der  Molaren  ein  leicht  zu  erkennendes  Prinzip  zur  Basis  liegt, 
nämlich  die  Umwandlung  der  ursprünglichen  dreieckigen  Form  in 
eine  mehr  regelmäßig  viereckige.  Diese  Ansicht  ist  nicht  neu,  sie  bildet 
auch  den  Kernpunkt  der  Cope-Os bornsehen  Theorie.  Aber  in  der 
Weise,  in  der  sich  unsere  weiteren  Ansichten  um  diesen  Punkt  gruppieren, 
besteht  kein  Anknüpfungspunkt  zwischen  den  amerikanischen  For- 
schern und  mir,  weil  unsere  Auffassungen  über  die  Entstehungs weise 
der  primitiven  dreieckigen  Zahnform  grundverschieden  sind.  Während 
meiner  Ansicht  nach  die  höhere  Ausbildung  der  Molaren  die  unmittel- 
bare Fortsetzung  des  Vorganges  ist,  welche  die  dreieckige  Zahn- 
form schuf,  ist  bei  der  Cope-Osbornschen  Theorie  der  Entwicklungs- 
prozeß in  zwei  Fragmente  zerlegt.  In  jeder  derselben  herrschen  ver- 
schiedene Entwicklungsprinzipien  vor. 

Was  die  höhere  Entwicklung  der  oberen  Molaren  der  Primaten 
anbelangt,  kommt  in  derselben  unbedingt  dem  Höcker  4  die  Haupt- 
bedeutung zu.  Dieser  Höcker,  seiner  Natur  nach  einst  eine  Nebenspitze 
von  untergeordnetem  Wert,  erhebt  sich  allmählich  zu  einer  den  drei 
Grundhöckern  der  Molaren  gleichwertigen  Bildung.  Und  in  diesem 
Emporstreben  sind  deutlich  zwei  Phasen  zu  unterscheiden.  Während 
der  ersten  wächst  der  4-Höcker  bis  zur  Größe  der  Haupthöcker  aus, 
bleibt  jedoch  noch  immer  durch  eine  Furche  vom  übrigen  Teil  der 
Krone  getrennt  und  verrät  dadurch  noch  seine  untergeordnete  Stelle. 
In  der  zweiten  Phase  verschwindet  diese  Trennungsfurche  und  es 
bekommt  der  4-Höcker  Beziehung  zum  Leistensystem.  Und  einmal 
in  dieses  System  einbezogen,  liegt  der  Weg  zur  vollständigen  Äqui- 
valierung  des  ^-Höckers  an  den  drei  Grundhöckern  des  Molaren  offen. 

Ich  mache  absichtlich  noch  einmal  auf  diese  Hauptlinie  in  dem 
Entwicklungsgang  der  Primatenmolaren  aufmerksam.  Denn  jener 
Zahn  muß  als  am  meisten  progressiv  betrachtet  werden,  der  dem  End- 
ziel dieses  Entwicklungsganges  am  nächsten  kommt.  Und  wenn  wir 
an   diesem  Maßstabe  das  Gebiß  der  Anthropoiden  und  des  Menschen 


1)  E.  Dubois,  Über  drei  ausgestorbene  Menschenaffen.     Neues  Jahrbuch 
für  Mineralogie,  Geologie  und  Paläontologie  1897,  Bd.  I,  S.  86. 

6* 


84  Erstes  Hauptstück. 

prüfen,  dann  erscheint  die  Konsequenz  unabweisbar,  daß  von  allen 
katarrhinen  Primaten  das  Gebiß  gerade  dieser  Primatengruppe  am 
meisten  primitiv  sich  erhalten  hat.  Von  einer  Entstehung  des  Anthro- 
poiden- und  Hominidengebisses  aus  einer  Form,  welche  jener  der  jetzt 
lebenden  Cercopithecidae  entspricht,  kann  daher  meiner  Meinung 
nach  keine  Rede  sein.  Ich  kann  mir  den  Annäherungspunkt  dieser 
beiden  Linien  der  altweltlichen  Affen  nicht  anders  denken,  als  am 
spätesten  an  der  Basis  der  katarrhinen  Primatengruppen  überhaupt. 
Vielleicht  liegt  es  jedoch  noch  weiter  hinterwärts  und  fällt  in  den 
Lemuridenkreis.  Jedenfalls  ist,  was  das  Gebiß  betrifft,  Progression 
der  Molarenform  nicht  das  Merkmal  des  Gebisses  von  Anthropoiden 
und  Hominiden  gewesen.  Ich  werde  jedoch  an  dieser  Stelle  auf  die 
systematische  Anreihung  der  uns  bekannten  ausgestorbenen  und  der 
jetzt  lebenden  Primat  n  nicht  weiter  eingehen.  Schon  die  Tatsache, 
daß  ich  bis  jetzt  nur  über  die  oberen  Mo  aren  handelte,  genügt,  um  mich 
davon  abzuhalten. 

Es  ist  in  der  oben  gegebenen  Darstellung  der  Entwicklung  von 
den  oberen  Molaren  mehr  als  es  bis  jetzt  in  der  Literatur  üblich  war, 
das  Leistensystem  der  Krone  gewürdigt  worden.  Es  war  deshalb  eben 
für  mich  ein  Führer,  der  mich  den  dargestellten  Entwicklungsweg  zu 
tracieren  half  und  wodurch  die  Stellung  des  hinteren  Innenhöckers 
(des  ^-Höckers)  meiner  Meinung  nach  im  rechten  Licht  erschien.  Ich 
kann  mich  dann  auch  nicht  der  Auffassung  jener  Autoren  anschließen, 
welche  sich  vorstellen,  als  sollte  dieser  Höcker  bei  den  höheren  Primaten 
ein  reduziertes  Element  in  der  Kronenstruktur  darstellen.  Der  Molar 
der  Anthropoiden  und  Hominiden  ist  ein  primitives  Gebilde.  Nichts 
weist  uns  darauf  hin,  daß  es  einmal  die  höhere  Entwicklungsstufe  ein- 
genommen hat,  welche  die  Molaren  der  Cercopithecidae  einnehmen. 
Ich  kann  mich  dann  auch  nicht  der  Ansicht  Gaudrys  anschließen, 
wenn  er  sagt1):  ,,Sur  les  quatre  denticules  dont  se  compose  une  arriere- 
molaire  superieure,  il  y  en  a  im  qui  s'est  successivement  attenue:  le 
second  denticule  interne.  Tres  grand  chez  l'Oreopithecus  devient 
moindre  chez  le  Dryopithecus  et  l'Orang-outan;  il  est  saillant  mais 
rapetisse  chez  le  Gorille  et  le  Gibbon;  et  diminue  encore  chez  le  Chim- 
panze,  im  peu  plus  chez  1' Australien,  et  comme  l'a  annonce  le  premier 
le  professeur  Cope,  c'est  chez  rhomme  blanc  qu'il  est  le  plus  reduit." 
Die  verschiedenen  Entwicklungsgrade  des  ^-Höckers  bei  den  Anthro- 
poiden dürfen  wir  nicht  zu  einem  Stückchen  Entwicklungsgeschichte 
derart  anreihen,  daß  hieraus  eine  Reduktion  des  hinteren  inneren 
Höckers  in  systematischer  Weise  folgen  würde.  Es  sind  nur  die  bei  den 
verschiedenen  Gattungen  auftretenden  Varianten  auf  dem  Grundtypus, 
Äußerungen  des  spezifischen  Charakters  des  Gebisses  als  Ganzes. 
Nur  darin  möchte  ich  Gaudry  beistimmen,  daß  beim  Menschen  der 
^-Höcker  Neigung  besitzt,  wenigstens  im  zweiten  und  dritten  Molaren 
wieder  ausgeschaltet  zu  werden.  Doch  glaube  ich,  daß  man  es  hier  mit 
einer  Erscheinung  zu  tun  hat,  welche  nicht  als  die  Fortsetzung  eines 
schon  bei  den  Anthropoiden  wirksamen  Vorganges  zu  deuten  ist, 
s  ondern  mit  einer,  welche  bei  unserem  Geschlecht  ihren  Anfang  genommen 
hat.    Näheres  darüber  werde  ich  in  der  folgenden  Studie  bringen. 

1)  A.  Gaudry,  Sur  la  similitude  des  dents  de  rhomme  et  de  quelques  ani- 
maux.    L' Anthropologie  1901,  T.  XII,  p.  514. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  85 

Ehe  wir  jetzt  zum  Studium  der  unteren  Zähne  übergehen,  er- 
übrigt es  sich,  noch  die  Bedeutung  einer  Erscheinung  an  den  oberen 
Molaren  zu  untersuchen,  von  der  wir  bis  jetzt  geschwiegen  haben,  näm- 
lich des  Carabellischen  Höckerchens. 

D.  Das  Carabel tische  Höckerchen. 

Wir  können  die  Besprechung  der  oberen  Molaren  nicht  abschließen, 
ohne  auf  das  Vorkommen  und  die  Bedeutung  jener  Bildung  einge- 
gangen zu  sein,  die  zuerst  an  den  oberen  Molaren  des  Menschen  von 
Carabelli  beschrieben  worden  ist1)  und  allgemein  unter  dem  Namen 
dieses  Autors  bekannt  ist.  Diese  Bezeichnungsweise  verdient  den 
Vorzug  vor  jener,  die  vom  Autor  selbst  davon  gegeben  ist:  „anomales 
Höckerchen",  denn  einstweilen  gibt  es  gelegentlich  der  anomalen 
Spitzen  und  Höcker  an  den  oberen  Molaren  mehrere,  und  weiter  ist 
die  Bildung,  sei  es  in  verschiedenem  Entwicklungsgrad,  beim  Menschen 
so  häufig,  daß  sie  kaum  als  etwas  Abnormales  zu  betrachten  ist.  Über 
die  Häufigkeit  des  Auftretens  und  die  verschiedenen  Modifikationen, 
worin  es  erscheint,  worüber  uns  Batujeff2)  schon  ausführlich  unter- 
richtet hat,  werde  ich  in  der  folgenden  Studie  näheres  auf  Grund  von 
eigenen  Beobachtungen  mitteilen.  Nur  sei  hier  kurz  mitgeteilt,  daß  ich 
in  dem  strittigen  Punkt,  ob  das  Höckerchen  je  das  Niveau  der  Kau- 
fläche erreicht,  mich  Batujeff  und  Zuckerkandl3)  anschließe,  die 
eine  solche  starke  Ausbildung  verneinen.  Anderer  Meinung  ist  Ad- 
loff4).  Es  kommt  bei  Entscheidung  dieser  Frage  natürlich  zunächst 
darauf  an,  daß  man  vollständig  intakte  Kauflächen  in  genügender 
Zahl  zu  untersuchen  Gelegenheit  hat.  Ich  habe  das  an  Tausenden  von 
Molaren  tun  können  und,  wie  gesagt,  fand  ich,  daß  bei  unversehrter 
Kronenfläche  Carabelli  bei  kräftigster  Entwicklung  niemals  bis  zum 
Niveau  der  Spitze  des  lingualen  Vorderhöckers  reichte.  Damit  soll 
natürlich  nicht  gesagt  sein,  daß  es  an  dem  Kauakt  sich  nicht  beteiligt. 
Eher  trifft  das  Gegenteil  zu.  Je  nachdem  es  mehr  oder  weniger  kräftig 
entwickelt  ist,  beteiligt  es  sich  mehr  oder  weniger  bald  nach  Abschlei- 
fung  des  vorderen  Innenhöckers  an  diesem  Akt,  aber  unmittelbar 
nach  dem  Durchbruch  des  Zahnes  erreicht  es  die  Reibungsebene  nicht. 
Die  ganze  Frage  scheint  mir  jedoch  von  untergeordnetem  Wert  zu  sein. 

Ich  werde  mich  im  folgenden  auf  das  Auftreten  dieses  Höcker- 
chens im  allgemeinen  und  auf  eine  Besprechung  der  Bedeutung  desselben 
beschränken.  Daß  Carabelli  nicht  ausschließlich  beim  Menschen  auf- 
tritt, wie  es  von  de  Terra5)  behauptet  wird  (1.  c.  S.  161),  ist  schon  von 
Batujeff  gezeigt  worden.  Machen  wir  uns  dazu  zunächst  klar,  was 
man  als  Carabellisches  Höckerchen  zu  verstehen  hat.  Die  vom  Autor 
selbst  gegebene  Definition  ist  die  folgende:  „ein  Höcker,  welcher  an  der 
inneren  Seite  der  Krone  der  oberen  Mahlzähne,  in  der  Regel  derjenigen 

1)  Systematisches  Handbuch  der  Zahnheilkunde,  Bd.  II,  S.  107.    "Wien  1842. 

2)  N.  Batujeff,  Carabellis  Höckerchen  usw.  Bull,  de  l'Acad.  Imp.  de  St. 
Petersburg  1896,  T.  Y. 

3)  E.  Zuckerkandl,  Makroskopische  Anatomie  der  Mundhöhle,  in:  Scheff. 
Handb.   d.   Zahnheilkunde. 

4)  P.  Adloff ,  Das  Gebiß  des  Menschen  und  der  Anthropomorphen,  S.  14,  126. 

5)  P.  de  Terra,  Beiträge  zu  einer  Odontographie  der  Menschenrassen. 
Inaug.-Diss.  Zürich  1905. 


86  Erstes  Hauptstück. 

des  ersten,  angetroffen  wird  und  der  mit  seiner  Basis  nahe  am  Halse 
des  Zahnes  entspringt  und  mit  seiner  Spitze  etwas  entfernt  von  der 
Krone  frei  in  der  Mundhöhle  steht."  Carabelli  beschreibt  hier  offen- 
bar den  höchsten  Entwicklungsgrad  der  Bildung,  und  Mühlreiter1) 
hat  schon  nachgewiesen,  daß  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nur  eine  Neigung 
zur  Bildung  eines  solchen  ., fünften"  Höckers  besteht,  welche  durch  ein 
verschiedenartig  entwickeltes  Grübchen-  und  Furchensystem  sich 
äußert.  Eine  vollständige  Beschreibung  des  Höckerchens  in  seinen 
verschiedenen  Abstufungen  hat  dann  Batujeff  gegeben. 

Bei  sonstigen  Primaten  ist  das  Höckerchen,  nachdem  letzt- 
genannter Autor  auf  dessen  Vorkommen  bei  Cynocephalus  hingewiesen 
hat,  von  A  dl  off  bei  einem  Hylobates  lar  beobachtet  (1.  c.  S.  127). 
Vorher  hat  schon  Cope  darauf  hingewiesen,  daß  es  bei  den  Lemuren 
eine  konstante  Erscheinung  bildet:  „The  accessory  anterior  internal 
tubercle  is  characteristic  of  the  genus  Lemur  and  some  of  its  extinct 
allies2)."  Eine  übereinstimmende  Meinung  haben  auch  Windle  und 
Humphreys  ausgesprochen3).  Daß  die  bezüglichen  Bildungen  an  den 
Molaren  von  Lemur  wirklich  mit  dem  Carabelli  der  menschlichen  Mo- 
laren homolog  sind,  ist  auch  meine  Ansicht.  Man  könnte  aber  diese 
Homologie  auf  Grund  der  dreieckigen  Gestalt  der  Lemurmolaren  und 
dadurch  das  Vorkommen  dieser  Bildung  überhaupt  bei  den  Prosimiae 
anzweifeln.  Man  hat  sich  jedoch  nur  die  Frage  vorzulegen:  Stimmt  die 
linguale  Formation  an  den  Lemurmolaren  mit  der  von  Carabelli 
gegebenen  Definition  überein?  Und  auf  diese  Frage  muß  unbedingt 
eine  zustimmende  Antwort  folgen,  denn  der  innere  Höcker  der  Lemur- 
molaren ist  zweifelsohne  die  Spitze  D  und  an  diese  Spitze  ist  Carabelli 
gebunden.  Daß  bei  den  Lemuren  die  hintere  linguale  Spitze  außer- 
ordentlich schwach  entwickelt  ist,  sogar  ganz  fehlen  kann,  ändert  an 
der  Hauptsache  nichts.  Daß  jedoch  unter  den  Prosimiae  das  bezügliche 
Höckerchen  auch  bei  solchen  Geschlechtern  auftreten  kann,  welche 
durch  eine  kräftige  Entwicklung  des  hinteren  lingualen  Höckers  der 
menschlichen  Molarenform  näher  kommen,  geht  aus  Fig.  28  hervor, 
worin  der  erste  Molar  von  Hapalemur,  von  der  Innenseite  gesehen,  wieder- 
gegeben ist.  Auch  Topinard  meldet  das  Auftreten  desselben  bei 
diesem  Halbaffen4).  Dieser  Fall  ist  auch  wichtig  aus  dem  Grunde, 
daß  an  diesem  Zahn  das  Deuteromer  dreihöckerig  ist,  welcher  Umstand 
die  Möglichkeit  beseitigt,  Carabellis  Höckerchen  mit  einer  der  Spitzen 
des  Deuteromer,  die  aus  ihrer  gewöhnlichen  Stellung  gerückt  sein 
sollte,  zu  identifizieren.  Besonders  in  betreff  auf  die  Molaren  von  Lemur, 
welche  vielleicht  zu  einer  solchen  Auffassung  führen  konnten,  ist  es 
von  Bedeutung,  die  Unabhängigkeit  von  Deuteromer  und  Carabellis 
Höckerchen  unzweideutig  bei  Hapalemur  feststellen  zu  können.  Zwar 
ist  das  Tuberculum  bei  diesem  Halbaffen  —  bei  dem  es  auch  am 
dritten  Milchmolaren  vorkommt  -  -  nicht  so  stark  entwickelt,  als 
es  beim  Menschen  der  Fall  sein  kann,  aber  vielleicht  spielt  auch  hier 


1)  Anatomie  des  menschlichen  Gebisses,  S.  68.    Leipzig  1891. 

2)  E.  D.  Cope,    On  the  tritubercular  Molar  in  human  Dentition.     Journ. 
of  Morph.  1889,  Bd.  II. 

3)  B.  C.  A.  Windle  and  J.  Humphreys,  Extra  cusps  on  the  human  Teeth. 
Anat.  Anz.,  Bd.  II. 

4)  P.  Topinard,  De  l'Evolution  des  Molaires  et  Premolaires  chez  les  Pri- 
mates.    L' Anthropologie  1892.  p.  691. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne. 


87 


die  individuelle  Variation  eine  Rolle.  Denn  die  individuellen  Schwan- 
kungen in  der  Ausbildung,  welche  es  beim  Menschen  aufweist,  kommen 
nicht  weniger  auch  bei  anderen  Primaten  vor.  Nur  beim  Geschlecht 
Lemur  ist  es  in  seiner  relativ  beträchtlichen  Entwicklung  ziemlich 
konstant.  Bei  anderen  Affengeschlechtern  nicht.  Das  geht  z.  B.  aus 
Fig.  29  hervor,  worin  der  erste  obere  Molar  eines  Cebus  fatuellus  (junges 


V- 


Fig.  28.     Erster  oberer  Molar  von 
Hapalemur. 


Fig.  29.     Erster  oberer  Molar  vom 
Cebus  fatuellus  mit  Carabelli. 


Tier)  abgebildet  ist.  Während  bei  Cebus  das  Höckerchen  als  Ausnahme 
zu  betrachten  ist,  war  es  am  bezüglichen  Exemplar  kräftig  entwickelt, 
wie  besonders  die  rechtsseitige  Figur,  welche  die  Kronenfläche  von 
oben  gesehen  darstellt,  sehen  läßt.  Auch  am  dritten  Milchmolaren 
dieses  Tieres  war  es  kräftig  entwickelt. 

Die   größte  Verbreitung  des  Höckerchens  findet  sich  unter  den 
wahren     Affen     am 

Gebiß   von    Chryso-       "Ji        ™2  m3  ^i  ^ 

thrix,  wo  es  ein 
konstant  vorkom- 
mendes Relief  an 
der  lingualen  Fläche 
mehrerer  Zähne  bil- 
det. Das  ist  aus 
Fig.  30  zu  ersehen, 
worin  das  ganze  post- 
canine  Oberkiefer- 
gebiß dieses  Tier- 
chens dargestellt  ist. 
In  der  oberen  Reihe 
sind  Milchmolaren 
und  Dauer  molaren 
abgebildet,     in    der 

unteren  Reihe  die  Prämolaren.  Wie  diese  Figuren  sehen  läßt,  ist 
Carabellis  'Höckerchen  am  zweiten  und  dritten  Milchmolaren  und  am 
ersten  und  zweiten  permanenten  Molaren  entwickelt.  Seine  Stelle  ist  die 
nämliche  wie  beim  Menschen,  es  liegt  an  der  Innenseite  des  Höckers  D, 
das  ist  die  Hauptspitze  des  Deuteromer.    Kur  am  zweiten  Milchmolaren 


Fig.  30. 
Fläche. 


Chrysothrix  sciurea.  Oberkieferzähne,  linguale 
Obere  Reihe:  Milchmolaren  und  permanente 
Molaren;  untere  Reihe:  Prämolaren. 


erscheint  es  etwas  weiter  nach  hinten  gerückt. 


Das  genannte  Affchen 


88  Erstes  Hauptstück. 

ist  weiter  interessant  durch  das  Auftreten  von  Carabelli  auch  am  zweiten 
und  dritten  Prämolaren.  Zwar  wechselt  das  Maß  ihrer  Entwicklung 
an  diesen  Zähnen  sehr,  aber  die  Tatsache,  daß  es  überhaupt  an  diesen 
Elementen  des  Gebisses  auftritt,  beweist,  daß  in  dieser  Hinsicht  kein 
prinzipieller  Unterschied  zwischen  Milchmolaren  und  deren  Ersatz- 
zähnen besteht.  Auch  bei  einem  Nyctipithecus  trivirgatus  konnte  ich 
außer  am  ersten  und  zweiten  Molaren  das  Vorkommen  des  Höcker- 
chens  am  dritten  Prä  molaren  feststellen. 

Der  Standpunkt,  den  de  Terra  bezüglich  dieser  Bildung  ver- 
tritt, kommt  mir  nicht  motiviert  vor.  Der  Autor  behauptet,  den 
Car  ab  ellischen  Höcker  treffe  man  nur  beim  Menschen  an;  was  man 
bei  niederen  Affen  als  solchen  beschreibe,  sei  eine  andere  Bildung,  die 
de  Terra  als  „Approximalhöcker"  bezeichnet.  Wenn  man  jedoch 
bemerkt,  daß  der  Autor  S.  162  und  285  als  Beispiele  solcher  „Approxi- 
malhöcker" Bildungen  an  der  bukkalen  Seite  der  Unterkiefermolaren 
abbildet  und  beschreibt,  dann  ist  es  deutlich,  daß  hier  eine  Verwirrung 
von  Reliefbildungen  vorliegt.  Die  oben  von  mir  beschriebenen  Bildungen 
liegen  alle  bei  vierhöckerigen  Molaren  an  der  vorderen  lingualen  Seite 
des  Zahnes  dem  Höcker  D  an.  Und  letzteres  ist,  wie  ich  meine,  das 
Kriterium,  welches  auch  von  de  Terra  selber  gestellt  wird,  wenn  er 
von  diesem  Höcker  sagt:  „Der  Carabellische  Höcker  zeigt  sich  als 
schwache  Verdickung  des  medialen  Zungenhöckers  nahe  dem  Niveau 
der  Kaufläche"'  (1.  c.  S.  161).  Die  Zurückweisung  der  Copeschen 
Deutung  des  lingualen  Höckers  bei  Lemur  als  Carabellis  Höcker 
ist  dann  auch  nicht  stichhaltig.  (Ich  lasse  hierbei  natürlich  die  Be- 
trachtungen, welche  Cope  an  das  Vorkommen  dieses  Höckers  bei 
Lemur  knüpft,  ruhen.)  Als  erstes  Argument  gegen  die  Homologisierung 
führt  de  Terra  (1.  c.  S.  163)  an,  daß  er  die  ganze  linguale  Fläche  des 
Zahnes  einnimmt.  Diese  Beobachtung  ist  richtig,  aber  lediglich  die 
Folge  davon,  daß  bei  Lemur  diese  ganze  Fläche  des  Zahnes  vom  Höcker 
D  gebildet  wird,  da  der  hintere  linguale  fehlt.  Dieser  Umstand  erklärt 
und  widerlegt  gleichzeitig  das  zweite  Bedenken  von  de  Terra,  daß 
der  Höcker  nicht  mediolingual,  sondern  direkt  in  der  Mitte  der  Lingual - 
fläche  liegt. 

Das  Tuberculum  kommt  nicht  ausschließlich  bei  Primaten  vor. 
Das  geht  schon  aus  einer  Bemerkung  Osborns  hervor1):  ,,0n  the 
anterior  side  of  the  protocone  in  the  upper  molars  we  have  observed 
in  many  of  the  lower  mammals  especially  in  the  Periptychidae  (1.  c. 
Fig.  137)  that  a  special  cusp  is  developed,  to  wich  we  have  given  the 
name  protostyle.  From  a  recent  paper  by  Adloff  we  learn  that  this 
was  originally  designated  by  Carabelli,  and  named  by  him  Tuber- 
culum anomale." 

Das  Auftreten  außerhalb  des  Primatenstammes  ist  zuerst  von 
Windle  and  Humphreys  betont  worden:  „In  Canis  familiaris  and 
vulpes,  sagen  diese  Autoren,  it  is  large  and  in  Meles  taxus  it  reaches 
its  maximum."  Ich  bin  überzeugt,  daß  bei  anderen  Säugern  die  homo- 
loge Bildung  ebenfalls  auftritt  (ich  verweise  besonders  auf  die  Ursidae) 
und  in  hohem  Maße  an  der  Komplizierung  der  Zahnkrone  sich  beteiligen 
kann  (Ailurus).  Doch  liegt  es  außerhalb  des  Rahmens  der  vorliegenden 
Abhandlung,  auf  diesen  Punkt  näher  einzugehen.     Überdies  muß  zu- 


1)  C.  0.  1907,  S.  158. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  89 

nächst  die  genetische  Bedeutung  dieser  Bildung  festgestellt  sein,  denn 
diese  hat  selbstverständlich  großen  Einfluß  auf  die  Diagnostizierung 
derselben  bei  den  verschiedenen  Säugetiergruppen. 

Nun  gehen  über  diesen  Punkt  die  Meinungen  weit  auseinander. 
Batujeff,  der  sich  bezüglich  der  Entstehung  der  Säugerzähne  der 
Konkreszenztheorie  in  Rose  scher  Fassung  anschließt,  betrachtet  das 
Höckerchen  als  einen  selbständigen,  den  Zähnen  als  progressive  Bildung 
zugefügten  konischen  Zahnkeim,  dabei  auf  die  Tatsache  hinweisend, 
daß  es  am  ersten  Molaren  —  das  ist  am  Zahn,  der  der  größten  Druck- 
wirkung unterliegt  —  am  häufigsten  auftritt.  Der  progressive  Charakter 
der  Bildung  würde  weiter  auch  noch  aus  der  von  Batujeff  gestellten 
Behauptung  hervorgehen,  daß  das  Höckerchen  bei  niederen  Rassen 
weniger  häufig  sein  sollte  als  bei  den  Europäern.  Adloff  hat  sich  an- 
fänglich dieser  Meinung  angeschlossen,  ist  jedoch  später  von  ihr  zurück- 
gekommen, weil  ihm  das  Unzutreffende  der  Aussage  von  Batujeff 
deutlich  geworden  war.  Es  schließt  sich  jener  Autor  jetzt  der  zuerst 
von  Cope  ausgesprochenen  Meinung  an,  daß  das  Carabellische 
Höckerchen  einen  primitiven  Bestandteil  der  Primatenzähne  darstellt, 
der  bereits  bei  Lemuren  vorhanden  ist.  „Alle  Tatsachen  sprechen  dafür, 
daß  wir  es  nicht  mit  einer  gelegentlich  auftretenden  Variation  oder  mit 
einer  progressiven  Bildung  zu  tun  haben,  sondern  daß  der  „fünfte" 
Höcker  ein  ursprünglich  normaler  Bestandteil  der  menschlichen  Molaren 
ist,  der  im  Laufe  der  Stammesgeschichte  der  Reduktion  anheimgefallen, 
dessen  Rückbildung  jedoch  noch  nicht  völlig  beendet  ist."  (Das  Gebiß 
des  Menschen,  S.  127.)  Dieser  Satz  gibt  in  etwas  anderen  Worten  die 
Meinung  Copes  wieder,  der  sich  (1.  c.  S.  18)  folgendermaßen  geäußert 
hat:  ,,This  Charakter  is  decidedly  lemurine.  It  may  be  regarded  as  a 
survival  or  as  a  character  wich  has  persisted  from  the  „proanthropos", 
wich  was  itself  immediately  derived  from  lemurine  ancestors." 

Es  begegnen  uns  hier  also  zwei  kontroverse  Meinungen:  dem  einen 
Autoren  ist  Carabellis  Höckerchen  eine  progressive  Bildung,  dem 
anderen  eine  primitive  Erscheinung.  Ich  kann  mich  weder  der  einen 
noch  der  anderen  Deutung  anschließen.  Man  hat  in  diesen  beiden 
Erklärungskontroversen,  wie  ich  meine,  ein  sehr  lehrreiches  Beispiel, 
wie  verfehlt  es  ist,  die  vergleichend-anatomischen  Einzelerscheinungen 
des  Gebisses  den  stammesentwicklungsgeschichtlichen  Doktrinen  dienst- 
bar machen  zu  wollen,  besonders  wenn  man  dabei  aus  dem  Auge 
verliert,  daß  vollständig  homologe  Bildungen  an  den  Zähnen  ganz 
unabhängig  voneinander  entstehen  können  bei  Tieren,  welche  in  ihrer 
historischen  Entwicklung  einander  nur  sehr  entfernt  und  kollateral 
verwandt  sind.  Ich  möchte  sogar  der  Meinung  Ausdruck  geben,  daß 
es  kein  System  gibt,  bei  dem  man  so  vorsichtig  sein  muß,  um  auf  Grund 
von  Einzelerscheinungen  auf  Verwandtschaftsbeziehungen  zu  schließen, 
als  gerade  die  Zähne.  Und  die  Ursache  davon  liegt  nicht  weit,  sie  gründet 
in  der  Entstehungsweise  des  Säugerzahnes  im  allgemeinen.  Alle  Zähne 
der  Mammalier  enthalten  in  nuce  die  gleichen  morphologischen  Po- 
tenzen. Und  die  Entfaltung  dieser  Potenzen  ist  nicht  einmal,  sondern 
gewiß  mehrere  Male  im  Laufe  der  Entwicklung  zustande  gekommen. 
Eine  gemeinschaftliche  Stammform,  aus  welcher  die  Säugerzähne  in 
ihre  verschiedenen  Modifikationen  als  ebensoviele  divergierende  Ent- 
wicklungslinien ausstrahlen,  gibt  es  nicht.  Es  gibt  einen  gemeinschaft- 
lichen  Grundplan  mit  für  alle   Säugetierordnungen  gleichen  morpho- 


90  Erstes  Hauptstück. 

genetischen  Potenzen.  Und  wenn  diese  Potenzen  aktiviert  werden 
und  sich  in  Formausbildung  realisieren,  da  kann  es  nicht  wundern, 
daß  Formübereinstimmungen  entstehen.  Das  Gemeinsame,  das  in 
dem  Zahnkeim  verhüllt  lag,  wird  apert.  Das  deutet  nicht  auf  eine 
organisatorische  Verwandtschaft  hin,  sondern  auf  eine  organogenetische 
Äquivalentie. 

In  seiner  grundlegenden  Untersuchung  rügt,  und  meines  Erachtens 
ganz  zu  Recht,  Schlosser1)  die  bekannte  Bezeichnung  Filhols  der 
eocänen  Primaten  als  Paehylemuren,  wodurch  dieser  Autor  eine  nähere 
Verwandtschaft  zwischen  jenen  Primaten  und  Pachydermen  zum  Aus- 
druck bringen  wollte.  Unbedingt  schließe  ich  mich  Schlosser  an,  wenn 
er  1.  c.  S.  20  sagt:  „Die  Anklänge  im  Zahnbau  jedoch,  welchen  Filhol 
so  viel  Gewicht  beigelegt  hat,  erweisen  sich  einfach  als  gleichartige 
Modifikationen,  hervorgerufen  durch  die  gleichen  Umstände,  dürfen 
aber  doch  wahrhaftig  nicht  als  Beweis  für  die  Existenz  einer  näheren 
Verwandtschaft  betrachtet  werden."  Ich  möchte  dieses  Prinzip,  wie 
aus  dem  oben  Gesagten  hervorgeht,  jedoch  weiter  durchführen  als 
Schlosser,  und,  ebensowenig  wie  eine  Formübereinstimmung  des 
Zahnes  als  Ganzes  als  Kriterium  für  verwandtschaftliche  Beziehungen 
zwischen  Säugerordnungen  zu  verwerten  ist,  ebensowenig  innerhalb 
einer  Ordnung  das  Auftreten  oder  das  Fehlen  einer  einzigen  Relief- 
erscheinung als  solche  gelten  lassen.  Wir  müssen  dazu  zunächst  — 
wie  es  auch  Schlosser  getan  hat  —  das  Gebiß  als  Ganzes  betrachten  in 
seiner  Zusammenstellung  und  der  Totalität  seiner  Merkmale. 

Und  wenn  ich  nach  dieser  allgemeinen  Stellungnahme  wieder 
zum  Carabelli-Höcker  zurückkehre,  dann  deute  ich  denselben  für  ein 
Verwandtschaftskriterium  ebenso  wertlos  als  z.  B.  der  sogenannte 
unpaarige  hintere  Höcker  am  unteren  dritten  Molaren.  Oder  sollte  man 
eine  Spezies  vom  Geschlecht  Semnopithecus,  bei  dem  dieser  Höcker 
fehlt,  näher  verwandt  denken  mit  Cercopithecus  als  mit  den  übrigen 
Semnopithecus-Arten  ?  Und  der  Umstand,  daß  bei  Lemur  ein  kräftig 
entwickeltes  Carabelli  vorkommt,  als  regelmäßige  Erscheinung  und 
beim  Menschen  ein  relativ  kleines,  und  dazu  noch  nicht  immer,  darf 
doch  keinen  Grund  abgeben  für  die  Behauptung,  daß  beim  Menschen 
diese  Bildung  auf  dem  Wege  der  Reduktion  sich  findet.  Die  zweite 
Möglichkeit,  daß  es  beim  Menschen  von  neuem  wieder  erscheint,  als 
Manifestierung  einer  in  der  Zahnanlage  schlummernde  Potenz  hat 
wenigstens  ebenso  viele  Berechtigung. 

Jedoch,  mit  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  darf  ich  nicht 
abschließen.  Denn  wie  ist  das  Auftreten  des  Carabellischen  Höckerchen 
mit  der  von  mir  verfochtenen  Dimertheorie  der  Zähne  in  Überein- 
stimmung zu  bringen?  Ein  Produkt  des  Protomer  kann  es  selbstver- 
ständlich nicht  sein.  Doch  auch  zum  Deuteromer  kann  es  nicht  ge- 
hören. Das  wird  durch  die  Fig.  28  bewiesen,  welche  ich  mit  Absicht 
gegeben  habe,  um  jene  Unmöglichkeit  darzutun.  Denn  abgesehen  davon, 
daß  die  konstante  Lagerung  an  der  lingualen  Fläche  des  Haupthöckers 
vom  Deuteromer  schwer  mit  einer  solchen  Herkunft  in  Übereinstimmung 
zu  bringen  ist,  gibt  die  Fig.  28  einen  Zahn  wieder,  dessen  Deuteromer 


1)  M.  Schlosser.  Die  Affen,  Lemuren,  Chiropteren  usw.  des  europäischen 
Tertiärs.    I.  Teil.    Wien  1887. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  91 

vollständig  ist,  also  dreihöckerig,  und  gleichzeitig  ist  Carabellis  Höcker- 
chen anwesend. 

Es  scheint  somit  das  Auftreten  dieses  Höckerchen  mit  meiner 
Theorie  im  Streit  zu  sein,  und  dieser  Umstand  war  für  mich  die  Anregung, 
etwas  ausführlicher  auf  diese  Bildung  einzugehen.  Ich  werde  nun  zeigen, 
daß  dieser  Widerspruch  nicht  besteht,  ja  daß  sogar  das  Auftreten 
dieser  Bildung  eine  sehr  willkommene  Bestätigung  ist  für  der  Richtig- 
keit meiner  Grundanschauung  über  die  Entstehung  des  Säugerzahnes. 

Zur  Begründung  hierfür  muß  ich  zurückgreifen  auf  eine  Frage, 
welche  ich  in  der  ersten  dieser  Studien  schon  gestellt  und  in  all- 
gemeinem beantwortet  habe.  Wenn  es  richtig  ist,  daß  der  Säuger- 
zahn zwei  Generationen  von  Reptilienzähnen  entspricht,  dann  muß 
die  Bildungsstätte  von  neuen  Zahngenerationen,  welche  bei  den  Rep- 
tilien bisweilen  so  energisch  funktioniert,  in  einen  Zustand  von  Inaktivi- 
tät.  von  Latenz  geraten  sein.  Ich  habe  nun  in  der  genannten  Studie 
S.  119  die  Frage  gestellt,  ob  bei  den  Säugern  die  so  energische  Aktivi- 
tät, welche  der  Zahnleistenrand  bei  den  Vorfahren  besaß,  völlig  er- 
löscht ist?  Wörtlich  habe  ich  dort  auf  diese  Fragestellung  folgendes 
geantwortet:  „Ich  möchte  diese  Frage  nicht  unbedingt  bejahend 
beantworten.  Es  scheint  mir  doch  nicht  ganz  ausgeschlossen,  daß  das 
Cingulum,  das  bisweilen  so  kräftig  entwickelt  an  der  lingualen  Seite 
des  Zahnes  erscheint,  die  letzte  schwache  Äußerung  sei  für  die  fast  gänz- 
lich latente  Potenz  des  Zahnleistenrandes  zur  Bildung  weiterer  Zahn- 
generationen. Ich  bin  geneigt,  in  diesem  Cingulum  die  zu  einem  band- 
artigen Emaillestreifen  konzentrierte  Anlage  aller  folgenden  Zahngene- 
rationen zu  erblicken.  Allerdings  nicht  in  der  Weise,  daß  das  Cingulum 
als  eine  rudimentäre  Zahngeneration  gedeutet  werden  soll,  es  ist  die 
nicht  weiter  differenzierte  Manifestation  der  fast  unbeschränkten 
Zahnbildungspotenz,  welche  dem  freien  Ende  der  Zahnleiste  ehemals 
zukam.  Ganz  indifferente  Bildungen  sind  diese  Erscheinungen  nicht, 
ich  möchte  dieselben  als  Ausdruck  einer  teilweisen  Reaktivierung, 
als  Abortivanlage  einer  jüngeren  Generation  auffassen."  Als  ich  diesen 
Passus  niederschrieb,  schwebte  mir.  neben  Bildungen  an  den  Molaren 
anderer  Säugetiere,  auch  das  Tuberculum  Caral)elli  der  Primaten- 
molaren im  Geiste  vor.  Und  nach  eingehender  Prüfung  dieser  Ansicht 
bin  ich  in  der  Überzeugung  gestärkt  worden,  daß  in  dieser  Weise  die 
Erklärung  des  genannten  Höckerchens  gegeben  werden  muß.  Der 
Zahnleistenrand  enthält  als  eine  Matrix  eine  ganze  Familie  von  auf- 
einanderfolgenden Generationen  von  einfachen  Zähnen  in  sich  ver- 
einigt. Aber  es  kommen  davon  nur  zwei,  in  Verbindung  mitein- 
ander zur  Entwicklung.  Eine  eventuelle  dritte  Generation  mußte  sich 
natürlich  bei  völliger  Ausbildung  an  der  lingualen  Seite  des  Deuteromer 
finden.  Sollte  eine  solche  Entwicklung  wirklich  stattfinden,  dann  war 
der  Zahn  nicht  länger  ein  dimeres,  sondern  ein  trimeres  Gebilde,  und 
das  neu  hinzugekommene  Odontomer  würde  neben  dem  Proto- 
und  Deuteromer  als  ,,Tritonier"  Stelle  einnehmen.  Ich  glaube  nun, 
daß  das  Carabelli- Höckerchen  in  der  Tat  die  Manifestation  dieses 
Tritomer  ist.  Und  wie  ansprechend  diese  Erklärung  erscheinen  möge 
im  Verband  mit  dem  ganzen  Charakter  meiner  Theorie  vom  Säuger- 
gebiß, werde  ich  doch  einige  spezielle  Gründe  entwickeln,  welche  die 
gegebene  Deutung  zu  stützen  imstande  sind. 


92  Erstes  Hauptstück. 

Als  ersten  Grund  führe  ich  die  Lagerung  des  Höckerchens  an. 
(  U)  stark  entwickelt  oder  nur  schwach  angedeutet,  es  behält  unverändert 
seine  Lagerung  an  der  lingualen  Seite  des  sogenannten  vorderen  Innen- 
höckers. Nun  wolle  man  sich  erinnern,  daß  dieser  Höcker  den  Haupt- 
höcker des  Deuteromer  darstellt.  Und  wenn  man  dazu  bemerkt,  daß 
letzterer  wieder  dem  Haupthöcker  P  des  Protomer  gegenüber  liegt, 
mit  diesem  oft  durch  eine  Leiste  verbunden  ist,  so  finden  sich  bei 
kräftiger  Ausbildung  des  Carabellischen  Höckerchen,  die  Hauptbestand- 
teile dreier  Zahngenerationen  in  einer  geraden  Linie,  wie  es  mit  den 
ursprünglichen  topographischen  Verhältnissen  bei  den  polyphyodonten 
Vertebraten  übereinstimmt.  Ich  identifiziere  dann  auch  das  Höckerchen 
Carabellis  mit  dem  Haupthöcker  einer  dritten  Zahngeneration,  der  bei 
Aktivierung  der  Anlage  dieser  Generation  zuerst  auftritt,  wie  auch 
vom  Deuteromer  der  Haupthöcker  vor  die  beiden  Nebenspitzen  er- 
scheint. Die  Übereinstimmung  geht  jedoch  noch  weiter.  Wir  haben 
gesehen,  daß  vom  Deuteromer,  nach  der  Entwicklung  des  Haupthöckers, 
zuerst  die  hintere  Nebenspitze  4  erscheint  und  erst  an  dritter  Stelle 
die  vordere  Nebenspitze  3.  Ich  habe  nun  einige  Male  zwei  Tubercula 
an  der  lingualen  Seite  des  Zahnes  angetroffen  und  .das  zweite  tritt 
dann  als  das  kleinere  hinter  dem  normalen  Carabellischen  Höcker  auf. 

Eine  weitere  Erscheinung,  welche  für  die  Richtigkeit  meiner  Auf- 
fassung spricht,  ist  die  folgende.  Wenn  man  Gelegenheit  hat,  eine  große 
Zahl  vollständiger  wohl  erhaltener  Gebisse  des  Oberkiefers  zu  unter- 
suchen --  im  hiesigen  Institut  finden  sich  mehrere  Hundert  solcher 
Gebisse  von  Holländern,  an  denen  kein  einziger  Zahn  fehlt  — ,  dann 
fällt  es  auf,  daß  an  jenen  Gebissen,  an  denen  das  Carabelli-Höckerchen 
kräftig  entwickelt  ist,  in  sehr  vielen  Fällen  das  Deuteromer  der  weiter 
nach  vorn  liegenden  Zähne  ebenfalls  eine  stärkere  Ausbildung  als 
normal  aufweist. 

Von  dieser  Koinzidenz  findet  sich  in  der  Literatur  schon  eine  sehr 
überzeugende  Abbildung.  In  dem  Aufsatz  von  Windle  und  Hum- 
phreys1)  sind  in  Fig.  3  u.  4  zwei  Oberkiefergebisse  des  Menschen  ge- 
zeichnet, mit  dem  Zweck,  das  stark  entwickelte  Carabelli-Höckerchen 
zu  zeigen.  Gleichzeitig  jedoch  ist  —  und  die  Autoren  machen  darauf 
aufmerksam  -  -  am  Caninus  und  an  den  Incisivi  das  Tuberculum 
dentis  --  das  wir  früher  als  die  Manifestation  des  Deuteromer  dieser 
Zähne  erkannt  haben  -  -  ebenfalls  außerordentlich  entwickelt,  beim 
Caninus  bildet  es  eine  kegelförmige  Spitze.  Auch  von  mir  ist  diese 
Koinzidenz  gesehen,  und  ich  glaube  sie  ist  einer  sehr  einfachen  Er- 
klärung zugänglich.  In  gewissem  Sinne  verhält  sich  bei  den  Front- 
zähnen das  Deuteromer  wie  ein  eventuelles  Tritomer  bei  den  Molaren. 
Die  morphologischen  Potenzen  des  Deuteromer  —  der  zweiten  Gene- 
ration --  bleiben  bei  den  Frontzähnen  des  Menschen  während  der 
Entwicklung  meistenteils  latent,  wie  jene  des  Tritomer  —  der  dritten 
Generation  --  am  ersten  Molaren.  Ist  jedoch  bei  einem  Individuum 
die  Neigung,  diese  latenten  Potenzen  zu  reaktivieren,  stark,  dann  wird 
sich  dieselbe  an  den  Frontzähnen  durch  eine  kräftige  Entwicklung  des 
Deuteromer  und  am  ersten  Molaren  durch  eine  solche  des  Tritomer 
äußern.    Das  Carabellische  Höckerchen  wird  dadurch  selbstverständlich 


1)  Extra  cusps  on  the  human  Teeth.    Anat.  Anz.,  Bd.  II. 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  93 

dem  Tuberculum  dentis  der  Frontzähne  nicht  homolog,  ihre  gleichzeitige 

starke  Entwicklung  hat  jedoch  eine  gemeinschaftliche  Ursache. 

Dazu  kommt  noch  eines.    In  der  folgenden  Studie  werde  ich  die 

Varietäten  auch  des  ersten  Molaren  eingehend  besprechen  und  mit  den 

erwünschten  Abbildungen  versehen.    Ich  weise  an  dieser  Stelle  jedoch 

schon  auf  folgende  Gesetzmäßigkeit  hin.    Es  ist  bekanntlich  der  obere 

erste   Molar  des   Menschen   quadrituberkular,   das    Kronenrelief  wird 

Pa  Pp 
durch  die  Formel  — -= — —  ausgedrückt.  Wenn  nun  ein  Carabelli-Höcker- 

chen,  das  ich  der  Einfachheit  wegen  als  T  bezeichnen  werde  (als  ersten 
Buchstaben  von  Tritomer  und  in  Übereinstimmung  mit  P  (Protomer) 
und  D  (Denteromer)  entwickelt  is,  dann  wird  die  Kronenformel  also 
Pa  Pp 
D  4   .    Nun  ist  es  sehr  merkwürdig,  daß  bei  besonders  starker  Ent- 

wicklung  von  T  ein  weiterer  Ausdruck  der  entwicklungskräftigen 
Anlage  des  Zahnes  auftritt,  indem  nun  auch  die  vordere  Nebenspitze 
vom    Denteromer   j   erscheint,    und    die    Kronenformel    dadurch    die 

Pa  Pp 
folgende  wird  3  D  4 .   Es  kann  sogar  noch  weiter  gehen,  indem  auch 

die  Nebenspitzen  am  Protomer  wieder  erscheinen.  Auch  von  solchen 
Zähnen  besitze  ich  einige  Beispiele. 

Die  angeführten  Erscheinungen  werfen  nun,  wie  ich  meine, 
das  rechte  Licht  auf  die  Natur  von  Carabelli-Höckerchen.  Aus  den  in 
dem  Zahnkeim  schlummernden  Potenzen  für  die  nicht  mehr  zur  Ent- 
wicklung gelangenden  Zahngenerationen  wird  die  Anlage  der  zuerst 
folgenden  ■ —  dritten  -  -  wieder  teilweise  aktiviert,  eine  Erscheinung 
also,  die  im  Prinzip  übereinstimmt  mit  jener,  welche  zur  Entstehung 
des  Elefantenmolaren  Anlaß  gegeben  hat  (vgl.  Odont.  Stud.  1,    S.  119). 

Schließlich  muß  ich  auf  eine  Tatsache  aus  der  Ontogenie  der 
Molaren  hinweisen,  welche  die  Richtigkeit  der  gegebenen  Erklärung 
zwar  nicht  unmittelbar  beweist  —  eine  absolute  Beweisführung  ist, 
wie  bei  allen  solchen  Fragen,  wohl  von  vornherein  ausgeschlossen  - 
aber  immerhin  ihr  den  höchsten  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  verleiht. 
Es  betrifft  eine  Tatsache,  welche  durch  Ahrens  in  seiner  Veröffentlichung 
über  die  Entwicklung  der  menschlichen  Zähne  beschrieben  worden  ist1). 
Im  zweiten  Hauptstück  meiner  ersten  Odontologischen  Studie  habe  ich 
eine  Bildung  kennen  gelernt,  welche  während  der  Differenzierung 
der  Schmelzpulpa  im  Schmelzorgan  erscheint,  und  als  Schmelzseptum 
beschrieben.  Die  Bedeutung  desselben  ist  dann  im  vierten  Hauptstück 
auseinandergesetzt  worden.  Und  indem  ich  für  die  Details  und  Beweis- 
führung auf  die  verzeichnete  Schrift  verweise,  sei  hier  nur  kurz  hervor- 
gehoben, daß  das  Schmelzseptum  die  Abgrenzung  im  Schmelzorgan 
zwischen  den  beiden,  dem  Protomer  und  Denteromer  zugehörigen 
Schmelzorganabschnitten  darstellt.  Und  der  Entstehung  des  Säuger- 
zahnes zufolge,  zieht  das  Schmelzseptum  in  frühen  Entwicklungs- 
stadien  in   nahezu  sagittaler  Richtung  durch  das  Organ  und  trennt 


1)  H.  Ahrens,  Die  Entwicklung  der  menschlichen  Zähne.    Habilitationsschr. 
München  1913.    (Erschienen  Wiesbaden  1913.) 


94  Erstes  Hauptstück. 

dasselbe  in  eine  bukkale  -  -  dem  Protomer  -  -  und  eine  linguale  - 
dem  Deuteromer  ■ —  tributäre  Hälfte. 

Ganz  unabhängig  von  meiner  Untersuchung  hat  nun  Ahrens 
die  nämliche  Bildung  beim  Menschen  beobachtet  und  legt  ihr  den  Namen 
„Schmelzstrang"  bei  (1.  c.  S.  32).  Der  Verfasser  gibt  eine  von  vorzüg- 
lichen Abbildungen  begleitete  Beschreibung,  welche  sich  mit  der 
meinigen  in  allen  Hauptsachen  deckt,  und  weist  auch  auf  das  Auftreten 
der  von  mir  als  Schmelznabel  beschriebenen  Einsenkung  hin,  an  der 
Stelle,  wo  das  Septum  ins  äußere  Epithel  übergeht. 

Nun  hat  Ahrens  noch  eine  Erscheinung  im  Schmelzorgan  be- 
schrieben, welche  mir  bei  meinen  Untersuchungen  nicht  aufgefallen  war. 
Ich  werde  den  diesbezüglichen  Passus  wörtlich  wiedergeben:  „Außer 
diesem  zentralen  Schmelzstrang  ist  nun,  wie  aus  den  Fig.  14,  16',  19  zu 
ersehen  ist,  noch  eine  zweite  Verdichtung  vorhanden,  die  die  linguale 
Seite  des  Schmelzorgans  einnimmt,  Diese  wandständige  Zellver- 
dichtung ist  bei  bleibenden  und  Milchmolaren  in  gleicher  Ausbildung 
vorhanden,  und  verschwindet  nach  der  Auflösung  des  Schmelzstranges 
ebenfalls,  wenigstens  zum  größten  Teil." 

Ich  habe  nach  Kenntnisnahme  dieser  Mitteilung  von  Ahrens 
meine  menschlichen  Präparate  darauf  nachgesehen  und  kann  den 
Befund  dieses  Autors  bestätigen ;  doch  ist  die  individuelle  Entwicklung 
ziemlich  schwankend.  In  bezug  auf  die  Frage  der  Zahnentwicklung 
im  allgemeinen  und  der  Bedeutung  des  Tuberculum  Carabelli  im  be- 
sonderen scheint  mir  der  Befund  von  Ahrens  von  größter  Wichtig- 
keit, Denn  es  darf  wohl  vorausgesetzt  werden,  daß  die  Bedeutung  dieser 
mehr  lingual  gelagerten  epithelialen  Bildung,  die  jedoch,  wie  auch  aus 
den  Abbildungen  von  Ahrens  hervorgeht,  nicht  jene  Selbständigkeit 
erlangt,  als  das  eigentliche  Septum.  ihrem  Wesen  nach  keine  andere 
sein  kann  als  jene  von  letzterem.  Wenn  dieses  die  Grenzmarke  im 
Schmelzorgan  darstellt  zwischen  der  protomeren  und  der  deuteromeren 
Zahngeneration,  welche  im  Säugerzahn  aufgegangen  sind,  dann  muß 
die  linguale  epitheliale  Bildung  die  mediale  Grenze  im  Schmelzorgan 
der  letzteren  Generation  darstellen,  und  ist  die  von  Ahrens  beschriebene 
Bildung  nicht  anders  zu  deuten  als  in  dem  Sinne,  daß  bei  den  Molaren 
das  Schmelzorgan  nicht  etwa  zu  gleichen  Hälften  zum  Proto-  und  Deu- 
teromer gehört,  sondern  daß  ein  kleiner  medialer  Abschnitt  davon  zu 
der  auf  dem  Deuteromer  folgenden  Generation,  also  zum  Tritomer, 
gehört. 

In  den  histologischen  Differenzierungserscheinungen  an  der 
lingualen  Seite  des  Schmelzorgans  manifestiert  sich  gleichsam  die  im 
Zahnkeim  des  Menschen  enthaltene  Anlage  aller  Zahngenerationen 
deren  sukzessiven  Ausbildung  beim  Entstehen  des  Säugerzahnes 
unterdrückt  wrorden  ist,  zugunsten  der  zwei,  welche  als  die  ersten  in 
der  Reihe  zur  kräftigen  Entwicklung  gelangten. 

Aus  den  verschiedenen  angeführten  Gründen  geht  hervor,  daß 
die  Deutung  des  Tuberculum  Carabelli  als  die  rudimentär  entwickelte 
dritte  Zahngeneration  als  stichhaltig  erscheint,  Mit  dieser  Erkenntnis 
ist  aber  gleichzeitig  ein  Urteil  ausgesprochen  über  den  Wert  dieses 
Gebildes  für  stammesentwicklungsgeschichtliche  Spekulationen.  Jeder 
Zahn  von  jedem  Säugetier  enthält  in  nuce  das  Vermögen,  eine  dem 
Carabelli-Höckerchen  der  Primaten  entsprechende  Bildung  aus  sich 
hervorgehen  zu  lassen,  denn  in  jedem  Zahnkeim  ist  eine  ganze  Zahn- 


Die  Differenzierung  der  Oberkieferzähne.  95 

familie  vom  Reptiliengebiß  versteckt  (für  den  Begriff  Zahnfamilie 
verweise  ich  nach  Odontologische  Studie  I,  S.  121).  Und  ebenso  wie 
beim  Elefanten  die  sukzessive  Ausbildung  der  Generationen  dieser 
Familien  in  unbeschränkter  Zahl  wieder  von  neuem  in  Gang  gesetzt 
ist,  so  kann  unter  dem  Einfluß  bestimmter  Umstände  bei  anderen 
Säugern  auch  die  dritte  Generation  sich  wieder  morphologisch  demon- 
strieren. Eine  solche  Reaktivierung  kann  bei  verschiedenen  Tieren, 
ob  einander  noch  verwandt  oder  im  System  sehr  weit  voneinander 
entfernt  auftreten,  wenn  der  Zahnkeim  den  diesbezüglichen  Impuls 
dazu  empfindet.  Es  ist  dann  auch,  wie  ich  schon  hervorhob,  ein 
Irrtum,  wenn  man  das  Carabellische  Höckerchen  als  eine  primitive 
Bildung  deutet,  aus  dem  Grunde,  daß  es  auch  bei  Lemur  entwickelt  ist, 
wie  es  von  Cope  und  Adloff  geschieht,  oder  wenn  man  das  Fehlen 
desselben  bei  den  Anthropoiden  und  das  häufige  Auftreten  beim 
Menschen  als  ein  wichtiges  Moment  erklärt,  das  Menschen  und  Menschen- 
affen scharf  scheidet,  oder  als  Beweis  anführt,  „daß  ihre  Trennung  zum 
mindesten  sehr  weit  zurückreicht",  wie  es  Adloff  tut.  Man  braucht 
für  das  Erscheinen  ebensowenig  als  für  den  Verlust  eines  Höckerchens 
gar  nicht  Zeiträume  sich  zu  denken,  die  nicht  lange  genug  angenommen 
werden  können1).  Doch  auch  als  progressive  Bildung  in  dem  Sinne, 
welche  daran  gewöhnlich  in  der  phylogenetischen  Literatur  gegeben 
wird,  kann  das  Höckerchen  nicht  gelten.  Nur  in  bezug  auf  die  Form 
des  Zahnes  und  dessen  Funktionsfähigkeit  darf  man  es  als  progressiv 
bezeichnen,  denn  es  ist  die  Äußerung  einer  mehr  kräftigen  Entwicklung 
und  trägt  gewiß  zur  Vergrößerung  der  Kaufläche  beim  Menschen  und 
bei  Lemuren  bei.  Ob  gerade  hierin  die  Ursache  des  Auftretens  gesucht 
werden  darf,  möge  dahingestellt  sein.  Daß,  wie  Batujeff  will,  die 
stärkere  Entwicklung  beim  Menschen  eine  Art  Kompensation  darstellt 
für  den  Verlust  des  dritten  Molaren,  kann  ich  nicht  zustimmen.  Die 
Tatsache,  daß  auch  beim  menschlichen  zweiten  Milchmolaren  die  Bil- 
dung sehr  häufig  ist,  ist  an  sich  schon  wenig  günstig  für  eine  solche 
korrelative  Beziehung.  Und  aus  zu  diesem  Zweck  angestellten  Unter- 
suchungen habe  ich  die  Überzeugung  erlangt,  daß  eine  solche  Be- 
ziehung nicht  besteht.  Darüber  werde  ich  in  der  dritten  Studie 
ausführlich  berichten. 


1)  P.  Adloff,  Das  Gebiß  des  Menschen  und  der  Anthropomorphen,  S.  128. 


Zweites  Hauptstück. 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne. 

Es  wird  in  diesem  Kapitel  nur  von  den  Prämolaren  und  Molaren 
gehandelt  werden,  da  von  Schneide-  und  Eckzähnen  schon  vorher 
die  Rede  war. 

Ein  Versuch  in  den  Entwicklungsgang  der  Unterkieferzähne 
einzudringen,  stößt  auf  nicht  geringe  Schwierigkeiten.  Im  Vergleich 
mit  der  relativen  Leichtigkeit,  womit  es  gelingt,  die  verschiedenen 
Entwicklungsphasen  der  oberen  Zähne  in  einer  logischen  Reihe  anzu- 
ordnen und  besonders  in  Übereinstimmung  mit  dem  Prinzip  der  Dimerie 
des  Säugerzahnes  zu  bringen,  erheben  sich  bei  den  unteren  Zähnen 
Hindernisse,  die  wohl  geeignet  sind,  Zweifel  zu  erwecken,  ob  überhaupt 
jenes  Prinzip  auch  für  die  Unterkieferzähne  gültig  sei.  Die  Tatsache 
aber,  daß  ontogenetisch  die  Dimerie  bei  den  unteren  Zähnen  mit  gleich 
großer  Bestimmtheit  festgestellt  werden  konnte  als  bei  den  oberen, 
beseitigt  wohl  sofort  diese  Zweifel  und  bildet  gleichzeitig  eine  nicht 
erlöschende  Anregung,  um  die  Lösung  des  Problems  von  der  Morpho- 
genese der  unteren  Zähne  versuchen  zu  wollen.  Mehrere  Male  hatte 
ich  ein  System  der  Höckerhomologien  auf  Grundlage  des  allgemeinen 
Prinzips,  daß  auch  der  Unterkieferzahn  in  nuce  ein  zweifach  trikono- 
donter  Zahn  war,  entworfen,  bisweilen  die  Zahnformen  einer  größeren 
Zahl  von  Primaten  mit  diesem  System  in  Einklang  gebracht,  um  beim 
Heranziehen  weiterer  Formen  auf  Widersprüche  zu  stoßen,  welche  den 
bisher  gefolgten  Weg  als  einen  Irrweg  kennzeichneten.  Im  Laufe 
der  Zeit  haben  sich  dann  auch  meine  Ansichten  über  die  Morpho- 
genese der  unteren  Zähne  mehrere  Male  gewechselt. 

Daß  der  Entwicklungsgang  der  unteren  Zähne  ein  etwas  anderer 
gewesen  sein  muß  als  jener  der  oberen,  leuchtet  sofort  aus  einer  ein- 
fachen Vergleichung  beider  Gebißreihen  ein.  Wenn  man  dann  auch  nur 
die  allmähliche  Komplizierung  als  Erscheinung  an  sich  zur  Darstellung 
bringen  wollte,  dann  würde  man  bald  die  Überzeugung  erlangen,  daß 
etwas  Übereinstimmendes  in  der  Formgenese  von  oberen  und  unteren 
Zähnen  kaum  zu  konstatieren  sei.  In  der  festen  Überzeugung  jedoch, 
daß  der  Grundtypus  aller  Zähne  der  gleiche  ist,  wurzelt  die  Aufgabe 
die  Formerscheinungen  an  beiden  Reihen  aus  diesem  Grundtypus 
abzuleiten  oder  darauf  zurückzuführen.  Nur  in  dieser  Weise  kann  eine 
richtige  Homologisierung  der  Kronenhöcker  beider  Zahnreihen  erreicht 
werden. 

Wie  aus  dem  vorangehenden  Abschnitt  zu  ersehen  war,  gelang 
es  ohne  große   Schwierigkeit,  die  oberen  Zähne  in  ihrer  sukzessiven 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne.  97 

Differenzierung  als  immer  vollkommenere  Manifestationen  des  Grund- 
typus kennen  zu  lernen.  Das  wurde  dadurch  erleichtert,  daß  in  der 
Beteiligung  beider  Odontomeren  am  Aufbau  des  Zahnes  das  Protomer 
dem  Deuteromer  gegenüber  immer  bevorzugt  war,  und  überdies  in 
jedem  Odontomer  das  Hauptelement,  es  sei  P  oder  D,  wieder  den 
Nebenspitzen  gegenüber  im  Vorrang  war.  Der  Differenzierungsgang 
der  oberen  Molaren  geschah  mit  einer  leicht  zu  erkennenden  Regel- 
mäßigkeit; die  Vervollkommnung  der  Krone  kam  durch  ein  sukzessives 
Hinzufügen  neuer  Höcker  zustande.  Dabei  schritt  die  Komplizierung 
in  der  ersten  Entwicklungsphase  in  bukko-lingualer  Richtung  fort, 
das  ist  in  der  Richtung,  in  der  die  beiden  Odontomeren  hinsichtlich 
einander  gelagert  sind.  Daher  war  es  leicht  möglich,  sich  von  der 
stufenweise  zustandekommenden  Vervollkommnung  jedes  der  Odonto- 
meren zu  überzeugen. 

Die  unteren  Zähne  zeigen  dagegen  einen  ganz  anderen  Entwick- 
lungsgang. Denn  hier  findet  die  Differenzierung  zunächst  in  sagittaler 
Richtung  statt,  und  an  zweiter  Stelle  kommt  jene  in  transversaler 
Richtung  hinzu.  Mit  anderen  Worten:  in  den  ersten  Entwicklungs- 
phasen tritt  bei  den  oberen  Zähnen  die  Breitenentwicklung  in  den  Vorder- 
grund, bei  den  unteren  dagegen  die  Längsentwicklung.  Und  da  erstere 
der  „genetischen  Längsachse"  des  Zahnes  gleichgerichtet  ist,  wird  hier 
notwendigerweise  infolge  der  graduellen  Verschiedenheit  in  der  Diffe- 
renzierungsstufe beider  Odontomeren  die  Einsicht  in  den  dinieren  Cha- 
rakter des  Zahnes  in  erfreulicher  Weise  erleichtert.  Nicht  aber  jedoch 
bei  den  unteren  Molaren.  Hier  findet  zuerst  Vergrößerung  in  Längs- 
richtung statt.  Das  bringt  mit  sich,  daß  beide  Odontomeren  in  gleicher 
Intensität  dem  Differenzierungsreiz  ausgesetzt  sind,  so  daß  eine  zeit- 
lich höhere  Differenzierung  vom  Protomer  dem  Deuteromer  gegen- 
über unterbleibt.  Die  Folge  davon  ist,  daß  die  morphologische  Mani- 
festation der  in  dem  Zahnkeim  sich  findenden  Höckeranlagen  bei  den 
unteren  Zähnen  in  ganz  anderer  Weise  verlaufen  muß,  als  bei  den  oberen. 
Im  Oberkiefer  trägt  die  Entwicklung  der  Krone  den  Charakter  einer 
systematischen  Addition  von  bestimmten  Höckerchen,  im  Unterkiefer 
wird  am  bestehenden  Kronenteil  ein  hinterer  Abschnitt  zugefügt,  der 
anfänglich  indifferent  ist  und  erst  im  Laufe  der  weiteren  Entwicklung 
eine  bestimmte  Höckerdifferenzierung  zu  zeigen  beginnt. 

Die  ganz  verschiedene  Natur  des  Differenzierungsganges  der 
oberen  und  unteren  Zähne  findet  in  der  odontologischen  Literatur 
Widerklang  in  der  Unbestimmtheit,  womit  eine  Differenzierungstheorie, 
welche  für  die  unteren  Molaren  aufgestellt  wurde,  auch  auf  die  oberen 
angewendet  wird,  oder  umgekehrt,  wenn  die  Theorie  auf  die  Erschei- 
nungen der  oberen  Zähne  basiert  wurde.  So  ist  von  Scott  eine  Theorie 
über  die  Morphogenese  der  Prämolaren  aufgestellt  worden,  vornehm- 
lich auf  Grund  von  an  der  oberen  Gebißreihe  beobachteten  Erschei- 
nungen. Auch  bei  dieser  Theorie  bildet  das  ganz  regelmäßig  sukzessive 
Auftreten  bestimmter  Höckerchen  —  vom  Autor  als  Protocone,  Deutero- 
cone,  Tritocone  und  Tetracone  bezeichnet  —  an  den  oberen  Prämolaren 
die  Grundlage  der  Theorie.  Die  Besprechung  der  unteren  Prämolareu 
wird  durch  den  Autor  mit  der  Bemerkung  eingeleitet:  „The  develop- 
ment  of  the  inferior  premolars  appears  to  be  somewhat  less  regulär 
than  that  of  the  superior"  (1.  c.  S.  414).  Und  wie  abweichend  von  jener 
der  oberen  Prämolaren  der  Autor  jene  der  unteren  sich  denkt,  geht 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  7 


98  Zweites  Hauptstück. 

aus  dem  Schlußsatz  der  Vergleichung  hervor:  „The  inferior  premolars 
contains  three  elements  wich  are  homologous  with  molar  cusp,  the 
upper  premolars  contain  but  one  cusp  wich  can  be  homologous  with 
a  molar  cusp."  Aus  dieser  Schlußfolgerung  geht  zur  Genüge  hervor, 
wie  schwierig  es  auch  diesem  Autor  war,  die  Homologie  zwischen  den 
Tuberkeln  der  oberen  und  unteren  Prämolaren  aufzufinden. 

Ein  zweites  Beispiel  aus  der  Literatur  liefert  die  Cope-Osborn- 
:  che  Theorie.  Diese  Theorie  unterscheidet  bekanntlich  am  Säuger- 
molar zwei  Teile:  das  ältere  Trigon  resp.  Trigonid  und  das  hinzu- 
gekommene jüngere  Talon  resp.  Talonid.  Schon  in  bezug  auf  das 
Trigon  müssen  die  Autoren  einen  scharfen  Unterschied  zwischen  oberen 
und  unteren  Zähnen  aufstellen,  gleich  am  Anfang  der  Differenzierung 
divergieren  die  Entwicklungsgänge  beider  Zahnreihen,  da  die  Ver- 
schiebung des  Protoconus  im  Oberkiefer  nach  innen,  im  Unterkiefer 
nach  außen  sich  vollzogen  haben  soll.  Und  beim  jüngeren  Zahnteil 
-  dem  Talon(id)  —  werden  die  Differenzen  noch  ausgiebiger.  Offen- 
bar ist  die  Theorie  —  im  Gegensatz  zu  jener  von  Scott  — -  vom  Stu- 
dium der  unteren  Zähne  ausgegangen,  und  hier  berechtigt  die  Kon- 
figuration der  Zähne  gewiß  die  Unterscheidung  eines  Trigonid  und 
Talonid.  Auf  die  Oberkieferzähne,  auf  welche  der  Form  nach  die  ge- 
nannte Einteilung  gar  nicht  motiviert  erscheint,  wird  dieselbe  in  sehr 
gezwungener  Weise  angewendet.  Ich  komme  auf  diesen  Punkt  noch 
zurück. 

Die  Unbestimmtheit,  mit  der  Scott,  Ausgang  nehmend  von 
den  oberen  Zähnen,  seine  Gesichtspunkte  auf  die  unteren  Zähne  über- 
trägt, die  Gezwungenheit,  mit  der  Cope-Osborn,  von  den  unteren 
Zähnen  Ausgang  nehmend,  die  oberen  Zähne  in  ihrer  Theorie  einzu- 
passen sich  bemühen,  beweisen  schon  genügend,  daß  die  Frage,  ob  der 
Differenzierungsgang  beider  Zahnreihen  eine  identische  gewesen  ist, 
völlig  berechtigt  ist.  Und  dennoch  ist  bisher  von  keinem  der  Autoren 
dieser  Unterschied  scharf  betont. 

Das  Wesentliche  in  der  Differenz  des  Entwicklungsganges  beider 
Zahnreihen  habe  ich  oben  schon  kurz  gestreift  und  ich  werde  jetzt  näher 
darauf  eingehen  und  zunächst  die  Frage  zu  beantworten  versuchen, 
auf  welche  Ursache  jene  Differenz  beruht.  Erst  nachdem  wir  Einsicht 
darin  bekommen  haben,  wird  es  möglich  sein,  die  Homologien  der 
Höcker  festzustellen  und  dieselben  mit  jenen  der  oberen  Zähne  zu 
vergleichen. 

Für  die  Beantwortung  der  gestellten  Frage  ist  es  notwendig,  vom 
Gebiß  als  Ganzes  auszugehen  und  die  gegenseitigen  Beziehungen  der 
beiden  Zahnreihen  näher  zu  studieren. 

Wenn  man  sich  die  Stammform  der  Primaten  mit  einem  Gebiß 
ausgerüstet  vorstellen  darf,  wie  jenes  der  Mehrzahl  der  rezenten  Rep- 
tilien, dann  war  dasselbe  nach  der  von  Ryder  inaugurierten  Bezeich- 
nungsweise,  ein  isognathes1).  Die  beiden  Zahnreihen  waren  gleich 
weit  und  beim  Schließen  der  Kiefer  griffen  die  Zähne  zwischen  ein- 
ander. In  dem  Alternieren  ist  schon  eine  Beziehung  zwischen  oberen 
und  unteren  Zähnen  verwirklicht,  welche  für  die  ganze  weitere  Diffe- 


1)  J.  A.  Ryder,  On  the  mechanical  genesis  of  toothforms.  Proc.  Acad.  Nat. 
Sc.  Philadelphia  1878.  --  Further  notes  on  mechanical  genesis  of  toothforms. 
Ibid.  1879. 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne.  99 

renzierung  bestimmend  ist.  Dieser  Gebißtypus,  der  auch  von  Hensel1) 
als  der  Grundtypus  des  Gebisses  erkannt  wurde,  ist  bei  der  Mehrzahl 
der  Säuger  persistent  geblieben.  Bei  einfacher  Form  der  Zähne  ist 
diese  Beziehung  zwischen  den  Elementen  beider  Zahnreihen  vorzüglich 
dazu  geeignet,  die  Funktion  der  Kiefer  als  Greiforgane  durch  Einklem- 
mung der  Beute  zu  stützen.  Eine  höhere  mechanische  Bedeutung 
kommt  einem  solchen  Gebiß  nur  in  sehr  beschränktem  Maße  zu,  und 
für  eine  höhere  funktionelle  Gestaltung  der  Zähne  kann  ein  solches 
haplodontes,  isognathes  Gebiß  kaum  Veranlassung  geben. 

Ganz  anders  gestaltet  sich  aber  die  Sache,  wenn  das  isognathe 
Gebiß  einem  anisognathen  die  Stelle  räumt,  wenn  die  Zahnreihen 
ungleich  weit  werden  und  die  Unterkieferzähne  bei  geschlossenem  Munde 
durch  die  obere  Reihe  umfaßt  wird.  Dadurch  werden  die  mechanischen 
Beziehungen  zwischen  beiden  Reihen  wesentlich  geändert.  Ich  bin  der 
Ansicht,  daß  in  diesen  neuen  Beziehungen  zwischen  Ober-  und  Unter- 
kiefergebiß der  Schlüssel  liegt  für  die  weitere  Komplikation  der  Zähne 
nicht  allein,  sondern  auch  für  die  Divergenz  des  Entwicklungsganges 
beider  Zahnreihen.  Wie  ich  aus  Weber2)  ersehe,  hat  auch  Winge 
schon  auf  die  Bedeutung  des  erwähnten  Umstandes  für  die  weitere 
Zahndifferenzierung  hingewiesen.  Die  dänische  Sprache,  worin  die 
bezügliche  Veröffentlichung  gestellt  ist,  macht  sie  leider  für  mich 
unzugänglich. 

Die  Anisognathie  des  Gebisses  bringt  dasselbe  auf  eine  funk- 
tionell höhere  Stufe.  Genügt  für  das  Ergreifen  und  Festklemmen  der 
Beute  die  ,, Zahnradwirkung"  des  isognathen  Gebisses,  bei  dem  aniso- 
gnathen wird  die  mechanische  Bedeutung  eine  mehr  ausgiebige,  denn 
es  gesellt  sich  an  der  erstgenannten  Wirkung  jene  der  Zahnreihen  als 
Ganzes  hinzu.  Die  obere  Reihe  bietet  in  ihrer  lingualen  Fläche  der 
unteren  eine  Reibungsfläche,  und  es  funktionieren  beide  wie  eine  Schere. 
In  bezug  auf  die  Verkleinerung  der  Beute  bedeutet  diese  „Scheren- 
wirkung" gewiß  einen  großen  Fortschritt. 

In  welcher  Weise  kann  nun  die  Anisognathie  zur  Vervollkomm- 
nung der  einzelnen  Zähne  beigetragen  haben  ?  Ich  möchte  dazu  folgende 
Gesichtspunkte  anführen.  Bei  der  Scherenwirkung  der  Gebißreihen 
stellen  die  lingualen  Flächen  der  oberen  Zähne  und  die  bukkalen  der 
unteren  die  beiden  Reibungsflächen  dar.  Beide  Flächen  sind  einander 
aber  in  genetischer  Hinsicht  nicht  homolog.  Denn  die  linguale  Seite 
der  oberen  Zähne  ist  die  deuteromere,  das  ist  jene,  welche  im  Zahnkeim 
die  Lagerung  der  latenten  Anlagen  weiterer  Zahngenerationen  ent- 
spricht. Nun  erhebt  sich  die  Frage,  ob  von  dieser  Reibung  der  Reiz 
ausgegangen  ist,  wodurch  die  latente  Anlage  aktiviert  wurde,  und  das 
Deuteromer  zur  morphologischen  Manifestation  gelang,  anfänglich  als 
eine  unansehnliche  Verdickung  an  der  lingualen  Fläche  der  Zahn- 
krone, welche  dann  später  zu  einem  wirklichen  Höcker  —  der  Haupt- 
höcker D  des  Deuteromer  —  sich  gestaltete.  Eine  derartige  Reaktion 
konnte  sich  selbstverständlich  an  der  unteren  Gebißreihe  nicht  einstellen, 
denn  hier  war  es  die  äußere  Zahnfläche  —  die  protomere  —  welche 
als  Reibungsfläche  funktionierte.  An  dieser  Seite  finden  sich  keine 
latenten  Potenzen. 


1)  R.  Hensel,  Über  Homologie  und  Variation  in  den  Zahnformeln  einiger 
Säugetiere.     Morph.  Jahrb.,  Bd.  V. 

2)  M.  Weber,  Die  Säugetiere,  S.  172. 


100 


Zweites  Hauptstück. 


PtD 


B 


C 


D 


mata  in  Fig. 


Von  dem  gegebenen  Gesichtspunkt  aus  betrachtet,  erscheint  es 
ganz  rationell,  daß  die  Anisognathie  des  Gebisses  die  Veranlassung 
war,  daß  das  Deuteromer  sich  an  der  Konfiguration  der  Krone  der 

oberen  Zähne  zu  be- 
teiligen begann  und 
<::-f-:-K.v-        ---::f:-v-:;---         -''-■-----  .       an     der     Innenseite 

<3=>  <ZjEEI>  <d3ü£>      ^      des       trikonodonten 

Zahnes  ein  neuer 
Höcker,  der  Haupt- 
höcker D  vom  Deu- 
teromer, sich  ent- 
wickelte. Einmal 
entwickelt  lag  in 
diesem  Zusatz  zu  den 
oberen  Zähnen  der 
Ausgangspunkt  für 
eine  Differenzierung 
der  unteren.  Ich 
werde  das  klar  zu 
machen  versuchen 
mit  Hilfe  der  Sche- 
31. 
In  Schema  a  ist 
der  einfachste  Zu- 
stand eines  anisogna- 
then  Gebisses  darge- 
stellt; von  den  bei- 
den Zahnreihen  alter- 
nieren die  Elemente, 
welche  noch  einfache, 
seitlich  zusammenge- 
drückte Zähne  sind. 
Die  untere  Keihe 
(durchgezogene  Um- 
risse) stellt  die  Unter- 
kieferelemente dar. 
Die  Hauptspitze  P  ist 
durch  einen  größeren 
Punkt,  angegeben. 
In  diesem  einfachen 
Zustand  bestehen 
noch  die  Spatiainter- 
dentalia  als  Remini- 
szenzen an  der  pri- 
mitiven isognathen 
Vorstufe. 

Wie  gesagt,  be- 
trachte ich  die  Rei- 
bung    der     unteren 
Zähne       über       die 
linguale   Fläche   der   oberen   als   den  Impuls   für  die  morphologische 
Differenzierung  des  Haupthöckers  D  vom  Deuteromer.     Diese  höhere 


F 


Fig.  31.     Schemata  zur  Veranschaulichung  der  Wechsel- 
beziehungen zwischen  oberen  und  unteren  Zähnen  in  den 
verschiedenen  Entwicklungsstadien. 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne. 


101 


Bildungsstufe  ist  in  dem  Schema  b  veranschaulicht.  Infolge  des  Alter- 
nierens der  Zähne  von  Ober-  und  Unterkiefer  wird  bei  geschlossenen 
Kiefern  der  Höcker  D  in  ein  Spatium  zwischen  zwei  Unterkieferzähnen 
aufgenommen.  Dieser  ganz  einfache  Zustand  ist  in  der  Tat  noch  ver- 
wirklicht —  und  nicht  selten  --  im  vorderen  Abschnitt  des  Gebisses 
mancher  Primaten.  Ich  verweise  zum  Beweise  davon  z.  B.  auf  die 
Fig.  32  und  33.  In  beiden  Figuren  sind  die  Kauflächen  der  oberen  und 
unteren  Zähne  übereinander  gezeichnet,  so  wie  sie  in  der  Ruhelage 
sich  decken.  Die  Fig.  32  hat  auf  Lemur  und  die  Fig.  33  auf  Propithecus 
bezug.  Die  Kaufläche  der  oberen  Zähne  ist  punktiert  angegeben  und 
es  sind  die  darauf  vorkommenden  Höcker  in  ihrer  Umgrenzung  ein- 
gezeichnet; die  Kaufläche  der  unteren  Zähne  ist  durchgezogen  skizziert 


$. 

-Pl 

p 

1 

«2 

t 

"l 


ri 


n 


Fig.   32.     Überdeckung    der  Kaufläche        Fig.   33.     Überdeckung    der  Kaufläche 
beider  Zahnreihen  bei  Lemur.  beider  Zahnreihen  bei  Propithecus. 


und  die  Höcker  sind  durch  Punkte  angegeben.  Es  sei  nun  im  Anschluß 
an  das  Schema  b  in  Fig.  31  auf  den  vorderen  Gebißabschnitt  sowohl  von 
Lemur  mit  drei,  als  von  Propithecus  mit  nur  zwei  Prämolaren  hingewiesen. 
Bei  beiden  Tieren  sind  die  unteren  dieser  Zähne  nur  mit  einem  einzigen 
Haupthöcker  ausgestattet,  und  beim  Schließen  der  Kiefer  lagern  sie 
ganz  innerhalb  der  oberen  Zahnreihe.  Die  topographischen  Beziehungen 
zwischen  den  beiden  vorderen  Prämolaren  von  Lemur,  dem  ersten 
Prämolar  von  Propithecus  und  den  Gegenzähnen  im  Oberkiefer  ent- 
sprechen noch  vollständig  dem  primitivsten  Zustand  des  anisognathen 
Gebisses,  welches  im  Schema  a  von  Fig.  31  dargestellt  ist.  Der  zweite 
obere  Prämolar  von  Lemur  und  Propithecus  besitzt  schon  einen  deut- 
lichen /)-Höcker  und  dieser  wird  im  Spatium  interdentale  der  unteren 
Prämolaren  gefaßt,    Am  dritten  oberen  Prämolar  von  Lemur  ist  der 


102  Zweites  Hauptstück. 

Z)-Höcker  besonders  kräftig  entwickelt  und  dringt  zwischen  den  Hinter- 
land des  dritten  Prämolaren  und  den  Vorderrand  des  ersten  Molaren 
vom  Unterkiefer  ein  und  wird  größtenteils  von  diesen  beiden  Rändern  um- 
rahmt. Das  Geschlecht  Lemur  bietet  durch  die  kräftige  Entwicklung 
des  D-Höckers  von  P3  in  Verbindung  mit  dem  ziemlich  einfachen  Bau 
der  Molaren  Verhältnisse,  welche  viel  mehr  dazu  beitragen,  die  Entwick- 
lung der  unteren  Zähne  zu  begreifen,  als  jene  bei  Propithecus.  Der 
plötzliche  Übergang  des  einfach  gebauten  letzten  Prämolaren  bei  diesem 
Tiere  in  den  stark  differenzierten  ersten  Molaren  bietet  gar  keinen  An- 
griffspunkt für  ein  Verständnis  der  genannten  Vorgänge. 

Aus  den  gegebenen  Figuren  ist  zu  schließen,  daß  den  Zähnen  des 
Oberkiefers  durch  die  Ausbildung  des  D-Höckers  bei  der  Differenzierung 
die  Führung  zukommt.  Diesen  Vorrang  der  oberen  Zähne  findet  man 
weiter  bei  allen  Primaten  noch  bestätigt  durch  die  Konfiguration  der 
Incisivi.  Denn  bei  diesen  Zähnen  ist  die  primitive  Scherenwirkung 
der  Gebißreihen  in  den  meisten  Fällen  noch  erhalten,  und  im  Anschluß 
daran  sieht  man  dann  auch,  daß  die  oberen  Incisiven  den  D-Höcker 
in  oftmals  sehr  kräftiger  Entwicklung  besitzen,  während  an  den  unteren 
fast  jede  Spur  davon  vermißt  wird. 

Das  Alternieren  der  Zähne  in  Verbindung  mit  der  Anisognathie 
ist  also  als  die  Grundursache  zu  betrachten,  daß  zwischen  oberen  und 
unteren  Zähnen  eine  Anisomorphie  zustande  kam,  indem  die,  in  den 
oberen  Zahnkeimen  schlummernden  Potenzen  aktiviert  wurden,  während 
jene  der  unteren  Keime  vorläufig  latent  blieben. 

Als  nächste  Entwicklungsstufe  ist  jene  zu  bezeichnen,  worin 
eine  Reaktion  der  unteren  Zähne  auf  die  Entwicklung  des  D- Höckers 
an  den  oberen  auftritt.  Diese  Reaktion  besteht  darin,  daß  die  unteren 
Zähne  anfangen,  sich  an  ihrem  distalen  Ende  zu  verlängern  und  einen 
napfförmig  ausgehöhlten  neuen  Abschnitt  bilden,  in  dem  bei  ge- 
schlossenen Kiefern  der  D-Höcker  der  oberen  Zähne  aufgenommen  wird. 
Dieser  Zahnteil  ist  seit  Copes  Differenzierungstheorie  als  das  Talonid 
bekannt,  und  ich  werde  es  auch  unter  diesem  Namen  anführen.  Denn 
eine  spezielle  Bezeichnung  dieses  Zusatzes  an  den  unteren  Zähnen  ist 
nicht  nur  aus  Bequemlichkeitsgründen  erwünscht,  sondern  auch  auf 
Grund  der  genetischen  Bedeutung  dieses  Zahnteiles  notwendig.  Bei 
seinem  ersten  Auftreten  läßt  sich  doch  das  Talonid  mit  einem  be- 
stimmten Höcker  nicht  homologisieren. 

Die  Entstehung  des  Talonid  ist  eine  Korrelativerscheinung,  dieser 
Zahnteil  eine  Reaktivbildung  der  unteren  Zähne  als  Anpassung  an  die 
Entwicklung  des  D-Höckers  der  oberen.  Beide  Bildungen  sind  dann 
auch  durch  die  ganze  Reihe  der  Primaten  aneinander  gebunden.  Wie 
stark  die  Zähne  sich  später  noch  weiter  differenzieren  dürfen,  immer 
wird  das  Talonid  mit  dem  D-Höcker  artikulieren;  es  bietet  diesem 
Höcker  in  seiner  Konkavität  eine  Druckfläche. 

Fragt  man,  warum  die  unteren  Zähne  jene  Neubildung  aus  sich 
herausgehen  ließen,  dann  ist  auch  hier  wieder  die  funktionelle  Wechsel- 
beziehung zwischen  beiden  Zahnreihen  ausschlaggebend.  Denn  durch 
die  Entwicklung  des  Talonid  wird  dem  D-Höcker  der  oberen  Zähne, 
der  infolge  des  Alternierens  der  Zähne  einem  unteren  Spatium  inter- 
dentale entsprach,  eine  Reibungs-  und  Druckfläche  geboten.  Das  Ge- 
biß wird  dadurch  arbeitskräftiger,  in  mechanischer  Hinsicht  erreicht 
es  eine  höhere  Bildungsstufe;  denn  zu  der  Scherenwirkung  gesellt  sich 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne.  103 

jetzt  die  Preßwirkung.  Die  erstgenannte  Funktion  wird  sich  vorläufig 
noch  in  dem  primitiven  Teil  der  Zähne  vollziehen,  die  letztgenannte 
wird  in  dem  jüngeren  Teil  der  Zähne  —  dem  Z)-Höcker  der  oberen  und 
dem  Talonid  der  unteren  —  lokalisiert.  Für  die  Erreichung  dieses 
Zieles  standen  zwei  Möglichkeiten  offen:  es  hat  nämlich  der  untere 
Zahn  ein  Talonid  aus  seinem  vorderen  Rande  entwickeln  können, 
welches  in  funktionelle  Beziehung  zu  dem  Z)-Höcker  des  anstoßenden 
vorderen  oberen  Zahnes  tritt,  oder  es  konnte  das  Talonid  sich  am  di- 
stalen Ende  des  Zahnes  entwickeln  und  in  Relation  zum  hinteren  oberen 
anstoßenden  Zahn  treten.  Letztere  Möglichkeit  hat  sich  nun  verwirk- 
licht, Immer  wird  der  D-Höcker  eines  Oberzahnes  im  Talonid  jenes 
Zahnes  aufgenommen,  der  ursprünglich  in  seinen  vor  ihm  gelagerten 
Zwischenraum  eingriff.  Aus  welchen  Gründen  sich  gerade  dieser  Fall 
verwirklicht  hat,  ist  mir  nicht  recht  klar  geworden,  es  werden  auch  hier 
wohl  mechanische  Bedingungen  bestimmend  gewesen  sein,  aber  welche 
diese  waren,  entgeht  mir.  Nur  darauf  möchte  ich  hinweisen,  daß  auch 
bei  den  oberen  Zähnen,  wenn  sie  sich  im  Laufe  der  Entwicklung  in 
sagittaler  Richtung  verlängerten,  diese  Verlängerung  durch  Zuwachs 
am  distalen  Ende  zustande  kam.  Denn  wir  haben  früher  nachgewiesen, 
daß  bei  der  Entstehung  der  Doppelhöckerphase  der  neue  Höcker  Pp 
aus  dem  Hinterrand  vom  Haupthöcker  P  entsteht. 

Durch  die  Entstehung  des  Talonid  war  die  Anisomorphie  der 
oberen  und  unteren  Zähne  wesentlich  gesteigert.  Es  haben  Cope- 
Osborn  in  ihrer  Theorie  auch  an  den  oberen  Zähnen  einen  dem  Talonid 
der  unteren  entsprechenden  Abschnitt  —  das  Talon  —  unterschieden. 
In  dieser  Hinsicht  laufen  unsere  Ansichten  vollständig  auseinander. 
Eine  dem  Talonid  der  unteren  Zähne  homologe  Bildung  fehlt  an  den 
oberen.  Bei  diesen  Zähnen  hat  immer  ein  sukzessiver  Höckerzusatz 
am  schon  bestehenden  stattgefunden,  während  das  Talonid  eine  ganz 
eigentümliche  Bildung  ist,  welche,  wie  schon  gesagt,  nicht  mit  einem 
einzigen  Höcker  identifiziert  werden  darf.  Es  stellt  einen,  vom  dinieren 
Zahnkeim  als  Ganzes  ausgehenden,  nicht  differenzierten  distalen  Zusatz 
am  Zahn  dar,  welcher  zwar  potentia  die  Anlage  bestimmter  Höcker 
enthält,  dieselbe  aber  erst  a  posteriori  zur  morphologischen  Differen- 
zierung bringt.  In  seiner  einfachsten  Form  und  geringsten  Ausbildung 
wie  es  uns  z.  B.  in  den  Prämolaren  der  niederen  Primaten  entgegen- 
tritt, besteht  das  Talonid  dann  auch  aus  einem  etwas  verbreiterten 
Zahnteil  mit  konkaver,  etwas  länglicher  Kronenfläche,  lingual  und 
bukkal  von  einem  ein  wenig  erhabenen  Rande  umgrenzt,  am  distalen 
Rande  fehlt  nicht  selten  der  Abschluß.  Daß  dieses  Talonid  nicht  aus- 
schließlich von  einem  der  beiden  Odontomeren  gebildet  wird,  sondern 
daß  sowohl  Protomer  als  Deuteromer  sich  am  Aufbau  beteiligen,  läßt 
sich  mit  Hilfe  der  Schemata  in  Fig.  31  unschwer  zeigen.  Die  Kompli- 
kation der  oberen  Zähne  kam  unter  dem  Reibungsreiz  der  unteren  an 
der  lingualen  Seite  zustande,  es  wurde  die  Bildungsmasse  des  Deuteromer 
aktiviert,  und  der  Zuwachs  an  diesen  Zähnen  war  daher  rein  deutoro- 
merer  Ursprung.  Als  Reaktion  auf  diese  Verlängerung  fangen  die  unteren 
Zähne  an  sich  nach  hinten  zu  verlängern,  und  wie  aus  dem  Schemata 
in  Fig.  31  ersichtlich,  mußten  sich  an  diesem  Vorgang  sowohl  der  proto- 
mere  als  der  deutoromere  Abschnitt  des  Zahnes  beteiligen.  Es  läßt 
sich  am  besten  vorstellen  als  eine  gleich  große  Verlängerung  beider 
Abschnitte  nach  hinten.     Der  neue  Zuwachs  kann  somit  keinem  be- 


104  Zweites  Hauptstück. 

stimmten  Höcker  entsprechen.     Erst  infolge  der  weiteren  Differenzie- 
rung entstehen  solche  aus  dem  Rande  des  Talonid. 

Bis  hierher  ist  die  mechanische  Grundlage  der  Entstehung  der 
Zahnform  in  Verbindung  mit  der  dimeren  Natur  der  Zähne  nicht  schwer 
zu  hegreifen.  Die  erste  Aktion  geht  von  dem  mobilen  Unterkiefer  aus: 
Reibung  der  unteren  Zähne  an  der  Innenfläche  der  oberen;  als  Reaktion 
darauf  kommt  an  den  oberen  Zähnen  der  D-Höcker  zur  Entwicklung, 
und  als  Anpassung  daran  entsteht  auf  den  unteren  Zähnen  das  Talonid. 
Der  Zusammenhang  dieser  progressiven  Phasen  ist  ganz  rationell. 
In  den  Prämolarenabschnitt  des  Gebisses  mancher  Primaten  sind 
Zustände  verwirklicht,  welche  dem  Schema  in  Fig.  31c  vollkommen 
entsprechen.  Die  oberen  Zähne  besitzen  einen  größeren  Außenhöcker 
(eventuell  von  Nebenspitzen  flankiert) und  einen  kleineren  Innenhöcker; 
die  unteren  eine  kegelförmige  vordere  Hälfte,  die  mit  den  bukkalen 
Spitzen  der  oberen  alterniert  und  eine  hintere  etwas  breitere  Hälfte, 
welche  mit  dem  lingualen  Höcker  der  Oberzähne  artikuliert.  Solche 
Zähne  bilden  eine  vorzügliche  Kombination  von  Scheren-  und  Druck- 
werkzeugen. —  Verfolgen  wir  aber  die  Komplizierung  der  gegenseitigen 
Beziehungen. 

Gleich  wie  das  Talonid  als  Anpassung  an  den  D-Höcker  der  oberen 
Zähne  entstanden  ist,  bildet  nun  auch  ersteres  seinerseits  wieder  ein 
Moment  für  weitere  morphologische  Differenzierung  der  Oberkiefer- 
zähne. Um  das  verständlich  zu  machen,  muß  ich  die  vorher  ausführlich 
begründete  Tatsache  in  Erinnerung  bringen,  daß  der  P-Höcker  (Haupt- 
höcker vom  Protomer)  der  oberen  Zähne  als  Äußerung  höherer  Diffe- 
renzierung sich  in  zwei,  meistenteils  gleich  große  Höcker  —  Pa  und  Pp 
-  auflöst.  Der  mechanische  Impuls  zu  dieser  Verdoppelung  —  welcher 
ein  konstantes  Merkmal  aller  Molaren  und  dazu  des  letzten  Prämolaren 
einiger  Prosimiae  und  der  eocänen  Primaten  ist  —  ging  vom  Talonid 
aus.  Für  die  Entstehung  dieser  höheren  Bildungsstufe  möchte  ich 
folgende  Gesichtspunkte  entwickeln. 

Der  D-Höcker  der  oberen  Zähne  und  das  mit  diesem  artikulierende 
Talonid  der  unteren  Zähne  sind  anfänglich  niedriger  als  der  übrige 
Zahnabschnitt  (von  Cope-  Osborn  als  Trigon  resp.  Trigonid  bezeichnet). 
Bei  der  vertikalen  Bewegung  des  Unterkiefers  -  -  die  wohl  als  die 
primitive  anzusehen  ist  -  -  kommt  somit  der  lingualen  Fläche  des 
P-Höekers  die  Bedeutung  von  Reibungsfläche  für  den  Außenrand  des 
Talonid  zu.  Und  nun  ist  es  als  nicht  unwahrscheinlich  zu  betrachten, 
daß  —  da  eine  Verlängerung  dieser  Reibungsfläche  den  funktionellen 
Wert  des  Gebisses  steigert  —  unter  dem  Einfluß  davon  der  P-Höcker 
sich  in  distaler  Richtung  verlängerte,  was  in  der  Tat,  wie  seinerzeit 
gezeigt  wurde,  bei  gewissen  Gebissen  sehr  schön  zu  beobachten  ist. 
Diese  Verlängerung  des  Haupthöckers  gestaltete  sich  dann  zu  dem 
besonderen  Höcker  Pp.  Der  große  Vorteil  war  dadurch  erreicht,  daß 
die  äußere  Seite  des  Talonid  zwischen  zwei  Höcker  —  Pa  und  Pp  - 
der  oberen  Zähne  jgefaßt  wurde.     (Vgl.  Fig.  31,  Schema  d.) 

Es  ist  vorher  öfters  betont,  daß  das  Talonid  eine  Komplex- 
bildung ist,  eine  Verlängerung  des  Zahnes,  an  der  beide  Odontomeren 
beteiligt  sind.  Die  erste  Differenzierung  dieses  Zahnabschnittes  kam 
nun  unter  dem  Einfluß  der  soeben  erklärten  Entstehung  des  Pp- 
Höckers  an  den  Oberzähnen  zustande.  Es  wird  an  der  Innenfläche 
des  mehr  hervorragenden  protomeren  Abschnittes  der  Oberzähne  durch 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne.  105 

die  Entstehung  jenes  Höckers  ein  Tal  zwischen  denselben  und  dem 
Pa-Höcker  gebildet.  In  diesem  Tal  gleitet  die  Außenwand  des  Talonid 
bei  der  vertikalen  Bewegung  des  Kiefers  auf  und  nieder.  Und  als  eine 
bessere  Anpassung  an  dieses  Relief  des  Oberzahnes  differenzierte  sich 
aus  dem  Außenrand  des  Talonid  ein  Hügel,  der  somit  vollständig  eine 
Bildung  des  bukkalen  Odontomeren  oder  vom  Protomer  war.  Dieser 
Höcker  ist  mit  dem  Pp-Wöcker  der  Oberzähne  homolog  zu  stellen, 
eine  Homologisierung,  welche  erst  später  näher  gegründet  werden  kann. 

Die  jetzt  erreichte  Entwicklungsstufe  ist  in  Fig.  31,  Schema  e 
dargestellt. 

Indem  nun  im  hinteren  Abschnitt  der  unteren  Zähne  sich  der 
beschriebene  Vorgang  vollzog,  spielte  sich  auch  im  vorderen  Teil  eine 
progressive  Entwicklung  ab.  Dieser  Teil  bleibt  anfänglich,  wenn  sich 
das  Talonid  ausbildet,  aus  einem  einzigen  Höcker  bestehen,  der  seit- 
lich zusammengedrückt  an  seinem  vorderen  Ende  nicht  selten  mit 
einer  unansehnlichen  Nebenspitze  ausgestattet  ist.  Aus  dem  Verlauf 
der  weiteren  Entwicklung  muß  ich  schließen,  daß  der  bisweilen  sehr 
kräftig  entwickelte  Höcker  nicht  ausschließlich  zum  protomeren  Teil 
des  Zahnes  gehört,  sondern  daß  dessen  lingualer  Abhang  potentia 
Material  des  Deuteromer  enthält.  Denn  es  läßt  sich  bei  Vergleichung 
mehrerer  Affendentitionen  leicht  feststellen,  daß  aus  diesem  Abhang 
eine  zweite  Spitze  sich  entfaltet,  ja  es  macht  sogar  nicht  selten  den 
Eindruck,  daß  der  Höcker  der  Länge  nach  in  zwei  Hälften:  eine  bukkale 
und  eine  linguale  zerlegt  wird,  welche  beide  gleich  groß  sind.  Sehr 
schön  läßt  sich  dieser  Spaltungsvorgang  in  seinen  progressiven  Ab- 
stufungen als  individuelle  Variationen  an  den  vordersten  Prämolaren 
der  Primaten  verfolgen.  Ein  sehr  günstiges  Objekt  für  diese  Wahrneh- 
mungen bietet  der  erste  Prämolar  von  Siamang  und  nicht  weniger  der 
leichter  zu  verschaffende  erste  Milchmolar  des  Menschen.  Es  wird  davon 
später  noch  besonders  gesprochen  werden,  vorläufig  begnüge  ich  mich 
mit  der  Verweisung  nach  Fig.  34,  worin  der  dritte  untere  Prämolar  von 
drei  Individuen  von  Nycticebus  tardigradus,  von  der  mesialen  Fläche 
gesehen,  abegebildet  ist.  Die  rechte  Seite  jeder  Skizze  entspricht  der 
bukkalen  Kante  des  Zahnes.  Das  niedrige  Talonid  ist  durch  die  kegel- 
förmige Vorderhälfte  fast  ganz  verdeckt.  Beim  Individuum  a  war  der 
die  Vorderhälfte  einnehmende  Höcker  einfach,  beim  Individuum  b 
war  dessen  Gipfel  durch  eine  kurze  Furche  zerklüftet  und  in  eine  etwas 
größere  bukkale  und  eine  kleinere  linguale  Spitze  zerlegt,  bei  c  schließlich 
konnte  man  in  der  Tat  von  zwei  Höckern  sprechen,  von  denen  der 
äußere  der  stärkere  ist. 

Wie  gerade  bemerkt  wurde,  ist  dieser  Verdoppelungs Vorgang 
in  der  vorderen  Hälfte  der  unteren  Zähne  beim  ersten  Milchmolaren 
des  Menschen  in  seinen  verschiedenen  Phasen  als  individuelle  Variationen 
leicht  zu  verfolgen.  Eine  sehr  lehrreiche  Serie  liefert  gleichfalls  der 
erste  Milchmolar  der  Anthropoiden  und  des  Menschen.  Es  ist  in  Tafel- 
f  igur  9  eine  solche  Serie  abgebildet  worden.  Die  Fig.  a  gibt  den  erwähnten 
Zahn  von  Gorilla  wieder,  Fig.  b  von  Orang,  Fig.  c  von  Schimpanse. 
Fig.  d  von  Hylobates  und  Fig.  e  vom  Menschen.  Man  überzeugt  sich, 
wie  allmählich  die  einfache  Spitze,  welche  den  Zahn  bei  Gorilla  kenn- 
zeichnet, in  eine  äußere  und  innere  sich  spaltet,  indem  der  Höhenunter- 
schied zwischen  vorderer  und  hinterer  Hälfte  sich  gleichzeitig  aus- 
gleicht, Das  ist  die  Fotee  davon,  daß  mit  der  Differenzieruno;  der  vorderen 


106 


Zweites  Hauptstück. 


b 


Zahnhälfte  jene  des  Talonid  gleichen  Schritt  hält.  Die  Entfaltung  der 
morphologischen  Potenzen  geht  bei  den  Unterkieferzähnen  nicht 
sukzessive,  sondern  es  hat  mehr  die  diniere  Zahnanlage  als  Ganzes 
zum  Gegenstand.  Die  Frage,  warum  bei  Gorilla  der  erste  Milchmolar 
eine  mehr  undifferenzierte  Form  besitzt  als  beim  Menschen,  können 
wir  hier  beiseite  lassen;  daß  es  sich  bei  den  Anthropoiden  im  allge- 
meinen und  bei  Gorilla  im  besonderen  um  eine  Kückbildung  von  einer 
vorher  mehr  differenzierten  Form  handeln  sollte,  kommt  mir  nicht 
wahrscheinlich  vor.  Der  Vollständigkeit  wegen  sei  noch 
bemerkt,  daß  bei  Orang  bisweilen  zwei  deutlich  ge- 
sonderte Höckerchen  vor  dem  Talonid  sich  finden  und 
bei  Schimpanse  bisweilen  auch  wohl,  im  Gegensatz  zu 
dem  abgebildeten  Zahn,  ein  einziger.  Die  individuellen 
Variationen  kommen  hier  nicht  weniger  als  beim  Men- 
schen vor. 

Welchen  Wert  haben  nun  diese  beiden  prätaloniden 
Höcker,  wie  ich  sie  vorläufig  kurzhin  nennen  will?  Zur 
Entscheidung  dieser  Frage  muß  man  von  der  Tatsache 
Ausgang  nehmen,  daß  am  Unterzahn  die  vordere  und 
hintere  Hälfte  ungleich  alt  sind,  wie  an  den  Oberzähnen 
die  bukkale  und  linguale  Hälfte.  Das  Talonid  ist  ein 
jüngerer  Zuwachs,  eine  distale  Apposition  am  älteren, 
vorderen  Teil.  Diese  vordere  Hälfte  repräsentiert — man 
vergleiche  die  Schemata  in  Fig.  31  —  der  ursprüngliche 
Zahn,  der  hier  wie  bei  den  einfachst  gebauten  aniso- 
gnathen  Gebissen  mit  den  ebenfalls  mehr  einfach  kegel- 
förmigen Zähnen  des  Oberkiefers  alterniert.  Man  kann 
sich  somit  die  beiden  Höcker  der  Vorderhälfte  des  Unter- 
zahnes als  eine  bukkale  und  linguale  Spitze  an  jenem 
einfachen  Zahn  denken.  Und  diese  Überlegung  macht 
die  Homologisierung  beider  Spitzen  ziemlich  leicht.  Denn 
sie  können  nur  die  Haupthöcker  beider  Odontomeren 
darstellen  und  zwar  der  bukkale  den  P-Höcker  des 
Protomer  und  der  linguale  den  D-Höcker  des  Deutero- 
mer.  Ist  diese  Homologisierung  richtig  —  und  es  scheint 
mir  keine  andere  möglich  zu  sein  —  dann  begegnet  uns 
hier  ein  Vorgang,  in  dem  der  Unterschied  zwischen  der 
Differenzierung  der  oberen  und  unteren  Zähne  sich  klar 
und  unzweideutig  äußert.  Man  vergleiche  dazu  nur  die 
Weise,  in  welcher  der  D- Höcker  bei  den  oberen  Zähnen 
entstand,  mit  jener  bei  den  unteren.  Im  ersteren  Fall 
erscheint  der  D-Höcker  zuerst  als  eine  niedrige  Er- 
habenheit, eine  linguale  Vorwölbung  am  kräftigen  Haupt- 
höcker P  des  Protomeren.  Gleich  bei  ihrer  Entstehung 
zeigt  diese  Bildung  also  schon  eine  gewisse  Selbständigkeit;  sie  ist 
morphologisch  vom  protomeren  Haupthöcker  gesondert,  und  je  kräftiger 
sich  der  .D-Höcker  ausbildet,  desto  schärfer  tritt  diese  Selbständigkeit 
hervor,  bis  er  schließlich  dem  P-Höcker  an  Größe  gleich  kommt.  Bei 
den  unteren  Zähnen  dagegen  besteht  die  vordere  Hälfte  anfänglich 
nur  aus  einer  einzigen  kegelförmigen  Spitze,  die  größer  wird,  bis  sie 
schließlich  in  zwei  Hälften,  eine  äußere  und  eine  innere,  zerfällt.  Hieraus 
muß  man  schließen,  daß  jener  einfache  prätalonide  Kegel  potentia  den 


C 


Fig.  34.  Nyc- 
tycebus  tardi- 
gradus.  Unte- 
rer dritter  Prä- 
molar von  drei 
Exemplaren. 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne.  107 

P-Höcker  vom  Protomer  und  den  .D-Höcker  des  Deuteromer  ent- 
hält. In  dieser  Weise  ist  er  dann  auch  in  Schema  a  von  Fig.  31  bezeichnet 
worden.  Die  morphologische  Manifestation  der  Dimerie  des  Zahn- 
keimes entfaltet  sich  daher  bei  den  oberen  und  unteren  Zähnen  in  etwas 
differenter  Weise.  Bei  den  unteren  nehmen  beide  Odontomeren  sofort 
einen  gleichen  Anteil  an  der  Bildung  des  Zahnes,  ohne  daß  es  vorläufig 
zu  einer  morphologischen  Abgrenzung  zwischen  den  Anteilen  beider 
Odontomeren  kommt.  Erst  nachdem  der  Zahn  einen  bestimmten  Ent- 
wicklungsgrad erreicht  hat,  tritt  eine  Trennungsfurche  zwischen  den 
Bezirken  beider  Odontomeren  auf.  Beim  oberen  Zahn  dagegen  bildet 
zuerst  das  Protomer  die  Hauptmasse  des  Zahnes  und  das  Deuteromer 
erscheint  anfänglich  als  eine  Nebenknospe,  ein  Akzessorium,  an  dessen 
lingualer  Seite,  das  allmählich  zur  Größe  des  protomeren  Höckers 
emporwächst.  Es  spielt  sich  somit  im  prätaloniden  Teil  der  unteren 
Zähne  ein  Vorgang  ab,  identisch  mit  jenem,  der  im  Talonid  konstatiert 
werden  konnte.  Denn  das  Talonid  stellt  anfänglich  eine  Verlängerung 
des  Zahnes  dar,  an  deren  Bildung  ebenfalls  sowohl  Protomer  als  Deutero- 
mer sich  beteiligen,  ohne  daß  eine  Trennungsmarke  die  Gebiete  beider 
Odontomeren  abgrenzt.  Erst  später  tritt  in  dem  Talonid  eine  morpho- 
logische Differenzierung  auf,  es  läßt  bestimmte  Höcker  aus  sich  ent- 
stehen, von  denen  wir  den  zuerst  erscheinenden,  aus  dessen  bukkalem 
Rand  auftretenden,  bereits  keimen  gelernt  haben.  Der  Unterschied 
in  der  Differenzierungsgeschichte  unterer  und  oberer  Zähne  kommt 
somit  darauf  zurück,  daß  die  letztgenannten  sich  komplizieren  infolge 
eines  sukzessiven  Zuwachses  von  Tuberkeln,  die  latenten  Potenzen 
der  Höcker  werden  nacheinander  aktiviert;  bei  den  unteren  Zähnen 
dagegen  wächst  der  Zahnkeim  als  Ganzes  zunächst  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  unter  Beteiligung  sämtlicher  Höckerpotenzen  aus  und 
es  erfolgt  die  morphologische  Differenzierung  erst  nachher.  Dieser 
differente  Entwicklungsgang  wird  durch  die  verschiedene  Lagerung 
beider  Zahnreihen  zueinander  und  die  daraus  resultierende  not- 
wendige Anisomorphie  der  Elemente  beider  Reihen  bedingt.  Diese 
Ungleichförmigkeit  haben  wir  wenigstens  zum  Teil  schon  aus  den 
funktionellen  Beziehungen  zwischen  oberen  und  unteren  Zähnen  ab- 
geleitet. 

Daß  der  Haupthöcker  vom  Protomer  und  jener  vom  Deuteromer 
miteinander  verbunden  eine  kräftige  Spitze  bilden,  wie  im  prätaloniden 
Teil  der  unteren  Zähne,  ist  keine  isoliert  dastehende  Erscheinung. 
Ähnliches  haben  wir  schon  einmal  nachgewiesen.  Ich  erinnere  dazu  an 
das  vorher  über  die  morphologische  Natur  der  zu  kräftigen  Hauern 
entwickelten  Eckzähne  gewisser  Affen  Gesagte.  Auch  diese  Canini 
sind  nicht  wie  jene  des  Menschen  ausschließlich  aus  dem  Haupthöcker 
des  Protomer  aufgebaut,  sondern  es  beteiligen  sich  die  Haupthöcker 
beider  Odontomeren  an  deren  Zusammensetzung. 

Nachdem  wir  über  die  essentielle  Differenz  in  der  Entwicklung 
oberer  und  unterer  Zähne  orientiert  sind,  wobei  gleichzeitig  gezeigt 
ist,  daß  die  Manifestation  der  dinieren  Natur  des  Säugerzahnes  in  beiden 
Zahnreihen  eine  andere  ist,  ist  es  nicht  schwer,  die  jetzt  folgenden 
weiteren  Entwicklungsstufen  zu  verfolgen  und  in  Verbindung  mit 
den  Entwicklungserscheinungen  der  oberen  Zähne  zu  bringen.  Denn 
auf  dem  eingeschlagenen  Wege  gehen  in  wechselseitiger  Beziehung 
beide  Zahnreihen  weiter,  die  oberen  Zähne  entfalten  neue  deuteromere 


108  Zweites  Hauptstück. 

Höcker,  die  unteren  lassen  als  Reaktion  darauf  auf  dem  Talonid  die 
Höcker  zur  morphologischen  Differenzierung  kommen. 

Die  Entstehung  der  Zahnform  in  Fig.  31/  ist  uns  jetzt  verständ- 
lich geworden,  und  auch  die  funktionelle  Beziehung  zwischen  oberen 
und  unteren  Zähnen  in  diesem  Entwicklungsstadium.  Es  ist  dieses 
Schema  keine  rein  theoretische  Konstruktion.  Denn  bei  Lemuren 
z.  B.  ist,  wie  aus  Fig.  32  ersichtlich,  der  erste  Molar  ganz  wie  im  Schema/ 
von  Fig.  31  gebaut.  Der  prätalonide  Teil  des  Zahnes  besitzt  eine  äußere 
und  innere  Spitze,  wozu  am  Vorderrande  noch  eine  Nebenspitze  hinzu- 
kommt, welche  in  dem  Schema  nicht  angedeutet  ist.  Das  Talonid 
ist  breit,  aber  nur  der  bukkale  Randteil  trägt  einen  Höcker,  der  gleich 
groß  ist,  wie  der  bukkale  des  prätaloniden  xibschnittes. 

Es  ist  in  den  vorangehenden  Auseinandersetzungen  dargestellt, 
daß  der  bukkale  Talonidhöcker  —  den  ich  mit  Pft  der  oberen  Zähne 
identifiziere  —  erscheinen  sollte,  ehe  im  prätaloniden  Teil  die  Höcker 
Pa  und  D  sich  voneinander  emanzipiert  haben.  Diese  Reihefolge 
in  der  Darstellung  der  Phänomenen  ist  eine  etwas  willkürliche,  es 
kommt  nicht  selten  vor,  daß  Pa  und  D  selbständig  geworden  sind, 
während  am  Talonid  noch  keine  deutliche  Höckerbildung  zustande 
gekommen  ist. 

Über  die  weiteren  Differenzierungserscheinungen  können  wir  uns 
kurz  fassen.  Gehen  wir  dazu  wieder  von  dem  leichter  verständlichen 
oberen  Zahn  aus.  Nach  der  Entwicklung  des  Haupthöckers  D  tritt, 
wie  wir  früher  gezeigt  haben,  im  Deuteromer  die  hintere  Nebenspitze  4 
auf,  welche  bei  nicht  wenigen  Primaten  eine  Größe,  wie  der  zugehörige 
Haupthöcker  D  erreicht.  Diese  Spitze  nimmt  die  hintere  linguale  Ecke 
der  Krone  ein.  (Vgl.  Fig.  31,  Schema  g. )  Für  die  Vergrößerung  dieser 
Spitze  des  überzahltes  ist  eine  Auseinanderschiebung  der  Höcker  Pa 
und  D  des  Unterzahnes  eine  votwendige  Vorbedingung,  denn  es  wird 
der  hintere  Abhang  dieser  Spitze  4  eingefaßt  zwischen  den  vorderen 
Abhängen  der  beiden  genannten  Höcker  des  Unterzahnes.  Darin 
äußert  sich  wieder  eine  AVechselbeziehung  in  der  Formentwicklung 
oberer  und  unterer  Zähne.  Denn  so  lange  die  Höcker  P  und  D  desünter- 
zahnes  noch  zu  einem  einfachen  Kegel  verbunden  sind,  ist  der  prä- 
talonide Abschnitt  dieser  Zähne  schmaler  als  der  talonide  Abschnitt. 
Der  Zahn  hat  dann  die  eigentümliche  von  Topinard  als  ,, knöpf loch- 
form"  bezeichnete  Gestalt1).  Die  Entwicklung  der  Spitze  4  im  Ober- 
zahn steht  nun  in  korrelativer  Beziehung  zur  Auflösung  im  Unter- 
zahn des  vorderen  Kronenkegels  in  seinen  beiden  Komponenten  Pa 
und  D,  wodurch  die  vordere  Hälfte  sich  verbreitert,  eine  gleiche  trans- 
versale Dimension  erhält  wie  die  hintere  Hälfte,  wodurch  die  ursprüng- 
liche knopflochartige  Gestalt  des  Unterzahnes  verloren  geht  und 
derselbe  mehr  regelmäßig  viereckig  wird. 

Es  ist  leicht  einzusehen,  daß  durch  diese  Differenzierung  der 
funktionelle  Wert  des  Zahnes  wieder  gesteigert  wird,  denn  war  anfäng- 
lich die  Preßwirkung  beschränkt  auf  den  Talonid  des  Unterzahnes 
und  den  Z)-Höcker  des  Oberzahnes,  da  hat  die  Verbreiterung  des  prä- 
taloniden Zahnabschnittes  und  die  sich  einstellende  mechanische  Be- 
ziehung desselben  zum  Höcker  4  des  Oberzahnes  zur  Folge,  daß  jetzt 

1)  P.  Topinard,  De  Involution  des  Molaires  et  Premolaires  chez  les  Pri- 
mates.    L' Anthropologie  1902. 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne.  109 

auch  eine  Preßwirkung  zwischen  diesen  Teilen  der  oberen  und  unteren 
Zähne  hinzutritt.  Allerdings  geschieht  das  unter  Verlust  der  Scheren- 
wirkung, welche  anfänglich  Aufgabe  der  bezüglichen  Zahnteile  war. 
Der  Gebißmechanismus  änderte  sich  also  nicht  unwesentlich  durch 
diese  höhere  Ausbildung  der  Zähne.  Unter  dem  nämlichen  Gesichts- 
punkt fällt  die  gleichzeitig  stattfindende  weitere  Formentfaltung  am 
taloniden  Abschnitt  des  Unterzahnes. 

Es  differenziert  sich  am  lingualen  Rande  desselben  ein  Höcker, 
der  seiner  Bildungsstätte  entsprechend  ein  Produkt  vom  deuteromeren 
Abschnitt  des  Zahnes  sein  muß,  und  kein  anderer  sein  kann  als  die 
hintere  Nebenspitze  4  dieses  Zahnes.  Durch  die  Entstehung  dieser 
hinteren  lingualen  Spitze  am  Unterzahn  wird  erreicht,  daß  beim 
Schließen  der  Kiefer  jeder  der  beiden  lingualen  Höcker  des  Oberzahnes 
zwischen  vier  Tuberkeln  von  Unterzähnen  gefaßt  wird,  sie  werden 
in  dem  von  vier  unteren  Höckern  umschlossenen  Tal  aufgenommen 
und  beim  Druck  beider  Gebißteile  aufeinander  in  dasselbe  eingesperrt. 

Es  vollziehen  sich  gelegentlich  wohl  noch  weitere  Differenzierungen 
an  den  unteren  Zähnen,  dieselben  sind  aber  von  untergeordneter 
Natur,  betreffen  weniger  den  Entwicklungsgang  dieser  Zähne  im  all- 
gemeinen und  tragen  mehr  einen  speziellen  Charakter.  Von  den- 
selben verdient  das  bekanntlich  nicht  seltene  Auftreten  eines  fünften 
Höckers  erwähnt  zu  werden.  Am  häufigsten  bildet  sich  dieser  Höcker 
am  bukkalen  Rande  des  Zahnes,  wie  z.  B.  bei  den  Anthropoiden  oder 
er  erscheint  mehr  nach  hinten  verschoben,  wie  an  dem  letzten  Molaren 
der  Semnopithecidae  und  Cynopithecidae.  Dieser  dem  Talonidrande 
entsprossene  Höcker  läßt  nur  eine  Deutung  zu,  Es  ist  die  hintere  Neben- 
spitze 2.  des  Protomer,  die  bei  den  oberen  Zähnen  niemals  eine  etwas 
hervorragende  Bedeutung  erreicht.  Das  Auftreten  dieses  Tuberkels 
ist  bekanntlich  sehr  stark  wechselnd,  bald  entsteht  er  nur  am  dritten 
Molaren  (Cercopithecidae),  bald  an  allen  (Anthropomorphen)  oder  es 
fehlt  am  mittleren  (Mensch).  In  dieser  Unbeständigkeit  äußert  sich  die 
ursprüngliche  Natur  des  Höckers  als  Nebenspitze.  Bei  den  Semno- 
pitheken,  Cynopitheken  und  Makaken  erreicht  dieser  Höcker  nicht 
selten  eine  ansehnliche  Größe,  und  wird  daher  wohl  als  dritter  Lobus 
dieses  Zahnes  angedeutet.  Das  Vorkommen  dieses  Höckers  an  allen 
Molaren  der  Anthropoiden  und  gelegentlich  auch  des  Menschen  ist 
wieder  als  eine  primitive  Erscheinung  zu  betrachten,  eine  Persistenz 
eines  primitiven  Verhältnisses,  wodurch  sich  aufs  neue  das  Gebiß  des 
Anthropoiden  und  des  Menschen  weniger  spezialisiert  erweist  als  jenes 
der  meisten  Affen. 

Eine  zweite  Stelle,  welche  den  Sitz  akzessorischer  Höcker  sein 
kann,  ist  der  Vorderrand.  Hier  trifft  man  nicht  selten  ein  —  oder  in 
seltenen  Fällen  zwei  Höckerchen  an,  welche  die  vordere  Nebenspitze 
von  Protomer  und  Deuteromer  entsprechen,  also  als  Spitze  1  und  3 
bezeichnet  werden  müssen. 

Es  ist  im  obenstehenden  der  Entwicklungsgang  der  unteren 
Zähne  verfolgt  worden,  besonders  im  Verband  mit  der  Korrelation 
zwischen  diesen  Zähnen  und  jenen  des  Oberkiefers.  Der  mechanische 
Faktor  tritt  dabei  in  den  Vordergrund,  und  wie  ich  meine,  ist  hier 
zum  ersten  Male  in  der  Literatur  der  Versuch  angestellt  worden,  die 
Morphogenese  oberer  und  unterer  Zähne  auf  Grund  gegenseitiger  Be- 
ziehungen zur  Darstellung  zu  bringen.     Allerdings  war  es  notwendig, 


110 


Zweites  Hauptstück. 


dabei  das  Prinzip  in  den  Vordergrund  zu  stellen,  daß  obere  und  untere 
Backzähne  verschiedenen  Entwicklungsgängen  gefolgt  sind.  Die 
Formübereinstimmung,  welche  schließlich  bisweilen  erzielt  wird, 
gründet  sich  nicht  auf  einen  gleichen  Entwicklungsgang,  sondern 
darauf,  daß  die  morphogenetischen  Potenzen  in  den  Zähnen  beider 
Reihen  die  gleichen  waren. 


Fig.  35.     Schemata  zur  Erläuterung  der  Entwicklung  der  unteren  Zähne. 

Wir  werden  jetzt  noch  kurz  diesen  Entwicklungsgang  schildern 
unter  Beseitigung  der  mechanischen  Einflüsse,  welche  formbildend 
wirkten,  und  mehr  im  Verband  mit  der  dinieren  Anlage  des  Zahnes. 
Die  Fig.  35  wird  uns  dabei  als  Leitfaden  dienen.  Das 
Schema  a  dieser  Figur  stellt  die  Krone  des  Unterzahnes 
in  ihrer  einfachsten  Gestalt  dar,  aufgebaut  aus  einem 
Kegel  mit  einem  vorderen  zugespitzten  und  einem 
distalen  mehr  abgerundeten  Band,  nicht  selten  mit 
einem  Basalsaum  ausgestattet.  Diese  seitlich  kom- 
promierte  kegelförmige  Zahnkrone  entspricht  nicht 
einem  einzigen  Höcker  des  später  völlig  entwickelten 
Zahnes,  sondern  enthält  die  Haupthöcker  der  beiden 
Odontomeren.  Im  Gegensatz  zu  den  Oberzähnen 
beteiligen  sich  sofort  die  beiden  Odontomeren  in 
gleichem  Maße  am  Aufbau  des  Zahnes.  Der  hintere 
Basalsaum,  der  an  derart  gestalteten  Zähnen  sehr 
häufig  ist,  und  z.  B.  in  Fig.  36  —  den  unteren 
zweiten  Milchmolar  von  Nyeticebus  tardigradus  in 
oberer  und  hinterer  Ansicht  darstellend  —  zu  ersehen 
ist,  hat  dann  auch  genetisch  eine  andere  Bedeutung 
als  der  Basalsaum  an  den  oberen  Zähnen.  Hier  stellt 
er  das  Deuteromer  in  seiner  einfachsten  Manifestation  dar,  beim 
Unterzahn  dagegen  ist  es  die  Grundmasse,  aus  der  sich  bald 
das  Talonid  entwickeln  wird.  An  diesem  Basalsaum  müssen  beide 
Odontomeren  sich  beteiligen. 


Fig.  36.  Nyeti- 
cebus tardigradus. 
Zweiter  unterer 
Milchmolar,  avon 
distal,  b  von  oben. 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne.  Hl 

Der  Gegensatz  in  der  Bildlingsstelle  des  Basalbandes  bei  oberen 
und  unteren  Zähnen  hat  schon  die  Aufmerksamkeit  mehrerer  Forscher 
auf  sich  gezogen.  Schon  bei  den  niedrigsten  mesozoischen  Säugern 
tritt  es  an  dieser  Stelle  auf,  wie  folgender  Satz  von  Osborn  beweist: 
„The  premalors  of  Dromatherium  have  no  trace  of  a  cingulum.  In 
Microconodon  they  show  a  faint  posterior  cingulum"1).  Gleichfalls 
sagt  Schlosser  in  seinem  Aufsatz  über  die  Differenzierung  des  Säuge- 
tiergebisses2): „Der  hinterste  —  obere  —  Pr.  treibt  auf  seiner  Innen- 
seite eine  Knospe,  die  sich  allmählich  zu  einem  größeren  oder  bleibenden 
Iuuenhöcker  auswächst.  Gleich  wie  am  oberen  Prämolar,  so  entsteht 
auch  am  unteren  Prämolar  ein  Auswuchs,  aber  nicht  auf  der  Innen- 
seite, sondern  am  Hinterrande.  Von  derartigen  Zähnen,  wie  die 
eben  geschilderten,  lassen  sich  die  Prämolaren  aller  Fleischfresser 
inkl.  Insektivoren  sowie  jene  der  Affen,  Huftiere  und  wohl  auch  aller 
übrigen  Säuger  ableiten."  Man  sieht,  daß  die  differente  Lagerung  des 
Basalsaumes  an  den  Zähnen  beider  Gebißreihen  von  Schlosser  deut- 
lich erkannt  ist  und  scharf  betont  wird. 

Die  in  Fig.  35a  skizzierte  Zahnform  ist  bei  den  Prosimiae  außer- 
ordentlich häufig  im  vorderen  Teil  des  Gebisses  vertreten.  Als  Bei- 
spiele nenne  ich  den  ersten  Prämolar  von  Propithecus,  Indris,  Lemur, 
Tarsius;  den  zweiten  Prämolar  von  Indris,  Lemur,  Tarsius.  Bei  den 
Affen  ist  dieselbe  z.  B.  durch  den  ersten  Milchmolar  von  Hapale  ver- 
treten. 

Das  nächste  Entwicklungsstadium  des  Unterzahnes  —  in  Fig.  356 
schematisiert  —  kennzeichnet  sich  durch  die  Entwicklung  des  Basal- 
saumes zu  einem  wahren  Talonid,  wovon  eine  Zusammensetzung  des 
Zahnes  aus  zwei  scharf  von  einander  abgesetzten  Hälften  die  Folge  ist. 
Die  vordere  Hälfte  hat  eine  hohe  kegelförmige  Gestalt,  die  hintere  ist 
niedriger,  breiter,  mit  konkaver  Oberfläche.  Das  Talonid  ist  ebenso 
wie  der  prätalonide  Teil  eine  Bildung  beider  Odontomeren  (Fig.  35,  Pd). 
Ich  bevorzuge  es  von  einem  prätaloniden  Abschnitt  zu  sprechen 
und  nicht  von  einem  Trigonid.  Denn  die  Bezeichnung  Talonid  habe 
ich  nur  der  Bequemlichkeit  wegen  aus  der  Cope-Osbornschen  Nomen- 
klatur entnommen,  weil  sie  sich  eingebürgert  hat,  und  auch  weil  der 
von  mir  geschilderte  Differenzierungsgang  dieses  Zahnabschnittes  in 
mancher  Hinsicht  mit  jenem  von  Osborn  übereinstimmt.  Aber  für 
ein  dem  Osbornschen  Begriff  Trigonid  entsprechenden  Zahnteil  ist 
in  meiner  Theorie  kein  Platz.  Für  diesen  Begriff,  ebensowenig  wie  für 
das  Trigon  oder  Talon,  bestehen  zwischen  unseren  Theorien  keine  Be- 
rührungspunkte. 

Die  erste  Höckers pezialisierung  kann  nun  entweder  im  Talonid 
oder  im  prätaloniden  Teil  des  Zahnes  auftreten.  Ich  wähle  für  diese 
Übersicht  den  letzteren  Fall.  Die  hier  auftretende  Spezialisierung  be- 
steht darin,  daß  der  kegelförmige  Höcker  sich  in  zwei  Spitzen  teilt 
(Fig.  35  c),  eine  bukkale  und  eine  linguale.  Erstererist  der  Haupthöcker  P 
vom  Protomer,  letzterer  jener  vom  Deuteromer  (D).  Infolge  dieser 
Sonderling  ist  der  prätalonide  Abschnitt  des  Zahnes  breiter  geworden. 


1)  H.  F.  Osborn,  The  upper  triassic  mammals.  Proc.  Amer.  Philos.  Soc.  1887. 

2)  M.  Schlosser,  Die  Differenzierung  des  Säugetiergebisses.    Biol.  Centralbl. 
1890/91,  Bd.  IV,  S.  238. 


112  Zweites  Hauptstück. 

Dann  folgt  eine  Entstehung  von  Höckern  auf  dem  Rande  des 
Talonid.  Meistenteils  erscheint  zuerst  ein  bukkaler  Höcker  (Fig.  3öd). 
DieHomologisierung  desselben  bietet,  wenn  der  weitere  Differenzierungs- 
gang des  Zahnes  unbekannt  ist.  Schwierigkeit.  Denn  man  könnte  ge- 
neigt sein,  in  denselben  die  hintere  Nebenspitze  vom  Protomer  zu 
erblicken.  Die  weitere  Differenzierung  läßt  aber  eine  andere  Homologi- 
sierung  als  die  einzig  richtige  erkennen.  Er  kann  nur  dem  Pp-Röcker 
des  Oberzahnes  homolog  sein,  denn  die  hintere  Nebenspitze  vom  Pro- 
tomer  tritt  gelegentlich  später,  als  der  sogenannte  dritte  bukkale 
Höcker  auf.  Man  muß  sich  somit  denken,  daß  auch  im  Unterzahn 
die  Bildungsmasse  des  protomeren  Haupthöckers  zwei  Höcker  aus 
sich  hervorgehen  läßt,  die  wie  im  Oberzahn  als  ein  vorderer  und  hinterer 
nebeneinander  gelagert  sind. 

Daß  die  eben  gegebene  Homologisierung  die  richtige  ist,  geht,  wie 
gesagt,  aus  dem  weiteren  Differenzierungsvorgang  am  Talonid  hervor. 
Denn  es  kommt  hier  zur  Sonderung  von  noch  zwei  Tuberkeln,  einer 
an  der  lingualen  Seite,  und  einer  an  der  Stelle,  wo  der  bukkale  Rand 
sich  im  Hinterrande  umbiegt  (Fig.  3be  und  /).  Der  letzterwähnte 
kann  völlig  auf  den  Hinterrand  rücken.  Von  diesen  beiden  Differenzie- 
rungsprodukten des  Talonid  ist  der  linguale  der 
meist  konstante,  der  dritte  bukkale,  auch  wohl  als 
unpariger  hinterer  Höcker  angedeutet,  ist  in  seinem 
Auftreten  weit  mehr  schwankend.  Der  linguale  kann 
nur  die  hintere  Nebenspitze  4  vom  Deuteromer  dar- 
stellen, der  dritte  bukkale  die  hintere  Nebenspitze 
2  vom  Protomer. 

Schließlich  können  am  Vorderrande  des  Zahnes 
.  zwei  Höckerchen  erscheinen  (Fig.  35g),  welche  auch 

unterer  Molar6  des      wo^  zu  e*nem  einzigen  zusammengekommen  sein 
Menschen.     Ideale      können,  und  dann  einen  etwas  aufgeworfenen  Vorder- 
Form.  rand  am  Zahn  bilden,  nach  hinten  durch  eine  trans- 

versale Furche  —  die  Fovea  anterior  oder  vordere 
transversale  Furche  der  Autoren  -  -  begrenzt.  Diese  beiden  Höcker- 
chen stellen  die  vorderen  Nebenspitzen  vom  Proto-  und  Deuteromer 
dar  und  müssen  daher  als  1  resp.  2  bezeichnet  werden.  Das  in 
Fig.  35g  gegebene  Schema  stellt  den  meist  vollständigen  Unter- 
kieferzahn vor,  der  überhaupt  bei  den  Primaten  denkbar  ist.  Daß 
dieses  Schema  jedoch  nicht  eine  abstrakte  Form  wiedergibt,  sondern 
eine  gelegentlich  auftretende  wirkliche  Form,  geht  aus  Fig.  37  her- 
vor. Diese  Figur  stellt  einen  unteren  zweiten  Molaren  vom  Menschen 
dar.  In  seiner  geradezu  idealen  Gestalt  mit  noch  fast  ganz  intakter 
Kaufläche,  ist  dieser  Zahn  der  schönste  Menschenmolar,  den  ich  je 
gesehen  habe.  Wie  man  sich  leicht  überzeugen  kann,  sind  an  diesem 
Objekt  sämtliche  Höcker  und  zu  Höckerchen  ausgebildete  Nebenspitzen 
entwickelt. 

Nach  dieser  kurzen  Zusammenfassung  des  Entwicklungsganges 
der  unteren  Zähne  werden  wir  noch  einmal  einen  Blick  auf  die 
Differenz  im  Werdegang  der  oberen  und  unteren  Zähne  werfen. 

Wenn  man  bei  den  rezenten  Primaten  die  Gestalt  der  oberen  und 
unteren  Zähne  miteinander  vergleicht,  dann  fällt  es  auf,  daß  es,  was 
die  Anordnung  der  Höcker  und  deren  Zahl  betrifft,  Geschlechter  gibt 
bei  denen  obere  und  untere  Zähne  einander  sehr  ähnlich  sind,  und 


Die  Differenzierung  der  Unterkieferzähne.  113 

daneben  solche,  bei  denen  ein  wesentlicher,  bisweilen  sogar  sehr  großer 
Gegensatz  zwischen  beiden  Gruppen  besteht.  Selbstverständlich  treten 
diese  Unterschiede  und  Übereinstimmungen  am  meisten  bei  den  Molaren 
hervor.  Zieht  man  in  der  Vergleichung  auch  die  Gebisse  der  Urpri- 
niaten  heran,  dann  ist  es  leicht  festzustellen,  daß  die  Differenzen 
zwischen  den  Zähnen  beider  Reihen  auch  hier  nicht  gering  sind.  Diese 
Tatsache  weist  auf  eine  bestimmte  Entwicklungstendenz  hin,  die  für 
die  Frage  nach  der  verwandtschaftlichen  Beziehung  der  Primaten 
untereinander  nicht  ohne  Bedeutung  ist.  Denn  wenn  die  oberen  und 
unteren  Molaren  der  Urprimaten  sich  durch  ihre  Anisomorphie  kenn- 
zeichnen, und  bei  den  heutigen  Primaten  solche  Geschlechter  vorkommen, 
bei  welchen  die  Zähne  einander  sehr  ähnlich  geworden  sind,  dann  darf 
daraus  der  Schluß  gezogen  werden,  daß  der  Entwicklungsgang  dahin- 
zielt,  die  Anisomorphie  der  oberen  und  unteren  Molaren  auszugleichen. 
Es  folgt  hieraus,  daß  solche  Gebisse  als  primitiver  zu  betrachten  sind, 
bei  denen  obere  und  untere  Zähne  ungleichförmiger  sind.  Dieses  Prinzip 
wird  später  Verwendung  finden. 

Bei  der  oben  gegebenen  Darstellung  der  Entstehung  der  Zahn- 
formen war  ich  daraufhin  bestrebt,  diese  Formen  verstehen  zu  lernen, 
aus  den  mechanischen  Einflüssen,  welche  die  obere  und  untere  Reihe 
gegenseitig  aufeinander  ausüben  in  Verbindung  mit  dem  Grund- 
prinzip meiner  Dimertheorie  des  Säugerzahnes.  Die  sukzessive  Ent- 
faltung der  höher  differenzierten  Zähne  ist  nicht  lediglich  eine  Folge 
von  Mechanik,  sondern  das  Resultat  der  Einwirkung  mechanischer 
Faktoren  auf  Elemente  mit  bestimmten  morphologischen  Potenzen. 
Biologisches  und  Mechanisches  wirkten  bei  der  Entstehung  des  Gebisses 
zusammen.  Diese  Zusammenwirkung  hat  in  Verbindung  mit  der  un- 
gleichen Lage  beider  Zahnreihen  eine  Verschiedenheit  im  Entwicklungs- 
gang zur  Folge,  welche  oben  ausführlich  geschildert  worden  ist. 

Bis  jetzt  war  von  den  Wurzeln  der  unteren  Zähne  noch  nicht 
die  Rede.  Eine  ähnliche  Erscheinung  ist  hierbei  zu  konstatieren,  wie 
am  Kronenteil,  wenn  mit  den  oberen  Zähnen  verglichen.  Denn  auch 
die  Wurzeln  der  unteren  Zähne  weichen  in  ihrer  Differenzierungsweise 
von  jenen  der  oberen  Zähne  ab.  Doch  bleiben  auch  bei  diesen  die  näm- 
lichen mechanischen  Faktoren  als  formbestimmend  bestehen  als  bei 
jenen.  Es  seien  die  Hauptpunkte  der  Differenzierung  der  Wurzeln 
im  Oberkiefer  dazu  kurz  in  Erinnerung  gebracht.  Im  Anfang  war  der 
trikonodonte  Zahn  einwurzelig,  diese  Wurzel  gehört  zum  Protomer. 
Sodann  spaltet  sich  diese  Protomerwurzel  in  einer  vorderen  und  einer 
hinteren,  die  ein  Gewölbe  mit  vorderem  und  hinterem  Pfeiler  darstellen, 
das  dem  auf  die  Krone  ausgeübten  Druck  Widerstand  leistet.  Wenn 
im  Laufe  der  weiteren  Kronenentwicklung  das  Deuteromer  sich  aus- 
bildet, entwickelt  sich  gleichzeitig  die  zu  diesem  Odontomer  zugehörige 
Wurzel,  die  linguale.  Eine  weitere  Differenzierung  kommt  bei  den  Pri- 
maten nicht  vor.  Als  Varietät  kommt  es  bisweilen  beim  Menschen  zu 
einer  Spaltung  der  lingualen  Wurzel. 

Bei  den  Unterzähnen  verläuft  die  Wurzelentwicklung  in  etwas 
abgeänderter  Weise.  Auch  hier  fängt  der  Zahn  als  ein  einwurzeliges 
Gebilde  an.  Diese  Wurzel  trägt  die  kegelförmige  Krone,  welche,  wie 
vorher  auseinandergesetzt,  ein  Bildungsprodukt  vom  Proto-  und 
Deuteromer  ist.  Daher  kann  auch  diese  Wurzel  strictiori  sensu  nicht 
als  vollständig  homolog  mit  der  protomeren  WTurzel  der  oberen  Zähne 

ßolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  o 


114  Zweites  Hauptstück. 

betrachtet  werden.  Wenn  später  im  Unterkiefer  die  Zähne  ein  Talonid 
zur  Entwicklung  bringen,  wird  letzteres  gleich  von  Anfang  an  durch 
eine  besondere  Wurzel  --die  Talonidwurzel  —  getragen.  Und  auch 
diese  ist  niclil  ausschließlich  auf  einen  der  beiden  Odontomeren  zurück- 
zuführen, denn,  wie  vorher  dargetan  wurde,  ist  das  Talonid  eine  Bildung 
beider  Odontomeren. 

Wenn  die  Talonidwurzel  der  unteren  Zähne  entwickelt  ist,  dann 
ist  hier  der  Form  nach  ein  gleiches  Stadium  erreicht,  wie  beim  zwei- 
wurzeligen trikonodonten  Zahn  des  Oberkiefers.  Denn  dann  finden  sich 
in  beiden  Kiefern  Zähne,  deren  Krone  sich  auf  eine  vordere  und  hintere 
Wurzel  stützt,  wie  der  Schlußstein  eines  Gewölbes.  Bei  den  Unter- 
kiefern bleibt  bekanntlich  dieser  Zustand  bestehen.  Bisweilen  spaltet 
sich  die  vordere  Wurzel,  eine  Erscheinung,  die  vielleicht  zu  deuten  ist 
als  eine  Auflösung  dieser  Wurzel  in  seinem  proto-  und  deuteromeren 
Komponent. 

Wir  schließen  hiermit  die  Besprechung  der  Morphogenese  der 
unteren  Zähne.  Es  war  mein  Zweck,  in  diesem  Hauptstück  nur  die 
allgemeinen  Gesichtspunkte  festzulegen,  wozu  ich  durch  das  Studium 
der  Unterkieferzähne  gelangt  bin.  eine  Theorie  der  Morphogenese 
dieses  Unterteiles  des  Gebisses  zu  geben.  Für  die  Anwendung  dieser 
Gesichtspunkte  und  gleichzeitig  die  weitere  Begründung  der  Theorie 
muß  ich  auf  das  Hauptstück  venveisen,  worin  das  Primatengebiß 
als  Ganzes  besprochen  wird. 

Ehe  ich  dazu  übergehe,  wünsche  ich  in  einem  besonderen  Kapitel 
auf  den  Begriff  der  Zahnkonkreszenz  im  allgemeinen  näher  einzugehen, 
denn  die  von  mir  verfochtene  Uimertheorie,  wie  sie  in  dem  vorangehen- 
den Hauptstücke  auf  das  Gebiß  der  Primaten  Anwendung  fand,  ist 
in  ihrem  Wesen  eine  bio-mechanische  Theorie.  Sie  lehrt  die  Zahnformen 
kennen  als  Resultanten  von  mechanischen  Faktoren.  Und  diese  Seite 
der  Theorie  ist  besonders  in  diesem  Hauptstück  in  den  Vordergrund 
gebracht.  Andererseits  jedoch  darf  nicht  übersehen  werden,  daß  diese 
mechanischen  Faktoren  nur  die  auslösenden  Momente  darstellen. 
Sie  agierten  auf  eine  Masse,  welcher  bestimmte  prospektive  Potenzen 
innewohnten,  welche  durch  die  mechanischen  Impulse  in  bestimmter 
Reihenfolge  aktiviert  wurden.  Die  Art  dieser  prospektiven  Potenzen 
wurden  jedoch  durch  ein  vorangegangenes  physiologisches  Geschehen  — 
die  Vereinigung  der  Anlagen  von  primitiven  Zähnen  —  bestimmt. 
Und  ich#werde  jetzt  auf  diesen  physiologischen  Prozeß  ausführlich  ein- 
gehen, auch  weil  darüber  im  Laufe  der  letzten  Zeit  meine  Ansichten 
ein  wyenig  geändert  sind,  und  meine  Vorstellung  vom  Prozeß  sich,  wie 
ich  glaube,  geklärt  hat. 


Drittes  Hauptstück. 


Über  das  Wesen  der  Zahnkonkreszenz. 

In  der  ersten  dieser  Studien  ist  auf  S.  111  vorübergehend  die 
Frage  gestellt  worden,  welches  die  Ursache  gewesen  sein  kann,  daß  bei 
der  Umbildung  des  Reptiliengebisses  zum  Säugergebiß  zwei  Genera- 
tionen einer  Zahnfamilie  miteinander  verwachsen  sind  und  dadurch 
ein  Produkt  von  höherem  funktionellem  Wert  bildeten.  An  jener  Stelle 
äußerte  ich  mich  darüber  folgenderweise:  „Ob  die  Kieferverkürzung 
auch  für  diesen  Vorgang  ein  ätiologisches  Moment  war,  darüber  bin 
ich  im  unsichern.  Es  sind  mir  die  Gründe,  warum  diese  Verwachsung 
zustande  kam,  nicht  deutlich.  Denn  bessere  Anpassung  an  ihre  Funktion 
könnte  solche  Formen  fixiert  haben,  sie  kann  dieselbe  nicht  ge- 
schaffen haben."  Und  auf  S.  116  findet  sich  weiter  der  folgende  dies- 
bezügliche Passus:  „Wir  können  anläßlich  der  Konkreszenzprobleme 
wohl  Betrachtungen  a  posteriori  anstellen  und  darauf  hinweisen,  daß 
das  Produkt  der  Verwachsung  ein  funktionell  mehr  vollkommenes 
Organ  war,  aber  diese  Wahrheit  entledigt  uns  nicht  der  Aufgabe, 
das  Kausalmoment  zu  erforschen,  welches  zwei  ursprünglich  getrennte 
Organe  zwang,  sich  zu  einem  einzigen  zu  verbinden."  In  den  folgenden 
Seiten  wünsche  ich  nun  diese  Frage  näher  ins  Auge  zu  fassen.  Nicht 
weil  es  mir  gelungen  sein  sollte,  die  Grundursache  dieses  ontogenetischen 
Prozesses  zu  erforschen,  sondern  weil  ich  über  die  mechanische  Seite 
der  Erscheinung  zu  einer  mehr  vollständigen  und  mehr  richtigen  Vor- 
stellung gekommen  zu  sein  glaube,  als  zur  Zeit,  wo  ich  die  zitierten 
Sätze  schrieb.  Vieles  haben  dazu  beigetragen  Untersuchungen  über  die 
Entwicklung  der  Zähne  und  der  Zahnleiste  bei  den  Selachiern,  welche 
ich  seitdem  angestellt  habe,  aber  auch  nicht  wenig  eine  mehr  eingehende 
Kenntnisnahme  der  Abhandlung  von  Dependorf  über  die  Konkres- 
zenztheorie1).  Der  Inhalt  dieser  Abhandlung  war  mir,  als  ich  meine 
erste  Studie  schrieb,  nur  oberflächlich  bekannt,  sonst  würden  die  vom 
Autor  darin  gemachten  Bemerkungen  und  Auffassungen  sich  wohl 
an  gewissen  Stellen  meiner  Studie  reflektiert  haben.  Denn  mit  den  in 
jener  Abhandlung  ausgesprochenen  Prinzipien  kann  ich  mich  sehr  gut 
vereinigen. 

Fangen  wir  somit  an,  die  Bemerkungen  von  Dependorf  über 
die  Konkreszenz  von  Zähnen  kurz  auszuführen. 

Es  will  mir  scheinen,  daß  die  Bedenken. welche  man  gegen  den 
Konkreszenzprozeß  ins  Feld  führen  kann,  von  Dependorf  sehr  richtig 

1)  T.  Dependorf,  Zur  Frage  der  sogenannten  Konkreszenztheorie.  Jen. 
Zeitschr.  f.  Naturw.  1906,  Bd.  XLII. 

s* 


Hß  Drittes  Hauptstück. 

in  dem  folgenden  Satze  zur  Äußerung  gebracht  sind:  „Wirerschweren 
uns  ganz  offenbar  den  genannten  Vorgang  in  der  Entwicklung  des  Säuger- 
zahnes durch  den  Ausdruck  „Verschmelzung".  Man  stellt  sich  darunter 
einen  äußerlich  sichtbaren  und  in  seiner  Entwicklung  nachweisbaren 
aktuellen  Prozeß  vor,  der  aber  in  Wirklichkeit  gar  nicht  vorhanden 
sein  kann"  (1.  c.  S.  543).  Diese  Bedenken  von  Dependorf  sind  richtig, 
besonders  wenn  man  den  Elementen,  welche  die  Konkreszenz  eingehen, 
schon  einen  gewissen  Grad  von  Selbständigkeit  verleiht.  Auch  dagegen 
warnte  der  Autor  schon,  wenn  er  gegen  die  Konkreszenztheorie  anführte, 
daß  die  Zahnanlagen,  welche  miteinander  verschmelzen  sollen,  doch 
sämtlich  nahezu  die  gleiche  Entwicklungsstufe  einnehmen  müssen, 
denn  wenn  verkalkte  und  unverkaufte  Anlagen  miteinander  ver- 
schmolzen, dürften  sie  kaum  ein  brauchbares  Gebilde  abgeben. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  meine  Vorstellung  über  die  Kon- 
kreszenz zweier  Reptilienzähne  zum  einheitlichen  Säugerzahn  wirklieh 
jenen  mechanischen  Charakter  besaß,  die  von  Dependorf  zurück- 
gewiesen wird.  Denn  auf  S.  116  meiner  ersten  Studie  spreche  ich  von 
einer  Verbindung  „zweier  ursprünglich  getrennter  Organe".  Diese  Ver- 
bindung dachte  ich  mir  allerdings  zustande  gekommen  in  einem  sehr 
frühen  ontogenetischen  Entwicklungsstadium.  Der  an  zweiter  Stelle 
genannten  Einwurf  von  Dependorf,  daß  die  Zähne,  welche  die  Ver- 
wachsung eingingen,  nahezu  in  der  gleichen  Entwücklungsphase  sich  be- 
finden müßten,  war  auch  von  mir  empfunden  worden.  Daher  behauptete 
ich  1.  c.  S.  117:  „daß  eine  Verwachsung  der  Anlagen  zweier  Generationen 
nur  denkbar  ist,  wenn  beide  in  unmittelbarer  Nähe  voneinander  liegen 
und  nahezu  gleichweit  in  der  Entwicklung  fortgeschritten  sind".  Wie 
man  sieht,  war  mir  die  mechanistische  Vorstellung,  wogegen  Depen- 
dorf das  Wort  ergriff,  nicht  fremd.  Ich  war  der  Ansicht,  daß  wirklich 
zwei  selbständige,  in  sich  abgeschlossene  Organe  beim  phylogenetischen 
Entstehen  des  Säugergebisses  zu  einem  einzigen  Gebilde  zusammenge- 
getreten  waren,  sei  es  dann  auch,  daß  diese  Verwachsung  schon  in  einer 
sehr  frühen  ontogenetischen  Phase  zustande  kam,  daß  nicht  Zähne, 
sondern  Zahnkeime  zusammentraten. 

Daß  ich  dieser  Ansicht  war,  findet  wohl  hauptsächlich  seinen 
Grund  in  der  Vorstellung,  die  man  im  allgemeinen  aus  der  Literatur 
über  die  Natur  der  Zahnleiste  oder,  wie  diese  Bildung  auf  den  Vorschlag 
Hertwigs  auch  genannt  wird,  Ersatzleiste  erhält.  Letztere  Bezeich- 
nung ist  dem  Inhalt  des  Wortes  nach,  wie  ich  meine,  leicht  irreführend 
und  ist  vielleicht  von  Hcrtwig  damals  gewählt,  um  den  Gegensatz 
scharf  hervortreten  zu  lassen  zwischen  seiner  Ansicht  über  die  Ent- 
wicklung der  Selaehierzähne  und  deren  Ersatz  und  jene  von  Owen, 
die  auch  von  Leydig  und  Kölliker  geteilt  wurde.  Aber  durch  die 
Bezeichnung  Ersatzleiste  kommt  die  mitogenetische  Beziehung,  welche 
zwischen  den  verschiedenen  Generationen  einer  Zahnfamilie  besteht, 
nicht  genügend  zu  ihrem  Rechte. 

Um  die  Genese  der  Dimerie  des  Säugerzahnes  im  rechten  Licht 
erscheinen  zu  lassen,  bin  ich  genötigt,  auf  die  Entwicklung  der  Zahn- 
leiste und  die  Ersatzweise  der  Zähne,  wie  sie  bei  den  Vertebraten  sich 
vortut,  einzugehen  und  beschränke  mich  dabei  natürlich  auf  das 
Kiefergebiß. 

Die  einfachste  Form  der  Zahnanlage  und  der  Entstehung  neuer 
Zähne  trifft  man  bekanntlich  bei  den  Teleostomen.     Es  betragen  sich 


Über  das  Wesen  der  Zahnkonkreszenz.  117 

aber  nicht  alle  Knochenfische  gleich,  und  wie  aus  den  Untersuchungen 
von  Friedmann1)  über  die  Zahnentwicklung  besonders  des  Hechtes 
hervorgeht,  können  zwei  Modifikationen,  eine  mehr  primitive  und  eine 
mehr  progressive,  bei  einem  Tier  vorkommen.  Das  ist  z.  B.  beim  eben 
genannten  Fisch  der  Fall.  Den  einfachsten  Entwicklungsmodus  trifft 
man  hier  im  Überkiefer,  und  dieser  zeigt  große  Übereinstimmung  mit 
jenem  von  Rose2)  bei  Salmo  salar  beschriebenen.  Wenn  wir  den 
Teil  der  Kieferschleimhaut,  der  Zähne  aus  sich  entstehen  läßt  als  das 
„Zahnfeld"  bezeichnen,  dann  trifft  man  in  den  erwähnten  Fällen  den 
Zustand,  daß  auf  diesem  Feld  die  Zähne  in  ganz  unregelmäßiger 
Weise  entstehen.  Hieraus  geht  hervor,  daß  die  zahnbildende  Potenz 
noch  diffus  in  diesem  Zahnfeld  verbreitet  ist.  Jeder  Unterteil  desselben 
kann  zur  Entstehung  eines  Zahnes  Anlaß  geben  in  der  besonders 
von  Rose,  Carlson3)  und  Friedmann  geschilderten  AVeise.  Und 
diese  Entstehungsweise  trägt  noch  ein  sehr  primitives  Gepräge,  denn 
der  Zahn  wird  noch  —  ungefähr  in  der  Weise  der  Placoidschuppen  der 
Plagiostomen  —  in  der  Mundschleimhaut  gebildet,  Weiter  kommt  der 
primitive  Charakter  sehr  stark  in  dem  Mechanismus  der  Zahnerneuerung 
zum  Ausdruck.  Rose  hebt  (1.  c.  S.  661)  ausdrücklich  folgendes  hervor: 
,,Die  ersten  Ersatzzähne  entstehen  ebenfalls  unmittelbar  aus  dem  Kiefer- 
epithel, und  zwar  meistens  ohne  nähere  Beziehung  zur  Epithelscheide 
ihres  Vorgängers.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  Ersatzzähne  der 
meisten  Knochenfische  nach  dieser  Grundregel  angelegt  werden." 
Aus  dieser  Beobachtung  Roses  folgt,  daß  jeder  Zahn  eine  vom  Zahn- 
feldepithel ausgehende  selbständige  Bildung  darstellt,  es  besteht  keine 
histogenetische  Beziehung  zwischen  einem  Zahn  und  einem  später 
entstehenden,  wie  auch  aus  der  von  Rose  gegebenen  Abbildung  zu 
sehen  ist.  Man  kann  dann  auch  schwerlich  bei  dieser  Form  der  Gebiß- 
bildung von  Zahngenerationen  sprechen,  denn  es  besteht  keine  verwandt- 
schaftliche Beziehung  zwischen  den  Zähnen.  Das  Zahnfeld  ist  noch  als 
Ganzes  eine  zahnbildende  Matrix  und  daher  kommt  es  mir  auch  weniger 
richtig  vor,  bei  dieser  Form  der  Bezahnung  und  der  Zahnerneuerung 
von  Ersatzzähnen  zu  sprechen.  Denn  bei  Anwendung  dieses  Ausdruckes 
denkt  man  sich  eine  Aufeinanderfolge  von  Zahngenerationen,  wobei  eine 
jüngere  Generation  bestimmt  ist,  eine  ältere,  die  mit  dieser  Anlage 
in  zellulärer  Beziehung  war,  zu  ersetzen.  Ich  möchte  diese  Art  von 
Zahnbildung  und  Zahnneubildung  als  „freie  Zahnbildung"  bezeichnen. 
Jeder  Zahn  geht  aus  der  allgemeinen  Matrix,  der  Schleimhaut  des  Zahn- 
feldes, hervor,  eine  Lokalisierung  der  zahnbildenden  Potenzen  hat  noch 
nicht  stattgefunden.  Ein  Zahn  ist  hier  weder  Nachfolger  eines  früheren 
noch  Vorläufer  eines  zukünftigen. 

Die  Gebißformation  im  Unterkiefer  des  Hechtes  steht  auf  einer 
wesentlich  höheren  Stufe.  Mit  jenem  des  Oberkiefers  hat  sie  als  primi- 
tives Merkmal  gemein,  daß  die  Zahnanlagen  noch  nicht  in  einer  be- 
stimmten Weise  angeordnet  sind,  es  sind  im  Zahnfeld  die  Zähne  noch 
unregelmäßig  mehrreihig  angeordnet.  Aber  was  die  Zahnerneuerung 
betrifft,  ist  eine  höhere  Stufe  erreicht,  denn  hier  kann  man  von  einem 

1)  Friedmann,  Beiträge  zur  Zahnentwicklung  der  Knochenfische.  Morph. 
Arb.  1897,  Bd.  VII. 

2)  C.  Rose,  Über  die  Zahnentwicklung  der  Fische.    Anat.  Anz.  1894,  Bd.  IX. 

3)  A.  Carlson,  Über  die  Zahnentwicklung  bei  einigen  Knochenfischen. 
Zool.  Jahrb.,  Abt.  f.  Anat,  u.  Gut.  1894,  Bd.  VIII. 


118  Drittes  Hauptstück. 

echten  Zahnersatz  reden.  Es  senkt  sieh  nämlich  die  Anlage  der  ersten 
Zähnchen  in  die  Tiefe,  der  epitheliale  Teil  bleibt  mittels  eines  Zellstranges 
mit  der  Sehleimhaut  verbunden.  Der  zuerst  angelegte  Zahn  entwickelt 
sieh  weiter,  und  aus  der  lingualen  Seite  des  Epithelstranggrundes 
geht  die  Anlage  eines  zweiten  Zahnes  hervor,  der  bei  der  weiteren  Ent- 
wieklung  den  ersten  ersetzen  soll,  wenn  dieser  abgestoßen  ist.  Es  ist 
somit  ein  Fortschritt  in  zwei  Richtungen  zustande  gekommen.  Im 
Zahnfeld  ist  die  zahnbildende  Potenz  nicht  mehr  diffus  verbreitet. 
Zwar  sind  die  Anlagen  der  ersten  Zähne  noch  unregelmäßig  über  das 
ganze  Zahnfeld  zerstreut,  aber  mit  der  ersten  histologischen  Differen- 
zierung dieser  Zahnkeime  werden  gleichsam  gleichviel  zahnbildende 
Bezirke  geschaffen.  Jeder  Bezirk  senkt  sich  mit  der  Anlage  des  ersten 
Zähnehens  in  die  Tiefe,  und  das  an  der  Überfläche  sich  erstreckende  Epithel 
ist  an  der  weiteren  Zahnbildung  nicht  mehr  beteiligt.  Diese  Schleim- 
haut stellt  nicht  mehr  eine  Matrix  dar,  in  welcher  die  zahnbildende  Potenz 
diffus  verbreitet  ist,  es  hat  eine  Konzentration  dieser  Eigenschaft  an  einer 
iVnzahl  bestimmter  Stellen  stattgefunden.  Dieser  Fortschritt  in  physio- 
logischem Sinne  hat  noch  einen  wichtigen  von  morphologischer  Art  zur 
Folge.  Denn  es  ist  in  der  Aufeinanderfolge  der  Zähne  eine  Gruppierung 
aufgetreten.  Es  gibt  gleich  viel  Gruppen,  als  es  ursprünglich  Zahnanlagen 
gibt.  Von  jeder  Gruppe  funktioniert  gleichzeitig  nur  ein  einziger  Zahn; 
wird  dieser  abgestoßen,  dann  wird  er  ersetzt  durch  den  Zahn,  der  aus 
seiner  eigenen  Bildungsstätte,  unmittelbar  nach  ihm,  entstanden  ist. 
Beide  Zähne  und  alle  im  Laufe  der  Zeit  noch  folgenden  haben  eine 
gemeinschaftliche  Matrix,  sie  findet  sich  am  Grunde  des  in  die  Tiefe 
gesenkten  Epithelstranges.  Diese  Matrix  bleibt  fortwährend  junge 
Zähne  produzieren,  welche  somit  einander  verwandt  sind.  Sie  stellen 
in  ihrer  Gesamtheit  eine,  aus  einer  unbestimmten  Zahl  von  Generationen 
zusammengesetzte  ,, Zahnfamilie"  dar.  Diese  Generationen  entstehen 
aus  der  am  Ende  des  Zellstranges  gelegenen  Zellgruppe,  an  die  die 
zahnbildende  Potenz  gebunden  ist,  in  ähnlicher  Weise  wie  die  zellulären 
Elemente  des  Epidermis  aus  der  Schicht  der  Basalzellen. 

Diese  Lokalisation  des  Vermögens,  Zähne  zu  bilden  im  untersten 
Ende  der  Epithelstränge  bei  den  Teleostomen,  muß  man,  um  die  Er- 
scheinungen bei  den  höheren  Vertebraten  zu  verstehen,  nicht  aus  dem 
Auge  verlieren.  Denn  bei  den  Plagiostomen  tritt  durch  die  Entstehung 
der  sogenannten  Ersatzleiste  ein  Gebilde  auf,  worin  die  Lokalisierung 
jener  Potenz  nicht  so  weit  durchgeführt  erscheint.  Wir  werden  jedoch 
zeigen,  daß  ein  Unterschied  wesentlich  nicht  besteht. 

In  welcher  Hinsicht  weicht  Gebißentwicklung  und  Zahnersatz 
der  Selachier  nun  von  jenen  der  Knochenfische  ab  ?  Eine  erste  Differenz 
wird  gebildet  durch  den  Umstand,  daß  das  Zahnfeld  bei  der  ersten 
ontogonetischen  Differenzierung  nicht  mehr  unregelmäßig  angeordnete 
Zähne  bildet,  sondern  sämtliche  Zahnanlagen  sind  konzentriert,  in 
den  meisten  Fällen  in  zwei  Reihen,  deren  Elemente  regelmäßig  alter- 
nieren, oder  alle  sind  in  einer  einzigen  Reihe  angeordnet.  Scheinbar 
komme  ich  mit  dieser  Ansicht  in  Widerspruch  mit  den  Befunden  von 
Hertwig1)  und  Laaser2)  bezüglich  der  Ontogenese  der  Selachierzähne, 

1)  R.  Hertwig,  Über  Bau  und  Entwicklung  der  Placoidschuppen  und  der 
Zähne  der  Selachier.     Jen.  Zeitschr.  f.  Naturw.  1874,  Bd.  VIII. 

2)  L.  Laaser,  Die  Zahnleiste  und  die  erste  Zahnanlage  der  Selachier.  Inaug.- 
Diss.  1903. 


Über  das  Wesen  der  Zahnkonkreszenz.  U9 

tatsächlich  gilt  hier  jedoch  nur  eine  andere  Interpretation  der  Er- 
scheinungen. 

Hertwig  scheint  mir  bei  seinen  Auseinandersetzungen  zu  großes 
Gewicht  auf  die  epitheliale  Bildung  gelegt  zu  haben,  die  er  zuerst  als 
Ersatzleiste  bezeichnete,  und  dadurch  die  histogenetische  Beziehung 
der  Zahngenerationen  zueinander  weniger  zu  ihrem  Rechte  kommen 
ließ.  Da  die  Hertwigsche  Untersuchung  der  Ausgangspunkt  aller 
weiteren  Untersuchungen  auf  diesem  Gebiet  gewesen  ist  und  in  jenem 
Aufsatz  zuerst  der  Begriff  „Ersatzleiste"  in  der  Literatur  eingeführt 
worden  ist,  will  ich  kurz  auf  diese  Untersuchung  eingehen. 

Zur  Zeit  als  Hertwig  seine  Untersuchung  veröffentlichte,  war 
die  allgemeine  Ansicht  über  die  Entwicklung  der  Selachierzähne  die 
auch  von  Kölliker  und  Leydig  geteilte,  zuerst  von  Owen  ausführ- 
licher dargestellte1).  Nach  diesem  Autor  entstehen  die  Zähne  der 
Plagiostomen  in  einer  Furche  der  Kieferränder  auf  freien  Papillen, 
ohne  in  Zahnsäckchen  eingeschlossen  zu  werden.  Der  linguale  Wall 
dieser  Rinne  hat  die  Bedeutung  einer  Deckmembran  (thecal  lamina) 
und  das  Epithel  dieser  Deckmembran  geht  im  Grunde  der  Rinne  in 
das  zahnbildende  Epithel  des  äußeren  Walles  über:  „The  anterior  lamina 
of  this  fold,  wich  from  its  office  may  be  termed  „thecal"  is  continuous 
with  the  mucous  membrane  at  the  base  of  the  rows  of  teeth"  (1.  c. 
p.  35).  Nun  sagt  zwar  Hertwig,  daß  er  zu  ganz  abweichenden  Er- 
gebnissen gelangt  ist  (1.  c.  S.  378),  aber  so  im  Grunde  verschieden  sind 
die  Ergebnisse  dieses  Autoren  von  den  Owen  sehen  doch  nicht.  Denn 
in  Wirklichkeit  ist  die  Zahn-  oder  Ersatzleiste  Hertwigs  bei  den  Se- 
lachiern  eine  echte,  einwärts  gerichtete  epitheliale  Falte,  wie  sie  es 
auch  bei  allen  höheren  Vertebraten  ist.  Nur  ist  der  Raum  zwischen 
den  beiden  Blättern  der  Falte  beim  Embryo  mit  Zellen  ausgefüllt. 
Daß  diese  Zellen  oder  deren  Abkömmlinge  bei  den  Sauropsiden 
schon  und  in  noch  höherem  Maße  bei  den  Mammalia  als  die  Elemente 
der  Schmelzpulpa  eine  wichtige  Rolle  spielen,  kann  nur  dazu  beitragen, 
um  den  Charakter  einer  Falte  schließlich,  wie  es  in  weiter  vorgerückten 
Entwicklungsstadien  bei  den  Säugetieren  der  Fall  ist,  zu  verdecken. 
Die  ursprüngliche  Natur  der  Bildung  bleibt  jedoch  besonders  in  jungen 
Stadien  auch  hier  unverkennbar. 

Nicht  immer  bleiben  bei  den  Plagiostomen  die  zwischen  den  beiden 
Blättern  der  Falte  sich  findenden  Zellen  anwesend,  und  es  kommt  vor, 
daß  dieses  Ausfüllungsmaterial  in  älteren  Stadien  und  beim  erwachsene!) 
Tier  verloren  geht,  wodurch  die  Zahnleiste  eine  wirkliche  Rinne  im 
Sinne  Owens  wird.  Hertwig  äußert  sich  darüber  folgendermaßen: 
,,Die  gegebene  Beschreibung  weicht  von  den  mitgeteilten  Untersuchungen 
von  Owen,  Leydig  und  Kölliker  ab,  welche  an  Stelle  der  von  uns 
betrachteten  Epithelleiste  an  der  Innenseite  des  Kieferknorpels  eine 
tiefe  Furche  und  eine  hohe  Schleimhautfalte  als  Deckmembran  auf  den 
jüngsten  Zahnanlagen  beschrieben  haben.  Die  genannten  Schriftsteller 
haben  ein  Kunstprodukt  bei  der  Untersuchung  geschaffen  und  be- 
schrieben, indem  sie  die  Epithelleiste  in  zwei  Hälften  zerrissen  haben, 
wahrscheinlich  um  die  jüngsten  Zähnchen  zu  erblicken."  Letzteres 
trifft  nun  gewiß  nicht  immer  zu,  und  zweifellos  ist  die  Rinne  im  Sinne 
von  Owen  und  in  der  von  diesem  Autor  gegebenen  Bedeutung  das 


1)  R.  Owen,  Odnntography,  T.  I,  p.  35. 


120  Drittes  Hauptstück. 

Primäre,  der  mehr  kompakte  leistenartige  Charakter  ist  ein  sekundärer 
Erwerb,  dadurch  entstanden,  daß  die  beiden  Furchenwände  mitein- 
ander verklebt  sind.  Diese  Verklebung  bleibt  bisweilen,  z.  B.  bei 
Formen  mit  kleinen  plattenförmigen  Zähnchen,  aus. 

Daß  ich  auf  diesen  Punkt  eingehe,  findet  seine  Ursache  darin, 
daß  er  maßgebend  ist  für  die  Bedeutung,  welche  meiner  Meinung  nach 
der  Zahn-  oder  Ersatzleiste  zukommt,  worüber  ich  mich  in  der  ersten 
Studie  schon  geäußert  habe.  Wie  müssen  wir  uns  die  Beziehung 
zwischen  den  Zuständen  bei  Knochenfischen  und  Knorpelfischen 
denken  ?  Man  denke  sich,  daß  die  Zahnanlagen,  statt  ungeordnet  in 
das  Zahnfeld  zerstreut  zu  sein,  in  einer  einzigen  oder  in  zwei  Reihen 
angeordnet  sind.  In  letzterem  Falle  alternieren  die  Anlagen  beider 
Reihen  miteinander.  Diese  Anlagen  senken  sich  nicht,  wie  z.  B.  im 
Unterkiefer  von  Esox,  in  die  Tiefe,  sondern  bleiben  an  der  Oberfläche. 
Nun  geht  bei  der  ersten  Generation  jedoch  nicht  alles  Zellmaterial 
dieser  Anlage  in  der  Bildung  des  ersten  Zahnes  auf,  sondern  ein  Teil 
davon  bleibt  indifferent,  und  wenn  der  zuerst  gebildete  Zahn  einen 
bestimmten  Entwicklungsgrad  erreicht  hat,  geht  aus  jener  Zellmasse 
ein  zweiter  Zahn  hervor,  der  von  einem  dritten  gefolgt  wird  usw.  Es 
bleibt  somit  an  der  Stelle,  wo  die  erste  Zahnanlage  sich  ausbildete, 
immer  eine  Zellmasse  zurück,  worin  die  zahnbildende  Potenz  lokalisiert 
ist.  Allmählich  rücken  die  Zähne  nach  ihrer  Anlage  immer  weiter 
von  ihrer  Bildungsstätte  ab,  werden  gleichsam  durch  die  nachfolgenden 
Generationen  vorwärts  gedrängt,  indem  sie  wachsen  und  schließlich 
ihre  definitive  Form  annehmen.  Jeder  primäre  Zahnkeim  stellt  somit 
auch  hier,  wie  in  gewissen  Fällen  bei  den  Teleostiern  eine  Matrix  dar, 
welche  eine  unbegrenzte  Zahl  von  Zähnen  zu  bilden  imstande  ist. 
Die  Gesamtzahl  der  aus  einer  Matrix  hervorgehenden  Zähne  stellt  eine 
Zahnfamilie  dar,  jedes  Einzelglied  davon  eine  Generation.  Doch  darf 
man  diesen  Ausdruck  nicht  in  dem  Sinne  deuten,  daß  ein  jüngerer  Zahn 
aus  seinem  Vorgänger  entstanden  sein  sollte,  die  verwandtschaftliche 
Beziehung  ist  strictiori  sensu  jene  von  aus  einer  gemeinschaftlichen 
Mutter  hervorgegangenen  Geschwistern. 

Waren  die  primären  Zahnmatrices  in  einer  einzigen  Reihe  gelagert, 
dann  alternieren  die  Zähne  nicht,  waren  sie  dagegen  in  zwei  Reihen 
gelagert,  die  miteinander  alternieren,  dann  alternieren  die  Produkte 
derselben  natürlich  auch.  Beide  Gebißformen  kommen  bei  den  Se- 
lachiern  vor. 

Bis  hierher  über  die  Anlage  des  Zahnes  selbst  und  die  Ursache 
ihrer  so  streng  geometrischen  Anordnung  im  Gebiß.  Dasselbe  entsteht 
aus  gleich  viel  zahnbildenden  Matrices,  als  es  Zahnfamilien  in  ihm 
gibt,  Für  jede  Familie  —  das  sind  die  senkrecht  auf  dem  Kieferrand 
stehenden  Zahnreihen  -  -  gibt  es  also  eine  einzige  wohlumschriebene 
Bildungsstätte.  Die  Zahnbildungsfunktion  ist  somit  nicht  diffus  ver- 
breitet, weder  in  der  sogenannten  Ersatzleiste,  noch  im  sogenannten 
freien  Rande  derselben.  Denn  in  diesem  Rande  liegen  die  Entwicklungs- 
herde voneinander  scharf  abgegrenzt.  Diese  Lokalisierung  der  Bildungs- 
funktion muß  man  für  die  Interpretierung  der  Erscheinungen  bei  den 
höheren  Vertebraten  wohl  im  Auge  behalten. 

Wie  ist  nun  diese  Ersatzleiste  entstanden  zu  denken?  Die  Zu- 
stände, welche  man  bei  gewissen  Selachiern  unmittelbar  beobachten 
kann,  sind  imstande,  eine  Antwort  auf  diese  Frage  zu  geben.   Über  dem 


Über  das  Wesen  der  Zahnkonkreszenz.  121 

streifenartigen  Feld,  worin  die  Bildungsstätten  der  Zähne  sich  finden, 
hat  sich  eine  schützende  Schleimhautfalte  entwickelt  und  ist  nicht  nur 
über  die  Keimzentren  der  Zahnfamilien  hervorgewachsen,  sondern 
überdeckt  bei  vielen  Knorpelfischen  auch  die  Zähnchen  während  ihrer 
Jugendperiode.  In  gleichem  Sinne  äußert  sich  Burckhardt  in  seiner 
Darstellung  der  Gebißentwicklung  im  Hertwigschen  Handbuch.  Auch 
dieser  Autor  spricht  von  einem  Entstehen  des  Gebisses  bei  den  Selachiern 
unter  einer  „gemeinsamen  Schleimhautfalte"1).  Ich  habe  in  meiner 
ersten  Studie  diesen  Vorgang  als  die  „Operkulisierung"  des  Zahnfeldes 
beschrieben.  Als  eine  höhere  Entwicklungsphase  ist  dann,  wie  schon 
vorher  betont,  jener  Zustand  zu  betrachten,  wobei  das  untere  Blatt 
dieser  Schleimhautfalte  mit  dem  Epithel  der  Spatia  interdentalia 
verklebt,  wodurch,  immerhin  sekundär,  die  Hertwigsche  „Ersatz- 
leiste" entsteht.  Aber  aus  dem  vorangehenden  geht  deutlich  hervor, 
daß  ich  die  Deutung  des  Wortes  nach  dieser  Bezeichnung  weniger  zu- 
treffend erachte.  Denn  diese  Leiste  als  solche  ist  nur  die  Trägerin, 
nicht  die  Bildnerin  der  zum  Ersatz  dienenden  Zähne.  In  Wirklichkeit 
ist  die  Leiste  ein  Teil  der  Mundschleimhaut,  welche  durch  eine  über- 
wuchernde Schleimhautfalte  von  der  Oberfläche  abgeschlossen  ist. 
Der  biologische  Vorgang  des  Ersatzprozesses  ist  lokalisiert  im  meist 
nach  innen  gelagerten  Streifen  dieses  Schleimhautfeldes,  und  auch 
in  diesem  Streifen  ist  die  Zahnbildungspotenz  wieder  in  einer  Anzahl 
bestimmter  Zellkonglomeraten  lokalisiert.  Ontogenetisch  macht  sich 
bei  den  Formen,  die  bis  jetzt  daraufhin  untersucht  worden  sind,  diese 
Operkulisierung  nicht  mehr  erkennbar.  Es  macht,  wie  es  aus  den  Unter- 
suchungen von  Hertwig  und  L aas  er  hervorgeht,  den  Eindruck,  als 
senkte  sich  das  Epithel  als  eine  Lamelle  in  der  Tiefe  des  Bindegewebes 
ein,  was  wohl  als  ein  abgekürzter  Entwicklungsgang  zu  betrachten  ist. 
Es  kommt  mir  nicht  unwahrscheinlich  vor,  daß  man  bei  fortgesetzten 
Untersuchungen  an  anderem  Material  Erscheinungen  zu  konstatieren 
imstande  sein  wird,  welche  die  Zahnleiste  als  die  Folge  eines  Über- 
wTucherungsprozesses  erscheinen  lassen.  Dabei  ist  es  erwünscht,  auch 
die  genetische  Beziehung  zwischen  jenen  Zähnchen,  welche  nach  den 
Untersuchungen  Laasers  außerhalb  der  „Zahnleiste"  gebildet  werden 
und  den  aus  der  Leiste  hervorgehenden  festzustellen.  Stellen  diese 
aus  dem  von  Laaser  als  „äußeres  Zahnepithel"  bezeichneten  Schleim- 
hautfeld entstehenden  Zähnchen  die  ersten  Generationen  der  Zahn- 
familien dar?  Oder  sind  es  Zwischenformen  zwischen  den  eigentlichen 
Zähnen  und  den  Placoidschuppen,  welche  später  durch  die  heran- 
rückenden wirklichen  Zähne  verdrängt  werden? 

Über  das  Wesen  der  Zahnleiste  bei  den  Selachiern  und  ihre  Ent- 
stehungweise schließe  ich  mich  somit  näher  der  alten  Vorstellung  von 
Owen,  Kölliker  und  Leydig  an,  als  jener  von  Hertwig.  Sie  ist 
meiner  Meinung  nach  nicht  eine  Leiste,  welche,  von  der  Oberfläche 
ausgehend,  in  die  Tiefe  wucherte  als  eine  Anpassung  an  den  stärkeren 
Ersatz  der  Zähne,  denn  dieser  greift  bei  den  Knochenfischen  ebenso 
Platz,  obgleich  es  hier  nicht  zur  Entstehung  einer  Ersatzleiste  gekommen 
ist.  Und  so  gelange  ich  von  selber  zur  Beantwortung  der  Frage :  In  welcher 
Beziehung   stehen   bezüglich    ihrer   Zahnbildung   und   Zahnersatz   die 


1)  R.  Burckhardt,  Die  Verknöcherungen  des  Integuments  und  der  Mund- 
höhle.   Hertwigs  Handb.  d.  Entw.-Gesch.,  Bd.  II,  Teil  I. 


122  Drittes  Hauptbtück. 

Teleostomen  und  Plagiostomen  zueinander?  Bildet  der  Zustand  bei 
der  ersten  (huppe  eine  Vorstufe  zu  jenem  der  zweiten?  Ich  muß  eine 
solche  Beziehung  unbedingt  von  der  Hand  weisen.  Man  kann  die 
Gebißentwicklung  der  Selachier  nicht  von  jener  der  Knochenfische 
ableiten  oder  umgekehrt,  wiewohl  es  a  priori  nicht  unwahrscheinlich 
ist,  daß  es  bei  den  Teleostomen  Formen  gibt,  welche  eine  Mittelstellung 
einnehmen.  Es  sind  bis  jetzt  noch  wenig  Formen  aus  dieser  Gruppe 
untersucht  worden,  und  schon  die  makroskopische  Anatomie  des  Ge- 
bisses läßt  vermuten,  daß  hier  noch  manche  interessante  Details  ans 
Licht  zu  bringen  sind.  Aber  im  allgemeinen  betrachtet  ist  ein  Zurück- 
führen der  Gebißentwicklung  der  Selachier  auf  jene  der  Knochenfische 
nicht  möglich,  da  ein  prinzipieller  Unterschied  in  den  Formen  der  An- 
lage und  des  Ersatzes  besteht.  Denn  wenn  man  die  Gebißanlage  bei 
den  Selachiern  mit  Berücksichtigung  des  oben  über  die  Operkulisierung 
des  Zahnfeldes  Gesagten  betrachtet,  dann  ist  es  klar,  daß  diese  Zähne 
noch  an  der  Oberfläche  der  Schleimhaut  zur  Anlage  kommen.  Man  hat 
sich  doch  dazu  nur  das  Operculum  zurückgeschlagen  zu  denken,  dann 
sieht  man  sofort  ein,  daß  die  jungen  Zähne  in  dem  jetzt  entblößten 
Feld  vollständig  wie  die  Placoidschuppen  des  Tieres  angelegt  werden. 
Bei  den  Knochenfischen  dagegen  ist  der  Vorgang  ein  ganz  anderer. 
Hier  senkt  sich,  wie  im  Unterkiefer  des  Hechtes,  die  Anlage  jedes  Zahnes 
oder  jeder  Zahnfamilie  in  die  Tiefe,  und  es  gibt  gleich  viel  Verbindungs- 
stränge mit  dem  oberflächlichen  Epithel  als  es  Zähne  gibt.  Hier  hat 
sich  jede  Zahnmatrix  für  sich  durch  aktive  Einsenkung  eine  geschützte 
Lage  erworben,  während  bei  den  Selachiern  die  an  der  Oberfläche 
verbleibenden  Zahnmatrices  durch  eine  gemeinschaftliche,  über  sie 
hervorwachsende  Schleimhautfalte  gegen  äußere  Insulte  geschützt 
werden.  Die  Schutzvorrichtung  für  die  zahnbildenden  Matrices  und 
für  die  jungen  Zähne  ist  :  omit  bei  beiden  Gruppen  von  Fischen  in  ganz 
verschiedener  Weise  zustande  gekommen.  Aber,  wie  gesagt,  ist  es  denk- 
bar, daß  bei  den  Knochenfischen  eine  Kombination  beider  Erscheinungen 
auftreten  kann.  Wenn  ich  den  Unterschied  zwischen  beiden  Arten  von 
Gebißentwicklung  durch  ein  ebenfalls  an  Hautgebilden  entnommenes 
Beispiel  verdeutlichen  wollte,  dann  konnte  ich  das  vielleicht  am  besten 
tun,  indem  ich  Entstehung  und  Ersatz  der  Zähne  bei  den  Knochen- 
fischen mit  jener  der  Haare,  die  bei  den  Knorpelfischen  mit  jener  der 
Nägel  gleichstellte. 

Die  oben  für  die  Selachier  angeführten  Gesichtspunkte  sind  maß- 
gebend für  die  Beurteilung  der  Erscheinungen  bei  den  höheren  Formen. 
Der  dabei  am  meisten  in  den  Vordergrund  sich  stellende  Punkt  ist 
die  Tatsache,  daß  die  Zähne  nicht  autochthon  entstehen,  sondern  in- 
folge der  Produktivität  einer  Matrix.  Einen  sehr  instruktiven  Beweis 
dafür  liefert  weiter  folgende  Erscheinung.  Im  Gebisse  der  Selachier 
trifft  man  bisweilen  zwischen  den  normal  gestalteten  Zähnen  solche 
an,  welche  eine  abweichende  Form  besitzen.  Es  ist  nun  sehr  bemerkens- 
wert, daß  solche  Varietäten  nicht  an  vereinzelten  Zähnchen  auftreten, 
sondern  daß  immer  eine  ganze  Zahnfamilie  in  allen  ihren  Gliedern  die 
identische  Abweichung  aufweist.  Ich  habe  davon  mehrere  Fälle  be- 
obachtet und  führe  in  den  Fig.  38  und  39  zwei  Beispiele  davon  an.  Die 
Fig.  38  stellt  einen  Fall  dar,  im  Unterkiefer  eines  noch  jungen  Spinax 
niger  beobachtet.  Es  ist  ein  Teil  der  Glieder  von  vier  Zahnfamilien 
gezeichnet  worden.     Beim  jungen   Spinax  niger  sind  im   Unterkiefer 


Über  das  Wesen  der  Zahnkonkreszenz. 


123 


die  Zähnehen  dreispitzig,  eine  stark  entwickelte  Hauptspitze  wird  an 
ihrer  Basis  von  zwei  kleinen  Nebenspitzen  flankiert.  Im  gegebenen 
Fall  nun  kam  zwischen  den  nor- 
mal gebauten  Zähnen  eine  Zahn- 
familie vor,  von  der  alle  Glieder 
eine  Verdoppelung  der  Haupt- 
spitze besaßen.  Das  zweite  Bei- 
spiel ist  dem  Gebiß  eines  großen 
(erwachsenen  ?)  Exemplar  von 
Cephalopterus  giorna  entnommen. 
Die  Zähnchen  sind  hier  klein, 
niedrig,  mit  unregelmäßig,  meist 
fünfspitzig  gestaltetem  Rand, 
der  mittelste  der  Zacken  ist  nicht 
selten  etwas  größer  als  die  übrigen. 
Die  Zähnchen  stehen  ziemlich 
weit  auseinander.  Zwischen 
den  normal  gebildeten  Elementen 
dieses  Gebisses  traf  ich  nun  eine 
Zahnfamilie  an,  wovon  alle  Glieder 
die  doppelte  Breite  und  einen 
reichlich  gezackten  Rand  hatten. 
Solche  Fälle  beweisen  wohl  aufs 
unzweideutigste,  daß  alle  Gene- 
rationen einer  Zahnfamilie  einer 
gemeinschaftlichen  Muttermasse 
ihre  Entstehung  verdanken.     Ist  Fig.  38. 

eine    der    Matrices   durch  irgend 

welchen  Umstand  in  ihrem  Bildungs  vermögen  alteriert,  dann  tragen  alle  von 
ihr  produzierten  Zähne  das  gleiche  vom  normalen  abweichende  Merkmal. 
Nach  dieser  sehr  langen  Abschweifung  können  wir  zurückkehren 
zu  unserem  Aus- 
gangspunkt, der 
Natur  der  soge- 
nannten Konkres- 
zenz der  Zähne. 
Wir  waren  jedoch 
wohl  gezwungen, 
die  vorangehenden 
Gesichtspunkte  zu 
betonen,  denn  es 
findet  sich  darin  die 
Basis,  auf  die  sich 
die  Ansichten  über 
diese    Konkreszenz 

gründen.  Ich 
brauche  wohl  nicht 
weiter  darauf  ein- 
zugehen, daß  bei 
den  höheren  Verte 
braten  die  Bedeu 
tung  der  Zahnleiste 


Uyyv<J 


•  ':KVV/V\) 


•  Co>-\_^>^/ '.. 


'\V-A/Vv. 


wvVV^viv: 


r"7 


Fig.  39. 


124  Drittes  Hauptstück. 

und   die  Beziehung   der  Zahnkeime   zu   derselben  die  gleiche  ist   wie 
bei  den  Selachiern. 

Ich  erinnere  daran,  daß  eine  Konkreszenz  der  Zähne  in  longi- 
tudinaler  Richtung  bei  der  Entstehung  des  Säugergebisses  aus  dem 
Reptiliengebiß  nicht  stattgefunden  hat,  dagegen  wohl  eine  solche  in 
transversaler  Richtung,  indem  zwei  aufeinanderfolgende  Glieder  einer 
Zahnfamilie  zusammenschmolzen.  Wie  ich  nun  im  Eingang  dieses 
Hauptstückes  auseinandersetzte,  war  ich  der  Meinung,  daß  es  sich 
hierbei  in  der  Tat  einmal  um  eine  aktive  Vereinigung  zweier  ursprüng- 
lich selbständiger  Gebilde  gehandelt  hat,  wobei  notwendig,  da  die  die 
Verbindung  eingehenden  Elemente  nicht  zu  viel  in  der  Entwicklung  ver- 
schieden sein  dürften,  der  Vorgang  sich  abgespielt  haben  muß  bei  Formen 
mit  einem  sehr  intensiven  Zahnwechsel.  Diesen  Standpunkt  habe  ich 
jetzt,  nach  näherem  Eindringen  in  diese  Seite  des  Gebißproblems, 
verlassen.  Die  Erkenntnis,  daß  die  Zähne  keine  autochthonen,  aus  einem 
freien  Keim  entstandene  Gebilde  sind,  sondern  Produkte  einer  wohl 
abgegrenzten  Matrix,  bringt  die  sogenannte  Konkreszenz  zu  einer 
leichter  verständlichen  Form  zurück.  Und  wie  schon  gesagt,  bin  ich 
jetzt  überzeugt,  daß  Dependorf  in  dem  zitierten  Aufsatz  das  Richtige 
getroffen  hat,  wenn  er  darin  S.  543  sagt:  „Wir  erschweren  uns  ganz 
offenbar  den  gesamten  Vorgang  in  der  Entwicklung  des  Säugerzahnes 
durch  den  Ausdruck  „Verschmelzung".  Man  stellt  sich  darunter  einen 
äußerlich  sichtbaren  und  in  seiner  Entwicklung  nachweisbaren  Prozeß 
vor,  der  aber  in  Wirklichkeit  gar  nicht  vorhanden  sein  kann."  Diese 
Bemerkung  kann  ich  völlig  unterschreiben;  bei  der  Entstehung  des 
Säugerzahnes  aus  dem  Reptilienzahn  ist  von  einer  Konkreszenz  in  dem 
geläufigen  Sinne  des  Wortes  keine  Rede  gewesen.  Wie  hat  man  sich 
dann  diesen  Vorgang  zu  denken  ?  Stellen  wir  uns  dazu  wieder  die 
Zahnleiste  mit  den  am  unteren  Ende  derselben  gebundenen,  vonein- 
ander funktionell  unabhängigen  Matrices  der  Zahnfamilien  vor.  Es 
gibt  gleich  viel  solcher  Keimstätten  als  die  Summe  der  Zähne  aus  dem 
Milchgebiß  (Exostichos)  und  permanentem  Gebiß  (Endostichos).  Daß 
die  Zahnleiste  als  solche  für  die  Entwicklung  der  Zähne  bedeutungs- 
los ist  und  bei  den  höheren  Vertebraten  einzig  dazu  dient,  die 
Matrices  der  Zahnfamilien  in  eine  geschützten  Lage  zu  bringen,  also 
hier  sekundär  eine  Rolle  spielt,  welche  mit  der  Zahnentwicklung  bei 
den  Teleostiern  Verwandtschaft  zeigt,  geht  daraus  hervor,  daß,  kurz 
nachdem  die  Entwicklung  der  Zähne  angefangen  hat,  die  Leiste  bei 
den  Säugetieren  verschwindet  und  auch  die  Zahnkeime  für  das  perma- 
nente Gebiß  voneinander  isoliert  werden.  Die  Zahnleiste  hat  nur  die 
Aufgabe,  bestimmte  Zellgruppen,  an  denen  eine  wohlumschriebene 
Funktion  haftet,  in  die  Tiefe  zu  bringen.  Ihre  wahre  phylogenetische 
Entwicklungsweise,  wie  dieselbe  uns  bei  den  Selachiern  deutlich  wird 
und  auch  bei  Reptilien  noch  zu  erkennen  ist,  kann  man  bei  Säugern 
nicht  mehr  nachweisen.  Dagegen  tritt  es  hier  deutlicher  hervor, 
daß  die  Zahnleiste  als  Ganzes  ein  Apparat  ist,  dem  als  Trägerin  einer 
Anzahl  Keimzentren  nur  eine  mechanische  Bedeutung  zukommt.  Sind 
die  Keimzentren  an  ihre  erwünschte  Stelle  gelangt,  dann  geht  der 
Apparat  zugrunde  und  jede  Keimstätte  stellt  ein  jetzt  auch  räumlich 
gesondertes  Zellkonglomerat  dar.  Dieses  Konglomerat,  diese  Matrix 
lieferte  nun  bei  den  Reptilien  in  gewissen  zeitlichen  Intervallen  einen 
Zahn.    Und  die  Produktion  eines  neuen  Zahnes  fing  erst  an,  nachdem 


Über  das  Wesen  der  Zahnkonkreszenz.  125 

der  vorangehende  eine  schon  beträchtliche  Größe  erreicht,  ja  bis- 
weilen schon  kürzere  oder  längere  Zeit  funktioniert  hatte.  Die  Inter- 
valle zwischen  der  Produktion  zweier  Zähne  sind  bekanntlich  bei  den 
Reptilien  sehr  verschieden  lang  und  die  Zahl  der  aus  jeder  Matrix 
entstehenden  Generationen  verschieden  zahlreich.  Immerhin  kommt  es 
jedoch  bei  den  Reptilien  nicht  zur  Anlage  einer  folgenden  Generation, 
solange  nicht  die  zuletzt  entstandene  einen  gewissen  Entwicklungs- 
grad erreicht  hat  und  der  Zahn  schon  zu  einem  selbständigen  Organ 
herangewachsen  ist.  Man  hat  sich  nun  zu  denken,  daß  bei  der  Ent- 
stehung des  Säugerzahnes  die  Matrix  fast  gleichzeitig  zwei  Zahn- 
generationen aus  sich  hervorgehen  läßt,  und  zwar  in  einem  solchen 
kurzen  Intervall,  daß  sie  faktisch  gleichzeitig  zur  Anlage  gelangen. 
Nach  dieser  ist  die  Produktivität  der  Matrix  normaliter  erschöpft, 
oder  richtiger  vielleicht,  dieselbe  wird  unterdrückt,  kann  jedoch 
unter  Umständen,  wie  wir  das  in  einem  vorangehenden  Kapitel 
gezeigt  haben,  noch  eine  dritte  Generation  (das  Tritomer,  Cara- 
bellis  Höcker)  entstehen  lassen.  (Vgl.  übrigens  das  in  der  ersten 
Studie  über  die  Elefantenmolaren  und  die  Zähne  der  Multituberku- 
laten  Gesagte.) 

Wenn  man  die  Entstehungweise  der  Säugerzähne  in  dieser  Weise 
auffaßt,  dann  wird  der  Begriff  Zahnkonkreszenz  hinfällig.  Die  zwei 
Generationen  sind  nicht  miteinander  verwachsen,  sondern  sie  haben 
sich  räumlich  nicht  voneinander  getrennt.  Auch  von  einer  Verschmel- 
zung von  Zahnkeimen  ist  bei  dieser  Vorstellung  nicht  die  Rede,  denn 
Zahnkeime,  als  isolierte,  selbständige,  kraft  eigener  Bildungsenergie 
entstehende  Gebilde,  gibt  es  nicht,  es  gibt,  an  die  Zahnleiste  gebunden, 
eine  Anzahl  Matrices  für  Zahnfamilien.  Und  diese  Matrices  pro- 
duzieren bei  den  Säugern  ohne  merkbares  zeitliches  Intervall  zwei 
Zahngenerationen,  die  also  notwendig  miteinander  verbunden  sein 
müssen. 

Diese  beiden  Zahngenerationen  haben  ihre  ursprüngliche  topo- 
graphische Beziehung  zueinander  jedoch  bewahrt,  die  der  Reihe 
nach  ältere  nimmt  die  bukkale,  die  jüngere  die  linguale  Hälfte  des 
zusammengesetzten  Gebildes  ein.  Und  in  den  vorangehenden  Haupt- 
stücken ist  es  deutlich  geworden,  daß,  wiewohl  die  beiden  Genera- 
tionen räumlich  nicht  voneinander  getrennt  sind,  primitive  Ver- 
hältnisse noch  darin  zum  Ausdruck  kommen,  daß  die  ältere  Genera- 
tion, das  Protomer,  der  bukkale  Komponent  des  Zahnes,  durchweg 
den  am  kräftigsten  und  vollständigst  entwickelten  Teil  des  Zahnes 
darstellt:  die  zweite  Generation,  das  Deuteromer,  kann  zu  einem  ganz 
unansehnlichen,  kaum  angedeuteten  Höcker  reduziert  sein,  sogar  schein- 
bar ganz  fehlen. 

Es  verdient  die  Frage  gestellt  zu  werden,  ob  der  beschriebene 
Vorgang  auch  nicht  schon  bei  Reptilien  sich  abspielen  kann?  Die 
Möglichkeit  scheint  mir  nicht  ausgeschlossen,  und  ich  möchte  dazu  auf 
die  merkwürdige  Form  von  Incisivi  hinweisen,  welche  Seele y  bei 
gewissen   Theriodontia    beschreibt    und  abbildet1).      Der  Autor    gibt 


1)  H.  G.  Seeley,  On  the  nature  and  limits  of  reptilian  Charakter  in  niani- 
malian  Teeth.     Proc.  Roy.  Soc.  London  1888,  Vol.  XLIV. 


126  Drittes  Hauptstück. 

z.  B.  die  Skizze  eines  Incisivus  von  Deuterosaurus  von  der  Seite  gesehen, 
welche  der  Form  nach  z.  B.  mit  einem  lateralen  Incisivus  von  Cebus 
oder  Ateles  mit  ihrem  so  stark  entwickelten  Innenhöcker  (Deuteromer) 
große  Ähnlichkeit  zeigt  und  weist  auf  diese  Eigentümlichkeit  besonders 
hin:  „the  crown  of  the  incisivi  (of  Theriodontia)  often  has  a  sharp 
chisel-like  externa I  cusp,  and  a  small  internal  cusp,  wich  gives  the  tooth 
a  mammalian  aspect.  This  character  is  well  seen  in  the  Russian  genus 
Deuterosaurus.  A  similar  condition  but  with  the  inner  cusp  less  conspi- 
cuous  is  seen  in  an  new  genus  from  South-Afrika  allied  to  Deuterosaurus. 
wich  may  be  named  Glaridodon"  (1.  c,  p.  135). 

Die  oben  gegebene  Vorstellung  der  Entstehung  des  Säugerzahnes 
beseitigt  die  Schwierigkeiten,  welche  mit  dem  Begriff  Konkreszenz 
der  Zähne  verbunden  sind  und  auf  welche  Dependorf  hingewiesen 
hat.  Es  hat  niemals  ein  Zusammentreten  von  zwei  ursprünglich  ge- 
trennten primären  Elementen  gegeben;  die  Dimerie  des  Säugerzahnes' 
b  t  nicht  die  Folge  von  Verwachsung,  sondern  von  einem  Ausbleiben 
einer  Sonderung.  Eine  wirkliche  Verwachsung  sollte  stattgefunden 
haben,  wenn  es  jemals  eine  Konkreszenz  von  Zähnen  in  longitudinaler 
Richtung  gegeben  hätte.  Nach  dem  oben  ausgearbeiteten  Gedanken- 
gang sollte  ein  solcher  Vorgang  jedoch  prinzipiell  verschieden  gewesen 
sein  von  der  sogenannten  Konkreszenz  in  transversaler  Richtung. 
Denn  in  jenem  Falle  sollten  wirklich  zwei  oder  mehr  gebildete 
Organe  oder  deren  Bildungszentren  miteinander  Verwachsungen  ein- 
gegangen haben.  Ein  solcher  Vorgang  würde  eine  wirkliche  Vereinigung 
von  mehreren  Elementen  zu  einem  einzigen  gewesen  sein;  die  sogenannte 
Konkreszenz  in  transversaler  Richtung  ist  dagegen  das  Unterbleiben 
einer  Sonderung,  es  ist  ein  „Konzentriert bleiben".  Dieser  Vorgang 
ist  somit  keine  Konkreszenz  und  darf  also  auch  nicht  als  Stütze  einer 
behaupteten  Verwachsung  von  Zähnen  in  longitudinaler  Richtung  an- 
geführt werden.  Ich  wiederhole,  daß  ein  solcher  Vorgang  meiner  Mei- 
nung nach  niemals  im  Laufe  der  Phylogenese  als  ein  allgemeines  nor- 
males Geschehen  stattgefunden  hat,  wenigstens  nicht  beim  Entstehen 
der  Säugerzähne.  Es  soll  damit  nicht  gesagt  sein,  daß  nicht  als  abnormale 
Erscheinung  eine  Verschmelzung  von  hintereinanderfolgenden  Zähnen 
vorkommen  kann.  Wenn  als  Äußerung  pathologischer  Entwicklung 
die  nebeneinanderliegenden  Matrices  zweier  Zahngenerationen  in  zellu- 
lärem Znsammenhang  bleiben  oder  kommen,  muß  notwendig  auch 
das  daraus  resultierende  Bildungsprodukt  in  seiner  Gestalt  diesen 
Vorgang  verraten.  Es  muß  sich  mehr  oder  weniger  deutlich  als 
aus  zwei  Zähnen  zusammengesetzt  erweisen.  Ich  wiederhole 
jedoch,  daß  ein  solches  Geschehen  meiner  Ansicht  nach  niemals 
ein  Entwicklungsfaktor  im  normalen  Werdegang  der  Zähne  ge- 
wesen ist. 

Von  dem  oben  entwickelten  Standpunkt  aus  kommen  jetzt  auch 
die  Erscheinungen,  welche  ich  in  der  ersten  Studie  bei  der  Ontogenese 
der  Primatenzähne  beschrieben  habe,  in  ein  helleres  Licht  und  werden 
leicht  verständlich.  Ich  erinnere  daran,  daß  ich  dort  die  Bildung  der 
lateralen  Schmelzleiste  im  Anschluß  an  die  Entstehung  der  Schmelz- 
nische ausführlich  beschrieben  habe  und  weiter  jene  des  Schmelz- 
septums  mit  dem  Schmelznabel.  Für  die  Details  muß  auf  jene  Arbeit 
verwiesen  werden.     Diese  Erscheinungen  nun,  welche  ich  dort  als  Be- 


Über  das  Wesen  der  Zahnkonkreszenz.  127 

weise  einer  ehemaligen  Konkreszenz  anführte,  betrachte  ich  jetzt  als 
unvollständige  Trennungsvorgänge  zwischen  den  beiden  Zahngene- 
rationen. Meiner  Meinung  nach  hat  dann  auch  Dependorf  in  dieser 
Materie  das  richtige  Wort  schon  gesprochen,  wenn  er  1.  c.  S.  552  sagt: 
Alle  jene  Fälle,  bei  denen  bisher  von  einer  Verschmelzung  die  Rede 
war,  sind  also  das  Gegenteil:  „Trennungs Vorgänge".  Mit  diesem  Zitat 
möchte  ich  dieses  Hauptstück  abschließen.  Ich  hoffe,  daß  es  mir  ge- 
lungen sei,  die  Schwierigkeiten,  welche  dem  Begriff  der  Zahn- 
konkreszenz anhafteten,  zu  beseitigen  und  zur  Klärung  der  wahren 
Natur  dieses  Vorganges  beigetragen  zu  haben. 


Besonderer  Teil. 


Das  Primatengebiß  als  Ganzes. 

Allgemeine  Bemerkungen. 

Nachdem  wir  in  besonderen  Abschnitten  die  Evolution  der  oberen 
und  unteren  zusammengesetzten  Zähne  der  Primaten  kennen  gelernt 
haben,  werden  wir  in  einem  besonderen  Abschnitt  die  Zähne  als  Kompo- 
nenten der  beiden  Gebißreihen  näher  betrachten.  Denn  daß  homologe 
Zähne  in  dem  Gebiß  verschiedener  Primaten  stark  voneinander  ab- 
weichende Struktur  aufweisen  können,  ist  eine  allgemein  bekannte 
Tatsache.  Das  gilt  jedoch  wesentlich  nur  von  den  postcaninen  Zähnen, 
die  Incisivi  und  Canini  besitzen  zwar  bei  den  verschiedenen  Geschlechtern 
spezifische  Kennzeichen;  dieselben  besitzen  jedoch  für  die  Lehre  der 
Entwicklung  der  Zahnformen  nur  eine  sehr  untergeordnete  Bedeutung. 
Ich  werde  mich  darum  auch  im  folgenden  auf  die  postcaninen  Zähne 
beschränken.  Und  was  die  Frontzähne  betrifft,  verweise  ich  übrigens 
auf  die  dritte  dieser  Studien,  wo  mit  den  Variationen  derselben 
gleichzeitig  das  Hauptsächliche  über  deren  normale  Form  zur  Dar- 
stellung kommt. 

Für  eine  leichtere  Orientierung  werde  ich  in  Kürze  einen  allgemeinen 
Gesichtspunkt  angeben,  der  sich  bei  der  Vergleichung  der  Primaten- 
gebisse bemerklich  macht. 

Eine  oberflächliche  Vergleichung  der  Zahnstruktur  von  eocänen 
und  rezenten  Primaten  führt  bald  zur  Einsicht,  daß  die  Zähne  der 
eocänen  Primaten  im  allgemeinen  höckerreicher  sind  als  jene  der  re- 
zenten Formen,  besonders  der  höheren  Vertreter  der  Gruppe.  Dieser 
größere  Höckerreichtum  trägt  jedoch  ein  ganz  bestimmtes  Gepräge, 
denn  er  wird  der  Hauptsache  nach  bedingt  durch  die  Anwesenheit 
jener  Höcker,  welche  ich  in  den  vorangehenden  Hauptstücken  als  Neben- 
spitzen kennen  gelernt  habe.  Diese  sind  an  den  Molaren  und  Prämolaren 
der  heutigen  Affen  im  allgemeinen  geringer  entwickelt,  als  sie  es  an 
den  Zähnen  der  eocänen  Vorgänger  waren.  Eine  erste  allgemeine  Ver- 
gleichung der  Zahnstruktur  der  Urprimaten  und  der  rezenten  Formen 
führt  somit  zum  Schluß,  daß  letztere  sich  während  der  Entwicklung 
der  höheren  Formen  in  der  ersten  Hälfte  des  Tertiär  vereinfacht  hat. 
Diese  Erscheinung  gibt  Anlaß,  in  dem  ganzen  Werdegang  des  Pri- 
matengebisses zwei  Phasen  zu  unterscheiden.  Die  erste,  älteste  Phase 
kennzeichnet  sich  durch  eine  sukzessive  Kompliziertheit  der  Gebiß- 
elemente. Sie  fängt  bei  den  primitivsten  Stammformen  der  Primaten 
an,  wenn  diese  sich  vielleicht  noch  nicht  einmal  als  besondere  Gruppe 
von   den  übrigen  Säugern  differenziert  hatten,   um  ihren  Höhepunkt 


Das  Primatengebiß  als  Ganzes.  129 

bei  den  eocänen  Formen  zu  erreichen.  Für  diese  Phase  können  wir  den 
durchlaufenen  Entwicklungsgang  nur  deduzieren  aus  den  verschie- 
denen Entwicklungszuständen,  welche  der  vordere  Teil  des  Gebisses, 
die  Prämolarenreihe,  uns  zeigt.  Wir  setzen  dabei  voraus,  daß  die  Ent- 
wicklungsstufen, welche  wir  in  diesem  Gebißteil  antreffen  und  zu  einer 
vollständigen  Entwicklungsreihe  anzuordnen  vermögen,  auch  einmal 
von  den  Molaren  durchlaufen  sind.  Diese  Voraussetzung  ist  schon 
berechtigt  durch  den  Umstand,  daß  bisweilen  der  letzte  Prämolar 
vollkommen  einem  Molar  ähnlich  werden  kann.  Während  dieser  ersten 
Phase  sind  allmählich  die  morphogenetischen  Potenzen,  welche  der 
diniere  Zahnkeim  in  sich  faßte,  in  einer  Weise  und  Reihenfolge  akti- 
viert, die  wir  in  den  vorangehenden  Hauptstücken  geschildert  haben. 
In  dieser  Phase  muß  sich  auch  jener  merkwürdige  Vorgang  abgespielt 
haben,  infolge  dessen  der  hintere  Abschnitt  des  Gebisses  nur  durch 
eine  einzige  Dentition  vertreten  wurde.  Diese  Tatsache  ist  für  die  Mo- 
laren als  spezifisches  Merkmal  gewiß  kennzeichnender  als  ihre  Form, 
denn  diese  kann,  wie  gleich  hervorgehoben,  auch  von  den  Prämolaren 
gelegentlich  erreicht  werden.  Der  Ausfall  des  hinteren  Abschnittes 
einer  der  beiden  Zahnreihen,  und  zwar  der  äußeren,  wie  man  aus  den 
Variationen  im  Molarengebiet  schließen  darf1),  hat  wohl  wesentlich 
dazu  beigetragen,  daß  die  Zahnkeime  der  hinteren  Elemente  der  anderen 
Zahnreihe  ihre  morphogenetischen  Potenzen  zu  einer  mehr  vollständigen 
Entwicklung  brachten. 

Eine  weitere  Eigentümlichkeit  der  ersten  Entwicklungsphase 
des  Primatengebisses  war  die  immer  stärker  hervortretende  Ungleich- 
förmigkeit  zwischen  den  Zähnen  beider  Kiefer,  worüber  näheres  in 
dem  vorangehenden  Abschnitt,  der  über  die  Unterkieferzähne  handelt, 
auseinandergesetzt  ist.  Selbstverständlich  nimmt  diese  Ungleichheit 
mit  dem  Differenzierungsgrad  der  Zähne  zu.  Je  näher  der  Zahn  dem 
Eckzahn  gelegen  ist.  desto  primitiver  ist  er  gestaltet  und  desto  größer 
ist  die  Gleichförmigkeit  zwischen  oberem  und  unterem  Zahn. 

Kurz  zusammengefaßt  kennzeichnet  sich  somit  die  erste  Phase 
des  Entwicklungsganges  vom  Primatengebiß  durch  Komplizierung 
der  Zahnformen,  durch  sich  einstellende  Ungleichförmigkeit  der  Zähne 
des  oberen  und  unteren  Gebisses  und  durch  Aufsall  einer  Anzahl  (viel- 
leicht drei)  von  Zähnen  am  hinteren  Ende  einer  der  beiden  Dentitionen, 
wodurch  der  Gegensatz  zwischen  Molaren  und  Antemolaren  zustande 
kommt.    Das  alles  ist  bei  den  eocänen  Primaten  erreicht. 

Die  meist  in  den  Vordergrund  tretende  Erscheinung  in  der 
zweiten  Phase  der  Entwicklungsgeschichte  des  Primatengebisses  ist 
neben  der  Verringerung  der  Prämolarenzahl,  das  Bestreben,  die  Ungleich- 
förmigkeit zwischen  oberen  und  unteren  Zähnen  auszugleichen.  Und 
man  kann  konstatieren,  daß  bei  den  höheren  Primaten  dieses  Ziel  schon 
ziemlich  weit  genähert  werden  kann,  sowohl  bei  altweltlichen  wie  bei 
neuweltlichen  Affen.  Es  wurde  diese  größere  Übereinstimmung  in  der 
Kronengestalt  zwischen  oberen  und  unteren  Zähnen  zum  Teil  durch 
Vereinfachung  der  Kronenstruktur  infolge  von  Verlust  bestimmter 
Höcker  erreicht.  Und  wie  oben  schon  hervorgehoben,  war  es  durch  die 
Ausschaltung    besonders    der    ursprünglichen    Nebenspitzen,    daß    die 


1)  Vgl.  dazu  meinen  Aufsatz:  Welcher  Dentition  gehören  die  Molaren  an? 
in  Zeitschr.  f.  Morph,  u.  Anthrop.,  Bd.  XVII. 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  9 


I  30  Besonderer  Teil. 

Vereinfachung  zustande  kam.  Die  Haupthöcker  P  (resp.  Pa  und  Pp) 
und  D.  vergegenwärtigen  die  zwei  Elemente  des  Reptiliengebisses, 
die  im  Säugerzahn  zusammengehalten  sind.  Die  Nebenspitzen  j,  2,  3 
und  4  sind  den  beiden  Nebenzacken  homolog,  welche  diese  zwei  Grund- 
elemente  des  Säugerzahnes  als  eine  vordere  und  hintere  ausstatteten. 
Sie  verdanken  nicht  selbständigen  Zahnkeimen  ihre  Entstehung, 
sondern  es  waren  Differenzierungsbildungen  der  Zahnschneide,  wie 
wir  das  bei  den  Reptilien  so  überaus  häufig  antreffen.  Und  daß  es  nun 
bei  der  Vereinfachung  des  Primatenzahnes  eben  diese  Elemente  sind, 
welche  wieder  verschwinden,  braucht  uns  nicht  zu  wundern.  Es  spielt 
sich  hier  bei  den  Säugern  ein  nämlicher  Vorgang  ab,  der  auch  bei 
Reptilien  konstatiert  werden  kann.  Als  höhere  morphologische  Diffe- 
renzierung hat  der  Zahn  Nebenzacken  aus  seiner  Kante  hervorgehen 
lassen;  wenn  nun  der  Zahn  sich  wieder  einfacher  gestaltet,  dann  ist 
es  selbstverständlich,  daß  zuerst  die  Entwicklung  der  Nebenzacken 
unterbleibt. 

Es  gibt  aber  eine  Nebenspitze,  welche,  statt  rudimentär  zu  werden 
und  zu  schwinden,  in  progressiver  Entwicklung  bei  den  höheren  Pri- 
maten begriffen  ist,  es  ist  die  hintere  Nebenspitze  des  Deuteromer. 
Eben  durch  diese  Progression  wurde  die  Gleichförmigkeit  der  oberen 
und  unteren  Molaren  erzielt. 

Ich  glaube,  daß  der  hier  in  einer  kurzen  Skizze  zusammengefaßte 
Hauptvorgang  in  der  Geschichte  des  Primatengebisses  nicht  ausschließ- 
lich auf  diese  Säugergruppe  Bezug  hat,  doch  daß  Übereinstimmen- 
des auch  bei  anderen  zu  verzeichnen  ist.  Auf  diesen  Punkt  werde  ich 
jedoch  nicht  eingehen  und  gehe  jetzt  zu  der  speziellen  Besprechung 
über,  wobei  ich  die  obere  und  untere  Reihe  gesondert  behandle.  Ich 
fange  mit  dem  Unterkiefergebiß  an. 


Viertes  Hauptstück. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten. 

Der  Vollständigkeit  wegen  fange  ich  diese  Besprechung  mit  der 
Betrachtung  einiger  Gebisse  von  eocänen  Primaten  an.  Ich  wähle  dazu 
einige  der  am  besten  bekannten  Glieder  der  von  Osborn  als  Meso- 
donten  aufgestellte  Gruppe,  von  denen  ich  in  den  Fig.  40,  41  und  42 
das  Unterkiefergebiß  einiger  Geschichter  wiedergebe.  Diese  Figuren 
sind  angefertigt  nach  jenen,  welche  sich  finden  in  der  Abhandlung  von 
Osborn:  „American  eocene  Primates"1)-  Die  Bezeichnung  der  Höcker 
ist  von  mir  in  Übereinstimmung  mit  der  in  den  vorangehenden  Haupt- 
stücken gegebene  Differenzierungstheorie  angebracht  worden. 

Als  Ausgangspunkt  der  Besprechung  wird  uns  untenstehende 
Tabelle  dienen,  welche  die  Kronenformel  der  verschiedenen  postcaninen 
Zähne  in  übersichtlicher  Weise  zur  Schau  bringt. 

Kronenformel  einiger  eocänen  Primaten. 


L^j p« 

^s 

P, 

Ms 

M^ 

M3 

Hyopsodus 

Lemoinianus 

(1) 

$> 

€)r 

I   P 

T 

D 

PaPp  2 
~D~4~~ 

Pa  Pp  2 
D4 

PaPp  2 

Hyopsodus  miticulus 

© 

&Y 

i  p 

i  PaPp 

PaPp2 
3D4 

PaPp  2 
D4 

PaPp  2 
D4 

Notharctos  spec.  V 

Q 

© 

tfr 

i  PaPp 

1  PaPp 
3D4 

Pa  Pp 
3D4 

PaPp  2 
D4 

Pelycodus  nuniensis 

© 

® 

ifr 

P 
—  T 

D   l 

PaPp  2 
~3~V4~ 

PaPp  2 
3D4 

PaPp  2 
D4 

Zur  Erläuterung  dieser  Kronenformel  erinnere  ich  noch  kurz 
daran,  daß  die  Haupthöcker  wie  folgt  angedeutet  sind:  Jener  des 
Protomer  mit  P  und  wenn  dieser  Höcker  sich  zum  Doppelhöcker  diffe- 
renziert hat,  wird  der  vordere  mit  Pa,  der  hintere  mit  Pp  angedeutet, 
der  deuteromere  Haupthöcker  ist  als  D  bezeichnet.  Die  Nebenspitzen 
sind  folgenderweise  unterschieden:  die  vordere  dv^  Protomer  als  1. 
die  hintere  als  2,  die  vordere  des  Deuteromer  als  3  und  die  hintere  als  4. 
Die  Höcker  des  Protomer  (dem    bukkalen  Abschnitt  des  Zahnes  ent- 


1)  Bulletin  of  the  American  Museum  of  Natural  History  19Ö2,  Vol.  XVI. 

9* 


132 


Viertes  Hauptstück. 


sprechend)  sind  oberhalb,  jene  des  Deuteromer  unterhalb  des  hori- 
zontalen Striches  geschrieben.  Wenn  die  Haupthöcker  beider  Odonto- 
meren  zu  einem  einzigen  Kegel  verbunden  sind,  an  dem  noch  keine 
Trennungsfurche  zwischen  beiden  Komponenten  sichtbar  ist,  werden 
die  Symbole  dieser  Höcker  zwischen  Klammern  gestellt.  Ein  Talon 
an  dem  noch  keine  weitere  Höckerdifferenzierung  sichtbar  ist,  wird 
mit  T  angedeutet.  Nach  einiger  Übung  lassen  sich  diese  Kronen- 
formeln mit  gleicher  Leichtigkeit  lesen  als  die  Gebißformeln,  und 
orientieren  sie  sofort  über  den  Entwicklungsgrad  der  verschiedenen 
Komponenten  des  Gebisses. 

So  besagt  uns  die  Tabelle  z.  B.,  wenn 
wir  zuerst  die  vier  Prämolaren  etwas  näher 
betrachten,  daß  bei  je  dieser  vier  Formen 
die  Prämolaren  sich  in  hinterwärtiger  Richtung 
allmählich    komplizieren    aber    nicht    alle)[in 


Fig.  40  Hyopsodus  lemoi- 
nianus.  Unterkiefergebiß. 
Nach  Osborn  1.  c.  Fig.  1  a. 


Fig.      41.        Notharctos 

spec.  ?  Unterkiefergebiß. 

Nach  Osliorn. 


Fig.  42.    Pelycodus  nuni- 

ensis.      Unterkiefergebiß. 

Nach  Osborn. 


gleichem  Grade.  Bei  allen  besitzt  der  erste  Prämolar  eine  einfache 
kegelförmige  Krone.  Für  Hyopsodus  (Fig.  40)  geht  das  unmittelbar 
aus  der  reproduzierten  Osbornschen  Figur  hervor,  für  Pelycodus 
und  Notharctos  muß  man  dazu  wohl  schließen ,  da  auch  der  von 
Osborn  abgebildete  dritte  Prämolar  noch  eine  gleiche  einfache  Ge- 
stalt besitzt  (vgl.  Fig.  41  und  42).  Auch  Schlosser  bezeichnet  die 
bezüglichen  Zähne  noch  als  einfache  Kegel.  In  dem  vorangehenden 
Hauptstück  sind  die  Gründe  entwickelt,  warum  ich  diesen  Kronenkegel 
als  aus  den  beiden  Haupthöckern  der  zwei  Odontomeren  zusammen- 
gesetzt betrachte.  Für  Notharctos  und  Pelycodus  gilt  gleiches  auch  noch 
für  den  zweiten  Prämolar,  vielleicht  besteht  hier  schon  eine  Andeutung 
eines  Talon,  aber  dann  muß  er  doch  sehr  gering  entwickelt  gewesen  sein, 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  133 

da  jener  sich  an  dem  dritten  Prämolar  dieser  beiden  Gattungen  zwar  findet 

aber  noch  sehr  schwach  entwickelt  ist.  Beim  Geschlecht  Hyopsodus  da- 
gegen ist  der  Talon  am  zweiten  Prämolar  schon  ziemlich  kräftig.  Man  ver- 
gleiche dazu  z.  B.  die  Osbornsche  Fig.  la  von  H.  lemoinianus  (hier 
reproduziert  in  Fig.  40)  und  Fig.  6  von  Hyopsodus  miticulus.  Dieser  Vor- 
sprung in  der  Differenzierung,  welcher  Hyopsodus  im  zweiten  Prämolar 
aufweist,  bestätigt  sich  beim  dritten  in  stärkerem  Maße.  Es  hat  sich 
nämlich  bei  H.  lemoinianus  die  Nebenspitze  /  entwickelt,  während  bei 
H.  miticulus  überdies  der  Kronenkegel  sich  schon  in  seinen  beiden 
Komponenten  gelöst  hat,  und  der  protomere  und  deuteromere  Haupt- 
höcker selbständig  geworden  sind  (vgl.  Osborn,  1.  c,  Fig.  6).  Daß 
solches  bei  einer  Art  dieser  Gattung  der  Fall  ist,  bei  einer  anderen  noch 
nicht,  hat  nichts  Befremdendes.  Ich  habe  früher  darauf  hingewiesen, 
daß  sogar  als  individuelle  Variation,  bei  zwei  Individuen  derselben  Art, 
die  kegelförmige  Krön11  eines  Prämolaren  das  eine  Mal  einfach  sein 
kann,  das  andere  Mal  durch  eine  deutliche  Trennungsfurche  in  seinem 
bukkalen  und  lingualen  Komponent  gelöst.  Die  Anthropomorphen 
geben  gute  Beispiele  davon.  Der  P  4  zeigt,  der  allgemeinen  Kegel  gemäß, 
bei  den  drei  genannten  Gattungen  weitere  Fortschritte.  Auch  hier  geht 
das  Geschlecht  Hyopsodus  an  der  Spitze,  und  zwar  besonders  H.  mi- 
ticulus, dessen  vierter  Prämolar  vollständig  „molarisiert"  ist.  Denn 
hier  finden  sich  im  protomeren  Teil  die  zwei  bukkalen  Haupthöcker 
Pa  und  Pp,  indem  dazu  im  deuteromeren  Teil  die  Nebenspitze  4  sich 
differenziert  hat.  In  der  Molarisierung  kommt  Hyopsodus  miticulus 
jedoch  Notharctos  gleich,  denn  auch  hier  sind  Pa  und  Pp  diffe- 
renziert, dagegen  ist  das  Deuteromer  nur  durch  seinen  Haupthöcker 
vertreten. 

Auf  die  Tatsache,  daß  der  letzte  Prämolar  bei  den  eocänen  Pri- 
maten bisweilen  vollständig  „molarisiert"  sein  kann,  weist  auch 
Schlosser  (Affen,  Leniuren  usw.,  S.  19)  hin.  Der  Autor  hebt  hervor, 
daß  solches  bei  keinem  der  echten  Affen  der  Fall  ist,  und  zieht  daraus 
den  Schluß,  daß  „die  Pseudolemuridae  in  dieser  Beziehung  weiter  fort- 
geschritten sind  und  deshalb  unmöglich  als  die  direkten  Stammeltern 
der  Affen  angesehen  werden  können,  denn  bei  keinem  von  diesen 
letzteren  hat  der  letzte  Pr  die  Zusammensetzung  eines  M.  erreicht." 

Nun  möchte  ich  über  die  genetische  Beziehung  zwischen  den 
echten  Affen  und  den  Pseudolemuridae  keine  Meinung  aussprechen, 
aber  der  Grund,  auf  welchen  Schlosser  sein  abweisendes  Urteil 
stützt,  scheint  mir  doch  anfechtbar.  Denn  die  Möglichkeit,  daß  im 
Laufe  der  weiteren  Entwicklung  die  Zahnformen  sich  vereinfacht  haben, 
wird  dabei  von  vornherein  beseitigt.  Die  konsequente  Anwendung 
des  von  Schlosser  hier  befolgten  Prinzipes,  muß  dazu  führen,  unter 
allen  Umständen  die  Vereinfachung  der  Zahnkrone,  als  entwicklungs- 
geschichtlicher Vorgang,  der  Zahnformen  geologisch  jüngerer  Formen 
entstehen  läßt,  von  der  Hand  zu  weisen.  Das  würde  zu  unüberwindlichen 
Schwierigkeiten  führen.  Denn  dann  sollten  z.  B.  die  zwrei  so  einfach 
gebauten  Prämolaren  von  Indris  oder  Propithecus  als  primitive  Formen 
gedeutet  werden  müssen,  und  nicht  als  sekundär  vereinfachte  Formen. 
Ich  kann  diesen  Standpunkt  nicht  teilen.  Die  Struktur  dc>  (iebisses  als 
Ganzes  hat  zweifelsohne  großen  Einfluß  auf  die  Gestalt  der  einzelnen 
Zähne  im  Verband  mit  der  Funktion  der  verschiedenen  Gebiß- 
abschnitte.    Festgreifen,    Zerreißen   und   Kauen   sind   die  drei  Tätig- 


134  Viertes  Hauptstück. 

keiten  des  Gebisses,  welche  je  in  einem  besonderen  Abschnitt  lokali- 
siert sind,  und  in  je  derselben  ist  die  Gestalt  der  Zähne  in  Übereinstim- 
mung mit  der  Funktion.  Die  erstgenannte  ist  an  den  Frontzähnen 
gebunden,  die  zweite  an  den  Prämolaren,  die  dritte  an  den  Molaren. 
Wenn  nun  die  Prämolaren  noch  vier  an  der  Zahl  sind  und  der  hinterste 
mithin  ziemlich  weit  von  der  Mundöffnung  entfernt  ist,  dann  läßt  es  sich 
unschwer  einsehen,  daß  derselbe  mehr  in  den  Dienst  der  Mahlbewegung 
treten  kann,  da  das  Zerreißen  der  Nahrung  in  den  drei  vorangehenden 
genügend  gesichert  ist.  Wenn  sich  dagegen  die  Prämolarenzahl  ver- 
ringert, z.  B.  auf  zwei,  wie  bei  gewissen  Prosimiae  und  bei  den  altwelt- 
lichen Affen,  wird  die  Aufgabe,  die  Nahrung  zu  zerreißen,  in  nur  zwei 
Elementen  des  Gebisses  lokalisiert,  welche  sich  dieser  Funktion  so  gut 
wie  möglich  anpassen.  Man  betrachte  z.  B.  die  zwei  stark  seitlich  kom- 
primierten Prämolaren  von  Indris,  Propithecus  usw.  Die  Folge  davon 
ist,  daß  diese  Zähne  ihre  frühere  mehr  komplizierte  Gestalt,  welche  sie 
bei  den  noch  im  Besitze  von  vier  Prämolaren  stehenden  Stammformen 
besaßen,  preisgeben  und  sich  vereinfachen.  Aber  gerade  dadurch 
wird  der  Unterschied  zwischen  Molaren  und  Prämolaren  immer  schärfer 
ausgeprägt.  In  dieser  Weise  erkläre  ich,  die  Erscheinung,  daß  mit 
Verringerung  der  Prämolarenzahl  die  Unterschiede  in  Form  zwischen 
Prämolaren  und  Molaren  akzentuiert  werden,  nicht  ausschließlich 
infolge  von  höher  funktioneller  Ausbildung  der  Molaren,  sondern  zum 
guten  Teil  durch  Vereinfachung  der  Prämolaren.  Nun  ist  selbstverständ- 
lich die  Gestalt  der  Zähne  eines  der  Primaten,  z.  B.  des  Menschen, 
nicht  ausschließlich  durch  diesen  einzigen  Gesichtspunkt  zu  erklären, 
es  sind  mehrere  Umstände,  welche  dafür  in  Betracht  genommen  werden 
müssen.  Doch  ist  das  hier  Hervorgehobene  nicht  jenes  von  der  geringsten 
Bedeutung. 

Aus  dem  oben  gegebenen  Grunde  kann  ich  mich  dann  auch 
der  Ansicht  Schlossers:  es  können  die  Pseudolemuriden  nicht  die 
Stammeltern  der  wahren  Affen  gewesen  sein,  weil  ihr  hinterster  Prä- 
molar „molarisiert"  sein  kann,  nicht  anschließen.  Ob  sie  es  wirklich 
gewesen  sind,  darüber  habe  ich  kein  Urteil,  aber  das  Schloss ersehe 
Argument  gegen  eine  solche  Verwandtschaft,  ist  meiner  Meinung  nach 
für  einen  so  weittragenden  Schluß  zu  schwach  und  anfechtbar. 

Die  Molaren  zeigen  bei  den  drei  Geschlechtern  in  ihrer  Diffe- 
renzierung weitgehende  Übereinstimmung.  Sie  besitzen  alle  eine  wohl 
markierte  Trennung  der  proto-  und  deuteromeren  Elemente  und  allen 

Pa  Pf> 
ist  der  Besitz  der  typischen  Molarenhöcker  — =: — -  gemein.    Die  Unter- 
Jr  D  4     ° 

schiede  werden  nur  durch  eine  etwaige  Entwicklung  von  Nebenspitzen 
hergestellt  und  durch  das  Auftreten  von  Kämmen,  welche  die  Höcker 
unter  sich  verbinden.  Am  meisten  interessiert  uns  die  Nebenspitze  2, 
die  hintere  des  Protomer.  Denn  diese  Spitze,  der  sogenannte  hintere 
unpaarige  Höcker  der  Odontologen,  tritt  bei  den  eoeänen  Primaten  offen- 
bar ziemlich  häufig  an  den  drei  Molaren  auf,  während  er  bekanntlich 
bei  den  rezenten  Formen,  wenn  überhaupt  anwesend,  meistenteils  (nicht 
immer;  [Anthropoiden,  Hominiden])  auf  den  dritten  Molar  beschränkt 
ist.  Beim  Geschlecht  Hyopsodus  scheint  er  regelmäßig  an  den  drei 
Molaren  vorzukommen,  denn  außer  den  zwei  in  der  Tabelle  nahmhaft 
gemachten  Arten  besitzt  auch,  nach  der  Osbornschen  Abbildung, 
Hyopsodus  vicarius  diesen  2- Höcker  auf  den  drei  Molaren.    Auch  bei 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  135 

Pelycodus  ist  solches  der  Fall,  bei  Notharctos  dagegen  ist  er  auf  den 
letzten  Molaren  beschränkt.  Das  Fehlen  dieses  Höckers  darf  somit  als 
eine  progressive  Erscheinung  gedeutet  werden,  das  Vorkommen  des- 
selben bei  rezenten  Formen  als  ein  primitives  Merkmal. 

Bezüglich  des  Vorkommens  vom  2-Höcker  auf  den  Unterkiefer- 
molaren von  Hyopsodus  besteht  ein  Widerspruch  in  den  Angaben  von 
Cope  und  den  Abbildungen  von  Osborn.  Wie  oben  hervorgehoben, 
bildet  der  letztgenannte  Autor  einen  hinteren  unparigen  Höcker  an 
sämtlichen  Molaren  ab  bei:  H.  miticulus  (1.  c.  Fig.  6),  H.  lemoinianus 
(1.  c.  Fig.  7a),  H.  powelianus  (1.  c.  Fig.  9),  H.  vicarius  (1.  c.  Fig.  12). 
Cope  dagegen  (American  Naturalist.  L885,  S.  400)  stellt  das  Geschlecht 
Hyopsodus  in  einer  Tabelle  der  eocänen  Primaten  in  der  Gruppe  mit 
vier  Prämolaren  und  vierzackigen  Unterkiefermolaren.  Die  Beschrei- 
bung Schlossers  (1.  c.  S.  21)  stimmt  mit  den  Abbildungen  Osborns 
überein. 

In  dem  Kapitel,  welches  über  die  Morphogenese  der  Oberkiefer- 
zähne handelt,  ist  ausführlich  die  große  Bedeutung  des  Leistensystems 
auf  die  Molaren  für  vergleichend  anatomische  Zwecke  erörternd  worden. 
Aus  diesem  Grunde  werde  ich  dann  auch  an  dieser  Stelle  kurz  das  Leisten- 
system, das  man  an  den  unteren  Zähnen  der  drei  vorliegenden  eocänen 
Primatengeschlechter  antrifft,  berücksichtigen.  Das  einfachste  System 
findet  sich  am  hintersten  Prämolaren  als  ein  Querkamm,  welcher  die 
Haupthöcker  P  und  D  miteinander  verbindet.  Er  tritt  bei  den  drei 
Geschlechtern  auf.  Es  verhalten  sich  in  diesem  Punkt  die  unteren 
Zähne  identisch  mit  den  oberen.  Denn  wie  an  betreffender  Stelle 
auseinandergesetzt  wurde,  erscheint  auch  dort  die  einfachste  Andeutung 
des  Leistensystemes  als  eine  die  Haupthöcker  beider  Odontomeren 
verbindende  Leiste.  Auch  die  weitere  Ausbildung  verläuft  mit  jener 
der  oberen  Zähne  parallel,  findet  sich  am  vollständigsten  bei  Hyop- 
sodus entwickelt.  Denn  wenn  in  dem  Oberkiefer  der  Haupthöcker 
des  Protomer  P,  in  den  Zwillingshöckern  Pa  und  Pp  sich  gelöst  hat, 
ist  an  Stelle  des  einfachen  Querkammes  eine  V-förmige  Leiste  entstanden. 
Der  Höcker  D  steht  dann  durch  eine  Leiste  mit  jedem  der  beiden 
Komponenten  des  protomeren  Haupthöckers  in  Verbindung,  es  zieht 
eine  kürzere  vordere  in  querer  Richtung  nach  Pa  und  eine  hintere 
längere  in  schräger  Richtung  nach  Pp.  In  der  Ausbildung  dieses 
Systemes  zeigen  aber  die  drei  Geschlechter  Unterschiede.  Am  vollstän- 
digsten ist  es  bei  Hyopsodus  entwickelt,  da  sämtliche  Molaren  hier 
mit  einem  solchen  V-förmigen  Leistensystem  ausgestattet  sind.  Bei 
Pelycodus  findet  es  sich  nur  auf  dem  ersten  Molar,  bei  Notharctos 
fehlt  die  hintere  Schrägleiste  an  allen  Molaren,  nur  die  vordere  Quer- 
leiste ist  da,  Daß  letztere  für  Homologisierung  der  Höcker  gute  Dienste 
leisten  kann,  wird  z.  B.  durch  jene  Fälle  bewiesen,  in  denen  sich  vor  den 
Höckern  Pa  und  D  noch  zwei  Höcker  entwickelt  haben  (i  und  3). 
Hier  könnten  bei  etwas  kräftiger  Entwicklung  dieser  Nebenspitzen 
Schwierigkeiten  in  der  Bestimmung  der  Höcker  sich  ergeben,  die 
Querleiste  jedoch  stellt  sofort  die  Identität  der  Höcker  Pa  und 
I)  fest. 

Da  es  mir  nicht  im  Sinne  liegt,  eine  vollständige  Morphologie 
der  Primatenzähne  zu  geben,  und  ich  nur  bezwecke,  dieselben  im  Licht 
meiner  Theorie  zu  betrachten,  beschränke  ich  mich,  was  die  eocänen 
Primaten    betrifft,    auf    die    drei    besprochenen    amerikanischen    Ge- 


136 


Viertes  Hauptstück. 


schlechter   und  gehe   jetzt   zu   den    Unterkieferzähnen   der   Halbaffen 
über.  — 

Ich  werde  der  Besprechung  dieser  Formen  wieder  eine  Tabelle 
der  Kronenformel  zugrunde  legen. 


Kronenformel  der  unteren  Zähne  vom  Halbaffen. 


P, 

^3               P* 

Mx 

Mt 

M3 

Tarsius  spectrum  .    .   . 

© 

O 

f©3" 

J  PaPp 
Z>4 

1  Pa  Pp 
D  4 

1  PaPp  2 
T>4 

Stenops  gracilis    .    .    . 

© 

©* 

(I)2 

Pa  Pp 
D  4 

PaPp 
~D~4~ 

Pa  Pp  2 
D4 

Nycticebus  tardigradus 

© 

<Qr 

4% 

(DPaPp 
D4 

Pa  Pp 

Pa  Pp  (2) 
ü4 

Cheirogaleus    Shmithii 

© 

©' 

(5)' 

Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp 
~D~T 

Pa  Pp  2 

D4 

Galago  senegalensis 

© 

& 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

PaPp 

Pa  Pp  2 

D^ 

D  4 

D4 

•DA 

Hemigalago    Demidoffi 

© 

©* 

Pa  Pp 

PaPp 
D4 

Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp  2 

D4 

r>4 

Avalm  laniger  .... 

©* 

Pa  Pp 
~D~~ 

1  Pa  Pp 
D(Dl)4 

Pa  Pp 
D(D')4 

Pa  Pp  2 

D(DX)4 

Propithecus  diadema    . 

(i)r 

©' 

1  Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp 

Pa  Pp  2 

D4 

©T 

g)' 

1  Pa  Pp 
D  4 

PaPp 
~B~4~ 

Pa  Pp  2 

T>4 

© 

Or 

1  Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp 
P>4 

Pa  Pp  (2) 
D4 

Wir  werden  zuerst  die  in  obenstehender  Tabelle  enthaltenen 
Formen  miteinander  vergleichen,  und  sodann  mit  den  vorher  be- 
sprochenen Urprimaten. 

Wenn  man  die  Variationen  der  Kronengestalt  in  der  gegebenen 

Tabelle  betrachtet,  dann  erweist  sich  dieselbe  bei  den  verschiedenen 

Komponenten  des  Gebisses  verschieden  groß.     Man  könnte  vielleicht 

a  priori  geneigt  sein,  die  größte  Variabilität  zu  erwarten  bei  den  Zähnen 

mit  mehr  zusammengesetzter  Struktur.     Doch  ist  dem  nicht  so.     Der 

zweite  Molar  z.   B.  kennzeichnet  sich  bei  den  Halbaffen  durch  seine 

Pa  Pp 
sehr  stabile  Struktur,  es  kehrt  die  Formel  — -^ — —  mit  großer  Konstanz 

D  4 

für  die  Krone  dieses  Zahnes  wieder,  nur  bei  Tarsius  tritt  noch  die  vordere 

protomere   Nebenspitze  hinzu,   und  bei  Avahis  ein  Höckerchen  —  in 

der  Formel  mit  D1  bezeichnet  —  worüber  unten  weiteres  erfolgt.  Daß 

bei  dieser  Übereinstimmung  in  der  Höckerbildung  die  Form  des  Zahnes 

noch  recht  verschieden  sein  kann  —  und  auch  wirklich  ist  —  braucht 

kaum  hervorgehoben  zu  werden. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  137 

Die  Übereinstimmung  ist  eine  vollständige  für  den  vordersten 
der  Prämolaren  bei  jenen  Geschlechtern,  bei  denen  davon  drei  anwesend 
sind  (P2),  beim  zweiten  Prämolaren  (Pj)  machen  sich  schon  Verschieden- 
heiten bemerkbar,  die  größte  Differenz  herrscht  in  der  Kronenstruktur 
des  hintersten  Prämolaren  (P4).  Der  P2  besitzt  immer  nur  eine  ein- 
fache, bisweilen  stark  komprimierte  kegelförmige  Krone,  an  der 
Basis  der  inneren  hinteren  Seite  kann  ein  Cingulum  vorkommen, 
aber  einen  wirklichen  Talon  vermißt  man  hier  noch.  Letzterer 
tritt  — ■  aber  dann  auch  konstant  —  erst  an  dem  zweiten  Prämolaren 
(P3)  auf,  sei  es  in  wechselnder  Stärke.  Doch  hat  die  Krone  auch 
hier  noch  die  Form  eines  einspitzigen  Kegels  behalten,  nur  bei 
Lemur  traf  ich  einen  mehr  progressiven  Zustand,  da  P3  hier  deutlich 
eine  größere  bukkale  --  protomere  Spitze  trägt  (P),  und  eine  etwas 
nach  hinten  gerichtete  kleinere,  innere  -  deuteromere  Spitze  (D). 
Die  Trennung  des  zusammengesetzten  Kronenkegels  in  seinen  zwei 
Komponenten  ist  hier  somit  schon  erfolgt.  In  dieser  Hinsicht  trägt 
Lemur  ein  Merkmal  im  Gebiß,  wodurch  dieses  Geschlecht  sich 
bestimmt  von  allen  anderen  Halbaffen  unterscheidet,  um  sich  den 
wahren  Affen  zu  nähern.  Diese  Übereinstimmung  ist  jedoch  nicht 
so  groß,  wie  sie  aus  der  Beschreibung  von  Giebel1)  hervorgehen 
würde.  Denn  daß  die  Lückenzähne  von  Lemur,  wie  der  genannte  Autor 
schreibt,  in  Form  sich  ganz  an  Hapale  und  Cebus  anschließen,  entspricht 
doch  wohl  nicht  der  Wirklichkeit.  AVie  verschieden  übrigens  die  Deutung 
eines  Kronenreliefs  bei  verschiedenen  Autoren  sein  kann,  geht  z.  B. 
daraus  hervor,  daß  Schlosser2)  von  den  bezüglichen  Zähnen  sagte: 
„Die  Pr  haben  einfachen  Bau."  Natürlich  sind  individuelle  Variationen 
nicht  ausgeschlossen.  Differenzierungen  des  Talon  weist  der  P3  noch 
bei  keinem  Halbaffen  auf. 

Wie  gesagt,  kennzeichnet  sich  P4  durch  die  größte  Verschiedenheit 
in  der  Differenzierung  seiner  Krone.  Es  sind  nämlich  alle  Ubergangs- 
stufen  in  der  oben  gegebenen  Tabelle  vertreten,  von  einem  hintersten 
Prämolar,  der  nur  durch  eine  etwas  kräftigere  Entwicklung  des  Talon 
sich  vorn  vorangehenden  unterscheidet,  also  mit  einer  Kronenformel 

1-ryj  T  bis  zu  einem  Zahn,  der  vollkommen  „molarisiert"  ist,  mit  einer 

Pa  Pj) 
Kronenformel  — =r — — .      Den  einfachsten   Bau  trifft   man  sowohl  bei 
D  4 

einem  Halbaffen  mit  drei  Prämolaren  (Cheirogaleus)  als  bei  zwei  der 

Prosimiae  mit  nur  zwei  Prämolaren  (Propithecus,  Indris).    Bei  Tarsius 

/   \  P~ 
kommt  dann  die  vordere  bukkale  Nebenspitze  hinzu  [1 


D 


p)  (Fig.  43). 


Als  nächst  höhere  Differenzierungsstufe  ist  jene  zu  verzeichnen,   bei 
der  beide  Elemente  des  Kronenkegels  P  und  D  durch  je  eine  besondere 

P 

Spitze  repräsentiert  sind:  -=-  T.   was   bei  Stenops  gracilis  der  Fall  ist 

(Fig.  44).     Gelegentlich  kann  an  einem  solchen  hintersten  Prämolaren 
als  primitives  Merkmal  die  protomere  vordere  Nebenspitze  noch  an- 


1)  C.  G.  Giebel,  Odontographie,  S.  6. 

2)  Die  Affen,  Lemuren  usw.,  8.  41. 


138 


Viertes  Hauptstück. 


wesend  sein,  wodurch  die  Kronenformel  i  —  T  wird,  wie  bei  Nycti- 

cebus  und  Lemur.  Hieran  schließt  s'ch  Avahis,  dessen  hinterster 
( —  von  den  zwei  anwesenden)  Prämolar  schon  den  Weg  zur  Molari- 
sierung  eingeschlagen  hat,  indem  die  bukkale  Seite  die  Zwillingshöcker 
Pa,  Pp  trägt.  Im  deuteromeren  Abschnitt  jedoch  ist  es  noch  nicht 
zu  einer  weiteren  Differenzierung  gekommen.  Die  Kronenformel  lautet 
Pa  Pp 


daher 


D 


Es  nehmen  aber  die  drei  Spitzen  dieses  Zahnes  eine  sehr 


Fig.  43.     Untere  Zähne   von   Tarsius.     Innenseite. 


Fig.  44.     Untere  Zähne  vom  Stenops  gracilis. 
Innenseite. 


eigentümliche  Stellung  hinsichtlich  einander  ein,  worüber  unten  noch 
näheres  folgt. 

Den  am  vollständigsten  entwickelten  dritten  Prämolar  weisen 
die  Geschlechter  Galago  und  Hemigalago  auf.  Hier  ist,  wie  auch  aus 
Fig.  45  ersichtlich,  der  Zahn  vollständig  molarisiert,  nur  ist  er  um  ein 

Geringes  kleiner  als 
der  erste  Molar.  Auch 
Schlosser  (1.  c.  S.  40) 
sagt  von  dem  Ge- 
schlecht Galago:  „der 
hinterste  Pr.  hat  in 
beiden  Kiefern  nahezu 
die  Zusammensetzung 
eines  M.  erlangt.'1  Der 
Autor  deutet  diese  Er- 
scheinung als  eine 
Fortschrittserschei- 
nung. Wenn  man  je- 
doch in  Betracht  zieht, 
daß  eine  ähnliche  Mo- 
larisierung auch  bei 
eoeänen  Formen,  z.  B. 
Hyopsodus,  Notharc- 
tos  auftritt,  dann  ist 
doch  immerhin  die 
Frage  gestattet,  ob 
Galago  und  Hemi- 
galago durch  diese  Molarisierung  der  hintersten  P  sich  den  übrigen  Halb- 
affen gegenüber  als  progressiv  oder  gerade  entgegengesetzt  als  primitiv  er- 
weisen ?  Für  die  Stellungsnahme  dieser  Frage  gegenüber  scheint  mir  die 
Tatsache  von  Bedeutung,  daß,  wie  oben  auseinandergesetzt,  die  histo- 
rische Entwicklung  während  des  Tertiärs  auf  eine  Konsolidierung  der 
Zahnformen,  mit  Verringerung  der  Zahnspitzen  zustrebt.  Und  es  finden 
sich  geradein  der  erwähnten  Schi  os  s  ersehen  Arbeit  mehrere  Deutungen, 
welche  als  Stütze  für  diese  Behauptung  herbeizuführen  sind.  So  weist 
der  Autor  an  mehreren  Stellen  darauf  hin.  daß  Verlust  oder  Reduktion 
des  „Vorderzackens''  an  den  unteren  Zähnen  (meine  Spitze  i)  ein  pro- 
gressives Merkmal  darstellt,  die  Persistenz  davon  bei  den  Lemuriden 
ein  primitiver.  So  z.  B.  auf  Seite  39:  „Tarsius  hat  noch  folgende  alte 
Merkmale  an  sich:  unpaarer  Vorderzacken  an  allen  M."  Weiter  be- 
trachtet der  Autor  die  Anwesenheit  eines  Hinterzackens  —  meine 
Spitze  2  —  an  allen  Molaren  als  ein  primitives,  der  Verlust  derselben 
als  ein  progressives  Merkmal.     Ich  stimme  in  beiden  Deutungen  mit 


Fig.  45.     Untere  Zähne  von  Galago.     Innenseite. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  139 

dem  Autor  überein,  es  sind  Äußerungen  des  Prinzipes,  daß  Verringerung 
der  Zacken  ein  Merkmal  der  Zahnentwicklung  der  Primaten  während 
des  Tertiärs  ist.  Aber  warum  der  Autor  nun  auch  nicht  in  konsequenter 
Weise,  dieses  Prinzip  für  den  hintersten  Prämolaren  gelten  läßt,  ist 
mir  nicht  deutlich.  Vielleicht  ist  seine  der  Cope-Os bornsehen  Theorie 
entnommene  Ansicht,  daß  Molaren  und  Prämolaren  einem  verschiedenen 
Entwicklungsgang  gefolgt  sind,  darauf  nicht  ohne  Einfluß  gewesen. 

Nun  möchte  ich  durch  Obenstehendes  gar  nicht  behauptet  haben 
wollen,  daß  von  sämtlichen  Stammformen  der  Primaten  der  hinterste 
Prämolar  einmal  molariform  gewesen  ist.  Es  scheint  mir  die  Sache 
etwas  dunkel.  Aus  welchem  Grunde  dieser  Zahn  das  einemal  diesen 
hohen  morphologischen  Differenzierungsgrad  erreicht,  das  anderemal 
sich  in  einer  äußerst  einfachen  Form  präsentiert,  ist,  wie  ich  glaube, 
in  jedem  Falle  nur  vom  allgemeinen  Standpunkte  des  Gebißmechanis- 
mus  in  Verbindung  mit  der  Natur  der  Nahrung  zu  erklären.  Wir  werden 
in  Verbindung  damit  bald  einen  Pendant  zu  dem  obigen  Falle  kennen 
lernen,  wobei  der  erste  Molar  deutlich  eine  Prämolarenfunktion  erfüllt. 
Man  hat  früher,  wie  ich  aus  Weber1)  ersehe,  den  Galaginae  die  Chiro- 
galei  angereiht,  Nebst  den  von  dem  genannten  Autor  namhaft  gemachten 
Unterschieden  zwischen  beiden  Familien  darf  die  so  verschiedene  Be- 
schaffenheit des  hintersten  Prämolaren  gewiß  als  ein  Hauptdifferenz- 
merkmal genannt  werden. 

Wir  wenden  uns  jetzt  den  Molaren  zu.  Die  ganze  Gruppe  der 
Halbaffen  zeigt  in  der  Höckerdifferenzierung  der  unteren  Molaren  eine 
auffallende  Konstanz.  Man  darf  kurzhin  behaupten,  daß  die  Molaren 
in  allen  Geschlechtern  vierhöckerig  sind,  sie  besitzen  den  protomeren 
Zwillingshöcker  Pa,  Pp  und  im  deuteromeren  Teil  hat  sich  neben  dem 
Haupthöcker  D  aus  dem  Talonrand  die  Nebenspitze  4  entwickelt. 
Soweit  mir  bekannt,  wird  diese  vierhöckerige  Krone  nur  in  zweierlei 
Weise  kompliziert,  erstens  durch  die  Anwesenheit  der  vorderen  proto- 
meren Nebenspitze  1  und  zweitens  durch  jene  der  hinteren  protomeren 
Nebenspitze  2.  Eine  dritte,  etwas  fremdartige  Komplikation,  welche 
nur  bei  Avahis  gefunden  wird,  verdient  eine  besondere  Besprechung. 

Die  Nebenspitze  2  —  der  sogenannte  dritte  bukkale  Höcker  der 
Autoren  —  findet  sich  bei  den  Halbaffen  nur  am  hintersten  Molaren,  und 
an  diesem  Zahn  nicht  einmal  bei  allen  Geschlechtern  stark  entwickelt. 
Beim  Geschlecht  Lemur  kann  er  als  individuelle  Variation  sogar  ganz 
fehlen.  Dieser  Zustand  ist  in  der  Tabelle  dadurch  zum  Ausdruck  ge- 
bracht, daß  das  Symbol  in  der  Formel  zwischen  Klammern  gestellt 
worden  ist.  Gleiches  ist  der  Fall  bei  Nycticebus.  Hierauf  ist  auch 
durch  Huxley  hingewiesen  worden.  „In  the  lower  jaw  the  fifth 
cusp  of  the  third  molar  was  very  small  or  obsolete  in  three"2).  Sehr 
klein  ist  er  ebenfalls  bei  den  Indrisinae  und  ist  hier  sogar  als  eine  kleine 
runde  Erhabenheit  so  stark  lingualwärts  verschoben,  daß  er  die  hintere 
Ecke  des  inneren  Kronenrandes  bildet.  Nur  bei  Avahis  nimmt  er  mehr 
die  Mitte  des  hinteren  Randes  ein.  Die  starke  Reduktion  der  Zacke 
bei  den  mir  vorliegenden  Exemplaren  von  Indrisinaeschädel  läßt  ver- 


1)  M.  Weber,  Die  Säugetiere,  S.  760. 

2)  T.  H.  Huxlev,  On  the  Arctocebus  calabarensis.    Proc.  Zool.  Soc,  p.  323. 
London  1864. 


140  Viertes  Hauptstück. 

muten,  daß  sie  gelegentlich  bei   Gliedern  dieser  Familie  fehlen  kann. 
In  erster  Linie  kommt  dafür  das  Geschlecht  Indris  in  Betracht. 

Die  Nebenspitze  /  -  vordere  bukkale  Nebenspitze  —  (vordere 
Zacke  von  Schlosser)  kommt  nur  bei  einem  einzigen  Halbaffen  an 
allen  Molaren  zur  Entwicklung,  nämlich  bei  Tarsius:  eine  Eigentüm- 
lichkeit dieser  Form,  auf  die  auch  von  Schlosser  schon  aufmerksam 
gemacht  worden  ist,  und  von  diesem  Autor,  wie  ich  meine,  richtig  als 
ein  primitives  Merkmal  bezeichnet.  Sonst  erscheint  diese  Spitze  bei 
den  Prosimiae  nur  am  ersten  Molaren,  und  fehlt  sogar  auch  an  diesem 
Zahn  noch  bei  der  Mehrzahl  der  Geschlechter.  Bei  Nyeticebus  tritt 
sie  nur  als  individuelle  Variation  auf,  auch  bei  Lemur  ist  der  Entwick- 
lungsgrad sehr  wechselnd,  ein  vollständiges  Fehlen  beobachtete  ich 
jedoch  nicht.  Nur  in  der  Familie  der  Indrisinae  scheint  sie  konstant 
zu  sein.  Das  hängt  wohl  mit  der  etwas  eigentümlichen  Gestalt  vom 
ersten  Molaren  dieser  Prosimiae  zusammen,  die  für  diese  Familie  etwas 
Typisches  zu  sein  scheint.  Im  allgemeinen  sind  bei  den  Halbaffen  die 
Zackenpaare  der  unteren  Molaren  einander  opponiert,  bei  Nyeticebus, 
ist  das  innere  Paar  hinsichtlich  des  äußeren  vielleicht  um  ein  wenig 
nach  hinten  verschoben,  aber  von  einem  Alternieren  darf  man  auch 
hier  noch  nicht  sprechen.  Eine  gleiche  Lagerung  nehmen  die  Zacken 
am  zweiten  und  dritten  Molaren  auch  bei  Indris  ein,  wogegen  der 
vorderste  Molar  eine  ganz  andere  Gestalt  angenommen  hat.  Eine  sehr 
gute  Beschreibung  der  Unterkieferzähne  vonlndrisinae  liefertHuxley1); 
er  deutet  jedoch  den  ersten  Molar  irrtümlicherweise  als  einen  dritten 
Prämolar.  „There  is",  sagt  der  Autor, ,, in  both  jaws  a  muchgreater  diffe- 
rence  between  the  second  grinder  and  the  third,  them  between  the  third 
and  the  f  ourth,  so  that  one  might  suspect  the  third  tooth  to  be  a  true 
molar."  Nun  besitzen  die  Indrisinae  bekanntlich  in  Wirklichkeit  nur 
zwei  Prämolaren  und  der  dritte  posteanine  Zahn  ist  nicht  nur  dem  An- 
schein nach,  sondern  in  Wirklichkeit  ein  Molar.  Diesen  Zahn  nun 
beschreibt  Huxley  wie  folgt:  „In  the  lower  jaw  the  first  and  second 
grinders  are  unicuspidate,  the  third  has  four  cusps  connected  in  pairs 
by  ridges,  wich  are  disposed  obliquely  from  within  outwards  and  for- 
wards.  The  anterior  external  cusp  is  united  by  a  curved  ridge  with 
the  margin  of  the  large  anterior  basal  process  of  the  tooth,  and  the 
posterior  external  cusp  is  connected  by  an  oblique  curved  ridge  with 
the  anterior-internal.  Thus  the  tooth  acquires  a  doubly  crescentic, 
Rhinocerotic  pattern." 

In  Fig.  46  ist  Mx  und M2  von  Indris,  von  oben  und  von  medial  ge- 
sehen, skizziert.  Der  zweite  Molar  bietet  nichts  besonderes,  die  bukkalen 
Zacken  Pa  und  Pp  stehen  den  beiden  lingualen  D  und  4  opponiert. 
Nun  tritt  am  ersten  Molaren  eigentümlicherweise  letztere  Disposition 
auch  bei  den  beiden  hinteren  Höckern  auf,  der  bukkale  Pp  liegt  dem  etwas 
kleineren  lingualen  4  gerade  gegenüber.  Die  vordere  Hälfte  des  Zahnes 
jedoch  erscheint  an  der  bukkalen  Fläche  wie  abgeschnürt  von  der  hinteren, 
und  indem  nun  der  vordere  bukkale  Höcker  Pa  die  Mitte  dieser  Hälfte 
einnimmt,  ist  die  vordere  linguale  stark  nach  hinten  verschoben  und 
liegt  der  bukkalen  Einschnürungsstelle  gerade  gegenüber.  Die  beiden 
vorderen  Höcker  alternieren  daher  miteinander  und  der  Zahn  erscheint 


1)  T.  H.  Huxley,  On  the  Arctocebus  calabarensis.    Proc.  Zool.  Soc,  p.  314. 
London  1864. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten. 


141 


^z^r^ 


wie  nach  vorn  ausgezogen  und  zugespitzt.  Die  vordere  Spitze  wird 
vom  Nebenhöckerchen  i  gebildet.  Bei  Avahis  und  Propitheeus  weist 
der  Mx  nur  unwesentliche  Unterschiede  mit  dem  von  Indris  beschrie- 
benen auf,  auch  was  die  kammartige  Verbindung  der  beiden  bukkalen 
Höcker  mit  dem  vorderen  lingualen  betrifft,  welches  aus  Fig.  46  für 
Indris  ersichtlich  ist. 

Es  erhebt  sich  die  Frage,  warum  der  erste  Molar  der  Indrisinae 
im  Unterkiefer  sich  in  so  charakteristischer  Weise  umgestaltet  hat. 
Es  will  mir  scheinen,  daß  die  Antwort  unschwer  zu  geben  ist.  Das 
wesentliche  in  dieser  Form  muß  in  dem  Gegensatz  erblickt  werden, 
der  zwischen  vorderer  und  hinterer  Hälfte  des  Zahnes  sich  ausgebildet 
hat.  Die  hintere  Hälfte  für  sich  betrachtet,  ist  nach  dem  Typus  eines 
echten  Molaren  gebaut.  Aber  die  vordere  Hälfte  nicht,  Diese  Hälfte 
entspricht,  wenn  isoliert  betrachtet,  in  ihrer  Gestalt  vollständig  einem 
l'rämolar,  der  Höcker  Pa  ist  ein  seitlich  komprimierter,  scharfkantiger 
Kegel.  Es  vereint  somit  der  erste  Molar  der  Indrisinae  die  Merkmale 
eines  Molaren  und  eines  Prämolaren  in  sich,  der  Zahn  erscheint  „prä- 
molarisiert",  nicht  durch  Reduktion  der  Höckerzahl,  sondern  durch 
eine  bestimmte  Disposition  der  Höcker.  Ist  diese  Tatsache  einmal 
festgestellt,  wird  es  nicht  schwer, 
die  Korrelation  dieser  Umgestaltung 
mit  dem  Bau  des  Gebisses  als 
Ganzes  einzusehen.  Die  Indrisinae 
besitzen  bekanntlich  nur  zwei  Prä- 
molaren. Nun  macht  es  den  Ein- 
druck, als  wäre  dadurch  die  Prä- 
molarenfunktion —  Zerreißung  des 
Futters  —  nicht  genügend  gesichert, 
zumal  wenn  man  in  Berücksich- 
tigung zieht,  daß  der  Caninus, 
der  vollkommen  die  Form  eines 
Incisivus    erworben    hat,    an    diese 

Funktion,  auch  infolge  seiner  sehr  horizontalen  Richtung,  sich  nicht 
beteiligen  kann.  Es  wird  dieses  Defizit  an  Prämolarenfunktion  in 
vorzüglicher  Weise  kompensiert  durch  die  Umbildung  der  vorderen 
Hälfte  des  ersten  Molaren  zu  einem  Prämolaren.  Wir  haben  in 
dieser  Differenzierung  ein  äußerst  lehrsames  Beispiel  der  funktio- 
nellen Anpassung  der  Gebißelemente,  wobei  es  jedoch  immerhin  eine 
offene  Frage  bleibt,  ob  sich  der  erste  Molar  derart  gestaltete,  weil  durch 
Reduktion  der  Prämolarenzahl  die  richtige  Funktion  des  Gebisses 
beeinträchtigt  wurde,  oder  ob  ein  Prämolar  verloren  ging,  weil  der 
erste  Molar  einen  Teil  der  Prämolarenfunktion  übernahm.  Was  in  diesem 
Falle  Ursache  und  was  Folge  war,  seheint  mir  nicht  leicht  zu  ent- 
scheiden zu  sein. 

Es  muß  an  dieser  Stelle  noch  einer  Besonderheit  in  der  Diffe- 
renzierung der  Molaren  von  Avahis  gedacht  werden.     Der  erste  Molar 
diesem  Geschlecht  besitzt  die  spezielle   Gestalt,  die  oben  für  die 

für 

der 

das 

vom 

D-Höcker  —  sich  erhebt.    Am  ersten  Molaren  ist   es  am  «roßten,   am 


Fig.  46.    Indris  brevicaudatus.    Erster 
und   zweiter  Molar  des  Unterkiefers. 


von 

Familie  der  Indrisinae  beschrieben  worden  ist.     Als  ein  offenbar 
das  genannte   Geschlecht  typisches  Merkmal  findet  sich  nun  an 
lingualen  Seite  jedes  Molaren  ein  scharf  begrenztes  Höckerchen, 
vom    hinteren    Rande   des   vorderen   lingualen    Höckers      -  also 


142 


Viertes  Hauptstück. 


dritten  hat  es  den  geringsten  Umfang  (Fig.  47).  Es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  daß  es  regional  zum  D-Höcker  gehört.  In  der  Tabelle  habe  ich 
diese  Spitze  als  Dl  eingetragen. 

Wie  ist  nun  diese  Zacke,  die  zwischen  dem  deuteromeren  Haupt- 
höcker D  und  der  hinteren  Nebenspitze  4  dieses  Odontomer  erscheint, 
zu  deuten.  Daß  es  kein  primärer  Hocker  sein  kann  ist  deutlich,  denn 
zwischen  dem  D-Höcker  und  dem  ^-Höcker  ist  ein  solcher  nicht  denk- 
bar. Es  scheint  mir  jedoch  die  Sache  nicht  schwierig  zu  erklären  zu 
sein.  Wir  haben  gesehen,  daß  im  Protomer  aus  dem  Hinterrand  des 
Haupthöckers  P  ein  sekundärer  Höcker  Pp  sich  bilden  kann,  der  bei 
den  Molaren  meistenfalls  dem  Urhöcker  P  an  Größe  gleichkommt. 
Ich  bin  nun  der  Meinung,  daß  das  akzessorische  Höckerchen  bei  Avahis, 
das  deuteromere  Homologon  ist  vom  protomeren  Pp-Höcker,  mit 
anderen  Worten,  daß  ebenso  wie  der  Haupthöcker  vom  Protomer 
normal  aus  seinem  Hinterrand  eine  zweite  Zacke  entstehen  läßt,  so 
auch  bei  Avahis  der  Haupthöcker  vom  Deuteromer.  Es  ist  von  Bedeu- 
tung, daß  diese  Differenzierung  im  lingualen  Odontomer  der  Molaren 
bei  einem  der  Halbaffen  vorkommt.  Denn  diese  Tatsache  beweist,  daß 
im  Prinzip  die  Haupthöckgr  beider  Odontomeren  sich  übereinstimmend 
betragen  können.  Inwieweit  bei  anderen  Säugetieren  diese  bei  Pri- 
maten ausnahmsweise  auftretende  Erschei- 
nung regelmäßiger  vorkommt,  ist  eine  Frage, 
auf  welche  ich  nicht  eingehe.    Es  genügt  an 

dieser  Stelle  auf  die  Möglichkeit  hingewiesen     \  J     r^l~^\ 

zu    haben,    damit    man    bei    der   Deutung 


% 


?\ 


Fig.  47.     Avahis  laniger.     Linguale 
Seite  der  Unterkieferzähne. 


Fig.    48.      Unterer    Mx    von 
Siamang  mit  dem  Höcker  Dl. 


der  Kronenstruktur  bei  anderen  Säugern  —  ich  denke  hier  in  erster 
Linie  an  die  Carnivoren  —  diese  Möglichkeit  berücksichtige. 

Aber  noch  in  anderer  Richtung  ist  das  Auftreten  dieser  Zacke 
bei  Avabis  interessant.  Denn  sie  tritt  auch  noch  bei  einer  anderen 
Primatengruppe  auf,  und  zwrar  bei  den  Anthropoiden.  Ich  beschränke 
mich  an  dieser  Stelle  auf  den  Hinweis,  daß  die  D'-Zacke  besonders  bei 
Gorilla  sehr  häufig  ist.  Auch  bei  Siamang  tritt  dieselbe  nicht  selten  auf 
In  Fig.  48  ist  in  vergrößertem  Maßstabe  ein  solcher  Molar  von  der 
lingualen  und  oberen  Fläche  zur  Darstellung  gebracht. 

Vergleicht  man  die  Differenzierung  der  Unterzähne  von  jetzt 
lebenden  Halbaffen  mit  jener  der  eocänen  Formen  --  was  durch  die 
gegebenen  Kronenformeltabellen  wesentlich  erleichtert  wird  —  dann 
ist  das  Resultat  der  Vergleichung  kurzhin  in  dem  Schluß  niedergelegt: 
die  Struktur  der  Zähne  heutiger  Halbaffen  ist  einfacher  als  jene  der 
eocänen  Primaten.  Diese  Vereinfachung  befällt  weniger  die  Prämolaren, 
ist  dagegen  an  den  Molaren  sehr  evident.  Die  Reduktion  äußert  sich 
besonders  an  zwei  Spitzen,  nämlich  der  vorderen  Nebenspitze  vom 
Deuteromer  (Spitze  5)  und  der  hinteren  vom  Protomer  (Spitze  2). 
Die  erstere,  welche  bei  den  älteren  Formen  am  ersten  und  zweiten 
Molaren  srar  nicht  selten  zu  sein  scheint,  vermißte  ich  bei  den  von  mir 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten. 


143 


untersuchton  rezenten  Halbaffen  vollständig.  Die  zweitgenannte 
(die  hintere  unpaarige  Zacke  der  Autoren)  findet  sich  bei  den  eocänen 
Formen  nicht  selten  an  allen  Molaren.  Dies  ist  somit  als  ein  primitives 
Merkmal  zu  betrachten.  Bei  den  Halbaffen  dagegen  kommt  sie  fast 
ausnahmslos  nur  am  dritten  Molaren  vor1)  und  kann  auch  hier  schon 
bei  gewissen  Gattungen  (Nycticebus,  Lemur)  fehlen.  Wir  müssen  uns 
sofort  von  diesem  Reduktionsvorgang  an  den  Molaren  als  eine  histo- 
rische progressive  Erscheinung  wohl  bewußt  sein,  denn  dadurch  er- 
scheinen die  Molaren  der  Anthropoiden  und  des  Menschen,  an  dem 
bekanntlich  der  2-Höekcr  an  sämtlichen  Molaren  noch  vorkommt,  im 
rechten  Licht.  An  geeigneter  Stelle  wird  auf  diese  Sache  zurückge- 
kommen werden.  Wir  gehen  jetzt  zur  Betrachtung  der  unteren  Zähne 
von  den  amerikanischen  Affen  über. 

Ich  fange  wieder  mit  einer  Kronenformeltabelle  jener  Formen 
an,  welche  mir  zugänglich  waren.  Es  standen  mir  von  den  Halbaffen 
keine  Schädel  mit  Milchgebiß  zur  Verfügung,  so  daß  ich  von  diesem 
Gebiß  bisher  keine  auf  eigener  Beobachtung  basierte  Angaben  machen 
konnte.  Von  den  Platyrrhinen  aber  hatte  ich  dazu  wohl  auf  Grund 
von  im  hiesigen  Museum  sich  findenden  Objekten  Gelegenheit,  Und 
um  nach  dieser  Seite  hin  meine  Untersuchung  zu  vervollständigen, 
habe  ich  in  der  untenstehenden  Tabelle  die  Kronenformel  der  Milch- 
molaren  mit  eingetragen.  Sie  sind  zur  leichteren  Unterscheidung  mit 
kleinen  Buchstaben  wiedergegeben.  Die  Beziehung  zwischen  der  Kronen- 
struktur  der  Milchmolaren  und  jener  der  Ersatzzähne  wird  später  noch 
zur  Sprache  gebracht  werden,  wenn  auch  die  übrigen  Affen  besprochen 
sind.  Ich  verweise  dazu  aber  jetzt  schon  nach  Tafelfigur  10,  wo  man  in 
einfachen  Skizzen  die  Struktur  der  Prämolaren  und  der  Milchmolaren 
der  meisten  Affengattungen  in  übersichtlicher  Weise  nebeneinander 
gestellt  findet.  Diese  Skizzen  vervollständigen  somit  die  Daten,  welche 
in  der  untenstehenden  Kronenformeltabelle  niedergelegt  sind. 


Kronenformel  der  unteren  Zähne  von  Plat vrrhinen. 


F., 

in., 

>»3 

p 

'  4 
III 

Mt 

-»/, 

M 

.vi  3 

C'\ 

P 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Hapale \ 

D 

D4 

pa  pp 

d4 

D4 

D4 

Chrysothrix     .    . 

(p\      p 

oder 
\DI         D 

P 
D 

t, 

d 

Pa 

D~4 

pa  pp 
d  4 

Pa  Pp 
~D4~ 

Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp 
I>4 

1)  An  einem  infantilen,   Schädel  von  Hapalemur  griseus,  fand  ich  aber  den 
2-Höcker  auch  am  ersten  Molaren. 


144 


Viertes  Hanptstück. 


P., 


P* 


M, 


M„ 


Af, 


Cebus 


Mycetes 


Ateles 


Pithecia    . 


Nyctipithecus  . 


P 

i  — 
D 

P 

i  — 

d 

P 
D 

P 
d 

P 
D 

P_ 
d 

P 
D 

P_ 
d 

P 
V 


D 
d 


D 

t, 

d 

P 

T 
D 

P_ 
d 

P 

T 
D 

P_ 

d 

P 
D 


Pa 
B~4 

papp 

(3)  d4 

Pa 

D4 

papp  2 
d  4 

P 
-T 

D 

pa  pp 

~~dlT 
p 

T 
D 

pa  pp 

Pa 
D~4 


Pa  Pp 
£>4 


Pa  Pp 


Pa  Pp 


Pa  Pp 


Pa  Pp 


Pa  Pp 
~15~4~ 

Pa  Pp 

D4 

Pa  Pp 

D4 

Pa  Pp 

D4 

Pa  Pp 

D4 

Pa  Pp 
~D4~ 


Pa  Pp 


Pa  Pp 
D4 


Pa  Pp 
~D~4~ 


Pa  Pp 
~D~4~ 


Ein  Blick  auf  obenstehende  Tabelle  überzeugt  sofort  von  der  sehr 
großen  Übereinstimmung,  welche  die  Differenzierung  der  Krone  bei 
den  Platyrrhinen  aufweist.  Wenn  wir  zunächst  die  Molaren  ins  Auge 
fassen,  dann  trifft  man  das  typische  vierhöckerige  Relief  bei  allen 
in  der  Tabelle  aufgenommenen  Formen  an.  Die  Vereinfachung,  welche 
wir  schon  bei  den  Halbaffen  infolge  des  Verlustes  der  Nebenzacken 
haben  konstatieren  können,  hat  bei  den  amerikanischen  Affen  weitere 
Fortschritte  gemacht,  denn  bei  keinem  derselben  findet  sich  wenigstens 
an  den  Dauermolaren  eine  Nebenspitze  —  mit  Ausnahme  natürlich 
des  ^-Höckers.  Und  eigentümlicherweise  scheint  bei  dem  Fortschritt, 
welchen  der  Reduktionsprozeß  bei  den  Platyrrhinen  aufweist,  auch 
dieser  Höcker  bisweilen  schon  in  Mitleidenschaft  gezogen  zu  sein. 
Denn  nicht  nur  ist  er  wohl  immer  der  am  geringsten  entwickelte  Höcker 
der  Molaren,  sondern  bisweilen  ist  er  schon  als  wohl  differenzierter 
Höcker  kaum  zu  erkennen.  Das  ist  z.  B.  der  Fall  bei  Ateles,  wo  nur 
ein  etwas  erhabener  Rand  an  der  hinteren  Hälfte  der  lingualen  Seite 
des  Molaren  an  die  Stelle  der  hinteren  lingualen  Zacke  tritt.  Auch  bei 
Pithecia,  bei  dem  die  Höckerentwicklung  infolge  des  Auftretens  zahl- 
reicher Rauhigkeiten  im  allgemeinen  wenig  kräftig  ausgeprägt  ist  (vgl. 
Tafelfigur  3  und  4),  ist  solches  der  Fall.  Die  mir  vorliegenden  Schädel 
vom  Geschlecht  Ateles  (A.  ater,  A.  paniscus  und  A.  Bartletti)  stimmen 
in  ihrem  Gebiß  nicht  überein  mit  der  Charakteristik,  die  durch  Schlosser 
(1.  c.  S.  13)  davon  gegeben  wird.  Nach  diesem  Autor  zeichnet  sich  Ateles 
durch  die  Spitze  der  Höcker  seiner  Molaren  aus,  und  sollte  die  hintere 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  145 

Hälfte  der  unteren  Molaren  noch  einen  wohl  erhaltenen  dritten  Höcker 
wie  bei  Hyopsodus  besitzen.  An  meinen  Exemplaren  ist  weder  von  einer 
kräftigen  Entwicklung  der  Höcker,  noch  von  einem  hinteren  unpaarigen 
Höcker  etwas  zu  seilen,  auch  nichts  von  einer  Differenzierung  im  Sinne 
der  Selenodonten.  So  sagt  auch  Giebel  (Odontographie  S.  5)  von  den 
unteren  Molaren  von  Ateles:  die  Höcker  sind  nur  im  Rande  der  Krone 
stark  ausgebildet.  Bestehen  hier  so  starke  Art  unterschiede  oder  liegt 
vielleicht  eine  Verwechslung  mit  einem  der  kleinen  Mycetes- Arten  vor? 

Durch  das  Fehlen  von  Nebenspitzen  wird  ein  typischer  Gegen- 
salz gebildet  zwischen  den  Molaren  der  Halbaffen  und  den  breitnasigen 
Affen,  besonders  hinsichtlich  des  dritten  Molaren.  Denn  mit  nur 
wenigen  Ausnahmen  (und  dann  noch  als  individuelle  Variation)  ist 
der  dritte  Molar  der  Halbaffen  mit  einem  mehr  oder  weniger  kräftig 
entwickelten  2-Höcker  ausgestattet.  Die  Vereinfachung  der  Molaren- 
struktur läßt  sich  besonders  schön  durch  diesen  Höcker  zeigen.  Bei 
den  eocänen  Primaten  tritt  er  an  allen  Molaren  auf,  bei  den  Halbaffen 
ist  er  auf  den  dritten  beschränkt  und  bei  (\v\\  platyrrhinen  Affen  fehlt 
er  auch  diesem.  Daß  es  sich  hierin  um  ein  althergebrachtes  Merkmal 
der  Neuwelt-Affen  handelt,  ist  neuerdings  durch  die  Untersuchungen 
von  Blüntschli1)  festgestellt.  Der  von  diesem  Autor  gebrachte  Nach- 
weis, daß  Homunculus  nicht,  wie  es  von  Ameghino  angegeben  worden 
war,  fünfhöckerige  Molaren  besitzt,  sondern  typisch  vierhöckerige 
wie  die  rezenten  Platyrrhinen,  beweist,  daß  die  Vereinfachung  der 
Zahngestalt  schon  in  der  eocänen  Periode  sich  vollzogen  haben  muß. 
Der  Verlust  dieses  Höckers  auf  dem  unteren  dritten  Molar  steht  un- 
zweifelhaft in  Beziehung  zu  dem  reduzierten  Zustand,  den  der  dritte 
obere  Molar  dieser  Primatengruppe  aufweist.  Nur  ein  einziges  Mal 
traf  ich  den  2-Höcker  bei  einem  platyrrhinen  Affen  an,  und  zwar  am 
dritten  Milchmolaren  von  Mycetes,  dem  Affen,  bei  welchem  auch  übrigens 
der  Hinterrand  der  permanenten  Molaren  ebenfalls  die  geringsten  Zeichen 
von  Reduktion  aufweist.  Nach  Schlosser2)  besitzt  das  Geschlecht 
Callithrix  noch  den  2-Höcker  an  sämtlichen  unteren  Molaren.  Mir 
stand  kein  Schädel  dieser  Gattung  zur  Verfügung. 

Von  den  Prämolaren  geben  der  erste  und  zweite  zu  keinen  be- 
sonderen Bemerkungen  Anlaß.  Die  allgemeine  Gestalt  darf  bei  den 
verschiedenen  Gattungen  eine  etwas  wechselnde  sein,  die  Höcker- 
differenzierung zeigt  große  Übereinstimmung.  Der  erste  Prämolar  hat 
meistenfalls  eine  einfache  kegelförmige  Krone,  bisweilen  sind  die  ersten 
Andeutungen  einer  Trennung  vom  P-Höcker  und  /^-Höcker  da,  wie  bei 
Cebus  oder  individuell  bei  Chrysothrix.  Ein  wirklicher  Talon  als  be- 
sonderer Zahnabschnitt  wird  vermißt.  Davon  ist  erst  beim  zweiten 
Prämolaren  die  Rede,  doch  ist  er  auch  hier  wohl  immer  sehr  gering 
entwickelt  und  ist  nicht  niedriger  als  die  vordere  Hälfte  des  Zahnes. 

Der  dritte  Prämolar  der  Platyrrhinen  ist  in  einer  Weise  diffe- 
renziert, welche  für  diese  Gruppe  der  Primaten  fast  diagnostisch  ist. 
Denn  eigentümlicherweise  hat  sich  der  Innenrand  dieses  Zahnes  —  also 
der  deuteromere  Abschnitt  —  mehr  differenziert  als  der  Außenrand. 
Daher  tritt  bei   Chrysothrix,   Cebus.   Mycetes   und  Nycticebus  dieser 


1)  H.   Blüntschli,   Die  fossilen  Affen  Patagoniens  und  der  Ursprung  der 
platyrrhinen  Affen.    Verh.  d.  Anat.  Gesellsch.  1913. 

2)  Die  Affen,  Lemuren  usw.,  S.  12. 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  10 


146  Viertes  Hauptstück. 

P 

Zahn  mit  der  seltsamen  Kronenformel  ^ —  auf,  d.  h.  an  dem  bukkalen 

D  ■* 
Rand  besteht  nur  ein  einziger  wohl  ausgebildeter  Höcker,  an  dem  lingu- 
alen dessen  zwei.  Eine  solche  Kronenformel  ist  uns  bis  jetzt  noch  nicht 
begegnet.  Schlosser  nennt  es  eine  sehr  wesentliche  Komplikation. 
Ateles,  der  von  allen  in  der  Tabelle  aufgenommenen  Formen,  die  am 
meisten  vereinfachte  Zahnkronen  besitzt,  unterscheidet  sich  von  den 
übrigen  auch  durch  die  einfache  Kronenformel  des  dritten  Prämolaren. 
Dagegen  ist  der  hinterste  Lückenzahn  bei  Hapale  vollständig  vier- 
höckerig geworden,  und  gleicht  in  seiner  Zusammensetzung  daher  ganz 
dem  nachfolgenden  Molaren,  unterscheidet  sich  von  demselben  nur 
durch  seine  Größe. 

Die  ,. Molarisierung"  des  letzten  Prämolaren  im  Unterkiefer  eines 
Platyrrhinen  verdient  wohl  besondere  Beachtung,  denn  man  steht  hier 
wieder  vor  der  Frage,  wie  ist  diese  Erscheinung  zu  deuten,  als  eine 
regressive  oder  eine  progressive  ?  Es  kommen  bei  den  eocänen  Primaten 
Formen  vor,  bei  denen  der  hinterste  Prämolar  die  vollständige  Zu- 
sammensetzung eines  Molaren  erhalten  hat.  Das  ist  z.  B.  der  Fall  bei 
Hyopsodus,  dessen  letzter  Lückenzahn  im  Unterkiefer  die  Kronenformel 

i  Pa  P-p 

— - besitzt.    (Auch  bei  rezenten  Halbaffen  kommt  solches  noch 

D  4 

vor.)   Nun  ist  es  denkbar,  daß  die  Kronenformel  des  homologen  Zahnes 

Pa 

bei  den  Platyrrhinen  — — durch  Verlust  des  P/>-Höckers  aus  dem  obigen 

hervorgegangen  ist,  und  dann  würde  dieser  Zahn  bei  den  amerikanischen 
Affen,  ungeachtet  seiner  teilweisen  Molarisierung,  nichtsdestoweniger 
eine  reduzierte  Form  darstellen.  Oder  aber  man  kann  sich  denken, 
daß  das  Auftreten  des  P/>-Höckers  und  des  ^-Höckers  bei  Hapale 
und  allein  des  letztgenannten  bei  mehreren  anderen  platyrrhinen  Ge- 
schlechtern, ganz  unabhängig  von  dem  identischen  Prozeß  bei  den 
eocänen  Primaten1  vor  sich  gegangen  ist,  und  dann  ist  die  Erscheinung 
progressiver  Natur.  Man  muß  sich  immer  wohl  bewußt  davon  sein, 
daß  für  die  Entscheidung  in  diesem  so  überaus  häufig  in  der  Odonto- 
logie auftretenden  Dilemma,  eine  feste  Richtschnur  fehlt,  Es  geht  nicht 
an,  ein  für  allemal  zu  sagen,  das  einfachst  Gebaute  ist  das  Ursprüng- 
lichste, das  kompliziertest  Zusammengesetzte  das  am  jüngsten  im  Laufe 
der  Entwicklung  aufgetretene.  Denn  wenn  in  einer  jüngeren  geolo- 
gischen Periode  ein  Zahn  sich  progressiver  zu  entwickeln  anfängt, 
muß  er  dabei  notwendig  ähnliche  Formstufen  durchlaufen,  welche  in 
früheren  Perioden  andere  Gruppen  der  Primaten  schon  durchlaufen 
haben.  Man  muß  für  eine  Beurteilung  sämtliche  allgemeinen  Er- 
scheinungen in  Betracht  ziehen.  Auch  dann  bleibt  immerhin  die 
Sache  oft  sehr  zweifelhaft.  Ich  werde  das  an  den  Zähnen  der 
Platyrrhinen  leicht  zeigen  können. 

Daß  sich  am  hintersten  Prämolaren  mehrerer  dieser  Affenge- 
schlechter der  innere  linguale  Höcker  ausgebildet  hat,  kann  man  als 
eine  progressive  Erscheinung  auf  Grund  folgender  Überlegung  deuten. 
Bekanntlich  ist  der  dritte  Molar  dieser  Affen  in  den  meisten  Fällen  sehr 
klein  und  man  kann  sich  leicht  überzeugen,  daß  er  an  der  Funktion  des 
Gebisses  sich  wenig  beteiligt.  Es  verliert  somit  die  Zahnreihe  an  seinem 
hinteren  Ende  eine  nützliche  Reibungsfläche.   Es  liegt  der  Gedanke  nun 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten. 


147 


ziemlich  nahe,  daß  die  Entwicklung  des  inneren  lingualen  Höckers 
am  letzten  Prämolaren  eine  Kompensation  darstellen  kann,  für  die 
Reduktion  der  Kaufläche  am  hinteren  Ende  der  Reihe.  Von  diesem 
Standpunkt  aus  betrachtet,  ist  das  Auftreten  dieses  Höckers  als  eine 
funktionelle  Anpassung,  als  eine  kompensatorische  Einrichtung  des 
Gebisses  und  als  ein  lehrsames  Beispiel  für  dessen  Plastizität  zu  be- 
trachten. Zugleich  ist  dann  der  hinterste  Prämolar  in  dieser  Affen- 
gruppe als  ein  progressives  Element  dvs  (Irbisses  gekennzeichnet.  Zu- 
gunsten dieser  Ansicht  läßt  sich  anführen,  daß  bei  Hapale,  wo  die 
Reduktion  am  Hinterende  der  Gebißreihe  bis  zum  völligen  Verlust 
des  dritten  Molaren  fortgeschritten  ist,  die  Molarisierung  des  hintersten 
Prämolaren  am  vollständigsten  ist.  Derart  dargestellt  liefert  das  Gebiß 
der  Platyrrhinen  ein  Gegenstück  zu  jenem  der  Indrisinae.  Ich  habe 
an  geeigneter  Stelle  auf  die  eigentümliche  Gestalt  des  ersten  Molaren 
dieser  Halbaffengruppe  hingewiesen,  der  in  seiner  vorderen  Hälfte 
„prämolarisiert"  ist  und  darin  eine  Kompensation  für  die  Einschrän- 
kung der  Prämolarenfunktion  auf  nur  zwei  Prämolaren  erblickt.  So 
sehen  wir  bei  den  Platyrrhinen  bei  Einschränkung  der  Molarenfläche 
eine  „Molarisierung"  der  anstoßenden  Prämolaren.  Das  scheint  also 
ein  ziemlich  logischer  Gedankengang  zu  sein. 

Aber  es  gibt  eine  andere  Erscheinung  am  Platyrrhinengebiß, 
welche  diese  oben  gegebene  Betrachtung  nicht  so  einwandfrei  er- 
scheinen läßt.  Wenn  man  von  den  Prämolaren  dieser  Gruppe  nicht 
nur  die  Krone,  sondern  auch  die  Wurzelteile  betrachtet,  dann  ist  es 
unverkennbar,  daß  wenigstens  dieser  Teil  einen  regressiven  Charakter 
trägt.  Diese  Reduktion  äußert  sich  besonders  darin,  daß  die  Zahl 
der  Wurzeln  bedeutend  verringert  ist.  Das  wird  durch  die  Fig.  49, 
50,  51  und  52,  welche  die  Gebisse  einiger  platyrrhinen  Affen, 
von  der  Außenseite  gesehen,  zur  Darstellung  bringen,  und  aus  unten- 
stehender Tabelle,  worin  die  Wurzelzahl  an  den  permanenten  Zähnen 
für  einige  Gattungen  mitgeteilt  ist,  bewiesen.  Steht  die  Ziffer  zwischen 
Klammern,  dann  will  damit  gesagt  sein,  daß  die  Wurzeln  zum  Teil 
verwachsen  sind,  ihre  Spitze  aber  noch  frei  ist. 


Wurzelzahl   der  Zähne   einiger   platyrrhiner  Affen. 


p. 


p.        -'/, 


M. 


•!/, 


Hapale 
Chrysothi 
Cebus  . 
Mycetes 
Ateles . 
Pithecia 


•{ 


oben 
unten 

oben 
unten 

oben 
unten 

oben 
unten 

oben 
unten 

oben 
unten 


I 

I 

I 

(2) 

I 

I 

I 

(2) 

I 

(2) 

(2) 

(3) 

I 

I 

I 

2 

(2) 

(2) 

2 

3 

I 

I 

I 

2 

I 

I 

(2) 

3 

I 

I 

I 

2 

I 

I 

I 

(3) 

I 

I 

I 

(2) 

I 

I 

I 

i 

I 

I 

I 

2 

I 
I 

(2) 
(2) 

(2)   +  1 
2 


(3) 

(2) 

I 

I 


(2)   +   I 
(2) 

(3) 


I 
I 

I 
I 

10* 


Fig.  öl 

Fig.  49 
Fig.  50 
Fi«   52 


148 


Viertes  Hauptstück. 


Ans  dieser  Tabelle  leuchtet  sofort  die  starke  Reduktion  des  Wurzel- 
teiles der  Zähne  von  den  Platyrrhinen  ein.  Am  weitesten  ist  dieselbe 
wohl  bei  Pitbecia  fortgeschritten,  bei  dem  es  eigentlich  nur  einen 
einzigen  Zahn  im  ganzen  Gebiß  mit  mehr  als  einer  Wurzel  gibt.  Es 
ist  diese  Reduktion  nur  eine  Teilerscheinung  der  im  allgemeinen  wenig 
kräftigen  Entwicklung  der  Gebisse  von  den  platyrrhinen  Affen,  welche 

wohl  durch  die  Art 
der  Nahrung  —  weiche 
Früchte,  Eier  u.  dgl.  — 
bedingt  ist. 

Und  jetzt  erhebt 
sich  die  Frage,  wenn 
wir  die  wenig  kräftige 
Entwicklung  der  Zähne 
als  Ganzes  bei  den 
Platyrrhinen  in  Betracht 
ziehen,  dazu  die  Reduk- 
tionserscheinungen, wel- 
che zweifelsohne  die 
Wurzelabschnitte  auf- 
weisen, ist  es  dann  wohl 
statthaft,  die  teilweise 
oder  vollständige  Molari- 
sierung der  Krone  vom 
letzten  Prämolaren  noch 
als  eine  progressive  Er- 
scheinung zu  deuten. 
Zwar  erscheint  die  ge- 
gebene Erklärung:  Kom- 
pensation für  den  Ver- 
lust an  Kaufläche  am 
Hinterende ,  sehr  an- 
sprechend, aber  wie  ist 
sie  mit  dem  allgemeinen 
Charakter  des  Gebisses 
in  Einklang  zu  bringen  ? 
Es  tritt  in  diesem  Falle 
das  Dilemma  in  scharf 
umgrenzter  Gestalt  uns 
entgegen,  und  ich  muß 
offenherzig  gestehen,  daß 
ich  zögere,  eine  Ent- 
scheidung zu  geben.  Der 
Mangel  an  einer  festen  Regel,  um  eine  reduzierte  Kronenkonstruktur  von 
einer  progressiven  zu  unterscheiden,  macht  sich  immer  stärker  fühlbar, 
je  mehr  man  in  die  Details  der  Zahnentwicklung  einzudringen  ver- 
sucht. Auch  von  Leche  ist  die  Schwierigkeit  gefühlt  worden1)  und  er 
führt  einen  Gesichtspunkt  an,  der  gewiß  unter  Umständen  eine  Bedeu- 
tung haben  kann.    Im  ersten  Stadium  der  progressiven  Entwicklung 


Fig.  49.     Gebiß  von  Mycetes  seniculus. 


P'iff.  50.     Gebiß  von  Ateles  ater. 


1)  W.  Leche,  Studien  über  die  Entwicklung  des  Zahnsystems  bei  den  Säuge- 
tieren.   Morph.  Jahrb.  1892.  Bd.  XIX. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten. 


149 


wird  die  Krone  vergrößert,  während  die  Wurzel  zunächst  die  ein- 
fachere, schwächere  Form  beibehält,  Und  umgekehrt,  ist  ein  Zahn 
überflüssig  geworden  und  fällt  der  regressiven  Entwicklung  anheim, 
dann  äußert  sich  dies  in  erster  Linie  durch  Verkleinerung  der  Krone, 
während  die  Wurzel  länger  eine  relativ  größere  Komplikation  bewahrt. 

Wie  gesagt  glaube  ich  wohl,  daß  in  besonderen  Fällen  diese  Über- 
legung für  eine  Entscheidung  fördernd  sein  kann,  aber  daß  sie  in  anderen 
Fällen  versagt,  davon  legen  die  Platyrrhinenzähne  sofort  Zeugnis  ab. 
Denn  der  hinterste  Prämolar  dieses  Gebisses,  über  dessen  Natur  wir 
im  Unsicheren  sind,  ob  progressiv  oder  regressiv,  besitzt  bei  allen  unter- 
suchten Geschlechtern  nur  eine  einzige  Wurzel.  Liegt  hier  der  primitive 
Zustand  vor  oder  bereits  ein  Produkt  von  Verschmelzung  ursprünglich 
getrennter  Wurzeln?  Letzteres  ist  wohl  höchst  wahrscheinlich,  um 
nicht  zu  sagen  sicher.  Denn  der  ganze  Wurzelapparat  des  platyrrhinen 
Gebisses  zeichnet  sich  durch  weitgehende  Vereinfachung  aus.  Also 
der   WurzelteD  dv^  letzten  Prämolaren  trägt  ein  reduziertes  Gepräge 


Fig.  51.     Gebiß  von  Cebus  fatuellus. 


Fig.  52.     Gebiß  von  Pithecia  nocturna. 


und  dennoch  ist  die  Krone,  wie  z.  B.  bei  Hapale,  vollständig  niolari- 
form.  Hier  muß  somit  die  Reduktion  des  Wurzelabschnittes  jener  der 
Krone  vorangegangen  sein.  Es  geht  aus  diesem  Beispiel  hervor,  daß 
die  Entscheidung  der  gestellten  Frage  nicht  so  einfach  ist.  Und  doch 
hat  sie  gerade  großen  Wert  für  die  stammesgeschichtlichen  Probleme. 
Im  allgemeinen  habe  ich  stark  den  Eindruck  bekommen,  daß  die  Ober- 
kieferzähne in  diesen  Problemen  mehr  zuverlässige  Führer  sind  als  jene 
des  Unterkiefers,  gerade  weil  die  Evolution  da  eine  mehr  gleichmäßig 
graduelle  ist. 

Betrachten  wir  jetzt  die  Kronenformation  der  Milchmolaren, 
dann  läßt  sich  zunächst  die  bekannte  Tatsache  konstatieren,  daß  in 
dieser  Zahnreihe  der  Molar  sich  komplizierter  gestaltet,  je  weiter  er 
nach  hinten  gelegen  ist.  Es  stimmen  darin  die  Milchmolaren  mit  den 
Prämolaren  überein.  Weiter  ist  es  besonders  bei  den  Platyrrhinen 
überraschend,  wie  sehr  die  Milchmolaren  nicht  nur  in  bezug  auf  ihr»1 
Höckerdifferenzierung,    sondern    auch    hinsichtlich    ihrer    allgemeinen 


150  Viertes  Hauptstück. 

Gestalt  ihren  Nachfolgern  ähnlich  sind.  Ersteres  geht  aus  der 
Tabelle,  und  letzteres  aus  den  Skizzen  auf  Tafel  II  hervor.  Nur  der 
dritte  Milehinolar  hat  immer  den  Charakter  eines  Molaren  vollständig 
angenommen.  Es  gibt  die  Differenzierung  dieser  Zähne  zu  wenig 
Bemerkungen  Anlaß,  eine  zusammenfassende  Vergleichung  mit  der 
Prämolarendifferenzierung,  welche  wohl  interessante  Verhältnisse  zu- 
tage fördert,  werde  ich  erst  geben,  wenn  auch  die  übrigen  Affen- 
gruppen  besprochen  worden  sind.  Nur  folgendes  sei  an  dieser  Stelle 
bemerkt. 

Bei  der  Besprechung  der  Molaren  ist  darauf  hingewiesen,  daß 
der  hintere  linguale  Höcker  bei  Ateles  äußerst  schwach  entwickelt  ist, 
kaum  den  Charakter  einer  wirklichen  Zacke  besitzt.  Es  ist  nun  zu  ver- 
zeichnen, das  gleiches  für  den  letzten  Milchmolaren  gilt.  Wir  haben 
schon  einmal  Gelegenheit  gefunden,  ins  Licht  zu  stellen,  daß  spezielle 
Merkmale  der  permanenten  Molaren  auch  am  Milchmolaren  ausgeprägt 
sein  können.  Das  als  individuelle  Variation  etwas  von  der  Norm  ab- 
weichende Leistensystem  auf  dem  permanenten  Molaren  eines  Siamanga 
wurde  auch  auf  den  in  dem  Schädel  noch  vorhandenen  zweiten  Milch- 
molaren  angetroffen.  Diese  Tatsache  hat  Bedeutung  als  Beleg  für  die 
Einheitlichkeit  in  dem  Differenzierungsgang  von  permanenten  und 
Milchmolaren,  woran  ich,  auf  Grund  der  Prinzipien  der  von  mir  ausge- 
arbeiteten Differenzierungstheorie  wohl  nicht  zweifelte,  worauf  ich 
aber,  in  bezug  auf  die  Cope-Osbornsche  Differenzierungstheorie 
besonders  Nachdruck  zu  legen  wünsche.  Soweit  mir  bekannt,  sind  die 
genannten  Autoren  niemals  auf  die  Stellung,  welche  die  Milchmolaren 
in  ihrem  System  einnehmen,  eingegangen.  Hat  ihre  Differenzierungs- 
theorie, welche  bekanntlich  nur  für  die  Molaren  gilt,  auch  auf  die 
Milchmolaren  bezug  oder  sollte  für  diese  ein  spezieller  Entwicklungs- 
modus gelten,  wie  ein  solcher  z.  B.  von  Scott  für  die  Prämolaren  auf- 
gestellt ist  ?  Wie  gesagt,  man  bleibt  hinsichtlich  dieser  Frage  im  Dunkeln. 
Das  ist  einer  der  schwachen  Punkte  in  der  Theorie  der  amerikanischen 
Forscher.  Nimmt  man  an,  diese  Autoren  seien  der  Meinung,  daß  der 
Entwicklungsgang  der  Milchmolaren  identisch  sei  mit  jenem  der  per- 
manenten Molaren,  so  widerspricht  eine  solche  Annahme  dem  tat- 
sächlich wahrnehmbaren  Differenzierungsmodus  der  Höcker  in  der 
Reihe  der  Milchmolaren,  und  dann  muß  man  in  konsequenter  Weise 
annehmen,  daß  z.  B.  der  dritte  Milchmolar  von  Hapale,  welcher  fast 
vollständig  wie  der  Ersatzzahn  gebaut  ist,  auf  ganz  anderem  Wege 
diese  Zusammensetzung  erlangt  hat,  als  der  an  seine  Stelle  tretende 
Nachfolger.  Da  beide  Zähne  den  gleichen  mechanischen  Einflüssen 
unterlagen,  ist  eine  solche  Annahme  wenig  wahrscheinlich.  Oder  denkt 
man  sich  (immer  auf  den  Cope-Osbornschen  Standpunkt  sich  stellend), 
daß  die  Prämolaren  einen  von  den  Molaren  wesentlich  verschiedenen 
Entwicklungsgang  durchlaufen  haben,  und  die  Milchmolaren  einen 
gleichen  Differenzierungsmodus  wie  die  Prämolaren  durchliefen,  dann 
erscheint  es  als  eine  schwierig  zu  lösende  Frage,  woher  es  kommt,  daß 
individuelle  Besonderheiten  an  den  permanenten  Molaren  sich  an  den 
Milchmolaren  des  nämlichen  Individuums  wiederholen.  Nur  die  von 
mir  als  Grundprinzip  der  Gebißentwicklung  verteidigte  Ansicht,  daß 
für  alle  Zähne  des  Gebisses  ein  einziger  Entwicklungsgang  besteht, 
beseitigt  die  Schwierigkeiten,  welche  bei  Anwendung  der  Cope- 
Osbornschen  Theorie  auf  dem  Milchgebiß  bestehen. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten. 


151 


Es  ist  oben  der  reduzierte  Zustund  zur  Sprache  gebracht  worden, 
in  dem  sich  der  Wurzelapparat  des  permanenten  Gebisses  der  Platyr- 


Fig.  53.     Dentitionspräparat  von  Hapale. 


Fig.  55.     Dentitionspräparat 
von  Cebus. 


rhinen  befindet.  Wie  steht  es  nun  mit  jenem  des  laktealen  Gebisses. 
Darüber  geben  die  Fig.  53—58  Aufschluß.  Ich  habe  dazu  von  den  mir 
zur  Verfügung  stehenden  Schädeln  amerikanischer  Affen  mit  Milch- 


Fig.  54.     Dentitionspräparat  von  Chrysotrix. 


Fig.  56.     Dentitionspräparat 
von  Mycetes. 


gebiß  Dentitionspräparate  angefertigt.  Nach  diesen  Präparaten  sind 
die  Fig.  53 — 57  hergestellt.  Sie  geben  die  Milchzähne  mit  dem  Milch- 
caninus  und  die  Zahnkeime  der  Ersatzzähne  wieder,  wie  sie  sich  in  situ 


152 


Viertes  Hauptstück. 


fanden.  Nur  von  Ateles  sind  die  Zähne  nach  ans  dein  Schädel  extrahierten 
Objekten  dargestellt.  Ich  erinnere  daran,  daß  sämtliche  unteren 
Prämolaren  bei  den  Platyrrhinen,  soweit  von  mir  untersucht,  einwurzelig 
sind.  Man  überzeugt  sich  leicht  an  diesen  Figuren,  daß  der  Wurzel- 
apparat der  Milchmolaren  bei  den  Platyrrhinen  eine  seltene  Über- 
einstimmung zeigt.  Kegelmäßig  ist  der  erste  und  zweite  Milchmolar 
einwurzelig  und  der  dritte  zweiwurzelig.  Nur  bei  Cebus  ist  der  vorderste 
der  drei  mit  einer  bis  zur  Mitte  gespaltenen  Wurzel  versehen.  Spuren 
von  Verwachsung  in  der  Form  einer  seichten  Furche  auf  der  Außen- 
fläche bemerkt  man  bei  Pithecia  und  Cebus.  Beiläufig  sei  darauf  hin- 
gewiesen, daß  der  Keim  des  ersten  Prämolaren  der  Überfläche  immer 
am  nächsten  gerückt  ist.  Bei  normaler  Dentition  erscheint  dann  auch 
dieser  Prämolar  zuerst,  Der  dritte,  dessen  Keim  zwischen  den  beiden 
Wurzeln  des  dritten  Milchmolaren  gefaßt  ist,  kommt  zuletzt  zum  Vor- 
schein. Es  wird  dieser  Zahn  erst  gewechselt,  nachdem  der  dritte  perma- 
nente Molar  durchgebrochen  ist. 


Fig.  57.     Dentitionspräparat  von 
Pithecia. 


Fig.  58.     Milchzähne  von  Ateles  ater. 


Wir  können  jetzt  unsere  Betrachtungen  über  die  Kronendiffe- 
renzierung fortsetzen  mit  den  Gebissen  der  katarrhinen  Primaten. 
Es  ist  auch  von  diesen  wieder  die  Kronenformel  der  Milchmolaren  in 
der  Tabelle  aufgenommen.  Nur  von  Colobus  mußte  ich  auf  eine  solche 
Angabe  verzichten,  es  stand  mir  kein  Material  zur  Verfügung.  Es  um- 
faßt die  untenstehende  Tabelle  Kepräsentanten  der  meisten  Geschlechter 
der  katarrhinen  Primatengruppen,  also  einschließlich  des  Menschen. 
Ich  möchte  jedoch  schon  im  voraus  betonen,  daß  individuelle  Varia- 
tionen, besonders  bei  den  Anthropoiden  und  Hominiden  und  Artvaria- 
tionen bei  den  übrigen  altweltlichen  Affen,  welche  weiterhin  kurzweg 
nach  dem  Web  ersehen  System  als  Cercopithecidae  angedeutet  wrerden 
sollen,  ziemlich  häufig  sind.  Die  Tabelle  bringt  mithin  jene  Formeln, 
welche  der  Norm  an  dem  mir  vorliegenden  Material  zu  entsprechen 
scheinen.     Besonderheiten  über  Variationen  folgen  unten. 

Es  sind  in  der  untenstehenden  Tabelle  die  auf  den  Milchmolaren 
bezug  habenden  Kronenformeln  wieder  mit  kleinen  Buchstaben  ge- 
schrieben worden. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  153 

Kronenformel  der  unteren  Zähne  bei  katarrhinen  Primaten. 


P 
m 

P 

m 

M 

M 

M 

(B 

i  papp 

Pa 
—  T 
D 

pa  pp 

Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp 

Pa  Pp  2 

Macacus  cynomolgus  .    .    . 

D4 

D4 

d  4 

d  4 

C'\ 

PaPp 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Pa  Pp  2 

Inuus  nemestrinus  .... 

W 

pa  pp 
<>4 

D4 

pa  pp 

d  4 

D4 

D  4 

1>4 

i''\ 

PaPp 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Pa  Pp  2 

Cynocephalus    porcarius    . 

W 

pa  pp 
d4 

D 

pa  pp 
d  4 

D4 

D  4 

D4 

Cercopithecus  mona  .    .    . 

(-3 

pa  pp 
d  4 

Pa 

T 
D 

pa  pp 
d  4 

Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp 
D4 

PaPp 

1>4 

Colobus  ferrugineus   .    .    . 

ü 

P 

T 
D 

Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp  2 
D4 

Semnopitbecus     maurus    . 

(l) 

ipapp 
d4 

Pa 

i>4 
pa  pp 

^4 

Pa  Pp 

r>4 

Pa  Pp 

Pa  Pp  2 

r>4 

Siamanga  syndactylus    .    . 

Q 

d 

P 
-T 

D 

papp  2 
d  4 

Pa  Pp  2 
D4 

Pa  Pp  2 
D  4 

Pa  Pp  2 
D4 

P 
D 

pa  pp 
d  4 

P 
-T 

D 

papp  2 
d4 

Pa  Pp  2 
D.4 

Pa  Pp  2 
D4 

Pa  Pp 
D4 

P 

Pa  Pp 

Pa  Pp   2 

Pa  Pp  2 

Pa  Pp  (2) 

Troglodytes  niger  .... 

D 

pa  pp 

d 

D4 

pa  pp  2 

d4 

D4 

D4 

D4 

ip\ 

Pa  Pp 

Pa  Pp  2 

Pa  Pp  2 

Pa  Pp  2 

D4 

pa  pp2 

D4 

1>4 

D4 

W 

d  4 

P 

P 

Pa  Pp  2 

Pa  Pp 

Pa  Pp  2 

D 
papp  2 

(I  4 

D 

pa  pp2 
d4 

r>4 

D4 

1>4 

154  Viertes  Hauptstück. 

Wenn  wir  zuerst  einen  Blick  auf  die  Kronenformel  der  permanenten 
Molaren  werfen,  dann  tritt  sofort  die  altbekannte  Tatsache  hervor, 
daß  zwischen  den  Cercopithecidae  zur  einen  Seite  und  den  Anthro- 
pomorphen  (wozu  ich  im  weiteren  auch  Siamang  rechne)  mit  dem 
.Menschen  zur  anderen  Seite  eine  typische  Differenz  besteht,  Bei  der 
erstgenannten  Gruppe  ist  der  2-Höcker  nur  am  dritten  Molaren  bewahrt 
geblieben,  und  noch  nicht  einmal  bei  allen  Gattungen.  Denn  bei  Cerco- 
pithecus  fehlt  er  immer  und  bei  gewissen  Arten  von  Semnopithecus 
(S.  mitratus  z.  B.)  kann  er  jedoch  als  seltene  Ausnahme  gleichfalls 
abwesend  sein1).  Daß  es  sich  dabei  um  eine  progressive  Erscheinung 
handelt,  wird  durch  jeneT  besonders  bei  Cynocephalus  und  Inuus 
auftretenden  Formen  bewiesen,  bei  denen  auch  der  Hinterrand  des 
zweiten  Molaren  noch  einen  deutlichen  Höcker  besitzt. 

Ist  der  Verlust  des  2-Höckers  als  eine  progressive  Erscheinung  zu 
deuten,  dann  folgt  daraus,  daß  das  Gebiß  der  Anthropomorphen  und  des 
Menschen  auch  in  dieser  Hinsicht  primitiver  gestaltet  ist  als  jenes  der 
übrigen  katarrhinen  Primaten  und  gleichfalls  als  jenes  der  Platyrrhinen, 
bei  denen  der  2-Höcker  sogar  am  dritten  Molaren  regelmäßig  fehlt. 
Denn  wie  allgemein  bekannt,  und  auch  aus  der  Tabelle  ersichtlich, 
kommt  der  bezügliche  Höcker  als  Regel  an  allen  permanenten  Molaren 
der  Anthropomorphen  vor.  Aus  welchen  Gründen  die  unteren  Molaren 
dieser  Primatengruppe  fünfhöckerig  geblieben  sind,  ist  nicht  schwer 
zu  erforschen.  Wir  brauchen  dazu  nur  die  Okklusionsverhältnisse  am 
Gebisse  eines  Gorilla  mit  z.  B.  solchen  an  einem  Semnopithecusgebiß 
zu  vergleichen.  Man  überzeugt  sich  dann  leicht,  daß  die  Entwicklung 
des  Leistensystems  an  den  oberen  Molaren,  wie  es  in  einem  voran- 
gehenden Hauptstück  geschildert  worden  ist,  mit  dem  Verlust  des 
fünften  Höckers  in  unmittelbarem  Zusammenhang  steht.  Ich  erinnere 
dazu  daran,  daß  das  Leistensystem  bei  den  Anthropomorphen  wie  bei 
den  Hominiden  an  den  oberen  Molaren  noch  ein  sehr  primitives  Ge- 
präge besitzt,  weil  der  hintere  linguale  Höcker  (der  ^-Höcker)  noch 
nicht  im  System  einbezogen  worden  und  durch  die  hintere  Schräg- 
furche vom  übrigen  Teil  der  Krone  getrennt  ist.  Vor  dieser  Furche  zieht 
ein  Kamm  schräg  vom  Z)-Höcker  zum  P/>-Höeker,  und  vom  ersteren 
geht  noch  ein  zweiter  Kamm  aus,  der  zum  Pa-Höcker  zieht,  oder  wie 
bei  Gorilla,  etwas  mehr  nach  vorn  abbiegt  und  sich  abflachend  in  der 
Mitte  des  mesialen  Zahnrandes  endet. 

Fragt  man  nun,  wie  verhält  sich  bei  der  Okklusion  das  Eelief 
der  unteren  Molaren  zu  jenem  der  oberen,  dann  läßt  sich  diese  Frage 
am  leichtesten  beim  Gorilla  mit  seinen  zapfenförmigen  Höckern  nach- 
prüfen. Ich  verweise  dazu  nach  Fig.  59a,  wrelche  die  Superposition  der 
Okklusionsfläche  eines  oberen  und  unteren  Molaren  vom  Gorilla  bringt. 
Der  obere  Molar  ist  punktiert,  der  untere  in  durchgezogenem  Umriß 
angegeben.  An  diesem  Superpositiousbild  ist  leicht  zu  zeigen,  daß  das 
Relief  der  unteren  Molaren  gleichsam  einen  Ausguß  von  jenem  der 
oberen  darstellt,  Die  größte  Selbständigkeit  kommt  dem  Pp-Höcker 
des  unteren  Molaren  zu,  denn  dieser  kann  mit  keinem  anderen  durch 
eine  Leiste  verbunden  sein.  Distalwärts  behindert  ihn  darin  der  hintere 
Schrägkamm  des  oberen  Molaren  und  mesialwärts  die  vordere  vom 
Z)-Höcker  des  oberen  Mahlzahnes  ausgehende  Leiste.    Der  P/>-Höcker 


1)  H.  0.  Forbes,  A  Hand-Book  to  the  Primates,  Vol.  II,  p.  138.  London  1892. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  155 

des  unteren  Molaren  wird  gleichsam  in  der  zentralen  Delle  des  oberen 
Molaren  eingeschlossen.  Der  hintere  Schrägkamin  des  oberen  Zahnes 
wird  nach  hinten  durch  die  bei  Gorilla  sehr  tiefe  hintere  Schrägfurche 
begrenzt.  Dieser  Furche  entspricht  am  unteren  Zahn  eine  niedrige  aber 
dennoch  gut  entwickelte  Leiste,  welche  bukkalwärts  in  dem  2-Höcker, 
lingualwärts  in  dem  ^-Höcker  endet. 

Es  ist  nun  früher  ausführlich  dargetan,  daß  die  höhere  Speziali- 
sierung der  oberen  Molaren  in  der  Weise  zustande  kommt,  daß  die 
hintere  Schrägfurche  verschwindet  und  ein  Querkamm  sich  ausbildet, 
welcher  vom  P/>-Höcker  zum  ^-Höcker  zieht.  Denkt  man  sich  nun  in 
Fig.  59a  diese  Leiste  eingetragen,  dann  wird  es  deutlich,  daß  dieselbe 
die  Berührungsfläche  des  2-Höckers  vom  unteren  Zahn  durchqueren 
muß.  Mit  anderen  Worten,  es  bildete  sich  am  oberen  Zahn  eine  Leiste 
an  einer  Stelle,  welche  ursprünglich  eine  Einsenkung  darstellte,  worin 
ein  Höcker  des  unteren  Zahnes  gefaßt  wurde.  Selbstverständlich  er- 
forderte das  Zustandekommen  derselben  den  Verlust  des  Höckers  am 
unteren  Zahn.  Und  in  der  Weise  entstanden  die  neuen  Okklusions- 
verhältnisse,  welche  das  Gebiß  der  Cercopithecidae  kennzeichnen,  wie 
das  in  schematischer  Weise  in  Fig.  59&  zur  Schau  gebracht  ist. 

So  sehen  wir,  daß  der  Verlust  des  2-Höckers  an  den  unteren 
Molaren  der  Cercopithecidae         „------ „---—> 

die  notwendige  Vorbedingung        >'  '\  ?     -7\v%- 
für    die    Umgestaltung     des 
Leistensystems     der    oberen 
Molaren  war. 

Der  Mensch  nimmt  be- 
kanntlich bezüglich  des  Vor- 
kommens eines  fünf  ten  Höckers 
an  den  unteren  Molaren  eine 

Sonderstellung  ein.  Am  ersten  Fig.  59. 

Molaren   ist   er   als    ziemlich 

konstant  zu  betrachten,  am  zweiten  muß  —  wenigstens  bei  Europäern  — 
das  Fehlen  desselbenals  Regel  betrachtet  werden,  und  der  dritte  entbehrt 
den  Höcker  in  etwas  mehr  als  der  Hälfte  der  Fälle.  Es  sind  in  der  Literatur 
schon  manche  statistischen  Angaben  über  diese  Erscheinung  mitgeteilt 
worden,  welche  von  de  Terra1)  in  übersichtlicher  Weise  eine  Dar- 
stellung erfahren  haben  und  mit  persönlichen  Beobachtungen  vermehrt 
sind.  In  der  dritten  dieser  Studien  werde  ich  ausführlich  auf  diesen 
Punkt  eingehen,  möchte  jedoch  schon  an  dieser  Stelle  kurz  einige  Er- 
gebnisse eigener  Untersuchungen  einschalten.  Es  wurden  diese  Unter- 
suchungen angestellt  an  vollständigen  Gebissen  rezenter  Amsterdamer 
Schädel,  also  an  einem  sehr  einheitlichen  Material.  Es  standen  mir 
dazu  219  Unterkiefer  mit  kaum  usurierten  Kauflächen  zur  Verfügung. 
Jede  Hälfte  wurde  gesondert  notiert.  Die  Häufigkeit  einiger  Kombi- 
nationen der  Höckerzahl  an  den  drei  Molaren  war  die  folgende: 


5.5.5  in       4 

Fällen 

oder 

0,9% 

5.4.5   „    112 

5> 

55 

25,5% 

5.4.4  „    104 

)J 

?? 

•r>v\, 

4.4.4   ,.      61 

JJ 

75 

13,9% 

4.4.5   „     23 

5? 

55 

5,2% 

1)  Odontographie  der  Menschemassen,  S.  139. 


156  Viertes  Hauptstück. 

Im  ganzen  fand  ich  in  dieser  Sammlung  neun  zweite  Molaren 
mit  fünf  Höckern,  das  ist  somit  ungefähr  2%.  Da  es  sieh  um  ausge- 
wählte, ausgezeichnet  konservierte  Gebisse  handelt,  und  dazu  alle 
von  der  rezenten  Bevölkerung  von  Amsterdam  (die  Beobachtungen 
wurden  gemacht  an  Crania  von  zwischen  1865  und  1890  verstorbenen 
Leuten)  ist  den  eben  gegebenen  Ziffern  und  prozentualen  Verhältnissen 
et  was  mehrWert  beizumessen  als  sonstigen  in  der  Literatur  vorkommenden 
statistischen  Daten,  welche  an  einem  sehr  gemischten  Material  festge- 
stellt worden  sind.  Wenn  ich  meine  Resultate  mit  jenen  anderer  Autoren 
vergleiche,  wie  sie  von  de  Terra  mitgeteilt  sind,  dann  scheint  ein  fünf- 
höckeriger zweiter  Molar  an  meinem  Material  viel  seltener  zu  sein  als 
an  anderen  europäischen  Schädeln.  So  fanden  sich  z.  B.  am  Zucker- 
kandischen Material  11,5%  dieser  Molaren  mit  fünf  Höckern.  Weiter 
ist  ein  vierhöckeriger  erster  Molar  an  den  Amsterdamer  Schädeln  auf- 
fallend häufig.  Ich  gehe  nicht  auf  weitere  Details  ein,  da  ich  das  für 
die  folgende  Studie  vorbehalte,  doch  möchte  hier  schon  darauf  hin- 
gewiesen werden,  daß  der  Umstand,  daß  mein  Untersuchungsmaterial 
rein  städtischer  Herkunft  war.  bei  der  Deutung  der  Erscheinungen  in 
Betracht  gezogen  werden  kann. 

Die  Tatsache,  daß  beim  Menschen  der  zweite  untere  Molar,  wir 
können  kurzhin  sagen  vierhöckerig  ist,  während  der  dritte  Molar  in 
ungefähr  der  Hälfte  der  Fälle  noch  fünfhöckerig  erscheint,  verleiht 
der  unteren  Gebißreihe  des  Menschen  ein  etwas  unregelmäßiges  Ge- 
präge. Ich  glaube  die  Erscheinung  folgenderweise  beleuchten  zu  dürfen. 
Das  Gebiß  des  Menschen  findet  sich  in  Reduktion.  Nun  äußert  sich 
dieselbe  in  zweierlei  Richtung,  erstens  in  einer  Verkürzung  der  Gebiß- 
reihe und  zweitens  durch  Vereinfachung  der  Kronenstruktur.  Denken 
wir  uns  zunächst,  daß  nur  der  letztgenannte  Einfluß  tätig  war,  also 
eine  Vereinfachung  der  Kronenstruktur  ohne  gleichzeitige  Verkürzung 
der  Gebißreihe,  dann  würde  schließlich  eine  Gebißform  entstehen, 
wie  man  bei  Cynopithecus,  Semnopithecus,  Colobus,  Macacus  usw. 
findet,  nämlich  der  erste  und  zweite  Molar  vier-,  der  letzte  Molar  fünf- 
höckerig. Denn  der  fünfte  Höcker  oder  der  sogenannte  dritte  Lobus 
des  hintersten  unteren  Molaren  hat  eine  solche  mechanische  Bedeutung, 
daß  er  nicht  bei  Anwesenheit  eines  gut  entwickelten  vierhöckerigen 
oberen  dritten  Molaren  zugrunde  gehen  kann.  Denn  es  ist  gerade  dieser 
Höcker,  der  den  Gegendruck  liefert,  wodurch  der  letzte  obere  Molar 
verhindert  wird,  sich  unter  dem  Einfluß  der  auf  ihn  einwirkenden 
Kräfte  beim  Verschluß  des  Gebisses  nach  hinten  zu  verschieben.  Es 
hat  für  den  Mechanismus  des  Gebisses  beim  Ineinandergreifen  der 
Zähne  der  fünfte  Höcker  des  dritten  Molaren  eine  große  Bedeutung, 
und  die  Vereinfachung  der  Kronenstruktur,  wie  dieselbe  einmal  bei 
den  oben  genannten  Gattungen  zustande  gekommen  sein  muß,  hat 
gewiß  vom  zweiten  unteren  Molaren  Ausgang  genommen. 

Eine  ähnliche  Vereinfachung  ist  nun  bei  den  Hominiden  bereits 
im  Gange,  und  hat  der  zweite  Molar  sich  schon  bei  den  kultivierten 
Rassen  in  ein  vierhöckeriges  Gebilde  umgestaltet,  während  auch  der 
erste  Molar  schon  dem  Einfluß  dieses  Vorganges  unterliegt.  Nun  hat 
sich  aber  beim  Menschen  die  Reduktion  des  Gebisses  noch  in  einer 
zweiten  Richtung  zu  äußern  angefangen,  und  zwar  durch  eine  Ver- 
kürzung der  Gebißreihe.  Diese  Verkürzung  findet  ihren  Sitz  am  distalen 
Ende  und  übt  ihren  Einfluß  auf  den  dritten  Molaren  aus.    Ich  möchte 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  157 

diese  Reduktion  als  einen  von  der  vorherbeschriebenen  unabhängigen 
Vorgang  betrachten,  mit  einem  etwas  oüfferenten  Charakter.  Es  handelt 
sich  hier  nicht  um  eine  in  bestimmter  Richtung  verlaufende  Verein- 
fachung der  Kronenfläche,  sondern  um  eine  Ausmerzung  eines  fünf- 
höckerigen Elementes  als  ganzes.  Die  Resistenz  des  fünften  Höckers 
dieses  Molaren  gegen  die  Kronenvereinfachung,  welche  man  bei  den 
meisten  Gattungen  der  Cercopithecidae  zu  konstatieren  vermag,  lebt 
auch  diesem  Höcker  beim  .Menschen  noch  inne.  Und  so  kann  es  vor- 
kommen, daß  man  in  der  einen  Kieferhälfte  einen  wohlentwickelten 
fünfhöckerigen  dritten  Molar  findet,  während  an  der  anderen  Seite 
der  Zahn  vollständig  fehlt. 

Der  etwas  unregelmäßige  Charakter  der  gesamten  Kronenstruktur 
der  unteren  Zahnreihe  beim  Menschen  wird  somit  begreiflich,  wenn  man 
sich  vorstellt,  daß  der  Reduktionsprozeß  in  zweierlei  Weise  mit  etwas 
verschiedener  Tendenz  angreift,  nämlich  Vereinfachung  der  Kronen- 
struktur und  Verkürzung  des  Gebisses.  Auch  am  Oberkiefer  ist 
ähnliches  zu  konstatieren. 

Gehen  wir  jetzt  zur  Betrachtung  der  Kronenformeln  der  Prä- 
molaren über.  Es  wird  bei  dieser  Übersicht  von  gelegentlich  auftre- 
tenden akzessorischen  Hügeln  nicht  die  Rede  sein;  ich  werde  mich  an 
die  in  der  Tabelle  niedergelegten  Daten  halten.  Es  muß  aber  bezüglich 
der  Prämolaren  der  Anthropomorphen  eine  erläuternde  Bemerkung 
gemacht  werden.  Denn  die  Ausbildung  der  Krone  dieser  Zähne  ist 
in  dieser  Gruppe  sehr  variabel,  je  nachdem  der  Zahn  kräftiger  oder 
weniger  kräftig  entwickelt  ist.  Diese  Variabilität  zeigt  einen  bestimmten 
Charakter.  Die  Haupthöcker  der  beiden  Odontomeren  können  nämlich 
zu  einer  einfachen  kegelförmigen  Krone  verbunden  sein,  oder  sie  können 
als  getrennte  Spitzen  auftreten.  Diese  Variabilität  gilt  besonders  für 
die  ersten  Prämolaren  und  sie  ist  gelegentlich  bei  allen  Genera  dieser 
Gruppe  zu  konstatieren.  Falls  diese  Krone  zweispitzig  ist.  erscheint 
der  deuteromere  Höcker  immer  als  der  kleinere  und  scheint  aus  der 
lingualen  Hälfte  der  Kronenfläche  sich  zu  erheben.  Man  muß  es  sich 
daher  so  vorstellen,  daß  die  bukkale  Hälfte,  welche  sich  zu  der  kräftigen 
pyramidalen  Spitze  entwickelt,  nur  dem  protomeren  Abschnitt  des 
Zahnes  entspricht,  während  der  deuteromere  Teil  in  dem  lingualen, 
mehr  abgeflachten  talonartigen  Teil  versteckt  ist.  In  dieser  Weise  be- 
trachtet, lassen  sich  die  individuellen  Variationen  mit  Recht  als  eine 
verschieden  starke  Entwicklung  des  deuteromeren  Höckers  kennzeichnen. 
Auch  am  zweiten  Prämolaren  ist  die  Konfiguration  bei  allen  Genera 
der  Anthropomorphen  wechselnd.  Hier  sind  aber  die  Variationen  in 
der  hinteren  Hälfte  der  Krone  lokalisiert,  da  die  vordere  wohl  immer 
zweispitzig  ist.  Die  hintere  Hälfte  kann  nun  als  eine  einfache  talonartige 
Verlängerung  der  Krone  erscheinen,  oder  —  wie  es  häufig  der  Fall  ist 
zeigt  sie  die  Anlage  zweier  hinterer  Tuberkel,  welche  jedoch  immer  in 
einem  mehr  niedrigen  Niveau  als  die  vorderen  Spitzen  verbleiben.  Bei 
Schimpanse  und  besonders  bei  Gorilla  fand  ich  diese  beiden  hinteren 
Tuberkel  so  häufig,  als  wohl  differenzierte  Bildungen  anwesend,  da  Li 
man  diese  Zähne  als  quadrikuspidate  zu  bezeichnen  berechtigt  ist. 

Bei  den  übrigen  Katarrhinen  weisen  die  Prämolaren  eine  mehr 
konstante  Kronenstruktur  auf,  und  auch  die  Unterschiede  zwischen  den 
Genera  sind  mehr  solche  der  allgemeinen  Form  als  der  Kronenstruktur. 
Wohl  bei  allen  ist  der  erste  Prämolar  mit  einer  einspitzigen  Krone  aus- 


158  Viertes  Hauptstück. 

gestattet.  Am  bukkalen  Rande  des  Zahnes  ragt  dieser  Höcker  stark 
hervor.  Die  linguale  Fläche  fällt  mehr  oder  weniger  steil  ab  und  ist 
von  einer  bisweilen  ziemlich  scharfen  und  hohen  Leiste  in  ein  vorderes 
und  hinteres  Feld  getrennt.  Bei  Cercopithecus  fehlt  diese  Leiste  nahezu 
und  erscheint  der  Zahn  stark  abgeplattet.  Die  Emaillierung  der  Krone 
setzt  sich  an  der  bukkalen  Fläche  bekanntlich  eine  Strecke  wreit  auf 
der  Außenseite  der  vorderen  Wurzel  fort. 

Bei  Semnopithecus  findet  sich  sehr  häufig  auf  der  hinteren 
Hälfte  der  lingualen  Fläche  ein  Höckerchen,  das  jedoch  nicht  aus 
dem  lingualen  Rande  sich  emporhebt,  sondern  mehr  transversal 
gestellt  und  dem  Hinterrande  genähert  ist.  Ich  möchte  es  als  die 
erste  Anlage  vom  ./-Höcker  deuten.  Der  Grund  dazu  wird  durch 
die  Kronenstriktur  des  zweiten  Prämolaren  dieses  Genus  geliefert, 
an  dem  eigenartigerweise  von  den  beiden  hinteren  Höckern,  welche  bei 
den  Geschlechtern  Macacus,  Inuus  und  Cynocephalus  entwickelt  sind, 
nur  der  linguale  vorkommt.  Diese  geringe  Differenzierung  der  hinteren 
Kronenhälfte  von  P2  bei  Semnopithecus  bildet  eine  Übergangsstufe 
zu  jener  von  Colobus,  bei  dem,  an  den  mir  vorliegenden  drei  Schädeln 
(C.  ferrugineus,  ursinus  und  guereza)  der  P2  nur  die  zwei  vorderen 
Höcker  besitzt,  welche  nach  hinten  in  einer  sehr  gering  entwickelten, 
nicht  weiter  differenzierte  Talon  sich  fortsetzen.  Auch  bei  Cercopithecus 
ist  solches  der  Fall,  doch  sind  hier  Andeutungen  vom  Pp  und  vom  4- 
Höcker  bisweilen  anwesend. 

Über  die  Kronenstruktur  der  Milchmolaren  können  wir  uns 
kurz  fassen.  -  -  Von  Colobus  stand  mir  kein  Schädel  mit  Milchgebiß 
zur  Verfügung.  Von  den  Cercopithecidae  gehören  die  beiden  Milch- 
molaren dem  vierhöckerigen  Typus  an.  Der  Vorderrand  des  ersten  kann 
sich,  wie  es  bei  Semnopithecus  und  Macacus  der  Fall  ist,  nach  vorn  zu- 
spitzen. Besonders  beim  letztgenannten  Affen  ist  dann  die  vorderste 
Spitze  deutlich  mit  einem  Höckerchen  ausgestattet,  bei  Semnopithecus 
ist  dasselbe  weniger  deutlich. 

Wenn  man  bei  den  Cercopithecidae  die  individuellen  Variationen 
des  ersten  Milchmolaren  und  des  ersten  Prä  molaren  vergleicht,  dann 
tritt  ein  merkwürdiger  Gegensatz  zutage,  welchen  man  übrigens  auch 
bei  den  Anthropomorphen  und  beim  Menschen  zu  konstatieren  imstande 
ist.  Der  erste  Milchmolar  steht  nicht  bei  allen  Individuen  einer  Art 
auf  einer  gleichen  Stufe  der  Entwicklung.  Die  zwei  hinteren  Höcker 
fehlen  wohl  niemals,  aber  die  vordere  Hälfte  des  Zahnes  ist  in  der  Aus- 
bildung der  Höcker  schwankend.  In  den  meisten  Fällen  ist  der  Pa- 
Höcker  und  der  Z)-Höcker  entwickelt,  aber  es  können  dieselben  ein- 
ander so  nahe  gerückt  sein,  daß  es  bisweilen  den  Eindruck  macht, 
als  wäre  nur  ein  einziger  Höcker  da,  und  es  trägt  die  vordere  Hälfte 
deshalb  einen  mehr  reduzierten  Charakter.  Die  Schwankungen  in  der 
individuellen  Entwicklung  sind  also  beim  ersten  Milchmolaren  der  ge- 
nannten Affen  in  der  vorderen  Hälfte  des  Zahnes  lokalisiert.  Beim 
ersten  und  in  höherem  Maße  beim  zweiten  Prämolaren  trifft  man  einen 
geraden  entgegengesetzten  Zustand.  Denn  hier  ist  die  vordere  Hälfte 
die  am  wenigsten  variable,  und  es  äußert  sich  die  Variabilität  gerade 
in  der  hinteren  Hälfte,  die  das  eine  Mal  zwei  deutlich  entwickelte  Höcker 
aufweist,  ein  anderes  Mal  dagegen  nur  mit  einem  regelmäßigen,  etwas 
erhabenen  Rand  ohne  Höckerbildung  ausgestattet  ist.     Bei  den  Prä- 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  159 

molaren  ist  der  vordere  Teil  also  immer  der  am  stärksten  entwickelte, 
bei  den  Milchmolaren  der  hintere  Teil. 

Die  Milchmolaren  der  Anthropoiden  haben  in  der  Literatur 
mehrfach  ausführliche  Beschreibung  erfahren  (Selenka,  Adloff). 
Das  Hauptsächlichste  in  ihrer  Struktur  wird  unten  hervorgehoben 
werden,  gleichzeitig  mit  einer  kurzen  Vergleichung  zwischen  der  Gestalt 
der  Milchmolaren  und  derer  der  Ersatzzähne  bei  den  Primaten.  Für 
diese  Vergleichung  sei  auf  die  auf  Tafel  II  vorkommenden  Umriß- 
zeichnungen der  Prämolaren  und  ersteren  Molar  mit  den  Milchmolaren 
bei  verschiedenen  Affen  verwiesen. 

Es  ist  eine  allbekannte  Tatsache,  daß  die  Milchmolaren  oftmals 
in  ihrer  Kronenstruktur  stark  differieren  mit  ihren  Ersatzzähnen. 
Diese  Differenzen  sind  nun  bei  den  verschiedenen  Gruppen  der  Affen 
auffallend  wechselnd;  das  eine  Mal  ähneln  sich  Prämolaren  und  Milch- 
molaren sehr  stark,  das  andere  Mal  besteht  zwischen  beiden  ein  sehr 
bedeutender  Unterschied.  In  dieser  Hinsicht  stellen  sich  die  platyr- 
rhinen  Affen  in  starkem  Gegensatz  zu  den  katarrhinen,  und  besonders 
zum  menschlichen  Gebiß.  Die  beiden  Extremen  werden  durch  die 
Geschlechter  Hapale  und  Homo  gebildet.  Beim  erstgenannten  sehen 
die  Zahnkronen  von  den  Milchmolaren  und  den  Prämolaren  einander 
so  ähnlich  aus,  daß  es  gewiß  Mühe  kostet,  z.  B.  den  dritten  Milchmolar 
vom  dritten  Prämolar,  wenn  isoliert  betrachtet,  zu  unterscheiden. 
Beim  Menschen  dagegen  ist  der  Unterschied  zwischen  dem  fünfhöcke- 
rigen zweiten  Milchmolar  und  dem  zweispitzigen  zweiten  Prämolar 
größer  als  bei  irgendwelchen  anderen  Primaten.  Eine  die  ganze  Pri- 
matenreihe  in  bestimmter  Richtung  durchziehende  Entwicklungstendenz 
besteht  hierbei  jedoch  nicht,  nur  kann  man  den  oben  hervorgehobenen 
Gegensatz  zwischen  altweltlichen  und  neuweltlichen  Affen  konstatieren. 
Diese  Tatsache  ruft  die  Gedanken  wach,  ob  vielleicht  in  der  Verringe- 
rung der  Prämolaren-  und  Milchmolarenzahl  nicht  eine  Ursache  ge- 
geben ist  für  die  ungleiche  Entwicklung  von  Milchzähnen  und  ihrer 
Ersatzzähne.  Als  zweites  Moment,  das  bei  der  Beurteilung  jenes  Phä- 
nomen in  Betracht  gezogen  werden  muß,  gilt  gewiß  der  überhaupt 
mehr  einfache  Bau  der  Molaren  der  amerikanischen  Affen. 

Man  trifft  öfters  in  der  Literatur  die  Behauptung,  daß  die 
Molarzähne  eine  ältere  Dentition  des  bleibenden  Gebisses  repräsen- 
tieren sollten,  und  daß  folglich,  wenn  der  Zahn  der  ersten  und 
der  zweiten  Dentition  einander  unähnlich  sind,  der  Milchzahn  die 
mehr  primitive  Gestalt  erkennen  lehrt,  der  bleibende  die  mehr  abge- 
änderte. Als  klassisches  Beispiel  wird  dann  das  Gebiß  von  Chiromys 
angeführt.  Die  erste  Dentition  dieses  Halbaffen  ist  noch,  wie  Leche 
nachgewiesen  hat,  insektivorös,  während  das  bleibende  Gebiß  jenem 
eines  Nagetieres  stark  ähnelt,  Wiewohl  ich  die  große  Bedeutung  dieser 
und  übereinstimmender  Tatsachen  völlig  anerkenne,  glaube  ich  doch 
dagegen  warnen  zu  müssen,  um  an  diesen  konkreten  Fällen  ein  zur 
Interpretierung  sämlticher  Erscheinungen  geltendes  Prinzip  zu  ent- 
nehmen. Zunächst  möchte  ich  mein  Bedenken  äußern  gegen  den 
Standpunkt,  die  beiden  Dentitionen  als  eine  ältere  und  jüngere 
einander  gegenüber  zu  stellen.  Beide  Dentitionen  sind  gleich  alt, 
da  sie  bei  den  Reptilien  nicht  sukzessive,  sondern  isochron  funk- 
tionierten.    Allerdings  hat  dieses  Argument  nur   Gültigkeit  für  den, 


1  60  Viertes  Hauptstück. 

der  sich  meiner  Theorie  über  die  Beziehung  zwischen  .Reptilien-  und 
Säugergebiß  anschließt.  Von  diesem  Gesichtspunkt  ausgehend  scheint 
mir  der  Schluß  berechtigt,  daß  bei  den  primitiven  Säugern  die  Ele- 
mente beider  Gebißreihen  einander  sehr  ähnlich  gewesen  sein  müssen, 
und  daß  in  beiden  Gebißreihen  eine  sukzessive  Vervollkommnung 
der  Zahngestalt  in  distaler  Richtung  sich  ausgebildet  hat.  Diese 
regelmäßige  Komplizierung  trifft  man  nun  in  der  Tat  beim  bleibenden 
Gebiß  der  eocänen  Primaten  und  —  sei  es  auch  weniger  —  ebenfalls 
bei  einigen  rezenten  Halbaffen  an.  Leider  ist  uns  das  Milchgebiß  der 
Urprimaten  nicht  bekannt,  aber  aus  den  Untersuchungen  von  Leche 
geht  wohl  hervor,  daß  wenigstens  bei  den  Halbaffen,  auch  an  der 
ersten  Dentition,  eine  graduelle  Komplizierung  der  Milchmolaren, 
welche  mit  jener  der  Prämolaren  parallel  geht,  in  weit  höherem  Grade 
vorkommt  als  bei  den  Affen.  Man  muß  dabei  natürlich  eine  spezialisierte 
Form  als  Chiromys  nicht  als  Muster  wählen. 

Jenen  Zustand  sehe  ich  daher  als  den  ursprünglichsten  an,  bei 
dem  der  erste  Milchzahn  und  der  erste  Prämolar  am  einfachsten  ge- 
staltet sind,  an  denen  nicht  mehr  zur  Ausbildung  gelangt  ist  als  der 
Haupthöcker  des  Protomer  mit  eventuellem  Zutritt  einer  der  Neben- 
spitzen oder  beide.  Die  weiter  nach  hinten  folgenden  Zähne  sind  dann 
vollständiger  entwickelt,  je  mehr  sie  nach  hinten  gelegen  sind.  Die 
Komplizierung  folgt  dabei  in  der  Reihenfolge,  welche  wir  im  allgemeinen 
Teil  kennen  gelernt  haben.  Also  Milchgebiß  und  Dauergebiß  zeigen  in 
der  Gestalt  ihrer  Komponenten  noch  keinen  Unterschied,  wie  sehrauch 
die  Zähne  einer  Gebißreihe  unter  sich  differieren  dürfen.  Das  ist  meiner 
Meinung  nach  die  primitive  Gebißform. 

Dieser  Zustand  findet  sich,  wie  gesagt,  noch  am  vollständigsten 
verwirklicht  bei  gewissen  Halbaffen,  besonders  bei  jenen,  bei  denen  der 
dritte  Prämolar  die  Struktur  eines  Molaren  besitzt  (Galago,  Hemi- 
galago).  Diese  parallele  Gestaltung  beider  Gebißreihen  ist  nun  bei 
den  Äffen  verwischt  worden,  und  zwar  infolge  zweierlei  Abänderungen: 
die  Milchmolaren  haben  sich  immer  mehr  kompliziert  und  die  Prä- 
molaren sind  einander  ähnlicher  geworden,  die  stufenweise  Vervoll- 
kommnung hat  einer  größeren  Ähnlichkeit  die  Stelle  geräumt.  Die 
Folge  davon  war,  daß  im  bleibenden  Gebiß  der  Gegensatz  zwischen 
Prämolaren  und  Molaren  akzentuiert  worden  ist.  und  daß  die  Prämolaren 
und  Milchmolaren  einander  je  länger  desto  stärker  unähnlich  geworden 
sind.  Jenes  Gebiß  muß  in  dieser  Hinsicht  als  ein  am  meisten  speziali- 
siertes betrachtet  werden,  an  dem  diese  beiden  Vorgänge  ihren  höchsten 
Entwicklungsgrad  erreicht  haben.  Und  von  diesem  Gesichtspunkt  aus 
betrachtet  erscheint  das  menschliche  Gebiß  als  am  weitesten  von  der 
Urform  entfernt,  läßt  auch  jenes  der  Anthropomorphen  mehr  oder 
weniger  weit  hinter  sich. 

Wenn  man  nun  von  dem  entwickelten  Gesichtspunkt  aus  die 
Gebisse  der  Affen  vergleicht,  dann  stellen  jene  der  platyrrhinen  Formen 
unzweifelhaft  mehr  primitive  Formen  dar  als  jene  der  katarrhinen 
Primaten.  Denn  wie  vorher  schon  bemerkt  und  wie  aus  den  fünf  Gebiß- 
zeichnungen der  obersten  Reihe  auf  Tafel  II  leicht  ersichtlich,  besteht 
eine  auffallende  Übereinstimmung  in  dem  Kronenrelief  der  Milch- 
molaren und  ihrer  Ersatzzähne.  Nur  der  dritte  Milchmolar  ist  durch- 
schnittlich etwas  höckerreicher  als  sein  Ersatzzahn. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  1(3 1 

Es  ist  schon  früher  öfters  betont  worden,  daß  es  nicht  möglich 
ist,  die  Gebisse  der  katarrhinen  Affen  von  solchen  Formen  abzuleiten, 
wie  sie  bei  den  heutigen  amerikanischen  Affen  auftreten.  Diese  Be- 
hauptung war  auf  eine  Vergleichung  der  Kronenstruktur  bei  beiden 
Primatengruppen  gegründet.  Auch  die  Formrelationen  zwischen  den 
Zähnen  der  ersten  und  zweiten  Dentition  bei  beiden  Gruppen  weisen 
in  gleicher  Richtung  hin.  Im  allgemeinen  tragen  die  bezüglichen  Zähne 
des  Milchgebisses  bei  den  Platyrrhinen  einen  mehr  einfachen  Hau.  und 
es  hat  sich  zwischen  den  Tuberkeln  ein  ähnliches  Leistensystem  ent- 
wickelt als  auf  die  Ersatzzähne.  Dieses  Leistensystem  trägl  einen 
ähnlichen  Charakter  als  jenes  auf  die  Molaren  der  neuweltlichen  Affen. 
Und  gerade  auf  Grund  des  Vohandenseins  dieses  Systemes  gründete 
ich  meine  oben  memorierte   Aussage. 

Wie  gesagt,  geht  der  Mensch  bezüglich  der  oben  erwähnten 
Eigentümlichkeiten  des  Gebisses  der  höheren  Primaten:  starke  Diffe- 
renzierung der  Milchmolaren  und  Gleichförmigkeit  der  Prämolaren, 
an  der  Spitze  aller  Primaten.  Bei  keinem  anderen  sind  die  beiden  Prä- 
molaren (wir  beschränken  uns  weiter  auf  die  katarrhinen  Primaten) 
als  Bicuspidaten  einander  so  ähnlich.  Zwar  trifft  man  auch  bei  den 
Anthroponiorphen  bisweilen  auf  dem  ersten  Prämolar  die  Andeutung 
eines  inneren  Höckers  an,  aber  im  ganzen  erscheint  der  Zahn  auch  bei 
dieser  Gruppe  als  mit  einer  kräftig  entwickelten  kegelförmigen  Krone 
ausgestattet. 

Es  manifestiert  sich  jedoch  die  Sonderstellung  des  Menschen 
in  keinem  Punkt  so  stark  als  in  der  hohen  morphologischen  Ausbildung 
seines  ersten  Milchmolaren.  Obgleich  individuelle  Verschiedenheiten 
in  deren  Ausbildungsgrad  nicht  selten  sind,  ist  jedoch  gewöhnlich 
dieser  Zahn  fünfhöckerig  und  stimmt  die  Kronenformel  mithin  mit 
jener  der  bleibenden  Molaren  überein.  Wenn  eine  Vereinfachung 
besteht,  dann  tritt  dieselbe  nur  an  der  vorderen  Hälfte  auf,  wo  die 
beiden  Tuberkel  zu  einem  einzigen  zusammentreten  können. 

Der  hohe  Grad  von  morphologischer  Entwicklung,  wozu  es  der 
erste  Milchmolar  beim  Menschen  gebracht  hat,  hat  den  Unterschied, 
der  zwischen  dem  homoigen  Zahn  und  dem  zweiten  Milchmolar  bei  den 
Anthropoiden  besteht,  verwischt.  Bei  dieser  Primatengruppe  ist  mü- 
der letztgenannte  Zahn  fünfhöckerig  und  es  ähnelt  der  erste  Milch- 
molar durch  seine  keglförmige  Krone  mehr  seinem  Nachfolger. 

Es  hat  nun,  wie  ich  meine,  der  hervorgehobene  Unterschied 
zwischen  dem  ersten  menschlichen  Milchmolar  und  dem  überein- 
stimmenden Zahn  der  Anthropoiden  einige  Bedeutung,  wenn  man  auf 
die  Ursache  achtet,  welche  vermutlich  diesen  Unterschied  bewirkt  hat. 
Die  Kronenstruktur  eines  Zahnes  ist  die  Folge  der  an  den  Zahn  gestellten 
Ansprüche.  Und  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  darf  man  sagen, 
daß  es  beim  ersten  Milchzahn  des  Menschen  die  essentielle  Molaren- 
funktion, d.  i.  der  Kauakt,  war.  der  die  latenten  morphogenetischen 
Potenzen  bei  diesem  Zahn  aktivierte  und  in  sukzessiver  Aufeinander- 
folgerung die  bekannten  Höcker  des  Proto-  und  Deuteromer  zur  Ent- 
faltung brachte.  In  stetig  progressiver  Entwicklung  nahm  der  ursprüng- 
lich gewiß  einhöckerige  Zahn  allmählich  die  vollständige  Gestalt  eines 
Mahlzahnes  an.  Warum  ist  das  nur  beim  Menschen  und  nicht  ebenso 
bei  den  Anthropomorphen  geschehen?    Jedes  Gebiß  wird  so  viel  Kau- 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzäline.  ,  11 


1(32  Viertes  Hanptstück. 

fläche  zur  Entwicklung  bringen,  als  für  die  richtige  Verkleinerung  des 
Futters  notwendig  ist.  Und  wenn  somit  beim  Menschen  eine  relativ 
größere  Kaufläche  im  Milchgebiß  zur  Entwicklung  gelangte  als  bei 
den  Anthropomorphen,  dann  darf  daraus  der  Schluß  gezogen  werden, 
daß  beim  Geschlecht  Homo  das  Individuum  höhere  Ansprüche 
an  seinen  Milchmolaren  stellt  als  bei  den  Anthropoiden.  Das  darf 
eine  rein  physiologische  Ursache  haben,  z.  B.  eine  mehr  vollkommene 
Verkleinerung  der  Nahrung  und  vollständigere  Durchtränkung  mit 
Speichel,  aber  es  kann  auch  noch  eine  ganz  andere  Ursache  daran  zu- 
grunde liegen,  nämlich  der  ziemlich  lange  Zeitraum,  während  welcher 
die  Milchmolaren  beim  Menschen  als  einzige  Mahlzähne  vorhanden  sind. 
Wenn  bei  den  Anthropoiden  der  erste  bleibende  Molar  kurz  nach  dem 
zweiten  Milchmolar  durchbricht,  besteht  bald  eine  hinlängliche  Mahl- 
fläche im  Munde  und  es  fällt  die  Ursache  hinweg,  welche  den  ersten 
Milchmolar  zu  einer  mehr  vollkommenen  Ausbildung  reizte.  Denn 
dann  üben  der  zweite  Milch  molar  und  der  erste  bleibende  Molar  die 
Funktion  aus,  welche  beim  Menschen  während  längerer  Zeit  den  beiden 
Müchmolaren  zuerkannt  war. 

Es  ist  nun  über  die  Frist,  die  zwischen  dem  Durchbruch  des  zweiten 
Milchmolaren  und  des  ersten  Dauermolaren  bei  den  Anthropomorphen 
verläuft,  leider  nichts  genaues  bekannt.  Auch  Selenka  schweigt  in 
seinen  bekannten  Arbeiten  über  diesen  Punkt.  Nur  auf  S.  86  seiner 
Studien  über  Entwicklung  und  Schädelbau  der  Menschenaffen  hebt 
der  Autor  hervor,  daß  bei  Orang  Utan  —  und  gleiches  soll  von  den 
übrigen  Anthropomorphen  gelten  -  -  der  zweite  Dauermolar  zeitiger, 
der  vordere  Prämolar  später  erscheint  als  beim  Menschen.  Die  Kau- 
flächen vergrößern  sich  also,  sagt  der  Autor,  rascher.  Diese  Tatsache 
nun  läßt  vermuten,  daß  relativ  auch  der  erste  Molar  früher  erscheint 
und  verhältnismäßig  schneller  an  dem  Kauakt  sich  beteiligt  als  beim 
Menschen.  Das  mir  vorliegende  Material  von  Anthropomorphen- 
schädeln,  gestattet  nicht  diese  Frage  auf  Grund  statistischer  Unter- 
suchungen zu  entscheiden,  und  auch  Radiogramme  von  Unterkiefern 
jüngerer  Menschenaffen,  wovon  ich  in  Tafel  III,  Fig.  11  (Orang), 
12  (Schimpanse)  und  13  (Hylobates)  einige  reproduziere,  haben  mir 
der  Entscheidung  nicht  näher  gebracht.  Aber  von  einem  der  ge- 
schwänzten altweltlichen  Affen  habe  ich  früher  den  Beweis  erbracht, 
daß  der  erste  Dauermolar  fast  unmittelbar  nach  dem  zweiten  Milch- 
molar durchbricht.  Man  findet  den  für  Macacus  cynomolgus  er- 
brachten Beweis  dafür  in  meiner  Untersuchung  über  den  Verschluß 
der  Schädelnähte  bei  den  Primaten1).  Es  ist  sehr  erwünscht,  daß  in 
dieser  Richtung  ausgiebige  Untersuchungen  angestellt  werden. 

Die  Verzögerung  des  Durchbruches  des  ersten  Molaren  beim 
Menschen  ist,  wie  ich  glaube,  als  die  Ursache  anzusehen,  weshalb  sein 
erster  Milchmolar  sich  kompensatorisch  vollständiger  entwickelte.  Die  Ur- 
sache, warum  der  erste  Dauermolar  erst  mehrere  Jahre  nach  dem  zweiten 
Milchmolaren  beim  Menschen  durchbricht,  ist  vielleicht  nur  eine  Teil- 
erscheinung der  generellen  Verzögerung  der  körperlichen  Entwicklung 
des  Menschen  im  Vergleich  zu  den  Anthropomorphen.  Daß  man  schließ- 
lich die  Struktur  des  ersten  Milchmolaren  beim  Menschen  nicht  als 
die  primitive  annehmen  darf  und  jene  der  Anthropomorphen  als  die 


1)  Zeitschr.  f.  Morph,  u.  Anthrop.,  Bd.  XV,  S.  58. 


Das  Unterkiefergebiß  der  Primaten.  Iß3 

vereinfachte,  leuchtet  schon  aus  der  Überlegung  ein,  daß  jene  Struktur 
uns  den  ersten  Milchmolaren  kennen  lernt  als  einen  wirklich  an  dem 
Kauakt  sich  beteiligenden  Zahn,  es  ist  eine  wesentliche  Kaufläche  zur 
Entwicklung  gekommen.  Und  das  kann  nur  sekundär  erfolgt  sein 
unter  dem  Einfluß  spezifischer  Momente,  welche  die  erbliche  Form- 
eigenschaften des  Zahnes  zur  völligen  Entfaltung  brachten. 

Hiermit  möchte  ich  meine  Übersicht  über  das  Unterkiefergebiß 
der  Primaten  abschließen,  um  zu  jener  des  Oberkiefers  überzugehen. 
Die  allgemeinen  Betrachtungen,  welche  sich  hier  und  da  in  diesem 
Hauptstück  finden,  sind  selbstverständlich  auch  geltend  für  das 
Gebiß  des  Oberkiefers.  Ich  brauche  dieselben  daher  nicht  zu  wieder 
holen. 


11" 


Fünftes  Hauptstück. 


Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten. 

Wir  fangen  gleich  mit  der  Besprechung  der  morphologischen  Er- 
scheinungen an  der  oberen  Zahnreihe  der  Urprimaten  an.  Es  scheint 
mir  am  zweckmäßigsten,  dabei  Ausgang  zu  nehmen  von  einer  Form, 
deren  Oberkiefergebiß  zu  den  bestbekanntesten  gehört,  nämlich  Hyop- 
sodus.  Die  Besonderheiten,  welche  die  oberen  Zähne  der  eocänen 
Primaten  in  Verbindung  mit  dem  Inhalt  der  Dimertheorie  darbieten, 
werden  dann  von  selbst  zur  Sprache  gebracht  werden  können. 

Für  die  Aufstellung  der  nachfolgenden  Kronenformel  dieses 
Genus  habe  ich  die  ausgezeichneten  Abbildungen  benutzt,  welche  sich 
in  dem  Artikel  von  Ösborn:  American  eocene  Primates  and  the 
supposed  rodent  family  Mixodectidae1)  finden.  Das  Gebiß  der  Hyop- 
sodidae  besitzt  bekanntlich  vier  Prämolaren  und  die  Kronenformel 
gestaltet  sich  folgendermaßen: 


Pr 

P2 

P. 

'• 

Mx 

M2 

M3 

P 

I   P  2 

1   P  2 

/   P  2 

1  Pa  Pp 
3  D  4{ 

I  Pa  Pp 
3  D  4i 

Pa  Pp 

D4 

3  D  i 

Die  obenstehende  Kronenformel  kehrt  mit  unwesentlichen  Unter- 
schieden auch  bei  den  Geschlechtern  Pelycodus  und  Notharctos  wieder, 
wie  aus  den  von  Osborn  gegebenen  Figuren  ersichtlich.  Nur  die  beiden 
protomeren  Nebenspitzen  i  und  2  wechseln  in  ihrem  Entwicklungs- 
grad bei  den  verschiedenen  Geschlechtern,  gleichwie  der  dritte  Molar. 
Das  beeinflußt  jedoch  den  Charakter  der  Formel  nicht. 

Es  sagt  uns  die  oben  gegebene  Kronenformel,  daß  Hyopsodus 
im  Oberkiefer  ein  Gebiß  besitzt,  dessen  Prämolaren  in  distaler 
Richtung  immer  komplizierter  werden.  Und  die  Komplizierung  ist 
derart,  daß  man  fast  die  ganze  Entwicklungsgeschichte  der  Ober- 
kieferzähne an  diesem  einzigen  Geschlecht  abzulesen  imstande  ist, 
denn  jeder  weiter  nach  hinten  liegende  Zahn  stellt  eine  höhere  Aus- 
bildungsstufe des  Zahnes  dar.  Der  erste  Prämolar  besteht  nur  aus 
einem  einfachen  seitlich  komprimierten  Kegel,  der  dem  Haupthöcker 
des  Protomer  entspricht.  Beim  zweiten  Prämolar  ist  an  der  Basis 
die  vordere  und  hintere  Kante  dieses  Kegels  mit  einer  niedrigen  Neben- 
spitze ausgestattet,  es  sind  die  beiden  protomeren  Nebenhöckerchen. 


1)  Bulletin  of  the  American  Museum  of  Natural  History  1902,  Vol.  XVI. 


Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten.  165 

Der  dritte  Prämolar  ist  in  transversaler  Richtung  verbreitert,  und  es 
hat  sich  an  der  lingualen  Seite  deutlich  eine  neue  Spitze  ausgebildet, 
die  nur  den  Haupthöcker  des  Deuteromer  darstellen  kann.  Und  beim 
vierten  Prämolar  ist  eine  deuteromere  Nebenspitze  hinzugekommen, 
und  zwar  die  hintere.  Es  ist  im  allgemeinen  Teil  ausdrücklich  darauf 
hingewiesen  worden,  daß  diese  Reihenfolge  im  Erscheinen  der  Spitzen 
bei  der  morphologischen  Entwicklung  des  deuteromeren  Zahnteiles 
Regel  bildet,  zuerst  tritt  der  Haupthöcker  auf,  sodann  die  hintere 
Nebenspitze  und  schließlich  die  vordere  Nebenspitze.  Letztere  ist 
nun  bei  den  Prämolaren  von  Hyopsodus  nicht  zur  Ausbildung  gelangt, 
und  in  dieser  Hinsicht  werden  wir  bei  den  rezenten  Halbaffen  Formen 
kennen  lernen,  bei  den  die  Prämolaren  eine  mehr  vollkommene  Aus- 
bildungsstufe erreicht  haben. 

Abgesehen  somit  vom  Fehlen  der  vorderen  deuteromeren  Neben- 
spitze bietet  uns  die  Prämolaren  reihe  von  Hyopsodus  ein  vollständiges 
Bild  von  der  sukzessiven  Entstehung  des  Kronenreliefs  der  Überkiefer- 
zähne. 

Die  oben  für  Hyopsodus  geschilderte,  sehr  systematische  Ver- 
vollkommnung der  Prämolarenkrone  scheint  bei  den  eoeänen  Primaten 
ziemlich  selten  zu  sein.  Gewöhnlich  sind  die  Unterschiede  zwischen 
zwei  aufeinanderfolgenden  Zähnen  etwas  größer,  was  zum  Teil  auf  die 
Verringerung  der  Prämolarenzahl  zurückzuführen  ist,  zum  Teil  auch 
darauf,  daß  der  letzte  Prämolar  eine  noch  höhere  Ausbildung  erlangen 
kann  als  bei  Hyopsodus,  wenn  nämlich  im  protomeren  Teil  der  Haupt- 
höcker sich  verdoppelt  und  der  Zahn  deshalb  mobilisiert  erscheint. 
Letzteres  ist  z.  B.  nach  den  Angaben  von  Schlosser  bei  Adapis  der 
Fall.  Von  diesem  Genus  sagt  der  genannte  Autor:  „J)er  Pr1  (das  ist  der 
hinterste  Prämolar  in  der  früheren  Bezeichnungsweise  von  Schlosser) 
besitzt  außerdem  noch  einen  zweiten  Außenhöcker"1).  Diese  Molari- 
sierung des  hintersten  Prämolaren  —  die  auch,  wie  wir  sehen  werden, 
bei  einem  rezenten  Halbaffen  vorkommt  —  findet  man  auch  bei  ameri- 
kanischen eoeänen  Primaten,  und  zwar  bei  einer  Form,  die  Osborn, 
1.  c.  S.  19  in  Figur  20C  abbildet,  und  als  zum  Geschlecht  Notharctos 
zugehörig  bezeichnet.  Ich  habe  früher  schon  Gelegenheit  gehabt  auf 
das  nicht  richtige  dieser  Bestimmung  hinzuweisen.  Ein  Tier,  dessen 
hinterster  Prämolar  zwei  Außenhöcker  in  gleichgroßer  Entwicklung 
zeigt,  darf  nicht  in  einem  Geschlecht  untergebracht  werden,  in  dem 
der  genannte  Zahn  nur  einen  einzigen  Außenhöcker  besitzt.  Abgesehen 
jedoch  von  dieser  unrichtigen  Bestimmung  verdient  die  Tatsache  er- 
wähnt zu  werden,  daß  auch  bei  neuweltlichen  eoeänen  Primaten  eine 
Molariesierung  des  hintersten  Prämolaren  zu  beobachten  ist.  Denn 
hieraus  geht  hervor,  wie  wenig  dieses  Merkmal  sich  eignet  als  Argu- 
ment für  eine  behauptete  genealogische  Beziehung  zwischen  älteren 
und  jüngeren  Formen. 

Wenn  man  nun  weiter  die  Kronenstruktur  der  oberen  Molaren 
bei  den  eoeänen  Primaten  betrachtet,  dann  zeigt  dieselbe  eine  Eigen- 
tümlichkeit, wodurch  dieselbe  sich  sofort  von  jenen  der  rezenten  Pri- 
maten unterscheidet,  und  welche  mehr  als  eine  andere  Erscheinung 
eine  Kluft  zwischen  beiden  Gruppen  bilden  würde,  wenn  nicht  gelegent- 
lich die  bezügliche  Eigenartigkeit  auch  bei  heutigen  Primaten,  sei  es 

1)  Affen,  Lemuren,  Chiropteren  usw.  des  europäischen  Tertiärs,  S.  24. 


166  Fünftes  Hauptstück. 

ausnahmsweise,  zur  Entwicklung  gekommen  wäre.  Wenn  man  die 
Beschreibung  der  oberen  Miliaren  von  eocänen  Primaten  in  der  Literatur 
verfolgt,  dann  wird  der  bezüglichen  Strukturerscheinung  immer  Er- 
wähnung  getan.  So  sagt  z.  B.  Schlosser,  1.  c.  S.  21  vom  Gebiß  von 
Hyopsodus:  Im  Oberkiefer  tragen  die  Molaren  außer  den  beiden 
Außenhöckern  (Pa  und  Pp.  mihi)  und  dem  ursprunglichen  Innen- 
höcker (D.  mihi)  noch  einen  zweiten  Innentuberkel,  der  bereits  eine 
ziemliehe  Stärke  erreicht  hat  (4  mihi)  und  außerdem  noch  zwei  Zwischen- 
tuberkel,  im  Zentrum  und  am  Vorderrande  des  Zahnes  gelegen1).  Es  er- 
scheinen  dann  auch  die  Molaren  sechshöckerig  und  bei  einer  starken 
Ausbildung  der  Höcker  hegen  diese  sechs  Höcker  zu  drei  Paaren  regel- 
mäßig nebeneinander.  „The  upper  molars",  sagt  Osborn  (1.  c.  S.  181) 
„progress  from  a  triangulär,  tritubercular  condition,  to  a  quadrate 
sexitubercular  condition."  Durch  die  Entwicklung  dieser  Zwischen- 
tuberkel erhalten  die  Zähne  der  eocänen  Primaten  eine  gewisse  Über- 
einstimmung mit  Ungulaten-Molaren,  und  es  ist  somit  von  Bedeutung, 
daß  wir  die  genetischen  Werte  derselben  feststellen,  denn  hierin  liegt, 
glaube  ich,  der  Schlüssel  für  die  Homologisierung  der  Höcker  der 
mehr  zusammengesetzten  Ungulaten-Molaren.  Eine  wirkliche  Hilfe 
leistet  dabei  der  Umstand,  daß  bisweilen  auch  bei  rezenten  Primaten 
die  homologen  Bildungen  noch  auftreten. 

Der  vordere  und  hintere  Zwischenhöcker  trägt  im  Cope-Osborn- 
schen  System  den  Namen  Protoconule  resp.  Metaconule,  und  Osborn 
erwähnt  ausdrücklich,  daß  sie  schon  an  den  Molaren  der  jurassischen 
Säugetiere  gelegentlich  beobachtet  wurden2). 

Über  die  systematische  Stellung  des  vorderen  Zwischenhöckers 
ist  nur  eine  Deutung  möglich,  es  kann  nämlich  nur  die  vordere  Neben- 
spitze des  Deuteromer,  also  die  j-Spitze  in  meiner  Nomenklatur  dar- 
stellen. Diese  Aussage  gründet  sich  auf  die  Lagerung  dieser  Spitze 
an  den  Prämolaren  der  Halbaffen,  welche  vollständig  übereinstimmt 
mit  dem  sogenannten  vorderen  Zwischenhöcker  der  Urprimaten. 
Ich  bringe  dazu  in  Erinnerung,  daß  im  Hauptstück  über  die  Ent- 
wicklung der  oberen  Zähne  mehrfach  ausdrücklich  hervorgehoben  ist, 
daß  die  vordere  deuteromere  Nebenspitze,  wenn  sie  bei  den  rezenten 
Halbaffen  in  Erscheinung  tritt,  nicht  nur  vor,  sondern  auch  immer 
etwas  bukkal  vom  deuteromeren  Haupthöcker  gelagert  ist.  Man 
vergleiche  dazu  z.  B.  die  Textfig.  23  und  24,  sowie  die  Tafelfiguren  5, 
6  und  7.  Im  allgemeinen  ist  bei  den  Prämolaren  der  Halbaffen  diese 
Spitze  mehr  am  Vorderrande  des  Zahnes  gelagert  und  nimmt  auch  an 
den  Molaren,  wenn  auch  nur  annähernd,  die  gleiche  Lagerung  ein. 
Bei  den  eocänen  Formen  dagegen  ist  die  Spitze  etwas  mehr  nach  dem 
Zentrum  des  Zahnes  gerückt,  liegt  mehr  in  der  Verbindungslinie  zwischen 
den  Höckern  D  und  Pa  und  ist  bei  den  Molaren  zu  einem  ziemlich 
konstanten  Element  des  Zahnreliefs  geworden.  Über  die  Deutung 
dieser  Spitze  braucht,  wie  ich  glaube,  kein  Zweifel  zu  bestehen.  Und 
sie  ist  dann  auch  in  der  oben  gegebenen  Kronenformel  von  Hyopsodus 
nach  der  oben  gegebenen  Deutung  bezeichnet  worden. 

Ganz  anderer  Natur  dagegen  ist,  wie  ich  meine,  der  hintere 
Zwischenhöcker,    der  in   seiner   Entwicklung   so   ganz   dem   vorderen 


1)  Ich  cursiviere. 

2)  Evolution  of  mammalian  Molar  Teeth,  p.  82,  Fußnote. 


Das  Oberkieferggbiß  der  Primaten.  167 

ähneln  kann  und  mit  diesem  in  so  symmetrischer  Beziehung  an  der 
Zusammensetzung  der  Kronenstruktur  beteiligt  sein  kann,  daß  man 
eine  übereinstimmende  genetische  Herkunft  hier  anzuerkennen  geneigt 
sein  könnte.  Und  dennoch  ist  dieses  nicht  der  Fall.  Der  vordere 
Zwischenhöcker  ist  eine  Primärbildung,  ist  eine  Spitze,  deren  Anlage 
als  solche  in  jedem  Zahnkeim  vorhanden  ist.  der  hintere  Zwischen- 
höcker dagegen  ist,  was  ich  als  eine  Pseudospitze  bezeichnen  möchte, 
hervorgegangen  aus  der  Schmelzleiste,  welche  vom  deuteromeren 
Haupthöcker  (D)  zum  protomeren  Höcker  Pp  zieht. 

Es  sind  früher  einige  kurze  Bemerkungen  eingeschaltet  winden 
über  das  ursprüngliche  Leistensystem  der  Oberkieferzähne,  und  ich 
hebe  daraus  noch  einmal  folgendes  hervor:  Das  einfachste  Leisten- 
system trifft  man  bisweilen  bei  solchen  Prämolaren,  an  denen  nur  die 
Haupthöcker  der  beiden  Odontomeren  entwickelt  sind.  Dann  zieht 
die  Leiste  („Protopecten"  habe  ich  sie  genannt)  in  transversaler  Rich- 
tung vom  Höcker  P  bis  D.  Wenn  sich  nun  der  Haupthöcker  P  zu 
dem  Zwillingshöcker  Pa,  Pp  differenziert  hat,  erscheint  die  einfache 
Leiste  wie  V-förmig  gespalten,  vom  Höcker  D  ziehen  in  divergierender 
Richtung  Schmelzkamme  zu  den  Höckern  Pp  und  Pa  hin.  Es  ist  nun 
der  hintere  Zwischenhöcker  an  den  Molaren  der  eoeänen  Primaten  nichts 
anderes  als  eine  lokale  Verdickung  im  hinteren  Bein  dieses  V-förmigen 
Leistensystems.  Diese  Spitze  darf  somit  in  genetischer  Beziehung 
mit  den  übrigen  nicht  als  gleichwertig  betrachtet  werden,  denn  sie 
entspricht  nicht  einer  erblichen  Anlagepotenz  im   Säugerzahnkeim1). 

Die  oben  gegebene  Deutung  des  hinteren  Zwischenhöckers  gründet 
sich  hauptsächlich  auf  Beobachtungen  am  Gebiß  heutiger  Primaten. 
Denn,  wie  schon  erwähnt,  tritt  dann  und  wann  an  den  Molaren  bestimmter 
Halbaffen  und  Affen  der  hintere  Zwischenhöcker  noch  auf  an  der 
Stelle  der  Schmelzleiste,  die  bei  verwandten  Spezies  oder  sogar  bei 
anderen  Individuen  der  nämlichen  Art  vom  deuteromeren  Haupthöcker 
D  zum  protomeren  Höcker  Pp  zieht.  Laut  einer  Angabe  von  Schlosser 
sollten  beim  Geschlecht  Callithrix  Zwischenhöcker  an  den  oberen 
Molaren  zu  beobachten  sein.  Von  diesem  amerikanischen  Affen  ist 
mir  das  Gebiß  aus  eigener  Wahrnehmung  nicht  bekannt,  aber  beim 
Geschlecht  Ateles  zeigt  bisweilen  die  hintere  Schmelzleiste  der  oberen 
Molaren  in  seiner  Mitte  eine  deutliche  Anschwellung,  welche  ich  dann 
auch  an  der  betreffenden  Figur  auf  Tafel  I  zum  Ausdruck  gebracht  habe. 
Einen  sehr  schönen  Fall  der  Entwicklung  eines  hinteren  Zwischen- 
höckers traf  ich  am  Gebiß  eines  jungen  Cebus  hypoleucos,  der  sich 
noch  im  Zahnwechsel  befand.  Auf  Tafel  III,  Fig.  14  gebe  ich  von  diesem 
Gebiß  eine  photographische  Aufnahme.  Der  Zwischenhöcker  erscheint 
statt  der  Leiste,  welche  an  dem  Molaren  anderer  Cebusindividuen 
sich  vorfindet,  gleichsam  als  das  etwas  erhabene  Mittelstück  von 
letzterer.  Es  kommt  nur  an  dem  ersten  Molaren  vor  und  ist  an  der 
linken  Seite  kräftiger  entwickelt  als  an  der  rechten.  Häufiger  ist 
dieser  intermediäre  Höcker  am  Gebiß  von  Mycetes  aufzufinden. 
In  Fig.  15,  auf  Tafel  III  ist  ein  Gebiß  von  Mycetes  seniculus  wieder- 
gegeben, an  dem  dieser  Höcker  beiderseitig  sehr  schön  entwickelt 
war  am  ersten  und  zweiten  Molaren.     Unter  den  Halbaffen  traf  ich 


1)  In  der   Kronenformel  von   Hyopsodus  ist  dieser  Zwischenhöcker  mit  / 
bezeichnet  worden. 


168  Fünftes  Hauptstück. 

den  hinteren  Zwischenhöcker  an  beim  ersten  und  zweiten  Molaren 
eines  Hemigalago  Demidoffi  (man  vgl.  die  diesbezügliche  Figur  auf 
Tafel  1)  und  weiter  an  den  beiden  vordersten  Molaren  eines  Hapalemtir. 
Doch  in  allen  diesen  Kälten  handelt  es  sich  offenbar  entweder  um  eine 
individuelle  Variation  oder  um  eine  stark  regressive  Bildung.  Es  sind 
aber  diese  Fälle  für  die  richtige  Interprätation  des  bei  den  eocänen 
Primaten  so  häufig  auftretenden  Höckers  von  der  höchsten  Bedeutung. 
Denn  es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  durch  die  ziemlich  regelmäßige  Ent- 
wicklung desselben  das  Gebiß  der  letztgenannten  Affen  ein  charakte- 
ristisches Gepräge  erlangt.  Denn  der  eocäne  Molar  besitzt  dadurch 
einen  mehr  komplizierten  Charakter  als  jener  der  jüngeren  Formen. 
Diese  Besonderheit  ist  jedoch  nicht  so  befremdend,  wenn  man  sich 
erinnert,  daß  gleiches  auch  für  die  unteren  Molaren  gilt.  Auch  von 
diesen  konnte  nachgewiesen  werden,  daß  Vereinfachung  der  Struktur 
gerade  das  Hauptmerkmal  der  späteren  Entwicklung  war.  Und  daß 
die  homologen  Vorgänge  im  Ober-  und  Unterkiefer  miteinander  in 
korrelativer  Beziehungstehen,  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln. 

In  seinen  mehrfach  zitierten  Arbeiten  über  die  Affen  usw.  des 
europäischen  Tertiärs  erwähnt  auch  Schlosser  an  mehreren  Stellen 
die  Zwischenhöcker  der  bekanntlich  von  ihm  so  genannten  Pseudo- 
lemuriden,  und  1.  c.  S.  50  spricht  der  Autor  die  Vermutung  aus, 
daß  bei  den  Affen  ,, diese  Zwischenhöcker  von  den  Innenhöckern 
absorbiert  worden  sind,  doch  ist  bis  jetzt  noch  keine  Form  bekannt, 
an  welcher  dieser  Prozeß  direkt  zu  sehen  wäre".  Aus  dem  Oben- 
stehenden geht  hervor,  daß  diese  Vermutung  von  Schlosser  nicht 
richtig  ist,  der  vordere  Zwischenhöcker  ist  die  vordere  deuteromere 
Nebenspitze  und  tritt,  wie  wir  bald  näher  zeigen  werden,  auch  an 
den  Molaren  gewisser  Halbaffen  noch  auf,  ja  kann  sogar  als  individuelle 
Variation  auch  am  ersten  Molar  des  Menschen  noch  zur  Entwicklung 
gelangen.  Der  hintere  Zwischenhöcker  ist  nicht  vom  hinteren  lingualen 
Höcker  absorbiert  worden,  sondern  hat  sich  bei  den  rezenten  Primaten 
abgeflacht  und  liegt  potentia  in  der  Crista  obliqua  —  die  von  D  bis  Pp 
ziehende  Kamme  —  versteckt. 

Der  Verlust  der  beiden  intermediär  gestellten  Höcker  der  eocänen 
Primaten  hat  sich  —  wenn  wir  von  dem  gelegentlichen  Auftreten  bei 
rezenten  Formen  absehen  -  -  offenbar  bei  allen  Nachfolgern  dieser 
Stammformen  vollzogen.  Wir  vermissen  dieselben  fast  ausnahmslos 
bei  den  rezenten  Primaten,  sogar  bei  jenem  Geschlecht,  dessen  Ver- 
wandtschaft zu  einem  der  eocänen  Geschlechter  noch  am  meisten  ge- 
sichert ist.  Ich  meine  Tarsius.  Es  wird  wohl  allgemein  eine  nähere 
Beziehung  zwischen  diesem  Geschlecht  und  dem  eocänen  Anaptomorphus 
angenommen,  nachdem  Cope  zuerst  für  diese  Verwandtschaft  einge- 
treten ist.  Und  zweifellos  weist  der  Habitus  des  Gebisses  als  Ganzes 
und  die  große  Übereinstimmung  zwischen  den  einzelnen  Zähnen  bestimmt 
in  dieser  Richtung  hin.  Nun  ist  es  merkwürdig,  daß,  wenn  man  das 
Gebiß  beider  Formen  vergleicht,  nur  ein  einziges  wesentliches  Unter- 
scheidungsmerkmal besteht;  Anaptomorphus  besitzt  nämlich  noch 
am  ersten  und  zweiten  Molaren  die  Zwischenhöcker  und  bei  Tarsius 
ist  keine  Spur  davon  mehr  anzutreffen.  Sie  sind  vollständig  geschwunden. 
Ich  stelle  zum  Beweise  davon  in  Fig.  60  die  Abbildungen  beider  Gebisse 
nebeneinander.  Jene  von  Anaptomorphus  entlehne  ich  der  Osbor ti- 
schen Abhandlung:  American  eocene  Primates,    wo  das   Gebiß  jenes 


Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten. 


169 


berühmten  Tierchens  in  Fig.  25  vollständig  in  vergrößertem  Maßstabe 
abgebildet  ist. 

Mit  dieser  Nebeneinanderstellnng  beider  Gebisse  bezwecke  ich  gar 
nicht  Einspruch  gegen  die  behauptete  Verwandtschaft  beider  Formen 
zu  erheben,  vielmehr  möchte  ich,  unter  Hinweis  auf  diese  Verwandtschaft, 
ins  Licht  treten  lassen,  welcher  geringe  Wert  den 
beiden  „Zwischenhöckern"  für  genealogische  Be- 
stimmungen zukommt,  eben  weil  der  vordere  nur 
die  Dignität  einer  primitiven  Nebenzacke  hat  und  der 
hintere  nicht  einmal  ein  wahrer  Höcker  ist,  sondern 
als  Bild  imgsprodukt  einer  Schmelzleiste  einen  Pseudo- 
höcker  darstellt.  Daß  diese  „Zwischenhöcker'1  bei 
anderen  Säugergruppen  einer  progressiven  Entwick- 
lung unterliegen,  ist  mit  ihrer  genetischen  Bedeutung 
nicht  unvereinbar,  sehen  wir  doch  z.  B.,  daß  bei 
den  Primaten  ebenfalls  eine  ursprüngliche  Neben- 
spitze —  die  hintere  deuteromere  -  als  hinterer 
lingualer  Höcker  den  ursprünglichen  Haupthöckern  schließlich  an 
Umfang  gleichkommt.  Hiermit  breche  ich  die  Besprechung  der  eoeänen 
Primaten  ab  und  wende  mich  zu  den  rezenten  Halbaffen. 

Die   untenstehende  Tabelle   bringt   die    Kronenformel   der  näm- 
lichen Prosimiae,  von  denen  früher  die  Formeln  der  Unterkieferzähne 

Kronenformel  der  oberen  Zähne  bei   Halbaffen. 


Fig.  60.  .a  Anapto- 
morphus  bonunculus, 
b   Tarsius    spectrum. 


/,          *\            P* 

Afx               M,               Mz 

Stenops  graeihs 

Nycticebus  tardigradus  .    . 
Cheirogaleus  Smithii .    .    . 
Galago  senegalensis    .    .    . 
Hemigalago  Demidoffi  .    . 

Avahis  laniger 

Propithecus  diadema      .    . 

Indris  brevic : 

Lemur  catta 

I  P  2 
I  P  2 
I  P2 
I  P  2 
I  P  2 
I  P  2 

I  P  2 

I  P  2 

I  P  2 

1  Pa  Pp  2 

Pa  Pp 

D 

1  Pa  Pp  3 

Pa  Pp 

D 

I  P  2 

D 

I  P  2 

D 

1  Pa  Pp  2 

D 

1  Pa  Pp 

D4 

I    P2 

3D  4 

I    P  2 

3V4 
1  PaPp  2 

3D4 

1  Pa  Pp 

D4 
1  Pa  Pp 

D 

I  P  2 
I  P  2 

D 

I  P  2 

D4 

I   P  2 

D4 

PaPp 

D4 

1  Pa  Pp  2 

D4 

Pa  Pp 

D4 

1  Pa  Pp  2 

D 

PaPp 

D 

i  Pa  Pp  2 

D 

1  Pa  Pp 

3^4 
1  Pa  Pp  2 

3D4 

1  Pa  Pp  2 

3D4 
1  Pa  Pp2 

T>4 
1  Pa  Pp 

D 

I  P  2 
I  P  2 
I  P  2 
I  P  2 

3D4 

1  P  2 

1  P  2 

3D4 

I  Pa  Pp  2 

3D4 
1  Pa  Pp2 

3D4 
PaPp 

3D4 
1  Pa  Pp  2 

3D4 
1  Pa  Pp2 

D 

Pa  Pp 

D 
1  P  2 

3D4 
1  PaPp 

D4 

1  Pa  Pp 

D 

Pa  Pp 

D 

1  P  2 

3^4 

1  Pa  Pp 

D4 

1  Pa  Pp 

D4 
Pa  Pp 

D 

D 

D 

D 

D 

170  Fünftes  Hauptstück. 

gegeben  sind.  Der  erste  Prämolar  erweist  sich  bei  allen  als  eine  rein 
protomere  Bildung,  denn  bei  keinem  der  untersuchten  Schädel  fand 
ich  ;m  diesem  Zahne  die  geringste  Spur  eines  lingualen  Höckerchens- 
Ich  mache  an  dieser  Stelle  noch  einmal  auf  den  Unterschied  aufmerksam 
zwischen  der  Formel  des  ersten  Prämolaren  am  Ober-  und  Unterkiefer. 
Auch  am  Unterkiefer  besitzt  der  Zahn  nur  eine  einfache  komprimierte 
kegelförmige  Kronenspitze.  Aber  diese  muß  ein  Bildungsprodukt 
beider  Odontomeren  sein,  denn  bei  Komplizierung  spaltet  sich  diese 
Spitze  in  eine  bukkale  und  linguale  Hälfte,  welche  sich  dann  weiter  zu 
dem  P-Höcker  resp.  D-Höcker  ausbilden.  Im  Oberkiefergebiß  dagegen 
tritt  der  D-Höcker,  wenn  er  erscheint,  sofort  als  ein  zwar  unansehn- 
liches, aber  dennoch  selbständiges  Höckerchen  auf,  ganz  unabhängig 
vom  bestehenden  Höcker,  der  also  nur  der  Haupthöcker  des  Protomer 
vergegenwärtigen  kann.  Daher  der  Unterschied  in  den  Kronenformeln 
beider  ersten  Prämolaren.  Fast  immer  sind  auch,  sei  es  in  sehr 
wechselnder  Entwicklung,  die  beiden  protomeren  Nebenspitzchen  an- 
wesend. Es  bietet  daher  der  bezügliche  Zahn  keine  wesentliche  Diffe- 
renzen bei  den  Halbaffen.  Nur  die  Relation  zwischen  Länge  und  Höhe 
der  kegelförmigen  Spitze  wechselt.  Man  bekommt  den  Eindruck, 
daß  es  sich  hier  um  einen  Zahn  handelt,  der  noch  allgemein  die  ursprüng- 
liche Form,  welche  er  schon  bei  den  eoeänen  Primaten  besitzt,  be- 
wahrt hat. 

Gleiches  gilt  noch  bei  der  Mehrzahl  der  Halbaffen  für  den  zweiten 
Prämolaren,  obgleich  hier  schon  Differenzen  zwischen  den  verschiedenen 
Gruppen  zu  konstatieren  sind.  Die  vornehmste  davon  wird  bedingt 
durch  die  Verminderung  der  Prämolaren  bei  den  Indrisinae.  Der  P3 
hat  infolgedessen  die  einfache  Struktur  des  P2  bei  den  übrigen  Halb- 
affen angenommen.  Indem  man  somit  bei  den  meisten  Prosimiae  eine 
höhere  morphologische  Ausbildung  von  P3  konstatiert,  durch  das 
Auftreten  des  deuteromeren  Haupthöckers  verursacht,  besitzt  der 
übereinstimmende  Zahn  bei  den  Indrisinae  eine  Kronenstruktur  wie 
der  P2  bei  den  übrigen  Halbaffen.  Haben  wir  es  hier  mit  einer  Verein- 
fachung zu  tun,  einer  Anpassung  der  Form  an  eine  Funktion,  welche 
nur  infolge  von  Reduktion  des  einst  vorhanden  gewesenen  lingualen 
Höckers  zustande  kommen  konnte  ?  Wenn  man  ins  Auge  faßt,  daß 
die  übergroße  Mehrzahl  der  Prosimiae  einen  P3  mit  einem  lingualen 
Höcker  (D)  besitzen  und  dazu  in  Betracht  zieht,  daß  die  Indrisinae 
gewiß  nicht  auf  die  niedrigste  Entwicklungsstufe  in  der  Reihe  der 
Prosimiae  stehen,  dann  möchte  man  wohl  geneigt  sein,  den  P3  dieser 
Gruppe  für  eine  simplifizierte  Form  anzusehen.  Und  dann  bietet  dieser 
Fall  einen  neuen  Beleg  für  die  schon  öfters  gestellte  Behauptung,  daß 
bei  Vereinfachung  die  Kronenstruktur  zu  einer  phylogenetisch  früher 
durchlaufenen  Formstufe  zurückkehrt.  Eine  einfache  Struktur  ist 
daher  nicht  notwendig  der  Ausdruck  der  Persistenz  einer  primitiven 
Entwicklungsstufe. 

Der  P4  ist  fast  immer  durch  eine  mehr  vollständige  Kronen- 
entwicklung gekennzeichnet  als  der  vorangehende.  Diese  höhere  Aus- 
bildung wird  aber  durch  das  Hinzukommen  verschiedener  Höcker 
erreicht.  War  an  P3  der  ^-Höcker  schon  angelegt,  dann  kommt  bei 
P4  die  vordere  deuteromere  Nebenspitze  hinzu,  war  an  P3  im  Deute- 
romer  noch  kein  Höcker  entwickelt,  dann  erscheint  an  P4  der  Haupt- 
höcker  dieses  Odontomer  usw.     Die   höhere  Entwicklung,   welche  P4 


Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten.  171 

dem  P3  gegenüber  zeigt,  folgt  somit  der  Reihenfolge  in  dem  Auftreten 
der  Höcker,  welche  wir  im  allgemeinen  Teil  kennen  gelernt  haben. 

Eine  ganz  besondere  Stelle  nimmt  bezüglich  der  Differenzierung 
seiner  Prämolarenreihe  das  Geschlecht  Galago  und  Hemigalago  ein. 
Denn  wie  aus  der  Kronenformel  in  der  Taljelle  ersichtlich,  ist  bei  diesen 
Halbaffen  der  hintere  Prämolar  vollständig  molarisiert.  Sie  zeigen  die 
höchste  Entwicklung,  welche  die  Primatenzähne  überhaupt  erreichen 
können,  wenn  man  das  Auftreten  eines  Carabellischen  Höckerchens 
außer  acht  läßt.  Vom  Deuteromer  sind  sowohl  der  Haupthöcker  als 
auch  die  beiden  Nebenspitzen  anwesend,  während  im  protomeren  Teil 
des  Zahnes  der  Haupthöcker  in  der  Zwillingsform  anwesend  ist;  der 
Zahn  besitzt,  wie  es  in  der  Literatur  heißt,  zwei  bukkale  Tuberkel. 
Diese  Eigentümlichkeit  im  Galagogebiß  ist  schon  durch  Mivart  be- 
schrieben worden1).  ,,The  third  upper  premolar,  has  two  large  and 
pretty  equally  developed  external  cusps  as  have  also  the  molars" 
(1.  c.  S.  619).  Eine  Tatsache,  die  offenbar  Huxley,  der  ebenfalls  eine 
Beschreibung  des  Gebisses  der  Galaginae  gibt2),  entgangen  zu  sein 
scheint,  wenigstens  der  Autor  erwähnt  dieselbe  nicht.  Auch  von  späteren 
Autoren  ist  diese  Struktur  des  hinteren  Prämolaren  von  Galago  über- 
sehen worden,  denn  bekanntlich  beruft  z.  B.  Schlosser  sich  auf  die 
Tatsache,  daß  bei  den  eocänen  Primaten  der  hinterste  Prämolar  molari- 
siert sein  kann,  während  es  bei  den  rezenten  Halbaffen  niemals  der 
Fall  sein  sollte,  um  seine  Ansicht  zu  begründen,  daß  die  eocänen  Primaten 
nicht  als  die  Stammformen  der  heutigen  Halbaffen  angesehen  werden 
dürfen.  Durch  Leche  ist  unter  Hinweis  auf  Galago  das  Unrichtige 
dieser  Argumentierung  schon  betont  worden.  Ich  schließe  mich  in 
dieser  Hinsicht  dem  letztgenannten  Autoren  völlig  an.  Zwischen  dem 
<  »berkiefergebiß  der  eocänen  Primaten  und  jenem  der  heutigen 
Halbaffen  ist  das  hauptsächlichste  Differenzmerkmal,  das  Auftreten 
des  hinteren  Zwischenhöckers,  welches  bei  den  erstgenannten  Formen 
so  überaus  häufig  ist.  Aber,  wie  früher  schon  betont,  auch  bei  den 
rezenten  Prosimiae  tritt  diese  eigentümliche  Bildung  bisweilen  auf, 
so  daß  eigentlich  zwischen  den  Gebissen  beider  Gruppen  nur  graduelle 
Verschiedenheit  in  der  Entwicklung  der  Spitzen  zu  verzeichnen  ist, 
und  kein  einziges  prinzipielles  Differenzmerkmal  zwischen  ihnen  aus- 
findig zu  machen  ist.  Gegen  eine  Ableitung  der  heutigen  Lemuren 
von  den  bekannten  eocänen  Primaten  kann  man  somit  am  Gebiß  kein 
Argument  entnehmen. 

Die  Molaren  der  Halbaffen  lassen  sich  im  allgemeinen  ihrer  Ge- 
stalt nach  in  zwei  Gruppen  einteilen,  es  gibt  eine  trianguläre  Form 
und  eine  mehr  viereckige.  Erstgenannte  Form  ist  ziemlich  selten, 
findet  sich  in  ausgesprochener  Weise  nur  bei  Tarsius  und  beim 
Geschlecht  Lemur.  Das  Zustandekommen  dieser  Form  ist  an  der 
geringen  Entfaltung  des  deuteromeren  Abschnittes  des  Zahnes  ge- 
knüpft, der  nur  durch  den  Haupthöcker  vertreten  ist.  Ob  man  es  hier 
mit  primitiven  Formen  zu  tun  hat,  scheint  mir  nicht  so  leicht  zu  ent- 
scheiden zu  sein.  Ich  meine,  es  empfiehlt  sich,  die  Geschlechter,  bei 
denen  diese  einfache  Molarenstruktur  anwesend  ist,  zu  trennen  und 


1)  St.  George  Mivart,  Note  on  the  Crania  and  Dentition  of  the  Lemuridae. 
Proc.  Zool.  Soc.    London  1864. 

2)  T.  H.  Huxley,  On  the  Arctoeebus  calabarensis.    Proc.  Zool.  Soc,  p.  314. 
London  1864. 


172  Fünftes  Hauptstück. 

Tarsius  auf  diese  Frage  gesondert  vom  Geschlecht  Lomir  zu  unter- 
suchen. Es  scheint  mir  auf  Grund  der  großen  Übereinstimmung, 
vermutlich  wohl  der  Verwandtschaft,  zwischen  Tarsius  und  Anapto- 
morphus,  dn  ebenfalls  im  Besitze  dreieckiger  Molaren  war,  nicht  un- 
annchmlich.  daß  der  Zustand  bei  Tarsius  ein  primitiver  ist.  Aber,  wie 
ich  früher  schon  ausführlich  auseinandergesetzt  habe,  es  fehlt  ein 
zuverlässiges  Mitlei.  um  zu  entscheiden,  ob  ein  Zahn,  an  dem  nur  die 

Pa  Pi> 
drei  Haupthöcker  entwickelt  sind,  also  mit  der  Kronenformel  — j~- 

einen  sehr  ursprünglichen  Zustand  beibehalten  hat  oder  auf  dem  Wege 
der  Vereinfachung  sich  findet  und  daher  eine  alte  Gestalt  aufs  Neue 
angenommen  hat.  Das  gilt  besonders  für  die  Molaren  vom  Geschlecht 
Lemur,  von  denen  ich  am  meisten  geneigt  bin,  letzteres  anzunehmen. 
Wir  haben  hier  zu  tun  mit  Formen  mit  stark  verlängerter  Schnauze, 
auch  der  Unterkiefer  ist  infolgedessen  sehr  lang  geworden,  zwischen 
den  Prämolaren  haben  sich  daher  Diastemata  entwickelt  und  die  unteren 
Molaren  sind  ziemlich  in  die  Länge  gezogen  und  schmal  geworden. 
Die  Verlängerung  d#r  Schnauze,  welche  auch,  nach  den  Untersuchungen 
von  Forsyth  Mayor,  die  Verschiebung  des  Canalis  laerymalis  aus  der 
Orbita  auf  den  fazialen  Teil  des  Schädels  zur  Folge  hat,  macht  ihren 
Einfluß  also  auch  auf  die  Unterkieferzähne  geltend.  Und  wenn  man 
die  Okklusions weise  der  beiden  Gebißreihen  näher  untersucht,  dann 
scheint  es,  als  hätten  sich  die  oberen  Molaren,  durch  Verlust  des  hinteren 
lingualen  Höckers  und  starker  Ausbildung  des  Cingulum  inklusive  Cara- 
bellisches  Höckerchen,  der  Verlängerung  der  unteren  Molaren  angepaßt. 
Es  scheint  mir  also,  was  das  Gebiß  von  Lemur  betrifft,  am  annehm- 
lichsten, die  dreieckige  Form  als  eine  Reduktionserscheinung  zu  deuten, 
wie  es  z.  B.  zweifelsohne  der  Fall  ist  beim  zweiten  oberen  Molar  des 
Menschen,  der  bekanntlich  nicht  selten  zum  Dreihöckertypus  redu- 
ziert ist. 

Die  Molaren  der  übrigen  Halbaffen  sind  mehr  oder  weniger  vier- 
eckig, da  die  hintere  Nebenspitze  vom  Dcuteromer  anwesend  ist  und 
bei  gewissen  Geschlechtern  (Indrisinae)  dem  Haupthöcker  D  sogar 
schon  an  Umfang  gleichkommen  kann. 

Der  dritte  Molar  zeigt  nicht  selten  eine  deutliche  Reduktion. 
Fast  immer  ist  er  kleiner  als  die  vorangehenden,  verrät  dazu  durch 
iU'n  Verlust  von  Höckern  seine  geringere  Beteiligung  an  der  Gebiß- 
aktion. Und  es  braucht  kaum  noch  einmal  besonders  betont  zu  werden, 
daß  es  die  hintere  deuteromere  Nebenspitze  ist,  welche  an  diesem 
Molar  verloren  geht.  Immer  wieder  tritt  von  neuem  die  morphogene- 
tische  Ungleichwertigkeit  dieser  Nebenspitze  mit  den  Haupthöckern 
zutage.  Die  Reduktion  des  dritten  Molaren  kann  sogar  noch  weiter 
gehen,  so  daß  nur  die  beiden  primitiven  Haupthöcker  übrig  bleiben. 
Einen  solchen  Fall  habe  ich  nicht  beobachtet,  aber  Huxley  (1.  c, 
S.  324)  schreibt  von  Perodicticus  potto:  the  third  upper  molar  has  a 
transversaly  elliptical  crown  which  has  only  two  cusps,  the  posterior 
external  and  the  posterior  internal  having  disappeared". 

Die  beiden  protomeren  Nebenspitzen  sind  in  ihrer  Entwicklung 
sehr  variabel  und  die  Entscheidung,  ob  sie  da  sind,  wird  oftmals  von 
persönlicher  Auffassung  abhängig  sein.  Es  ist  wohl  merkwürdig,  daß 
die  beiden  protomeren  Nebenspitzen  in  der  ganzen  Entwicklungs- 
geschichte des  Zahnes  eine  so  untergeordnete  Rolle  spielen.   Zur  Charak- 


Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten.  173 

teristik,  wenigstens  der  Molaren,  tragen  sie  niemals  bei.  und  das  darf 
wohl  als  der  Grund  angesehen  werden,  daß  ihnen  bis  jetzt  in  den  Ent- 
wicklungstheorien der  Zahnform  keine  Beachtung  zuteil  geworden 
ist.  Es  scheint  als  hätte  das  Protomer  mit  der  Ausbildung  der  Zwillings- 
höcker Pa  Pp  bei  den  Primaten  das  höchst  Erreichbare  geleistet. 
Bei  anderen  Säugern,  z.  B.  Carnivoren,  spielen  die  protomeren  Neben- 
spitzen eine  ungleich  wichtigere  Rolle  im  Zustandekommen  der  Zahn- 
form. Größere  Verschiedenheit  bieten  dagegen  die  beiden  deutero- 
meren  Nebenspitzen.  Von  dem  Betragen  des  hinteren  -  -  dem  4- 
Höcker  —  sind  wir  bei  den  Prosimiae  schon  unterrichtet.  Der 
vordere  --  der  3-Höcker  —  ist  in  seinem  Entwicklungsgrad  ziemlich 
schwankend,  bald  fehlt  er,  wie  bei  Lemur,  Tarsius,  Nycticebus, 
Cheirogaleus,  bald  ist  er  sogar  kräftig  entwickelt  und  verleiht  dann 
dem  Molar  ein  charakteristisches  Gepräge.  So  z.  B.  an  dem  ersten 
Molar  der  Indrisinae,  besonders  von  Indris  (bei  Avahis  ist  er  auch  noch 
am  zweiten  Molar  da),  an  dem  er  sich  in  der  Mitte  des  Vorderrandes 
erhebt.  Unmittelbar  fällt  dann  die  Ähnlichkeit  auf  dieses  Tuberkel 
mit  dem  sogenannten  vorderen  Zwischenhöcker  der  eocänen  Primaten, 
die,  wie  an  geeigneter  Stelle  erwähnt,  in  der  Tat  als  die  vordere  deutero- 
mere  Nebenspitze  betrachtet  werden  muß, 

Von  dem  hinteren  Zwischenhöcker  an  den  Molaren  der  eocänen 
Primaten  habe  ich  bei  der  Besprechung  dieser  Gruppe  meine  Ansicht 
schon  ausgesprochen.  Ich  glaube,  es  ist  ein  Pseudotuberkel,  ein  Bil- 
dungsprodukt, gleichsam  eine  Konzentrierung  der  hinteren  schrägen 
Schmelzkamme,  welche  vom  Höcker  D  zum  Höcker  Pp  zieht.  An  dieser 
Stelle  möchte  ich  noch  kurz  darauf  zurückkommen,  da,  wie  schon 
mehrfach  erwähnt,  diese  Bildung  auch  bei  Halbaffen  auftritt.  Bei 
Hemigalago  zeigt  die  bezügliche  Leiste  in  der  Mitte  eine  geringe 
Anschwellung.  Diese  Molaren  sind  jedoch  so  klein,  daß  sie  kaum 
als  ein  einspruchfreies  Material  zu  verwerten  sind.  Glücklicherweise 
besitzen  wir  jedoch  in  Hapalemur  eine  Form,  die  das  Auftreten 
des  hinteren  Zwischenhöckers  der  eocänen  Primaten,  auch  bei  re- 
zenten Halbaffen,  unumstößlich  nachweist.  Es  sind  von  Hapa- 
lemur zwei  Spezies  bekannt:  Hapalemur  griseus  und  Hapalemur 
simus.  Von  Beddard  sind  die  Schädel  beider  Arten  einer  eingehenden 
Vergleichung  unterzogen  worden1).  Es  wurde  dabei  auch  besonders 
auf  das  Gebiß  geachtet,  und  in  vergrößertem  Maßstabe  bildet  der  Autor 
einen  Molar  von  Hapalemur  simus  ab,  an  dem  der  hintere  Zwischen- 
höcker in  kräftiger  Ausbildung  zu  sehen  ist.  Merkwürdig  ist,  daß  dieser 
Zwischenhöcker  nach  der  Beschreibung  und  Abbildung  von  Beddard 
nur  bei  Hapalemur  simus  vorkommen  sollte,  bei  Hapalemur  griseus  aber 
fehlt.  Mir  liegt  ein  junger  Schädel  vor,  der,  laut  der  Angabe,  von  einem 
Hapalemur  griseus  herstammen  soll2).  Die  Milchmolaren  sind  noch 
nicht  gewechselt,  der  erste  permanente  Molar  ist  schon  völlig  entwickelt, 
hat  sich  aber  offenbar  an  dem  Kauakt  noch  wenig  beteiligt.  Über- 
einstimmend mit  der  Abbildung  von  Beddard  findet  sich  nun  zwischen 
dem  Z)-Höcker  und  dem  P/>-Höcker  ein  intermediäres  Tuberkel,  das 


1)  F.  E.  Beddard,  Notes  on  the  Broad-nosed  Lemur  (Hapalemur  simus). 
Proc.  Zool.  Soc,  p.  121.    London  1901. 

2)  Es  sind  an  diesem  Schädel  nicht  zwei,  sondern  zu  jeder  Seite  drei  Incisivi 
anwesend.  Es  macht  den  Eindruck,  als  sei  ein  permanenter  Incisivus  zwischen  den 
beiden  Milchincisivi  durchgebrochen. 


174 


Fünftes  Hauptstück. 


die  Crista  obliqua  vertritt.  Ich  möchte  es  dahingestellt  sein  lassen,  ob  es 
sich  hier  um  eine  individuelle  Variation  innerhalb  der  Spezies  Hapa- 
lemur  griseus  handelt,  oder  ob  der  Schädel  nicht  von  einem  Hapa- 
lemur  griseus,  sondern  von  einem  Hapalemur  simus  stammt.  Der  Schädel 
ist  noch  zu  jung,  um  mit  Hilfe  der  Beddardschen  Beschreibung  eine 
Entscheidung  zu  treffen.  Im  Vorübergehen  sei  darauf  aufmerksam 
gemacht,  daß  Beddard  eine  nicht  richtige  Interprätation  des  Zwischen- 
höckers gibt,  den  er  als  das  hintere  linguale  Tuberkel  bezeichnet. 

Es  kommt  jetzt  die  Besprechung  des  Oberkiefergebisses  der  platyr- 
rhinen  Affen  an  die  Keihe.  Für  die  Bemerkungen  mehr  allgemeiner 
Art,  wozu  diese  Gebisse  Anlaß  geben,  verweise  ich  auf  die  Besprechung 
des  Unterkiefergebisses.  In  der  untenstehenden  Tabelle  trifft  man 
wieder,  wie  in  jener  der  unteren  Zahnreihe,  die  Angaben  an  sowohl 
für  das  permanente  Gebiß  als  für  die  lakteale  Dentition.  Die  Formeln 
des  ersteren  sind  mit  großen,  jene  des  letzteren  mit  kleinen  Buchstaben 
geschrieben  worden. 

Kronenformel   der   oberen    Zähne  von  Platy rrhinen. 


P, 

P                P 

J/,               A/s             M  3 

I   P  2 

D 

i  pj 

I   P  2 

I  P  2 

I   P  2 

~  D 

i  pa  pp  2 
d 

I  P  2 

D 

i  pa  pp  2 
d  4 

I  P  2 

Pa  Pp 
D 

Pa  Pp 
D  4 

I  Pa  Pp  2 

Pa    (Pp) 

llapale      { 

D 

I  p  2 

d 

I  P  2 

D 

Pa  Pp 
D4 

i  Pa  Pp  2 

Pa 

Chrysothrix ' 

D 

I  p  2 

d 

I  P  2 
I  p  2 

d 
P 
D 

I  p  2 

d 
P 
D 

P 
d 

P 
D 

D 

I  p  2 

D 

d  4 

I  P  2 

Pa 

Mycetes • 

D 

I  p  2 

D4 

i  pa  pp  2 

D  4  (i) 
i  Pa  Pp  2 

D  4  (i) 

Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp 
D4 

Pa  Pp 

r>4 

D 

d 
P 
J) 

I  p  2 

d 
P 
D 

P_ 
d 

P 

d  4 
P 
D 

pa  pp  2 

Pa(Pp) 

Cebus \ 

D4 

Pa  Pp 
D4(i) 

Pa  Pp 
D  4 

D 

d4 
P 

Pa 

D(4) 
papp 

d(4) 

I  P  2 

D 
Pa 

D 

D(4) 

Vergleicht  man  die  Kronenstruktur  der  oberen  Zähne  amerikani- 
scher Affen  mit  jenen  von  Halbaffen  oder  eoeänen  Primaten,  dann  trifft 
uns   wieder  die  nämliche  Erscheinung  wie  bei   den  unteren  Zähnen: 


Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten.  175 

die  Krone  hat  im  allgemeinen  eine  Vereinfachung  erfahren.  Dieselbe 
tritt,  den  allgemeinen  Regeln  folgend,  am  stärksten  im  deuteromeren 
Teil  des  Zahnes  zutage  und  äußert  sich  z.  B.  darin,  daß  die  vordere 
Nebenspitze  des  Deuteromer  (die  Spitze  3)  in  keinem  einzigen  Zahn 
des  platyrrhinen  Gebi^e^  mehr  als  normale  Bildung  vertreten  ist. 
Nur  als  Variation  habe  ich  dieselbe  am  zweiten  und  dritten  Milchmolar 
von  Cebus  bisweilen  beobachtet. 

Was  die  Gebißreihe  als  ganzes  betrifft,  so  ist  ebenfalls  eine  Reduk- 
tion zu  konstatieren,  nämlich  die  des  dritten  Molaren.  Die  beigefügte 
Tabelle  gibt  die  bekannte  und,  wie  Bluntschli  gezeigt  hat,  für  die 
Kenntnis  der  Beziehung  der  Gebißformation  von  Platyrrhinen  und 
Katarrhinen  so  überaus  wichtige  Tatsache  kund,  daß  dieser  Molar  bei 
den  amerikanischen  Affen  durchgehends  bis  auf  zwei  Höcker  reduziert 
ist,  der  vordere  Komponent  des  protomeren  Zwillingshöcker  und  der 
Haupthöcker  vom  Deuteromer.  In  individuell  sehr  variabler  Ge- 
staltung kann  dann  noch  einer  der  beiden  Distalhöcker  —  es  sei  jener 
des  Protomer  oder  jener  des  Deuteromer  —  spurweise  anwesend  sein. 
Bemerkenswert  ist  es,  daß  bei  den  Arctopitheken,  deren  Molarenzahl 
schon  auf  zwei  verringert  ist,  ebenfalls  die  hintere  dieser  beiden  eine 
weitgebende    Reduktion    zeigt,    der    Zahn    ist    nicht    nur    auffallend 


Fig.  61.     Hapale  jacchus. 

kleiner  als  der  erste  Molor,  sondern  auch  der  hintere  Komponent 
des  protomeren  Zwillingshöckers  kann  bis  auf  winzige  Spuren  ver- 
schwunden sein.  Es  erscheint  uns  als  eine  nützliche  Einrichtung 
des  Gebisses,  daß  der  Zahnwechsel  bei  diesen  Formen  erst  seinen  An- 
fang nimmt  nachdem  die  permanenten  Molaren  schon  durchgebrochen 
sind.  Das  zeigt  z.  B.  die  Fig.  61,  welche  nach  dem  Schädelchen  eines 
Hapale  jacchus  angefertigt  worden  ist.  Die  beiden  permanenten  Mo- 
laren sind  schon  da,  während  vom  Milchgebiß  noch  kein  einziger  Zahn 
ersetzt  worden  ist.  Solche  Verhältnisse,  welche  gleichsam  einen  retar- 
dierten Zahnwechsel  darstellen,  und  welche  man  im  allgemeinen  bei 
den  Platyrrhinen  antrifft,  dürfen  als  fördernd  betrachtet  werden  für 
das  Zustandekommen  einer  endgültigen  Permanenz  des  dritten  Milch- 
molaren, d.  h.  der  Entstehung  einer  katarrhinen  Gebißformel. 

Wenn  wir  uns  jetzt  zunächst  der  Betrachtung  der  Kronenform  der 
permanenten  Zähne  zuwenden,  dann  konstatieren  wir,  wie  beim  Unter- 
kiefergebiß, die  große  Einförmigkeit  in  der  Struktur  sowohl  der  Prä- 
molaren als  der  Molaren.  Die  Prämolaren  bestehen  fast  ausschließlich  nur 
aus  den  Haupthöckern  der  beiden  Odontomeren,  wozu  sich  bisweilen  noch 
die  protomeren  Nebenspitzen  gesellen  können.  Eine  graduelle  höhere 
Entfaltung  in  distaler  Richtung,  wie  eine  solche  noch  bei  den  Halb- 
affen zur  Beobachtung  kam,  findet   man  bei  den  Platvrrhinen  nicht 


170  Fünftes  Hauptstück. 

mehr.  Nur  der  dritte  Prämolar  von  Mycetes  hat  --  obgleich  nicht 
immer  -  die  hintere  deuteromere  Nebenspitze  zur  Entwicklung  ge- 
bracht. Sonst  sind  die  Komponenten  der  Prämolarenreihe  —  abgesehen 
von  der  etwas  kräftigen  Entfaltung,  die  der  erste  Prämolar  bei  einigen 
Geschlechtern,  z.  B.  Chrysothrix,  zeigt  —  einander  sehr  ähnlich.  Und 
wie  früher  bekannt  geworden  ist,  trifft  das  nicht  nur  für  den  Kronenteil 
der  Zähne  zu,  sondern  gleichfalls  für  den  Wurzelteil. 

Aber  obgleich  in  der  Differenzierung  der  Kronenhöcker  bei  den 
Prämolaren  der  amerikanischen  Affen  große  Übereinstimmung  besteht, 
ist  jedoch  die  Gestalt  dieser  Zähne  bei  den  verschiedenen  Geschlechtern 
recht  verschieden.  So  zeichnen  sich  z.  B.  die  Arctopitheken  und  unter 
den  Cebidae  das  Geschlecht  Chrysothrix  durch  eine  mehr  dreieckige 
Gestalt  der  Krone  scharf  von  der  mehr  viereckigen  in  transversaler 
Richtung  ausgezogenen  Gestalt  der  meisten  übrigen  Geschlechter,  aus. 
Dazu  kommt,  daß  bisweilen  ein  ziemlich  stark  entwickeltes  Cingulum 
an  der  lingualen  Seite  des  Zahnes  demselben  ein  typisches  Gepräge 
verleihen  kann.  Wie  im  allgemeinen  Teil  schon  erwähnt,  begegnet 
uns  ein  solcher  z.  B.  an  den  Prämolaren  von  Chrysothrix. 

Die  Molaren  sämtlicher  Platyrrhinen,  mit  Ausnahme  der  Arcto- 
pitheken, stimmen  durch  den  Besitz  von  vier  Höckern  miteinander 
überein.  Diese  Übereinstimmung  in  der  Höckerzahl  besagt  jedoch 
nicht  eine  solche  auch  in  der  Kronengestalt.  Denn,  wie  früher  schon 
ausführlich  auseinandergesetzt  worden  ist,  kann  man  gerade  bei  den 
platyrrhinen  Primaten  einen  bestimmt  gerichteten  Entwicklungs- 
gang in  der  Kronenstruktur  stufenweise  verfolgen,  welcher  von  der 
mehr  dreieckigen,  in  bukko-lingualer  Richtung  etwas  verlängerten 
Krone  von  Chrysothrix  mit  V-förmigem  Leistenkomplex  allmählich  zu 
den  mehr  regelmäßig  viereckigen  Kronen  von  Cebus  überführt.  Mycetes 
und  Ateles  bilden  zwei  typische  Zwischenstufen  in  diesem  Entwick- 
lungsgang, bei  dem  wir,  abgesehen  von  der  Umbildung  des  Leisten- 
systems,  die  alternierende  Stellung  der  Höcker,  welche  bei  Chrysothrix 
noch  besteht,  für  eine  opponierte  Platz  machen  sehen.  Solche  Um- 
bildungen in  der  Kronenstruktur  lassen  sich  sehr  schwierig  in  der 
Kronenformel  zum  Ausdruck  bringen.  Wäre' das  vielleicht  noch  mög- 
lich mit  Bezug  auf  die  alternierende  und  opponierte  Stellung  der 
Höcker,  indem  man  in  der  Formel  die  Symbole  der  Höcker  in  gleicher 
Stellung  zueinander  schrieb  als  die  Höcker  in  der  Krone  einnehmen, 
für   die  übrigen  Details  verzichtet  diese  Methode. 

Es  geben  die  Formeln  der  Mahlzähne,  wie  sie  in  obenstehender 
Tabelle  mitgeteilt  sind,  zu  keinen  besonderen  Bemerkungen  Anlaß, 
nur  ein  paar  Besonderheiten,  welche  als  individuelle  Variationen  zu 
gelten  haben,  verdienen  eine  spezielle  Erwähnung.  Zuerst  sei  auf  die 
Formel  der  Molaren  bei  Ateles  und  Mycetes  aufmerksam  gemacht. 
Im  ersten  Molar  des  erstgenannten  und  in  den  beiden  vorderen  Molaren 
des  letztgenannten  Geschlechts  traf  ich  als  individuelle  Variation  in 
sehr  deutlicher  Entwicklung  den  hinteren  intermediären  Zwischen- 
höcker an.  Früher  habe  ich  schon  mitgeteilt,  daß  ich  diese  Spitze 
auch  bei  Cebus  angetroffen  habe  und  dieser  Fall  ist  auf  Tafel  III, 
Fig.  14  zur  Abbildung  gebracht,  Ich  konnte  die  Anwesenheit  dieser 
Spitze  jedoch  nur  einmal  unter  mehr  als  hundert  Schädeln  von  Cebus 
feststellen,  so  daß  es  sich  dabei  offenbar  um  eine  sehr  große  Seltenheit 
handelt.    Weiter  war  selbst  in  diesem  Fall  die  Zwischenspitze  nur  wenig 


Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten.  177 

kräftig  entwickelt.  Bei  Mycetes  traf  ich  dagegen  den  bezüglichen 
Höcker  ein  paarmal  in  schöner  Ausprägung  nicht  nur  am  ersten,  sondern 
auch  am  zweiten  Molaren  an,  bei  einem  ziemlich  beschränkten  Material 
(ungefähr  20  Schädel).  Die  Bildung  scheint  hier  somit  häufiger  zu  sein. 
Einen  meiner  Fälle  habe  ich  auf  Tafel  III,  Fig.  15  reproduzieren  lassen. 
AVie  man  sieht,  vertritt  der  Zwischenhöcker  hier  die  Stelle,  welche 
bei  anderen  Individuen  durch  die  Schrägleiste  eingenommen  wird, 
welche  vom  Höcker  D  zum  Höcker  Pp  zieht;  darin  ist  ein  weiterer 
Beleg  für  die  Richtigkeit  meiner  Behauptung  zu  erblicken,  daß  die 
bei  den  eocänen  Primaten  ziemlich  regelmäßig  auftretenden  hinteren 
Zwischenhöcker  nichts  anderes  ist  als  ein  Bildlingsprodukt  ik-^ 
Schmelzes  von  gleichem  Wert  als  die  hintere  Schrägleiste.  Dem  übrigen 
Höckersystem  stellt  sich  deshalb  die  intermediäre  Spitze  als  ein  Pseudo- 
höcker  gegenüber.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  der  hintere 
intermediäre  Höcker  bei  den  Platyrrhinen  häufiger  angelegt  wird,  als 
man  es  auf  Grund  der  Beobachtungszahl  vermuten  sollte.  Denn  ver- 
folgt man  die  Zahnusur  bei  älteren  und  jüngeren  Schädeln,  dann  scheint 
gerade  die  hintere  Schrägleiste  am  ehesten  und  am  meisten  bei  Mycetes 
abgeschliffen  zu  werden.  Eine  richtige  Einsicht  über  die  Häufigkeit 
des  Auftretens  wird  man  somit  erst  bekommen  können  durch  Unter- 
suchung jüngerer  Schädel.  Das  gleiche  trifft  auch  für  Ateles  zu.  An 
den  Schädeln  etwas  älterer  Individuen  vermißte  ich  den  Zwischen- 
höcker, aber  wenn  ich  an  einem  jungen  Schädel  von  Ateles  ater  die 
noch  ganz  im  Alveolus  versteckte  Krone  des  ersten  Molaren  auspräpa- 
rierte, erhielt  ich  ein  Produkt  mit  einem  prachtvoll  entwickelten,  scharf 
begrenzten  Zwischenhöcker. 

Ich  habe  schon  mehrere  Male  die  Bedeutung  hervorgehoben, 
welche  das  Auftreten  des  Zwischenhöckers  in  den  Molaren  der  pla- 
tyrrhinen Affen  hat.  Bei  den  eocänen  Primaten  gerade  ein  fast  kon- 
stantes Element  der  Mahlzähne  bildend,  war  er  bei  den  rezenten  Pri- 
maten bis  jetzt  unbekannt.  Und  das  würde  man  geneigt  sein  können, 
als  ein  Motiv  anzuführen  für  eine  trennende  Kluft  zwischen  den  eocänen 
Primaten  und  den  Platyrrhinen.  Der  Nachweis  des  gelegentlichen  Auf- 
tretens des  Zwischenhöckers  als  individuelle  Variation,  welcher  jetzt  bei 
drei  Geschlechtern  der  platyrrhinen  Affen  gelungen  ist,  ist  nun  gerade 
als  ein  wertvolles  Argument  für  die  entgegengestellte  Behauptung  zu 
benützen.  Mit  vollem  Recht  darf  man  solche  individuelle  Variationen 
als  wichtige  Zeugnisse  für  eine  Verwandtschaft  zwischen  beiden  Pri- 
niatengruppen  ins  Feld  führen.  Daß  die  Zwischenhöcker  im  Laufe 
der  Zeit  im  Primatengebiß  allmählich  geschwunden  sind,  ist  wohl 
als  eine  Teilerscheinung  jenes  mehr  allgemeinen  Vorganges  zu  deuten. 
auf  welche  wiederholt  die  Aufmerksamkeit  gelenkt  ist,  daß  nämlich 
der  Hauptcharakter  des  Entwicklungsganges  des  Primatengebisses 
während  der  tertiären  Periode  besteht  in  einer  Vereinfachung  des 
Kronenreliefs,  verknüpft  mit  der  Tendenz  der  hinteren  deutomeren 
Nebenspitze,  den  Haupthöckern  in  der  Entwicklung  gleichzukommen. 

Eine  zweite  Besonderheit  am  Gebiß  der  Platyrrhinen  ist  die 
Entwicklung  des  Carabellischen  Höckerchens,  welches  man  z.  B. 
an  den  Molaren  von  Chrysothrix  konstant,  an  solchen  von  Cebus 
als  individuelle  Variation  zu  konstatieren  vermag.  Auf  diese  Tatsache 
habe  ich  in  dem  besonderen  Abschnitt,  worin  von  dieser  Bildung  die 
Rede  ist,  schon  ausdrücklich  hingewiesen.    Sie  wird  hier  nur  der  Voll- 

Bolk,  Die  Morphogenie  der  Primatenzähne.  12 


178  Fünftes  Hauptstück. 

ständigkeit  wegen  erwähnt.    Für  die  Bedeutung  derselben  sei  auf  den 
bezüglichen  Abschnitt  hingewiesen. 

Es  erübrigt  sich,  jetzt  noch  die  Kronenformel  der  Milchzähne  einer 
kurzen  Betrachtung  zu  unterwerfen.  Aus  einer  Vergleichung  der 
Kronenformel  der  Milchmolaren  und  deren  Ersatzzähne  im  Unter- 
kiefer war  die  große  Übereinstimmung  hervorgegangen  in  der  Kronen- 
struktur dieser  Elemente  aus  den  zwei  Gebißreihen.  Gleiches  gilt 
für  die  übereinstimmenden  Zähne  des  Unterkiefers.  Nur  der  dritte 
Milchmolar  weicht  durch  eine  etwas  komplizierte  Struktur  von  seinem 
Ersatzzahn  wesentlich  ab.  Was  die  beiden  ersten  Milchmolaren  da- 
gegen anbetrifft,  besitzen  diese,  wie  die  beiden  ersten  Prämolaren, 
fast  ausnahmslos  die  Haupthöcker  P  und  D  der  beiden  Odontomeren. 
Es  ist  der  Z)-Höeker  am  ersten  Milchmolaren  geringer  entwickelt 
als  am  zweiten,  und  auch  wohl  als  am  ersten  Prämolaren,  aber  er  ist 
immerhin  als  wohl  differenzierter  Höcker  zu  unterscheiden.  Am  meisten 
ähneln  sich  der  zweite  Milchmolar  und  der  zweite  Prämolar.  Ersterer 
hat  eine  etwas  mehr  dreieckige  Krone. 

Wesentliche  Differenzmerkmale  bietet  aber  der  Wurzelteil  der 
Zähne,  wie  aus  den  Fig.  53 — 57  ersichtlich.  Bei  der  Besprechung  des 
Unterkiefergebisses  ist  der  Erscheinung  Erwähnung  getan,  daß  die 
Wurzelzahl  der  Zähne  bei  den  Platyrrhinen  eine  allgemeine  Tendenz 
zur  Verminderung  zeigt.  Es  ist  natürlich  nicht  zu  sagen,  ob  nicht 
einmal  alle  obere  Milchmolaren  bei  den  Stammeltern  der  heutigen 
Platyrrhinen  im  Besitze  von  drei  Wurzeln  waren,  wie  es  heute  tat- 
sächlich beim  Geschlecht  Cebus  noch  der  Fall  ist,  wie  aus  der  Textfig.  55 
erhellt.  Aber  soviel  ist  sicher,  daß  wenigstens  der  zweite  und  dritte 
Milchmolar  der  rezenten  Formen  im  Besitze  von  drei  Wurzeln  sind, 
wodurch  speziell  dem  zweiten  Milchmolar  ein  wichtiges  Differenz- 
merkmal mit  dem  sonst  so  ähnlich  aussehenden  zweiten  Prämolar 
gegeben  ist.  Bei  Mycetes  (Fig.  56)  und  stärker  noch  bei  Chrysothrix 
(Figr.  54)  zeigen  die  beiden  bukkalen  Wurzeln  unverkennbar  die  Neigung 
sich  zu  verbinden.  Der  dritte  Milchmolar  ist  bei  allen  Platyrrhinen 
ein  wesentlich  molariformer  Zahn,  d.  h.  der  protomere  Haupthöcker 
hat  sich  als  Zwillingshöcker  differenziert.  Und  als  weitere  progressive 
Differenzierung  kann  auch  die  hintere  Nebenspitze  des  Deuteromer 
noch  hinzukommen,  wie  bei  Chrysothrix  oder  Cebus. 

Schließlich  werden  wir  die  Kronenformel  der  oberen  Zähne  der 
altweltlichen  Affen,  sowie  des  Menschen  einer  kurzen  Besprechung 
widmen.  In  untenstehender  Tabelle  finden  sich  die  wichtigsten  Daten 
niedergelegt.  Es  sind  darin  die  Form  ein  der  Milchzähne  wieder  mit  kleinen 
Buchstaben  geschrieben  worden.  Es  sind  in  dieser  Tabelle  die  Daten 
für  die  verschiedenen  Geschlechter  der  Cercopithecidae  nicht  gesondert 
vermeldet  worden,  weil  solches  nur  zu  Widerholungen  Anlaß  geben 
würde.  Die  ganze  Gruppe  der  Cercopithecidae  zeigt  in  der  Kronen- 
struktur der  oberen  Zähne  eine  so  große  Übereinstimmung,  daß  es 
nur  die  Form  der  Höcker,  die  Ausbildung  der  Kämme  und  die  Maß- 
verhältnisse der  Krone  sind,  welche  die  Gestalt  der  Krone  inner- 
halb dieser  Gruppe  verschieden  macht.  Es  ist  deshalb  in  der  Tabelle 
die  Gruppe  als  Ganzes  angeführt  worden.  Zwar  sind  hin  und  wieder 
Differenzen  untergeordneter  Art  zu  verzeichnen,  welche  sich  jedoch 
meistenfalls  als  individuelle  Variationen  erweisen.     So  z.  B.  ist  nicht 


Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten. 


179 


selten  der  erste  Milchmolar  am  mesialen  Ende  des  bukkalen  Randes 
mit  einer  niedrigen  Spitze  ausgestattet,  welche  als  die  vordere  proto- 
mere  Nebenspitze  gedeutet  werden  muß.  Weiter  findet  man  nicht  selten 
auch  bei  den  Molaren  der  Hundskopfartigen,  am  Vorderrande  die 
Andeutung  dieser  Nebenspitze,  ja  es  ist  sogar  die  vordere  deuteromere 
Nebenspitze   bisweilen   zu    geringer   Entfaltung  gelangt.      Doch   sind 


Kronenformel   der   oberen  Zähne   katarrhiner  Primaten. 


A 

p, 

Mx 

M, 

M, 

P 

p 

Pa  Pp 

Pa   Pp 

Pa  Pp 

Cercopitbecidae .     .  . 

D 

pa  pp 
d  4 

D 

pa  pp 
d  4 

D  4 

D  4 

D  4 

P 

P 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

D 

P 
d 

D 

pa  pp 

d  4 

D  4 

D  4 

D  4 

P 

P 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Orang 

D 

P 
d 

D 

pa  pp 
d  4 

D  4 

D  4 

D  4 

P 

P 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Schimpanse    .... 

D 

I    P    2 

D 

pa  pp 
d  4 

D  4 

D  4 

D  4 

d 

P 

P 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Gorilla       

D 

I   P    2 

D 

pa   pp 
d  4 

D  4 

D  4 

D  4 

d 

P 

P 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

Pa  Pp 

D 

i  pa  pp 

D 

pa  pp 
d  4 

D  4 

D  4 

D  4 

diese  Erscheinungen  so  wechselnder  Natur,  daß  sie  schwierig  als  Diffe- 
renzmerkmale zwischen  den  verschiedenen  Geschlechtern  dieser  Gruppe 
zu  verwerten  sind. 

Es  besteht  zwischen  den  oberen  Molaren  der  Cercopithecidae 
und  Anthropoidae  eine  größere  Übereinstimmung  als  zwischen  den 
unteren  Mahlzähnen  beider  Gruppen.  Denn  im  allgemeinen  zeichnet 
sich  der  untere  Molar  der  Anthropomorphen  inklusive  Hylobates  be- 
kanntlich durch  den  Besitz  von  fünf  Höckern  aus.  während  bei  den 
Cercopithecidae  diese  Zähne  nur  mit  vier  Höckern  ausgestattet  sind 
und   nur  der  dritte  Molar  bisweilen  einen  fünften  Höcker  trägt.     Die 

12* 


180  Fünftes  Hauptstück. 

oberen  Molaren  dagegen  sind  sowohl  bei  Cercopithecidae  als  Anthro- 
poidae  vierhöckerig,  und  nur  die  Stellung  der  Höcker  hinsichtlich 
einander  ist  verschieden,  bei  der  letztgenannten  Gruppe  stehen  sie 
alternierend,  bei  der  erstgenannten  in  opponierter  Stellung.  Daß 
letzterer  Zustand  der  mehr  spezialisierte  oder  mehr  progressive  ist, 
habe  ich  schon  vorher  bei  der  Behandlung  der  Unterkiefermolaren 
zu  begründen  versucht  und  auch  auf  die  Beziehung  hingewiesen,  welche 
zwischen  der  Spezialisierung  im  Ober-  und  Unterkiefergebiet  besteht. 

Ein  weiteres  Beispiel  dieser  Korrelation  in  dem  Entwicklungs- 
gang oberer  und  unterer  Zähne  glaube  ich  in  dem  Verhältnis  erblicken 
zu  dürfen,  welches  beim  Menschen  der  zweite  obere  Molar  uns  bietet. 
Ich  muß  dazu  anfangen,  auf  die  Variabilität  hinzuweisen,  welche  der 
zweite  untere  Molar  des  Menschen  zeigt.  Im  Gegensatz  zu  den  Anthro- 
pomorphen  ist  beim  Menschen  der  genannte  Zahn  in  überaus  den 
meisten  Fällen  nur  vierhöckerig.  Für  die  Details  verweise  ich  auf  den 
bezüglichen  Abschnitt,  in  dem  von  dieser  Erscheinung  ausführlich 
die  Rede  war. 

Es  ist  nun  gewiß  bemerkenswert,  daß  bekanntlich  auch  der 
zweite  obere  Molar  unverkennbar  Neigung  zeigt  zur  Reduktion,  da  er  in 
ungefähr  der  Hälfte  der  Fälle,  statt  vierhöckerig  zu  sein  nur  drei  Höcker 
besitzt.  Seinerzeit  hat  Cope  die  Ansicht  vertreten,  daß  solche  Zähne 
den  primitiven  Typus  repräsentieren  und  mit  der  Molarenform  der 
Lemuren  in  Zusammenhang  gebracht  werden  sollten.  Gegen  diese 
Ansicht  ist  jedoch  schon  mehrfach  Widerspruch  erhoben.  Ich  schließe 
mich  in  dieser  Frage  der  Meinung  u.  a.  Adloffs  an1),  daß  dreihöckerige 
obere  Mahlzähne  des  Menschen  sicherlich  auf  Reduktion  beruhen. 
Diese  Reduktion  verläuft  in  ganz  regelmäßiger  und  dem  Entwicklungs- 
gang der  Krone  entsprechender  Weise.  Denn  es  ist  wieder  die  hintere 
linguale  Spitze,  die  ursprünglich  distale  Nebenspitze  vom  Deuteromer, 
welche  verschwindet.  Nun  trifft  man  bei  Untersuchung  an  einem 
größeren  Material  bisweilen  den  Fall,  daß  der  zweite  Molar  stärker 
reduziert  ist  als  der  dritte,  eine  Erscheinung,  der  man  am  Unterkiefer 
ungemein  viel  häufiger  begegnet.  Daß  im  Oberkiefer  solche  Fälle 
vorkommen,  ist  an  sich  jedoch  schon  ein  hinreichender  Beweis,  daß 
auch  an  dieser  Gebißreihe  zwei  Reduktionsvorgänge  im  Gebiete  der 
Molaren  tätig  sind:  Verkürzung  der  Gebißreihe  und  Vereinfachung 
der  Kronenstruktur.  Und  nun  erhebt  sich  die  Frage,  ob  die  Verein- 
fachung, welche  am  zweiten  oberen  Molar  zu  konstatieren  ist.  nicht 
mit  jener  am  zweiten  unteren  in  korrelativer  Beziehung  steht.  Ich  be- 
schränke mich  an  dieser  Stelle  auf  die  Fragestellung,  hoffe  im  nächst- 
folgenden Heft  näher  auf  diese  Frage  einzugehen. 

Was  die  Kronenformel  der  Prämolaren  der  Anthropomorphen 
betrifft,  möchte  ich  noch  einmal  wiederholen,  daß  dieselben,  wie  sie 
sich  in  der  Tabelle  finden,  nur  den  meist  vorkommenden  Zustand 
wiedergeben.  Nicht  selten  trifft  man  im  Oberkiefer  dieser  Affen  Prä- 
molaren, welche  deutlich  die  Anlage  und  teilweise  Ausbildung  noch 
zweier  Höcker  sehen  lassen,  wodurch  sie  sich  der  Molarenfonn  etwas 
nähern.     Besonders  bei  Gorilla  ist  solches  der  Fall. 

Was  die  Milchmolaren  betrifft,  sei  nur  kurz  die  bekannte  Tat- 
sache  hervorgehoben,   daß   beim  Menschen    dieser  Zahn   eine   höhere 


1)  Das  Gebiß  des  Menschen  und  der  Anthropomorphen,  S.  95. 


Das  Oberkiefergebiß  der  Primaten.  131 

Entwicklungsstufe  aufweist  als  bei  den  Anthropomorphen.  Für  die 
Bedeutung  dieser  Tatsache  verweise  ich  auf  das  beim  Unterkiefer- 
gebiß Gesagte. 

Ich  wünsche  hiermit  diese  zweite  Studie  zu  beendigen.  Ich  gebe 
mich  der  Hoffnung  hin,  daß  die  Richtigkeit  der  Prinzipien,  welche 
meiner  Auffassung  über  die  Entstehung  und  Differenzierung  der  Pri- 
matenzähne zugrunde  liegen,  durch  diese  systematische  Bearbeitung 
des  Primatengebisses  wesentlich  fester  begründet  worden  ist.  J);is 
Gebiß  der  Primaten  hat  sich  gerade  durch  seine  ganz  regelmäßige 
Anordnung,  die  sukzessive  Aufeinanderfolge  einer  immer  mehr  kom- 
plizierten Kronengestalt  in  den  Gebißreihen  als  ein  besonders  be- 
quemes Untersuchungsobjekt  erwiesen,  um  die  Entwicklung  der  kom- 
pliziert gebauten  Zähne  zu  verfolgen.  Und  es  scheint  mir  dabei  nicht 
ohne  Bedeutung  für  die  Richtigkeit  meiner  Anschauungen  zu  sein,  daß 
ich  für  die  Erklärung  der  besonderen  Zahnformen  keine  Hilfshypothesen 
anzuwenden  genötigt  war.  Ein  einziger  Gesichtspunkt  genügt,  um 
die  Entstehung  der  so  verschiedenen  Varianten  begreiflich  zu  machen: 
alle  Zähne  entstammen  einem  vollständig  gleichwertigen  Keim,  und 
dieser  Keim  enthält  potentia  die  Anlage  zweier  dreispitziger  Zähne. 
Dieses  Prinzip,  wozu  ich  ebenfalls  in  der  ersten  Studie  gekommen 
war.  hat  sich  in  der  vorliegenden  als  eine  fest  begründete  Basis  der 
Dimertheorie  des  Säugergebisses  erwiesen,  und  als  ein  sicherer  Weg- 
weiser auf  das  an  Frage  erregenden  Erscheinungen  so  fruchtbare 
Gebiet  des  Primatengebisses.  Und  ich  bin  überzeugt,  daß  das  näm- 
liche Prinzip  mit  nicht  weniger  gutem  Erfolg  als  Anleitung  bei  dem 
systematischen  Studium  der  Gebisse  auch  anderer  Säugergruppen  zu 
verwenden  sein  soll. 


Druck  von  Anton  Kämpfe  in  Jena. 


Bolk,   Die  Morphogenie  der  Primatenzäh) 


9(7.  Ateles. 


9£.  Ateles. 


1.  Tarsius.  2.  Microcebus.  3.  Lemur. 


6.  Nycticebus.  7.  Hemigalago. 


12.  Gorilla.  13.  Schimpanse.  14.  Orani 


4.  Hapale. 


20.  Cebus.  21.  Semnopithecus.  22.  Mac; 


I         Pd  P, 


P      X 


10.  Siamang.  11.  Homo. 


15.  Avahis. 


16.  Propithecus.  17.  Indris.  18.  Mycetes.  19.  Nyctipitheci 


icacus.  23.  Cynocephalus 


Fig.  1    (1-24). 


Verlas  von  G 


Tafel  I. 


Fig.  4.     Erster  unterer  Molar 
von  Pithecia.    Vergr.   6 fach. 


2.     Pithecia.    Milchgebiß. 
Vergr.  3  fach. 


Fig.  5.     Mycetes. 


Fig.  3.     Pithecia.     Milchgebiß. 
Vergr.  3  fach. 


Fi".  6.     Mycetes.    Milchgebiß. 


eher   in  Jena. 


Bolk,   Die  Morphogenie  </>■>■  Primatenzähne. 


Fig.  8.  Mycetes.  Milchgebiß. 


Fig.  7.     Mycetes. 


Fig.  9. 


Verlag  von 


Tafel  IL 


Ateles. 


\n)  '"■> 


JA 


Mycetes 

n 


(Vliiis. 


Chrysothrix. 


Hapale. 


j\    ü         %%       &% 


Bnnopithecus. 


Inuus. 


Schimpanse. 


Gorilla. 


'X    „ 


h. 


Orans 


Siamang. 


Homo. 


V 


u\ 


IN/    lo. 


fo-a\  /oo\ 


Fig.  10. 


f(l(]\ 

^1     [0  Q) 


CUiJ 


eher   in  Jena. 


Bolk,   Die  Morphogenie  der  Primatenzähne. 


Fig.  11.     0  ran  s:. 


Fig.  12.     Schimpanse. 


Tafel  III. 


Fig.  13.     Siamang. 


Fig.  14.     Cebus. 


Fig.  15.     Mycetes. 


Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Vergleichende  Anatomie  des  menschlichen 
Gebisses  und  der  Zähne  der  Vertebraten. 

Von 

Dr.  Paul  de  Terra, 

vorm.  Zahnarzt  in  Zürich. 

Mit  200  Abbildungen  im  Text.     1911. 
Preis:  broschiert  12  Mark,  gebunden  13  Mark. 

Inhaltsverzeichnis:  Einleitung:  Terminologie.  —  Allgemeine  Entwicklungs- 
geschichte. —  Zoologische  Einteilung  der  Vertebraten.  —  Bedeutung  des  Tier- 
systems. —  Zeitliche  Verbreitung  der  Tiere.  —  I.  Abschnitt:  Kopf-  und  Mund- 
höhle. Schädel  der  Vertebraten.  —  Schädel  der  Säugetiere.  —  Kieferapparat  der 
Vertebraten.  —  Anatomie  des  Kauapparates.  — -  Entwicklung  der  Mundhöhle.  — 
Wachstum  der  Kieferknochen.  —  Verknöcherung  und  Verkalkung.  —  II.  Ab- 
schnitt: Die  Zähne  im  allgemeinen.  Bedeutung  der  Zähne.  —  Vorkommen 
der  Zähne.  —  Anordnung  der  Zähne.  —  Zahl  der  Zähne.  —  Form  der  Zähne.  — 
Ursprung  der  Zahnformen.  —  Entwicklung  der  Zahnformen.  —  Übergang  der 
Zahnformen.  —  Homologie  der  Zähne.  —  Makroskopischer  Bau  der  Zähne.  — 
Mikroskopischer  Bau  der  Zähne.  —  Entwicklung  der  Zähne:  Zahnentwicklung  der 
Säugetiere.  —  Zahnentwicklung  der  niederen  Vertebraten.  —  Zahnentwicklung  der 
Fische.  —  Zahnentwicklung  der  Amphibien.  —  Zahnentwicklung  der  Reptilien.  — 
Dentition:  Dentition  der  Vertebraten.  —  Mechanismus  des  Durchbruches.  —  Erste 
Dentition  beim  Menschen.  —  Zweite  Dentition  beim  Menschen.  —  Dritte  Dentition. 

—  Reduktion  des  Gebisses.  —  Höcker  der  Molaren.  —  Überzahl  der  Zähne.  — 
Heredität.  —  Chemische  Zusammensetzung  der  Zähne.  —  Nerven  und  Gefäße  der 
Zähne.  —  Befestigung  der  Zähne.  —  Die  Zahnformel.  —  III.  Abschnitt:  Die 
Zähne  nach  den  Klassen  des  Tierreiches.  1.  Klasse:  Die  Fische.  — 
2.  Klasse:   Die  Amphibien.  —  3.  Klasse:    Die  Reptilien.  —  4.  Klasse:    Die  Vögel. 

—  5.  Klasse:  Die  Säugetiere.  —  Das  Gebiß  der  Affen  im  Vergleiche  zum  mensch- 
lichen. —  Die  Bezahnung  des  Menschen.  —  Literaturverzeichnis  (mit  ca.  3000  Titeln). 

—  Register. 

Zoologisches  Zentralblatt,  18.  Jahrg.,  Nr.  16/17  v.   10.  Nov.  1911: 

.  .  .  Das  Buch  stellt  ein  gutes  Nachschlagewerk  für  odontologische  Fragen  dar, 
zumal  durch  die  klare  und  reiche  Gliederung  und  das  ausführliche  Register  seine  Handlich- 
keit wesentlich   erhöht  wird.  M.   Hilzheimer   (Stuttgart). 

Roux'  Archiv  f.  Entwicklungsmechanik: 

.  .  .  ein  im  Verhältnis  zu  seinem  Umfange  ganz  ungewöhnlich  reichhaltiges  und 
brauchbares  Nachschlagewerk,  dessen  Wert  noch  durch  ein  etwa  3000  Nummern  ent- 
haltendes Literaturverzeichnis  gesteigert  wird,  das  auch  den  Anfänger  rasch  in  den  Stand 
setzen  dürfte,  sich  über  den  Rahmen  des  Buches  hinaus  über  speziellere  Fragen  zu 
unterrichten.  F.  A.  M.   W.   Gebhardt. 

Österreich. -ungar.  Vierteljahrsschrift  für  Zahnheilkunde,  Januar  1912: 

.  .  .  eine  Lektüre,  welche  nicht  bloß  an  sich  reichlichen  Genuß  bringt,  sondern 
auch  durch  die  allgemein  bildende  Erweiterung  des  Gesichtskreises  die  Berufsfreude  hebt 
und  der  mühseligen  Einzelarbeit  neue  Beziehungen  eröffnet,  die  nicht  zuletzt  für  das 
praktische   Handeln  selbst  befruchtend  und   richtunggebend  sind. 

Es  sei  daher  das  gewissenhaft  und  umsichtig  abgefaßte,  vom  Anfang  bis 
zum  Ende  durchaus  anregend  geschriebene  und  gediegen  ausgestattete  Buch  nicht 
bloß  dem  Wissenschaftler,  in  dessen  Bibliothek  es  selbstverständlich  gehört, 
sondern  insbesondere  auch   dem  Praktike:    wärmstens  empfohlen. 

B.  Mavrhofer. 


Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

7nnlnnicrhoc    Wnrtprhimh      Erklärung  der  zoologischen  Fachausdrücke. 

Z.UUIUyibWlbb  WUrierUUUI.  Zum  Gebrauch  beim  Studium  zoologischer, 
anatomischer,  entwicklungsgeschichtlicher  und  naturphilosophischer  Werke. 
Verfaßt  von  Prof.  Dr.  E.  Bresslau  in  Straßburg  i.  E.  und  Prof.  Dr.  H.  E.  Ziegler 
in  Stuttgart,  unter  Mitwirkung  von  Prof.  J.  Eichler  in  Stuttgart,  Prof.  Dr. 
E.  Fraas  in  Stuttgart,  Prof.  Dr.  K.  Lampert  in  Stuttgart,  Dr.  Heinrich 
Schmidt  in  Jena  und  Dr.  J.  Wilhelmi  in  Berlin,  revidiert  und  heraus- 
gegeben von  Prof.  Dr.  H.  E.  Ziegler  in  Stuttgart.  Zweite  vermehrte  und 
verbesserte  Auflage.  Mit  595  Abbildungen  im  Text.  (XXI,  737  S.  gr.  8°.) 
1912.  Preis:  18  Mark,  geb.  19  Mark. 

Die  erste  Auflage  des  „Zoologischen  Wörterbuches"  erschien  1907 — 1910. 
Wenige  Monate  nach  der  Vollendung  war  das  Werk  im  Buchhandel  schon  ver- 
griffen.    Diese  Tatsache  beweist  die  Brauchbarkeit  und  Nützlichkeit  des  Buches. 

Die  zweite  Auflage  enthält  über  5500  Artikel. 

Neue  Weltanschauung,  1913,  Heft  2. 

Die  gemeinsame  Arbeit  dieser  Herren  hat  unter  der  Leitung  von  Prof.  Ziegler  e  i  n 
Werk  geschaffen,  das  des  höchsten  Lobes  würdig  ist  und  das  berufen  er- 
scheint, der  Wissenschaft  große  Dienste  zu  leisten.  Es  erleichtert  das 
Studium  selbst  schwieriger  Fachwerke  und  macht  sie  weiteren 
Kreisen  überhaupt  erst  zugänglich.  Möge  es  auch  in  seiner  neuen  Gestalt 
viele  Freunde  finden  und  fleißig  benutzt  werden. 

Ans  der  Heimat,  1908,  5.  Heft. 

Wer  sich  eingehender  mit  zoologischen  Studien  abgegeben,  ja,  wer  auch  nur  eines 
der  vielen  narurphilosophischen  Werke  der  Neuzeit  mit  Nutzen  lesen  will,  braucht  ein 
solches    Wörterbuch  unbedingt. 

Lehrbuch   der  vergleichenden  mikroskopischen  Anatomie  der 

Wirholfioro  1°  Verbindung  mit  Prof.  Dr.  Aman  n-  München,  Prof.  Ball  owitz- 
",ruemere' Münster  i.  W.,  Prof.  Dr.  Disselhorst-Halle  a.  S.,  Prof.  Dr. 
v.  Eggeling-Jena,  Dr.  V.  Franz-Leipzig,  Prof.  Dr.  Hoyer-Krakau,  Prof. 
Dr.  R.  Krause-Berlin,  Prof.  Dr.  Boll-Berlin,  Prof.  Dr.  Reinke- Rostock,  Dr. 
P.  Röthig-Charlottenburg,  Prof.  Dr.  Schaffer-Graz,  Dr.  Stud  nicka- Brunn, 
Prof.  Dr.  Szymonowicz-Lemberg,  Prof.  Dr.  Tand ler- Wien,  Prof.  Dr. 
Ziehen- Wiesbaden,  Prof.  Dr.  Zimmermann-Bern.  Herausgegeben  von  Prof. 
Dr.  med.  Albert  Oppel  in  Halle  a.  S. 

1.  Teil:  Der  Magen.  Von  Prof.  Dr.  A.  Oppel,  Mit  275  Abbildungen  im 
Text  und  5  lithogr.  Tafeln.     1896.  Preis:   14  Mark. 

2.  Teil:  Schlund  und  Darm.  Von  Prof.  Dr.  A.  Oppel.  Mit  443  Ab- 
bildungen im  Text  und  4  lithogr.  Tafeln.     1897.  Preis:  20  Mark. 

3.  Teil:  Mundhöhle,  Bauchspeicheldrüse  und  Leber.  Von  Prof.  Dr.  A. 
Oppel.    Mit  679  Abbildungen  im  Text  und  10  lithogr.  Tafeln.    1900.    Preis:  36  Mark. 

4.  Teil:  Ausführapparat  und  Anhangdrüsen  der  männlichen  Geschlechts- 
organe. Von  Dr.  Rudolf  Disselhorst,  Prof.  der  Universität  Halle  a.  S.  Mit 
435  Abbildungen  im  Text  und  7  lithogr.  Tafeln.     1904.  Preis:  20  Mark. 

5.  Teil:  Die  Parietalorgane.  Von  Dr.  F.  K.  Studnicka,  Brunn.  Mit 
134  Abbildungen  im  Text  und  1  lithogr.  Tafel.     1905.  Preis:  8  Mark. 

6.  Teil:  Atmungsapparat.  Von  Prof.  Dr.  med.  Albert  Oppel.  Mit 
364  Abbildungen  im  Text  und  4  lithogr.  Tafeln.     1905.  Preis:  24  Mark. 

7.  Teil:  Sehorgan.  Von  Prof.  Dr.  phil.  V.  Franz,  Leipzig-Marienhöhe. 
Mit  431  Abbildungen  im  Text.     1913.  Preis:  18  Mark. 

8.  Teil:  Die  Hypophysis  Cerebri.  Von  Dr,  phil.  Walter  Stendell, 
Frankfurt  a.  M.    Mit  92  Abb.  im  Text.    (VIII,  168  S.  gr.  8°.)     1914.     Preis:  8  Mark. 

Vergleichung  des  Entwicklungsgrades  der  Organe    SCh"edenen 

Entwicklungszeiten   bei  Wirbeltieren.     Von  Prof.    Dr.  Albert  Oppel.     (IV, 

181  S.  gr.  8°.)     1891.  Preis:  7  Mark.