Skip to main content

Full text of "Die neue Freiheit, ein Aufruf zur Befreiung der edlen Kräfte eines Volkes"

See other formats


DIE  NEUE 

FREIHEIT 

EIN  AUFRUF  ZUR 
BEFREIUNG-DER^ 

EDLEN  KRÄFTE 

EINES  VOLKES  VON 

WÖODRÖW 

^WILSON 


MÜNCHEN 
BEI  GEORG  MULLEIL 


IPresenteö  to 
ot  tbe 

^nivevBit^  ot  ^Toronto 


bl> 


^r.  E.O.l.  Pis^j,^^ 


v-^t^: 


:-^-v^;: 


■K—  *■  ^C^*^  -*^.  .iJfe-  v-^r.  <•  - 


•M'  *  . 


'r,    ■        .■>.■-■ 


:s-:^-! 


Woodrow  Wilson:  Die  neue  Freiheit 

Zweite  Auflage 


^IIIIIIIIIIIIM 

Die  neue  Freiheit 

Ein  Aufruf 

zur  Befreiung  der  edlen  Kräfte 

eines  Volkes 

von 

Woodrow  Wilson 


Mit  einer  Einleitung  von 

Hans  Winand     ,  ^%'^y^Ä 


München  1914  bei  Georg  Müller 


nllllllllllllllllllllllllllllllllllllilllllllillllilllillllillllillllllllllillllllllllllllllllllllllillllilllllllilllllin 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


aiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiii|i||i|!ll!l!iiiiiiiiiiiii^ 


INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 

Einleitung 7 

Ein  Vorwort 37 

ERSTES  KAPITEL 

Das  Alte  stürzt 39 

ZWEITES  KAPITEL 

Was  ist  Fortschritt  ? 57 

DRITTES  KAPITEL 

Ein  freies  Volk  braucht  keine  Vormundschaft     72 

VIERTES  KAPITEL 

Vom  Boden  kommt  das  Leben 87 

FÜNFTES  KAPITEL 

Das  Volksparlament 94 

SECHSTES  KAPITEL 

Laßt  Licht  herein 108 

SIEBENTES  KAPITEL 

Die  Tarif  frage 125 

ACHTES  KAPITEL 

Die  Trustfrage  und  der  freie  Wettbewerb  .    .     142 

NEUNTES  KAPITEL 

Recht  oder  Gnade  ? 162 

ZEHNTES  KAPITEL 

Die  Entthronung  des  Boß 179 

ELFTES  KAPITEL 

Die  Befreiung  des  Geschäftslebens 201 

ZWÖLFTES  KAPITEL 

Die  Befreiung  der  Volkskräfte 215 


^illllllllllllllllillllllilllllllllllllllllllllllillllllilililiilillllllllllllllillillilllllliilinilllllllllllllllllll^ 


Einleitung 

Amerika  steht  an  einem  neuen  Wendepunkt  seines 
Nationallebens.  In  kurzer  Zeit  hat  die  Union  mit  einer 
Kraftentfaltung,  die  Bewunderung  erzwingt,  eine  Ent- 
wicklung durchmessen,  die  das  Land  vor  einen  Scheide- 
weg stellt,  der  eine  tiefergreifende  Entscheidung  fordert 
als  die  schlichte  Wahl  zwischen  rechts  und  links.  Die  Zu- 
spitzung der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  mag  zuerst  das 
gigantische  Fragezeichen,  das  weitblickendere  Geister  Ame- 
rikas schon  vor  Jahrzehnten  heraufdämmern  sahen,  zu 
allgemeiner  Sichtbarkeit  emporgetürmt  haben.  Heute,  da 
es  drohend  inmitten  der  Heerstraße,  fast  möchte  man 
sagen  der  Rennbahn  amerikanischer  Entwicklung  steht, 
wirft  es  seine  Schatten  weit  über  die  Grenzen  des  Wirt- 
schaftssystemes  hinaus.  Das  ganze  Netzwerk  ethischer 
Kräfte,  die  bewußt  und  unbewußt  den  Werdegang  Amerikas 
bestimmten,  harrt  einer  neuen  Musterung.  Die  Frage- 
stellung hat  Dimensionen  angenommen,  denen  die  Beant- 
wortung einzelner  politischer  und  wirtschaftlicher  Tages- 
fragen nicht  mehr  gerecht  werden  kann.  Der  beispiellose 
wirtschaftliche  Aufschwung  der  letzten  Jahrzehnte,  der 
in  seinen  Ausmaßen  die  europäische  Parallele,  den  Auf- 
schwung Deutschlands,  in  den  Schatten  stellt,  wälzte  seine 
Flut  mit  stürmischer  Macht  einem  konsequent  pluto- 
kratischen  Wirtschaftssystem  entgegen.  Das  geschah  mit 
dem  ganzen  Ungestüm  einer  Nation,  die  an  ihrem  Dogma 
der  politischen  und  wirtschaftlichen  Voraussetzungs- 
losigkeit  trotzig  festhielt.  Diese  Etappe  mußte  von  Amerika 


nicht  weniger  durchmessen  werden,  als  ältere  Nationen 
sie  mit  größerer  Bedachtsamkeit  zu  durchmessen  sich  an- 
schicken. Vielleicht  war  es  die  klügere  Politik,  die  Tiefe 
dieser  Sackgasse  gleich  im  Sturmschritt  zu  durcheilen,  um 
durch  schnellere  Erkenntnis  die  Kostspieligkeit  des  Ex- 
perimentes abzukürzen.  Radikalismus  war  der  bessere 
Dienst.  Das  in  wenigen  Jahrzehnten  aufgetürmte  pluto- 
kratische  System,  dessen  Krönung  die  riesenhafte  Ent- 
wicklung und  Machtanhäufung  der  das  Land  gleich  einem 
Spinnennetz  überziehenden  Trusts  verkörpern,  wirkte 
durch  seine  Überspannung  eines  an  sich  gesunden  wirt- 
schaftlichen Grundsatzes  gleichsam  wie  ein  gewaltiges 
Staubecken,  das  dem  Strome  der  Gesamtheit  Einhalt  gebot. 
An  die  Stelle  einer  mannigfaltigen  Vielheit  frei  fließender 
Kräfte,  die,  allen  Volksschichten  entquellend,  konzen- 
trisch dem  Ziele  der  allgemeinen  Wohlfahrt  zustrebten, 
entstand  eine  mächtige  Wasserfläche,  die  den  ganzen 
Druck  der  aufgehäuften  Mengen  in  einigen  schmalen  Ka- 
nälen einfing,  deren  Schleusen  einige  wenige  Industrie- 
kapitäne regulieren. 

Wenn  nur  eine  Eindämmung  wirtschaftlicher  Kräfte 
gefolgt  wäre,  hätte  der  unaufhaltsam  zunehmende  Druck 
durch  sein  eigenes  Wachstum  vielleicht  automatisch  seine 
Ventile  geschaffen.  Auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung 
wären  die  Schleusentore  Schritt  um  Schritt  verbreitert  und 
vermehrt  worden.  Wege  hätten  sich  gefunden,  die  abflie- 
ßenden Gewinnmassen  auf  größere  und  vor  allem  brei- 
tere Gebiete  des  Volkstums  zu  verteilen.  Daß  der  Versuch 
dazu  nicht  zur  rechten  Stunde  vorbereitet  und  begonnen 
wurde,  wird  die  Geschichtsschreibung  auf  der  Sollseite  der 
amerikanischen  Industrieführer  buchen.  Aber  dieser  stra- 
tegische Irrtum  ist  kein  zufälliges  Versagen  des  Weit- 
blickes. Er  entwuchs  dem  Radikalismus  des  amerikani- 
schen Temperaments,  das  in  seinen  reinsten  Formen  noch 

8 


immer  etwas  von  der  draufgängerischen  Ungebrochenheit 
der  ewigen  Jugend  bewahrt  und  instinktiv  zu  Extremen 
strebt.  Die  ungewöhnUchen  wirtschaftlichen  Vorbedin- 
gungen dieses  Landes  haben  stets,  auch  auf  dem  Wege  über 
gewaltige  Krisen,  zum  Erfolge  geführt.  Wirtschaftliche 
Schönwetterperioden  glichen  die  Wirbelstürme  vergangener 
Irrtümer  mit  uneuropäischer  Schnelligkeit  wieder  aus. 
Das  ,, Vorwärts",  dieser  kategorische  Imperativ  amerika- 
nischen Lebens,  bannt  den  Blick  des  einzelnen  auf  die  Zu- 
kunft. Errungene  Erfolge  erscheinen  nur  als  das  Vorspiel 
künftiger  Erfolge  und  dem  Auge  bleibt  keine  Zeit,  sinnend 
auf  Vergangenheit  und  Gegenwart  zu  verweilen.  Die  Schöp- 
fer der  großen  Trusts  hätten  auch  auf  die  Fragen,  die  sie 
zu  stellen  versäumten,  in  der  Vergangenheit  eine  Antwort 
kaum  gefunden.  Nur  aus  dem  dumpfen  Raunen  der  Ge- 
genwart tönten  ihnen  Stimmen  entgegen,  die  Warnungen 
glichen.  Aber  sie  mußten  ungehört  verhallen,  wo  die  Ge- 
genwart nur  Schwelle  zur  Zukunft  ist  und  die  letzten 
Träume  der  großen  Trustarchitekten,  die  Vertrustung  aller 
Trusts,  noch  nicht  restlos  verwirklicht  waren.  Dazu  kam, 
daß  es  keine  Gewalt  gab,  die  dem  Sturmlauf  zur  Zukunft 
eine  Schranke  entgegengetürmt  hätte. 

Daß  dieser  Widerstand  fehlte,  lag  in  Mängeln,  die 
von  der  amerikanischen  Regierungspraxis  während  der 
letzten  Generation  herausgebildet  worden  waren.  Regie- 
rungsmethoden, die  einer  unfertigen  und  gleichsam  noch 
flüssigen  Gesellschaftsmasse  gerecht  werden  konnten,  hät- 
ten nur  durch  eine  zeitgemäße  Umformung  einer  neuen 
Gesellschaftsordnung  angepaßt  werden  können,  die  sich 
immer  klarer  gliederte  und  immer  schärfer  abstufte. 
Die  Anpassung  blieb  aus.  An  diesem  Punkte,  wo  die 
Linien  der  Regierungspraxis  und  der  Gesellschaftsent- 
wicklung sich  kreuzen,  statt  die  Parallele  aufrechtzuer- 
halten,  offenbart  sich  eine  Eigentümlichkeit  der  spezi- 


fischen  politischen  Begabung  Amerikas.  Die  Geschichte 
der  Union  zeigt,  daß  mit  der  wachsenden  Sicherung  der 
nationalen  Selbständigkeit  dem  pragmatischen  Denken 
Amerikas  seine  Ziele  und  Gesetze  fast  ausschließlich  von 
der  unmittelbaren  Notwendigkeit  diktiert  wurden.  Immer 
war  es  die  Gegenv/art,  die  drohend  oder  bittend  den  Staats- 
männern entgegentrat  und  ihnen  bestimmt  umrissene  Auf- 
gaben stellte.  Und  die  Gegenwart  stellte  ihre  Aufgaben 
ausnahmslos  mit  einer  Wucht,  die  Vertagungen  ausschloß. 
Man  hat  bisweilen  den  Eindruck,  daß  diese  Unmittelbar- 
keit der  Notwendigkeiten  sich  wie  ein  Alp  auf  das  staats- 
männische Denken  der  Nation  legt  und  im  seltsamen  Ge- 
gensatz zum  wirtschaftlichen  Streben  die  Blickrichtung  zur 
Zukunft  verhindert.  Inmitten  dieser  hastvoll  wachsenden 
vielfältigen  Nation  sind  die  Aufgaben  des  Tages  so  groß 
und  widerspruchsreich,  daß  ihre  Lösung  ganze  Kraft  for- 
dert und  keinen  Überschuß  hinterläßt,  der  sich  der  fer- 
neren Zukunft  zuwenden  könnte.  Daß  die  Union  noch 
stets  in  entscheidender  Stunde  die  Staatsmänner  großen 
Formats  aufbrachte,  die  ihre  Aufgaben  anzupacken  und  zu 
lösen  wußten,  ist  ein  Beweis  für  die  ungewöhnlich  reiche 
Produktion  staatsmännischer  Talente  in  der  neuen  Welt. 
Sie  erklärt  sich  nur  durch  die  strenge  politische  Schulung, 
die  Amerika  von  Anbeginn  zuerst  seinen  Gästen,  dann 
seinen  Söhnen  auferlegte ;  sie  erklärt  sich  zum  Teil  auch 
durch  das  von  Anfang  an  demokratische  Verwaltungs- 
system, das  seit  dem  Tage  der  Unabhängigkeit  und  auch 
früher  schon  die  Angelegenheiten  der  Regierung  zu  An- 
gelegenheiten aller  machte  und  politische  Begabung  erzog, 
indem  sie  jedem  die  Bahn  zur  Betätigung  freimachte.  Aber 
auf  der  anderen  Seite  erklärt  gerade  dieses  System,  das 
mit  seiner  Kurzfristigkeit  der  Machterteilung  beispiels- 
weise die  Kraft  eines  Bismarck  zu  neun  Zehnteln  zur  Un- 
tätigkeit verdammt  hätte,  auch  die  mit  dem  Lauf  der  Jahr- 

10 


zehnte  zunehmende  Beschränkung  des  poHtischen  Han- 
delns auf  die  Gegenwart. 

Die  Lehre,  nach  der  Gesetze  nur  die  Spiegelung  und  das 
Ergebnis  der  Wirklichkeit  sind,  durchzieht  das  gesamte 
staatsmännische  Walten  der  neueren  Vereinigten  Staaten. 
Aber  im  Laufe  der  Generationen  glitt  das  politische  Wirken 
bei  der  Verwirklichung  dieses  Grundsatzes  immer  stärker 
einer  Auslegung  zu,  die  ohne  weiteres  die  Wirklichkeit 
mit  der  Gegenwart  identifizierte.  Wie  die  Staatsmänner 
die  Impulse  ihres  Handelns  unter  zunehmender  Ausschal- 
tung der  Zukunft  von  der  Gegenwart  empfingen,  gingen 
auch  die  Antriebe  zur  Gesetzgebung  aus  der  Wirklichkeit 
des  gegenwärtigen  Tages  hervor.  Es  konnte  nicht  aus- 
bleiben, daß  die  jüngeren  Regierungsabschnitte  der  Union 
gleichsam  retrospektiven  Charakter  annahmen.  Sie  wur- 
den in  ihrer  inneren  Politik  weniger  durch  eigene  Ini- 
tiative als  durch  die  allgemeine  Entwicklung  vorwärts- 
gestoßen. Es  zeugt  für  den  Idealismus  der  Nation,  daß  die 
Notwendigkeiten,  die  die  Staatsmänner  zum  Handeln  trie- 
ben, keineswegs  nur  materieller  Natur  waren.  Die  große 
Krise  der  amerikanischen  Nationalgeschichte,  der  Skla- 
venkrieg, begann  als  ein  ethischer  Konflikt  und  wurde  zu 
einem  Kampfe  um  das  Ideal  der  nationalen  Einheit.  Daß 
der  Süden  dabei  auch  die  materielle  Zweckmäßigkeit  seiner 
sozialen  Gliederung  verteidigte,  verstärkt  nur  die  wirkende 
Bedeutung  der  ethischen  Postulate,  die  den  Norden  zum 
Angriff  trieben.  Für  ihn  handelte  es  sich  nicht  um  wirt- 
schaftliche Notwendigkeiten,  er  kämpfte  für  ein  unmate- 
rielles Ideal  und  besiegelte  seinen  Glauben  auch  mit  seinem 
Blute.  Aber  von  diesem  letzten  blutigen  Konflikte  und  den 
bereits  plutokratisch  gefärbten  imperialistischen  Extra- 
touren der  jüngsten  Zeit  abgesehen,  blieb  das  neuere 
staatsmännische  Denken  Amerikas  fast  ausschließlich 
der  Beseitigung  bereits  erwachsener  Mißstände  zugewandt. 

II 


Man  steht  hier  vor  der  logischen  Folge  jenes  alten  Ideals, 
das  jene  Regierung  die  beste  nannte,  die  am  wenigsten 
regiere.  Die  Zeit  hat  es  übernommen,  die  Unzweckmäßig- 
keit  einer  konsequenten  Durchführung  dieses  Gedankens 
darzutun.  Im  Angesicht  einer  neuen  wirtschaftlichen  und 
sozialen  Gliederung  mußte  dieses  Lieblingskind  des  alten 
puritanischen  Idealismus  allgemach  zu  einem  wesens- 
armen rhetorischen  Schlagwort  herabsinken.  Die  Idee  ist 
der  Verwirklichung  nicht  mehr  fähig.  Daß  immer  wieder 
versucht  wurde,  mit  diesem,  unter  neuen  Verhältnissen 
lebensunfähig  gewordenen  Ideal  zu  liebäugeln,  ist  eine 
jener  politischen  Versäumnisse,  die  heute  das  Land  vor 
die  Notwendigkeit  einer  Umkehr  stellen. 

Seit  den  Tagen,  da  in  den  letzten  zwanziger  Jahren  das 
berüchtigte  Spoilsystem  mit  seinem  Schlachtrufe:  ,,Dem 
Sieger  die  Beute**  nationale  Geltung  erlangte,  ist  es  trotz 
aller  heilsamen  Reaktionen  nicht  gelungen,  diesen  Grund- 
satz völlig  aus  der  amerikanischen  Politik  zu  verbannen. 
Diese  Praxis,  die  persönlich-egoistische  Momente  in  das 
politische  Walten  hineintrug,  mußte  naturgemäß  einen 
mächtigen  Ansporn  zum  Ausbau  der  politischen  Kampf- 
organisationen bergen.  Aber  sie  bereitete  nicht  nur  einer 
strafferen  Organisation  der  politischen  Maschinen  den  Bo- 
den, sie  ebnete  auch  das  Feld,  auf  dem  die  Ausbildung 
des  Boßsystems  und  die  selbstsüchtige  Mechanisierung  des 
politischen  Apparates  emporwachsen  sollten.  Die  Kurz- 
fristigkeit der  politischen  Machterteilung,  die  von  der 
Unionsverfassung  und  noch  mehr  von  den  Verfassungen 
der  Einzelstaaten  vorgesehen  ist,  führte  zugleich  dazu, 
daß  die  Vervollkommnung  der  Parteimaschinen  nicht  der 
Regierungsgewalt  zugute  kam.  Immer  klarer  offenbarte 
sich  im  Lauf  der  Jahrzehnte  die  merkwürdige  Erschei- 
nung, daß  die  Wucht  der  politischen  Leidenschaft  dazu 
neigte,  ihre  fruchtbare  Kraft  viel  mehr  auf  die  Gewinnung 

12 


der  Regierung  als  auf  deren  Ausübung  zu  konzentrieren. 
Der  Kampf  um  politische  Überzeugungen  sank  zu  einem 
Ringen  um  die  Macht  herab :  und  war  die  Macht  errungen, 
dann  ließ  das  Verlangen  nach  ihrer  schleunigen  Aus- 
nützung und  die  Sorge  um  ihre  Behauptung  die  Ideale  ver- 
gessen, unter  denen  man  in  den  Kampf  gezogen  war. 

Mit  den  siebziger  Jahren,  nach  der  ,, Rekonstruktion" 
der  Union,  tritt  ein  neues  Element,  das  bald  lawinenartig 
anschwellen  sollte,  in  das  Leben  der  Nation.  Der  Übergang 
vom  Agrarstaat  zum  Industriestaat  bereitet  sich  vor.  Mit 
ihm  beginnt  eine  Neuorganisation  des  Geschäftslebens,  die 
von  Anfang  an  dem  Großbetrieb  zusteuert.  Entscheiden- 
den Einfluß  und  nationale  Breite  erlangt  diese  Strömung 
nach  der  großen  Wirtschaftskrise  von  1893.  Sie  wird  das 
Signal  zum  Aufruf  aller  Kräfte  und  ihr  Ziel  ist  zunächst 
der  Aufbau  einer  Industrie,  die  die  Union  vom  Weltmarkt 
unabhängig  machen  sollte.  Der  Elan,  mit  dem  hinter  den 
Mauern  des  Hochzolles  dieses  Industriegebäude  mit  einer 
fast  magischen  Tatkraft  aufgerichtet  wurde,  hat  etwas  Im- 
ponierendes, das  immer  wieder  die  europäische  Einbil- 
dungskraft in  Schwingungen  versetzt.  Denn  hier  feierte 
das  Zauberwort  modernen  Wirtschaftskampfes,  das  Zau- 
berwort Organisation  seine  höchsten  Triumphe. 

Bald  aber  sollte  sich  dabei  zeigen,  daß  die  Praxis  der 
Regierung  mit  diesem  Eiltempo  der  Entwicklung  nicht 
Schritt  zu  halten  vermochte.  Zum  ersten  Male  trat  es  klar 
zutage,  daß  das  retrospektive  Regierungssystem,  das  Re- 
gierungssystem, das  sein  Ziel  darin  sieht,  entstandene  Miß- 
stände zu  verringern  und  prophylaktische  Arbeit  unbewußt 
vom  Arbeitsprogramme  streicht,  nicht  immer  ausreichen 
kann.  Man  sah  sich  der  Gefahr  des  Zuspätkommens,  der 
amerikanische  Staatsmänner  früher  stets  zu  entgehen  ver- 
standen, gegenüber  gestellt.  Und  zum  ersten  Male  er- 
wies sich  jenes  Dogma  von  der  Verteilung  der  Gewalten, 

13 


das  den  Schöpfern  der  amerikanischen  Verfassung  in  ihrer 
Furcht  vor  den  Gespenstern  der  Pöbelherrschaft  und  der 
Autokratie  vorgeschwebt  hatte,  als  ein  Hindernis.  Die  Drei- 
teilung der  Macht  unter  dem  Präsidenten,  dem  Kongreß 
und  dem  Bundesgerichtshof  war  der  in  so  kurzer  Frist 
gewaltig  angewachsenen  Macht  des  plutokratisch  organi- 
sierten Kapitals  nicht  gewachsen.  Das  Prinzip  der  Zen- 
tralisierung in  der  Geschäftswelt  zeigte  sich  dem  Regie- 
rungsprinzip der  Dezentralisierung  überlegen.  Die  Ab- 
hängigkeit von  einer  Parteimaschine,  durch  die  die  Exe- 
kutive den  Weg  zur  Macht  gefunden  hatte,  ward  zu  einer 
Fessel,  die  mit  der  bisher  üblichen  politischen  Praxis  nicht 
abgestreift  werden  konnte.  Die  Arbeit  der  Parteimaschinen 
hatte  sich  immer  enger  mit  dem  Boßsystem  verknüpft. 
Und  über  diese  Brücke  der  reinen  Geschäftspolitik  führte 
der  Weg  in  die  offenen  Arme  der  mächtigen  Industrie- 
und  Handelskombinationen,  die  heute  das  wirtschaftliche 
Leben  der  ganzen  Nation  bestimmen.  Trotz  aller  konsti- 
tutionellen Blitzableiter  sah  Amerika  j  enes  Gewitter  herauf- 
ziehen, vor  dem  die  Gründer  des  Staates  ihre  Nachkommen 
zu  schützen  gesucht  hatten.  Das  Gespenst  der  Autokratie 
gewann  plötzlich  ein  Leben,  das  dadurch  nicht  weniger  be- 
ängstigend wurde,  daß  aus  einer  Autokratie  eines  einzel- 
nen die  Autokratie  einer  kleinen  durch  Interessengemein- 
schaften verbündeten  Gruppe  geworden  war. 

Hätte  diese  Gruppe  ihren  Einfluß  mit  staatsmännischer 
Mäßigung  zur  Geltung  gebracht,  wäre  der  Übergangs- 
prozeß, vor  dem  Amerika  heute  steht,  weniger  gewaltsam 
geworden.  Aber  jede  Macht,  die  zugleich  mit  dem  Bewußt- 
sein ihrer  Stärke  der  Verantwortung  von  der  Öffent- 
lichkeit entrückt  ist,  neigt  dazu,  die  Intensität  ihrer  Ein- 
wirkung unausgesetzt  zu  steigern.  Das  geschah;  und  im 
Vertrauen  auf  die  eigene  gute  Sache  geschah  es  mit  jenem 
Ungestüm,  der  schon  im  ersten  Anlauf  die  Schranken  der 


Zweckmäßigkeit  durchbricht.  Den  Nachkommen  jener 
Männer,  die  eine  feindselige  Wildnis  in  eine  Heimat  ver- 
wandelten, eignet  noch  heute  jener  weltenversetzende 
Optimismus,  der  eine  Überschätzung  der  eigenen  Kraft 
nicht  kennt.  Und  es  war  auch  vielleicht  weniger  eine  Über- 
schätzung als  eine  Übersteigerung  der  eigenen  Kraft,  die  in 
dieser  hastigen  wirtschaftlichen  Neuordnung  die  Organi- 
sation überorganisierte.  Die  vollbrachte  Arbeitsleistung 
war  so  gewaltig,  daß  ihre  Schatten  sich  über  das  ganze 
nationale  Leben  erstreckten.  Die  Monopolisierung  des  Ka- 
pitals bestimmte  die  Entwicklungsmöglichkeit  des  Indi- 
viduums. In  dem  Maße,  in  dem  diese  Abhängigkeit  sich 
verschärfte,  wuchs  die  Tiefe  der  Wirkung.  Sie  griff  über 
eine  Monopolisierung  der  materiellen  Daseinsmöglich- 
keiten hinaus  und  beschwor  den  Ansturm  jener  morali- 
schen Kräfte  herauf,  die  hinter  der  Schlachtlinie  des  wirt- 
schaftlichen Kampfes  die  Impulse  eines  Volkes  bestim- 
men. Die  Größe  der  Gefahr  beschleunigte  deren  Erkennt- 
nis. Eine  Zeitlang  konnte  der  Glanz  des  wirtschaftlichen 
Aufschwunges  das  Auge  blenden.  Aber  als  die  gepanzerte 
Faust  des  überorganisierten  Kapitals  immer  härter  in  die 
Lebensbedingungen  der  Allgemeinheit  eingriff,  begann 
man  zu  erkennen,  daß  man  im  Begriffe  stand,  die  demo- 
kratische Selbstregierung  gegen  eine  Art  plutokratischer 
Oligarchie  einzutauschen. 

Schon  McKinley  sah  in  seinen  letzten  Lebenszeiten  diese 
Wolke  heraufziehen.  An  der  Spitze  der  Regierung  blies 
später  Roosevelt  Alarm.  Er  blieb  dem  Lande  manches 
schuldig,  der  winkende  Ruhm  eines  ,, praktischen  Poli- 
tikers" blendete  seine  sonst  so  scharf en  Augen.  Jahre  eines 
nur  halb  erfolgreichen  Ringens  mochten  sein  stürmisches 
Temperament  gebändigt  haben:  und  in  einer  Stunde,  da 
nur  ein  „Alles  oder  Nichts"  heilsam  werden  konnte,  ließ 
er  sich  Schritt  um  Schritt  zu  dem  Verlangen  treiben,  seinen 

15 


Ehrgeiz  auf  ,, realisierbare"  Kompromisse  zu  richten. 
,,But  I  want  to  get  something  through"  —  diese  Antwort, 
die  er  dem  fortschritthchen  Senator  La  Follette  immer 
wieder  gab,  wenn  ihm  durchgreifende  Maßnahmen  (deren 
Notwendigkeit  er  mit  offenem  Sinn  würdigte)  vorgeschla- 
gen wurden,  blieb  für  die  letzten  Präsidenten] ahre  des  frü- 
heren Götzenzertrümmerers  charakteristisch.  Roosevelt 
erkannte  die  Tatsache  der  Gefahr  besser  als  ihre  Trag- 
weite. Ihr  Umfang  begann  sich  ihm  erst  dann  zu  enthüllen, 
als  er  die  vereinzelten  schüchternen  Oppositionsversuche 
gegen  die  Trusts  wieder  aufnahm.  Sein  Versuch,  sie  zu 
einem  stürmischen  Gewaltangriff  zu  machen,  wurde  schnell 
zum  Stehen  gebracht.  Es  zeigte  sich,  daß  der  Einfluß  der 
organisierten  Plutokratie  der  Regierungsgewalt  über  den 
Kopf  gewachsen  war.  Roosevelts  Kampf  gegen  die  Trusts 
mußte  erlahmen.  Statt  gegen  die  Wurzeln  des  Übels  hatte 
er  seine  Waffen  nur  gegen  deren  schlimmsten  Auswüchse 
gerichtet.  Und  sie  mußten  versagen,  weil  Kongreß,  Staats- 
gerichtshof und  vor  allem  die  eigene  Partei  unter  der  Sug- 
gestion der  großen  Organisationen  beharrten.  Dem  fern- 
stehenden Beobachter  erscheint  heute  die  Macht  jener 
Widerstände,  die  Roosevelt  in  die  seinem  Wesen  unge- 
wohnte Welt  der  Kompromisse  trieben,  fast  wie  eine  gün- 
stige Fügung  des  amerikanischen  Schicksals.  Theodore 
Roosevelt  ward  die  Aufgabe,  die  Allgemeinheit  aufzu- 
rütteln. Er  wurde  einer  der  segensreichsten  Faktoren  in 
der  Erweckung  des  Volkes  aus  einer  Lethargie,  die  ge- 
fährlicher war  als  freimütige  Unzufriedenheit.  Die  ärm- 
lichen Erfolge,  die  er  in  seinem  Kampfe  gegen  die  Aus- 
wüchse des  Trustwesens  erntete,  wurden  indirekt  frucht- 
barer als  die  volle  Verwirklichung  seiner  Absichten  es  ge- 
worden wäre.  Die  Ohnmacht  der  Regierung  trat  offen  zu- 
tage. Das  Taftsche  Regime  tat  ein  übriges,  indem  es  die 
wenig  beneidenswerte  Lage  der  Exekutive  noch  unter- 

i6 


strich.  Die  Lage  hatte  sich  so  zugespitzt,  daß  nur  ein  Appell 
an  die  höchsten  Mächte  der  Demokratie  Hilfe  verheißen 
konnte.  Es  war  die  Hilfe  durch  das  Volk. 

Der  alte  Grundsatz  der  Souveränität  des  Volkes,  das 
Allerheiligste  amerikanischer  Überlieferung,  schien  be- 
droht, ja  fast  schon  aufgehoben.  Er  war  schon  im  Laufe 
der  letzten  Jahrzehnte  unter  dem  Drucke  einer  zum  Sche- 
matismus gewordenen  legislativen  Praxis  einer  Art  Starr- 
krampf verfallen.  Behutsame  Hände  hatten  dies  demo- 
kratische Heiligenbild  aus  dem  Reiche  der  lebendigen  Wirk- 
lichkeiten längst  in  den  Schrein  der  Nationalideale  über- 
führt. Hier  wurde  es  am  4.  Juli  und  bei  anderen  festlichen 
Anlässen  dem  Volke  noch  gezeigt.  Und  in  Stunden  patrio- 
tischer Weihe  bezeugte  ihm  Amerika  freudig  und  stolz 
eine  Ehrfurcht,  deren  Widerhall  bisweilen,  in  Augen- 
blicken nationaler  Erbauung,  den  schlummernden  Schutz- 
patron seinen  Kyffhäuserträumen  zu  entreißen  schien. 
Aber  das  Mysterium  sollte  doch  Wirklichkeit  werden.  Um 
die  Inbrunst  dieses  Vorganges  zu  verstehen,  muß  man  sich 
klarmachen,  daß  in  der  amerikanischen  Union  National- 
gefühl und  demokratisches  Fühlen  identisch  sind.  Die 
wirklich  zu  einer  kraftvollen  ,, moralischen  Energie"  aus- 
gebildete Vaterlandsfreudigkeit  Amerikas,  die  als  ein  bis- 
weilen latentes,  aber  stets  tatbereites  Imponderabilium 
die  Impulse  der  Volksseele  beherrscht,  ließ  die  Erkenntnis 
der  Lage  zu  einer  tiefgreifenden  Aufrüttelung  der  Masse 
werden.  Das  war  nicht  ein  abstraktes  Prinzip  oder  eine 
blutlose  theoretische  Formel,  die  in  Gefahr  schien:  das 
war  das  heilige  Erbe,  für  das  die  Väter  ihr  Blut  verpfändet 
hatten,  das  war  der  Quell,  aus  dem  das  Amerikanertum 
den  Stolz  und  das  zur  Arbeit  und  zu  Taten  stählende  Selbst- 
bewußtsein schöpft.  In  den  Visionen  der  Patrioten  begann 
das  Schreckbild  einer  ,, Freiheit"  aufzutauchen,  die  von 
sorgsamen  und  gewissenhaften  Kellermeistern  destilliert, 

2  17 


auf  Flaschen  gezogen  und  mit  routinierter  Fachkenntnis 
kühl  und  trocken  gelagert  wird.  Es  genügte,  um  eine  Na- 
tion zu  mobilisieren,  die  gewohnt  war,  nach  eigenem  Wil- 
len den  Weg  zum  Quell  zu  gehen. 

Aber  auf  den  ausgefahrenen  Geleisen  der  bisherigen 
politischen  Gepflogenheiten  schien  das  Ziel  nicht  mehr  er- 
reichbar. Roosevelts  fröhliche  Fanfare,  der  so  schnell  die 
sanfte  Schamade  gefolgt  war,  hatte  das  schon  gezeigt.  Die 
folgenden  Zeiten  politischer  Ohnmacht  gaben  der  Allge- 
meinheit genug  unfreiwillige  Muße,  um  daheim  im  stillen 
Inventur  zu  machen.  Man  begann  zu  prüfen,  wie  die  mit- 
geführten Überzeugungen  und  ethischen  Instinkte,  die 
tief  auch  dem  stillen  Reiche  des  Gefühlslebens  emporstei- 
gen, die  scharfe  Luft  einer  neuen  Welt  vertrügen,  die  über 
Nacht  wie  durch  Zaubergewalt  umgeschaffen  schien  und 
mit  der  Vergangenheit  kaum  noch  die  Schatten  einer  ent- 
fernten Familienähnlichkeit  aufwies.  In  solchen  Stunden 
der  Einkehr  mag  das  politische  Problem  des  Tages  vor 
vielen  seine  Maske  abgenommen  haben.  Die  Augen  des 
nationalen  Geistes  Amerikas  richteten  sich  fragend  auf 
sein  Volk.  Unter  diesem  Blicke  wurde  aus  dem,  was  vielen 
zuvor  nur  ein  verwaltungstechnisches  Problem  geschienen 
haben  mochte,  jenes  gewaltige  Fragezeichen,  vor  dem  das 
Land  heute  steht.  Und  jenseits  der  Tagesfragen  aktiver 
politischer  Verwaltung  ersteht  die  Aufgabe,  im  Angesicht 
einer  neuen  Lebensordnung  den  ganzen  Umkreis  ameri- 
kanischer Kulturideale  einer  Revision  zu  unterziehen. 


In  der  sozialen  Geschichte  der  Union  bestimmen  zwei 
Ideale  in  seltsamer  Verknüpfung  den  Kulturwillen  der 
Nation.  Beide  entwuchsen  dem  in  der  neuen  Welt  frucht- 
bar gewordenen  Boden  des  Calvinismus.  Von  der  Gleich- 
heit aller  Seelen  vor  Gott,  die  Amerikas  erste  Versuche  einer 

i8 


staatsähnlichen  sozialen  Gliederung  von  Calvin  übernah- 
men, war  nur  ein  durch  die  Umstände  der  Kolonisations- 
arbeit gebotener  Schritt  zum  religiösen  und  zum  politischen 
Individualismus.  Ihn  zwang  das  republikanische  Staatsideal 
zur  Ehe  mit  den  Theorien  der  Demokratie,  die  aus  den  Ver- 
hältnissen folgerecht  emporwuchsen.  Überträgt  man  diese 
Tendenzen  auf  eine  moderne  Gesellschaftsordnung,  die  im 
Zeichen  der  Großorganisation  ihre  höchste  Leistungsfähig- 
keit sucht,  so  zeigt  sich  bald,  daß  die  neue  Ordnung  das 
demokratische  Ideal  zwar  aufnimmt,  aber  dem  radikalen 
Individualismus  des  älteren  Amerika  keinen  Raum  mehr 
gewähren  kann.  Dieser  alte  Individualismus  war  ein  etwas 
ungewiß  umgrenzter  Sammelbegriff,  aber  Grundlage  und 
Nährboden  jener  Willensimpulse,  die  in  Tagen  der  Einzel- 
wirtschaft die  Pioniere  Amerikas  mit  jener  prachtvollen 
Energie  sättigten,  ohne  die  das  heldische  Epos  der  Erschlie- 
ßung eines  neuen  Weltteils  niemals  in  den  unverlierbaren 
Besitz  der  Menschheit  übergegangen  wäre.  Solange  dies 
individualistische  Ideal  gleichsam  ein  Nutzwert  war,  der 
durch  tägliche  Anwendung  vor  der  Gefahr  bewahrt  blieb, 
theoretisch  zu  Ende  gedacht  zu  werden,  konnte  sein  Bünd- 
nis mit  der  demokratischen  Idee  ohne  Mißklänge  bleiben. 
Der  Verflechtung  dieser  wesensverschiedenen  Lebensten- 
denzen entsprossen  in  buntem  Wechselspiel  treibende 
Kräfte,  die  auf  eine  gewisse,  nicht  kurze  Zeitspanne  das 
Tempo  des  sozialen  und  politischen  Fortschrittes  heil- 
sam fördern  konnten.  Aber  die  neuen  sozialen  Umfor- 
mungen mußten  das  demokratische  Denken  Amerikas  zu 
einer  Revision  jenes  alten  Ideals  zwingen,  das  einem  Mi- 
nimum der  Regierungsorganisation  zustrebte.  Die  anar- 
chischen Elemente,  die  in  jedem  konsequent  zu  Ende  ver- 
folgten Individualismus  verborgen  liegen,  mußten  dabei 
zutage  treten  und  ihre  praktischen  Unzuträglichkeiten 
enthüllen.  Das  war  auch  schon  früher  geschehen,  wenn 

2»  19 


immer  radikale  Individualisten  es  versuchten,  ihre  Ge- 
dankengänge als  Bausteine  einer  Weltanschauung  zu 
Wort  zu  bringen.  Noch  in  den  dreißiger  Jahren  mochten 
beschauliche  Gemüter  in  den  wundervollen  Betrachtungen 
Thoreaus  Fundamente  suchen,  auf  denen  sich  eine  Lebens- 
philosophie aufbauen  ließ,  nach  der  sich  zur  Not  leben  ließ, 
ohne  darum  gleich  Eremit  oder  aus  Liebe  zum  All  anti- 
sozial zu  werden.  ,, Alleinsein  ist  Weisheit,  Alleinsein  ist 
Glück,  die  Gesellschaft  macht  uns  heutzutage  niederge- 
drückt, hoffnungslos,  Alleinsein  ist  der  Himmel"  schrieb 
Emerson  noch  im  Jahre  1835.  Allein  inmitten  des  werk- 
tätigen Lebens  der  Gegenwart  und  inmitten  eines  Wirt- 
schaftssystems, das  auf  dem  Wege  des  Zusammenschlus- 
ses der  Arbeitsmöglichkeiten  weit  fortgeschritten  ist,bleibt 
mit  einer  folgerichtigen  Verwirklichung  individualistischer 
Ideale  nicht  viel  zu  erreichen.  Sie  führen  innerhalb  der 
heutigen  Wirtschaftsordnung  in  gerader  Linie  zur  Brach- 
legung der  individuellen  Leistungskraft.  Mit  der  Negation 
der  Gesellschaft  ist  nichts  gebessert.  Die  Genüsse  des  Al- 
leinseins sind  nur  einzelnen  philosophischen  Gemütern  er- 
reichbar, die  der  Notwendigkeit  des  wirtschaftlichen  Le- 
benskampfes entrückt  sind.  Das  ist  eine  verschwindende 
Minorität:  und  die  Aufstellung  eines  Ideals,  das  notge- 
drungen nur  einer  verschwindenden  Minorität  zugänglich 
bleiben  muß,  wäre  eine  Verneinung  demokratischen  Den- 
kens. Einer  Vielheit  von  Menschen,  die  durch  die  Bande 
der  Notwendigkeit  und  des  Gefühls  zu  einer  größeren  Ge- 
meinschaft, zu  der  eines  Volkes  und  einer  Nation  zusam- 
mengeführt werden,  muß  jede  Spielart  dieser  individua- 
listischen Lehren  zur  Negation  ihres  Daseins  werden.  Ame- 
rika mußte  beginnen,  sein  altes  individualistisches  Ideal 
umzuformen  und  soziabel  zu  machen.  Unbewußt  mochte 
dieser  Prozeß  einsetzen,  aber  darum  nicht  mit  geringerer 
Entschlossenheit.  Erst  allmählich  nimmt  er  den  Charakter 

20 


bewußten  Wollens  an.  Schon  Walt  Whitman,  um  eine  all- 
gemein sichtbare  Etappe  dieses  Weges  herauszugreifen, 
bereichert  mit  der  rhapsodischen  Intuition  des  Sehers  das 
individualistische  Ideal  Amerikas  um  das  Attribut  der  Ka- 
meradschaft. Sein  poetisch  verklärtes  Lebensziel  wird  es, 
nahe  an  der  ,, großen  Heerstraße**  zu  wohnen  und  ,, allen 
Menschen  Freund  zu  sein".  Und  als  er  sagte:  ,,Ich  will 
nichts  annehmen,  was  nicht  alle  zu  gleichen  Bedingungen 
erhalten  können",  gab  er  nur  die  neuere  Variante  jenes 
demokratischen  Stolzes,  der  einst  Lowell  auf  eine  Bemer- 
kung über  die  Überlegenheit  der  weißen  Rasse  erwidern 
ließ:  ,,Kein  Gentleman  kann  ein  Vorrecht  annehmen,  das 
anderen  unzugänglich  bleibt.** 

Dem  heutigen  Amerika  fällt  die  Aufgabe  zu,  die  an- 
gebahnte Umwandlung  seines  individualistischen  Ideals  zu 
vollenden.  Es  wird  eine  Form  erhalten  müssen,  in  der  es 
sich  den  erweiterten  demokratischen  Gefühlskreisen  ein- 
fügt. Denn  die  neue  Demokratie  schickt  sich  an,  ihre  alten 
Vorstellungen  vom  Wirkungsfeld  einer  Regierung  vom 
Grund  auf  zu  revidieren.  Die  Notwendigkeit  ist  gekommen, 
das  Aufsichtsrecht  der  Staatsgewalt  auf  Gebiete  auszu- 
dehnen, die  dem  älteren  Amerika  als  ein  unantastbares 
Allerheiligstes  des  Individuums  galten.  Wo  früher  Recht 
der  Regierung  aufhörte,  werden  morgen  ihre  folgenreich- 
sten Pflichten  beginnen.  Die  Übernahme  dieser  Pflichten 
wird  in  der  Praxis  unwillkürlich  eine  Vergrößerung  der 
Machtbefugnisse  mit  sich  bringen.  Der  neuen  Organisation 
des  Wirtschaftslebens  muß  eine  neue  Organisation  des 
Staatslebens  folgen :  und  ihr  eine  Erneuerung  der  gesam- 
ten Kulturideale. 

Wie  schnell  es  der  Nation  gelingen  wird,  über  diesen 
Wendepunkt  hinauszukommen,  vermag  heute  niemand 
vorauszusehen.  Harte  und  geräuschvolle  politische  Kämpfe 
werden  dem  Lande  vielleicht  nicht  erspart  bleiben.  Und 

21 


ein  stilleres,  geistigeres  Ringen  wird  hinter  der  politischen 
Arena  den  Waffenlärm  begleiten.  Die  Geschichte  Amerikas 
bietet  keine  Analogie  für  diese  Duplizität  eines  kulturellen 
und  politischen  Kampfes.  Zum  erstenmal  fällt  in  der  Ent- 
wicklung des  Landes  eine  schroffe  politische  Wegbiegung 
mit  einer  Neuorientierung  des  ganzen  Kulturgewissens  zu- 
sammen. Eine  über  Nacht  emporgetauchte  neueWirtschaf  ts- 
ordnung  kreuzt  eine  in  stiller  Sammlung  sich  rüstende 
ethische  Strömung,  die  ihre  letzten  Ziele  noch  nicht  klar  ab- 
messen konnte.  Und  noch  ehe  ihre  Kräfte  reifen  und  sich 
ordnen  konnten,  werden  sie  zu  einem  Kampfe  aufgerufen, 
den  eine  jäh  emporgetauchte  äußere  Notwendigkeit  ihr  auf- 
zwingt. Aber  das  Ende  dieses  Kampfes  ist  kaum  zweifelhaft. 
Noch  immer,  wenn  in  der  Heimat  Washingtons  und  Lin- 
colns ethische  Gewalten  sich  zum  Kampfe  aufrafften,  wuß- 
ten sie  den  Weg  zum  Siege  zu  finden ;  und  ihre  Schuld  war 
es  nie,  wenn  mit  der  Stunde,  da  sie  nach  vollbrachtem 
Werke  zu  stilleren  Pflichten  in  die  Heimat  zurückkehrten, 
manche  der  eroberten  köstlichen  Schätze  wieder  vergeu- 
det und  verpraßt  wurden.  Aber  die  ferneren  Ziele,  die  nach 
dem  jetzt  einsetzenden  Ringen  das  Fühlen  des  Volkes,  die 
,, moralische  Energie"  der  Union  sich  stellen  wird,  ver- 
hüllen noch  die  Nebel  einer  ungeklärten  Zukunft.  Für  die 
Politik  liegt  der  Weg  vorgezeichnet.  Der  staatsmännischen 
Kraft  harrt  eine  Überfülle  der  Aufgaben,  die  jeder  neue 
Tag  multipliziert.  Aber  welche  Einwirkung  die  unaus- 
bleibliche politische  Neuordnung  auf  die  Kulturideale  des 
Landes  ausüben  wird,  ist  heute  noch  nicht  abzumessen. 
Einer  individualistischen  Carlyleschen  Heldenverehrung 
versperrt  das  auf  fester  ethischer  Grundlage  ruhende  de- 
mokratische Fühlen  den  Weg.  Die  Gefahren  der  Demo- 
kratie, die  Neigung  zu  einer  nivellierenden  Uniformierung 
des  Denkens  und  Strebens,  wird  heute  auch  in  der  neuen 
Welt  nicht  mehr  verkannt.  Und  man  fühlt  auch,  daß  mit 

22 


der  erlahmenden  Triebkraft  des  individualistischen  Den- 
kens der  Kultur  ein  heilsames  Korrelat  der  konsequent 
demokratischen  Weltbetrachtung  verloren  geht.  Aber  wie 
diese  Lücke  gefüllt  und  wie  der  Gefahr  der  Nivellierung  be- 
gegnet werden  soll,  darauf  fehlt  einstweilen  noch  die  Ant- 
wort. Das  Schlagwort  von  einer  ,, Vergeistigung  der  Demo- 
kratie" ist  zwar  gefallen,  allein  der  Sinn,  der  hinter  diesem 
Worte  Versteck  spielt,  hat  sich  bis  heute  einer  klaren  Deut- 
barkeit entzogen.  Und  so  steht  an  Stelle  eines  klaren 
Ideals  noch  jener  etwas  verschwommene,  beinahe  fata- 
listisch gefärbte  Optimismus,  dem  einst  Walt  Whitman 
Ausdruck  lieh,  als  er  sagte : ,, Bringt  große  Männer  hervor, 
der  Rest  wird  sich  finden." 


Einige  Worte  noch  über  den  Mann,  den  die  Union  zum 
Führer  im  jetzigen  Kampfe  erwählte.  Nicht  des  Zufalls 
Fügung  brachte  ihm,  dem  ,, Professor",  den  Ruf  ins  Weiße 
Haus.  Die  biographischen  Daten  seines  Lebens  enthüllen 
dem  oberflächlichen  Blicke  freilich  erst  spät  die  Wegwei- 
ser, die  von  Woodrow  Wilsons  virginischer  Heimat  oder 
von  seinem  Auditorium  in  der  Princeton-Universität  nach 
Washington  deuten.  Nach  den  Mitteilungen  seines  Bio- 
graphen William  Bayard  Hale  wurde  Thomas  Woodrow 
Wilson  am  28.  Dezember  1856  zu  Staunton  in  Virginien 
geboren.  Daß  durch  seine  väterlichen  Ahnen  schottisches, 
durch  seine  Mutter  irisches  Blut  in  seinen  Adern  sich 
mischten,  daß  unter  seinen  Vorfahren  der  geistliche  Beruf 
mit  dem  des  Publizisten  und  Redakteurs  alternierten  und 
daß  sein  Vater  als  einer  der  bedeutsamsten  Kanzelredner 
und  presbyterianischen  Geistlichen  des  Südens  hohes  An- 
sehen genoß  —  alles  das  sind  Umstände,  die  auf  Wesen 
und  Charakter  Woodrow  Wilsons  einen  Einfluß  geübt  ha- 
ben mögen :  allein  ihre  Kenntnis  erklärt  noch  nicht  das  gei- 

23 


stige  Profil  des  Mannes.  Sein  Vater  v/ar  sein  erster  Lehrer ; 
als  Siebzehnjährigen  schickte  man  den  Jungen  ins  David- 
son College  im  Mecklenburg  County.  Im  September  1875 
bezieht  Woodrow  als  junger  Student  die  Princeton-Uni- 
versität,  damals  noch  das  , »College  of  New  Jersey":  und 
hier  fällt  die  Entscheidung  über  seine  Lebensrichtung. 

In  der  Bücherei  kommt  ihm  als  erstes  Buch  ein  Jahr- 
gang des  bekannten  Gentlemans  Magazine  in  die  Hände. 
Es  ist  der  Jahrgang  1874.  Wer  diesen  Band  der  einst  be- 
rühmten Zeitschrift  aufschlägt,  wird  hier  jene  parlamen- 
tarische Berichterstattung  wieder  aufgenommen  finden, 
die  einst  das  Entzücken  des  guten  alten  Dr.  Johnson  bil- 
dete. Wilson  blätterte:  und  er  stieß  auf  jene  meisterhaften, 
farbigen,  mit  überlegenem  Geist  geschriebenen  kleinen 
Aufsätze,  die  als  klassische  Musterbeispiele  einer  geist- 
reichen parlamentarischen  Berichterstattung  zu  einer  in- 
ternationalen Fibel  der  Parlaments  Journalistik  gemacht 
werden  sollten.  Der  Schriftsteller,  der  diese  kleinen  Meister- 
stücke der  Parlamentsreportage  verfaßte  —  und  allerdings 
über  Modelle  wie  Gladstone,  Disraeli,  John  Bright  und 
Granville  verfügte  —  zeichnete  als  ,, member  for  the  Chil- 
tern  hundred".  Es  war  Henry  W.  Lucy,  der  spätere  Er- 
finder des  ,,Toby,  M.  P."  im  Punch:  damals  aber  noch 
in  der  Vollkraft  seiner  journalistischen  Begabung.  Woo- 
drow Wilson  hat  später  erklärt,  daß  diese  bunten,  leben- 
sprühenden temperamentvollen  kleinen  Aufsätze,  die  wie 
in  einem  Mikroskomos  die  ganze  Elektrizität  der  damalige 
Unterhauskämpfe  spiegelten,  ihn  mehr  als  alle  anderen 
Umstände  den  Entschluß  fassen  ließen,  das  Wirken  für 
die  Öffentlichkeit  zum  Ziel  und  zum  Inhalt  seines  Lebens 
zu  machen. 

Die  kleine  Episode  mag  angeführt  sein,  weil  sie  die 
außeramerikanische  Legende  korrigieren  kann,  nach  der 
in  Woodrow  Wilson  ein  weitabgewandter  Akademiker  un- 

34 


Versehens  in  das  Kampf getöse  der  Politik  geraten  sei.  Von 
Anbeginn  gilt  sein  Streben  und  Wirken  dem  späteren  Ein- 
tritt in  das  öffentliche  Leben.  Noch  ehe  er  die  Universität 
verläßt,  hat  er  seinem  Namen  Beachtung  erobert.  Im  Som- 
mer 1879  erscheint  in  den  Spalten  der  ernstesten  und  an- 
gesehensten Monatsschrift  des  damaligen  Amerika,  in  der 
International  Review,  eine  Arbeit  des  zweiundzwanzig- 
j ährigen  Studenten.  Sie  führt  den  Titel  ,, Kabinettsregie- 
rung in  den  Vereinigten  Staaten":  und  hier  sind,  bereits 
vor  vierunddreißig  Jahren,  jene  politischen  Reformforde- 
rungen aufgestellt,  die  heute  Gemeingut  des  amerikani- 
schen Denkens  sind.  Schon  damals  legte  Wilson  die  Finger 
auf  Wunden,  deren  Gefährlichkeit  erst  spätere  Jahre  er- 
weisen sollten  und  deren  Heilung  heute  im  Mittelpunkt 
des  politischen  Ringens  steht.  Es  ist  das  berüchtigte  Klau- 
sursystem des  gesetzgeberischen  Wirkens,  jene  Konzen- 
trierung aller  entscheidenden  legislativen  Einflüsse  auf 
kleine  Kommissionen,  die  hinter  verschlossenen  Türen 
walten  und  in  der  Unpersönlichkeit  ihrer  Beschlußfassung 
sich  jeder  unmittelbaren  Verantwortung  vor  der  Öffent- 
lichkeit entziehen.  Es  sind  die  Gefahrquellen  eines  Systems, 
das  jede  freimütige  Diskussion  in  offener  Parlaments- 
sitzung ausschaltet  und  damit  die  politische  Teilnahme  des 
Volkes  einschläfert ;  und  entschlossen  wendet  sich  der  junge 
Kritiker  gegen  jene  Atmosphäre  der  Heimlichkeit,  die  das 
legislative  Wirken  Amerikas  erfüllt.  Die  Summe  der  Ein- 
wände, die  damals  der  dreiundzwanzigj  ährige  Student  mit 
der  klaren  Sachlichkeit  eines  erstaunlich  reifen  Kritikers 
zieht,  gleicht  genau  der  Summe  der  später  zutage  treten- 
den Schäden.  Sein  erster  Angriff  richtet  sich  sofort  auf  das 
Zentrum  jener  Legislaturmethoden,  die  der  Ursprung  aller 
jener  lawinenartig  anwachsenden  Mißstände  sind,  die  heute 
einen  radikalen  Eingriff  fordern.  Er  überschaut  die  Trag- 
weite der  Mängel.  Und  er  beweist  sie  nicht,  wie  seine  Ju- 

25 


gend  das  gerechtfertigt  hätte,  mit  der  Waffe  einer  einseitig 
aggressiven  Polemik ;  er  erörtert  mit  der  ruhigen  Sicherheit 
einer  spezifisch  staatsmännischen  Intelligenz,  die  allen 
Konsequenzen  der  Verhältnisse  klar  ins  Auge  sieht.  Schon 
damals  empfiehlt  er  der  legislativen  Praxis  seines  Landes 
eine  stärkere  Anlehnung  an  die  Parlamentsmethoden  Eng- 
lands, die  durch  die  Herausarbeitung  der  Parteiverantwort- 
lichkeit und  den  engeren  Kontakt  zwischen  Exekutive  und 
Legislative  jene  Schäden  fernhielten,  mit  denen  die  Union 
heute  abzurechnen  hat. 

Die  von  dem  Zweiundzwanzig  jährigen  in  jenem  Auf- 
satz angedeuteten  Grundsätze  durchziehen  fortan  Wilsons 
Wirken.  Sie  bleiben  Grundriß  seiner  Überzeugungen;  sie 
werden  ausgebaut,  erweitert,  vertieft  und  durch  wachsende 
Erfahrung  und  wachsendes  Wissen  bereichert,  aber  in  ih- 
rem Wesen  bleiben  sie  unangetastet.  Mit  dem  Ziele  einer 
Regierungsorganisation,  deren  Konstruktion  eine  stete  und 
unmittelbare  Einwirkung  des  Volkswillens  gewährleisten 
soll,  wächst  der  Bau  seiner  Anschauungen  organisch  em- 
por. Alle  Erfahrungen  und  Beobachtungen  des  Lebens  und 
Denkens  werden  ungezwungen  zu  Bestätigungen  und  fü- 
gen sich  als  neue  Bauglieder  organisch  dem  einst  mit 
jugendlicher  Intuition  entworfenen  System  ein. 

Neben  diesem  folgerichtigen  Wachstum  der  Anschau- 
ungen, die  später  auch  in  der  Praxis  die  Feuerprobe  beste- 
hen sollten,  sinken  die  äußeren  Etappen  von  Wilsons  Le- 
bensgang zu  bescheidenerem  Einfluß  herab.  Er  beendet 
seine  juristischen  Studien,  und  sofort  entscheidet  er  sich 
für  jenen  Weg,  der  ihn  nach  seinem  Glauben  am  schnell- 
sten seinem  eigentlichen  Ziele  zuführen  würde :  dem  öffent- 
lichen Wirken.  Es  ist  der  gleiche  Weg,  auf  dem  Abraham 
Lincoln  in  die  Geschichte  seines  Vaterlandes  trat :  der  Be- 
ruf des  Rechtsanwaltes.  In  Atlanta  läßt  sich  der  junge 
Jurist  nieder.  Es  sollte  sich  bald  zeigen,  daß  dieser  Weg 

26 


einem  jungen  Manne,  der  in  der  fremden  Stadt  ohne  Be- 
ziehungen und  mit  irdischen  Schätzen  nicht  überbürdet 
war,  kaum  gangbar  sein  konnte.  Am  Fenster  eines  Zim- 
mers, im  zweiten  Stockwerk,  in  der  Marietta  Street,  ward 
kunstvoll  das  Firmenschild  befestigt,  das  die  rechtsbedürf- 
tigen Bürger  Atlantas  anlocken  sollte.  Aber  das  Schild  be- 
wies nicht  die  magnetischen  Gewalten,  die  der  j  unge  Rechts- 
anwalt von  ihm  erhofft  hatte.  Kein  Mensch  bekümmerte  sich 
um  den  tatendurstigen  Rechtskundigen.  Zur  Weiterfüh- 
rung seiner  staatsrechtlichen  Studien  blieb  ihm  mehr  Zeit 
als  ihm  lieb  war.  Aber  um  staatsrechtliche  Studien  zu  be- 
treiben, braucht  man  nicht  in  Atlanta  hinter  einem  Firmen- 
schild zu  sitzen.  Als  nach  achtzehn  Monaten  der  erträumte 
Ansturm  der  Klienten  noch  immer  nicht  beginnen  wollte, 
stellte  Woodrow  Wilson  mit  einem  entschlossenen  Ruck 
das  Steuer  seines  Lebens  auf  einen  anderen  Kurs.  Das 
Schild  in  der  Marietta  Street  ward  eines  Morgens  abge- 
schraubt, das  Bureau  geschlossen,  der  Koffer  gepackt: 
und  als  achtundzwanzigj  ähriger  Mann  kehrt  Wilson  zur 
Universität  zurück,  um  wieder  das  Leben  eines  Studenten 
zu  beginnen.  Er  geht  an  die  Johns  Hopkins-Universität  und 
studiert  weiter:  Staatswissenschaften  und  Regierungs- 
philosophie. Noch  als  Student  erscheint,  1885,  Woodrow 
Wilsons  erstes  Werk.  Es  ist  sein  Buch  über  ,, Kongreß- 
Regierung"  ;  und  mit  einem  Schlage  macht  es  ihn  bekannt. 
Noch  ehe  er  Zeit  findet,  sich  zum  Doktorexamen  zu  rüsten, 
kommen  von  den  Hochschulen  die  Berufungen.  In  dem 
neu  gegründeten  Bryn  Mawr  College  für  Frauen  —  die 
Spötter  nannten  es  damals  ,, Johanna  Hopkins**  —  nahm 
er  den  Lehrstuhl  für  Geschichte  und  politische  Wirtschafts- 
lehre an.  Noch  im  Sommer  des  gleichen  Jahres  führt  er 
seine  Braut  heim :  und  das  Leben  eines  erfolgreichen  aka- 
demischen Lehrers  beginnt.  Bereits  fünf  Jahre  später  er- 
geht an  ihn  der  Ruf  der  Princeton-Universität,  die  ihm 

27 


ihren  Lehrstuhl  für  Politik  und  Rechtskunde  einräumt. 
Und  1902  wird  Woodrow  Wilson  Präsident  von  Princeton. 
Als  er  acht  Jahre  später  dies  Amt  niederlegt,  geschieht 
es  nur,  um  als  Gouverneur  an  die  Spitze  des  Staates  New 
Jersey  zu  treten.  Die  Gelegenheit  zur  praktischen  Ver- 
wirklichung der  Überzeugungen,  die  ein  Leben  des  Lernens 
und  Lehrens  gereift  hatten,  war  gekommen.  Als  ein  eng- 
lischer Journalist  ihm  damals  erstaunt  die  Frage  vorlegte, 
welche  Gründe  ihn  nur  bewegen  könnten,  die  angesehene 
Stellung  eines  im  Lande  berühmten  Akademikers  mit  der 
nicht  sonderlich  hochgeachteten  Tätigkeit  eines  Berufs- 
politikers zu  vertauschen,  konnte  Woodrow  Wilson  lä- 
chelnd erwidern:  „Ich  habe  meine  Schüler  so  lange  ge- 
lehrt, wie  es  gemacht  werden  könnte,  daß  es  Zeit  wird, 
ihnen  zu  zeigen,  daß  es  gemacht  werden  kann."  Das 
Schicksal  hatte  ihn  zu  dem  Ziele  geführt,  das  er  als  Neun- 
zehnjähriger erwählte,  als  er  die  Probleme  des  Regierens 
zu  seiner  Lebensaufgabe  erkor. 


Daß  die  Persönlichkeit  Wilsons,  die  bis  vor  einigen  Jah- 
ren abseits  der  politischen  Praxis  verharrt  war,  so  plötzlich 
in  den  Vordergrund  der  öffentlichen  Meinung  Amerikas 
trat,  erklärt  sich  nicht  allein  durch  den  starken  Einfluß, 
der  von  seinen  Schriften  ausging,  und  auch  nicht  durch 
die  große  Zahl  der  Männer,  die  einst  als  Studenten  den  Ein- 
fluß seiner  Persönlichkeit  empfingen  und  den  Weckruf  zu 
einer  politischen  Erneuerung,  der  seine  Lehrtätigkeit 
durchklang,  ins  Leben  hinaustrugen.  Es  waren  zwei  einan- 
der schnell  folgende  Ereignisse,  die  plötzlich  die  Gestalt 
dieses  Mannes  in  den  Brennpunkt  des  öffentlichen  Inter- 
esses rückten :  Woodrow  Wilsons  Verzicht  auf  die  weitere 
Präsidentschaft  der  Princeton-Universität  und  sein  Wir- 
ken als  Staatsoberhaupt  von  New  Jersey. 

28 


Von  Wilsons  Rücktritt  vom  Präsidium  in  Princeton 
hat  Haie  eine  aktenmäßige  Darstellung  überliefert.  Sein 
Abschied  war  die  Handlung  eines  Mannes,  der  eine  Brach- 
legung seiner  Ideale  nicht  hinnehmen  wollte.  Was  sich  in 
Princeton  abspielte,  hat  manche  Berührungspunkte  mit 
dem  heutigen  Kampfe  der  Überzeugungen  im  ganzen 
Lande.  Es  war  der  Kampf  um  den  Sieg  eines  demo- 
kratischen Ideals  über  Mächte  der  Plutokratie;  aber  in 
Princeton  nahm  das  Ringen  die  reine  Form  eines  Kampfes 
um  ethische  Grundsätze  an.  In  den  Jahren  seiner  Präsi- 
dentschaft hatte  Woodrow  Wilson  die  Organisation  des 
Princeton  College  von  Grund  auf  reformiert;  nun  blieb 
der  Aufbau  der  sogenannten  Graduate-school  einer  durch- 
greifenden Revision  zu  unterziehen.  Princeton  wurde  seit 
jeher  von  der  Jugend  der  reicheren  Stände  bevorzugt.  Der 
draußen  im  Leben  hervortretende  Zug  zu  einer  üppigen 
Lebenshaltung  mußte  naturgemäß  mit  der  Zeit  auch  in  der 
Studentenschaft  sein  Echo  finden.  Aristokratische  Tenden- 
zen begannen  sich  geltend  zu  machen.  Sie  drohten  einen 
Keil  in  die  Einheit  der  Jugend  zu  treiben.  Eine  Reihe  von 
Klubs  waren  erstanden,  durch  die  sich  eine  Hälfte  der  Stu- 
dentenschaft —  vorwiegend  Söhne  vermögender  Eltern  — 
von  den  anderen  abschlössen.  Klassengegensätze  began- 
nen hervorzutreten,  wurden  bestärkt  und  gefährdeten  das 
demokratische  Ideal  einer  alle  gleichmäßig  umfassenden 
Kameradschaft.  Wilsons  Reformpläne  steuerten  einer  Ver- 
stärkung des  persönlichen  Kontaktes  zwischen  Lehrer  und 
Schülern  und  einer  Erhöhung  des  kameradschaftlichen  Zu- 
sammengehörigkeitsgefühls unter  den  Studenten  zu.  Der 
Konfliktsstoff  war  gegeben.  Die  einzelnen  Phasen  dieses 
Kampfes,  der  sehr  leidenschaftliche  und  dramatische  For- 
men annahm,  können  hier  nicht  nachgezeichnet  werden. 
Ideale  der  Demokratie  und  Ideale  plutokratischen  Aristo- 
kratentums  standen  gegeneinander.  Die  Macht  des  Geldes 

29 


siegte.  In  entscheidender  Stunde  fiel  der  Universität  ein 
Zwölfmillionenlegat  zu ;  nach  den  Bestimmungen  des  ver- 
storbenen Stifters  sollte  die  Summe  in  einer  Weise  verwandt 
werden,  in  der  Wilson  eine  Stärkung  und  Verschärfung 
der  Klassengegensätze  sehen  mußte.  Die  amerikanischen 
Hochschulen  sind  in  ihrer  Erhaltung  auf  Schenkungen  an- 
gewiesen. Die  Schwierigkeiten  der  Geldbeschaffung  sind  oft 
gewaltig ;  sie  machen  es  begreiflich,  daß  der  Aufsichtsrat 
von  Princeton,  der  Wilsons  Absichten  bis  zu  diesem  Augen- 
blicke energisch  gestützt  hatte,  zögerte  und  schließlich  vor 
der  Höhe  der  Summe  kapitulierte. 

Allein  die  ungewöhnlichen  Umstände,  unter  denen  die- 
ser Kampf  der  Überzeugungen  geführt  und  entschieden 
wurde,  hatten  die  Aufmerksamkeit  des  Landes  auf  das 
sonst  so  stille  Princeton  gelenkt.  Der  leidenschaftliche  Frei- 
mut, mit  dem  Princetons  Präsident  die  Sache  eines  de- 
mokratischen, amerikanischen  Erziehungsideals  geführt 
hatte,  fand  im  Lande  sein  Echo.  Die  Antwort  war  die 
Wahl  Woodrow  Wilsons  zum  Gouverneur  des  Staates. 

Wilsons  Tätigkeit  als  Gouverneur  New  Yerseys  bleibt 
eines  der  interessantesten  Kapitel  amerikanischer  Ver- 
waltungsgeschichte. In  kurzer  Frist  war  eine  neue  Ge- 
setzgebung eingeführt,  die  dem  seit  Jahrzehnten  von  den 
Trusts  beherrschten  Staate  die  Selbstverwaltung  zurück- 
gab. Und  die  neue  gesetzliche  Regelung  der  Verhältnisse 
bewährte  sich  nicht  nur  in  der  Praxis,  sondern  erbrachte 
auch  den  Beweis,  daß  die  heute  im  großen  für  die  ganze 
Union  angestrebte  Reform  ohne  wirtschaftliche  Schädi- 
gungen verwirklicht  werden  kann.  Allein  das  war  nicht  das 
Überraschende  der  Vorgänge.  Das  lag  in  der  Sicherheit, 
mit  der  hier  ein  einzelner  Mann  ein  seinen  fortschrittlichen 
I^länen  widerstrebendes  Parlament  dazu  brachte,  die  ein- 
gebrachten Gesetzentwürfe  zu  ratifizieren.  Der  neue  Gou- 
verneur begann  seine  Amtsführung  mit  einem  Bruch  mit 

30 


der  alten  Tradition,  die  eine  engere  Zusammenarbeit  der 
Exekutive  mit  der  Legislative  verhinderte.  Allem  Brauche 
zuwider  erschien  der  Gouverneur  im  Parlament,  um  seine 
Gesetze  in  offener  Diskussion  Punkt  um  Punkt  zu  ver- 
teidigen. Um  zu  ermessen,  was  dieses  Vorgehen  in  Ame- 
rika bedeutete,  muß  man  sich  vergegenwärtigen,  daß  das 
Prinzip  der  Teilung  der  Gewalten  im  Laufe  der  Genera- 
tionen zu  einem  unangefochtenen  Dogma  erstarrt  war,  das 
dem  Präsidenten  und  dem  Gouverneur  verbot,  mit  dem 
Parlament  anders  als  schriftlich  zu  verkehren.  Gegen  die 
Opposition   einer  Mehrheit  von  Volksvertretern  wandte 
Wilson  ein  schlichtes  Allheilmittel  an :  den  unmittelbaren 
Appell  an  die  Wählermassen.  Am  Rednerpulte  und  in  den 
Spalten  der  Zeitungen  kämpfte  er  für  das  Programm,  zu 
dessen  Durchführung  er  gewählt  worden  war.  Die  öffent- 
liche Meinung  wurde  in  das  Vertrauen  des  Gouverneurs 
gezogen.  Es  gab  für  die  Parlamentarier  kein  Ausweichen 
mehr.  Die  Hoffnung,  die  den  Sonderinteressenten  uner- 
wünschten Gesetzentwürfe  unauffällig  in  den  Kommis- 
sionen beerdigen  zu  können,  war  vernichtet.  Es  mußte 
Farbe  bekannt  werden.  Im  Plenum  gegen  die  Reformen  zu 
stimmen,  ward  eine  mißliche  Sache.  Die  Gesetze  erzielten 
im  Parlament  Mehrheiten,  die  den  Kennern  der  Verhält- 
nisse wie  ein  Wunder  erscheinen  mußten.  Und  dem  Gou- 
verneur blieb  es  erspart,  das  Mittel  wohlmeinender  Nach- 
hilfe anzuwenden,  auf  das  er  bei  Beginn  des  Kampfes  offen 
hingewiesen  hatte.  Das  Mittel,  dessen  Erwähnung  eine  so 
große  Zauberwirkung  hatte,  war  beschämend  unkompli- 
ziert. Nur  in  einem  Lande,  in  dem  die  Methode  der  heim- 
lichen Abmachungen  und  das  Walten  hinter  verschlosse- 
nen Türen  das  Verantwortlichkeitsgefühl  der  Legislatoren 
eingeschläfert  hatten,  konnte  diese  mild  drohende  Mah- 
nung Früchte  reifen.  Sie  lautete  einfach:  die  Namen  der 
Abgeordneten  und  Senatoren,  die  die  Reformgesetze  zu 

31 


Fall  zu  bringen  suchen,  werden  der  Wählerschaft  und  dem 
Volk  bekannt  gegeben. 

Wie  Woodrow  Wilson  als  Präsident  der  Union  die  grö- 
ßeren Widerstände,  die  seiner  im  Senate  harren,  zu  über- 
winden suchen  wird,  wird  die  Zukunft  lehren  müssen.  In 
diesem  größeren  und  schwereren  Kampfe  steht  er  nicht 
mehr  allein.  Der  Weg  zum  Erfolg  mag  mit  manchen  Teil- 
niederlagen gepflastert  sein.  Nur  Kurzsicht  wird  erwarten, 
daß  die  kurze  Amtszeit  eines  Präsidenten  eine  politische 
Umwandlung  vollendet,  die  nur  dann  lebensfähig  sein 
kann,  wenn  sie  nicht  ruckweise  erzwungen  wird,  sondern 
allmählich  aus  der  heute  noch  ungefestigten  neuen  poli- 
tischen und  wirtschaftlichen  Konstellation  emporwächst. 
Die  tiefere  Bedeutung  von  Woodrow  Wilsons  Einzug  ins 
weiße  Haus  greift  über  künftige  Erfolge  und  Mißerfolge 
seiner  Amtsführung  hinaus.  Seine  Präsidentschaft  bezeugt, 
daß  der  Wille  zu  einer  politischen  und  ethischen  Rekon- 
struktion des  nationalen  Lebens  genügend  erstarkt  ist,  um 
fortan  richtunggebend  die  Gegenwart  auf  ihrem  ewigen 
Marsche  zur  Zukunft  zu  beeinflussen.  Wie  oft  und  wie 
wirksam  machtvolle  Widerstände  diesen  Willen  noch  hem- 
men werden,  bleibt  eine  Angelegenheit  des  flüchtigen  po- 
litischen Alltags.  Rückschläge  mögen  —  wie  weit  ihre 
wirtschaftlichen  Folgen  im  Augenblick  auch  greifen  wer- 
den —  das  Tempo  verlangsamen :  in  die  alten  Bahnen  wer- 
den sie  den  Lauf  der  Dinge  nie  mehr  ganz  und  nie  mehr 
dauernd  zurückdrängen. 


Das  Buch,  das  hier  den  deutschen  Lesern  vorgelegt 
wird,  will  als  Ausdruck  des  heutigen  politischen  Kampfes 
in  den  Vereinigten  Staaten  betrachtet  werden.  Es  sucht 
keine  literarische  Bewertung :  nicht  am  Schreibtisch  ist  es 
entstanden,  es  erwuchs  aus  freier  Rede  in  stürmischen 

32 


Wahlversammlungen.  Ihm  könnten  als  Leitwort  die  Worte 
voranstehen,  die  einst  Lincoln  zu  Beginn  seines  großen 
Redekampfes  mit  Douglas  sprach:  „Ich  kümmere  mich 
nicht  um  die  Ausflüchte  spitzer  Wortspiele.  Ich  weiß,  was 
ich  will,  und  ich  will  die  Menge  darüber  nicht  im  Zweifel 
lassen." 

Wer  Woodrow  Wilson,  den  staatsmännischen  Denker, 
den  Historiker  und  den  Meister  schriftstellerischer  Dar- 
stellungskunst sucht,  wird  sich  mit  diesem  Buche  nicht 
bescheiden.  Er  wird  in  Wilsons  Büchern  Werke  finden, 
die  höchsten  geistigen  und  literarischen  Maßstäben  gerecht 
werden.  Sein  ,, Congressional  Government**  bietet  die  mei- 
sterhafte Kritik  des  amerikanischen  Regierungssystems; 
den  staatsmännischen  Forscher  wird  man  in  seinem  um- 
fassenden Buche  ,,The  state'*  finden,  das  jetzt  auch,  in  einer 
Übertragung  von  Günther  Thomas,  deutsch  vorliegt ;  und 
in  Wilsons  großer ,,  Geschichte  des  amerikanischen  Volkes'*, 
wie  auch  in  seiner  Washingtonbiographie  wird  der  Leser 
dem  Meister  geschichtlicher  Darstellungskunst  begegnen. 
Den  Schriftsteller  und  Menschen  findet  man  in  der  kleinen 
Sammlung  kürzerer  Aufsätze,  die  unter  dem  Titel  ,,Nur 
Literatur"  im  gleichen  Verlage  wie  das  vorliegende  Buch 
in  deutscher  Sprache  erschienen  ist.  In  der  ,, Neuen  Frei- 
heit" aber  spricht  das  neue  Amerika  von  seinem  neuen 
Wollen;  und  es  spricht  durch  den  Mann,  den  es  in  auf- 
gabenreicher Zeit  zum  Führer  bestellte.  Die  Persönlich- 
keit dieses  Mannes  spiegelt  sich  in  der  freimütigen,  un- 
theoretischen Form,  in  der  er  durch  das  Volk  zum  Volke 
spricht. 

Charlottenburg,  Juni  1913. 

Hans  Winand 


33 


Woodrow  Wilson:  Die  neue  Freiheit 


IIIIIIHIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII^ 


Ein  Vorwort 

Seit  dem  Wahlfeldzuge  habe  ich  kein  Buch  geschrieben. 
Dieses  Buch  habe  ich  überhaupt  nicht  geschrieben. 
Es  ist  die  Frucht  der  redaktionellen  Geschicklichkeit  des 
Herrn  William  Bayard  Hale,  der  hier  eine  Reihe  von  Ab- 
schnitten aus  meinen  Wahlreden  zusammengestellt  hat. 

Und  trotzdem  ist  dieser  Band  keine  Sammlung  von 
Wahlreden.  Er  erörtert  eine  Anzahl  sehr  wichtiger  Fragen 
in  der  zwanglosen  Form  der  extemporierten  Rede.  Ich  habe 
den  Sätzen  und  Bemerkungen  die  Form  gelassen,  in  denen 
der  stenographische  Bericht  sie  aufgezeichnet  hat.  Ich  ver- 
mied den  Versuch,  die  lässige  und  oft  zur  schlichten  Um- 
gangssprache werdende  Ausdrucksweise,  in  der  die  Worte 
vom  Rednerpult  aus  fielen,  zu  verändern,  wobei  ich  hoffte, 
daß  diese  Ausführungen  vielleicht  gerade  durch  die  feh- 
lende Ausarbeitung  und  Ausschmückung  frischer  und  un- 
mittelbarer erscheinen  könnten.  Sie  durften  ihren  unvor- 
herbedachten  Lauf  beibehalten,  ungeachtet  selbst  derWie- 
derholungen  und  der  Weitschweifigkeiten,  denen  der  ex- 
temporierende Redner  anscheinend  unvermeidlich  an- 
heimfällt. 

Das  Buch  ist  keine  Erörterung  programmatischer 
Maßnahmen.  Es  ist  ein  Versuch,  dem  neuen  Geiste  un- 
serer Politik  Ausdruck  zu  leihen  und  in  großen  Zügen,  die 
vielleicht  in  der  Einbildungskraft  haften  bleiben  mögen, 
einen  Umriß  dessen  zu  geben,  was  vollbracht  werden  muß, 
wenn  wir  unserer  Politik  ihre  ganze  geistige  Kraft  und 
unserem  Nationalleben  —  ob  nun  im  Handel,  in  der  In- 

37 


dustrie  oder  im  häuslichen  Leben  des  einzelnen  —  seine 
Reinheit,  seine  Selbstachtung  und  seine  ursprüngliche 
Stärke  und  Freiheit  wiedergeben  wollen.  Es  ist  ein  Ruf  an 
den  Patrioten  und  an  alle,  die  frei  sein  wollen.  Die  neue 
Freiheit  ist  nur  die  wiedererwachte,  in  die  unüberwind- 
liche Kraft  des  modernen  Amerikas  gehüllte  alte  Freiheit. 

Woodrow  Wilson. 


38 


Erstes  Kapitel 
Das  Alte  stürzt 

Eine  einzige  fundamentale  Tatsache  liegt  allen  Fragen, 
die  gegenwärtig  die  innere  Politik  Amerikas  bewegen, 
zugrunde ;  es  ist  die  Tatsache,  daß  in  unserm  Lande  heute 
nichts  mehr  so  geschieht  wie  vor  zwanzig  Jahren. 

Wir  sehen  eine  Neuordnung  der  Gesellschaft  herauf- 
kommen. Amerika  ist  nicht  mehr,  was  es  vor  zwanzig 
Jahren,  ja  nicht  einmal,  was  es  vor  zehn  Jahren  war.  Von 
Grund  auf  haben  sich  unsere  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
geändert  und  mit  ihnen  die  Organisation  unseres  ganzen 
Lebens.  Die  alten  politischen  Formeln  stimmen  nicht  mehr 
zu  unsern  heutigen  Aufgaben,  sie  lesen  sich  wie  Doku- 
mente aus  verschollenen  Zeiten.  Die  alten  Parteiprogram- 
me klingen,  als  gehörten  sie  einem  Jahrhundert  an,  das 
die  Menschen  fast  schon  vergessen  haben.  Dinge,  die  man 
noch  vor  einem  Jahrzehnt  in  die  Parteiprogramme  auf- 
nahm, würden  heute  veraltet  klingen.  Unserer  harrt  die 
Notwendigkeit,  eine  neue  soziale  Ordnung  mit  dem  Glück 
und  Gedeihen  der  gesamten  großen  Bürgermassen  in  Ein- 
klang zu  bringen;  denn  wir  sind  uns  bewußt  geworden, 
daß  die  jetzige  Ordnung  der  Gesellschaft  der  Wohlfahrt 
des  Durchschnittsbürgers  nicht  dient.  Unendlich  vielfältig 
ist  das  Leben  der  Nation  geworden.  Es  konzentriert  sich 
heute  nicht  mehr  auf  die  Frage  nach  diesem  oder  jenem 
Regierungssystem  oder  auf  die  Verteilung  von  Regierungs- 
gewalten. Es  konzentriert  sich  auf  etwas,  wofür  eine  Re- 
gierung nur  das  Werkzeug  ist:  auf  Aufbau  und  Wirken 

39 


der  Gesellschaft  selbst.  Unsere  Entwicklung  hat  sich  so 
schnell  vollzogen  und  so  weit  von  jenen  Grenzlinien  ent- 
fernt, die  die  alten  Auslegungen  der  Verfassung  ihr  zo- 
gen, sie  hat  diese  Grenzen  so  mannigfach  gekreuzt  und 
überschritten,  hat  so  neue  Formen  der  Unternehmung 
aufgestellt,  hat  Trusts  und  mächtige  Handelsverbände 
aufgetürmt  und  innerhalb  dieser  Linien  ein  so  mannig- 
faltiges Leben  herausgebildet,  das  von  Kräften  erfüllt  ist, 
die  über  Grenzen  unseres  Landes  hinausgreifen  und  die 
Augen  der  ganzen  Welt  auf  sich  ziehen,  daß  eine  neue 
Nation  entstanden  zu  sein  scheint,  für  die  die  alten  For- 
meln nicht  mehr  passen  oder  eine  lebensfähige  Auslegung 
nicht  mehr  zulassen. 

Wir  sind  in  ein  Zeitalter  getreten,  das  sich  von  jedem 
voraufgehenden  sehr  unterscheidet.  Wir  betreiben  unsere 
Arbeit  und  unsere  Geschäfte  nicht  mehr  in  der  Weise, 
wie  wir  das  früher  zu  tun  pflegten  —  Handel  und  Wan- 
del, die  Arbeit  in  den  Fabriken  und  in  den  Kontoren,  die 
Formen  des  Transports  und  des  Verkehrs  haben  sich  ver- 
wandelt. Es  gibt  einen  Sinn,  in  dem  der  einzelne  heute 
verschwindet.  In  fast  allen  Teilen  unseres  Landes  arbeiten 
die  Menschen  nicht  für  sich  selbst,  arbeiten  nicht  mehr  im 
alten  Sinne  als  Teilhaber,  sondern  mehr  oder  minder  als 
Angestellte  großer  Verbände.  Es  gab  eine  Zeit,  da  Korpo- 
rationen in  unserm  geschäftlichen  Leben  eine  sehr  unter- 
geordnete Rolle  spielten ;  heute  spielen  sie  die  Hauptrolle 
und  die  meisten  Menschen  sind  ihre  Angestellten  gewor- 
den. Man  kennt  die  Umstände,  unter  denen  man  als  Ange- 
stellter einer  Gesellschaft  arbeitet.  Niemals  hat  man  Zu- 
tritt zu  jenen,  die  das  Walten  der  Gesellschaft  wirklich  be- 
stimmen. Wenn  die  Gesellschaft  Dinge  tut,  die  sie  nicht 
tun  dürfte,  hat  man  keine  Stimme,  die  man  dagegen  in  die 
Wagschale  werfen  könnte,  man  muß  gehorchen ;  und  oft 
muß  man  mit  tiefem  Verdruß  an  Dingen  mitarbeiten,  von 

40 


denen  man  weiß,  daß  sie  den  Interessen  der  Allgemeinheit 
zuwiderlaufen.  Die  eigene  Individualität  wird  von  der  In- 
dividualität und  dem  Zweck  einer  großen  Organisation 
verschlungen. 

Während  die  meisten  Menschen  so  in  der  Organisation 
untertauchen,  werden  allerdings  einige  wenige  zu  einer 
Macht  erhoben,  die  sie  als  einzelne  nicht  erlangt  haben 
würden.  Diese  wenigen  kommen  durch  die  großen  Orga- 
nisationen und  Verbände,  deren  Leiter  sie  sind,  in  die 
Lage,  in  der  Beherrschung  des  Geschäftslebens  und  in  der 
Bestimmung  über  das  Wohl  und  Wehe  der  großen  Volks- 
massen eine  bisher  nie  dagewesene  Rolle  zu  spielen.  Sonst 
und  von  jeher  seit  Beginn  der  Geschichte  standen  die 
Menschen  als  Individuen  zueinander  in  Beziehung.  Es  gab 
zwar  Familie,  Kirche  und  Staat,  Einrichtungen,  welche 
die  Menschen  zu  bestimmten  größeren  Gemeinschaften  zu- 
sammenschlössen. Allein  in  ihren  gewöhnlichen  Daseins- 
pflichten, in  der  täglichen  Arbeit,  im  Kreislauf  des  Alltags, 
da  verkehrten  die  Menschen  frei  und  unmittelbar  mit- 
einander. Heute  weisen  die  alltäglichen  Beziehungen  des 
Menschen  in  großem  Maßstabe  auf  gewaltige  unpersön- 
liche Geschäftsgruppen  und  Organisationen  und  nicht  auf 
andere  individuelle  Menschen.  Das  ist  nichts  anderes  als  ein 
neues  soziales  Zeitalter,  eine  neue  Ära  der  menschlichen 
Beziehungen,  ein  neuer  Aufzug  im  Drama  des  Lebens. 

In  diesem  neuen  Zeitalter  gewahren  wir,  um  ein  Bei- 
spiel zu  nennen,  daß  unsere  Gesetze  über  die  Beziehungen 
zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  in  vielen  Rich- 
tungen durchaus  veraltet  und  unmöglich  sind.  Sie  waren 
für  eine  andere  Zeit  aufgestellt,  deren  sich  keiner  der  heute 
Lebenden  noch  erinnert;  denn  sie  ist  unserm  Leben  so 
fern  und  fremd,  daß  es  vielen  von  uns  schwer  würde,  sie 
zu  verstehen,  wenn  man  uns  von  ihr  erzählte.  Der  Arbeit- 
geber ist  heute  in  der  Regel  ein  Verband  oder  eine  große 

41 


Gesellschaft  irgendeiner  Art ;  der  Angestellte  ist  einer  von 
Hunderten  oder  Tausenden,  die  nicht  durch  einzelne  Mei- 
ster, die  sie  kennen  und  zu  denen  sie  persönliche  Bezie- 
hungen haben,  sondern  durch  irgendwelche  Agenturen  zu- 
sammengeführt wurden.  Die  Arbeiter  werden  massenweise 
unter  gemeinsamer  Disziplin  einer  Fülle  spezieller  Auf- 
gaben gegenübergestellt.  Sie  bedienen  gewöhnlich  gefähr- 
liche und  mächtige  Maschinen,  auf  deren  Reparatur  und 
Erneuerung  sie  keinen  Einfluß  haben.  Neue  Gesetze  zu 
ihrem  Schutze,  neue  Bestimmungen  über  die  Verpflich- 
tungen ihrer  Arbeitgeber  und  die  Unterstützung  Arbeits- 
unfähiger müssen  geschaffen  werden. 

Es  ist  etwas  Neues,  Großes  und  sehr  Vielfältiges  um 
diese  neuen  Beziehungen  zwischen  Kapital  und  Arbeit. 
Eine  neue  wirtschaftliche  Gemeinschaft  ist  emporgestie- 
gen und  unser  harrt  die  Aufgabe,  diese  Fülle  neuer  Kräfte 
einander  anzupassen.  Wir  dürfen  nicht  die  Macht  der 
Schwachheit  gegenüberstellen.  Der  Arbeitgeber  von  heute 
ist,  wie  gesagt,  gewöhnlich  kein  einzelnes  Individuum,  son- 
dern eine  mächtige  unpersönliche  Vielheit ;  in  seinen  Be- 
ziehungen zu  seinen  Arbeitgebern  aber  ist  der  Arbeiter  nach 
unsern  bestehenden  Gesetzen  noch  immer  Individuum.  Ar- 
beiter und  Arbeitgeber  sind  nicht  mehr  wie  in  vergangenen 
Zeiten  enge  Verbündete.  Die  meisten  unserer  Gesetze  wur- 
den in  Zeiten  ersonnen,  da  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer 
einander  noch  persönlich  kannten,  gegenseitig  mit  ihrem 
Charakter  vertraut  waren  und  als  Mensch  zu  Mensch  mit- 
einander verhandelten.  Das  ist  nicht  mehr.  Der  Arbeiter  tritt 
nicht  nur  mit  jenen,  die  die  höchste  Leitung  der  großen 
Verbände  führen,  nicht  in  Berührung,  sondern  diese  Mög- 
lichkeit kommt  für  ihn  überhaupt  nicht  mehr  in  Frage. 
Unsere  modernen  Korporationen  beschäftigen  Tausende,  ja 
oft  Hunderttausende  von  Leuten.  Die  einzigen  Personen, 
die  man  zu  sehen  bekommt  oder  mit  denen  man  in  Be- 

42 


rührung  tritt,  sind  Direktoren  der  einzelnen  Betriebe  oder 
lokale  Vertreter  der  großen  Gesellschaft.  Solche  Verhält- 
nisse waren  dem  Arbeiter  jener  Zeit,  in  der  unsere  Ge- 
setze entstanden,  unbekannt.  Ein  kleiner  Kreis  von  Ar- 
beitern, die  ihre  Arbeitgeber  täglich  sehen  und  mit  ihnen 
persönlich  verhandeln,  ist  etwas  ganz  anderes  als  eine 
moderne  Arbeitermasse,  die  im  Dienste  eines  riesenhaften, 
sich  über  das  ganze  Land  erstreckenden  Unternehmens 
steht,  von  dessen  Leitern  sie  sich  keine  persönliche  Vor- 
stellung mehr  machen  kann.  Und  der  Unterschied  ist  sehr 
tiefgreifend.  Einen  ,, Verband"  kann  man  ebensowenig 
sehen,  wie  man  etwa  eine  Regierung  sehen  kann.  Man- 
cher Arbeiter  hat  heute  niemals  die  Männer  gesehen,  die 
die  Industrie  beherrschen,  in  der  er  arbeitet.  Und  ebenso- 
wenig haben  diese  den  Arbeiter  gesehen.  Was  sie  von  ihm 
wissen,  steht  im  Hauptbuch,  in  Büchern  und  Briefen,  in 
der  Geschäftskorrespondenz  und  in  den  Berichten  der  ver- 
schiedenen Fabrikdirektoren. 

Wir  erörtern  nicht  Mißstände,  die  einzelne  absichtlich 
schaffen  —  ich  glaube  nicht,  daß  es  viele  Menschen  gibt, 
die  das  täten  — ,  sondern  die  Mißstände  eines  Systems.  Ich 
möchte  mich  ausdrücklich  gegen  jede  Diskussion  verwah- 
ren, die  den  Anschein  erwecken  könnte,  als  gäbe  es  Grup- 
pen von  Mitbürgern,  die  es  sich  zum  Ziel  setzen,  uns  zu 
bedrücken  und  uns  unrecht  zu  tun.  Es  mag  auch  solche 
Menschen  geben.  Ich  weiß  nicht,  wie  sie  ruhig  schlafen 
können.  Gott  sei  Dank,  daß  sie  nicht  zahlreich  sind.  In 
Wahrheit  sind  wir  alle  in  ein  großes  Wirtschaftssystem  ver- 
strickt, das  herzlos  ist.  Der  moderne  Verband  betreibt  nicht 
als  Individuum  Geschäfte.  Wenn  wir  mit  ihm  in  Berüh- 
rung kommen,  begegnen  wir  einem  unpersönlichen  Ele- 
ment, einem  körperlosen  Teil  der  Gesellschaft.  Ein  mo- 
derner Verband  ist  ein  Mittel  zum  Zusammenwirken  bei 
der  Leitung  eines  Unternehmens,  das  so  groß  ist,  daß  kein 

43 


einzelner  allein  es  leiten  kann,  und  das  zu  finanzieren  die 
Mittel  eines  einzelnen  niemals  ausreichen  würden.  Eine 
Gesellschaft  wird  gegründet,  diese  Gesellschaft  gibt  einen 
Prospekt  aus,  die  Gründer  wollen  eine  bestimmte  Summe 
als  Aktienkapital  aufbringen.  Wie  erreichen  sie  das?  Sie 
erheben  es  von  dem  großen  Publikum,  von  dem  einige 
Aktien  übernehmen.  Mit  dem  Augenblick,  da  dies  ge- 
schieht, ist  die  Aktiengesellschaft  gegründet.  Leute  schießen 
ihr  Vermögen  ein,  kleine  Summen  oder  große  Summen. 
Eine  gewisse  Anzahl  von  Leuten  wird  von  den  Aktionären 
zu  Direktoren  gewählt  und  die  Direktoren  wählen  einen 
Vorsitzenden.  Dieser  Präsident  ist  das  Haupt  des  Unter- 
nehmens und  die  Direktoren  sind  seine  Geschäftsführer. 
Können  nun  die  von  der  Aktiengesellschaft  beschäftig- 
ten Arbeiter  mit  dem  Präsidenten  und  den  Direktoren 
in  Verbindung  treten?  Kann  das  Publikum  mit  diesem 
Präsidenten  und  dem  Ausschuß  der  Direktoren  verhan- 
deln? Nein.  Kann  irgend  jemand  sie  zur  Rechenschaft 
ziehen  ?  Auch  das  ist  so  gut  wie  unmöglich.  Wenn  man  es 
versuchen  wollte,  so  wäre  die  Folge  ein  Verst^ckspielen, 
bei  dem  das  Gesuchte  bald  hinter  den  einzelnen  Persön- 
lichkeiten, bald  hinter  der  Unverantwortlichkeit  der  Kor- 
poration Zuflucht  suchen  würde. 

Berücksichtigen  unsere  Gesetze  diesen  sonderbaren 
Stand  der  Dinge  ?  Versuchen  sie  wenigstens,  zwischen  den 
Handlungen  eines  Menschen  als  Gesellschaftsdirektor  und 
als  Persönlichkeit  zu  unterscheiden  ?  Nein.  Unsere  Gesetze 
behandeln  uns  noch  auf  der  Grundlage  des  alten  Systems. 
Das  Gesetz  weilt  noch  in  einer  toten  Vergangenheit,  die 
wir  längst  überholt  haben.  Das  tritt  z.  B.  deutlich  in  der 
Haftpflicht  der  Arbeitgeber  bei  Arbeitsunfällen  zutage. 
Nehmen  wir  an,  ein  Fabrikdirektor  verlange  von  einem 
Arbeiter  die  Handhabung  einer  bestimmten  Maschine, 
und  der  Arbeiter  wird  durch  jene  Maschine  verletzt.  Un- 

44 


sere  Gerichtshöfe  nahmen  in  solchen  Fällen  an,  der  Fa- 
brikdirektor sei  ein  Arbeitsgefährte  oder,  wie  das  Gesetz  es 
ausdrückt,  ein  „Mitangestellter",  —  und  deshalb  kann  der 
verletzte  Arbeiter  keinen  Schadenersatz  von  ihm  erlangen. 
Denn  der  Fabrikdirektor,  der  wahrscheinlich  den  Arbeiter 
einstellte,  ist  nicht  sein  Arbeitgeber.  Wer  ist  sein  Arbeit- 
geber? Und  wessen  Fahrlässigkeit  könnte  hier  juristisch 
greifbar  in  Frage  kommen?  Der  Direktorenausschuß  hat 
dem  Angestellten  nicht  befohlen  die  Maschine  zu  bedie- 
nen, der  Präsident  ebenfalls  nicht :  und  so  fort.  Es  ist  klar, 
daß  auf  diese  Weise  ein  Mann  niemals  von  seinem  Arbeit- 
geber eine  Entschädigung  erlangen  kann.  Wenn  man  hört, 
daß  Richter  noch  heute  nach  Beziehungen  urteilen,  wie  sie 
zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter  vor  einem  Menschen- 
alter bestanden,  muß  man  sich  wundern,  daß  die  Gerichte 
kein  offeneres  Auge  für  das  moderne  Leben  haben.  Wir 
können  erwarten,  daß  Richter  ihre  Augen  selbst  dort 
offen  halten,  wo  das  Gesetz,  das  sie  auslegen,  noch  nicht 
zur  Gegenwart  erwacht  ist.  Das  ist  nur  ein  einzelnes  klei- 
nes lehrreiches  Beispiel  für  die  Schwierigkeiten,  mit  denen 
wir  zu  rechnen  haben,  weil  wir  unsere  Gesetze  den  Tat- 
sachen der  neuen  Verhältnisse  noch  nicht  angepaßt  haben. 

Seitdem  ich  mich  mit  Politik  befasse,  haben  mir  die 
Leute  ihre  Ansichten  fast  immer  nur  im  geheimen  mit- 
geteilt. Selbst  bedeutende  Männer  der  Handelswelt  und  der 
Industrie  fürchten  irgend  etwas.  Sie  wissen,  daß  irgendwo 
eine  Macht  waltet,  die  so  gut  organisiert,  so  feinfühlig,  so 
wachsam,  so  weit  verzweigt,  so  vollkommen  und  so  weit- 
reichend ist,  daß  es  besser  bleibt,  nur  zu  flüstern  und  ab- 
fällige Urteile  nicht  laut  werden  zu  lassen. 

Amerika  ist  heute  nicht  mehr  das  Land,  in  dem,  wie 
man  einst  zu  sagen  pflegte,  ein  jeder  seinen  eigenen  Beruf 
selbst  erwählen  und  nach  Maßgabe  seiner  Fähigkeiten  un- 
gehindert ausüben  kann.  Wer  sich  heute  auf  bestimmte 

45 


Gebiete  begibt,  stößt  auf  Organisationen,  die  Mittel  genug 
anwenden  werden,  um  zu  verhindern,  daß  er  ein  Unter- 
nehmen aufbaue,  das  ihnen  im  Wege  ist.  Die  Korpora- 
tionen sorgen  dafür,  daß  ihm  der  Boden  unter  den  Füßen 
fortgezogen  wird  und  die  Absatzgebiete  sich  vor  ihm  ver- 
schließen. Denn  wenn  er  beginnt,  gewissen  Kleinhändlern 
seine  Ware  zu  verkaufen,  weigert  sich  das  Monopol,  diesen 
Kleinhändlern  weiter  zu  liefern  und  die  eingeschüchterten 
kleinen  Abnehmer  werden  die  Waren  des  neuen  Mannes 
nicht  mehr  beziehen.  Und  das  geschieht  in  dem  Lande,  das 
der  Welt  das  Ideal  der  vollkommen  freien  Möglichkeiten 
verkündete;  das  geschieht  in  dem  Lande,  von  dem  man 
annimmt,  daß  in  ihm  kein  Mensch  anderer  Beschränkung 
als  der  seines  Charakters  und  seiner  Intelligenz  unterwor- 
fen ist,  wo  es  keine  Klassen  und  keine  Blutsunterschiede 
geben  soll  und  keine  Unterschiede  der  sozialen  Stellung, 
sondern  jeder  gewinnt  und  verliert  nach  seinem  Ver- 
dienste. 

Mir  liegt  als  Mann  der  Öffentlichkeit  die  Frage  schwer 
auf  dem  Gewissen,  ob  wir  noch  länger  an  den  Pforten  un- 
seres Landes  die  Neuankommenden  mit  solchen  Worten 
willkommen  heißen  dürfen.  Amerikanische  Industrie  ist 
nicht  wie  einst  frei,  amerikanische  Unternehmung  ist 
nicht  frei ;  dem  Mann  mit  kleinerem  Kapital  wird  es  immer 
schwerer,  Zutritt  zum  Kampfplatz  zu  erlangen,  und  mehr 
und  mehr  unmöglich,  mit  den  Großen  in  Wettbewerb  zu 
treten.  Warum  ?  Weil  unsere  Gesetze  es  nicht  verhindern, 
daß  der  Starke  den  Schwachen  zugrunde  richtet.  Und  da 
die  Starken  die  Schwachen  erdrückt  haben,  beherrschen 
die  Starken  die  Industrie  und  das  wirtschaftliche  Leben 
unseres  Landes.  Es  kann  keiner  leugnen,  daß  sich  die 
Schranken  für  den  Unternehmungsgeist  immer  mehr  ver- 
engt haben ;  jeder,  der  etwas  von  der  Entwicklung  unserer 
Industrie  weiß,  muß  wahrgenommen  haben,  daß  größere 

46 


Kredite  immer  schwerer  zu  erlangen  sind,  es  sei  denn, 
man  vereinte  sein  Streben  mit  jenem,  das  schon  die  In- 
dustrie beherrscht.  Ein  jeder,  der  in  irgendeinem  Industrie- 
zweig, der  unter  der  Herrschaft  der  großen  Kapitalver- 
bände steht,  einen  Versuch  zum  Wettbewerb  macht,  wird 
sich  schnell  ausgesogen  oder  zum  Verkauf  gezwungen 
oder  vor  der  Notwendigkeit  sehen,  sich  aufsaugen  zu  las- 
sen. 

Vieles  in  den  Vereinigten  Staaten  bedarf  der  Erneue- 
rung. Ich  möchte  die  Meinungen  der  Geschäftsleute  dar- 
über hören  —  die  Meinung  der  großen  Masse  aller  Ge- 
schäftsleute — ,  ob  sie  die  amerikanischen  Geschäftsver- 
hältnisse oder,  besser  gesagt,  die  amerikanische  Handels- 
organisation als  befriedigend  ansehen  oder  nicht.  Ich  weiß, 
was  sie  sagen  würden,  wenn  sie  das  wagen  dürften.  Wenn 
sie  geheim  abstimmen  könnten,  würden  sie  in  überwälti- 
gender Mehrheit  aussagen,  daß  die  jetzige  Organisation 
des  Handels  für  die  großen,  aber  nicht  für  die  kleinen  Ge- 
schäftsleute bestimmt  ist.  Die  ganze  Organisation  ist  für 
die  zugeschnitten,  die  an  der  Spitze  stehen,  ist  dazu  ent- 
worfen, Anfänger  auszuschließen,  neuen  Zuzug  zu  verhin- 
dern und  Konkurrenzunternehmen,  die  den  von  den  gro- 
ßen Trusts  errichteten  Monopolen  in  den  Weg  treten  könn- 
ten, nicht  aufkommen  zu  lassen.  Nötiger  als  anderes 
braucht  unser  Land  eine  Reihe  von  Gesetzen,  die  sich 
jener  annehmen,  die  geschäftlich  im  Werden  sind,  und 
nicht  jener,  die  bereits  ,, gemacht"  sind.  Denn  die  Leute, 
die  schon  ,, gemacht"  sind,  werden  nicht  ewig  leben,  und 
sie  sind  nicht  immer  so  freundlich.  Söhne  zu  hinterlassen, 
die  ebenso  tüchtig  und  ehrlich  sind  wie  sie  selbst. 

Der  produktive  Teil  Amerikas,  der  Teil,  der  neue  Un- 
ternehmungen ins  Leben  ruft,  der  Teil,  in  dem  ein  ehr- 
geiziger und  begabter  Arbeiter  seinen  Weg  machen  kann, 
die  Klasse,  die  spart,  Pläne  macht,  organisiert  und  ihre 

47 


Unternehmen  rastlos  ausdehnt,  bis  sie  ein  nationales  Ziel 
und  nationalen  Charakter  gewinnen  —  dieser  Mittelstand 
wird  mehr  und  mehr  durch  den  Prozeß  ausgesogen,  den 
wir  Fortschritt  zum  Wohlstand  nennen  sollen.  Die  daran 
teilhaben,  nehmen  sicherlich  am  Wohlstand  teil ;  aber  was 
mich  besorgt  macht,  ist  der  Umstand,  daß  sie  keinenWohl- 
stand  für  alle  schaffen.  Kein  Land  kann  es  sich  leisten, 
seinen  Wohlstand  von  einer  kleinen  herrschenden  Klasse 
ausgehen  zu  lassen.  Amerikas  Schatzkammer  liegt  nicht 
in  den  Gehirnen  jener  kleinen  Gruppe  von  Menschen,  die 
jene  großen  Unternehmungen  beherrschen,  die  unter  der 
Leitung  einer  ganz  kleinen  Zahl  von  Männern  zusammen- 
geschlossen wurden.  Amerikas  Reichtum  liegt  in  jenem 
Ehrgeiz  und  in  jener  Tatkraft,  die  nicht  auf  eine  gewisse 
bevorzugte  Klasse  beschränkt  werden  können.  Amerikas 
Reichtum  ist  abhängig  von  den  Erfindungen  unbekannter 
Menschen,  von  den  Schöpfungen  unbekannter  Menschen 
und  von  dem  Ehrgeiz  unbekannter  Menschen.  Jedes  Land 
erneuert  sich  aus  den  Reihen  der  Unbekannten  und  nicht 
aus  den  Reihen  der  schon  Berühmten  und  Mächtigen. 

Über  Amerika  sind  ganz  unamerikanische  Zustände 
gekommen,  die  eine  kleine  Anzahl  von  Männern,  welche 
die  Regierung  beherrschen,  in  den  Stand  setzen,  Vergün- 
stigungen von  der  Regierung  zu  erlangen ;  durch  diese  Ver- 
günstigungen schließen  sie  ihre  Mitbürger  von  den  gleichen 
Geschäftsmöglichkeiten  aus  und  üben  einen  Zwang,  der 
bald  jede  Industrie  beherrschen  wird.  Damit  sinkt  jene 
Zeit  in  Vergessenheit,  da  Amerika  noch  in  jedem  Dörfchen 
in  jedem  schönen  Tal  zu  finden  war,  da  Amerika  seine  ge- 
waltigen Kräfte  auf  den  weiten  Prairien  entfaltete  und 
das  Feuer  seines  Unternehmungsgeistes  über  die  Höhen 
der  Berge  und  hinab  in  die  Tiefen  des  Erdreichs  leuchten 
ließ.  Eifrige  Männer  waren  damals  noch  überall  Führer 
der  Industrie,  nicht  Angestellte.  Sie  blickten  nicht  nach 

48 


einer  fernen  Großstadt,  um  ausfindig  zu  machen,  was  sie 
tun  sollten,  sondern  sahen  sich  nach  ihren  Nachbarn  um, 
fanden  Kredit  je  nach  ihrer  Persönlichkeit  und  nicht  nach 
ihren  Verbindungen,  fanden  Kredit  auf  Grund  dessen,  was 
man  von  ihnen  wußte  und  was  in  ihnen  steckte,  und  nicht 
nach  Maßgabe  der  Sicherheiten,  die  sie  anzubieten  haben 
und  die  an  Stellen  begutachtet  werden,  an  denen  der  Be- 
sitzer nicht  bekannt  ist.  Um  heute  ein  Unternehmen  zu 
begründen,  mußt  du  auf  völlig  unpersönlichem  Wege  da- 
zu ermächtigt  sein :  nicht  nach  Maßgabe  der  eigenen  Per- 
son, sondern  allein  auf  Grund  der  Tatsache,  daß  irgend- 
ein anderer  deine  Absicht  genehmigt.  Man  kann  ein  Unter- 
nehmen nicht  mehr  so  beginnen  wie  die  Männer,  die  Ame- 
rika gemacht  haben,  solange  man  nicht  auf  diesem  Wege 
dazu  ermächtigt  wird,  solange  man  nicht  das  Wohlwollen 
verbündeter  Großkapitalisten  erlangt  hat.  Ist  das  Freiheit  ? 
Das  ist  Abhängigkeit,  aber  keine  Freiheit. 

In  der  guten  alten  Zeit,  als  das  Leben  noch  recht  ein- 
fach war,  nahmen  wir  an,  die  Regierung  brauche  nichts 
weiter  zu  tun,  als  eine  Polizeiuniform  anzulegen  und  zu 
erklären:  ,, Jetzt  darf  keiner  dem  andern  etwas  tun."  Wir 
pflegten  zu  sagen,  das  Ideal  einer  Regierung  sei  für  einen 
jeden,  in  Ruhe  gelassen  und  nicht  gestört  zu  werden,  aus- 
genommen, man  störte  einen  anderen ;  und  als  die  beste 
Regierung  galt  jene,  die  so  wenig  als  möglich  regierte. 
Das  war  die  Vorstellung,  die  zu  Jeffersons  Zeit  waltete. 
Jetzt  beginnen  wir  zu  erkennen,  daß  wir  es  nicht  mehr 
mit  den  alten  Verhältnissen  zu  tun  haben  und  daß  das 
Leben  so  kompliziert  geworden  ist,  daß  das  Gesetz  ein- 
greifen und  neue  Verhältnisse  schaffen  muß,  die  uns  das 
Leben  erträglich  machen. 

Ich  will  meine  Meinung  veranschaulichen.  Früher  be- 
saß jede  Familie  in  unsern  Städten  gewöhnlich  ein  eigenes 
Häuschen ;  jede  Familie  hatte  ihr  eigenes  kleines  Grund- 

4  49 


stück  und  jede  Familie  lebte  so  von  jeder  anderen  Familie 
getrennt.  Das  ist  in  den  modernen  großen  Städten  nicht 
mehr.  Die  Familien  leben  in  den  verschiedenartigsten 
Mietswohnungen,  sind  in  den  großen  Mietskasernen  unse- 
rer übervölkertem  Distrikte  schichtweise  übereinander- 
gehäuft,  und  nicht  nur  schichtweise  übereinander,  Zim- 
mer an  Zimmer  wohnen  sie,  so  daß  in  unseren  überfüllten 
Bezirken  bisweilen  auf  jeden  Raum  eine  Familie  entfällt. 

Im  Auslande  ist  man  teilweise  in  dieser  Beziehung 
schon  viel  weiter  als  wir.  In  Glasgow  z.  B.  —  Glasgow  ist 
eine  der  vorbildlichsten  Städte  der  Welt  —  hat  man  sich 
entschlossen,  die  Eingänge  und  Treppenfluren  der  großen 
Mietshäuser  für  öffentliche  Straßen  zu  erklären.  Der 
Schutzmann  betritt  daher  auch  die  Treppenhäuser  und 
bewacht  die  Gänge.  Die  städtische  Beleuchtung  sorgt  da- 
für, daß  diese  Gänge  reichlich  beleuchtet  sind;  die  Stadt 
verkennt  nicht,  daß  ein  derartiges  großes  Gebäude  eine 
Einheit  bildet,  von  welcher  die  Polizei  und  die  städtischen 
Behörden  fernzuhalten  wären,  aber  sie  sagt  sich :  ,,Hier  sind 
öffentliche  Verkehrswege,  sie  müssen  beleuchtet  werden, 
die  städtischen  Behörden  sollen  sie  überwachen." 

Ich  vergleiche  damit  unsere  großen  modernen  in- 
dustriellen Unternehmen.  Eine  Korporation  ähnelt  einem 
großen  Mietshaus ;  sie  ist  auch  nicht  Eigentum  einer  ein- 
zelnen handelstreibenden  Familie ;  sie  ist  genau  so  als 
öffentliche  Angelegenheit  anzusehen  wie  jenes  Mietshaus 
als  ein  Netz  öffentlicher  Verkehrswege.  Wenn  man  die  Ak- 
tien einer  großen  Gesellschaft  jemandem  anbietet,  der  sie 
zu  kaufen  wünscht,  so  muß  man  ihm  Einblick  in  die  Ver- 
hältnisse der  Gesellschaft  gewähren.  Es  muß  —  um  im 
Bilde  des  Mietshauses  zu  bleiben  —  Licht  auf  den  Korri- 
doren sein,  die  Schutzmannschaft  muß  die  Eingänge  über- 
wachen und  überall  dort,  wo  man  über  Verhältnisse  ge- 
täuscht werden  könnte,  muß  eine  Aufsicht  walten.  Wenn 

50 


wir  Täuschungen  oder  Gefahren  für  möglich  halten,  müs- 
sen wir  in  der  Lage  sein  zu  entscheiden,  ob  unser  Verdacht 
begründet  ist  oder  nicht.  Ebenso  ist  die  Behandlung  der 
Arbeit  durch  die  großen  Verbände  nicht  mehr,  was  sie 
zu  Jeffersons  Zeiten  war.  Sobald  Gruppen  von  Menschen 
andere  Gruppen  von  Menschen  beschäftigen,  handelt  es 
sich  nicht  mehr  um  ein  privates  Verhältnis.  So  daß  die 
Richter,  die  entscheiden,  ein  Arbeiter  dürfe  einem  anderen 
nicht  friedlich  von  der  Arbeit  abraten  und  ihr  Urteil  auf 
die  Analogie  mit  dem  Haushaltungspersonal  stützen,  damit 
nur  zeigen,  daß  ihre  Urteilskraft  und  ihr  Verständnis  in 
einem  Zeitalter  daheim  sind,  das  dahingegangen  ist.  Das 
Verhältnis  großer  Körperschaften  zu  anderen  Körperschaf- 
ten gehört  unter  öffentliche  Aufsicht  und  sollte  Gegenstand 
staatlicher  Regelung  sein. 

Zu  Jeffersons  Zeit  brauchte  das  Gesetz  sich  nicht  dar- 
um zu  kümmern,  wie  ich  meinen  Haushalt  führte.  Aber 
als  mein  Haus,  mein  sogenanntes  Privatbesitztum,  ein 
großes  Bergwerk  wurde,  in  dem  Menschen  im  dunklen 
Gängen  alle  möglichen  Gefahren  durchqueren  mußten, 
um  in  den  Tiefen  der  Erde  nach  einem  Stoffe  zu  graben, 
dessen  die  Industrie  einer  ganzen  Nation  bedarf,  —  und 
als  dann  diese  Bergwerke  nicht  mehr  einem  einzelnen 
gehörten,  sondern  Eigentum  großer  Aktiengesellschaften 
wurden,  da  brachen  die  alten  Anschauungen  zusammen: 
und  es  wurde  das  Recht  der  Regierung,  in  diese  Bergwerke 
hinabzusteigen,  um  sich  zu  vergewissern,  ob  in  ihnen 
menschliche  Vi^esen  angemessen  behandelt  wurden  oder 
nicht;  ob  sichere  Schutzmaßregeln  gegen  Unfälle  getrof- 
fen wären;  ob  die  Verwendung  der  unermeßlichen  Reich- 
tümer aus  dem  Schöße  der  Erde  nach  modernen  wirt- 
schaftlichen Methoden  geschähe  oder  nicht.  Wenn  je- 
mand auf  einem  Gebäude  einen  Ladebaum  anbringt,  der 
schlecht  befestigt  ist  oder  die  Straße  überragt,  dann  hat 

4*  51 


die  Stadtverwaltung  das  Recht,  dafür  zu  sorgen,  daß  der 
Ladebaum  so  befestigt  werde,  daß  wir  unter  ihm  einher- 
gehen können,  ohne  befürchten  zu  müssen,  daß  der  Him- 
mel auf  uns  einstürzt.  Und  in  jenen  großen  Bienenkörben, 
da  in  jedem  Gange  Menschen  von  Fleisch  und  Blut  schwär- 
men, wird  es  nicht  anders  Vorrecht  der  Regierung  —  ent- 
weder des  Einzelstaates  oder  der  Vereinigten  Staaten  — , 
dafür  zu  sorgen,  daß  das  Leben  der  Menschen  geschützt 
werde  und  daß  menschliche  Lungen  Luft  zum  Atmen  haben. 
Das  sind  nur  illustrierende  Vergleiche.  Wir  leben  in  einer 
neuen  Welt  und  ringen  unter  alten  Gesetzen.  Wenn  wir 
unser  heutiges  Leben  betrachten  und  den  neuen  Schau- 
platz der  komplizierten  wirtschaftlichen  Verhältnisse  über- 
blicken, so  werden  wir  noch  manches  mehr  finden,  das 
nicht  in  der  Ordnung  ist. 

Eines  der  beunruhigendsten  Zeichen  der  Zeit  —  oder 
besser  gesagt,  es  würde  beunruhigend  sein,  wenn  die  Na- 
tion nicht  erwacht  und  entschlossen  wäre,  seiner  Herr  zu 
werden  — ,  eines  der  charakteristischsten  Zeichen  der  neuen 
sozialen  Ära  ist  der  Umfang  und  die  Art  der  Beziehungen 
zwischen  Regierung  und  Geschäftswelt.  Ich  spreche  hier 
von  dem  Zwang,  der  vom  Großhandel  auf  die  Regierung 
ausgeübt  wird.  Hinter  der  Frage  waltet  natürlich  die  Tat- 
sache, daß  in  der  neuen  Ordnung  Regierung  und  Handel 
eng  verbündet  sein  müssen.  Aber  die  Art  dieser  Verbin- 
dung ist  augenblicklich  durchaus  unstatthaft;  die  Rang- 
ordnung ist  falsch,  das  Unterste  zu  oberst  gekehrt.  Seit 
den  letzten  Jahren  steht  unsere  Regierung  unter  der  Herr- 
schaft der  Leiter  der  großen  vereinigten  Korporationen, 
die  besondere  Interessen  verkörpern.  Diese  Interessen  hat 
die  Regierung  nicht  überwacht  noch  ihnen  einen  an- 
gemessenen Platz  in  dem  ganzen  Wirtschaftssystem  zu- 
gewiesen; sie  hat  sich  ihrer  Herrschaft  unterworfen.  Als 
Folge  davon  sind  verderbliche  Bräuche  und  ein  System  der 

52 


Begünstigungen  durch  die  Regierung  emporgewachsen 
(für  die  der  maßlose  Tarif  eines  der  offenkundigsten  Bei- 
spiele ist),  deren  Wirkungen  sich  auf  die  ganze  Lebens- 
gestaltung erstrecken,  die  mit  ihren  Schädigungen  jeden 
Einwohner  des  Landes  treffen,  dem  Wettbewerb  unbillige 
und  unmögliche  Benachteiligungen  aufzwingen,  in  jeder 
Richtung  Besteuerungen  auferlegen  und  das  freie  Streben 
amerikanischen  Unternehmungsgeistes  ersticken. 

Das  entwickelte  sich  mit  Naturnotwendigkeit.  Es  hat 
keinen  Sinn,  irgendwen  oder  irgendetwas  anzuklagen,  es 
sei  denn  die  menschliche  Natur.  Aber  es  ist  ein  uner- 
träglicher Zustand,  daß  die  Regierung  der  Republik  den 
Händen  des  Volkes  so  weit  entgleiten  und  von  Interessen 
gefangengenommen  werden  konnte,  die  Sonderinteressen 
und  nicht  die  Interessen  der  Allgemeinheit  sind.  Im  Gefolge 
dieser  Abhängigkeit  kam  jene  Fülle  von  Skandalen,  Un- 
gerechtigkeiten und  Unsauberkeiten,  die  unsere  Politik  er- 
füllen. Es  gibt  in  Amerika  Städte,  deren  Verwaltung  wir 
uns  schämen.  In  allen  Teilen  des  Landes  gibt  es  Städte, 
von  denen  wir  fühlen,  daß  in  ihnen  nicht  den  Interessen 
der  Allgemeinheit,  sondern  den  Sonderinteressen  selbst- 
süchtiger Leute  gedient  wird  und  wo  heimliche  Abma- 
chungen vor  den  öffentlichen  Interessen  den  Vorrang  ha- 
ben ;  und  das  ist  nicht  nur  in  den  großen  Städten  der  Fall. 
Wer  hätte  nicht  das  Anwachsen  der  sozialistischen  Nei- 
gungen in  den  kleineren  Städten  wahrgenommen.  Vor 
einigen  Monaten  hatte  ich  in  einer  kleinen  Stadt  Aufent- 
halt, und  während  ich  auf  die  Abfahrt  meines  Zuges  war- 
tete, sprach  ich  auf  dem  Bahnsteig  mit  einem  einnehmen- 
den jungen  Menschen,  der  sich  mir  als  Bürgermeister  der 
Stadt  vorstellte  und  hinzufügte,  er  sei  Sozialist.  ,,Was  soll 
das  heißen,**  fragte  ich,  ,,etwa,  daß  die  Stadt  sozialistisch 
ist?"  ,,Nein,"  sagte  er,  ,,ich  habe  mich  keiner  Täuschung 
hingegeben,   die  Wählerschaft,   die   mich  wählte,  ist  zu 

53 


etwa  20  %  sozialistisch  und  zu  80  %  ,Protest'."  Das  war 
der  Protest  gegen  den  Verrat,  den  die  Führer  der  beiden 
anderen  Parteien  der  Stadt  am  Volke  begangen  hatten. 

Überall  in  den  Vereinigten  Staaten  beginnt  man  zu 
spüren,  daß  man  auf  den  Gang  der  Ereignisse  keinen  Ein- 
fluß hat.  Ich  lebte  in  einem  der  größten  Staaten  der  Union, 
der  einst  geknechtet  war.  Bis  vor  zwei  Jahren  mußten  wir 
in  New  Jersey  mit  wachsender  Besorgnis  wahrnehmen, 
wie  der  Geist  einer  fast  zynischen  Verzweiflung  empor- 
wuchs. Die  Leute  sagten:  ,,Wir  wählen;  man  präsentiert 
uns  das  Wahlprogramm,  das  wir  verlangen.  Wir  wählen 
den  Mann,  der  dieses  Programm  vertritt :  und  wir  erreichen 
absolut  nichts."  So  begann  man  zu  fragen:  ,,Was  hat  das 
Wählen  für  einen  Zweck  ?  Wir  wissen,  daß  die  Maschinen 
beider  Parteien  von  denselben  Leuten  gespeist  werden,  und 
deshalb  ist  es  zwecklos,  sich  für  eine  oder  die  andere  der 
beiden  Richtungen  zu  entscheiden."  Und  das  beschränkt 
sich  nicht  auf  einige  Staatsregierungen  oder  einige  große 
und  kleine  Städte.  Wir  wissen,  daß  irgend  etwas  sich  zwi- 
schen das  Volk  der  Vereinigten  Staaten  und  die  Führung 
seiner  Angelegenheiten  geschoben  hat.  Nicht  das  Volk  war 
es,  das  in  letzter  Zeit  dort  herrschte.  Warum  stehen  wir 
an  der  Schwelle  einer  Umwälzung?  Weil  wir  aufs  tiefste 
über  die  Einflüsse  beunruhigt  sind,  die  wir  in  der  Leitung 
unseres  öffentlichen  Lebens  und  der  Politik  herrschen  sehen. 
Es  gab  eine  Zeit,  da  Amerika  mit  Selbstvertrauen  gesegnet 
war.  Es  rühmte  sich,  allein  die  Formen  einer  Volksregie- 
rung zu  besitzen ;  heute  sieht  es  seinen  Himmel  verdunkelt 
und  es  erkennt,  daß  Kräfte  am  Werke  sind,  von  denen  es  sich 
in  seiner  hoffnungsreichen  Jugend  nichts  träumen  ließ. 

Die  alte  Ordnung  wankt,  sie  wandelt  sich  vor  unseren 
Augen,  und  diese  Wandlung  vollzieht  sich  nicht  ruhig  und 
nicht  gleichmäßig,  sondern  hastig,  unter  Lärm  und  Feuer, 
und  mit  dem  Tumult  des  Wiederaufbauens.  Man  pflegt 

54 


—  mit  dem  Gestus  einer  überlegenen  Kenntnis  der  Er- 
eignisse und  der  menschlichen  Schwäche  —  zu  sagen,  jede 
Zeit  sei  eine  Zeit  des  Überganges  und  keine  Zeit  sei  mehr 
als  eine  andere  dem  Wechsel  unterworfen.  Allein  in  we- 
nigen Abschnitten  der  Weltgeschichte  kann  der  Kampf  für 
eine  Umwandlung  so  weitgreifend,  so  entschlossen  und  in 
so  großem  Maßstabe  vor  sich  gegangen  sein  wie  dieses 
Ringen,  an  dem  wir  gegenwärtig  teilnehmen. 

Der  Übergang,  dessen  Zeugen  wir  sind,  ist  nicht  der 
gleichmäßige  Übergang  des  Wachstums  und  nicht  nor- 
male Umwandlung ;  es  ist  nicht  die  stille,  unbewußte  Ent- 
faltung eines  Zeitalters  aus  dem  voraufgehenden  und  nicht 
der  gelassene  Erbschaftsantritt  eines  Nachfolgers.  Die  Ge- 
sellschaft mustert  sich  vom  Kopfe  bis  zum  Fuße  und  unter- 
nimmt eine  neue  und  kritische  Analyse  ihrer  Elemente. 
Sie  zweifelt  ihre  ältesten  Gewohnheiten  so  freimütig  an 
wie  ihre  jüngsten  und  untersucht  alle  Übereinkünfte  und 
Ursachen  ihrer  Daseinsformen.  Sie  ist  bereit,  nichts  Ge- 
ringeres als  eine  radikale  Selbsterneuerung  zu  unter- 
nehmen, die  nur  durch  freimütige  und  ehrliche  Berat- 
schlagung und  die  Macht  weitherziger  Zusammenarbeit 
daran  verhindert  wird,  zur  Revolution  zu  entarten.  Wir 
sind  gesonnen,  die  wirtschaftliche  Gesellschaft  so  zu  er- 
neuern, wie  wir  einst  gesonnen  waren,  die  politische  Ge- 
sellschaft zu  rekonstruieren,  und  dabei  mögen  auch  die 
politischen  Verhältnisse  einen  Umwandlungsprozeß  er- 
leben. Ich  glaube  nicht,  daß  je  eine  Zeit  sich  ihrer  Aufgabe 
tiefer  bewußt  war  und  einmütiger  nach  einer  gründlichen 
und  umfassenden  Veränderung  ihrer  wirtschaftlichen  und 
politischen  Verhältnisse  verlangte.  Einer  Revolution  stehen 
wir  gegenüber ;  nicht  einer  blutigen  Revolution,  denn  Ame- 
rika ist  nicht  zu  Blutvergießen  geschaffen,  aber  einer  stillen 
Revolution,  bei  der  Amerika  darauf  beharren  wird,  die  Ide- 
ale, zu  denen  es  sich  von  jeher  bekannte,  zu  verwirklichen. 

55 


Wir  stehen  am  Vorabend  einer  großen  Erneuerung. 
Die  Zeit  verlangt  nach  schöpferischen  Staatsmännern  wie 
keine  Zeit  seit  jenen  großen  Tagen,  da  jene  Regierung  ein- 
gesetzt ward,  unter  der  wir  stehen  und  die  von  der  ganzen 
Welt  bewundert  wurde,  bis  sie  es  zuließ,  daß  unter  ihr  Un- 
gerechtigkeiten emporsprossen,  die  viele  unserer  Mitbür- 
ger dazu  brachten,  die  Freiheit  unserer  Institutionen  an- 
zuzweifeln und  die  Auflehnung  gegen  sie  zu  predigen.  Ich 
fürchte  keine  Revolution.  Ich  habe  das  unerschütterliche 
Vertrauen  zu  der  Fähigkeit  Amerikas,  seine  Selbstbeherr- 
schung zu  bewahren.  Die  Revolution  wird  in  friedfertiger 
Gestalt  kommen  wie  damals,  da  wir  die  unvollkommene 
Regierungsform  der  Bünde  abschafften  und  jenen  großen 
Bundesstaat  schufen,  der  Menschen  und  nicht  Staaten  re- 
giert und  der  130  Jahre  lang  ein  Werkzeug  des  Fortschritts 
war.  Manche  durchgreifende  Änderung  unserer  Gesetze 
und  ihrer  Handhabung  müssen  wir  durchführen ;  manche 
Erneuerungen,  die  eine  neue  Zeit  und  neue  Verhältnisse 
uns  auferlegen,  müssen  vollzogen  werden.  Aber  das  alles 
vermögen  wir  wie  Staatsmänner  und  gute  Patrioten  in 
Ruhe  und  Besonnenheit  zu  vollbringen. 

Von  diesen  Dingen  aber  spreche  ich  ohne  Besorgnis, 
denn  sie  liegen  frei  und  offen  aller  Welt  vor  Augen.  Dies  ist 
keine  Zeit,  in  der  große  Mächte  sich  heimlich  verbünden. 
Das  ganze  gewaltige  Programm  der  Reform  soll  öffentlich 
entworfen  und  erörtert  werden.  Guter  Wille,  die  Weisheit 
besonnener  Ratgeber,  die  Tatkraft  überlegter  und  un- 
eigennütziger Männer,  die  Gewöhnung  an  Zusammen- 
arbeit und  an  Kompromisse,  zu  der  uns  lange  Jahre  einer 
freien  Regierung  erzogen,  unter  der  dank  dem  Segen  frei- 
er allgemeiner  Aussprache  Vernunft  die  Leidenschaft  über- 
wog —  das  wird  uns  instand  setzen,  ohne  Gewaltsamkeit 
ein  neues  großes  Zeitalter  zu  erringen. 


56 


Zweites  Kapitel 
Was  ist  Fortschritt? 

In  der  weisen  und  wahrhaften  Chronik  von  „Alice  durch 
den  Spiegel"  wird  erzählt,  wie  bei  einer  bemerkenswerten 
Gelegenheit  die  kleine  Heldin  von  der  roten  Schachkönigin 
gefaßt  wird,  die  mit  ihr  in  entsetzlicher  Geschwindigkeit 
davonläuft ;  sie  rennen  alle  zwei,  bis  sie  beide  außer  Atem 
sind ;  dann  halten  sie  inne,  Alice  blickt  umher  und  sagt : 
,,Ach,  wir  sind  ja  genau  so  weit  wie  am  Anfang  unseres 
Laufes."  ,,0  ja,"  sagt  die  rote  Königin,  ,, du  mußt  doppelt 
so  schnell  laufen,  um  irgendwo  anders  hinzukommen." 
Das  ist  ein  Gleichnis  vom  Fortschritt.  Die  Gesetze 
Amerikas  haben  mit  der  Umwandlung  der  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  Amerikas  nicht  Schritt  gehalten;  sie  haben 
mit  der  Umwandlung  der  politischen  Verhältnisse  nicht 
Schritt  gehalten:  und  darum  sind  wir  nicht  einmal  dort, 
wo  wir  ausgingen.  Wir  werden  laufen  müssen,  nicht  bis 
wir  außer  Atem  sind,  aber  bis  wir  unsere  eigenen  Verhält- 
nisse eingeholt  haben;  erst  dann  werden  wir  dort  sein, 
wo  unser  Lauf  begann ;  wo  wir  jenen  großen  Versuch  be- 
gannen, der  die  Hoffnung  und  der  Leitstern  der  Welt  war. 
Und  zweimal  so  schnell  als  irgendein  vernünftiges  Pro- 
gramm werden  wir  laufen  müssen,  um  wo  anders  hinzu- 
kommen. Darum  bin  ich  gezwungen,  Fortschrittler  zu  sein, 
und  sei  es  auch  nur  aus  dem  Grunde,  daß  wir  weder  auf 
dem  wirtschaftlichen  noch  auf  dem  politischen  Gebiete  mit 
den  Umwandlungen  der  Verhältnisse  Schritt  gehalten  ha- 
ben. Wir  haben  nicht  so  Schritt  gehalten  wie  andere  Na- 

57 


tionen.  Wir  haben  unsere  Mittel  nicht  den  Tatsachen  an- 
gepaßt, und  solange  wir  das  nicht  tun,  werden  die  Tat- 
sachen stets  die  besseren  Gründe  für  sich  in  Anspruch 
nehmen.  Denn  wenn  wir  unsere  Gesetze  nicht  der  Wirk- 
lichkeit anpassen,  um  so  schlimmer  für  die  Gesetze,  nicht 
aber  für  die  Wirklichkeit,  denn  Gesetze  folgen  der  Wirk- 
lichkeit immer  nach.  Ungesund  ist  nur  das  Gesetz,  das  der 
Wirklichkeit  vorauseilt,  ihr  zuwinkt  und  sie  zwingt,  dem 
Wünschen  oder  dem  Willen  imaginärer  Absichten  zu  folgen. 

Das  wirtschaftliche  Leben  Amerikas  befindet  sich 
heute  in  einer  Lage,  in  der  es  sich  noch  nie  befunden  hat. 
Unsere  Gesetze  sind  noch  auf  ein  Geschäftsleben  zuge- 
schnitten, in  dem  alle  Tätigkeit  von  Individuen  ausgeübt 
wird ;  noch  sind  sie  nicht  einem  Geschäftsleben  angepaßt, 
das  große  Verbände  beherrschen.  Und  wir  müssen  versu- 
chen diese  Aufgabe  zu  lösen.  Ich  sage  nicht :  Wir  können 
das  tun  oder  wir  können  das  unterlassen.  Wir  müssen; 
und  uns  bleibt  keine  Wahl.  Eine  Gesetzgebung,  die  der 
Wirklichkeit  nicht  gerecht  wird,  schädigt  nicht  die  Wirk- 
lichkeit, sondern  das  Gesetz.  Denn  das  Gesetz  ist  —  wenn 
mein  Lernen  nicht  vergebens  war  —  der  Ausdruck  gesetz- 
lich geordneter  Wirklichkeit.  Nie  haben  Gesetze  die  Tat- 
sachen verändert;  immer  haben  sie  naturnotwendig  die 
Tatsachen  gespiegelt;  sie  passen  die  Interessen  in  dem 
Maße,  als  sie  erwachsen,  einander  an  und  tauschen  sie 
gegeneinander  aus. 

Amerikanische  Politik  ist  ein  Gegenstand,  der  gründ- 
liche Aufmerksamkeit  fordert.  Das  durch  unsere  Gesetze 
und  Bräuche  aufgerichtete  System  funktioniert  nicht  oder 
bietet  zumindest  keinen  Verlaß;  nur  durch  einen  höchst 
unvernünftigen  Aufwand  an  Arbeit  und  Mühe  kann  es  zur 
Wirksamkeit  gebracht  werden.  Die  Regierung,  die  dem 
Volke  zugedacht  war,  ist  in  die  Hände  von  Bosses  und 
deren  Arbeitgeber,   der  Sonderinteressen,    geraten.    Eine 

58 


unsichtbare  Herrschaft  ward  über  den  Formen  der  Demo- 
kratie aufgetürmt.  Ernste  Dinge  sind  zu  vollbringen.  Ist  an 
der  großen  Unzufriedenheit  des  Landes  zu  zweifeln  ?  Kann 
jemand  daran  zweifeln,  daß  Gründe  und  Berechtigung  zur 
Unzufriedenheit  vorhanden  sind?  Wagen  wir  es,  stehen 
zu  bleiben  ?  Während  der  letzten  Monate  erlebten  wir  auf 
der  einen  Seite  (zugleich  mit  seltsamen  politischen  Vor- 
gängen, die  ein  beredtes  Zeugnis  für  die  Beunruhigung 
der  Öffentlichkeit  sind)  eine  Verdoppelung  der  sozialisti- 
schen Stimmen;  und  wir  sahen  andererseits  ringsum  im 
Lande  Mauern  und  Bauzäune  mit  gewissen  sehr  verlok- 
kenden  und  amüsanten  Zetteln  beklebt,  auf  denen  den 
Bürgern  verkündet  wurde,  es  sei  ,, besser  in  Sicherheit,  als 
bekümmert"  zu  sein.  Es  scheint,  daß  viele  Bürger  daran 
zweifelten,  ob  die  Situation,  die  sie  nach  jenen  Ratschlä- 
gen ,,sich  selbst  überlassen"  sollten,  dazu  gut  genug  sei; 
sie  zogen  es  vor  ,, bekümmert"  zu  sein.  Mir  erscheinen 
diese  Ratschläge  zum  ,,Nur-Nichts-Tun",  diese  Aufforde- 
rungen, die  Hände  in  den  Schoß  zu  legen,  aus  Angst,  es 
könne  etwas  geschehen,  als  die  wunderlichsten  Argu- 
mente unwissender  Einfalt,  die  ich  je  vernahm.  Und  diese 
an  ein  zukunftsfreudiges  tatkräftiges  Volk  gerichteten  Rat- 
schläge teilten  demselben  Volke  mit,  daß  es  nicht  erfahren 
genug  sei,  um  seine  eigenen  Angelegenheiten  in  die  Hand 
zu  nehmen,  ohne  sie  zu  schädigen.  Noch  sind  die  Ameri- 
kaner nicht  kleinmütig  geworden.  Gewiß  ward  ihr  Selbst- 
vertrauen durch  Jahre  der  Unterdrückung  untergraben. 
Man  hat  sich  lange  der  Lehre  fügen  müssen,  Fortkommen 
sei  etwas,  das  wohlwollende  Magnaten  mit  Hilfe  der  Re- 
gierung dem  Bürger  verschaffen.  Das  Selbstvertrauen 
ward  dadurch  geschwächt,  aber  zerstört  wurde  es  nicht. 
Das  Wort  Fortschritt  bezaubert  amerikanische  Ohren  und 
bringt  amerikanische  Herzen  in  Wallung. 

Natürlich  gibt  es  auch  Amerikaner,  die  noch  nichts 

59 


davon  hörten,  daß  irgend  etwas  vor  sich  geht.  Der  Zirkus 
kann  durch  die  Stadt  ziehen,  Vorstellung  geben  und  wieder 
verschwinden,  ohne  daß  sie  die  Kamele  sehen  und  die 
Klänge  des  Dudelsackes  oder  der  Jahrmarktstrommel  ver- 
nehmen. Das  sind  Leute,  sogar  Amerikaner,  die  nie  ihre 
Nase  aus  ihren  vier  Wänden  stecken  und  nichts  davon  er- 
fahren, daß  andere  ihre  Wände  verlassen.  Ein  Freund  von 
mir  hatte  vom  ,, Florida-Cracker"  gehört;  man  hat  diesen 
Namen  dort  unten  jenem  Teil  der  Bevölkerung  beigelegt, 
der  nie  gut  tut.  Als  mein  Freund  in  seinem  Zuge  durch 
den  Staat  fuhr,  bat  er  jemand,  ihm  doch  einen  „Cracker" 
zu  zeigen.  Und  der  Mann,  den  er  fragte,  antwortete  nur: 
,, Gehen  Sie  nur  hinaus  in  den  Wald,  und  wenn  Sie  drau- 
ßen etwas  sehen,  das  braun  wie  ein  Baumstumpf  aussieht, 
dann  wissen  Sie  gleich,  ob  es  ein  Stumpf  ist  oder  ein 
, Cracker*:  bewegt  es  sich,  so  ist  es  ein  Stumpf." 

Bewegung  trägt  seine  Tugend  nicht  in  sich  selbst.  Eine 
Umwandlung  wird  nicht  um  der  Umwandlung  willen  wert- 
voll. Ich  zähle  nicht  zu  jenen,  die  die  Abwechslung  um 
ihrer  selbst  willen  lieben.  Wenn  etwas  heute  seinen  Zweck 
erfüllt,  so  würde  ich  es  auch  gern  bis  morgen  bestehen 
lassen.  Die  meisten  unserer  Berechnungen  im  Leben  hän- 
gen von  Dingen  ab,  die  sich  nicht  verändern.  Wenn  Sie 
etwa  heute  morgen,  als  Sie  aufstanden,  vergessen  hätten, 
wie  man  sich  ankleidet,  wenn  Sie  all  jene  kleinen  Hand- 
griffe vergessen  hätten,  die  man  fast  automatisch  vollzieht 
und  beinahe  im  Halbschlaf  ausführen  kann,  dann  wären 
Sie  darauf  angewiesen  herauszubekommen,  was  Sie  ge- 
stern taten.  Die  Psychologen  berichten,  daß  ich  heute 
nicht  wüßte,  wer  ich  bin,  wenn  ich  mich  nicht  entsinnen 
könnte,  wer  ich  gestern  war;  und  so  wird  sogar  meine 
Identität  von  der  Möglichkeit  abhängig,  das  Heute  mit 
Gestern  verbinden  zu  können.  Stimmen  beide  nicht  über- 
ein, so  bin  ich  verwirrt ;  ich  weiß  nicht,  wer  ich  bin,  muß 

60 


umhergehen  und  irgendwen  fragen,  auf  daß  er  mir  meinen 
Namen  sage  und  mir  verrate,  woher  ich  komme.  Ich  zähle 
nicht  zu  jenen,  die  die  Beziehung  mit  der  Vergangenheit 
abbrechen  möchten,  und  ich  wünsche  keine  Umwandlung 
um  der  Abwechslung  willen.  Die  Menschen,  die  das  tun, 
sind  Leute,  die  irgend  etwas  vergessen  wollen,  Menschen, 
die  gestern  von  irgend  etwas  erfüllt  waren,  dessen  sie  sich 
heute  nicht  mehr  erinnern  möchten,  Leute,  die  umher- 
gehen und  Zerstreuung  suchen ;  sie  fahnden  nach  einem 
Mittel,  die  Erinnerung  auszulöschen  und  möchten  etwas  in 
sich  aufnehmen,  das  alle  Ei;innerungen  beseitigt.  Verän- 
derung ist  zwecklos,  wenn  sie  keine  Verbesserung  bedeutet. 
Will  ich  ausziehen,  weil  mir  meine  Wohnung  nicht  gefällt, 
dann  muß  ich  mir,  um  den  Wechsel  zu  rechtfertigen,  erst 
eine  bessere  Wohnung  suchen  oder  ein  besseres  Haus  bauen. 

Bei  dem  alten  Unterschied  zwischen  Umwandlung 
und  Verbesserung  zu  verweilen  könnte  wie  Zeitvergeu- 
dung erscheinen ;  allein  es  gibt  eine  Sorte  von  Leuten,  die 
geneigt  sind,  beide  miteinander  zu  verwechseln.  Wir  haben 
politische  Führer  gehabt,  zu  deren  Vorstellung  von  Größe 
es  gehörte,  immerwährend  ungestüm  etwas  zu  vollbrin- 
gen, —  einerlei  was;  das  waren  ruhelose  stimmbegabte 
Männer,  denen  das  Verständnis  für  die  Kraft  der  Konzen- 
tration fehlte  und  die  nur  die  Energie  der  Aufeinanderfolge 
kannten.  Aber  das  Leben  besteht  nicht  darin,  unausgesetzt 
ein  Feuer  im  Gang  zu  halten.  Irgendwohin  zu  gehen 
bleibt  zwecklos,  solange  du  nicht  dadurch,  daß  du  dort 
bist,  etwas  gewinnst.  Und  dabei  ist  die  Richtung  so  wich- 
tig wie  die  Treibkraft  der  Bewegung. 

Aller  Fortschritt  ist  davon  abhängig,  wie  schnell  du 
gehst  und  wohin  du  gehst,  aber  ich  fürchte,  man  hat  mehr 
darauf  geachtet,  wie  schnell  wir  gingen,  statt  zu  fragen, 
wohin  der  Weg  führte.  Nach  meiner  Überzeugung  voll- 
bringen wir  das  meiste  unseres  Fortschrittes  nach  dem 

6i 


Muster  eines  Gerätes,  das  wir  zu  meiner  Kinderzeit ,, Tret- 
mühle" nannten;  das  war  eine  bewegliche  Plattform  mit 
Klampen,  auf  die  ein  unglückseliger  Maulesel  unausge- 
setzt treten  mußte,  ohne  daß  er  dabei  weiter  kam.  Ele- 
fanten*) und  auch  andere  Tiere  haben  solche  Tretmühlen 
getreten,  verursachten  Lärm  und  brachten  gewisse  Räder 
in  Drehung ;  sie  lieferten  dabei  vermutlich  auch  für  irgend- 
wen  irgendwelche  Erzeugnisse,  aber  viel  Fortschritt  kam 
dabei  nicht  heraus.  Um  den  Elefanten  wirklich  fortzu- 
bewegen, versuchten  es  seine  Freunde  kürzlich  auch  mit 
Dynamit ;  und  er  bewegte  sich  auch,  wenn  auch  in  höchst 
vereinzelten  und  zerschmetterten  Teilen ;  aber  immerhin : 
er  bewegte  sich. 

Ein  boshafter  aber  witziger  Engländer  meinte  kürzlich 
in  einem  Buche,  es  sei  ein  Irrtum,  daß  ein  offenkundig 
wohlhabender,  in  seinem  Beruf  erfahrener  und  erfolg- 
reicher Mann  nicht  bestochen  werden  könne.  Denn  solche 
Männer,  meinte  der  Verfasser,  seien  schon  bestochen  — 
wenn  auch  nicht  im  landläufigen  verwerflichen  Sinne  des 
Wortes.  Aber  da  sie  ihre  großen  Erfolge  mit  Hilfe  der  be- 
stehenden Ordnung  der  Dinge  erreichten,  fühlten  sie  sich 
auch  verpflichtet,  darüber  zu  wachen,  daß  diese  bestehen- 
de Ordnung  der  Dinge  nicht  verändert  werde ;  sie  sind  be- 
stochen, den  Status  quo  aufrechtzuerhalten.  Und  in  die- 
sem Sinne  pflegte  ich  auch  —  als  ich  noch  mit  der  Ver- 
waltung einer  Erziehungsanstalt  zu  tun  hatte  —  den 
Wunsch  zu  äußern,  die  jungen  Männer  der  kommenden 
Generation  ihren  Vätern  so  unähnlich  als  möglich  werden 
zu  lassen.  Nicht  daß  es  den  Vätern  an  Charakter,  Intelli- 
genz, Wissen  oder  Vaterlandsliebe  fehlte.  Aber  jene  Väter 
haben  infolge  ihres  fortschreitenden  Alters  und  ihrer  ge- 
festigten Stellung  innerhalb  der  Gesellschaft  die  Fühlung 

*)  Der  Elefant  ist  das  Wappentier  der  republikanischen  Partei,  wie 
der  Maulesel  das  der  Demokraten.    Anm.  d.  Ü. 

62 


mit  den  Vorgängen  des  Lebens  verloren;  sie  haben  ver- 
gessen, was  es  hieß :  anzufangen ;  sie  haben  vergessen,  was 
es  hieß :  emporzukommen ;  sie  haben  vergessen,  was  es 
hieß :  auf  dem  Wege  von  der  Tiefe  zur  Höhe  durch  Lebens- 
umstände beherrscht  zu  werden.  Und  damit,  so  behauptete 
ich,  verlören  sie  auch  das  Verständnis  für  die  schöpferi- 
schen, formgebenden  und  fortschrittlichen  Kräfte  der  Ge- 
sellschaft. 

Fortschritt!  Das  Wort  ist  fast  ein  neues  Wort.  Kein 
Wort  kommt  öfter  und  unwillkürlicher  über  die  Lippen 
des  modernen  Menschen ;  es  ist,  als  sei  sein  Sinn  fast  ein 
Synonym  für  das  Leben  selbst ;  und  doch  hat  die  Mensch- 
heit durch  viele  Jahrtausende  niemals  von  Fortschritt  ge- 
sprochen und  an  Fortschritt  gedacht.  Ihr  Denken  hatte 
eine  andere  Richtung.  Ihre  Schilderungen  von  Helden- 
taten und  Ruhm  waren  Geschichten  von  der  Vergangen- 
heit. Der  Ahne  trug  die  schwerere  Rüstung  und  den  grö- 
ßeren Speer.  ,,In  jenen  Tagen  gab  es  Riesen."  Heute  ist  das 
anders.  Nicht  der  Vergangenheit,  sondern  der  Zukunft  ge- 
denken wir  als  jener  herrlicheren  Zeit,  an  der  gemessen 
die  Gegenwart  nichts  bedeutet.  Fortschritt,  Entwicklung 
—  es  sind  moderne  Worte.  Das  moderne  Denken  verläßt 
das  Vergangene  und  drängt  dem  Neuen  entgegen. 

Was  wird  der  Fortschritt  mit  der  Vergangenheit  und 
mit  der  Gegenwart  beginnen  ?  Wie  wird  er  sie  behandeln  ? 
Mit  Verachtung  oder  mit  Respekt?  Wird  er  mit  ihnen 
ganz  brechen  oder  aus  ihnen  emporwachsen  und  tief  in 
älteren  Zeiten  seine  Wurzeln  verankern  ?  Wie  werden  fort- 
schrittliche Männer  sich  zu  der  bestehenden  Ordnung,  zu 
den  Institutionen  des  Konservativismus,  zu  der  Verfas- 
sung, den  Gesetzen  und  den  Gerichten  stellen?  Sind  die 
Befürchtungen  jener  bedachtsamen  Männer  berechtigt, 
die  da  wähnen,  wir  wollten  die  alten  Grundlagen  unserer 
Einrichtungen  erschüttern  ?  Wenn  sie  recht  haben,  müß- 

63 


ten  wir  sehr  langsam  an  den  Prozeß  der  Umwandlung  her- 
antreten. Wenn  es  wahr  ist,  daß  wir  der  so  sorgsam  und 
unverdrossen  aufgebauten  Einrichtungen  müde  geworden 
sind,  dann  müßten  wir  an  die  gefahrvolle  Aufgabe  ihrer 
Umwandlung  sehr  langsam  und  sehr  vorsichtig  herantreten. 
Darum  müssen  wir  uns  vor  allem  die  Frage  vorlegen,  ob  das 
Denken  unseres  Landes  dazu  neigt  etwas  zu  tun,  durch  das 
wir  den  zurückgelegten  Weg  zurückgehen  oder  die  ganze 
Richtung  unserer  Entwicklung  ändern.  Ich  glaube,  daß 
man  eine  alte  Wurzel  nicht  ausreißen  und  den  Baum  der 
Freiheit  nicht  in  einen  neuen  Boden  verpflanzen  kann, 
aus  dem  er  nicht  erwachsen  ist.  Ich  glaube,  daß  die  alten 
Traditionen  eines  Volkes  sein  Ballast  sind;  man  kann 
keine  tabula  rasa  zimmern,  um  auf  ihr  ein  politisches  Pro- 
gramm niederzuschreiben.  Du  kannst  nicht  einen  unbe- 
schriebenen Bogen  Papier  nehmen  und  darauf  bestimmen, 
wie  morgen  dein  Leben  beschaffen  sein  soll.  Du  mußt  das 
Alte  in  das  Neue  verflechten.  In  ein  altes  Gewand  lassen 
sich  keine  neuen  Flicken  einsetzen,  ohne  es  zu  ruinieren ; 
nicht  irgendein  Lappen  kann  es  sein,  sondern  ein  Stoff, 
der  in  der  alten  Fabrik  gewoben  wird,  ein  Stoff  gleichen 
Musters,  gleichen  Gewebes  und  gleicher  Bestimmung. 
Wenn  Fortschritt  nicht  die  Absicht  in  sich  schlösse,  die 
Grundlagen  unserer  Institutionen  zu  bewahren,  könnte  ich 
nicht  fortschrittlich  sein. 

Einer  der  Hauptvorteile,  die  ich  als  Universitätspräsi- 
dent genoß,  war  das  Vergnügen,  mich  mit  nachdenklichen 
Männern  aus  aller  Herren  Ländern  unterhalten  zu  dürfen. 
Ich  kann  kaum  sagen,  wieviel  ich  durch  die  Berührung 
mit  ihnen  gewonnen  habe.  In  meinem  Sinne  suchte  ich 
nach  irgend  etwas,  durch  das  ich  die  verschiedenen  Teile 
meines  politischen  Denkens  zusammenfassen  könnte,  als 
mir  ein  glücklicher  Zufall  Gelegenheit  gab,  in  meinem 
Hause  als  Gast  einen  sehr  interessanten  Schotten  bewirten 

64 


zu  dürfen,  der  sich  dem  Studium  des  philosophischen  Den- 
kens im  17.  Jahrhundert  gewidmet  hat.  Sein  Gespräch  war 
ebenso  fesselnd  wie  geistreich,  es  war  eine  Freude,  ihn  über 
alle  Dinge  sprechen  zu  hören;  und  plötzlich  trat  aus 
einem  Winkel  seines  Gedankenreiches  das  Ding  hervor, 
auf  das  ich  so  lange  gewartet  hatte.  Er  lenkte  meine  Auf- 
merksamkeit auf  die  Tatsache,  daß  in  jeder  Generation 
alle  Formen  der  Spekulation  und  des  Denkens  dazu  neigen, 
sich  jener  allgemeinen  Formel  des  Denkens  unterzuordnen, 
die  das  Zeitalter  beherrscht.  Nachdem  beispielsweise  die 
Newtonsche  Theorie  vom  Weltall  entwickelt  war,  neigten 
alle  Gedanken  dazu,  sich  in  Analogien  zur  Newtonschen 
Theorie  auszudrücken ;  und  seitdem  die  Darwinsche  Theo- 
rie unter  uns  herrschte,  neigt  ein  jeder  dazu,  all  seine 
Wünsche  in  die  Begriffe  der  Entwicklung  und  der  An- 
passung an  die  Umgebung  zu  kleiden. 

Während  jener  geistreiche  Mann  mit  mir  sprach,  fiel 
mir  ein,  daß  die  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten  unter 
der  Herrschaft  der  Newtonschen  Theorie  entworfen  wurde. 
Man  braucht  nur  die  Seiten  des  ,, Föderalisten"  nachzu- 
lesen, um  diese  Tatsache  auf  jeder  Seite  ausgeprägt  zu  fin- 
den. Man  spricht  von  den  ,, Hemmnissen  und  Gleichge- 
wichten" der  Verfassung,  und  um  seine  Gedanken  auszu- 
drücken, bedient  man  sich  unbewußt  derselben  Ausdrücke 
wie  bei  der  Deutung  der  Organisation  des  Weltalls  und 
insbesondere  des  Sonnensystems ;  man  spricht  davon,  wie 
durch  die  Anziehungskraft  der  Gravitation  die  verschiede- 
nen Teile  in  ihren  Bahnen  gehalten  werden;  und  dann 
geht  man  dazu  über,  den  Kongreß,  den  Richterstand  und 
den  Präsidenten  als  eine  Art  Nachahmung  des  Sonnen- 
systems darzustellen.  Dabei  folgte  man  nur  den  englischen 
Whigs,  die  Großbritannien  seine  moderne  Verfassung  ga- 
ben. Jene  Engländer  analysierten  die  Frage  nicht  und  ent- 
wickelten auch  keine  Theorie ;  Engländer  haben  für  Theo- 

S  65 


rien  wenig  Sinn.  Ein  Franzose  war  es,  Montesquieu,  der 
ihnen  zeigte,  wie  getreulich  sie  die  Newtonsche  Beschrei- 
bung von  dem  Mechanismus  des  Himmels  kopiert  hatten. 

Die  Schöpfer  unserer  amerikanischen  Bundesverfas- 
sung lasen  Montesquieu  mit  ehrlicher,  wissenschaftlicher 
Begeisterung.  Jene  Väter  der  Nation  waren  auf  ihre  Weise 
gelehrt.  Jefferson  schrieb  über  ,,die  Gesetze  der  Natur** 
—  und  dann,  mit  einer  Art  Hintergedanken,  —  ,,und  über 
den  Gott  der  Natur".  Und  sie  konstruierten  eine  Regie- 
rung, wie  sie  etwa  ein  Planetarium  konstruiert  hätten,  — 
um  die  Gesetze  der  Natur  darzutun.  Politik  war  in  ihrem 
Denken  eine  Abart  der  Mechanik.  Die  Verfassung  wurde 
auf  das  Gesetz  der  Schwerkraft  gegründet.  Die  Regierung 
sollte  bestehen  und  wirken  auf  Grund  der  Wirksamkeit 
von  ,, Hemmungen  und  Gleichgewichten**. 

Die  Schwierigkeit  dieser  Theorie  ist  der  Umstand,  daß 
eine  Regierung  nicht  eine  Maschine  ist,  sondern  ein  le- 
bendes Wesen.  Sie  untersteht  nicht  der  Theorie  vom  Welt- 
all, sondern  der  Theorie  des  organischen  Lebens.  Sie  wird 
durch  Darwin  erklärt  und  nicht  durch  Newton.  Sie  wird 
durch  ihre  Umgebung  umgeformt,  durch  ihre  Zwecke  be- 
stimmt und  durch  den  Zwang  des  Lebens  ihren  Zielen  an- 
gepaßt. Kein  lebendes  Wesen  kann  seine  Organe  als  Hemm- 
nisse gegeneinanderstellen  und  fortleben.  Sein  Leben  hängt 
vielmehr  von  der  schnellen  Zusammenarbeit  der  Organe 
ab,  von  ihrem  raschen  Gehorsam  gegen  die  Gebote  des  In- 
stinktes oder  der  Intelligenz,  und  von  ihrer  harmonischen 
Gemeinsamkeit  des  Zweckes.  Eine  Regierung  ist  kein  Kör- 
per blinder  Gewalten,  sie  ist  eine  Körperschaft  von  Män- 
nern, deren  Funktionen  in  unserer  Zeit  der  Spezialisierung 
gewiß  sehr  verschiedenartig  sind,  aber  doch  gemeinsamen 
Zwecken  und  Zielen  zustreben.  Das  Zusammenwirken 
.  dieser  Männer  ist  Bedingung,  ihre  gegenseitige  Gegner- 
schaft   Verderben.    Ohne    dies    umfassende,    unwillkür- 

66 


liehe  Zusammenwirken  aller  Organe  des  Lebens  und  des 
Handelns  gibt  es  kein  erfolgreiches  Regieren.  Das  ist 
keine  Theorie,  sondern  Wirklichkeit,  das  entfaltet  seine 
Kraft  als  Tatsache,  wie  viele  Theorien  seinem  Laufe  auch 
entgegengestellt  werden.  Lebendige  politische  Verfassun- 
gen müssen  in  ihrem  Bau  und  in  ihrer  Handhabung  dar- 
winistisch  sein.  Die  Gesellschaft  ist  ein  lebender  Organis- 
mus und  muß  den  Gesetzen  des  Lebens,  nicht  denen  der 
Mechanik  gehorchen :  sie  muß  sich  entwickeln.  Alles,  was 
die  Fortschrittlichen  verlangen  oder  wünschen,  ist  die  Er- 
laubnis —  inmitten  eines  Zeitalters,  in  dem ,, Entwicklung" 
und  ,, Evolution"  die  Worte  der  Wissenschaft  sind  —  die 
Verfassung  im  Einklang  mit  den  von  Darwin  ergründeten 
Naturgesetzen  interpretieren  zu  können ;  alles,  was  sie  ver- 
langen ist  die  Anerkennung  der  Tatsache,  daß  eine  Nation 
ein  lebendiges  Wesen  ist  und  keine  Maschine. 

Manche  Bürger  Amerikas  sind  niemals  über  die  Un- 
abhängigkeitserklärung vom  Jahre  1776  hinausgekommen. 
Ihr  Herz  ist  Georg  HL  feindlich  gesinnt :  aber  des  Freiheits- 
kampfes, der  sich  heute  vollzieht,  werden  sie  sich  nicht  be- 
wußt. Die  Unabhängigkeitserklärung  erstreckte  sich  nicht 
auf  die  Probleme  unserer  Gegenwart  und  wird  wirkungs- 
los, wenn  wir  ihre  allgemeinen  Bestimmungen  nicht  auf 
Beispiele  unserer  Gegenwart  übertragen  können.  Sie  war 
ein  durchaus  praktisches  Dokument  und  zur  Handhabung 
durch  praktische  Menschen  bestimmt;  sie  war  keine  Re- 
gierungstheorie, sondern  ein  Aktionsprogramm.  Solange 
wir  den  Sinn  dieser  Verfassung  nicht  auf  die  Fragen  un- 
serer Zeit  übertragen  können,  so  lange  sind  wir  unwürdige 
Söhne  jener  Männer,  die  nach  ihren  Vorschriften  handelten. 

Welche  Form  hat  heute  der  Kampf  zwischen  Ty- 
rannei und  Freiheit?  Welche  Form  der  Tyrannei  ist  es, 
die  wir  heute  bekämpfen?  Auf  welche  Weise  gefährdet 
sie  die  Rechte  des  Volkes  und  was  wollen  wir  tun,  um 

5*  67 


unsern  Kampf  wirksam  zu  machen  ?  Was  soll  der  Inhalt 
unsrer  neuen  Unabhängigkeitserklärung  sein? 

Die  Tyrannei,  gegen  die  wir  heute  kämpfen,  ist  die  Be- 
herrschung der  Gesetze,  der  Gesetzgebung  und  der  Recht- 
sprechung durch  Gruppierungen,  die  nicht  das  Volk  ver- 
treten und  deren  Ziele  selbstsüchtig  sind.  Wir  kämpfen 
gegen  eine  Führung  unserer  Angelegenheiten  und  gegen 
eine  Art  der  Gesetzgebung,  die  den  Interessen  besonderer 
Kapitalsverbände  Untertan  sind,  und  wir  richten  uns  gegen 
die  zu  diesem  Zweck  erfolgte  Verbündung  des  politischen 
Apparates  mit  selbstsüchtigen  Zwecken.  Wir  kämpfen 
gegen  die  Ausbeutung  des  Volkes  durch  die  Werkzeuge  der 
Politik  und  der  Gesetzgebung.  Denn  wir  haben  es  schon 
oft  erlebt,  daß  unsere  Regierung  unter  dem  Druck  dieser 
Einflüsse  aufhörte,  eine  repräsentative  Regierung  zu  sein ; 
sie  hörte  auf,  eine  Regierung  zu  sein,  die  das  Volk  vertrat, 
und  wurde  zu  einer  Regierung,  die  Sonderinteressen  ver- 
trat und  durch  besondere  politische  Organisationen  be- 
herrscht war,  auf  die  das  Volk  ohne  Einfluß  blieb. 

Wenn  ich  das  Wachstum  unseres  Wirtschaftssystems 
überblicke,  will  es  mir  manchmal  scheinen,  als  hätten  wir  — 
als  wir  unsere  Gesetze  dort  beharren  ließen,  wo  sie  waren 
ehe  irgendeine  aller  jener  modernen  Erfindungen  und  Ent- 
wicklungen eintrat  —  unsere  Wohnstätte  einfach  aufs  Ge- 
ratewohl vergrößert;  hier  fügten  wir  unserem  Heime  ein 
Kontor  an  und  dort  eine  Werkstatt  und  eine  Reihe  von 
Schlafräumen ;  auf  die  alten  Fundamente  türmten  wir  ein 
Stockwerk,  gliederten  noch  einen  Anbau  an  eine  Seite; 
bis  wir  schließlich  ein  Gebäude  vor  uns  haben,  das  über- 
haupt keinen  Charakter  hat.  Nun  ist  es  unsere  Aufgabe, 
in  diesem  Hause  weiter  zu  leben  und  es  doch  umzu- 
wandeln. 

Nun,  wir  sind  moderne  Baumeister  und  unsere  Archi- 
tekten sind  auch  Ingenieure.  Wir  brauchen  den  Eisen- 

68 


bahnbetrieb  nicht  mehr  einzustellen,  weil  ein  neues  Bahn- 
hofsgebäude gebaut  wird.  Wir  brauchen  keine  Lebens- 
funktion zum  Stehen  zu  bringen,  weil  wir  das  Haus  um- 
bauen, in  dem  diese  Funktionen  vor  sich  gehen.  Unsere 
Aufgabe  ist  es,  die  Fundamente  dieses  Hauses  in  ein 
System  zu  bringen,  dann  werden  wir  alle  die  alten  Teile 
des  Bauwerkes  mit  einem  modernen  Stahlgerüst  umspan- 
nen und  festigen,  werden  auf  Grund  unserer  modernen 
Kenntnisse  von  der  Stärke  und  Elastizität  eines  Baukör- 
pers das  Werk  durchführen,  langsam  die  Teile  verändern, 
Wände  niederlegen,  durch  neue  Öffnungen  Licht  herein- 
lassen und  die  Ventilation  verbessern,  bis  schließlich,  nach 
einer  oder  zwei  Generationen,  das  Gerüst  abgenommen 
wird :  und  die  Familie  in  einem  großen  Gebäude  von  edler 
Architektur  wohnt.  Dann  werden  wir  alle  in  diesem  Hause 
zusammenarbeiten  können  gleich  einem  wohlorganisier- 
ten Bienenkorb ;  Stürme  der  Natur  und  auch  keine  künst- 
lichen Stürme  sind  zu  fürchten,  denn  alle  wissen,  daß  die 
Fundamente  im  festen  Fels  der  Grundsätze  verankert  sind. 
Und  sie  wissen  zugleich,  daß  sie  den  Plan  ihres  Hauses, 
wenn  immer  sie  es  wünschen,  verändern  und  den  ver- 
wandelten Notwendigkeiten  des  Daseins  anpassen  können. 
Aber  es  gibt  deren  viele,  denen  dieser  Gedanke  nicht 
gefällt.  Auf  Grund  der  Tatsache,  daß  die  Mehrzahl  unserer 
amerikanischen  Architekten  in  einer  gewissen  Pariser 
Hochschule  herangebildet  wurden,  meinte  kürzlich  ein 
Witzbold,  alle  amerikanische  Architektur  der  letzten  Jahre 
sei  entweder  bizarr  oder  ,, Beaux  Arts".  Ich  halte  unsere 
wirtschaftliche  Architektur  für  ausgesprochen  bizarr ;  und 
ich  fürchte,  daß  wir  noch  auf  vielen  anderen  Gebieten  als 
auf  dem  der  Baukunst  mancherlei  an  der  gleichen  Quelle 
lernen  können,  an  der  unsere  Architekten  so  viel  Nütz- 
liches lernten.  Ich  meine  nicht  die  Pariser  Hochschule  der 
schönen  Künste,  aber  ich  denke  an  die  Erfahrungen  Frank- 

69 


reichs ;  denn  heute  können  die  Menschen  auf  der  anderen 
Seite  des  Ozeans  gegen  uns  den  Vorwurf  erheben,  daß  wir 
nicht  in  gleichem  Maße  wie  sie  unser  Leben  den  modernen 
Verhältnissen  angepaßt  haben.  Mich  haben  lebhaft  man- 
che jener  Gründe  interessiert,  die  unsere  Freunde  jenseits 
der  kanadischen  Grenze  geltend  machten,  um  ihre  große 
Zurückhaltung  in  der  Frage  eines  Gegenseitigkeitsvertra- 
ges zu  erklären.  Sie  sagten:  ,,Wir  wissen  nicht,  wohin  ein 
solches  Abkommen  führen  kann,  und  wir  möchten  uns 
nicht  zu  eng  mit  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen  der 
Vereinigten  Staaten  verbinden,  solange  diese  Verhältnisse 
nicht  so  modern  sind  wie  die  unseren."  Und  wenn  mich 
das  verstimmte  und  ich  nach  Einzelheiten  fragte,  dann 
mußte  ich  in  vielen  Dingen  die  Debatte  aufgeben.  Denn 
ich  sah,  daß  sie  die  Regulierung  ihrer  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung den  Verhältnissen  angepaßt  hatten,  denen  wir 
in  den  Vereinigten  Staaten  noch  nicht  gerecht  zu  werden 
wußten. 

Aber  wir  haben  auf  jeden  Fall  begonnen.  Die  Prozes- 
sion ist  unterwegs.  Der  ,, Stand-patter"  weiß  nicht,  daß  es 
eine  Prozession  gibt.  Er  schläft  im  Hinterzimmer  seines 
Hauses.  Er  weiß  nicht,  daß  die  Straßen  widerhallen  vom 
Tritte  der  Männer,  die  zur  Front  eilen.  Und  wenn  er  auf- 
wacht, wird  das  Land  leer  sein.  Er  wird  einsam  sein  und 
sich  verwundert  fragen,  was  geschehen  sei.  Nichts  ist  ge- 
schehen. Die  Welt  ist  fortgeschritten.  Die  Welt  hat  die 
Gewohnheit  fortzuschreiten.  Die  Welt  hat  die  Gewohnheit, 
jene,  die  nicht  mit  ihr  Schritt  halten  wollen,  zurückzu- 
lassen. Die  Welt  hat  sich  niemals  um  Ofenhocker  ge- 
kümmert. Und  darum  erweckt  der  Ofenhocker  nicht 
meine  Empörung;  er  erweckt  mein  Mitgefühl.  Unverse- 
hens wird  er  vereinsamt  sein.  Und  wir  halten  gute  Kame- 
radschaft, sind  eine  fröhliche  Gesellschaft.  Warum  kommt 
er  nicht  mit  uns  ?  Wir  werden  ihm  kein  Leid  zufügen.  Wir 

70 


werden  ihm  schöne  Tage  bereiten.  Auf  der  staubigen  Land- 
straße steigen  wir  hinan,  bis  wir  ein  Hochland  erreichen, 
wo  die  Luft  frischer  ist,  wo  die  Menschen  einander  ins 
Angesicht  sehen  und  entdecken,  daß  es  nichts  zu  ver- 
bergen gibt,  daß  sie  alle  von  allem  offen  und  rückhaltslos 
miteinander  sprechen  können.  Bis  wir,  auf  den  zurück- 
gelegten Weg  zurückblickend,  endlich  sehen,  daß  wir 
unser  Versprechen  an  die  Menschheit  eingelöst  haben.  Der 
ganzen  Welt  hatten  wir  verkündet:  ,, Amerika  wurde  ge- 
schaffen, um  jede  Art  von  Bevorzugung  aufzuheben,  um 
die  Menschen  zu  befreien  und  sie  auf  den  Boden  einer 
Gleichheit  zu  stellen,  auf  dem  sie  unbehindert  ihre  Fähig- 
keiten und  ihre  Kräfte  betätigen  können."  Dann  werden 
wir  bewiesen  haben,  daß  es  uns  mit  dem  Ziele  Ernst  ist. 


71 


Drittes  Kapitel 

Ein  freies  Volk  braucht  keine  Vormund- 
schaft 

Seitdem  es  eine  Regierung  gab,  standen  sich  stets  zwei 
Regierungstheorien  gegenüber.  Eine  dieser  Theorien 
ist  in  Amerika  mit  dem  Namen  eines  sehr  großen  Mannes 
verknüpft:  mit  Alexander  Hamilton.  Er  war  eine  große 
Persönlichkeit,  aber  nach  meiner  Meinung  doch  kein  gro- 
ßer Amerikaner.  Sein  Denken  erwuchs  nicht  aus  den  Be- 
dingungen amerikanischen  Lebens.  Hamilton  glaubte,  die 
einzigen,  die  das  Wesen  des  Regierens  verstehen  könnten 
und  damit  die  einzigen,  die  zur  Führung  der  Regierung 
berufen  wären,  seien  jene  Männer,  die  am  Handel  und  an 
der  Industrie  des  Landes  finanziell  am  stärksten  beteiligt 
seien.  Nach  dieser  Theorie,  die  offen  zu  verkünden  nur 
wenige  den  Mut  haben,  ist  in  der  letzten  Zeit  die  Regie- 
rung unseres  Landes  geführt  worden.  Es  ist  erstaunlich, 
wie  zäh  diese  Anschauung  ist.  Es  ist  verblüffend,  wie 
schnell  die  politische  Partei,  deren  erster  Führer  Lincoln 
war  —  Lincoln,  der  diese  aristokratische  Theorie  nicht 
nur  bestritt,  sondern  auch  durch  seine  eigene  Persönlich- 
keit widerlegte,  —  es  ist  verblüffend,  wie  schnell  diese  auf 
das  Vertrauen  des  Volkes  gegründete  Partei  die  Grund- 
sätze Lincolns  vergaß  und  der  Täuschung  erlag,  die  ,, Mas- 
sen" bedürften  der  Vormundschaft  durch  die  ,, Geschäfts- 
leute". 

Denn  wenn  man  darüber  nachdenkt  gibt  es  in  der 
Tat  keine  stärkere  Abkehr  vom  ursprünglichen  Ameri- 

72 


kanismus  und  von  dem  Vertrauen  zu  den  Fähigkeiten 
eines  selbstbewußten,  mittelreichen  und  unabhängigen 
Volkes  als  die  entmutigende  Theorie,  daß  irgendwer  zur 
Sorge  um  die  Wohlfahrt  der  anderen  berufen  sei.  Und  doch 
ist  das  die  Lehre,  nach  der  in  den  letzten  Jahren  die  Regie- 
rung der  Vereinigten  Staaten  geführt  wurde.  Wer  wurde 
befragt,  wenn  wichtige  Regierungsmaßnahmen,  Zolltarife, 
Währungsgesetze  und  Eisenbahngesetze  erwogen  wurden  ? 
Das  Volk,  das  von  den  Tarifen  getroffen  wird,  für  die  die 
Währung  bestehen  soll,  das  die  Steuern  bezahlt  und  auf 
den  Eisenbahnen  fährt?  O  nein!  Was  versteht  das  Volk 
von  solchen  Angelegenheiten !  Die  Männer,  deren  Ansich- 
ten erbeten  wurden,  waren  die  großen  Fabrikanten,  die 
Bankiers  und  die  Leiter  der  großen  Eisenbahntrusts.  Die 
Herren  der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  sind  die  ver- 
bündeten Kapitalisten  und  Fabrikanten  der  Vereinigten 
Staaten.  Auf  jeder  Seite  der  Kongreßberichte  steht  das  zu 
lesen,  wie  ein  roter  Faden  zieht  es  durch  die  Geschichte 
der  Beratungen  im  Weißen  Hause:  alle  Anregungen  zu 
unserer  Wirtschaftspolitik  kamen  aus  einer  Quelle  und 
nicht  aus  vielen.  Die  wohlwollenden  Wächter  und  gut- 
herzigen Kuratoren,  die  uns  die  Mühe  des  Regierens  ab- 
nahmen, sind  so  bekannt  geworden,  daß  heute  fast  jeder 
die  Liste  ihrer  Namen  aufstellen  kann.  Sie  sind  so  bekannt, 
daß  ihre  Namen  fast  auf  jedem  politischen  Programm  er- 
scheinen. Die  Leute,  die  sich  der  interessanten  Arbeit  un- 
terzogen haben,  für  uns  zu  sorgen,  zwingen  uns  nicht, 
unseren  Dank  an  anonyme  Adressen  zu  richten.  Wir 
kennen  sie  mit  Namen. 

Gehe  nach  Washington,  versuche  deine  Regierung  zu 
erreichen.  Stets  wirst  du  finden,  daß  man  dich  höflich  an- 
hört: allein  die  Leute,  die  wirklich  befragt  werden,  sind 
die  Männer  mit  den  größten  Kapitalseinlagen  —  die  gro- 
ßen Bankiers,  die  großen  Fabrikanten,  die  großen  Handels- 

73 


Herren,  die  Führer  der  Eisenbahngesellschaften  und  der 
Dampferkompagnien.  Ich  habe  nichts  dagegen  einzuwen- 
den, daß  diese  Männer  befragt  werden,  denn  auch  sie  sind, 
wenn  sie  selbst  das  auch  nicht  zuzugeben  scheinen,  ein 
Teil  des  Volkes  der  Vereinigten  Staaten.  Aber  ich  habe 
sehr  viel  dagegen  einzuwenden,  daß  diese  Männer  haupt- 
sächlich befragt  werden,  und  ganz  besonders  dagegen,  daß 
nur  sie  allein  befragt  werden.  Wenn  die  Regierung  der 
Vereinigten  Staaten  das  Rechte  für  das  Volk  der  Vereinig- 
ten Staaten  tun  will,  muß  sie  das  unmittelbar  tun  und 
nicht  durch  Vermittlung  jener  Leute.  Allein  wenn  immer 
eine  bedeutsame  Frage  auftauchte,  dann  wurden  die  For- 
derungen jener  Männer  so  behandelt,  als  wäre  die  Erfül- 
lung eine  Selbstverständlichkeit. 

Die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  ist  gegenwärtig 
das  Mündel  der  Sonderinteressen.  Es  wird  ihr  nicht  ge- 
stattet, einen  eigenen  Willen  zu  haben.  Ihr  wird  bei  jedem 
Beginnen  gesagt:  ,,Tu  das  nicht,  du  wirst  unsere  Wohl- 
fahrt vernichten."  Und  wenn  wir  fragen :  „Wo  ruht  unsere 
Wohlfahrt?"  antwortet  eine  gewisse  Gruppe  von  Leuten: 
,,Bei  uns."  Die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  ist  in 
den  letzten  Jahren  nicht  durch  das  Volk  der  Vereinigten 
Staaten  verwaltet  worden.  Das  ist  keine  Anklage  gegen 
irgendwen;  das  ist  nur  eine  Feststellung  bekannter  Tat- 
sachen :  das  Volk  stand  draußen,  blickte  auf  seine  eigene 
Regierung,  und  das  einzige,  wobei  es  mitzubestimmen 
hatte,  war  die  Frage,  welcher  Gruppe  es  dabei  zusehen 
wollte ;  es  konnte  entscheiden,  ob  es  zusehen  wollte,  wie 
diese  kleine  Gruppe  oder  wie  jene  kleine  Gruppe  es  an- 
stellte, um  die  Herrschaft  über  die  öffentlichen  Angelegen- 
heiten in  ihre  Hände  zu  bringen.  Wer  hat  je  von  irgend- 
einer Sitzung  irgendeiner  wichtigen  Kongreßkommission 
vernommen,  bei  der  das  amerikanische  Volk  als  Ganzes 
vertreten  war,  und  sei  es  auch  nur  durch  Mitglieder  des 

74 


Kongresses  ?  Die  Männer,  die  bei  solchen  Zusammenkünf- 
ten erscheinen,  um  für  oder  gegen  eine  Bestimmung  des 
Tarifs  zu  sprechen,  um  für  oder  gegen  eine  Maßnahme  zu 
stimmen,  sind  die  Vertreter  bestimmter  Interessen.  Sie 
mögen  diese  Interessen  sehr  ehrlich  vertreten,  sie  mögen 
nicht  die  Absicht  haben,  ihre  Mitbürger  zu  schädigen :  aber 
sie  betrachten  die  Dinge  von  dem  Gesichtspunkt  eines  klei- 
nes Bruchteiles  der  Bevölkerung.  Ich  habe  mich  bisweilen 
gewundert,  daß  Männer,  besonders  wohlhabende  Männer, 
die  für  ihren  Lebensunterhalt  nicht  zu  arbeiten  brauchen, 
sich  nicht  zu  Anwälten  des  Volkes  aufwerfen  und  immer, 
wenn  eine  Kongreßkommission  tagt,  hingehen  und  sagen : 
,, Meine  Herren,  berücksichtigen  Sie  bei  der  Betrachtung 
dieser  Angelegenheit  auch  das  ganze  Land  ?  Berücksich- 
tigen Sie  die  Bürger  der  Vereinigten  Staaten?** 

Es  ist  nicht  mein  Ziel,  eine  kleine  Gruppe  von  Fach- 
kundigen in  Washington  hinter  verschlossenen  Türen  sit- 
zen und  für  mich  die  Vorsehung  spielen  zu  sehen.  Es  gibt 
eine  Vorsehung,  der  ich  mich  bereitwilligst  unterordne. 
Aber  daß  andere  Männer  sich  zur  Vorsehung  über  mich 
aufwerfen,  erweckt  ernstlichen  Widerspruch.  Ich  habe  die- 
sem Braten  besondere  politische  Schmackhaftigkeit  nie 
abgewinnen  können  und  erwarte  das  auch  nicht,  einge- 
denk der  lustigen  Verse  des  Gillet  Burgess: 

Nie  sah  ich  eine  rote  Kuh 

Und  Sehnsucht  flößt  sie  mir  nicht  ein. 

Doch  lieber  noch,  das  geb   ich  zu, 

Will  ich  sie  sehn,  als  eine  sein. 
Lieber  würde  ich  den  Vereinigten  Staaten  einen  Retter 
erstehen  sehen,  ehe  ich  mich  dazu  aufwerfe,  selbst  einer 
sein  zu  wollen,  denn  ich  fand,  —  ich  fand  wirklich  I  — 
daß  Männer,  die  ich  befragte,  mehr  wissen,  als  ich  weiß, 
—  besonders  wenn  ich  viele  von  ihnen  befrage.  Noch  nie 
habe  ich  eine  Kommissionssitzung  oder  eine  Beratung  ver- 

75 


lassen,  ohne  von  den  zur  Erörterung  stehenden  Fragen 
mehr  zu  wissen  als  ich  vorher  wußte.  Und  das  ist  für  mich 
ein  Abbild  einer  Regierung.  Ich  bin  nicht  gewillt,  mich 
unter  das  Patronat  der  Trusts  zu  begeben,  wie  vorsorglich 
das  Tempo,  in  dem  die  Trusts  die  Herrschaft  über  mein 
Leben  erringen  sollen,  auch  von  der  Regierung  abgewogen 
werde.  Ich  zähle  zu  jenen,  die  in  diesem  Zusammenhang  die 
Theorie  der  Kuratel  und  die  Lehre  von  der  Vormundschaft 
unbedingt  ablehnen.  Mir  ist  nie  ein  Mann  begegnet,  der  es 
verstanden  hätte,  für  mich  zu  sorgen,  und  auf  diese  Er- 
fahrung gestützt  vermute  ich  auch,  daß  es  keinen  einzel- 
nen Mann  gibt,  der  für  das  ganze  Volk  der  Vereinigten 
Staaten  zu  sorgen  verstünde.  Ich  glaube,  das  Volk  der  Ver- 
einigten Staaten  kennt  seine  eigenen  Interessen  besser  als 
irgendeine  Gruppe  im  Bereiche  unseres  Landes.  Die  Men- 
schen, die  ihre  Kraft  und  ihr  Blut  opfern,  um  in  der  Welt 
der  Arbeit  und  des  Strebens  Fuß  zu  fassen,  kennen  die  Ge- 
schäftsverhältnisse in  den  Vereinigten  Staaten  viel  besser 
als  jene,  die  ihr  Ziel  bereits  erreicht  haben  und  auf  dem 
Gipfel  stehen.  Die  noch  unten  stehen  wissen,  wie  die  Schwie- 
rigkeiten beschaffen  sind,  gegen  die  sie  ankämpfen.  Sie 
wissen,  wie  schwer  es  ist,  ein  neues  Unternehmen  einzu- 
führen. Sie  wissen,  wie  schwer  es  ist,  den  Kredit  zu  er- 
langen, der  sie  auf  gleichen  Fuß  mit  jenen  Männern  stellt, 
die  im  Lande  eine  Industrie  bereits  aufgebaut  haben.  Sie 
wissen,  daß  irgendwo  durch  irgendwen  die  Entwicklung 
der  Industrie  beherrscht  und  bestimmt  wird. 

Wenn  ich  das  ausspreche,  so  geschieht  es  ohne  die  ge- 
ringste Absicht,  ein  Vorurteil  gegen  die  Wohlhabenden  zu 
wecken ;  ich  würde  mich  meiner  selbst  schämen,  wenn  ich 
Klassengefühle,  welcher  Art  sie  auch  sein  mögen,  zu  ent- 
fesseln suchte.  Aber  ich  will  darauf  hinweisen,  daß  der 
Reichtum  des  Landes  in  den  letzten  Jahren  aus  besonderen 
Quellen  geflossen  ist.  Er  floß  aus  jenen  Quellen,  die  das 

76 


Monopolsystem  schufen.  Der  Gesichtspunkt  dieser  Männer 
ist  ein  besonderer  Gesichtspunkt.  Sie  wollen  nicht,  daß  das 
Volk  seine  eigenen  Angelegenheiten  führe,  weil  sie  nicht 
glauben,  daß  das  Urteil  des  Volkes  gesund  und  vernünftig 
sei.  Sie  möchten  damit  beauftragt  werden,  für  die  Ver- 
einigten Staaten  und  für  das  Volk  der  Vereinigten  Staaten 
zu  sorgen,  weil  sie  glauben,  daß  sie  besser  als  irgendwer 
die  Interessen  der  Vereinigten  Staaten  beurteilen  können. 
Ich  bekämpfe  nicht  den  Charakter  dieser  Männer,  ich  be- 
kämpfe ihren  Gesichtspunkt.  Wir  können  es  uns  nicht 
leisten,  so  regiert  zu  werden,  wie  wir  in  der  letzten  Gene- 
ration regiert  wurden:  durch  Männer  von  einem  einsei- 
tigen und  damit  vorurteilsvollen  Gesichtspunkt. 

Die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  kann^nicht 
irgend  einer  besonderen  Klasse  anvertraut  werden.  Die 
Politik  einer  großen  Nation  kann  nicht  mit  einer  Sonder- 
gruppe von  Interessen  verknüpft  sein.  Immer  wieder  möch- 
te ich  es  sagen :  meine  Einwendungen  erstrecken  sich  nicht 
auf  den  Charakter  der  Männer,  denen  ich  entgegentrete. 
Ich  glaube,  daß  die  sehr  reichen  Männer,  die  ihr  Vermögen 
durch  gewisse  Arten  von  korporationsartigen  Unterneh- 
men erwarben,  ihren  Horizont  eingeschränkt  haben;  sie 
überblicken  nicht  die  ganze  Masse  des  Volkes  und  können 
sie  auch  nicht  verstehen.  Darum  suche  ich  jene  kleine 
Gruppe  zu  sprengen,  die  bestimmt  hat,  was  die  Regierung 
der  Nation  tun  solle.  Die  Männer,  die  die  Geschicke  New  Jer- 
seys zu  bestimmen  pflegten,  zählten  kaum  ein  halbes  Dut- 
zend und  blieben  stets  dieselben.  Manche  von  ihnen  sind 
freimütig  genug,  zuzugeben,  daß  New  Jersey  heute  mehr 
Tatkraft  entfaltet,  weil  mehr  Leute  zu  Rat  gezogen  werden 
und  weil  das  ganze  Gebiet  der  Tätigkeit  erweitert  und  frei 
gemacht  worden  ist.  Die  Regierung  muß  von  der  Herr- 
schaft besonderer  Klassen  befreit  werden :  nicht  etwa,"weil 
diese  Klassen  naturnotwendig   schlecht  wären,  sondern 

77 


weil  keine  Sonderklasse  die  Interessen  einer  großen  Ge- 
meinschaft zu  beurteilen  vermag. 

Ich  glaube  an  die  Durchschnittsehrlichkeit  und  an  die 
Durchschnittsintelligenz  des  amerikanischen  Volkes  und 
ich  glaube  nicht,  daß  die  Intelligenz  Amerikas  sich  auf 
irgendwen  konzentrieren  kann.  Und  darum  glaube  ich 
auch  nicht,  daß  es  irgendeine  Gruppe  von  Leuten  gibt, 
der  wir  eine  solche  Art  Vormundschaft  einräumen  können. 
Solange  ich  es  verhindern  kann,  will  ich  unter  keiner  Vor- 
mundschaft leben.  Keine  bestimmte  Gruppe  von  Männern 
hat  das  Recht,  mir  zu  sagen,  wie  ich  in  Amerika  leben  soll. 
Der  Majorität  werde  ich  mich  fügen,  weil  ich  dazu  er- 
zogen bin  —  wiewohl  ich  auch  über  die  Majorität  bisweilen 
meine  eigene  Meinung  habe. 

Wenn  irgendein  Teil  des  amerikanischen  Volkes  Mün- 
del sein  will,  wenn  er  der  Vormundschaft  zu  bedürfen 
glaubt,  wenn  er  danach  verlangt,  daß  jemand  für  ihn  sorgt 
und  wenn  er  eine  Schar  von  der  Regierung  beschützter 
Kinder  werden  will,  so  wäre  das  zu  beklagen,  weil  es  der 
Mannhaftigkeit  Amerikas  Abbruch  tut.  Aber  ich  glaube 
nicht,  daß  ein  solcher  Wunsch  besteht.  Ich  glaube,  daß 
das  Volk  auf  der  festen  Grundlage  der  Gesetze  und  des 
Rechtes  für  sich  selbst  sorgen  will.  Ich  für  meine  Person 
möchte  keiner  Nation  angehören  und  gehöre  wohl  auch 
keiner  an,  die  danach  verlangt,  durch  Vormünder  be- 
schützt zu  werden.  Ich  möchte  einer  Nation  angehören 
und  ich  bin  stolz,  einer  Nation  anzugehören,  die  für  sich 
selbst  zu  sorgen  weiß.  Wenn  ich  glaubte,  das  amerika- 
nische Volk  sei  zügellos,  unwissend  und  rachsüchtig,  dann 
würde  ich  davor  zurückschrecken,  die  Regierung  in  seine 
Hand  zu  legen.  Aber  es  ist  die  Schönheit  der  Demokratie, 
daß  sie,  wenn  sie  achtlos  wird,  ihre  eigenen  Lebensbedin- 
gungen zerstört ;  wenn  sie  rachgierig  wird,  macht  sie  sich 
selbst  zum  Opfer  der  Rachgier.  Das  Wesen  einer  demokra- 

78 


tischen  Gemeinschaft  beruht  auf  der  Tatsache,  daß  jedes 
Interesse  jedermanns  Interesse  ist. 

Die  Theorie,  nach  der  die  Leiter  der  größten  Unter- 
nehmungen und  Beherrscher  des  weitesten  Wirkungs- 
feldes auch  geeignete  Ratgeber  einer  Regierung  seien,  will 
ich  als  eine  recht  plausible  Theorie  gelten  lassen.  Wenn 
meine  Geschäfte  sich  nicht  allein  über  die  Vereinigten 
Staaten,  sondern  über  die  ganze  Welt  erstrecken,  wird  man 
anitfehmen  dürfen,  daß  in  meiner  Geschäftsbetrachtung 
große  Gesichtspunkte  und  weite  Ziele  walten.  Aber  der 
Fehler  ist,  daß  ich  nur  mein  eigenes  Unternehmen  über- 
blicke und  nicht  die  Unternehmen  der  Leute,  die  jenseits 
jener  Ziele  und  Pläne  stehen,  die  ich  für  besondere  mir 
nahestehende  Untersuchungen  gefaßt  habe  und  verfolge. 
Eine  wie  große  Zahl  von  Leuten,  die  ihr  eigenes  Geschäft 
verstehen,  man  auch  zusammenbringt,  und  wie  groß  deren 
Geschäfte  auch  sein  mögen :  damit  wird  man  noch  nicht 
eine  Körperschaft  von  Männern  gefunden  haben,  die  die 
Geschäfte  der  Nation  von  ihren  eigenen  Interessen  tren- 
nen kann. 

In  einer  vergangenen  Generation,  vor  einem  halben 
Jahrhundert,  war  mit  der  Regierung  eine  stattliche  Reihe 
von  Männern  verknüpft,  deren  Patriotismus  wir  weder 
leugnen  noch  anzweifeln  können;  es  waren  Männer,  die 
dem  Volke  dienen  wollten,  aber  so  stark  von  dem  Ge- 
sichtspunkt einer  herrschenden  Klasse  abhängig  gewor- 
den waren,  daß  sie  Amerika  nicht  mehr  so  ansehen  konn- 
ten, wie  das  Volk  Amerikas  es  tat.  Damals  erstand  die 
unsterbliche  Gestalt  des  großen  Lincoln,  erhob  sich  und 
erklärte,  die  Politiker,  die  Männer,  die  unser  Land  regiert 
hatten,  vermöchten  die  Dinge  nicht  vom  Gesichtspunkte 
des  Volkes  aus  zu  betrachten.  Wenn  ich  jener  erhabenen 
Gestalt  gedenke,  die  in  Illinois  emporstieg,  dann  sehe  ich 
das  Abbild  eines  freien  Mannes,  der  von  den  das  Land  be- 

79 


herrschenden  Einflüssen  unberührt  und  unabhängig  blieb ; 
er  war  bereit,  die  Dinge  mit  offenen  Augen  zu  sehen,  sie 
stets  zu  sehen,  sie  ganz  zu  sehen,  und  sie  auch  so  zu  sehen, 
wie  die  Männer  sie  sahen,  mit  denen  er  sie  Schulter  an 
Schulter  betrachtete  und  die  mit  ihm  verbündet  waren. 
Was  das  Land  im  Jahre  i860  brauchte,  war  ein  Führer, 
der  das  Denken  des  ganzen  Volkes  verstand  und  ver- 
körperte, im  Gegensatz  zu  jener  Sonderklasse,  die  sich  als 
Vormund  für  die  Wohlfahrt  des  Landes  ansah.  Inmitten 
unserer  heutigen  politischen  Verhältnisse  bedürfen  wir 
wieder  eines  Mannes,  der  nicht  mit  den  herrschenden 
Klassen  und  mit  den  herrschenden  Einflüssen  verknüpft 
ist  und  der  aufsteht  und  für  uns  spricht.  Wir  wollen  eine 
Stimme  hören,  die  das  amerikanische  Volk  dazu  aufruft, 
seine  Rechte  und  Prärogativen  bei  der  Ausübung  seiner 
eigenen  Regierung  geltend  zu  machen. 

Ich  bringe  Herrn  Taft  und  Herrn  Roosevelt  die  vollkom- 
menste Hochachtung  entgegen,  aber  beide  waren  mit  den 
Mächten,  die  fast  eine  Generation  hindurch  die  Politik 
unserer  Regierung  bestimmten,  so  eng  verbunden,  daß  sie 
die  Angelegenheiten  des  Landes  nicht  mit  den  Augen  eines 
neuen  Zeitalters  und  nicht  von  dem  Gesichtspunkt  der  ver- 
änderten Umstände  aus  betrachten  können.  Sie  sympathi- 
sieren mit  dem  Volke ;  unzweifelhaft  schlagen  ihre  Herzen 
für  die  großen  Massen  unbekannter  Menschen  in  unserem 
Lande;  aber  ihre  Gedanken  sind  eng  und  gewohnheits- 
mäßig mit  jenen  Männern  verknüpft,  die  während  unserer 
Lebenszeit  stets  die  Politik  unseres  Landes  bestimmten. 
Das  sind  die  Männer,  die  den  Schutzzolltarif  entwarfen, 
die  Trusts  entwickelten  und  die  großen  wirtschaftlichen 
Gewalten  unseres  Landes  so  koordinierten  und  ordneten, 
daß  heute  nur  eine  von  außen  hereinbrechende  Gewalt 
ihre  Vorherrschaft  brechen  kann.  Im  Bewußtsein  dieser 
Umstände  wird  das  Volk  jenen  Herren  sagen  dürfen:  „Wir 

80 


bestreiten  eure  Ehrenhaftigkeit  nicht,  wir  zweifeln  nicht 
an  der  Reinheit  eurer  Vorsätze ;  aber  das  Denken  des  Vol- 
kes der  Vereinigten  Staaten  ist  noch  nicht  in  euer  Bewußt- 
sein gedrungen.  Ihr  seid  bereit,  für  das  Volk  zu  handeln. 
Und  darum  wollen  wir  für  uns  selbst  handeln." 

Manchmal  denke  ich,  daß  die  Männer,  die  uns  jetzt 
regieren,  die  Ketten  spüren,  in  denen  sie  gehalten  werden. 
Ich  glaube  nicht,  daß  sie  uns  bewußt  in  das  Schlepptau 
der  Sonderinteressen  eingeschirrt  haben.  Die  Sonderinter- 
essen sind  herangewachsen.  Sie  erwuchsen  durch  Vor- 
gänge, die  wir  endlich  —  glücklicherweise  —  zu  verstehen 
beginnen.  Und  nachdem  sie  herangewachsen  waren,  nach- 
dem sie  sich  vorteilhaft  nahe  am  Ohre  jener,  die  die  Re- 
gierung leiten,  eingenistet  hatten,  nachdem  sie  das  zu  den 
Wahlen  notwendige  Geld  beigesteuert  und  damit  nach  den 
Wahlen  einen  gewissen  Anspruch  auf  freundliche  Behand- 
lung erlangt  hatten,  schloß  sich  rings  um  die  Regierung 
der  Vereinigten  Staaten  ein  Ring ;  er  ist  gebildet  aus  einer 
sehr  interessanten,  sehr  fähigen  und  sehr  tatkräftigen  Ko- 
terie  von  Männern,  die  in  ihren  Anschauungen  und  in  ihren 
Wünschen  sehr  entschieden  und  sehr  zielbewußt  sind.  Sie 
brauchen  uns  nicht  über  das  zu  befragen,  was  sie  wünschen. 
Sie  brauchen  niemand  zu  befragen.  Sie  kennen  ihre  Ab- 
sichten und  wissen  daher,  was  ihnen  frommt.  Es  mag  sein, 
daß  sie  wirklich  dachten,  was  sie  gedacht  zu  haben  behaup- 
teten ;  es  mag  sein,  daß  sie  von  der  Geschichte  der  wirt- 
schaftlichen Entwicklung  und  von  den  Interessen  der  Ver- 
einigten Staaten  so  wenig  wissen,  daß  sie  glauben,  ihre 
Führung  sei  für  unser  Wohlergehen  und  für  unsere  Fort- 
entwicklung unentbehrlich.  Daß  sie  das  glauben,  brauche 
ich  nicht  erst  zu  beweisen;  denn  sie  selbst  geben  es  zu. 
Mehr  als  einmal  habe  ich  sie  das  zugeben  hören. 

Offen  möchte  ich  es  aussprechen,  daß  ich  ihnen  das 
nicht  verarge.  Mancher  der  Leute,  die  diesen  Einfluß  aus- 

6  8i 


geübt  haben,  sind  prächtige  Menschen ;  sie  glauben  wirk- 
lich, die  Wohlfahrt  des  Landes  hänge  von  ihnen  ab.  Sie 
glauben  wirklich,  wir  wären  nicht  imstande,  unsere  Auf- 
gabe zu  bewältigen,  wenn  sie  die  Führung  der  wirtschaft- 
lichen Entwicklung  unseres  Landes  aus  der  Hand  gäben. 
Sie  halten  die  Macht  der  Vereinigten  Staaten  nicht  nur  in 
ihrer  Hand  sondern  auch  in  ihrer  Phantasie.  Sie  sind  ehr- 
liche Leute  und  haben  nicht  weniger  Recht,  ihre  Mei- 
nungen zu  äußern  wie  ich  zur  Darlegung  der  meinen,  aber 
die  Zeit  ist  gekommen,  in  der  wir  unsere  Anschauungen 
selbst  nachprüfen  und  ihre  Gültigkeit  bestimmen  müssen. 
In  Wirklichkeit  vermögen  jene  Männer  die  Vorgänge  in- 
nerhalb ihrer  eigenen  Unternehmen  nicht  ganz  zu  über- 
blicken. Als  Universitätspräsident  habe  ich  erfahren  müs- 
sen, daß  die  Leute,  die  über  unsere  Fabrikationsmethoden 
bestimmen,  ohne  die  Hilfe  der  Fachleute,  die  ihnen  von  den 
Universitäten  zur  Verfügung  gestellt  werden,  ihren  Ge- 
schäftsbetrieb keine  vierundzwanzig  Stunden  aufrechter- 
halten könnten.  Die  moderne  Industrie  ist  von  techni- 
schen Kenntnissen  abhängig ;  die  Leistung  jener  Fabrik- 
herren mußte  sich  auf  die  äußere  Geschäftsführung  und 
auf  die  Finanzoperationen  beschränken,  die  mit  der  ge- 
nauen Fachkenntnis,  mit  denen  die  Unternehmungen  be- 
trieben werden,  sehr  wenig  zu  tun  haben.  Ich  kenne  Män- 
ner, deren  Namen  nirgends  gedruckt  werden,  deren  Na- 
men in  öffentlichen  Erörterungen  nie  fallen  und  die  doch 
Mark  und  Bein  der  amerikanischen  Industrie  sind. 

Sprechen  die  Herren  unserer  Industrie  im  Geiste  und  im 
Interesse  jener  Männer,  die  sie  beschäftigen?  Fragt  man 
mich,  wie  ich  über  die  Arbeiterfrage  und  die  Arbeiter  denke, 
dann  fühle  ich,  daß  man  mich  nach  dem  fragt,  was  ich  von 
der  überwiegenden  Mehrheit  des  Volkes  weiß.  Dann  habe 
ich  das  Empfinden,  als  forderte  man  von  mir,  ich  möge 
mich  von  mir  selbst  als  dem  Angehörigen  einer  besonderen 

82 


Klasse  und  von  jenem  großen  Teil  meiner  Mitbürger,  die 
die  Unternehmungen  dieses  Landes  stützen  und  leiten,  los- 
lösen. Solange  wir  diesen  Gesichtspunkt  nicht  opfern, 
wird  es  unmöglich,  eine  freie  Regierung  zu  haben.  Ich  habe 
sehr  ehrlichen  und  gewandten  Rednern  gelauscht,  deren 
Gefühle  dadurch  bemerkenswert  waren,  daß  sie  nicht  an 
sich  selbst  dachten,  wenn  sie  von  dem  Volke  sprachen  ; 
sie  dachten  an  irgendwen,  für  den  sie  zu  sorgen  beauf- 
tragt seien.  Sie  wollten  stets  alles  für  das  amerikanische 
Volk  tun  und  ich  sah  sie  erschauern,  wenn  ihnen  vorge- 
schlagen wurde,  man  möge  die  Dinge  so  einrichten,  daß 
das  Volk  etwas  für  sich  selbst  tun  könne.  Sie  meinten : 
,,Was  versteht  das  Volk  davon?**  Und  ich  möchte  ihnen 
immer  antworten:  ,,V^as  verstehen  Sie  davon?  Sie  ken- 
nen Ihre  Interessen,  aber  wer  hat  Sie  über  unsere  Inter- 
essen unterrichtet  und  über  das,  was  für  sie  geschehen 
muß?"  Denn  es  ist  die  Pflicht  jedes  Leiters  einer  Regie- 
rung, auf  das  zu  hören,  was  die  Nation  sagt,  und  das  zu 
wissen,  was  die  Nation  durchmacht.  Es  ist  nicht  seine 
Aufgabe,  für  die  Nation  zu  urteilen,  sondern  er  soll  als 
Erwählter  und  als  Stimme  des  Volkes  durch  die  Nation 
sprechen.  Und  ich  glaube  nicht,  daß  dieses  Land  eine  Fort- 
setzung der  Politik  jener  Männer  dulden  kann,  die  die 
Dinge  in  anderem  Lichte  sahen. 

Die  Hypothese,  unter  der  wir  regiert  wurden,  ist  die 
einer  Regierung  durch  eine  Körperschaft  von  Kuratoren, 
durch  eine  ausgewählte  Anzahl  großer  Geschäftsleute,  die 
eine  Menge  Dinge  wissen  und  die  es  als  erwiesen  ansehen, 
daß  unsere  Unkenntnis  die  Wohlfahrt  des  Landes  zer- 
stören würde.  Die  Präsidenten,  die  wir  in  der  letzten  Zeit 
hatten,  lebten  in  der  Vorstellung,  sie  seien  die  Präsidenten 
jenes  nationalen  Vormundschaftsrates.  Das  ist  nicht  meine 
Anschauung.  Ich  bin  Präsident  eines  Kuratoriums  ge- 
wesen und  ich  möchte  dieses  Amt  nicht  ein  zweites  Mal 

6»  83 


versehen.  Ich  möchte  Präsident  des  Volkes  der  Vereinigten 
Staaten  sein.  Als  ich  Präsident  des  Kuratoriums  der  Uni- 
versität war,  kam  es  oft  vor,  daß  die  jüngeren  Studenten 
mehr  wußten  als  die  Mitglieder  des  Kuratoriums;  und 
immer  wieder  überfällt  mich  seitdem  der  Gedanke,  daß  ich 
viel  schneller  zum  Ziele  gekommen  wäre,  wenn  ich  statt 
mit  einem  Kuratorium  direkt  mit  den  Leuten  zu  tun  ge- 
habt hätte,  die  die  Princeton  Universität  bildeten. 

Ich  bitte  zu  beachten,  daß  ich  nicht  sage,  jene  Führer 
wußten,  daß  sie  uns  schadeten,  oder  hatten  die  Absicht, 
Schaden  zu  stiften.  Ich  fürchte  jenen  Mann,  der  etwas 
Schlimmes  tut  und  nicht  weiß,  wie  schlimm  es  ist,  viel  mehr 
als  jenen  Mann,  der  etwas  Schlimmes  tut  und  es  auch  weiß ; 
in  öffentlichen  Angelegenheiten  halte  ich  Beschränkt- 
heit für  gefährlicher  als  Schlechtigkeit,  denn  sie  ist  schwe- 
rer zu  bekämpfen  und  zu  beseitigen.  Wenn  ein  Mann  nicht 
die  Folgen  seines  Handelns  für  das  ganze  Land  abzuschät- 
zen vermag,  kann  er  das  Land  nicht  mit  Nutzen  leiten. 
Jene  Männer  aber  haben,  was  immer  auch  ihre  Absicht 
gewesen  sein  mag,  die  Regierung  mit  den  Männern  ver- 
kettet, die  den  Kapitalsmarkt  beherrschten.  Ob  sie  das  in 
aller  Unschuld  oder  mit  den  Hilfsmitteln  der  Korruption 
getan  haben,  berührt  meine  Argumente  nicht.  Sie  selbst 
können  sich  von  jenem  Bündnis  nicht  frei  machen. 

Man  nehme  beispielsweise  die  alte  Frage  der  Wahlfonds : 
wenn  ich  loo  ooo  Dollar  von  einer  Gruppe  von  Männern 
annehme,  die  besondere  Interessen  vertreten  und  beson- 
deres Gewicht  auf  eine  bestimmte  Position  im  Zolltarif 
legen  müssen,  dann  nehme  ich  das  Geld  mit  dem  Bewußt- 
sein, daß  jene  Herren  von  mir  erwarten,  ihre  Interessen 
würden  nicht  übersehen  werden.  Und  sie  werden  es  als 
eine  Ehrensache  ansehen,  daß  ich  dafür  sorge,  daß  sie 
durch  Änderungen  des  Zolltarifes  nicht  zu  sehr  geschädigt 
werden.  Wenn  ich  also  ihr  Geld  nehme,  bin  ich  ihnen  durch 

84 


eine  schweigende  Ehrenverpflichtung  verpflichtet.  Gegen 
diese  Situation  wäre  vielleicht  nichts  einzuwenden,  so- 
lange man  das  Wesen  der  Regierung  so  auffaßt,  daß  es 
Aufgabe  der  Regierenden  sei,  für  die  Kuratoren  der  Wohl- 
fahrt zu  sorgen,  die  sich  ihrerseits  wieder  um  das  Volk 
kümmern ;  aber  jede  andere  Theorie  würde  die  Entgegen- 
nahme von  Beiträgen  zum  Wahlfonds  stets  und  unter  allen 
Umständen  ausschließen  müssen,  —  es  seien  denn  die  Bei- 
träge der  Millionen  von  Bürgern,  die  damit  ihre  Überzeu- 
gungen bekräftigen  und  jene  Männer  unterstützen  wollen, 
die  sie  als  ihr  Schallrohr  anerkennen. 

Die  Leute,  die  mich  angehen,  sind  jene,  deren  Stim- 
men unter  den  bisherigen  Verhältnissen  nie  gehört  wur- 
den ;  es  sind  die  Leute,  die  nie  eine  Zeile  in  die  Zeitung 
setzten,  nie  in  einem  Parteiprogramm  erwähnt  wurden 
und  niemals  bei  Gouverneuren  oder  Präsidenten  oder  ir- 
gendeinem verantwortlichen  Führer  der  Regierung  Ge- 
hör finden  konnten,  die  aber  still  und  geduldig  Tag  um 
Tag  an  ihr  Werk  gehen  und  die  Bürde  der  Arbeit  nicht  von 
ihren  Schultern  lassen.  Wie  sollen  diese  Männer  von  den 
Herren  der  Finanz  verstanden  werden,  wenn  nur  die  Her- 
ren der  Finanz  zu  Worte  kommen? 

Das  ist  es,  was  ich  meine,  wenn  ich  sage:  ,,Gebt  dem 
Volke  die  Regierung  zurück."  Ich  meine  damit  nichts  De- 
magogisches ;  ich  möchte  nicht  so  sprechen,  als  sei  es  un- 
ser Wunsch,  daß  eine  große  Menschenmasse  herbeistürmt 
und  irgend  etwas  zerstört.  Das  ist  nicht  die  Absicht.  Ich 
möchte,  daß  das  Volk  komme  und  seine  eigenen  Geschäft£- 
räume  in  Besitz  nehme ;  denn  die  Regierung  gehört  dem 
Volke  und  das  Volk  hat  Anspruch  auf  freien  Zutritt  zu 
jener  Macht,  die  jede  Wandlung  und  jeden  Schritt  der  Po- 
litik bestimmt. 

Amerika  wird  sich  niemals  einer  Vormundschaft  fügen. 
Amerika  wird  niemals  an  Stelle  der  Freiheit  die  Leibeigen- 

85 


Schaft  erwählen.  Seht,  was  es  zu  entscheiden  gilt!  Das  ist 
die  Frage  des  Zolltarifs.  Kann  diese  Frage  zugunsten  des 
Volkes  entschieden  werden,  wenn  in  Washington  die  Par- 
teigänger der  Monopole  die  Hauptratgeber  sind  ?  Da  ist  die 
Währungsfrage.  Werden  wir  diese  Frage  lösen,  solange 
die  Regierung  nur  auf  den  Rat  jener  hört,  die  das  Bank- 
wesen beherrschen? 

Dann  aber  besteht  die  Frage  der  Erhaltung  innerer  Er- 
rungenschaften. Die  Hände,  die  sich  ausstrecken,  um  un- 
sere Wälder  mit  Beschlag  zu  belegen,  die  die  Ausnutzung 
unserer  großen  kraftspendenden  Flüsse  verhindern  oder 
für  sich  reservieren,  die  Hände,  die  sich  zum  Herzen  der 
Erde  ausstrecken,  um  jene  gewaltigen  Reichtümer  zu 
packen,  die  in  Alaska  oder  in  anderen  Gebieten  unserer 
unvergleichlichen  Staaten  verborgen  liegen,  —  es  ist  über- 
all die  Faust  des  Monopols.  Sollen  diese  Männer  auch 
fürderhin  an  der  Schulter  der  Regierung  stehen  und  uns 
raten,  wie  wir  uns  schützen  sollen  —  vor  ihnen  schützen  ? 

Der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  harren  Auf- 
gaben, die  nur  gelöst  werden  können,  wenn  jeder  Puls- 
schlag der  Regierung  im  gleichen  Takte  mit  den  Nöten 
und  Wünschen  des  ganzen  amerikanischen  Volkskörpers 
geht. 


86 


Viertes  Kapitel 
Vom  Boden  kommt  das  Leben 

Blicke  ich  auf  den  Gang  der  Geschichte  und  den  Werde- 
gang Amerikas  zurück,  dann  finde  ich  es  auf  jeder  Seite 
geschrieben :  vom  Boden  aus  werden  Nationen  erneuert 
und  nicht  von  der  Spitze ;  der  Genius,  der  aus  der  Masse 
der  Namenlosen  hervorgeht,  erneuert  Jugend  und  Tatkraft 
des  Volkes.  Was  ich  von  Geschichte  kenne,  jede  kleinste 
Erfahrung  und  Beobachtung,  die  mein  Denken  beeinfluß- 
ten, bestätigten  mir  die  Überzeugung:  die  wirkliche  Le- 
bensweisheit ersteht  aus  den  Erfahrungen  einfacher  Men- 
schen. Die  Nutzbarkeit,  die  Lebenskraft  und  die  Früchte 
des  Daseins  gehen  nicht  von  der  Höhe  zur  Tiefe ;  sie  stre- 
ben gleich  dem  Wachstum  eines  Baumes  vom  Boden  em- 
por und  ziehen  durch  Stamm  und  Zweige  in  Laub,  Blüten 
und  Früchte.  Die  großen,  mit  dem  Leben  ringenden  unbe- 
kannten Massen  sind  die  Grundlage  aller  Geschehnisse ;  sie 
sind  die  dynamische  Gewalt,  die  das  Niveau  menschlicher 
Gesellschaft  emportreibt.  Eine  Nation  ist  so  groß  und  nur 
so  groß  wie  die  Summe  ihrer  Gesamtheit. 

Darum  ist  es  heute  die  erste  und  größte  Auf  gäbe  unserer 
Nation,  in  die  Gemeinschaft  der  Regierenden  die  großen 
Scharen  jener  namenlosen  Menschen  aufzunehmen,  aus 
denen  unsere  künftigen  Führer  hervorgehen  und  durch 
die  die  Tatkraft  der  Nation  erneuert  wird.  Ich  weiß,  was 
ich  sage,  wenn  ich  das  ausspreche  und  meinen  Glauben 
an  den  einfachen  Mann  bekenne.  Der  Mensch,  der  gegen 
den  Strom  schwimmt,  kennt  die  Stärke  der  Strömung.  Der 

87 


Mann,  der  im  Handgemenge  steht,  weiß  wie  Hiebe  fallen 
und  wie  Blut  vergossen  wird.  Der  Mann,  der  noch  im 
Kampfe  um  den  Aufbau  seiner  Existenz  steht,  ist  der  Rich- 
ter der  amerikanischen  Gegenwart,  nicht  der  Mann,  der 
sein  Ziel  erreicht  hat ;  nicht  jener,  der  aus  dem  allgemeinen 
Strom  emporgetaucht  ist ;  nicht  jener,  der  auf  der  Bank  sitzt 
und  dem  Volksgetriebe  zuschaut :  sondern  der  Mensch,  der 
um  sein  Dasein  und  um  das  seiner  Lieben  ringt.  Das  ist 
der  Mensch,  der  die  Wirklichkeit  kennt  und  dessen  Mei- 
nung ich  suche  und  von  dessen  Urteil  ich  geführt  werden 
möchte. 

Wir  haben  die  falschen  Richter  gehabt ;  die  falsche  Grup- 
pe —  nein,  ich  will  nicht  sagen  die  falsche  Gruppe,  aber  eine 
kleine  Gruppe  —  hat  die  Politik  der  Vereinigten  Staaten 
beherrscht.  Der  gewöhnliche  Mann,  der  Durchschnitts- 
bürger wurde  nicht  befragt,  und  sein  Mut  begann  zu  sin- 
ken, weil  er  befürchten  mußte,  daß  er  nie  wieder  befragt 
werden  würde.  Deshalb  wird  es  unsere  Aufgabe,  eine  Re- 
gierung zu  organisieren,  deren  Sinn  dem  amerikanischen 
Volke  als  einem  Ganzen  offen  ist,  eine  Regierung,  die,  ehe 
sie  handelt,  einen  so  großen  Teil  des  amerikanischen  Vol- 
kes als  nur  möglich  zu  Rate  zieht.  Denn  das  große  Pro- 
blem des  Regierens  beruht  auf  der  Kenntnis  dessen,  was 
der  Durchschnittsmensch  erfährt  und  wie  er  seine  Erfah- 
rungen beurteilt.  Die  meisten  von  uns  sind  Durchschnitts- 
menschen ;  nur  sehr  wenige  erheben  sich  über  das  allge- 
meine Niveau  der  uns  umgebenden  Menschen,  es  sei  denn 
durch  glückliche  Zufälle ;  Amerika  wird  am  besten  von 
jenem  Menschen  verstanden,  der  allgemeine  Erfahrungen 
durchlebte  und  allgemeine  Gedanken  dachte.  Ist  das  nicht 
auch  der  Grund,  warum  wir  auf  Lebensgeschichten  wie 
die  Abraham  Lincolns  stolz  sind  ?  Sie  zeigt  uns  einen  Men- 
schen, der  aus  der  großen  Menge  emporstieg  und  Amerika 
besser  verstand  als  es  je  von  jemand  verstanden  wurde, 

88 


der  aus  den  begünstigten  Gesellschaftsschichten  oder  der 
gebildeten  Klasse  hervorging. 

Die  Hoffnung  der  Vereinigten  Staaten  bleibt  für  die 
Gegenwart  und  die  Zukunft  die  gleiche  wie  immer :  es  ist 
die  Hoffnung  und  das  Vertrauen,  daß  aus  unbekannten 
Hütten  und  Häusern  Männer  kommen  werden,  die  sich 
zu  Führern  unserer  Industrie  und  unseres  öffentlichen 
Lebens  emporschwingen.  Die  durchschnittliche  Hoffnungs- 
freudigkeit, die  durchschnittliche  Wohlfahrt,  der  durch- 
schnittliche Unternehmungsgeist  und  die  durchschnitt- 
liche Initiative  des  amerikanischen  Volkes  sind  die  einzi- 
gen Dinge,  die  das  Land  reich  machen.  Wir  sind  nicht  reich, 
weil  einige  wenige  Männer  unsere  Industrie  leiten;  wir 
sind  reich  durch  unsere  eigene  Intelligenz  und  unseren 
eigenen  Fleiß.  Amerika  besteht  nicht  aus  Leuten,  deren 
Namen  in  den  Zeitungen  genannt  werden ;  das  politische 
Amerika  besteht  nicht  aus  Männern,  die  sich  zu  politi- 
schen Führern  aufwerfen ;  es  besteht  nicht  aus  den  Leuten, 
die  am  meisten  reden  —  denn  sie  sind  nur  in  dem  Grade 
von  Bedeutung,  als  sie  im  Namen  und  für  die  große  stimm- 
lose Menschenmasse  sprechen,  die  die  Gesamtheit  und  den 
Kraftvorrat  der  Nation  bilden.  Keiner,  der  nicht  das  all- 
gemeine Denken  ausdrücken  kann  und  der  nicht  durch  all- 
gemeine Impulse  bestimmt  wird,  kann  für  Amerika  und 
seine  Zukunftsziele  sprechen.  Nur  jener  ist  zum  Wort  be- 
rufen, der  das  Denken  der  großen  Menge  der  Bürger  kennt, 
jener  Männer,  die  Tag  für  Tag  ihrem  Geschäft  nachgehen, 
die  vom  Morgen  bis  zum  Abend  sich  plagen,  des  Abends 
müde  heimkehren,  aber  all  das  vollbringen,  worauf  wir 
so  stolz  sind. 

Wir  Amerikaner  fühlen  unser  Blut  schneller  kreisen, 
wenn  wir  daran  denken,  wie  alle  Nationen  der  Erde  ver- 
folgen, was  Amerika  mit  seiner  Kraft,  seiner  physischen 
Kraft,  seinen  gewaltigen  Hilfsquellen  und  seinem  gewal- 

89 


tigen  Reichtum  beginnen  wird.  Die  Völker  halten  ihren 
Atem  an,  um  zu  sehen,  was  dieses  junge  Land  mit  seiner 
jungen  ungebrochenen  Kraft  anfangen  wird ;  und  wir  kön- 
nen nicht  anders  als  stolz  darauf  sein,  daß  wir  stark  sind. 
Aber  was  hat  uns  so  stark  gemacht  ?  Die  Mühsal  von  Mil- 
lionen von  Menschen,  die  Arbeit  von  Männern,  die  sich 
nicht  brüsten,  die  nicht  eitel  sind  und  von  Tag  für  Tag 
schlicht  ihrem  Lebenspfade  folgen.  Die  große  Masse  dieser 
Geplagten  verkörpert  die  Macht  unseres  Landes.  Es  ist 
ein  Ruhmestitel  unserer  Nation,  daß  niemand  voraussagen 
kann,  welcher  Familie,  welchem  Landesteil  und  selbst  wel- 
cher Rasse  die  Führer  des  Landes  entstammen  werden. 
Die  großen  Führer  sind  bei  uns  nicht  sehr  oft  aus  den  an- 
erkannten ,, erfolgreichen**  Familien  hervorgegangen. 

Ich  entsinne  mich  noch,  wie  ich  vor  nicht  langer  Zeit 
in  einer  Hochschule,  deren  Studenten  fast  ausnahmslos 
Söhne  reicher  Eltern  waren,  voll  Mitleid  sagte:  ,,Die  mei- 
sten von  euch  jungen  Männern  sind  zur  Tatenlosigkeit  ver- 
dammt. Ihr  werdet  nichts  vollbringen.  Ihr  werdet  es  nicht 
versuchen.  Und  angesichts  all  der  großen  unvollbrachten 
Aufgaben  unserer  Nation  werdet  ihr  wahrscheinlich  jene 
sein,  die  sich  weigern  werden,  sie  zu  vollbringen.  Irgend- 
ein Mann,  der  sich  ,, auflehnt**,  irgendeiner,  der  aus  der 
Masse  stammt  und  die  Peitsche  der  Notwendigkeit  an  sei- 
nem Nacken  fühlt,  wird  aus  der  Menge  hervortreten,  wird 
zeigen,  daß  er  zugleich  die  Nöte  der  Menge  und  das  Inter- 
esse der  Nation  versteht :  beides  zusammen  und  nicht  eines 
allein.  Der  wird  auf  stehen  und  uns  führen."  Wenn  ich  von 
meinen  persönlichen  Erfahrungen  sprechen  darf :  ich  habe 
wahrgenommen,  daß  Zuhörerschaften,  die  sich  aus  ,, ge- 
wöhnlichen Leuten**  zusammensetzten,  den  Kern  einer 
Sache,  ein  Argument  oder  eine  Tendenz  schneller  erfaßten 
als  manche  College- Klasse,  der  ich  Vorlesungen  gehalten 
habe.  Und  das  nicht  etwa,  weil  den  Studenten  die  Intelli- 

90 


genz  fehlte,  sondern  weil  sie  nicht  Tag  für  Tag  mit  den 
Wirklichkeiten  des  Lebens  in  Berührung  stehen,  dieweil 
die  ,, gewöhnlichen"  Bürger  Tag  um  Tag  Fühlung  mit  den 
Tatsachen  des  Daseins  haben ;  ihnen  braucht  man  nicht 
zu  erklären,  was  sie  so  lebendig  verspüren. 

Für  den  Wert  einer  vom  Boden  empordrängenden  ste- 
ten Erneuerung  der  Gesellschaft  gibt  es  ein  Beispiel,  das 
mich  stets  aufs  tiefste  interessiert  hat.  Der  einzige  Grund 
dafür,  daß  die  Regierungen  unter  dem  vorwiegend  aristo- 
kratischen System  des  Mittelalters  nicht  an  Wurzelver- 
trocknung litten,  ist  der  Umstand,  daß  so  viele  ihrer  her- 
vorragenden Männer  aus  der  Kirche  hervorgingen :  aus 
jener  großen  religiösen  Körperschaft,  die  damals  die  ein- 
zige Kirche  war  und  die  wir  heute  von  anderen  als  die  rö- 
misch-katholische Kirche  unterscheiden.  Die  katholische 
Kirche  war  in  jener  Zeit  wie  auch  heute  noch  eine  große 
Demokratie.  Es  gab  keinen  Bauern,  von  wie  bescheidener 
Herkunft  er  auch  sein  mochte,  der  nicht  Geistlicher  wer- 
den konnte ;  und  kein  Priester  war  zu  unbekannt,  um  nicht 
dereinst  vielleicht  Oberhaupt  des  Christentums  werden  zu 
können.  Und  jede  Kanzlei,  jeder  Hof  Europas  stand  unter 
dem  Einfluß  dieser  gelehrten,  erfahrenen  und  geschickten 
Männer  —  der  Priesterschaft  der  großen  und  herrschen- 
den Kirche.  Was  die  Regierungen  des  Mittelalters  lebendig 
erhielt,  war  jenes  stete  Emporströmen  der  Säfte  aus  dem 
Boden :  durch  die  offenen  Kanäle  der  Geistlichkeit  stiegen 
unausgesetzt  Männer  aus  den  Reihen  des  Volkes  zur  herr- 
schenden Kaste  empor.  Das  erscheint  mir  immer  wieder 
als  eine  der  interessantesten  und  überzeugendsten  Illustra- 
tionen für  die  Anschauung,  die  ich  vertrete. 

Der  einzige  Weg,  eine  Regierung  rein  und  tatkräftig 
zu  erhalten,  ist  das  Freihalten  dieser  Kanäle,  so  daß  keiner 
sich  für  zu  gering  halten  kann,  um  Mitglied  des  politischen 
Organismus  zu  werden.  Dann  wird  den  Adern  der  Regie- 

91 


rung  und  der  Politik  unaufhörlich  neues  Blut  zuströmen. 
Kein  Mann  wird  zu  unbedeutend  sein,  um  nicht  die  Kruste 
seiner  Klasse  zu  durchbrechen,  emporzustreben  und  den 
Führern  des  Staates  zugezählt  zu  werden.  Alles  was  de- 
primiert und  hinabdrückt,  alles  was  die  Organisation  stär- 
ker macht  als  den  Menschen,  alles  was  den  einfachen  Mann 
hemmt  und  entmutigt,  widerspricht  den  Gesetzen  des  Fort- 
schrittes. 

Wenn  ich  beobachte,  wie  heute  Bündnisse  geschlossen 
werden,  wie  die  erfolgreichen  Geschäftsleute  sich  mit  den 
erfolgreichen  politischen  Organisationen  verbünden,  dann 
weiß  ich,  daß  etwas  geschehen  ist,  das  die  Lebenskraft  und 
den  Fortschritt  der  Gesellschaft  hemmt.  Ein  solches  Bünd- 
nis, das  auf  den  Gipfeln  geschlossen  wird,  ist  ein  Bündnis, 
das  dazu  strebt,  die  Niederungen  in  den  Tiefen  zu  halten ; 
sie  sollen,  wenn  nicht  noch  tiefer  sinken,  dort  bleiben,  wo 
sie  sind ;  und  darum  ist  es  die  immerwährende  Pflicht  ei- 
ner guten  Politik,  solche  Bündnisse  zu  lösen  oder  zu 
sprengen,  und  den  Kontakt  zwischen  der  großen  Masse 
des  Volkes  und  den  Regierungsämtern  wiederherzustellen 
und  zu  erneuern. 

Heute,  da  unsere  Regierung  in  die  Hände  der  Sonder- 
interessen geraten  ist,  heute,  da  offen  jene  Theorie  ver- 
kündet wird,  nach  der  nur  die  auserwählten  Klassen  das 
Rüstzeug  oder  die  Fähigkeit  zum  Regieren  besitzen,  heute, 
da  so  viel  gewissenhafte  Bürger,  von  dem  Schauspiel  so- 
zialen Unrechts  und  Leidens  überwältigt,  Opfer  des  Irr- 
tums geworden  sind,  daß  von  gutherzigen  Aufsichtsräten 
des  Fortschrittes  und  Hütern  der  Wohlfahrt  pflichtgetreuer 
Angestellter  eine  dem  Volke  segensreiche  und  wohltätige 
Regierung  ausgehen  kann,  —  heute  wird  sich  die  Nation 
mehr  als  je  darauf  besinnen  müssen,  daß  ein  Volk  allein 
durch  jene  Kräfte  sichergestellt  wird,  die  tief  im  Herzen 
des   Volkes  walten.    Hoffnungsfreude,    Bewußtsein,    Ge- 

92 


wissen  und  Kraft  einer  Nation  sollen  durch  jene  Wasser 
erneuert  werden,  die  tief  aus  den  ursprünglichen  Quellen 
ihres  Wesens  und  ihrer  Gesamtheit  kommen.  Nicht  von 
oben,  nicht  durch  die  Gönnerschaft  seiner  Aristokraten. 
Die  Blume  trägt  nicht  die  Wurzel,  aber  die  Wurzel  die 
Blume.  Alles,  was  im  freien  Himmel  zur  Schönheit  erblüht, 
empfängt  seine  Schönheit  und  seine  Kraft  von  seinen 
Wurzeln.  Nichts  Lebendiges  kann  zur  Fruchtbarkeit  er- 
blühen, wenn  nicht  durch  die  nährenden  Fasern,  die  tief  im 
gewöhnlichen  Erdboden  verankert  sind.  Die  Rose  ist  nur 
ein  Zeichen  für  die  Lebenskraft  der  Wurzel ;  und  die  wahre 
Quelle  ihrer  Herrlichkeit,  die  leuchtende  herrliche  Blume 
auf  schlankem  Stiel,  entstammt  jenen  stillen  Lebenskräf- 
ten, die  in  der  chemischen  Beschaffenheit  des  Bodens  be- 
schlossen liegen. 

Aus  jenem  Boden,  von  jener  stillen  Brust  der  Erde 
steigen  die  Ströme  des  Lebens  und  der  Tatkraft  empor.  Und 
empor  aus  dem  gewöhnlichen  Boden,  aus  dem  schweig- 
samen Herzen  des  Volkes  steigen  auch  freudig  jene  Ströme 
der  Hoffnung  und  der  Entschlossenheit,  die  bestimmt 
sind,  das  Angesicht  der  Erde  herrlich  zu  verjüngen.  Der 
sogenannte  Radikalismus  unserer  Zeit  ist  nichts  als  das 
Streben  der  Natur,  die  hochstrebende  Tatkraft  des  Volkes 
zu  befreien.  Das  große  amerikanische  Volk  ist  in  seinen 
Tiefen  gerecht,  tugendhaft  und  hoffnungsfreudig;  seine 
Wurzeln  sind  dort,  wo  Reinheit  und  die  Kräfte  zu  guter 
Ernte  verborgen  liegen ;  und  die  Forderung  der  Stunde  ist 
just  jener  Radikalismus,  der  den  Weg  zur  Verwirklichung 
des  Ehrgeizes  einer  standhaften  Rasse  frei  macht. 


93 


Fünftes  Kapitel 
Das  Volksparlament 

Lange  Zeit  hat  Amerika  eine  der  Institutionen  entbehrt, 
die  freie  Menschen  stets  und  überall  als  grundlegend 
ansahen.  Lange  Zeit  fehlte  dem  Volke  die  Gelegenheit,  mit- 
einander Rates  zu  pflegen ;  es  gab  keine  Stätte  und  keine 
Methode  der  Aussprache,  keinen  Austausch  von  Meinun- 
gen und  keine  Beratung.  Die  Gemeinschaften  sind  über 
den  Umfang  einer  Volksversammlung  und  eines  Stadt- 
rates hinausgewachsen.  Dem  Geiste  dieses  Landes  gemäß, 
der  Taten  verlangt  und  bei  Worten  ungeduldig  wird,  wurde 
der  Kongreß  zu  einer  Institution,  die  ihre  Arbeit  in  der  Ab- 
geschlossenheit der  Kommissionszimmer  statt  im  Sitzungs- 
saal des  Hauses  erledigte.  Der  Kongreß  ward  zu  einer  Kör- 
perschaft, die  Gesetze  macht,  zu  einer  gesetzmachenden 
Vereinigung,  nicht  aber  zu  einer  Versammlung,  die  de- 
battiert und  berät :  nicht  zu  einem  Parlament.  Die  Ver- 
sammlungen der  Parteien  gewähren  wenig  oder  keine  Ge- 
legenheit zu  Diskussionen ;  Programme  wurden  unter  der 
Hand  aufgestellt  und  im  Nu  angenommen.  Daß  jene  un- 
seligen Bündnisse  zwischen  dem  Großhandel  und  den  po- 
litischen Bosses  imstande  waren,  unsere  Regierung  zu  be- 
herrschen, ist  zum  Teil  darauf  zurückzuführen,  daß  die 
Bürger  davon  abließen,  miteinander  zu  beratschlagen.  Ich 
halte  es  für  eine  der  Notwendigkeiten  des  Tages,  das  Ver- 
fahren gemeinsamer  Beratschlagung  wiederherzustellen 
und  durch  sie  jenen  Modus  der  heimlichen  Verständigungen 
zu  ersetzen,  die  gegenwärtig  die  Politik  der  Städte,  Staaten 

94 


und  der  Nation  bestimmen.  Wir  freien  Männer  müssen  es 
lernen,  gleich  unseren  Vorvätern  irgendwie  und  irgendwo 
zum  Rate  zusammenzutreten.  Und  es  muß  zur  Diskussion 
und  zur  Debatte  kommen,  an  denen  alle  teilnehmen.  Es 
muß  eine  unbekümmerte  Debatte  sein  und  ihr  ehrliches 
Ziel  muß  die  Klärung  von  Fragen  und  die  Ergründung  der 
Wahrheit  sein.  Eine  zu  sehr  politisierende  Diskussion  führt 
zu  keinem  ehrlichen  Ende,  sondern  nur  zur  Verwirrung 
eines  Gegners.  Wenn  eine  politische  Debatte  hitzig  wird 
und  wir  zu  hoffen  beginnen,  daß  die  Wahrheit  sich  nun 
ihren  Weg  zur  Einsicht  der  Gegner  bahnen  wird,  dann 
muß  ich  oft  an  eine  Debatte  in  Virginia  zurückdenken,  die 
einem  eigenartigen  Ende  zuzustreben  schien. 

Als  ich  als  junger  Mann  in  Charlottesville  studierte,  gab 
es  im  Staat  Virginien  in  der  demokratischen  Partei  zwei 
Gruppen,  die  einander  sehr  hitzig  bekämpften.  In  einer  der 
Grafschaften  hatte  die  eine  dieser  Gruppen  so  gut  wie  gar 
keine  Anhänger.  Ein  Mann  namens  Massey,  ein  gefürch- 
teter  Diskussionsredner,  wenn  auch  nur  eine  kleine, 
schlanke,  unscheinbar  aussehende  Persönlichkeit,  sandte 
einen  Boten  in  diese  Grafschaft  und  forderte  die  Opposition 
zu  einer  Debatte  mit  ihm  heraus.  Der  Gedanke  war  ihr 
nicht  angenehm,  aber  man  war  zu  stolz,  um  die  Heraus- 
forderung abzulehnen,  und  so  sandte  man  denn  zu  diesem 
rednerischen  Zweikampf  den  besten  Diskussionsredner, 
den  man  besaß,  einen  dicken,  gutmütigen  Mann,  den  jeder 
mit  dem  Vornamen  kannte.  Es  wurde  vereinbart,  daß  Mas- 
sey die  erste  Stunde  sprechen  sollte,  und  daß  dann  Tom 
Soundso  während  der  folgenden  Stunde  das  Wort  haben 
würde.  Der  große  Tag  kam,  und  mit  seiner  eigentümlichen 
Gewandtheit  und  Schlauheit  kroch  Massey  sozusagen  un- 
ter die  Haut  der  Versammlung;  er  hatte  noch  nicht  die 
Hälfte  seiner  Rede  gesprochen,  als  es  schon  offenkundig 
war,  daß  er  die  ihm  ursprünglich  feindliche  Menge  mit  sich 

95 


fortriß ;  worauf  einer  von  Toms  Anhängern,  der  die  Wen- 
dung der  Dinge  erkannte,  aus  dem  Hintergrunde  rief: 
,,Tom,  heiße  ihn  einen  Lügner  und  fordere  ihn  zum  Box- 
kampf." 

Diese  Art  von  Debatten,  dieser  Geist  der  Diskussion  er- 
greift jetzt  von  uns  Besitz.  Unsere  nationalen  Angelegen- 
heiten sind  zu  ernst  und  mit  dem  Wohlergehen  jedes  ein- 
zelnen von  uns  zu  eng  verknüpft,  als  daß  wir  über  sie  an- 
ders als  im  Ernste  sprechen  könnten :  mit  Aufrichtigkeit 
und  Bereitwilligkeit.  Es  ist  eine  unglückliche  Folge  des 
Parteisystems,  daß  die  Parteileidenschaften,  die  in  der 
Hitze  des  Kampfes  so  wild  aufflammen,  eine  ehrliche  Dis- 
kussion erschweren.  Und  doch  glaube  ich  zu  bemerken  und 
alle  Bürger  müssen  dasselbe  wahrnehmen,  daß  sich  im 
Volkstemperamente  in  dieser  Beziehung  eine  fast  erstaun- 
liche Umwandlung  vollzieht.  Der  jetzt  zum  Abschluß  ge- 
brachte Wahlkampf  unterschied  sich  auffällig  von  den 
vorhergehenden  durch  die  Art  und  Weise,  in  der  Partei- 
rücksichten angesichts  der  Wichtigkeit  der  Dinge,  die  wir 
als  gemeinsame  Bürger  eines  Landes  zu  beraten  hatten, 
vergessen  wurden. 

Es  ist  irgend  etwas  in  der  Luft  des  heutigen  Amerikas, 
das  ich  nie  vorher  sah  und  nie  vorher  fühlte.  Ich  habe  wäh- 
rend meines  Lebens  regelmäßig  politische  Versammlungen 
besucht,  wenn  ich  auch  nicht  immer  eine  unbescheiden 
hervorragende  Rolle  in  ihnen  spielte;  aber  in  unseren 
jetzigen  politischen  Versammlungen  waltet  ein  Geist,  der 
mir  neu  ist.  Es  ist  beispielsweise  nicht  viele  Jahre  her,  seit- 
dem Frauen  politische  Versammlungen  zu  besuchen  be- 
gannen. Und  die  Frauen  kommen  heute  in  politische  Ver- 
sammlungen nicht  nur  darum,  weil  es  in  der  Politik  eine 
Frauenfrage  gibt ;  sie  kommen,  weil  die  moderne  politische 
Versammlung  in  Amerika  anders  ist  als  politische  Ver- 
sammlungen vor  fünf  oder  zehn  Jahren  es  waren.  Damals 

96 


waren  es  nur  Zustimmungsparaden.  Damals  war  eine  Ver- 
sammlung nur  eine  Gelegenheit,  irgend  jemand  mit  Zu- 
rufen zu  beehren.  Es  war  nur  eine  Gelegenheit,  bei  der  die 
eine  Partei  unvernünftig  verleumdet  und  die  andere  un- 
vernünftig gelobt  wurde.  Keine  Partei  verdiente  je  alle  die 
Vorwürfe,  die  abwechselnd  jede  Partei  hinnehmen  mußte, 
und  keine  von  beiden  verdienten  den  Ruhm,  den  jede  von 
ihnen  nacheinander  erntete.  Die  alte  politische  Versamm- 
lung war  ein  völlig  sinnloses  Schauspiel ;  ihr  Zweck  war 
es,  Dinge  so  darzustellen,  wie  sie  nicht  waren  und  von 
denen  die  Zuhörer  wußten,  daß  sie  anders  waren ;  sie  schie- 
nen nur  ein  Mittel  zur  Erweckung  von  Beifallsstürmen. 
Aber  ich  muß  das  Wesen  meiner  Landsleute  sehr  schlecht 
kennen,  wenn  die  Versammlungen,  die  ich  in  den  letzten 
zwei  Jahren  miterlebte,  noch  eine  Ähnlichkeit  mit  jenen 
älteren  Versammlungen  aufwiesen.  Heute  versammeln  sich 
die  Amerikaner,  um  Dinge  voller  Tragweite  erörtern  zu 
hören.  Man  findet  in  einer  demokratischen  Versammlung 
fast  ebensoviele  Republikaner  als  Demokraten  in  einer 
republikanischen  Versammlung:  und  in  beiden  lebt  der 
Wille  zu  einer  ehrlichen  Aussprache  und  zur  gemeinsamen 
Arbeit.  Es  wäre  für  das  Land  von  großem  Vorteile,  wenn 
dieses  so  allgemeine  ehrliche  Interesse  für  die  öffentlichen 
Angelegenheiten  nicht  mit  den  Wahltagen  sein  Ende  fände ! 
Es  macht  sich  eine  Strömung  bemerkbar,  die  mich,  wie 
viele  Männer  und  Frauen,  die  ihr  Vaterland  lieben,  aufs 
höchste  interessiert  hat.  Eine  Strömung,  die  dahin  geht, 
daß  die  Schulhäuser  den  Erwachsenen  geöffnet  werden, 
damit  sie  in  ihnen  die  Angelegenheiten  des  Kreises  wie  des 
Staates  besprechen  können.  Überall  im  Lande  gibt  es 
Schulgebäude,  die  während  der  Sommermonate  leer  stehen, 
und  überall  gibt  es  Schulgebäude,  die  im  Winter  während 
der  Abendstunden  für  Schulzwecke  nicht  benötigt  werden. 
Diese  Gebäude  gehören  der  Öffentlichkeit.  Warum  soll 

7  97 


man  nicht  dahin  wirken,  als  sie  als  Beratungstätten  be- 
nutzt werden,  gleich  jenen  alten  Stadtversammlungen,  zu 
denen  jedermann  ging,  auf  denen  jeder  öffentliche  Be- 
amte freimütig  Rechenschaft  ablegte  und  die  strengste 
Kritik  über  sich  ergehen  lassen  mußte?  Das  Schulhaus, 
das  uns  allen  gehört,  ist  die  gegebene  Stätte,  um  uns  zur 
Beratung  unserer  gemeinsamen  Angelegenheiten  zu  ver- 
sammeln. 

Eine  Beobachtung  eines  unserer  Landsleute,  der  auf 
der  anderen  Seite  des  Ozeans  geboren  wurde,  hat  mich  sehr 
interessiert.  Er  erzählte,  wie  er  zu  einer  jener  Versamm- 
lungen ins  Schulhaus  der  Nachbarschaft  gegangen  war 
und  inmitten  der  Leute  verweilte,  die  über  Angelegen- 
heiten diskutierten,  die  sie  alle  angingen.  Und  als  er  aus 
dem  Schulhause  kam,  sagte  er  mir:  ,,Ich  lebe  jetzt  zehn 
Jahre  in  Amerika,  aber  heute  sah  ich  zum  erstenmal  Ame- 
rika wie  ich  es  mir  vorgestellt  hatte.  Diese  Vereinigung 
von  Menschen  aller  Arten  und  aller  Stände,  die  auf  dem 
Boden  vollkommener  Gleichheit  freimütig  miteinander  dis- 
kutieren, was  sie  alle  angeht  —  das  war  mein  Traum  von 
Amerika."  Das  ließ  mich  nachdenklich  werden.  Erst  an 
jenem  Abend  hatte  er  das  Amerika  gesehen,  das  zu  fin- 
den er  gekommen  war.  Hatte  er  sich  bisher  nicht  als 
Nachbar  gefühlt?  Hatten  Männer  nicht  mit  ihm  berat- 
schlagt? Er  hatte  sich  als  Außenseiter  gefühlt.  Hatte  es 
keine  kleinen  Kreise  gegeben,  in  denen  man  öffentliche  An- 
gelegenheiten erörterte  ? 

Der  große  Schmelztiegel  Amerikas,  die  Stätte,  in  der  alle 
zu  Amerikanern  gemacht  werden,  ist  die  öffentliche  Schule. 
In  sie  schicken  Menschen  jeder  Rasse,  jeder  Herkunft  und 
jeder  Lebensstelle  ihre  Kinder  oder  sollten  ihre  Kinder 
schicken ;  und  hier  werden  alle  miteinander  vermischt, 
werden  mit  dem  amerikanischen  Geiste  durchtränkt  und 
zum  amerikanischen  Manne  oder  zur  amerikanischen  Frau 

98 


entwickelt.  Wir  sollten  aber  nicht  nur  unsere  Kinder  zu  be- 
zahlten Lehrern  in  diese  Schule  schicken,  sondern  wir  soll- 
ten selbst  in  dem  gleichen  Schulhause  miteinander  zur 
Schule  gehen,  um  lebendiger  und  stärker  zu  spüren,  was 
amerikanisches  Leben  ist.  Und  im  Vertrauen  möchte  ich 
sagen :  wo  immer  man  einen  Schulrat  findet,  der  vielleicht 
gegen  die  Öffnung  der  Schule  zu  öffentlichen  Versamm- 
lungen jeder  Art  Einwendungen  erhebt,  dort  muß  man  nach 
dem  Politiker  suchen,  der  sich  dagegen  auflehnt;  denn 
das  Heilmittel  gegen  schlechte  Politik  ist  das  Gespräch 
mit  dem  Nachbar.  Der  Ideenaustausch  zwischen  Nachbarn 
bringt  die  verhüllten  Dinge  unseres  politischen  Lebens  ans 
Licht;  und  wenn  es  uns  gelingt,  die  Nachbarn  zu  ver- 
einen, auf  daß  sie  alles,  was  sie  wissen,  freimütig  ausspre- 
chen, dann  wird  unsere  Politik,  unsere  kommunale  Po- 
litik, unsere  Staatspolitik  so  offenbar  werden,  als  sie  es 
sein  sollten.  Denn  der  größte  Nachteil  unserer  Politik  ist 
es,  daß  sie  innen  nicht  so  aussieht  wie  außen.  Nichts  aber 
klärt  die  Luft  so  sehr  als  eine  freie  Aussprache.  Eine  der 
wertvollsten  Lehren  meines  Lebens  verdanke  ich  dem  Um- 
stand, durch  den  ich  in  verhältnismäßig  frühem  Alter  den 
Vorzug  hatte,  als  öffentlicher  Redner  in  der  New  Yorker 
Cooper  Union  zu  sprechen.  Die  Zuhörerschaft  setzt  sich 
dort  aus  allen  Arten  von  Männern  und  Frauen  zusammen, 
von  dem  armen  Teufel  an,  der  nur  kommt,  um  sich  zu  wär- 
men, bis  hinauf  zu  dem  Manne,  der  sich  einfindet,  um  voll 
Ernst  an  der  Diskussion  des  Abends  teilzunehmen.  Unter 
den  Fragen,  die  hier  nach  dem  Vortrag  gestellt  werden, 
wurden  mir  die  tiefsten  und  eindringlichsten  Fragen,  die 
mir  je  zu  Ohren  gekommen,  von  einigen  Männern  gestellt, 
die  inmitten  der  Versammlung  die  am  wenigsten  gut  ge- 
kleideten waren ;  diese  Fragen  kamen  von  einfachen  Leu- 
ten, von  Männern,  deren  Muskeln  sich  täglich  im  Kampfe 
mit  dem  Leben  spannten.  Sie  stellten  Fragen,  die  den  Kern 

7*  99 


der  Dinge  trafen  und  die  richtig  zu  beantworten  mir  oft 
nicht  wenig  Mühe  bereitete.  Aber  ich  fühlte  jene  Fragen 
wie  die  Stimme  des  Lebens  selbst,  die  Stimme  eines  Le- 
bens, das  die  harte  Schule  der  praktischen  Erfahrung  durch- 
laufen hatte.  An  der  Absicht,  das  Schulhaus  zu  einem 
Zentrum  gemeinsamen  Lebens  zu  machen,  besticht  mich 
am  meisten  der  Gedanke,  daß  hier  dann  die  Stätte  sein  wird, 
wo  der  gewöhnliche  Mann  zu  seinem  Rechte  kommt,  wo 
er  seine  Fragen  stellt,  seine  Meinungen  äußert  und  jene 
überzeugt,  die  nicht  jene  Kraft  Amerikas  spüren,  die  im 
Blute  jedes  wahren  Amerikaners  kreist.  Die  einzige  Stätte, 
wo  man  den  wahren  Amerikaner  findet,  ist  diese  Börse  der 
absolut  demokratischen  Meinungsfreiheit. 

Kein  einzelner  Mann  versteht  die  Vereinigten  Staaten. 
Ich  traf  manche  Herren,  die  das  angeblich  taten.  Ich  habe 
manche  Geschäftsleute  getroffen,  die  glaubten,  sie  ganz 
allein  besäßen  das  Verständnis  für  die  Angelegenheiten  der 
Vereinigten  Staaten ;  aber  ich  weiß  genug,  um  zu  wissen, 
daß  sie  das  nicht  besitzen.  Bildung  und  Wissen  hat  not- 
wendigerweise die  nützliche  Wirkung,  die  Kreise  des  eige- 
nen Egoismus  zu  verengern.  Kein  Student  beherrscht  seinen 
Stoff.  Er  weiß  bestenfalls,  wo  er  die  Dinge  erfahren  und 
ausfindig  machen  kann,  die  seine  Materie  angehen  und  die 
er  nicht  kennt.  Das  ist  auch  die  Lage  des  Staatsmannes. 
Kein  Staatsmann  versteht  das  ganze  Land.  Und  er  sollte 
es  sich  zur  Aufgabe  machen,  herauszufinden,  wo  er  die 
notwendigsten  Aufschlüsse  erlangt,  um  wenigstens  einen 
Teil  des  Landes  zu  verstehen,  wenn  er  komplizierte  Ge- 
schäfte erledigen  will.  Wir  bedürfen  einer  allgemeinen 
Wiedererweckung  der  gemeinsamen  Beratung. 

Ich  habe  manchmal  über  das  Fehlen  einer  öffentlichen 
Meinung  in  unseren  Städten  nachgegrübelt  und  habe  ein- 
mal die  Gewohnheiten  eines  Großstädters  mit  denen  eines 
Landbewohners  in  einer  Weise  verglichen,  die  mir  viel 

loo 


Vorwürfe  eintrug.  Ich  schilderte,  was  ein  Städter  gewöhn- 
lich tut,  wenn  er  in  einen  Eisenbahnwagen  oder  in  einen 
Straßenbahnwagen  kommt  oder  sich  in  einem  öffentlichen 
Lokal  niederläßt.  Er  spricht  mit  keinem  Menschen,  aber  er 
versenkt  seinen  Kopf  in  eine  Zeitung  und  spürt  alsbald  eine 
Reaktion,  die  er  seine  Meinung  nennt,  die  aber  durchaus 
keine  Meinung  ist,  sondern  nur  der  Eindruck,  die  eine 
Nachricht  oder  ein  Leitartikel  auf  ihn  gemacht  hat.  Man 
kann  von  ihm  nicht  sagen,  daß  er  an  der  öffentlichen  Mei- 
nung überhaupt  teilhat,  solange  er  nicht  seine  Anschau- 
ung an  der  des  Nachbarn  gemessen  und  mit  ihm  die  Zwi- 
schenfälle des  Tages  und  die  Strömungen  der  Zeit  erörtert 
hat.  In  Ungelegenheiten  aber  geriet  ich,  als  ich  einen  Ver- 
gleich wagte.  Ich  sagte,  die  öffentliche  Meinung  drücke 
sich  nicht  in  den  Straßen  einer  emsigen  Stadt  aus,  sondern 
man  fände  sie  am  Kamin  des  Dorfladens,  wo  Männer  bei- 
sammensitzen, wahrscheinlich  Tabak  kauen  und  in  eine 
sandgefüllte  Kiste  spucken  und  erst  dann  einenEntschluß 
fassen,  wenn  sie  herausgebracht  haben,  was  die  Nachbar- 
schaft über  Menschen  und  Ereignisse  denkt ;  und  dann 
fügte  ich  unvermittelt  die  philosophische  Betrachtung  hin- 
zu, daß,  was  immer  man  auch  gegen  das  Tabakkauen  her- 
-vorbringen  möge,  zumindest  eines  dafür  gesagt  werden 
könne:  es  gäbe  einem  Menschen  Zeit,  zwischen  seinen 
Sätzen  nachzudenken.  Seitdem  werde  ich  stets,  ganz  be- 
sonders in  den  Annoncen  von  Tabakgeschäften,  als  ein 
Vorkämpfer  des  Kautabakes  gepriesen.  Der  Grund,  daß 
manche  Städter  in  ihren  Gedanken  nicht  vorurteilsfreier 
sind,  liegt  darin,  daß  sie  nicht  an  der  Meinung  des  Landes 
teilnehmen ;  und  der  Grund  dafür,  daß  manche  Leute  vom 
Lande  verbauern,  liegt  darin,  daß  sie  nicht  die  Meinung 
der  Stadt  kennen ;  beide  werden  durch  ihre  Beschrän- 
kung beeinträchtigt.  Ich  hörte  kürzlich  von  einer  Frau, 
die  ihr  ganzes  Leben  in   einer  Großstadt  und   zwar   in 

lOI 


einem  Hotel  verlebt  hatte.  Im  vergangenen  Sommer  ging 
sie  zum  erstenmal  aufs  Land  und  verbrachte  eine  Woche 
in  einem  Bauernhaus.  Als  man  sie  später  fragte,  was  sie 
an  ihrem  Landaufenthalte  am  meisten  interessiert  habe, 
antwortete  sie,  daß  es  sie  am  meisten  gefesselt  habe,  den 
Bauer  ,, seine  Kühe  bedienen"  zu  sehen.  Das  ist  eine  sehr 
höfliche  Betrachtung  eines  im  ländlichen  Leben  alltäg- 
lichen Vorganges,  und  doch  zeigt  ihre  Ausdrucksweise  die 
scharfe  und  unelastische  Begrenzung  ihres  Denkens.  Sie 
war  höchst  provinziell ;  sie  dachte  noch  enger  als  in  der 
Sprache  einer  Stadt:  sie  dachte  in  der  Ausdrucksweise 
des  Hotels.  In  dem  Maße,  in  dem  wir  in  die  Wände  eines 
Hotels  oder  einer  Stadt  oder  eines  Staates  eingeschlossen 
sind,  sind  wir  provinziell.  Für  die  Wohlfahrt  unseres  Lan- 
des können  wir  nichts  Besseres  tun,  als  die  verschiedenen 
Gemeinden  zu  veranlassen,  zu  den  Beratungen  der  Nation 
Stellung  zu  nehmen.  Die  wirklichen  Schwierigkeiten  unse- 
res nationalen  Lebens  haben  darin  ihren  Ursprung,  daß  zu 
wenige  wahrnahmen,  daß  die  Angelegenheiten,  die  wir  er- 
örterten, öffentliche  Angelegenheiten  der  Allgemeinheit 
waren.  Wir  redeten,  als  müßten  wir  heute  diesem  und  mor- 
gen jenem  Teile  des  Landes  gerecht  werden ;  als  gelte  es 
heute  diesem  Interesse  und  morgen  jenem.  Und  man  schien 
dabei  zu  vergessen,  daß  diese  Interessen  alle  miteinander 
verknüpft  sind  und  miteinander  in  Beziehung  stehen. 

Wenn  du  erfahren  willst,  was  den  Strom  auf  seinem 
Wege  zum  Meere  so  groß  werden  ließ,  so  mußt  du  den 
Strom  hinauffahren.  Du  mußt  zu  den  Hügeln  hinaufwan- 
dern und  in  die  Wälder  zurück,  um  die  kleinen  Bäche,  die 
kleinen  Flüsse  zu  erspähen,  die  sich  an  verborgenen  Stät- 
ten vereinigen,  um  sich  als  gewaltiger  Strom  ein  Bett  zu 
graben.  Und  so  ist  es  mit  dem  Werden  der  öffentlichen 
Meinung :  drinnen  im  Lande,  auf  den  Bauernhöfen,  in  den 
Läden,  in  den  Dörfern,  in  den  Wohnungen  der  Großstadt, 

102 


in  den  Schulhäusern,  überall,  wo  Menschen  zusammen- 
treffen und  gegeneinander  freimütig  und  wahr  sind,  dort 
ist  es,  wo  die  Bäche  und  Flüsse  ihrem  Urquell  entspringen, 
um  einst  die  mächtige  Kraft  jenes  Strome^  zu  bilden,  der 
alle  menschlichen  Unternehmungen  auf  seinem  Zuge  zu 
dem  großen  gemeinsamen  Meere  der  Menschheit  trägt 
und  treibt. 

Wie  lebendig  spürt  man  die  Anteilnahme  und  das  Stre- 
ben des  gewöhnlichen  Mannes.  In  jeder  Versammlung 
könnte  ich  sofort  auf  jene  Leute  zeigen,  die  die  Sorglosig- 
keit des  Glückes  kennen  :  sie  kommen,  um  sich  den  Redner 
anzusehen.  Aber  in  jeder  Menge  gibt  es  auch  Männer,  die 
das  nicht  tun ;  das  sind  Menschen,  die  erwartungsvoll  lau- 
schen, als  harrten  sie,  ob  irgendein  Mund  aussprechen 
wird,  was  ihr  eigenes  Herz  und  ihren  Sinn  bewegt.  Es  tut 
einem  weh  zu  denken,  daß  man  vielleicht  nicht  imstande 
sein  wird,  diese  Hoffnungen  zu  erfüllen ;  und  man  fragt 
sich  voll  Sorge,  ob  diese  Menschen  vielleicht  etwas  erseh- 
nen, von  dem  man  nichts  weiß  und  das  man  nicht  mitemp- 
finden kann.  Und  man  bittet  Gott,  daß  er  einen  durch  ir- 
gend etwas  ahnen  und  mitfühlen  lassen  möge,  was  diese 
stillen  Männer  bewegt,  damit  das  ganze  Volk  endlich  frei 
von  dieser  dumpfen,  bangen  Erwartung  werde  und  emp- 
finde, daß  keine  unsichtbaren  Gewalten  es  von  einem  Ziele 
zurückdrängen.  Damit  alle  fühlen,  daß  es  eine  Hoffnung 
und  ein  Vertrauen  gibt  und  daß  Schulter  an  Schulter  der 
Weg  von  all  jenen  beschritten  werden  kann,  die  Brüder 
sind,  die  keine  Klassenunterschiede  und  keinen  selbstsüch- 
tigen Ehrgeiz  kennen  und  sich  zu  einem  gemeinsamen 
Streben  verbündet  haben. 

Die  Sorge,  die  auf  dem  Herzen  jedes  gewissenhaften 
Politikers  oder  Beamten  lastet,  ist  der  Gedanke,  daß  er 
vielleicht  die  Wünsche  und  Notwendigkeiten  des  nationa- 
len Lebens  nicht  tief  genug  erfaßt  hat.  Denn  es  ist  eine  Tat- 

103 


Sache,  daß  kein  einzelner  Mensch  sie  in  ihrer  Gesamtheit 
begreift.  Der  ganze  Zweck  der  Demokratie  ist,  daß  wir  mit- 
einander beraten,  daß  wir  nicht  von  dem  Verständnis  eines 
einzelnen  Mannes  abhängen,  sondern  vom  Rat  aller.  Denn 
nur  wenn  viele  Menschen  gehört  werden  und  ihre  Bedürf- 
nisse und  Interessen  darlegen  dürfen,  nur  dann  können  die 
vielfältigen  Interessen  eines  großen  Volkes  zu  einer  Politik 
zusammengeschweißt  werden,  die  allen  gerecht  wird. 

In  steter  Berührung  mit  erzieherischen  Aufgaben  habe 
ich  immer  wahrgenommen,  daß  der  Hauptzweck  der  Bil- 
dung darin  beruht,  das  Verständnis  zu  erweitern,  um  so 
viele  Dinge  als  möglich  zu  umfassen.  Dabei  handelt  es  sich 
nicht  um  das,  was  ein  Mensch  weiß  —  denn  kein  Mensch 
weiß  sehr  viel  — ,  sondern  um  das,  was  ein  Mensch  aus 
seiner  Fähigkeit  des  Verstehens  herausholen  kann ;  es  ist 
seine  Fähigkeit,  Dinge  zu  begreifen,  es  ist  sein  Zusammen- 
hang mit  der  großen  Masse  der  Menschen,  die  ihn  dazu  ge- 
eignet macht,  für  andere  zu  sprechen  —  und  nur  das.  Ich 
habe  einige  der  Herren  kennen  gelernt,  die  mit  Sonder- 
interessen unseres  Landes  verknüpft  sind  (und  viele  dieser 
Männer  sind  ausgezeichnete  Menschen),  aber  zu  meinem 
Glück  kam  ich  auch  mit  einer  großen  Anzahl  anderer  Leute 
in  Berührung;  ich  habe  meine  Bekanntschaft  nicht  auf 
jene  interessanten  Gruppen  beschränkt,  und  so  kann  ich 
jenen  Herren  manches  sagen,  was  herauszufinden  sie  keine 
Zeit  hatten.  Es  war  mein  großes  Glück,  daß  mein  Kopf 
nicht  in  besonderen  Unternehmungen  beerdigt  wurde,  und 
darum  habe  ich  auch  gelegentlich  einen  Blick  auf  den  Hori- 
zont werfen  können.  Auch  entdeckte  ich  schon  vor  langer 
Zeit,  schon  in  den  Tagen,  da  ich  noch  ein  Junge  war,  daß 
die  Vereinigten  Staaten  nicht  nur  auG  jenem  Teile  bestehen, 
in  dem  ich  lebte.  Es  gab  eine  Zeit,  in  der  ich  ein  recht  eng- 
herziger Provinziale  war,  aber  glücklicherweise  fügten  es 
die  Umstände  meines  Lebens,  daß  ich  nach  einem  sehr 

104 


entfernten  Teil  des  Landes  übersiedeln  mußte ;  so  wurde 
ich  früh  gewahr,  wie  beschränkt  meine  Kenntnis  der  Ver- 
einigten Staaten  war.  Und  ich  entdeckte,  daß  der  einzige 
Weg,  auf  dem  ich  Gefühl  und  Verständnis  für  die  Ange- 
legenheit der  Vereinigten  Staaten  erlangen  konnte,  nur 
der  sein  durfte,  der  mich  so  viel  Teile  der  Vereinigten  Staa- 
ten als  möglich  kennen  lernen  ließ. 

Die  Männer,  die  Amerika  regiert  haben,  müssen  sich 
dazu  bequemen,  die  Mehrheit  mitwirken  zu  lassen.  Wir 
können  unverbessert  kein  System  fortbestehen  lassen,  das 
sich  auf  private  Verständigungen  und  auf  die  Aussage  we- 
niger Fachleute  stützt;  wir  können  die  einzelnen  nicht 
länger  über  die  Politik  dieses  Landes  bestimmen  lassen. 
Es  handelt  sich  um  offenen  Zutritt  zu  unserer  Regierung. 
Es  gibt  unter  uns  nur  sehr  wenige,  denen  die  Regierung 
der  Vereinigten  Staaten  wirklich  zugänglich  war.  Die  Re- 
gierung aber  soll  eine  Angelegenheit  gemeinsamen  Urteils 
sein,  eine  Angelegenheit  gegenseitigen  Rates,  eine  An- 
gelegenheit gegenseitigen  Verstehens. 

Und  darum  muß  die  Luft  durch  stete  Erörterungen  klar 
erhalten  werden.  Jedem  öffentlichen  Angestellten  muß  das 
Bewußtsein  gegeben  werden,  daß  er  öffentlich  handelt  und 
daß  jeder  ihm  zusieht ;  vor  allem  aber  sollten  alle  Bürger 
jene  großen  grundlegenden  Lebensfragen,  von  denen  po- 
litische Programme  handeln,  immer  wieder  aufgreifen, 
durchleuchten  und  durch  Diskussion  klären  und  immer 
wieder  nachprüfen.  Dann  werden  wir  eine  reine  Atmo- 
sphäre haben,  in  der  wir  den  Weg  zu  jeder  Art  sozialer  Ver- 
besserung klar  erkennen  können.  Wenn  wir  unsere  Regie- 
rung befreit  haben,  wenn  wir  dem  Unternehmungsgeist 
wieder  Bahn  schaffen,  und  wenn  wir  die  Teilhaberschaft 
von  Geld  und  Macht,  die  uns  jetzt  bei  jedem  Schritte  ent- 
gegentritt, gebrochen  haben,  dann  werden  wir  den  Weg  vor 
uns  liegen  sehen,  auf  dem  all  jene  schönen  Dinge  erfüllt 

105 


werden  können,  die  jetzt  nur  in  Programmen  verkündet 
werden. 

Ich  fürchte  mich  nicht  davor,  daß  das  amerikanische 
Volk  sich  erhebt  und  etwas  vollbringt ;  ich  fürchte  nur,  daß 
das  nicht  geschieht.  Und  wenn  ich  höre,  daß  eine  allge- 
meine Abstimmung  das  Regime  des  Pöbels  genannt  wird, 
so  fühle  ich  nur,  daß  der  Mann,  der  so  zu  sprechen  wagt, 
nicht  das  Recht  hat,  sich  Amerikaner  zu  nennen.  Aus  der 
Masse  eines  nüchternen  Volkes,  das  in  einem  freien  Lande 
seinen  Lebensunterhalt  verdient,  kann  man  nicht  eine  sinn- 
lose, leidenschaftliche  Gewalt  machen.  Man  vergegenwär- 
tige sich  das  Volk  dieses  großen  Landes,  wie  es  von  der 
Meeresküste  bis  zu  den  Abhängen  der  Berge  ruhig  Mann 
um  Mann  zur  Wahlurne  geht,  um  sein  Urteil  über  öffent- 
liche Angelegenheiten  abzugeben:  ist  das  ein  Abbild  des 
,, Pöbels"  ?  Was  ist  ein  Pöbel  ?  Ein  Pöbel  ist  eine  Masse  von 
Menschen,  die  in  hitziger  Berührung  miteinander  stehen 
und  die  durch  unbeherrschte  Leidenschaften  dazu  getrie- 
ben werden,  unüberlegt  etwas  zu  tun,  was  sie  am  nächsten 
Tage  bedauern  werden.  Wo  gewahrt  man  eine  Ähnlichkeit 
mit  dem  Pöbel  in  jener  zur  Abstimmung  schreitenden 
ländlichen  Bevölkerung,  in  jenen  Männern,  die  über  Berge 
ziehen,  oder  in  jenen  Leuten,  die  sich  im  Dorfe  im  Laden 
treffen,  oder  in  jenen  bewegten  kleinen  Gruppen  an  der 
Ecke  des  Gemüsekrämers,  in  all  jenen  Menschen,  die  ihre 
Stimme  und  ihre  Meinung  abgeben  ?  Ist  das  ein  Abbild  des 
Pöbels  oder  ist  das  ein  Abbild  eines  freien,  sich  selbst  re- 
gierenden Volkes  ?  Ich  fürchte  mich  vor  den  Urteilen,  die 
auf  diesem  Wege  zustande  kommen,  nicht,  ich  fürchte 
keine  Urteile,  bei  denen  den  Menschen  Zeit  zur  Überlegung 
gelassen  wurde  und  bei  der  sie  sich  eine  klare  Vorstellung 
der  Angelegenheit  bildeten,  über  die  sie  abstimmen  sollten. 
Denn  es  ist  die  tiefste  Überzeugung  und  der  leidenschaft- 
liche Glaube  meines  Herzens,  daß  dem  einfachen  Volke, 

io6 


mit  dem  ich  uns  alle  meine,  unbedingt  vertraut  werden 
kann. 

Und  so  ist  es  denn  bei  Beginn  des  neuen  Zeitalters,  in 
diesen  Tagen  der  Unruhe  und  der  Unzufriedenheit,  unsere 
Aufgabe,  die  Luft  zu  klären  und  alle  zu  gemeinsamer  Be- 
ratschlagung zusammenzurufen.  Es  ist  unsere  Aufgabe, 
das  Parlament  des  Volkes  aufzurichten  und  zu  beweisen, 
daß  wir  keine  Menschen  bekämpfen,  daß  wir  versuchen, 
alle  Menschen  dazu  zu  bringen,  einander  gegenseitig  zu 
verstehen.  Wir  sollen  zeigen,  daß  wir  nicht  die  Freunde 
irgendeiner  Klasse,  nicht  die  Feinde  irgendeiner  anderen 
Klasse  sind,  sondern  daß  es  unsere  Pflicht  ist,  zur  Verstän- 
digung aller  Klassen  beizutragen.  Unter  dem  Banner  der 
Gemeinsamkeit  müssen  wir  uns  zusammenfinden.  Gemein- 
sames und  gegenseitiges  Verstehen,  Gerechtigkeit  für  alle 
führen  die  Menschen,  die  Hoffnungen  nähren  und  in  die 
Zukunft  blicken,  unter  diesem  Banner  zusammen.  All 
jene,  die  die  Überzeugungen  Amerikas  im  Herzen  tragen, 
daß  für  die  Freiheit,  die  wir  lieben,  ein  neuer  Tag  der  Er- 
füllung heraufdämmert. 


107 


Sechstes  Kapitel 
Laßt  Licht  herein 

Es  ist  die  Sorge  patriotischer  Männer,  unsere  Regie- 
rung dadurch  wieder  auf  ihre  richtige  Grundlage  zu 
stellen,  daß  sie  das  System  der  Vormundschaft  durch  den 
Willen  des  Volkes  und  die  Methode  der  heimlichen  Ab- 
machungen durch  die  gemeinsamer  Beratschlagung  er- 
setzen. Um  das  zu  ermöglichen,  müssen  zuvörderst  alle  Tore 
weit  geöffnet  und  zu  allen  jenen  Angelegenheiten,  von  de- 
nen unterrichtet  zu  sein  das  Volk  ein  Recht  hat,  Licht  her- 
eingelassen werden. 

In  erster  Linie  ist  es  notwendig,  alle  politischen  Vor- 
gänge der  Öffentlichkeit  zugänglich  zu  machen.  Sie  wa- 
ren allzu  geheim,  zu  kompliziert  und  zu  umständlich ; 
sie  bestanden  zu  sehr  aus  persönlichen  Besprechungen  und 
heimlichen  Abmachungen ;  sie  waren  zu  sehr  dem  Einfluß 
von  Männern  zugänglich,  die  der  Legislatur  nicht  ange- 
hören, aber  vor  ihren  Pforten  standen,  ihr  diktierten  und 
oft  durch  sehr  fragwürdige  Mittel,  deren  Anwendung  sie 
selbst  im  Traume  der  Öffentlichkeit  nicht  preisgeben  wür- 
den, die  Macht  an  sich  gerissen  hatten.  Dieser  ganze  Pro- 
zeß muß  umgewandelt  werden.  Wir  müssen  beispielsweise 
die  Auswahl  der  Kandidaten  für  Beamtenstellen  einer 
kleinen  Gruppe  von  Leuten  abnehmen;  denn  bislang  lag 
diese  Auswahl  in  den  Händen  kleiner  Koterien,  lag  aus- 
schließlich in  der  Gewalt  der  hinter  verschlossenen  Türen 
waltenden  politischen  ,, Maschinen".  Wir  müssen  das  Be- 
stimmungsrecht über  die  Aufstellung  von  Kandidaten  wie- 

io8 


der  in  die  Hände  des  Volkes  zurücklegen;  und  der  Weg 
dazu  sind  direkte  Vorwahlen  und  Wahlen,  zu  denen  Kan- 
didaten aller  Arten  und  aller  Fähigkeiten  freien  Zutritt 
haben.  An  die  Stelle  der  heimlich  arbeitenden  Maschinen 
muß  die  Öffentlichkeit  treten. 

Dann  muß  der  Gesellschaft  das  Bestimmungsrecht  über 
ihr  eigenes  wirtschaftliches  Leben  zurückgegeben  und 
jenen  verweigert  werden,  die  hinter  den  Kulissen  die  gro- 
ßen Transaktionen  modernen  Handels  leiten,  welche  einst  in 
den  Händen  von  Männern  lagen,  die  nur  ihr  eigenes  Kapi- 
tal und  ihre  eigene  persönliche  Tatkraft  in  ihren  Unterneh- 
mungen arbeiten  ließen.  Die  Aktionen  des  Großkapitals 
müssen  der  Öffentlichkeit  im  gleichen  Maße  unterliegen 
wie  die  Führung  der  Politik.  Diejenigen,  welche  die  großen 
modernen  Kapitalsanhäufungen,  die  durch  die  Ausgabe 
und  den  Verkauf  von  Aktien  und  Obligationen  zusammen- 
gebracht wurden,  verwenden,  ausnützen  und  Reserven  an- 
häufen, müssen  als  der  Öffentlichkeit  Rechenschaft  schul- 
dig gelten;  sie  müssen  für  ihre  Betriebsmethoden  und 
Geschäftsmethoden  jenen  großen  Gemeinschaften,  die  tat- 
sächlich ihre  Mitarbeiter  sind,  verantwortlich  sein,  auf  daß 
die  regulierende  Hand  sie  leicht  erreichen  kann  und  ihr 
ganzes  Handelsgebäude  ein  neues  Gefühl  der  Verantwort- 
lichkeit durchzieht. 

Was  sind  in  der  Politik  die  richtigen  Methoden?  Die 
richtige  Methode  ist  die  der  öffentlichen  Diskussion,  ist  die 
Führerschaft  unter  freiem  offenen  Himmel,  wo  alle  Augen 
die  Führer  sehen  und  beurteilen  können ;  aber  die  Methode 
der  ,,Aufsichtsräte",  die  hinter  verschlossenen  Türen  ta- 
gen, gehören  nicht  dazu.  Wenn  es  nichts  zu  verbergen  gibt, 
wozu  die  Verborgenheit  ?  Wenn  es  eine  öffentliche  Ange- 
legenheit ist,  warum  sie  heimlich  behandeln?  Wenn  es 
öffentliche  Sorgen  gilt,  warum  nicht  hinaus  mit  ihnen  in 
die  frische  Luft  ?  Angekränkelte  Politik  darf  nicht  anders 


behandelt  werden  als  heute  Tuberkulose  behandelt  wird : 
man  lasse  die  Kranken  in  der  frischen  Luft  leben.  Und 
nicht  nur  ihre  Tage  sollen  sie  im  Freien  verbringen,  im 
Freien  mögen  sie  auch  schlafen,  unausgesetzt  sollen  sie 
im  Freien  weilen,  wo  sie  allen  erfrischenden,  stärkenden 
und  verjüngenden  Einflüssen  erreichbar  sind. 

So  hege  ich  auch  die  Überzeugung,  daß  alles  Regieren 
im  Freien  und  nicht  hinter  verschlossenen  Türen  voll- 
bracht werden  sollte.  Ich  für  meine  Person  glaube,  daß 
es  keine  Stätte  geben  sollte,  an  der  irgend  etwas  geschehen 
kann,  ohne  daß  ein  jeder  davon  erfährt.  Manchen  würde 
das  wahrscheinlich  unbequem  sein,  aber  schon  allzulange 
wurden  solche  Empfindlichkeiten  berücksichtigt.  Es  mag 
sein,  daß  manche  Männer  ungerecht  verdächtigt  werden ; 
dann  schulden  sie  es  sich  selbst,  hervorzutreten  und  im 
freien  Tageslicht  zu  handeln.  Schon  die  Tatsache,  daß  auf 
dem  Gebiete  der  Politik  und  des  Regierungswesens  soviel 
im  Dunkel  und  hinter  verschlossenen  Türen  geschieht, 
fördert  das  Mißtrauen.  Jeder  weiß,  daß  die  Korruption  an 
geheimen  Stätten  gedeiht  und  das  Tageslicht  scheut ;  und 
der  Gedanke,  daß  von  der  Heimlichkeit  zur  Unzulässigkeit 
nur  ein  Schritt  ist,  muß  sich  aufdrängen.  Und  darum 
schulden  unsere  ehrlichen  Politiker  und  unsere  Trustleiter 
es  ihrem  eigenen  Rufe,  ihre  Tätigkeit  ins  Freie  zu  verlegen. 

Jedenfalls  aber  werden  diese  Angelegenheiten,  ob  es 
nun  vielen  gefällt  oder  nicht  gefällt,  ins  Freie  gebracht 
werden.  Wir  sind  um  den  Ruf  jener  Männer  noch  besorg- 
ter als  sie  selbst,  wir  sind  um  sie  zu  besorgt,  als  daß  wir 
sie  noch  länger  der  Gefahr  ausgesetzt  sehen  möchten,  den 
Versuchungen  der  Heimlichkeit  zu  erliegen.  Man  weiß,  wie- 
viel Versuchungen  Einsamkeit  und  Heimlichkeit  bergen. 
Hast  du  das  nie  erfahren  ?  Ich  weiß  es.  Nie  sind  wir  in  un- 
serem Verhalten  so  angemessen  als  dann,  vvenn  jedermann 
genau  beobachten  kann,  was  v/ir  tun.  Wenn  du  fern  in 

HO 


einem  entlegenen  Weltteil  weilst  und  das  Gefühl  hast,  daß 
im  Umkreis  einer  Meile  niemand  weilt,  dann  kommen 
Zeiten,  in  denen  du  deine  Gewohnheiten  und  deine  Ma- 
nieren vernachlässigst.  Du  sagst  dir:  ,, Jetzt  werde  ich  es 
mir  aber  einmal  bequem  machen  ;  kein  Mensch  erfährt  et- 
was davon."  Wärest  du  in  der  Sahara,  so  würdest  du  das 
Gefühl  haben,  daß  du  dir  —  nun,  sagen  wir,  eine  gewisse 
kleine  Lässigkeit  in  deinem  Benehmen  gestatten  kannst. 
Aber  sobald  du  siehst,  daß  aus  einer  anderen  Himmelsrich- 
tung einer  deiner  Nachbarn  auf  seinem  Kamele  auf  dich 
zukommt  —  du  würdest  dich  ,, benehmen",  bis  er  wieder 
außer  Sehweite  ist.  Es  gehört  zu  den  gefährlichsten  Dingen 
der  Welt,  in  Gegenden  zu  geraten,  wo  kein  Mensch  dich 
kennt.  Ich  rate  dir,  in  der  Nähe  der  Nachbarn  zu  bleiben, 
dort  wirst  du  auch  Konflikte  mit  den  Gesetzen  vermeiden. 
Es  ist  der  einzige  Weg,  der  manche  vor  dem  Gefängnis  be- 
wahrt. Öffentlichkeit  ist  eines  der  reinigenden  Elemente  der 
Politik.  Wenn  irgendwo  irgend  etwas  aus  dem  Geleise  ge- 
raten ist  und  sich  verbogen  hat,  so  bleibt  das  beste,  was  du 
tun  kannst :  trage  es  dorthin,  wo  es  gesehen  wird.  Es  wird 
sich  entweder  wieder  strecken  oder  verschwinden.  Nichts 
verhindert  alle  Arten  politischer  Mißbräuche  sicherer  und 
besserer  als  Preisgabe  an  die  Öffentlichkeit.  Im  hellen  Ta- 
geslicht vermagst  du  nichts  Unrechtes  zu  tun.  Ich  weiß 
nicht,  ob  du  das  je  versuchtest ;  aber  auf  Grund  von  Beob- 
achtungen wage  ich  es  zu  behaupten :  es  geht  nicht. 

Darum  hat  sich  das  Volk  der  Vereinigten  Staaten  ent- 
schlossen, etwas  zu  tun,  was  der  Politik  und  den  großen 
Trusts  sehr  gesund  sein  wird.  Man  gestatte  mir  ein  paar 
bunte  Gleichnisse :  man  wird  die  Türen  öffnen,  die  Fenster- 
läden zurückschlagen  und  alles  Kranke  hinaus  in  die 
frische  Luft  und  ins  Sonnenlicht  bringen.  Man  wird  eine 
große  Jagd  organisieren  und  gewisse  Tiere  ausräuchern. 
Man  wird  die  Bestie  in  seinem  Jagdreviere  aufstöbern,  wo 

III 


man  bisher,  wenn  man  jagte,  von  der  Bestie  gefangen 
wurde,  statt  sie  zu  fangen.  Darum  hat  sich  das  Volk 
entschlossen,  Axt  und  Säge  zu  ergreifen,  das  Dickicht 
niederzulegen  und  dann  zu  sehen,  wo  das  Tier  seinen  Un- 
terschlupf hat.  Ich  für  meine  Person  kann  die  Allgemein- 
heit dabei  nur  antreiben.  Denn  das  Dickicht  birgt  nur  An- 
steckungsgefahren und  beherbergt  nur  Feinde  der  Men- 
schen. Und  niemand  wird  dabei  gefangen  werden  außer  den 
Raubtieren.  Nichts  soll  niedergelegt  und  zerstört  werden, 
was  jeder  erhalten  zu  sehen  wünschen  muß. 

Man  kennt  die  Geschichte  jenes  Iren,  der  ein  Loch 
grub  und  gefragt  wurde :  ,,Na,  Pat,  was  machst  du  denn 
da?  —  gräbst  du  ein  Loch?"  und  er  antwortete:  ,,Nein, 
Herr,  ich  grabe  die  Erde  weg  und  lasse  das  Loch.**  Das 
war  vermutlich  derselbe  Ire,  den  man  an  der  Mauer  eines 
Hauses  graben  sah  und  fragte:  ,,Na,  Pat,  was  machst  du 
da?"  Und  er  antwortete:  ,,Nun,  ich  lasse  die  Finsternis 
aus  dem  Keller."  Das  ist  unsere  Aufgabe:  wir  wollen  die 
Finsternis  aus  den  Kellern  herauslassen. 

Man  betrachte  zunächst  die  Beziehungen  zwischen  der 
Politik  und  dem  Geschäftsleben.  Es  ist  natürlich  durch- 
aus angebracht,  daß  die  Geschäftsinteressen  des  Landes 
nicht  allein  den  Schutz  'der  Gesetze  genießen,  sondern 
auch  in  jeder  Weise  durch  die  Gesetzgebung  gefördert,  ge- 
stärkt und  ermuntert  werden.  Das  Volk  hat  nichts  gegen 
eine  Verbindung  zwischen  dem  Geschäftsleben  und  der  Po- 
litik einzuwenden,  solange  diese  Verbindung  angemessen 
ist.  Es  ist  den  offenen  Bestrebungen,  die  Gesetzgebung  der 
wirtschaftlichen  Entwicklung  anzupassen,  nicht  im  ge- 
ringsten abgeneigt,  hat  diese  Entwicklung  doch  dem  Land 
in  allem,  was  es  erreichte,  neues  Leben  und  neue  Mög- 
lichkeiten geschaffen. 

Aber  anders  liegen  die  Dinge  mit  den  ungerechtfertig- 
ten   Beziehungen    zwischen   Politik    und   Geschäft.    Ich 

112 


möchte  über  dieses  Thema  nüchtern  und  vorsichtig  spre- 
chen. Ich  hege  nicht  den  Wunsch,  Erbitterung  gegen  ir- 
gendwen  hervorzurufen.  Das  wäre  leicht,  würde  aber  kei- 
nen Nutzen  stiften.  Ich  möchte  lieber  über  eine  unglück- 
liche Situation  in  einer  Weise  sprechen,  die  es  uns  ermög- 
licht, ihr  bis  zu  einem  gewissen  Grade  gerecht  zu  werden 
und  uns  auf  diesem  Wege  vielleicht  Ursachen  und  Heil- 
mittel finden  läßt.  In  einer  so  verwickelten  Frage  wie  in 
der  der  Verknüpfung  des  Geschäftslebens  mit  Mißständen 
amerikanischer  Politik  nutzt  eine  einfache  Anklage  nicht 
viel.  Jedermann  spürt  dunkel,  daß  die  politische  Maschine 
gewisse  sehr  bestimmte  Beziehungen  zu  Männern  hat,  die 
im  Großhandel  tätig  sind,  und  der  Verdacht,  der  sich  gegen 
die  Maschine  selbst  richtete,  hat  sich  auch  gegen  die  Ge- 
schäftsunternehmungen zu  richten  begonnen,  weil  man 
wußte,  daß  Beziehungen  vorhanden  sind.  Wenn  diese  Ver- 
bindungen offen  vor  aller  Augen  lägen  und  jedermann 
genau  wüßte,  welches  Ziel  sie  verfolgen,  dann  wäre  es 
nicht  schwer,  alle  diese  Vorgänge  zu  überblicken  und  durch 
die  öffentliche  Meinung  zu  überwachen.  Aber  unglück- 
licherweise ist  die  ganze  Aktion,  aus  der  in  Amerika  Ge- 
setze hervorgehen,  sehr  dunkel  und  schwer  zu  übersehen. 
Es  gibt  keine  breite  Landstraße  der  Gesetzgebung,  aber  es 
gibt  viele  Seitenpfade.  In  unseren  Legislaturen  sind  die 
Parteien  nicht  derart  organisiert,  daß  irgendeine  bestimmte 
Gruppe  von  Männern  für  die  Taten  der  Gesetzgebung  ver- 
antwortlich gemacht  werden  kann.  Alle  Beratungen  und 
Erörterungen  —  falls  Diskussionen  überhaupt  gepflogen 
werden  —  vollziehen  sich  im  geheimen  und  bleiben  dem 
Blicke  und  der  Kenntnis  der  Öffentlichkeit  entzogen.  In- 
nerhalb der  Kreise  gibt  es  so  viele  Kreise  und  zur  Legis- 
latur führen  so  viel  indirekte  und  geheime  Wege,  daß  un- 
sere Gemeinwesen  sich  während  der  Session  der  Parla- 
mente immer  unbehaglich  fühlen.  Dieser  Wirrwarr,  diese 

8  113 


Undurchsichtigkeit  und  Heimlichkeit  unserer  gesetzgebe- 
rischen Methoden  schaffen  den  politischen  Maschinen  Ge- 
legenheiten, die  allzu  leicht  zum  Diebe  machen.  Es  gibt 
keine  der  Öffentlichkeit  bekannte  und  verantwortliche 
Männer  oder  Gruppen  von  Männern,  von  denen  man  weiß, 
daß  sie  die  Gesetze  formulieren  und  sich  um  diese  Gesetze 
vom  Tage  der  Einbringung  bis  zu  ihrer  endgültigen  An- 
nahme bekümmern.  Dadurch  wurde  es  möglich,  daß  eine 
außenstehende  Kraft  sich  die  Rolle  des  Herrschers  an- 
maßte. Es  ist  die  politische  Maschine,  die  Körperschaft 
jener  Männer,  die  die  Abgeordneten  bestimmten  und  für 
ihre  Kandidaten  den  Wahlkampf  führten.  Geschäftsleute, 
die  irgendeine  Änderung  an  den  bestehenden  Gesetzen 
wünschten  oder  die  Genehmigung  von  ihren  Interessen 
gefährlichen  Gesetzen  verhindern  wollten,  wußten,  daß 
sie  sich  an  diese  bestimmte  Gruppe  von  Männern  wenden 
konnten  und  trafen  mit  ihnen  ihre  Abmachung.  Sie  er- 
klärten sich  bereit,  ihnen  Geld  zur  Führung  des  Wahl- 
feldzuges zu  geben,  sie  erklärten  sich  bereit,  in  allen  an- 
deren Fällen,  da  Geld  notwendig  werden  könnte,  einzu- 
springen, wenn  andererseits  die  Maschine  es  übernehmen 
wolle,  ihnen  in  Dingen  der  Gesetzgebung  Schutz  und  Hilfe 
zu  leisten.  Die  Legislatur  erwartete  von  einem  bestimm- 
ten Manne,  der  nicht  einmal  ein  Mitglied  des  Parlamentes 
war,  die  Weisung,  was  mit  einzelnen  Gesetzen  geschehen 
sollte.  Als  Zentrum  jeder  Parteiorganisation  war  die  Ma- 
schine das  gegebene  Mittel  zur  Herrschaft  und  alle  Leute, 
die  bestimmte  Geschäftsinteressen  zu  verfolgen  haben, 
wandten  sich  naturgemäß  an  diese  Stelle,  an  der  Macht 
und  Einfluß  zusammenliefen. 

An  alledem  hätte  nichts  Unheilvolles  zu  sein  brauchen. 
Wenn  alles  offen  und  ehrlich  und  ohne  Hintergedanken 
vor  sich  gegangen  wäre,  würde  sich  die  öffentliche  Kritik 
wohl  nie  damit  beschäftigt  haben.  Aber  die  Hantierung 

114 


mit  Geld  führt  stets  zur  Demoralisierung  und  auf  dem 
Wege  über  die  Demoralisierung  zur  wirklichen  Korrup- 
tion. Es  gibt  zwei  Arten  von  Korruption.  Das  eine  ist  die 
grobe  und  plumpe  Art,  die  mit  direkten  Bestechungen  ar- 
beitet ;  die  andere  Art  aber  ist  jene  viel  geschicktere  und 
gefährlichere  Korruption,  die  den  Willen  korrumpiert. 
Geschäftsleute,  die  es  versuchten,  mit  Hilfe  der  Maschine 
politischen  Einfluß  zu  erlangen,  verfielen  immer  mehr 
einer  Selbsttäuschung:  sie  begannen  sich  zu  sagen,  das 
ganze  Verfahren  sei  für  sie  ein  notwendiges  Mittel  der 
Selbstverteidigung  und  behaupteten,  es  handle  sich  um 
eine  unvermeidbare  Folge  unseres  politischen  Systems. 
Nachdem  sie  auf  diese  Weise  ihr  Gewissen  beruhigt  hatten, 
glitten  sie  von  einer  Erfahrung  zur  anderen,  von  einem 
Versuche  zu  neuen,  bis  die  moralische  Seite  der  Angele- 
genheit hoffnungslos  verwirrt  und  verschleiert  war.  Wie 
weitab  von  den  Idealen  ihrer  Jugend  sind  viele  unserer  Ge- 
schäftsleute geraten,  die  diesem  verderblichen  System  an- 
heimfielen; wie  weitab  von  jenen  Tagen  ihrer  schönen 
jungen  Mannheit,  da  ihre  Rüstung  jene  ,,Schamhaftig- 
keit  der  Ehre"  war,  die  einen  Flecken  gleich  einer  Wunde 
empfand. 

Es  ist  ein  glücklicher  Umstand  unserer  Tage,  daß  die 
Klügsten  unter  unseren  großen  Geschäftsleuten  sowohl 
die  Irrtümlichkeit  als  die  Unmoral  dieser  schlimmen  Ver- 
hältnisse erkannt  haben.  Das  Bündnis  zwischen  Geschäft 
und  Politik  war  ihnen  eine  Last ;  es  war  ihnen  gewiß  manch- 
mal von  Vorteil,  aber  von  einem  sehr  fragwürdigen  Vor- 
teil, der  schwer  bezahlt  werden  mußte.  Es  verlieh  ihnen 
große  Macht,  aber  es  legte  ihnen  auch  das  Joch  einer  Art 
von  Sklaverei  auf  und  brachte  sie  in  eine  unmittelbare  Ab- 
hängigkeit von  den  Politikern.  Sie  verlangen  nicht  weni- 
ger danach,  von  diesen  Banden  befreit  zu  werden,  als 
das  Land  danach  verlangt,  die  Einflüsse  und  Methoden, 

»•  115 


die  sich  in  diesem  System  verkörperten,  abzuschütteln. 
Führende  Geschäftsleute  sind  heute  gewichtige  Faktoren  in 
der  Befreiung  unseres  Landes  von  einem  System,  das  vom 
Schlechten  zum  Schlimmeren  führte.  Natürlich  gibt  es  auch 
andere,  die  mit  den  alten  Praktiken  zu  eng  verknüpft  sind 
und  bis  zum  letzten  für  sie  eintreten  werden ;  aber  sie  wer- 
den zur  Minderheit  herabsinken  und  überwunden  werden. 
Die  übrigen  haben  erkannt,  daß  die  alte  Ausrede  (es  sei 
notwendig,  sich  gegen  eine  ungerechte  Gesetzgebung  zu 
verteidigen),  nicht  länger  eine  stichhaltige  Ausrede  ist; 
und  sie  wissen,  daß  es  einen  besseren  Weg  der  Selbstver- 
teidigung gibt  als  den  der  heimlichen  Anwendung  von 
Geld.  Dieser  bessere  Weg  besteht  aber  darin,  die  Öffentlich- 
keit ins  Vertrauen  zu  ziehen,  alle  Beziehungen  mit  den 
gesetzgebenden  Körperschaften  und  ihren  Mitgliedern  of- 
fen darzulegen  und  über  beide  das  Publikum  urteilen  zu 
lassen,  über  die  Geschäftsleute  und  über  die  Mitglieder  der 
Legislatur,  mit  denen  sie  zu  tun  haben. 

Diese  Entdeckung  einer  Tatsache,  die  schon  längst  auf 
der  Hand  lag,  zeigt  den  Weg,  den  eine  Reform  einschlagen 
muß;  unzweifelhaft  ist  breiteste  Öffentlichkeit  für  diese 
Art  politischer  und  wirtschaftlicher  Übelstände  ein  fast 
sicher  wirkendes  Heilmittel.  Aber  solange  unsere  Metho- 
den der  Gesetzgebung  so  verschleiert,  verworren  und  ge- 
heim sind,  wird  es  sehr  schwer  werden,  Öffentlichkeit  zu 
erreichen.  Ich  glaube,  es  wird  immer  deutlicher  zutage  tre- 
ten, daß  das  Mittel  zur  Reinigung  unserer  Politik  deren 
Vereinfachung  ist ;  und  diese  Vereinfachung  wird  erreicht, 
indem  man  eine  verantwortliche  Führerschaft  einsetzt. 
Wir  besitzen  heute  inmitten  unserer  gesetzgebenden  Kör- 
perschaften überhaupt  keine  Führerschaft,  und  jedenfalls 
keine  Führerschaft,  die  ausgeprägt  genug  wäre,  um  die 
Aufmerksamkeit  und  die  Wachsamkeit  des  Landes  auf 
sich  zu  ziehen.  Denn  unsere  Führung  liegt  bei  Leuten,  die 

ii6 


außerhalb  unserer  Legislatur  stehen  und  nicht  verantwort- 
lich sind ;  und  damit  wird  es  selbst  für  die  wachsamste  öf- 
fentliche Meinung  außergewöhnlich  schwierig,  die  weit- 
schweifigen, zur  Anwendung  kommenden  Methoden  zu 
ergründen  und  zu  verfolgen.  Diese  Verhältnisse  sind  zwei- 
fellos die  Wurzel  jenes  in  allen  amerikanischen  Gemein- 
wesen wachsenden  Verlangens  nach  einer  verantwort- 
lichen Führerschaft ;  Menschen,  die  man  kennt,  die  man 
beobachtet  und  die  das  Land  jederzeit  zur  Verantwortung 
ziehen  kann,  sollen  in  Stellen  gebracht  werden,  in  denen 
sie  Autorität  besitzen  und  bewahren.  Durch  eine  wohl- 
bedachte und  fortschrittliche  Gesetzgebung  soll  den  An- 
gelegenheiten der  Nation  gedient  werden,  aber  das  muß 
auch  offen,  unbekümmert  und  nutzbringend  geschehen; 
dabei  muß  darauf  geachtet  werden,  daß  jedermann  gehört 
und  jedes  Interesse  erwogen  wird,  sowohl  das  Interesse, 
das  über  keine  Kapitalshilfe  verfügt,  als  auch  jenes  Inter- 
esse, das  diese  Stütze  besitzt ;  alles  das  aber  wird  nur  er- 
reichbar werden,  wenn  wir  unser  ganzes  System  verein- 
fachen und  die  Verwaltung  der  öffentlichen  Angelegen- 
heiten kleinen  Gruppen  bestimmter  Männer  anvertrauen, 
die  als  Führer  wirken :  nicht  auf  Grund  gesetzlicher  Au- 
torität oder  eines  Vorrechtes  zum  Befehlen,  sondern  auf 
Grund  ihrer  Berührung  und  ihrer  Fühlung  mit  der  öffent- 
lichen Meinung.  Unsere  gesetzgeberischen  Methoden  eignen 
sich  durchaus  zu  einer  Reform,  die  darauf  hinstrebt,  jede 
Handlung  dem  Lichte  der  Öffentlichkeit  zugänglich  zu 
machen.  Es  wird  in  dieser  Richtung  möglich  sein,  in  den 
Verhandlungsräumen  unserer  Parlamente  verantwortliche 
Führerschaften  zu  bilden,  auf  daß  die  Öffentlichkeit  er- 
fahren könne,  wer  hinter  jedem  einzelnen  Gesetze  steht 
und  wer  sich  hinter  der  Opposition  verbirgt.  Und  alle  Maß- 
nahmen werden  dann  statt  in  den  Kommissionszimmern 
in  öffentlichen  Sitzungen  beraten  werden.  In  alle  Prozesse 

117 


der  Erzeugung  und  Genehmigung  von  Gesetzen  wird  das 
helle  Licht  des  Tages  dringen. 

Die  Gesetzgebung,  wie  wir  sie  heute  handhaben,  wird 
nicht  im  Freien  ausgeführt.  Sie  wird  nicht  in  offener  De- 
batte im  Sitzungssaal  des  Parlaments  erörtert,  sie  emp- 
fängt ihre  Formen,  ihre  Billigung  und  ihre  Durchführung 
in  den  Kommissionszimmern.  In  diesen  Kommissions- 
zimmern verschwinden  jene  Gesetze,  die  den  Sonderinter- 
essen unwillkommen  sind,  und  in  jenen  Kommissions- 
zimmern werden  die  von  den  Sonderinteressen  gewünsch- 
ten Gesetze  erzeugt  und  durchgebracht.  In  den  meisten 
Fällen  gibt  es  im  Plenum  zu  wenig  Debatte,  um  die  wahre 
Bedeutung  der  vorgeschlagenen  Maßnahmen  klarzustellen. 
In  den  Satzungen  liegen  verschwiegen,  unerklärt  und  un- 
angefochten Klauseln,  die  den  ganzen  Sinn  und  Zweck 
des  Gesetzes  enthalten ;  sie  verbergen  sich  in  Sätzen,  die 
kein  öffentliches  Interesse  erwecken,  in  beiläufigen  De- 
finitionen, die  keine  Aufmerksamkeit  auf  sich  lenken,  und 
in  Klassifizierungen,  die  so  technisch  sind,  daß  die  All- 
gemeinheit sie  nicht  versteht  und  die  zu  erklären  oder  zu 
erläutern  die  wenigen  Eingeweihten  sich  hüten.  Erst  wenn 
diese  Bestimmungen  Gesetzeskraft  erlangt  haben  und  zur 
Anwendung  kommen,  erst  wenn  sie  vor  den  Gerichten  die 
Rechtsprechung  beschäftigen,  erst  dann  enthüllt  sich  Sinn, 
Zweck  und  Absicht  des  ganzen  Unternehmens.  Jene  aber, 
die  den  Nutzen  davon  haben,  sind  dann  längst  hinter  ihren 
Bollwerken  geborgen. 

Diese  Art  der  Kommissionsarbeit,  dieses  Schmieden 
schwerverständlicher  Sätze  und  diese  Aufstellungen  uner- 
läuterter  Klassifizierungen  feiern  naturgemäß  ihre  Haupt- 
triumphe bei  den  Beratungen  des  ZoUtarifes.  Nach  der 
Genehmigung  des  verderblichen  Payne-Aldrich-Tarif  es  hat 
das  Volk  begonnen,  die  in  diesem  Tarife  versteckten  Ab- 
sichten und  Zwecke  zu  verstehen.  Von  Fall  zu  Fall  mußte 

ii8 


man  immer  klarer  einsehen,  wie  tief  und  gründlich  man 
getäuscht  und  überlistet  wurde.  Und  das  geschah  nicht 
durch  Zufall,  das  geschah  planmäßig,  das  geschah  auf 
Grund  eines  genau  ausgearbeiteten  besonderen  Planes. 
Fragen,  die  im  Abgeordnetenhaus  oder  im  Senat  gestellt 
wurden,  fanden  keine  wahrheitsgemäße  Antwort,  und  so 
zwang  man  dem  Lande  ein  kunstvolles  Maschenwerk  von 
Bestimmungen  auf,  die  niemals  Genehmigung  gefunden 
hätten,  wenn  sie  allgemein  verstanden  worden  wären. 

Wir,  die  wir  mit  der  politischen  Maschine  zu  tun  haben, 
wir  wissen  es,  daß  die  große  Schwierigkeit  auf  dem  Wege 
zur  Vernichtung  des  Einflusses  des  politischen  Boß  der  Um- 
stand ist,  daß  er  durch  das  Geld  und  den  Einfluß  jener 
Leute  gestützt  wird,  die  an  jenen  Bestimmungen  ein  In- 
teresse haben.  Nie  wäre  es  möglich  gewesen,  in  öffentlicher 
Diskussion  diesen  Tarif  Absatz  um  Absatz  aufzubauen ; 
und  nie  wäre  er  angenommen  worden,  wenn  er,  Bestim- 
mung um  Bestimmung,  dem  amerikanischen  Volke  erklärt 
worden  wäre.  Er  entstand  auf  Grund  von  Abmachungen 
und  auf  Grund  der  geschickten  Sachwaltung  einer  po- 
litischen Organisation,  die  in  dem  Senat  der  Vereinigten 
Staaten  durch  den  ältesten  Senator  von  Rhode  Island  und 
im  Repräsentantenhaus  durch  einen  der  Abgeordneten  von 
Illinois  vertreten  wurde.  Diese  Männer  formten  den  Tarif 
nicht  etwa  auf  Grund  des  Materials,  das  der  Kommission 
der  Wege  und  Mittel  vorgelegt  wurde  und  in  dem  die 
Bedürfnisse  der  Fabrikanten  und  der  Arbeiter,  der  Kon- 
sumenten und  der  Produzenten  der  Vereinigten  Staaten 
dargelegt  waren.  Der  Tarif  wurde  diesen  Ansprüchen  nir- 
gends angepaßt.  Er  empfing  seine  Form  auf  Grund  von  Ver- 
ständigung und  Abmachungen,  die  außerhalb  jener  Zimmer 
getroffen  wurden,  in  denen  die  Aussagen  gesammelt  und 
die  Diskussion  geführt  wird. 

Selbst  in  diesem  Falle  spreche  ich  nicht  von  einem 

H9 


korrupten  Einfluß.  Darauf  will  ich  nicht  hinaus.  Korruption 
in  ihrem  wörtlichen  Sinn  ist  sehr  schwer  faßbar.  Geldzah- 
lungen sind  leicht  zu  entdecken ;  und  die  Männer,  die  auf 
Grund  geheimer  Abmachungen  die  Sache  der  Sonderinter- 
essen führen,  würden  auch  nie  einwilligen,  auch  nur  einen 
Dollar  Geldes  anzunehmen.  Sie  befolgen  ihre  eigenen 
Grundsätze,  d.  h.  jene  Grundsätze,  auf  deren  Basis  sie  den- 
ken und  handeln,  und  sie  halten  sich  auch  für  vollkommen 
ehrenhafte  und  unbestechliche  Männer.  Aber  sie  glauben 
etwas,  das  ich  nicht  glaube  und  das  offenbar  das  Volk  dieses 
Landes  nicht  glaubt,  sie  glauben,  daß  die  Wohlfahrt  des 
Landes  von  den  Abmachungen  abhängt,  die  gewisse  Par- 
teiführer mit  gewissen  Geschäftsleuten  treffen.  Sie  glau- 
ben das,  aber  diese  Anschauung  braucht  nur  ausgespro- 
chen zu  werden,  um  verworfen  zu  sein.  Die  Wohlfahrt  un- 
seres Landes  ist  von  unser  aller  Interessen  abhängig  und 
kann  nicht  durch  Abmachungen  zwischen  einzelnen  Grup- 
pen erreicht  werden.  Legt  irgendeine  Frage  dem  Lande 
vor,  setzt  sie  dem  reinigenden  Feuer  der  öffentlichen  Er- 
örterung aus:  und  sofort  wird  dieses  System  unmöglich. 
Bisweilen  kommt  auch  das  vor.  Man  schlägt  euch 
irgendeine  besondere  gesetzliche  Maßnahme  vor.  Sobald 
das  Parlament  zusammentritt,  wird  ein  entsprechender 
Gesetzantrag  eingebracht.  Man  überweist  ihn  der  Kom- 
mission. Nie  wieder  wird  man  etwas  von  ihm  hören. 
Was  ist  geschehen?  Kein  Mensch  weiß,  was  geschehen 
ist.  Ich  behaupte  nicht,  daß  Bestechungen  erfolgen,  aber 
ich  weiß  nicht,  was  erfolgt.  Und  nicht  allein,  daß  wir 
nichts  darüber  erfahren :  wenn  wir  dringend  werden  und 
Erkundigungen  anstellen,  dann  sagt  man  uns,  das  sei  nicht 
unseres  Amtes.  Meine  Antwort  darauf  lautet,  daß  es  un- 
seres Amtes  ist;  es  ist  Sache  jedes  einzelnen  Bürgers  im 
Staate ;  wir  haben  ein  Anrecht  darauf,  die  Geschichte  jedes 
Gesetzentwurfes  in  allen  seinen  Einzelheiten  kennen  zu 

1,20 


lernen.  In  Regierungsfragen  gibt  es  keine  berechtigte  Heim- 
lichkeit. Wenn  eine  Regierung  unantastbar  und  in  allen 
ihren  Schritten  korrekt  sein  soll,  muß  sie  in  allen  Dingen, 
die  sie  berühren,  öffentlich  sein.  Ich  kann  mir  keinen  Be- 
amten oder  Volksvertreter  denken,  der  ein  Geheimnis 
kennte,  das  er  dem  Volke  vorenthalten  würde,  wenn  es  die 
Angelegenheiten  des  Volkes  betrifft. 

Ich  kenne  die  Gedankengänge  mancher  jener  Männer. 
Sie  sagen,  die  Einflüsse,  denen  sie  nachgeben,  seien  voll- 
auf berechtigt,  würden  aber  nicht  verstanden  werden,  wenn 
sie  unverhüllt  dargelegt  werden  müßten.  Nun,  so  leid  es 
mir  tut,  aber  nichts,  was  nicht  verstanden  werden  kann, 
ist  berechtigt.  Wenn  man  es  nicht  angemessen  erklären 
kann,  dann  steckt  irgendwo  etwas,  das  überhaupt  nicht 
erklärt  werden  kann.  Aus  den  Umständen  des  Falles  er- 
sehe ich :  nicht  was  vorgeht,  aber  daß  etwas  Heimliches 
vorgeht ;  und  immer,  wenn  einer  jener  Gesetzentwürfe  zur 
Kommission  kommt,  bringt  ein  heimlicher  Einfluß  die 
Angelegenheit  zum  Stehen ;  das  Gesetz  erblickt  nie  wieder 
das  Tageslicht,  es  sei  denn  unter  dem  Druck  eines  Presse- 
feldzuges oder  durch  den  Mut  und  die  Auflehnung  einiger 
wackerer  Mitglieder  des  Parlaments.  Ich  habe  solche 
wackeren  Männer  kennen  gelernt.  Ich  könnte  einige  präch- 
tige Beispiele  anführen,  in  denen  Männer  als  Vertreter  des 
Volkes  von  dem  Vorsitzenden  der  Kommission  Aufklärung 
darüber  verlangten,  weshalb  der  Bericht  über  das  Gesetz 
ausbleibe ;  und  wenn  sie  das  von  dem  Kommissionsvor- 
sitzenden nicht  erfahren  konnten,  stellten  sie  Nachfor- 
schungen an  und  brachten  das  Gesetz  schließlich  durch, 
indem  sie  drohten,  die  Gründe  der  Unterdrückung  in  öf- 
fentlicher Sitzung  zu  enthüllen. 

Das  sind  die  Schleichpfade  der  Heimlichkeit,  das  sind 
die  Einflüsse,  die  sich  zwischen  das  Volk  und  die  Erfüllung 
der  ihm  gemachten  Versprechungen  schieben.  Das  System 

121 


der  Regierung  durch  heimliche  Abmachungen  beraubt  das 
Volk  um  seine  Vertretung.  Den  Mitgliedern  der  gesetzgeben- 
den Körperschaften  muß  klargemacht  werden,  daß  öffent- 
liche Angelegenheiten  öffentliche  Angelegenheiten  sind.  Ich 
bin  der  Überzeugung,  daß  es  in  Fragen  der  Regierung  eines 
Volkes  kein  Geheimnis  geben  kann  und  daß  es  die  Pflicht 
jedes  Beamten  ist,  seinen  Mitbürgern  so  oft  als  nur  mög- 
lich zu  berichten,  was  innerhalb  seines  Amtsbereiches  sich 
vollzieht.  Denn  es  gibt  keine  gesündere  Luft  als  die  unein-^ 
geschränkte  Öffentlichkeit. 

Es  gibt  noch  andere  Regionen  des  modernen  Lebens, 
auf  denen  sich  Mißstände  entwickelt  haben,  die  beseitigt 
werden  müssen.  Man  nehme  z.  B.  die  völlig  unberechtigte 
Erweiterung,  die  man  dem  Begriffe  des  Privateigentums 
angedeihen  ließ:  zugunsten  der  modernen  Korporationen 
und  Trusts.  Von  einer  modernen  Aktienkorporation  kann 
nicht  in  rechtmäßigem  Sinne  behauptet  werden,  daß  sie 
ihre  Ansprüche  und  Rechte  auf  den  Prinzipien  des  Privat- 
eigentums aufbauen  kann.  Sie  leitet  ihre  Ansprüche  aus- 
schließlich von  der  Gesetzgebung  her.  Sie  verfügt  über 
diese  Gesetzgebung  zugunsten  des  Geschäftes  und  auf 
Kosten  der  Allgemeinheit.  Ihre  Aktien  oder  Anteilscheine 
sind  weit  verbreitet,  gehen  von  Hand  zu  Hand,  verbinden 
eine  Unmasse  von  Menschen  zu  flüchtigen  Teilhaber- 
schaften und  bringen  den  einzelnen  mit  den  Interessen 
großer  Gemeinschaften  in  Berührung.  Sie  ist  ein  Produkt 
der  Öffentlichkeit;  sie  läßt  sich  mit  keiner  regelrechten 
Teilhaberschaft  vergleichen  und  bietet  keine  Analogie  für 
die  Anwendung  der  Bestimmungen,  unter  denen  Privat- 
eigentum geschützt  und  behandelt  wird.  Die  Leitung  sol- 
cher Korporationen  ist  eine  öffentliche  und  eine  allge- 
meine Angelegenheit  und  in  einem  sehr  weitgehenden 
Sinne  jedermanns  Angelegenheit.  Das  Arbeitsgebiet  vieler 
dieser  Korporationen,  die  wir  Public  Service  Corporations 

122 


nennen  und  die  uns  täglich  unentbehrlich  sind,  weil  sie 
uns  Verkehr,  Licht,  Wasser  und  Kraft  liefern,  —  das  Ar- 
beitsgebiet solcher  Korporationen  ist  ausgesprochen  öffent- 
lich und  ihre  Tätigkeit  offenkundig  eine  öffentliche  Ange- 
legenheit; und  darum  können  und  müssen  wir  uns  mit 
ihren  Transaktionen  beschäftigen,  um  sie  zu  prüfen  und 
zu  erörtern. 

In  New  Jersey  war  sich  das  Volk  hierüber  seit  langem 
klar  geworden  und  vor  ein  oder  zwei  Jahren  verschafften 
wir  diesen  Gedanken  in  der  Gesetzgebung  Geltung.  Die  in 
Betracht  kommenden  Korporationen  suchten  der  Gesetz- 
gebung mit  allen  Mitteln  zu  trotzen.  Sie  sprachen  von 
einem  Ruin  —  und  ich  glaube  auch,  sie  glaubten,  daß  sie 
in  irgendeiner  Weise  geschädigt  werden  würden.  Aber  das 
trat  nicht  ein.  Und  ich  kann  kaum  sagen,  wieviel  Leute 
in  New  Jersey  zu  mir  sprachen:  ,, Gouverneur,  wir  waren 
Ihre  Gegner ;  wir  glaubten  nicht  an  die  Dinge,  die  Sie  voll- 
bracht wissen  wollten,  aber  nun,  da  sie  vollbracht  sind, 
ziehen  wir  vor  Ihnen  den  Hut.  Das  mußte  geschehen,  und 
es  schadete  uns  nicht  im  geringsten ;  es  stellte  uns  nur  auf 
eine  vernünftige  Grundlage  und  befreite  uns  von  Verdacht 
und  Ungewißheit."  Nun,  da  New  Jersey  den  Kopfsprung 
gewagt  hat,  ruft  es  den  übrigen  Staaten  zu :  ,, Kommt  mit, 
das  Wasser  ist  schön!"  Ich  zweifle,  ob  die  Männer,  die  heute 
den  bestimmenden  Einfluß  auf  die  Regierung  der  Ver- 
einigten Staaten  ausüben,  wahrnehmen,  wie  sie  mit  jedem 
neuen  Jahre  eine  schlimmer  werdende  Atmosphäre  von 
Verdächtigungen  erzeugen,  in  der  das  Geschäftsleben 
schließlich  nicht  mehr  atmen  kann. 

Und  so  halte  ich  es  für  das  Gebot  der  Stunde,  alle  Wege 
und  Vorgänge  der  Politik  und  der  öffentlichen  Verwaltung 
zu  enthüllen  und  sie  in  ihrer  ganzen  Breite  und  Tiefe  der 
Öffentlichkeit  zugänglich  zu  machen ;  sie  sollen  jeder  wir- 
kenden Kraft  und  jeder  im  Gedankenleben  des  Volkes 

123 


vorherrschenden  Meinung  zugänglich  sein.  Der  Gesellschaft 
muß  das  Bestimmungsrecht  über  ihr  eigenes  wirtschaft- 
liches Dasein  wiedergegeben  werden,  nicht  durch  um- 
stürzende Maßnahmen,  aber  durch  eine  stetige  Anwendung 
des  Grundsatzes,  nach  dem  das  Volk  ein  Recht  hat,  Ein- 
blick in  diese  Dinge  zu  nehmen  und  sie  zu  überwachen. 
Wo  immer  eine  öffentliche  Handlung  vollzogen  wird,  wo 
immer  Pläne  entworfen  werden,  die  die  Allgemeinheit 
betreffen,  wo  Unternehmungen  gedeihen,  die  die  öffent- 
liche Wohlfahrt  berühren,  wo  politische  Programme  for- 
muliert werden,  und  wo  man  Kandidaten  aufstellt,  —  an 
allen  diesen  Stätten  muß  sich  eine  Stimme  erheben  und 
mit  dem  göttlichen  Willen  des  Volksvorrechts  rufen :  ,,Laßt 
Licht  herein!" 


124 


Siebentes  Kapitel 
Die  Tariffrage 

Jede  politische  oder  wirtschaftliche  Frage  in  den  Verei- 
nigten Staaten  führt  über  kurz  oder  lang  stets  zu  einem 
Punkte  zurück:  zur  Frage  des  Zolltarifs.  Man  kann  ihr 
nicht  entgehen,  welchen  Weg  man  auch  einschlägt.  Der 
Tarif  steht  zu  anderen  Fragen  im  gleichen  Verhältnis  wie 
etwa  der  Bostoner  Common*)  inmitten  der  alten  Anlage 
jener  schönen  Stadt.  Ich  entsinne  mich,  einst  im  ,,Life"  ein 
Bild  gesehen  zu  haben,  auf  dem  ein  Mann  an  der  Tor- 
schwelle  eines  Bostoner  Bahnhofs  stand  und  emen  Bosto- 
ner nach  dem  Weg  zum  Common  fragte.  ,, Folgen  Sie  ir- 
gendeiner dieser  Straßen,"  lautete  die  Antwort,  ,, gleich- 
viel in  welcher  Richtung."  Im  gleichen  Verhältnis,  in  dem 
der  Common  zu  den  gewundenen  Straßen  Bostons  stand, 
steht  die  Tariffrage  zu  allen  wirtschaftlichen  Problemen 
des  heutigen  Amerika.  Welche  Richtung  du  auch  ein- 
schlägst, du  mußt  früher  oder  später  zum  Common  kom- 
men. In  der  Betrachtung  der  Tariffrage  mag  in  der  Mitte 
begonnen  werden. 

Im  Jahre  1828,  als  man  vom  Standpunkte  unseres  mo- 
dernen Wissens  so  gut  wie  gar  nichts  von  praktischer 
Wirtschaftspolitik  verstand,  brachte  man  einen  Zolltarif 
durch,  den  man  den  ,, Tarif  des  Absehens"  nannte,  weil  er 
keinen  Anfang,  kein  Ende  und  kein  Ziel  hatte.  Kein  Plan, 
kein  erkennbares  Muster  war  zu  entdecken.  Es  war,  als 
hätte  man  die  Wünsche  und  Forderungen  jedes  einzelnen 

*)  Großer  Park  im  Herzen  der  Stadt  Boston. 

125 


Bürgers  der  Vereinigten  Staaten  aufs  Geratewohl  in  einen 
Korb  geworfen  und  diesen  Korb  dann  zum  Mittelpunkt 
einer  gesetzgeberischen  Handlung  gemacht.  Ein  allgemei- 
nes Gedränge  war  entstanden,  und  alle,  die  sich  weit  ge- 
nug vordrängten,  wurden  in  den  einzelnen  Positionen  des 
Tarifs  berücksichtigt.  Den  überlegteren  Männern  jener 
Tage  blieb  jener  Vorgang  ein  Greuel,  da  niemand  zum  Füh- 
rer wurde,  den  Wünschen  und  Bestimmungen  eine  Form 
gab  und  den  Versuch  unternahm,  aus  dem  Chaos  ein 
brauchbares  System  zu  machen.  Das  war  schlimm  genug, 
aber  schließlich  fand  jeder  offene  Tür,  durch  die  er  seinem 
Vorteil  zustreben  konnte.  Es  war  ein  offenes  Rennen ;  je- 
der, der  nach  Washington  kommen  konnte  und  angab, 
wichtige  Handelsinteressen  zu  vertreten,  vermochte  sich 
bei  der  Kommission  der  Wege  und  Mittel  Gehör  zu  ver- 
schaffen. 

Heute  liegen  die  Dinge  anders.  Die  Kommission  der 
Wege  und  Mittel  und  das  Finanzkomitee  des  Senats  sind 
in  diesen  verwickelten  Zeiten  durch  lange  Erfahrung  dazu 
gekommen,  unter  den  Personen,  deren  Ratschläge  sie  für 
Tarifgesetze  entgegennehmen,  Unterschiede  zu  machen. 
An  die  Stelle  jener  unerfahrenen  Bürger,  die  einst  an  den 
Türen  der  beiden  entscheidenden  Kommissionen  zu  lär- 
men pflegten,  trat  eine  der  interessantesten  und  fähigsten 
Gruppen  von  Leuten,  die  je  aus  der  Erfahrung  irgendeines 
Landes  hervorgingen.  Diese  Vorsaaibesucher,  die  mit  den 
Abgeordne|;en  Zwiesprach  halten,  sind  Leute,  die  auf  den 
sie  angehenden  Gebieten  über  eine  so  gründliche  Sach- 
kenntnis verfügen,  daß  du  es  nicht  wagen  kannst,  deine 
Kenntnis  mit  der  ihren  rivalisieren  zu  lassen.  Sie  über- 
wältigen dich  mit  ihrer  detaillierten  Sachkenntnis  derart, 
daß  du  nicht  mehr  erkennst,  worin  ihre  Absichten  bestehen. 
Sie  empfehlen  die  Abänderung  irgendeiner  unschuldigen 
Stelle  in  irgend  einen  besonderen  Absatz  und  erklären  die 

126 


Sache  so  einfach  und  plausibel,  daß  du  nicht  erkennen 
wirst,  daß  die  kleine  Änderung  Millionen  von  Dollars  be- 
deuten, die  von  den  Konsumenten  mehr  aufgebracht  wer- 
den sollen.  Sie  schlagen  beispielsweise  vor,  die  Kohle  für 
elektrisches  Licht  statt  als  ein  Fuß  lange  Stücke  als  Zwei- 
Fuß-Stücke  anzusetzen  —  und  du  wirst  kaum  erkennen, 
worin  du  überlistet  wirst,  weil  du  kein  Fachmann  bist. 
Wenn  du  irgendeinen  Fachmann  die  einzelnen  Positionen 
des  gegenwärtigen  Payne-Aldrich-Tarifes  durchsehen  läßt, 
so  wirst  du  erfahren,  daß  fast  jede  Zeile  ihre  Fußangel  auf- 
weist —  ein  kleines  Wort,  eine  kleine  Klausel,  eine  un- 
verdächtige Einzelheit,  die  den  Konsum.enten  Tausende 
kostet  und  doch  gar  nichts  Besonderes  bedeuten  zu  haben 
scheint.  Man  hat  alles  vorher  berechnet;  man  hat  jede 
Einzelheit  und  Folgewirkung,  ein  jeder  für  seine  Speziali- 
tät, analysiert.  Mit  dem  Tarifspezialisten  kann  der  Ge- 
schäftsmann nicht  konkurrieren.  So  tritt  an  Stelle  der 
alten  Balgerei,  die  schlimm  genug  war,  die  Herrschaft  der 
Spezialisten  für  jede  einzelne  Position.  Das  Verhältnis 
zwischen  Regierung  und  Handel  wird  aber  nicht  zu  einem 
Eingehen  aller  entscheidenden  Regierungsinstanzen  auf 
alle  aktiven  Kräfte  des  Volkes,  sondern  es  beschränkt  sich 
auf  die  besondere  Einwirkung  einer  besonders  organisier- 
ten Macht  der  Geschäftswelt. 

Dazu  kommt,  daß  jedes  geeignete  Mittel  angewandt 
wird,  um  die  Argumente  der  Schutzzöllner  der  Aufmerk- 
samkeit der  Öffentlichkeit  zu  entziehen  und  dem  Publikum 
die  Kenntnis  der  Folgen  zu  verschleiern.  Die  Öffentlich- 
keit wird  nicht  in  die  Absichten  jener  eingeweiht,  die  den 
vorgeschlagenen  Bestimmungen  ihre  entscheidende  Form 
geben.  Es  ist  sogar  erwiesen,  daß  viele  Mitglieder  der  Fi- 
nanzkommission nicht  die  Bedeutung  der  einzelnen  Po- 
sitionen des  Tarifs  kannten,  die  dem  Senat  vorgelegt  wur- 
den ;  und  selbst  Senatoren,  die  Herrn  Aldrich  direkt  Fragen 

127 


stellten,  wurde  die  gesuchte  Aufklärung  verweigert;  manch- 
mal wohl,  weil  er  sie  nicht  zu  geben  vermochte,  aber 
manchmal  auch,  weil  die  Enthüllung  der  Einzelheiten  die 
Annahme  der  Bestimmungen  erschwert  hätte.  Es  gab 
wichtige  Dokumente,  die  nicht  zu  erlangen  waren. 

Betrachten  wir  das  interessante  Thema  —  dieses  ,, Irr- 
licht" —  der  ,, Herstellungskosten".  Jedem  Mann,  der  sich 
je  mit  Nationalökonomie  beschäftigte,  fällt  es  schwer,  ein 
spöttisches  Lächeln  zu  unterdrücken,  wenn  man  ihm  sagt, 
eine  intelligente  Gruppe  von  Mitbürgern  suche  die  ,, Her- 
stellungskosten" zur  Basis  der  Zollgesetzgebung  zu  ma- 
chen. Diese  Kosten  sind  in  keiner  Fabrik  auf  zwei  Jahre 
gleich.  Sie  sind  in  keiner  Industrie  in  zwei  Jahreszeiten 
dieselben.  In  ein  und  demselben  Lande  sind  sie  zu  zwei 
verschiedenen  Epochen  verschieden.  Sie  entziehen  sich 
unausgesetzt  der  Hand,  die  sie  festhalten  möchte.  Sie  exi- 
stieren als  wissenschaftlich  beweisbare  Tatsache  nirgends. 
Aber  um  dieZwecke  des  Schutzzollprogramms  zu  erreichen, 
war  es  notwendig,  sich  der  Mühe  zu  unterziehen,  sie  zu 
entdecken.  Ich  bin  zuverlässig  davon  unterrichtet,  daß  die 
Regierung  der  Vereinigten  Staaten  eine  Anzahl  auswärti- 
ger Regierungen,  darunter  auch  die  deutsche  Regierung, 
aufforderte,  ihr  so  genau  als  möglich  die  Herstellungs- 
kosten gewisser  Artikel,  die  auch  in  Amerika  produziert 
werden,  mitzuteilen.  Die  deutsche  Regierung  überwies  die 
Angelegenheit  den  in  Betracht  kommenden  deutschen  Fa- 
brikanten, die  ihrerseits  die  Fragen  so  genau  beantworte- 
ten, als  sie  sich  auf  Grund  ihrer  Geschäftsbücher  beant- 
worten ließen.  Die  Mitteilungen  gelangten  an  unsere  Re- 
gierung während  der  Debatten  um  den  Aldrichtarif  und 
wurden  —  da  das  Zollgesetz  bereits  zum  Senat  gelangt 
war  —  der  Finanzkommission  des  Senates  überwiesen. 
Aber  man  berichtet  mir  —  und  ich  habe  keinen  Grund, 
daran  zu  zweifeln  — ,  daß  sie  nie  mehr  den  Taubenschlag 

128 


der  Kommission  verließen.  Ich  weiß  es  nicht,  und  jene 
Kommission  weiß  es  nicht,  welcherart  die  eingegangenen 
Mitteilungen  waren.  Als  Herr  Aldrich  nach  ihnen  gefragt 
wurde,  sagte  er  zunächst,  es  sei  kein  amtlicher  Bericht 
der  deutschen  Regierung.  Später  behauptete  er,  es  sei  ein 
unverschämter  Versuch  der  deutschen  Regierung,  sich  in 
die  Zollgesetzgebung  der  Vereinigten  Staaten  einzumischen. 
Aber  niemals  verriet  er,  wie  jene  Herstellungskosten  be- 
schaffen waren,  die  in  jenen  Mitteilungen  dargelegt  wur- 
den. Wenn  er  es  getan  hätte,  hätte  sich  wahrscheinlich 
mehr  als  eine  Position  seines  Tarifes  als  ungerechtfertigt 
erwiesen. 

Solche  Beispiele  zeigen,  wo  der  Schwerpunkt  liegt,  — 
und  wirklich  ein  Schwerpunkt,  denn  es  handelt  sich  um 
sehr  schwerwiegende  Angelegenheiten.  Er  lag  während 
des  letzten  Kongresses  bei  jener  einzelnen  Persönlichkeit, 
die  als  Vermittler  zwischen  den  in  den  Vorzimmern  wirken- 
den interessierten  Fachleuten  und  der  Gesetzgebung  des 
Kongresses  wirkte.  Ich  sage  das  nicht,  um  Herrn  Aldrichs 
Charakter  herabzusetzen.  Es  geht  mich  nichts  an,  welche 
Art  Mensch  Herr  Aldrich  ist ;  und  besonders  jetzt,  da  er 
sich  aus  dem  öffentlichen  Leben  zurückgezogen  hat,  ist 
das  gleichgültig.  Die  Sache  ist  nur  die :  auf  Grund  seiner 
langen  Erfahrung  und  seiner  langjährigen  Beschäftigung 
mit  diesen  komplizierten  Spezialangelegenheiten  war  er 
die  gegebene  und  übliche  Mittelsperson,  durch  die  sich 
der  Kongreß  der  Vereinigten  Staaten  darüber  unterrichtete, 
welcher  Art  die  Wünsche,  nicht  etwa  des  amerikanischen 
Volkes  oder  der  gesamten  Geschäftswelt  waren,  sondern 
welche  Bedürfnisse  und  Argumente  jene  Fachleute  vor- 
brachten, die  herbeikamen,  um  die  Angelegenheiten  mit 
der  Kommission  ins  reine  zu  bringen.  Die  Geschäftswelt 
der  Vereinigten  Staaten  steht  nicht  als  ein  Ganzes  in  Füh- 
lung mit  der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten.  Sobald 

9  129 


das  der  Fall  sein  wird,  werden  alle  jene  Dinge,  die  heute 
das  amerikanische  Volk  mit  Recht  beunruhigen,  ver- 
schwinden. Sobald  die  Geschäftswelt  Amerikas  einen  all- 
gemeinen, freien  und  willkommenen  Zutritt  zu  den  Be- 
ratungen des  Kongresses  gewinnt,  werden  alle  Reibungs- 
flächen zwischen  Politik  und  Geschäft  verschwinden. 

Die  Tariffrage  ist  heute  nicht  mehr,  was  sie  vor  fünf- 
zehn oder  zwanzig  Jahren  gewesen  ist.  Die  Verteidiger  des 
Zolltarifs  pflegen  zu  sagen,  es  sei  sogar  einerlei,  ob  uns 
eine  große  Mauer  vom  Welthandel  trenne,  denn  innerhalb 
der  Vereinigten  Staaten  gäbe  es  ein  so  gewaltiges  Frei- 
handelsgebiet, daß  allein  die  Konkurrenz  im  eigenen 
Lande  die  Preise  auf  eine  normale  Höhe  herabdrücke.  Und 
man  macht  geltend :  solange  ein  Staat  mit  allen  anderen 
der  Union  konkurrieren  kann  und  alle  anderen  mit  ihm 
konkurrieren,  solange  könnten  nur  jene  Vorteile  errungen 
werden,  die  auf  das  überlegene  Gehirn,  die  überlegene 
Wirtschaftsführung,  das  bessere  Material  und  die  bessere 
Verwaltung  zurückgehen ;  das  seien  die  Kräfte,  die  Ame- 
rika stark  gemacht  und  die  Preise  niedergehalten  hätten, 
weil  amerikanischer  Geist  mit  amerikanischem  Geiste 
konkurriere.  Solange  das  zutraf,  gab  es  allerdings  sehr  viel 
zugunsten  des  Schutzzolles  anzuführen.  Allein  der  Schutz- 
zoll ist  von  einigen  wenigen  dazu  benutzt  worden,  um  die 
heimische  Konkurrenz  zu  vernichten,  um  alle  innerhalb 
unserer  Freihandelszone  wirkenden  Konkurrenten  zu- 
sammenzuschließen und  um  damit  neuen  Männern  das 
Emporkommen  unmöglich  zu  machen.  Unter  dem  Hoch- 
zoll wurde  ein  Netzwerk  von  Fabriken  geschaffen,  das 
in  seiner  Gesamtheit  den  Markt  Amerikas  beherrscht  und 
seine  eigenen  Preise  aufstellt.  Darum  ist  das,  was  einst 
diskutabel  war,  undiskutabel  geworden ;  nicht  der  Hoch- 
zoll rief  die  Erhöhung  der  Lebenskosten  hervor,  jene  gro- 
ßen Verbände  bestimmen  heute  —  nicht  durch  den  Tarif, 

130 


aber  durch  ihren  Zusammenschluß  unter  dem  Tarif  —  die 
Preise,  die  bezahlt  werden  sollen ;  sie  bestimmen,  wieviel 
produziert  werden  soll ;  und  sie  bestimmen  dazu  noch  den 
Arbeitsmarkt. 

Die  Politik  des  ,, Schutzzolles",  die  heute  verkündet 
wird,  hat  keine  Berührungspunkte  mehr  mit  der  vonWeb- 
ster  und  Clay  ursprünglich  aufgestellten  Theorie.  Die 
,, jungen  Industrien",  die  jene  Staatsmänner  ermutigen 
wollten,  sind  aufgewachsen  und  ergraut,  aber  für  beson- 
dere Vergünstigungen  wußten  sie  stets  neue  Gründe  zu 
entdecken.  Ihre  Ansprüche  sind  weit  über  das  hinausge- 
wachsen, was  sie  in  den  Tagen  Blaines  und  McKinleys  zu 
fordern  wagten,  obgleich  jene  beiden  Apostel  des  ,, Schutz- 
zolles" vor  ihrem  Tode  zu  dem  Geständnis  bereit  waren, 
daß  schon  damals  die  Zeit  gekommen  war,  den  Ansprü- 
chen der  unterstützten  Industrien  Halt  zu  gebieten.  Wil- 
liam McKinley  zeigte  vor  seinem  Ableben  Anzeichen  einer 
Anpassung  an  die  neue  Zeit,  wie  seine  Nachfolger  sie  nicht 
aufwiesen.  Man  kennt  McKinleys  letzte  Äußerungen  über 
jene  Politik,  die  mit  seinem  Namen  so  eng  verknüpft 
wurde,  die  Schutzzollpolitik.  Man  weiß,  wie  er  dem  bei- 
stimmte, was  Blaine  schon  vor  ihm  gesagt  hatte:  Wir 
hätten  dem  Lande  eine  Politik  auferlegt,  die  bei  allzu- 
strenger Innehaltung  sich  als  eine  Politik  der  Beschrän- 
kung erweise ;  und  wir  müßten  einer  Zeit  entgegensehen 
die  sehr  bald  kommen  müsse,  da  wir  mit  allen  Ländern 
der  Welt  in  gegenseitige  Handelsbeziehungen  treten  müß- 
ten. Das  war  nur  eine  andere  Ausdrucksweise  für  die  Not- 
wendigkeit, Starrheit  durch  Elastizität  und  geschlossene 
Häfen  durch  Handel  zu  ersetzen.  McKinley  sah,  was  seine 
Nachfolger  nicht  sahen.  Er  sah,  daß  wir  uns  selbst  eine 
Zwangsjacke  angelegt  hatten.  Wenn  ich  die  Schutzzoll- 
politik unseres  Landes  überblicke  und  sehe,  daß  es  die  spä- 
teren Erscheinungen  und  die   späteren  Gepflogenheiten 

9*  131 


jener  Politik  waren,  die  die  Trusts  und  die  Monopole  in  den 
Vereinigten  Staaten  aufbauten,  dann  mache  ich  im  Geiste 
folgende  Gegenüberstellung :  McKinley  hatte  bereits  gegen 
das,  was  er  voraussah,  seinen  Einspruch  erhoben ;  sein 
Nachfolger  sah,  was  McKinley  nur  vorausgeahnt  hatte: 
aber  er  handelte  nicht.  Sein  Nachfolger  sah  jene  höchst 
besonderen  Privilegien,  gegen  die  McKinley  mißtrauisch 
zu  werden  begonnen  hatte,  in  den  Händen  von  Männern, 
die  sie  erhalten  hatten,  um  für  sich  selbst  ein  Monopol 
aufzubauen,  dessen  Wirkung  es  war,  die  Freiheit  des  Un- 
ternehmungsgeistes mehr  und  mehr  zu  erschweren.  Ich 
bin  durchaus  überzeugt,  daß  McKinley  die  spätere  Entwick- 
lung jener  Politik,  mit  der  sein  Name  verkettet  blieb,  nicht 
gutgeheißen  hätte. 

Was  bedeutet  die  jetzige  Zollpolitik  den  Schutzzöll- 
nern ?  Es  ist  nicht  die  alte  Schutzpolitik,  die  ich  durchaus 
anerkennen  würde ;  sie  ist  eine  völlig  neue  Doktrin.  Wer 
sich  für  die  Geschichte  des  amerikanischen  Schutzzolles 
interessiert,  vergleiche  die  jüngsten  Programme  der  bei- 
den Schutzzollparteien  mit  der  alten  Doktrin.  Man  wird, 
je  gründlicher  man  in  die  Materie  eindringt,  durch  eine 
völlig  neue  Richtung  überrascht.  Die  neue  Doktrin  der 
Schutzzöllner  ist,  daß  der  Tarif  den  Unterschied  zwischen 
den  Herstellungskosten  in  Amerika  und  den  Herstellungs- 
kosten in  anderen  Ländern  darstellen  soll,  plus  eines  an- 
gemessenen Gewinnes  für  jene,  die  in  der  betreffenden  In- 
dustrie tätig  sind.  Hierin  liegt  das  Neue  der  jetzigen  Dok- 
trin des  Schutzzolles:  ,,plus  eines  angemessenen  Gewin- 
nes". Damit  wird  den  Männern,  die  zum  Kongreß  kom- 
men und  Vergünstigungen  verlangen,  offen  ein  Gewinn 
garantiert.  Die  alte  Idee  eines  SchutzzoUtarifes  ward  er- 
dacht, um  die  amerikanische  Industrie  lebendig  zu  er- 
halten und  dadurch  amerikanischer  Arbeit  Beschäftigung 
zu  gewährleisten.  Aber  die  Vergünstigungen  des  Schutz- 

132 


Zolles  sind  so  fortdauernd  geworden,  daß  folgendes  ein- 
trat: als  die  Leute  sahen,  daß  sie  ausländische  Konkur- 
renz nicht  mehr  zu  fürchten  hatten,  schlössen  sie  sich  zu 
großen  Interessenverbänden  zusammen.  Diese  Verbände 
umfassen  Fabriken  aller  Arten :  alte  Fabriken  und  neue 
Fabriken,  Fabriken  mit  veralteten  Maschinen  und  Fabri- 
ken mit  modernsten  technischen  Hilfsmitteln;  Fabriken, 
die  wirtschaftlich  sparsam  verwaltet  werden,  und  Fabri- 
ken, die  nicht  wirtschaftlich  geführt  werden ;  Fabriken, 
die  seit  langem  im  Besitz  einer  Familie  waren  und  vielleicht 
heruntergekommen  sind,  und  Fabriken,  die  über  die  jüng- 
sten technischen  Erfindungen  verfügen.  Sobald  der  Zu- 
sammenschluß zum  Interessenverband  durchgeführt  ist, 
werden  die  schlechter  arbeitenden  Fabriken  außer  Be- 
trieb gestellt.  Aber  die  für  sie  ausgegebenen  Aktien  sollen 
Dividenden  bezahlen.  Und  die  Regierung  der  Vereinigten 
Staaten  garantiert  einen  Gewinn  auf  Anlagen  in  Fabriken, 
die  vom  Markte  ausgeschieden  sind.  Sobald  jene  Verbände 
ein  Sinken  der  Preise  beobachten,  werden  die  Arbeitszeiten 
verkürzt,  die  Produktion  verkleinert,  die  Löhne  herabge- 
setzt, Leute  aus  ihren  Arbeitsstellen  entlassen  —  zu  wel- 
chem Zwecke  ?  Um  die  Preise  künstlich  auf  der  Höhe  zu  er- 
halten. Es  mag  eine  Zeit  gegeben  haben,  da  der  Zolltarif  die 
Preise  nicht  emportrieb,  aber  jene  Zeit  ist  dahin ;  der  Tarif 
wird  heute  von  den  großen  Verbänden  dazu  ausgenutzt, 
ihnen  die  Herrschaft  über  die  Preisgestaltung  zu  gewähr- 
leisten. Das  ist  nicht  zufällig  gekommen.  Es  ist  kein  Zu- 
fall gewesen,  daß  die  Preise  in  den  Vereinigten  Staaten 
schneller  stiegen  und  steigen  als  in  irgendwelchem  ande- 
ren Lande.  Der  Fluß,  der  uns  von  Canada  scheidet,  trennt 
uns  von  viel  niedrigeren  Kosten  des  Lebensunterhaltes, 
trotzdem  das  kanadische  Parlament  die  Einfuhr  mit  Zöl- 
len belegt. 

Aber  jene,  die  nicht  verstehen,  was  sich  in  den  Ver- 

133 


einigten  Staaten  abspielt,  rufen  :  ,,Ihr  werdet  das  Land  mit 
eurem  Freihandel  ruinieren."  Wer  sprach  von  Freihandel  ? 
Wer  schlägt  Freihandel  vor?  In  den  Vereinigten  Staaten 
kann  es  keinen  Freihandel  geben,  weil  die  Regierung  der 
Vereinigten  Staaten  bei  unserer  gegenwärtigen  Scheidung 
des  Besteuerungsfeldes  zwischen  der  Bundesverwaltung 
und  den  einzelnen  Staatsregierungen  notgedrungen  zum 
großen  Teil  von  den  Zöllen  erhalten  wird,  die  in  den  Häfen 
erhoben  werden.  Aber  ich  möchte  manche  Herren  fragen, 
ob  durch  die  besonderen  Tarifsätze,  die  sie  angehen,  in  den 
Häfen  sehr  viel  an  Zöllen  erhoben  wird.  Einige  der  Tarif- 
sätze sind  praktische  Verbotzölle  und  gewähren  keine  Zoll- 
einnahmen. Wer  in  Amerika  einen  importierten  Gegenstand 
kauft,  zahlt  der  Bundesregierung  in  Form  des  Einfuhrzolles 
einen  Anteil  am  Preise.  Aber  was  in  der  Regel  gekauft  wird, 
ist  nicht  ein  eingeführter,  sondern  ein  in  Amerika  hergestell- 
ter Gegenstand,  dessen  Preise  der  Fabrikant  bis  zu  einem 
Punkte  steigern  konnte,  der  dem  Preis  des  importierten 
Gegenstandes  plus  des  Zolles  gleich  ist  oder  ihn  übertrifft. 
Wer  nimmt  in  diesem  Fall  den  Zoll  ein  ?  Die  Regierung  ? 
Keineswegs.  Der  Fabrikant,  der  amerikanische  Fabrikant, 
der  da  sagt,  da  er  seine  Waren  nicht  so  billig  verkaufen 
kann  wie  der  ausländische  Fabrikant,  sollten  alle  guten 
Amerikaner  von  ihm  kaufen  und  ihm  für  dieses  Privileg 
eine  Steuer  auf  jeden  Artikel  entrichten.  Vielleicht  sollten 
wir  das.  Der  ursprüngliche  Gedanke  war,  daß  wir  damals, 
als  er  just  anfing  und  Unterstützung  brauchte,  von  ihm 
kaufen  sollten,  selbst  wenn  wir  einen  höheren  Preis  ent- 
richten mußten:  bis  er  auf  festen  Füßen  stände.  Heute 
aber  wird  verlangt,  daß  wir  von  ihm  kaufen  und  einen 
Preis  zahlen  sollen,  der  15  bis  120  Prozent  höher  ist  als 
der  Preis,  den  wir  einem  ausländischen  Fabrikanten  ent- 
richten müßten;  und  das  auch  dann,  wenn  das  hilfsbe- 
dürftige ,,Kind"  ein  bärtiger,  sechs  Fuß  hoher  Riese  ist. 

134 


Denn  er  trage  notgedrungen  höhere  Herstellungskosten 
als  irgendwer  im  Ausland.  Ich  weiß  nicht,  warum  deis  der 
Fall  sein  müßte.  Amerikanische  Arbeiter  pflegten  mehr 
und  bessere  Arbeit  zu  leisten  als  Ausländer,  so  daß  er  seine 
höheren  Löhne  mehr  als  aufwiegt  und  bei  jedem  Lohnsatz 
ein  gutes  Geschäft  bleibt. 

Wenn  wir  freilich  übereinkommen,  jedem  Mitbürger, 
der  Neigung  zu  irgendeinem  Geschäftszweige  hat,  für  den 
das  Land  nicht  besonders  geeignet  ist,  eine  Extravergü- 
tung für  jeden  Artikel  zu  gewähren,  den  er  hervorbringt,  — 
wenn  wir  diese  Extravergütung  so  hoch  bemessen,  daß  sie 
alle  Nachteile  ausgleicht,  unter  denen  er  aus  dem  einen 
oder  anderen  natürlichen  Grunde  arbeitet  —  wenn  wir  das 
wollen,  dann  können  wir  allerdings  unsere  Industrie  herr- 
lich vervielfältigen,  aber  wir  berauben  uns  dabei  selbst. 
Auf  solcher  Basis  können  wir  in  Connecticut  oder  Mi- 
chigan oder  sonstwo  meilenlange  Treibhäuser  errichten, 
in  denen  glückliche  amerikanische  Arbeiter  mit  gefüllten 
Speisekammern  Bananen  züchten  —  die  zum  Preise  von 
einem  viertel  Dollar  verkauft  würden.  Irgendeine  törichte 
Person,  ein  Demokrat,  könnte  zwar  schüchtern  darauf 
hinweisen,  Bananen  seien  ein  großer  Segen  für  die  All- 
gemeinheit, wenn  sie  aus  Jamaica  kämen  und  drei  Stück 
für  einen  Nickel  zu  haben  wären;  aber  welcher  patrioti- 
sche Bürger  würde  auch  nur  einen  Augenblick  auf  die  Ein- 
wände eines  Menschen  hören,  der  kein  Gefühl  für  die 
Pracht  und  Herrlichkeit  der  amerikanischen  Bananen- 
industrie hat  und  nicht  die  stolze  Bedeutung  der  Tatsache 
begreift,  daß  unser  Sternenbanner  über  den  größten  Ba- 
nanentreibhäusern der  Welt  weht! 

Aber  das  ist  nur  die  eine  Seite  der  Angelegenheit.  Der 
sogenannte  ,, Schutztarif"  ist  ein  Werkzeug  geworden,  um 
auf  Kosten  der  wirtschaftlichen  Lebenskraft  des  übrigen 
Landes  das  Anwachsen  besonderer  Industriegruppen  zu 

135 


fördern.  Was  jetzt  geschehen  soll,  ist  allerdings  eine  sehr 
praktische  Frage :  man  will  diese  Spezialprivilegien  ent- 
hüllen und  aus  dem  Tarif  herausschneiden.  Es  soll  auch 
nicht  eine  heimliche  Sondervergünstigung  in  den  die  Zölle 
betreffenden  Bestimmungen  bleiben,  die  beseitigt  werden 
kann,  ohne  jenen  Teil  des  Handels  zu  schädigen,  der  ge- 
sund und  angemessen  ist  und  den  wir  alle  gefördert  zu 
sehen  wünschen. 

Manche  Leute  sprechen,  als  seien  die  Tarifreformer, 
als  seien  die  Demokraten  nicht  Angehörige  des  amerika- 
nischen Volkes.  Ich  sprach  kürzlich  eine  Dame,  eine  nicht 
ältliche  Dame,  die  mir  mit  Stolz  erklärte :  ,,0,  ich  bin  stets 
Demokratin  gewesen,  seitdem  man  sie  mit  Hunden  hetzt." 
Und  aus  manchen  Äußerungen  könnte  man  wirklich 
schließen,  die  Demokraten  seien  Geächtete  und  hätten  kei- 
nen Teil  am  Leben  der  Vereinigten  Staaten.  Die  Demokra- 
ten stellen  fast  die  Hälfte  aller  Wähler  unseres  Landes  dar. 
Sie  arbeiten  in  allen  Unternehmungszweigen,  in  großen 
und  in  kleinen.  Es  gibt  keinen  Lebensweg  und  keinen  Be- 
ruf, wo  man  ihnen  nicht  begegnete ;  und  —  wie  eine  Zei- 
tung in  Philadelphia  neulich  witzig  bemerkte  —  sie  kön- 
nen keinen  wirtschaftlichen  Mord  verüben,  ohne  zugleich 
wirtschaftlich  Selbstmord  zu  begehen.  Will  man  sich 
vorstellen,  die  Hälfte  des  amerikanischen  Volkes  sei  im 
Begriffe,  die  ganzen  Grundlagen  unseres  Wirtschaftslebens 
zu  zerstören,  indem  sie  mit  blinder  Wut  über  die  Bestim- 
mungen des  Tarifs  herfällt  ?  Manche  dieser  Bestimmungen 
sind  so  zäh,  daß  sie  auch  einem  solchen  Ansturm  wider- 
stehen würden.  Aber  dieser  Ansturm  ist  nicht  beabsich- 
tigt, und  wer  das  behauptet,  hat  für  die  Situation  über- 
haupt kein  Verständnis.  Alles,  was  die  Tarifreformer  for- 
dern, ist:  die  Zahl  derer,  die  Vergünstigungen  genießen, 
soll  zahlreicher  sein,  als  sie  es  heute  ist.  Just  weil  ihrer 
so  viele  sind,  wissen  sie,  wie  viele  draußen  stehen.  Und  ich 

136 


möchte  es  aussprechen :  ebenso  viele  Republikaner  stehen 
draußen.  Das  einzige,  was  ich  gegen  meine  schutzzöllne- 
rischen  Mitbürger  einzuwenden  habe,  ist,  daß  sie  sich  so 
lange  täuschen  ließen.  Wer  kann  noch  davon  sprechen, 
daß  der  Schutzzoll  den  Arbeitern  zugute  komme,  ange- 
sichts der  Tatsachen,  die  kürzlich  in  Lawrence,  Massa- 
chussetts,  aufgedeckt  wurden,  wo  die  schlimmste  von  allen 
Bestimmungen  —  die  ,,K-Former*  —  dazu  beiträgt,  die 
Leute  bei  Löhnen  zu  erhalten,  von  denen  sie  nicht  leben 
können!  Es  ist  beweisbar,  daß  die  amerikanischen  Ar- 
beiter, die  in  ungeschützten  Industrien  arbeiten,  besser 
bezahlt  werden  als  jene,  die  in  den  ,, geschützten"  und 
jedenfalls  in  den  hervorragenden  Industrien  tätig  sind.  Die 
Bestimmung  über  Stahl  ist  für  alle,  die  Stahl  fabrizieren, 
recht  befriedigend;  aber  ist  sie  es  auch  für  jene,  die  den 
Stahl  mit  ihren  eigenen,  ermüdeten  Händen  herstellen? 
Weiß  man,  daß  es  Fabriken  gibt,  in  denen  Menschen  sie- 
ben Tage  in  der  Woche  täglich  12  Stunden  arbeiten  müs- 
sen und  in  den  365  mühseligen  Tagen  des  Jahres  nicht 
genug  verdienen,  um  ihre  Rechnungen  bezahlen  zu  kön- 
nen ?  Und  das  ist  einer  der  Riesen  unserer  Industrie,  eine 
der  Unternehmungen,  die  auf  Grund  dieses  Systems  zu  ge- 
waltigem Um.fang  angewachsen  sind.  Ach,  die  Fülle  der 
Winkelzüge  sinkt  zusammen,  und  unter  den  sinkenden 
Schleiern  beginnt  man  kleine  Gruppen  von  Menschen  wahr- 
zunehmen, die  die  herrschende  Partei  beherrschen  und 
durch  die  herrschende  Partei  die  Regierung  beherrschen, 
zugunsten  ihres  eigenen  Vorteils  und  nicht  zugunsten  des 
Vorteils  der  Vereinigten  Staaten. 

Man  lasse  mich  wiederholen :  es  kann  in  den  Vereinig- 
ten Staaten  keinen  Freihandel  geben,  solange  die  be- 
stehende Finanzpolitik  der  Bundesregierung  aufrecht  er- 
halten bleibt.  Die  Bundesregierung  hat  während  all  der 
Generationen,  die  uns  voraufgingen,  darauf  beharrt,  sich 

137 


hauptsächlich  durch  indirekte  statt  durch  direkte  Besteue- 
rung zu  erhalten.  Ich  wage  zu  sagen,  daß  wir  nie  eine  Zeit 
erleben  werden,  in  der  diese  Politik  in  einem  entscheiden- 
den Maße  geändert  werden  kann ;  und  es  gibt  keinen  De- 
mokraten von  Überlegung,  den  ich  kennte,  der  ein  Pro- 
gramm des  Freihandels  in  Betracht  zöge. 

Aber  was  wir  durchführen  wollen,  was  das  Repräsen- 
tantenhaus versuchte  und  von  neuem  versuchen  und  er- 
reichen wird,  das  ist  die  Ausrottung  des  Unkrautes  aus 
diesem  von  uns  angelegten  Garten.  Wir  haben  die  Wur- 
zeln unserer  Industrie  mit  dem  Dünger  des  Schutzzolles 
getränkt,  haben  ihr  Wachstum  durch  Politik  gefördert, 
aber  wir  haben  dann  sehen  müssen,  daß  die  Förderung 
sich  nicht  gleichmäßig  auf  den  ganzen  Garten  erstreckte ; 
einige  Gewächse,  die  jedermann  auf  den  ersten  Blick  er- 
kennt, haben  die  übrigen  so  überholt,  daß  die  anderen  in 
ihren  Schatten  verbannt  sind :  und  unter  dieser  lähmenden 
Beschattung  ist  es  den  Industrien  Amerikas  unmöglich  ge- 
worden, als  ein  Ganzes  zu  gedeihen.  Mit  anderen  Worten : 
Wir  haben  herausgefunden,  daß  das,  was  ein  Schutzver- 
fahren sein  will,  ein  System  der  Günstlingswirtschaft  ge- 
worden ist  und  daß  die  von  dieser  Politik  Begünstigten  auf 
Kosten  der  übrigen  emporblühten.  Nun  treten  wir  in  diesen 
Garten,  um  diese  Schäden  zu  beseitigen.  Wir  kommen,  um 
den  kleinen  Pflanzen  Licht  und  Luft  zu  schaffen,  auf  daß 
sie  wachsen  können.  Wir  wollen  jede  Wurzel  ausgraben, 
die  sich  so  weit  ausgebreitet  hat,  daß  sie  die  Nahrung  aus 
dem  Erdreich  der  anderen  Wurzeln  saugt.  Wir  wollen  dar- 
über wachen,  daß  der  Dünger  der  Intelligenz,  des  Erfin- 
dungsgeistes und  des  eigenen  Könnens  von  neuem  in  einer 
Gruppe  von  Industrien  angewandt  wird,  die  zu  erstarren 
drohen,  weil  sie  sich  zu  eng  zusammenzuschließen  streben. 
Die  Politik,  das  Land  von  dem  Beschränkungsgesetz  zu  be- 
freien, wird  ringsum  im  Lande  die  Zahl  der  Unternehmun- 

138 


gen  so  vielfältig  machen  und  so  vervielfältigen,  daß  der 
Absatz  sich  verbreitern  und  den  Wettbewerb  der  Arbeit 
steigern  wird.  Und  die  Sonne  wird  wieder  durch  die  Wolken 
scheinen,  wie  sie  einst  herabstrahlte  auf  die  freie,  unab- 
hängige Intelligenz  und  Tatkraft  eines  großen  Werkes. 

Einer  der  Anklagepunkte  gegen  den  sogenannten 
Schutzzolltarif  ist,  daß  er  die  Amerikaner  um  ihre  Unab- 
hängigkeit, ihren  Reichtum  und  ihr  Selbstvertrauen  ge- 
bracht hat.  Unsere  Industrie  ist  rückgratschwach,  feig  und 
von  Regierungshilfe  abhängig  geworden.  Wenn  ich  die  Ar- 
gumente einige  der  größten  Geschäftsleute  höre,  die  da 
geltend  machen,  mit  der  Beseitigung  des  Schutzzolles  wür- 
den sie  von  der  Weltkonkurrenz  überwunden  werden,  dann 
möchte  ich  mit  der  Frage  antworten :  wann  und  wo  ge- 
schah es  je,  daß  amerikanischer  Geist  sich  fürchtete,  ins 
Freie  zu  treten  und  den  Kampf  mit  der  Welt  aufzunehmen  ? 
Aber  sie  sagen :  ,, Setzt  uns  um  Gottes  willen  nicht  der  Ent- 
mutigung aus,  den  Preisen  aus  allen  Weltwinkeln  die 
Spitze  bieten  zu  sollen."  Wir  können  mit  jenen  Preisen 
konkurrieren.  Im  Ausland  wird  Stahl,  in  Amerika  herge- 
stellter Stahl,  in  seinen  mannigfachen  Formen  viel  billiger 
verkauft  als  in  Amerika.  Es  wird  vielen  schwer,  das  zu  be- 
greifen. In  New  York  haben  wir  eine  Kinderschule  ein- 
gerichtet. Man  nannte  sie  die  Schreckenskammer.  Wir 
stellten  dort  eine  Menge  Gegenstände  aus,  die  in  Amerika 
produziert  waren,  und  wir  versahen  sie  mit  den  Preisen, 
zu  denen  sie  im  Ausland  verkauft  werden.  Wenn  man  einer 
Frau  erzählt,  daß  sie  in  Mexiko  für  achtzehn  Dollar  eine 
Nähmaschine  kaufen  kann,  für  die  sie  in  den  Vereinigten 
Staaten  dreißig  Dollar  bezahlen  muß,  so  wird  sie  das  nicht 
beachten  oder  vergessen,  solange  man  sie  nicht  zu  der  Ma- 
schine führt  und  sie  ihr  mit  der  Preisnotierung  zeigt.  Mein 
verehrter  Freund  Senator  Gore  von  Oklahoma  machte  den 
interessanten  Vorschlag,  wir  sollten  ein  Gesetz  einführen, 

139 


auf  Grund  dessen  jedes  in  Amerika  verkaufte  Stück  Ware 
eine  Aufschrift  tragen  müßte,  auf  der  zwei  Preise  ange- 
geben werden:  der  Preis,  zu  dem  die  Ware  unter  dem 
Srhutzzollgesetz  verkauft  wird,  und  der  Preis,  zu  dem  sie 
verkauft  werden  könnte,  wenn  kein  Schutzzollgesetz  wäre. 
Dann,  meinte  der  Senator,  würde  die  Tariffrage  bald  ge- 
löst sein.  Er  verlangt  nicht,  daß  jene  große  Zahl  unserer 
Mitbürger,  die  mit  Überzeugung  an  den ,, Schutzzoll"  glau- 
ben, ihre  Meinung  opfern.  Er  schlägt  nur  vor,  daß  jeder, 
der  an  den  Schutzzoll  glaubt,  dafür  auch  bezahlt,  die  an- 
deren aber  nicht ;  wer  seinen  Beitrag  leisten  will,  dem  möge 
das  freistehen. 

Was  uns  übrige  anbetrifft,  so  naht  die  Zeit  heran,  da 
wir  diesen  Beitrag  nicht  mehr  zu  leisten  haben  werden. 
Das  amerikanische  Volk  hat  den  Willen,  unsere  Finanz- 
gesetzgebung von  allen  Sondervergünstigungen  und  Pri- 
vilegien zu  befreien,  besonders  von  jenen,  die  aus  dem  Zoll- 
tarif erwachsen.  Wir  haben  erkannt,  daß  der  Tarif  in  sei- 
ner jetzigen  Form  kein  Schutzsystem  ist,  sondern  ein  Ver- 
günstigungssystem, dessen  Vorteile  zu  oft  heimlich  und 
unterirdisch,  statt  offen  und  ehrlich  und  gesetzmäßig  ge- 
währt werden.  Und  diesem  Mißstande  wollen  wir  ein  Ende 
bereiten :  nicht  durch  überstürzte  und  drastische  Verände- 
rungen, sondern  durch  die  Aufnahme  eines  völlig  neuen 
Prinzipes  —  durch  die  Reformierung  des  ganzen  Zieles 
dieser  Art  von  Gesetzgebung.  Unsere  Zollgesetzgebung  soll 
fortan  nicht  private  Vorteile,  sondern  die  öffentliche  Wohl- 
fahrt und  die  allgemeine  Zweckmäßigkeit  zum  Ziele  ha- 
ben. Wir  wollen  unsere  Steuergesetze  nicht  wie  Leute  ma- 
chen, die  daraus  Vorteil  ziehen,  sondern  wie  Männer,  die 
einer  Nation  dienen.  Und  wir  werden  bei  jenen  Bestim- 
mungen einsetzen,  bei  denen  wir  Sonderprivilegien  im 
Spiele  finden.  Wir  kennen  diese  Bestimmungen ;  ihre  Ver- 
teidiger waren  freundlich  genug,  sie  selbst  aufzuzeigen, 

140 


Bei  der  Frage  des  Zolltarifs  wollen  wir  vor  allem  und  zu- 
erst die  Kehle  des  Kongresses  von  dem  würgenden  Griff  der 
Sonderinteressen  befreien.  Wir  haben  nicht  die  Absicht, 
die  Sonderinteressen  länger  in  den  Beratungszimmern  der 
Kommission  der  Mittel  und  Wege  im  Abgeordnetenhaus 
und  der  Finanzkommission  im  Senat  hausen  zu  lassen.  An 
jenen  Stätten  soll  das  Volk  der  Vereinigten  Staaten  zu 
Worte  kommen  und  vertreten  sein,  auf  daß  alles  im  Inter- 
esse der  Allgemeinheit  geschehe  und  nicht  im  Interesse  je- 
ner besonderen  Gruppen  von  Persönlichkeiten,  die  bereits 
die  Industrien  und  die  industrielle  Entwicklung  des  Lan- 
des beherrschen.  Denn  wie  klug,  wie  patriotisch  und  wie 
begabt  zum  Vorausahnen  der  richtigen  Handelsentwick- 
lung diese  Männer  auch  sein  mögen,  es  gibt  in  den  Ver- 
einigten Staaten  und  auch  in  keinem  anderen  Lande  irgend 
eine  Gruppe  von  Männern,  die  weise  genug  wären,  um  das 
Schicksal  eines  großen  Volkes  allein  in  ihre  Hände  gelegt 
zu  sehen.  Der  Handel  Amerikas  soll  befreit  und  unabhän- 
gig gemacht  werden. 


141 


Achtes  Kapitel 
Die  Trustfrage  und  der  freie  Wettbewerb 

Viele  Leute  behaupten  —  und  behaupten  es  seit  lan- 
gem — ,  Trusts  seien  unvermeidlich.  Ich  nehme  an,  daß 
sie  das  glauben.  Sie  behaupten  nicht,  Großbetrieb  sei  un- 
vermeidbar, sie  behaupten  nicht  einmal,  die  Herausbildung 
einer  Geschäftsorganisation,  die  sich  auf  Kooperation  größ- 
ten Maßstabes  gründet,  sei  für  unsere  Zeit  charakteristisch 
und  notwendig  als  eine  Folge  der  modernen  Zivilisations- 
formen entstanden.  Wir  würden  das  zugeben.  Aber  sie  be- 
haupten, jene  besondere  Art  von  großen  Korporationen, 
die  heute  unsere  wirtschaftliche  Entwicklung  beherrschen, 
seien  naturnotwendig  erstanden  und  unvermeidbar,  wir 
müßten  sie  daher  als  etwas  Unvermeidliches  hinnehmen 
und  durch  sie  unsere  Entwicklung  suchen.  Und  als  Bei- 
spiel verweist  man  auf  die  Eisenbahn.  Um  Gütertransport 
und  Verkehr  zu  ermöglichen,  waren  Eisenbahnen  unver- 
meidlich. Aber  Schienenwege  bleiben  dort,  wo  man  sie  er- 
baute. Eine  Eisenbahn  kann  nicht  nach  Gutdünken  ver- 
legt werden,  man  kann  nicht  einen  Teil  der  Strecke  sper- 
ren und  den  Betrieb  auf  der  ganzen  Linie  fortsetzen.  Das 
zählt  zu  jenen  Erscheinungen,  die  die  Nationalökonomen, 
jene  lästigen  Gesellen,  natürliche  Monopole  nennen ;  und 
das  aus  dem  Grunde,  weil  die  ganzen  Umstände  ihrer  Aus- 
nützungsf ähigkeit  so  starr  sind,  daß  wir  sie  nicht  umwan- 
deln können.  In  dieser  Richtung  bewegen  sich  auch  die 
Beispiele,  die  von  den  Vorkämpfern  der  modernen  Trusts 
gewählt  werden. 

142 


Die  Theorie,  nach  der  die  Trusts  aus  der  natürlichen 
Entwicklung  der  amerikanischen  Geschäftsverhältnisse 
hervorgingen,  ist  sehr  populär.  Sie  gipfelt  in  der  Behaup- 
tung, es  wäre  ein  Irrtum,  den  Vorgängen  zu  trotzen,  aus 
denen  die  Trusts  hervorgingen.  Denn  jene  Vorgänge  ge- 
hörten zum  Wesen  des  Geschäftslebens  unserer  Zeit :  darum 
bliebe  uns  nichts  anderes  übrig,  als  sie  als  unvermeidbare 
Einrichtungen  zu  betrachten  und  uns  mit  ihnen  abzufin- 
den, indem  wir  sie  regulierten. 

Dieser  Standpunkt  beruht  auf  einer  Verwirrung  des 
Denkens.  Die  Großorganisation  des  Handels  ist  zweifellos 
in  einem  weiten  Maße  notwendig  und  natürlich.  Die  Ent- 
wicklung des  Geschäftswesens  zu  großen  Maßstäben  und 
zum  Zusammenwirken  großen  Stils  ist  unvermeidlich; 
und  sie  ist  auch,  wie  ich  hinzufügen  möchte,  wahrschein- 
lich wünschenswert.  Aber  das  ist  etwas  ganz  anderes  als 
die  Entwicklung  von  Trusts.  Die  Trusts  sind  nicht  empor- 
gewachsen. Sie  wurden  künstlich  erzeugt.  Sie  wuchsen 
nicht  durch  natürliche  Vorgänge  zusammen,  sondern  sie 
wurden  durch  den  Willen,  durch  den  entschlossenen  Wil- 
len von  Männern  zusammengeschweißt,  die  in  der  Ge- 
schäftswelt mächtiger  als  ihre  Nachbarn  waren  und  ihre 
Machtstellung  gegen  Wettbewerb  sicherstellen  wollten. 

Die  Trusts  entstammen  nicht  den  Zeiten  industrieller 
Anfänge,  sie  sind  kein  Erzeugnis  jener  alten,  arbeitsamen 
Zeiten,  da  der  große  Weltteil,  auf  dem  wir  leben,  noch  un- 
erschlossen  war  und  die  junge  Nation  inmitten  älterer  und 
erfahrenerer  Wettbewerber  darum  kämpfte,  sich  selbst  zu 
finden  und  auf  eigenen  Füßen  zu  stehen.  Die  Trusts  ent- 
stammen einer  sehr  nahen  und  sehr  sophistischen  Zeit,  in 
der  die  Leute  wußten,  was  sie  wollten,  und  es  verstanden, 
die  Gunst  der  Regierung  zu  erlangen. 

Warft  ihr  je  einen  Blick  auf  die  Art,  in  der  Trusts  ge- 
macht wurden?  Sie  ist  in  einem  Sinn  sehr  natürlich:  in 

143 


demselben  Sinne,  in  dem  auch  menschliche  Habgier  natür- 
lich ist.  Bin  ich  nicht  tüchtig  genug,  meine  Konkurrenten 
zu  schlagen,  dann  werde  ich  dazu  neigen,  mich  mit  ihnen 
zu  verständigen.  ,,Laßt  uns  einander  nicht  die  Kehlen  ab- 
schneiden; schließen  wir  uns  zusammen.  Wir  setzen  die 
Produktion  fest,  bestimmen  damit  die  Preise :  und  wir  be- 
herrschen und  bestimmen  damit  den  Markt.  * '  Das  ist  durch- 
aus natürlich.  Das  geschah  immer,  seitdem  es  Freibeuterei 
gab.  Das  geschah  stets,  seitdem  Macht  dazu  benutzt  wurde, 
eine  Vorherrschaft  aufzurichten.  Der  Grund,  daß  die  Füh- 
rer der  Korporationen  danach  strebten,  den  Wettbewerb 
auszuschließen,  ist  der  Umstand,  daß  bei  freiem  Wett- 
bewerb Gehirn  und  Tüchtigkeit  Grundlage  der  Vorherr- 
schaft sind.  Jede  große  Korporation,  die  aus  berechtigten 
Geschäftstransaktionen  hervorging  und  durch  Sparsam- 
keit und  Tüchtigkeit  aufgebaut  wurde,  lasse  ich  als  natür- 
lich gelten  und  fürchte  sie  nicht,  wie  gewaltig  sie  auch  an- 
wachsen mag.  Denn  sie  kann  nur  dadurch  groß  bleiben, 
daß  sie  ihre  Arbeit  besser  als  andere  verrichtet.  Es  gibt 
eine  Grenze  des  Umfanges  —  und  jeder  Geschäftsmann 
unseres  Landes  weiß  das,  obgleich  manche  das  nicht  zu- 
geben — ,  mit  der  die  Grenze  der  Zweckmäßigkeit  und  der 
Leistungsfähigkeit  überschritten  wird  und  wo  die  Unbe- 
holfenheit und  die  Schwerfälligkeit  beginnen.  Man  kann 
die  Kombination  so  weit  ausdehnen,  daß  sie  sich  nicht 
mehr  zu  einem  einzelnen  System  zusammenschließen  läßt ; 
man  erhält  so  viele  Teile,  daß  sie  sich  nicht  mehr  zu  einer 
günstig  arbeitenden  Maschine  montieren  lassen.  Die 
Grenze  des  zweckmäßigen  Wirkens  ist  überschritten,  wird 
in  dem  natürlichen  Entwicklungsprozeß  oft  überschritten : 
und  sie  ist  in  der  künstlichen  und  gewaltsamen  Bildung 
von  Trusts  sehr  oft  überschritten  worden. 

Wie  entsteht  ein  Trust?  Einige  wenige  Männer  ,, grün- 
den" ihn,  sie  bringen  ihn  zustande  und  erhalten  für  ihre 

144 


Mühewaltung  gewaltige  Gebühren,  die  in  Form  von  Ak- 
tien oder  Anteilscheinen  dem  Unternehmen  aufgeladen 
werden.  Was  die  Gründer  geltend  machen,  ist  nicht  etwa, 
daß  jeder,  der  der  Kombination  beitritt,  sein  Geschäft  bes- 
ser führen  könne  als  vorher ;  sie  sagen :  wir  werden  euch 
in  unserem  Verbände  einen  Anteil  gewähren,  der  dreimal, 
viermal,  fünfmal  so  hoch  ist  wie  die  Summe,  die  ihr  er- 
halten würdet,  wenn  ihr  euer  Unternehmen  einem  ein- 
zelnen Mann  verkauftet,  der  gezwungen  wäre,  es  auf  einer 
ökonomischen  und  konkurrenzfähigen  Basis  weiterzu- 
führen. Wir  können  es  uns  leisten,  zu  so  hohem  Preise  zu 
kaufen,  weil  wir  jede  Konkurrenz  ausschließen.  Wir  kön- 
nen es  uns  leisten,  das  Aktienkapital  unserer  Korporation 
sechsmal  so  groß  zu  machen  als  es  sein  müßte  und  sich 
verzinsen  würde,  weil  niemand  die  Preise  anfechten  wird, 
die  wir  festsetzen. 

Ist  das  ein  gesundes  Geschäft?  Kann  das  als  unver- 
meidbar gelten  ?  Das  beruht  auf  nichts  als  auf  Macht.  Das 
beruht  nicht  auf  Tüchtigkeit.  Es  ist  kein  Wunder,  daß  die 
Trusts  nicht  in  dem  gleichen  Verhältnisse  vorwärts  kom- 
men wie  die  wenigen  Konkurrenten  in  jenen  Geschäfts- 
zweigen, die  Konkurrenten  noch  offen  stehen ;  die  Trusts 
kommen  unbehindert  nur  auf  jenem  Gebiete  vorwärts,  von 
dem  Wettbewerber  vollkommen  ausgeschlossen  sind.  Wer 
Zweifel  hegt,  lese  die  Statistik  des  amerikanischen  Stahl- 
trustes oder  die  Statistik  eines  jeden  Trustes.  Es  zeigt  sich, 
daß  sie  stets  vor  einem  Wettbewerb  Angst  haben  und  un- 
ausgesetzt neue  Konkurrenten  aufkaufen,  um  das  Feld 
einzuengen.  Der  amerikanische  Stahltrust  erlangt  auf  dem 
amerikanischen  Markte  nur  für  die  roheren  Eisen-  und 
Stahlerzeugnisse  die  Überlegenheit;  überall  aber,  wo  er, 
wie  auf  dem  Gebiete  der  fortgeschritteneren  Eisen-  und 
Stahlfabrikation,  größere  Konkurrenten  hat,  steigt  die  Pro- 
duktion des  Trustes  nicht,  sondern  geht  zurück  und  die 

10  145 


Konkurrenten  sind  dort,  wo  sie  die  Möglichkeit  haben, 
Fuß  zu  fassen,  oft  leistungsfähiger  als  der  Trust. 

Warum  ?  Wie  kommt  es,  daß  der  Trust  mit  seinem  un- 
beschränkten Kapital  und  seinen  zahllosen  Bergwerken 
und  Fabriken  in  allen  Teilen  der  Vereinigten  Staaten  nicht 
imstande  ist,  die  anderen  vom  Markte  zu  verdrängen  ?  Das 
erklärt  sich  zum  Teil  dadurch,  daß  der  Trust  zu  viel  Ballast 
mitschleppt  und  zu  schwerfällig  und  ungelenk  geworden 
ist.  Seine  Organisation  ist  unvollkommen.  Neben  leistungs- 
fähigen Fabriken  wurden  auch  leistungsunfähige  Fabri- 
ken aufgekauft.  Und  die  Summen,  die  man  dabei  bezahlte, 
müssen  als  Bürde  weitergeschleppt  werden  auch  wenn  es 
notwendig  wird,  einige  dieser  Fabriken  zu  schließen,  nur 
um  eine  Verzinsung  des  Kapitals  zu  erreichen ;  aber  Ver- 
zinsung des  ,, angelegten  Kapitals"  wäre  in  diesem  Fall 
ein  unzutreffender  Ausdruck,  man  muß  schon  von  der 
Verzinsung  einer  angeblichen  Kapitalanlage  sprechen.  Und 
so  sehen  wir  eine  Schar  schwerfälliger  Riesen,  die  unter 
der  Bürde  einer  unerträglichen  Last  daherstolpern  —  un- 
ter einer  Last,  die  sie  sich  selbst  aufgeladen  haben  — ,  und 
die  ratlos  umherschauen,  ob  am  Ende  nicht  ein  kleiner 
Zwerg  mit  einem  runden  Stein  in  der  Schleuder  daher- 
kommt und  sie  zu  Boden  streckt. 

Ich  möchte  diesem  Zwerge  die  Möglichkeit  geben,  her- 
vorzukommen. Und  ich  sehe  eine  Zeit,  in  der  die  Zwerge 
so  viel  rühriger,  so  viel  erfindungsreicher  und  so  viel  tä- 
tiger als  diese  Riesen  sind,  daß  die  Geschichte  von  Jack 
dem  Riesentöter  sich  vielleicht  oft  wiederholen  wird.  Man 
gebe  nur  einigen  jener  jungen  Männer,  die  ich  kenne,  eine 
Möglichkeit,  und  sie  werden  den  Männern  der  Trusts  harte 
Nüsse  zu  knacken  geben.  Man  leihe  ihnen  nur  ein  wenig 
Geld!  Heute  können  sie  es  nirgends  bekommen.  Man  sorge 
nur  dafür,  daß  sie  nicht  erdrückt  werden  können,  wenn 
sie  sich  einen  bestimmten  Markt  erobert  haben.  Man  gebe 

146 


ihnen  nur  die  Möglichkeit,  einen  Markt  zu  erobern,  und 
man  wird  sehen,  wie  sie  einen  anderen  und  dann  noch 
einen  anderen  dazu  erobern,  bis  jene  Riesen  mit  den  un- 
erträglichen Lasten  künstlicher  Bewertungen  erkennen, 
daß  sie  einen  festeren  Boden  suchen  müssen,  wenn  sie 
nicht  zusammenbrechen  wollen.  Ich  möchte  dem  kleinen 
Jack  die  Möglichkeit  geben,  sich  mit  dem  Riesen  zu  messen, 
und  wenn  Jack  soviel  Verstand  hat,  wie  einige  mir  in 
Amerika  bekannte  Jacks  ihn  besitzen,  dann  möchte  ich 
sehen,  wie  der  Riese  mit  ihm  fertig  werden  will,  der  Riese 
mit  der  Riesenlast,  unter  der  er  einherkeucht.  Denn  mit 
einem  wassersüchtigen  Riesen  will  ich  jederzeit  fertig 
werden,  wenn  man  mir  nur  einen  Kampfplatz  gewährt  und 
soviel  Vertrauen,  als  ich  verdiene ;  und  wenn  man  dem  Ge- 
setz die  Macht  gibt,  das  zu  tun,  was  man  seit  unvorgäng- 
lichen  Zeiten  von  dem  Gesetze  erwartete:  wenn  es  den 
Raum  zu  einem  ehrlichen  Wettkampf  absteckt. 

Ich  kenne  die  Trugschlüsse,  mit  der  man  die  Kapitali- 
sierung der  Erwerbskraft  verteidigt ;  und  es  gibt  ihrer  viele. 
Das  Argument  ist  fesselnd  und  bestechend  und  kann  auch 
bei  manchen  Beispielen  durchaus  rechtmäßig  vorgebracht 
werden.  Aber  es  gibt  eine  Grenzlinie,  bei  deren  Überschrei- 
tung man  nicht  mehr  die  Erwerbskraft  kapitalisiert,  son- 
dern nur  die  Beherrschung  des  Marktes  und  Gewinne,  die 
man  durch  diese  Herrschaft  und  nicht  durch  Leistungs- 
fähigkeit und  Sparsamkeit  erlangt.  Das  sind  Tatsachen, 
die  sich  keinem  Beobachter  mehr  verschließen.  Die  Un- 
schuldstage der  Gelehrten  sind  vorüber.  Sie  wissen,  was 
sich  vollzieht,  denn  wir  leben  in  einer  redseligen  Welt,  die 
von  Statistiken,  parlamentarischen  Enqueten  und  von  den 
Versuchen  derer  erfüllt  ist,  die  es  unternahmen,  auf  Grund 
der  Gesetze  der  Vereinigten  Staaten  unabhängig  zu  leben ; 
und  gar  viele  Dinge  sind  unter  Eid  ans  Licht  gekommen, 
die  wir  auf  Grund  der  Glaubwürdigkeit  der  Zeugen  nicht 

10*  147 


anzweifeln  können,  denn  diese  Zeugen  waren  oft  genug 
sehr  fähige  und  achtenswerte  Männer. 

Ich  stehe  auf  dem  Standpunkt,  den  jeder  fortschrittlich 
Gesinnte  einnehmen  sollte :  private  Monopole  nicht  zu 
verteidigen  und  nicht  zu  dulden.  Und  auf  diesem  Stand- 
punkt werde  ich  meinen  Kampf  durchfechten.  Denn  ich 
weiß,  wie  ich  zu  kämpfen  habe.  Jeder  Mann,  der  auch  nur 
die  Zeitungen  liest,  kennt  die  Mittel,  durch  die  die  Trusts 
ihre  Macht  schufen  und  ihre  Monopole  aufbauten.  Jeder 
halbwegs  kundige  Jurist  kann  euch  die  Bestimmungen 
nennen,  durch  die  alle  diese  Vorgänge  verhindert  werden 
können.  Was  die  Führer  der  Trusts  nicht  wollen,  ist  dies : 
sie  wollen  nicht  gezwungen  sein,  dem  Anfänger  auf  glei- 
chem Fuße  begegnen  zu  müssen.  Ich  wünsche  durch- 
aus, daß  sie  jeden  Konkurrenten  mit  ehrlichen  Mitteln 
schlagen;  aber  ich  kenne  auch  die  unzulässigen  Mittel, 
die  bisher  angewandt  wurden  und  v/eiß,  wie  sie  durch  das 
Gesetz  verhindert  werden  können.  Wenn  die  Trusts  allein 
auf  der  Basis  der  Tüchtigkeit  den  Markt  erobern,  wenn 
sie  sich  darauf  stützen,  daß  sie  ihre  Waren  besser  als  an- 
dere herstellen  und  billiger  als  andere  verkaufen  können, 
wenn  sie  glauben,  auf  dieser  Basis  die  gewaltigen  Massen 
toten  Ballastes,  die  sie  beim  Ankauf  aller  Konkurrenten 
sich  aufluden,  tragen  zu  können  —  dann  sind  sie  mir  voll- 
auf willkommen,  dann  können  sie  ihr  Glück  versuchen. 
Aber  der  Anfänger  darf  nicht  erdrosselt  und  erdrückt  wer- 
den, man  darf  seinen  Kredit  nicht  verkümmern;  es  darf 
keinen  Verruf  jener  Kleinhändler  geben,  die  von  einem 
Konkurrenten  kaufen;  es  darf  keine  Drohungen  gegen 
Verbände  geben,  die  einem  Konkurrenten  Rohmaterial 
verkaufen;  es  darf  keine  Entziehung  von  Rohmaterial 
geben  und  keine  geheimen  Abmachungen  gegen  den  klei- 
neren Wettbewerb.  Jedes  erdenkliche  Mittel  eines  ehr- 
lichen Wettbewerbs  ist  willkommen,  aber  kein  unehrliches 

148 


wird  zugelassen.  Und  dann,  wenn  jede  ungerechtfertigte 
Art  der  Konkurrenz  beseitigt  ist,  werden  wir  sehen,  wie 
die  Trusts  ihren  Ballast  zu  schleppen  vermögen.  Ich  ver- 
lange von  ihnen  nichts  weiter,  als  daß  sie  sich  auf  jenen 
Kampfplatz  wagen,  wo  Tüchtigkeit  gegen  Tüchtigkeit  und 
Verdienst  gegen  Verdienst  kämpft.  Wenn  sie  die  Leistungs- 
fähigkeit anderer  Amerikaner  überbieten,  dann  sind  sie 
die  Leistungsfähigeren. 

Aber  wenn  du  erfahren  willst,  was  Leistungsfähigkeit 
und  Klugheit  heute  ausrichten  können,  dann  versuche  es, 
bessere  und  billigere  Ware  auf  den  Markt  zu  bringen,  dann 
erlebe  es,  wie  man  dich  unterbietet,  noch  ehe  dein  Ab- 
nehmerkreis größer  geworden  ist  als  deine  Heimatstadt; 
dann  erlebe  es,  wie  vollkommen  unmöglich  es  dir  gemacht 
wird,  Fuß  zu  fassen.  Wenn  du  wissen  willst,  was  Erfin- 
dungsgeist vermag,  dann  mache  eine  Erfindung,  die  eine 
Verbesserung  der  vom  Trust  benutzten  Maschinen  be- 
deutet, und  versuche  dann,  ob  du  Geld  bekommen  kannst, 
um  deine  Maschine  herzustellen.  Du  wirst  es  vielleicht  er- 
leben, daß  die  Korporation  dir  etwas  für  dein  Patent  an- 
bietet —  um  es  sorgsam  in  einen  Kassenschrank  zu  ver- 
schließen und  die  alten  Maschinen  weiter  zu  benutzen; 
aber  daß  du  deine  Maschine  baust  und  fabrizierst,  wird 
man  dir  nicht  gestatten.  Ich  kenne  Männer,  die  das  ver- 
suchten, und  sie  konnten  kein  Geld  bekommen,  weil  die 
großen  Geldverleiher  unseres  Landes  mit  den  großen  Fa- 
brikanten unseres  Landes  ihre  Abmachungen  haben  und 
es  nicht  wünschen,  daß  ein  Außenseiter  in  das  Absatzgebiet 
eindringt  und  den  Absatz  stört. 

Man  macht  uns  sehr  schnell  zu  Außenseitern,  sogar  in 
bezug  auf  Dinge,  die  aus  den  Tiefen  der  Erde  kommen  und 
in  besonderem  Sinne  uns  gehören.  Gewisse  Monopole  habe 
eine  fast  vollkommene  Gewalt  über  die  Zufuhr  von  Roh- 
stoffen erlangt,  vor  allem  im  Bergbau,  von  dessen  Erzeug- 

149 


nissen  eine  lange  Reihe  von  Industrien  abhängen ;  und  sie 
machen  beim  Verkauf  des  Rohstoffes  nach  Belieben  Unter- 
schiede zwischen  den  Konkurrenten  des  Monopoles  und 
jenen,  die  sich  dem  Monopol  beugen.  Wir  müssen  bald 
dahin  kommen,  jenen,  die  über  dieses  der  Industrie  un- 
entbehrliche Material  verfügen,  zu  sagen,  daß  sie  das  un- 
entbehrliche Material  mit  der  gleichen  Bereitwilligkeit  und 
zu  den  gleichen  Bedingungen  an  alle  Bürger  der  Vereinig- 
ten Staaten  zu  verkaufen  haben.  Denn  sonst  würden  die 
Hilfsquellen  dieses  Landes  durch  die  private  Beherrschung 
der  Rohstoffproduktion  so  abgeschnürt,  daß  eine  unab- 
hängige Entv/icklung  vollkommen  unmöglich  würde. 

Eine  andere  Ungerechtigkeit,  die  sich  das  Monopol  zu- 
schulden kommen  läßt,  ist  folgende :  Trusts,  die  mit  jenen 
Halbprodukten  handeln,  die  erst  durch  eine  feinere  Fa- 
brikationsmethode zu  Gebrauchsgegenständen  umgeformt 
werden,  verkaufen  nur  auf  der  Basis  des  Monopols,  d.  h. : 
alle  Leute,  die  mit  dem  betreffenden  Trust  in  Geschäfts- 
verbindung stehen,  müssen  sich  verpflichten,  ihre  Roh- 
produkte ausschließlich  von  ihm  zu  kaufen.  So  wird  wie- 
derum die  Entwicklungsmöglichkeit  eingeschnürt,  ohne 
daß  es  möglich  ist,  diese  Fesseln  abzustreifen.  Zugleich 
sind  die  großen  Industriemonopole  in  ihren  persönlichen 
Beziehungen  mit  den  Verkehrsunternehmungen  des  Lan- 
des und  mit  den  großen  Eisenbahnen  so  eng  liiert,  daß  sie 
oft  auch  die  Festsetzung  der  Frachtsätze  bestimmen  kön- 
nen. 

Mit  dem  Volke  versteht  man  sehr  gewandt,  fertig  zu 
werden.  Man  weiß  natürlich,  daß  man  —  solange  unsere 
Handelskommission  nicht  völlig  schlaflos  ist  —  Fracht- 
rabatte erlangen  kann,  ohne  sie  Rabatt  zu  nennen.  Eines 
der  kompliziertesten  Studiumsgebiete,  die  ich  kenne,  ist 
die  Klassifizierung  der  Frachten  durch  die  Eisenbahnge- 
sellschaften. Wenn  ich  für  einen  besonderen  Artikel  einen 

150 


besonderen  Frachtsatz  haben  will,  brauche  ich  nichts  wei- 
ter zu  tun,  als  diesen  Artikel  bei  der  Klassifikation  der 
Frachtraten  in  eine  Spezialklasse  einordnen  zu  lassen,  und 
der  Zweck  ist  erreicht.  Wenn  man  sich  klarmacht,  daß 
beispielsweise  die  vierundzwanzig  Männer,  die  den  Stahl- 
trust der  Vereinigten  Staaten  beherrschen,  bei  fünfund- 
fünfzig Prozent  aller  Eisenbahnen  der  Union,  gerechnet 
nach  dem  Werte  der  Bahnen  in  der  Höhe  ihres  Aktien- 
kapitales und  ihrer  Obligationen,  Präsidenten  oder  Vize- 
präsidenten oder  Direktoren  sind,  dann  weiß  man,  wie  eng 
all  diese  Interessen  in  unserem  Industriesystem  ineinan- 
der verwoben  sind  und  wie  groß  die  Versuchung  ist.  Jene 
vierundzwanzig  Herren  verwalten  jene  Korporation,  als 
wäre  sie  ihr  Eigentum.  Das  Erstaunlichste  für  mich  aber 
ist,  daß  das  Volk  der  Vereinigten  Staaten  nicht  erkannte, 
daß  die  Verwaltung  eines  derartig  großen  Unternehmens 
keine  Privatangelegenheit  ist,  sondern  eine  öffentliche  An- 
gelegenheit. 

Man  hat  mir  oft  gesagt,  mein  Gedanke,  durch  Wieder- 
herstellung des  freien  Wettbewerbes  die  industrielle  Frei- 
heit wiederherzustellen,  beruhe  auf  einer  mangelhaften 
Beobachtung  der  wirklichen  Vorgänge  während  der  letzten 
Jahrzehnte ;  denn,  so  sagte  man,  gerade  der  freie  Wett- 
bewerb hat  es  den  Großen  ermöglicht,  die  Kleinen  zu  ver- 
nichten. Darauf  erwidere  ich  :  nicht  der  freie  Wettbewerb 
hat  das  ermöglicht,  sondern  der  unrechtmäßige  Wettbe- 
werb. Und  diese  Art  des  Wettbewerbes,  die  den  kleinen 
Mann  vernichtete,  soll  und  kann  das  Gesetz  verhindern. 
Man  weiß,  wie  der  kleine  Geschäftstreibende  von  den 
Trusts  vernichtet  wird.  Er  schafft  sich  ein  kleines  Absatz- 
gebiet. Die  großen  Korporationen  drängen  sich  ein  und 
unterbieten  ihn  auf  seinem  heimischen  Markte,  dem  ein- 
zigen, den  er  besitzt ;  und  wenn  er  hier  nichts  mehr  ver- 
dienen kann,  ist  er  vernichtet.  Die  großen  Verbände  aber, 

151 


die  ihn  auf  seinem  heimischen  Markte  unterbieten,  können 
zu  gleicher  Zeit  in  den  übrigen  Teilen  der  Union  verdienen 
und  sich  dadurch  schadlos  halten.  Auf  diese  Weise  wird 
es  möglich,  wo  immer  Konkurrenten  sich  zu  zeigen  wa- 
gen, die  Wettbewerber  einen  nach  dem  anderen  lahm  zu 
legen.  Und  da  die  kleinen  Wettbewerber  stets  vereinzelt  auf- 
tauchen, können  die  großen  Verbände  dafür  sorgen,  daß  sie 
ein  breiteres  Absatzgebiet  nicht  erlangen.  Irgendwo  mußt 
du  anfangen.  Du  kannst  nicht  im  freien  Weltenraum  begin- 
nen, du  mußt  in  irgendeinem  Gemeinwesen  beginnen.  Deine 
Abnehmer  werden  zunächst  deine  Nachbarn  und  deine  Be- 
kannten sein.  Aber  solange  du  über  kein  unbeschränktes 
Kapital  verfügst,  das  du  natürlich  nicht  besitzt,  wenn  du 
ein  Anfänger  bist,  oder  solange  du  nicht  unbeschränkten 
Kredit  erlangst,  was  jene  Männer  zu  verhindern  wissen, 
können  sie  dich  jederzeit  auf  deinem  heimischen  Absatz- 
gebiete lahmlegen,  und  das  genau  nach  demselben  Grund- 
satz, nach  dem  sie  die  organisierte  Arbeiterschaft  über- 
winden ;  denn  sie  können  auf  deinem  Markte  mit  Verlust 
verkaufen,  weil  sie  auf  allen  anderen  Märkten  mit  Gewinn 
verkaufen ;  und  sie  können  die  Verluste  durch  die  Gewinne 
wieder  ausgleichen,  die  sie  dort  erzielen,  wo  sie  andere 
Wettbewerber  schon  vernichtet  und  ausgeschaltet  haben. 
Wenn  immer  aber  ein  Konkurrent,  der  Glück  und  viel  Ka- 
pital hat,  auf  dem  allgemeinen  Markt  erscheint,  dann  muß 
der  Trust  ihn  aufkaufen  und  drei-  oder  viermal  so  viel  be- 
zahlen, als  das  Unternehmen  wert  ist.  Nach  dem  Ankauf 
müssen  die  Zinsen  für  jene  Summe  aufgebracht  werden, 
die  für  das  Unternehmen  bezahlt  wurde.  Und  um  diese 
Zinsen  für  das  zu  dem  Ankauf  geliehene  Kapital,  die  Ak- 
tien und  Obligationen,  zu  erlangen,  muß  das  Volk  durch 
höhere  Preise  die  Steuer  entrichten.  Aus  diesem  Grunde 
sind  die  großen  Trusts  und  die  großen  Kombinationen  in 
Amerika  die  verschwenderischste  und  unökonomischste 

152 


Art  der  Industrieführung ;  und  wenn  sie  einen  gewissen 
Umfang  überschreiten,  erreichen  sie  auch  die  geringere 
Leistungsfähigkeit. 

Ein  bemerkenswertes  Beispiel  bleibt  die  Art,  in  derHerr 
Carnegie  von  dem  Stahltrust  aufgekauft  wurde.  Herr  Car- 
negie konnte  bessere  Fabriken  und  bessere  und  billigere 
Stahlschienen  herstellen  als  irgendeiner  jener  Leute,  aus 
denen  später  die  United  States  Steel  Corporation  hervor- 
ging. Man  wagte  es  nicht,  ihn  außerhalb  der  Interessen- 
gemeinschaft zu  lassen.  Er  besaß  eine  so  gefährliche  Fähig- 
keit, die  besten  Fabrikationsmethoden  ausfindig  zu  ma- 
chen; er  besaß  eine  so  große  Menschenkenntnis  und  Er- 
fahrung bei  der  Auswahl  seiner  tüchtigsten  Mitarbeiter ; 
er  wußte  so  genau,  wann  ein  junger  Mann,  der  in  sein 
Unternehmen  eingetreten  war,  zur  Beförderung  geeignet 
und  dazu  reif  war,  die  Leitung  irgendeines  Zweigunter- 
nehmens zu  übernehmen,  und  er  wußte  so  sicher,  daß  der 
ausgewählte  Mann  sich  bewähren  würde,  daß  er  aus- 
nahmslos alle  Konkurrenten  in  Stahlschienen  unterbieten 
konnte.  Und  so  kaufte  man  ihn  auf,  kaufte  ihn  zu  einem 
Preise,  der  dreimal  oder  viermal,  —  ich  glaube  sogar  fünf- 
mal —  so  hoch  war  wie  der  Schätzungswert  seines  Besitz- 
tums und  seines  Geschäftes;  und  man  tat  das,  weil  man 
ihn  im  freien  Wettbewerb  nicht  schlagen  konnte.  In  den 
Preisen  aber,  die  man  fortan  für  die  Stahlprodukte  for- 
derte, die  Fabrikate  der  Carnegieschen  Fabriken  einge- 
schlossen, mußten  wir  die  Zinsen  für  die  vier-  oder  fünf- 
fache Differenz  aufbringen. 

Das  ist  der  Unterschied  zwischen  einem  großen  Ge- 
schäft und  einem  Trust.  Ein  Trust  ist  eine  Einrichtung  zum 
Zwecke  der  Beseitigung  der  Konkurrenz ;  und  ein  großes 
Geschäft  ist  ein  Unternehmen,  das  die  Konkurrenz  über- 
dauert, indem  es  auf  dem  Gebiete  der  Tüchtigkeit  und  der 
Sparsamkeit  siegte.  Ein  Trust  bereichert  nicht  die  Leistungs- 

153 


fähigkeit  des  Handels :  er  kauft  die  Leistungsfähigkeit  auf. 
Ich  bin  für  große  Geschäfte  und  gegen  Trusts.  Vor  jedem 
Manne,  der  durch  seine  Tüchtigkeit  besteht,  vor  jedem, 
der  den  anderen  aus  dem  Felde  schlagen  kann,  weil  er  seine 
Fabrikate  den  Konsumenten  billiger  liefern  kann  und  zu- 
gleich ihren  Gebrauchswert  und  ihre  Qualität  zu  verbes- 
sern vermag,  vor  jedem  Manne,  der  das  vermag,  ziehe 
auch  ich  den  Hut  und  sage:  ,,Du  bist  der  Mann,  der  die 
Vereinigten  Staaten  in  die  Höhe  bringen  kann,  und  ich 
wollte,  es  gäbe  noch  mehr  von  deiner  Art."  Aber  mehr 
von  dieser  Art  wird  es  nicht  geben,  solange  nicht  ein 
Mittel  gefunden  wird,  Monopole  zu  verhindern.  Es  liegt 
auf  der  Hand,  daß  ein  Trustunternehmen,  das  unter  der 
Last  einer  viel  zu  hohen  Kapitalisierung  einherkeucht, 
kein  Unternehmen  ist,  das  es  sich  leisten  kann,  Konkur- 
renz zuzulassen.  Denn  in  dem  Augenblick,  da  ein  ratio- 
nell geführtes  Unternehmen,  ein  Unternehmen,  dessen 
Kapital  bis  zum  letzten  Heller  arbeitet,  am  Markte  auf- 
taucht und  den  Wettbewerb  mit  einem  überbürdeten  Trust 
aufnimmt,  wird  es  unvermeidlich  den  Trust  schlagen 
und  unterbieten;  und  darum  liegt  es  im  Interesse  des 
Trusts,  das  Monopol  aufrecht  zu  erhalten.  Seine  Führer 
vermögen  die  Absatzgebiete  der  Welt  auf  keine  andere 
Weise  als  auf  dem  Wege  des  Monopols  zu  beherrschen  und 
zu  behaupten.  Und  darum  ist  es  auch  nicht  erstaunlich, 
wenn  sie  heute  die  Begründusg  einer  neuen  Partei  unter- 
stützen, die  ein  schönes  Programm  wohlwollender  Für- 
sorge aufstellt,  aber  zugleich  das  Monopol  auf  eine  den 
Trusts  erträgliche  Weise  gelten  läßt. 

Wir  müssen  unsere  Aufmerksamkeit,  ob  wir  das  nun 
wollen  oder  nicht,  noch  auf  einen  anderen  Gegenstand 
richten.  Ich  nehme  diese  Dinge  nicht  darum  in  den  Mund, 
weil  sie  etwa  meinem  Gaumen  behagen;  und  ich  erörtere 
sie  auch  nicht  mit  dem  Wunsche,  irgendwen  anzugreifen 

154 


oder  Dinge  umzustürzen ;  ich  spreche  von  ihnen,  weil  wir 
uns  nur  durch  eine  offene  Aussprache  über  die  Lage  der 
Dinge  klar  werden  können.  Aus  einer  nicht  weit  zurück- 
liegenden Untersuchung  ersehen  wir,  daß  die  Dinge  sich 
wie  folgt  abspielen.  Eine  gewisse  Bank  legt  Kapital  in  ge- 
wissen Aktien  an.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  mit  der  Über- 
nahme dieser  Aktien  ein  Interesse  sehr  eng  verknüpft  ist, 
die  Preise  gewisser  Artikel  aufrecht  zu  erhalten.  Niemand 
sollte  und  unter  normalen  Verhältnissen  würde  auch  nie- 
mand einen  Augenblick  daran  denken,  gegen  die  Leiter  einer 
großen  Bank  den  Verdacht  zu  hegen,  daß  sie  eine  solche 
Kapitalsanlage  unternehmen,  um  die  Erhaltung  der  Markt- 
preise jenen  zu  ermöglichen,  die  in  den  Vereinigten  Staaten 
einen  bestimmten  Geschäftszweig  betreiben ;  aber  die  Ver- 
hältnisse sind  nicht  normal.  Man  beginnt  zu  glauben,  daß 
im  Großhandel  unseres  Landes  nichts  von  etwas  anderem 
unabhängig  ist.  Ich  beziehe  mich  nicht  auf  das  Beispiel, 
das  ich  erwähnte,  und  ich  möchte  auch  nicht  auf  bestimmte 
Fälle  exemplifizieren,  denn  das  wäre  ungerecht ;  aber  man 
nehme  jede  Anlage  industriellen  Charakters,  die  eine  Bank 
unternimmt.  Es  ist  bekannt,  daß  der  Direktorenstab  dieser 
Bank  persönlich  mit  zehn,  zwanzig,  dreißig,  vierzig,  fünfzig, 
sechzig  Verwaltungsräten  aller  Arten  verknüpft  ist ;  mit  den 
Verwaltungsräten  von  Eisenbahnen,  die  Waren  befördern, 
mit  denen  großer  Fabrikantengruppen,  die  Waren  erzeu- 
gen, und  mit  den  großen  Kaufleuten,  die  Waren  vertrei- 
ben ;  und  die  Folge  ist,  daß  jede  große  Bank  Gefahr  läuft, 
die  Motive  ihrer  Kapitalsanlagen  verdächtigt  zu  sehen. 
Man  hält  es  zumindest  für  möglich,  daß  sie  im  Interesse 
von  irgendwem  handelt,  der  mit  dem  Bankwesen  nichts 
zu  tun  hat,  mit  dem  aber  einige  der  Bankdirektoren  ge- 
meinsame oder  benachbarte  Interessen  haben.  Kurz :  die 
Beunruhigung  und  Besorgtheit  des  Publikums  erwächst 
aus  der  zunehmenden  Erkenntnis,  daß  viele  große  Unter- 

155 


nehmungen  miteinander  verwoben  sind  und  in  ihrem 
Personal  voneinander  nicht  mehr  zu  unterscheiden  sind. 
Wenn  daher  eine  kleine  Gruppe  von  Männern  an  den 
Kongreß  herantritt,  um  die  zuständige  Kommission  zu 
veranlassen,  gewisse  Gesetze  zu  revidieren  oder  zu  ver- 
ändern, dann  kann  niemand  die  Verzweigungen  und  Ver- 
kettungen der  von  diesen  Männern  vertretenen  Interessen 
überblicken.  Und  daher  scheint  es  in  den  öffentlichen  Be- 
ratungen kein  ehrliches  und  freimütiges  Walten  der  öf- 
fentlichen Meinung  zu  geben ;  jeder  einzelne  steht  in  dem 
Verdachte,  irgendeinen  anderen  zu  vertreten,  und  niemand 
weiß,  wo  seine  Verbindungen  anfangen  und  wo  sie  auf- 
hören. Glückliche  Umstände  gaben  mir  Gelegenheit,  die 
Art,  in  der  solche  Dinge  entstehen,  kennen  zu  lernen,  ohne 
mit  ihnen  verknüpft  zu  sein,  und  ich  glaube  nicht,  daß  ir- 
gendwer dieses  System  mit  bestimmter  Absicht  ersonnen 
hat.  Ich  bin  nicht  so  unwissend  oder  schlecht  unterrichtet, 
als  daß  ich  annähme,  es  gäbe  irgendwo  eine  vorsätzliche 
und  böswillige  Kombination  zur  Beherrschung  der  Regie- 
rung der  Vereinigten  Staaten.  Ich  sage  nur,  daß  durch  ge- 
wisse heute  allgemein  bekannte  und  an  sich  vielleicht  be- 
greifliche Prozesse  ein  außergewöhnlicher  und  sehr  ver- 
derblicher Zusammenschluß  in  der  Führung  unserer  An- 
gelegenheiten die  Herrschaft  erlangt  hat. 

Wie  das  auch  gekommen  sein  mag,  wichtiger  ist  noch, 
daß  die  Macht  der  Kreditgewährung  gefährlich  zentrali- 
siert ist.  Es  entspricht  nur  der  Wahrheit,  wenn  man  sagt, 
daß  die  finanziellen  Hilfsmittel  des  Landes  jenen  nicht  zur 
Verfügung  stehen,  die  sich  nicht  der  Leitung  und  der  Herr- 
schaft jener  kleiner  Kapitalistengruppen  fügen,  die  die 
wirtschaftliche  Entwicklung  des  Landes  beaufsichtigen  und 
führen  wollen.  Das  größte  Monopol  in  diesem  Lande  ist  das 
Monopol  der  großen  Kredite.  Solange  es  fortbesteht,  kann 
von  unserer  alten  Vielseitigkeit  und  Freiheit  und  indivi- 

156 


dueller  Tatkraft  der  Entwicklung  nicht  die  Rede  sein.  Eine 
große  Industrienation  wird  durch  ihr  Kreditsystem  be- 
stimmt. Unser  Kreditsystem  konzentriert  sich  auf  die 
Hände  weniger  Männer.  Infolgedessen  liegt  das  Wachstum 
der  Nation  und  all  unser  Wirken  in  den  Händen  weniger 
Leute,  die  notgedrungen — wie  ehrlich  und  dem  Allgemein- 
wohl zugewandt  ihre  Absichten  auch  sein  mögen  —  ihr 
Interesse  auf  jene  großen  Unternehmungen  konzentrieren, 
in  denen  ihr  Geld  angelegt  ist ;  und  damit  müssen  sie  not- 
gedrungen, auf  Grund  ihrer  eigenen  Abhängigkeit,  die  wirk- 
liche wirtschaftliche  Freiheit  beengen  und  vernichten.  Das 
ist  die  wichtigste  von  allen  Fragen,  und  ihr  müssen  sich 
die  Staatsleute  mit  dem  ernsten  Willen  widmen,  der  fernen 
Zukunft  und  der  wahren  Freiheit  der  Menschheit  zu  dienen. 
Der  Geldtrust,  oder  richtiger  gesagt,  der  Kredittrust, 
mit  dessen  Untersuchung  der  Kongreß  begonnen  hat,  ist 
kein  Mythus  und  kein  Wahngebilde  der  Phantasie.  Er  ist 
ein  gewöhnlicher  Trust  wie  jeder  andere.  Er  macht  nicht 
täglich  Geschäfte.  Er  macht  nur  Geschäfte,  wenn  die  Ge- 
legenheit dazu  kommt.  Du  kannst  bisweilen,  solange  er 
nicht  auf  der  Hut  ist,  etwas  Größeres  unternehmen ;  aber 
wenn  er  auf  der  Hut  ist,  kannst  du  nicht  viel  erreichen. 
Ich  habe  es  mitangesehen,  wie  Menschen  durch  diesen  Kre- 
dittrust erdrosselt  wurden ;  ich  habe  Leute  gesehen,  die, 
wie  sie  es  selbst  nannten,  ,, durch  Wallstreet  aus  dem  Ge- 
schäftsleben hinausgesetzt  wurden",  weil  Wallstreet  sie  als 
unbequem  empfand  und  ihre  Konkurrenz  nicht  wünschte. 
Dabei  möchte  ich  betonen,  daß  ich  die  Motive  der  Männer 
vom  Wallstreet  nicht  anzweifle.  Sie  glauben,  dies  sei  der 
beste  Weg,  für  den  Wohlstand  des  Landes  zu  sorgen.  Wenn 
du  die  Herrschaft  über  den  Markt  in  der  Hand  hältst,  zwingt 
dich  dann  die  Ehrlichkeit,  die  Hand  zu  öffnen  und  zu 
leeren?  Wenn  du  den  Markt  in  der  Hand  hast  und  über- 
zeugt bist,  besser  als  irgendwer  das  Wohl  des  Landes  zu 

157 


ermessen,  ist  es  dann  patriotisch,  deinen  Einfluß  zu  zer- 
stören? Ich  kann  mir  vorstellen,  daß  jene  Männer  sich 
selbst  diese  Gründe  vorhalten. 

Die  größte  Gefahr  für  unser  Land  ist  nicht  die  Existenz 
dieser  einzelnen  großen  Korporationen  —  wie  groß  diese 
Gefahr  auch  sein  mag ;  die  große  Gefahr  ist  die  Korpora- 
tion der  Korporationen,  die  Zusammenschließung  aller 
Verbände,  der  Verknüpfung  der  Eisenbahnen,  der  Indu- 
strieunternehmungen, der  großen  Bergwerke  und  der  gro- 
ßen Unternehmungen  zur  Entwicklung  der  natürlichen 
Wasserkräfte.  Durch  die  Persönlichkeiten  ihrer  Direktoren 
und  durch  die  Angehörigen  einer  langen  Reihe  von  Ver- 
waltungsräten werden  sie  zu  einer  ,, Interessengemein- 
schaft**, die  gewaltiger  ist  als  jede  denkbare  einzelne  Kor- 
poration, die  offen  zutage  tritt. 

Die  Organisation  des  Geschäftslebens  hat  sich  in  Ame- 
rika stärker,  viel  stärker  zentralisiert  als  die  politische  Or- 
ganisation des  Landes.  Es  gibt  Verbände,  die  sich  über  grö- 
ßere Gebiete  als  einzelne  Staaten  erstrecken;  sie  unter- 
stehen einer  größeren  Vielfalt  von  Gesetzen  als  der  Bürger 
selbst,  überbieten  ganze  Staaten  mit  ihren  Budgets  und  er- 
scheinen in  ihrem  Einfluß  auf  Leben  und  Wohlergehen  gan- 
zer Menschengemeinschaften  größer  als  Staatsverbände. 
Das  zentralisierte  Geschäftsleben  hat  gewaltige  Bauten  der 
Organisation  aufgetürmt,  die  alle  Staaten  überspannen  und 
an  Weite  des  Umkreises,  die  Bundesregierung  der  Ver- 
einigten Staaten  ausgenommen,  ihresgleichen  nicht  haben. 

Was  zu  vollbringen  bleibt  —  und  es  ist  eine  gewaltige 
Aufgabe,  die  nicht  ohne  Überlegung  und  die  nicht  leichten 
Sinnes  unternommen  werden  kann  —  ist  die  Entwirrung 
dieser  gewaltigen  ,,Interessengemeinschaft".  Welche  Wege 
wir  auch  bei  der  Behandlung  der  einzelnen  auf  die  Be- 
schränkung der  Handelsfreiheit  hinwirkenden  Korporatio- 
nen einschlagen  werden :  es  gibt  keine  einzelne  erklärte 

IS» 


Kombination,  die  groß  genug  sein  könnte,  um  den  Ver- 
einigten Staaten  Schrecken  einzuflößen;  aber  wenn  alle 
Korporationen  sich  verbinden  und  wenn  die  daraus  empor- 
wachsende Kombination  keinem  Gesetze  faßbar  wird,  wenn 
sie  nichts  weiter  als  eine  Identität  von  Personen  oder  Inter- 
essen ist,  dann  steht  man  vor  etwas,  das  selbst  die  Regie- 
rung der  Nation  Furcht  lehren  kann.  Und  dieses  Etwas 
muß  das  Gesetz  auseinanderlegen  und  vorsichtig  aber  ent- 
schlossen und  zäh  trennen. 

Der  Chemiker  unterscheidet  bekanntlich  zwischen 
einer  chemischen  Verbindung  und  einem  Amalgam.  Eine 
chemische  Verbindung  hat  etwas  vollbracht,  was  ich  wis- 
senschaftlich nicht  beschreiben  kann,  aber  ihre  Moleküle 
sind  eng  miteinander  verschmolzen,  sie  sind  eins  gewor- 
den. Ein  Amalgam  aber  stellt  eine  nur  durch  körperlichen, 
durch  äußeren  Druck  erzeugte  Vereinigung  dar.  Dieser 
nur  körperliche  Kontakt  aber  läßt  sich  beseitigen,  ohne  die 
einzelnen  Elemente  zu  verletzen;  und  diese  ,, Interessen- 
gemeinschaft", von  der  wir  sprachen,  ist  ein  Amalgam; 
du  kannst  sie  lösen,  ohne  irgendeines  der  beteiligten 
Interessen  zu  verletzen.  Nicht,  daß  ich  besonders  zartfüh- 
lend gegenüber  manchen  dieser  vereinigten  Interessen 
wäre  —  ich  stehe  nicht  unter  dem  Zwang,  übertrieben  höf- 
lich gegen  sie  zu  sein  —  aber  ich  bin  um  das  Geschäfts- 
leben des  Landes  besorgt,  und  ich  glaube  daran,  daß  dessen 
Unantastbarkeit  von  dieser  Trennung  und  Auflösung  ab- 
hängig ist.  Ich  glaube  nicht,  daß  irgendeine  Gruppe  von 
Männern  genug  Einblick  und  genug  Genie  hat,  um  zu  be- 
stimmen, wie  die  Entwicklung  der  Möglichkeiten  und  wie 
die  künftigen  Leistungen  dieses  Landes  beschaffen  sein 
sollen. 

Die  Lage  läßt  sich  wie  folgt  zusammenfassen :  eine  ver- 
hältnismäßig kleine  Zahl  von  Männern  hat  die  Herrschaft 
über  die  Rohstoffe  Amerikas ;  eine  verhältnismäßig  kleine 

150 


Zahl  von  Männern  hat  die  Herrschaft  über  die  Wasser- 
kräfte, die  einer  ökonomischen  Erzeugung  von  Kraft 
zum  Antrieb  unserer  Maschinen  nutzbar  gemacht  werden 
könnten ;  und  dieselbe  Zahl  von  Männern  beherrscht  zum 
größten  Teil  die  Eisenbahnen ;  durch  Vereinbarungen, 
die  sie  untereinander  schließen,  beherrschen  sie  die  Preis- 
gestaltung und  zugleich  das  Kreditwesen  des  Landes. 
Wenn  die  Schritte  getan  werden,  die  notwendig  sind,  um 
dieses  weitgreifende  Monopolsystem  zu  überwinden  und 
aufzulösen,  dann  wird  der  Handel  gerettet  und  nicht  ge- 
schädigt ;  und  wenn  diese  einzelnen  Interessen  voneinan- 
der getrennt  und  dieses  Netzwerk  von  Verbindungen  auf- 
gelöst werden  soll,  dann  haben  wir  eine  größere  Interessen- 
gemeinschaft im  Auge,  jene  Interessengemeinschaft,  die 
die  Tugenden  aller  Menschen  verbündet,  und  jene  Men- 
schengemeinschaft, die  groß  und  weitherzig  genug  ist,  um 
in  den  Bereich  ihres  Verstehens  alle  Arten  von  Menschen 
und  alle  menschlichen  Umstände  aufzunehmen ;  dann  den- 
ken wir  daran,  daß  keine  Gesellschaft  vom  Gipfel  aus  und 
daß  jede  Gesellschaft  sich  vom  Boden  aus  erneuert.  Be- 
grenze die  Möglichkeiten,  beschränke  das  Gebiet  der 
schöpferischen  Leistung,  und  du  hast  dem  Fortschritt  das 
Herz  ausgerissen  und  die  Wurzel  zerstört. 

Es  gibt  nur  ein  Mittel,  um  ein  freies  Land  zu  schaffen, 
und  es  heißt :  sorge  dafür,  daß  unter  jeder  Jacke  ein  freies 
und  hoffnungsvolles  Herz  schlage.  Die  ehrliche  amerika- 
nische Industrie  ist  immer,  wenn  sie  überhaupt  gedieh,  auf 
dem  Boden  der  Freiheit  gediehen  und  nie  auf  dem  des  Mo- 
nopols. Es  ist  besser,  für  sich  selbst  zu  arbeiten,  als  eine 
große  Kapitalsvereinigung  für  einen  sorgen  zu  lassen. 
Ich  möchte  lieber  als  freier  Mann  verhungern,  als  nach 
Laune  wie  irgendein  Ding  von  jenen  ernährt  zu  werden, 
die  die  amerikanische  Industrie  so  organisierten,  wie  es 
ihnen  beliebte.  Ich  weiß  es  und  jeder  Mann  fühlt  das  in 

i6o 


seinem  Herzen :  der  einzige  Weg  zur  Bereicherung  Ame- 
rikas liegt  in  der  freien  Möglichkeit,  daß  ein  jeder,  der  Ver- 
stand und  Tüchtigkeit  besitzt,  vorwärtskommen  kann. 
Ich  bin  auf  kein  Unternehmen  eifersüchtig,  das  zu  seinem 
Umfang  emporgewachsen  ist.  Ich  bin  auf  kein  Wachs- 
tum eifersüchtig,  wie  riesenhaft  das  Ergebnis  auch  sein 
möge,  wenn  dieses  Resultat  wirklich  durch  jene  gesunden 
Entwicklungsprozesse  erstand,  dessen  Grundpfeiler  Lei- 
stungsfähigkeit, Sparsamkeit,  Intelligenz  und  Erfindungs- 
geist bilden. 


II  i6i 


iiiiiiiiiiniiiiiii 


Neuntes  Kapitel 

Gnade  oder  Recht 

Die  Lehre,  das  Monopol  der  Trusts  sei  nicht  zu  vermei- 
den, und  daß  die  einzige  Möglichkeit  für  das  Volk  der 
Vereinigten  Staaten  die  sei,  es  zu  regeln,  um  sich  ihm  zu 
unterwerfen,  fand  während  des  Wahlkrieges  von  1912 
einen  Verfechter  in  einer  neuen  Partei,  die  als  Abzweigung 
der  republikanischen  Partei  unter  der  Führung  von  Herrn 
Roosevelt  entstanden  v/ar.  Als  hervorragender  Helfer  — 
ich  sage  dies  ohne  jegliche  Ironie,  nur  um  die  Tatsachen 
genau  zu  konstatieren  —  stand  ihm  Herr  George  W.  Per- 
kins zur  Seite,  der  Organisator  des  Stahltrusts  und  des  Mäh- 
maschinentrusts, und  außer  ihm  noch  mehr  als  drei  Mil- 
lionen Bürger,  darunter  viele  patriotisch  gesinnte,  gewis- 
senhafte und  geistig  hochstehende  Männer  und  Frauen. 
Die  Annahme  des  Monopolprinzips  war  ein  charakteri- 
stisches Merkmal  des  neuen  Parteiprogramms,  aber  die 
Aufmerksamkeit  der  Klugen  und  Gerechten  wurde  durch 
den  Reiz  eines  verlockenden  sozialen  Programms,  das 
von  der  Verbesserung  des  Loses  derjenigen,  die  Unrecht 
und  Entbehrung  zu  leiden  haben,  handelte,  davon  abge- 
lenkt. Dieses  und  die  weitere  Tatsache,  daß  trotz  alledem 
das  Programm  von  der  Majorität  der  Nation  verworfen 
wurde,  machen  es  höchst  notwendig,  über  die  Bedeutung 
eines  Bekenntnisses,  wie  es  zum  ersten  Male  in  der  Ge- 
schichte unseres  Landes  von  einer  Partei  gemacht  wurde, 
nachzudenken.  Es  dürfte  dazu  beitragen,  die  Geister  von 
manchem  nicht  geringem  Irrtum  zu  befreien,  jetzt,  nach- 

162 


dem  der  Kampf  um  die  Präsidentenwahl  vorüber  ist,  ge- 
nau zu  untersuchen,  was  es  denn  ist,  was  Herr  Roose- 
velt vorgeschlagen  hat. 

Herr  Roosevelt  gab  in  seinem  Programm  einige  glän- 
zende Anregungen,  wie  durch  großartige  Unternehmungen 
die  menschliche  Rasse  gehoben  werden  könnte.  Aber  bei 
einer  prunkenden  Wahlrede  interessiert  mich  mehr  die  in- 
nere Kraft  als  die  Rhetorik.  Ich  bin  für  das  Praktische,  und 
ich  will  wissen,  wer  diese  schönen  Dinge  vollbringen  soll  und 
wie  sie  vollbracht  werden  sollen.  Wenn  man  den  Trustpas- 
sus in  jenem  Programm  so  oft  gelesen  hat  wie  ich,  hat  man 
den  Eindruck,  daß  er  sehr  lang,  aber  sehr  tolerant  ist.  Nir- 
gends wird  das  Monopol  verdammt,  höchstens  in  Wor- 
ten. Es  läuft  darauf  hinaus,  daß  die  Trusts  schlecht  waren 
und  besser  gemacht  werden  müßten.  Bekanntlich  unter- 
schied Herr  Roosevelt  zwischen  guten  und  schlechten 
Trusts  und  meinte,  nur  die  schlechten  seien  zu  fürchten. 
Nun  wünscht  er  nicht  etwa,  daß  die  schlechten  überhaupt 
abgeschafft  würden,  sondern  schlägt  vor,  die  schlechten 
durch  bestimmte  Vorschriften,  die  direkt  durch  eine  Kom- 
mission mit  ausübender  Gewalt  anzuwenden  wären,  zu 
guten  zu  machen.  Alles,  worüber  er  sich  beklagt,  ist  der 
Mangel  an  Offenheit  und  Ehrlichkeit,  und  nicht  die  Aus- 
übung von  Zwang ;  denn  in  dem  ganzen  Passus  wird  die 
Macht  der  großen  Verbände  als  unvermeidliche  Folge  der 
modernen  Industrieentwicklung  angesehen.  Alles  was  zur 
Besserung  vorgeschlagen  wird,  ist,  sie  unter  Aufsicht  und 
Regulierung  zu  stellen.  Da  die  nationale  Verwaltung  seit 
i6  Jahren  an  der  Regulierung  der  Trusts  gearbeitet  hat, 
würde  das  Ganze  eine  reine  Familienangelegenheit  sein, 
in  der  nur  die  Rollen  vertauscht  würden  und  die  Regu- 
lierung anderen  Familienmitgliedern  überwiesen  wäre. 
Augenscheinlich  würden  dann  die  Trusts,  die  unter  solchen 
Umständen  ganz  bequem  fortfahren  könnten,  unter  dem 


IX< 


163 


milden  Einfluß  der  Föderalregierung  unsere  Angelegen- 
heiten zu  verwalten,  das  Werkzeug  sein,  durch  das  das 
ganze  übrige  humane  und  beglückende  Programm  dieser 
interessanten  Parteipolitik  ausgeführt  würde. 

Ich  habe  diese  politischen  Grundsätze  wieder  und  wie- 
der gelesen,  um  ganz  sicher  zu  sein,  daß  ich  sie  richtig  ver- 
stünde. Alles,  worüber  sie  sich  gerechterweise  beklagen, 
ist,  daß  diese  Herren  ihre  Macht  auf  geheimen  Wegen  aus- 
üben. Deshalb  gebrauchen  wir  Offenheit.  Zuweilen  han- 
deln sie  willkürlich,  daher  bedürfen  sie  der  Überwachung. 
Oftmals  kümmern  sie  sich  nicht  um  die  Interessen  der  All- 
gemeinheit, deshalb  müssen  sie  durch  eine  Industrie-Kom- 
mission an  diese  Interessen  erinnert  werden.  Aber  immer 
sind  es  die  Trusts  und  nicht  wir  selbst,  die  für  unser  Wohl 
sorgen  sollen.  Aber  ich  erhebe  Einspruch  dagegen,  in  die 
Hand  der  Trustvorstände  gegeben  zu  sein.  Herrn  Roosevelts 
Regierungsauf  fassung  ist  Herrn  Tafts  Auffassung,  nämlich, 
daß  die  Präsidentschaft  der  Vereinigten  Staaten  die  Prä- 
sidentschaft eines  Direktorenkollegiums  sei.  Die  vorge- 
schlagene Regelung  ist  sehr  schön,  sehr  verführerisch,  in 
jenem  Programm  gab  es  Grundsätze,  die  alle  Sympathien 
des  Herzens  aufrühren.  Sie  schlagen  Dinge  vor,  wie  wir 
alle  sie  tun  möchten,  aber  die  Frage  ist:  Wer  wird  sie 
tun  ?  Durch  wessen  Vermittelung  ?  Ist  Amerika  geneigt, 
die  Trusts  zu  fragen,  ob  sie  aus  Gnade  gewähren  wollen, 
was  wir  haben  müssen  ? 

Die  dritte  Partei  sagt,  das  gegenwärtige  System  von 
Handel  und  Industrie  müsse  bestehen  bleiben.  Sie  be- 
hauptet, daß  diese  künstlich  aufgebauten  Verhältnisse,  die 
sich  ohne  Monopol  nicht  am  Markt  halten  können,  so  blei- 
ben müssen.  Und  das  einzige,  was  die  Regierung  tun  könne, 
und  was  die  dritte  Partei  zu  tun  vorschlägt  sei  die  Einsetz- 
ung einer  Kommission  zur  Regulierung  des  Monopols.  Gut. 
Die  Partei  sagt :  Wir  wollen  es  nicht  unternehmen  —  denn 

164 


es  wäre  nutzlos — dieMonopoleaufzuheben,  aber  wirwollen 
eine  Anordnungtreff  en,  wodurch  die  Monopole  auch  günstig 
gestimmt  werden.  Wir  leisten  Gewähr,  daß  sie  gnädig  sein 
werden.  Wir  garantieren,  daß  sie  die  richtigen  Arbeitslöhne 
zahlen.  Wir  garantieren,  daß  sie  alles  in  gütiger  und  ge- 
meinnütziger Absicht  tun,  wozu  sie  nie  zuvor  auch  nur  die 
geringste  Neigung  verrieten. 

Allein  der  Weg  zu  sozialer  Reform  ist  nicht  durch  die 
Kräfte  gewinnen,  durch  die  die  soziale  Reform  erst  not- 
wendig geworden  ist.  Der  grundlegende  Teil  dieses  Pro- 
gramms besteht  darin,  daß  die  Trusts  als  beständiger  Faktor 
unseres  wirtschaftlichen  Lebens  anerkannt  werden  und 
daß  die  Regierung  versuchen  soll,  aus  den  Trusts  dienliche 
Werkzeuge  zu  machen,  durch  welche  unser  Leben  nach 
industrieller  Seite  hin  gerecht  und  gut  entwickelt  werde. 
Denn  alles,  was  unser  Leben  früher  oder  später  berührt, 
geht  auf  die  Industrie,  die  Erhalterin  unseres  Lebens,  zu- 
rück. Ich  habe  oft  darüber  nachgedacht,  daß  die  Bitten  des 
Vaterunsers  doch  durchaus  menschlich  angeordnet  sind. 
Denn  wir  bitten  vor  allem:  ,, Unser  täglich  Brot  gib  uns 
heute",  da  wir  wissen,  daß  es  keinen  Sinn  hat,  um  geistige 
Gaben  mit  einem  leeren  Magen  zu  bitten.  Der  Arbeitslohn, 
den  wir  bekommen,  die  Art  der  Kleider,  die  wir  tragen,  die 
Beschaffenheit  der  Nahrung,  die  wir  zu  kaufen  imstande 
sind,  sind  von  grundlegender  Bedeutung  für  alles  übrige. 
Diejenigen,  die  unser  physisches  Leben  beherrschen,  be- 
herrschen daher  auch  unser  geistiges.  Und  wenn  wir  die 
schönen  Absichten  der  großen  Hymne,  die  die  Anhänger 
der  dritten  Partei  mit  fast  religiöser  Glut  anstimmten, 
ausführen  wollen,  dann  muß  es  uns  vorerst  gelingen,  her- 
auszufinden, durch  wen  diese  Ideale  von  Humanität  ver- 
wirklicht werden  sollen. 

Ich  will  nicht  unter  der  Herrschaft  von  Philanthropen 
leben.  Ich  habe  es  nicht  nötig,  daß  sich  die  Regierung  oder 

165 


die  von  ihr  beeinflußten  Leute  um  mich  kümmern.  Ich  für 
meinen  Teil  wünsche  nur,  daß  Recht  und  Gerechtigkeit 
regieren.  Man  gebe  uns  unser  Recht  und  übe  Gerechtig- 
keit, und  ich  will  schon  für  mich  selber  sorgen.  Wenn  man 
die  Trusts  zu  dienlichen  Werkzeugen  für  die  Entwicklung 
des  Landes  erheben  und  sie  unter  die  Oberaufsicht  der  Re- 
gierung stellen  will,  so  will  ich  den  alten  spanischen 
Spruch  beten:  ,,Gott  schütze  mich  vor  meinen  Freunden, 
vor  meinen  Feinden  will  ich  mich  schon  selber  schützen." 
Denn  ich  muß  vor  diesen  Freunden  geschützt  werden. 
Wohl  gemerkt,  ich  sage  ,, diese  Freunde",  denn  ich  gebe 
zu,  daß  viele,  die  an  einer  gedeihlichen  Entwicklung  unse- 
rer Industrie  durch  Monopole  glauben.  Freunde  des  Volkes 
sein  wollen.  Obgleich  sie  vorgeben,  meine  Freunde  zu  sein, 
schlagen  sie  einen  falschen  Weg  ein,  der  es  ihnen  unmög- 
lich macht,  mir  den  Dienst  zu  leisten,  auf  den  es  ankommt, 
nämlich :  daß  ich  frei  sei  und  dieselben  Chancen  habe,  die 
jeder  hat.  Denn  ich  sehe  es  als  Grundbedingung  der  ameri- 
kanischen Freiheit  an,  daß  wir  keine  Sondervorrechte  ver- 
langen, weil  wir  wissen,  daß  die  Sondervorrechte  dem 
Wohle  der  Allgemeinheit  schaden.  Das  ist  der  fundamen- 
tale Unterschied  in  der  Sinnesrichtung  der  Anhänger  bei- 
der Parteien,  der  jetzigen  und  der  früheren  Regierungs- 
partei. Die  letztere  ist  von  der  Idee,  die  Interessen  des 
Großhandels  könnten  die  Vereinigten  Staaten  stützen  und 
vorwärtsbringen,  so  durchdrungen,  daß  sie  nicht  imstande 
ist,  sich  davon  frei  zu  machen.  Sie  hat  die  Regierung  in 
die  Hand  der  Trustvorstände  gegeben,  und  Herr  Taft  und 
Herr  Roosevelt  waren  die  rivalisierenden  Kandidaten,  die 
über  die  Trustvorstände  präsidieren  sollten.  Sie  waren 
zweifellos  Kandidaten,  die  dem  Volke  nach  besten  Kräf- 
ten nützen  wollten,  aber  sie  hatten  nicht  die  Absicht,  dies 
unmittelbar  zu  tun,  sondern  indirekt  durch  jene  unge- 
heure Macht,  die  sich  schon  an  die  Spitze  gestellt  hat  und 

i66 


so  groß  ist,  daß  es  fast  fraglich  wird,  ob  die  Regierung  der 
Vereinigten  Staaten  mit  dem  ganzen  Volk  hinter  sich  stark 
genug  ist,  um  sie  zu  überwinden  und  zu  beherrschen. 
Sollen  wir  versuchen,  die  harte  Faust  des  Monopols  ab- 
zuschütteln oder  nicht?  Sollen  wir  unsere  Hand  zurück- 
ziehen und  uns  trösten :  Monopole  sind  nicht  zu  umgehen, 
alles  was  wir  tun  können,  besteht  in  ihrer  Regulierung  ? 
Sollen  wir  zugeben,  daß  das  Werk  unserer  eigenen  Hände 
stärker  ist  als  wir  selbst  ?  Die  ganze  Zeit,  in  der  die  ver- 
bündeten Mächte  der  Hochfinanz  stärker  als  die  Regie- 
rungsmacht waren,  haben  wir  in  Furcht  gelebt.  Sind  wir 
dahin  gekommen,  daß  der  Präsident  der  Vereinigten  Staa- 
ten seinen  Hut  vor  der  Hochfinanz  ziehen  und  erklären 
muß :  Ihr  seid  unsere  unerläßlichen  Herren,  aber  wir  wol- 
len sehen,  wie  wir  uns  am  besten  damit  abfinden  ? 

Wir  stehen  am  Scheidewege.  Wir  haben  nicht  etwa  ein 
oder  zwei  oder  drei,  sondern  viele  gefährliche  Monopole  in 
den  Vereinigten  Staaten  errichtet.  Wir  haben  nicht  ein 
oder  zwei,  sondern  viele  Arbeitsfelder,  auf  denen  eine  Be- 
tätigung für  den  unabhängigen  Mann  schwer,  ja  fast  un- 
möglich ist.  Wir  haben  Beschränkung  des  Kredits,  be- 
schränkte Erwerbsmöglichkeit,  behinderte  Entfaltung  und 
wir  sind  zu  einer  der  schlechtest  geleiteten  und  äußerem 
Zwang  unterworfenen  Regierung  der  ganzen  zivilisierten 
Welt  gelangt,  unter  der  nicht  mehr  die  freie  Meinung  und 
Überzeugung  der  Majorität  entscheiden,  sondern  die  Mei- 
nung und  der  Wille  einzelner  herrschender  Männer. 

Wenn  die  Regierung  den  Großindustriellen  vorschreibt, 
wie  sie  ihr  Geschäft  führen  sollen,  dann  müssen  die  Groß- 
industriellen sich  selbstverständlich  noch  enger  als  jetzt 
an  die  Regierung  anschließen.  Ist  es  nicht  klar,  daß  sie  die 
Regierung  gewinnen  müssen,  um  durch  sie  nicht  allzu 
sehr  eingegrenzt  zu  werden  ?  Aber  welche  Frage  1  Sie  ha- 
ben sie  ja  bereits  gewonnen!  Lädt  man  sich  die  Leute  ins 

167 


Haus,  die  schon  darinnen  sind?  Sie  brauchen  nicht  hin- 
zukommen, denn  sie  sind  schon  da.  Wollt  ihr  euern  eige- 
nen Grund  und  Boden  erst  erwerben  oder  nicht?  Vor  die- 
ser Wahl  steht  ihr.  Wollt  ihr  sagen :  Ihr  kamt  zwar  nicht 
auf  dem  rechten  Wege  ins  Haus,  aber  ihr  seid  nun  einmal 
drin,  Gott  befohlen !  Wir  werden  hier  draußen  in  der  Kälte 
stehen  und  ihr  könnt  uns  ab  und  zu  etwas  herauslangen  ? 

Nach  dem  Plan,  dessen  Gegner  ich  bin,  soll  eine  Part- 
nerschaft zwischen  Regierung  und  Trusts  bestehen.  Ver- 
mutlich sollte  die  Firma  nach  außen  hin  von  dem  älteren 
Teilhaber  geleitet  werden.  Ich  vermute  wenigstens,  daß  die 
Regierung  der  Vereinigten  Staaten  der  ältere  Teilhaber  ist, 
obgleich  der  jüngere  Teilhaber  die  ganze  Zeit  hindurch 
das  Geschäft  gemacht  hat.  Aber  wenn  aller  Antrieb,  Ener- 
gie und  ein  gut  Teil  Genie  in  dem  jüngeren  Teilhaber  liegt, 
wie  es  so  oft  bei  Kompagniegeschäften  der  Fall  ist,  so 
glaube  ich  nicht,  daß  die  Aufsicht  des  älteren  Teilhabers 
besonders  hoch  einzuschätzen  ist.  Und  ich  glaube  nicht, 
daß  durch  Aufsicht  oder  Ratschläge  der  Förderalregie- 
rung  den  Trusts  Wohlwollen  gepredigt  werden  kann. 
Denn  nach  meiner  Erfahrung  haben  die  Trusts  niemals 
Ratschläge  von  der  Regierung  angenommen.  Im  Gegenteil, 
die  Ratschläge  der  Trusts  sind  von  der  Regierung  befolgt 
worden.  Für  das  Volk  der  Vereinigten  Staaten  gibt  es  keine 
Hoffnung,  solange  nicht  diese  Teilhaberschaft  gelöst  ist. 
Und  die  Aufgabe  der  Partei,  die  jetzt  die  Macht  in  den 
Händen  hat,  ist  es,  diese  Auflösung  herbeizuführen. 

Die  Anhänger  der  dritten  Partei  unterstützen,  glaube 
ich,  ein  für  die  Monopole  durchaus  annehmbares  Pro- 
gramm. Wie  jene,  die  ihr  Lebenlang  gegen  die  Monopole 
gekämpft  haben,  die  Fortsetzung  des  Kampfes  gerade  un- 
ter dem  Banner  der  Leute,  die  sie  bekämpft  haben,  recht- 
fertigen, kann  ich  mir  nicht  vorstellen.  Ich  verwerfe  das 
Programm  von  Grund  auf,  denn  es  ist  in  keiner  Weise  fort- 

1.68 


schrittlich.  Warum  vertrat  Herr  Gary  gerade  diese  Me- 
thode, als  er  an  der  Spitze  des  Stahltrusts  stand  ?  Warum 
wird  gerade  diese  Methode  überall  dort  gerühmt,  wo  man 
an  der  Aufrechterhaltung  des  gegenwärtigen  wirtschaft- 
lichen Systems  der  Vereinigten  Staaten  interessiert  ist? 
Warum  betreiben  die  Leute,  die  nicht  gestört  werden  wol- 
len, die  Annahme  dieses  Programms  ?  Der  Rest  des  Pro- 
gramms ist  sehr  schön,  er  wird  von  einem  warmen  Mit- 
gefühl für  das  menschliche  Geschlecht  getragen.  Aber  ich 
wünsche  nicht  die  Sympathie  der  Trusts  für  das  mensch- 
liche Geschlecht.  Ich  lehne  diese  herablassende  Hilfe  ab. 
Und  ich  mache  jeden  fortschrittlichen  Republikaner,  der 
dieses  Programm  unterstützt,  darauf  aufmerksam,  daß 
er  gerade  mit  der  Überzeugung,  der  er  dienen  will,  falsches 
Spiel  treibt.  Diese  Überzeugung  hieß  Kampf  gegen  das 
Monopol,  gegen  die  Bevormundung,  gegen  die  Konzen- 
tration der  Macht  in  unserer  Industrieentwicklung,  gegen 
alle  jene  Dinge,  die  dem  freien  Unternehmen  im  Wege 
sind.  Ich  bin  der  Meinung,  daß  der  Alp,  der  so  drückend  auf 
unserem  Lande  liegt,  die  gegenwärtige  Monopolisierung 
unseres  Industrielebens  ist.  Das  ist  der  Grund,  der  gewisse 
Mitglieder  der  republikanischen  Partei  zu  ,,  Auf  rührern" 
werden  ließ :  sie  wollten  dieses  Joch  abschütteln.  Und  doch 
ließen  sich  einige  von  ihnen  so  mißleiten,  daß  sie  in  das 
Lager  der  dritten  Partei  übergingen  um  das  zu  beseitigen, 
was  die  dritte  Partei  zum  Gesetz  erheben  möchte.  Dieses 
Vorgehen  aber  entspricht  den  Ansichten  gerade  jener  Leute, 
die  bevormundet  werden  sollten,  und  das  ist  gerade  der 
falscheste  Gesichtspunkt,  von  dem  aus  ein  Vorgehen  be- 
trachtet werden  kann. 

Ich  sagte  vor  kurzem,  daß  Herr  Roosevelt  einen  Plan 
zur  Überwachung  der  Monopole  verteidigte,  der  von  dem 
Stahlverband  der  Vereinigten  Staaten  unterstützt  wurde. 
Herr  Roosevelt  bestritt,  von  mehr  als  einem  Mitglied  des 

169 


Stahlverbandes  unterstützt  worden  zu  sein.  Er  meinte: 
durch  Geld.  Ich  meinte :  durch  Ideen.  Ich  habe  nicht  ge- 
sagt, er  hätte  von  diesen  Herren  Geld  bekommen,  es  war 
mir  ganz  gleichgültig,  woher  er  sein  Geld  bekam :  aber  es 
war  mir  äußerst  wichtig,  woher  er  seine  Ideen  bekam. 
Er  hatte  seine  Ideen  über  die  Monopolüberwachung  von 
den  Herren,  die  den  amerikanischen  Stahlverband  bilden. 
Ich  gebe  durchaus  zu,  daß  die  Herren,  die  an  der  Spitze 
des  Stahlverbandes  stehen,  vollkommen  berechtigt  sind, 
ihre  eigenen  Gedanken  darüber  zu  haben  und  sie  auf  das 
Volk  der  Vereinigten  Staaten  anzuwenden,  aber  ich  möchte 
feststellen,  daß  ihre  Ideen  nicht  die  meinen  sind,  und  ich 
bin  ganz  fest  überzeugt,  daß  sie  keinen  einzigen  Gedanken 
fördern  würden,  der  ihrem  Monopol  bedrohlich  würde.  Da 
ich  aber  hoffe  und  beabsichtige,  den  Monopolen  so  viel  als 
möglich  in  den  Weg  zu  legen,  kann  ich  keine  Abmachun- 
gen billigen,  die  ihnen  die  Gewißheit  freier  Bahn  gewährt. 

Roosevelts  Plan  ist  es,  eine  Industriekommission  ein- 
zusetzen und  sie  mit  der  Aufsicht  über  die  großen  mono- 
polistischen Verbände,  die  sich  unter  dem  Schutze  des  Ta- 
rifs gebildet  haben,  zu  beauftragen ;  und  die  Regierung  der 
Vereinigten  Staaten  soll  darüber  wachen,  daß  diese  Herren, 
die  die  Arbeit  unterjocht  haben,  den  Arbeitern  wohlge- 
sinnt bleiben.  Der  Vorschlag  scheint  mir  also  dahin  zu 
gehen,  daß  es  zwei  Herren  geben  soll :  der  große  Verband 
und  darüber  die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten.  Und 
ich  frage,  wer  soll  die  Regierung  überwachen?  Jetzt  tun 
die  es,  die  vereint  die  Monopole  beherrschen.  Und  wenn 
die  Regierung  unter  der  Aufsicht  der  Monopole  nun  wieder 
die  Monopole  beaufsichtigt,  dann  ist  ja  die  Teilhaberschaft 
endgültig. 

Wie  wohlwollend  auch  der  Herr  sein  mag,  ich  will  un- 
ter keinem  Herrn  leben.  Dafür  ward  Amerika  nicht  geschaf- 
fen. In  Amerika  soll  einer  wie  der  andere  die  gleiche  Mög- 

170 


lichkeit  haben,  selbständig  über  seinen  Besitz  zu  verfügen. 
Was  ich  vollbracht  sehen  will  ist  gleichbedeutend  mit  dem, 
was  die  Behörden  von  Glasgow  mit  den  Mietshäusern  taten. 
Ich  will,  daß  die  Wege  dieser  großen  Verbände  erleuchtet 
und  überwacht  werden,  damit  niemand,  der  sie  überschrei- 
ten will,  überfallen  und  mißhandelt  werden  kann.  Wenn 
ihr  nichts  weiter  tut,  als  daß  ihr  die  Widersacher  zurück- 
haltet und  dafür  sorgt,  daß  die  Schwachen  beschützt  wer- 
den, dann  will  ich  wetten,  daß  sich  in  den  Vereinigten 
Staaten  eine  Reihe  von  Männern  erheben  wird,  die  trotz 
ihrer  vorläufigen  wirtschaftlichen  Schwäche  genug  Ver- 
stand besitzen,  um  mit  jenen  Herren  zu  wetteifern.  Sie 
werden  diese  Herren  zur  Anstrengung  all  ihrer  Kräfte 
veranlassen,  und  in  dem  Augenblick,  in  dem  sie  an  den 
Arbeitsmarkt  gelangen,  wird  er  sich  erweitern. 

Es  ist  zu  beweisen,  daß  die  Arbeit  in  Amerika  gerade 
dort,  wo  sie  hoch  bezahlt  wird,  sich  billiger  stellt  als  die 
niedrig  bezahlte  Arbeit  auf  dem  europäischen  Kontinent. 
Wißt  ihr,  daß  90  %  aller  angestellten  Arbeiter  unseres  Lan- 
des nicht  in  den  durch  Zölle  geschützten  Industrien  be- 
schäftigt sind,  und  daß  ihre  Löhne  fast  ohne  Ausnahme 
höher  sind  als  die  der  Arbeiter  in  den  geschützten  Indu- 
strien? Nur  wo  in  Amerika  die  Arbeit  frei  ist,  wird  sie 
hoch  bezahlt. 

Es  ist  bezeichnend,  daß  der  Vorkämpfer  des  Planes  der 
Anerkennung  der  Monopole  sein  Festhalten  an  dem  Prinzip 
des  ,, Schutzzolls"  ausdrücklich  erklärt.  Nur  die  Zölle,  die 
sogar  zu  hoch  sind,  um  den  Interessen  jener,  die  durch 
sie  geschützt  sind,  dienlich  zu  sein,  müssen  seiner  Ansicht 
nach  erniedrigt  werden.  Er  erklärt,  daß  er  durch  die  Tat- 
sache, daß  ein  sehr  großer  Teil  des  Geldes  der  Tasche 
des  einfachen  Steuerzahlers  entnommen  wird  und  in  die 
Tasche  der  ,, geschützten"  Fabrikanten  wandert,  nicht  be- 
unruhigt ist,  aber  daß  es  ihn  beunruhige,  daß  so  wenig  von 

171 


diesem  Geld  in  die  Tasche  des  Arbeiters  und  ein  unverhält- 
nismäßig großer  Teil  in  die  Tasche  der  Arbeitgeber  falle. 
Ich  habe  sein  Programm  sehr  sorgfältig  daraufhin  un- 
tersucht, ob  ich  eine  Anweisung  darüber  fände,  wie  ein 
größerer  Teil  dieser  „Prämien"  dem  Arbeiter  zugute  kom- 
men könne,  aber  ich  habe  keine  gefunden.  Herr  Roosevelt 
macht  in  einer  seiner  Reden  den  Vorschlag,  daß  Fabrikan- 
ten, die  ihre  Einkünfte  nicht  freigebig  genug  mit  ihren  Ar- 
beitern teilten,  durch  eine  starke  Beschränkung  des  ihnen 
gewährten  Schutzzolles  bestraft  werden  sollten,  aber  das 
Programm  schlug  in  dieser  Hinsicht,  soviel  ich  sehen 
konnte,  nichts  vor.  Überdies  würden,  bei  dem  vorgeschla- 
genen System,  die  meisten  Arbeitgeber,  und  in  der  Tat  ge- 
rade die  wichtigsten  von  ihnen,  ganz  und  gar  Schützlinge 
und  Mündel  der  Regierung  sein,  die  unser  aller  Herr  ist, 
denn  kein  Satz  dieses  Programms  kann  richtig  erörtert 
werden,  ohne  daß  maji  daran  erinnert,  daß  das  Monopol 
nach  der  Darstellung  jenes  Programmes  nicht  abgeschafft 
sondern  beibehalten  werden  soll.  Es  soll  beibehalten  und  re- 
guliert werden.  Jeder  Widerstandsversuch  muß  aufgegeben 
werden.  Es  soll  als  unentbehrlich  angenommen  werden. 
Die  Regierung  soll  eine  Kommission  einsetzen,  deren 
Pflicht  es  sein  wird,  nicht  etwa  das  Monopol  einzuschrän- 
ken, sondern  es  nur  unter  Gesetze  zu  stellen,  die  das  Mono- 
pol selbst  entwerfen  und  entwickeln  soll.  So  daß  die  Haupt- 
arbeitgeber eine  ungeheure  Macht  hinter  sich  haben  wür- 
den :  was  sie  auch  täten,  geschähe  mit  Genehmigung  der 
Bundesregierung. 

Es  ist  für  die  Arbeiter  unseres  Landes  der  Mühe  wert, 
sich  ins  Gedächtnis  zurückzurufen,  welcher  Art  die  Hal- 
tung der  verbündeten  Industrien  der  organisierten  Ar- 
beit gegenüber  gewesen  ist.  Sie  waren  die  größten  und 
erfolgreichsten  Gegner  der  organisierten  Arbeit  und  sie 
haben  vielfach  versucht,  deren  Bemühungen  zu  unter- 

172 


graben.  Sie  taten  es  zum  Teil  mit  der  Miene  der  Menschen- 
freundlichkeit und  des  Wohlwollen  und  zweifellos  war  es 
ihnen  mit  ihren  guten  Absichten  auch  ernst.  Hier  und  da 
wurden  Systeme  aufgestellt,  die  eine  Teilung  des  Gewinnes, 
Entschädigung  für  Verletzungen,  Gratifikationen  und  so- 
gar Altersrenten  vorsahen,  aber  jeder  einzelne  dieser  Pläne 
diente  nur  dazu,  die  Arbeiter  noch  fester  an  die  Trusts  zu 
binden.  Die  Rechte  unter  diesen  verschiedenen  Einrich- 
tungen sind  keine  gesetzlichen  Rechte.  Es  sind  nur  Privi- 
legien, die  die  Angestellten  genießen,  solange  sie  in  ihrer 
Stellung  bleiben  und  die  Gesetze  der  großen  Industrien 
erfüllen,  für  die  sie  arbeiten.  Wenn  sie  sich  weigern,  ihre 
Unabhängigkeit  aufzugeben,  können  sie  die  ihnen  gebo- 
tenen Vorteile  nicht  mehr  genießen. 

Wenn  man  die  Sache  gründlich  durchdacht  hat,  kommt 
man  zu  dem  Schluß,  daß  das  Programm  der  neuen  Partei 
die  Monopole  legalisiert,  ihnen  die  Arbeiter  systematisch 
unterordnet  und  sie  unter  Gesetze  stellt,  die  die  Regierung 
mit  Rücksicht  auf  die  Industriellen  und  die  Löhne  gemacht 
hat.  Als  Ganzes  betrachtet,  sieht  die  Sache  merkwürdig 
nach  wirtschaftlicher  Gewalt  über  Leben  und  Besitz  je- 
ner aus,  die  die  tägliche  Arbeit  der  Nation  leisten,  und 
alles  das  unter  der  überwiegenden  Macht  und  Oberhoheit 
der  nationalen  Regierung.  Diese  Teilhaberschaft  zwischen 
dem  Großhandel  und  der  Regierung  aufzuheben,  das  ist  es, 
wofür  die  meisten  von  uns  kämpfen.  Alle  klugen  Männer 
werden  bezeugen,  daß,  wenn  jenes  Programm  der  dritten 
Partei  ausgeführt  würde,  die  großen  Arbeitsherren  und 
Kapitalisten  des  Landes  mehr  als  je  vor  der  unwider- 
stehlichen Versuchung  ständen,  ihre  Herrschaft  über  die 
Regierung  auszuüben  und  sie  ihren  Zwecken  dienstbar 
zu  machen. 

Wenn  ich  die  schönen  Erlasse  des  Programms  der  drit- 
ten Partei,  die  der  Erholung  der  Menschheit  gewidmet 

173 


sind,  lese  und  sehe,  wie  verständige  Männer  und  Frauen 
sich  der  Partei  anschließen,  weil  sie  hoffen,  daß  durch  die 
Regelung  der  Monopolwirtschaft  sich  alle  ihre  Träume 
von  Humanität  verwirklichen  werden,  so  muß  ich  mich 
verwundert  fragen,  ob  sie  wirklich  nachgedacht  haben, 
durch  welche  Mittel  und  Werkzeuge  diese  schönen  Dinge  er- 
reicht werden  sollen.  Der  Mann,  der  der  Führer  der  dritten 
Partei  war,  hat  seine  Ansichten,  seitdem  er  Präsident  der 
Vereinigten  Staaten  war,  nicht  geändert.  Ich  verlange 
nicht,  daß  er  sie  ändert.  Ich  sage  nicht,  daß  es  nicht  sein 
gutes  Recht  ist,  sie  beizubehalten.  Aber  ich  sage,  daß  es 
nicht  verwunderlich  ist,  daß  ein  Mann,  der  als  Präsident 
solchen  Ansichten  über  die  Regierung  seines  Landes  hul- 
digte, nicht  wieder  gewählt  und  ihm  nicht  die  Möglich- 
keit gegeben  wurde,  die  jetzigen  Industrieverhältnisse  zu 
schützen. 

Es  gibt  eine  Geschichte  des  menschlichen  Geschlechts 
und  eine  Geschichte  der  Regierungen,  beide  sind  über- 
liefert ;  und  die  verschiedensten  Dinge  sind  vorgeschlagen 
und  wieder  und  wieder  versucht  worden  und  haben  stets 
zu  demselben  Erfolg  geführt.  Die  Weltgeschichte  ist  auf 
ihrem  ganzen  Wege  mit  Trümmern  gescheiterter  Regie- 
rungen besät,  die  es  versuchten,  menschlich  zu  sein  und 
menschenfreundliche  Programme  durch  die  Vermittlung 
jener  zu  verwirklichen,  die  die  Herrschaft  über  die  mate- 
riellen Güter  ihrer  Mitmenschen  ausüben.  Die  Monopole 
konnten  sich  noch  niemals  mit  Prinzipien  der  Toleranz 
einverstanden  erklären.  Sie  kennen  nur  den  Zweck  ihrer 
Sondervorteile.  Habt  ihr  jemals  Trusts  gesehen,  die  sich 
darum  kümmerten,  ob  die  Gesundheit  der  Frauen  unter- 
graben wurde  oder  nicht  ?  Kennt  ihr  Trusts,  die  Bedenken 
trügen,  minderjährige  Kinder  zu  beschäftigen?  Gibt  es 
Trusts,  die  es  sich  angelegen  sein  ließen,  die  Lungen  und 
die   Gesundheit   und   die   Freiheit   ihrer  Angestellten  zu 

174 


schützen?  Gibt  es  Trusts,  die  ebensoviel  an  ihre  Leute 
denken  wie  an  ihre  Maschinen?  Wer  will  die  Trusts  in 
Werkzeuge  der  Gerechtigkeit  umwandeln  ? 

Die  Sorge  um  die  Arbeiter,  die  Frauen  und  die  Kinder 
Amerikas  möchte  ich  nicht  den  Vertretern  der  Sonder- 
interessen ausgeliefert  sehen.  Ich  möchte  Recht  und  Ge- 
rechtigkeit, Ehrlichkeit  und  Menschlichkeit  sich  in  allen 
Gesetzen  der  Vereinigten  Staaten  entfalten  sehen,  und 
keine  Macht  soll  zwischen  das  Volk  und  seine  Regierung 
treten.  Gerechtigkeit  ist  es,  was  wir  brauchen,  keine  Be- 
günstigung, keine  Herablassung  und  keine  Hilfe  aus  Mit- 
leid. 

Ich  gebe  zu,  daß  dies,  was  wir  als  Nation  jetzt  unter- 
nehmen wollen,  zu  den  schwierigsten  Regierungsauf- 
gaben zählt,  die  es  gibt.  Wir  sind  bisher  ohne  allzu  großen 
Beistand  von  selten  unserer  Regierung  ausgekommen. 
Wir  haben  in  den  vergangenen  Monaten  mehr  und  mehr 
gefühlt,  daß  das  amerikanische  Volk  im  Vergleich  mit 
den  anderen  Völkern  im  Nachteil  ist,  wenn  wir  abwägen, 
was  andere  Regierungen  für  ihr  Volk  tun  und  was  die 
unsrige  verabsäumt.  Jedem,  der  Blick  für  die  nächste  Zu- 
kunft hat  und  aus  bestimmten  Anzeichen  der  Gegenwart 
sich  ein  Bild  der  kommenden  Dinge  macht,  ist  es  klar,  daß 
wir  an  der  Schwelle  einer  Zeit  stehen,  in  der  das  wirt- 
schaftliche Leben  unseres  Landes  in  jeder  Weise  durch 
die  Tatkraft  der  Regierung  unterstützt  und  ergänzt  werden 
muß.  An  uns  ist  es  jetzt,  zu  bestimmen,  welcher  Art  die 
Tätigkeit  der  Regierung  sein  soll,  ob  sie  von  der  Regierung 
direkt  ausgehen  soll  oder  ob  sie  indirekt  von  Mächten 
ausgehen  soll,  die  schon  bereit  stehen,  diese  Regierung  zu 
unterjochen. 

Wir  haben  ein  großes  Programm,  das  vom  Beistand 
der  Regierung  und  von  der  Mitarbeit  der  ganzen  Nation 
handelt,  aber  wir  können  nichts  damit  anfangen,  ehe  wir 

175 


nicht  die  Regierung  frei  gemacht  haben.  Das  ist  der  sprin- 
gende Punkt.  Wohltätigkeit  hat  noch  nie  einen  Menschen 
oder  eine  Nation  zur  Entfaltung  gebracht.  Wir  wollen  keine 
herablassende  Regierung.  Wir  wollen  eine  freie  und  eine 
gerechte  Regierung.  Jeder  einzelne  der  großen  Pläne  von 
sozialer  Erhebung,  die  von  hochgesinnten  Leuten  unter 
uns  jetzt  so  viel  besprochen  werden,  gründet  sich,  wenn  er 
recht  verstanden  wird,  auf  Gerechtigkeit,  nicht  auf  Wohl- 
wollen oder  Gnade.  Er  gründet  sich  auf  das  Recht  der  Men- 
schen, reine  Luft  zu  atmen,  auf  das  Recht  zu  leben,  auf 
das  Recht  der  Frauen,  Kinder  zu  gebären  und  nicht  so 
überbürdet  zu  sein,  daß  Krankheit  und  Zusammenbruch 
die  Folge  sind ;  auf  das  Recht  der  Kinder,  zu  gedeihen  und 
groß  und  stark  zu  werden ;  auf  alle  Fundamente  des  Le- 
bens, die  uns  wirklich  am  Herzen  liegen  und  die  unser  Ver- 
stand als  Grundpfeiler  der  Gerechtigkeit  ansieht. 

Die  Politik  unterscheidet  sich  von  der  Menschenliebe 
darin,  daß  man  in  der  Menschenliebe  die  Dinge  oft  aus 
reinem  Mitgefühl  tut,  während  wir  in  der  Politik,  wenn 
wir  gerechtdenkende  Menschen  sind,  immer  aus  Gerech- 
tigkeit und  auf  der  Basis  langer  Erfahrungen  handeln.  Wir 
persönlich  müssen  manchmal]  aus '  Mitgefühl  für  unsere 
Nebenmenschen  Dinge  tun,  die  mehr  als  gerecht  sind. 
Wir  müssen  Menschen  vergeben,  wir  müssen  Menschen 
helfen,  die  unrecht  getan  haben.  Wir  müssen  manchmal 
solchen  helfen,  die  Verbrechen  begangen  haben.  Aber  das 
Gesetz  vergibt  nicht.  Es  ist  seine  Pflicht,  die  Zustände 
auszugleichen,  den  Weg  des  Rechtes  zum  Weg  der  Sicher- 
heit und  der  Zweckmäßigkeit  zu  machen,  dafür  zu  sorgen, 
daß  jeder  die  Möglichkeit  zu  leben  findet,  und  darüber 
zu  wachen,  daß  niemandem  Unrecht  und  Ungerechtig- 
keit geschehe. 

Wir  dürfen  in  diesen  großen  Fragen  der  Leidenschaft 
in  unseren  Herzen  und  Gedanken  keinen  Raum  gewähren, 

176 


wir  dürfen  uns  nicht  durch  Groll  oder  Unwillen  beherr- 
schen lassen,  wir  müssen  der  Gefahr  unserer  Lage  ins  Auge 
sehen.  Diese  Gefahr  besteht,  sonderbar  genug,  nicht  etwa 
in  der  Böswilligkeit  der  Leute,  die  unser  industrielles  Leben 
beherrschen,  sondern  in  ihrer  geistigen  Bedeutung  und 
ihrem  ehrenhaften  Denken.  Diese  Männer  glauben,  daß  das 
Gedeihen  der  Vereinigten  Staaten  nur  gesichert  ist,  wenn 
sie  es  in  Händen  halten.  Wenn  sie  unredlich  wären,  könn- 
ten wir  sie  durch  das  Gesetz  ausschließen,  da  aber  die  mei- 
sten von  ihnen  redlich  sind,  können  wir  sie  nur  dadurch 
unschädlich  machen,  daß  wir  einer  Verwirklichung  ihrer 
Überzeugungen  entgegenarbeiten.  Ich  fürchte  mich  vor 
keinem  Verbrecher.  Ich  fürchte  mich  vor  keinem  Schur- 
ken. Ich  fürchte  mich  aber  vor  einem  starken  Mann,  der 
unrecht  hat  und  dessen  falsche  Gedanken  durch  seine 
eigene  Charakterstärke  und  seine  Macht  der  Rede  anderen 
aufgezwungen  werden  können.  Wenn  Gott  es  nur  so  ein- 
gerichtet hätte,  daß  alle  Menschen,  die  im  Unrecht  sind, 
Schurken  wären,  so  könnten  wir  sehr  leicht  mit  ihnen 
fertig  werden,  weil  sie  sich  früher  oder  später  doch  ver- 
raten würden ;  aber  Gott  hat  unsere  Aufgabe  schwieriger 
gestaltet  —  er  hat  gute  Menschen  geschaffen,  die  Falsches 
denken.  Wir  bekämpfen  sie  nicht,  weil  sie  schlecht,  son- 
dern weil  sie  im  Unrecht  sind.  Wir  müssen  sie  durch  eine 
höhere  Kraft  überwinden,  durch  die  geistige,  herrliche 
und  dauernde  Kraft  einer  besseren  Einsicht. 

Der  Grund,  daß  Amerika  begründet  wurde,  war  die 
Absicht,  daß  es  sich  von  allen  anderen  Nationen  dadurch 
unterscheiden  sollte,  daß  der  Starke  den  Schwachen  nicht 
an  die  Wand  drücken,  daß  er  ihn  nicht  verhindern  soll,  am 
Wettkampf  teilzunehmen.  Amerika  will  freie  Möglich- 
keiten, Amerika  will  freie  Bahn  für  alle  und  duldet  keine 
Begünstigungen,  Amerika  will  eine  Regierung,  die  für  die 
Interessen  aller  verantwortlich  ist.  Und  ehe  Amerika  alle 

13  177 


diese  Ideale  nicht  in  die  Praxis  umsetzt,  hat  es  kein  Recht, 
sein  Haupt  inmitten  der  Völker  so  hoch  zu  tragen,  wie  es 
das  tun  gewohnt  war. 

Es  ist  einem  zumute,  als  käme  man  aus  einem  dump- 
fen Keller  ins  Freie,  man  kann  wieder  atmen  und  den 
offnen  Himmel  sehen,  wenn  man  sich  von  einem  solch 
kläglichen  Programm  der  Unterwerfung  und  Abhängig- 
keit dem  vertrauensvollen  Beschluß  zuwendet,  dem  das. 
Volk  seine  Vollmacht  gegeben  hat.  Unser  Ziel  ist  die 
Wiederherstellung  der  Freiheit.  Wir  wollen  darauf  hin- 
arbeiten, private  Monopole  gesetzlich  zu  verhindern  und 
das  System,  durch  die  die  Monopole  geschaffen  wurden, 
gesetzlich  unmöglich  machen.  Wir  wollen,  daß  die  Nieder- 
drückung des  Unternehmungsgeistes  des  Einzelnen  auf- 
höre, auf  daß  die  heranwachsende  Generation  es  nicht  nötig 
habe,  Schützling  herablassender  Trusts  zu  sein,  sondern 
sich  ihr  Leben  frei  nach  eigenem  Willen  gestalten  kann. 
Dann  werden  wir  wieder  aus  dem  vollen  Becher  der  Frei- 
heit und  nicht  aus  dem  der  Barmherzigkeit  trinken  — 
den  einzigen  Wein,  der  je  den  Geist  eines  Volkes  erfrischt 
und  erneuert  hat. 


178 


Zehntes  Kapitel 
Die  Entthronung  des  Boß 

Eine  der  wunderlichsten  Erscheinungen  Amerikas  ist  für 
mein  Empfinden  die  Tatsache,  daß  sich  das  Land  seit 
mehr  als  einer  Generation  von  Leuten  regieren  ließ,  die 
man  damit  nicht  beauftragt  hatte.  Und  sonderbar  bleibt 
die  schier  endlose  Geduld,  mit  der  das  amerikanische  Volk 
still  zusieht,  wie  Dinge  geschehen,  gegen  die  es  gestimmt 
hat  und  die  es  nicht  vollbracht  sehen  wollte.  Nie  hat  Auf- 
lehnung die  Anordnungen  der  Regierung  gestört. 

Es  gibt  in  den  Vereinigten  Staaten  kaum  einen  Landes- 
teil, der  nicht  wüßte,  daß  Sonderinteressen  und  Sonderab- 
sichten die  Regierung  führen.  Das  geschah  durch  das 
Walten  jener  interessanten  Leute,  die  wir  in  der  Politik 
, »Bosses'*  nennen.  Ein  Boß  ist  weniger  Politiker  als  ein 
politischer  Geschäftsagent  für  Sonderinteressen.  Ein  Boß 
gehört  zu  keiner  Partei,  er  steht  hoch  über  den  Parteien. 
Er  hat  seine  Abmachung  mit  dem  Boß  der  anderen  Partei, 
so  daß,  ob  nun  Kopf  oder  Schwanz,  stets  wir  es  sind,  die 
verlieren  müssen.  Aus  den  gleichen  Quellen  beziehen  die 
beiden  Bosses  ihre  Einnahmen,  und  sie  verwenden  die  Bei- 
träge für  die  gleichen  Zwecke.  Es  sind  Leute,  die  die  ein- 
flußreiche Stelle,  auf  der  sie  stehen,  durch  geheime  Machen- 
schaften erlangten ;  Leute,  die  nie  gewählt  wurden,  die  das 
Volk  nicht  zum  Regieren  bestimmte  und  die  weit  mäch- 
tiger sind  als  sie  es  wären,  wenn  man  sie  gewählt  oder  be- 
rufen hätte.  Ihre  Macht  währt  so  lange,  als  man  sie  dort 
gewähren  läßt,  wo  sie  walten:  in  geheimen  Beratungen 

12*  179 


hinter  verschlossenen  Türen.  Sie  sind  keine  Politiker,  sie 
haben  keine  politischen  Überzeugungen,  es  sei  denn  die 
heimliche  Politik  des  eigenen  Fortkommens.  Ein  Boß  ist 
kein  Parteiführer.  Parteien  versammeln  sich  nicht  in  Hin- 
terzimmern und  Parteien  treffen  keine  Anordnungen,  die 
nicht  in  die  Zeitungen  kommen.  Parteien  sind,  wenn  man 
sie  nach  der  Zahl  ihrer  Wähler  beurteilt,  große  Menschen- 
massen, die  darum,  weil  sie  nicht  vorhandene  Wahlzettel 
nicht  abgeben  können,  jene  Wahlzettel  abgeben,  die  bei 
den  erwähnten  Abmachungen  in  den  erwähnten  Hinter- 
zimmern für  sie  bereitgelegt  wurden.  Der  Boß  handhabt 
die  Wahlmaschine.  Und  eine  ,, Maschine"  ist  jener  Teil 
einer  politischen  Organisation,  der  den  Angehörigen  der 
Partei  aus  den  Händen  gewunden  wurde  und  durch  ein 
halbes  Dutzend  Männer  erhalten  wird.  Es  ist  der  Teil,  der 
aufgehört  hat,  politisch  zu  sein  und  eine  Agentur  für  die 
Ziele  skrupelloser  Geschäftsinteressen  geworden  ist.  Aber 
die  Sünden  dieser  Transaktionen  sollten  nicht  den  poli- 
tischen Organisationen  zur  Last  gelegt  werden.  Organi- 
sation ist  gesetzlich  berechtigt,  ist  notwendig  und  sogar 
vortrefflich,  wenn  sie  der  Verwirklichung  großer  Ziele 
dient.  Nur  jener,  der  die  politische  Organisation  zu  privaten 
Zwecken  benutzt,  ist  ein  Boß.  Ich  ehre  den  Mann,  der  die 
Organisation  einer  großen  Partei  stark  und  leistungsfähig 
macht,  auf  daß  sie  dem  öffentlichen  Interesse  dienstbar 
werde.  Aber  jener  Mann  ist  kein  Boß.  Ein  Boß  ist,  wer  diese 
großen  ehrlichen  Kräfte  zu  geheimen  Zwecken  mißbraucht. 
Der  Umstand,  daß  es  im  geheimen  wirkt,  ist  einer  der 
schlimmsten  Züge  dieses  Boßsystems.  Lieber  wollte  ich 
unter  einem  König  leben,  den  ich  wenigstens  kenne,  als 
unter  einem  Boß,  den  ich  nicht  kenne.  Ein  Boß  ist  ein  viel 
schlimmerer  Herr,  denn  er  ist  nicht  sichtbar  und  hat  die 
Hände  immer  dort  im  Spiel,  wo  man  es  am  wenigsten  er- 
wartet. Als  ich  vor  einigen  Monaten  in  Oregon  weilte,  hatte 

i8o 


ich  eine  sehr  interessante  Unterhaltung  mit  Herrn  U'Ren, 
dem  Urheber  des  sogenannten  Oregonsystems,  durch  das 
die  Bosses  ausgeschaltet  worden  sind.  Er  gehört  einer 
Gruppe  sozial  gesinnter  Männer  an,  die  jedesmal,  wenn  sie 
ihr  Ziel  durch  das  Parlament  nicht  erlangen  können,  einen 
Gesetzentwurf  aufsetzen  und  durch  eigene  Initiative  dem 
Volke  zur  Abstimmung  unterbreiten.  Und  sie  erreichen  auf 
diesem  Wege  auch  gewöhnlich  ihren  Zweck.  An  dem 
Tage,  da  ich  nach  Portland  kam,  stand  zufällig  in  einer 
Morgenzeitung  in  recht  ironischen  Worten  zu  lesen,  es 
gäbe  in  Oregon  zwei  gesetzgebende  Instanzen ;  die  eine  be- 
finde sich  in  der  Hauptstadt  Salem,  die  andere  aber  stolziere 
unter  dem  Hute  des  Herrn  U'Ren  einher.  Als  ich  am  Abend 
eine  Rede  hielt,  konnte  ich  der  Versuchung  nicht  wider- 
stehen und  sagte,  daß  es  mir  —  wiewohl  ich  als  letzter  die 
Macht  in  einem  einzelnen  Individuum  oder  in  einer  Gruppe 
von  Individuen  konzentriert  sehen  möchte  —  nach  meinen 
Erfahrungen  in  New  Jersey  auf  jeden  Fall  lieber  sei,  eine 
gesetzgebende  Instanz  unter  dem  Hute  eines  mir  bekann- 
ten und  erreichbaren  Mannes  zu  wissen,  als  einer  Gesetz- 
gebung zu  unterstehen,  die  unter  dem  Hute  von  Gott  weiß 
wem  herumliefe.  Denn  im  ersten  Falle  könne  man  die  re- 
gierende Instanz  wenigstens  erreichen  und  wisse,  wo  sie  zu 
finden  sei. 

Warum  fahren  wir  fort,  solche  Dinge  zuzulassen  ?  Es 
wird  Zeit,  daß  wir  mündig  werden  und  selbst  die  Führung 
unserer  Angelegenheiten  übernehmen.  Ich  bin  es  müde, 
in  der  Politik  als  unmündig  zu  gelten.  Ich  möchte  nur  mit 
jenen  zusammenarbeiten,  die  auch  in  politischer  Bezie- 
hung über  einundzwanzig  sind.  Ich  möchte  mich  nicht  ruhig 
hinsetzen  und  andere  für  mich  sorgen  lassen,  ohne  zum 
mindesten  mitreden  zu  können ;  und  hört  man  nicht  auf 
meinen  Rat,  so  will  ich  ihnen  die  Arbeit  so  unerfreulich 
machen,  als  ich  das  vermag.  Und  das  nicht,  weil  etwa  mein 

i8i 


Rat  notgedrungen  gut  sein  muß,  sondern  weil  keine  Re- 
gierung gut  ist,  in  der  nicht  ein  jeder  darauf  besteht,  daß 
sein  Rat  gehört  werde,  ob  er  nun  befolgt  werde  oder  nicht. 
Manche  behaupten,  die  repräsentative  Regierung,  die 
Regierung  durch  die  Vertreter  des  Volkes,  habe  sich  als 
eine  zu  mittelbare  und  umständliche  Einrichtung  er- 
wiesen und  als  ein  Mittel  der  Überwachung  durch  das  Volk 
versagt.  Andere,  die  etwas  tiefer  sehen,  behaupten,  daß  es 
nicht  die  Regierung  durch  die  Volksvertretung  sei,  die  ver- 
sagt habe,  sondern  nur  die  Bemühungen,  eine  solche  Re- 
gierung zu  erlangen.  Man  hat  darauf  hingewiesen,  daß  bei 
unserem  jetzigen  System  der  Kandidatenaufstellung  und 
der  Wahlen,  bei  denen  uns  nur  die  Wahl  zwischen  dieser 
oder  jener  Reihe  von  der  ,, Maschine"  aufgestellter  Kan- 
didaten bleibt,  eine  repräsentative  Regierung,  eine  Regie- 
rung durch  die  Vertreter  des  Volkes  überhaupt  nicht  zu 
erlangen  sei,  sondern  nur  eine  Regierung  der  politischen 
Unternehmer,  die  allein  ihren  eigenen  Zwecken  und  den 
Interessen  jener  dienen,  mit  denen  ihnen  ein  Bündnis  vor- 
teilhaft erscheint.  An  diesem  Einwand  ist  augenscheinlich 
etwas,  das  die  Wurzel  der  ganzen  Angelegenheit  berührt. 
Hinter  jeder  Reform  steht  die  Methode,  mit  der  man  sie 
verwirklicht.  Hinter  der  Frage :  was  braucht  ihr  ?  steht  die 
für  jede  Art  des  Regierens  entscheidende  Frage :  wie  wollt 
ihr  es  erlangen  ?  Wie  wollt  ihr  euch  jene  Diener  der  Öffent- 
lichkeit schaffen,  die  für  euch  eine  Sache  durchsetzen.Wie 
wollt  ihr  wirkliche  Volksvertreter  erlangen,  die  euren  In- 
teressen dienen  und  nicht  ihren  eigenen  oder  denen  einer 
bestimmten  Gruppe  eurer  Mitbürger,  deren  Macht  die 
Macht  der  wenigen  und  nicht  die  der  vielen  ist  ?  Das  sind 
Fragen,  die  die  Aufmerksamkeit  des  ganzen  Landes  auf 
das  Thema  der  direkten  Urwahl  lenkten,  auf  die  Frage  der 
unmittelbaren  Wahl  aller  Beamten  durch  das  Volk  und  auf 
die  Beseitigung  des  jetzigen  Systems  der  Kandidatenauf - 

182 


Stellung  durch  die  politischen  Maschinen.  Und  damit  tau- 
chen auch  die  nicht  weniger  bedeutsamen  Fragen  der  direk- 
ten Senatorenwahl,  der  Initiative  bei  Gesetzesanträgen,  der 
Volksabstimmung  und  der  Beamtenabsetzung  auf. 

Der  entscheidende  Augenblick  bei  der  Wahl  der  Be- 
amten ist  heute  viel  häufiger  der  Augenblick  ihrer  Auf- 
stellung als  Kandidat  als  die  Stunde  der  Wahl  durch  das 
Volk.  Wenn  zwei  Parteiorganisationen,  die  sich  dem  Na- 
men nach  feindlich  gegenüberstehen,  in  Wirklichkeit  aber 
in  völligem  Einverständnis  arbeiten,  dafür  sorgen,  daß  die 
Wahllisten  beider  Parteien  Kandidaten  gleicher  Art  auf- 
stellen, dann  wird  es  belanglos,  für  welchen  dieser  Kan- 
didaten das  Volk  sich  entscheidet ;  die  politischen  Manager 
haben  uns  in  der  Hand,  was  immer  wir  auch  tun  mögen. 
Es  steht  uns  frei,  uns  der  angenehmen  Täuschung  hinzu- 
geben, daß  wir  unsere  eigenen  Kandidaten  zu  Beamten 
wählen ;  in  Wirklichkeit  aber  treffen  wir  nur  eine  gleich- 
gültige und  wirkungslose  Auswahl  zwischen  zwei  Reihen 
von  Leuten,  die  durch  alle  möglichen  anderen,  aber  nicht 
durch  unsere  eigenen  Interessen  als  Kandidaten  aufge- 
stellt wurden. 

Wenn  wir  die  direkte  Urwahl  und  die  Auswahl  der 
Kandidaten  beanspruchen,  so  geschieht  das  mit  der  Ab- 
sicht, die  heimlichen  und  selbstsüchtigen  Entscheidungen 
über  die  Frage,  wer  zur  Wahl  gestellt  werden  soll,  unmög- 
lich zu  machen.  Mehr  und  mehr  bricht  sich  die  Überzeu- 
gung Bahn,  die  Herrschaft  über  jene  Mächte,  die  uns  bis- 
her beherrschten,  sei  nur  dadurch  zu  gewinnen,  daß  wir 
selbst  unter  jenen  Männern,  die  als  Kandidaten  auftreten 
sollen,  die  erste  Auswahl  treffen.  Man  hat  eingewandt,  dies 
Verfahren  könne  nicht  immer  wirksam  sein,  das  Volk  sei 
zu  sehr  mit  anderen  Dingen  beschäftigt  oder  zu  träge,  um 
sich  um  sein  Stimmrecht  in  den  Parteiversammlungen  zu 
bekümmern.  Gewiß,  bisweilen  läßt  die  Bevölkerung  eines 

183 


Staates  oder  einer  Gemeinde  eine  Kandidatenwahl  vor- 
übergehen, ohne  gegenüber  den  Bosses  ihr  Recht  geltend 
zu  machen.  Die  Wählermasse  der  Vereinigten  Staaten 
gleicht  manchmal  dem  Götzen  Baal :  bisweilen  ist  sie  ab- 
wesend und  manchmal  schläft  sie  auch ;  aber  wenn  sie  er- 
wacht, dann  gleicht  sie  dem  Götzen  Baal  nicht  im  gering- 
sten. Dann  ist  sie  eine  große  selbstbeherrschte  Gewalt,  die 
wirklich  die  Führung  ihrer  eigenen  Angelegenheiten  in  die 
Hand  nimmt.  Ich  bin  bereit  zu  warten.  Ich  zähle  zu  jenen, 
die  so  unerschütterlich  an  die  grundlegenden  Lehren  der 
Demokratie  glauben,  daß  ich  bereit  bin  zu  warten,  bis  der 
große  Herrscher  zu  erwachen  beliebt,  vorausgesetzt,  daß 
das  Werkzeug  seiner  Macht  bereit  liegt,  um  jederzeit,  wenn 
das  wünschenswert  erscheint,  ergriffen  werden  zu  können. 

Es  gibt  noch  eine  andere  Frage,  die  konservative  Gemü- 
ter beunruhigt :  die  direkte  Wahl  der  Senatoren  der  Verei- 
nigten Staaten.  Ich  hörte  bedächtige  Männer  darüber  mit 
einer  Art  Schauder  diskutieren,  als  sei  eine  Änderung  in  der 
ursprünglichen  Konstitution  des  Senates  ein  Verbrechen 
und  eine  Mißachtung  der  Verfassung.  Allein  zu  der  Achtung 
vor  dem  Senat  der  Vereinigten  Staaten  gehört  vor  allem  die 
Achtung  vor  den  Senatoren.  Ich  zähle  nicht  zu  jenen,  die 
den  Senat  der  Vereinigten  Staaten  als  Körperschaft  ver- 
dammen; denn  was  sich  dort  auch  ereignete  und  durch 
welch  fragwürdige  Praktiken  und  korrupte  Einflüsse 
manche  Senatorenstühle  auch  besetzt  worden  sind  —  es 
muß  offen  ausgesprochen  werden :  die  Mehrzahl  der  Se- 
natsmitglieder stand  die  ganzen  Jahre  hindurch  makellos 
da  und  stets  gab  es  genug  ehrenhafte  Männer,  die  Ame- 
rikas Selbstachtung  und  Amerikas  Vertrauen  zu  seinen 
staatlichen  Einrichtungen  rechtfertigen. 

Es  erübrigt  sich,  auf  die  schmerzliche  Tatsache  zurück- 
zukommen, daß  Sitze  im  Senat  auf  gewisse  V\^eise  erkauft 
wurden.  Und  man  weiß,  daß  eine  kleine  Senatorengruppe, 

184 


die  das  Zünglein  an  der  Wage  bildete  und  dadurch  mäch- 
tig war,  immer  wieder  Reformvorschläge,  auf  die  das 
ganze  Land  seine  Hoffnungen  gesetzt  hatte,  zum  Schei- 
tern brachte.  Wenn  man  die  Mächte,  die  hinter  diesen 
kleinen  Gruppen  standen,  näher  untersucht,  erfährt  man, 
daß  nicht  die  Macht  der  öffentlichen  Meinung  jene  Män- 
ner zu  jenem  Tun  trieb,  sondern  geheime  Einflüsse,  die 
sich  bei  oberflächlicher  Betrachtung  nicht  enthüllen. 

Um  zu  den  alten  Grundsätzen  zurückzukehren,  zu 
denen  wir  uns  bekennen:  hat  das  Volk  der  Vereinigten 
Staaten  nicht  das  Recht,  darüber  zu  wachen,  daß  jeder 
Sitz  im  Senat  die  unbestochenen  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  vertrete  ?  Berührt  die  direkte  Wahl  der  Senatoren 
irgend  etwas  anderes  als  die  heimliche  Beherrschung  der 
Sitze  im  Senat  ?  Wir  erinnern  uns  einer  anderen  Tatsache, 
unseres  Verdachtes  gegen  gewisse  Parlamente,  die  Sena- 
toren wählen.  Einige  dieser  Verdachte,  die  wir  in  New 
Jersey  hegten,  haben  sich  als  auf  höchst  greifbaren  Tat- 
sachen beruhend  erwiesen.  Bis  vor  zwei  Jahren  war  New 
Jersey  seit  einer  halben  Generation  im  Senate  der  Ver- 
einigten Staaten  nicht  durch  die  Männer  vertreten,  die 
gewählt  worden  wären,  wenn  die  Wahl  frei  und  auf  den 
Willen  des  Volkes  begründet  gewesen  wäre. 

Wir  wollen  uns  nicht  selbst  täuschen,  unsere  Köpfe  in 
den  Sand  stecken  und  sagen:  ,, Alles  ist  in  schönster  Ord- 
nung." Gladstone  erklärte  die  amerikanische  Verfassung 
für  das  vollkommenste  Schriftstück,  das  je  vom  Menschen- 
geiste verfaßt  worden  sei.  Die  Welt  rühmte  uns  eine  be- 
sondere Befähigung  nach,  zweckmäßige  Einrichtungen  zu 
ersinnen,  aber  zu  diesem  Thema  machte  ein  sehr  kluger 
und  geistreicher  Engländer  eine  sehr  lehrreiche  Bemer- 
kung ;  er  meinte,  der  Umstand,  daß  die  amerikanische  Ver- 
fassung sich  bewährt  habe,  beweise  noch  nicht,  daß  sie 
auch  wirklich  eine  vortreffliche  Verfassung  sei ;  denn  Ame- 

185 


rikaner  verstünden  jede  Verfassung  so  zu  handhaben,  daß 
sie  vortrefflich  erscheinen  könne,  —  ein  KompUment, 
das  sich  wie  Balsam  auf  unsere  Seele  legt  und  doch  eine 
Kritik,  die  uns  zum  Nachdenken  veranlassen  sollte.  Es  ist 
wahr,  daß  die  Kräfte  Amerikas,  solange  sie  rege  sind,  die 
Entwicklung  und  das  Leben  Amerikas  lenken  können,  ohne 
dem  Ideal  unserer  Verfassung  ernstlich  untreu  zu  werden ; 
aber  es  ist  nicht  weniger  wahr,  daß  wir  viele  beschämende 
Fälle  von  Mißbräuchen  erleben  mußten,  die  durch  die 
unmittelbare  Wahl  der  Senatoren  durch  das  Volk  völlig 
beseitigt  werden  könnten.  Und  darum  will  ich  mir  von  kei- 
nem Menschen,  der  seine  amerikanische  Geschichte  kennt, 
sagen  lassen,  es  wäre  mit  dem  Geist  und  dem  Wesen  ame- 
rikanischer Regierungsprinzipien  unvereinbar,  die  direkte 
Senatorenwahl  zu  befürworten. 

Eine  andere  Frage.  Man  betrachte  das  Problem  der 
Initiative  in  der  Gesetzgebung,  die  Frage  der  Volksabstim- 
mung und  der  Beamtenabsetzung.  Es  gibt  in  der  Union 
Gemeinwesen  und  Staaten,  in  denen  es,  wie  ich  bereitwillig 
zugebe,  vielleicht  verfrüht  wäre  oder  vielleicht  auch  nie- 
mals notwendig  sein  wird,  diese  Maßnahmen  zu  erörtern. 
Aber  ich  möchte  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Tatsache 
lenken,  daß  alle  diese  Bestimmungen  zur  allgemeinen  Be- 
friedigung in  einer  Reihe  von  Staaten  angenommen  wur- 
den, in  denen  die  Wählerschar  zu  der  Überzeugung  ge- 
kommen war,  daß  sie  in  ihrem  Lande  keine  repräsentative 
Regierung  besäße.  Weshalb  sollten  wir  in  den  Vereinigten 
Staaten,  dem  Lande,  in  dem  das  Volk  ermächtigt  ist,  seine 
eigene  Regierung  zu  sein,  eine  Bewegung  für  die  Einfüh- 
rung der  Initiative  in  der  Gesetzgebung,  eine  Bewegung 
für  die  Einführung  der  Volksabstimmungen  und  der  Be- 
amtenabsetzung in  die  Wege  leiten  ?  Wann  nahm  das  sei- 
nen Anfang  ?  Ich  habe  während  der  letzten  fünfundzwan- 
zig Jahre  von  kleinen  Vereinen  und  Gesellschaften  aus 

i86 


allen  Gebieten  der  Vereinigten  Staaten  Schriftstücke  und 
Rundschreiben  erhalten,  die  sich  mit  diesen  Fragen  be- 
schäftigten. Aber  lange  Zeit  wollte  keine  Flamme  zünden. 
Man  spürte,  daß  man  eine  repräsentative  Regierung,  eine 
Regierung  durch  die  Volksvertreter  besaß  und  war  zu- 
frieden. Aber  vor  zehn  oder  fünfzehn  Jahren  begann  die 
Flamme  aufzulodern  —  und  hat  sich  weiter  und  weiter 
über  das  Land  verbreitet ;  denn  es  wuchs  das  Bewußtsein, 
daß  sich  irgend  etwas  zwischen  das  Volk  und  die  Regierung 
drängte  und  daß  man  eine  Macht  brauchte,  die  unmittel- 
bar und  stark  genug  wäre,  um  jenes  Hindernis,  das  sich  in 
den  Weg  stellte,  beiseite  zu  schleudern, 
f^ijflch  glaube,  wir  stehen  im  Begriffe,  einige  der  wichtig- 
sten Vorrechte  eines  freien  Volkes  wiederzuerlangen,  und 
ich  glaube  auch,  daß  die  erwähnten  Fragen  bei  dieser 
Wiedererlangung  eine  wichtige  Rolle  spielen.  Ich  traf  kürz- 
lich einen  Mann,  der  glaubte,  das  Referendum  sei  eine  Art 
Tier,  weil  es  einen  lateinischen  Namen  hat;  und  es  gibt 
manche,  denen  die  Bedeutung  dieses  Wortes  noch  er- 
klärt werden  muß.  Aber  die  Mehrzahl  kennt  den  Sinn  und 
bringt  ihm  ein  tiefes  Interesse  entgegen.  Warum  ?  Weil  wir 
zu  oft  spürten,  daß  unsere  Regierung  nicht  uns  vertritt, 
und  weil  wir  uns  sagten :  wir  müssen  einen  Schlüssel  zur 
Tür  unseres  eigenen  Hauses  haben.  Die  Initiative  zu  Ge- 
setzesanträgen, das  Referendum  und  die  Beamtenabsetzung 
sind  ein  solcher  Schlüssel  zu  unserer  eigenen  Wohnung. 
Wenn  drinnen  im  Hause  die  Leute  ihr  Amt  so  versehen, 
wie  wir  es  versehen  sehen  wollen,  mögen  sie  drinnen  blei- 
ben, dann  werden  wir  unseren  Drücker  in  der  Tasche  be- 
halten. Versäumen  sie  aber  ihre  Pflicht,  dann  werden  wir 
genötigt  sein,  als  Eigentümer  einzutreten.  Man  lasse  sich 
nicht  durch  den  Ruf  täuschen,  jemand  habe  die  Absicht, 
die  repräsentative  Regierung  durch  eine  direkte  Regierung 
durch  das  Volk  zu  ersetzen  oder  durch  eine  direkte  Volks- 

187 


abstimmung  über  Gesetze,  die  das  Parlament  angenom- 
men oder  abgelehnt  hat.  Die  Verteidiger  dieser  Reformen 
haben  stets  in  unzweideutiger  Weise  erklärt,  daß  sie  die 
repräsentative  Regierung,  die  Regierung  durch  die  Volks- 
vertretung wiederherstellen  und  nicht  beseitigen  wollen; 
die  Initiative  zu  Gesetzesanträgen  und  die  Volksabstim- 
mung würden  dort  keine  Anwendung  finden,  wo  die  gesetz- 
gebenden Körperschaften  wirklich  das  Volk  vertreten,  das 
sie  zu  ihrem  Dienste  erwählte.  Die  Initiative  zu  Gesetzes- 
anträgen ist  ein  Mittel,  um  Maßregeln  durchzuführen,  die 
das  Volk  braucht,  und  dieses  Mittel  wird  nur  angewendet, 
wenn  die  gesetzgebenden  Körperschaften  die  öffentliche 
Meinung  überhören  oder  ihr  trotzen.  Das  Referendum  aber 
ist  ein  Mittel,  um  zu  hindern,  daß  Maßnahmen,  die  nicht 
im  Interesse  des  Volkes  liegen,  Gesetz  werden  und  in 
die  Verfassung  übergehen.  Die  Grundlage  der  Beamten- 
absetzung, der  ,, Abberufung"  ist  die  Möglichkeit,  einen 
Verwaltungsbeamten  —  denn  mit  den  Verwaltungsbeam- 
ten wollen  wir  den  Anfang  machen  — ,  der  bestechlich  oder 
so  unklug  ist,  Dinge  zu  tun,  die  wahrscheinlich  allerlei  Un- 
heil stiften  müssen,  durch  ein  vom  Gesetz  vorgeschriebenes 
Verfahren  seiner  Stellung  zu  entheben,  ehe  seine  Anstel- 
lungsfrist abläuft.  Man  wird  zugeben,  daß  es  bisweilen  Un- 
zuträglichkeiten mit  sich  bringt,  ein  sogenanntes  astro- 
nomisches Regierungssystem  zu  haben,  an  dem  nichts  ge- 
ändert werden  kann,  ehe  eine  gewisse  Zahl  von  Jahreszeit- 
wechseln eingetreten  ist.  In  vielen  unserer  ältesten  Staaten 
ist  die  übliche  Verwaltungsfrist  ein  einziges  Jahr.  Die  Be- 
wohner dieser  Staaten  waren  nicht  willens,  einem  Beamten, 
der  ihren  Blicken  entzogen  bleibt,  länger  als  zwölf  Monate 
zu  vertrauen.  Wahlen  sind  dort  gewissermaßen  eine  Art 
immerwährende  Tätigkeit,  was  aus  dem  Gedanken  erwuchs, 
das  Volk  müsse  mit  seinen  eigenen  Angelegenheiten  in 
ständiger  Berührung  bleiben.  Das  ist  auch  der  Grundsatz 

i88 


der  ,, Abberufung".  Ich  sehe  nicht  ein,  wie  jemand,  der  die 
Überlieferungen  amerikanischer  Institutionen  kennt,  ge- 
gen die  Abberufung  der  Verwaltungsbeamten  irgendeine 
triftige  Einwendung  geltend  machen  kann.  Die  Bedeutung 
der  Abberufungsmöglichkeit  entspringt  nicht  dem  Ver- 
langen, eine  wandelbare  Regierung  zu  haben  und  auch 
nicht  dem  Gedanken,  daß  Beamte  nicht  wissen  sollen,  wie 
lange  ihre  Macht  währen  kann ;  der  Sinn  der  Maßnahme 
ist  der  Wille,  die  Verwaltung  und  die  Regierung  von  Beam- 
ten ausgeübt  zu  sehen,  die  sich  des  Ursprungs  ihrer  Macht 
bewußt  bleiben  und  wissen,  daß  sie,  wenn  sie  heimlichen 
Einflüssen  erliegen,  sofort  durch  öffentliche  Einflüsse  ab- 
gesetzt werden. 

Man  versteht  ohne  weiteres,  daß  sowohl  bei  der  Initia- 
tive zu  Gesetzesanträgen  wie  bei  dem  Referendum  und  der 
Beamtenabsetzung  allein  das  Vorhandensein  dieser  Ge- 
walt und  die  Möglichkeiten,  die  sie  in  sich  schließt,  den 
halben,  ja  mehr  noch  als  den  halben  Sieg  bedeuten.  Sie 
brauchen  kaum  jemals  angewandt  zu  werden.  Die  Tatsache, 
daß  das  Volk  eingreifen  kann,  läßt  die  Mitglieder  der  Le- 
gislatur die  Notwendigkeit,  selbst  einzugreifen,  stets  füh- 
len ;  die  Tatsache,  daß  das  Volk  das  Recht  hat,  die  Auf- 
hebung von  Gesetzen  zu  fordern,  macht  die  Mitglieder 
der  gesetzgebenden  Körperschaften  gegen  Gesetze  vor- 
sichtig, die  das  Volk  nicht  billigt.  Die  Möglichkeit  aber, 
abgesetzt  zu  werden,  wird  die  Beamten  anhalten,  sich  der 
Verantwortlichkeit  für  ihr  Verhalten  bewußt  zu  bleiben. 

Anders  liegen  die  Dinge,  wenn  wir  uns  dem  Gerichts- 
wesen zuwenden.  Ich  persönlich  bin  nie  ein  Anhänger  der 
Richterabsetzung  gewesen.  Nicht  daß  einige  Richter  es 
nicht  verdient  hätten,  abgesetzt  zu  werden.  Das  ist  nicht 
der  entscheidende  Punkt.  Das  Entscheidende  scheint  mir, 
daß  die  Absetzung  der  Richter  nur  das  Symptom  und  nicht 
die  Krankheit  behandelt.   Das  Übel  sitzt  tiefer  und  ist 

189 


manchmal  sehr  heftig  und  gefährlich.  Es  hat  in  den  Ver- 
einigten Staaten  Gerichtshöfe  gegeben,  die  durch  Sonder- 
interessen beeinflußt  worden  sind.  Wir  haben  höchste  Ge- 
richtshöfe gehabt,  vor  denen  einfache  Leute  keine  Ge- 
rechtigkeit erlangen  konnten.  Es  hat  bestochene  Richter 
gegeben,  es  hat  beeinflußte  Richter  gegeben,  es  hat  Rich- 
ter gegeben,  die  als  Diener  anderer  Leute  handelten  und 
nicht  als  Diener  der  Allgemeinheit.  Ach,  die  Geschichte 
birgt  manche  schimpflichen  Kapitel!  Das  Gerichtsver- 
fahren ist  die  letzte  Zuflucht  aller  Dinge,  die  wir  in  unse- 
rem Lande  schützen  und  bewahren  müssen.  Aber  wenn 
diese  Zuflucht  der  Korruption  zugänglich  ist,  wenn  sie  mei- 
nen und  euren  Interessen  keinen  Schutz  mehr  gewährt, 
sondern  nur  denen  einer  sehr  kleinen  Gruppe  von  Män- 
nern, und  wenn  immer,  wo  eure  Interessen  mit  denen 
dieser  kleinen  Gruppe  in  Widerstreit  geraten,  die  eurigen 
weichen  müssen,  obwohl  ihr  neun  Zehntel  der  Bürger  und 
sie  nur  ein  Zehntel  darstellen  —  wo  bleibt  dann  unsere 
Zuflucht  und  unsere  Sicherheit  ?  Das  Rechtsempfinden  des 
Volkes  muß  wie  jeden  anderen  Zweig  der  Regierung  und 
der  Verwaltung  auch  das  Gerichtswesen  beherrschen. 
Aber  um  das  zu  erreichen,  gibt  es  wirksame  und  unwirk- 
same Mittel.  Wenn  —  wohl  gemerkt,  ich  sage  wenn  —  ein- 
mal die  Southern  Pacific  Bahn  den  obersten  Gerichtshof 
des  Staates  Kalifornien  von  sich  abhängig  gemacht  hätte : 
würdet  ihr  durch  die  Absetzung  der  Richter  dieses  Ge- 
richtshofes diese  Situation  beseitigen?  Was  wäre  mit 
der  Absetzung  erreicht,  wenn  die  Southern  Pacific  andere 
ihr  ergebene  Richter  an  ihre  Stelle  setzen  könnte?  Der 
Schnitt  wäre  nicht  tief  genug.  Was  wir  erstreben,  ist  Ein- 
fluß auf  die  Auswahl  der  Richter.  Und  wenn  wir  dort  be- 
ginnen, werden  wir  auch  den  Kern  der  ganzen  Frage  tref- 
fen. Denn  der  Schwerpunkt  der  Angelegenheit  ist,  daß  das 
amerikanische  Volk  den  Verdacht  hegte  (der  sich  durch 

190 


alle  Art  von  überwältigenden  und  unwiderleglichen  Be- 
weisen als  gerechtfertigt  erwies),  wir  seien  Schritt  um 
Schritt  bei  allen  Wendepunkten  der  Geschichte  unseres 
Landes  nicht  durch  das  öffentliche  Interesse,  sondern 
durch  geheime  Abmachungen  beherrscht  worden.  Und  un- 
saubere, um  nicht  zu  sagen  verderbte  Einflüsse  haben  alles 
bestimmt:  von  dem  Erlaß  von  Gesetzen  bis  zur  Verwal- 
tung des  Gerichtsverfahrens.  Das  Übel  liegt  in  jener  Gegend, 
in  der  die  Ernennung  dieser  Leute  erfolgt;  und  wenn  es 
uns  gelingt,  dem  Volk  die  Auswahl  der  Richter  wieder- 
zuerobern,  werden  wir  uns  um  die  Frage  ihrer  Absetzung 
kaum  noch  zu  sorgen  haben.  Die  Auswahl  ist  von  weit- 
reichenderer Wirkung  als  die  Wahl.  Ich  weiß  wohl,  daß 
jene,  die  für  die  hier  erörterten  Maßnahmen  eingetreten 
sind,  als  gefährliche  Radikale  verschrien  wurden.  Ich  be- 
obachte dabei  mit  besonderem  Interesse,  daß  die  Leute, 
die  am  lautesten  ihre  Stimme  gegen  das,  was  sie  Radika- 
lismus nennen,  erheben,  just  jene  Leute  sind,  die  ihr  ei- 
genes politisches  Spiel  gefährdet  sehen.  Wer  sind  heutzu- 
tage diese  Erzkonservativen  ?  Wer  sind  die  Leute,  die  die 
glühendsten  Lobeshymnen  auf  die  Verfassung  der  Ver- 
einigten Staaten  und  auf  die  Verfassung  der  Einzelstaaten 
anstimmen?  Es  sind  die  Herren,  die  sich  hinter  jenen  Ur- 
kunden zu  verkriechen  pflegen,  um  mit  dem  Volke,  dem 
sie  angeblich  dienen,  Versteck  zu  spielen.  Es  sind  die  Leute, 
die  sich  selbst  in  jene  Gesetze  verstrickten,  die  sie  falsch 
auslegten  und  mißbrauchten.  Wenn  sie  jetzt  —  und  ich 
glaube  mit  Recht  —  fürchten,  daß  der  ,, Radikalismus"  sie 
hinwegfegen  wird,  so  haben  sie  das  nur  sich  selbst  zu 
danken. 

Wie  absurd,  wie  aus  der  Luft  gegriffen  und  wie  heuch- 
lerisch ist  die  Anklage,  wir,  die  wir  eine  das  Volk  vertre- 
tende und  für  die  Forderungen  des  Volks  verantwortliche 
Regierung  fordern,  tasteten  die  entscheidenden  Grundsätze 

191 


der  republikanischen  Einrichtungen  an!  Dieselben  Leute, 
die  so  aufgeregt  ihre  Warnungsrufe  ausstoßen,  würden 
am  4.  Juli  laut  genug  die  Unabhängigkeitserklärung  de- 
klamieren ;  und  sie  würden  fortfahren  und  über  jene  präch- 
tigen Kundgebungen  in  unseren  frühesten  Staatsverfas- 
sungen sprechen,  die  von  allen  späteren  nachgeahmt  wur- 
den und  die  der  Petition  der  Rechte  und  der  Erklärung  der 
Rechte  entstammte,  jenen  großen  grundlegenden  Doku- 
menten des  englischen  Kampfes  um  die  Freiheit.  Und  doch 
lesen  wir  sogar  in  diesen  Dokumenten  so  rücksichtslose  Be- 
stimmungen wie  die :  Wenn  je  die  Bürger  eines  Gemein- 
wesens sehen,  daß  die  Regierung  für  die  Lebensverhält- 
nisse und  die  Wahrung  der  Rechte  der  Allgemeinheit  nicht 
geeignet  ist,  dann  ist  es  ihr  Vorrecht,  diese  Regierung  nach 
ihrem  Belieben  nach  jeder  Richtung  hin  und  in  jedem  Um- 
fange zu  ändern.  Das  ist  die  Grundlage,  die  innerste  Lehre 
und  das  Grundgesetz  amerikanischer  Einrichtungen.  Ich 
möchte  einen  Absatz  aus  der  ,, Erklärung  der  Rechte"  von 
Virginien  zitieren,  aus  jenem  unvergänglichen  Dokument, 
das  ein  Vorbild  für  die  Freiheitserklärungen  unseres  Erd- 
teils geworden  ist: 

,,Daß  alle  Gewalt  dem  Volke  übertragen  und  infolge- 
dessen vom  Volke  abgeleitet  ist ;  daß  Beamte  seine  Beauf- 
tragten und  Diener  und  ihm  jederzeit  verantwortlich  sind. 

Daß  die  Regierung  für  das  allgemeine  Wohl,  den  Schutz 
und  die  Sicherheit  des  Volkes,  der  Nation  oder  des  Gemein- 
wesens eingesetzt  ist  oder  sein  soll ;  von  allen  mannig- 
fachen Arten  und  Formen  der  Regierung  ist  jene  die  beste, 
die  den  höchsten  Grad  von  Glück  und  Sicherheit  hervor- 
zubringen vermag  und  die  am  wirkungsvollsten  gegen  die 
Gefahr  einer  Mißregierung  geschützt  ist;  und  daß,  wenn 
irgendeine  Regierung  als  nicht  diesen  Zwecken  dienlich 
oder  ihnen  widersprechend  erachtet  werden  sollte,  die 
Mehrheit  des  Gemeinwesens  das  unzweifelhafte,  unver- 

192 


äußerliche  und  unantastbare  Recht  hat,  sie  zu  verbessern, 
zu  verändern  oder  zu  beseitigen,  in  solcher  Weise,  wie  sie 
dem  öffentlichen  Wohle  als  am  dienlichsten  erachtet  wird." 

Ich  habe  diese  Sätze  unzähligemal  am  4.  Juli  verlesen 
hören,  aber  ich  hörte  sie  niemals,  wo  über  aktuelle  Maß- 
nahmen beraten  wurde.  Niemand,  der  die  Grundsätze 
kennt,  auf  denen  unsere  Republik  aufgebaut  wurde,  hat 
die  leiseste  Furcht  vor  diesen  sanften,  wenn  auch  sehr  wir- 
kungsvollen Maßnahmen,  durch  die  das  Volk  von  neuem 
die  Führung  seiner  eigenen  Angelegenheiten  übernimmt. 

Auch  braucht  kein  Anhänger  der  Freiheit  für  den  Aus- 
gang des  Kampfes,  den  wir  jetzt  begonnen  haben,  zu  ban- 
gen. Der  Sieg  ist  gewiß,  und  der  Kampf  wird  kein  beson- 
ders blutiger  sein.  Er  wird  kaum  den  Namen  eines  Kampfes 
verdienen.  Man  lasse  mich  die  Geschichte  von  der  Befrei- 
ung eines  Staates  New  Jerseys  erzählen: 

Es  hat  das  Volk  der  Vereinigten  Staaten  überrascht, 
New  Jersey  an  der  Spitze  der  Reformbestrebungen  zu  sehen. 
Ich,  der  ich  den  größten  Teil  meines  reiferen  Lebens  in 
New  Jersey  verbrachte,  weiß,  daß  es  keinen  Staat  in  der 
Union  gibt,  der,  was  Herz  und  Verstand  des  Volkes  betrifft, 
eine  Reform  ernstlicher  wünschte  als  New  Jersey.  Es  gibt 
dort  Männer,  die  in  hervorragender  Weise  für  die  Staats- 
angelegenheiten wirken  und  die  immer  wieder  mit  dem 
ganzen  ihnen  innewohnenden  Ernste  für  die  Dinge  ein- 
traten, die  zu  vollbringen  sie  jetzt  endlich  in  der  Lage  sind. 
Es  gibt  in  New  Jersey  Männer,  die  ihre  besten  Lebens- 
kräfte daransetzten,  bei  den  Wahlen  zu  siegen,  um  die 
Unterstützung  der  Bürger  New  Jerseys  für  eine  Reform 
zu  erlangen. 

Das  Volk  hatte  vor  dem  Herbst  des  Jahres  1910  sehr 
oft  seine  Stimme  für  diese  Reform  abgegeben,  aber  das 
Merkwürdige  war,  daß  nichts,  geschah.  Man  forderte  die 
Wohltat  gewisser  reformatorischer  Bestimmungen,   wie 

13  193 


sie  in  jedem  fortschrittlicheren  Staat  der  Union  angenom- 
men worden  waren,  Maßnahmen,  die  bewiesen  hatten, 
daß  sie  nicht  nur  das  Leben  der  Gemeinwesen,  in  denen  sie 
Geltung  hatten,  nicht  umstürzten,  sondern  durch  deren 
Wirksamkeit  jede  Kraft  neu  belebt  und  jede  Lebensbe- 
dingung gebessert  wurde.  Aber  das  Volk  von  New  Jersey 
vermochte  diese  Maßnahmen  nicht  zu  erlangen,  und  so 
bemächtigte  sich  der  Bürger  eine  gewisse  pessimistische 
Verzweiflung.  Des  öfteren  traf  ich  Leute,  die  die  Achsel 
zu  zucken  pflegten  und  meinten:  ,,Es  ist  ja  gleichgültig, 
wofür  wir  stimmen,  nie  ist  der  Abstimmung  irgendetwas 
gefolgt."  Die  Macht,  die  hinter  der  vor  kurzem  neu  gebil- 
deten Partei,  der  sogenannten  Fortschrittspartei,  steht,  ist 
die  Macht  der  Unzufriedenheit  mit  den  alten  Parteien  der 
Vereinigten  Staaten.  Es  ist  das  Gefühl,  daß  man  oft  genug 
in  Sackgassen  geraten  ist  und  daß  irgendwie  freie  Bahn 
geschaffen  werden  muß,  durch  die  man  zu  irgendeinem 
Ziele  kommen  kann. 

Im  Jahre  1910  kam  der  Tag,  da  das  Volk  von  New 
Jersey  Mut  faßte  und  zu  glauben  begann,  daß  etwas  voll- 
bracht werden  könnte.  Als  Kandidat  für  den  Gouverneurs- 
posten besaß  ich  keinerlei  Verdienste,  es  sei  denn,  daß 
ich  sagte,  was  ich  wirklich  dachte  und  daß  das  Volk  mir 
dieses  Kompliment  dadurch  zurückgab,  daß  es  glaubte, 
ich  meinte  wirklich,  was  ich  sagte.  Aber  trotzdem  sie  dem 
Gouverneur,  den  sie  damals  erwählten,  glaubten,  trotz- 
dem sie  ihm  voll  und  ganz  vertrauten :  er  konnte  absolut 
nichts  durchsetzen.  Viel  mehr  als  in  ihren  eigenen  Geistes- 
gaben liegt  die  Stärke  der  Staatsmänner  einer  Nation  im 
Vertrauen  des  Volkes  und  im  Rückhalt  im  Volke.  In  dem 
Maße  als  die  Allgemeinheit  ihnen  vertraut,  sie  unterstützt 
und  ihnen  die  eigene  Kraft  leiht,  in  dem  Maße  sind  sie 
stark.  Die  Dinge,  die  sich  in  New  Jersey  seit  19 10  ereig- 
neten, haben  sich  ereignet,  weil  der  Samen  in  den  frucht- 

194 


baren  Boden  des  allgemeinen  Vertrauens  und  der  Hoffnung 
gepflanzt  worden  war. 

In  dem  Augenblick,  da  in  New  Jersey  die  bisherigen 
Gegner  der  Reformbestrebungen  erkannten,  daß  das  Volk 
neue  Männer  stützte,  die  das  meinten,  was  sie  sagten,  er- 
kannten sie,  daß  sie  ihnen  nicht  widerstehen  durften.  Es 
war  nicht  die  persönliche  Kraft  der  neuen  Beamten:  es 
war  die  moralische  Kraft  des  hinter  ihnen  stehenden  Vol- 
kes, die  den  außergewöhnlichen  Erfolg  erzielte. 

Und  was  ward  erreicht  ?  Nur  Gerechtigkeit  für  Volks- 
klassen, die  vordem  nicht  gerecht  behandelt  worden  waren. 

Jeder  Schuljunge  in  New  Jersey  konnte,  wenn  er  sich 
die  Mühe  nahm,  die  Dinge  zu  betrachten,  die  Tatsache 
erkennen,  daß  die  Gesetze,  die  sich  auf  die  Entschädigun- 
gen der  Arbeiter  bei  Betriebsunfällen  beziehen,  zu  einer  Zeit 
entstanden  waren,  da  die  Gesellschaft  in  einer  von  heute 
durchaus  abweichenden  Art  organisiert  war.  Und  da  die 
Gesetze  nicht  geändert  worden  waren,  blieben  die  Gerichts- 
höfe gezwungen,  blindlings  Gesetze  anzuwenden,  die  den 
bestehenden  Verhältnissen  nicht  mehr  entsprachen,  so  daß 
es  für  die  Arbeiter  von  New  Jersey  tatsächlich  unmöglich 
war,  vor  Gericht  Gerechtigkeit  zu  erlangen.  Die  Legislatur 
des  Staates  war  ihnen  nicht  mit  der  notwendigen  Gesetz- 
gebung zur  Hilfe  gekommen.  Diese  Umstände  waren  für 
keinen  Menschen  ernsthaft  strittig;  jeder  wußte,  daß  die 
Gesetze  veraltet  und  unmöglich  waren  und  daß  man  ver- 
gebens Gerechtigkeit  suchte. 

Dann  gab  es  eine  andere  Aufgabe,  die  wir  zu  lösen 
wünschten :  wir  wünschten  die  Bestimmungen  über  die  Pu- 
blic Service  Corporations*)  so  zu  regulieren,  daß  wir  von 
ihnen  eine  angemessene  Arbeitsleistung  zu  vernünftigen 

*)  Die  zu  Verbänden  trustartig  organisierten  Gesellschaften,  die 
Staat,  Gemeinden  und  Publikum  mit  Wasser,  Gas  und  Elektrizität  ver- 
sorgen   und  vielfach    auch    die    Straßenbahnen    betreiben.     Anm.   d.  Ü. 

13*  195 


Bedingungen  fordern  könnten.  Das  war  in  anderen  Staaten 
geschehen,  und  wo  es  geschehen  war,  hatte  sich  diese  Maß- 
nahme ebensosehr  zum  Vorteil  der  Korporationen  wie 
zum  Nutzen  des  Volkes  bewährt.  Natürlich  war  es  nicht 
leicht,  die  Verbände  zu  überzeugen.  Es  fügte  sich,  daß 
einer  von  jenen,  die  recht  wenig  von  diesen  Dingen  ver- 
standen, zufällig  der  Vorsitzende  der  Public  Service  Corpo- 
ration von  New  Jersey  war.  Ich  habe  Reden  dieses  Herrn 
gehört,  die  von  einer  vollkommenen  Unkenntnis  der  Ver- 
hältnisse unserer  Tage  zeugten.  Nie  habe  ich  in  allen  Einzel- 
heiten eine  restlosere  Unwissenheit  kennen  gelernt;  und 
da  er  Macht  und  Unwissenheit  in  sich  vereinigte,  setzte  er 
naturgemäß  seine  ganze  Kraft  daran,  den  Dingen,  die  er 
nicht  verstand,  zu  trotzen. 

Ich  habe  keinen  Anlaß,  die  Ehrlichkeit  der  Beweg- 
gründe von  Männern,  die  sich  in  solchen  Stellungen  be- 
finden, anzuzweifeln.  Ich  bedauere  nur,  daß  sie  nicht  mehr 
wissen.  Wenn  sie  sich  dem  Zuge  des  Fortschrittes  anschlie- 
ßen wollten,  würden  sie  an  sich  selbst  den  Segen  dieser  ge- 
sunden Bewegung  verspüren  und  damit  sicherlich  in  sich 
jene  Fähigkeit  zum  Lernen  erneuern,  die  sie  hoffentlich 
besaßen,  als  sie  jünger  waren.  Als  wir  die  Public  Service 
Corporation  in  New  Jersey  regulierten,  unternahmen  wir 
nicht  etwa  einen  neuartigen  Versuch ;  wir  versuchten  nur 
eine  Maßnahme  öffentlicher  Gerechtigkeit  einzuführen, 
die  bereits  ihre  Proben  bestanden  hatte.  Wir  führten  sie 
ein.  Hat  jemand  seitdem  Bankrott  gemacht?  Zweifelt 
heute  noch  jemand  daran,  daß  die  Verwirklichung  unse- 
rer Absicht  sowohl  der  Public  Service  Corporation  als  dem 
Volke  des  Staates  zum  Segen  gereichte? 

Es  gab  noch  etwas,  das  wir  in  aller  Bescheidenheit 
wünschten :  wir  verlangten  ehrliche  Wahlen ;  wir  wollten 
nicht,  daß  Kandidaten  sich  Amter  erkauften.  Das  erschien 
vernünftig.  So  nahmen  wir  ein  Gesetz  an,  das  in  einer  Be- 

196 


Ziehung  einzigartig  war,  nämlich :  wer  sich  ein  Amt  kaufte, 
erhielt  es  nicht.  Ich  räume  ein,  daß  das  allen  kaufmänni- 
schen Grundsätzen  widerspricht,  aber  ich  halte  es  für  einen 
sehr  gesunden  politischen  Grundsatz.  Es  ist  ganz  schön 
und  gut,  jemanden  dafür,  daß  er  ein  Amt  erkaufte,  ins 
Gefängnis  zu  stecken,  aber  es  ist  viel  besser,  ihm  außer- 
dem noch  zu  zeigen,  daß  er  ein  Amt,  für  das  er  auch  nur 
einen  einzigen  Dollar  bezahlt  hat,  nicht  erhält,  trotzdem 
eine  große  Mehrheit  für  ihn  gestimmt  hat.  Wir  stellten 
die  Handelsgesetze  auf  den  Kopf:  wer  in  New  Jersey  in 
der  Politik  irgend  etwas  kauft,  bekommt  es  nicht.  Das 
schien  uns  der  geeignete  Weg,  um  unsaubere  politische 
Machenschaften  zu  entmutigen.  Wenn  man  mit  seinem 
Gelde  keine  Güter  erwerben  kann,  kommt  man  nicht  in 
Versuchung,  sein  Geld  auszugeben. 

Wir  führten  ein  Gesetz  gegen  die  Bestechungen  ein, 
dessen  vernünftige  Begründung  niemand  anzweifeln 
konnte ;  und  ein  Wahlgesetz,  dem  jedermann  prophezeite, 
daß  es  nicht  wirksam  werden  würde ;  aber  es  wurde  wirk- 
sam und  es  bewirkte  die  Befreiung  aller  Wähler  New  Jer- 
seys. 

Alle  diese  Dinge  sind  heute  für  uns  etwas  Alltägliches 
geworden.  Wir  schätzen  die  Gesetze,  die  wir  eingeführt  ha- 
ben, und  niemand  wagt  es,  eine  grundlegende  Änderung 
an  ihnen  vorzuschlagen.  Warum  hatten  wir  diese  Gesetze 
nicht  schon  längst  erhalten?  Was  hinderte  uns  daran? 
Der  Grund  war,  daß  wir  eine  geheime  und  keine  öffent- 
liche Regierung  hatten.  Es  war  nicht  unsere  Regierung. 
Sie  wurde  durch  kleine  Gruppen  von  Männern  beherrscht, 
deren  Namen  wir  kannten,  die  aber  abzusetzen  wir  irgend- 
wie nicht  imstande  zu  sein  schienen.  Wenn  wir  Männer 
wählten,  die  sich  dazu  verpflichtet  hatten,  sie  ihrer  Macht 
zu  entkleiden,  dann  wurden  die  Gewählten  nur  die  Ver- 
bündeten jener,  die  zu  bekämpfen  sie  gewählt  worden 

197 


waren.  Offenbar  war  es  notwendig,  daß  ein  Laie  gewählt 
wurde,  der  von  dem  ganzen  Handel  so  wenig  verstand, 
daß  er  annahm,  man  erwarte  von  ihm,  er  würde  das  tun, 
was  zu  tun  er  versprochen  hatte. 

Es  gibt  Leute,  die  dem  Gouverneur  von  New  Jersey 
den  Vorwurf  machten,  daß  er  gewisse  Dinge  nicht  tat  und 
daß  er  beispielsweise  nicht  einen  Haufen  von  Anklagen 
anstrengte.  Der  Gouverneur  von  New  Jersey  hält  es  nicht 
für  nötig,  sich  selbst  zu  verteidigen;  aber  er  möchte  die 
Aufmerksamkeit  auf  einen  interessanten  Vorgang  lenken, 
der  sich  in  seinem  Staate  vollzog.  Als  das  Volk  die  Re- 
gierung wieder  übernommen  hatte,  ging  bei  sehr  vielen 
Leuten  eine  sonderbare  Veränderung  vor  sich ;  es  war  ein 
jähes  moralisches  Erwachen,  und  wir  konnten  keine 
Schuldigen  mehr  finden,  gegen  die  wir  hätten  klagen  kön- 
nen ;  man  befolgte  alle  Gesetze  wie  in  der  Sonntagsschule. 

Darum  sage  ich,  daß  es  durchaus  nicht  schwierig 
ist,  die  Selbstregierung  wiederzuerlangen.  Wir  brauchen 
keine  Befürchtungen  zu  hegen,  wenn  wir  den  Entschluß 
fassen,  diese  Aufgabe  zu  erfüllen.  ,,Der  Weg  zum  Wieder- 
beginn ist  der  Wiederbeginn",  sagte  einst  Horace  Greeley, 
als  das  Land  sich  bei  einer  Aussicht  entsetzte,  die  sich  als 
nicht  im  geringsten  entsetzlich  erwies;  es  war  bei  der 
Wiederaufnahme  der  Münzzahlungen  für  die  Schatzan- 
weisungen. Das  Schatzamt  nahm  die  Einlösung  einfach 
wieder  auf  —  und  als  der  Tag  dieser  Wiederaufnahme  der 
Münzzahlungen  kam,  gab  es  nirgends  Gefahr  und  Auf- 
regung. Genau  so  wird  es  sein,  wenn  das  Volk  wieder  die 
Herrschaft  über  seine  eigene  Regierung  übernimmt.  Die 
Männer,  die  die  politischen  Maschinen  bedienen,  sind  nur 
ein  kleiner  Bruchteil  der  Partei,  die  sie  angeblich  vertreten, 
und  die  Leute,  die  einen  verderblichen  Einfluß  auf  sie  aus- 
üben, sind  wiederum  nur  ein  kleiner  Teil  der  Geschäfts- 
leute des  ganzen  Landes.  Wir  haben  uns  nicht  dazu  ver- 

198 


bündet,  um  eine  Partei  oder  einen  großen  Verband  von 
Bürgern  zu  bekämpfen ;  wir  haben  nur  kleine  Koterien  zu 
bekämpfen,  vereinzelte  Gruppen  von  Leuten,  einige  wenige 
Männer,  die  nur  dadurch  schalten,  daß  sie  uns  täuschen, 
und  die  verschwinden  werden,  sobald  sie  aufhören  müssen 
uns  zu  täuschen.  Ich  hatte  Gelegenheit,  die  Macht  einer 
solchen  Gruppe  in  New  Jersey  zu  erproben,  und  konnte  zu 
meiner  Zufriedenheit  feststellen,  daß  ich  recht  gehabt 
hatte,  als  ich  annahm,  sie  besäßen  in  Wirklichkeit  über- 
haupt keine  Macht.  Es  sah  aus,  als  seien  sie  in  einer  Fe- 
stung verschanzt ;  es  sah  aus,  als  starrten  die  Schießschar- 
ten der  Mauern  von  Gewehren.  Aber  wie  ich  es  meinen 
Mitbürgern  prophezeit  hatte :  man  brauchte  nichts  weiter 
zu  tun,  als  ein  wenig  gegen  die  Mauern  zu  drücken,  um 
zu  entdecken,  daß  sie  nichts  weiter  als  ein  Kartenhaus 
waren;  es  waren  nur  Bühnenrequisiten  und  als  sich  die 
Zuschauer  erst  aufmachten  und  einen  Blick  hinter  die  Ku- 
lissen warfen,  da  zeigte  es  sich,  daß  das  Heer,  das  mit  so 
schrecklichem  Aufwand  aufmarschiert  war,  nur  aus  einer 
einzigen  Kompagnie  bestand,  die  in  die  eine  Kulisse  hin- 
ein und  aus  der  anderen  wieder  herausmarschiert  war, 
sie  hätte  auf  diese  Weise  vierundzwanzig  Stunden  lang 
verbeimarschieren  können.  Man  braucht  nur  gegen  vier- 
undzwanzig Mann,  um  diese  Augentäuschung  hervorzu- 
rufen. Es  sind  Taschenspieler.  Sie  haben  nur  Macht, 
wenn  wir  so  töricht  sind  wie  bisher.  Ihr  Kapital  ist  unsere 
Unwissenheit  und  unsere  Leichtgläubigkeit. 

Heute  gewahren  wir  etwas,  das  zu  sehen  manche  von 
uns  ein  Leben  lang  geharrt  haben.  Wir  sind  Zeugen  einer 
Erhebung  unseres  Landes.  Wir  sehen,  wie  ein  ganzes  Volk 
aufsteht  und  sich  nicht  länger  täuschen  lassen  will.  Der 
Tag  ist  gekommen,  da  die  Leute  zueinander  sagen:  ,,Es 
ist  für  mich  vollkommen  gleichgültig,  mit  welcher  Partei 
ich  abgestimmt  habe.  Ich  werde  mir  die  Leute  heraus- 

199 


suchen,  die  ich  will,  und  die  Politik,  die  ich  brauche,  und 
kümmere  mich  nicht  um  das  Etikett.  Ich  sehe  keinen  gro- 
ßen Unterschied  zwischen  meiner  Liste  und  der  Liste  jener, 
die  für  die  andere  Partei  gestimmt  haben  und  die  ebenso 
wie  ich  mit  der  Art,  in  der  ihre  Partei  ihre  Treue  vergalt, 
höchst  unzufrieden  sind.  Sie  wollen  dasselbe,  das  ich  will, 
und  ich  weiß  unter  Gottes  Himmel  nichts,  was  unser  Zu- 
sammengehen verhindern  könnte.  Wir  wollen  das  gleiche, 
wir  haben  das  gleiche  Vertrauen  zu  den  alten  Traditionen 
des  amerikanischen  Volkes,  und  wir  haben  uns  entschlos- 
sen, jetzt  endlich  statt  des  Schattens  die  Wirklichkeit  zu 
erlangen."  Wir  Amerikaner  haben  uns  zu  lange  damit 
begnügt,  die  Maßnahmen  der  Regierung  nur  oberfläch- 
lich zu  überfliegen.  Wir  haben  uns  nasführen  lassen.  Wir 
sind  zu  den  Wahlen  gegangen  und  haben  gesagt:  ,,Dies 
ist  die  Handlung  eines  souveränen  Volkes,  aber  wir  wollen 
jetzt  noch  nicht  souverän  sein;  wir  wollen  es  vertagen, 
wir  wollen  bis  zum  nächsten  Male  warten.  Die  Regisseure 
rücken  noch  an  den  Kulissen;  wir  sind  noch  nicht  zum 
richtigen  Auftreten  bereit."  Mein  Vorschlag  ist,  daß  wir 
mit  diesem  Theaterspiel  aufhören  und  daß  wir  anfangen, 
die  Ideale  amerikanischer  Politik  in  die  Wirklichkeit  um- 
zusetzen, so  daß  ein  jeder,  wenn  er  am  Wahltage  seine 
Stimme  abgibt,  das  Bewußtsein  spüre,  wirklich  ein  Urteil 
zu  fällen,  indem  er  die  großen  Dinge,  die  allzulange  Leu- 
ten, die  sich  selbst  erwählt  hatten,  überlassen  waren,  nun 
selbst  wieder  in  seine  Hand  nimmt,  um  im  Ernste  daran- 
zugehen, seine  eigenen  Ziele  zu  verwirklichen. 


200 


Elftes  Kapitel 
Die  Befreiung  des  Geschäftslebens 

Bei  den  Reformen  und  Wiederanpassungen,  die  in  Ame- 
rika durchgeführt  werden  müssen,  wird  auch  nicht  eine 
einzige  rechtmäßige  und  berechtigte  Abmachung  beein- 
trächtigt werden ;  jede  Beschränkung  des  Geschäftslebens 
aber  soll  beseitigt  und  jede  unrechtmäßige  Art  von  Will- 
kür vernichtet  werden.  Jedem  Manne,  der  eine  Gelegen- 
heit zur  Betätigung  seines  Unternehmungsgeistes  sucht 
und  der  die  Tatkraft  besitzt,  die  Gelegenheit  zu  ergreifen, 
soll  der  Weg  zu  dieser  Möglichkeit  freistehen.  Von  jenen 
Männern,  die  heute  monopolartige  Vergünstigungen  ge- 
nießen, soll  nichts  weiter  verlangt  werden,  als  daß  sie 
ihren  Verstand  mit  dem  Verstand  jener  messen,  die  mit 
ihnen  konkurrieren  wollen.  Dem  Verstand  und  der  Tat- 
kraft der  anderen  soll  freies  Feld  zur  Betätigung  ihrer  Fähig- 
keiten geboten  werden  —  das  ist  der  Inbegriff  der  unser 
harrenden  Aufgabe.  Eine  allgemeine  Befreiung  des  Kapi- 
tals und  des  Unternehmungsgeistes  von  Millionen  Men- 
schen wird  einsetzen  und  weit  sollen  die  Tore  der  Mög- 
lichkeiten aufgeschlagen  werden.  Mit  welcher  Entschlos- 
senheit und  mit  welchem  Jubelruf  wird  das  Volk  sich  zu 
seiner  Befreiung  erheben !  Denn  ich  gehöre  zu  jenen,  die  da 
glauben,  daß  der  Wohlfahrt  dieses  Landes  so  starke  Fes- 
seln angelegt  wurden,  daß  wir  noch  nicht  zu  unserem 
Rechte  kamen ;  und  ich  glaube,  daß  die  Beseitigung  dieser 
Schranken  einen  Sturm  von  Tatkraft  entfesseln  wird,  wie 
sie  unsere  Generation  nicht  kannte. 

201 


Aus  diesem  Glauben  leite  ich  das  Recht  her,  die  vor- 
handenen Beschränkungen  und  die  Mittel,  durch  die  sie 
erreicht  wurden,  mit  dem  größten  Freimut  zu  kritisieren. 
Und  ich  spreche  nicht  als  einer,  der  den  Mut  verloren  hat ; 
wenn  ich  diese  Zustände  schildere,  die  so  viel  hemmen, 
hindern  und  fesseln,  dann  schildere  ich  nur  Zustände,  die 
wir  überwinden  und  hinter  uns  lassen  werden,  um  ein 
neues  Zeitalter  zu  beginnen.  Die  Stunde  ist  angetan,  un- 
gewohnte Freimut  zu  fordern.  Ich  kann  kaum  sagen,  wie 
viele  Geschäftsleute,  wie  viele  große  Geschäftsleute  mir 
heimlich  und  vertraulich  ihre  wirkliche  Meinung  über 
die  waltenden  Zustände  mitgeteilt  haben.  Sie  fürchten 
irgendwen.  Sie  schrecken  davor  zurück,  mit  ihrer  wirk- 
lichen Meinung  öffentlich  hervorzutreten ;  sie  verraten  sie 
in  nur  unter  der  Hand.  Das  ist  ein  trostloser  Zustand. 
Denn  es  zeigt,  daß  wir  nicht  die  Herren  unserer  Meinun- 
gen sind,  es  sei  denn  vor  der  Wahlurne ;  und  selbst  dann 
achten  wir  darauf,  so  heimlich  als  möglich  zu  wählen. 
Daß  solche  Zustände  walten  können,  muß  die  ernstesten 
Befürchtungen  wecken.  Aus  welchem  Grunde  sollte  irgend- 
ein Mann  im  freien  Amerika  irgendeinen  anderen  Mann 
fürchten  ?  Und  warum  soll  irgendwer  Konkurrenz  fürch- 
den,  sei  dies  nun  der  Wettbewerb  mit  seinen  Landsleuten 
oder  mit  sonst  jemand  auf  der  Welt? 

Eine  der  Anklagen  gegen  die  Wirkungen  unseres  Schutz- 
zolltarifes  ist,  daß  er  den  Lebensmut  unseres  Volkes  ge- 
schwächt und  nicht  gesteigert  hat.  Amerikanische  Fabri- 
kanten, die  wissen,  daß  sie  bessere  Produkte  erzeugen  kön- 
nen als  sie  in  irgendeinem  Lande  der  Welt  hervorgebracht 
werden,  amerikanische  Fabrikanten,  die  diese  Produkte 
auf  ausländischen  Märkten  billiger  verkaufen  können  als 
die  heimische  Industrie  jener  Länder,  amerikanische  Fa- 
brikanten fürchten  sich,  —  fürchten  sich  davor,  sich  nur 
mit  der  Rüstung  ihrer  eigenen  Tüchtigkeit  und  ihrer  eige- 

202 


nen  Gewandtheit  in  die  große  Welt  hinauszuwagen.  Man 
halte  es  sich  vor  Augen :  eine  große  begabte  und  tatkräftige 
Nation,  die  durch  Angst  gelähmt  wird !  Diese  Angst  der  ame- 
rikanischen Geschäftsleute  hat  für  mich  etwas  schlecht- 
hin Erstaunliches.  Sie  hängen  sich  an  die  Rockschöße  der 
Regierung  in  Washington.  Sie  suchen  Vergünstigungen  zu 
erlangen,  sie  bitten :  ,,Aus  Barmherzigkeit,  setzt  uns  nicht 
dem  rauhen  Wetter  der  Welt  aus ;  wickelt  uns  in  ein  paar 
heimatliche  Schutzdecken.  Beschützt  uns.  Sorgt  dafür,  daß 
die  fremden  Männer  nicht  kommen  und  ihre  Kraft  mit  der 
unseren  messen!"  Und  als  handelte  es  sich  dabei  um  eine 
Eigentümlichkeit  unseres  Charakters :  wir  erleben  es,  daß 
just  die  tüchtigsten  und  größten  Männer  Amerikas  die  größ- 
ten Vergünstigungen  erlangen ;  die  Männer,  die  die  größte 
Befähigung  zum  Aufbau  und  zur  Organisation  einer  In- 
dustrie besitzen,  die  Männer,  die  die  Industrieen  aller  Län- 
der führen  könnten  —  es  sind  dieselben  Männer,  die  sich 
am  zähesten  hinter  den  höchsten  Zollsätzen  des  Tarifes 
verschanzen.  Und  sie  sind  obendrein  noch  so  furchtsam, 
daß  sie  nicht  offen  vor  das  amerikanische  Volk  hintreten, 
sondern  diese  Vergünstigungen  in  dem  Wortschwall  ein- 
zelner Tarifbestimmungen  gar  sorglich  verstecken.  Es  ist 
ein  trauriges  Bild,  wenn  Männer,  die  Vergünstigungen  for- 
dern, das  Urteil  ihrer  Mitbürger  so  fürchten,  daß  sie  nicht 
einzugestehen  wagen,  was  sie  erhalten. 

Zum  Glück  beschränkt  sich  im  Lande  das  allgemeine 
Erwachen  des  Bewußtseins  nicht  auf  jene,  die  aus  Über- 
zeugung alle  Sonderbevorzugungen  und  Privilegien  be- 
kämpfen. Es  hat  sich  auch  auf  jene  erstreckt,  die  Sonder- 
bevorzugungen genießen ;  Gott  sei  Dank  beginnen  die  Ge- 
schäftsleute unseres  Landes  unser  Wirtschaftssystem  in 
seiner  wahren  Bedeutung  zu  erkennen :  als  eine  hemmende 
Aristokratie  der  Privilegierten,  von  der  das  Geschäftsleben 
sich  freimachen  muß.  Die  kleinen  Leute  lassen  sich  nicht 

203 


täuschen  und  nicht  alle  großen  Geschäftsleute  haben  sich 
länger  täuschen  lassen.  Manche  jener  Männer,  die  sich 
auf  falsche  Bahnen  führen  ließen  und  den  Weg  zum  Mono- 
pol beschritten,  weil  das  ihnen  der  Zug  der  Zeit  und  das 
unumgängliche  Mittel  zur  Überlegenheit  zu  sein  schien, 
sind  heute  ebenso  wie  wir  zur  Umkehr  bereit  und  wollen 
den  Weg  zur  Freiheit  einschlagen.  Denn  amerikanische 
Herzen  schlagen  auch  in  jenen  Männern  nicht  anders  als 
unter  unseren  Röcken.  Sie  werden  sich  nicht  weniger 
freuen,  frei  zu  werden,  als  wir  uns  freuen,  ihnen  die  Be- 
freiung zu  bringen.  Und  dann  wird  sich  jener  imponierende 
Kraftaufwand,  der  sich  bisher  schädlichen  Dingen  zu- 
wandte, auf  Dinge  richten,  die  uns  nutzen. 

Und  auch  wir  —  die  wir  nicht  große  Industriekapitäne 
und  Führer  des  Handels  sind  — ,  wir  werden  ihnen  dann, 
selbst  auf  materiellem  Gebiete,  mehr  Nutzen  bringen  als 
heute.  Selbst  wenn  du  ihnen  dienstbar  sein  mußt,  machst 
du  heute  jene  reichen  Männer  nicht  so  reich  als  sie  es 
sein  könnten,  weil  du  der  ungewöhnlichen  Reichtumser- 
zeugung Amerikas  deine  schöpferischen  Fähigkeiten, deine 
besten  Kräfte  nicht  beigesellst.  Denn  für  den  Reichtum 
Amerikas  sind  nicht  Wallstreet  und  die  Geldzentren  in  Chi- 
cago oder  St.  Louis  oder  San  Francisco  der  Gradmesser: 
Amerika  ist  so  reich  als  die  Männer,  die  jene  Zentren  reich 
machen.  Wenn  sie  in  ihrem  Unternehmungsgeist  erlahmen, 
wenn  sie  angesichts  ihrer  Macht  erschlaffen  und  wenn  sie 
zögern,  aus  eigener  Kraft  neue  Pläne  und  neue  Erfindun- 
gen zu  schaffen,  dann  versiegen  die  Quellen,  die  jene  Stät- 
ten mit  Wohlstand  überschütteten.  Durch  die  Befreiung 
des  kleinen  Mannes  Amerikas  widerfährt  den  Riesen  kein 
Schaden. 

Es  mag  sein,  daß  gewisse  Dinge  sich  ereignen  werden, 
denn  das  Monopolwesen  unseres  Landes  schleppt  in  seinem 
Organismus  so  viel  toten  Ballast  mit  sich,  als  Menschen 

204 


nicht  mit  sich  schleppen  sollten.  Wenn  durch  einen  ge- 
regelten Wettbewerb  —  durch  einen  ehrlichen  Wettbe- 
werb, durch  eine  Konkurrenz,  die  mit  ehrlichen  Mitteln 
kämpft  —  diese  riesenhaften  Schützlinge  des  Monopols  zur 
Aufbietung  aller  ihrer  Kräfte  gezwungen  werden,  dann 
werden  sie  sparen  müssen;  und  sparen  werden  sie  nicht 
können,  solange  sie  nicht  jenen  toten  Ballast  von  sich  ab- 
werfen. Ich  weiß  heute  nicht,  wie  man  ihnen  diese  Bürde 
abnehmen  könnte ;  aber  wenn  man  sie  vor  diese  Notwen- 
digkeit stellt,  werden  sie  sich  ihrer  zu  entledigen  wissen. 
Denn  sie  werden  sich  dieses  Ballastes  entledigen  müssen 
oder  der  Gefahr  ins  Auge  sehen,  daß  alle,  die  solche  Lasten 
nicht  schleppen,  sie  im  Wettlauf  überholen  werden.  Das 
Geschäftsleben  Amerikas  muß  auf  das  Fundament  der 
Sparsamkeit  und  der  Zweckmäßigkeit  gestellt  werden ; 
dann  mögen  die  Stärksten  und  die  Schnellsten  den  Sieg 
davontragen. 

Unser  Programm  ist  ein  Programm  der  Wohlfahrt; 
ein  Programm  der  Wohlfahrt,  die  etwas  weiter  reichen 
soll  als  die  jetzige  Wohlfahrt  —  denn  eine  weitreichende 
Wohlfahrt  ist  fruchtbarer  als  eine  enge  und  beschränkte. 
Ich  beglückwünsche  die  Monopolisten  der  Vereinigten  Staa- 
ten dazu,  daß  sie  ihre  Absicht  nicht  erreichen  werden,  denn 
entgegen  ihrer  Theorie  ist  das  Volk  klüger  als  sie.  Das  Volk 
versteht  die  Vereinigten  Staaten  besser  als  jene  Männer ; 
und  wenn  sie  uns  gewähren  lassen,  werden  wir  sie  nicht 
nur  reich,  sondern  auch  glücklich  machen.  Denn  dann 
wird  ihr  Gewissen  eine  leichtere  Last  zu  tragen  haben.  Ich 
habe  in  einem  Staate  gelebt,  der  in  den  Händen  einer  Reihe 
von  Korporationen  war.  Sie  reichten  ihn  sich  herum.  Ein- 
mal war  er  in  den  Händen  der  Pennsylvania-Eisenbahn ; 
ein  andermal  beherrschte  ihn  die  Public  Service  Corpora- 
tion. Als  ich  gewählt  wurde,  herrschte  die  Public  Service 
Corporation.  Sie  hat  es  mir  seitdem  nie  verziehen,  daß  ich 

205 


ihren  schweigenden  Pachtvertrag  anfocht.  Aber  ich  ver- 
mochte nicht  einzusehen,  weshalb  das  Volk  sein  eigenes 
Haus  einer  so  kleinen  Gruppe  von  Männern  zur  Monopo- 
lisierung ausliefern  sollte ;  und  als  ich  die  Korporation 
nach  ihrem  Pachtvertrage  fragte  und  sie  ihr  Recht  nicht 
nachweisen  konnte,  mußte  sie  ausziehen ;  denn  es  gab  kei- 
nen anderen  Gerichtshof  als  den  der  öffentlichen  Meinung, 
und  der  sprach  ihnen  das  Urteil.  Heute  fressen  sie  uns  aus 
der  Hand  und  magern  dabei  keineswegs  ab.  Sie  verdienen 
genau  soviel  Geld,  als  sie  vorher  verdienten :  nur  verdienen 
sie  es  jetzt  auf  ehrlichere  Weise.  Sie  verdienen  es  ohne  die 
immerwährende  Beihilfe  der  Staatslegislatur  von  New  Jer- 
sey. Sie  verdienen  es  auf  normale  Weise,  indem  sie  das 
Volk  von  New  Jersey  aus  dem  Gebiete  der  Wasser-  und 
Gasversorgung  und  im  Verkehrswesen  so  bedienen,  wie 
das  Volk  es  braucht.  Ich  glaube  nicht,  daß  ein  verständiger 
Beamter  der  Public  Service  Corporation  von  New  Jersey 
den  Wandel,  der  sich  vollzog,  heute  noch  ernsthaft  be- 
dauert. Wir  haben  die  Regierung  des  Staates  befreit,  und 
das  Interessante  daran  ist  die  Tatsache,  daß  die  allgemeine 
Wohlfahrt  dabei  auch  nicht  im  geringsten  gelitten  hat. 
Mit  unserem  Programm  der  Freiheit  stellen  wir  daher 
auch  ein  Programm  des  allgemeinen  Vorteils  auf.  Fast 
jedes  Monopol,  das  sich  der  Auflösung  widersetzt,  hat  sich 
den  wirklichen  Interessen  seiner  eigenen  Aktionäre  wider- 
setzt. Ein  Monopol  hemmt  stets  die  Entwicklung,  drückt 
die  Wohlfahrt  und  den  Fortschritt  nieder  und  stemmt  sich 
gegen  den  natürlichen  Fortschritt  an.  Man  nehme  als  ein 
Beispiel  nur  eine  so  alltägliche  Sache  wie  eine  nützliche 
Erfindung  und  ihre  praktische  Anwendung  im  Dienste  der 
Menschheit.  Man  weiß,  wie  fruchtbar  der  amerikanische 
Geist  sich  im  Reiche  der  Erfindung  erwiesen  hat  und  was 
er  zur  Förderung  des  Fortschrittes  der  Zivilisation  beige- 
tragen hat.  Er  schenkte  uns  das  Dampfschiff  und  die  Ent- 

206 


körnungsmaschine  zum  Reinigen  der  Baumwolle,  die  Näh- 
maschine und  die  Mähmaschine,  die  Schreibmaschine  und 
das  elektrische  Licht,  das  Telephon  und  den  Phonogra- 
phen. Aber  weiß  man  auch,  daß  heute  Erfindungen  keine 
Gastfreundschaft  und  keinen  Willkomm  mehr  finden  ?  Es 
gibt  keine  Ermutigung  mehr  für  jenen,  der  seinen  Erfin- 
dungsgeist anspannt,  um  den  Fernsprecher,  den  photo- 
graphischen Apparat  oder  irgendeine  Maschine  oder  ein 
mechanisches  Verfahren  zu  verbessern.  Man  wünscht  es 
nicht,  daß  jemand  ein  schnelleres  oder  billigeres  Verfahren 
zur  Herstellung  von  Gegenständen  erfinde  oder  vervoll- 
kommne ;  man  hat  auch  kein  Verlangen  nach  der  Erfin- 
dung besserer  Dinge,  die  ältere  ersetzen  könnten.  Denn  in 
den  alten  Betrieben  ist  zuviel  Geld  angelegt ;  zuviel  Geld 
wurde  ausgegeben,  um  den  alten  photographischen  Ap- 
parat zu  propagieren ;  und  die  jetzigen  Telephoneinrich- 
tungen kosten  zuviel,  als  daß  es  wünschenswert  erschiene, 
sie  durch  bessere  zu  ersetzen  und  zu  entwerten.  Wo  immer 
wir  dem  Monopol  begegnen,  finden  wir  nicht  nur  keinen 
Drang  zur  Verbesserung,  sondern  eine  ausgesprochene  Ab- 
neigung gegen  sie,  denn  Verbesserungen  sind  kostspielig, 
entwerten  alte  Maschinen  und  zerstören  die  Preise  der  al- 
ten Artikel.  Der  Instinkt  der  Monopole  wendet  sich  gegen 
Neuerungen ;  die  Tendenz  strebt  unwillkürlich  dahin,  das 
im  alten  Verfahren  hergestellte  Alte  im  Konsum  und  im 
Kurse  zu  erhalten;  die  Monopole  wollen,  daß  alles  be- 
harre. Beharrungsvermögen  hat  sein  Gutes,  aber  wenn 
alles  seit  30  Jahren  in  gleichem  Zustand  erhalten  worden 
wäre,  würden  wir  heute  noch  bei  Gasbeleuchtung  mit  der 
Hand  schreiben,  würden  die  unschätzbare  Hilfe  des  Fern- 
sprechers entbehren  (ich  gebe  zu,  das  Telephon  ist  manch- 
mal eine  Plage),  wir  hätten  keine  Automobile  und  keine 
drahtlose  Telegraphie.  Ich  persönlich  würde  allerdings 
auch  ohne  Kinematographen  glücklich  sein.  Ich  behaupte 

207 


selbstverständlich  nicht,  daß  durch  das  Wachstum  der 
Trusts  aller  Erfindungsgeist  brach  gelegt  worden  ist ;  aber 
es  scheint  mir  auf  der  Hand  zu  liegen,  daß  der  Erfin- 
dungsgeist auf  vielen  Gebieten  entmutigt  worden  ist,  daß 
man  Erfinder  daran  verhinderte,  die  Früchte  ihres  Geistes 
und  ihres  Fleißes  zu  ernten  und  daß  man  die  Menschheit 
sowohl  um  manche  Annehmlichkeiten  wie  auch  um  die 
Gelegenheit  gebracht  hat,  zu  billigeren  Preisen  zu  kaufen. 

Der  Dämpfer,  der  durch  die  Truste  dem  Erfindungsgeist 
Amerikas  auferlegt  wurde,  macht  sich  auf  die  mannigfach- 
ste Art  geltend.  Das  erste,  was  der  Erfinder  eines  Ver- 
fahrens, das  in  die  von  einem  Trust  beherrschten  Gebiete 
eingreift,  erfahren  muß,  ist  der  Umstand,  daß  er  kein  Ka- 
pital zur  Herstellung  seines  Produktes  und  kein  Kapital  zu 
dessen  Verwertung  findet.  Wenn  du  Geld  benötigst,  um 
deine  Fabrik  zu  bauen  und  dein  Fabrikat  anzukündigen, 
um  Agenten  anzustellen  und  ein  Absatzgebiet  zu  schaffen : 
wo  sollst  du  dieses  Geld  erhalten  ?  In  dem  Augenblick,  da 
du  Geld  oder  Kredit  suchst,  wird  dir  von  den  Banken  fol- 
gender Vorschlag  unterbreitet:  ,, Diese  Erfindung  wird  die 
bereits  eingeführten  Herstellungsverfahren  stören,  es  greift 
in  den  Markt  ein,  den  gewisse  große  Industrien  beherrschen. 
Wir  finanzieren  bereits  diese  Industrien,  ihre  Aktien  sind 
in  unseren  Händen:  wir  werden  sie  befragen." 

Als  das  Ergebnis  dieser  Beratung  wird  man  dir  viel- 
leicht mitteilen,  es  sei  wirklich  schade,  aber  es  wäre  un- 
möglich, dich  zu  finanzieren.  Vielleicht  aber  wirst  du  auch 
einen  Vorschlag  erhalten,  auf  Grund  dessen  dir  —  wenn 
du  mit  dem  Trust  gewisse  Abmachungen  treffen  willst  — 
die  Fabrikation  deines  Produktes  ermöglicht  wird.  Viel- 
leicht aber  erhältst  du  ein  bestimmtes  Angebot :  man  ist  be- 
reit, dir  dein  Patent  abzukaufen.  Aber  dieses  Angebot  bie- 
tet dir  nicht  mehr  als  nur  ein  armseliges  Schmerzensgeld. 
Und  es  kann  geschehen,  daß  man  selbst  nach  dem  Ankauf 

208 


deiner  Erfindung  nie  wieder  etwas  von  ihr  vernimmt. 
Diese  zuletzt  genannte  Art,  mit  einer  Erfindung  um- 
zugehen, ist,  nebenbei  bemerkt,  ein  besonders  unbilliger 
Mißbrauch  der  Patentgesetze,  die  es  nicht  zulassen  sollten, 
daß  ein  Eigentumsrecht  an  einer  Erfindung  anerkannt 
wird,  wenn  deren  Verwirklichung  niemals  beabsichtigt  ist. 
Zu  den  Reformen,  die  in  Angriff  zu  nehmen  sind,  gehört 
auch  eine  Revision  unserer  Patentgesetze.  Wenn  der  Trust 
es  nicht  wünscht,  daß  du  deine  Erfindung  verwirklichst 
und  deine  Fabrikate  fabrizierst,  so  wirst  du  auf  die  Aus- 
führung deiner  Pläne  Verzicht  leisten  müssen :  es  sei  denn, 
du  verfügtest  über  eigenes  Kapital  und  seist  gesonnen,  es 
im  Kampfe  mit  den  gewaltigen  Hilfsmitteln  der  Trusts  zu 
riskieren.  Ich  könnte  Fälle  anführen,  bei  denen  sich  diese 
Vorgänge  genau  in  der  angeführten  Weise  abspielten.  Durch 
den  Zusammenschluß  der  großen  Industrien  wird  für  alle 
Fabrikate  nicht  nur  ein  Beharrungsvermögen  auf  dem 
Markte  erzwungen,  nur  allzu  oft  wird  auch  die  Verbesse- 
rung und  die  Güte  der  Fabrikate  künstlich  an  einem  ge- 
wissen Punkte  festgehalten.  Das  Verhältnis  der  Produk- 
tionsfähigkeit zu  den  Produktionskosten  wird  in  Amerika 
nicht  mehr  so  berücksichtigt,  wie  es  früher  ergründet  und 
berücksichtigt  zu  werden  pflegte.  Denn  wenn  man  nicht 
gezwungen  ist,  seine  Fabrikationsmethoden  zu  verbessern, 
um  den  Konkurrenten  zu  überbieten,  so  wird  man  —  was 
nur  menschlich  ist  —  seine  Fabrikationsmethode  nicht 
verbessern.  Wenn  man  den  Konkurrenten  daran  verhin- 
dern kann,  auf  den  Markt  zu  kommen,  dann  kann  man 
es  sich  bequem  machen  und  hinter  der  Mauer  des  Schutz- 
zolles, die  die  Tüchtigkeit  aller  Ausländer  daran  verhin- 
dert, dir  Konkurrenz  zu  machen,  gemächlich  eine  Gene- 
ration lang  ausruhen. 

Selbst  jemand,  der  nur  diese  eine  Seite  betrachtet,  die 
Haltung  der  Trusts  den  Erfindungen  gegenüber  sieht,  kann 

M  209 


nicht  daran  zweifeln,  welche  gewichtige  und  große  Be- 
deutung, welch  notwendige  Wirkung  es  haben  muß,  wenn 
die  Fähigkeiten  und  der  Erfindungsgeist  unseres  Volkes 
wieder  befreit  werden,  um  die  Werkzeuge  und  die  Umstände 
unseres  Daseins  zu  verbessern  und  zu  vervollkommnen. 
Wer  vermöchte  zu  sagen,  wie  viele  Patente,  die  jetzt  in  ge- 
heimen Schubfächern  brach  liegen,  ans  Tageslicht  kom- 
men werden  und  durch  wieviel  neue  Erfindungen  wir  über- 
rascht und  bereichert  würden,  wenn  die  Freiheit  wieder- 
hergestellt sein  wird. 

Verlangt  euch  nicht  nach  der  Zeit,  da  der  Geist  und  die 
Triebkraft  des  Volkes  aufgerufen  werden  wird,  in  den 
Dienst  des  Handels  zu  treten  ?  Nach  der  Zeit,  da  die  Neu- 
ankömmlinge mit  neuen  Ideen  und  neuer  Begeisterung 
willkommen  geheißen  werden  sollen  ?  Eure  Söhne  werden 
hoffen  dürfen,  nicht  nur  Angestellte  zu  werden,  sondern 
Leiter  irgendeines  vielleicht  kleinen,  aber  aussichtsreichen 
Unternehmens,  in  dem  ihre  beste  Tatkraft  entflammt  wird 
durch  das  Bewußtsein,  daß  sie  ihre  eigenen  Herren  sind 
und  daß  die  Wege  der  Welt  vor  ihnen  offen  liegen.  Wollt 
ihr  es  nicht,  daß  allen  die  Märkte  geöffnet  werden  ?  Daß  ein 
angemessener  Kredit  jedem  Manne  offen  stehe,  der  Charak- 
ter und  ein  ernstes  Ziel  hat  und  seinen  Kredit  sicher  und 
vorteilhaft  anwenden  kann  ?  Soll  das  Geschäftsleben  nicht 
von  seiner  unseligen  Verbindung  mit  der  Politik  befreit  wer- 
den ?  Soll  das  Rohmaterial  nicht  der  Alleinherrschaft  der 
Monopole  entzogen  und  sollen  die  Transporterleichterun- 
gen nicht  für  alle  die  gleichen  werden  ?  Soll  die  große  Straße 
geschäftlichen  und  industriellen  Wirkens  nicht  jedem  frei 
stehen,  der  sie  betreten  will  ?  Es  gibt  keinen,  der  die  Herr- 
lichkeit einer  solchen  neuen  Freiheit  nicht  fühlen  würde. 

Da  ist  z.  B.  die  große  Aufgabe  der  ,,Konservation", 
der  Erhaltung  unserer  Güter  und  Hilfsquellen;  und  ich 
möchte  diese  Frage  in  keinem  engen  Sinne  verstanden 

210 


sehen.  Forste  sollen  erhalten  werden,  große  Wasserkräfte 
sind  zu  erhalten,  es  gibt  Bergwerke,  deren  Schätze  nicht 
als  unerschöpflich  betrachtet  werden  dürfen  und  deren 
Hilfsquellen  für  künftige  Generationen  bewahrt  werden 
müssen.  Aber  es  gibt  noch  viel  mehr.  Die  Lebenskräfte 
und  die  Energie  des  Volkes  sollen  erhalten  werden. 

Die  Bundesregierung  hat  es  nicht  gewagt,  ihre  An- 
schauungen zu  revidieren.  Nicht  etwa  mit  Rücksicht  auf 
gutgläubige  Ansiedler  und  auf  Männer,  die  über  die  recht- 
mäßige Entwicklung  großer  Landstrecken  wachen,  son- 
dern weil  Männer,  die  danach  strebten,  die  Alleinherrschaft 
über  die  großen  Forsten,  Minen  und  Wasserkräfte  zu  er- 
langen, neben  der  Regierung  standen  und  ihre  eigenen 
Pläne  ihr  zu  diktieren  versuchten.  Und  so  wagte  es  die 
Regierung  der  Vereinigten  Staaten  nicht,  ihre  etwas  star- 
ren Anschauungen  zu  ändern,  denn  sie  fürchtete,  daß 
jene  Mächte  stärker  seien  könnten  als  die  Macht  der  ein- 
zelnen Gemeinwesen  und  die  Macht  des  öffentlichen  In- 
teresses. Was  wir  heute  befürchten,  ist  die  Gefahr,  daß  die 
jetzige  Situation  zu  einer  dauernden  gestaltet  wird.  Wie 
kommt  es,  daß  die  Entwicklung  Alaskas  sich  so  langsam 
vollzieht  ?  Wie  erklärt  es  sich,  daß  in  den  Häfen  von  Alaska 
große  Berge  von  Kohlen  aufgetürmt  liegen,  deren  Verkauf 
die  Regierung  zu  Washington  nicht  erlauben  will?  Das 
geschieht,  weil  die  Regierung  nicht  sicher  ist,  daß  sie  all 
jenen  vielverschlungenen  Fäden  des  Intrigengewebes  fol- 
gen kann,  mit  dessen  Hilfe  kleine  Gruppen  von  Leuten 
es  versuchten,  die  ausschließliche  Herrschaft  über  die 
Kohlenfelder  Alaskas  zu  erlangen.  Die  Regierung  mißtraut 
selbst  jenen  Kräften,  von  denen  sie  umgeben  ist. 

Das  Schlimme  bei  der  Frage  der  Konservation  ist,  daß 
die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  in  dieser  Richtung 
zurzeit  überhaupt  keine  Politik  verfolgt.  Sie  konstatiert 
nur.  Sie  steht  einfach  still.  Reservation  ist  nicht  Konser- 

»4*  211 


vation.  Wenn  das  Land  die  Ausnutzung  gewisser  Forste 
braucht  und  dann  beschlossen  wird,  „wir  werden  in  der 
Forstfrage  nichts  unternehmen",  so  ist  das  durchaus  keine 
praktische  PoUtik.  Die  Verfügung,  daß  das  Volk  der  Ver- 
einigten Staaten  keine  Kohle  aus  den  Kohlenfeldern  Alas- 
kas kaufen  darf,  löst  die  Frage  keineswegs.  Wir  werden 
diese  Kohle  früher  oder  später  doch  bekommen  müssen. 
Wenn  man  sich  vor  den  Guggenheims  und  all  den  anderen 
so  fürchtet,  daß  man  sich  nicht  entschließen  kann,  welchen 
Weg  man  bei  der  Ausnutzung  dieser  Kohlenfelder  ein- 
schlagen soll,  dann  fragt  es  sich,  wielange  wir  darauf  war- 
ten sollen,  daß  die  Regierung  ihre  Angst  abstreift.  Es  kann 
kein  Arbeitsprogramm  geben,  solange  es  keine  freie  Re- 
gierung gibt.  Der  Tag,  an  dem  die  Regierung  unabhängig 
genug  sein  wird,  im  Gegensatz  zu  der  nur  negativen  Po- 
litik der  Reservation  eine  Politik  der  positiven  Konserva- 
tion  zu  beschließen,  dieser  Tag  wird  für  die  Entwicklung 
unseres  Landes  ein  Befreiungstag  sein,  dessen  Bedeutung 
nicht  hoch  genug  einzuschätzen  ist. 

Aber  das  Problem  der  Konservation  ist  viel  umfassen- 
der als  die  Frage  der  Erhaltung  unserer  natürlichen  Hilfs- 
quellen; denn  wenn  wir  unsere  natürlichen  Hilfsquellen 
summieren,  so  erhalten  wir  eine  große  natürliche  Hilfs- 
quelle, die  allen  anderen  zugrunde  liegt  und  ihnen  so  tief 
zugrunde  zu  liegen  scheint,  daß  wir  sie  manchmal  über- 
sehen. Was  wäre  der  Wert  unserer  Forste  ohne  tatkräftige 
und  intelligente  Männer,  die  die  Wälder  auszunutzen  wis- 
sen ?  Wozu  sollten  wir  unsere  natürlichen  Hilfsquellen  er- 
halten, wenn  wir  sie  nicht  durch  die  Zauberkraft  der  Ar- 
beit zu  irdischen  Gütern  umwandeln  können?  Und  was 
verwandelt  die  Hilfsquellen  zu  Reichtum,  wenn  nicht  die 
Gewandtheit  und  die  Hand  jener  Männer,  die  Tag  um  Tag 
an  ihre  Arbeit  gehen  und  die  große  Gemeinschaft  des  ame- 
rikanischen Volkes  bilden  ?  Wichtig  erscheint  mir  die  Not- 

212 


wendigkeit,  daß  die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten 
sich  mehr  um  die  Menschenrechte  als  um  die  Eigentums- 
rechte kümmere.  Besitz  ist  ein  Werkzeug  der  Menschheit ; 
die  Menschheit  ist  kein  Werkzeug  des  Besitzes.  Aber  wenn 
man  sieht,  wie  manche  Menschen  auf  ihren  großen  Indu- 
strien thronen  wie  auf  dem  Wagen  eines  großen  Götzen, 
der  keinen  Blick  für  die  Massen  der  Menschen  hat,  die  sich 
vor  seinem  Gefährte  niederwerfen  und  verstümmelt  wer- 
den, dann  fragt  man  sich :  wielange  soll  es  Menschen  noch 
erlaubt  sein,  an  ihre  Maschinen  und  Werkzeuge  mehr  als 
an  ihre  Menschen  zu  denken  ?  Habt  ihr  niemals  dessen  ge- 
dacht —  Menschen  sind  billig  und  Maschinen  sind  teuer ; 
mancher  Fabrikdirektor  wurde  entlassen,  weil  er  eine 
kostbare  und  empfindliche  Maschine  überanstrengte,  aber 
keiner  würde  entlassen  werden,  weil  er  einem  überlasteten 
Menschen  zu  viel  zumutete.  Deine  Menschen  kannst  du 
entlassen  und  durch  andere  ersetzen ;  andere  stehen  bereit, 
um  die  Plätze  der  Vorgänger  auszufüllen ;  aber  deine  Ma- 
schine kannst  du  nicht  ohne  große  Kosten  ausrangieren 
und  durch  eine  neue  ersetzen.  Darum  seid  Ihr  weniger  ge- 
neigt, eure  Leute  als  die  ausschlaggebende  Grundlage 
eures  ganzen  Betriebes  zu  betrachten.  Es  wird  Zeit,  daß 
der  Besitz  im  Vergleich  mit  der  Menschheit  die  erste  Stelle 
räume  und  die  zweite  einnehme.  Wir  müssen  dafür  sorgen, 
daß  es  keine  Überfüllung  gebe,  keine  schlechten  gesund- 
heitlichen Einrichtungen,  keine  Ausbreitung  vermeidbarer 
Krankheiten  und  keine  Fälschung  der  Nahrungsmittel ; 
wir  müssen  darüber  wachen,  daß  Vorsorge  gegen  Unfälle 
getroffen  werde,  daß  Frauen  nicht  vor  Arbeiten  gestellt 
werden,  die  sie  nicht  leisten  können,  und  daß  Kinder  nicht 
ihre  Kräfte  verausgaben,  ehe  sie  nicht  dazu  reif  sind,  sie 
anzuwenden.  Die  Hoffnungsfreude  und  die  Elastizität  der 
Rassen  sind  zu  erhalten ;  Menschen  aber  müssen  nach  dem 
Maßstabe  menschlicher  Lebensbedürfnisse  erhalten  werden 

213 


und  nicht  nur  nach  den  Programmen  der  Industrie.  Was 
nutzt  uns  eine  Industrie,  wenn  wir  durch  ihre  Erhal- 
tung zugrunde  gehen  ?  Wenn  wir  bei  dem  Versuche,  uns 
zu  ernähren,  sterben  müssen  —  wozu  sollten  wir  essen? 
Ich  sage  euch,  in  unserer  Nation  hat  jener  große  Puls- 
schlag des  unwiderstehlichen  gegenseitigen  Mitempfindens 
eingesetzt  und  er  wird  die  Formen  unserer  Regierung  um- 
wandeln. Die  Kraft  Amerikas  ist  nur  abhängig  von  der 
Gesundheit,  der  Hoffnungsfreude,  der  Elastizität  und  dem 
Frohmut  des  amerikanischen  Volkes. 

Wäre  das  nicht  die  erhebendste  Vorstellung,  die  wir  von 
der  Freiheit  haben  können:  die  Vorstellung  einer  Gabe, 
die  Männer  und  Frauen  von  allem  befreit,  was  sie  verhin- 
dert, ihr  Bestes  zu  leisten  und  ihr  Bestes  zu  wollen?  Die 
Freiheit  soll  der  Tatkraft  aller  den  weitesten  Spielraum  ge- 
währen, soll  ihren  Ehrgeiz  befreien,  bis  keine  Grenze  ihn 
mehr  umschließt,  und  die  Geister  aller  mit  dem  Jubel- 
gefühl einer  Hoffnung  erfüllen,  die  verwirklicht  werden 
kann. 


214 


Zwölftes  Kapitel 
Die  Befreiung  der  Lebenskräfte 

Die  Entdeckung  von  Amerika  gibt  unserer  Phantasie 
jedesmal,  wenn  wir  ihrer  gedenken,  neue  Nahrung.  Seit 
Jahrhunderten,  eigentlich  von  Beginn  der  Weltgeschichte 
an,  war  das  Antlitz  Europas  nach  Osten  gewandt.  Alle 
Handelsgesetze  liefen  von  Westen  nach  Osten,  alle  Kraft- 
entfaltung richtete  sich  ostwärts.  Der  Atlantische  Ozean 
lag  im  Rücken  der  Welt.  Dann  wurde  plötzlich  durch  die 
Eroberung  Konstantinopels  durch  die  Türken  der  Weg 
nach  dem  Orient  verschlossen.  Europa  mußte  sich  ent- 
weder umwenden  oder  jeder  Ausweg  blieb  ihm  versperrt. 
Schließlich  wagte  man  sich  auf  das  unbekannte  Meer  im 
Westen  und  erfuhr,  daß  es  zweimal  so  groß  war,  als  man 
gedacht  hatte.  Kolumbus  fand  nicht,  wie  er  erwartet  hatte, 
eine  Zivilisation  wie  die  Chinas ;  er  fand  einen  leeren  Kon- 
tinent. Auf  dieser  unentdeckten  Hälfte  der  Erdkugel  war 
der  Menschheit  —  spät  im  Verlaufe  der  Weltgeschichte  — 
die  Gelegenheit  geboten,  eine  neue  Zivilisation  zu  schaffen ; 
hier  wurde  ihr  das  ungewöhnliche  Vorrecht  zuteil,  ein 
neues  geschichtliches  Experiment  anzustellen. 

Diese  einzigartige  Gelegenheit,  die  so  unerhört  reiche 
Möglichkeiten  in  sich  birgt,  muß  immer  wieder  die  Ein- 
bildungskraft erregen.  Eher  könnten  tausend  Märchen  er- 
sonnen werden,  als  daß  die  Einbildungskraft  das  eine  zu 
begreifen  wagte :  daß  sich  die  Hälfte  der  Erdkugel  so  lange 
verbirgt,  bis  die  Zeit  zu  einem  neuen  Aufschwung  der 
Zivilisation  gekommen  ist.  Nichts  als  der  Ehrgeiz  eines 

215 


Kapitäns,  der  einen  neuen  Handelsweg  finden  wollte,  schuf 
der  Menschheit  Raum  zu  einem  moralischen  Erlebnis.  Die 
Menschen  sollten  in  diesem  herrlichen  Lande  eine  neue 
Aufgabe  finden,  hier,  wohin,  wie  die  alten  Reisenden  er- 
zählen, keiner  kam,  ohne  den  Duft  der  von  Blumen  und 
klaren  Quellen  erfüllten  Wälder  zu  verspüren.  Die  neue 
Erde  lag  da  in  Erwartung  des  Lebens.  Mochte  dieses  auch 
aus  den  alten  Lebenszentren  stammen,  es  war  doch  ge- 
reinigt von  allen  Schlacken  und  frei  von  Überdruß.  Das 
Ganze  erscheint  uns  wie  eine  märchenhafte  Vision,  wie 
ein  einzigartiges  Wunder,  das  nur  einmal  in  der  Geschichte 
stattfinden  konnte. 

Eines  nur  läßt  sich  damit  vergleichen.  Etwas  gibt  es, 
das  unser  Gefühl  noch  so  packen  kann,  wie  jenes  Bild  von 
den  Schiffen  des  Kolumbus,  die  an  leuchtender  Küste  da- 
hinziehen :  das  ist  der  Gedanke  an  den  Auswanderer  von 
heute,  der  mit  einem  Würgen  in  der  Kehle  im  Zwi- 
schendeck steht  und  auf  das  Land  blickt,  das,  wie  man 
ihm  gesagt  hat,  ein  irdisches  Paradies  ist,  ein  irdisches 
Paradies,  in  dem  er,  ein  freier  Mann,  die  Kümmernisse  des 
alten  Lebens  vergessen  und  die  Erfüllung  aller  seiner  Hoff- 
nungen finden  wird.  Denn  hat  nicht  jedes  Schiff,  das  seinen 
Bug  westwärts  lenkt,  die  Hoffnungen  vieler  Generationen 
der  Bedrückten  anderer  Länder  hierhergetragen  ?  Wie  ha- 
ben die  Herzen  der  Menschen  immer  höher  geschlagen, 
wenn  sie  die  Küste  Amerikas  sich  vor  ihren  Blicken  er- 
heben sahen!  Wie  haben  sie  immer  geglaubt,  daß  die,  die 
dort  wohnen,  frei  seien  von  Herrschern,  von  bevorzugten 
Klassen  und  allen  Schranken,  die  die  Menschen  bedrücken 
und  hilflos  machen ;  daß  man  dort  sein  Ideal  vom  recht- 
schaffenen Menschtum  verwirklichen  könne,  daß  dort  alle 
Menschen  Brüder  seien,  die  einander  nicht  hintergehen 
und  betrügen,  sondern  nur  danach  streben,  das  Wohl  der 
Allgemeinheit  zu  fördern.  Was  lesen  wir  in  den  Schriften 

216 


der  Männer,  die  Amerika  gründeten  ?  Daß  sie  den  selbsti- 
schen Interessen  Amerikas  dienen  wollten?  Sie  wollten 
der  Humanität  dienen  und  den  Menschen  die  Freiheit 
bringen.  Sie  pflanzten  hier  in  Amerika  ihr  Banner  auf, 
ein  Prinzip  der  Hoffnung  und  ein  Signal  der  Ermutigung 
für  alle  Nationen  der  Welt.  Und  die  Leute  kamen  und 
drängten  sich  zu  diesen  Küsten,  so  hoffnungsfreudig  und 
so  voller  Vertrauen  wie  nie  zuvor.  Sie  fanden  hier  für 
ganze  Generationen  einen  Hafen  des  Friedens  und  des 
Glückes.  Gott  gebe,  daß  wir  in  unseren  heutigen,  verwor- 
renen Verhältnissen  uns  zu  den  Heldentaten  jener  großen 
Zeit  wieder  aufschwingen. 

Denn  das  Leben  ist  jetzt  nicht  mehr  so  einfach  wie  ehe- 
dem. Die  Beziehungen  der  Menschen  untereinander  haben 
sich  von  Grund  auf  verändert  durch  die  neuen  schnellen 
Verkehrs-  und  Transportmittel,  die  zur  Konzentrierung 
des  Lebens,  zur  Erweiterung  der  Gemeinschaften,  zur  Ver- 
schmelzung der  Interessen  und  zur  Vervollkommnung 
aller  Fortschritte  dienen.  Der  einzelne  wird  in  tausend 
neue  Strudel  des  Lebens  hineingerissen.  Die  Tyrannei  ist 
raffinierter  geworden  und  hat  das  Gewand  des  Fleißes,  ja 
selbst  der  Güte  zu  tragen  gelernt.  Die  Freiheit  zeigt  ein 
anderes  Antlitz.  Sie  kann  sich  —  ein  Gesetz  der  Ewigkeit  — 
nicht  verändert  haben,  und  doch  zeigt  sie  neue  Seiten. 
Vielleicht  enthüllt  sie  nur  ihre  tiefere  Bedeutung. 

Was  ist  Freiheit?  Das  Bild,  das  mir  vorschwebt,  ist 
eine  große  mächtige  Maschine ;  setze  ich  die  Teile  so  unbe- 
holfen und  ungeschickt  zusammen,  daß,  wenn  ein  Teil 
sich  bewegen  will,  er  durch  die  anderen  gehemmt  wird, 
dann  verbiegt  sich  die  ganze  Maschine  und  steht  still.  Die 
Freiheit  der  einzelnen  Teile  würde  in  der  besten  Anpassung 
und  Zusammensetzung  aller  bestehen.  Wenn  der  große 
Kolben  einer  Maschine  vollkommen  frei  laufen  soll,  so 
muß  man  ihn  den  andern  Teilen  der  Maschine  ganz  genau 

217 


anpassen.  Dann  ist  er  frei,  nicht  weil  man  ihn  isoliert  und 
für  sich  allein  läßt,  sondern  weil  man  ihn  sorgfältig  und  ge- 
schickt den  übrigen  Teilen  des  großen  Gef  üges  eingefügt  hat. 

Was  ist  Freiheit  ?  Man  sagt  von  einer  Lokomotive,  daß 
sie  frei  laufe.  Was  meint  man  damit  ?  Man  will  sagen,  die 
einzelnen  Bestandteile  seien  so  zusammengesetzt  und  in- 
einander gepaßt,  daß  die  Reibung  auf  ein  Minimum  be- 
schränkt wird.  Man  sagt  von  einem  Schiff,  das  leicht  die 
Wellen  durchschneidet:  wie  frei  läuft  es,  und  meint  da- 
mit, daß  es  der  Stärke  des  Windes  vollkommen  angepaßt 
ist.  Richte  es  gegen  den  Wind,  und  es  wird  halten  und 
schwanken,  alle  Planken  und  der  ganze  Rumpf  werden 
erzittern,  und  sofort  ist  es  ,,gefesselt**.  Es  wird  nur  dann 
frei,  wenn  man  es  wieder  abfallen  läßt  und  die  weise  An- 
passung an  die  Gewalten,  denen  es  gehorchen  muß,  wieder- 
hergestellt hat.  Die  Freiheit  des  Menschen  besteht  in  dem 
richtigen  Ineinandergreifen  der  menschlichen  Interessen, 
des  Handels  und  der  Kräfte.  Die  notwendigen  Beziehungen 
zwischen  den  Einzelnen,  zwischen  ihnen  und  den  ganzen 
menschlichen  Einrichtungen,  unter  denen  sie  leben,  ferner 
zwischen  diesen  Einrichtungen  und  der  Regierung  sind 
heute  viel  komplizierter  als  je  zuvor.  Es  mag  ermüdend 
und  umständlich  sein,  über  diese  Dinge  zu  reden,  aber  es 
ist  doch  wohl  der  Mühe  wert,  uns  darüber  klar  zu  werden, 
wodurch  denn  eigentlich  die  ganze  jetzige  Verwirrung  ver- 
anlaßt ist.  Das  Leben  ist  komplizierter  geworden,  es  setzt 
sich  aus  viel  mehr  Elementen  und  Teilen  zusammen  als 
früher.  Und  darum  ist  es  schwieriger,  alles  in  Ordnung  zu 
halten  und  herauszufinden,  woran  es  liegt,  wenn  die  Ma- 
schine nicht  mehr  läuft. 

Jefferson  pflegte  zu  sagen :  Die  beste  Regierung  ist  die, 
die  am  wenigsten  regiert.  Und  in  gewissem  Sinne  trifft  das 
auch  heute  noch  zu.  Es  ist  auch  heute  noch  unerträglich, 
wenn  die  Regierung  unsern  persönlichen  Betätigungen  in 

218 


die  Quere  kommt,  ausgenommen  dort,  wo  es  notwendig 
wird,  daß  sie  sich  mit  ihnen  befaßt :  um  sie  frei  zu  machen. 
Aber  ich  bin  überzeugt,  daß  Jefferson,  wenn  er  heute  lebte, 
sehen  würde,  was  wir  sehen :  daß  der  einzelne  in  ein  großes 
Netzwerk  vielfach  verschlungener  Verhältnisse  eingespon- 
nen ist.  Ihn  sich  selbst  überlassen  hieße  ihn  hilflos  allen 
Schwierigkeiten  ausliefern,  mit  denen  er  zu  kämpfen  hat. 
Darum  muß  das  Gesetz  in  unseren  Tagen  dem  einzelnen 
zu  Hilfe  kommen.  Es  muß  ihm  beistehen,  damit  gerechtes 
Spiel  walte.  Das  ist  alles,  aber  das  ist  sehr  viel.  Ohne  das 
wachsame  und  entschlossene  Dazwischentreten  der  Re- 
gierung kann  zwischen  den  einzelnen  und  solchen  mäch- 
tigen Einrichtungen  wie  die  Trusts  kein  ehrliches  Spiel 
walten.  Die  Freiheit  ist  weit  mehr  als:  sich  selbst  über- 
lassen sein.  Das  Programm  einer  freiheitlichen  Regierung 
muß  positiv  und  nicht  nur  negativ  sein.  Wahren  wir  die 
Freiheit  in  diesem  Sinne  und  dieser  Bedeutung  hier  in  un- 
serem Lande,  das  für  die  ganze  Welt  ein  Land  der  Hoff- 
nung ist?  Haben  wir,  die  Erben  dieses  Kontinents,  die 
Ideale,  denen  unsere  Vorfahren  nachstrebten,  hochgehal- 
ten und,  wie  es  jede  Generation  tun  sollte,  aufs  neue  ver- 
wirklicht ?  Kämpfen  wir  noch  in  dem  Bewußtsein,  daß  der 
Mensch  hier  eine  höhere  Lebensstufe  erreichen  sollte  als 
anderwärts,  kämpfen  wir  für  die  Freiheit  und  die  Hoff- 
nung aller  ?  Oder  haben  wir  das  entmutigende  Gefühl,  ein 
weites  Feld  brachliegen  gelassen  zu  haben  ? 

Die  Antwort  lautet,  daß  wir  einen  Weg  des  Mißerfolges 
gingen  —  eines  tragischen  Mißerfolges.  Und  wir  stehen 
vor  der  Gefahr  des  völligen  Versagens,  wenn  wir  nicht 
mutig  unsere  Entschlüsse  fassen  und  die  neue  Tyrannis 
so  behandeln,  wie  sie  es  verdient.  Man  täusche  sich  nicht 
über  die  Macht  des  Großkapitalismus,  der  jetzt  unsere  Ent- 
wickelung  beherrscht.  Seine  Macht  ist  so  stark,  daß  es  fast 
zweifelhaft  erscheint,  ob  die  Regierung  der  Vereinigten 

219 


Staaten  sie  beherrschen  kann  oder  nicht.  Geht  man  nur 
einen  Schritt  weiter  und  läßt  ihre  organisierte  Macht 
zu  einer  dauernden  werden,  so  kann  es  zur  Umkehr  zu 
spät  sein.  An  dem  Punkte,  an  dem  wir  jetzt  stehen,  tren- 
nen sich  die  Wege.  Sie  führen  zu  weit  auseinanderliegen- 
den Zielen.  An  dem  Ende  des  einen  Weges  steht  das  un- 
erquickliche Schauspiel  einer  Regierung,  die  durch  Sonder- 
interessen gebunden  ist,  am  Ende  des  anderen  leuchtet  das 
Licht  des  persönlichen  Handelns,  der  persönlichen  Unab- 
hängigkeit und  des  ungehemmten  Unternehmungsgeistes. 
Ich  glaube,  daß  dieses  Licht  vom  Himmel  selbst  hernieder- 
strahlt und  von  Gott  geschaffen  ist.  Ich  glaube  an  die 
menschliche  Freiheit,  wie  ich  an  den  köstlichen  Trank 
des  Daseins  glaube.  Mit  dem  leutseligen  Gebahren  der  In- 
dustrieherrscher ist  uns  nicht  gedient.  Das  Land  der  Freien 
braucht  keine  Vormundschaft.  Eine  Wohlfahrt,  die  vom 
Unternehmer  gewährleistet  wird,  hat  keine  Aussicht  auf 
Dauer.  Das  Monopol  ist  das  Ende  des  Unternehmungs- 
geistes. Wenn  das  Monopol  weiter  besteht,  wird  es  immer 
am  Staatsruder  sitzen,  denn  es  ist  nicht  zu  erwarten,  daß 
das  Monopol  sich  selbst  beschränkt.  Wenn  es  in  Amerika 
Leute  gibt,  die  stark  genug  sind,  sich  die  Regierung  der 
Vereinigten  Staaten  anzueignen,  so  werden  sie  es  tun.  Wir 
haben  jetzt  zu  entscheiden,  ob  wir  stark  genug,  Manns 
genug  und  frei  genug  sind,  wieder  von  der  Regierung  Be- 
sitz zu  ergreifen,  die  die  unsrige  ist.  Seit  einer  halben  Ge- 
neration haben  wir  keinen  freien  Zutritt  zu  ihr  gehabt 
und  unsere  Ansichten  haben  ihr  nicht  als  Richtschnur  ge- 
dient. Und  nun  müssen  wir  die  Regierung,  die  wir  mit  ei- 
gener Hand  geschaffen  haben  und  die  nur  durch  unsere 
Vollmacht  handelt,  wiederherstellen. 

Wenn  wir  die  Frage  des  Zolltarifs  und  der  Trusts  er- 
örtern, so  handelt  es  sich  dabei  um  eine  Lebensfrage  für 
uns  und  unsere  Kinder.  Und  ich  glaube,  daß  ich  im  In- 

220 


teresse  mancher  jener  Männer,  deren  Gegner  ich  bin,  rede, 
wenn  ich  für  die  freie  Industrie  in  den  Vereinigten  Staaten 
eintrete.  Denn  es  ist,  als  ob  sie  den  Baum,  der  unsere  schön 
sten  Lebensfrüchte  trägt,  langsam  einengten  und  abschlös- 
sen ;  wenn  er  aber  erst  ganz  abgeschlossen  ist,  rächt  sich 
die  Natur,  und  der  Baum  muß  sterben. 

Ich  glaube  nicht,  daß  Amerikas  Größe  gesichert  ist, 
weil  es  heute  bedeutende  Männer  hat.  Amerika  ist  nur 
groß,  wenn  es  mit  Sicherheit  darauf  rechnen  kann,  auch 
in  den  nächsten  Generationen  große  Männer  zu  haben.  Es 
ist  reich  in  seinen  ungeborenen  Kindern,  reich,  wenn  diesen 
Kindern  alle  Möglichkeiten  offen  stehen,  und  wenn  sie  ihre 
Kräfte  frei,  wie  sie  wollen,  betätigen  können.  Wenn  sie 
ihre  Augen  in  einem  Lande,  wo  keine  Sondervorrechte 
herrschen,  öffnen,  dann  werden  wir  eine  neue  Ära  ameri- 
kanischer Größe  und  amerikanischer  Freiheit  erleben. 
Aber  wenn  sie  ihre  Augen  in  einem  Lande  auftun,  in  dem 
sie  nichts  als  Angestellte  werden  können,  in  einem  Lande, 
in  dem  nur  eine  geregelte  Monopolwirtschaft  herrscht  und 
in  dem  die  ganzen  Industrieverhältnisse  durch  kleine 
Gruppen  von  Männern  bestimmt  werden,  dann  werden 
sie  ein  Amerika  erleben,  an  das  die  Gründer  dieser  Re- 
publik nur  mit  Trauer  hätten  denken  können.  Unsere  ein- 
zige Hoffnung  besteht  in  der  Erlösung  der  Kräfte,  die 
philanthropische  Trustpräsidenten  monopolisieren  wollen. 
Nur  die  Emanzipierung,  die  Befreiung  und  Förderung  der 
Lebenskräfte  des  ganzen  Volkes  kann  uns  erlösen.  Bei 
allem,  was  ich  für  die  öffentlichen  Angelegenheiten  in  den 
Vereinigten  Staaten  tun  kann,  werde  ich  an  Städte  denken, 
wie  ich  sie  in  Indiana  gesehen  habe,  Städte  von  altem, 
amerikanischem  Schlage,  die  ihre  eigene  Industrie  hoff- 
nungsreich und  glücklich  betreiben.  Mein  Streben  wird 
auf  die  Vermehrung  solcher  Städte  gerichtet  sein  und  die 
Konzentration  der  Industrie  zu  verhindern  suchen,  deren 

221 


Organisation  es  den  kleinen  Städten  unmöglich  macht,  an 
ihr  teilzunehmen.  Wir  wissen,  worin  die  Lebensfähigkeit 
Amerikas  besteht.  Seine  Lebenskräfte  liegen  weder  in 
New  York  noch  in  Chicago,  sie  können  nicht  durch  etwas 
untergraben  werden,  was  sich  in  St.  Louis  ereignet.  Ame- 
rikas Kraft  liegt  in  dem  Verstand,  den  Fähigkeiten  und  den 
Unternehmungen  des  Volkes  im  ganzen  Lande,  in  der  Lei- 
stungsfähigkeit seiner  Fabriken,  der  Ergiebigkeit  der  Fel- 
der, die  sich  jenseits  der  Stadtgrenzen  erstrecken,  und  in 
dem  Reichtum,  den  Menschen  der  Natur  abgewinnen  oder 
durch  jenen  erfinderischen  Geist  erzeugen,  der  allen  freien 
amerikanischen  Gemeinwesen  eigen  ist.  Aber  wenn  Ame- 
rika die  lokale  Unternehmung  und  die  selbständige  kleine 
Stadt  zurückzuschrecken  sucht,  wird  es  die  Nation  zum 
Untergang  führen.  Eine  Nation  ist  so  reich,  als  sie  freie 
Kommunen  besitzt,  nicht  die  Zahl  ihrer  Haupt-  und  Welt- 
städte bestimmt  ihren  Reichtum.  Die  Kapitalanhäufung  in 
Wallstreet  ist  kein  Gradmesser  für  den  Besitz  des  amerika- 
nischen Volkes.  Er  kann  nur  in  der  Fruchtbarkeit  amerika- 
nischen Geistes  und  der  Produktivität  amerikanischer  In- 
dustrie, soweit  sie  sich  über  das  ganze  Land  der  Vereinig- 
ten Staaten  erstrecken,  gefunden  werden.  Wäre  Amerika 
nicht  reich  und  fruchtbar,  so  gäbe  es  auch  kein  Geld  von 
Wallstreet.  Wäre  der  Amerikaner  nicht  lebenskräftig  und 
nicht  fähig,  für  sich  selbst  zu  sorgen,  so  würde  der  große 
Geldumsatz  daniederliegen.  Die  Wohlfahrt,  die  eigentliche 
Existenz  der  Nation  ruht  im  letzten  Grunde  auf  den  großen 
Massen  des  Volkes.  Das  nationale  Gedeihen  hängt  von 
dem  Geiste  ab,  in  welchem  das  Volk  in  den  zahlreichen, 
über  das  ganze  Land  verstreuten  Gemeinwesen  an  seine 
Arbeit  geht.  Je  nachdem  die  kleinen  Städte  und  das  Land 
Glück  und  Fortkommen  versprechen,  wird  Amerika  die 
ehrgeizigen  Bestrebungen,  die  es  in  den  Augen  der  ganzen 
Welt  kennzeichnen,  verwirklichen  können. 

222 


Das  Wohlergehen,  das  Glück,  die  Tatkraft  und  die  Zu- 
versicht der  Männer  und  Frauen,  welche  Tag  für  Tag  in 
unsern  Minen  und  Fabriken,  auf  unsern  Eisenbahnen,  in 
den  Kontoren  und  Handelshäfen,  auf  den  Farmen  und  auf 
der  See  arbeiten,  ist  die  notwendige  Vorbedingung  für  das 
Gedeihen  der  Nation.  Es  kann  keine  Gesundheit  geben, 
wenn  jene  nicht  gesund,  keine  Zufriedenheit,  wenn  jene 
nicht  zufrieden  sind.  Ihr  physisches  Wohlergehen  beein- 
flußt die  Gesundheit  des  ganzen  Volkes.  Wie  stände  es  mit 
den  Vereinigten  Staaten  und  seinem  Geschäftswesen,  wenn 
das  Volk  jeden  Tag  unmutig  und  verdrießlich  an  seine  Ar- 
beit ginge  ?  Wie  würde  es  mit  der  Zukunft  bestellt  sein,  wenn 
wir  fühlten,  daß  die  meisten  Menschen  alles  Streben,  alles 
Vertrauen  auf  den  Erfolg,  die  Hoffnung  auf  die  Verbesse- 
rung ihrer  Lage  aufgegeben  hätten.  Sobald  das  alte  Selbst- 
vertrauen Amerikas  und  der  altgerühmte  Vorzug  der  per- 
sönlichen Freiheit  und  Erwerbsmöglichkeit  uns  genom- 
men ist,  beginnt  alle  Tatkraft  eines  Volkes  zu  sinken,  zu 
erschlaffen,  locker  und  marklos  zu  werden,  und  die  Men- 
schen sehen  nur  noch  darauf,  daß  der  nächste  Tag  nicht 
unglücklich  für  sie  verlaufe. 

Daher  müssen  wir  dem  Volke  dadurch  Mut  machen, 
daß  wir  die  Mutlosigkeit  in  Politik,  Geschäft  und  Industrie 
beseitigen.  Wir  müssen  Politik  zu  einer  Angelegenheit 
machen,  an  der  ein  rechtschaffener  Mann  mit  Befriedigung 
teilnehmen  kann,  weil  er  weiß,  daß  seine  Meinung  soviel 
gelten  wird  als  die  seines  Nächsten,  und  weil  die  bosses 
und  die  Sonderinteressen  entthront  sind.  Wir  müssen  die 
Hemmungen  des  Geschäftslebens  aus  dem  Wege  räumen 
und  die  Tarifbegünstigungen,  die  Eisenbahnmißbräuche, 
Kreditverweigerungen  und  alle  ungerechten  Bedingungen, 
die  sich  gegen  den  kleinen  Mann  richten,  aufheben.  In  der 
Industrie  müssen  wir  menschliche  Bedingungen  schaffen 
—  nicht  durch  die  Trusts  —  sondern  auf  dem  direkten 

223 


Wege  des  Gesetzes,  welches  Schutz  gegen  Gefahren,  Ent- 
schädigung für  Verletzungen,  gesunde  Arbeitsbedingungen, 
angemessene  Arbeitszeit,  das  Recht  zur  Organisation  und 
alle  anderen  Dinge  gewährleistet,  die  das  Gewissen  des 
Landes  als  das  Recht  des  Arbeiters  fordert.  Wir  müssen 
unser  Volk  durch  soziale  Gerechtigkeit  und  gerechten 
Lohn  mit  dem  Ausblick  auf  freie  Arbeitsmöglichkeit  für 
jedermann  stärken  und  ermutigen.  Wir  müssen  die  Tat- 
kraft und  das  Streben  unseres  großen  Volkes  sich  voll- 
kommen frei  entfalten  lassen,  auf  daß  Amerikas  Zukunft 
größer  als  seine  Vergangenheit  sei.  Dann  wird  Amerikas 
Bestimmung  sich  erfüllen.  Von  Generation  zu  Generation 
fortschreitend  wird  Amerika  erleben,  daß  die  Nachkom- 
menschaft seiner  Söhne  größer  und  vorbildlicher  dasteht. 
Dann  wird  Amerika  sein  Versprechen  an  die  Menschheit 
einlösen. 

Das  ist  die  Idee,  die  einige  von  uns  zu  verwirklichen 
trachten.  Wir  Demokraten  würden  diese  lange  Zeit  der 
Verbannung  nicht  ertragen  haben,  wenn  wir  uns  nicht 
an  dieser  Idee  aufgerichtet  hätten.  Wir  hätten  feilschen 
können,  wir  hätten  an  dem  Geschäft  teilnehmen  können, 
wir  hätten  nachgeben  und  Bedingungen  machen  können, 
wir  hätten  die  Gönnerrolle  für  solche  Leute  spielen  können 
die  die  Interessen  des  Landes  beherrschen  wollten  —  und 
einige  Herren,  die  vorgaben,  zu  uns  zu  gehören,  haben 
solche  Versuche  gemacht.  Sie  konnten  die  Entsagung  nicht 
ertragen.  Man  kann  sie  nie  ertragen,  wenn  man  nicht  in 
sich  etwas  von  jenem  unzerstörbaren  Stoffe  hat,  dem  der 
Lebensmut  entstammt.  Das  ist  Nahrung  aus  einer  anderen 
Welt,  in  der  die  Früchte  der  Hoffnung  und  der  Phantasie 
die  Tafel  schmücken,  jene  unsichtbaren  Güter  des  Geistes, 
die  allein  imstande  sind,  uns  in  dieser  dunklen  Welt  auf- 
rechtzuerhalten. Wir  haben  in  unserem  Herzen  die  bisher 
getrübten  und  verwischten  Ideale  jener  Männer  aufge- 

224 


richtet,  die  zuerst  ihren  Fuß  auf  amerikanischen  Boden 
setzten  und  in  der  Wildnis  festen  Halt  zu  gewinnen  such- 
ten, weil  große  Nationen,  denen  sie  den  Rücken  gekehrt, 
nicht  mehr  gewußt  hatten,  was  menschliche  Freiheit,  Frei- 
heit des  Gedankens  und  der  Religion,  Freiheit  des  Wollens 
und  des  Handelns  ist. 

Seit  jenen  Tagen  hat  sich  der  Freiheitsbegriff  vertieft. 
Aber  er  hat  nicht  aufgehört,  eine  fundamendale  Forderung 
des  menschlichen  Geistes  und  eine  fundamentale  Not- 
wendigkeit für  das  Leben  der  Seele  zu  bilden.  Jetzt  ist  der 
Tag  gekommen,  an  welchem  die  neue  Freiheit  auf  diesem 
geweihten  Boden  verwirklicht  werden  soll,  eine  Freiheit, 
die  dem  erweiterten  Leben  im  modernen  Amerika  ange- 
paßt ist.  Sie  gibt  uns  in  Wahrheit  die  Herrschaft  über  un- 
sere Regierung  zurück,  sie  öffnet  dem  berechtigten  Unter- 
nehmungsgeist alle  Pforten,  sie  befreit  alle  Energien  und 
feuert  die  edlen  Triebe  des  Herzens  an.  Die  neue  Freiheit 
ist  das  Lied  der  Erlösung  und  der  Gleichheit,  in  ihm  waltet 
der  Atem  des  Lebens,  der  köstlich  ist  gleich  jenen  Lüften, 
die  die  Schiffe  des  Kolumbus  vorwärtstrieben  und  die  die 
stolze  Verheißung  einer  Glücksmöglichkeit  mit  sich  trugen, 
deren  Erfüllung  Amerikas  Aufgabe  ist. 


15  225 


aiiiiiiii||i|ii|i|iiiiiiiiiimniiiiiiiiiiim 

IM  GLEICHEN  VERLAGE  ERSCHIEN: 

NUE  LITEEATUB 

Betrachtungen  eines  Amerikaners 

Von 

Woodrow  Wilson 

Alleinberechtigte  Übertragung  von 
HANS  WINAND 

222  Seiten    Gebunden  M.  4. —    Broschiert  M.  3. — 

AUS  DEM  INHALT: 

Der  Verlauf  amerikanischer  Geschichte  /  Der 
Schriftsteller  /  Vom  Umgang  des  Schriftstellers  / 
Ein  literarischer  Politiker /Der  Interpret  englischer 
Freiheit  /  Von  den  Aufgaben  des  Historikers  usw. 

JULIUS  HART  SCHREIBT  IM  „TAG": 

Wenn  man  mit  das  Beste,  Ernsteste,  Tiefste  lesen 
will,  was  in  unserer  Zeit  über  den  Dichter,  Schrift- 
steller und  Kritiker  gesagt  worden  ist  —  so  setze 
man  sich  getrost  zu  Füßen  des  augenblicklichen 
Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten,  und  wenn 
man  Wilson  sprechen  hört,  so  empfindet  die  Seele 
seine  Worte  wie  ein  reinigendes  und  sehr  stäh- 
lendes und  stärkendes  Bad  der  Freude.  Hier  wehen 
wieder  Höhenlüfte  .  .  . 

iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii 

GEORG  MÜLLER  VERLAG  MÜNCHEN 

airNiiiiiiiiiniiiiiiiiim^^ 


Druck  der  Spamerschen  Buchdruckerei  in  Leipzig 


.:*•?■ 


*s^-^v^'-"-: 


■*^ 


\^''. 


i-y- 


'-■^■■■'/■'S*  ■*■. 


•'i:^.. 


•:V^;-*>  „h 


V  'ii"  ■:s''^-^  -  "^"^i'"*'''"'^f'' 


lVV  ,*•"'<: 


A> 


\ ,  *;r^ "  r. >;-  -  .V  M;ß;\:*f:v^i^.- 


■;\^^: 


♦■l  ■;«■■■    '^^i-   .V-  ^i-w":^. 


.■^■f 


-s.S. .  '«.pi^d^f«*  ';.-' i»   .•-  > 


:^^^A, 


k     -  ^- o V-      Ä<^'      T^^^*^'  ■    ^^       ^-■^A*   -■■Jj*'  -^    -  > 


.•»«=-   .    >»>. 


■^^^dh 


iw'-l'' 


!S:^:rf^— , 


^s^: 


^^ 


.f ..,.  -i^^HHH 

J--- ,g  • 

^^^^^^ 

University  of  Toronto 

Library 

o 

tX) 

UA              • 

t30         ^3 

I>          C 

-<r      cd 

•H 

DO  NOT           X 

"    J 

^1 

REMOVE        / 

.    'O 

^  ^ 

•P     CD 
u     f-t 

&4 

THE               1 

0)     Ö 

CARD 

-^      ^^ 

•H    Q^ 

0)    Jm 

FROM            \ 

gt-c^ 

o   ^  ^ 

THIS                \ 

O     Q)    5 

^  Ö.S 

POCKET            \v 

•H          JO 

:5      ^ 

0) 

yiy 

en  u-\  :s 

Ö  r-  o 
£  IS    • 

mmmm