DIE NEUE
FREIHEIT
EIN AUFRUF ZUR
BEFREIUNG-DER^
EDLEN KRÄFTE
EINES VOLKES VON
WÖODRÖW
^WILSON
MÜNCHEN
BEI GEORG MULLEIL
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Woodrow Wilson: Die neue Freiheit
Zweite Auflage
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Die neue Freiheit
Ein Aufruf
zur Befreiung der edlen Kräfte
eines Volkes
von
Woodrow Wilson
Mit einer Einleitung von
Hans Winand , ^%'^y^Ä
München 1914 bei Georg Müller
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Alle Rechte vorbehalten.
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INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Einleitung 7
Ein Vorwort 37
ERSTES KAPITEL
Das Alte stürzt 39
ZWEITES KAPITEL
Was ist Fortschritt ? 57
DRITTES KAPITEL
Ein freies Volk braucht keine Vormundschaft 72
VIERTES KAPITEL
Vom Boden kommt das Leben 87
FÜNFTES KAPITEL
Das Volksparlament 94
SECHSTES KAPITEL
Laßt Licht herein 108
SIEBENTES KAPITEL
Die Tarif frage 125
ACHTES KAPITEL
Die Trustfrage und der freie Wettbewerb . . 142
NEUNTES KAPITEL
Recht oder Gnade ? 162
ZEHNTES KAPITEL
Die Entthronung des Boß 179
ELFTES KAPITEL
Die Befreiung des Geschäftslebens 201
ZWÖLFTES KAPITEL
Die Befreiung der Volkskräfte 215
^illllllllllllllllillllllilllllllllllllllllllllllillllllilililiilillllllllllllllillillilllllliilinilllllllllllllllllll^
Einleitung
Amerika steht an einem neuen Wendepunkt seines
Nationallebens. In kurzer Zeit hat die Union mit einer
Kraftentfaltung, die Bewunderung erzwingt, eine Ent-
wicklung durchmessen, die das Land vor einen Scheide-
weg stellt, der eine tiefergreifende Entscheidung fordert
als die schlichte Wahl zwischen rechts und links. Die Zu-
spitzung der wirtschaftlichen Verhältnisse mag zuerst das
gigantische Fragezeichen, das weitblickendere Geister Ame-
rikas schon vor Jahrzehnten heraufdämmern sahen, zu
allgemeiner Sichtbarkeit emporgetürmt haben. Heute, da
es drohend inmitten der Heerstraße, fast möchte man
sagen der Rennbahn amerikanischer Entwicklung steht,
wirft es seine Schatten weit über die Grenzen des Wirt-
schaftssystemes hinaus. Das ganze Netzwerk ethischer
Kräfte, die bewußt und unbewußt den Werdegang Amerikas
bestimmten, harrt einer neuen Musterung. Die Frage-
stellung hat Dimensionen angenommen, denen die Beant-
wortung einzelner politischer und wirtschaftlicher Tages-
fragen nicht mehr gerecht werden kann. Der beispiellose
wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahrzehnte, der
in seinen Ausmaßen die europäische Parallele, den Auf-
schwung Deutschlands, in den Schatten stellt, wälzte seine
Flut mit stürmischer Macht einem konsequent pluto-
kratischen Wirtschaftssystem entgegen. Das geschah mit
dem ganzen Ungestüm einer Nation, die an ihrem Dogma
der politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungs-
losigkeit trotzig festhielt. Diese Etappe mußte von Amerika
nicht weniger durchmessen werden, als ältere Nationen
sie mit größerer Bedachtsamkeit zu durchmessen sich an-
schicken. Vielleicht war es die klügere Politik, die Tiefe
dieser Sackgasse gleich im Sturmschritt zu durcheilen, um
durch schnellere Erkenntnis die Kostspieligkeit des Ex-
perimentes abzukürzen. Radikalismus war der bessere
Dienst. Das in wenigen Jahrzehnten aufgetürmte pluto-
kratische System, dessen Krönung die riesenhafte Ent-
wicklung und Machtanhäufung der das Land gleich einem
Spinnennetz überziehenden Trusts verkörpern, wirkte
durch seine Überspannung eines an sich gesunden wirt-
schaftlichen Grundsatzes gleichsam wie ein gewaltiges
Staubecken, das dem Strome der Gesamtheit Einhalt gebot.
An die Stelle einer mannigfaltigen Vielheit frei fließender
Kräfte, die, allen Volksschichten entquellend, konzen-
trisch dem Ziele der allgemeinen Wohlfahrt zustrebten,
entstand eine mächtige Wasserfläche, die den ganzen
Druck der aufgehäuften Mengen in einigen schmalen Ka-
nälen einfing, deren Schleusen einige wenige Industrie-
kapitäne regulieren.
Wenn nur eine Eindämmung wirtschaftlicher Kräfte
gefolgt wäre, hätte der unaufhaltsam zunehmende Druck
durch sein eigenes Wachstum vielleicht automatisch seine
Ventile geschaffen. Auf dem Wege der Gesetzgebung
wären die Schleusentore Schritt um Schritt verbreitert und
vermehrt worden. Wege hätten sich gefunden, die abflie-
ßenden Gewinnmassen auf größere und vor allem brei-
tere Gebiete des Volkstums zu verteilen. Daß der Versuch
dazu nicht zur rechten Stunde vorbereitet und begonnen
wurde, wird die Geschichtsschreibung auf der Sollseite der
amerikanischen Industrieführer buchen. Aber dieser stra-
tegische Irrtum ist kein zufälliges Versagen des Weit-
blickes. Er entwuchs dem Radikalismus des amerikani-
schen Temperaments, das in seinen reinsten Formen noch
8
immer etwas von der draufgängerischen Ungebrochenheit
der ewigen Jugend bewahrt und instinktiv zu Extremen
strebt. Die ungewöhnUchen wirtschaftlichen Vorbedin-
gungen dieses Landes haben stets, auch auf dem Wege über
gewaltige Krisen, zum Erfolge geführt. Wirtschaftliche
Schönwetterperioden glichen die Wirbelstürme vergangener
Irrtümer mit uneuropäischer Schnelligkeit wieder aus.
Das ,, Vorwärts", dieser kategorische Imperativ amerika-
nischen Lebens, bannt den Blick des einzelnen auf die Zu-
kunft. Errungene Erfolge erscheinen nur als das Vorspiel
künftiger Erfolge und dem Auge bleibt keine Zeit, sinnend
auf Vergangenheit und Gegenwart zu verweilen. Die Schöp-
fer der großen Trusts hätten auch auf die Fragen, die sie
zu stellen versäumten, in der Vergangenheit eine Antwort
kaum gefunden. Nur aus dem dumpfen Raunen der Ge-
genwart tönten ihnen Stimmen entgegen, die Warnungen
glichen. Aber sie mußten ungehört verhallen, wo die Ge-
genwart nur Schwelle zur Zukunft ist und die letzten
Träume der großen Trustarchitekten, die Vertrustung aller
Trusts, noch nicht restlos verwirklicht waren. Dazu kam,
daß es keine Gewalt gab, die dem Sturmlauf zur Zukunft
eine Schranke entgegengetürmt hätte.
Daß dieser Widerstand fehlte, lag in Mängeln, die
von der amerikanischen Regierungspraxis während der
letzten Generation herausgebildet worden waren. Regie-
rungsmethoden, die einer unfertigen und gleichsam noch
flüssigen Gesellschaftsmasse gerecht werden konnten, hät-
ten nur durch eine zeitgemäße Umformung einer neuen
Gesellschaftsordnung angepaßt werden können, die sich
immer klarer gliederte und immer schärfer abstufte.
Die Anpassung blieb aus. An diesem Punkte, wo die
Linien der Regierungspraxis und der Gesellschaftsent-
wicklung sich kreuzen, statt die Parallele aufrechtzuer-
halten, offenbart sich eine Eigentümlichkeit der spezi-
fischen politischen Begabung Amerikas. Die Geschichte
der Union zeigt, daß mit der wachsenden Sicherung der
nationalen Selbständigkeit dem pragmatischen Denken
Amerikas seine Ziele und Gesetze fast ausschließlich von
der unmittelbaren Notwendigkeit diktiert wurden. Immer
war es die Gegenv/art, die drohend oder bittend den Staats-
männern entgegentrat und ihnen bestimmt umrissene Auf-
gaben stellte. Und die Gegenwart stellte ihre Aufgaben
ausnahmslos mit einer Wucht, die Vertagungen ausschloß.
Man hat bisweilen den Eindruck, daß diese Unmittelbar-
keit der Notwendigkeiten sich wie ein Alp auf das staats-
männische Denken der Nation legt und im seltsamen Ge-
gensatz zum wirtschaftlichen Streben die Blickrichtung zur
Zukunft verhindert. Inmitten dieser hastvoll wachsenden
vielfältigen Nation sind die Aufgaben des Tages so groß
und widerspruchsreich, daß ihre Lösung ganze Kraft for-
dert und keinen Überschuß hinterläßt, der sich der fer-
neren Zukunft zuwenden könnte. Daß die Union noch
stets in entscheidender Stunde die Staatsmänner großen
Formats aufbrachte, die ihre Aufgaben anzupacken und zu
lösen wußten, ist ein Beweis für die ungewöhnlich reiche
Produktion staatsmännischer Talente in der neuen Welt.
Sie erklärt sich nur durch die strenge politische Schulung,
die Amerika von Anbeginn zuerst seinen Gästen, dann
seinen Söhnen auferlegte ; sie erklärt sich zum Teil auch
durch das von Anfang an demokratische Verwaltungs-
system, das seit dem Tage der Unabhängigkeit und auch
früher schon die Angelegenheiten der Regierung zu An-
gelegenheiten aller machte und politische Begabung erzog,
indem sie jedem die Bahn zur Betätigung freimachte. Aber
auf der anderen Seite erklärt gerade dieses System, das
mit seiner Kurzfristigkeit der Machterteilung beispiels-
weise die Kraft eines Bismarck zu neun Zehnteln zur Un-
tätigkeit verdammt hätte, auch die mit dem Lauf der Jahr-
10
zehnte zunehmende Beschränkung des poHtischen Han-
delns auf die Gegenwart.
Die Lehre, nach der Gesetze nur die Spiegelung und das
Ergebnis der Wirklichkeit sind, durchzieht das gesamte
staatsmännische Walten der neueren Vereinigten Staaten.
Aber im Laufe der Generationen glitt das politische Wirken
bei der Verwirklichung dieses Grundsatzes immer stärker
einer Auslegung zu, die ohne weiteres die Wirklichkeit
mit der Gegenwart identifizierte. Wie die Staatsmänner
die Impulse ihres Handelns unter zunehmender Ausschal-
tung der Zukunft von der Gegenwart empfingen, gingen
auch die Antriebe zur Gesetzgebung aus der Wirklichkeit
des gegenwärtigen Tages hervor. Es konnte nicht aus-
bleiben, daß die jüngeren Regierungsabschnitte der Union
gleichsam retrospektiven Charakter annahmen. Sie wur-
den in ihrer inneren Politik weniger durch eigene Ini-
tiative als durch die allgemeine Entwicklung vorwärts-
gestoßen. Es zeugt für den Idealismus der Nation, daß die
Notwendigkeiten, die die Staatsmänner zum Handeln trie-
ben, keineswegs nur materieller Natur waren. Die große
Krise der amerikanischen Nationalgeschichte, der Skla-
venkrieg, begann als ein ethischer Konflikt und wurde zu
einem Kampfe um das Ideal der nationalen Einheit. Daß
der Süden dabei auch die materielle Zweckmäßigkeit seiner
sozialen Gliederung verteidigte, verstärkt nur die wirkende
Bedeutung der ethischen Postulate, die den Norden zum
Angriff trieben. Für ihn handelte es sich nicht um wirt-
schaftliche Notwendigkeiten, er kämpfte für ein unmate-
rielles Ideal und besiegelte seinen Glauben auch mit seinem
Blute. Aber von diesem letzten blutigen Konflikte und den
bereits plutokratisch gefärbten imperialistischen Extra-
touren der jüngsten Zeit abgesehen, blieb das neuere
staatsmännische Denken Amerikas fast ausschließlich
der Beseitigung bereits erwachsener Mißstände zugewandt.
II
Man steht hier vor der logischen Folge jenes alten Ideals,
das jene Regierung die beste nannte, die am wenigsten
regiere. Die Zeit hat es übernommen, die Unzweckmäßig-
keit einer konsequenten Durchführung dieses Gedankens
darzutun. Im Angesicht einer neuen wirtschaftlichen und
sozialen Gliederung mußte dieses Lieblingskind des alten
puritanischen Idealismus allgemach zu einem wesens-
armen rhetorischen Schlagwort herabsinken. Die Idee ist
der Verwirklichung nicht mehr fähig. Daß immer wieder
versucht wurde, mit diesem, unter neuen Verhältnissen
lebensunfähig gewordenen Ideal zu liebäugeln, ist eine
jener politischen Versäumnisse, die heute das Land vor
die Notwendigkeit einer Umkehr stellen.
Seit den Tagen, da in den letzten zwanziger Jahren das
berüchtigte Spoilsystem mit seinem Schlachtrufe: ,,Dem
Sieger die Beute** nationale Geltung erlangte, ist es trotz
aller heilsamen Reaktionen nicht gelungen, diesen Grund-
satz völlig aus der amerikanischen Politik zu verbannen.
Diese Praxis, die persönlich-egoistische Momente in das
politische Walten hineintrug, mußte naturgemäß einen
mächtigen Ansporn zum Ausbau der politischen Kampf-
organisationen bergen. Aber sie bereitete nicht nur einer
strafferen Organisation der politischen Maschinen den Bo-
den, sie ebnete auch das Feld, auf dem die Ausbildung
des Boßsystems und die selbstsüchtige Mechanisierung des
politischen Apparates emporwachsen sollten. Die Kurz-
fristigkeit der politischen Machterteilung, die von der
Unionsverfassung und noch mehr von den Verfassungen
der Einzelstaaten vorgesehen ist, führte zugleich dazu,
daß die Vervollkommnung der Parteimaschinen nicht der
Regierungsgewalt zugute kam. Immer klarer offenbarte
sich im Lauf der Jahrzehnte die merkwürdige Erschei-
nung, daß die Wucht der politischen Leidenschaft dazu
neigte, ihre fruchtbare Kraft viel mehr auf die Gewinnung
12
der Regierung als auf deren Ausübung zu konzentrieren.
Der Kampf um politische Überzeugungen sank zu einem
Ringen um die Macht herab : und war die Macht errungen,
dann ließ das Verlangen nach ihrer schleunigen Aus-
nützung und die Sorge um ihre Behauptung die Ideale ver-
gessen, unter denen man in den Kampf gezogen war.
Mit den siebziger Jahren, nach der ,, Rekonstruktion"
der Union, tritt ein neues Element, das bald lawinenartig
anschwellen sollte, in das Leben der Nation. Der Übergang
vom Agrarstaat zum Industriestaat bereitet sich vor. Mit
ihm beginnt eine Neuorganisation des Geschäftslebens, die
von Anfang an dem Großbetrieb zusteuert. Entscheiden-
den Einfluß und nationale Breite erlangt diese Strömung
nach der großen Wirtschaftskrise von 1893. Sie wird das
Signal zum Aufruf aller Kräfte und ihr Ziel ist zunächst
der Aufbau einer Industrie, die die Union vom Weltmarkt
unabhängig machen sollte. Der Elan, mit dem hinter den
Mauern des Hochzolles dieses Industriegebäude mit einer
fast magischen Tatkraft aufgerichtet wurde, hat etwas Im-
ponierendes, das immer wieder die europäische Einbil-
dungskraft in Schwingungen versetzt. Denn hier feierte
das Zauberwort modernen Wirtschaftskampfes, das Zau-
berwort Organisation seine höchsten Triumphe.
Bald aber sollte sich dabei zeigen, daß die Praxis der
Regierung mit diesem Eiltempo der Entwicklung nicht
Schritt zu halten vermochte. Zum ersten Male trat es klar
zutage, daß das retrospektive Regierungssystem, das Re-
gierungssystem, das sein Ziel darin sieht, entstandene Miß-
stände zu verringern und prophylaktische Arbeit unbewußt
vom Arbeitsprogramme streicht, nicht immer ausreichen
kann. Man sah sich der Gefahr des Zuspätkommens, der
amerikanische Staatsmänner früher stets zu entgehen ver-
standen, gegenüber gestellt. Und zum ersten Male er-
wies sich jenes Dogma von der Verteilung der Gewalten,
13
das den Schöpfern der amerikanischen Verfassung in ihrer
Furcht vor den Gespenstern der Pöbelherrschaft und der
Autokratie vorgeschwebt hatte, als ein Hindernis. Die Drei-
teilung der Macht unter dem Präsidenten, dem Kongreß
und dem Bundesgerichtshof war der in so kurzer Frist
gewaltig angewachsenen Macht des plutokratisch organi-
sierten Kapitals nicht gewachsen. Das Prinzip der Zen-
tralisierung in der Geschäftswelt zeigte sich dem Regie-
rungsprinzip der Dezentralisierung überlegen. Die Ab-
hängigkeit von einer Parteimaschine, durch die die Exe-
kutive den Weg zur Macht gefunden hatte, ward zu einer
Fessel, die mit der bisher üblichen politischen Praxis nicht
abgestreift werden konnte. Die Arbeit der Parteimaschinen
hatte sich immer enger mit dem Boßsystem verknüpft.
Und über diese Brücke der reinen Geschäftspolitik führte
der Weg in die offenen Arme der mächtigen Industrie-
und Handelskombinationen, die heute das wirtschaftliche
Leben der ganzen Nation bestimmen. Trotz aller konsti-
tutionellen Blitzableiter sah Amerika j enes Gewitter herauf-
ziehen, vor dem die Gründer des Staates ihre Nachkommen
zu schützen gesucht hatten. Das Gespenst der Autokratie
gewann plötzlich ein Leben, das dadurch nicht weniger be-
ängstigend wurde, daß aus einer Autokratie eines einzel-
nen die Autokratie einer kleinen durch Interessengemein-
schaften verbündeten Gruppe geworden war.
Hätte diese Gruppe ihren Einfluß mit staatsmännischer
Mäßigung zur Geltung gebracht, wäre der Übergangs-
prozeß, vor dem Amerika heute steht, weniger gewaltsam
geworden. Aber jede Macht, die zugleich mit dem Bewußt-
sein ihrer Stärke der Verantwortung von der Öffent-
lichkeit entrückt ist, neigt dazu, die Intensität ihrer Ein-
wirkung unausgesetzt zu steigern. Das geschah; und im
Vertrauen auf die eigene gute Sache geschah es mit jenem
Ungestüm, der schon im ersten Anlauf die Schranken der
Zweckmäßigkeit durchbricht. Den Nachkommen jener
Männer, die eine feindselige Wildnis in eine Heimat ver-
wandelten, eignet noch heute jener weltenversetzende
Optimismus, der eine Überschätzung der eigenen Kraft
nicht kennt. Und es war auch vielleicht weniger eine Über-
schätzung als eine Übersteigerung der eigenen Kraft, die in
dieser hastigen wirtschaftlichen Neuordnung die Organi-
sation überorganisierte. Die vollbrachte Arbeitsleistung
war so gewaltig, daß ihre Schatten sich über das ganze
nationale Leben erstreckten. Die Monopolisierung des Ka-
pitals bestimmte die Entwicklungsmöglichkeit des Indi-
viduums. In dem Maße, in dem diese Abhängigkeit sich
verschärfte, wuchs die Tiefe der Wirkung. Sie griff über
eine Monopolisierung der materiellen Daseinsmöglich-
keiten hinaus und beschwor den Ansturm jener morali-
schen Kräfte herauf, die hinter der Schlachtlinie des wirt-
schaftlichen Kampfes die Impulse eines Volkes bestim-
men. Die Größe der Gefahr beschleunigte deren Erkennt-
nis. Eine Zeitlang konnte der Glanz des wirtschaftlichen
Aufschwunges das Auge blenden. Aber als die gepanzerte
Faust des überorganisierten Kapitals immer härter in die
Lebensbedingungen der Allgemeinheit eingriff, begann
man zu erkennen, daß man im Begriffe stand, die demo-
kratische Selbstregierung gegen eine Art plutokratischer
Oligarchie einzutauschen.
Schon McKinley sah in seinen letzten Lebenszeiten diese
Wolke heraufziehen. An der Spitze der Regierung blies
später Roosevelt Alarm. Er blieb dem Lande manches
schuldig, der winkende Ruhm eines ,, praktischen Poli-
tikers" blendete seine sonst so scharf en Augen. Jahre eines
nur halb erfolgreichen Ringens mochten sein stürmisches
Temperament gebändigt haben: und in einer Stunde, da
nur ein „Alles oder Nichts" heilsam werden konnte, ließ
er sich Schritt um Schritt zu dem Verlangen treiben, seinen
15
Ehrgeiz auf ,, realisierbare" Kompromisse zu richten.
,,But I want to get something through" — diese Antwort,
die er dem fortschritthchen Senator La Follette immer
wieder gab, wenn ihm durchgreifende Maßnahmen (deren
Notwendigkeit er mit offenem Sinn würdigte) vorgeschla-
gen wurden, blieb für die letzten Präsidenten] ahre des frü-
heren Götzenzertrümmerers charakteristisch. Roosevelt
erkannte die Tatsache der Gefahr besser als ihre Trag-
weite. Ihr Umfang begann sich ihm erst dann zu enthüllen,
als er die vereinzelten schüchternen Oppositionsversuche
gegen die Trusts wieder aufnahm. Sein Versuch, sie zu
einem stürmischen Gewaltangriff zu machen, wurde schnell
zum Stehen gebracht. Es zeigte sich, daß der Einfluß der
organisierten Plutokratie der Regierungsgewalt über den
Kopf gewachsen war. Roosevelts Kampf gegen die Trusts
mußte erlahmen. Statt gegen die Wurzeln des Übels hatte
er seine Waffen nur gegen deren schlimmsten Auswüchse
gerichtet. Und sie mußten versagen, weil Kongreß, Staats-
gerichtshof und vor allem die eigene Partei unter der Sug-
gestion der großen Organisationen beharrten. Dem fern-
stehenden Beobachter erscheint heute die Macht jener
Widerstände, die Roosevelt in die seinem Wesen unge-
wohnte Welt der Kompromisse trieben, fast wie eine gün-
stige Fügung des amerikanischen Schicksals. Theodore
Roosevelt ward die Aufgabe, die Allgemeinheit aufzu-
rütteln. Er wurde einer der segensreichsten Faktoren in
der Erweckung des Volkes aus einer Lethargie, die ge-
fährlicher war als freimütige Unzufriedenheit. Die ärm-
lichen Erfolge, die er in seinem Kampfe gegen die Aus-
wüchse des Trustwesens erntete, wurden indirekt frucht-
barer als die volle Verwirklichung seiner Absichten es ge-
worden wäre. Die Ohnmacht der Regierung trat offen zu-
tage. Das Taftsche Regime tat ein übriges, indem es die
wenig beneidenswerte Lage der Exekutive noch unter-
i6
strich. Die Lage hatte sich so zugespitzt, daß nur ein Appell
an die höchsten Mächte der Demokratie Hilfe verheißen
konnte. Es war die Hilfe durch das Volk.
Der alte Grundsatz der Souveränität des Volkes, das
Allerheiligste amerikanischer Überlieferung, schien be-
droht, ja fast schon aufgehoben. Er war schon im Laufe
der letzten Jahrzehnte unter dem Drucke einer zum Sche-
matismus gewordenen legislativen Praxis einer Art Starr-
krampf verfallen. Behutsame Hände hatten dies demo-
kratische Heiligenbild aus dem Reiche der lebendigen Wirk-
lichkeiten längst in den Schrein der Nationalideale über-
führt. Hier wurde es am 4. Juli und bei anderen festlichen
Anlässen dem Volke noch gezeigt. Und in Stunden patrio-
tischer Weihe bezeugte ihm Amerika freudig und stolz
eine Ehrfurcht, deren Widerhall bisweilen, in Augen-
blicken nationaler Erbauung, den schlummernden Schutz-
patron seinen Kyffhäuserträumen zu entreißen schien.
Aber das Mysterium sollte doch Wirklichkeit werden. Um
die Inbrunst dieses Vorganges zu verstehen, muß man sich
klarmachen, daß in der amerikanischen Union National-
gefühl und demokratisches Fühlen identisch sind. Die
wirklich zu einer kraftvollen ,, moralischen Energie" aus-
gebildete Vaterlandsfreudigkeit Amerikas, die als ein bis-
weilen latentes, aber stets tatbereites Imponderabilium
die Impulse der Volksseele beherrscht, ließ die Erkenntnis
der Lage zu einer tiefgreifenden Aufrüttelung der Masse
werden. Das war nicht ein abstraktes Prinzip oder eine
blutlose theoretische Formel, die in Gefahr schien: das
war das heilige Erbe, für das die Väter ihr Blut verpfändet
hatten, das war der Quell, aus dem das Amerikanertum
den Stolz und das zur Arbeit und zu Taten stählende Selbst-
bewußtsein schöpft. In den Visionen der Patrioten begann
das Schreckbild einer ,, Freiheit" aufzutauchen, die von
sorgsamen und gewissenhaften Kellermeistern destilliert,
2 17
auf Flaschen gezogen und mit routinierter Fachkenntnis
kühl und trocken gelagert wird. Es genügte, um eine Na-
tion zu mobilisieren, die gewohnt war, nach eigenem Wil-
len den Weg zum Quell zu gehen.
Aber auf den ausgefahrenen Geleisen der bisherigen
politischen Gepflogenheiten schien das Ziel nicht mehr er-
reichbar. Roosevelts fröhliche Fanfare, der so schnell die
sanfte Schamade gefolgt war, hatte das schon gezeigt. Die
folgenden Zeiten politischer Ohnmacht gaben der Allge-
meinheit genug unfreiwillige Muße, um daheim im stillen
Inventur zu machen. Man begann zu prüfen, wie die mit-
geführten Überzeugungen und ethischen Instinkte, die
tief auch dem stillen Reiche des Gefühlslebens emporstei-
gen, die scharfe Luft einer neuen Welt vertrügen, die über
Nacht wie durch Zaubergewalt umgeschaffen schien und
mit der Vergangenheit kaum noch die Schatten einer ent-
fernten Familienähnlichkeit aufwies. In solchen Stunden
der Einkehr mag das politische Problem des Tages vor
vielen seine Maske abgenommen haben. Die Augen des
nationalen Geistes Amerikas richteten sich fragend auf
sein Volk. Unter diesem Blicke wurde aus dem, was vielen
zuvor nur ein verwaltungstechnisches Problem geschienen
haben mochte, jenes gewaltige Fragezeichen, vor dem das
Land heute steht. Und jenseits der Tagesfragen aktiver
politischer Verwaltung ersteht die Aufgabe, im Angesicht
einer neuen Lebensordnung den ganzen Umkreis ameri-
kanischer Kulturideale einer Revision zu unterziehen.
In der sozialen Geschichte der Union bestimmen zwei
Ideale in seltsamer Verknüpfung den Kulturwillen der
Nation. Beide entwuchsen dem in der neuen Welt frucht-
bar gewordenen Boden des Calvinismus. Von der Gleich-
heit aller Seelen vor Gott, die Amerikas erste Versuche einer
i8
staatsähnlichen sozialen Gliederung von Calvin übernah-
men, war nur ein durch die Umstände der Kolonisations-
arbeit gebotener Schritt zum religiösen und zum politischen
Individualismus. Ihn zwang das republikanische Staatsideal
zur Ehe mit den Theorien der Demokratie, die aus den Ver-
hältnissen folgerecht emporwuchsen. Überträgt man diese
Tendenzen auf eine moderne Gesellschaftsordnung, die im
Zeichen der Großorganisation ihre höchste Leistungsfähig-
keit sucht, so zeigt sich bald, daß die neue Ordnung das
demokratische Ideal zwar aufnimmt, aber dem radikalen
Individualismus des älteren Amerika keinen Raum mehr
gewähren kann. Dieser alte Individualismus war ein etwas
ungewiß umgrenzter Sammelbegriff, aber Grundlage und
Nährboden jener Willensimpulse, die in Tagen der Einzel-
wirtschaft die Pioniere Amerikas mit jener prachtvollen
Energie sättigten, ohne die das heldische Epos der Erschlie-
ßung eines neuen Weltteils niemals in den unverlierbaren
Besitz der Menschheit übergegangen wäre. Solange dies
individualistische Ideal gleichsam ein Nutzwert war, der
durch tägliche Anwendung vor der Gefahr bewahrt blieb,
theoretisch zu Ende gedacht zu werden, konnte sein Bünd-
nis mit der demokratischen Idee ohne Mißklänge bleiben.
Der Verflechtung dieser wesensverschiedenen Lebensten-
denzen entsprossen in buntem Wechselspiel treibende
Kräfte, die auf eine gewisse, nicht kurze Zeitspanne das
Tempo des sozialen und politischen Fortschrittes heil-
sam fördern konnten. Aber die neuen sozialen Umfor-
mungen mußten das demokratische Denken Amerikas zu
einer Revision jenes alten Ideals zwingen, das einem Mi-
nimum der Regierungsorganisation zustrebte. Die anar-
chischen Elemente, die in jedem konsequent zu Ende ver-
folgten Individualismus verborgen liegen, mußten dabei
zutage treten und ihre praktischen Unzuträglichkeiten
enthüllen. Das war auch schon früher geschehen, wenn
2» 19
immer radikale Individualisten es versuchten, ihre Ge-
dankengänge als Bausteine einer Weltanschauung zu
Wort zu bringen. Noch in den dreißiger Jahren mochten
beschauliche Gemüter in den wundervollen Betrachtungen
Thoreaus Fundamente suchen, auf denen sich eine Lebens-
philosophie aufbauen ließ, nach der sich zur Not leben ließ,
ohne darum gleich Eremit oder aus Liebe zum All anti-
sozial zu werden. ,, Alleinsein ist Weisheit, Alleinsein ist
Glück, die Gesellschaft macht uns heutzutage niederge-
drückt, hoffnungslos, Alleinsein ist der Himmel" schrieb
Emerson noch im Jahre 1835. Allein inmitten des werk-
tätigen Lebens der Gegenwart und inmitten eines Wirt-
schaftssystems, das auf dem Wege des Zusammenschlus-
ses der Arbeitsmöglichkeiten weit fortgeschritten ist,bleibt
mit einer folgerichtigen Verwirklichung individualistischer
Ideale nicht viel zu erreichen. Sie führen innerhalb der
heutigen Wirtschaftsordnung in gerader Linie zur Brach-
legung der individuellen Leistungskraft. Mit der Negation
der Gesellschaft ist nichts gebessert. Die Genüsse des Al-
leinseins sind nur einzelnen philosophischen Gemütern er-
reichbar, die der Notwendigkeit des wirtschaftlichen Le-
benskampfes entrückt sind. Das ist eine verschwindende
Minorität: und die Aufstellung eines Ideals, das notge-
drungen nur einer verschwindenden Minorität zugänglich
bleiben muß, wäre eine Verneinung demokratischen Den-
kens. Einer Vielheit von Menschen, die durch die Bande
der Notwendigkeit und des Gefühls zu einer größeren Ge-
meinschaft, zu der eines Volkes und einer Nation zusam-
mengeführt werden, muß jede Spielart dieser individua-
listischen Lehren zur Negation ihres Daseins werden. Ame-
rika mußte beginnen, sein altes individualistisches Ideal
umzuformen und soziabel zu machen. Unbewußt mochte
dieser Prozeß einsetzen, aber darum nicht mit geringerer
Entschlossenheit. Erst allmählich nimmt er den Charakter
20
bewußten Wollens an. Schon Walt Whitman, um eine all-
gemein sichtbare Etappe dieses Weges herauszugreifen,
bereichert mit der rhapsodischen Intuition des Sehers das
individualistische Ideal Amerikas um das Attribut der Ka-
meradschaft. Sein poetisch verklärtes Lebensziel wird es,
nahe an der ,, großen Heerstraße** zu wohnen und ,, allen
Menschen Freund zu sein". Und als er sagte: ,,Ich will
nichts annehmen, was nicht alle zu gleichen Bedingungen
erhalten können", gab er nur die neuere Variante jenes
demokratischen Stolzes, der einst Lowell auf eine Bemer-
kung über die Überlegenheit der weißen Rasse erwidern
ließ: ,,Kein Gentleman kann ein Vorrecht annehmen, das
anderen unzugänglich bleibt.**
Dem heutigen Amerika fällt die Aufgabe zu, die an-
gebahnte Umwandlung seines individualistischen Ideals zu
vollenden. Es wird eine Form erhalten müssen, in der es
sich den erweiterten demokratischen Gefühlskreisen ein-
fügt. Denn die neue Demokratie schickt sich an, ihre alten
Vorstellungen vom Wirkungsfeld einer Regierung vom
Grund auf zu revidieren. Die Notwendigkeit ist gekommen,
das Aufsichtsrecht der Staatsgewalt auf Gebiete auszu-
dehnen, die dem älteren Amerika als ein unantastbares
Allerheiligstes des Individuums galten. Wo früher Recht
der Regierung aufhörte, werden morgen ihre folgenreich-
sten Pflichten beginnen. Die Übernahme dieser Pflichten
wird in der Praxis unwillkürlich eine Vergrößerung der
Machtbefugnisse mit sich bringen. Der neuen Organisation
des Wirtschaftslebens muß eine neue Organisation des
Staatslebens folgen : und ihr eine Erneuerung der gesam-
ten Kulturideale.
Wie schnell es der Nation gelingen wird, über diesen
Wendepunkt hinauszukommen, vermag heute niemand
vorauszusehen. Harte und geräuschvolle politische Kämpfe
werden dem Lande vielleicht nicht erspart bleiben. Und
21
ein stilleres, geistigeres Ringen wird hinter der politischen
Arena den Waffenlärm begleiten. Die Geschichte Amerikas
bietet keine Analogie für diese Duplizität eines kulturellen
und politischen Kampfes. Zum erstenmal fällt in der Ent-
wicklung des Landes eine schroffe politische Wegbiegung
mit einer Neuorientierung des ganzen Kulturgewissens zu-
sammen. Eine über Nacht emporgetauchte neueWirtschaf ts-
ordnung kreuzt eine in stiller Sammlung sich rüstende
ethische Strömung, die ihre letzten Ziele noch nicht klar ab-
messen konnte. Und noch ehe ihre Kräfte reifen und sich
ordnen konnten, werden sie zu einem Kampfe aufgerufen,
den eine jäh emporgetauchte äußere Notwendigkeit ihr auf-
zwingt. Aber das Ende dieses Kampfes ist kaum zweifelhaft.
Noch immer, wenn in der Heimat Washingtons und Lin-
colns ethische Gewalten sich zum Kampfe aufrafften, wuß-
ten sie den Weg zum Siege zu finden ; und ihre Schuld war
es nie, wenn mit der Stunde, da sie nach vollbrachtem
Werke zu stilleren Pflichten in die Heimat zurückkehrten,
manche der eroberten köstlichen Schätze wieder vergeu-
det und verpraßt wurden. Aber die ferneren Ziele, die nach
dem jetzt einsetzenden Ringen das Fühlen des Volkes, die
,, moralische Energie" der Union sich stellen wird, ver-
hüllen noch die Nebel einer ungeklärten Zukunft. Für die
Politik liegt der Weg vorgezeichnet. Der staatsmännischen
Kraft harrt eine Überfülle der Aufgaben, die jeder neue
Tag multipliziert. Aber welche Einwirkung die unaus-
bleibliche politische Neuordnung auf die Kulturideale des
Landes ausüben wird, ist heute noch nicht abzumessen.
Einer individualistischen Carlyleschen Heldenverehrung
versperrt das auf fester ethischer Grundlage ruhende de-
mokratische Fühlen den Weg. Die Gefahren der Demo-
kratie, die Neigung zu einer nivellierenden Uniformierung
des Denkens und Strebens, wird heute auch in der neuen
Welt nicht mehr verkannt. Und man fühlt auch, daß mit
22
der erlahmenden Triebkraft des individualistischen Den-
kens der Kultur ein heilsames Korrelat der konsequent
demokratischen Weltbetrachtung verloren geht. Aber wie
diese Lücke gefüllt und wie der Gefahr der Nivellierung be-
gegnet werden soll, darauf fehlt einstweilen noch die Ant-
wort. Das Schlagwort von einer ,, Vergeistigung der Demo-
kratie" ist zwar gefallen, allein der Sinn, der hinter diesem
Worte Versteck spielt, hat sich bis heute einer klaren Deut-
barkeit entzogen. Und so steht an Stelle eines klaren
Ideals noch jener etwas verschwommene, beinahe fata-
listisch gefärbte Optimismus, dem einst Walt Whitman
Ausdruck lieh, als er sagte : ,, Bringt große Männer hervor,
der Rest wird sich finden."
Einige Worte noch über den Mann, den die Union zum
Führer im jetzigen Kampfe erwählte. Nicht des Zufalls
Fügung brachte ihm, dem ,, Professor", den Ruf ins Weiße
Haus. Die biographischen Daten seines Lebens enthüllen
dem oberflächlichen Blicke freilich erst spät die Wegwei-
ser, die von Woodrow Wilsons virginischer Heimat oder
von seinem Auditorium in der Princeton-Universität nach
Washington deuten. Nach den Mitteilungen seines Bio-
graphen William Bayard Hale wurde Thomas Woodrow
Wilson am 28. Dezember 1856 zu Staunton in Virginien
geboren. Daß durch seine väterlichen Ahnen schottisches,
durch seine Mutter irisches Blut in seinen Adern sich
mischten, daß unter seinen Vorfahren der geistliche Beruf
mit dem des Publizisten und Redakteurs alternierten und
daß sein Vater als einer der bedeutsamsten Kanzelredner
und presbyterianischen Geistlichen des Südens hohes An-
sehen genoß — alles das sind Umstände, die auf Wesen
und Charakter Woodrow Wilsons einen Einfluß geübt ha-
ben mögen : allein ihre Kenntnis erklärt noch nicht das gei-
23
stige Profil des Mannes. Sein Vater v/ar sein erster Lehrer ;
als Siebzehnjährigen schickte man den Jungen ins David-
son College im Mecklenburg County. Im September 1875
bezieht Woodrow als junger Student die Princeton-Uni-
versität, damals noch das , »College of New Jersey": und
hier fällt die Entscheidung über seine Lebensrichtung.
In der Bücherei kommt ihm als erstes Buch ein Jahr-
gang des bekannten Gentlemans Magazine in die Hände.
Es ist der Jahrgang 1874. Wer diesen Band der einst be-
rühmten Zeitschrift aufschlägt, wird hier jene parlamen-
tarische Berichterstattung wieder aufgenommen finden,
die einst das Entzücken des guten alten Dr. Johnson bil-
dete. Wilson blätterte: und er stieß auf jene meisterhaften,
farbigen, mit überlegenem Geist geschriebenen kleinen
Aufsätze, die als klassische Musterbeispiele einer geist-
reichen parlamentarischen Berichterstattung zu einer in-
ternationalen Fibel der Parlaments Journalistik gemacht
werden sollten. Der Schriftsteller, der diese kleinen Meister-
stücke der Parlamentsreportage verfaßte — und allerdings
über Modelle wie Gladstone, Disraeli, John Bright und
Granville verfügte — zeichnete als ,, member for the Chil-
tern hundred". Es war Henry W. Lucy, der spätere Er-
finder des ,,Toby, M. P." im Punch: damals aber noch
in der Vollkraft seiner journalistischen Begabung. Woo-
drow Wilson hat später erklärt, daß diese bunten, leben-
sprühenden temperamentvollen kleinen Aufsätze, die wie
in einem Mikroskomos die ganze Elektrizität der damalige
Unterhauskämpfe spiegelten, ihn mehr als alle anderen
Umstände den Entschluß fassen ließen, das Wirken für
die Öffentlichkeit zum Ziel und zum Inhalt seines Lebens
zu machen.
Die kleine Episode mag angeführt sein, weil sie die
außeramerikanische Legende korrigieren kann, nach der
in Woodrow Wilson ein weitabgewandter Akademiker un-
34
Versehens in das Kampf getöse der Politik geraten sei. Von
Anbeginn gilt sein Streben und Wirken dem späteren Ein-
tritt in das öffentliche Leben. Noch ehe er die Universität
verläßt, hat er seinem Namen Beachtung erobert. Im Som-
mer 1879 erscheint in den Spalten der ernstesten und an-
gesehensten Monatsschrift des damaligen Amerika, in der
International Review, eine Arbeit des zweiundzwanzig-
j ährigen Studenten. Sie führt den Titel ,, Kabinettsregie-
rung in den Vereinigten Staaten": und hier sind, bereits
vor vierunddreißig Jahren, jene politischen Reformforde-
rungen aufgestellt, die heute Gemeingut des amerikani-
schen Denkens sind. Schon damals legte Wilson die Finger
auf Wunden, deren Gefährlichkeit erst spätere Jahre er-
weisen sollten und deren Heilung heute im Mittelpunkt
des politischen Ringens steht. Es ist das berüchtigte Klau-
sursystem des gesetzgeberischen Wirkens, jene Konzen-
trierung aller entscheidenden legislativen Einflüsse auf
kleine Kommissionen, die hinter verschlossenen Türen
walten und in der Unpersönlichkeit ihrer Beschlußfassung
sich jeder unmittelbaren Verantwortung vor der Öffent-
lichkeit entziehen. Es sind die Gefahrquellen eines Systems,
das jede freimütige Diskussion in offener Parlaments-
sitzung ausschaltet und damit die politische Teilnahme des
Volkes einschläfert ; und entschlossen wendet sich der junge
Kritiker gegen jene Atmosphäre der Heimlichkeit, die das
legislative Wirken Amerikas erfüllt. Die Summe der Ein-
wände, die damals der dreiundzwanzigj ährige Student mit
der klaren Sachlichkeit eines erstaunlich reifen Kritikers
zieht, gleicht genau der Summe der später zutage treten-
den Schäden. Sein erster Angriff richtet sich sofort auf das
Zentrum jener Legislaturmethoden, die der Ursprung aller
jener lawinenartig anwachsenden Mißstände sind, die heute
einen radikalen Eingriff fordern. Er überschaut die Trag-
weite der Mängel. Und er beweist sie nicht, wie seine Ju-
25
gend das gerechtfertigt hätte, mit der Waffe einer einseitig
aggressiven Polemik ; er erörtert mit der ruhigen Sicherheit
einer spezifisch staatsmännischen Intelligenz, die allen
Konsequenzen der Verhältnisse klar ins Auge sieht. Schon
damals empfiehlt er der legislativen Praxis seines Landes
eine stärkere Anlehnung an die Parlamentsmethoden Eng-
lands, die durch die Herausarbeitung der Parteiverantwort-
lichkeit und den engeren Kontakt zwischen Exekutive und
Legislative jene Schäden fernhielten, mit denen die Union
heute abzurechnen hat.
Die von dem Zweiundzwanzig jährigen in jenem Auf-
satz angedeuteten Grundsätze durchziehen fortan Wilsons
Wirken. Sie bleiben Grundriß seiner Überzeugungen; sie
werden ausgebaut, erweitert, vertieft und durch wachsende
Erfahrung und wachsendes Wissen bereichert, aber in ih-
rem Wesen bleiben sie unangetastet. Mit dem Ziele einer
Regierungsorganisation, deren Konstruktion eine stete und
unmittelbare Einwirkung des Volkswillens gewährleisten
soll, wächst der Bau seiner Anschauungen organisch em-
por. Alle Erfahrungen und Beobachtungen des Lebens und
Denkens werden ungezwungen zu Bestätigungen und fü-
gen sich als neue Bauglieder organisch dem einst mit
jugendlicher Intuition entworfenen System ein.
Neben diesem folgerichtigen Wachstum der Anschau-
ungen, die später auch in der Praxis die Feuerprobe beste-
hen sollten, sinken die äußeren Etappen von Wilsons Le-
bensgang zu bescheidenerem Einfluß herab. Er beendet
seine juristischen Studien, und sofort entscheidet er sich
für jenen Weg, der ihn nach seinem Glauben am schnell-
sten seinem eigentlichen Ziele zuführen würde : dem öffent-
lichen Wirken. Es ist der gleiche Weg, auf dem Abraham
Lincoln in die Geschichte seines Vaterlandes trat : der Be-
ruf des Rechtsanwaltes. In Atlanta läßt sich der junge
Jurist nieder. Es sollte sich bald zeigen, daß dieser Weg
26
einem jungen Manne, der in der fremden Stadt ohne Be-
ziehungen und mit irdischen Schätzen nicht überbürdet
war, kaum gangbar sein konnte. Am Fenster eines Zim-
mers, im zweiten Stockwerk, in der Marietta Street, ward
kunstvoll das Firmenschild befestigt, das die rechtsbedürf-
tigen Bürger Atlantas anlocken sollte. Aber das Schild be-
wies nicht die magnetischen Gewalten, die der j unge Rechts-
anwalt von ihm erhofft hatte. Kein Mensch bekümmerte sich
um den tatendurstigen Rechtskundigen. Zur Weiterfüh-
rung seiner staatsrechtlichen Studien blieb ihm mehr Zeit
als ihm lieb war. Aber um staatsrechtliche Studien zu be-
treiben, braucht man nicht in Atlanta hinter einem Firmen-
schild zu sitzen. Als nach achtzehn Monaten der erträumte
Ansturm der Klienten noch immer nicht beginnen wollte,
stellte Woodrow Wilson mit einem entschlossenen Ruck
das Steuer seines Lebens auf einen anderen Kurs. Das
Schild in der Marietta Street ward eines Morgens abge-
schraubt, das Bureau geschlossen, der Koffer gepackt:
und als achtundzwanzigj ähriger Mann kehrt Wilson zur
Universität zurück, um wieder das Leben eines Studenten
zu beginnen. Er geht an die Johns Hopkins-Universität und
studiert weiter: Staatswissenschaften und Regierungs-
philosophie. Noch als Student erscheint, 1885, Woodrow
Wilsons erstes Werk. Es ist sein Buch über ,, Kongreß-
Regierung" ; und mit einem Schlage macht es ihn bekannt.
Noch ehe er Zeit findet, sich zum Doktorexamen zu rüsten,
kommen von den Hochschulen die Berufungen. In dem
neu gegründeten Bryn Mawr College für Frauen — die
Spötter nannten es damals ,, Johanna Hopkins** — nahm
er den Lehrstuhl für Geschichte und politische Wirtschafts-
lehre an. Noch im Sommer des gleichen Jahres führt er
seine Braut heim : und das Leben eines erfolgreichen aka-
demischen Lehrers beginnt. Bereits fünf Jahre später er-
geht an ihn der Ruf der Princeton-Universität, die ihm
27
ihren Lehrstuhl für Politik und Rechtskunde einräumt.
Und 1902 wird Woodrow Wilson Präsident von Princeton.
Als er acht Jahre später dies Amt niederlegt, geschieht
es nur, um als Gouverneur an die Spitze des Staates New
Jersey zu treten. Die Gelegenheit zur praktischen Ver-
wirklichung der Überzeugungen, die ein Leben des Lernens
und Lehrens gereift hatten, war gekommen. Als ein eng-
lischer Journalist ihm damals erstaunt die Frage vorlegte,
welche Gründe ihn nur bewegen könnten, die angesehene
Stellung eines im Lande berühmten Akademikers mit der
nicht sonderlich hochgeachteten Tätigkeit eines Berufs-
politikers zu vertauschen, konnte Woodrow Wilson lä-
chelnd erwidern: „Ich habe meine Schüler so lange ge-
lehrt, wie es gemacht werden könnte, daß es Zeit wird,
ihnen zu zeigen, daß es gemacht werden kann." Das
Schicksal hatte ihn zu dem Ziele geführt, das er als Neun-
zehnjähriger erwählte, als er die Probleme des Regierens
zu seiner Lebensaufgabe erkor.
Daß die Persönlichkeit Wilsons, die bis vor einigen Jah-
ren abseits der politischen Praxis verharrt war, so plötzlich
in den Vordergrund der öffentlichen Meinung Amerikas
trat, erklärt sich nicht allein durch den starken Einfluß,
der von seinen Schriften ausging, und auch nicht durch
die große Zahl der Männer, die einst als Studenten den Ein-
fluß seiner Persönlichkeit empfingen und den Weckruf zu
einer politischen Erneuerung, der seine Lehrtätigkeit
durchklang, ins Leben hinaustrugen. Es waren zwei einan-
der schnell folgende Ereignisse, die plötzlich die Gestalt
dieses Mannes in den Brennpunkt des öffentlichen Inter-
esses rückten : Woodrow Wilsons Verzicht auf die weitere
Präsidentschaft der Princeton-Universität und sein Wir-
ken als Staatsoberhaupt von New Jersey.
28
Von Wilsons Rücktritt vom Präsidium in Princeton
hat Haie eine aktenmäßige Darstellung überliefert. Sein
Abschied war die Handlung eines Mannes, der eine Brach-
legung seiner Ideale nicht hinnehmen wollte. Was sich in
Princeton abspielte, hat manche Berührungspunkte mit
dem heutigen Kampfe der Überzeugungen im ganzen
Lande. Es war der Kampf um den Sieg eines demo-
kratischen Ideals über Mächte der Plutokratie; aber in
Princeton nahm das Ringen die reine Form eines Kampfes
um ethische Grundsätze an. In den Jahren seiner Präsi-
dentschaft hatte Woodrow Wilson die Organisation des
Princeton College von Grund auf reformiert; nun blieb
der Aufbau der sogenannten Graduate-school einer durch-
greifenden Revision zu unterziehen. Princeton wurde seit
jeher von der Jugend der reicheren Stände bevorzugt. Der
draußen im Leben hervortretende Zug zu einer üppigen
Lebenshaltung mußte naturgemäß mit der Zeit auch in der
Studentenschaft sein Echo finden. Aristokratische Tenden-
zen begannen sich geltend zu machen. Sie drohten einen
Keil in die Einheit der Jugend zu treiben. Eine Reihe von
Klubs waren erstanden, durch die sich eine Hälfte der Stu-
dentenschaft — vorwiegend Söhne vermögender Eltern —
von den anderen abschlössen. Klassengegensätze began-
nen hervorzutreten, wurden bestärkt und gefährdeten das
demokratische Ideal einer alle gleichmäßig umfassenden
Kameradschaft. Wilsons Reformpläne steuerten einer Ver-
stärkung des persönlichen Kontaktes zwischen Lehrer und
Schülern und einer Erhöhung des kameradschaftlichen Zu-
sammengehörigkeitsgefühls unter den Studenten zu. Der
Konfliktsstoff war gegeben. Die einzelnen Phasen dieses
Kampfes, der sehr leidenschaftliche und dramatische For-
men annahm, können hier nicht nachgezeichnet werden.
Ideale der Demokratie und Ideale plutokratischen Aristo-
kratentums standen gegeneinander. Die Macht des Geldes
29
siegte. In entscheidender Stunde fiel der Universität ein
Zwölfmillionenlegat zu ; nach den Bestimmungen des ver-
storbenen Stifters sollte die Summe in einer Weise verwandt
werden, in der Wilson eine Stärkung und Verschärfung
der Klassengegensätze sehen mußte. Die amerikanischen
Hochschulen sind in ihrer Erhaltung auf Schenkungen an-
gewiesen. Die Schwierigkeiten der Geldbeschaffung sind oft
gewaltig ; sie machen es begreiflich, daß der Aufsichtsrat
von Princeton, der Wilsons Absichten bis zu diesem Augen-
blicke energisch gestützt hatte, zögerte und schließlich vor
der Höhe der Summe kapitulierte.
Allein die ungewöhnlichen Umstände, unter denen die-
ser Kampf der Überzeugungen geführt und entschieden
wurde, hatten die Aufmerksamkeit des Landes auf das
sonst so stille Princeton gelenkt. Der leidenschaftliche Frei-
mut, mit dem Princetons Präsident die Sache eines de-
mokratischen, amerikanischen Erziehungsideals geführt
hatte, fand im Lande sein Echo. Die Antwort war die
Wahl Woodrow Wilsons zum Gouverneur des Staates.
Wilsons Tätigkeit als Gouverneur New Yerseys bleibt
eines der interessantesten Kapitel amerikanischer Ver-
waltungsgeschichte. In kurzer Frist war eine neue Ge-
setzgebung eingeführt, die dem seit Jahrzehnten von den
Trusts beherrschten Staate die Selbstverwaltung zurück-
gab. Und die neue gesetzliche Regelung der Verhältnisse
bewährte sich nicht nur in der Praxis, sondern erbrachte
auch den Beweis, daß die heute im großen für die ganze
Union angestrebte Reform ohne wirtschaftliche Schädi-
gungen verwirklicht werden kann. Allein das war nicht das
Überraschende der Vorgänge. Das lag in der Sicherheit,
mit der hier ein einzelner Mann ein seinen fortschrittlichen
I^länen widerstrebendes Parlament dazu brachte, die ein-
gebrachten Gesetzentwürfe zu ratifizieren. Der neue Gou-
verneur begann seine Amtsführung mit einem Bruch mit
30
der alten Tradition, die eine engere Zusammenarbeit der
Exekutive mit der Legislative verhinderte. Allem Brauche
zuwider erschien der Gouverneur im Parlament, um seine
Gesetze in offener Diskussion Punkt um Punkt zu ver-
teidigen. Um zu ermessen, was dieses Vorgehen in Ame-
rika bedeutete, muß man sich vergegenwärtigen, daß das
Prinzip der Teilung der Gewalten im Laufe der Genera-
tionen zu einem unangefochtenen Dogma erstarrt war, das
dem Präsidenten und dem Gouverneur verbot, mit dem
Parlament anders als schriftlich zu verkehren. Gegen die
Opposition einer Mehrheit von Volksvertretern wandte
Wilson ein schlichtes Allheilmittel an : den unmittelbaren
Appell an die Wählermassen. Am Rednerpulte und in den
Spalten der Zeitungen kämpfte er für das Programm, zu
dessen Durchführung er gewählt worden war. Die öffent-
liche Meinung wurde in das Vertrauen des Gouverneurs
gezogen. Es gab für die Parlamentarier kein Ausweichen
mehr. Die Hoffnung, die den Sonderinteressenten uner-
wünschten Gesetzentwürfe unauffällig in den Kommis-
sionen beerdigen zu können, war vernichtet. Es mußte
Farbe bekannt werden. Im Plenum gegen die Reformen zu
stimmen, ward eine mißliche Sache. Die Gesetze erzielten
im Parlament Mehrheiten, die den Kennern der Verhält-
nisse wie ein Wunder erscheinen mußten. Und dem Gou-
verneur blieb es erspart, das Mittel wohlmeinender Nach-
hilfe anzuwenden, auf das er bei Beginn des Kampfes offen
hingewiesen hatte. Das Mittel, dessen Erwähnung eine so
große Zauberwirkung hatte, war beschämend unkompli-
ziert. Nur in einem Lande, in dem die Methode der heim-
lichen Abmachungen und das Walten hinter verschlosse-
nen Türen das Verantwortlichkeitsgefühl der Legislatoren
eingeschläfert hatten, konnte diese mild drohende Mah-
nung Früchte reifen. Sie lautete einfach: die Namen der
Abgeordneten und Senatoren, die die Reformgesetze zu
31
Fall zu bringen suchen, werden der Wählerschaft und dem
Volk bekannt gegeben.
Wie Woodrow Wilson als Präsident der Union die grö-
ßeren Widerstände, die seiner im Senate harren, zu über-
winden suchen wird, wird die Zukunft lehren müssen. In
diesem größeren und schwereren Kampfe steht er nicht
mehr allein. Der Weg zum Erfolg mag mit manchen Teil-
niederlagen gepflastert sein. Nur Kurzsicht wird erwarten,
daß die kurze Amtszeit eines Präsidenten eine politische
Umwandlung vollendet, die nur dann lebensfähig sein
kann, wenn sie nicht ruckweise erzwungen wird, sondern
allmählich aus der heute noch ungefestigten neuen poli-
tischen und wirtschaftlichen Konstellation emporwächst.
Die tiefere Bedeutung von Woodrow Wilsons Einzug ins
weiße Haus greift über künftige Erfolge und Mißerfolge
seiner Amtsführung hinaus. Seine Präsidentschaft bezeugt,
daß der Wille zu einer politischen und ethischen Rekon-
struktion des nationalen Lebens genügend erstarkt ist, um
fortan richtunggebend die Gegenwart auf ihrem ewigen
Marsche zur Zukunft zu beeinflussen. Wie oft und wie
wirksam machtvolle Widerstände diesen Willen noch hem-
men werden, bleibt eine Angelegenheit des flüchtigen po-
litischen Alltags. Rückschläge mögen — wie weit ihre
wirtschaftlichen Folgen im Augenblick auch greifen wer-
den — das Tempo verlangsamen : in die alten Bahnen wer-
den sie den Lauf der Dinge nie mehr ganz und nie mehr
dauernd zurückdrängen.
Das Buch, das hier den deutschen Lesern vorgelegt
wird, will als Ausdruck des heutigen politischen Kampfes
in den Vereinigten Staaten betrachtet werden. Es sucht
keine literarische Bewertung : nicht am Schreibtisch ist es
entstanden, es erwuchs aus freier Rede in stürmischen
32
Wahlversammlungen. Ihm könnten als Leitwort die Worte
voranstehen, die einst Lincoln zu Beginn seines großen
Redekampfes mit Douglas sprach: „Ich kümmere mich
nicht um die Ausflüchte spitzer Wortspiele. Ich weiß, was
ich will, und ich will die Menge darüber nicht im Zweifel
lassen."
Wer Woodrow Wilson, den staatsmännischen Denker,
den Historiker und den Meister schriftstellerischer Dar-
stellungskunst sucht, wird sich mit diesem Buche nicht
bescheiden. Er wird in Wilsons Büchern Werke finden,
die höchsten geistigen und literarischen Maßstäben gerecht
werden. Sein ,, Congressional Government** bietet die mei-
sterhafte Kritik des amerikanischen Regierungssystems;
den staatsmännischen Forscher wird man in seinem um-
fassenden Buche ,,The state'* finden, das jetzt auch, in einer
Übertragung von Günther Thomas, deutsch vorliegt ; und
in Wilsons großer ,, Geschichte des amerikanischen Volkes'*,
wie auch in seiner Washingtonbiographie wird der Leser
dem Meister geschichtlicher Darstellungskunst begegnen.
Den Schriftsteller und Menschen findet man in der kleinen
Sammlung kürzerer Aufsätze, die unter dem Titel ,,Nur
Literatur" im gleichen Verlage wie das vorliegende Buch
in deutscher Sprache erschienen ist. In der ,, Neuen Frei-
heit" aber spricht das neue Amerika von seinem neuen
Wollen; und es spricht durch den Mann, den es in auf-
gabenreicher Zeit zum Führer bestellte. Die Persönlich-
keit dieses Mannes spiegelt sich in der freimütigen, un-
theoretischen Form, in der er durch das Volk zum Volke
spricht.
Charlottenburg, Juni 1913.
Hans Winand
33
Woodrow Wilson: Die neue Freiheit
IIIIIIHIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII^
Ein Vorwort
Seit dem Wahlfeldzuge habe ich kein Buch geschrieben.
Dieses Buch habe ich überhaupt nicht geschrieben.
Es ist die Frucht der redaktionellen Geschicklichkeit des
Herrn William Bayard Hale, der hier eine Reihe von Ab-
schnitten aus meinen Wahlreden zusammengestellt hat.
Und trotzdem ist dieser Band keine Sammlung von
Wahlreden. Er erörtert eine Anzahl sehr wichtiger Fragen
in der zwanglosen Form der extemporierten Rede. Ich habe
den Sätzen und Bemerkungen die Form gelassen, in denen
der stenographische Bericht sie aufgezeichnet hat. Ich ver-
mied den Versuch, die lässige und oft zur schlichten Um-
gangssprache werdende Ausdrucksweise, in der die Worte
vom Rednerpult aus fielen, zu verändern, wobei ich hoffte,
daß diese Ausführungen vielleicht gerade durch die feh-
lende Ausarbeitung und Ausschmückung frischer und un-
mittelbarer erscheinen könnten. Sie durften ihren unvor-
herbedachten Lauf beibehalten, ungeachtet selbst derWie-
derholungen und der Weitschweifigkeiten, denen der ex-
temporierende Redner anscheinend unvermeidlich an-
heimfällt.
Das Buch ist keine Erörterung programmatischer
Maßnahmen. Es ist ein Versuch, dem neuen Geiste un-
serer Politik Ausdruck zu leihen und in großen Zügen, die
vielleicht in der Einbildungskraft haften bleiben mögen,
einen Umriß dessen zu geben, was vollbracht werden muß,
wenn wir unserer Politik ihre ganze geistige Kraft und
unserem Nationalleben — ob nun im Handel, in der In-
37
dustrie oder im häuslichen Leben des einzelnen — seine
Reinheit, seine Selbstachtung und seine ursprüngliche
Stärke und Freiheit wiedergeben wollen. Es ist ein Ruf an
den Patrioten und an alle, die frei sein wollen. Die neue
Freiheit ist nur die wiedererwachte, in die unüberwind-
liche Kraft des modernen Amerikas gehüllte alte Freiheit.
Woodrow Wilson.
38
Erstes Kapitel
Das Alte stürzt
Eine einzige fundamentale Tatsache liegt allen Fragen,
die gegenwärtig die innere Politik Amerikas bewegen,
zugrunde ; es ist die Tatsache, daß in unserm Lande heute
nichts mehr so geschieht wie vor zwanzig Jahren.
Wir sehen eine Neuordnung der Gesellschaft herauf-
kommen. Amerika ist nicht mehr, was es vor zwanzig
Jahren, ja nicht einmal, was es vor zehn Jahren war. Von
Grund auf haben sich unsere wirtschaftlichen Verhältnisse
geändert und mit ihnen die Organisation unseres ganzen
Lebens. Die alten politischen Formeln stimmen nicht mehr
zu unsern heutigen Aufgaben, sie lesen sich wie Doku-
mente aus verschollenen Zeiten. Die alten Parteiprogram-
me klingen, als gehörten sie einem Jahrhundert an, das
die Menschen fast schon vergessen haben. Dinge, die man
noch vor einem Jahrzehnt in die Parteiprogramme auf-
nahm, würden heute veraltet klingen. Unserer harrt die
Notwendigkeit, eine neue soziale Ordnung mit dem Glück
und Gedeihen der gesamten großen Bürgermassen in Ein-
klang zu bringen; denn wir sind uns bewußt geworden,
daß die jetzige Ordnung der Gesellschaft der Wohlfahrt
des Durchschnittsbürgers nicht dient. Unendlich vielfältig
ist das Leben der Nation geworden. Es konzentriert sich
heute nicht mehr auf die Frage nach diesem oder jenem
Regierungssystem oder auf die Verteilung von Regierungs-
gewalten. Es konzentriert sich auf etwas, wofür eine Re-
gierung nur das Werkzeug ist: auf Aufbau und Wirken
39
der Gesellschaft selbst. Unsere Entwicklung hat sich so
schnell vollzogen und so weit von jenen Grenzlinien ent-
fernt, die die alten Auslegungen der Verfassung ihr zo-
gen, sie hat diese Grenzen so mannigfach gekreuzt und
überschritten, hat so neue Formen der Unternehmung
aufgestellt, hat Trusts und mächtige Handelsverbände
aufgetürmt und innerhalb dieser Linien ein so mannig-
faltiges Leben herausgebildet, das von Kräften erfüllt ist,
die über Grenzen unseres Landes hinausgreifen und die
Augen der ganzen Welt auf sich ziehen, daß eine neue
Nation entstanden zu sein scheint, für die die alten For-
meln nicht mehr passen oder eine lebensfähige Auslegung
nicht mehr zulassen.
Wir sind in ein Zeitalter getreten, das sich von jedem
voraufgehenden sehr unterscheidet. Wir betreiben unsere
Arbeit und unsere Geschäfte nicht mehr in der Weise,
wie wir das früher zu tun pflegten — Handel und Wan-
del, die Arbeit in den Fabriken und in den Kontoren, die
Formen des Transports und des Verkehrs haben sich ver-
wandelt. Es gibt einen Sinn, in dem der einzelne heute
verschwindet. In fast allen Teilen unseres Landes arbeiten
die Menschen nicht für sich selbst, arbeiten nicht mehr im
alten Sinne als Teilhaber, sondern mehr oder minder als
Angestellte großer Verbände. Es gab eine Zeit, da Korpo-
rationen in unserm geschäftlichen Leben eine sehr unter-
geordnete Rolle spielten ; heute spielen sie die Hauptrolle
und die meisten Menschen sind ihre Angestellten gewor-
den. Man kennt die Umstände, unter denen man als Ange-
stellter einer Gesellschaft arbeitet. Niemals hat man Zu-
tritt zu jenen, die das Walten der Gesellschaft wirklich be-
stimmen. Wenn die Gesellschaft Dinge tut, die sie nicht
tun dürfte, hat man keine Stimme, die man dagegen in die
Wagschale werfen könnte, man muß gehorchen ; und oft
muß man mit tiefem Verdruß an Dingen mitarbeiten, von
40
denen man weiß, daß sie den Interessen der Allgemeinheit
zuwiderlaufen. Die eigene Individualität wird von der In-
dividualität und dem Zweck einer großen Organisation
verschlungen.
Während die meisten Menschen so in der Organisation
untertauchen, werden allerdings einige wenige zu einer
Macht erhoben, die sie als einzelne nicht erlangt haben
würden. Diese wenigen kommen durch die großen Orga-
nisationen und Verbände, deren Leiter sie sind, in die
Lage, in der Beherrschung des Geschäftslebens und in der
Bestimmung über das Wohl und Wehe der großen Volks-
massen eine bisher nie dagewesene Rolle zu spielen. Sonst
und von jeher seit Beginn der Geschichte standen die
Menschen als Individuen zueinander in Beziehung. Es gab
zwar Familie, Kirche und Staat, Einrichtungen, welche
die Menschen zu bestimmten größeren Gemeinschaften zu-
sammenschlössen. Allein in ihren gewöhnlichen Daseins-
pflichten, in der täglichen Arbeit, im Kreislauf des Alltags,
da verkehrten die Menschen frei und unmittelbar mit-
einander. Heute weisen die alltäglichen Beziehungen des
Menschen in großem Maßstabe auf gewaltige unpersön-
liche Geschäftsgruppen und Organisationen und nicht auf
andere individuelle Menschen. Das ist nichts anderes als ein
neues soziales Zeitalter, eine neue Ära der menschlichen
Beziehungen, ein neuer Aufzug im Drama des Lebens.
In diesem neuen Zeitalter gewahren wir, um ein Bei-
spiel zu nennen, daß unsere Gesetze über die Beziehungen
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in vielen Rich-
tungen durchaus veraltet und unmöglich sind. Sie waren
für eine andere Zeit aufgestellt, deren sich keiner der heute
Lebenden noch erinnert; denn sie ist unserm Leben so
fern und fremd, daß es vielen von uns schwer würde, sie
zu verstehen, wenn man uns von ihr erzählte. Der Arbeit-
geber ist heute in der Regel ein Verband oder eine große
41
Gesellschaft irgendeiner Art ; der Angestellte ist einer von
Hunderten oder Tausenden, die nicht durch einzelne Mei-
ster, die sie kennen und zu denen sie persönliche Bezie-
hungen haben, sondern durch irgendwelche Agenturen zu-
sammengeführt wurden. Die Arbeiter werden massenweise
unter gemeinsamer Disziplin einer Fülle spezieller Auf-
gaben gegenübergestellt. Sie bedienen gewöhnlich gefähr-
liche und mächtige Maschinen, auf deren Reparatur und
Erneuerung sie keinen Einfluß haben. Neue Gesetze zu
ihrem Schutze, neue Bestimmungen über die Verpflich-
tungen ihrer Arbeitgeber und die Unterstützung Arbeits-
unfähiger müssen geschaffen werden.
Es ist etwas Neues, Großes und sehr Vielfältiges um
diese neuen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit.
Eine neue wirtschaftliche Gemeinschaft ist emporgestie-
gen und unser harrt die Aufgabe, diese Fülle neuer Kräfte
einander anzupassen. Wir dürfen nicht die Macht der
Schwachheit gegenüberstellen. Der Arbeitgeber von heute
ist, wie gesagt, gewöhnlich kein einzelnes Individuum, son-
dern eine mächtige unpersönliche Vielheit ; in seinen Be-
ziehungen zu seinen Arbeitgebern aber ist der Arbeiter nach
unsern bestehenden Gesetzen noch immer Individuum. Ar-
beiter und Arbeitgeber sind nicht mehr wie in vergangenen
Zeiten enge Verbündete. Die meisten unserer Gesetze wur-
den in Zeiten ersonnen, da Arbeitgeber und Arbeitnehmer
einander noch persönlich kannten, gegenseitig mit ihrem
Charakter vertraut waren und als Mensch zu Mensch mit-
einander verhandelten. Das ist nicht mehr. Der Arbeiter tritt
nicht nur mit jenen, die die höchste Leitung der großen
Verbände führen, nicht in Berührung, sondern diese Mög-
lichkeit kommt für ihn überhaupt nicht mehr in Frage.
Unsere modernen Korporationen beschäftigen Tausende, ja
oft Hunderttausende von Leuten. Die einzigen Personen,
die man zu sehen bekommt oder mit denen man in Be-
42
rührung tritt, sind Direktoren der einzelnen Betriebe oder
lokale Vertreter der großen Gesellschaft. Solche Verhält-
nisse waren dem Arbeiter jener Zeit, in der unsere Ge-
setze entstanden, unbekannt. Ein kleiner Kreis von Ar-
beitern, die ihre Arbeitgeber täglich sehen und mit ihnen
persönlich verhandeln, ist etwas ganz anderes als eine
moderne Arbeitermasse, die im Dienste eines riesenhaften,
sich über das ganze Land erstreckenden Unternehmens
steht, von dessen Leitern sie sich keine persönliche Vor-
stellung mehr machen kann. Und der Unterschied ist sehr
tiefgreifend. Einen ,, Verband" kann man ebensowenig
sehen, wie man etwa eine Regierung sehen kann. Man-
cher Arbeiter hat heute niemals die Männer gesehen, die
die Industrie beherrschen, in der er arbeitet. Und ebenso-
wenig haben diese den Arbeiter gesehen. Was sie von ihm
wissen, steht im Hauptbuch, in Büchern und Briefen, in
der Geschäftskorrespondenz und in den Berichten der ver-
schiedenen Fabrikdirektoren.
Wir erörtern nicht Mißstände, die einzelne absichtlich
schaffen — ich glaube nicht, daß es viele Menschen gibt,
die das täten — , sondern die Mißstände eines Systems. Ich
möchte mich ausdrücklich gegen jede Diskussion verwah-
ren, die den Anschein erwecken könnte, als gäbe es Grup-
pen von Mitbürgern, die es sich zum Ziel setzen, uns zu
bedrücken und uns unrecht zu tun. Es mag auch solche
Menschen geben. Ich weiß nicht, wie sie ruhig schlafen
können. Gott sei Dank, daß sie nicht zahlreich sind. In
Wahrheit sind wir alle in ein großes Wirtschaftssystem ver-
strickt, das herzlos ist. Der moderne Verband betreibt nicht
als Individuum Geschäfte. Wenn wir mit ihm in Berüh-
rung kommen, begegnen wir einem unpersönlichen Ele-
ment, einem körperlosen Teil der Gesellschaft. Ein mo-
derner Verband ist ein Mittel zum Zusammenwirken bei
der Leitung eines Unternehmens, das so groß ist, daß kein
43
einzelner allein es leiten kann, und das zu finanzieren die
Mittel eines einzelnen niemals ausreichen würden. Eine
Gesellschaft wird gegründet, diese Gesellschaft gibt einen
Prospekt aus, die Gründer wollen eine bestimmte Summe
als Aktienkapital aufbringen. Wie erreichen sie das? Sie
erheben es von dem großen Publikum, von dem einige
Aktien übernehmen. Mit dem Augenblick, da dies ge-
schieht, ist die Aktiengesellschaft gegründet. Leute schießen
ihr Vermögen ein, kleine Summen oder große Summen.
Eine gewisse Anzahl von Leuten wird von den Aktionären
zu Direktoren gewählt und die Direktoren wählen einen
Vorsitzenden. Dieser Präsident ist das Haupt des Unter-
nehmens und die Direktoren sind seine Geschäftsführer.
Können nun die von der Aktiengesellschaft beschäftig-
ten Arbeiter mit dem Präsidenten und den Direktoren
in Verbindung treten? Kann das Publikum mit diesem
Präsidenten und dem Ausschuß der Direktoren verhan-
deln? Nein. Kann irgend jemand sie zur Rechenschaft
ziehen ? Auch das ist so gut wie unmöglich. Wenn man es
versuchen wollte, so wäre die Folge ein Verst^ckspielen,
bei dem das Gesuchte bald hinter den einzelnen Persön-
lichkeiten, bald hinter der Unverantwortlichkeit der Kor-
poration Zuflucht suchen würde.
Berücksichtigen unsere Gesetze diesen sonderbaren
Stand der Dinge ? Versuchen sie wenigstens, zwischen den
Handlungen eines Menschen als Gesellschaftsdirektor und
als Persönlichkeit zu unterscheiden ? Nein. Unsere Gesetze
behandeln uns noch auf der Grundlage des alten Systems.
Das Gesetz weilt noch in einer toten Vergangenheit, die
wir längst überholt haben. Das tritt z. B. deutlich in der
Haftpflicht der Arbeitgeber bei Arbeitsunfällen zutage.
Nehmen wir an, ein Fabrikdirektor verlange von einem
Arbeiter die Handhabung einer bestimmten Maschine,
und der Arbeiter wird durch jene Maschine verletzt. Un-
44
sere Gerichtshöfe nahmen in solchen Fällen an, der Fa-
brikdirektor sei ein Arbeitsgefährte oder, wie das Gesetz es
ausdrückt, ein „Mitangestellter", — und deshalb kann der
verletzte Arbeiter keinen Schadenersatz von ihm erlangen.
Denn der Fabrikdirektor, der wahrscheinlich den Arbeiter
einstellte, ist nicht sein Arbeitgeber. Wer ist sein Arbeit-
geber? Und wessen Fahrlässigkeit könnte hier juristisch
greifbar in Frage kommen? Der Direktorenausschuß hat
dem Angestellten nicht befohlen die Maschine zu bedie-
nen, der Präsident ebenfalls nicht : und so fort. Es ist klar,
daß auf diese Weise ein Mann niemals von seinem Arbeit-
geber eine Entschädigung erlangen kann. Wenn man hört,
daß Richter noch heute nach Beziehungen urteilen, wie sie
zwischen Arbeitgeber und Arbeiter vor einem Menschen-
alter bestanden, muß man sich wundern, daß die Gerichte
kein offeneres Auge für das moderne Leben haben. Wir
können erwarten, daß Richter ihre Augen selbst dort
offen halten, wo das Gesetz, das sie auslegen, noch nicht
zur Gegenwart erwacht ist. Das ist nur ein einzelnes klei-
nes lehrreiches Beispiel für die Schwierigkeiten, mit denen
wir zu rechnen haben, weil wir unsere Gesetze den Tat-
sachen der neuen Verhältnisse noch nicht angepaßt haben.
Seitdem ich mich mit Politik befasse, haben mir die
Leute ihre Ansichten fast immer nur im geheimen mit-
geteilt. Selbst bedeutende Männer der Handelswelt und der
Industrie fürchten irgend etwas. Sie wissen, daß irgendwo
eine Macht waltet, die so gut organisiert, so feinfühlig, so
wachsam, so weit verzweigt, so vollkommen und so weit-
reichend ist, daß es besser bleibt, nur zu flüstern und ab-
fällige Urteile nicht laut werden zu lassen.
Amerika ist heute nicht mehr das Land, in dem, wie
man einst zu sagen pflegte, ein jeder seinen eigenen Beruf
selbst erwählen und nach Maßgabe seiner Fähigkeiten un-
gehindert ausüben kann. Wer sich heute auf bestimmte
45
Gebiete begibt, stößt auf Organisationen, die Mittel genug
anwenden werden, um zu verhindern, daß er ein Unter-
nehmen aufbaue, das ihnen im Wege ist. Die Korpora-
tionen sorgen dafür, daß ihm der Boden unter den Füßen
fortgezogen wird und die Absatzgebiete sich vor ihm ver-
schließen. Denn wenn er beginnt, gewissen Kleinhändlern
seine Ware zu verkaufen, weigert sich das Monopol, diesen
Kleinhändlern weiter zu liefern und die eingeschüchterten
kleinen Abnehmer werden die Waren des neuen Mannes
nicht mehr beziehen. Und das geschieht in dem Lande, das
der Welt das Ideal der vollkommen freien Möglichkeiten
verkündete; das geschieht in dem Lande, von dem man
annimmt, daß in ihm kein Mensch anderer Beschränkung
als der seines Charakters und seiner Intelligenz unterwor-
fen ist, wo es keine Klassen und keine Blutsunterschiede
geben soll und keine Unterschiede der sozialen Stellung,
sondern jeder gewinnt und verliert nach seinem Ver-
dienste.
Mir liegt als Mann der Öffentlichkeit die Frage schwer
auf dem Gewissen, ob wir noch länger an den Pforten un-
seres Landes die Neuankommenden mit solchen Worten
willkommen heißen dürfen. Amerikanische Industrie ist
nicht wie einst frei, amerikanische Unternehmung ist
nicht frei ; dem Mann mit kleinerem Kapital wird es immer
schwerer, Zutritt zum Kampfplatz zu erlangen, und mehr
und mehr unmöglich, mit den Großen in Wettbewerb zu
treten. Warum ? Weil unsere Gesetze es nicht verhindern,
daß der Starke den Schwachen zugrunde richtet. Und da
die Starken die Schwachen erdrückt haben, beherrschen
die Starken die Industrie und das wirtschaftliche Leben
unseres Landes. Es kann keiner leugnen, daß sich die
Schranken für den Unternehmungsgeist immer mehr ver-
engt haben ; jeder, der etwas von der Entwicklung unserer
Industrie weiß, muß wahrgenommen haben, daß größere
46
Kredite immer schwerer zu erlangen sind, es sei denn,
man vereinte sein Streben mit jenem, das schon die In-
dustrie beherrscht. Ein jeder, der in irgendeinem Industrie-
zweig, der unter der Herrschaft der großen Kapitalver-
bände steht, einen Versuch zum Wettbewerb macht, wird
sich schnell ausgesogen oder zum Verkauf gezwungen
oder vor der Notwendigkeit sehen, sich aufsaugen zu las-
sen.
Vieles in den Vereinigten Staaten bedarf der Erneue-
rung. Ich möchte die Meinungen der Geschäftsleute dar-
über hören — die Meinung der großen Masse aller Ge-
schäftsleute — , ob sie die amerikanischen Geschäftsver-
hältnisse oder, besser gesagt, die amerikanische Handels-
organisation als befriedigend ansehen oder nicht. Ich weiß,
was sie sagen würden, wenn sie das wagen dürften. Wenn
sie geheim abstimmen könnten, würden sie in überwälti-
gender Mehrheit aussagen, daß die jetzige Organisation
des Handels für die großen, aber nicht für die kleinen Ge-
schäftsleute bestimmt ist. Die ganze Organisation ist für
die zugeschnitten, die an der Spitze stehen, ist dazu ent-
worfen, Anfänger auszuschließen, neuen Zuzug zu verhin-
dern und Konkurrenzunternehmen, die den von den gro-
ßen Trusts errichteten Monopolen in den Weg treten könn-
ten, nicht aufkommen zu lassen. Nötiger als anderes
braucht unser Land eine Reihe von Gesetzen, die sich
jener annehmen, die geschäftlich im Werden sind, und
nicht jener, die bereits ,, gemacht" sind. Denn die Leute,
die schon ,, gemacht" sind, werden nicht ewig leben, und
sie sind nicht immer so freundlich. Söhne zu hinterlassen,
die ebenso tüchtig und ehrlich sind wie sie selbst.
Der produktive Teil Amerikas, der Teil, der neue Un-
ternehmungen ins Leben ruft, der Teil, in dem ein ehr-
geiziger und begabter Arbeiter seinen Weg machen kann,
die Klasse, die spart, Pläne macht, organisiert und ihre
47
Unternehmen rastlos ausdehnt, bis sie ein nationales Ziel
und nationalen Charakter gewinnen — dieser Mittelstand
wird mehr und mehr durch den Prozeß ausgesogen, den
wir Fortschritt zum Wohlstand nennen sollen. Die daran
teilhaben, nehmen sicherlich am Wohlstand teil ; aber was
mich besorgt macht, ist der Umstand, daß sie keinenWohl-
stand für alle schaffen. Kein Land kann es sich leisten,
seinen Wohlstand von einer kleinen herrschenden Klasse
ausgehen zu lassen. Amerikas Schatzkammer liegt nicht
in den Gehirnen jener kleinen Gruppe von Menschen, die
jene großen Unternehmungen beherrschen, die unter der
Leitung einer ganz kleinen Zahl von Männern zusammen-
geschlossen wurden. Amerikas Reichtum liegt in jenem
Ehrgeiz und in jener Tatkraft, die nicht auf eine gewisse
bevorzugte Klasse beschränkt werden können. Amerikas
Reichtum ist abhängig von den Erfindungen unbekannter
Menschen, von den Schöpfungen unbekannter Menschen
und von dem Ehrgeiz unbekannter Menschen. Jedes Land
erneuert sich aus den Reihen der Unbekannten und nicht
aus den Reihen der schon Berühmten und Mächtigen.
Über Amerika sind ganz unamerikanische Zustände
gekommen, die eine kleine Anzahl von Männern, welche
die Regierung beherrschen, in den Stand setzen, Vergün-
stigungen von der Regierung zu erlangen ; durch diese Ver-
günstigungen schließen sie ihre Mitbürger von den gleichen
Geschäftsmöglichkeiten aus und üben einen Zwang, der
bald jede Industrie beherrschen wird. Damit sinkt jene
Zeit in Vergessenheit, da Amerika noch in jedem Dörfchen
in jedem schönen Tal zu finden war, da Amerika seine ge-
waltigen Kräfte auf den weiten Prairien entfaltete und
das Feuer seines Unternehmungsgeistes über die Höhen
der Berge und hinab in die Tiefen des Erdreichs leuchten
ließ. Eifrige Männer waren damals noch überall Führer
der Industrie, nicht Angestellte. Sie blickten nicht nach
48
einer fernen Großstadt, um ausfindig zu machen, was sie
tun sollten, sondern sahen sich nach ihren Nachbarn um,
fanden Kredit je nach ihrer Persönlichkeit und nicht nach
ihren Verbindungen, fanden Kredit auf Grund dessen, was
man von ihnen wußte und was in ihnen steckte, und nicht
nach Maßgabe der Sicherheiten, die sie anzubieten haben
und die an Stellen begutachtet werden, an denen der Be-
sitzer nicht bekannt ist. Um heute ein Unternehmen zu
begründen, mußt du auf völlig unpersönlichem Wege da-
zu ermächtigt sein : nicht nach Maßgabe der eigenen Per-
son, sondern allein auf Grund der Tatsache, daß irgend-
ein anderer deine Absicht genehmigt. Man kann ein Unter-
nehmen nicht mehr so beginnen wie die Männer, die Ame-
rika gemacht haben, solange man nicht auf diesem Wege
dazu ermächtigt wird, solange man nicht das Wohlwollen
verbündeter Großkapitalisten erlangt hat. Ist das Freiheit ?
Das ist Abhängigkeit, aber keine Freiheit.
In der guten alten Zeit, als das Leben noch recht ein-
fach war, nahmen wir an, die Regierung brauche nichts
weiter zu tun, als eine Polizeiuniform anzulegen und zu
erklären: ,, Jetzt darf keiner dem andern etwas tun." Wir
pflegten zu sagen, das Ideal einer Regierung sei für einen
jeden, in Ruhe gelassen und nicht gestört zu werden, aus-
genommen, man störte einen anderen ; und als die beste
Regierung galt jene, die so wenig als möglich regierte.
Das war die Vorstellung, die zu Jeffersons Zeit waltete.
Jetzt beginnen wir zu erkennen, daß wir es nicht mehr
mit den alten Verhältnissen zu tun haben und daß das
Leben so kompliziert geworden ist, daß das Gesetz ein-
greifen und neue Verhältnisse schaffen muß, die uns das
Leben erträglich machen.
Ich will meine Meinung veranschaulichen. Früher be-
saß jede Familie in unsern Städten gewöhnlich ein eigenes
Häuschen ; jede Familie hatte ihr eigenes kleines Grund-
4 49
stück und jede Familie lebte so von jeder anderen Familie
getrennt. Das ist in den modernen großen Städten nicht
mehr. Die Familien leben in den verschiedenartigsten
Mietswohnungen, sind in den großen Mietskasernen unse-
rer übervölkertem Distrikte schichtweise übereinander-
gehäuft, und nicht nur schichtweise übereinander, Zim-
mer an Zimmer wohnen sie, so daß in unseren überfüllten
Bezirken bisweilen auf jeden Raum eine Familie entfällt.
Im Auslande ist man teilweise in dieser Beziehung
schon viel weiter als wir. In Glasgow z. B. — Glasgow ist
eine der vorbildlichsten Städte der Welt — hat man sich
entschlossen, die Eingänge und Treppenfluren der großen
Mietshäuser für öffentliche Straßen zu erklären. Der
Schutzmann betritt daher auch die Treppenhäuser und
bewacht die Gänge. Die städtische Beleuchtung sorgt da-
für, daß diese Gänge reichlich beleuchtet sind; die Stadt
verkennt nicht, daß ein derartiges großes Gebäude eine
Einheit bildet, von welcher die Polizei und die städtischen
Behörden fernzuhalten wären, aber sie sagt sich : ,,Hier sind
öffentliche Verkehrswege, sie müssen beleuchtet werden,
die städtischen Behörden sollen sie überwachen."
Ich vergleiche damit unsere großen modernen in-
dustriellen Unternehmen. Eine Korporation ähnelt einem
großen Mietshaus ; sie ist auch nicht Eigentum einer ein-
zelnen handelstreibenden Familie ; sie ist genau so als
öffentliche Angelegenheit anzusehen wie jenes Mietshaus
als ein Netz öffentlicher Verkehrswege. Wenn man die Ak-
tien einer großen Gesellschaft jemandem anbietet, der sie
zu kaufen wünscht, so muß man ihm Einblick in die Ver-
hältnisse der Gesellschaft gewähren. Es muß — um im
Bilde des Mietshauses zu bleiben — Licht auf den Korri-
doren sein, die Schutzmannschaft muß die Eingänge über-
wachen und überall dort, wo man über Verhältnisse ge-
täuscht werden könnte, muß eine Aufsicht walten. Wenn
50
wir Täuschungen oder Gefahren für möglich halten, müs-
sen wir in der Lage sein zu entscheiden, ob unser Verdacht
begründet ist oder nicht. Ebenso ist die Behandlung der
Arbeit durch die großen Verbände nicht mehr, was sie
zu Jeffersons Zeiten war. Sobald Gruppen von Menschen
andere Gruppen von Menschen beschäftigen, handelt es
sich nicht mehr um ein privates Verhältnis. So daß die
Richter, die entscheiden, ein Arbeiter dürfe einem anderen
nicht friedlich von der Arbeit abraten und ihr Urteil auf
die Analogie mit dem Haushaltungspersonal stützen, damit
nur zeigen, daß ihre Urteilskraft und ihr Verständnis in
einem Zeitalter daheim sind, das dahingegangen ist. Das
Verhältnis großer Körperschaften zu anderen Körperschaf-
ten gehört unter öffentliche Aufsicht und sollte Gegenstand
staatlicher Regelung sein.
Zu Jeffersons Zeit brauchte das Gesetz sich nicht dar-
um zu kümmern, wie ich meinen Haushalt führte. Aber
als mein Haus, mein sogenanntes Privatbesitztum, ein
großes Bergwerk wurde, in dem Menschen im dunklen
Gängen alle möglichen Gefahren durchqueren mußten,
um in den Tiefen der Erde nach einem Stoffe zu graben,
dessen die Industrie einer ganzen Nation bedarf, — und
als dann diese Bergwerke nicht mehr einem einzelnen
gehörten, sondern Eigentum großer Aktiengesellschaften
wurden, da brachen die alten Anschauungen zusammen:
und es wurde das Recht der Regierung, in diese Bergwerke
hinabzusteigen, um sich zu vergewissern, ob in ihnen
menschliche Vi^esen angemessen behandelt wurden oder
nicht; ob sichere Schutzmaßregeln gegen Unfälle getrof-
fen wären; ob die Verwendung der unermeßlichen Reich-
tümer aus dem Schöße der Erde nach modernen wirt-
schaftlichen Methoden geschähe oder nicht. Wenn je-
mand auf einem Gebäude einen Ladebaum anbringt, der
schlecht befestigt ist oder die Straße überragt, dann hat
4* 51
die Stadtverwaltung das Recht, dafür zu sorgen, daß der
Ladebaum so befestigt werde, daß wir unter ihm einher-
gehen können, ohne befürchten zu müssen, daß der Him-
mel auf uns einstürzt. Und in jenen großen Bienenkörben,
da in jedem Gange Menschen von Fleisch und Blut schwär-
men, wird es nicht anders Vorrecht der Regierung — ent-
weder des Einzelstaates oder der Vereinigten Staaten — ,
dafür zu sorgen, daß das Leben der Menschen geschützt
werde und daß menschliche Lungen Luft zum Atmen haben.
Das sind nur illustrierende Vergleiche. Wir leben in einer
neuen Welt und ringen unter alten Gesetzen. Wenn wir
unser heutiges Leben betrachten und den neuen Schau-
platz der komplizierten wirtschaftlichen Verhältnisse über-
blicken, so werden wir noch manches mehr finden, das
nicht in der Ordnung ist.
Eines der beunruhigendsten Zeichen der Zeit — oder
besser gesagt, es würde beunruhigend sein, wenn die Na-
tion nicht erwacht und entschlossen wäre, seiner Herr zu
werden — , eines der charakteristischsten Zeichen der neuen
sozialen Ära ist der Umfang und die Art der Beziehungen
zwischen Regierung und Geschäftswelt. Ich spreche hier
von dem Zwang, der vom Großhandel auf die Regierung
ausgeübt wird. Hinter der Frage waltet natürlich die Tat-
sache, daß in der neuen Ordnung Regierung und Handel
eng verbündet sein müssen. Aber die Art dieser Verbin-
dung ist augenblicklich durchaus unstatthaft; die Rang-
ordnung ist falsch, das Unterste zu oberst gekehrt. Seit
den letzten Jahren steht unsere Regierung unter der Herr-
schaft der Leiter der großen vereinigten Korporationen,
die besondere Interessen verkörpern. Diese Interessen hat
die Regierung nicht überwacht noch ihnen einen an-
gemessenen Platz in dem ganzen Wirtschaftssystem zu-
gewiesen; sie hat sich ihrer Herrschaft unterworfen. Als
Folge davon sind verderbliche Bräuche und ein System der
52
Begünstigungen durch die Regierung emporgewachsen
(für die der maßlose Tarif eines der offenkundigsten Bei-
spiele ist), deren Wirkungen sich auf die ganze Lebens-
gestaltung erstrecken, die mit ihren Schädigungen jeden
Einwohner des Landes treffen, dem Wettbewerb unbillige
und unmögliche Benachteiligungen aufzwingen, in jeder
Richtung Besteuerungen auferlegen und das freie Streben
amerikanischen Unternehmungsgeistes ersticken.
Das entwickelte sich mit Naturnotwendigkeit. Es hat
keinen Sinn, irgendwen oder irgendetwas anzuklagen, es
sei denn die menschliche Natur. Aber es ist ein uner-
träglicher Zustand, daß die Regierung der Republik den
Händen des Volkes so weit entgleiten und von Interessen
gefangengenommen werden konnte, die Sonderinteressen
und nicht die Interessen der Allgemeinheit sind. Im Gefolge
dieser Abhängigkeit kam jene Fülle von Skandalen, Un-
gerechtigkeiten und Unsauberkeiten, die unsere Politik er-
füllen. Es gibt in Amerika Städte, deren Verwaltung wir
uns schämen. In allen Teilen des Landes gibt es Städte,
von denen wir fühlen, daß in ihnen nicht den Interessen
der Allgemeinheit, sondern den Sonderinteressen selbst-
süchtiger Leute gedient wird und wo heimliche Abma-
chungen vor den öffentlichen Interessen den Vorrang ha-
ben ; und das ist nicht nur in den großen Städten der Fall.
Wer hätte nicht das Anwachsen der sozialistischen Nei-
gungen in den kleineren Städten wahrgenommen. Vor
einigen Monaten hatte ich in einer kleinen Stadt Aufent-
halt, und während ich auf die Abfahrt meines Zuges war-
tete, sprach ich auf dem Bahnsteig mit einem einnehmen-
den jungen Menschen, der sich mir als Bürgermeister der
Stadt vorstellte und hinzufügte, er sei Sozialist. ,,Was soll
das heißen,** fragte ich, ,,etwa, daß die Stadt sozialistisch
ist?" ,,Nein," sagte er, ,,ich habe mich keiner Täuschung
hingegeben, die Wählerschaft, die mich wählte, ist zu
53
etwa 20 % sozialistisch und zu 80 % ,Protest'." Das war
der Protest gegen den Verrat, den die Führer der beiden
anderen Parteien der Stadt am Volke begangen hatten.
Überall in den Vereinigten Staaten beginnt man zu
spüren, daß man auf den Gang der Ereignisse keinen Ein-
fluß hat. Ich lebte in einem der größten Staaten der Union,
der einst geknechtet war. Bis vor zwei Jahren mußten wir
in New Jersey mit wachsender Besorgnis wahrnehmen,
wie der Geist einer fast zynischen Verzweiflung empor-
wuchs. Die Leute sagten: ,,Wir wählen; man präsentiert
uns das Wahlprogramm, das wir verlangen. Wir wählen
den Mann, der dieses Programm vertritt : und wir erreichen
absolut nichts." So begann man zu fragen: ,,Was hat das
Wählen für einen Zweck ? Wir wissen, daß die Maschinen
beider Parteien von denselben Leuten gespeist werden, und
deshalb ist es zwecklos, sich für eine oder die andere der
beiden Richtungen zu entscheiden." Und das beschränkt
sich nicht auf einige Staatsregierungen oder einige große
und kleine Städte. Wir wissen, daß irgend etwas sich zwi-
schen das Volk der Vereinigten Staaten und die Führung
seiner Angelegenheiten geschoben hat. Nicht das Volk war
es, das in letzter Zeit dort herrschte. Warum stehen wir
an der Schwelle einer Umwälzung? Weil wir aufs tiefste
über die Einflüsse beunruhigt sind, die wir in der Leitung
unseres öffentlichen Lebens und der Politik herrschen sehen.
Es gab eine Zeit, da Amerika mit Selbstvertrauen gesegnet
war. Es rühmte sich, allein die Formen einer Volksregie-
rung zu besitzen ; heute sieht es seinen Himmel verdunkelt
und es erkennt, daß Kräfte am Werke sind, von denen es sich
in seiner hoffnungsreichen Jugend nichts träumen ließ.
Die alte Ordnung wankt, sie wandelt sich vor unseren
Augen, und diese Wandlung vollzieht sich nicht ruhig und
nicht gleichmäßig, sondern hastig, unter Lärm und Feuer,
und mit dem Tumult des Wiederaufbauens. Man pflegt
54
— mit dem Gestus einer überlegenen Kenntnis der Er-
eignisse und der menschlichen Schwäche — zu sagen, jede
Zeit sei eine Zeit des Überganges und keine Zeit sei mehr
als eine andere dem Wechsel unterworfen. Allein in we-
nigen Abschnitten der Weltgeschichte kann der Kampf für
eine Umwandlung so weitgreifend, so entschlossen und in
so großem Maßstabe vor sich gegangen sein wie dieses
Ringen, an dem wir gegenwärtig teilnehmen.
Der Übergang, dessen Zeugen wir sind, ist nicht der
gleichmäßige Übergang des Wachstums und nicht nor-
male Umwandlung ; es ist nicht die stille, unbewußte Ent-
faltung eines Zeitalters aus dem voraufgehenden und nicht
der gelassene Erbschaftsantritt eines Nachfolgers. Die Ge-
sellschaft mustert sich vom Kopfe bis zum Fuße und unter-
nimmt eine neue und kritische Analyse ihrer Elemente.
Sie zweifelt ihre ältesten Gewohnheiten so freimütig an
wie ihre jüngsten und untersucht alle Übereinkünfte und
Ursachen ihrer Daseinsformen. Sie ist bereit, nichts Ge-
ringeres als eine radikale Selbsterneuerung zu unter-
nehmen, die nur durch freimütige und ehrliche Berat-
schlagung und die Macht weitherziger Zusammenarbeit
daran verhindert wird, zur Revolution zu entarten. Wir
sind gesonnen, die wirtschaftliche Gesellschaft so zu er-
neuern, wie wir einst gesonnen waren, die politische Ge-
sellschaft zu rekonstruieren, und dabei mögen auch die
politischen Verhältnisse einen Umwandlungsprozeß er-
leben. Ich glaube nicht, daß je eine Zeit sich ihrer Aufgabe
tiefer bewußt war und einmütiger nach einer gründlichen
und umfassenden Veränderung ihrer wirtschaftlichen und
politischen Verhältnisse verlangte. Einer Revolution stehen
wir gegenüber ; nicht einer blutigen Revolution, denn Ame-
rika ist nicht zu Blutvergießen geschaffen, aber einer stillen
Revolution, bei der Amerika darauf beharren wird, die Ide-
ale, zu denen es sich von jeher bekannte, zu verwirklichen.
55
Wir stehen am Vorabend einer großen Erneuerung.
Die Zeit verlangt nach schöpferischen Staatsmännern wie
keine Zeit seit jenen großen Tagen, da jene Regierung ein-
gesetzt ward, unter der wir stehen und die von der ganzen
Welt bewundert wurde, bis sie es zuließ, daß unter ihr Un-
gerechtigkeiten emporsprossen, die viele unserer Mitbür-
ger dazu brachten, die Freiheit unserer Institutionen an-
zuzweifeln und die Auflehnung gegen sie zu predigen. Ich
fürchte keine Revolution. Ich habe das unerschütterliche
Vertrauen zu der Fähigkeit Amerikas, seine Selbstbeherr-
schung zu bewahren. Die Revolution wird in friedfertiger
Gestalt kommen wie damals, da wir die unvollkommene
Regierungsform der Bünde abschafften und jenen großen
Bundesstaat schufen, der Menschen und nicht Staaten re-
giert und der 130 Jahre lang ein Werkzeug des Fortschritts
war. Manche durchgreifende Änderung unserer Gesetze
und ihrer Handhabung müssen wir durchführen ; manche
Erneuerungen, die eine neue Zeit und neue Verhältnisse
uns auferlegen, müssen vollzogen werden. Aber das alles
vermögen wir wie Staatsmänner und gute Patrioten in
Ruhe und Besonnenheit zu vollbringen.
Von diesen Dingen aber spreche ich ohne Besorgnis,
denn sie liegen frei und offen aller Welt vor Augen. Dies ist
keine Zeit, in der große Mächte sich heimlich verbünden.
Das ganze gewaltige Programm der Reform soll öffentlich
entworfen und erörtert werden. Guter Wille, die Weisheit
besonnener Ratgeber, die Tatkraft überlegter und un-
eigennütziger Männer, die Gewöhnung an Zusammen-
arbeit und an Kompromisse, zu der uns lange Jahre einer
freien Regierung erzogen, unter der dank dem Segen frei-
er allgemeiner Aussprache Vernunft die Leidenschaft über-
wog — das wird uns instand setzen, ohne Gewaltsamkeit
ein neues großes Zeitalter zu erringen.
56
Zweites Kapitel
Was ist Fortschritt?
In der weisen und wahrhaften Chronik von „Alice durch
den Spiegel" wird erzählt, wie bei einer bemerkenswerten
Gelegenheit die kleine Heldin von der roten Schachkönigin
gefaßt wird, die mit ihr in entsetzlicher Geschwindigkeit
davonläuft ; sie rennen alle zwei, bis sie beide außer Atem
sind ; dann halten sie inne, Alice blickt umher und sagt :
,,Ach, wir sind ja genau so weit wie am Anfang unseres
Laufes." ,,0 ja," sagt die rote Königin, ,, du mußt doppelt
so schnell laufen, um irgendwo anders hinzukommen."
Das ist ein Gleichnis vom Fortschritt. Die Gesetze
Amerikas haben mit der Umwandlung der wirtschaftlichen
Verhältnisse Amerikas nicht Schritt gehalten; sie haben
mit der Umwandlung der politischen Verhältnisse nicht
Schritt gehalten: und darum sind wir nicht einmal dort,
wo wir ausgingen. Wir werden laufen müssen, nicht bis
wir außer Atem sind, aber bis wir unsere eigenen Verhält-
nisse eingeholt haben; erst dann werden wir dort sein,
wo unser Lauf begann ; wo wir jenen großen Versuch be-
gannen, der die Hoffnung und der Leitstern der Welt war.
Und zweimal so schnell als irgendein vernünftiges Pro-
gramm werden wir laufen müssen, um wo anders hinzu-
kommen. Darum bin ich gezwungen, Fortschrittler zu sein,
und sei es auch nur aus dem Grunde, daß wir weder auf
dem wirtschaftlichen noch auf dem politischen Gebiete mit
den Umwandlungen der Verhältnisse Schritt gehalten ha-
ben. Wir haben nicht so Schritt gehalten wie andere Na-
57
tionen. Wir haben unsere Mittel nicht den Tatsachen an-
gepaßt, und solange wir das nicht tun, werden die Tat-
sachen stets die besseren Gründe für sich in Anspruch
nehmen. Denn wenn wir unsere Gesetze nicht der Wirk-
lichkeit anpassen, um so schlimmer für die Gesetze, nicht
aber für die Wirklichkeit, denn Gesetze folgen der Wirk-
lichkeit immer nach. Ungesund ist nur das Gesetz, das der
Wirklichkeit vorauseilt, ihr zuwinkt und sie zwingt, dem
Wünschen oder dem Willen imaginärer Absichten zu folgen.
Das wirtschaftliche Leben Amerikas befindet sich
heute in einer Lage, in der es sich noch nie befunden hat.
Unsere Gesetze sind noch auf ein Geschäftsleben zuge-
schnitten, in dem alle Tätigkeit von Individuen ausgeübt
wird ; noch sind sie nicht einem Geschäftsleben angepaßt,
das große Verbände beherrschen. Und wir müssen versu-
chen diese Aufgabe zu lösen. Ich sage nicht : Wir können
das tun oder wir können das unterlassen. Wir müssen;
und uns bleibt keine Wahl. Eine Gesetzgebung, die der
Wirklichkeit nicht gerecht wird, schädigt nicht die Wirk-
lichkeit, sondern das Gesetz. Denn das Gesetz ist — wenn
mein Lernen nicht vergebens war — der Ausdruck gesetz-
lich geordneter Wirklichkeit. Nie haben Gesetze die Tat-
sachen verändert; immer haben sie naturnotwendig die
Tatsachen gespiegelt; sie passen die Interessen in dem
Maße, als sie erwachsen, einander an und tauschen sie
gegeneinander aus.
Amerikanische Politik ist ein Gegenstand, der gründ-
liche Aufmerksamkeit fordert. Das durch unsere Gesetze
und Bräuche aufgerichtete System funktioniert nicht oder
bietet zumindest keinen Verlaß; nur durch einen höchst
unvernünftigen Aufwand an Arbeit und Mühe kann es zur
Wirksamkeit gebracht werden. Die Regierung, die dem
Volke zugedacht war, ist in die Hände von Bosses und
deren Arbeitgeber, der Sonderinteressen, geraten. Eine
58
unsichtbare Herrschaft ward über den Formen der Demo-
kratie aufgetürmt. Ernste Dinge sind zu vollbringen. Ist an
der großen Unzufriedenheit des Landes zu zweifeln ? Kann
jemand daran zweifeln, daß Gründe und Berechtigung zur
Unzufriedenheit vorhanden sind? Wagen wir es, stehen
zu bleiben ? Während der letzten Monate erlebten wir auf
der einen Seite (zugleich mit seltsamen politischen Vor-
gängen, die ein beredtes Zeugnis für die Beunruhigung
der Öffentlichkeit sind) eine Verdoppelung der sozialisti-
schen Stimmen; und wir sahen andererseits ringsum im
Lande Mauern und Bauzäune mit gewissen sehr verlok-
kenden und amüsanten Zetteln beklebt, auf denen den
Bürgern verkündet wurde, es sei ,, besser in Sicherheit, als
bekümmert" zu sein. Es scheint, daß viele Bürger daran
zweifelten, ob die Situation, die sie nach jenen Ratschlä-
gen ,,sich selbst überlassen" sollten, dazu gut genug sei;
sie zogen es vor ,, bekümmert" zu sein. Mir erscheinen
diese Ratschläge zum ,,Nur-Nichts-Tun", diese Aufforde-
rungen, die Hände in den Schoß zu legen, aus Angst, es
könne etwas geschehen, als die wunderlichsten Argu-
mente unwissender Einfalt, die ich je vernahm. Und diese
an ein zukunftsfreudiges tatkräftiges Volk gerichteten Rat-
schläge teilten demselben Volke mit, daß es nicht erfahren
genug sei, um seine eigenen Angelegenheiten in die Hand
zu nehmen, ohne sie zu schädigen. Noch sind die Ameri-
kaner nicht kleinmütig geworden. Gewiß ward ihr Selbst-
vertrauen durch Jahre der Unterdrückung untergraben.
Man hat sich lange der Lehre fügen müssen, Fortkommen
sei etwas, das wohlwollende Magnaten mit Hilfe der Re-
gierung dem Bürger verschaffen. Das Selbstvertrauen
ward dadurch geschwächt, aber zerstört wurde es nicht.
Das Wort Fortschritt bezaubert amerikanische Ohren und
bringt amerikanische Herzen in Wallung.
Natürlich gibt es auch Amerikaner, die noch nichts
59
davon hörten, daß irgend etwas vor sich geht. Der Zirkus
kann durch die Stadt ziehen, Vorstellung geben und wieder
verschwinden, ohne daß sie die Kamele sehen und die
Klänge des Dudelsackes oder der Jahrmarktstrommel ver-
nehmen. Das sind Leute, sogar Amerikaner, die nie ihre
Nase aus ihren vier Wänden stecken und nichts davon er-
fahren, daß andere ihre Wände verlassen. Ein Freund von
mir hatte vom ,, Florida-Cracker" gehört; man hat diesen
Namen dort unten jenem Teil der Bevölkerung beigelegt,
der nie gut tut. Als mein Freund in seinem Zuge durch
den Staat fuhr, bat er jemand, ihm doch einen „Cracker"
zu zeigen. Und der Mann, den er fragte, antwortete nur:
,, Gehen Sie nur hinaus in den Wald, und wenn Sie drau-
ßen etwas sehen, das braun wie ein Baumstumpf aussieht,
dann wissen Sie gleich, ob es ein Stumpf ist oder ein
, Cracker*: bewegt es sich, so ist es ein Stumpf."
Bewegung trägt seine Tugend nicht in sich selbst. Eine
Umwandlung wird nicht um der Umwandlung willen wert-
voll. Ich zähle nicht zu jenen, die die Abwechslung um
ihrer selbst willen lieben. Wenn etwas heute seinen Zweck
erfüllt, so würde ich es auch gern bis morgen bestehen
lassen. Die meisten unserer Berechnungen im Leben hän-
gen von Dingen ab, die sich nicht verändern. Wenn Sie
etwa heute morgen, als Sie aufstanden, vergessen hätten,
wie man sich ankleidet, wenn Sie all jene kleinen Hand-
griffe vergessen hätten, die man fast automatisch vollzieht
und beinahe im Halbschlaf ausführen kann, dann wären
Sie darauf angewiesen herauszubekommen, was Sie ge-
stern taten. Die Psychologen berichten, daß ich heute
nicht wüßte, wer ich bin, wenn ich mich nicht entsinnen
könnte, wer ich gestern war; und so wird sogar meine
Identität von der Möglichkeit abhängig, das Heute mit
Gestern verbinden zu können. Stimmen beide nicht über-
ein, so bin ich verwirrt ; ich weiß nicht, wer ich bin, muß
60
umhergehen und irgendwen fragen, auf daß er mir meinen
Namen sage und mir verrate, woher ich komme. Ich zähle
nicht zu jenen, die die Beziehung mit der Vergangenheit
abbrechen möchten, und ich wünsche keine Umwandlung
um der Abwechslung willen. Die Menschen, die das tun,
sind Leute, die irgend etwas vergessen wollen, Menschen,
die gestern von irgend etwas erfüllt waren, dessen sie sich
heute nicht mehr erinnern möchten, Leute, die umher-
gehen und Zerstreuung suchen ; sie fahnden nach einem
Mittel, die Erinnerung auszulöschen und möchten etwas in
sich aufnehmen, das alle Ei;innerungen beseitigt. Verän-
derung ist zwecklos, wenn sie keine Verbesserung bedeutet.
Will ich ausziehen, weil mir meine Wohnung nicht gefällt,
dann muß ich mir, um den Wechsel zu rechtfertigen, erst
eine bessere Wohnung suchen oder ein besseres Haus bauen.
Bei dem alten Unterschied zwischen Umwandlung
und Verbesserung zu verweilen könnte wie Zeitvergeu-
dung erscheinen ; allein es gibt eine Sorte von Leuten, die
geneigt sind, beide miteinander zu verwechseln. Wir haben
politische Führer gehabt, zu deren Vorstellung von Größe
es gehörte, immerwährend ungestüm etwas zu vollbrin-
gen, — einerlei was; das waren ruhelose stimmbegabte
Männer, denen das Verständnis für die Kraft der Konzen-
tration fehlte und die nur die Energie der Aufeinanderfolge
kannten. Aber das Leben besteht nicht darin, unausgesetzt
ein Feuer im Gang zu halten. Irgendwohin zu gehen
bleibt zwecklos, solange du nicht dadurch, daß du dort
bist, etwas gewinnst. Und dabei ist die Richtung so wich-
tig wie die Treibkraft der Bewegung.
Aller Fortschritt ist davon abhängig, wie schnell du
gehst und wohin du gehst, aber ich fürchte, man hat mehr
darauf geachtet, wie schnell wir gingen, statt zu fragen,
wohin der Weg führte. Nach meiner Überzeugung voll-
bringen wir das meiste unseres Fortschrittes nach dem
6i
Muster eines Gerätes, das wir zu meiner Kinderzeit ,, Tret-
mühle" nannten; das war eine bewegliche Plattform mit
Klampen, auf die ein unglückseliger Maulesel unausge-
setzt treten mußte, ohne daß er dabei weiter kam. Ele-
fanten*) und auch andere Tiere haben solche Tretmühlen
getreten, verursachten Lärm und brachten gewisse Räder
in Drehung ; sie lieferten dabei vermutlich auch für irgend-
wen irgendwelche Erzeugnisse, aber viel Fortschritt kam
dabei nicht heraus. Um den Elefanten wirklich fortzu-
bewegen, versuchten es seine Freunde kürzlich auch mit
Dynamit ; und er bewegte sich auch, wenn auch in höchst
vereinzelten und zerschmetterten Teilen ; aber immerhin :
er bewegte sich.
Ein boshafter aber witziger Engländer meinte kürzlich
in einem Buche, es sei ein Irrtum, daß ein offenkundig
wohlhabender, in seinem Beruf erfahrener und erfolg-
reicher Mann nicht bestochen werden könne. Denn solche
Männer, meinte der Verfasser, seien schon bestochen —
wenn auch nicht im landläufigen verwerflichen Sinne des
Wortes. Aber da sie ihre großen Erfolge mit Hilfe der be-
stehenden Ordnung der Dinge erreichten, fühlten sie sich
auch verpflichtet, darüber zu wachen, daß diese bestehen-
de Ordnung der Dinge nicht verändert werde ; sie sind be-
stochen, den Status quo aufrechtzuerhalten. Und in die-
sem Sinne pflegte ich auch — als ich noch mit der Ver-
waltung einer Erziehungsanstalt zu tun hatte — den
Wunsch zu äußern, die jungen Männer der kommenden
Generation ihren Vätern so unähnlich als möglich werden
zu lassen. Nicht daß es den Vätern an Charakter, Intelli-
genz, Wissen oder Vaterlandsliebe fehlte. Aber jene Väter
haben infolge ihres fortschreitenden Alters und ihrer ge-
festigten Stellung innerhalb der Gesellschaft die Fühlung
*) Der Elefant ist das Wappentier der republikanischen Partei, wie
der Maulesel das der Demokraten. Anm. d. Ü.
62
mit den Vorgängen des Lebens verloren; sie haben ver-
gessen, was es hieß : anzufangen ; sie haben vergessen, was
es hieß : emporzukommen ; sie haben vergessen, was es
hieß : auf dem Wege von der Tiefe zur Höhe durch Lebens-
umstände beherrscht zu werden. Und damit, so behauptete
ich, verlören sie auch das Verständnis für die schöpferi-
schen, formgebenden und fortschrittlichen Kräfte der Ge-
sellschaft.
Fortschritt! Das Wort ist fast ein neues Wort. Kein
Wort kommt öfter und unwillkürlicher über die Lippen
des modernen Menschen ; es ist, als sei sein Sinn fast ein
Synonym für das Leben selbst ; und doch hat die Mensch-
heit durch viele Jahrtausende niemals von Fortschritt ge-
sprochen und an Fortschritt gedacht. Ihr Denken hatte
eine andere Richtung. Ihre Schilderungen von Helden-
taten und Ruhm waren Geschichten von der Vergangen-
heit. Der Ahne trug die schwerere Rüstung und den grö-
ßeren Speer. ,,In jenen Tagen gab es Riesen." Heute ist das
anders. Nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft ge-
denken wir als jener herrlicheren Zeit, an der gemessen
die Gegenwart nichts bedeutet. Fortschritt, Entwicklung
— es sind moderne Worte. Das moderne Denken verläßt
das Vergangene und drängt dem Neuen entgegen.
Was wird der Fortschritt mit der Vergangenheit und
mit der Gegenwart beginnen ? Wie wird er sie behandeln ?
Mit Verachtung oder mit Respekt? Wird er mit ihnen
ganz brechen oder aus ihnen emporwachsen und tief in
älteren Zeiten seine Wurzeln verankern ? Wie werden fort-
schrittliche Männer sich zu der bestehenden Ordnung, zu
den Institutionen des Konservativismus, zu der Verfas-
sung, den Gesetzen und den Gerichten stellen? Sind die
Befürchtungen jener bedachtsamen Männer berechtigt,
die da wähnen, wir wollten die alten Grundlagen unserer
Einrichtungen erschüttern ? Wenn sie recht haben, müß-
63
ten wir sehr langsam an den Prozeß der Umwandlung her-
antreten. Wenn es wahr ist, daß wir der so sorgsam und
unverdrossen aufgebauten Einrichtungen müde geworden
sind, dann müßten wir an die gefahrvolle Aufgabe ihrer
Umwandlung sehr langsam und sehr vorsichtig herantreten.
Darum müssen wir uns vor allem die Frage vorlegen, ob das
Denken unseres Landes dazu neigt etwas zu tun, durch das
wir den zurückgelegten Weg zurückgehen oder die ganze
Richtung unserer Entwicklung ändern. Ich glaube, daß
man eine alte Wurzel nicht ausreißen und den Baum der
Freiheit nicht in einen neuen Boden verpflanzen kann,
aus dem er nicht erwachsen ist. Ich glaube, daß die alten
Traditionen eines Volkes sein Ballast sind; man kann
keine tabula rasa zimmern, um auf ihr ein politisches Pro-
gramm niederzuschreiben. Du kannst nicht einen unbe-
schriebenen Bogen Papier nehmen und darauf bestimmen,
wie morgen dein Leben beschaffen sein soll. Du mußt das
Alte in das Neue verflechten. In ein altes Gewand lassen
sich keine neuen Flicken einsetzen, ohne es zu ruinieren ;
nicht irgendein Lappen kann es sein, sondern ein Stoff,
der in der alten Fabrik gewoben wird, ein Stoff gleichen
Musters, gleichen Gewebes und gleicher Bestimmung.
Wenn Fortschritt nicht die Absicht in sich schlösse, die
Grundlagen unserer Institutionen zu bewahren, könnte ich
nicht fortschrittlich sein.
Einer der Hauptvorteile, die ich als Universitätspräsi-
dent genoß, war das Vergnügen, mich mit nachdenklichen
Männern aus aller Herren Ländern unterhalten zu dürfen.
Ich kann kaum sagen, wieviel ich durch die Berührung
mit ihnen gewonnen habe. In meinem Sinne suchte ich
nach irgend etwas, durch das ich die verschiedenen Teile
meines politischen Denkens zusammenfassen könnte, als
mir ein glücklicher Zufall Gelegenheit gab, in meinem
Hause als Gast einen sehr interessanten Schotten bewirten
64
zu dürfen, der sich dem Studium des philosophischen Den-
kens im 17. Jahrhundert gewidmet hat. Sein Gespräch war
ebenso fesselnd wie geistreich, es war eine Freude, ihn über
alle Dinge sprechen zu hören; und plötzlich trat aus
einem Winkel seines Gedankenreiches das Ding hervor,
auf das ich so lange gewartet hatte. Er lenkte meine Auf-
merksamkeit auf die Tatsache, daß in jeder Generation
alle Formen der Spekulation und des Denkens dazu neigen,
sich jener allgemeinen Formel des Denkens unterzuordnen,
die das Zeitalter beherrscht. Nachdem beispielsweise die
Newtonsche Theorie vom Weltall entwickelt war, neigten
alle Gedanken dazu, sich in Analogien zur Newtonschen
Theorie auszudrücken ; und seitdem die Darwinsche Theo-
rie unter uns herrschte, neigt ein jeder dazu, all seine
Wünsche in die Begriffe der Entwicklung und der An-
passung an die Umgebung zu kleiden.
Während jener geistreiche Mann mit mir sprach, fiel
mir ein, daß die Verfassung der Vereinigten Staaten unter
der Herrschaft der Newtonschen Theorie entworfen wurde.
Man braucht nur die Seiten des ,, Föderalisten" nachzu-
lesen, um diese Tatsache auf jeder Seite ausgeprägt zu fin-
den. Man spricht von den ,, Hemmnissen und Gleichge-
wichten" der Verfassung, und um seine Gedanken auszu-
drücken, bedient man sich unbewußt derselben Ausdrücke
wie bei der Deutung der Organisation des Weltalls und
insbesondere des Sonnensystems ; man spricht davon, wie
durch die Anziehungskraft der Gravitation die verschiede-
nen Teile in ihren Bahnen gehalten werden; und dann
geht man dazu über, den Kongreß, den Richterstand und
den Präsidenten als eine Art Nachahmung des Sonnen-
systems darzustellen. Dabei folgte man nur den englischen
Whigs, die Großbritannien seine moderne Verfassung ga-
ben. Jene Engländer analysierten die Frage nicht und ent-
wickelten auch keine Theorie ; Engländer haben für Theo-
S 65
rien wenig Sinn. Ein Franzose war es, Montesquieu, der
ihnen zeigte, wie getreulich sie die Newtonsche Beschrei-
bung von dem Mechanismus des Himmels kopiert hatten.
Die Schöpfer unserer amerikanischen Bundesverfas-
sung lasen Montesquieu mit ehrlicher, wissenschaftlicher
Begeisterung. Jene Väter der Nation waren auf ihre Weise
gelehrt. Jefferson schrieb über ,,die Gesetze der Natur**
— und dann, mit einer Art Hintergedanken, — ,,und über
den Gott der Natur". Und sie konstruierten eine Regie-
rung, wie sie etwa ein Planetarium konstruiert hätten, —
um die Gesetze der Natur darzutun. Politik war in ihrem
Denken eine Abart der Mechanik. Die Verfassung wurde
auf das Gesetz der Schwerkraft gegründet. Die Regierung
sollte bestehen und wirken auf Grund der Wirksamkeit
von ,, Hemmungen und Gleichgewichten**.
Die Schwierigkeit dieser Theorie ist der Umstand, daß
eine Regierung nicht eine Maschine ist, sondern ein le-
bendes Wesen. Sie untersteht nicht der Theorie vom Welt-
all, sondern der Theorie des organischen Lebens. Sie wird
durch Darwin erklärt und nicht durch Newton. Sie wird
durch ihre Umgebung umgeformt, durch ihre Zwecke be-
stimmt und durch den Zwang des Lebens ihren Zielen an-
gepaßt. Kein lebendes Wesen kann seine Organe als Hemm-
nisse gegeneinanderstellen und fortleben. Sein Leben hängt
vielmehr von der schnellen Zusammenarbeit der Organe
ab, von ihrem raschen Gehorsam gegen die Gebote des In-
stinktes oder der Intelligenz, und von ihrer harmonischen
Gemeinsamkeit des Zweckes. Eine Regierung ist kein Kör-
per blinder Gewalten, sie ist eine Körperschaft von Män-
nern, deren Funktionen in unserer Zeit der Spezialisierung
gewiß sehr verschiedenartig sind, aber doch gemeinsamen
Zwecken und Zielen zustreben. Das Zusammenwirken
. dieser Männer ist Bedingung, ihre gegenseitige Gegner-
schaft Verderben. Ohne dies umfassende, unwillkür-
66
liehe Zusammenwirken aller Organe des Lebens und des
Handelns gibt es kein erfolgreiches Regieren. Das ist
keine Theorie, sondern Wirklichkeit, das entfaltet seine
Kraft als Tatsache, wie viele Theorien seinem Laufe auch
entgegengestellt werden. Lebendige politische Verfassun-
gen müssen in ihrem Bau und in ihrer Handhabung dar-
winistisch sein. Die Gesellschaft ist ein lebender Organis-
mus und muß den Gesetzen des Lebens, nicht denen der
Mechanik gehorchen : sie muß sich entwickeln. Alles, was
die Fortschrittlichen verlangen oder wünschen, ist die Er-
laubnis — inmitten eines Zeitalters, in dem ,, Entwicklung"
und ,, Evolution" die Worte der Wissenschaft sind — die
Verfassung im Einklang mit den von Darwin ergründeten
Naturgesetzen interpretieren zu können ; alles, was sie ver-
langen ist die Anerkennung der Tatsache, daß eine Nation
ein lebendiges Wesen ist und keine Maschine.
Manche Bürger Amerikas sind niemals über die Un-
abhängigkeitserklärung vom Jahre 1776 hinausgekommen.
Ihr Herz ist Georg HL feindlich gesinnt : aber des Freiheits-
kampfes, der sich heute vollzieht, werden sie sich nicht be-
wußt. Die Unabhängigkeitserklärung erstreckte sich nicht
auf die Probleme unserer Gegenwart und wird wirkungs-
los, wenn wir ihre allgemeinen Bestimmungen nicht auf
Beispiele unserer Gegenwart übertragen können. Sie war
ein durchaus praktisches Dokument und zur Handhabung
durch praktische Menschen bestimmt; sie war keine Re-
gierungstheorie, sondern ein Aktionsprogramm. Solange
wir den Sinn dieser Verfassung nicht auf die Fragen un-
serer Zeit übertragen können, so lange sind wir unwürdige
Söhne jener Männer, die nach ihren Vorschriften handelten.
Welche Form hat heute der Kampf zwischen Ty-
rannei und Freiheit? Welche Form der Tyrannei ist es,
die wir heute bekämpfen? Auf welche Weise gefährdet
sie die Rechte des Volkes und was wollen wir tun, um
5* 67
unsern Kampf wirksam zu machen ? Was soll der Inhalt
unsrer neuen Unabhängigkeitserklärung sein?
Die Tyrannei, gegen die wir heute kämpfen, ist die Be-
herrschung der Gesetze, der Gesetzgebung und der Recht-
sprechung durch Gruppierungen, die nicht das Volk ver-
treten und deren Ziele selbstsüchtig sind. Wir kämpfen
gegen eine Führung unserer Angelegenheiten und gegen
eine Art der Gesetzgebung, die den Interessen besonderer
Kapitalsverbände Untertan sind, und wir richten uns gegen
die zu diesem Zweck erfolgte Verbündung des politischen
Apparates mit selbstsüchtigen Zwecken. Wir kämpfen
gegen die Ausbeutung des Volkes durch die Werkzeuge der
Politik und der Gesetzgebung. Denn wir haben es schon
oft erlebt, daß unsere Regierung unter dem Druck dieser
Einflüsse aufhörte, eine repräsentative Regierung zu sein ;
sie hörte auf, eine Regierung zu sein, die das Volk vertrat,
und wurde zu einer Regierung, die Sonderinteressen ver-
trat und durch besondere politische Organisationen be-
herrscht war, auf die das Volk ohne Einfluß blieb.
Wenn ich das Wachstum unseres Wirtschaftssystems
überblicke, will es mir manchmal scheinen, als hätten wir —
als wir unsere Gesetze dort beharren ließen, wo sie waren
ehe irgendeine aller jener modernen Erfindungen und Ent-
wicklungen eintrat — unsere Wohnstätte einfach aufs Ge-
ratewohl vergrößert; hier fügten wir unserem Heime ein
Kontor an und dort eine Werkstatt und eine Reihe von
Schlafräumen ; auf die alten Fundamente türmten wir ein
Stockwerk, gliederten noch einen Anbau an eine Seite;
bis wir schließlich ein Gebäude vor uns haben, das über-
haupt keinen Charakter hat. Nun ist es unsere Aufgabe,
in diesem Hause weiter zu leben und es doch umzu-
wandeln.
Nun, wir sind moderne Baumeister und unsere Archi-
tekten sind auch Ingenieure. Wir brauchen den Eisen-
68
bahnbetrieb nicht mehr einzustellen, weil ein neues Bahn-
hofsgebäude gebaut wird. Wir brauchen keine Lebens-
funktion zum Stehen zu bringen, weil wir das Haus um-
bauen, in dem diese Funktionen vor sich gehen. Unsere
Aufgabe ist es, die Fundamente dieses Hauses in ein
System zu bringen, dann werden wir alle die alten Teile
des Bauwerkes mit einem modernen Stahlgerüst umspan-
nen und festigen, werden auf Grund unserer modernen
Kenntnisse von der Stärke und Elastizität eines Baukör-
pers das Werk durchführen, langsam die Teile verändern,
Wände niederlegen, durch neue Öffnungen Licht herein-
lassen und die Ventilation verbessern, bis schließlich, nach
einer oder zwei Generationen, das Gerüst abgenommen
wird : und die Familie in einem großen Gebäude von edler
Architektur wohnt. Dann werden wir alle in diesem Hause
zusammenarbeiten können gleich einem wohlorganisier-
ten Bienenkorb ; Stürme der Natur und auch keine künst-
lichen Stürme sind zu fürchten, denn alle wissen, daß die
Fundamente im festen Fels der Grundsätze verankert sind.
Und sie wissen zugleich, daß sie den Plan ihres Hauses,
wenn immer sie es wünschen, verändern und den ver-
wandelten Notwendigkeiten des Daseins anpassen können.
Aber es gibt deren viele, denen dieser Gedanke nicht
gefällt. Auf Grund der Tatsache, daß die Mehrzahl unserer
amerikanischen Architekten in einer gewissen Pariser
Hochschule herangebildet wurden, meinte kürzlich ein
Witzbold, alle amerikanische Architektur der letzten Jahre
sei entweder bizarr oder ,, Beaux Arts". Ich halte unsere
wirtschaftliche Architektur für ausgesprochen bizarr ; und
ich fürchte, daß wir noch auf vielen anderen Gebieten als
auf dem der Baukunst mancherlei an der gleichen Quelle
lernen können, an der unsere Architekten so viel Nütz-
liches lernten. Ich meine nicht die Pariser Hochschule der
schönen Künste, aber ich denke an die Erfahrungen Frank-
69
reichs ; denn heute können die Menschen auf der anderen
Seite des Ozeans gegen uns den Vorwurf erheben, daß wir
nicht in gleichem Maße wie sie unser Leben den modernen
Verhältnissen angepaßt haben. Mich haben lebhaft man-
che jener Gründe interessiert, die unsere Freunde jenseits
der kanadischen Grenze geltend machten, um ihre große
Zurückhaltung in der Frage eines Gegenseitigkeitsvertra-
ges zu erklären. Sie sagten: ,,Wir wissen nicht, wohin ein
solches Abkommen führen kann, und wir möchten uns
nicht zu eng mit den wirtschaftlichen Verhältnissen der
Vereinigten Staaten verbinden, solange diese Verhältnisse
nicht so modern sind wie die unseren." Und wenn mich
das verstimmte und ich nach Einzelheiten fragte, dann
mußte ich in vielen Dingen die Debatte aufgeben. Denn
ich sah, daß sie die Regulierung ihrer wirtschaftlichen Ent-
wicklung den Verhältnissen angepaßt hatten, denen wir
in den Vereinigten Staaten noch nicht gerecht zu werden
wußten.
Aber wir haben auf jeden Fall begonnen. Die Prozes-
sion ist unterwegs. Der ,, Stand-patter" weiß nicht, daß es
eine Prozession gibt. Er schläft im Hinterzimmer seines
Hauses. Er weiß nicht, daß die Straßen widerhallen vom
Tritte der Männer, die zur Front eilen. Und wenn er auf-
wacht, wird das Land leer sein. Er wird einsam sein und
sich verwundert fragen, was geschehen sei. Nichts ist ge-
schehen. Die Welt ist fortgeschritten. Die Welt hat die
Gewohnheit fortzuschreiten. Die Welt hat die Gewohnheit,
jene, die nicht mit ihr Schritt halten wollen, zurückzu-
lassen. Die Welt hat sich niemals um Ofenhocker ge-
kümmert. Und darum erweckt der Ofenhocker nicht
meine Empörung; er erweckt mein Mitgefühl. Unverse-
hens wird er vereinsamt sein. Und wir halten gute Kame-
radschaft, sind eine fröhliche Gesellschaft. Warum kommt
er nicht mit uns ? Wir werden ihm kein Leid zufügen. Wir
70
werden ihm schöne Tage bereiten. Auf der staubigen Land-
straße steigen wir hinan, bis wir ein Hochland erreichen,
wo die Luft frischer ist, wo die Menschen einander ins
Angesicht sehen und entdecken, daß es nichts zu ver-
bergen gibt, daß sie alle von allem offen und rückhaltslos
miteinander sprechen können. Bis wir, auf den zurück-
gelegten Weg zurückblickend, endlich sehen, daß wir
unser Versprechen an die Menschheit eingelöst haben. Der
ganzen Welt hatten wir verkündet: ,, Amerika wurde ge-
schaffen, um jede Art von Bevorzugung aufzuheben, um
die Menschen zu befreien und sie auf den Boden einer
Gleichheit zu stellen, auf dem sie unbehindert ihre Fähig-
keiten und ihre Kräfte betätigen können." Dann werden
wir bewiesen haben, daß es uns mit dem Ziele Ernst ist.
71
Drittes Kapitel
Ein freies Volk braucht keine Vormund-
schaft
Seitdem es eine Regierung gab, standen sich stets zwei
Regierungstheorien gegenüber. Eine dieser Theorien
ist in Amerika mit dem Namen eines sehr großen Mannes
verknüpft: mit Alexander Hamilton. Er war eine große
Persönlichkeit, aber nach meiner Meinung doch kein gro-
ßer Amerikaner. Sein Denken erwuchs nicht aus den Be-
dingungen amerikanischen Lebens. Hamilton glaubte, die
einzigen, die das Wesen des Regierens verstehen könnten
und damit die einzigen, die zur Führung der Regierung
berufen wären, seien jene Männer, die am Handel und an
der Industrie des Landes finanziell am stärksten beteiligt
seien. Nach dieser Theorie, die offen zu verkünden nur
wenige den Mut haben, ist in der letzten Zeit die Regie-
rung unseres Landes geführt worden. Es ist erstaunlich,
wie zäh diese Anschauung ist. Es ist verblüffend, wie
schnell die politische Partei, deren erster Führer Lincoln
war — Lincoln, der diese aristokratische Theorie nicht
nur bestritt, sondern auch durch seine eigene Persönlich-
keit widerlegte, — es ist verblüffend, wie schnell diese auf
das Vertrauen des Volkes gegründete Partei die Grund-
sätze Lincolns vergaß und der Täuschung erlag, die ,, Mas-
sen" bedürften der Vormundschaft durch die ,, Geschäfts-
leute".
Denn wenn man darüber nachdenkt gibt es in der
Tat keine stärkere Abkehr vom ursprünglichen Ameri-
72
kanismus und von dem Vertrauen zu den Fähigkeiten
eines selbstbewußten, mittelreichen und unabhängigen
Volkes als die entmutigende Theorie, daß irgendwer zur
Sorge um die Wohlfahrt der anderen berufen sei. Und doch
ist das die Lehre, nach der in den letzten Jahren die Regie-
rung der Vereinigten Staaten geführt wurde. Wer wurde
befragt, wenn wichtige Regierungsmaßnahmen, Zolltarife,
Währungsgesetze und Eisenbahngesetze erwogen wurden ?
Das Volk, das von den Tarifen getroffen wird, für die die
Währung bestehen soll, das die Steuern bezahlt und auf
den Eisenbahnen fährt? O nein! Was versteht das Volk
von solchen Angelegenheiten ! Die Männer, deren Ansich-
ten erbeten wurden, waren die großen Fabrikanten, die
Bankiers und die Leiter der großen Eisenbahntrusts. Die
Herren der Regierung der Vereinigten Staaten sind die ver-
bündeten Kapitalisten und Fabrikanten der Vereinigten
Staaten. Auf jeder Seite der Kongreßberichte steht das zu
lesen, wie ein roter Faden zieht es durch die Geschichte
der Beratungen im Weißen Hause: alle Anregungen zu
unserer Wirtschaftspolitik kamen aus einer Quelle und
nicht aus vielen. Die wohlwollenden Wächter und gut-
herzigen Kuratoren, die uns die Mühe des Regierens ab-
nahmen, sind so bekannt geworden, daß heute fast jeder
die Liste ihrer Namen aufstellen kann. Sie sind so bekannt,
daß ihre Namen fast auf jedem politischen Programm er-
scheinen. Die Leute, die sich der interessanten Arbeit un-
terzogen haben, für uns zu sorgen, zwingen uns nicht,
unseren Dank an anonyme Adressen zu richten. Wir
kennen sie mit Namen.
Gehe nach Washington, versuche deine Regierung zu
erreichen. Stets wirst du finden, daß man dich höflich an-
hört: allein die Leute, die wirklich befragt werden, sind
die Männer mit den größten Kapitalseinlagen — die gro-
ßen Bankiers, die großen Fabrikanten, die großen Handels-
73
Herren, die Führer der Eisenbahngesellschaften und der
Dampferkompagnien. Ich habe nichts dagegen einzuwen-
den, daß diese Männer befragt werden, denn auch sie sind,
wenn sie selbst das auch nicht zuzugeben scheinen, ein
Teil des Volkes der Vereinigten Staaten. Aber ich habe
sehr viel dagegen einzuwenden, daß diese Männer haupt-
sächlich befragt werden, und ganz besonders dagegen, daß
nur sie allein befragt werden. Wenn die Regierung der
Vereinigten Staaten das Rechte für das Volk der Vereinig-
ten Staaten tun will, muß sie das unmittelbar tun und
nicht durch Vermittlung jener Leute. Allein wenn immer
eine bedeutsame Frage auftauchte, dann wurden die For-
derungen jener Männer so behandelt, als wäre die Erfül-
lung eine Selbstverständlichkeit.
Die Regierung der Vereinigten Staaten ist gegenwärtig
das Mündel der Sonderinteressen. Es wird ihr nicht ge-
stattet, einen eigenen Willen zu haben. Ihr wird bei jedem
Beginnen gesagt: ,,Tu das nicht, du wirst unsere Wohl-
fahrt vernichten." Und wenn wir fragen : „Wo ruht unsere
Wohlfahrt?" antwortet eine gewisse Gruppe von Leuten:
,,Bei uns." Die Regierung der Vereinigten Staaten ist in
den letzten Jahren nicht durch das Volk der Vereinigten
Staaten verwaltet worden. Das ist keine Anklage gegen
irgendwen; das ist nur eine Feststellung bekannter Tat-
sachen : das Volk stand draußen, blickte auf seine eigene
Regierung, und das einzige, wobei es mitzubestimmen
hatte, war die Frage, welcher Gruppe es dabei zusehen
wollte ; es konnte entscheiden, ob es zusehen wollte, wie
diese kleine Gruppe oder wie jene kleine Gruppe es an-
stellte, um die Herrschaft über die öffentlichen Angelegen-
heiten in ihre Hände zu bringen. Wer hat je von irgend-
einer Sitzung irgendeiner wichtigen Kongreßkommission
vernommen, bei der das amerikanische Volk als Ganzes
vertreten war, und sei es auch nur durch Mitglieder des
74
Kongresses ? Die Männer, die bei solchen Zusammenkünf-
ten erscheinen, um für oder gegen eine Bestimmung des
Tarifs zu sprechen, um für oder gegen eine Maßnahme zu
stimmen, sind die Vertreter bestimmter Interessen. Sie
mögen diese Interessen sehr ehrlich vertreten, sie mögen
nicht die Absicht haben, ihre Mitbürger zu schädigen : aber
sie betrachten die Dinge von dem Gesichtspunkt eines klei-
nes Bruchteiles der Bevölkerung. Ich habe mich bisweilen
gewundert, daß Männer, besonders wohlhabende Männer,
die für ihren Lebensunterhalt nicht zu arbeiten brauchen,
sich nicht zu Anwälten des Volkes aufwerfen und immer,
wenn eine Kongreßkommission tagt, hingehen und sagen :
,, Meine Herren, berücksichtigen Sie bei der Betrachtung
dieser Angelegenheit auch das ganze Land ? Berücksich-
tigen Sie die Bürger der Vereinigten Staaten?**
Es ist nicht mein Ziel, eine kleine Gruppe von Fach-
kundigen in Washington hinter verschlossenen Türen sit-
zen und für mich die Vorsehung spielen zu sehen. Es gibt
eine Vorsehung, der ich mich bereitwilligst unterordne.
Aber daß andere Männer sich zur Vorsehung über mich
aufwerfen, erweckt ernstlichen Widerspruch. Ich habe die-
sem Braten besondere politische Schmackhaftigkeit nie
abgewinnen können und erwarte das auch nicht, einge-
denk der lustigen Verse des Gillet Burgess:
Nie sah ich eine rote Kuh
Und Sehnsucht flößt sie mir nicht ein.
Doch lieber noch, das geb ich zu,
Will ich sie sehn, als eine sein.
Lieber würde ich den Vereinigten Staaten einen Retter
erstehen sehen, ehe ich mich dazu aufwerfe, selbst einer
sein zu wollen, denn ich fand, — ich fand wirklich I —
daß Männer, die ich befragte, mehr wissen, als ich weiß,
— besonders wenn ich viele von ihnen befrage. Noch nie
habe ich eine Kommissionssitzung oder eine Beratung ver-
75
lassen, ohne von den zur Erörterung stehenden Fragen
mehr zu wissen als ich vorher wußte. Und das ist für mich
ein Abbild einer Regierung. Ich bin nicht gewillt, mich
unter das Patronat der Trusts zu begeben, wie vorsorglich
das Tempo, in dem die Trusts die Herrschaft über mein
Leben erringen sollen, auch von der Regierung abgewogen
werde. Ich zähle zu jenen, die in diesem Zusammenhang die
Theorie der Kuratel und die Lehre von der Vormundschaft
unbedingt ablehnen. Mir ist nie ein Mann begegnet, der es
verstanden hätte, für mich zu sorgen, und auf diese Er-
fahrung gestützt vermute ich auch, daß es keinen einzel-
nen Mann gibt, der für das ganze Volk der Vereinigten
Staaten zu sorgen verstünde. Ich glaube, das Volk der Ver-
einigten Staaten kennt seine eigenen Interessen besser als
irgendeine Gruppe im Bereiche unseres Landes. Die Men-
schen, die ihre Kraft und ihr Blut opfern, um in der Welt
der Arbeit und des Strebens Fuß zu fassen, kennen die Ge-
schäftsverhältnisse in den Vereinigten Staaten viel besser
als jene, die ihr Ziel bereits erreicht haben und auf dem
Gipfel stehen. Die noch unten stehen wissen, wie die Schwie-
rigkeiten beschaffen sind, gegen die sie ankämpfen. Sie
wissen, wie schwer es ist, ein neues Unternehmen einzu-
führen. Sie wissen, wie schwer es ist, den Kredit zu er-
langen, der sie auf gleichen Fuß mit jenen Männern stellt,
die im Lande eine Industrie bereits aufgebaut haben. Sie
wissen, daß irgendwo durch irgendwen die Entwicklung
der Industrie beherrscht und bestimmt wird.
Wenn ich das ausspreche, so geschieht es ohne die ge-
ringste Absicht, ein Vorurteil gegen die Wohlhabenden zu
wecken ; ich würde mich meiner selbst schämen, wenn ich
Klassengefühle, welcher Art sie auch sein mögen, zu ent-
fesseln suchte. Aber ich will darauf hinweisen, daß der
Reichtum des Landes in den letzten Jahren aus besonderen
Quellen geflossen ist. Er floß aus jenen Quellen, die das
76
Monopolsystem schufen. Der Gesichtspunkt dieser Männer
ist ein besonderer Gesichtspunkt. Sie wollen nicht, daß das
Volk seine eigenen Angelegenheiten führe, weil sie nicht
glauben, daß das Urteil des Volkes gesund und vernünftig
sei. Sie möchten damit beauftragt werden, für die Ver-
einigten Staaten und für das Volk der Vereinigten Staaten
zu sorgen, weil sie glauben, daß sie besser als irgendwer
die Interessen der Vereinigten Staaten beurteilen können.
Ich bekämpfe nicht den Charakter dieser Männer, ich be-
kämpfe ihren Gesichtspunkt. Wir können es uns nicht
leisten, so regiert zu werden, wie wir in der letzten Gene-
ration regiert wurden: durch Männer von einem einsei-
tigen und damit vorurteilsvollen Gesichtspunkt.
Die Regierung der Vereinigten Staaten kann^nicht
irgend einer besonderen Klasse anvertraut werden. Die
Politik einer großen Nation kann nicht mit einer Sonder-
gruppe von Interessen verknüpft sein. Immer wieder möch-
te ich es sagen : meine Einwendungen erstrecken sich nicht
auf den Charakter der Männer, denen ich entgegentrete.
Ich glaube, daß die sehr reichen Männer, die ihr Vermögen
durch gewisse Arten von korporationsartigen Unterneh-
men erwarben, ihren Horizont eingeschränkt haben; sie
überblicken nicht die ganze Masse des Volkes und können
sie auch nicht verstehen. Darum suche ich jene kleine
Gruppe zu sprengen, die bestimmt hat, was die Regierung
der Nation tun solle. Die Männer, die die Geschicke New Jer-
seys zu bestimmen pflegten, zählten kaum ein halbes Dut-
zend und blieben stets dieselben. Manche von ihnen sind
freimütig genug, zuzugeben, daß New Jersey heute mehr
Tatkraft entfaltet, weil mehr Leute zu Rat gezogen werden
und weil das ganze Gebiet der Tätigkeit erweitert und frei
gemacht worden ist. Die Regierung muß von der Herr-
schaft besonderer Klassen befreit werden : nicht etwa,"weil
diese Klassen naturnotwendig schlecht wären, sondern
77
weil keine Sonderklasse die Interessen einer großen Ge-
meinschaft zu beurteilen vermag.
Ich glaube an die Durchschnittsehrlichkeit und an die
Durchschnittsintelligenz des amerikanischen Volkes und
ich glaube nicht, daß die Intelligenz Amerikas sich auf
irgendwen konzentrieren kann. Und darum glaube ich
auch nicht, daß es irgendeine Gruppe von Leuten gibt,
der wir eine solche Art Vormundschaft einräumen können.
Solange ich es verhindern kann, will ich unter keiner Vor-
mundschaft leben. Keine bestimmte Gruppe von Männern
hat das Recht, mir zu sagen, wie ich in Amerika leben soll.
Der Majorität werde ich mich fügen, weil ich dazu er-
zogen bin — wiewohl ich auch über die Majorität bisweilen
meine eigene Meinung habe.
Wenn irgendein Teil des amerikanischen Volkes Mün-
del sein will, wenn er der Vormundschaft zu bedürfen
glaubt, wenn er danach verlangt, daß jemand für ihn sorgt
und wenn er eine Schar von der Regierung beschützter
Kinder werden will, so wäre das zu beklagen, weil es der
Mannhaftigkeit Amerikas Abbruch tut. Aber ich glaube
nicht, daß ein solcher Wunsch besteht. Ich glaube, daß
das Volk auf der festen Grundlage der Gesetze und des
Rechtes für sich selbst sorgen will. Ich für meine Person
möchte keiner Nation angehören und gehöre wohl auch
keiner an, die danach verlangt, durch Vormünder be-
schützt zu werden. Ich möchte einer Nation angehören
und ich bin stolz, einer Nation anzugehören, die für sich
selbst zu sorgen weiß. Wenn ich glaubte, das amerika-
nische Volk sei zügellos, unwissend und rachsüchtig, dann
würde ich davor zurückschrecken, die Regierung in seine
Hand zu legen. Aber es ist die Schönheit der Demokratie,
daß sie, wenn sie achtlos wird, ihre eigenen Lebensbedin-
gungen zerstört ; wenn sie rachgierig wird, macht sie sich
selbst zum Opfer der Rachgier. Das Wesen einer demokra-
78
tischen Gemeinschaft beruht auf der Tatsache, daß jedes
Interesse jedermanns Interesse ist.
Die Theorie, nach der die Leiter der größten Unter-
nehmungen und Beherrscher des weitesten Wirkungs-
feldes auch geeignete Ratgeber einer Regierung seien, will
ich als eine recht plausible Theorie gelten lassen. Wenn
meine Geschäfte sich nicht allein über die Vereinigten
Staaten, sondern über die ganze Welt erstrecken, wird man
anitfehmen dürfen, daß in meiner Geschäftsbetrachtung
große Gesichtspunkte und weite Ziele walten. Aber der
Fehler ist, daß ich nur mein eigenes Unternehmen über-
blicke und nicht die Unternehmen der Leute, die jenseits
jener Ziele und Pläne stehen, die ich für besondere mir
nahestehende Untersuchungen gefaßt habe und verfolge.
Eine wie große Zahl von Leuten, die ihr eigenes Geschäft
verstehen, man auch zusammenbringt, und wie groß deren
Geschäfte auch sein mögen : damit wird man noch nicht
eine Körperschaft von Männern gefunden haben, die die
Geschäfte der Nation von ihren eigenen Interessen tren-
nen kann.
In einer vergangenen Generation, vor einem halben
Jahrhundert, war mit der Regierung eine stattliche Reihe
von Männern verknüpft, deren Patriotismus wir weder
leugnen noch anzweifeln können; es waren Männer, die
dem Volke dienen wollten, aber so stark von dem Ge-
sichtspunkt einer herrschenden Klasse abhängig gewor-
den waren, daß sie Amerika nicht mehr so ansehen konn-
ten, wie das Volk Amerikas es tat. Damals erstand die
unsterbliche Gestalt des großen Lincoln, erhob sich und
erklärte, die Politiker, die Männer, die unser Land regiert
hatten, vermöchten die Dinge nicht vom Gesichtspunkte
des Volkes aus zu betrachten. Wenn ich jener erhabenen
Gestalt gedenke, die in Illinois emporstieg, dann sehe ich
das Abbild eines freien Mannes, der von den das Land be-
79
herrschenden Einflüssen unberührt und unabhängig blieb ;
er war bereit, die Dinge mit offenen Augen zu sehen, sie
stets zu sehen, sie ganz zu sehen, und sie auch so zu sehen,
wie die Männer sie sahen, mit denen er sie Schulter an
Schulter betrachtete und die mit ihm verbündet waren.
Was das Land im Jahre i860 brauchte, war ein Führer,
der das Denken des ganzen Volkes verstand und ver-
körperte, im Gegensatz zu jener Sonderklasse, die sich als
Vormund für die Wohlfahrt des Landes ansah. Inmitten
unserer heutigen politischen Verhältnisse bedürfen wir
wieder eines Mannes, der nicht mit den herrschenden
Klassen und mit den herrschenden Einflüssen verknüpft
ist und der aufsteht und für uns spricht. Wir wollen eine
Stimme hören, die das amerikanische Volk dazu aufruft,
seine Rechte und Prärogativen bei der Ausübung seiner
eigenen Regierung geltend zu machen.
Ich bringe Herrn Taft und Herrn Roosevelt die vollkom-
menste Hochachtung entgegen, aber beide waren mit den
Mächten, die fast eine Generation hindurch die Politik
unserer Regierung bestimmten, so eng verbunden, daß sie
die Angelegenheiten des Landes nicht mit den Augen eines
neuen Zeitalters und nicht von dem Gesichtspunkt der ver-
änderten Umstände aus betrachten können. Sie sympathi-
sieren mit dem Volke ; unzweifelhaft schlagen ihre Herzen
für die großen Massen unbekannter Menschen in unserem
Lande; aber ihre Gedanken sind eng und gewohnheits-
mäßig mit jenen Männern verknüpft, die während unserer
Lebenszeit stets die Politik unseres Landes bestimmten.
Das sind die Männer, die den Schutzzolltarif entwarfen,
die Trusts entwickelten und die großen wirtschaftlichen
Gewalten unseres Landes so koordinierten und ordneten,
daß heute nur eine von außen hereinbrechende Gewalt
ihre Vorherrschaft brechen kann. Im Bewußtsein dieser
Umstände wird das Volk jenen Herren sagen dürfen: „Wir
80
bestreiten eure Ehrenhaftigkeit nicht, wir zweifeln nicht
an der Reinheit eurer Vorsätze ; aber das Denken des Vol-
kes der Vereinigten Staaten ist noch nicht in euer Bewußt-
sein gedrungen. Ihr seid bereit, für das Volk zu handeln.
Und darum wollen wir für uns selbst handeln."
Manchmal denke ich, daß die Männer, die uns jetzt
regieren, die Ketten spüren, in denen sie gehalten werden.
Ich glaube nicht, daß sie uns bewußt in das Schlepptau
der Sonderinteressen eingeschirrt haben. Die Sonderinter-
essen sind herangewachsen. Sie erwuchsen durch Vor-
gänge, die wir endlich — glücklicherweise — zu verstehen
beginnen. Und nachdem sie herangewachsen waren, nach-
dem sie sich vorteilhaft nahe am Ohre jener, die die Re-
gierung leiten, eingenistet hatten, nachdem sie das zu den
Wahlen notwendige Geld beigesteuert und damit nach den
Wahlen einen gewissen Anspruch auf freundliche Behand-
lung erlangt hatten, schloß sich rings um die Regierung
der Vereinigten Staaten ein Ring ; er ist gebildet aus einer
sehr interessanten, sehr fähigen und sehr tatkräftigen Ko-
terie von Männern, die in ihren Anschauungen und in ihren
Wünschen sehr entschieden und sehr zielbewußt sind. Sie
brauchen uns nicht über das zu befragen, was sie wünschen.
Sie brauchen niemand zu befragen. Sie kennen ihre Ab-
sichten und wissen daher, was ihnen frommt. Es mag sein,
daß sie wirklich dachten, was sie gedacht zu haben behaup-
teten ; es mag sein, daß sie von der Geschichte der wirt-
schaftlichen Entwicklung und von den Interessen der Ver-
einigten Staaten so wenig wissen, daß sie glauben, ihre
Führung sei für unser Wohlergehen und für unsere Fort-
entwicklung unentbehrlich. Daß sie das glauben, brauche
ich nicht erst zu beweisen; denn sie selbst geben es zu.
Mehr als einmal habe ich sie das zugeben hören.
Offen möchte ich es aussprechen, daß ich ihnen das
nicht verarge. Mancher der Leute, die diesen Einfluß aus-
6 8i
geübt haben, sind prächtige Menschen ; sie glauben wirk-
lich, die Wohlfahrt des Landes hänge von ihnen ab. Sie
glauben wirklich, wir wären nicht imstande, unsere Auf-
gabe zu bewältigen, wenn sie die Führung der wirtschaft-
lichen Entwicklung unseres Landes aus der Hand gäben.
Sie halten die Macht der Vereinigten Staaten nicht nur in
ihrer Hand sondern auch in ihrer Phantasie. Sie sind ehr-
liche Leute und haben nicht weniger Recht, ihre Mei-
nungen zu äußern wie ich zur Darlegung der meinen, aber
die Zeit ist gekommen, in der wir unsere Anschauungen
selbst nachprüfen und ihre Gültigkeit bestimmen müssen.
In Wirklichkeit vermögen jene Männer die Vorgänge in-
nerhalb ihrer eigenen Unternehmen nicht ganz zu über-
blicken. Als Universitätspräsident habe ich erfahren müs-
sen, daß die Leute, die über unsere Fabrikationsmethoden
bestimmen, ohne die Hilfe der Fachleute, die ihnen von den
Universitäten zur Verfügung gestellt werden, ihren Ge-
schäftsbetrieb keine vierundzwanzig Stunden aufrechter-
halten könnten. Die moderne Industrie ist von techni-
schen Kenntnissen abhängig ; die Leistung jener Fabrik-
herren mußte sich auf die äußere Geschäftsführung und
auf die Finanzoperationen beschränken, die mit der ge-
nauen Fachkenntnis, mit denen die Unternehmungen be-
trieben werden, sehr wenig zu tun haben. Ich kenne Män-
ner, deren Namen nirgends gedruckt werden, deren Na-
men in öffentlichen Erörterungen nie fallen und die doch
Mark und Bein der amerikanischen Industrie sind.
Sprechen die Herren unserer Industrie im Geiste und im
Interesse jener Männer, die sie beschäftigen? Fragt man
mich, wie ich über die Arbeiterfrage und die Arbeiter denke,
dann fühle ich, daß man mich nach dem fragt, was ich von
der überwiegenden Mehrheit des Volkes weiß. Dann habe
ich das Empfinden, als forderte man von mir, ich möge
mich von mir selbst als dem Angehörigen einer besonderen
82
Klasse und von jenem großen Teil meiner Mitbürger, die
die Unternehmungen dieses Landes stützen und leiten, los-
lösen. Solange wir diesen Gesichtspunkt nicht opfern,
wird es unmöglich, eine freie Regierung zu haben. Ich habe
sehr ehrlichen und gewandten Rednern gelauscht, deren
Gefühle dadurch bemerkenswert waren, daß sie nicht an
sich selbst dachten, wenn sie von dem Volke sprachen ;
sie dachten an irgendwen, für den sie zu sorgen beauf-
tragt seien. Sie wollten stets alles für das amerikanische
Volk tun und ich sah sie erschauern, wenn ihnen vorge-
schlagen wurde, man möge die Dinge so einrichten, daß
das Volk etwas für sich selbst tun könne. Sie meinten :
,,Was versteht das Volk davon?** Und ich möchte ihnen
immer antworten: ,,V^as verstehen Sie davon? Sie ken-
nen Ihre Interessen, aber wer hat Sie über unsere Inter-
essen unterrichtet und über das, was für sie geschehen
muß?" Denn es ist die Pflicht jedes Leiters einer Regie-
rung, auf das zu hören, was die Nation sagt, und das zu
wissen, was die Nation durchmacht. Es ist nicht seine
Aufgabe, für die Nation zu urteilen, sondern er soll als
Erwählter und als Stimme des Volkes durch die Nation
sprechen. Und ich glaube nicht, daß dieses Land eine Fort-
setzung der Politik jener Männer dulden kann, die die
Dinge in anderem Lichte sahen.
Die Hypothese, unter der wir regiert wurden, ist die
einer Regierung durch eine Körperschaft von Kuratoren,
durch eine ausgewählte Anzahl großer Geschäftsleute, die
eine Menge Dinge wissen und die es als erwiesen ansehen,
daß unsere Unkenntnis die Wohlfahrt des Landes zer-
stören würde. Die Präsidenten, die wir in der letzten Zeit
hatten, lebten in der Vorstellung, sie seien die Präsidenten
jenes nationalen Vormundschaftsrates. Das ist nicht meine
Anschauung. Ich bin Präsident eines Kuratoriums ge-
wesen und ich möchte dieses Amt nicht ein zweites Mal
6» 83
versehen. Ich möchte Präsident des Volkes der Vereinigten
Staaten sein. Als ich Präsident des Kuratoriums der Uni-
versität war, kam es oft vor, daß die jüngeren Studenten
mehr wußten als die Mitglieder des Kuratoriums; und
immer wieder überfällt mich seitdem der Gedanke, daß ich
viel schneller zum Ziele gekommen wäre, wenn ich statt
mit einem Kuratorium direkt mit den Leuten zu tun ge-
habt hätte, die die Princeton Universität bildeten.
Ich bitte zu beachten, daß ich nicht sage, jene Führer
wußten, daß sie uns schadeten, oder hatten die Absicht,
Schaden zu stiften. Ich fürchte jenen Mann, der etwas
Schlimmes tut und nicht weiß, wie schlimm es ist, viel mehr
als jenen Mann, der etwas Schlimmes tut und es auch weiß ;
in öffentlichen Angelegenheiten halte ich Beschränkt-
heit für gefährlicher als Schlechtigkeit, denn sie ist schwe-
rer zu bekämpfen und zu beseitigen. Wenn ein Mann nicht
die Folgen seines Handelns für das ganze Land abzuschät-
zen vermag, kann er das Land nicht mit Nutzen leiten.
Jene Männer aber haben, was immer auch ihre Absicht
gewesen sein mag, die Regierung mit den Männern ver-
kettet, die den Kapitalsmarkt beherrschten. Ob sie das in
aller Unschuld oder mit den Hilfsmitteln der Korruption
getan haben, berührt meine Argumente nicht. Sie selbst
können sich von jenem Bündnis nicht frei machen.
Man nehme beispielsweise die alte Frage der Wahlfonds :
wenn ich loo ooo Dollar von einer Gruppe von Männern
annehme, die besondere Interessen vertreten und beson-
deres Gewicht auf eine bestimmte Position im Zolltarif
legen müssen, dann nehme ich das Geld mit dem Bewußt-
sein, daß jene Herren von mir erwarten, ihre Interessen
würden nicht übersehen werden. Und sie werden es als
eine Ehrensache ansehen, daß ich dafür sorge, daß sie
durch Änderungen des Zolltarifes nicht zu sehr geschädigt
werden. Wenn ich also ihr Geld nehme, bin ich ihnen durch
84
eine schweigende Ehrenverpflichtung verpflichtet. Gegen
diese Situation wäre vielleicht nichts einzuwenden, so-
lange man das Wesen der Regierung so auffaßt, daß es
Aufgabe der Regierenden sei, für die Kuratoren der Wohl-
fahrt zu sorgen, die sich ihrerseits wieder um das Volk
kümmern ; aber jede andere Theorie würde die Entgegen-
nahme von Beiträgen zum Wahlfonds stets und unter allen
Umständen ausschließen müssen, — es seien denn die Bei-
träge der Millionen von Bürgern, die damit ihre Überzeu-
gungen bekräftigen und jene Männer unterstützen wollen,
die sie als ihr Schallrohr anerkennen.
Die Leute, die mich angehen, sind jene, deren Stim-
men unter den bisherigen Verhältnissen nie gehört wur-
den ; es sind die Leute, die nie eine Zeile in die Zeitung
setzten, nie in einem Parteiprogramm erwähnt wurden
und niemals bei Gouverneuren oder Präsidenten oder ir-
gendeinem verantwortlichen Führer der Regierung Ge-
hör finden konnten, die aber still und geduldig Tag um
Tag an ihr Werk gehen und die Bürde der Arbeit nicht von
ihren Schultern lassen. Wie sollen diese Männer von den
Herren der Finanz verstanden werden, wenn nur die Her-
ren der Finanz zu Worte kommen?
Das ist es, was ich meine, wenn ich sage: ,,Gebt dem
Volke die Regierung zurück." Ich meine damit nichts De-
magogisches ; ich möchte nicht so sprechen, als sei es un-
ser Wunsch, daß eine große Menschenmasse herbeistürmt
und irgend etwas zerstört. Das ist nicht die Absicht. Ich
möchte, daß das Volk komme und seine eigenen Geschäft£-
räume in Besitz nehme ; denn die Regierung gehört dem
Volke und das Volk hat Anspruch auf freien Zutritt zu
jener Macht, die jede Wandlung und jeden Schritt der Po-
litik bestimmt.
Amerika wird sich niemals einer Vormundschaft fügen.
Amerika wird niemals an Stelle der Freiheit die Leibeigen-
85
Schaft erwählen. Seht, was es zu entscheiden gilt! Das ist
die Frage des Zolltarifs. Kann diese Frage zugunsten des
Volkes entschieden werden, wenn in Washington die Par-
teigänger der Monopole die Hauptratgeber sind ? Da ist die
Währungsfrage. Werden wir diese Frage lösen, solange
die Regierung nur auf den Rat jener hört, die das Bank-
wesen beherrschen?
Dann aber besteht die Frage der Erhaltung innerer Er-
rungenschaften. Die Hände, die sich ausstrecken, um un-
sere Wälder mit Beschlag zu belegen, die die Ausnutzung
unserer großen kraftspendenden Flüsse verhindern oder
für sich reservieren, die Hände, die sich zum Herzen der
Erde ausstrecken, um jene gewaltigen Reichtümer zu
packen, die in Alaska oder in anderen Gebieten unserer
unvergleichlichen Staaten verborgen liegen, — es ist über-
all die Faust des Monopols. Sollen diese Männer auch
fürderhin an der Schulter der Regierung stehen und uns
raten, wie wir uns schützen sollen — vor ihnen schützen ?
Der Regierung der Vereinigten Staaten harren Auf-
gaben, die nur gelöst werden können, wenn jeder Puls-
schlag der Regierung im gleichen Takte mit den Nöten
und Wünschen des ganzen amerikanischen Volkskörpers
geht.
86
Viertes Kapitel
Vom Boden kommt das Leben
Blicke ich auf den Gang der Geschichte und den Werde-
gang Amerikas zurück, dann finde ich es auf jeder Seite
geschrieben : vom Boden aus werden Nationen erneuert
und nicht von der Spitze ; der Genius, der aus der Masse
der Namenlosen hervorgeht, erneuert Jugend und Tatkraft
des Volkes. Was ich von Geschichte kenne, jede kleinste
Erfahrung und Beobachtung, die mein Denken beeinfluß-
ten, bestätigten mir die Überzeugung: die wirkliche Le-
bensweisheit ersteht aus den Erfahrungen einfacher Men-
schen. Die Nutzbarkeit, die Lebenskraft und die Früchte
des Daseins gehen nicht von der Höhe zur Tiefe ; sie stre-
ben gleich dem Wachstum eines Baumes vom Boden em-
por und ziehen durch Stamm und Zweige in Laub, Blüten
und Früchte. Die großen, mit dem Leben ringenden unbe-
kannten Massen sind die Grundlage aller Geschehnisse ; sie
sind die dynamische Gewalt, die das Niveau menschlicher
Gesellschaft emportreibt. Eine Nation ist so groß und nur
so groß wie die Summe ihrer Gesamtheit.
Darum ist es heute die erste und größte Auf gäbe unserer
Nation, in die Gemeinschaft der Regierenden die großen
Scharen jener namenlosen Menschen aufzunehmen, aus
denen unsere künftigen Führer hervorgehen und durch
die die Tatkraft der Nation erneuert wird. Ich weiß, was
ich sage, wenn ich das ausspreche und meinen Glauben
an den einfachen Mann bekenne. Der Mensch, der gegen
den Strom schwimmt, kennt die Stärke der Strömung. Der
87
Mann, der im Handgemenge steht, weiß wie Hiebe fallen
und wie Blut vergossen wird. Der Mann, der noch im
Kampfe um den Aufbau seiner Existenz steht, ist der Rich-
ter der amerikanischen Gegenwart, nicht der Mann, der
sein Ziel erreicht hat ; nicht jener, der aus dem allgemeinen
Strom emporgetaucht ist ; nicht jener, der auf der Bank sitzt
und dem Volksgetriebe zuschaut : sondern der Mensch, der
um sein Dasein und um das seiner Lieben ringt. Das ist
der Mensch, der die Wirklichkeit kennt und dessen Mei-
nung ich suche und von dessen Urteil ich geführt werden
möchte.
Wir haben die falschen Richter gehabt ; die falsche Grup-
pe — nein, ich will nicht sagen die falsche Gruppe, aber eine
kleine Gruppe — hat die Politik der Vereinigten Staaten
beherrscht. Der gewöhnliche Mann, der Durchschnitts-
bürger wurde nicht befragt, und sein Mut begann zu sin-
ken, weil er befürchten mußte, daß er nie wieder befragt
werden würde. Deshalb wird es unsere Aufgabe, eine Re-
gierung zu organisieren, deren Sinn dem amerikanischen
Volke als einem Ganzen offen ist, eine Regierung, die, ehe
sie handelt, einen so großen Teil des amerikanischen Vol-
kes als nur möglich zu Rate zieht. Denn das große Pro-
blem des Regierens beruht auf der Kenntnis dessen, was
der Durchschnittsmensch erfährt und wie er seine Erfah-
rungen beurteilt. Die meisten von uns sind Durchschnitts-
menschen ; nur sehr wenige erheben sich über das allge-
meine Niveau der uns umgebenden Menschen, es sei denn
durch glückliche Zufälle ; Amerika wird am besten von
jenem Menschen verstanden, der allgemeine Erfahrungen
durchlebte und allgemeine Gedanken dachte. Ist das nicht
auch der Grund, warum wir auf Lebensgeschichten wie
die Abraham Lincolns stolz sind ? Sie zeigt uns einen Men-
schen, der aus der großen Menge emporstieg und Amerika
besser verstand als es je von jemand verstanden wurde,
88
der aus den begünstigten Gesellschaftsschichten oder der
gebildeten Klasse hervorging.
Die Hoffnung der Vereinigten Staaten bleibt für die
Gegenwart und die Zukunft die gleiche wie immer : es ist
die Hoffnung und das Vertrauen, daß aus unbekannten
Hütten und Häusern Männer kommen werden, die sich
zu Führern unserer Industrie und unseres öffentlichen
Lebens emporschwingen. Die durchschnittliche Hoffnungs-
freudigkeit, die durchschnittliche Wohlfahrt, der durch-
schnittliche Unternehmungsgeist und die durchschnitt-
liche Initiative des amerikanischen Volkes sind die einzi-
gen Dinge, die das Land reich machen. Wir sind nicht reich,
weil einige wenige Männer unsere Industrie leiten; wir
sind reich durch unsere eigene Intelligenz und unseren
eigenen Fleiß. Amerika besteht nicht aus Leuten, deren
Namen in den Zeitungen genannt werden ; das politische
Amerika besteht nicht aus Männern, die sich zu politi-
schen Führern aufwerfen ; es besteht nicht aus den Leuten,
die am meisten reden — denn sie sind nur in dem Grade
von Bedeutung, als sie im Namen und für die große stimm-
lose Menschenmasse sprechen, die die Gesamtheit und den
Kraftvorrat der Nation bilden. Keiner, der nicht das all-
gemeine Denken ausdrücken kann und der nicht durch all-
gemeine Impulse bestimmt wird, kann für Amerika und
seine Zukunftsziele sprechen. Nur jener ist zum Wort be-
rufen, der das Denken der großen Menge der Bürger kennt,
jener Männer, die Tag für Tag ihrem Geschäft nachgehen,
die vom Morgen bis zum Abend sich plagen, des Abends
müde heimkehren, aber all das vollbringen, worauf wir
so stolz sind.
Wir Amerikaner fühlen unser Blut schneller kreisen,
wenn wir daran denken, wie alle Nationen der Erde ver-
folgen, was Amerika mit seiner Kraft, seiner physischen
Kraft, seinen gewaltigen Hilfsquellen und seinem gewal-
89
tigen Reichtum beginnen wird. Die Völker halten ihren
Atem an, um zu sehen, was dieses junge Land mit seiner
jungen ungebrochenen Kraft anfangen wird ; und wir kön-
nen nicht anders als stolz darauf sein, daß wir stark sind.
Aber was hat uns so stark gemacht ? Die Mühsal von Mil-
lionen von Menschen, die Arbeit von Männern, die sich
nicht brüsten, die nicht eitel sind und von Tag für Tag
schlicht ihrem Lebenspfade folgen. Die große Masse dieser
Geplagten verkörpert die Macht unseres Landes. Es ist
ein Ruhmestitel unserer Nation, daß niemand voraussagen
kann, welcher Familie, welchem Landesteil und selbst wel-
cher Rasse die Führer des Landes entstammen werden.
Die großen Führer sind bei uns nicht sehr oft aus den an-
erkannten ,, erfolgreichen** Familien hervorgegangen.
Ich entsinne mich noch, wie ich vor nicht langer Zeit
in einer Hochschule, deren Studenten fast ausnahmslos
Söhne reicher Eltern waren, voll Mitleid sagte: ,,Die mei-
sten von euch jungen Männern sind zur Tatenlosigkeit ver-
dammt. Ihr werdet nichts vollbringen. Ihr werdet es nicht
versuchen. Und angesichts all der großen unvollbrachten
Aufgaben unserer Nation werdet ihr wahrscheinlich jene
sein, die sich weigern werden, sie zu vollbringen. Irgend-
ein Mann, der sich ,, auflehnt**, irgendeiner, der aus der
Masse stammt und die Peitsche der Notwendigkeit an sei-
nem Nacken fühlt, wird aus der Menge hervortreten, wird
zeigen, daß er zugleich die Nöte der Menge und das Inter-
esse der Nation versteht : beides zusammen und nicht eines
allein. Der wird auf stehen und uns führen." Wenn ich von
meinen persönlichen Erfahrungen sprechen darf : ich habe
wahrgenommen, daß Zuhörerschaften, die sich aus ,, ge-
wöhnlichen Leuten** zusammensetzten, den Kern einer
Sache, ein Argument oder eine Tendenz schneller erfaßten
als manche College- Klasse, der ich Vorlesungen gehalten
habe. Und das nicht etwa, weil den Studenten die Intelli-
90
genz fehlte, sondern weil sie nicht Tag für Tag mit den
Wirklichkeiten des Lebens in Berührung stehen, dieweil
die ,, gewöhnlichen" Bürger Tag um Tag Fühlung mit den
Tatsachen des Daseins haben ; ihnen braucht man nicht
zu erklären, was sie so lebendig verspüren.
Für den Wert einer vom Boden empordrängenden ste-
ten Erneuerung der Gesellschaft gibt es ein Beispiel, das
mich stets aufs tiefste interessiert hat. Der einzige Grund
dafür, daß die Regierungen unter dem vorwiegend aristo-
kratischen System des Mittelalters nicht an Wurzelver-
trocknung litten, ist der Umstand, daß so viele ihrer her-
vorragenden Männer aus der Kirche hervorgingen : aus
jener großen religiösen Körperschaft, die damals die ein-
zige Kirche war und die wir heute von anderen als die rö-
misch-katholische Kirche unterscheiden. Die katholische
Kirche war in jener Zeit wie auch heute noch eine große
Demokratie. Es gab keinen Bauern, von wie bescheidener
Herkunft er auch sein mochte, der nicht Geistlicher wer-
den konnte ; und kein Priester war zu unbekannt, um nicht
dereinst vielleicht Oberhaupt des Christentums werden zu
können. Und jede Kanzlei, jeder Hof Europas stand unter
dem Einfluß dieser gelehrten, erfahrenen und geschickten
Männer — der Priesterschaft der großen und herrschen-
den Kirche. Was die Regierungen des Mittelalters lebendig
erhielt, war jenes stete Emporströmen der Säfte aus dem
Boden : durch die offenen Kanäle der Geistlichkeit stiegen
unausgesetzt Männer aus den Reihen des Volkes zur herr-
schenden Kaste empor. Das erscheint mir immer wieder
als eine der interessantesten und überzeugendsten Illustra-
tionen für die Anschauung, die ich vertrete.
Der einzige Weg, eine Regierung rein und tatkräftig
zu erhalten, ist das Freihalten dieser Kanäle, so daß keiner
sich für zu gering halten kann, um Mitglied des politischen
Organismus zu werden. Dann wird den Adern der Regie-
91
rung und der Politik unaufhörlich neues Blut zuströmen.
Kein Mann wird zu unbedeutend sein, um nicht die Kruste
seiner Klasse zu durchbrechen, emporzustreben und den
Führern des Staates zugezählt zu werden. Alles was de-
primiert und hinabdrückt, alles was die Organisation stär-
ker macht als den Menschen, alles was den einfachen Mann
hemmt und entmutigt, widerspricht den Gesetzen des Fort-
schrittes.
Wenn ich beobachte, wie heute Bündnisse geschlossen
werden, wie die erfolgreichen Geschäftsleute sich mit den
erfolgreichen politischen Organisationen verbünden, dann
weiß ich, daß etwas geschehen ist, das die Lebenskraft und
den Fortschritt der Gesellschaft hemmt. Ein solches Bünd-
nis, das auf den Gipfeln geschlossen wird, ist ein Bündnis,
das dazu strebt, die Niederungen in den Tiefen zu halten ;
sie sollen, wenn nicht noch tiefer sinken, dort bleiben, wo
sie sind ; und darum ist es die immerwährende Pflicht ei-
ner guten Politik, solche Bündnisse zu lösen oder zu
sprengen, und den Kontakt zwischen der großen Masse
des Volkes und den Regierungsämtern wiederherzustellen
und zu erneuern.
Heute, da unsere Regierung in die Hände der Sonder-
interessen geraten ist, heute, da offen jene Theorie ver-
kündet wird, nach der nur die auserwählten Klassen das
Rüstzeug oder die Fähigkeit zum Regieren besitzen, heute,
da so viel gewissenhafte Bürger, von dem Schauspiel so-
zialen Unrechts und Leidens überwältigt, Opfer des Irr-
tums geworden sind, daß von gutherzigen Aufsichtsräten
des Fortschrittes und Hütern der Wohlfahrt pflichtgetreuer
Angestellter eine dem Volke segensreiche und wohltätige
Regierung ausgehen kann, — heute wird sich die Nation
mehr als je darauf besinnen müssen, daß ein Volk allein
durch jene Kräfte sichergestellt wird, die tief im Herzen
des Volkes walten. Hoffnungsfreude, Bewußtsein, Ge-
92
wissen und Kraft einer Nation sollen durch jene Wasser
erneuert werden, die tief aus den ursprünglichen Quellen
ihres Wesens und ihrer Gesamtheit kommen. Nicht von
oben, nicht durch die Gönnerschaft seiner Aristokraten.
Die Blume trägt nicht die Wurzel, aber die Wurzel die
Blume. Alles, was im freien Himmel zur Schönheit erblüht,
empfängt seine Schönheit und seine Kraft von seinen
Wurzeln. Nichts Lebendiges kann zur Fruchtbarkeit er-
blühen, wenn nicht durch die nährenden Fasern, die tief im
gewöhnlichen Erdboden verankert sind. Die Rose ist nur
ein Zeichen für die Lebenskraft der Wurzel ; und die wahre
Quelle ihrer Herrlichkeit, die leuchtende herrliche Blume
auf schlankem Stiel, entstammt jenen stillen Lebenskräf-
ten, die in der chemischen Beschaffenheit des Bodens be-
schlossen liegen.
Aus jenem Boden, von jener stillen Brust der Erde
steigen die Ströme des Lebens und der Tatkraft empor. Und
empor aus dem gewöhnlichen Boden, aus dem schweig-
samen Herzen des Volkes steigen auch freudig jene Ströme
der Hoffnung und der Entschlossenheit, die bestimmt
sind, das Angesicht der Erde herrlich zu verjüngen. Der
sogenannte Radikalismus unserer Zeit ist nichts als das
Streben der Natur, die hochstrebende Tatkraft des Volkes
zu befreien. Das große amerikanische Volk ist in seinen
Tiefen gerecht, tugendhaft und hoffnungsfreudig; seine
Wurzeln sind dort, wo Reinheit und die Kräfte zu guter
Ernte verborgen liegen ; und die Forderung der Stunde ist
just jener Radikalismus, der den Weg zur Verwirklichung
des Ehrgeizes einer standhaften Rasse frei macht.
93
Fünftes Kapitel
Das Volksparlament
Lange Zeit hat Amerika eine der Institutionen entbehrt,
die freie Menschen stets und überall als grundlegend
ansahen. Lange Zeit fehlte dem Volke die Gelegenheit, mit-
einander Rates zu pflegen ; es gab keine Stätte und keine
Methode der Aussprache, keinen Austausch von Meinun-
gen und keine Beratung. Die Gemeinschaften sind über
den Umfang einer Volksversammlung und eines Stadt-
rates hinausgewachsen. Dem Geiste dieses Landes gemäß,
der Taten verlangt und bei Worten ungeduldig wird, wurde
der Kongreß zu einer Institution, die ihre Arbeit in der Ab-
geschlossenheit der Kommissionszimmer statt im Sitzungs-
saal des Hauses erledigte. Der Kongreß ward zu einer Kör-
perschaft, die Gesetze macht, zu einer gesetzmachenden
Vereinigung, nicht aber zu einer Versammlung, die de-
battiert und berät : nicht zu einem Parlament. Die Ver-
sammlungen der Parteien gewähren wenig oder keine Ge-
legenheit zu Diskussionen ; Programme wurden unter der
Hand aufgestellt und im Nu angenommen. Daß jene un-
seligen Bündnisse zwischen dem Großhandel und den po-
litischen Bosses imstande waren, unsere Regierung zu be-
herrschen, ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß die
Bürger davon abließen, miteinander zu beratschlagen. Ich
halte es für eine der Notwendigkeiten des Tages, das Ver-
fahren gemeinsamer Beratschlagung wiederherzustellen
und durch sie jenen Modus der heimlichen Verständigungen
zu ersetzen, die gegenwärtig die Politik der Städte, Staaten
94
und der Nation bestimmen. Wir freien Männer müssen es
lernen, gleich unseren Vorvätern irgendwie und irgendwo
zum Rate zusammenzutreten. Und es muß zur Diskussion
und zur Debatte kommen, an denen alle teilnehmen. Es
muß eine unbekümmerte Debatte sein und ihr ehrliches
Ziel muß die Klärung von Fragen und die Ergründung der
Wahrheit sein. Eine zu sehr politisierende Diskussion führt
zu keinem ehrlichen Ende, sondern nur zur Verwirrung
eines Gegners. Wenn eine politische Debatte hitzig wird
und wir zu hoffen beginnen, daß die Wahrheit sich nun
ihren Weg zur Einsicht der Gegner bahnen wird, dann
muß ich oft an eine Debatte in Virginia zurückdenken, die
einem eigenartigen Ende zuzustreben schien.
Als ich als junger Mann in Charlottesville studierte, gab
es im Staat Virginien in der demokratischen Partei zwei
Gruppen, die einander sehr hitzig bekämpften. In einer der
Grafschaften hatte die eine dieser Gruppen so gut wie gar
keine Anhänger. Ein Mann namens Massey, ein gefürch-
teter Diskussionsredner, wenn auch nur eine kleine,
schlanke, unscheinbar aussehende Persönlichkeit, sandte
einen Boten in diese Grafschaft und forderte die Opposition
zu einer Debatte mit ihm heraus. Der Gedanke war ihr
nicht angenehm, aber man war zu stolz, um die Heraus-
forderung abzulehnen, und so sandte man denn zu diesem
rednerischen Zweikampf den besten Diskussionsredner,
den man besaß, einen dicken, gutmütigen Mann, den jeder
mit dem Vornamen kannte. Es wurde vereinbart, daß Mas-
sey die erste Stunde sprechen sollte, und daß dann Tom
Soundso während der folgenden Stunde das Wort haben
würde. Der große Tag kam, und mit seiner eigentümlichen
Gewandtheit und Schlauheit kroch Massey sozusagen un-
ter die Haut der Versammlung; er hatte noch nicht die
Hälfte seiner Rede gesprochen, als es schon offenkundig
war, daß er die ihm ursprünglich feindliche Menge mit sich
95
fortriß ; worauf einer von Toms Anhängern, der die Wen-
dung der Dinge erkannte, aus dem Hintergrunde rief:
,,Tom, heiße ihn einen Lügner und fordere ihn zum Box-
kampf."
Diese Art von Debatten, dieser Geist der Diskussion er-
greift jetzt von uns Besitz. Unsere nationalen Angelegen-
heiten sind zu ernst und mit dem Wohlergehen jedes ein-
zelnen von uns zu eng verknüpft, als daß wir über sie an-
ders als im Ernste sprechen könnten : mit Aufrichtigkeit
und Bereitwilligkeit. Es ist eine unglückliche Folge des
Parteisystems, daß die Parteileidenschaften, die in der
Hitze des Kampfes so wild aufflammen, eine ehrliche Dis-
kussion erschweren. Und doch glaube ich zu bemerken und
alle Bürger müssen dasselbe wahrnehmen, daß sich im
Volkstemperamente in dieser Beziehung eine fast erstaun-
liche Umwandlung vollzieht. Der jetzt zum Abschluß ge-
brachte Wahlkampf unterschied sich auffällig von den
vorhergehenden durch die Art und Weise, in der Partei-
rücksichten angesichts der Wichtigkeit der Dinge, die wir
als gemeinsame Bürger eines Landes zu beraten hatten,
vergessen wurden.
Es ist irgend etwas in der Luft des heutigen Amerikas,
das ich nie vorher sah und nie vorher fühlte. Ich habe wäh-
rend meines Lebens regelmäßig politische Versammlungen
besucht, wenn ich auch nicht immer eine unbescheiden
hervorragende Rolle in ihnen spielte; aber in unseren
jetzigen politischen Versammlungen waltet ein Geist, der
mir neu ist. Es ist beispielsweise nicht viele Jahre her, seit-
dem Frauen politische Versammlungen zu besuchen be-
gannen. Und die Frauen kommen heute in politische Ver-
sammlungen nicht nur darum, weil es in der Politik eine
Frauenfrage gibt ; sie kommen, weil die moderne politische
Versammlung in Amerika anders ist als politische Ver-
sammlungen vor fünf oder zehn Jahren es waren. Damals
96
waren es nur Zustimmungsparaden. Damals war eine Ver-
sammlung nur eine Gelegenheit, irgend jemand mit Zu-
rufen zu beehren. Es war nur eine Gelegenheit, bei der die
eine Partei unvernünftig verleumdet und die andere un-
vernünftig gelobt wurde. Keine Partei verdiente je alle die
Vorwürfe, die abwechselnd jede Partei hinnehmen mußte,
und keine von beiden verdienten den Ruhm, den jede von
ihnen nacheinander erntete. Die alte politische Versamm-
lung war ein völlig sinnloses Schauspiel ; ihr Zweck war
es, Dinge so darzustellen, wie sie nicht waren und von
denen die Zuhörer wußten, daß sie anders waren ; sie schie-
nen nur ein Mittel zur Erweckung von Beifallsstürmen.
Aber ich muß das Wesen meiner Landsleute sehr schlecht
kennen, wenn die Versammlungen, die ich in den letzten
zwei Jahren miterlebte, noch eine Ähnlichkeit mit jenen
älteren Versammlungen aufwiesen. Heute versammeln sich
die Amerikaner, um Dinge voller Tragweite erörtern zu
hören. Man findet in einer demokratischen Versammlung
fast ebensoviele Republikaner als Demokraten in einer
republikanischen Versammlung: und in beiden lebt der
Wille zu einer ehrlichen Aussprache und zur gemeinsamen
Arbeit. Es wäre für das Land von großem Vorteile, wenn
dieses so allgemeine ehrliche Interesse für die öffentlichen
Angelegenheiten nicht mit den Wahltagen sein Ende fände !
Es macht sich eine Strömung bemerkbar, die mich, wie
viele Männer und Frauen, die ihr Vaterland lieben, aufs
höchste interessiert hat. Eine Strömung, die dahin geht,
daß die Schulhäuser den Erwachsenen geöffnet werden,
damit sie in ihnen die Angelegenheiten des Kreises wie des
Staates besprechen können. Überall im Lande gibt es
Schulgebäude, die während der Sommermonate leer stehen,
und überall gibt es Schulgebäude, die im Winter während
der Abendstunden für Schulzwecke nicht benötigt werden.
Diese Gebäude gehören der Öffentlichkeit. Warum soll
7 97
man nicht dahin wirken, als sie als Beratungstätten be-
nutzt werden, gleich jenen alten Stadtversammlungen, zu
denen jedermann ging, auf denen jeder öffentliche Be-
amte freimütig Rechenschaft ablegte und die strengste
Kritik über sich ergehen lassen mußte? Das Schulhaus,
das uns allen gehört, ist die gegebene Stätte, um uns zur
Beratung unserer gemeinsamen Angelegenheiten zu ver-
sammeln.
Eine Beobachtung eines unserer Landsleute, der auf
der anderen Seite des Ozeans geboren wurde, hat mich sehr
interessiert. Er erzählte, wie er zu einer jener Versamm-
lungen ins Schulhaus der Nachbarschaft gegangen war
und inmitten der Leute verweilte, die über Angelegen-
heiten diskutierten, die sie alle angingen. Und als er aus
dem Schulhause kam, sagte er mir: ,,Ich lebe jetzt zehn
Jahre in Amerika, aber heute sah ich zum erstenmal Ame-
rika wie ich es mir vorgestellt hatte. Diese Vereinigung
von Menschen aller Arten und aller Stände, die auf dem
Boden vollkommener Gleichheit freimütig miteinander dis-
kutieren, was sie alle angeht — das war mein Traum von
Amerika." Das ließ mich nachdenklich werden. Erst an
jenem Abend hatte er das Amerika gesehen, das zu fin-
den er gekommen war. Hatte er sich bisher nicht als
Nachbar gefühlt? Hatten Männer nicht mit ihm berat-
schlagt? Er hatte sich als Außenseiter gefühlt. Hatte es
keine kleinen Kreise gegeben, in denen man öffentliche An-
gelegenheiten erörterte ?
Der große Schmelztiegel Amerikas, die Stätte, in der alle
zu Amerikanern gemacht werden, ist die öffentliche Schule.
In sie schicken Menschen jeder Rasse, jeder Herkunft und
jeder Lebensstelle ihre Kinder oder sollten ihre Kinder
schicken ; und hier werden alle miteinander vermischt,
werden mit dem amerikanischen Geiste durchtränkt und
zum amerikanischen Manne oder zur amerikanischen Frau
98
entwickelt. Wir sollten aber nicht nur unsere Kinder zu be-
zahlten Lehrern in diese Schule schicken, sondern wir soll-
ten selbst in dem gleichen Schulhause miteinander zur
Schule gehen, um lebendiger und stärker zu spüren, was
amerikanisches Leben ist. Und im Vertrauen möchte ich
sagen : wo immer man einen Schulrat findet, der vielleicht
gegen die Öffnung der Schule zu öffentlichen Versamm-
lungen jeder Art Einwendungen erhebt, dort muß man nach
dem Politiker suchen, der sich dagegen auflehnt; denn
das Heilmittel gegen schlechte Politik ist das Gespräch
mit dem Nachbar. Der Ideenaustausch zwischen Nachbarn
bringt die verhüllten Dinge unseres politischen Lebens ans
Licht; und wenn es uns gelingt, die Nachbarn zu ver-
einen, auf daß sie alles, was sie wissen, freimütig ausspre-
chen, dann wird unsere Politik, unsere kommunale Po-
litik, unsere Staatspolitik so offenbar werden, als sie es
sein sollten. Denn der größte Nachteil unserer Politik ist
es, daß sie innen nicht so aussieht wie außen. Nichts aber
klärt die Luft so sehr als eine freie Aussprache. Eine der
wertvollsten Lehren meines Lebens verdanke ich dem Um-
stand, durch den ich in verhältnismäßig frühem Alter den
Vorzug hatte, als öffentlicher Redner in der New Yorker
Cooper Union zu sprechen. Die Zuhörerschaft setzt sich
dort aus allen Arten von Männern und Frauen zusammen,
von dem armen Teufel an, der nur kommt, um sich zu wär-
men, bis hinauf zu dem Manne, der sich einfindet, um voll
Ernst an der Diskussion des Abends teilzunehmen. Unter
den Fragen, die hier nach dem Vortrag gestellt werden,
wurden mir die tiefsten und eindringlichsten Fragen, die
mir je zu Ohren gekommen, von einigen Männern gestellt,
die inmitten der Versammlung die am wenigsten gut ge-
kleideten waren ; diese Fragen kamen von einfachen Leu-
ten, von Männern, deren Muskeln sich täglich im Kampfe
mit dem Leben spannten. Sie stellten Fragen, die den Kern
7* 99
der Dinge trafen und die richtig zu beantworten mir oft
nicht wenig Mühe bereitete. Aber ich fühlte jene Fragen
wie die Stimme des Lebens selbst, die Stimme eines Le-
bens, das die harte Schule der praktischen Erfahrung durch-
laufen hatte. An der Absicht, das Schulhaus zu einem
Zentrum gemeinsamen Lebens zu machen, besticht mich
am meisten der Gedanke, daß hier dann die Stätte sein wird,
wo der gewöhnliche Mann zu seinem Rechte kommt, wo
er seine Fragen stellt, seine Meinungen äußert und jene
überzeugt, die nicht jene Kraft Amerikas spüren, die im
Blute jedes wahren Amerikaners kreist. Die einzige Stätte,
wo man den wahren Amerikaner findet, ist diese Börse der
absolut demokratischen Meinungsfreiheit.
Kein einzelner Mann versteht die Vereinigten Staaten.
Ich traf manche Herren, die das angeblich taten. Ich habe
manche Geschäftsleute getroffen, die glaubten, sie ganz
allein besäßen das Verständnis für die Angelegenheiten der
Vereinigten Staaten ; aber ich weiß genug, um zu wissen,
daß sie das nicht besitzen. Bildung und Wissen hat not-
wendigerweise die nützliche Wirkung, die Kreise des eige-
nen Egoismus zu verengern. Kein Student beherrscht seinen
Stoff. Er weiß bestenfalls, wo er die Dinge erfahren und
ausfindig machen kann, die seine Materie angehen und die
er nicht kennt. Das ist auch die Lage des Staatsmannes.
Kein Staatsmann versteht das ganze Land. Und er sollte
es sich zur Aufgabe machen, herauszufinden, wo er die
notwendigsten Aufschlüsse erlangt, um wenigstens einen
Teil des Landes zu verstehen, wenn er komplizierte Ge-
schäfte erledigen will. Wir bedürfen einer allgemeinen
Wiedererweckung der gemeinsamen Beratung.
Ich habe manchmal über das Fehlen einer öffentlichen
Meinung in unseren Städten nachgegrübelt und habe ein-
mal die Gewohnheiten eines Großstädters mit denen eines
Landbewohners in einer Weise verglichen, die mir viel
loo
Vorwürfe eintrug. Ich schilderte, was ein Städter gewöhn-
lich tut, wenn er in einen Eisenbahnwagen oder in einen
Straßenbahnwagen kommt oder sich in einem öffentlichen
Lokal niederläßt. Er spricht mit keinem Menschen, aber er
versenkt seinen Kopf in eine Zeitung und spürt alsbald eine
Reaktion, die er seine Meinung nennt, die aber durchaus
keine Meinung ist, sondern nur der Eindruck, die eine
Nachricht oder ein Leitartikel auf ihn gemacht hat. Man
kann von ihm nicht sagen, daß er an der öffentlichen Mei-
nung überhaupt teilhat, solange er nicht seine Anschau-
ung an der des Nachbarn gemessen und mit ihm die Zwi-
schenfälle des Tages und die Strömungen der Zeit erörtert
hat. In Ungelegenheiten aber geriet ich, als ich einen Ver-
gleich wagte. Ich sagte, die öffentliche Meinung drücke
sich nicht in den Straßen einer emsigen Stadt aus, sondern
man fände sie am Kamin des Dorfladens, wo Männer bei-
sammensitzen, wahrscheinlich Tabak kauen und in eine
sandgefüllte Kiste spucken und erst dann einenEntschluß
fassen, wenn sie herausgebracht haben, was die Nachbar-
schaft über Menschen und Ereignisse denkt ; und dann
fügte ich unvermittelt die philosophische Betrachtung hin-
zu, daß, was immer man auch gegen das Tabakkauen her-
-vorbringen möge, zumindest eines dafür gesagt werden
könne: es gäbe einem Menschen Zeit, zwischen seinen
Sätzen nachzudenken. Seitdem werde ich stets, ganz be-
sonders in den Annoncen von Tabakgeschäften, als ein
Vorkämpfer des Kautabakes gepriesen. Der Grund, daß
manche Städter in ihren Gedanken nicht vorurteilsfreier
sind, liegt darin, daß sie nicht an der Meinung des Landes
teilnehmen ; und der Grund dafür, daß manche Leute vom
Lande verbauern, liegt darin, daß sie nicht die Meinung
der Stadt kennen ; beide werden durch ihre Beschrän-
kung beeinträchtigt. Ich hörte kürzlich von einer Frau,
die ihr ganzes Leben in einer Großstadt und zwar in
lOI
einem Hotel verlebt hatte. Im vergangenen Sommer ging
sie zum erstenmal aufs Land und verbrachte eine Woche
in einem Bauernhaus. Als man sie später fragte, was sie
an ihrem Landaufenthalte am meisten interessiert habe,
antwortete sie, daß es sie am meisten gefesselt habe, den
Bauer ,, seine Kühe bedienen" zu sehen. Das ist eine sehr
höfliche Betrachtung eines im ländlichen Leben alltäg-
lichen Vorganges, und doch zeigt ihre Ausdrucksweise die
scharfe und unelastische Begrenzung ihres Denkens. Sie
war höchst provinziell ; sie dachte noch enger als in der
Sprache einer Stadt: sie dachte in der Ausdrucksweise
des Hotels. In dem Maße, in dem wir in die Wände eines
Hotels oder einer Stadt oder eines Staates eingeschlossen
sind, sind wir provinziell. Für die Wohlfahrt unseres Lan-
des können wir nichts Besseres tun, als die verschiedenen
Gemeinden zu veranlassen, zu den Beratungen der Nation
Stellung zu nehmen. Die wirklichen Schwierigkeiten unse-
res nationalen Lebens haben darin ihren Ursprung, daß zu
wenige wahrnahmen, daß die Angelegenheiten, die wir er-
örterten, öffentliche Angelegenheiten der Allgemeinheit
waren. Wir redeten, als müßten wir heute diesem und mor-
gen jenem Teile des Landes gerecht werden ; als gelte es
heute diesem Interesse und morgen jenem. Und man schien
dabei zu vergessen, daß diese Interessen alle miteinander
verknüpft sind und miteinander in Beziehung stehen.
Wenn du erfahren willst, was den Strom auf seinem
Wege zum Meere so groß werden ließ, so mußt du den
Strom hinauffahren. Du mußt zu den Hügeln hinaufwan-
dern und in die Wälder zurück, um die kleinen Bäche, die
kleinen Flüsse zu erspähen, die sich an verborgenen Stät-
ten vereinigen, um sich als gewaltiger Strom ein Bett zu
graben. Und so ist es mit dem Werden der öffentlichen
Meinung : drinnen im Lande, auf den Bauernhöfen, in den
Läden, in den Dörfern, in den Wohnungen der Großstadt,
102
in den Schulhäusern, überall, wo Menschen zusammen-
treffen und gegeneinander freimütig und wahr sind, dort
ist es, wo die Bäche und Flüsse ihrem Urquell entspringen,
um einst die mächtige Kraft jenes Strome^ zu bilden, der
alle menschlichen Unternehmungen auf seinem Zuge zu
dem großen gemeinsamen Meere der Menschheit trägt
und treibt.
Wie lebendig spürt man die Anteilnahme und das Stre-
ben des gewöhnlichen Mannes. In jeder Versammlung
könnte ich sofort auf jene Leute zeigen, die die Sorglosig-
keit des Glückes kennen : sie kommen, um sich den Redner
anzusehen. Aber in jeder Menge gibt es auch Männer, die
das nicht tun ; das sind Menschen, die erwartungsvoll lau-
schen, als harrten sie, ob irgendein Mund aussprechen
wird, was ihr eigenes Herz und ihren Sinn bewegt. Es tut
einem weh zu denken, daß man vielleicht nicht imstande
sein wird, diese Hoffnungen zu erfüllen ; und man fragt
sich voll Sorge, ob diese Menschen vielleicht etwas erseh-
nen, von dem man nichts weiß und das man nicht mitemp-
finden kann. Und man bittet Gott, daß er einen durch ir-
gend etwas ahnen und mitfühlen lassen möge, was diese
stillen Männer bewegt, damit das ganze Volk endlich frei
von dieser dumpfen, bangen Erwartung werde und emp-
finde, daß keine unsichtbaren Gewalten es von einem Ziele
zurückdrängen. Damit alle fühlen, daß es eine Hoffnung
und ein Vertrauen gibt und daß Schulter an Schulter der
Weg von all jenen beschritten werden kann, die Brüder
sind, die keine Klassenunterschiede und keinen selbstsüch-
tigen Ehrgeiz kennen und sich zu einem gemeinsamen
Streben verbündet haben.
Die Sorge, die auf dem Herzen jedes gewissenhaften
Politikers oder Beamten lastet, ist der Gedanke, daß er
vielleicht die Wünsche und Notwendigkeiten des nationa-
len Lebens nicht tief genug erfaßt hat. Denn es ist eine Tat-
103
Sache, daß kein einzelner Mensch sie in ihrer Gesamtheit
begreift. Der ganze Zweck der Demokratie ist, daß wir mit-
einander beraten, daß wir nicht von dem Verständnis eines
einzelnen Mannes abhängen, sondern vom Rat aller. Denn
nur wenn viele Menschen gehört werden und ihre Bedürf-
nisse und Interessen darlegen dürfen, nur dann können die
vielfältigen Interessen eines großen Volkes zu einer Politik
zusammengeschweißt werden, die allen gerecht wird.
In steter Berührung mit erzieherischen Aufgaben habe
ich immer wahrgenommen, daß der Hauptzweck der Bil-
dung darin beruht, das Verständnis zu erweitern, um so
viele Dinge als möglich zu umfassen. Dabei handelt es sich
nicht um das, was ein Mensch weiß — denn kein Mensch
weiß sehr viel — , sondern um das, was ein Mensch aus
seiner Fähigkeit des Verstehens herausholen kann ; es ist
seine Fähigkeit, Dinge zu begreifen, es ist sein Zusammen-
hang mit der großen Masse der Menschen, die ihn dazu ge-
eignet macht, für andere zu sprechen — und nur das. Ich
habe einige der Herren kennen gelernt, die mit Sonder-
interessen unseres Landes verknüpft sind (und viele dieser
Männer sind ausgezeichnete Menschen), aber zu meinem
Glück kam ich auch mit einer großen Anzahl anderer Leute
in Berührung; ich habe meine Bekanntschaft nicht auf
jene interessanten Gruppen beschränkt, und so kann ich
jenen Herren manches sagen, was herauszufinden sie keine
Zeit hatten. Es war mein großes Glück, daß mein Kopf
nicht in besonderen Unternehmungen beerdigt wurde, und
darum habe ich auch gelegentlich einen Blick auf den Hori-
zont werfen können. Auch entdeckte ich schon vor langer
Zeit, schon in den Tagen, da ich noch ein Junge war, daß
die Vereinigten Staaten nicht nur auG jenem Teile bestehen,
in dem ich lebte. Es gab eine Zeit, in der ich ein recht eng-
herziger Provinziale war, aber glücklicherweise fügten es
die Umstände meines Lebens, daß ich nach einem sehr
104
entfernten Teil des Landes übersiedeln mußte ; so wurde
ich früh gewahr, wie beschränkt meine Kenntnis der Ver-
einigten Staaten war. Und ich entdeckte, daß der einzige
Weg, auf dem ich Gefühl und Verständnis für die Ange-
legenheit der Vereinigten Staaten erlangen konnte, nur
der sein durfte, der mich so viel Teile der Vereinigten Staa-
ten als möglich kennen lernen ließ.
Die Männer, die Amerika regiert haben, müssen sich
dazu bequemen, die Mehrheit mitwirken zu lassen. Wir
können unverbessert kein System fortbestehen lassen, das
sich auf private Verständigungen und auf die Aussage we-
niger Fachleute stützt; wir können die einzelnen nicht
länger über die Politik dieses Landes bestimmen lassen.
Es handelt sich um offenen Zutritt zu unserer Regierung.
Es gibt unter uns nur sehr wenige, denen die Regierung
der Vereinigten Staaten wirklich zugänglich war. Die Re-
gierung aber soll eine Angelegenheit gemeinsamen Urteils
sein, eine Angelegenheit gegenseitigen Rates, eine An-
gelegenheit gegenseitigen Verstehens.
Und darum muß die Luft durch stete Erörterungen klar
erhalten werden. Jedem öffentlichen Angestellten muß das
Bewußtsein gegeben werden, daß er öffentlich handelt und
daß jeder ihm zusieht ; vor allem aber sollten alle Bürger
jene großen grundlegenden Lebensfragen, von denen po-
litische Programme handeln, immer wieder aufgreifen,
durchleuchten und durch Diskussion klären und immer
wieder nachprüfen. Dann werden wir eine reine Atmo-
sphäre haben, in der wir den Weg zu jeder Art sozialer Ver-
besserung klar erkennen können. Wenn wir unsere Regie-
rung befreit haben, wenn wir dem Unternehmungsgeist
wieder Bahn schaffen, und wenn wir die Teilhaberschaft
von Geld und Macht, die uns jetzt bei jedem Schritte ent-
gegentritt, gebrochen haben, dann werden wir den Weg vor
uns liegen sehen, auf dem all jene schönen Dinge erfüllt
105
werden können, die jetzt nur in Programmen verkündet
werden.
Ich fürchte mich nicht davor, daß das amerikanische
Volk sich erhebt und etwas vollbringt ; ich fürchte nur, daß
das nicht geschieht. Und wenn ich höre, daß eine allge-
meine Abstimmung das Regime des Pöbels genannt wird,
so fühle ich nur, daß der Mann, der so zu sprechen wagt,
nicht das Recht hat, sich Amerikaner zu nennen. Aus der
Masse eines nüchternen Volkes, das in einem freien Lande
seinen Lebensunterhalt verdient, kann man nicht eine sinn-
lose, leidenschaftliche Gewalt machen. Man vergegenwär-
tige sich das Volk dieses großen Landes, wie es von der
Meeresküste bis zu den Abhängen der Berge ruhig Mann
um Mann zur Wahlurne geht, um sein Urteil über öffent-
liche Angelegenheiten abzugeben: ist das ein Abbild des
,, Pöbels" ? Was ist ein Pöbel ? Ein Pöbel ist eine Masse von
Menschen, die in hitziger Berührung miteinander stehen
und die durch unbeherrschte Leidenschaften dazu getrie-
ben werden, unüberlegt etwas zu tun, was sie am nächsten
Tage bedauern werden. Wo gewahrt man eine Ähnlichkeit
mit dem Pöbel in jener zur Abstimmung schreitenden
ländlichen Bevölkerung, in jenen Männern, die über Berge
ziehen, oder in jenen Leuten, die sich im Dorfe im Laden
treffen, oder in jenen bewegten kleinen Gruppen an der
Ecke des Gemüsekrämers, in all jenen Menschen, die ihre
Stimme und ihre Meinung abgeben ? Ist das ein Abbild des
Pöbels oder ist das ein Abbild eines freien, sich selbst re-
gierenden Volkes ? Ich fürchte mich vor den Urteilen, die
auf diesem Wege zustande kommen, nicht, ich fürchte
keine Urteile, bei denen den Menschen Zeit zur Überlegung
gelassen wurde und bei der sie sich eine klare Vorstellung
der Angelegenheit bildeten, über die sie abstimmen sollten.
Denn es ist die tiefste Überzeugung und der leidenschaft-
liche Glaube meines Herzens, daß dem einfachen Volke,
io6
mit dem ich uns alle meine, unbedingt vertraut werden
kann.
Und so ist es denn bei Beginn des neuen Zeitalters, in
diesen Tagen der Unruhe und der Unzufriedenheit, unsere
Aufgabe, die Luft zu klären und alle zu gemeinsamer Be-
ratschlagung zusammenzurufen. Es ist unsere Aufgabe,
das Parlament des Volkes aufzurichten und zu beweisen,
daß wir keine Menschen bekämpfen, daß wir versuchen,
alle Menschen dazu zu bringen, einander gegenseitig zu
verstehen. Wir sollen zeigen, daß wir nicht die Freunde
irgendeiner Klasse, nicht die Feinde irgendeiner anderen
Klasse sind, sondern daß es unsere Pflicht ist, zur Verstän-
digung aller Klassen beizutragen. Unter dem Banner der
Gemeinsamkeit müssen wir uns zusammenfinden. Gemein-
sames und gegenseitiges Verstehen, Gerechtigkeit für alle
führen die Menschen, die Hoffnungen nähren und in die
Zukunft blicken, unter diesem Banner zusammen. All
jene, die die Überzeugungen Amerikas im Herzen tragen,
daß für die Freiheit, die wir lieben, ein neuer Tag der Er-
füllung heraufdämmert.
107
Sechstes Kapitel
Laßt Licht herein
Es ist die Sorge patriotischer Männer, unsere Regie-
rung dadurch wieder auf ihre richtige Grundlage zu
stellen, daß sie das System der Vormundschaft durch den
Willen des Volkes und die Methode der heimlichen Ab-
machungen durch die gemeinsamer Beratschlagung er-
setzen. Um das zu ermöglichen, müssen zuvörderst alle Tore
weit geöffnet und zu allen jenen Angelegenheiten, von de-
nen unterrichtet zu sein das Volk ein Recht hat, Licht her-
eingelassen werden.
In erster Linie ist es notwendig, alle politischen Vor-
gänge der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie wa-
ren allzu geheim, zu kompliziert und zu umständlich ;
sie bestanden zu sehr aus persönlichen Besprechungen und
heimlichen Abmachungen ; sie waren zu sehr dem Einfluß
von Männern zugänglich, die der Legislatur nicht ange-
hören, aber vor ihren Pforten standen, ihr diktierten und
oft durch sehr fragwürdige Mittel, deren Anwendung sie
selbst im Traume der Öffentlichkeit nicht preisgeben wür-
den, die Macht an sich gerissen hatten. Dieser ganze Pro-
zeß muß umgewandelt werden. Wir müssen beispielsweise
die Auswahl der Kandidaten für Beamtenstellen einer
kleinen Gruppe von Leuten abnehmen; denn bislang lag
diese Auswahl in den Händen kleiner Koterien, lag aus-
schließlich in der Gewalt der hinter verschlossenen Türen
waltenden politischen ,, Maschinen". Wir müssen das Be-
stimmungsrecht über die Aufstellung von Kandidaten wie-
io8
der in die Hände des Volkes zurücklegen; und der Weg
dazu sind direkte Vorwahlen und Wahlen, zu denen Kan-
didaten aller Arten und aller Fähigkeiten freien Zutritt
haben. An die Stelle der heimlich arbeitenden Maschinen
muß die Öffentlichkeit treten.
Dann muß der Gesellschaft das Bestimmungsrecht über
ihr eigenes wirtschaftliches Leben zurückgegeben und
jenen verweigert werden, die hinter den Kulissen die gro-
ßen Transaktionen modernen Handels leiten, welche einst in
den Händen von Männern lagen, die nur ihr eigenes Kapi-
tal und ihre eigene persönliche Tatkraft in ihren Unterneh-
mungen arbeiten ließen. Die Aktionen des Großkapitals
müssen der Öffentlichkeit im gleichen Maße unterliegen
wie die Führung der Politik. Diejenigen, welche die großen
modernen Kapitalsanhäufungen, die durch die Ausgabe
und den Verkauf von Aktien und Obligationen zusammen-
gebracht wurden, verwenden, ausnützen und Reserven an-
häufen, müssen als der Öffentlichkeit Rechenschaft schul-
dig gelten; sie müssen für ihre Betriebsmethoden und
Geschäftsmethoden jenen großen Gemeinschaften, die tat-
sächlich ihre Mitarbeiter sind, verantwortlich sein, auf daß
die regulierende Hand sie leicht erreichen kann und ihr
ganzes Handelsgebäude ein neues Gefühl der Verantwort-
lichkeit durchzieht.
Was sind in der Politik die richtigen Methoden? Die
richtige Methode ist die der öffentlichen Diskussion, ist die
Führerschaft unter freiem offenen Himmel, wo alle Augen
die Führer sehen und beurteilen können ; aber die Methode
der ,,Aufsichtsräte", die hinter verschlossenen Türen ta-
gen, gehören nicht dazu. Wenn es nichts zu verbergen gibt,
wozu die Verborgenheit ? Wenn es eine öffentliche Ange-
legenheit ist, warum sie heimlich behandeln? Wenn es
öffentliche Sorgen gilt, warum nicht hinaus mit ihnen in
die frische Luft ? Angekränkelte Politik darf nicht anders
behandelt werden als heute Tuberkulose behandelt wird :
man lasse die Kranken in der frischen Luft leben. Und
nicht nur ihre Tage sollen sie im Freien verbringen, im
Freien mögen sie auch schlafen, unausgesetzt sollen sie
im Freien weilen, wo sie allen erfrischenden, stärkenden
und verjüngenden Einflüssen erreichbar sind.
So hege ich auch die Überzeugung, daß alles Regieren
im Freien und nicht hinter verschlossenen Türen voll-
bracht werden sollte. Ich für meine Person glaube, daß
es keine Stätte geben sollte, an der irgend etwas geschehen
kann, ohne daß ein jeder davon erfährt. Manchen würde
das wahrscheinlich unbequem sein, aber schon allzulange
wurden solche Empfindlichkeiten berücksichtigt. Es mag
sein, daß manche Männer ungerecht verdächtigt werden ;
dann schulden sie es sich selbst, hervorzutreten und im
freien Tageslicht zu handeln. Schon die Tatsache, daß auf
dem Gebiete der Politik und des Regierungswesens soviel
im Dunkel und hinter verschlossenen Türen geschieht,
fördert das Mißtrauen. Jeder weiß, daß die Korruption an
geheimen Stätten gedeiht und das Tageslicht scheut ; und
der Gedanke, daß von der Heimlichkeit zur Unzulässigkeit
nur ein Schritt ist, muß sich aufdrängen. Und darum
schulden unsere ehrlichen Politiker und unsere Trustleiter
es ihrem eigenen Rufe, ihre Tätigkeit ins Freie zu verlegen.
Jedenfalls aber werden diese Angelegenheiten, ob es
nun vielen gefällt oder nicht gefällt, ins Freie gebracht
werden. Wir sind um den Ruf jener Männer noch besorg-
ter als sie selbst, wir sind um sie zu besorgt, als daß wir
sie noch länger der Gefahr ausgesetzt sehen möchten, den
Versuchungen der Heimlichkeit zu erliegen. Man weiß, wie-
viel Versuchungen Einsamkeit und Heimlichkeit bergen.
Hast du das nie erfahren ? Ich weiß es. Nie sind wir in un-
serem Verhalten so angemessen als dann, vvenn jedermann
genau beobachten kann, was v/ir tun. Wenn du fern in
HO
einem entlegenen Weltteil weilst und das Gefühl hast, daß
im Umkreis einer Meile niemand weilt, dann kommen
Zeiten, in denen du deine Gewohnheiten und deine Ma-
nieren vernachlässigst. Du sagst dir: ,, Jetzt werde ich es
mir aber einmal bequem machen ; kein Mensch erfährt et-
was davon." Wärest du in der Sahara, so würdest du das
Gefühl haben, daß du dir — nun, sagen wir, eine gewisse
kleine Lässigkeit in deinem Benehmen gestatten kannst.
Aber sobald du siehst, daß aus einer anderen Himmelsrich-
tung einer deiner Nachbarn auf seinem Kamele auf dich
zukommt — du würdest dich ,, benehmen", bis er wieder
außer Sehweite ist. Es gehört zu den gefährlichsten Dingen
der Welt, in Gegenden zu geraten, wo kein Mensch dich
kennt. Ich rate dir, in der Nähe der Nachbarn zu bleiben,
dort wirst du auch Konflikte mit den Gesetzen vermeiden.
Es ist der einzige Weg, der manche vor dem Gefängnis be-
wahrt. Öffentlichkeit ist eines der reinigenden Elemente der
Politik. Wenn irgendwo irgend etwas aus dem Geleise ge-
raten ist und sich verbogen hat, so bleibt das beste, was du
tun kannst : trage es dorthin, wo es gesehen wird. Es wird
sich entweder wieder strecken oder verschwinden. Nichts
verhindert alle Arten politischer Mißbräuche sicherer und
besserer als Preisgabe an die Öffentlichkeit. Im hellen Ta-
geslicht vermagst du nichts Unrechtes zu tun. Ich weiß
nicht, ob du das je versuchtest ; aber auf Grund von Beob-
achtungen wage ich es zu behaupten : es geht nicht.
Darum hat sich das Volk der Vereinigten Staaten ent-
schlossen, etwas zu tun, was der Politik und den großen
Trusts sehr gesund sein wird. Man gestatte mir ein paar
bunte Gleichnisse : man wird die Türen öffnen, die Fenster-
läden zurückschlagen und alles Kranke hinaus in die
frische Luft und ins Sonnenlicht bringen. Man wird eine
große Jagd organisieren und gewisse Tiere ausräuchern.
Man wird die Bestie in seinem Jagdreviere aufstöbern, wo
III
man bisher, wenn man jagte, von der Bestie gefangen
wurde, statt sie zu fangen. Darum hat sich das Volk
entschlossen, Axt und Säge zu ergreifen, das Dickicht
niederzulegen und dann zu sehen, wo das Tier seinen Un-
terschlupf hat. Ich für meine Person kann die Allgemein-
heit dabei nur antreiben. Denn das Dickicht birgt nur An-
steckungsgefahren und beherbergt nur Feinde der Men-
schen. Und niemand wird dabei gefangen werden außer den
Raubtieren. Nichts soll niedergelegt und zerstört werden,
was jeder erhalten zu sehen wünschen muß.
Man kennt die Geschichte jenes Iren, der ein Loch
grub und gefragt wurde : ,,Na, Pat, was machst du denn
da? — gräbst du ein Loch?" und er antwortete: ,,Nein,
Herr, ich grabe die Erde weg und lasse das Loch.** Das
war vermutlich derselbe Ire, den man an der Mauer eines
Hauses graben sah und fragte: ,,Na, Pat, was machst du
da?" Und er antwortete: ,,Nun, ich lasse die Finsternis
aus dem Keller." Das ist unsere Aufgabe: wir wollen die
Finsternis aus den Kellern herauslassen.
Man betrachte zunächst die Beziehungen zwischen der
Politik und dem Geschäftsleben. Es ist natürlich durch-
aus angebracht, daß die Geschäftsinteressen des Landes
nicht allein den Schutz 'der Gesetze genießen, sondern
auch in jeder Weise durch die Gesetzgebung gefördert, ge-
stärkt und ermuntert werden. Das Volk hat nichts gegen
eine Verbindung zwischen dem Geschäftsleben und der Po-
litik einzuwenden, solange diese Verbindung angemessen
ist. Es ist den offenen Bestrebungen, die Gesetzgebung der
wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen, nicht im ge-
ringsten abgeneigt, hat diese Entwicklung doch dem Land
in allem, was es erreichte, neues Leben und neue Mög-
lichkeiten geschaffen.
Aber anders liegen die Dinge mit den ungerechtfertig-
ten Beziehungen zwischen Politik und Geschäft. Ich
112
möchte über dieses Thema nüchtern und vorsichtig spre-
chen. Ich hege nicht den Wunsch, Erbitterung gegen ir-
gendwen hervorzurufen. Das wäre leicht, würde aber kei-
nen Nutzen stiften. Ich möchte lieber über eine unglück-
liche Situation in einer Weise sprechen, die es uns ermög-
licht, ihr bis zu einem gewissen Grade gerecht zu werden
und uns auf diesem Wege vielleicht Ursachen und Heil-
mittel finden läßt. In einer so verwickelten Frage wie in
der der Verknüpfung des Geschäftslebens mit Mißständen
amerikanischer Politik nutzt eine einfache Anklage nicht
viel. Jedermann spürt dunkel, daß die politische Maschine
gewisse sehr bestimmte Beziehungen zu Männern hat, die
im Großhandel tätig sind, und der Verdacht, der sich gegen
die Maschine selbst richtete, hat sich auch gegen die Ge-
schäftsunternehmungen zu richten begonnen, weil man
wußte, daß Beziehungen vorhanden sind. Wenn diese Ver-
bindungen offen vor aller Augen lägen und jedermann
genau wüßte, welches Ziel sie verfolgen, dann wäre es
nicht schwer, alle diese Vorgänge zu überblicken und durch
die öffentliche Meinung zu überwachen. Aber unglück-
licherweise ist die ganze Aktion, aus der in Amerika Ge-
setze hervorgehen, sehr dunkel und schwer zu übersehen.
Es gibt keine breite Landstraße der Gesetzgebung, aber es
gibt viele Seitenpfade. In unseren Legislaturen sind die
Parteien nicht derart organisiert, daß irgendeine bestimmte
Gruppe von Männern für die Taten der Gesetzgebung ver-
antwortlich gemacht werden kann. Alle Beratungen und
Erörterungen — falls Diskussionen überhaupt gepflogen
werden — vollziehen sich im geheimen und bleiben dem
Blicke und der Kenntnis der Öffentlichkeit entzogen. In-
nerhalb der Kreise gibt es so viele Kreise und zur Legis-
latur führen so viel indirekte und geheime Wege, daß un-
sere Gemeinwesen sich während der Session der Parla-
mente immer unbehaglich fühlen. Dieser Wirrwarr, diese
8 113
Undurchsichtigkeit und Heimlichkeit unserer gesetzgebe-
rischen Methoden schaffen den politischen Maschinen Ge-
legenheiten, die allzu leicht zum Diebe machen. Es gibt
keine der Öffentlichkeit bekannte und verantwortliche
Männer oder Gruppen von Männern, von denen man weiß,
daß sie die Gesetze formulieren und sich um diese Gesetze
vom Tage der Einbringung bis zu ihrer endgültigen An-
nahme bekümmern. Dadurch wurde es möglich, daß eine
außenstehende Kraft sich die Rolle des Herrschers an-
maßte. Es ist die politische Maschine, die Körperschaft
jener Männer, die die Abgeordneten bestimmten und für
ihre Kandidaten den Wahlkampf führten. Geschäftsleute,
die irgendeine Änderung an den bestehenden Gesetzen
wünschten oder die Genehmigung von ihren Interessen
gefährlichen Gesetzen verhindern wollten, wußten, daß
sie sich an diese bestimmte Gruppe von Männern wenden
konnten und trafen mit ihnen ihre Abmachung. Sie er-
klärten sich bereit, ihnen Geld zur Führung des Wahl-
feldzuges zu geben, sie erklärten sich bereit, in allen an-
deren Fällen, da Geld notwendig werden könnte, einzu-
springen, wenn andererseits die Maschine es übernehmen
wolle, ihnen in Dingen der Gesetzgebung Schutz und Hilfe
zu leisten. Die Legislatur erwartete von einem bestimm-
ten Manne, der nicht einmal ein Mitglied des Parlamentes
war, die Weisung, was mit einzelnen Gesetzen geschehen
sollte. Als Zentrum jeder Parteiorganisation war die Ma-
schine das gegebene Mittel zur Herrschaft und alle Leute,
die bestimmte Geschäftsinteressen zu verfolgen haben,
wandten sich naturgemäß an diese Stelle, an der Macht
und Einfluß zusammenliefen.
An alledem hätte nichts Unheilvolles zu sein brauchen.
Wenn alles offen und ehrlich und ohne Hintergedanken
vor sich gegangen wäre, würde sich die öffentliche Kritik
wohl nie damit beschäftigt haben. Aber die Hantierung
114
mit Geld führt stets zur Demoralisierung und auf dem
Wege über die Demoralisierung zur wirklichen Korrup-
tion. Es gibt zwei Arten von Korruption. Das eine ist die
grobe und plumpe Art, die mit direkten Bestechungen ar-
beitet ; die andere Art aber ist jene viel geschicktere und
gefährlichere Korruption, die den Willen korrumpiert.
Geschäftsleute, die es versuchten, mit Hilfe der Maschine
politischen Einfluß zu erlangen, verfielen immer mehr
einer Selbsttäuschung: sie begannen sich zu sagen, das
ganze Verfahren sei für sie ein notwendiges Mittel der
Selbstverteidigung und behaupteten, es handle sich um
eine unvermeidbare Folge unseres politischen Systems.
Nachdem sie auf diese Weise ihr Gewissen beruhigt hatten,
glitten sie von einer Erfahrung zur anderen, von einem
Versuche zu neuen, bis die moralische Seite der Angele-
genheit hoffnungslos verwirrt und verschleiert war. Wie
weitab von den Idealen ihrer Jugend sind viele unserer Ge-
schäftsleute geraten, die diesem verderblichen System an-
heimfielen; wie weitab von jenen Tagen ihrer schönen
jungen Mannheit, da ihre Rüstung jene ,,Schamhaftig-
keit der Ehre" war, die einen Flecken gleich einer Wunde
empfand.
Es ist ein glücklicher Umstand unserer Tage, daß die
Klügsten unter unseren großen Geschäftsleuten sowohl
die Irrtümlichkeit als die Unmoral dieser schlimmen Ver-
hältnisse erkannt haben. Das Bündnis zwischen Geschäft
und Politik war ihnen eine Last ; es war ihnen gewiß manch-
mal von Vorteil, aber von einem sehr fragwürdigen Vor-
teil, der schwer bezahlt werden mußte. Es verlieh ihnen
große Macht, aber es legte ihnen auch das Joch einer Art
von Sklaverei auf und brachte sie in eine unmittelbare Ab-
hängigkeit von den Politikern. Sie verlangen nicht weni-
ger danach, von diesen Banden befreit zu werden, als
das Land danach verlangt, die Einflüsse und Methoden,
»• 115
die sich in diesem System verkörperten, abzuschütteln.
Führende Geschäftsleute sind heute gewichtige Faktoren in
der Befreiung unseres Landes von einem System, das vom
Schlechten zum Schlimmeren führte. Natürlich gibt es auch
andere, die mit den alten Praktiken zu eng verknüpft sind
und bis zum letzten für sie eintreten werden ; aber sie wer-
den zur Minderheit herabsinken und überwunden werden.
Die übrigen haben erkannt, daß die alte Ausrede (es sei
notwendig, sich gegen eine ungerechte Gesetzgebung zu
verteidigen), nicht länger eine stichhaltige Ausrede ist;
und sie wissen, daß es einen besseren Weg der Selbstver-
teidigung gibt als den der heimlichen Anwendung von
Geld. Dieser bessere Weg besteht aber darin, die Öffentlich-
keit ins Vertrauen zu ziehen, alle Beziehungen mit den
gesetzgebenden Körperschaften und ihren Mitgliedern of-
fen darzulegen und über beide das Publikum urteilen zu
lassen, über die Geschäftsleute und über die Mitglieder der
Legislatur, mit denen sie zu tun haben.
Diese Entdeckung einer Tatsache, die schon längst auf
der Hand lag, zeigt den Weg, den eine Reform einschlagen
muß; unzweifelhaft ist breiteste Öffentlichkeit für diese
Art politischer und wirtschaftlicher Übelstände ein fast
sicher wirkendes Heilmittel. Aber solange unsere Metho-
den der Gesetzgebung so verschleiert, verworren und ge-
heim sind, wird es sehr schwer werden, Öffentlichkeit zu
erreichen. Ich glaube, es wird immer deutlicher zutage tre-
ten, daß das Mittel zur Reinigung unserer Politik deren
Vereinfachung ist ; und diese Vereinfachung wird erreicht,
indem man eine verantwortliche Führerschaft einsetzt.
Wir besitzen heute inmitten unserer gesetzgebenden Kör-
perschaften überhaupt keine Führerschaft, und jedenfalls
keine Führerschaft, die ausgeprägt genug wäre, um die
Aufmerksamkeit und die Wachsamkeit des Landes auf
sich zu ziehen. Denn unsere Führung liegt bei Leuten, die
ii6
außerhalb unserer Legislatur stehen und nicht verantwort-
lich sind ; und damit wird es selbst für die wachsamste öf-
fentliche Meinung außergewöhnlich schwierig, die weit-
schweifigen, zur Anwendung kommenden Methoden zu
ergründen und zu verfolgen. Diese Verhältnisse sind zwei-
fellos die Wurzel jenes in allen amerikanischen Gemein-
wesen wachsenden Verlangens nach einer verantwort-
lichen Führerschaft ; Menschen, die man kennt, die man
beobachtet und die das Land jederzeit zur Verantwortung
ziehen kann, sollen in Stellen gebracht werden, in denen
sie Autorität besitzen und bewahren. Durch eine wohl-
bedachte und fortschrittliche Gesetzgebung soll den An-
gelegenheiten der Nation gedient werden, aber das muß
auch offen, unbekümmert und nutzbringend geschehen;
dabei muß darauf geachtet werden, daß jedermann gehört
und jedes Interesse erwogen wird, sowohl das Interesse,
das über keine Kapitalshilfe verfügt, als auch jenes Inter-
esse, das diese Stütze besitzt ; alles das aber wird nur er-
reichbar werden, wenn wir unser ganzes System verein-
fachen und die Verwaltung der öffentlichen Angelegen-
heiten kleinen Gruppen bestimmter Männer anvertrauen,
die als Führer wirken : nicht auf Grund gesetzlicher Au-
torität oder eines Vorrechtes zum Befehlen, sondern auf
Grund ihrer Berührung und ihrer Fühlung mit der öffent-
lichen Meinung. Unsere gesetzgeberischen Methoden eignen
sich durchaus zu einer Reform, die darauf hinstrebt, jede
Handlung dem Lichte der Öffentlichkeit zugänglich zu
machen. Es wird in dieser Richtung möglich sein, in den
Verhandlungsräumen unserer Parlamente verantwortliche
Führerschaften zu bilden, auf daß die Öffentlichkeit er-
fahren könne, wer hinter jedem einzelnen Gesetze steht
und wer sich hinter der Opposition verbirgt. Und alle Maß-
nahmen werden dann statt in den Kommissionszimmern
in öffentlichen Sitzungen beraten werden. In alle Prozesse
117
der Erzeugung und Genehmigung von Gesetzen wird das
helle Licht des Tages dringen.
Die Gesetzgebung, wie wir sie heute handhaben, wird
nicht im Freien ausgeführt. Sie wird nicht in offener De-
batte im Sitzungssaal des Parlaments erörtert, sie emp-
fängt ihre Formen, ihre Billigung und ihre Durchführung
in den Kommissionszimmern. In diesen Kommissions-
zimmern verschwinden jene Gesetze, die den Sonderinter-
essen unwillkommen sind, und in jenen Kommissions-
zimmern werden die von den Sonderinteressen gewünsch-
ten Gesetze erzeugt und durchgebracht. In den meisten
Fällen gibt es im Plenum zu wenig Debatte, um die wahre
Bedeutung der vorgeschlagenen Maßnahmen klarzustellen.
In den Satzungen liegen verschwiegen, unerklärt und un-
angefochten Klauseln, die den ganzen Sinn und Zweck
des Gesetzes enthalten ; sie verbergen sich in Sätzen, die
kein öffentliches Interesse erwecken, in beiläufigen De-
finitionen, die keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, und
in Klassifizierungen, die so technisch sind, daß die All-
gemeinheit sie nicht versteht und die zu erklären oder zu
erläutern die wenigen Eingeweihten sich hüten. Erst wenn
diese Bestimmungen Gesetzeskraft erlangt haben und zur
Anwendung kommen, erst wenn sie vor den Gerichten die
Rechtsprechung beschäftigen, erst dann enthüllt sich Sinn,
Zweck und Absicht des ganzen Unternehmens. Jene aber,
die den Nutzen davon haben, sind dann längst hinter ihren
Bollwerken geborgen.
Diese Art der Kommissionsarbeit, dieses Schmieden
schwerverständlicher Sätze und diese Aufstellungen uner-
läuterter Klassifizierungen feiern naturgemäß ihre Haupt-
triumphe bei den Beratungen des ZoUtarifes. Nach der
Genehmigung des verderblichen Payne-Aldrich-Tarif es hat
das Volk begonnen, die in diesem Tarife versteckten Ab-
sichten und Zwecke zu verstehen. Von Fall zu Fall mußte
ii8
man immer klarer einsehen, wie tief und gründlich man
getäuscht und überlistet wurde. Und das geschah nicht
durch Zufall, das geschah planmäßig, das geschah auf
Grund eines genau ausgearbeiteten besonderen Planes.
Fragen, die im Abgeordnetenhaus oder im Senat gestellt
wurden, fanden keine wahrheitsgemäße Antwort, und so
zwang man dem Lande ein kunstvolles Maschenwerk von
Bestimmungen auf, die niemals Genehmigung gefunden
hätten, wenn sie allgemein verstanden worden wären.
Wir, die wir mit der politischen Maschine zu tun haben,
wir wissen es, daß die große Schwierigkeit auf dem Wege
zur Vernichtung des Einflusses des politischen Boß der Um-
stand ist, daß er durch das Geld und den Einfluß jener
Leute gestützt wird, die an jenen Bestimmungen ein In-
teresse haben. Nie wäre es möglich gewesen, in öffentlicher
Diskussion diesen Tarif Absatz um Absatz aufzubauen ;
und nie wäre er angenommen worden, wenn er, Bestim-
mung um Bestimmung, dem amerikanischen Volke erklärt
worden wäre. Er entstand auf Grund von Abmachungen
und auf Grund der geschickten Sachwaltung einer po-
litischen Organisation, die in dem Senat der Vereinigten
Staaten durch den ältesten Senator von Rhode Island und
im Repräsentantenhaus durch einen der Abgeordneten von
Illinois vertreten wurde. Diese Männer formten den Tarif
nicht etwa auf Grund des Materials, das der Kommission
der Wege und Mittel vorgelegt wurde und in dem die
Bedürfnisse der Fabrikanten und der Arbeiter, der Kon-
sumenten und der Produzenten der Vereinigten Staaten
dargelegt waren. Der Tarif wurde diesen Ansprüchen nir-
gends angepaßt. Er empfing seine Form auf Grund von Ver-
ständigung und Abmachungen, die außerhalb jener Zimmer
getroffen wurden, in denen die Aussagen gesammelt und
die Diskussion geführt wird.
Selbst in diesem Falle spreche ich nicht von einem
H9
korrupten Einfluß. Darauf will ich nicht hinaus. Korruption
in ihrem wörtlichen Sinn ist sehr schwer faßbar. Geldzah-
lungen sind leicht zu entdecken ; und die Männer, die auf
Grund geheimer Abmachungen die Sache der Sonderinter-
essen führen, würden auch nie einwilligen, auch nur einen
Dollar Geldes anzunehmen. Sie befolgen ihre eigenen
Grundsätze, d. h. jene Grundsätze, auf deren Basis sie den-
ken und handeln, und sie halten sich auch für vollkommen
ehrenhafte und unbestechliche Männer. Aber sie glauben
etwas, das ich nicht glaube und das offenbar das Volk dieses
Landes nicht glaubt, sie glauben, daß die Wohlfahrt des
Landes von den Abmachungen abhängt, die gewisse Par-
teiführer mit gewissen Geschäftsleuten treffen. Sie glau-
ben das, aber diese Anschauung braucht nur ausgespro-
chen zu werden, um verworfen zu sein. Die Wohlfahrt un-
seres Landes ist von unser aller Interessen abhängig und
kann nicht durch Abmachungen zwischen einzelnen Grup-
pen erreicht werden. Legt irgendeine Frage dem Lande
vor, setzt sie dem reinigenden Feuer der öffentlichen Er-
örterung aus: und sofort wird dieses System unmöglich.
Bisweilen kommt auch das vor. Man schlägt euch
irgendeine besondere gesetzliche Maßnahme vor. Sobald
das Parlament zusammentritt, wird ein entsprechender
Gesetzantrag eingebracht. Man überweist ihn der Kom-
mission. Nie wieder wird man etwas von ihm hören.
Was ist geschehen? Kein Mensch weiß, was geschehen
ist. Ich behaupte nicht, daß Bestechungen erfolgen, aber
ich weiß nicht, was erfolgt. Und nicht allein, daß wir
nichts darüber erfahren : wenn wir dringend werden und
Erkundigungen anstellen, dann sagt man uns, das sei nicht
unseres Amtes. Meine Antwort darauf lautet, daß es un-
seres Amtes ist; es ist Sache jedes einzelnen Bürgers im
Staate ; wir haben ein Anrecht darauf, die Geschichte jedes
Gesetzentwurfes in allen seinen Einzelheiten kennen zu
1,20
lernen. In Regierungsfragen gibt es keine berechtigte Heim-
lichkeit. Wenn eine Regierung unantastbar und in allen
ihren Schritten korrekt sein soll, muß sie in allen Dingen,
die sie berühren, öffentlich sein. Ich kann mir keinen Be-
amten oder Volksvertreter denken, der ein Geheimnis
kennte, das er dem Volke vorenthalten würde, wenn es die
Angelegenheiten des Volkes betrifft.
Ich kenne die Gedankengänge mancher jener Männer.
Sie sagen, die Einflüsse, denen sie nachgeben, seien voll-
auf berechtigt, würden aber nicht verstanden werden, wenn
sie unverhüllt dargelegt werden müßten. Nun, so leid es
mir tut, aber nichts, was nicht verstanden werden kann,
ist berechtigt. Wenn man es nicht angemessen erklären
kann, dann steckt irgendwo etwas, das überhaupt nicht
erklärt werden kann. Aus den Umständen des Falles er-
sehe ich : nicht was vorgeht, aber daß etwas Heimliches
vorgeht ; und immer, wenn einer jener Gesetzentwürfe zur
Kommission kommt, bringt ein heimlicher Einfluß die
Angelegenheit zum Stehen ; das Gesetz erblickt nie wieder
das Tageslicht, es sei denn unter dem Druck eines Presse-
feldzuges oder durch den Mut und die Auflehnung einiger
wackerer Mitglieder des Parlaments. Ich habe solche
wackeren Männer kennen gelernt. Ich könnte einige präch-
tige Beispiele anführen, in denen Männer als Vertreter des
Volkes von dem Vorsitzenden der Kommission Aufklärung
darüber verlangten, weshalb der Bericht über das Gesetz
ausbleibe ; und wenn sie das von dem Kommissionsvor-
sitzenden nicht erfahren konnten, stellten sie Nachfor-
schungen an und brachten das Gesetz schließlich durch,
indem sie drohten, die Gründe der Unterdrückung in öf-
fentlicher Sitzung zu enthüllen.
Das sind die Schleichpfade der Heimlichkeit, das sind
die Einflüsse, die sich zwischen das Volk und die Erfüllung
der ihm gemachten Versprechungen schieben. Das System
121
der Regierung durch heimliche Abmachungen beraubt das
Volk um seine Vertretung. Den Mitgliedern der gesetzgeben-
den Körperschaften muß klargemacht werden, daß öffent-
liche Angelegenheiten öffentliche Angelegenheiten sind. Ich
bin der Überzeugung, daß es in Fragen der Regierung eines
Volkes kein Geheimnis geben kann und daß es die Pflicht
jedes Beamten ist, seinen Mitbürgern so oft als nur mög-
lich zu berichten, was innerhalb seines Amtsbereiches sich
vollzieht. Denn es gibt keine gesündere Luft als die unein-^
geschränkte Öffentlichkeit.
Es gibt noch andere Regionen des modernen Lebens,
auf denen sich Mißstände entwickelt haben, die beseitigt
werden müssen. Man nehme z. B. die völlig unberechtigte
Erweiterung, die man dem Begriffe des Privateigentums
angedeihen ließ: zugunsten der modernen Korporationen
und Trusts. Von einer modernen Aktienkorporation kann
nicht in rechtmäßigem Sinne behauptet werden, daß sie
ihre Ansprüche und Rechte auf den Prinzipien des Privat-
eigentums aufbauen kann. Sie leitet ihre Ansprüche aus-
schließlich von der Gesetzgebung her. Sie verfügt über
diese Gesetzgebung zugunsten des Geschäftes und auf
Kosten der Allgemeinheit. Ihre Aktien oder Anteilscheine
sind weit verbreitet, gehen von Hand zu Hand, verbinden
eine Unmasse von Menschen zu flüchtigen Teilhaber-
schaften und bringen den einzelnen mit den Interessen
großer Gemeinschaften in Berührung. Sie ist ein Produkt
der Öffentlichkeit; sie läßt sich mit keiner regelrechten
Teilhaberschaft vergleichen und bietet keine Analogie für
die Anwendung der Bestimmungen, unter denen Privat-
eigentum geschützt und behandelt wird. Die Leitung sol-
cher Korporationen ist eine öffentliche und eine allge-
meine Angelegenheit und in einem sehr weitgehenden
Sinne jedermanns Angelegenheit. Das Arbeitsgebiet vieler
dieser Korporationen, die wir Public Service Corporations
122
nennen und die uns täglich unentbehrlich sind, weil sie
uns Verkehr, Licht, Wasser und Kraft liefern, — das Ar-
beitsgebiet solcher Korporationen ist ausgesprochen öffent-
lich und ihre Tätigkeit offenkundig eine öffentliche Ange-
legenheit; und darum können und müssen wir uns mit
ihren Transaktionen beschäftigen, um sie zu prüfen und
zu erörtern.
In New Jersey war sich das Volk hierüber seit langem
klar geworden und vor ein oder zwei Jahren verschafften
wir diesen Gedanken in der Gesetzgebung Geltung. Die in
Betracht kommenden Korporationen suchten der Gesetz-
gebung mit allen Mitteln zu trotzen. Sie sprachen von
einem Ruin — und ich glaube auch, sie glaubten, daß sie
in irgendeiner Weise geschädigt werden würden. Aber das
trat nicht ein. Und ich kann kaum sagen, wieviel Leute
in New Jersey zu mir sprachen: ,, Gouverneur, wir waren
Ihre Gegner ; wir glaubten nicht an die Dinge, die Sie voll-
bracht wissen wollten, aber nun, da sie vollbracht sind,
ziehen wir vor Ihnen den Hut. Das mußte geschehen, und
es schadete uns nicht im geringsten ; es stellte uns nur auf
eine vernünftige Grundlage und befreite uns von Verdacht
und Ungewißheit." Nun, da New Jersey den Kopfsprung
gewagt hat, ruft es den übrigen Staaten zu : ,, Kommt mit,
das Wasser ist schön!" Ich zweifle, ob die Männer, die heute
den bestimmenden Einfluß auf die Regierung der Ver-
einigten Staaten ausüben, wahrnehmen, wie sie mit jedem
neuen Jahre eine schlimmer werdende Atmosphäre von
Verdächtigungen erzeugen, in der das Geschäftsleben
schließlich nicht mehr atmen kann.
Und so halte ich es für das Gebot der Stunde, alle Wege
und Vorgänge der Politik und der öffentlichen Verwaltung
zu enthüllen und sie in ihrer ganzen Breite und Tiefe der
Öffentlichkeit zugänglich zu machen ; sie sollen jeder wir-
kenden Kraft und jeder im Gedankenleben des Volkes
123
vorherrschenden Meinung zugänglich sein. Der Gesellschaft
muß das Bestimmungsrecht über ihr eigenes wirtschaft-
liches Dasein wiedergegeben werden, nicht durch um-
stürzende Maßnahmen, aber durch eine stetige Anwendung
des Grundsatzes, nach dem das Volk ein Recht hat, Ein-
blick in diese Dinge zu nehmen und sie zu überwachen.
Wo immer eine öffentliche Handlung vollzogen wird, wo
immer Pläne entworfen werden, die die Allgemeinheit
betreffen, wo Unternehmungen gedeihen, die die öffent-
liche Wohlfahrt berühren, wo politische Programme for-
muliert werden, und wo man Kandidaten aufstellt, — an
allen diesen Stätten muß sich eine Stimme erheben und
mit dem göttlichen Willen des Volksvorrechts rufen : ,,Laßt
Licht herein!"
124
Siebentes Kapitel
Die Tariffrage
Jede politische oder wirtschaftliche Frage in den Verei-
nigten Staaten führt über kurz oder lang stets zu einem
Punkte zurück: zur Frage des Zolltarifs. Man kann ihr
nicht entgehen, welchen Weg man auch einschlägt. Der
Tarif steht zu anderen Fragen im gleichen Verhältnis wie
etwa der Bostoner Common*) inmitten der alten Anlage
jener schönen Stadt. Ich entsinne mich, einst im ,,Life" ein
Bild gesehen zu haben, auf dem ein Mann an der Tor-
schwelle eines Bostoner Bahnhofs stand und emen Bosto-
ner nach dem Weg zum Common fragte. ,, Folgen Sie ir-
gendeiner dieser Straßen," lautete die Antwort, ,, gleich-
viel in welcher Richtung." Im gleichen Verhältnis, in dem
der Common zu den gewundenen Straßen Bostons stand,
steht die Tariffrage zu allen wirtschaftlichen Problemen
des heutigen Amerika. Welche Richtung du auch ein-
schlägst, du mußt früher oder später zum Common kom-
men. In der Betrachtung der Tariffrage mag in der Mitte
begonnen werden.
Im Jahre 1828, als man vom Standpunkte unseres mo-
dernen Wissens so gut wie gar nichts von praktischer
Wirtschaftspolitik verstand, brachte man einen Zolltarif
durch, den man den ,, Tarif des Absehens" nannte, weil er
keinen Anfang, kein Ende und kein Ziel hatte. Kein Plan,
kein erkennbares Muster war zu entdecken. Es war, als
hätte man die Wünsche und Forderungen jedes einzelnen
*) Großer Park im Herzen der Stadt Boston.
125
Bürgers der Vereinigten Staaten aufs Geratewohl in einen
Korb geworfen und diesen Korb dann zum Mittelpunkt
einer gesetzgeberischen Handlung gemacht. Ein allgemei-
nes Gedränge war entstanden, und alle, die sich weit ge-
nug vordrängten, wurden in den einzelnen Positionen des
Tarifs berücksichtigt. Den überlegteren Männern jener
Tage blieb jener Vorgang ein Greuel, da niemand zum Füh-
rer wurde, den Wünschen und Bestimmungen eine Form
gab und den Versuch unternahm, aus dem Chaos ein
brauchbares System zu machen. Das war schlimm genug,
aber schließlich fand jeder offene Tür, durch die er seinem
Vorteil zustreben konnte. Es war ein offenes Rennen ; je-
der, der nach Washington kommen konnte und angab,
wichtige Handelsinteressen zu vertreten, vermochte sich
bei der Kommission der Wege und Mittel Gehör zu ver-
schaffen.
Heute liegen die Dinge anders. Die Kommission der
Wege und Mittel und das Finanzkomitee des Senats sind
in diesen verwickelten Zeiten durch lange Erfahrung dazu
gekommen, unter den Personen, deren Ratschläge sie für
Tarifgesetze entgegennehmen, Unterschiede zu machen.
An die Stelle jener unerfahrenen Bürger, die einst an den
Türen der beiden entscheidenden Kommissionen zu lär-
men pflegten, trat eine der interessantesten und fähigsten
Gruppen von Leuten, die je aus der Erfahrung irgendeines
Landes hervorgingen. Diese Vorsaaibesucher, die mit den
Abgeordne|;en Zwiesprach halten, sind Leute, die auf den
sie angehenden Gebieten über eine so gründliche Sach-
kenntnis verfügen, daß du es nicht wagen kannst, deine
Kenntnis mit der ihren rivalisieren zu lassen. Sie über-
wältigen dich mit ihrer detaillierten Sachkenntnis derart,
daß du nicht mehr erkennst, worin ihre Absichten bestehen.
Sie empfehlen die Abänderung irgendeiner unschuldigen
Stelle in irgend einen besonderen Absatz und erklären die
126
Sache so einfach und plausibel, daß du nicht erkennen
wirst, daß die kleine Änderung Millionen von Dollars be-
deuten, die von den Konsumenten mehr aufgebracht wer-
den sollen. Sie schlagen beispielsweise vor, die Kohle für
elektrisches Licht statt als ein Fuß lange Stücke als Zwei-
Fuß-Stücke anzusetzen — und du wirst kaum erkennen,
worin du überlistet wirst, weil du kein Fachmann bist.
Wenn du irgendeinen Fachmann die einzelnen Positionen
des gegenwärtigen Payne-Aldrich-Tarifes durchsehen läßt,
so wirst du erfahren, daß fast jede Zeile ihre Fußangel auf-
weist — ein kleines Wort, eine kleine Klausel, eine un-
verdächtige Einzelheit, die den Konsum.enten Tausende
kostet und doch gar nichts Besonderes bedeuten zu haben
scheint. Man hat alles vorher berechnet; man hat jede
Einzelheit und Folgewirkung, ein jeder für seine Speziali-
tät, analysiert. Mit dem Tarifspezialisten kann der Ge-
schäftsmann nicht konkurrieren. So tritt an Stelle der
alten Balgerei, die schlimm genug war, die Herrschaft der
Spezialisten für jede einzelne Position. Das Verhältnis
zwischen Regierung und Handel wird aber nicht zu einem
Eingehen aller entscheidenden Regierungsinstanzen auf
alle aktiven Kräfte des Volkes, sondern es beschränkt sich
auf die besondere Einwirkung einer besonders organisier-
ten Macht der Geschäftswelt.
Dazu kommt, daß jedes geeignete Mittel angewandt
wird, um die Argumente der Schutzzöllner der Aufmerk-
samkeit der Öffentlichkeit zu entziehen und dem Publikum
die Kenntnis der Folgen zu verschleiern. Die Öffentlich-
keit wird nicht in die Absichten jener eingeweiht, die den
vorgeschlagenen Bestimmungen ihre entscheidende Form
geben. Es ist sogar erwiesen, daß viele Mitglieder der Fi-
nanzkommission nicht die Bedeutung der einzelnen Po-
sitionen des Tarifs kannten, die dem Senat vorgelegt wur-
den ; und selbst Senatoren, die Herrn Aldrich direkt Fragen
127
stellten, wurde die gesuchte Aufklärung verweigert; manch-
mal wohl, weil er sie nicht zu geben vermochte, aber
manchmal auch, weil die Enthüllung der Einzelheiten die
Annahme der Bestimmungen erschwert hätte. Es gab
wichtige Dokumente, die nicht zu erlangen waren.
Betrachten wir das interessante Thema — dieses ,, Irr-
licht" — der ,, Herstellungskosten". Jedem Mann, der sich
je mit Nationalökonomie beschäftigte, fällt es schwer, ein
spöttisches Lächeln zu unterdrücken, wenn man ihm sagt,
eine intelligente Gruppe von Mitbürgern suche die ,, Her-
stellungskosten" zur Basis der Zollgesetzgebung zu ma-
chen. Diese Kosten sind in keiner Fabrik auf zwei Jahre
gleich. Sie sind in keiner Industrie in zwei Jahreszeiten
dieselben. In ein und demselben Lande sind sie zu zwei
verschiedenen Epochen verschieden. Sie entziehen sich
unausgesetzt der Hand, die sie festhalten möchte. Sie exi-
stieren als wissenschaftlich beweisbare Tatsache nirgends.
Aber um dieZwecke des Schutzzollprogramms zu erreichen,
war es notwendig, sich der Mühe zu unterziehen, sie zu
entdecken. Ich bin zuverlässig davon unterrichtet, daß die
Regierung der Vereinigten Staaten eine Anzahl auswärti-
ger Regierungen, darunter auch die deutsche Regierung,
aufforderte, ihr so genau als möglich die Herstellungs-
kosten gewisser Artikel, die auch in Amerika produziert
werden, mitzuteilen. Die deutsche Regierung überwies die
Angelegenheit den in Betracht kommenden deutschen Fa-
brikanten, die ihrerseits die Fragen so genau beantworte-
ten, als sie sich auf Grund ihrer Geschäftsbücher beant-
worten ließen. Die Mitteilungen gelangten an unsere Re-
gierung während der Debatten um den Aldrichtarif und
wurden — da das Zollgesetz bereits zum Senat gelangt
war — der Finanzkommission des Senates überwiesen.
Aber man berichtet mir — und ich habe keinen Grund,
daran zu zweifeln — , daß sie nie mehr den Taubenschlag
128
der Kommission verließen. Ich weiß es nicht, und jene
Kommission weiß es nicht, welcherart die eingegangenen
Mitteilungen waren. Als Herr Aldrich nach ihnen gefragt
wurde, sagte er zunächst, es sei kein amtlicher Bericht
der deutschen Regierung. Später behauptete er, es sei ein
unverschämter Versuch der deutschen Regierung, sich in
die Zollgesetzgebung der Vereinigten Staaten einzumischen.
Aber niemals verriet er, wie jene Herstellungskosten be-
schaffen waren, die in jenen Mitteilungen dargelegt wur-
den. Wenn er es getan hätte, hätte sich wahrscheinlich
mehr als eine Position seines Tarifes als ungerechtfertigt
erwiesen.
Solche Beispiele zeigen, wo der Schwerpunkt liegt, —
und wirklich ein Schwerpunkt, denn es handelt sich um
sehr schwerwiegende Angelegenheiten. Er lag während
des letzten Kongresses bei jener einzelnen Persönlichkeit,
die als Vermittler zwischen den in den Vorzimmern wirken-
den interessierten Fachleuten und der Gesetzgebung des
Kongresses wirkte. Ich sage das nicht, um Herrn Aldrichs
Charakter herabzusetzen. Es geht mich nichts an, welche
Art Mensch Herr Aldrich ist ; und besonders jetzt, da er
sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat, ist
das gleichgültig. Die Sache ist nur die : auf Grund seiner
langen Erfahrung und seiner langjährigen Beschäftigung
mit diesen komplizierten Spezialangelegenheiten war er
die gegebene und übliche Mittelsperson, durch die sich
der Kongreß der Vereinigten Staaten darüber unterrichtete,
welcher Art die Wünsche, nicht etwa des amerikanischen
Volkes oder der gesamten Geschäftswelt waren, sondern
welche Bedürfnisse und Argumente jene Fachleute vor-
brachten, die herbeikamen, um die Angelegenheiten mit
der Kommission ins reine zu bringen. Die Geschäftswelt
der Vereinigten Staaten steht nicht als ein Ganzes in Füh-
lung mit der Regierung der Vereinigten Staaten. Sobald
9 129
das der Fall sein wird, werden alle jene Dinge, die heute
das amerikanische Volk mit Recht beunruhigen, ver-
schwinden. Sobald die Geschäftswelt Amerikas einen all-
gemeinen, freien und willkommenen Zutritt zu den Be-
ratungen des Kongresses gewinnt, werden alle Reibungs-
flächen zwischen Politik und Geschäft verschwinden.
Die Tariffrage ist heute nicht mehr, was sie vor fünf-
zehn oder zwanzig Jahren gewesen ist. Die Verteidiger des
Zolltarifs pflegen zu sagen, es sei sogar einerlei, ob uns
eine große Mauer vom Welthandel trenne, denn innerhalb
der Vereinigten Staaten gäbe es ein so gewaltiges Frei-
handelsgebiet, daß allein die Konkurrenz im eigenen
Lande die Preise auf eine normale Höhe herabdrücke. Und
man macht geltend : solange ein Staat mit allen anderen
der Union konkurrieren kann und alle anderen mit ihm
konkurrieren, solange könnten nur jene Vorteile errungen
werden, die auf das überlegene Gehirn, die überlegene
Wirtschaftsführung, das bessere Material und die bessere
Verwaltung zurückgehen ; das seien die Kräfte, die Ame-
rika stark gemacht und die Preise niedergehalten hätten,
weil amerikanischer Geist mit amerikanischem Geiste
konkurriere. Solange das zutraf, gab es allerdings sehr viel
zugunsten des Schutzzolles anzuführen. Allein der Schutz-
zoll ist von einigen wenigen dazu benutzt worden, um die
heimische Konkurrenz zu vernichten, um alle innerhalb
unserer Freihandelszone wirkenden Konkurrenten zu-
sammenzuschließen und um damit neuen Männern das
Emporkommen unmöglich zu machen. Unter dem Hoch-
zoll wurde ein Netzwerk von Fabriken geschaffen, das
in seiner Gesamtheit den Markt Amerikas beherrscht und
seine eigenen Preise aufstellt. Darum ist das, was einst
diskutabel war, undiskutabel geworden ; nicht der Hoch-
zoll rief die Erhöhung der Lebenskosten hervor, jene gro-
ßen Verbände bestimmen heute — nicht durch den Tarif,
130
aber durch ihren Zusammenschluß unter dem Tarif — die
Preise, die bezahlt werden sollen ; sie bestimmen, wieviel
produziert werden soll ; und sie bestimmen dazu noch den
Arbeitsmarkt.
Die Politik des ,, Schutzzolles", die heute verkündet
wird, hat keine Berührungspunkte mehr mit der vonWeb-
ster und Clay ursprünglich aufgestellten Theorie. Die
,, jungen Industrien", die jene Staatsmänner ermutigen
wollten, sind aufgewachsen und ergraut, aber für beson-
dere Vergünstigungen wußten sie stets neue Gründe zu
entdecken. Ihre Ansprüche sind weit über das hinausge-
wachsen, was sie in den Tagen Blaines und McKinleys zu
fordern wagten, obgleich jene beiden Apostel des ,, Schutz-
zolles" vor ihrem Tode zu dem Geständnis bereit waren,
daß schon damals die Zeit gekommen war, den Ansprü-
chen der unterstützten Industrien Halt zu gebieten. Wil-
liam McKinley zeigte vor seinem Ableben Anzeichen einer
Anpassung an die neue Zeit, wie seine Nachfolger sie nicht
aufwiesen. Man kennt McKinleys letzte Äußerungen über
jene Politik, die mit seinem Namen so eng verknüpft
wurde, die Schutzzollpolitik. Man weiß, wie er dem bei-
stimmte, was Blaine schon vor ihm gesagt hatte: Wir
hätten dem Lande eine Politik auferlegt, die bei allzu-
strenger Innehaltung sich als eine Politik der Beschrän-
kung erweise ; und wir müßten einer Zeit entgegensehen
die sehr bald kommen müsse, da wir mit allen Ländern
der Welt in gegenseitige Handelsbeziehungen treten müß-
ten. Das war nur eine andere Ausdrucksweise für die Not-
wendigkeit, Starrheit durch Elastizität und geschlossene
Häfen durch Handel zu ersetzen. McKinley sah, was seine
Nachfolger nicht sahen. Er sah, daß wir uns selbst eine
Zwangsjacke angelegt hatten. Wenn ich die Schutzzoll-
politik unseres Landes überblicke und sehe, daß es die spä-
teren Erscheinungen und die späteren Gepflogenheiten
9* 131
jener Politik waren, die die Trusts und die Monopole in den
Vereinigten Staaten aufbauten, dann mache ich im Geiste
folgende Gegenüberstellung : McKinley hatte bereits gegen
das, was er voraussah, seinen Einspruch erhoben ; sein
Nachfolger sah, was McKinley nur vorausgeahnt hatte:
aber er handelte nicht. Sein Nachfolger sah jene höchst
besonderen Privilegien, gegen die McKinley mißtrauisch
zu werden begonnen hatte, in den Händen von Männern,
die sie erhalten hatten, um für sich selbst ein Monopol
aufzubauen, dessen Wirkung es war, die Freiheit des Un-
ternehmungsgeistes mehr und mehr zu erschweren. Ich
bin durchaus überzeugt, daß McKinley die spätere Entwick-
lung jener Politik, mit der sein Name verkettet blieb, nicht
gutgeheißen hätte.
Was bedeutet die jetzige Zollpolitik den Schutzzöll-
nern ? Es ist nicht die alte Schutzpolitik, die ich durchaus
anerkennen würde ; sie ist eine völlig neue Doktrin. Wer
sich für die Geschichte des amerikanischen Schutzzolles
interessiert, vergleiche die jüngsten Programme der bei-
den Schutzzollparteien mit der alten Doktrin. Man wird,
je gründlicher man in die Materie eindringt, durch eine
völlig neue Richtung überrascht. Die neue Doktrin der
Schutzzöllner ist, daß der Tarif den Unterschied zwischen
den Herstellungskosten in Amerika und den Herstellungs-
kosten in anderen Ländern darstellen soll, plus eines an-
gemessenen Gewinnes für jene, die in der betreffenden In-
dustrie tätig sind. Hierin liegt das Neue der jetzigen Dok-
trin des Schutzzolles: ,,plus eines angemessenen Gewin-
nes". Damit wird den Männern, die zum Kongreß kom-
men und Vergünstigungen verlangen, offen ein Gewinn
garantiert. Die alte Idee eines SchutzzoUtarifes ward er-
dacht, um die amerikanische Industrie lebendig zu er-
halten und dadurch amerikanischer Arbeit Beschäftigung
zu gewährleisten. Aber die Vergünstigungen des Schutz-
132
Zolles sind so fortdauernd geworden, daß folgendes ein-
trat: als die Leute sahen, daß sie ausländische Konkur-
renz nicht mehr zu fürchten hatten, schlössen sie sich zu
großen Interessenverbänden zusammen. Diese Verbände
umfassen Fabriken aller Arten : alte Fabriken und neue
Fabriken, Fabriken mit veralteten Maschinen und Fabri-
ken mit modernsten technischen Hilfsmitteln; Fabriken,
die wirtschaftlich sparsam verwaltet werden, und Fabri-
ken, die nicht wirtschaftlich geführt werden ; Fabriken,
die seit langem im Besitz einer Familie waren und vielleicht
heruntergekommen sind, und Fabriken, die über die jüng-
sten technischen Erfindungen verfügen. Sobald der Zu-
sammenschluß zum Interessenverband durchgeführt ist,
werden die schlechter arbeitenden Fabriken außer Be-
trieb gestellt. Aber die für sie ausgegebenen Aktien sollen
Dividenden bezahlen. Und die Regierung der Vereinigten
Staaten garantiert einen Gewinn auf Anlagen in Fabriken,
die vom Markte ausgeschieden sind. Sobald jene Verbände
ein Sinken der Preise beobachten, werden die Arbeitszeiten
verkürzt, die Produktion verkleinert, die Löhne herabge-
setzt, Leute aus ihren Arbeitsstellen entlassen — zu wel-
chem Zwecke ? Um die Preise künstlich auf der Höhe zu er-
halten. Es mag eine Zeit gegeben haben, da der Zolltarif die
Preise nicht emportrieb, aber jene Zeit ist dahin ; der Tarif
wird heute von den großen Verbänden dazu ausgenutzt,
ihnen die Herrschaft über die Preisgestaltung zu gewähr-
leisten. Das ist nicht zufällig gekommen. Es ist kein Zu-
fall gewesen, daß die Preise in den Vereinigten Staaten
schneller stiegen und steigen als in irgendwelchem ande-
ren Lande. Der Fluß, der uns von Canada scheidet, trennt
uns von viel niedrigeren Kosten des Lebensunterhaltes,
trotzdem das kanadische Parlament die Einfuhr mit Zöl-
len belegt.
Aber jene, die nicht verstehen, was sich in den Ver-
133
einigten Staaten abspielt, rufen : ,,Ihr werdet das Land mit
eurem Freihandel ruinieren." Wer sprach von Freihandel ?
Wer schlägt Freihandel vor? In den Vereinigten Staaten
kann es keinen Freihandel geben, weil die Regierung der
Vereinigten Staaten bei unserer gegenwärtigen Scheidung
des Besteuerungsfeldes zwischen der Bundesverwaltung
und den einzelnen Staatsregierungen notgedrungen zum
großen Teil von den Zöllen erhalten wird, die in den Häfen
erhoben werden. Aber ich möchte manche Herren fragen,
ob durch die besonderen Tarifsätze, die sie angehen, in den
Häfen sehr viel an Zöllen erhoben wird. Einige der Tarif-
sätze sind praktische Verbotzölle und gewähren keine Zoll-
einnahmen. Wer in Amerika einen importierten Gegenstand
kauft, zahlt der Bundesregierung in Form des Einfuhrzolles
einen Anteil am Preise. Aber was in der Regel gekauft wird,
ist nicht ein eingeführter, sondern ein in Amerika hergestell-
ter Gegenstand, dessen Preise der Fabrikant bis zu einem
Punkte steigern konnte, der dem Preis des importierten
Gegenstandes plus des Zolles gleich ist oder ihn übertrifft.
Wer nimmt in diesem Fall den Zoll ein ? Die Regierung ?
Keineswegs. Der Fabrikant, der amerikanische Fabrikant,
der da sagt, da er seine Waren nicht so billig verkaufen
kann wie der ausländische Fabrikant, sollten alle guten
Amerikaner von ihm kaufen und ihm für dieses Privileg
eine Steuer auf jeden Artikel entrichten. Vielleicht sollten
wir das. Der ursprüngliche Gedanke war, daß wir damals,
als er just anfing und Unterstützung brauchte, von ihm
kaufen sollten, selbst wenn wir einen höheren Preis ent-
richten mußten: bis er auf festen Füßen stände. Heute
aber wird verlangt, daß wir von ihm kaufen und einen
Preis zahlen sollen, der 15 bis 120 Prozent höher ist als
der Preis, den wir einem ausländischen Fabrikanten ent-
richten müßten; und das auch dann, wenn das hilfsbe-
dürftige ,,Kind" ein bärtiger, sechs Fuß hoher Riese ist.
134
Denn er trage notgedrungen höhere Herstellungskosten
als irgendwer im Ausland. Ich weiß nicht, warum deis der
Fall sein müßte. Amerikanische Arbeiter pflegten mehr
und bessere Arbeit zu leisten als Ausländer, so daß er seine
höheren Löhne mehr als aufwiegt und bei jedem Lohnsatz
ein gutes Geschäft bleibt.
Wenn wir freilich übereinkommen, jedem Mitbürger,
der Neigung zu irgendeinem Geschäftszweige hat, für den
das Land nicht besonders geeignet ist, eine Extravergü-
tung für jeden Artikel zu gewähren, den er hervorbringt, —
wenn wir diese Extravergütung so hoch bemessen, daß sie
alle Nachteile ausgleicht, unter denen er aus dem einen
oder anderen natürlichen Grunde arbeitet — wenn wir das
wollen, dann können wir allerdings unsere Industrie herr-
lich vervielfältigen, aber wir berauben uns dabei selbst.
Auf solcher Basis können wir in Connecticut oder Mi-
chigan oder sonstwo meilenlange Treibhäuser errichten,
in denen glückliche amerikanische Arbeiter mit gefüllten
Speisekammern Bananen züchten — die zum Preise von
einem viertel Dollar verkauft würden. Irgendeine törichte
Person, ein Demokrat, könnte zwar schüchtern darauf
hinweisen, Bananen seien ein großer Segen für die All-
gemeinheit, wenn sie aus Jamaica kämen und drei Stück
für einen Nickel zu haben wären; aber welcher patrioti-
sche Bürger würde auch nur einen Augenblick auf die Ein-
wände eines Menschen hören, der kein Gefühl für die
Pracht und Herrlichkeit der amerikanischen Bananen-
industrie hat und nicht die stolze Bedeutung der Tatsache
begreift, daß unser Sternenbanner über den größten Ba-
nanentreibhäusern der Welt weht!
Aber das ist nur die eine Seite der Angelegenheit. Der
sogenannte ,, Schutztarif" ist ein Werkzeug geworden, um
auf Kosten der wirtschaftlichen Lebenskraft des übrigen
Landes das Anwachsen besonderer Industriegruppen zu
135
fördern. Was jetzt geschehen soll, ist allerdings eine sehr
praktische Frage : man will diese Spezialprivilegien ent-
hüllen und aus dem Tarif herausschneiden. Es soll auch
nicht eine heimliche Sondervergünstigung in den die Zölle
betreffenden Bestimmungen bleiben, die beseitigt werden
kann, ohne jenen Teil des Handels zu schädigen, der ge-
sund und angemessen ist und den wir alle gefördert zu
sehen wünschen.
Manche Leute sprechen, als seien die Tarifreformer,
als seien die Demokraten nicht Angehörige des amerika-
nischen Volkes. Ich sprach kürzlich eine Dame, eine nicht
ältliche Dame, die mir mit Stolz erklärte : ,,0, ich bin stets
Demokratin gewesen, seitdem man sie mit Hunden hetzt."
Und aus manchen Äußerungen könnte man wirklich
schließen, die Demokraten seien Geächtete und hätten kei-
nen Teil am Leben der Vereinigten Staaten. Die Demokra-
ten stellen fast die Hälfte aller Wähler unseres Landes dar.
Sie arbeiten in allen Unternehmungszweigen, in großen
und in kleinen. Es gibt keinen Lebensweg und keinen Be-
ruf, wo man ihnen nicht begegnete ; und — wie eine Zei-
tung in Philadelphia neulich witzig bemerkte — sie kön-
nen keinen wirtschaftlichen Mord verüben, ohne zugleich
wirtschaftlich Selbstmord zu begehen. Will man sich
vorstellen, die Hälfte des amerikanischen Volkes sei im
Begriffe, die ganzen Grundlagen unseres Wirtschaftslebens
zu zerstören, indem sie mit blinder Wut über die Bestim-
mungen des Tarifs herfällt ? Manche dieser Bestimmungen
sind so zäh, daß sie auch einem solchen Ansturm wider-
stehen würden. Aber dieser Ansturm ist nicht beabsich-
tigt, und wer das behauptet, hat für die Situation über-
haupt kein Verständnis. Alles, was die Tarifreformer for-
dern, ist: die Zahl derer, die Vergünstigungen genießen,
soll zahlreicher sein, als sie es heute ist. Just weil ihrer
so viele sind, wissen sie, wie viele draußen stehen. Und ich
136
möchte es aussprechen : ebenso viele Republikaner stehen
draußen. Das einzige, was ich gegen meine schutzzöllne-
rischen Mitbürger einzuwenden habe, ist, daß sie sich so
lange täuschen ließen. Wer kann noch davon sprechen,
daß der Schutzzoll den Arbeitern zugute komme, ange-
sichts der Tatsachen, die kürzlich in Lawrence, Massa-
chussetts, aufgedeckt wurden, wo die schlimmste von allen
Bestimmungen — die ,,K-Former* — dazu beiträgt, die
Leute bei Löhnen zu erhalten, von denen sie nicht leben
können! Es ist beweisbar, daß die amerikanischen Ar-
beiter, die in ungeschützten Industrien arbeiten, besser
bezahlt werden als jene, die in den ,, geschützten" und
jedenfalls in den hervorragenden Industrien tätig sind. Die
Bestimmung über Stahl ist für alle, die Stahl fabrizieren,
recht befriedigend; aber ist sie es auch für jene, die den
Stahl mit ihren eigenen, ermüdeten Händen herstellen?
Weiß man, daß es Fabriken gibt, in denen Menschen sie-
ben Tage in der Woche täglich 12 Stunden arbeiten müs-
sen und in den 365 mühseligen Tagen des Jahres nicht
genug verdienen, um ihre Rechnungen bezahlen zu kön-
nen ? Und das ist einer der Riesen unserer Industrie, eine
der Unternehmungen, die auf Grund dieses Systems zu ge-
waltigem Um.fang angewachsen sind. Ach, die Fülle der
Winkelzüge sinkt zusammen, und unter den sinkenden
Schleiern beginnt man kleine Gruppen von Menschen wahr-
zunehmen, die die herrschende Partei beherrschen und
durch die herrschende Partei die Regierung beherrschen,
zugunsten ihres eigenen Vorteils und nicht zugunsten des
Vorteils der Vereinigten Staaten.
Man lasse mich wiederholen : es kann in den Vereinig-
ten Staaten keinen Freihandel geben, solange die be-
stehende Finanzpolitik der Bundesregierung aufrecht er-
halten bleibt. Die Bundesregierung hat während all der
Generationen, die uns voraufgingen, darauf beharrt, sich
137
hauptsächlich durch indirekte statt durch direkte Besteue-
rung zu erhalten. Ich wage zu sagen, daß wir nie eine Zeit
erleben werden, in der diese Politik in einem entscheiden-
den Maße geändert werden kann ; und es gibt keinen De-
mokraten von Überlegung, den ich kennte, der ein Pro-
gramm des Freihandels in Betracht zöge.
Aber was wir durchführen wollen, was das Repräsen-
tantenhaus versuchte und von neuem versuchen und er-
reichen wird, das ist die Ausrottung des Unkrautes aus
diesem von uns angelegten Garten. Wir haben die Wur-
zeln unserer Industrie mit dem Dünger des Schutzzolles
getränkt, haben ihr Wachstum durch Politik gefördert,
aber wir haben dann sehen müssen, daß die Förderung
sich nicht gleichmäßig auf den ganzen Garten erstreckte ;
einige Gewächse, die jedermann auf den ersten Blick er-
kennt, haben die übrigen so überholt, daß die anderen in
ihren Schatten verbannt sind : und unter dieser lähmenden
Beschattung ist es den Industrien Amerikas unmöglich ge-
worden, als ein Ganzes zu gedeihen. Mit anderen Worten :
Wir haben herausgefunden, daß das, was ein Schutzver-
fahren sein will, ein System der Günstlingswirtschaft ge-
worden ist und daß die von dieser Politik Begünstigten auf
Kosten der übrigen emporblühten. Nun treten wir in diesen
Garten, um diese Schäden zu beseitigen. Wir kommen, um
den kleinen Pflanzen Licht und Luft zu schaffen, auf daß
sie wachsen können. Wir wollen jede Wurzel ausgraben,
die sich so weit ausgebreitet hat, daß sie die Nahrung aus
dem Erdreich der anderen Wurzeln saugt. Wir wollen dar-
über wachen, daß der Dünger der Intelligenz, des Erfin-
dungsgeistes und des eigenen Könnens von neuem in einer
Gruppe von Industrien angewandt wird, die zu erstarren
drohen, weil sie sich zu eng zusammenzuschließen streben.
Die Politik, das Land von dem Beschränkungsgesetz zu be-
freien, wird ringsum im Lande die Zahl der Unternehmun-
138
gen so vielfältig machen und so vervielfältigen, daß der
Absatz sich verbreitern und den Wettbewerb der Arbeit
steigern wird. Und die Sonne wird wieder durch die Wolken
scheinen, wie sie einst herabstrahlte auf die freie, unab-
hängige Intelligenz und Tatkraft eines großen Werkes.
Einer der Anklagepunkte gegen den sogenannten
Schutzzolltarif ist, daß er die Amerikaner um ihre Unab-
hängigkeit, ihren Reichtum und ihr Selbstvertrauen ge-
bracht hat. Unsere Industrie ist rückgratschwach, feig und
von Regierungshilfe abhängig geworden. Wenn ich die Ar-
gumente einige der größten Geschäftsleute höre, die da
geltend machen, mit der Beseitigung des Schutzzolles wür-
den sie von der Weltkonkurrenz überwunden werden, dann
möchte ich mit der Frage antworten : wann und wo ge-
schah es je, daß amerikanischer Geist sich fürchtete, ins
Freie zu treten und den Kampf mit der Welt aufzunehmen ?
Aber sie sagen : ,, Setzt uns um Gottes willen nicht der Ent-
mutigung aus, den Preisen aus allen Weltwinkeln die
Spitze bieten zu sollen." Wir können mit jenen Preisen
konkurrieren. Im Ausland wird Stahl, in Amerika herge-
stellter Stahl, in seinen mannigfachen Formen viel billiger
verkauft als in Amerika. Es wird vielen schwer, das zu be-
greifen. In New York haben wir eine Kinderschule ein-
gerichtet. Man nannte sie die Schreckenskammer. Wir
stellten dort eine Menge Gegenstände aus, die in Amerika
produziert waren, und wir versahen sie mit den Preisen,
zu denen sie im Ausland verkauft werden. Wenn man einer
Frau erzählt, daß sie in Mexiko für achtzehn Dollar eine
Nähmaschine kaufen kann, für die sie in den Vereinigten
Staaten dreißig Dollar bezahlen muß, so wird sie das nicht
beachten oder vergessen, solange man sie nicht zu der Ma-
schine führt und sie ihr mit der Preisnotierung zeigt. Mein
verehrter Freund Senator Gore von Oklahoma machte den
interessanten Vorschlag, wir sollten ein Gesetz einführen,
139
auf Grund dessen jedes in Amerika verkaufte Stück Ware
eine Aufschrift tragen müßte, auf der zwei Preise ange-
geben werden: der Preis, zu dem die Ware unter dem
Srhutzzollgesetz verkauft wird, und der Preis, zu dem sie
verkauft werden könnte, wenn kein Schutzzollgesetz wäre.
Dann, meinte der Senator, würde die Tariffrage bald ge-
löst sein. Er verlangt nicht, daß jene große Zahl unserer
Mitbürger, die mit Überzeugung an den ,, Schutzzoll" glau-
ben, ihre Meinung opfern. Er schlägt nur vor, daß jeder,
der an den Schutzzoll glaubt, dafür auch bezahlt, die an-
deren aber nicht ; wer seinen Beitrag leisten will, dem möge
das freistehen.
Was uns übrige anbetrifft, so naht die Zeit heran, da
wir diesen Beitrag nicht mehr zu leisten haben werden.
Das amerikanische Volk hat den Willen, unsere Finanz-
gesetzgebung von allen Sondervergünstigungen und Pri-
vilegien zu befreien, besonders von jenen, die aus dem Zoll-
tarif erwachsen. Wir haben erkannt, daß der Tarif in sei-
ner jetzigen Form kein Schutzsystem ist, sondern ein Ver-
günstigungssystem, dessen Vorteile zu oft heimlich und
unterirdisch, statt offen und ehrlich und gesetzmäßig ge-
währt werden. Und diesem Mißstande wollen wir ein Ende
bereiten : nicht durch überstürzte und drastische Verände-
rungen, sondern durch die Aufnahme eines völlig neuen
Prinzipes — durch die Reformierung des ganzen Zieles
dieser Art von Gesetzgebung. Unsere Zollgesetzgebung soll
fortan nicht private Vorteile, sondern die öffentliche Wohl-
fahrt und die allgemeine Zweckmäßigkeit zum Ziele ha-
ben. Wir wollen unsere Steuergesetze nicht wie Leute ma-
chen, die daraus Vorteil ziehen, sondern wie Männer, die
einer Nation dienen. Und wir werden bei jenen Bestim-
mungen einsetzen, bei denen wir Sonderprivilegien im
Spiele finden. Wir kennen diese Bestimmungen ; ihre Ver-
teidiger waren freundlich genug, sie selbst aufzuzeigen,
140
Bei der Frage des Zolltarifs wollen wir vor allem und zu-
erst die Kehle des Kongresses von dem würgenden Griff der
Sonderinteressen befreien. Wir haben nicht die Absicht,
die Sonderinteressen länger in den Beratungszimmern der
Kommission der Mittel und Wege im Abgeordnetenhaus
und der Finanzkommission im Senat hausen zu lassen. An
jenen Stätten soll das Volk der Vereinigten Staaten zu
Worte kommen und vertreten sein, auf daß alles im Inter-
esse der Allgemeinheit geschehe und nicht im Interesse je-
ner besonderen Gruppen von Persönlichkeiten, die bereits
die Industrien und die industrielle Entwicklung des Lan-
des beherrschen. Denn wie klug, wie patriotisch und wie
begabt zum Vorausahnen der richtigen Handelsentwick-
lung diese Männer auch sein mögen, es gibt in den Ver-
einigten Staaten und auch in keinem anderen Lande irgend
eine Gruppe von Männern, die weise genug wären, um das
Schicksal eines großen Volkes allein in ihre Hände gelegt
zu sehen. Der Handel Amerikas soll befreit und unabhän-
gig gemacht werden.
141
Achtes Kapitel
Die Trustfrage und der freie Wettbewerb
Viele Leute behaupten — und behaupten es seit lan-
gem — , Trusts seien unvermeidlich. Ich nehme an, daß
sie das glauben. Sie behaupten nicht, Großbetrieb sei un-
vermeidbar, sie behaupten nicht einmal, die Herausbildung
einer Geschäftsorganisation, die sich auf Kooperation größ-
ten Maßstabes gründet, sei für unsere Zeit charakteristisch
und notwendig als eine Folge der modernen Zivilisations-
formen entstanden. Wir würden das zugeben. Aber sie be-
haupten, jene besondere Art von großen Korporationen,
die heute unsere wirtschaftliche Entwicklung beherrschen,
seien naturnotwendig erstanden und unvermeidbar, wir
müßten sie daher als etwas Unvermeidliches hinnehmen
und durch sie unsere Entwicklung suchen. Und als Bei-
spiel verweist man auf die Eisenbahn. Um Gütertransport
und Verkehr zu ermöglichen, waren Eisenbahnen unver-
meidlich. Aber Schienenwege bleiben dort, wo man sie er-
baute. Eine Eisenbahn kann nicht nach Gutdünken ver-
legt werden, man kann nicht einen Teil der Strecke sper-
ren und den Betrieb auf der ganzen Linie fortsetzen. Das
zählt zu jenen Erscheinungen, die die Nationalökonomen,
jene lästigen Gesellen, natürliche Monopole nennen ; und
das aus dem Grunde, weil die ganzen Umstände ihrer Aus-
nützungsf ähigkeit so starr sind, daß wir sie nicht umwan-
deln können. In dieser Richtung bewegen sich auch die
Beispiele, die von den Vorkämpfern der modernen Trusts
gewählt werden.
142
Die Theorie, nach der die Trusts aus der natürlichen
Entwicklung der amerikanischen Geschäftsverhältnisse
hervorgingen, ist sehr populär. Sie gipfelt in der Behaup-
tung, es wäre ein Irrtum, den Vorgängen zu trotzen, aus
denen die Trusts hervorgingen. Denn jene Vorgänge ge-
hörten zum Wesen des Geschäftslebens unserer Zeit : darum
bliebe uns nichts anderes übrig, als sie als unvermeidbare
Einrichtungen zu betrachten und uns mit ihnen abzufin-
den, indem wir sie regulierten.
Dieser Standpunkt beruht auf einer Verwirrung des
Denkens. Die Großorganisation des Handels ist zweifellos
in einem weiten Maße notwendig und natürlich. Die Ent-
wicklung des Geschäftswesens zu großen Maßstäben und
zum Zusammenwirken großen Stils ist unvermeidlich;
und sie ist auch, wie ich hinzufügen möchte, wahrschein-
lich wünschenswert. Aber das ist etwas ganz anderes als
die Entwicklung von Trusts. Die Trusts sind nicht empor-
gewachsen. Sie wurden künstlich erzeugt. Sie wuchsen
nicht durch natürliche Vorgänge zusammen, sondern sie
wurden durch den Willen, durch den entschlossenen Wil-
len von Männern zusammengeschweißt, die in der Ge-
schäftswelt mächtiger als ihre Nachbarn waren und ihre
Machtstellung gegen Wettbewerb sicherstellen wollten.
Die Trusts entstammen nicht den Zeiten industrieller
Anfänge, sie sind kein Erzeugnis jener alten, arbeitsamen
Zeiten, da der große Weltteil, auf dem wir leben, noch un-
erschlossen war und die junge Nation inmitten älterer und
erfahrenerer Wettbewerber darum kämpfte, sich selbst zu
finden und auf eigenen Füßen zu stehen. Die Trusts ent-
stammen einer sehr nahen und sehr sophistischen Zeit, in
der die Leute wußten, was sie wollten, und es verstanden,
die Gunst der Regierung zu erlangen.
Warft ihr je einen Blick auf die Art, in der Trusts ge-
macht wurden? Sie ist in einem Sinn sehr natürlich: in
143
demselben Sinne, in dem auch menschliche Habgier natür-
lich ist. Bin ich nicht tüchtig genug, meine Konkurrenten
zu schlagen, dann werde ich dazu neigen, mich mit ihnen
zu verständigen. ,,Laßt uns einander nicht die Kehlen ab-
schneiden; schließen wir uns zusammen. Wir setzen die
Produktion fest, bestimmen damit die Preise : und wir be-
herrschen und bestimmen damit den Markt. * ' Das ist durch-
aus natürlich. Das geschah immer, seitdem es Freibeuterei
gab. Das geschah stets, seitdem Macht dazu benutzt wurde,
eine Vorherrschaft aufzurichten. Der Grund, daß die Füh-
rer der Korporationen danach strebten, den Wettbewerb
auszuschließen, ist der Umstand, daß bei freiem Wett-
bewerb Gehirn und Tüchtigkeit Grundlage der Vorherr-
schaft sind. Jede große Korporation, die aus berechtigten
Geschäftstransaktionen hervorging und durch Sparsam-
keit und Tüchtigkeit aufgebaut wurde, lasse ich als natür-
lich gelten und fürchte sie nicht, wie gewaltig sie auch an-
wachsen mag. Denn sie kann nur dadurch groß bleiben,
daß sie ihre Arbeit besser als andere verrichtet. Es gibt
eine Grenze des Umfanges — und jeder Geschäftsmann
unseres Landes weiß das, obgleich manche das nicht zu-
geben — , mit der die Grenze der Zweckmäßigkeit und der
Leistungsfähigkeit überschritten wird und wo die Unbe-
holfenheit und die Schwerfälligkeit beginnen. Man kann
die Kombination so weit ausdehnen, daß sie sich nicht
mehr zu einem einzelnen System zusammenschließen läßt ;
man erhält so viele Teile, daß sie sich nicht mehr zu einer
günstig arbeitenden Maschine montieren lassen. Die
Grenze des zweckmäßigen Wirkens ist überschritten, wird
in dem natürlichen Entwicklungsprozeß oft überschritten :
und sie ist in der künstlichen und gewaltsamen Bildung
von Trusts sehr oft überschritten worden.
Wie entsteht ein Trust? Einige wenige Männer ,, grün-
den" ihn, sie bringen ihn zustande und erhalten für ihre
144
Mühewaltung gewaltige Gebühren, die in Form von Ak-
tien oder Anteilscheinen dem Unternehmen aufgeladen
werden. Was die Gründer geltend machen, ist nicht etwa,
daß jeder, der der Kombination beitritt, sein Geschäft bes-
ser führen könne als vorher ; sie sagen : wir werden euch
in unserem Verbände einen Anteil gewähren, der dreimal,
viermal, fünfmal so hoch ist wie die Summe, die ihr er-
halten würdet, wenn ihr euer Unternehmen einem ein-
zelnen Mann verkauftet, der gezwungen wäre, es auf einer
ökonomischen und konkurrenzfähigen Basis weiterzu-
führen. Wir können es uns leisten, zu so hohem Preise zu
kaufen, weil wir jede Konkurrenz ausschließen. Wir kön-
nen es uns leisten, das Aktienkapital unserer Korporation
sechsmal so groß zu machen als es sein müßte und sich
verzinsen würde, weil niemand die Preise anfechten wird,
die wir festsetzen.
Ist das ein gesundes Geschäft? Kann das als unver-
meidbar gelten ? Das beruht auf nichts als auf Macht. Das
beruht nicht auf Tüchtigkeit. Es ist kein Wunder, daß die
Trusts nicht in dem gleichen Verhältnisse vorwärts kom-
men wie die wenigen Konkurrenten in jenen Geschäfts-
zweigen, die Konkurrenten noch offen stehen ; die Trusts
kommen unbehindert nur auf jenem Gebiete vorwärts, von
dem Wettbewerber vollkommen ausgeschlossen sind. Wer
Zweifel hegt, lese die Statistik des amerikanischen Stahl-
trustes oder die Statistik eines jeden Trustes. Es zeigt sich,
daß sie stets vor einem Wettbewerb Angst haben und un-
ausgesetzt neue Konkurrenten aufkaufen, um das Feld
einzuengen. Der amerikanische Stahltrust erlangt auf dem
amerikanischen Markte nur für die roheren Eisen- und
Stahlerzeugnisse die Überlegenheit; überall aber, wo er,
wie auf dem Gebiete der fortgeschritteneren Eisen- und
Stahlfabrikation, größere Konkurrenten hat, steigt die Pro-
duktion des Trustes nicht, sondern geht zurück und die
10 145
Konkurrenten sind dort, wo sie die Möglichkeit haben,
Fuß zu fassen, oft leistungsfähiger als der Trust.
Warum ? Wie kommt es, daß der Trust mit seinem un-
beschränkten Kapital und seinen zahllosen Bergwerken
und Fabriken in allen Teilen der Vereinigten Staaten nicht
imstande ist, die anderen vom Markte zu verdrängen ? Das
erklärt sich zum Teil dadurch, daß der Trust zu viel Ballast
mitschleppt und zu schwerfällig und ungelenk geworden
ist. Seine Organisation ist unvollkommen. Neben leistungs-
fähigen Fabriken wurden auch leistungsunfähige Fabri-
ken aufgekauft. Und die Summen, die man dabei bezahlte,
müssen als Bürde weitergeschleppt werden auch wenn es
notwendig wird, einige dieser Fabriken zu schließen, nur
um eine Verzinsung des Kapitals zu erreichen ; aber Ver-
zinsung des ,, angelegten Kapitals" wäre in diesem Fall
ein unzutreffender Ausdruck, man muß schon von der
Verzinsung einer angeblichen Kapitalanlage sprechen. Und
so sehen wir eine Schar schwerfälliger Riesen, die unter
der Bürde einer unerträglichen Last daherstolpern — un-
ter einer Last, die sie sich selbst aufgeladen haben — , und
die ratlos umherschauen, ob am Ende nicht ein kleiner
Zwerg mit einem runden Stein in der Schleuder daher-
kommt und sie zu Boden streckt.
Ich möchte diesem Zwerge die Möglichkeit geben, her-
vorzukommen. Und ich sehe eine Zeit, in der die Zwerge
so viel rühriger, so viel erfindungsreicher und so viel tä-
tiger als diese Riesen sind, daß die Geschichte von Jack
dem Riesentöter sich vielleicht oft wiederholen wird. Man
gebe nur einigen jener jungen Männer, die ich kenne, eine
Möglichkeit, und sie werden den Männern der Trusts harte
Nüsse zu knacken geben. Man leihe ihnen nur ein wenig
Geld! Heute können sie es nirgends bekommen. Man sorge
nur dafür, daß sie nicht erdrückt werden können, wenn
sie sich einen bestimmten Markt erobert haben. Man gebe
146
ihnen nur die Möglichkeit, einen Markt zu erobern, und
man wird sehen, wie sie einen anderen und dann noch
einen anderen dazu erobern, bis jene Riesen mit den un-
erträglichen Lasten künstlicher Bewertungen erkennen,
daß sie einen festeren Boden suchen müssen, wenn sie
nicht zusammenbrechen wollen. Ich möchte dem kleinen
Jack die Möglichkeit geben, sich mit dem Riesen zu messen,
und wenn Jack soviel Verstand hat, wie einige mir in
Amerika bekannte Jacks ihn besitzen, dann möchte ich
sehen, wie der Riese mit ihm fertig werden will, der Riese
mit der Riesenlast, unter der er einherkeucht. Denn mit
einem wassersüchtigen Riesen will ich jederzeit fertig
werden, wenn man mir nur einen Kampfplatz gewährt und
soviel Vertrauen, als ich verdiene ; und wenn man dem Ge-
setz die Macht gibt, das zu tun, was man seit unvorgäng-
lichen Zeiten von dem Gesetze erwartete: wenn es den
Raum zu einem ehrlichen Wettkampf absteckt.
Ich kenne die Trugschlüsse, mit der man die Kapitali-
sierung der Erwerbskraft verteidigt ; und es gibt ihrer viele.
Das Argument ist fesselnd und bestechend und kann auch
bei manchen Beispielen durchaus rechtmäßig vorgebracht
werden. Aber es gibt eine Grenzlinie, bei deren Überschrei-
tung man nicht mehr die Erwerbskraft kapitalisiert, son-
dern nur die Beherrschung des Marktes und Gewinne, die
man durch diese Herrschaft und nicht durch Leistungs-
fähigkeit und Sparsamkeit erlangt. Das sind Tatsachen,
die sich keinem Beobachter mehr verschließen. Die Un-
schuldstage der Gelehrten sind vorüber. Sie wissen, was
sich vollzieht, denn wir leben in einer redseligen Welt, die
von Statistiken, parlamentarischen Enqueten und von den
Versuchen derer erfüllt ist, die es unternahmen, auf Grund
der Gesetze der Vereinigten Staaten unabhängig zu leben ;
und gar viele Dinge sind unter Eid ans Licht gekommen,
die wir auf Grund der Glaubwürdigkeit der Zeugen nicht
10* 147
anzweifeln können, denn diese Zeugen waren oft genug
sehr fähige und achtenswerte Männer.
Ich stehe auf dem Standpunkt, den jeder fortschrittlich
Gesinnte einnehmen sollte : private Monopole nicht zu
verteidigen und nicht zu dulden. Und auf diesem Stand-
punkt werde ich meinen Kampf durchfechten. Denn ich
weiß, wie ich zu kämpfen habe. Jeder Mann, der auch nur
die Zeitungen liest, kennt die Mittel, durch die die Trusts
ihre Macht schufen und ihre Monopole aufbauten. Jeder
halbwegs kundige Jurist kann euch die Bestimmungen
nennen, durch die alle diese Vorgänge verhindert werden
können. Was die Führer der Trusts nicht wollen, ist dies :
sie wollen nicht gezwungen sein, dem Anfänger auf glei-
chem Fuße begegnen zu müssen. Ich wünsche durch-
aus, daß sie jeden Konkurrenten mit ehrlichen Mitteln
schlagen; aber ich kenne auch die unzulässigen Mittel,
die bisher angewandt wurden und v/eiß, wie sie durch das
Gesetz verhindert werden können. Wenn die Trusts allein
auf der Basis der Tüchtigkeit den Markt erobern, wenn
sie sich darauf stützen, daß sie ihre Waren besser als an-
dere herstellen und billiger als andere verkaufen können,
wenn sie glauben, auf dieser Basis die gewaltigen Massen
toten Ballastes, die sie beim Ankauf aller Konkurrenten
sich aufluden, tragen zu können — dann sind sie mir voll-
auf willkommen, dann können sie ihr Glück versuchen.
Aber der Anfänger darf nicht erdrosselt und erdrückt wer-
den, man darf seinen Kredit nicht verkümmern; es darf
keinen Verruf jener Kleinhändler geben, die von einem
Konkurrenten kaufen; es darf keine Drohungen gegen
Verbände geben, die einem Konkurrenten Rohmaterial
verkaufen; es darf keine Entziehung von Rohmaterial
geben und keine geheimen Abmachungen gegen den klei-
neren Wettbewerb. Jedes erdenkliche Mittel eines ehr-
lichen Wettbewerbs ist willkommen, aber kein unehrliches
148
wird zugelassen. Und dann, wenn jede ungerechtfertigte
Art der Konkurrenz beseitigt ist, werden wir sehen, wie
die Trusts ihren Ballast zu schleppen vermögen. Ich ver-
lange von ihnen nichts weiter, als daß sie sich auf jenen
Kampfplatz wagen, wo Tüchtigkeit gegen Tüchtigkeit und
Verdienst gegen Verdienst kämpft. Wenn sie die Leistungs-
fähigkeit anderer Amerikaner überbieten, dann sind sie
die Leistungsfähigeren.
Aber wenn du erfahren willst, was Leistungsfähigkeit
und Klugheit heute ausrichten können, dann versuche es,
bessere und billigere Ware auf den Markt zu bringen, dann
erlebe es, wie man dich unterbietet, noch ehe dein Ab-
nehmerkreis größer geworden ist als deine Heimatstadt;
dann erlebe es, wie vollkommen unmöglich es dir gemacht
wird, Fuß zu fassen. Wenn du wissen willst, was Erfin-
dungsgeist vermag, dann mache eine Erfindung, die eine
Verbesserung der vom Trust benutzten Maschinen be-
deutet, und versuche dann, ob du Geld bekommen kannst,
um deine Maschine herzustellen. Du wirst es vielleicht er-
leben, daß die Korporation dir etwas für dein Patent an-
bietet — um es sorgsam in einen Kassenschrank zu ver-
schließen und die alten Maschinen weiter zu benutzen;
aber daß du deine Maschine baust und fabrizierst, wird
man dir nicht gestatten. Ich kenne Männer, die das ver-
suchten, und sie konnten kein Geld bekommen, weil die
großen Geldverleiher unseres Landes mit den großen Fa-
brikanten unseres Landes ihre Abmachungen haben und
es nicht wünschen, daß ein Außenseiter in das Absatzgebiet
eindringt und den Absatz stört.
Man macht uns sehr schnell zu Außenseitern, sogar in
bezug auf Dinge, die aus den Tiefen der Erde kommen und
in besonderem Sinne uns gehören. Gewisse Monopole habe
eine fast vollkommene Gewalt über die Zufuhr von Roh-
stoffen erlangt, vor allem im Bergbau, von dessen Erzeug-
149
nissen eine lange Reihe von Industrien abhängen ; und sie
machen beim Verkauf des Rohstoffes nach Belieben Unter-
schiede zwischen den Konkurrenten des Monopoles und
jenen, die sich dem Monopol beugen. Wir müssen bald
dahin kommen, jenen, die über dieses der Industrie un-
entbehrliche Material verfügen, zu sagen, daß sie das un-
entbehrliche Material mit der gleichen Bereitwilligkeit und
zu den gleichen Bedingungen an alle Bürger der Vereinig-
ten Staaten zu verkaufen haben. Denn sonst würden die
Hilfsquellen dieses Landes durch die private Beherrschung
der Rohstoffproduktion so abgeschnürt, daß eine unab-
hängige Entv/icklung vollkommen unmöglich würde.
Eine andere Ungerechtigkeit, die sich das Monopol zu-
schulden kommen läßt, ist folgende : Trusts, die mit jenen
Halbprodukten handeln, die erst durch eine feinere Fa-
brikationsmethode zu Gebrauchsgegenständen umgeformt
werden, verkaufen nur auf der Basis des Monopols, d. h. :
alle Leute, die mit dem betreffenden Trust in Geschäfts-
verbindung stehen, müssen sich verpflichten, ihre Roh-
produkte ausschließlich von ihm zu kaufen. So wird wie-
derum die Entwicklungsmöglichkeit eingeschnürt, ohne
daß es möglich ist, diese Fesseln abzustreifen. Zugleich
sind die großen Industriemonopole in ihren persönlichen
Beziehungen mit den Verkehrsunternehmungen des Lan-
des und mit den großen Eisenbahnen so eng liiert, daß sie
oft auch die Festsetzung der Frachtsätze bestimmen kön-
nen.
Mit dem Volke versteht man sehr gewandt, fertig zu
werden. Man weiß natürlich, daß man — solange unsere
Handelskommission nicht völlig schlaflos ist — Fracht-
rabatte erlangen kann, ohne sie Rabatt zu nennen. Eines
der kompliziertesten Studiumsgebiete, die ich kenne, ist
die Klassifizierung der Frachten durch die Eisenbahnge-
sellschaften. Wenn ich für einen besonderen Artikel einen
150
besonderen Frachtsatz haben will, brauche ich nichts wei-
ter zu tun, als diesen Artikel bei der Klassifikation der
Frachtraten in eine Spezialklasse einordnen zu lassen, und
der Zweck ist erreicht. Wenn man sich klarmacht, daß
beispielsweise die vierundzwanzig Männer, die den Stahl-
trust der Vereinigten Staaten beherrschen, bei fünfund-
fünfzig Prozent aller Eisenbahnen der Union, gerechnet
nach dem Werte der Bahnen in der Höhe ihres Aktien-
kapitales und ihrer Obligationen, Präsidenten oder Vize-
präsidenten oder Direktoren sind, dann weiß man, wie eng
all diese Interessen in unserem Industriesystem ineinan-
der verwoben sind und wie groß die Versuchung ist. Jene
vierundzwanzig Herren verwalten jene Korporation, als
wäre sie ihr Eigentum. Das Erstaunlichste für mich aber
ist, daß das Volk der Vereinigten Staaten nicht erkannte,
daß die Verwaltung eines derartig großen Unternehmens
keine Privatangelegenheit ist, sondern eine öffentliche An-
gelegenheit.
Man hat mir oft gesagt, mein Gedanke, durch Wieder-
herstellung des freien Wettbewerbes die industrielle Frei-
heit wiederherzustellen, beruhe auf einer mangelhaften
Beobachtung der wirklichen Vorgänge während der letzten
Jahrzehnte ; denn, so sagte man, gerade der freie Wett-
bewerb hat es den Großen ermöglicht, die Kleinen zu ver-
nichten. Darauf erwidere ich : nicht der freie Wettbewerb
hat das ermöglicht, sondern der unrechtmäßige Wettbe-
werb. Und diese Art des Wettbewerbes, die den kleinen
Mann vernichtete, soll und kann das Gesetz verhindern.
Man weiß, wie der kleine Geschäftstreibende von den
Trusts vernichtet wird. Er schafft sich ein kleines Absatz-
gebiet. Die großen Korporationen drängen sich ein und
unterbieten ihn auf seinem heimischen Markte, dem ein-
zigen, den er besitzt ; und wenn er hier nichts mehr ver-
dienen kann, ist er vernichtet. Die großen Verbände aber,
151
die ihn auf seinem heimischen Markte unterbieten, können
zu gleicher Zeit in den übrigen Teilen der Union verdienen
und sich dadurch schadlos halten. Auf diese Weise wird
es möglich, wo immer Konkurrenten sich zu zeigen wa-
gen, die Wettbewerber einen nach dem anderen lahm zu
legen. Und da die kleinen Wettbewerber stets vereinzelt auf-
tauchen, können die großen Verbände dafür sorgen, daß sie
ein breiteres Absatzgebiet nicht erlangen. Irgendwo mußt
du anfangen. Du kannst nicht im freien Weltenraum begin-
nen, du mußt in irgendeinem Gemeinwesen beginnen. Deine
Abnehmer werden zunächst deine Nachbarn und deine Be-
kannten sein. Aber solange du über kein unbeschränktes
Kapital verfügst, das du natürlich nicht besitzt, wenn du
ein Anfänger bist, oder solange du nicht unbeschränkten
Kredit erlangst, was jene Männer zu verhindern wissen,
können sie dich jederzeit auf deinem heimischen Absatz-
gebiete lahmlegen, und das genau nach demselben Grund-
satz, nach dem sie die organisierte Arbeiterschaft über-
winden ; denn sie können auf deinem Markte mit Verlust
verkaufen, weil sie auf allen anderen Märkten mit Gewinn
verkaufen ; und sie können die Verluste durch die Gewinne
wieder ausgleichen, die sie dort erzielen, wo sie andere
Wettbewerber schon vernichtet und ausgeschaltet haben.
Wenn immer aber ein Konkurrent, der Glück und viel Ka-
pital hat, auf dem allgemeinen Markt erscheint, dann muß
der Trust ihn aufkaufen und drei- oder viermal so viel be-
zahlen, als das Unternehmen wert ist. Nach dem Ankauf
müssen die Zinsen für jene Summe aufgebracht werden,
die für das Unternehmen bezahlt wurde. Und um diese
Zinsen für das zu dem Ankauf geliehene Kapital, die Ak-
tien und Obligationen, zu erlangen, muß das Volk durch
höhere Preise die Steuer entrichten. Aus diesem Grunde
sind die großen Trusts und die großen Kombinationen in
Amerika die verschwenderischste und unökonomischste
152
Art der Industrieführung ; und wenn sie einen gewissen
Umfang überschreiten, erreichen sie auch die geringere
Leistungsfähigkeit.
Ein bemerkenswertes Beispiel bleibt die Art, in derHerr
Carnegie von dem Stahltrust aufgekauft wurde. Herr Car-
negie konnte bessere Fabriken und bessere und billigere
Stahlschienen herstellen als irgendeiner jener Leute, aus
denen später die United States Steel Corporation hervor-
ging. Man wagte es nicht, ihn außerhalb der Interessen-
gemeinschaft zu lassen. Er besaß eine so gefährliche Fähig-
keit, die besten Fabrikationsmethoden ausfindig zu ma-
chen; er besaß eine so große Menschenkenntnis und Er-
fahrung bei der Auswahl seiner tüchtigsten Mitarbeiter ;
er wußte so genau, wann ein junger Mann, der in sein
Unternehmen eingetreten war, zur Beförderung geeignet
und dazu reif war, die Leitung irgendeines Zweigunter-
nehmens zu übernehmen, und er wußte so sicher, daß der
ausgewählte Mann sich bewähren würde, daß er aus-
nahmslos alle Konkurrenten in Stahlschienen unterbieten
konnte. Und so kaufte man ihn auf, kaufte ihn zu einem
Preise, der dreimal oder viermal, — ich glaube sogar fünf-
mal — so hoch war wie der Schätzungswert seines Besitz-
tums und seines Geschäftes; und man tat das, weil man
ihn im freien Wettbewerb nicht schlagen konnte. In den
Preisen aber, die man fortan für die Stahlprodukte for-
derte, die Fabrikate der Carnegieschen Fabriken einge-
schlossen, mußten wir die Zinsen für die vier- oder fünf-
fache Differenz aufbringen.
Das ist der Unterschied zwischen einem großen Ge-
schäft und einem Trust. Ein Trust ist eine Einrichtung zum
Zwecke der Beseitigung der Konkurrenz ; und ein großes
Geschäft ist ein Unternehmen, das die Konkurrenz über-
dauert, indem es auf dem Gebiete der Tüchtigkeit und der
Sparsamkeit siegte. Ein Trust bereichert nicht die Leistungs-
153
fähigkeit des Handels : er kauft die Leistungsfähigkeit auf.
Ich bin für große Geschäfte und gegen Trusts. Vor jedem
Manne, der durch seine Tüchtigkeit besteht, vor jedem,
der den anderen aus dem Felde schlagen kann, weil er seine
Fabrikate den Konsumenten billiger liefern kann und zu-
gleich ihren Gebrauchswert und ihre Qualität zu verbes-
sern vermag, vor jedem Manne, der das vermag, ziehe
auch ich den Hut und sage: ,,Du bist der Mann, der die
Vereinigten Staaten in die Höhe bringen kann, und ich
wollte, es gäbe noch mehr von deiner Art." Aber mehr
von dieser Art wird es nicht geben, solange nicht ein
Mittel gefunden wird, Monopole zu verhindern. Es liegt
auf der Hand, daß ein Trustunternehmen, das unter der
Last einer viel zu hohen Kapitalisierung einherkeucht,
kein Unternehmen ist, das es sich leisten kann, Konkur-
renz zuzulassen. Denn in dem Augenblick, da ein ratio-
nell geführtes Unternehmen, ein Unternehmen, dessen
Kapital bis zum letzten Heller arbeitet, am Markte auf-
taucht und den Wettbewerb mit einem überbürdeten Trust
aufnimmt, wird es unvermeidlich den Trust schlagen
und unterbieten; und darum liegt es im Interesse des
Trusts, das Monopol aufrecht zu erhalten. Seine Führer
vermögen die Absatzgebiete der Welt auf keine andere
Weise als auf dem Wege des Monopols zu beherrschen und
zu behaupten. Und darum ist es auch nicht erstaunlich,
wenn sie heute die Begründusg einer neuen Partei unter-
stützen, die ein schönes Programm wohlwollender Für-
sorge aufstellt, aber zugleich das Monopol auf eine den
Trusts erträgliche Weise gelten läßt.
Wir müssen unsere Aufmerksamkeit, ob wir das nun
wollen oder nicht, noch auf einen anderen Gegenstand
richten. Ich nehme diese Dinge nicht darum in den Mund,
weil sie etwa meinem Gaumen behagen; und ich erörtere
sie auch nicht mit dem Wunsche, irgendwen anzugreifen
154
oder Dinge umzustürzen ; ich spreche von ihnen, weil wir
uns nur durch eine offene Aussprache über die Lage der
Dinge klar werden können. Aus einer nicht weit zurück-
liegenden Untersuchung ersehen wir, daß die Dinge sich
wie folgt abspielen. Eine gewisse Bank legt Kapital in ge-
wissen Aktien an. Es liegt auf der Hand, daß mit der Über-
nahme dieser Aktien ein Interesse sehr eng verknüpft ist,
die Preise gewisser Artikel aufrecht zu erhalten. Niemand
sollte und unter normalen Verhältnissen würde auch nie-
mand einen Augenblick daran denken, gegen die Leiter einer
großen Bank den Verdacht zu hegen, daß sie eine solche
Kapitalsanlage unternehmen, um die Erhaltung der Markt-
preise jenen zu ermöglichen, die in den Vereinigten Staaten
einen bestimmten Geschäftszweig betreiben ; aber die Ver-
hältnisse sind nicht normal. Man beginnt zu glauben, daß
im Großhandel unseres Landes nichts von etwas anderem
unabhängig ist. Ich beziehe mich nicht auf das Beispiel,
das ich erwähnte, und ich möchte auch nicht auf bestimmte
Fälle exemplifizieren, denn das wäre ungerecht ; aber man
nehme jede Anlage industriellen Charakters, die eine Bank
unternimmt. Es ist bekannt, daß der Direktorenstab dieser
Bank persönlich mit zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig,
sechzig Verwaltungsräten aller Arten verknüpft ist ; mit den
Verwaltungsräten von Eisenbahnen, die Waren befördern,
mit denen großer Fabrikantengruppen, die Waren erzeu-
gen, und mit den großen Kaufleuten, die Waren vertrei-
ben ; und die Folge ist, daß jede große Bank Gefahr läuft,
die Motive ihrer Kapitalsanlagen verdächtigt zu sehen.
Man hält es zumindest für möglich, daß sie im Interesse
von irgendwem handelt, der mit dem Bankwesen nichts
zu tun hat, mit dem aber einige der Bankdirektoren ge-
meinsame oder benachbarte Interessen haben. Kurz : die
Beunruhigung und Besorgtheit des Publikums erwächst
aus der zunehmenden Erkenntnis, daß viele große Unter-
155
nehmungen miteinander verwoben sind und in ihrem
Personal voneinander nicht mehr zu unterscheiden sind.
Wenn daher eine kleine Gruppe von Männern an den
Kongreß herantritt, um die zuständige Kommission zu
veranlassen, gewisse Gesetze zu revidieren oder zu ver-
ändern, dann kann niemand die Verzweigungen und Ver-
kettungen der von diesen Männern vertretenen Interessen
überblicken. Und daher scheint es in den öffentlichen Be-
ratungen kein ehrliches und freimütiges Walten der öf-
fentlichen Meinung zu geben ; jeder einzelne steht in dem
Verdachte, irgendeinen anderen zu vertreten, und niemand
weiß, wo seine Verbindungen anfangen und wo sie auf-
hören. Glückliche Umstände gaben mir Gelegenheit, die
Art, in der solche Dinge entstehen, kennen zu lernen, ohne
mit ihnen verknüpft zu sein, und ich glaube nicht, daß ir-
gendwer dieses System mit bestimmter Absicht ersonnen
hat. Ich bin nicht so unwissend oder schlecht unterrichtet,
als daß ich annähme, es gäbe irgendwo eine vorsätzliche
und böswillige Kombination zur Beherrschung der Regie-
rung der Vereinigten Staaten. Ich sage nur, daß durch ge-
wisse heute allgemein bekannte und an sich vielleicht be-
greifliche Prozesse ein außergewöhnlicher und sehr ver-
derblicher Zusammenschluß in der Führung unserer An-
gelegenheiten die Herrschaft erlangt hat.
Wie das auch gekommen sein mag, wichtiger ist noch,
daß die Macht der Kreditgewährung gefährlich zentrali-
siert ist. Es entspricht nur der Wahrheit, wenn man sagt,
daß die finanziellen Hilfsmittel des Landes jenen nicht zur
Verfügung stehen, die sich nicht der Leitung und der Herr-
schaft jener kleiner Kapitalistengruppen fügen, die die
wirtschaftliche Entwicklung des Landes beaufsichtigen und
führen wollen. Das größte Monopol in diesem Lande ist das
Monopol der großen Kredite. Solange es fortbesteht, kann
von unserer alten Vielseitigkeit und Freiheit und indivi-
156
dueller Tatkraft der Entwicklung nicht die Rede sein. Eine
große Industrienation wird durch ihr Kreditsystem be-
stimmt. Unser Kreditsystem konzentriert sich auf die
Hände weniger Männer. Infolgedessen liegt das Wachstum
der Nation und all unser Wirken in den Händen weniger
Leute, die notgedrungen — wie ehrlich und dem Allgemein-
wohl zugewandt ihre Absichten auch sein mögen — ihr
Interesse auf jene großen Unternehmungen konzentrieren,
in denen ihr Geld angelegt ist ; und damit müssen sie not-
gedrungen, auf Grund ihrer eigenen Abhängigkeit, die wirk-
liche wirtschaftliche Freiheit beengen und vernichten. Das
ist die wichtigste von allen Fragen, und ihr müssen sich
die Staatsleute mit dem ernsten Willen widmen, der fernen
Zukunft und der wahren Freiheit der Menschheit zu dienen.
Der Geldtrust, oder richtiger gesagt, der Kredittrust,
mit dessen Untersuchung der Kongreß begonnen hat, ist
kein Mythus und kein Wahngebilde der Phantasie. Er ist
ein gewöhnlicher Trust wie jeder andere. Er macht nicht
täglich Geschäfte. Er macht nur Geschäfte, wenn die Ge-
legenheit dazu kommt. Du kannst bisweilen, solange er
nicht auf der Hut ist, etwas Größeres unternehmen ; aber
wenn er auf der Hut ist, kannst du nicht viel erreichen.
Ich habe es mitangesehen, wie Menschen durch diesen Kre-
dittrust erdrosselt wurden ; ich habe Leute gesehen, die,
wie sie es selbst nannten, ,, durch Wallstreet aus dem Ge-
schäftsleben hinausgesetzt wurden", weil Wallstreet sie als
unbequem empfand und ihre Konkurrenz nicht wünschte.
Dabei möchte ich betonen, daß ich die Motive der Männer
vom Wallstreet nicht anzweifle. Sie glauben, dies sei der
beste Weg, für den Wohlstand des Landes zu sorgen. Wenn
du die Herrschaft über den Markt in der Hand hältst, zwingt
dich dann die Ehrlichkeit, die Hand zu öffnen und zu
leeren? Wenn du den Markt in der Hand hast und über-
zeugt bist, besser als irgendwer das Wohl des Landes zu
157
ermessen, ist es dann patriotisch, deinen Einfluß zu zer-
stören? Ich kann mir vorstellen, daß jene Männer sich
selbst diese Gründe vorhalten.
Die größte Gefahr für unser Land ist nicht die Existenz
dieser einzelnen großen Korporationen — wie groß diese
Gefahr auch sein mag ; die große Gefahr ist die Korpora-
tion der Korporationen, die Zusammenschließung aller
Verbände, der Verknüpfung der Eisenbahnen, der Indu-
strieunternehmungen, der großen Bergwerke und der gro-
ßen Unternehmungen zur Entwicklung der natürlichen
Wasserkräfte. Durch die Persönlichkeiten ihrer Direktoren
und durch die Angehörigen einer langen Reihe von Ver-
waltungsräten werden sie zu einer ,, Interessengemein-
schaft**, die gewaltiger ist als jede denkbare einzelne Kor-
poration, die offen zutage tritt.
Die Organisation des Geschäftslebens hat sich in Ame-
rika stärker, viel stärker zentralisiert als die politische Or-
ganisation des Landes. Es gibt Verbände, die sich über grö-
ßere Gebiete als einzelne Staaten erstrecken; sie unter-
stehen einer größeren Vielfalt von Gesetzen als der Bürger
selbst, überbieten ganze Staaten mit ihren Budgets und er-
scheinen in ihrem Einfluß auf Leben und Wohlergehen gan-
zer Menschengemeinschaften größer als Staatsverbände.
Das zentralisierte Geschäftsleben hat gewaltige Bauten der
Organisation aufgetürmt, die alle Staaten überspannen und
an Weite des Umkreises, die Bundesregierung der Ver-
einigten Staaten ausgenommen, ihresgleichen nicht haben.
Was zu vollbringen bleibt — und es ist eine gewaltige
Aufgabe, die nicht ohne Überlegung und die nicht leichten
Sinnes unternommen werden kann — ist die Entwirrung
dieser gewaltigen ,,Interessengemeinschaft". Welche Wege
wir auch bei der Behandlung der einzelnen auf die Be-
schränkung der Handelsfreiheit hinwirkenden Korporatio-
nen einschlagen werden : es gibt keine einzelne erklärte
IS»
Kombination, die groß genug sein könnte, um den Ver-
einigten Staaten Schrecken einzuflößen; aber wenn alle
Korporationen sich verbinden und wenn die daraus empor-
wachsende Kombination keinem Gesetze faßbar wird, wenn
sie nichts weiter als eine Identität von Personen oder Inter-
essen ist, dann steht man vor etwas, das selbst die Regie-
rung der Nation Furcht lehren kann. Und dieses Etwas
muß das Gesetz auseinanderlegen und vorsichtig aber ent-
schlossen und zäh trennen.
Der Chemiker unterscheidet bekanntlich zwischen
einer chemischen Verbindung und einem Amalgam. Eine
chemische Verbindung hat etwas vollbracht, was ich wis-
senschaftlich nicht beschreiben kann, aber ihre Moleküle
sind eng miteinander verschmolzen, sie sind eins gewor-
den. Ein Amalgam aber stellt eine nur durch körperlichen,
durch äußeren Druck erzeugte Vereinigung dar. Dieser
nur körperliche Kontakt aber läßt sich beseitigen, ohne die
einzelnen Elemente zu verletzen; und diese ,, Interessen-
gemeinschaft", von der wir sprachen, ist ein Amalgam;
du kannst sie lösen, ohne irgendeines der beteiligten
Interessen zu verletzen. Nicht, daß ich besonders zartfüh-
lend gegenüber manchen dieser vereinigten Interessen
wäre — ich stehe nicht unter dem Zwang, übertrieben höf-
lich gegen sie zu sein — aber ich bin um das Geschäfts-
leben des Landes besorgt, und ich glaube daran, daß dessen
Unantastbarkeit von dieser Trennung und Auflösung ab-
hängig ist. Ich glaube nicht, daß irgendeine Gruppe von
Männern genug Einblick und genug Genie hat, um zu be-
stimmen, wie die Entwicklung der Möglichkeiten und wie
die künftigen Leistungen dieses Landes beschaffen sein
sollen.
Die Lage läßt sich wie folgt zusammenfassen : eine ver-
hältnismäßig kleine Zahl von Männern hat die Herrschaft
über die Rohstoffe Amerikas ; eine verhältnismäßig kleine
150
Zahl von Männern hat die Herrschaft über die Wasser-
kräfte, die einer ökonomischen Erzeugung von Kraft
zum Antrieb unserer Maschinen nutzbar gemacht werden
könnten ; und dieselbe Zahl von Männern beherrscht zum
größten Teil die Eisenbahnen ; durch Vereinbarungen,
die sie untereinander schließen, beherrschen sie die Preis-
gestaltung und zugleich das Kreditwesen des Landes.
Wenn die Schritte getan werden, die notwendig sind, um
dieses weitgreifende Monopolsystem zu überwinden und
aufzulösen, dann wird der Handel gerettet und nicht ge-
schädigt ; und wenn diese einzelnen Interessen voneinan-
der getrennt und dieses Netzwerk von Verbindungen auf-
gelöst werden soll, dann haben wir eine größere Interessen-
gemeinschaft im Auge, jene Interessengemeinschaft, die
die Tugenden aller Menschen verbündet, und jene Men-
schengemeinschaft, die groß und weitherzig genug ist, um
in den Bereich ihres Verstehens alle Arten von Menschen
und alle menschlichen Umstände aufzunehmen ; dann den-
ken wir daran, daß keine Gesellschaft vom Gipfel aus und
daß jede Gesellschaft sich vom Boden aus erneuert. Be-
grenze die Möglichkeiten, beschränke das Gebiet der
schöpferischen Leistung, und du hast dem Fortschritt das
Herz ausgerissen und die Wurzel zerstört.
Es gibt nur ein Mittel, um ein freies Land zu schaffen,
und es heißt : sorge dafür, daß unter jeder Jacke ein freies
und hoffnungsvolles Herz schlage. Die ehrliche amerika-
nische Industrie ist immer, wenn sie überhaupt gedieh, auf
dem Boden der Freiheit gediehen und nie auf dem des Mo-
nopols. Es ist besser, für sich selbst zu arbeiten, als eine
große Kapitalsvereinigung für einen sorgen zu lassen.
Ich möchte lieber als freier Mann verhungern, als nach
Laune wie irgendein Ding von jenen ernährt zu werden,
die die amerikanische Industrie so organisierten, wie es
ihnen beliebte. Ich weiß es und jeder Mann fühlt das in
i6o
seinem Herzen : der einzige Weg zur Bereicherung Ame-
rikas liegt in der freien Möglichkeit, daß ein jeder, der Ver-
stand und Tüchtigkeit besitzt, vorwärtskommen kann.
Ich bin auf kein Unternehmen eifersüchtig, das zu seinem
Umfang emporgewachsen ist. Ich bin auf kein Wachs-
tum eifersüchtig, wie riesenhaft das Ergebnis auch sein
möge, wenn dieses Resultat wirklich durch jene gesunden
Entwicklungsprozesse erstand, dessen Grundpfeiler Lei-
stungsfähigkeit, Sparsamkeit, Intelligenz und Erfindungs-
geist bilden.
II i6i
iiiiiiiiiiniiiiiii
Neuntes Kapitel
Gnade oder Recht
Die Lehre, das Monopol der Trusts sei nicht zu vermei-
den, und daß die einzige Möglichkeit für das Volk der
Vereinigten Staaten die sei, es zu regeln, um sich ihm zu
unterwerfen, fand während des Wahlkrieges von 1912
einen Verfechter in einer neuen Partei, die als Abzweigung
der republikanischen Partei unter der Führung von Herrn
Roosevelt entstanden v/ar. Als hervorragender Helfer —
ich sage dies ohne jegliche Ironie, nur um die Tatsachen
genau zu konstatieren — stand ihm Herr George W. Per-
kins zur Seite, der Organisator des Stahltrusts und des Mäh-
maschinentrusts, und außer ihm noch mehr als drei Mil-
lionen Bürger, darunter viele patriotisch gesinnte, gewis-
senhafte und geistig hochstehende Männer und Frauen.
Die Annahme des Monopolprinzips war ein charakteri-
stisches Merkmal des neuen Parteiprogramms, aber die
Aufmerksamkeit der Klugen und Gerechten wurde durch
den Reiz eines verlockenden sozialen Programms, das
von der Verbesserung des Loses derjenigen, die Unrecht
und Entbehrung zu leiden haben, handelte, davon abge-
lenkt. Dieses und die weitere Tatsache, daß trotz alledem
das Programm von der Majorität der Nation verworfen
wurde, machen es höchst notwendig, über die Bedeutung
eines Bekenntnisses, wie es zum ersten Male in der Ge-
schichte unseres Landes von einer Partei gemacht wurde,
nachzudenken. Es dürfte dazu beitragen, die Geister von
manchem nicht geringem Irrtum zu befreien, jetzt, nach-
162
dem der Kampf um die Präsidentenwahl vorüber ist, ge-
nau zu untersuchen, was es denn ist, was Herr Roose-
velt vorgeschlagen hat.
Herr Roosevelt gab in seinem Programm einige glän-
zende Anregungen, wie durch großartige Unternehmungen
die menschliche Rasse gehoben werden könnte. Aber bei
einer prunkenden Wahlrede interessiert mich mehr die in-
nere Kraft als die Rhetorik. Ich bin für das Praktische, und
ich will wissen, wer diese schönen Dinge vollbringen soll und
wie sie vollbracht werden sollen. Wenn man den Trustpas-
sus in jenem Programm so oft gelesen hat wie ich, hat man
den Eindruck, daß er sehr lang, aber sehr tolerant ist. Nir-
gends wird das Monopol verdammt, höchstens in Wor-
ten. Es läuft darauf hinaus, daß die Trusts schlecht waren
und besser gemacht werden müßten. Bekanntlich unter-
schied Herr Roosevelt zwischen guten und schlechten
Trusts und meinte, nur die schlechten seien zu fürchten.
Nun wünscht er nicht etwa, daß die schlechten überhaupt
abgeschafft würden, sondern schlägt vor, die schlechten
durch bestimmte Vorschriften, die direkt durch eine Kom-
mission mit ausübender Gewalt anzuwenden wären, zu
guten zu machen. Alles, worüber er sich beklagt, ist der
Mangel an Offenheit und Ehrlichkeit, und nicht die Aus-
übung von Zwang ; denn in dem ganzen Passus wird die
Macht der großen Verbände als unvermeidliche Folge der
modernen Industrieentwicklung angesehen. Alles was zur
Besserung vorgeschlagen wird, ist, sie unter Aufsicht und
Regulierung zu stellen. Da die nationale Verwaltung seit
i6 Jahren an der Regulierung der Trusts gearbeitet hat,
würde das Ganze eine reine Familienangelegenheit sein,
in der nur die Rollen vertauscht würden und die Regu-
lierung anderen Familienmitgliedern überwiesen wäre.
Augenscheinlich würden dann die Trusts, die unter solchen
Umständen ganz bequem fortfahren könnten, unter dem
IX<
163
milden Einfluß der Föderalregierung unsere Angelegen-
heiten zu verwalten, das Werkzeug sein, durch das das
ganze übrige humane und beglückende Programm dieser
interessanten Parteipolitik ausgeführt würde.
Ich habe diese politischen Grundsätze wieder und wie-
der gelesen, um ganz sicher zu sein, daß ich sie richtig ver-
stünde. Alles, worüber sie sich gerechterweise beklagen,
ist, daß diese Herren ihre Macht auf geheimen Wegen aus-
üben. Deshalb gebrauchen wir Offenheit. Zuweilen han-
deln sie willkürlich, daher bedürfen sie der Überwachung.
Oftmals kümmern sie sich nicht um die Interessen der All-
gemeinheit, deshalb müssen sie durch eine Industrie-Kom-
mission an diese Interessen erinnert werden. Aber immer
sind es die Trusts und nicht wir selbst, die für unser Wohl
sorgen sollen. Aber ich erhebe Einspruch dagegen, in die
Hand der Trustvorstände gegeben zu sein. Herrn Roosevelts
Regierungsauf fassung ist Herrn Tafts Auffassung, nämlich,
daß die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten die Prä-
sidentschaft eines Direktorenkollegiums sei. Die vorge-
schlagene Regelung ist sehr schön, sehr verführerisch, in
jenem Programm gab es Grundsätze, die alle Sympathien
des Herzens aufrühren. Sie schlagen Dinge vor, wie wir
alle sie tun möchten, aber die Frage ist: Wer wird sie
tun ? Durch wessen Vermittelung ? Ist Amerika geneigt,
die Trusts zu fragen, ob sie aus Gnade gewähren wollen,
was wir haben müssen ?
Die dritte Partei sagt, das gegenwärtige System von
Handel und Industrie müsse bestehen bleiben. Sie be-
hauptet, daß diese künstlich aufgebauten Verhältnisse, die
sich ohne Monopol nicht am Markt halten können, so blei-
ben müssen. Und das einzige, was die Regierung tun könne,
und was die dritte Partei zu tun vorschlägt sei die Einsetz-
ung einer Kommission zur Regulierung des Monopols. Gut.
Die Partei sagt : Wir wollen es nicht unternehmen — denn
164
es wäre nutzlos — dieMonopoleaufzuheben, aber wirwollen
eine Anordnungtreff en, wodurch die Monopole auch günstig
gestimmt werden. Wir leisten Gewähr, daß sie gnädig sein
werden. Wir garantieren, daß sie die richtigen Arbeitslöhne
zahlen. Wir garantieren, daß sie alles in gütiger und ge-
meinnütziger Absicht tun, wozu sie nie zuvor auch nur die
geringste Neigung verrieten.
Allein der Weg zu sozialer Reform ist nicht durch die
Kräfte gewinnen, durch die die soziale Reform erst not-
wendig geworden ist. Der grundlegende Teil dieses Pro-
gramms besteht darin, daß die Trusts als beständiger Faktor
unseres wirtschaftlichen Lebens anerkannt werden und
daß die Regierung versuchen soll, aus den Trusts dienliche
Werkzeuge zu machen, durch welche unser Leben nach
industrieller Seite hin gerecht und gut entwickelt werde.
Denn alles, was unser Leben früher oder später berührt,
geht auf die Industrie, die Erhalterin unseres Lebens, zu-
rück. Ich habe oft darüber nachgedacht, daß die Bitten des
Vaterunsers doch durchaus menschlich angeordnet sind.
Denn wir bitten vor allem: ,, Unser täglich Brot gib uns
heute", da wir wissen, daß es keinen Sinn hat, um geistige
Gaben mit einem leeren Magen zu bitten. Der Arbeitslohn,
den wir bekommen, die Art der Kleider, die wir tragen, die
Beschaffenheit der Nahrung, die wir zu kaufen imstande
sind, sind von grundlegender Bedeutung für alles übrige.
Diejenigen, die unser physisches Leben beherrschen, be-
herrschen daher auch unser geistiges. Und wenn wir die
schönen Absichten der großen Hymne, die die Anhänger
der dritten Partei mit fast religiöser Glut anstimmten,
ausführen wollen, dann muß es uns vorerst gelingen, her-
auszufinden, durch wen diese Ideale von Humanität ver-
wirklicht werden sollen.
Ich will nicht unter der Herrschaft von Philanthropen
leben. Ich habe es nicht nötig, daß sich die Regierung oder
165
die von ihr beeinflußten Leute um mich kümmern. Ich für
meinen Teil wünsche nur, daß Recht und Gerechtigkeit
regieren. Man gebe uns unser Recht und übe Gerechtig-
keit, und ich will schon für mich selber sorgen. Wenn man
die Trusts zu dienlichen Werkzeugen für die Entwicklung
des Landes erheben und sie unter die Oberaufsicht der Re-
gierung stellen will, so will ich den alten spanischen
Spruch beten: ,,Gott schütze mich vor meinen Freunden,
vor meinen Feinden will ich mich schon selber schützen."
Denn ich muß vor diesen Freunden geschützt werden.
Wohl gemerkt, ich sage ,, diese Freunde", denn ich gebe
zu, daß viele, die an einer gedeihlichen Entwicklung unse-
rer Industrie durch Monopole glauben. Freunde des Volkes
sein wollen. Obgleich sie vorgeben, meine Freunde zu sein,
schlagen sie einen falschen Weg ein, der es ihnen unmög-
lich macht, mir den Dienst zu leisten, auf den es ankommt,
nämlich : daß ich frei sei und dieselben Chancen habe, die
jeder hat. Denn ich sehe es als Grundbedingung der ameri-
kanischen Freiheit an, daß wir keine Sondervorrechte ver-
langen, weil wir wissen, daß die Sondervorrechte dem
Wohle der Allgemeinheit schaden. Das ist der fundamen-
tale Unterschied in der Sinnesrichtung der Anhänger bei-
der Parteien, der jetzigen und der früheren Regierungs-
partei. Die letztere ist von der Idee, die Interessen des
Großhandels könnten die Vereinigten Staaten stützen und
vorwärtsbringen, so durchdrungen, daß sie nicht imstande
ist, sich davon frei zu machen. Sie hat die Regierung in
die Hand der Trustvorstände gegeben, und Herr Taft und
Herr Roosevelt waren die rivalisierenden Kandidaten, die
über die Trustvorstände präsidieren sollten. Sie waren
zweifellos Kandidaten, die dem Volke nach besten Kräf-
ten nützen wollten, aber sie hatten nicht die Absicht, dies
unmittelbar zu tun, sondern indirekt durch jene unge-
heure Macht, die sich schon an die Spitze gestellt hat und
i66
so groß ist, daß es fast fraglich wird, ob die Regierung der
Vereinigten Staaten mit dem ganzen Volk hinter sich stark
genug ist, um sie zu überwinden und zu beherrschen.
Sollen wir versuchen, die harte Faust des Monopols ab-
zuschütteln oder nicht? Sollen wir unsere Hand zurück-
ziehen und uns trösten : Monopole sind nicht zu umgehen,
alles was wir tun können, besteht in ihrer Regulierung ?
Sollen wir zugeben, daß das Werk unserer eigenen Hände
stärker ist als wir selbst ? Die ganze Zeit, in der die ver-
bündeten Mächte der Hochfinanz stärker als die Regie-
rungsmacht waren, haben wir in Furcht gelebt. Sind wir
dahin gekommen, daß der Präsident der Vereinigten Staa-
ten seinen Hut vor der Hochfinanz ziehen und erklären
muß : Ihr seid unsere unerläßlichen Herren, aber wir wol-
len sehen, wie wir uns am besten damit abfinden ?
Wir stehen am Scheidewege. Wir haben nicht etwa ein
oder zwei oder drei, sondern viele gefährliche Monopole in
den Vereinigten Staaten errichtet. Wir haben nicht ein
oder zwei, sondern viele Arbeitsfelder, auf denen eine Be-
tätigung für den unabhängigen Mann schwer, ja fast un-
möglich ist. Wir haben Beschränkung des Kredits, be-
schränkte Erwerbsmöglichkeit, behinderte Entfaltung und
wir sind zu einer der schlechtest geleiteten und äußerem
Zwang unterworfenen Regierung der ganzen zivilisierten
Welt gelangt, unter der nicht mehr die freie Meinung und
Überzeugung der Majorität entscheiden, sondern die Mei-
nung und der Wille einzelner herrschender Männer.
Wenn die Regierung den Großindustriellen vorschreibt,
wie sie ihr Geschäft führen sollen, dann müssen die Groß-
industriellen sich selbstverständlich noch enger als jetzt
an die Regierung anschließen. Ist es nicht klar, daß sie die
Regierung gewinnen müssen, um durch sie nicht allzu
sehr eingegrenzt zu werden ? Aber welche Frage 1 Sie ha-
ben sie ja bereits gewonnen! Lädt man sich die Leute ins
167
Haus, die schon darinnen sind? Sie brauchen nicht hin-
zukommen, denn sie sind schon da. Wollt ihr euern eige-
nen Grund und Boden erst erwerben oder nicht? Vor die-
ser Wahl steht ihr. Wollt ihr sagen : Ihr kamt zwar nicht
auf dem rechten Wege ins Haus, aber ihr seid nun einmal
drin, Gott befohlen ! Wir werden hier draußen in der Kälte
stehen und ihr könnt uns ab und zu etwas herauslangen ?
Nach dem Plan, dessen Gegner ich bin, soll eine Part-
nerschaft zwischen Regierung und Trusts bestehen. Ver-
mutlich sollte die Firma nach außen hin von dem älteren
Teilhaber geleitet werden. Ich vermute wenigstens, daß die
Regierung der Vereinigten Staaten der ältere Teilhaber ist,
obgleich der jüngere Teilhaber die ganze Zeit hindurch
das Geschäft gemacht hat. Aber wenn aller Antrieb, Ener-
gie und ein gut Teil Genie in dem jüngeren Teilhaber liegt,
wie es so oft bei Kompagniegeschäften der Fall ist, so
glaube ich nicht, daß die Aufsicht des älteren Teilhabers
besonders hoch einzuschätzen ist. Und ich glaube nicht,
daß durch Aufsicht oder Ratschläge der Förderalregie-
rung den Trusts Wohlwollen gepredigt werden kann.
Denn nach meiner Erfahrung haben die Trusts niemals
Ratschläge von der Regierung angenommen. Im Gegenteil,
die Ratschläge der Trusts sind von der Regierung befolgt
worden. Für das Volk der Vereinigten Staaten gibt es keine
Hoffnung, solange nicht diese Teilhaberschaft gelöst ist.
Und die Aufgabe der Partei, die jetzt die Macht in den
Händen hat, ist es, diese Auflösung herbeizuführen.
Die Anhänger der dritten Partei unterstützen, glaube
ich, ein für die Monopole durchaus annehmbares Pro-
gramm. Wie jene, die ihr Lebenlang gegen die Monopole
gekämpft haben, die Fortsetzung des Kampfes gerade un-
ter dem Banner der Leute, die sie bekämpft haben, recht-
fertigen, kann ich mir nicht vorstellen. Ich verwerfe das
Programm von Grund auf, denn es ist in keiner Weise fort-
1.68
schrittlich. Warum vertrat Herr Gary gerade diese Me-
thode, als er an der Spitze des Stahltrusts stand ? Warum
wird gerade diese Methode überall dort gerühmt, wo man
an der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen wirtschaft-
lichen Systems der Vereinigten Staaten interessiert ist?
Warum betreiben die Leute, die nicht gestört werden wol-
len, die Annahme dieses Programms ? Der Rest des Pro-
gramms ist sehr schön, er wird von einem warmen Mit-
gefühl für das menschliche Geschlecht getragen. Aber ich
wünsche nicht die Sympathie der Trusts für das mensch-
liche Geschlecht. Ich lehne diese herablassende Hilfe ab.
Und ich mache jeden fortschrittlichen Republikaner, der
dieses Programm unterstützt, darauf aufmerksam, daß
er gerade mit der Überzeugung, der er dienen will, falsches
Spiel treibt. Diese Überzeugung hieß Kampf gegen das
Monopol, gegen die Bevormundung, gegen die Konzen-
tration der Macht in unserer Industrieentwicklung, gegen
alle jene Dinge, die dem freien Unternehmen im Wege
sind. Ich bin der Meinung, daß der Alp, der so drückend auf
unserem Lande liegt, die gegenwärtige Monopolisierung
unseres Industrielebens ist. Das ist der Grund, der gewisse
Mitglieder der republikanischen Partei zu ,, Auf rührern"
werden ließ : sie wollten dieses Joch abschütteln. Und doch
ließen sich einige von ihnen so mißleiten, daß sie in das
Lager der dritten Partei übergingen um das zu beseitigen,
was die dritte Partei zum Gesetz erheben möchte. Dieses
Vorgehen aber entspricht den Ansichten gerade jener Leute,
die bevormundet werden sollten, und das ist gerade der
falscheste Gesichtspunkt, von dem aus ein Vorgehen be-
trachtet werden kann.
Ich sagte vor kurzem, daß Herr Roosevelt einen Plan
zur Überwachung der Monopole verteidigte, der von dem
Stahlverband der Vereinigten Staaten unterstützt wurde.
Herr Roosevelt bestritt, von mehr als einem Mitglied des
169
Stahlverbandes unterstützt worden zu sein. Er meinte:
durch Geld. Ich meinte : durch Ideen. Ich habe nicht ge-
sagt, er hätte von diesen Herren Geld bekommen, es war
mir ganz gleichgültig, woher er sein Geld bekam : aber es
war mir äußerst wichtig, woher er seine Ideen bekam.
Er hatte seine Ideen über die Monopolüberwachung von
den Herren, die den amerikanischen Stahlverband bilden.
Ich gebe durchaus zu, daß die Herren, die an der Spitze
des Stahlverbandes stehen, vollkommen berechtigt sind,
ihre eigenen Gedanken darüber zu haben und sie auf das
Volk der Vereinigten Staaten anzuwenden, aber ich möchte
feststellen, daß ihre Ideen nicht die meinen sind, und ich
bin ganz fest überzeugt, daß sie keinen einzigen Gedanken
fördern würden, der ihrem Monopol bedrohlich würde. Da
ich aber hoffe und beabsichtige, den Monopolen so viel als
möglich in den Weg zu legen, kann ich keine Abmachun-
gen billigen, die ihnen die Gewißheit freier Bahn gewährt.
Roosevelts Plan ist es, eine Industriekommission ein-
zusetzen und sie mit der Aufsicht über die großen mono-
polistischen Verbände, die sich unter dem Schutze des Ta-
rifs gebildet haben, zu beauftragen ; und die Regierung der
Vereinigten Staaten soll darüber wachen, daß diese Herren,
die die Arbeit unterjocht haben, den Arbeitern wohlge-
sinnt bleiben. Der Vorschlag scheint mir also dahin zu
gehen, daß es zwei Herren geben soll : der große Verband
und darüber die Regierung der Vereinigten Staaten. Und
ich frage, wer soll die Regierung überwachen? Jetzt tun
die es, die vereint die Monopole beherrschen. Und wenn
die Regierung unter der Aufsicht der Monopole nun wieder
die Monopole beaufsichtigt, dann ist ja die Teilhaberschaft
endgültig.
Wie wohlwollend auch der Herr sein mag, ich will un-
ter keinem Herrn leben. Dafür ward Amerika nicht geschaf-
fen. In Amerika soll einer wie der andere die gleiche Mög-
170
lichkeit haben, selbständig über seinen Besitz zu verfügen.
Was ich vollbracht sehen will ist gleichbedeutend mit dem,
was die Behörden von Glasgow mit den Mietshäusern taten.
Ich will, daß die Wege dieser großen Verbände erleuchtet
und überwacht werden, damit niemand, der sie überschrei-
ten will, überfallen und mißhandelt werden kann. Wenn
ihr nichts weiter tut, als daß ihr die Widersacher zurück-
haltet und dafür sorgt, daß die Schwachen beschützt wer-
den, dann will ich wetten, daß sich in den Vereinigten
Staaten eine Reihe von Männern erheben wird, die trotz
ihrer vorläufigen wirtschaftlichen Schwäche genug Ver-
stand besitzen, um mit jenen Herren zu wetteifern. Sie
werden diese Herren zur Anstrengung all ihrer Kräfte
veranlassen, und in dem Augenblick, in dem sie an den
Arbeitsmarkt gelangen, wird er sich erweitern.
Es ist zu beweisen, daß die Arbeit in Amerika gerade
dort, wo sie hoch bezahlt wird, sich billiger stellt als die
niedrig bezahlte Arbeit auf dem europäischen Kontinent.
Wißt ihr, daß 90 % aller angestellten Arbeiter unseres Lan-
des nicht in den durch Zölle geschützten Industrien be-
schäftigt sind, und daß ihre Löhne fast ohne Ausnahme
höher sind als die der Arbeiter in den geschützten Indu-
strien? Nur wo in Amerika die Arbeit frei ist, wird sie
hoch bezahlt.
Es ist bezeichnend, daß der Vorkämpfer des Planes der
Anerkennung der Monopole sein Festhalten an dem Prinzip
des ,, Schutzzolls" ausdrücklich erklärt. Nur die Zölle, die
sogar zu hoch sind, um den Interessen jener, die durch
sie geschützt sind, dienlich zu sein, müssen seiner Ansicht
nach erniedrigt werden. Er erklärt, daß er durch die Tat-
sache, daß ein sehr großer Teil des Geldes der Tasche
des einfachen Steuerzahlers entnommen wird und in die
Tasche der ,, geschützten" Fabrikanten wandert, nicht be-
unruhigt ist, aber daß es ihn beunruhige, daß so wenig von
171
diesem Geld in die Tasche des Arbeiters und ein unverhält-
nismäßig großer Teil in die Tasche der Arbeitgeber falle.
Ich habe sein Programm sehr sorgfältig daraufhin un-
tersucht, ob ich eine Anweisung darüber fände, wie ein
größerer Teil dieser „Prämien" dem Arbeiter zugute kom-
men könne, aber ich habe keine gefunden. Herr Roosevelt
macht in einer seiner Reden den Vorschlag, daß Fabrikan-
ten, die ihre Einkünfte nicht freigebig genug mit ihren Ar-
beitern teilten, durch eine starke Beschränkung des ihnen
gewährten Schutzzolles bestraft werden sollten, aber das
Programm schlug in dieser Hinsicht, soviel ich sehen
konnte, nichts vor. Überdies würden, bei dem vorgeschla-
genen System, die meisten Arbeitgeber, und in der Tat ge-
rade die wichtigsten von ihnen, ganz und gar Schützlinge
und Mündel der Regierung sein, die unser aller Herr ist,
denn kein Satz dieses Programms kann richtig erörtert
werden, ohne daß maji daran erinnert, daß das Monopol
nach der Darstellung jenes Programmes nicht abgeschafft
sondern beibehalten werden soll. Es soll beibehalten und re-
guliert werden. Jeder Widerstandsversuch muß aufgegeben
werden. Es soll als unentbehrlich angenommen werden.
Die Regierung soll eine Kommission einsetzen, deren
Pflicht es sein wird, nicht etwa das Monopol einzuschrän-
ken, sondern es nur unter Gesetze zu stellen, die das Mono-
pol selbst entwerfen und entwickeln soll. So daß die Haupt-
arbeitgeber eine ungeheure Macht hinter sich haben wür-
den : was sie auch täten, geschähe mit Genehmigung der
Bundesregierung.
Es ist für die Arbeiter unseres Landes der Mühe wert,
sich ins Gedächtnis zurückzurufen, welcher Art die Hal-
tung der verbündeten Industrien der organisierten Ar-
beit gegenüber gewesen ist. Sie waren die größten und
erfolgreichsten Gegner der organisierten Arbeit und sie
haben vielfach versucht, deren Bemühungen zu unter-
172
graben. Sie taten es zum Teil mit der Miene der Menschen-
freundlichkeit und des Wohlwollen und zweifellos war es
ihnen mit ihren guten Absichten auch ernst. Hier und da
wurden Systeme aufgestellt, die eine Teilung des Gewinnes,
Entschädigung für Verletzungen, Gratifikationen und so-
gar Altersrenten vorsahen, aber jeder einzelne dieser Pläne
diente nur dazu, die Arbeiter noch fester an die Trusts zu
binden. Die Rechte unter diesen verschiedenen Einrich-
tungen sind keine gesetzlichen Rechte. Es sind nur Privi-
legien, die die Angestellten genießen, solange sie in ihrer
Stellung bleiben und die Gesetze der großen Industrien
erfüllen, für die sie arbeiten. Wenn sie sich weigern, ihre
Unabhängigkeit aufzugeben, können sie die ihnen gebo-
tenen Vorteile nicht mehr genießen.
Wenn man die Sache gründlich durchdacht hat, kommt
man zu dem Schluß, daß das Programm der neuen Partei
die Monopole legalisiert, ihnen die Arbeiter systematisch
unterordnet und sie unter Gesetze stellt, die die Regierung
mit Rücksicht auf die Industriellen und die Löhne gemacht
hat. Als Ganzes betrachtet, sieht die Sache merkwürdig
nach wirtschaftlicher Gewalt über Leben und Besitz je-
ner aus, die die tägliche Arbeit der Nation leisten, und
alles das unter der überwiegenden Macht und Oberhoheit
der nationalen Regierung. Diese Teilhaberschaft zwischen
dem Großhandel und der Regierung aufzuheben, das ist es,
wofür die meisten von uns kämpfen. Alle klugen Männer
werden bezeugen, daß, wenn jenes Programm der dritten
Partei ausgeführt würde, die großen Arbeitsherren und
Kapitalisten des Landes mehr als je vor der unwider-
stehlichen Versuchung ständen, ihre Herrschaft über die
Regierung auszuüben und sie ihren Zwecken dienstbar
zu machen.
Wenn ich die schönen Erlasse des Programms der drit-
ten Partei, die der Erholung der Menschheit gewidmet
173
sind, lese und sehe, wie verständige Männer und Frauen
sich der Partei anschließen, weil sie hoffen, daß durch die
Regelung der Monopolwirtschaft sich alle ihre Träume
von Humanität verwirklichen werden, so muß ich mich
verwundert fragen, ob sie wirklich nachgedacht haben,
durch welche Mittel und Werkzeuge diese schönen Dinge er-
reicht werden sollen. Der Mann, der der Führer der dritten
Partei war, hat seine Ansichten, seitdem er Präsident der
Vereinigten Staaten war, nicht geändert. Ich verlange
nicht, daß er sie ändert. Ich sage nicht, daß es nicht sein
gutes Recht ist, sie beizubehalten. Aber ich sage, daß es
nicht verwunderlich ist, daß ein Mann, der als Präsident
solchen Ansichten über die Regierung seines Landes hul-
digte, nicht wieder gewählt und ihm nicht die Möglich-
keit gegeben wurde, die jetzigen Industrieverhältnisse zu
schützen.
Es gibt eine Geschichte des menschlichen Geschlechts
und eine Geschichte der Regierungen, beide sind über-
liefert ; und die verschiedensten Dinge sind vorgeschlagen
und wieder und wieder versucht worden und haben stets
zu demselben Erfolg geführt. Die Weltgeschichte ist auf
ihrem ganzen Wege mit Trümmern gescheiterter Regie-
rungen besät, die es versuchten, menschlich zu sein und
menschenfreundliche Programme durch die Vermittlung
jener zu verwirklichen, die die Herrschaft über die mate-
riellen Güter ihrer Mitmenschen ausüben. Die Monopole
konnten sich noch niemals mit Prinzipien der Toleranz
einverstanden erklären. Sie kennen nur den Zweck ihrer
Sondervorteile. Habt ihr jemals Trusts gesehen, die sich
darum kümmerten, ob die Gesundheit der Frauen unter-
graben wurde oder nicht ? Kennt ihr Trusts, die Bedenken
trügen, minderjährige Kinder zu beschäftigen? Gibt es
Trusts, die es sich angelegen sein ließen, die Lungen und
die Gesundheit und die Freiheit ihrer Angestellten zu
174
schützen? Gibt es Trusts, die ebensoviel an ihre Leute
denken wie an ihre Maschinen? Wer will die Trusts in
Werkzeuge der Gerechtigkeit umwandeln ?
Die Sorge um die Arbeiter, die Frauen und die Kinder
Amerikas möchte ich nicht den Vertretern der Sonder-
interessen ausgeliefert sehen. Ich möchte Recht und Ge-
rechtigkeit, Ehrlichkeit und Menschlichkeit sich in allen
Gesetzen der Vereinigten Staaten entfalten sehen, und
keine Macht soll zwischen das Volk und seine Regierung
treten. Gerechtigkeit ist es, was wir brauchen, keine Be-
günstigung, keine Herablassung und keine Hilfe aus Mit-
leid.
Ich gebe zu, daß dies, was wir als Nation jetzt unter-
nehmen wollen, zu den schwierigsten Regierungsauf-
gaben zählt, die es gibt. Wir sind bisher ohne allzu großen
Beistand von selten unserer Regierung ausgekommen.
Wir haben in den vergangenen Monaten mehr und mehr
gefühlt, daß das amerikanische Volk im Vergleich mit
den anderen Völkern im Nachteil ist, wenn wir abwägen,
was andere Regierungen für ihr Volk tun und was die
unsrige verabsäumt. Jedem, der Blick für die nächste Zu-
kunft hat und aus bestimmten Anzeichen der Gegenwart
sich ein Bild der kommenden Dinge macht, ist es klar, daß
wir an der Schwelle einer Zeit stehen, in der das wirt-
schaftliche Leben unseres Landes in jeder Weise durch
die Tatkraft der Regierung unterstützt und ergänzt werden
muß. An uns ist es jetzt, zu bestimmen, welcher Art die
Tätigkeit der Regierung sein soll, ob sie von der Regierung
direkt ausgehen soll oder ob sie indirekt von Mächten
ausgehen soll, die schon bereit stehen, diese Regierung zu
unterjochen.
Wir haben ein großes Programm, das vom Beistand
der Regierung und von der Mitarbeit der ganzen Nation
handelt, aber wir können nichts damit anfangen, ehe wir
175
nicht die Regierung frei gemacht haben. Das ist der sprin-
gende Punkt. Wohltätigkeit hat noch nie einen Menschen
oder eine Nation zur Entfaltung gebracht. Wir wollen keine
herablassende Regierung. Wir wollen eine freie und eine
gerechte Regierung. Jeder einzelne der großen Pläne von
sozialer Erhebung, die von hochgesinnten Leuten unter
uns jetzt so viel besprochen werden, gründet sich, wenn er
recht verstanden wird, auf Gerechtigkeit, nicht auf Wohl-
wollen oder Gnade. Er gründet sich auf das Recht der Men-
schen, reine Luft zu atmen, auf das Recht zu leben, auf
das Recht der Frauen, Kinder zu gebären und nicht so
überbürdet zu sein, daß Krankheit und Zusammenbruch
die Folge sind ; auf das Recht der Kinder, zu gedeihen und
groß und stark zu werden ; auf alle Fundamente des Le-
bens, die uns wirklich am Herzen liegen und die unser Ver-
stand als Grundpfeiler der Gerechtigkeit ansieht.
Die Politik unterscheidet sich von der Menschenliebe
darin, daß man in der Menschenliebe die Dinge oft aus
reinem Mitgefühl tut, während wir in der Politik, wenn
wir gerechtdenkende Menschen sind, immer aus Gerech-
tigkeit und auf der Basis langer Erfahrungen handeln. Wir
persönlich müssen manchmal] aus ' Mitgefühl für unsere
Nebenmenschen Dinge tun, die mehr als gerecht sind.
Wir müssen Menschen vergeben, wir müssen Menschen
helfen, die unrecht getan haben. Wir müssen manchmal
solchen helfen, die Verbrechen begangen haben. Aber das
Gesetz vergibt nicht. Es ist seine Pflicht, die Zustände
auszugleichen, den Weg des Rechtes zum Weg der Sicher-
heit und der Zweckmäßigkeit zu machen, dafür zu sorgen,
daß jeder die Möglichkeit zu leben findet, und darüber
zu wachen, daß niemandem Unrecht und Ungerechtig-
keit geschehe.
Wir dürfen in diesen großen Fragen der Leidenschaft
in unseren Herzen und Gedanken keinen Raum gewähren,
176
wir dürfen uns nicht durch Groll oder Unwillen beherr-
schen lassen, wir müssen der Gefahr unserer Lage ins Auge
sehen. Diese Gefahr besteht, sonderbar genug, nicht etwa
in der Böswilligkeit der Leute, die unser industrielles Leben
beherrschen, sondern in ihrer geistigen Bedeutung und
ihrem ehrenhaften Denken. Diese Männer glauben, daß das
Gedeihen der Vereinigten Staaten nur gesichert ist, wenn
sie es in Händen halten. Wenn sie unredlich wären, könn-
ten wir sie durch das Gesetz ausschließen, da aber die mei-
sten von ihnen redlich sind, können wir sie nur dadurch
unschädlich machen, daß wir einer Verwirklichung ihrer
Überzeugungen entgegenarbeiten. Ich fürchte mich vor
keinem Verbrecher. Ich fürchte mich vor keinem Schur-
ken. Ich fürchte mich aber vor einem starken Mann, der
unrecht hat und dessen falsche Gedanken durch seine
eigene Charakterstärke und seine Macht der Rede anderen
aufgezwungen werden können. Wenn Gott es nur so ein-
gerichtet hätte, daß alle Menschen, die im Unrecht sind,
Schurken wären, so könnten wir sehr leicht mit ihnen
fertig werden, weil sie sich früher oder später doch ver-
raten würden ; aber Gott hat unsere Aufgabe schwieriger
gestaltet — er hat gute Menschen geschaffen, die Falsches
denken. Wir bekämpfen sie nicht, weil sie schlecht, son-
dern weil sie im Unrecht sind. Wir müssen sie durch eine
höhere Kraft überwinden, durch die geistige, herrliche
und dauernde Kraft einer besseren Einsicht.
Der Grund, daß Amerika begründet wurde, war die
Absicht, daß es sich von allen anderen Nationen dadurch
unterscheiden sollte, daß der Starke den Schwachen nicht
an die Wand drücken, daß er ihn nicht verhindern soll, am
Wettkampf teilzunehmen. Amerika will freie Möglich-
keiten, Amerika will freie Bahn für alle und duldet keine
Begünstigungen, Amerika will eine Regierung, die für die
Interessen aller verantwortlich ist. Und ehe Amerika alle
13 177
diese Ideale nicht in die Praxis umsetzt, hat es kein Recht,
sein Haupt inmitten der Völker so hoch zu tragen, wie es
das tun gewohnt war.
Es ist einem zumute, als käme man aus einem dump-
fen Keller ins Freie, man kann wieder atmen und den
offnen Himmel sehen, wenn man sich von einem solch
kläglichen Programm der Unterwerfung und Abhängig-
keit dem vertrauensvollen Beschluß zuwendet, dem das.
Volk seine Vollmacht gegeben hat. Unser Ziel ist die
Wiederherstellung der Freiheit. Wir wollen darauf hin-
arbeiten, private Monopole gesetzlich zu verhindern und
das System, durch die die Monopole geschaffen wurden,
gesetzlich unmöglich machen. Wir wollen, daß die Nieder-
drückung des Unternehmungsgeistes des Einzelnen auf-
höre, auf daß die heranwachsende Generation es nicht nötig
habe, Schützling herablassender Trusts zu sein, sondern
sich ihr Leben frei nach eigenem Willen gestalten kann.
Dann werden wir wieder aus dem vollen Becher der Frei-
heit und nicht aus dem der Barmherzigkeit trinken —
den einzigen Wein, der je den Geist eines Volkes erfrischt
und erneuert hat.
178
Zehntes Kapitel
Die Entthronung des Boß
Eine der wunderlichsten Erscheinungen Amerikas ist für
mein Empfinden die Tatsache, daß sich das Land seit
mehr als einer Generation von Leuten regieren ließ, die
man damit nicht beauftragt hatte. Und sonderbar bleibt
die schier endlose Geduld, mit der das amerikanische Volk
still zusieht, wie Dinge geschehen, gegen die es gestimmt
hat und die es nicht vollbracht sehen wollte. Nie hat Auf-
lehnung die Anordnungen der Regierung gestört.
Es gibt in den Vereinigten Staaten kaum einen Landes-
teil, der nicht wüßte, daß Sonderinteressen und Sonderab-
sichten die Regierung führen. Das geschah durch das
Walten jener interessanten Leute, die wir in der Politik
, »Bosses'* nennen. Ein Boß ist weniger Politiker als ein
politischer Geschäftsagent für Sonderinteressen. Ein Boß
gehört zu keiner Partei, er steht hoch über den Parteien.
Er hat seine Abmachung mit dem Boß der anderen Partei,
so daß, ob nun Kopf oder Schwanz, stets wir es sind, die
verlieren müssen. Aus den gleichen Quellen beziehen die
beiden Bosses ihre Einnahmen, und sie verwenden die Bei-
träge für die gleichen Zwecke. Es sind Leute, die die ein-
flußreiche Stelle, auf der sie stehen, durch geheime Machen-
schaften erlangten ; Leute, die nie gewählt wurden, die das
Volk nicht zum Regieren bestimmte und die weit mäch-
tiger sind als sie es wären, wenn man sie gewählt oder be-
rufen hätte. Ihre Macht währt so lange, als man sie dort
gewähren läßt, wo sie walten: in geheimen Beratungen
12* 179
hinter verschlossenen Türen. Sie sind keine Politiker, sie
haben keine politischen Überzeugungen, es sei denn die
heimliche Politik des eigenen Fortkommens. Ein Boß ist
kein Parteiführer. Parteien versammeln sich nicht in Hin-
terzimmern und Parteien treffen keine Anordnungen, die
nicht in die Zeitungen kommen. Parteien sind, wenn man
sie nach der Zahl ihrer Wähler beurteilt, große Menschen-
massen, die darum, weil sie nicht vorhandene Wahlzettel
nicht abgeben können, jene Wahlzettel abgeben, die bei
den erwähnten Abmachungen in den erwähnten Hinter-
zimmern für sie bereitgelegt wurden. Der Boß handhabt
die Wahlmaschine. Und eine ,, Maschine" ist jener Teil
einer politischen Organisation, der den Angehörigen der
Partei aus den Händen gewunden wurde und durch ein
halbes Dutzend Männer erhalten wird. Es ist der Teil, der
aufgehört hat, politisch zu sein und eine Agentur für die
Ziele skrupelloser Geschäftsinteressen geworden ist. Aber
die Sünden dieser Transaktionen sollten nicht den poli-
tischen Organisationen zur Last gelegt werden. Organi-
sation ist gesetzlich berechtigt, ist notwendig und sogar
vortrefflich, wenn sie der Verwirklichung großer Ziele
dient. Nur jener, der die politische Organisation zu privaten
Zwecken benutzt, ist ein Boß. Ich ehre den Mann, der die
Organisation einer großen Partei stark und leistungsfähig
macht, auf daß sie dem öffentlichen Interesse dienstbar
werde. Aber jener Mann ist kein Boß. Ein Boß ist, wer diese
großen ehrlichen Kräfte zu geheimen Zwecken mißbraucht.
Der Umstand, daß es im geheimen wirkt, ist einer der
schlimmsten Züge dieses Boßsystems. Lieber wollte ich
unter einem König leben, den ich wenigstens kenne, als
unter einem Boß, den ich nicht kenne. Ein Boß ist ein viel
schlimmerer Herr, denn er ist nicht sichtbar und hat die
Hände immer dort im Spiel, wo man es am wenigsten er-
wartet. Als ich vor einigen Monaten in Oregon weilte, hatte
i8o
ich eine sehr interessante Unterhaltung mit Herrn U'Ren,
dem Urheber des sogenannten Oregonsystems, durch das
die Bosses ausgeschaltet worden sind. Er gehört einer
Gruppe sozial gesinnter Männer an, die jedesmal, wenn sie
ihr Ziel durch das Parlament nicht erlangen können, einen
Gesetzentwurf aufsetzen und durch eigene Initiative dem
Volke zur Abstimmung unterbreiten. Und sie erreichen auf
diesem Wege auch gewöhnlich ihren Zweck. An dem
Tage, da ich nach Portland kam, stand zufällig in einer
Morgenzeitung in recht ironischen Worten zu lesen, es
gäbe in Oregon zwei gesetzgebende Instanzen ; die eine be-
finde sich in der Hauptstadt Salem, die andere aber stolziere
unter dem Hute des Herrn U'Ren einher. Als ich am Abend
eine Rede hielt, konnte ich der Versuchung nicht wider-
stehen und sagte, daß es mir — wiewohl ich als letzter die
Macht in einem einzelnen Individuum oder in einer Gruppe
von Individuen konzentriert sehen möchte — nach meinen
Erfahrungen in New Jersey auf jeden Fall lieber sei, eine
gesetzgebende Instanz unter dem Hute eines mir bekann-
ten und erreichbaren Mannes zu wissen, als einer Gesetz-
gebung zu unterstehen, die unter dem Hute von Gott weiß
wem herumliefe. Denn im ersten Falle könne man die re-
gierende Instanz wenigstens erreichen und wisse, wo sie zu
finden sei.
Warum fahren wir fort, solche Dinge zuzulassen ? Es
wird Zeit, daß wir mündig werden und selbst die Führung
unserer Angelegenheiten übernehmen. Ich bin es müde,
in der Politik als unmündig zu gelten. Ich möchte nur mit
jenen zusammenarbeiten, die auch in politischer Bezie-
hung über einundzwanzig sind. Ich möchte mich nicht ruhig
hinsetzen und andere für mich sorgen lassen, ohne zum
mindesten mitreden zu können ; und hört man nicht auf
meinen Rat, so will ich ihnen die Arbeit so unerfreulich
machen, als ich das vermag. Und das nicht, weil etwa mein
i8i
Rat notgedrungen gut sein muß, sondern weil keine Re-
gierung gut ist, in der nicht ein jeder darauf besteht, daß
sein Rat gehört werde, ob er nun befolgt werde oder nicht.
Manche behaupten, die repräsentative Regierung, die
Regierung durch die Vertreter des Volkes, habe sich als
eine zu mittelbare und umständliche Einrichtung er-
wiesen und als ein Mittel der Überwachung durch das Volk
versagt. Andere, die etwas tiefer sehen, behaupten, daß es
nicht die Regierung durch die Volksvertretung sei, die ver-
sagt habe, sondern nur die Bemühungen, eine solche Re-
gierung zu erlangen. Man hat darauf hingewiesen, daß bei
unserem jetzigen System der Kandidatenaufstellung und
der Wahlen, bei denen uns nur die Wahl zwischen dieser
oder jener Reihe von der ,, Maschine" aufgestellter Kan-
didaten bleibt, eine repräsentative Regierung, eine Regie-
rung durch die Vertreter des Volkes überhaupt nicht zu
erlangen sei, sondern nur eine Regierung der politischen
Unternehmer, die allein ihren eigenen Zwecken und den
Interessen jener dienen, mit denen ihnen ein Bündnis vor-
teilhaft erscheint. An diesem Einwand ist augenscheinlich
etwas, das die Wurzel der ganzen Angelegenheit berührt.
Hinter jeder Reform steht die Methode, mit der man sie
verwirklicht. Hinter der Frage : was braucht ihr ? steht die
für jede Art des Regierens entscheidende Frage : wie wollt
ihr es erlangen ? Wie wollt ihr euch jene Diener der Öffent-
lichkeit schaffen, die für euch eine Sache durchsetzen.Wie
wollt ihr wirkliche Volksvertreter erlangen, die euren In-
teressen dienen und nicht ihren eigenen oder denen einer
bestimmten Gruppe eurer Mitbürger, deren Macht die
Macht der wenigen und nicht die der vielen ist ? Das sind
Fragen, die die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf
das Thema der direkten Urwahl lenkten, auf die Frage der
unmittelbaren Wahl aller Beamten durch das Volk und auf
die Beseitigung des jetzigen Systems der Kandidatenauf -
182
Stellung durch die politischen Maschinen. Und damit tau-
chen auch die nicht weniger bedeutsamen Fragen der direk-
ten Senatorenwahl, der Initiative bei Gesetzesanträgen, der
Volksabstimmung und der Beamtenabsetzung auf.
Der entscheidende Augenblick bei der Wahl der Be-
amten ist heute viel häufiger der Augenblick ihrer Auf-
stellung als Kandidat als die Stunde der Wahl durch das
Volk. Wenn zwei Parteiorganisationen, die sich dem Na-
men nach feindlich gegenüberstehen, in Wirklichkeit aber
in völligem Einverständnis arbeiten, dafür sorgen, daß die
Wahllisten beider Parteien Kandidaten gleicher Art auf-
stellen, dann wird es belanglos, für welchen dieser Kan-
didaten das Volk sich entscheidet ; die politischen Manager
haben uns in der Hand, was immer wir auch tun mögen.
Es steht uns frei, uns der angenehmen Täuschung hinzu-
geben, daß wir unsere eigenen Kandidaten zu Beamten
wählen ; in Wirklichkeit aber treffen wir nur eine gleich-
gültige und wirkungslose Auswahl zwischen zwei Reihen
von Leuten, die durch alle möglichen anderen, aber nicht
durch unsere eigenen Interessen als Kandidaten aufge-
stellt wurden.
Wenn wir die direkte Urwahl und die Auswahl der
Kandidaten beanspruchen, so geschieht das mit der Ab-
sicht, die heimlichen und selbstsüchtigen Entscheidungen
über die Frage, wer zur Wahl gestellt werden soll, unmög-
lich zu machen. Mehr und mehr bricht sich die Überzeu-
gung Bahn, die Herrschaft über jene Mächte, die uns bis-
her beherrschten, sei nur dadurch zu gewinnen, daß wir
selbst unter jenen Männern, die als Kandidaten auftreten
sollen, die erste Auswahl treffen. Man hat eingewandt, dies
Verfahren könne nicht immer wirksam sein, das Volk sei
zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt oder zu träge, um
sich um sein Stimmrecht in den Parteiversammlungen zu
bekümmern. Gewiß, bisweilen läßt die Bevölkerung eines
183
Staates oder einer Gemeinde eine Kandidatenwahl vor-
übergehen, ohne gegenüber den Bosses ihr Recht geltend
zu machen. Die Wählermasse der Vereinigten Staaten
gleicht manchmal dem Götzen Baal : bisweilen ist sie ab-
wesend und manchmal schläft sie auch ; aber wenn sie er-
wacht, dann gleicht sie dem Götzen Baal nicht im gering-
sten. Dann ist sie eine große selbstbeherrschte Gewalt, die
wirklich die Führung ihrer eigenen Angelegenheiten in die
Hand nimmt. Ich bin bereit zu warten. Ich zähle zu jenen,
die so unerschütterlich an die grundlegenden Lehren der
Demokratie glauben, daß ich bereit bin zu warten, bis der
große Herrscher zu erwachen beliebt, vorausgesetzt, daß
das Werkzeug seiner Macht bereit liegt, um jederzeit, wenn
das wünschenswert erscheint, ergriffen werden zu können.
Es gibt noch eine andere Frage, die konservative Gemü-
ter beunruhigt : die direkte Wahl der Senatoren der Verei-
nigten Staaten. Ich hörte bedächtige Männer darüber mit
einer Art Schauder diskutieren, als sei eine Änderung in der
ursprünglichen Konstitution des Senates ein Verbrechen
und eine Mißachtung der Verfassung. Allein zu der Achtung
vor dem Senat der Vereinigten Staaten gehört vor allem die
Achtung vor den Senatoren. Ich zähle nicht zu jenen, die
den Senat der Vereinigten Staaten als Körperschaft ver-
dammen; denn was sich dort auch ereignete und durch
welch fragwürdige Praktiken und korrupte Einflüsse
manche Senatorenstühle auch besetzt worden sind — es
muß offen ausgesprochen werden : die Mehrzahl der Se-
natsmitglieder stand die ganzen Jahre hindurch makellos
da und stets gab es genug ehrenhafte Männer, die Ame-
rikas Selbstachtung und Amerikas Vertrauen zu seinen
staatlichen Einrichtungen rechtfertigen.
Es erübrigt sich, auf die schmerzliche Tatsache zurück-
zukommen, daß Sitze im Senat auf gewisse V\^eise erkauft
wurden. Und man weiß, daß eine kleine Senatorengruppe,
184
die das Zünglein an der Wage bildete und dadurch mäch-
tig war, immer wieder Reformvorschläge, auf die das
ganze Land seine Hoffnungen gesetzt hatte, zum Schei-
tern brachte. Wenn man die Mächte, die hinter diesen
kleinen Gruppen standen, näher untersucht, erfährt man,
daß nicht die Macht der öffentlichen Meinung jene Män-
ner zu jenem Tun trieb, sondern geheime Einflüsse, die
sich bei oberflächlicher Betrachtung nicht enthüllen.
Um zu den alten Grundsätzen zurückzukehren, zu
denen wir uns bekennen: hat das Volk der Vereinigten
Staaten nicht das Recht, darüber zu wachen, daß jeder
Sitz im Senat die unbestochenen Vereinigten Staaten von
Amerika vertrete ? Berührt die direkte Wahl der Senatoren
irgend etwas anderes als die heimliche Beherrschung der
Sitze im Senat ? Wir erinnern uns einer anderen Tatsache,
unseres Verdachtes gegen gewisse Parlamente, die Sena-
toren wählen. Einige dieser Verdachte, die wir in New
Jersey hegten, haben sich als auf höchst greifbaren Tat-
sachen beruhend erwiesen. Bis vor zwei Jahren war New
Jersey seit einer halben Generation im Senate der Ver-
einigten Staaten nicht durch die Männer vertreten, die
gewählt worden wären, wenn die Wahl frei und auf den
Willen des Volkes begründet gewesen wäre.
Wir wollen uns nicht selbst täuschen, unsere Köpfe in
den Sand stecken und sagen: ,, Alles ist in schönster Ord-
nung." Gladstone erklärte die amerikanische Verfassung
für das vollkommenste Schriftstück, das je vom Menschen-
geiste verfaßt worden sei. Die Welt rühmte uns eine be-
sondere Befähigung nach, zweckmäßige Einrichtungen zu
ersinnen, aber zu diesem Thema machte ein sehr kluger
und geistreicher Engländer eine sehr lehrreiche Bemer-
kung ; er meinte, der Umstand, daß die amerikanische Ver-
fassung sich bewährt habe, beweise noch nicht, daß sie
auch wirklich eine vortreffliche Verfassung sei ; denn Ame-
185
rikaner verstünden jede Verfassung so zu handhaben, daß
sie vortrefflich erscheinen könne, — ein KompUment,
das sich wie Balsam auf unsere Seele legt und doch eine
Kritik, die uns zum Nachdenken veranlassen sollte. Es ist
wahr, daß die Kräfte Amerikas, solange sie rege sind, die
Entwicklung und das Leben Amerikas lenken können, ohne
dem Ideal unserer Verfassung ernstlich untreu zu werden ;
aber es ist nicht weniger wahr, daß wir viele beschämende
Fälle von Mißbräuchen erleben mußten, die durch die
unmittelbare Wahl der Senatoren durch das Volk völlig
beseitigt werden könnten. Und darum will ich mir von kei-
nem Menschen, der seine amerikanische Geschichte kennt,
sagen lassen, es wäre mit dem Geist und dem Wesen ame-
rikanischer Regierungsprinzipien unvereinbar, die direkte
Senatorenwahl zu befürworten.
Eine andere Frage. Man betrachte das Problem der
Initiative in der Gesetzgebung, die Frage der Volksabstim-
mung und der Beamtenabsetzung. Es gibt in der Union
Gemeinwesen und Staaten, in denen es, wie ich bereitwillig
zugebe, vielleicht verfrüht wäre oder vielleicht auch nie-
mals notwendig sein wird, diese Maßnahmen zu erörtern.
Aber ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache
lenken, daß alle diese Bestimmungen zur allgemeinen Be-
friedigung in einer Reihe von Staaten angenommen wur-
den, in denen die Wählerschar zu der Überzeugung ge-
kommen war, daß sie in ihrem Lande keine repräsentative
Regierung besäße. Weshalb sollten wir in den Vereinigten
Staaten, dem Lande, in dem das Volk ermächtigt ist, seine
eigene Regierung zu sein, eine Bewegung für die Einfüh-
rung der Initiative in der Gesetzgebung, eine Bewegung
für die Einführung der Volksabstimmungen und der Be-
amtenabsetzung in die Wege leiten ? Wann nahm das sei-
nen Anfang ? Ich habe während der letzten fünfundzwan-
zig Jahre von kleinen Vereinen und Gesellschaften aus
i86
allen Gebieten der Vereinigten Staaten Schriftstücke und
Rundschreiben erhalten, die sich mit diesen Fragen be-
schäftigten. Aber lange Zeit wollte keine Flamme zünden.
Man spürte, daß man eine repräsentative Regierung, eine
Regierung durch die Volksvertreter besaß und war zu-
frieden. Aber vor zehn oder fünfzehn Jahren begann die
Flamme aufzulodern — und hat sich weiter und weiter
über das Land verbreitet ; denn es wuchs das Bewußtsein,
daß sich irgend etwas zwischen das Volk und die Regierung
drängte und daß man eine Macht brauchte, die unmittel-
bar und stark genug wäre, um jenes Hindernis, das sich in
den Weg stellte, beiseite zu schleudern,
f^ijflch glaube, wir stehen im Begriffe, einige der wichtig-
sten Vorrechte eines freien Volkes wiederzuerlangen, und
ich glaube auch, daß die erwähnten Fragen bei dieser
Wiedererlangung eine wichtige Rolle spielen. Ich traf kürz-
lich einen Mann, der glaubte, das Referendum sei eine Art
Tier, weil es einen lateinischen Namen hat; und es gibt
manche, denen die Bedeutung dieses Wortes noch er-
klärt werden muß. Aber die Mehrzahl kennt den Sinn und
bringt ihm ein tiefes Interesse entgegen. Warum ? Weil wir
zu oft spürten, daß unsere Regierung nicht uns vertritt,
und weil wir uns sagten : wir müssen einen Schlüssel zur
Tür unseres eigenen Hauses haben. Die Initiative zu Ge-
setzesanträgen, das Referendum und die Beamtenabsetzung
sind ein solcher Schlüssel zu unserer eigenen Wohnung.
Wenn drinnen im Hause die Leute ihr Amt so versehen,
wie wir es versehen sehen wollen, mögen sie drinnen blei-
ben, dann werden wir unseren Drücker in der Tasche be-
halten. Versäumen sie aber ihre Pflicht, dann werden wir
genötigt sein, als Eigentümer einzutreten. Man lasse sich
nicht durch den Ruf täuschen, jemand habe die Absicht,
die repräsentative Regierung durch eine direkte Regierung
durch das Volk zu ersetzen oder durch eine direkte Volks-
187
abstimmung über Gesetze, die das Parlament angenom-
men oder abgelehnt hat. Die Verteidiger dieser Reformen
haben stets in unzweideutiger Weise erklärt, daß sie die
repräsentative Regierung, die Regierung durch die Volks-
vertretung wiederherstellen und nicht beseitigen wollen;
die Initiative zu Gesetzesanträgen und die Volksabstim-
mung würden dort keine Anwendung finden, wo die gesetz-
gebenden Körperschaften wirklich das Volk vertreten, das
sie zu ihrem Dienste erwählte. Die Initiative zu Gesetzes-
anträgen ist ein Mittel, um Maßregeln durchzuführen, die
das Volk braucht, und dieses Mittel wird nur angewendet,
wenn die gesetzgebenden Körperschaften die öffentliche
Meinung überhören oder ihr trotzen. Das Referendum aber
ist ein Mittel, um zu hindern, daß Maßnahmen, die nicht
im Interesse des Volkes liegen, Gesetz werden und in
die Verfassung übergehen. Die Grundlage der Beamten-
absetzung, der ,, Abberufung" ist die Möglichkeit, einen
Verwaltungsbeamten — denn mit den Verwaltungsbeam-
ten wollen wir den Anfang machen — , der bestechlich oder
so unklug ist, Dinge zu tun, die wahrscheinlich allerlei Un-
heil stiften müssen, durch ein vom Gesetz vorgeschriebenes
Verfahren seiner Stellung zu entheben, ehe seine Anstel-
lungsfrist abläuft. Man wird zugeben, daß es bisweilen Un-
zuträglichkeiten mit sich bringt, ein sogenanntes astro-
nomisches Regierungssystem zu haben, an dem nichts ge-
ändert werden kann, ehe eine gewisse Zahl von Jahreszeit-
wechseln eingetreten ist. In vielen unserer ältesten Staaten
ist die übliche Verwaltungsfrist ein einziges Jahr. Die Be-
wohner dieser Staaten waren nicht willens, einem Beamten,
der ihren Blicken entzogen bleibt, länger als zwölf Monate
zu vertrauen. Wahlen sind dort gewissermaßen eine Art
immerwährende Tätigkeit, was aus dem Gedanken erwuchs,
das Volk müsse mit seinen eigenen Angelegenheiten in
ständiger Berührung bleiben. Das ist auch der Grundsatz
i88
der ,, Abberufung". Ich sehe nicht ein, wie jemand, der die
Überlieferungen amerikanischer Institutionen kennt, ge-
gen die Abberufung der Verwaltungsbeamten irgendeine
triftige Einwendung geltend machen kann. Die Bedeutung
der Abberufungsmöglichkeit entspringt nicht dem Ver-
langen, eine wandelbare Regierung zu haben und auch
nicht dem Gedanken, daß Beamte nicht wissen sollen, wie
lange ihre Macht währen kann ; der Sinn der Maßnahme
ist der Wille, die Verwaltung und die Regierung von Beam-
ten ausgeübt zu sehen, die sich des Ursprungs ihrer Macht
bewußt bleiben und wissen, daß sie, wenn sie heimlichen
Einflüssen erliegen, sofort durch öffentliche Einflüsse ab-
gesetzt werden.
Man versteht ohne weiteres, daß sowohl bei der Initia-
tive zu Gesetzesanträgen wie bei dem Referendum und der
Beamtenabsetzung allein das Vorhandensein dieser Ge-
walt und die Möglichkeiten, die sie in sich schließt, den
halben, ja mehr noch als den halben Sieg bedeuten. Sie
brauchen kaum jemals angewandt zu werden. Die Tatsache,
daß das Volk eingreifen kann, läßt die Mitglieder der Le-
gislatur die Notwendigkeit, selbst einzugreifen, stets füh-
len ; die Tatsache, daß das Volk das Recht hat, die Auf-
hebung von Gesetzen zu fordern, macht die Mitglieder
der gesetzgebenden Körperschaften gegen Gesetze vor-
sichtig, die das Volk nicht billigt. Die Möglichkeit aber,
abgesetzt zu werden, wird die Beamten anhalten, sich der
Verantwortlichkeit für ihr Verhalten bewußt zu bleiben.
Anders liegen die Dinge, wenn wir uns dem Gerichts-
wesen zuwenden. Ich persönlich bin nie ein Anhänger der
Richterabsetzung gewesen. Nicht daß einige Richter es
nicht verdient hätten, abgesetzt zu werden. Das ist nicht
der entscheidende Punkt. Das Entscheidende scheint mir,
daß die Absetzung der Richter nur das Symptom und nicht
die Krankheit behandelt. Das Übel sitzt tiefer und ist
189
manchmal sehr heftig und gefährlich. Es hat in den Ver-
einigten Staaten Gerichtshöfe gegeben, die durch Sonder-
interessen beeinflußt worden sind. Wir haben höchste Ge-
richtshöfe gehabt, vor denen einfache Leute keine Ge-
rechtigkeit erlangen konnten. Es hat bestochene Richter
gegeben, es hat beeinflußte Richter gegeben, es hat Rich-
ter gegeben, die als Diener anderer Leute handelten und
nicht als Diener der Allgemeinheit. Ach, die Geschichte
birgt manche schimpflichen Kapitel! Das Gerichtsver-
fahren ist die letzte Zuflucht aller Dinge, die wir in unse-
rem Lande schützen und bewahren müssen. Aber wenn
diese Zuflucht der Korruption zugänglich ist, wenn sie mei-
nen und euren Interessen keinen Schutz mehr gewährt,
sondern nur denen einer sehr kleinen Gruppe von Män-
nern, und wenn immer, wo eure Interessen mit denen
dieser kleinen Gruppe in Widerstreit geraten, die eurigen
weichen müssen, obwohl ihr neun Zehntel der Bürger und
sie nur ein Zehntel darstellen — wo bleibt dann unsere
Zuflucht und unsere Sicherheit ? Das Rechtsempfinden des
Volkes muß wie jeden anderen Zweig der Regierung und
der Verwaltung auch das Gerichtswesen beherrschen.
Aber um das zu erreichen, gibt es wirksame und unwirk-
same Mittel. Wenn — wohl gemerkt, ich sage wenn — ein-
mal die Southern Pacific Bahn den obersten Gerichtshof
des Staates Kalifornien von sich abhängig gemacht hätte :
würdet ihr durch die Absetzung der Richter dieses Ge-
richtshofes diese Situation beseitigen? Was wäre mit
der Absetzung erreicht, wenn die Southern Pacific andere
ihr ergebene Richter an ihre Stelle setzen könnte? Der
Schnitt wäre nicht tief genug. Was wir erstreben, ist Ein-
fluß auf die Auswahl der Richter. Und wenn wir dort be-
ginnen, werden wir auch den Kern der ganzen Frage tref-
fen. Denn der Schwerpunkt der Angelegenheit ist, daß das
amerikanische Volk den Verdacht hegte (der sich durch
190
alle Art von überwältigenden und unwiderleglichen Be-
weisen als gerechtfertigt erwies), wir seien Schritt um
Schritt bei allen Wendepunkten der Geschichte unseres
Landes nicht durch das öffentliche Interesse, sondern
durch geheime Abmachungen beherrscht worden. Und un-
saubere, um nicht zu sagen verderbte Einflüsse haben alles
bestimmt: von dem Erlaß von Gesetzen bis zur Verwal-
tung des Gerichtsverfahrens. Das Übel liegt in jener Gegend,
in der die Ernennung dieser Leute erfolgt; und wenn es
uns gelingt, dem Volk die Auswahl der Richter wieder-
zuerobern, werden wir uns um die Frage ihrer Absetzung
kaum noch zu sorgen haben. Die Auswahl ist von weit-
reichenderer Wirkung als die Wahl. Ich weiß wohl, daß
jene, die für die hier erörterten Maßnahmen eingetreten
sind, als gefährliche Radikale verschrien wurden. Ich be-
obachte dabei mit besonderem Interesse, daß die Leute,
die am lautesten ihre Stimme gegen das, was sie Radika-
lismus nennen, erheben, just jene Leute sind, die ihr ei-
genes politisches Spiel gefährdet sehen. Wer sind heutzu-
tage diese Erzkonservativen ? Wer sind die Leute, die die
glühendsten Lobeshymnen auf die Verfassung der Ver-
einigten Staaten und auf die Verfassung der Einzelstaaten
anstimmen? Es sind die Herren, die sich hinter jenen Ur-
kunden zu verkriechen pflegen, um mit dem Volke, dem
sie angeblich dienen, Versteck zu spielen. Es sind die Leute,
die sich selbst in jene Gesetze verstrickten, die sie falsch
auslegten und mißbrauchten. Wenn sie jetzt — und ich
glaube mit Recht — fürchten, daß der ,, Radikalismus" sie
hinwegfegen wird, so haben sie das nur sich selbst zu
danken.
Wie absurd, wie aus der Luft gegriffen und wie heuch-
lerisch ist die Anklage, wir, die wir eine das Volk vertre-
tende und für die Forderungen des Volks verantwortliche
Regierung fordern, tasteten die entscheidenden Grundsätze
191
der republikanischen Einrichtungen an! Dieselben Leute,
die so aufgeregt ihre Warnungsrufe ausstoßen, würden
am 4. Juli laut genug die Unabhängigkeitserklärung de-
klamieren ; und sie würden fortfahren und über jene präch-
tigen Kundgebungen in unseren frühesten Staatsverfas-
sungen sprechen, die von allen späteren nachgeahmt wur-
den und die der Petition der Rechte und der Erklärung der
Rechte entstammte, jenen großen grundlegenden Doku-
menten des englischen Kampfes um die Freiheit. Und doch
lesen wir sogar in diesen Dokumenten so rücksichtslose Be-
stimmungen wie die : Wenn je die Bürger eines Gemein-
wesens sehen, daß die Regierung für die Lebensverhält-
nisse und die Wahrung der Rechte der Allgemeinheit nicht
geeignet ist, dann ist es ihr Vorrecht, diese Regierung nach
ihrem Belieben nach jeder Richtung hin und in jedem Um-
fange zu ändern. Das ist die Grundlage, die innerste Lehre
und das Grundgesetz amerikanischer Einrichtungen. Ich
möchte einen Absatz aus der ,, Erklärung der Rechte" von
Virginien zitieren, aus jenem unvergänglichen Dokument,
das ein Vorbild für die Freiheitserklärungen unseres Erd-
teils geworden ist:
,,Daß alle Gewalt dem Volke übertragen und infolge-
dessen vom Volke abgeleitet ist ; daß Beamte seine Beauf-
tragten und Diener und ihm jederzeit verantwortlich sind.
Daß die Regierung für das allgemeine Wohl, den Schutz
und die Sicherheit des Volkes, der Nation oder des Gemein-
wesens eingesetzt ist oder sein soll ; von allen mannig-
fachen Arten und Formen der Regierung ist jene die beste,
die den höchsten Grad von Glück und Sicherheit hervor-
zubringen vermag und die am wirkungsvollsten gegen die
Gefahr einer Mißregierung geschützt ist; und daß, wenn
irgendeine Regierung als nicht diesen Zwecken dienlich
oder ihnen widersprechend erachtet werden sollte, die
Mehrheit des Gemeinwesens das unzweifelhafte, unver-
192
äußerliche und unantastbare Recht hat, sie zu verbessern,
zu verändern oder zu beseitigen, in solcher Weise, wie sie
dem öffentlichen Wohle als am dienlichsten erachtet wird."
Ich habe diese Sätze unzähligemal am 4. Juli verlesen
hören, aber ich hörte sie niemals, wo über aktuelle Maß-
nahmen beraten wurde. Niemand, der die Grundsätze
kennt, auf denen unsere Republik aufgebaut wurde, hat
die leiseste Furcht vor diesen sanften, wenn auch sehr wir-
kungsvollen Maßnahmen, durch die das Volk von neuem
die Führung seiner eigenen Angelegenheiten übernimmt.
Auch braucht kein Anhänger der Freiheit für den Aus-
gang des Kampfes, den wir jetzt begonnen haben, zu ban-
gen. Der Sieg ist gewiß, und der Kampf wird kein beson-
ders blutiger sein. Er wird kaum den Namen eines Kampfes
verdienen. Man lasse mich die Geschichte von der Befrei-
ung eines Staates New Jerseys erzählen:
Es hat das Volk der Vereinigten Staaten überrascht,
New Jersey an der Spitze der Reformbestrebungen zu sehen.
Ich, der ich den größten Teil meines reiferen Lebens in
New Jersey verbrachte, weiß, daß es keinen Staat in der
Union gibt, der, was Herz und Verstand des Volkes betrifft,
eine Reform ernstlicher wünschte als New Jersey. Es gibt
dort Männer, die in hervorragender Weise für die Staats-
angelegenheiten wirken und die immer wieder mit dem
ganzen ihnen innewohnenden Ernste für die Dinge ein-
traten, die zu vollbringen sie jetzt endlich in der Lage sind.
Es gibt in New Jersey Männer, die ihre besten Lebens-
kräfte daransetzten, bei den Wahlen zu siegen, um die
Unterstützung der Bürger New Jerseys für eine Reform
zu erlangen.
Das Volk hatte vor dem Herbst des Jahres 1910 sehr
oft seine Stimme für diese Reform abgegeben, aber das
Merkwürdige war, daß nichts, geschah. Man forderte die
Wohltat gewisser reformatorischer Bestimmungen, wie
13 193
sie in jedem fortschrittlicheren Staat der Union angenom-
men worden waren, Maßnahmen, die bewiesen hatten,
daß sie nicht nur das Leben der Gemeinwesen, in denen sie
Geltung hatten, nicht umstürzten, sondern durch deren
Wirksamkeit jede Kraft neu belebt und jede Lebensbe-
dingung gebessert wurde. Aber das Volk von New Jersey
vermochte diese Maßnahmen nicht zu erlangen, und so
bemächtigte sich der Bürger eine gewisse pessimistische
Verzweiflung. Des öfteren traf ich Leute, die die Achsel
zu zucken pflegten und meinten: ,,Es ist ja gleichgültig,
wofür wir stimmen, nie ist der Abstimmung irgendetwas
gefolgt." Die Macht, die hinter der vor kurzem neu gebil-
deten Partei, der sogenannten Fortschrittspartei, steht, ist
die Macht der Unzufriedenheit mit den alten Parteien der
Vereinigten Staaten. Es ist das Gefühl, daß man oft genug
in Sackgassen geraten ist und daß irgendwie freie Bahn
geschaffen werden muß, durch die man zu irgendeinem
Ziele kommen kann.
Im Jahre 1910 kam der Tag, da das Volk von New
Jersey Mut faßte und zu glauben begann, daß etwas voll-
bracht werden könnte. Als Kandidat für den Gouverneurs-
posten besaß ich keinerlei Verdienste, es sei denn, daß
ich sagte, was ich wirklich dachte und daß das Volk mir
dieses Kompliment dadurch zurückgab, daß es glaubte,
ich meinte wirklich, was ich sagte. Aber trotzdem sie dem
Gouverneur, den sie damals erwählten, glaubten, trotz-
dem sie ihm voll und ganz vertrauten : er konnte absolut
nichts durchsetzen. Viel mehr als in ihren eigenen Geistes-
gaben liegt die Stärke der Staatsmänner einer Nation im
Vertrauen des Volkes und im Rückhalt im Volke. In dem
Maße als die Allgemeinheit ihnen vertraut, sie unterstützt
und ihnen die eigene Kraft leiht, in dem Maße sind sie
stark. Die Dinge, die sich in New Jersey seit 19 10 ereig-
neten, haben sich ereignet, weil der Samen in den frucht-
194
baren Boden des allgemeinen Vertrauens und der Hoffnung
gepflanzt worden war.
In dem Augenblick, da in New Jersey die bisherigen
Gegner der Reformbestrebungen erkannten, daß das Volk
neue Männer stützte, die das meinten, was sie sagten, er-
kannten sie, daß sie ihnen nicht widerstehen durften. Es
war nicht die persönliche Kraft der neuen Beamten: es
war die moralische Kraft des hinter ihnen stehenden Vol-
kes, die den außergewöhnlichen Erfolg erzielte.
Und was ward erreicht ? Nur Gerechtigkeit für Volks-
klassen, die vordem nicht gerecht behandelt worden waren.
Jeder Schuljunge in New Jersey konnte, wenn er sich
die Mühe nahm, die Dinge zu betrachten, die Tatsache
erkennen, daß die Gesetze, die sich auf die Entschädigun-
gen der Arbeiter bei Betriebsunfällen beziehen, zu einer Zeit
entstanden waren, da die Gesellschaft in einer von heute
durchaus abweichenden Art organisiert war. Und da die
Gesetze nicht geändert worden waren, blieben die Gerichts-
höfe gezwungen, blindlings Gesetze anzuwenden, die den
bestehenden Verhältnissen nicht mehr entsprachen, so daß
es für die Arbeiter von New Jersey tatsächlich unmöglich
war, vor Gericht Gerechtigkeit zu erlangen. Die Legislatur
des Staates war ihnen nicht mit der notwendigen Gesetz-
gebung zur Hilfe gekommen. Diese Umstände waren für
keinen Menschen ernsthaft strittig; jeder wußte, daß die
Gesetze veraltet und unmöglich waren und daß man ver-
gebens Gerechtigkeit suchte.
Dann gab es eine andere Aufgabe, die wir zu lösen
wünschten : wir wünschten die Bestimmungen über die Pu-
blic Service Corporations*) so zu regulieren, daß wir von
ihnen eine angemessene Arbeitsleistung zu vernünftigen
*) Die zu Verbänden trustartig organisierten Gesellschaften, die
Staat, Gemeinden und Publikum mit Wasser, Gas und Elektrizität ver-
sorgen und vielfach auch die Straßenbahnen betreiben. Anm. d. Ü.
13* 195
Bedingungen fordern könnten. Das war in anderen Staaten
geschehen, und wo es geschehen war, hatte sich diese Maß-
nahme ebensosehr zum Vorteil der Korporationen wie
zum Nutzen des Volkes bewährt. Natürlich war es nicht
leicht, die Verbände zu überzeugen. Es fügte sich, daß
einer von jenen, die recht wenig von diesen Dingen ver-
standen, zufällig der Vorsitzende der Public Service Corpo-
ration von New Jersey war. Ich habe Reden dieses Herrn
gehört, die von einer vollkommenen Unkenntnis der Ver-
hältnisse unserer Tage zeugten. Nie habe ich in allen Einzel-
heiten eine restlosere Unwissenheit kennen gelernt; und
da er Macht und Unwissenheit in sich vereinigte, setzte er
naturgemäß seine ganze Kraft daran, den Dingen, die er
nicht verstand, zu trotzen.
Ich habe keinen Anlaß, die Ehrlichkeit der Beweg-
gründe von Männern, die sich in solchen Stellungen be-
finden, anzuzweifeln. Ich bedauere nur, daß sie nicht mehr
wissen. Wenn sie sich dem Zuge des Fortschrittes anschlie-
ßen wollten, würden sie an sich selbst den Segen dieser ge-
sunden Bewegung verspüren und damit sicherlich in sich
jene Fähigkeit zum Lernen erneuern, die sie hoffentlich
besaßen, als sie jünger waren. Als wir die Public Service
Corporation in New Jersey regulierten, unternahmen wir
nicht etwa einen neuartigen Versuch ; wir versuchten nur
eine Maßnahme öffentlicher Gerechtigkeit einzuführen,
die bereits ihre Proben bestanden hatte. Wir führten sie
ein. Hat jemand seitdem Bankrott gemacht? Zweifelt
heute noch jemand daran, daß die Verwirklichung unse-
rer Absicht sowohl der Public Service Corporation als dem
Volke des Staates zum Segen gereichte?
Es gab noch etwas, das wir in aller Bescheidenheit
wünschten : wir verlangten ehrliche Wahlen ; wir wollten
nicht, daß Kandidaten sich Amter erkauften. Das erschien
vernünftig. So nahmen wir ein Gesetz an, das in einer Be-
196
Ziehung einzigartig war, nämlich : wer sich ein Amt kaufte,
erhielt es nicht. Ich räume ein, daß das allen kaufmänni-
schen Grundsätzen widerspricht, aber ich halte es für einen
sehr gesunden politischen Grundsatz. Es ist ganz schön
und gut, jemanden dafür, daß er ein Amt erkaufte, ins
Gefängnis zu stecken, aber es ist viel besser, ihm außer-
dem noch zu zeigen, daß er ein Amt, für das er auch nur
einen einzigen Dollar bezahlt hat, nicht erhält, trotzdem
eine große Mehrheit für ihn gestimmt hat. Wir stellten
die Handelsgesetze auf den Kopf: wer in New Jersey in
der Politik irgend etwas kauft, bekommt es nicht. Das
schien uns der geeignete Weg, um unsaubere politische
Machenschaften zu entmutigen. Wenn man mit seinem
Gelde keine Güter erwerben kann, kommt man nicht in
Versuchung, sein Geld auszugeben.
Wir führten ein Gesetz gegen die Bestechungen ein,
dessen vernünftige Begründung niemand anzweifeln
konnte ; und ein Wahlgesetz, dem jedermann prophezeite,
daß es nicht wirksam werden würde ; aber es wurde wirk-
sam und es bewirkte die Befreiung aller Wähler New Jer-
seys.
Alle diese Dinge sind heute für uns etwas Alltägliches
geworden. Wir schätzen die Gesetze, die wir eingeführt ha-
ben, und niemand wagt es, eine grundlegende Änderung
an ihnen vorzuschlagen. Warum hatten wir diese Gesetze
nicht schon längst erhalten? Was hinderte uns daran?
Der Grund war, daß wir eine geheime und keine öffent-
liche Regierung hatten. Es war nicht unsere Regierung.
Sie wurde durch kleine Gruppen von Männern beherrscht,
deren Namen wir kannten, die aber abzusetzen wir irgend-
wie nicht imstande zu sein schienen. Wenn wir Männer
wählten, die sich dazu verpflichtet hatten, sie ihrer Macht
zu entkleiden, dann wurden die Gewählten nur die Ver-
bündeten jener, die zu bekämpfen sie gewählt worden
197
waren. Offenbar war es notwendig, daß ein Laie gewählt
wurde, der von dem ganzen Handel so wenig verstand,
daß er annahm, man erwarte von ihm, er würde das tun,
was zu tun er versprochen hatte.
Es gibt Leute, die dem Gouverneur von New Jersey
den Vorwurf machten, daß er gewisse Dinge nicht tat und
daß er beispielsweise nicht einen Haufen von Anklagen
anstrengte. Der Gouverneur von New Jersey hält es nicht
für nötig, sich selbst zu verteidigen; aber er möchte die
Aufmerksamkeit auf einen interessanten Vorgang lenken,
der sich in seinem Staate vollzog. Als das Volk die Re-
gierung wieder übernommen hatte, ging bei sehr vielen
Leuten eine sonderbare Veränderung vor sich ; es war ein
jähes moralisches Erwachen, und wir konnten keine
Schuldigen mehr finden, gegen die wir hätten klagen kön-
nen ; man befolgte alle Gesetze wie in der Sonntagsschule.
Darum sage ich, daß es durchaus nicht schwierig
ist, die Selbstregierung wiederzuerlangen. Wir brauchen
keine Befürchtungen zu hegen, wenn wir den Entschluß
fassen, diese Aufgabe zu erfüllen. ,,Der Weg zum Wieder-
beginn ist der Wiederbeginn", sagte einst Horace Greeley,
als das Land sich bei einer Aussicht entsetzte, die sich als
nicht im geringsten entsetzlich erwies; es war bei der
Wiederaufnahme der Münzzahlungen für die Schatzan-
weisungen. Das Schatzamt nahm die Einlösung einfach
wieder auf — und als der Tag dieser Wiederaufnahme der
Münzzahlungen kam, gab es nirgends Gefahr und Auf-
regung. Genau so wird es sein, wenn das Volk wieder die
Herrschaft über seine eigene Regierung übernimmt. Die
Männer, die die politischen Maschinen bedienen, sind nur
ein kleiner Bruchteil der Partei, die sie angeblich vertreten,
und die Leute, die einen verderblichen Einfluß auf sie aus-
üben, sind wiederum nur ein kleiner Teil der Geschäfts-
leute des ganzen Landes. Wir haben uns nicht dazu ver-
198
bündet, um eine Partei oder einen großen Verband von
Bürgern zu bekämpfen ; wir haben nur kleine Koterien zu
bekämpfen, vereinzelte Gruppen von Leuten, einige wenige
Männer, die nur dadurch schalten, daß sie uns täuschen,
und die verschwinden werden, sobald sie aufhören müssen
uns zu täuschen. Ich hatte Gelegenheit, die Macht einer
solchen Gruppe in New Jersey zu erproben, und konnte zu
meiner Zufriedenheit feststellen, daß ich recht gehabt
hatte, als ich annahm, sie besäßen in Wirklichkeit über-
haupt keine Macht. Es sah aus, als seien sie in einer Fe-
stung verschanzt ; es sah aus, als starrten die Schießschar-
ten der Mauern von Gewehren. Aber wie ich es meinen
Mitbürgern prophezeit hatte : man brauchte nichts weiter
zu tun, als ein wenig gegen die Mauern zu drücken, um
zu entdecken, daß sie nichts weiter als ein Kartenhaus
waren; es waren nur Bühnenrequisiten und als sich die
Zuschauer erst aufmachten und einen Blick hinter die Ku-
lissen warfen, da zeigte es sich, daß das Heer, das mit so
schrecklichem Aufwand aufmarschiert war, nur aus einer
einzigen Kompagnie bestand, die in die eine Kulisse hin-
ein und aus der anderen wieder herausmarschiert war,
sie hätte auf diese Weise vierundzwanzig Stunden lang
verbeimarschieren können. Man braucht nur gegen vier-
undzwanzig Mann, um diese Augentäuschung hervorzu-
rufen. Es sind Taschenspieler. Sie haben nur Macht,
wenn wir so töricht sind wie bisher. Ihr Kapital ist unsere
Unwissenheit und unsere Leichtgläubigkeit.
Heute gewahren wir etwas, das zu sehen manche von
uns ein Leben lang geharrt haben. Wir sind Zeugen einer
Erhebung unseres Landes. Wir sehen, wie ein ganzes Volk
aufsteht und sich nicht länger täuschen lassen will. Der
Tag ist gekommen, da die Leute zueinander sagen: ,,Es
ist für mich vollkommen gleichgültig, mit welcher Partei
ich abgestimmt habe. Ich werde mir die Leute heraus-
199
suchen, die ich will, und die Politik, die ich brauche, und
kümmere mich nicht um das Etikett. Ich sehe keinen gro-
ßen Unterschied zwischen meiner Liste und der Liste jener,
die für die andere Partei gestimmt haben und die ebenso
wie ich mit der Art, in der ihre Partei ihre Treue vergalt,
höchst unzufrieden sind. Sie wollen dasselbe, das ich will,
und ich weiß unter Gottes Himmel nichts, was unser Zu-
sammengehen verhindern könnte. Wir wollen das gleiche,
wir haben das gleiche Vertrauen zu den alten Traditionen
des amerikanischen Volkes, und wir haben uns entschlos-
sen, jetzt endlich statt des Schattens die Wirklichkeit zu
erlangen." Wir Amerikaner haben uns zu lange damit
begnügt, die Maßnahmen der Regierung nur oberfläch-
lich zu überfliegen. Wir haben uns nasführen lassen. Wir
sind zu den Wahlen gegangen und haben gesagt: ,,Dies
ist die Handlung eines souveränen Volkes, aber wir wollen
jetzt noch nicht souverän sein; wir wollen es vertagen,
wir wollen bis zum nächsten Male warten. Die Regisseure
rücken noch an den Kulissen; wir sind noch nicht zum
richtigen Auftreten bereit." Mein Vorschlag ist, daß wir
mit diesem Theaterspiel aufhören und daß wir anfangen,
die Ideale amerikanischer Politik in die Wirklichkeit um-
zusetzen, so daß ein jeder, wenn er am Wahltage seine
Stimme abgibt, das Bewußtsein spüre, wirklich ein Urteil
zu fällen, indem er die großen Dinge, die allzulange Leu-
ten, die sich selbst erwählt hatten, überlassen waren, nun
selbst wieder in seine Hand nimmt, um im Ernste daran-
zugehen, seine eigenen Ziele zu verwirklichen.
200
Elftes Kapitel
Die Befreiung des Geschäftslebens
Bei den Reformen und Wiederanpassungen, die in Ame-
rika durchgeführt werden müssen, wird auch nicht eine
einzige rechtmäßige und berechtigte Abmachung beein-
trächtigt werden ; jede Beschränkung des Geschäftslebens
aber soll beseitigt und jede unrechtmäßige Art von Will-
kür vernichtet werden. Jedem Manne, der eine Gelegen-
heit zur Betätigung seines Unternehmungsgeistes sucht
und der die Tatkraft besitzt, die Gelegenheit zu ergreifen,
soll der Weg zu dieser Möglichkeit freistehen. Von jenen
Männern, die heute monopolartige Vergünstigungen ge-
nießen, soll nichts weiter verlangt werden, als daß sie
ihren Verstand mit dem Verstand jener messen, die mit
ihnen konkurrieren wollen. Dem Verstand und der Tat-
kraft der anderen soll freies Feld zur Betätigung ihrer Fähig-
keiten geboten werden — das ist der Inbegriff der unser
harrenden Aufgabe. Eine allgemeine Befreiung des Kapi-
tals und des Unternehmungsgeistes von Millionen Men-
schen wird einsetzen und weit sollen die Tore der Mög-
lichkeiten aufgeschlagen werden. Mit welcher Entschlos-
senheit und mit welchem Jubelruf wird das Volk sich zu
seiner Befreiung erheben ! Denn ich gehöre zu jenen, die da
glauben, daß der Wohlfahrt dieses Landes so starke Fes-
seln angelegt wurden, daß wir noch nicht zu unserem
Rechte kamen ; und ich glaube, daß die Beseitigung dieser
Schranken einen Sturm von Tatkraft entfesseln wird, wie
sie unsere Generation nicht kannte.
201
Aus diesem Glauben leite ich das Recht her, die vor-
handenen Beschränkungen und die Mittel, durch die sie
erreicht wurden, mit dem größten Freimut zu kritisieren.
Und ich spreche nicht als einer, der den Mut verloren hat ;
wenn ich diese Zustände schildere, die so viel hemmen,
hindern und fesseln, dann schildere ich nur Zustände, die
wir überwinden und hinter uns lassen werden, um ein
neues Zeitalter zu beginnen. Die Stunde ist angetan, un-
gewohnte Freimut zu fordern. Ich kann kaum sagen, wie
viele Geschäftsleute, wie viele große Geschäftsleute mir
heimlich und vertraulich ihre wirkliche Meinung über
die waltenden Zustände mitgeteilt haben. Sie fürchten
irgendwen. Sie schrecken davor zurück, mit ihrer wirk-
lichen Meinung öffentlich hervorzutreten ; sie verraten sie
in nur unter der Hand. Das ist ein trostloser Zustand.
Denn es zeigt, daß wir nicht die Herren unserer Meinun-
gen sind, es sei denn vor der Wahlurne ; und selbst dann
achten wir darauf, so heimlich als möglich zu wählen.
Daß solche Zustände walten können, muß die ernstesten
Befürchtungen wecken. Aus welchem Grunde sollte irgend-
ein Mann im freien Amerika irgendeinen anderen Mann
fürchten ? Und warum soll irgendwer Konkurrenz fürch-
den, sei dies nun der Wettbewerb mit seinen Landsleuten
oder mit sonst jemand auf der Welt?
Eine der Anklagen gegen die Wirkungen unseres Schutz-
zolltarifes ist, daß er den Lebensmut unseres Volkes ge-
schwächt und nicht gesteigert hat. Amerikanische Fabri-
kanten, die wissen, daß sie bessere Produkte erzeugen kön-
nen als sie in irgendeinem Lande der Welt hervorgebracht
werden, amerikanische Fabrikanten, die diese Produkte
auf ausländischen Märkten billiger verkaufen können als
die heimische Industrie jener Länder, amerikanische Fa-
brikanten fürchten sich, — fürchten sich davor, sich nur
mit der Rüstung ihrer eigenen Tüchtigkeit und ihrer eige-
202
nen Gewandtheit in die große Welt hinauszuwagen. Man
halte es sich vor Augen : eine große begabte und tatkräftige
Nation, die durch Angst gelähmt wird ! Diese Angst der ame-
rikanischen Geschäftsleute hat für mich etwas schlecht-
hin Erstaunliches. Sie hängen sich an die Rockschöße der
Regierung in Washington. Sie suchen Vergünstigungen zu
erlangen, sie bitten : ,,Aus Barmherzigkeit, setzt uns nicht
dem rauhen Wetter der Welt aus ; wickelt uns in ein paar
heimatliche Schutzdecken. Beschützt uns. Sorgt dafür, daß
die fremden Männer nicht kommen und ihre Kraft mit der
unseren messen!" Und als handelte es sich dabei um eine
Eigentümlichkeit unseres Charakters : wir erleben es, daß
just die tüchtigsten und größten Männer Amerikas die größ-
ten Vergünstigungen erlangen ; die Männer, die die größte
Befähigung zum Aufbau und zur Organisation einer In-
dustrie besitzen, die Männer, die die Industrieen aller Län-
der führen könnten — es sind dieselben Männer, die sich
am zähesten hinter den höchsten Zollsätzen des Tarifes
verschanzen. Und sie sind obendrein noch so furchtsam,
daß sie nicht offen vor das amerikanische Volk hintreten,
sondern diese Vergünstigungen in dem Wortschwall ein-
zelner Tarifbestimmungen gar sorglich verstecken. Es ist
ein trauriges Bild, wenn Männer, die Vergünstigungen for-
dern, das Urteil ihrer Mitbürger so fürchten, daß sie nicht
einzugestehen wagen, was sie erhalten.
Zum Glück beschränkt sich im Lande das allgemeine
Erwachen des Bewußtseins nicht auf jene, die aus Über-
zeugung alle Sonderbevorzugungen und Privilegien be-
kämpfen. Es hat sich auch auf jene erstreckt, die Sonder-
bevorzugungen genießen ; Gott sei Dank beginnen die Ge-
schäftsleute unseres Landes unser Wirtschaftssystem in
seiner wahren Bedeutung zu erkennen : als eine hemmende
Aristokratie der Privilegierten, von der das Geschäftsleben
sich freimachen muß. Die kleinen Leute lassen sich nicht
203
täuschen und nicht alle großen Geschäftsleute haben sich
länger täuschen lassen. Manche jener Männer, die sich
auf falsche Bahnen führen ließen und den Weg zum Mono-
pol beschritten, weil das ihnen der Zug der Zeit und das
unumgängliche Mittel zur Überlegenheit zu sein schien,
sind heute ebenso wie wir zur Umkehr bereit und wollen
den Weg zur Freiheit einschlagen. Denn amerikanische
Herzen schlagen auch in jenen Männern nicht anders als
unter unseren Röcken. Sie werden sich nicht weniger
freuen, frei zu werden, als wir uns freuen, ihnen die Be-
freiung zu bringen. Und dann wird sich jener imponierende
Kraftaufwand, der sich bisher schädlichen Dingen zu-
wandte, auf Dinge richten, die uns nutzen.
Und auch wir — die wir nicht große Industriekapitäne
und Führer des Handels sind — , wir werden ihnen dann,
selbst auf materiellem Gebiete, mehr Nutzen bringen als
heute. Selbst wenn du ihnen dienstbar sein mußt, machst
du heute jene reichen Männer nicht so reich als sie es
sein könnten, weil du der ungewöhnlichen Reichtumser-
zeugung Amerikas deine schöpferischen Fähigkeiten, deine
besten Kräfte nicht beigesellst. Denn für den Reichtum
Amerikas sind nicht Wallstreet und die Geldzentren in Chi-
cago oder St. Louis oder San Francisco der Gradmesser:
Amerika ist so reich als die Männer, die jene Zentren reich
machen. Wenn sie in ihrem Unternehmungsgeist erlahmen,
wenn sie angesichts ihrer Macht erschlaffen und wenn sie
zögern, aus eigener Kraft neue Pläne und neue Erfindun-
gen zu schaffen, dann versiegen die Quellen, die jene Stät-
ten mit Wohlstand überschütteten. Durch die Befreiung
des kleinen Mannes Amerikas widerfährt den Riesen kein
Schaden.
Es mag sein, daß gewisse Dinge sich ereignen werden,
denn das Monopolwesen unseres Landes schleppt in seinem
Organismus so viel toten Ballast mit sich, als Menschen
204
nicht mit sich schleppen sollten. Wenn durch einen ge-
regelten Wettbewerb — durch einen ehrlichen Wettbe-
werb, durch eine Konkurrenz, die mit ehrlichen Mitteln
kämpft — diese riesenhaften Schützlinge des Monopols zur
Aufbietung aller ihrer Kräfte gezwungen werden, dann
werden sie sparen müssen; und sparen werden sie nicht
können, solange sie nicht jenen toten Ballast von sich ab-
werfen. Ich weiß heute nicht, wie man ihnen diese Bürde
abnehmen könnte ; aber wenn man sie vor diese Notwen-
digkeit stellt, werden sie sich ihrer zu entledigen wissen.
Denn sie werden sich dieses Ballastes entledigen müssen
oder der Gefahr ins Auge sehen, daß alle, die solche Lasten
nicht schleppen, sie im Wettlauf überholen werden. Das
Geschäftsleben Amerikas muß auf das Fundament der
Sparsamkeit und der Zweckmäßigkeit gestellt werden ;
dann mögen die Stärksten und die Schnellsten den Sieg
davontragen.
Unser Programm ist ein Programm der Wohlfahrt;
ein Programm der Wohlfahrt, die etwas weiter reichen
soll als die jetzige Wohlfahrt — denn eine weitreichende
Wohlfahrt ist fruchtbarer als eine enge und beschränkte.
Ich beglückwünsche die Monopolisten der Vereinigten Staa-
ten dazu, daß sie ihre Absicht nicht erreichen werden, denn
entgegen ihrer Theorie ist das Volk klüger als sie. Das Volk
versteht die Vereinigten Staaten besser als jene Männer ;
und wenn sie uns gewähren lassen, werden wir sie nicht
nur reich, sondern auch glücklich machen. Denn dann
wird ihr Gewissen eine leichtere Last zu tragen haben. Ich
habe in einem Staate gelebt, der in den Händen einer Reihe
von Korporationen war. Sie reichten ihn sich herum. Ein-
mal war er in den Händen der Pennsylvania-Eisenbahn ;
ein andermal beherrschte ihn die Public Service Corpora-
tion. Als ich gewählt wurde, herrschte die Public Service
Corporation. Sie hat es mir seitdem nie verziehen, daß ich
205
ihren schweigenden Pachtvertrag anfocht. Aber ich ver-
mochte nicht einzusehen, weshalb das Volk sein eigenes
Haus einer so kleinen Gruppe von Männern zur Monopo-
lisierung ausliefern sollte ; und als ich die Korporation
nach ihrem Pachtvertrage fragte und sie ihr Recht nicht
nachweisen konnte, mußte sie ausziehen ; denn es gab kei-
nen anderen Gerichtshof als den der öffentlichen Meinung,
und der sprach ihnen das Urteil. Heute fressen sie uns aus
der Hand und magern dabei keineswegs ab. Sie verdienen
genau soviel Geld, als sie vorher verdienten : nur verdienen
sie es jetzt auf ehrlichere Weise. Sie verdienen es ohne die
immerwährende Beihilfe der Staatslegislatur von New Jer-
sey. Sie verdienen es auf normale Weise, indem sie das
Volk von New Jersey aus dem Gebiete der Wasser- und
Gasversorgung und im Verkehrswesen so bedienen, wie
das Volk es braucht. Ich glaube nicht, daß ein verständiger
Beamter der Public Service Corporation von New Jersey
den Wandel, der sich vollzog, heute noch ernsthaft be-
dauert. Wir haben die Regierung des Staates befreit, und
das Interessante daran ist die Tatsache, daß die allgemeine
Wohlfahrt dabei auch nicht im geringsten gelitten hat.
Mit unserem Programm der Freiheit stellen wir daher
auch ein Programm des allgemeinen Vorteils auf. Fast
jedes Monopol, das sich der Auflösung widersetzt, hat sich
den wirklichen Interessen seiner eigenen Aktionäre wider-
setzt. Ein Monopol hemmt stets die Entwicklung, drückt
die Wohlfahrt und den Fortschritt nieder und stemmt sich
gegen den natürlichen Fortschritt an. Man nehme als ein
Beispiel nur eine so alltägliche Sache wie eine nützliche
Erfindung und ihre praktische Anwendung im Dienste der
Menschheit. Man weiß, wie fruchtbar der amerikanische
Geist sich im Reiche der Erfindung erwiesen hat und was
er zur Förderung des Fortschrittes der Zivilisation beige-
tragen hat. Er schenkte uns das Dampfschiff und die Ent-
206
körnungsmaschine zum Reinigen der Baumwolle, die Näh-
maschine und die Mähmaschine, die Schreibmaschine und
das elektrische Licht, das Telephon und den Phonogra-
phen. Aber weiß man auch, daß heute Erfindungen keine
Gastfreundschaft und keinen Willkomm mehr finden ? Es
gibt keine Ermutigung mehr für jenen, der seinen Erfin-
dungsgeist anspannt, um den Fernsprecher, den photo-
graphischen Apparat oder irgendeine Maschine oder ein
mechanisches Verfahren zu verbessern. Man wünscht es
nicht, daß jemand ein schnelleres oder billigeres Verfahren
zur Herstellung von Gegenständen erfinde oder vervoll-
kommne ; man hat auch kein Verlangen nach der Erfin-
dung besserer Dinge, die ältere ersetzen könnten. Denn in
den alten Betrieben ist zuviel Geld angelegt ; zuviel Geld
wurde ausgegeben, um den alten photographischen Ap-
parat zu propagieren ; und die jetzigen Telephoneinrich-
tungen kosten zuviel, als daß es wünschenswert erschiene,
sie durch bessere zu ersetzen und zu entwerten. Wo immer
wir dem Monopol begegnen, finden wir nicht nur keinen
Drang zur Verbesserung, sondern eine ausgesprochene Ab-
neigung gegen sie, denn Verbesserungen sind kostspielig,
entwerten alte Maschinen und zerstören die Preise der al-
ten Artikel. Der Instinkt der Monopole wendet sich gegen
Neuerungen ; die Tendenz strebt unwillkürlich dahin, das
im alten Verfahren hergestellte Alte im Konsum und im
Kurse zu erhalten; die Monopole wollen, daß alles be-
harre. Beharrungsvermögen hat sein Gutes, aber wenn
alles seit 30 Jahren in gleichem Zustand erhalten worden
wäre, würden wir heute noch bei Gasbeleuchtung mit der
Hand schreiben, würden die unschätzbare Hilfe des Fern-
sprechers entbehren (ich gebe zu, das Telephon ist manch-
mal eine Plage), wir hätten keine Automobile und keine
drahtlose Telegraphie. Ich persönlich würde allerdings
auch ohne Kinematographen glücklich sein. Ich behaupte
207
selbstverständlich nicht, daß durch das Wachstum der
Trusts aller Erfindungsgeist brach gelegt worden ist ; aber
es scheint mir auf der Hand zu liegen, daß der Erfin-
dungsgeist auf vielen Gebieten entmutigt worden ist, daß
man Erfinder daran verhinderte, die Früchte ihres Geistes
und ihres Fleißes zu ernten und daß man die Menschheit
sowohl um manche Annehmlichkeiten wie auch um die
Gelegenheit gebracht hat, zu billigeren Preisen zu kaufen.
Der Dämpfer, der durch die Truste dem Erfindungsgeist
Amerikas auferlegt wurde, macht sich auf die mannigfach-
ste Art geltend. Das erste, was der Erfinder eines Ver-
fahrens, das in die von einem Trust beherrschten Gebiete
eingreift, erfahren muß, ist der Umstand, daß er kein Ka-
pital zur Herstellung seines Produktes und kein Kapital zu
dessen Verwertung findet. Wenn du Geld benötigst, um
deine Fabrik zu bauen und dein Fabrikat anzukündigen,
um Agenten anzustellen und ein Absatzgebiet zu schaffen :
wo sollst du dieses Geld erhalten ? In dem Augenblick, da
du Geld oder Kredit suchst, wird dir von den Banken fol-
gender Vorschlag unterbreitet: ,, Diese Erfindung wird die
bereits eingeführten Herstellungsverfahren stören, es greift
in den Markt ein, den gewisse große Industrien beherrschen.
Wir finanzieren bereits diese Industrien, ihre Aktien sind
in unseren Händen: wir werden sie befragen."
Als das Ergebnis dieser Beratung wird man dir viel-
leicht mitteilen, es sei wirklich schade, aber es wäre un-
möglich, dich zu finanzieren. Vielleicht aber wirst du auch
einen Vorschlag erhalten, auf Grund dessen dir — wenn
du mit dem Trust gewisse Abmachungen treffen willst —
die Fabrikation deines Produktes ermöglicht wird. Viel-
leicht aber erhältst du ein bestimmtes Angebot : man ist be-
reit, dir dein Patent abzukaufen. Aber dieses Angebot bie-
tet dir nicht mehr als nur ein armseliges Schmerzensgeld.
Und es kann geschehen, daß man selbst nach dem Ankauf
208
deiner Erfindung nie wieder etwas von ihr vernimmt.
Diese zuletzt genannte Art, mit einer Erfindung um-
zugehen, ist, nebenbei bemerkt, ein besonders unbilliger
Mißbrauch der Patentgesetze, die es nicht zulassen sollten,
daß ein Eigentumsrecht an einer Erfindung anerkannt
wird, wenn deren Verwirklichung niemals beabsichtigt ist.
Zu den Reformen, die in Angriff zu nehmen sind, gehört
auch eine Revision unserer Patentgesetze. Wenn der Trust
es nicht wünscht, daß du deine Erfindung verwirklichst
und deine Fabrikate fabrizierst, so wirst du auf die Aus-
führung deiner Pläne Verzicht leisten müssen : es sei denn,
du verfügtest über eigenes Kapital und seist gesonnen, es
im Kampfe mit den gewaltigen Hilfsmitteln der Trusts zu
riskieren. Ich könnte Fälle anführen, bei denen sich diese
Vorgänge genau in der angeführten Weise abspielten. Durch
den Zusammenschluß der großen Industrien wird für alle
Fabrikate nicht nur ein Beharrungsvermögen auf dem
Markte erzwungen, nur allzu oft wird auch die Verbesse-
rung und die Güte der Fabrikate künstlich an einem ge-
wissen Punkte festgehalten. Das Verhältnis der Produk-
tionsfähigkeit zu den Produktionskosten wird in Amerika
nicht mehr so berücksichtigt, wie es früher ergründet und
berücksichtigt zu werden pflegte. Denn wenn man nicht
gezwungen ist, seine Fabrikationsmethoden zu verbessern,
um den Konkurrenten zu überbieten, so wird man — was
nur menschlich ist — seine Fabrikationsmethode nicht
verbessern. Wenn man den Konkurrenten daran verhin-
dern kann, auf den Markt zu kommen, dann kann man
es sich bequem machen und hinter der Mauer des Schutz-
zolles, die die Tüchtigkeit aller Ausländer daran verhin-
dert, dir Konkurrenz zu machen, gemächlich eine Gene-
ration lang ausruhen.
Selbst jemand, der nur diese eine Seite betrachtet, die
Haltung der Trusts den Erfindungen gegenüber sieht, kann
M 209
nicht daran zweifeln, welche gewichtige und große Be-
deutung, welch notwendige Wirkung es haben muß, wenn
die Fähigkeiten und der Erfindungsgeist unseres Volkes
wieder befreit werden, um die Werkzeuge und die Umstände
unseres Daseins zu verbessern und zu vervollkommnen.
Wer vermöchte zu sagen, wie viele Patente, die jetzt in ge-
heimen Schubfächern brach liegen, ans Tageslicht kom-
men werden und durch wieviel neue Erfindungen wir über-
rascht und bereichert würden, wenn die Freiheit wieder-
hergestellt sein wird.
Verlangt euch nicht nach der Zeit, da der Geist und die
Triebkraft des Volkes aufgerufen werden wird, in den
Dienst des Handels zu treten ? Nach der Zeit, da die Neu-
ankömmlinge mit neuen Ideen und neuer Begeisterung
willkommen geheißen werden sollen ? Eure Söhne werden
hoffen dürfen, nicht nur Angestellte zu werden, sondern
Leiter irgendeines vielleicht kleinen, aber aussichtsreichen
Unternehmens, in dem ihre beste Tatkraft entflammt wird
durch das Bewußtsein, daß sie ihre eigenen Herren sind
und daß die Wege der Welt vor ihnen offen liegen. Wollt
ihr es nicht, daß allen die Märkte geöffnet werden ? Daß ein
angemessener Kredit jedem Manne offen stehe, der Charak-
ter und ein ernstes Ziel hat und seinen Kredit sicher und
vorteilhaft anwenden kann ? Soll das Geschäftsleben nicht
von seiner unseligen Verbindung mit der Politik befreit wer-
den ? Soll das Rohmaterial nicht der Alleinherrschaft der
Monopole entzogen und sollen die Transporterleichterun-
gen nicht für alle die gleichen werden ? Soll die große Straße
geschäftlichen und industriellen Wirkens nicht jedem frei
stehen, der sie betreten will ? Es gibt keinen, der die Herr-
lichkeit einer solchen neuen Freiheit nicht fühlen würde.
Da ist z. B. die große Aufgabe der ,,Konservation",
der Erhaltung unserer Güter und Hilfsquellen; und ich
möchte diese Frage in keinem engen Sinne verstanden
210
sehen. Forste sollen erhalten werden, große Wasserkräfte
sind zu erhalten, es gibt Bergwerke, deren Schätze nicht
als unerschöpflich betrachtet werden dürfen und deren
Hilfsquellen für künftige Generationen bewahrt werden
müssen. Aber es gibt noch viel mehr. Die Lebenskräfte
und die Energie des Volkes sollen erhalten werden.
Die Bundesregierung hat es nicht gewagt, ihre An-
schauungen zu revidieren. Nicht etwa mit Rücksicht auf
gutgläubige Ansiedler und auf Männer, die über die recht-
mäßige Entwicklung großer Landstrecken wachen, son-
dern weil Männer, die danach strebten, die Alleinherrschaft
über die großen Forsten, Minen und Wasserkräfte zu er-
langen, neben der Regierung standen und ihre eigenen
Pläne ihr zu diktieren versuchten. Und so wagte es die
Regierung der Vereinigten Staaten nicht, ihre etwas star-
ren Anschauungen zu ändern, denn sie fürchtete, daß
jene Mächte stärker seien könnten als die Macht der ein-
zelnen Gemeinwesen und die Macht des öffentlichen In-
teresses. Was wir heute befürchten, ist die Gefahr, daß die
jetzige Situation zu einer dauernden gestaltet wird. Wie
kommt es, daß die Entwicklung Alaskas sich so langsam
vollzieht ? Wie erklärt es sich, daß in den Häfen von Alaska
große Berge von Kohlen aufgetürmt liegen, deren Verkauf
die Regierung zu Washington nicht erlauben will? Das
geschieht, weil die Regierung nicht sicher ist, daß sie all
jenen vielverschlungenen Fäden des Intrigengewebes fol-
gen kann, mit dessen Hilfe kleine Gruppen von Leuten
es versuchten, die ausschließliche Herrschaft über die
Kohlenfelder Alaskas zu erlangen. Die Regierung mißtraut
selbst jenen Kräften, von denen sie umgeben ist.
Das Schlimme bei der Frage der Konservation ist, daß
die Regierung der Vereinigten Staaten in dieser Richtung
zurzeit überhaupt keine Politik verfolgt. Sie konstatiert
nur. Sie steht einfach still. Reservation ist nicht Konser-
»4* 211
vation. Wenn das Land die Ausnutzung gewisser Forste
braucht und dann beschlossen wird, „wir werden in der
Forstfrage nichts unternehmen", so ist das durchaus keine
praktische PoUtik. Die Verfügung, daß das Volk der Ver-
einigten Staaten keine Kohle aus den Kohlenfeldern Alas-
kas kaufen darf, löst die Frage keineswegs. Wir werden
diese Kohle früher oder später doch bekommen müssen.
Wenn man sich vor den Guggenheims und all den anderen
so fürchtet, daß man sich nicht entschließen kann, welchen
Weg man bei der Ausnutzung dieser Kohlenfelder ein-
schlagen soll, dann fragt es sich, wielange wir darauf war-
ten sollen, daß die Regierung ihre Angst abstreift. Es kann
kein Arbeitsprogramm geben, solange es keine freie Re-
gierung gibt. Der Tag, an dem die Regierung unabhängig
genug sein wird, im Gegensatz zu der nur negativen Po-
litik der Reservation eine Politik der positiven Konserva-
tion zu beschließen, dieser Tag wird für die Entwicklung
unseres Landes ein Befreiungstag sein, dessen Bedeutung
nicht hoch genug einzuschätzen ist.
Aber das Problem der Konservation ist viel umfassen-
der als die Frage der Erhaltung unserer natürlichen Hilfs-
quellen; denn wenn wir unsere natürlichen Hilfsquellen
summieren, so erhalten wir eine große natürliche Hilfs-
quelle, die allen anderen zugrunde liegt und ihnen so tief
zugrunde zu liegen scheint, daß wir sie manchmal über-
sehen. Was wäre der Wert unserer Forste ohne tatkräftige
und intelligente Männer, die die Wälder auszunutzen wis-
sen ? Wozu sollten wir unsere natürlichen Hilfsquellen er-
halten, wenn wir sie nicht durch die Zauberkraft der Ar-
beit zu irdischen Gütern umwandeln können? Und was
verwandelt die Hilfsquellen zu Reichtum, wenn nicht die
Gewandtheit und die Hand jener Männer, die Tag um Tag
an ihre Arbeit gehen und die große Gemeinschaft des ame-
rikanischen Volkes bilden ? Wichtig erscheint mir die Not-
212
wendigkeit, daß die Regierung der Vereinigten Staaten
sich mehr um die Menschenrechte als um die Eigentums-
rechte kümmere. Besitz ist ein Werkzeug der Menschheit ;
die Menschheit ist kein Werkzeug des Besitzes. Aber wenn
man sieht, wie manche Menschen auf ihren großen Indu-
strien thronen wie auf dem Wagen eines großen Götzen,
der keinen Blick für die Massen der Menschen hat, die sich
vor seinem Gefährte niederwerfen und verstümmelt wer-
den, dann fragt man sich : wielange soll es Menschen noch
erlaubt sein, an ihre Maschinen und Werkzeuge mehr als
an ihre Menschen zu denken ? Habt ihr niemals dessen ge-
dacht — Menschen sind billig und Maschinen sind teuer ;
mancher Fabrikdirektor wurde entlassen, weil er eine
kostbare und empfindliche Maschine überanstrengte, aber
keiner würde entlassen werden, weil er einem überlasteten
Menschen zu viel zumutete. Deine Menschen kannst du
entlassen und durch andere ersetzen ; andere stehen bereit,
um die Plätze der Vorgänger auszufüllen ; aber deine Ma-
schine kannst du nicht ohne große Kosten ausrangieren
und durch eine neue ersetzen. Darum seid Ihr weniger ge-
neigt, eure Leute als die ausschlaggebende Grundlage
eures ganzen Betriebes zu betrachten. Es wird Zeit, daß
der Besitz im Vergleich mit der Menschheit die erste Stelle
räume und die zweite einnehme. Wir müssen dafür sorgen,
daß es keine Überfüllung gebe, keine schlechten gesund-
heitlichen Einrichtungen, keine Ausbreitung vermeidbarer
Krankheiten und keine Fälschung der Nahrungsmittel ;
wir müssen darüber wachen, daß Vorsorge gegen Unfälle
getroffen werde, daß Frauen nicht vor Arbeiten gestellt
werden, die sie nicht leisten können, und daß Kinder nicht
ihre Kräfte verausgaben, ehe sie nicht dazu reif sind, sie
anzuwenden. Die Hoffnungsfreude und die Elastizität der
Rassen sind zu erhalten ; Menschen aber müssen nach dem
Maßstabe menschlicher Lebensbedürfnisse erhalten werden
213
und nicht nur nach den Programmen der Industrie. Was
nutzt uns eine Industrie, wenn wir durch ihre Erhal-
tung zugrunde gehen ? Wenn wir bei dem Versuche, uns
zu ernähren, sterben müssen — wozu sollten wir essen?
Ich sage euch, in unserer Nation hat jener große Puls-
schlag des unwiderstehlichen gegenseitigen Mitempfindens
eingesetzt und er wird die Formen unserer Regierung um-
wandeln. Die Kraft Amerikas ist nur abhängig von der
Gesundheit, der Hoffnungsfreude, der Elastizität und dem
Frohmut des amerikanischen Volkes.
Wäre das nicht die erhebendste Vorstellung, die wir von
der Freiheit haben können: die Vorstellung einer Gabe,
die Männer und Frauen von allem befreit, was sie verhin-
dert, ihr Bestes zu leisten und ihr Bestes zu wollen? Die
Freiheit soll der Tatkraft aller den weitesten Spielraum ge-
währen, soll ihren Ehrgeiz befreien, bis keine Grenze ihn
mehr umschließt, und die Geister aller mit dem Jubel-
gefühl einer Hoffnung erfüllen, die verwirklicht werden
kann.
214
Zwölftes Kapitel
Die Befreiung der Lebenskräfte
Die Entdeckung von Amerika gibt unserer Phantasie
jedesmal, wenn wir ihrer gedenken, neue Nahrung. Seit
Jahrhunderten, eigentlich von Beginn der Weltgeschichte
an, war das Antlitz Europas nach Osten gewandt. Alle
Handelsgesetze liefen von Westen nach Osten, alle Kraft-
entfaltung richtete sich ostwärts. Der Atlantische Ozean
lag im Rücken der Welt. Dann wurde plötzlich durch die
Eroberung Konstantinopels durch die Türken der Weg
nach dem Orient verschlossen. Europa mußte sich ent-
weder umwenden oder jeder Ausweg blieb ihm versperrt.
Schließlich wagte man sich auf das unbekannte Meer im
Westen und erfuhr, daß es zweimal so groß war, als man
gedacht hatte. Kolumbus fand nicht, wie er erwartet hatte,
eine Zivilisation wie die Chinas ; er fand einen leeren Kon-
tinent. Auf dieser unentdeckten Hälfte der Erdkugel war
der Menschheit — spät im Verlaufe der Weltgeschichte —
die Gelegenheit geboten, eine neue Zivilisation zu schaffen ;
hier wurde ihr das ungewöhnliche Vorrecht zuteil, ein
neues geschichtliches Experiment anzustellen.
Diese einzigartige Gelegenheit, die so unerhört reiche
Möglichkeiten in sich birgt, muß immer wieder die Ein-
bildungskraft erregen. Eher könnten tausend Märchen er-
sonnen werden, als daß die Einbildungskraft das eine zu
begreifen wagte : daß sich die Hälfte der Erdkugel so lange
verbirgt, bis die Zeit zu einem neuen Aufschwung der
Zivilisation gekommen ist. Nichts als der Ehrgeiz eines
215
Kapitäns, der einen neuen Handelsweg finden wollte, schuf
der Menschheit Raum zu einem moralischen Erlebnis. Die
Menschen sollten in diesem herrlichen Lande eine neue
Aufgabe finden, hier, wohin, wie die alten Reisenden er-
zählen, keiner kam, ohne den Duft der von Blumen und
klaren Quellen erfüllten Wälder zu verspüren. Die neue
Erde lag da in Erwartung des Lebens. Mochte dieses auch
aus den alten Lebenszentren stammen, es war doch ge-
reinigt von allen Schlacken und frei von Überdruß. Das
Ganze erscheint uns wie eine märchenhafte Vision, wie
ein einzigartiges Wunder, das nur einmal in der Geschichte
stattfinden konnte.
Eines nur läßt sich damit vergleichen. Etwas gibt es,
das unser Gefühl noch so packen kann, wie jenes Bild von
den Schiffen des Kolumbus, die an leuchtender Küste da-
hinziehen : das ist der Gedanke an den Auswanderer von
heute, der mit einem Würgen in der Kehle im Zwi-
schendeck steht und auf das Land blickt, das, wie man
ihm gesagt hat, ein irdisches Paradies ist, ein irdisches
Paradies, in dem er, ein freier Mann, die Kümmernisse des
alten Lebens vergessen und die Erfüllung aller seiner Hoff-
nungen finden wird. Denn hat nicht jedes Schiff, das seinen
Bug westwärts lenkt, die Hoffnungen vieler Generationen
der Bedrückten anderer Länder hierhergetragen ? Wie ha-
ben die Herzen der Menschen immer höher geschlagen,
wenn sie die Küste Amerikas sich vor ihren Blicken er-
heben sahen! Wie haben sie immer geglaubt, daß die, die
dort wohnen, frei seien von Herrschern, von bevorzugten
Klassen und allen Schranken, die die Menschen bedrücken
und hilflos machen ; daß man dort sein Ideal vom recht-
schaffenen Menschtum verwirklichen könne, daß dort alle
Menschen Brüder seien, die einander nicht hintergehen
und betrügen, sondern nur danach streben, das Wohl der
Allgemeinheit zu fördern. Was lesen wir in den Schriften
216
der Männer, die Amerika gründeten ? Daß sie den selbsti-
schen Interessen Amerikas dienen wollten? Sie wollten
der Humanität dienen und den Menschen die Freiheit
bringen. Sie pflanzten hier in Amerika ihr Banner auf,
ein Prinzip der Hoffnung und ein Signal der Ermutigung
für alle Nationen der Welt. Und die Leute kamen und
drängten sich zu diesen Küsten, so hoffnungsfreudig und
so voller Vertrauen wie nie zuvor. Sie fanden hier für
ganze Generationen einen Hafen des Friedens und des
Glückes. Gott gebe, daß wir in unseren heutigen, verwor-
renen Verhältnissen uns zu den Heldentaten jener großen
Zeit wieder aufschwingen.
Denn das Leben ist jetzt nicht mehr so einfach wie ehe-
dem. Die Beziehungen der Menschen untereinander haben
sich von Grund auf verändert durch die neuen schnellen
Verkehrs- und Transportmittel, die zur Konzentrierung
des Lebens, zur Erweiterung der Gemeinschaften, zur Ver-
schmelzung der Interessen und zur Vervollkommnung
aller Fortschritte dienen. Der einzelne wird in tausend
neue Strudel des Lebens hineingerissen. Die Tyrannei ist
raffinierter geworden und hat das Gewand des Fleißes, ja
selbst der Güte zu tragen gelernt. Die Freiheit zeigt ein
anderes Antlitz. Sie kann sich — ein Gesetz der Ewigkeit —
nicht verändert haben, und doch zeigt sie neue Seiten.
Vielleicht enthüllt sie nur ihre tiefere Bedeutung.
Was ist Freiheit? Das Bild, das mir vorschwebt, ist
eine große mächtige Maschine ; setze ich die Teile so unbe-
holfen und ungeschickt zusammen, daß, wenn ein Teil
sich bewegen will, er durch die anderen gehemmt wird,
dann verbiegt sich die ganze Maschine und steht still. Die
Freiheit der einzelnen Teile würde in der besten Anpassung
und Zusammensetzung aller bestehen. Wenn der große
Kolben einer Maschine vollkommen frei laufen soll, so
muß man ihn den andern Teilen der Maschine ganz genau
217
anpassen. Dann ist er frei, nicht weil man ihn isoliert und
für sich allein läßt, sondern weil man ihn sorgfältig und ge-
schickt den übrigen Teilen des großen Gef üges eingefügt hat.
Was ist Freiheit ? Man sagt von einer Lokomotive, daß
sie frei laufe. Was meint man damit ? Man will sagen, die
einzelnen Bestandteile seien so zusammengesetzt und in-
einander gepaßt, daß die Reibung auf ein Minimum be-
schränkt wird. Man sagt von einem Schiff, das leicht die
Wellen durchschneidet: wie frei läuft es, und meint da-
mit, daß es der Stärke des Windes vollkommen angepaßt
ist. Richte es gegen den Wind, und es wird halten und
schwanken, alle Planken und der ganze Rumpf werden
erzittern, und sofort ist es ,,gefesselt**. Es wird nur dann
frei, wenn man es wieder abfallen läßt und die weise An-
passung an die Gewalten, denen es gehorchen muß, wieder-
hergestellt hat. Die Freiheit des Menschen besteht in dem
richtigen Ineinandergreifen der menschlichen Interessen,
des Handels und der Kräfte. Die notwendigen Beziehungen
zwischen den Einzelnen, zwischen ihnen und den ganzen
menschlichen Einrichtungen, unter denen sie leben, ferner
zwischen diesen Einrichtungen und der Regierung sind
heute viel komplizierter als je zuvor. Es mag ermüdend
und umständlich sein, über diese Dinge zu reden, aber es
ist doch wohl der Mühe wert, uns darüber klar zu werden,
wodurch denn eigentlich die ganze jetzige Verwirrung ver-
anlaßt ist. Das Leben ist komplizierter geworden, es setzt
sich aus viel mehr Elementen und Teilen zusammen als
früher. Und darum ist es schwieriger, alles in Ordnung zu
halten und herauszufinden, woran es liegt, wenn die Ma-
schine nicht mehr läuft.
Jefferson pflegte zu sagen : Die beste Regierung ist die,
die am wenigsten regiert. Und in gewissem Sinne trifft das
auch heute noch zu. Es ist auch heute noch unerträglich,
wenn die Regierung unsern persönlichen Betätigungen in
218
die Quere kommt, ausgenommen dort, wo es notwendig
wird, daß sie sich mit ihnen befaßt : um sie frei zu machen.
Aber ich bin überzeugt, daß Jefferson, wenn er heute lebte,
sehen würde, was wir sehen : daß der einzelne in ein großes
Netzwerk vielfach verschlungener Verhältnisse eingespon-
nen ist. Ihn sich selbst überlassen hieße ihn hilflos allen
Schwierigkeiten ausliefern, mit denen er zu kämpfen hat.
Darum muß das Gesetz in unseren Tagen dem einzelnen
zu Hilfe kommen. Es muß ihm beistehen, damit gerechtes
Spiel walte. Das ist alles, aber das ist sehr viel. Ohne das
wachsame und entschlossene Dazwischentreten der Re-
gierung kann zwischen den einzelnen und solchen mäch-
tigen Einrichtungen wie die Trusts kein ehrliches Spiel
walten. Die Freiheit ist weit mehr als: sich selbst über-
lassen sein. Das Programm einer freiheitlichen Regierung
muß positiv und nicht nur negativ sein. Wahren wir die
Freiheit in diesem Sinne und dieser Bedeutung hier in un-
serem Lande, das für die ganze Welt ein Land der Hoff-
nung ist? Haben wir, die Erben dieses Kontinents, die
Ideale, denen unsere Vorfahren nachstrebten, hochgehal-
ten und, wie es jede Generation tun sollte, aufs neue ver-
wirklicht ? Kämpfen wir noch in dem Bewußtsein, daß der
Mensch hier eine höhere Lebensstufe erreichen sollte als
anderwärts, kämpfen wir für die Freiheit und die Hoff-
nung aller ? Oder haben wir das entmutigende Gefühl, ein
weites Feld brachliegen gelassen zu haben ?
Die Antwort lautet, daß wir einen Weg des Mißerfolges
gingen — eines tragischen Mißerfolges. Und wir stehen
vor der Gefahr des völligen Versagens, wenn wir nicht
mutig unsere Entschlüsse fassen und die neue Tyrannis
so behandeln, wie sie es verdient. Man täusche sich nicht
über die Macht des Großkapitalismus, der jetzt unsere Ent-
wickelung beherrscht. Seine Macht ist so stark, daß es fast
zweifelhaft erscheint, ob die Regierung der Vereinigten
219
Staaten sie beherrschen kann oder nicht. Geht man nur
einen Schritt weiter und läßt ihre organisierte Macht
zu einer dauernden werden, so kann es zur Umkehr zu
spät sein. An dem Punkte, an dem wir jetzt stehen, tren-
nen sich die Wege. Sie führen zu weit auseinanderliegen-
den Zielen. An dem Ende des einen Weges steht das un-
erquickliche Schauspiel einer Regierung, die durch Sonder-
interessen gebunden ist, am Ende des anderen leuchtet das
Licht des persönlichen Handelns, der persönlichen Unab-
hängigkeit und des ungehemmten Unternehmungsgeistes.
Ich glaube, daß dieses Licht vom Himmel selbst hernieder-
strahlt und von Gott geschaffen ist. Ich glaube an die
menschliche Freiheit, wie ich an den köstlichen Trank
des Daseins glaube. Mit dem leutseligen Gebahren der In-
dustrieherrscher ist uns nicht gedient. Das Land der Freien
braucht keine Vormundschaft. Eine Wohlfahrt, die vom
Unternehmer gewährleistet wird, hat keine Aussicht auf
Dauer. Das Monopol ist das Ende des Unternehmungs-
geistes. Wenn das Monopol weiter besteht, wird es immer
am Staatsruder sitzen, denn es ist nicht zu erwarten, daß
das Monopol sich selbst beschränkt. Wenn es in Amerika
Leute gibt, die stark genug sind, sich die Regierung der
Vereinigten Staaten anzueignen, so werden sie es tun. Wir
haben jetzt zu entscheiden, ob wir stark genug, Manns
genug und frei genug sind, wieder von der Regierung Be-
sitz zu ergreifen, die die unsrige ist. Seit einer halben Ge-
neration haben wir keinen freien Zutritt zu ihr gehabt
und unsere Ansichten haben ihr nicht als Richtschnur ge-
dient. Und nun müssen wir die Regierung, die wir mit ei-
gener Hand geschaffen haben und die nur durch unsere
Vollmacht handelt, wiederherstellen.
Wenn wir die Frage des Zolltarifs und der Trusts er-
örtern, so handelt es sich dabei um eine Lebensfrage für
uns und unsere Kinder. Und ich glaube, daß ich im In-
220
teresse mancher jener Männer, deren Gegner ich bin, rede,
wenn ich für die freie Industrie in den Vereinigten Staaten
eintrete. Denn es ist, als ob sie den Baum, der unsere schön
sten Lebensfrüchte trägt, langsam einengten und abschlös-
sen ; wenn er aber erst ganz abgeschlossen ist, rächt sich
die Natur, und der Baum muß sterben.
Ich glaube nicht, daß Amerikas Größe gesichert ist,
weil es heute bedeutende Männer hat. Amerika ist nur
groß, wenn es mit Sicherheit darauf rechnen kann, auch
in den nächsten Generationen große Männer zu haben. Es
ist reich in seinen ungeborenen Kindern, reich, wenn diesen
Kindern alle Möglichkeiten offen stehen, und wenn sie ihre
Kräfte frei, wie sie wollen, betätigen können. Wenn sie
ihre Augen in einem Lande, wo keine Sondervorrechte
herrschen, öffnen, dann werden wir eine neue Ära ameri-
kanischer Größe und amerikanischer Freiheit erleben.
Aber wenn sie ihre Augen in einem Lande auftun, in dem
sie nichts als Angestellte werden können, in einem Lande,
in dem nur eine geregelte Monopolwirtschaft herrscht und
in dem die ganzen Industrieverhältnisse durch kleine
Gruppen von Männern bestimmt werden, dann werden
sie ein Amerika erleben, an das die Gründer dieser Re-
publik nur mit Trauer hätten denken können. Unsere ein-
zige Hoffnung besteht in der Erlösung der Kräfte, die
philanthropische Trustpräsidenten monopolisieren wollen.
Nur die Emanzipierung, die Befreiung und Förderung der
Lebenskräfte des ganzen Volkes kann uns erlösen. Bei
allem, was ich für die öffentlichen Angelegenheiten in den
Vereinigten Staaten tun kann, werde ich an Städte denken,
wie ich sie in Indiana gesehen habe, Städte von altem,
amerikanischem Schlage, die ihre eigene Industrie hoff-
nungsreich und glücklich betreiben. Mein Streben wird
auf die Vermehrung solcher Städte gerichtet sein und die
Konzentration der Industrie zu verhindern suchen, deren
221
Organisation es den kleinen Städten unmöglich macht, an
ihr teilzunehmen. Wir wissen, worin die Lebensfähigkeit
Amerikas besteht. Seine Lebenskräfte liegen weder in
New York noch in Chicago, sie können nicht durch etwas
untergraben werden, was sich in St. Louis ereignet. Ame-
rikas Kraft liegt in dem Verstand, den Fähigkeiten und den
Unternehmungen des Volkes im ganzen Lande, in der Lei-
stungsfähigkeit seiner Fabriken, der Ergiebigkeit der Fel-
der, die sich jenseits der Stadtgrenzen erstrecken, und in
dem Reichtum, den Menschen der Natur abgewinnen oder
durch jenen erfinderischen Geist erzeugen, der allen freien
amerikanischen Gemeinwesen eigen ist. Aber wenn Ame-
rika die lokale Unternehmung und die selbständige kleine
Stadt zurückzuschrecken sucht, wird es die Nation zum
Untergang führen. Eine Nation ist so reich, als sie freie
Kommunen besitzt, nicht die Zahl ihrer Haupt- und Welt-
städte bestimmt ihren Reichtum. Die Kapitalanhäufung in
Wallstreet ist kein Gradmesser für den Besitz des amerika-
nischen Volkes. Er kann nur in der Fruchtbarkeit amerika-
nischen Geistes und der Produktivität amerikanischer In-
dustrie, soweit sie sich über das ganze Land der Vereinig-
ten Staaten erstrecken, gefunden werden. Wäre Amerika
nicht reich und fruchtbar, so gäbe es auch kein Geld von
Wallstreet. Wäre der Amerikaner nicht lebenskräftig und
nicht fähig, für sich selbst zu sorgen, so würde der große
Geldumsatz daniederliegen. Die Wohlfahrt, die eigentliche
Existenz der Nation ruht im letzten Grunde auf den großen
Massen des Volkes. Das nationale Gedeihen hängt von
dem Geiste ab, in welchem das Volk in den zahlreichen,
über das ganze Land verstreuten Gemeinwesen an seine
Arbeit geht. Je nachdem die kleinen Städte und das Land
Glück und Fortkommen versprechen, wird Amerika die
ehrgeizigen Bestrebungen, die es in den Augen der ganzen
Welt kennzeichnen, verwirklichen können.
222
Das Wohlergehen, das Glück, die Tatkraft und die Zu-
versicht der Männer und Frauen, welche Tag für Tag in
unsern Minen und Fabriken, auf unsern Eisenbahnen, in
den Kontoren und Handelshäfen, auf den Farmen und auf
der See arbeiten, ist die notwendige Vorbedingung für das
Gedeihen der Nation. Es kann keine Gesundheit geben,
wenn jene nicht gesund, keine Zufriedenheit, wenn jene
nicht zufrieden sind. Ihr physisches Wohlergehen beein-
flußt die Gesundheit des ganzen Volkes. Wie stände es mit
den Vereinigten Staaten und seinem Geschäftswesen, wenn
das Volk jeden Tag unmutig und verdrießlich an seine Ar-
beit ginge ? Wie würde es mit der Zukunft bestellt sein, wenn
wir fühlten, daß die meisten Menschen alles Streben, alles
Vertrauen auf den Erfolg, die Hoffnung auf die Verbesse-
rung ihrer Lage aufgegeben hätten. Sobald das alte Selbst-
vertrauen Amerikas und der altgerühmte Vorzug der per-
sönlichen Freiheit und Erwerbsmöglichkeit uns genom-
men ist, beginnt alle Tatkraft eines Volkes zu sinken, zu
erschlaffen, locker und marklos zu werden, und die Men-
schen sehen nur noch darauf, daß der nächste Tag nicht
unglücklich für sie verlaufe.
Daher müssen wir dem Volke dadurch Mut machen,
daß wir die Mutlosigkeit in Politik, Geschäft und Industrie
beseitigen. Wir müssen Politik zu einer Angelegenheit
machen, an der ein rechtschaffener Mann mit Befriedigung
teilnehmen kann, weil er weiß, daß seine Meinung soviel
gelten wird als die seines Nächsten, und weil die bosses
und die Sonderinteressen entthront sind. Wir müssen die
Hemmungen des Geschäftslebens aus dem Wege räumen
und die Tarifbegünstigungen, die Eisenbahnmißbräuche,
Kreditverweigerungen und alle ungerechten Bedingungen,
die sich gegen den kleinen Mann richten, aufheben. In der
Industrie müssen wir menschliche Bedingungen schaffen
— nicht durch die Trusts — sondern auf dem direkten
223
Wege des Gesetzes, welches Schutz gegen Gefahren, Ent-
schädigung für Verletzungen, gesunde Arbeitsbedingungen,
angemessene Arbeitszeit, das Recht zur Organisation und
alle anderen Dinge gewährleistet, die das Gewissen des
Landes als das Recht des Arbeiters fordert. Wir müssen
unser Volk durch soziale Gerechtigkeit und gerechten
Lohn mit dem Ausblick auf freie Arbeitsmöglichkeit für
jedermann stärken und ermutigen. Wir müssen die Tat-
kraft und das Streben unseres großen Volkes sich voll-
kommen frei entfalten lassen, auf daß Amerikas Zukunft
größer als seine Vergangenheit sei. Dann wird Amerikas
Bestimmung sich erfüllen. Von Generation zu Generation
fortschreitend wird Amerika erleben, daß die Nachkom-
menschaft seiner Söhne größer und vorbildlicher dasteht.
Dann wird Amerika sein Versprechen an die Menschheit
einlösen.
Das ist die Idee, die einige von uns zu verwirklichen
trachten. Wir Demokraten würden diese lange Zeit der
Verbannung nicht ertragen haben, wenn wir uns nicht
an dieser Idee aufgerichtet hätten. Wir hätten feilschen
können, wir hätten an dem Geschäft teilnehmen können,
wir hätten nachgeben und Bedingungen machen können,
wir hätten die Gönnerrolle für solche Leute spielen können
die die Interessen des Landes beherrschen wollten — und
einige Herren, die vorgaben, zu uns zu gehören, haben
solche Versuche gemacht. Sie konnten die Entsagung nicht
ertragen. Man kann sie nie ertragen, wenn man nicht in
sich etwas von jenem unzerstörbaren Stoffe hat, dem der
Lebensmut entstammt. Das ist Nahrung aus einer anderen
Welt, in der die Früchte der Hoffnung und der Phantasie
die Tafel schmücken, jene unsichtbaren Güter des Geistes,
die allein imstande sind, uns in dieser dunklen Welt auf-
rechtzuerhalten. Wir haben in unserem Herzen die bisher
getrübten und verwischten Ideale jener Männer aufge-
224
richtet, die zuerst ihren Fuß auf amerikanischen Boden
setzten und in der Wildnis festen Halt zu gewinnen such-
ten, weil große Nationen, denen sie den Rücken gekehrt,
nicht mehr gewußt hatten, was menschliche Freiheit, Frei-
heit des Gedankens und der Religion, Freiheit des Wollens
und des Handelns ist.
Seit jenen Tagen hat sich der Freiheitsbegriff vertieft.
Aber er hat nicht aufgehört, eine fundamendale Forderung
des menschlichen Geistes und eine fundamentale Not-
wendigkeit für das Leben der Seele zu bilden. Jetzt ist der
Tag gekommen, an welchem die neue Freiheit auf diesem
geweihten Boden verwirklicht werden soll, eine Freiheit,
die dem erweiterten Leben im modernen Amerika ange-
paßt ist. Sie gibt uns in Wahrheit die Herrschaft über un-
sere Regierung zurück, sie öffnet dem berechtigten Unter-
nehmungsgeist alle Pforten, sie befreit alle Energien und
feuert die edlen Triebe des Herzens an. Die neue Freiheit
ist das Lied der Erlösung und der Gleichheit, in ihm waltet
der Atem des Lebens, der köstlich ist gleich jenen Lüften,
die die Schiffe des Kolumbus vorwärtstrieben und die die
stolze Verheißung einer Glücksmöglichkeit mit sich trugen,
deren Erfüllung Amerikas Aufgabe ist.
15 225
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IM GLEICHEN VERLAGE ERSCHIEN:
NUE LITEEATUB
Betrachtungen eines Amerikaners
Von
Woodrow Wilson
Alleinberechtigte Übertragung von
HANS WINAND
222 Seiten Gebunden M. 4. — Broschiert M. 3. —
AUS DEM INHALT:
Der Verlauf amerikanischer Geschichte / Der
Schriftsteller / Vom Umgang des Schriftstellers /
Ein literarischer Politiker /Der Interpret englischer
Freiheit / Von den Aufgaben des Historikers usw.
JULIUS HART SCHREIBT IM „TAG":
Wenn man mit das Beste, Ernsteste, Tiefste lesen
will, was in unserer Zeit über den Dichter, Schrift-
steller und Kritiker gesagt worden ist — so setze
man sich getrost zu Füßen des augenblicklichen
Präsidenten der Vereinigten Staaten, und wenn
man Wilson sprechen hört, so empfindet die Seele
seine Worte wie ein reinigendes und sehr stäh-
lendes und stärkendes Bad der Freude. Hier wehen
wieder Höhenlüfte . . .
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GEORG MÜLLER VERLAG MÜNCHEN
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Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
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