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Die
Philosophie
mittleren Stoa
in ihrem geschichtlichen Zusammenhange
dargestellt
A. Schmekel.
207937
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BERLIN,
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG.
1892.
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Den Herren
Prof. Dr. DIELS
| ΕΟ Dr. SUSEMIHL
Prof. Dr. v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF
Verehrung und Dankbarkeit
zugeeignet.
Vorwort.
Wenn der Wanderer aufs Gebirge steigt, rastet er oft, um
Aussehau zu halten in die umgebende Landschaft, und so oft er
es thut, jedesmal bringt ihm der höhere Standpunkt eine grös-
sere Fernsicht und einen veränderten Anblick, der das Gesehene
zwar wiederum zeigt, aber in neuer Art und anderer Umgebung
und Gruppierung. Unwiderstehlich zieht es ihn daher zum Gipfel
empor, um von dort sein Auge umherschweifen zu lassen, und
hat er ihn erreicht, so fühlt er sich belohnt: Was er bis dahin
immer nur einzeln geschaut, hier vereinigt es sich ihm zu einem
grossen Bilde, das ihm zusammenhängende Aussichten bietet,
wie er sie vorher nicht erwartet hatte. Einer solchen Wanderung
gleich war dem Verfasser auch die nachfolgende Arbeit. Aus-
gehend von einer einzelnen Frage über die Politik des Panätius
führte ihn die Untersuchung oft fast wider seinen Willen von
einem Punkte zum andern, und als er endlich sich veranlasst
sah, die Lehre dieses Philosophen und ihren Einfluss im Zu-
sammenhange darzustellen, musste er bald inne werden, dass
auch dieses für sich allein nicht anginge. Nicht ohne Zögern
ging er an die neue Aufgabe, doch als er es gethan hatte, zeigte
sich ihm, und je mehr er sich dem Abschlusse näherte, desto
klarer, der ehedem von ihm kaum geahnte Zusammenhang, der in
dem philosophischen Leben dieser Epoche stattgehabt hat. In dem
Gange nun, den diese Untersuchung genommen, liegt zum grössten
Teil auch die Form der Darstellung begründet; andererseits
freilich wirkte auf die Wahl derselben auch der Widerwille gegen
eine unklare Verschmelzung der verschiedenen Teile in einander:
Klarheit verlangte er von sich, Klarheit auch dem Leser zu geben
war sein stetes Bestreben.
Ἐν τὸ:
Was den Titel betrifft, so könnte er umfassender zu sein scheinen
als die Arbeit selber; doch einmal sind Panätius und Posidonius
entschieden die bedeutendsten und auch die eigentlichen Ver-
treter der mittleren Stoa, da bei ihren Vorgängern der Durch-
bruch, der die mittlere Stoa von der älteren scheidet, m den
Hauptpunkten noch nicht erfolgt ist, und zweitens werden auch
die Hauptlehren der anderen an verschiedenen Stellen berück-
sichtigt. Nicht ungerechtfertigt dürfte somit die getroffene
Wahl sein.
Jede ernste Forschung ist als Dienst an der Wahrheit ein
heiliger Dienst. Wer sich ihm widmet, den lohnen ja nach
Plato so göttliche und goldene Schätze, dass er gern alles thut,
was von ihm verlangt wird. Auch der Verfasser ist stets be-
müht gewesen, nicht mit leichtsinnigem Ungestüm nach ihr zu
streben; aber menschliches Wissen ist doch immer nur Stück-
werk und neben und in diesem lauert der Irrtum. Doppelt
schwer war es nun hier an diesen drohenden Klippen vorbei-
zukommen, da schon die Quellen selbst oft nur wenig zureichend
und unklar sind. Er ist sich daher wohl bewusst nicht alles er-
reicht zu haben, was und wie er es erstrebte; gleichwohl hofft
oder wünscht er wenigstens, dass sein Streben nicht erfolglos
gewesen sein möge, durch die nebelhaft verschwommene Über-
lieferung hindurch einen Lichtstrahl der Wahrheit zu erblicken.
Den Männern nun, deren Namen das Buch an der Spitze
tragen darf, möge es den Dank bringen, den der Verfasser für
sie im Herzen trägt. Möge es ihrer nicht ganz unwert sein!
Ebenso fühlt er sich auch der Verlagsbuchhandlung zu grossem
Danke verbunden, den zu unterlassen Pflichtvergessenheit wäre.
Inhaltsverzeichnis.
Einleitung: Äussere Geschichte
$ 1. Panätius
8 2. Posidonius .
$ 5. Hekaton, Vihssäschuse Diva sius
en Teil. Quellen
A. Panätius.
Kap. 1. Cicero de offieiis
8 1. Die Komposition s
$ 2. Quellen-Analyse von Buch 1 rd Π $
Kap. 2. Cicero de legibus Iund de republica III
$ 1. Komposition von de leg. I.
$ 2. De leg. I = de rep. III
$ 3. Quelle A {
Kap. 3. Cicero de ΠΡΟΤῚ ΠΝ I
$ 1. Die Staatslehre des Polybius .
8. 2. Cie.de rep. I—1I. Komposition u. Quelle
B. Posidonius.
Kap. 4. Περὶ ϑεῶν.
Kap. 5. Varro: ἜΣ rerum aivi inarum I
81. Quellen . \
8 2. Fragmenta libri I . 2
8 3. Quelle von Cie. Tuse. disp. I aaa vn
Ant. rer. div. I. Me ως
C. Carneades-Clitomachus.
Kap. 6. Cicero de fato
$ 1. Der Anfang
ΠΣ 8 2. Quelle
ΜῈ . Teil. System der Philosophie
A. Panätius.
Einleitung
Kap. 1," Physik" οἷ...
$ 1. Die letzten Gründe
$ 2. Freiheit und Notw ae
Kap. 2. Anthropologie
$ 1. ‘Wesen der Seele
8 2. Teile der Seele .
Kap. 3. Logik.
Seite
l— 17
1l— 9
9— 14
14— 17
IS— 184
18— 46
19— 29
29— 46
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47— 54
39— 61
61— 63
64— 85
64— 66
67— 85
85—104
104— 154
104—117
117—132
132—154
155— 184
155— 165
165— 184
1855 — 303
185—186
186—195
186— 190
190—195
195— 205
195—197
198—205
205—210
Schluss
Kap.
Kap.
1:
2.
— VI —
Kap. 4. Ethik.
$1. Das Ziel 3
$ 2. Die Tugend; Wesen, ΓΕ πες Inhalt
$ 3. Glückseligkeit
Kap. 5. Staatslehre .
Kap. 6. Die exakten Wissenschaflon :
Posidonius.
Einleitung
Kap. 1. Physik ὃς ὦ
$ 1. Die letzten Grunde!
$ 2. Die Welt
8 3. Das Fatum.
T gap. 2. Anthropologie
$ 1. Wesen der Seele
$ 2. Vermögen der Seele .
Kap. 3. Logik
Kap. 4. Ethik.
81. Das Ziel
$ 2. Die Tugend
8. 38. Das höchste Gut
8 4, Der Weise.
Kap. 5. Die exakten Waren scher :
Hekaton, Mnesarchus, Dionysius.
Hekaton.
Mnesarchus
Kap. 3. Dionysius . -
III. Teil. Stellung der mittleren Stoa.
A. Zur Vergangenheit .
Kap.
S
S
Kap.
Kap.
Kap.
Kap.
Kap.
Kap.
Kap.
Namenverzeichnis
Berichtigungen
9,
ὃ.
Physik
Die Ewigkeit der Welt .
Das Verhängnis .
Anthropologie
Erkenntnistheorie
Ethik und Politik .
Geschichte der Philosophie
Zur Folgezeit .
1.
Die Se
Die Mystik . -
Die römische Aufkl£rung 3
Seite
210—224
210—212
212—221
221— 224
225—229
229— 2383
238
239 —248
239 —241
241—243
244—248
248—263
248—256
257—263
265—269
269—281
269— 270
270—274
274—277
278—281
281—290
290—296
296—297
295—303
304— 384
304— 323
304— 318
318—323
324—337
337—856
396— 379
579— 384
384—465
384—399
400—439
439—465
465—479
480—483
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Einleitung.
Äussere Geschichte.
$ 1. Panätius.')
Während die Staaten Griechenlands in endlosen Kriegen
für die Interessen der Römer und Macedonier einander aufrieben,
genoss die mit den Römern verbündete Republik Rhodus eine
andauernde Ruhe. Gleichzeitig hatte sich der Welthandel, welcher
sich seit der Gründung Alexandrias von Athen abgewandt hatte,
dort einen Mittelpunkt geschaffen und einen grossen Wohlstand
erzeugt. Unter der Gunst dieser Verhältnisse stand die Stadt im
3. und 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung auf einer zuvor
nie gekannten Höhe der Blüte. In dieser Zeit ward daselbst
Panätius geboren. Seine Vorfahren gehörten zu den ersten und
angesehensten Familien, hatten von jeher den thätigsten Anteil
an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten genommen und
‚die höchsten Ehrenstellen des Staates bekleidet“). Auch bei
z) Über das Leben des Panätius handeln van Lynden, de Panaetio
Rhodio Leyden 1802 p. 1sqq. Zeller, Philos. ἃ. Gr. Π18. S. 557° ff. Suse-
mihl, Geschichte der griech Lit. in d. Alexandriner Zeit II e. 28 S. 63 ff.
Der Verfasser gestattete mir gütigst die Aushängebogen dieses Bandes be-
reits einsehen zu dürfen. Suidas 5. v. Παναίτιος unterscheidet irrtümlich zwei
rhodische Philosophen dieses Namens, einen älteren und einen jüngeren.
Dass dieses falsch ist, bedarf eigentlich keines Beweises; v. Lynden wider-
legt es mit den beiden Gründen: 1. Sämtliche übrigen Schriftsteller schwei-
gen von einer solchen Unterscheidung und legen die philosophischen Schrif-
ten demselben einen Panätius bei, den Suidas den jüngeren nennt. 2. Sui-
das selber widerspricht sich, da er ss. vv. ᾿Απολλόδωρος, Πολέμων, Πολύβιος
und Ποσειδώνιος nur einen Philosophen Panätius kennt.
2) Strabo XIV, p. 655; Philodem index Herculan. 60]. 55 ed Comparetti
in Rivista di Filologia III 1875.
Schmekel, mittlere Stoa. 1
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seinem Vater Nikagoras scheint das Gleiche der Fall gewesen zu °
sein!); für ihn jedoch hatte das Geschick eine andere, ungleich
wichtigere Laufbahn bestimmt.
Sein Geburtsjahr ist nicht bekannt; da er jedoch noch den
Diogenes von Babylon hörte?), der etwa um 150 starb, und
andererseits mit dem jüngeren Scipio (geb. 184) eng befreundet
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war, so muss die Zeit seiner Geburt etwa in die Jahre 185—180 -
fallen. Auch das Jahr seines Todes ist nicht überliefert, doch
lässt sich dasselbe viel genauer bestimmen: Der berühmte Redner
Lieinius Crassus wurde im Jahre 140 v. Chr. geboren; er kann
demnach nicht vor dem Jahre 110 Quästor gewesen sein. Da
ferner im Jahre 107 Tribun war und das Tribunat gewöhn-
lich nach der Quästur verwaltet wurde, so bleiben nur die
Jahre 110—109 für seine Verwaltung des letzteren Amtes übrig?).
Nach derselben kehrte er aus Asien über Athen nach Rom
zurück*) und fand bei seinem Aufenthalte in Athen die Nach-
folger des Panätius, Mnesarchus und Dardanus, als Vorsteher der
') Dass sein Vater Nikagoras hiess, sagt Suidas s. v. und der ind. Hercul.
eol. 51. Während des Krieges zwischen Perseus und den Römern entstanden
allerorts in Griechenland zwei Parteien, von denen die eine für die Römer,
die andere für Perseus Stellung nahm. Auch in Rhodus brach ein solcher
Streit aus, ohne jedoch die Stadt zu einer Änderung ihrer bisherigen Politik
zu vermögen. Diese Vorgänge waren in Rom nicht unbekannt geblieben, ja
die Berichte darüber wohl noch aufgebauscht worden. Um die bisherige
Freundschaft zu erneuern, sandten die Rhodier eine Gesandtschaft von drei
Männern an den Senat nach Rom. Dieses waren Agesilochos, Nikagoras
und Nikandros [Polyb. XXVIII, ο. 2 u. 16 (14)]. Panätius war nun von den
drei Söhnen seines Vaters der älteste (vgl. die folg. Seite Anm. 4) und
um diese Zeit etwa 12—16 Jahre, sein Vater also wohl sicher ungefähr 40
Jahre alt. Bedenken wir, dass die Rhodier die Gesandten doch jedenfalls
aus den angesehensten Familien gewählt und die Vorfahren des Panätius
eben zu diesen gehört haben, so wird es ausserordentlich wahrscheinlich,
dass dieser Nikagoras, welchen die Rhodier als Gesandten nach Rom schick-
ten, der Vater des Panätius war. Vgl. auch v. Scala, Studien des Polyb.
I 252, Anm. 3. Leider ist mir dies Werk, das sich mit den folgenden
Untersuchungen öfters berührt, erst nach Beginn der Drucklegung Ze
gewesen,
3), Ind. Here. eol. 5l. Suid,. a. a. Ὁ,
°) Cie. Brut. 43, 161. Dort heisst es ausdrücklich, dass Crassus 34 Jahre
alt im Geburtsjahre Ciceros (106) unter dem Vorsitz des Tribuns Q. Mueius
Seaevola für die lex Servilia u und dass er ein Jahr zuvor Tribun war.
τ Cic. de orat. III 20,
ΠῚ
— ΠῚ ——
stoischen Schule'). Dieser Aufenthalt des Crassus in Athen kann
also nur im: Anfange des Jahres 109 oder 108 stattgefunden
haben. Panätius muss demnach vor dem Anfange des Jahres 109
bezw. 108 gestorben sein. Andererseits widmete ihm Lucilius
das elfte Buch seiner Satiren, das im Jahre 110 niedergeschrieben
ist?2): Also muss der Tod -um das Ende des Jahres 110 oder 109
erfolgt sein?),
᾿ς Von den drei Söhnen seines Vaters war er der älteste®).
Nach seiner Ausbildung in der Vaterstadt hörte er den berühmten
stoisierenden Grammatiker Crates von Mallos’), welcher in Per-
gamon lehrte, und ging dann zur Fortsetzung seiner Studien
nach Athen. Hier wirkten zu dieser Zeit die drei bekannten
Philosophen Diogenes, Critolaos und der scharfsinnige Carneades,
die in Lehre und Redegewandtheit mit einander wetteiferten®).
Panätius schloss sich hauptsächlich dem ersteren an?) und nach
dessen Tode seinem Nachfolger Antipater, für den er eine grosse
- Verehrung an den Tag legte®).. Neben den philosophischen
Studien setzte er daselbst auch wohl unter Polemon dem Perie-
geten die grammatischen fort?). Er kehrte nicht nach seiner
Vaterstadt zurück und hat dort überhaupt nicht mehr längere
Zeit verweilt!‘). Seine reichen Mittel gestatteten ihm ein freies
Sue: 2.3. 0,1.11,.45.
2) A. Kiessling coniect. spec. I p. 8 index schol. Gryph. aest. 1383, der
jedoch mit Unrecht Cieeros Nachricht de orat. I 11, 45 jeden Wert abspricht,
wie wir sehen.
3) Ob er schon einige Zeit vor seinem Tode die Lehrthätigkeit auf-
gegeben hat (ind. Here. col. 60), ist unbestimmt. Gegen v. Scala a. a. 0.
S. 322 #. vgl. Susemihl a. a. O. ὁ. 28. A. 30.
ἢ Ind. Here. col. 55.
5) Strab. XIV 5, 16 p. 776.
6) Gell, N. A. VI 14, 9ff. Die Anmut der Darstellung des Critolaus
können wir noch selber aus den Bruchstücken bei Ps. Philo de incorr.
mundi ὁ. 11 p. 239 ff. ed. Bernays Abh. d. Berl. Acad. 1876 erkennen.
Ἴ Suid. s. v. Παναίτιος.
8) Cie. de div. I 3, 6. ind. Here. 60]. 5i, 58, 60.
9) Falls er ihn nicht schon in Pergamon gehört hatte. Suidas a. a. 0.
| nennt ihn einen Schüler des Panätius; da dies chronologisch unmöglich und
- aueh der Text nicht korrekt ist, so ist wohl das Umgekehrte richtig. So
wo Fa
urteilt nach v. Lynden p. 36 ff. auch Zeller ἃ. ἃ. O., Susemihl a. a. O. A. 18.
0) Cie. Tuse. V 37, 107; über die Einschränkung vgl. das Nachfolgende.
Schon deswegen ist es falsch, was Suidas berichtet, Panätius habe vor Po-
ae ger
und unabhängiges Leben zu führen und seine Zeit seiner Neigung
zu widmen!): Er pflegte die Wissenschaften. In ihnen fand er
auch ein ausgedehntes Wirkungsgebiet, und zwar zunächst in
Rom, wo er zusammen mit Polybius die Seele des Kreises war,
der sich um den jüngeren Scipio scharte. Wann und auf welche
Weise er mit diesem bekannt wurde, ist ungewiss?); doch lässt
sich die Zeit einigermassen berechnen, in der er gemeinsam mit
Polybius daselbst lebte. Als Seipio nämlich im Jahre 141 mit
noch zwei anderen Männern vom Senate den Auftrag erhielt, den
Orient zu bereisen, um dessen Verhältnisse und Streitigkeiten zu
ordnen, begleitete ihn von seinen Freunden allein Panätius. Der-
selbe war nicht in Rom anwesend, weshalb er von ihm eine Ein-
ladung zur Teilnahme an dieser Reise erhielt®). Hieraus folgt, dass
beide schon vor dem Jahre 141 Freundschaft geschlossen haben,
und dass Panätius schon vor dieser Zeit in Rom gewesen ist. Da
nun Seipio mit Panätius in Gegenwart des Polybius oft über die
Vorzüglichkeit der römischen Verfassung disputiert hat?), und
solche Disputationen sicher nicht in die späteren Jahre ihres
Verkehrs gesetzt werden "dürfen, andererseits auch Polybius in
den späteren Jahren sich hauptsächlich in seiner Heimat auf-
sidonius in Rhodus eine Philosophenschule geleitet; vgl. auch Susemihl
a. 2. 0. c. 28 A. 26.
') Ind. Here. col. 59 u. 60. 60]. 59 ist offenbar von seinem Vermögen
und seinem Einkommen die Rede. Wir werden daher am Schluss derselben
sicher μνᾶς zu ergänzen haben (vgl. ebds. v.4 u. 5), so dass der letzte Satz
lautet: ἀφ᾽ οὗ διετέλεν τριαχοσίας λαμβάνων παρ᾽ ἐνιαυτὸν μνᾶς. Gerade der
Anfang dieses Satzes beweist, dass vorher die einzelnen Besitztümer genannt
waren, von denen er ein Einkommen bezog. Dies betrug danach jährlich
800 Minen.
°) Vgl. hierüber die Vermutung von v. Scala a. a. Ὁ. S. 323f. und gegen
ihn Susemihl a. a. OÖ. e. 29 A. 96. >
5) Plutarch. eum prince. esse diss. e. 1 p- 777 A. apophthegm. Seip. min.
15; 14. p. 200E ff.; Justin histor. XXXVIII, 8; ind. Here. col 56 u. 59 und
dazu Comparetti a. a. Ὁ, Cie. Acad. pr. Π 2, 5; vgl. de rep. III 35, 48;
VI 11, 11; Valer. Max. IV 3, 15; Aurel. Viet. 58. Strab. XIV p. 669. Diodor.
XXXII 28A. Athenaeus VI 273 A, XII 549D, XIV 657 F; an den beiden
letzten Stellen steht irrtümlich Posidonius statt Panätius. Vgl. Zeller Πα,
S. 557, 5°. Ferner Lucil. XIV frg. 1, 3, 4 und dazu Marx, studia Lueiliana
Bonn 1882, S. 81 ff. Susemihl a. a. O. ec. 28 A. 24. Dass die Reise nicht
im Jahre 143 stattfand (Mommsen, Röm. Gesch. II, S. 64°. Zeller a. a. ©.
S. 558) zeigt Marx, Rh. Mus. AXXIX, S. 68 ff.
*) Cic. de rep. I 21, 34.
En Ἐ
hielt, so kann dieser hier genannte Verkehr des Polybius und
des Panätius im Hause des Scipio nur in die Zeit vor dieser
Reise gesetzt werden. Nun war aber Polybius seit seiner Rück-
kehr in die Heimat im Jahre 150 bis zum Jahre 145 nicht in
Rom. Im Jahre 146 nämlich erhielt er nach der Katastrophe
Korinths vom Senate den Auftrag, die Verhältnisse Griechenlands
zu ordnen und seine Landsleute mit dem neuen Stande der
Dinge auszusöhnen. Sicherlich hat diese Thätigkeit auch noch
einen grossen Teil des Jahres 145 umfasst!). Erst nach der
Ausführung dieses zur vollsten Zufriedenheit beider Parteien von
ihm erledigten Auftrages kann daher Polybius nach Rom zurück-
gekehrt sein. Noch eine weitere Begrenzung dieses Zeitraumes
giebt uns eine andere Erwägung. Bei dem bekannten Interesse
des Polybius für geographische Reisen ist es geradezu auffallend,
dass Seipio den Panätius und nicht auch ihn als Begleiter auf
seine grosse Reise mitnahm. Dieses Rätsel löst uns Polybius,
wie es scheint, sehr leicht. Polybius war nämlich, wie Strabo
aus ihm berichtet?), unter der Regierung Euergetes’ II Physcon
in Alexandria anwesend und hatte so Gelegenheit, das Leben der
Stadt und das Treiben des Königs zur Genüge kennen zu lernen.
Euergetes II riss nun im Jahre 146 den Thron an sich?); Poly-
bius kann also frühestens in diesem Jahre dort gewesen sein,
Polybius war ferner in Rhodus und benutzte’ daselbst Archive
für sein Geschichtswerk. Auch in Kleinasien ist er sicher ge-
wesen und hat seine Reise vielleicht auch noch weiter aus-
gedehnt*). Vor dem Jahre 150 kann er diese Reise nicht ge-
macht haben, da es ihm jedenfalls bis dahin verboten war, den
Boden Griechenlands zu betreten. Im Jahre 150 kehrte er in
seine Heimat zurück und daselbst finden wir ihn auch noch im
folgenden Jahre. Im Jahre 148 griff er aktiv in die Streitig-
keiten Griechenlands ein. Noch in demselben oder in dem darauf-
folgenden Jahre 147 begab er sich in Scipios Lager vor Carthago°),
, ἢ Polyb. XL, 10. Auf diese Thätigkeit des Polybius behufs der obigen
chronologischen Fixierung machte mich Susemihl brieflich aufmerksam.
Vgl. jetzt auch Susemihl a. a. O. II c. 29 S. 86 ff.
5) Vgl. Polyb. XXXIV, 14.
3) Pauly’s Real.-Ene. VI, 1, S. 222.
2 Polyb. XVI, 15; XXII, 21; IV, 38 ff.
5) Polyb. XXXVII, 2 ff, XXXIX 3 ff.
von wo er, wie oben schon gesagt, nach der Zerstörung Korinths
nach Griechenland zurückkehrte und die Ordnung der griechischen
Verhältnisse übernahm. Für die obige Reise nach Rhodus und
Kleinasien bleibt somit vor dem Jahre 145 keine passende Zeit.
Dagegen führte ihn sein Auftrag vom römischen Senate in diesem
Jahre ganz von selbst auch zu’ den griechischen Inselstaaten und
Kleinasien, und es ist ganz selbstverständlich, dass Polybius diese
Gelegenheit nicht unbenutzt für seine historischen Forschungen
wird haben vorübergehen lassen, zumal da ihm als römischem
Kommissar sicher alle Quellen viel leichter zugänglich waren wie
als Privatmann. Da er nun nach 146 auch in Alexandria gewesen
ist, so ergiebt sich der Schluss ganz von selbst, ‚dass er von
Kleinasien über Alexandria gegen Ende des Jahres 145 nach Rom
zurückgekehrt ist, um daselbst über den Erfolg seines Auftrages
vor dem Senate Bericht zu erstatten!). Bedenken wir dies, 'so be-
greifen wir sofort, warum Polybius den Seipio auf seiner Ge-
sandtschaftsreise nicht begleitete: Er hatte die hauptsächlichsten
Gegenden kurz vorher schon besucht; noch einmal die Reise zu
machen war also für ihn vollständig überflüssig. Für die Zeit
des gemeinsamen Verkehrs des Polybius und Panätius in ‚dem
en des Scipio ergiebt sich somit etwa die Zeit von 144—142
ἘΠ): Te =
Im Jahre 141 also unternahm Panätius mit Seipio die grosse
Reise und besuchte bei dieser Gelegenheit auch seine Vaterstadt
Rhodus?°), die sich seinetwegen der Gunst Seipios stets besonders
") Denn der an sich nahe liegende Gedanke, dass er vielmehr erst 141
den Scipio dorthin begleitet hätte, wird durch die Angaben des Plutarch
und Justin (vgl. S.4A.3) ausgeschlossen, nach denen Scipio auf diese Ge-
sandtschaftsreise nur fünf Sklaven und von seinen Freunden nur den Panätius
mitnahm. ER
5) Wenn die Vermutung wahr ist, welche wir S.2 A.1 über den Vater
des Panätius ausgesprochen haben, so ist es nicht unmöglich, dass dieser
von Hause aus gewisse Verbindungen in Rom hatte.
”) Dass die Reise sie auch nach Rhodus führte, erfahren wir aus Cie.
de rep. III, 35, 48. Wenn also Cie. Tuse. V, 37, 107 den Panätius zu den-
jenigen rechnet, qui semel egressi nungquam domum reverterunt, so kann
dies nur von einem dauernden Aufenthalte verstanden werden, da es uner-
findlich ist, weshalb sich Panätius von dem Besuche seiner Heimat bei dieser
Gelegenheit sollte ausgeschlossen haben. Eine Feindseligkeit lag jedenfalls
nicht vor, wie die folgende Anmerkung beweist.
tra ir ὔὕ;
hen ee N At
ER
erfreute und deswegen manche Beweise derselben erhielt‘). Mit
ihm kehrte er auch jedenfalls nach Rom zurück und blieb da-
selbst?) als Freund und:Lehrer in seiner Umgebung; wie lange
δ᾽
jedoch, ist unbestimmt. In der Folge lebte er abwechselnd in
Rom und :in Athen?) und brach auch nach der Ermordung
Seipios im Jahre 129 den Verkehr mit Rom nicht ab, wie die
Widmung des Lucilius. beweist. Jedoch blieb er seit dieser Zeit
sicher mehr in Athen, da er in. diesem Jahre daselbst der Nach-
‚folger des Antipater im Lehramte -wurde®). In gleicher Weise
wie in Rom stand er auch hier in der höchsten Achtung, und
bereit ihm diese zu beweisen boten ihm die Athener das Bürger-
recht an, das er aber dankend ablehnte’). Er starb daselbst um
das Ende des Jahres 110 oder 109°), wie oben gezeigt. Seine
Schüler stifteten zum Andenken an ihn die Tischgenossenschaft
der Panätiasten’).
1) Plutarch. praee. rep. gerend. c. 18 p. 814 Ὁ.
5) Dies dürfen wir aus seiner Schrift über die Pflichten schliessen,
worüber wir später noch spreehen werden. Dass er ihn auch. nach Numantia
begleitete, folgt aus Vell. Pat. I, 3, 3 nicht mit Notwendigkeit. Belegstellen,
die diesen Verkehr betreffen, finden sich ausser den angeführten noch bei
Suidas 5. v. Παναίτιος u. Πολύβος: ind. Hereul. col. 56; Cie. de off. I 26, 90;
II 22, 76; rep. I 10, 15; fin. II 8, 24; IV 9, 23; Tuse. I 33, 81; pro Mur.
31, 66; ad Att. IX 12, 2; Gell. XVII 21, 1.
3) Ind. Here. col. 63.
*) Ind. Here. col. 53 Δάρδανος ’Avdgoudyov ᾿Αϑηναῖος χαὶ οὗτος τὴν Πα-
γαιτίου σχολὴν διαδεξάμενος; vgl. auch Zeller Philos. 4. Gr. ΠῚ ἃ S.558, Anm. ὃ.
Hierdurch fällt ohne weiteres der Versuch Scheppigs De Posid. Apam. rer.
gent. terrar. script. p. 3 die verkehrte Nachricht des Suid. s. v. Ποσειδώνιος
zu verteidigen, Panätius sei gar nicht in Athen, sondern in Rhodus Schul-
vorstand gewesen von dort nach Niederlegung des Scholarchats nach Athen
ausgewandert und daselbst gestorben. Zugleich mit diesem Versuch fallen
seine weiteren Vermutungen, welche er in Bezug auf das Leben des Panätius
u. Posidonius auf denselben gründet; vgl. auch Zeller a. a. Ὁ, 559, 1.
5) Procl. in Hesiod. ἐργ. x. ju. 807.
6) Zeller a. a. Ὁ. Π18 S. 559, Anm. 3 spricht nach ind. Here. col. 71
von dem ehrenvollen Begräbnis, das dem Panätius in Athen zu Teil gewor-
den sei; doch bezieht sich diese Stelle wohl sicher nicht auf Panätius, da
60]. 69 augenscheinlich beweist, dass nicht mehr von Panätius, sondern von
seinen Schülern und Freunden die Rede ist. Vielleicht bezieht sich diese
Nachricht auf den berühmten Grammatiker Apollodor, der col. 69 genannt
wird. Ob col. 68 auf Panätius Bezug nimmt, ist auch fraglich; denn schon
col. 67 scheint nicht mehr von Panätius zu sprechen.
Ἢ Athenaeus V 186. a.
nn
Panätius glänzte nach langer Zeit wieder, und unter den
stoischen Philosophen überhaupt zum ersten Male, als Schrift-
steller'). Geburt, Umgang und Studium waren in gleicher Weise
dazu geeignet, seinen Sinn und Geschmack zu bilden und sein
Augenmerk auf die grossen Muster der hellenischen Litteratur zu
lenken. Unter ihnen waren es offenbar Platos Werke, die er
am meisten bewunderte und nachahmte?). Mit der angenehmen
Darstellung verband er Klarheit, Fasslichkeit und Gründlichkeit
in der Gedankenentwickelung. Seine Werke standen daher bei der
Nachwelt im höchsten Ansehen?). Bekannt sind uns dem Titel nach
nur wenige und zwar: 1, Περὶ προνοίας ἢ); 2. Περὶ τοῦ zadnxovros?);
1) Zeller a. a. O. S. 559; Hirzel Unters. IIa S. 267 ff. u. ö. Susemihl
a. 5, ©. De 28, S. 65£.
2) Vgl. sein begeistertes Urteil über ihn Cie. Tuse. I 32, 79; dass dies
nicht allein dem Inhalte galt, zeigt auch seine philologische Beschäftigung
mit ihm; vgl. Hirzel a. a. O. II S. 378 ff. Susemihl a. a. Ὁ. A. 33.
3) Horaz Od. I 29, 13.
4) Cie, ad Att, XIII 8;_ de div. 13, 6; 7, 12; II 42, 81 8: acad. II 33
107; Diog. VII 49. Dass Cicero für die zweite Hälfte des zweiten Buches
de deor. nat. diese Schrift seiner Darstellung zu Grunde gelegt habe, ver-
mutete zuerst Rose zu Aristot. ps. frg. 255 auf Grund von Cie. ad Att.
XII 8, während Schoemann in der Einl. seiner erklär. Ausgabe derselben
Schrift S. 17 den Posidonius für das ganze Buch als Quelle annahm. Die
von Rose ausgesprochene Ansicht hat alsdann Hirzel Unters. zu Ciceros
philos. Schriften I S. 191 ff. unter Beschränkung auf den dritten Abschnitt
des Buches c. 29, 73—61, 153 nieht ohne gute Gründe nachzuweisen gesucht.
Gegen ihn verteidigte Schwenke in einer sehr eindringenden Abhandlung
Jahns Jhrb. für Phil. u. Päd. CXIX S. 129 ff. die Einheit der Quelle und
das Recht des Posidonius als ihres Verfassers. Ohne diese Abhandlung zu
kennen, wie es scheint, pflichtete Zeller den Ausführungen Hirzels bei
Comm. Momms. S. 402 ff. Philos. der Gr. IIIa S. 561, 2°. Unabhängig von
Schwenke und Zeller hat sich auch Fowler, Panaet. et Hecat. frg. colleg.
Bonn 1885 p. 20 ff. ohne wesentlichen Grund (s. Zeller a. a. Ὁ.) gegen die
Benutzung des Panätius ausgesprochen; dafür wiederum Reinhardt Bresl.
philol. Abh. III. Heft 2. S. 33 ff. 1888 ohne irgend welche Ausschlag geben-
den Gründe beizubringen; ebenso Wendland, Archiv für Geschichte der
Philos. I 1888. S. 200 ff. Der Abschnitt e. 34, 87—44, 115 gehört jedenfalls
nicht dem Panätius. Gegen Panätius scheint in dem übrigen Teil $ 55 zu
stimmen, da die Worte: quae (se. mundi partium eoniunctio) aut sempiterna,
sit necesse est ... aut certe perdiuturna mehr für einen Philosophen sprechen,
der die letztere Ansicht für die richtigere hielt. So mahnte mich Diels; wir
werden später hierauf zurückkommen.
°) Vgl. im folg. Teil I. Kap. 1. Panätius schrieb dies Werk 30 Jahre
4
ug
3. Περὶ εὔϑυμίας ἢ); 4. Περὶ πολιτείας; 5. Περὶ αἱρέσεων;
6. Περὶ Σωχράτους καὶ τῶν Σωχρατιχῶν ). 7. Epistola ad Q. Aelium
Tuberonem’).
$ 2. Posidonius?).
Unter den zahlreichen Schülern des Panätius ist bei weitem
der bedeutendste Posidonius aus Apamea in Syrien’). Über
seine Vorfahren ist nichts bekannt, ebenso ist auch weder sein
Geburts- noch Todesjahr überliefert oder bestimmt zu berechnen.
Die letzte sicher datierbare Kunde aus seinem Leben fällt in das
Jahr 59 vor Chr.; Cicero erhielt in demselben von ihm eine ab-
schlägige Antwort auf seinen Wunsch, sein Konsulat von ihm
gepriesen zu sehen®). Da er Schüler des Panätius war und dieser
vor seinem Tode (Cie. off. III 2, 8), also um das Jahr 139, da das Jahr 140
noch auf der Reise verging. Hierzu stimmt sehr schön Cie. a. a. Ὁ. I 26, 90,
ἢ) Diog. IX 20; Plutarch de coh. ira c. 16 p. 468 1). de trang. an. c. 16.
p- 474D.
3) Ind. Hereul. col. 62 vgl. im folg. Teil I. Kap. 2—3. Der Titel ist
nicht genau bestimmbar.
3) Diog. II 87. vgl. Teil IITA. Kap. >.
Ὁ) Vgl. Teil TA. Kap. 6.
5) Cie. de fin. IV 9, 23; Tusc. IV 2, 4; acad. pr. II 44, 135. Unrichtig
urteilt über diese Schrift Fowler a. a. Ο. S. 34 ff. — Auf einen Kommentar
zu Platos Timaeus und Parmenides schliesst Zeller a. a. Ὁ. S. 560, 4 nach
v. Lynden S. 73 aus Procl. in Tim. Plat. p. 50B, in Parm. VI T. VI 25
wohl mit Unrecht; vgl. Hirzel II. S. 893, 1f. Weitere Schriften, welche Fabri-
eius Bibl. gr. III p. 567 ff. aufzählt, sind entweder zu Unrecht genannt oder
Teile der angeführten.
6) Bake Posid. Rhod. relig. 5. 1ff. Toepelmann de Posidon. Rhod. Bonn
1867, Scheppig de Posid. Apam. rer. gent., terrar. seript. Halle (Berlin) 1870
S.2#. Arnold, Unters. über Theoph. v. Mityl. u. Posid. v. Apam. Jhrb. f.
- Phil. Suppl. N. F. XLS. 75ff. Schuehlein, Studien zu Posid. Rhod. Frei-
“ sing 1886, mir noch unbekannt. Müller frg. hist. gr. III. 5. 245 u. ὃ. Zeller,
Philos. ἃ. Gr. IIla S. 572°f£., Susemihl a. a. ©. I e. 29 5. 128 ff. ἐ
7) Suidas 5. v. Ποσειδώνιος; Strabo XIV p. 908 Β; XVI p. 1098. Pe.
Lucian Maerob. 20; Athen. VI p. 252E. Cie. off. IH 2, 8; div. 13, 6. Ps.
Galen hist. phil. p. 600, 11 Diels ist unrichtig und beruht auf Verwechselung,
falls nicht eine Lücke anzunehmen ist.
8) Cie. ad Att. Π 1, 2. — Suidas berichtet offenbar ungenau, dass Po-
sidonius unter dem Konsulate des M. Marcellus d.h. im J. 51 statt unter
dem Tten des Marius (Plutarch Mar. 45 p. 432 f.) nach Rom gekommen sei.
Bake S. 20, Toepelmann S. 5. 19, Scheppig S- 108. Arnold 8. 111 A. 66,
Schuehlein S, 60 #. nehmen deswegen eine dritte Reise nach Rom an, doch
ee
um 110 oder 109 gestorben ist, so werden wir seine Geburt jeden-
falls nieht nach 135 ansetzen dürfen, selbst wenn wir. berück-
sichtigen, dass er nicht zu den älteren, sondern zu. den jüngeren
Schülern des Panätius gehörte!). Da er ferner im Alter von 84
Jahren starb?) so kommen wir spätestens auf das Jahr 51 v. Chr.
als das Jahr seines Todes>). Eine dringende Notwendigkeit liegt
nicht vor, sein Geburts- und Todesjahr um einige Jahre hinauf-
zuschieben‘), wenn es natürlich _ auch nicht absolut ausge-
schlossen ist. m ΣΤΡ
Posidonius verliess in der Jugend seine Vaterstadt und kehrte
wie sein Lehrer zu dauerndem Aufenthalte in dieselbe nicht mehr
zurück®). Er begab ‘sich nach Athen, und studierte daselbst unter
Panätius die stoische Philosophie; doch hatte er auch reichlich
Gelegenheit, die entgegengesetzten Lehren der Akademie, die
Clitomachus leitete, und die der Epikureer kennen zu lernen. Wie
lange er hier verweilt hat, ist nicht mit Bestimmtheit zu erfahren.
Jedenfalls unternahm er wohl erst nach dem Tode des Panätius
seine ausgedehnten Reisen; welche sowohl der- geographischen
als der astronomischen und historischen Forschung dienten. Die
zuverlässigsten Berichte besitzen wir über die nach dem Westen.
Ob diese aus mehreren einzelnen oder aus einer einzigen Reise
bestand, ist zwar mit Gewissheit nicht zu bestimmen, doch ist das
letztere durchaus wahrscheinlich. Demnach wandte er sich zunächst
nach Gallien, fuhr dann an der Küste Spaniens entlang, stieg in
Gades aus und nahm daselbst einen dreissigtägigen Aufenthalt,
wohl mit Unrecht, vgl. Zeller a. a. Ὁ. S. 572, 3; Susemihl a. a. Ο. A. 161.
Auch Bake a. a. Ὁ. hatte bereits diese Reise angezweifelt.
') Dies ergiebt sich daraus, dass er nieht der Nachfolger seines Lehrers
in Athen wurde; vgl. über die Gewohnheit in der Wahl des Nachfolgers
Zumpt, Bestand d. Philosophenschulen in Athen, Abh. ἃ. Berl. Akad. 1842.
5. 30 ff.
5) Ps. Lueian Macrob. 20.
») So bestimmte bereits Bake die Lebensdauer des Posidonius a. a. O.
S. 6ff. Toepelmann 5. 6ff., Scheppig 5. 12ff., Schuehlein S. 10. 60 ff.
setzen dagegen sein Leben zwischen 130—46, Müller a. a. ©. S. 245 zwischen
125—41. Dagegen vgl. Zeller a. a. Ὁ. Ungenau ist jedenfalls Athen. XIV
657. Zeller stimmt auch Susemihl bei a. a. A. 163.
*) Dies ist Zeller geneigt anzunehmen, weil sich nicht eine genügend
lange Zeit für den Unterricht des Posidonius bei Panätius ergebe.
δ) Cie. Tusc. V 37, 107.
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Se
um die Nachrichten über die angeblichen besonderen Erscheinun-
gen an der Sonne bei ihrem Auf- und Untergange und die über
die Ebbe und Flut zu untersuchen. Auf der Rückreise fuhr er
an der Nordküste Afrikas entlang und kam wahrscheinlich über
die liparischen Inseln und Sieilien nach Italien. Widrige Winde
Zwischen den Balearen und Sardinien hielten unterwegs diese
‘Fahrt drei Monate lang hin. Diese unfreiwillige Musse benutzte
er zu Forschungen über die Winde!). Ferner richtete er seinen
Weg auch nach den Ländern am adriatischen Meere®). Auch in
Alexandria ist er sicher gewesen, wie seine Angaben über das
südliche Sternbild Argo und den zugehörigen Stern Canobus be-
weisen®). Ebenso dürfen wir mit Recht- vermuten, dass er auch
die südlich von Ägypten gelegenen Länder besueht hat®). In der
Folge liess er sich in Rhodus nieder. Er erhielt daselbst das Bürger-
recht5), nahm an der Verwaltung der Stadt thätigen Anteil und
Stieg bis zur höchsten Ehrenstelle, bis zur Würde des Pry-
tanen®). Im Jahre 86 ging er als Gesandter nach Rom, wo er
| “5.
- ἢ Vgl. Scheppig ἅ. «. Ο. 5. 4ff. Strabo III p. 202 Bff., 262 Bff., 212 Β.
2) Strab. VII p. 316. _
3) Cleom. eyel. theor. I ec. 10 p. 5Lf. Procl. in Tim. Plat. p. 27T Ε.
Strabo II p. 180€.
3) Hierfür spricht zunächst seine Bereehnung der Grösse der Sonne, die
auf Angaben beruht, die in Syene gemacht sind. (Cleom. II ce. 1 p. 79). Nun
konnte er zwar, wie es scheint, diese Angaben- auch bei Eratosthenes finden
(Cleom. Ic. 10 p. 53), doch ist es an sich sehr unwahrscheinlich, dass Posi-
donius, der nach Gades reiste und sich dort aufhielt, um ein Gerücht zu prüfen
und zu widerlegen, als er in Ägypten war, nieht weiter nach Süden sollte
gegangen sein, um selber auch die Angaben zu prüfen und das bezügliche
Phänomen zu sehen, zumal, wenn wir bedenken, dass Posidonius bei seiner
Berechnung über die Grösse der Sonne über Eratosthenes hinausgeht. Dies
bestätigt noch eine weitere Nachricht. Wenn wir nämlich bei Strab. II 151 A
lesen: ἀμφοτέροις d’ ἐπιτιμᾷ (se. ὃ Hocsidwvıos) διχαίως .. τούτου δὲ τὸ μὲν
ἀπὸ τῆς Συήνης, ἥπερ ἐστὶν ὅριον τοῦ ϑερινοῦ τροπιχοῦ, εἰς Megönv εἰσὶ μύριοι"
τὸ δ᾽ ἐνθένδε ἕως τῆς Kırauwuopogov παραλλήλου, ὅσπερ ἐστὶν ἀρχὴ τῆς διαχεχαυ-
μένης, τρισχιλίων. τοῦτο μὲν τὸ διάστημα πῶν μετρητόν ἐστιν, πλεῖταί
τὲ γὰρ καὶ ödevercı, so scheinen mir diese Worte sicher zu beweisen, dass
Posidonius diese Gegenden selber gesehen hat. Auch die Untersuchungen
über den Nil, seine Quellen und seine Überschwemmungen, wird er sicher
nicht bloss abgeschrieben haben.
5) Athen. VI 252E; Strabo XIV p. 655. Ps. Lucian Macrob. 20. Suid. s. v
6) Strabo VII p. 316.
ΣΕ ΓΈ [9 ΠΞΕΞ
mit Marius verhandelte!). Zu Gesandten wurden nun, wie es
scheint?), nur gewesene Prytanen gewählt; daraus ergiebt sich,
dass Posidonius wahrscheinlich schon vor dem Jahre 86 dieses
Amt verwaltet hat. Da er nun dort nicht heimisch war, so werden
wir sicher annehmen dürfen, dass von der Zeit seiner Nieder- °
lassung daselbst bis zu seiner Thätigkeit in den höchsten Ämtern
der Stadt wenigstens 10 Jahre vergangen sein werden. Wir kom--
men so ungefähr in das Jahr 96 als die wahrscheinliche Zeit seiner
dauernden Übersiedelung nach Rhodus. Obwohl es nun un-
bestimmt ist, wann er die Reise nach dem Westen und den Küsten- °
ländern des adriatischen Meeres unternommen hat, so ist es doch
durchaus wahrscheinlich, dass es erst nach der Niederwerfung
der Kimbern und Teutonen geschah, da vorher schwerlich in
diesen Gegenden die Ruhe und Sicherheit herrschten, welche
einen Forscher zum Besuch derselben einladen konnten?). Er- ᾿
wägen wir jetzt, dass diese Reise jedenfalls längere Zeit in An-
spruch nahm, so sehen wir, dass er bald nach derselben sich
nach Rhodus begeben haben muss. Der Aufenthalt in Alexandria
und Ägypten muss demnach der Reise nach dem Westen voran-
gegangen sein. Den Zweck derselben lassen uns seine mathe-
matisch-astronomischen und naturwissenschaftlichen Forschungen
ohne Schwierigkeit erkennen: Diese Studien blühten bekanntlich
gerade dort in hohem Masse. Dieser Aufenthalt wird somit einen
grossen Teil der Zeit zwischen dem Tode des Panätius und
seinen weiteren Reisen nach dem Westen ausgefüllt haben.
Seinem Wissen entsprechend war auch sein Ruhm®). Er hatte
nicht bloss Griechen zu seinen Zuhörern wie Phanias, Asclepio-
dotus, Diodorus aus Alexandria und seinen Neffen und Nach-
folger Jason’), sondern auch die namhaftesten Römer wie Cicero,
1) S.S. ἢ): Α. 8.
?) Scheppig 5. 8; Arnold S. 111, A. 66.
8) Scheppig 5. 5ff. und nach ihm Zeller a. a. O. 5. 573, 2; Bake 5. 12
setzt diese Reise in den Zeitraum von 112—104 an; Scheppig 100— 90;
Schuehlein S. 23 ff. genauer 100—95. Scheppig-Zeller stimmt auch Susemihl
bei a. a. OÖ. DH c. 29, A. 154.
#) Über seine Büste 5. Scheppig S. 15.
ὅ Diog. VII 41; Seneca N. Ω. II 26, 6; VI 17, 3; Suidas 5. v. Idowrv.
Über Diodorus vgl. Diels dox. gr. p. 19 ff. Weiter vermutet Zeller a.a.0.
S. 585, 1 noch Schüler des Posidonius in den Griechen Leonides aus Rho-
dus und Athenodorus, Sandous Sohn, aus Kana bei Tarsus.
a De ἐπα. a A
δι ἘΣ
ὌΝ
Pompeius Velleius, Cotta und Lucilius Balbus!) suchten ihn auf,
um seine Vorlesungen zu hören. Noch grösseren Ruhm und Ein-
fluss gewann er durch seine Werke bei der Mit- und Nachwelt.
Diese verbreiteten sich fast über alle Zweige des Wissens und
verbanden mit dem reichen Inhalte eine schwungvolle Darstel-
lung. Genannt werden uns folgende’): 1. Φυσικὸς λόγος):
2. Περὶ x00uov*); 3. Περὶ ϑεῶν"); 4. Περὶ ἡρώων καὶ δαιμόνων");
5. Περὶ εἱμαρμένης 1); 6. Περὶ μαντικῆς); 1. Περὶ ψυχῆς Ὕ; 8. Εἰσα-
γωγὴ περὶ λέξεως 1); 9. Πρὸς Eouayooav!!; 10. Περὶ χριτηρίου 1);
11. Περὶ παϑῶν 3); 12. Σύνταγμα περὶ ὀργῆς 1); 18. Περὶ ἀρετῶν 10);
1) Cie. hörte ihn bekanntlich im J. 78 und blieb mit ihm fortan be-
freundet, Cie. deor. nat. I 3, Οἱ de fato ὃ, 5; Tuse. II 25, 61; Brut. 91, 316;
Plutarch. Cie. 4. vgl. Bake S. 21 ff.; Scheppig S. 8; Über die Besuche des
Pompeius vgl. Strab. XI 492 Cie. Tusc. II 25, 61; Plutarch, Pompeius 42;
"Bake 5. 15 ff.; Toepelmann S. 14; Scheppig 5. 8ff. In Bezug auf Lueilius
Cotta u. Velleius s. Cie. deor. nat. I 44, 123; II 34,88. Auch mit Rutilius
‘Rufus verkehrte er. Vgl. Zeller a. a. O. S. 574, 2° u. Susemihl a. a. O. U
S. 129 ff. Uber den Umgang des Servius Sulpieius mit ihm werden wir
später zu handeln haben.
2) Strabo III 147; Hirzel Unters. II S. 269 ft. u. ö. Vgl. Bake a. ἃ. Ὁ.
S. 235 f. |
8) In mindestens 15 Büchern handelte dieses Werk über alle Gebiete
der Naturphilosophie vgl. Diog. VII 140; 134; 143; 144; 145; 149; 153.
j Ὁ Diog. VII 142. Vielleicht war diese Schrift die Quelle für Ps. Philo |
de incorr. mundi vgl. Diels dox. gr. p. 107. Eine Schrift Περὶ zevoö, wird
von Ps. Plutarch II 9, 3 fälschlich eitiert, vgl. Diels a. a. Ὁ, p. 9. RR Ir.
5) Vgl. hierüber 5. 8 A. 4 und im folgenden Teil I. Kap. 4.
6) Macrob. Sat. I 23, 7.
Ἢ Diog. VII 149.
8) Diog. a. a. O0. Dies Werk, das 5 Bücher umfasste, ist von Cicero
zur Abfassung des ersten Buches de div. und in der Einleitung zu de fato
benutzt, vgl. Wachsmuth, Ansichten d. Stoiker üb. Mantik S. 18: Schiche
de font. libr. Cie. de div. Jena 1875; Hartfelder, die Quellen v. Cie.'s zwei
Büchern de div. G-Pr. Freiburg 1878; 5. auch im folgenden Teil 1. Kap. 6.
9) Eustath. in Iliad. p. 910, 40 R.
10) Diog. VII 60; vgl. Quintil. institut. or. III 6.
11) Plutarch. Pompeius ce. 42.
12) Diog. VII 54; hierüber wird auch später gehandelt werden.
13) Die Zahl der Bücher ist unbestimmt. Dieses Werk ist von Galen de
placit Hipp. et Plat. so ausserordentlich benutzt, dass es sich aus demselben
zum grossen Teil rekonstruieren lässt; vgl. daselbst IV p. 348, 128. V
ΟΡ. 448, 7ff. ed. Iw. Müller.
1) Zündel, Rh. Mus. Bd. 21. 5. 431.
15) Galen a. a. Ὁ. VII. 654M.
752,
RE A
14. Ηϑικὸς Aoyos!); 15. Προτρεπικοί");. 10. Περὶ τοῦ καϑήκοντος 8);
17, Ἐξήγησις τοῦ Πλάτωνος Τιμαίου ἢ): 18, Περὶ μετεώρων ὅ);
19. Περὶ τοῦ Ἡλίου μεγέϑους δ); 20. Πρὸς Ζήνωνα); 21. Meg
ὠχεανοῦ καὶ τῶν κατ᾽ αὐτόν); 22. Τὰ μετὰ Πολύβιον); 23. Τέχνη.
ταχτική 19); 24, Ἐπιστολαί:}). , En
$. 3. Hecaton, Mnesarchus, Dionysius.
a) Hecaton.
Von den weiteren Schülern des Panätius sind uns noch
einige, wenn auch nur in geringem Grade, durch ihre Lehren !
bekannt. Hierzu gehört zunächst Hecaton aus Rhodus, ein
Landsmann seines berühmten Lehrers. Ueber sein Leben sind
2), Diog:; ΝΠ 91:
3) Diog. VII 91; 129; vgl. Seneca ep. 95, 65. Hierher gehört also Hie-”
ronymus in epitaph. Nepot. I p. 22, nicht, wie Bake vermutet, in das Werk
περὶ παϑῶν. Vgl. Bake S. 36 ff.; 245; Müller a. a. Ὁ, 5. 250; Hirzel III 349, 1.
Neben Aristoteles’ Protrepticos hat Cicero auch wohl diese Schrift einge- 4
sehen, als er den Hortensius schrieb, 5. Hirzel III 347 ff. Hartlich, Leipz. °
Studien XI S. 282 ff., doch jedenfalls nicht in grösserem Massstabe benutzt;
s. Diels Archiv für Gesch. d. Philos. I S. 477 ff. ἢ
8) Diog. VOL 124: 129; Cie. ad Att. XVI 11; de of, ΠῚ 2 8; T 45, 159;
/ γεν im folgenden T. I Kap. 1 8 1.
72% 4.9 Bake 5. 238 ff. vgl. im folgenden T. IIIB Kap. 2 u. 3. Vielleicht ver- )
füsste er auch einen Kommentar zum Phaedrus desselben; vgl. Herm. in Plat.
Phaedr. p. 114 Ast; s. Hirzel I 5. 237 ff. Noch un ist es, ob er
auch einen solehen zum Parmenides schrieb, Proel. in Plat. Parm. VIT. VI”
25 P. Vgl. auch Susemihl a. a. Ὁ. A. 169. Σ
5) In mindestens 17 Büchern Diog. VII 144; 135; 137; 152. Diogenes
erwähnt hier zwei Werke: περὶ μετεώρων und μετεωρολογικὴ oroıyeiwors; höchst
wahrscheinlich jedoch bezeichnen beide nur ein und dasselbe. War dies
nicht der Fall, so war das letztere jedenfalls ein Auszug aus dem ersteren,
Es war die Heanianelle für Arius Didymus und Ps. Aristot. περὲ χόσμου.
Ebenso beruhen auf ihm auch Senecas Nat. Quaest. vgl. a. 0, 19,103 13; j
II 26, 4; 54, 1; IV 3, 2; VI 21, 2; 24, 6; VII 80, 2; 4; doch hat es Seneca
nicht sale τ. sondern ee: durch eine Schrift des
Asclepiodotus, des Schülers des Posidonius; vgl. a. a. ©. Π 26, 6; 30, 1;
115,1: VI17,3; 22,3; 5. Zeller a. a. 0. S. 664ff., Diels dox. p. 19, 91, ΠΕΡῚ Ὶ
Rusch de Posid. Lueret. Cari auetor. diss. ΞΕ ἢ 1882. Aus ihm machte auch
Geminus einen Auszug, den noch Simplicius in’ Aristot. phys. p. 64f. benutzt
hat; vgl. auch Fr, Blass, de Gemino et Posidonio ind. schol. Kiel 1883.
°) Der Titel ist nicht ganz bestimmt, Cleom. I e. 11 p. 65. He. 1; jeden-
falls war es für diesen die Hauptquelle.
ἢ War eine eigene mathematische Streitschrift gegen den Epicureer E
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Bear?
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uns fast gar keine Nachrichten erhalten, da der Abschnitt, welcher
ihm von Diogenes gewidmet war, verloren gegangen ist!). So-
viel nur lässt sich‘ aus der Art, wie er neben den Häuptern der
Schule genannt wird, schliessen, dass er grosses Ansehen in seiner
Zeit besass.. Seime Werke handelten, soweit uns darüber zu
urteilen möglich ist, fast ausschliesslich über die Ethik, Ange-
führt werden folgende’): 1. Περὶ τέλους, 2. Περὶ ἀρετῶν),
3. Περὶ ἀγαϑῶνδ), 4. Περὶ καϑήκοντος), 5. Περὶ παϑῶνϊ),
0. Περὶ παραδόξων), 1. Χρεῖαι).
Zeno und wohl nicht nur ein Teil einer anderen Schrift, wie Bake S. 244
meint; vgl. Procl. in Euclid. p. 200, 1 ff. Friedl. die Fragmente s. ebds.
p- 216 ff.
.°) Von Suidas wird dies Werk fälschlich dem Posidonius von Olbia zu-
geschrieben. Es richtete sich auf die mathem.-physikalische Geographie,
enthielt jedoch auch viele specielle Erdbeschreibungen. Plinius bezeichnet
es mit περιήγησις und benutzt es ausser im V., auch wohl im II., IV., VI.
und’ XI. Buche seiner Nat. Histor. Benutzt wurde es ferner wohl auch von
Vitruv. VIII 4 und vielleicht von Diodor, am eingehendsten aber von Strabo,
der es viel öfter ausschreibt, als er es nennt; vgl. Bake S. 243; Müller frg.
hist. gr. III 5. 277ff. Scheppig 5. 16; Müllenhoff, Deutsche Altertums-
kunde I S. 441#. II S. 303ff. Wilkens, de Strab. font. Marburg 1886 S. 22 ff.
Zimmermann, Hermes XXIII S. 103 ff. Susemihl a. a. Ὁ. II S. 137 ff.
9) In 52 Büchern; die Fortsetzung war wohl die nur von Strabo XI
p- 492 erwähnte ἱστορία περὶ Πομπήιον. Über dieses Werk vgl. jetzt Susemihl
ἃ. ἃ. 0. II S. 139 Β΄, wo auch die reichhaltige Literatur angegeben ist.
10) Aelian Tact. I 1; Arrian Tact. init.
1)’Cie. off. TI 2, 10; ad Att. I 1. 2.
1) Vgl. Val. Rose Hermes I S. 370 f.
3) Die Fragmente sind von Fowler, Panaetii et Heeatonis fragm. colleg.
Bonn 1885. p. 48 ff. zusammengestellt. Einzelne Berichtigungen werden
_ späterhin folgen.
3) Diog. VII 87; 102; vgl. Hirzel II 567 ff. und dagegen Schwenke Philol.
Rundsch. III 1883.
BE Biog. VIEL 90; 91; 125.
°) Diog. VII 101; 103; 127.
6) Cie. off. ΠῚ 15, 63; 23, 8IM.; 11, 49 ff. Seneea ben. I 3; II 18, 21;
ΠῚ 18—22; VI 37. Seneca eitiert zwar ohne Angabe des Werkes; doch ist
aus der Vergleichung der angeführten Stellen mit denen, welche Cicero aus
Hecatons Werk über: die Pflichten entlehnt, mit Sicherheit zu schliessen,
_ dass die angeführten Stellen Senecas auch aus demselben Werke herüber-
genommen sind. Dass Seneca diese Schrift in grösserem Massstabe gebr
aucht
hat, wie er angiebt, ist wohl glaublich, wie auch Fowler vermutet; doch hat
er sich ihm nicht gänzlich angeschlossen.
5
A DR
b) Mnesarchus.
Ferner gehört noch Mnesarchus hierher, der mit Dardanus =
zusammen nach dem Tode des Panätius in Athen die Stoa lei-
tete!). Beide stammten aus Athen. Wie lange ihre Schul-
führung gedauert hat, ist unbestimmt, da uns abgesehen von den
Namen ihrer Väter?) keine weiteren Nachrichten über ihr Leben
erhalten sind. Auch ihre Schriften sind uns unbekannt.
c) Dionysius.
Der letzte Philosoph, dessen wir hier zu gedenken haben,
ist Dionysius aus Kyrene. Als Mathematiker genoss er einen
grossen Ruf?). Er verwickelte sich in einen wissenschaftlichen
Streit mit dem Epikureer Demetrius®), aus dem uns bei Philo- Ἵ
dem) Nachrichten aus der Erkenntnistheorie und der Theorie
Ἴ Diog. VII 110.
8) Diog. VII 124.
95) Diog. VI 4; 26; 32; 95. VII 172. Auch VII 2 und 181 werden sicher
daraus entlehnt sein. Aus welcher Schrift die noch übrigen Stellen Seneca
ep. I 5, 7; 6,7; 9, 6 genommen sind, ist fraglich; sie können auch aus der
Pflichtenlehre stammen.
1) Cie. de orat. I 11, 45; index Hercul. col. 55.
5) Ind. Hereul. col. 51.
®) Ind. Hereul. eol. 51 οὗτος δὲ zei γεωμέτρης ἣν ἄριστος; er hatte noch
den Diogenes und Antipater gehört, vgl. ind. Here. a. a. Ὁ.
*) Diesen Demetrius hält Comparetti in seinem Aufsatze la villa de’
Pisoni e la biblioteea in der Festschrift Pompei e la regione sotterata del
Vesuvio nell’ anno LXXIX Neap. 1879 S. 160 für Demetrius von Byzanz,
ohne freilich Gründe für diese Vermutung anzugeben. Ungleich richtiger
scheint mir Natorp Forschungen zur Geschichte der Erkenntnistheorie
S. 238, 1 ihn mit Demetrius Lacon zu identifizieren.
°) Philodem hat in seiner Schrift περὲ σημείων zei σημειώσεων nichts wei-
ter gethan, als seine Quellen in der einfachsten Weise an einander zu reihen.
Genaueres darüber wird später folgen. Sie behandeln die Theorie der Induk-
tion und richten sich zum grössten Teil gegen den Stoiker Dionysius. Die
dritte dieser Quellen (col. 28, 13—29, 20) bildet eine Schrift des Epikureers
Demetrius. Nun berichtet derselbe Philodem in der Übersicht der Geschichte
der Stoiker index Hereul. col. 52: Διονύσιος Κυρηναῖος" οὗτος δὲ zei γεωμέτρης ἢ
ἦν ἄριστος, ὃς χαὶ ἀντέτεινε “ημητρίῳ τῶ δητοριχῷ (2) χτλ. Augenscheinlich also &
erwähnt hier Philodem den Streit, von dem er in der obigen Schrift Ge- ὦ
naueres mitteilt. Zu diesem Schlusse drängt uns auch die Art, wie die letzte
Angabe gemacht wird: Sie steht mitten in der Aufzählung der Philosophen,
von denen nichts weiter als Name und Heimat genannt wird. Dies weist ἃ
ne in eh
aha
ENTE 5
der Induktion vorliegen. Diese sind für uns darum so wichtig,
weil wir aus diesem Gebiete sonst fast gar keine Berichte be-
sitzen. Ob und wann er Schulvorstand in Athen gewesen ist,
lässt sich mit Bestimmtheit nicht entscheiden.
offenkundig darauf hin, dass ihm dieser Streit besonders am Herzen lag und
bekannt war. Dass wir dabei an einen anderen denken sollten als an den
vorliegenden, den auch sein Lehrer Zeno aufgenommen hatte, ist bei Phi-
lodems Unselbständigkeit und der ganzen Sachlage fast undenkbar. Auch
Diels hat vor Jahren schon diesen Schluss gezogen, wie er mir mitteilte, als
ich ihm die oben entwickelte Ansicht vortrug. Wenn nun Zeller Philos.
der Gr. IHla S. 585, 1 diesen Schluss anzweifelt, so ist der Grund davon
offenbar ein Irrtum in Betreff der Chronologie dieses bei Philodem sich
findenden Streites, wie wir später nachweisen werden. Wenn ferner
Gomperz in der Einleitung zu der genannten Schrift p. XII unter der
"allerdings nur bedingungsweise ausgesprochenen Zustimmung Natorps
a. a. ©. S. 239 in Dionysius nur einen die Meinung seines Lehrers vortra-
genden Schüler des Posidonius sieht, weil Posidonius auch sonst den Zeno
"bestritten habe und Epikurs Meinung von der Grösse der Sonne hier in
ähnlicher Weise wie bei Cleomedes widerlegt werde, so sind beide Gründe
offenbar keine Gründe. Diese thörichte Meinung Epikurs war gewiss längst
widerlegt worden. Dass jener Dionysius von Kyrene als tüchtiger Mathe-
matiker diese Widerlegung kannte, ist selbstverständlich.
Schmekel, mittlere Stoa. 2
Ι. Teil. Quellen.
A, Panätius.
Kap. 1.
Cicero de officiis.)
Während Cicero in seinen philosophischen Schriften sich im
allgemeinen das Ansehen giebt, trefe Forschungen mit umfassen-
den Studien verbunden zu haben, hat er in seiner Schrift über
die Pflichten das gleichnamige Werk des Panätius derartig als
seine (Quelle gekennzeichnet, dass für die beiden ersten Bücher
eine Untersuchung darüber vollkommen überflüssig ist. Ist uns
nun dadurch eine nicht unwesentliche Erleichterung für die For-
schung gegeben, so wird andererseits dieser Vorteil durch die
Art, wie er diese Vorlage benützt hat, bedeutend geschmälert;
denn bei näherer Untersuchung stellt sich heraus, dass er ver-
hältnismässig sehr selbständig dabei verfahren ist. Obwohl er
gesteht, dem Panätius gefolgt zu sein, so verwahrt er sich doch
dagegen, eine einfache Übersetzung geliefert zu haben; er be-
zeichnet vielmehr seine Schrift als eine Überarbeitung seiner
Vorlage nach eigenem Urteil®). Wollen wir also dieselbe als
Quelle für die Lehre des Panätius benutzen, so werden wir
zunächst das Eigentum des Panätius soweit wie möglich von
dem Ciceros zu scheiden haben.
') Als die nachfolgende Abhandlung schon fertig war, ging mir durch
Susemihl, Klohe: De Cie. libr. de off. font. diss. Gryph. 1889 zu. Soweit
es nötig und möglich war, ist dieselbe berücksichtigt worden. ;
3%, 65 31.417,60: ΠΡ Σ᾽
— 1 —
Nach der Einleitung giebt Cicero die Disposition des Panätius,
die das ganze Werk beherrscht und uns lehrt, wo und wie weit
wir sein Eigentum zu suchen haben. Sie ist dreiteilig: Der erste
Teil handelt über das sittlich Gute, der zweite über das Nütz-
liche, der dritte über den Widerstreit des scheinbar Nützlichen
mit dem sittlich Guten. Den letzten hat Panätius nicht aus-
geführt, weshalb ihn Cicero selbständig, wenn auch nicht ohne
Benutzung von Quellen, hinzugearbeitet hat (III 2, 7). Ferner
hat Cicero zu den beiden ersten Punkten zwei kurze Erörte-
rungen über das Zusammentreffen je zweier Pflichten des sittlich
Guten oder des Nützlichen hinzugefügt (1 3, 10), die er ihrem
Inhalte gemäss im Anschluss an den ersten (I 45, 152 ff.) und
zweiten Teil (II 25, 88 ff.) darlegt. Diese Zusätze scheiden also
von selbst aus und sind daher im folgenden nicht mehr berück-
siehtigt. In dem übrigen Teile der Schrift offenbart sich die
Selbständigkeit Ciceros erstens in der Komposition und zweitens
innerhalb der Darstellung in Zusätzen und Veränderungen. Ueber
Beides haben wir hier zu handeln.
$ 1. Die Komposition.
Cicero berichtet zu wiederholten Malen, dass er die drei
Bücher des Panätius über die Pflichten in zwei zusammen-
gezogen habe. Es handelt sich hier also darum zu erkennen,
wo und wie diese Zusammenziehung stattgefunden.
Die Disposition des Panätius lautet 1 3, 9: triplex igitur
est, ut Panaetio videtur, consilii capiendi deliberatio: nam aut
honestumne factu sit an turpe dubitant id, quod in deliberationem
cadit .... tum autem aut anquirunt aut consultant ad vitae
commoditatem iucunditatemque, ad facultates rerum atque copias
. conducat id necne, de quo deliberant; quae deliberatio
omnis in rationem utilitatis cadit. tertium dubitandi genus est,
cum pugnare videtur cum honesto id, quod videtur esse utile.
Der Gegenstand des ersten Buches ist danach das honestum, mit
dessen Division $ 15 die nähere Erörterung beginnt. Das honestum
zerfällt in vier Teile, die vier einzelnen Tugenden: die sapientia
iustitia, fortitudo, temperantia (σωφροσύνη). Nach dieser Einteilung
erörtert Cicero kurz das Verhältnis derselben zu einander und
entwickelt darauf für jede die aus ihr entspringenden Pflichten:
De
Für die sapientia c. 6, 18—19, für die iustitia c. 7, 20—1B8, 60, für die
fortitudo c. 18, 61—26, 92, für die temperantia c. 27, 93—42, 151.
Der Gang und Zusammenhang dieses Buches ist von selbst klar.
Das zweite Buch hat der Disposition gemäss das Nützliche
(utile) zum Gegenstand (ec. 3,9). Gleich nach den einleitenden Be- τ
merkungen über dasselbe treffen wir einen weit ausgeführten
Syllogismus (e. ὃ, 11—5, 17): Die erste Prämisse (8 12—16) beweist, ο
dass fast aller Nutzen, die zweite (S 16), dass fast aller Schaden
den Menschen nur durch Vermittelung der Menschen treffe. Dar-
aus folgt der Schluss ce. 5, 17: cum igitur hie locus nihil habeat
dubitationis, quin homines plurimum hominibus et prosint et
obsint, proprium hoc statuo esse virtutis coneiliare animos ho-
minum et ad usus suos adiungere. Da hier diese Aufgabe als
Aufgabe der Tugend bezeichnet wird, so zeigt die unmittelbare
Fortsetzung die Richtigkeit dieser Behauptung durch den Hin-
weis, dass die Tugend nicht nur in der Erforschung der Wahrheit
und in der Vollkommenheit der eigenen Persönlichkeit bestehe,
sondern auch in dem richtigen Erwerbe dessen, was zum Leben
gehört, und in der Abwendung des Gegenteils ($ 18). Somit ist
es die Aufgabe dieses Buches klar zu legen, wodurch die Neigung
der Mitmenschen gewonnen wird!). Bevor jedoch die Darstellung
zu dieser Auseinandersetzung übergeht, bespricht sie den Ein-
wand, dass der Zufall im Leben viel vermöge (88 19—20). Der
Einfluss desselben wird zum grössten Teil zurückgewiesen, ganz
geleugnet wird er nicht, in voller Uebereinstimmung mit dem
vorhin ausgeführten Beweise, dass bei weitem am meisten Nutzen
sowohl wie Schaden durch die Menschen vermittelt werde. Hier-
auf folgt die Wiederholung des Themas ($ 20), dessen Aus-
führung unmittelbar darauf mit der Aufzählung der Gründe be-
ginnt, durch welche die Menschen einander Dienste zu thun be-
wogen werden (8 21). Es sind sechs: 1. benevolentia, 2. honor,
3. fides, 4. metus, 5. a quibus aliquid exspectant, 6. prece ac
mercede conducti. Es ist also einfach unmöglich, diese Auf-
zählung von der vorhergehenden Darstellung loszureissen.
') In unmittelbarem Anschluss an den Nachweis, dass die obige Aufgabe
Sache der Tugend ist, lesen wir $ 19: quibus autem hane facultatem adsequi
possimus, ut hominum studia compleetamur eaque teneamus, dicemus neque
ita multo post, sed pauca ante dieenda sunt. Η
.
Ἐπ ΟΠ Ἐν
Ebenso steht dieselbe auch mit der nachfolgenden Aus-
führung in logischem Zusammenhange. Von diesen sechs Grün-
den wird der letzte sofort als der niedrigste bezeichnet ($ 21);
auch ist es klar, dass er seinem Inhalte nach sich eng an den
fünften anschliesst. Dann findet Cicero, dass kein Grund wich-
tiger sei als die Liebe (caritas), und keiner unnatürlicher als die
Furcht (metus) ὃ 29. Um dieses zu beweisen führt er die Unfälle
- der Römer und anderer näher aus und schliesst diese Erörterung
mit den Worten ($ 30): atque in has clades ineidimus ... dum
metui quam cari esse et diligi maluimus; quae si populo Romano
iniuste imperanti accidere potuerunt, quid debent putare singuli?
Darauf folgt der Schluss: quod cum perspicuum sit, benevolentiae
vim esse magnam, metus imbeeillam, sequitur disseramus, quibus
rebus facillime possimus eam, quam volumus, adipisei cum honore
et fide caritatem. Was sollen die Worte “cum honore el fide’
heissen? Das cum kann entweder nur ein modales Verhältnis
oder eine Begleitung ausdrücken. Fassen wir es modal, so ist
der Zusammenhang folgender: Diese Unfälle haben Rom ge-
troffen, weil es ungerecht regiert hat, d. h. indem es sich auf
metus, nicht auf caritas stützte. Untersuchen wir also, durch
welche Mittel wir cum honore et fide die caritas erlangen. In
diesem Zusammenhange wäre cum honore et fide nur mit »Ehren-
haftigkeit und Treue« zu übersetzen. Aber einmal hat honor
_ diese Bedeutung nicht, und wenn es sprachlich auch möglich
wäre, so ist doch zweitens auch der Gedanke unmöglich. Metus
und caritas sind Gegensätze; wenn also die Unfälle den Römern
zugestossen sind, weil sie ungerecht regierten und deshalb Furcht
der Erfolg war, so sind die Mittel, durch welche das Gegenteil
erlangt wird, in erster Linie die Gerechtigkeit oder, wie wir auch
sagen können, Ehrenhaftigkeit und Treue. Hier lesen wir aber:
quibus rebus .... possimus adipisci . . - caritatem. Es werden
demnach ganz andere Mittel als diese gedacht. Somit bleibt nur
die zweite Auffassung übrig, deren Sinn ist: Da wir gesehen
haben, wie wichtig die caritas ist, so lasst uns untersuchen,
durch welche Mittel wir dieselbe erlangen dergestalt, dass wir
zugleich auch Ehre und Vertrauen erwerben. Im Anschluss an
die Worte: quod cum perspieuum sit benevolentiae vim e5Se
magnam, macht Cicero die Bemerkung, dass sie für verschiedene
Menschen noch verschieden wichtig sei, da die einen die carıtas
DD ὙΠΤΕ
aller, die andern nur die einiger bedürften, und verweist uns in
Bezug auf die letzteren auf seine Schrift de amieitia. Dann fährt
er fort ὃ 31: nunc dicamus de gloria... . summa igitur et per-
fecta gloria constat ex tribus his: si diligit multitudo, si fidem
habet, si cum admiratione quadam honore dignos putat. Wenn
er also vorhin sagte: quod cum perspicuum sit benevolentiae
vim esse magnam, metus imbecillam, sequitur, ut disseramus,
quibus rebus facillime possimus eam quam volumus adipisci cum
honore et fide caritatem, so ist handgreiflich, dass die Lehre vom
vollkommenen Ruhme eben das ist, worüber er sprechen zu
wollen $ 29 angiebt; dass also $ 31 mit der grösstmöglichen Ge-
nauigkeit sich an $ 29 anschliesst, wie nur immer ein Thema
mit der Ausführung zusammengehört!). Dementsprechend wird
auch gleich darauf ($ 32) diese Ausführung begonnen. Die drei
Bestandteile aber, welche den wahren Ruhm ausmachen, bene-
volentia oder caritas, fides und honor, sind die drei ersten Gründe,
welche $ 21 genannt worden: Also giebt die Abhandlung über
den wahren Ruhm ($$ 31—51) die Abhandlung über die drei
ersten Gründe, und demnach hängt auch $ 21 mit der nach-
folgenden Abhandlung so unzerreissbar zusammen wie mit den
vorhergehenden Erörterungen.
Dasselbe wird noch weiter bestätigt. Da der sechste Grund
überhaupt als zu unbedeutend und der vierte in den $$ 23—29,
wie wir gesehen haben, als verkehrt zurückgewiesen wird, so
bleibt nur noch der fünfte übrig. Dieser lautet: a quibus aliguid
expectant, «€ cum reges popularesve homines largitiones aliquas
proponunt. Somit umfasst dieser Grund nicht bloss die largi-
tiones, sondern überhaupt die Unterstützung, welche die Menschen
von jemandem erwarten können. Wenden wir uns jetzt zu dem
zweiten Teile der Darstellung (88 52—84)! Cicero beginnt den-
selben ὃ 52... deinceps de beneficentia ac de liberalitate dicen-
dum est, cuius est ratio dupplex: nam aut opera benigne fit in-
digentibus aut pecunia. Die Ausführung über die erstere Art
geschieht in der zweiten Hälfte der nachfolgenden Abhandlung
(88 65—84), die über die letztere, die Unterstützung mit Geld, in
der ersten Hälfte (88 52—64); diese handelt aber gerade über die
Εν Es kann daher unmöglich ein ganzes Buch dazwischen ausgefallen
sein, wıe Fowler, Panaetii et Hecat. fragm. coll. diss. Bonn 1885 p. 7 meint.
-- 23 --
largitiones: Also deckt sich die Abhandlung über die beneficentia
atque liberalitas augenscheinlich mit derjenigen, welche wir über
den fünften der $ 21 aufgezählten Gründe zu erwarten haben.
Somit enthält in Wahrheit die Aufzählung der Gründe $ 21 die
Disposition für die ganze nachfolgende Abhandlung. Die Dis-
position ist also so einfach und klar und zugleich so fest gefügt,
dass ihre Teile wie die Glieder des Syllogismus zusammenhängen
und einen einzigen, unzerreissbaren Beweis bilden. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, dass sie Panätius gehört ἢ.
Sowohl das erste wie namentlich das zweite Buch enthalten
also eine Abhandlung, die je einen der beiden Punkte der Dis-
position (I 3, 9) erörtert; diese Disposition ist aber nach Ciceros
Angabe von Panätius aufgestellt: Also geben diese beiden Bücher |
Ciceros im wesentlichen auch nur zwei Bücher des Panätius '
wieder. Da nun das Werk des Panätius aus drei Büchern be-
stand, und die beiden Bücher Ciceros sich offenbar an einander
anschliessen, so folgt, dass Cicero entweder am Anfange oder
am Schlusse seines Werkes ein Buch derartig gekürzt hat, dass
es ein solches zu sein aufhörte. Welche dieser beiden Möglich-
keiten wirklich ist, lehrt er selbst. Er schreibt III 2, 7: Panae-
tius igitur .. tribus generibus propositis .. de duobus generibus
primis tribus libris explicavit, de tertio autem genere deinceps se
scripsit dieturum nec exsolvit id, quod promiserat. Die Aus-
führung des dritten Punktes der Disposition sollte sich also an
die Abhandlung anschliessen, welche das zweite Buch des Cicero
wiedergiebt. Demnach bildete die Abhandlung über das Nütz-
liche das dritte Buch des Panätius und die über das sittlich Gute
das zweite: Folglich hat die Zusammenziehung im Anfange der
Schrift stattgefunden.
Dies beweist auch der Anfang selbst. Betrachten wir zu-
nächst die einleitenden Bemerkungen! Weil Cicero in denselben
den Panätius tadelt, dass er keine Definition des Begriffs »Pflicht«
gegeben habe, und sich dieselbe auch bei Cicero nicht vorfindet
oder vorzufinden scheint, hat Unger anfangs?) den ganzen $ ὃ
1) Die Disposition dieses Buches hat Klohe, De Ciceronis libr. de off.
fontib. p. 30 ff. gänzlich missverstanden; seine Untersuchungen darüber sind
daher durchweg unrichtig. f
2) In seiner Ausgabe dieser Schrift, Berlin, Weidmann 1852.
2a ΟΥΡῚ ἐπ
gestriehen und angenommen, dass derselbe an die Stelle der
verloren gegangenen Definition eingeschoben sei. Später!) hat
er diese Ansicht zwar wesentlich beschränkt, aber doch die an-
stössigen Stellen als Interpolationen verworfen. Dieses sind die
beiden Sätze: atque etiam alia divisio est offieii: nam et medium
quoddam offieium dieitur et perfectum, und atque ea sic definiunt,
ut reetum quod sit, id officium perfectum esse definiant. Seine
Gründe gegen die letzte Stelle sind von C. F. W. Müller?) hin-
länglich widerlegt worden und damit zugleich die Notwendigkeit,
dieselbe als Interpolation zu verwerfen. Auch gegen die Streichung
der ersten Stelle liegen genügende Gründe vor. Die Veranlassung
dazu giebt nach Unger der Widerspruch, in den sich Cicero mit
diesem Satze verwickelt. Er teilt nämlich unmittelbar nach den
einleitenden Worten die gesamte Pflichtenlehre in zwei Teile und
fährt, nachdem er deren Verhältnis und Inhalt kurz angegeben
hat, fort: atque etiam alia divisio est offici, gleich als ob er
vorher auch schon eine Einteilung der Pflicht, und nicht eine
solche der Pflichtenlehre gegeben hätte. Diese Thatsache lässt
sich nicht wegleugnen; doch berechtigt sie uns nicht diese Stelle
einfach zu streichen. Obwohl nämlich Cicero zuerst nur eine
Einteilung der Pflichtenlehre und dem entsprechend den Inhalt
des ersten Teiles derselben angiebt, so springt er doch gleich
darauf in seiner Ausdrucksweise um und spricht von verschie-
denen Pflichten: quorum autem officiorum praecepta traduntur ..
de quibus est his libris explicandum. Mit diesen Worten ist also
augenscheinlich die Einteilung der Pflichten vorausgesetzt und
dadurch eine andere Einteilung derselben genügend vorbereitet.
Soll also dieser Widerspruch das Kriterium für die Echtheit sein,
so müssen wir noch den halben $ 7 streichen. Da der Inhalt
desselben mit dem Vorhergehenden in notwendigem Zusammen-
hange steht, so würden wir den ganzen Anfang der Schrift
streichen müssen, was widersinnig ist.
So wenig nun auch der vorliegende Widerspruch uns zur
Annahme einer Interpolation berechtigt, so notwendig verlangt
er doch Aufklärung. Diese giebt uns der Inhalt. Dem An-
1) Philolog. Suppl. III S. 14 ff. 1878.
5) In seiner erklärenden Ausg. dieser Schrift, Leipzig, 1882, S.7. Zu den
Stellen, mit denen er das stilistische Bedenken Ungers zurückweist, vgl.
noch Acad. pr. II 32, 102; de fato 14, 32 Schl.
De‘,
re. ᾿ς...
schein nach stehen die‘ beiden gedachten Einteilungen in keiner
Beziehung zu einander, doch findet in Wahrheit das Gegenteil
statt: Da der erste Teil der Pflichtenlehre z. B. die Fragen be-
handelt, ob alle Pflichten vollkommen (perfecta) und ob alle gleich
sind, und die darauffolgende Einteilung der Pflichten zwei ver-
schiedene Arten derselben, die off. perfecta und media, unter-
scheidet, so enthält die zweite Einteilung offenbar das Resultat
der entsprechenden Erörterung der ersten. Dies Verhältnis weist
uns sofort darauf hin, dass hier eine Kürzung stattgefunden hat,
deren Folge der Widerspruch war.
Nachdem Cicero die Definitionen von off. reetum und medium
gegeben hat, fährt er fort ὃ 9: triplex zgetur est, ut Panaetio
videtur consilii capiendi deliberatio: nam aut honestumne factu
sit an turpe dubitant id, quod in deliberationem venit etsq. Nach
dem unmittelbaren Eindruck ist diese Disposition die Schluss-
folgerung aus dem Vorhergehenden; sehen wir jedoch genauer
zu, so kann hier an eine Schlussfolgerung gar nicht gedacht
werden, weil von dem honestum und utile vorher noch nicht
gesprochen ist. Diese Zusammenhangslosigkeit ist ein neuer
Beweis dafür, dass die Darstellung der Quelle hier gekürzt ist.
Dies bestätigen auch die Worte: tertium dubitandi genus est,
cum pugnare videtur cum honesto id quod videtur esse utile.
Diese Gegenüberstellung weist darauf hin, dass schon von einem
scheinbaren und einem wahrhaft Nützlichen vorher die Rede ge-
wesen ist. Sehen wir uns jetzt noch einmal den Inhalt an,
welchen Cicero vorher dem ersten Teile der Pflichtenlehre zu-
weist. Ausdrücklich fragt er 1. ob alle Pflichten vollkommen
sind, 2. ob die eine Pflicht höher als die andere ist. Die Ant-
wort auf die erste Frage haben wir gehört; worauf deutet die
zweite? Cicero fügt sowohl zum ersten wie zum zweiten Teile
der Disposition des Panätius die Frage hinzu, wie man sich zu ver-
halten habe, wenn je zwei Pflichten der Sittlichkeit oder des
Nutzens mit einander stritten. Dieser Gegenstand kann sich un-
möglich mit dem decken, den Cicero hier im Sinne hat; denn
1. wird in den angeführten Abschnitten bewiesen, dass die
praktischen Pflichten höher als die theoretischen stehen; deckten
sich also beide Fragen, so würde der in den Zusätzen gelieferte
Beweis in den ersten Teil gehören und der Tadel, welchen Ci-
cero wegen der Unvollständigkeit der Disposition erhebt, durch-
aus verkehrt sein. Dies fällt darum ins Gewicht, weil Cicero
diese Ergänzung wohl jedenfalls nach Posidonius vorgenommen
hat. 2. Die Worte Ciceros: num quod offiecium aliud alio maius sit,
lassen eine verneinende Antwort erschliessen; in den Zusätzen
wird aber die Verschiedenheit der Pflichten in Bezug auf ihre
Grösse anerkannt: Also muss der Inhalt der obigen Frage ein
anderer gewesen sein. Welches dieser gewesen, ist unschwer
zu erkennen; es sind die Pflichten des Nutzens und der Sittlich-
keit, die damals hart gegenübergestellt wurden, wie wir später
sehen werden.
Doch gehen wir weiter! Nachdem Cicero die Disposition auf-
gestellt hat, beginnt er im folgenden Kapitel die Abhandlung mit -
einer Einleitung, in welcher er das Wesen und den Ursprung
des sittlich Guten (honestum) entwickelt. Nach dem Abschlusse
derselben unterbricht er die Darstellung und wendet sich zunächst
an seinen Sohn, um alsdann die Einteilung des honestum zu
geben (cap. 5). Dass dieser Fortschritt vom 3. Kapitel an sehr
fest gefügt sei, wird niemand behaupten; vielmehr wird der
Schein erweckt, dass im 4. und 5. Kapitel zweimal dasselbe ge-
geben wird!). Auch die Anrede an seinen Sohn weist darauf
hin, dass Cicero hier freier thätig ist.
Im 5. Kapitel also giebt Cicero die Einteilung des honestum
in die vier Einzeltugenden und deren Verhältnis und Gruppierung
in die theoretische und praktische Tugend. Darauf beginnt er
die Ausführung mit der Auseinandersetzung über die theoretische
Tugend (cap. 6). Dieselbe ist im Vergleich zu der Behandlung
der anderen unverhältnismässig kurz; denn durchschnittlich ist
die einer jeden derselben ungefähr fünfundzwanzigmal so lang.
Beweist schon dies auffallende Verhältnis in der Länge der Dar-
stellung, dass Cicero auch hier gekürzt hat, so bestätigt dies
ferner noch der Inhalt: Nach seiner Angabe zerfällt diese Tugend
in die sapientia und prudentia ($ 15); er geht jedoch auf die-
selben nicht ein, sondern liefert nur wenige Vorschriften über
die Forschung. Am Schlusse dieses Buches schreibt er (8 142): |
sic fit, ut modestia haec.... scientia sit opportunitatis idoneoruum
') Dies glaubt auch Klohe a. a. Ὁ. p. 12, doch thatsächlich ist es nicht
ganz dasselbe. Der Schluss ist daher nicht gestattet, dass das 4. Kap. über-
flüssig sei.
Mercer:
—
— 27
ad agendum temporum. sed potest eadem esse prudentiae definitio,
de qua principio diximus: hoc autem loco de moderatione et
temperantia et harum similibus virtutibus quaerimus. Er hat
allerdings wohl die prudentia im Anfange erwähnt, aber über
das, was wir nach dieser Stelle erwarten müssen, nichts gesagt.
Es kann also gar nicht zweifelhaft sein, dass Cicero auch hier
noch die Vorlage ausserordentlich gekürzt hat. Darauf beginnt
die ausführliche Darstellung der praktischen Tugend. Da wir ge-
sehen haben, dass die Zusammenziehung im Anfange des Werkes
stattgefunden hat und thatsächlich die Kürzung bis zur Behand-
lung der praktischen Tugend reicht, müssen wir schliessen,
dass das erste Buch des Panaetius die theoretische Tugend nebst
der allgemeinen Einleitung umfasste, von der uns bei Cicero noch
kurze Angaben vorliegen. Gleichzeitig folgt, dass das zweite
Buch desselben der Darstellung der praktischen Tugend diente.
Die Richtigkeit dieses Ergebnisses bestätigt auch das Zeugnis
Ciceros. Nachdem er nämlich das spezielle Thema des zweiten
Buches entwickelt hat, weist er darauf hin, dass dieses in dem
Wesen der Tugend begründet sei (8 18): etenim virtus omnis
tribus in rebus fere vertitur, quarum zma est in perspiciendo,
quid in quaque re verum sincerumque sit... qua cuiusque rei
causa sit; alterum cohibere motus animi turbatos, quos Graeci
πάϑη nominant, adpetitionesque, quas illi öguds, oboedientes ef-
ficere rationi; tertium iis, quibuscum congregemur, uti moderate
et scienter, quorum studiis ea, quae natura, desiderat expleta
cumulataque habemus etsq. Von den drei Gebieten der Tugend
die hier genannt werden, ist das letztere der Gegenstand des
dritten Buches: Offenbar haben die beiden anderen Gebiete auch
je einem Buche entsprochen, also die Abhandlung über die
praktische Tugend dem zweiten, und die über die theoretische
dem ersten Buche. Mit der letzteren werden auch jene Fragen,
wenn auch natürlich nicht ausführlich, so doch auch gewiss nicht
bloss andeutungsweise, behandelt gewesen sein, welche jetzt vor
der Einleitung von Cicero kurz berührt sind. Warum Cicero
diese ausgelassen hat, begreifen wir, wenn wir $ 7 lesen: omnis
de officio dupplex est quaestio: unum genus est, quod pertinet
ad finem bonorum, alterum quod positum est in praeceptis, de
quibus est nobis his libris explicandum. Weil Cicero über das
höchste Gut schon ein selbstständiges Werk verfasst hatte, so
j
war es natürlich, dass er jetzt davon nur soviel gab als überhaupt
nötig war!).
Es erhebt sich noch die Frage’), ob Cicero selbst diese
kurzen Auszüge im 3. Kapitel gemacht oder sie als solche ent-
lehnt hat. Für die erste Annahme spricht kein besonderer
Grund, gegen sie aber mehrere. Zunächst ist es Thatsache, dass
Posidonius zu diesem Werke seines Lehrers einen Kommentar
geschrieben hat, um seinen Lehrer gegen den ihm vorgeworfenen
inneren Widerspruch zu rechtfertigen, er habe mit dem dritten
Punkte seiner Disposition einen Konflikt des sittlich Guten und
des Nützlichen eingeführt, obwohl beide ihrem Wesen nach gar
nicht in Streit geraten könnten. Wenn er nun in demselben
diesen von Panätius angeregten Gegenstand für sehr wichtig er-
klärte und ihn daher selbst ergänzte, weil sein Lehrer es unter-
lassen hatte°), so dürfen wir sicher annehmen, dass Cicero ihm
die Rechtfertigung jener Disposition verdankt. Da nun dieser
Kommentar eine Ergänzung der Schrift des Panätius war, und
auch die beiden Zusätze in der Disposition und am Schlusse des“
ersten und zweiten Buches solche Ergänzungen sind, so liegt der
Schluss nahe, dass auch diese Zusätze ihrem Wesen nach dem
Posidonius gehören. . Dies erweist eine Stelle aus dem Zusatze,
am Schlusse des ersten Buches als gewiss; denn die Frage, die
in dem gedachten Citat aus Posidonius behandelt wird, betrifft
augenscheinlich den möglichen Widerstreit zweier Pflichten des
sittlich Guten®). Es ist demnach Thatsache, dass Posidonius
|
189)
8. ἘΞ
') Van Lynden de Panaetio Rhodio p. 114 gesteht zwar zu, dass das
Frgm. aus dem zweiten Buche des Panätius bei Gell. N. A. XIII 28 sich
mit keiner Stelle decke, glaubt jedoch, dass es II 6, 19 stehen könnte. Dies
ἰδ irrig, denn die beiden Stellen haben inhaltlich nichts mit einander zu
thun; vgl. über diese Stelle auch d. folg. Paragraphen.
5) Zu dieser Frage wurde ich von Diels angeregt, der mir bei Gelegen-
heit mitteilte, dass seiner Ansicht nach Cicero diese Auszüge aus Posidonius
herübergenommen habe.
2) Cie. de .off. HI 2, 8.
. s 159: illud forsitan quaerendum sit, num haee eommunitas, quae
maxıme est apta naturae, sit etiam moderationi modestiaeque semper ante-
ponenda. non placet; sunt enim quaedam partim ita foeda, partim ita flagi-
t1osa, ut ea ne conservandae quidem patriae causa sapiens faeturus sit. ea
Posidonius conlegit permulta, sed ita taetra quaedam, ita obscaenae, ut dietu
quoque videantur turpia.
2.80
diese Fragen über den Widerstreit zweier Pflichten des sittlich
Guten und des Nützlichen aufgestellt und sie Cicero demnach
nicht selbständig, sondern jedenfalls nach Posidonius zur Dis-
position hinzugefügt hat. Hat aber Cicero diesen Kommentar
schon für die Disposition benutzt, so ist es mehr wie wahr-
scheinlich, dass er auch die voraufgehenden kurzen Referate der
Einleitung aus ihm genommen hat. Da aber diese sicher im
Anschluss an-Panätius gefertigt sind, wie es natürlich ist und
auch die Disposition $ 9 beweist, so hat hier offenbar eine doppelte
Kürzung stattgefunden, und diese macht die Unklarheiten und
Widersprüche, die sich hier finden, um so mehr erklärlich.
$ 2. Quellen-Analyse von Buch I und Il.
Die Zusätze und Änderungen Ciceros innerhalb der Dar-
stellung sind wesentlich doppelter Art: Erstens hat er wie ge-
wöhnlich seine Darstellung durch Beispiele aus der römischen
Geschichte seinen Lesern näher zu bringen gesucht und dadurch
die griechischen Beispiele der Quelle entweder ergänzt oder er-
setzt!); dann hat er auch besondere Zusätze eingefügt, wo er
die Vorlage für unvollständig hielt oder sonst Grund hatte ab-
zuweichen. Die einen dieser Zusätze heben sich von selbst ab
und sind als solche nicht mehr zu erwähnen; die anderen da-
gegen erkennen wir, falls sie Cicero nicht selbst als solche be-
zeichnet, daran, dass sie den wohlgefügten Bau der Darstellung
unterbrechen. Auch die Wiedergabe der Vorlage ist doppelter
Art: Entweder hat er sich ihr eng angeschlossen oder er hat sie
breiter und freier referiert. Jene Stellen charakterisieren sich
durch gehaltvolle Kürze, diese durch Weitschweifigkeit, Reich-
tum an Beispielen und römisches Gepräge.
Als erster Zusatz begegnet uns gleich im Anfange (ὃ 1) die
Definition des Pflichtbegriffs, wegen deren Auslassung Cicero den
Panätius heftig tadelt?). Im 4. Kapitel entwickelt er das Wesen
1) Selbstverständlich wird niemand aus I 26, 90 u. II 22, 76 den Schluss
ziehen, dass sich bei Panätius Beispiele aus der röm. Geschichte fanden.
2) Ob diese in unserem Texte fehlt oder nicht, ist umstritten. Gewiss-
"heit wird sich hier nicht erreichen lassen, doch spricht für das Fehlen der-
selben Ambros. de of. 1 8, 26: nec ratio ipsa abhorret, quando quidem offı-
cium ab effieiendo dietum putamus quasi effieium; vel certe ut ea agas, quae
Ἢ
ae
und den Ursprung des honestum nach den Hauptteilen desselben,
indem er sie aus der Natur der Vernunft herleitet. Da sich die”
Auffassung desselben hier mit derjenigen deckt, welche wir nach-"
her in der Ausführung treffen, wie besonders die Tapferkeit als
magnitudo animi beweist, und diese Auffassung nicht Allgemein-
gut der Stoa war!), so folgt, dass Cicero sich hier im wesent-
lichen dem Panätius angeschlossen hat?). Im 5. Kapitel folgt die
Gruppierung der Tugenden in die theoretische und die prak-
tischen; dass diese dem Panätius gehört, zeigt die Nachricht,
des Diog. VII 92. In der Erörterung über die Weisheit (cap. 6)
giebt Cicero sicher nach Panätius sowohl die Warnung vor den
beiden Fehlern, die er nennt, als auch die Einteilung dieser
Tugend in die sapientia und prudentia. Das Letztere beweist”
die Übereinstimmung mit $ 15 ff.; das Erstere wird sich später
bewahrheiten?). ᾧ
Wir kommen zur Lehre von der Gerechtigkeit 88. 20—60. Sie
zerfällt in zwei Teile, in die der Gerechtigkeit im besonderen
Sinne $$ 20—41 und die der Wohlthätigkeit $$ 42—60. Der”
nulli officiant, prosint omnibus. Das Verhältnis des Ambros. zu Cicero ist Ἶ
bekannt. Seine Ableitung auf ihn zurückzuführen haben wir um so mehr
Recht, als diese alt ist, vgl. Fest. s. v. officiosus. ὦ
') Diese galt sonst als Unterabteilung der Tapferkeit, Stob. ecl. II 60,
22 ed. W. &
3) Treffend vergleicht Klohe dieses Kapitel mit de fin. II14,45ff. Aus
ihrer grossen Übereinstimmung schliesst er, dass Kap. 4 nieht aus Panätius
genommen sei. Er findet ferner auch in der Abhandlung in de off. Stellen, ”
die aus jenem Abriss stammen, wie ihm ihr Widerspruch mit der übrigen
Darstellung beweist (p. 12,3). Dies beruht jedoch auf Missverständnis, wie
wir später sehen werden. Damit schwindet der Hauptgrund für seine Mei-
nung, Cicero habe dies Kap. erst nachträglich hinzugefügt, indem er zu
jenem Abriss Stellen aus der späteren Darstellung in de off. setzte. Diese
hinzugesetzten Stellen widersprechen jenem Abriss, wie Klohe auch selber 2
sagt (p. 10ff.). Da nun der sonstige Inhalt des 4. Kap. allgemeinstoisch ist,
so weisen die gedachten Den mit Panätius darauf hin, dass ᾿
auch das Übrige nicht aus jenem Abriss, sondern aus Panätius genommen
sein wird. Jedenfalls hat Cicero dies ae komponiert, als er den Anfang \
dieses Werkes überhaupt verfasste. x
8) Klohe spricht dem P. alles ab ausser der Einteilung dieser Tugend &
in die sapientia und prudentia. Wenn er sich dafür hauptsächlich auf de
vep. 1 15 beruft, so ist dies unzutreffend: Aus der Kritik des Seipio über
die Forschung des Panätius lässt sich kein Schluss auf diese Stelle, die
Lehre des Panätius, ziehen.
erste Abschnitt gliedert sich abermals in zwei: Die $$ 20—30 ent-
halten die allgemeinen, die $$ 31—41 die besonderen Vorschriften.
Der erste derselben hat die Form eines logischen Schlusses:
Zunächst bespricht Cicero die beiden Vorschriften der Gerechtig-
keit (88 20—23), dann die beiden Arten der Ungerechtigkeit und
deren Gründe ($$ 23—29) und zieht darauf den Schluss ($$ 29
und 30)!). Die Fügung dieses Beweises sowie der stete Ge-
dankenfortschritt zeigen, dass sich Cicero hier ziemlich eng an
Panätius anschliesst. Namentlich nötigt auch das Endergebnis
zu diesem Schlusse; denn die aequitas, welche hier als das Wesen
der Gerechtigkeit erschlossen wird und mit der caritas innerlich
zusammenhängt, die im II. Buche als die Grundbedingung alles
Verkehrs dargestellt ist, ist nicht altstoisch, wie wir später nach-
weisen werden. Der zweite Abschnitt ($$ 31—41) enthält Vor-
schriften für spezielle Fälle. Von diesen gehören wohl nur die
88. 31—32 dem Panätius, welche Vorschriften über das zar«
περίστασιν καϑῆκον geben, das sich bei den Stoikern ja stets un-
mittelbar an das dei καϑῆκον anschliesst 5).
In der Abhandlung über die Wohlthätigkeit ($$ 42—60) folgt
Cicero ähnlich wie in dem vorigen Abschnitte anfangs seiner Vorlage
genauer, darnach wird er selbständiger und breiter. Auf dreierlei
hat der Wohlthäter zu achten: 1. dass er durch sein Wohlthun
nicht schadet (88 42—43), 2. dass er nicht über Vermögen (ὃ 44),
3. dass er nach Würdigkeit wohlthut ($$ 45—59). Diese Würdig-
keit hängt ab: 1. von den Sitten ($$ 45—46), 2. von der Ge-
sinnung ($ 47), 3. von dem Verhalten gegen den Wohlthäter
(88 47—49) und 4. von dem Grade der Verwandtschaft dessen,
dem die Wohlthat gelten soll ($$ 50—59). Diese Verwandt-
schaftsgrade werden wiederum betrachtet: 1. für sich (δὲ 50—56),
2. in der Kollision (88 56—58), 3. unter besonderen Umständen
(8 59). Diese ganze Abhandlung und namentlich die des dritten
Punktes (88 45—59) ist so wohl gefügt, dass wir sie in der
1) Auf diesen Zusammenhang hat Klohe nicht geachtet.
2) Diog. VII 109. Trefflich ist die Auseinandersetzung Klohes (p. 13 ff.)
über die versteckte Disposition in dem Abschnitte über die Ungerechtigkeit
und der damit zusammenhängenden Lehre von der Wohlthätigkeit. $ 29
hat er nicht richtig verstanden, 5. d. vorig. Anm., das χατὰ περίστασιν καϑῆχον
wird erst 8 31ff. besprochen. Den Zusatz ὃ 21 ‘nisi lacessitus iniuria’ spricht
er nicht ohne gute Gründe Panätius ab und Cicero zu.
Hauptsache sicher dem Panätius zuschreiben müssen; doch hat x
Cicero im einzelnen Zusätze gemacht. Er beginnt die Darstellung F
über die Verwandtschaftsgrade $ 50, holt dabei sehr weit aus”
und kehrt erst $ 53 zu seiner eigentlichen Aufgabe zurück. Die”
nun folgende Aufzählung (88 55—54) ist kurz und klar gehalten;
in der dazwischen liegenden Schilderung (88 50—52) beweisen ἰ
schon die Verse des Ennius und ihr Zusammenhang, dass Cicero
hier ziemlich unabhängig von der Quelle arbeitet. Ferner
ist wenigstens auch der $ 57 auszuscheiden, welcher in be-
geisterter Weise das Vaterland preis. Denn 1. kennzeichnet
schon die Rhetorik dieses Lob als Ciceros Zusatz, und 2. ver-
wickelt sich Cicero hier auch in Widersprüche bezw. Unklarheiten.
$ 55 nämlich ist die Freundschaft die herrlichste und festeste
Verbindung; ὃ 57 gilt dasselbe vom Vaterlande und $ 58 stehen
Vaterland und Eltern auf der gleichen-Stufe, während er vorher
das Vaterland über alles gestellt hat. Sicher hat hier also Cicero
sich nur im allgemeinen an Panätius gehalten').
Wir gehen zu dem Abschnitt über, der über die Tapferkeit
handelt ($$ 61—92). 8 61 scheidet ohne weiteres aus. ὃ 62 giebt
die Definition der Tapferkeit, die von der der älteren Stoiker
verschieden ist?) und in dieser Fassung dem Panätius gehört,
wie schon der Begriff der Billigkeit zeigt, auf den sie sich stützt.
In den ὃ8 63—65 wird sie genauer erörtert. Trotz der Weit-
schweifigkeit verlässt Cicero hier die Vorlage nicht, wie der
Widerspruch beweist, in den er nachher mit ὃ 65 gerät, worüber
wir gleich sprechen werden. Ihrem Grade nach zerfällt die
Tapferkeit in zwei Arten, in die der grossen (88 66—91) und die
der gewöhnlichen Menschen (8 92)3). In unmittelbarem Anschluss
') Klohe spricht P. direkt nur die 88 45—49 zu, vgl. ἃ. vorig. Anm.;
die 88 50—59 scheidet er nicht streng genug; 88 55—56 führt er ganz glaub-
lich auf Cie. de amie. zurück.
5) Hirzel, Unters. II S. 507, 1, vgl. auch den III. Teil unserer Darstellung.
°) Wenn Klohe p. 22 dem P. die $s 62—63 abspricht, quod ea animi
elatio vituperatur, quae pro suis commodis pugnat, während P. bei Gell.
N. A. XIII 28, ὃ Ε΄. und in Übereinstimmung damit bei Cie. off. 15, 17 lehrt,
ut... animi excellentia magnitudoque cum in augendis opibus utlitatibusque
et sibi et suis comparandis ... eluceat, so übersieht er, dass a. a. Ὁ. die Fort- ;
setzung lautet: tum multo magis in his ipsis desnieiensE eluceat. Es wird
also auch hier eine doppelte Art der Tapferkeit unterschieden, eine ge
wöhnliche und eine hohe. Die letzte Art ist nur den grossen Männern eigen
ΕἾ
.-.
ἃ
Erd,
an diese Erörterung beginnt Cicero $ 66 die nähere Ausführuns
mit der Entwicklung der Eigenschaften, welche die Tapferkeit
der grossen Männer kennzeichnet. Diese schreitet bis $ 69 m
stetig, wenngleich auch sehr breit, vor; dann aber beginnt mit
den Worten ‘multi autem et sunt etsq.’ eine Einlage, die augen-
scheinlich bis $ 73 reicht: sie unterbricht den Zusammenhang,
da der Gedanke, welchen $ 69 behandelt, erst $ 73 weitergeführt
wird. Die Wiederaufnahme desselben in der Mitte des $ 72 ge-
schieht aber fast mit denselben Worten, die wir $ 69 lesen, wo
der Gedanke abgebrochen wird. Die Einlage ist eine Polemik
gegen diejenigen, welche sich ohne genügenden Grund vom
Staatsleben zurückziehen. Cicero führt dieselbe auch ausdrück-
lich in eigenem Namen ($ 71) und gerät dabei in den oben
angedeuteten Widerspruch). Es ist also nicht daran zu zweifeln,
dass dieser Abschnitt eine Einlage ist. Scheiden wir sie aus, so
rücken zwei Stellen nahe an einander, welche offenbar aus Pa-
nätius entlehnt sind, nämlich $ 67: ea quae videntur acerba, quae
multa et varıa in hominum vita fortunaque versantur, ita ferre
ut nihil a statu naturae discedas, nihil a dignitate sapientis, ro-
busti animi est magnaeque constantiae, und ὃ 75 si quidem nec
anxii futuri sunt et cum gravitate constantiaque vieturi quae fa-
eiliora sunt philosophis, quo minus multa patent in eorum vita,
quae fortuna feriat. Beide Stellen gehören dem Inhalte nach
zusammen und sprechen augenscheinlich von dem, was Gellius
XII 28 aus dem zweiten Buche des Panätius überliefert. Die Fort-
setzung dieser Stelle giebt $ 80---81 m?). Daraus folgt, dass die
(vgl. 8. 66), um die es sich hier hauptsächlich handelt, da die andere Art erst
$ 92 besprochen wird. Ferner heisst es auch 8 62: animi elatio .. . δὲ Tustitia
vacat pugnatque non pro salute communi, sed pro suis commodis in vitio
est, und in der nachfolgenden Ausführung wird stets der notwendige Zu-
sammenhang dieser Tugend mit der Gerechtigkeit hervorgehoben. Diese
Stelle spricht also nicht gegen das Streben, sondern gegen das ungerechte
Streben nach Nutzen. An dieser Stelle ist also kein Widerspruch mit der
Lehre des Panätius vorhanden.
1) Vgl. $ 71: si despicere se dieant ea, quae plerique mirentur, imperia
et magistratus, iis... vitio dandum puto, mit $ 65: qui ex errore imperitae
multitudinis pendet, hie in magnis viris non est habendus. Jene plerique
sind doch identisch mit der multitudo, die hier imperita gescholten wird.
2) Treffend ist die Auseinandersetzung Klohes p. 4ff., p. 20ff. über
diese Stelle des Gellius.. Auf $ 67 hat er nicht geachtet; bei $ 73 weist
er noch auf die Übereinstimmung des Ausdrucks hin: fortunae verbera (Gell.),
Schmekel, mittlere Stoa. 3
84. 14- 19 eine Einlage sind. Dies ergiebt sich auch daraus, dass
der Gegenstand, der $$ 74—78 behandelt wird, später noch ein-
mal und offenbar an der richtigen Stelle folgt, und sich Cicero
hier auch selbst behandelt.
Hierauf folgt in den $$ 82—91 die Abhandlung über die
Bethätigung der Tapferkeit und zwar 1. unter schwierigen
(sg 82—89), 2. unter günstigen Verhältnissen (88. %—91). Auch
das Gebiet derselben ist doppelt. Das Kriegsfeld (s$ 82—84) und
die Staatsleitung (88 85—89). Diese Einteilung dem Panätius
zuzuschreiben lehrt vor allen Dingen der Inhalt der $S$ 85—89:
Unter Berufung auf Plato spricht Cicero über die Pflichten der
Staatsmänner; schon der Umstand, dass er mehrere Citate aus
Plato bringt, lässt uns schliessen, dass er den Panätius vor sich
hat. Dies bestätigt besonders $ 87. Daselbst verwirft er näm-
lich in den tadelndsten Ausdrücken den Ehrgeiz und den Wett-
streit um Ehrenstellen und belegt dies mit einem Citate aus
Plato, das nur dem Fachmanne die Staatsleitung übertragen
wissen will. Er gestattet nun 1110, 57 ff. derartige Schenkungen
an das Volk, wie sie in Rom die höheren Staatsbeamten regel-
mässig veranstalteten und verwirft hierbei sogar übermässige Spar-
samkeit ($ 58), weil sie das Durchfallen bei den nächsten Wahlen
im Gefolge habe. Hiermit erkennt er also die Recht- und Ge-
setzmässigkeit der Wahlen durch das Volk und zugleich den
Wettstreit um die Ehrenstellen vollständig an, ja noch mehr, die
Unsitte jener Schenkungen. Er gerät somit in offenen Wider-
spruch mit jener Stelle des ersten Buches, durch welche er sich
in denselben Gegensatz zu den römischen Volkswahlen stellt,
wie einst Plato zu jenen in Athen. Diese Thatsache beweist,
dass die Platonischen Vorschriften über die Staatsleitung aus
Panätius herübergenommen sind, dass also auch in der That die
oben angegebene Disposition von Panätius aufgestellt ist. Dass
Cicero in diesem Abschnitte auch genügend Gelegenheit hatte
Zusätze zu machen, ist selbstverständlich?).
fortuna feriat (Cie.). Viel mehr aber deckt sich, wie er richtig gesehen hat,
s 80 m mit dem Bericht des Gellius.
') Uber das Verhältnis der Philosophen zu den Staatsmännern bemerkt
Klohe p. 22 nach $ 73 u. 81 richtig: eos ... ne ingenio quidem philosophis
posthabendos esse Panaetius putat. Warum sie hier nicht besonders be-
rücksichtigt werden, lehrt 8 73. In den 88 88m—89 dürfen wir Panätius
wohl wenig suchen.
u en
Kehren wir jetzt noch einmal zu S 66 zurück!
schreibt daselbst: omnino fortis animus et magnus duabus
maixime cernitur, quarum
una a) in rerum externarum despieientia ponitur ...
b) nullique neque homini neque perturbationi animi
nec fortunae succumbere;
altera est res, ut cum ita sis adfectus animo ... res
“ geras magnas.. et maxime utiles, sed vehementer
arduas plenasque laborum et periculorum.
Den ersten Punkt behandeln die $$ 67—69m, 73, 80-81,
und zwar die erste Hälfte desselben die $$ 67—68, die zweite die
88 69, 73, 80—81. Die Besprechung des zweiten Punktes folgt
in den $5 82—89. Die erste Bestimmung desselben verlangt
grosse Thaten; dass es sich in den $$ 82—89 um solche handelt,
leuchtet von selbst ein. Die zweite fordert, dass dieselben auch
nützlich seien; $ 84 tadelt daher den Callicratidas und Cleom-
brotus, dass sie diese Rücksicht ausser Acht gelassen und da-
durch. ihren Staat ins Unglück gestürzt hätten. Drittens lesen
wir ὃ 83: periculosae autem rerum actiones ... alii de vita, alü
de gloria et benevolentia civium in discrimen vocantur. Da wir
gesehen haben, dass gerade von Panätius im folgenden Buche
alles was — für grosse Männer — zum Leben nötig ist, unter
gloria atque benevolentia zusammengefasst wird, so entspricht
die vorstehende Stelle genau der dritten Bestimmung des $ 66:
ut... res geras.. vehementer arduas plenasque laborum cum
vitae tum multarum rerum, quae ad vitam pertinent. $ 66 enthält
also die Disposition der nachfolgenden Abhandlung; der Schluss ist
demnach sicher, dass diese dem Panätius gehört. Dies Resultat
wird dadurch bestätigt, dass das Gegenstück zu dieser Darstellung,
die Bestimmungen über die Bethätigung der Tapferkeit in glück-
licher Zeit, die in den folgenden $$ 90—91 gegeben werden, aus
Panätius entnommen sind, wie das Citat aus ihm beweist.
Nach der Abhandlung über die Tapferkeit der grossen
Männer folgt 8 92 die notwendige Ergänzung über das ent-
sprechende Verhalten der gewöhnlichen Menschen. Sie ist des-
wegen notwendig, weil die Tugend nicht bloss für hochbegabte
Männer möglich ist. Schon deshalb gehen wir nicht fehl, wenn
wir diese Berücksichtigung der gewöhnlichen Menschen bei Cicero
auch auf Panätius zurückführen, zumal da dieser es auch sonst
5*
Cicero
rebus
gethan hat (z. Β. $ 46). Dasselbe beweist auch der Inhalt: In voller
Übereinstimmung mit $ 17 wird hier gerade auf den eigentlichen
Erwerb, den eigenen Nutzen Rücksicht genommen. So stimmt
denn, wie wir jetzt sehen, die ganze Abhandlung über die Tapfer- 4
keit vollkommen mit der oben erwähnten Stelle, an der wir?
sicher nach Panätius lesen: animi excellentia magnitudoque cum in‘
augendis opibus utilitatibusque et sibi et suis comparandis, tum A
multo magis in his ipsis despiciendis eluceat. Wenden wir uns
jetzt noch zu dem Berichte des Gellius aus Panätius! Er schreibt
XIII 28: Vita hominum, qui aetatem in medio rerum agunt ac
sibi suisque usui esse volunt, negotia perieulaque .... fert. ad”
ea cavenda atque declinanda .. animus atque mens... esse debet
erecta, ardua, saepta solide, expedita, iam sollieitis nunquam
conivens, nusquam aciem suam flectens, consilia cogitationesque
contra fortumae verbera contraque insidias iniquorum . . proten-
dens etsq. Auch wenn es hier nicht direkt gesagt wird, so ist
es doch selbstverständlich, dass ein solcher Geist erst recht nicht
der Leidenschaft ergeben sein darf. Vergleichen wir nun hier-
mit ὃ 66, so wird auch hier von einem solchen gefordert: nulli ”
neque homini neque perturbationi animi nee fortunae succumbere. Γ
Ebenso wird auch hier der Nutzen geltend gemacht und nicht
erst $ 92, nur mit dem Unterschiede, dass die gewöhnlichen
Menschen auf ihren eigenen, die grossen auf den des Gemein-
wesens sehen sollen. Da demnach $ 66 augenscheinlich mit
jenem Bericht aus Panätius stimmt und die Disposition des Ab-
schnittes über die Tapferkeit enthält, so haben wir noch einen
neuen Beweis dafür, dass die dieser Disposition entsprechende
Abhandlung ebenso wie sie selbst das Eigentum des Panä-
tius ist!).
Hierauf wendet sich Cicero zur vierten Tugend, zur Sophro-
syne ($$ 95—132). Nach den einleitenden Bemerkungen sub-
summiert er das Wesen derselben unter den Begriff decorum
(πρέπον); weil jedoch dieser Begriff viel weiter ist, so folgt
(ξ5 93—99) die Klarstellung desselben?). Scheiden wir in diesem
') Die Bedeutung des $ 66 hat Klohe nicht erkannt; er ist daher viel-
fach zu unrichtigen Resultaten gekommen. — Da die Stelle des Gellius aus
dem II. Buche des Panätius stammt, so folgt, dass dieses Buch in Wirk-
lichkeit die praktische Tugend behandelte.
°) $ 99 schliesst: his igitur expositis quale sit id, quod decere dieimus,
intelleetum puto.
Abschnitte zunächst 8 94m: itaque non solum etsq, bis $ 95m:
ut venustas et pulchritudo etsq., dann ὃ 97 bis etwa $ 98m: ut
enim pulchritudo corporis etsq. aus, so erhalten wir eine scharfe,
klare und kurze Begriffsentwickelung: Das decorum im eigent-
lichen Sinne ist wesentlich dasselbe wie das honestum; beide
sind in Wirklichkeit stets vereint und nur begrifflich trennbar,
ebenso wie die Schönheit des Körpers nur begrifflich von der
Gesundheit losgelöst werden kann. Dieses decorum ist nun
zweifach: 1. das decorum schlechthin und 2. dasjenige, welches
innerhalb der einzelnen Tugenden statthat. Das erste deckt sich
mit dem honestum, wie die beigefügte Definition zur Gewissheit
macht); das zweite giebt die Art und Weise an, wie das erste
innerhalb der einzelnen Tugenden erscheint. Beide sind also
auch nur begrifflich von einander zu scheiden?). Die Verwirk-
1) Deeorum id esse, quod consentaneum hominis sit excellentiae in eo,
in quo natura eius a reliquis animantibus differat.
2) Quae autem pars huie subiecta generi est, eam sie definiunt, ut id
decorum velint esse, quod ita naturae consentaneum sit, ut in eo moderatio
et temperantia adpareat cum specie quadam liberali. Diese Stelle ist von
Klohe vollständig missverstanden. Unmittelbar vorher sagt Cicero yon
diesem deeorum, dass es sich ad singulas partes honestatis beziehe, und ebenso
kurz darauf, wo er zu diesem Gedanken zurückkehrt, $ 98: effieitur, ut et
illud, quod ad omnem honestatem pertinet, decorum, quam late fusum sit,
adpareat et hoc, quod spectatur in unoquoque genere virtutis. Es kann also
unmöglich darunter nur das Wesen der vierten Tugend verstanden sein, wie
Klohe meint, p. 25, 29. Dies beweist ebenso auch der schon oben geltend
gemachte Grund: decorum totum illud quidem est cum virtute eonfusum, sed
mente et cogitatione distinguitur. Kl. hat sich offenbar durch die Worte
moderatio et temperantia zu dieser Annahme verleiten lassen, während diese
beiden Worte hier, wie gezeigt, notwendig allgemein zu fassen sind. Dieser
Umstand aber, dass er das Wesen des πρέπον hier verkannt hat, hat ihn zu
weiteren Ansichten geführt, für die in Wahrheit kein Anhalt vorhanden
ist. In diesen Erörterungen hat πρέπον nicht im geringsten die Bedeutung
von aptum oder accommodatum; Kl. fasst es aber in (diesem Sinne (p. 24 ff.)
und schliesst p. 25 v. 3 ff., Cicero habe in der Definition der der Sophrosyne
untergeordneten χοσμιότης: ἐπιστήμη πρεπουσῶν χαὶ ἀπρεπῶν κινήσεων, in wel-
cher sich allein das πρέπον in diesem Sinne finde, den Zusatz χινήσεων aus-
gelassen und in den jetzt übrig bleibenden Begriff des πρέπον das ganze
Wesen der vierten Tugend verlegt. Dieser Schluss ist also schon deswegen
durchaus unrichtig, weil Cicero nicht von diesem Begriff des πρέπον ausgeht.
Natürlich ist es weiter falsch, wenn Kl. der Darstellung Cieeros folgend die
von uns angegebene richtige Bedeutung von πρέπον findet und nun schliesst:
[ΟΣ ΞΘ
lichung desselben im Leben erweckt nun den Beifall der Menschen
gerade so natürlich wie die Schönheit. Daraus folgt, dass man
das Urteil der Menschen berücksichtigen muss, weil es ein Grad-
messer für die Verwirklichung der Tugend ist. Diese Erörterung
hat Cicero augenscheinlich der Quelle entlehnt. Besonders be-
weist dies auch die Folgerung, der Mensch müsse auf das Urteil
seiner Nebenmenschen Rücksicht nehmen, da dieselbe erst von
den nach Carneades lebenden Stoikern vertreten wurde, wie wir
später sehen werden. Diese Gedankenreihe ist von Cicero durch
die oben bestimmten Zusätze unterbrochen. Der erste derselben
führt aus, dass das decorum in allen Tugenden zur Erscheinung
kommt. Diese Ausführung ist hier unzeitgemäss: Vorher handelt
es sich um die Erkenntnis, dass das decorum mit dem honestum
so zusammenhängt, dass es nur begrifflich geschieden werden
kann. Zur Erklärung dieses Satzes ist die genannte Ausführung
unbrauchbar; vielmehr passt erst das vorhin angeführte Gleichnis
zwischen der Schönheit und Gesundheit des Körpers ($ 95) vor-
züglich zur Erläuterung des Verhältnisses zwischen dem decorum
und honestum. Ferner lesen wir auch erst nachher ($ 96), dass
das decorum in allen vier Tugenden erscheint, und offenbar als
etwas Neues, das sachgemäss erst $ 100 ausgeführt wird. Augen-
scheinlich also haben wir hier einen erläuternden Zusatz Ciceros
vor uns. Die zweite Einlage sucht das decorum durch das Bei-
spiel der Rollenverteilung bei den Dichtern leichter verständlich
zu machen. Dass Cicero auch hier wesentlich selbständig spricht,
beweist $ 97 auf den ersten Blick und ebenso auch die erste
Hälfte des $ 98; denn wie der Schluss: effieitur, ut et illud,
quod ad omnem honestatem pertinet, decorum quam late fusum
sit adpareat, et hoc, quod spectatur in unoguoque genere virtutis
aus den vorhergehenden Prämissen gezogen werden muss, ist
unersichtlich. Klar dagegen wird alles, wie wir gesehen haben,
sobald die Zusätze fallen.
Nach der Erklärung des Begriffs ‘decorum’ geht die Abhand-
lung ($ 100) zu der Konsequenz derselben über, indem sie als
allgemeine Pflicht aus ihr die convenientia conservatioque naturae
hinstellt und in jeder Tugend, besonders aber in der Sophrosyne
Ciceronem sensim furtimque a priore notione τοῦ πρέποντος ad alteram trans-
ire. Die weiteren Missverständnisse zu verfolgen ist überflüssig.
das Wesen des decorum ausgedrückt findet. Dieses bildet den
Übergang zu der speziellen Abhandlung über die letzte Tugend.
Dieselbe erscheint 1. in den motus corporis, 2. in den motus
animi. Diese Einteilung deckt sich mit der in die äussere und
innere Thätigkeit, weil nicht nur Blick, Haltung und Bewegung,
sondern auch die Unterhaltung zu der ersten Art der Bewegungen
gerechnet wird'). Da nun die motus corporis von den motus
animi abhängen, so behandelt die Ausführung zunächst die motus
animi ($$ 101—125), dann die motus corporis ($$ 126—152).
Die Ausführung beginnt mit der Definition der Sophrosyne
(88 101—102), aus der die allgemeine Pflicht folgt, dass sich die
Triebe der Vernunft fügen müssen. Dieser Abschnitt ist natür-
lich dem Panätius entlehnt. Die Abhandlung über den Scherz
(88 103—104) ist eine Einlage, da diese nach der Disposition
erst in die zweite Hälfte dieses Abschnittes gehört und überhaupt
hier wenig angebracht ist. Dasselbe lehrt auch $ 104 von selbst.
Nach dieser Einlage folgt die Ausführung der allgemeinen Pflicht
der Sophrosyne, und zwar zunächst in Bezug auf die niedere
(88 105—106), dann in Bezug auf die geistige Natur des Menschen
(88 107—125). Den letzten Abschnitt haben wir zunächst zu
untersuchen.
Nach der Darlegung, dass jeder Mensch von der Natur mit
einer doppelten Persönlichkeit ausgestattet sei, fügt Cicero noch
die Unterscheidung einer zweifachen hinzu ($ 115); diese ist sein
Eigentum. Zunächst wird nämlich persona an beiden Stellen in
verschiedenem Sinne gebraucht; an der ersten bezeichnet es die
allgemeine und besondere Denk- und Empfindungsweise des
Menschen, an der zweiten den Standescharakter, den derselbe
entweder bei gewissen Umständen und Zeiten oder durch die
Wahl des Berufs besitzt. Wenn auch persona beide Bedeutungen
haben kann, so ist doch diese Zusammenstellung eigentümlich,
und nicht nur dies, sondern geradezu falsch, weil, wie wir sehen
werden, diese dritte und vierte Persönlichkeit mit der doppelten
des Geistes mitgesetzt ist. Aus der letzteren hat nämlich Cicero
vorher den Grundsatz abgeleitet, jeder müsse diejenige Beschäf-
tigung treiben, für welche er nach seiner individuellen Natur am
meisten geeignet sei ($ 114). Dann fährt er fort: Wenn uns die
1 $ 102: hiermit stimmt auch genau die folgende Abhandlung.
a
Notwendigkeit einmal zu Beschäftigungen dränge, welche unserm
Geiste nicht entsprächen, so müssten wir die grösste Sorgfalt
anwenden, um diese möglichst gut und ehrenvoll zu verrichten.
Was bedeutet diese Bestimmung? Offenbar deckt sich diese
eigenartige Aufgabe, welche uns nur zuweilen die Notwendigkeit
aufdrängt, mit derjenigen, die den Charakter der dritten Person
verleiht, die ja auch nur durch besondere Umstände und zu Zeiten
eintreten kann. Dasselbe also, was hier als Ausnahme von der
allgemeinen Regel hingestellt wird, finden wir unmittelbar nach-
her noch einmal dazu verwandt, als Wesen einer neuen Persön-
lichkeit zu gelten. Überblicken wir nun die nachfolgende Aus-
einandersetzung über die Wahl des Lebensberufes, so zeigt die
durch dieselbe hindurchgehende Grundbestimmung, dass jeder
bei dessen Wahl auf seine individuelle Natur Rücksicht nehmen
müsse, den engen Zusammenhang, in welchem dieser Abschnitt
mit! dem vorigen steht: Er ist augenscheinlich die Anwendung
jener vorher begründeten Bestimmung, dass jeder die Beschäf-
tigung treiben müsse, für welche er nach seiner Natur am meisten
geeignet sei. Der Lebensberuf verleiht aber die vierte Art der
Persönlichkeit: Also ist auch die vierte Persönlichkeit keine be-
sondere neben jener doppelten des Geistes, sondern deren ein-
fache Folge. Die dritte und vierte Persönlichkeit sind also zu-
gleich mit jener doppelten Persönlichkeit des Geistes gesetzt, da
diese ihre psychologische Begründung enthält. Dieses Verhältnis
hat Cicero dadurch zerstört, dass er sie als neu und unab-
hängig neben jene setzte. Gleichzeitig hat er dadurch auch den
Zusammenhang der Stelle verwischt, dass er die nachfolgenden
Bestimmungen über die Wahl des Lebensberufes nicht auf jene
Grundregel bezog, wie es dem Inhalte nach geschehen musste,
sondern an diese neue Einteilung knüpfte. Noch ein weiterer
Grund beweist, dass diese Aufstellung der dritten und vierten
Persönlichkeit Cicero angehört. Kaum hat er nämlich dieselbe
aufgenommen, so lässt er sie auch schon wieder fallen. Denn
alles, was wir nachher hören, handelt über die Wahl des Berufes ;
über die dritte Person wird kein oder kaum ein Wort hinzugefügt.
Diese wird uns nicht nur durch Reichtum und edle Abkunft, son-
dern namentlich durch regna, imperia, honores zuteil; über diese
handelt er aber später (c. 34, 124). Was er also hier ausführen
musste, trägt er in einem andern Zusammenhange vor, und zwar
en, --
ohne auch nur die geringste gegenseitige Beziehung anzudeuten.
Die Aufstellung der dritten und vierten Persönlichkeit ist also
Ciceros Eigentum. Streichen wir sie, so tritt erst die zusammen-
hängende Gedankenentwicklung klar zu Tage: Im Anschluss an
die Darlegung der doppelten Persönlichkeit des Geistes und des
daraus folgenden Grundsatzes für den dauernden und vorüber-
gehenden Beruf entwickelt er zunächst die Pflichten für jenen
(88. 115—121), dann diejenigen, welche nur für bestimmte Zeiten
gelten ($$ 122—124). Dieser Grundsatz lautet $ 110: admodum
autem tenenda sunt sua cuique, non vitiosa, sed tamen propria,
quo facilius decorum illud, quod quaerimus, retineatur. Er bestimmt
also das decorum und zwar als eine unmittelbare Folgerung aus
der doppelten Persönlichkeit des Geistes, welche $ 107 angegeben
und $$ 108—109 näher begründet ist'). In Wahrheit also be-
stimmt dieser Abschnitt das zur Sophrosyne gehörige decorum
genauer in Bezug auf die geistige Natur des Menschen, während
der vorhergehende Abschnitt ($$ 105—106) dasselbe, wie gesagt,
in Bezug auf die tierische Natur näher erläutert. Beide Ab-
schnitte ergänzen sich also und gehören aufs engste mit der
besprochenen Definition der Sophrosyne (88 101—105) zusammen,
da diese das Thema ist, welches in denselben eingehend erörtert
wird. Wenn uns nun schon dieser Zusammenhang sowie der
Inhalt darauf hinweisen, dass wir hier den Panätius vor uns
haben, so zeigt dies ausserdem auch die Arbeitsweise Ciceros,
die wir vorhin an dem Abschnitt $$ 107—125 dargelegt haben.
Es folgt jetzt der zweite Teil (88 126—151), die Lehre von
dem decorum in der äusseren Erscheinung. Dieses ist die not-
wendige Folge des vorhergehenden. Es tritt in dreifacher Hinsicht
zu Tage ($ 126): im Handeln, im Reden und in der Haltung.
Die Darstellung nimmt den umgekehrten Gang und spricht zu-
nächst über die Haltung des Körpers (88 128—132), dann über
das Reden (88 132—137) und zuletzt über das Handeln (ὃ 141 ff.).
Diese klar gegliederte Abhandlung zerreisst Cicero dadurch, dass
er zwischen den zweiten und dritten Teil noch Vorschriften über
die Einrichtung des Hauses einschiebt (88 135—140), wie er $ 138
auch selbst andeutet. Betrachten wir diesen Abschnitt über das
deeorum in der äusseren Erscheinung genauer, so sehen wir,
1) Diesen Zusammenhang hat Klohe p. 27 nicht erkannt.
ee
dass er noch in zwei Teile zerfällt: der erste fasst die Vor-
schriften über die Haltung und die Rede zusammen; der zweite
bietet die über das Handeln. Denn in den 88 126—123 werden
jene beiden zunächst begründet und kurz skizziert, worauf die
genauere Auseinandersetzung folgt über die Haltung ($ 123 Schl. bis
132 A.) und für das Reden (88 152—137). ὃ 141 folgt darauf die
kurze Erörterung über das Handeln; dann (88 142—149) die über
die εὐταξία und εὐκαιρία. Nach den Worten Ciceros müssten wir
fast glauben, dass diese beiden Erörterungen nichts mit einander
zu thun hätten; doch ist das Umgekehrte der Fall. Nicht nur die
Kürze und Dürftigkeit, mit welcher das Handeln besprochen wird,
sondern vor allen Dingen der Inhalt des zweiten Abschnittes ist
es, der die enge Zusammengehörigkeit beider darthut. Die vielen
Definitionen und griechischen Kunstausdrücke, mit deren Über-
setzung sich Cicero hier abmüht, beweisen, dass er hier der
Quelle folgt. Auch Kapitel 42 ist ein Zusatz Ciceros; denn 1.
fällt es aus der Disposition heraus; 2. ist das Lob des Landbaues
nur aus römischer Anschauung hervorgegangen, und 3. hatte Pa-
nätius nach II 24,86 über den Erwerb nicht gesprochen, was hier
Cicero thut. Die Thatsache nun, dass dieses Kapitel und Kapitel 39
Einlagen sind, die den Zusammenhang stören und die von Cicero
selbst angegebene Disposition durchbrechen, beweist unumstöss-
lich, dass diese Disposition aus der Quelle stammt.
Überblicken wir jetzt die ganze Abhandlung über die Sophro-
syne, so sehen wir, dass ihre Disposition fest gefügt und einfach
zu gleicher Zeit ist, so dass sie grössere Lücken nicht wahrnehmen
lässt und grössere Zusätze als solche kennzeichnet. Die Sophro-
syne besteht in der richtigen Unterordnung der Triebe unter die
Vernunft. Das decorum, das ihr entspricht, bestimmt die erste
Hälfte der Ausführung zunächst in Bezug auf die Leidenschaften,
dann in Bezug auf die Vernunft selbst, damit wir niemals ver-
kehrt ἃ. h. unvernünftig handeln!). Dieses ist also augenschein-
lich die Erörterung über die ἐγχράτεια, deren Definition lautet:
ἐπιστήμη ἀνυπέρβατος τῶν zara τὸν 0090» λόγον φανέντων).
Die zweite Hälfte fasst Cicero unter der verecundia®) zusammen,
') s$105f£.; 110£.; 144 wozu zu vergleichen ist, was wir oben gezeigt haben.
5) Diese und die folgenden Definitionen der Sophrosyne 5. bei Stob.
ech Ip. 61, 7 #. ed. W.
5) vgl. 88 127, 128 m., 129 huius generis verecundia, 143.
ι ἡ
die hier dem gewöhnlichen römischen Begriff nicht. vollkommen
aber dem der αἰδημοσύνη entspricht, die eine ἐπιστήμη εὐλαβητικὴ
ὀρϑοῦ ψόγου ist. Denn zu wiederholten Malen!) wird darauf hin-
gewiesen, dass die verecundia hauptsächlich den Beifall der Mit-
menschen erwirkt, d. h. negativ ausgedrückt den Tadel meiden
lehrt. Sie zerfällt wieder in zwei Teile, von denen der erste
(88 127—137) die Vorschriften über die Haltung des Körpers
und die Unterhaltung, der zweite ($$ 141—149) die über das
Handeln giebt. Die letzteren gehören nach Ciceros eigener Angabe
der εὐταξία an, der erste Teil dagegen deckt sich offenbar mit
der vierten Spezialtugend der Sophrosyne, der xoowıorns, die als
ἐπιστήμη πρεπουσῶν καὶ ἀπρεπῶν χινήσεων definiert wird. Denn
wenn auch die Unterhaltung nicht oder weniger gut unter die
χινήσεις gehört, so kann doch die χοσμιότης dieselbe durchaus
umfassen und die Zusammenfassung und die gemeinsame Be-
gründung beider bei Cicero (88 126—127) ist daher gewiss kein
Zufall, sondern ein Beweis ihrer Zusammengehörigkeit. Mit Klar-
heit und Übersichtlichkeit verbindet also diese Abhandlung den
gesamten Inhalt, den die Stoiker unter dieser Tugend zusam-
menfassten. Es ist demnach unzweifelhaft, dass sie in ihrer, Ge-
samtheit dem Panätius gehört.
Wir kommen zum zweiten Buche Ciceros. Den festgefügten
Zusammenhang desselben haben wir bereits oben dargethan; wir
haben deshalb nur kurz die selbständigen Zusätze und Änderungen
Ciceros anzugeben. Gerade diese feste Fügung der Disposition
hat es bewirkt, dass sich derartige Änderungen nur an solchen
Stellen finden, welche einen Ruhepunkt in der Darstellung bieten.
So begegnet uns zunächst eine Verkürzung ($ 16) am Schlusse
der Darstellung der ersten Prämisse des langen Beweises, welcher
das Thema dieses Buches spezialisiert und die $$ 11—17 um-
fasst2). Der Abschnitt nach der Aufstellung der Disposition
ἢ vgl..bes. 8 126.
?2) Die lange Ausführung dieser Prämisse könnte auffallen, doch leuchtet
ihr Grund ganz von selbst ein. Für die zweite war eine solche Ausführung
vollkommen überflüssig, da Dieaearch bereits in einem eigenen W erke (de
interitu hominum) ihre Wahrheit erwiesen hatte. Für die erste, das Gegen-
stück dieser zweiten, lieferte ihn Panätius und war darum so eingehend.
Wenn irgend wo, so leuchtet es hier von selbst ein, dass Cicero das Citat
aus der Quelle herübergenommen hat. Er kann dabei immerhin diese Schrift
des Dicaearch auch selber gelesen haben.
Mi
᾿
(33 23—29 m.), welcher zeigt, dass die Liebe, nicht die Furcht
den Menschen bestimmen müsse, veranlasst Cicero zweimal dazu,
in längeren Abschweifungen über die durch Cäsar geschaffene
politische Lage Klage zu führen (88 23—24; 26—29). Hierauf
folgt von c. 8, 29—14, 51 die erste Hälfte der Abhandlung, die
den wahren Ruhm zum Gegenstande hat. Sie zerfällt in drei
Abschnitte: Der erste (88 29—38) handelt über die drei Bestand-
teile des Ruhmes; der zweite ($$ 39—43) über die notwendige
Bedingung desselben, die Gerechtigkeit; die dritte (88 44-51)
fügt die Gebiete und Gelegenheiten hinzu, wo und wie er erreicht
wird. Von diesen schliesst sich der erste eng an Panätius an,
wie der Inhalt überhaupt und das Zeugnis Ciceros ($ 35) be-
weisen!). Auch in dem zweiten Teile folgt er ihm im wesent-
lichen. Dies geht aus dem Anfange des $ 39 hervor, der uns
auf die Einleitung dieses Buches ($ 11) verweist; auch dürfte
wohl nicht das Citat aus Theopomp ($ 40) und noch viel weniger
das aus Herodot Ciceros Eigentum sein. Denn wenn wir das,
was Herodot von Deioces und seiner Ernennung zum Könige der
Meder erzählt, mit der Geschichte des Romulus vergleichen, so
zeigt sich in Wirklichkeit nicht eine Übereinstimmung, wie Cicero
meint, sondern eine Verschiedenheit der Verhältnisse. Zu dieser
schiefen Beziehung ist Cicero offenbar dadurch gekommen, dass
er den Bericht seiner Quelle aus Herodot auch auf die römische
Geschichte ohne weiteres übertragen hat. Der letzte Teil ist
sicher wesentlich von Cicero überarbeitet; denn abgesehen von Be-
scheidenheit und Ergebenheit, in denen man wohl nicht mit Un-
recht eine Anspielung auf das gewünschte Verhalten des Sohnes
erblicken darf, empfiehlt Cicero, um schnell zum Ruhme zu ge-
langen, die eifrige Befolgung fast durchweg römischer Sitten.
Auch die Einführung dieses Abschnittes ist durchaus persönlich.
Dass Cicero jedoch auch hier nicht ganz selbständig gearbeitet
hat, beweisen die $$ 48 und 51; denn niemand wird zunächst
glauben, dass Cicero die Briefe Philipps an Alexander, Antipaters
an Cassander und des Antigonus an seinen Sohn Philipp selbst
gelesen und bei der Ausarbeitung zur Hand gehabt habe);
') Für 8 32 weist deswegen Klohe ganz richtig noch besonders auf
die Ubereinstimmung mit I 14, 45 hin.
°) Auf die Notwendigkeit dieser Annahme werden wir später zurück-
kommen.
Ἐξ =
8 51 aber beruft er sich ausdrücklich auf Panätius. Die Dar-
stellung der Quelle ist hier also offenbar durch die Schilderung
der römischen Verhältnisse wesentlich umgestaltet. j
Es folgt die zweite Hälfte der Ausführung ($$ 52—85). In
unmittelbarem Anschluss an die $ 23 gegebene Disposition be-
handelt sie die zweite Art der Beweggründe, welche die Neigung
der Nebenmenschen erwerben, nämlich die Wohlthätigkeit, die
seitens der Empfänger auch Vorteil ist. Ebenso einfach und
durchsichtig wie die Disposition des ganzen Buches ist auch die
dieses Teiles. Cicero spricht hier zunächst über die Unterstützung
durch Geld ($$ 52—64) und zwar: 1. allgemein ($$ 52—54),
2. über die verkehrte (88 55—60), 3. über die richtige Art der-
selben ($$ 60—64); dann über die Unterstützung durch geistige
Hilfsleistung (88 65—85) und zwar: 1. des einzelnen ($$ 65—71),
2. des gesamten Staates ($$ 72—85). Wir haben also Grund
genug, diese Disposition ebenso gut für die des Panätius gelten
zu lassen, wie wir die des ganzen Buches ihm haben zuschreiben
müssen. Bestätigt wird dies dadurch, dass Cicero auch in diesem
Abschnitt, den er verhältnismässig am freiesten wiedergegeben
hat, den Panätius immer noch benutzt. Dies folgt zunächst aus
$ 86: in his autem ütilitatum praeceptis Antipater ... duo
praeterita censet esse a Panaetio. Denn es ist selbstverständlich,
dass sich dieses Urteil auch auf das ganze Buch und nicht bloss
auf den ersten Teil desselben bezieht. Klarer noch zeigen dies
die Citate, und zwar zunächst das aus dem Briefe Philipps an
Alexander ($ 53) und die beiden Citate ($ 56) aus Theophrasts
Schrift über den Reichtum und aus einer verlorenen Schrift des
Aristoteles. Denn wohl sicher dürfen wir annehmen, dass Cicero
sie nicht aus dem Original herübergenommen hat, zumal da sie
beide gegenüber gestellt werden und Theophrast getadelt wird.
Aus derselben Schrift stammen augenscheinlich auch die Angaben,
welche 8 64 gelobt werden. ὃ 60 ferner bringt direkt ein Citat
aus Panätius und ebenso $ 76. Schliesslich wird sicher auch
der lange Bericht aus der griechischen Geschichte ($$ 30—82)
über Agis IV von Sparta und über Arat und seine Befreiung
‘Sieyons aus Panätius entlehnt sein!). Im übrigen aber ist dieser
!) In den 88 53, 56, 60 und 76 erkennt auch Klohe die Benutzung des
Panätius an; $ 56 jedoch nur für die aus Aristoteles eitierten Worte. Wenn
er geneigt ist die Disposition dieses Abschnittes zum grössten Teil für das
"
a ΆΣΕΕ:
Abschnitt von Cicero, der sich $ 60 sogar ein abweichendes Ur-
teil erlaubt, sehr frei wiedergegeben und mit römischen Beispielen
so durchsetzt, dass es weder möglich noch lohnend ist, eine”
senaue Analyse vorzunehmen.
Dieses Buch behandelt die Lehre vom Erwerb des Nützlichen. ᾿
Die Tugend, welche dabei in Betracht kommt, ist die praktische
und von dieser wiederum weniger diejenige, welche sich auf den
Menschen als Individuum, als diejenige, welche sich auf die Er-
haltung der menschlichen Gesellschaft bezieht, d. h. die Gerechtig-
keit, Wohlthätigkeit und Tapferkeit. Dieses Buch enthält also
die Anwendung der Lehre des vorhergehenden; es ist darum
notwendig, dass gerade jene Tugenden, in anderem Zusammen-
hange natürlich, hier noch einmal behandelt werden. Der logische
Zusammenhang der Darstellung tritt uns also nicht bloss inner-
halb der einzelnen Bücher, sondern auch zwischen diesen selbst
klar entgegen. Was wir nun bei diesen beiden Büchern noch
selber wahrnehmen, dürfen wir mit Sicherheit auch von dem
Zusammenhange der Darstellung der theoretischen und praktischen
Tugend erschliessen. Diese logische, stets klare und durchsichtige
Disposition im ganzen und im einzelnen, die schöne Sprache und
der reiche und edle Inhalt lassen uns das begeisterte Lob ver-
stehen, welches dieser Schrift gezollt wurde: Posidonius ... seribit
.. P. Rutilium Rufum dicere solere . . ut nemo pictor esset in-
ventus, qui in Goa Venere eam partem, quam Apelles incohatam
reliquisset, abso!veret ... sic ea, quae Panaetius praetermisisset,
propter eorum, quae perfecisset, praestantiam neminem perse-
eutum).
Eigentum Ciceros zu halten, so wäre dies an sich nicht unmöglich, doch in
dem oben angeführten Zusammenhange scheint mir das Gegenteil gewiss
zu seın.
') Cie. de off. III 2, 10. Cieero schreibt ebds. 8 7 über seine Bearbeitung
dieser Schrift: Panaetius igitur, qui sine controversia de offieiis aceuratissime
disputavit quemque nos correctione quadam adhibita potissimum secuti sumus
etsq. Dies Urteil entscheidet, wie es in der vorliegenden Abhandlung voll-
ständig bestätigt worden ist, auch noch einmal über die Ansicht Klohes im
allgemeinen. Zählen wir nämlich die Paragraphen zusammen, in welchen
er überhaupt nur eine Benutzung des Panätius annimmt, so bieten diese
kaum den fünften Teil der Schrift Ciceros.. Rechnen wir hierzu die Zu-
sammenziehung der Bücher und ihre Erweiterungen am Schlusse, so erhalten
wir ein Resultat, das sicher nicht mehr eine Bestätigung des obigen Urteils
de ρα,
ί 7 ;
u a ee ed
καρ. ;
Cic. de leg. I und de rep. I.
$ 1. Komposition von de leg. I.
Die Absieht Ciceros bei der Abfassung des ersten Buches
de legibus lesen wir in der Einleitung desselben ce. 5, 17: natura
enim iuris explicanda nobis est eaque ab hominis repetenda
natura. Da indes die nachfolgende Abhandlung keineswegs die
wünschenswerte Klarheit besitzt, so wird es gut sein, Gang und
Inhalt des Beweises zu behandeln.
Cicero unterscheidet, allerdings ohne diese Unterscheidung
stets fest zu halten!), die beiden Begriffe lex und ius und fasst
in offenbarem Anschluss an den griechischen Terminus νόμος
lex als das Allgemeinere und ius als das Besondere, so dass das
Letztere aus dem Ersteren hervorgeht, und nur das Erstere für
die gegenwärtige Abhandlung in Betracht kommt. Er stellt
demnach die Definition: lex est ratio summa, insita in natura,
quae iubet ea quae facienda sunt prohibetque contraria, an den
Anfang (c..6, 18) und beginnt, nach einer kurzen Erläuterung der-
selben den Beweis (c. 7, 28): Da alles durch die göttliche Vor-
sehung verwaltet wird, so verdankt auch der Mensch nur ihr
sein Dasein. Dies erhellt besonders daraus, dass er allein von
allen irdischen Wesen der Vernunft teilhaftig ist. Da somit die
Vernunft Göttern und Menschen gemeinsam und diese gleich lex
ist, so folgt, dass auch die lex und demgemäss auch das ius für
beide gleich ist. Diejenigen aber, welche gleiches Gesetz (ius)
haben, sind Bürger desselben Staates; Götter und Menschen ge-
hören demnach einem Staatswesen an. Diese Gedankenreihen
hängen so fest zusammen, dass ein Schlusssatz immer die Prä-
misse des andern ist. Sie wird jedoch hier abgebrochen und
erst cap. 10, 28 fortgesetzt, wie Cicero selbst es anzeigt: Sunt
haec quidem magna, quae nune — die Beweise für die Vor-
ist, zumal wenn wir bedenken, dass Cicero nicht der Mann ist, der aus über-
grosser Bescheidenheit sein Licht unter den Scheffel stellt.
1) Er entschuldigt sich deswegen mit dem populären Charakter der
Schrift, vgl. ce. 6, 19.
a ΠἾ τπὶ
ΣΕ ΩΝ ei (are an est praestabilius quam plane. ἢ
intellegi nos ad iustitiam esse natos neque opinione sed natura Y
constitutum esse tus. id iam patebit, si hominum inter ipsos societatem ο
perspexeris. Offenbar nämlich kehrt er mit diesen Worten nach *
der Abschweifung in den beiden vorhergehenden Kapiteln zu
seiner Aufgabe zurück. Dies beweist auch der Inhalt der beiden
Kapitel 10 und 11. Nach Ciceros Ansicht bieten sie allerdings
einen neuen und selbständigen Grund für den Beweis, dass das
Recht von Natur sei: in der That aber sind sie nur die Fort-
setzung des im Kapitel 1 begonnenen Beweises. Denn da alle in ;
diesen beiden Kapiteln angeführten Übereinstimmungen aus der
Vernunft entspringen und diese als Gemeingut aller Menschen
schon im 7. Kapitel an die Spitze der Erörterung gestellt ist, so
geht unzweideutig daraus hervor, dass die Kapitel 10 und 11
keinen wesentlich neuen und selbständigen Grund enthalten,
sondern nur die zweite Hälfte des im 7. Kapitel begonnenen Be-
weises und daher nicht getrennt von Kapitel 7 gedacht sind. Der
Zusammenhang ist also folgender: Der Besitz der Vernunft be- i
dingt sowohl die Zusammengehörigkeit der Menschen und Götter
(Kap. 7), als auch die der Menschen unter einander (Kap. 10 und
11). Dieser Zusammenhang wird durch die beiden Kapitel 8 und
Ὁ. gestört; also sind sie hier auszuscheiden.
Zu demselben Ergebnis werden wir noch durch eine andere
Stelle geführt. Nachem Cicero die Zusammengehörigkeit der
Menschen sowohl aus ihrem vernünftigen als auch ihrem ver-
kehrten Treiben dargelegt hat, schliesst er $ 33: sequitur igitur
ad participandum alium ab alio communicandumque inter omnes
|
|
ius nos natura esse factos. Aus der blossen Übereinstimmung
der Menschen, wie sie hier dargelegt ist, lässt sich diese Folge-
rung keineswegs ziehen. Denn durch sie ist nur eine vernünftige
Gemeinschaft aller Menschen und somit die Grundlage und Mög-
lichkeit eines wechselseitigen Verkehrs dargethan; doch ist damit |
nicht bewiesen, dass die Menschen von Natur dazu verpflichtet
sind, das Recht zu üben. Diese Folgerung gilt nur unter der
Voraussetzung, dass das Recht auf der Vernunft und nicht auf
einem Übereinkommen beruht. Denn wenn es auf einem Über-
einkommen beruht, so sind die Menschen, mögen sie immerhin
eine vernünftige Gemeinschaft bilden, nie von Natur verpflichtet,
u ἐΞ
das Recht zu pflegen. Jener Schluss ist also erst auf Grund
der im 7. Kapitel ausgesprochenen Annahme berechtigt, dass die
recta ratio — lex ist; daher wird auch jener Kettenschluss aus
Kapitel 7 hier nach der besprochenen Folgerung zur Begründung
wiederholt: quibus enim ratio data est, iisdem etiam recta ratio
data est: ergo et lex, quae est recta ratio in iubendo et vetando;:
si lex, ius quoque. et omnibus ratio: ius igitur datum est omnibus.
Dies bestätigt nicht nur die Richtigkeit der vorhin entwickelten
Gedankenverbindung, sondern zeigt auch wiederum, dass die
Kapitel 8S—9 in diesen Zusammenhang nicht hineingehören.
Sehen wir uns jetzt diese beiden Kapitel selbst etwas genauer
an. Zuerst beweist Cicero in den $$ 24—25 durch zwei weitere
Gründe die Verwandtschaft zwischen den Menschen und Göttern, die
er im Kapitel 7 regelrecht erschlossen hat; dann in den $$ 25—27
die Verwaltung -der Welt durch die Vorsehung der Götter. Die
beiden ersten Gründe dieses Kapitels für die Verwandtschaft der
Menschen und Götter, die als neue eingeführt werden, sind that-
sächlich keine neuen Gründe mehr; sondern in denjenigen ent-
halten, welche im Kapitel 7 vorgebracht sind. Denn was wir zu-
nächst $ 22 lesen: animal hoe providum ... quem vocamus
hominem, praeclara quadam condieione generatum esse a supremo
deo. solum est enim ex tot animantium generibus atque naturis
particeps rationis et cogitationis, lesen ‚wir ebenso, nur etwas
erweitert, 8 24. Ebenso verhält es sich mit dem zweiten Grunde:
jam vero virtus.eadem in homine ac deo est neque alio. ullo
ingenio praeterea, est autem virtus nihil aliud nisi perfecta et
ad summum perducta natura; est igitur homini cum deo simi-
itudo. Was heisst nun perfecta et ad summum perdueta natura?
Was heisst virtus? Diese kommt, ‚wie hier gesagt wird, nur
Göttern und Menschen zu. Nach $ 22 ist aber diesen. beiden
vor allen anderen Wesen die ratio gemeinsam; demnach. ist die
perfecta natura dasselbe wie ratio recta.oder perfeeta. Da nun
an unserer Stelle ($ 25) die virtus als die perfecta natura definiert
wird, so ist sie nichts Anderes als die recta oder perfecta ratio,
wie. Cicero anderweitig (vgl. $ 45) auch selbst sagt. Demnach
gebraucht hier Cicero eben dasselbe zum Beweise, wie vorhin;
denn beide Male schliesst er aus der Gemeinsamkeit der Vernunft
auf die Verwandtschaft, nur wechselt er mit dem Ausdrucke.
Also ist auch der Beweis, der hier als ein neuer vorgetragen
Schmekel, mittlere Stoa. 4
Ἐν
wird, in Wirklichkeit nicht neu, sondern schon im Kapitel 1 da-,
gewesen.
Hierauf folgt eine Menge von ‘Beweisen für das- Dad und
das Walten der Götter!). Ist es nötig, das diese hier aufgezählt
werden, und stehen sie’am gehörigen Orte? Der geeignete Ort
sie vorzubringen ‘ist jedenfalls nicht hier, sondern $ 21, wie
Cicero selbst angiebt — die Worte sind an Atticus gerichtet —
nam si hoc (sc. deorum providentia omnia regi) non probas,
ab eo nobis eausa ordienda est potissimum. Atticus' giebt es zu;
doch da er es ohne Überzeugung thut, so: erklärt Cicero nicht
fortfahren zu wollen; dennoch geht er weiter. Was er also dort
hätte thun müssen, das holt er hier nach ($$ 25—27). Cicero
selbst beweist somit, dass er hier eine Einlage macht.
Wie nun Cicero e. 11, 29 die Rückkehr zum Thema andeutet,
ebenso und noch klarer zeigt er es auch hier an, dass er diese
beiden Kapitel einschaltet. Denn wenn er (ec. 8, 24) schreibt: nam’
cum de natura hominis quaeritur u. s. w. und die Entstehung des
Menschen vorträgt, so zeigt-er zunächst schon durch die Partikel
‚nam’ an, dass das folgende zur Begründung für den. vorher-
gehenden Abschnitt nachgetragen wird. Am: Schlusse derselben:
aber schreibt er $ 27: neque enim omnia sumt huius disputationis ac
temporis et hune locum satis, ut mihi videtur, in iis libris, quos
legistis, expressit Scipio. Nach seiner eigenen Angabe also ge-
hören diese Beweise nicht hierher, sondern sind aus der Schrift
vom Staate wiederholt. Und nun noch eines! Wir werden im
folgenden Abschnitte sehen, dass diese Abhandlung über den Ur-
sprung des Rechts sich mit dem zweiten Teile des dritten Buches:
de re publ. deckt; diese hier aus jenem Werke angeführten Be-
weise für das Dasein und die Vorsehung der Götter stammen’
aber aus dem Anfange des vierten Buches jener Schrift, wie:
Laktanz bezeugt; Also sind diese beiden Kapılz hier thatsächlich-
von: Cicero eingeschoben,
Die Kapitel 7, 10 und 11 bilden somit einen ierke zu-
sammenhängenden Beweis, dessen Ergebnis einerseits der Schluss
ist, dass Menschen und Götter gleiches Recht haben und einem:
») Übrigens wird auch der erste Beweis dazu verwendet das Dasein der
Götter zu beweisen. Es ist daher klar, däss-Cieero diese Stelle seinem.
Zwecke gemäss etwas: geändert hat.
>
= 51 —
Staatswesen angehören; und andererseits, dass die Menschen von
Natur und nicht etwa infolge eines Vertrages zur Rechtsmitteilung
verpflichtet sind. Hiermit ist demnach sowohl der Ursprung und
der Umfang des Rechts als auch das Motiv zur Anwendung des-
selben vorgetragen. Doch dass das Recht von Natur sei, ist
zwar vorgetragen, aber nicht derart bewiesen, dass der Gegner
besiegt wäre. Denn wenn Cicero beweisen wollte, dass das ius
von Natur sei, so musste er, da er es auf die lex gründete,
zeigen, dass die lex von Natur sei. In der Definition aber, die
wir am Anfange des sechsten Kapitels lesen: lex est ratio summa
insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt prohibetque
contraria, ist dieser Beweis einfach vorausgesetzt; denn das nach-
folgende Resultat stützt sich auf die Annahme, dass die lex —
ratio recta insita in natura sei, was ja gerade zu beweisen war.
Dies sagt Cicero auch selbst, wenn er am Schlusse dieses Teiles
c. 12, 34 schreibt: quae pr@emuniuntur omnia reliquo sermoni
disputationique nostrae, quo facilius ius in natura esse positum
intelligi possit. Das Gleiche müssen wir auch aus dem er-
schliessen, was wir $ 16 lesen: in hoc ista patefieri, quod sit
homini a natura tributum ... quae sit coniunctio hominum,
quae naturalis societas inter ipsos. his enim explicatis fons
legum et iuris inveniri potest. Die Erörterungen, deren notwen-
diges Vorausgehen vor der eigentlichen Aufgabe er hier anzeigt,
sind diejenigen, welche in diesen Kapiteln in Wirklichkeit aus-
geführt werden. Der eigentliche Beweis also, dass das Recht
von Natur sei, ist demnach noch nicht dagewesen').
Das folgende Kapitel hat mit der Sache nichts zu schaffen;
zu dieser kehrt er erst im Kap. 14 zurück. In unmittelbarer Fort-
setzung des ersten Teiles weist Cicero hier zunächst die beiden
Motive der Gegner zurück: die Menschen würden im gegenseitigen
Verkehr einerseits durch Furcht vor Strafe bestimmt, das be-
stehende Recht zu beobachten, und andererseits durch den Vor-
teil, der die Menschen veranlasse, wo es möglich sei, selbst mit
Umgehung des Rechts zu handeln. Cicero widerlegt diese durch
den Hinweis auf die Strafen des Gewissens und durch die Kon-
ἡ Wenn Cicero also bei der Wiederaufnahme seines Themas c. 10, 28
schreibt: id (se. natura eonstitutum esse ius) iam patebit, si hominum inter
ipsos societatem coniunctionemque perspexeris, so Ist er zum mindesten un-
genau.
4 +
Ἐξ ΤΠ». ἘΞΞ
sequenz ihres Standpunktes, indem er nicht mit Unrecht ausführt,
dass bei dieser Auffassung von den Begriffen »Gerecht und Un-
gerecht, Gut und Böse« überhaupt nicht mehr die Rede sein
könne, sondern nur noch von Schlauheit und Dummheit.
Darauf wendet er sich gegen die Ansicht der Gegner über
das Wesen des Rechts und zeigt in den $$ 42—44 die Verkehrt-
heit derselben gleichfalls aus der Konsequenz: Sei das Recht nichts
anderes als der Wille und Vorteil des Gebietenden, so müssten
auch alle Bestimmungen der schlechtesten Tyrannen als recht
und gerecht anerkannt werden. Ebenso müsste es möglich sein
in jedem Augenblicke alles Schlechte, wie Stehlen, Rauben, Morden
wenn es beliebte, zum Recht zu erheben, was doch widersinnig
sej. Jetzt, nachdem die Ansicht der Gegner widerlegt ist, folgt
in zwei!) langen Schlüssen die positive Zurückführung des Rechts
auf die Natur ($$ 44m—46). Dieses geschieht dadurch, dass das
ius unter das honestum subsummiert und für dieses der Ursprung
aus der Natur bewiesen wird. Der Schluss ist in Kürze folgen-
der: Alle virtus sowohl bei den Tieren wie bei den Menschen
beruht auf dem ingenium, alles ingenium aber auf der Natur;
also auch alle virtus auf der Natur. Nun ist das ingenium der
Menschen die ratio; demnach ist die virtus die perfecta oder
recta ratio und somit von Natur. Nach der χοινή ἔννοια ist das
honestum der Inhalt der Tugend; ein Teil des honestum aber
ist das Recht. Da nun die Tugend auf der Natur beruht, so gilt
gleiches auch von dem honestum und somit auch vom Recht,
was zu beweisen war.
Der:zweite Beweis thut gleichfalls dar, dass das honestum
und somit auch das Recht auf der Natur beruht, ohne es jedoch
mit der virtus in Verbindung zu bringen. Materiell stützt es
sich auf die im griechischen Volksbewusstsein allgemein zugestan-
dene und giltige Anschauung, dass das καλόν auch das ἀγαϑόν
sei. Das Verfahren ist eine deductio ad absurdum, nach stoischer
Manier in einen Kettenschluss gekleidet: Das honestum ist offen-
bar etwas Lobenswertes; das Lobenswerte enthält aber ein
Gut (bonum, ἀγαϑόν), weswegen es gelobt wird; dieses Gute ist
') Scheinbar sind es nach Cicero vier Beweise, in Wirklichkeit aber sind
es nur zwei. Denn die ersten drei bilden nur einen einzigen, wie der Inhalt
beweist und auch die Partikel ‘nam’ zeigt, durch welche sie verbunden sind.
Ε΄:
—, ΎΕΕΝ τος
seiner Natur nach, nicht infolge der Einbildung gut; denn wenn
es nicht so wäre, so beruhte auch unser Glück, das auf dem
Guten beruht, auf Einbildung, was lächerlich ist; somit hat auch
das honestum ein Gut in sich, weil es lobenswert ist, und beruht
demnach auf der Natur. Die Sache ist klar, wenn auch sehr
schwerfällig. Diese Zurückführung des Rechts auf die Natur ist in
Wahrheit bindend für alle diejenigen, welche wie die Griechen
und die philosophierenden Römer sittliche Tugend von der phy-
sischen Tüchtigkeit nicht unterscheiden konnten oder unterschieden.
Demnach ist es thatsächlich ein Beweis und keine Behauptung
mehr, dass das Recht auf der Natur beruht. Nur ein Einwand
ist noch vorhanden: Wenn das Recht auf der Vernunft beruht
und von Natur in den Menschen hineingelegt ist, wie ist alsdann
in Bezug auf das Recht eine so grosse Verschiedenheit in dem
Denken und Handeln möglich? Dieser Einwand, auf den sich
die Gegner zur Begründung ihrer eigenen Ansicht beriefen, wurde
natürlich gegen die obige Lehre geltend gemacht. Er wird des-
wegen auch hier berücksichtigt und im $ 47 erklärt, wenngleich
er nicht in der Form eines Angriffs vorgebracht und zurück-
gewiesen wird: Falsche und verkehrte Lehre verderbe und
verwöhne den Geist bei den verschiedenen Menschen in verschie-
dener Weise von Jugend an, und Wollust und Vergnügungssucht
setzten fort, was jene begonnen hätten. Dieses sei der Grund
für die verschiedenen Überzeugungen bei diesen Begriffen. Diese
Verschiedenheit sei also weder die Schuld der Sache selbst noch
der Vernunft, sondern entspringe einer mangelhaften und ver-
kehrten Erziehung. Eine vernunftgemässe Erziehung würde dem-
nach ohne weiteres den Einwand verstummen lassen.
Vergegenwärtigen wir uns jetzt kurz den Gang der Handlung:
Zuerst wird Wesen und Umfang des Rechts vorgetragen und im
Zusammenhange damit das Motiv zur Rechtspflege. Hierauf
werden die Motive der Gegner widerlegt und dann das Wesen
des Reehts nach der Meinung der Gegner aus den Konsequenzen
zurückgewiesen. Darauf ‘wird mit grossem Gewicht der die
eigentliche Aufgabe ausmachende Hauptgrundsatz, dass das Recht
von Natur sei, bewiesen und zuletzt der Einwand, der sich gegen
diese Lehre erheben lässt, widerlegt. Wenn nun auch diese Dis-
position nicht die einzig mögliche ist, und wir vielleicht den di-
rekten Erweis der Lehre am Anfange wünschen würden, 50 ist
ἘΞ --
doch zuzugeben, dass sie klar und vollständig ist. Die Ansicht
der Gegner wird nach allen Seiten hin widerlegt, die eigene nach
allen Seiten hin bewiesen und auch der gegen sie erhobene
Einwand entkräftet. Offenbar ist der Gegenstand erledigt. Cicero
selbst erklärt dies auch!); gleichwohl fährt er fort noch in zwei
ganzen Kapiteln die Ansicht der Gegner zu bekämpfen und zwar 7
zum Teil mit denselben Gründen wie vorher”). Auch einige neue
Beweise werden noch gebracht, wenn sie auch nur von geringer
Bedeutung sind, $ 48: Alle guten Menschen lieben das Gute,
das Recht um seiner selbst willen; ein guter Mensch irrt sich
nicht: - Also ist das Recht um seiner selbst willen zu pflegen.
8 52: Angenommen die Tugend ist nicht um ihrer selbst willen
zu erstreben, 50 ist Anderes besser als sie; also entweder Geld
oder Ehre oder Schönheit oder Gesundheit oder Vergnügen.
Erstere sind an sich wenig wert und auch nicht andauernd, also
nicht wichtiger als die Tugend; in der Verachtung des letzteren
aber, des Vergnügens, zeigt sie sich hauptsächlich. Etwas ganz
Neues ist allerdings auch dies nicht; denn in der Zurückweisung
des Einwandes gegen die stoische Lehre $ 47 ist auch dies schon
enthalten. Als die beiden Gründe für die Verkehrtheit: des Ur-
teils werden daselbst der consensus der Menge und die Wollust
genannt. . Der consensus der Menge preist nun Reichtum, Ehre
und Schönheit, die oben ($ 47) auch aufgezählt werden. Wenn
demnach dieser und die Wollust als verkehrt zurückgewiesen
werden, so ist damit auch der Beweis ($ 52), dass weder Geld
noch Ehre noch Schönheit noch Vergnügen höher als die Tugend
stehen, darin enthalten, wenn er auch anders gewandt ist. Da
also die Gründe in diesen beiden Kapiteln wesentlich dieselben
sind, die Cicero schon vorher gegen die Gegner geltend gemacht
hat, so hat er offenbar diesen Abschnitt zu seiner eigentlichen
Quelle hinzugefügt sei es von seinem eigenen Gute oder nach
einer anderen Schrift: Nehmen wir diese und ebenso die beiden
vorhin eingeschalteten Kapitel 8 und 9 weg, so erhalten wir eine
wohlgefügte, gut zusammenhängende Lehre. - Jene Zuthaten aber
zerstören und zerreissen die Einheit der Darstellung.
') e. 18, 48: sequitur ut conclusa mihi iam haec sit omnis oratio, id quod
ante oculos ex iis est, quae dieta sunt, et ius et omne honestum sua sponte
esse expetendum.
?) Vgl. 8 4l.mit $ 49 und 8 43 mit $ 48.
$ 2. Cie. de rep. III = de leg. 1.
Bereits im vorigen Paragraphen haben wir gesehen, dass
“uns Cicero in: seiner Schrift von den Gesetzen (I 9, 27) auf die
vom Staate verweist, in der die nähere Begründung der. dort
nur angedeuteten Lehre zu finden sei. Wie eng diese beiden
Schriften zusammenhängen, ist allgemein bekannt; Cicero selbst
giebt ausdrücklich an, dass die Gesetze .eine Ergänzung ..der
Staatslehre seien). Dieser Umstand ist für weitere Unter-
suchungen: gewiss nicht gleichgiltig. Wenden wir uns also jetzt
zu dem dritten.Buche dieser Schrift. ' Es: ist zum.grössten Teile
noch erhalten;' wenigstens ist es derarf, dass wir seinen Gang
und Inhalt zumal an der Hand der allgemeinen Übersicht, die
Augustin?) übermittelt hat, für: den vorliegenden Zweck genau
genug ‘erkennen können. Nach den: einleitenden‘ Bemerkungen
c. 5,.8 hat es’ Furius Philus unternommen, die Sache derer .zu
vertreten, die: behaupten, . sine iniustitia.. geri non: posse rem
publicam. Darauf folgt die Zurückweisung dieser Ansicht durch
Lälius c. 21, 32—30, 42. Seipio stimmt .alsdanr: dem: Lälius
zu, wiederholt kurz und zusammenfassend das, was er im ersten
Buche über den Begriff des Staates und die Staatsformen gesagt
hat, und betont gemäss ‘der eben geführten Verhandlung, dass
strenge Gerechtigkeit das Prinzip der Staatsverwaltung sein müsse,
und dass überhaupt nicht von einem Staate die Rede sein könne,
'wo dies nicht der Fall sei (c. 31, 43). Was noch hinzugefügt wird,
sind nebensächliche Punkte.
τς Den Hauptgegenstand des dritten. Buches bildet also die Ver-
handlung über die Gerechtigkeit. Der Gegensatz der Meinungen
über die Rechtsgrundlage und Rechtspflege eines Staates, welcher
hier zum Ausdrucke kommt, entspringt aus der. verschiedenen
Auffassung vom Ursprunge des Rechts. Ist das Recht von Natur,
so ist es klar, dass auch der Staat dem Rechte gemäss verwaltet
werden muss; ist'das Recht eine Erfindung der Schwächeren
(8. 23), ist es nur ein aus Nützlichkeitsgründen geschlossener
Vertrag, so wird sich natürlich der Staat, so oft sein Vorteil mit
dem Rechte streitet, zu Gunsten seines Vorteils entscheiden; der
1) de legg. I 6, 20; I 5, 15; II 10, 23; IIT 2, 4; III 14, 32.
2) de εἶν. D. II 21; vgl. die praefatio.
leitende Grundsatz wird sein: sine iniuria geri non potest res
publica. Daher bildet auch in Wirklichkeit die Frage über den
Ursprung des Rechts sowohl in dem ersten wie in dem zweiten
Teile den Kernpunkt der Erörterungen. Während nämlich Furius‘
zu erweisen sucht, dass die Menschen nicht.infolge des natürlichen
Rechtsgefühls gerecht seien, sondern aus Furcht vor Strafe, dass
Gerechtigkeit und Vorteil sich einander ausschliessen, und dass
es zwar ein natürliches Recht gebe, dieses aber nicht das Recht
der Wirklichkeit sei!), verteidigt Lälius den entgegengesetzten
Standpunkt und gründet alles Recht auf die Natur, wie wir
nicht nur aus den Fragmenten erschliessen können, sondern Cicero
auch ausdrücklich berichtet ($ 38). Wir haben hier somit den-
selben Gegenstand vor uns wie im ersten Buche der Gesetze.
Doch nicht allein diese Thatsache tritt uns klar entgegen, sondern
auch die, dass er in beiden Büchern auf dieselbe Weise behandelt
ist. Dieses zeigt die Übereinstimmung im einzelnen sowohl wie
im Gange und der Art der Widerlegung. Wir vergleichen zuerst
die Definition der lex, welche Lälius am Anfange seiner Rede
giebt, mit der in de legibus.
de leg.
I 6,18: lex est ratio summa
insita in natura . . cuius ea vis
sit, ut recte facere iubeat, vetet
delinquere. II 6, 14: lex autem
illa, cuius vim explicavi, neque
tolli neque abrogari potest.
II 4, 8: legem neque hominum
ingeniis excogitatam nec scitum
aliquod esse populorum, sed
aeternum quiddam quod univer-
sum mundum regeret .. ita
prineipem legem illam et ulti-
mam mentem esse dicebant om-
nia ralione aut cogentis aut ve-
tantis dei.
de rep.
22, 33: . . est quidem vera
lex recta ratio naturae congruens
. . quae vocet ad officium iu-
bendo, vetando a fraude deter-
reat ... huie legi nec abrogari
fas est neque derogari ex hac
aliquid licet neque tota abrogari
potest, nec vero aut per sena-
tum aut per populum solvi hat
lege possumus . .. nec erit alia
lex Romae, alia Athenis alia nunc
alia posthac, sed est omnis gen-
tis et omni tempore una lex et
sempiterna et immutabilis con-
tinebit unusque erit communis
quasi magister et imperator
omnium deus.
) «. 11, 18; 12, 20;.12,7215; 165265219, 79
17, 23: parent autem (sc. ho-
mines et dei) huice caelesti de-
seriptioni mentique divinae et
praepotenti deo ..
[Diejenigen, welche nicht ge-- ... cui quinon parehit, .ipse se
horchen] (I 14, 40) poenas luunt fugiet acnaturam hominis asper-
non tam iudiciis . . sed eos agi- natus hoc ipso luet maximas
tant insectanturque furiae..an- poenas, etiam si cetera suppli-
gore:conscientiaefraudisque eru- cia quae putantur effugerit.
ciatu: ἡ |
_ Die Übereinstimmung beider Teile ist vollkommen klar. Da
Philus die Gegenpartei vertritt, so verkündigt er natürlich die-
selben Ansichten, die in de legg. widerlegt werden. Wird hier
also die Ansicht bekämpft, dass alles nur nach dem Vorteile
beurteilt werden müsse, so verteidigt Furius dieselbe $ 21.
Ebenso findet er es recht, Unrecht zu thun, wenn man es nur
heimlich und ohne sich zu schaden vollbringen könne (c. 15, 25);
als abscheulich wird dies de leg. 115, 42 verworfen. In gleicher
Weise leugnet er ferner c. 16, 26: sapientem ideirco virum bonum
esse, quod eum sua sponte ac per se bonitas et iustitia delectet,
sed quod vacua metu, cura, sollieitudine, periculo vita bonorum
virorum sit. Gegen diese Ansicht wiederum streitet Cicero de
leg. 1 14, 40. Doch klarer tritt die‘ Übereinstimmung wieder
hervor, wenn wir die Widerlegung der gegnerischen Lehre durch
Lälius mit der Ciceros in de leg. I vergleichen:
de leg. de rep.
I 14, 41: tum qui non ipso 27,39: ... cum ea re bonum
honesto movemur, ut boni viri virum opportere esse dicant, ne
simus, sed utilitate aliqua atque malum habeat, non quo id na-
fructu, callidi sumus, non boni: tura rectum sit, non intellegant,
nunquam ob eam causam nega- se de callido homine loqui, non
bit, quod id natura turpe iudi- de bono viro.
cet, sed quod metuat ne emanet,
id est, ne malum habeat ... .
115, 42: iam vero illud stul-. 35,50'):non iura dicenda sunt
») Dieses Fragment hat C. F. W. Müller zwar ausgelassen, aber Augustin
giebt selbst an, dass er hier die Ansicht Ciceros referiert; deswegen sind
wir berechtigt diese Stelle zum Vergleiche heranzuziehen.
je
ee
tissimum, existimare omnia iusta wvel putanda. iniqua hominum
esse, quae saneita sint in populo- eonstituta (vgl. auch c. 32, 44).
ruminstitutisautlegibus. Etiam-
ne, si quae leges sint tyranno-
rum. τ Ὲ : ᾿
Die Übereinstimmung dieser Stellen ist augenscheinlich.
Wir wenden uns jetzt zu dem allgemeinen Gange und der
Art der Beweisführung der beiden .Abhandlungen. Über das
Resultat der Rede des Lälius berichtet Laktanz!), nachdem er
die Unterscheidung der iustitia eivilis und naturalis, welche Car-
neades gemacht hatte, besprochen hat: arguta haec plane ac
venenata sunt et quae M. Tullius non potuerit refellere. nam
cum faciat Laelium Furio respondentem pro iustitiaque dicentem,
inrefutata haec tamquam foveam praetergressus est, ut videatur
idem Laelius non .naturalem, quae in crimen stultitiae venerat,
sed illam eivilem defendisse iustitiam, quam Furius sapientiam
quidem esse concesserat, sed iniustam. Auf diese Zweiteilung
der iustitia war also Cicero direkt nicht eingegangen, um sie
etwa so zu beseitigen, wie Laktanz es thut, welcher sie rundweg
verwirft; dass er gar nicht auf sie eingegangen sei, ist ein Urteil,
das Laktanz fällte, wir aber durchaus nicht zu unterschreiben
brauchen. Denn das Gegenteil dürfen wir einmal schon aus
seinen Worten schliessen: ut videatur idem Laelius non natura-
lem ... sed. illam civilem defendisse iustitiam, und ist zweitens
nach den Fragmenten über allen Zweifel erhaben. Denn um alle
anderen zu übergehen, so zeigt es schon das erste (c. 22, 33) zur
Genüge: est‘ quidem vera lex recta ratio, .natura congruens,
diffusa in omnis, constans, sempiterna . . et omnis gentis et
omni tempore una lex et sempiterna et immutabilis continebit
unusque erit communis quasi magister et imperator omnium deus
. . cul qui non parebit, ipse se fugiet ac naturam hominis asper-
natus hoc ipso luet maxımas poenas, etiam. si cetera supplicia quae
putantur effugerit. Aus dieser ganzen Stelle, namentlich aber aus
den letzten Worten, geht die Berücksichtigung jener Unterschei-
dung unwiderleglich hervor. Denn die Einteilung der Strafen in
die eigentlichen, die poenae maximae, und in die supplieia quae
putantur, entspricht eben jener Zweiteilung der Gerechtigkeit:
') inst. div. V 16=Cic. de rep. III 20, 31.
ZT
Der iustitia naturalis folgen die poenae maximae, der iustitia
eivilis die supplicia quae putantur, wie auch de leg. I 14, 40f.
beweist. Ebenso deutlich wie das Eingehen auf diese Unterschei-
dung sehen wir ferner noch, wie er dieselbe benutzt, nicht um
mit Carneades daraus die Unvereinbarkeit der beiden Arten der
Gerechtigkeit zu erschliessen, sondern um ihre Unzertrennlichkeit
darzulegen. Denn wenn er c. 26, 38 schreibt: nisi aequitas, fides,
iustitia, profieiscantur a natura, et si omnia haeec ad .utilitatem
referantur, virum bonum .non posse reperiri, so verteidigt er
damit nicht die civilis iustitia als solche, sondern er beweist
vielmehr, dass .die wahre civzls iustitia auch die iustitia naturalıs
ist, also beide thatsächlich nicht getrennt werden dürfen. Darauf
führt uns auch die vorhin citierte Definition der lex vera. Diese
ist als die recta ratio das: unwandelbare göttliche Gesetz, welches zu
allen Zeiten, bei allen. Völkern in. gleicher Weise gilt. Natur-
gemäss entspricht dern göttlichen Gesetze, dem λόγος ὀρϑός, die
iustitia naturalis. ‘Wird diese nun auch als absolut verbindlich
für alle Völker. erklärt, so wird‘sie damit auch als“die civilis
iustitia oder vielmehr als deren Quelle hingestellt. Somit führt
ans auch die angegebene Definition zu dem Schlüsse, den wir
schon vorhin -fanden, dass Cicero die Unterscheidung der iustitia
naturalis und eivilis zwar hat bestehen lassen, aber nicht ihre
Gegensätzlichkeit, wie Carneades wollte, gebilligt, sondern ihre
notwendige Zusammengehörigkeit ‚nachgewiesen hat. Dasselbe
geschieht. auch in_de legibus. Denn wenn daselbst unter der
Voraussetzung, dass das Recht auf.der Natur beruht, bewiesen
wird, dass eben dieses Recht die Götter und Menschen zu einem
grossen Gemeinwesen verbindet, so. ist offenkundig die dadurch
bedingte Gerechtigkeit nur die iustitia naturalis; und wenn als-
‚dann gezeigt ‘wird, dass die Menschen durch diese ihre Natur
verpflichtet sind, diese Gerechtigkeit zu pflegen, so wird dadurch
die naturalis iustitia auch als untrennbar von der eivilis iustitia
gefasst. Damit steht keineswegs im Widerspruch, was wir vor-
hin gezeigt haben, dass hier das Wesen und das Motiv, weswegen
wir Recht üben müssen, dargelegt wird. Denn gerade der Nach-
weis, dass die naturalis iustitia auch. die eivilis ist, umfasst zu-
nächst das Wesen des Rechts und dann auch zugleich die
Verpflichtung zur gegenseitigen Mitteilung desselben. Wir haben
hier also dieselbe Art der Widerlegung des Gegners wie in de
᾿
re public. Dann folgt in der Schrift von den Gesetzen von
Kap. XIV—XVI die Widerlegung der entgegengesetzten Ansicht,
dass die eivilis iustitia lediglich nach den Gesetzen des Vorteils
verfahre, Dieses ist augenscheinlich auch in de re publiea dar-
gelegt worden, weil wir nicht nur dieselben Beweise wieder
finden, sondern sogar wörtliche Übereinstimmungen nachgewiesen
haben. De legibus $$ 44 — 47 führt Cicero schliesslich den
Beweis, dass das Recht in Wirklichkeit auf der Natur beruhe.
Wie derselbe hier die notwendige Ergänzung des ersten Teiles
ist, ebenso muss er auch in de re publica geführt sein, weil er
dort in gleicher Weise notwendig war, da Lälius doch unmöglich
den Beweisen des Gegners nur einfache Behauptungen entgegen-
setzen durfte. Dies wird durch den allgemeinen Grundsatz be-
stätigt, der hier ‚geltend gemacht wird: nihil esse bonum, nisi
quod honestum, nihil malum nisi quod turpe sit. Denn auch in
de legibus wird der Beweis dafür, dass das Recht auf der Natur
beruht, dadurch vermittelt, dass das Gute mit dem honestum
und das Schlechte mit dem turpe identificiert wird.
Noch eine dritte Art der Übereinstimmung zeigt die Zu-
sammengehörigkeit beider Schriften: Sie bekämpfen nämlich auch
beide denselben Gegner, den Carneades. In de re publica liegt
dies offen zu Tage; nicht so in de legibus; doch ist dies auch hier
der Fall. Nachdem er nämlich $ 39 die Epikureer nicht berück-
sichtigen zu wollen erklärt hat, fährt er fort: pertubatricem autem
harum omnium rerum Academiam, hanc ab Arcesila et Carneade
recentem, exoremus ut sileat. nam si invaserit in haec, quae satis
scite nobis instructa et composita videntur, nimias edet ruinas.
quam quidem placare cupio, submovere non audeo. Die neuere
Akademie hätte also wohl das Recht mitzusprechen und würde
auch wohl mitsprechen; aber sie wird gebeten zu schweigen,
damit sie nicht das soeben errichtete schöne Gebäude über den
Haufen stosse. Also den Teil, welchen die Akademie entgegnen
würde, hat Cicero hier ausgelassen und nur die stoische Doktrin
zugleich mit der Entgegnung gegen die akademische hierher ge-
setzt.. So liess er in Wahrheit die Akageras zwar SchwapeEg
aber er berücksichtigte sie.
Derselbe Gegenstand wird also an beiden Stellen behändelid
beide Abhandlungen berücksichtigen denselben Gegner und
stimmen zum Teil wörtlich überein: Der Schluss ergiebt sich von
u 61 =
selbst, dass beide auf dieselbe Quelle zurückgehen. Bei dem
inneren Zusammenhange beider Schriften sowie ihrer zeitlichen
Aufeinanderfolge!) müsste auch das Gegenteil auffallen. In de
rep. III hatte er nämlich die strittige Frage vom Ursprung und
Wesen des Rechts eingehend erörtert; jetzt schrieb er im engsten
Anschlusse an dieses Werk seine Gesetze, wozu er eine allge-
meine Einleitung über den Ursprung des Rechts gebrauchte: Es
war also natürlich, dass er die nahm, welche sich als massgebend
für den Staat herausgestellt hatte, d. i. die des Laelius. In diesem
Zusammenhange begreifen wir auch, warum sich Cicero in de
leg. I für berechtigt hielt seinen Gegner einfach totzuschweigen?).
$ 3. Quelle.
Da es keinem Zweifel unterliegen kann, dass die Quelle,
welche Cicero benutzte, das Werk eines Stoikers®) war, und wir
im vorigen Paragraphen nachgewiesen haben, dass sie die Ein-
wände des Carneades zurückwies, so können nur solche Ver-
treter dieser Schule*) in Betracht kommen, welche nach Car-
') Cieero begann die Ausarbeitung der Bücher de leg. unmittelbar
nach der Vollendung seines Werkes de rep.
2) Dies ist natürlich auch der Grund dafür, dass er in de rep. III genauer
als in de leg. I auf die Einwände des Carneades einging.
3) Dies ist allgemein bekannt und anerkannt. Zuerst wies darauf Tur-
nebus hin in seinem Kommentar und in seiner Apologia ad libr. I Cie. de
legibus. Auf diese Schriften geht wohl die Meinung zurück (Krische, theol.
Lehren 5. 370 ff.), dass Chrysipp der Gewährsmann Cieeros gewesen sei.
Wenn nun Turnebüs zu I 6, 18 auch eine diesbezügliche Bemerkung macht,
so beweist er dies doch nicht näher, sondern zeigt im Gegenteil gleich dar-
auf, dass schon Zeno das Gleiche gelehrt habe. Seine Absicht war über-
haupt nicht auf eine genaue Quellenuntersuchung gerichtet, sondern nur auf
den Nachweis, dass diese Lehre stoisch sei.
4) Hoyer de Antiocho Ascalonita diss. Bonn. 1883 S. 15 ff. sucht Antiochus
als Quelle Ciceros zu erweisen. Er findet nämlich $ 36 ff. Spuren eines
Philosophenverzeichnisses, welches Antiochus nach der Verschiedenheit der
Definitionen des höchsten Gutes aufgestellt hatte. Wohl nicht mit Unrecht
meint er ferner, dass Cicero $ 52 ff. sich auf diese Stelle zurückbeziehe. Da
nun Cicero auch $ 53 ff. eine Lieblingsanschauung des Antiochus, die Gleich-
heit der stoischen und akademischen Lehre, erwähnt, und Attieus deswegen
auf die Übereinstimmung mit Antiochus hinweist, so zieht Hoyer a. a. Ὁ.
den Schluss, dass Antiochus für das ganze Buch die Quelle sei. Dieser
Schluss ist aus zwei Gründen nicht zu halten: 1. Die eitierten Stellen stehen
neades lebten. Durch den Einfluss des Carneades war nun unter
den Stoikern eine Spaltung infolge der verschiedenen Auffassung
von dem was »gerecht« heisst eingetreten!). Unter den beiden
Führern der Schule huldigte Diogenes zu Gunsten des Vorteils
einer viel Jaxeren Moral, Antipater dagegen der alten, strengen.
Antipaters Richtung verfolgte Panätius und unter dessen Schülern
hielt wiederum Hecaton mehr zu Diogenes, Posidonius dagegen
sicher zu Panätius?). Diese. strenge Auffassung herrscht nun
auch in-unseren beiden Schriften; denn als oberster Grundsatz
ausserhalb der Abhandlung über das Recht; soll also Antiochus die Quelle
sein, so muss natürlich zunächst der Nachweis geliefert werden, dass diese
Stellen mit der eigentlichen Abhandlung in innerem und untrennbarem Zu-
sammenhange stehen. Diesen Nachweis hat Hoyer nicht gebracht; denn was
er zu diesem Zwecke sagt, ist nur eine oberflächliche Inhaltsangabe der
philosophischen Abhandlung. Jener Beweis lässt sich aber auch überhaupt
nieht erbringen, da die genannten Nachrichten mit der eigentlichen’ Abhand-
lung in gar keinem Zusammenhange stehen, und in der Abhandlung nicht
der geringste Versuch gemacht wird, .die vorgetragene Lehre als eine den
gedachten Schulen gemeinsame Lehre nachzuweisen. 2. $ 52 entgegnet Ci-
cero auf die Bemerkung des Attieus: vir iste fuit ille quidem prudens et
acutus et in suo genere perfectus ..... cui tamen ego assentiar in omnibus
neene, mox videro. Diese Antwort weist also die Vermutung des Atticus
zurück, dass Cicero sich hier dem Antiochus anschliesse. Damit stimmt die
weitere Ausführung. Acad. post. I 4, 17 ff. handelt Cicero eingehend über
die in Rede stehende Lehre des Antiochus, dass die älteren Akademiker,’
die Peripatetiker und die Stoiker in der Lehre übereinstimmten und nur
in den Worten sich unterschieden. Antiochus findet danach in der Über-
einstimmung dieser Schulen die Wahrheit; Cicero dagegen erkennt daselbst
zwar auch diese Übereinstimmung an, findet in ihr aber nicht die Wahrheit
sondern in dem skeptischen Verhalten des Sokrates und Plato. In de leg.
I 55 ff. setzt nun Cicero in unmittelbarem Anschluss an die vorhin ange-
führte Bemerkung in kurzen Zügen die Übereinstimmung der drei vorhin
genannten Schulen auseinander und meint, um die unbedeutenden Meinungs-
verschiedenheiten derselben zu schlichten, sei es nötig, requiri placere termi-:
nos, quos Socrates pegerit iisque parere. Demnach sieht er hier die
Wahrheit in dem Skeptizismus des Sokrates, steht also nicht auf dem Stand-'
punkte des Antiochus, sondern auf dem entgegengesetzten. Unter keinen.
Umständen kann also Antiochus die Quelle gewesen sein. — Der Stand-
punkt, den Cicero hier einnehmen will, ist der akademische des Philo; dass
aus diesem aber die Abhandlung nicht genommen ist, zeigt diese selbst: das
Verhältnis der $ 52 ff. zu ihr ist rein äusserlich.
') Vgl. Cie. de off. ΠῚ 12, 49 ff. mit de rep. III 19, 29.
2) Οἷς. de off. HI 12, 51 ff.; 15, 63ff.; 23, 89 ff.; hierüber wird später
genauer gehandelt werden.
gilt: nihil bonum nisi quod honestum, und die Trennung des
Nützlichen von dem sittlich Guten wird durchaus verworfen und
als Grund aller Schlechtigkeit angesehen!). Es sind also nur
solche Stoiker zu berücksichtigen, welche der strengen Richtung
folgten. Wer nun von diesen der Autor war, das bestimmt de
rep. III 23, 24 = Augustin de εἶν. D. XXII, 6: Debet enim con-
stituta sie esse civitas, ut aeterna sit: itaque nullus interitus est
rei publicae naturalis, ut hominis, in quo mors non modo ne-
cessaria est, verum etiam optanda persaepe; civitas autem cum
tollitur, deletur, exstinguitur, simile est quodammodo, ut parva
magnis conferamus, ac si omnis hie mundus intereat et concidat.
Diesem Vergleiche liegt die Annahme der Ewigkeit der Welt zu
Grunde; und dass diese Auffassung nicht etwa auf unerlaubter
“Deutung beruht, beweisen die unmittelbar folgenden Worte
Augustins a. a. O.: Hoc ideo dixit Cicero, quia mundum non
interiturum cum Platonicis sentit. Diese Lehre wurde nun über-
haupt nur von drei Stoikern. vertreten, von Diogenes, der in
seinem späteren Alter an der Ekpyrosis etwas irre wurde, von
Boethus und Panätius?). Diogenes kann nach dem, was wir
vorhin von ihm gesagt haben, natürlich nicht: mehr berück-
sichtigt werden; ebenso. wenig Boethus, da nach Ciceros An-
gabe?) nur Diogenes und Panätius über diese Gegenstände in
der Weise geschrieben hatten, wie Cicero es hier thut: Es bleibt
somit Panätius allein als Quelle übrig. Dies Resultat wird durch
eine weitere Stelle noch mehr bestätigt. De leg. I 11, 31 lesen
wir: nam et voluptate capiuntur omnes, quae etsi est illecebra
turpitudinis, tamen habet quiddam simile naturali bono. So lehrte
kein strenger Stoiker vor Panätius, und auch nachher ist diese
Ansicht nur von wenigen Anhängern dieser Schule vertreten
worden; Panätius dagegen war gerade derjenige, welcher diese
Milderung einführte, wie wir später sehen werden. Auch stimmt
hierzu trefflich, dass wir von einer streng stoischen Schulsprache
keine Andeutung finden, wohl aber das Gegenteil, wie schon die
oben angeführte Stelle’ zeigt‘).
1) Cie. de rep. III 26, 38. de leg. I 12, 33.
2) Ps. Philo de incorr. mundi ce. 15 p. 248 Bern.
3) De legg. III 6, 14.
*) Offenbar ist Be bonum (ἀγαϑόν) im weiteren Sinne gebraucht, als
es bei den strengen Stoikern üblich war; vgl. hierzu Hirzel Unters. II S. 265 ff.
a 64 τς
Kap. ὃ.
Cicero de republica I—II.
8 1. Die Staatslehre des Polybius. .
Über die Entwickelung des Menschengeschlechts sowie die
Entstehung der Staaten und ihre Veränderungen hat Polybius im
sechsten Buche seiner Geschichte gehandelt und dementsprechend
auch über den Wert und die Bedeutung des römischen Staates
sein Urteil abgegeben. Nun hat Hirzel!) bereits dargethan, dass
Polybius im allgemeinen ein Stoiker von der Richtung des Pa-
nätius gewesen ist. Diese Erwägung führt ihn auch zu der An-
nahme, dass Polybius VI c. 3—10, wo jene Theorie des Staats-
wesens vorliegt, auf stoischen Einfluss und demnach auf Panätius
zurückgehe; jedoch hat er diese Ansicht nicht näher begründet.
Das Gleiche hat unabhängig von Hirzel auch P. Voigt erkannt;
da er aber seinen Beweis nicht veröffentlicht hat und das Nach-
folgende dies verlangt, so müssen wir denselben kurz antreten?).
Dass nicht Dicaearch, wie zuvor geglaubt wurde, für Poly-
bius der Urheber jener Ansicht war, beweist Voigt mit Recht
aus dem Widerspruch, welcher zwischen dieser Theorie und der
denselben Gegenstand betreffenden Dicaearchs stattfindet. Dieser
lehrte bekanntlich), dass der Urzustand des Menschen glückselig
gewesen sei, da sie ohne Kummer und Mühe von den frei
wachsenden Erzeugnissen der Erde gelebt hätten. Polybius da-
gegen meint (c. 5, 4), dass die Menschen nach einer jener grossen
Katastrophen, welche das Menschengeschlecht fast gänzlich ver-
nichteten, ein elendes und tierähnliches Leben führten ohne alle
1) Untersuchungen zu Ciceros philos. Schriften II Ex. 7.
5) Sorani Ephesii lib. de etym. corp. hum. diss. Gryphisv. 1882, These III.
Der Verfasser hat mir bereitwilligst seine Gründe mitgeteilt; ich werde
dieselben jedesmal als die seinigen kennzeichnen. Vgl. auch v. Scala die
Studien des Polybius I S. 102 ff., 222 ff., siehe dazu S.2A.1. Das folgende
Kapitel, das älteste der vorliegenden Arbeit, war bereits längere Zeit vor dem
Erscheinen von v. Sealas Buch niedergeschrieben. Auf diesem und dem mit
ihm zusammenhängenden Abschnitte T. IIIA. Kap. 4 beruht Susemihls An-
merk. in seiner Ausgabe der Aristotelischen Oeeonomik 1887 p. IX A. 16.
°) Porphyr. π. ἀπ. ἐμψ. IV 1; Väarro RR. II 1, 4.
Hilfsmittel und Künste. Dass sich beide Anschauungen wider-
sprechen, ist klar. Ebenso hat Voigt den allgemein stoischen
Charakter dieser Stelle richtig erkannt; da dieser aber durch
Hirzel!) bereits genügend klar gelegt ist, so ist es unnötig, es hier
noch einmal zu thun. Auf Eines sei hier noch hingewiesen! Wenn
Hirzel (a. a. OÖ. 5. 854) sagt: »Der Gedanke, alle Sittlichkeit in
ihren Ursprüngen auf das doppelte Streben nach Vorteil und
nach Ehre zurückzuführen, war demnach auch den Stoikern
nicht fremd, wenn derselbe auch in keiner der erhaltenen Dar-
stellungen mit solcher Entschiedenheit wie von Polybius aus-
gesprochen werden sollte«, so ist das Letztere nicht mehr zu
halten, nachdem wir gezeigt haben, dass gerade Panätius in dem
wahren Ruhme und dem Vorteile die berechtigten Grundsätze
alles Handelns erkannte. Um so mehr also sind wir gezwungen,
unter diesen Umständen die Quelle dieser Lehre des Polybius in
Panätius zu erkennen.
Noch zwei weitere 'Thatsachen bestätigen dies. Von den
hier in Betracht kommenden Stoikern lehrte jedenfalls Panätius
allein, dass die Welt ewig sei. Diese Annahme liegt auch bei
Polybius vor (c. 5, 4—6), da hier nach platonisch-peripatetischer
Anschauung die Möglichkeit der ewigen Dauer der Welt trotz
der Vermehrung des Menschengeschlechts vorgetragen wird, wie
wir soeben gehört haben. Auch in der Schilderung der Lebens-
weise der Menschen nach einer solchen Katastrophe stimmt
Polybius mit Panätius überein, wie wir später zu sehen Gelegen-
heit haben werden. Ferner schreibt Cie. de off. II 4,15 nach
Panätius: urbes vero sine hominum coetu non potuissent nec
aedificari nec frequentari, ex quo leges moresque constituti etsq.
Die Ethik (leges moresque) hat sich also erst durch den Verkehr
der Menschen und zwar namentlich infolge der festen. Ansiede-
lung entwickelt. Wie die einzelnen Begriffe des Sittlichen und
des Guten dabei entstanden sind, erfahren wir nicht; jedoch
dürfen wir annehmen, dass Panätius auch dies dargelegt hat’).
Dasselbe finden wir in ganz ähnlicher Weise und in demselben
Zusammenhange bei Polybius wieder. Denn auch er führt die
20a. 2.:0, S.-853 f., 870.
3) Cicero kürzt hier das Original; vgl. auch z. B. den Ursprung des Be-
griffs „Ordnung“ de off. I 4, 14.
Schmekel, mittlere Stoa, 5
RE re
Entwickelung der ethischen Begriffe (ϑεωρία αἰσχροῦ καὶ καλοῦ)
auf den erst wieder erstarkenden Umgang der Menschen zurück
und lässt ebenfalls damit den Zustand des tiergleichen Umher-
schweifens sich in das regelrechte Königtum verwandeln').
Hierzu tritt schliesslich noch ein Beweis von Voigt, nämlich
die grosse Übereinstimmung der folgenden Stellen:
Polvb.V1,6, ὃ:
Τοῦ γὰρ γένους τῶν ἀνϑρώ-
πων ταύτῃ διαφέροντος τῶν
ἄλλων ζῴων, 1 μόνοις αὐτοῖς
μέτεστι νοῦ καὶ λογισμοῦ, φα-
ψερὸν ὡς οὐκ εἰχὸς παρατρέχειν
αὐτοὺς τὴν προειρημένην δια-
φοράν, χαϑάπερ ἐπὶ τῶν ἄλλων
ζῴων, ἀλλ᾽ ἐπισημαίνεσθαι τὸ
γιγνόμενον καὶ δυσαρετεῖσθϑαν
τοῖς παροῦσι προορωμένοις τὸ
μέλλον καὶ συλλογιζομένους, ὅτι
Cie.. de :ofi. 1.4. 14:
Inter hominem et beluam hoc
maxime interest, quod haec tan-
tum, quantum sensu movetur
... homo autem, quod rationis
est particeps, per quam conse-
quentia cernit, causas rerum vi-
det earumque praegressus et
quasi antecessiones non ignorat,
similitudines comparat rebusque
praesentibus adiungit atque ad-
nectit futuras?) οἶδα:
τὸ παραπλήσιον ἕχάστοις αὐτῶν
συγκυρήσει.
Diese Stelle des Polybius ist aus der Entwickelung heraus-
genommen, über die wir vorhin gesprochen haben. Die Lehre
des Polybius deckt sich also unbestreitbar mit der des Panätius.
Da nun die bis jetzt vorgetragenen Lehren bei Polybius nach
vorwärts und rückwärts mit dem Wechsel der Staatsformen so
eng zusammengehören, dass die ganze Stelle, Kap. 3—10, nicht
zerrissen werden kann, weil die in jenen Stellen niedergelegten
Lehren den allgemeinen Grund für den Wechsel der Staatsformen
enthalten, so dürfen wir mit vollem Rechte schliessen, dass die
politische Theorie des Polybius durch Panätius’ Einfluss bedingt
ist. Wir werden hierauf noch später zurückkommen.
1), 56,19,:108.:6, 9.
5) Freilich wenn Klohe unbedingt mit seiner Ansicht Reeht hätte (siehe
S.30 A. 2), würde dieser Beweis seine Kraft verlieren. Da wir aber gesehen
haben, dass dies nicht der Fall ist, so kann diese Übereinstimmung immer
noch als Beweis gelten und zum Teil noch umgekehrt dafür zeugen, dass
Klohes Ansicht beschränkt werden muss.
ΞΘ τ 5.5
$ 2. Cicero de republica I—II.
Komposition und Quelle,
Nachdem Cicero das vielfach auch von Plato erörterte Be-
denken, ob es geraten sei sich an der Staatsverwaltung zu be-
teiligen, in den ersten Kapiteln des ersten Buches de rep. ein-
gehend zurückgewiesen hat, wendet er sich zu seinem Gegen-
stande selbst, entwickelt ihn jedoch nicht dogmatisch, sondern
kleidet ihn in die Form eines Gespräches, dessen Führer im Hause
des jüngeren Scipio zusammen kommen. Als Hauptredner treten
in den erhaltenen Teilen namentlich Seipio, Laelius und Furius
_Philus auf; um sie schart sich eine Reihe jüngerer Zuhörer.
Während sich diese allmählich einfinden, bildet auf Tuberos An-
regung den Gegenstand ihrer Unterhaltung eine Tagesneuigkeit:
Die Möglichkeit und Bedeutung des einige Tage vorher sichtbar
gewesenen Phäriomens einer Doppelsonne Scipio bedauert
darüber nicht genügend unterrichtet zu sein und beruft sich für
sein Mistrauen gegen die Erkenntnis derartiger Dinge auf Sokrates.
Auch Laelius, der gleich darauf eintritt, äussert sich in demselben
Sinne und fragt, ob sich die Freunde denn schon genügend mit
dem Staats- und Hauswesen beschäftigt hätten, um derlei Dinge
zu erörtern. Hierauf nimmt Tubero das von Laelius angeregte
Thema auf und schlägt vor, dem Scipio als dem ersten Staats-
manne den Vortrag über den besten Zustand des Staates zu
übertragen (I 10, 33). Infolge der allgemeinen Billigung dieses
Vorschlages willfahrt Scipio ohne viele Umschweife und beginnt
seinen Vortrag nach einigen Bemerkungen mit der Definition des
Begriffs »Staat«e ($ 39). Dann spricht er über Entstehung und
Zweck desselben, hierauf über die Staatsverfassungen, ihre Vor-
züge, Nachteile und Wechsel — Erörterungen, die zu dem Er-
gebnis führen, dass die beste Verfassung aus Königtum, Aristo-
kratie und Demokratie gemischt sein müsse, und dass der
römische Staat dieses Ideal verwirkliche.
Zunächst haben wir hier zu untersuchen, welcher Philosophen-
schule dieses System angehört. Laktanz stellt Cicero diesbe-
züglich mit den Häuptern der Stoa zusammen und trennt diese
von den übrigen Schulen'). Daraus dürfen wir schliessen, dass
1) Epit. ec. 4 = de rep. I 36, HT.
5"
|
en
Rn
|
sich Cieero wie überhaupt in der praktischen Philosophie so auch
hier der stoischen Schule angeschlossen hat. Mehr aber wie die
Angabe des Laktanz beweist der Umstand, dass wir in diesem
Kreise nur Stoiker treffen. Seipio selbst ist zwar nicht Philosoph
von Fach, doch durchaus nicht Gegner der Stoa; die Jüngeren
Personen aber und die übrigen Wortführer bekennen sich durch-
weg zu ihr. Von Laelius und Tubero ist dies anderweitig be-
kannt; von Furius lernen wir es hier. Denn er verwahrt sich
nicht allein dagegen, seine Meinung zu vertreten, wenn er den
stoischen Satz, dass das Recht von Natur sei, bestreite, und be-
tont deswegen seine Übereinstimmung mit den Mitunterrednern,
die ihn verteidigen, sondern er erinnert auch den Laelius auf
seine tadelnde Abweisung des anfänglichen Gespräches daran,
dass die ganze Welt ein den Göttern und Menschen gemeinsamer
Staat sei, also die Vorgänge in ihr notwendig unsere Beachtung
verlangten. Diese Äusserung charakterisiert sowohl den Redner!)
zur Genüge, als auch lässt sie die ganze Anschauungsweise vom
Staatswesen stoisch erscheinen. Vor allen Dingen aber zeigt dies
der Zusammenhang mit dem dritten Buche. Schon die Definition,
welche Seipio vom Staate giebt (c. 25, 39), noch mehr aber die
ganze Darstellung, stützt sich auf die im dritten Buche bewiesene
Lehre, dass der Staat mit der höchsten Gerechtigkeit verwaltet
werden müsse, wenn anders er bestehen solle. Und ganz offen
ist diese Zusammengehörigkeit am Schlusse des zweiten Buches
in der Angabe ausgesprochen, dass das erste Buch das dritte
notwendig fordere?). Da nun das dritte Buch stoische Lehre
enthält, so ist es unzweifelhaft, dass auch dieser Teil des-Werkes
auf stoischer Anschauung beruht.
Cicero führt uns aber noch genauer auf seine Quelle. Nach-
dem er die Gesetze für die Magistratur entworfen hat, fährt er fort
(de legg. II 5, 18): locum istum totum, ut a doctissimis Graeciae
1) Dass er daneben eine Neigung zur Akademie verrät (III 5, 8), streitet
nicht dagegen, da sich die beiden Standpunkte, wie bei Cicero, auch bei
ihm leicht verbinden konnten.
52) II 44, 70: tum Scipio: adsentior vero renuntioque vobis nihil esse,
quod adhue de re publica dietum putemus aut quo possimus longius pro-
gredi, nisi erit confirmatum non modo falsum illud esse, sine’ iniuria non
posse, sed hoc verissimum esse, sine summa iustitia rem publicam geri nullo
modo posse.
Bra, ἘΞ
quaesitum et disputatum est, explicabo . . atqui pleraque sunt
dieta in illis libris, cum de optima re publica quaereretur, sed
huius loci sunt propria quaedam a Theophrasto primum, deinde
a Dio(ge)ne!) Stoico quaesita subtilius. Att. Ain tandem? etiam
a.Stoicis ἡδέα tractata sunt? M. Non sane nisi ab eo, quem modo
nominavi, et postea a magno homine et imprimis erudito, Panaetio,
nam veteres verbo tenus acute illi quidem, sed non ad hune
usum popularem atque civilem de re publica disserebant. Die
andern Philosophen, die noch als Verfasser politischer Schriften
aufgezählt werden, können wir übergehen, da hier, wie wir ge-
sehen haben, nur die Stoiker in Betracht kommen. Den älteren
Vertretern dieser Schule werden nun Diogenes und Panätius
deswegen gegenüber gestellt, weil sie nicht wie jene nur schul-
mässig, sondern im Anschluss an die Wirklichkeit und für die
Wirklichkeit geschrieben hatten. Sie beide werden daher auch
nur als die einzigen bezeichnet, welche derartige politische
Schriften wie Cicero (in hunc usum popularem) veröffentlicht
hatten. Es bleibt daher nur zu untersuchen, wer von diesen
beiden ihm die Vorlage geliefert hat.
Zum Verständnis der Gesetze, sagt Cicero an der angeführten
Stelle, sei zweierlei notwendig: das Allgemeine und das Be-
sondere. Das Allgemeine sei in der Staatslehre besprochen, sed
huius loci sunt propria quaedam a Theophrasto primum, deinde
a Diogene Stoico quaesita subtilius. Aus diesen Worten geht
mit Gewissheit hervor, dass in der Schrift von den Gesetzen nur
diese propria quaedam berücksichtigt und jedenfalls mit Be-
nutzung des Diogenes von Cicero gearbeitet sind. Darauf folgt
die Frage des Atticus: etiam a Stoieis östa tractata sunt? Worauf
bezieht sich dies ista? Nur auf propria quaedam? Das ist un-
möglich, wie die nachfolgenden Worte beweisen: nam veteres ..
non ad hune usum popularem atque eivilem de re publica disse-
rebant. Denn diese zeigen, dass ista allgemein gefasst und auf
politische Schriftstellerei überhaupt bezogen werden muss, unter
ἢ An dieser Stelle ist handschriftlich Dione überliefert, wofür schon
Turnebus Diogene eingesetzt hat. An den index Here. col. 78 erwähnten
Dio kann hier schon aus rein chronologischen Gründen nicht gedacht wer-
den. Übrigens beruht auch hier der Name nur auf Comparettis Ergänzung,
die höchst wahrscheinlich falsch ist. Denn wahrscheinlich ist nicht (4)or,
sondern ζθέδων zu lesen; vgl. Zeller Philos. d. Gr. ΠΙᾺ, S. 586 ff.
die auch jene Schrift des Diogenes fällt. Da aber an dieser
zweiten Stelle nur allgemein von der politischen Schriftstellerei
dieser beiden Männer gesprochen wird, so sind wir nicht im-
stande zu entscheiden, ob Diogenes neben diesen propria quaedam
auch noch andere Schriften herausgegeben hat. So viel nur
müssen wir daraus schliessen, dass Panätius sich nicht wie
Diogenes auf Einzelheiten der Magistraturen eingelassen hatte.
Die Nachträge zu seiner Staatslehre fügte also Cicero in den
Gesetzen aus Diogenes hinzu. Es ist darnach zwar nicht not-
wendig, doch aber höchst wahrscheinlich, dass er in seinen
Büchern vom Staate eine andere Vorlage als die Schrift des
Diogenes hatte, in der diese propria quaedam standen, also ent-
weder eine andere Schrift des Diogenes oder, was viel wahr-
scheinlicher ist, eine solche des Panätius. Für letzteren spricht
zunächst das grosse Lob, mit welchem Cicero ihn im Gegensatz
zu Diogenes an dieser Stelle auszeichnet!). Gegen Diogenes und
für Panätius spricht ferner die Zusammengehörigkeit des ersten
und dritten Buches. Denn da .der Abriss der römischen Ge-
schichte im zweiten Buche den Gang der philosophischen Ent-
wickelung offenbar unterbricht und das dritte Buch im inneren
Zusammenhange mit dem ersten steht, so ist es wenig wahr-
scheinlich, dass im ersten Buche eine andere Quelle als im dritten
vorliegt. Im dritten ist aber Panätius benützt: Also dürfen wir
das Gleiche auch für das erste Buch annehmen. Dieses beweist
ferner auch das erste Buch der Staatslehre selbst. In der Ein-
leitung desselben wird, wie wir vorhin schon hörten, der Zu-
sammenhang zwischen der Welt und dem Staate betont und
daraus gefolgert, dass wir auch über die Himmelsphänomene
') Während er den Diogenes nur einfach nennt, schreibt er: a magno
homine et imprimis erudito, Panaetio. Übrigens würde sich die Frage nach
der Schriftstellerei des Diogenes leichter entscheiden lassen, wenn die Be-
ziehung, in die er hier mit Theophrast gesetzt ist, streng genommen werden
dürfte. Von Theophrast sagt nämlich Cicero de fin. V 4, 11, dass er zu den
Werken des Aristoteles Untersuchungen über die Gesetze und Einzelheiten
des Staatslebens hinzugefügt habe. Da die propria quaedam des Diogenes
sich, wie aus dem obigen Zusammenhange hervorgeht, auf dasselbe beziehen,
so würde, wenn die Parallele zwischen Diogenes und Theophrast vollständig
wäre, die obige Frage dahin entschieden sein, dass er nur auf einzelne Fra-
gen des politischen Lebens eingegangen sei. Damit wäre gleichzeitig ent-
schieden, dass er nicht die Quelle für Cie. de rep. gewesen sein könnte.
83
ἢ
gleich als Erscheinungen in unserem Vaterlande nachdenken
müssten. Derjenige nun, dessen Hilfe sich Scipio dem hierüber
anfragenden 'Tubero gegenüber wünscht, ist Panätius ($ 15).
Nachher wieder wird dem Secipio der Vortrag über den besten
Staat mit der Begründung übertragen: persaepe te cum Panaetio
disserere solitum coram Polybio, duobus Graeeis vel peritissimis
rerum civilium, multaque conligere ac docere, optimum longe
statum civitatis esse eum, quem maiores nostri nobis reliquissent
(ce. 21,34). Solche Disputationen sind nun gerade diejenigen, welche
im ersten und zweiten Buche von Ciceros Staatslehre vor uns
liegen. Es ist demnach schon selbstverständlich, dass die vor-
liegenden Erörterungen nur von Panätius genommen sein können.
Noch eine weitere Thatsache spricht hierfür. Die Erörterung
über die Bestimmung des Wertes der Einzelverfassungen beginnt
Scipio mit der über! das Königtum. Seine Äusserung, Arats
Wahlspruch ‘Ex δὶος ἀρχώμεσϑα᾽ damit befolgen zu wollen, ruft
die Gegenrede des Laelius hervor, worauf Scipio seinen religiösen
Standpunkt entwickelt. Er unterscheidet!) drei Quellen für die
Religion: Die Gesetze der Fürsten, den Irrtum unwissender Dichter
und die Forschung der Philosophen, die jedenfalls die beste und
die richtigste ist. Diese Anschauung ist bekanntlich die des
Panätius?). Die beiden Gründe jedoch, welche dies Ergebnis über
allen Zweifel erheben, sind die Lehre, die hier vertreten wird, und
die Übereinstimmung Ciceros mit anderweitig erhaltenen Lehren
des Panätius und mit Polybius. Was zunächst die Lehre im
allgemeinen betrifft, so haben wir schon früher darauf hin-
gewiesen, dass Diogenes im wesentlichen derselben Auffassung
vom Wesen der Gerechtigkeit huldigte, die hier im dritten Buche
bekämpft wird. Nun wird aber die Staatslehre ausdrücklich auf
die entgegengesetzte Auffasung basiert: Also kann er nicht die
Quelle für dieselbe sein. Da nun aber überhaupt nur Diogenes
und Panätius zur Wahl stehen, so folgt, dass Panätius die Quelle
gewesen ist.
1) e, 36, ὅθ: sive haec ad utilitatem vitae constituta sunt a prineipibus
rerum publicarum .... sive haec in errore imperitorum posita esse et fabu-
larum similia didieimus, audiamus communis quasi doctores eruditorum
hominum .... qui natura omnium rerum pervestiganda senserunt etsq.
2) Wir werden hierauf später zurückkommen; vgl. Zeller, Philos. d. Gr.
IIIa S. 566, 4 ff.
Zu demselben Resultate führt uns schliesslich auch der letzte
Grund, den wir vorhin genannt haben; wir haben diesen genauer
darzulegen. Die Entwickelung der Staatslehre Ciceros im ersten
Buche zerfällt in drei Teile: 1. Über den Ursprung und das
Wesen des Staates; 2. über die Staatsformen, ihre Vor- und
Nachteile; 3. über die Abwandlung der Staatsformen. Dieser
Einteilung gemäss behandeln wir zuerst den Ursprung und das
Wesen des Staates. |
Scipio weist es am Anfange ($ 38) zurück seinen Vortrag
mit der Ehe zu beginnen und aus ihr als der Grundlage den
Staat abzuleiten; er beginnt ihn alsbald mit der Definition des
Begriffs Staat. Wenn er demnach den Anfang des Staates von
der Familie herzuleiten unterlassen hat, so muss er doch von
einem anderen, nämlich vom Anfange des Menschengeschlechts
ausgegangen sein und seinen Fortschritt zur Staatenbildung dar-
gelegt haben. Dies erkennen wir aus Laktanz!), welcher nach
Cicero berichtet, dass über die Gründung der Staaten zwei ver-
schiedene Ansichten vorlägen, die Epikureische und die stoische,
und gleichzeitig beide kurz erzählt. Und dass Scipio wirklich so an-
gefangen hat, beweisen die Worte Ciceros bei Augustin): brevi
multituto dispersa atque vaga concordia civitas facta erat; denn
in diesen wird ein Urzustand vorausgesetzt, in dem die Menschen
noch nicht eine Staatsgemeinde bildeten. Fragen wir jetzt nach
dem Grunde der Staatenbildung, so giebt Cicero die klare Ant-
wort,. dass der Trieb dazu in der Natur des: Menschen liege
($ 359ff.). Ist nun aber auch die Grundbedingung alles staat-
lichen Lebens der in der Vernunft liegende Geselligkeitstrieb, so
bildete doch die unmittelbare Veranlassung zur Gründung des-
selben die menschliche Schwäche und die dadurch bedingte
Sorge um .die Sicherheit von Gut und Blut. Darum verliessen
die Menschen jenes ursprüngliche nomadenhafte Leben und
sründeten feste Städte®). So entstand also ein Volk: populus
autem non omnis hominum coetus [est] quoquo modo congre-
1) instit. div. VI, 10=Cic. de rep. I 25, 40.
5) epist. 138 — Cie, de rep. I 25, 40.
°) 1 26, 41; 25, 39: prima causa coöundi est non tam imbecillitas quam
naturalis quaedam hominum quasi congregatio. Hier wird die imbeeillitas
als Grund gewiss nicht geleugnet, sondern nur als Hauptursache zurück-
gewiesen.
d
gatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis com-
munione sociatus ($ 39 — 41).
- Vergleichen wir jetzt diese Lehre mit der des Panätius bei
Cicero. de off. und mit der des Polybius VI 3—10! Über den
Ursprung und die Bedingung des Staatslebens schreibt Cie. de
off. 14, 12, nachdem er den Zusammenhang und den Unterschied
zwischen Menschen und Tieren dargelegt hat: eademque natura vi
rationis hominem concıiliat homini et ad orationis et ad vitae societatem
impellitque ut hominum coetus et celebrationes et esse et a se obiri
velit. Ebendasselbe folgt auch aus den Erörterungen des Panä-
tius über den Ursprung des Rechts, die wir im vorigen Kapitel
berichtet haben. Ebenso finden wir dieselbe Veranlassung zur
Gründung des Staates bei ihm wieder, die wir oben hörten,
de off. II 21, 73: hanc enim ob causam maxime, ut sua tene-
rentur, res publicae eivitatesque eonstitutae sunt; nam etsö duce
natura congregabantur homines, tamen spe custodiae rerum suarum
urbium praesidia quaerebant. Die Folge der Städtegründung
haben wir de off. II 4, 15: urbes vero sine hominum coetu non
potuissent nec aedificari nec frequentari, ex quo leges moresque
constituti, tum iuris aequa discriptio certaque vivendi disciplina.
Dementsprechend finden wir schliesslich auch ausgeführt, dass
die Menschen dem anfänglich rechtlosen Zustande dadurch ein
Ende machten, dass sie sich Könige wählten‘). Die Überein-
stimmungen sind so wesentlich, wie sie nur gewünscht werden
können.
Zum Teil noch grösser ist die Übereinstimmung mit Poly-
bius: Nachdem die Menschen durch grosse Erdrevolutionen fast
vernichtet worden sind, so führt er aus, schweifen die wenigen
anfangs umher; sich vermehrend vereinigen sie sich. Doch
ist dies Zusammenleben nicht ein blosses Heerdenleben wie
bei den Tieren; denn so ähnlich es auch immerhin ist, so
findet doch eine durchschlagende Verschiedenheit statt, deren
Grund der nur den Menschen zukommende νοῦς καὶ λογιςμός ist
(e. 6, 4). Die Bedingung für den gegenseitigen Verkehr liegt
also auch nach ihm in der Vernunft. Ebenfalls gilt auch ihm
die physische Schwäche als die unmittelbare Veranlassung zur
er “
1) de off. II 12, 41m.; die Geschichte der Meder und der Wahl ihres
Königs Deioces lieferten dazu ein sehr passendes Beispiel (Herod. I %).
a a
Vereinigung derselben (c. 5, 7). Dass in der weiteren Entwicke-
lung zur gesetzlichen Herrschaft des Königtums im Polybius
derselbe Fortschritt stattfindet, haben wir vorhin schon aus-
einandergesetzt!). Am klarsten aber sehen wir. die Überein-
stimmung, wenn wir Ciceros Definition von populus mit der
vergleichen, welche Polybius entwickelt?): Das Volk ist ein
Verein von Menschen, σύστημα ἀνϑρώπων; nicht aber jeder be-
liebige Verein, sondern nur der, in welchem die Begriffe von
Recht und Sittlichkeit, bezw. von deren Gegenteile vorhanden sind.
Denn das Königtum, also die erste Verfassung, tritt erst dann in
die Wirklichkeit ein, wenn jene entstehen (c. 5, 10). Da nun
ferner die unmittelbare Veranlassung zur Vereinigung die ἀσϑένεια
τῆς φύσεως ist, so bietet in Wahrheit Polybius denselben Begriff,
den Cicero an die Spitze stellt: populus est .. coetus multi-
tudinis — iuris consensu — et utilitatis communione — sociatus.
Gewiss werden nun auch die Stichwörter Ciceros nicht willkür-
lich sein. Solche lesen wir hier zwei: coetus hominum oder
multitudinis und congregatus bezw. congregatio. Denn coetus
hominum ist die getreue Übersetzung von σύστημα ἀνθρώπων,
und der Vergleich mit der Heerde wird von Polybius (c. 5, 7)
weit ausgeführt. |
Wir kommen zum zweiten Teile, zur Lehre von den Staats-
formen. Dieser zerfällt in zwei Abschnitte, von denen der erste
die Zahl der Verfassungen, der zweite den Wert derselben be-
spricht. Cicero unterscheidet im ganzen sechs Verfassungsformen:
Königtum, Aristokratie, Demokratie, Tyrannis, Oligarchie und
Ochlokratie?). Von diesen ist das Königtum die beste‘), die
Tyrannis die schlechteste’). Dem Königtum am nächsten steht
die Aristokratie; denn von den drei guten Verfassungen ist die
Demokratie jedenfalls die schlechteste ($ 42). Von den beiden
noch übrigen erscheint die Oligarchie erträglicher, wie die aus
1) Vgl. ἃ. vorig. $; Polyb. e. 6, 4 ff.; 10 ff. |
5) Die Entwickelung hat Cicero offenbar auch gegeben, da ihre Reste
noch erhalten sind; ihr Resultat aber hat er nach Art der Stoa an die Spitze
gestellt, was Polybius zu thun unterlassen hat.
5) Diese bezeichnet Cicero mit turba et confusio (vgl. $ 69) oder um-
schreibt ihren Namen.
*) 135, 54—40, 63; 45, 69.
5) I 42, 65; 44, 68; II 23, 43; 26, 47—48.
ἢ
Ἶ
που τῆς ΕΞ
Plato 'herübergenommene Schilderung der Pöbelherrschaft zeigt
(88 65—68). Der Teil nämlich, in dem wir die nähere Bestim-
mung hierüber erwarten ($ 44 ff.), ist verloren gegangen. Keine
dieser Verfassungen ist jedoch an sich gut; denn eine solche ist
nur diejenige, welche aus den drei guten gemischt ist, weil diese
allein die Fehler, die den einzelnen anhaften, jedesmal durch die
anderen Verfassungsmomente korrigiert ($ 69) und dadurch einem
Verfassungssturz und der Verschlechterung vorbeugt. Eine solche
ist die römische Verfassung, wie im zweiten Buche näher dar-
gethan wird.
Die gleichen sechs Arten der Verfassung hat auch Polybius,
und in gleicher Weise hält auch er die aus den drei guten ge-
mischte Verfassung für die beste (c. 3, 7). Dass nach ihm die
römische Verfassung eine solche ist, ist zu bekannt, als dass es
noch besonders hervorgehoben werden müsste. Um dieses zu
erweisen, schaltet er ja gerade diese Abhandlung über Politik in
sein Geschichtswerk ein. Über den Wert der Einzelverfassungen
verbreitet sich: Polybius nicht.
Wir wenden uns daher zum dritten Teile, zur Lehre von
der Abwandlung der Staatsverfassungen. Doch ehe wir näher
auf diesen eingehen, wird es dienlich sein, ein Stemma der Ver-
fassungen des Polybius und Cicero aufzustellen, um die Ent-
wickelung beider kurz vor Augen zu haben:
Cicero Polybius.
[monarchus] μοναρχία
ΤῸΧ βασιλεία
| |
tyrannus τυραννίς
|
prineipes democratia hing
ολιγαρχία
ochlocratia ΜῊΝ
δημοκρατία
tyrannis j
ὀχλοχρατία
ΝΡ το |
factio prineipes factio τυραννίς
Klar und einfach entwickelt Polybius den Wechsel der Staals-
formen zweimal, einmal kurz und einmal ausführlich (e.4, 7 ff. 5,4ff.).
Aus jenem Zustande, in dem der Stärkste der Herrscher ist (uwovag-
xie)'), entsteht das Königtum, sobald Recht und Gerechtigkeit die
leitenden Grundsätze werden. Dieses geht infolge des Übermuts
der königlichen Nachkommen in die συμφυὴς κακία die Tyrannis
über, welche durch die Aristokratie gestürzt wird. Letztere ver-
wandelt sich wieder naturgemäss in die Oligarchie. Diese wird
vom Volke vertrieben und so entsteht die Demokratie. Doch
bald artet diese zur Ochlokratie aus, in der sich ein beherzter
und schlauer Mann zum Alleinherrscher, zum Tyrannen, auf-
schwingt und so den Kreislauf der Verfassungen wieder beginnt. '
Gehen wir jetzt zu Cicero über, so ist zunächst die Be-
merkung vorauszuschicken, dass auch er diesen Gegenstand zwei-
mal behandelt, einmal nur kurz andeutend c. 29, 45, nachher aus-
führlicher c. 42,65 ff. Überblicken wir nun seine Darstellung, so '
finden wir alles Mögliche, nur nicht eine so regelmässige Abfolge
der Verfassungen, wie bei Polybius. Gleichwohl will auch er
eine solche liefern, denn er sagt $ 45 ausdrücklich: mir: sumt
orbes et quasi circumitus in rebus publicis commutationum et
vicıssitudinum; und $ 65 leitet er diese Erörterung mit den
Worten ein: accuratius mihi dicendum est de commutationibus
rerum publicarum. Und dass er den hier angekündigten Kreis-
lauf dargelegt haben will, zeigt er auch am Schlusse dieser '
Partie an ($ 68): sic tamquam pilam rapiunt inter se rei publicae
statum tyranni ab regibus, ab 115 autem principes aut populi, ἃ ἡ
quibus aut factiones aut tyranni .. nec diutius unquam tenetur
idem rei publicae modus. Sehen wir also näher zu, wie sich '
derselbe bei ihm gestaltet. Auf den Urzustand folgt, wenn wir
diesen hinzunehmen wollen, das Königtum; der König aber wird
zum Tyrannen, sobald er gut und gerecht zu sein aufhört und
sich der Schlechtigkeit zuwendet. Natürlich ist dies nicht gleich Ὁ
beim ersten der Fall, sondern bei seinen späteren Nachfolgern. '
') So bezeichnet Polybius e. 5, 9 diesen Zustand, später nennt er auch
den Tyrannen μόναρχος und die Tyrannis μοναρχία, doch geht die Bedeutung !
des Wortes stets aus dem Zusammenhange hervor. Bei Cicero finden wir
in de rep. von dieser Herrschaft nichts und zwar offenbar deswegen, weil
der ganze Bericht hierüber verloren ist. Dass er, bezw. Panätius diese ge-
habt hat, dürfen wir mit vollem Recht aus de off. II 12, 41; 4, 15 schliessen. '
Vgl. auch S. 73.
δ Te a Ze
ἢ
Den Tyrannen vertreiben entweder die principes oder das Volk,
d. h. es folgt entweder Aristokratie oder Demokratie. Bis hier-
her ist die Darstellung glatt und klar, jetzt aber reisst der Faden
scheinbar; denn die nachfolgenden Worte Ciceros sind so ver-
schwommen, dass die Fortsetzung der Entwickelung fast ver-
wischt wird. Die nächste Verfassung, welche im engsten An-
schluss an Plato ausführlich geschildert wird, ist die entartete
Demokratie, die Ochlokratie. Ihr Eintreten wird an die Ver-
gewaltigung eines gerechten Königs oder an die Ermordung der
Aristokraten geknüpft!),. Danach müssten wir annehmen, dass
ihr entweder Königtum oder Aristokratie vorausginge. Beide An-
nahmen aber führen zu Widersprüchen. Denn setzen wir einmal
‚ihre Richtigkeit, wo bleibt alsdann der mirus orbis commuta-
tionum rerum publicarum, der nach seiner eigenen Angabe hier
ausgeführt werden soll? Mit dem ist es vollständig aus, da ja
alle möglichen Verfassungen entstehen: Auf das Königtum folgt
naturgemäss die Tyrannis, auf diese entweder Aristokratie oder
Demokratie, die Ochlokratie aber sowohl auf die Aristokratie,
wie auch auf das Königtum, aus dem sich naturgemäss, wie
doch soeben gesagt ist, die Tyrannis entwickelt, Diese Annahme
steht demnach mit seiner Absicht in unvereinbarem Widerspruch;
‘sie kann daher nicht richtig sein. Auch noch ein zweiter Grund
‘ widerlegt sie; sie widerspricht nämlich dem Prinzip der Ent-
‚ wickelung. Naturgemäss entsteht jede schlechte Verfassung, wie
Cicero lehrt?) aus der entsprechenden guten dadurch, dass diese
infolge ihrer Einseitigkeit und Unvollkommenheit in ihr Gegenteil
umschlägt. Bei dem Übergange des Königtums in die Tyrannis
haben wir dies gesehen; in der weiteren Entwickelung werden
wir es auch bestätigt finden. Dieses Gesetz der Entwickelung
wäre hier also durchbrochen, wenn die Ochlokratie unmittelbar
auf das Königtum oder die Aristokratie folgen sollte. Dieses
Gesetz verlangt vielmehr, dass ihr die Demokratie vorausgeht.
Da nun dem entsprechend die Schilderung der entarteten Demo-
m
dd
1) e. 42, 65 si quando aut regi iusto vim populus attulit regnove eum
spoliavit, aut etiam, id quod evenit saepius, optimatium sanguinem gustavit
ac totam rem publicam substravit libidini suae .... tum fit illud, quod apud
Platonem est lueulente dietum οἶδα.
2) c, 28,44: nullum est enim genus illarum rerum publicarum, quod non
habeat iter ad finitimum quoddam malum praeceps ac lubrieum.
vg
kratie der Erwähnung der guten Demokratie folgt, und andererseits
Cicero auch selbst hier bei der guten Demokratie auf die nahe
Gefahr hinweist, in ihr Gegenteil, die Ochlokratie, umzuschlagen'),
so müssen wir auch diese als die Fortsetzung jener annehmen.
Die Richtigkeit dieses Schlusses beweist noch ein dritter
Grund. Am Schlusse dieser Auseinandersetzung?) giebt Cicero
das Resultat der Entwickelung in kurzer Zusammenfassung. Es
ist eine doppelte Reihe: Auf die Könige folgen Tyrannen, auf
diese die Aristokratie oder Demokratie; auf die erstere Oligarchie,
auf die letztere Tyrannis. Dieses Resultat stimmt mit der vor-
hergehenden ausführlichen Entwickelung, worüber wir nachher '
sprechen werden. Also bilden die erste Tyrannis, die Demokratie
und die zweite Tyrannis eine zusammenhängende Reihe von Ver-
fassungen. Da nun nach der vorhergehenden Auseinandersetzung
die zweite Tyrannis sich aus der entarteten Demokratie entwickelt
($ 68), und nach eben dieser Auseinandersetzung auf die erste
Tyrannis die gute Demokratie folgt, so geht daraus unwider-
leglich hervor, dass die entartete Demokratie hier die Fortsetzung
der guten Demokratie ist.
Die verschwommene Angabe Ciceros: si quando aut regi
iusto vim populus attulit regnove eum spoliavit, aut etiam, id
quod evenit saepius, optimatium sanguinem gustavit, kann also
nicht eine Andeutung auf die vorhergehende Verfassung ent-
halten, sondern nur auf Thatsachen hinweisen, zu welchen sich
das gesunkene Volk hinreissen lässt, um sich die Herrschaft ganz
anzueignen, während vorher auch noch die Optimatenpartei '
grossen Einfluss, wenn auch nicht die Regierung hatte. Das’
zeigen auch noch die unmittelbar folgenden Worte Ciceros: ac
totam rem publicam substravit libidini suae?); denn aus diesen
geht hervor, dass das Volk auch schon vorher die Herrschaft
') Vgl. $ 65 die Worte: sin per se populus interfeeit aut eieeit tyranuum,
est moderatior, quoad sentit et sapit, et sua re gesta laetatur tuerique volt per
se constitutam rem publicam.
5) $ 68: sie tamquam pilam rapiunt inter se rei publicaestatum tyranni
ab regibus, ab iis autem prineipes aut populi, a quibus aut factiones aut
tyranni.
°) Die Annahme der Vergewaltigung eines gerechten Königs, die nur
als Seltenheit bezeichnet wird, ist bei dieser Entwickelung augenscheinlich |
nicht weiter berücksichtigt.
Bi ἡ
ἢ
zum Teil besass. Die angefangene Entwickelung wird also regel-
recht weiter geführt: Die gute Demokratie geht in die schlechte
über, aus dieser wiederum erhebt sich ein Tyrann, nach dessen
Vertreibung eine Aristokratie oder Oligarchie an die Spitze tritt !),
Hier bricht Cicero ab und giebt unvermutet noch eine Fort-
setzung jener andern Entwicklungsreihe, die er vorhin vollständig
hatte fallen lassen. Auf die erste Tyrannis folgte nämlich Aristo-
kratie oder Demokratie; die Fortführung der letzteren haben wir
eben gehört, die erstere dagegen nimmt er erst jetzt mit den
Worten auf: eademque (sc. factio) oritur etiam ex illo saepe
optimatium praeclaro statu, cum ipsos principes aliqua pravitas
de via deflexit. Diese Abfolge entspricht also genau dem natür-
lichen Gesetze der Entwickelung, nach dem auf die gute Ver-
fassung allemal die entsprechende schlechte folgt. Eine weitere
Fortsetzung erhalten wir jedoch nicht. Sehen wir jetzt auf
beiden Seiten die Entwickelung an, so sind wir zu derselben
Verfassung gelangt: Auf der ersteren ist zuletzt die Oligarchie,
auf der anderen Aristokratie oder Oligarchie. Wenn wir gar
noch einen Schritt weiter thun und die in der ersten Reihe ge-
machte Angabe, dass aus der Aristokratie naturgemäss die
Oligarchie entstehe, für die zweite Reihe verwenden wollten, so
wird aus der Aristokratie dort auch factio; dann sind wir aber
am Ende: Wir haben überall factio?.. Was wird aus dieser?
Wo bleibt der »wundervolle Kreis der Verfassungsveränderungen«,
über den Cicero doch ausführlich reden, und den er auch dar-
eu .-
Ὁ) 8 68: quos (sc. tyrannos) si boni oppresserunt, ut saepe fit, reereatur
eivitas, sin audaces, fit illa factio, genus aliud tyrannorum.
9) Es sei gestattet das vorhin aufgestellte Stemma hier noch einmal
zum leichteren Verständnis zu wiederholen:
Tex
tyrannus
mt mm nn
prineipes democratia
faetio ochloeratia
tyrannus
” , 2 ”
prineipes factio
(factio)
re
gelegt haben will? Mit diesem ist es vollständig aus. Diese
Niederlage bemänteln zwar die Worte, mit denen Cicero diese
Erörterungen schliesst ($ 68): sie tamquam pilam rapiunt inter se
rei publicae statum tyranni ab regibus, ab iis autem prineipes
aut populi, a quibus aut factiones aut tyranni, nec diutius unquam
tenetur idem rei publicae modus, aber sie schaffen sie nicht hin-
weg. Denn sie erwecken den Schein eines Kreislaufes der Ver-
fassungen, doch auch nur den Schein: diese rekapitulierten Ver-
änderungen sind jene, welche vorhin vorgetragen wurden, aber
nicht alle; denn der letzte Schritt von der zweiten Tyrannis zur
Aristokratie und Oligarchie fehlt in derselben und dadurch ent-
steht der Schein, dass stets andere Verfassungen vorliegen und
zwar derart, dass die Tyrannis den Ausgangspunkt bildet und
ebenso am Schluss wieder entsteht, Mit keinem Worte aber
deutet er an, welche Verfassung kommen wird oder kann, was
doch nötig gewesen wäre. Und noch eines bietet ein Rätsel: In
der zweiten Reihe folgt auf die zweite Tyrannis entweder Aristo-
kratie oder Oligarchie. Mit welchem Rechte hier die doppelte
Möglichkeit angenommen wird, ist durchaus nicht ersichtlich. Um
so mehr aber musste Cicero einen Grund dafür angeben, als
diese Annahme mit seinem Grundsatze für die Abfolge der Ver-
fassungen im Widerspruche steht. Denn diesem gemäss geht, wie.
wir nun schon öfter gehört haben, die schlechte Verfassung aus
der guten durch allmähliche Verschlechterung der Regierenden
hervor, Hier knüpft er dagegen die Oligarchie unmittelbar an
die Tyrannis!). Cicero lässt uns hier also vollkommen im Stich.
Kehren wir jetzt noch einmal zur ersten Reihe der Verfassungen
zurück. Zuerst herrscht der König, darauf der Tyrann, ihm folgt
die Aristokratie, hierauf die Oligarchie. Diese Reihe lässt sich
mit Notwendigkeit vervollständigen. Es bleiben nur zwei Ver-
fassungen übrig, die Demokratie und die Ochlokratie. Nach
Analogie der bisherigen Abfolge der Verfassungen und nach dem
Gesetze der Entwickelung geht die Demokratie der Ochlokratie
voran. Es ist somit der Schluss sicher, dass die vorhin an-
gefangene Reihe von der Demokratie, die später zur Ochlokratie
') Wenn nach der ersten Tyrannis Aristokratie oder Demokratie folgt,
so enthält diese doppelte Möglichkeit keinen Widerspruch mit jenem Grund-
satze, weil beide Verfassungen zu den guten gehören.
"
|
N
Ber.
|
entartet, fortgesetzt wird. Cicero selbst leitet nun bei der andern
Entwickelungsreihe aus der Ochlokratie die zweite Tyrannis her,
gerade wie Polybius. Nehmen wir dies hinzu, so entsteht hier
in Wirklichkeit ein ‘mirus orbis commutationum rerum publica-
rum’. Dieser, sowie auch das ihn beherrschende Gesetz der Ent-
wickelung deckt sich vollständig mit der Theorie des Polybius;
die zweite Seite dagegen endet in unlösbaren Widersprüchen und
Halbheiten.
Was hat nun die Veranlassung dazu gegeben, diese doppelte
Reihe von Verfassungen aufzustellen? Offenbar das II. Buch de
re publica. Cicero verbindet in diesem zwei Ideen mit einander,
wodurch er in eine Sehiefheit geraten ist, welche die des ersten
Buches zur Folge gehabt hat. Einmal nämlich steht es ihm fest,
dass der römische Staat sich der besten Verfassung erfreut, was
offenbar auch seine Quelle vertreten hat (146, 70). Dies konnte
nun so dargelegt werden, dass er die römische Verfassung zer-
gliederte und dadurch die Wahrheit jener Ansicht erhärtete, wie
es Polybius thut. Doch das geschieht nicht. Cicero verbindet
vielmehr diesen Gedanken mit der ungleich richtigeren Idee
Catos, dass der römische Staat der beste sei, weil er nicht der
Ausfluss des Genies eines oder einiger Staatsmänner, sondern
durch viele Männer in vielen Jahrhunderten gegründet und be-
festigt sei (H 1, 2ff.). Durch die Verbindung beider Gedanken
entsteht eine geschichtsphilosophische Abhandlung, in der er
zeigt, wie der römische Staat allmählich aus den einseitigen Ver-
fassungen heraus auf naturgemässem Wege!) die beste, ἃ. 1. die
gemischte Verfassung erreicht hat. Diese Darstellung beweist
nicht nur seine Behauptung (I 46, 70), dass der römische Staat
der beste sei, weil er die beste Verfassung habe, sondern sie
vertritt ihm auch gleichzeitig die Schilderung des idealen Staates,
den die Philosophen zu geben pflegten. Denn der römische Staat
ist der praktisch gewordene Idealstaat und dient als solcher nicht
mehr zum Beweise dafür, dass die gemischte Verfassung die beste
ist — das liegt in der Natur der Sache und wird theoretisch
erkannt — sondern zur Illustration dessen, was theoretisch gefunden
“und dargelegt ist?.. Fassen wir diese beiden Thatsachen: Der
1) II 16, 30: eognosces ... si progredientem rem publicam atque in opti
mum statum naturali quodam itinere et cursu venientem videris.
2) II 1, 3; I 46, 70; II 39, 66: quod autem eremplo nostrae civitatıs usus
Schmekel, mittlere Stoa. 6
— 2 —
römische Staat hat eine natürliche, vernunftgemässe Entwickelung
gehabt und ist deshalb zur Illustration des theoretischen Teiles
hingestellt, zusammen, so folgt mit vollster Bestimmtheit, dass
die theoretische Entwickelung Ciceros nicht frei, sondern durch
die römische Geschichte beeinflusst ist. Die römische Geschichte
stimmte jedoch zu der durch Spekulation entwickelten normalen
Verfassungsgeschichte nur soweit, als zuerst Könige herrschten,
die allmählich zu Tyrannen wurden; dann aber wich sie ab,
weil Tarquinius nicht durch die Aristokratie, sondern durch das
ganze Volk gestürzt wurde, also auf die Tyrannis nicht die
Aristokratie, sondern die Demokratie folgte. Demnach musste
Cicero die Theorie entsprechend abändern. Dies that er so, dass
er den Sturz der Tyrannis ausser durch die Aristokratie auch
durch die Demokratie für möglich erklärte. Dies also ist der
Grund, weswegen er nach der ersten Tyrannis eine doppelte
Entwickelungsreihe einführt. Geht dieses schon mit Notwendig-
keit aus dem eingenommenen Standpunkte hervor, so finden wir
es noch durch die Art bestätigt, wie Cicero in der Theorie den
Sturz der Tyrannis ausdrückt (I 42, 65): quem (sc, tyrannum) Si
optimates oppresserunt „ . habet statum res publica secundarium,
est enim .. bene consulentium prineipum; sin per se populus
interfeeit «aut eiecit tyrannum, moderatior est, quoad sentit et
sapit. Denn die zweite Möglichkeit ihres Sturzes: interfecit aut
eiecit tyrannum, ist jetzt gewiss nicht zufällig, sondern eine
augenscheinliche Anspielung auf die Vertreibung des Tarquinius.:
Die weitere theoretische Entwickelung Ciceros stimmt wieder
mit der griechischen Theorie überein: Die Demokratie wird zur
Ochlokratie, und auf diese folgt von neuem eine Tyrannis, welche
gewöhnlich durch die Aristokratie gestürzt wird. Entsprechend
sucht Cicero diese Theorie mit der römischen Geschichte in Ein-
klang zu setzen. Nach der Vertreibung des Tarquinius durch.
das Volk hatte Rom also eine demokratische Verfassung. Die
Gefahr, welche einer solchen innewohnt, so leicht in ihr Gegen-
teil, die Ochlokratie, umzuschlagen, drohte auch Rom schon,
wurde jedoch noch zur rechten Zeit verhütet. Denn das Volk,
sum, non ad definiendum optimum statum valuit — nam id fieri potuit sine
exemplo— sed ut civitate maxima reapse cerneretur, quale esset id), quod ratio
oratioque describeret.
id
Se N
welches schon durch ungerechte Handlungen gegen die aristo-
kratische Partei zu entarten begann, wurde in die gehörigen
Schranken zurückgedrängt und durch zweckmässige Einrichtungen
in seiner Macht beschränkt: Die einfache Regierungsform hörte
jetzt auf und es bildete sich die gemischte Verfassung, in der
das Königtum durch die Konsuln, die Aristokratie in dem Senate
und die Demokratie in der Volksversammlung vertreten war
(II 82, 56).
Doch war auch die. Ochlokratie in Rom bei ihrem Entstehen
zurückgedrängt worden, so wucherte sie noch immerhin unter
der Hand weiter. Daher war es möglich, dass verschiedene Male
beherzte und sonst tüchtige Männer, die in ihren Gelüsten zu
weit gingen, sich an die Spitze der Masse zu stellen und sich
zum Tyrannen aufzuwerfen versuchten. In diesem Sinne hat
Cicero jene Männer aufgefasst, welchen die traditionelle römische
Geschichte nachsagte, dass sie nach dem Königtum gestrebt
hätten. Denn wenn auch der Abschnitt, welcher hierüber handelte,
fast ganz verloren ist, so ist es doch klar, aus II 26, 48 ff. zu
erschliessen: sed erit hoc de genere (sc. tyrannorum) nobis alius
aptior dicendi locus, cum res ipsa admonuerit, ut in eos di-
camus, qui etiam liberata iam civitate dominationes adpetiverunt,
Habetis igitur primum ortum tyranni; nam hoc nomen Graeei
regis iniusti esse voluerunt: nostri quidem omnis reges voci-
taverunt, itaque et Spurius Cassius et M. Manlius et Spurius
Maelius regnum occupare voluisse dicti sunt, et modo Gracchus
τον Doch Dank der gemischten Verfassung konnten jene Männer
ihren Plan nicht durchsetzen. Denn die Macht des Volkes, auf
dessen Gunst sich jene stützten, wurde durch die Aristokratie
Jahm gelegt und dadurch der Umsturz des Staates vereitelt.
Daher heisst es in der theoretischen Entwickelung: quos —
nämlich diese Tyrannen — si boni oppresserunt, ut saepe fit,
recreatur civitas!); denn dass diese boni die Aristokraten sind,
braucht nicht erst gesagt zu werden.
Soweit gestattete die römische Geschichte, wenn auch nicht
') 1 44, 68. Auf welche Ereignisse in der römischen Geschichte die
zweite hier angegebene Möglichkeit: sin audaces, fit illa factio, genus aliud
tyrannorum hindeutet, können wir mit Bestimmtheit nicht sagen, da hier-
über keine Andeutungen vorliegen. Wahrscheinlich schwebte Cieero seine
eigene Zeit vor, die er den Scipio nur andeuten lassen konnte,
6*
ger
wirkliche — sie konnten sich ja nicht verwirklichen, weil Rom
eine gemischte Verfassung. hatte — 50 doch drohende Verände-
rungen der einseitigen Verfassungen anzuführen; soweit reicht
daher auch nur Ciceros zweite Entwieckelungsreihe. Es ist also
klar, dass dieselbe durch die römische Geschichte im zweiten
Buche hervorgerufen ist. Und ebenso ist es offenbar, dass die
erste Reihe, welche unbenutzt und unberücksichtigt bleibt, griechi-
schen Ursprungs und aus der Quelle herübergenommen ist. Sie
sowohl wie auch das sie beherrschende Gesetz der Entwickelung
stimmt, wie bereits gezeigt ist, mit der Theorie des Polybius
vollständig überein.
Da also Cicero und Polybius in der ganzen Theorie über-
einstimmen, Cicero aber auch vieles giebt, wovon sich bei Poly-
bius keine Spur findet'), und Polybius in Übereinstimmung hier-
mit ausdrücklich erklärt nur der Hauptsache nach (κεφαλαιωδῶς)
die Theorie der Fachmänner zu berichten, so folgt, dass beide
auf dieselbe Quelle zurückgehen. Nach dem, was wir nun früher
über die Quelle des Polybius und Cicero nachgewiesen haben,
kann es jetzt nicht im geringsten zweifelhaft sein, dass Panätius
ihr Gewährsmann war.
Es fragt sich noch, ob und wie weit Cicero auch den An-
stoss zu dieser construierenden Darstellung der römischen Ge-
schichte von aussen zugekommen ist. Dass Rom die beste Ver-
fassung habe, sagt bekanntlich auch Polybius; doch nicht allein
dies, sondern er spricht auch denselben Gedanken aus, welchen
Cicero dem Cato in den Mund legt?). Ebenso ist er der Über-
zeugung, dass der römische Staat eine naturgemässe Entwicke-
lung gehabt habe?). Dieselben Gedanken also, welche Polybius,
wie alles an dieser Stelle, nur kurz und andeutungsweise aus- Ὁ
gesprochen. hat, hat Cicero durch seine Darstellung der römischen
Geschichte eingehend ausgeführt. Dass diese Darstellung ihm |
angehört, ist selbstverständlich; er deutet es aber auch noch an,
1). Z. B. fehlt der Abschnitt über den relativen Wert der Einzelver-
fassungen.
5) VI 11, 3: οὐ μὴν διὰ λόγου, διὰ δὲ πολλῶν ἀγώνων zei πραγμάτων, ἐξ
αὐτῆς ἀεὶ τῆς ἐν ταῖς περιπατείαιυς ἐπιγνώσεως αἱρούμενοι τὸ βέλτιον.
8) VI4, 13: μάλιστα δ᾽ ἐπὶ τῆς Ῥωμαίων πολιτείας τοῦτον ἁρμόσειν τὸν τρόπον ἱ
ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ χατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπ᾽ ἀρχῆς εἰληφέναν τήν TE
σύστασιν καὶ αὔξησιν. |
”
a τς
wenn er, abgesehen von andern Stellen, mit Beziehung auf
Scipios Vorhaben, Roms Geschichte vorzutragen und seine natur-
gemässe Entwickelung zu beweisen, (I 46, 70) schreibt: Quod si
tenere et consequi potuero, cumulate munus hoc, cui me Laelius
praeposuit, ut opinio mea fert, effecero. Tum Laelius: tuum vero,
inquit Scipio, ac tuum quidem unius.
Diese Gedanken hängen nicht notwendig mit der vorhin
entwickelten Theorie zusammen, so dass wir sie schon deshalb
dem Panätius zuschreiben müssten. Es kann also von neuem
gefragt werden, ob Cicero sie nicht dem Polybius entlehnt hat.
Unmöglich ist es keineswegs, da er ihm gut bekannt ist!), doch
haben wir keinen zwingenden Gründ dazu. Denn da Cicero be-
richtet, dass Scipio gerade mit Panätius in Gegenwart des Poly-
bius oft über die Vortrefflichkeit der römischen Staatsverfassung
disputiert hat, so dürfen wir annehmen, dass auch Panätius über
die römische Verfassung wesentlich dasselbe Urteil abgegeben
haben wird, wie Polybius?).. Er brauchte darum natürlich noch
lange nicht alle Einrichtungen Roms für vorzüglich zu erklären
und hat dies sicher auch nicht gethan?).
Β, Posidonius.
Kap. 4.
Περὶ ϑεῶν.
Bevor Sextus die herrschenden Ansichten der Theologie zu
widerlegen unternimmt, schickt er nach seiner Gewohnheit eine
Übersicht über dieselbe voraus. Diese findet sich adv. phys. I
13—136. Sie zerfällt in zwei Teile: Der erste (88 13—48) han-
delt über den Ursprung des Glaubens an die Götter, der zweite
($$ 49—136) über die Beweise für ihr Dasein; der erste Teil
) IT 14, 27; IV 3, 18. |
2) Da übrigens Cieero diese Ansichten direkt dem Cato zuschreibt, 80
ist es wohl höchst wahrscheinlich, dass Panätius und Polybius dieselben
durch. Vermittelung Scipios kennen gelernt haben, vgl. Cie. de rep. Il, 1.
3) Vgl. z. B. Οἷς. de off. II 17, 60.
u
umfasst jedoch auch die Kritik des Sextus (δὲ 29—48), so. dass
für die Lehre der Gegner nur die $$ 13—28 übrig bleiben. Der
zweite Teil gliedert sich ebenfalls in zwei Abschnitte: Der erste
(88 49—59) giebt die Lehre der Gottesleugner, der zweite
(88 60—136) die Beweise der Gottesverehrer für das Dasein der
Götter. Diese werden entnommen: 1. der Übereinstimmung der
Menschen, 2. der Betrachtung der Welt, 3. der Konsequenz des
Gegenteils und 4. der Widerlegung der gegnerischen Einwände
(vgl. $ 60). Der Reihenfolge dieser Gründe entspricht die Dis-
position der Abhandlung: Den ersten Punkt behandelt Sextus
88. 61—74, den zweiten 88 75—122, den dritten 88 123—132,
den vierten 88. 133—136'). Diese Disposition beweist klar, dass
Sextus den letzten Abschnitt, die Beweise für das Dasein der
Götter, jedenfalls aus einer Quelle schöpft; welcher Schule die-
selbe angehörte, kann auch beim oberflächlichsten Lesen nicht
zweifelhaft sein: Sie ist stoisch. Der nähere Nachweis hierfür
wird sich uns später ganz von selbst darbieten; hier sei nur
daran erinnert, dass wir namentlich gegen den Schluss nur
stoische Beweise finden. und dass Sextus selbst die Stoiker zu
sehr als die Hauptgegner hinstellt, um uns nicht unwillkürlich
auf den Gedanken zu führen, dass seine Quelle stoisch sei?).
Auch der erste Abschnitt (88 13—28) über den Ursprung des
Glaubens an die Götter ist ganz in dem Tone der nachfolgenden
Abhandlung gehalten, und gleich sein Anfang zeigt, dass auch
hier die Quelle, der Sextus folgt, stoisch ist. Wir finden hier
nämlich ganz dieselbe stoische Definition der Weisheit, wie nach-
her). Ohne Grund werden wir daher diesen Abschnitt von der
nachfolgenden Abhandlung nicht trennen dürfen. Da nun die
Quelle des Sextus unzweifelhaft stoisch ist, so kann es sich in
der weiteren Untersuchung nur darum handeln, welcher Stoiker
sie verfasst hat.
Zur Entscheidung dieser Frage liegen uns schon bei Sextus
') Genaueres über die letzten beiden Abschnitte wird später gegeben
werden. — Diese Disposition des Sextus ist im allgemeinen wie im einzelnen
so klar, dass es unbegreiflich erscheint, wie P. Schwenke (Jahns Jahrb. für
Phil. u. Päd. Bd. 119 S. 58 Schl.) die Darstellung vielfach zerrissen und
sich oft widerholend nennen kann.
5) Dies beweist die ganze Darstellung; vgl. auch $ 137f.
2) Vgl. S 13 mit 8 125.
τ
= δὴ =
genügende Gründe vor: Zunächst erwähnt er am Schluss«
(8 134 ff.) einen Einwand, der gegen einen Beweis Zenos gerichtet
war. Eine doppelte Berichtigung fügt er darauf hinzu, die eine
nach Diogenes von Babylon, die zweite nach Gewährsmännern,
die er unbestimmt lässt ($ 136). Daraus dürfen wir mit Sicher-
heit schliessen, dass seine Quelle jünger als Diogenes von Babylon
war. Ferner wendet dieselbe einen Beweis an, der auf einem
Einwande des Garneades gegen die stoische Psychologie beruht ἢ);
sie muss also auch jünger als Carneades sein. Drittens werden
im ersten Abschnitte ($ 28) die jüngeren Stoiker von den älteren
geschieden. Die Ansicht, die daselbst den jüngeren zugeschrieben
wird, findet sich auch bei Cicero°); folglich ist die Quelle des
Sextus älter als Cicero. Es bleiben somit nur wenige Stoiker
zur Wahl übrig. Wer von diesen es gewesen ist, lehren zwei
weitere Stellen. $ 79 wird zum Beweise der Sympathie des Alls
die Ebbe und Flut auf die Anziehungskraft des Mondes zurück-
geführt. Diese richtige Erklärung weist uns auf Posidonius hin,
‚wie wir an anderer Stelle sehen werden. Das Recht dieses
Philosophen bestätigt schliesslich auch die letzte Stelle ($ 72).
Sextus widerlegt hier eine Ansicht Epicurs mit demselben Grunde,
mit dem Posidonius dieselbe Ansicht Epicurs widerlegt hat?).
‘Wir haben also allen Grund, den Posidonius für den Gewährs-
mann des Sextus zu halten. Doch ist dies nicht der einzige
Grund, vielmehr ergiebt sich uns noch von einer anderen Seite
_ ein weiterer, der uns volle Sicherheit für den vorstehenden
Schluss verbürgt.
Denselben Gegenstand, den Sextus in dem letzten Abschnitte
des zweiten Teiles (8$ 60—136) behandelt, behandelt Cicero in
dem ersten ‚Abschnitte des zweiten Buches seiner Schrift: De
deorum natura. Wenden wir uns jetzt zu diesem! Dass Ciceros
Darstellung in demselben nicht sehr systematisch ist, drängt
sich jedem Leser ohne weiteres auf. Den Grund hierfür werden
; 1) Vgl. $ 70 mit Cicero deor. nat. III 13, 32; wir werden hierüber noch
in einem anderen Zusammenhange zu reden haben.
2 Ense; 1. 12, 26. ur
3) Dies hat Eoreits Fabrieius zu dieser Stelle angemerkt; vgl. $ 72 mit
Achill. Tat. isag. in Arat. phaen. ce. 15: Ποσειδώνιος δὲ ἀγνοεῖν τοὺς ᾽Επι-
green: ἔφη, ὡς οὐ τὰ σώματα τὰς ψυχὰς συνέχει, ἀλλ᾽ αἱ ψυχαὶ τὰ σώματα
ὥσπερ χαὶ ἡ χόλλα καὶ ἑαυτὴν καὶ τὰ ἐχτὸς χρατεῖ.
ur. 6: er - PER?
u Fyverysi Ἄς ΟΣ re ar
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wir erkennen, wenn wir uns die Art, wie er in der Composition
verfahren ist, näher vor Augen führen. Cicero zählt ($$ 13—15)
die vier Gründe des Cleanthes für das Dasein der Götter auf;
den ersten derselben hat er schon vorher ($ 7 ff.) verwandt, den
dritten bespricht er etwas genauer, den zweiten und vierten
aber erwähnt er nur kurz und geht darauf ($ 16) zu einem Be-
weise des Chrysipp über. Am Schlusse dieses Abschnittes
(e. 15, 39 ff.) unternimmt er es nun, die Göttlichkeit der Gestirne
darzuthun, nachdem er bis dahin die der Welt bewiesen hat.
Er stützt sich sofort wieder auf Cleanthes, und welche Beweise
finden wir hier ausführlich dargelegt? Den zweiten und vieriegt
die er vorhin nur kurz erwähnt hat). ;
Den vierten Grund des Gleanthes schliesst Cicero ($ 15) mit
einem Vergleiche: Wie man aus der ordnungsmässigen Ver-
waltung eines Hauses auf den Verwalter schliessen müsse, ebenso
aus der Schönheit und Ordnung der Welt auf einen Lenker der-
selben. Dann trägt er einen Beweis des Chrysipp vor. (8 16)
und gleich darauf denselben Vergleich, den wir soeben gehört
haben, noch einmal, nur schliesst er jetzt aus ihm auf den Er-
bauer der Welt. Alsdann fährt er fort: Wie nach dem Klima
auf der Erde die geistige Begabung sich unterscheide, der nebelige
Himmel unbegabte, der klare und heitere begabte Menschen
zeitige, ebenso verhalte sich auch die Begabung des Menschen-
geschlechtes zu der der Himmelskörper, da diese ja in einer un-
endlich klareren und göttlicheren Umgebung lebten ($ 17). Dieser
Schluss ist nicht ganz zu Ende gezogen, doch steht er unleugbar
da. Der Grund, warum es nicht geschehen ist, liegt offen zu
Tage: Aus ihm folgt, dass die Gestirne Götter sind. Dies wollte
jedoch Cicero hier, wie wir soeben gesehen haben, noch nicht
beweisen, sondern erst in einem besonderen Abschnitte nachher,
Also durfte er diesen Schluss hier nicht zu Ende ziehen, da er
ja gegen seine Disposition verstossen hätte. Wenden wir uns
nun zu diesem späteren Abschnitte, so finden wir dort ganz
denselben Beweis noch einmal, und zwar mit dem Schlusssatze,
der hier unterdrückt ist. Cicero brach also die Darstellung seiner
Quelle an der Stelle ab, wo er einsah, dass die Fortsetzung mit
ἢ Vgl. $$ 13 u. 15 mit 88 39-43, besonders $ 13 mit $ Alm. u. $ 15
mit $ 43.
ἢ
— 89 --
seiner Disposition sich nicht mehr vertragen haben würde. Der
eigentliche Platz des an späterer Stelle gegebenen Beweises war
also hier ($ 17), nicht dort, wo er steht. Er steht nun in einem
Zusammenhange, der ganz und gar, wie wir gezeigt haben, dem
Cleanthes entlehnt ist: Demnach müssen wir schliessen, dass er
ebenfalls aus Cleanthes stammt'), dass also auch ursprünglich
in $ 17 noch die Lehre des Cleanthes entwickelt war. Daraus
folgt alsbald, dass Cicero, was ja ohne dies klar ist, die Beweise
des Cleanthes auseinander getrennt und den Beweis des Chrysipp
$ 16 eingeschoben hat. Darauf weist auch die aufeinander-
folgende Wiederholung desselben Beispiels hin. — Nach langer
Unterbrechung kehrt Cicero $ 35m noch einmal zu Chrysipp
zurück und zwar in einer Ausführlichkeit, die der Behandlung
der anderen Philosophen vollkommen entspricht. Unwillkürlich
drängt sich uns sofort die Vermutung auf, dass der erste Beweis
aus Chrysipp ($ 16) mit denen, welche hier gegeben werden, zu
verbinden ist. Diese Vermutung bestätigt der Inhalt. Chrysipp
schliesst $ 16: Das Wesen, welches die Ordnung des Alls ge-
schaffen hat, ist sicher vorzüglicher (melius) als der Mensch; das
vorzüglichste Gut des Menschen ist die Vernunft: Also muss erst
recht jenes Wesen, das vorzüglicher als der Mensch ist, der Ver-
nunft teilhaftig sein. $ 39m f. finden wir ganz dasselbe: Die
Natur, welche Alles umfasst und ungehindert Alles leitet, muss
sicher das vorzüglichste Wesen (optima) und als solches auch
der Vernunft teilhaftig sein. Dieser Schluss wird in vielfachen
Variationen wiederholt. Alle diese Beweise jedoch sind in Wirk-
lichkeit nur ein Beweis: Die Welt ist das Vorzüglichste und
darum auch Gott; verschieden ist höchstens der Nachweis, dass
die Welt das Vorzüglichste ist. Mit Recht also gehört der Be-
weis des Chrysipp $ 16 zu den weiteren Beweisen desselben
Philosophen 8 35mff. Da nun die letzte Stelle augenscheinlich
der eigentliche Sitz seiner Beweise ist, wie der grosse Umfang
derselben und auch die frühere Erörterung über den ὃ 11 und
seinen Zusammenhang mit $ 15 zeigt, so folgt, dass der Beweis
des Chrysipp 8 16 in Wirklichkeit hier stehen müsste.
1) Wenn hier Aristoteles vorher erwähnt wird, so steht dies gar nicht
mit dem obigen Schlusse in Widerspruch, da Cleanthes gewiss auch Aristoteles
benützt hat, zumal wo er mit ihm übereinstimmte.
m—n. το
Überblicken wir jetzt die Abhandlung Ciceros, so zeigt sich
\ klar, dass die Quelle im allgemeinen die Gründe für das Dasein
der Götter nach den Philosophen geordnet vortrug. Cicero hat
diese Disposition und damit zugleich das ursprünglich gedachte
Thema etwas verändert: Es sollte bewiesen werden, dass-es
Götter giebt!); Cicero hat aber dies Thema so gedreht, dass er
zunächst beweist, dass die Welt, dann, dass die Gestirne Götter
sind. Demgemäss hat er die Beweise umgestellt und sie so vor-
getragen, wie sie dieser Fassung des Themas entsprachen?).
Sehen wir hiervon jetzt ab und überblicken seine Gründe, so
zerfallen dieselben ersichtlich in zwei Klassen: Zunächst beweist
er das Dasein der Götter aus der Übereinstimmung aller Menschen, Ὁ
ohne irgend welchen Philosophen zu nennen ($$ 4—12), dann
durch die Beweise der Philosophen ($$ 13—44); dass die letzteren
alle der Betrachtung der Welt entnommen sind, lehrt ein Blick
auf sie und liegt auch in der Natur der Sache. Wir haben also
in dieser Beziehung volle Übereinstimmung zwischen der Quelle
€iceros und der vorhergenannten Abhandlung des Sextus. Ihre
Übereinstimmung zeigt sich ferner auch darin, dass Sextus im
zweiten Abschnitte (88 75—122) die Beweise ebenfalls im All-
gemeinen nach den Philosophen geordnet vorträgt?). Sextus
unterscheidet sich aber von Cicero dadurch, dass er das Dasein
der Götter noch in zwei weiteren kurzen Abschnitten erweist,
von denen bei Cicero an dieser Stelle nichts vorhanden ist. Wir
sehen von diesen einstweilen ab und wenden uus zu den beiden
vorhandenen Abschnitten.
Wir vergleichen®) zunächst den zweiten Abschnitt bei βίαια
') Vgl. 88 3 u. 18. a;
?) Vgl. auch $ 23. Diese Umdrehung des Themas hat eine scheinbar
doppelte Behandlung derselben Frage im zweiten Abschnitte des ersten Teiles
und im zweiten Teile zur Folge gehabt, auf Grund deren Hirzel, Unters, I
S. 204 ff. schloss, dass Cicero für beide Teile eine verschiedene Quelle
gehabt haben müsste. Hätte Hirzel diese von Cicero vorgenommene Um-
drehung seiner Quelle erkannt, so würde er diesen Schluss natürlich nicht
gezogen haben.
8) Dadurch ist es gekommen, dass sich auch bei ihm einzelne Beweise
wiederholen; vgl. 8 77 mit $ 101 u. 8 75 mit $ 99. Den eigentlichen Beweis
werden wir Hnchher hören. V ielleicht hat gerade diese Fassung der Quelle
Cicero veranlasst anders zu disponieren.
Ἢ Erst während der Drucklegung geht mir durch Diels die Ab-
᾿
die Gründe der Philosophen aus der Betrachtung der Welt.
Sextus schliesst zuerst aus der Einrichtung der Welt auf den
Urheber derselben; dieser könne nur eine Kraft sein, die das All
durchdringe, wie die Seele unsern Leib. Darauf zeigt er, dass ihr
eigene Bewegung zukomme, dass sie also Gott sei (ss 75—76).
Denselben Beweis finden wir bei Cicero 88 15—17 und SS 31—32.
An der letzten Stelle erfahren wir, dass der Beweis aus ihrer
eigenen Bewegung Plato entnommen ist. Beide verdeutlichen
auch den Schluss mit demselben Beispiel, nur sagt Sextus all-
gemein, wenn man ein Kunstwerk sehe, so schliesse man auf den
Künstler, Cicero mehr bestimmt, wenn man in ein Haus oder
Gymnasium oder auf ein Forum trete, so schliesse man auf einen
Erbauer und Verwalter. Der zweite Beweis bei Sextus schliess
(8 77) von der Zeugungsfähigkeit: Wer vernünftige Wesen zeuge,
müsse selber Vernunft besitzen; die Welt bringe vernünftige
Wesen, die Menschen, hervor: Also müsse sie auch selber Ver-
nunft besitzen. Dieser Beweis kommt bei Sextus später noch
einmal vor, wir werden ihn nachher berücksichtigen. Der dritte
Beweis des Sextus umfasst die 88 78—85. Es giebt nur drei
Arten von Körpern, einheitliche, wie die Pflanzen und Tiere, zu-
sammengefügte, wie Ketten und Schiffe, zusammengesetzte, wie
Heere. Die Welt ist ein Wesen erster Art, wie aus ihrer Sym-
pathie hervorgeht. Diese Art umfasst aber noch verschiedene
Naturen, die der Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Welt
wird nun von einer Natur zusammengehalten, welche der der
Menschen entspricht, und da sie auch die Seelen der Menschen
in sich schliesst, so muss sie natürlich auch die beste und ver-
nünftig und unsterblich sein. Diesen Beweis finden wir ebenfalls
bei Cicero ($ 19), wenn auch ausserordentlich zusammengezogen,
doch bestimmt wieder, da er zum Teil dieselben Beispiele ge-
braucht, wie Sextus (vgl. Cie. $ 19 mit Sext. $ 79). Der vierte
Beweis des Sextus (88 86—87) geht von den Wesen auf der
Erde und im Wasser aus und schliesst auf solche zunächst in
ΣΤ u
"handlung von Wendland im Archiv für Gesch. ἃ. Phil. I S. 200 ff. zu, die im
_ Anschluss an eine Bemerkung Schwenkes ebenfalls auf die Übereinstimmung
zwischen Cicero und Sextus kurz hinweist; doch ist Wendland, für den
dies ferner lag, hierbei nur an der Oberfläche geblieben. Er hat weder das
“wahre Verhältnis des Sextus zu Cicero, noch seine Quelle und ihre Natur
erkannt.
"1
der Luft und dann auch im Äther; letzteren komme Göttlichkeit
zu, wie dem Äther selbst. Denselben Beweis giebt Cicero
(85 40-42), von dem wir erfahren, dass die Stoiker, und zwar
Cleanthes, ihn im wesentlichen von Aristoteles entlehnt haben.
Den fünften Beweis ($$ 88—91) eitiert Sextus nach Cleanthes;
er schliesst von den unvollkommenen Wesen auf ein vollkommenes,
welches notwendig höher als der Mensch steht, also Gott ist.
Diesen Beweis liefert ebenfalls Cicero ($S$ 32 m. — 34).
Sextus hat den letzten Beweis nach Cleanthes angeführt; er
schliesst ihn mit den Worten 8 91: ἀλλ᾽ ὃ μὲν Κλεάνϑης ἐστὶ
τοιοῦτος. Diese Worte lauten nicht gerade so, als ob Cleanthes
nur dieser eine Beweis zukäme, zumal da Sextus jetzt zu den
Gründen eines anderen Philosophen übergeht; und thatsächlich
lässt sich auch aus Cicero zeigen, dass die meisten der bisher
genannten Gründe aus ihm genommen sind: Die Zusammen-
gehörigkeit der $$ 15 und 17 haben wir schon vorhin erwiesen
und auch schon gesehen, dass sie Cleanthes’ Eigentum sind.
8 32, der wie Sextus zeigt, mit diesen beiden Paragraphen zu
verbinden ist, steht in einem Zusammenhange, in dem sowohl
das Vorhergehende wie das Nachfolgende Cleanthes gehört!). Mit
Recht also dürfen wir schliessen, dass auch 88. 31—32 m. aus
ihm genommen sind. Dass $ 40 ebenfalls ihm entstammt, giebt
Cicero wiederum direkt an. Nur von 8 19 = Sext. 88 18 --
können wir das Gleiche aus Cicero nicht nachweisen. Da wir
jedoch sehen, dass alle übrigen Beweise, welche Sextus bis jetzt
vorgebracht hat, aus Cleanthes entlehnt sind, so dürfen wir
schliessen, dass auch dieser Beweis ihm gehört; dass er bei ihm
jedoch nicht ganz dieselbe Gestalt gehabt hat wie bei Sextus und
Cicero, beweist die Thatsache, dass an beiden Stellen als Beispiel
die Ebbe und Flut angewandt und auf den Einfluss des Mondes
(Sympathie) zurückgeführt ist (vgl. S. 87). Nicht mit Unrecht
schliesst also Sextus $ 91 mit den Worten: ἀλλ᾽ ὃ μὲν Κλεάνθης
ἐστὶ τοιοῦτος. >
Den folgenden Beweis (88 92—100) citiert Sextus aus Xeno-
phon?). Er führt denselben zunächst wörtlich an und lässt darauf
') Dass das Nachfolgende ($ 32 m—34) ihm gehört, haben wir soeben
aus Sextus erfahren; dass auch das Vorhergehende ihm entlehnt ist, werden
wir nachher sehen.
2) Memorah. I 4, 8.
-- 3 --
Erörterungen, die an ihn anknüpfen, folgen. Denselben Beweis
führt auch Cicero ($S$ 15—19) aus Xenophon an, nur giebt er
die Stelle nicht wörtlich wieder, sondern referiert sie. Das Citat
aus Xenophon schliesst bei Sextus mit den Worten: νοῦν de
ἄρα μόνον οὐδαμοῦ ἴντα εὐτυχῶς πόϑεν δοκεῖς συναρπάσαι:;
Cicero schreibt $ 18: “unde enim hanc (sc. mentem) homo adripwit,
ut ait apud Xenophontem Socrates. Die Übereinstimmung beider
Schriftsteller ist hier wörtlich. Sextus schliesst hieran die Beweise
des Zeno (88 101—107) an. Dieselben Beweise lässt Cicero nach
Einschiebung ($ 19) eines anderen, vorhin schon behandelten Be-
weises folgen, ebenfalls unter der ausdrücklichen Angabe, dass
sie Zeno gehören!). Sextus fährt darauf fort ($$ 108—110),
einen Einwurf, der Zeno gemacht war, zu widerlegen; diesen
werden wir bei Cicero späterhin treffen, weswegen wir ihn hier
einstweilen übergehen. Dann bringt Sextus (88 111—114) den
Beweis des Aristoteles für die Göttlichkeit der Welt aus ihrer
Bewegung. Er eitiert nicht den Aristoteles, sondern die Stoiker
und die mit ihnen übereinstimmenden Philosophen. Denselben
Beweis und zwar in der gleichen Ausführlichkeit treffen wir bei
Cicero am Schlusse seiner Abhandlung ($ 44). Dieser nennt als
Urheber desselben den Aristoteles. Die Beweise Chrysipps bringt
Cicero, wie wir schon vorhin gesehen haben, an zwei Stellen
($ 16 und $ 35 m. ff.). Sie suchen in den verschiedensten Wen-
dungen darzuthun, dass die Welt das Höchste und Beste ist: Der
Mensch kann sie nicht machen, also ist sie mächtiger und vor-
züglicher als er ($ 16). Alle übrigen Dinge können an anderen
ihren Widerstand finden; die Welt kann es nicht, weil sie Alles
umfasst: Sie ist also auch das Höchste und Mächtigste und muss
demnach auch der Vernunft teilhaftig sein. Denn wäre sie dieser
nicht teilhaftig, so wäre sie geringer als der Mensch, was wider-
sinnig ist. Cicero spinnt diese Beweise weit aus, sicherlich nicht
von sich selbst. Viel kürzer finden wir diesen Beweis bei Sextus,
der ihn an den des Aristoteles von der Bewegung der Welt an-
schliesst, ohne Chrysipp zu erwähnen ($$ 115—118): Je grösser
die Erscheinung, desto mächtiger die Ursache, die sie hervor-
2) Denselben Beweis Zenos 88 101— 103 hat Sextus schon 8 77 vorge
tragen;. dort folgt er, wie wir Grund hatten zu schliessen, dem Cleanthes;
dieser hat also einfach den Beweis seines Lehrers angenommen. Cicero
bringt diesen Beweis nur einmal vor.
ESG
bringt; die Welt ist nun das Mächtigste, folglich muss auch ihre
Kraft die mächtigste sein; ist sie nun die mächtigste, so muss
sie auch vernünftig und ewig, d. h. Gott sein. Der Schluss ist
ganz derselbe wie der, den Cicero hat; dass er etwas anders als bei
diesem begründet erscheint, kann nicht in Betracht kommen, da
einmal Chrysipp, wie wir auch aus Cicero sehen, in der mannig-
fachsten Weise dieselbe Sache begründet hat, und zweitens Cicero
viel mehr auch das Äusserliche, als das Wesen des Beweises
giebt. Dem Wesen nach aber unterscheidet sich die Begründung
des Sextus keineswegs von der Ciceros; auch bei diesem kommt
es nur darauf an zu zeigen, dass die Welt das Mächtigste und
Beste ist. Wir kommen zum letzten Beweise des Sextus ($$ 119
bis 122): In jedem vielgliedrigen, von Natur in sich zusammen-
hängenden!) Wesen giebt es ein Herrschendes (χυριεῦον), von
dem alle Bewegungen, alle Triebe und alles Leben ausgehen;
dieses ist in der Welt die sie durchdringende Kraft: Diese also
ist Gott. Der Beweis ist bei Sextus verhältnismässig ausser-
ordentlich kurz gehalten (88 119—120)°). Das gerade Gegenteil.
findet bei Cicero statt: Er ist mit grösster Ausführlichkeit dar-
gelegt ($$ 23 m.—31). Die Stelle jedoch, auf die es hauptsäch-
lich ankommt, ist nicht viel länger als bei Sextus und stimmt
so ausserordentlich, dass man fast sagen könnte, wörtlich mit
ihm überein®). Wir merken deutlich, wie Cicero die griechischen
Kunstausdrücke seiner Quelle zu übersetzen sich bemüht‘). Was
bei Cicero diesem Kernpunkte vorausgeht, ist Vorbereitung auf
den Schluss, die das nähere Verständnis desselben eröffnet. Aus
Cicero erfahren wir auch, dass dieser Schluss dem Cleanthes an-
gehörte?).
') D.h. in jedem Wesen, welches ein συνηνω μένον ist; die anderen Arten
kommen hier gar nicht in Betracht.
5) Die 88 121—122 weisen einen Einwurf, der mit diesem Beweise zu-
sammenhängt, zurück, gehören also nieht mehr zum eigentlichen Beweise.
5) Vgl. $ 29 mit Sextus 119—120.
*) Omnem enim naturam necesse est, quae non solitaria sit neque simplex,
sed cum alio iuneta atque conexa etsq; diese Worte geben sichtlich das,
was Sextus $ 119 schreibt: ἐν παντὶ πολυμερεῖ σώματν καὶ κατὰ φύσιν duoizov-
μένῳ (= ἡνωμένῳ).
5) Hiermit ist der Beweis dafür erbracht, was wir vorhin sagten, 8 32
stehe in einem Zusammenhange, der rückwärts und vorwärts dem Cleanthes
angehöre. Wenn vorhin gesagt war, dass $ 15, 17 und 32 zusammengehörten,
u
Ξ Sn WER
τς Die dargelegte Übereinstimmung beider Autoren ist so gross
dass der Schluss notwendig ist, dass beide dieselbe Quelle vor
sich gehabt haben. Sie stimmen ja nicht nur in den einzelnen
Beweisen überein, sondern sie führen auf der einen Stelle auch
das gleiche Citat mit den gleichen Worten an, und weisen uns
auch beide in gleicher Weise darauf hin, dass die Beweise der
Quelle im wesentlichen nach den Philosophen geordnet waren:
Zuerst kamen daselbst die Beweise des Cleanthes, dann die des
Xenophon, dann die des Zeno und Chrysipp. Cleanthes war
also für die gemeinsame Quelle augenscheinlich der grösste Ge-
währsmann. Bei ihm fanden sich auch sicher wohl schon die
Beweise, welche die Bewegung der Welt dem Plato und Aristo-
teles an die Hand gaben.
Wir gehen jetzt zum ersten Abschnitte über. Sextus erweist
bier das Dasein der Götter aus der Übereinstimmung aller Men-
schen in dem Glauben und der Verehrung der Götter: Wie sie
auch im einzelnen von einander abwichen, in der Hauptsache
stimmten doch alle überein. »Falsche Meinungen«, so fährt er
fort, »sind nicht von langer Dauer; der Glaube an das Dasein
der Götter aber war immer und wird immer sein, da er auch
durch Beweise bekräftigt wird. Wenn nun die Gegner ein-
wenden, dass alle Menschen in der Annahme der Unterwelt und
ihrer Schrecken übereinstimmen, also auch diese wahr sein
müssten, so berücksichtigen sie nicht den Unterschied zwischen
beiden Ansichten: Alles Erdichtete trägt den Grund der Unwahr-
_ heit in sich selbst; dies trifft auch bei der Unterwelt und ihren
Qualen zu. Die Seelen können gar nicht solche Qualen erleiden,
wie innen Homer zuschreibt, ja sie können überhaupt nicht ein-
mal in die Unterwelt hinab-, sondern nur in die Oberwelt hinauf-
steigen. Ist dieses aber der Fall, so sind sie gleichen Wesens,
wie die Dämonen; giebt es aber Dämonen, so giebt es auch
Göttere. Dies ist die Übersicht über den Beweis des Sextus.
Zweierlei ist in diesem Beweise nicht ausgeführt, sondern nur
angedeutet: Zunächst, dass der Glaube an die Götter durch Be-
weise bestätigt wird. Dies wird sich naturgemäss auf Beweise
so wird die Zerreissung vielleicht Befremden hervorgerufen haben, das An-
stössige verliert sie jetzt, wo wir sehen, dass alle drei Paragraphen auf
DD ER ab re a ai
Cleanthes zurückgehen. Es ist ja sehr gut möglich, dass der Beweis in 5 ΟΣ
zweimal von Cleanthes benutzt war,
ne KO
beziehen, die im zweiten Abschnitte folgen. Zweitens ist der
Schluss nicht bewiesen: Wenn die Seelen in die Oberwelt gehen,
sind sie den Dämonen gleich, giebt es aber Dämonen, so giebt
es auch Götter. Denn dass es Dämonen giebt, wird nicht be-
wiesen. Diesen Punkt berührt Sextus ebenfalls im folgenden
Abschnitte $ 86, wo er ausführt, dass es so wie auf der Erde
und im Meere auch in der Luft und im Äther lebende Wesen
gebe. Er nennt daselbst als Beispiele der Dämonen die Dios-
kuren Castor und’ Pollux, weist aber mit einem Verse Hesiods
auf deren grosse Anzahl hin.
Wenden wir uns jetzt zu Cicero! Zuerst trägt auch er den
Beweis aus .der Übereinstimmung der Menschen vor. Dann weist
er darauf hin, dass die Götter oft auch persönlich erscheinen,
bringt darauf die Mantik als einen weiteren Beweis für das Da-
sein der Götter vor und kehrt schliesslich ($ 12) zu dem Be-
weise aus der Übereinstimmung zurück und zwar mit Worten,
die keinen Zweifel daran zulassen, dass er eigentlich noch immer
bei dem Beweise aus der Übereinstimmung sich befinden will. Dass
nun die Mantik in der Stoa einen Beweis für das Dasein ‘der
Götter bildete, ist bekannt; was dieser Beweis aber mit dem aus
der übereinstimmenden Meinung der Menschen gemeinsam hat,
derart dass er gewissermassen einen Unterbeweis desselben bildete,
ist absolut nicht ersichtlich. Cicero deutet es ebenfalls nirgends
an, berichtet dagegen gleich im Beginne des folgenden Abschnittes
(e. 5, 13), dass die Mantik den ersten der Beweise des Cleanthes
abgegeben habe. Er gehört also offenbar nicht hierher, wo er
steht. Scheiden wir ihn aus und hören jetzt den Zusammenhang
seiner übrigen Erörterungen! Zuerst also trägt er den Beweis
aus der Übereinstimmung der Menschen vor, alsdann fährt er
fort: Die wahren Ansichten, welche die Natur uns lehre, 'beweise
die Zeit, die erdichteten Meinungen dagegen vernichte sie. Nie-
mand glaube mehr an Wesen wie die Hippocentauren, niemand
an die Ungeheuerlichkeiten der Unterwelt. Daher werde denn
auch bei allen Völkern die Verehrung der Götter immer besser
und heiliger. Dies geschehe nicht etwa zufällig, sondern, weil
die Götter oft auch persönlich ihr Wesen und ihre Kraft kund-
thäten. In welchem Zusammenhange steht nun der letzte Satz
mit dem, was vorher ausgeführt ist? Nach dem Wortlaute Ciceros
(8 5) könnte es scheinen, als ob durch das persönliche Erscheinen
4
der Götter das Besserwerden des Gottesdienstes bedingt sei:
doch ist dies weder thatsächlich der Fall, noch verträgt es sich
auch mit dem Thema, das hier bewiesen werden soll und bewiesen
wird, wie die unmittelbar folgenden Worte zeigen ($ 6): saepe
Faunorum voces exauditae, saepe visae formae deorum, quemvis
non aut hebetem aut impium deos praesentis esse confiteri coege-
runt? Es wird also thatsächlich erwiesen, dass es Götter giebt,
und dass sie-erscheinen. Welches sind nun die Götter, die sich
den Menschen so handgreiflich offenbaren? Ausführlich erzählt
Cicero mehrere Ereignisse, an denen die Dioskuren teilgenommen
haben. Dann erwähnt er am Schlusse neben diesen allgemein
auch die Faune und überhaupt viele Göttergestalten.
Vergleichen wir jetzt die Darstellung Ciceros mit der des
Sextus, so kann uns ihre Übereinstimmung nicht einen Augen-
blick verborgen sein: Wie Sextus so trägt auch Cicero zuerst
den Beweis aus der Übereinstimmung der Menschen vor. Ebenso
sagen beide darauf, dass nur die wahre Meinung Bestand habe,
die falschen aber durch die Zeit vernichtet würden. Weist
Sextus alsdann den Vorwurf, der aus dem allgemeinen Glauben
der Menschen an die Schrecknisse der Unterwelt hergenommen
wurde, dadurch zurück, dass er diesen Glauben als veraltet und
verkehrt darthut, so sagt auch Cicero, niemand glaube mehr an
die erdichteten Qualen der Unterwelt und ähnliche Fabeln.
Sextus schliesst ferner aus dem Dasein der Dämonen auf das
der Götter, und als Vertreter der Dämonen lernen wir bei ihm
die Dioskuren kennen; von ebendenselben beweist auch Cicero,
dass sie den Menschen häufig erscheinen und ihr Dasein dadurch
erweisen. Sextus deutet ferner durch einen Vers des Hesiod die
grosse Zahl dieser göttlichen Wesen an; ebenso verweist uns
auch Cicero, nachdem er über die Dioskuren gesprochen, auf die
Faune und die zahlreichen Göttergestalten. Schliesst Sextus hier
endlich nur, dass, weil es Dämonen gebe, es auch Götter gebe,
ohne zu beweisen, dass es Dämonen giebt, so bietet Cicero
diesen Beweis. Denn indem er Beweise für das vielfache Er-
scheinen der Dämonen bringt, bringt er zugleich auch Beweise
für ihr Dasein!). Es ist somit unzweifelhaft, dass Sextus und
ΞΕ ΠΗ .---
1) Dass Cicero auch den Grund hat, den Sextus $ 86 vorträgt, “ist früher
gezeigt worden.
Schmekel, mittlere Stoa. 7
os
Cicero auch hier derselben Quelle folgen. Sie unterscheiden
sich nur dadurch, dass Sextus einen wohlgefügten Bericht über
dieselbe bietet, Cicero aber offenkundig seine Quelle sehr zu-
sammenzieht und im wesentlichen nur die Resultate der Haupt-
punkte giebt. Nun benutzt hier Cicero das Werk des Posidonius
περὶ ϑεῶν, wie allgemein anerkannt ist!): Also muss auch Sextus
dasselbe benutzt haben. Dieser Schluss bestätigt somit vollauf,
was wir schon vorher aus Sextus selbst zu schliessen hinreichend
Veranlassung hatten.
Die Kritik der Epikureischen Theologie im ersten Buche
Ciceros behandelt an letzter Stelle die Verehrung der Götter,
die nicht unpassend an die Bestreitung ihrer Glückseligkeit an-
geknüpft wird. Fassen wir nun diesen Abschnitt von der Ver-
ehrung der Götter ($$ 115—124) näher ins Auge! Derselbe
argumentiert: Obwohl Epikur auch über die Verehrung der
Götter schreibt, so hat er doch die Religion in ihrem Grunde
vernichtet. Denn da er jegliche Fürsorge und Thätigkeit von
ihrem Wesen ausschliesst, so fällt jeder Grund sie zu verehren.
Wenn er nun als Grund dieser Verehrung die Bewunderungs-
würdigkeit ihrer Natur vorgiebt, so ist dieser einfach auf Aber-
glaube gegründet, da wir an ihrer Natur nichts Vorzügliches
wahrnehmen (88 115—117in.). In Wirklichkeit hebt er vielmehr
ebenso wie die Atheisten (88 117 in.—121in.) die Religion voll-
ständig auf (88 121—122). Wenn er also über die Verehrung
der Götter, wie ja Thatsache ist, geschrieben hat, so kann er
damit die Menschen nur einfach zum Besten gehabt haben, da
eine Verehrung der Götter auf seinem Standpunkte ein offener
Widerspruch ist ($ 123 in.). Dieser Fortschritt der Gedanken-
entwickelung bezeugt klar, dass der Abschnitt von der Verehrung
der Götter ein einheitlicher, wohl zusammenhängender Beweis
ist. Nur die Behandlung und Aufzählung der Atheisten ist in
der vorliegenden Ausführlichkeit hier keineswegs notwendig.
Dies zeigt sich auch darin, dass ihre Einführung jedenfalls
schwerfällig und unklar ist. Sehen wir uns nun die Begründung,
in der Epikur den Atheisten zugezählt wird, etwas genauer an!
Die Atheisten werden hier nicht deswegen erwähnt, weil sie die
') Schoemann in der erkl. Ausg. dies. Schrift S. 17; Hirzel, Unters. I
Ὁ. 191 ff.; Schwenke, Jahrb. für Phil. u. Päd. Bd. 119 S. 129. u. bes.
Wendland; vgl. S. 90 A. 4.
-- 9 --
Götter leugnen, sondern aus dem Grunde, weil sie die Religion
gänzlich aufheben. Ebendies wird hier auch dem Epikur nach-
gewiesen; nicht wird geleugnet, dass er die Götter bestehen
lasse (vgl. 8 121 ff.). Dieser Nachweis geht darauf aus, ihm
einen Widerspruch aufzudecken: Obwohl er nämlich den Göttern
die beste Natur beilege, so nehme er ihnen doch gerade das
Beste, die Wohlthätigkeit, Güte und Liebe, da er ihnen jede
Thätigkeit und liebende Fürsorge für die Menschen abspreche.
Sei dieses aber der Fall, so schwinde natürlich jeder Grund sie
zu verehren. Dieser Beweis ist seinem Wesen nach derselbe,
den wir gleich im Anfange dieses Abschnittes ($ 115) hören,
nur ist er tiefer und feiner ausgeführt; um so mehr also werden
wir diesen Abschnitt nicht zerreissen dürfen. Die soeben vor-
getragene Kritik Epikurs ist nun stoisch, wie Cicero zum Über-
fluss noch selbst bezeugt ($ 123): Demnach müssen wir schliessen,
dass dieser ganze Abschnitt auf einen Stoiker zurückgeht.
Die Konsequenz dieser Darlegung liegt auf der Hand: Hebt
' Epikur ebenso wie die Atheisten in Wirklichkeit die Religion auf,
so leugnet er auch ebenso wie diese das Dasein der Götter; spricht
er gleichwohl von ihrer Verehrung, so ist dies nur ein Schein-
' dasein, das er ihnen in den Worten zugesteht. Diese Konsequenz
‘ deutet Cicero selbst an, ganz klar aber giebt er sie in einem
längeren Citate, das er dem fünften Buche des Posidonius rregi
ϑεῶν entlehnt. Dasselbe enthält jedoch nicht allein dies, sondern
auch die Gründe, oder vielmehr den Grund, durch welchen Cicero
vorher beweist, dass Epikur die Religion thatsächlich aufhebe').
' Bei diesem Zusammenhange ist der Schluss notwendig, dass
Cicero den in Rede stehenden Abschnitt über Epikurs Verehrung
der Götter nach Posidonius gearbeitet hat.
Kehren wir jetzt zu Sextus zurück! Die Disposition des
"Posidonius für den Nachweis, dass es Götter giebt, umfasst da-
selbst, wie wir früher gesehen haben, vier Punkte. Die ersten
1) Vgl. $ 124: si maxime talis est deus, ut nulla gratia, nulla hominum
earitate teneatur, valeat, mit $ 121: cum enim optimam et praestantissimam
naturam dei dicat esse, negat idem esse in deo gratiam; $ 124 esse enim
Propitius potest nemini, quoniam, ut dieitis, omnis in imbeeillitate est et
Εἰ caritas, vgl. 8 122: vos... .. in imbeeillitate gratificationem et henevolentiam
Yonitis. Für benevolentia tritt gleich darauf caritas ein, die sowohl vorher
“wie nachher als der Grund der einzelnen Tugenden erscheint.
n%
‘
gratia
— 10 --
beiden Abschnitte der Darlegung, welche den ersten beiden .
Punkten der Disposition entsprechen, hat Cicero, wie wir oben
nachgewiesen haben, in dem ersten Abschnitte des zweiten Buches
verwandt, von den beiden letzten dagegen Abstand genommen.
Der erste dieser beiden beweist das Dasein der Götter aus der
Konsequenz der Annahme, es gebe keine Götter. Sextus schliesst
daselbst: Wenn es keine Götter giebt, so giebt es auch keine
Religion (εὐσέβεια), welche das Wissen der Verehrung der Götter
ist. Nun giebt es aber Religion: Also giebt es auch Götter. In
gleicher Weise lautet der Schluss in Bezug auf die Frömmigkeit,
Weisheit, Gerechtigkeit und Mantik. Diese Darlegung zieht also
die Konsequenz aus der Lehre der Atheisten und widerlegt diese '
durch den Widerspruch mit der Wirklichkeit!). Posidonius stellt
nun, wie wir vorhin ebenfalls gesehen haben, den Epikur den
Atheisten gleich: Also müssten sich die gleichen Folgerungen aus
seiner Lehre ergeben. Diese Folgerungen finden wir in Wirklich-
keit auch bei Cicero und zwar zum Teil in wörtlicher Überein- '
stimmung?); demnach muss an beiden Stellen dieselbe Quelle zu
!) Dies geht auch aus Sextus’ Worten ganz offen hervor $ 60 u. $ 123:
οἱ τοίνυν ϑεοὺς ἀξιοῦντες εἶναν πειρῶνταν τὸ προκείμενον χατασχευάζειν ἐκ. ..
τρίτου δὲ ἀχολουϑούντων ἀτόπων τοῖς Evaıgovcı τὸ ϑεῖον.
5) Die diesbezügliche Darstellung hat Cicero zweimal; einmal an der
besprochenen Stelle $ 115 und zweitens in der Einleitung $ 3. Die Über-
einstimmung beider Stellen ist so evident, dass sich der Schluss nicht zurück-
weisen lässt, Cicero habe diesen Paragraphen mit Berücksichtigung der
folgenden Darstellung niedergeschrieben. Hierauf hat schon P. Schwenke
a. a. Ὁ. S. 66 mit Recht hingewiesen. Wenn sich an beiden Stellen nicht
die Mantik berücksichtigt findet, so ist der Grund klar: Cicero verwendet
dieselbe als Beweis für das Dasein der Götter im ersten Abschnitte des zweiten
Buches. ὃ 3 schreibt er nun: in specie autem fietae simulationis — dafür
erklärte ja Posidonius die Götter Epikurs — sicut reliquae virtutes item
pietas inesse non potest, cum qua simul sanctitatem et religionem tolli necesse
est... atque haud scio an... . excellentissima virtus, justitia, tollatur.
Bei Epikurs Auffassung der Götter schwinden also alle Tugenden; besonders
werden hier noch erwähnt und später ($ 115) ausführlicher besprochen die
sanctitas, die mit der religio eng verbunden ist (vgl. $ 115 religio ... quid
est enim, eur deos ab hominibus colendos dicas), die pietas und die zustitia.
Die letztere definiert Cicero $ 121 nicht, erwähnt sie aber ihrem Wesen nach |
daselbst, bes. $ 122 (vgl. Cie. off. I 7, 20; 15, 47; II 7, 23); die anderen
beiden dagegen definiert er, und in diesen Definitionen stimmt er wörtlich
mit Sextus überein, vgl. Cie. $ 116: sanctitas est seientia colendorum deorum,
mit Sext. $ 123: ἔστιν εὐσέβεια ἐπιστήμη ϑεῶν ϑεραπείας, und Cie. ebds.: est
ἢ
«4
— 101 —
Grunde liegen. Dass diese das Werk des Posidonius über die
Götter ist, braucht nicht mehr gesagt zu werden.
Gegen die weitere Benutzung des Posidonius spricht, wie Hirzel
(TS. 35ff.) meint, mit aller Entschiedenheit der Widerspruch zwischen
8 85 und 8 123; Schwenke, der denselben auch anerkennt, hat
ihn a. a. Ὁ. S. 62 abzuschwächen versucht durch den Hinweis.
dass die eine Stelle die andere nicht direkt ausschliesse, und dass
beide Stellen bei Posidonius gestanden haben könnten: that-
sächlich jedoch findet ein Widerspruch zwischen beiden Stellen
nicht statt, deswegen weil beide nichts miteinander zu thun
haben. Sehen wir nämlich, $ 85, zunächst von den einleitenden
Worten ab, so heisst es daselbst, es gebe Leute, welche den
‘ersten Paragraphen der χύριαι δόξαι Epikurs in dem Sinne er-
klärten, dass Epikur die Götter in Wirklichkeit geleugnet und nur
scheinbar festgehalten habe. Diese Auffassung sei falsch, wie die
vielen Stellen bezeugten, an denen Epikur ganz deutlich von dem
' Dasein der Götter rede; Epikur habe sich also an der genannten
Stelle nur unklar ausgedrückt. Dieses ist auch die Auffassung
des Posidonius in Betreff der Theologie Epikurs; denn $ 121 ff.
wird ausdrücklich zugestanden, Epikur habe das Dasein der
Götter gelehrt: Also kann Posidonius nicht zu jenen gehört haben,
‚ welche 8 85 widerlegt werden. Dass er mit ihnen in dem End-
ergebnis zusammentraf, kommt dabei gar nicht in Betracht;
denn der Grund, der ihn zu dem gleichen Urteile veranlasste,
' war ein ganz anderer, nämlich die Konsequenz des Epikureischen
‚Systems (vgl. $ 115 ff., $ 123). Dazu stimmt auch $ 85: novi
'ego Epicureos omnia sigilla venerantes, quamquam video non-
nullis videri Epicurum ... verbis reliquisse deos, re sustulisse;
denn augenscheinlich sind die nonnulli Epikureer, die im Gegen-
satz zu den Epikureern im allgemeinen ein abweichendes Urteil
hatten. Posidonius stimmt mit diesen wohl überein, aber aus
‚anderen Gründen. Was also $ 85 ff. anbetrifft, so kann diese
Nachricht sehr wohl mit dem anderen Inhalte aus Posidonius
genommen sein. Dann begreifen wir auch erst die Herbheit, die
in der Zurückweisung der Ansicht jener Epikureer enthalten ist,
die Epikur zum verkappten Atheisten machten: Epikur habe sich
Pietas iustitia adversum deos mit Sext. ὃ 124: ἔστιν ἣ ὁσιότης δικαιοσύνη τις
πρὸς ϑεούς.
ΩΣ — ©
nur aus Unfähigkeit, klar zu reden, so undeutlich in dem ge-
nannten Paragraphen der χύριαν δόξαν ausgedrückt, ein Urteil,
das wir nachher bei Posidonius ähnlich wiederfinden $ 123:
Judimur ab homine non tam faceto, quam ad scribendi licentiam
libero. Diesen Vorwurf der Unfähigkeit hat Posidonius überhaupt
stets gegen Epikur erhoben und zu erweisen gesucht'); mit Recht
also dürfen wir schliessen, dass auch hier derselbe Vorwurf auf
denselben Philosophen zurückgeht. Auch daran dürfen wir keinen
Anstoss nehmen, dass Cicero die stoische Widerlegung einem
Akademiker in den Mund legte: Er benutzte seine Quellen, wie
es ihm passend war. Ein schlagendes Beispiel finden wir hierfür
in dem vorhin übergangenen Einwurf gegen Zeno, den wir bei
Sextus a. a. Ο. 88 108—110 lesen. Zeno argumentierte folgender-
massen: Das Vernünftige ist besser als das Unvernünftige; nun
ist nichts besser als die Welt: Also ist sie vernünftig. Diesen
Syllogismus parodierte Alexinus durch den folgenden: Das Ge-
lehrte ist besser als das Ungelehrte; nun ist nichts besser als die
Welt: Also ist sie gelehrt. ‘Auf gleiche Weise schloss er auch,
dass sie mathematisch und musikalisch u. s. w. sei. Dieser Ein-
wand wurde nicht ungeschickt von den Stoikern zurückgewiesen,
wie wir ebenfalls bei Sextus a. a. Ὁ. lesen. Während also Cicero
hier in allen Punkten mit Sextus übereinstimmt, wie wir vorhin
gezeigt haben, so suchen wir diesen Einwand und seine Wider-
legung vergebens; wenden wir uns aber zu der Widerlegung der
stoischen Lehre im dritten Buche, so finden wir ihn daselbst
$ 22 ff. in so augenscheinlicher Übereinstimmung wieder, dass
wir sofort erkennen, wie Cicero verfahren ist: Er hat die Wider-
legung dieses Einwandes ausgelassen und ihn selbst ohne Nennung
seines Urhebers seinem Akademiker geliehen. E
Der vierte und letzte Punkt der Darstellung des Posidonius
bei Sextus wendet sich der Disposition gemäss gegen die Ein-
wände der Gegner. Die Kürze dieses Abschnittes ist geradezu
auffallend. Es werden höchstens zwei Einwände, die gegen die
Stoa erhoben waren, berücksichtigt; dass aber sehr viele und
schwere Einwände von den Epikureern und Akademikern gegen
sie erhoben wurden, ist selbstverständlich und wird auch später
zur Sprache kommen. Es bedarf daher gar keines Beweises,
') Vgl. Cie. deor. nat. II 18, 48 und bes. Cleomedes eyel. theor. II ὁ. 4
p. 65 ff. |
Er
ἃ
dass Sextus hier ausserordentlich gekürzt hat. Er hätte sich auch
die Arbeit sehr erschwert, wenn er die Einwände seines Gegners
vorgetragen hätte, da er sie alsdann auch noch hätte widerlegen
müssen. Wie eng nun der Abschnitt, welcher die Widerlegung
der gegnerischen Einwände umfasst, mit dem vorhergehenden
Abschnitte zusammenhängt, leuchtet ganz von selbst ein: Die
Atheisten, Epikur mit eingeschlossen, sind ja die Gegner; ihre
Lehre daher ein fortlaufender Einwand gegen die Lehre der
Stoiker und überhaupt aller Gottesverehrer. Dies beweist auch
die Darstellung des Sextus selbst, denn die beiden letzten Ab-
schnitte grenzen sich nicht mehr genau von einander ab!). Legte
also die erste Hälfte die positiven Gründe für das Dasein der
Götter dar, so war die zweite Hälfte mehr auf die Abwehr der
Gegner gerichtet. Mit Recht bildete daher diese Widerlegung
der gegnerischen Grundsätze und ihrer Einwände gegen die
stoische Lehre zwei neue indirekte Beweisgruppen für die Richtig-
keit der stoischen Anschauung. Aus dieser Abwehr hat Cicero
offenbar die vorhin besprochene Kritik der Epikureischen Lehre
entlehnt, und darum ist es ganz natürlich, dass er sich mit dem
dritten Abschnitte der Darstellung des Sextus so nahe berührt.
Hierzu stimmt auch die Stellung, welche diese Widerlegung nach
dem Zeugnis beider einnahm. Nach Sextus folgte sie der langen
positiven Darstellung und nach Cicero ebenso, da er die Kritik
des Epikur aus dem fünften Buche des Posidonius nimmt. Da nun
die Übersicht über die Atheisten und ihre Lehre bei Sextus
(88 49—59) und Cicero (88 117—120) vollständig übereinstimmen,
wie längst bekannt ist’), und wir jetzt sehen, dass Posidonius
auch die Atheisten erwähnt und die Widerlegung ihrer Lehre als.
einen neuen Beweis für seine eigene Theorie verwandt hat, so
dürfen wir bei den dargelegten Verhältnissen mit Recht schliessen,
dass auch diese Übersicht von beiden aus seinem Werke ge-
nommen ist. Nun haben wir soeben gesehen, dass die Wider-
legung des Gegners, aus der diese Stelle nur stammen kann, bei
Posidonius auf die Darstellung der positiven Lehre folgte; er-
— 13 —
ἢ 8 123—126 gehört zum dritten Abschnitte, $ 127—131 zum vierten,
$ 132 wieder zum dritten und $ 133—136 wieder zum vierten.
2) Hirzel, Unters. I S. 39 #.; Schwenke, Jahns Jhrb. 119 S. 58£., der
aber mit Unrecht eine Verschiedenheit zwischen Sext. $ 56 u. Cie. $ 117
annimmt.
— 14 --
wägen wir dies, so ergiebt sich sofort die Erklärung für die
sonst unbegreifliche Kürze der Darstellung des vierten Punktes
bei Sextus: Sextus hat aus der Widerlegung der Gegner bei
Posidonius die Übersicht über ihre Lehre einfach herausgenommen
und vorher als die Lehre der Gottesleugner vorgetragen.
Ebenso sicher ist jetzt der Schluss, dass auch der kurze, ein-
leitende Abschnitt des Sextus ($$ 13—28) über den Ursprung
des Glaubens an das Dasein der Götter aus demselben Werke
des Posidonius entlehnt ist. Einmal ist es an sich natürlich, dass
Posidonius hierüber sprach, und zweitens ebenso an sich un-
elaublich, dass Sextus für diesen kleinen Abschnitt noch eine
zweite Quelle sollte benutzt haben. Ferner scheidet Sextus in
demselben die jüngeren und älteren Stoiker und erwähnt die
Ansichten beider. Diese hier angegebene Ansicht der jüngeren
Stoiker findet sich, wie gesagt, auch bei Cicero Tusc. I 12, 26: Folg-
lich sind diese jüngeren Stoiker älter als Cicero. Nehmen wir nun
hinzu, dass sich dieser Abschnitt vielfach mit dem späteren innig
berührt, so ist in der That der Schluss unabweisbar, dass auch
dieser Abschnitt des Sextus auf Posidonius zurückgeht.
Kap,
Varro: Antiquitates rerum divinarum I
$ 1. Quellen.
Augustin giebt in seinem Werke ‘De civitate Dei’ zu ver-
schiedenen Malen dieselbe Interpretation derselben Vergilischen
Verse, nicht nach eigenem Ermessen, wie die nachfolgende Ver-
gleichung zeigt?):
Comm. Luc. IX 9, p. 291, 3ff. Us. Augustin. de οἷν. D. XXI, 13:
Animas philosophi tradunt di- Platonieci quidem, quamvis im-
vino igne constare; quare cum punita nulla velint esse peccata,
sortitae fuerint secundum suum tamen omnes poenas emenda-
') Vgl. des Verfassers Diss. de Ovid. Pythag. doctr. adumbr. p. 55ff. Des
r Tr . . . . .
Zusammenhanges wegen war es notwendig, diesen Beweis hier noch einmal
zu wiederhojen.
ἡ
— 15 —
meritum corpus atque eo pollu-
tae contagionem labemque per-
tulerint, quo etiam dissolutae
non carent, ut et Versgilius ait:
‘non tamen omne malum mise-
ris nec funditus omnes || corpo-
reae excedunt pestes penitusque
necesse est || multa diu concreta
modis inolescere miris || ergo ex-
ercentur poenis veterumque ma-
lorum || supplicia expendunt’:
aliae ventis, aliae igne, aliae aqua
purgantur. hoc est aliae ventis
per aerem traducuntur, ut pur-
gatae aeris tractu in naturam
suam verti possint. Sic Vergi-
lius: ‘seilicet huc reddi deindJeac
resolutareferri || omnia nee morti
esse locum, sed viva volare || si-
deris in numerum atque alto
succedere caelo’ propter quod
et hie patientis aetheris imi fe-
cit, hoc est in hunc aerem imum
venire et corpus regere ac deinde
in suam sedem remeare, hoc est
in solis globum ac lunae. Aut
quoniam Pythagoras dixit huius
modi animas in stellas converti:
quo modo aceipimus aeternos
orbes.
tioni adhiberi putant vel huma-
nis inflictas legibus, vel divinis
sive in hac vita sive post mor-
tem... Hinc est Maronis illa
sententia, ubi cum dixisset de
terrenis corporibus moribundis-
que membris, quod animae ‘hine
metuunt cupiuntque dolent gau-
dentque nec auras || suscipiunt,
clausae tenebris et carcere caeco'.
secutus adiunxit atque ait: ‘quin
et supremo cum lumine vita re-
liquit’ id est, cum die novissimo
reliquit eas ista vita: ‘non tamen
omne malum miseris nec fundi-
tus omnes || corporeae excedunt
pestes penitusque necesse est ||
multa diu concreta modis ino-
lescere miris || ergo exercentur
poenis veterumque malorum sup-
plicia expendunt:aliaepanduntur
inanes || suspensae adventos aliis
subgurgite vasto || infectum elui-
tur scelus aut exuritur igni’. Qui
hoc opinantur nullas poenas nisi
purgatorias esse post mortem,
ut quoniam terris superiora sint
elementa aqua, aer, iqnis ex ali-
quo istorum mundetur per e@-
piatorias poenas, quod terrena
contagione contractum est. der
quippe aceipitur in eo, quod ait:
suspensae ad ventos, aqua ım
eo, quod ait: sub gurgite vasto,
ignis autem suo nomine eXx-
pressus est, cum dixit: “aut ex-
uritur igni’ etsq.
Beide Erklärungen stimmen so augenfällig überein, dass der
Schluss sicher ist, dass sie beide aus derselben Quelle entlehnt
ἰ
-- 106 --
sind. Dieselbe Erklärung finden wir auch bei Servius, wenn
auch nicht in der gleichen wörtlichen Übereinstimmung in Aen.
VI 733: Hine metuunt etsq.] ex corporis coniunctione et hebe-
tudine. Varro et omnes philosophi dieunt quattuor esse passiones
(ef. Aug. εἰν. Ὁ. XXIV 3), duas a bonis opinatis et duas a malis
opinatis rebus: nam dolere et timere duae opinionis malae sunt,
. item gaudere et cupere opiniones bonae sunt ... haec ergo
nascuntur ex ipsa coniunctione etsq. 740—741: supplicia expen-
dunt etsq.] ideo agunt supplicia, non ut animas puniant, sed ut
eas peccatis exuant pristinis. loquitur quidem poötice de pur-
gatione animarım, tangit tamen, quod et philosophi dicunt. nam
triplex est omnis purgatio: aut enim eae in terra purgantur,
quae nimis oppressae sordibus fuerint .. . id est transeunt n
corpora terrena et haec ign? dieuntur purgari. ignis enim in terra
est, quo exuruntur omnia ... aut in aqua 1. 6. transeunt in
corpora marina, si paulo melius vixerint; aut certe in aere,
transeundo sc. in aeria corpora, si satis bene vixerint etsq. Aus
dieser Übereinstimmung folgt, dass entweder alle drei diese Er-
klärung einer gemeinsamen Quelle entlehnt haben, oder dass
Augustin und der Verfasser des Lucankommentars auf Servius
zurückgehen, so dass wir in ihrer Erklärung die des unverkürzten
Kommentars desselben besässen. Die hiermit verwandten Stellen
im Kommentar zum Lucan, die sehr dürftig gehalten sind, stehen
alle in innerer Beziehung zu einander, wie sie auch alle zur Er-
klärung der Apotheose des Pompeius herangezogen sind. Viel-
mehr jedoch ist die innere Zusammengehörigkeit bei den Er-
klärungen Augustins!) ersichtlich: Sie nehmen sich gegenseitig
auf und ergänzen sich einander. Diese Erklärungen Augustins
und des Lucankommentators entsprechen nun denen des Servius
in Aen. VI 703—750 und stehen ihnen vollkommen parallel.
Daraus folgt, dass auch bei Servius diese Erklärungen zusammen
gehören und in sich eine Einheit bilden?). Dies beweisen sie
zunächst selbst; denn sie erklären sich oft gegenseitig dergestalt,
1) de οἷν. Ὁ. X 30; XIII 19; XIV 3; 5; 8: XXI 3; 13; XXI 26; vese
des Verfassers Diss. p. 55 ff. ; {
°) Sehr wahrscheinlich ist es daher nieht, dass Augustin und der Lucan-
kommentar hier auf Servius zurückgehen; dass der Lucankommentator ihn
sonst auch benutzt hat (vgl. p. 111, ὃ u. 246, 2 ed. Usener und dessen Be-7
merkung zu dieser Stelle), steht damit nicht im Widerspruche.
-
— ΤΟΥ —
dass wir an der einen Stelle ausführlich lesen, was an der
anderen nur angedeutet ist und umgekehrt ἢ). Diesen Zusammen-
hang giebt ferner auch Servius selbst in der Bemerkung zu dem
ersten der genannten Verse an: hirmos (eioude) est hoc loco i. e.
unus sensus protentus per multos versus. Diese Erläuterungen
müssen also in der Hauptsache aus ein und derselben Quelle
genommen sein.
Wer nun diese Quelle gewesen ist, giebt Servius mit aller
Bestimmtheit an. In der oben angeführten Bemerkung zu v. 703
fährt er nämlich fort: in quo tractat de Platonis dogmate, quod
in Phaedone positum est περὶ ψυχῆς, de quo in Georgieis strietim,
hie latius loquitur. De qua re etium Varro in primo divinarum
plenissime tractavit etsq. Die erwähnten Erörterungen sind also
aus dem ersten Buche von Varros Antiquit. rer. div. genommen. ,
Dies bestätigt auch die Erläuterung zu v. 733: Varro et omnes.
philosophi dieunt quattuor esse passiones etsq.; denn nach dieser
Stelle kann es sicher nicht zweifelhaft sein, wer unter den Philo-
sophen zu verstehen ist, auf die sich Servius v. 714, 741 und
149 kurzweg beruft, zumal da diese Stellen sich gegenseitig
fordern und ergänzen’). Hierzu stimmt es drittens trefflich,
1) Dies zeigen besonders die langen Erörterungen zu den v. 724, 733,
740—741: die zu den letzteren drei Versen sind nur die weiteren Aus-
führungen dessen, was wir in der zweiten Hälfte der Erklärung zu v. 724
lesen. Vgl. ferner die zu v. 726 u. 724 A., 114 u. 705 Schl., 705 u. 711.
2) Wenn Servius auch Citate aus anderen Schriftstellern hinzufügt, so
stehen dieselben mit dem eigentlichen Gegenstande meist nur in äusserem
Zusammenhange, so dass sie in Bezug auf diesen ohne weiteres ausscheiden.
Anderer Art ist das Citat aus Cie. Tusc. I 23, 53 zu v. 727, das die Un-
sterblichkeit nach Platos Phädrus erweist. Da die Unsterblichkeit der Seele
in der Erläuterung zu v. 724 als absolut gewiss bereits erschlossen ist und
zwar aus einem Grunde, der auch von Varro in demselben ersten Buche
der Antig. rer. div. auf eben diesen Platonischen Beweis gestützt wird, den
die Stelle der Tuseulanen anführt (vgl. im folg. $ frgm. 21, 27b und 29
Anm. 1.), so enthält die Erläuterung zu v. 727 offenbar nur eine nähere
Ausführung des Anfangs der Erläuterung zu v. 724, wie dies hier ja fast
durchweg der Fall ist. Da nun Varro denselben Beweis in diesem Buche
gebracht hat, so ist in der genaueren Ausführung zu v. 727 Cicero offenbar
deswegen genannt, weil er mit Varro eben diesen Beweis gab und Varro
schon vorher als allgemeine Quelle genannt war. Die eigentliche Quelle
kann Cicero schon deswegen nicht gewesen sein, weil sich das Meiste von
dem, was wir bei Servius lesen, bei ihm nicht findet.
— 105 --
dass Varro in diesem Buche die Unsterblichkeit der Seele that-
sächlich mit eben dem Grunde erwiesen hat, den wir in der
Erläuterung zu v. 724 finden').
In der Erklärung zu v. 705 spricht Servius von neun Strömen;
welche die Unterwelt umfliessen, ohne dass an dieser Stelle er-
sichtlich wäre, was diese bedeuten und wie sie heissen. Dieses
ist an zahlreichen vorhergehenden Stellen desselben Buches bruch-
stückweise gegeben, nämlich zunächst hauptsächlich zu den
vv. 426, 385, 404, 439. An der zuletzt genannten Stelle finden
wir nicht mehr eine einfache Erklärung und Aufzählung der
neun Kreise, in welche die Unterwelt durch die neun Windungen
der Styx geteilt wird, sondern eine kosmische Umdeutung der-
selben. Gleichzeitig werden wir auf eine Stelle zurückverwiesen,
an welcher der Beweis für die Richtigkeit derselben erbracht
wird, nämlich auf die Erläuterung zu v. 127: Lucretius?) ex
maiore parte et αἰὲ integre docent inferorum regna nec esse
quidem posse. nam locum ipsorum quem possimus dicere, cum
sub terris esse dicantur Antipodes? In media vero terra eos
esse nec soliditas patitur nec centrum terrae; quae si in medio
mundi est, tanta eius esse profunditas non potest, ut medio sui
habeat inferos, in quibus esse dieitur tartarus ... ergo hanc
terram, in qua vivimus, inferos esse voluerunt, quia est omnium
cireulorum infima, planetarum scilicet septem Saturni, Iovis,
Martis, Solis, Veneris, Mercurii, Lunae et duorum magnorum
[Horizontis et Ζωδιαχοῦ, de quibus superius (2, 255) plenius].
hine est quod habemus: ‘et novies Styx interfusa coercet’ (v. 439),
nam novem eirculis cingitur terra. ergo omnia, quae de inferis
finguntur, suis locis hie esse comprobabimus; quod autem di-
ct... aut poetice dietum est aut secundum philosophorum
altam scientiam, qui deprehenderunt bene viventium animas ad
superiores circulos i. 6. ad originem suam redire ... male viven-
tium vero diutius in his permorari corporibus permutatione
diversa et esse apud inferos semper. Ausdrücklich also wird an
dieser Stelle die kosmische Deutung der Unterwelt als die richtige
erwiesen und ein für alle Mal zum Verständnis der späteren
') Vgl. ἃ. vor. Anm.
°) Wenn Servius hier auch den Luerez citiert, so kommt dieser natürlich
nur für die Leugnung der Unterwelt in Betracht, nicht für die Hauptsache
hier, die kosmische Deutung.
— 109 —
Stellen hingesetzt. Die späteren Stellen brauchen also nur die
einfache mythische Ansicht und die Hindeutung auf ihre Erklärung
zu geben. Kehren wir nun zu dem Abschnitte zurück, von welchem
wir ausgegangen sind, so finden wir auch hier neben der oben
schon angegebenen mythischen Erklärung zu v. 705 in der Er-
läuterung zu v. 714 in kurzen Worten dieselbe kosmische Deutung
wie an der vorhin citierten Stelle, und ebenso setzt auch die
(S. 106) angeführte Erläuterung zu v. 741 mit aller Entschieden-
heit die kosmische Deutung der Unterwelt voraus. Es ist also
unleugbar, dass jene Stellen die Erläuterungen des Servius zu
den vv. 703—751- notwendig ergänzen und daher von diesen
nicht getrennt werden können.
Noch zwei weitere Zeugen lehren, dass wir mit Recht den
angegebenen Inhalt und Umfang dem gedachten Buche Varros
zuschreiben. Der erste derselben ist Tertullian. Tertullian hat
sich aus diesem Werke Varros einen Auszug angefertigt und
denselben an verschiedenen Stellen nach Bedürfnis verwendet Σ
Eine kurze Gesamtübersicht daraus finden wir im Apologeticum.
Hier beginnt er mit der Aufzählung der mannigfachen Meinungen
über die Gottheit, fügt diesen solche über die Welt und die
Seele hinzu, wendet sich darauf zu dem Gericht über die Seelen in
der Unterwelt, ihre Bestrafung im Pyriphlegethon oder ihre Be-
lohnung im Elysium, und bemerkt ausdrücklich, dass nicht nur
die Dichter, sondern auch die Philosophen dies lehrten?). Zu-
letzt erwähnt und widerlegt er die Seelenwanderungslehre. Ge-
wiss ist diese Übersicht ausserordentlich kurz und dürftig; doch
geht aus ihr mit vollkommener Sicherheit hervor, dass Varro in
diesem Buche über die landläufige Ansicht von der Unterwelt
gesprochen hat. Vergleichen wir ferner, was wir ad nat. Il c.2
über die Göttlichkeit der Elemente, der Welt und überhaupt
über die Gottheit lesen, so ergiebt sich, dass Servius hier nur
kurz referiert, was Varro eingehend auseinandergesetzt hatte.
Der zweite Zeuge ist Arnobius. Im zweiten Buche seiner
Schrift adv. nationes setzt er sich mit den Lehren der Heiden
') Vgl. des Verfassers Diss. p. 44 sqq-
3) Apol. ec. 47 p. 290 ed. mai. Oehler; vgl. die Parallelstelle in ad nat. I
ὁ. 19 p. 345 Oehler. Dies kann wegen frgm. 27 b, wozu Augustin de eiv.
D. VII 23 zu vergleichen ist, und frgm. 33 ff. natürlich nicht die uneinge-
schränkte Meinung Varros gewesen sein.
— 10 —
über die Seele auseinander. Diese Ausführungen decken sich im
wesentlichen mit denen des Servius, wie die Vergleichung der
nachfolgenden Stellen beweist.
Serv. ad Aen. VI.
v. 724: Deum non perire ma-
nifestum est, ergo nec animus
perit, qui inde originem ducit..
746 aurai simplicis ignem] ignem
sensualem i. 6. deum; per quod,
quid sit anima, ostendit .. sim-
plieis autem nostri comparatione,
qui constat de ligno et aere.
ille enim per se plenus est et
aeternus, qui simplex; omnia
enim .. composita exitum sor-
tiuntur .. 724 et occurrit illud:
omne quod corrumpitur, aeter-
num non est; si animus insanit
iraseitur desiderat timet, caret
aeternitate, cui sunt ista con-
traria. nam passio aeternitatem
resolvit. Quod ideo falsum esse
dieimus, quia animus nihil per
se patitur, sed laborat ex cor-
poris coniunctione.
703: tractat de Platonis dog-
mate, quod in Phaedone posi-
tum est περὶ ψυχῆς .. de qua
re etiam Varro in primo divi-
narum plenissime tractavit. 295:
sequitur illud Pythagoricum ..
Acheronta vult quasi de imo
nasci Tartaro, huius -aestuaria
Stygem creare, de Styge autem
nasci Cocyton; et haec est my-
thologia. Nam physiologia haec
habet...!) 741: triplex est om-
Arnobius adv. nat. II.
c. 14: Quis .. hominum non
videt, quod sit immortale, quod
simplex, nullum posse dolorem
admittere; quod autem sentiat
dolorem, immortalitatem habere
non posse. c. 27 atquin nos
arbitramur, quod est unum, quod
immortale, quod simplex qua-
cunque in re fuerit, necessario
semper suam retinere naturam,
nec debere aut posse aliquod
perpeti ... omnis enim passio leti
atque interitus ianua est, ad
mortem ducens via et inevitabi-
lem rebus adferens functionem.
ce. 14: Quid Plato idem vester
in eo volumine, quod de animae
immortalitate composuit, non
Acherontem, non Stygem, non
Coecytos fluvios et Pyriphlegeton-
tem nominat, in quibus animas
adseverat volvi, mergi, exuri?
1) Vgl. Tertull. Apol. e. 47 p. 290 ed. Oe.
—- 11 —
nis purgatio: aut enim in terra
_ purgantur [sc. animae], quae
nimis oppressae sordibus fue-
rint, deditae scilicet corporalibus
blandimentis i. e. transeunt in
corpora terrena, et haec iynz di-
cuntur purgari, aut in aqua..
aut inaere.. 739: poenas non
perferunt animae, sed illius con-
iunctionis reliquiae, quae fuit
inter animam et corpus, nam
licet ista duo per se poenas per-
ferre non possint, homo tamen
perfert, qui de his duobus est
factus.
745: quaeritur, utrum animae
.. possint mereri perpetuam va-
cationem; quod non potest fieri
. . coguntur reverti . .. finito le-
gitimo tempore.
119: miscet philosophiae fig-
menta poötica... secundum phi-
losophos hoc dieit: eredendum
est animas corporis contagione
solutas!) ad coelum reverti.
741: quae [animae] nimis op-
pressae sordibus fuerint, deditae
scilicet corporalibus blandimen-
tis..transeunt in corpora ter-
c. 50: sed memoratae apud
inferos poenae et suppliciorum
generibus multiformes? et quis
erit tam brutus .. qui animis
incorruptibilibus credat aut te-
nebras Tartareas posse aliquid
nocere aut igneos fluvios . ‚?
c. 13: Quid in Politico idem
Plato? nonne cum mundus oc-
coeperit ab oceiduis partibus
exoriri et in cardinem vergere,
qui orientis est solis, rursus
erupturos homines telluris e
gremio ,.?
c. 33: Vos cum primum soluti
membrorum abieritis e nodis,
alas vobis adfuturas putatis,
quibus ad caelum pergere atque
ad sidera volare possitis, vos in
aulam dominicam tamquam in
propriam sedem remeaturos vos
praesumitis.
c.16: Quod si verum est, quod
in mysteriis secretioribus dicitur
in pecudes atque alias beluas
ire animas improborum, post-
quam sunt humanis corporibus
exutae.
rena ..in corpora marina, si
_ paulo melius vixerint .. in aeria
corpora, si satis bene vixerint.
1) Überliefert ist pollutas, was an dieser Stelle durchaus unpassend und
_ unrichtig ist.
Ἢ
“ἊΝ
114: cum coeperit [anima] in
corpus descendere, potat stulti-
tiam et oblivionem „ . oblivisci-
tur autem secundum poötas
praeteritorum, secundum philo-
sophos futuri ... docent autem
philosophi, anıma ad ima descen-
dens, quid per singulos eirculos
perdat .. cum descendunt ani-
mae, trahunt secum torporem
Saturni, Martis iracundiam, li-
bidinem Veneris, Mercurii lucri
cupiditatem, Jovis regni deside-
rium, quae res faciunt pertur-
bationem animabus, ne possint
uti vigore suo et viribus propriis.
439: qui altius de mundi ra-
tione quaesiverunt, dieunt intra-
novem hos mundi circulos inclu-
sas esse virtutes in quibus et
iracundiae sunt et cupiditates,
de quibus tristitia naseitur i. e.
Styx.
112
c.28: Audiamusa vobis, quem-
admodum dieitis animas, cum
terrenis fuerint corporibus in-
volutae priorum reminiscentiam
non habere .. quod si animae
.. membrorum impediuntur ob-
staculo, quominus artes suas
reminiscantur, in corporibus
ipsis quemadmodum ... seiunt,
quo sint ordine a deo patre dis-
cretae, ad infima haec mundi
quanam ratione pervenerint, quas
ex quibus circulis qualitates,
dum in haec loca labuntur, at-
traxerint? c. 16: at dum ad
corpora labimur .. humana, ex
mundants cireulis sequntur nos
causae, quibus mali simus...
cupiditatibus atque iracundia
ferveamus ... in libidinem pu-
blicam venalium corporum pro-
stitutione damnemur (vgl. auch
c. 26 in., 27 in. u. im folg. Pa-
ragraphen frgm. 27b).
Dass Arnobius den Varro in diesem Werke benutzt hat, steht
ausser allem Zweifel, da er ihn nach seiner eigenen Angabe in
allen folgenden Büchern ausschreibt!). Jedoch benutzt er ihn
nicht nur dort, wo er ihn direkt nennt, sondern auch an vielen
anderen Stellen, wie der Inhalt augenscheinlich beweist?). Wenn
also Arnobius ihn im zweiten Buche als Quelle nicht nennt, so
folgt daraus nicht im geringsten, dass er ihn nicht benutzt hat.
Dagegen führt Arnobius sehr häufig Plato als Gewährsmann an;
') Vgl. TH 38, 39, 40, 41; IV 3; V 8; VI 3, 6,1, 2a
5) Vgl.z.B.1I 28; III 23, 25 (Merkel zu Ovids Fast. p. CLXXXVI ex);
IV 7 mit Varro bei Augustin eiv. D. VI 9, 8 und b. Tertull. ad nat. II
ὁ. 11; Fest. p. 161 ed. Müller. Ferner IV 3, 8 (Merkel a. a. O.); ὁ. 9 ex
mit Varro b. Augustin a. a. O. IV 20, 24, VII 4; vgl. auch Merkel a. a. O.
Ferner VII 26 mit Plin. N. H. XIII 2, XVII 7; Serv. Georg. I 37; Tertull.
apol. e. 80; Ovid. Fast. I 339; vgl. des Verfassers Diss. p. 29.
ἢ
— 113: —
doch sind die Citate oft falsch). Da nun die Lehre zwar viel-
fach Platonisch, doch nicht rein Platonisch ist, so werden wir
sicher annehmen dürfen, dass Arnobius, wie es damals überhaupt
Sitte war, aus seiner Quelle nur den ursprünglichen, berühmten
Autor genannt hat, ohne sich verpflichtet zu fühlen, seine Quelle
selbst namhaft zu machen. Nun citiert er c, 24 eine Stelle
aus Platos Menon, die ganz ähnlich auch von Cicero Tuse. I 24, 56
angeführt wird?). Leicht kommt daher die Vermutung, dass
Arnobius diese Stelle aus Cicero entlehnt hat, und dass demnach
Cicero seine Quelle gewesen ist; doch ist dies, abgesehen von
allen anderen Stellen, schon deswegen einfach nicht möglich, weil
Arnobius an der angeführten Stelle mehr giebt als Cicero. Da-
gegen stimmen viele der vorhin angeführten Stellen, wie wir dies
schon anderweitig gezeigt haben ὅ), mit solchen Stellen bei Augustin,
Tertullian und dem Scholiasten des Lucan, die von diesen aus
Varro entlehnt sind. Da nun Arnobins in seinem Werke den
Varro in ausgedehntem Masse benutzt hat, nachweislich vielfach
auch dort, wo er ihn nicht eitiert, so sind wir vollkommen zu
dem Schlusse berechtigt, dass er ihn auch hier benutzt hat. Dieser
Schluss wird durch weitere Thatsachen bestätigt und als wahr
erhärtet. Tertullian beginnt seinen Auszug aus Varro mit einer
Übersicht über die verschiedenen Meinungen der verschiedenen
Philosophen über die metaphysisch-anthropologischen Probleme*),
Dass dieselbe bei Varro im Anfange seines Werkes stand, zeigt
mit gleicher Gewissheit auch Augustin’). Arnobius bietet eine
gleiche Übersicht, nur hat er sie getrennt und die einzelnen Ab-
schnitte derselben dorthin gesetzt, wo er auf die entsprechenden
Gegenstände genauer einging®). Wir fügen hier dieselben wieder
zusammen und vergleichen sie mit der, welche Tertullian giebt.
δ τ τ 13. 34, an der ersten und letzten Stelle wird Phaedrus statt
Phaedon, an der mittleren der Politicus statt der Republ. eitiert; vgl. auch
Oehler zu diesen Stellen.
5) Oehler hat auf diese Stellen auch hingewiesen.
DBDass, p. 52, 59.
Ὦ Ad. Nat. II 2; apolog. ο. 47.
5) De οἷν. Dei VI 5 p. 253, 10 ff. ed. Domb. Der Abschnitt schliesst mit
den Worten: nihil in hoc genere culpavit [sc. Varro], quod physicon vocant
et ad philosophos pertinet, tantum quod eorum inter se controverslas com-
memoravit, per quos facta est dissidentium multitudo sectarum. Sicher also
hat Varro eine derartige Übersicht gegeben.
6) Diels dox. gr. p. 172 hat auf diese Thatsache nicht geachtet.
Schmekel, mittlere Stoa. 8
Arnob. 1.
c. 9: Qui eunetorum originem
esse dieit ignem aut aquam, non
Thaleti aut Heraclito eredit? qui
causam in numeris ponit, non
Pythagorae Samio, non Archy-
tae? qui animam dividit et in-
corporales constituit formas, non
Platoni Soeratico? qui quintum
elementum prineipalibus appli-
cat causis, non Aristoteli Peri-
pateticorum patri? qui ignem
minatur mundo et venerit cum
tempus arsurum, non Panaetio
Chrysippo Zenoni? qui individuis
corporibus mundos semper fa-
bricatur et destruit, non Epiceuro .
Democrito Metrodoro? qui nihil
ab homine comprehendi atque
omnia caecis obscuritatibus in-
voluta, non Arcesilao Carneadi,
non alicui denique Academiae
veteris recentiorisque cultori?
ipsi denique principes et prae-
dietarum patres sectarum, nonne
ipsa ea quae dicunt suis credita
suspicionibus dieunt? vidit enim
Heraclitus res ignium conversio-
nibus fieri? concretione aquarum
Thales? Pythagoras numeros
coire?incorporalesformasPlato?
individuorum Democritus con-
cursiones?
c. 96: eumdem hunce (sc. mun-
dum) alii elementis ex quattuor
tradunt et pronuntiant stare, ex
geminis alii, ex singulis tertii,
sunt qui ex his nullis et indi-
114
Tertull. apolog. c. 47.
Inventum enim solummodo
deum non ut invenerunt dispu-
tarunt, ut et de qualitate et de
natura eius et de sede discep-
tent. Alii incorporalem, ut tam
Platonici quam Stoici, alii ex
atomis, alii ex numeris, qua Epi-
curus et Pythagoras; alius ex _
igni, ut Heraclito visum est.
wr
— 15 —
vidua corpora eius esse materiem
et primam originem dicant.
Sie et deos nonnulli abnegant,
prorsus dubitare se alii an sint
uspiam dicunt, alii vero existere
neque humana curare, immo
alii perhibent et rebus interesse
mortalium οἱ terrenas admini-
strare rationes.
-Mundum quidam ex sapienti-
bus aestimant neque esse natum
neque ullo esse in tempore pe-
riturum; immortalem nonnulli,
quamvis eum conscribant esse
natum et genitum; tertiis vero
conlibiturn dicere est et esse na-
tum et genitum et ordinaria ne-
cessitate periturum.
-c. 57: Non alia neque absi-
mili ratione de animarum ab his
condicione disseritur. hie enim
eas retur et esse perpetuas et
superesse mortalium functioni,
superesse ille non credit, sed
cum ipsis corporibus interire al-
terius vero sententia est, nihil
eas continuo perpeti, sed post
hominum positum aliquid eis ad
vitam dari, mortalitatis deinde
in iura succedere.
Et Platoniei quident curantem
rerum, contra Epicurus otiosum
et inexercitum et, ut ita dixe-
rim, neminem humanis rebus;
positum vero extra mundum
Stoici, qui figuli modo extrin-
secus torqueat molem hanc; in-
tra mundum Platoniei, qui gu-
bernatoris exemplo intra id ma-
neat, quod regat.
Sic et de ipso mundo natus
innatusve sit, decessurus man-
surusve sit variant.
Sic et de animae statu, quam
alii divinam et. aeternam, alü
dissolubilem contendunt.
Die Übereinstimmung zwischen beiden Berichten ist viel zu
gross, als dass sie nicht sofort klar sein sollte; sie unterscheiden
sich nur dadurch, dass Arnobius ausführlicher und wortreicher
ist!). Abgesehen von dieser Übereinstimmung im ganzen führt
1 Vgl. dazu des Verf. diss. p. 46 ff. Dass Arnobius den Panätius als
g*
-- 16 --
uns auch die Zweiteilung der Akademie in eine alte und eine
neue auf Cicero πᾶ Varro, da die späteren bekanntlich fünf
Akademieer annehmen!). Da nun Cicero in den Übersichtsreihen
der philosophischen Meinungen einerseits bedeutend mehr giebt,
als Arnobius, andererseits aber auch einige Philosophen auslässt,
die Arnobius hat?), so kann Arnobius sich hier nicht an Cicero
angelehnt haben. Der Umstand ferner, dass Arnobius auch aus-
führlicher als Tertullian ist, widerlegt von vornherein die sonst
vielleicht mögliche Annahme, Arnobius habe aus Tertullian ge-
schöpft. Auch Clemens Alexandrinus, den Arnobius ebenfalls
oft wörtlich ausschreibt, liegt hier nicht vor?). Es bleibt demnach
nur Varro als Quelle übrig. Dazu stimmt auch die Thatsache,
dass Arnobius gegen den Schluss des Buches (c. 66 ff.) viele
Berichte über die altrömische Lebensweise und Religion vor-
bringt, die alle etwa auf Tertullian oder Clemens zurückzuführen
schon darum nicht angeht, weil sich nicht alles bei ihnen findet,
was Arnobius berichtet*). Dass er aber bei Varro jedenfalls
traf, was er gebrauchte und schrieb, ist an sich selbstver-
ständlich und geht auch daraus hervor, dass, was er berichtet,
sich entweder direkt mit solchem deckt, was sich nach Tertullian
und Augustin bei Varro fand, oder bei solchen Schriftstellern
steht, die grösstenteils auf Varro zurückgehen, wie bei Festus,
Censorin, Servius und Macrobius’). Mit Recht also dürfen wir
schliessen, dass Arnobius im zweiten Buche dem Varro gefolgt
Vertreter der Ekpyrosis nennt, ist offenbar nicht die Schuld der Quelle.
Wahrscheinlich hatte Varro gesagt, Panätius habe sie angezweifelt; Arno-
bius, dem dieser Unterschied jedenfalls gleichgültig war, berücksichtigte
alsdann diese Modifikation nicht, und so entstand die verkehrte Nachricht.
!) Auf diese Unterscheidung weist auch Diels a. a. Ὁ. p. 173 hin.
5) Z. B. abgesehen von Carneades und Arcesilaus Archytas und Metro-
dorus.
3) Die Stellen, die Arnobius aus ihm entlehnt, merkt Oehler in den An-
merkungen seiner Ausgabe an den betreffenden Stellen an.
*) Vgl. d. vor. Anm. Die Nachricht e. 73: non doctorum in litteris
eontinetur Apollinis nomen Pompiliana indigetamenta neseire? gehört wohl
sicher Varro an; vgl. Merkel a. a. O. p. CXCI.
5) Die Belege hierfür finden sich bei Oehler in den Anmerkungen.
Amobius hat sich überhaupt die Sache sehr leicht gemacht, als er sein
Werk verfasste. Er scheint nur Varro und Clemens Alex. gelesen zu haben;
dass er die Bibel nicht gelesen hat, zeigt Oehler praef. p. XIV.
— 11 —
ist; mit Recht also auch, dass Servius in dem oben angegebenen
Umfange aus Varro geschöpft hat. Dieses Resultat wird durch
die Thatsache bestätigt, dass Varro in diesem Buche die Volks-
religion als solche verwarf und als Wohnort der Seelen nach
dem Tode den Luftraum unterhalb des Mondes annahm!). Da
er andererseits in demselben Werke die Volksreligion mit der
philosophischen zu vereinigen suchte), und auch berichtet wird,
dass er die Wege angegeben habe, auf denen Romulus, Hereules
und andere zwischen den Sternen hindurch zum Himmel auf-
gestiegen seien?), so ist es notwendig, dass er die kosmische
Deutung der Unterwelt gehabt hat.
$ 2. Fragmenta 11}. I.
I
1. (1) Acron ad Hor. epp. 110, 49 Vacuna] ... Sed Varro
in primo rer. divin. Victoriam ait et ea maxime hi gaudent, qui
sapientia vincunt = Comm. Cruqui p. 547: Sed Varro primo re-
rum divinarum Minervam dieit, quod ea maxime hi gaudent, qui
sapientiae vacant.
2. (2) Augustin. de civ. D. VI 4: Varronis igitur.... haec
ratio est: ‘Sieut prior est’, inquit, ‘pictor quam tabula picta, prior
faber quam aedificium: ita priores sunt civitates quam ea, quae
a civitatibus instituta sunt... si de omni natura deorum et
hominum scriberemus, prius divina absolvissemus, quam humana
adtiggissemus’.
3. (4)*) Augustin. 1.1. IV 27: Relatum est in litteras doctis-
simum pontificem Scaevolam disputasse tria genera tradita deorum:
unum a poetis, alterum a philosophis, tertium a prineipibus civi-
‚tatis?).
4. (4) Augustin. 1. 1. VI 5: Tria genera theologiae dieit (sc.
Varro) esse, id est rationis quae de diis explicatur eorumque
1) Vgl. S. 106 u. im folg. Paragraphen frgm. 2Tb fl.
2) Im letzten Buche, wie die Frgm. beweisen, Augustin 1. 1. VIL 2 ff;
vgl. S. 120 A. 1.
8) Serv. Georg. I 34.
2 Merkel, Frgm. 3—= Augustin 1. 1. VI 3 gehört nicht hierher, da es
nur die Disposition des ganzen Werkes giebt und demgemäss zum ganzen
Werke und nicht zu einem einzelnen Buche desselben zu ziehen ist.
5) Idem Tertullian. ad nat. IL e. 1.
-- 18 --
unum mythicon appellari, alterum physieon, tertium eivile...
mythicon appellant, quo maxime utuntur poetae; physicon, quo
philosophi; eivile, quo populi.
5. Augustin. 1. 1. IV 27: Primum genus nugatorium dicit
(sc. Scaevola) esse, quod multa de diis fingantur indigna ...
poeticum sane deorum genus cur Scaevola respuat, eisdem litteris
non tacetur: quia sic videlicet deos deformant, ut nec bonis
hominibus comparentur, cum alium faciunt furari, alium adulterare,
sie item aliquid aliter turpiter atque inepte dicere ac facere; tres
inter se deas certasse de praemio pulchritudinis, vietas duas a
Venere Troiam evertisse; Iovem ipsum converti in bovem aut
eygnum, ut cum aliqua conceumbat; deam homini nubere, Saturnum
liberos devorare: nihil denique posse confingi miraculorum atque
vitiorum, quod non ibi reperiatur atque ab deorum natura longe
absit?).
6. (5) Augustin. 1. 1. VI 5: ‘Primum’ (sc. genus), inquit (sc.
Varro), ‘quod dixi, in eo sunt multa contra dignitatem et naturam
immortalium Ποία. In hoc enim est, ut deus alius ex capite, alius
ex femore sit, alius ex guttis sanguinis natus; in hoc ut dii furati
sint, ut adalterarint, ut servierint homini, denique in hoc omnia
diis atribuuntur, quae non modo in hominem, sed etiam quae in
contemptissimum hominem cadere possunt’.
7. Tertullian. ad Nat. II 7. Criminatores deorum poetas
eliminari Plato censuit, ipsum Homerum sane coronatum civitate
pellendum.
8. (6) Augustin. 1. 1. VI5: ‘Secundum genus est’, inquit, ‘quod
demonstravi, de quo multos libros philosophi reliquerunt; in
quibus est dii qui sint, ubi, quod genus, quale est: a quodam
tempore, an a sempiterno fuerint dii; ex igni sint, ut credit
Heraclitus, an ex numeris, ut Pythagoras, an ex atomis, ut ait
Epieurus. Sie alia, quae facilius intra parietes in schola quam
extra in foro ferre possunt aures’.
9. Augustin. 1.1. IV 31: Ego ista conicere putari debui, nisi
evidenter alio loco?) ipse diceret de religionibus loquens multa
esse vera, quae non modo vulgo seire non sit utile, sed etiam,
tametsi falsa sunt, aliter existimare populum expediat, et ideo
Graecos teletas ac mysteria taciturnitate parietibusque clausisse.
!) Vgl. Tertullian. ad Nat. II.e. 7.
?) Vgl. im folg. die Bemerkung zu frgm. 47.
1119
10. Augustin. 1.1.IV 27: Secundum (sc. genus) non congruere
civitatibus, quod habeat aliqua supervacua, aliqua etiam, quae
obsit populis nosse .... ‘Haec’, inquit, ‘non esse deos Herculem,
Aesculapium, Castorem, Pollucem; proditur enim a doctis, quod
homines fuerint et humana condicione defecerint.... Quod eorum,
- qui sint dii, non habeant civitates vera simulacra, quod verus
deus nec sexum habeat nec aetatem nec definita corporis membra’.
haec pontifex nosse populos non vult ... quod dicere etiam in
libris rerum divinarum Varro ipse non dubitat.
11. (14) Augustin. 1.1. VI5: ‘Tertium genus est’, inquit (se.
Varro), ‘quod in urbibus cives, maxime sacerdotes, nosse atque
administrare debent. in quo est, quos deos publice.... sacra et
sacrificia colere quemque par sit... Prima theologia maxime
accommodata est ad theatrum, secunda ad mundum, tertia ad
urbem’.
12. (16) ἢ) Augustin. 1. 1. VI 6: Ait enim (sc. Varro) ea, quae
seribunt poetae, minus esse quam ut populi sequi debeant; quae
autem philosophi, plus quam ut ea vulgum scerutari expediat.
‘Quae sie abhorrent’, inquit, ‘ut tamen ex utroque genere ad eiviles
rationes adsumpta sint non pauca. quare quae erunt communia
cum populis, una cum civilibus seribemus; e quibus maior societas
debet esse nobis cum philosophis quam cum poetis’°).
IE
13. Augustin. 1. 1. VI 5: Nihil in hoc genere culpavit (sc.
'Varro), quod physicon vocant et ad philosophos pertinet, tantum
ρει.»
quod eorum inter se controversias commemoravit, per quos facla
est dissidentium multitudo sectarum.
14. Tertullian. apol. c. 47: Inventum enim solummodo deum
non, ut invenerant, disputarunt, ut et de qualitate et de natura
eius et de sede disceptent. Alii incorporalem adseverant, alii
corporalem, ut tam Platoniei quam Stoici, alii ex atomis, alii ex
numeris, qua Epicurus et Pythagoras; alius ex igni, ul Heraclito
ἢ Dieses Fragment ist bei Merkel am Schlusse verstümmelt abgedruckt.
5) Ich fasse dieses Fragment als Übergang von der Einleitung des ersten
Buches zu dessen Ausführung, da es mir den Grund für die Notwendigkeit
der nachfolgenden philosophischen Abhandlung zu enthalten scheint. Es
an das Ende zu setzen verbietet mir der enge Zusammenhang desselben
mit den vorhergehenden Fragmenten.
— 120 --
visum est: et Ρ]αΐοηϊοὶ quidem curantem rerum, contra Epicurei
otiosum et inexereitum et, ut ita dixerim, neminem humanis rebus;
positum vero extra mundum Stoici, qui figuli modo extrinseeus
torqueat molem hanc; intra mundum Platoniei, qui gubernatoris
exemplo intra id maneat quod regat.
Sie et de ipso mundo natus innatusve sit, decessurus man-
surusve sit variant.
Sic et de animae statu, quam alii divinam et aeternam, aliü
dissolubilem contendunt!).
!) idem Tertull. ad nat. II ec. 2; vgl. auch frgm. 8. Erdmann Schwarz,
de Varronis apud sanctos patres vestigüs, Jahns Jahrb. 1888 Suppl. XVI
S. 409 ff. weist die zerstreuten Bruchstücke bei Tertullian ad nat. II 1—6 (8)
Varros XVI. Buche der Antiquitates rer. div. zu, aber mit Unrecht. Er
selbst gesteht zunächst zu, dass sie auch in das erste Buch gehören können,
versucht aber zu zeigen, dass sie nicht dahin gehören. Der wichtigste
Grund, den er für seine Ansicht bringt, steht in dem Bruchstücke der Ein-
leitung, das Augustin de οἷν. D. VII 6 erhalten hat: Dieit ergo idem Varro
adhuc de naturali theologia praeloquens, deum se arbitrari esse animam
mundi etsq. Er schliesst daraus, dass er auch schon vorher über andere
philosophische Fragen in dieser Einleitung gesprochen habe. Was Varro
thatsächlich in dieser Einleitung Philosophisches gesagt hat, giebt Augustin
ausser in diesem Kapitel in dem vorhergehenden und im 23. desselben
Buches an. Ebenso wie er nun Kapitel 5 zeigt, dass er mit der Einleitung
beginne, Kapitel 6, dass er mit ihr fortfahre — denn das bedeutet adhue de
naturali theologia praeloquens — so deutet er Kap. 29 an, womit Varro die
philosophische Einleitung geschlossen hat. Kap. 5 schreibt nun Augustin:
de naturali [theologia] enim paucissima praeloquitur in hoc libro etsq. Wir
haben darnach gewiss kein Recht mit Schwarz gegen diese Angabe auf einen
grösseren Umfang dieser Einleitung zu schliessen. Da wir nun durch Augustin
den Inhalt dieser Einleitung kennen, so gehört Tertullian a. a. Ὁ. gewiss
nieht in dieselbe, weil sein Bericht zu den Angaben des Augustin einfach
nicht passt. Es liegt übrigens auch in der Natur der Sache, dass Varro die
Angaben über die Einteilungen der Theologie wie z. B. die des Stoikers
Dionysius (vgl. Frgm. 17) nicht an das Ende, sondern an den Anfang des
Werkes setzte. Dass nun Tertullians Bericht a. a. Ὁ. thatsächlich in das
erste Buch gehört, erhebt über allen Zweifel die Zusammengehörigkeit des-
selben mit den entsprechenden Fragmenten, die Augustin aus dem ersten
Buche erhalten hat, welche in der obigen Sammlung klar hervortritt.
Schwarz hat eben den Inhalt des ersten Buches der Antiquitates nicht ge-
nügend erkannt und ebensowenig die Art, wie Tertullian und Augustin
gearbeitet haben: Beide benutzten von diesem umfangreichen Werke Varros
nur Buch I und XIV—XVI, d.h. den Teil, der über die Götterlehre handelte.
Buch I enthielt eine Übersicht über die philosophische Religion, Buch XIV bis
ἢ he
— 12] —
15. Comment. Bern. Lucan. IX 1, p. 289, 2ff. Us.: Alü
existimant animas statim elisas corpore solvi ac dissipari in prin-
cipia sua, inter quos Epicurus.
Alii solidas quidem, postquam exierint de corpore, permanere,
deinde tractu temporum dissipari.
Alii integras decedere, sieuti venerint in corpora, et semper
manere; haec auctoritas in duas opiniones seinditur:
Alii enim dieunt liberatas a vinculo corporis in coelum reverti..
Alii ire per corpora multorum animalium CCCCLXVII® anno
rursus in corpora reverti humana: huius opinionis conditor Py-
thagoras.
16. Arnob. adv. nat. II c. 9: Qui cunctorum originem esse
dieit ignem aut aquam non Thaleti aut Heraclito credit? qui
causam in numeris ponit, ron Pythagorae Samio, non Archytae?
qui animam dividit et incorporales constituit formas non Platoni
Socratico? qui quintum elementum principalibus applicat causis
non Aristoteli Peripateticorum patri? qui ignem minatur mundo et
venerit cum tempus arsurum, non Panaetio, Chrysippo, Zenoni? qui
individuis corporibus mundos semper fabricatur et destruit, non
Epicuro, Democrito, Metrodoro? qui nihil ab homine comprehendi
atque omnia caecis obscuritatibus involuta non Arcesilao Carneadi,
non alicui denique Academiae veteris recentiorisque cultori? ipsi
denique principes et praedictarum patres sectarum, nonne ipsa
ea, quae dicunt, suis credita suspicionibus dieunt? vidit enim
Heraclitus res ignium conversionibus fieri? concretione aquarum
Thales? Pythagoras numeros coire? incorporales formas Plato?
individuorum Democritus concursiones?
c. 56: Eundum hune (sc. mundum) alii elementis ex quatiuor
tradunt et pronuntiant stare, ex geminis alii, ex singulis tertii,
sunt qui ex his nullis et individua corpora eius esse materiem
et primam originem dicant.
XV die über die dei publiei und privati, Buch XVI die über die dei selecti.
Um die dei publiei und privati kümmerte sich Varro nicht weiter, wohl
aber suchte er eine Vereinigung der dei selecti mit der Gottheit bezw. den
Göttern, die die Philosophie lehrte. Dazu war es nötig, dass er in ae Die
leitung kurz auf die im ersten Buche entwickelte philosophische Religion
hinwies, und das ist es auch, was wir von Augustin erfahren. Diesem Gange
der Darstellung Varros schliesst sich Tertullian an, denn er hat sich ja einen
Auszug gemacht; umsomehr also werden wir ad nat. II ce. 2f., wo der
Auszug am vollständigsten vorliegt, nicht in das XVI. Buch stellen dürfen.
τ
12 .Ξ-
Sie et deos nonnulli abnegant, prorsus dubitare se alii an sint
uspiam dicunt, alii vero existere neque humana curare, immo alii
perhibent et rebus interesse mortalium et terrenas administrare
rationes.
Mundum quidam ex sapientibus aestimant neque esse natum
neque ullo esse in tempore periturum; immortalem nonnulli,
quamvis eum conscribant esse natum et genitum; tertiis‘ vero
conlibitum dicere est et esse natum et genitum et ordinaria neces-
sitate periturum.
c. 57: Non alia neque absimili ratione de animarum ab his
condieione disseritur. Hic enim eas retur et esse perpetuas et
superesse mortalium functioni, superesse ille non credit, sed cum
ipsis corporibus interire alternis vero sententia est, nihil eas con-
tinuo perpeti, sed post hominum positum aliquid eis ad vitam
dari, mortalitatis deinde in iura succedere.
17. Tertullian. ad nat. II c. 2: De mundo deo dieimus.
Hunc enim physicum theologiae genus cogunt, quando ita deos
tradiderunt, ut Dionysius Stoicus trifariıam eos dividat. unam |
vult speciem, quae in promptu sit ut Solem, Lunam, Astra; aliıam
quae non compareat ut Neptunum; reliquam, quae de hominibus
ad divinitatem transisse dieitur, ut Herculem, Amphiaraum. aeque
Arcesilaus trinam formam divinitatis ducit, Olympios, Astra,
Titaneos de Caelo et Terra: ex his Saturno et Ope Neptunum,
Iovem et Orcum et ceteram successionem. Xenocrates Academicus
bifariam facit, Olympios et Titanios, qui de Caelo et Terra.
Aegyptiorum plerique quattuor deos credunt, Solem et Lunam,
Caelum et Terram. cum reliquo igni superno deos ortos Demo-
critus suspicatur, cuius instar vult esse naturam Zenon. unde
et Varro ignem mundi animum faeit, ut perinde in mundo ignis
omnia gubernet sicut animus in nobis.. Nam cum est, inquit, in
nobis, ipsi sumus; cum exivit, emorimur.
18. Serv. in Aen. VI 724: ... illue recurrit: quod Graece
τὸ πᾶν dieitur 1. e. omne quod est. Quattuor sunt elementa:
terra aer aqua aelher, et deus. praeter haec nihil est aliud,
et hoe mundum non possumus dicere; nam mundus non est to- |
tum). ergo deus est quidam spiritus divinus, qui per quattuor
1) totum = ὅλον. Wir haben hier also offenbar die bekannte stoische
Unterscheidung von πᾶν und ὅλον, worüber Stob. 66]. I 182, 26W. zu ver- |
gleichen ist.
Ba
iM
infusus elementa gignit universa. Igitur si de elementis et deo
nascuntur omnia, unam originem habent, et par est natura om-
nium.
19. Tertullian. ad nat. II c. 4: Zeno materiem mundialem
a deo separat vel eum per illam tamquam mel per favos trans-
isse dicit.
- - 20. Comm. Bern. Luc. IX 578, p. 305, 23 ed. Us.: Quae enim
alia est dei sedes nisi elementa haec quae dicit? Ait enim Po-
sidonius Stoicus: ϑεός ἐστι πνεῦμα νοερὸν διῆκον di ἁπάσης οὐ-
σίας: ‘deus est spiritus rationalis per omnem diffusus materiam'.
hoc est terram, aquam, aera, caelum. hunec spiritum summum
deum Plato vocat artificem permixtum mundo omnibusque, quae
in eo sunt. quod si ita est, omnes eum videmus!).
21. Tertullian. ad nat. II c. 3: His ita expeditis videmus
physicum istud ad hoc subornatum, ut deos elementa contendat
(se. Varro), cum ex his etiam alios deos natos alleget; dei enim
PR
non nisi de deis nascerentur ... . quomodo volunt, quos de ele-
mentis natos ferunt, deos haberi, cum deum negent nasci? Itaque
quod mundi erit, hoc elementis adscribetur, caelo dico et terrae
'et sideribus et igni, quae deos et deorum parentes adversus ne-
gatam generationem dei et nativitatem frustra vobis eredi pro-
posuit Varro, ut qui Varro iudicaverat animalia esse caelum οἱ
astra... et tamen unde animalia Varroni videntur elementa?
Quoniam elementa moventur. ac.ne ex diverso proponatur multa
alia moveri, ut rotas, ut plaustra, ut machinas ceteras, ultro
praevenit dicens eo animalia credita, quod per semet ipsa mo-
verentur nullo extrinsecus apparente motatore eorum aut ineita-
tore, sicuti apparet qui rotam compellit et plaustra volvit et
machiram temperat. Igitur nisi animalia, non mobilia per se.
porro allegans, quid non appareat, ostendit quid quaesisse de-
buerat, id est artificeem et arbitrum motus; neque enim statim
non est quod, quia non videmus, non credimus esse.
22. Tertullian. 1. 1. I c. 4: Aiunt quidam propterea deos
fuisse appellatos, quod ϑέειν et σείεσϑαν procurrere ac motari
interpretatio est.
23. Tertullian. 1.1. Π| 6. 4: Rotunda mundo Platonica forma;
quadratum eum angulatumque commentum ab aliis... sed Epi-
ἢ) Vgl. Useners Anmerkung zu dieser Stelle.
τ
-- 124 —
ceurus, qui dixerat: ‘Quae super nos, nihil ad nos’, cum et ipse
caelum inspicere desiderat, solis orbem pedalem deprehendit...
illum orbem maiorem Peripatetieci denotaverunt.
24. Tertullian. 1. 1. I ec. 5: Varro... creditam praeterea
dieens elementorum divinitatem, quod nihil omnino sine suffragio
illorum gigni, ali, provehi possit ad vitae humanae et terrae
sationem, quando ne ipsa quidem corpora aut animas sufficere
lieuisset sine elementorum temperamento, quo habitatio ista mundi
eirculorum eondicionibus foederata praestatur, nisi quod hominum
incolatui denegavit enormitas frigoris aut caloris proptereaque
deos credi solem, qui diei de suo cumulet, fruges caloribus maturet,
annum stationibus servet: lunam, solatium noctium, patrocinium
mensum gubernaculis: item sidera, signacula quaedam temporum
ad rurationem notandorum: ipsum denique caelum, sub quo omnia,
terram, super quam omnia, et quidquid illorum inter se ad
commoda humana conspirat. nec tantum beneficiis fidem divi-
nitatis elementis convenire, sed etiam de diversis, quae tamquam
de ira et offensa eorum incidere soleant, ut fulmina, ut grandines,
ut ardores, ut aurae pestilentes, item diluvia, item hiatus motus-
que terrarum, et iure credi deos, quorum natura honoranda sit
in secundis, metuenda sit in adversis, domina scilicet iuvandi et
nocendi!).
25. Tertullian. 1.1. II c. 5: omnia haec super nos certis curri-
eulis, legitimis decursibus propiis spatiis, aequis viribus, sub legis
instar constituta volvendis temporibus et exercendis temporum
ducatibus occurere meminerunt.
26. Arnob. adv. nat. VII 2: Ex vobis audire consuevimus
deos esse quam plurimos et numinum in serie computari: qui
si sunt, ut dieitis, uspiam verique, ut Terentius credit, eos esse
eonsequitur sui consimiles nominis, id est tales quales eos universi
debere esse conspieimus et nominis huius appellatione dicendos;
quin immo, ut breviter finiam, qualis dominus rerum est atque
omnipotens ipse, quem dicere nos omnes deum seimus atque in-
tellegimus verum, cum ad eius nominis accessimus mentionem.
Deus enim ab altero in eo, quo deus est, nulla in re differt, nec,
quod unum est genere, suis esse in partibus minus aut plus
') Einen Teil dieses Fragmentes setzt Merkel mit Unrecht in das XVI.
Buch.
a MEERE BEE A BB m zn at BR Ze ὐπὸ a Ba ΡΨ ΉΣ σν «ῊΣ ψυ x
— 125 Σ
potest, qualitatis propriae uniformitate servata. Quod cum du-
bium non sit, sequitur ut geniti nunquam perpetuique ut debeant
esse, extrinsecus appetentes nihil nec carpentes aliquas terrenas
ex materiae opibus voluptates.
27. (12) Arnobk. 1.1. VII c. 1. Quia, inquit (sc, Varro) di
veri neque desiderant ea, neque deposceunt: ex aere autem facti,
testa, gypso, vel marmore multo minus haee curant: carent
enim sensu, neque ulla contrahitur, si ea non feceris, eulpa, neque
ulla, si feceris, gratia!).
27b. (Ὁ) Augustin. de civ. D. VII 6: Dieit ergo idem Varro
adhuc de naturali theologia praeloquens deum se arbitrari esse
animam mundi, quem Graeci vocant χόσμον, et hunc ipsum mun-
dum esse deum; sed sicut hominem sapientem, eum sit ex cor-
pore et animo, tamen ab animo diei sapientem, ita mundum deum
diei ab animo, cum sit ex animo et corpore. Hic videtur quoquo
modo unum confiteri deum; sed ut plures etiam introducat,
adiungit mundum dividi in duas partes, caelum et terram: et
caelum bifariam, in aethera et aera; terram vero in aquam et
humum; e quibus summum esse aethera, secundum aera, tertiam
aquam, infimam terram; quas omnes partes quattuor animarum
esse plenas, in aethere et aere immortalium, in aqua et terra
mortalium. ab summo autem eircuitu ad cireulum lunae aethe-
Trias animas esse astra ac stellas, eos caelestes deos non modo
intellegi esse, sed etiam videri; inter lunae vero gyrum et nim-
borum ac ventorum cacumina aerias esse animas, sed eas animo,
non oculis videri et vocari heroas et lares et genios =;
216. Augustin. 1. 1. VII 23: Et certe idem Varro in eodem
de diis selectis libro tres esse adfirmat animae gradus in omni
universaque natura: unum qui omnes partes corporis, quae vivunt,
transit et non habet sensum, sed tantum ad vivendum valetudinem;
hane vim in nostro corpore permanare dieit in ossa, ungues,
') Von den beiden Fragmenten 26 und 27 hat Merkel nur das letztere
angeführt. Obwohl sie ihrem Inhalte nach sehr wohl hierher passen, ist es
doch fraglich, ob sie Arnobius aus dem ersten Buche Varros entlehnt hat,
oder vielmehr aus einem derjenigen Bücher, die über das Opfer handelten
(XI—-XIM).
2) Frgm. 27b und 27e gehören sicher in das XVI. Buch; sie sind nur zum
besseren Verständnisse des Zusammenhanges hierhergesetzt. Das Recht hierzu
erhellt aus S. 120 Anm. 1.
-- 126. —
capillos; sicut in mundo arbores sine sensu aluntur et crescunt
et modo quodam suo vivunt: secundum gradum animae, in quo
sensus est; hanc vim pevenire in oculos, aures, nares, os, tactum:
tertium gradum esse animae summum, quod vocatur animus, in
quo intellegentia praeminet; hoc praeter hominem omnes carere
mortales. Hanc partem animae mundi dieit deum, in nobis autem
genium vocari. esse autem in mundo lapides ac terram, quam
videmus, quo non permanat sensus, ut ossa, ut ungues dei; solem
vero, lunam, stellas, quae sentimus quibusque ipse sentit, sensus
esse eius; aethera porro animum eius; euius vim, quae pervenit
in astra, ea quoque facere deos, et per ea, quod in terram per-
manat, deam Tellurem, quod autem inde permanat in mare atque
oceanum, deum esse Neptunum. |
28. (8) Serv. Aen. VI 703: tractat de Platonis dogmate, quod
in Phaedone positum est περὶ ψυχῆς. . de qua re.etiam Varro
in primo divinarum plenissime tractavit. |
29. Serv. 1. 1. VI 724: Videamus, quid in nobis est a deo,
et quid a quattuor elementis .. ab elementis habemus corpus, ἃ.
deo animam, quod ideo probatur, quia est in corpore terra hu-
mor anhelitus calor, quae omnia videntur sicut etiam elementa;
animus invisibilis est sicut etiam deus, unde originem dueit ...
deinde elementa mutantur, quod est eorum proprium, sieut etiam-
corpus, quod inde originem dueit. contra deum non perire ma-
nifestum est, ergo nec animus perit, qui inde originem. dueit, nam
pars semper sequitur genus.!) | ri .
30, Serv. in Aen. VI 746: .. ignem sensualem i. 6. deum, per
quod, quid sit anima, ostendit ..:simplieis autem nostri compa-
ratione, qui constat de ligno et aere. ille enim per se’plenus est
et aeternus, qui simplex; omnia enim .. composita exitum sor--
tiuntur. !) : Ze
31. Serv. l. 1. VI.724: Omne quod corrumpitur, aeternüm
non est. Si animus insanit irascitur desiderat timet, caret aeter-
nitate, cui sunt ista contraria; nam passio aeternitatem resolvit.
Quod ideo falsum esse dieimus, quia animus nihil per se patitur,
sed laborat ex corporis coniunctione.!) ΠΡ Τὶ
1) Idem Arnob. adv. nat. II 14; 27, vgl. 5. 110; ferner frgm. 17 Schl. ff.
Für die letzte der drei Stellen vgl. auch Sery. 1.1. v. 733; 739; Augustin. de
οἷν. D. XIV 3; XIV Ὁ: ἽΝ ες. 2
-- 127 --
32. Serv. 1. 1. VI 724: Si immortales sunt et unum habent
prineipium, qua ratione non omnia animalia sentiunt similiter? . .
non esse in animis dissimilitudinem, sed in corporibus, quae prout
fuerint vel vivacia vel torpentia, ita et animos faciunt; quod po-
test etiam in uno eodemque corpore probari. In sano corpore
alia.est vivacitas mentis, in aegro pigrior, insanis invalida, etiam
ratione carens, ut in phreneticis cernimus ... cum ad corpus ve-
nerit, non natura sua utitur, sed ex eius qualitate mutatur. ..
qua ratione res melior est in potestate deterioris? ... hoc ideo
fit, quia plus est quod continet, quam quod continetur, ut si leo-
nem includas in caveam, impeditus vim suam non perdit, sed
exercere non potest, ita animus non transit in vitia corporis, sed
ex eius coniunctione impeditus nec exercet vim suam.
33. Serv. 1.1. VI 127: Hanc terram, in qua vivimus, inferos
esse voluerunt, quia est omnium ceirculorum infima, planetarum
scilicet septem: Saturni, Iovis, Martis, Solis, Veneris, Mercurii,
Lunae, et duorum magnorum [Horizontis et Zwdiezov] ... . se-
cundum philosophorum altam scientiam, qui deprehenderunt bene
viventium animas ad superiores circulos i. e. ad originem suam
redire .... male viventium vero diutius in his permorari cor-
poribus permutatione diversa et esse apud inferos semper!).
34. Tertullian.?) de an. c. 28: Quis ille nunc vetus sermo
Platonis de animarum reciproco diseursu, quod hinc abeuntes eant
illue et rursus πο veniant et vivant et dehine e vita abeant
rürsus ex mortuis effici vivos...... si vero Samius sophista Pla-
toni auctor est de animarum recidivatu revolubili semper ex
alterna mortuorum atque viventium suffectione, certe ille Pytha-
goras ... mendacio incubuit ... quomodo credam non mentiri
Pythagoram, qui mentitur, ut credam? ... Aethalidem et
Euphorbum et Pyrrhum piscatorem et Hermotimum se retro ante
Pythagoram fuisse?... sed clipeum Euphorbi olim Delphis con-
secratum recognovit et suum dixit et de signis vulgo ignotis pro-
bavit.. 6. 30: cur autem mille post annis et non statim ex
mortuis vivi.'. 6. 31: unde scias, inquis, an ita quidem fiat
) Vgl. Serv. 1.1. VI 426; 385; 404; 439; 714 (= frgm. 43); Arnob. 1.1. II
e. 28 vgl. 5. 112 und die folgenden Fragmente aus Tertullian und Augustin.
5) Vgl. hierzu des Verfassers diss. de Ovid. Pyth. doctr. adumbr.
S. 50 #.
ee
oceulte, sed condicio milliarii aevi interimat facultatem recensendi,
quia ignotae tibi revertuntur . . c. 30: Primo enim si ex mortuis
vivi, sieut mortui ex vivis etsq.!)
35. Tertullian. 1. I. c. 23: Platonis .. est... in Phaedone,
quod animae hine euntes sint illuc et inde huc. item in Timaeo,
quod genimina dei delegata sibi mortalium genitura accepto initio
animae immortali mortale ei eircumgelaverint corpus; tum quod
mundus hie imago sit alterius alicuius: quae omnia ut fidei com-
mendet, et anımam retro in superioribus cum deo egisse in com-
mercio idearum et inde huc transvenire, et hic quae retro norit,
de exemplaribus recensere, novum elaboravit argumentum ue-
ϑήσεις ἀναμνήσεις 1. e. discentias reminiscentias esse. venientes
enim inde huc animas oblivisci eorum, in quibus prius fuerint,
deinde ex his visibilibus edoctas recordari.?)
36. Augustin. ]J. 1. ΧΠῚ 19:... ut a ceteris hominibus hoc
videantur differre sapientes, quod post mortem ferantur ad sidera,
ut aliquanto diutius in astro sibi congruo quisque requiescat...
illi vero, qui stultam duxerint vitam, ad corpora suis meritis
debita sive hominum sive bestiarum de proximo revolvantur?).
37. Serv. in Aen. VI 745: Quae (sc. animae) male vixerunt,
statim redeunt; quae melius, tardius; quae optime, diutissimo
tempore sunt cum numinibus; paucae tamen sunt, quae et ipsae
exigente ratione, licet tarde, coguntur reverti.
38. Tertullian. de an. c. 32: Perinde et hie dimicemus ne-
cesse est adversus portentosiorem praesumptionem bestias ex ho-
minibus et homines ex bestiis revolventem .. Empedocles . .
‘Thamnus et piscis fui’, inquit. ce. 33: animae humanae pro vita
et meritis genera animalia sortiantur, ingulandae quaeque in
oceisoriis et subigendae quaeque in famulatoriis, et fatigandae in
operariis, et foedandae in immundis, proinde honorandae et dili-
gendae et curandae et appetendae in speciosissimis et probissimis
et utilissimis et delicatissimis. .. Perinde qui integre morati
commendaverint iudici vitam, quaero praemia, sed potius invenio
1) Idem Augustin. 1.1. XIII 19; Arnob. II 13. Vgl. die folg. Anmerkung.
5) Idem de resurr. cearn. ce. 1: Augustin. de trinit. XII 24; Arnob. II 24;
vgl. auch Serv. 1.1. VI 719.
*) Idem Augustin. de οἷν. D. XVII 41; Arnob. II 16; 33; Comm. Lucan.
IX 9 und 1 p. 291, 1f. und p. 289, 9 ff. (diss. p. 55).
τε
— 129 —
supplicia. nimirum magna merces bonis in animalia quaecunque
restitu. pavum se meminit Homerus Ennio somniante.!)
39. Tertullian ad nat. 1 19: Vobis .. traditum est hominis
spiritum in cane vel mulo aut pavone rediturum ... iudieium a
deo pro cuiusque meritis post interitum destinatum .. Minoi et
Rhadamantho adseribitis. eo iudicio iniquos aeterno igni, pios et
insontes amoeno in loco dieimus perpetuitatem transacturos, apud
vos quoque Pyriphlegethontis et Elysii non alias condicio dispo-
nitur.?)
40. Tertullian. apol. c. 47: Age iam, si qui philosophus affır-
met, ut ait Laberius de sententia Pythagorae, hominem fieri ex
mulo, colubram ex muliere, et in eam opinionem omnia argu-
menta eloquii virtute distorserit, nonne consensum movebit et
fidem infiget etiam ab animalibus abstinendi propterea? persua-
sum quis habeat, ne forte bubulam de .aliquo proavo suo ob-
sonet??)
41. Serv. in Aen. VI 733: Varro et omnes philosophi di-
cunt quattuor esse passiones: duas a bonis opinatis et duas a
malis opinatis rebus. nam dolere et timere duae opiniones malae
sunt, una praesentis, alia futuri. item gaudere et cupere opinio-
nes bonae sunt, una praesentis, alia futuri. haec ergo nascuntur
ex ipsa coniunctione; nam neque animi sunt neque corporis
propria. pereunt enim facta segregatione.
42. Serv. 1. 1. v. 740--41: Ideo agunt supplicia, non ut
animas puniant, sed ut eas peccatis exuant pristinis.. loquitur
quidem [sc. Vergilius] poetice de purgatione animarum; tangit
tamen, quod et philosophi dicunt. nam triplex est omnis pur-
gatio: aut enim eae in terra purgantur, quae nimis oppressae
sordibus fuerint, deditae scilicet corporalibus blaudimentis, i. e.
transeunt in corpora terrena, et haec igni dieuntur purgari. ignis
enim ex terra est, quo exuruntur omnia; nam coelestis nihil
perurit. aut in aqua i. e. transeunt in corpora marina, si paulo
melius vixerint; aut certe in aere, transeundo secilicet in aeria
corpora, si satis bene vixerint. . . unde etiam in sacris Liberi
omnibus tres sunt istae purgationes; nam aut taeda purgantur
et sulphure, aut aqua abluuntur, aut aere [ventilantur].
1) Vgl. Tertull. de an. ce. 34. }
2) Idem Tertull. apol. e. 47 p. 290, 4 ff. ed. m. Oehl. Vgl. 5. 114.
3) Idem Tertull. de an. ὁ. 31.
Schmekel, mittlere Stoa. 9
— 20 —
43. Comm. Bern. Lucan. IX 9 p. 291 Us.: Animas philosophi
tradunt divino igne constare; quare cum sortitae fuerint secundum
suum meritum corpus atque eo pollutae contagionem labemque
pertulerint, quo etiam dissolutae non carent ... aliae ventis,
aliae igne, aliae aqua purgantur. hoc est aliae ventis per aerem
traducuntur, ut purgatae aeris tractu in naturam suam verti pos-
sint .. . hoc est in hunc aerem imum venire et corpus regere
ac deinde in suam sedem remeare hoc est in solis globum ac
lunae. aut quoniam Pythagoras dixit huiusmodi animas in stellas
converti: quo modo accipimus aeternos orbes!).
44. Serv. in Aen. VI 714: Cum coeperit (sc. anima) in cor-
pus descendere, potat stultitiam et oblivionem; obliviscitur autem
secundum poetas praeteritorum, secundum philosophos futuri ...
docent autem philosophi, anima ad ima descendens quid per
singulos circulos perdat. unde etiam mathematici fingunt, quod
singulorum numinum potestatibus corpus et anima nostra conexa
sunt; ea ratione quia, cum descendunt animae, trahunt secum
torporem Saturni, Martis iracundiam, libidinem Veneris, Merecurii
lucri cupiditatem, lovis regni desiderium: quae res faciunt per-
turbationem animabus, ne possint uti vigore suo et viribus pro-
priis?).
II.
45. Augustin. 1.1. 1V 31: Dieit etiam idem auctor acutissimus
atque doctissimus (sc. Varro), quod hi soli ei videantur animad-
vertisse, quid esset deus, qui crediderunt eum esse animam motu
ac ratione mundum gubernantem .... dieit etiam antiquos Ro-
manos plus annos centum et septuaginta deos sine simulacro
coluisse. ‘Quod si adhuc’, inquit, ‘mansisset, castius dii observa-
rentur’. cui sententiae suae testem adhibet inter cetera etiam
gentem Judaeam; πος dubitat eum locum ita concludere, ut dicat,
qui primi simulacra deorum populis posuerunt, eos eivitatibus
suis et metum dempsisse et errorem addidisse, prudenter existi-
mans deos faeile posse in simulacrorum stoliditate contemni?).
') Idem Augustin. 1.1. XXI 13 siehe 5. 104f. Übrigens zeigt die letztere
Stelle, wie die Platonische Lehre mit der im Frgm. 41 verbunden wurde.
5) Idem Arnob. II 28 siehe S. 112,
°) Vgl. August. 1.1. IV 9= frgm. 11 b. Merkel.
— 131 --
46. Augustin. 1.1. IV 32: Dieit etiam de generationibus deorum
magis ad poetas quam ad physicos fuisse populos inelinatos, et
ideo et sexum et generationem deorum maiores suos, id est veteres
credidisse Romanos et eorum constituisse coniugia.
47. (9, 13) Augustin. 1. 1. IV 31: Nonne ita confitetur (sc,
Varro) non se illa iudicio suo sequi, quae civitatem Romanam
instituisse commemorat, ut, si eam ceivitatem novam constitueret,
ex naturae potius formula deos nominaque eorum se fuisse de-
dicaturum non dubitet confiteri? sed iam quoniam in vetere
populo esset, acceptam ab antiquis nominum et cognominum
historiam tenere, ut tradita est, debere se dieit, et ad eum finem
illa scribere ac perserutari, ut potius eos magis colere quam de-
spicere vulgus velit!).
48. Non. Marc. p. 197, 16 (Bd. I p. 290, L. Müller): Varro
rerum divinarum lib. I: nostro ritu sunt facienda civi libentius
quam graeco castu. idem: et religiones et castus id possunt, ut
ex periculo eripiant [nostro]?).
49. Non. Marc. p. 156, 7 (I 227) puritia] puritas. Varro
rer. div. 1. I: quae in puritia est frequens polluta.
50. (16) Augustin. 1. 1. IV 22: Pro ingenti beneficio Varro
iactat praestare se civibus suis, quia non solum commemorat deos,
quos coli oporteat a Romanis, verum etiam dieit, quid ad quemque
pertineat? ‘Quoniam nihil prodest’, inquit, ‘hominis alicuius mediei
nomen formamque nosse, et quod sit medicus ignorare: ita dieit
nihil prodesse scire deum esse Aesculapium, si nescias eum vale-
tudini opitulari atque ita ignores, cur ei debeas supplicare’. hoc
1) Die Fragmente 1—8 gehören sicher an den Anfang dieses Buches.
Frgm. 9 und 47 finden sich bei Augustin zusammen; sie aber zu trennen
zwingen uns seine Worte: ergo ista conicere putari debui, nisi evidenter alio
loco ipse diceret de religionibus loquens, multa esse vera, quae non modo
yulgo seire non sit utile etsq. Da die Worte ‘de religionibus loquens’ sicher
auf Frgm. 3ff. hinweisen, kann der weitere Bericht (Frgm. 47) nicht
ebenda gestanden haben. Da nun die Worte: debere se dieit et ad eum finem
illa seribere ac perserutari, ut potius eos magis colere quam despicere vul-
gus velit, offenbar zeigen, dass die Stelle, welche Augustin vor Augen hatte,
noch dem ersten Buche angehörte, so kann Frgm. 47 nur aın Schlusse des-
selben gestanden haben. Hierfür spricht auch sein Inhalt, da es die Dar-
stellung der philosophischen Religion jedenfalls voraussetzt. Sein Inhalt
giebt uns ferner die Disposition für die Fragmente des Schlusses.
5) Das ‘nostro’ tilgt Müller.
g*
FE
etiam alia similitudine adfirmat dicens, non modo bene vivere,
sed vivere omnino neminem posse, si ignoret, quisnam sit faber,
quis pistor, quis tector, a quo quid utensile petere possit, quem
adiutorem adsumere, quem ducem, quem doctorem; eo modo
nulli dubium esse asserens ita esse utilem cognitionem deorum,
si sejatur, quam quisque deus vim et facultatem ac potestatem
cuiusque rei habeat. ‘Ex eo enim poterimus’, inquit, ‘scire, quem
cuiusque causa deum invocare atque advocare debeamus, ne
faciamus, ut mimi solent, et optemus a Libero aquam, a Lymphis
vinum’).
ἃ, 3. Quelle von Ciceros Tuse, disp. I und
Varros Ant. rer. div. 1.
Im ersten Buche der Tusculanen?) sucht Cicero zu beweisen,
dass der Tod unter allen Umständen kein Übel sei. Seine Dar-
legung zerfällt in zwei Abhandlungen, von denen die erste dies
Thema für den Fall der Unsterblichkeit der Seele (88 26—51),
die zweite für den Fall ihrer Vernichtung beweist ($$82—112[113]).
Die erste Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele gliedert
sich in zwei Teile: der erste reicht von $ 26—49, der zweite
von $ 50—81. Der erste zerfällt wiederum in zwei Abschnitte,
von denen der eine nachweist,. dass die Seelen nach dem Tode
fortdauern ($$ 26—-35), der andere, wo sie sich aufhalten (58 37 bis
49), Für den ersten bringt Cicero drei Gründe vor: 1. Die
Menschen der Vorzeit erkannten, je näher sie noch ihrem göttlichen
Ursprunge waren, um so mehr die Wahrheit. Diese waren nun
von dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele durchdrungen,
wie namentlich aus allen Einrichtungen und Gebräuchen hervor-
geht, die sie in Bezug auf die Grabdenkmäler festgesetzt haben.
Diese Überzeugung von dem Leben der Seele nach dem Tode
war auch die Veranlassung zu dem Glauben, dass die berühmten
Männer und Frauen zu den Göttern emporstiegen, wie Hercules,
') Idem Augustin. 1.1, VIl.
2) Über Cieeros Tusc. I 88 26—75 handelt P. Corssen diss. Bonn. 1878;
über den zweiten Teil des Buches derselbe im Rh. Mus. XXXVI S. 506 ff.
Gegen Corssen wendet sich Hirzel in den Unters. III S. 342—406. Un-
beeinflusst von beiden führte mich der Zusammenhang zwischen Cicero u,
Varro zu der nachfolgenden Untersuchung.
— 13 —
Romulus und andere!). Ihr Glaube bedurfte aber noch der
Berichtigung, da sie noch nicht die Naturphilosophie kannten,
sondern sich nur von der einfachen Anregung der Natur be-
stimmen liessen (SS 26—29). 2. Der übereinstimmende Glaube aller
Menschen an die Unsterblichkeit der Seele verbürgt eben so
sicher die Wahrheit, wie der Glaube aller Menschen an die Götter
ein Beweis für das Dasein derselben ist (8 30). 3. Den sichersten
Beweis liefert die von der Natur allen Menschen eingepflanzte
Sorge um alles, was die Zeit nach dem Tode angeht; denn
daraus, dass wir das Zukünftige denken, folgt, dass wir auch in
Zukunft leben werden (SS 31—36)?).
Der zweite Abschnitt spricht über den Aufenthaltsort der Seelen
nach dem Tode: Wie alle Menschen von Natur glauben, dass es Götter
giebt, aber erst durch die Vernunft die Natur derselben erkennen und
begreifen, ebenso sind auch alle Menschen von der Fortdauer der
Seelen nach dem Tode von Natur überzeugt, aber wo sie bleiben,
muss erst durch die Vernunft erforscht werden. Die Unwissenheit
verlegte diesen Aufenthalt in die Unterwelt. Ein grosser Mann war
es daher, der zuerst sich hiervon lossagte und sich auf die Ver-
nunft stützte. Nach der Überlieferung that dies zuerst Phereky-
des. So verschieden nun auch die Ansichten der nachfolgenden
Philosophen über das Wesen der Seele sind, so folgt aus ihnen
doch stets, dass die Seele nach ihrem Abscheiden vom Körper
in die oberen Regionen aufsteigen muss (SS 36—41). Hieran
1) Corssens Erklärung von ὃ 27ff. (a. a. O. p- 5) ist jedenfalls nicht
richtig. C. scheidet die sapientes $ 27 ff. von denjenigen, von welchen es
$ 29 heisst, dass sie natura admonente die Unsterblichkeit der Seele erkannt
hätten, und meint, dass jene alten Menschen gewusst hätten, dass sie nach
dem Tode zu Göttern würden. Davon steht aber nichts da, sondern nur,
dass es ihre Meinung (opinio) war. Wenn C. ferner behauptet, dass die be-
treffenden Worte $ 29m bereits zum zweiten Argumente gehörten, so irrt er
(αἴθ animorum tacitam iudiecare, quod omnibus curae sunt
_ zu interpretieren, wie es C. thut.
sich; Cicero beginnt dasselbe ausdrücklich erst $ 30. Aber nur ın dem Falle,
dass diese Worte aus dem ersten Argumente herausgenommen und in das
zweite gesetzt werden, ist C’s. Deutung von 8. 27 möglich. Da jene Zer-
reissung gegen Ciceros direkte Angabe verstösst, haben wir kein Recht so
2) $ 81: maxumum vero argumentum est naturam ipsam de immortali-
et maxumae
quidem, quae post mortem futura sint ... quid.... significant nisi nos futura
etiam cogitare? Wenn dies der grösste Beweis sein soll, so muss doch aus
dem Denken des Zukünftigen das Leben in der Zukunft folgen.
— 134 —
schliesst sich eine Widerlegung derer, welche die Unsterblichkeit
leugnen, des Dicaearch, Aristoxenus, Democrit und Panätius
(SS 41-42). Darauf folgt der vorhin schon vorgebrachte Beweis,
dass die Seele ihrer Natur nach in die oberen Regionen aufsteigen
müsse, in etwas modifizierter Gestalt!) noch einmal (8 43) und
alsdann die Schilderung des Lebens im Jenseits (SS 44—47). Diese
bildet das Gegenstück zu den Angaben über das Leben der Seele
in der Unterwelt und daher Veranlassung gegen die Epikureische
Ansicht zu polemisieren, die sich rühmte, die Menschen von der
Furcht vor den Strafen der Unterwelt befreit zu haben. Dieser
Abschnitt schliesst mit einer Berufung auf die Autorität des Pytha-
goras und des Plato als Gegengewicht gegen Epikur (88 48—49)°).
Wir kommen zum zweiten Teile. Gegen die vorgetragene
Ansicht wird eingewandt, es sei unerklärlich, wie die Seele ohne
den Körper existieren könne. Dieser Einwand wird zunächst
indirekt als nicht stichhaltig zurückgewiesen: Niemand zweifelt,
dass die Seele während des Lebens im Körper vorhanden ist,
ohne dass er sehen kann, wie sie beschaffen ist. Daraus also,
dass man nicht begreifen kann, wie die Seele ohne Körper ist,
geht noch nicht hervor, dass sie auch nicht ist ($ 50). Dann
folgt ein langer direkter Beweis?): Wie die Gottheit zwar nicht
gesehen, jedoch aus ihren Werken und Wirkungen erkannt wird,
ebenso wird auch die Seele nicht unmittelbar geschaut, aber aus
ihren Äusserungen und Fähigkeiten erkannt. Diese sind haupt-
sächlich die stete Eigenbewegung, das Gedächtnis, die Denk- und
Erfindungskraft (inventio atque excogitatio) und überhaupt die
Tugend. Diese Fähigkeiten kommen den groben Elementen (Erde
und Wasser) nicht zu, sondern entsprechen denen der Gottheit:
Also ist die Seele göttlichen Wesens und demnach wie die Gott-
heit unsterblich (88. 553—70). Dieser Beweis ist in der unklaren
Darstellung Ciceros ziemlich verwirrt, doch keineswegs verwischt;
wir haben ihn etwas näher zu erörtern. Als Beweis für die
Ewigkeit der Seele trotz der Unkenntnis ihrer Beschaffenheit
') Hierauf werden wir später zurückkommen.
5) 88 40—42 hält Corssen a. a. O. p. 7 für eine Zuthat Cieeros, die in
den Zusammenhang nicht gehöre; mit Unrecht, wie die gegebene Übersicht
zeigt und auch Hirzel a. a. O. S. 355 ff. dargelegt hat.
°) Denn wie die nachfolgende Erörterung aufzufassen ist, zeigen deutlich
die Worte $ 53: sed si qualis sit animus, ipse animus nesciet, die quaeso,
ne esse quidem se nesciet ὃ
— 1980 —
führt Cicero zunächst ihre Eigenbewegung an (88 53—55), woraus
er schliesst: ex quo efficitur aeternitas. Nach einigen Zwischen-
bemerkungen (8 56) nennt und behandelt Cicero als charakte-
ristische Fähigkeit der menschlichen Seele 1. das Gedächtnis
(88 57—61) und 2. die Erfindungskraft, welche alle Kunst und
Wissenschaft erdacht habe (88 62—64). Darauf fährt er fort:
8 65: Prorsus haec divina mihi videtur vis... . fingebat haee —
die vorhergehende Erzählung — Homerus et humana ad deos
transferebat: divina mallem ad nos. guae autem divina? wvigere,
sapere, invenire, meminisse. ergo animus ... divinus est. Der
Zusammenhang und die Bündigkeit dieses Beweises ist klar.
Hierauf führt Cicero aus seiner Consolatio eine Stelle gleichen
Inhalts an, giebt alsdann nach einigen Zwischenbemerkungen eine
beredte Schilderung der göttlichen Thätigkeit und schliesst mit
den Worten: 8. 70; haec igitur et alia innumerabilia cum cerni-
mus, possumusne dubitare, quin iis praesit aliquis vel effector ..
vel moderator ... .? sic mentem hominis, quamvis eam non Vi-
deas — vgl. 8 50 — ut deum non vides, tamen, ut deum ad-
gnoscis ex operibus eius, sic ex memoria rerum et inventione et
celeritate motus ommique pulchritudine virtutis vim divinam mentis
agnoseito. Augenscheinlich werden mit den letzten Worten die
Erörterungen in den 88 53-64 zusammengefasst und die in ihnen
bezeichneten Fähigkeiten der menschlichen Seele parallel denen
der Gottheit gestellt, die wir aus ihren Werken entnehmen. Da
es sich nun hier um den Nachweis der Unsterblichkeit der Seele
handelt, wie wir schon vorher $ 53 und 55 erkannt haben, so
folgt mit Notwendigkeit der Schluss, den wir oben gezogen haben,
dass die Seele gottgleich und als solche unsterblich ist 1), Auf
diesen langen Beweis folgt $ 11 noch ein kurzer, doch keineswegs
1) Wenn also Hirzel a. a. O. S. 346, 1 die 88 62—64 als einen Zusatz
Ciceros streichen will, so kommt dies augenscheinlich daher, dass er die lo-
gische Fügung dieses Beweises völlig verkannt hat. Ebenso vermutet er
unrichtig, dass man $ 65 die Worte ‘haee divina mihi videtur vis’ unwill-
kürlich auf die Philosophie beziehe, während sie Cicero auf die memoria
bezogen wissen wolle: die Worte bedeuten hier nicht bloss die memoria,
sondern die ganze geistige Kraft, und können auf die Philosophie gar nicht
bezogen werden, weil Cicero in den unmittelbar folgenden Worten ganz
klar angiebt, was er unter der vis animi versteht. Ebenso ist Corssen im
Irrtum, wenn er a. a. Ὁ. p. 25 meint, Cicero habe nicht recht verstanden,
was er geschrieben habe. Es handelt sich hier nicht, wie Corssen meint,
— 156 —
unwichtiger, nach: Die Seele ist etwas Einheitliches und Unzer-
trennbares; infolge dessen kann sie nicht untergehen, weil sie
sich nicht auflösen kann. Seinem Inhalte nach ist er schon vor-
her dagewesen, nämlich am Anfange des Citates aus Ciceros Con-
solatio (S 66).
Mit diesem Beweise schliesst die Darstellung Ciceros die Be-
weise für die Fortdauer der Seele nach dem Tode. Hierauf
folgen zunächst einige Bemerkungen, die sich aus der Darlegung
für das Leben ergeben (88 72—75) und darauf noch einmal eine
Polemik gegen die Gegner. Genannt werden als solche die Epi-
kureer, Dicaearch, die Stoiker und unter diesen besonders Pa-
nätius. Die Epikureer und Dicaearch werden aber nicht wider-
legt; die Stoiker werden nur insofern als Gegner bezeichnet, als
sie nur eine je nach dem Zustande der Seele beschränkte, und
nicht eine unbedingte Fortdauer der Seele annehmen, was ein-
fach als eine Inkonsequenz bezeichnet wird; eingehend dagegen
ist wieder die Polemik gegen Panätius. Wie kommt nun Cicero
dazu, diesen allein hier so eingehend zu berücksichtigen, da er ihn
doch schon 8 42 ebenso eingehend widerlegt hat? Die Antwort
giebt uns die Disposition der Abhandlung: Im zweiten Abschnitte
des ersten Teiles wird die Unsterblichkeit der Seele durchweg
aus ihrer physischen Natur erschlossen, und ebenso beruhen die
Gründe, welche im ersten Abschnitte desselben Teiles für die Un-
sterblichkeit aufgezählt werden, zum grossen Teile auf der phy-
sischen Natur der Seele. Denn wenn die Urmenschen hauptsäch-
lich aus den nächtlichen Gesichten, die ihnen die Toten als Le-
bende vorstellten, die Unsterblichkeit erkannten, so ist es ganz
klar, dass und wie dieser Grund mit der physischen Natur der
Seele zusammenhängt. Betrachten wir dagegen den zweiten
Teil, so sehen wir sofort, dass dort gerade umgekehrt die Un-
sterblichkeit der Seele vorwiegend aus ihrer psychischen Natur er-
schlossen wird. Kehren wir jetzt zu der Widerlegung des Pa-
nätius zurück! 8 42 wird ihm ein Widerspruch vorgehalten,
der sich auf seine Annahme über die physische Natur der Seele
gründet; $ 79 dagegen werden seine psychischen Einwände
nur um die Platonische Wiedererinnerungslehre, sondern schlechthin um das
Vermögen der memoria; dieses ist aber doppelter Art: Es umfasst vieles,
was wir wissen, ohne es gelernt zu haben (= Platos ἀνάμνησις) und das ge-
wöhnliche Gedächtnis.
-- 181 —
widerlegt. Die Widerlegung des Panätius entspricht also voll-
kommen der Disposition dieser Abhandlung. Nun ist es auch
klar, warum die übrigen Gegner, welche $ 77 genannt werden,
nicht mehr widerlegt werden: Die Gründe derselben richteten
sich in der Hauptsache gegen die physische Natur der Seele, und
diese waren bereits 8 42 besprochen.
Vergleichen wir jetzt diese Darstellung Ciceros mit der Phi-
losophie Varros in dem ersten Buche der Antiquit. rer. div. und
hauptsächlich mit der zweiten Hälfte desselben, so kann uns die
Übereinstimmung beider keinen Augenblick zweifelhaft sein. Die
Lehre, die sie beide geben, zeigt denselben Charakter im allge-
meinen sowohl wie imeinzelnen: Die Unsterblichkeit wird bei beiden
daraus erschlossen, dass die Seele gleichen Wesens wie Gott ist').
Die Leidenschaften werden bei beiden aus dem Einflusse des Kör-
pers hergeleitet; von beiden wird daher auch ihr Aufhören mit dem
Tode angenommen, ohne dass damit gesagt ist, dass auch gleich
alle ihre Folgen ohne weiteres verschwinden®). Das Jenseits
wird von beiden in den oberen Luftraum verlegt?), während
beide die Unterwelt mit ihren Schrecken und Strömen als ver-
altete und dichterische Anschauung zurückweisen‘). Nach beiden
schweben die Seelen nach ihrem Abscheiden vom Körper empor
und bleiben dort, wo die Umgebung ihrer Natur entspricht?).
Ein gottgleiches Leben in der steten Erkenntnis der Wahrheit ist
ihr Teil. Natürlich kommt dies besonders denen zu, die schon
auf der Erde nach dieser Erkenntnis gestrebt haben. Diese Dar-
stellung Ciceros (8 45) setzt also voraus, dass, je weniger sich
die Menschen um die Wahrheit bekümmern und je schlechter sie
sind, um so weniger ihre Seelen emporsteigen, also in der
Nähe der Erde zurückbleiben. Wenn Cicero hierüber nicht
weiter spricht, während Varro darüber eingehend handelt, so
liegt der Grund einfach in der Verschiedenheit der Aufgabe, die
sich beide gestellt hatten: Varro gab dem Plane seines
Werkes entsprechend eine Übersicht über die ganze diesbezüg-
1) Dies braucht nach den vorhergehenden Darlegungen nicht mehr be-
sonders bewiesen zu werden.
3) Cie. $ 44; Varro a. a. O. frgm. 41 ff. frgm. 91.
3) Cie. $ 40; $ 42#f; Varro a. a. O. frgm. 21}: 216; 88 ff.
4) Cie. $ 36f.; für Varro vgl. 5. 108 ff.
5) Cie. $ 43; Varro frgm. 42.
-- 1588 —
liche Lehre; Cicero wollte nur beweisen, dass der Tod kein Übel
sei: er hatte also Grund die Schlechten und ihr Schicksal ausser
Acht zu lassen. Auch darin stimmen sie schliesslich überein,
dass sie die Wiedererinnerungslehre Platos bringen und die
gleiche Stellung zu den zu Göttern erhobenen Menschen einneh-
men!). Aus der dargelegten Übereinstimmung folgt unzweifel-
haft, dass weder Varro noch Cicero diese Lehre selbständig ent-
wickelt haben, sondern dass sie beide auf dieselbe Quelle zurück-
gehen. Diese haben wir jetzt zu untersuchen.
Cicero macht hier zu verschiedenen Malen einen akademi-
schen Standpunkt geltend, und deswegen hat Hirzel auf eine aka-
demische Quelle und zwar auf ein Werk Philos geschlossen; dies
ist jedoch unstatthaft. Da die vorliegende Lehre sich auch bei
Varro findet, wie gezeigt, so folgt schon hieraus, dass an einen
Skeptiker als Gewährsmann nicht zu denken ist. Doch auch un-
abhängig hiervon ergiebt sich das Gleiche aus der Darstellung
Ciceros. Der ganze Inhalt sowohl wie der Gang seiner Abhand-
lung lassen dieselbe, wie wir vorhin gesehen haben, nicht als
skeptisch, sondern als durchweg‘ dogmatisch erscheinen. Nun
finden sich zwar unstreitig mehrfach Stellen, welche skeptisch
gehalten sind; aber die Fragen, welche an diesen unentschieden
gelassen werden, sind solche, welche nach Ciceros eigener Angabe
mit dem Thema der Abhandlung direkt nichts zu schaffen haben?).
Auch sind es stets dieselben Fragen, die in derselben Weise
wiederholt werden, nämlich die nach dem Wesen und dem Sitze
der Seele. Aber selbst in diesen Fragen hält Cicero seinen skep-
tischen Standpunkt nicht fest, sondern durchbricht ihn und gerät
in das offene Gegenteil?). Er macht ferner über das Wesen der
Seele ganz bestimmte Angaben und bemerkt dabei, und zwar in
') Vgl. ferner noch die grosse Übereinstimmung in der Art des Beweis-
verfahrens bei Cie. ὁ. 22, 53 mit Varro frgm. 21 Schl. Die Übereinstimmung
zwischen Cicero und Varro besonders in Bezug auf die Regionen der Welt
— eireuli mundi, wie Varro sie nennt — finden wir genauer in dem mit
dieser Darstellung eng verwandten Somnium Seipionis (e. 17, 11 6.) Vgl.
Corssen in s. Diss. p. 40 ff.
°) $ 70: fac igneam, fae spirabilem (se. animam), nıhil ad id, de quo
agimus etsq.
°) 8 60: quae sit illa vis et unde, intellegendum puto. non est certe nee
cordis nee sanguinis nee cerebri nee atomorum.
ΣΟ να
᾿
den stärksten Ausdrücken, dass es unmöglich sei zu zweifeln').
Ebenso äussert er sich auch über ihre Vermögen in ganz bestimm-
ter Weise: Sie hat alle Künste und Wissenschaften erdacht und
auch die Philosophie geschaffen, die alle Unklarheit vom Geiste
gleichwie den Nebel vor den Augen verscheucht. Wenn nun auch
die Vernunft nicht weiss, wie sie beschaffen ist, so hat sie doch
das Wissen -von ihrem Dasein unmittelbar in sich (S 52 in. $ 53
in... Ferner lehrt er auch, wie die Erkenntnis zustande kommt,
und betont dabei zu wiederholten Malen den grossen Gegensatz
zwischen dem Körper und der Seele. Zum Beweise für die
Richtigkeit dieser Auffassung beruft er sich sogar auf die Medi-
ziner (SS 46, 51). Schliesslich giebt er auch an, dass die Vernunft
uns das Dasein und die Natur der Götter erschliesse (S 36): Es ist
demnach unmöglich von einer skeptischen Quelle dieser Abhandlung
zu reden?). Zu diesem Resultate führt noch eine zweite Thatsache.
Überblicken wir nämlich die Abhandlung Ciceros noch einmal,
so lässt sich nicht verkennen, dass die eigentliche Begründung
der Unsterblichkeit von derjenigen Platos fast ganz verschieden
ist, so vielfach auch Platonische Einflüsse stattgefunden haben.
Dies zeigt nicht nur die Abhandlung selbst, sondern wird auch von
Cicero mit aller wünschenswerten Deutlichkeit angegeben (8 24):
M. Quid tibi ergo opera nostra opus est?..... evolve diligenter
eius (sc. Platonis) eum librum, qui est de animo: amplius quod
desideres, nihil erit. A. Fecei me hercule et quidem saepius; sed
nescio quo modo, dum lego, assentior; cum posui librum et mecum
ipse de immortalitate animorum coepi cogitare, adsensio omnis
illa elabitur. Die nachfolgende Abhandlung will also eine neue
Begründung der Unsterblichkeit geben, die beweiskräftiger ist,
da sie den schwankenden Zuhörer gänzlich überzeugt ($ 76 ff. 32).
ı) 8 ΤΙ: dubitare non possumus, nisi plane in physicis plumbei sumus, quin
nihil sit animis admixtum ... quod cum ita sit, certe nee secerni nec dividi
nee discerpi nee distrahi potest, ne interire quidem igitur etsq. Diese Stelle
schliesst einfach die zweite Hälfte dieses Buches aus.
2) Hirzel selber kann nicht umhin zuzugestehen, dass verschiedene Stellen
($$ 36, 42, 51 u. 64) dogmatischer Natur seien. Zu 8 64 bemerkt er sogar,
dass Cicero hier allem Skeptizismus den Abschied gebe, Das Anstössige
der ersten Stellen sucht er abzuschwächen; die letzte aber streicht er als
einen Zusatz Ciceros ganz. Dass dies durchaus unstatthaft ist, haben wir
früher nachgewiesen. Auf die übrigen oben angeführten Stellen hat er zu
wenig geachtet.
— 146 --Ἠ--
Gewiss wäre es wohl niemals einem Akademiker in den Sinn
gekommen, durch eine derartige Abhandlung Platos Werk zu er-
gänzen oder gar in den Schatten zu stellen'y
Diese letzte Stelle führt uns zugleich weiter in der Erkennt-
nis der Quelle. So unleugbar der Einfluss Platos an verschie-
denen Stellen ist, so ist die Abhandlung doch in den wesentlich-
sten Punkten nicht Platonisch. Welcher Schule gehört sie also
an? Bereits Corssen hat in seiner Dissertation S. 23 auf die
ausserordentliche Übereinstimmung hingewiesen, welche zwischen
dem, was Cicero 8 62 und Seneca ep. 90, 7; 20; 21 nach Posi-
donius vorträgt, stattfindet. Auch Hirzel kann nicht leugnen, dass
Cicero hier Gedanken des Posidonius verarbeitet hat; doch nimmt
er an, dass Cicero diese Stelle frei gestaltet habe, so dass wir
aus ihr auf den Charakter der Quelle nicht schliessen dürften 5).
Allein dies ist nicht die einzige Stelle, die auf die Stoa hinweist.
88. 35—41 beweist Ciceros Quelle die Unsterblichkeit aus der
physischen Natur der Seele und zwar wesentlich von fremden
Standpunkten aus, nämlich von denen des Pythagoras, Plato, Ari-
stoteles und der Atomisten. Denn dass auch diese berücksichtigt
werden, geht daraus hervor, dass es ὃ 40 unentschieden gelassen
wird, ob die leichteren Stoffe aus eigener Natur emporsteigen,
oder von den schwereren emporgestossen werden, wie die Ato-
misten annahmen?). Aus den verschiedenen Möglichkeiten über
die Natur der Seele, die hier zugelassen werden, wird jedoch
nicht nach skeptischer Art auf die Unentscheidbarkeit der Frage
nach der Unsterblichkeit geschlossen, sondern gerade umgekehrt,
dass, wie verschieden auch immer jene Auffassungen seien, doch
stets die Unsterblichkeit der Seele aus ihnen folge. Nach der
Widerlegung der Gegner folgt dann im engsten Anschluss an die
') Weitere Belege wird die nachfolgende Untersuchung ganz von selbst
bringen. j
5) Hirzel a. a. Ὁ. S. 347 ff. meint, diese Übereinstimmung zwischen Ci-
cero und Seneca führe zu der Annahme, dass beide dieselbe Schrift des
Posidonius vor Augen gehabt hätten. Dies sei jedoch unmöglich, weil es
undenkbar sei, wie der Inhalt des 1. Buches der Tusc. aus einem Protrep-
ticos geschöpft sein könne, den doch Seneea a. ἃ. Ὁ. sicher benutzte. Dieser
Schluss ist keineswegs zwingend: Die Übereinstimmung ist nur sachlich,
nicht wörtlich, und denselben Inhalt konnte, ja musste Posidonius gewiss
an verschiedenen Stellen vortragen.
°) Hierauf hat Hirzel treffend hingewiesen a. a. O. S. 359.
— 14411 —
Kritik, die an der Lehre des Panätius geübt wird, derselbe Beweis,
den wir 8 40 haben, $43 in etwas veränderter Gestalt noch ein-
mal: Die Seele durchdringt ihrer Natur entsprechend den unteren
Luftraum, wo die Wolkenbildung vor sich geht, und bleibt un-
bewegt schweben, sobald sie die ihr entsprechende Region erreicht
hat. Diese besteht aus feiner Luft und ätherischem Feuer: iunctis ex
anima tenui et ex ardore solis temperato ignibus: Folglich besteht
die Seele ihrer physischen Natur nach aus derselben Mischung
oder vielmehr aus derselben Modifikation des Äthers, wie dieser
Teil der Welt, in der sie ihren Aufenthalt nimmt, sie ist also stoff-
lich. Diese Lehre ist bekanntlich spezifisch stoisch. Echt stoisch
ist auch die unmittelbare Fortsetzung dieser Stelle, in der es
heisst, dass die Seele von den gleichen Stoffen sich nähre wie
die Gestirne!). Eine weitere Bestätigung findet sich darin, dass,
während $ 40 die Möglichkeit offen gelassen wird, ob die leich-
teren Elemente vermöge ihrer Natur oder infolge von Stoss sich
erheben, hier diese Unentschiedenheit nicht mehr zugelassen,
sondern das Aufsteigen derselben auf ihre eigene Natur gegründet
wird. Denn hier wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die
Seele wegen ihrer unvergleichlichen Schnelligkeit sich in den
Luftraum erhebt?). sStoisch ist es ferner, wenn $ 64 die Philo-
sophie als eine Erfindung der Götter gepriesen und von ihr ge-
rühmt wird, sie führe ad ius hominum, quod situm est in generis
humani societate. Stoisch ist es auch, wenn $ τὸ auf Grund
der Tugend die Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit der
!) eaque ei demum naturalis est sedes, cum ad sui simile penetravit, in
quo nulla re egens aletur et sustentabitur iisdem rebus, quibus astra susten-
tantur et aluntur. Auf diese Stellen hat Hirzel a. a. Ὁ. S. 358#. nicht
geachtet.
2) Es kann also hier natürlich nicht daran gedacht werden, dass wir
8 48 einen Platonischen Beweis vor uns haben und dass 8 43 und $ 40 aufs
engste zusammengehören. Selbstverständlich ist es ferner, dass wir auch
nicht mehr aus $ 40, wie Hirzel will, auf den Skeptizismus der Quelle
sehliessen dürfen. Dagegen spricht auch noch ein weiterer Umstand. $ 40
heisst es nämlich, die Erde stehe im Mittelpunkte der Welt und sei im
Verhältnis zu der ungeheuren Ausdehnung derselben gleichsam ein Punkt.
Wenn der Beweis in $40 auch sonst älteren Philosophen entlehnt sein mag,
so weist doch diese Äusserung auf einen Bearbeiter, der die Forschungen der
grossen griechischen Astronomen kannte und anerkannte; dass dies nur ein
Dogmatiker gewesen sein kann, braucht nicht gesagt zu werden.
ee
Menschen und Götter bewiesen wird!). Diese Stelle ist aber um
so wichtiger, als sie der Schlussstein des langen und wichtigen
Beweises von 88 53—70 ist. Ja im Grunde genommen ist dieser
ganze Beweis nur eine genauere Ausführung des angedeuteten
stoischen Beweises, der von dem Besitze der Vernunft (ratio) auf
die Verwandtschaft der Götter und Menschen schliesst; denn
die memoria und die excogitatio atque inventio sind nur die
einzelnen Vermögen der ratio. Weiter weist uns auf einen Stoiker
als Verfasser dieses Beweises die Thatsache, dass die den Plato-
nischen Ideen korrespondierenden Begriffe mit dem technischen
Namen ἔνφοιαι bezeichnet werden?). Echt stoisch ist es schliess-
lich auch, dass und wie $ 74 der Selbstmord unter gewissen
Umständen gestattet wird®). Da nun die Quelle stoisch ist und
$ 62, wie auch Hirzel anerkennt, entschieden Gedanken des Po-
sidonius enthält und nicht eingeschoben sein kann, so folgt, dass
Posidonius die gesuchte Quelle ist. Dieses Resultat wird durch
weitere Stellen bestätigt und erhärtet. Gleich im ersten Beweise
$ 26 beruft sich Cicero auf den Glauben der Menschen der
Vorzeit. In durchaus ähnlicher Weise führt Sextus (s. S. 87) den
Glauben an die Götter auf die Erkenntnis jener Menschen zurück
und giebt an, dass dieser Beweis den jüngeren Stoikern gehöre ἢ.
1 Beweise und Belege hierfür vorzubringen ist nach den vorhergehenden
Abhandlungen nicht mehr nötig, auch ist es allgemein bekannt.
5) Hirzel a. a. Ὁ. S. 366 will zwar dies nicht für wahr halten und meint,
dass ἔννοια hier zufällig sein könnte, weil es ja nicht einmal spezifisch stoisch
sei; doch liegt hier die Sache thatsächlich etwas anders. Wenn Cicero hier
schreibt .. notiones, quas ἐννοίας vocant etsq., so ist hier ἔννοια offenbar als
term. techn. gebraucht und als soleher ist das Wort bekanntlich stoisch.
Übrigens werden hier keineswegs die ἔννοιαν und die Ideen zusammengeworfen,
wie Hirzel a. a. O., Corssen p. 25, Tischer u. Heine in ihren erklärenden
Ausgaben zu dieser Stelle bemerken: ἔννοια übersetzt Cicero durch notio,
ἰδέα durch species; die ἔννοιαν sind offenbar die Begriffe von den Ideen.
®) Nicht das Verbot des Selbstmordes, wie Corssen p. 37 meint und
Hirzel S. 343 widerlegt, sondern das Gestatten desselben weist hier auf eine
stoische Quelle. Denn wenn wir lesen: cum vero causam iustam deus ipse
dederit, ut tune Socrati, nune Catoni, saepe multis ... tamquam a magistratu
aut ab oliqua potestate legitima, sie @ deo evocatus atque emissus exierit, 50
wird hier augenscheinlich der Selbstmord Catos und vieler anderer dem Selbst-
morde (!) des Sokrates gleichgesetzt.
ἢ) Hieraus schliesst auch Corssen a. a. Ὁ. p.9 nach dem Vorgange von
Krische, Forschungen auf dem Gebiete der alten Philosophie S. 452.
-- 14 --
Ebenso deutet auch (ὃ 40) das Urteil über die Grösse und das
Verhältnis der Erde zur Welt auf einen jüngeren Stoiker. Dass
dieses nur Posidonius gewesen sein kann, folgt nun daraus, dass
die Stoiker, die sonst hier noch in Frage kommen könnten, wie
Panätius, die Unsterblichkeit entweder gänzlich leugneten oder
beschränkten.
Ferner . hat auch die Darlegung des Inhalts und der
Disposition gezeigt, dass die eingehende Polemik gegen Panätius
mit der Darstellung aufs engste zusammenhängt, also nicht etwa
von Cicero hinzugefügt ist. Folglich muss der Stoiker, um den
es sich hier handelt, nach Panätius gelebt haben. Sehen wir uns
nun die Widerlegung genauer an! Hirzel schreibt S. 374: »We-
sentlich gleichartig ist auch das zweite Argument, da es eben-
falls die Verteidigung aus Platos eigenen Mitteln bestreitet: Denn
wenn vielleicht auch der Gedanke, dass die Beschaffenheit des
individuellen Körpers die Natur des Geistes bedingt, sich mit
diesen Worten in den platonischen Schriften nicht ausgesprochen
findet, so ergab er sich doch als Konsequenz aus den zahlreichen,
Stellen, an denen von dem befleckenden Einfluss die Rede ist,
den die Seele seit ihrem Eintritt in den Körper von diesem er-
fährt« u. s. w. Nun, diese Konsequenz hat Posidonius vertreten,
und zwar im Anschluss an Plato, wie die nachfolgende Unter-
suchung zeigen wird: Es kann also kein Zweifel daran sein, dass
Posidonius die Quelle ist!). Hierzu stimmt schliesslich noch eine
letzte Stelle. Cicero schreibt über das Verhältnis Platos zu Pytha-
goras ($ 38): rationem illi (sc. Pythagorei) sententiae suae non
fere reddebant . . Platonem ferunt . . didieisse Pythagorea om-
nia, primumque de animorum aeternitate non solum sensisse idem
quod Pythagoram, sed rationem attulisse. Dies ist das Urteil des
Posidonius bei Galen de placit. Hipp. et Plat. IV p. 401, 11 ff.
ed Müll.: οὐ γὰρ ᾿Αριστοτέλης μόνον ἢ Πλάτων ἐδόξαζον οὕτως,
ἀλλ᾽ ἔτι πρόσϑεν ἄλλοι τέ τινες καὶ 6 Πυϑαγόρας, ὡς καὶ ὃ Πο-
σειδώνιός φησιν ἐχείνου πρώτου τ᾽ εἶναι λέγων τὸ δόγμα, Πλά-
τωνα δ᾽ ἐξεργάσασθαι καὶ χκατασχευάσαι τελεώτερον αὐτό. Von
_ neuem bestätigt diese Stelle das frühere Urteil°).
ἢ Wenn übrigens Hirzel a. a. O. S.376 Anm. 1 schreibt: „Ein Stoiker
hatte keinen Grund, über diese beiden von Panätius vorgebrachten Gründe
in den Harnisch zu geraten“, so wird die nachfolgende Abhandlung sicher
das Gegenteil darthun. . Eure
2) Vgl. auch Corssen S. 20. Von den beiden Gründen, die Hirzel S. 381 ff.
-- 14 —
Ist nun Posidonius die Quelle für Cicero, so folgt das Gleiche
auch für Varro, da er ja die gleiche Verbindung Platonischer und
stoischer Lehren entwickelt. Dies wird offenbar auch durch die
Thatsache bestätigt; denn frgm. 20 wird Posidonius und seine De-
finition der Gottheit ausdrücklich eitiert.
In der vorliegenden Darstellung Varros und Ciceros wird der
engste Zusammenhang zwischen der Seele und der Gottheit be-
tont und daraus argumentiert; unwillkürlich richtet sich daher
unser Gedanke auf die im vorigen Kapitel behandelte Schrift
des Posidonius περὶ ϑεῶν, zumal wir schon vorhin Gelegenheit
hatten zu sehen, dass die Lehre, welche Sextus den jüngeren
Stoikern zuschreibt, sich auch hier findet. Hier also wird die
Unsterblichkeit der Seele nach Plato aus ihrer eigenen Bewegung
erschlossen und mit demselben Grunde dort die Gottheit der
Welt erwiesen. Ebenso erinnert uns Cic. a. a. Ὁ. $ 68f. lebhaft
an Gründe, welche wir auch dort finden!); dass diese mehr all-
gemeiner Art sind, schränkt zwar die Bedeutung dieser Überein-
stimmung ein, doch hebt es dieselbe nicht ganz auf. Namentlich
aber findet diese Verwandtschaft zwischen unserer Abhandlung
Ciceros und jenem Abschnitte der Schrift des Sextus statt,
welcher das Dasein der Gottheit aus der Übereinstimmung aller
Menschen erweist. Diesen Beweis finden wir auch bei Cicero
wieder ($ 30), hier aber in weiterer Fortsetzung auch für die
Unsterblichkeit der Seele verwendet. In gleicher Weise wie dort
wird auch hier der Einwand, der von der Unterwelt und ihren
für Philo als Quelle geltend macht, erklärt er selbst den zweiten für belang-
los; dass auch der erste gewiss nicht zwingend ist, ist jedem Leser ebenso
klar. Wie wenig es Hirzel gelungen ist zu einem entscheidenden Resultate
zu kommen, zeigen seine eigenen Worte, in denen er 5. 393 das Resultat
seiner Untersuchung zusammenfasst: „Ich will nun keineswegs behaupten,
dass der ganze Inhalt des ersten Buches aus einer philonischen Schrift herüber-
genommen ist, sondern gebe die Möglichkeit zu, ja halte es für wahrscheinlich,
dass ganze Partieen aus einer anderen Quelle stammen, nur das muss ich
festhalten, dass diese Quelle nicht notwendig die Schrift eines anderen Philo-
sophen zu sein braucht, sondern ebenso gut Cieeros eigenes Gedächtnis ge-
wesen sein kann“. Nun haben wir aber oben gesehen, dass ein Ausscheiden
ganzer Partieen aus der Darstellung Ciceros unmöglich ist: Also dürfen wir
jetzt nach Hirzels Zugeständnis selbst an dem Resultate seiner Untersuchung
nicht festhalten.
') Cie. deor. nat. ΤΙ 5, 13#. 15, 40.
Bye
4
-
-- 14 —
Schrecken hergenommen wird, als Erfindung der Dichter zurück-
gewiesen und ausgeführt, dass die Seele vielmehr ihrer Natur
nach in den Himmelsraum jenseits der Wolken emporsteige.
Ebenso berichten beide, dass sie sich daselbst nicht auflöse und
verflüchtige. Ferner schreibt Sextus in dieser Aus einandersetzung
Ε΄ 11: λεπτομερεῖς γὰρ οὖσαι Ise. αἱ ψυχαί] καὶ οὖχ ἧττον πυρώ-
δεις ἢ πνευματώδεις eis τοὺς ἄνω μᾶλλον τόπους χουφοφοροῦ-
σιν. In gleicher Weise drückt sich Cicero aus (8 40); perspicuum
debet esse animos, cum e corpore excesserint, sive illi sint ani-
males, id est spirabiles, sive ignei, sublime ferri. Ebenso wie
hier das Wesen der Seele unentschieden gelassen wird, wird
bei beiden auch der Sitz der Seele absichtlich nicht näher er-
örtert: Sextus schreibt ($ 119): ἐν παντὶ πολυμερεῖ σώματι καὶ
κατὰ φύσιν διοιχουμένῳ ἔστι τι τὸ κυριεῦον, καϑ' ὃ καὶ ἐφ᾽ ἡμῶν
μὲν ἢ ἐν καρδίᾳ τοῦτο τυγχάνειν ἀξιοῦται ἢ ἐν ἐγκεφάλῳ ἢ
ἐν ἄλλῳ τινὶ μέρει τοῦ σώματος; Cicero (8 41): horum igitur
aliquid animus, ne tam vegeta mens aut in corde cerebrove
aut in Empedocleo sanguine demersa jaceat. Die Überein-
stimmung ist so klar, dass, wenn noch vorhin ein Zweifel übrig
geblieben ist, ob eine akademische oder stoische Quelle vorliege,
dieser Zweifel zu Gunsten der letzteren gänzlich verschwindet:
Posidonius ist die Quelle. Wie nun Posidonius im vorigen Ka-
pitel die verschiedenen Philosophen in zwei Klassen teilt, in
solche, welche das Dasein der Götter lehren, und solche, welche
es verwerfen, und die Beweise aller Philosophen, welche es an-
nehmen, vorträgt, ohne Rücksicht auf ihre Verschiedenheit zu
nehmen, ebenso werden auch hier die Philosophen, welche die
Unsterblichkeit lehren, denen gegenüber gestellt, welche sie ver-
werfen, und die Ansicht der ersteren verteidigt, wobei es nalur-
gemäss auf die Unterschiede über die Natur und den Sitz der
Seele weniger ankam.
Der Zusammenhang, den wir zwischen der Schrift des Po-
sidonius περὶ Jesv und namentlich einem Abschnitte derselben
einerseits und Ciceros Tusculanen andererseits erkannt haben,
“macht es nicht unmöglich, dass eben diese Schrift die Quelle für
Ciceros Tuseulanen und Varros Antiquit. rer. div. I gewesen ist.
Für die Richtigkeit dieser Vermutung in Bezug auf Cicero spricht
der Umstand, dass Cicero sein Werk de deorum natura in dem-
selben Jahre begann, in welchem er die Tusculanen verfasste,
Schmekel, mittlere Stoa. 10
-- 146 --
und in der ersteren Schrift zweifellos den Posidonius benutzte,
Was aber Varro anbetrifft, so ist es ganz natürlich an dieses
Werk als seine Quelle zu denken, da er ja in dem ersten Teile
des ersten Buches über das Dasein und das Wesen der Götter
handelte‘). Hierzu stimmen noch zwei Fragmente; No. 19 näm-
lich entspricht vollständig Cie. deor. nat. ΠῚ 315. See
adv. phys. I 75—76 und No. 24 ebenso Cic. a, a. 0. I5, 13.
— Sext. a. a. Ὁ. Varro referiert an der letzteren Stelle augen-
scheinlich die Beweise, welche nach Ciceros Angabe dem Clean-
thes?) gehörten?).
Wir wenden uns noch zu der zweiten Hälfte des ersten
Buches der Tusculanen. Cicero sucht hier dem Thema gemäss’
($ 26) darzuthun, dass der Tod auch dann kein Übel sei, wenn
die Seele denselben nicht überdauere. Er kündigt diesen zweiten
Teil bereits in den $$ 76—77 an und beginnt ihn $ 82. Der
Gang desselben ist in Kürze folgender: Zunächst befreit der Tod
den Menschen von den Übeln des Lebens, die entweder schon
vorhanden sind oder jeden Tag eintreten können ($$ 85—86); er
ist also kein Übel. Aber selbst wenn er die Menschen der Güter
beraubt, ist er kein Übel, da mit ihm jede Empfindung aufhört:
Wie die Zeit vor der Geburt, so geht auch die Zeit nach dem
Tode den Menschen nichts an ($$ S7—92)*). Infolge dessen ist es
Ὁ Eine Gewissheit wird sich über diese Frage nicht erreichen lassen.
?) Treffend hat-Corssen in seiner Dissertation S. 40 ff. auf die der ersten
Hälfte dieses Buches der Tusculanen parallele Darstellung im Somn. Seip.
hingewiesen und daraus den Schluss gezogen und denselben zugleich näher
begründet, dass Cicero hier dieselbe Schrift des Posidonius wie in dem ge-
nannten Abschnitte der Tusculanen benutzt habe. Eine Ergänzung hierzu
giebt Diels Rh, Mus. Bd. XXXIV S. 487 fi.
®) Was die purgatio animarum betrifft, über die bei Varro ebenfalls
gehandelt wird, so ist die letzte Quelle derselben Platos Phaedon e. 13; 57.
62ff. Diese hängt mit der Lehre eng zusammen, dass die Seelen durch den
Körper in verschiedener Weise beeinflusst werden und demgemäss nach dem
Tode verschiedene Stufen einnehmen. Da wir diese Lehre bei Posidonius
haben, so hat Varro sicher auch das, was er von der purgatio bringt, durch
Vermittelung des Posidonius von Plato erhalten. Bei Cicero finden sich
hierüber aus dem oben schon angegebenen Grunde nur Andeutungen; ganz
klar aber treffen wir diese Lehre bei Vergil wieder. Wir werden hierüber
noch später zu handeln haben.
*) Corssen Rh. Mus. XXXVIJ, S. 505ff. vermisst sonderbarer Weise eine
scharfe Trennung der beiden Bestandteile dieses Buches und versucht da-
;
a --
auch verkehrt ein frühzeitiges Sterben zu beklagen und ein langes
Leben für glücklich zu halten: Nicht auf ein langes, sondern
auf ein tugendhaftes Leben kommt es an. Hierauf folgt eine
lange Aufzählung von Beispielen solcher Männer, die frühzeitig
heiter und willig in den Tod gegangen sind, oft in einer Weise,
dass wir ganz vergessen, um was es sich überhaupt in diesem
Abschnitte handelt (SS 93—102). Daran schliesst Cicero eine Reihe
her den Nachweis zu führen, dass der zweite Teil nur die Fortsetzung des
ersten und aus derselben Quelle wie dieser, d. h. aus Posid. geflossen sei.
Zunächst liegt die Scheidung klar vor ὃ 76: adsunt.. qui haee non pro-
bent; ego autem nunquam ita te in hoc sermone dimittam, ulla uti ratione
mors tibi videri malum possit..... $ 77 catervae veniunt contra dieentium nec
solum Epieureorum ... acerrume autem ... Dicaearchus contra hane immor-
talitatem disseruit... num non vis igitur audire, cur etiam si ita sit, mors
tamen non sit in malis? Damit ist der $ 26 verheissene zweite Teil der
Abhandlung klar und deutlich angekündigt. Seine Ausführung beginnt $ 82:
fae ut isti volunt animos non remanere post mortem .... mali quid adfert
ista sententia? Dass wir hier keine so scharfe Gliederung haben können wie
in anderen Schriften Ciceros, hat darin seinen Grund, dass wir an dieser
Stelle ein Gespräch und keine dogmatische Abhandlung vor uns haben;
doch gerade darin offenbart sich noch die Scheidung beider Teile, dass
Cicero hier ein wirkliches Gespräch nachahmt, während er vorher und nach-
her seiner Sitte gemäss (vgl. auch $ 16 exf.), die Abhandlung ohne Unter-
brechung vorträgt. Corssen hält alsdann den Grundsatz Epieurs ‘6 ϑάνατος
οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς" für das Thema der 88 82--9] und meint, dass sich dieses
sehr wohl an den erbaulichen Inhalt des $ 75 und der vorhergehenden Dar-
stellung anschliesse. Er streicht infolge dessen die 88 76—82 aus dem
Zusammenhange und glaubt dann in den 88 75 und 83—86 einen Zusammen-
hang zu haben, der den ersten Teil fortspinne, ohne eine Trennung erkennen
zu lassen. Was nun zunächst seine Inhaltsbestimmung der $$ 82—91 be-
trifft, so ist diese einfach unrichtig; denn das Thema, dass der Tod den
Menschen nichts angehe, beginnt Cicero erst $ 87. Wie nun aber 8 S3,
der den Tod preist, weil er die Seele vernichtet und sie dadurch von den
Übeln des Lebens befreit, den $ 75 fortspinnen kann, der den Tod preist,
weil die Seele durch ihn erst zu dem wahren Leben im Jenseits eingeht, scheint
mir ebenso rätselhaft zu sein, wie es unmöglich ist, die beiden Gegensätze
zu vereinigen: Es ist einfach unmöglich, die genannten Paragraphen aus
dem Zusammenhange zu entfernen. In diesen Paragraphen steht mit voller
Klarheit geschrieben, dass hier der zweite Teil der Abhandlung beginnt:
Es ist also auch völlig grundlos und unrichtig, durch Streichung derselben
eine Einheit herstellen zu wollen, trotzdem dass Cicero das gerade Gegen-
teil bezeugt. An diesem Grundirrtume scheitert das wesentlichste Resultat
Corssens in dieser Abhandlung: Der Widerspruch der beiden Teile macht
es unmöglich, dass Posidonius für beide Teile die Quelle ist.
᾽ 10"
-- 14 —
von Urteilen und Angaben über den Wert und ‚die Arten der
Bestattung (88. 102m—109) und kehrt nach derselben augenschein-
lich zu dem $ 93 ff. entwickelten Gedanken zurück, setzt diesen
kurz fort und schliesst damit die Abhandlung ($$ 109-111). In
den 88 113—117 folgt ein Epilog, der das Bisherige bestätigt.
Sind die Beispiele in dieser Darstellung überhaupt sehr lang
ausgesponnen, so fallen unter ihnen doch am meisten die An-
gaben über die Bestattung auf. Was diese hier zu thun haben,
ist überhaupt wenig ersichtlich. Am Schlusse wird zwar ange-
deutet, weswegen sie hierher gesetzt sind, wenn Cicero sagt, die
Art der Bestattung sei für die Gestorbenen höchst gleichgültig,
die Hinterbliebenen aber hätten der Sitte gemäss zu handeln;
aber wie kommt Cicero dazu, die Bestattungsarten der ausländi-
schen Völker ὃ 105 mit varios errores zu bezeichnen? Sind sie
dies in der That, so ist es doch geradezu verkehrt daraus den
Schluss herzuleiten, dass die Art der Bestattung gleichgültig sei.
Auch die Art der Einführung dieser Beispiele ist durchaus äusser-
lich: Nur weil ein Ausspruch des Theodorus, den Cicero eitiert,
von der Art des Todes spricht, sieht er sich veranlasst, diese
ganze Stelle hinzuzufügen. Diese Beispiele werden auf Chrysipp
zurückgeführt; dass aber der Inhalt der sie umgebenden Aus-
einandersetzung das Gegenteil von aller stoischen Anschauung
ist, bedarf des Beweises nicht. Mit Recht dürfen wir daher
schliessen, dass Cicero den Abschnitt über die Arten der Be-
stattung von anderwärts her als die umgebende Darstellung ge-
nommen hat!).
Ebenso klar ist es, dass Cicero auch in dem zweiten Ab-
schnitte (88 81--- 92) den Gedankengang durch das Kapitel 37 durch- _
brochen hat. Der Gedankengang dieses Abschnittes ist der
folgende: Der Tod ist kein Übel, weil in dem Tode jede Em-
pfindung aufhört, der Zustand nach dem Tode also gerade so ist wie
der vor der Geburt. Er ist vergleichbar einem ewigen tiefen Schlafe
wie dem des Endymion. Diesen Gedanken zerreisst Cicero durch
das genannte Kapitel, das er mit den Worten beginnt: Quamquam
’) An der sonderbaren Einführung dieses Abschnittes hat sich auch
schon Corssen gestossen und daher diese Partie aus dem Zusammenhange
herausgenommen. Er glaubt, dass sie dem ersten Teile ($ 36) angehöre.
Für die Notwendigkeit dieser Annahme fehlt mir jeder stichhaltige Grund;
vgl. auch Hirzel, Unters. III S. 393 ff.
m =
᾿ )
-- 14 —
quid opus est in hoc philosophari, cum rem non magno opere
philosophia egere videamus? quotiens non modo ductores nostri,
sed universi etiam exereitus ad non dubiam mortem concurrerunt,
und mit den entsprechenden Beispielen aus der römischen Ge-
schichte anfüllt. Diese Beispiele und ihr Thema passen zu dem
sie umgebenden Gedanken in Wahrheit, wie es im Sprichworte
heisst, wie .die Faust aufs Auge. Da also Kapitel 37 sicher sein
Eigentum ist, so folgt er in den $$ 87—SS und 91m—92 einer Quelle.
Bevor wir nun weiter gehen, haben wir zunächst die Stellung
Ciceros zu diesem Werke ins Auge zu fassen. Am klarsten tritt
uns dieselbe $ 111 entgegen, wo er die Abhandlung schliesst:
Ego autem tibi quidem, quod satis esset, paueis verbis
responderam; concesseras enim nullo in malo mortuos esse, sed
ob eam causam contendi, ut plura dicerem, quod in desiderio et
luetu haec est consolatio maxima. nostrum enim et nostra causa
susceptum dolorem modice ferre debemus, ne nosmet ipsos amare
videamur: illa sospitio intolerabili dolore eruciat, si opinamur eos,
quibus orbati sumus, esse cum aliquo sensu in iis malis, quibus
volgo opinantur. hanc excutere opinionem mihimet vol radieitus,
eoque fui fortasse longior. Dieses erste Buch der Tusculanen ist
also nach Ciceros eigener Angabe eine zeitgemässe Neugestaltung
der Consolatio, die er in seinem eigenen Interesse schreibt: Wie
aus den angeführten Worten hervorgeht, ist der jugendliche
Mitunterredner kein anderer als Cicero selbst. Wenn er also
$ 109 schreibt: profeeto mors tum aequissimo animo oppetitur,
cum suis. se laudibus vita occidens consolari potest, und mit über-
mässiger Breite namentlich in der Aufzählung der Beispiele bei
dem Abschnitte verweilt, der darthut, dass es alter Weiber Art
sei einen frühzeitigen Tod zu bejammern, so kann es in diesem
Zusammenhange gar keinem Zweifel unterliegen, aus welchen
Motiven diese Auseinandersetzung hervorgegangen ist!').
1) Obwohl auch Corssen a. a. Ο. S. 520ff. auf das Verhältnis der Cons. zu
diesem Buche der Tusc. zu sprechen kommt, so hat er doch auf diese
wichtigen Stellen nicht geachtet. Ebenso wenig hat es auch Hirzel a. a. 0.
ΠῚ 5. 819 Ε΄. gethan, und doch ist $ 111 von wesentlicher Bedeutung für die
Quellenfrage. $ 17 nämlich, von dem Hirzel ausgeht und den er als einen
Hauptgrund für den skeptischen Standpunkt der Quelle geltend macht,
verspricht nur Wahrscheinliches zu geben. In offenem Widerspruche hiermit
steht der $ 111, der in den stärksten Ausdrücken die Absicht Ciceros ver-
rät; diese ist gewiss nicht skeptischer Natur.
— 10 --
Beim Übergange vom ersten zum zweiten Teile schreibt
Cicero $ 75: Haec quidem vita mors est, quam lamentari possem,
si liberet. A. Satis tu quidem in Consolatione es lamentatus, quam
cum lego, nihil malo quam has res relinquere. Gleichwohl unter-
lässt er es nicht, dieses Klagelied über das Leben anzustimmen;
denn die 88 83—86 sind, wie wir gesehen haben, nichts weiter als
ein solehes. Zum Beweise nun, dass wir uns hier in Wirklichkeit
auf dem Boden der Consolatio befinden, genügt es an die Worte
zu erinnern, welche wir $ 83 lesen: quid ego nunc lugeam vitam
hominum? vere et iure possum; sed quid necesse est, cum id
agam, ne post mortem miseros nos putemus fore, etiam vitam
efficere deplorando miseriorem? fecimus hoc in eo libro, in quo
nosmet ipsos quantum potuimus consolati sumus. Der Abschnitt
ὃ S3—86 ist demnach nur ein kurzer Abriss des entsprechenden
Teiles der Consolatio.
Von den fünf Gottesurteilen über den Wert des Lebens, die
Cicero im Epiloge anführt, fand sich das dritte, der Ausspruch des
Silen, auch in der Consolatio, wie wir von Laktanz erfahren).
Das vierte ist in den Versen enthalten, die Cicero aus Euripides’
Cresphontes übersetzt. Diese heissen uns traurig sein bei der
Geburt eines Menschen und frohlocken bei seinem Tode. Sie
stimmen ebenso zu dem vorhergehenden Urteile des Silen, wie zu
dem nachfolgenden Bescheide, den der Terinäer Elysius erhielt.
Diese letzte Erzählung ist nach Ciceros Angabe aus Crantors
Schrift περὶ πένϑους genommen, die Ciceros Quelle für die Con-
solatio war. Ebendaher stammen also wohl auch die Verse des
Euripides, zumal Cicero selbst ihre Übereinstimmung mit der
letzten Erzählung ausdrücklich hervorhebt?): Also sind offenbar
diese drei Urteile aus der Consolatio hierher gesetzt. Es kann
dies auch gar nicht mehr auffallen, seitdem wir erkannt haben,
in welchem engen Verhältnisse dieses Buch der Tusculanen zu
der Consolatio steht.
Die erwähnte Schrift Crantors περὶ πένϑους ist, wie längst
bekannt, auch die Quelle für Plutarchs Trostschrift an Apollonius°).
') Vgl. Frg. 11 b. Baiter.
5) simile quiddam est in Consolatione Crantoris.
°) Dieses Urteil stützt sich darauf, dass Crantor daselbst viermal als
Gewährsmann eitiert wird: p. 102D, 104C, 114C, 115B. Dazu tritt noch
p- 109BC, wo zwar Crantor nicht genannt, aber sicher benutzt wird, wie
-- 151 —
Die Übereinstimmung einer grossen Reihe von Stellen dieser
Schrift mit einem grossen Teile dieser zweiten Hälfte des ersten
Buches der Tusculanen ist so ausserordentlich stark, dass der
Schluss unbezweifelbar ist, dass der gedachte Teil Ciceros eben-
falls auf Crantor zurückgeht. Da wir nun soeben gesehen haben,
dass Cicero mit dem ersten Buche der Tusculanen eine neue und
zeitgemässe Darstellung der Consolatio, deren Quelle Crantor war,
verfasste, und dass er deswegen bei der Ausarbeitung desselben
die Consolatio benutzte, so folgt, dass diejenigen Stücke, welche
mit der Trostschrift Plutarchs übereinstimmen, nach der Con-
solatio gearbeitet sind. Diese Übereinstimmung findet bei Cicero
statt in den SS 84, 91—97 (99), 111, 113—115 und 1111). Von
diesen Stellen steht $ 84 in einem Zusammenhange (88 83—86),
den wir vorhin schon aus anderen Gründen auf die Consolatio
zurückführen mussten; das Gleiche gilt von der grösseren Hälfte
der $$ 113—115. Zwischen ὃ 111 und ὃ 113 lesen wir die oben
erwähnte Erklärung Ciceros über seine Stellung zu diesem Buche.
Scheiden wir diesen Zusatz aus, so schliesst 8 111 an $ 113 ff.
an. Ferner hängen die 88 91 m.—92 (5. 5. 148f.) mit den 88 87—88
unzertrennbar zusammen, während die $$ 5S9—91m. ein gewisser
Zusatz Ciceros sind. Da nun die 88 84 und 91 ff. sich mit Stellen aus
Plutarchs Trostschrift decken, so folgt, dass die $$ 85—83 und
91 m.—97 (99) zusammenhängen und nach der Vorlage, ἃ. ἢ.
hier nach der Consolatio gearbeitet sind. Die $$ 102—105 haben
wir ebenfalls schon vorhin als einen nicht hierher gehörigen Zu-
satz Ciceros aus dem Zusammenhange ausscheiden müssen, und
es ist daher gewiss kein Zufall, dass von diesen in der Trost-
schrift Plutarchs keine Spur vorhanden ist. Ferner haben wir
vorher gesagt, dass die $$109—111 zu dem Gedanken zurückkehren,
der in den 88 93ff. ausgeführt wird. In den 88 93ff. nämlich setzt
Cicero auseinander, dass es nicht auf ein langes, sondern auf ein
tugendhaftes Leben ankomme, und $ 109 beginnt er mit den
Worten: nemo parum diu vixit, qui virtutis perfectae perfecto
funcetus est munere. Folglich schliessen sich auch die 85 1091.
die Übereinstimmung mit Cie. Tuse. I ὃ 115 zeigt, der den Crantor als
Quelle eitiert; vgl. Corssen a. a. O. S. 517; s. auch die folg. Anm.
!) Auf diese Übereinstimmung wies zuerst Wyttenbach hin. Nach ihm
stellte ©. Heine de font. Tuse. disp. Gymn. Pr. Weimar 1863 p. 12 die
Stellen zusammen und im Anschluss an ihn Corssen a. a. O. S. 510 ff.
=. 190
an die 88 93 ff. bezw. 97 ff. an, wie sie andererseits mit dem
Sehlusse der Schrift zusammengehören. Da wir oben gezeigt
haben, dass die $$ 114—115 aus der Consolatio stammen, und
auch die Worte Ciceros $ 109: profecto mors tum aequissimo
animo oppetitur, cum suis se laudibus vita oceidens consolari
potest, auf dieselbe Schrift hinweisen, andererseits die 88 111
und 113—115 ihre Parallele bei Plutarch haben, so folgt, dass
Cicero auch in diesem ganzen Abschnitte direkt auf seine Trost-
schrift zurückgeht.
Auch von den ausgeschiedenen Abschnitten ist der eine
(SS S9—91m), der die oben besprochene Sammlung von Beispielen
aus der römischen Geschichte enthält, sicher nach Anleitung der
Consolatio gearbeitet, wie uns Cicero beweist (de div. II 9, 22):
clarissimorum hominum nostrae civitatis gravissimos exitus in
Consolatione conlegimus; denn die vorliegende Sammlung ent-
spricht genau dieser Angabe. Was nun diese Sammlung aus der
römischen Geschichte giebt, ganz dasselbe giebt im folgenden der
zweite Abschnitt (SS 96—102) aus der griechischen Geschichte.
Diese parallele Behandlung lässt uns auch erkennen, wohin die
Sammlung der römischen Beispiele eigentlich gehörte. Schon aus
diesem Verhältnisse der beiden Stellen geht hervor, dass die letztere
aus der vorliegenden Quelle, ἃ. h. der Consolatio bzw. Crantor
stammt. Zur Gewissheit erhärtet wird es dadurch, dass der Be-
richt über Sokrates (88 97—99) in der That aus der Consolatio
genommen ist, wie wir vorhin gezeigt haben.
Für diesen ganzen Teil also war die Gonsolatio Ciceros Quelle.
Dieser Umstand erklärt es auch, warum Cicero bei der Ankündi-
gung dieses Teiles dieselbe eitiert: In solchen Citaten ist bei Cicero
bekanntlich meistenteils eine Andeutung seiner Quelle enthalten.
Die Consolatio behandelt, soweit wir sie als Quelle dieses
Abschnittes erkannt haben, die Frage, ob der Tod für den Fall,
dass er das Leben der Seele vernichte, ein Übel sei. Nun eitiert
Cicero auch im ersten Teile dieses Buches ($ 66) eine Stelle aus
ihr, die gerade den entgegengesetzten Standpunkt betrifft und die
Unsterblichkeit der Seele verteidigt: Die Disposition dieses Buches,
dass der Tod kein Übel sei, weder für den Fall, dass die Seele
unsterblich sei, noch für den, dass sie mit ihm untergehe, fand
sich also schon in der Consolatio. Nach Ciceros eigener Angabe
war seine Quelle für dieselbe Crantors Schrift περὶ πένϑους und
-
.
— 193 —
die oben besprochene Übereinstimmung zwischen der Trostschrift
Plutarchs und dem zweiten Abschnitte des ersten Buches der
Tuseulanen bestätigt diese Nachricht vollständig'!); wir dürfen
also vermuten, dass bereits Crantor diese Disposition aufgestellt
hat. Diese Vermutung wird durch zwei weitere Nachrichten be-
stätigt. Ebenso wie Cicero seinen Stoff disponiert, schliesst be-
reits Sokrates in Platos Apologie. Crantor hat diese Stelle, wie
natürlich, nicht übersehen, sondern sie in seine Schrift auf-
genommen, wie wir aus der übereinstimmenden Erwähnung der-
selben bei Cicero und Plutarch erkennen: Der Schluss liegt also
ausserordentlich nahe, dass er die von Sokrates gebotene Dis-
position auch seiner Schrift zu Grunde legte?). Von hier aus be-
greifen wir dann auch die zweite Nachricht: Nach Panätius’ Urteil
war diese Schrift Crantors so vorzüglich, dass er Tubero empfahl
sie wörtlich auswendig zu lernen. Da Panätius die Unsterblich-
keit der Seele verwarf, wäre sein Urteil geradezu unbegreiflich,
wenn Crantor den Tod nur als den Durchgang zum seligen
Leben im Jenseits gepriesen hätte?).
!) Vgl. Plinius Nat. Hist. praef. 22. Gegen diese Angabe sucht Corssen
ἃ. ἃ. 0. S.522f. zu beweisen, dass Cicero Crantors Schrift nicht.direkt, son-
dern durch Vermittelung des Posidonius benutzt habe. Gegen ihn vertei-
digt mit Recht die Überlieferung Hirzel a. a. Ὁ. III 5. 353 fl.
3) Wenn Crantor damit von Platos anderen Schriften, die die Unsterb-
lichkeit der Seele beweisen, etwas abwich, so ist dieses Zurückgehen auf
die Auffassung des Sokrates ganz parallel dem weiteren Schritte, den Arce-
silaus von Plato zu Sokrates machte.
8) So findet auch der dogmatische Charakter der Disposition und ihrer
Ausführung ihre volle Erklärung: Ob der Tod das Ende von allem ist oder
der Durchgang zum Leben, unter allen Umständen ist er kein Übel. Der
Grund Hirzels, mit dem er diese Fassung auch für skeptisch erweisen will,
ἃ. ἃ. Ὁ. IS. 3892 Ε΄. ist unzutreffend. Denn hier handelt es sich nicht um
eine ethische Frage, auf die uns Hirzel verweist, sondern um eine meta-
physische; nur aber in der Ethik huldigten die Skeptiker mit gutem Grunde
nicht einem absoluten Zweifel, vgl. Sext. Pyrrh. Hyp. III 184. In dem Stand-
punkte des Verfassers liegt es ferner begründet, dass natura mehrfach als be-
wusst wirkende Macht aufgefasst wird ($$ 93,100,118), was zu einem Epikureer
als Verfasser nicht stimmt, aber auch nicht notwendig auf einen Stoiker hin-
_ weist, wie Corssen will. Denn die gleiche Auffassung ist auch der akade-
- misch-peripatetischen Philosophie eigen (vgl. z. Β. Critolaus bei Ps. Philo de
ineorr. mundi e. 11 p. 248 ed Bern. Abh. ἃ. Berl. Akad. 1876). Bei der Gleich-
_ heit der Anschauung erklären sich hier Anspielungen an Epikureische Lehren,
die Corssen nachzuweisen sich bemüht (a. a. Ο. S. 506), ganz von selbst.
- Denn es ist klar, dass die wichtigsten Aussprüche Epikurs ebenso geflügelte
a
τὰ
Worte waren wie die stoischen Paradoxa.
-- 14 —
Kehren wir jetzt noch einmal zu Cicero Tusc. I $ 66 zurück!
Cicero schreibt daselbst in dem wörtlichen Citate aus der Con-
solatio: singularis est igitur quaedam natura atque vis animi,
seiuneta ab his usitatis notisque naturis. Dieses Urteil über die
Natur der Seele entspricht vollständig dem Platonischen Stand-
punkteCrantors und steht ebenso in offenem Widerspruche mit $ 43,
wo Cicero die Seele für eine bestimmte Modifikation des Äthers
hält. Dieser Widerspruch zeigt klar, dass Cicero für den ersten
Teil eine andere Quelle als Grantor und seine Consolatio hatte.
Andererseits erklärt uns die angeführte Stelle auch auf das ein-
fachste die scheinbare Skepsis, die wir $ 70 lesen: quae est ei
(sc. animo) natura? propria puto et sua. sed fac igneam fac spira-
bilem: nihil ad id, de quo agimus. Was Cicero an erster Stelle
über die Natur der Seele sagt, stammt aus der Consolatio und
somit aus Crantor; was er dagegen an zweiter Stelle zulässt, ist
die Anschauung, der er in der vorhergehenden Abhandlung ge-
folgt ist. Er konnte sich weder für die eine noch für die andere
Auffassung entscheiden und erklärte daher diese Frage für gleich-
gültig.
Cicero nahm also in diesem Buche die Disposition seiner
Consolatio bezw. Crantors wieder auf, benutzte aber für den
Nachweis der Unsterblichkeit en Werk des Posidonius, das er
noch dadurch verbesserte, dass er die diesbezügliche Hauptstelle
aus der Gonsolatio hinzufügte, während er die langen Klagelieder
derselben über das Elend des Daseins stark verkürzte. Der
Grund für diese Arbeitsweise lag offenbar ausser in seinem per-
sönlichen Bedürfnisse in der Kürze der Darstellung Grantors').
Aus dieser Verbindung heterogener Quellen erklären sich einmal
die Widersprüche, die sich in der gesamten Darstellung finden,
und zweitens auch die Thatsache, dass in der Trostschrift
Plutarchs keine Parallelstellen zu dem ersten Teile dieses Buches
vorhanden sind?).
') Vgl. Cie. Acad. pr. II 44, 135.
?) Der Versuch von Poppelreuter, Posidonius als Quelle für das III. u. IV.
Buch der Tusculanen zu erweisen, ist treffend von O. Apelt Jhrb. für Philol.
u. Päd. 1885 S. 513 ff. widerlegt worden; vgl. auch Hirzel a. a. O. III, 5. 342#.
Wenn Apelt daselbst den Posidonius als Quelle des Nemesius nachzuweisen
unternimmt, so kann dies nur indirekt zutreffen, da Nemesius direkt von
Galen abhängt. Vgl. Margarites Evangelides, Zwei Kapitel aus einer Mono-
graphie über Nemesius und seine Quellen diss. Berol. 1882.
C. Carneades-Clitomachus.
Kap. 6.
Cicero de fato.
$ 1. Der Anfang.
Sextus Empiricus wendet sich bei der Kritik der dogma-
tischen Philosophie im fünften Buche zu der Widerlegung der
Astrologie. Der Gang seiner Darstellung ist folgender: Er unter-
scheidet zunächst in diesem umfassenden Begriffe die Astronomie
und die Astrologie und erklärt, dass nur der letzteren sein Kampf
gelte (88 1—3). Diese Aufgabe führt er durch in den 88 4—105.
Sie zerfällt in zwei Abschnitte. Der erste bietet eine Darstellung
der Astrologie (88 4—42); der zweite ihre Widerlegung ($$ 43—105).
Diese zerfällt ebenfalls in zwei Teile. Der erste derselben ent-
hält zwei Gründe, mit denen andere Philosophen die Astrologie
zu widerlegen pflegten (88 43—48); der zweite dagegen die,
welche Sextus gegen sie vorzubringen weiss (88. 49—105). Zu-
nächst entwickelt er das Thema für die Widerlegung ($$ 50—54),
dann geht er zu der Ausführung derselben über. Diese zerfällt
aber noch in zwei Teile. Der erste nämlich behandelt das vor-
hin aufgestellte Thema, und zwar in der Reihenfolge, welche
Sextus bestimmt hat (88 54—84); der zweite dagegen bringt eine
Reihe von mehr oder weniger lose aneinander hängenden Gründen,
die mit dem vorigen Abschnitte nichts zu thun haben ($$ 80.---100).
Im $ 106 folgt der Schluss.
Wir haben jetzt die Gründe selbst kurz vorzuführen. Die
beiden ersten sind allgemeiner Art. Der eine weist darauf hin,
dass der Zusammenhang der Himmelskörper und der Erde, bezw.
der Wesen und Ereignisse auf derselben, nicht derartig sei, wie
der der Glieder des menschlichen Körpers, in dem jeder Teil
die Affektion des andern mitfühle. Der zweite richtet sich gegen
-- 16 —
das Fatum als das Fundament der Astrologie: Alles, was ge-
schieht, geschieht entweder aus Notwendigkeit oder aus Zufall oder
aus dem Willen des Menschen. Für das, was notwendig geschieht,
ist die Astrologie überflüssig; denn sie nützt nichts, da alles dieses
doch so geschieht, wie es geschehen muss. Bei allem aber, was
zufällig geschieht, oder aus dem Willen der Menschen hervorgeht,
ist sie erst recht nutzlos und begrifflich unmöglich, da der Zufall
sowohl wie der Wille des Menschen den Einfluss der Gestirne
als lenkender Mächte einfach ausschliessen. Hierauf geht Sextus
zu der speziellen Widerlegung über. Im Anschluss an seinen
Abriss der astrologischen Theorie stellt er $ 52 als Thema die
Behauptung hin, dass das Horoskop nicht gestellt werden könne,
und zeigt dies durch den Nachweis, dass 1. die Zeit nicht genau be-
stimmbar sei, wann es gestellt werden müsse ($$ 54—67); 2. dass
es auch selbst nicht genau gestellt werden könne ($$ 68—72);
und 3. dass auch nicht der Aufgang des betreffenden Gestirnes
des Tierkreises genau wahrzunehmen sei ($$ 73—84). Die Aus-
führung des ersten Punktes erweist, dass weder der Augenblick
der Empfängnis (ξξ 54—64) noch der der Geburt (ξξ 65—67) genau
anzugeben sei, in denen doch das Horoskop gestellt werden
müsste. Die nähere Ausführung dieses Beweises können wir hier
übergehen. Für die zweite Behauptung bringt er fünf Gründe
vor: 1. Da der Zeitpunkt der Geburt nicht genau bestimmt werden
kann, so kann auch der beobachtende Astrologe den Stand der
Sterne im Augenblicke der Geburt nicht bestimmt erkennen
(SS 68—69). 2. Wenn schon der Augenblick der Geburt genau
erkannt wird, vergeht doch eine gewisse Zeit, ehe der Astro-
loge das Zeichen wahrnimmt, welches ihm der Beobachter der
Geburt mitteilt. 3. Auch während der darauf folgenden Beob-
achtung der Sterne vergeht noch eine Zeit, so dass auch dadurch
der Astrolog verhindert ist den richtigen Stand der Sterne zu
sehen, da der Himmel sich mit unglaublicher Schnelligkeit be-
wegt (ὃ 70). 4. Die Beobachtung ist wohl des Nachts möglich,
nicht aber des Tags ($ 71); und 5. ist. sie auch des Nachts
nicht immer möglich, weil der Himmel oft durch Nebel
und Wolken verhüllt ist (8 72). Die Gründe, welche den
dritten Punkt erweisen, sind folgende: 1. Die Luft strömt nach
ihrer verschiedenen Beschaffenheit verschieden und zeigt des-
wegen die Vorgänge am Himmel ganz ungleich, während sich
E
ἡ
ἢ
-- 121 --
dieser in stets gleicher Geschwindigkeit dreht (88 75—77). 2. Weil
die Sternbilder nicht einfache Sterne, sondern Sterngruppen
sind, so ist es unmöglich zu unterscheiden, ob ein aufgehender
Stern dem Ende des vorhergehenden oder dem Anfange des
folgenden Sternbildes angehört ($$ 73—79). 3. Die Beobachtungs-
punkte auf der Erde bleiben nicht immer gleich, weil sich diese
aus den verschiedensten Gründen vielfach verändert. Es ist
daher unmöglich, die Bestimmungen früherer Astrologen olıne
weiteres für die Folgezeit zu gebrauchen ($ 80). 4. Die Seh-
schärfe der verschiedenen Menschen ist verschieden; also müssen
auch hierdurch Irrtümer entstehen ($ 81). 5. Die starke Re-
flexion der Lichtstrahlen, welche durch die stets dichte Luft im
Horizonte bedingt ist, bewirkt, dass Sterne, welche noch unter
dem Horizonte stehen, bereits aufgegangen zu sein scheinen und
umgekehrt ($ 82 vgl. $ 74). 6. Nur wenn allen Beobachtern
dasselbe Zeichen des Tierkreises zu derselben Zeit und in der-
selben geraden Linie erschiene, wäre es vielleicht möglich, das
im Horizont aufgehende Zeichen als Horoskop gelten zu lassen;
das ist aber nicht der Fall: Also kann auch nicht dasselbe
Zeichen des Tierkreises für alle in allen Gegenden als Horoskop
dienen (88 84-85).
Es folgt jetzt die Reihe der lose angefügten Gründe: 1. Da
die Zeit der Geburt nicht genau angegeben werden. könne,
gäben die Astrologen zu nur eine allgemein bestimmte Zeit an-
zunehmen, um aus dem Stande der Gestirne während derselben
ihre Voraussagungen zu machen. Dieses sei aber durchaus ver-
kehrt; denn diejenigen, welche in solcher Zeit geboren würden,
müssten auch dasselbe Geschick haben, was nicht der Fall sei.
Jedenfalls sei z. B. niemand Alexander dem Grossen oder Plato
gleich gewesen, obwohl viele zugleich mit ihnen geboren seien
(88 86—89). 2. Wenn alle, welche zu derselben Zeit geboren
würden, dasselbe Geschick haben müssten, so folge, dass auch
alle, die nicht zu derselben Zeit geboren seien, ein verschiedenes
Geschick haben müssten. Dies sei aber thatsächlich unrichtig;
_ denn es wäre falsch anzunehmen, dass alle die Tausende von
_ Barbaren, welche bei Marathon gefallen seien, und ebenso die
Griechen, welche auf der Rückkehr von Troja bei Euboea ge-
‚scheitert und umgekommen seien, alle unter demselben Zeichen
geboren seien (88. 90—93). 3. Wenn durch die Gestirne Leben
@
— 18 —
und Geschick bestimmt würde, so müsste dies nicht bloss von
den Menschen, sondern auch von den Tieren gelten, was wider-
sinnig sei ($ 94). 4. Lächerlich sei es geradezu, dass die Astro-
logen aus der Gestalt der Gestirne auf die Eigenschaften derer,
die gerade geboren würden, schliessen zu können meinten; es sei
vielmehr eher wahrscheinlich, dass eine bestimmte Mischung der
Luft einen solchen Einfluss ausübe ($$ 95—102). 5. Auch aus
chronologischen Gründen sei es nicht möglich die allgemeinen
Gesetze der Astrologie zu erkennen. Denn ehe die Astrologen
dazu gelangen könnten durch vernünftige Beobachtung dieselben
festzustellen, würde zu verschiedenen Malen aller geschichtliche
Zusammenhang vollständig vernichtet (88. 103—105).
Nachdem wir den Inhalt dieser Widerlegung im allgemeinen
vorgeführt haben, ist noch kurz der Zusammenhang der Schrift
zu berücksichtigen. Nach den Worten des Sextus ($ 49) scheint
es, dass die beiden Beweise, welche er unmittelbar nach dem
Abrisse der Astrologie anführt und als Eigentum anderer be-
zeichnet, nur wenig die Sache treffen und daher mit dem Vor-
hergehenden und Nachfolgenden nicht zusammenhängen. Doch
ist dies keineswegs der Fall, Im Anfange dieses Abrisses ($ 4)
wird nämlich, wie natürlich, die Astrologie auf den inneren Zu-
sammenhang der Vorgänge am Himmel und auf der Erde ge-
gründet. Gleich der erste dieser beiden Beweise ($ 43) wendet
sich aber direkt gegen diese Sympathie: Also treffen diese beiden
Beweise die gegnerische Lehre in ihrem innersten Wesen. Dies
wird um so deutlicher, als der zweite dieser Beweise mit dem
ersten eng zusammenhängt, ja eigentlich nur der Erweis des
ersten ist. Denn gerade die Leugnung dieser Sympathie kann
nur durch den Nachweis erhärtet werden, dass vieles vom Zufall
oder vom Willen des Menschen abhängt, was der zweite Beweis
geltend macht. Ebenso müssen wir aus den vorhin angeführten
Worten des Sextus schliessen, dass die ganze Widerlegung,
welche auf diese beiden Beweise folgt, sein Eigentum sei. Aber
auch dieses ist unrichtig, wie die Übereinstimmung derselben
mit Favorins und Augustins Widerlegung der Astrologie zeigt.
Um dieses zu beweisen, haben wir hier die Widerlegung beider
ebenfalls kurz vorzuführen.
Die Gründe Fayorins.hat Gellius N. A. XIV c. 1 aufbewahrt.
Er berichtet zunächst, dass er ihn diejenigen bekämpfen gehört
-- 19 —
habe, welche Chaldaeer oder Nativitätssteller hiessen, also nicht
etwa auch die Astronomen, und zählt darauf seine Gründe auf:
Zunächst habe er sich gegen das Alter ausgesprochen, welches die
Astrologen für ihre Kunst in Anspruch nähmen. Die rationelle
Feststellung der astrologischen Gesetze würde so viele Jahr-
hunderte erfordern, dass weder eine ununterbrochene Beobachtung
noch auch eine schriftliche Überlieferung während derselben
möglich sei. Dies ist derselbe Einwand, den Sextus an letzter
Stelle vorträgt!),. Dann bestreitet er das Recht aus dem Zu-
sammenhange einiger Vorgänge, wie der Ebbe und Flut, mit
dem Laufe der Gestirne schliessen zu dürfen, dass absolut alles
von diesen bestimmt werde. Er verwirft demnach die absolute
Sympathie?). Dieser Beweis deckt sich mit dem ersten des
Sextus ($$ 43—44). Anzunehmen ferner, dass nicht nur die
äusseren Geschicke von den Gestirnen abhängig seien, sondern
auch die zufälligen Ereignisse und die Willensentschliessungen
des Menschen, sei einfach lächerlich (Gell, a. a. Ο. $$ 23—25).
Dasselbe hält Sextus den Astrologen vor ($$ 46—48). Da viertens
zur Zeit der Empfängnis und der Geburt der Stand der Gestirne
verschieden sei und ein verschiedener Stand derselben ein ver-
schiedenes Schicksal bedinge, so würde ein zweifaches Schicksal
angekündigt, was unmöglich sei (Gell. $$ 19—20). Wenn ferner
der Augenblick der Geburt so schnell vorüber sei, dass nicht
einmal zwei in demselben Augenblicke geboren werden könnten
und daher auch Zwillinge ein verschiedenes Geschick hätten, wie
sei es möglich diesen Augenblick genau zu fixieren, um daraus
das Geschick vorher sagen zu können ($ 26)? Schliesslich
könnten die Beobachtungen, welche die Chaldäer gemacht hätten,
allenfalls für den Himmelsstrich gelten, in dem jene damals ge-
wohnt hätten, aber nicht auch für andere Gegenden. Auch sei es
durchaus fraglich, ob es nicht mehr Schicksalssterne gebe (SS {--- 19).
In diesen Ausführungen tritt die genauere Übereinstimmung mehr
zurück, doch ist es klar, dass es sich hier wesentlich um die-
selben Gründe handelt, welche Sextus viel eingehender in den
1) Gell. a. a. Ο. 8 2 u. 88 14—18; vgl. auch die 88 5 u. 20—22; vgl.
hierzu Sext. a. a. Ο. 88 102—105. Der Unterschied, welcher zwischen beiden
obzuwalten scheint, ist eben nur scheinbar und rührt von der verschiedenen
Genauigkeit der Darstellung beider her.
2) 88 3-4; vgl. Cie. de div. II 14, 58.
— 10 --
88. 54-80, 84---8δ΄"Ἕ vorträgt. Namentlich gilt dieses von dem
$ 26: Das Horoskop könne nicht gestellt werden, weil der Augen-
blick der Geburt nicht genau bestimmt werden könnte, das
Himmelsgewölbe aber und die Gestirne sich mit unsagbarer
Schnelligkeit drehten und einen bestimmten Augenblick zu fixieren
eben darum fast unmöglich machten: Dasselbe sagt auch Sextus
$ 70. Augenscheinlich tritt die Übereinstimmung auch in den
folgenden Punkten hervor: Sehr oft kämen Menschen, die zu
verschiedenen Zeiten und in den verschiedensten Gegenden und
unter den verschiedensten Konstellationen geboren seien, bei dem-
selben Unglück um, z. B. bei der Eroberung von Städten oder
in den Fluten des Meeres. Dies wäre unmöglich, wenn die
Sterne bei der Geburt das Schicksal bestimmten ($$ 27—29).
Ganz dasselbe und fast mit denselben Beispielen schreibt Sextus
(83. 90—92). Ebenso wie Sextus ($ 94) schliesst ferner auch
Favorin ($ 31), dass — die Richtigkeit der Astrologie vorausge-
setzt — auch das Geschick der Tiere von den Sternen abhängen
müsste. Ebenso ist schliesslich auch Favorin ($ 33) wie Sextus
($ 87) der Überzeugung, dass es sich bei der Astrologie nur um
Irrtum und Betrug der Dummen handele.
Augustins Widerlegung der Astrologie steht im Anfange des
fünften Buches de eivitate Dei. Auch er will nicht schlechthin die
Möglichkeit leugnen, dass die äusseren Ereignisse durch den
Einfluss der Gestirne bedingt werden, verwirft aber denselben
entschieden für alles, was vom Willen des Menschen abhängt ἢ).
Er leugnet also ebenso die absolute Sympathie und stellt ihr die
menschliche Freiheit entgegen wie Sextus und Favorin. Ferner
zeigt er, dass die Einwirkung der Gestirne zum Zwecke der
Weissagung der Lebensschicksale weder bei der Empfängnis
noch bei der Geburt noch auch bei beiden zugleich angenommen
werden könne: Zunächst bei der Empfängnis nicht, denn einmal
gebe es viele Zwillinge, welche ganz verschiedenes Schicksal
hätten, trotzdem dass der Augenblick ihrer Empfängnis derselbe
sei. Zweitens sei es auch unmöglich diesen Einfluss zu erkennen,
wenn seine Thatsächlichkeit schon zugestanden werde. Denn
wenn das Horoskop bei der Geburt gestellt werde, so könnte der
Augenblick der Empfängnis nicht mehr in Betracht gezogen
') e. 6, p. 198, 26. Vgl. auch p. 194, 22 ed. Domb.
— kl —
werden, deswegen weil er unbekannt sei (a. a. O. p- 196, 10 ff).
Wenn wiederum die Schicksale von der Geburtsstunde abhingen,
und darum auch jene aus dem Horoskop der letzteren erkannt
werden könnten, und eben deswegen die Zwillinge ein verschie-
denes Geschick hätten, weil sie nicht in demselben Augenblicke
sondern nach einander geboren würden, wie sei dies wieder bei
ihrem Zugeständnisse möglich, dass sie viel genauer das Schicksal
würden bestimmen können, wenn der Augenblick der Empfängnis
bekannt wäre (p. 196, 15 ff. 197 ff.)?2 Anzunehmen aber, dass
der verschiedene Stand der Gestirne bei der Empfängnis und bei
der Geburt einander widerstreitend das Schiksal bestimmten, sei
unsinnig (p. 197, 25 ff. 199, 6 ff.). Also weder die Empfängnis
noch die Geburt noch auch beide könnten dazu benutzt werden,
das Schicksal vorauszusagen. Die Übereinstimmung dieses Ein-
wurfes an sich mit demjenigen, welcher den Ausführungen des
Sextus (88 54—67) zu Grunde liegt, und namentlich mit dem des
Favorin ($ 19) ist offenkundig. Die Übereinstimmung tritt äber
auch hier wieder wie bei Favorin mehr in den folgenden Grün-
den Augustins hervor: Da die Bewegung des Himmelsgewölbes
und der Gestirne so ausserordentlich schnell sei, dass dadurch
das Horoskop selbst von Zwillingen vollständig verändert werde,
so sei es überhaupt nicht möglich, das Horoskop genau zu stellen
und die Zukunft danach zu verkündigen!). Ferner hätten viele,
welche in derselben Zeit und in derselben Gegend und unter
demselben Himmelsstrich empfangen und geboren würden, ein
durchaus verschiedenes Geschick, und umgekehrt seien Fremde,
die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten geboren
seien, oft einander viel ähnlicher als Zwillinge, trotzdem diese
gleichzeitig empfangen seien?). Drittens findet er es ebenso
wie Sextus und Favorin ganz folgerecht, dass nicht nur die
Schicksale der Menschen, sondern auch die der Tiere von der
Konstellation der Gestirne abhängen müssten). Schliesslich hält
auch er wie Sextus und Favorin diese ganze Lehre für falsch
und schädlich (p. 201, 2 ff.). In diesem Zusammenhange ist es
gewiss nicht zufällig, dass Augustin dieselben Homerischen Verse
») p. 193, 15 ff. und dazu 194, 12 ff. Vgl. Favor. a. a. O. 8 26; Sext.
852 u. 870. BE
2) p. 192,30—193, 6; 191, 34ff. Vgl. Sext. $ 90—92; Favor.a.a. Ὁ. 8 21—29,
8) p. 200, 2 f£.; Favor. a. a. O. 8 31; Sext. $ 9.
Schmekel, mittlere Stoa. 11
und zwar in demselben Zusammenhange anführt wie ϑοχίαϑ ἢ.
Unzweifelhaft also ist es bei der vorgetragenen Übereinstimmung,
dass die Gründe gegen die Astrologie bei allen drei Männern auf
dieselbe Quelle zurückgehen.
Kehren wir jetzt noch einmal zu Sextus zurück! Die Ent-
wickelung seiner Gründe hat gezeigt, dass seine Abhandlung in
drei Teile zerfällt, von denen der erste die 88 43—48, der zweite
die 88 49—84 und der dritte die 88 S5>—105 umfasst. Vergleichen
wir jetzt noch einmal diese Ausführung mit der des Augustin
und Favorin im allgemeinen, so stimmen sie in dem ersten und
dritten Teile vollständig überein, soweit bei der Verschiedenheit
dieser Schriftsteller eine Übereinstimmung stattfinden kann; in
dem zweiten Teile jedoch gehen sie mehr auseinander, dergestalt
dass Augustin und Favorin mit einander viel mehr stimmen als
mit Sextus. Doch bezieht sich seine Abweichung nur auf die
Anordnung der Gründe, diese selbst aber finden sich bei jenen
im wesentlichen ebenso wie bei diesem. Bedenken wir nun, dass
Sextus die Ausführung als die seinige bezeichnet (8 49) und dass
die 88 54—67 nur zu deutlich einen Mediziner als Verfasser ver-
raten, so erkennen wir sowohl, mit welchem Rechte Sextus jenes
thun konnte, als auch warum Augustin und Favorin hier mehr
mit einander als mit Sextus stimmen müssen.
Wir wenden uns jetzt zur Quellenuntersuchung des Augustin.
Dieser behandelt am angeführten Orte nicht bloss die Astrologie,
sondern das Verhältnis von Freiheit, Notwendigkeit und. gött-
licher Vorsehung, so dass jene Erörterung nur ein Teil dieser
grösseren ist. Dieselbe reicht vom Anfange des Buches bis zum
elften Kapitel. Die Quelle für die Lehre der Philosophen, die er
teils billigt, teils zurückweist oder korrigiert, ist nach seiner
eigenen Angabe Cicero: Gleich im Anfange des zweiten Kapitels
(p. 192, 11 ff.) eitiert er ihn, und was er hier aus ihm entlehnt,
kehrt zu wiederholten Malen wieder?). Dann führt er die vorhin
genannten Homerischen Verse in der lateinischen Übersetzung
') Odyss. 18, 136—137; Augustin p. 202, 8. Sext. 8 4. Sextus führt
diese Verse bei der Darstellung der Lehre der Gegner an, welche sich be-
kanntlich gern auf Homer beriefen. Ebenso verwendet sie Augustin im
engsten Anschluss an Cicero bei der Wesensbestimmung des stoischen
Fatums.
3) p. 193, S#.; 195, 24 #.; 197, 15 Β΄.
-- 18 —
Ciceros an (p. 202, 7 ff.) und im neunten Kapitel (p. 202, 21 ff.)
wendet er sich ganz gegen ihn, um seine Ansicht über das Vor-
herwissen Gottes zu widerlegen: Das Dasein Gottes anzunehmen
und das Vorherwissen (praescientia) desselben zu leugnen sei
widersinnig. Deshalb habe sich Cicero auch in den Büchern de
deor. nat. zunächst gegen das Dasein der Götter ausgesprochen
und dann in den Büchern de div. das Vorherwissen Gottes direkt
bestritten. Hierauf entwickelt er im Anschluss an Cicero seine
Meinung, wodurch dieser bewogen worden sei das Vorherwissen
Gottes zu leugnen, und lässt darauf die Widerlegung folgen:
Augustin hat demnach hier Ciceros Bücher ‘de divinatione’ be-
nutzt. Wir haben dies noch genauer zu untersuchen.
Ciceros Schrift de div. ist lückenlos überliefert; aber weder
finden sich die genannten Homerischen Verse darin, noch auch
die andere Stelle, an der Augustin die verschiedenen Erklärungen
des Hippokrates und Posidonius über die gleichzeitige Erkrankung
und Genesung zweier Brüder berichtet. Also kann Augustin
diese beiden Angaben nicht aus de div. haben. Das 9. Kapitel
ferner beginnt mit den Worten: Hos — nämlich die Stoiker —
Cicero ita redarguere nititur, ut non existimet aliquid se adversus
eos valere, nisi auferat divinationem. Diese Worte beweisen, dass
es sich in der Vorlage Augustins um das Fatum handelte und
nicht direkt um die Mantik. Noch deutlicher geht dies aus der
späteren Stelle hervor (p. 203, 14): in libris vero de divinatione
ex se ipso apertissime oppugnat praescientiam futurorum. hoc
autem totum facere videtur, ne fatum esse consentiat et perdat
liberam voluntatem. putat enim concessa scientia futurorum ia
esse consequens fatum, ut negari omnino non possit. In de div. II
nimmt Cicero aber den umgekehrten Standpunkt ein: Er will
die Mantik zurückweisen und deswegen ist auch der kurze Kampf
daselbst gegen das Fatum nur ein Kampf gegen die Mantik:
Also kann de div. II nicht die Quelle Augustins gewesen sein.
Augustin führt uns an den letzten Stellen vielmehr auf Ciceros
Schrift de fato, die eben das Gegenstück zu de div. II ist; und
diese ist thatsächlich seine Quelle!). Dies Ergebnis erheben über
1) Vgl. p. 203, 25—204, 9 u. 306, ὃ Ε΄. mit de fato ec. 10 u. 11,408. Auf
die Übereinstimmung mit de fato e. 10 hat bereits Dombart aufmerksam
gemacht. Augustin hat de fato offenbar zu den Büchern de div.
was ihr Inhalt sehr wohl gestattete.
2
gerechnet,
12%
-- 164 —
jeden Zweifel die Stellen, welche genauer auf die Ciceronische
Schrift eingehen (c. 3 p. 194, 22): quis enim consulat, quando
sedeat, quando deambulet, quando vel quid prandeat? Diese
Worte geben Cic. de fat. c. 5, 9 wieder: qui ... ex eo cogi putat,
ne ut sedeamus quidem aut ambulemus voluntatis esse etsq.
Den augenscheinlichsten Beweis jedoch finden wir im 9. Kapitel,
wo Augustin zweimal ein Referat nach de fato giebt, das nicht
nur nach dem Inhalte, sondern teilweise fast wörtlich stimmt.
Es ist also unleugbar, dass Augustin hier de fato benutzt. Nun
findet sich aber auch in de div. II 88 87—99 eine Widerlegung
der Astrologie; es fragt sich deshalb, ob die Widerlegung bei
Augustin aus diesem Buche stammt oder auch aus de fato. Dies
entscheidet zunächst das Zeugnis Augustins (c. 9 p. 202, 29 [Ὁ]:
in his autem mathematicorum coniecturis refutandis eius regnat
oratio, quia vere tales sunt, ut se ipsae destruant et refellant.
multo autem sunt tolerabiliores, qui vel siderea fata constituunt,
quam iste, qui tollit praescientiam futurorum. Aus diesen Worten
geht klar hervor, dass er die Gründe gegen die Astrologie aus
derselben Schrift genommen hat, die ihm die Veranlassung gab,
sich gegen Cicero zu wenden, d.h. aus de fato. Ebenso beweist
dies zweitens der Inhalt. Schon vorher haben wir gesehen, dass
Augustin mehrere Berichte bringt, die in de div. nicht stehen
und augenscheinlich auf die Behandlung der Astrologie hin-
weisen. Ferner findet sich auch wenigstens ein Grund kei
Augustin — wegen der überschnellen Drehung des Himmels und
der Gestirne könne das Horoskop nicht gestellt werden — nicht
in de div., wie umgekehrt sich auch dort Gründe finden, welche
Augustin nicht hat!). Da nun diese Gründe Augustins auch
nicht sein’ Eigentum sind, so folgt, dass er die Bestreitung der
Astrologie aus de fato entlehnt hat.
Nachdem wir dies erkannt haben, erhebt sich die Frage, wo
diese Widerlegung daselbst gestanden hat, da ja sowohl der An-
fang wie das Ende dieser Schrift unvollständig erhalten sind. Das
Ende bespricht, wie wir später sehen werden, das Verhältnis
zwischen der Ethik und dem Fatum; also kann dort nicht Platz
für die Astrologie gewesen sein. Es bleibt somit nur der Anfang
') Vgl. die beiden Gründe $ 94, die auch weder bei Sextus noch bei
Favorin zu finden sind.
— 15 —
übrig und dieser stimmt hierzu vollständig. Cicero hat dort
offenbar zunächst eine kurze Darstellung der Lehre Chrysipps
gegeben !), darauf ihre Bestreitung unternommen und sich hierbei
auch kurz mit Posidonius beschäftigt (c. 4, 7). Hiervon ist unser
drittes Kapitel erhalten. Dieses beginnt mit den Worten: quorum
in .alüis, ut in Antipatro poeta . . in simul aegrotantibus fratri-
bus . . naturae contagio valet. etsq. Es ıst augenscheinlich,
dass das, was Augustin über die beiden zugleich erkrankenden
und genesenden Brüder aus Cicero berichtet, schon vorher er-
wähnt sein muss, da hier auf diese Rücksicht genommen ist.
Schon diese eine Thatsache genügt, um zu erkennen, dass das,
was Augustin berichtet, hierher gehört. Im Beginne des vierten
Kapitels ferner kehrt Cicero zu Chrysipp zurück und bestreitet
dessen Ansicht über das Fatum. von der Mantik aus. Dies ist
derselbe Standpunkt, den Augustin in den oben aus dem 9. Kapitel
angeführten Worten bezeichnet. Von der Mantik aber wird hier
nur die Astrologie berücksichtigt und zwar in dem ganzen Ab-
schnitte von c. 4, 79,17. Dies beweisen die $$ 11—17 auf
den ersten Blick. und ebenso $ 8: ut igitur ad quasdam res
natura loci pertinet, ad quasdam autem nihil, sie astrorum
affectio valeat, si vis, ad quasdam res, ad omnis certe non
valebit. In Wirklichkeit also gehört Augustins Bekämpfung der
Astrologie hierher. Da nun die Bekämpfung der Astrologie bei
Sextus, Favorin und Augustin auf dieselbe Quelle zurückgeht
und Augustin sich an Cicero anschliesst, so folgt, dass die ge-
meinsame Quelle älter als Cicero ist. Über dieselbe haben wir
im nächsten Paragraphen zu handeln.
$ 2. Quelle.
Von der Einleitung abgesehen zerfällt Ciceros Schrift de fato
in drei Teile: Der erste hat zunächst, wie wir gesehen haben,
eine kurze Darstellung der Lehre Chrysipps über das Verhängnis
gegeben und darauf ihre Bestreitung von der Astrologie aus.
Er reicht bis c. 10, 20. In dem erhaltenen Teile richtet sich die
1) €. 17,40: hoc... quale sit, videamus in adsensionibus, quas prima ora-
tione tractavi; hat er aber dies auseinandergesetzt, 50 dürfen wir mit Recht
annehmen, dass er überhaupt die Lehre Chrysipps kurz dargestellt hatte,
ehe er sich gegen sie wandte.
— 166 —
Kritik zunächst gegen das Fundament der Astrologie, die absolute
Sympathie, die als solche mit dem Fatum identisch ist, und so-
mit auch gegen das Fatum selbst. Der erste Beweis c. 5, 9—6, 11
deckt den Widerspruch dieser Annahme mit der Wirklichkeit,
der zweite c. 6,11—9,17 den mit der. eigenen Theorie auf.
Hierauf folgt eine Berichtigung dieses Problems (c. 9, 17—10, 20).
Der zweite Teil umfasst ec. 10, 20—17, 39. Er behandelt den
Streit Chrysipps und Epikurs über die Frage, ob jeder Ausspruch
wahr oder falsch sei und berichtigt die darauf gestützten Fol-
gerungen (c. 10, 20—12, 28 m.). Diese Berichtigung giebt Veran-
lassung zu der Auseinandersetzung über den sog. ἀργὸς λόγος, in
welcher gezeigt wird, dass die Lehre Chrysipps trotz seines
Widerspruchs eben diesen ἀργὸς λόγος zur Folge habe (c. 12, 28
bis 16, 38). Im letzten Teile (c. 17, 39 ff.) wird der Widerspruch
zwischen der Ethik und dem Fatum entwickelti. Wir werden
uns mit diesem Punkte nachher eingehender zu beschäftigen
haben.
Die Thatsache, dass Posidonius vielfach von Chrysipp ab-
wich und seine Ansichten eingehend bekämpfte, sowie dass seine
Definition der auf das.Verhängnis gestützten Mantik von der des
Chrysipp etwas verschieden lautet!), lässt es zunächst als wahr-
scheinlich erscheinen, dass Cicero ihn bei der Abfassung der
Schrift benutzte, um aus ihm Beweise gegen Chrysipp zu ent-
lehnen; in der That ist dies jedoch weder wirklich noch möglich.
Zunächst ist nämlich das Wesen des Verhängnisses bei beiden
vollkommen gleich. Den Beweis hierfür liefert uns die Ver-
gleichung des Schicksals nach der Auffassung des Posidonius mit
dem, welches hier bekämpft wird. Cicero schreibt de div. II
95, 125: quocirca primum videtur, ut Posidonius facit, a deo..
deinde a fato, deinde a natura vis omnis divinandi ratioque re-
petenda. fieri igitur omnia fato ratio cogit fateri; fatum autem
id appello, quod Graeei εἱμαρμένην, id est ordinem seriemque
causarum, cum causae causa nexa rem ex se gignat: ea est ex
omni aeternitate fluens veritas sempiterna. quod cum ita sit,
nihil est factum, quod non futurum fuerit, eodemque modo nihil
est futurum, cuius non causas id ipsum efficientis natura con-
tineat. ex quo intellegitur, ut fatum sit non id, quod superstitiose,
') Hierüber wird später gesprochen werden.
a
-- N =
sed id, quod physice dieitur causa aeterna rerum. Gerade dieser
Auffassung gilt die Fehde in de fato c. 9, 19: non enim aeternis
causis, naturae e necessitate manantibus verum est id, quod ita
nuntiatur, ‘descendit in Academiam Carneades’ .. 8 20: qui
introducunt causarum seriem sempiternam, ii mentem hominis
voluntate libera spoliatam necessitate fati devineiunt, In diesem
Abschnitte. kann also Cicero den Posidonius nicht benutzt haben.
Was nun vom ersten Teile gilt, das gilt in erhöhtem Masse vom
zweiten. Denn wenn schon dort das Wesen des Verhängnisses,
wie es Posidonius in Übereinstimmung mit Chrysipp bestimmte,
bestritten wird, so ist dies im zweiten Teile ebenso und noch
viel mehr der Fall, wie wir späterhin sehen werden. Eine Be-
streitung des Chrysipp an der Hand des Posidonius ist also auch
hier vollständig ausgeschiossen. Auch für den dritten Teil lässt
sich das. Gleiche erkennen. Wir werden nämlich sehen, dass
auch hier die beiden Arten des Fatums einander gegenüber ge-
stellt sind und die stoische Anschauung ebenso zurückgewiesen
wird wie in den beiden vorigen Abschnitten. Überhaupt ist es
ja auch nicht möglich, dass Posidonius die Auffassung des Chry-
sipp vom Fatum bestreiten konnte, da er mit ihm vollständig
übereinstimmte. Dieses Resultat bestätigt auch das Zeugnis Ciceros.
Er erklärt nämlich (c. 4, 7) ausdrücklich, ihn nicht weiter berück-
sichtigen zu wollen, nachdem er sein Beweismaterial kurz abge-
wiesen und dasselbe zum Teil erdichtet genannt hat.
Da sich innerhalb der Darstellung die Polemik hauptsächlich
zwar gegen die Stoiker, aber auch gegen die Epikureer (vgl.
88 18 ff., 22 ff.) richtet, und an stoischen Ursprung derselben nicht
zu denken ist, so werden wir sie allein auf die skeptische Schule
‘des Carneades zurückführen müssen. Dieser Schluss folgt auch
aus einem anderen Grunde: De fato schliesst sich derart an
de deor. nat. und de div. an, dass es den Abschluss dieser bei-
den Werke bildet (div. II 1, 3). In den beiden letzteren stellt
sich nun Cicero bei der Beurteilung der stoischen und Epikurei-
schen Lehre auf den Standpunkt der neueren Akademie: Es ist
daher selbstverständlich, dass er sich in de fato nicht einer an-
deren Richtung angeschlossen haben kann. Cicero widerlegt nun
die Lehre des Posidonius im 3. Kapitel in aller Kürze mit den-
selben Gründen, die wir nachher ausführlich dargelegt finden.
Er kennzeichnet ferner diese Widerlegung als eine Einlage
— 168 “--
seine Polemik gegen Chrysipp!) und kämpft sonst durchweg
gegen diesen. Daraus folgt, dass sich seine Quelle gegen
Chrysipp und noch nicht gegen Posidonius wandte. Ihr Ver-
fasser war also älter als Posidonius und demnach offenbar ein
Schüler des Carneades.
Dieses Ergebnis wird durch den Inhalt. vollauf bestätigt.
Zunächst ist es der zweite Teil, welcher ganz und gar dem Carnea-
des die Widerlegung des Chrysipp und die Berichtigung der
Lehre Epikurs verdankt. Er zerfällt in zwei Abschnitte, wie wir
vorhin bereits gesehen haben. Der erste geht von dem Streite
aus zwischen Chrysipp und Epikur über die Frage, ob jeder
Ausspruch (ἀξίωμα) entweder wahr oder falsch sei. ‚Chrysipp
verwandte alle Mühe darauf, diesen Satz zu beweisen, weil er
seiner bedurfte, um die Notwendigkeit des Irrtums darzuthun.
Epikur wiederum that das Gegenteil, um der sonst, wie er
glaubte, notwendigen Annahme des Fatums auszuweichen. Chry-
sipp schloss: Was keine-Ursache hat, ist weder wahr noch falsch.
Wenn es nun eine Bewegung ohne Ursache giebt, so ist nicht
jeder Ausspruch entweder wahr oder falsch. Jeder Ausspruch
ist aber entweder wahr oder falsch: Also kann es keine Be-
wegung ohne Ursache geben. Geschieht aber alles nach vorher-
gehenden Ursachen, so geschieht auch alles, was geschieht, nach
dem Fatum. Um sich dagegen die Unabhängigkeit vom Fatum
zu wahren, nahm Epikur eine, wenn auch nur sehr geringe, ür-
sachelose Bewegung der Atome an und bestritt deswegen den
Satz, dass jeder Ausspruch entweder wahr oder falsch sei. Epikur
ist hier offenbar im Nachteile und mit sich selbst im Wider-
spruche, wie ihm nachgewiesen wird (88 20—23). Gegen den
übermächtigen stoischen Gegner erhalten jedoch seine Anhänger
Unterstützung von Carneades: Sie könnten sehr wohl zugeben,
dass keine Bewegung ursachelos geschehe, und dass jeder Aus-
spruch entweder wahr oder falsch sei: denn daraus folge noch
nicht die Notwendigkeit, das stoische Fatum anzuerkennen. Sie
müssten nämlich nur die Willensfreiheit des Geistes betonen:
Der Geist bewege sich zwar auch nicht ursachelos, aber nicht
nach voraufgehenden äusseren Ursachen, sondern gemäss seiner
eigenen Natur; ebenso wie auch die Atome den Grund ihrer Be-
) Vgl. e. 4, 7: ad Chrysippi laqueos revertamur etsq.
[
et
— 19 —
wegung nicht in äusseren Ursachen, sondern in sich selbst hätten
(88 23—26). Sei dem aber so, so folge keineswegs aus dem Zu-
geständnisse, jeder Ausspruch sei entweder wahr oder falsch, die
Notwendigkeit, das stoische Fatum anzuerkennen (88 26—27),
und ebenso wenig, dass die Gründe alles Geschehens von Ewig-
keit her unabänderlich bestimmt seien. Vielmehr seien die Ursachen,
die bewirkten, dass etwas in Zukunft wahr werde, was jetzt nur
möglich seit), an sich zufällig: das Zukünftige selbst aber, wenn
es wahr sei, so gewiss als das Vergangene wahr sei ($ 28). Da
Carneades den Epikureern den Ausweg gerade gegen diese beiden
von ihnen gefürchteten Folgerungen zeigen will, wie wir vorhin
gesehen haben, so ist der Schluss notwendig, dass diese hier auf
Grund der von ihm gegebenen Aufklärung (ce. 11, 23—25) vor-
getragene Zurückweisung dieser beiden Folgerungen ihm ebenso
gehört, wie die vorhergehende Aufklärung, deren Konsequenz sie
ist. Dieser Abschnitt ($$ 23—28) bildet somit eine einheitliche
Erörterung.
Hierauf folgt die Auseinandersetzung über den ἀργὸς λόγος
(SS 23—37 m.). Zunächst giebt Cicero die Bedeutung, dann
die Bestreitung desselben durch Chrysipp. Die Vertreter des
ἀργὸς λόγος schliessen: Wenn es dir vom Verhängnis bestimmt
ist, an dieser Krankheit zu sterben, so wirst du sterben, ob du
einen Arzt zu Rate ziehst oder nicht. Chrysipp dagegen weist
diesen Schluss zurück: Ebenso wie es vom Fatum bestimmt sei,
an dieser Krankheit zu sterben, sei es auch bestimmt, den Arzt
zu Rate zu ziehen (c. 12, 23—13, 30). Dies ist natürlich nicht eine
Widerlegung, sondern nur eine Verbesserung, die noch vielmehr
wie der ἀργὸς λόγος die Notwendigkeit alles Geschehens voraus-
setzt. Denn dieser lässt ja dem Menschen die Freiheit, einen
Arzt zu Rate ziehen zu können oder nicht, während Chrysipp
diese Freiheit nicht einräumt. Hier gegen wendet sich (arneades
(e. 14,31): Wenn alles nach voraufgehenden äusseren ) Ursachen
!) Dass es sich hier nur um solche Dinge handelt, die im Bereiche des
Menschen liegen, nicht um fest bestimmte Naturereignisse, lehrt der Zu-
sammenhang und direkt auch der Satz $ 28: fortuitae sunt causae, quae effi-
ciant, ut vere dieantur, quae ita dicentur, ‘veniet in senatum Cato', non
inelusae in rerum natura atque mundo. -
2) Vgl. $ 23 Schl., wo der Deutlichkeit wegen die causae antecedentes
als causae externae et antecedentes erklärt werden; ebenso $ 24.
ἘΠ τς
geschieht, so geschieht alles in natürlicher Verkettung; wenn dem
so ist, so bewirkt die Notwendigkeit alles; wenn aber alles durch
das Fatum geschieht, so liegt nichts in unserer Gewalt; nun liegt
aber manches in unserer Gewalt: Also geschieht nicht alles nach
dem Fatum. Die erste Prämisse dieses Schlusses enthält den
Syllogismus, durch den die Stoiker die Notwendigkeit des Fatums
erwiesen. Da derselbe von Garneades durch den Hinweis auf
die Thatsache, dass manches in unserer Gewalt liegt, widerlegt
wird, so sucht ein fingierter Gegner diese Widerlegung des
Carneades dadurch, dass er für alles Zukünftige die Giltigkeit
des absoluten Fatums in Anspruch nimmt (c. 14, 32), zu nichte zu
machen. Dieser Einwand wird zurückgewiesen durch eine Er-
örterung, die zunächst geltend macht, es sei ein wesentlicher
Unterschied, ob alles von Ewigkeit her notwendig wahr sei, oder
ob das Zukünftige ohne diese Notwendigkeit von Ewigkeit her!)
als wahr gelten könne. Die letztere Ansicht wird als wahr an-
erkannt und nach Carneades erwiesen (c. 14, 32— 15,33). Hieraus
folgt unmittelbar der Schluss, dass die Ansicht der-Stoiker, nach
der alles von Ewigkeit her notwendig wahr ist, von der Ansicht
derer, welche nur anerkennen, dass alles von Ewigkeit her wahr
ist, ohne die notwendige Verknüpfung alles Geschehens damit zu
verbinden 5), wesentlich verschieden ist und darum die Ansicht
}). 6. 14,32; siehe die folg. Anm.
°) ο, 15,33: quoeirca si Stoieis, qui omnia fato fieri dieunt, consentaneum
est huius modi oracla ceteraque, quae a divinatione ducuntur, comprobare,
iis autem, qui, quae futura sunt, ea vera ex aeternitate dieunt, non idem
dieendum est, vide ne non eadem sit illorum causa et Stoicorum. Cicero
ist hier in der Ausdrucksweise nicht immer gleich sorgfältig und macht da-
durch die schon an sich schwierige Stelle noch dunkler und fast unverständ-
lich. Hier ergiebt der. Gegensatz zu den Stoikern von selbst, dass diese
‘vera ex aeternitate’ nicht auch “eausis aeternis’ verknüpft sind. :e. 15,32 be-
zeichnet er denselben Standpunkt wieder im Gegensatze zu den Stoikern,
welche lehren causas naturales ex aeternitate futura vera efficere, mit dem
Ausdrucke sine aeternitate naturali futura, quae sint, ea vera esse posse.
Diese Stelle widersprieht nicht der vorigen, denn hier wird nicht geleugnet,
quae futura sunt, ea vera ex aeternitate esse, sondern nur dass sie sine
aeternitate naturali dieses sind, d.h. ohne von Ewigkeit her wirkende Ur-
sachen, wie dies ganz deutlich der Zusammenhang zeigt. Vollkommen klar
bezeichnet er ihn dagegen ὁ. 16,38 ex: ratio ipsa coget et ex aeternitate quae-
dam esse vera, et ea non esse nexa causis aeternis et a fati necessitate esse
libera.
-- 11 —
(der Stoiker durch die obige Beweisführung des Carneades (ce. 14, 31)
widerlegt, die Ansicht der anderen dagegen überhaupt nicht be-
rührt wird (c. 15,35). Dieser Schluss beendet also den Beweis
gegen den Einwand, welcher gegen den Beweis des Carneades
erhoben war. Auch diese ganze Stelle giebt somit nur einen
einzigen, innerlich fest gefügten und unzerreissbaren Beweis des
Carneades. Der Einwand wird nun noch weiter durch die in dem
vorstehenden Beweise mitbegründete Bemerkung zurückgewiesen,
dass mit der notwendigen Verknüpfung alles Geschehens auch
die ewige Verknüpfung desselben gesetzt sei, welche der Einwand
besonders hervorgehoben hatte, und zugleich wird gezeigt, worauf
der Fehler in der stoischen Lehre beruht: Ursache ist nicht das,
was überhaupt etwas anderem voraufgeht, sondern das, was so
voraufgeht, dass die Wirkung zugleich damit eingeschlossen ist.
Diese Unterscheidung reicht bis zum Schlusse ο. 16,537m. Dafür,
dass auch sie dem Carneades angehört, zeugt ausser allem Übrigen
der Umstand, dass sie in dem ganzen vorhergehenden Beweise
schon mitgesetzt ist, wie die Betonung der bewirkenden Ursache
(causa efficiens) gegenüber den vorhergehenden Umständen klar
beweist!).
In welchem Zusammenhange steht nun dieser Abschnitt mit
dem vorhergehenden? Carneades beweist gegen die Folgerung
des ἀργὸς λόγος und die entsprechende Lehre Chrysipps, dass
nicht alles vom Fatum abhängt (ce. 14, 31); darauf zeigt er, dass
zwar die Lehre der Stoiker von diesem Beweise getroffen und
widerlegt wird, weil sie lehren, dass alles vom Fatum abhängt,
nicht aber die ihrer Gegner, welche nur behaupten, dass alles
Zukünftige von Ewigkeit her wahr, aber nicht durch notwendige
Gründe in sich verknüpft und bestimmt sei: Also ist die Folge-
rung des ἀργὸς λόγος zwar auch eine Folgerung der stoischen
Lehre und diese somit widerlegt, nicht aber die ihrer Gegner.
Diese gegnerische Lehre ist nun gerade die Epikureische, wie 516
von Carneades in dem vorigen Abschnitte modifiziert und gegen
die stoische als richtig erwiesen ist. Dieser Abschnitt hängt also
mit dem ersten aufs engste zusammen und erweist von neuem
die Richtigkeit der Epikureisch-Carneadeischen Auffassung und
1) e. 14, 88: causis effieientibus quamque rem cognitis posse denique scır,
quid futurum esset.
-- 112 —
die Verkehrtheit der stoischen aus der Konsequenz beider. Der
ganze Teil gehört demnach dem Carneades, bezw. Clitomachus.
Wir kommen jetzt zum ersten Teile. Er zerfällt in vier
Abschnitte: der-erste umfasst das, was verloren gegangen und im
wesentlichen bei Augustin erhalten ist, nebst dem dritten Kapitel;
der zweite die 88 7—11, der dritte die 88 11—17, der vierte die
85. 17—20. Die ersten drei bestreiten das Fatum durch die Widerle-
gung der Mantik und zwar hauptsächlich der Astrologie. Von diesen
berührt sich der dritte mit den Beweisgründen Augustins gegen die
Astrologie nicht!); der zweite dagegen behandelt den wichtigsten
seiner Gründe, die Lehre von der Sympathie. Da nun aber seine
übrigen Gründe auf dieselbe Quelle zurückgehen, wie wir im
vorigen Paragraphen gezeigt haben, so ist es klar, dass die Quelle
für die Bestreitung der Sympathie auch die Quelle für jene ist.
Doch sind wir in der Lage, auch für einen jener Punkte die
(Juelle bestimmen zu können.
Wir beginnen sachgemäss mit dem zweiten Abschnitte. Die
absolute Sympathie des Alls setzt voraus, wie dies schon vorher
klar zu Tage getreten ist, dass alles, was geschieht, notwendig
geschieht, so dass der Mensch nichts selbständig schaffen kann.
Die übereinstimmende Polemik bei Sextus, Favorin und Augustin
setzt hiergegen die Freiheit des menschlichen Willens im Gebiete
des menschlichen Handelns und beschränkt demgemäss die Sym-
pathie auf das, was vom menschlichen Geiste unabhängig ist.
Denselben Standpunkt finden wir in unserem zweiten Abschnitte
(8 δ). Die Verteidigung der Willensfreiheit gegen Chrysipps
Annahme der absoluten Sympathie beruht dabei auf derselben
Unterscheidung der Ursachen, mit welcher Carneades, wie wir
vorhin gezeigt haben, die Willensfreiheit gegen Chrysipp vertei-
digte®). Da nun Carneades thatsächlich auch die Sympathie in
gleicher Weise beschränkt, wie es hier geschieht), und die Astro-
logie bezw. die Mantik mit demselben Grunde bestritten hat wie
Sextus®), und dabei schliesslich mit voller Bestimmtheit erklärt,
dass seine Polemik nicht der Astronomie, sondern der eigentlichen
') Augustin weist diese Gründe schlechthin ’von sich ab, vgl. 6.9. p.203,20 ff.
ie. δ᾿ θυ 51}. Ὁ 14,29:
3) Cic. de div. II 14, 33 ff.
*) Vgl. Sext. $$ 46—48 mit Cie. de div. II 7, 18 Β΄. u. bes. 8, 20 ff. in Ver-
bindung mit de fato ο. 14, 31.
-- 13 --
Astrologie gelte'), ganz so wie Sextus, Favorin und Augustin es
thun, so ist der Schluss sicher, dass diese gesamte Widerlegung
und speziell die in unserem Abschnitte auf Carneades zurückgeht.
Wir kommen zum dritten Abschnitte, Dieser deckt den
Widerspruch auf, in den Chrysipp durch die Aufrechterhaltung
der Astrologie mit seiner eigenen Anschauung gerät. Diodorus
Cronus hatte nämlich mit seinem berühmten Κυριεύων den Nach-
weis zu führen gesucht, dass nur das Wirkliche notwendig und
möglich sei, also auch alles, was nicht wirklich sei oder sein
werde, thatsächlich auch nicht möglich sein könne. Gegen
diesen Begriff der Möglichkeit war Chrysipp aufgetreten, um die
gewöhnliche Auffassung desselben zu verteidigen. Hier wird ihm
nun der Widerspruch nachgewiesen, dass er trotzdem durch die
Theorie der Mantik und speziell der Astrologie zu derselben
Auffassung des Möglichen hindränge wie Diodor. Der Beweis ist
folgender: Ein Satz der Astrologie lautet z. B.: Wenn jemand
beim Aufgange des Hundssternes geboren ist, wird er nicht im
Meere untergehen. Es ist daher unmöglich, dass jemand im
Meere untergeht, welcher beim Aufgange des Hundssternes geboren
ist. Denn da alles Thatsächliche als solches auch nach Chrysipps
Meinung notwendig ist, weil es nicht mehr anders werden kann, und
‘daher auch die Geburt des gedachten Mannes zu dem Notwendigen
gehört, so muss auch die Folge davon notwendig sein. Demnach
deckt sich das Unmögliche mit dem, was unwirklich ist, als auch das
Mögliche mit dem, was wirklich sein wird ($$ 11—15). Das ist aber
die Lehre Diodors, die Chrysipp verwirft. Da nun Chrysipp ein-
gesehen hatte, dass die Sätze der Astrologie seiner Lehre zu-
widerliefen, hatte er eine Formulierung derselben vorgeschlagen,
welche diesem Übelstande abhelfen sollte. Diese wird hierauf
widerlegt (88 15—17).
Die Konsequenz dieses Abschnittes ist der folgende ($S 17—20).
Aus dem soeben entwickelten Widerspruche Chrysipps wird da-
selbst zunächst der Schluss gezogen, dass auch seine Auffassung
des Fatums unhaltbar sei, weil er folgerecht auch nur dasjenige
annehmen dürfe, auf welches der Kyrieuon hinleite. Dieses wird
daher ausführlich entwickelt und in seiner Berechtigung gegen-
über Chrysipps Anschauung erwiesen. Wie alles, was wirklich
2) Cie. de div. ΠῚ 6, 17.
-- Ἠ: 14 --
ist, allein notwendig und möglich war, weil, wenn noch etwas
anderes möglich gewesen wäre, eben dieses aus einem Möglichen
zum Unmöglichen geworden wäre, ebenso ist auch das, was
wirklich sein wird, als solches zwar allein möglich und notwen-
dig, aber darum keineswegs auch von Ewigkeit her absolut un-
wandelbar vorausbestimmt. Denn in diesem Falle müssten die
Ursachen für alles Geschehen von Ewigkeit her walten und wirken.
Das ist aber nicht der Fall; denn die Ursachen, welche das, was
wirklich sein wird, herbeiführen, sind wesentlich doppelter Art:
solche, welche in der Natur der Dinge liegen und darum
ein notwendiges Geschehen bewirken, und solche, welche ihrer
Natur nach zufällig sind und dasjenige herbeiführen, was nicht
durch jene äussere Notwendigkeit bedingt ist. Natürlich ist auch
dieses so notwendig, wie dasjenige, was durch die äussere Natur-
notwendigkeit herbeigeführt wird, weil und wiefern es wirklich
sein wird!); aber es hat den Grund seiner Verwirklichung nicht
in äusseren, von Ewigkeit her bestimmten Gründen, sondern in
der freien Natur des Geistes?) (c. 9, 17 —10, 20).
Die beiden letzten Abschnitte gehören offenbar mit der vor-
hergehenden Bestreitung der Astrologie und des Fatums zu-
sammen. Da wir nun dort den Carneades als Quelle erkannt haben,
1) 8 19: non enim aeternis causis, naturae e necessitate manantibus ve-
rum est id, quod ita enuntiatur, ‘descendit in Academiam Carneades’, nec
tamen sine causis, sed interest inter causas fortuito antegressas et inter cau-
sas cohibentes in se effieientiam naturalem. ita et semper verum fuit, ‘morietur
Epieurus, cum duo et septuaginta annos vixerit archonte Pytharato,’ neque
tamen erant causae fatales, cur ita aceideret; sed quod ita ceeidisset, certe
casurum, siecut cecidit, fuit. Bei solchen Dingen können wir also auch erst
aus dem Erfolge erkennen, was möglich und notwendig war.
?) Dies wird nicht direkt gesagt, aber es folgt notwendig aus den Wor-
ten Ciceros. Er fährt ἃ. ἃ. Ὁ. fort: nee ii, qui dieunt immutabilia esse quae
futura sint nee posse verum futurum convertere in falsum, fati necessitatem
confirmant, sed verborum vim interpretantur; at qui introducunt causarum
seriem sempiternam, ii mentem hominis voluntate libera spoliatam necessitate
fati devineiunt. Die stoische Lehre also vernichtet die Freiheit des Willens,
nicht diese Auffassung, welche hier im Anschluss an den Kyrieuon ent-
wickelt ist. Da die Ereignisse, welche in den äusseren Umständen ihre Ur-
sachen haben, nieht von dem Willen des Menschen abhängen können, so
kann die Freiheit des Willens nur für solche in Betracht kommen, welche
das Beispiel andeutet: descendit in Academiam Carneades, d. h. dasjenige,
was in der Willenssphäre des Menschen liegt.
᾿
%
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nachfolgende durch diesen. Denn offenbar h
so dürfen wir das Gleiche auch hier annehmen, zumal auch
hier die Lehre Chrysipps in Wirklichkeit mit denselben Gründen
widerlegt wird wie in den früher behandelten Abschnitten. Doch
sehen wir hiervon ab, so zeigt der Schluss des letzten Abschnittes
($$ 13m — 20) unzweifelhaft, dass wir den Carneades vor uns
haben. Cicero gerät hier nämlich in eine Verteidigung Epikurs,
die augenscheinlich dieselbe ist wie die, welche er im zweiten
Teile ausführlich giebt. Sie berührt dieselbe Streitfrage und löst
sie auf dieselbe Weise und schliesst sie mit demselben Ergebnis'!).
Sie ist kurz und klar gehalten und als eine unmittelbare Folge-
rung der an dem Kyrieuon entwickelten Berichtigung des stoi-
schen Fatums in diese Berichtigung hineingesetzt. Der zweite
Teil ist aber, wie wir vorhin dargethan haben, das Eigentum des
Carneades; folglich muss auch diese Verteidigung ($$ 18—20) auf
ihn zurückgehen. Dieses bestätigt sie auch selbst: Als Beispiel
für etwas, was nicht in der Natur der Dinge begründet ist,
finden wir nämlich in ihr den Satz: descendit in Academiam
Carneades, einen deutlichen Hinweis, wo wir die Quelle zu suchen
haben. Da nun diese Verteidigung aus der Erörterung folgt, die
sich an den Kyrieuon anschliesst, und von derselben nicht ge-
trennt werden kann, so ist auch diese ganze Abhandlung und
somit der ganze erste Teil das Eigentum des Carneades’°).
Obwohl nun Cieero am Schlusse dieses Teiles in dieselbe
Erörterung gerät und sie kurz skizziert, die er in dem folgenden
zweiten Teile ausführlich entwickelt, schliesst er ihn doch mit
den Worten ($ 20): sed haec hactenus, alia videamus. Da es
unstatthaft ist anzunehmen, dass Cieero überhaupt nicht ver-
standen habe, was und wie er schrieb, so beweist dieser Über-
gang, dass Cicero hier mit Absicht den ersten Teil nicht zu
Ende geführt, sondern abgebrochen hat. Es war dies auch ganz
natürlich und notwendig; denn er hätte unmöglich den zweiten
1) Vgl. $ 13m: nee cum haee ita sint etsq. mit $ 20 ff.; die Überein-
stimmung ist augenscheinlich. e
3) Dieser Abschnitt ist nieht etwa durch die nachfolgende Erörterung
beeinflusst, wie man vielleicht meinen könnte, sondern eher umgekehrt die
at Cicero dieses Beispiel nach-
1 sicher an Stelle des
gebildet, wenn er in dem gleichen Zusammenhange une Diele
veniet in Tus-
griechischen Beispiels schreibt ($ 28): veniet in senatum Cato,
eulanum Hortensius, und $ 34: quod in campum descenderim.
Teil schreiben können, wenn er am Ende des ersten Teiles so
fortgefahren wäre, wie er angefangen hatte. Dieser Übergang
beweist somit, was der Inhalt schon an sich zeigt, dass Cicero
hier zwei Abschnitte verbunden hat, die in Wirklichkeit nicht
neben einander stehen, sondern sich fortsetzen. Bedenken wir
nun, dass der erste Teil vorwiegend die Astrologie widerlegt
dadurch, dass er ihr Fundament, das Fatum, vernichtet, und dass
diese Widerlegung auf Carneades zurückgeht, so wird der Grund
für diese wie für andere Unebenheiten mit einem Schlage klar,
wenn wir Ciceros Schrift de div. berücksichtigen. Cicero war
schon, als er das zweite Buch derselben begann, entschlossen
die Abhandlung de fato als Abschluss nachfolgen zu lassen.
Nun benutzt er zur Widerlegung der stoischen Ansicht im ganzen
zweiten Buche de div. die Argumente des Carneades, bei der
Widerlegung der Astrologie jedoch verlässt er dieselben und
wendet sich ohne weiteres zu der des Panätius: Offenbar also
hat er hier CGarneades’ Widerlegung der Astrologie heraus-
genommen, um sie in de fato zu verwenden, und deswegen die
Widerlegung des Panätius an die Stelle derselben gesetzt. Da-
durch nun, dass er in de fato zwei verschiedene, wenn auch
innerlich zusammengehörende Stellen seiner Quelle zusammen-
schob, musste die Unklarheit entstehen, die wir oben besprochen
haben. Hierdurch findet noch eine weitere Thatsache ihre Er-
klärung. Cicero fügt zu denjenigen Gründen gegen die Astro-
logie, die er aus Panätius herübernimmt, noch einige hinzu und
bezeichnet dieselben als sein Eigentum ($ 97). Von diesen ist der
zweite, der darauf hinweist, dass. keiner dem Homer gleich
gewesen sei, während doch viele zu derselben Zeit geboren seien,
schon vorher (8 95) dagewesen, nur dass wir dort als Beispiel
statt Homer Scipio Africanus lesen. Sehen wir hiervon also ab,
so sind doch sicher der erste und dritte Grund nicht neu
und nicht von ihm aufgestellt. Denn wenn er fragt, ob etwa
auch alle diejenigen, welche bei Cannae gefallen seien, unter
derselben Konstellation geboren seien, so hat er nur den Namen
der Sache geändert, da wir bei Sextus ($ 92) dieselbe Frage in-
betreff der bei Marathon Gefallenen wiederfinden. Noch klarer
ist die Übereinstimmung bei dem dritten Grunde, der die Kon-
sequenz der Astrologie verspottet, dass auch das Geschick der
Tiere durch die Sterne bestimmt werden müsste, wenn diese
Γ
de -.
überhaupt einen derartigen Einfluss hätten. Da nun diese Gründe
weder sein Eigentum sind, wie wir früher gesehen haben, noch
auch nach seiner Angabe aus Panätius stammen, so muss er sie
aus dem Abschnitte der akademischen Quelle entlehnt haben, den
er hier für de fato zurückstellte.
Wir kommen zu dem letzten Abschnitte. Zwei Richtungen
gab es unter den Philosophen, so führt Cicero aus; die* einen
lebrten, dass alles notwendig bestimmt sei und geschehe; die
anderen, dass der menschliche Wille von diesem Zwange der
Notwendigkeit frei sei. Aus der Ansicht der ersteren folge, dass
weder die Handlung noch die Zustimmung zu dem Geschehen in des
Menschen Macht liege, und dass daher Lob und Tadel, Ehre und
Strafe ungerecht seien. Die anderen dagegen hätten sich, gerade
durch diese Folgerung veranlasst, dafür entschieden, dass nicht
alles durch das Fatum unabänderlich bestimmt sei. Zwischen
beiden habe Chrysipp zu vermitteln und die Willensfreiheit mit
der Notwendigkeit alles Geschehens zu vereinigen gesucht. Er
habe deswegen die Gründe zum Handeln in zwei Arten geteilt,
in anregende und bewirkende, und nur die ersteren dem Fatum,
die letzteren unserem Willen zugewiesen. Die Zustimmung und
die Triebe seien danach nicht vom Fatum abhängig, sondern frei.
Denn wie jemand, der eine Welle anstosse, ihr zwar den Anfang
der Bewegung, nicht aber die Beweglichkeit verleihe, ebenso be-
wirke auch die Wahrnehmung zwar eine Vorstellung, nicht aber
die Zustimmung zu ihr ($$ 39—44).
Diese Lehre wird hier der Beurteilung unterworfen:
Zwei Möglichkeiten giebt es, wie die Anhänger der Willens-
freiheit sich zu der Auffassung der Freiheit verhalten können. Ent-
weder nehmen sie an, dass die Zustimmung mit der Wahrnehmung
gar nicht zusammenhängt und ganz unabhängig von dieser ent-
steht!); oder dass sie mit ihr so zusammenhängt, dass sie nur ent-
stehen kann, wenn jene vorausgegangen ist”). Die erste Möglichkeit
i) ς. 19, 44: haee cum ita sint a Chrysippo explieata, si illi qui negant ad-
sensiones fato fieri, non fateantur [tamen] eas non sine viso antecedente fieri,
_ alia ratio est, ἃ. h. positiv ausgedrückt: ob jene, welche die adsensiones für
unabhängig vom Fatum erklären, sie auch für unabhängig von der Vor-
stellung erklären, ist eine andere Frage. _
3) ἃ. ἃ. Ο: sed si concedunt anteire yisa nec tamen fato fieri adsensiones,
quod proxima illa et continens causa non moveat adsensionem, vide ne idem
j dieant.
b. τ Schmekel, mittlere Stoa. 12
wird einfach abgewiesen und unberücksichtigt gelassen; die letztere
dagegen, die auch Chrysipps Anschauung ist, wird behandelt und
dabei bewiesen, dass sie zu demselben Ergebnisse wie Chrysipps
Auseinandersetzung führe.
Die Beweisführung dieser Behauptung besteht aus zwei aller-
dings nicht regelmässig gebauten Syllogismen: Aus den beiden
Prämissen des Chrysipp, dass alles nach dem Fatum geschehe,
dass aber dieses nur die anregende, nicht die bewirkende Ursache
der Zustimmung sei, folgt, dass nicht alles, was geschieht, auch
wenn es nach dem Fatum geschieht, durch zwingende äussere
Gründe herbeigeführt wird. Die Gegner aber schliessen: Nur
wenn das Fatum als die ursächlich begründete Aufeinanderfolge
alles Geschehens aufgefasst wird und die Zustimmung der Wahr-
nehmung folgt, muss zugestanden werden, dass alles nach dem
Fatum geschieht, selbstverständlich, sobald sich ergeben hat, dass
auch die Zustimmung durch das Verhängnis vermittelt wird. Diese
beiden Schlüsse des Chrysipp und der Gegner entsprechen sich,
so wie sie hier erscheinen, keineswegs. Da sie nun aber nach
Ciceros ausdrücklicher Angabe!) dasselbe ergeben sollen, so kann
der Grund dieser Undeutlichkeit nur darin liegen, dass das
Schlussverfahren von Cicero nicht zu Ende geführt ist. Dieses
ist thatsächlich der Fall. Denn der zweite Schluss ist nur ein
bedingter, da die wichtige erste Prämisse nur als Bedingungssatz
ausgesprochen ist: Nur wenn alles nach voraufgehenden äusseren
Ursachen geschähe, müsste zugegeben werden, dass das Fatum
wirklich sei. Die Gegner leugnen also, dass alles nach vorauf-
gehenden äusseren Ursachen, d. h. nach dem Fatum geschieht,
und dies ist es, worin sie mit Chrysipp, wie vorhin gesagt wurde,
übereinstimmen; denn auch Chrysipp hat ja soeben bestritten,
dass das Fatum alles notwendig herbeiführe. Obwohl nun die
Fortsetzung dieses Abschnittes fehlt, so können wir doch über
den Gang sowie über den Inhalt des Ganzen nicht im Zweifel
sein. Denn im Anfange dieses Abschnittes $ 39 giebt Cicero das
Ergebnis desselben mit den Worten an: Bei seiner Vermitteiung
der Gegensätze schliesse sich Chrysipp zwar denen an, welche
') Vgl. ausser ἃ. vor. S. Anm, 2 noch a. a. OÖ: ex quo facile intelleetu est,
quoniam utrique patefacta atque explieita sententia sua ad eundem exitum
veniant, verbis eos, non re dissidere; aber sehr klar ist es trotz Ciceros An-
gabe doch nicht.
-- Τῷ —
die Notwendigkeit des Fatums von dem menschlichen Willen
ausschlössen; in seiner Beweisführung aber komme er wider
seinen Willen zu dem Gegenteile, zu der Anerkennung der unbe-
dingten Notwendigkeit desselben. Da nun soeben der Beweis
geführt worden ist, dass Chrysipp nur den Worten nach von
denen abweicht, welche die Freiheit des Willens behaupten, in
Wahrheit aber mit ihnen übereinstimmt, so ist damit offenbar der
erste Teil der vorhin angegebenen Behauptung bewiesen. Der
folgende zweite Teil der Ausführung, welcher verloren gegangen
ist, muss demnach den Nachweis gebracht haben, dass Chrysipp
gleichwohl die unbedingte Notwendigkeit lehre. Den Übergang
hierzu bilden bereits die Schlussworte der Schrift, in denen der
Unterschied aufgedeckt wird, welcher zwischen ihm und seinen
Gegnern trotz der angegebenen Übereinstimmung stattfindet.
Beide stimmen nämlich in der Unterscheidung solcher Dinge
überein, die nicht in unserer Gewalt sind, und solcher, die in
unserer Gewalt sind. Bei der ersten Art der Dinge ist die Mög-
lichkeit ausgeschlossen, dass die Wirkung, sobald die äussere
Ursache dagewesen ist, anders sein kann, als sie geschieht; bei
den letzten dagegen ist sie nicht ausgeschlossen, doch hier gehen
beide auseinander: Die Gegner erkennen das Bestehen des Fatums
nur für die erstere Art an, für die letzteren schliessen sie das-
selbe vollständig aus, indem sie lehren, dass das, was in der
Sphäre der menschlichen Thätigkeit liegt, sich faktisch auch
anders gestalten könne, als es geschieht; Chrysipp dagegen hält
es auch für diese Dinge aufrecht!). Hieraus geht hervor, dass
bei Chrysipps Zugeständnis, dass der Erfolg der Dinge, welche
in der menschlichen Machtsphäre liegen, auch anders sein könne,
als er thatsächlich ist, nur die ideelle, nicht die faktische
Möglichkeit gemeint ist, da faktisch das Fatum auch diese be-
2) $ 45: omninoque cum haee sit distinctio, ut quibusdam: in rebus vere
diei possit, cum hae causae antegressae sint, non esse in nostra potestate,
quin illa eveniant, quorum causae fuerint, quibusdam autem in rebus causis
antegressis in nostra tamen esse potestate, ut illud aliter eveniat, hanc
distinetionem utrique adprobant, sed alteri censent quibus in rebus, cum causae
antecesserint, non sit in nostra potestate, ut aliter illae eveniant, eas fato
fieri, quae autem in nostra potestate sint, ab iis fatum abesse ... . Aus dem
Zusammenhange folgt unmittelbar, dass die Fortsetzung etwa gelautet haben
"muss: alteri vero has quoque res fato fieri, was ja auch thatsächlich die Lehre
Chrysipps ist.
12*
-
— 180 --
dingt. Ohne dass es also gesagt ist, drängt Chrysipps Auffassung,
wie sie hier vorliegt, doch auf die Ewigkeit der Vorausbestimmung
alles Geschehens hin, weil trotz jener Unterscheidung der Dinge
und Ursachen doch alles ohne Ausnahme nach dem Fatum ge-
schieht. Bei der Auffassung der Gegner aber ist eine solche
Vorausbestimmung vollkommen ausgeschlossen, weil es ausdrück-
lich heisst, dass das, was vom Menschen abhängt, auch anders
geschehen könne, als es geschieht. Somit steht wiederum dem
Fatum des Chrysipp eine andere Auffassung desselben gegenüber
und nach dem oben $ 39 von Cicero im voraus angegebenen
Resultate dieses ganzen Abschnittes ist es unzweifelhaft, dass die
Auffassung des Chrysipp zurückgewiesen worden ist. Diese hier
gegenüberstehende Auffassung ist aber dieselbe, welche ihr von
Carneades auch in den vorigen Teilen entgegengesetzt wird. Denn
gerade gegen die Ewigkeit des Verhängnisses ist dieser daselbst
aufgetreten, wie wir gesehen haben, und ferner hat er sowohl
sonst als besonders bei der Widerlegung des ἀργὸς λόγος die An-
nahme, dass alles durch das Fatum geschehe, mit der Begründung
zurückgewiesen, dass dasjenige, was in der menschlichen Macht
liege, nicht durch das Fatum, sondern durch den menschlichen
Willen bestimmt werde, der von den äusseren Ursachen und
Ereignissen unabhängig sei!). Denn hieraus folgt sofort, dass
alles, was auf dem menschlichen Willen beruht, nicht fest und
unabänderlich bestimmt ist. Wir sehen, auch hier werden
wieder die beiden Arten des Fatums auf die zweifache Auffassung
des Begriffs der Möglichkeit zurückgeführt und die Auffassung des
Chrysipp von hier aus bestritten und widerlegt?). Wir sind dem-
nach zu dem Schlusse gezwungen, dass Ciceros Quelle auch hier
dieselbe wie in den vorigen Abschnitten ist?).
Aber noch von einer anderen Seite bestätigt sich dies. In
diesem Abschnitte wird die Widerlegung des Fatums von der
Ethik aus unternommen. Die einen der älteren Philosophen
1) Vgl. noch e. 18, 41 zweite Hälfte.
?) Nun wird es auch klar), was Cicero in der Einleitung sagt, dass es
sich in dieser Schrift um die Frage handele, quam περὶ δυνατῶν philosophi
appellant.
°) Auf vollständigem Missverständnisse beruht der Schluss Gehrkes Chry-
sippea p. 5 diss. Bonn. 1885, aus der $. 178 A3 angeführten Stelle gehe her-
vor, dass Antiochus die Quelle sei.
He -ς-
lehrten die absolute Notwendigkeit alles Geschehens; die Un-
möglichkeit, auf diese eine Ethik zu gründen, die vom Bewusst-
sein gefordert wurde, veranlasste die anderen die absolute Not-
wendigkeit einfach abzuweisen und die Freiheit des Willens zu
behaupten. Da Chrysipp sich von dem physikalischen Stand-
punkte aus zu der ersten Annahme gezwungen sah, und. doch
die Folgerung unmöglich als richtig anzuerkennen vermochte,
suchte er den eben angeführten Ausweg, um beiden zu genügen:
Also um die Ethik zu begründen, nahm er jene Unterscheidung
der anregenden und bewirkenden Ursachen vor. Nun ist ihm
aber, wie Cicero hier sagt, der Nachweis geführt worden, dass
er trotz dieser Unterscheidung in der Beweisführung zum Gegen-
teile gelange, nämlich zu der Anerkennung, dass alles der un-
bedingten Herrschaft des Fatums unterworfen sei: Also muss
ihm nachgewiesen worden sein, dass diese Unterscheidung der
anregenden und bewirkenden Ursachen mit seinem Fatum im
Widerspruche stehe und demnach entweder die Ethik oder das
Fatum unmöglich sei. Nun gründete Chrysipp die Ethik nicht so
auf die Freiheit des Handelns als vielmehr auf die der Zu-
stimmung, die er trotz der von ihm anerkannten Notwendigkeit
alles Handelns aufrecht halten zu können glaubte (vgl. $ 40 ff.).
Folglich muss ihm weiter gezeigt worden sein, dass die Freiheit
der Zustimmung bei seiner Auffassung des Fatums sich nicht
halten lasse. Da er nun die Freiheit der Zustimmung behauptete
unter der gleichzeitigen Annahme, dass das Fatum in der Vor-
stellung die anregende Ursache der Zustimmung erwecke ($ 42),
so muss ihm schliesslich bewiesen sein, dass eben die Freiheit
der Zustimmung sich mit dieser letzten Annahme nicht vereinigen
lasse, dass also das Fatum dadurch, dass es die Vorstellung er-
zeuge, auch die Zustimmung in ganz bestimmter Weise beein-
flusse. Ist dem aber so, so war der Schluss unabweisbar, dass
es entweder keine Ethik gebe, oder kein Fatum, oder dass
das Fatum auch die Schlechtigkeit verursache. Wie dies im ein-
zelnen ausgeführt worden ist, können wir natürlich nicht er-
raten; dass es ihm aber nachgewiesen sein muss, ergiebt sich
mit Notwendigkeit aus dem Zusammenhange der hier vorliegenden
Angaben.
Ein erbitterter Gegner Chrysipps und der stoischen Philo-
sophie war Plutarch. Er unterliess es nicht, sie wiederholt heftig
zu bekämpfen und in einer eigenen Schrift!) die inneren Wider-
sprüche derselben aufzudecken. In den ersten acht Kapiteln
derselben spricht er über die Stoiker überhaupt und rügt ihre
einander widersprechende Handlungsweise. Dann wendet er sich
gegen ihre Lehre und zwar fast ausschliesslich gegen die Chry-
sipps. Zuerst weist er die Widersprüche in der Einteilung und
der Lehrweise nach (ec. 9—10), dann die in der Ethik (ce. 11—30),
in der Lehre von Gott (ce. 31—40) und zuletzt die in der Physik
(c. 41—47). Bei diesen hängen aber die beiden letzten Kapitel
nur äusserlich. mit den vorhergehenden zusammen. Im dritt-
letzten Kapitel nämlich macht er darauf aufmerksam, dass das
Vorhergehende, abgesehen von den rein physikalischen Wider-
sprüchen, auch gegen die Theologie Chrysipps streite, da daraus
folge, dass die Erhaltung der Welt das Werk des Zufalls, nicht
der Vorsehung und des Verhängnisses sei. Dies giebt ihm die
Veranlassung noch zwei Widersprüche, die sich auf das Ver-
hängnis beziehen, zu erwähnen, .und zwar setzt er zuerst (c. 46)
den Widerspruch zwischen Chrysipps Begriff vom Möglichen und
vom Verhängnis auseinander, dann (c. 47) den zwischen der
Ethik und dem Verhängnis. Es ist klar, dass beide Fragen mit
den naturwissenschaftlichen, welche vorher behandelt werden,
nichts zu thun haben. Dies fällt um so mehr auf, als Plutarch
bereits in dem Teile, der die Widersprüche in der Lehre von
Gott (besonders c. 34) behandelt, auch schon gezeigt hat, dass das
Verhängnis jede Tugend aufhebe. Der Kernpunkt des Beweises
ist an beiden Stellen derselbe, nur ist der Beweis selbst im
letzten Kapitel viel eindringender. Mit Recht dürfen wir unter
diesen Umständen schliessen, dass diese beiden Kapitel eine
eigene Stellung einnehmen. Vergleichen wir nun dieselben mit
Ciceros Abhandlung de fato, so sehen wir, dass Plutarch hier
in kurzen und knappen Zügen, entsprechend dem ganzen Cha-
rakter seiner Schrift, das giebt, was Cicero in aller Ausführlich-
keit erörtert. Der wesentliche Inhalt der Ciceronischen Schrift,
namentlich im ersten Teile, ist, wie wir gesehen haben, die Dar-
legung des Widerspruchs zwischen Chrysipps Lehre vom Mög-
lichen und vom Verhängnis. Diesen führt Plutarch c. 46 aus
und stellt dabei die Lehre Diodors in gleicher Weise der des
1 « » - ‚
) Περὶ τῶν Στωιχῶν ἐναντιωμάτων.
— 13 —
Chrysipp entgegen wie Cicero!), ohne dass dazu in dieser nur
wenige Zeilen umfassenden Widerlegung eine irgendwie zwin-
gende Veranlassung gewesen wäre. Kapitel 47 dagegen entwickelt
er in drei Zügen die Widersprüche, zu welchen die Annahme der
Freiheit der Zustimmung mit dem Verhängnisse und den Vor-
stellungen führt: 1. Wenn Chrysipp die Zustimmung für un-
abhängig von dem Fatum erkläre, um nicht durch das Fatum
Schaden und Täuschungen entstehen zu lassen, so müsse er
auch annehmen, dass alle menschliche Thätigkeit in gleicher Weise
von demselben frei sei. Sei dies aber der Fall, so sei es um
seine Behauptung geschehen, dass das Fatum die Ursache von
allem sei. 2. Wenn er die Ursachen in anregende und bewirkende
teile und nur die ersteren in das Fatum, die letzteren in den
‚menschlichen Geist verlege und die Zustimmung für die bewirkende
Ursache halte, so widerstreite diese Einteilung seiner Anschauung
vom Verhängnis; die bewirkende Ursache sei nämlich allemal
stärker als die anregende: Demnach könne auch der menschliche
Geist durch das Fatum keineswegs zum Handeln gedrängt werden.
Gleichwohl lehre er, dass nichts ohne das Fatum geschehen
könne. Man müsse daher annehmen, dass entweder die Zu-
stimmung und somit alle Tugend und Schlechtigkeit nicht in
unserer Gewalt sei, oder dass das Fatum nicht die ihm zu-
gesprochene Macht besitze. 3. Weil nach seiner Lehre das Fatum
‚die zur Zustimmung leitende Vorstellung erwecke, und es that-
sächlich über denselben Gegenstand verschiedene und oft ent-
gegengesetzte Vorstellungen mit gleicher Glaubwürdigkeit gebe‘*),
so sei von Dreiem nur Eines möglich: Entweder gehe nicht jede
Vorstellung vom Verhängnisse aus, oder jede Zustimmung sei gleich
gut, oder das Verhängnis selbst sei nicht ohne Schuld, dass wir
verkehrt zustimmten, d. h. entweder ist die Anschauung vom
Fatum falsch, oder es giebt keine Tugend und Schlechtigkeit,
oder das Verhängnis ist schuld an der Schlechtigkeit.
Wir haben hier somit dieselben Widersprüche in derselben
Weise und derselben Reihenfolge wie bei Cicero entwickelt; wir
1) εἰ γὰρ οὔχ ἐστιν δυνατόν, ὅπερ ἢ ἔστιν ἀληϑὲς ἢ ἔσται κατὰ dıödwgor
ἀλλὰ — wie Chrysipp will — πᾶν τὸ ἐπιδεχτιχὸν τοῦ γενέσθαι, zur μὴ μέλλῃ
γενήσεσθαι, δυνατόν ἐστιν» χτλ.
3) Dies ist bekanntlich ein bei den Skeptikern sehr beliebtes Mittel zur
Widerlegung der Dogmatiker.
— 154 —
haben ferner gesehen, dass diese beiden Kapitel eine eigene
Stellung in dieser Schrift einnehmen. Es kann daher keinem
Zweifel unterliegen, dass Plutarch hier nicht selbstgefundene
Widersprüche vorträgt, sondern sie nach demselben Gewährsmanne
berichtet, dem Cicero folgt. Ist dem aber so, dann geht daraus
klar hervor, dass Cicero den letzten Teil seiner Schrift, diesen
Widerspruch zwischen der Ethik und dem Fatum, derselben
(Juelle entlehnt hat, wie die früheren Ausführungen. Die letz-
teren gehen, wie wir gezeigt haben, auf Carneades zurück: Also
muss das Gleiche auch bei dem letzten Teile der Fall sein.
Noch eine weitere Stelle beweist die Richtigkeit dieses
Schlusses. Es ist Thatsache, dass Carneades diesen Widerspruch
zwischen dem Verhängnis und der Ethik mit allem Nachdrucke
gegen die Stoiker geltend gemacht hat. Wenn die Vorsehung,
die sich ja mit dem Verhängnisse deckt, den Menschen die Ver-
nunft geschenkt habe, so führt er aus!), so sei sie auch schuld
an der Schlechtigkeit. Denn da alle Schlechtigkeit auf der Ver-
nunft beruhe, die Vorsehung aber den Menschen eine Vernunft
gegeben habe, die auch schlecht sein und handeln könne, und
nach, der eigenen Angabe der Stoiker alle Menschen thöricht und
schlecht seien, sei die Vernunft nicht so das Zeichen besonderer
Fürsorge der Vorsehung als vielmehr des Gegenteils. Denn bei der
gepriesenen Allwissenheit müsste die Vorsehung auch gewusst
haben, als sie die Vernunft den Menschen verlieh, dass die-
selbe sie durchweg nicht zur Tugend zu führen imstande sei. In
Wirklichkeit würde also nur dann von einer besonderen Fürsorge
die Rede sein können, wenn die Vorsehung den Menschen eine
Vernunft verliehen hätte, die nicht irren und schlecht sein könnte.
Kleiden wir diesen Vorwurf in die Form einer Disjunktion, so
ergiebt sich dieselbe, die wir vorhin gehört haben: Entweder
giebt es keine Vorsehung, was er an dieser Stelle zu erweisen
sucht, oder sie ist schuld an der Schlechtigkeit, oder es giebt
keine Schlechtigkeit. Von allen Seiten bestätigt sich somit der
Schluss, dass Carneades der Urheber der obigen Polemik gegen
die Stoiker ist.
') Cie. deor. nat. III 31, 78.
ψ', ὁ ἂς
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2
,
5
ι
Il. Teil. System der Philosophie.
A. Panätius,
Einleitung.
Die Geschlossenheit des stoischen Systems, auf die ihre An-
hänger so viel Gewicht legten, offenbart sich in der Konsequenz,
mit der sämtliche Lehren mehr oder weniger streng aus der
physikalischen Grundanschauung abgeleitet sind. Es ist daher
unmöglich Änderungen in den abgeleiteten Lehren vorzunehmen,
ohne zugleich auch jene abzuändern; und ebenso ist es un-
möglich, ohne jene zu kennen, diese richtig zu verstehen und
zu würdigen. Zum vollen Verständnisse der Lehre des Pa-
nätius ist daher die physikalische Grundanschauung unerläss-
lich. Dieses beweist nicht nur der innere Zusammenhang des
Systems selbst sondern auch die historische Überlieferung, da
Panätius im Gegensatze zu den älteren Stoikern die Physik zum
Ausgangspunkte der Darstellung machte).
Doch erhebt sich sofort eine nicht unbedeutende Schwie-
rigkeit: Seine Physik ist weder selbst erhalten, noch besitzen
wir ausführliche Referate über sie. Eine klare Einsicht in die-
selbe zu erhalten scheint daher unmöglich zu sein. Da er jedoch
stets zu den Bekennern des stoischen Systems gerechnet wird,
werden wir, zumal bei der eigentümlichen Überlieferung dieser
Philosophie, vollkommen berechtigt sein, wenigstens das All-
gemeinste derselben, auch ohne dass es besonders bezeugt wäre,
für ihn in Anspruch zu nehmen. Verbinden wir hiermit die
1) Laert. Diog. VII 33, 41.
Be
zahlreichen Abweichungen und Änderungen, die von ihm „über-
liefert werden, so gelangen wir ohne Schwierigkeit zu dem ge-
wünschten Ziele').
Kap
Physik.
δ᾽ 1. Die letzten Gründe; die Welt.
Die Annahme, dass nichts Unkörperliches wirklich sei, und
die gleichzeitige Zurückweisung einer rein mechanischen Welt-
erklärung schlossen die Einheit von Geist und Materie als Folge-
rung in sich und begründeten einen Monismus, der sowohl
dynamischer Materialismus als auch Pantheismus genannt werden
kann. Diese Grundanschauung konnte naturgemäss kein Stoiker
ändern, ohne sich vom Boden der Stoa zu entfernen; aber die
Durchführung des Princips liess Verschiedenheiten der Auf-
fassung zu. Diese haben wir daher näher zu verfolgen.
Das eigentliche und ursprüngliche Sein ist also Geist und
Materie zu gieicher Zeit, ein materieller Geist. Dieser verwandelt
sich zum Teil, zum Teil bleibt er, wie er ist, und so bilden sich
durch steigende Verdichtung die vier Elemente Aether, Luft,
Wasser und Erde. Ihrem eigentlichen Wesen nach sind die-
selben also nicht verschieden, sondern nur Modificationen der-
selben einen göttlichen Urmaterie oder des Urpneumas. Diesem
vollständig wesensgleich ist der Äther geblieben, die drei andern
Elemente dagegen nehmen mit der Dichtigkeit der Massen in der
Reinheit ihrer geistigen Natur ab. Aber eben diese göttliche
Natur, deren Modifikationen sie sind, verbindet sie alle zu einem
einheitlichen Ganzen, dem Kosmos. Da nun diese dem Kosmos
innewohnende Gottheit als Gottheit auch die Urquelle alles Lebens
ist, so ist er naturgemäss auch vernünftig und beseelt?). Die
Folge dieser Vernünftigkeit der Welt ist ihre möglichste Voll-
kommenheit und absoluteste Zweckmässigkeit. Diese offenbart
') Diese Aushülfe würden wir nicht nötig haben, wenn sich mit Gewiss-
heit feststellen liesse, dass Cicero für den Abschnitt de deor. nat. II 29, 73
bis 61, 153 des Panätius Schrift egi προνοίας benutzt hätte; vgl. 5. 8 A.4
u. folg. S. A. 2.
?) Cie. de leg. I 7, 21 f.
— 197 --
sich nicht nur in der ganzen Gestaltung des Weltgebäudes als
solches, sondern auch in allem, was darinnen ist.
Da also diese göttliche Natur ihm immanent ist und als
solche auch wirkt, so ist sie ferner wie der Grund alles Da-
seins so auch der Grund seines Bestehens: Die Welt wird von
ihrer Vorsehung verwaltet!). Dieses Walten ist naturgemäss
vernünftig; ‘es geschieht daher auch alles nach dem Gesetze der
Vernunft, d. h. wie Ursache und Wirkung. Da nun alles aufs
beste eingerichtet ist, so muss notwendig der Zustand der Welt
der beste bleiben: Die Welt muss, so wie sie ist, ewig sein?).
ποις a. 2..0.
5) Das allgemeine Gesetz der ursächlichen Verknüpfung ist Gemeingut
der Stoiker; hierauf gründet sich ihre Lehre vom Verhängnis. Die obige
Folgerung aber gehört nicht allen Stoikern, doch sicher dem Panätius an.
Denn mag Cie. de nat. deor. II 29, 73—61,153 nicht aus Panätius, sondern
aus Posidonius schöpfen, so treffen doch gewiss die Worte $ 85: guae (se.
mundi partium coniunctio) aut sempiterna sit necesse est hoc eodem ornatu,
quem videmus, nicht die Meinung des Posidonius, da dieser die Ewigkeit
der Welt verwarf. Ausführlich lesen wir den obigen Schluss noch einmal eben-
daselbst $ 115: nee vero haec solum admirabilia, sed nihil maius, quam
quod ita stabilis est mundus atque ita cohaeret ad permanendum, ut nihil
ne excogitari quidem possit aptius ... maxime autem corpora inter se iuncta
permanent, cum quasi quodam vinculo eircumdato conligantur, quod faeit
ea natura, quae per omnem mundum omnia mente et ratione conficiens fun-
ditur. Diese Stelle enthält eine Begründung der Ewigkeit der Welt und
widerspricht somit der Ansicht des Posidonius. Mag also der ganze Ab-
schnitt aus ihm von Cicero herübergenommen sein, so ist doch sicher diese
Begründung, eben weil sie seiner Lehre widerspricht, unmöglich sein Eigen-
tum. Deshalb konnte er auch diese Begründung, wenn dieser Abschnitt aus
ihm stammt und nicht etwa von Cicero compiliert ist, nur inkorrekt und
gewaltsam mit seiner Ansicht verbinden, wie die im engsten Zusammenhange
mit obiger Begründung stehenden Worte $ 115 beweisen: quibus (se. va-
poribus) altae renovotaeque stellae atque omnis aether refundunt eadem et
rursus trahunt indidem, nihil ut fere intereat aut admodum paulum, quod
astrorum ignis et aetheris flamma consumit. Denn wer die Ekpyrosis aner-
kennt, der muss auch ein Zurückbleiben solcher kleinen Teilchen Feuer im
Aether annehmen; wer sie dagegen verwirft, muss auch ein solches Zurück-
bleiben verwerfen. Wer demnach — wie hier geschieht — prineipiell die
Ewigkeit der Welt begründet, der kann nicht gleichzeitig lehren: nihil ut
fere intereat aut admodum paulum, sondern nur: nihil ut intereat. Wenn
also Posidonius beides mit einander verbindet, so kann es nur inkorrekt
geschehen. Da nun Posidonius sich in diesen Fragen sehr von Aristoteles
beeinflussen liess, (ef. Diels, Rh. Mus. 34. Bd. S. 487 ff), könnte man
᾿.
— 188 --
Deshalb muss auch die Wechselwirkung, welche zwischen dem
Äther und den anderen Elementen stattfindet, durchaus gleich-
mässig sein: Es kann nur ebenso viel Erde durch Verwandlung
in Wasser und Luft zum Äther aufsteigen, wie umgekehrt
Äther sich in Erde verdichtet, nicht mehr und nicht weniger;
darum kann sich auch nicht die Welt periodisch in Feuer auf-
lösen'). Findet nun eine solche Auflösung nicht statt, so ist
auch die Annahme eines unendlichen leeren Raumes ausserhalb
der Welt vollkommen unnöthig’?).
das auf Aristotelischen Einfluss zurückführen wollen. Bedenken wir jedoch,
dass die obige Begründung aus dem Princip der stoischen Lehre selbst er-
schlossen ist, und gleichzeitig, dass sie seiner Ansicht über die Dauer der
Welt widerstreitet, so würde es doch ein Widerspruch sein, sie dem Posi-
donius zuzuschreiben; denn Posidonius hätte selbst aus der stoischen Lehre
einen Schluss gezogen, der mit seiner eigenen Ansicht im Widerspruche stand.
Diese Begründung kann also nur einem Stoiker angehören, der selbst die
Ewigkeit der Welt lehrte; unter den obwaltenden Umständen also nur dem
Panätius. Dafür spricht noch ein anderer Grund: Wie an der vorhin ange-
führten Stelle $ 118, so werden auch an der ersten Stelle 8 85 beide Möglich-
keiten, die Ewigkeit der Welt und ihr periodisches Entstehen und Vergehen
neben einander gestellt, jedoch so, dass auch hier, wie an der andern, der
letzteren der Vorzug gegeben wird. Wir lesen: quae (se. mundi partium
eoniunctio) aut sempiterna sit hoe eodem ornatu, quem videmus, aut certe
perdiuturna, permanens ad longinguum et immensum paene tempus: quorum
utrumvis ut sit, sequitur natura mundum administrari. Da beide Male beide
Möglichkeiten aus der stoischen Philosophie folgen, und Panätius (s. d. folg.
Anm.) die erste, Posidonius die letzte vertrat, so ist klar, dass Posidonius
bezw. Cicero nicht die Aristotelische Meinung, sondern die des Panätius
berücksichtigt, was auch die direkte Nennung desselben und seines Stand-
punktes ὃ 118 (de quo Panaetium addubitare dicebant, ut ad extremum omnis
mundus ignesceret) vollauf bestätigt.
') Diog. VII 142; Ps. Philo de ineorrupt. mundi II p. 298, 11 Bern. und
Epiph. adv. haeres. 1090 Ὁ. (Diels dox. gr. p. 593). Stob. 60]. I 171, 5 da-
gegen sagt, dass er die Ewigkeit der Welt nur für wahrscheinlich gehalten
habe. Hierzu stimmt wesentlich auch Cicero de deor. nat. II 46, 118. Da-
nach scheint er seine Meinung nur als Vermutung ausgesprochen zu haben;
jedoch Stob. 1.1. selbst zeigt, dass diese Vermutung ihm als Wahrheit er-
schien. Mehr also die Form als der Inhalt wird zu dieser vorsichtigen
Nachricht Anlass gegeben haben. Zugleich erfahren wir aus letzterer Stelle,
dass auch Panätius, wie selbstverständlich, die ὠναϑυμέασις anerkannt hat.
°) Mit der periodischen Auflösung der Welt in Feuer hängt bei den
Stoikern die Annahme eines unendlichen leeren Raumes ausserhalb des
Kosmos notwendig zusammen. Wurde also eine solche Auflösung geleugnet,
>
7
-- 189 —
Durch die Mischung der Elemente sind die lebenden Wesen
entstanden, die je nach der Art der Mischung — oder stoischer
gesagt: nach dem Spannungsgrade des immanenten Pneumas —
in Pflanzen, Tiere und Menschen zerfallen. In jeder dieser Ar-
ten tritt also wiederum, natürlich gemäss der Art, die göttliche
Natur in die Erscheinung; daher ist es selbstverständlich, dass
auch hier dieselbe Zweckmässigkeit und Vollkommenheit herrscht
wie vorher. Zugleich folgt hieraus auch ihr ewiger Bestand wie
der des Weltgebäudes; doch sind sie natürlich nicht an sich
ewig, sondern nur in ihrer Art. Zu diesem Zwecke liegt in
jedem Wesen der Trieb zur Zeugung und die Fähigkeit der
Fortpflanzung!). Von einer Unsterblichkeit in dem gewöhnlichen
Sinne kann nicht die Rede sein, auch nicht von einer be-
schränkten, sobald eben der pantheistische Grundsatz streng, wie
es hier geschieht, durchgeführt wird*). Da nun durch allzugrosse
Vermehrung ihr Fortbestand wiederum in Frage gestellt wird, so
treten zu gewissen Zeiten grosse Erdrevolutionen, Überschwem-
so fiel damit auch die Notwendigkeit einen solchen leeren Raum anzuerkennen.
Nun giebt es zwar keine Nachricht, welche direkt beweist, dass Panätius
diesen Schluss wirklich gezogen hat; doch haben wir allen Grund, dies an-
zunehmen. Cleomedes schreibt nämlich in seiner Cyel. theor. 11 p.3: εἰ δὲ
χαὶ εἰς πῦρ ἀναλύεταν ἣ πᾶσα οὐσία, ὡς τοῖς χαριεστάτοις τῶν φυσιχῶν dozel,
ἀνάγκη πλέον ἢ μυριοπλασίονα τόπον αὐτὴν χαταλαμβάνειν ὥσπερ καὶ τὰ εἰς
ἀτμὸν ἐχτυμιώμενα τῶν στερεῶν σωμάτων. ὃ τοίνυν ἐν τῇ ἐχπυρώσει ὑπὸ τῆς
οὐσίας ἐχχεομένης χαταλαμβανόμενος τόπος νῦν χενός ἐστιν, οὐδενός γε σώματος
αὐτὸν πεπληρωχότος. εἰ δὲ φήσει τις, μὴ γίνεσϑαν ἐχπύρωσιν, οὐδὲν πρὸς τὸ μὴ
εἶναν χενὸν ἐναντιοῦται τὸ τοιοῦτον. χαὶ γὰρ εἰ μόνον ἐπινοήσαιμεν yeouernv
τὴν οὐσίαν καὶ ἐπὶ πλεῖον ἐχτεινομένην, οὐδενὸς αὐτῇ πρὸς τοιαύτην ἔχτασιν ἐμπεδὼν
γενέσϑαν δυναμένου, αὐτὸ ἂν τοῦτο, εἰς ὃ τῇ ἐπινοίᾳ χωροίη χατὰ τὴν ἔχτασιν, χενὸν
ἂν εἴη" ὥσπερ ἀμέλεν χαὶ τὸ νῦν χατεχόμενον ὕπ᾽ αὐτοῦ κενόν ἐστε πεπληρωμένον.
ὅϑεν οἱ λέγοντες ἔξω τοῦ κόσμου μηδὲν εἶναι φλυαροῦσιν. Diese Polemik richtet
sich gegen stoiker, welche die ἐχπύρωσις und mit ihr auch den leeren
Raum verworfen hatten, und nicht gegen andere Philosophen. Denn gegen
diese folgt sie erst am Schlusse dieses Abschnittes p. 5: ἐμ wer οὖν τῷ χόσμῳ
χενὸν εἶναν ἀδύνατον" ᾿Αριστοτέλης δὲ καὶ οἱ ἀπὸ τῆς αἱρέσεως οὐδὲ ἔξω τοῦ χύσμου
χενὸν ἀπολείπουσι x). Da kein bestimmter Stoiker genannt ist, und nur
᾿ Boethus und Panätius die Weltverbrennung leugneten, sind wir berechtigt,
diese Nachricht auf beide zu beziehen. Erinnern wir uns ferner, dass
Cleomedes dies aus Posidonius abschreibt (ef. 1. II cap. 7. Schl.), so kann
man erst recht auf Panätius als den Gegner schliessen.
ἢ De off. I4, 11 Anf.
3) Vgl. das folg. Kap. 8 1.
— 1% --
mungen, Pest und Hungersnot ein, die fast alles organische
Leben wegraffen. Hierauf beginnt alsdann von neuem die gesetz-
mässige Entwickelung?). |
So bleibt also alles in Ewigkeit bestehen, weil alles gut ist;
gut aber ist es, weil alles Seiende in seiner unendlichen Mannig-
faltigkeit, Schönheit und Zweckmässigkeit nichts ist als die Ent-
faltung der Gottheit. Auf diesem Standpunkte ist es eigentlich
unmöglich von einer Mehrzahl von Göttern zu reden; denn in
Wahrheit ist nur dies eine Urpneuma, dessen Entwickelung die
Welt ist, die Gottheit. Jedoch ist auch in den auf Panätius
zurückgehenden Berichten von einer Mehrheit der Götter die
Rede?), und wir haben keinen Grund dies nur für eine An-
lehnung an den Volksglauben zu halten. Denn gewiss mussten
und konnten auch ihm namentlich der Äther und die darin be-
findlichen Gestirne für göttlich gelten, da sie ja der göttlichen
Urmaterie ganz wesensgleich sind. Im Gegensatze zu der Ali-
gottheit also konnte er sie mit vollem Rechte als Götter be-
zeichnen. Die Annahme anderer Götter aber weist er schlechthin
ab: Diejenigen, welche gewöhnlich für Götter gehalten werden,
sind nichts als die Gebilde fabelnder Dichter oder berechnender
Staatsmänner?).
$. 2. Freiheit und Notwendigkeit.
Alles Seiende erhält also durch das ihm innewohnende
Pneuma die Fähigkeit des inneren Zusammenhanges (ἕνωσις),
die ihm die Möglichkeit seiner Fortdauer verleiht. Je nach dem
Grade und der Reinheit des Pneumas ist daher die Henosis der
verschiedenen Körper sehr verschieden: Eine andere ist die der
Mineralien, eine andere die der Pflanzen, eine andere die der
Tiere und Menschen*). Da nun der Kosmos weitaus das voll-
') Polyb. VI 5,5 vgl. S. 69.
5) So ist abgesehen von anderen Stellen de leg. I cap. 7 immer von
Göttern die Rede, ja es werden dort sogar 2 Arten unterschieden, wenn es
heisst: parent (sc. dei et homines) huie caelesti deseriptioni mentique divi-
nae et praepotenti deo etsq. ... und hominem ... generatum esse a supremo
deo; vgl. auch die folg. Anm.
3) Augustin. de οἷν. Ὁ. IV 27 (vgl. ebds. ΥἹ 8) vgl. S. 117 ff. 71 u. später.
Ungenau ist Epiphan. adv. haeres. 1090 D. (Diels dox. gr. p. 593, 6 ff.).
Ὁ Sext. Emp. adv. Phys. I 78ff.; vgl. Zeller Philos. d. Gr. IIIa S. 96, 2°.
-- 11 —
kommenste Wesen ist, so muss auch seine Henosis viel voll-
kommener und wesentlich anders als die des Menschen sein,
Auf der Henosis beruht nun die συμπάϑεια: Ebenso verschieden
wie die Henosis, muss also auch diese sein. Diese ist in dem
tierisch-menschlichen Körper derart, dass, wenn ein Organ irgend
wie eine Veränderung erleidet, auch alle übrigen Teile in be-
stimmter Weise in Mitleidenschaft gezogen werden. Das Gleiche
kann demnach nicht auch bei dem Kosmos der Fall sein. Denn
hätte er dieselbe Henosis und Sympathie wie der menschliche
Körper, so würde er auch vergänglich sein wie der Mensch, was
nicht der Fall ist.
Die Richtigkeit dieses Schlusses zeigt auch die Stellung des
Panätius zur Manük» Der Kosmos wurde als Makrokosmos dem
Mikrokosmos vollständig parallel gesetzt und darum auch die
absolute Sympathie (συμπάϑεια τῶν ὅλων) in demselben wie beim
Menschen anerkannt. Diese war der reale Grund für die ge-
samte Mantik; die Mantik leugnete aber Panätius!): Also muss
er auch eine solche Sympathie verworfen haben. Was wir nun
hier erschliessen, das wird uns auch direkt überliefert. Diese
absolute Sympathie ist der Grund wie für die Mantik über-
haupt so speziell auch für die Astrologie. Denn die Annahme,
dass der Mensch in seinem ganzen Bestande durch die Ge-
stirne bedingt sei, setzt eben die absolute Sympathie zwischen
ἢ Ebenso verschieden wie über seine Meinung von der Ewigkeit der
Welt lauten auch die Nachrichten über seine Ansicht betreffs der Unwirklich-
keit der Mantik. Denn während Diog. VII 149 und damit übereinstimmend
Cie. de div. 1 7, 12 und Epiph. ad haer. 1090 D sie ihn verwerfen lassen,
berichtet Cie. de div. I 3, 6 und acad. pr. II 33, 107, dass er sie nur ange-
zweifelt, nicht aber geleugnet habe. Doch an beiden Stellen können wir
- deutlich die Absicht erkennen, weswegen er so schreibt. An der letzteren
_ nämlich kommt es ihm gerade darauf an, die Unmöglichkeit eines sicheren
_ Wissens und Erkennens zu beweisen. Hätte er also den Panätius die Mantik
_ gänzlich verwerfen lassen, so hätte er ihn nicht zum Beweise heranziehen
können. Ähnlich verhält es sich auch de div. 13, 6. Hier spricht Cicero
selbst, der nachher die Rolle des Akademikers vertritt und offenbar darum
ἢ Zeugen unter den Philosophen für sich wünscht, während ebds. I 7, 12 sein
Bruder Quintus die Mantik verteidigt und den Panätius widerlegt. Dieser
“hatte keinen Grund ihn zum blossen Zweifler zu stempeln. Gerade diese
Stelle aber beweist, dass Panätius sich über sie einfach lustig gemacht hat,
was sinnlos wäre, wenn er sie nur angezweifelt hätte. Er hat sie also sicher
verworfen. Vgl. auch die nachfolgende Ausführung.
dem Äther und der Erde voraus; diese Sympathie aber leugnete
Panätius rundweg: Bei der fast unendlichen Entfernung des
Himmels könne von einem Einflusse desselben auf den Mond
oder gar die Erde keine Rede sein'): Also kann er in Wahrheit
nicht eine solche Sympathie und Henosis wie die des mensch-
lichen Körpers ist, im Kosmos angenommen haben.
Als Wirkung der Gottheit galt nun ferner die συμπαϑειὰ
τῶν ὅλων auch als Vorsehung oder als Verhängnis und gerade
deswegen, weil sie absolut gefasst wurde, auch als die unbedingte,
unwandelbare Ursache alles Geschehens. Leugnete also Panä-
tius jene Sympathie, so leugnete er damit auch die Wirklichkeit
des stoischen Fatums. Da er andererseits, wie wir gesehen haben
(S. 187f.), auch die unbedingte Wirkung des Kausalitätsgesetzes
in der Welt und deswegen in ihr überall dasselbe gesetzmässige
Walten anerkannte, so folgt, dass er dieses gesetzmässige Walten
nicht als überweltlich, sondern als innerweltlich gefasst hat: Das
Verhängnis ist keine Macht, die über den Menschen und Dingen
stehend alles beherrscht, sondern vielmehr innerhalb der beson-
deren Erscheinungsformen und ihnen entsprechend wirkt. Daher
wirkt auch die menschliche Vernunft nach der ihr immanenten
Gesetzmässigkeit, und kein ausserhalb stehender Teil der Welt
hat in dieser Beziehung irgend welche zwingende Gewalt über
sie: Sie selbst ist des Menschen Verhängnis. Dies ist die Kon-
sequenz der vorher entwickelten Lehre und diese Konsequenz
hat Panätius gezogen. Dieses zeigt klar die schon genannte
Verwerfung der Mantik überhaupt wie die der Astrologie im be-
sonderen, wenn wir dieselbe näher betrachten.
Berücksichtigen wir zunächst die Astrologie: Es findet keine
Einwirkung des Äthers auf die Erde und speziell auf den
Menschen statt, so dass durch denselben irgend ein Einfluss
auf letzteren ausgeübt werden könnte: Also steht der Äther,
das Hegemonikon des Alls, in dieser Beziehung neben dem Hege-
ımonikon des Menschen, nicht über ihm, was an sich auch ganz
natürlich ist, da sie ja beide gleiches Wesens sind. Dasselbe
bestätigt noch eine andere Nachricht. Das Erscheinen der Ko-
meten wurde als ein besonderes Zeichen angesehen, welches den
i ') Cie. de div. IT 43, 91: quae potest igitur contagio ex infinito paene
intervallo pertinere ad. Junam vel potius ad terram? vgl. c. 14, 33.
— 13 --
Menschen von den Göttern zum Vorauserkennen des 7 ukünftigen
gesendet würde. Panätius dagegen erklärte sie für Spiegelungen,
die bei einer bestimmten Stellung der Gestirne zu einander ent-
ständen. Da nun aber die Stoiker im strengsten Sinne des
Wortes nichts für zufällig, also auch das Senden eigentlich nicht
für ein Senden, sondern für ewige Gesetzmässigkeit hielten, so
geht daraus mit Gewissheit hervor, dass Panätius in Überein-
stimmung mit seiner Schule nicht die ewige Gesetzm; ässigkeit
und Regelmässigkeit ihres Erscheinens verwarf, wohl aber die
gewöhnliche Erklärung und Bedeutung derselben für unmöglich
und verkehrt hielt). Er leugnete also wiederum jene 3eziehung
und Einwirkung der Gestirne auf die Geschicke und das Wesen
der Menschen. Das Gleiche lehrt schliesslich auch die Zurück-
weisung der übrigen Arten der Mantik. Diese alle beruhen, wie
schon angedeutet ist, auf der Annahme, dass zwischen den be-
züglichen Thatsachen und dem Menschen eine causale Ver-
knüpfung stattfinde?), die derart vermittelt gedacht wurde, dass
die dem All immanente Gottheit entweder auf den Geist des
Menschen oder auf die zur Offenbarung dienenden Wesen und
Dinge?) einwirke*), natürlich nicht willkürlich, sondern nach
ewiger Gesetzmässigkeit. Verwarf also Panätius die Mantik, so
leugnete er wiederum natürlich nicht die bezüglichen Thatsachen’),
sondern diese causale Verknüpfung der Ereignisse mit den Men-
schen vermittelst der Gottheit und damit auch die absolute Ab-
!) Seneca Nat. Quaest. VII 30, 2. Dieser Bericht hebt übrigens die
Gesetzmässigkeit der Kometenerscheinungen, welche Panätius geltend machte,
stark hervor. Dass Panätius ihnen eine Vorbedeutung nicht zuerkannte,
geht schon aus der Lehre an sich hervor, aber auch aus dem ganzen Zu-
'sammenhange bei Seneca und namentlich aus dessen indirektem Vorwurfe
des Mangels an heiliger Scheu vgl. a. a. Ὁ. 8 1.
2) Cie. de div. II 14, 88 1.
3) Jenes findet bei den Prophezeiungen der Verzückten (furentium) und
bei den Träumenden statt; dieses bei den übrigen Arten der Mantik. Auch
bei dem Wahrsagen aus den Eingeweiden wird eine Einwirkung auf den
Menschen derart angenommen, dass die Gottheit den Menschen gerade zu
einem bestimmten Tiere leitet; vgl. die folg. Anm.
Ε). Οἱο. 1 11 15, 35.
5) Manche mochte er ja auch leugnen, wie die wunderbaren Träume,
doch wissen wir davon nichts; dass er aber die bezüglichen Thatsachen, wie
das Fliegen der Vögel oder die bestimmte Beschaffenheit der Eingeweide,
nicht leugnete, ist selbstverständlich.
Schmekel, mittlere Stoa. 13
-- 14 —
hängigkeit derselben von der Vorsehung oder dem Verhängnis:
Die Sterne wandeln ihre Bahnen und die Kometen entstehen
nach dem Naturgesetz alles Geschehens ohne irgend welche Be-
deutung für die Menschen; die Vögel fliegen nach ihrem Triebe,
ohne dass ihr Flug für die Menschen irgend welche Bedeutung
hätte, und ebenso gleichgültig ist es, ob Jupiter mit der rechten
oder linken Hand Blitze schleudert!).
Die menschliche Vernunft ist also frei; somit muss auch das
Handeln des Menschen von einem alles unerbittlich beherrschen-
den und von Ewigkeit her bestimmten Schicksale frei und nur von
der eigenen Vernunft abhängig sein. Diese Konsequenz hat Pa-
nätius ausdrücklich vertreten: Alles Gute und Schlechte hat der
Mensch teils vom Leblosen, teils vom Belebten; aber der Nutzen
sowohl wie der Schaden, den er von diesem zieht, ist doch
immer nur durch menschliche Thätigkeit vermittelt. Um daher
das Nützliche zu erlangen, muss man sich die Neigung der
Menschen gewinnen?. Es ist klar, dass unmöglich mehr
von einem alles bestimmenden Schicksale die Rede sein kann,
wenn sich der Mensch selbst dadurch das Nützliche verschaffen
und das Schädliche von sich abwehren kann, dass er sich die
Neigung der Mitmenschen erwirbt. Der Mensch ist also in Wahr-
heit nicht dem Schicksal unterworfen, sondern frei?), doch nicht
im absoluten Sinne, sondern als Teil des Urpneumas ist seiner
Vernunft dieselbe Gesetzmässigkeit immanent wie dem Urpneuma
selbst.
Auf diesem Grundgedanken, dass die Vorsehung oder das
Verhängnis überall nur in und gemäss den Erscheinungsformen
des Urpneumas wirkt, beruht auch die Möglichkeit des Zufalls.
Aus dem Vorgetragenen folgt nämlich notwendig, dass der Mensch
auch nur in seiner Sphäre und soweit seine Kraft reicht, selbst-
ständig handeln kann; dass er aber aufhört seines Glückes
Schmied zu sein, wo er mit Gebieten zusammentrifft, auf. die sein
Einfluss aufhört. Dies findet bei den Elementen und den wilden
1) Cie. de div. I 7, 12.
2)"Cie. de of ΠῚ 3, 11H. wel ἘΞ: ΘΟ ἢν
5) Wenn Cie. de off. II 5, 16 meint, Panätius beweise selbstverständliche
Sachen viel zu weitläufig, indem er zu zeigen suche, dass der Mensch allen
Nutzen nur durch Menschen habe, so hat er schwerlich den Grund dieser
Ausführung verstanden.
te
Tieren statt. Auch hier herrscht volle gesetzmässige Entwicklung,
das liegt in der Natur der Sache; dadurch jedoch, dass der
Mensch unabhängig von ihnen nach dem Ermessen seiner Ver-
nunft handelt, kann der Fall eintreten, dass sein Handeln mit
dem ihrigen collidiert. In solcher Kollision besteht der Zufall,
aus dem sowohl Glück wie Unglück entstehen kann. In allen
übrigen Fällen aber, in denen man gewöhnlich dem Zufalle Glück
oder Unglück zuschiebt, herrscht in Wirklichkeit kein Zufall, son-
dern volle Gesetzmässigkeit'). |
Kaps 2.
Anthropologie.
$ 1. Wesen der Seele.
Mit unabweisbarer Notwendigkeit folgt aus dem physikali-
schen Prinzip, dass nur die Verschiedenheit der Spannkraft des
Pneumas die mannigfachen Arten und Gattungen der Wesen er-
zeugen kann. Denn ausser ihm ist nichts, und wäre es überall
in gleicher Reinheit und Stärke, so würde Alles einander gleich
sein. Naturgemäss erreicht diese Spannkraft im Menschen ihren
höchsten Grad, ja in seiner Vernunft (ἡγεμονικόν) tritt sie in ur-
sprünglicher Reinheit zu Tage. Die Substanz der Gottheit ist
daher auch die der Vernunft. Da nun aber die Seele nicht ganz
‚Vernunft ist, sondern noch eine niedere Stufe des Lebens in sich
schliesst?2), kann sie nicht durchweg reines Pneuma sein, son-
dern nur eine Verbindung des ätherischen Feuers und der Luft,
eine anima inflammata?). Wie nun das Pneuma in den ver-
_ schiedenen Gattungen und Arten verschieden auftritt, ebenso
erscheint es auch innerhalb derselben Art in verschiedener
Stärke. Diese Verschiedenheit des Spannungsgrades der Seelen-
substanz bewirkt die individuelle Verschiedenheit der Menschen
picht nur in den niederen Seelenteilen‘), sondern namentlich auch
ἢ Cie, ἃ. ἃ. Ὁ. II 6, 19£.; er gesteht daher hier auch zu, dass solche Zu-
fälle nicht zu vermeiden sind; vgl. S. 20.
2) Vergl. den folgenden ὃ 2.
8) Cie. Tuse. I 18, 42; vergl. hierzu T. ΠῚ Kap. 2.
*%) Cie. de off. I 90, 105 ff.
— Ἠ 100. --
im Hegemonikon. Dieses besitzt ein doppeltes Vermögen: Das
eine ist das Vermögen des Denkens und Empfindens als solches,
das andere das des individuellen Denkens und Empfindens. Denn
wie die Körper aller Menschen als Körper zwar gleich sind, trotz-
dem aber bei den einzelnen eine so ausserordentliche Mannig-
faltigkeit obwaltet, ebenso und noch in erhöhtem Masse sind zu-
gleich mit der allgemeinen Fähigkeit des Denkens und Empfindens
auch die individuellen Unterschiede des Geistes gesetzt 1).
Mit gleicher Notwendigkeit und Leichtigkeit ergiebt sich
ferner aus der physikalischen Grundanschauung auch die Art der
Entstehung der Seele im Menschen. Infolge der ursprünglichen
Einrichtung und des durch das Kausalitätsgesetz beherrschten
Fortbestehens derselben kann die Seele nur durch geschlecht-
liche Fortpflanzung vermittelt werden, indem von dem mensch-
lichen Samen dasselbe gilt, was von allem Samen, dass aus ihm
wiederum solche Wesen entstehen, wie diejenigen sind, von
denen er stammt?). Zugleich liegt hierin auch der Grund, dass
und warum die Kinder körperlich sowohl wie geistig den Eltern
so vielfach gleichen. Diese Thatsache würde sonst keine Er-
klärung finden, wenn der Geist von aussen in den Menschen
hineinträte?).
Wenn es nun aber auch Thatsache ist, dass die Kinder
den Eltern vielfach nicht gleichen, so müssen wir bedenken,
dass nicht nur der Same Gestalt, Charakter und Geist bedingt,
sondern noch ein anderer Faktor dabei thätig ist, die Athmo-
sphäre. Diese hat einen sehr wesentlichen Einfluss auf sie und
offenbar nicht erst nach der Geburt, sondern schon während der
fötalen Entwickelung: Je nach ihrer Reinheit und Klarheit oder
Dicke und Nebelhaftigkeit wird sie das Wesen der Menschen
ganz verschieden beeinflussen und gestalten; der reine Himmel
1) Cie. 1. 1. 107: Intellegendum etiam est duabus quasi nos a natura in-
dutos esse personis, quarum una communis est, quod omnes participes sumus
rationis praestantiaeque eius, qua autecellimus bestüs ... altera autem, quae pro-
prie singulis est tributa. ut enim in corporibus magnae dissimilitudines sunt
. sie in animis exsistunt maiores etiam varietates. Dasselbe zeigt auch
de leg. 1 10, 30: etenim ratio, qua una praestamus beluis, certe est com-
munis, doctrina differens, discendi quidem facultate par.
5) Diog. VII 158.
5) Cie. de div. II 45, 94; vgl. auch folgende Seite Anm. 2.
ä
wird klügere Menschen hervorbringen als der, welcher mit
‚grauem Nebel bedeckt ist!). Denn da mit der grösseren Dichtig-
keit der Luft die Spannung des immanenten Pneumas abnimmt,
muss der Einfluss der Luft nach dem Verhältnis ihrer Dichtigkeit
verschieden sein. Diese Ansicht vom Wesen und Ursprung der
Seele hat naturgemäss die Leugnung der persönlichen Unsterb-
lichkeit zur -Folge. Der Geist tritt nicht von aussen in den
Körper ein, sondern wird zugleich mit demselben geboren.
Darum kann er auch nicht in irgendwelcher Trennung von ihm
existieren, sondern muss zugleich mit ihm untergehen. Nur in
den Kindern lebt er fort?).
Das Gleiche folgt ferner auch aus dem Wesen der Seele.
Infolge ihrer ganzen Natur ist sie den mannigfaltigsten Einflüssen
ausgesetzt und darum auch nicht ohne Empfindung von Freude
und Schmerz. Alles aber, was Schmerz empfindet, ist auch der
Krankheit unterworfen; was krank werden kann, geht auch unter:
Also geht auch die Seele unter und wird den Tod des Körpers
nicht überdauern?).
Diesem Wesen der Seele entspricht schliesslich das Verhältnis,
in welchem der Mensch zur Gottheit und den übrigen Geschöpfen
steht. Wenn nämlich auch in letzter Beziehung alles Seiende
nur eine Modification der Gottheit ist, so lässt doch der Unter-
schied zwischen dem reinen Urpneuma und der durch fort-
gesetzte Verdichtung entstandenen Materie diese letztere als
Gegensatz der ersteren erscheinen. Da nun in der Vernunft des
Menschen jenes göttliche Pneuma in voller Reinheit sich findet,
so ist der Mensch durch sie aufs engste mit der Gottheit ver-
wandt®). Andererseits aber gehört er durch seine ἄλογος ψυχή
zu den Tieren. Er kann daher nur eine Mittelstellung zwischen
beiden einnehmen: Auf der einen Seite beschränkt wie die
_ übrigen Wesen, auf der anderen Gott gleich und zu ihm gehörig
ist er das notwendige Bindeglied in der Stufenfolge der sich
selbst entfaltenden Gottheit.
1) Cie. ἃ. ἃ. O0. 88 94 und 96. Proclus comm. in Tim. Platon. I p. 50B.
2) Cie. Tuse. I 18, 42; 33, 80.
3) Cie. a. a. O.; dass es daher ein Irrtum Heines war, dem Panätius
trotz dieser unzweideutigen Nachricht den Unsterblichkeitsglauben zuzu-
schreiben (ef. de fontib. Tusc. quaest. Weimar 1862 p. 8 ff.) ist offenkundig.
Ὦ Cie. de leg. I 7, 22 ff.
ae
$ 2. Teile der Seele.
Von den drei Hauptklassen der lebenden Wesen nimmt die
Welt der Pflanzen die unterste Stufe ein. Die Art der Erscheinung
des Pneumas in ihnen führt den Namen φύσις, deren Vermögen
ein doppeltes ist, das der Ernährung (ϑρεπτικόν) und das der
Fortpflanzung (σπερματικχόν) ). Dieses Vermögen kommt selbst-
verständlich auch den beiden anderen Gattungen zu, den Tieren
und Menschen?) und trägt demgemäss auch denselben Namen.
Ausser der φύσις aber haben die Tiere noch die fünf Sinne und
die Triebe, womit zugleich auch die freie Bewegung, die den
Pflanzen gänzlich fehlt, gesetzt ist. Sie dienen dazu die Nahrung
aufzusuchen und die zuträgliche zu finden?). Mit diesen beiden
neuen Vermögen ist die φύσις zu einer Einheit verbunden, die
den Namen ψυχή führt, oder, metaphysischer Anschauung ent-
sprechender gesagt, in den Tieren äussert sich die Urkraft als
Seele. Doch ist diese nicht vernünftig; die Vernunft (λόγος,
ἡγεμονικόν) ward allein dem Menschen zu teil‘). Das gesamte
geistige Vermögen des Menschen ist somit dreifach?): φύσις,
ψυχή, ἡγεμονικόν oder λόγος. Es ergiebt sich zugleich hieraus,
dass allemal die vollendetere Gattung ausser ihrer eigentümlichen
Natur auch die der weniger vollendeten Gattung in sich schliesst.
Dies haben wir noch näher zu untersuchen, um zugleich auch
das gegenseitige Verhältnis dieser Teile zu erkennen.
Nach der Angabe des Nemesius®) rechnete Panätius das
σπερματικόν, das gewöhnlich als ein eigener Seelenteil gefasst
wurde‘), nicht zur ψυχή, sondern zur φύσις. Wie wir diese
Nachricht auch erklären mögen, soviel geht mit Sicherheit her-
') Dies wird sich aus dem Folgenden ergeben.
2). Cie.:de om DA, 11.
ὅ) De off. I 4, 11: inter hominem et beluam hoe maxime interest, quod
haee tantum, quantum sensu movetur, ad id solum quod adest quodque prae-
sens est, se accommodat. Dies wird sich später noch weiter bestätigen.
*) Cie. de off. I 4, 11; 30, 105; de leg. I 10, 30 u. a. m.
°) Vgl. die nachfolgende Abhandlung.
°) De natura hom. p. 96, e. 15. Παναίτιος δὲ ὃ φιλόσοφος τὸ μὲν φωνητιχὸν
τῆς 209 ὁρμὴν κινήσεως μέρος εἶναι Bovleraı λέγων ὀρϑότατα" τὸ δὲ σπερματικὸν
οὐ τῆς ψυχῆς μέρος, ἀλλὰ τῆς φύσεως.
‘) Diog. VII 110; 157. Stob. eel. I 350, 18. Diels dox. gr. 390, 9; 615, 4:
Zeller IlIa S. 198 und L. Stein Psych. ἃ. Stoa I 122 ff.
er
— 19 --
vor, dass Panätius diesen Teil der Gesamtseele von dem Teile,
dem er den Namen ψυχή gab, schied und somit die weg als
Seele im engeren Sinne fasste. Kommt aber der φύσις die
Zeugungskraft zu, so gilt Gleiches erst recht von dem Ernährungs-
vermögen. Da dies Vermögen weder den Menschen noch den
Tieren eigentümlich ist, so kann es nur das spezifische der
Pflanzen sein, wie es ja auch nur die niedrigsten Grade des
Lebens enthält. Die ψυχή im engeren Sinne umfasst demnach
das ganze übrige Vermögen des Menschen. Sie zerfällt in zwei
Teile: den vernünftigen und unvernünftigen, und zwar ist. der
erste das Vermögen der Vernunft (λόγος oder ἡγεμονικόν), der
andere das des Triebes (ὅρμη)}). Da nun allein die Vernunft
spezifisch menschlich ist, so ist das andere notwendig den Tieren
eigentümlich ?).
Eben dieselbe Seele wird auch noch auf andere Weise in
‘zwei Teile geteilt: in die Vernunft und die Fähigkeit der sinn-
lichen Wahrnehmung. Die letztere ist wiederum selbstverständ-
lich den Menschen und Tieren gemeinsam°). Sie gehört daher
dem unvernünftigen Seelenteil an, und wird deshalb auch in
direkten Gegensatz zu der Vernunft gestellt. Denn als der wich-
tigste Unterschied zwischen den Tieren und Menschen wird her-
vorgehoben, dass die Tiere nur durch sie, die Menschen dagegen
durch die Vernunft zum Handeln veranlasst werden).
1) Cie. de off. 1 28, 101: duplex est enim vis (= δύναμις) animorum et
natura: una pars in appetitu posita est, quae est ὁρμή Graece, quae homi- |
nem hue et illue rapit, altera in ratione; ebenso II 5, 18.
2) Vgl. Anm. 4 auf der vorigen Seite und de off. II 3, 11: quae ergo
ad vitam hominum tuendam pertinent, partim sunt inanima ... partım anı-
malia, quae habent suos impetus et rerum appetitus. eorum autem alia
rationis expertia sunt, alia ratione utentia: expertes ... peeudes, ... rationis
autem utentium duo genera ponunt, deorum unum, alterum hominum. Die
Götter kommen gegenwärtig nicht in Betracht, daher ist auch oben auf sie
keine Rücksicht genommen.
3) Dass die Tiere sie besitzen, braucht nicht bewiesen zu werden, vgl.
jedoch die folgende Anmerkung; dass natürlich auch der Mensch ihrer be-
darf, sagt de off. I 4, 45; de leg. I 10, 30. Weiteres hierüber noch später.
Ὁ) Cie. de off. I 4, 11; sed inter hominem et beluam hoc maxime interest,
quod haec tantum, quantum sensu movetur, ad id solum, quod adest quodque
praesens est, se accommodat ... homo autem, quod rationis est particeps . «-
faeile totius vitae cursum videt ad eamque degendam praeparat res necessa-
rias. Vgl. Polyb. VI 6, 48. Dieses liegt aber auch in der Natur der Sache
und wird dureh das Folgende noch weiter bestätigt werden.
ΞΘ Ὁ
Wie stimmt nun diese Einteilung mit der vorigen? Dort
heisst es: Das Vermögen der Seele ist doppelt, das der Vernunft
und das der Triebe; hier heisst es: Das Vermögen der Seele ist
doppelt, das der Vernunft und das der Wahrnehmung. Da beide
sich nicht widersprechen können, so folgt mit Notwendigkeit,
dass die Triebe mit der Wahrnehmung aufs engste zusammen-
gehören, also in den Sinnen ihren Sitz haben!). Dies bestätigt
sich noch durch eine weitere Nachricht. Als Teile der Seele
wurden von den Stoikern gewöhnlich acht gezählt: Das ἥγεμονι-
xov, die fünf Sinne, das σπερματικόν und das φωνητικόν").
Nemesius schreibt diese acht Teile Zeno zu?) und berichtet in
unmittelbarem Anschlusse daran, dass Panätius das φωνητικόν
der χαϑ᾽ δρμὴν κίνησις, ἃ. ἢ. dem ἡγεμονικὸν), und das σπερματι-
1") Es ist nicht unwichtig hier zu bemerken, dass auch Antiochus, der
in der Psychologie, wie wir im dritten Teile sehen werden, sich wesentlich
an Panätius angeschlossen hat, diese Lehre klar ausspricht; Cie. de fin. V
14, 40: sed videsne accessuram ei (sc. viti) curam, ut sensus quoque suos eorum-
que omnem appetitum ... tutatur? Auch de leg. I 17, 47 findet so das richtige
Verständnis und beweist das oben Gesagte. Dort heisst es: animis omnes
tenduntur insidiae.... vel ab ea, quae penitus in omni sensu implicata insidet,
voluptas etsq. Denn wohnt die Lust im Inneren eines jeden Sinnes, so muss
natürlich auch jedesmal der Trieb darin wohnen, dessen Befriedigung sie ist.
2), Vgl:“S. 198 Anm! 7.
®) De nat. hom. cap. 15 p. 96.
3) Zu der Annahme dieser Gleichstellung zwingt uns Nemesius. Zum
Beweise können folgende aus ihm entnommene Stemmata dienen:
I. (e! 26 pP. 1158)
αἷ κατὰ τὸ ζῷον δυνάμεις
χατὰ προαίρεσιν ἀπροαίρετοι
χαϑ' δρμὴν κένησις — αἴσϑησις, φυσικαί — ᾿ ζωτική,
1. μεταβατιχὸν 1. ϑρεπτιχή. |
χαὶ κινητικὸν 2. αὐξητιχή. σφυγμική.
τοῦ σώματος ὃ. σπερματιχή.
παντός.
2. φωνητιχόν.
8. ἀναπνευστιχόν.
II. (e. 15 p. 96 Schl. £.)
yvyn
λογικόν ἄλογον
(EEE m Ts en
κίνησις --- αἴσϑησις, οὐκ ἐπιπειϑὲς τῷ λόγῳ — ἐπιπειϑὲς τῷ λόγῳ
φυσικόν ζωτιχόν ϑυμιχόν ἐπιϑυμητιχόν,
Aus diesen beiden Stemmata geht mit Sicherheit hervor, dass Nemesius
2
t
EEE
— 201 —
κόν der φύσις zugeteilt habe. Daraus folgt klar, dass für Panä-
tius nur sechs Seelenteile, das »yeuorızov und die fünf Sinne,
übrig bleiben. Dasselbe lehrt auch der Bericht des Tertullian').
unter der καϑ'᾽ ὁρμὴν κίνησις dasselbe wie ἡγεμονικόν versteht. Diese Sicher-
heit steigert sich zur vollen Gewissheit, wenn wir hören, dass der Sitz der
καϑ' ὁρμὴν κίνησις im Gehim (ἐγκέφαλος) sich befindet, während die übrigen
Teile von diesem ausgeschlossen sind. Es ist nun aber bekannt, dass das
Gehirn von Plato und dem ihm folgenden Galen als Sitz der Vernunft an-
erkannt wurde. Dies fällt deswegen hier um so mehr ins Gewicht, als Ne-
mesius sich durchweg auf Galen stützt. (cf. Margarites Evangelides: Zwei
Kapitel über die Quellen des Nemesius diss. Berol. 1882.) Unrichtig ist es
daher, wenn Zeller III S. 56, 11 unter der χαϑ' ὁρμὴν κίνησις die willkürliche
Bewegung versteht, und vollends verkehrt, wenn Stein, Psychol. ἃ. Stoa 1
S. 183, sie mit der ὅρμηή, die uns bei Cicero als Gegensatz des ἡγεμονιχόν be-
gegnet, identifiziert und darin den zweiten Platonischen Seelenteil, das #v-
uosıdes, wiederfindet.
') De anima cap. 14: Dividitur autem (se. anima) in partes nune in duas
a Platone, nune in tres a Zenone, nune in quinque [ab Aristotele] et in sex
a Panaetio; so Diels, dox. gr. p. 205 ff. Dieser Deutung ist von Fowler diss.
p- 15 ff. jede Berechtigung abgesprochen worden. Er bestreitet 1. das Recht
aus Nemesius auf diese sechs Teile schliessen zu dürfen und 2. überhaupt
die Richtigkeit der von Tertullian überlieferten Nachricht. Für seine erste
Ansicht bringt er zwei Gründe vor: Wenn berichtet werde, dass P. das
φωνητιχόν für einen Teil der χαϑ'᾽ ὁρμὴν zivnoıs gehalten habe, so beweise
schon dieser Name, dass die hier vorliegende Theorie mit der Zenos, die
unmittelbar vorhergehe, nichts zu thun habe. Denn wenn auch die χαϑ'᾽
ὁρμὴν κίνησις gleich dem ἡγεμονικὸν sein möge, so würden wir, hätte Neme-
sius oder seine Quelle nichts anderes angeben wollen, als dass die Lehre des
Panätius nur eine Korrektur der Zenonischen sei, erwarten, dass er auch
den Namen beibehalten hätte. Der zweite Grund ist folgender: neque cum
Zenonis atque aliorum Stoieorum doctrina consentit illa ψυχῆς et φύσεως
distinetio quae Panaetio adscribitur. apparet, ni fallor, Panaetii divisionem
animae non esse correetionem tantum divisionis apud Stoicos vulgatae, sed
aut totam ex eius ipsius ingenio natam aut aliunde sumptam esse. Eine
Beweiskraft wohnt jedoch diesen beiden Gründen nicht inne. Bei dem ersten
liegt es auf der Hand. Nemesius oder vielmehr Galen, den er ausschreibt,
hatte gewiss keinen besonderen Grund die Ausdrücke zu wechseln. Wenn
er nun aber mit gleichwertigen Ausdrücken wechselte, haben wir dann ein
Recht daraus zu schliessen, dass beide Einteilungen mit einander nichts zu
'thun haben? Wenn die Ausdrücke sich nieht deekten, würden wir dies thun
müssen; da sie aber gleichbedeutend sind, wie soll die Verschiedenheit bei-
der Lehren erkannt werden können, und wie sollen wir daraus schliessen,
dass Panätius mit seiner Änderung der Lehre nicht eine blosse Korrektur
der stoischen habe vornehmen wollen? Das ist einfach unersichtlich und
unmöglich. Ein Gleiches gilt auch von dem zweiten Grunde, wenn auch in
202 --
Da nun nach Ciceros Angabe das Vermögen der Seele doppelt
ist, die ratio und der, bezw. die appetitus, so müssen notwendig
anderer Weise. Gewiss ist diese Zweiteilung der Seele nicht stoisch, son-
dern von anderer Seite beeinflusst; aber warum soll sie darum nicht noch
eine Korrektur der stoischen sein können? Wenn schon sein Lehrer Anti-
pater bewies, dass die Platonische und stoische Ethik wesentlich überein-
stimmten, und er selbst vielfach fremde Lehren mit der stoischen verschmolz,
wie wir später zeigen werden, warum soll denn nicht auch diese Einteilung
eine solehe Verbindung fremder und stoischer Lehren sein können? Wenn
er von anderwärts her die Zweiteilung der Seele herübernahm, so war die
Unterordnung des onspuerızov unter den physischen Teil von selbst gegeben.
Die Unterordnung des φωνητιχόν unter das Hegemonikon folgt aus jener
Scheidung nicht; es bedurfte hierzu aber gar keines fremden Einflusses, wie
wir bald sehen werden. So blieben aber von den acht stoischen Teilen nur
sechs übrig. Warum eine solche Korrektur der stoischen Lehre unmöglich
war, zeigt F. nicht. Er scheint auch selbst zuzugestehen, dass die Stich-
haltigkeit seines Grundes zweifelhaft ist, wenn er sagt: apparet, ni fallor, etsq.
Was er weiter zum Beweise vorbringt, ist eine petitio prineipi. Er findet
nämlich bei Nemes. c. 26 p. 115 eine Einteilung, die der des Panätius nach
seiner Meinung entspricht: en habemus #09” öounv χίνησιν, cuius pars φωνης-
τιχόν est et φυσικὰς δυνάμεις, quarum una onsouerizöv. Darauf fährt er fort:
anima autem tota dividitur in partes duas, quarum una (ἡ χαϑ᾽ ὁρμὴν χίνησις)
e tribus, altera (ἡ αἴσϑησις), ut sumere debemus, e quinque partibus constat.
hoe male coneinit cum ea in sex partes divisione, qua Panaetium usum esse
tradit Tertullianus 1. a., sed error Tertulliani facile oriri poterat Zenonis
(i. 6. Stoicorum veterum) Panaetiique sententiis eo modo iuxta positis, quo
nos eas apud Nemesium legimus. Einen Beweis also dafür, dass Tertullians
Nachricht falsch ist, giebt er nicht, er erklärt nur, wie Tertullian zu seinem
Irrtum gekommen ist. Diese Erklärung fusst aber auf seiner Ansicht, dass
zwischen der Lehre der älteren Stoa und der des Panätius bei Nemes. ce. 15
p- 96 kein Zusammenhang stattfinde. Zugegeben nun, sein Beweis hierfür
wäre stichhaltig, so folgt daraus nur, dass wir aus jener Stelle des Nemesius
auf eine Sechsteilung nicht schliessen dürfen; nieht, dass die Sechsteilung
überhaupt falsch, und dass deswegen Tertullians Nachricht auf jeden Fall
unrichtig ist. Warum ist nun aber Tertullians Nachricht falsch? Weil sie
nicht zu der Einteilung des Nemes. ce. 26 p. 115 stimmt: “μος (se. die Ein-
teilung des Nemes. 1. 1.) male coneinit cum ea in sex partes divisione, qua
Panaetium usum esse tradit Tertullianus.” Diese hier genannte Einteilung
des Nemesius ist aber nicht als die des Panaetius erwiesen, sondern nur an-
genommen und vermutungsweise in der Anmk. ausgesprochen. Ein weiterer
Beweis wird nicht gegeben, es heisst nachher nur, es fänden sich noch mehr
Fehler in Tertullians Bericht. Also nur auf Grund einer unbewiesenen An-
nahme verwirft F. die Möglichkeit der Sechsteilung und Tertullians Nach-
richt. Ebenso schliesst er noch einmal. Nachdem er nämlich darüber ge-
Se ee
-- 205 --
als sechs Teile der Seele ergeben würden, wenn wir gezwungen
wären, für die appetitus noch einen besonderen Teil anzu-
nehmen.
Alle diese Teile lassen sich ihremWesen nach auf die dreiHaupt-
teile zurückführen, wie wir schon oben gesehen haben: die φύσις,
die ἄλογος ψυχή und das ἡγεμονικόν oder Aoyıxöov, eine Ein-
teilung, deren Richtigkeit und Wichtigkeit sich auch bei der Ethik
uns noch näher bestätigen wird. Aber näher betrachtet tritt
diese Dreiteilung vor der Zweiteilung völlig in den Hintergrund.
So sehr nämlich die Tiere von den Pflanzen verschieden sind,
und so vielfach die Menschen mit den Tieren sich berühren, so
sprochen hat, dass bei Tertullian a. a. Ὁ. sich noch mehr Fehler finden,
lesen wir p. 17: falso igitur Panaetium in sex partes animam divisisse ere-
deremus; si enim αἰσϑητιχόν in quinque sensus dividimus, necesse est dividamus
τὴν χαϑ᾽ δρμὴν κίνησιν in tres partes, quae supra memoratae sunt, Dieses
necesse est ist nur notwendig bei der Voraussetzung der Richtigkeit seiner
Annahme, dass die Einteilung des Nemesius cap. 26 p. 115 sich mit der des
Panätius deckt. Er ist hier also noch einen Schritt weiter gegangen: Dort
nimmt er nur die Möglichkeit an, dass diese Einteilung die des Panätius
sei, hier aber die Notwendigkeit. Wäre also selbst der Beweis gelungen,
was nicht der Fall ist, dass wir aus Nemesius auf die Sechsteilung nicht
schliessen dürften, so ist doch die Verwerfung der Möglichkeit der Sechs-
teilung und der Nachricht Tertullians nur auf Grund der unbewiesenen An-
nahme erfolgt, dass Panätius mit Nemes. cap. 26 p. 115 das ἡγεμονεχόν in
drei Teile geschieden habe. Aber diese Annahme ist nicht nur unerwiesen,
sondern enthält noch einen unberücksichtigten Widerspruch mit der vorigen
Stelle. P. teilte dort die Seele in ψυχή und φύσις; aber Nemesius lehrt an
der letzten Stelle: διαιροῦσι δὲ καὶ ἄλλως τὰς χατὰ τὸ ζῶον δυνάμεις. χαὶ τὰς
μὲν λέγουσι ψυχικάς, τὰς δὲ φυσιχάς, τὰς δὲ ζωτιχάς. Er giebt also eine
Dreiteilung und nicht die obige Zweiteilung. Mag an sich auch eine solche
Dreiteilung für P. nieht unmöglich sein, jedenfalls wissen wir von ihr nichts
und dürfen daher auch nicht beide Einteilungen identifizieren. P. hielt nun
das φωνητιχόν für einen Teil des ἡγεμονιχόν. Was das bedeutet, erkennen
wir, wenn wir uns die Einteilung des λόγος in 4. ἐνδιαϑετός und 4 προφοριχὸς
vergegenwärtigen. Der λόγος προφοριχός deckt sich offenbar mit dem φωνη-
tızöv. Dieses ist also gar kein Teil des λόγος, sondern nur eine Art αέσσοβο
Verhaltens. Anders ist es bei dem αἰσϑητικόν. Die αἴσϑησις ist bei jedem
Sinne verschiedenartig, und darum hat auch jeder Sinn sein eigenes Organ.
Es liegt also wirklich eine Verschiedenheit der Teile des αἰσϑητιχόν vor.
Wir können demnach auch gar nicht so schliessen, wie F. nicht ohne Grund
zu thun scheint, dass, wenn wir die Teile des αἰσϑητιχόν zählen, wir auch die
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des ἡγεμονικόν zählen müssen. Wir kennen solehe Teile! des ἡγεμονικόν über
haupt nicht.
ἘΚ ἘΞ
ist doch der Unterschied zwischen der Vernunft und den anderen
Vermögen der menschlichen Seele so stark, so durchschlagend,
dass dadurch die Seele des Menschen in zwei Teile zerfällt, in
den vernünftigen und den unvernünftigen. Dies können und
müssen wir nicht nur aus den zahlreichen Stellen erschliessen,
in denen die Tiere und Menschen diesbezüglich einander gegen-
über gestellt werden!), sondern es wird uns auch mit einer
Deutlichkeit und Klarheit überliefert, die nichts zu wünschen
übrig lässt. Er stellte nämlich die Vernunft den anderen Teilen
der Seele nicht nur gegenüber, sondern er schloss sie sogar von
diesen vollständig aus?). Denn gerade darin, dass er die Ver-
nunft den anderen seelischen Vermögen nicht nur gegenüber-
stellte, sondern sie vollständig von einander schied, tritt die
Zweiteilung der gesamten menschlichen Seele mit voller Gewiss-
heit hervor. Diese Zweiteilung folgt auch notwendig aus der
physischen Natur der Seele: der Äther und die Luft sind beide
Leben wirkend, aber beide ihrer Natur entsprechend in verschie-
denem Grade. Da nun die Seele der Menschen aus ätherischem
Feuer und Luft gemischt ist, wie wir gezeigt haben, so vereinigt
sie auch notwendig ein doppeltes psychisches Leben in sich; ein
rein göttliches in dem ἡγεμονικόν oder dem λόγος und eine nie-
dere Stufe, die offenbar dem tierischen Seelenvermögen entspricht°).
Jedoch beweist diese Stelle sowohl wie auch die Leugnung der
Unsterblichkeit, dass bei ihm diese Teile nicht gänzlich ausein-
anderfielen. Da nun die Vernunft das Gottgleiche im Menschen
ist, sind auch die beiden unvernünftigen Seelenteile naturge-
mäss ihr untergeordnet. Gehorchen sie also, so ist der Zustand
der Seele normal, widerstreben sie ihr, so ist er naturwidrig.
Die Triebe (ὁρμαί) sind also an sich keineswegs schlecht und ver-
derblich, sondern voll und ganz berechtigt; doch nur so lange,
') Von den vielen Stellen vgl. nur de off. I 4, 11; 30, 105; de leg. I 1, 22.
?) Cic. Tuse. I 33, 80 sagt, indem er dem P. wegen seiner Leugnung
der Unsterblichkeit einen Widerspruch nachweisen will: sunt enim igno-
rantis, cum de aeternitate animorum dicatur, de mente diei, quae omni tur-
bido motu semper vacet, non de partibus üs in quibus aegritudines irae
libidinesque versentur, quas is, contra quem haee dieuntur, semotas et dis-
clusas putat.
°) Zellers Leugnung einer solchen Einteilung Philos. der Gr. IIIa S. 564, 1
lässt sich also nicht aufrecht erhalten.
— 200 —
als sie sich der Vernunft unterwerfen. Sobald sie dies nicht thun,
sind sie verkehrt: die öguei werden zu πάϑη ). Die Hauptarten
derselben sind Furcht, Bekümmernis, Begierde, Wollust und Zorn Pi;
Wie nun die öour dem ἡγεμονικόν nach dem Gesetze der
Natur unterworfen ist und von ihm erst ihre Rechtmässigkeit
erhält, ebenso sind auch die Sinne als solche dem ἡγεμονικόν
untergeben ‘und dienstpflichtig. Dadurch erlangen sie eine un-
gleich höhere Bedeutung wie bei den Tieren; dienen sie diesen
nämlich nur zur Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse, so
vermitteln sie beim Menschen auch die Kenntnis der Aussenwelt
behufs ihrer Erkenntnis durch die Vernunft. Hierüber hat das
folgende Kapitel zu handeln.
Ran..a,
Logik.
Die Logik der Stoa ist Sprachlehre im weitesten Sinne des
Wortes, wie schon ihr Name besagt. Sie umfasst demnach alles,
was entweder wirklich gesprochen wird, oder dem Sprechen als
Gedanke vorausgeht. Somit zerfällt sie in die Lehre von der
Rede, die Rhetorik, und in die Dialektik?). Von eigenen Schriften
des Panätius zur Rhetorik ist uns nichts bekannt; dass er sie
aber nicht gänzlich ausser Acht gelassen hat, zeigt seine Be-
1) Cie. de off. I 28, 100: Duplex est enim vis animorum atque natura:
una pars in appetitu posita est, quae est öguy Graece ... altera in ratione; effi-
eiendum autem est, ut appetitus rationi oboediant eamque neque praeeurrant
nee propter pigritiam aut ignaviam deserant sintque tranquilli atque omni
animi perturbatione careant. nam qui appetitus longius evagantur et tamquam
exsultantes sive cupiendo sive fugiendo non satis a ratione retinentur, ü sine
dubio finem et modum transeunt; relinguunt enim et abiciunt oboedientiam nec
rationi parent, cui sunt subiecti lege naturae: a quibus non modo animi pertur-
bantur, sed etiam corpora.
2) Cie, Tusc. I 33, 80: cum de aeternitate animorum dicatur, de mente
diei quae omni turbido motu semper vacet, non de partibus iis in quibus
aegritudines irae libidinesque versentur. de off. I 20, 69: vacandum autem
omni est animi perturbatione cum cupiditate et metu, tum etiam aegritudine et
voluptate et iracundia.
®2) Diog. VII 41 ἢ.
ae
schäftigung mit den attischen Rednern und namentlich mit
Demosthenes. Wenn er hier nachwies, Demosthenes vertrete in
seinen Reden den Grundsatz der Identität des Sittlichen und des
Guten, und ihn in dieser Beziehung den grossen Rednern der Vor-
zeit Thucydides, Cimon und Pericles gleichsetzte!), so ist dies ein
deutlicher Hinweis darauf, wie er das Wesen der Rhetorik auf-
fasste. Eine ergänzende Bestimmung hierzu liefert uns offenbar
die weitere Nachricht?): Sache des Richters sei es immer nur
der Wahrheit zu folgen, Sache des Anwaltes aber zuweilen auch
die Wahrscheinlichkeit zu verteidigen. Die Rhetorik galt ihm
also wohl als die Kunst der Rede, welche ihrem Inhalte nach
stets auf das sittlich Gute gerichtet ist, aber nicht stets nur für
die Wahrheit, sondern den Umständen entsprechend auch für die
Wahrscheinlichkeit eintritt?).
Der zweite Teil der stoischen Logik ist die Dialektik. Diese
zerfällt wiederum in zwei Teile‘), die Grammatik und die Er-
kenntnistheorie nebst der formalen Logik. Die Grammatik um-
fasst in diesem Sinne die eigentliche Sprachlehre und die Sprach-
philosophie, die mit jener in unmittelbarem Zusammenhange steht.
Infolge des inneren Zusammenhanges nämlich, welcher zwischen
dem gesprochenen Worte (λόγος) und dem Denken oder Denk-
vermögen (λόγος, λογικόν) einerseits stattfindet und der Natur
dieses Denkvermögens als eines Teiles der Allvernunft anderer-
seits, ist es notwendig, dass das Wort der adäquate Ausdruck des
Gedankens, und die Sprache nicht willkürliche (ϑέσει), sondern
naturgemässe (φύσει) Benennung der Dinge ist. Das richtige
Verständnis der Worte bietet demnach auch ein richtiges Ver-
ständniss der Sache dar. Dies war der Grund für das Etymolo-
gisieren und Worterklären in der Stoa. Andererseits bringt es
auch die Urwüchsigkeit der Sprache mit sich, dass sie nicht sy-
stematisch genau nach Regeln gebaut ist, sondern neben solchem,
welches regelmässig gebildet ist, auch viele unregelmässige Bil-
dungen aufweist. Die Stoiker hielten daher in der Lehre vom
') Plutarch. Demosth. e. 13.
2) Cie. de off. II 14, 51.
°®) Auf die Beurteilung der Beredsamkeit des Demosthenes, die sich hier-
mit berührt, werden wir in einem anderen Zusammenhange zurückkommen.
*) Vgl. Zeller Philos. d. Gr. Illa S. 64.
-- 20] ---
Ursprunge der Sprache das Princip der Anomalie aufrecht').
Dass sich nun Panätius auch mit diesem grammatischen Studium
beschäftigt hat, liegt auf der Hand. Denn nicht nur als Stoiker
überhaupt hatte er reichlich die Gelegenheit dieses kennen zu
lernen, sondern er war auch der Schüler des Crates, der be-
kanntlich gerade in der Sprachwissenschaft der bedeutendste Ver-
treter der Schule war?). Nicht allein aber lernte er diese Studien
nur kennen, sondern er wandte sie späterhin auch selbst
an, wie seine Bemerkung über die Bildung des Plusquamper-
fektums bei den Attikern und speziell bei Plato beweist®). Denn
wenn sich aus dieser Bemerkung auch keine weiteren Schlüsse
ziehen lassen, so zeigt sie doch sicher, dass er auch sprachliche
Studien nicht ausser Acht gelassen hat. Ein weiterer Beweis
hierfür sind auch seine Bestrebungen die Solöcismen und Bar-
barismen der Schule zu verdrängen und durch Worte zu ersetzen,
die dem griechischen Sprachgebrauch entnommen waren*). Dies
führt uns schon darauf, dass er analog dem ganzen Charakter
seiner Philosophie auch in der Sprachlehre und -Philosophie kein
einseitiger Stoiker war. Hierfür liegt noch ein anderer Beweis
vor. Die Stoiker und so auch Crates brachten bei der Erklärung
Homers und der übrigen Dichter die allegorische Mythendeutung
in Anwendung, da sie die Mythen derselben zwar für verkehrt
hielten, sie dafür aber auch zu erklären Anstand nahmen. Pa-
nätius verwarf diese Erklärungsmethode seines Lehrers gänzlich
und pries dafür unumwunden die natürliche des Aristarch, der
in allen Gebieten der Sprachwissenschaft der Gegner seines
Lehrers war’). Daraus geht mit Sicherheit hervor, dass er auch
1) Vgl. hierüber Steinthal Geschichte der Sprachwissenschaft bei den
Griechen und Römern 5. 357 ff?.
2) Vgl. S. 3 Anm. 5 u. Steinthal a. a. Ὁ. S. 485! ff.
3) Eustath. Od. 220 p. 1946, 22.
3) Vgl. Hirzel Unters. 118. S.378ff.; dass sich hier jedoch bei der Natur
der Quellen nur wahrscheinliche Resultate erzielen lassen, ist selbstverständlich.
5) Athenaeus XIV p. 6944 Ἴων δ᾽ ὃ Χῖος ἐν Ὀμφάλῃ ὡς περὶ αὐλῶν λέγει
διὰ τούτων ολυδός τε udyadıs αὐλὸς ἡγείσϑω βοῆς“ ὕπερ ἐξηγούμενος ἰαμβεῖον
Ἡρίσταρχος ὃ γραμματιχός, ὃν μάντιν ἐχάλει Παναίτιος ö Ῥόδιος διὰ τὸ ῥᾳδίως
χαταμαντεύεσϑαι τῆς τῶν ποιημάτων διανοίας. Wir haben nicht den geringsten
Grund mit Hirzel Unters. II 258 Anm. diesen Ausspruch als Spott zu fassen,
aber allen Grund zu dem Gegenteil. Es gab zwei Arten, wie gesagt, den
Inhalt der Dichter zu erklären: die allegorische, welche Crates übte, und die
ὲ
— 208 —
die Theorie des Aristarch kannte und zu ihr nicht in dem
schroffen Gegensatze stand, den sein Lehrer und dessen getreue
Anhänger einnahmen. Zwar besitzen wir nun nicht weitere
Nachrichten von ihm über seine Stellung zu den weiteren Fragen
der Sprachphilosophie; wenn wir aber bedenken, dass die römi-
sche Sprachwissenschaft zum grössten Teil unter seinem Einfluss
entstanden ist, und dass sie sowohl die Etymologie im weitesten
Umfange treibt, als auch eine mittlere Richtung zwischen den
beiden Principien der Analogie und Anomalie einzunehmen
trachtet, so dürfen wir mit Sicherheit schliessen, dass er auch
diese Studien in seiner vermittelnden Weise gepflegt hat, wenn
vielleicht auch nicht in dem Mafse wie andere.
Wir kommen zum letzten Abschnitte der Logik, der Erkennt-
nistheorie und formalen Logik. Alles positive Wissen ist ein
Produkt der sinnlichen Wahrnehmung und des Denkens. Wie
jene zustande kommt, ist nicht näher überliefert, doch haben wir
Grund zu der Annahme, dass er von der in der Stoa gewöhn-
lichen Auffassung dieser Vorgänge nicht abgewichen ist!). Die
Verwertung derselben geschieht durch die beiden Fähigkeiten
des Gedächtnisses und des Schlussverfahrens. Infolge des ersteren
bewahrt die Vernunft die zahlreichen verschiedenen Wahr-
nehmungen in sich und schafft sich dadurch ein genügendes
Material für die Thätigkeit des zweiten. Das Resultat dieser
Thätigkeit ist die Erkenntnis des Wesens der Dinge und ihres
natürliche des Aristarch, der den Dichter aus sich selbst erklärte. Panätius
verwarf nun die allegorische Erklärung seines Lehrers vollständig; es blieb
somit nur die Methode des Aristarch als die richtige übrig. Wenn also Pa-
nätius den Aristarch einen Seher nannte, eben weil er so trefflich den Inhalt
der Dichter zu erklären verstand, so ist es geradezu unmöglich, diesen Aus-
spruch für Spott zu halten, da sich ja Panätius in diesem Falle selbst ver-
spottet und widersprochen hätte. Das Wort „udvrıs“ hat ferner auch keines-
wegs immer eine anrüchige Bedeutung im Munde des Panätius; denn wir
haben gesehen, dass Panätius den Fachmann für den besten Seher erklärte.
Warum er nun dieses Wort hier gebrauchte, können wir natürlich aus einer
so kurzen Nachricht nicht erkennen; doch lag es gerade bei der Erklärung
eines Dichterwerkes sehr nahe.
') Cie. de off. I 4, 14; de leg. I 10, 30. Genaueres lässt sich aus der
letzteren Stelle: ea quae movent sensus ... sensibus eadem omnia compre-
henduntur ... quaeque in animis imprimuntur ... incohatae intellegentiae etsq.
nicht erschliessen. Diese Bemerkungen sind allgemein stoisch; vgl. Zeller
Philos. d. Gr. IIIa. S. 71 ft.
ee TE
Sa ΔΑ͂Ν
-- 209 —
kausalen Zusammenhanges. Indem nämlich die Vernunft in dem
gesammelten Materiale das Gleiche von dem Ungleichen scheidet
und mit Gleichem verbindet, erkennt sie zunächst das Wesen der
Dinge; und indem sie nach vorwärts und rückwärts dieselben
betrachtet und beobachtet, kommt sie zur Erkenntnis von Ursache
und Wirkung. Auf diese Weise gelangt sie schliesslich dazu das
ganze Dasein, soweit es ihr möglich ist, zu begreifen'!). Ge-
naueres ist über die Schlussbildung nicht überliefert. Die wich-
tigste hierhergehörige Frage ist jedoch die nach dem Kriterium
der Wahrheit. Dieses kann nur eine solche Vorstellung sein,
welche wahr ist und nicht auch das Gegentheil anzeigt. Keine
Vorstellung aber trägt die Gewissheit hierüber in sich; es kann
daher auch keine Vorstellung als solche als Kriterium dienen.
Ob sie eine solche ist oder nicht, muss und kann vielmehr nur
die Vernunft (λόγος) entscheiden’).
Befähigt demnach die Vernunft allein den Menschen die
Wahrheit zu erforschen und zu erkennen, so muss die Erkennt-
nis derselben auch allgemeine Gültigkeit besitzen. Nun erhebt
sich die doppelte Frage: Worauf gründet sich 1. die Notwendig-
keit der Anerkennung der Erkenntnis und 2. die Möglichkeit der
verschiedenen Meinungen und des Irrtums? Die Antwort erhalten
wir, wenn wir uns der vorhin dargelegten Unterscheidung des allge-
meinen und des individuellen Denk- und Empfindungsvermögens
des menschlichen Geistes erinnern: Alle wesentliche Erkenntnis
beruht nicht auf dem letzteren, sondern auf jenem allen Menschen
gemeinsamen Vermögen. Sie muss daher für alle Menschen bin-
dend sein®). Die Verschiedenheit der Meinungen dagegen hat
1) Cie. 8. ἃ. Ὁ. I4, 11; 4, 13; 6, 18; II 5, 18; Polyb. VI6,4ff. Aus Cie.
de fin. IV 28, 79 folgt nicht, wie Stein Psychol. der Stoa II S. 352 meint, dass
Panätius die Dialektik vernachlässigt, sondern nur, dass er die Spitzfindig-
keiten der Lehre überhaupt nicht gebilligt hat. Wir werden an anderen
Stellen auch noch direkt diese Thatsache erweisen.
2) Den Nachweis hierfür können wir erst in einem anderen Zusammen-
hange bringen; vgl. T. ΠῚ ἃ. Kap. 3. -
8) Cie. de off. I 30, 107: intellegendum etiam est duabus quasi nos ἃ
natura indutos esse personis, quarum una communis est ex 60, quod omnes
partiecipes sumus rationis praestantiaeque eius, qua antecellimus bestiis, a
qua omne honestum decorumque trahitur et ex qua ratio inveniendi offieli κα ἡμὴ
ritur. Dazu gehört auch die investigatio veri: Also hat in W ahrheit über-
haupt alle Erkenntnis ihren Ursprung und ihre Verbindlichkeit in dieser
Schmekel, mittlere Stoa. 14
offenbar in der individuellen Natur des Geistes ihren Grund.
Denn lässt diese schon an und für sich verschiedenartige Auf-
fassungen zu, so wird dies dadurch noch mehr bewirkt, dass sie
durch sehr verschiedene Einflüsse von aussen zu verschiedenen
Dispositionen gebracht wird!). Dies ist sicher auch der Grund
für die Sinnestäuschungen und somit den Irrtum, da die Sinne
als solche nicht täuschen’).
Kap. 4.
Ethik.
$1. Das Ziel.
Das höchste Gut oder das Ziel der menschlichen Thätigkeit
ist die Glückseligkeit. Dieselbe entspringt aus dem naturgemässen
Leben?). Da nun ein naturgemässes Leben ohne das natur-
reinen und allen Menschen gleichen Vernunft. Vgl. auch de leg. I 10, 30:
etenim ratio ... certe est communis, doctrina differens, discendi quidem ja-
cultate par. Ist die discendi facultas bei allen gleich, so kann auch die Er-
kenntnis nicht im Belieben eines jeden liegen.
1) Cie. de leg. I 17, 47 vgl. S. 53. Was hier gesagt wird, bezieht sich
zunächst auf die verschiedene Auffassung in den ethischen Fragen; doch
bei dem Zusammenhang aller Erkenntnis gilt es in ähnlicher Weise für die
Erkenntnis überhaupt.
5) Cie. de leg. I 17, 47: hos (sc. sensus) natura certos putamus; vgl.
ebds. auch e. 10, 30. Damit steht nicht im Widerspruche, was wir Cie. de
div. II 43, 91 lesen: Chaldaei ... oculorum falacissimo sensu iudicant ea, quae
ratione atque animo videre debebant. Bekanntlich hatte auch Chrysipp
schon ein Werk über die Sinnestäuschungen geschrieben und darin die
Thatsächlichkeit derselben so sehr hervorgehoben, dass dieses-Werk eine
bequeme Fundgrube für Carneades wurde, um jenen daraus zu widerlegen
(Cie. Acad. pr. II 27, 87; Plutarch. stoie. rep. ὁ. 10, 3 p. 1036); und dies
hatte er gethan, trotzdem er lehrte, dass die Wahrnehmung als solche stets
wahr sei. Die Täuschung tritt nach ihm erst infolge eines Schlusses, eines
Urteils, ein, in dem überhaupt nur Wahrheit und Irrtum vorhanden ist;
vgl. Zeller, Philos. ἃ. Gr. IIIa. 5. 77°: Panätius ist hier offenbar bei der
Lehre seiner Schule geblieben, eine Lehre, die ja auch seit Aristoteles allge-
mein anerkannt war.
°) Stob. ecl. II p. 63 £.; ἔλεγεν ὃ Παναίτιος... τὰς ἀρετὰς πάσας ποιεῖσϑαν
μὲν τέλος τὸ εὐδαιμονεῖν, ὅ ἐστι zeiusvov ἐν τῷ ζὴν ὁμολογουμένως τῇ φύσει.
— 211 —
gemässe Verhalten der Seele unmöglich ist, so ist dies das Ziel,
nach dessen Erreichung gestrebt werden muss. Die menschliche
Seele besitzt aber, wie wir gesehen haben, ein doppeltes Ver-
mögen, das tierische und das spezifisch menschliche der Vernunft;
diese hat ihrer natürlichen Bestimmung nach die Leitung: Das
Vernunftgemässe ist daher notwendig das höchste Gut'),
Wenn nun auch die Vernunft ihrem Wesen nach bei allen
Menschen gleich ist, so sind doch die Grade ihrer Stärke sehr
mannigfach. Diese Verschiedenheit entspricht offenbar dem Ver-
hältnisse der Mischung des feurigen und des luftartigen Elementes
der Seele. Daher sind auch zwei Arten hauptsächlich zu unter-
scheiden: Die vollkommene und die unvollkommene Vernunft.
Die vollkommene Vernunft ist gleich der göttlichen, birgt die
volle Erkenntnis in sich und macht ihren Träger zum vollendeten
Weisen. Ob diese Stufe dem Menschen erreichbar ist, bleibe
dahingestellt; bei den Menschen der Wirklichkeit findet sie sich
jedenfalls nicht. Ist nun aber die Vernunft so wesentlich ver-
schieden, so muss auch das Vernunftgemässe in gleicher Weise
verschieden sein. Es ergiebt sich also ein doppeltes höchstes Gut und
demnach auch ein doppeltes Ziel: Das vollkommene des vollen-
deten Weisen und das beschränkte, welches allen Menschen zu
erreichen möglich ist?).
1) Clem. Alex. strom. II 21; 179, 14 Sylb.: πρὸς τούτοις ἔτι Παναίτιος τὸ
ζὴν χατὰ τὰς δεδομένας ἡμῖν ἐκ φύσεως ἀφορμὰς τέλος ἀπεφήνατο. Vgl. auch
die Erörterungen Hirzels hierüber, Unters. II S. 490 ff., 467 f.
2) Über eine solche Unterscheidung hat von einem anderen Gesichts-
punkte aus Hirzel eingehend gehandelt, Unters. Il S.27Lff. Eine derartige
Unterscheidung zwischen dem Weisen und den anderen Menschen giebt
Cicero nach Panätius, wenn er die Menschen der Wirklichkeit und die voll-
kommenen Weisen gegenüberstellt und die ersteren nur simulacra virtutis
nennt (de off. I 15, 46). Ebenso beweist auch die Antwort des Panätius
über die Liebe des Weisen bei Seneca ep. 116, 5 diese Unterscheidung. Da
nun die Tugend ihrem Wesen nach Vernunft ist, kann bei den Menschen,
die nur simulaera virtutis sind, auch nicht die Vernunft vollkommen sein.
Eben dies bedeutet auch die imbecillitas in dem angeführten Ausspruche des
Panätius über die Liebe. Ist dem so, dann muss folgerecht, wie gesagt, auch
das sittlich Gute (z«Asv, honestum) doppelter Art sein, wie umgekehrt die
thatsächliche Unterscheidung eines zweifachen καλόν auch die Unterscheidung
zweier Arten von Weisen notwendig voraussetzt. Dies wird auch durch die
Überlieferung bestätigt. Den Widerspruch nämlich, zu welchem die Dis-
position des Panätius de off. I 3, 9 zu führen scheint, löst Cicero, wie wir
14*
-- 212 —
Das erste dieser beiden Ziele ist seiner Natur nach durchaus
gleich und einheitlich; denn begrifflich kann bei der vollendeten
Vernunft und dem entsprechenden χαλόν ein Unterschied nicht
mehr stattfinden. Anders dagegen verhält es sich mit dem zweiten.
Da die Vernunft des Menschen nicht eine absolut vollkommene
ist und deswegen, dem Mischungsverhältnisse der Seelenelemente
entsprechend, individuelle Unterschiede sowohl der Stärke wie der
Art des Denkens und Empfindens nach vorhanden sind, so kann
auch das Ziel nicht für alle seinem Inhalte nach dasselbe sein,
sondern muss sich nach der individuellen Veranlagung verschieden
gestalten!). Indes betrifft diese Verschiedenheit nicht das .eigent-
liche Wesen derselben; denn dies ist bei allen gleich, deswegen
weil es nicht in dem individuellen Denken und Empfinden an sich
begründet ist?). Als höchstes Gut oder Ziel ergiebt sich also die
absolute Vollendung der Vernunft für den Weisen und für die
gewöhnlichen Menschen die vernunftgemässe Vollendung ihrer in-
dividuellen Natur.
$ 2. Die Tugend.
a) Ihr Wesen.
Das erreichte Ziel ist die Tugend. Es giebt also auch eine
doppelte Tugend, eine vollkommene der Weisen und eine un-
vollkommene der anderen Menschen. In ihrer innersten Natur
stimmen beide überein, weil sie beide aus derselben Quelle,
der Vernunft, entspringen. Da sie aber beide nach dem Grade
ihrer Vollkommenheit durchaus verschieden sind, kann die un-
vollkommene nur das Abbild der vollkommenen sein?). Diesem
Wesen entsprechend sind ferner beide ein Wissen und natürlich
die vollkommene Tugend ein vollendetes, die unvollkommene
gezeigt haben (vgl. S. 28f.), offenbar nach Posidonius. Diese Lösung unter-
scheidet ausdrücklich zwischen dem perfectum und secundum honestum, das
sich mit jenem nicht deckt, sondern similitudo honesti ist, und ebenso zwischen
dem vollkommenen Weisen und den anderen Menschen. Weiteres hierüber
wird noch folgen.
1) Cie. de off. I 31, 110; vgl. vor. S. Anm. 1 und auch Hirzel, Unters. I
5. 430 ff.
2)..Gie. 2.8; Ὁ. 90; 107,32 210.
ΘΟ οι ας τ», ΟΣ 15546: I153,71374716;
«χῆραι er γε διό νόῳ.
-- 218 —
aber ein ihrem individuellen Mafse entsprechendes Wissen ἢ).
Diese beiden Arten des Wissens sind jedoch wieder ihrem Wesen
nach nicht verschieden. Denn da die Vernunft als solche stets
gleich ist, kann auch das Wissen, das aus ihr entspringt, als
solches niemals verschieden sein; nur der Umfang beider ist dem-
nach ungleich 3).
Ist nun die Tugend ein Wissen°), so folgt gleichzeitig, dass
sie auch lehrbar ist. Hiermit ist die Möglichkeit sie zu erreichen
vorausgesetzt, da beides innerlich zusammenhängt: Sie muss die
freie That des Menschen sein, wenn sie angeeignet werden kann.
Dies ist auch thatsächlich der Fall, weil ja die Vernunft, wie wir
(S. 190ff.) gesehen haben, in dem ganzen Gebiet ihres Wirkens
nicht von einem alles beherrschenden Verhängnisse bestimmt wird,
sondern selbständig nach ihrer eigenen inneren Gesetzmässigkeit
handelt. Eine andere Frage ist es aber, ob Panätius auch zuge-
standen hat, dass jeder jede Tugend in gleicher Weise erreichen
könne. Diese dürfen wir wohl deswegen verneinen, weil jeder
nur sein individuelles Ziel erreichen kann®). Von selbst erhebt
sich hier die Frage, ob es dem Menschen möglich ist, die voll-
kommene Tugend zu erlangen und somit das Ideal des vollendeten
Weisen zu verwirklichen. Eine bestimmte Äusserung liegt hier-
über nicht vor, und gerade der Umstand, dass es erst der aus-
drücklichen Auseinandersetzung seines Schülers bedurfte, um den
wahren Standpunkt des Lehrers aufzuklären, lässt es als höchst
wahrscheinlich erscheinen, dass er sich darüber überhaupt nicht
bestimmt geäussert hatte. Wenn wir also auch nicht gerade an-
nehmen können, dass er offen die Möglichkeit geleugnet hat, so
können wir doch jedenfalls soviel aus seinem Verhalten erschlie-
ssen, dass ihm dies Ideal sehr müssig erschienen ist?).
1) Cie. a.a. Ὁ ΠῚ 3, 13; 4, 17; I 31, 110 ff.; de leg. I 16, 45. Dies wird
sich später noch weiter bestätigen. j
2) Dies folgt aus allem, was bis jetzt dagewesen ist, und wird noch weitere
Stützen finden.
8) Dass sie nicht ein blosses Wissen ist, wird später zur Erörterung
kommen.
ἢ Das individuelle Ziel dürfte doch die eine oder die andere Tugend
mehr berücksichtigen, ohne dadurch natürlich den Zusammenhang mit der
ganzen Tugend zu lösen. Hierauf führt die Auseinandersetzung Ciceros
de of. I 31, 110 Ε΄. und ebenso 32, 115; 15, 46.
5) Hirzel a. a. O. 5. 285, 1; 289 entscheidet sich für die Unmöglichkeit
214 --
Da also die Tugend auf der Vernunft beruht und alle der
Vernunft theilhaftig sind, so folgt ferner, dass sie auch allgemein
verbindlich, ἃ. ἢ. dass sie Pflicht ist. Höchstes Gut, Ziel, Tugend
und Pflicht bedeuten ein und dasselbe und unterscheiden sich
nur nach dem verschiedenen Standpunkte, den man zu dem Einen,
dem Vernünftigen, einnimmt. Es muss somit auch wieder eine
doppelte Pflicht geben, eine vollkommene (κατόρϑωμα) der
Weisen, und die gewöhnliche oder mittlere (χκαϑῆκον) für die an-
deren Menschen. Das χατόρϑωμα ist das schlechthin, das χαϑ-
1xov das bedingt Vernünftige!). Dieses steht daher zu jenem in
demselben Verhältnisse wie die Tugend der übrigen Menschen zu
der der Weisen’).
des Weisen. Prineipiell ist dies wohl sicher der Fall, doch scheint es mir
aus dem oben angegebenen Grunde richtiger, dass er es unbestimmt gelassen
hat. Mit dieser ganzen Ansicht steht Cie. de leg. I 6, 18 u. 7, 22 ff. keines-
wegs im Widerspruch; denn hier soll nur bewiesen werden, wie der Mensch
infolge seiner ratio unter der vera lex, der reeta ratio, steht. Ausserdem
waren dies auch überkommene und feststehende Syllogismen.
1) Cie. off. I 3, 8; IIL3, 14 ff., vgl. auch ἃ. folg. Anm. Hirzel, Unters. II
S. 341 ff. Anm. sucht zu beweisen, dass in der Definition des μέσον χαϑῆχον bei
Diog. VI1l107; Stob.1135, 12 ff. “τὸ ἀκόλουϑον ἐν ζωῇ, ὃ πραχϑὲν εὔλογον anokoyiav
ἔχει εὔλογος die Bedeutung ‘wahrscheinlich’ habe. Dies ist unmöglich: Pa-
nätius verstand unter dem μέσον χαϑῆχον die gesamte Tugend und gründete
diese auf die Vernunft als solche, wie wir gesehen haben; vgl. auch die
folg. Anm. Hätte also εὔλογος die Bedeutung ‘wahrscheinlich’, so würde er
damit die gesamte Tugend, also auch alles Wissen auf die Wahrscheinlich-
keit gegründet haben, was gegen die Thatsache streitet (vgl. S. 209, ferner
die weitere Ausführung im Texte und im 3. Teile die Kapitel über die Er-
kenntnistheorie und den Skeptizismus) und auch deswegen falsch ist, weil
Panätius in diesem Falle einfach aufgehört hätte Stoiker zu sein und zur
akademischen Schule übergegangen wäre. Auf die weiteren Irrtümer Hir-
zels in dieser Lehre werden wir später zurückkommen.
5 Nach der Auffassung der älteren Stoiker unterscheiden sich, wie wir
im dritten Teile sehen werden, das χατόρϑωμα und das μέσον χαϑῆχον derart,
dass das erstere die tugendhafte Handlung umfasst, das letztere dagegen
sich auf die mittleren Dinge, die προηγμένα, bezieht. also mit dem χατόρϑωμα
nichts zu thun hat. Nun werden in der ganzen Darstellung Ciceros nur die
μέσα χαϑήκοντα behandelt (13,7; III 3, 14), und gleichwohl umfasst dieselbe
die ganze Tugend: Also können die Tugenden, insofern sie zu den μέσα χα-
ϑήχοντα gehören, sich nicht mit denen decken, die κατορϑώματα sind, sondern
müssen ihnen parallel sein, da sie ja beide das gleiche Gebiet betreffen.
Demnach können auch nicht die χαϑήκοντα und χατορϑώματα zu gleicher Zeit
für den Weisen bindend sein. Hiermit stimmt, was Cie. III 3, 15 schreibt:
|
#
a
j
N υε »δσΥΣ
I ne χα
— 215 —
Aus diesem Begriffe des καϑῆχον folgt zunächst, dass es sich
inhaltlich ebenso verschieden gestalten wird, wie es die indivi-
duelle Veranlagung mit sich bringt. So ist z. B. für den einen
der Selbstmord gestattet und berechtigt, für den anderen dagegen
unter den gleichen Umständen nicht!). Andererseits aber folgt
auch, dass es als solches stets gleich ist. Es werden daher für
dieselben Personen mit den Umständen die Pflichten wechseln,
indem andere Umstände andere Pflichten erfordern, aber niemals
wird die Pflicht selbst verändert?).
b) Ihre Einteilung.
Da die Tugend°) ihrem Wesen nach Vernunft ist, kann es
cum autem aliquid actum est, in quo medium officium compareat, id eumu-
late videtur perfectum propterea, quod volgus, quid absit a perfecto, non fere
intellegit.... itaque cum sint doeti a peritis, desistunt facile sententia. Zwi-
schen dem off. perf. und med. findet also nicht ein Art-, sondern nur ein
Gradunterschied statt. Dies liegt auch in der Natur der Sache. Nach 1 80,
107 beruht alle Pflicht auf der Vernunft als solcher; es kann somit zwischen
beiden Arten der Pflicht nur ein Gradunterschied vorhanden sein. Unmög-
lich ist es daher dem wahrhaft Weisen die χαϑήχοντα neben den χατορϑώ-
uere zuzusprechen. Dies geht auch mit Gewissheit aus III 3, 13 hervor:
illud ... Aonestum, quod proprie vereque dieitur, id in sapientibus est solis ..
in 115 autem, in quibus sapientia perfecta non est ... perfeetum honestum
nullo modo, similitudines honesti esse possunt. haee enim offieia ... media
. communia sunt et late patent... $ 17: id quod communiter appellamus
honestum, quod colitur ab üs qui bonos se viros haberi volunt etsq. Diese Worte
beweisen sowohl, dass nur ein Gradunterschied zwischen dem off. perf. und
med. stattfindet, als auch dass deswegen das off. med. für den Weisen erster
Klasse nicht bindend ist. Denn da das off. med. in Bezug auf das off. perf.
unvollkommen ist, so würde der Weise zu gleicher Zeit die vollkommenen
und unvollkommenen Pflichten erfüllen müssen, was ein Widerspruch in
sich ist. Wenn daher Cicero hier schreibt ΠῚ 4, 15: haee ... offieia, de
quibus his libris disserimus, quasi secunda quaedam honesta esse dicunt,
non sapientium modo propria, sed cum omni hominum genere ecommunia, so
können die letzten Worte nur undeutlich gefasst sein und in Wahrheit be-
deuten, dass die χαϑήχοντα nicht wie die χατορϑώματα nur auf eine kleine
Zahl von Menschen beschränkt sind, sondern für das ganze Menschen-
geschlecht gelten. Zu berücksichtigen ist übrigens, dass sich Cicero hier an
den Bericht des Posidonius hält, der seinerseits die prineipielle Möglichkeit
des Weisen aufrecht hielt, wie wir später sehen werden, und sie offenbar
auch für Panätius verteidigte.
1) Cie. de off. I 31, 113; vgl. auch 5. 39 ff.
BrBier ἃ. O.T 10, 31.
3) Wir berücksichtigen fortan nur die zweite Art der Tugend, nicht die
vollkommene.
auch nur eine Tugend geben. Aber je nachdem sich diese nur
auf sich selbst oder die Erforschung der Wahrheit bezieht, oder
ihre Verwirklichung im praktischen Leben zum Zwecke hat, zer-
fällt sie in die theoretische und praktische!). Diese Verschieden-
heit bedingt auch eine Verschiedenheit ihrer Erscheinungs-
weise. Während nämlich die theoretische Tugend nur im Denken
besteht, besteht die praktische aus Denken und dem ent-
sprechenden Handeln?). Insoweit sie nun Wissen ist, ist sie
naturgemäss auch lehrbar; insoweit sie aber ein entsprechendes
Handeln fordert, ist sie nur durch Übung zu erreichen?). Näher
betrachtet zerfällt diese letztere wieder in zwei Teile, je nachdem
sie sich auf die eigene Persönlichkeit allein oder auf das Verhältnis
derselben zu den Mitmenschen bezieht. Wir haben demnach im
ganzen eine dreifache Tugend: die theoretische oder die Tugend
der Weisheit (σοφία), die Tugend des eigenen Ichs in Bezug auf
sich selbst (σωφροσύνη) und drittens die Tugend in Bezug auf
die menschliche Gesellschaft. Die Weisheit ist das richtige Ver-
halten der Vernunft in Bezug auf sich selbst und hat die Er-
kenntnis der gesamten Wahrheit zum Inhalte. Diese umfasst die
Dialektik, Physik und Ethik. Lehrt die erstere von diesen die Ge-
setze des Denkens zur Beurteilung der Wahrheit kennen, so geht
die zweite auf das Verhältnis des Menschen zur Gottheit, die dritte
auf das zu den Menschen. Hieraus ergiebt sich seine Stellung und
Aufgabe in der menschlichen Gesellschaft.*) Die erste derselben ist
') Diog. VII 92: Παναίτιος μὲν οὖν δύο φησὶν ἀρετάς, ϑεωρητιχὴν χαὶ πρα-
χτίχη».-. Cic; 8..ἃ. Ὁ. Τὶ 5, 17; 6, 19: 7, 20.
5) Cie. ἃ. a. Ὁ.1 ὅ, 17: ea... versantur in eo genere, ad quod est ad-
hibenda actio quaedam, non solum mentis agitatio u. bes. $ 19: omnis autem
cogitatio motusque animi aut in consiliis capiendis de rebus honestis et per-
tinentibus ad bene beateque vivendum aut in studiis seientiae eognitionisque
versabitur. Diese Stelle lehrt den engen Zusammenhang und das innere
Verhältnis beider Tugenden. Bestätigt wird dasselbe durch die Ausführung
über die einzelnen Tugenden, vgl. z.B. $ 66.
5) Cie.a.a.0. 118,60; vgl. auch Cieeros Abhandlung über die Tapferkeit.
*) Cie. de off. 16, 19: quibus vitiis deelinatis quod in rebus honestis et
cognitione dignis operae euraeque ponetur, id iure laudabitur, ut in astro-
logia C. Sulpieium audivimus, in geometria Sex. Pompeium ipsi cognovimus,
multos in dialeetieis, plures in iure eivili; quae omnes artes in veri investigatione
versantur. Dass die Ethik hier in dem ius eivile verborgen ist, geht aus
II 5, 18 hervor, wo deren Inhalt genauer angegeben ist. Ebenso erfahren
u...
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die σωφροσύνη. Sie besteht in dem richtigen Verhalten der Seelen-
teile oder Seelenvermögen zu einander, also in der Unterordnung
der Triebe unter die Vernunft!). Die andere richtet sich auf die
Erhaltung der menschlichen Gemeinschaft. Die richtige Bethätigung
für dieselbe ist natürlich nur auf Grund der vorigen möglich und
umfasst die beiden anderen Haupttugenden, die Gerechtigkeit und
Tapferkeit (ἀνδρεία). Die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) zerfällt wieder-
um in die eigentliche Gerechtigkeit und die Wohlthätigkeit (ἐλευ-
ϑεριόνης). Die Gerechtigkeit als solche ist die Tugend, welche
jedem das Seine zuerteilt?), sie ist also wesentlich passiv. Ihre
Ergänzung ist darum die Wohlthätigkeit, die jedwede Art der
Unterstützung eines anderen in sich schliesst und nach Massgabe
der Würdigkeit und Bedürftigkeit geübt wird (vgl. 5. 31f.). Die
Tapferkeit endlich ist die Hochherzigkeit, welche für die Verwirk-
lichung der Gerechtigkeit im Frieden sowohl wie im Kriege ein-
tritt und somit wesentlich in jedem Handeln erscheint?). Diese
wir dort Genaueres über die Dialektik. Die Astronomie und Geometrie
weisen selbstverständlich auf die Physik hin; wenn Cicero diese hier gerade
nennt, so ist es mehr wie klar, auf welche Weise er dazu gekommen ist.
Panätius hatte diesen Gegenstand im ersten Buche seiner Pflichtenlehre
entwickelt und daraus die Pflichten der Ethik in den beiden folgenden
Büchern abgeleitet, wie wir S. 26f. 46 nachgewiesen haben; vgl. auch Cicero
a. a. Ὁ. I 26, 90 ex.; de leg. I 7, 21ff. Es ergiebt sich hieraus auch, dass
es ein Grundirrtum ist, dem Panätius die eingehende Pflege der Dialektik
und Physik abzusprechen. Nicht zufällig ist es daher, dass die Untersuchung
über den Staat bei Cie. de rep. I 10, 15ff. mit einem naturwissenschaftlichen
Problem beginnt. Die Beziehung dieser Frage zu dem Gegenstande, der
daselbst behandelt werden soll, ist klar und auch schon früher zur Sprache
gekommen (S. 68).
1) Vgl. 5. 39f. 42 u. die spätere Darstellung.
2) Cie. de off. I 7, 20 ff. vgl. S. 30f. Das suum cuique zu verletzen ist
gegen das natürliche Recht, also das Gegenteil Gerechtigkeit. Übrigens
ist dies die gewöhnliche stoische Definition; Stob. 60]. II p. 59, 9W. Vgl.
auch den Abschnitt über den Inhalt der Tugend.
3) Vgl. den Abschnitt über die Tapferkeit 5. 82 ff. Eine Geringschätzung
der Tapferkeit ist hiermit keineswegs ausgesprochen; im Gegenteil ist die
wahre Tapferkeit ja gerade so erhaben wie die Gerechtigkeit. Mit Hirzel,
Unters. II S. 348 ff. auf eine solehe Geringschätzung aus de off. I 16, 50
zu schliessen ist abgesehen von der obigen Erörterung schon darum ur
möglich, weil diese hier erwähnte Tapferkeit gar nicht auf der Vernunft
beruht, also auch keine Tugend ist und mit der wahren Tapferkeit nur den
Namen und den Schein gemeinsam hat; vgl. auch T. III. Kap. 4 Schl.
--,ἭἬ 2185 --
Auffassung der Tapferkeit ermöglicht es auch, dass jeder, natür-
lich nach seinem Mafse, dieser Tugend teilhaftig sein kann, wie
es auch im Begriffe der Tugend liegt (s. S. 35).
c) Ihr Inhalt.
Die Tugend als die vernunftgemässe Beschaffenheit der Seele
offenbart sich also als das richtige Verhalten sowohl in Bezug
auf die wissenschaftliche Forschung wie auch die praktische
Thätigkeit. Dieses richtige Verhalten besteht nun allemal in dem
Innehalten der Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Die-
ses folgt zunächst aus dem Wesen des Vernunftgemässen, welches
nach beiden Seiten das richtige Mass zu überschreiten verbietet),
und wird ferner auch bei den einzelnen Tugenden bestätigt. So
ist zuerst die theoretische Tugend die Mitte zwischen dem sorg-
losen und übertriebenen Forschen; beides sind daher Fehler’),
die auf dem Verkennen des richtigen Wertes des Wissens beruhen.
Gegenüber dem sorglosen und oberflächlichen Wissen und For-
schen ist der hohe Wert desselben zu betonen, da gerade die
Vervollkommnung der Einsicht und das Streben nach Erkenntnis
der Wahrheit am meisten der menschlichen Natur entsprechen und
allein das richtige Verständnis für unsere Stellung und Haltung
bringen. Aber gegenüber einem unfruchtbaren Studieren und
Grübeln über unnötige und zu schwierige Dinge muss man die
Beschränktheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit bedenken,
sowie auch dieses, dass unsere Aufgabe nicht nur im Erkennen,
sondern auch im Handeln besteht, und dass demnach die prak-
tische Pflicht nicht vernachlässigt werden darf?).
Die Sophrosyne zweitens erscheint in dem richtigen Verhalten
') Vgl. Cie. de off. I 27, 96 und dazu 5. 37. Ebenso geht dies auch
aus dem Lobe hervor, welches Panätius der Schrift Crantors zollt bei Cie.
acad. pr. II 44, 135.
2), Cierde ὉΠ: 5 6; 18:
3) Vgl. die vor. Anm.; ferner ΟἿἷο.1. 1. I 4,12; 6, 19: 9,28 u.s.w. Dies
liegt in der Konsequenz der Auffassung vom Werte des Wissens, in der
Panätius mit den Stoikern insgesamt übereinstimmt. Wenn aber Hirzel
(Unters. 118 S. 512, 1) meint, unter den zu schwierigen und unnötigen Sachen
sei die Erforschung der Welt und der Götter verstanden, so widerlegt sich
diese Annahme durch die Thatsache, dass Panätius hierüber gerade sehr
eingehende Untersuchungen angestellt hat (Cie. de rep. I 10, 15), worauf
Hirzel gar nicht geachtet hat. Natürlich fällt damit auch seine weitere
Kombination.
Wer
— 219 —
der Seelenteile unter einander oder genauer gesagt in der willigen
und völligen Unterordnung derselben unter die Vernunft (vel.
8. 216). Diese findet nur dann statt, wenn die Triebe die richtige
Mitte zwischen der zu heftigen und zu schwachen Thätigkeit,
dem Begehren und Entsagen, innehalten!). Sie zerfällt in vier
Unterabteilungen: ἐγχράτεια, αἰδημοσύνη, κοσμιότης und εὐταξία.
Die ἐγχρατεια ist diejenige Tugend, welche den Menschen
weder nach seiner tierischen noch nach seiner geistigen Natur
das durch seine Individualität bestimmte Mass überschreiten lässt
und so bewirkt, dass er weder den Leidenschaften fröhnt, noch
auch danach trachtet, über seine geistige Fähigkeit hinauszugehen
und etwas, selbst wenn es das Bessere ist, zu erstreben, wozu
er von Natur nicht imstande ist. Sie verleiht daher das Gleich-
gewicht der Seele und damit Ruhe und Standhaftigkeit?).
Das Spiegelbild derselben im äusseren Verhalten ist die αἰδη-
woovvn°). Schon dieser Grund bedingt es, dass auch sie wieder
eine Mitte zwischen zwei Fehlern ist, wenngleich uns bei Cicero
nur das eine Extrem vorliegt, die Schamlosigkeit‘). Diese weist ἢ
jedoch ihrer Natur nach schon auf das andere Extrem, die Schüch-
ternheit, hin. Und dass dies wirklich der Fall ist, beweist der
Umstand, dass für die ihr untergeordneten Tugenden die Bestim-
mung der Mitten wieder vorliegt. Dies ist zunächst die κοσμιότης,
welche die Haltung und Unterhaltung umfasst (vgl. S. 42f.). Sie
ist die Mitte zwischen dem Weichlichen und Weibischen einerseits
und dem Rohen und Bäurischen andererseits’). Ebenso wie sie
selbst werden dementsprechend auch alle ihre Unterabteilungen
als Mitten zwischen zwei Fehlern bestimmt).
1) Cie. de off. I 29, 102 f.: effieiendum autem est, ut appetitus rationi
oboediant eamgue neque praecurrant nec propter pigritiam aut ignaviam
deserant sintque tranquilli atque omni animi perturbatione careant; ex
quo elucebit omnis constantia omnisque moderatio. nam qui appetitus longius
evagantur et tamquam exsultantes sive cupiendo sive fugiendo non satis ἃ
ratione retinentur, ii sine dubio finem et modum transeunt.
3) Vgl. Cie. 1. 1. I 30,105 — 31,114 und dazu 5. 38 ff. 42.
3) Cie. 1. 1. 29, 102; 36, 131m.
4) Cie. 1.1. 35, 127; 41, 148. Dieses Extrem wird eben durch die Cyniker
vertreten.
5) Cie. 1.1.35, 129; quibus in rebus duo maxime sunt fugienda: ne quid
effeminatum aut molle et ne quid durum aut rustieum sit.
6) Vgl. die Vorschriften über die Gestikulation, Kleidung, Gang, Sauber-
keit bei Cie. 1. 1. 36, 130; 131; sowie über die Sprache ib. 37, 133; 38, 136.
= 90 ΞΞ
Die letzte hierher gehörige Tugend ist die εὐταξία, welche
die Vorschriften über das Handeln giebt. Auch in diesen erfahren
wir sofort, dass man bei der Ausführung einer Handlung dar-
auf Bedacht nehmen müsse, weder zu viel noch zu wenig Mühe
zu verwenden!). Und die Definition der εὐταξία selbst betont
gerade jedes nur am geeigneten Orte und zu geeigneter Zeit zu
thun, worin augenscheinlich schon die Bestimmung enthalten ist,
weder nach der einen noch nach der anderen Seite über das
Mass hinauszugehen?).
Wir kommen zur dritten Haupttugend, der Gerechtigkeit.
Sie ist die Mitte zwischen der allgemeinen Menschenliebe, die das
Wohl des Nächsten in gleicher Weise wie das eigene berück-
sichtigt, und der Eigenliebe, die nur den eigenen Vorteil sucht.
Da nämlich die Vernunft allen Menschen zu Teil geworden ist, sind
alle von Natur verwandt?); und da dieselbe Vernunft auch das
oberste Gesetz alles Handelns ist, so ist naturgemäss für alle
Menschen ein und dasselbe recht und gut‘). Schlecht und völlig
verkehrt ist daher die Selbstsucht, die nur auf den eigenen Nutzen
bedacht ist und selbst mit bewusster Schädigung der Nebenmen-
schen nach eigenem Vorteile trachtet?). Wenn nun diese dem-
nach des Menschen unwürdig ist, so geht doch auch jene all-
gemeine Liebe, welche für das Wohl der anderen in gleicher
Weise wie für das eigene sorgt, über das gewöhnliche Können der
Menschen hinaus. Nur bei den wirklichen Weisen wird sie vor-
handen sein, weil ihre Vernunft vollkommen und dementsprechend
ihnen auch absolut alles gemeinsam ist. In der Natur der ge-
wöhnlichen Menschen liegt es aber, zunächst und zumeist immer
das zu fühlen, was sie selbst angeht. So ergiebt sich als das
Gesetz des Handelns die Billigkeit, welche in der Mitte zwischen
beiden beide berücksichtigt, sowohl das eigene Wohl als auch
das der anderen. Die Billigkeit aber deckt sich mit dem Wesen
') Cie. 1.1. 39, 141. Auch die dritte der hier stehenden Bestimmungen
betont das richtige Masshalten.
2) Cie. 1. 1. 40, 142 f.
°) Dies wird sehr häufig ausgeführt; vgl. Cie. 1.1. 1 16, 50 und besonders
de leg. I 7, 22; 10, 28 ft.
*) Cie. de leg. I 6, 18; de rep. III 22, 33. Dies wird in de leg. I u. de
rep. III erwiesen; vgl. 5. 47 f.
°) Cie. de leg. I14, 40 ff.; de rep. III 26, 38 Εἰ, wo gegen dieses Prineip
des Carneades gestritten wird.
RT EI
Ξ᾿ θ-
der Gerechtigkeit‘): Demnach ist in Wahrheit die Gerechtigkeit
die Mitte zwischen der allgemeinen Liebe und der Eigenliebe oder
Selbstsucht.
Innerlich mit dieser Tugend verwandt ist die Wohlthätigkeit.
Diese ist der Natur entsprechend die Mitte zwischen dem Geiz
- und der Verschwendung). Schimpflicher ist der Geiz?); die Ver-
schwendung aber ist deswegen verwerflich und verkehrt, weil sie
die eigenen Mittel vernichtet und dadurch nicht nur die Unfähig-
keit wohlzuthun herbeiführt, sondern schliesslich auch zum Stehlen
Veranlassung wird‘).
Die vierte Haupttugend ist die Tapferkeit. Sie ist der mit
Hochherzigkeit gepaarte Mut, welcher für das sittlich Gute ein-
tritt (Vgl. S. 217). Doch ist nicht jeder derartige Mut als solcher
schon Tugend, sondern nur der, welcher zwischen der Feigheit
und Verwegenheit die Mitte bewahrt. Diese zu bewahren lehrt
die Überlegung dessen, was allemal zu vollbringen ist?).
δ 3. Glückseligkeit.
Ist also die Tugend das naturgemässe Verhalten der Seele
und beruht auf dem naturgemässen Leben die Glückseligkeit
ἢ Cicero de off. 19, 29 ff.: Quoniam igitur duobus generibus iniustitiae
propositis adiunximus causas utriusque generis easque res ante constituimus,
quibus iustitia contineretur, facile quod euiusque temporis offieium sit po-
terimus, nisi nosmet ipsos valde amabimus, tudicare. est enim diffielis cura re-
rum alienarum ... sed tamen, quia magis ea percipimus atque sentimus, quae
nobis ipsis aut prospera aut adversa eveniunt quam illa quae ceteris ... ali-
ter de illis ac de nobis iudicamus. quocirca bene praecipiunt qui vetant quic-
quam agere, quod dubites aeguum sit an iniquum. Vgl. S. 30f. u. auch Ciceros
Abhandlung über die caritas 1. 1. II 7, 23 ff.
2) Cie. 1. 1. II 15, 55: nec ita elaudenda res est familiaris, ut eam be-
nignitas apperire non possit, nec ita reseranda, ut pateat omnibus: modus
adhibeatur isque referatur ad facultates; vgl. I 14, 42.
ΠΕ ΠῚ U 22,73; vgl. 17, 24.
#) Cie. 1: 1. D 15, 54 und I 14, 44.
5) Cie. 1. 1. 21, 73: ad rem gerendam autem qui accedit, caveat πὸ id
modo consideret, quam illa res honesta sit, sed etiam ut habeat facultatem.
in quo ipso considerandum est, ne aut temere desperet propter ignaviaın
aut nimis confidat propter eupiditatem. in omnibus autem negotiis, prius-
_ quam aggrediare, adhibenda est praeparatio diligens. Ferner e. 24, 83: nun-
quam periculi fuga committendum est, ut imbelles timidique videamur, sed
fugiendum illud etiam, ne offeramus nos periculis sine causa.
4
-- 222 --
(Vgl. S. 210), so folgt, dass die Glückseligkeit mit der Tugend
notwendig verbunden ist und durch sie gewirkt wird. Es ist
daher auch nichts wahrhaft gut und nützlich, was nicht tugend-
haft ist, und demgemäss wahrhaft schlecht auch nur das, was.
diesem entgegengesetzt ist!. Wenn es nun aber auch unzweifel-
haft ist, dass die Tugend allein die Glückseligkeit wirken kann,
so bleibt noch die Frage offen, ob sie allein auch schon dazu
genügt. Dies zu entscheiden lehrt die Natur der Seele. Diese
besteht wesentlich aus zwei Teilen, der Vernunft und dem un-
vernünftigen Vermögen. Die erstere hat die Pflicht für die Be-
dürfnisse des letzteren zu sorgen, so weit solche berechtigt sind,
und nur die Triebe, die darüber hinausgehen, zu unterdrücken.
Die vernünftige Pflege des Körpers ist also naturgemäss. Der
Zweck der naturgemässen Pflege des Körpers ist die Gesundheit?)
und die Mittel, für sie zu sorgen, einmal der Besitz und dann
besonders die Neigung der Mitmenschen, durch welche aller Nutzen
vermittelt und aller Nachteil verhütet wird®). Diese selbst ist
hinsichtlich ihrer Ausdehnung sehr verschieden und erstreckt sich
nach der geistigen Fähigkeit bei dem einen nur auf einen engen
Kreis, bei dem anderen ausser auf einen solchen auch mehr oder
weniger auf die Gesamtheit der Angehörigen eines Staates. So-
weit sie sich nur auf einen engen Kreis bezieht, ist sie Freund-
schaft; soweit sie aber die Gesamtheit des Staates oder noch
weitere Kreise umfasst, ist sie der wahre Ruhm, die umfassendere
Freundschaft®). Gesundheit, Besitz und Freundschaft oder wahrer
Ruhm sind also vollkommen naturgemäss und nicht ausserhalb
der Tugend, sondern in gewisser Weise in ihr eingeschlossen).
1) Cie. 1. 1. DI 7, 34; de leg. I 17, 46; de rep. III 26, 38.
2) Cie. de off. I 30, 106.
8) Οἷο. 1. 1. Π 8.11 ---ὅ, 17.
τ) Gie.2l 1. 118. 291
5) Cie. 1. 1. II 5, 18: etenim virtus omnis tribus in rebus fere vertitur,
quarum ...tertium 115, quibuscum congregemur uti moderate et seienter,
quorum studiis ea, quae natura desiderat, expleta cumulataque habemus,
per eosdemque si quid nobis importetur incommodi, propulsemus uleisca-
murque eos, qui nocere nobis conati sint etsq. Dieses ist eben das Gebiet
des im zweiten Buche Ciceros behandelten utile, das von der Tugend un-
zertrennlich ist. Auf den Erwerb resp. Besitz sowie auf die Gesundheit ist
Panätius nicht genauer eingegangen; er hat sie nur gelegentlich berührt
(vgl. z. B. über den Besitz I 26, 92; über die Gesundheit die Anm. 1 ange-
3
Diese sind demnach zur Verwirklichung der Glückseligkeit auch
notwendig'),,. Was dagegen der Tugend widerstreitet, ist, auch
wenn es nützlich und gut zu sein scheint, doch nicht der Art
und darum auch nicht imstande durch seine Anwesenheit oder
Abwesenheit das Leben gut und schön oder schlecht und unselig
zu machen’).
Das naturgemässe Verhalten der Seele ist die Tugend und
der Zweck der naturgemässen Pflege des Körpers die Gesundheit;
Von selbst führen uns diese Bestimmungen auf die Frage nach
dem Wesen der Lust und ihrem Werte. Zunächst haben wir
eine zweifache Lust zu unterscheiden, eine geistige und eine
körperliche. Die geistige entspringt aus der Thätigkeit des Gei-
stes und äussert sich wesentlich als Freude und Befriedigung. Sie
ist eine edle und dem Menschen durchaus geziemende Empfin-
dung°); dass sie jedoch nicht Zweck und Ziel sein darf, braucht
nicht mehr bewiesen zu werden. Die zweite Art ist die körper-
führte Stelle und II 3, 12, [Klohe]); dagegen hat er den dritten hierher ge-
hörigen Punkt eingehend behandelt, wie S. 20ff. 46 nachgewiesen ist. Anti-
pater vermisste daher die Vorschriften über die Gesundheit und den Erwerb.
Dass übrigens die Freundschaft oder der wahre Ruhm nicht bloss praktischen
Nutzen haben soll, ist ganz selbstverständlich. Der Nutzen liegt hier viel-
mehr in der geistigen Sphäre. Richtig hat dies auch Klohe gedeutet p. 35.
1) Diog. VII 128: ὅ μέν τοι Παναίτιος καὶ Ποσειδώνιος οὐκ αὐτάρχη λέγουσι
τὴν ἀρετήν, ἀλλὰ χρείαν εἶναί φασιν χαὶ ὑγιείας καὶ ἰσχύος καὶ χορηγίας. Es ist
klar, dass sich αϊθ᾽ ἰσχύς mit dem wahren Ruhm oder der Freundschaft deckt,
Diese Nachricht wird also durch Cieero (vgl. die vorige Anm.) vollauf be-
stätigt. Noch eine weitere Stelle spricht hierfür, von dem ganzen Zusammen-
hange abgesehen, nämlich Cie. de off. III 3, 13: etenim quod summum bo-
num a stoieis dieitur, eonvenienter naturae vivere, id habet hanc, ut opi-
nor, sententiam, cum virtute congruere semper, cetera autem, qua® secundum
naturam essent, ita legere, si ea virtuti non repugnarent. Denn wenn die
letzteren zum naturgemässen Leben gehören, so sind sie auch zur Glück-
seligkeit erforderlich. Die Nachricht des Diog. ist also nur insoweit nicht
genau, als sie Gesundheit, Ansehn und Besitz neben die Tugend und nicht
in Abhängigkeit von ihr setzt, wie es nach Cicero notwendig ist. Seneca
ep. 87, 35 spricht hiergegen nicht. Zellers Ansicht Philos. d. Gr. Illa.
-S. 561, 13 ist daher nicht haltbar; vgl. auch Hirzels Widerlegung derselben
Unters. II. S. 261.
Die, 5: a. ©. DI 3, 12. 3
3) Cie. a.a.0. I4, 13; 30, 105. de leg. I 11,31; Sext. Emp. adv. Math.
XI 73. Ob Panätius beide Arten der Lust mit demselben Namen bezeichnet
hat, ist unbestimmt.
--Ἠ, 224 —
liche Lust, die ihren Sitz in den Sinnen hat (vgl. S. 200), also
auch mit der Thätigkeit der Sinne verbunden ist. Da nun die Be-
friedigung der Triebe, soweit sie berechtigt sind, naturgemäss und
notwendig ist, so folgt, dass auch die sinnliche Lust ebenso ein
Zuwachs der sinnlichen Thätigkeit ist, wie die geistige der der
geistigen. Deswegen ist auch die Ansicht derer ebenso falsch,
welche sie ganz ausgerottet wissen wollen, wie die derjenigen,
welche sie zum Ziel aller Thätigkeit erheben. Folgerecht wird
daher auch der Schmerz für etwas Naturwidriges und deswegen
mit Recht für etwas Unliebsames gehalten: Die Apathie und
Analgesie sind nicht naturgemäss?).
!) Aus der Natur des Menschen wird de off. 1 80, 105 geschlossen: cor-
poris voluptatem non satis esse dignam hominis praestantia eamque con-
temni et reici oportere; doch heisst dies nicht, dass sie ganz ausgerottet,
sondern nur, dass sie zurückgedrängt werden muss und nicht Zweck sein
darf, wie das Nachfolgende zeigt. Auch de leg. I 11, 31 wird daher das
Trachten nach sinnlicher Lust als Verkehrtheit bezeichnet; doch lesen wir
ebds. von ihr: tamen habet quiddam simile naturali bono. Klarer tritt uns
seine Meinung aus Gellius Noct. Att. XII 5, 10 ff. entgegen. Die Verwerfung
der ἀπάϑεια und ἀναλγησία hängt in ihrer Begründung mit der vorher ent-
wickelten Lehre von Lust und Schmerz zusammen. Wir lesen $ 8: recens
natus homo... a natura... a dolere... quasi a gravi quodam inimico
abiunctus alienatusque est, und bei Cie. de fin. IV 9, 23: itaque ... Panae-
tius, cum ad @. Tuberonem de dolore patiendo sceriberet, quod esse caput
debebat, si probari posset, nusquam posuit, non esse malum dolorem, sed
quid est et quale, guantumque in eo esset alieni etsq. Da beide von einan-
der in der Wiedergabe der Lehre unabhängig sind, haben wir hier offen-
bar in der Bezeichnung ‘alienum’ die Übersetzung desselben griechischen Aus-
drucks und demnach im Gellius die Ansicht des Panätius vor uns. Zunächst
wird nun am Anfange dieses Berichtes $ 7 die Selbstliebe des Kindes als
erster Trieb hingestellt, deren Folge es sei, dass sich das Kind über das
ihm Zuträgliche freue, das Schädliche fliehe. Dann lesen wir nach der Aus-
einandersetzung dessen, was gut, schlecht und keines von beiden ist, mit
offenbarer Beziehung auf den angegebenen Anfang des Berichts: proptera
voluptas quoque et dolor ... et in mediis relieta et neque in bonis neque
in malis iudicatae sunt. sed enim quoniam his primis sensibus doloris vo-
luptatisque ante consilii et rationis exortum recens natus homo imbutus est
et voluptati quidem a natura conciliatus, a dolore autem quasi a gravi quo-
dam inimico abiunetus alienatusque est: ideirco adfeetiones istas primitus
penitusque inditas ratio ipsi addita convellere ab stirpe atque extinguere
vix potest. pugnat autem cum his semper et exsultantis eas opprimit opte-
ritque et parere 5101 atque oboedire cogit. Vgl. zu den letzten Bemerkungen
Cie. de rep. III 24, 36; 25, 37. Hirzel Unters. IIa. S. 451 ff. fasst gleich-
falls, wenn auch aus anderen Gründen, diese ganze Stelle des Gellius als
Lehre des Panätius auf.
ἮΝ
-
Kap. 5,
Staatslehre.
Alle Menschen sind unter einander und mit den Göttern auf
Grund ihrer- Vernunft verwandt. Sie bilden daher ein grosses
Gemeinwesen, dessen oberste Leiterin eben die göttliche Vernunft
δὶ ἢ)... Diese Natur der Vernunft bedingt nun ebenso wie das
Verhalten der einzelnen zu einander so auch das gesamte slaat-
liche Leben der Wirklichkeit. Der Staat hat sich also nicht etwa
auf Grund eines Vertrages, sondern aus der Natur des Menschen
heraus entwickelt: Die einende und Geselligkeit wirkende Kraft
der Vernunft ist der zureichende Grund seiner Enstehung. Darum
ist auch der naturgemässe Zweck desselben die Verwirklichung
des Zieles der Menschen oder mit anderen Worten die Verwirk-
lichung der Tugend und dadurch der Glückseligkeit seiner
Bürger’). |
- Die geistige Einheit des Staates kommt nun in der Verfassung
zur Erscheinung. Die Güte einer solchen lässt sich also auch nur
daran beurteilen, in welchem Mafse sie den Grund und Zweck
des staatlichen Lebens zur Geltung kommen lässt: Wo die Ge-
rechtigkeit das leitende Motiv der Staatsverwaltung ist, da haben
wir eine gute Verfassung; wo aber die Eigennützigkeit regiert,
das Gegenteil. Die Verwaltung kann nun entweder einem Manne
oder mehreren oder dem-ganzenVolke übertragen werden, und daher
kann es auch drei verschiedene Arten der Verfassung geben. Weil
aber jede dieser drei Arten sowohl gut als auch schlecht sein kann,
so sind im ganzen ‚sechs verschiedene Verfassungen möglich:
Königtum, Aristokratie, Demokratie, Tyrannis, Oligarchie und
Ochlokratie. Je nachdem diese also das Gute entweder fördern
oder unterdrücken; sind sie in ihrem Werte verschieden. Die
beste von ihnen ist das Königtum, das über dem Wohle des Staates
ως ἢ Die Nachweise hierfür wie für den grössten Teil der nachfolgenden
Darstellung finden sich ausführlich in dem zweiten und dritten Kapitel des
ersten Teiles_und brauchen daher hier nieht noch einmal wiederholt zu
werden.
2) Cie. de rep. III 3, 3; die Stelle ist offenbar aus dem ersten Buche
wiederholt und bietet auch an sich Selbstverständliches.
Schmekel, mittlere Stoa. 15
— 226 --
wacht, wie die Vernunft über dem Menschen. Den zweiten Rang
nimmt die Aristokratie ein, die die königliche Gewalt auf meh-
rere verteilt. Ihr folgt die Demokratie. Umgekehrt kommen die
drei schlechten, so dass von diesen die beste die Ochlokratie und
die schlechteste die Tyrannis ist. Aber auch die guten sind nicht
ganz fehlerlos. So verteilt die Königsherrschaft das Recht zu
wenig gleichmässig zwischen dem Könige und den Bürgern. In
der Aristokratie besitzt der Bürgerstand kaum irgend welche
Freiheit, wenn auch sonst die Regierung nicht zum Schaden: des
Volkes handeln mag; aber auch die Freiheit ist notwendig. Die
Demokratie dagegen hat die absolute Freiheit und Gleichmässig-
keit; aber eben hierin liegt wiederum ihr Fehler, sie unterscheidet
keine Grade des Wertes. Durch die Entwickelung des fehler-
haften Momentes, das ihnen anhaftet, entarten sie allemal zu der
entsprechenden schlechten: das Königtum zur Tyrannis, die Aristo-
kratie zur Oligarchie, die Demokratie zur Pöbelherrschaft. Da sich
nun das staatliche Leben aus der Natur des Menschen heraus
entwickelt, so ist es notwendig, dass sich ursprünglich überall
dieselbe Verfassung gebildet hat. Hieraus ergiebt sich folgende
Entwickelungsgeschichte: Die älteste Verfassung ist das König-
tum, welches unmittelbar dem nomadischen Leben folgt. Dieses
wird zunächst zur Tyrannis, indem die königlichen Nachkommen
die Tugend lockern, sich einem bequemen und schwelgerischen
Leben ergeben und, um dieses zu können, die Unterthanen drücken
und plagen. Diese wird daher bald beseitigt, indem die übrigen
Edeln des Staates sich unter einander verbinden und den Gewalt-
herrscher vertreiben. Auf gleiche Weise jedoch wie aus dem
Königtume die Tyrannis entwickelt sich aus der Aristokratie die
Oligarchie. Das Volk, das diese neue Last weder ertragen kann
noch will, vertreibt sie und nimmt selbst die Zügel der Regierung
in die Hand, wählt selbst die Beamten und hält selbst Gericht.
So lange es nun verständig zu Werke geht, ist auch diese Ver-
waltung gut. ‚Freilich dauert dies nicht lange, bald ist die Ochlo-
kratie da. Doch auch diese hat nur einen kurzen Bestand. In der
tausendköpfigen Menge treten Parteien auf, die sich gegenseitig
befehden und bekämpfen, bis ein Mann, der durch Schlauheit über-
legen ist, sich zum Tyrannen aufwirft und als solcher regiert).
') Dieser Kreislauf ist natürlich nur in einer ganz normal sich ent-
-
7
«
.-
BE”;
Da also allemal auch die guten Verfassungen den Keim der
schlechten in sich tragen und auf natürlichem Wege zu diesen
führen, so ist auch die beste dieser sechs Verfassungen nicht die
beste Verfassung schlechthin. Denn diese muss die Aufgabe er-
füllen, den Schwankungen nicht zu erliegen und unausgesetzt
gut zu sein. Sie muss also die Schäden meiden, die den einzel-
nen Verfassungsformen als solchen anhaften. Demnach kann sie
nur eine gemischte sein und zwar selbstverständlich aus den drei
guten. Denn nur infolge dieser Mischung wird allemal das Fehler-
hafte der einen durch das Gute der anderen aufgehoben und so
die nötige Gleichmässigkeit für alle Bürger und die Festigkeit der
Verfassung erzielt. Es muss demnach ein Staatsoberhaupt vor-
handen sein, welches die königliche Gewalt repräsentiert, eine
Vertretung der Aristokratie in einem Senate und für gewisse
Rechte der Volkswille gelten. Näheres liegt hierüber nicht vor;
nur über den Staatslenker und dessen Grundsätze finden sich
noch einige Bemerkungen, die ihn als einen wirklichen Fachmann
und tugendhaften Weisen charakterisieren'!).
Seinen Zweck, die Glückseligkeit oder die Verwirklichung der
Tugend, erreicht nun der Staat teils durch Institutionen, teils durch
Gesetze. In welcher Weise sich diese gegenseitig ergänzen, ent-
zieht sich unserer Erkenntnis. Unter den Institutionen aber, die
hierher gehören, steht oben an
die Religion. Die wahre Religion besteht in der Erkenntnis
der Wahrheit, die nur durch Forschung, durch Philosophie erworben
werden kann. Sie ist im Wesen des Menschen begründet und
daher eine wesentliche Bedingung seiner Glückseligkeit. Die durch
die Diehter und Staatsmänner aufgebrachte Volksreligion aber be-
ruht durchweg auf Irrtum und Täuschung, denn sie schreibt
den Göttern alle möglichen schändlichen Thaten zu, die sich mit
der Gottheit nicht vereinigen lassen. In dem besten oder idealen
Staate ist daher kein Platz für sie; in ihm finden sich keine
Tempel und Götterstatuen?). Aus demselben Grunde werden
wickelnden Verfassung möglich, wozu in den griechischen Staaten vielfach
Analogien vorlagen; dass die Entwickelung auch überall eine solche sein
muss, ist damit noch nicht gesagt.
1) Cie. de off. I 25, 85 ff. und im allgemeinen II 6, 21 ff.; vgl. S. 34.
?) Cie. a. a. Ο. II 17, 60; vgl. im folgenden den Abschnitt über Scaevola
und Varro.
15*
is
Ξ-ὸ 228 --
daher auch die Dichter keinen Platz in diesem Staate haben,
welche unrichtige oder lockere und unsittliche An
verbreiten).
Ein zweites wichtiges Institut ist die Zhe und der auf sie‘
gegründete Hausstand. Die Güter- und Weibergemeinschaft haben
in diesem Staate keinen Platz. Die Individualität bringt es mit
sich, dass jeder sein Ziel nur erreichen kann, wenn er seine In-
dividualität in richtiger Weise entwickelt, nicht aber abstreift,
was die Güter- und Weibergemeinschaft verlangen würde?). So
haben wir denn auch schon früher gehört, dass der Staat sich in
der Hoffnung bildet, dass jeder in demselben das Seinige erhalten
und beschützen kann. Eine besondere Stellung innerhalb der
Familie nehmen
die Sklaven ein. Da die Glückseligkeit der Menschen in
der Tugend, diese aber in der vernunftgemässen Entwickelung der
individuellen Naturanlagen besteht, so werden alle diejenigen,
deren Natur entweder zu schlecht oder zu schwach veranlagt
oder durch sonstige Einflüsse verdorben ist, nicht imstande sein,
ihr eigenes Glück zu erreichen. Für diese ist die Sklaverei voll-
kommen berechtigt. Denn eben weil sie durch sich selbst ihr
Glück nicht erreichen können, wird es für sie selbst nützlicher
sein, der Selbständigkeit zu entbehren und der Leitung anderer
unterstellt zu sein?); jede andere Sklaverei jedoch ist ungerecht
und verwerflich ἢ).
Dem allgemeinen Zweck und Wesen des Staates entsprechend
sind überhaupt alle Einrichtungen und Gewohnheiten unstatthaft,
welche darauf abzielen, die Menschen nicht zu ihrem Glücke zu
!) Cie. de rep. IV 5, 5 (Nonius s, v. fingere); 9, 9 Β΄. , Dies folgt auch
unmittelbar aus dem Vorhergehenden. Über Cie. de rep. IV werden wir
noch an einem anderen Orte zu handeln haben.
5) Cie, de rep. IV 5, 5. Dieses wiederum findet seine Bestätigung in
dem unmittelbar Folgenden; vgl. auch die vor. Anm.
8) Cie. de rep. III 24, 36; vgl. 25, 37. Natürlich ist damit eine ver-
nünftige und gute Behandlung derselben eingeschlossen. Wenn also auch
Cie. de off. 113, 41 dem Panätius angehört, was jedoch nicht sicher er-
kennbar ist, so schliesst diese Stelle doch gewiss keinen Widerspruch ein.
Denn auch Aristoteles, welchem die obige Bestimmung entlehnt ist, heisst
die Sklaven durchaus menschlich behandeln und erziehen, pol. I e. 13, 1260},
9 u. oeeon. ὁ. 5, 1344a, 23 ff.
*) Cie. de rep. III 25, 37: est enim genus iniustae servitutis; cum ii sunt
alterius, qui sui possunt esse.
‘führen, sondern zu eigennützigen Zwecken zu gewinnen und aus-
zubeuten!). Und wie innerhalb des Staates die strengste Gerech-
tigkeit walten muss, wenn anders er bestehen soll, ebenso muss
sie auch im Verkehr mit anderen Staaten voll und ganz Geltung
haben. Denn bei der Verwandtschaft aller Menschen unter ein-
ander ist dieser Verkehr naturgemäss friedlicher Art und dazu
bestimmt, das Glück gegenseitig zu fördern, Er äussert sich als
solcher namentlich in den Gastfreundschaften, welche die Bürger
verschiedener Staaten mit einander schliessen, und in den Handels-
verbindungen, welche angeknüpft werden, um durch gegenseitige
Ein- und Ausfuhr das Leben bequemer und angenehmer zu ge-
stalten?). Nur als äusserstes Mittel der Verhandlung ist daher
der Verteidigungskrieg berechtigt, doch ist in ihm jede Grausam-
keit zu meiden?).
Kap. 6.
Die exakten Wissenschaften.
Bei dem inneren Zusammenhange der exakten Wissenschaften
und der Philosophie ist es notwendig einen kurzen Abriss auch
über diese Studien des Panätius hinzuzufügen und namentlich
das zu berücksichtigen, was auf der Grenze derselben und der
Philosophie liegt.
1) Cie. de off. II 15, 53; 17, 60; von hier aus ist auch die Nachricht zu
beurteilen, welche wir a. a. O. kurz vorher $ 51 lesen: iudieis est semper
in causis verum sequi, patroni non nunquam verisimile, etiam si minus sit
verum, defendere. Cicero scheint es ein Widerspruch zu sein, dass er
als Philosoph gestatten solle zum Zwecke der Verteidigung auch etwas zu
reden, was nicht absolut wahr, sondern nur wahrscheinlich sei. In diesen
Worten steht jedoch nichts davon, dass der Anwalt auch einen Schuldigen mit
blossen Wahrscheinlichkeitsgründen verteidigen solle, wie Zeller, Philos. d. Gr.
Illa. S. 263, 3° meint. Denn dies wäre in der That ein Widerspruch gegen die
gesamte Ethik des Panätius. Vielmehr hat Panätius eine solche Verteidi-
gung offenbar im Interesse einer allseitigen Gerechtigkeit gebilligt. Das
Anstössige verliert diese Stelle überhaupt sofort, wenn wir Aristot. rhet. I
c. 1ff. vergleichen. Was Zeller meint, steht übrigens nur in dem, was dieser
Stelle vorher geht, wo Cicero offenbar. aus seiner Praxis spricht, wie der
Schlusssatz zeigt: volt hoc multitudo, patitur consuetudo, fert etiam humanitas.
2) Cie. de off. II 18, 64; 3, 10.
3) Cie. a. a. O. I 11,34; rep. III 23, 39.
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Die exakten Wissenschaften zerfallen in zwei Klassen, in die
mathematisch-naturwissenschaftlichen und die historisch-philolo-
gischen; die ersteren wiederum in die Geometrie und Arithmetik
und in die Astronomie, Meteorologie und Geographie. Panätius
war in beiden Gebieten wohl bewandert und bethätigte sich in
beiden als selbständiger Forscher. Was zunächst die Mathematik
anlangt, so wissen wir nur, dass er eine tüchtige Bildung in ihr
von dem Philosophen verlangte und selber besass!). Die weiteren
wenigen Nachrichten betreffen hauptsächlich die Astronomie. Die
eine derselben haben wir bereits in einem anderen Zusammen-
hange (S.192f.) gehört: Er teilte die Gestirne in zwei Klassen, in
Fixsterne und Planeten), und erklärte die Kometen für Erzeug-
nisse der Konjunktionen der Planeten, also für rein optische
Erscheinungen). Weiter ist uns auch seine Ansicht über den
Abstand und die Reihenfolge der Gestirne bekannt. Danach be-
findet sich die Erde in der Mitte der Welt; um sie kreist der
Mond, dann der Merkur, die Venus, die Sonne, der Mars, Jupiter
und Saturn und zuletzt die Fixsternsphäre, der Himmel. Die
Entfernung des Mondes von der Erde ist die geringste und im
Verhältnis zu den Entfernungen der anderen Gestirne verschwin-
dend klein; bedeutend grösser ist die des Mondes von dem Mer-
kur, und noch grösser die bis zur Venus und zur Sonne; die
Zwischenräume der anderen aber sind völlig unermesslich und
unendlich®). Aus der Meteorologie sind uns keine Berichte er-
halten, nur erfahren wir, dass er sie mit besonderem Eifer ge-
1) Cie. de off. I 6, 19; index Here. col. 66.
°) Cie. de div. II 42, 89.
°) Mit dieser Ansicht wich er von der, welche in seiner Schule allge-
mein vertreten wurde, ab und kehrte nur mit ihrem Begründer überein-
stimmend zu der Anschauung des Anaxagoras und Democrit zurück. — Ebenso
wie uns die anderen alten Auffassungen über die Natur der Kometen in der
Neuzeit vor Dörfel und Newton noch bei Galilaei, Tycho de Brahe und
anderen begegnen, treffen wir auch die Ansicht des Anaxagoras, Demoerit
und Panätius bei Milichius wieder; vgl. Mädler, Astron. S. 302 Anm. 5.
*) Auch hier weicht er sowohl in der Angabe der Reihenfolge als auch
der der Abstände von der Schule ab; denn diese rechnete die Venus zu den
äusseren und nicht zu den inneren Planeten (vgl. Zeller, Philos. ἃ. Gr. IIla
S. 187°), und in den hier leider nur angedeuteten Entfernungen verrät er
deutlich den Einfluss der grossen griechischen Astronomen. Denn die un-
endliche Entfernung der Fixsterne in Bezug auf unsere Wahrnehmung hatte
zuerst Aristarch von Samos angedeutet.
2 Sg
pflegt habe‘). Auch aus der Geographie liegt nur eine Nachricht
‚vor, die Erklärung der Bewohnbarkeit der heissen Zone, die viel
umstritten war?).
Zahlreicher sind die Nachrichten aus dem philologisch-histo-
rischen Gebiete, doch sind auch sie nicht hinreichend, um uns
sichere und klare Ergebnisse zu liefern®). — Demetrius von
Phaleron hatte ein Werk über Sokrates geschrieben und darin
den Nachweis zu führen gesucht, dass sowohl der bekannte
Aristides als auch Sokrates nicht arm gewesen seien. Für seine
Behauptung in Bezug auf Aristides hatte er sich auf drei That-
sachen berufen: Auf seine Verwaltung des Archontats, seine
Verbannung durch den Ostracismus und auf die noch zu Plu-
tarchs Zeit erhaltenen Weihgeschenke, welche er aus Veranlas-
sung. seines Sieges in der Choregie im Tempel des Dionysos
aufgestellt und mit der Inschrift versehen hatte: Ἡντιοχὶς ἐνίκα "
Aguoreiöns ἐχωρήγει" ᾿ἀρχέστρατος ἐδίδασχε. Gegen den letzten
Grund führt Plutarch die schlagenden Gegenbeweise des Panä-
tius an: Demetrius habe sich durch die Gleichnamigkeit täuschen
lassen, diese Weihgeschenke dem berühmten Aristides, des Lysi-
machos Sohn, zuzusprechen. _Von den Perserkriegen bis zum
Ende des peloponesischen Krieges gebe es nämlich nur zwei
siegreiche Chorführer dieses Namens, von denen jedoch keiner
mit jenem identisch sei... Der eine von ihnen sei der Sohn des
Xenophilos, der andere jedenfalls viel jünger, wie das Euklidische
Alphabet der Inschrift und der Name des Chorlehrers bewiesen.
Denn in den Perserkriegen sei ein Chorführer Archestratus ganz
unbekannt, in dem peloponesischen Kriege aber oft erwähnt. —
In derselben Schrift über Sokrates hatte Demetrius auch erzählt,
dass Sokrates mit der Nichte des berühmten Aristides, der Dich-
terin Myrto, in Bigamie gelebt habe. Ebendasselbe hatten auch
Hieronymus, Aristoxenus und andere berichtet. Plutarch weist
diesen Klatsch kurzweg zurück: ἱκανῶς 6 Παναίτιος Ev ποῖς Προ
Zwxgdrovg ἀντείρηκεν). Da die beiden falschen Berichte des
!) Cie. de rep. I 10, 15; übrigens bezieht sich diese Nachricht auch wohl
auf seine Beschäftigung mit der Astronomie. 4
3) Achilles Tat. Isag. in Arat. Phaen. in Petav. Uranol. p. 96; v. Lynden
ἡ ὯΝ ως Thätigkeit des Panätius handelt Hirzel, Unter-
suchungen II S. 359 ff. ausführlich.
Ὁ Im Leben des Aristides c. 1 u. 27.
u
Demetrius in seiner Schrift über Sokrates standen und beide den
Sokrates, sei es direkt oder indirekt, berühren, so dürfen wir
schliessen, dass auch die beiden Nachrichten, welche Plutarch
aus Panätius zur Widerlegung anführt, aus ein und derselben
Schrift des Panätius genommen sind, also aus den Büchern
»Über Sokrates«, wie die eben angeführte Stelle beweist. Aus
demselben Werke schöpfen demnach auch Athenäus (XII 556 B),
welcher dasselbe über die Bigamie des Sokrates berichtet wie
Plutarch, und der Scholiast des Aristophanes (Ran. 1491), wel-
cher noch hinzufügt, dass nach Panätius jene Angabe und dem-
gemäss auch die bezügliche Verspottung des Sokrates bei Aristo-
phanes nicht dem berühmten Philosophen, sondern dem Dichter
gleichen Namens gegolten habe!).
Derselbe Demetrius hatte ferner auch Plato als Stilisten be-
handelt und sehr abfällig beurteilt. Es herrschte nämlich ein
Streit über die Frage, ob die Beredsamkeit Platos oder die des
Demosthenes den Vorzug verdiene. Je nach dem Standpunkte
wurde diese Frage verschieden beantwortet. Die Peripatetiker
und -unter ihnen Demetrius tadelten die dichterische Natur der
Platonischen Rede und die Nachahmung Homers?); seine An-
hänger dagegen lobten an seinem Stile gerade das, was jene
tadelten und stellten Plato entschieden über Demosthenes?).
Ebenso wurde auch sein Leben von derselben Partei im Gegen-
satze zu den Verehrern des Philosophen vielfach mit! grosser Ge-
hässigkeit, wie bekanntlich von Aristoxenes, behandelt. Panätius
gehörte nun jedenfalls zu den Bewunderern Platos; von allem
anderen abgesehen, geht dies aus dem Urteil hervor, das Cicero
aufbewahrt hat Tusc. I 32, 79: ceredamus igitur Panaetio a Pla-
tone suo dissentienti? quem enim omnibus locis divinum, quem
sapientissimum, quem sanctissimum, quem Homerum philosophorum
appellat etsq. Sein Urteil über Demosthenes dagegen lautete®):
3
') Diese Erklärung ist zweifellos falsch; übrigens vgl. Hirzel, Unters. I
2355 A.1; v. Wilamowitz-Möllendorff, Hermes XIV S. 187. Susemihl, griech.-
alex. Litt.-Gesch. II c. 28. A. 59. 3
?) Dionys. v. Hal. ep. ad Cn. Pomp. p. 27 u. 30, vgl. p. 28 ed. A. Mai.
Manche gingen dabei bis zur Gehässigkeit vor, z. B. Zoilos; vgl. Dionys.
ἢ. 8519 0) 29.
ὅ Vgl. die beiden vorhergehenden Anmerkungen.
*) Plutarch, Demosth. e. 13.
Ι
LS)
29
[9 757 προς
Wenn er mit seiner hohen Redegabe die entsprechende persön-
liche Tüchtigkeit und eine stets gleich reine Handlungsweise
verbunden hätte, würde er nicht mit den Rednern seiner Zeit,
sondern mit Cimon, Thucydides und Pericles verglichen werden
müssen. Dies Urteil bezieht sich nicht bloss auf die Beredsam-
keit desselben, sondern auch auf seinen Charakter. Vergleichen
wir dieses mit dem, welches wir von ihm vorher über Plato
gehört haben, so kann es keinen Augenblick zweifelhaft sein,
dass er Plato in Bezug auf seinen Charakter und seine Geistes-
grösse jedenfalls höher als Demosthenes stellte. Wie nahe er
ihn andererseits ihm rückte, zeigen die Worte, mit denen er in
demselben Zusammenhange seinen Standpunkt kennzeichnet: er
spreche stets ὡς μόνου τοῦ καλοῦ di αὑτὸ aigerod ὄντος; denn
diese beweisen, dass er ihn, sei es direkt oder indirekt, für einen
Schüler Platos ansah, wie es vielfach geschah ἢ).
Ähnlich ist nun auch sein Urteil über seine Beredsamkeit.
Seine hohe Anerkennung derselben spricht sich schon darin aus,
dass er sie mit der des Pericles, Cimon und Thucydides ver-
gleicht; andererseits aber lässt sich nicht verkennen, dass er
auch in dieser Beziehung Plato noch höher stellte. Schon Hirzel
hat dies unter Hinweis auf zwei Stellen Ciceros und eben so viele
des Dionysius von Halicarnass?) vermutet; diese Vermutung wird
durch andere Stellen vollauf bestätigt. Dionysius verteidigt näm-
lich in seinem Briefe an Cn. Pompeius sein früheres Urteil, das
die Beredsamkeit des Demosthenes entschieden höher stellte als
die des Plato, und führt aus, dass sich eigentlich ein Vergleich
schwer ziehen lasse, weil bei beiden verschiedene Stilarten vor-
lägen. Da hier also Dionysius bei seinem früheren Urteile ver-
harrt, so dürfen wir schliessen, dass »die in Bezug auf die Rede
halbvollendeten Beurteiler«, wie er an der früheren Stelle die
Kritiker genannt hatte, welche der Beredsamkeit Platos den Vor-
zug gaben, eben die Stilart Platos höher als die des Demosthenes
stellten. Wenden wir uns jetzt zu Cicero! De off. I 37, 132 ff.
unterscheidet er zwei Arten des Stils, die contentio und den
sermo; jene weist er den Volksversammlungen, Gerichts- und
1) Plutarch. Demosth. e. 5; Cie. orat. 4, 15; Brut. 31, 121; Quintil. XII
2 ἃ.
2) Unters. II 377 f£.: Cie. de off. I 29, 104; 37, 134; Dionys. de compos.
verb. p. 100; π. τ. Aszr. Anuoodev. dswor. c. 28.
Senatsverhandlungen zu, diesen allen Arten des geselligen und
wissenschaftlichen Verkehrs. Nur auf den letzteren geht er ge-
nauer ein. Ist dieses schon an sich auffallend, so ist es noch
sonderbarer, dass Cicero zur Empfehlung desselben das Beispiel
bringt, Caesar — der Oheim des Catulus — habe durch ihn
selbst die contentiones der Redner auf dem Forum besiegt:
Dieses Beispiel steht im Widerspruche mit der vorhergehenden
Erörterung, denn es beweist, dass der sermo selbst auf dem
Forum, wohin doch die contentiones gehören, besser als diese
sind. Was nun. dieses Beispiel lehrt, das spricht Cicero an einer
späteren Stelle mit voller Klarheit aus und zwar ganz unleugbar
nach Panätius. Im zweiten Buche nämlich eitiert er unter voller
Zustimmung die Briefe Philipps an Alexander, Antipaters an
Cassander und die des Antigonus an seinen Sohn Philipp, in
welchen diese höchst ‚gewichtigen Gewährsmänner geraten hatten
vor dem Volke und dem Heere den sermo anzuwenden!). Daraus
folgt, dass Panätius, sich auf die ‚Zeugnisse. dieser Männer
stützend, offenbar dem sermo den Vorzug vor der anderen Stil-
art gegeben hat°).; Nun empfiehlt er als Muster: dieser- Stilart
die Schriften der Sokratiker?): Also hat er in der 'That den Stil
Platos und der übrigen Sokratiker nicht nur für die Philosophie,
sondern auch für alle Verhältnisse als massgebend angesehen.
Unter diesen ‚Umständen ergiebt sich der Schluss von selbst,
dass er bei aller Anerkennung der Beredsamkeit des Demosthenes
den Plato auch in dieser Beziehung noch höher geschätzt hat‘).
Dieser Streit über den Vorzug der Beredsamkeit des Plato oder
Demosthenes wogte selbst noch in späterer Zeit, wie wir aus
dem Briefwechsel des Dionysius ersehen: Pompeius, der Freund
des Posidonius und Plato, hat sich offenbar verletzt gefühlt
durch das Urteil des Gegners Dionysius und dementsprechend
geantwortet. Infolge dessen richtet dieser einen Brief an ihn,
verteidigt zwar darin sein früheres Urteil, sucht aber Plato auf
') e. 14, 48. Cicero fügt demnach das Wenige, was er über die conten-
tiones sagt, aus eigenem Interesse hinzu; vgl. 5. 44 Anm. 2.
5) Bestätigt wird dies auch durch die Thatsache, dass seine besten Freunde
in Rom dieselbe Überzeugung hegten und öffentlich durchführten; Cie. de
orat. I 60, 255. :
2). Cie; 08. 1 371,134.
*) Plato galt ihm .offenbar als der von keinem Schüler übertroffene
Meister; ähnlich lautet das Urteil des Charmadas Cie. de orat. I 20, 89.
m
jede Weise zu erheben. Auch Cicero bezeugt das Gleiche, wenn
er vermittelnd schreibt, er glaube, dass Plato ebenso wie De-
mosthenes würde gesprochen haben, wenn er Volksredner hätte
sein wollen, und umgekehrt Demosthenes wie Plato, hätte er
philosophische Schriften verfasst). Wenn wir nun bedenken,
dass selbst diese ferner stehenden Männer noch hierüber stritten,
dass. Plato von Demetrius deswegen arg mitgenommen und dass
sogar sein Leben und sein Charakter von derselben Partei, der
auch Demetrius angehörte, zum Teil mit schamloser Gehässigkeit
behandelt war, so muss es als zweifellos erscheinen, dass auch
Panätius den über alles verehrten Meister nicht weniger wie den
Sokrates gegen die Gegner verteidigt hat. — In diesen Streit über
die litterarischen Leistungen Platos wird nun jedenfalls auch die
Nachricht gehören, die Diogenes im Leben Platos (Ill 37) aus
Panätius .bringt, der Anfang der Platonischen Politeia sei mit
vielen Verbesserungen von Platos Hand bedeckt aufgefunden
worden?). Diogenes berichtet ferner im Leben des Äschines und
Aristippus das Urteil des Panätius über die Echtheit oder Un-
echtheit der Schriften der Sokratiker. Panätius erklärte danach
für echt die Werke des Plato°), Xenophon, Antisthenes, Äschines
und Aristippus®), schwankte in betreff derer des Phädon°) und
1) Cic. de off. I1, 4.
2) Zu dieser Vermutung führt uns Diogenes, wenn er unmittelbar vor
der Nachricht des Panätius schreibt: φησὶ δ᾽ ᾿Αριστοτέλης τὴν τῶν λόγων ἰδέαν
αὐτοῦ (sc. Πλάτωνος) μεταξὺ ποιήματος εἶναν χαὶ πεζοῦ λόγου.
38) Späte Gewährsmänner berichten, dass Panätius den Platonischen
Dialog Phädon als unecht verworfen habe. Zeller, Phil. d. Gr. III S. 561, 1?
führt diese Nachricht auf ein Missverständnis (vgl. A. 3) zurück; Hirzel da-
gegen verteidigt sie Unters. I 5. 232 ff. unter Zustimmung von Chiappelli,
Panezio di Rodi e il suo giudizio sulla autentieitä del Fedone Rom 1882 u.
Ancora sopra Panezio di Rodi ete.; vgl. Heinze in Bursians Jahresberichten
1887, I S. 55£. Mir scheinen Zellers Gründe noch nicht völlig widerlegt zu
sein und die Worte Ciceros Tuse. I 32, 79: eredamus igitur Panaetio a Platone
suo dissentienti? ... huius hane unam sententiam (se. de immortalitate anı-
morum) non probat, zu beweisen, dass Panätius mit Bewusstsein in diesem
Punkte von Plato abwich, also keinen Grund hatte, den Phädon zu ver-
leugnen. Unmöglich ist es indess nicht. a
Ὁ II 64 u. 85. Zu der letzten Stelle vgl. Nietzsche, Rh. Mus. XXI\
S. 187; Hirzel, Unters. II 360 ff., 363,1; dagegen Susemihl, Jahns Jahrb. f.
Phil. u. Päd. LXXI S. 704 f. griech.-alex. Litt. Gesch. II e. 28 A. 58; Zeller
2.2.0. Ha 5. 5441. rer
5) Zum Teil wohl mit Unrecht, vgl. v.Wilamowitz-Möllendorff, Hermes XIV
S. 187 8.
i&
-- 236 --
Euclides und verwarf die der übrigen. Diogenes leitet diese
Angabe mit den Worten ein (II 64): πάντων ... τῶν Σωχρα-
τικῶν διαλόγων Παναίτιος ἀληϑεῖς Eivaı δοκεῖ xrA. Bedenken
wir nun, dass Panätius den Plato sowohl in Bezug auf seine
litterarischen Leistungen wie seine sonstigen Vorzüge jedenfalls
eingehend verteidigt hat, wie wir vorhin gesehen haben, so
dürfen wir schliessen, dass es in dem Werke geschehen ist, aus
dem die soeben gehörte Nachricht des Diogenes über die Schrift-
stellerei der Sokratiker stammte. Erwägen wir ferner, dass die
Verteidigung Platos sich auch auf seinen Charakter und sein
Leben bezog, und dass Panätius ebenso auch den Charakter
und das Leben des Sokrates gegen die Gegner der Platonischen
Richtung verteidigt hat, so werden wir mit der Vermutung nicht
irre gehen, dass die Bücher zegi Σωχράτους nur ein Teil des
Werkes waren, in dem Panätius das Leben und die Leistungen
der Sokratischen Schule klar legte und verteidigte. — Von hier
aus wenden wir uns noch einmal kurz zu Plutarch zurück.
Wenn unsere Vermutung richtig ist, entlehnte Plutarch das Ur-
teil des Panätius über Demosthenes demselben Werke, das er
in dem Leben des Aristides vor sich hatte. Hierin liegt auch
gewiss nichts Auffallendes; denn das Nächstliegende ist es jeden-
falls, dass Plutarch nur aus einem Werke des Panätius, und
zwar aus einem geschichtlichen, seine Nachrichten schöpfte.
Hierzu scheint auch die letzte Nachricht zu stimmen, die er aus
Panätius genommen hat. Im Leben des Cimon (ec. 4) teilt er
nämlich mit, Panätius habe die Elegien an Cimon zum Troste
bei dem Tode seiner Gattin Isodike dem Physiker Archelaus zu-
gesprochen. Über diesen Archelaus hatte jedenfalls auch Deme-
trius in seinem Werke über Sokrates gesprochen!). Erinnern
wir uns nun des Verhältnisses, in dem das Werk des Panätius
über Sokrates zu dem gleichnamigen des Demetrius stand, so
kann die Vermutung nicht als gewagt erscheinen, die wir soeben
ausgesprochen haben, dass auch diese Nachricht aus dem ge-
nannten Werke des Panätius über Sokrates und die Sokratiker
entlehnt ist?). Dieses Werk war demnach biographisch-kritischen
Inhalts.
!) Vgl. Diog. II 16 ff. mit ebds. IX 15; 37; 57.
5) Dementsprechend ist S. 9 der Titel angesetzt.
εὖ
-- 237 —
Diogenes bringt nun im Leben des Aristipp einen Bericht
über die Lehre dieses Philosophen aus dem Werke des Panätius
περὶ αἱρέσεων. Es kann daher die Frage entstehen, ob das vor-
her besprochene Werk des Panätius nur ein Teil dieses letzteren
oder ob dieses ein eigenes gewesen ist!). Unmöglich ist jenes
nicht, doch das letztere wahrscheinlich: Bei einem Werke über
die Schulen der Philosophen denken wir naturgemäss in erster
_ Reihe an eine Darstellung der philosophischen Lehren, und dazu
stimmt auch .das einzige Citat aus dieser Schrift: während alles.
was wir über das vorher behandelte Werk des Panätius gehört
haben, gegen einen solchen Inhalt spricht. Nach Lage der Be-
richte werden wir also beide Werke für verschieden halten
müssen. Auf seine Auffassung der Geschichte der Philosophie
selbst werden wir später zurückkommen‘).
Was schliesslich die Kulturgeschichte betrifft, so hat er auch
_ diese behandelt; doch sind die Nachrichten aus ihr viel zu dürftig,
als dass wir daraus seinen Standpunkt klar erkennen könnten.
Da er die Ewigkeit der Welt und des Menschengeschlechts an-
nahm, musste er mit den Peripatetikern lehren, dass die Men-
schen von Zeit zu Zeit durch grosse Erdrevolutionen in den Ur-
zustand zurückgeworfen würden. Ob nun die Entwickelung
eines neuen Menschengeschlechis von den wenigen Individuen,
welche bei einer solchen Katastrophe übrig bleiben, ihren Ur-
sprung nimmt, oder von solchen, welche nach der Ekpyrosis
wieder entstehen, ist zwar an sich sehr verschieden, aber für
den Gang der Entwickelung selbst von untergeordneter Bedeu-
tung. Zweifach ist nun von jeher diese Entwickelung aufgefasst
worden: Die einen stellen ein glückliches, wenn auch dürftiges,
die anderen ein elendes Leben an den Anfang. Zu den letzteren
scheint Panätius gehört zu haben; denn er lehrt, dass die Men-
schen recht- und gesetzlos nach Art der Tiere umher irrten und
auch in der Lebensweise und der Nahrung sich nicht viel von
diesen unterschieden. Alle Verbesserungen seien erst später mit
der Entwickelung des Ackerbaus und des staatlichen Lebens ge-
_ kommen°). Unbestimmt ist es auch, ob er die Entwickelungs-
τὴ Vgl. v. Lynden p. 114. , Ὶ
2) In welchem Zusammenhange die Nachricht Diog. VII 163 gestanden
hat, entzieht sich einer bestimmten Vermutung. Ὁ | a
5) Cie. de off. Π 3,13 — 4,15. Vgl. auch Polyb. VI5, 4fl. u. dazu S. 64#f,
-- 23 ---
geschichte in einem eigenen oder in verschiedenen Werken bei
gegebener Gelegenheit niedergelegt hat. Für die letztere Annahme
spricht die Thatsache, dass er sowohl in seiner Pflichtenlehre
hierzu Veranlassung nahm, als auch seine Darstellung der Politik
mit der Entwickelung des Menschengeschlechts begann. Beden-
ken wir noch, dass er auch die Volksreligion vom Standpunkte der
geschichtlichen Entwickelung betrachtete, so sehen wir, welchen
grossen Wert er auf die Entwickelungsgeschichte gelegt hat.
Β, Posidonius,
Einleitung.
Die Philosophie ist die Wissenschaft der göttlichen und mensch-
lichen Dinge!). Je nachdem sie sich mehr auf die wissenschaft-
liche Betrachtung oder auf die Thätigkeit bezieht, ist sie vor-
wiegend spekulativ oder praktisch’). Sie zerfällt in drei Teile,
Ethik, Physik und Logik. Den innern Zusammenhang und seine
eigene Wertschätzung derselben giebt Posidonius darin zu erkennen,
dass er das philosophische Lehrgebäude einem lebenden Wesen
vergleicht und zwar die Physik dem Fleische, die Logik den Knochen
und Nerven, die Ethik der Seele gleichsetz. Denn wie beim
Körper kein Teil ohne den anderen bestehen kann, gleichwohl
aber einen verschiedenen Wert besitzt, ebenso sind auch in der
Philosophie alle drei Teile notwendig, doch ist die Ethik der vor-
nehmste derselben®). In diesem Werturteil über die einzelnen
Teile ist jedoch noch nicht ihr Abhängigkeitsverhältnis angegeben.
Hierfür gilt vielmehr ganz dasselbe, was bei Panätius gesagt
worden ist. Demgemäss müssen wir auch hier, wie er es selbst
gethan hat, mit der Physik beginnen‘).
ἢ) Sext. Emp. adv. phys. I 13 u. 125. Cie. off. I 43,153.
5) Seneca ep. 95,9 ff.; vgl. mit ebds. $$ 34 und 65 und Cie. de off. I 43, 153 ff.
8) Sext. Emp. adv. log. I 19. Diog. VII 39ff. Seneca ep. 89,9 fi.
#) Diog. VII 41. Sext. a. a. O. 8 20£.
= le
Kap. 1.
Physik.
$ 1. Die letzten Gründe.
Die Physik zerfällt ihrem Inhalte nach in die Lehre vom
Körperlichen und Unkörperlichen'!), doch nimmt die erstere den
weitaus grössten Umfang ein; denn der oberste Grundsatz der
stoischen Physik, dass nur das Körperliche wirklich ist, gilt in
gleicher Weise für Posidonius wie für die anderen Vertreter der
Schule. Ebenso weist er natürlich auch die rein mechanische
Welterklärung zurück: Das Urwesen ist Materie und Geist zu-
gleich und als solches ein feines, feuriges Pneuma°). Dieses ist
ewig und unvergänglich und weder der Vermehrung noch der
Verminderung fähig, da nie etwas in nichts übergehen kann’).
Es ist ganz Aktualität, Leben und Vernunft mit ureigener freier
Bewegung) und daher auch ganz Gottheit, ohne bestimmte Form
und Qualität, doch thatsächlich nie ohne dieselbe’). Denn die
innewohnende Bewegung ist der Grund für die Veränderung
(ἀλλοίωσις), deren -sie ihrer Natur nach nur einer Art fähig
ist, nämlich der Verdichtung. Infolge derselben verwandelt®) sie
sich zum Teil und führt so den Unterschied zwischen Geist
(οὐσία) und Materie (ὕλη) im gewöhnlichen Sinne berbei. Jener
hat die ursprüngliche Natur bewahrt und ist daher das wirkende
Prineip; diese dagegen ist infolge der Verdichtung eine qualitätslose
Masse und kann sich nur leidend verhalten. Die erstere durch-
dringt nun die letztere”) und durch ihre Einwirkung entstehen
!) Seneca ep. 89,16. Über Posidonius als Quelle von Seneca ep. 87--95
wird anderwärts gehandelt werden. 2
2) Stob. 661. I p. 34,26 ff. W.= Diels dox. gr. p- 302b,22. Über die
Göttlichkeit des Urpneumas wie überhaupt über die Notwendigkeit eine
Gottheit anzunehmen vgl. die Abhandlungen Sext. Emp. adv. phys. 1$ 60 ff.
Cie. deor. nat. II 2,4 ff.; vgl. T. I, Kap. 4.
3) Diog. VII 134; Stob. ecl. I p- 177.21 #.W. Diels dox. gr. p. 462, 14f.
u. 20f. Hierfür werden sich im folgenden noch weitere Beweise ergeben.
%) Cie. D.N. II 11,31; 9,23; 16,43 8. Sext. Emp. adv. phys. I 76.
5) Stob. ecl. I p. 133,8 ff. W. Diels dox. gr- p- 458,8 ff.
6) Stob. ecl. I p. 178,7 ff. Diels dox. gr. Ρ. 462, 17 ff.
_ #) Stob. 66]. I p. 34,26 ff. Diels dox. gr. p. 302b, 22 ff.
Sext. Emp. adv. phys. I 76.
Diog. VII 134.
Ἴ
— 240 ---
je nach der steigenden Verdichtung oder Verdünnung die vier
Elemente, Erde, Wasser, Luft und das elementarische oder
künstlerische Feuer, welches zu der ursprünglichen Natur des
Pneumas wieder zurückkehrt. Jedem dieser Elemente wohnt
im allgemeinen eine besondere Eigenschaft inne: dem Feuer die
Wärme, der Luft die Kälte, dem Wasser die Feuchtigkeit und
der Erde die Trockenheit!). Infolge der Verbindung, welche
diese mit einander eingehen, entstehen, vergehen und verändern
sich alle Einzelwesen (τὰ ἰδίως ποια)ὺὴ, und zwar auf dreifache
Art: durch Zusammensetzung (σύγχυσις), Trennung (διαίρεσις) und
Verschmelzung (ἀνάλυσις). Die letztere schliesst ausser den vor-
hergenannten Arten der Veränderung auch die Verwandlung
(ἀλλοίωσις) des jedem Einzelwesen immanenten Pneumas ein°),
Ist nun nur das Stoffliche wirklich, so wäre folgerecht auch
das Unstoffliche nicht wirklich; diese Folgerung gilt jedoch nicht
unbedingt, sondern neben jenen stofflichen Principien stehen noch
mehrere unstoffliche, welchen gleichwohl ein Sein zugeschrieben
wird, nämlich das sogenannte Asxzov, der Raum, das Leere und
die Zeit, Die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks (Aex10»)
deckt sich ganz weder mit dem vorgestellten Dinge noch mit der
Vorstellung, sondern steht zwischen beiden in der Mitte. Beide
bezeichnen nämlich etwas Einzelnes, Konkretes, der sprachliche
Ausdruck aber Allgemeines, Als solcher entbehrt er der realen
Existenz?). Der Raum ferner ist die einfache Ausdehnung und
darum unkörperlich; in ihm ist als seine Erfüllung der Stoff. Er
ist nicht unendlich, sondern nur so gross als die Raumerfüllung
es mit sich bringt; doch ist seine Ausdehnung fast unendlich.
Während der Zeit der Weltbildung ist ein Teil desselben ausser-
halb der Welt vollkommen leer; dieses Leere ist darum natürlich
unkörperlich®). Die Zeit schliesslich ist die Ausdehnung der
Bewegung oder auch mit anderen Worten das Mass der Geschwin-
1) Plutarch. de primo frigid. p. 951 F. Diog. VII 136f. Cie. deor. nat.
II 10, 26 ft. |
?) Stob, 661. I p. 177,21ff. Diels dox. gr. p. 462,13 ff.
35) Stob. eel. I p. 139,7 ff. Diels dox. gr. p. 457, 15ff.: zei τὸ μὲν αἴτιον
ὃν χαὶ σῶμα, od δ᾽ αἴτιον, οὔτε ὃν οὔτε σῶμα, ἀλλὰ συμβεβηκὸς χαὶ χατηγόρημα.
Das letztere gehört zum λεχτόν, also δύ dies auch nach Posidonius οὔτε ὃν
οὔτε σῶμα. Über das stoische λεχτόν 5. Sext. Empir. P. H. U 81 ΗΕ. Diog.
VII 63. Zeller, Philos. d. Gr. IIIa, S. 86.
Ὁ) Plaeit. phil. II 9, 3. Stob. eel. I 160,13 ff. Diels dox. gr. p. 338, 19 #,
ἢ
{
2 ος-.
digkeit. Ebenso wie die Gottheit und ihre freie Bewegung ist
sie ewig sowohl in Bezug auf die Vergangenheit wie die Zukunft,
Der Schnittpunkt beider ist die Gegenwart!).
δ 2. Die Welt.
Ihrem Dichtigkeitsverhältnis entsprechend lagern sich die
Elemente; zu unterst die Erde, um sie das Wasser, dann folgt
die Luft und zuletzt das Feuer oder der Äther, der, je weiter er
von der Erde entfernt ist, um so reiner und göttlicher wird’).
Er ist dem Urpneuma wesensgleich, und namentlich gilt dies von
der äussersten Sphäre desselben. Auf seinem Durchdringen der
Elemente beruht alles Gestalten. Dieses Durchdringen findet regel-
mässig statt; denn unaufhörlich verdichtet sich ein Teil des Äthers
in Luft und diese zu Wasser und Erde, und umgekehrt wieder
verwandelt sich Erde in Wasser, dieses in Luft, um sich schliess-
lich wieder in Äther zu verflüchtigen. Wenn.nun auch im allge-
meinen dieser Übergang der Elemente in einander fast vollkom-
men gleich ist, so übertrifft doch die aufsteigende Umwandlung die
absteigende um 'einen freilich nur sehr ‚geringen Bruchteil, so
dass schliesslich alle Elemente wieder in Feuer aufgelöst sind,
um alsdann von neuem die Welt in gleicher Weise wie zuvor zu
gestalten?). Da demnach im Grunde alles nur eine Modifikation
des göttlichen Urpneumas ist und ferner der Äther oder, was ja
dasselbe ist, die Gottheit die Elemente unaufhörlich durchdringt
und alles Gestalten dadurch hervorruft, so ist die Welt notwendig
nicht nur fortwährend von göttlicher Vorsehung verwaltet‘),
sondern auch selbst ein lebendes, vernünftiges und denkendes
ee Fu
1) Stob. ecl. Ip. 105,20f. Diels dox. gr. p. 461, 15.
3) Dies wird im folgenden näher ausgeführt werden.
3) Cie. deor. nat. II 46,118; Diog. VII 142; Zeller, Philos. ἃ, Gr. Illa.
S. 575. ‚Wie gross der Zeitraum dieses Prozesses ist, lässt sich mit Bestimmt-
heit nicht angeben. Nach Cie. de div. 119, 36 scheint Posidonius denen zu-
gestimmt zu haben, welche das Alter der Astrologie auf 470 000 Jahre be-
rechneten. Danach dürfte er in der Berechnung jenes Zeitraumes (Cie.
deor. nat. II 20,51) mehr dem Diogenes v. Babylon, der es auf 365 Sonnen-
jahre Heraclits, also auf 365 . 18 000 J. (Diels dox. gr. p. 364) schätzte, als
Plato, der: es nur rund auf 10000 Jahre angab, zugestimmt haben. Von
Cleomedes erfahren wir hierüber nichts Genaueres; vgl. auch den folgenden
Paragraphen.
#) Diog. VII 138; 149.
Schmekel, mittlere Stoa. 16
=. ΞΞ
Wesen, das alles aufs beste einrichtet und regiert!). Sie hat
daher auch die vollkommenste Gestalt, die der Kugel?).
Nach der Verschiedenheit, mit der sie in ihrem weiteren Ge-
stalten in den verschiedensten Gebieten auftritt, entstehen die
verschiedenen Arten von Wesen, zunächst die Himmelskörper im
Äther. Sie sind gleichen Wesens wie ihre Umgebung und daher
ätherische lebende Wesen), doch so, dass ihre Natur um so pneu-
matischer ist, je mehr sie von der Erde entfernt sind. Der Mond,
welcher sich am meisten von allen den niederen Sphären nähert,
ist deshalb schon aus ätherischem Feuer und Luft gemischt. Er
nimmt daher die Ausdünstungen (ἀναϑυμίασις) der Erde und der
süssen Gewässer auf, während die übrigen Gestirne sich von denen
der Meere nähren*). Die äusserste Sphäre des Fixsternhimmels
bewahrt dagegen die feurige Natur am reinsten und ist deshalb
auch der eigentlich leitende Teil der Weltseele (ἡγεμονικόν) ).
Alle Gestirne haben gleichwie die Welt selbst die Kugelgestalt
und ihrer Natur gemäss auch stets die vollkommenste Bewegung,
die kreisförmige®).
In gleicher Weise wie der Äther ist auch der Luftraum von
lebenden und göttlichen Wesen erfüllt”). Auf der anderen Seite
stehen dagegen die Pflanzen, Tiere und Menschen. Am niedrigsten
erscheint das Leben der Pflanzen, höher steht das Tier; in der
Seele des Menschen aber tritt die göttliche Natur wieder in ihrer
Reinheit hervor und so nimmt der Mensch eine Zwischenstellung
zwischen den höheren geistigen Wesen und den Tieren ein?).
1) Diog. VII 142; Cie. a. a. O. II 17,47 £f.; 22,58 ff.
2) Diog. VII 140, 144. Strabo II 94. Cie. ἃ. ἃ. O.II 17,47 ff.; 19,49. Dies
wurde von ihm gewiss nicht bloss aus allgemeinen Erwägungen, sondern auch
auf induktivem Wege erwiesen, indem er von der Kugelgestalt der Erde, die
er zunächst darthat, auf die der Luft, von dieser auf die des Äthers und so
fort auf die der Welt schloss, vgl. Cleom. cyel. theor. I ὁ, 8.
3) Achill. Tat. Isag. in Arat. Phaen. e.13. Cie. a. a. O. II 46,118; 15,
39f.; 21,54 ff. Sext. adv. phys. I 87.
2) Diog. VII 147; Cie. deor. nat. II 15,40 ff. über die Natur des Mondes;
vgl. auch Cleom. cyel. theor. II c. 4.
5) Diog. VII 139; Cie. deor. nat. Il 10,27; 11,29ff.; vgl. Sext. Emp. adv.
phys. I 119 ff.
6) Stob. ecl. I p. 206,19 f.W. Diels dox. gr. p. 466,18 ff. Achill. Tat.
Isag. in Arat. phaen. ce. 10.
*) Cie. div. 1 30, 64; hierüber wird später ausführlicher gehandelt werden.
8) Vgl. hierüber das folg. Kapitel.
-- 24 —
Da nun alle diese Wesen verschiedene Erscheinungsweisen des
Urwesens und somit nur Teile der Welt sind, so ist diese mit
Recht das System aus Himmel und Erde und allem, was darin ent-
halten ist. Mit Recht kann es daher auch nur eine Welt geben,
weil sie alles umfasst: Sie ist das ἰδίως ποιόν der Gottheit!).
Auf diesem Standpunkte kann natürlich nur von einem Gott
die Rede sein, nämlich von dem Urpneuma oder auch seiner Modi-
fikation, der Welt?). Näher jedoch ist im Gegensatze zu den nur
leidenden Elementen das feurige Pneuma des Äthers die alles
durchdringende, Leben und Bewusstsein seiende und bewirkende
Gottheit?). Während dieses nun gewissermassen die Gesamt-
gottheit ist, sind die Gestirne als Teile derselben Einzelgottheiten.
Zu ihnen gesellen sich auch noch die den Luftraum erfüllenden
Geister. Andere Gottheiten giebt es nicht; denn die gewöhnlich
<afür gehalten werden, sind nur durch Dichter und Staatsmänner
geschaffene Personifikationen einzelner Kräfte und Erscheinungs-
weisen der wirklichen Götter. So erklärten die Gesetzgeber alles,
was den Menschen nützlich ist, für göttliche Wesen, ob es nun
Dinge oder Personen oder Eigenschaften, wie die Tugenden,
waren; die Dichter dagegen machten in ihren Werken alle phy-
sischen Thätigkeiten der Götter zu Einzelwesen und erfüllten
dadurch die Welt mit Aberglauben‘).
1) Diog. VII 198, 140, 143.
3) Stob. 66]. I p. 133,18.W. Diels dox. gr. p. 458, 8; Diog. VII 148,
3) Diog. VII 134; Comm. Luce. Bern. IX 578.
#) Sext. Emp. adv. phys. I61ff. Von jeher war es bei den Stoikern Sitte,
in der Darstellung der Theologie die Abhandlung über das Dasein der Götter
mit der über die Beschaffenheit derselben zu verbinden. Dieses geschieht
auch bei Cicero in der ersten Hälfte des II. Buches de deor. nat. Wie nahe
diese beiden Fragen zusammenhängen, ist an sich klar; auch zeigt es Ciceros
direkte Angabe (e. 1,3) und seine Darstellung der Lehre. Diese beweist
zunächst das Dasein der Götter (e. 2,4— 16,44), dann die Beschaffenheit
derselben (e. 17,45— 28,72). Der letzte Abschnitt zerfällt noch in zwei
Teile c. 17,45— 23, 60m. und ὁ. 23, 60— 28, 72; denn die wahre Lehre wird
bereits $ 60 geschlossen. Der nachfolgende Abschnitt handelt über die
Volksreligion und gehört seinem Wesen nach zu beiden Abschnitten, wie
| auch $ 71 angedeutet ist: Er ist der negative Teil zu dem vorhergehenden.
Um so weniger also werden wir uns entschliessen, mit Hirzel für den Ab-
schnitt ο. 17,45— 28,72 eine neue Quelle anzunehmen (vgl. auch 5. 8 u.
.8. 9). Die Volksreligion wird hier nun auf zwei Quellen zurückgeführt:
$ 60-62 behandelt die Götter, welche durch die Staatsmänner (8 60: multae
16*
-- 24 —
$. 3. Das Fatum.
Wie in keinem lebenden Wesen eine Veränderung vor sich
gehen kann, ohne dass diese überall empfunden wird und wirkt,
ebenso ist es auch in dem grossen Weltwesen, dem Makrokosmus:
Die absolute Sympathie verbindet alle seine Teile unter einander).
Diese wird durch die unbedingte ursächliche Verknüpfung alles
Geschehens bewirkt, welche im Wesen der Gottheit begründet
und daher wie diese selbst ewig und unabänderlich ist. Alles,
was geschieht, geschieht daher auch nach ewiger und unabänder-
licher Bestimmung. Dies ist das Verhängnis (einaguevy h ein
durchaus natürliches Gesetz?). Sofern dieses Gesetz ım Wesen
der Gottheit gegründet ist, ist es der Wille der Gottheit und somit
gut. Das Verhängnis deckt sich also auch mit der Vorsehung?).
Geschieht nun alles nach ewiger und unabänderlicher Vorher-
bestimmung, wie ist alsdann ein Handeln der Menschen möglich,
das den Unterschied von Tugend und Laster hervorruft? Als
Teil der Allgottheit kann der Mensch naturgemäss mit dem
Wirken derselben nicht in Widerspruch geraten, sondern ihr
Wille und Thun muss auch sein Wille sein und seine volle Zu-
stimmung haben. Alles, was geschieht, muss daher auch für ihn
als solches gut sein. Insofern er nun ein Teil ist, ist sein
Handeln, wenn auch natürlich nicht im Widerspruche mit jenem,
so doch immerhin sein Handeln. Die äusseren Ereignisse, welche
demselben vorangehen, sind nur die veranlassende Ursache; die-
jenige Ursache, welche dieselbe zur bewirkenden macht, ist der
Wille des Menschen®). Da nun das Resultat des Handelns nur
das eine sein kann, was von Ewigkeit her bestimmt ist, so kann
auch auf der Handlung als solcher der Unterschied-von Tugend
autem aliae naturae deorum ... et a Graeciae sapientissimis et a maioribus
nostris constitutae nominataeque sunt), 8 63—72 die, welehe durch die
Dichter entstanden sind (vgl. $ 63 u. 8 70ff.). Beide Arten werden ver-
worfen; dass dabei die der Dichter schlechter wegkommen, ist ganz natür-
lich, weil Cicero die einheimischen Kulte weder offen verletzen wollte, noch
konnte.
') Sext. adv. phys. I 78—85. Cie. deor. nat. II.7, 19; de div. II 14, 33ff.
?) Diog. VII 149; Stob. ecl: I p. 78, 15ff. Diels dox. gr. p. 324. Cie.
de div. I 55, 125; de fato ὁ. 3 vgl. S. 166.
®) Cie. deor. nat. II 22, 58; 65, 162 ££.; vgl. S. 241 A. 4.
Ὁ Seneca ep. 87, 31.
— 5 —
und Laster nicht beruhen, sondern nur in der Zustimmung zu
dem göttlichen Geschehen!). Wäre nun das Vermögen des
Geistes nur rein Vernunft, so wäre Tugend und Laster überhaupt
unmöglich; denn alsdann würde der Geist naturgemäss stets mit
dem Willen der Gottheit übereinstimmen. Aber der Geist hat |
nicht nur ein vernünftiges Vermögen, sondern auch ein tierisches
der Triebe.- Dies letztere ist mit dem Körper aufs engste ver-
bunden und wird durch ihn aufs mannigfaltigste beeinflusst,
Die veranlassenden Ursachen wirken auf beide, auf beide natür-
lich in verschiedener Weise und hier hat nun die Vernunft die
Fähigkeit und die Pflicht, die widerstrebende Regung der Triebe
zu bezwingen und so ihre Freiheit zu bezeugen’).
- Αὐῇ der kausalen Verknüpfung alles Geschehens einerseits
und der Natur des menschlichen Geistes andererseits beruht ferner
auch die Möglichkeit aller Erfahrung. Denn da der menschliche
Geist als Teil der Gottheit gleichen Wesens wie jene ist, ist er
seiner Natur nach imstande durch Beobachtung jenes ursächliche
Walten der Gottheit zu erkennen und teilweise voraus zu be-
stimmen?). Dieses geschieht entweder durch die Wissenschaft
oder durch die Mantik. Jede Wissenschaft, welche es auch immer
sein möge, stützt sich auf die natürliche Beobachtung der Ereig-
nisse. Auf Grund derselben erkennt das Denken die Ursachen
und Wirkungen und kommt auf diese Weise dazu die Theorie
aufzustellen: Die Wissenschaft ist reines Produkt des mensch-
lichen Denkens, der menschlichen Erfahrung®). Die vollkommene
Wissenschaft würde also in der Erkenntnis aller ursächlichen
Verknüpfung bestehen. Wer diese besässe, würde damit auch
die Zukunft ihrem ganzen Verlaufe nach klar vor Augen haben.
Dieses ist aber für den Menschen nicht möglich, sondern nur für
die Gottheitd). Als Ersatz dafür, wenn auch nur in sehr be-
schränktem Mafse, dient dem Menschen die Mantik. Im wesent-
lichen ruht dieselbe, wie wir schon vorher sahen, auf der gleichen
τ ἢ Dies ist die gewöhnliche stoische Lehre, von der Posidonius nicht
abgewichen sein kann, wie die Konsequenz aller seiner Lehren beweist;
vgl. S. 166#.
2) Seneca ep. 113, 28. Über das Verhältnis der Vernunft zu den nie-
deren Vermögen wird später genauer gehandelt werden.
8) Cie. div. 1 55, 126 u. ὅ.
Ὁ Cie. 1.1. 49, 109 #.; 55, 126.
δ. Cie. 1.1. 56, 127.
Ἁ
--α-.
-- 24 ° —
Grundlage wie die Wissenschaft. Sie ist daher nicht etwa die
Vorherbestimmung des Zufälligen, sondern des Notwendigen und
fusst deshalb ebenso auf einer auf Erfahrung gegründeten Theorie
wie jene!); doch ist sowohl das Gebiet, wie auch die Weise der
Erfahrung von jener verschieden. Sie zerfällt in dieser Beziehung
in zwei Arten, die natürliche und die künstliche Mantik: Jene
umfasst die Traumdeutung ünd die Orakel, sowie alles Hellsehen im
Leben wie beim Nahen des Todes; diese die übrigen Arten, die
Vogelschau, die Blitz- und Eingeweidelehre, und die Astrologie.
Die zweite Art steht der Wissenschaft am nächsten, ja im Grunde
ist sie nichts anderes als Wissenschaft: Seit der Bildung der
Welt ist es von der Gottheit so eingerichtet, dass gewissen Er-
eignissen gewisse Zeichen vorausgehen. Wenn nun also auch der
ursächliche Zusammenhang durch jene nicht gegeben ist und
zuvor erkannt werden kann, so weisen dieselben doch bestimmt
auf die Ereignisse als solche hin. Durch die Beobachtung der
Zeichen wie der Ereignisse lässt sich nun ebenso wie in der
Wissenschaft eine sichere Theorie aufstellen, nur dass die Mantik
die Thatsachen als solche, die Wissenschaft den ursächlichen
Zusammenhang derselben zu lehren imstande ist. Die Zeichen
selbst aber gehen selbstverständlich auf natürlichem Wege vor
sich. Bei den Gestirnen sind diese durchaus regelmässig. Bei
dem Vogelflug und der Blitz- und Eingeweideschau lenkt die
Gottheit die Richtung des Fluges in bestimmter Weise oder ver-
ändert gewisse Teile des Körpers durch die bestimmten Arten
der Umbildung, wodurch sie ihre besondere Fürsorge für das
Menschengeschlecht kundthun. Doch geht dies keineswegs auf
wunderbarem Wege gegen das Verhängnis, sondern nur gemäss
dem Verhängnisse vor sich?). Die natürliche Mantik dagegen ent-
) Cie. 1.2.49, 109, 51,,116:756, 7127.
5) Cie. 1. 1. I 52, 118; II 15, 35. Wenn es an der ersten Stelle heisst:
parvis enim momentis multa natura aut adfingit aut mutat aut detrahit, so
sind dies offenbar die Arten der Veränderung, die wir bei Stob. 60]. I
p. 177, 21ff. = Diels, dox. gr. p. 462, 13ff. finden. Die Darstellung Ciceros
erweckt an beiden Stellen den Anschein, als ob die Sendung der Zeichen
auf der Willkür der Gottheit beruhe; dies ist jedoch durchaus falsch und un-
möglich; denn einmal giebt Posidonius in der Definition des Fatums an, dass
absolut alles von Ewigkeit her bestimmt sei; zweitens erklärt er die Mantik
für die Wissenschaft dessen, was nur für zufällig gehalten wird (ἃ. ἃ. Ο. 1 ὅ, 9),
und. drittens sagt er auch, dass die Zeichen von Ewigkeit her bestimmt seien,
fernt sich fast ganz von der Wissenschaft und beruht unmittel-
bar auf der Natur des Geistes. Im wachen Zustande erkennt
nämlich der Geist alles nur vermittelst der Sinne: im Traume
dagegen und allen ekstatischen Zuständen ist der Geist unab-
hängig von den Organen des Leibes und schaut vermöge seiner
Natur unmittelbar den Zusammenhang der Dinge, ohne ihn erst
auf dem Wege der Erfahrung erschliessen zu müssen. Dies ver-
mag er entweder unmittelbar aus seiner eigenen Kraft oder ver-
mittelst der ihm sonst nicht sichtbaren Geister des Luftraumes,
an denen er gewissermassen die Wahrheit ablesen kann; oder er
tritt auch mit der Gottheit selbst schon in Berührung, was oflen-
bar als höchster Grad_der Offenbarung hauptsächlich vor dem
"Tode geschieht‘). Auch diese Art der Mantik bedarf der Theorie
“zum Verständnisse der Träume und Gesichte, wenn auch in weit
geringerem Grade als die vorige. Umgekehrt stützt sich auch
jene ausser auf die Erfahrung auf die besondere Natur des Geistes,
Beide Arten unterscheiden sich nur dadurch, dass die künstliche
hauptsächlich auf der Erfahrung beruht und in zweiter Linie
erst auf der Natur des Geistes, wie er unabhängig von der Er- |
fahrung ist; die natürliche dagegen umgekehrt in erster Linie auf
der Natur des Geistes und daneben auf der Erfahrung. Genauer !
werden wir hierüber noch im nächsten Abschnitte handeln. So-
viel also steht fest, dass die Mantik einmal ihren Grund in dem
Verhängnisse hat, d. h. in dem ursächlich verknüpften, natur-
gemässen Handeln der Vorsehung, und zweitens in der Natur
des menschlichen Geistes, der jenes Geschehen beobachten und
verstehen lernen kann. Sind also viele Angaben der Mantik ver-
kehrt, so wird sie damit noch keineswegs selbst beseitigt, denn
irren kann jede Wissenschaft?). Eben darum, weil sie natur-
gemäss ist, sind auch ihre einzelnen Arten in den verschiedenen
Gegenden der verschiedenen Natur derselben entsprechend gefun-
den worden, z. B. die Astrologie in Babylonien, da dort die
weiten Ebenen selbst zu der Beobachtung des Himmels führten.
Ähnlich veranlasste in Arabien, Cilicien und Phrygien das Weiden
worüber wir im folgenden noch zu handeln haben. Cicero hatte allerdings
Grund dies zu verwischen.
3) Cie. 1. 1. I 51, 115ff., 30, 64.
2) Cie. 1. 1. I 14, 24ff.; 55, 124; 56, 128; deor. nat. II 4, 12.
ie ΞΞ
des Viehes die Beobachtung des Vogelfluges, und die häufigen
Himmelserscheinungen in Etrurien die Blitzlehre!).
Kap. 2.
Anthropologie.
$ 1. Wesen der Seele.
Das Mittelglied zwischen den Tieren und der Gottheit bildet der
Mensch ; doch gehört er seiner geistigen Natur nach zu der letzteren
und zwar in. solchem Grade, dass.er sich in dieser Beziehung von
jenen vollständig absondert. Zwischen den‘Menschen und Tieren
hat daher auch keine rechtliche Gemeinschaft statt?), wohl aber
zwischen den Menschen und Göttern, die ihren Ausdruck in der
Frömmigkeit findet?). Diese geistige Natur des Menschen ist seine
Seele. Ihrem Wesen nach ist sie ätherisches Pneuma*) und als solches
hat sie die gleiche Natur :wie die das Weltganze durchdringende
Gottheit°): Ebenso wie diese (durch die Welt dringt sie durch den
ganzen Körper, hält ihn zusammen, belebt und beseelt ihn ®). Ohne
sie ist der Leib nichts als Materie, nutzloses und faulendes Fleisch,
das nur geeignet ist Speise und Trank aufzunehmen’). 516. ist
also die Trägerin des Lebens®), der im Menschen wohnende Gott
(συγγενὴς δαίμων) ὃ). Dieselben Eigenschaften und Fähigkeiten
wie der Gottheit kommen daher auch ihr zu: Sie besitzt die
Kraft des Denkens und der Erinnerng. Beide befähigen sie zur-
») Cie. 1.1. 142,93. Dass Cicero hier nicht ganz selbständig arbeitet,
zeigt auch Favor. ἢ 6611. XIV 1,8: nam si prineipes Chaldaei, qui in er
tentibus campis colebant, stellarum motus . . . observaverunt etsgq.
2) Diog. VII 157. Sext. Emp. adv. phys. I 130.
®) .Sext.-l. 1. 1.194... Cie. deor. nat. I-41, 116.
*) Diog.. VI 157. Galen, plac. Bee et_Plat. p. τ ed M.; vol, Cie.
Tusc.“T’17, 40; 18,42:
5) Galen 1. 1. p. 448, 15ff. vgl. Cie. Tuse. I 24, 56—28, 70; ἜΣ a
rer. div. I frgm. 29ff. (Serv. in Aen. VI 724).
°) Achill. Tat. isagog. in’Arat. Phaen. e. 13; Sext. Emp. adv. phys. I 72.
?) Seneca ep. 92, 10.
8) Cie. deor. nat. II 9, 24ff.; vgl. Sext. 1.1. I 119.
9) Galen 1: 1. p. 449.
ἡ
-- 249
"Tugend, zur Wissenschaft und zur Kunst?). Als Teil der Gottheit
hat sie ferner auch selbst eigene, freie Bewegung. Diese kann als
solche nie aufhören und schliesst deshalb ihre Unvergänglichkeit
in-sich?2). Da sie ferner auch einheitlich und einfach ist, so kann
sie sich auch nie auflösen und zertrennen®). Diesem Wesen der
- Seele kann der Körper naturgemäss nicht förderlich, sondern nur
hinderlich seiri. Dies zeigt sich besonders darin, dass sie erst, wenn
‚sie unabhängig von den Organen des Körpers ist, ihre eigene, hohe
Natur offenbart. Denn wie die Götter ohne Augen, Ohren und
Zunge stets alles aufs genauste wahrnehmen, so nimmt auch sie,
wenn sie unabhängig vom Körper ist, und je mehr sie es ist desto
mehr, dasjenige wahr, was sie im unfreien Zustande nicht zu
erkennen vermag‘*), sei es mittels ihrer eigenen göttlichen Natur, sei
es mittels des durch ihre ‚Unabhängigkeit vom Leibe wiederher-
gestellten Verkehres mit der Gottheit selber oder den Geistern des
Luftraumes°). Der Körper ist daher nur eine Fessel für sie, welche
die ihr eigene Natur behindert und ihre freie Bewegung einschränkt,
ohne jedoch sie wesentlich verändern zu können‘). Diese von
ihm unabhängige und verschiedene Natur zeigt sich auch darin,
dass sie beim Tode sich ganz von ihm trennt und ihn zum Verfalle
zurücklässt, während sie selbst unverändert fortbesteht ‘). Bei diesem
Verhältnisse von Leib und Seele ist es unmöglich, dass die Seele
durch Zeugung entsteht; sie muss vielmehr von aussen in ihn
hineintreten®). Dazu stimmt die Thatsache, dass sie bereits im
Kinde ihrem ganzenWesen nach, wenn auch natürlich unausgebildet,
») Vgl. den vorhergehenden Abschnitt über die Mantik und speziell die
Auseinandersetzung über die Wissenschaft, ebenso die ganze spätere Ab-
- "handlung.
᾿ 2).Cie..deor. nat. II 12, 32. Sext. Emp. 1. 1. I 76.
- . 3) Die Beweise hierfür werden im nächsten Abschnitte gegeben werden.
« #) Cie. ‚div. I 57, 129 ff.
© 5) Vgl. S. 247, Anm. 1. Diese Stelle musste hier des Zusammenhangs
wegen wiederholti werden.
6) Cie. div. I49, 110.
?) Dies folgt aus dem ganzen Zusammenhange, besonders aber aus den
_ vor. 5. Anm. 6 u. 7 angeführten Stellen. Einen weiteren direkten Beleg für
die gänzliche Verschiedenheit von Seele und Leib ergiebt sich auch aus
Galen a. a. O. p. 408f., wie wir später noch sehen werden.
- 8) Wann und wie das geschieht, lässt sich nicht ermitteln; doch ist 68
_ mehr wie wahrscheinlich, dass es zugleich mit der Zeugung geschieht.
ἢ
vorhanden ist!). Die Präexistenz der Seele folgt also notwendig
aus ihrem ganzen Wesen und ihrem Verhältnis zum Körper. Sie
wird ferner durch die Überlieferung bestätigt. Denn sowohl Varro
wie Cicero erkennen dieselbe in den Berichten, in denen sie auf
Posidonius zurückgehen, offenkundig an?). Ebenso preist Seneca
dieselbe ausdrücklich dort, wo Posidonius sicher seine Quelle
ist?). Noch eine andere Überlieferung bestätigt uns dieselbe.
— 230 —
1) Galen a. a. O. p. 445, 15 ff. M.; sie erreicht ihre Vollendung mit dem
14. Jahre, vgl. Galen ebds.
?2) Οἷς. Tuse. I 12, 27 ff.; bes. 22, 55ff. Varr. Ant. rer. div. I fre. 29.
®) ep. 92, 30, 34; vgl.S.239 Anm. 1. Lact. div. institut. III, 18 erwähnt Stoiker,
die die Präexistenz der Seele lehrten; nach Lage der Sache kann hierbei
füglich nur an Posidonius gedacht werden. Über die Glaubwürdigkeit und den
Wert dieses Zeugnisses werden wir noch an einer anderen Stelle zu reden
haben. Auf die Lehre der Präexistenz der Seele bei Posidonius wies zu-
erst Corssen in seiner Dissertation p. 25 ff. (s. S. 132) hin; vgl. auch Diels
dox. gr. p. 587 nbl13. Wenn Zeller, Phil. d. Gr. IIIa. 582, 1 unter Zustim-
mung Hirzels, Unters. III S. 364 f. dagegen einwendet, Posidonius könne die
ı Präexistenz nicht angenommen haben, da er die Ekpyrosis vertrete, so ist
᾿ dieser Einwand nicht triftig: Allerdings geht alles bei der Ekpyrosis in die
‚ Allgottheit auf, aber nach dieser Auflösung erfolgt die Rückbildung, bei der
᾿ zugleich mit den einzelnen Göttern auch die Seelen entstehen, die wiederum
ganz dieselben wie ehedem sind, vgl. Seneca ep. 78, 28, der unmittelbar
nach den fraglichen Worten ‘veniet aliguod tempus, quod nos iterum iungat
ac misceat’ ‚den Posidonius zustimmend eitiert. Insofern konnte und musste
Posidonius der Seele, dem Dämon im Menschen, ebenso gut wie den einzelnen.
Göttern, trotz der Ekpyrosis, die Präexistenz zuschreiben. Wenn Hirzel
ἃ. ἃ. O. uns ferner auf seine Unters. I S. 238 ff. verweist, wo er zu zeigen sucht,
dass Posidonius mit Panätius die Unsterbliekeit schlechtweg geleugnet habe,
so lässt sich diese Annahme gar nicht halten. Hermias zu Plat. Phaedrus
S. 114 ed. Ast giebt an, dass Posidonius Platos Beweis der Unsterblichkeit
der Seele aus ihrer Eigenbewegung von der Weltseele verstanden habe
Hirzel schliesst hieraus a. a. O., dass Posidonius demnach diesen Beweis
Platos nicht auch von der Unsterblichkeit der einzelnen Seele habe gelten
lassen. Dieser Schluss ist nieht stichhaltig. Posidonius lehrt, wie wir von
Galen ausdrücklich erfahren (vgl. S. 249 Anm. 7), dass das höchste Vermögen
des Menschen, der λόγος, der Weltseele vollkommen wesensgleich ist. Was
von der Weltseele gilt, muss demnach auch von der Seele des einzelnen
gelten; also muss sie unsterblich, ja ebenso wie die Weltseele unentstanden
sein. Der Grund nun, warum Posidonius den obigen Beweis von der Un-
sterblichkeit der einzelnen Seele in Platos Phädrus von der Weltseele ver-
standen wissen wollte, liegt also offenbar darin, dass er seine Anschauung
bei Plato finden wollte und deswegen Plato einfach in diesem Sinne inter-
pretierte; dass er dabei keineswegs sehr gewaltsam vorging, beweist seine
ἢ
— HH —
Die Rechtfertigung der Mantik entnahm Posidonius, wie
wir bereits früher gesehen haben, zunächst dem Wesen Gottes
und seiner Vorsehung, dann dem Verhängnis als dem Gesetze
seines Waltens und drittens der göttlichen Natur des Menschen.
Seiner Beweisführung schliesst sich Cicero an'). In diesem Ab-
‚schnitte spricht nun Cicero der Seele die Präexistenz mit klaren
und unzweideutigen Worten zu?); ebenso thut er es noch einmal
an einer anderen Stelle, an welcher er ebenfalls dem Posidonius
folgt?): Mit Fug dürfen wir bei den obwaltenden Umständen
diese Stellen als neue Belege für die schon oben erwiesene
Thatsache und nicht etwa als Zusätze Ciceros auffassen*). Doch
selbst wenn das letztere zugegeben wird, bleibt hier noch eine
Stelle übrig, die ebenso klar die Präexistenz der Seele ausspricht,
Interpretation, die sich auf Andeutungen Platos stützt. Dies Beweisverfahren,
die Unvergänglichkeit der Seele aus der Unvergänglichkeit der Gottheit
zu erschliessen, finden wir nun unverkennbar auch an zwei Stellen wieder
(Cie. deor. nat. II 11, 31 ff. Sext. Emp. adv. phys. I 75 ff.), die auf dieselbe
Stelle des Posidonius zurückgehen: Folglich hat Posidonius thatsächlich in
der angegebenen Weise argumentiert. Da wir nun sowohl in Varros Ant.
rer. div. I wie in Cie. Tusc. I dieses Beweisverfahren ebenfalls haben,
mit der ausdrücklichen Andeutung, dass es von Plato verschieden sei (vgl.
S. 139), so lässt sich auch inhaltlich nieht im geringsten bezweifeln, dass
Cie. a. a. Ὁ. dem Posidonius gefolgt ist, was andere, zwingende Gründe
schon früher dargethan haben.
ἡ De div. I 55, 125 giebt Cicero den Gang dieser Beweisführung des
Posidonius an und bespricht in unmittelbarem Anschluss daran in den 88 125
bis 128 das Fatum, in den $$ 129—131 die Natur des menschlichen Geistes
als Grund der Mantik. Auch innerhalb dieser Darstellung hält er sich noch
nach seiner eigenen Angabe an Posidonius: Diese Beweisführung gehört
also sicher dem Posidonius ganz an. Den ersten Punkt der Disposition des
Posidonius behandelt nun Cicero unmittelbar vorher ($$ 117—125m). Die
Art, wie er hierauf zurückweist, lässt in diesem Zusammenhange gar
keinen Zweifel daran aufkommen, dass er auch hier dem Posidonius ‚gefolgt
ist. Die 88 117—129 hängen also eng zusammen und geben Posidonius
Rechtfertigung der Mantik. Mit dieser Darstellung steht der vorhergehen« e
Abschnitt (88 109—116) wieder in enger innerer Beziehung, da er den Unter-
schied zwischen der Mantik und der Wissenschaft bespricht — in den $$ 113
bis 114 verfährt Cicero nach seiner Weise augenscheinlich freier —: Auch
dieser Abschnitt gehört daher sicher dem Posidonius. Vgl. auch ausser den
Arbeiten von Schiche u. Hartfelder Corssen, diss. S. 15, 1,
ΝΠ Ὁ) ς 81, 115.
ΝΠ) ο. 80, 63. vgl. 8 64.
3) So Zeller an der vor. 5. Anm. 3 genannten Stelle.
wie die genannten, und keinem Verdacht unterliegen ai von ἢ
\icero hinzugefügt zu sein.
Die Mantik gründet sich in dritter und letzter Beziehung auf
die Natur des menschlichen Geistes. Bei der natürlichen Mantik
ist dies ganz von selbst klar, dass und wie der Geist beim
Traume oder im Zustande der Verzückung nur vermöge seiner
vom Körper unabhängigen Natur den Zusammenhang der Dinge
schaut; schwer aber ist es, wie Cicero sagt, die Wirkung dieser
Natur des Geistes auch bei der künstlichen Mantik nachzuweisen.
Gleichwohl hat Posidonius den Nachweis geliefert!), weil er es
musste, um die Mantik von der Wissenschaft zu unterscheiden
und dadurch ihre Wirklichkeit zu erweisen. Cicero versucht
diesen Nachweis wiederzugeben (88 130—131); auf diesen haben
wir hier näher einzugehen. Cicero sagt zunächst, Posidonius sei
der Meinung gewesen, es gäbe in dem natürlichen Verlaufe der
Dinge Zeichen, welche auf zukünftige Ereignisse hindeuteten. Er
zählt zwei solcher Zeichen auf und schliesst darauf: Wenn Be-
obachtung und Erfahrung diese erkannte, so konnte die Zeit
viele derartige Zeichen bringen, welche durch Beobachtung be-
kannt und gemerkt wurden. Hierauf beruht natürlich die künst-
liche Mantik als Theorie. Dann weist er mit Versen des Pacu-
vius darauf hin, dass diese Zeichen von der im All wirkenden
Gottheit ausgehen, und schliesst: Da die Welt ein allen gemein-
sames Haus ist und die Seelen der Menschen immer existiert
haben und existieren werden, so können sie auch die Ursachen
und Wirkungen erkennen und ebenso auch verstehen, was durch
die Zeichen angedeutet wird?). - Mit diesem Schluss endigt wie
die Darstellung Ciceros überhaupt so insbesondere der Nach-
weis, dass auch die künstliche Mantik, wenn auch nicht in dem-
selben Grade, so doch immerhin ebenso auf der vom Körper un-
abhängigen Natur des Geistes beruhe wie die natürliche.
Ist nun dieser Beweis geliefert? Sehen wir von dem letzten
Satze ab, so zerfällt die Beweisführung offenbar in zwei Teile:
') $ 130: atque hane (vgl. $ 129) quidem rationem naturae diffieile est
fortasse traducere ad id genus divinationis, quod ex arte profeetum dieimus,
sed tamen id quoque rimatur, quantum potest, Posidonius.
5) $ 131: quid est igitur cur, cum domus sit omnium una eaque com-
inunis cumque animi hominum semper fuerint futurique sint, cur ii, quid ex
quoque eveniat et quid quamque rem significet, perspicere non possint?
-- 2095 --
Der erste giebt an, wie durch die Beobachtung der Zeichen die
Theorie der künstlichen Mantik zu stande kommt; der andere,
dass diese Zeichen von der Gottheit ausgehen. Die Natur des
menschlichen Geistes kann also nur in dem ersten Teile berück-
sichtigt sein. Hier ist aber die Thätigkeit desselben nur in so-
“fern berücksichtigt, als die künstliche Mantik auf die rationelle
Beobachtung der von der Gottheit gesandten Zeichen gegründet
wird, also Theorie ist!). Dieser Nachweis ist jedoch nicht der,
den wir erwarten; denn hier handelt es sich nicht um den Nach-
weis, dass sie Wissenschaft ist und auf der gleichen Basis wie
diese fusst, sondern darum, dass und in wie fern die von jeder
sinnlichen Wahrnehmung unabhängige Natur des Geistes, auf
der die natürliche Mantik hauptsächlich beruht, auch bei der
künstlichen Mantik wirksam ist”). Dass sie auch Theorie ist, ist
längst bewiesen; und dass es sich um diesen Beweis hier in
Wirklichkeit nicht mehr handelt, ergiebt sich mit voller Gewiss-
heit noch aus einem anderen Grunde: Vorher, wo dies von der
Mantik überhaupt bewiesen wird (8 109 ff), heisst es, es sei
leicht zu zeigen, dass die künstliche Mantik auf der Theorie be-
ruhe; schwer jedoch, das Gleiche für die »atürliche Mantik zu
beweisen. Hier . dagegen verhält es sich gerade umgekehrt:
_ Was bei der natürlichen Mantik zu sehen leicht ist, ist schwer
für die künstliche zu erweisen®). Da nun also hier nur darauf
hingewiesen wird, dass die künstliche Mantik auch Theorie ist,
so hat Cicero den Nachweis, dass die künstliche Mantik auch
auf der von der sinnlichen Wahrnehmung unabhängigen Natur
‚des Geistes beruht, nicht erbracht. Der Schluss, den er am Ende
seiner kurzen Darlegung ($ 131) zieht, steht also unvermittelt
da. Dieser Schluss hat nun zwei Prämissen: Die erste derselben
macht geltend, dass die ganze Welt ein allen gemeinsames Haus
ἢ $ 131: quae si a natura profeeta (ἐχβεβηκότα) observatio atque usus
agnovit, multa adferre potuit dies, quae animadvertendo notarentur. Vgl.
hiermit $ 109, wo Cicero offenbar im Anschluss an Posidonius nachweisen
will, dass die Mantik ebenso wie die Wissenschaft Theorie ist.
ον, 3) 8 129: a natura autem alia quaedam ratio est, quae docet, quanta
sit animi vis seiuneta a corporis sensibus . . . atque hane quidem rationem
naturae diffieile est fortasse traducere ad id genus divinationis, quod ex arte
profeetum dieimus.
8) Vgl. die 88 129—130.
a ἘΞ
sei. Diese ist offenbar durch die Verse des Pacuvius näher er-
läutert, in denen ausgeführt wird, dass die Gottheit, weil sie
überall in der ganzen Welt waltet und wirkt und — wie damit
stets eingeschlossen ist — für die Menschen sorgt, auch die
Zeichen, aus deren Beobachtung die Theorie der Mantik entsteht,
sendet und senden kann. Die zweite Prämisse fügt hinzu, dass
die Seelen der Menschen immer gewesen sind und sein werden.
Über diese ist in der hier in Frage stehenden Erörterung nichts
gesprochen: Also hat Cicero hier gerade die eigentliche Erörte-
rung ausgelassen und nur das Resultat kurz gegeben. Dies ist
um so mehr zu verwundern, als diese Erörterung hier gerade
das Wichtigste war; doch auch leicht erklärlich, wenn wir be-
denken, dass Cicero selbst sagt, die Sache sei schwierig, also
sicher auch lang, und Länge und Schwierigkeit genug Grund für
ihn waren die Darstellung zu kürzen. Der dargelegte Zusammen-
hang kann uns also nicht im geringsten daran zweifeln lassen,
dass Cicero beide Prämissen dem Posidonius entnommen hat,
zumal da er nach seiner direkten Angabe in dieser Erörterung
ihm folgen will, und die zweite Prämisse thatsächlich das zu
leisten im stande ist, was hier verlangt wird. Diese Prämisse
erkennt nun die Präexistenz der Seele offen an: Also lässt sich
in der That nicht daran zweifeln, dass Posidonius sie gelehrt hat.
Obwohl uns nun Cicero, wie wir gesehen haben, nicht be-
richtet, wie sich nach Posidonius bei der künstlichen Mantik die
von dem Körper unabhängige Natur des Geistes bethätigt, so
sind wir doch im stande, dieses aus den verstreuten Angaben
darüber zu erschliessen. Posidonius stützte zunächst, wie Cicero
hier angiebt, die künstliche Mantik auf die von den Göttern ge-
sandten Zeichen. Ferner hielt er dafür, dass die Götter sich
keineswegs jedesmal besonders um die Eingeweide und Vogel-
stimmen kümmerten, sondern dass von Anfang an die Welt so
eingerichtet worden sei, dass bestimmten Ereignissen bestimmte
Zeichen vorausgingen. Drittens erkannte er auch an, dass die
Zeichen eben nur Zeichen, nicht aber Ursachen der künftigen
Ereignisse seien). Wie sollten nun wohl die Menschen die
Zeichen als Zeichen des Zukünftigen verstehen können, wenn sie
davon gar nichts wüssten? Bei allem natürlichen Geschehen, wo
') 8 118ff.; $ 127; vgl. auch $ 111, 85.
-- 2δδ —
die Ursachen und ihre Wirkungen uns unmittelbar vor die Augen
treten, kann der Geist durch die einfache Beobachtung den Zu-
sammenhang erkennen; aber absolut unerfindlich ist es, wie er
erkennen sollte, dass die Zeichen überhaupt mit irgend welchen
Ereignissen in Verbindung stehen, da ja kein direkter Zusammen-
hang zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten besteht. Da
nun das Gesetz der Zeichen in bestimmter Weise von Anfang an
geordnet ist, so muss offenbar auch die Seele, wenn sie von An-
fang an existiert, unmittelbar das Bewusstsein von dieser That-
sache als solcher haben; oder, wie wir auch sagen können, dasselbe
muss zu ihrem Wesen — ‘natura’ wie Cicero nach Posidonius
sagt — gehören und daher seiner allgemeinen Anlage nach ihr
angeboren sein, welches sie veranlasst und befähigt die Beobach-
tung anzustellen und sich infolge fortschreitender Beobachtung
zur vollen Klarheit entwickelt!). Betrachten wir nun den vorhin
behandelten Schluss noch einmal, so wird uns klar, was Posido-
nius erwiesen und Cicero verstümmelt hat: Da die Welt ein den
Göttern und Menschen gemeinsames Wohnhaus ist und die Götter
in ihrer Fürsorge für die Menschen in der bestimmtesten Weise
Zeichen für die kommenden Ereignisse senden und andererseits
die Menschen aus der Natur ihres Geistes unmittelbar das Be-
wusstsein haben, dass es solche Zeichen giebt, so können und
müssen sie auch durch Beobachtung zu der Theorie der Mantik
gelangen. Mit Recht beruht also auch die künstliche Mantik so
wie die natürliche auf der von jeder sinnlichen Wahrnehmung
unabhängigen Natur des Geistes und unterscheidet sich hierdurch
von der Wissenschaft.
Da wir nun bereits früher (5. 132 ff.) aus triftigen Grün-
den erkannt haben, dass Cicero zur Abfassung der ersten
Hälfte seines ersten Buches der Tusculanen eine Schrift des Po-
sidonius benutzt hat, und jetzt sehen, dass auch seine Lehre
dazu vollständig stimmt, so kann uns auch umgekehrt noch
dieses Buch der Tuseulanen bestätigen, was wir unabhängig von
ihm gefunden haben, dass Posidonius die Präexistenz und Un-
sterblichkeit der Seele gelehrt hat, da sie in diesem Abschnitte
der Tuseulanen offen anerkannt wird’°).
1) Hierüber wird auch später noch gehandelt werden.
3) Bes. 8 50 ff.
-- 236 --
Ist nun die Seele ewig, so handelt es’sich ihren Aufenthalts-
ort zu bestimmen für die Zeit, in der sie nicht mit dem Leibe
verbunden ist. Unnatürlich und unwahr ist hier die Erfindung”
der Unterwelt und ihrer Schrecken, da dieselben mit allem Den-
ken im Widerspruche stehen. Denn da die Seele ihrem Wesen
nach ätherisches Pneuma ist, so ist es naturnotwendig, dass sie
nach ihrem Austritt aus dem Körper in den höheren Regionen
weilt!). Doch ist es auch ebenso selbstverständlich, dass nicht ἐς
alle die gleiche Region bewohnen, sondern dem Grade ‚ihrer
Reinheit entsprechend einen verschiedenen Aufenthalt haben,
dergestalt, dass die reineren und vollkommneren höher, die
schlechteren näher der Erde sich aufhalten. Denn naturgemäss
bleiben sie in der Sphäre, die der Beschaffenheit ihrer Seele
entspricht?). Der Mond bildet nun die Grenze zwischen dem
Äther, dem Wohnsitze der vollkommenen Götter, und dem Luft- Ξ
raume. Da die Seelen der Menschen, obwohl sie göttlich sind,
ihrer Natur nach doch nicht so vollkommen wie jene sind, son-
dern die tiefere Stufe einnehmen?), können sie nur in dem
Luftraum unterhalb des Mondes weilen. Dieser ist daher. voll
von unsterblichen Seelen, die ihrer Natur nach gleichen Wesens
wie die Dämonen auch selber Dämonen sind. Deshalb wird
auch mit vollem Rechte die im Menschen lebende See der
συγγενὴς δαίμων genannt‘).
1) Sext. Emp. adv. phys. I 66 ff. Cie. deor. nat. II 2,5. Die Leugnung
der Psychomantie Cie. div. I 58, 152 steht damit wohl in innerem Zusammen-
hange.
2) Es ist selbstverständlich, dass die Seele des gottähnlichen Weisen
nicht der des Thoren gleich ist, also auch nach dem Tode nicht mit ihr
auf gleicher Stufe steht; auch die älteren Stoiker erkannten dies an. Am,
eingehendsten handelt hierüber Varro Antiq. rer. div. I frg. 36 ff., 42 ff.; vgl.
Cic. Tusc. I 19, 43.
8) Cie. deor. nat. II 12, 34; Sext. Emp. adv. phys. 1 8Sff. Das Gleiche
ergiebt sich aus Posidonius’ Äusserung b. Galen de place. Hipp. et Plat.
p- 448, 15 ff. ed. M. }
3) Galen a. a. OÖ. p. 449 M. Cie. div. I 30, 64. Ob er ausser diesen
Seelen-Dämonen noch eigentliche Dämonen angenommen hat, ist mit Be-
stimmtheit nicht zu ermitteln. Nach Maecrob. sat. I 23, 7 (vgl. Sext. ἃ. ἃ. O.
$ 74 u. 86) scheint dies der Fall zu sein. Zu dem Range derselben empor-
zusteigen war wohl sicher nicht unmöglich. Von hier aus wird es auch-
erst verständlich, was Posidonius von- der natürlichen Mantik sagt: Die
Seele erkenne, abgesehen von ihrer eigenen Natur und dem Einflusse der
$ 2. Vermögen der Seele.
In der Reihenfolge der lebenden Wesen nehmen die Pflanzen
die niedrigste Stufe ein. Uber ihnen steht die Tierwelt, doch ist
dieselbe mit ihnen durch Ubergangsformen verbunden. Weit
über beide ragt der Mensch hinaus. Da nun alles Leben auf
- der Durchdringung der Materie von seiten des Pneumas beruht,
so ist das seelische Vermögen der Pflanzen zwar auch eine
Äusserung desselben, doch die tiefste, in der sie als Leben noch
erscheinen kann. Es hat daher auch nur die einfachsten und
zum Leben unerlässlichsten Fähigkeiten, nämlich die der Ernäh-
rung und der ‚Fortpflanzung. Dieses Vermögen führt den Namen
ae. Auf einer höheren Stufe stehen schon diejenigen, welche den
Übergang zur Tierwelt bilden, aber noch nach Pflanzenart leben; ihr
Vermögen ist das &zuyvunzızov. In der eigentlichen Tierwelt er-
scheint die Naturkraft bereits als Seele (ψυχή). Neben jenen beiden
Fähigkeiten der Pflanzenwelt besitzt diese das der sinnlichen Wahr-
nehmung und der Triebe, wobei notwendig auch die freie Be-
-wesung mitgesetzt wird. Beide Fähigkeiten ergänzen sich derart,
dass die sinnliche Wahrnehmung, zu welcher noch ein gewisser In-
stinkt tritt, dem Tiere die zu seinem Dasein notwendige Kenntnis
vermittelt, während die mit der sinnlichen Wahrnehmung ver-
bundenen Triebe es zur Befriedigung seiner Bedürfnisse und
somit zur Erhaltung seines Daseins und zur Fortpflanzung ver-
anlassen. Dieses Vermögen heisst das Mutartige (ϑυμοειδές), Im
Menschen tritt zu beiden Vermögen noch das der Vernunft
(λόγος, von s) hinzu!). Auch dieses schliesst die Fähigkeit des
Gottheit auch an den in der Luft weilenden unsterblichen Seelen das Zu-
künftige, da ihnen die Kennzeichen der Wahrheit gewissermalsen eingeprägt
seien. Da diese nämlich zu den verschiedensten Zeiten und in der verschie-
densten Weise gelebt haben, so ist es selbstverständlich, dass sie abgesehen
von ihrer Natur als solcher die Kennzeichen hiervon an sich tragen, durch
deren Ablesen dem Geiste der Gang des Geschehens klar wird.
, 1) Cie. deor. nat. II 11, 29; 12, 35; Galen de plac. Hipp. et Plat. p. 348,
400, 432, 653 u. ö. p. 457: ὅσα μὲν οὖν τῶν ζῷων δυσχίνητά τέ ἐστε zei προσ-
πεφυχότα δίχην φυτῶν πέτραις ἤ τισιν ἑτέροις τοιούτοις, ἐπιϑυμές μόνῃ διοιχεῖσϑαι
λέγει αὐτά, τὰ δὲ ἄλλα ἄλογα σύμπαντα ταῖς δυνάμεσιν ἀμηοτέραις χρῆσϑαι, τῇ
τε ἐπιϑυμητιχὴ zei τῇ ϑυμοειδεῖ, τὸν ἄνϑρωπον δὲ μόνον ταῖς τρισί, προσειληφέναι
γὰρ χαὶ τὴν λογιστιχὴν ἀρχήν. ταῦτά τε οὖν ὀρϑῶς εἴρηται τῷ Ποσειδϑωνίῳ χιλ.
Diese Stelle ist in bezug auf die Pflanzen und die Tiere, welche die Über-
gangsstufe vom Pflanzen- zum eigentlichen Tierreich einnehmen, umstritten:
Schmekel, mittlere Stoa. 17
Τ᾽
ΟΝ
--- 233 --
Erkennens und des Wollens zugleich in sich!), so dass das mut-
artige Vermögen der Tiere diesem ganz ähnlich beschaffen ist?),
nur dass dieses seiner Natur nach ungleich höher steht als jenes.
Dieses ist das spezifisch menschliche Vermögen und richtet seine
Thätigkeit, seiner ungleich höheren Natur entsprechend, auch auf
ein höheres Gebiet.
Die Seele des Menschen vereinigt also in sich auch die r nie-
deren Stufen des Lebens und umfasst demnach drei Vermögen,
alle drei aber sind nur die Vermögen eines einzigen und einfachen
Substrates, des Seelenpneumas?). Diese Dreifachheit des Ver-
mögens der Seele zu erkennen bedarf es nicht langer Beweise,
sondern nur der einfachen Selbstbeobachtung‘).
Wo es nun Leben giebt, da giebt es auch allemal einen
CGentralpunkt (Hegemonikon) des Lebens und zwar sowohl des
physischen wie des psychischen; und da beide Arten nur ver-
schiedene Äusserungen desselben Substrates sind, so ist es not-
wendig, dass beide zusammenfallen. Bei den Br welche
nur das Vermögen der Ernährung und Fortpflanzung besitzen,
ist der Sitz des Hegemonikons die Wurzel, da die Ernährung
Zeller, Phil. ἃ. Gr. IIIa S. 581, 3 spricht den Pflanzen ebenso wie den Tieren,
welche nach Art der Pflanzen leben, das ἐπιϑυμητιχόν zu, während Hirzel,
Unters. I p. 212f. und ihm folgend Schwenke, Jahns Jhrb. Bd. 119 p. 136, 1879,
u. Susemihl, gr.-alex. Litt.-Gesch. II S. 132 Anm. 168 dasselbe jedenfalls
mit Recht nur für die unterste Tierwelt gelten lassen, so dass den Pflanzen
ein noch einfacheres Leben zukommt, und φύσις und ἐπυϑυμητιχόν sich nicht
decken. Denn wenn auch die angeführten Worte Galens mit Zeller so auf-
gefasst werden können, dass die Tiere, welche nach Pflanzenart leben, auch,
nur das Vermögen der Pflanzen, das ἐπιϑυμητιχόν, haben, liegt doch jene
Auffassung ungleich näher; denn weshalb hätte Posidonius sonst wohl die
Pflanzen und Pflanzentiere unterschieden ?
1 Galen a. a. Ὁ. p. 401, 1ff.: τὴν αἰτίαν ἐρωτῷ zdvraude ὃ Ποσειδώνιος,
di ἣν zei πολλὰ un βουλόμενον πολλάκις χλαίουσιν ἐπισχεῖν μὴ δυνάμενον τὰ
δάχρυα, καὶ ἄλλοι κλαίειν ἔτι βουλόμενον φϑάνουσν παυόμενον" yivsodaı δέ Por
διὰ τὰς παϑητιχὰς χινήσεις ἢ σφόδρα ἐγχειμένας, ὡς μὴ χρατεῖσϑαν πρὸς τῆς
βουλήσεως ἢ παντελῶς πεπαυμένας, ὡς μηχέτι ἐπεγείρεσϑαν δύνασϑαν πρὸς αὐτῆς.
οὕτω γὰρ ἥ TE τοῦ λόγου μάχη χαὶ διαφορὰ πρὸς τὸ πάϑος εὑρεϑήσεται. Statt
πρὸς αὐτῶν, wie Müller liest, muss πρὸς αὐτῆς (se. βουλήσεως) in der vorletzten
Zeile gelesen werden, vgl. Petersen: In Galeni de plaeitis Hipp. et Plat.
libr. diss. Gott. 1888 p. 25.
2) Cie. DIN IE, 2%
®2) Vgl. S. 259 Anm. 2.
#) Galen a. a. O. p. 487,9 Ὁ ΜῈ:
-- 389
hauptsächlich durch die Wurzel stattfindet!, Der Mittel-
punkt des Lebens bei den Tieren ist das Herz; im Herzen
ist daher auch das Hegemonikon der Tierseele. Auch im
Menschen ist der Mittelpunkt des Lebens das Herz, und da die
Seele desselben vollkommen einheitlich ist, so muss auch im
οὐδ σ' BR hr μιν
|
Menschen das Herz der Sitz des seelischen Lebens sein®). Von
ξ u EEELLEEEEER
1) Cie. D. N. II 11, 29; vgl. Sext. Emp. adv. phys. I 119.
2) Galen a. a. O. p. 501, 10ff.: ὃ δὲ Agiororeing te καὶ ὁ Ποσειδώνιος εἴδη μὲν
ἢ μέρη ψυχῆς οὐχ ὀνομάζουσιν, δυνάμεις δ᾽ εἶναί φασι μιᾶς οὐσίας dx τῆς χαρδίας
δὁρμω μένης. p. 432, 9: τὸ μὲν ϑὴ τὰς δυνάμεις τῆς ψυχῆς τρεῖς εἶναι τὸν ἀριϑιμόν,
αἷς ἐπιϑυμοῦμέν τὲ χαὶ ϑυμούμεθϑα καὶ λογιζόμεϑα zei Ποσειδώνιος ὁμολογεῖ χαὶ
᾿Δριστοτέλης" τὸ δὲ zei τοῖς τόποις αὐτὰς ἀλλήλων χεχωρίσϑαι χαὶ τὴν ψυχὴν ἡμῶν
μὴ μόνον ἔχειν ἐν ἑαυτῇ δυνάμεις πολλάς, ἀλλὰ καὶ σύνϑετον ἐκ μορίων ὑπάρχειν
ἑτερογενῶν TE χαὶ διαφερόντων ταῖς οὐσίαις “Innozodrovs ἐστὶ χαὶ Πλάτωνος δόγμα.
Vgl. ferner p. 461, 476, 584. Diese Stellen lassen an Klarheit nichts zu
wünschen übrig. Galen sagt ausdrücklich, dass nach Posidonius die Seele
einfach und nicht zusammengesetzt ist, dass sie drei Vermögen und nicht
drei Teile habe, dass sie also auch nur an einer Stelle sich befinden kann,
und dass diese das Herz ist. Seine Berichte lauten darin an allen angeführten
Stellen gleich. Er selber nimmt mit Plato und Hippokrates drei Teile der
Seele an; er unterlässt es daher nicht (vgl. die angegebenen Stellen) darauf
hinzuweisen, dass alles, worin er von Posidonius und Aristoteles abweiche,
nur der eine Punkt sei, dass diese nicht Teile, sondern nur Fähigkeiten
annähmen. Es war daher ein vergebliches Bemühen Hirzels Unters. II
S, 772#. wahrscheinlich zu machen, dass Posidonius das Denkvermögen
(λογιχόν) von der übrigen Seele getrennt und den Sitz desselben in das
Gehirn verlegt habe. Auffallend ist jedoch diese vollständige Gleichstellung
der Psychologie des Posidonius und Aristoteles, da bekanntlich Aristoteles
den Sitz des νοῦς ποιητιχός sich keineswegs im Herzen denkt. Dieses ist
auch der Grund, der Hirzel veranlasst hat trotz der gegenteiligen Angaben
Galens die gedachte Ansicht aufzustellen. Die Sache verlangt gewiss eine
Erklärung: Das Werk des Posidonius περὶ παϑῶν, aus dem Galen hier fort-
während schöpft, war für den Stoff, den es behandelte, ziemlich umfang-
reich und ging sehr ins Einzelne. Posidonius behandelte darin die Lehre
vom Wesen und Ursprunge der πάϑη nicht schlechtweg dogmatisch, sondern
unter fortwährender, heftiger Polemik gegen Chrysipp, wie die ganze Dar-
stellung des Galen beweist. Es ist auch unstreitig, dass Galen nicht bloss
die Lehre und Polemik des Posidonius, sondern auch wenigstens vielfach
Chrysippische Lehren und Citate aus Posidonius genommen hat; vgl. z. B.
p- 370, 2 f£.; 400, 9 ff.; 456, 14 ff.; 455, ὃ Β΄. Nachdem er an der zuletzt ge-
"nannten Stelle zunächst ein Citat aus Chrysipp angeführt und über die Fort-
setzung desselben referiert hat, fährt er fort: εἴρηται δὲ περὶ αὐτῆς ὑφ᾽ ἡμῶν Hr
zei νῦν δὲ εἰρήσεται διὰ βραχέων οἷον ἐπιτομή τις τῆς Hocsıdoriov ῥήσεως
μαχρᾶς ὑπαρχούσης κτλ. Er hat also gewissermalsen einen Auszug aus
Posidonius gemacht. Schon deswegen dürfen wir schliessen, dass er auch
17*
er
hier aus durchdringt das Pneuma in der verschiedensten Weise
den Körper!), hält ihn zusammen und verleiht ihm die einzel-
nen Vermögen und Fähigkeiten: Die Fähigkeit des Ernährens
(ϑρεπτικόν) und der Fortpflanzung (σπερματικόν), die fünf Sinne
(αἰσϑήσεις), das Sprachvermögen (φωνητικόν); das Vermögen der
Begierde (ἐπιϑυμία) und des Mutartigen (ϑυμοειδές), die Triebe
(öguei)?) und die Vernunft (λογικόν, λόγος, νοῦς). Diese ver-
schiedenen Fähigkeiten bestehen jedoch nicht alle getrennt von
und neben einander, sondern ergänzen sich gegenseitig. Das Ver-
mögen der Begierde (ἐπιϑυμία) fällt im wesentlichen mit der φύσις
d.h. der Fähigkeit der Ernährung und Fortpflanzung zusammen?°).
Ihm und namentlich dem Mutartigen gehören die Triebe an;
diese sind an das Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung ge-
bunden, wie sich schon daraus ersehen lässt, dass jeder Trieb
nur infolge einer Vorstellung entsteht‘), Die Sprachfähigkeit
die Lehren der anderen Philosophen, die er in diesem Zusammenhange er-
wähnt, aus Posidonius genommen hat. Dieses bestätigen ferner die That-
sachen: Lehren und Verse des Zeno, Cleanthes und anderer Stoiker eitiert
er aus Posidonius z. B. p. 456 u. 458; die des Plato und Pythagoras p. 401,
die des Aristoteles p. 443. Wenn nun Galen in diesem Zusammenhange die
Übereinstimmung des Posidonius und Aristoteles so nachdrücklich und oft
hervorhebt, so sind wir vollkommen zu dem Schlusse berechtigt, dass er
dieses Urteil ebenso dem Posidonius entlehnt wie die übrigen Lehren.
Natürlich wird hiermit keineswegs gezweifelt, dass er sonst auch selbst den
Aristoteles gelesen hat. Dieses Urteil über die Übereinstimmung der Lehre
des Posidonius und Aristoteles kann in diesem Falle natürlich nur auf der
Deutung des Posidonius beruhen. Nun hat Panätius, wie wir späterhin
sehen werden, offenbar nach Aristoteles die thätige Vernunft mit der leiden-
den und damit mit der übrigen Seele so eng verbunden, dass die Selbständig-
keit der thätigen Vernunft verschwand. Bedenken wir dieses, so ist es mehr
als wahrscheinlich, dass auch Posidonius das Gleiche gethan und demgemäss
auch die Lehre des Aristoteles, die ja nicht ganz klar ist, so gedeutet hat,
dass die thätige und die leidende Vernunft als ungetrennt und untrennbar
erschienen. Alsdann fand sich bei Aristoteles thatsächlich nur eine einheit-
liche Seele, welche drei Vermögen und ihren Sitz im Herzen hatte. Diese
Deutung entspricht ganz und gar Posidonius’ Auffassung der Geschichte der
Philosophie, über die wir an anderer Stelle reden werden.
1) Diog. VII 158; 157; vgl. auch S. 248 Anm. 6.
5) Ob er diese auch mit dem Ausdrucke ‘zd#n’ bezeichnet hat, lässt sich
mit Gewissheit nicht ausmachen; mir scheint es nicht wahrscheinlich.
°) Für den Menschen ist dies richtig, ob die S. 257 Anm. 1 angegebene
Unterscheidung zwischen φύσις und ἐπιϑυμία stattfindet oder nicht.
*#) Galen a. a. O. p. 453, 15.
-- 3261] —
schliesslich hängt mit der Vernunft in gleicher Weise zusammen
Denn wie die fünf Sinne als solche Ausstrahlungen des Hege-
monikons zu den betreffenden Organen des Körpers sind, so beruht
auch die Sprache auf einer Ausströmung des Hegemonikons durch
die Sprachwerkzeuge. Das Wort (λόγος) ist daher wesensgleich dem
᾿ Λογιχόν, aus dem es entspringt!). Die eine Reihe der Fähig-
keiten und Vermögen betrachtet also die Seele hauptsächlich von
ihrer physiologischen, die andere von ihrer psychologischen
Seite?) aus.
1) Dies ist allgemein-stoisch und ergiebt sich für Posidonius auch aus
Galen a. a. O. p. 453, 15 ff.: οἴμαι γάρ — es sind Worte des Posidonius —
ὅτι πάλαι βλέπετε, πῶς διὰ λόγου μὲν πεισϑέντες χαχὸν ἑαυτοῖς παρεῖναι ἤ ἐπιφε-
θεσϑαν οὔτε φοβοῦνταν οὔτε λυτιοῦνταν ... πῶς γὰρ ἄν τις λόγῳ χινήσειε τὸ
ἄλογον χτλ. Der λόγος entspricht also dem λογεχόν.
5) Tertull. de an. e. 14: dividitur autem (se. anima) in partes ... decem
apud quosdam Stoicorum et in duas amplius apud Posidonium, qui a duobus
exorsus titulis prineipali, quod aiunt ἡγεμονιχόν, et rationali, quod aiunt λογι-
zov, in duodeeim exinde prosecuit. Ohne von Hirzel (Unters. II p. 772 ff., 782 [Ὁ
beeinflusst gewesen zu sein, stimme ich mit ihm in der Ansicht überein,
dass diese Stelle Tertullians nicht eine Entstellung und ein Missverständnis
der stoischen Lehre ist (vgl. Zeller a. a. O. p. 581, 2; Diels dox. gr. p. 206);
_ doch weiche ich von seiner Auffassung darin ab, dass ich das λογιχόν
- und das 7ysuovızov nicht für zwei ihrem Sitz und -ihrem Wesen nach ver-
schiedene Teile der Seele halte, sondern für dasselbe, aber von verschiedenen
Seiten aus betrachtete Vermögen, wie oben angegeben ist. Über eine solche
Unterscheidung vgl. auch 5. 136 ff. die Abhandlung über Cie. Tusc. I. Hirzels
Auffassung beruht in dieser Beziehung zunächst auf der falschen Annahme vom
Sitze der Seele, über die wir S. 259 Anm. 2 gesprochen haben, und zweitens
Ἷ auf einer unberechtigten Erklärung zweier Stellen in den Placit. philos. Auf
Ἔ Grund seiner Annahme vom Sitze der Seele verbindet er nämlich zwei ent-
ὦ gegengesetzte Berichte in denselben (Diels dox. p. 4118 21ff u. 591,12 ff) und
+ interpretiert ihren Widerspruch dadurch weg, dass er an der einen Stelle
das 7ysuovızov als den herrschenden Mittelpunkt des ἄλογον im Herzen und
Η an der anderen Stelle das λογικόν als den des vernünftigen Vermögens im
Kopfe auffasst. Verbietet schon der Widerspruch, in dem diese beiden Stellen
stehen, ihre Zurückführung auf Posidonius und die angegebene Erklärung,
so ist diese erst recht unhaltbar, nachdem wir gesehen haben, dass sie auf
der unrichtigen Anschauung vom Sitz und den Teilen der Seelo be ruht.
- Welche einzelnen Vermögen nun Tertullian zusammengezählt hat, um die
Zahl 12 herauszubekommen, lasse ich dahingestellt, da ich keineswegs ver-
_ sichern möchte, dass auch Posidonius in gleicher Weise gezühlt hat. Aus
3 Galen de plaeit. Hipp. et Plat. V453f.m. schliesst Hirzel, dass Posidonius
_ ein eigenes Vermögen der φαντασία angenommen habe; eine Notwe :ndigkeit
scheint mir dazu nicht vorhanden zu sein.
202 -Ἐ-
Der Körper ist nun bei den einzelnen Individuen und noch
mehr bei den verschiedenen Völkern nach Klima und Gegend
sehr verschieden. Diese Verschiedenheit beruht teilweise auf der
Natur des Samens, dem er entsprossen ist, teils auch auf der
verschiedenen Beschaffenheit der athmosphärischen Luft, die ihrer
Natur nach selbstverständlich einen grossen Einfluss auf ihn
während seiner ganzen Entwickelung und überhaupt seines Da-
seins ausüben muss. Da sich nun das Pneuma von den Aus-
dünstungen des Blutes nährt und die Verschiedenheit des Blutes
in bezug auf Wärme und Kälte, auf Feinheit und Zähigkeit mit
der verschiedenen Beschaffenheit des Körpers und der ihn be-
einflussenden Elemente ursächlich verknüpft ist, so ist es not-
wendig, dass auch jene niederen Vermögen der Seele je nach der
verschiedenen Beschaffenheit des Körpers verschieden beeinflusst
und darum auch ihre Triebe (öouet) in hohem Malse von dieser
bestimmt werden). Naturgemäss sind diese der Vernunft unter-
worfen; so lange also die Vernunft ihre Lenkerin ist, ist der Zu-
stand der Seele naturgemäss; sobald sie aber über sie hinaus-
gehen, wird er zerstört ur naturwidrig: Die Triebe werden zu
Leidenschaften (πάϑη), ἃ. ἢ. zu Störungen des Gesamtlebens.
Das Pathos ist also eine durch die Beschaffenheit des Körpers
bedingte, über das von der Vernunft ‚gesteckte _ αἰ hinaus-
gehende Bewegung des unvernünftigen. Seelenvermögens‘). Die
rn ee
1) Galen a. a. Ὁ. p. 441, 16 ff.: χαὶ γὰρ zei ταῦϑ' ὃ Ποσειδώνιος μέμφεται
zei δειχνύναν πειρᾶταν πασῶν τῶν Wevdov ὑπολήγψνεων τὰς αἰτίας ἐν μὲν τῷ
ϑεωρητιχῷ διὰ τῆς παϑητιχῆς δλχῆς γίνεσθαι, προηγεῖσϑαν δὲ αὐτῆς — SC. τῆς
παϑητιχῆς ὁλκῆς, vgl. die nachfolgende Begründung bei Galen — τὰς wevdeis
δόξας, ἀσϑενήσαντος περὶ τὴν χρίσιν Tod koyıorızod‘ γεννῶσϑαν γὰρ τῷ ζῴῳ τὴν
ὁρμὴν ἐνίοτε μὲν ἐπὶ τῇ τοῦ λογιστιχοῦ χρίσει, πολλάκις δὲ ἐπὶ τῇ κινήσεν τοῦ
παϑητιχοῦ. συνάπτεν «δὲ εἰχότως τοῖς λόγοις τούτοις ὃ Ποσειδώνιος τὰ χατὰ τὴν
φυσιογνωμονίαν φαινόμενα" χαὶ γὰρ τῶν ζῴων χαὶ τῶν ἀνθρώπων, ὅσα μὲν
εὐρύστερνάώ TE χαὶ ϑερμότερα, ϑυμιχώτερα πάνϑ' ὑπάρχειν φύσει, ὅσα δὲ πλατυΐ-
σχιά TE χαὶ ψυχρότερα, Φδειλότερα. χαὶ χατὰ τὰς χώρας δὲ οὐ σμιχρῷ τινι διενη-
voysvar τοῖς ἤϑεσι τοὺς ἀνθρώπους εἰς δειλίαν καὶ τόλμαν ἤτον φιλήδονόν TE χαὶ
φιλόπονον, ὡς τῶν παϑητιχῶν χινήσεων τῆς ψυχῆς ἑπομένων dei τὴ
διαϑέσει τοῦ σώματος, ἣν ἐχ τῆς χατὰ τὸ περιέχον χράσεως οὐ zur ὀλίγον
ἀλλοιοῦσϑαι. χαὶ γὰρ δὴ χαὶ τὸ αἷμα διαφέρειν ἐν τοῖς ζῴοις φησὶ ϑερμότητι zei
pvyooryr zei πάχεν χαὶ λεπτότητι zei ἄλλαις διαφοραῖς οὐκ ὀλίγαις, ὑπὲρ ὧν
᾿ἡριστοτέλης ἐπὶ πλεῖστον “διῆλθεν. Vgl. auch Strabo 141: XVI 784.
5) Galen a. ἃ. Ο. p. 848, 12ff.; 599, 18 ff.; 407,17 ff. Dass die Leiden-
schaften mit der Vernunft nichts zu schaffen haben, betont er des breiteren
-- 26 --
_ Ursache‘ davon ist zweifach: die wichtigste und gewöhnlichste
liegt in der schon genannten Affektion des unvernünftigen Seelen-
vermögens durch die körperlichen Zustände; die andere in falschen
Meinungen über den Wert oder Unwert zu erwartender Dinge,
welche bei schwacher Schlussfähigkeit der Vernunft leicht ent-
stehen und die unvernünftigen Triebe erregen!). Der letzte Grund
schliesst also den ersten mit ein. In dieser grösseren oder ge-
ringeren Ungleichheit der Menschen liegt auch die Verschiedenheit
der leidenschaftlichen Erregung bei den einzelnen begründet?).
Dass diese nachlässt, sobald sie befriedigt ist oder die Vernunft
ihrer Herr wird, ist selbstverständlich°).
Infolge des dargelegten Verhältnisses von Seele und Körper
und ihrer gegenseitigen Einwirkung auf einander giebt es auch
verschiedenartige Störungen. des Gesamtlebens (πάϑη), rein gei-
stige, rein physische und gemischte. Rein geistige sind die
Begierde, Lust, Furcht und Trauer, die vier πάϑη im engeren
Sinne. Zu der ersten gehört offenbar auch der Zorn; er ist die
Begierde, denjenigen zu bestrafen, von dem man sich ungerecht
verletzt glaubt. Die rein physischen sind Fieber, Erkältung,
Verdichtung und Verdünnung. Die gemischten zerfallen in zwei
Arten, solche bei denen eine Einwirkung der Seele auf den Körper
stattfindet wie Zittern und Erblassen, und solche, bei denen um-
gekehrt eine Einwirkung des Körpers auf den Geist statthat, wie
Lethargie, Melancholie und Irrsinn‘).
Kap. 3:
Logik.
Die Logik zerfällt in die Rhetorik und Dialektik; nur von der
letzteren sind uns Nachrichten erhalten. Diese giebt die Lehre,
in der Polemik gegen Chrysipp, deren Thema lautet: οὔτε χρίσεις εἶναι τὰ
πάϑη οὔτ᾽ ἐπιγινόμενα χρίσεσιν; vgl. ausser den angeführten Stellen noch
p- 391 [Ἐ- 397 £.; 405, 12; 407.
1) Siehe Anmerkung 1 auf Seite 262.
2) Dieses führte Posidonius im Kampfe gegen Chrysipp sehr weitläufig
aus; vgl. Galen a. a. O. z. B. p. 370,1— 376, 7.
8) Galen a. a. Ο. p. 39,13 ff.
N 39) Plutarch. utrum anim. an corpor. sit libid. et aegrit. p. 700 ed Wyttenb.
-- 264 --
wie das Wahre, Falsche und das, was weder wahr noch falsch
ist, erkannt wird!). Sie gliedert sich ebenfalls in zwei Teile, in
die Lehre von der Sprache als solcher und in die von den Vor-
stellungen und Gedanken, welche durch die Sprache bezeichnet
werden. Jenes ist die Grammatik im weitesten Sinne, dieses die
Erkenntnistheorie nebst der formalen Logik’).
Aus dem Gebiete der Grammatik und der mit dieser zusammen-
hängenden Sprachphilosophie sind nur wenige Überreste erhalten,
nämlich nur einige Etymologien und Worterklärungen°). Diese
lassen ebenso wenig wie die angegebene Einteilung auf einen
von der gewöhnlichen Lehre der Schule abweichenden Stand-
punkt schliessen. Wir wenden uns daher zur Erkenntnistheorie
und betrachten zunächst die Entstehung der Vorstellungen. Da
die Seele als Substanz vollkommen einheitlich ist, im Herzen
ihren Sitz hat und der Körper für sie eine Behausung ist, welche
sie an der vollen Entfaltung ihrer Natur hindert, können die
verschiedenen Sinne nur Ausstrahlungen des Seelenpneumas sein,
welche durch die hierzu bestimmten Wege und Kanäle des Kör-
pers hindurchgehen und die Seele mit der Aussenwelt in Ver-
bindung setzen®). Das Sehen entsteht also dadurch, dass eine
solche Strömung des Pneumas zu den Augen stattfindet, auf
die von den Gegenständen ausgehenden Luft- oder vielmehr
Lichtströmungen trifft und sich mit diesen vereinigt’). Den
gleichen Vorgang dürfen wir mit vollem Rechte auch bei den
anderen Sinnen annehmen®).
ἢ Diog. VII 62.
?) Seneca ep. 89, 17. Quintilian instit. orat. III 6.
5) Diog. VII60; Apollon. Alex. de synt. IV p.331 ed. Wechel; Eustath.
in Hom. p 1210,41; schol. Apoll. Rohd. II 107; Etym. Magn. 5. v. is; siehe
Bake Posid. rel. p. 233ff. vgl. auch Strabo I 41; XVI 784, wo diese Kunst
zur Erklärung geographischer Namen verwandt wird.
*) Cie. Tuse. 120,46; im wesentlichen war dies in der Stoa die allgemeine
Auffassung dieses Vorganges. Vgl. auch Cie. deor. nat. II 54, 134ff., der eine
genaue diesbezügliche Beschreibung liefert und zwar entweder nach Panätius
oder nach Posidonius (vgl. 5. 8. A.4). Übrigens ist der obige Schluss von
diesen Stellen unabhängig, da er unmittelbar aus den sonst gesicherten
Prämissen folgt.
5) Diels. dox. gr. p. 403b 12: Ποσειδώνιος γοῦν αὐτὴν (se. ὅρασιν) σύμφυσιν
ὀνομάζει. :
°) Sext. Emp. adv. log. I 98: hierüber werden wir noch später zu,reden
haben. Cie. deor. nat. 11 56, 140ff.; vgl. Anm. 4.
-- 265 —
Der Akt der Wahrnehmung findet also in den Sinnen als
solchen statt. Durch diese werden die verschiedenen Wahr-
nehmungen alsbald zum Hegemonikon zurückgeleitet, wo ihre
gegenseitige Vereinigung stattfindet!). Während also die Sinne
nur einfache, ihrer Natur entsprechende Wahrnehmungen zu
machen imstande sind, erfasst das Hegemonikon das Wesen des
Alls, mit dem es ja auch substantiell gleich ist?). Durchaus
ähnlich ist der Vorgang bei der Einwirkung der Rede anstatt
der Wahrnehmung eines Gegenstandes. Die Rede schafft näm-
lich wieder ein Bild des ehemals wahrgenommenen Gegenstandes
und ruft vermittelst dieses Bildes eine der ehemaligen Wahr-
nehmung entsprechende Vorstellung hervor?). Die Folge der
Einwirkung der Wahrnehmung auf das Hegemonikon ist also die
Vorstellung (φαντασία). Diese ist gewissermafsen das Bindeglied
zwischen dem niederen Vermögen der Seele und dem Denken.
Einerseits nämlich setzt sie, wie wir schon sahen, den Trieb in
Erregung; andererseits giebt sie dem Denken den Stoff zu den
Urteilen und somit zu der Erfahrung und der daraus entstehen-
den Theorie aller Wissenschaft. Denn aus dem Vorhergehenden
ist es klar, dass der Mensch nur vermittelst der sinnlichen Wahr-
nehmung Kunde von der Aussenwelt erhalten, also nur auf em-
pirischem Wege zum Wissen gelangen kann‘). Die Gewissheit
1) Diels dox. gr. p. 395, 16 ff.: οὗ Στωιχοὶ τήν δὲ τὴν κοινὴν αἴσϑησιν ἐντὸς
ἁφὴν προσαγορεύουσι, καϑ' ἣν καὶ ἡμῶν αὐτῶν ἀντιλαμβανόμεθα. Abgesehen
davon, dass dieser Bericht hier als Gemeingut der Stoiker erscheint, werden
wir ihn um so mehr auch als die Meinung des Posidonius hinnehmen dürfen,
als dieses ganze Kapitel offenbar aus einem Stoiker herüber genommen ist
(vgl. Diels a. a. O. p. 393, 16ff.; 394b, 22ff.), Posidonius einer der letzten
Quellen der Plaeita war (Diels a. a. Ὁ. p 100,185) und die Gleichstellung
der ἐντὸς ἁφή mit dem Gemeinsinn des Aristoteles auf einen jüngeren Stoiker
hinweist.
5) Sext. Emp. adv. log. I 99: χαὶ ὡς τὸ μὲν φῶς, φησὶν ὃ Ποσειδώνιος τὸν
Πλάτωνος Τίμαιον ἐξηγούμενος, ὑπὸ τῆς φωτοειδοῦς ὄψεως καταλαμβάνεται" ἢ δὲ
»
ιὴ
φωνὴ ὑπὸ τῆς ἀεροειδοῦς ἀκοῆς" οὕτω καὶ ἡ τῶν ὅλων φύσις ὑπὸ συγγενοῦς ὀφείλει
χαταλαμβάνεσθαν τοῦ λόγου. Zwar braucht diese Stelle aus dem Timäuskom-
mentar nicht notwendig die Ansicht des Posidonius zu enthalten; dass wir
_ aber ein Recht dazu haben, sie in diesem Sinne zu fassen, beweist die That-
Wu
EN Φ
Bi
y
Ἵ
᾿
Ἡ
ἣν
sache, dass Posidonius, wie wir sehen werden, den Timäus Platos viel mehr
stoisch als Platonisch erklärte. Genaueres wird übrigens noch nachher folgen.
3) Galen de plac. Hipp. et Plat. 453, 15 ff.
3) Vgl. auch Cie. de div. 149, 111ff. und Seneca ep. 88.
des Wissens ist demnach von der Wahrheit der Vorstellung ab-
hängig.
Nun richtet sich die Intensität der sinnlichen Wahrnehmung
offenbar nach dem Spannungsgrade des Hegemonikons; dieser
aber ist nicht nur von der natürlichen Anlage, sondern in aus-
gedehntestem Mafse auch durch die Beschaffenheit der körper-
lichen Organe bedingt, wie wir schon früher gesehen haben. Es
ist also durchaus natürlich, dass auch die Sinneswahrnehmungen
und demgemäss auch die Vorstellungen sehr verschieden, ja nach
Umständen selbst entgegengesetzt sind. Um so wichtiger ist dem-
nach die Frage, welche Vorstellung wahr ist, und wie ihre Wahr-
heit erkannt wird.
Wahr ist nun natürlich diejenige, welche mit dem vor-
gestellten Gegenstande vollständig übereinstimmt. Unter den
verschiedenen Vorstellungen wird also diejenige am meisten die
Bürgschaft der Wahrheit in sich tragen, welche die grösste Klar-
heit und Augenscheinlichkeit (ἐνάργεια) besitzt und daher unsere
Zustimmung von selbst erlangt (die φαντασία χαταληπτική). Zu
diesen gehören hauptsächlich die bei allen Menschen sich in
gleicher Weise findenden Vorstellungen (προλήψεις — χοιναὶ
Evvorcı), die sich ohne absichtliche Denkthätigkeit von selbst aus
den Wahrnehmungen entwickeln!). Doch selbst diese können
auch Falsches enthalten, um so mehr natürlich die übrigen ein-
zelnen Vorstellungen. Trägt demnach keine Vorstellung die Ge-
wissheit der Wahrheit schon in sich, so kann ihre Wahrheit nur
durch die Vernunft (λόγος) erkannt werden?). Dies ist auch in
') Darüber dass diese sonst als unumstösslich richtig galten, s. Zeller
Philos. der Gr. Illa p. 74.
5) Dies folgt aus Sext. Emp. adv. phys. I 61—74. Dort heisst es zu-
nächst 8 61: ἀλλ᾽ ἀπὸ μὲν τῆς χοινῆς ἐννοίας λέγοντες ὡς ἅπαντες ἄνϑρωποι σχεδὸν
“Ἑλληνές τε χαὶ βάρβαροι νομίζουσιν εἶναν τὸ ϑεῖον ... εἰ δέ γὲ ψευδής ὑπῆρχεν
ἢ τοιαύτη πρόληψις, οὐχ ἂν οὕτω πάντες συνεφώνουν. εἰσὶν ἄρα ϑεοί. Nach
weiteren Auseinandersetzungen hierüber heisst es dann $ 66: ἀλλ᾽ εἰώϑασιν
ἀνϑθϑυποιφέροντες πρὸς τοῦτο λέγειν οἱ ἐξ ἐναντίας, ὅτε zei περὶ τῶν ἐν ἄσδου
μυϑευομένων χοινὴν ἔννοιαν ἔχουσιν ἅπαντες ἄνϑρωπον χαὶ συμφώνους ἔχουσι
τοὺς ποιητὰς, χαὶ μᾶλλόν γε περὶ τούτων ἢ ὅτι τῶν ϑεῶν, ἀλλ᾽ οὐχ ἂν εἴποιμεν
ταῖς ἀληϑείαις ὑπάρχειν τὰ χαϑ’ Üdov μυϑευόμενα, μὴ συνιέντες πρῶτον μὲν, ὅτε
οὐ μόνον τὰ χαϑ᾽ ἅδου πλαττόμενα, ἀλλὰ χαὶ χοινῶς πάντα μῦϑον μάχην περι-
ἑσχηχέναν συμβέβηκε καὶ ἀδύνατον εἶναι. Dies wird näher erwiesen 88 67—70;
dann heisst es 8 71: ἀλλὰ γὰρ ὃ μὲν μῦϑος οὕτως ἐν αὑτῷ τὸν ἔλεγχον περι-
5
vollständig stimmt; diese dagegen ist falsch, weil sie an Widerspruch
-
Υ
“ 7 4 - ᾿ ‚
αὑτοῖς δαίμονι συγγενεῖ τε ὄντι χαὶ τὴν ὁμοίαν
-- 201 --
der Natur des Geistes vollkommen begründet. Sind nämlich die
Sinne nur ein Ausfluss der Seele, so dass im Grunde genommen
nicht sie, sondern die Seele durch sie wahrnimmt, so ist es ganz
naturgemäss, dass sie über dieselben urteilt!). Andererseits be-
sitzt sie auch die Fähigkeit dazu, weil sie, wie wir schon gesehen
haben, wesensgleich der Natur des Alls und als solche imstande
ist, sie zu begreifen. Nun ist aber die Vernunft infolge der Ver-
bindung der Seele mit dem Körper nicht ganz unbeeinflusst von der
Natur desselben; denn auf diesem Einflusse beruht die Verschieden-
heit der Auffassung, wie wir ebenfalls schon gesehen haben:
Also kann die Vernunft (λόγος), insofern sie von der Natur des
Körpers beeinflusst ist, natürlich nicht ein gewisser Richter über
Wahrheit und Irrtum sein; sie kann es somit nur sein, insofern
sie unabhängig und unbeeinflusst von ihm ist. Dies zeigt sich
auch darin, dass sie um so mehr die Wahrheit schaut und
erkennt, je unabhängiger sie vom Körper und der sinnlichen
Wahrnehmung ist und in gleicher Weise wie die Gottheit ver-
möge ihrer eigenen Natur das wahrnimmt, was sie, solange sie
an den Körper gebunden ist, trotz der sinnlichen Wahrnehmung
nicht erkennt?). Diese von dem Körper unabhängige Vernunft
ist nun ihrem Wesen nach gleich der das All durchdringenden
Gotiheit?), ἃ. h. gleich dem χοινὸς λόγος oder λόγος ὀρϑός, und
als solche natürlich unfehlbar: Das Kriterium also, an dem die
εἶχεν, ἣ δὲ περὶ ϑεῶν ὑπόληψις οὐ τοιαύτη τις ἐστίν, οὐδὲ μάχην ὑπέβαλλεν, ἀλλὰ
σύμφωνος τοῖς γιγνομένοις ἐφαίνετο. Dies wird wieder näher bewiesen 85 71 bis
74, worauf es zum Schlusse heisst: ῥητέον zei ϑεοὶς ὑπάρχειν, μηδὲν αὐτῶν τὴν
ὕπαρξιν βλαπτούσης τῆς περὶ τῶν ἐν ἅδου μυϑευομένων προλήψεως. Die eine
πρόληψις über das Dasein der Götter ist also wahr, die andere über die
Unterwelt falsch. Jene ist wahr, weil sie mit allen weiteren Untersuchungen
leidet:
Demnach liegt nicht in der πρόληνψψις als soleher ein Beweis für ihre Wahr-
heit, sondern ihre Wahrheit muss erst durch eine Untersuchung bestätigt
"werden. Nur die Vernunft (λόγος) also, welehe natürlich diese Unter-
suchung führt, kann entscheiden, ob sie wahr oder falsch ist. Vgl. auch Cie.
deor. nat. II 2, 4 ff.
1) Vgl. auch Cie. Tusc. I 20, 46 ex.
2) Cie. de div. I 57,129; 30, 63. “ἐπ
8) Galen ἃ. ἃ. O. p. 448,14: dozei μου τὰ Ποσειδωνίου παραγράψαι sönde
τὸν τρόπον ἔχοντα" “τὸ δὴ τῶν παϑῶν αἴτιον .. . τὸ μὴ κατὰ πᾶν ἕπεσθαι τῷ ἐν
φύσιν ἔχοντι τῷ τὸν ὅλον
κόσμον διοικοῦντι᾽ zu); vgl. auch S. 248.
Vorstellungen auf ihre Wahrheit geprüft werden, ist die wahre
Vorstellung; dasjenige aber, durch das die Wahrheit dieser Vor-
stellung erkannt wird, ist die Vernunft als solche, der λόγος
00905!). Diese besitzt nun ihrer Natur entsprechend gewisser-
mafsen als Anlage das Wesen der Grundbegriffe der gesamten
Tugend?) in sich, die sich zugleich mit ihrer fortschreitenden Ent-
') Er suchte daher in seiner Schrift περὲ χριτηρίου den λόγος ὀρϑός als
Kriterium auch bei einigen der älteren Stoiker nachzuweisen, vgl. Diog.
VII 54. Das Gleiche that er bei den älteren Pythagoreern (Philolaus u. Empe-
docles), Sext. adv. log. 193ff.; vgl. hierüber im folgenden den Abschnitt
über den Mystizismus, auch Corssen diss. p. 18, der jedoch ohne Grund in
dem Berichte des Diogenes ‘Frwız@ör’ streichen will; vgl. dagegen auch
L. Stein Psychologie der Stoa II S. 253 A. 550. Bedenken wir, dass Posidonius
wenigstens bei den genannten alten Pythagoreern nur durch Deutung den
ὀρϑὸς λόγος als Kriterium finden konnte und fand, so zeigt sich uns hier das-
selbe Streben, das wir auch in der Theologie und der Psychologie bereits
kennen gelernt haben, dass er seine eigene Meinung bei den malsgebenden
Philosophen der Vergangenheit aufzuweisen bemüht war. Es kann daher
kein Zweifel obwalten, dass er den ὀρϑὸς λόγος als Kriterium auffasste. Dar-
aus ergiebt sich uns auch der allgemeine Inhalt der Schrift π. χριτηρίου.
2) Galen a. a. O. p. 452,5ff: τὰ γάρ οἰχεῖα δοξάζουσιν οὐκ εἰδότες, ὡς τὸ
μὲν ἡδεσθαί TE zei τὸ χρατεῖν τῶν πέλας τοῦ ζῳώσδους τῆς ψυχῆς ἐστιν ὀρεχτά,
σοφία δὲ πᾶν ὅσον ἀγαθόν TE χαὶ χαλὸν ἅμα τοῦ λογιχοῦ τε καὶ ϑείου. Dass
‚diese Stelle dem Posidonius gehört, zeigt der Zusammenhang; vgl. p. 445,
l5ff. und bes. p. 400,5ff. Die Tugend entspricht also der Natur dieses Ver-
mögens und entsteht demnach aus dem Wesen desselben ebenso wie die
Lust und die Sucht nach Herrschaft aus den niederen Vermögen: In dem
ersteren können die niederen Triebe nicht entstehen und in dem letzteren
nicht Tugend und Weisheit; vgl. Galen p. 445, 1öff. Die Tugend ist also in der
Natur des vernünftigen Vermögens begründet; dieses muss sie demnach ihrem
Wesen nach als Anlage besitzen. Bestimmter lesen wir dies von dem
Glauben an die Gottheit Cie. deor. nat. II 4,12: itaque inter omnis omnium
gentium summa constat; omnibus enim innatum est et in animo quasi insculptum
esse deos. Das Gleiche haben wir bereits früher (S. 255) für die Mantik
nachgewiesen, und ganz offen wird in dem Abschnitte von Ciceros Tusculanen
zu wiederholten Malen von dem unmittelbaren Wissen gesprochen, in dem
Cicero sicher dem Posidonius gefolgt ist. Es ist also nicht zu leugnen, dass
das vernünftige Vermögen der Seele die gesamte Tugend als Anlage in sich
schliesst. Natürlich haben wir keinen Grund anzunehmen, dass die einzelnen
Ideen als bewusste angeboren sind, sondern nur dass sie derart in der Natur
des Geistes ihren Grund haben, dass sie ins Bewusstsein gerufen werden,
sobald der Geist durch äussere Veranlassung dazu angeregt wird. Hierzu
stimmt auch wieder die mehrfach erwähnte Nachricht, der Geist schaue,
wenn er unabhängig vom Körper sei, die Wahrheit viel schärfer als durch
᾿
wickelung der Vernunft und in gleicher Weise wie diese zu den
bestimmten Allgemeinbegriffen ausbilden. Diese sind daher auch
gewiss und allgemein gültig.
Der zweite Teil der Dialektik ist die formale Logik. Ihr
Gegenstand ist die Lehre von den Begriffen, Urteilen und
'Schlüssen. Dass die Bildung der Begriffe nur auf empirischem
Wege mittels der Induktion möglich ist, geht aus allem hervor.
was wir bisher dargelegt haben; Genaueres jedoch erfahren wir
nicht. Die vier obersten Begriffe oder Kategorien sind Substrat.
Eigenschaft, Beschaffenheit und beziehungsweise Beschaffenheit !),
Ebenso wie er mit dieser Einteilung bei der Lehre seiner Schule
blieb, hat er offenbar auch ihren Nominalismus vertreten®). Aus
der Theorie der Urteile unä Schlüsse sind keine Berichte erhalten:
nur soviel lässt sich erkennen, dass er auch diese wohl be-
herrscht und auch die Trugschlüsse zu lösen sich bemüht hat°).
Kap. 4.
Ethik.
8. 1. Das Ziel.
Nach der Beschaffenheit der Seele richtet sich notwendig ihr
Verhalten und ihre Thätigkeit. Dieses ist der Gegenstand der
Ethik, und darum ist die Ethik in ihrem ganzen Bestande von
Vermittelung der Sinne, die ihm eigentlich mehr hinderlich als förderlich
seien. Diese Anschauung ist ebenso sehr durch die stoische Lehre von der
πρόληψις (= κοινὴ ἔννοια) wie von der Annahme der Präexistenz bedingt
und berührt sich wesentlich mit der Platonischen Wiedererinnerungslehre.
Die Art einer solchen Verbindung sehen wir noch klar bei Cie. Tuse. I 24, 57.
2 ») Dies folgt aus Quint. inst. orat. III 6.
2) Vgl. S. 264; auch dürfen wir dies aus seiner Auffassung der Platonischen
Ideen schliessen. Bei Plato sind die Ideen bekanntlich hypostasierte Begriffe.
'Zeno bestritt in gleicher Weise wie Aristoteles das Recht der Hypostase
und erklärte die Ideen einfach für Gedankenprodukte (Diels dox. gr. p. 412, 1;
809,9). Posidonius bemühte sich nun zu beweisen, dass nach Plato die
Ideen Seelen seien, wie wir später zeigen werden. Bei dieser Auffassung
"konnte er die Begriffe nicht mehr zu den Ideen rechnen; sie mussten auch ihm
"unstoffliche Gedankenprodukte sein. Dazu stimmt Cie. Tuse. I 24,57.
3) Seneca ep. 87,38 ff.
der Psychologie abhängig'). Aus diesem Verhältnisse folgt un-
mittelbar, dass das höchste Gesetz derselben das naturgemässe
Leben ist?), und dass die Natur, der das Leben gemäss sein soll,
nur die eigene Natur des Menschen sein kann. Diese ist nun,
wie. gezeigt, ihrem Wesen nach doppelt: die eine Seite umfasst
das tierische, die andere das vernünftige Vermögen; naturgemäss
hat aber die letztere die Leitung: Also ist das vernunftgemässe
Verhalten der Seele das Ziel, auf das sich alles Streben richtet
und richten muss®). Dieses Ziel gilt als solches für alle Menschen,
weil es in der menschlichen Natur begründet ist. Seinem Inhalte
nach ist es das Wahre und Gute in seinem ganzen Umfange,
das Wahre in der Erkenntnis und das Gute im Gebiete des
Handelns*); natürlich beides nur insoweit, als es die menschliche
Natur überhaupt zulässt. Denn ein Ziel, welches Aufgaben ein-
schliesst, die die menschliche Natur überschreiten, ist für die
menschliche Natur in Wirklichkeit kein Ziel’). Da dieses nun
in der Vernunft begründet ist, ist es auch Gesetz und Pflicht
und demgemäss seine Verwirklichung die Tugend des Menschen.
$ 2. Die Tugend.
Die Tugend ist also die vernunftgemässe Vollendung der
menschlichen Natur®) und ist als solche nur eine einzige. Da
nun aber die Natur doppelseitig ist, vernünftig sowohl wie un-
ἡ Galen a. a. O. VIII p. 653, 14ff.; IV p. 396,16; V p. 448 ff.; 450 ff.
3) Diog. VII 87; Galen a. a. O. V 449 ff.
3) Galen a. a. O. V 448, 15ff.: τὸ ϑὴ τῶν παϑῶν αἴτιον, τοὐτέστι τῆς ἀνο-
μολογίας καὶ τοῦ χαχοδαίμονος βίου, τὸ μὴ χατὰ πῶν ἕπεσϑαν τῷ ἐν αὑτοῖς δϑαίμονν
συγγενεῖ τε ὄντι καὶ τὴν ὁμοίαν φύσιν ἔχοντι τῷ τὸν ὅλον κόσμον Φδιοιχοῦντι, τῷ
δὲ χείρονι καὶ ζῳώδει ποτὲ συνεχχλίνοντας φέρεσθαι" oi δὲ τοῖτο παριθδόντες .. -
οὔτε ἐν τοῖς περὶ τῆς εὐδαιμονίας χαὶ ὁμολογίας ὀρϑοδοξοῦσιν»" οὐ γὰρ βλέπουσιν,
ὅτι πρῶτόν ἐστιν ἐν αὐτῇ τὸ κατὰ undev ἄγεσθαι ὑπὸ τοῦ ἀλόγου τε χαί καχο-
δαίμονος zei ἀϑέου τῆς ψυχῆς. Vgl. auch Galen a. a. O. p. 4508.
4) Clem. Alex. Strom. II p. 416B: ὅ Ποσειδώνιος (τὸ τέλος εἶναι εἶπε) τὸ
ζὴν ϑεωροῦντα τὴν τῶν ὅλων ἀλήϑειαν καὶ τάξιν χαὶ συγκατασχευάζοντα αὑτὸν
χατὰ τὸ δυνατόν, κατὰ μηδὲν ἀγόμενον ὑπὸ τοῦ ἀλόγου μέρους τῆς ψυχῆς. Vgl.
auch Anm. 3. und Galen a. a. O. p. 462. ὃ Ε΄. 5. 5. 268 Anm. 2.
5) Chrysipps Auffassung vom Weisen verwarf Posidonius; vgl. auch die
nachfolg. Darstellung und Galen a. a. O. p. 508
°) Galen a. a. O. p. 447, 11: ἡ ἀρετὴ τελειότης ἐστὶ τῆς ἑκάστου φύσεως. Diese
Definition wird zwar als die des Chrysipp bezeichnet, aber mit vollständiger
Ve ra
7
— 21 —
vernünftig, so zerfällt auch die Tugend in zwei Arten: Die eine
umfasst die Ausbildung der Vernunft, die andere das richtige
Verhalten des unvernünftigen Vermögens, womit zugleich die
naturgemässe Herrschaft jener über diese gesetzt ist!). Hieraus
folgt also, dass die Verschiedenheit der beiden Tugenden ebenso
stark und ebenso entgegengesetzt ist, wie die Vermögen es selbst
sind. Insofern nun aber diese doch nur Vermögen der Seele
sind, und die Seele als solche durchaus einheitlich ist, müssen
auch die Tugenden innerlich zusammenhängen derart, dass die
eine nicht ohne die andere möglich ist und die Vollkommenheit
der Vernunft auch die Tugend des unvernünftigen Seelenteils
einschliesst. Das gegenseitige Verhältnis und die Natur beider
sind noch genauer zu untersuchen’). |
Die Tugend der Vernunft besteht im Wissen, das ihr auch
allein zukommt®). Dieses Wissen umfasst die gesamte philo-
sophische Erkenntnis‘) und zerfällt in zwei Teile, in die Er-
kenntnis des Wahren als solches und in die Erkenntnis des
Guten. Die letztere hängt offenbar von jener ab, da erst die
Erkenntnis des Wahren die des Guten zur Folge haben kann.
Billigung. Dem Chrysipp wird nur der Vorwurf gemacht, dass er das Wesen
der menschlichen Natur nicht richtig erkannt habe. Übrigens war dies die
gewöhnliche Auffassung. Auch Hekaton teilte dieselbe.
1) Galen a. ἃ. Ο. Ρ. 445, 15ff.: σμικρὸν μὲν γὰρ τὰ πρῶτα zei ἀσϑενὲς ὑπ-
ἄρχειν τοῦτο, μέγα δὲ zei ἰσχυρὸν ἀποτελεῖσθαι περὶ τὴν τεσσαρεσχαιδεχαέτην
ἡλιχέαν, ἡνίχα ἤδη χρατεῖν TE χαὶ ἄρχειν αὐτῷ προσήκει χαϑάπερ ἡνιόχῳ τινὶ τοῦ
ζεύγους τῶν συντρόφων ἵππων ἐπιϑυμίας τε χαὶ ϑυμοῦ... εἰς ἅπαν ἑτοίμων
ἕπεσθαί τε zei πείϑεσϑαι τῷ λογισμῷ" τούτου δὲ αὐτοῦ τὴν παιδείαν τε zei τὴν
ἀρετὴν ἐπιστήμην εἶναι τῶν ὄντων φύσεως, ὥσπερ τοῦ ἡνιόχου τῶν ἡνιοχιχῶν
ϑεωρημάτων. ἐν γὰρ ταῖς ἀλόγοις τῆς ψυχῆς δυνάμεσιν ἐπιστήμας οὐχ ἐγγίνεσθαι,
χαϑάπερ οὐδ᾽ ἐν τοῖς ἵπποις, ἀλλὰ τούτοις μὲν τὴν οἰκείαν ἀρετὴν ἐξ ἐϑισμοῦ
τινος ἀλόγου παραγίνεται, τοῖς δὲ ἡνιό χοις ἐκ διδασχαλίας λογικῆς. ἕπεται δὲ εὐθὺς
τοῖσσε χαὶ ὃ περὶ τὼν ἀρετῶν λόγος αὐτοῦ ἐλέγχων τὸ σφάλμα διττόν, εἴτε ἐπι-
στήμας τις ἁπάσας αὐτὰς εἴτε ὃ υνάμεις ὑπολάβοι. τῶν μὲν γὰρ ἀλόγων τῆς ννυχῆς
μερῶν ἀλόγους ἀνάγκη zei τὰς ἀρετὰς εἶναι, τοῦ λογιστιχοῦ δὲ μόνου λογιχήν..
ὥστε εὐλόγως ἐχείνων μὲν ai ἀρεταὶ δυνάμεις εἰσίν, ἐπιστήμη δὲ μόνου τοῦ λογι-
στιχοῦ. Vgl. auch Galen a. a. O. p. 584. Seneca ep. 89, 47. ah
?) Über diese Einteilung der Tugend handelt im wesentlichen richtig
_ Hirzel Unters. II S. 331 £.
®) Vgl. Anm. 1. MS
*) Vgl. Anm. 1: τούτου δέ αὐτοῦ (sc. λογισμοῦ) τὴν παιδείαν τε καὶ τὴν
ἀρετὴν ἐπιστήμην εἶναι τῶν ὄντων φύσεως.
Ι
τὰ
en
_ 22 —
Die Erkenntnis des Wahren ist die Weisheit (σοφία), die des
Guten die Klugheit (φρόνησις). Die Weisheit hat alle Probleme
zum Gegenstande, welche die Natur des Alls und die der Menschen
und ihr gegenseitiges Verhältnis angehen. Die Klugheit dagegen |
bezieht sich auf die Erkenntnis der ethischen Prineipien, des
Sittlichen und Guten, und ist die Wissenschaft dessen, was zu
wählen und zu meiden ist').
Die Tugend des vernunftlosen Vermögens der Seele ist die
Fähigkeit, sich jener willig unterzuordnen und zu gehorchen?).
Aus dem letzteren entspringen nun, wie wir gezeigt haben, die
Triebe; so natürlich also wie dies Vermögen ein Vermögen der
Seele ist, sind es auch die Triebe desselben und deshalb auch 7
berechtigt; sie werden jedoch verkehrt und Störungen (nd),
sobald sie die ihnen naturgemäss zukommende Grenze über-
schreiten. Diese Grenze ist die richtige Mitte zwischen der allzu
starken und allzu schwachen Thätigkeit derselben®). Sie wird von
der Vernunft bestimmt, oder genauer von der Klugheit, welche
ja das Wissen des Guten und Schlechten ist oder das Wissen ”
desjenigen, was gethan und was gemieden werden muss. Die
Tugend des unvernünftigen Vermögens der Seele besteht dem-
nach in der willigen Unterordnung desselben unter die Vernunft,
wodurch die Innehaltung der naturgemässen Mitte der Triebe
erreicht wird. Sie zerfällt in drei besondere Tugenden®), die‘
Besonnenheit (σωφροσύνη), die Tapferkeit (ἀνδρία) und Gerechtig-
keit (δικαιοσύνη). Die Sophrosyne ist das richtige Verhalten”
1) Sext. adv. phys. I 13 u. 125; Cie. off. 143, 153. Die letzte Definition”
ist allgemein-stoisch, vgl. Stob. ecl. II 59,4 W.
3) Vgl. vorige Seite Anm. 1.
3) Galen a. a. O. V 445, 15ff: σμιχρὸν μὲν γὰρ τὰ πρῶτα zei ἀσϑενὲς ὑπ-
iv ἀποτελεῖσϑαι περὶ τὴν τεσσαρεσχαιδεχαέτην
ἄρχειν τοῦτο, μέγα δὲ καὶ ἰσχυρ
ἄρχειν αὐτῷ προσήχει χαϑάπερ ἡνιόχῳ τινὶ τοῦ.
ἡλιχίαν, ἡνίκα ἤδᾳ κρατεῖν TE χαὶ
ζεύγους τῶν συντρόφων ἵππων ἐπιϑυμίας τε χαὶ ϑυμοῦ μήτε ἰσχυρῶν ὕπαρ-
χόντων ἄγαν μήτε ἀσϑενῶν, μήτε ὀχκνηρῶν μῆτε ἐχφόρων, μήτε dvo
πειϑῶν ὅλως ἢ ἀκόσμων ἢ ὑβριστῶν, ἀλλ᾽ εἰς ἅπαν ἑτοίμων ἕπεσϑαί TE zei
πείϑεσϑαν τῷ λογισμῷ. Σ
4) Diog. VII 92 schreibt ihm die gewöhnliche Vierteilung der Tugend
zu. Da wir nun gesehen haben, dass sie ihrem Wesen nach in zwei Arten
zerfällt und die eine derselben von der Weisheit gebildet wird, so bleiben
für die andere Art eben die drei anderen übrig, die wir oben genannt haben.
Es ist dieselbe Gruppierung wie bei Panätius. 2
-
Ba
ς
ID
des Begehrungsvermögens (ἐπιϑυμία), die Tapferkeit das des
Mutartigen (ϑυμοειδές) in Bezug auf die Vernunft wie auf die
Triebe des Begehrungsvermögens. Von Natur eigen ist nun dem
letzteren der Trieb zur Herrschaft: Demnach ist die Tapferkeit
einerseits in Bezug auf die niederen Vermögen der Seele die
Gemütsruhe, das ist der Zustand, in welchem die Affekte zum
Schweigen gebracht sind, und darum andererseits die Unter-
ordnung unter die Vernunft, infolge dessen der Mut handelnd für
dasjenige eintritt, was jene anordnet, und in unerschütterlicher
Standhaftigkeit gegen die Triebe der Begierde (ἐπεϑυμία) und
gegen alles das kämpft, was das Geschick Widriges bringen
mag‘).
Auf derselben psychologischen Grundlage wie die Tapferkeit
ruht auch die Gerechtigkeit. Der Trieb zu herrschen, der dem
Vermögen des Mutartigen von Natur innewohnt, erstreckt sich
seiner Natur nach auch auf die anderen Wesen, mit denen der
Mensch in Berührung kommt, und zwar offenbar behufs Er-
‚Jangung von allerlei Vorteilen. Wo also dieser Trieb herrscht,
da wird auch nur das Verhältnis von Herrschen und Beherrscht-
werden obwalten können. Naturgemäss soll aber in dem Verkehr
der Menschen unter einander und mit den Göttern nicht dieses
Vermögen, sondern die Vernunft herrschen. Die Herrschaft der-
selben in dieser Beziehung ist die Tugend der Gerechtigkeit. Die
Gerechtigkeit besteht demnach offenbar einerseits auch in der
Gemütsruhe, in der die Triebe die naturgemässe Grenze inne-
halten, und andererseits in dem willigen Gehorsam des Mut-
artigen gegen die Vernunft, infolge dessen eben das Mutartige im
Verkehr der Menschen unter einander und mit den Göttern nicht
den gemeinen Trieben, sondern den Vorschriften der Vernunft
folgt, welche die Menschen als Verwandte zu behandeln und nicht
auszubeuten gebietet?). Die Gerechtigkeit in Bezug auf die Götter
heisst speziell Frömmigkeit). Die Gerechtigkeit setzt also ebenso
wie die Tapferkeit die Sophrosyne voraus. Deswegen ist es auch
selbst im Interesse des Gemeinwesens unmöglich, dass die Ge-
1) Seneca ep. 88,29; 92,8, 10; 113, 27. Galen a. a. O0. V 4491. τῇ
2) Der Hauptsache nach ist dies allgemein stoisch; dass sie die Tugend
des Gemeinwesens ist, zeigt Cie. off. I 45,159; vgl. auch Sext. adv. phys.
I126#. Seneca ep. 92,10; 88, 29f.; 95, 52.
3) Sext. Emp. adv. phys. I 124.
Schmekel, mittlere Stoa. 18
5
— 24 —
rechtigkeit jemals etwas thun oder. zulassen kann, was gegen
die Sophrosyne verstösst!). Gleichzeitig folgt, dass die Menschen
zu den Wesen niederer Art, den Tieren und Pflanzen, : in keinem
rechtlichen Verhältnisse stehen, eben weil diese nicht der Ver-
nunft teilhaftig und deshalb der Gerechtigkeit nicht fähig sind?).
Ferner ergiebt sich aus der Darstellung, dass die Einteilung
der Tugend in Tugenden des Wissens und der Fähigkeit sich
auch mit der Einteilung derselben in solche des Wissens und
des Handelns, der Theorie und der Praxis deckt. Dass beide
innerlich zusammenhängen, haben wir gesehen; doch ist dieser
Zusammenhang nicht derartig, dass sie beide ganz in einander
aufgehen und die eine ganz die Voraussetzung der anderen ist.
Darum ist es auch möglich, dass beide Arten gegenüber treten
können. In diesem Falle steht die Tugend, welche sich auf das
Gemeinwesen bezieht, höher als die des Wissens?).
$ 3. Das höchste Gut.
Die Bezeichnung »Gut« kann in verschiedenem Sinne ge-
braucht werden; in dem eigentlichen jedoch kommt sie nur dem
zu, was niemals schaden kann, sondern unter allen Umständen
Gutes ist und wirkt?). Aus diesem Begriffe folgt, dass auch das
Gute allemal das Nützliche ist, und niemals etwas nützlich sein
kann, was nicht gut ist. Dies ist allein das Vernunftgemässe
oder die Tugend, wie es schon im Begriffe liegt, dass sich das
höchste Gut mit dem Ziel deckt, auf das die menschliche Natur
angelegt ist. Ist aber nur die Tugend das wahrhaft Gute, so
1) Cie. off. I 45,159.
2) Diog. VII 129; Sext. Emp. a. a. Ὁ. I 1501.
8) Cie. off. I 43, 152ff. Hirzels weitergehenden Ausführungen Unters. II.
S.519ff. kann ich nur zum Teil zustimmen. Wenn aber Hirzel a. a. O. 501f.
aus der eben genannten Stelle Ciceros den Schluss zieht, dass die Gerechtig-
keit die allen Tugenden gemeinsame Tugend sei, und auf Grund dessen dann
weiter argumentiert, dass Posidonius sie in voller Übereinstimmung mit
Plato für die das Ganze der Seele umfassende Tugend erklärt habe, so scheint
mir zu diesen Schlüssen in den angeführten Stellen jede thatsächliche Be-
rechtigung zu fehlen.
*) Seneca ep. 87,32; dass dies die Meinung des Posidonius sein muss,
geht speziell auch daraus hervor, dass es die Grundlage für das Urteil des
Posidonius $ 31 ist; die beiden Stellen hängen innerlich zusammen.
25. τα
|
kann umgekehrt auch nur das, was der Tugend entgegengesetzt
ist, die Untugend, wahrhaft schlecht sein. Zwischen beiden
Extremen liegt ns ganze Gebiet der unterschiedslosen Dinge
(ἀδιάφορα) '). Diese zerfallen in drei Arten, in solche, welche
einen Wert (ἀξία) haben, solche, welche keinen Wert haben
᾿(ἀπαξία), und solehe, welche vollkommen gleichgültig sind?). Uns
gehen hier wesentlich nur die ersteren an. Ihr Wert hängt da-
von ab, wie weit sie unserer Natur gemäss sind: Er ist offenbar
um so grösser, je edler das Vermögen ist, dem sie dienen.
Diesem Werte entsprechend richtet sich auch unser Streben nach
ihnen. Hierher gehören hauptsächlich diejenigen Gegenstände,
‚ auf welche sich die Triebe zuerst richten, die sogenannten πρῶτα
| κατὰ φύσιν. Dies ist zunächst die Lust, welche mit dem Streben
nach dem, was der Erhaltung des Lebens zuträglich ist, eng zu-
sammenhängt. Sie entspricht und entspringt dem niedrigsten
Seelenvermögen des Menschen und ist als solche vollen
naturgemäss und berechtigt; jedoch ist sie keineswegs ein Gut
im eigentlichen Sinne des Wortes, weil sie nichts Vernunft-
gemässes ist, ja sogar den Menschen oft gegen die Vernunft zu
handeln reizt. Erstrebenswert also ist sie nur soweit, als sie auf
das ihr von Natur zukommende Mafs beschränkt ist?). Was nun
von der Lust gilt, das gilt umgekehrt auch von dem Schmerz:
Er ist kein Übel, aber ein natürliches und unangenehmes Gefühl
und darum das Freisein von ihm durchaus wünschenswert‘).
Hiermit steht die Gemütsruhe in nahem Zusammenhange. Von
Natur trachtet das mutartige Vermögen der Seele nach Herrschaft
1) Dass Posidonius diese Unterscheidung gemacht hat, bedarf eigentlich
keines Beweises; es geht dies aber auch daraus klar hervor, dass er dem
Antipater und seinen Anhängern den Vorwurf macht, dass ihre Begriffs-
bestimmung des τέλος darauf hinauskomme die ἀδεώφορα zu erlangen. Galen
a.a.0. V p. 450f. vgl. ferner Seneca ep. 87, 35.
2) Diese drei Klassen werden in der Stoa bekanntlich mit προηγμένα,
ἀποπροηγμένα und ἀδιάφορα im engeren Sinne bezeichnet; doch ist es, wie
Hirzel Unters. IIa S. 338f., 382ff. zeigt, sehr wohl möglich, dass Posidonius
diese Worte nicht streng beibehalten hat.
3) Galen p. 450 u. p. 400; vgl. auch Hirzel a. a. O. S. 446ff., der aber
aus anderen Gründen Echkiesst; oder vielmehr nr genannten Stellen nicht
berücksichtigt hat. Seneca ep. 92,5ff = Posid. b. Galen p. 450.
3) Dies folgt unmittelbar aus dem si κῶν ın; vgl. auch Cie. Tuse
II 25,61.
18*
jr
I
+
1
BE
und darum ist auch dieser Trieb 415 solcher natürlich und be-
rechtigt, soweit er die für die Menschen naturgemässe Grenze
einhält und die leidenschaftliche Erregung nicht zulässt. Ein Gut -
im eigentlichen Sinne aber ist sie nicht, weil sie nur ein Zustand
des niederen Vermögens der menschlichen Seele ist; doch steht
sie soviel höher als die Lust, als das zweite Vermögen der Seele
höher und edler als das unterste ist!).
Ferner gehören hierher das Leben und die Gesuridheit. Ist
der Körper nur ein unnützes und 'faules Fleisch, das sich nur zur
Aufnahme von Speise und Trank eignet, und demnach eine Be-
hausung, die der Seele keineswegs adäquat ist, so kann unmög-
lich das Leben als solches ein Gut sein (S. 248f.). Ist aber dieses
kein Gut, so muss es sich mit der Gesundheit des Körpers ebenso
verhalten. Diese kann ja auch thatsächlich alle Augenblicke in
das Gegenteil umschlagen. So naturgemäss sie also, und so
naturwidrig auch ihr Gegenteil, die Krankheit und der Schmerz,
sein mögen, so ist sie doch darum kein Gut, weil eben das Gute
seiner Natur nach stets gut ist?).
Eine zweite Klasse dieser nützlichen Dinge bilden der Reich-
tum und überhaupt alle äusseren Güter. Waren die vorhin auf-
gezählten Zustände in der Natur des Menschen begründet, so
dass ihr Wert davon abhing, ob sie naturgemäss seien oder nicht,
so hängt der Wert dieser Güter von dem Gebrauche ab, der mit
ihnen gemacht wird. Dies zeigt sich besonders darin, dass sie
oft die Ursache des Bösen sind, nicht etwa weil sie an sich das
Böse wirken, sondern weil sie das Gemüt des Menschen auf-
blasen, Neid erwecken und so zu Schlechtem Veranlassung geben.
Was aber die Ursache zum Schlechten werden kann, kann kein
wirkliches Gut sein. Daraus folgt notwendig, dass auch die
Armut kein Übel ist. Beide gehören somit zu den gleichgültigen
Dingen, doch bietet der Reichtum mehr Vorteil als Nachteil und
ist daher zu den Dingen zu zählen, welche vorzuziehen und
wünschenswert sind. Das Umgekehrte gilt von der Armut?).
Schliesslich gehören hierher im allgemeinen auch die Künste
Ἔξ το. — τὰ
und Wissenschaften. Es giebt deren überhaupt vier Arten, die
— 276 —
') Seneca ep. 92,10 u. 8. Dieses ist auch die Konsequenz von Galen
a. a. OÖ. V. p. 450 und Seneca ep. 92, 6. :
2) Posid. b. Galen a. a. O. V p. 540; Seneca ep. 87,35.
®) Seneca ep. 87, 31£., 558.
3
-- 71 —
gemeinen der Handwerker, die unterhaltenden, die encyklischen
und die philosophischen. Die letzteren bilden die Tugenden.
Von den drei übrigen dienen die beiden ersten den sinnlichen
Bedürfnissen und dem Vergnügen, also der gemeinen Natur des
Menschen. Sie stehen demnach wesentlich auf derselben Stufe
wie die äusseren Güter, denen sie augenscheinlich parallel sind.
Zu den encyklischen Wissenschaften gehören die Grammatik,
Musik, Geometrie, Arithmetik und Astronomie. Diese sind Ver-
‚nunftdiseiplinen und als solche durchaus des Menschen würdig.
Obwohl sie mit der eigentlichen Philosophie nichts zu thun haben,
stehen sie als Vernunttthätigkeit mit ihr doch in naher Be-
ziehung, und zwar die Grammatik mit der Logik, die Geometrie,
Arithmetik und Astronomie mit der Physik, die Musik mit beiden.
Sie bilden die Vorstufe zu ihr und sind deshalb vielfach ihre not-
wendigen Mittel. Daher kommt es auch, dass sie in gewisser
Weise ein Teil derselben sind und vielfach die gleichen Probleme
behandeln ἢ.
Da also die Tugend das einzige Gut im wahren Sinne des
Wortes ist, kann auch nur sie allein die Glückseligkeit schaffen
und nichts anderes sie erhöhen oder erniedrigen. Nun ist aber
der Mensch nicht bloss Vernunft, sondern besitzt auch von Natur
niedere Vermögen. Die Triebe derselben sind, soweit sie natur-
gemäss sind, vollkommen berechtigt und daher ihre Befriedigung
auch durchaus natürlich. Es ist somit notwendig, dass die Tugend
nicht bloss in dem vollkommenen Verhalten der Vernunft als
solcher in Bezug auf sich selbst und auf das Verhalten der
niederen Vermögen besteht, sondern dass sie sich auch auf die
richtige Wahl der naturgemässen und nützlichen Dinge richtet.
Insofern umfasst sie zugleich das Streben nach Gesundheit, geistiger
Kraft und den zugehörigen Mitteln, durch welche jene gefördert
werden. Nur insofern sind diese zum Leben oder glückseligen
Leben notwendig. Der Wert der Tugend wird damit jedoch in
keiner Weise beeinträchtigt oder herabgesetzt, da es allein ihre
Sache ist, diese Auswahl zu treffen?).
)).Seneca ep. 88,20ff. Simplieius in phys. Arist. p. 64.
2) Diog. VII 128. Seneca ep. 92; 121,1ff; Cie. off. ΠῚ 3,13, vgl. 5. 28 f.
---» ..-.....᾿....-
— 218 --
$ 4. Der Weise.
In dem Weisen zeigt sich die Verwirklichung des Zieles. Weil
nun diese an den Besitz der Tugend gebunden ist, so erhebt
sich die doppelte Frage, ob die Tugend erreichbar ist und wie
sie, wenn dies der Fall ist, erlangt wird. Da die Tugend in der
allseitigen Vollendung der menschlichen Natur besteht, kann
principiell kein Grund gegen ihre Verwirklichung vorhanden sein.
Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Tugend Forderungen
einschlösse, welche die menschliche Natur überschritten!). Dass
dieselbe sehr schwer sein wird, ist selbstverständlich; dass sie
aber jedenfalls möglich ist, beweist die Thatsache, dass es einen
Fortschritt zur Tugend giebt?). Das Ideal des Weisen ist daher
kein blosses Ideal, sondern in Wirklichkeit realisierbar: Ein solcher
vereinigt in sich die Fülle des Wissens und die sittliche Festig-
keit, welche nur der Vernunft folgt und eine leidenschaftliche
Erregung der Triebe ausschliesst?).. Der Grund dafür, dass sich
') Diesen Vorwurf erhob er gegen Chrysipps Bestimmung der Tugend
und dessen Lehre vom Weisen; vgl. Galen a.a. O. V 450, 5ff.; 448, 9ff.; 451, 6 ff.
5 Vgl. ἃ. folg. Anm.
3) Galen a. a. Ο. V p. 408,6ff.M.: Χρύσιππος .. ἀνάλογον ἔχειν αὐτὴν (50.
τὴν τῶν φαύλων ψυχήν) φησι τοῖς ἐπιτηδείοις σώμασιν εἰς πυρετοὺς ἐμπίπτειν ..
ἐπὶ σμιχρῷᾷ zei τυχούσῃ προφάσει. χαὶ μέμφεταί γε ὃ Ποσειδώνιος αὐτοῦ τὴν
εἰχόνα" γρῆναν γάρ φησιν οὐ τούτοις, ἀλλὰ τοῖς ἁπλῶς ὑγιείνουσν σώμασιν εἰχάσαν
τὴν τῶν φαύλων ψυχήν" εἴτε γὰρ ἐπὶ μεγάλοις αἰτίοις εἴτε ἐπὶ σμικροῖς πυρέττοιεν,
οὐδὲν διαφέρειν ὡς πρὸς τὸ πάσχειν τ᾽ αὐτὰ χαὶ εἰς πάϑος ἐσάγεσϑαν καϑ' ὅδτιοῦν,
ἀλλὰ τῷ τὰ μὲν εὐέμπτωτα εἶναν τὰ δὲ δύσπτωτα διαφέρειν ἀλλήλων. οὔχουν
ὑρϑῶς εἰχάζεσϑαί φησιν ὑπὸ τοῦ Χρυσίππου τὴν μὲν ὑγίειαν τῆς ψυχῆς τῇ τοῦ
σώματος ὑγιείᾳ, τὴν δὲ νόσον τῇ δαδίως εἰς νόσημα ἐμπιπτούσῃ χαταστάσεν τοῦ
σώματος. ἀπαϑὴ μὲν γὰρ γίνεσϑαν ψυχὴν τὴν τοῦ σοφοῦ δηλονότι,
σῶμα δ᾽ οὐδὲν ὑπάρχειν ἀπαϑές: ἀλλὰ δικαιότερον εἶναν προσειχάζειν τὰς τῶν
φαύλων ψυχὰς ἤτον τῇ σωματικῇ ὑγιείᾳ. ἐχούσῃ τὸ εὐέμπτωτον εἰς νόσον, οὕτω γὰρ
ὠνόμασεν ἡ Ποσειδώνιος, ἢ αὐτῇ τῇ νόσῳ, εἶναν γὰρ ἤτον νοσώδη τινὰ ἕξιν ἢ ἤδη
νοσοῦσαν. συμφέρεταν μέντον τῷ Χρυσίππῳ χαὶ αὐτός, ὡς νοσεῖν τε λέγειν τὴν
ψυχὴν ἅπαντας τοὺς φαύλους ἐοιχέναν TE τὴν νόσον αὐτῶν ταῖς εἰρημέναις
τοῦ σώματος καταστάσεσι. Wenn also Hirzel, Unters. Il. S. 285ff. von an-
deren nicht direkt in Verbindung stehenden Erwägungen abgesehen haupt-
sächlich aus Diog. VII, 91 schliesst, dass Posidonius die Verwirklichung
des Weisen sowohl in der Vergangenheit wie für die Zukunft bestritten habe,
so geht er darin entschieden zu weit. Aus Diog. folgt nur, was auch Hirzel
zunächst schliesst, dass Posidonius leugnete, es habe in der Vergangenheit
einen Weisen gegeben, nicht aber es könne überhaupt keinen geben; es
-- 279 —
dies Ideal noch nicht verwirklicht hat, liegt offenbar in der zur
Zeit noch mangelhaften Ausbildung der Erkenntnis. So lange
diese noch nicht vollendet ist, kann es auch noch nicht vollendete
Weise geben, sondern nur solche, welche auf der Bahn zur Weis-
heit fortschreiten und sich ihr nähern!). Auch diese werden
wegen ihrer relativen Vorzüglichkeit Weise genannt. Zu ihnen
gehören vor.allem die Philosophen und philosophischen Naturen,
die von jeher nach der Erkenntnis und Tugend strebten°).
Die weitere Frage ist es nun, wie die Tugend erreicht wird.
Dies ist nach der Natur derselben ganz verschieden: Soweit sie
auf Wissen beruht, ist sie lehırbar und demnach nur durch Unter-
richt und Forschung zu erreichen; so weit sie aber in der Fähig-
folgt vielmehr das Gegenteil, wie schon im Text angegeben ist. Denn
wenn wir lesen: τεχμήριον δὲ τὸ ὑπαρχτὴν εἶναι τὴν ἀρετήν φησιν ὁ Ποσει-
ϑώνιος .. τὸ γενέσϑαν ἐν προχοπῇ τοὺς περὶ Σωχράτην, Aoyirnv zei ᾿Αντισϑένην,
so beweist Posidonius hiermit ja gerade die prineipielle Erreichbarkeit der Tu-
gend und damit zugleich die Möglichkeit des Weisen, denn im Weisen wird
die Tugend zur Wirklichkeit. Es wäre ja auch ein offener Widerspruch
gewesen, wenn Posidonius ein Ideal der Tugend hätte aufstellen wollen,
dessen Unerreichbarkeit er von vorn herein annahm, obwohl er Chrysipps
Lehre vom Weisen gerade deswegen eingehend bekämpft hatte, weil sie
Forderungen an den Menschen stelle, die für denselben unerreichbar seien.
Was wir nun hier erschliessen, das erkennen wir unmittelbar aus der oben
angeführten Stelle Galens: Posidonius stimmte in den diesbezüglichen Haupt-
fragen mit Chrysipp überein, wich aber in der Auffassung der Natur des Weisen
von ihm ab, eben weil er eine andere Psychologie vertrat. Wenn Hirzel
ferner darauf hinweist, dass die Zeit zur Verehrung von Tugendspiegeln
wenig geeignet war, so glaube ich, dass Posidonius auf Rhodus im allge-
meinen nicht schlechtere Zeiten als die früheren Stoiker erlebte. Doch
selbst wenn dies der Fall war, so ist zu bedenken, dass gerade in Zeiten
des Unglücks die Phantasie gern aus der Wirklichkeit in das Reich des
᾿ Ideals flieht, und hier sucht, was sie dort nicht fand. — Übrigens lernen wir
aus dieser Stelle noch eines: Die Seele kann ὠπαϑής werden, der Körper
aber niemals; also müssen sie ihrem Wesen nach in hohem Grade verschieden
sein. Der obige Streit über die Vergleichung der Zustände der Seele mit
denen des Körpers ist also nicht so unbedeutend, wie er auf den ersten
Blick scheinen könnte; er basiert auf der Verschiedenheit des psychologischen
Standpunktes des Posidonius und des Chrysipp.
. ἢ) Vgl. vorig. Seite, Anm. ὃ.
2) Diog. VII 124; Seneca ep. 83, 10; 90,5ff. An der letzten Stelle ver-
steht er sicher nicht den eigentlichen Weisen, wie Hirzel gezeigt hat (a. a. 0.
S. 286); wahrscheinlich beziehen sich auch die beiden anderen Stellen nicht
auf denselben, sondern auf den Weisen im weiteren Sinne.
ö
N
er:
=. —
keit zu gehorchen besteht, führt natürlich nur die Gewöhnung
zu ihr, da durch wissenschaftlichen Unterricht allein auf die Ver-
nunft eingewirkt werden kann!). Beides ist wesentlich Sache der
Erziehung, die mit Beiden zu beginnen hat, sobald es nötig und
möglich ist, und mit Beiden so, wie es die Natur der Sache mit
sich bringt. Da nun die Vernunft im Menschen anfangs nur
schwach und von geringer Fassungskraft ist und erst mit den
Jahren zur vollen Reife heranwächst (S. 250), und andererseits die
Triebe des niederen Vermögens gleich nach der Geburt ihre
Thätigkeit beginnen und mächtig sind, so muss die Erziehung
der Vernunft, so lange sie noch nicht zur vollen Reife gelangt
ist, möglichst gegen die Triebe zu Hiülfe kommen und die
Triebe von vorn herein an Unterwürfigkeit und Gehorsam ge-
wöhnen. Nun hängen diese auch durchweg mit der Konstitution
des Körpers zusammen und sind so verschieden, wie diese ver-
schieden erscheint. Daher muss die Erziehung auch nicht erst
mit der Geburt beginnen, sondern schon mit der Zeugung, da-
durch dass während der fötalen Entwickelung alles ferne gehalten
wird, was irgend wie einen ungünstigen Einfluss haben könnte.
Andererseits muss sie nach der Geburt auf die individuelle Natur
Rücksicht nehmen und ihre Thätigkeit nach derselben einrichten,
um den gewünschten Erfolg möglichst zu erwirken. Nach der
verschiedenen Anlage ist dies verschieden schwer: Am leichtesten
ist es dort, wo starke Begabung mit Schwäche der Triebe ge- .
paart ist und nur durch Unwissenheit und schlechte Gewöhnung
die Triebe die Herrschaft erlangen; am schwersten dagegen dort,
wo mit der Schwäche der Begabung sich die Stärke der Triebe
verbindet. Die richtige Erkenntnis dieser Zustände bedingt die
richtige Wahl der Mittel: für den allzu Heftigen z. B. beruhigende,
für den Feigen anregende’). Was nun die Erziehung begann,
!) Galen a. a. Ὁ. V p. 446, 7ff: τούτου δὲ αὐτοῦ τὴν παιδείαν τε χαὶ τὴν
ἀρετὴν ἐπιστήμην εἶναν τῆς τῶν ὄντων φύσεως, ὥσπερ τοῦ ἡνιόχου τῶν ἡνιοχιχκῶν
ϑεωρημάτων. ἐν γὰρ ταῖς ἀλόγοις τῆς ψυχῆς θυνάμεσιν ἐπιστήμας οὐχ ἐγγίνεσθαι,
χαϑάπερ οὐδ᾽ ἐν τοῖς ἵπποις, ἀλλὰ τούτοις μὲν τὴν οἰχείαν ἀρετὴν ἐξ ἐϑισμοῦ
τινος ἀλόγου παραγίνεται, τοῖς δὲ ἡνιόχοις ἐχ διδασκαλίας λογικῆς. Dass diese
Stelle aus Posidonius stammt, beweist ebds. Z. 14, womit Galen auf 445, 4
zurückweist; die ganze Stelle referiert Galen nach Posidonius. Vgl. ferner
ebds. p. 451,10; 453, 10 ff.
5) Galen a. a. O. p. 443, 14 —446; 452, 10ff.M.
-- 28] —
muss die eigene Übung fortsetzen. Gelegenheit bietet hierzu das
Geschick reichlich, gegen dessen Schläge man immer gerüstet und
standhaft sein soll!). Zur Erreichung dieses Standpunktes genügt
das Wissen der Lehre und ihrer Grundsätze allein nicht — dies
würde nur beim Weisen der Fall sein — sondern verlangt noch
. alle Arten der Paränese, Pflichtenlehre und Gesetze, Ermahnun-
gen, Ratschläge, Tröstungen und überhaupt alle Schilderungen,
welche das Lob der Tugend und die Schlechtigkeit des Lasters
zur Nachahmung oder zur Warnung darstellen 2),
Kap. 5.
Die exacten Wissenschaften.
Die Bedeutung des Posidonius in der Geschichte der Wissen-
schaften ist von ausserordentlicher Grösse, denn er gehörte zu
den umfassendsten Gelehrten seiner Zeit?), und dieses nicht nur
in dem Sinne eines emsigen Sammlers, sondern vielmehr in dem
eines selbständigen Forschers. Eine ausführliche Darstellung
seiner Arbeiten auf diesem Gebiete gehört nicht hierher; wir
haben nur eine kurze Übersicht über dieselben zu geben, na-
mentlich soweit sie seine philosophische Anschauung streifen.
_ Wir wenden uns zuerst zu den mathematisch-naturwissen-
schaftlichen Arbeiten und zwar zunächst zur Geometrie und
Arithmetik. Dass er in beiden auf dem Höhepunkte des damaligen
Wissens stand, wird direkt überliefert und durch seine natur-
wissenschaftlichen Forschungen bestätigt, soweit bei diesen die-
selben in Anwendung kamen. Lebhaft verteidigte er die unbe-
dingte Gewissheit ihrer Grundsätze gegen die Angriffe der Gegner‘).
Von den Naturwissenschaften betrachten wir zunächst die Astro-
nomie, Diese hat nach seiner Überzeugung die Erklärung der
äusseren Erscheinungen im Weltall zu ihrem Gegenstande. Sie
behandelt deshalb die Einteilung und Ordnung der Gestirne, ihre
!) Seneca ep. 113, 28.
2) Seneca ep. 95, 65f.
3) Strabo XVI 753.
4) Galen V p. 362; 653M.; vgl. 5. 14 A. 7.
Bewegung, ihre Abstände, Gestalt und Grösse!). Sie zerfallen in
zwei Klassen, in Fixsterne und Planeten?). Die letzteren sind
der Erde näher als jene und zwar steht ihr zunächst auf der
Grenze des Luft- und Ätherraumes der Mond. Seine Entfernung
beträgt 2 Millionen Stadien oder 50000 geogr. Meilen. Auf ihn
folgt die Venus, dann der Merkur und darauf die Sonne. Sie ist
500 Millionen Stadien oder 12500000 Meilen entfernt®). Der
nächste Planet ist Mars, dann folgt Jupiter und zuletzt Saturn. Die
Region derPlaneten wird von der Sphäre der Fixsterne umschlossen.
Ihre Entfernung ist unberechenbar; jedenfalls ist dieselbe so gross,
dass die Erde gleichsam nur als ein Punkt des Weltalls erscheint*).
Ebenso lässt sich auch ihre Grösse nicht bestimmen; nur soviel
ist gewiss, dass sie nicht so gross sind, wie sie erscheinen, sondern
unendlich grösser, wie wir von der Grösse bekannterer Weltkörper
schliessen müssen®). Zu den letzteren gehören der Mond und
die Sonne; der erstere ist kleiner als die Erde®), die letztere da-
gegen bedeutend grösser, wie sich nicht nur daraus ergiebt, dass
sie alles erleuchtet, sondern noch gewisser daraus, dass der
Erdschatten bei der Mondfinsternis stets ein Kegel ist”). Ihr
Durchmesser beträgt 3 Millionen Stadien oder 75000 Meilen).
Dass sie am Horizont grösser erscheint als im Zenith ist nur
eine optische Täuschung, die ihren Grund darin hat, dass die
') Simplie. in phys. Arist. p 64.
5) Cie. deor. nat. II 19,49. -
°) Diog. VO 145; Plin. N. H. Π 21. Die Entfernung der Sonne ist
zwar noch viel zu klein bestimmt, doch schon viel richtiger, als selbst New-
ton sie kannte.
*) Cie. Tuse. I 17,40 = Cleom. cyel. theor. II ὁ. 1 p. 7,18; Te. 11.
Das letzte Kapitel des Cleomedes giebt sich als unmittelbare Fortsetzung
(des vorhergehenden, in welehem die Berechnung der Grösse der Erde nach
Posidonius ausgeführt wird. Ebenso schliesst sich die erste Stelle unmittel-
bar an Posidonius’ Berechnung der Grösse der Sonne an, und hängt mit ihr
innerlich zusammen, wie Cleomedes selbst andeutet.
°) Cleom. a. a. Ὁ: 11 c. 3 p. 96, 15£.; 97, 23.
°) Hirzel, Unters. I 193 A.2; Diels, dox. gr. p. 68A.1. Cleom. II c. 2
Ρ. 94, 12ff.; 98, 10.
ἢ Diog. VII 144; Macrob. somn. Se. I 20; Cleom. II e. 2 p. 94, 11ff.
°) Cleom. II e. 1 p. 79£.; vgl. auch Plin. N.H. Π 21. Die Berechnungsart
des Posidonius ist auch hier nur im allgemeinen zu erkennen, da Cleomedes
den Gang des Beweises nur unvollständig und ungenau berichtet, wie die
Vergleichung desselben mit Macrob. somn. Sc. I 20,9 f. beweist.
ἢ
-- 28 —
Strahlen in den dichteren Dünsten am Horizonte von der geraden
Linie abgelenkt werden!). Das ganze Weltall dreht sich um die
Erde, die im Mittelpunkte steht. Ausser dieser allgemeinen Um-
drehung haben die Planeten noch eine eigene Bewegung um die
Erde. Diese findet in Kreisen statt, deren Ebenen teilweise ein-
ander parallel, teilweise auch zu einander geneigt sind. Der
Mond vollendet seinen siderischen Umlauf in 27, seinen synodi-
schen in 30, die Sonne den ihrigen in ungefähr 365'/, Tagen.
Sie bewegt sich in einer schiefen und sich regelmässig ändernden
Ebene (Ekliptik), wodurch die Solstitien, Äquinoctien und die vier
Jahreszeiten entstehen. Ähnliches findet beim Monde statt.
Durch die Excentrizität ihrer Bahnen erklärt sich ferner ihre
regelmässig wechselnde, scheinbar schnellere oder langsamere
Bewegung und die Ungleichheit in der Zu- und Abnahme der
Tageslänge. Um die Sonne kreisen zunächst der Merkur und im
weiteren Abstande die Venus. Beide haben daher die gleiche
Umlaufszeit wie sie und müssen auch stets in ihrer Nähe er-
scheinen. Die Umlaufszeit des Mars beträgt zwei Jahre weniger
6 Tage, die des Jupiter 12, und die des Saturn 30 Jahre. Die
drei letzten laufen nicht in einfachen Kreisen um die Erde, sondern
in Epicyklen, wodurch ihr. scheinbarer Stillstand und Rückgang
hervorgerufen wird?). Der Mond erhält sein Licht ebenso wie
die Erde von der Sonne. Da er seiner Natur nach flüssig ist,
vermag dasselbe tief in sein Inneres hineinzudringen; anderer-
seits beruht auf der Entziehung desselben die Sichelbildung und
die Verfinsterung. Die Sonnen- und Mondfinsternisse treten ein,
sobald Erde, Mond und Sonne in einer geraden Linie entweder
1) Strabo IH 138. Cleom. II ce. 1p.66ff. Dies ist soviel wir wissen
die erste Erklärung der Refraktion des Lichts.
2) Cie. deor. nat. II 19, 49— 20, 53 — Cleom. I e. 3 p. löff. e. 6 p. 29, Sfl.;
vgl. 32m. ff.; dass die letztere Stelle dem Posidonius gehört, zeigt ebds. p. 24,
97. Das Gleiche lehrt auch Posid. b. Simplie. in Arist, phys. p. 64., An der
letzten Stelle gesteht Posidonius vom Standpunkte der Astronomie aus auch
die Möglichkeit des heliocentrischen Systems zu; gegen die W ahrheit des:
selben aber sprach ihm die Physik. — An den ersten beiden Stellen wird zwar
nieht gesagt, dass sich Merkur und Venus um die Sonne drehen; dies folgt
aber mit Notwendigkeit aus den an beiden Stellen in gleicher Weise go-
machten Angaben, dass beide Planeten stets in der Nähe der Sonne er-
scheinen und die gleiche Umlaufszeit wie sie haben.
en Ὁ
in Konjunetion oder in Opposition stehen. Zur Veranschaulichung
dieses Systems verfertigte er ein kunstreiches Planetarium).
Wir wenden uns jetzt zur Meteorologie. Da die Sonne nie
über den Tierkreis hinausgeht, bleibt der übrige Teil des Himmels
von ihrer Erwärmung unberührt. Diese wird durch die Milch-
strasse herbeigeführt, welche deswegen eine dem Tierkreise ent-
gegengesetzte Krümmung hat. Ihrer Natur nach ist sie verdich-
tetes Feuer, dessen Dichtigkeit aber nicht die eines Sternes er-
reicht?). Auch die Kometen sind keine wirklichen Weltkörper,
sondern verdichtete Luft, diein den Äther hineingedrängt ist und
infolge dessen an seiner Bewegung teilnimmt. Je nachdem hier
ihre Zusammenziehung wächst oder nachlässt, erscheinen sie
grösser oder kleiner. Mit ihrer Natur hängt es zusammen, dass
sie im Norden häufiger entstehen als in südlichen Breiten, und
dass Dürre herrscht, so lange sie scheinen; dass aber heftiger
Regen eintritt, sobald sie sich wieder auflösen. Übrigens sind
auch viele nicht sichtbar, weil sie in der Nähe der Sonne voll-
ständig verdunkelt werden?). Die Region der Wolkenbildung ist
etwa eine Meile hoch über der Erde. Feuchte Dünste sowohl
wie trockene steigen von der Erde empor; diese bieten für die
Blitze, jene für den Regen den Stoff. Der Regen fällt, sobald
sich die feuchten Dünste in der Luft verdichten. Gefriert die
Wolke und wird sie vom Winde zerbrochen, so fällt Hagel; löst
sie sich von selbst auf, so fällt Schnee. Der Donner ist der
Schall, welcher beim Durchbrechen der Wolken durch den Blitz
hervorgerufen wird®). Der Regenbogen entsteht durch Brechung
der Sonnenstrahlen in den gegenüberliegenden Wolken, wie das
Bild in einem Spiegel. Sogenannte Nebensonnen sind runde
Wolken, welche in der Nähe der Sonne stehen und von dieser
beschienen werden). Die Winde haben den Grund ihres Ent-
1) Diog. VII 146; Plutarch de sol. lunaeque defect. p. 992 B.; vgl. Cleom.
I e.3 p. 94f.; c. 6 p. 1158 Cie. deor nat. II 34,88. Dies ist das sog.
ägyptische System; auf seine Bedeutung werden wir später zurückkommen.
5 Macrob. somn. Se. 115, 7; Stob. eel. Ip. 227,2W. Diels, dox. gr. p. 366,1.
3) Schol. Arat. dios. v. 359; Seneca N. Q. VII 20; vgl. Diog. VIL 152
u. C. Wachsmuth zu Stob. ecl. I p. 227, 17 ff.
*) Plin. N.H. II 21; Seneca N. Q. IT 54ff.; 2604: IV 3; Diog. VII 153ff.
5) Diog. VII 152; Schol. Arat. dios. v. 148; vgl. Seneca N. Q. VII 20;
Alex. Aphrod. ad Arist. meteor. III p. 116.
©
— 3 —
stehens in dem Einflusse des Mondes auf’ die Luft. Nach den
Richtungen, nach denen sie wehen, können zwölf unterschieden
werden. Eine eigene Art sind die Passate, die einen ganzen
Teil des Jahres in gleicher Richtung wehen'), Gelangen die
Winde in das Innere der Erde, oder wird die im Innern derselben
befindliche Luft zusammengepresst, so entsteht das Erdbeben).
Dieses leitet uns zur Geographie über. Posidonius behandelte
dieselbe wesentlich vom naturwissenschaftlichen Standpunkte
aus, verband jedoch mit ihr auch viel Erdbeschreibung®). Zu
erwähnen ist hier zuerst seine Berechnung der Grösse der Erde. Er
fand den Unterschied der Rektascension des Kanobus in Alexandria
und Rhodus — !/,, eines grössten Himmelskreises und schloss
demgemäss, dass die Entfernung von Alexandria bis Rhodus
— !/, eines grössten Erdkreises sei. Die Entfernung beider Orte,
mit 48 multipliziert, ergab ihm also die Länge eines Erdmeridians.
Für diese Entfernung nahm er offenbar ein grösstes und ein
kleinstes Mafs an und bestimmte danach die Länge eines Erd-
meridians auf 240 000 Stadien —= 6000 Meilen, oder 180 000 Sta-
dien — 4500 Meilen®). Ebenso unternahm er auch sorgfältigere
Messungen des Landes, als es bisher geschehen war, indem er
wiederum die Wege prüfte und überall dort, wo dieselben
grössere Windungen machten, den Luftweg ermittelte). Er be-
1) Stob. ecl. I 253, 1 ff.; Diels, dox. gr. 383b, 8; Strabo I 29; Eustath. in
Hom. p. 1238; vgl. G. Kaibel, Hermes XX S. 579 ff. Strabo III 144. Seine
Erklärung der Passatwinde ist uns unbekannt.
3) Diog. VII 154; Strabo II 102; 1 58; XI 514; Seneca N. Q. VI 218.
— 24; vgl. S. 14 Α. 4.
3) Strabo II 104; 94.
4) Cleom. I c. 10 p. 498. Nach Angabe der Berechnungsart des Posi-
donius fährt Cleomedes fort: zei 6 μέγιστος κύχλος τῆς γῆς εὑρίσχεται μυριέδων
τεσσάρων καὶ εἴχοσιν, ἐὰν Wow οἱ ὠπὸ “Ῥόδου πενταχισχίλιοι" εἰ δὲ μή, πρὸς
λόγον τοῦ διαστήματος. Nun schreibt Strabo II 95: χἂν τῶν νεωτέρων di
ἀναμετρήσεων εἰσάγηταν ἡ ἐλαχίστην ποιοῦσα τὴν γῆν, οἵαν ὃ Ποσειδώνιος ἐγχρίνει,
περὶ ὀχτωχαίδεχα μυριάδϑας οὖσαν zu. Wir werden also diese Berechnung
sicher mit der von Cleomedes angegebenen verbinden müssen, wie bereits
Scheppig gethan hat. Ihm hat also offenbar mehr am Prineip, als an dem
Resultate gelegen; jenes ist an sich richtig, so lange die Erde als Kugel be-
trachtet wird; die Ausführung aber leidet an verschiedenen Fehlern. |
5) Vgl. über seine Erdkarte R. Zimmermann, Hermes XXIII S. 103 ἢ.
106-130; derselbe zeigt auch, dass selbst Ptolemäus noch dasselbe Verfahren
- einschlug die Luftwege zu bestimmen.
-- 2806 --
rechnete danach die Länge des festen Landes auf 70 000 Stadien
(1750 Meilen) und hielt demgemäss das Meer für umfangreicher als
jenes. Aus der Kugelgestalt der Erde zog er auch den Schluss,
durch dessen Verfolgung 1600 Jahre später Kolumbus Amerika
entdeckte, dass man auch auf dem Seewege nach Indien gelangen
könne, wenn man von Spanien aus in westlicher Richtung ge-
radeaus segele!). Die Erdoberfläche teilte er in verschiedener
Weise ein: zunächst in fünf Zonen nach der Richtung des
Schattens; ferner in sieben in Bezug auf die Temperatur, und
zwar in zwei kalte, zwei gemässigte, zwei heisse und eine unbe-
wohnbare zwischen den beiden letzteren. Auch hielt er ferner
die hergebrachte Einteilung in drei Erdteile, Europa, Asien und
Lybien aufrecht, versuchte daneben aber eine zweite nach Breiten-
graden im Interesse der Tier- und Pflanzengeographie und der
Meteorologie einzuführen?). Die auffallendste Erscheinung, die
das Meer dem Beobachter zur Erklärung vorlegte, war die regel-
mässige Erscheinung von Ebbe und Flut. Den Grund derselben
erkannte er richtig in der Einwirkung des Mondes auf das Wasser
des Oceans?). Im übrigen gehörte hierher die Erklärung aller
der auffallenden Erscheinungen, die mit den Namen ᾿ϑαυμασια᾽
und “ragado&e’ bezeichnet wurden. Unter diesen nahm jedenfalls
die Untersuchung über die heisse Zone Inner-Afrikas, die Quellen
des Nils und seine regelmässige Überschwemmung die hervor-
ragendste Stelle ein‘).
Wir gehen jetzt zu den histgri ilologi Wissen-
schaften über. Von den grammalischen ἢ rhetorischen Studien
ETEITS— m — EEE ne
sind uns nur wenige Bemerkungen enthalten, die wir in anderem
Zusammenhange schon kennen gelernt haben. Desto mehr Nach-
richten zeugen von seinen geschichtlichen Arbeiten. Diese zer-
fallen in zwei Teile, in solche, welche die allgemeine Geschichte,
und in solche, welche die Geschichte der Philosophie betreffen.
Über die letzteren werden wir später zu handeln haben; wir
wenden uns daher zunächst zu seiner Ansicht über die Kultur-
" ΓΕ τοῦ II 102; vgl. Bake 5. 91 und dagegen A. v. Humboldt, examen
eritique de la geographie du nouveau continent; Scheppig S. 45 f.
?) Strabo II 94 ff. 102 Schl. f. 135.
°) Jedenfalls im Anschluss an Seleucus, dessen Ansicht er bestätigte;
Strabo I 53. III 172—174. Stob. 66]. a 1 Ε΄: Diels,_dox. Ῥ. 383, 8 ff.;
vel. S. 81. Soa/us Ep. «7ν, Μή: τ 2 ΧΆ 2 ch Li 29
*) Strabo II 98 ff. XVII 790, 827 ΠΣ Cleom.’I ὁ. 6 p. 918 Pr χά,
ἃ
᾽-
ς
τῷ
= BT «-
geschichte. Als sich die Welt nach der Ekpyrosis von neuem
bildete, entstanden auch die Menschen wieder von neuem. Die
ersten derselben und ihre Nachkommen lebten noch ganz erfüllt
von der göttlichen Kraft in Reinheit und Unbescholtenheit ihre
Tage: Die Natur war ihnen Führer und Gesetz zugleich. Sie
| lebten in Vereinen und folgten, wie die Herde dem stärksten
Stiere, ganz naturgemäss allemal den Verständigsten und Mäch-
tigsten nach freier Wahl. Diese wehrten Gewalt ab und schützten
den Schwächeren gegen den Stärkeren. Sie rieten und wider-
rieten und zeigten das Nützliche und Schädliche und sorgten dafür,
dass den Untergebenen nichts mangele. Allen fehlte die Absicht
und die Veranlassung zum Unrecht. Glücklich war ihr Leben,
wenn auch einfach. Grotten und ausgehöhlte Baumstämme dienten
ihnen als Wohnungen!) und Nahrung boten ihnen die zahmen
Tiere und die wild wachsenden Früchte?). Bald waren die
Führer auch darauf bedacht, dieses einfache Leben zu ver-
schönern, und die Natur unterstützte sie darin: Ihre bisherigen
Wohnungen lehrten sie ein Haus bauen, und ein Waldbrand,
welcher einen erzhaltigen Boden stark erhitzte, liess das ver-
.borgene Erz geschmolzen hervorströmen und führte so auf den
Gebrauch des Eisens. Auch allerlei Werkzeuge erfanden die
Weisen und unter diesen besonders die Geräte zum Ackerbau
und zur Bereitung des Brotes®). Feindschaft, Hass und Neid
fehlten bei allen und darum auch Krieg und gegenseitiges Blut-
vergiessen; selbst die zahmen Tiere schonten sie noch und
namentlich galt es als frevelhaft, den Ackerstier zu tölen; nur
den wilden galt ihre Fehde*). Ein Beispiel dieses einfachen und
gottseligen Lebens lieferten ihm noch die Myser, von denen er
im Anschluss an Homer rühmte, dass sie sich unter Enthaltung des
Fleischgenusses von Milch, Honig und Käse nährten und ruhig dahin-
!) Seneea ep. 90,4—5; 44; 7.
2) Seneca a. a. Ὁ. 8 36. Cie. deor. nat. II 63, 158. Wenn z. B. die
Schafe so eingerichtet sind, dass sie keinen Augenblick ohne die Pflege
_ der Menschen fertig werden können, müssen sie auch schon damals zu den
_ Haustieren gehört haben. ᾿
3) Seneca a. ἃ. O. 8 7; 12; Strabo III 147; νεῖ. Athen. VI p. 2333 E.
Eustath. p. 1485, 63; Diodor. V 35,3 p. 958: Bake 5. 125 ff.; Seneca ἃ. ἃ, Ὁ,
88 11; 15: 21—23.
7 ἢ Seneca a.a. 0. 8 44 ff.; Οἷς. deor. nat. II 63, 159; vgl. Seneca a. a. Ὁ.
8418.
ξ
£
-- 280 --
lebten!). Die Erfindungen indes, welche die Weisen machten,
überliessen sie anderen zur Ausbeute und zur Vervollkommnung;
sie selbst widmeten sich gänzlich der Forschung und der Philo-
sophie. Die Ausbildung derselben führte sie auch auf die weiteren
Entdeckungen, die Hilfsmittel zur Kunst, die Weberei, die Thon-
bildnerei, welche Anacharsis erfand, und den Gewölbebau, auf
den Demokrit kam. Mit dieser äusseren Vervollkommnung
schlichen sich aber auch allmählich die Laster und Untugenden
ein, die auch die Führer ergriffen und ihre anfänglich patriarcha-
lische Herrschaft in eine Tyrannis verwandelten. Jetzt erst
wurden geschriebene Gesetze notwendig, die anfangs auch noch
von weisen Männern aufgestellt wurden, wie von Solon in Athen,
Lykurgus in Sparta, von Zaleukos und Charondas in Gross-
griechenland?). Dann aber mussten sich diese immer mehr von
der Leitung des öffentlichen Lebens zurückziehen. Mit diesem
Umsichgreifen der mannigfachen Laster kamen aber auch alle
bösen Folgen derselben, Zank und Streit und Feindschaft und
Krieg?) und auch der Gegensatz von Freiheit und Sklaverei.
Naturgemäss nämlich stellten sich ehedem diejenigen Menschen,
deren Begabung zu schwach war, um selbständig für das eigene
Wohl sorgen zu können, unter die Leitung derer, die besser be-
gabt waren. Diese übernahmen die Sorge für jene, während jene
diesen wieder ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellten. Aus dieser
freiwilligen und natürlichen Unterordnung entwickelte sich jetzt
die Sklaverei®).
') Strabo VII 296: λέγειν δὲ τοὺς Μυσοὺς ὃ Ποσειδώνιος χαὶ ἐμψύχων
ἀπέχεσθαι zer εὐσέβειαν χαὶ διὰ τοῦτο χαὶ ϑρεμμάτων" μέλιτν δὲ χρῆσϑαι καὶ
γάλαχτι zei τυρῷ ζῶντας καϑ'’ ἡσυχίαν" διὰ δὲ τοῦτο χαλεῖσϑαιν ϑεοσεβεῖς χτλ.
5) Seneca ἃ. ἃ. Ὁ. 8 6.
8) Dies folgt unmittelbar aus dem Vorhergehenden. Seneca ἃ. ἃ. Ὁ. be-
richtet die Fortschritte nicht nach der Zeitfolge.
Ὁ Athen. VI p. 263C. Es sei hier gestattet auf die philosophische
Darstellung der Lehre vom goldenen Zeitalter, die Ovid Met. XV 96— 142
mit der Pythagoreischen Lehre in nahe Verbindung bringt, kurz einzugehen.
Ich habe in meiner Dissert. De Ovid. Pythag. Greifsw. 1885 p. löff. den
Nachweis geführt, dass Ovid ausser a. a. Ὁ. auch Fast. I 355ff. u. IV 395 ff.
dieselbe Quelle benutzt, und dass diese Quelle Varros Ant. rer. div. sei.
Ferner habe ich darauf hingewiesen (p. 39ff.), dass auch Plutarch de esu
carn. p. 998B. und de sollert. anim. p. 959 ff. dieselbe Lehre bietet, dass
also Varro und Plutarch eine gemeinsame Quelle voraussetzen. Den
,
5
-- 29 —
In der Darstellung der politischen Geschichte, zu der wir
schliesslich kommen, knüpfte er an das Geschichtswerk des Po-
Iybius an und behandelte in umfassender Weise den Zeitraum
von dem Untergange der griechischen Freiheit bis zur Diktatur
Sullas (145—82). Abweichend von dem synchronistischen Ver-
fahren seiner Vorgänger gab er die geschichtliche Entwickelung
hauptsächlich” nach geographisch - ethnographischen Gesichts-
punkten, wobei er mit der des Ostens begann, Mit der Dar-
‚stellung der äusseren Ereignisse verband er auch die der Kultur-
zustände der verschiedenen Völker und unterliess es nicht, bei dem
Eintritt eines neuen Volkes in den Lauf der Geschichte, wie z. B. der
Cimbern, eine ethnographisch - historische Einleitung über das-
selbe vorauszuschicken!). Wie weit ihn ein philosophisches In-
teresse bei der Abfassung dieses Werkes geleitet hat, lässt sich
zwar nicht mit Bestimmtheit erkennen; allein bedenken wir, dass
er einerseits keine Schrift über Politik geschrieben und anderer-
seits mit Bewusstsein an das Geschichtswerk des Polybius an-
geknüpft hat, so lässt sich der Gedanke nicht abweisen, dass auch
ihm in ähnlicher Weise wie Polybius die Geschichte eine er-
weiterte Politik abgegeben und, wie teilweise auch. seinem Lehrer,
die Stelle der geschichtlichen Spekulation vertreten haben wird.
Einen Beleg hierfür finden wir darin, dass er, wie wir soeben
sahen, die Verfassungsgeschichte mit der geschichtlichen Ent-
wickelung überhaupt verband, und in diesem Geschichtswerke
auch seine Ansicht über das Wesen und den Ursprung der
Sklaverei einzuflechten verstand). Auch liegt dies durchaus
Verfasser derselben habe ich unbestimmt gelassen, nur habe ich ausser den
Epikureern auch die Stoiker ausgeschlossen (5. 23ff.), doch mit Unrecht,
wie es sich jetzt zeigt. Denn vergleichen wir die Lehre Ovids bezw. Plu-
tarchs mit der des Posidonius vom goldenen Zeitalter und der Entwickelung
_ des Menschengeschlechts, so kann uns die grosse Übereinstimmung nicht
entgehen, Da Varro sicher den Posidonius vielfach benutzt hat, ist es
nicht unmöglich, vielmehr höchst wahrscheinlich, dass er auch in dieser
Entwiekelung der Kulturgeschichte sich dem Posidonius angeschlossen
at. Bei Posidonius brauchte diese Lehre keineswegs ein ausgesprochen
ythagoreisches Gepräge zu tragen (vgl. auch diss. p. 48...
- ἢ Arnold, Unters. über Theophanes und Posid. in Jahns Jahrb. Suppl.
Ν. Ε΄ ΧΙ 5. 75f. Ad. Bauer, Posid. u. Plutarch, Philologus XLVII S. 242#.
Susemihl, Griech.-alex. Litt.-Gesch. ITe. 29 Anm. 192.
2) Vgl. vor. S. Anm. 4.
Schmekel, mittlere Stoa. 19
--Ῥ 2% --
in der Natur der Sache. Schon Polybius verlangt von dem
Geschichtsschreiber eine philosophische Bildung und sein Werk
steht nicht unwesentlich unter dem Einflusse derselben; wie
viel stärker also musste der Einfluss der Philosophie auf die
Darstellung der Geschichte bei Posidonius sein, dem Philosophen
von Fach! Hier liegt sicher auch der grosse Unterschied zwischen
ihm und seinem Vorgänger. Polybius war eine durchaus nüchterne,
rationalisierende Natur wie sein Freund Panätius; daher auch °
seine Nüchternheit in der Benutzung der Quellen und in der
Darstellung. Posidonius dagegen war gewiss auch wahrheits-
liebend und keineswegs kritiklos!); aber alles Geschehen ist ihm
bedingt durch das allwaltende göttliche Gesetz, das ebenso ein x
direkt selbständiges Einwirken des Menschen ausschliesst, wie es
der Mantik und dem willkürlichen Wunderglauben Thor und Thür
öffnet. Es war daher nicht einfach Kritiklosigkeit, dass er selbst
fabelhaften Erzählungen dieser Art traute?); aber gewiss war diese :
Auffassung nicht geeignet zur Erforschung und Darstellung des
Kampfes der Freiheit und der Notwendigkeit, der die Geschichte
ausmacht: Seine Physik war ihm auch hier zugleich förderlich
und hinderlich. Ähnlich also wie sich die Philosophie des Posi-
donius zu der seines Lehrers verhält, wird sich im allgemeinen
auch sein Geschichtswerk zu dem des Polybius verhalten haben.
GC. Hekaton, Mnesarchus und Dionysius.
Κὰρ. 1.
Hekaton.
Von Hekaton sind uns, wie schon früher gesagt worden ist,
nur Nachrichten aus der Ethik erhalten. Wir finden sie jedoch
in einer Anzahl und Deutlichkeit, dass sich sein Standpunkt voll-
ständig klar bestimmen lässt: Die Tugend ist die begriffsgemässe
Vollendung eines jeden Wesens; beim Menschen also die ganze
geistige und leibliche Vollkommenheit. Sie zerfällt in zwei Arten,
') Vgl. sein Verhalten zu Cicero, S. 9 Anm. 8; Arnold a. a. O. S. 112.
2) Zeller, Phil. ἃ. Gr. IIIa. S. 575 Anm. 1.
-- 29311 —
die theoretische, welche auf Wissen beruht, und die nicht theo-
retische, welche als solche mit dem Wissen nichts zu thun hat.
Die Unterabteilungen der theoretischen Tugend sind Weisheit,
Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit; die der nicht theo-
retischen dagegen die naturgemässen Zustände des Körpers, Ge-
sundheit, Kraft, Mut und Ähnliches. Diese gehen aus den theo-
retischen Tugenden hervor derart, dass, wo jene sich finden,
auch diese notwendig vorhanden sind; doch können dieselben
auch unabhängig von jenen erscheinen'). Die theoretischen
ἢ Diog. VII 90ff. Hekatons Einteilung der Tugend hat Hirzel nach
dem Vorgange Zellers Philos. d. Gr. Illa. S. 235,6 in sonderbarer Weise
missverstanden und dann auf Grund dieses Missverständnisses in einer mehr
als 40 Seiten umfassenden Erörterung, Unters. IIa S. 472—514, den Nach-
weis zu führen gesucht, dass der Abschnitt des Stob. ecl. II p. 62, 7—64, 12 W
dem Hekaton entlehnt sei. Fowler hat ihm in seiner schon 5. 22 genannten
Diss. p. 49 dies einfach nachgesprochen und auffallender Weise scheint auch
C. Wachsmuth durch seinen Hinweis (zu Stob.a.a.O.) auf Hecato ap. Laert.
VII90 anzudeuten, dass auch er die bei Stob. vorliegende Einteilung der
Tugend mit der Hekatons identifieiere. Diog. VII 90 schreibt: ὠρετὴ ἡ μέν
τις χοινῶς παντὶ τελείωσις, ὥσπερ ἀνδριάντος καὶ ἡ ἀϑεώρητος ὥσπερ ὑγέεια χαὲ ἣ
ϑεωρηματιχὴ ὡς φρόνησις. φησὶ γὰρ 6 “Ἑκάτων ἐν τῷ πρώτῳ περὶ ἀρετῶν ἐπιστη-
μονιχὰς μὲν εἶναν καὶ ϑεωρηματιχὰς τὰς ἐχούσας τὴν σύστασιν ἐκ ϑεωρημάτων,
ὡς φρόνησιν καὶ δικαιοσύνην" ἀϑεωρήτους δὲ τὰς κατὰ παρέχτασιν ϑεωρουμένας
ταῖς ἐκ τῶν ϑεωρημάτων συνεστηκυίαις χαϑάπερ ὑγίειαν καὶ ἰσχύν. τῇ σωφροσύνῃ
ϑεωρηματιχῇ ὑπαρχούσῃ συμβαίνει ἀχολουϑεῖν χαὶ παρεχτείνεσϑαν τὴν ὑγίειαν,
χαϑάπερ'΄ τῇ ψαλίδος οἰχοδομίᾳ. τὴν ἰσχύν ἐπιγίνεσθαι. καλοῦνται δ᾽ ἀϑεώρητοι,
ὅτι μὴ ἔχουσι συγχαταϑέσεις, ἀλλ᾽ ἐπιγίνονται καὶ περὶ φαύλους γίνονται, ὡς ὑγέξεα,
ἀνδρεία. Hieraus geht zunächst hervor, dass er die Tugend schlechthin als die
naturgemässe Vollendung eines jeden Wesens auffasste, was dem griechischen
Sprachgebrauche durchaus entsprechend ist. Allein beim Menschen kann
nun von einer theoretischen und von einer nicht theoretischen Tugend die
Rede sein, da ihm allein ein Wissen zukommt. Als Beispiele einer theore-
tischen Tugend führt Diog. hier zunächst die Weisheit und Gerechtigkeit an;
in den bald darauf folgenden Worten aber zählt er auch die Sophrosyne
ihnen zu. Ihre unmittelbare Folge sind die nicht theoretischen Tugenden,
die eben als Folge der theoretischen Tugenden nicht auch selbst Theorie
sind, sondern neben jenen gehen. Dies beweisen die Worte: ἀϑεωρήτους δὲ
τὰς κατὰ παρέχτασιν ϑεωρουμένας ταῖς ἐχ τῶν ϑεωρημάτων συνεστηκυίαις, καϑάπερ
ὑγίειαν καὶ ἰσχύν. τῇ γε σωφροσύνῃ ϑεωρηματικῇ ὑπαρχούσῃ pe Er
zei παρεχτείνεσϑαν τὴν ὑγίειαν, καϑάπερ τῇ ψαλίδος οἰχοδομίς τὴν ἰσχὸν ἐπεγόνε-
σϑαι. Sind nun aber die nicht theoretischen Tugenden einerseits die unmittel-
_ bare Folge der theoretischen, und können dieselben andererseits, wie die nach-
_ folgenden Worte beweisen, auch unabhängig von den theoretischen, bei den
: Schleehten und Thoren, vorhanden sein, so ist es unmöglich, dass unter Ge-
Α͂ 19»
-- 292 —
Tugenden haben alle den Inhalt und die Vorschriften gemeinsam;
daraus folgt, dass sie alle zusammenhängen, dass also derjenige,
sundheit und Kraft die Gesundheit und Kraft der Seele verstanden werden
können, Denn wie sollte es denkbar sein, dass die Gesundheit und Stärke
der Seele, welche aus der theoretischen Tugend resultieren oder jedenfalls
nicht unabhängig von derselben sein können, auch bei den Schlechten und
Thoren vorhanden sein sollten, die doch der theoretischen Tugend gänzlich
bar sind? Es können demnach unter Gesundheit und Stärke hier nur die
Gesundheit und Stärke des Körpers verstanden sein. Diese können also
unabhängig von der theoretischen Tugend auch bei den Thoren vorhanden
sein; bei den Weisen dagegen müssen sie es stets sein eben als Folge der
theoretischen Tugend. Was nun diese Stelle an sich schon lehrt, das zeigt
uns ganz klar noch eine andere. An der angeführten Stelle wird auch die
Tapferkeit zu den nicht theoretischen Tugenden gezählt; $ 102 aber lesen
wir: ἀγαϑὰ μὲν οὖν τάς TE ἀρετάς, φρόνησιν, διχαιοσύνην, ἀνδρείαν, σωφροσύνην
χαὶ τὰ λοιπά. κατὰ δὲ τὰ ἐναντία, ἀφροσύνην, ἀδιχίαν χαὶ τὰ λοιπά. οὐδέτερα δὲ,
ὅσα μήτε ὠφελεῖ μήτε βλάπτει" οἷον ζωή, ὑγίεια, ἡδονή, κάλλος, ἰσχύς, πλοῦτος, δόξα,
εὐγένεια χαὶ τὰ τούτοις ἐναντία, ϑάνατος, νόσος, πόνος, αἶσχος, ἀσθένεια, πενία,
ἀδοξία, δυσγένεια χαὶ τὰ τούτοις παραπλήσια" χατά φησιν “Εχάτων ἐν ἑβδόμω περὶ
τέλους. Augenscheinlich steht hier die Tapferkeit auf gleicher Stufe wie die
drei andern Tugenden. Dies geht auch daraus hervor, dass sie ebenso wie
die drei andern Tugenden zu dem wahren Gute gehört; denn sind alle
vier Tugenden gleichen Wesens, wie sie es sind, so müssen sie auch auf
gleicher Stufe stehen. Nach $ 91 können nun auch die Thoren der Tapfer-
keit teilhaftig sein; demnach könnten sie auch an dem wahrhaft Guten teil-
nehmen, was doch unmöglich ist. Ferner würden wir folgern müssen, dass
die Thoren auch der andern Tugenden fähig seien, da diese unzertrennbar
zusammenhängen (vergl. die folgende Anmerk.), was ebenfalls einfach unmög-
lich ist. Wenn es also vorher ($ 91) ausdrücklich heisst, dass die Tapfer-
keit auch bei den Thoren sich finden könne, so folgt notwendig, dass He-
katon eben wie sein Lehrer Panätius und fast alle Philosophen seit Plato
eine doppelte Tapferkeit unterschieden hat, eine gewöhnliche, rein physische,
die nicht auf der Theorie beruht und darum auch bei den Thoren sich
finden kann, und die eigentliche Tugend der Tapferkeit, die gleichen Wesens
wie die drei anderen Kardinaltugenden ist und nicht dem Thoren inne
wohnt. Dagegen streitet $ 90f. keineswegs; denn zunächst werden dort
als Beispiele der theoretischen Tugend die Weisheit und Gerechtigkeit ge-
nannt und gleich darauf auch die Sophrosyne ihnen zugezählt: Hierin ist
nicht die geringste Berechtigung zu dem Schluss enthalten, dass die vierte
Tugend, die Tapferkeit, zu ihnen nicht gehören kann. Es ist eben zu be-
denken, dass Hekaton die Tugend als Vollkommenheit überhaupt definiert
hat; in Bezug auf den Körper kann auch der Thor vollkommen sein, der
Weise dagegen ist vollkommen in Bezug auf die Seele und darum auch in
Bezug auf den Körper. Der Unterschied zwischen den Weisen und Thoren
liegt also nach ihm, wie dies auch nicht anders sein kann, in dem Wissen,
ἡ
eg
welcher eine besitzt, auch alle besitzen muss!). Da sie ferner
auf Wissen beruhen, sind sie natürlich auch lehrbar?). Gut ist
nun dasjenige, was seiner Natur nach stets und überall nützt;
solches ist aber allein die Tugend und was an ihr teilhat°).
Demnach kann auch nur die Schlechtigkeit und was mit ihr zu-
sammenhängt, das wahre Übel sein. Alles, was zwischen beiden
liegt, ist unterschiedslos, weder gut noch schlecht. Hierzu ge-
hören Leben, Gesundheit, Schönheit, Stärke, Lust, Reichtum,
Ruhm, edle Geburt und deren Gegenteille Tod, Krankheit,
Schwäche, Schmerz, Schmach, Armut, Ruhmlosigkeit, unedle
Geburt und Ähnliches‘). Das wahrhaft Gute und Nützliche ist
also auch das Sittliche.e. Da demnach die Tugend das einzige
wahre Gut und die Vollendung der Natur des Menschen ist, so
folgt, dass sich das tugendhafte Leben mit dem naturgemässen
Leben deckt und beides das Ziel alles Strebens sein muss,
Gleichzeitig folgt, dass die Tugend zur Erreichung der Glück-
seligkeit vollkommen genügt, eben weil sie nicht nur die Voll-
kommenheit des Geistes ist, sondern auch die der körperlichen
Zustände unmittelbar zur Folge hat?). Dass dies Ziel in Wirk-
in der Theorie; die letztere besitzt nur der Weise. Die nicht theoretischen
Tugenden, Gesundheit und Stärke, bezeichnen also in Wahrheit die Gesund-
heit und Stärke des Körpers. Dies verkannte Hirzel vollständig, als er
ohne weiteres annahm, dass diese Zustände Zustände der Seele seien (vgl.
S. 482, A84ff., 503), ein Missverständnis, das seine ganze Erörterung über
die Lehre Hekatons über den Haufen wirft. — Bei Stobaeus lesen wir nun
an der schon vorhin angeführten Stelle S. 62, 15: ταύτας μὲν οὖν τὰς ῥηθείσας
ἀρετὰς τελείας εἶναι λέγουσι περὶ τὸν βίον χαὶ συνεστηχέναι ἐκ ϑεωρημάτων" ἄλλας δ᾽
ἐπιγίνεσθϑαν ταύταις, οὐκ ἔτι τέχνας οὔσας, ἀλλὰ δυνάμεις τινὰς ἐκ τῆς ἀσχήσεως περι-
γινομένας, οἷον τὴν ὑγίειαν τῆς ψυχῆς χαὶ τὴν ἀρτιότητα καὶ τὴν ἰσχὺν αὖ τῆς χαὶ τὸ
χάλλος. Hier sind Gesundheit, Stärke und Schönheit die aus den vier Kardinal-
tugenden resultierenden Zustände der Seele, wie ausdrücklich gesagt wird.
Die eben angeführte Einteilung der Tugend bei Stobaeus und die obige
Hekatons sind also durchaus verschieden. Somit kann auch aus der Ein-
teilung Hekatons bei Diogenes nicht im geringsten darauf geschlossen
werden, dass der genannte Abschnitt Stob. p. 62, 7— 64,12 aus Hekaton ge-
nommen ist. Die Widerlegung Hirzels im einzelnen vorzunehmen ist also
vollständig überflüssig.
ἢ Diog. VII 125.
3) Diog. VII 91.
3) Diog. VII 101.
9) Diog. VII 101; 100.
5) Diog. VII 127.
--, 24 --
lichkeit erreichbar ist, lehrt die Thatsache, dass schlechte Men-
schen gut werden!). Wer es erreicht hat, ist ein Weiser. Von
diesem ist es selbstverständlich, dass er das richtige Wissen besitzt,
und nach diesem Wissen handelt). Wer das Ziel noch nicht
erreicht hat, gehört zu den Thoren, in deren Seele statt der Ver-
nunft die unvernünftigen Triebe herrschen, deren es vier giebt:
Furcht, Trauer, Begierde und Lust?). Dem Zwecke diese zu
unterdrücken und die Tugend zu verwirklichen dient die Pflichten-
lehre, die der Tugend und dem sittlich Guten entsprechend für
alfe Lebenslagen das vorschreibt, was zu thun und zu lassen ist.
Da die Tugend das Vernunftgemässe ist, muss auch die Vernunft
unser ganzes Thun leiten und bestimmen. Alle Pflicht ist nun
doppelter Art: Entweder bezieht sie sich auf die eigene Person oder
auf andere®). In Bezug auf sich selbst gilt es sich jene Selbst-
genügsamkeit zu verschaffen, welche möglichste Selbständigkeit
und Unabhängigkeit von den Menschen und von dem Geschicke
herbeiführt’). In Bezug auf den Verkehr mit anderen dagegen
kommt es stets auf das Verhältnis an, welches zwischen den be-
treffenden Personen obwaltet, um zu erkennen, welches naturgemäss
die gegenseitigen Pflichten sind. Solche Verhältnisse sind z. B. das
des einzelnen zum Staate und zu den Fremden, der Ehegatten
unter einander, der Eltern zu den Kindern und umgekehrt, und
das des Herrn zu den Sklaven‘). Hier sind alle Pflichten gegen-
seitige?); darum ist es nötig auch selber zu lieben, wenn man ge-
liebt werden will®). Da aber die Menschen in Wirklichkeit nicht alle
vollkommen und gleich sind, so kann auch nicht die Liebe all-
gemeine Pflicht sein®). Wo nun diese nicht herrschen kann,
τ Diog. V.5917 87.
22) Diog. VII 124.
2) Diog. VII 110.
4) Seneca de benef. II 21,4.
5) Seneca ep. 9,7; 6,7.
6) Seneca de benef. II 18,1ff.; 21,4; III 18, 1ff.; Cie. de off. III 15, 62.
ἡ Seneca a. a. OÖ. II 18,1.
5) Seneca ep. 9, 6.
°) Dass die Menschen der Wirklichkeit nicht alle weise sind, ist selbst-
verständlich; den Stoikern galten sie ja von jeher als eine Masse von
Thoren. Schon Chrysipp lehrte, dass man auf der Hut sein müsste, um
nicht Schaden zu erleiden. Es ist also nichts Besonderes, wenn wir das
Gleiche bei Seneca a. a. Ὁ. II 18,3 finden und es für Hekaton in Anspruch
- 23 --
tritt Recht und Gesetz an ihre Stelle als Leitstern unseres Han-
delns, das uns befiehlt, auf das eigene Wohl und den eigenen
Vorteil bedacht zu sein, ohne dabei natürlich irgendwie Gesetz
und Recht ausser Acht zu lassen!). Nach den verschiedenen
Verhältnissen und Beziehungen also werden auch diese verschie-
denen Beweggründe das Handeln leiten, sowohl überhaupt wie
auch beim Wohlthun, und uns bestimmen, dem einen eine Wohl-
that zu erweisen und dem anderen nicht, oder auch umgekehrt,
dem einen eine Wohlthat zurückzuweisen, von dem anderen sie
aber anzunehmen’). Das richtige Verhalten ist nun dort leicht zu
erkennen, wo es sich um einfache Pflichten handelt; schwieriger
jedoch dort, wo zwei Pflichten einander gegenüber treten. In
allen diesen Fällen gilt es als oberstes Gesetz, auf den Nutzen zu
sehen und unbedenklich den grösseren Nutzen dem geringeren
vorzuziehen, weil jedesmal, wo der grössere Nutzen sich findet,
auch eine grössere Pflicht vorliegt. Der grössere Nutzen bestimmt
sich jedoch nicht etwa bloss nach dem eigenen Vorteile, sondern
auch nach dem der Angehörigen und des Staates. Es wäre eine
Pflichtverletzung gegen diese, wenn in solchen Fällen nicht der
grössere Nutzen, sondern das eigene Interesse oder etwa die
Humanität den Ausschlag geben sollte:?) Wenn bei einem Schiff-
bruche zwei gleich weise Männer ein und dasselbe Brett ergreifen,
um sich zu retten, so wird, wenn das Brett beide zu tragen
nicht stark genug ist, sich unbedenklich derjenige dem Tode
widmen, an dessen Leben am wenigsten liegt, und dadurch den
anderen retten, dessen Leben für die Angehörigen und den Staat
von grösserem Nutzen ist. In gleicher Weise wird ein Herr, wenn
es sich darum handelt, entweder ein kostbares Pferd oder einen
schlechten Sklaven dem Tode weihen zu müssen, ohne Bedenken
den Sklaven töten, weil für den Herrn der Sklave nur ebenso ein
Wertstück ist wie das Pferd, und ein gutes Pferd einen grösseren
Wert hat als ein nichtsnutziger Sklave‘).
nehmen, wozu wir ja schon dadurch berechtigt sind, dass Seneca in der
That hier den Hekaton ausgeschrieben hat.
!) Cie. de off. ILL, I5, 62.
2) Seneca de benef. II 18,3; 21,4; vgl. vor. S. Anm. 9.
5) Obwohl also diese Moral egoistisch genug ist, so ist sie doch nicht
ganz so schlecht, wie sie nach Zeller Philos. ἃ. Gr. IlIa 8. 263,2 zu sein
scheint. ΚΑ
%) Cie. off. III 15,63; 23,89. Dass es sich hier um zwei Pflichten handelt,
-- 206 --
Wie Hekaton in logischen, physikalischen und anthropo-
logischen Problemen geurteilt hat, lässt sich nicht bestimmen,
da uns jeder Anhalt zu einer diesbezüglichen Erkenntnis fehlt.
Selbst das lässt sich aus seiner Ethik nicht mit Bestimmtheit
rückwärts erschliessen, ob er das Vermögen der Seele nur als
ein einfaches aufgefasst, oder ob er mehrere Vermögen in ihr
angenommen hat.
Von seinen sonstigen Studien ist nur ein Werk zur Geschichte
der Philosophie bekannt, das offenbar die eynisch-stoische Schule
umfasste und ausser den biographischen Nachrichten hauptsäch-
lich Aussprüche und Sentenzen der Philosophen enthielt und
darum auch den Titel Χρεῖαν führte!).
Kap:
Mnesarchus.
Im Gegensatze zu Hekaton sind uns von Mnesarchus zwar
aus den verschiedenen Gebieten der Philosophie Nachrichten er-
halten; doch sind dieselben nicht dazu angethan, eine vollständige
Darstellung seiner Auffassung zu ermöglichen. Immerhin aber be-
treffen sie die Hauptpunkte des Systems, so dass sich im all-
gemeinen auch sein Standpunkt erkennen lässt. ΤΩΝ
die einander widerstreiten können, geht unmittelbar aus der letzten Stelle
hervor; auch der Umstand, dass diese Beispiele im 6ten Buche, also wohl
gegen den Schluss des Werkes, sich fanden, weist darauf hin, da dort, wie
uns Panätius bzw. Cicero lehrt, die Kollision der Pflichten behandelt wurde.
') Dieses Werk wird bei Diogenes fünfmal genannt und zwar für einen
Ausspruch 1. des Antisthenes VI 4; 2. des Diogenes VI 32; 3. des Metrocles
VI 95; 4. des Zeno VII 26; 5. des Cleanthes VII 176. Die Aussprüche des
Diogenes und Metrocles standen im ersten, der des Zeno im zweiten Buche
dieses Werkes. Also muss das Werk mit der eynischen Schule, der Vor-
läuferin der Stoa, begonnen und deren Vertreter nach einander behandelt
haben, dann zur Stoa übergegangen sein und bei dieser in gleicher Weise
verfahren haben. Unter diesen Umständen ist es fast selbstverständlich,
dass auch die beiden Nachrichten über das Leben des Zeno, Diog. VII 2, und
des Chrysipp, Diog. VII 181, wo Diogenes nur einfach Hekaton eitiert, aus die-
sem Werke genommen sind. Das Werk lieferte in dieser Sammlung der geist-
reichen Aussprüche der Philosophen auch eine Geschichte ihrer Lehre. Vgl.
auch von Wilamowitz-Moellendorff, Philol. Untersuch. IV. S. 105.
᾿
201 0° —
Das wahrhaft Seiende (οὐσία) ist das Urpneuma. Dieses ist
unvergänglich und weder der Vermehrung noch der Verminde-
rung unterworfen. Solche Veränderungen treffen vielmehr nur
die aus diesem Urstoff sich bildenden und gebildeten Einzelwesen
(ἰδίως ποιά), die ihrer eigentlichen Substanz nach von jenem
nicht verschieden, insofern sie aber Arten oder Modi des Seien-
den sind, doch auch wiederum nicht dasselbe wie jenes sind').
Das Urpneuma hat sich also zur Welt gestaltet; diese ist somit
das ἰδίως ποιόν desselben. Da nun jenes die Gottheit ist, so ist
auch die Welt Gott?). Auch der Mensch ist ein ἰδίως ποιόν und
nimmt als solches am Entstehen und Vergehen und den weiteren
Arten der Veränderung teil, während die οὐσία, aus der er be-
steht, natürlich stets bleibt. In seiner Seele besitzt er ein dop-
peltes Vermögen, das sinnliche, durch das er mit den niederen
Wesen verbunden ist, und das vernünftige, mit dem er über
diese hinausragt. Die einzelnen Fähigkeiten des sinnlichen Teiles
sind nicht nur die Sinneswahrnehmungen als solche, sondern
auch das Sprach- und Zeugungsvermögen?). Durch das Ver-
mögen der Vernunft ist die Möglichkeit der Erkenntnis bedingt.
-In der Begründung derselben schlug er jedenfalls keine neuen
Wege ein, sondern hielt an den überkommenen fest*). Auch in
dem zweiten Teile der stoischen Logik, der Rhetorik, blieb er
der Schule treu, wenn er die Beredsamkeit der Rhetoren als
einfache Zungenfertigkeit verwarf, auf den Inhalt und das Wissen
alles Gewicht legte und darum allein den Weisen für wahrhaft
beredt hielt. Auch in der Ethik gilt das gleiche. Unter der
Tugend versteht auch er nicht bloss die moralische, sondern
überhaupt die Vollkommenheit des Menschen. Darum sind auch
alle Tugenden ihrer Beschaffenheit und ihrem Werte nach gleich
und hängen so zusammen, dass derjenige, welcher eine hat, die
andere ebenfalls besitzt. Wer sie besitzt, ist weise°).
1) Stob. eel. I 179,6. W.= Diels dox. g. p. 463,5 ft.
2) Stob. ecl. I 35,10. W.= Diels a. a. Ὁ, 909}, 13.
3) Stob. a. a. 0.1179. Ps. Galen hist. philos. 24 = Diels dox. gr.
p- 615, 6ff.
2) Cie. Acad. pr. II 22,69.
5) Cie. de orat. I 18, 83.
ἱ
\5
Ἐπ
Kap. 3.
Dionysius.
Alles Seiende!) zerfällt in zwei Arten, in das Erscheinende
oder Offenbare (φαινόμενον, φανερόν), und das nicht-Erscheinende
oder nicht-Offenbare (ἀδηλον). Das letztere ist entweder nur zur
ἢ Die Lehre des Dionysius findet sich mit Sicherheit bei Philodem
περὶ σημείων χαὶ σημειώσεων 60]. 1—8, 15 und 19,9 — 20, 30. Von diesen
spricht jedoch Philippson in seiner treffliehen Dissertation de Philodemi
libro qui est περὶ σημείων καὶ σημειώσεων Berl. 1881 z.B. p. 41, 1; 36, ὃ
60]. 7, 21 ff. bereits Zeno zu, doch mit Unrecht. Col. 7, 26ff. lautet:
ἔτι δὲ ἔλε- 20
γον {τὰ σπάνιαΣ χαὶ τὰ τερατώδη
πρός τιν᾽ (2) ὅμοια, χαὶ αὐτούς, εἰ
μὴ τὰ παρ᾽ ἡμῖν ὅμοια τούτοις
οὐ ee Εν ΤΣ τόν 0).
TE Kat ἀνασχευὴν ἀποχόπτειν ;
φησίν {φασίν)». οὐ μὴν ἀλλ᾽ ἐπαρχέσει ἡμῖν
τό τὲ πεπεῖσϑαν περὶ τού-
των χαὶ περὶ τῶν ἐκ τῆς πείρας
χατὰ τὴν εὐλογίαν, ὃν τρόπον 35
ὅτν {γενησόμεθα 7) .. . πλέοντες
ϑεροὺς Ev Gopalii nenn a.
v. 32 φασίν und v. 36 γενησόμεθα vermutet Gomperz; v. 27 ist offenbar das
eingeschobene τὰ σπάνια ausgefallen; vgl. col. 2,3 und 16,2. Was v. 27 bis
23 von den Wunder- und Einzeldingen gesagt wird, ist ein Grundsatz, den
die Epikureer vertreten (vgl. col. 14, 28 ff.), während Dionysius gerade um-
gekehrt schliesst, dass diese Dinge, weil sie vereinzelt sind, also keine Ver-
wandtschaft mit anderen haben, dem Schlussverfahren nach der Überein-
stimmung entgegenstehen; vgl. 60]. 2, ὃ ff. Das ἔλεγον v. 26 muss sich also auf
die Epikureer beziehen. Auch v. 28—37 enthält die Ansichten beider Par-
teien, da v. 32 ff. offenbar auf einen vorher gemachten Einwand geantwortet
wird. Der Satzbau αὐτοὺς... ἀποχόπτει» φησίν oder φασίν beweist nun deut-
lich, dass unter den αὐτούς nicht dieselben gemeint sein können wie vorher,
und dass das φησίν oder φασίν dem ἔλεγον v.26 entspricht. Das φησίν oder
φασίν bezieht sich also auf die Epikureer und demnach das αὐτούς auf die
Stoiker. Dazu stimmt der Inhalt der v. 29 --- 81 vollkommen. Die Epikureer
suchen in der ganzen Schrift den Stoikern nachzuweisen, dass bei ihrer Auf-
fassung auch der Schluss nach der ἀνασχευή, auf den sie so vielen Wert
legten, aufgehoben würde. Derselbe Vorwurf wird hier den αὐτούς gemacht;
also können unter diesen nur Stoiker gemeint sein. Wenn nun v. 32ff. auf
diesen Vorwurf geantwortet wird, so muss der Antwortende ein Stoiker sein.
Ebenso ist die Fortsetzung c01.8,1—15 ein Streit zwischen denVertretern beider
ee
=
-- 299 —
Zeit oder überhaupt nicht offenbar!). Der innere Zusammenhang
jedoch, welcher in allem Seienden stattfindet, bewirkt, dass das
nicht-Erscheinende von dem Erscheinenden aus sowohl hinsicht-
lich seiner Existenz als seiner Beschaffenheit erschlossen werden
kann. Diesem Zusammenhange zufolge haften nämlich allem
Erscheinenden Kennzeichen (σημεῖα) an, welche auf das, was
nicht erscheint, hinweisen. In eben diesem Zusammenhange ist
es begründet, dass alles Seiende in Gattungen zerfällt, die Gat-
tungen wieder in Arten und die Arten in Einzeldinge. Dem-
entsprechend giebt es auch zwei Arten von Zeichen, solche,
welche auf Mehreres zugleich, und solche, welche nur auf Eines
hinweisen. Ein Zeichen, das nur auf Eines hinweist, heisst
ein eigentümliches oder spezielles (ἴδιον σημεῖον), während ein
solches der anderen Art ein gemeinsames (xowov 0.) genannt
wird. Der Schluss vom Bekannten auf das Unbekannte kann nun
“natürlich nur dann richtig sein, wenn das Zeichen, auf das er
gegründet ist, ein spezielles, nicht ein gemeinsames ist. Fehler-
haft wäre es z. B., wollte man schliessen, jemand sei ein trefl-
licher Mann, weil er viel Geld besitze. Denn da sich unter den
Reichen sowohl gute als auch schlechte finden, so kann man
aus dem Reichtume nicht auf die Trefflichkeit schliessen: Für
die Trefflichkeit ist der Reichtum kein spezielles Zeichen‘°).
Es handelt sich nun darum, auf welche Weise ein Zeichen als
ein spezielles erschlossen wird. Diese Frage ist die wichtigste,
Schulen und zwar streitet der Stoiker v. 4—15 gegen die Epikureer v. 1-4.
vgl. eol. 4,25 #. 6, 10. bes. 6,36 — 7,4 mit col. 21, 12#. 18, 4 δ΄. 16, 22 fi.
988 Β΄ 18, 29 ff. Wir sehen also, dass hier nieht der Epikureer gegen den
_ Stoiker, sondern der Stoiker gegen den Epikureer kämpft. col. 7, 26 be-
weist nun augenscheinlich, dass wir in der Mitte dieses Streites stehen; ἔτι
δὲ ἔλεγον χτλ., und ebenso klar finden wir in dem, was unmittelbar vorher
_ erhalten ist, 60]. 7, 5—14 den Anfang eines solehen, oder vielmehr dieses
‚Streites; denn Dionysius begegnet hier demselben Einwurf der Epikureer
_ gegen die stoische Lehre, den wir v. 30—31 finden: Es ist demnach klar,
dass col. 7,5— 8,15 von Dionysius die Zurückweisung der Epikureischen
Einwände gegen die stoische Lehre unternommen ist.
᾿ς ἢ Diese letzte Unterscheidung liegt als solche hier nicht vor; dass aber
beide Arten unter das ἄδηλον» gerechnet werden, zeigen die Beispiele; vgl.
eol. 5, 30 ff.
2) col.1,2f. Hiermit stimmen auch die Epikureischen Gegner überein;
vgl. col. 14.
4
— 80 0 —
weil ja, wie wir sehen, zugleich mit diesem auch das entsprechende
Unbekannte selbst erkannt wird!).
Der Schluss vom Bekannten auf das Unbekannte führt spe-
ziell den Namen μετάβασις. Er kann auf doppelte Weise voll-
zogen werden, entweder auf Grund der blossen Übereinstimmung
der Merkmale oder der logischen Verknüpfung der Thatsachen.
Die erste Weise heisst kurz der Schluss nach der Übereinstim-
mung (μετάβασις καϑ' ὁμοιότητα), die zweite μετάβασις κατ᾽ ἀνα-
σχεξυῆν.
Der Schluss nach der blossen Übereinstimmung der Merkmale
ist niemals gewiss. Die Erfahrung lehrt, dass es im Gebiete der
uns bekannten Thatsachen singuläre Kräfte giebt, dass z. B. der
Magnet, der in allen übrigen Eigenschaften dem Eisen gleicht,
allein Eisen, Bernstein allein Spreu anzieht, und dass von allen
Quadraten allein das der Vier Umfang und Inhalt gleich hat?).
Ebenso lehrt sie, dass es durchaus seltene, von dem Gewöhn-
lichen abweichende Erscheinungen giebt, wie z. B. die Missgeburt
in Alexandria mit dem ungewöhnlichen Kopf, den Hermaphrodyt
von Epidaurus, das Riesenskelett auf Kreta und andere°): Nichts
hindert also, dass es auch im Unbekannten singuläre Kräfte und
Dinge giebt‘). Wenn also nach der Übereinstimmung geschlossen
wird: Alle Menschen sind sterblich, deswegen weil die Menschen
bei uns sterblich sind, so ist dieser Schluss nicht gewiss, weil
es im Unbekannten ja auch Menschen. geben könnte, die in
allem anderen den Menschen bei uns glichen, nicht aber in der
Eigenschaft sterblich zu sein; ebenso wie daraus, dass die Men-
schen bei uns kurzlebig sind, noch keineswegs folgt, dass auch
die Akrothoiten es sind’). Soll demnach dieser Schluss nach
der Übereinstimmung Gewissheit haben, so muss mit voraus-
gesetzt werden, dass die Menschen im Unbekannten auch in der
ἢ Da die Epikureer mit den Stoikern darin übereinstimmen, dass das
σημεῖον idıov sein muss, wenn ein Schluss sicher sein soll, kann es sich
in der vorliegenden Abhandlung Philodems hauptsächlich auch nur um die
oben angegebene Frage handeln. Dass dies Thatsache ist, zeigt die ganze
Ausführung; von den bisherigen Bearbeitern dieser Schrift ist es jedoch
nicht genügend beachtet worden.
Sr aka 99 Ὁ
5) col. 2, 3£.;:20, 10%.
*) col. 1, 33 ff.; 2, 20 ff.
5) Diese wurden für langlebig gehalten; vgl. Pomp. Mela II 2, 32.
=. 501 --
Eigenschaft sterblich zu sein uns gleichen. In diesem Falle aber
erschliessen wir nichts Neues. Überhaupt also fragt es sich
von welchen Ähnlichkeiten auf welche man schliessen darf, und
ob ein gewisser Grad von Übereinstimmung der Merkmale zum
Schlusse genügt oder ob Ununterscheidbarkeit vorhanden sein
muss. Auf Grund der Ununterscheidbarkeit erst zu schliessen
ist lächerlich. Denn wenn das Unbekannte ununterscheidbar
vom Bekannten ist, so kann das Bekannte nicht mehr ein Kenn-
zeichen des Unbekannten sein und umgekehrt'); soll aber ein
gewisser Grad von Übereinstimmung genügen, so wird der
Schluss ungewiss, denn niemals kann man wissen, ob nicht
gerade in den Eigenschaften, auf welche wir den Schluss ziehen,
eine Verschiedenheit vorhanden ist?). Da sich somit der Grad
niemals bestimmen lässt, bis zu welchem die Übereinstimmung
reichen muss, so geraten wir ferner auch in einen gradus in in-
finitum?), Die Gegner, welche diesem Schlusse Gewissheit zu-
schreiben, kommen daher auch mit ihren eigenen Deduktionen
in Widerspruch: Da alle Körper bei uns Farbe haben und die
Atome auch Körper sind, so würde dem Schlusse nach der Über-
einstimmung zufolge auch den Atomen Farbe zukommen. Ebenso
würde folgen, dass, weil alle Körper bei uns vergänglich sind,
auch die Atome vergänglich sein müssen. Beide Folgerungen
erkennen jedoch die Gegner nicht an: Also kann auch nach
ihren eigenen Voraussetzungen der Schluss nach der Überein-
stimmung keine Gewissheit verbürgen‘).
Diese Gewissheit bietet allein der Schluss nach der ἀνασκεὺῦ ἡ.
d. h. der Schluss gemäss der logischen Verknüpfung der Conse-
quenz und Antecedens in der Form: Wenn A ist, ist auch B;
nun ist aber A nicht, also kann auch B nicht sein°). Also nur
wenn das A so mit B verbunden ist, dass, wenn das eine auf-
gehoben wird, auch das andere unmöglich ist, kann der Schluss
Gewissheit haben: Weil A ist, ist auch B°). Z. Β. nur wenn
1) col. 2,26 ff.; 3,26 ff.; 5, Sff.; 19, 12.
2) col. 6,10 ff.; 19, 33 ff.
®) col. 6, 36ff.; 8, 4 ff.
Ὁ col. 5, 1— 7; 20, 22f.
ΒΟ 11, 32 ff. |
6) Mit anderen Worten können wir auch sagen: Dieses A ist das ἴδιον
σημεῖον für B.
Ἧ
man sagen kann: Die Menschen sind als Menschen und insofern
sie Menschen sind sterblich, d. h. wenn man zeigen kann, dass
die Sterblichkeit so mit der Natur des Menschen zusammenhängt,
dass es ohne die Sterblichkgit auch kein Menschsein giebt, hat
der Schluss bindende Kraft? Weil die Menschen bei uns sterblich 3
sind, sind es auch die im Unbekannten!). Diese logische Ver-
knüpfung, ἃ. h. das ἴδιον σημεῖον, erkennen wir nun nicht aus
der blossen Übereinstimmung der Merkmale, sondern allein durch
die Vernunft, den λόγος . Selbstverständlich geschieht dies
mittels eines Schlusses?), da ja alles Erkennen auf dem Schlies-
sen beruht; doch ist es ein Irrtum, wenn die Gegner meinen,
dass dies ein Schluss nach der Übereinstimmung sei, und des-
wegen behaupten, der Schluss nach der ἀνασχευή hänge von
dem Schlusse nach der Übereinstimmung ab und nehme alle
Gewähr von diesem).
1) eol. 3, 308.; 5, Iff.
5) Am Schlusse der positiven Darstellung der stoischen Lehre lesen wir
col. 6, S4fl.: τοῦτο γὰρ διὰ λόγου xu-
τασχευασϑήσεταν χαὶ διὰ ση-
μειώσεως" καϑ' δμοιότητα
(μὲν οὖν 2) προάγοντες εἷς ἀπίειρ-
ov ἐχβ)ησόμ(εϑα.
Schon der Gegensatz zeigt hier klar und deutlich, dass wir durch den λόγος
das erschliessen, was uns die blosse Übereinstimmung der Merkmale niemals
giebt, nämlich die logische Verknüpfung zweier Thatsachen und damit den
gewissen Schluss auf das Unbekannte. Doch nicht allein dieser Gegensatz
weist hierauf hin, sondern es wird auch direkt genannt; denn offenbar be-
zieht sich v. 34 τοῦτο auf die Worte v. 31—32: τὸ 7 τόδε τοιοῦτ᾽ ἐστιν; was
diese aber bedeuten, ist sowohl an sich klar, als auch aus den Beispielen
dieser Redeweise col. 3, 30: οὗ παρ᾽ ἡμῖν ἄνϑρωπον ἢ ἄνϑρωπον. .. εἰσί und
60]. 29, 4ff.: χαὶ τὸ μὴ διειληφέναιν, ὅτν τὸ 7 τόδε τοιόνδ᾽ ἐστίν, οἷον τὸ τόν ἄν-
ϑρωπον 7 ἄϑρωπός ἐστιν φϑαρτὸν εἶναι: Es ist der Ausdruck für die logische
Verknüpfung der Thatsachen. Unrichtig ist daher, was Natorp, Forsch.
S. 246 schreibt: „Wenn ... die Stoiker der naiven Meinung waren, alle
Folgerungen damit allein auf ein gemeinsames Prineip gebracht zu haben,
dass sie sie in derselben Form von Bedingungssätzen aussprachen.“ Ebenso
ist es unrichtig, was er a. a. O. S. 243,1 sagt: „Man möchte fragen: woher
weiss denn das — dass der Mensch nicht Mensch sein würde ohne die Sterb-
lichkeit — der Stoiker? Vermuthlich — aus der stoischen Philosophie.“
3). Vgl. vor. Anm. col. 6, 34.
*) col. 7, 5ff. Die Widerlegung dieses Einwandes ist zum grössten Teile °
verloren gegangen; der Aufrechterhaltung desselben dient die ganze nach
folgende Abhandlung des Epikureers Philodem. x
ἃ
-- 8035 -ο-
Der Schluss nach der Übereinstimmung soll hiermit keines-
wegs gänzlich zurückgewiesen, sondern nur auf sein bestimmtes
Gebiet beschränkt werden: Er giebt, wie wir vorhin gesehen
haben, nur Wahrscheinlichkeit; der Schluss nach der dvaoxevr
dagegen Gewissheit. Wo also die letztere nicht zu erreichen
möglich ist, da wird jener seine Anwendung finden; ihm gehört
namentlich das Gebiet der Erfahrung und des Versuchs').
1) 60]. 4, 10ff. beweist, dass der Stoiker sowohl die ἀνασχευή als den
Schluss nach der Übereinstimmung anwendet, aber beide in verschiedener
Weise; der erstere allein giebt zwingende, der letztere nur wahrscheinliche
Erkenntnis. Vgl. auch col. 4, 25ff., speziell v. 34—35 u. col. 5, 1ff., wo
nur bewiesen wird, dass der Schluss nach der Übereinstimmung keine
zwingende Kraft hat, nicht, dass er gar nicht angewendet werden darf.
Auch col. 7,20ff. zeigt, dass der Stoiker den Schluss nach der Überein-
stimmung als nützlich anerkennt. Aus der ganzen Darstellung übrigens
und besonders aus 60]. 5,1ff. erhellt, dass unter dem Schlusse nach der
Übereinstimmung nur die einfache inductio per enumerationem simplicem
vom Stoiker gemeint und bestritten wird. — Hätte Natorp a. a. Ὁ. S. 236,
255, 241 die stoische Theorie und ihr Verhältnis zu der Epikureischen voll
erkannt, würde er sicher nicht den Wert der letzteren und den Unwert der
ersteren so sehr betont haben.
Ill. Teil. Stellung der mittleren Stoa.
A. Zur Vergangenheit,
Kap. 1.
Physik,
81. Die Ewigkeit der Welt.
Das tiefe Problem, mit dessen Lösung die griechische
Philosophie gleich in ihrem Anfange begonnen hatte, die 4
Frage nach dem Ursprung und der Dauer der Welt, hatte
von Aristoteles eine der früheren Anschauung entgegengesetzte
Beantwortung erfahren: Mit triftigen Gründen hatte er ihre
Ewigkeit behauptet und die Frage nach ihrem Ursprunge als eine
schiefe zurückgewiesen). Jedoch bald nach seinem Tode trat das
stoische System mit aller Entschiedenheit dieser Lehre entgegen
und so entbrannte ein heftiger Kampf zwischen ihrem Stifter und
dem Leiter der peripatetischen Schule Theophrast. Wenn dieser
nun auch die gegnerischen Beweise, welche die Veränderungen
in der Natur an die Hand gaben, mit Glück und Sachkenntnis
zurückwies?), so blieb dennoch die Annahme des periodischen
Entstehens und Vergehens der Welt ein fester Grundsatz der stoi-
schen Physik, zumal da die Stoa in der Folge tüchtige und
scharfsinnige Vertreter hatte, die Häupter der peripatetischen
Schule aber die philosophischen Probleme mehr bei Seite liessen
und sich der gelehrten Forschung in den Spezialwissenschaften
ergaben. Neben den Peripatetikern fanden nun die Stoiker auch
ἢ De coelo I 10, 219}, 12. A
5) Ps. Phil. de incorr. mundi ed. Bernays e. 23; Abh. d. Berl. Akad. °
1876 5. 264.
: ἢ
-- 505 --
an den Vertretern der mittleren Akademie ihre Gegner; denn in-
dem diese die Möglichkeit einer irrtumsfreien Erkenntnis über-
haupt bestritten, mussten sie natürlich auch die Physik und
Metaphysik für unerweisbar halten. Gleichwohl wussten die
Stoiker und namentlich ihr vielstreitender Vertreter Chrysipp alle
Angriffe abzuschlagen. Eine neue Bewegung jedoch kam in das
Leben der philosophischen Probleme hinein, sobald Carneades
den Lehrstuhl der Akademie betrat und die allseitige Widerlegung
des Dogmatismus unternahm.
Die Beweise des Carneades!) gegen das Dasein der Gottheit
richten sich gegen dieselbe sowohl als Welt wie als lebendes
Wesen schlechthin, und zwar betrachten die ersteren sie vor-
wiegend nach ihrer physischen, die letzteren nach ihrer psychi-
schen Natur. Von der ersten Klasse liegen uns drei vor: Jedes
lebende Wesen, so führt er zunächst aus, ist als Körper entweder
einfach oder zusammengesetzt; aber weder der einfache noch der
zusammengesetzte Körper kann unvergänglich und unsterblich
sein; Zunächst der einfache nicht, denn ein solcher verändert
sich und geht stets in die verwandten Elemente über. Alles
aber, was veränderlich ist, hört durch die Veränderung auf ein
solches zu sein, wie es ist, kann also auch nicht unvergänglich
und unsterblich sein. Das Gleiche gilt, wenn die Gottheit als zu-
sammengesetzter Körper, als Welt, gedacht wird; denn da ihre
Teile veränderlich und vergänglich sind, muss sie auch selbst
vergänglich sein. Im Wesen der Sache liegt es ferner, dass die
Elemente wohl eine Zeit lang in der sichtbaren Zusammensetzung
verharren, nachher aber sich auseinander lösen, um die ihrer
Natur entsprechende Lage einzunehmen: Also auch wenn sie
als Welt gefasst wird, ist sie vergänglich und sterblich. Dies ist
mit dem Wesen der Gottheit unvereinbar; folglich müssen wir
auf ihre nicht-Wirklichkeit schliessen. — Der zweite Beweis sucht
darzuthun, dass die Gottheit weder als unbegrenzt noch als be-
grenzt, also überhaupt nicht vorgestellt werden könne: Jede Be-
wegung kann nur in einem Raume geschehen, demnach muss
das Bewegte kleiner als der Raum sein, in dem die Bewegung
vor sich geht, also begrenzt. Ferner schliesst auch der Begriff
eines lebenden Wesens in sich, dass es einen Mittelpunkt des
᾿ ἢ Sext. Emp. adv. phys. 1 1888. Cie. de deor. nat. ΠῚ 12,29.
Schmekel, mittlere Stoa. 20
— 900 --
Lebens hat; beim Unbegrenzten aber kann von einem Mittelpunkte
begrifflich nicht die Rede sein. Ist also die Gottheit unbegrenzt,
so ist sie kein lebendes Wesen; ist sie aber begrenzt, so ist sie
nur ein Teil des Alls und. schwächer als dieses, was mit dem =
Begriffe der Gottheit unvereinbar ist. — Speziell gegen die Stoiker
ist der dritte Beweis gerichtet: Das ätherische Feuer bedarf nach
ihrer eigenen Lehre der stetigen Nahrung, um zu bestehen; da
nun zur Zeit der Ekpyrosis alles in solches verwandelt ist, so
fehlt ihm die Nahrung. Also kann es alsdann nicht bestehen,
sondern muss erlöschen und damit untergehen. — Treffender und
schärfer sind noch die Gründe der zweiten Art: Jedes lebende
Wesen ist seiner Natur nach der Empfindung fähig und deswegen
äusseren Eindrücken und Einflüssen ausgesetzt. Alle Empfindung
aber hat Lust oder Schmerz zum Inhalte; was nun dem Schmerze
ausgesetzt ist, ist auch dem Untergange unterworfen: Also kann
kein lebendes Wesen ewig sein und es somit auch keine Gottheit
geben. — Diesen Beweis leitet er bei Cicero mit den Worten ein:
Es giebt nichts, was nicht geboren wird und zugleich ewig ist.
Positiv lautet dieser Satz auch: Alles, was geboren wird, muss
untergehen. Diesen Grundsatz macht er aber nicht nur hier
geltend, sondern er liegt auch dem ersten Beweise zu Grunde;
ja dieser ist ganz und gar nur eine nähere Ausführung desselben,
da er fortwährend vom Entstehen auf das Vergehen und rück-
wärts schliesst. — Endlich weist er nach, dass wir der Gottheit
auch keine Tugenden beilegen dürften, weil diese allemal eine
Beschränkung der Vollkommenheit in sich enthielten, die bei der
Gottheit anzunehmen unmöglich sei. Sei sie andererseits wieder
der Tugend nicht teilhaftig, so ermangele sie auch der Vernunft,
da eben die Tugend in dem Gebrauche der Vernunft bestehe.
Eine Gottheit ohne Tugend und Vernunft aber sei undenkbar:
Also sei Gott überhaupt undenkbar.
Diese scharfsinnigen Erörterungen gegen das Dasein Gottes
erklärten aller bisherigen Spekulation die Fehde. Es war daher
natürlich, dass die verschiedenen Philosophen, je nach dem Malse,
wie sie hiervon berührt wurden, zu diesen Beweisen Stellung
nahmen. Dem Carneades am nächsten standen nun die Epiku-
reer; wir dürfen es daher wohl sicher nicht für Zufall halten,
dass unter diesen sich damals Vertreter fanden, welche das Da-
sein der Götter schlechthin leugneten und, um mit ihrem Meister
=
> 30 ςς.
in Übereinstimmung zu bleiben, behaupteten, er habe nur dem
Wortlaute nach das Dasein derselben bestehen lassen, um den
Anstoss bei den Athenern zu vermeiden (s. 5. 101). Greifbarer
tritt uns dieser Einfluss bei dem scharfsinnigsten Vertreter der-
selben, wie ihn Cicero nennt, bei Zeno von Sidon hervor: Er
entlehnt ganz offen dem Carneades mehrere Beweise und wendet
sie gegen die Stoiker').
Klarer und wichtiger jedoch ist noch für uns die Sehrift, mit
der sich das Haupt der peripatetischen Schule, Critolaus, erhob
die Ewigkeit Gottes als Welt zu erweisen und zu verteidigen.
Seine Gründe?) sind in Kürze folgende: Die Annahme, dass die
Menschen ehedem auf irgend eine Weise aus der Erde entstanden
seien, ist lächerlich und unwahr; denn Menschen können immer
nur von Menschen erzeugt sein. Das Menschengeschlecht ist also
ewig da und somit auch die Welt. — Der zweite Grund schliess
ontologisch: Was sich selbst der Grund des Daseins ist,
ist ewig; die Welt ist sich selbst der Grund des Daseins, weil sie
für alles in derselben der Grund des Daseins ist: Also ist sie
ewig. — Der dritte Grund verspottet eine Konsequenz der gegne-
rischen Lehre, die wir hier als weniger wertvoll übergehen können,
Der vierte beweist, dass die Welt niemals der Zerstörung aus-
gesetzt ist: Da sie schlechthin alles umfasse, könne sie niemals
irgend wie Gewalt erleiden oder Mangel haben. Dieses seien
aber die Ursachen der Krankheit und des Alterns. Sie könne
also niemals der Krankheit und dem Alter ausgesetzt sein. — Der
fünfte und letzte Beweis endlich schliesst aus der Ewigkeit des
Verhängnisses auf die Ewigkeit. der Natur der Welt (φύσις τοῦ
κόσμου), die in allem Seienden als das ihm eigentümliche, gött-
liche Lebensprineip erscheint, und aus dieser folgerecht auf die
Ewigkeit des Kosmos selbst. Verteidigen alle diese Gründe die
Ewigkeit Gottes als Welt, so kommt unter ihnen hier der vierte
doch besonders in Betracht: Er wendet sich augenscheinlich
gegen den Grund des Carneades, der aus der Empfindung des
1) Cie. deor. nat. I 8, 208. (5. Hirzel Unters. I 5. 98.). Zu dem ersten
Beweis vgl. was wir oben ausgeführt haben; zu dem zweiten Beweise
8. 23£. Cie. a. a. O. ΠΙ 32,79; auf die letztere Übereinstimmung hat bereits
Schoemann in s. Ausg. aufmerksam gemacht. Andere Belege dieses Ein-
flusses werden später folgen.
2) Vgl. Ps. Philo a. a. Ὁ. ὁ. 11ff. p. 239 ff. B.
20°
-- 08 “--
lebenden Wesens auf seine Krankheit und von hier aus auf seine
Vergänglichkeit schliesst.
Wir kommen zur Stoa. Wenn auch Carneades seine Beweise
zum Teil allgemein hielt, so beweist doch die Ausführung selbst
dieser, dass er seine Polemik hauptsächlich gegen die Stoiker
wandte. Gegen diese richtete sich auch Critolaus, wie an sich
naheliegend und auch bereits von Bernays gesagt ist!). Die Folge
dieser Polemik war die Verwerfung der Ekpyrosis durch Panätius,
in der er an Boethus einen Gesinnungsgenossen hatte. Was nun
zunächst die Polemik des Carneades anbetrifft, so haben seine
Gründe entschieden einen bestimmenden Einfluss auf Panätius
geübt. Augenscheinlich nehmen wir dies zunächst an demjenigen
wahr, der aus der Empfindung Gottes als eines lebenden Wesens
auf die Vergänglichkeit desselben schliesst. Eben denselben Beweis
nämlich bringt Panätius in derselben Fassung gegen die Unsterb-
lichkeit der Seele vor?). Da er somit durch diesen Beweis be-
wogen wurde, einen Zustand, in dem die Seele getrennt vom
Körper existiert, zu verwerfen, so ist offenbar, dass er in gleicher
Weise auch einen Zustand in dem die Welt ganz Feuer, gewisser-
massen ganz Seele wäre, für unmöglich halten und somit die
Auflösung der Welt in Feuer leugnen musste. Ebenso klar ist
dies ferner bei seinem zweiten Beweise gegen die Unsterblichkeit.
Denn wenn er schliesst: ‘Alles, was geboren wird, muss sterben;
die Seele wird geboren: Also muss sie auch untergehen’, so haben
wir dies ebenfalls vorhin bei Carneades gehört?). Betrachten wir
ferner den dritten Grund des Panätius gegen die Unsterblichkeit,
die Seele müsse beim Tode untergehen, weil ihre Bestandteile
') Abh. der Berl. Akad. 1882 philos.-hist. Kl. S. 53; 56.
5) Cie. deor. nat. III 13,32: omne . . animal sensus habet: sentit igitur
et calida et frigida et duleia et amara nec potest ullo sensu iucunda aceipere,
non aceipere contraria. si igitur voluptatis sensum capit, doloris etiam
capit; quod autem dolorem aceipit, id aceipiat etiam interitum necesse est;
dasselbe ebds. $ 34 u. $ 36; vgl. hiermit Panätius b. Cie. Tusce. I 32,79:
alteram autem adfert rationem nihil esse quod doleat, quin id aegrum esse
quoque possit: quod autem in morbum cadit, id etiam interiturum: dolere
autem animos, ergo etiam interire.
8) Da Zeno von Sidon denselben Grund allgemein vorträgt, den wir
hier bei Panätius gegen die Unsterblichkeit finden, so ist es erst recht er-
sichtlich, dass sie ihn beide von Carneades haben; vgl. S. 307 Anm. 1.
= TOO
sich trennten und in andere Elemente verwandelten!), so deckt
er sich ebenso klar mit dem Beweise, den wir Carneades an
erster Stelle gegen die Ewigkeit eines lebenden Wesens haben vor-
bringen sehen. Ebenso erkennt er auch den Beweis des Car-
neades gegen die Ekpyrosis an, den wir als dritten gezählt haben:
Wenn alles sich in Feuer verwandele, so müsse dieses aus
Mangel an Nahrung erlöschen und somit untergehen. Denn eben
diesen Beweis finden wir als vierten des Boethus und Panätius
bei Ps. Philo?2). Da er somit die Beweise des Carneades gegen
die Ewigkeit eines lebenden Wesens vollkommen billigte und an-
dererseits auch die Auflösung der Welt in Feuer im Anschluss
an ihn verwarf, so blieb ihm, so lange er nicht auch den stoischen
Pantheismus überhaupt verwerfen wollte, nichts anderes übrig,
als die Parallele zwischen dem Menschen und der Gottheit, die
Gleichstellung des Mikro- und des Makrokosmus, aufzuheben oder
wenigstens einzuschränken und auf diesem Wege die Ekpyrosis
zu verwerfen.
Diesen Ausweg fand er auch bei Critolaus vor. Die Beweise
desselben für die Ewigkeit der Welt machen durchweg die Verschie-
denheit der letzteren d. h. der Gottheit und der Menschen geltend,
wenn auch diese nicht als leitender Gesichtspunkt an die Spitze
der Erörterung gestellt wird. Seine Beweise haben nun ebenso
auf Panätius gewirkt, wie die des Carneades. Nachdem nämlich
Ps. Philo die Gründe des Critolaus vorgetragen, berichtet er,
dass unter den Stoikern Boethus und Panätius die Lehre von
der Weltverbrennung aufgaben, und zugleich die Gründe, durch
welche sie dazu veranlasst wurden. Denn wenn Ps. Philo hier-
bei stets »Boethus und seine Anhänger« citiert, so leuchtet von
selbst ein, dass die Gründe, welche er von ihnen berichtet, ebenso
für Panätius bestimmend gewesen sind wie für Boethus. Dieser
Schluss wird dadurch bestätigt, dass der zweite dieser Gründe
thatsächlich ein solcher des Panätius ist, wie wir anderweitig
bereits erkannt haben?). Vergleichen wir nun die Gründe, welche
!) Dies geht aus Tusc. I 18,42 hervor. Hier wird nämlich gegen ihn ein-
gewandt, dass die Bestandteile der Seele nach dem Tode sich ihrer Natur
gemäss in die Luft erheben; also muss er dieses geleugnet und demgemäss
ihre einfache Umwandlung angenommen haben.
2) Hierzu vgl. die nachfolgende Ausführung. De
8) Ebenso wie dieser zweite Beweis des „Boethus und seiner Anhänger
— 3510 —
Ps. Philo dem Boethus und seinen Anhängern beilegt, mit denen
des Critolaus, so tritt die Übereinstimmung bei zweien ganz klar
zu Tage: Der erste von denen des Panätius und Boethus deckt
sich mit dem vierten des Critolaus, wie bereits Bernays bemerkt
hat!), und der dritte des Boethus und Panätius im wesentlichen
mit dem letzten des Critolaus, der aus der Ewigkeit des Ver-
hängnisses auf die Ewigkeit der φύσις τοῦ κόσμου und von dieser
auf die des Kosmos selbst schliesst. Klarer zeigt sich diese
Übereinstimmung noch, wenn wir uns dessen erinnern, was wir
früher gezeigt haben, dass Panätius aus der ewig durchaus gleich-
mässig wirkenden göttlichen φύσις, die ja mit der εἱμαρμένη
identisch ist, die Ewigkeit der Welt erschliesst. Die Überein-
stimmung des Panätius mit Critolaus und somit auch der An-
schluss desselben an ihn ist demnach nicht zu verkennen?). In-
sofern nun Critolaus die Stoiker zu widerlegen suchte, ist sein
Einfluss auf Panätius mehr negativ gewesen; insofern er aber
daran ging auch den Carneades zurückzuweisen, und Panätius
sich ihm anschloss, positiv.
Doch auch in dieser Beziehung steht der Einfluss des Car-
neades entschieden im Vordergrunde. Denn der Grund gegen
seine Polemik, in dem alle anderen zusammentreffen, ist die
Leugnung der Gleichartigkeit des Menschen und der Gottheit und
auf diesen für die Folgezeit äusserst wichtigen Grund hat Car-
betont, dass die Sympathie der Welt nicht derartig sei wie die des Menschen,
dass also auch von der Sterblichkeit des Menschen nieht auf die Vergäng-
lichkeit der Welt geschlossen werden dürfe, haben wir auch S. 191ff. den
Panätius die Sympathie beschränken und schliessen sehen. — Es sei darauf
hingewiesen, dass ich dort durchaus unabhängig und unbeeinflusst von
dieser Stelle argumentiert habe.
') Vgl. Abh. der Berl. Akad. philos.-histor. Kl. 1882 S. 38.
5) Der Anschluss an ihn war um so näher gelegt, als Critolaus in starker
Annäherung an die Immanenz die Ewigkeit der Welt zum Teil aus Gründen
erschloss, die auch von der Stoa anerkannt wurden, wie der letzte beweist.
Bei diesem lässt sich sogar stoischer Einfluss nicht verkennen. Denn wenn
wir lesen: ἐπεὶ δὲ εἱμαρμένη... ἀτελεύτητός ἐστιν εἴρουσα τὰς ἑχάστων ἀνελλι-
πῶς zei ἀδιαστάτως αἰτίας, so erinnern wir uns sofort Chrysipps Definition
der εἱμαρμένη Diog. VII 149: χαϑ' εἱμαρμένην δέ φασι τὰ πάντα γίνεσϑαν
Χρύσιππος... ἔστι δὲ εἱμαρμένη αἰτία τῶν ὄντων εἰρομένη; vgl. Arrius Di-
dymus b. Diels dox. gr. p. 465,2. Eine solche Beeinflussung der peripate-
tischen Schule steht nicht vereinzelt da; vgl. Zeller Phil. ἃ. Gr. IIb 5. 9185,
-- 811] -—
neades selbst in der eingehendsten Weise hingewiesen'). Am
klarsten tritt diese in der Verwerfung der absoluten Sympathie
zu Tage. Die Bestreitung und Beschränkung derselben auf das
Mafs, das wir bei Panätius finden, ist nun das Werk des Car-
neades, wie wir zum Teil schon gesehen haben und im folgenden
Paragraphen weiter sehen werden. In Wahrheit also hat auch
in dieser Beziehung die Anregung des Carneades am meisten und
durchschlagendsten gewirkt. Obwohl nun für einen Peripatetiker
die Zurückweisung der Parallele zwischen der Gottheit und dem
Menschen an sich sehr nahe lag, so können wir von hier aus
doch sehr wohl schliessen, dass auch Critolaus hierzu noch durch
Carneades angeregt worden ist, da wir gesehen haben, dass er
auch sonst auf ihn Rücksicht nahm. Auf Panätius ist der Ein-
fluss des Critolaus jedenfalls nur sekundärer Art gewesen’).
‘In dem gleichen Mafse nun, wie sich Panätius von der bis-
herigen Stoa entfernte, näherte er sich Aristoteles und Plato; ja
wir können hier 'sogar die Stelle Platos erkennen, welche die
Quelle und der Ausgang dieses Streites gewesen ist. Tim. 32 (Σ ff.
lässt Plato den Weltbildner die Welt schaffen, ihr aber zugleich
auch Einheit (&v), Ganzheit (ὅλον), ewige Jugend und Gesundheit
(ἀγήρων καὶ ἄνοσον) zuteilen. Diese Stelle hat der Epikureer
Zeno im Auge?), wenn er Plato den Vorwurf macht, es sei ein
‚Widerspruch gegen alle Naturgesetze, anzunehmen, dass etwas,
was in der Zeit entstanden sei, ewig sein könne. Da Zeno dies
offenbar im Anschluss an Carneades thut, wie wir vorhin gezeigt
haben, so müssen wir schliessen, dass auch Carneades das Gleiche
gethan und diese wichtige Stelle angegriffen und den gerügten
!) Aus allen seinen Beweisen (vgl. 5. 305 Anm. 1) leuchtet dies als
Konsequenz hervor.
2) Von Boethus gilt, soweit wir nach dem obigen urteilen können, im
allgemeinen dasselbe wie von Panätius, doch können wir ihn deswegen hier
nicht dem Panätius gleichstellen, weil wir den Einfluss des Carneades auf
ihn einmal nicht in gleicher Weise wie bei Panätius klar darzulegen Im-
stande sind, und andererseits derselbe jedenfalls auch nicht in gleicher Weise
‚stattgefunden hat. So hat er z. B. die Unsterblichkeit der Seele, die doch
mit der Theologie, wie gezeigt, eng zusammenhing, nach den vorliegenden
Berichten zu schliessen ebensowenig angetastet wie die Mantik, Er hat sich
offenbar viel mehr zur peripatetischen Schule geneigt. Ebenso wie die Ab-
‚weichungen werden wir auch die Übereinstimmungen im weiteren Verlaufe
‚berühren.
3) Cie, deor. nat. I 8, 20f.; vgl. S. 307, Anm. 1.
— 512 —
Widerspruch in ihr klar gelegt hat!). Es ist daher sicher kein
Zufall, dass auch seine Gegner sich auf dieselbe Stelle berufen,
doch den gerügten Widerspruch von ihr fern halten: Der vierte
Beweis des Critolaus und der erste des Boethus und Panätius-
geben nur eine erweiterte Darstellung derselben?) und beweisen
durch sie die Anfangslosigkeit der Welt?). Hierdurch wurde zu-
gleich der Anschluss an Aristoteles in der Auffassung dieses
Problems vollzogen.
Dieselbe Stellung zu Carneades wie Panätius nehmen auch
seine Schüler ein. Im Anschluss an ihn hoben sie ebenso wie:
er selbst die Parallele zwischen der Gottheit und dem Menschen
auf und suchten dadurch den Fangschlüssen ihres grossen Geg-
ners zu entgehen. Mnesarchus zog dabei wohl dieselben Schlüsse
wie sein Lehrer, d. h. er folgerte die Ewigkeit der Welt und
leugnete die Unsterblichkeit der Seele; Posidonius dagegen kam
zu vollkommen entgegengesetzten Anschauungen. Die Parallele,
von der aus Carneades die Ewigkeit und das Dasein der Gottheit
bestritt, sprach derselben auch die fünf Sinne und überhaupt
alle Attribute zu wie den Menschen. Gegen diese Gleichstellung‘
richtete sich zunächst der Kampf des Posidonius: Es ist ein
Unterschied, so führt er aus, zwischen der Gottheit oder dem das
All umfassenden Urwesen (οὐσία) und den Einzelwesen (ἰδίως:
ποιά), die sich aus jener bilden. Diese, welche durch Zusammen-
setzung, Trennung und Verschmelzung entstehen oder vergehen,
sind naturgemäss der Vergänglichkeit unterworfen; doch nicht
die Gottheit, die zwar der Umwandlung fähig ist, aber sich nie-
mals vermehren oder vermindern kann, da sonst Seiendes aus
nicht-Seiendem und umgekehrt entstehen müsste. Sie ist also:
an sich notwendig ewig und unvergänglich®). Sie ist ferner
') Er hat auch sonst Plato eingehend bekämpft; vgl. Cie. de rep. III
7,10 ed. Bait.
?) Hierauf hat Bernays a. a. O. (vgl. 5. 310 Anm. 1) bereits aufmerk-
sam gemacht.
®) In gleicher Weise hatte bereits Xenokrates diese Stelle aufgefasst. —
Übrigens entscheidet sich damit auch ohne weiteres die Frage, ob Panätius
mit Plato einen Anfang, oder mit Aristoteles die Anfangslosigkeit der Welt.
angenommen hat.
*) Die Nachweise sind früher dagewesen; vgl. Diels dox. gr. p. 462, 15ff.;,
dass diese Auseinandersetzung auf Angriffe der Gegner Rücksicht nimmt,
zeigt der ganze Zusammenhang dieses Berichtes.
᾿
-- 815 --
natürlich auch der Wahrnehmung und der Erkenntnis teilhaftig:
jedoch nicht nach Menschenart vermittelst der Augen, Ohren und
-der Sprache, sondern ohne jede sinnliche Vermittelung aus und
‘gemäss ihrer geistigen Natur!). Hiermit hängt innerlich die
Widerlegung der weiteren Gründe zusammen, welche Carneades
gegen die Ewigkeit und das Dasein der Gottheit vorgebracht und
‚Panätius namentlich gegen die Unsterblichkeit der Seele geltend
gemacht hatte. Der Satz: ‘Alles, was geboren wird, muss sterben,
‚was geworden ist, muss vergehen’, ist in dem, was wir soeben
‘gehört haben, voll und ganz anerkannt. Schloss nun Panätius
hieraus, dass die Seele untergehe, so schloss Posidonius gerade
“umgekehrt, dass sie nicht untergehen könne, weil sie nicht ge-
‚boren würde, sondern als wesensgleicher Teil der Gottheit ebenso
‚wie diese selbst ewig und unvergänglich sein müsse. Dass nun
"Posidonius durch den eben erwähnten Schluss des Carneades
und Panätius zu dieser Lehre der Präexistenz geführt wurde,
‘geht nicht nur aus dem Zusammenhange selbst hervor, sondern
zeigt sich augenscheinlich in der Widerlegung seines Lehrers?)
und wird auch von Lactanz mit aller nur wünschenswerten
Klarheit berichtet 5).
Ebenso wie Posidonius den genannten Einwand des Car-
neades*) als richtig an sich anerkannte, hier aber als unzutreffend
ı) Vgl. 5. 249. Dass die daselbst angeführte Stelle (Cie. div. I 57, 129)
aus einem Zusammenhange genommen ist, der sich gegen Carneades wandte,
‚zeigt ebds. c. 7,12 und wird weiter unten noch Bestätigung finden. — Bei dem
‚Verhältnisse der Epikureer überhaupt und Zenos im besondern zu Carneades
lag es nahe, die gleiche Polemik gegen die Epikureische Theologie zu richten,
Dies hat Posidonius auch gethan; denn die Behauptung der Epikureer, die
'Thätigkeit der Götter schliesse ihre Glückseligkeit aus, führt er auf ihre
falsche Annahme zurück, dass die Götter menschenartig und menschengleich
‚seien; vgl. Cie. deor. nat. II 23,59.
2) Cie. Tuse. I 33, 80.
s) Div. instit. IH 18; vgl. S. 250 Anm. ὃ u. später.
ἢ Dieser Einwand des Carneades wird auch von Sext. adv. phys.
Ἱ 70 berücksichtigt und mit Hilfe der oben angegebenen Lehre des Posi-
“donius berichtigt. Daraus geht hervor, dass auch bei Sext. a. a Ο. Car-
neades als Gegner gedacht ist (vgl. 5. 87 Anm. 1). — Dieser Einwand des
-Carneades ist von der grössten Wichtigkeit gewesen; vgl. auch Augustin de
“eiv. Ὁ. XXI ce. 2f., der sich aufs angelegentlichste mit diesem Beweise aus-
"einandersetzt. Durch Varro ist er auch in Serv. Aen. ΥἹ 724 hineingekommen,
“einen Schriftsteller, bei dem man sonst schwerlich Beweise des Carneades
suchen würde.
L
zurückwies, verhielt er sich auch in Bezug auf den Schluss des
Carneades aus der Empfindung. Er schloss demnach umgekehrt
wie sein Lehrer: Da jede Schmerzempfindung mit der Unsterb-
lichkeit unvereinbar ist, so kann die Seele nach ihrem Abscheiden
vom Körper nicht mehr Schmerz empfinden, wie gewöhnlich
gelehrt wird. Alle Schmerzempfindung wird vielmehr durch die
Einwirkung des Körpers hervorgerufen, und nicht nur diese,
sondern überhaupt alle Störungen der Seele (πάϑη). Durch den
Nachweis dieses Satzes (s. S. 262) brach er nun dem gedachten
Beweise des Carneades natürlich auch in Bezug auf die Polemik
gegen die Gottheit die Spitze ab. Denn wenn der Schmerz nur
die Folge der Einwirkung des Körpers ist und die Seele als
solche von ihm unberührt bleibt, so ist es klar, dass auf Grund
desselben ebensowenig die Ewigkeit der Gottheit wie die
Unsterblichkeit der Seele irgendwie in Frage gestellt werden
kann. ΠΝ
Bestimmend hat ferner auch der Beweis des Carneades auf
Posidonius gewirkt, der oben an zweiter Stelle aufgezählt ist und
nachzuweisen sucht, dass die Gottheit weder als begrenzt noch
als unbegrenzt zu denken sei. Wendet nämlich Carneades gegen
die Unbegrenztheit Gottes ein, jedes lebende Wesen müsse als
solches ein Lebenscentrum haben, was bei einem unbegrenzten
Wesen begrifflich unmöglich sei, so finden wir denselben Grund
auch bei Posidonius gegen die Unbegrenztheit Gottes oder der
Welt wieder!). Die unmittelbare Folge hiervon war die Not-
wendigkeit den leeren Raum ausserhalb der Welt zu beschränken;
denn selbst zur Zeit der Ekpyrosis bleibt die Gottheit immer ein
lebendes Wesen. Den weiteren Schluss des Carneades, sei die
--, 814 —
1) Cleomed. eyel. theor. I c. 1: χόσμος ἐστὶ σύστημα ἐξ οὐρανοῦ zei γῆς
zei τῶν ἐν τούτοις φύσεων. οὗτος δὲ πάντα μὲν τὰ σώματα ἐμπεριέχει... οὐ μὲν
ἄπειρός γε, ἀλλὰ πεπερασμένος ἐστίν" ὡς τοῦτο δῆλον ἐκ τοῦ ὗπο φύσεως αὐ-
τὸν διοικεῖσθαι. ἀπείρου μὲν γὰρ οὐδενὸς φύσιν εἶναν δυνατόν" dei
γὰρ καταχρατεῖν τὴν φύσιν, οὕτινός ἐστιν; vgl. Sext. ἃ. ἃ. Ὁ, I 119 ἢ,
-= (ie. deor. nat. II 8. 28 ff.; vgl. S. 94. Dass wir in den angeführten Worten
des Cleomedes den Posidonius vor uns haben, beweist ganz abgesehen von
dem Verhältnis, das überhaupt zwischen Posidonius und Cleomedes statt-
findet, die Definition von χόσμος, die Posidonius gehört, wie die fast wört-
liche Übereinstimmung mit Diog. VII 138 beweist Dem Cleomedes gehört
diese Ansicht jedenfalls nicht, da er die Unendlichkeit des leeren Raumes
vertritt, wie die Fortsetzung zeigt.
ἢ
— 35 --.
‚Gottheit begrenzt, so sei sie schwächer als das All und darum
‘vergänglich, wies er jetzt erst recht bequem mit dem Grunde ab,
den bereits seine Vorgänger gegen denselben erhoben hatten.
Im Kampfe gegen Carneades schied Posidonius, wie wir
vorhin gesehen haben, die Natur der Einzelwesen (ἰδίως ποιά)
streng von der der Gottheit und wies den Schluss von der ersteren
‘auf die letztere als falsch zurück. Da nun die Angriffe des Car-
‚neades gegen die Ewigkeit und das Dasein Gottes sich zum grossen
Teile gegen sie in der Auffassung als Welt richteten, wurde
die Welt, was auch an sich durchaus nicht unstoisch war, not-
"wendig zu einem ἰδίως ποιόν der Gottheit und somit musste von
ihr dasselbe gelten, was von allen Einzelwesen galt, sie musste
‚als solche vergänglich sein. Die Wiederaufnahme der Ekpyrosis
‘steht also ebenfalls mit der Kritik des Carneades in engster Be-
'ziehung, ja sie wurde durch seine Beweise erst recht notwendig
‘gemacht, da dieselben zum grössten Teil in Bezug auf die Welt
als Einzelwesen ihr volles Recht behielten').
Genauer diesen Kampf des Posidonius gegen Carneades zu
verfolgen ist uns bei dem Stande der Überlieferung nicht mög-
Jich; dass derselbe aber thatsächlich in der Weise, wie wir ge-
‘sehen haben, stattgefunden hat, ergiebt sich uns noch von einer an-
deren Seite. Wir haben früher (8. Söff., 103) dargethan, dass Posi-
(donius in seinem diesbezüglichen Werke Περὶ ϑεῶν als vierten
Abschnitt die Widerlegung derer gab, die in irgend einer Weise
das Dasein Gottes bestritten, und dass er diese Widerlegung
gleichzeitig als einen neuen Beweis für das Dasein der Götter
benützte. Wenn nun auch Sextus und Cicero diese Widerlegung
zum grössten Teile wohlweislich ausgelassen haben, so berichtet
uns doch Cicero ausdrücklich, dass die Polemik des Posidonius
in erster Linie sich gegen Carneades wandte°).
ı) Wie Posidonius den Einwand widerlegt hat, dass zur Zeit der Ek-
pyrosis das Feuer aus Mangel an Nahrung erlöschen müsse, ist uns mit
Gewissheit nicht überliefert; vielleicht ist er unter denjenigen mit zu ver
stehen, welche Ps. Philo a. a. ©. e. 18ff. zu widerlegen sucht. Daselbst
heisst es: ἐπειδὴ γὰρ αἴτιον χινήσεώς ἐστιν τὸ πῦρ, κίνησις δὲ γενέσεως ἀρχή . "
ἔφασαν ὅτε μετὰ τὴν ἐχπύρωσιν .. σύμπαν μὲν τὸ πῦρ οὐ σβέννυται, ποσὴ δὲ τις
αὐτοῦ μοῖρα ὑπολείπεται. πάνυ γὰρ ηὐλαβήϑησαν μὴ σβεσϑέντος ἀϑρόου μεινῇ τά
πάντα ἡσυχάσαντα ἀδιαχόσμητα. :
3) Deor. nat. II 7,20: Atque haec cum uberius disputantur et fusius,
ut mihi est in animo facere, facilius effugiunt Academicorum calumniam;
6
Wir haben bis jetzt hauptsächlich den negativen Einfluss
gesehen, der den Posidonius zur Abweichung von seiner Schule
und besonders von seinem Lehrer veranlasste. Positiv hat er sich
hierbei ausser von den Ansichten der früheren Stoiker!) nament-
lich von Plato leiten lassen. Dies zeigt sich, abgesehen von einzelnen
Beweisen für die Ewigkeit der Seele?), besonders in der Lehre
der Präexistenz derselben und ihrem Leben im Jenseits. Zwar
scheint dem Letzteren der Umstand zu widersprechen, dass Plato
die Seelen der Gottlosen in der Unterwelt zum Teil sehr schwere
Strafen erleiden lässt, während Posidonius schlechthin leugnet,
dass die Seele nach dem Tode in die Unterwelt hinabgehen und
noch Schmerzen empfinden könne; doch ist dies eben nur Schein.
Plato schreibt nämlich selbst im Phädon (p. 114 D.) nach seiner
Darstellung des Lebens in der Unterwelt: »Dass sich nun dies
alles so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt, das ziemt wohl
einem vernünftigen Manne nicht zu behaupten; dass es aber
entweder diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muss mit
unseren Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele
offenbar etwas Unsterbliches ist, dies dünkt mich zieme sich gar
sehr». In diesen Worten ist die Berechtigung, ja die Verpflich-
tung enthalten, diesen Mythus mit Hülfe der Naturphilosophie
richtig umzudeuten. Eine solche Umdeutung haben wir bei Po-
sidonius. Dieselbe trägt ebenso sehr den Platonischen als den
stoischen Anschauungen Rechnung. Denn wenn er von der Erde
als der Unterwelt oder der untersten Welt spricht und von den
Sphären, die sich um sie lagern, in die die Seelen sich erheben,
so stimmt dies zunächst mit seiner Naturphilosophie überein;
ebenso aber hatte er reichlich Gelegenheit in Platos Natur-
philosophie im Timäus?) das Gleiche wiederzufinden. Erinnern
wir uns nun dessen, was wir vorhin gezeigt haben, dass der
cum autem, ut Zeno solebat, brevius angustiusque coneluduntur, tum aper-
tiora sunt ad reprehendendum etsq.; vgl. auch S. 313 Anm. 4.
') Besonders des Cleanthes, wie wir später sehen werden.
?2) Cie. deor. nat. II 88 31—32, Sext. adv. phys. I 88 75—76; vgl. S. 91.
®) Auch die berühmte Stelle am Schlusse des siebenten Buches der Re-
publik, wo die Erde in Bezug auf den Sphärenhimmel mit einer unter-
irdischen Höhle verglichen wird, und ebenso die phantasievolle Beschreibung
der oberen Erde am Schlusse des Phaedon lieferten zu der obigen Deutung
treffliche Gelegenheit.
— 37 —
Streit über diese Probleme gerade an eine Stelle des Timäus
anknüpfte, so sehen wir alsbald, welcher Grund den Posidonius
zur Abfassung seines Timäuskommentars bestimmte. Im übrigen
nahm er Beweise, wo er sie fand, aus Plato, Aristoteles, Xeno-
crates und anderen, wie wir dies bereits früher (S. Söff.) gezeigt
haben.
_ Noch in einer anderen Weise hat die Bestreitung der stoi-
schen Theologie durch Carneades gewirkt. Obwohl die stoische
Philosophie im Princip die Vielheit der Götter aufhebt und in
Wirklichkeit nur das All als Gott setzt, legten ihre Vertreter
doch zu viel Gewicht auf die allgemeine Meinung der Menschen,
als dass sie die Götter des Volksglaubens einfach hätten zurück-
_ weisen sollen. Im Gegenteil bemühten sie sich, durch allego-
rische Deutung in denselben Personifikationen bestimmter Einzel-
kräfte und Erscheinungsweisen der Allgottheit zu erkennen.
Dieses Verfahren bot Garneades eine bequeme Waffe gegen sie,
und er gebrauchte sie auch, um die Haltlosigkeit desselben da-
durch zu erweisen, dass er seine lächerlichen und unsinnigen
Konsequenzen klar legte!). Die Folge dieser Bekämpfung und
der vorhin ausgeführten Widerlegung des stoischen Gottesbegrifles
lässt sich bei Panätius und Posidonius nicht verkennen, wenn sie
die Götter des Volksglaubens für Geschwätz und Fabelei hielten.
Bei dieser Auffassung musste die allegorische Deutung als solche
selbstverständlich fallen und zum grössten Teile zu einem Ge-
biete der Philologie werden, wie es denn auch in der Folge-
zeit thatsächlich vielfach der Fall war. Ob nun Panätius der
erste gewesen ist, der die Volksreligion auf die berechnende Ab-
sicht der Staatsmänner und die Phantasie fabelnder Dichter
_ zurückführte, lässt sich mit Gewissheit nicht sagen. Getrennt
waren beide Gründe schon lange als solche aufgestellt; denn dass
die Götterwelt ein Institut der Staatsmänner sei, hatte bekannt-
lich Kritias behauptet und gegen die Götter als die Phantasie-
gebilde der Dichter bereits Xenophanes gekämpft. Beide An-
“siehten bespricht daher schon Plato ausführlich und weist sie
zurück, zugleich mit ihnen aber auch die falschen Lehren, um
die wahre philosophische Religion an deren Stelle zu setzen“).
1) Cie. deor. nat. III 15,39ff.; dass diese ganze Erörterung ihm gehört,
geht aus ebds. ce. 17,44 hervor. nr,
2) Wenn sich Cicero auch höchst wahrscheinlich deor. nat. ΠῚ 30, 77 dem
een |
Hier werden also die letzten Quellen dieser Auffassung zu
suchen sein.
$ 2. Das Verhängnis.
Die Entscheidung über die Notwendigkeit alles Geschehens
schliesst die über die Möglichkeit desselben in sich, dergestalt
dass wer jene annimmt, diese schlechthin von sich weisen muss.
Obwohl sich nun Chrysipp!) für die erste entschieden hatte, hielt
er doch an der gewöhnlichen Auffassung des zweiten Begriffs
fest und verteidigte dieselbe auf das entschiedenste gegen Diodorus
Cronus, der die Notwendigkeit mit der Möglichkeit identifiziert
hatte. In diesem tiefsten Punkte des vorliegenden Problems griff
Carneades ihn an und entwickelte ihm den direkten Widerspruch
zwischen seinen Ausführungen. Indem er ihm nun zeigte, dass
seine Lehre gerade zu jenen Folgerungen dränge, die er selbst
widerlegt hatte, wie namentlich zu dem ἀργὸς λόγος, bewies er
zugleich die Unhaltbarkeit seiner Theorie und damit die Richtig-
keit der Annahme, dass nicht alles durch das Fatum bedingt sei,
sondern dass der Mensch sich im Gebiete seines Handelns selbst
bestimme. Zugleich widerlegte er hiermit die Herrschaft der
absoluten Sympathie und schränkte sie auf die Naturereignisse
ein. Er setzte somit neben die Kausalität der Naturereignisse die
durch die Freiheit?). Das Gesetz der Kausalität gab ihm ferner
auch einen entscheidenden Grund gegen die Mantik. Chrysipp
hatte dieselbe als das Vorhersagen des Zufälligen definiert. Diese
Definition griff er an und wies ihm nach, dass der Begriff des
Zufalls den inneren Zusammenhang der Ereignisse ausschliesse
und damit auch die Möglichkeit, diese vorher zu sagen?). Da er
somit die Möglichkeit, etwas voraus zu verkünden, nur bei dem
kausal verknüpften Geschehen annahm und deshalb selbst dem
Apollo die Fähigkeit absprach, etwas weissagen zu können, dessen
Carneades anschliesst, werden wir doch schwerlich aus dieser Stelle schliessen
dürfen, dass diese Einteilung von demselben ausgegangen ist.
1 Für das Folgende vgl. T. I Kap. 6.
?) Er braucht dies nach seinem sonstigen erkenntnistheoretischen Stand-
punkte, über den nachher die Rede sein wird, nicht als absolute Gewissheit
gegeben zu haben.
8) Cic. de div. II 5,13; 6,18 Ε΄.
᾿
-- 819 —
ursächlichen Zusammenhang er nicht kenne'!), so blieb ihm natur-
gemäss kein Stoff für die Mantik übrig. Als bester Seher galt
ihm daher derjenige, welcher die Ursachen und Wirkungen auf
dem betreffenden Gebiete am besten kenne, d. h. der Sach-
verständige?). Auf das Gesetz der Kausalität gründete er somit
an Stelle der verworfenen Mantik die Möglichkeit der empirischen
Wissenschaft. Jedoch begnügte er sich nicht blos mit dieser
Widerlegung der Mantik, sondern wies auch auf ihre vollständige
Nutzlosigkeit hin: Wenn es unverbrüchlich feststehe, was geschehen
solle und werde, so könne durch keine Weissagung irgend etwas
genützt werden, da sich ja absolut nichts ändern liesse®). Dann
ging er auf ihre einzelnen Arten ein und wies diese zurück, so
die Auspizien, Blitz- und Eingeweidelehre, die Traumdeutung,
das Weissagen aus Losen‘) und die Astrologie, bei der er in
Übereinstimmung mit den obigen Ausführungen nicht an die auf
der Empirie beruhende Astronomie, sondern an die eigentliche
Sterndeuterei gedacht wissen wollte’). Ferner machte er auch
die vielen Widersprüche und falschen Angaben der Seher gegen
ihre Wirklichkeit geltend®) und deckte schliesslich auch die
Widersprüche dieser Lehre mit der Ethik Chrysipps auf durch
den Nachweis, dass es seinen eigenen Ausführungen gemäss ent-
weder kein Fatum, d. h. keine Vorsehung, oder keine Tugend
und Schlechtigkeit gebe, oder dass die Vorsehung nicht nur die
Tugend, sondern auch die Schlechtigkeit verursache (S. 180f.).
Diese Widerlegung der stoischen Lehre und die Beweis-
führung der gegen sie aufgestellten Theorie sind auf die Stoa
nicht ohne Einfluss geblieben und dem Charakter entsprechend,
den wir bisher bei ihren Vertretern kennen gelernt haben und
noch weiter kennen lernen werden, finden wir auch hier die
1) Cie. de fato c. 14,32; de div. II 7, 13m. Übrigens stimmt auch Alexan-
der Aphrod. de fato ce. 30 p. 92 ed. Orelli mit diesen Stellen 80 sehr über-
ein, dass, da sich auch sonst sehr viele Berührungen zwischen Cicero de fato
bezw. de div. und dieser Schrift Alexanders finden, auch Alexander noch
die Gründe des Carneades, natürlich in seiner Weise, berücksichtigt zu haben
scheint.
2) Cie. de div. II 3,9 ff.
3) Cie. deor. nat. III 6,14; div. II 8,20#.
3) Cie. de div. I 7,12; I 13,23; II 23,51; I 30, 62; II 41,87.
5) Cie. a. a. O. II 47,97; I 49,109; 1 6, 17.
8) Dies wird später seinen Beweis finden.
2 τΞ
Folgen des Einflusses ausgeprägt. Macht nämlich Carneades hier
den Versuch, unter Vernichtung der Mantik das Recht der Wissen-
schaft allein hoch zu halten, so zeigt sich der Einfluss dieser
Kritik zunächst bei Boethus offenbar darin, dass er in einem
beschränkten Gebiete der Mantik die wissenschaftliche Rechtferti-
gung derselben versuchte). Ganz klar aber tritt er uns bei
Panätius entgegen. Vor allem nehmen wir ihn an seiner Lehre
selbst wahr, deren Übereinstimmung mit den Ausführungen des
Carneades auf der Hand liegt. Ferner lehrt dasselbe auch seine
Begründung derselben, soweit wir sie zu vergleichen in der Lage
sind. Wir betrachten zunächst die Verwerfung der Astrologie?).
Der Kampf gilt bei ihm ebenso wie bei Carneades nicht der
Astronomie, sondern der Astrologie, wie die Gründe ganz klar
beweisen ($ 87; 91). Dieser Standpunkt sagt aber um so mehr,
als Panätius der einzige Stoiker war, welcher die Astrologie
gänzlich zurückwies®). Dass ihn nun zu dieser Verwerfung die
Einwände des Carneades veranlassten, sehen wir aus den Gründen,
welche er gegen sie aufstellte. Von diesen decken sich der erste,
zweite und fünfte mit denen, welche Carneades gegen sie vor-
getragen hat*). Auch der sechste und achte erinnern uns sofort
an ihn, nur stimmt hier die Ausführung nicht so genau wie bei
den vorigen überein’). Der dritte, vierte und siebente bestreiten
nicht die Astrologie, sondern führen die Thatsachen, welche die
Gegner durch den Einfluss der Gestirne erklären, auf andere
Gründe zurück. Solche Gründe finden sich einerseits nicht in den
1). Cie, de div. I 8,13.
2) Cie. a. a. OÖ. I 42, 87—46, 97.
3) Diogenes erkannte sie im Prineip sowohl wie in ihren wesentlichen
Funktionen vollständig an und leugnete nur ihre zu weit gehenden Behaup-
tungen; vgl. Cie. a. a. O0. 1143,90; 13,6. Er that dies sicher schon unter dem
Einflusse des Carneades ebenso wie er durch ihn auch an der Ekpyrosis zu
zweifeln veranlasst wurde; vgl. S. 63 Anm. 2.
*) Zur Verwerfung der absoluten Sympathie $ 91; vgl. Cie. a. a. Ὁ. II
$33ff., ferner Sext. adv. astr. 8 43; Favor. b. Gell. XIV 1,3; 23; Augustin
οἷν. Ὁ. V p. 198,26 ed. D. Zum zweiten und fünften Grunde Sext. a. ἃ. Ὁ.
88 86—93; Favor. a. a. Ὁ. 8 Sff.; 8 27ff. Augustin a. a. Ὁ. p. 197, ΣΝ
200, ΔΊΣ vgl. T. I Kap. 4 81.
5) Vgl. zum sechsten Grunde Cie. de fato ce. 5,10; beide weisen darauf
hin, dass Naturanlagen durch den Willen des Menschen geändert werden,
aber die Beispiele sind an beiden Stellen verschieden. Zum achten Grunde
vgl. Sext. a. a. Ο. 88 103—105; Favor. a. a. Ὁ. 88 2; 14—18.
ἥ
auf Carneades zurückgehenden Berichten; andererseils steht Pa-
nätius mit denselben auf dem Boden seiner Schule'). Wir haben
hier somit wohl dieselbe Erscheinung vor uns, wie auch sonst:
Die Widerlegung des Carneades veranlasste den Panälius von
der bisherigen Anschauung seiner Schule zurück zu treten und
die bezüglichen Thatsachen zu erklären, sei es dass er die Gründe
selbst fand, oder sie seiner Schule oder sonst irgend woher ent-
lehnte. Der wichtigste dieser Gründe ist die Verwerfung der
absoluten Sympathie. Da wir nun vorher gesehen haben, dass
die Verwerfung derselben bei Carneades eng mit der Betonung
der Freiheit des Geistes zusammenhängt, und jetzt sehen, dass
Panätius sie in offenbarem Anschluss an Carneades verwarf, so
folgt, dass auch seine modifizierte Theorie des Verhängnisses auf
dem Einflusse des CGarneades beruht, zumal da seine Theorie mit
der des Carneades in allem Wesentlichen übereinstimmt. Dieser
Einfluss des Carneades bestätigt sich noch von einer anderen
Seite aus. Wenn Panätius nämlich in eben diesem Zusammen-
hange dieselbe Verspottung der Auspizien wie Carneades vor-
brachte, wie Cicero ausdrücklich hervorhebt, so ist dies gewiss
nicht zufällig, sondern ein neuer Beweis dafür, dass er sich in
seiner Beurteilung der Mantik und demgemäss auch des Fatums
an Carneades angeschlossen hat?).
Die umgekehrte Stellung wie Panätius nimmt wiederum Po-
sidonius ein; er muss daher die Gründe des Carneades, welchen
sein Lehrer nachgegeben hatte, widerlegt und berichtigt haben.
Wenn wir nun auch der Lage der Sache nach nicht im stande
sind, alle seine Entgegnungen genau zu durchschauen, so können
wir doch den Gang derselben durchweg erkennen. Zunächst
wies er es aus der Natur der Gottheit als denknotwendig nach,
dass alles nach dem Fatum geschehe®), und nahm infolge
1) Vgl. über den Einfluss der geogr. Lage und der Witterung die An-
sicht des Chrysipp bei Cie. de fato c. 4,7 und über den des Samens Diels,
dox. gr. p. 422a, 24ff. Auch Sextus will a. Ο. $ 102 den Einfluss der
Witterung bei der Geburt nicht gänzlich leugnen, doch ist die Überein-
stimmung so gering, dass wir wohl sicher nicht an einen inneren Zusammen-
hang zu denken haben. ΑἸ ΕΣ
3) Cie. de div. I 1,12. Nur gestreift hat dieses Problem bei I anitius auch
v. Scala 5. 184 ff. (vgl. S. 2 Anm. 1); grundlos führt er die Schwenkung
desselben auf den Einfluss des Demetrius v. Phaleron zurück. |
\ 3) Cie. a. Ὁ. $ 125; vgl. daselbst: fieri igitur omnia fato ratıo cogıt fateri.
Schmekel, mittlere Stoa. 21
dessen zweitens die absolute Sympathie wieder in ihrer un-
geschwächten Bedeutung auf. Den Nachweis ihrer Wirklichkeit
erbrachte er sicherlich durch eine Sammlung von Thatsachen,
welche ihm sowohl für das Leben der Menschen als für das in
der Natur die innere Abhängigkeit darthat!). Hiermit erkannte
er naturgemäss auch die Mantik als zu recht bestehend an und
verteidigte zugleich mit dieser auch jenes. Den logischen Wider-
spruch aber in dem Vorhersagen des Zufälligen gestand er dem
Carneades zu und darum auch die Unrichtigkeit der bisherigen
Begriffsbestimmung der Mantik. Er änderte deshalb diese der
Aufforderung des Carneades gemäss dahin ab, dass er sie für
die Wissenschaft der Ereignisse erklärte, welche für zufällig ge-
halten würden, in Wirklichkeit es aber ebenso wenig seien wie
alles übrige Geschehen?). Gegen die weiteren Angriffe suchte er
zunächst durch eine umfassende Sammlung erfüllter Weissagungen
aller Art die Wirklichkeit der Mantik als einer unumstösslichen
Thatsache zu erweisen und zwar derart, dass, selbst wenn der
Grund derselben nicht erkennbar wäre, ihre Wirklichkeit nicht
bezweifelt werden könnte?). Hiermit gab er natürlich zugleich
eine Apologie der einzelnen Arten der Mantik und so das Gegen-
stück zu der Verspottung derselben durch Carneades und Panätius.
Ferner wies er nach, dass die Mantik ebenso wie die Wissen-
schaft auf der Theorie beruhe, also eben dieselbe Festigkeit wie
diese habe. Gegen die weitere Behauptung des Carneades, dass
für die Mantik kein Raum sei, sondern nur für die Wissenschaft,
schied er sehr bestimmt die Wissenschaft von der Mantik, gab
1) Cie. de fato e. 3,5ff.; de div. II 14,33ff. Die Erkenntnis, dass die Ebbe
und Flut durch den Mond hervorgerufen und zu den Zeiten der Aequinoetien
und Solstitien gesteigert werden, war für ihn ein besonderer Beweis hier-
für; offenbar fügte er demselben aber noch andere derartige Belege hinzu;
vgl. Cleom. eyel. theor. Ic. 1 p. 4 exff.
39) Carneades verlangt Cie. div. II 7,18,19: si negas esse fortunam et
omnia.. ex omni aeternitate definita dieis esse fataliter, muta definitionem
divinationis, gquam dicebas praesensionem esse rerum fortuitarum. Das hat Po-
sidonius gethan Cie. div. I 5,9: (divinatio) est earum rerum, quae fortuitae
putantur, praedietio atque praesensio. Denn dass der Ton auf putantur
liegt, zeigt er ebds. 55, 125: fieri igitur omnia fato ratio cogit fateri.
8) Cie. div. I 6,12: 13,23; 18,35; 19,36; 49,109; dass sich der Kampf
hier gegen Carneades richtet, sagen mehrere der angeführten Stellen aus-
drücklich.
|
4
a
|
i
͵
|
— 33 —
für die letztere eine sorgfältige Begründung ihres Wesens und
bezeichnete dementsprechend ihren Wirkungskreis (5. 246 ff.). Den
Vorwurf der Nutzlosigkeit widerlegte er einfach durch die Be-
merkung, durch die Vorzeichen werde man vorsichtiger'), offenbar
zur Auffassung kommender Ereignisse, worauf es ja allein an-
kommt. Wenn der Gegner schliesslich auf die vielen falschen
Angaben und Irrtümer der Seher hinwies, so führte Posidonius
dagegen mit Recht aus, dass derartige Irrtümer auch in allen
Wissenschaften vorkämen, also keinen Grund gegen die Möglich-
keit der Mantik abgäben?). Dass er nun zu der positiven Be-
gründung derselben brauchbare Beweise und namentlich Beispiele
in der philosophischen wie auch sonstigen Litteratur nahm, wo
er sie fand, ist gewiss?),
Gera, a. 0. 152,119; 38,82.
Ge. a, ἃ Ὁ. 1 14,24; deor. nat. II 4,12; vgl. S, 247.
3) Diese alle genau zu bestimmen dürfte bei dem bekannten Verfahren
Ciceros aus eigenem Wissen Beispiele hinzuzufügen und fremde durch rö-
mische zu ersetzen, unmöglich und auch überflüssig sein. Hier ist es auch
dadurch noch erschwert, dass er neben Posidonius noch den Cratippus ein-
gesehen hat. — Wenn Mommsen Röm. Gesch. II S. 417 sagt: „Die stoischen
Philosophen zeigten sich nicht unempfänglich für die recht einträgliche Aus-
zeichnung, ihr System zur halboffiziellen römischen Staatsphilosophie er-
hoben zu sehen, und erwiesen sich überhaupt geschmeidiger, als man es
nach ihren rigorosen Prinzipien hätte erwarten sollen... wenn die feineren
- Stoiker wie Panätius die göttliche Offenbarung durch Wunder und Zeichen
als denkbar, aber ungewiss dahingestellt, die Sterndeuterei nun gar ent-
schieden verworfen hatten, so verfochten schon seine nächsten Nachfolger
jene Offenbarungslehre, das heisst die römische Auguraldiseiplin, so steif und
fest wie jeden anderen Schulsatz und machten sogar der Astrologie höchst
unphilosophische Zugeständnisse,“ so ist die Annahme dieser Speichelleckerei,
wenigstens was Posidonius, den nächsten Nachfolger des Panätius und Ver-
teidiger der Mantik, anbetrifft, angesichts aller bisher vorgelegten Thatsachen
aönfach falsch. Auch hatten die Stoiker lange, bevor sie etwas von der
römischen Auguraldiseiplin gehört hatten, die Mantik gelehrt; denn schon
der Begründer der Schule, Zeno, hatte sie vertreten. Sie nahm in dem
System eine so wichtige Stelle ein, dass Cicero sie „die Burg der Stoiker“
nennt. Wenn also Posidonius und mit ihm die übrigen Stoiker die nur von
"Panätius verlassene Lehre vertraten, so ist es unrichtig und ungerecht,
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"ihnen dies als heuchlerische Augendienerei vorzuwerfen und von einer Ver-
teidigung der römischen Auguraldisciplin zu sprechen.
2 ΡΣ
Kap. 2.
Anthropologie.
Den Einfluss des Garneades auf die Gestaltung der Unsterb-
lichkeitslehre haben wir bereits dargethan; es bleibt demnach
hier nur übrig, auf die weiteren Lehren der Psychologie einzu-
gehen. Auch an diesen hat Carneades in vernichtender Weise
gerüttelt und dadurch einen bestimmenden Einfluss auf die Um-
gestaltung derselben ausgeübt. — Nach der stoischen Anschauung
ist die Seele als Ausfluss des göttlichen Pneumas auch diesem
wesensgleich, und da im Makrokosmos der Äther ein solches
Pneuma ist, so werden beide ihrem Wesen nach vollkommen
gleich gesetzt. Dieses Pneuma ist dem Grade seiner Dichtigkeit
nach viel feiner als Luft, nur luft- oder gasartig; seiner Natur
nach aber feurig und belebend. In dieser Beziehung mussten
alle Stoiker gemäss der Konsequenz ihrer physikalischen Grund-
anschauung übereinstimmen!); und dass dies der Fall war, be-
weist, abgesehen von den vielen Definitionen der Seele, die stets
anders gewandt doch immer dasselbe aussagen?), die direkte
Angabe des Carneades bei Cicero deor. nat. III 14, 36: vos..
quomodo hoc quasi concedatur sumitis mihil esse animum nisi
ignem? Hierauf fährt derselbe fort: probabilius enim videtur
tale quiddam esse animum, ut sit ex igni atque anima tempera-
tum. Dies hätte Carneades ihnen nicht sagen können, hätte
schon Chrysipp selbst das Gleiche gelehrt. Um: so klarer tritt
jetzt die Abweichung des Panätius von der früheren Lehre und
der Einfluss des Carneades auf ihn hervor, wenn wir lesen (Cic.
Tuse. I 18, 42): is autem animus, qui si est horum quattuor ge-
nerum, ex quibus omnia constare dicuntur, ex inflammata anima
constat, ut potissimum videri video Panaetio, superiora capessat
necesse est. nihil enim habent haec duo genera proni et superiora
1) Wenn. demnach von Zeno berichtet wird (Cie. Tuse. I 10, 19; de
fin. IV 5,12), er habe die Seele für Feuer gehalten, im weiteren Verlauf
aber und so besonders von Chrysipp dieselbe als πνεῦμα ἔνϑερμον zei dıd-
zvoov bestimmt wird, so ist darin nicht eine verschiedene Auffassung, sondern
nur eine genauere Bestimmung enthalten. Daher hat denn auch Varro l.l.
V 59 ausdrücklich das πῦρ als Pneuma bei Zeno erklärt.
®) Vgl. Zeller Phil. ἃ. Gr. IIa S. 195, 25,
— 32%
semper petunt. Denn hieraus geht unwiderleglich hervor, dass
Panätius, und zwar er hauptsächlich), zwei Elemente vereinigt
als Seelensubstanz annahm, wie es Carneades als richtig gefunden
hatte). Dieses war nun keineswegs nur eine nebensächliche
2) Wenn es oben heisst: ut potissimum videri video Panaetio, so sind
wir noch im stande die Berechtigung dieses einschränkenden Urteils zu ver-
stehen. Denn nicht er allein vertrat diese Ansicht, sondern auch Boethus;
vgl. Macrob. 5. S. I 14,19: dixit animam... Boethus er aöre et igne mixtam.
Da jedoch Cicero hier den Panätius so sehr hervorhebt und unmittelbar
darauf ihn infolge dessen die Unsterblichkeit leugnen lässt, andererseits es
nirgends bekannt ist, dass Boethus die Unsterblichkeit geleugnet hat, so
ist es höchst wahrscheinlich, dass letzterer hier ebenso wie in der Mantik
die Folgerung nicht wie Panätius gezogen hat.
2) L. Stein, Psychologie der Stoa I S. 101ff. ist also im Irrtume, wenn
er einen Unterschied in der Auffassung des Wesens der Seele bei Chrysipp
und seinen Vorgängern annimmt. Denn wenn er uns zur Begründung seiner
Ansicht, Chrysipp habe dem Pneuma eine Mittelstellung zwischen Feuer und
Luft eingeräumt, auf Galen de plae. Hipp. et Plat. V 423, 14 ff. M. verweist,
so könnte diese Stelle allerdings seine Annahme beweisen, wenn — sie Chry-
_ sipps Eigentum wäre; das aber ist sie nicht. Galen sucht hier dem Chrysipp
nachzuweisen, dass er etwas behaupte, ohne es bewiesen zu haben oder be-
weisen zu können. Er lehre nämlich (5. Galen a. a. Ὁ. p. 420ff. M.), dass
die Gesundheit der Seele in der Harmonie ihrer Teile bestehe, Teile der-
selben aber diejenigen seien, aus denen der in ihr befindliche Logos, oder
anders gesagt, das Hegemonikon bestehe (Galen a. a. Ὁ. Ρ. 421,58). Da
nun Chrysipp nach seiner Aussage weder hier noch sonst wo solche Teile
des Logos angegeben hatte, so versucht er, um ihm gerecht zu werden, sie
ausfindig zu machen. Er glaubt daher zunächst, dass Chrysipp nach seiner
Schrift “Ifsgi τοῦ Aöyov' vielleicht die ἔννοιαν und προλήψεις als solche habe
aufgefasst wissen wollen; weist aber diese Annahme alsbald zurück und
vermutet wieder, dass die Teile des Pneumas gemeint seien. Hierauf folgt
- jene von Stein angezogene Stelle. Wir haben hier also nicht Chrysipps
- Lehre vor uns, sondern eine solche, welche ihm Galen borgt. Wenn dieser
daher Teile des Pneumas nennt, so folgt daraus keineswegs, dass auch
Chrysipp dieselben als solche anerkannte, zumal die Worte Galens hier-
zu nicht den geringsten Anhalt geben, ja der Inhalt sogar das Gegenteil
beweist. Lesen wir nämlich die angeführte Stelle nicht so weit nur, wie Stein
sie schreibt, sondern ganz, so nimmt Galen als Bestandteile des Pneumas
© ausser Luft und Feuer auch ein gewisses Mals von Feuchtigkeit an, eine
Annahme, die mit Chrysipps Lehre im Widerspruche steht (vgl. Galen ἃ. ἃ. Ο,
ον. 424,3584); vollkommen entscheidend sind übrigens die Angaben im Texte.
Ebenso ist Steins Ansicht unhaltbar, Panätius’ Auffassung vom Wesen der
Seele weiche von der früheren nicht ab, weil sich das inflammata anıma
vollständig mit dem πνεῦμα διάπυρον decke.
1
3
Α, ὡΦ 8
--Ἠ 326 --
Änderung, sondern berührte die tiefsten Probleme der Psycho-
logie. Ihren Einfluss auf die Lehre von der Unsterblichkeit haben
wir bereits früher kennen gelernt: Sie war einer der Gründe, die
den Panätius veranlassten, dieselbe zu verwerfen. Da nun Po-
sidonius die letztere wieder aufnahm, war er gezwungen, die
absolute Einheit des Seelenpneumas wiederum gegen Garneades
und seinen Lehrer zu verteidigen, was er that, wie wir früher
gesehen haben. Nicht minder wichtig war ferner der Einfluss
der genannten Polemik auf die Wiederaufnahme der Lehre von
Teilen der Seele: Der Mischung der physischen Bestandteile der
Seele entspricht offenbar auch eine Verschiedenheit der psychi-
schen Vermögen; sah sich also Panätius durch Carneades ver-
anlasst in jener Hinsicht von seinen Vorgängern abzuweichen,
so müssen wir dasselbe auch in psychologischer Hinsicht er-
schliessen.
Doch ist dies nicht die einzige Nachricht, welche uns lehrt,
dass Carneades die stoische Lehre von der Einheit des seelischen
Vermögens mit Erfolg bestritten hat. Der Akademiker Callipho
hatte dem Zeno .den Vorwurf gemacht, er habe die Natur des
Menschen verkannt und deswegen das höchste Gut derartig be-
stimmt, als ob der Mensch rein Geist sei, umgekehrt wie Aristipp
und Epikur, welche wiederum nur auf den Körper Rücksicht ge-
nommen hätten. Da der Mensch also aus Geist und Leib bestehe,
so liege die Wahrheit offenbar in der Mitte. Diesen Einwurf
verteidigte Garneades mit solchem Eifer gegen Chrysipp, dass er
dadurch sogar den Anschein erweckte, als ob er die Ansicht
desselben für gewiss hielte!). Diese Polemik trifft ebenfalls offen-
kundig die Psychologie, da sie die Doppelnatur betont. Ihre
unmittelbare Folge war bei Panätius die Anerkennung der φύσις
als eines besonderen Vermögens. Aber nicht nur den Panätius
hat diese Polemik zu dieser Änderung bestimmt, sondern ebenso
auch den Posidonius. Auf dieselbe Weise nämlich wie Gallipho
und Carneades bestreitet er die Psychologie Chrysipps und findet
die richtige Lösung der einseitigen Auffassung desselben ebenso
wie sein Lehrer in der Dreiteilung der Seele?).
!) Cie. acad. pr. II 45,139; de fin. IV 11,28.
5) Vgl. Galen a. a. O. p. 439, 9 ff.M: τριῶν οὖν τούτων ἡμῖν οἰχενώσεων ὕπ-
ἀρχουσῶν pics, μιᾶς χαϑ' ἕχαστον τῶν μορίων τῆς ψυχῆς εἶδος, πρὸς μὲν τὴν
ἡδονὴν διὰ τὸ ἐπιϑυμητιχόν, πρὸς δὲ τὴν νίχην διὰ τὸ ϑυμοειδές, πρὸς δὲ τὸ καλὸν
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Noch von einer dritten Seite aus hat Carneades auf eben
diese Entscheidung einen bestimmenden Einfluss ausgeübt. Um
dieses zu erkennen, müssen wir zunächst die psychologischen
Lehren der älteren Stoiker, so weit sie hier in Betracht kommen,
‚näher erörtern. Das seelische Vermögen des Menschen ist also
nach der Meinung der älteren Stoiker, wie gesagt, vollkommen
einheitlich und gottgleich und als solches vernünftig. Daraus
folgt mit Notwendigkeit, dass der Mensch von Natur nur ver-
nünftige Triebe hat. Diesen Schluss will Zeller nicht anerkennen,
obwohl er sich ihm nicht ganz entziehen kann, wenn er schreibt:
»Wie die sittliche Anforderung ursprünglich aus dem Naturtriebe
des vernünftigen Wesens hervorging, so ist dies auch das Ziel,
auf welches sein Streben sich naturgemäss richtet. So natürlich
dies aber für das Vernunftwesen auch sein mag, so ist doch
der Mensch nicht bloss ein Vernunftwesen; es sind daher neben
den vernünftigen auch vernunftlose Triebe«'). Denn wenn das
Sittliche aus dem Naturtriebe der. vernünftigen Wesen hervor-
ging und naturgemäss auch sein Ziel ist, so kann der Mensch
von Natur nicht auch zu dem Gegenteile neigen. Vernunftlose
Triebe können nicht aus der Vernunft hervorgehen; und wo
vernunftlose Triebe neben den vernünftigen angenommen wer-
den, da ist jederzeit auch eine Zweiteilung der Seele notwendig.
Eine solche haben aber die alten Stoiker nicht gehabt, und die
Stelle, welche Zeller zum Beweise des Gegenteils anführt, kann
unmöglich dazu herangezogen werden, da sie dem Posidonius
entlehnt ist, der eben im Einklange mit dem Vorhingesagten einen
vernünftigen und einen unvernünfligen Seelenteil annimmt°).
διὰ τὸ λογιστιχὸν, Enizovgos μὲν τὴν τοῦ χειρίστου μορίου τῆς ψυχῆς
οἰχείωσιν ἐϑεάσατο μόνην, ὁ δὲ Χρύσιππος τὴν τοῦ βελτίστου φάμενος
ἡμᾶς οἰχενιῶσϑαι πρὸς μόνον τὸ χαλόν, ὅπερ εἶναι δηλονότι καὶ ἀγα-
ϑόν. ἁπάσας δὲ τὰς τρεῖς οἰχειώσεις ϑεάσασϑαι μόνοις τοῖς παλαιοῖς ὑπῆρξε. Die
Übereinstimmung tritt besonders hervor, wenn wir bedenken, dass dieser
Einwand gerade wie der des Carneades die Psychologie in Bezug auf das
höchste Gut tadelt. Dieser Vorwurf gegen Chrysipp ist also nicht das freio
Eigentum des Posidonius. Wir sehen hieraus, wie wenig wir aus Galen
schliessen dürfen, dass Posidonius zuerst an der stoischen Psychologie ge-
gründeten Anstoss genommen hat.
1) Phil. d. Gr. 1114. S. 224°. ,
2) Cie. deor. nat. II 12,54. Die unmittelbar folgenden Worte benutzt
Zeller selbst a. a. O. S. 581,6? zur Darstellung der Lehre des Posidonius;
vgl. ebds. S. 579.
-- 82. --
Das unbedingte Gegenteil erweisen jedoch zahlreiche Stellen.
So schreibt Plutarch de vita mor. c. 3: νομίζουσιν οὐχ εἶναι τὸ πα-
ϑητιχὸν καὶ ἄλογον διαφορᾷ τινι καὶ φύσει ψυχῆς τοῦ λογικοῦ
διακεκριμένον, ἀλλὰ τὸ αὐτὸ τῆς ψυχῆς μέρος, ὃ δὴ καλοῦσι διά-
ψοιαν καὶ ἡγεμονικὸν διόλου τρεπόμεξνον καὶ μεταβάλλον Ev TE τοῖς
πάϑεσι καὶ ταῖς κατὰ ἕξιν ἢ διάϑεσιν μεταβολαῖς κακίαν TE γίνεσ-
ϑαι καὶ ἀρετὴν χαὶ μηδὲν ἔχειν ἄλογον Ev ἑαυτῷ. Dasselbe,
was Plutarch am Anfange dieser Stelle sagt, berichtet auch
Galen: ὃ δὲ Χρύσιππος 009° ἕτερον εἶναι νομίζει τὸ παϑητικὸν
τῆς ψυχῆς τοῦ λογικοῖ, und an einer anderen Stelle: τὸ Era
γὰρ εἶναι τὸ τῶν ἀνϑρώπων ἡγεμονικὸν Aoyıxzov!). Not-
wendig folgt daraus, dass der Mensch von Natur nur Trieb zum
Guten hat. Diese Folgerung vertritt auch Chrysipp bei Galen:
δεῖ δὲ ἐντεϑυμῆσϑαι, ὅτι τὸ λογικὸν ζῷον ἀκολουϑητικὸν φύσει
ἐστὶ τῷ λόγῳ καὶ κατὰ τὸν λόγον ὡς ἂν ἡγεμόνα πρακτιχόν, und:
τριῶν οὖν τούτων ἡμῖν οἰχειώσεων ὑπαρχουσῶν φύσει καθ ἕχαστον
τῶν μορίων τῆς ψυχῆς εἶδος... ὃ δὲ Aura τὴν τοῦ βελ-
τίστου (ἐϑεάσατο μόνην) φάμενος ἡμᾶς οἰκειοῦσϑαν
πρὸς μόνον τὸ καλόν, ὕπερ εἶναι δηλονότι καὶ ayasFov?).
Diese Stellen lassen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig,
sondern beweisen klar und unwiderleglich, dass wir in der Seele
des Menschen von Natur keine bösen Triebe anzunehmen haben.
Ist dem aber so, so muss alles Schlechte von aussen, nicht von
innen aus dem Geiste des Menschen entstehen. Dies lehrt wie-
derum Chrysipp ausdrücklich und erkennt als Gründe, welche
das Böse bewirken, ihrer Art nach zwei an: Die Meinung der
Menschen und die Natur der Dinge, also in letzter Beziehung
die Natur der Dinge, da von dieser erst die Meinung der Men-
schen stammt. Er musste auch so lehren, um von seinem Stand-
punkte aus die Thatsache zu erklären, dass die Kinder doch
nicht vollkommen gut würden und ohne böse Triebe blieben,
selbst wenn sie die Besten, wenn sie Philosophen zu Erziehern
hätten?). In voller Übereinstimmung mit diesem Sachverhalte
lautet daher auch Chrysipps Definition der ὁρμή): ἔστι δὲ ὁρμὴ
τοῦ ἀνθρώπου λόγος προσταχτιχὸς αὐτῷ Tod ποιξῖν. Denn es
1) a. ἃ. 0. V p. 456, 14ff. IV p. 353, 10£.; vgl. IU p. 21 8ff.M.
2) a. a. O.IV p. 338, 11f., V p. 438, 12ff.
8) Galen a. a. Ο. Υ 489, 10.
4) Plut. de stoic. rep. 11, 6.
7 — 329
Σ
leuchtet von selbst ein, dass dieser λόγος προσιαχτικὸς τοῦ ποιεῖν
derselbe ist wie der λόγος, von welchem an der vorhin aus
Galen (IV 338, 11 ff.) angeführten Stelle gesagt wird, er sei jye-
uov πρακτικός. Bedeutet also λόγος an jener Stelle Vernunft, so
muss es auch an dieser dieselbe Bedeutung haben!). Und nach
dem, was wir vorher ausgeführt haben, ist dies auch durchaus
notwendig: Ist die menschliche Seele einheitlich und rein Ver-
nunft, und ist die ögun eine ihrer Fähigkeiten oder Thätigkeiten,
wie wir noch nachher sehen werden, so kann sie auch nur ver-
nünftig sein oder die Vernunft, in sofern sie sich auf das Han-
deln bezieht. Doch auch unabhängig von diesem Zusammen-
_ hange ergiebt sich dieselbe Erklärung. Der νόμος wird definiert
als λόγος προστακτικὸς μὲν ὧν ποιητέον, ἀπαγορευτικὸς δὲ
ὧν οὐ ποιητέον; die ὁρμὴ als λόγος προσταχτιχὸς τοῦ ποιεῖν:
Beide Definitionen sind augenscheinlich gleich und sagen von
verschiedener Seite aus ganz dasselbe, wie es auch bei der
‚stoischen Gesamtanschauung nicht anders sein kann: Derselbe
Λόγος, der als Gesetz befiehlt, was zu thun ist, muss mit dem
_ naturgemässen Willen des Menschen zusammenfallen, wenn alle
Tugend und alle Vollkommenheit darin besteht, dasselbe zu
wollen, was das Gesetz, der λόγος 00%0s, will?).
Die ὅρμή ist also ihrem Wesen nach die Gefühls- und
Willensfähigkeit des Hegemonikons oder, entsprechender der
Einheit desselben gesagt, das Hegemonikon in sofern es fühlt
und will. Daraus folgt, dass jede Thätigkeit desselben von
einem Triebe begleitet sein muss?), dessen Stärke nach der
Spannkraft (τόνος) und der Thätigkeit des Hegemonikons ver-
schieden ist‘). Dies ist auch in der That der Fall. Die Wahr-
1) Zeller leugnet a. a. Ὁ. IIa 8. 225, 1? diese jedenfalls zunächst liegende
Erklärung und muss sie seiner Auffassung gemäss leugnen, doch geschieht
‚dies ohne jede Berechtigung. Da er sich nämlich auf die vorher aus Cie,
deor. nat. II 12,34 angeführte Stelle beruft, diese jedoch, wie wir gezeigt
"haben, hier überhaupt nicht zum Beweise herangezogen werden darf, 80
fällt damit jeder Grund für die Auffassung Zellers.
2) Vgl. Zeller a. a. O. S. 222; 285.
3) Stob. 66]. II 87, 3ff. τὴν δὲ λογικὴν ὁρμὴν (1. ἐν τοῖς λογικοῖς γι-
vousvnv 6.) δεόντως ἂν ἀφορίζοιτο λέγων εἶναι φορὰν διανοίας ἐπὶ τι τῶν ἐν τῷ
᾿ πράττειν. Sie ist als solche im allgemeinen die Fähigkeit des Hegemonikons,
_ und nicht schon ein konkreter Akt, ebds. Z. 118... τῆς ἕξεως τῆς dgum-
τιχῆς, ἣν δὴ καὶ ἰδίως δρμὴν λέγουσιν, ἀφ᾽ ἧς συμβαίνει ὁρμᾶν.
ζ Ὁ Stob. a. ἃ. O. Z. 14ff. unterscheidet acht Arten derselben.
᾿
μι ἂν
%
— 890 --
nehmung (αἴσϑησις) ist derjenige Eindruck, welchen der wahr-
genommene Gegenstand vermittelst der sinnlichen Organe im
Hegemonikon hervorruft. Denn nicht in den Sinnen als solchen,
sondern in dem Hegemonikon tritt. die Empfindung der Wahr-
nehmung ein!). Es muss daher auch die Wahrnehmung als eine
Affektion des Hegemonikons mit einer Art von ὁρμή verbunden
sein?). Was nun von der Wahrnehmung gilt, gilt selbstverständ-
lich auch von der Vorstellung (φαντασία); denn diese ist ja nichts
anderes als die durch die Wahrnehmung hervorgebrachte Ver-
änderung (Eregotworc) des Hegemonikons, die auch, nachdem die
Wahrnehmung als solche zu sein aufgehört hat, noch fortdauert?).
Also auch der Vorstellung muss eine doun immanent sein. Aus
den Vorstellungen bilden sich nun teils ohne unser besonderes
Zuthun, teils durch die Denkthätigkeit des Urteilens (zoiveır) die
Begriffet). Diese Denkthätigkeit ist natürlich nicht eine ihrem
Wesen nach verschiedene, über den Vorstellungen stehende Kraft
des Hegemonikons, die sie gleichsam vor ihren Richterstuhl stellt
und aburteilt®), sondern bei der Einheit desselben kann es nur
die wesensgleiche eine Fähigkeit sein, die sich nur durch die
Verschiedenheit des Objekts, welche durch die Abwickelung des
Denkprozesses bestimmt ist, gleichsam als ein anderes Vermögen
!) Galen a. a. OÖ. I p. 208, 10ff.: βούλεταί γε Ζήνων χαὶ Χρύσιππος ἅμα
τῷ σφετέρῳ χορῷ παντὶ διαδίδοσθαν τὴν ἐκ τοῦ προσπεσόντος ἔξωϑεν ἐγγινομένην
τῷ μορίῳ κίνησιν εἰς τὴν ἀρχὴν τῆς ψυχῆς, ἵνα αἴσϑηται τὸ ζῷον. Vgl. ebds.
III p. 296,7. Diels, dox. gr. p. 393,16; 400, If.
2) Die Richtigkeit dieses Schlusses folgt daraus, dass auch die Wert-
verhältnisse Gegenstand der Wahrnehmung sind: Auch das Gute und
Schlechte, das Süsse und Bittere ist wahrnehmbar; vgl. Plutarch Stoie.
rep. 6. 19,2; Stob. floril. IV p. 236 ed. M. — Hierbei ist natürlich nicht an
die Begriffe „Süss“, „Gut“ u. s. w. zu denken, denn diese gehören zu den
vonrd, sondern an das einzelne konkrete Süsse, Gute u. 5. w. — Das Gleiche
lehrt noch eine andere Erwägung: Der erste Trieb (πρώτη öoun) ist nach
Chrysipp auf die Erlangung des Zuträglichen und die Abwehr des Schädlichen
gerichtet. Da zu dieser Zeit die Seele einer vollständig unbeschriebenen
Tafel gleicht, in die erst durch die Wahrnehmung aller Inhalt gelangt, so
kann der erste Trieb nicht schon infolge eines Urteils entstehen, da ja dieses
erst in späterer Zeit möglich ist, sondern nur mit und durch die erste Wahr-
nehmung; vgl. Zeller a. a. O. IlIa S. 208 Anm. 2.
®) Diels dox. gr. p. 400, 10 ff.
a) Dielsa.2.. 02 ΚΖ: ΠΗ:
5) Vgl. auch Zeller a. a. O. S. 78.
+
—,331 —
darstellt. Wie daher durch diese der äussere Eindruck zur
Wahrnehmung und Vorstellung wird, so wird aus den Vorstel-
lungen der Begriff, indem die verschiedenen Vorstellungen im
Hegemonikon verschiedene Veränderungen (ἑτεροιώσεις) hervor-
bringen oder es vielmehr sind, die sich gegenseitig, ihrer Natur
entsprechend, in verschiedener Weise entweder ausscheiden oder
verbinden und ergänzen. Die Begriffe sind daher auch allseitig
befestigte Wahrnehmungen und Vorstellungen, nicht aber ihrem
Wesen und Ursprunge nach von diesen verschieden'). Auf die-
selbe Weise wie die Begriffe des Verstandes bilden sich, und
zwar gleichzeitig, die des Gefühls oder der Wertschätzung aus
den Vorstellungen, und wie jene das Kriterium für Wahrheit
und Irrtum sind, ebenso sind diese das Kriterium für das sitt-
liche Handeln 5).
Die Gesundheit der Seele bestimmte nun Chrysipp analog
der des Körpers als die Harmonie der Teile des Logos oder des
Hegemonikons?). Selbstverständlich kann er darunter nur die
auf einander folgenden einzelnen Arten und Äusserungen der
Fähigkeit verstanden haben, in deren Summe das Vermögen des
Hegemonikons erscheint. Als solche werden uns auch thatsäch-
lich genannt die Wahrnehmung, Vorstellung, Zustimmung, der
Trieb und der Verstand als der Inhalt der Begriffe‘). Ihre
Harmonie besteht also in dem naturgemässen Verhalten der-
selben; welches dieses ist, ist leicht zu erkennen. Sobald eine
Wahrnehmung im Hegemonikon stattfindet, erfolgt bei der Ein-
heit desselben das Zusammentreffen der durch sie hervorgebrachten
ἑτεροίωσις mit den Verstandesbegriffen. Bei diesem Zusammen-
treffen entscheiden naturgemäss die letzteren die Stellung und
Beziehung der neuen £regoiwor. Diese Thätigkeit des Hege-
monikons gilt natürlich als eine bewusste; die Annahme der
neuen ἑτεροίωσις wird daher als eine Zustimmung desselben
(συγχατάϑεσις) bezeichnet. Da nun der Vorstellung ein Trieb
1) Diels a. a. O. Z. 12ff. Diog. VII 52; vgl. auch Zeller a. a. Ὁ. Illa
B. 73; 805.
3) Zeller a. a. O. 5. 7öff., 80ff. Das Hegemonikon ist also nicht ein
rein leidendes, sondern auch ein selbstthätiges Organ.
8) Galen a. a. O. 421,5ff; vgl. 5. 325 Anm. 2. Kine
4) Stob. eel. I p. 368, 12ff; 369, 6ff.; vgl. Diels a. a. Ὁ. p. 410,25; Galen
ἃ. ἃ. O. III 298, 7.
=
ὗν,
-- 332 —
immanent ist und ebenso in und mit den Begriffen des Verstandes
die des Gefühls, von dem der Wille unzertrennlich ist, verbunden
sind, so wird gleichzeitig mit der Zustimmung in Bezug auf ihre
Wahrheit die Berechtigung des Triebes anerkannt. Bei dem
naturgemässen Verhalten der Seele tritt also der das Handeln
bedingende Trieb erst infolge eines zustimmenden Urteils oder
zugleich mit diesem ein!).
Ist nun das naturgemässe Verhalten der Seele ihre Gesund-
heit, so kann die Krankheit derselben nur in einem naturwidrigen
Verhalten bestehen?). Solche Krankheiten giebt es zwei, den
. Irrtum und die Leidenschaft. Der erstere entsteht dadurch, dass
eine falsche Wahrnehmung eine falsche Vorstellung und diese
wieder ein falsches Urteilen und Handeln hervorruft?). Um-
gekehrt liegt bei der Leidenschaft (πάϑος) die Verkehrtheit über-
wiegend im Willen und Gefühl®): Das Pathos ist ein übermässiger
und darum unnatürlicher Trieb, der ungehorsam gegen die Ver-
nunft eine unvernünftige Entscheidung (κρίσις) und so auch ein
unvernünftiges Handeln hervorbringt’). Wie ist nun ein solches
Pathos möglich? |
Da das seelische Vermögen eine untrennbare Einheit ist,
kann es nur in dem Hegemonikon entstehen‘); da dieses aber
von Natur nur vernünftige Triebe hat, so ist es unmöglich, dass
es auch aus ihm entsteht, d. h. dass es auch in demselben
seinen Ursprung und Grund hat. Es kann also wie alles Schlechte
1) Stob. 66]. 11 88,1. W.: πάσας δὲ τὰς ὁρμὰς συγκαταϑέσεις εἶναι... ἤδη
δὲ ἄλλῳ μὲν εἶναν συγκαταϑέσεις, ἐπ’ ἄλλο δὲ ὁρμάς" καὶ συγχαταϑέσεις μὲν ἀξι-
ὠμασί τισιν, ὁρμὰς δὲ ἐπὶ χατηγορήματα, τὰ περιεχόμενί πως ἐν τοῖς ἀξιώμασιν,
οἷς συγχατατίϑεσϑαι. Die συγχατάϑεσις geht also auf die Urteile als solche,
die öoun auf das Handeln. Da dieses auf bestimmte Weise in jenen enthalten
ist, so ist gewissermalsen jede öour auch eine συγχατάϑεσις.
?) Galen a. a. O. V p. 414, ft.
8) Ein Irrtum entsteht, εἰ {τὸ λογιχὸν ζῷον» σδιημαρτημένως φέρεταν καὶ
παριδών τν χατὰ τὸν λόγον, Chrysipp b. Galen a. a. O. IV p. 339,5f. u. ö.;
vgl. p. 358,10; 356, 13ff.; 359, 17#.; 96:
Ὁ Diesen Unterschied giebt Chrysipp klar an b. Galen a. a. O. IV
p- 360; vgl. auch d. folg. Anm.
5) Chrysipp b. Galen a. a. O. IV p. 338, 4 ff.; 349, 10 ff.; 352, 15ff.; 384, 1ff.;
vgl. Stob. eel. II 88, 884. Υ; Diog. VII 110.
°) Abgesehen von allem, was bis jetzt dagewesen ist, vgl. noch Chrys.
b. Galen a. a. Ὁ. IV p. 384, 1ff.
2909
III —
nur durch die Aussenwelt in ihm hervorgebracht werden: ἡ Übt
irgend ein Gegenstand oder eine Äusserung auf die Sinne einen
"übermässigen Reiz aus, so tritt zugleich mit der Wahrne 'hmung
und der entsprechenden Vorstellung ein übermässiger Trieb ein.
der das Hegemonikon derartig affiziert, dass nicht die Verstandes-
" begriffe mächtiger sind, sondern die neue ἑτεροίωσις und darım
‚eine Entscheidung (xofore) nicht gemäss jenen, sondern gegen jene
zu stande kommt. Darum ist das πάϑος auch eine χρίσις, aber
eine ἄλογος κρίσις und eine παρὰ φύσιν κίνησις τοῦ ἡγεμονιχοῦ
πα ἀπειϑὲς τῷ λόγῳ: Denn der naturgemässe psychische Prozess
ist hier umgedreht, und dies ist vom Verstande aus beurteilt
Ungehorsam. Ebenso klar ist es, dass es nur in einem Übermalse
des Triebes (πλεονασμός, ER ὁρμή) besteht und plötz-
lich hervorbricht?).
Auf diese Weise lösen sich alle Schwierigkeiten und Wider-
sprüche, die in dieser Lehre enthalten zu sein scheinen, einfach auf,
und klar und scharf tritt uns dieselbe als eine in sich konsequent
durchgeführte und auf der einmal eingenommenen physikalischen
_ Grundanschauung streng aufgebaute Theorie des rationalistisch-
_ monistischen Sensualismus entgegen. Aber verschwinden auch
die vermeintlichen Widersprüche dieser Lehre an sich, so schwin-
den damit noch keineswegs auch diejenigen, in welche dieselbe
mit. anderen Lehren des Systems gerät, ganz abgesehen von den
Irrtümern, die jede Kritik, welche nicht .die stoische Lehre als
che anerkennt, ohne weiteres zu rügen hat. Die Kritik ist ihr
aber nicht erspart geblieben.
= Wenn wir die vorstehend entwickelte Lehre näher betrachten,
wird uns alsbald zum Bewusstsein kommen, dass der Ursprung
des sittlichen Übels auf Grund dieser Psychologie einerseits und
es pantheistischen Vorsehungsglaubens andererseits unmöglich
zu erklären ist. Es ist unfassbar, wie die Natur der Dinge, die
ıls Entfaltung der Gottheit nur gut sind und die begeistertste
heodicee hervorrufen, unsittlich und schlecht auf das von Natur
ein vernünftige Hegemonikon einwirken kann. Diesen Wider-
spruch, die Unerklärbarkeit des sittlichen Übels, hat nun Car-
eades mit gewohntem Scharfsinn und unwiderstehlicher Logik
© ἢ Galen a. a. O. IV p. 387, 1#.; vgl. V p. 439,5 5. S. 32
2) Vgl. d. vorletzte Anm. u. Galen a. a. O. 381,9; u. ὃ
ae
aufgedeckt. Denn aus dem Verhältnis der Zustimmung zur Wahr-
nehmung hat er, wie wir früher (S. 181ff.) gesehen haben, dem
Chrysipp den Nachweis geliefert, dass es entweder keine Tugend
und Schlechtigkeit oder kein Fatum gebe, oder dass dieses an
der Schlechtigkeit schuld sei. Da der Stoiker selbstverständlich
die erste und die dritte dieser Forderungen gar nicht, und auch
die mittlere nicht voll und ganz als richtig zugestehen konnte,
und namentlich Posidonius das Fatum in aller Strenge wie
Chrysipp aufrecht hielt, so war die Erklärung des sittlichen Übels
unmöglich. Es musste daher notwendig der Fehler in der Psycho-
logie Chrysipps stecken. Wenn nun Posidonius dem Chrysipp
vorhält, bei seiner Auffassung der Psychologie lasse sich die
Entstehung und der Verlauf der Leidenschaften nicht erklären,
weil Unvernünftiges nicht aus dem Vernünftigen entstehen könne),
so ist der Einfluss dieser Kritik des Garneades wiederum klar zu
sehen.
Den Einfluss eben derselben Kritik erkennen wir schliesslich
noch von einer anderen Seite mit vollkommener Gewissheit. Nach-
dem Posidonius Chrysipps Annahme der absoluten Einheit des
seelischen Vermögens, wie wir soeben gesehen haben, widerlegt
und an Stelle derselben die Platonisch-Aristotelische Dreiteilung
wieder aufgenommen hat, fährt er fort:?) οἱ de τοῦτο παριδόντες
οὔτ᾽ Ev τούτοις βελτιοῦσι τὴν αἰτίαν τῶν παϑῶν OVT Ev τοῖς περὶ
τῆς εὐδαιμονίας καὶ ὁμολογίας ὀρϑοδοξοῦσιν. οὐ γὰρ βλέπουσιν, ὅτι
πρῶτόν ἔστιν Ev αὐτῇ τὸ κατὰ μηδὲν ἄγεσθαν ὑπὸ τοῦ ἀλόγου Te
καὶ καχοδαίμονος καὶ ἀϑέου τῆς ψυχῆς. ἃ δὴ παρέντες ἔνιον τὸ
ὁμολογουμένως ζῆν συστέλλουσιν εἰς τὸ πᾶν [τὸ] ἐνδεχόμενον ποιεῖν
ἕνεχα τῶν πρώτων κατὰ φύσιν, ὅμοιον αὐτῷ ποιοῦντες τῷ σκόπον
ἐχτίϑεσθαι τὴν ἡδονὴν ἢ τὴν ἀοχλησίαν ἤ ἄλλο τι τοιοῦτο. ἔστυ
δὲ μάχην ἐμφαῖνον κατ᾽ αὐτὴν τὴν ἐχφοράν, καλὸν δὲ καὶ εὐδαι-
μονικὸν οὐδέν παρέπεται γὰρ κατὰ τὸ ἀναγκαῖον τῷ τέλει, τέλος
δ᾽οὐχ ἔστιν. ἀλλὰ καὶ τούτου διαληφϑέντος ὀρϑῶς, ἔξεστι μὲν αὐτῷ
χρῆσϑαι πρὸς τὸ διακόπτειν τὰς ἀπορίας, ἅς οἱ σοφισταὶ
προτείνουσι, μὴ μέντοι γε τῷ κατ᾽ ἐμπειρίαν τῶν κατὰ τὴν ὅλην
φύσιν συμβαινόντων ζῆν, ὅπερ ἰσοδυναμεῖ τῷ ὁμολογουμένως εἰπεῖν
ζῆν, ἡνίκα μὴ τοῦτο μιχροπρεπῶς συντείνει εἰς τὸ τῶν διαφόρων
τυγχάνειν. Nach der Darlegung also, dass die richtige Erkenntnis
1) 'Galen*a. ἃ: Ὁ: IV pX 361, 108: πὶ Ὁ:
?) Galen a. a. O. V p. 49 ff.
-- 35 —
der Ursache des Pathos, ἃ. ἢ. die richtige Psychologie auch allein
die richtige Bestimmung des Zieles zur Folge hat, erwähnt er
‚hier Stoiker, welche den seit Zenos Zeiten geltenden Grundsatz
ὁμολογουμένως ζῆν eben wegen der falschen Auffassung der
Psychologie verkehrt in der Weise deuteten, dass sie die wesent-
liche Bestimmung derselben ausliessen und etwas, was erst eine
Folge” des höchsten Gutes sei, für das höchste Gut selbst er-
‚klärten. Gemeint kann hiermit nur Antipater sein, dessen Defi-
"nition des höchsten Gutes bei Clemens Alexandrinus und Stobaeus
‘sich mit derjenigen deckt, die hier getadelt wird!), und die Posi-
"donius auch bei Seneca in ganz ähnlicher Weise angreift*). Posi-
_donius verurteilt also die Erklärung desselben und findet den Grund
"ihrer Unrichtigkeit in der unrichtigen Auffassung der seelischen
_ Vermögen?). Daran schliesst er die Bemerkung, dass die richtige
Erkenntnis der seelischen Vermögen und ihres gegenseitigen Ver-
‚haltens?) die Zweifel und Bedenklichkeiten zerstreuten, welche
die Sophisten gegen den stoischen Grundsatz erhöben. Nun
zwangen gerade die Einwände des Carneades gegen die stoische
Begriffsbestimmung des Zieles den Antipater zu der vorher er-
“ wähnten Erklärung*), die Posidonius als unrichtig abweist: Somit
können hier unter den Sophisten nur Carneades und seine An-
'hänger verstanden werden. Folglich haben in der That die Ein-
wände des Carneades gegen die stoische Bestimmung des Zieles
=) Strom. II p. 1195. Stob. 66]. II p. 76, 118, ζῆν ἐχλεγομένους μὲν τὰ
᾿χατὰ φύσιν, ἀπεχλεγομένους δὲ τὰ παρὰ «φύσιν διηνεχῶς .. πᾶν τὸ χαϑ' αὑτὸν
ποιεῖν διηνεχῶς χαὶ ἀπαραβάτως πρὸς τὸ τυγχάνειν τῶν προηγ μένων χατὰ φύσιν.
ahe verwandt sind die Definitionen des Diogenes von Babylon und des Ar-
_ ehedemus. Auch Hirzel Unters. IIa S. 516. hat bereits Antipater für den hier
_ getadelten Stoiker gehalten. ΗΜ
= 3) Denn wenn er schreibt: παρέπεται γὰρ κατὰ τὸ ἀναγχείον τῷ τέλει, τέλος
δ᾽ οὐκ ἔστιν, so folgt dies offenbar aus der vorhergehenden, auf Grund der
richtigen Fassung der Psychologie aufgestellten Begriffsbestimmung des
E- Gleichzeitig geht hieraus hervor, dass Antipater jedenfalls noch
nicht mehrere Vermögen der Seele angenommen, also die stoische Psychologie
noch nicht geändert hat. Dem diesbezüglichen Einwande des Carneades
‘gab er eben auf andere Weise nach.
Ἵ 8) Wie auch immer das τούτου διαληγϑέντος bezogen werden mag, 68
Seht immer — direkt oder indirekt — auf die vorhergegebene RP it
des Zieles und damit auf die richtige Bestimmung der Ursache des πάϑος;
_ denn hieran knüpft diese ganze Erörterung Galens an.
- #4) Hierüber wird später gehandelt werden; vgl. auch S.
339 Anm. 1.
— 36 --
und die Ethik überhaupt den Posidonius veranlasst die Platonisch-
Aristotelische Dreiteilung des seelischen Vermögens beizubehalten
und nicht wieder zur älteren Fassung zurückzukehren. Ἢ
Panätius sowohl wie Posidonius stehen also auch hier unter
dem Einflusse des Carneades. Vergleichen wir nun die psycho- £
logischen Lehren beider miteinander, so zeigt sich, dass sie trotz
ihrer Übereinstimmung im allgemeinen in den einzelnen Fragen
entgegengesetzte Antworten geben: Panätius lässt die Seele aus
verschiedenen Elementen bestehen, nimmt demgemäss drei Teile
derselben an und hält sie für sterblich; Posidonius dagegen hält
sie dem Stoffe nach für einheitlich, spricht daher auch nur von
drei Vermögen derselben und glaubt an ihre Prä- und Postexistenz. ὦ
Der Grundunterschied zwischen beiden liegt, wie klar ersichtlich,
in der verschiedenen Auffassung der Natur der Seele; denn aus
dem Unterschiede, ob sie einfach und einheitlich oder zusammen-
gesetzt ist, leiten sich die weiteren Unterschiede leicht her. Da
diese Unterscheidung, wie wir zu Anfang dieses Abschnittes ge-
sehen haben, unter dem Einflusse des Garneades steht, so er-
giebt sich von neuem, dass hier nicht Willkür geherrscht, sondern
klar bewusste Motive und Einflüsse gewirkt haben.
Die Stellung beider Philosophen zu den entsprechenden
Platonischen und Aristotelischen Lehren ist an sich klar und
bedarf keiner weiteren Erörterung. Jedoch einen anderen Punkt
der Aristotelischen Psychologie müssen wir hier noch besonders
berücksichtigen. Aristoteles schied wie bekannt in der mensch-
lichen Seele die niedere geistige Seelenkraft und die Denkkraft
(νοῦς ποιητικός), die ihrem Wesen nach zwar durchaus verschie-
den sind, aber in ihrer Verbindung das individuelle Denken und
Empfinden zu stande bringen. Die Denkkraft als solche ist bei
ihm das Vermögen der unmittelbaren, irrtumsfreien Erkenntnis
der allgemeinsten Principien. Wenn nun auch diese Denkkraft
als solche das eigentliche Wesen des Menschen ausmacht, so
kann der Mensch doch nur Mensch sein, wenn sich dieselbe mit
dem niederen Seelenteile (νοῦς παϑητικός) verbindet. Der Ein-
fluss dieser Unterscheidung einer doppelten Vernunft kommt bei
Panätius sofort zu Bewusstsein, wenn wir uns seiner Einteilung
der Vernunft in die eigentliche, allen Menschen gemeinsame
Denkkraft und die individuelle Natur derselben erinnern und
bedenken, dass er gerade die allgemeinen Prineipien der Ethik
3
=. 981 —
und damit die des Wissens überhaupt auf die allen gemeins
Denkkraft gründete, in der individuellen Natur der Vernunft aber
den Grund für die Verschiedenheit der Charaktere fand. Dass
sich Posidonius in der Auffassung dieser Lehre an Panätius an-
schloss, haben wir (S. 259 Anm. 2) bereits gesehen, Auch die An-
nahme dieser Auffassung steht unter dem Einflusse des Car-
neades, wie wir später kennen lernen werden.
ame
Kap. 9.
Erkenntnistheorie.
᾿ς Philodems Abhandlung περὶ σημείων καὶ σημειώσεων 1) zer-
fällt, wie bereits Philippson richtig erkannt hat, in vier Abschnitte,
die alle in gleicher Weise die stoische Lehre von der Schluss-
bildung bekämpfen. Philodem hat bei der Abfassung nichts weiter
gethan, als die Arbeiten seiner Gewährsmänner einfach an einander
zu reihen. Der erste Abschnitt (col. 1—19,9) ist den Aufzeich-
nungen entnommen, die er selber, der zweite (col. 19,9 — 28,13)
denen, die sein Freund Bromius in den Vorlesungen bei Zeno
niedergeschrieben hatte. Der dritte Abschnitt (col. 28,13 — 29,20)
stammt aus einer Schrift eines Epikureers Demetrius*); der vierte
(col. 29,20— 38,22) ist am Anfange verstümmelt. Philippson
spricht ihn dem Zeno zu, also demselben Philosophen, auf den
auch der erste und zweite Teil zurückgehen. Mit dieser Ansicht
steht seine weitere Überzeugung in innerer Beziehung, dass Zeno
der einzige und erste Epikureer gewesen sei, der die Lücke in
der Erkenntnistheorie Epikurs erkannt und durch die Theorie des
Induktionsschlusses (μετάβασις καϑ᾽ ὁμοιότητα) ausgefüllt habe und
dass, abgesehen von seinen nächsten und treusten Schülern, deren
Ansicht uns Philodem giebt, die nachfolgenden Epikureer seine
1) Ausser dem Herausgeber dieser Schrift Gomperz (Herkulanens. Stu-
dien, Heft 1 Leipzig 1865) haben über dieselbe besonders gehandelt Fr.
Bahnsch: Des Epikureers Philodemus Schrift περὶ ang. 7. σημέξιωσ. Lyck 1872.
Diese Schrift ist mir nur aus den beiden folgenden Arbeiten bekannt. Phi-
-lippson in der schon 5. 298 Anm. 1 genannten Dissertation und P. ‚Netorp
in seinen „Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems“ S. 238 ff.
2) Über diesen vgl. S. 16 Anm. 4.
Schmekel, mittlere Stoa. 22
Rx
u
-- 5358 --
Neuerungen sofort über Bord geworfen hätten!). Philippson hat
für diese Ansicht keinen anderen Grund als die Bedeutung Zenos
in der Epikureischen Schule und das Stillschweigen der sonst vor-
handenen Quellen auf die Frage, ob noch irgend ein anderer
Epikureer ausser Zeno die Theorie der Induktion gelehrt habe:
Zwei Gründe, deren Stichhaltigkeit an sich augenscheinlich sehr
schwankend ist. Wenn nun Philippson die beiden Angaben
Philodems col. 7,5 ff.: πειρᾶταί τε Διονύσιος, πρὸς ἃς φέρουσιν
ἀντιρρήσεις οἱ παρ᾽ ἡμῶν, φιλοτεχνεῖν' φασχόντων γὰρ ὅτι χαὶ
διὰ τοῦ κατ᾽ ἀνασκχευὴν τρόπου πάντως ὃ καϑ' ὁμοιότητα διήκει
καὶ βεβαιοῦται (δὲ) ἐκεῖνος διὰ τούτου, und col. 38, 22 ff.: τὰ μὲν
οὖν ΕΠ πες τοῖς ἡμετέροις κατὰ τοῦτο niet γεγονόσι
τοιαῦτ᾽ ἔστιν einfach dahin deutet, dass diese Epikureer, die sich
mit der Theorie der Induktion sehr viel beschäftigt haben, die
Dionysius zu widerlegen, Zeno zu verteidigen unternahm, Schüler
Zenos gewesen seien, so nähert er sich mit diesem Schluss
offen einem Zirkel: Aus der durch Philodem verbürgten That-
sache, dass Zeno die vorliegende Theorie der Induktion vertreten
hat einerseits und dem Stillschweigen der sonstigen Quellen über
diese Lehre andererseits schliesst er, dass Zeno der Schöpfer der
gedachten Theorie ist, und dann rückwärts, dass die übrigen
Epikureer, deren Philodem als Vertreter der gleichen Theorie
gedenkt, Schüler Zenos gewesen seien. Dass dieser Schluss also
nicht zwingend ist, liegt auf der Hand. Jede natürliche und
nicht voreingenommene Erklärung wird vielmehr nach den an-
geführten Angaben Philodems ohne weiteres zugeben, dass Zeno
nicht der erste Epikureer gewesen ist, der sich mit der Theorie
des Induktionsschlusses näher beschäftigt hat?). Für diese Auf-
fassung giebt es jedoch noch einen weiteren, durchaus stich-
haltigen Beweis. So sehr auch der vierte Abschnitt mit dem
ersten stimmen mag, so vertritt er doch in einem Punkte mit
Bewusstsein eine von Zeno abweichende Meinung’): Also kann
Ὁ ΕἸ οἷς (ΟΣ 0.082.
53) So hat auch Bahnsch diese Nachricht aufgefasst; vgl. Philippson
a. a. O. p. 32.
3) col. 30, 37 ff.: σημειώσεως γὰρ ὀρϑῆς οὐδεὶς παρὰ τοῦτον (sc. τὸν 29"
ὁμοιότητας ἔστιν ἕτερος τρόπος. Sl, 8ff.: οἱ δὲ φάσχοντες ἠρϑῆσϑαν τὸν χαϑ'
ἀνασχευὴν τρόπον τῆς σημενιώσεως ἐκ τοῦ χαϑ' ὁμοιότητα, κἂν ταὐτὸ τῇ
δυνάώμεν λέγωσιν ἡμῖν, τῇ γε διδασχαλίᾳ καταλείποντες ὑποψίαν ὡς dv’ ὄντων
Zeno unmöglich der Verfasser des vierten Abschnittes sein. Zu
dieser Verschiedenheit treten noch weitere hinzu, Die Aus-
führungen Zenos richten sich durchweg gegen den Vertreter der
Stoiker, Dionysius, sowohl im ersten wie im zweiten Teile!); der
Verfasser des vierten Abschnittes, dessen Name zugleich mit
dem Anfange der Darstellung ausgefallen ist, erwähnt den Diony-
sius nicht einmal, sondern wendet sich von Anfang an gegen die
Stoiker überhaupt?). Ferner macht er diesen den Vorwurf,
sie nähmen nicht darauf Rücksicht, dass die Epikureer als Be-
dingung für den Schluss aus der Übereinstimmung der Merkmale
stets hinzufügten: »Wenn nichts dagegen spricht.« Dieser Vor-
wurf ist aber Dionysius gegenüber nicht gerechtfertigt, denn
dieser hat sich auch gegen diese Bedingung gewandt und sie
zurückgewiesen). Also müssen wir schliessen, dass der Verfasser
_ dieses Abschnittes die Entgegnungen des Dionysius noch nicht
gekannt und somit eher als Dionysius geschrieben hat. Diese
Thatsachen beweisen unwiderleglich, dass Zeno nicht der einzige
Epikureer gewesen ist, der die Theorie des Induktionsschlusses
in das Epikureische System eingeführt hat. Vergleichen wir nun
die Ausführungen des vierten Abschnittes mit denen Zenos nach
Abzug der vorgetragenen Besonderheiten des letzteren, so kann
ihre sachliche Übereinstimmung keinen Augenblick zweifelhaft
sein. Daraus ergiebt sich mit voller Sicherheit, dass Zeno auch
nicht der erste gewesen ist, der die Lehre Epikurs durch die in
Rede stehende Theorie erweitert und bereichert hat; es folgt
vielmehr, dass beide Vertreter dieser Schule sie von demselben
Manne, also offenbar von ihrem Lehrer Apollodor empfangen
haben. Da ferner beide Vertreter die gleichen Einwände der
Stoiker mit den gleichen Gründen bekämpfen, ist es klar, dass
der bei Philodem vorliegende Streit zwischen den Stoikern und
'Epikureern im wesentlichen bereits in der Generation vorher
stattgefunden hat.
᾿σημειώσεως τρόπων etsg.; vgl. 60]. 8, 22f.; 9, 3ff.: διόπερ εἰ βίαν οὕτος οὐχ ἔχω
πρὸς ἀποδεῖξαι τοῦτ᾽, οὐδ᾽ ὁ κατὰ τὴν ἀνασχευὴν ... zei di αὐτοῦ βεβαιού-
μενος... οὐδ᾽ ἐχεῖνος ἔχει τὴν ἀνάγκην; vgl. noch 60]. 11,32. Auf diese
Verschiedenheit hat auch bereits Natorp a. a. O. 5. 239 Anm. 1 aufınerk-
sam gemacht.
ν᾿ 1) Vgl. bes. col. 7,5; 11,32; 19,48.
=» Vgl. col. 29, 25£.
3) Col. 8,18: vgl. dazu S. 298 Anm. 1.
Wir wenden uns jetzt kurz noch zum dritten Abschnitte. Der
Verfasser desselben ist Demetrius. Dieser hat nach Philodems
ausdrücklicher Angabe (col. 28, 14) diesen Gegenstand nur sehr
kurz behandelt; er kann daher keineswegs der Verfasser des
vierten Abschnittes gewesen sein, da die Länge der Ausführung
mit dieser Nachricht im Widerspruche stände, wenn wir auch den
vierten Abschnitt ihm beilegen wollten. Doch auch abgesehen
hiervon ist es schon deswegen unmöglich, weil Demetrius in dem
Punkte, in welchem der Verfasser des vierten Abschnittes von
Zeno abweicht, mit Zeno übereinstimmt'). Mit dem Verfasser
des vierten Abschnittes stimmt er andererseits zunächst darin
überein, dass er sich schlechtweg nur gegen die Stoiker im all-
gemeinen wendet, nicht gegen einen einzelnen; und ferner darin,
dass er ihnen den Vorwurf macht, sie bedächten nicht, dass die
Epikureer nur dann dem Schlusse nach der Übereinstimmung
Gewissheit zusprächen, wenn sich kein Einwand erheben liesse
(col. 28, 37 ff... Auch er muss also früher als Dionysius ge-
schrieben haben. Berücksichtigen wir nun, dass der Verfasser
des vierten Abschnittes ausdrücklich. berichtet, dass es der
Epikureer jedenfalls mehrere waren, die in der erwähnten An-
sicht gegen ihn übereinstimmten 5, so dürfen wir mit Fug
schliessen, dass Demetrius nicht Schüler, sondern Mitschüler des
Zeno gewesen ist. Die Nachricht Philodems, dass sich die Epi-
kureer viel mit diesem Gegenstande beschäftigt haben, entspricht
also vollständig der Thatsache°).
Das Gleiche bestätigt sich uns noch von einer anderen Seite.
Um dies zu zeigen, haben wir den Gang der erkenntnistheoreti-
— 340 --
1) eol. 29, Aff.: τὸ 7 τόδε τοιόνδ᾽ Zotıv ... zei χαϑόλου πᾶν τὸ τοιοῦτο γένος
ἢ 2
:
οὐκ ἀνασχευῇ πάντως ἁλίσχετ', ἀλλὰ πολλὰ καὶ διὰ τῆς δμοιότητος; vgl. S. 338
Anm. 3.
5) Dionysius hält ebenfalls diese Ansicht für die allgemein-Epikureische;
vgl. col. 7,8f.: φασχόντων γὰρ, ὅτι zei διὰ τοῦ zur ἀνασχευὴν τρόπου πάντως
ὃ χαϑ' ὁμοιότητα διήχεν χαὶ βεβαιοῦταν (δὲ) ἐχεῖνος διὰ τούτου κτλ.
°®) Hier bietet sich nun ganz von selbst der Beweis für die Richtigkeit
der früheren Auseinandersetzung über die Chronologie des Dionysius. Dio-
nysius hat später als Demetrius und früher als Zeno geschrieben, wie die
obige Entwickelung gezeigt hat; also ist er ein Zeitgenosse dieser Männer,
Dieser Sachverhalt stimmt mit der anderen Nachricht Philodems (s. S. 16 A. 5),
dass Dionysius gegen Demetrius die stoische Lehre verteidigte. Es kann
somit kein Zweifel sein, dass der Dionysius, der die stoische Lehre gegen
Demetrius verteidigte, Dionysius von Kyrene war.
-- 84 --
‚schen Forschungen ein wenig eingehender darzulegen. Aristoteles
"hat, wie bekannt, auch der Bedeutung der Zeichen und der
Theorie der Induktion seine Aufmerksamkeit zugewandt, wenn-
gleich keineswegs in dem gleichen Mafse wie der Syllogistik. Da
nun ebenso wie die Epikureische Philosophie auch die stoische
auf empirische Grundlage gestützt ist, so dürfen wir von vorn
herein annehmen, dass auch der Stifter der Stoa, Zeno, die
Theorie der Induktion nicht vernachlässigt und ihren Wert ver-
kannt haben wird. Diese Annahme beruht nicht etwa auf blosser
Vermutung, sondern auf der Überlieferung: Nach Augustins
Angabe hat Zeno das Zeichen, wenigstens höchst wahrscheinlich,
so gefasst, wie es nachher in der Stoa üblich war. Bestätigt wird
diese Nachricht dadurch, dass eine der Schriften Zenos den Titel
Περὶ σημείων führt!). Nun gebraucht Sextus in seinen Berichten
über das stoische Zeichen zu wiederholten Malen*) das Aristo-
telische Beispiel: ‚ei γώλα ἔχει αὕτη, κεκύηκεν αὕτη: wir dürfen
_ demnach schliessen, dass bereits Zeno auch zu dieser Lehre
in der Stoa den Grund gelegt hat?) und zwar im Anschluss
an Aristoteles. Zenos Lehre vom Zeichen bekämpfte Arcesilaus;
dieser Streit wiederholte sich in der Folge zwischen Chrysipp
und Carneades. Seiner Natur nach kam er zum Ausdruck
in der Frage nach dem Kriterium, der φαντασία χαταληπτιχή.
Diese Vorstellung ist eine solche, welche nicht auch falsch sein
kann, d. h. das Zeichen, auf Grund dessen diese Vorstellung als
wahr anerkannt wird, ist nicht ein solches, welches Verschiedenes
zugleich anzeigen kann (κοινὸν o.), sondern ein spezielles (ἴδιον @.),
welches allein auf das Eine, Bestimmte hinweist und darum auch
untrüglich ist. Von dieser Auffassung des Streites zwischen der
Akademie und der Stoa ist zwar bei Sextus an beiden Stellen,
wo er über denselben berichtet‘), keine Andeutung vorhanden;
gleichwohl beruht sie nicht etwa auf Deutung, sondern auf der
ausdrücklichen Angabe des Clitomachus°). Diese Angabe bezieht
ἢ Augustin. contra Acad. II 6,4; vgl. 5,4; Diog. VII 4; 62. Die letzte
Stelle beweist, dass Philippson a. a. Ὁ. p. 68 diese Auffassung grundlos ver-
>
<
.7
wirft; 5. auch Zeller, Phil. d. Gr. IIla S. 32,4. Auf Augustin hat Ph. nicht
geachtet. Vgl. auch Anm. 5 u. S. 349 Anm. 1; S. 350 Anm. 1.
2) Hyp. II 107; adv. log. II 252.
3) Hierdurch erledigt sich Philippsons Zweifel p. 68.
Ὁ Hyp. I 226 ff., 232; adv. log. I 150ff., 159 ff. Ne |
5) Cie. acad. pr. II 31,101: neque tamen habere insignem illam et pro-
-- 842 —
sich allerdings nur auf Carneades; da wir jedoch vorhin gesehen
haben, dass bereits Zeno das Zeichen in gleicher Weise fasste,
wie es hier geschieht, und Arcesilaus ganz denselben Einwand
gegen die Stoa erhob wie Carneades!), von dem Clitomachus das
Obige berichtet, so haben wir ein Recht zu der Annahme, dass
bereits Arcesilaus in gleicher Weise wie Carneades die Stoiker
durch den Nachweis zu widerlegen suchte, es gebe kein spezielles,
die Wahrheit verbürgendes Zeichen. Dass Chrysipp gegen ihn
die Stoa verteidigte, ist zu bekannt, um noch besonders hervor-
gehoben zu werden, wenn uns auch die Verteidigung selbst nicht
genauer vorliegt. Einen grösseren Gegner bekam indes die Stoa
an Carneades. Zwischen ihm und der Stoa drehte sich der Streit,
wie wir eben gezeigt haben, um die Auffassung des Zeichens;
wir haben hier seine Lehre etwas genauer zu entwickeln?).
Alle Erkenntnis wird durch die Vorstellung vermittelt. Diese
ist das Produkt der reinen sinnlichen Wahrnehmung und des
Verstandes und muss als solches sowohl sich selbst wie auch den
wahrgenommenen Gegenstand offenbaren, gleichwie das Licht sich
selbst und die Dinge zeigt, die es bescheint. Begrifflich giebt es
nun zwei Arten von Vorstellungen, solche, welche die Wahrheit
verbürgen, und solche, welche dies nicht zu leisten im stande sind.
Wahr ist diejenige, welche sich auf ein spezielles Zeichen (ἴδιον 0.)
stützt, welches es gewiss macht, dass das Vorgestellte nicht auch
anders sein kann, wie die Vorstellung angiebt; nicht wahr da-
gegen diejenige, welche auf einem doppeldeutigen Zeichen (κοινὸν 0.)
priam percipiendi notam; eoque sapientem non adsentiri, quia possit eius-
dem modi exsistere falsum aliquod, euius modi hoc verum. ὁ. 32, 103: itaque
ait vehementer errare eos, qui dieant ab Academia sensus eripi, a quibus num-
quam dietum sit aut calorem aut saporem aut sonum nullum esse, illud sit
disputatum, non inesse in üs propriam, quae nunguam alibi esset, veri et certi
notam. Die erste Stelle ist aus dem ersten Buche des Clitomachus de sus-
tinendis adsensionibus (περὶ ἀποχῆς vgl. ο. 31,98); die letztere aus dessen Schrift
an Lucilius (ce. 32, 102); vgl. ferner die 88 8S4—85 und auch 8 34f., 8 42f.
Bei diesem Sachverhalt ist es eigentlich unfassbar, was Philippson a. a. Ὁ.
p- 97 (vgl. p. 70) sagt, bei Cicero werde nur an einer einzigen Stelle ($ 33)
das Zeichen erwähnt. Die Nichtbeachtung dieser Stellen hat ihn von vorn
herein auf Abwege geführt.
') Sext. Emp. adv. log. I 154 4ozsoileos] .... δεύτερον ὅτι οὐδεμία τοναύτη
ἀληϑὴς φαντασία εὑρίσχεται, οἵα οὐχ ἂν γένοιτο ψευδής, ὡς διὰ πολλῶν καὶ ποιχί
λων παρίσταται; vgl. hiermit Carneades b. Sext. a. ἃ. Ο. 8 164. Cie. acad.
pr. II 13,40; 26,83 u. ὃ.
2) Vgl. Sext. a. a. 0. 1 1598. Cie. acad. pr. I 5,452.
ἢ — 545 ==
beruht, durch welches Verschiedenes zugleich angezeigt wird!),
Um nun zu beurteilen, welche von ihnen wahr ist, bedarf es eines
Urteilsmittels oder Kriteriums. Dieses könnten nur entweder die
‚Wahrnehmung oder das Denken und die Vorstellung sein; Wahr-
nehmung und Denken können es nicht sein, weil beide erfahrungs-
mässig oft täuschen; es bleibt somit nur die Vorstellung als
Kriterium übrig. Natürlich kann nicht jede beliebige Vorstellung
‚dazu benutzt werden, strittige Vorstellungen auf ihre Wahrheit
zu prüfen, sondern nur die richtige; um die Bestimmung der
richtigen Vorstellung handelt es sich aber: Also führt die An-
nahme der Vorstellung als Kriterium zu einer Diallele. Da ferner
die Vorstellung ihrer Natur nach von der Wahrnehmung und dem
Denken abhängt, und Denken und Wahrnehmung oft täuschen,
so kann auch die Vorstellung nicht gewiss sein; es ist im Gegen-
teil natürlich, dass sich jeder Vorstellung eine verschiedene mit
gleich grosser Glaubwürdigkeit gegenüberstellen lässt. Gilt dem-
nach die Vorstellung als Kriterium, so ist das Kriterium ein
doppeldeutiges Zeichen, welches auch das Entgegengesetzte an-
zeigt, was mit der Natur des Kriteriums unvereinbar ist. Es
giebt also kein Kriterium der Wahrheit und somit auch kein
Wissen der Dinge, wie sie in Wirklichkeit oder an sich sind’). Da
nun durch das Wesen der Dinge offenbar auch ihr gegenseitiges
‚Wirken bedingt ist, so ist naturgemäss auch ihre kausale Ver-
knüpfung und damit das gewisse Vorherwissen der Zukunft un-
möglich?).
Ist nun auch das Wissen der Dinge an sich und damit die
Wahrheit im absoluten Sinne für uns unmöglich, so giebt es für
uns doch eine Wahrheit in den Phänomenen. Da jede Vorstellung
entweder wahr oder falsch ist, je nachdem sie mit dem vor-
gestellten Gegenstande übereinstimmt oder nicht, wir jedoch diese
Übereinstimmung mit Gewissheit nicht erkennen können, so bleibt
uns nur übrig, die Vorstellungen nach der Art, wie sie uns er-
scheinen, zu bezeichnen. Diejenige Vorstellung also, welche als
wahr erscheint, wird wahrscheinlich genannt; diejenige, welche
1) Der Beweis hierfür ist in S. 341 Anm. 5 enthalten. πο σαι
3) Sext. ἃ. ἃ. Ὁ. I 159---1θδ; Cie. acad. pr. Il 31,98 #.; 13, 40 fl; 26, 89 δ.
Dass er dieses Resultat nur skeptisch aussprach, nicht als gewiss, beweist
gegen Sext. Hyp. I 226 Cicero a. a. 0. 9, 28.
3) Vgl. Cie. de fato 14,32f.; 5. 5. 168 86. und Sext. a. 8. Ὁ. I 176.
--, 34 —
nicht so erscheint, unwahrscheinlich. Auch die wahrscheinlichen
Vorstellungen zerfallen noch in zwei Arten: in verworrene, deren
Wahrscheinlichkeit unbestimmt ist, und in klare. Die klare Vor-
stellung ist das Kriterium der Wahrheit, natürlich nicht in Bezug
darauf, wie das Seiende ist — das ist ja unerkennbar — son-
dern wie es erscheint!). Die Klarheit der Vorstellung richtet sich
nun offenbar sowohl nach dem Gegenstande, welcher vorgestellt
wird, als auch nach der Beschaffenheit, Verfassung und Stellung
des Vorstellenden, weil hierdurch naturgemäss der grössere oder
geringere Grad der Deutlichkeit der Wahrnehmung bedingt ist?).
Da es aber vorkommen kann, dass auch eine klare Vorstellung
irrig ist, so wird die einfache, an sich klare Vorstellung (φαντασία
πιϑανή) nicht schlechthin als Kriterium gelten können, sondern
nur meistenteils (ὡς ἐπὶ τὸ πολύ)". Um einen höheren Grad
von Gewissheit zu erzielen, bedarf es daher noch eines ge-
naueren Kriteriums. Dieses ist diejenige klare Vorstellung, bei
-der alle Vorstellungen, die mit ihr zusammenhängen, auch als
wahr erscheinen, so dass es infolge dessen durchaus glaubwürdig
ist, dass auch jene wahr ist. Sie heisst φαντασία πιϑανὴ καὶ
ἀπερίσπαστος ἢ). Das zuverlässigste Kriterium ist schliesslich die-
jenige klare Vorstellung, deren eigene Glaubwürdigkeit zugleich
mit der Glaubwürdigkeit aller mit ihr zusammenhängenden Vor-
stellungen sorgfältig untersucht ist (φαντασία πιϑανὴ καὶ ἀπερί-
σπαστος καὶ περιωδευμένη)). Das erste Kriterium wird nur in
unwichtigen Dingen und dort angewandt, wo es an Zeit zu einer
Untersuchung fehlt; das zweite in den wichtigeren, das dritte in
den wichtigsten Dingen, wie z. B. in der Ethik, also überhaupt
in der Philosophie und der Wissenschaft®). Es ist demnach klar,
dass Carneades keineswegs jede Theorie verwarf; im Gegenteil
nahm er die gesamte Forschung ebenso für sich in Anspruch,
wie die dogmatischen Philosophen, nur mit dem Unterschiede,
1) Cie. acad. pr. II 31, 99: itaque et sensibus probanda multa sunt,
teneatur modo illud, non inesse in 115 quiequam tale, quale non etiam falsum,
nihil ab eo differens esse possit.
2)" Dext. a, ἃ. ἡ 1 189 ην
ΞΘ Σ πα. ΘΠ 115
2) /Sext.a..a. Θ᾽ 170.»
δ.) ΘΘχι: ἃ. ἃ. Ὁ. 151.
6) "Sext..'a. 8, .0. 1 181
5
«ὦ
-- 84 --
nicht die Gewissheit des Seienden zu erfassen, sondern nur das
-Wahrscheinliche zu erkennen).
Giebt es nun aber eine Theorie, so ist die weilere Frage,
‘wie wir zu ihr gelangen. Da alle Erkenntnis von der Erfahrung
‘abhängt und durch einen Schluss bedingt ist, kann das Mittel,
durch welches wir die Theorie erreichen, nur der Erfahrungs-
schluss sein und zwar der Schluss nach der Übereinstimmung der
‚Merkmale. Wie er ihn genannt hat, wissen wir nicht genau, doch
‚haben wir allen Grund. anzunehmen, dass er ihn auch mit dem später
üblichen Namen μετάβασις καϑ' ὁμοιότητα bezeichnet hat?); dass er
ihn aber angewandt und ausgebildet hat, ersehen wir sowohl aus
‚seinen direkten Angaben, wie auch aus den Beispielen. Zunächst
nämlich führt er zu verschiedenen Malen aus, dass der Schluss
auf Grund der συνδρομὴ τῶν σημείων gebildet werde: Wie
‚die Ärzte aus dem Zusammentreffen der verschiedenen Zeichen
‚die Natur der Krankheit erschliessen, ebenso auch die Logiker aus
‘dem Zusammentreffen der verschiedenen Merkmale, ob eine Vor-
stellung richtig oder falsch ist?). Wie ferner der Schluss ge-
zogen wird, lehren uns seine Beispiele und weiteren Vorschriften:
‚Nicht die Summe irgend welcher beliebigen Zeichen gestattet
‘einen Schluss, sondern die Übereinstimmung aller und insbesondere
‚der wesentlichen Merkmale eines Dinges. Tritt man z. B. in der
Dunkelheit in ein Haus, in welchem ein Seil am Boden liegt, so
‚kann man sowohl auf eine Schlange wie auf ein Seil schliessen,
weil die Merkmale, welche beim ersten Anblicke wahrgenommen
‚werden, beiden gemeinsam sind. Erst wenn infolge genauerer
_ Untersuchungen der wahrgenommene Gegenstand an allen Merk-
malen geprüft wird, welche die Begriffe beider Dinge ausmachen,
zeigt sich das spezielle oder wesentliche Merkmal, welches uns
1) Cie. acad. pr. II 41, 127: indagatio ipsa rerum cum maximarum tum
etiam oceultissimarum habet oblectationem; si vero aliquid occurrit, ‚quod
verisimile videatur, humanissima completur animus voluptate. quaeret igitur
haec et vester sapiens et hie noster, sed vester, ut adsentiatur, credat, re
net, noster, ut vereatur temere opinari praeclareque 861 Boca putet, si in
'eius modi rebus verisimile quod sit invenerit; vgl. auch ce. 33, 107, wo nicht
die ars schlechtweg, sondern nur die der Gegner geleugnet wird.
2) Der Name μετάβασις für Schluss war schon gewöhnlich; vg
Laert. VII 53. Die Bezeichnung καϑ᾽ ὁμοιότητα geht in ihrem Wesen schon
auf Aristoteles zurück; vgl. Philippson p. 55 u. Diog. a. a. 0.
8) Sext. adv. log. I 179; 182.
I
l. Diog.
—_— 9406 --
den Schluss zu ziehen zwingt, ein Seil und nicht eine Schlange
vor uns zu haben!). Wie und unter welchen Bedingungen über-
haupt ein möglichst sicherer Schluss gezogen wird, das zeigt er unsin
den genauen Vorschriften über das dritte Kriterium, die φαντασία
πιϑανὴ καὶ ἀπερίσπαστος καὶ περιωδευμένη. Alles soll hier aufs sorg-
fältigste untersucht werden, um die Möglichkeit auszuschliessen, auf
Grund eines unklaren und darum doppeldeutigen Merkmals einen
unwahrenSchluss zu ziehen, natürlich in Bezug auf dasErscheinende,
nicht in Bezug auf das an sich Seiende?). Nehmen wir hinzu,
dass er bei Schlüssen vom sinnlich Wahrnehmbaren auf sinnlich
Wahrnehmbares Ununterscheidbarkeit?), bei solchen aber vom
Wahrnehmbaren auf nicht unmittelbar Wahrnehmbares möglichste
Ununterscheidbarkeit?) verlangte, so leuchtet ganz von selbst ein,
dass die Theorie des Induktionsschlusses, die uns bei Philodem
vorliegt, in allen ihren Hauptpunkten, so weit wir sehen können,
von Carneades gekannt und ausgebildet worden ist. Da nun in
der Begründung des Induktionsschlusses bei Philodem nicht nur
sonst sachliche Übereinstimmung mit der Theorie des Carneades
vorhanden ist, sondern auch innerhalb dieser Begründung zu
verschiedenen Malen sowohl von Zeno wie auch von dem Ver-
fasser des vierten Abschnittes ausgeführt wird, dass nur der
Schluss Sicherheit verbürge, welcher περιωδευμένος 5615), also
von beiden ein Wort gebraucht wird, das speziell von Carneades
entlehnt ist, so folgt mit Notwendigkeit, dass nicht erst Zeno,
sondern bereits Apollodor in dieser Lehre von Carneades beeinflusst
worden ist®). Von neuem bestätigt sich uns somit der Schluss,
I) Bext.a.a. 0.187, Pyrch. hyp. 7 227 N.
2) Sext. adv. log. I 182 ff.
3) Sext. a. a. 0. 178: ὅτε γὰρ οὗτός dorı Σωχράτης, πιστεύομεν dx τοῦ πάντα
αὐτὼ προσεῖναν τὰ εἰωϑότα, χρῶμα, μέγεϑος, σχῆμα, διάληψιν, τρίβωνα, τὸ ἐνθάδε
εἶναι, ὅπου οὐθείς ἐστιν αὐτῷ ἀπαράλλακτος.
*) Dies zeigen klar die von Sext. ἃ. ἃ. Ὁ. 1 186ff. angeführten Beispiele.
5) col. 17,32; 30,29; 35,16; vgl. auch 29,4. Bezeichnend ist es, dass
Zeno Induktion und Analogieschluss festhielt und verteidigte, dagegen wider
den eigentlichen Syllogismus speziell in der Geometrie genau dasselbe geltend
gemacht zu haben scheint, was Carneades gegen denselben überhaupt ein-
gewandt hatte, s. Proel. in Euclid. p. 199: οἱ δὲ ἤδη καὶ ταῖς ἀρχαῖς ἐπιτρέ-
arzss οὔ φασι τὰ μετὰ τὰς ἀρχὰς ἀποδείχνυσϑαι, μὴ συγχωρήϑεντος αὐτοῖς zei
ἄλλου τινός, ὃ μὴ προείληπταν ἐν ταῖς ἀρχαῖς. τοῦτον γὰρ τὸν τρόπον τῆς ἀντιρ-
ρήσεως μετῆλθεν Ζήνων ὃ Σιδώνιος χτλ.; vgl. 5. 343.
6) Eine weitere Spur dieses Einflusses werden wir noch später bemerken.
— 3411 —
dass nicht erst Zeno und seine Schüler, sondern schon vorher
‚etiam queruntur, quod eos insimulemus omnı
die Epikureer sich viel mit diesem Gegenstande beschäftigt haben,
wie auch Philodem direkt bezeugt.
Philippson sucht nun im weiteren Verlaufe seiner Arbeit
(p. 43 ff., 67 ff.) den Nachweis zu führen, dass Zeno seine Er-
fahrungstheorie von den empirischen Ärzten, also nicht von Car-
neades entlehnt habe. Um dies zu zeigen, tritt er den Nachweis
an, dass die Einteilung des nicht-Offenbaren (ἄδηλον) bei Zeno
dieselbe sei wie bei Sextus und den empirischen Ärzten und
verschieden von der des Carneades. Da andererseits auch Car-
neades ein- oder zweimal auf die empirischen Ärzte hinweist, so
schliesst er ferner, dass Zeno seine Theorie auf Anregung des Car-
neades, den er eifrig gehört hatte, von den empirischen Ärzten ange-
nommen habe. Zeno teilt das nicht-Offenbare in das schlechthin
nicht-Offenbare (καϑάπαξ ἄδηλον), das von Natur nicht-Oiffenbare
(φύσει ἄδηλον) und das zur Zeit nicht-Offenbare (πρὸς καιρὸν ἄδη-
Aov)!); Carneades dagegen in das schlechthin nicht-Öffenbare und
das nicht Erkennbare?). Philippson identifiziert diese Stelle mit einer
‚ähnlichen des Sextus?) und meint demgemäss, dass die erste Arl
des Carneades sich mit der ersten des Zeno inhaltlich decke, und
die zweite Art die zweite und dritte des Zeno umfasse. Das
erste ist richtig, das zweite jedoch nicht. Zur Zeit nicht offen-
‘bar ist z. B. das Feuer, das nicht selbst wahrgenommen, sondern
aus dem Dasein des Rauches erschlossen wird. Derartiges um-
fasst die zweite Art des nicht-Offenbaren bei Carneades durch-
aus nicht; denn Carneades sucht hier, wie wir gesehen haben,
zu beweisen, dass es unmöglich sei zu wissen, wie das Seiende,
ob es erscheint oder nicht erscheint, an sich ist; gegen die Phä-
nomene als solche aber streitet er nicht. Dieses nicht-Offenbare
hat also mit dem zur Zeit nicht-Offenbaren nichts gemein. Ihre
Verschiedenheit zeigt sich auch darin, dass Carneades die Er-
kenntnis jenes leugnet, ähnliche Schlüsse aber wie vom Rauch
auf das Feuer sehr wohl billigt, da es sich hier gar nicht um das
1) Philippson a. a. 0. p. 61 8. |
5) Philippson p. 69; Cie. Acad. pr. II 10, 32: alii autem elegantıus, qui
ia incerta dicere, quantumque
intersit inter incertum et id, quod pereipi non possit. Das Nachfolgende be-
weist, dass Carneades hiermit gemeint ist.
3) adv. log. II 316 ff.
-- 848 --
Wesen des Rauches und des Feuers, sondern einfach um die Er-
scheinung handelt!). Dies nicht-Erkennbare des Carneades hat
also mit dem, was zur Zeit nicht offenbar ist, nichts zu thun,
sondern deckt sich seinem Wesen nach allein mit dem, was von
Natur nicht offenbar ist. Philippson irrt nun, wenn er meint,
dass Carneades dieses nicht zu dem ἄδηλον gerechnet, sondern
nur den obigen Gegensatz festgehalten hat: Cicero sagt aus-
drücklich das Gegenteil?). Carneades hat also dieses nicht-Erkenn-
bare sowohl wie das überhaupt nicht-Offenbare (incertum) als
zwei Arten des ἄδηλον bezeichnet.
Gegenüber diesen beiden Gebieten des nicht-Offenbaren steht
bei Carneades das ganze Gebiet der Phänomene als solcher. Sie
zerfallen in zwei Teile, in solche, welche zur Zeit offenbar, und
solche, welche zur Zeit nicht offenbar sind. Diese Einteilung
wird uns zwar nicht direkt überliefert, doch liegt sie so ausser-
ordentlich nahe und bietet sich so von selbst dar, dass wir
eigentlich gar keiner Bestätigung bedürften, um dieselbe auch
Carneades zuzusprechen; doch fehlt es auch an dieser nicht: Es
ist z. B. ein Schluss vom Offenbaren auf das zur Zeit nicht-
Offenbare, wenn jemand, der vom Feinde verfolgt wird, in die
Nähe eines Grabens kommt, dort die Vorstellung gewinnt, dass
in demselben ihm ebenfalls Feinde auflauern, und infolge dessen
ausweicht?). Ebenso ist es ein Schluss von dem Offenbaren auf
das zur Zeit nicht-Offenbare, wenn jemand, der bei ruhiger See
und schönem Wetter eine kleine Seereise macht, nachdem er
schon eine Strecke weit sicher gefahren ist, schliesst, dass er auch
die andere Strecke glücklich zurücklegen werde®). Der Schluss
dagegen, dass dieser Mensch hier Sokrates ist’), ist augenschein-
lich ein Schluss von einem Offenbaren auf ein zur Zeit Offen-
bares: Die Einteilung des Wahrnehmbaren ist also wohl sicher
in der Einteilung der Vorstellungen in Bezug auf ihre verschie-
dene Glaubwürdigkeit mit enthalten gewesen. Mit der Unter-
scheidung des nicht-Offenbaren in das von Natur und das zur
1) Dies ist eines der stereotypen Beispiele, die Sextus anwendet und ge-
wiss zugleich mit seiner Lehre aus den Quellen genommen hat; vgl. übrigens
die nachfolgende Ausführung.
3) Vgl. die schon 5. 345 Anm. 1 angeführte Stelle Acad. pr. II 41, 127 ff.
®) Sext. adv. log. I 186.
*) Cie. Acad. pr. II 31,100; 34, 109.
5) Sext. adv. log. I 178.
— 59 —
Zeit nicht-Offenbare hängt ferner bei Sextus die Unterscheidung
der Zeichen in hypomnestische und endeiktische aufs engste zu-
sammen; jene enthüllen das zur Zeit, diese das von Natur nicht
Offenbare. Das letztere bestritt Carneades mit aller Energie, wie
wir gezeigt haben; da er nun andererseits keineswegs alles, was
die Phänomene betrifft, wo das hypomnestische Zeichen zur
Geltung kommt, bestreiten wollte, so werden wir schliessen
müssen, dass er dieses ebenso vollständig zu recht bestehen
liess, wie späterhin selbst der extreme Skeptiker Sextus. Die
Wahrheit dieses Schlusses hat sich uns bereits hauptsächlich in
der Bestimmung der φαντασία πιϑανὴ καὶ ἀπερίσπασιος χαὶ πε-
ριωδευμένη gezeigt. Wir werden also nicht umhin können, diese
Unterscheidung der Zeichen bei Carneades als bekannt voraus-
zusetzen; hat er aber diese gekannt, so ist ihm auch die frag-
liche Unterscheidung des nicht-Offenbaren in solches, was zur
Zeit, und solches, was überhaupt nicht offenbar ist, bekannt ge-
wesen!). Es ist also kein Grund vorhanden, in Bezug auf die
Einteilung des nicht-Offenbaren einen wesentlichen Unterschied
zwischen Carneades und Zeno bezw. seinen Epikureischen Gesin-
nungsgenossen anzunehmen). Da wir nun vorher gesehen haben,
1) Sextus berichtet adv. log. II 156, dass das hypomnestische Zeichen
von allen anerkannt werde, das endeiktische aber von den dogmatischen
Philosophen und logischen Ärzten erdichtet worden sei; während er an
einer anderen Stelle (hyp. II 100; 102) als Urheber desselben allein die dog-
matischen Philosophen bezeichnet. Mit dem ersten Berichte stimmt die That-
sache, dass in der Lehre der logischen Ärzte die Erkenntnis der verborgenen
Ursachen durch das endeiktische Zeichen erreicht wurde (Philippson a. a. Ὁ,
p- 65 sq.). Die älteren Stoiker haben, soweit wir dies ermessen können,
diese Unterscheidung nicht vorgenommen (Philippson p. 59 56.). Das Gleiche
gilt auch von den älteren Epikureern, da diese noch viel weniger auf logische
Distinktionen hielten (Philippson p. 65). Infolge dessen schliesst Philippson
(ebds.), dass die logischen Ärzte zuerst das endeiktische Zeichen aufgestellt
haben. Dieser Schluss erscheint an sich recht billigenswert, doch hat er
Sextus gegen sich, nach dessen Angabe hauptsächlich die dogmatischen
Philosophen als die Urheber dieses Zeichens genannt werden. Auch ist die
Lehre der älteren Stoiker über das Zeichen zu unbestimmt erhalten, um
Gewisses erschliessen zu können.
2) Der Verfasser des vierten Absehnittes bei Philodem erwähnt drei
Zeichen, von denen das erste wahrscheinlich das endeiktische ist, das zweite
und dritte nach Philippsons trefflicher Erörterung den Namen προηγούμενον
und συνυπαρχτιχόν gehabt haben. Diese Einteilung schliesst die obige nicht
}
(ξ
Ἕ
ä
-- 800 --
dass diese in den übrigen Punkten der Erfahrungstheorie that-
sächlich von Carneades beeinflusst sind, so müssen wir schliessen,
dass sie auch in diesem Punkte, soweit hier überhaupt eine Be-
einflussung anzunehmen ist, auf ihn und nicht auf die empirischen
Ärzte zurückgehen!).
aus, da ersichtlich die beiden letzten das hypomnestische Zeichen ausmachen;
vgl. Philippson p. 67sq. Die genauere Verwandtschaft zu bestimmen ist
wohl unmöglich.
1) Wenn Philodem verspricht in weiterer Fortsetzung des Streites auch
über die Lehren einiger empirischen Ärzte handeln zu wollen, so ist dies
natürlich kein Beweis dafür, dass Zeno von ihnen als den Schöpfern diese
Theorie entlehnt hat. Sie lieferten ihm augenscheinlich einen weiteren
Beweis für die Richtigkeit seiner vorgetragenen Lehre, und deswegen setzte
er sie hierher. — Philippson hat bei seiner Untersuchung viel zu wenig,
ja eigentlich fast gar nicht die Theorie des Carneades berücksichtigt, sonst
würde er sicher zu anderen Resultaten gekommen sein. Bei den obwalten-
den Umständen kann also nur gefragt werden, ob und wie weit Carneades
von der Theorie der empirischen Ärzte beeinflusst worden ist. Obwohl die
Beantwortung dieser Frage eigentlich nicht hierher gehört, sei hier doch
eine kleine Abschweifung gestattet. Philippson stützt seine Ansicht, dass
Zeno seine Erfahrungstheorie den empirischen Ärzten verdanke, auf die
Übereinstimmung beider in der Lehre. Er entwickelt deshalb die Theorie
der empirischen Ärzte (p. 45 sq.). Die grosse sachliche Übereinstimmung
kann nicht geleugnet werden, doch ist es durchaus fraglich, wie viel von
dieser durchgebildeten Theorie schon den ältesten Empirikern angehört, da
es doch an sich unstatthaft ist, die Darstellung der Theorie der empirischen
Ärzte bei Celsus und Galen einfach schon auf die ältesten Vertreter dieser
Schule, Serapion und Glaucias, zu übertragen. Der nächste bedeutende Ver-
treter derselben, Heraclides aus Tarent, der litterarisch gerade einen sehr
grossen Einfluss hatte durch die zahlreichen Werke, in denen er die Theorie
der empirischen Ärzte niederlegte, ist mindestens ein jüngerer Zeitgenosse
des Carneades (Philippson nennt ihn nach Haas de phil. sceptic. succession.
p. 69, Würzburg 1875 einen Zeitgenossen Zenos; über seine Zeit handelt
auch Zeller Gesch. d. gr. Philos. IIIb 5. 8,13. Falsch ist danach die Be-
stimmung der Lebenszeit bei Haeser Gesch. d. Med. I S. 247°. Vgl. über
ihn auch M. Wellmann in Susemihls griech.-alex. Litt.-Gesch. II S. 419 ff.)
Wenn also, wie natürlich nicht zu leugnen ist, Serapion die hauptsächliehsten
Grundsätze der Empirie in der Medizin aufstellte, als er sich von den dog-
matischen Ärzten lossagte, so ‘ist damit nicht im geringsten erwiesen, dass
er schon die durchgebildete Theorie, wie wir sie späterhin treffen, aufge-
stellt hat, zumal es Thatsache ist, dass zuerst Glaueias die Grundlehren und
nach ihm Heraclides eingehender das System litterarisch dargestellt und
verteidigt hat. Unter diesen Umständen ist es also ungewiss, wie weit die
Darstellung bei Galen u. Celsus schon den ältesten Vertretern angehört,
-- 3551 —
Wir wenden uns jetzt zur Stoa. Als Kriterium der Wahr-
heit bezeichneten die älteren Stoiker bekanntlich die φαντασία
χαταληπτυχή, ἃ. ἢ. diejenige Vorstellung, welche mit dem vor-
gestellten Gegenstande übereinstimmt und den Grad der Klarheit
und Deutlichkeit (ἐνάργεια) besitzt, welche uns unmittelbar davon
- überzeugt, dass unsere Vorstellung wahr ist. Gerade diese Klar-
heit ist es, welche den falschen Vorstellungen, wie z. B. denen
im Traume, im KRausche, in der Verzückung nie zukommt.
Darum wird sie auch als untrügliches Kriterium hingestellt').
- Die jüngeren Stoiker erkannten jedoch an, dass es Fälle geben
könnte, in denen eine Vorstellung sehr wohl die nötige Klarheit
habe, ohne darum auch als wahr zu erscheinen und die Über-
zeugung ihrer Wahrheit zu erwecken. Als Herkules z. B. die
Alcestis aus der Unterwelt zu ihrem Gatten Admetus zurück-
brachte, gewann dieser eine vollständig klare Vorstellung (φαν-
τασία χαταλητετική) von ihr, und doch glaubte er dieser Vorstel-
lung nicht. Ebenso als Menelaus nach der Zerstörung Trojas
nach Ägypten zu Proteus kam und dort die wahre Helena sah,
bekam auch er naturgemäss eine durchaus kataleptische Vorstel-
lung von ihr, und doch traute er dieser Vorstellung nicht, weil
er das der wahren Helena so ähnliche Scheinbild, das er auf
dem Schiffe zurückgelassen hatte, für die wahre Helena hielt.
"Infolge dessen fügten sie zu der angegebenen Bestimmung des
und wie weit Heraelides in der Durchbildung und Darstellung des Systems
unter dem Einflusse des Carneades gestanden hat. Dass seinerseits auch Car-
neades nicht unbeeinflusst von ihnen gewesen sein wird, dass er sie jedenfalls
gekannt hat, beweisen die beiden Stellen, an denen er sie mit Zustimmung
erwähnt (Cie. acad. pr. II 39, 122; Sext. adv. log. 1179; Philippson p. 57); nur
lässt sich daraus nicht schliessen, dass er seine Theorie von ihnen herüber-
genommen hat. Er konnte überdies sehr wohl mit ihnen übereinstimmen,
"ohne dass er sich tiefer mit ihnen berührte, da die letzte Quelle ihrer Em-
den Übersichtsreihen der Empirie bei Philippson p. 55 noch Cie. Aca«
pirie, Aristoteles-Demokrit (Philippson Ρ. 55), dem Carneades eben 50 leicht
zugänglich und gewiss ebenso bekannt war wie die Theorie der Ärzte. Vgl. 1
l. pr.
32,102#. Die (eigene) ἐμπειρία und die (fremde) ἱστορία scheint Carneades
Ὶ
u
Der Grund hierzu lag sehr
hier einfach unter der μνήμη mit zu umfassen. ΜΕΝ ΒΡ,
viun πολλάκις τοῦ αὐτοῦ
nahe; hatte doch schon Aristoteles die ἐμπειρία als 1
πράγματος (Metaph. I 1, 980 b 29 f.) definiert. Über den Ursprung dieser
Theorie vgl. noch Plato Phaed. ce. 45 Ρ. 96B.
1) Sext. adv. log. I 248 ff., wo ausdrücklich die älteren Stoiker berlck-
sichtigt werden.
2 ange
Kriteriums noch die Bedingung hinzu: Wenn kein Hindernis ent-
gegensteht ἢ).
Wer sind nun diese jüngeren Stoiker gewesen? Gegen die
Meinung der übrigen Forscher hat Hirzel?) angenommen, dass
Sextus in diesem Bericht über die Stoa dem Antiochus gefolgt:
sei; Natorp?) hat ihm jedoch schon widersprochen und zwar mit
Recht. Sextus hat vorher den Antiochus benutzt; den Bericht
über die Stoa ihm auch noch zuzuschreiben, ist nach der Natur:
des Berichts einfach nicht möglich. Sextus ist nicht allein be-
strebt, wie Natorp sagt, die Verschiedenheit der Lehren der ein-
zelnen Stoiker hervorzukehren, was bekanntlich gegen die Über-
zeugung und Gepflogenheit des Antiochus ist, sondern uns
begegnet auch gleich eine lange Polemik (8 232 ff.) gegen die
Begriffsbestimmung der Vorstellung, die offenbar skeptischen Ur-
sprungs ist. Mitten in dieser Darstellung ($ 252) werden ferner
die Akademiker geradezu citiert und zugleich der Unterschied
ihrer Auffassung von der Lehre der Stoiker ausgeführt. Wäre
also selbst Antiochus die Quelle, so müsste er zur Darstellung
der stoischen Lehre augenscheinlich eine akademische Quelle be-
nutzt haben, was sicher nicht anzunehmen ist. Nun knüpft, wie
ebenfalls schon Natorp bemerkt hat, die Widerlegung der Stoa
(8 401 ff.) unleugbar an die eben genannte Stelle an, wo der
Unterschied der stoischen und akademischen Lehre ausgeführt
wird (8 252); diese Widerlegung der Stoa ist aber sicher aus
Clitomachus entnommen: Folglich muss auch der Bericht über
die Stoa (8 232 ff.) aus Clitomachus genommen sein. Der Be-
richt über die Lehre der jüngeren Stoiker ist nun aber nicht
etwa eine Zwischenbemerkung des Sextus, sondern ein Haupt-
bestandteil seiner Darstellung ebenso wie sein Bericht über die
Lehre der älteren Stoiker, wie einmal die Länge der Ausführung
(88 254—260) und zweitens ihre Berücksichtigung bei der Wider-
legung (8 424ff.) beweist: Also können die jüngeren Stoiker
nur solche gewesen sein, welche Clitomachus noch berücksich-
tigen konnte, ἃ. h. Antipater, Archedemus und Panätius®). Die
1) Sext. a. a. Οἱ I 253 ft.
2), Unters ΤΠ πος 1:
3) a. a. O. S. 296m.
*) Selbst wenn Antiochus die Quelle wäre, würde sich dieses Resultat
nicht wesentlich verschieben, da auch in diesem Falle kaum noch Schüler
-
- 353 --
volle Richtigkeit dieses Schlusses beweisen auch die beiden vor-
hin angeführten Beispiele, welche diese jüngeren Stoiker zum
Erweise der Richtigkeit ihrer Korrektur vortrugen. Carneades
hatte, wie wir vorhin gesehen haben, gezeigt, dass es keine Vor-
stellung gebe, der sich nicht eine gleich glaubhafte entzegen
stellen liesse, dass also auch die φαντασία καταληπτιχή trotz ihrer
Klarheit doch nicht als wahr zu erscheinen brauche. Ist dies aber
der Fall, so ist es um sie als um das Kriterium der Wahrheit
einfach geschehen, da es ja alsdann stets ungewiss ist, ob eine
solche Vorstellung in Wirklichkeit wahr oder falsch ist. Um dies
zu beweisen und damit zugleich seine eigene Theorie der Wahr-
scheinlichkeit zu begründen, wandte er die vorhin genannten
Beispiele von der Alcestis und der Helena an. Unter Berufung
auf dieselben Beispiele fügten nun die jüngeren Stoiker den vorhin
genannten Zusatz zu der bisherigen Definition des Kriteriums
hinzu!), um die gerügte Ungewissheit, die dem Kriterium als
solchem nicht innewohnen durfte, zu beseitigen, und erklärten
damit nur diejenige klare Vorstellung für das Kriterium, welche
infolge ihrer Klarheit auch den Stempel der Wahrheit an sich
trage und in Wirklichkeit auch keinen Einwand gegen ihre
Wahrheit gestatte. Es ist also klar, dass die jüngeren Stoiker
sich zu der angegebenen Änderung durch Carneades haben be-
stimmen lassen, dass es also Stoiker waren, die zu seinen Zeit-
genossen, und offenbar zu den jüngeren derselben, gehörten,
nicht Stoiker späterer Jahrhunderte, bei denen ein derartiger
Einfluss des Carneades natürlich gänzlich ausgeschlossen ist.
Woher soll nun die Gewissheit kommen, dass sich gegen die
φαντασία καταληπτική kein Einwand erheben lässt? Die Vorstel-
lung kann diese niemals liefern, da ihre Gewissheit ja stets in
Frage steht. Demnach bedarf es allemal einer Untersuchung,
durch welche dargethan wird, dass sich kein Einwand erheben
lässt. Diese Untersuchung stützt sich auf fünf Bedingungen:
Der Verstand und die Sinneswerkzeuge müssen gesund, der Gegen-
stand wahrnehmbar, der Ort passend, nicht zu weil und nicht
des Panätius gemeint sein könnten; und selbst wenn solche gemeint wären,
“ würde ihre Übereinstimmung beweisen, dass sie diese Lehre von Panätius
4
Be
empfangen hätten. j
1) Vgl. Sext. a. a. 0. 1253 ff. mit I 180 und Hyp. I 228.
Schmekel, mittlere Stoa. 23
-- 8594 ---
zu fern, und die Art und Weise der Beobachtung zweckent-
sprechend sein!). Die gedachte Untersuchung kann also nur vom
Verstande (διάνοια, λόγος) mit Hülfe der übrigen Mittel geführt
werden. Diese Berichtigung der älteren Lehre ist keineswegs
gleichgültig oder unbedeutend. Einmal nämlich tritt in dieser R
Fassung der Lehre viel mehr wie zuvor der Verstand in den
Vordergrund als derjenige, welcher hauptsächlich für die Wahr-
heit einer Vorstellung bürgt; und zweitens ist den Gegnern ein
grosses Gebiet für ihre Einwände entzogen. Mit Vorliebe beriefen
sich diese bekanntlich darauf, dass den Vorstellungen im Traume
und im Wahne, ganz gleich welche Ursachen dieser haben
mochte, die gleiche Überzeugungskraft innewohne wie den ver-
nünftigen Vorstellungen, und jene daher gleiches Recht Wahrheit
zu bieten beanspruchen könnten wie diese, Dieser Einwand war
fortan nicht mehr oder nur in geringerem Mafse möglich, da
jene Vorstellungen nicht den Bedingungen genügten, welche für
das Kriterium galten. Der Umstand nun, dass die Gegner diesen
Vorwurf erheben konnten, beweist, dass die älteren Stoiker ihn
noch nicht systematisch vernichtet hatten. Die angegebene Me-
thode der Erkenntnis der Wahrheit gewiss zu werden, kam also
in dieser Form ihnen jedenfalls noch nicht zu; dagegen führt
sie uns mit den deutlichsten Kennzeichen wiederum zu Car-
neades, der die Erfüllung eben dieser Bedingungen verlangte, um
eine Vorstellung für eine φαντασία πιϑανὴ χαὶ ἀπερίσπαστος καὶ
σεριωδευμένη erklären zu können?). Beide gehen darin aus-
1) Sext. adv. log. 1 257: αὕτη γὰρ ἐναργὴς οὖσα zei πληχτικὴ (2). . . ἄλλου
μηδενὸς δεομένη εἷς τὸ τοιαύτη προσπίπτειν ἢ εἰς τὸ τὴν πρὸς τὰς ἄλλας διαφορὰν
ὑποβάλλειν χτλ.; vgl. dazu d. folg. Anm.
5) Sext. adv. log. I 424: ἵνα γὲ μὴν αἰσϑητιχὴ γένηται φαντασία κατὰ αὐ-
τοὺς [οἷον ὁρατόν) dei πέντε συνδραμεῖν, τό τε αἰσϑητήριον χαὶ τὸ αἰσϑητὸν καὶ
τὸν τόπον zei τὸ πῶς zei τὴν διάνοιαν, ὡς ἐὰν τῶν ἄλλων παρόντων ἕν μόνον
ἀπῇ, καϑάπερ διάνοια παρὰ φύσιν ἔχουσα, οὐ σωϑήσεται, φασίν, ἡ ἀντίληψις. ἔνϑεν
καὶ τὴν καταλητιτικὴν φαντασίαν ἔλεγόν τινὲς μὴ κοινῶς κριτήριον, ἀλλ᾽ ὅταν μηδὲν
ἔχῃ χατὰ τὸν τρόπον ἔνστημα. Dieser letzte Zusatz zeigt, dass wir die Lehre der
jüngeren Stoiker vor uns haben; vgl. hiermit Carn. b. Sext. a. a. Ὁ. 1 182f.:
ἐπὶ δὲ τῆς (sc. φαντασίας) κατὰ τὴν περιωδευμένην συνδρομὴν ἑκάστην τῶν ἐν τῇ συν-
dooun ἐπιστατικῶς δοκιμάζομεν ... οἷον ὄντων χατὰ τόν τῆς χρίσεως τόπον τοῦ TE
χρίνοντος χαὶ τοῦ χρινομένου χαὶ τοῦ di οὗ ἡ χρίσις, ἀποστήματός TE χαὶ δια-
στήματος, τόπου, γρόνου, τρόπου, διαϑέσεως, ἐνεργείας, ἕκαστον τῶν τοιούτων ὅπ-
οἷόν ἔστι φιλοχρινοῦμεν. τὸ μὲν χρῖνον, μὴ ἡ ὄψις ἤμβλυταν.. .. τὸ δὲ κρινόμενον,
u
>»
>
-- 8δδ --
einander, dass die Stoiker es für wahnwitzig hielten!), die Wahr-
heit einer solchen Vorstellung zu bezweifeln, was, wie wir ander-
wärts (S. 342f.) gesehen haben, Carneades stets that.
Kehren wir jetzt zu Philodems Abhandlung zurück, so deckt
sich die vorstehend entwickelte stoische Lehre mit dem Stand-
punkte, den Dionysius daselbst einnimmt: Nicht die einfache Ver-
gleichung der Merkmale unter einander, wie die Epikureer
meinen, sondern der Logos allein entscheidet, ob und welches
der wahrgenommenen und verglichenen Merkmale das Wesen
der Sache ausdrückt und daher einen richtigen Schluss gestattet
(vgl. 5. 302). Dies ist auch der Standpunkt, den Posidonius
vertritt (vgl. S. 267f.): Mit Recht also dürfen und müssen wir
schliessen, dass auch Panätius die vorgetragene Auffassung ver-
treten hat.
Eine weitere Frage ist es nun, von welchem Stoiker diese
Änderung der Lehre eingeführt worden ist. Von denjenigen Ver-
tretern, die hier der Zeit nach in Frage kommen können, scheidet
zunächst der etwas abseits stehende Boethus aus. Seine Er-
kenntnistheorie?) berührt sich mit der vorliegenden höchstens im
allgemeinen; besonders ist von dem charakteristischen Zusatze,
den wir bei der letzteren finden, bei der seinigen nichts zu er-
kennen. Von der Erkenntnistheorie des Archedemus wird uns
überhaupt nichts berichtet; auch ist es nicht wahrscheinlich, dass
er von der Lehre der Schule abgewichen ist. Er stand nicht
im Brennpunkte des philosophischen Streites, sondern lehrte im
fernen Osten, in Babylon. Von Antipater dagegen, dem Leiter
der Stoa in Athen und Zeitgenossen des Carneades, erfahren wir,
dass er sich viel mit logischen Fragen beschäftigt und sich dabei
fortwährend gegen Carneades gewandt hat. Überhaupt polemi-
sierte er so viel gegen diesen Feind, dass er, weil er es nicht
wagte öffentlich nıit ihm zu disputieren, von den Gegnern den
Spottnamen Καλαμοβόας erhielt und auch bei seinen eigenen An-
un μιχρὸν ἄγαν καϑέστηκε" τὸ δὲ di’ οὗ ἡ κρίσις, μὴ ὃ ἀὴρ ζοφερὸς ὑπάρχει" τὸ
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Ἂ
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δὲ ἀπόστημα, μὴ μέγα λίαν ὑπόκειται" τὸ δὲ διάστημα, μὴ συγκέχυται" τὸν δὲ
τόπον, μὴ ἀχανής ἐστι τὸν δὲ χρόνον, μὴ ταχύς ἐστι" τὴν δὲ διάϑεσιν, μὴ μα-
γιώδης ϑεωρεῖται" τὴν δὲ ἐνέργειαν, μὴ ἀπροσδεχτός ἐστιν κτλ.
1) Sext. a. a. O. I 257.
2) Diog. VII 54.
RD
Dee
hängern darin nur geteilte Anerkennung fand!). Das wichtigste
Argument, das er der Skepsis entgegenhielt, war offenbar das:
Derjenige, welcher lehre, es gebe keine Gewissheit der Erkennt-
nis, müsse wenigstens diesen Grundsatz als gewiss anerkennen,
eine Forderung, die Carneades alsbald zurückwies. Wer in dieser
Weise mit seinem Gegner stritt, dass er ihn unaufhörlich befeh-
dete und seine Ansicht zu widerlegen suchte und ihm gleichwohl
auswich aus Furcht ihm nicht gewachsen zu sein, der hat sicher
nicht demselben nachgegeben und auf Grund seiner Einwände
die eigene Lehre geändert. Dies ist aber, wie wir gezeigt haben,
bei der obigen Fassung der Erkenntnistheorie entschieden der
Fall: Also ist Antipater jedenfalls nicht ihr Urheber gewesen?).
Es bleibt somit nur Panätius übrig. Dieses stimmt auch zu dem
ganzen Charakter seiner Lehre. Wir haben es bereits gesehen
und werden es noch weitersehen, dass er überall den Einwänden
des Carneades Rechnung trug; auch hängt diese Auffassung der
Erkenntnistheorie mit der Wiederaufnahme der Platonischen Psy-
chologie von Seiten des Panätius eng zusammen. Wir werden
also keinen Grund haben, an dem eben gezogenen Schlusse zu
zweifeln.
Über eine andere Weiterbildung der Erkenntnistheorie durch
Panätius werden wir noch in dem letzten Abschnitte dieses Teiles
zu sprechen haben.
Kap
Ethik und Politik.
Die Ethik baut sich auf der Psychologie auf; die Polemik
gegen diese richtet sich daher auch gegen jene. Doch hat sich
Carneades keineswegs mit dieser Polemik begnügt, sondern die
Ethik auch direkt angegriffen. Zum genaueren Verständnisse seiner
Kritik und ihres Einflusses ist es daher wiederum notwendig, hier
zunächst einen Abriss der Ethik der älteren Stoa zu geben, zumal
') Plutarch de garrul. ec. 23 p. 51l4D. Euseb. praep. evang. XIV 8,11
p. 738; Cie. acad. pr. 1.617.
?) Dies beweist auch Diog. VII 54. Vgl. 5. 398 Anm. 2.
— 851 —
wir gesehen haben, dass die Psychologie gerade in dem wichtigsten
Punkte bisher verkannt worden ist'). |
Gemäss der Vernünftigkeit und Gottverwandtschaft der Seele
gilt als das Ziel oder das höchste Gut das naturgemässe Leben,
die Übereinstimmung des menschlichen Verhaltens mit sich und
mit der Gottheit?). Da nun die Seele ihrer Natur nach Vernunft,
das Gefühls- und Willensvermögen aber mit der Vernunft un-
trennbar verbunden ist (S. 327 ff.), so ist die Tugend die richtige
Bethätigung der Vernunft oder vielmehr die richtige Vernunft
(00905 λόγος) selbst und als solche das Wissen oder die Einsicht ®),
die das entsprechende Handeln in sich schliesst. Ebenso folgt
aus dieser Grundauffassung unmittelbar, dass sie zwar in ver-
schiedene Arten zerfallen kann, insofern die Vernunft verschiedene
Modifikationen annimmt, dass jedoch alle vorhanden sein müssen,
wenn eine vorhanden ist‘). Dieser Natur entsprechend ist sie
das einzige wahre Gut (καλόν) und darum auch allein die Quelle
der Glückseligkeit, da sie niemals das Gegenteil, die Schlechtigkeit,
sein oder wirken kann. Eben deshalb ist sie auch allein das
wahrhaft Nützliche. Folgerecht kann die Schlechtigkeit auch nur
das wahre Übel und das wahrhaft Schädliche sein’). Was
zwischen beiden liegt, ist also weder gut noch schlecht, sondern
ein Mittleres, das in Bezug auf die Tugend und Glückseligkeit
gleichgültig (ἀδιάφορον) ist. Dieses zerfällt noch in zwei Arten,
in die schlechthin gleichgültigen (ἀποπροηγμένα) und in die schätz-
baren Dinge (προηγμένα)). Aus der Natur der Tugend als der
vollendeten Vernunft oder der Übereinstimmung zwischen dem
ἢ An dem Grundfehler, an welchem Zellers Darstellung der stoischen
Psychologie leidet, leidet auch seine Darstellung der stoischen Ethik: Er
unterscheidet nicht genügend die ältere und jüngere Fassung der Lehre und
macht daher den Stoikern einerseits Vorwürfe, die sie nicht treffen, und
bringt andererseits Widersprüche in die Lehre, die thatsächlich nicht vor-
handen waren.
2) Stob. 66]. II p. 75,11 ff.; Diog. VII 87 ff.; vgl. Zeller a. ἃ. Ὁ, ΠΤ a. S. 209 #,
3) Plut. vit. mor. ec. 2; Cie. Tuse. IV 24,53; Stob. ecl. II p. 58, 5fl. u. a.;
vgl. Zeller a. a. O. 5. 235ff. }
4) Plut. stoic. rep. 6. 7; υἱέ. mor. ce. 2; Galen de plae. Hipp. et Plat. VII
585, 10 ff.
5) Diog. VII 94ff.; Stob. a. a. O. p. 57, 22ff. Cie. de fin. III 10,33; Alex.
Aphrod. de fato e. 28. Vgl. Zeller a. a. Ὁ. 5, 212 ff.
8) Diog. VII 105; Stob. a. a. O. p. 28,2 ff.
-- 35598 --
menschlichen und göttlichen Verhalten folgt ferner, dass sie jede
leidenschaftliche Erregung (πάϑος) unbedingt ausschliesst, da diese
eben eine Störung der Vernunft ist. Deshalb gilt es auch als
verkehrt, die Lust, die eine der vier Arten des Pathos ist, für
ein Gut oder das höchste Gut zu halten!). Insofern nun die
Seele an sich rein vernünftig ist, ist diese Vollendung in ihrem
Wesen begründet und daher von Natur das Gute der Gegenstand
ihres Triebes; insofern dies aber in der göttlichen Weltordnung
begründet ist, tritt es ihr als Gesetz entgegen, das das Gute zu
thun und das Schlechte zu meiden befiehlt (5. 329 ἢ). Die Ver-
wirklichung dieses Gesetzes kann der Mensch zwar nicht hindern
oder ändern, aber da die Vernunft in Bezug auf die Zustimmung
zu diesem Geschehen frei ist, kann er demselben ebenso zu-
stimmen, wie die Zustimmung versagen (5. 177 ff.). Bei der
Gottesverwandtschaft der Seele ist die Erfüllung dieses Gesetzes
naturgemäss Pflicht, und das Gegenteil Schlechtigkeit oder Sünde
(ἁμάρτημα) ").
Jede naturgemässe Handlung ist nun als solche pflichtgemäss
oder geziemend (καϑῆκον), und da auch den Pflanzen und Tieren
ein ihrer Natur entsprechendes Handeln zukommt, so bezieht sich
dieser Grundsatz auch auf das Thun der Tiere und Pflanzen,
und nicht bloss der Menschen. Bei der.rein vernünftigen Natur
der menschlichen Seele gilt demzufolge nur die Tugend als Pflicht
im eigentlichen Sinne und daher jede tugendhafte Handlung als
eine vollkommenePflichterfüllung (τέλειον καϑῆκον — κατόρϑωμα)");
jede naturgemässe Handlung dagegen, welche nicht im Gebiete
der Tugend, sondern in dem des Mittleren sich bewegt, als eine
mittlere Pflicht (μέσον καϑῆκον), die deshalb ebenso wie ihr Sub-
1) Diog. a. a. Ὁ. 85; Stob. a. a. O. p. 90. 108, vgl. ebds. p. 88, 14; Cie.
fin. II 21, 69; Plut. stoie. rep. ὃ: 15 u. a.
2) Plut. stoie. rep. e. 11, 1037 C£.; ο. 15, 1041 A f.; Stob. a. a. O. p. 105, 24ff.,
vgl. d. folg. Anm.
3) Stob. ecl. II 85, 12 ff.: ἀχόλουϑος d’ ἐστὶ τῷ περὶ τῶν προηγμένων 6 περὶ
τοῦ χαϑήκοντος τόπος. -. τοῦτο diersivsi χαὶ εἰς τὰ ἄλογα τῶν ζῴων, ἐνεργεῖ γάρ
τι χἀχεῖνα ἀχκολούϑως τῇ ἑαυτῶν φύσει" ἐπὶ δὲ τῶν λογικῶν ζῴων οὕτως ἀποδίδοται"
“τὸ ἀκόλουϑον ἐν Bio‘. Diog. VII 107fl.: ἔτι δὲ χαϑῆχόν φασιν εἶναι, ὃ πραχϑὲν
εὔλογόν τιν᾽ ἴσχει ἀπολογισμόν, οἷον τὸ ἀχόλουϑον ἐν βίῳ, ὅπερ χαὶ ἐπὶ τὰ φυτὰ
χαὶ ζῷα διατείνει" ὁρᾶσϑαν γὰρ χἀπὶ τούτων χαϑήχοντα. χατωνομάσϑαι δὲ οὕτως
ὑπὸ τοῦ πρώτον Ζήνωνος, τὸ καϑῆχον ἀπὸ τοῦ χατά τινας ἥχειν τῆς προσονομασίας
εἰλημμένης. ἐνέργημα δὲ αὐτὸ εἶναν ταῖς χατὰ φύσιν χατασχευαῖς οἰκεῖον. Vgl.
ferner ebds. 8 110: Cic. de fin. III 7,24; de off. 13,8; ΠῚ 3, 14.
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--Ἦ 359 --
strat, das Mittlere, zu dem Gleichgültigen gerechnet wird!): Sie
ist eine Handlung, welche sich für die Natur des Menschen mil
vernünftigen Gründen rechtfertigen lässt?2). Beide Arten der
Pflichten stehen also neben einander und haben daher auch beide
für den Weisen Gültigkeit°).
4) Cie. de fin. III 17,58 ff.
2) Stob. 66]. II 85, 19. δοίζεταν δὲ τὸ χαϑῆχον" τὸ ἀχόλουϑον ἐν ζωῇ,
πραχϑὲν εὔλογον ἀπολογίαν ἔχει; vgl. Diog. VII 107 (8. vor. 5. Anm. 8);
Cie. de off. 13,8 u. ö.
3) Cicero schliesst einen Abschnitt über das med. off. in de fin. III 18, 59
mit den Worten: ita est quoddam eommune offieium sapientis et insipientis;
ex quo effieitur versari in iis, quae media dieamus. — Dieses Verhältnis von
χαϑῆχον und χατόρϑωμα ist von Zeller sowohl wie von Hirzel missverstanden
worden. Ersterer schreibt Philos. d. Gr. IIla. S. 245, 3°: „Wenn nimlich
ein χαϑῆχον im allgemeinen Sinne jede Pflichterfüllung, d. h. vernunft-
gemässe Handlung ist, so ist ein χατόρϑωμα παν die vollkommene Pflicht-
erfüllung oder die tugendhafte Handlung“. Zum Beweise hierfür stützt er
sich auf die vor. S. Anm. 3 angeführten Stellen. Diese Ansicht leidet zunächst
an einem inneren Widerspruche: Wenn jede vernunftgemässe Handlung ein
χαϑῆχον ist, die tugendhafte aber ein zerogdwue, so wird damit ein Unterschied
zwischen der vernunftgemässen und der tugendhaften Handlung statuiert,
was unstoisch ist. Denn worin besteht alsdann die tugendhafte Handlung,
wenn die vernunftgemässe als solche nicht tugendhaft ist? Der Weise handelt
allein und stets vernunftgemäss, der Thor schlechthin vernunftwidrig (s. Stob.
a. a. Ὁ. p. 65, 7ff.; 98, 14ff.; Diog. VII 124f.). Bezeichnete also χαϑῆχον die
vernunftgemässe Handlung, so würde es nur vom Weisen vollbracht werden
können, nieht vom Thoren. Nun wird aber gerade als Unterschied zwischen
dem Weisen und dem Thoren angegeben, dass auch der Thor das χαϑῆχον, dor
Weise aber allein das χατόρϑωμα erfüllen könne: Also kann unmöglich der
Unterschied zwischen dem χαϑῆχον und χατόρϑωμα der sein, den Zeller an-
giebt. Dieser Unterschied steht zweitens auch nicht da: χαϑῆχον, so heisst
es a. a. O., ist jede naturgemässe Handlung und bezieht sich als solche auch
aut das Thun der Tiere und Pflanzen. Es ist also schlechthin nicht gleich
vernunftgemäss, sondern naturgemäss im weitesten Sinne des Wortes. So
wird es daselbst auch direkt definiert: ἐνέργημα ταῖς χατὰ φύσιν κατασχέυαις
oizsiov. Ist dieses also in Bezug auf die Natur vollkommen, so ist es eine
vernunftgemässe und somit tugendhafte Handlung, weil das Wesen des
Menschen als solehes rein vernünftig ist; ist es nicht vollkommen, 80 ist
es ein ἁμάρτημα. Etwas anderes giebt es bei den Stoikern nicht, die Weise
und Thoren, Schlechtigkeit und Vernünftigkeit absolut entgegensetzen.
Da χαϑῆχον also die einfache, der Natur entsprechende Handlung bezeich-
net, so ist μέσον χαϑῆχον, da es mit dem χατόρϑωμα — τέλειον χα '
zu thun hat, eben diejenige Handlung, welche sich auf die mittleren Dinge
bezieht, wie schon sein Name bezeugt. Von hier aus ist es jetzt klar,
warum das μέσον χαϑῆχον, das zu den mittleren Dingen gehört, neben dem
ὃ
ϑῆχον nichts
— 800 --
Die Vollendung der Tugend findet sich beim Weisen; doch
giebt es solche nur so ausserordentlich selten, dass im ganzen
χατόρϑωμα steht und deshalb auch für Weise sowohl wie Unweise Gültigkeit
hat. Ebenso ist es klar, dass der Widerspruch, der in dieser Lehre ent-
halten ist, auf demjenigen beruht, in den die Stoiker, wie wir früher (S. 233)
gezeigt haben, durch ihre Annahme der absoluten Einheit und Vernünftig-
keit der Seele gerieten. — Auch Hirzel hat diese Lehre missverstanden.
Er sucht zunächst zu beweisen (Unters. II S. 345 ff.), dass das χαϑῆκχκον auf
blosser Wahrscheinlichkeit beruhe, das χατόρϑωμα aber auf sicherem Wissen.
Diese Unterscheidung bedarf nach der vorhergehenden Auseinandersetzung
eigentlich nicht der Widerlegung; aber es ist doch zu bemerken, dass sie
einen Widerspruch zur Folge hat: Der Weise handelt nach sicherem Wissen und
nicht nach der Wahrscheinlichkeit (vgl. Diog. VII 121; Stob. ecl. II 112, 1ff.).
Da nun das χαϑῆχον auch von dem Weisen erfüllt wird, so würde der Weise,
wenn Hirzel Recht hätte, auch nach der Wahrscheinlichkeit handeln. Dies ist
aber unmöglich; also dürfen wir Hirzels Auffassung nicht annehmen. Dass sie
auch auf die Lehre des Panätius nicht passt, haben wir früher (S. 214 Anm. 1)
bereits gezeigt. Mit dieser Auffassung aber steht Hirzels weitere Darlegung
in enger Beziehung. Er sucht nämlich ferner a. a. Ὁ. S. 403 ff. zu zeigen,
dass erst Panätius und seine Anhänger das χατόρϑωμα unter das χαϑῆχον
subsummiert hätten, so dass erst von ihnen χατόρϑωμα mit τέλειον χαϑῆχον
und das χαϑῆχον im engeren Sinne mit μέσον χαϑῆχον bezeichnet worden sei.
Er thut dies gegen die direkte Überlieferung (Diog. VII 107 ff. 5. S. 358 Anm. 3)
und um dies zu können, sucht er zu zeigen, dass sie irrig sei; aber seine
Gründe sind nicht stichhaltig. Wenn er zunächst meint, Zeno könne das
χατόρϑωμα deswegen nicht unter das χαϑῆχον gesetzt haben, weil er die Be-
deutung des letzteren aus der Etymologie des Wortes ἱχατά zıvag ἥκχειν᾽ (Diog.
a. a. Ὁ.) hergeleitet habe; denn danach bezeichne χαϑῆχον etwas, das von
aussen an den Menschen herantrete, während χατόρϑωμα als πρόσταγμα νόμου
aus dem Inneren des Menschen komme, so ist dies nur einseitig: Der gött-
liche νόμος oder ὀρϑὸς λόγος befiehlt alles, was geschehen soll und nicht ge-
schehen soll; das χατόρϑωμα tritt insofern als Befehl des Nomos ebenfalls von
aussen an den Menschen heran. Wer sagt aber, dass χατώ tıvas ἥκειν not-
wendig darauf hinweist, dass das χαϑῆχον von aussen herantrete? χατά ce. acc.
hat ebenso oft wie die lokale Bedeutung auch die übertragene „gemäss“,
so dass χαϑῆχον der obigen Etymologie nach auch auf eine Handlung hinweist,
die gemäss jemandem da ist (720 —=bin angekommen, bin da). Und dass
dies der Sinn derselben in Wahrheit sein soll, beweist die unmittelbare
Fortsetzung: ἐνέργημα δὲ αὐτὸ εἶναι ταῖς κατὰ φύσιν κατασχευαῖς οἰκεῖον. Auch
seine weiteren Ausführungen über die bei Diog. und Stob. vorliegenden Be-
richte sind nicht oder nur zum Teil richtig: Zuerst werde das χαϑῆκον
schlechthin genannt, dann die Definition desselben, die aber die des μέσον
χαϑῆκον sei, und darauf seine Einteilung in vollkommene und unvollkommene
und in dei und οὐχ dei χαϑήχοντα. Man habe nun ebenso die Definition des
χαϑῆχον auf beide Arten desselben bezogen, wie die beiden Arten des χαϑῆχον
r
᾿
Ἀ
ν Ϊ ist: ἐνέ ὲ αὐτὸ εἶ; αἷς χατι
mein gehalten ist: ἐνέργημα δὲ αὐτὸ εἶναι ταῖς
ςς
Verlaufe der Geschichte nur einige wenige dagewesen sind').
Die ganze übrige Masse besteht aus Unweisen, und da es begrifl-
lich nur entweder vollkommene Vernunft giebt oder unvollkom-
mene, so giebt es auch nur entweder Tugend oder Untugend
Weise oder Thoren und Schlechte. Unter den letzteren zieht
es zwar solche, welche auf der Bahn zur Tugend fortschreiten
und sich dadurch der Tugend annähern (προκόπτοντες), aber so
lange sie diese noch nicht verwirklichen, gehören sie noch immer
zu den Thoren’).
Dieser Anschauung über das normale Verhalten der Menschen
und das der Wirklichkeit entspricht nun vollständig die Lehre
vom Staate und seinen Institutionen. Die Natur der Seele und
ihr Verhältnis zur Gottheit hat unmittelbar ihre Verwandtschaft
mit derselben und die aller Menschen unter einander zur Folge
und bedingt somit, dass es in Wahrheit nur ein Gesetz, ein Recht
und demgemäss auch nur einen Staat giebt, den Weltstaat der
- hier unter den gemeinsamen Begriff χαϑῆχον gestellt seien. Dies sei ein
Irrtum, da die angeführte Definition nur eine solche des μέσον χαϑῆχον sei.
Die Gewährsmänner (Diog. u. Stob.) hätten also lückenhaft excerpiert: Zu-
nächst sei in der Quelle das χαϑῆχον im engeren Sinne genannt gewesen,
dann die Definition desselben, darauf die Bedeutung des χαϑῆχον im weiteren
Sinne und zuletzt die Einteilung desselben. Es sei also die Angabe ausge
lassen, dass χαϑῆχον auch im weiteren Sinne gebraucht werde, woran sich
die angegebene Einteilung erst schliessen könnte. Dass χαϑῆχον im weiteren
und engeren Sinne gebraucht wurde, wird in diesem Berichte zwar nicht
gesagt, aber thatsächlich durchgeführt. Denn die erste Definition, die hier
gegeben wird, Stob. a. a. O.: ὁρίζεται δὲ τὸ καϑῆκον" “τὸ ἀκόλουθον ἐν ζωῇ, ὃ
πραχϑὲν εὔλογον ἀπολογίαν ἔχει (vgl. Diog. ἃ. ἃ. Ὁ.), ist, wie auch Hirzel sagt,
- die bekannte Definition des μέσον χαϑῆχον, also des χαϑῆχον im engeren Sinne.
Wenn aber Stob. alsdann fortfährt: τοῦτο (sc. τὸ χαϑῆχον) διατείνει χαὶ εἰς τὰ
᾿ ἄλογα τῶν ζῴων χτλ. und Diog.: ὅπερ zei ἐπὶ τὰ φυτὰ zei ζῷα διατείνει... ἐν-
ἔργημα δὲ αὐτὸ εἶναι ταῖς χατὰ φύσιν χατασχευακῖς οἰχεῖο
v, so ist dieses χαϑῆχον
gewiss nicht mehr das μέσον χαϑῆχον, wofür es Hirzel hält, sondern das
χαϑῆχον im weitesten Sinne des Wortes. Denn ich wüsste nicht, welche
weitere Bedeutung es haben könnte, da es hier ja sogar auf das Thun der
- Tiere und Pflanzen ausgedehnt und die Definition demgemäss ganz allge-
Σ φύσιν χατασχευαῖς οἰχεῖον.
Die Berichterstatter schreiben schlecht, aber richtig.
1). Chrysipp lehrte, dass es im ganzen nur eın bis zwei Weise gegeben ;
dass seine Vorgänger deren mehr angenommen haben, zeigt mit Recht
Hirzel a. a. O. II 5. 273.
2) Vgl. Zeller a. a. Ὁ. IIIa S. 270#.
— 802 --
Götter und Menschen. Das Gesetz desselben ist die richtige Ver-
nunft (ὀρϑὸς λόγος), die identisch mit der Gottheit und auch in
dem Weisen voll und ganz vorhanden ist!). Das Leben in diesem
Staate zeigt daher die Verwirklichung der Tugend und ihrer
Forderungen. Alles Gleichgültige zunächst wird auch als solches
behandelt. Deswegen finden sich daselbst nicht die Ehe und das
Familienleben und die Münze, sondern anstelle derselben Güter-
und Weibergemeinschaft. Auch Tempel sind nicht vorhanden
und Gerichtshöfe und Gymnasien, da diese nur verkehrter Auf-
fassung ihr Dasein verdanken?). Ebenso sind auch die Vorurteile
der Sitte geschwunden, die nicht in der Vernunft ihren Grund
haben?). Das Hauptgewicht liegt andererseits in der Pflege des
sittlich Guten, in der willigen Unterordnung unter das göttliche
Gesetz der Vernunft und in der Unterdrückung aller unvernünf-
tigen Triebe. Dieses ist natürlich nur dem Weisen möglich; der
Weise herrscht daher unbedingt in diesem Staate. Wie nun sein
Thun dem der Gottheit entspricht, so hat auch sein Walten das
gleiche Ziel, die Mitmenschen zur Tugend und damit zum Guten
!) Cie. de fin. IV 2, 5ff.; III 19, 64ff. de leg. III 6,14. Diog. VII 32.
Plut. comm. not. ὁ. 34. Alex. M. virt. I 6.
5 Diog. VII 33; 131; Plut. stoic. rep. ce. 6, 1034 Β. Wenn Zeller a.a. O.
IIla S. 293, 2°? nach Diog. a. a. O. 121: χαὶ yaunosır (se. τὸν σοφόν), ὡς
ὁ Ζήνων φησὶν ἐν Πολιτείᾳ zei παιδοποιήσεσϑαι, die Ehe als ein auch für
den Weisen gültiges Institut den Zeno lehren lässt, so steht dies in offenem
Widerspruche mit ebends. 8 191: zoıvas εἶναν τὰς γυναῖχας δεῖν παρὰ τοῖς
σοφοῖς, ὥστε τὸν ἐπιτυχόντα τῇ ἐπιτυχούσῃ χρῆσϑαι, χαϑά φησι Ζήνων ἐν τῇ
πολιτείᾳ. Dasselbe bezeugt Plutarch a. ἃ. Ὁ. Wenn nun Zeno sich einen
solchen offenen Widerspruch in ein und demselben Werke hätte zu Schulden
kommen lassen, wie Zeller ihm beilegt, hätte Plutarch ihm denselben ganz
gewiss vorgehalten; er thut es jedoch nicht. Teusiv hat hier also offenbar
eine weitere Bedeutung. Zeller ist beeinflusst durch Seneca de matrim.
frg. Siff. ed. Haase, der natürlich nicht hierher gehört. Wenn Zeller uns
a. a. OÖ. Anm. 3 noch auf Plut. stoic. rep. 6. 2 verweist, welcher berichtet,
dass. die älteren Stoiker viele Schriften über die Staatsverfassung und der-
gleichen Fragen geschrieben hätten, so beweist auch diese Stelle nicht für,
sondern gegen ihn, wie wir sofort erkennen, wenn wir Cie. de leg. Iil 6, 14
und de fin. IV, 2, 5ff. vergleichen.
5) Unter diesen verstanden sie freilich alle Sitte und natürliche Empfin-
dung, selbst Blutschande und das Verbot Menschenfleisch zu essen; vgl.
Sext. Emp. hyp. III 200ff., 205ff., 246ff. Diog. VII 121; 188; Plut. stoie.
rep. c. 22; Cic. off. I 35, 128. Dies passt vollkommen zu den in der vor.
Anm. berichteten Lehren. Vgl. ferner noch Diog. VII 33.
πὶ 23 —
und zur Glückseligkeit zu führen?), ἃ. h. zu dem Zustande, welcher
"dem Walten der Gottheit in der Welt entspricht. Auf die Er-
kenntnis und willige Befolgung des göttlichen Gesetzes ist daher
sein Streben gerichtet. Da nun das göttliche Gesetz stets und
überall gleich und unwandelbar wirkt und gilt, so kann auch der
- Weise stets und überall nur die Befehle dieses Gesetzes voll-
führen, ohne jede Rücksicht auf den Ruf, in den er dadurch bei
seinen Mitmenschen kommt, da er sonst gegen das göttliche Ge-
setz handeln würde, was ihm unmöglich ist. Er kennt deshalb
auch kein Mitleid, kein Verzeihen, keine Milde, und ohne Nach-
sicht vollzieht er die gesetzlichen Strafen?).. Wenn ihm anderer-
seits doch wieder Milde zugeschrieben wird, so dient auch diese
Nachricht nur dazu, das vorige zu bestätigen: Seine Milde ist
nicht Milde im gewöhnlichen Sinne, sondern Ruhe und Gleichmut,
und zeigt sich darin, dass er sich beim Strafen nicht vom Zorne
hinreissen lässt). Wahre Liebe und Freundschaft kann daher
auch nur unter den Weisen herrschen, weil sie allein stets ein
_ und dasselbe wollen, das Gute, und darum auch stets vollkommen
übereinstimmen. Dieser Vernunftstaat existiert zur Zeit noch
nicht wegen der Thorheit der Menschen, die die einzelnen Staaten
geschaffen hat. In diesen wird der Weise, obwohl er seiner
‚ Natur nach zum Dienste am Staatsleben berufen, ja der einzige
wahre Staatsmann ist, sich doch nur dann an der Verwaltung
- beteiligen, wenn er durch nichts gehindert nach seiner Über-
_ zeugung handeln kann‘).
Fr 1) Diog. VII 121; Stob. 6601. II 94, Sff. flor. 45, 29. Zeno b. Seneca de
Ε οὐϊο 3, 2. |
ἔν 2) Gell. N. A. XIV 4, 4ff.; Stob. flor. 46, 50 (II p. 222M.); eel. IIp. 5 W.;
᾿ Diog. VII 123; Cie. de fin. III 17, 57. Die Strafen, welche der Weise als
recht anerkennt und darum nicht erlässt, können nur von einem Gesetz-
_ geber bestimmt sein, der selbst ein Weiser ist, da offenbar die Gesetze eines
_ T'horen auch nur thöricht und somit für den Weisen nicht bindend sind. —
Der Widerspruch, den Zeller a. a. O. IHla 5. 288 hier findet, ist thatsüch-
lieh nicht vorhanden; er ist ihm nur dadurch gekommen, dass er auch die
4 spätere stoische Lehre mit der obigen ohne weiteres verbindet.
8) Stob. 66]. II p. 115. AR jr
9) Vgl. Anm. 1 und dazu Plut. stoie. rep. c. 20 p. 1043 A.f; ferner
Diog. VII 32f.; 124; Stob. eel. II 108,26. — Hier finden auch Chrysipps An-
‚gaben über den Erwerb des Weisen (Plut. ἃ. ἃ. 0. ς. 90 p. 1047 F.) ihr Ver-
ständnis: Der Weise, der ja allein alles kann, versteht auch allein den rich-
-- 8064 —
Abgesehen also von der Kritik, welche die vorgetragene
Lehre von der Psychologie her trifft, hat Carneades den Scharf-
sinn seines Geistes auch besonders gegen sie gewandt und durch
seine einschneidende Polemik ihre Umgestaltung herbeigeführt.
Der Optimismus der stoischen Philosophie erreicht in dem mo-
ralischen Idealismus der Ethik und speziell in der Schilderung des
Weisen seinen innerlich notwendigen Abschluss; er endigt aber
zugleich in einer schrillen Dissonanz mit der Wirklichkeit, die sie
zuzugestehen zwingt, dass die Verwirklichung des moralischen
Idealismus fast unerreichbar ist. Diese Dissonanz ist es, von der
aus Carneades, wie überhaupt so auch in der Ethik die Vernich-
tung der Gegner unternimmt. Wir betrachten hier zunächst die
Kritik, welche er gegen das höchste Gut als solches richtete.
Von verschiedener Seite aus hatte Carneades, wie wir früher
gesehen haben, die stoische Lehre von der Einheit und der da- |
durch bestimmten absoluten Vernünftigkeit der menschlichen
Seele mit solchem Erfolge bekämpft, dass fortan die Platonisch-
Aristotelische Dreiteilung des seelischen Vermögens an deren
Stelle gesetzt ward. Hierdurch vernichtete er die psychologische
Grundlage der stoischen Ethik und damit die Berechtigung der
stoischen Auffassung des höchsten Gutes. Dass er von hier aus
diese Lehre angegriffen hat, bestätigt klar die Überlieferung.
Denn diese berichtet ausdrücklich, dass er im Anschluss an Cal-
lipho dem Chrysipp vorgeworfen hat, er verkenne das Wesen des
Menschen und stelle deshalb an ihn Anforderungen, als ob er
reiner Geist sei. Carneades verteidigte diesen Vorwurf mit der
höchsten Wärme und Entschiedenheit und wies im Anschluss an
ihn darauf hin, dass, weil der Mensch aus Seele und Leib bestehe,
auch die Güter und unter diesen besonders die ersten Objekte der
sinnlichen Triebe (ταὶ πρῶτα κατὰ φύσιν) nicht gleichgültig, sondern
notwendig zur Glückseligkeit seien!),. Da zu den πρῶτα κατὰ
tigen Erwerb; aber selbstverständlich gelten jene Angaben nur so lange, als
der Idealstaat nicht verwirklicht ist; denn in dem letzteren giebt es ja kein
Privateigentum mehr und auch keine Könige. So unsinnige Widersprüche,
wie Plutarch sie zu erweisen sucht, hat sich Chrysipp gewiss nicht zu Schulden
kommen lassen. Plutarch hat dies auch nur dadurch erreicht, dass er ver-
schiedene Aussprüche Chrysipps ohne jede Rücksicht auf ihren Zusammen-
hang gegenüber stellte.
!) Cie. acad. pr. II 45,139; vgl. de fin. IV 11,28.
-- 3565 —
φύσιν auch die Lust und das Meiden des Schmerzes gehörten
so schloss diese Polemik unmittelbar in sich die Widerlegung der
stoischen Apathie und damit den Nachweis, dass diese beiden
Gefühle nicht gleichgültig, geschweige denn schlecht seien').
Andererseits folgte hieraus auch unmittelbar die Unmöglichkeit
des Weisen. Denn es ist klar, dass, wenn die Anforderungen,
welche das stoische Ziel stellte, die Natur des Menschen schlecht-
hin überschritten, es auch niemals von einem Menschen erfüllt
werden konnte. Diesen Schluss hat Carneades ebenfalls vertreten:
die eigene Lehre der Stoa über die Verwirklichung des Weisen
lieferte ihm eine bequeme Handhabe ihn aufrecht zu halten’),
Diese Lehre also verteidigte Carneades mit solchem Nachdrucke,
dass selbst Antipater sich: gezwungen sah nachzugeben und den
Wert der πρῶτα χατὰ φύσιν in gewisser Weise für die Glück-
seligkeit anzuerkennen?). Ungleich klarer aber treten die Folgen
dieser Polemik bei Panätius und Posidonius hervor. Zunächst
haben wir schon vorher (S. 994) erkannt, dass Posidonius mit
voller Bestimmtheit erklärt gerade durch diese Polemik gegen das
höchste Gut mit veranlasst worden zu sein, offenbar im Anschluss
an seinen Lehrer, die Dreiteilung des seelischen Vermögens gegen
die ältere Lehre aufzunehmen. Durch diese und die obige Po-
lemik bedingt ist dann bei beiden und besonders bei Panätius
auch die modifizierte Auffassung über den Wert der äusseren
Güter (S. 222£., 275£.). Denn mochten sie immerhin an der strengen
"Auffassung der Schule festhalten, dass die Tugend zur Glück-
seligkeit genüge, so ist doch ihre Auffassung über die Stellung
und das Verhältnis derselben zur Tugend und Glückseligkeit
-anders*als vorher. Verwarf ferner Panätius die Apathie und
_ Analgesie als unnatürlich und erklärte er dagegen die Lust teil-
weise für naturgemäss (S. 223f.), so ist in diesen Punkten die
Einwirkung der obigen Polemik des Carneades auf ihn wiederum
augenscheinlich. Ebenso hat dieselbe offenbar auch Posidonius
_ wenigstens indirekt in seiner Auffassung über den Ursprung und
das Wesen der πάϑη beeinflusst. Mit voller Klarheit aber zeigt
sich bei beiden die Wirkung derselben wieder in ihrer Stellung
1) Vgl. Gell. N. A. XII 5,7ff.; vgl. auch Anm. 3.
2) Οἷς. deor. nat. UI 32,79.
“4 δ
3) Plut. comm. not. 6. 27 p. 1012 Ο.: Seneca ep. 92,5.
zu der Lehre von der Wirklichkeit des Weisen: Panätius liess
sie unberücksichtigt (S. 213) und auch Posidonius gab zu, dass
der Weise noch nicht wirklich gewesen sei, verteidigte aber die
prineipielle Möglichkeit desselben in der Zukunft (S. 278ff.). Diesem
Zurückweichen des Idealismus vollkommen entsprechend trat nun
die Wirklichkeit in den Vordergrund des Interesses: An die Stelle
der früheren Ethik, deren Höhepunkt die absolute, unterschieds-
lose Vollkommenheit der Weisen war, kam die Ethik des Panätius,
die durchaus auf die Welt der Wirklichkeit Rücksicht nahm und
ihre Erziehung zum Zwecke hatte.
Wir wenden uns jetzt zur zweiten Seite der Polemik des
Carneades. In demselben Mafse, in welchem die Stoiker die
sinnliche Natur des Menschen ausser Acht gelassen hatten, hatten
sie die geistige emporgehoben und darum das rein Geistige,
schlechthin Vernünftige als das allein sittlich Gute und somit als
das einzige Gesetz und den naturgemässen Grund und Zweck alles
wahren Staatslebens bezeichnet. Die Polemik gegen diesen
Grundbegriff der stoischen Ethik war daher für Carneades nur
die unmittelbare Fortsetzung und das notwendige Gegenstück zu
derjenigen, welche wir vorhin von ihm gehört haben. Er setzte
daher auch wieder dieselbe Macht gegen ihn, an die er sich vorhin
gehalten hatte, die Macht der Wirklichkeit: Es giebt nichts, was
seiner Natur nach gut wäre; denn wenn es etwas derartiges gäbe,
so müssten in gleicher Weise wie das Warme und Kalte, das
Bittre und Süsse, auch das Gute und Schlechte, das Gerechte
und Ungerechte bei allen Menschen in gleicher Weise als solches
gelten. Dieses ist aber nicht der Fall. Was dem einen als gerecht
und gut und heilig erscheint, gilt dem anderen als schlecht und
frevelhaft. Ja nicht einmal innerhalb desselben Volkes herrschen
stets die gleichen Anschauungen; in den verschiedenen Zeiten
ändern sich und wechseln die Begriffe in verschiedener Weise.
Giebt es also in der Wirklichkeit nichts, was seiner Natur nach
gut und gerecht ist, so kann auch das Gute und Gerechte der
Wirklichkeit nicht in der Vernunft oder der Gottheit seinen Grund
haben und mit den Forderungen dieser schlechthin identisch sein.
Von der naturgemässen Gerechtigkeit und dem natürlich Guten
und Gerechten ist somit das Recht der Wirklichkeit verschieden:
Ihr allbeherrschendes Gesetz ist der Nutzen. Nicht die Natur,
sondern die Schwäche veranlasste die Menschen Verträge und
— 566 —
Vereine zu schliessen und die Gesetze aufzustellen, um sich da-
durch Vorteile zu verschaffen. So oft daher der Nutzen des
Staates es verlangt, werden auch die bestehenden Gesetze ver-
ändert!). Ebenso ist auch für den einzelnen der Nutzen die
alleinige Richtschnur seines Handelns, die nur insofern beschränkt
ist, als die bestehenden Gesetze es fordern. Denn diesen sich willig
unterzuordnen ist in Wahrheit Gerechtigkeit?). Dieser Nutzen ist
nun doppelter Art, Vorteil und Ehre. Beide nehmen sich gegen-
seitig auf. Denn je grösser die Macht jemandes ist, desto grösser
ist auch seine Ehre. Naturgemäss streben daher alle in gutem
Rufe zu stehen, da durch ihn das Glück wesentlich bedingt
ist. Denn nicht die Gutmütigkeit, die der naturgemässen Ge-
rechtigkeit entspricht, bedingt das Verhältnis und das Urteil der
Menschen, sondern der Ruf, in dem diese stehen®). Das Gute ist
also der Vorteil und demgemäss ist es auch durchaus recht so
weit wie möglich auf diesen bedacht zu sein*). Ebenso wenig
wie für den einzelnen ist die naturgemässe Gerechtigkeit auch
für den Staat dienlich oder überhaupt nur zu gebrauchen; denn
diese lehrt die bestehenden Gesetze ausser Acht lassen, soweit
sie nicht mit ihr übereinstimmen), und gerade das Umgekehrte
von dem thun, was zu seinem Bestande notwendig ist, näm-
lich alle schonen, für das ganze Menschengeschlecht sorgen,
jedem das Seinige zuteilen, die Heiligtümer, fremdes und öffent-
liches Besitztum nicht berühren und überhaupt alles Eigentum
und alle Herrschaft preisgeben. Würde dieses ausgeführt, so
würde das Bestehen des Staates überhaupt unmöglich sein, und
“die Menschen müssten wieder zu dem Urzustande zurückkehren.
Eine natürliche Gerechtigkeit giebt es also entweder überhaupt
nicht, oder sie ist die höchste Thorheit°).
Diese offenkundige Theorie der Selbstsucht, die im engsten
ἢ Cie. de rep. II 8, 12ff.; 10, 17 ff.; 12,20#.; 15, 24 ff.; 18,28; vgl. de
leg. I 14,40 ff. und dazu 5. 47ff.
2) Cie. de rep. III 15,24m; 17,27; 18,28 ff.; vgl. de leg. 1 .,41. "ὃ
3) Vgl. von den vorher angeführten Stellen besonders de rep. ΠῚ 17,27 ἢ:
15,24 und dazu Cie. de fin. III 17, 57.
* #&) Cie. de rep. II 13,23; de leg. I 14, 40f.
6) Cie. de leg. I 15,42m; vgl. de rep. III 35,50 u. S. 57. Auch liegt
dies indirekt in allen bisher angeführten Stellen ausgesprochen.
= Cie. de rep. ΠΙ 15,24; 12,21; 19,29. u. ὅ.
-
2
— 908 —
Zusammenhange mit seiner vorhin vorgeführten Verteidigung der
πρῶτα κατὰ φύσιν steht und ebenso wie diese das gerade Gegen-
teil des stoischen Idealismus ist, wusste Carneades durch Bei-
spiele und Thatsachen der Wirklichkeit so schlagend zu erhärten,
dass er schon unter den beiden Häuptern der Stoa, die seine
Zeitgenossen waren, Diogenes und Antipater, eine schroffe Spal-
tung hervorbrachte. Denn von diesen beiden bekannte sich
Diogenes in der Ethik offen zu der Auffassung des Carneades,
während Antipater ebenso eifrig wieder die stoische verteidigte
und den krassen Egoismus als schändlich verwarf. Den Beweis
hierfür liefert uns die Thatsache, dass ihre Meinungsverschieden-
heit sich gerade um dieselben charakteristischen Rechtsfälle drehte,
die Carneades der Stoa vorgehalten hatte!). Wesentlich derselbe
Unterschied in der Auffassung der Ethik wie zwischen diesen
beiden Vertretern der Stoa findet sich auch zwischen Panätius
und Posidonius einerseits und Hekaton andererseits. Die ersten
beiden bekennen sich zu der strengen Auffassung, Hekaton mehr
zu der des Diogenes. Vergleichen wir nun die Gründe, welche
Hekaton geltend macht, so finden wir auch bei ihm wieder ein
Beispiel, das Carneades zuvor in ganz gleicher Weise angewandt
hatte?). Der durchschlagende Einfluss des Carneades auf diese
Gestaltung der stoischen Ethik ist also augenscheinlich. Derselbe
Einfluss zeigt sich jedoch auch bei Panätius und Posidonius.
Denn wenn der erstere eine dreiteilige Disposition für seine
Pflichtenlehre aufstellte und in dem dritten Teile über den
Widerstreit des sittlich Guten und des Nützlichen zu handeln
versprach, und Posidonius ausdrücklich die Richtigkeit dieser
Disposition und besonders die Wichtigkeit des dritten Teiles an-
erkannte und die diesbezügliche Lücke auszufüllen unternahm,
die sein Lehrer gelassen hatte, so ist die Aufstellung und Bear-
beitung dieses dritten Teiles wiederum nur aus demselben Einflusse
zu erklären. Die kasuistische Behandlung der Moral, die hiermit in
die Stoa eintrat, ist also in ihrem ganzen Bestande durch Car-
neades veranlasst worden.
Tiefer und eingreifender jedoch ist noch der Einfluss seiner
Kritik und Theorie auf die innere Umgestaltung und Lehr-
1) Vgl. Cie. de off. III 13,54ff.; 23, 91mf. mit Cie. de rep. ΠῚ 19, 29.
5) Vgl. Cie. de off. III 23,90 mit Cie. de rep. 20, 80.
Be.
-- 569 —
entwickelung der stoischen Ethik durch Panätius geworden. Wir
haben schon vorher gesehen, dass Panätius sich durch die Ein-
wände des Carneades gezwungen sah von dem überspannten
Idealismus der stoischen Ethik zurückzutreten und die Menschen
der Wirklichkeit allein zu berücksichtigen. In gleicher Richtung
wie jene Polemik musste natürlich auch diese wirken: und dass sie
das gethan hat, beweist wiederum seine Lehre, Das ideale Recht
der alten Stoa stützt sich auf die Verwandtschaft aller Menschen
unter einander. Gleichwohl kennt nach ihr der Weise in voller
Konsequenz des zu Grunde liegenden Prineips gegen die Thoren,
d. h. gegen die Menschen der Wirklichkeit nur rücksichtslose
Strenge, wie wir vorhin gezeigt haben; von einer Liebe ist da-
selbst nur unter den Weisen die Rede. Infolge der Abkehr des
Panätius von diesem Ideal zu den Menschen der Wirklichkeit
giebt ihm jene allgemeine Verwandtschaft auch für die Menschen
der Wirklichkeit das Gesetz, welches zuvor nur für die Weisen galt:
die allgemeine rücksichtsvolle Liebe. Diese ist also erst durch
Panätius zu ihrer weit ragenden Bedeutung in der Stoa gekommen,
Gegen das ideale, auf die schlechthin vernünftige Natur des
Menschen gegründete Recht setzte Carneades, wie gezeigt, ebenso
schroff die rein reale Theorie des Eigennutzes als die einzig be-
rechtigte Norm alles Handelns. Der Einfluss dieser Polemik tritt
uns in der Lehre des Panätius von der Gerechtigkeit sofort klar
vor Augen: das Wesen der Gerechtigkeit ist die Billigkeit, diese
aber die Beschränkung des idealen Rechts oder der allgemeinen
Liebe durch die berechtigte Eigenliebe. Als Motive des rechten
Handelns stellten ferner die älteren Stoiker allein die Befehle der
Vernunft hin, Carneades dagegen den Vorteil und die Ehre. Pa-
nätius erkennt auch die letzteren voll und ganz an, nicht aber
einschränkungslos, sondern er vereinigt sie mit den strengen Anfor-
derungen der Stoa (s. S. 22f., 44f.). Noch für einen weiteren Punkt,
der mit dem vorigen eng zusammenhängt, können wir diese Ver-
einigung erkennen. Die alten Stoiker hatten der Konsequenz
ihres Prineips gemäss (5. 363) den guten Ruf für vollkommen
gleichgültig erklärt. Gegen sie verteidigte nun Carneades im Zu-
sammenhange seiner Theorie, wie wir gesehen haben, das An-
Ἧ recht desselben auf unsere Wertschätzung mit solchem Nachdrucke,
Y
ᾧ
F
dass die nach ihm lebenden Stoiker sich gezwungen sahen ihn
Schmekel, mittlere Stoa. 24
unter die wünschenswerten Dinge zu setzen!), Zu ihnen gehört
auch Panätius und zwar begründet er sein Urteil durch den
Hinweis darauf, dass, wie die Schönheit des Körpers Beifall er-
wecke, auch die Schönheit des Geistes den guten Ruf unmittelbar
im Gefolge habe (5. 5. 37f.). Die Ethik des Panätius, mit der die
des Posidonius in allem Wesentlichen übereinstimmt, ist also auch
in dem Inhalte durch die Theorie und Kritik des Carneades wesent-
lich beeinflusst?); indem sie aber die Ethik der älteren Stoa in
ihren grundlegenden Ansichten aufrecht erhielt und nur zu einer
Theorie für die Welt der Wirklichkeit umgestaltete, trat sie nicht
notwendig der älteren Lehre entgegen. Sie konnte daher diese
in gewissem Sinne als eine solche zugeben, die auf eine höhere
Stufe der Vollendung ziele®?). Hier setzte in der Folge Posidonius
mit seinem Beweise an, dass das Ideal des wahrhaft Weisen,
über den Panätius mit Stillschweigen hinweggegangen war, in
Zukunft sich wohl verwirklichen könne (S. 278ff).
Bei dem Zusammenhange der Ethik und Politik namentlich
in Bezug auf die Lehre, welche wir vorher besprochen haben,
war es notwendig, dass Panätius auch den kosmopolitischen
Staat der älteren Stoa ebenso mit der Wirklichkeit versöhnte,
wie er dies bei der Ethik gethan, zumal wir vorhin : gesehen
haben, dass Garneades mit der Widerlegung der stoischen Ethik
die des Kosmopolitismus verbunden hatte. Abgesehen von dieser
Polemik hatte er denselben noch von einer anderen Seite ange-
griffen. Indem er nämlich die Wahrheit der stoischen Theologie
bestritt und den Schluss von. der Vernunft des Menschen auf die der
Welt zurückwies, griff er auch das Recht der Schlüsse an, durch
welche diese das Recht des Kosmopolitismus erwiesen. Auch
diese Aufgabe hat Panätius gelöst, und dass er es wiederum im
Anschluss an die Kritik des Carneades gethan hat, wird abgesehen
von diesem ganzen Zusammö&nhange eine Thatsache erweisen,
über die später berichtet werden wird.
In der bisherigen Darlegung haben wir gesehen, dass und
!). Cie. de fin. II :17, 57.
2) Auch die Hochschätzung der ἰσχύς (vgl. S. 999 6) hängt bei Panätius
wohl hiermit zusammen.
3) Daher der Streit über die Ansicht des Panätius bei Cie. de. off, III
2,7#f.; dieser würde schwerlich entbrannt sein, wenn nicht Panätius in ge-
wisser Beziehung beiden Parteien ein Recht gegeben hätte.
wie Carneades die altstoische Ethik aus ihrem Widerspruche mit
der Wirklichkeit vernichtete und die Stoiker zur Änderung ihrer
Lehre zwang. Hiermit begnügte er sich jedoch nicht, sondern
er suchte dieselbe auch durch sich selbst zu vernichten. Er wies
nämlich in offenbarer Fortsetzung der vorher vorgetragenen Ver-
-teidigung der Lehre des Callipho nach, und zwar wiederum mit
dem grössten Eifer und Nachdruck, dass die stoische Lehre vom
höchsten Gute sich thatsächlich mit der der Peripatetiker decke
und nur in den Bezeichnungen von ihr verschieden sei!), Die
"Schwere dieser Ausführungen ist nicht geringer wie die der vor-
hergehenden; denn zeigten jene den Stoikern die Unhaltbarkeit
ihrer Lehre, so wiesen diese darauf hin, wo die Hülfe gesucht
werden müsste. Und wie mächtig sie gewirkt haben, lehrt ein Blick
auf die stoische Ethik dieser Zeit; denn unverkennbar treffen wir
"bei ihr eine vielfache Neigung zu der peripatetischen Philosophie
und zu der Platos, die mit ihr identifiziert wird. In Betreff
Diogenes’, Antipaters und Hekatons ist es überflüssig nach dem,
was wir vorher ausgeführt haben, hier noch besonders darauf hin-
zuweisen; ähnlich aber verhält es sich auch bei Panätius und
"Posidonius. Denn mochten sie auch, und zwar mehr und entschie-
-dener Posidonius als Panätius?), die peripatetische Auffassung der
mittleren Dinge und namentlich der πρῶτα χατὰ φύσιν in Bezug
auf das höchste Gut, sei es stillschweigend, sei es in offener Po-
_lemik, zurückweisen, so war doch auch ihre Schätzung derselben
"ungleich milder als die der früheren Stoiker. Wenn nun Dio-
genes dort, wo er berichtet, dass sie beide zur Verwirklichung
_ der Glückseligkeit auch Gesundheit, Ansehen und Mittel für nötig
erklärt hätten, zur Bezeichnung der Mittel das Wort “yoonyia'
gebraucht, so erinnert uns dieses sofort an Aristoteles, der das-
selbe in demselben Zusammenhange auch anwendet’). Was
“ferner die Metriopathie anlangt, so bedarf es hier ebenfalls keiner
eingehenden Erörterung mehr; nur an das eine sei erinnert, dass
4
ἐ war
he
ἢ Cic. de fin. III 12,41; Tuse. V 41, 120. Sein Beweis zeigte jedenfalls,
dass die stoische Lehre entweder zu der von den Stoikern selbst bekämpften
Auffassung des Ariston hindränge, oder sich mit der Lehre der Peri-
atetiker decke; vgl. Cie. de fin. 1V 16,43 und dazu Plut. comm, not. ©.
2) Seneca ep. 87,31ff. er ᾿
3) Vgl. Diog. VII 128 mit Aristot. pol. I e. 6, 1255 a, 13 δι: VII e. 13,
1331 b,41 und dazu Wachsmuth zu Stob. ecl. II p- 50, 12.
21.
245
Posidonius die ganze Darstellung Platos über die Heilung und
Vermeidung der πάϑη wörtlich in sein Werk über dieselben
aufnahm‘). Der gleiche Einfluss zeigt sich auch in der Tugend-
lehre. Panätius unterscheidet die vollkommene und die mittlere
Tugend, die gewöhnlichen Weisen und die Weisen im eigentlichen
Sinne; dasselbe thut auch Posidonius. Unwillkürlich werden wir
hierbei an Platos Unterscheidung der philosophischen und ge-
wöhnlichen Tugend, der wahrhaft und der gemeinhin so genannten
Weisen erinnert. Dies geschieht noch mehr, wenn wir bedenken,
dass Plato das Verhältnis der gewöhnlichen Tugend zu der phi-
losophischen und das der ersteren entsprechende Gute mit oxıa-
γραφία τις und εἴδωλα ἀρετῆς bezeichnet. Denn in ganz ähnlicher
Weise nennt auch Panätius die mittlere Tugend und das ihr ent-
sprechende Gute ‘simulacra virtutis’ und ‘similitudines honesti’ oder
‘secunda honesta’?). Der Einfluss des Aristoteles dagegen tritt wieder
ganz offen hervor in derEinteilung der mittleren Tugend, wie längst
!) Galen a. a. ©. V p. 445.
2) Hierauf hat Hirzel, Unters. II S. 335 ff., 341ff. treffend hingewiesen;
doch geht er entschieden zu weit, wenn er meint, dass diese Unterscheidung
Platos die des Panätius veranlasst habe: Die Lehre beider ist nicht identisch,
wie H. annimmt. Die gewöhnliche Tugend wird nach Plato durch die Vor-
stellung vermittelt und verhält sich zur wahren Tugend, die auf dem Wissen
beruht, ebenso wie die Vorstellung zum Wissen. Da nun Vorstellung und
Wissen sich wie ihr Inhalt, also wie das mannigfach Erscheinende und das
an sich Seiende verhalten, so giebt auch die Vorstellung nur ein Schatten-
bild der wahren Tugend, wie das Mannigfache der Erscheinung nur ein
Schattenbild des an sich Seienden ist: Sie ist ein Handeln ohne wahre Ein-
sicht in die Gründe desselben und erscheint ebendeshalb auch nicht als ein-
heitlich, sondern als eine Summe von einzelnen Handlungen. Das Gegen-
teil gilt von der wahren Tugend. Diese geht hervor aus dem Wissen und
Willen, jene aus der Gewöhnung und göttlichen Schiekung (rep. VII 554;
Phaedon 69 Aff., symp. 210 Ef. u. a.; vgl. ferner Zeller Phil. d. Gr. IIa
S. 881*). Wesentlich verschieden ist hiervon die Lehre des Panätius: Die
gewöhnliche Tugend (μέσον χαϑῆχον) beruht in gleicher Weise wie die voll-
kommene (τέλενον #.) auf dem in der Vernunft gegründeten Wissen und ist
daher einin sich zusammenhängendes sittlich Gutes (vgl. S. 214 ff). Sie wird
deshalb auch nicht durch die Güte der Begabung allein, sondern durch fort-
gesetztes Lernen erreicht (Cie. off. III 3, 14), was doch nicht dasselbe wie
die Gewöhnung bei Plato ist. Auch der Tugendbegriff Platos in den
„Gesetzen“ deckt sich nicht ganz mit der Lehre des Panätius, weil sich
Plato bei der Feststellung desselben zu sehr von seiner früheren Auffassung
der gewöhnlichen Tugend leiten liess; vgl. Zeller a. a. Ὁ. S. 957 ft.
Br.
-- 981 —
wahrgenommen worden ist!). In der richtigen Selbstbethätigung
der Vernunft bestehen nach Aristoteles die dianoetischen Tn-
genden. Sie zerfallen in zwei Klassen, in die des wissenschaft-
lichen Vermögens und der Überlegung. Jene richtet sich anf die
Wahrheit an sich, die andere bezieht sich auf das Handeln nnd
bestimmt bei den ethischen oder praktischen Tugenden die rich-
tige Mitte. Die ethischen Tugenden aber beruhen auf der Unter-
werfung der niederen Funktionen der Seele unter die Vernunft
und umfassen die ganze Reihe der Charaktertugenden. In gleicher
"Weise teilt Panätius und mit ihm Posidonius?) die Thätigkeit der
Vernunft, deren richtiges Verhalten ja die Tugend ist, in eine
solche, die sich nur auf die Erforschung der Wahrheit, und eine
solche, die sich auf das Handeln bezieht. Die erstere heisst die
theoretische, die letztere die praktische Tugend, die im allge-
meinen dieselben Tugenden umfasst, welche Aristoteles unter die
ethischen oder praktischen rechnet. Das Prineip der Einteilung
ist also wesentlich dasselbe; in der Einteilung jedoch hat bei
ihnen natürlich die stoische Theorie gewirkt, die schlechthin nur
eine in Wirklichkeit unteilbare Tugend der Vernunft kennt und
daher die ethischen Tugenden nicht neben die der Vernunft stellt,
sondern mit dieser vereinigt.
Ihrem Inhalte nach betrachtet fanden wir ferner bei Pa-
nätius sowohl wie bei Posidonius jede Tugend als die Mitte
zwischen dem Zuviel und Zuwenig. Auf diese Bestimmung hatte
zuerst Plato hingewiesen und ihm folgte die ältere Akademie;
“besonders aber hatte Aristoteles dieselbe eingehend behandelt.
"Ihm hat sich daher auch Panätius hauptsächlich angeschlossen’).
Die Sophrosyne definiert Panätius als das richtige Verhalten der
Seelenteile unter einander, also als die willige Unterordnung der
niederen unter die Vernunft. Diese Erklärung stimmt mit der
Platos (rep. 442 D) überein, während Aristoteles dieselbe als
das Wesen der ethischen Tugend überhaupt hinstellt. Daher hat
Panätius dieselben fehlerhaften Extreme für die Sophrosyne wie
ı) Zeller a.a. Ὁ. IIIa S. 565°. Hekatons Einteilung dagegen steht hier-
mit nicht in Beziehung.
᾿ς ἢ vgl. 5. 215#., 2108.
3) Plato, rep. X 619 Α., vgl. ebds. IV 429 Ε.; Crantor bei Cie. acad.
pr. II 44,135; Aristot. eth. Nie. II ce. 5, 1106}, 16.
Aristoteles für die ethische Tugend überhaupt'!). Ebenso nennt ‘4
Panätius als Extreme der Wohlthätigkeit dieselben ‚wie Aristo- 4
teles?). Das Gleiche gilt bei der Tapferkeit?), nicht jedoch bei der
Gerechtigkeit. Sachlich stimmten gewiss beide in der Auffassung
dieser Tugend überein, denn auch Aristoteles hatte bei seinem
Grundsatze der Billigkeit nichts anderes im Auge, als das natür-
liche Recht gegenüber einer eigennützigen Auffassung des ge-
schriebenen Rechts zu betonen; aber der Begriff der Billigkeit
ist bei beiden verschieden. Bei Panätius stützt er sich auf die Gleich-
heit und die gegenseitige Verwandtschaft aller Menschen; diesen
Grundsatz .aber vertritt bekanntlich weder Plato noch Aristoteles ἢ).
Es ist daher ganz natürlich, dass ihre Begründung und Erklärung
der Billigkeit anders lautete als die des Panätius. Da indessen die #
Gegenüberstellung der beiden Prineipien, welche die Stoa und
Carneades vertraten, nicht neu war, sondern aus der Zeit der
Sophistik stammte, so hatten sich auch schon Plato und Aristo-
teles gegen sie gewandt. Wie wir deshalb die hauptsächlichsten °
Gründe des Carneades schon bei Plato finden’), so dürfen wir
auch in ihrer Widerlegung bei Panätius und Posidonius Gründe ver-
muten, die bereits Plato und später Aristoteles gegen sie geltend ;
gemacht hatten, wenn wir auch bei. dem Charakter der Über-
lieferung Genaueres nicht angeben können).
Das gleiche Verhalten nehmen wir ferner bei Panätius’) in
der Staatslehre wahr. Von Aristoteles stammt sowohl sein Be-
griff des Staates und der Verfassung als auch die Einteilung der
Verfassungen; letztere aber hatte auch schon Plato in ganz gleicher °
1).Vgl. S. 219 u. dazu Aristot. a. a. O. Il ce. 6, 1107a,1#.
2) Vgl. S. 221 mit Aristot. a.a. Ὁ. 11 6. 7, 1107b, 8 1 IV e.1, 121195, 203
3) Vgl. S. 221 mit Aristot..a. a. O. II c. 7, 1107b,2#.; TITe. 10, 11158
28 f.
3). Aristot. a. a. O. VIII e. 13, 1161}, 5 ff. kommt hierbei nicht in Betracht.
5) Besonders rep. 1343 C, E; 348 C£.; II 360 Eff. = Carn. b. Cie. rep. HI
12,20: 3
6) Vgl. z. B. Cie. off. II 11, 40 mit Plat. rep. I ce. 23, p- 901 Ο; Cie
a. a. 0. I 7,20 (vgl. S.31 Anm. 2) mit Plat. a. a. 0.1334B. Gorg. 469 Bff.;
Cie, a. a. Ὁ. I 10, 31 mit Plato rep. I 331C.
ἢ Posidonius hat, soviel wir wissen, eine eigene Politik nicht geschrie-
ben; die vorhandenen Andeutungen (b. Seneca ep. 90, 4ff.) lassen jedoch
darauf schliessen, dass er mit Panätius übereinstimmte. Von ihm dürfte
Jaher dasselbe gelten wie von seinem Lehrer.
Er
-- 305 —
"Weise gegeben. Auch die Wertbestimmung der einzelnen Ver-
-fassungen deckt sich mit der des Aristoteles. Ausserdem finden
N sich noch einige ‚Stellen bei Cicero, die uns eine deutliche
= Benutzung der Aristotelischen Politik durch Panätius erkennen
lassen. Dahin gehört ausser denjenigen, welche Zeller!) bereits
aufgezählt hat, auch das Urteil über das Verhältnis der zuten
Verfassungen zu den entsprechenden schlechten, das für die
Entwickelung- der einzelnen Verfassungen selbst malsgebend bei
Panätius geworden ist:
Arist. Pol. III e. 1. 1275a, 38 ft.
τὰς δὲ πολιτείας δρῶμεν εἴδει
διαφερούσας ἀλλήλων, καὶ τὰς
μὲν ὑστέρας, τὰς δὲ προτέρας
οὔσας" τὰς γὰρ ἡμαρτημιίένας καὶ
παρεχβεβηκυίας ἀναγκαῖον ὑστέ-
ρας εἶναι τῶν ἀναμαρτήτων.
Cic. rep. I 28,44 (= 45,69)
hoc loquor de tribus his gene-
ribus. rerum publicarum non
turbatis atque permixtis, sed
suum statum tenentibus. . . nul-
lum est enim genus illarum re-
rum publicarum, quod non ha-
beat iter ad finitimum quoddam
malum praeceps ac lubricum.
Noch eine weitere Stelle liegt vor, an der wir sogar eine
wörtliche Anlehnung an Aristoteles finden. Nachdem nämlich die
Mitunterredner bei Cicero dem Scipio den Vortrag über den besten
Staat übertragen haben (s. S. 67), beginnt dieser denselben mit den
Worten: Er werde vor kundigen Männern bei einer so bekannten
Sache nicht mit dem ehelichen Verkehr und der Familie als dem
Ursprunge des Staates beginnen, da er nicht Lehrer sein wolle,
_ der jegliches zu wiederholten Malen genau definieren und aus-
_ einandersetzen müsse. Diese Anspielung auf den Anfang der
Aristotelischen Politik ist vollkommen klar?). Was nun Cicero
hier zurückweist, das holt er in seiner Pflichtenlehre bei der
1) Die Benutzung der Aristotelischen Politik in Cieeros gleichnamigem
Werke zeigt er Philos. ἃ. Gr. ΠΡ S. 151, 6°. Er zählt als solche auf: ( m
Ἷ “46 leg. ΠῚ 6: rep. 1 25 = Arist. Pol. III 9, 1280, 6, 29; ὁ. Ö, 1275}, 19; 12,
= 1955, 2. Cie. rep. I 26 = Arist. a. a. O. III, 1274b, 36; c. 6, 1278b, 8;
ἐ 7 12793, 25f. Cie. ἃ. ἃ. Ο. 1 21 = Arist. ἃ. ἃ. Ὁ. 119, 12808, 11: ο. 10,
= 11, 1281a, 28#., b, 28, c. 16, 12872, Sf. Cie. ἃ. ἃ. Ὁ. 1 29 --- Arist, ἃ. ἃ.
‚IV 8, 11. Nach den vorliegenden Untersuchungen sind diese Stellen durch
"Panätius in Ciceros Werk gekommen. ei ἃ
2) Cie. a. ἃ. 0. I 34, 38. Arist. ἃ. ἃ. O. 11, 1252a, 26 ff.
Darstellung der Wohlthätigkeit nach und zwar in offenem An-
schluss an Panätius (s. S. 31f).
Hier erkennen wir nun wieder
sogleich den Einfluss des Aristoteles, wenn wir die folgenden
Stellen vergleichen:
Arist. Pol, Ic. 2, 125fa, 26 ff.
ἀνάγκη δὴ πρῶτον συνδυάζεσϑαι
τοὺς ἄνευ ἀλλήλων μὴ δυναμέ-
vovs εἶναι, οἷον ϑῆλυ μὲν καὶ
ἄρρεν τῆς γενέσεως ἕνεκεν...
[1252b 13ff:] ἡ μὲν οὖν εἰς πᾶ-
σαν ἡμέραν συνεστηκυῖα κοινωνία
Cie. de off. I 17,54.
nam cum sit hoc natura com-
mune animantium, ut habeant
lubidinem procreandi, prima so-
cietas in ipso coniugio est, pro-
xima in liberis, deinde una domus.
communia omnia.... sequuntur-
κατὰ φύσιν οἶκός ἔστιν. .. ἡ
δ᾽ ἐκ πλειόνων οἰκιῶν κοινωνία
πρώτη χρήρεως ἕνεκεν μὴ ἐφημέ-
ρου κώμη. μάλιστα δ᾽ ἔοικε κατὰ
φύσιν ἡ κώμη ἀποικία οἰκίας
εἶναι... ἡ δ᾽ ἐκ πλειόνων κωμῶν
κοινωνία τέλειος πόλις ἤδη.
fratrum coniunctiones, post con-
sobrinorum sobrinorumque, qui
cum una domo iam capi non
possint, in alias domos tam-
quam in colonias exeunt ... quae-
propagatio et suboles origo est
rerum publicarum.
In derselben Sache haben wir denselben Vergleich bei beiden.
Denn wie Aristoteles vorher definiert hat, ist κώμη gleich ἡ &x
σελειόνων οἰχιῶν χοινωνία und diese ist ἀποικία οἰκίας. Das Gleiche
sagt auch Cicero, nur ohne das Wort „Dorf“ zu gebrauchen
Diese Benutzung ist um so klarer, als wir auch die bei Aristoteles.
nachfolgende Stelle, der Mensch sei von Natur ein ζῶον πολιτι--
χόν in Ciceros Staatslehre wiederfinden, wie bereits Zeller ge-
sehen hat. Auch die weitere Lehre des Aristoteles, dass der
Mensch als ζῶον πολιτικόν sich infolge seiner Natur zum staat-
lichen Leben mit seines Gleichen zusammenschliesse, der Nutzen
und das Bedürfnis aber erst in zweiter Linie dabei in Betracht
kämen, findet sich in Ciceros Staatslehre verwendet, wie ebenfalls:
schon Zeller gesehen hat; doch nicht allein hier, sondern auch
im zweiten Buche seiner Pflichtenlehre!). Es kann daher keinem
Zweifel unterliegen, dass Panätius auch die oben angeführten
Worte aus Aristoteles herübergenommen hat.
Auch in Panätius’ Theorie der Staatsverfassungen treffen wir
Aristoteles, zugleich mit ihm aber auch Plato. Da Plato nämlich
ΟΣ en ERS rt
— 811] --
5616 beste Verfassung als die ursprüngliche hinstellt und daran
die übrigen in absteigender Reihe herleitet, so kommt seine Ent-
wickelung, wie schon Aristoteles mit Recht bemerkt'), auf einen
Kreislauf der Verfassungen hinaus. Diese von Aristoteles wider-
legte Idee hat Panätius aufgenonnmen. Indem er nun der Plato
und Aristoteles gemeinsamen Einteilung der Verfassungen zu-
stimmte und gleichzeitig der Ansicht des Aristoteles huldigte,
dass die gute Verfassung allemal der schlechten vorausgehe,
entstand seine naturgemässe Abwandlung der Einzelverfassungen μὲ
An einem Umstande lässt sich hier der Einfluss des Aristoteles
noch besonders erkennen: Am Anfange der staatlichen Entwicke-
lung steht bei Panätius das Königtum. Dieses wiederholt sieh
nicht, vielmehr fängt die Tyrannis die zu Ende entwickelte Reihe
- von neuem an. Dieses ist auch die Anschauung des Aristoteles;
denn er lehrt, dass die eigentliche Königsherrschaft nur im Beginne
der Entwickelung, aber nicht mehr im weiteren Verlaufe der Ge-
schichte entstehe?). In der Aufstellung der idealen Verfassung
jedoch tritt der direkte Einfluss des Aristoteles und Plato in den
Hintergrund. Denn während diese in der geistigen Aristokratie
die beste Verfassung erblicken, gilt ihm für dieselbe diejenige,
welche aus den drei guten (S. 227) gemischt ist, wie wir ge-
sehen haben. Diese scheint als solche aber schon von Ari-
stoteles’ Schüler Diecaearch im Anschluss an die spartanische
Verfassung aufgestellt zu sein und grossen Anklang gefunden zu
_ haben). In damaliger Zeit aber fand sie noch eine ganz andere
1) Polit. V 12, 1316a, 29.
2) Er brauchte gleichwohl mit Aristoteles nicht in Widerspruch zu go
raten; vgl. S. 226 Anm. 1.
®) Polit. III 15, 1286b, 8ff.; I 2, 1252}, 19f.
Ὁ Das Lob der gemischten Verfassung „ist noch älter als Plato, vol.
dessen leg. XII 962 E“ (Susemihl); es findet sich bei Aristot. Pol. II 6, 1268},
596", doch ist diese Stelle wahrscheinlich unecht, vgl. M. Schmidt Jahns Jhrb.
_ CXXV 1882 S. 823ff. Über den Tripoliticos des Dieaearch vgl. Osann,
“ Beiträge z. gr. u. röm. Lit. II S. 586. Nach Diog. VII 131 scheint sich die
ΑΥ gemischte Verfassung auch bei den Stoikern einer besonderen Anerkennung
erfreut zu haben; er berichtet nämlich a. a. O., dass sie ihnen als die beste
4 gegolten habe. Diese Nachricht ist entweder unrichtig oder ungenau ; denn als
beste galt ihnen der vorhin näher geschilderte Weltstaat. Die Nachricht
kann also nur entweder bedeuten, dass den älteren Stoikern die gemischte
Verfassung als die beste der Wirklichkeit gegolten habe, weil sie sich am
-- 98 --
und eindringlichere Bestätigung: Was die griechischen Philo-
sophen in ihrer Spekulation sich ausmalten und Alexander der
Grosse zum Teil zu verwirklichen im Begriff gewesen war, das-
trat den Griechen im Römerreiche, mit dem sie in dieser Zeit
zuerst in innigere Beziehung kamen, fast leibhaftig vor die Augen.
In ungeahnter Weise bot sich ihnen hier der Anblick eines:
mächtigen Reiches dar, das von keinen grösseren Anfängen als die
griechischen Staaten ausgegangen fast mit mathematischer Stätig-
keit gewachsen und bereits zum Weltstaate geworden war. Je
grösser nun der Gegensatz zwischen der Macht dieses Reiches und
ihrer eigenen politischen Ohnmacht war, um so eindringlicher
musste diese neue Welt auf empfängliche Gemüter wirken und
unwillkürlich das Denken zu einer Erklärung dieser Thatsache
herausfordern. Bei diesem Vergleiche trat nun zu offen die Zer-
rissenheit im griechischen Staatsleben und die stets gleiche Cen-
tralisation im römischen Reiche hervor. Kein Wunder also, wenn
der Grund für die Grösse Roms in der Verfassung erkannt wurde.
Dass aber solche Erwägungen in dem vornehmen Kreise des
jüngeren Seipio gepflogen wurden, und dass Panätius und Scipio
gerade diejenigen waren, welche diese Frage nach dem Werte
der Verfassung und dem besten Staate eingehend erörterten, wird
von Cicero ausdrücklich berichtet (vgl. S. 71). Die jüngere po-
litische Theorie und der Kreis des Scipio sind es also offenbar
gewesen, die dem Panätius hier die Ergänzung zu der Kritik des
Carneades an die Hand gegeben haben. Doch ganz hat auch der
Einfluss Platos nicht aufgehört; denn in der Darstellung des lei-
tenden Staatsmannes in diesem Idealstaate finden wir Grundsätze,
die Panätius mit Bewusstsein von ihm entlehnt hat (vgl. S. 34).
Dieselben Einflüsse, die wir bis jetzt als wirkend erkannt
haben, treten uns schliesslich noch einmal mit voller Klarheit
entgegen. Die Unvereinbarkeit der Sklaverei, die auch die Stoiker
nicht schlechthin aufgehoben hatten!), mit der stoischen Rechts-
auffassung richtete Carneades gegen sie als Beweis für den
Widerspruch ihrer Theorie mit sich selbst und mit dem Rechte
der Wirklichkeit. Dieser Widerspruch war zu offen und darum
meisten dem Idealstaate nähere, oder sich nur auf Panätius und seine An-
hänger beziehen, was viel wahrscheinlicher ist.
') Ein bekanntes Paradoxon lehrt, der Weise allein sei wahrhaft frei,
auch wenn er ein Sklave sei. j
&
ἦν
Φ
Ἁ
‚auch die Berichtigung desselben notwendig. Diese liegt uns bei
Panätius und Posidonius klar vor. Sie heben zwar die Sklaverei
selbst nicht auf, aber sie beschränken sie wesentlich. Diese Be-
schränkung nun auf Ruchlose und Unselbständige sowohl wie
namentlich der zugefügte Grund, dass es solchen Menschen besser
sei, unfrei als frei zu sein, ist von ihnen der Aristotelischen Po-
litik entlehnt!). Hekaton dagegen, der ja einer anderen Auffas-
sungsweise huldigte, blieb bei der gewöhnlichen Anschauung
stehen, die in dem Sklaven nicht den Menschen, sondern nur
‚das Besitztum sah (vgl. S. 295).
- - Wir haben den Streit der philosophischen Meinungen und
ihren Einfluss auf die Gestaltung der Lehre der Vertreter der
mittleren Stoa und namentlich des Panätius und Posidonius soweit
wie möglich im Vorstehenden darzuthun gesucht. Positiv beein-
flusst sind sie namentlich von Plato und Aristoteles und mehr,
als wir jetzt direkt nachzuweisen imstande sind, werden treflende
Stellen aus beiden bei ihnen angeführt gewesen sein. Neben
diesen grossen Philosophen aber haben auch die übrigen mehr
oder weniger Zustimmung und deswegen auch häufig Erwäh-
nung bei ihnen gefunden, worüber wir noch im folgenden Ka-
pitel zu sprechen haben.
Kap. 5.
Geschichte der Philosophie.
Die bisherige Untersuchung hat dargethan, dass die Philo-
sophie der mittleren Stoa in ihrem ganzen Bestande durch die
Kritik des Carneades einerseits und andererseits durch das von
ihr veranlasste Zurückgehen auf die älteren Systeme bedingt ist.
Mit diesem Ergebnisse stimmen die Nachrichten vollkommen, welche
uns aus dem Altertum erhalten sind. Was zunächst Panätius
betrifft, so berichtet Philodem’®) ausdrücklich, dass er ein grosser
1) Vgl. Cie. de rep. III 24,36 — 25,37 und Athen. VI p. 263C mit Aristot,
Pol. I 5, 1254 a, 34—6, 1255 b, 3. BR ee
2) Index Hereul. col. 61... #lei χ[ατ᾽ ἄ)λλαϊς ödo es) Hr γὰρ ἰσχυρῶς
φιλοπλάτων χαὶ φιλοαριστοτέλης, alle] (χ)αὶ παρί[ενέδηωκε τ(ὦ)ν Ζηνωνιείω,» τι
dıle τὴ]ν ᾿Αχαδημίαν zei [τὸν Ππερἠ(π)γατον zr).
--, 380 --
Verehrer des Aristoteles und Plato gewesen sei, und dass er von
der bisherigen Lehre der Schule manches wegen Carneades und
der peripatetischen Philosophie aufgegeben habe. Hierin liegt
für uns deutlich der Hinweis darauf, dass er durch Carneades.
bewogen wurde, eine Schwenkung von der Lehre der eigenen
Schule zu der des Aristoteles und Plato zu machen. Ergänzt.
wird diese Nachricht durch Cicero!), welcher mitteilt, Panätius-
habe ausser Plato und Aristoteles auch Xenocrates, Theophrast.
und Dicaearch fortwährend im Munde geführt. Doch auch
diese Angabe ist noch nicht vollständig; denn aus anderweitigen
Berichten können wir die Zahl der von ihm verehrten Philo-
sophen noch vermehren. Zu diesen gehörte zunächst Crantor,
dessen Schrift περὶ πένϑους seine begeisterte Anerkennung fand’).
Auch von Demetrius von Phaleron scheint er mehrfache An--
regung erhalten zu haben und ebenso von Heraclides Ponticus?).
Dass er jedoch nicht bloss bei den späteren Philosophen stehen
blieb, sondern auch auf die vorsokratischen Weisen zurück--
ging, zeigt sich darin ganz klar, dass er, abweichend von
der in seiner Schule allgemein herrschenden Anschauung‘
über die Natur der Kometen, mit Zeno zu der des Demokrit
und Anaxagoras zurückkehrte. Mit sichtlicher Bewunderung‘
und Zustimmung führte er von dem letzteren auch den Aus-
spruch an, mit dem dieser die Todesbotschaft seines Sohnes:
empfing): ἤδειν ὅτι ϑνητὸν ἐγέννησα. Was nun seine Philosophie-
als solche beweist, das lässt uns auch dieses Verhalten gegen die:
verschiedensten Philosophen erschliessen: Nach seiner Meinung
mussten die genannten Systeme in den hauptsächlichsten Punkten.
sich nicht gegenseitig ausschliessen, sondern eins sein.
Die gleiche Stellung und das gleiche Verhalten zu den Syste--
men der früheren Philosophen finden wir und zwar noch in
gesteigertem Malse bei Posidonius. Dieser ging hierin zuweilen:
soweit, dass seine eigene Beweisführung fast nur eine Zusammen--
1) De iin. ΤῊ 28: τὸ:
2) Cic. acad. pr. II 44, 135.
°) Vgl. S. 231ff. und ferner Diog. IX 20; Cie. de leg. III 6, 14; de div..
II 46,96 siehe ebds. 47,97; viel zu gross aber schätzt v. Scala, Stud. des.
Polyb. I S. 184ff. den Einfluss des Demetrius; für seine Annahme hat er
keinen haltbaren Grund; vgl. S. 321 Anm. 2.
*) Plutarch. de coh. ira e. 16, 463 D.; de trang. an. c. 16, 414 Ὁ.
— 331 —
stellung der diesbezüglichen Beweise früherer Philosophen war,
wie die übereinstimmende Darstellung der Theologie bei Sextus
und Cicero aufs unwiderleglichste darthut. Er teilt daselbst
(vgl. S. 103) die Philosophen einfach in solche, welche das Dasein
der Götter anerkennen, und in solche, welche es direkt oder indirekt
leugnen, und bringt alle Beweise der ersteren und die Widerlegung
der letzteren. Das gleiche Verfahren hat er offenbar auch bei
der Behandlung der Lehre von der Unsterblichkeit eingeschlagen
(vgl. S..145). Dieses Verfahren wäre gar nicht möglich gewesen,
wenn es nicht von dem Gedanken getragen gewesen wäre, dass
die so zu sagen positiven Philosophen im Grunde übereinstimmten.
Er ging darin aber noch weiter und suchte überhaupt die Ver-
schiedenheit unter den Vertretern der letzteren Klasse möglichst
hinwegzudeuten. Dass dieses nur möglich war auf Kosten einer
Erklärungsweise, die Stoisches in die anderen Systeme und deren
Anschauungen in die Stoa hineintrug, liegt auf der Hand und
zeigt sich namentlich in seiner Auffassung der Platonischen und
Aristotelischen Philosophie. Für die Ideenlehre Platos werden
wir dies später nachweisen. In der Psychologie wollte er ebenfalls
mit ihm übereinstimmen und nahm augenscheinlich Lehren von ihm
in sein System herüber, ohne zu berücksichtigen, dass Plato die
Seele für immateriell, er als Stoiker für materiell hielt'). Wie er
daneben auch die Ansicht des Aristoteles benutzte und interpre-
tierte, haben wir in demVorhergehenden zu sehen Gelegenheit genug
gehabt?). Auch den Grundsatz der stoischen Ethik, das ὁμολογουμέ-
vos ζῆν, schrieb er offen dem Plato zu?). Dieser stoischen Auf-
- fassung des Platonismus entspricht seine Platonische des Stoizis-
mus. Die wahre stoische Philosophie, die er natürlich zu ver-
treten glaubte, fand er nicht bei Chrysipp, sondern bei dessen
Vorgängern und namentlich bei Cleanthes. Bei diesem traf er
zunächst die unbedingte Anerkennung der persönlichen Unsterb-
lichkeit, die Chrysipp zum Teil aufgehoben hatte. Ebenso traf
er bei ihm, oder konnte sie wenigstens treffen, die Unterschei-
dung eines doppelten Vermögens der menschlichen Seele, des
') Nach den bisherigen Ausführungen ist es überflüssig, dies noch ein-
mal zu beweisen; vgl. bes. seine Lehre von der Präexistenz der Seele und
dem Aufenthalte derselben nach dem Tode im Jenseits 5. 248 ἢ.
2) Vgl. 5. 336; 257 ff. und besonders S. 258 A. 3.
5) Galen a. a. Ο. V 449,9 ff.
-- 882 —
λογισμός und ϑυμός, und damit den Widerstreit beider in der
menschlichen Natur‘). Auch die Annahme der Präexistenz der
. Seele konnte er ihm zuschreiben?). Dieselbe Lehre legte er zum
Teil wenigstens auch Zeno bei, trotzdem dessen Lehre offen
widersprach, wie bereits Galen bemerkt’). Dass er auch die
übrigen Vertreter der Platonischen und peripatetischen Philosophie-
und auch die vorsokratischen Philosophen zu Rate zog, ist eben-
falls eine unbestreitbare und bereits in dem Vorhergehenden zum
Teil mitbegründete Thatsache®). Von besonderer Wichtigkeit ist
hier seine Stellung zu Pythagoras. Er glaubt, dass dieser seine
Theorie zwar niedergeschrieben, dass sich aber keines seiner
Werke erhalten habe. Deshalb erschliesst er die Lehre desselben
aus den Schriften einiger seiner Schüler. Von diesen ist ihm
offenbar Plato der wichtigste gewesen. Dieser reiste, so führt er
aus, nach Italien zu den Pythagoreern, um von ihnen die Lehre
ihres Meisters kennen zu lernen. Er stimmte mit ihm in allen
Anschauungen überein und fügte für dieselben nur die Begrün-
dung hinzu, um die sich jener nicht bekümmert hatte. Ist nun
die Lehre Platos einerseits nur eine genauere Ausführung der
Pythagoreischen und andererseits die stoische ihrem Wesen nach
der Platonischen gleich, so muss sich natürlich auch die stoische
Philosophie vielfach mit der des Pythagoras decken. Von hier-
aus begreift man die Vorliebe und das Bestreben des Posidonius
mit Pythagoras übereinstimmen zu wollen’). |
Wie ist nun diese Auffassungsweise entstanden? Bereits Plato
und noch in viel höherem Grade Aristoteles betrachteten die
Lehren ihrer Vorgänger überwiegend vom sachlichen Standpunkte
aus und legten deswegen auch an sie gewöhnlich den Mafsstab
ihrer eigenen Grundbegriffe, um sie zu widerlegen. Diese Me-
thode wurde allgemein. Polemisch war auch die Schrift Epikurs
!) Diog. VII 157; Galen a. a. O. V p. 456, 2ff.
?) Vgl. Hirzel, Unters. IIa S. 147 ff., dessen Auffassung der Philosophie
des Cleanthes durch die des Posidonius stark beeinflusst ist.
?) aa. OVp. 456,3; 458; 2%
*) Er verhält sich nur gegen die Atheisten (vgl. S. 98ff.) ablehnend;
sonst treffen wir bei ihm fast alle Philosophen und Forscher; vgl. bes.
S. 21ff.; 133 ff.; 140ff.; 288 Β΄. 323. Für seine naturwissenschaftlichen Studien
gilt selbstverständlich das Gleiche.
δ) Galen a. a. Ὁ. IV p. 401, 11 6 V p. 459, 2#.; Cie. Tuse. I 17,38; vgl.
S. 143 und 5. 288 Anm. 1.
I: ξεν
_ über die Philosophenschulen, und Timon verspottete alle grie-
ehischen Philosophen ausser Xenophanes und Pyrrhon als
Schwätzer. Im Anschluss an Timon und Pyrrhon nahmen auch
die Vertreter der mittleren Akademie dieses Verfahren auf und
suchten durch den Widerspruch aller Philosophen mit einander
die Verkehrtheit der Lehren derselben und die Richtigkeit ihrer
_ eigenen Anschauung zu erweisen. Carneades begnüzte sich nun
nicht bloss damit, in der Lehre vom höchsten Gut, also in der
wichtigsten Frage der Ethik, die vorhandenen, sondern auch die
- überhaupt möglichen Standpunkte aufzufinden, um alsbald daraus
den Schluss zu ziehen, dass sich eine Gewissheit nicht erreichen
lasse!). Auch diese Darlegung, die gewiss mit dem gleichen Scharf-
sinne durchgeführt war, wie die, welche wir vorher kennen gelernt
haben, hat sicher auf die Stoa einen bestimmenden Einfluss gehabt;
denn die unmittelbare Wirkung derselben finden wir schon bei
Antipater: Carneades setzte in der erwähnten Zusammenstellung
᾿ς die Ansicht Platos und der älteren Akademie vom höchsten Gute
derjenigen gegenüber, die die Stoiker vertraten, indem er mit
gutem Grunde die Ansicht Platos wegen seiner Verteidigung der
_ _Metriopathie mit der des Aristoteles zusammenstellte. Ihm ent-
gegnete auf diese Darlegung Antipater mit der Schrift: ὅτε κατὰ
5 Πλάτωνα μόνον τὸ καλὸν ἀγαϑόν. Gleichzeitig sah sich derselbe ge-
{
fochten wurde. Panätius ging nun bei allen wesentlichen Fragen
" über seinen Lehrer hinaus, indem er den Einwänden des Car-
᾿ neades und Clitomachus volle Rechung trug. Eine Folge hiervon
war es auch, dass er die Ethik und überhaupt alle Tugend auf
den allen Menschen gemeinsamen λόγος stützte, während er in dem
individuellen λόγος den Grund für die Verschiedenheit der Auf-
fassungen der Menschen fand. Ihm schloss sich hierin Posidonius
an, wie wir (5. 258 Anm. 3) gesehen haben. Sollte nun dieses Prineip,
‚das in der Philosophie des Panätius so wirksam gewesen und
von ihm offenbar gegen die Angriffe der Skeptiker aufgestellt
Ε΄ 2) Cie. acad. pr. II 42, 129 ff.; de fin. Υ 6,108.
3) Vgl. z. B. Plut. stoie. rep. p. 1038E; 1039D; 1040 A, Ὁ: 1041B u. ὅ.
— 3354 —
worden ist, nicht auch seine Auffassung der Geschichte der Phi-
losophie beeinflusst haben, zumal auch die Gegner ihr Prineip
auf dieselbe ausdehnten? Das ist einfach unglaublich. Was aber
dieses Princip bedeutet, ist klar: Wenn alle Tugend und alles
Wissen ihren Grund in dem allen Menschen gemeinsamen λόγος
haben, so müssen alle Menschen und natürlich auch alle Philo-
sophen in den Grundanschauungen übereinstimmen!). Diese Auf-
fassung und Darstellung der Geschichte der Philosophie ist also
nicht, wie gewöhnlich geglaubt wird, die Folge der Ermattung
des philosophischen Geistes in Griechenland, sondern unter den
schwersten Kämpfen des Skeptizismus und Dogmalismus aus der
richtigen Erkenntnis hervorgegangen, dass der Subjektivismus,
auf den der Skeptizismus von jeher sich gründete, gegen die
Natur des menschlichen Geistes ist, dessen Denken als solches
vielmehr Allgemeingültigkeit in sich schliesst.
B. Zur Folgezeit,
Wenn wir uns jetzt dazu wenden, den Einfluss darzulegen,
welchen die Philosophie der mittleren Stoa gehabt hat, so kann
es sich natürlich nicht darum handeln, ihn im einzelnen genau
zu verfolgen, sondern nur darum, im allgemeinen die Richtungen
ihrer Wirkung zu kennzeichnen. Diese Wirkung ist teils eine allge-
meine und gemeinsame, teils auch eine besondere und verschiedene
gewesen. Die letztere können wir nur bei den beiden Hauptver-
tretern Panätius und Posidonius genauer erkennen; sie entspricht
naturgemäss dem Charakter ihrer Systeme.
Kap: 1:
Die Skepsis.
Die voraufgehenden Untersuchungen haben gezeigt, in welcher
Weise und in welchem Umfange Panätius und seine Anhänger
der zersetzenden Kritik des CGarneades gefolgt und begegnet sind:
Sie mussten. ihr nachgeben und haben es gethan. Aber die
1) Posid. b. Diog. VII 129 weist daher die διαφωνία der Philosophen als
gleichgültig zurück. Einen anderen Beweis hierfür werden wir noch im fol-
genden Kapitel bringen.
-- 8858 —
Änderungen, welche sie infolge dessen mit dem bisherigen System
der Stoa vornahmen, waren nicht bloss für die Stoa selbst,
sondern auch für die Skepsis von der grössten Bedeutung: denn
eben weil sie der skeptischen Kritik gemäss vorgenommen waren,
mussten sie ihr auch überall die Spitze abbrechen. Dass es dabej
die Stoiker natürlich auch nicht an der nötigen Polemik gegen
die Gegner fehlen liessen, liegt in der Natur der Sache und ist
auch zum Teil schon vorhin gezeigt worden. Die notwendige
Folge davon war, dass auch die Skepsis eine Stockung erfahren
musste; denn einmal war ihr ein grosses Gebiet für ihre Ein-
_ wände in den einzelnen Teilen der Philosophie genommen und
zum andern konnte auch die Klärung in der Erkenntnistheorie
und die durch sie bedingte Polemik nicht ohne Folgen bleiben.
_ Wir haben dieses näher zu begründen.
| Dem Clitomachus, der bald nach Panätius starb), folgte auf
dem Lehrstuhle der Akademie Philo von Larissa. Zu seinen
ältesten Schülern gehörte Antiochus von Askalon, der anfangs
_ vollständig mit seinem Lehrer übereinstimmte, später jedoch mit
ihm in eine Meinungsverschiedenheit geriet, die schliesslich in
eine offene Fehde ausbrach.
Als Philo den Lehrstuhl der Akademie bestieg, vertrat er
den Standpunkt des Clitomachus voll und ganz und bekämpfte
die Stoiker ebenso eifrig wie jener?). Diesem Standpunkte blieb
er auch im allgemeinen treu, bis er in schon vorgerückten Jahren
den Einwänden seiner Gegner, zu denen auch Antiochus gehörte,
in gewissem Grade nachgab und mit einer entschiedenen An-
derung der Skepsis hervortrat, freilich ohne die Meinung und die
Absicht, eine Änderung der skeptischen Auffassung zu liefern.
Zeller hält nun zwar dafür?), dass Philo bereits früher und, soweit
ihn natürlich nicht die allgemeine Stimmung beeinflusste, im
wesentlichen selbständig den strengen Standpunkt des Zweifels
wenigstens auf dem Gebiete der praktischen Philosophie aufge-
geben habe; doch sind seine Gründe nicht stichhaltig genug und
die Nachrichten, welche wir sonst besitzen, sprechen vielmehr
gegen als für ihn. Zeller skizziert den Inhalt des λόγος zara vr
᾿λοσοφίαν, in dem Philo bekanntlich den Philosophen dem Arzte
“ἢ Zeller, Philos. ἃ. Gr. ΠΙᾺ 5. 523,1.
2) Numen. b. Euseb. praep. ev. XIV 9
3) Philos. d. Gr. ΠΙΔ S. 591°.
Schmekel, mittlere Stoa.
1: Cie. acad. pr. II 4ff.
25
-- 556 --
verglich und diesem Gleichnis entsprechend die Teile seiner Dar-
stellung ordnete, und fährt dann fort: „Wo das Interesse für
systematische Lehrbildung, wenn auch zunächst nur auf dem
Gebiete der praktischen Philosophie, so stark war, da musste not-
wendig auch der Glaube an die Möglichkeit des wissenschaft-
lichen Erkennens verstärkt, die Neigung zur Skepsis geschwächt
werden, und so sehen wir denn auch wirklich, dass Philo von
dem Standpunkte, welcher die Möglichkeit des Wissens einfach
bestritten hatte, zurücktrat.“ Dies sucht er in einer Anmer-
kung noch genauer auszuführen: „Wenn wir doch (aus Stob.
a. a. O.) wissen, dass Philo die letzten Zwecke der Philosophie
in die Glückseligkeit setzte, dass er diese durch richtige sittliche
Ansichten (ὑγιῶς ἔχουσαι δόξαι, ϑεωρήματα ἐπὶ βίου), ja durch ein
ganzes Lehrgebäude solcher Ansichten bedingt glaubte und einen
von den sechs Abschnitten der Ethik ausdrücklich der Beseitigung
falscher und der Mitteilung richtiger Meinungen gewidmet wissen
wollte, so lässt sich doch die Folgerung gar nicht ablehnen, dass
er richtige Ansichten auch für möglich halten musste und...
wenigstens für das praktische Gebiet den Standpunkt des reinen
Zweifels nicht festhalten und sich mit einer blossen Wahrschein-
lichkeit begnügen konnte, und der Augenschein zeigt ja auch,
dass er dieses nicht gethan hat.“ Die Unterscheidung von per-
ceptio und perspieuitas, auf welche Zeller beidemal am Schlusse
hinweist, wird mit Unrecht herangezogen; denn diese ist erst eine
Reaktion der späteren Zeit auf die Einwände des Antiochus und
der weiteren Gegner, wie wir sehen werden. Wie nun aber die
Worte Zellers beweisen, hat diese Unterscheidung jedenfalls auf
seine Ansicht nicht unbedeutenden Einfluss gehabt; fällt also
dieser Grund, so bleibt zur Begründung derselben nur das übrig,
was er dem Charakter der genannten Schrift Philos entnimmt.
Was er aber hier sagt, verträgt sich sehr wohl mit dem skep-
tischen Standpunkte des Carneades und Glitomachus; denn auch
diese hatten als Ziel der Philosophie die Glückseligkeit im Auge,
disputierten durchaus systematisch, wie wir aus Cicero (acad.
pr. II 13, 40ff.) erkennen, wo Antiochus sie in dieser Hinsicht
den Stoikern vergleicht, und glaubten ebenfalls, ja noch mit
srösserem Rechte als ihre Gegner, richtige Ansichten, nur nicht die
Wahrheit im absoluten Sinne zu besitzen.!) Da wir nun über den
') Cie. acad. pr. I 31,99 ex. Selbst Sextus betont dies noch häufig.
-- 851 —
Inhalt der genannten Schrift Philos nichts weiter wissen, können
wir auch aus den vorhandenen Angaben nicht schliessen, dass
Philo hier den alten Standpunkt aufgegeben habe'), Dagegen
sprechen nun andererseits die weiteren Berichte. Zunächst giebt
Cicero an, dass Antiochus länger als irgend ein anderer bei Philo,
das gehört und geglaubt hat, was er später angriff, und dass
‚Philo, so langte er lebte, auch den akademischen Standpunkt
| verteidigte?). ‚Liegt hierin zunächst nur ausgesprochen, dass
Philo eine Anderung der skeptischen Auffassung mit Absicht nicht
hat vertreten wollen, so dürfen wir doch auch schon hierans
schliessen, dass er vor seinen späteren Jahren keine namhaft
Anderung seiner Auffassung von selbst vorgenommen hat, Nach-
dem Cicero ferner berichtet hat, dass Philo als Schüler des Cli-
tomachus die akademische Skepsis zu verteidigen sich stets an-
2 gelegen sein liess, fährt er fort ($ 18): Philo autem, dum nova
quaedam commovet, quod ea sustinere vix poterat, quae contra
_ Academicorum pertinaciam dicebantur, et aperte mentitur, ut est
reprehensus a patre Catulo et, ut docuit Antiochus, in id ipsum
se induit, quod timebat. Aus dieser Angabe geht mit Sicherheit
hervor, dass Philo eine irgend wie bedeutende Abweichung von
dem Standpunkte der Skepsis vor der Änderung, die in den an-
- geführten Worten angedeutet wird, nicht vorgenommen hat.
Zwei Vorwürfe machte ihm nun Antiochus auf die letztere, wie
"wir hören: Er lüge und widerspreche sich. Der zweite wird von
Cicero in den unmittelbar folgenden Worten angegeben: Philo
bestritt das Wahrheitskriterium der Stoa, indem er bei dem
skeptischen Satze stehen blieb, es gebe keine Vorstellung, die
nicht zugleich wahr und falsch sein könnte; behauptete aber
gleichwohl, dass cine gewisse Art der Erkenntnis möglich sei.
Er lehrte nämlich, dass es eine absolute Erkenntnis (zeraimyng
1) Auch C. F. Hermann hat bereits diesen Schluss Zellers abgelehnt;
vgl. Zeller ἃ. ἃ. O. IIIa S. 591,2. Treffend handelt hierüber auch Hirzel,
Unters. III S. 227 £., doch ist sein Versuch haltlos Philo von vorn herein
ein System stoisch gefärbter Geheimlehren zuzuweisen. Abgesehen von den
Gründen im Texte berücksichtigt er nicht, dass der Bericht des Anesidem
b. Phot. eod. 212 die erst durch Antiochus bedingte Lehre Philos betrifft,
wie die Übereinstimmung desselben mit der Kritik des Antiochus zeigt, vgl.
Hirzel S. 234. Auch bezieht sich der Bericht b. Phot. a. a. U. wohl nur
zum Theil auf Philo; s. Natorp, Forsch. S. 303.
2) Cie. acad. pr. II 6, 17.
25*
-- 8885 --
— perceptio) des Wahren und Falschen zwar nicht gebe, dass
aber zwischen der Ungewissheit und Gewissheit eine Mittelstufe,
die Augenscheinlichkeit (ἐνάργεια) liege; diese Augenscheinlichkeit
also, die sich dem Geiste gewissermassen einpräge, sei das Kri-
terium!). Antiochus wies ihm nun nach, dass er durch seine
Behauptung, jede Vorstellung könne sowohl wahr als falsch sein,
das Kriterium der Wahrheit schlechthin aufhebe und demnach
nicht von irgend einer Erkenntnis der Wahrheit reden könne?).
Der zweite Einwand des Antiochus gegen Philo in den oben
angeführten Worten Ciceros zeiht ihn einer offenen Lüge. Ge-
gen den Angriff des Antiochus, die neuere Akademie seit Arce-
silaus sei von der alten Akademie abgefallen, behauptete Philo,
dass es nur eine Akademie gebe, dass die neuere Akademie das
Gleiche lehre wie die alte, und dass er selbst mit seiner vorhin
besprochenen Lehre nur die des Carneades und Clitomachus,
also auch die Platos und Sokrates’ vertrete?). Der Beweis hier-
für konnte nur erschlichen werden und diese Erschleichung be-
zeichnete Antiochus eben mit dem obigen Vorwurfe der Lüge.
Die obige Veränderung der Erkenntnistheorie wie auch die
eben erwähnte Auffassung der akademischen Philosophie hatte
Philo in einem Werke niedergelegt, das er in Rom verfasst hatte.
Als Antiochus dasselbe in Alexandria gelesen hatte, leugnete er,
dass Philo oder ein anderer Akademiker jemals’ zuvor das glehrt
hätten, was in dem Buche stand, und fand darin volle Bestäti-
gung bei einem anderen alten Schüler Philos, Heraclit von
Tyrus. Philo kam nun nach Rom beim Ausbruche des Mithri-
datischen Krieges und hat jedenfalls nicht mehr viele Jahre nach-
her gelebt*). Andererseits ist die obige Veränderung der Er-
kenntnistheorie der Grund, weswegen er als Stifter der werten
') Cie. a. a. Οἱ 8 34, 8 45 u. ö. Sext. Pyrrh. hyp. I 235. Numen. b.
Euseb. pr. ev. XIV 9, 1ff.
5) Cie. a. a. 0. $ 34; 44; 111; vgl.auch $ 18. 8 34 scheidet Cie. durch die
Worte: simili in errore versantur etsq. offenbar die nachfolgenden Philosophen
(Philo) von den vorgehenden (Carneades) und zeigt, dass von ersterem dasselbe
gelte wie von dem letzteren. Vollständig übersehen hat dies Hirzel a. a. Ὁ.
ΠῚ S. 212 ff. Ebenso rüttelt er ebds. u. S. 196 ff. ohne stichhaltige Gründe
an der Überlieferung (vgl. die vor. Anm. und 5. 387 Anm. 1),
®) Cie. acad. post. I 4,13. Zeller a. a. O. Illa, S. 592. Mit Unrecht
leugnet Hirzel a. a. Ὁ. S. 229, dass Philo (wie Arcesilaus) den Skeptizismus
des Sokrates-Plato verteidigt hat; vgl. Cie. acad. post. [12.43 u. S. 61, Anm. 4.
Ὁ Zeller a. a. Ὁ; S. 589
-- ὅ89 —
Akademie bezeichnet wurde!). Folglich ist diese Schwenkunz
Philos in der Skepsis thatsächlich erst in den letzten Jahren
seines Lebens vor sich gegangen. Das Gleiche bestätigt auch der
Bericht des Numenius. Auffallen muss, wie es auch ehedem auf-
gefallen ist, dass Antiochus, der sonst ein so milder Charakter war,
- so ungewöhnlich erregt wurde, als er das Buch seines Lehrers
las, und gegen ihn mit solcher Heftigkeit auftrat. Dies führt uns
auf die Gründe, durch welche Philo veranlasst wurde, von dem
Boden des Zweifels zurückzutreten. Nach der Angabe des Nu-
menius waren dies zwei, nämlich die ἐνάργεια τῶν παϑημάτων
und die öuo4oyie. Die Bedeutung der letzteren ist uns sofort
klar, wenn wir uns dessen erinnern, was Philo gegen die An-
schauung des Antiochus über die Lehre der neueren Akademie
vortrug: Zu dieser Leugnung der radikalen Skepsis der mittleren
Akademie und damit zu seiner eigenen Abschwenkung von der-
selben brachte ihn also das Streben, die Übereinstimmung (öuo-
λογία) der mittleren Akademie mit Plato zu erweisen.
Auch der erste Grund, den Numenius angiebt, die ἐνάργεια
τῶν παϑημάτων ist nicht schwer zu verstehen. πάϑημα, das
gleichbedeutend mit πάϑος ist, — 50 schon bei Aristoteles, —
bezeichnet jede leidende Veränderung der Seele, und da wir uns,
wie auch das Folgende lehren wird, in der Erkemntnistheorie
befinden, so ist nur an die Vorstellung zu denken, die als Wir-
kung der Wahrnehmung auf die Seele eben ein Leiden der Seele
ist: Die ἐνάργεια τῶν παϑημάτων ist also die Augenscheinlichkeit
_ der Vorstellungen. Dass diese Erklärung die richtige ist, zeigt
| die Thatsache; denn als Philo von der strengen Skepsis abwich,
|
schob er, wie wir soeben gesehen haben, zwischen die Ungewiss-
heit und die absolute Gewissheit der Erkenntnis die Augenscheinlich-
keit (ἐνάργεια, perspicuitas) ein, und zwar deswegen, weil das
᾿ Augenscheinliche, wie Cicero seine Meinung wiedergiebt, gewisser-
malsen dem Geiste eingedrückt sei (impressum menti), eine Be-
stimmung, die offenbar auf das πάϑημα des Numenius hinweist.
Die Augenscheinlichkeit der Vorstellung beruht somit nach Philo
᾿ς auf dem grösseren Grade der Klarheit, die sie in der Seele be-
wirkt und besitzt, nicht etwa, wie Zeller sagt, in einem angebo-
renen Wissen?). Diese Veränderung ist ebenso wie die vorige
) Sext. Emp. Pyrrh. hyp. 1 220; vgl. ebds. 235.
2) a. a. Ὁ. ΠΙ8 8. 595. Seine Vermutung ist auch sonst nicht zu
--ὀ ὅ00 --
hauptsächlich durch Antiochus bedingt; denn nach Ciceros An-
gabe hat gerade der Widerspruch, den Antiochus dem Philo ent-
gegenhielt: die Skeptiker behaupteten, es gebe wahre und falsche
Vorstellungen, und leugneten doch gleichzeitig, dass die wahren
Vorstellungen von den falschen unterschieden werden könnten,
den Philo am meisten verwirrt, also auch am meislen an der
bisherigen Lehre irre gemacht!). Die beiden Bücher, in welchen
Philo den Rückzug von der Skepsis antrat, waren demnach
augenscheinlich gegen Antiochus gerichtet und suchten die von
diesem seinem Lehrer mitgeteilten Überzeugungen und Einwände
nicht nur zu widerlegen, sondern durch Umgehen auch auszu-
nutzen. Denn indem er auf Grund des Einwandes, den An-
tiochus erhob, die Skepsis in ihrem Wesen änderte und diese
neue Auffassung als sein Eigentum hergab, nutzte er die Ge-
danken und die Auffassung des Antiochus offen für sich. Sowohl
dies wie auch der Umstand, dass die Schrift durchweg eine
Polemik, und zwar wahrscheinlich ohne Namensnennung?), gegen
ihn enthielt, war es also, was den Antiochus ganz begreiflicher
Weise in so ausserordentliche Aufregung brachte und so ent-
schieden Front machen liess.
Das Aufhören der Skepsis in der Akademie ist also durch
halten. Impressus nämlich, das Cicero gebraucht, ist doch nicht gleich innatus,
sondern im Grunde das Gegenteil: impressus weist darauf hin, dass die Vor-
stellung von aussen, innatus, dass sie von innen dem Geiste entsteht. Hätte
Philo ferner von einem angeborenen Wissen gesprochen, so hätte er die
erkenntnistheoretische Grundlage gänzlich verändert, und davon ist nichts
bekannt. Ferner würde er auch die Widerlegung des Antiochus unmöglich
gemacht haben; denn wie hätte Philo bei dieser Annahme die Möglichkeit
dieser Erkenntnis schlechtweg bestreiten können, was er doch gethan hat,
und nur die perspieuitas (ἐνάργεια), nicht aber die perceptio (χατάληνψις) zu-
gestehen? Wie wäre er ferner Skeptiker geblieben, was er doch thatsächlich
geblieben ist, denn Philone... vivo patroeinium Academiae non defuit? Wenn:
Zeller schliesslich darauf hinweist, dass der Schüler Philos, Cicero, auf ein
angeborenes Wissen so grossen Wert lege, so ist zu bedenken, dass Cicero
sich zumeist von den Quellen bestimmen lässt und von einem angeborenen
Wissen hauptsächlich dort spricht, wo er sicherlich nicht dem Philo gefolgt
ist, wie wir später sehen werden. Vgl. auch Hirzel a. a. Ὁ. III S. 525 ff.
Ste re OB ie
°) Hätte Philo ihn in diesen beiden Büchern genannt, so hätte dem
Antiochus wohl weniger Ärger und Zweifel darüber entstehen können, dass
sie von Philo geschrieben seien.
-- 391 —
Antiochus bedingt und hervorgerufen. Nun ist aber Antiochus
viele Jahre Schüler des Philo gewesen und hat während derselben
den skeptischen Standpunkt festgehalten und ihn auch schriftlich
verteidigt‘); wie ist also Antiochus zu der Änderung seiner
Überzeugung gekommen? Die Beantwortung dieser Frage giebt
- sein System: Die Gegner werfen ihm vor, dass er das stoische
System in die Akademie hineingetragen habe?°), und dieser Vor-
wurf wird durch die Thatsache vollständig bestätigt: Seine Er-
kenntnistheorie ist stoisch; er selbst leugnet es so wenig, dass
er seine Annahme derselben durch den Nachweis zu rechtfertigen
sucht; die stoische Lehre sei von der Platonischen nicht ver-
schieden.?) In Verbindung mit der eben erwähnten Thatsache,
dass er ehedem die skeptische Auffassung schon schriftlich ver-
teidigt hatte, beweist die Annahme der stoischen Philosophie un-
widerleglich, dass er sich namentlich beim Beginne grösserer
Selbständigkeit auch mit dieser eingehend beschäftigt hat.
Augustin*) berichtet nun, dass er den Mnesarchus, den Nachfolger
des Panätius, gehört habe; ob diese Nachricht auf direkter Über-
lieferung in den verlorenen Büchern von Ciceros Academica be-
ruht, oder aus der erhaltenen Stelle II 22,695) genommen ist, ist
natürlich nicht zu entscheiden und auch für die gegenwärtige
Frage belanglos, da es hier vollständig Nebensache ist, auf welche
Weise ihm der Stoizismus vermittelt wurde. Sjcher hat er ihn
sowohl mündlich wie schriftlich kennen zu lernen Gelegenheit
genug gehabt. Wichtig aber ist die Frage, durch welche Phase
der stoischen Philosophie er in so entscheidender Weise beein-
flusst worden ist. Eine nähere Untersuchung seiner Lehre lässt
hierüber keine Unklarheit bestehen.
Zunächst suchte er bekanntlich nachzuweisen, dass die
stoische und peripatetische Lehre mit der der alten Akademie
Platos sich deckten und nur in den Worten sich unterschieden,
dass demgemäss die skeptische Richtung der Akademie seit Ar-
2 Ara
1) Cie. a. a. Ὁ. 22, 69. a)
ἢ 3) Cie. a. ἃ. Ὁ. Sext. Emp. Pyrrh. hyp. I 235; vgl. die folg. Anm. 4.
3) Vgl. die folg. Seite Anm. 1.
Ὁ) Acad. III 18, 41 vgl. Numen. b. Euseb. pr. ev. XIV 9, 2. i
5) Eadem dieit quae stoici. paenituit illa sensisse? Cur non se transtulit
ad alios et maxime ad stoicos?. - - quid? eum Mnesarchi paenitebat? quid
Dardani? qui erant Athenis tum prineipes stoicorum.
ge
--, 892 --
cesilaus ein Abfall von der alten Akademie Platos sei!. Welcher
Grund ihn zu dieser Überzeugung gebracht hat, geht klar aus
den Worten hervor, die Cicero dem Kritiker derselben in den
Mund legt (c. 22, 70): mihi autem videtur non potuisse sustinere con-
cursum ommium philosophorum. etenim de ceteris sunt inter illos
nonnulla communia: haec academicorum est una sententia, quam
reliquorum philosophorum sententia nemo probet itaque cessit etsq.
Also die Übereinstimmung aller Philosophen in einigen, ἃ. ἢ.
selbstverständlich in den wichtigsten Fragen gegen die Skepsis,
die auch der Skeptiker nicht wegzuleugnen vermochte, war zu-
nächst der Grund des Antiochus zum Rücktritte von der Skepsis.
Die Betonung dieser Übereinstimmung gegen die Skepsis ist na-
türlich von einem Dogmatiker, nicht von einem Skeptiker aus-
gegangen. Nun haben wir vorhin (5. 379ff.) gezeigt, dass offenbar
Panätius in Fortsetzung der Lehre des Antipater gegen die Skep-
tiker auf die notwendige Übereinstimmung aller Philosophen und
überhaupt aller Menschen in den Grundanschauungen hingewiesen
at. Demnach müssen wir schliessen, dass Antiochus bei Pa-
nätius zumeist diese Anschauung kennen gelernt hat und somit
durch Panätius zunächst an der Skepsis irre geworden ist?). Dies
wird durch eine Reihe weiterer Thatsachen zur Gewissheit erhoben.
Die jüngeren Stoiker wollten eine Vorstellung nur dann als
unbedingt wahr.gelten lassen, wenn keine Instanz (&vormue) da-
gegen spräche und erklärten dies nur dann für möglich, wenn
') Cie. acad. post. I 4, 13ff. de fin. V 3, 7ff. de leg. I 21, 54.
. ἢ Unser früherer Beweis für den obigen Satz, dass Panätius auf diese
Übereinstimmung hingewiesen hat, stützte sich auf verschiedene innere
Gründe. Hier lässt sich nun noch, wie dort bereits angedeutet ist, auch ein
äusserer Beweis dafür führen. Antiochus ist nicht der einzige Philosoph,
welcher diese wesentliche Übereinstimmung aller Philosophen behauptet,
sondern Posidonius vertritt, wie wir gesehen haben, ganz denselben Stand-
punkt. Da nun beide schon aus chronologischen Gründen in diesem Punkte
sicher nicht von einander abhängig sind, so muss eben Panätius schon auf
jene Übereinstimmung hingewiesen haben, was ja auch aus seiner Lehre
notwendig folgt. Ebenso beruft sich auch Lueilius, der von keinem der
beiden, wohl aber von Panätius beeinflusst ist, wie wir später sehen werden,
auf die Übereinstimmung aller Philosophen. Der Schluss ist also gewiss,
dass Panätius gegen die Skepsis auf diese Übereinstimmung aller Philosophen
hingewiesen hat. Deshalb lehrte auch Posidonius, dass man sich durch die
διαφωνία der Philosophen nicht von der Philosophie abschrecken lassen dürfe,
Diog. VII 129.
-- 898 --
die Sinneswerkzeuge gesund, der Gegenstand wahrnehmbar. der
Ori passend, die Beobachtung zweckentsprechend und der Ver-
stand normal sei. Dieselben Bestimmungen finden wir bei An-
tiochus wieder‘). Nun haben wir gesehen (S. 355f.), dass unter
diesen jüngeren Stoikern jedenfalls Panätius und seine Anhänger
zu verstehen sind: Mit Recht also dürfen wir schliessen, dass
- Antiochus in dieser Lehre dem Panätius gefolgt ist.
In dem Berichte des Sextus über die Logik der jüngeren
Stoiker finden wir zugleich mit der Übersicht über ihre Lehre
und im engsten Anschluss an sie eine kurze Verteidigung der-
- selben des Inhalts, dass es unmöglich sei die Vorstellung nicht
als Kriterium gelten zu lassen und ihre Wahrheit zu verwerfen.
- Diese kurze Verteidigung, die sich nur auf die Klarheit der Vor-
- stellung stützt, schliesst unwillkürlich eine ebenso kurze Wider-
legung der Skepsis in sich und zwar hält sie den Gegnern vor,
sie gerieten in einen Widerspruch, wenn sie die Vorstellung als
Kriterium der Wahrheit leugneten. Denn wenn sie dies für eine
Vorstellung thäten, so könnten sie es nur auf Grund der Wahr-
heit einer anderen Vorstellung thun. Damit bestätigten sie aber,
dass die Vorstellung das Kriterium sei”). Eine weitere Aus-
führung erfahren wir nicht; nur weist der Bericht in einem sich
unmittelbar hieran anschliessenden Gleichnis auf die Unsinnig-
_ keit hin, die Wahrheit der Vorstellung schlechthin in Zweifel zu
- ziehen: Gleichwie derjenige thöricht sei, welcher die Verschieden-
heit der Farben und Töne anerkenne, aber das Gesicht oder das
- ‚Gehör als nicht vorhanden oder unglaubwürdig bezeichne, da doch
durch diese jene erst aufgefasst würde, ebenso sei derjenige dem
Wahnwitz nahe, welcher annehme, dass es Dinge gebe, aber die
Vorstellung als unglaubwürdig verwerfe, da uns durch diese ja
erst die Erkenntnis jener vermittelt werde. Wenden wir uns von
© hier aus wiederum zu Ciceros Darstellung der Lehre des Antiochus,
so hält auch er ihnen einen Widerspruch entgegen: Wenn sie lehrten,
- 1) Cie. a. a. O. II 7,19: meo autem iudieio ita est marima in sensibus
veritas, si et sani sunt ac valentes et omnia removentur, quäae obstant et =
_ pediunt, itaque et /umen mutari saepe volumus et situs earum rerum, {τιν
intuemur, et intervalla aut contrahimus aut didueimus, multaque Re us-
que eo, dum aspectus ipse fidem faciat sui indieii. quod idem fit in Yen Ἂν
in odore, in sapore etsq. Vgl. hierzu Sext. adv. log. I. 424 u. 5. 354 Ann. 2
2) Sext. a. a. O. I 259.
— 3A --
dass eine Vorstellung wahrscheinlich, die andere unwahrschein-
lich sein könne, so müssten sie auch als Kriterium den Begriff
der Wahrheit anerkennen, an dem sie die Wahrscheinlichkeit
messen könnten; wenn sie aber dieses Kriterium leugneten, so
könnten sie auch keinen Unterschied in Bezug auf die Wahr-
scheinlichkeit annehmen. Dann fährt, er zur Begründung mit
einem Gleichnisse fort, das uns zu sehr an das vorhin erwähnte
erinnert, als dass wir dies bei der folgenden Vergleichung nicht
sofort merken sollten.
Cic.
$ 33. cum dicunt hoc se unum
tollere, ut quicequam possit ita
verum videri, ut non eodem
modo falsum etiam possit videri,
cetera autem concedere, faciunt
pueriliter; quo enim omnia iu-
dicantur sublato reliqua se ne-
gant tollere, ut si quis quem
oculis privaverit, dicat ea, quae
cerni possent, se ei non ade-
misse. ut enim illa oculis modo
agnoscuntur, sic reliqua visis.
Sext. adv. log I.
8 259. ὃν γὰρ τρόπον ὃ χρώ-
uara μὲν ἀπολείπων χαὶ τὰς Ev
τούτοις διαφοράς, τὴν δὲ ὅρασιν
ἀναιρῶν ὡς ανύπαρχτον ἢ ἄπι-
στον, καὶ φωνὰς μὲν εἶναι λέγων,
ἀκοὴν δὲ μὴ ὑπάρχειν ἀξιῶν,
σφόδρα ἐστὶν ἄτοπος (δι᾽ ὧν γὰρ
ἐνοήσαμεν χρώματα χαὶ φωνὰς
ἐχείνων ἀπόντων οὐδὲ χρῆσϑαι
δυνατοὶ χρώμασιν ἢ φωναῖς), οὕτω
καὶ τὰ πράγματα μὲν ὁμολογῶν,
τὴν δὲ φαντασίαν τῆς αἰσϑήσεως,
δι ᾿ἧς τῶν πραγμάτων ἀντιλαμ-
βάνεται διαβάλλων τελέως ἐστὶ
ἐμβρόντητος κτλ.
Dass diese Übereinstimmung Zufall sei, wird bei den vorhin
bereits angegebenen Berührungen zwischen Antiochus und den
Jüngeren Stoikern niemand behaupten können; von neuem also
bestätigt sie die Abhängigkeit des Antiochus von jenen. Ungleich
grösser und wichtiger jedoch ist diese Übereinstimmung, weil
sich zeigen lässt, dass auch der von Sextus erwähnte Wider-
spruch, den die jüngeren Stoiker ihren Gegnern vorhielten, sich
im wesentlichen mit dem deckt, den Cicero bespricht. Beide weisen
nämlich dem Gegner die gleiche Diallele nach, und zwar Panätius
an der Vorstellung, Antiochus an dem Begriffe der Wahrheit. Da
wir nun dasselbe Beispiel bei Cicero zur Erläuterung dieses
Widerspruchs lesen wie bei Sextus, so ist der Zusammenhang
beider Stellen und damit die Abhängigkeit des Antiochus von
-- 895 —
Panätius klar. Gewiss liess sich auch der erkannte Widerspruch
‚leicht genauer und klarer ausführen und variieren. Der Wider-
spruch, den Antiochus bei Cicero darlegt, ist nun darum so wich-
tig, weil offenbar auch der weitere, den er 8 44 nachweist, mit
diesem eng zusammenhängt, der letztere aber auf Philo den
grössten Eindruck gemacht hat!).
ee
ee σ- Pr} SERIE
!) Vgl. 8 44 mit 8 32ff. und mit $ 111; natürlich war die Entwickelung
und Fassung des letzteren sein Verdienst, wie auch von Cicero ausdrücklich
hervorgehoben wird. — Die Darstellung der Lehre des Antiochus zerfällt
in zwei Teile: 1. positive Entwickelung e. 7, 19—12,39; 2. Widerlegung der
Gegner ce. 13,40—18,60. Diese Ordnung entspricht genau der der zweiten
Hälfte des Ciceronischen Buches, der Darstellung der Lehre des Philo-Car-
neades. In der positiven Lehre des Antiochus findet sich nun eine Stelle,
die den Zusammenhang in einer eigentümlichen Weise durchbrieht, e. 10,32
bis 11,36. Diese Darstellung soll sich eigentlich gegen Philo richten ($ 18),
so dass Carneades nur in zweiter Linie in Betracht kommt; die angeführte
Stelle aber beginnt mit einer neuen Einleitung, als ob wir über den Stand des
schwebenden Problems noch nichts gehört hätten, obwohl die Abhandlung
bereits 8 19 begonnen hat, und richtet sich direkt gegen Oarneades, Ferner
hat Cieero vorher den Fortschritt der Erkenntnis bis zur zerdinyas geführt
und diese behandelt; die unmittelbare Fortsetzung hierzu liefert er nach
dem genannten Abschnitte $ 37 mit der Besprechung der συγχατάϑεσις. Cicero
selbst knüpft diese an die Abhandlung vor dem genannten Abschnitt an:
nunec de adsensione atque approbatione .. pauca dicemus, non quo non latus
locus sit, sed paulo ante iacta sunt Jundamenta. Die Richtigkeit dieser Auf-
fassung beweisen auch die unmittelbar folgenden Worte: nam cum vim,
quae esset in sensibus, explicabamus, simul illud apperiebatur, comprehendi
multa et percipi sensibus, quod fieri sine adsensione non potest. Diese Worte
geben unzweideutig den Zusammenhang an: die $$ 19—31 handeln über den
Verlauf des Erkenntnisaktes von der sinnlichen Wahrnehmung bis zu dem
pereipi sensibus; $ 37 ff. aber, wie Cicero selbst anzeigt, über die adsensio,
In diesem Zusammenhange kann sich also das ‘paulo ante’ $ 37 nur auf die
Abhandlung bis 8 31 beziehen. Dieser Abschnitt ist nun aber nieht ein
Zusatz Ciceros, da in der nachfolgenden Abhandlung auf ihn Rücksicht ge-
nommen wird und namentlich der Schluss $ 44 die Konsequenz und Zu-
sammenfassung dessen ist, was in diesem Abschnitte genauer ausgeführt
wird. Da nun auch der Abschnitt an der richtigen Stelle steht (s. 5.388 Anm. 2),
werden wir schliessen müssen, dass Cicero bei der Komposition weniger
sorgfältig vorgegangen ist, indem er einen Abschnitt, den Antiochus zu seiner
Darstellung hinzugenommen hatte, ohne weiteres mit der vorhergehenden
Darstellung verband und dadurch die Unklarheiten erzeugte, die wir vorhin
nachgewiesen haben. Dieser Abschnitt ist es nun, welcher sich so ausser-
ordentlich mit demjenigen berührt, in dem Sextus die Lehre der jüngeren
euere
u
Kuss
Ξ 800 —
Antiochus lehrt ferner, dass die Keime aller Tugend als An-
lage im menschlichen Geiste liegen, und stützt somit die Tugend
in letzter Instanz auf die Entwickelung dieser dem Geiste eigenen,
angeborenen Anlage!). In dieser Auffassung folgt er klar dem
Panätius, der, um den Einwänden des Carneades zu entgehen,
im Rückgange auf Plato und Aristoteles, lehrte, dass alles sittlich
Gute seine letzte Quelle in der allen Menschen von der Natur
verliehenen gemeinsamen Vernunft oder in der Vernunft als
solcher habe, und dass darum alle Abweichung von der Tugend
durch äussere Einflüsse auf die übrigen Vermögen der Seele ent-
stände (5. S 209f.). Denn wenn alle Tugend in letzter Beziehung auf
der Natur der Vernunft als solcher beruht und diese allen in
gleicher Weise angeboren ist, so ist auch mit ihr in gewisser
Weise allen Menschen die Anlage zur Tugend angeboren.°)
Diese letzte Frage führt uns zur Psychologie des Antiochus.
Das gesamte seelische Vermögen besteht nach ihm aus drei
Teilen, dem pflanzlichen, tierischen und dem speciell mensch-
lichen. Das pflanzliche Leben ist die einfachste Art des Lebens
und äussert sich nur im Vegetieren. Treten zu diesem die Sinne
hinzu, so sind damit auch zugleich die Triebe und die freie Be-
wegung gegeben. Dies ist die speziell seelische Kraft des Tieres.
Das speziell menschliche Vermögen ist die Vernunft. Alle drei
Vermögen zusammen machen die seelische Gesamtkraft des
Menschen aus: Jede höhere Gattung der Lebewesen setzt also
auch allemal die niedere voraus’). Diese drei Teile aber redu-
Stoiker auseinandersetzt: Mit voller Klarheit also ergiebt sich auch hieraus,
was wir oben bereits gezeigt haben, dass Antiochus sich an die Lehre der
jüngeren Stoiker angeschlossen hat. Dass unter diesen Panätius und seine
Schüler zu verstehen sind, haben wir früher nachgewiesen.
') Cie. de fin. V 21, 59: quod autem in homine praestantissimum atque
optimum est, id deseruit (sc. natura): etsi dedit talem mentem, quae omnem
virtutem aceipere posset ingenuitque sine doctrina notitias parvas rerum
mazimarum et quasi instituit docere et induxit in ea, quae inerant, tam-
quam elementa virtutis, sed virtutem ipsam incohavit, nihil amplius etsq.
5) Viel klarer tritt uns diese Auffassung in der Psychologie des Posi-
donius entgegen; vgl. S. 262f. 268. Da also Posidonius und Antiochus hierin
übereinstimmen, so ist dies ein neuer Beweis dafür, dass diese durch den
veränderten Standpunkt der Psychologie bedingte Umbildung der stoischen
Lehre von Panätius zuerst, wenn auch nur in leiserer Weise, angebahnt
worden ist.
’) Cie. de fin. V 14, 39: earum etiam rerum, quas terra gignit, educatio
-- 891] --
zieren sich wesentlich auf zwei, die mit Leib und Seele bezeichnet
werden. Die letztere umfasst die Vernunft und die fünf Sinne
und natürlich die mit diesen gegebenen Fähigkeiten: der erstere
also nur das pflanzliche Vermögen, die φύσις"). Diese Einteilung
und Verschmelzung Platonisch-Aristotelischer Ansichten stimmt
in allem Wesentlichen ebenfalls mit der Lehre des Panätius
_ überein?), zumal da sich hier auch derselbe Widerspruch findet
wie bei Panätius, dass die fünf Sinne zur tierischen Seele ge-
_ rechnet und doch nicht mit der tierischen Lebenskraft, sondern
mit der Vernunft vereinigt werden. Dass nun Antiochus diese
Einteilung nicht unabhängig von der Stoa aufgestellt hat, zeigt
die weitere Thatsache, dass er in echt stoischer Weise auf diese
- Psychologie die Ethik aufbaut?) und bei diesem Aufbau ebenfalls
- offen. den stoischen Einfluss zeigt*). Wenn er bei der Ausführung
quaedam et perfectio est non dissimilis animantium .... itaque et vivere
vitem et mori dieimus arboremque et novellam et vetulam et vigere et
' senescere: ex quo non est alienum, ut animantibus, sie illis et apta quaedam
ἢ ad naturam putare (5 5. 859 A. 3) et aliena .. at vero si ad vitam sensus ac-
᾿ cesserit, ut appetitum quendam habeat et per se ipse moveatur, quid facturam
— putas?.. ad illa, quae semper habuit, iunget ea, quae postea accesserint ...
ita similis erit ei finis boni atque antea fuerat nee idem tamen; non enim jam
ἐν stirpis bonum quaeret, sed animalis. quid? si non sensus modo ei sit datus,
ἢ verum etiam animus hominis, non necesse est et ἐἰία pristina manere, ut
ji tuenda sint, et haec multo esse cariora, quae accesserint... mens atque
— ratio? sie ewsistit extremum omnium adpetendorum atque ductum a prima com-
k mendatione naturae multis gradibus ascendit, ut ad summum perveniret, quod
cumulatur ex integritate corporis et ex mentis ratione perfecta. Auf diese Drei-
teilung hat Zeller a. a. Ὁ. IIIa S. 605f. nicht geachtet.
1) Cie. a. a. Ὁ. 12,34: deinde id quoque videmus, et ita figuratum
eorpus, ut excellat aliis, et animum ita constitutum‘, ut et sensibus instru-
cetus sit et habeat praestantiam mentis, ebenso ib. 21, 59.
2) Dies giebt uns auch noch einen neuen Beweis dafür, dass schon
Panätius und nicht erst Posidonius, wie uns Galen glauben lassen könnte,
die Platonisch-Aristotelische Psychologie aufgenommen hat, da diese Lehre
_ sicherlich nicht Posidonius von Antiochus oder Antiochus von Posidonius
entlehnt hat. Da wir oben weiter zeigen, dass Antiochus sie auch nicht
selbständig aufgestellt, so müssen sie beide die Anregung dazu von dem-
selben Manne erhalten haben.
- 8) Vgl. Anmerkung 3 auf der vor. Seite.
*) Dies ist allgemein bekannt; vgl. besonders Cie. a. a. Ὁ. 9, 24 ff.;
12, 34 mit Cie. off. I4, 1lmff., 27, 95 ff., 28, 101 ff.; de fin. V 13, 37 mit
Gell. N. A. XII5,7ff. Cic. de Br III 5, 16 ff. Cie. a. ἃ. O0. V 23, 66 ff., bes.
67, z. B. mit Cie. off. I 5, 15; Stob. ecl. II p. 63, 6 W; Diog. VII 125; "Plut.
Εις rep. 6. 27; 5. auch Zeller IIIa S. 605 ff.
-- 8985 --᾿
derselben in der Beurteilung der äusseren Güter etwas abweicht»
so kommt dies hierbei nicht in Betracht und ist thatsächlich auch
nicht von grösserer Bedeutung, da auch Antipater, Panätius und
Posidonius hier die rigorosen Anschauungen der alten Stoa etwas
remildert hatten.
Hierzu tritt schliesslich noch eine Lehre, auf deren Überein-
stimmung mit dem jüngeren Stoizismus schon Zeller hingewiesen
hat: Da die Natur des Menschen denselben zum ζῶον πολυτιχόν
macht, so beruht auf ihr auch die Verbindung aller Menschen
unter einander. Das Band dieses Zusammenhanges ist die Liebe,
welche von der elterlichen sich allmählich erweiternd schliesslich
auf die ganze Menschheit übergeht!). Hierauf gründet sich auch
hauptsächlich das Gebot jedem das Seine zu erteilen und die
menschliche Gesellschaft in bereitwilliger und billiger Weise zu
unterstützen. Dass diese Ausführungen sich mit denen des Pa-
nätius decken, braucht nach allem, was hierüber früher gesagt
worden ist, nicht mehr bewiesen zu werden. Der Anschluss des
Antiochus an die Lehre des Panätius ist also offenkundig?).
ἢ) Cie. de fin. V 19, 62; vgl. Zeller Philos. d. Gr. UI 1, S. 607, 3.
2) Noch ein Einwand sei hier berücksichtigt, der vielleicht erhoben
werden könnte. Cicero schreibt acad. pr. II 6, 17: quod nos facere nunc
ingredimur, ut contra Academicos disseramus, id quidam e philosophis, et
il quidem non mediocres, faciundum omnino non putabant.... Antipatrum-
que Stoieum, qui multus in eo fuisset, reprehendebant etsq. Da diese Philo-
sophen bedeutende Männer waren und nach Antipater lebten und wohl vor
Antiochus, da Cicero auch wohl hier sicher dem Antiochus folgt, so könnte
man schliessen, dass damit Panätius gemeint sei, ein Schluss, der auch in
der weiteren Nachricht Cie. de fin. IV 28, 79, dass Panätius die disserendi
spinas vermieden hätte, eine weitere Bestätigung finden könnte, Es könnte
danach scheinen, dass diese Stelle mit dem Berichte des Sextus über die
jüngeren Stoiker, den wir als die Lehre des Panätius früher nachgewiesen
haben, nieht im Einklange stehe und darum vielleicht der Bericht des Sextus
mit Unreeht dem Panätius zugesprochen sei. Doch dieser Einwand ist ganz
haltlos. Der Standpunkt der von Cicero nur angedeuteten Philosophen,
unter denen in der That Panätius gemeint zu sein scheint, stimmt völlig
mit dem überein, den wir bei Sextus haben. Cicero schreibt nämlich von
diesen a. a. O.: eos, qui persuadere vellent, esse aliquid, quod eomprehendi .
et percipi posset, inscienter facere dieebant, propterea quod nihil esset elarius
&vsoysie... orationem nullam putabant inlustriorem evidentia reperiri
posse etsq. Diese Stoiker waren also überzeugt, dass die Augenscheinlieh-
keit der Vorstellung selber der beste und stärkste Beweis für ihre Wahr-
heit sei, und rieten deshalb von weiteren Beweisen als der Augenscheinlich-
—. gg
Selbstverständlich ist es ferner, da
Einwände der übrigen Stoiker und namentlich des Antipater be-
rücksichtigt und benutzt hat. An einem Beispiele lässt sich dies
auch noch direkt nachweisen: den Angriff des Antipater gegen
die Skepsis, dass derjenige, welcher die Gewissheit der Erkennt-
nis leugne, wenigstens diesen Grundsatz für gewiss
nahm er auf und führte ihn genauer aus, um auch den Einwand,
den Garneades hiergegen erhoben hatte, zurückzuweisen. Diese
_ Ausführung zeigt deutlich, dass jener Einwurf des Antipater von
nicht geringem Einfluss auf ihn gewesen ist!).
In der That ist also Antiochus durch die Lehren und die
Einwände der jüngeren Stoiker und zumeist desPanätins veranlasst
_ worden die Skepsis aufzugeben. Da nun Antiochns durch seine
Einwände auch den Philo zwang seinen Standpunkt zu ändern, so
ist der Rückgang der Skepsis durch den veränderten Standpunkt
der mittleren Stoa herbeigeführt worden. Nur in Änesidem fand
_ jene einen Fortsetzer, doch ohne jemals mehr die Bedeutung zu
erreichen, die sie ehedem gehabt hatte.
ss Antiochus auch die
halten müsse,
keit abzustehen. Wenden wir uns jetzt zu Sextus, so treffen wir daselbst
durchgeführt, was hier geraten wird. Ohne jede sonstige Polemik wird hier
aller Beweis für die Richtigkeit der Vorstellung nur auf die Augenschein-
lichkeit gestützt: Eine unter Befolgung aller von der Theorie bestimmten
Bedingungen erlangte Vorstellung zwinge uns zur Zustimmung und ziehe
uns gewissermalsen an den Haaren dazu herbei ($ 257). Sie sei überhaupt
das Licht, durch welches wir erst etwas wahrnehmen; es sei daher geradezu
wahnwitzig, dieses Licht zu verwerfen ($ 259£.). Weiter wird nichts hinzu-
- gefügt. Dieser Bericht des Sextus widerspricht also nicht nur nicht, sondern
stimmt im Gegenteil trefflich zu dem, was Cicero sagt, und kann insofern
_ noch in gewissem Sinne dazu dienen, die früheren Untersuchungen zu be-
stätigen. Neben diesen soeben besprochenen Philosophen erwähnt Cicero
‚als eine zweite Klasse solche, welche zwar im wesentlichen diesem Stand-
punkte zustimmen, es aber auch für recht halten die Angriffe der Gegner
- zurückzuweisen ($ 17). Darauf nennt er als eine dritte Klasse diejenigen,
_ welche den Kampf voll und ganz aufnehmen zu müssen glauben. Der Ver-
treter derselben ist offenbar Antiochus ($ 18). Erwägen wir diesen Zu-
- sammenhang, so. scheint auch hieraus hervorzugehen, was wir oben nach-
weisen, dass Antiochus den Standpunkt der beiden vorhergehenden Klassen
zu vereinigen suchte.
=) Cie. acad. pr. II 9, 28.
34
ρον Ξ
Kap. 2.
Die Mystik.
Die Berichtigung der stoischen Philosophie, welche die Kritik
des Carneades zur Notwendigkeit gemacht hatte, war auf doppelte
Weise möglich: Entweder wurden die als haltlos erwiesenen
Lehren im Sinne der Kritik beschränkt, oder sie wurden derartig
erweitert, dass sie die Kritik nicht traf. Den ersten Weg schlug
Panätius, den zweiten Posidonius vorwiegend ein; doch wies.
Panätius auch bereits auf den zweiten durch seine teilweise Er-
neuerung der Platonisch-Aristotelischen Psychologie. Diese in
ihrem vollen Umfange in die Stoa einzuführen war die That
des Posidonius. Hierbei stiessen nun zwei entgegengesetzte
Standpunkte auf einander: Die Transcendenz des Platonisch-
Aristotelischen Systems und die Immanenz der Stoa. Die Ver-
bindung beider vollzog Posidonius als Stoiker naturgemäss auf
dem Boden der letzteren, indem er die der Transcendenz ent-
lehnten Lehren mit dem Materialismus der eigenen Schule ver-
quickte und so den Monismus derselben zu wahren suchte.
Gleichwohl brachte er durch diese Herübernahme dualistischer
Lehren einen Gegensatz zwischen Geist und Materie in die Stoa,
welcher hart an den Dualismus streifte und den Platonischen
Mystizismus in die Stoa überführte. In dieser Verpflanzung der
Platonisch-Aristotelischen Mystik in die Stoa wurzelt die Erneue-
rung des Mystizismus der Folgezeit. Bevor wir jedoch hierauf
eingehen, müssen wir uns noch einmal die Züge kurz vor Augen
führen, in denen die Mystik bei Posidonius mehr oder weniger
klar zu Tage tritt. Dies ist zunächst die Herabwürdigung des
Leibes und die Erhebung des Geistes: der Geist ist gut und darum
die Quelle alles Guten; der Körper dagegen die Quelle des
Bösen und der Leidenschaften. Er ist daher ein Hindernis für
den Geist, der dann erst seine eigentliche Natur zeigt, wenn er frei
vom Leibe ist. Was nun vom Geiste gilt, gilt natürlich auch von
der Gottheit, von welcher er ja ein Teil ist: Sie ist ihrer Natur
nach von den sonstigen Lebewesen gänzlich verschieden, so dass
man nicht von diesen schlechthin auf jene schliessen kann (S. 312 ff.).
Diese Gegenüberstellung von Leib und Seele, Gott und Materie,
musste auf die Dauer den Dualismus und die Transcendenz des
er ist der Gott im Menschen, vom- Himmel-herabgestiegen, ἃ
T
geistigen Princips zur .Folge haben. Solange der Geist an den
Körper gebunden ist, gelangt er zwar mittels der Wissenschaft
zur Erkenntnis; daneben aber auch auf einem zweiten Wege,
nämlich in der Mantik. Hier schaut er unabhängig vom Körper
vermöge seiner eigenen Natur in die Zukunft und zwar teils aus
eigener Kraft, teils durch die. Vermittelung der Dämonen des
— Luftraumes oder auch durch die Berührung mit ‘der Gottheit
selbst: Dies ist die letzte Quelle des Offenbarungsglaubens und
der Ansatz zu der späterhin so wichtigen Lehre von der Ekstase.
Ebenso ist auch der Glaube an-die Dämonen in diesem Zusam-
menhange von grosser Wichtigkeit. Der letzte Punkt, dessen
hier zu gedenken ist, ist die durch den Rückgang auf Plato und
Pythagoras bedingte Hochschätzung der Zahlenspeeulation und
ihre Verbindung mit der Ideenlehre. Dies sind die Keime, aus
denen sich in der Folgezeit der Mystizismus zu ausserordentlicher
Blüte entwickelt hat, wie wir im folgenden in aller Kürze zu
zeigen versuchen werden!).
Wir bleiben naturgemäss zunächst bei der Stoa. Von den
Vertretern derselben sind uns nach Posidonius hauptsächlich Se-
_ neca, Musonius, Epiktet und der Kaiser Marcus Aurelius näher
bekannt; doch sehen wir hier von dem letzteren ab, da er in
einer Zeit lebte, als die verschiedenen mystischen Richtungen.
bereits eine lange Blütezeit hinter sich hatten, und halten uns an
᾿ς die drei anderen Philosophen. Über die ausserordentliche Ab-
hängigkeit Senecas von Posidonius zu reden haben wir schon frü-
her zu verschiedenen Malen Gelegenheit gehabt. Die Abhängig-
keit des Musonius und Epiktet von demselben äusserlich nach-
zuweisen ist bei der Natur der Überlieferung selbstverständlich
ausgeschlossen; doch zeigt ihre Lehre ebenso wie die Senecas .
in allem Wesentlichen den Standpunkt des Posidonius und na-
mentlich in den Ansichten, durch welche Posidonius von seinen
Vorgängern so bedeutend abweicht. Seneca zunächst wird nicht
“ müde immer wieder die Grösse und Erhabenheit des Geistes zu
preisen und auf seine Unabhängigkeit vom Leibe hinzuweisen und
zu wirken?). Er ist den Göttern verwandt, heilig und ewig, ja
— 401 —
2) Dass später andere Umstände seine Ausbreitung förderten, soll hier-
- mit nicht geleugnet werden. Ὁ } Ἵ :
5 Von den äusserst zahlreichen Stellen vgl. z. B. ep. 65,24; 91, 1fl.;
98,2; dial. VII 8,2#.; N. Q. VI 32,5.
Schmekel, mittlere Stoa. 26
-- 42 --
er ist der Gott im Menschen, vom Himmel herabgestiegen, um
beim Tode dorthin wieder zurückzukehren. Der Körper ist
daher nur eine kurze Herberge, eine fremde Hülle, eine Last und
Strafe?). Wie nun Seele und Leib sich beim Menschen verhalten,
ebenso auch Geist und Materie überhaupt: Dem Leibe ähnlich
ist die Erde; die Gottheit durchdringt sie, wie der Geist den
Körper, obwohl sie ihrer Natur nach nach aussen strebt?). Die
Gestirne hält Seneca natürlich auch für Götter; daneben aber
kennt er auch Götter niederer Art, die Dämonen, die sich mit
den Menschen vereinigen‘). Er vertritt ferner die stoische
Erkenntnistheorie und preist die Wissenschaft, besonders insofern
sie die Tugend angeht’); zugleich verteidigt er aber auch das
ganze Gebiet der Mantik®).
Ebenso wie Seneca hebt auch Epiktet den Unterschied
zwischen Gott und Materie, Leib und Seele stark hervor. Das
Wesen Gottes besteht aus Vernunft und Wissen, die Materie ist
an sich unbewegt und ohne Leben. Ein Ableger der Gottheit
ist der Geist;-er ist der Gott (9eos oder δαίμων) im Menschen
und frei wie dieser’); der Leib dagegen ist von Kot und der
Notwendigkeit unterworfen°). Somit ist er eine Seele, die einen
Leichnam trägt. Naturgemäss sehnt er sich diese Sklaverei zu
verlassen und zu seiner Urquelle, zur Gottheit zurückzukehren’).
Solange er an den Leib gebunden ist, erreicht er dies haupt-
sächlich durch möglichste Zurückziehung auf sich selbst, wodurch
er sich von allem Äusseren unabhängig macht 19). Diese Gedanken
τ Dial. XIT 11,7; ep. 31,11; 120, 14#F.
2) Ep. 65,16 u. 21; 92,13; 120,14 u. 17.
3) Ep. 65,2; N. Q. III 15, 1ff; dial. VII 8,4; ep. 65, 24; 92, 32.
ἢ De benef. IV 23,4; N. Q. VII 23,2; ep. 110,1. Im Anschluss an den
römischen Glauben nennt er sie Genien, bemerkt aber, dass die Vorfahren
in dieser Beziehung Stoiker gewesen seien. Schon Varro hat Antig. rer.
div. XVI frgm. I Schwarz (Augustin de οἷν. D. VIl 6; vgl. 5. 125 frg. 27b)
die Genien und Laren mit den Dämonen identifiziert.
5) Dial. VII 8,4; ep. 65, 16ff.; 88, 20ff. u. ὃ.
6) N.,@: ΤΙ. 32; 1ff:
7). Diss. II 8, 2; I 14,12; enchir, 1,1.
8) Diss. IV 1,100; Epiktet nennt hier den Körper σῶμα πήλινον = Seneca
ep. 120, 17: corpus putre=Posid. Ὁ. Seneca ep. 92, 10: inutilis caro et fluida.
9) Frgm. 176b; diss.I 9, 10 ff. u. ö.; enchir. 15; diss. III 13, 14 steht damit
nicht in direktem Widerspruche.
10) Diss. III 3,18; II 1,4; 8,1; Gell. N. A. XVII 19,6: vgl. Zeller, Philos.
d. Gr. IIIa S. 748.
treten bei Seneca und noch mehr bei Epiktet und, soweit wir
urteilen können, auch bei Musonius so sehr in den Vordergrund,
dass ihre Philosophie fast ganz darin aufgeht. Trotz dieses stark
gespannten Gegensatzes zwischen Geist und Materie durchbrechen
sie den Monismus der Stoa nicht. Dass sie mit dieser Auffassungs-
art auf Posidonius zurückgehen, ist nach dem Vorhergehenden
von selbst einleuchtend; ebenso ist es klar, dass und wie weit
sie über ihn hinausgehen. Dieses Letztere näher auseinander-
zusetzen gehört jedoch nicht hierher').
Wir wenden uns von der Stoa zum Neupythagoreismus.
Die Pythagoreische Philosophie hatte als solche seit Jahrhunderten
zu existieren aufgehört?); zu neuer Blüte dagegen erwachte sie
wieder um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts,
Ihre Wiedererstehung that sich vor allem in der Abfassung zahl-
reicher Schriften kund, welche teils dem Pythagoras teils seinen
Schülern untergeschoben wurden. Überblicken wir nun diese
Litteratur, so lassen sich darin hauptsächlich zwei Richtungen
unterscheiden. Obwohl sie nämlich beide in gewisser Beziehung
den Einfluss der Stoa verraten, so schliesst sich doch die eine
derselben ihr genau an, während die andere sich mit eben solcher
Entschiedenheit an Plato und Aristoteles anlehnt. Wir haben
hierauf etwas genauer einzugehen.
Die principielle Unterscheidung beider Richtungen, wodurch
im weiteren Verlaufe die abgeleiteten Unterschiede sich ganz von
selbst ergeben, entwickelt Sextus mit aller wünschenswerten
Klarheit. Nachdem er nämlich die Ansicht der einen referiert
hat, fährt er adv. phys. II 281 fort: τινὲς δ᾽ ἀπὸ ἑνὸς σημείου τὸ
σῶμά φασι συνίστασϑαι. τουτὶ γὰρ τὸ σημεῖον δυὲν γραμμὴν ἀπο-
, τελεῖν, τὴν δὲ γραμμὴν δυεῖσαν ἐπίπεδον ποιεῖν᾽ τοῦτο δὲ εἰς
᾿ βάϑος κινηϑὲν τὸ σῶμα γεννᾶν τριχῆ διαστατόν. διαφέρει δὲ ἡ
τοιαύτη τῶν Πυϑαγορικῶν στάσις τῆς τῶν προτέρων. ἐκεῖνοι
Ρ̓ A
ἶ 1) Die stoische Schule war aus der cynischen hervorgegangen und ver-
F leugnete niemals diese Abstammung ganz; denn als kürzesten Weg’ zur
Tugend empfahlen ihre älteren Vertreter im allgemeinen die eynische Lebens-
weise (Diog. VII 121 und S. 362). Panätius und seine Anhänger verwarfen
_ diese dagegen als Schamlosigkeit (vgl. 5. 219 Anm. 4) und fanden hierin
allgemeine Zustimmung. Die Reaktion gegen diese Auffassung war das
Wiederaufleben des Cynismus als Schule. Seine ersten sicher erkennbaren
Spuren begegnen uns unter Augustus.
2) Jedoch war die Kenntnis derselben nieht abhanden gekommen.
26*
— 464. --
μὲν γὰρ &x δυοῖν ἀρχῶν, τῆς τὸ μονάδος καὶ τῆς ἀορίστου δυάδος,
ἐποίουν τοὺς αοιϑμούς" εἶτα ἐκ τῶν ἀοιϑμῶν τὼ σημεῖα xal τὰς
yoruuds τά τε ἐπίπεδα σχήματα καὶ τὰ στερξά" οὗτοι δὲ ἀπὸ
ἑνὸς omueiov τὰ πάντα' τεκταίνουσιν. ἐξ αὐτοῦ μὲν γραμμὴ
γίνεσϑαι, ἀπὸ γραμμῆς δὲ ἐπιφάνεια, ano δὲ ταύτης σῶμα. Die
Unterscheidung der beiden Richtungen und ihr Unterschied in
der Auffassung ist hier so klar angegeben, dass.es vollkommen
überflüssig ist, dies noch besonders hervorzuheben. Das weitere
Verständnis der Lehre der ersten Richtung erschliesst er uns in
der vorhergehenden Auseinandersetzung: Das Grundprineip ist die
Monas, die Einheit und Selbigkeit; indem sie sich 'noch einmal
setzt, erzeugt sie die unbestimmte Zweiheit. Durch die Teilnahme
an diesen wird alles als das Eine und als das Andere (Verschie-
dene) gedacht. Von: diesen beiden transcendenten Prineipien ent-
stehen erst die Einheit und Zweiheit in den Zahlen, von denen
die erstere der wirkenden Kraft, die zweite der leidenden Materie
gleich kommt. Aus der Verbindung der Einheit und Zweiheit ge-
hen alle weiteren Zahlen hervor, und da der Punkt der Einheit, die
Linie der Zweiheit entspricht, ebenso die Dinge und überhaupt
die ganze Welt!). Diese Richtung der Pythagoreer vertritt also,
wenngleich sie auch von der Monas ausgeht, doch einen entschie-
denen Dualismus, indem sie die Einheit und die Zweiheit zu
Prineipien des Seienden macht und aus ihrer Verbindung die
Welt der Wirklichkeit herleitet. Die zweite Richtung bekennt,
ebenso klar den Monismus, indem sie alles nur aus der Bewegung
der Eins oder des Einen erklärt; sie lässt also die Eins oder das
) $ 261: ἔνϑεν χινηϑεὶς ὃ Πυϑαγόρας ἀρχὴν ἔφησεν εἶναι τῶν ὄντων τὴν
uovad«, ἧς κατὰ μετοχὴν ἕκαστον τῶν ὄντων ἕν λέγεται" χαὶ ταύτην zart αὐτότητα
μὲν ἑαυτῆς νοουμένην μονάδα νοεῖσϑαι" ἐπισυντεϑεῖσαν ὁ᾽ ἑαυτῇ καϑ' ἑτερότητα
ἀποτελεῖν τὴν καλουμένην ἀόριστον δυάδα" διὰ τὸ μηδεμίαν τῶν ἀρ ϑμητῶν καὶ
ὡρισμένων ὑυάδων εἶναι τὴν αὐτήν, πάσας δὲ κατὰ μετοχὴν᾽ αὐτῆς dvades
νενοῆσθϑαιν, καϑὼς καὶ ἐπὶ τῆς μονάδος ἐλέγχουσ. ἙΦύο ὁ ὺν τῶν
ὄντων ἀρχαί, ἥτε πρωτὴ μονάς, ἧς χατὰ μετοχὴν πᾶσαν ei ἀριυϑιμηταὶ μον-
adss νοοῦνταιν ae ἐς" χαὶ ἡ ἀόριστος ϑυάς, ἧς χατὰ μετοχὴν ai ἀθιομενον δυάδες
εἰσὶ δυάδες... 8 276: ἀνέχυψαν ἄρα ἀρχαὶ πάντων χατὰ τὸ ἀνωτάτω ἥ τε πρώτη
μονὰς χαὶ ἡ eh δυάς" ἐξ ὧν γίνεσθαί φασι τὸ τ᾽ ἐν τοῖς ἀρυϑιμοῖς ἕν χαὶ τὴν
ἐπὶ τούτοις πάλιν θυάδα.... 8. 27T: ὅϑεν φασὶν ἐν ταῖς ἀρχαῖς ταύταις τὸν μὲν τοῦ
δρῶντος αἰτίου λόγον ἐπέχειν τὴν μονάδα: τὸν δὲ τῆς πασχούσης ὕλης τὴν δυάδα.
χαὶ ὃν τρόπον τοὺς ἐξ αὐτῶν ὑποστάντας ἀριϑιμοὺς ἀπετέλεσαν, οὕτω καὶ τὸν κόσμον
καὶ πάντα τὰ ἐν τῷ χύόσμῳ συνεστήσαντο χτλ.
-- 45 ---
Eine allem immanent sein, während die vorhin besprochene
Richtung die Urmonas über die beiden abgeleiteten Prineipien
hinausschiebt. Dass die erste Richtung wesentlich auf Platonisch-
-Aristotelischen, die zweite auf stoischen Grundsätzen fusst, lieg!
auf der Hand; für die letzte tritt dies auch darin noch hervor,
- „dass der Hervorgang der Zahlen und Dinge aus dem Einen als
Fluss (607) bezeichnet wird. fh
Sextus deutet an dieser Stelle die Ansicht der zweiten Sekte
nur kurz an und verweist uns am Schlusse derselben ($ 284) auf
zwei andere seiner Schriften, in denen Genaueres über sie gesagt
sei. Die eine derselben ist verloren gegangen, die andere finden
17 wir adv. log. I 92 ff. Damit stimmt die Thatsache vollkommen
„überein, da wir die Lehre, in welcher sich die zweite Sekte von
der ersten unterscheidet, hier mit den: gleichen Worten wieder-
finden!). Mit dieser zweiten Stelle stimmt aber noch eine dritte
adv. arith. (adv. math. IV) $$ 2—9 fast wörtlich überein, so dass
- auch’ diese der Lehre derselben Sekte angehört). Die ausführlichste
᾿ς jst die mittlere; wir werden uns deswegen auch hauptsächlich an
τς siein dem Folgenden halten. Ebenso wenig nun, wie es zweifelhaft
= ist, dass sie die Lehre dieser zweiten Sekte bietet, kann es un-
gewiss sein, dass sie in allen Punkten von der Stoa beeinflusst,
᾿ ja dass sie von einem Stoiker verfasst ist. Zunächst nämlich ist
diese ganze Abhandlung ein einziger in sich zusammenhängender
Beweis, -der zu zeigen sucht, dass die alten Pythagoreer den
λόγος als Kriterium aufgefasst haben. Der Gang desselben ist
folgender: Das Kriterium für die Erkenntnis des Alls ist "der
λόγος, das Princip des Alls aber ist die Zahl: Folglich kann
auch der λόγος Zahl genannt werden?). Die Begründung
1 Adv. phys. II 281: τουτὶ γὰρ τὸ σημεῖον δ υὲν γραμμὴν ἀποτελεῖν" τὴν
δὲ γραμμὴν δυεῖσαν ἐπίπεδον ποιεῖν" τοῦτο δὲ εἰς βάϑος κινηϑὲν τὸ σῶμα γεννᾶν
τριχῆ διαστατόν. Vgl. damit adv. log. I 99: στιγμῆς γὰρ ὁυείσης γραμμὴν
φαντασιούμεϑα, ἥτις ἐστὶ μῆχος ἄπλατες. γραμμῆς δὲ δυείσης πλάτος ἐποιήσαμεν...
ἐπιφανείας δὲ δυείσης στερεὸν ἐγένετο σῶμα κτλ.
3) Die dargelegte Unterscheidyng der beiden Sekten hat Zeller günzlich
ausser Acht gelassen und daher alle diese Berichte derselben Richtung zu-
_ geschrieben,’ was natürlich unmöglich ist. Für den Inhalt ist diese Unter-
scheidung von der grössten Wichtigkeit.
3) $ 92: οἱ δὲ Πυϑαγοριχοὶ τὸν λόγον μέν φάσιν (SC. χριτήριον εἶναι), οὐ
: ιν πὶ ᾿ x ᾿ x - ’ ’ ı 09. ν Ἧ ᾶ x Ps
᾿ χοινῶς de: τὸν δὲ ἀπὸ τῶν μαϑημάτων περιυγινομένον . «- 8 95; zw δὲ ἀρχὴ τῆς
γῶν ὅλων ὑποστάσεως ἀριϑμός. διὸ zei ὁ χριτὴς τῶν πάντων λόγος οὐκ ἀμέτοχος
᾿ὧν τῆς τούτου δυνάμεως καλοῖτο ἂν ἀριϑμος.
— 400 “--
der ersten These wird sofort (88 92—93), die der zweiten
in der nachfolgenden Ausführung ($$ 94—109) gegeben. Denn
indem dieselbe $ 110 mit den Worten schliesst: τοίνυν ὑγιὲς τὸ
“ἀριθμῷ δέ τὸ πάντ᾽ ἐπέοικεν, kehrt sie zu dem Ausgangs-
punkte (δ 94) zurück und erklärt als bewiesen, was, wie sie 8 94
sagt, zu beweisen war, dass die Zahl das Princip des Alls sei.
Die Abhandlung zeigt also einen in sich wohlgeordneten und
unzerreissbaren Zusammenhang. Stoisch ist nun zunächst der
ganze Zweck dieser Abhandlung, den λόγος als Kriterium bei
den Pythagoreern nachzuweisen. Stoisch ist ferner auch, von
dem Nachdrucke der auf die Zahlen gelegt wird abgesehen, die
Begründung der zweiten These. Dies beweisen vor allem schon
die Schlussworte 8 109: χοινῷ δὲ λόγῳ πᾶσα τέχνη ἐστὶ σύ-
στημα ἐκ καταλήψεων, τὸ δὲ σύστημα ἀριϑμός: Nie ent-
halten augenscheinlich eine Übertragung stoischer Begriffe auf
Pythagoreische Zahlenlehre. Drei Stellen aber finden sich, welche
genauer auf die Quelle hinführen. Die erste steht in der Be-
sründung der ersten These, die wir ein wenig eingehender zu
untersuchen haben. Sie lautet: οἱ de Πυϑαγορικοὶ τὸν λόγον μέν
φασιν [χριτήριον εἶναι], οὐ κοινῶς δέ" τὸν δὲ ἀπὸ τῶν μαϑημάτων
περιγινόμενον, καϑάπερ ἔλεγε καὶ ὃ Φιλόλαος, ϑεωρητιχόν τε ὄντα
τῆς τῶν ὅλων φύσεως ἔχειν τινὰ συγγένειαν πρὸς ταύτην, ἐπείπερ
ὑπὸ τοῦ ὁμοίου τὸ ὅμοιον καταλαμβάνεσϑαι πέφυκε"
γαίῃ μὲν γὰρ γαίαν onwrrauev, ὕδατι δ' ὕδωρ,
αἴϑερι δ᾽ αἴϑερα δίον, ἀτὰρ πυρὶ πῦρ ἀίδηλον,
στόργην δὲ στοργῇ, νεῖκος δὲ γε νείκεϊ λύργῳ"
καὶ ὡς τὸ μὲν φῶς, φησὶν ὃ Ποσειδώνιος τὸν Πλάτωνος Τίμαιον
ἐξηγούμενος, ὑπὸ τῆς φωτοειδοῦς ὄψεως καταλαμβάνεται, ἡ δὲ
φωνὴ ὑπὸ τῆς ἀεροειδοῦς ἀκοῆς" οὕτω καὶ ἡ τῶν ὅλων φύσις ὑπὸ
συγγενοῦς ὀφείλει χαταλαμβάνεσθαι τοῦ λόγου. Der Nachweis,
dass die alten Pythagoreer den λόγος als Kriterium aufgefasst
haben, stützt sich hier auf drei Gründe: Auf die Angabe des
Philolaus, dass der λόγος eine Verwandtschaft zu der Natur des
Alls habe, die Verse des Empedocles, durch die nachgewiesen
werden soll, dass das Gleiche vom Gleichen begriffen werde, und
auf eine Stelle aus dem Timäuskommentar des Posidonius, aus
der das Gleiche aus gleichen, jedoch klarer gefassten Prämissen
erschlossen wird, was wir aus den beiden vorhergehenden folgern
sollen. Da nun die alten Pythagoreer die Frage nach dem
-- 40 ---
Kriterium gewiss noch nicht aufgeworfen und beantwortet haben,
so müssen die beiden obigen Angaben in der vorliegenden
Gedankenverbindung von einem Philosophen zusammengestellt
sein, der ein Interesse daran hatte den Nachweis zu führen, dass
die Pythagoreer den λόγος als Kriterium aufgefasst haben. In
unmittelbarem Anschlusse hieran finden wir nun den gleichen
Schluss durch das Citat aus dem Timäuskommentar des Posidonius
bestätigt: Also muss sich dieser Schluss des Posidonius doch auf
die Pythagoreische Erkenntnistheorie bezogen haben. Denn es
wäre doch in Wirklichkeit unsinnig gewesen, wenn Sextus oder
der, dem Sextus folgte, zum Beweise dafür, dass die alten Pytha-
goreer den λόγος als Kriterium gelten liessen, sich auf einen
stoischen Beweis hätte berufen wollen. Erwies aber Posidonius
mit den angeführten Worten den λόγος als Kriterium der alten
Pythagorer — in dem Kommentar zum Platonischen Timäus
konnte er doch nur von alten Pylhagoreern reden, — so ist es
bei dem engen Zusammenhange der angegebenen Stelle augen-
scheinlich, dass auch er die beiden Citate aus Philolaus und
Empedocles in der Weise znsammengestellt hat, dass der Schluss
daraus folgt, den wir oben gehört haben'). Hierzu stimmen
auch die Worte, durch welche die beiden Citate aus Philolaus
und Empedocles verbunden werden: ἐπείπερ ὑπὸ τοῦ ὁμοίου To
διοιον καταλαμβάνεσθαι πέφυχε, denn wenn auch das Wort
“χαταλαμβάνεσϑαι᾽ nicht speciell stoisch ist, so erinnert es uns
doch in diesem Zusammenhange, wo es sich um das Kriterium
1) Dies und der 5. 405. angegebene Zusammenhang sind die Gründe,
weswegen ich mich Hirzels Meinung, Unters. II S. 532, der sich Stein,
Psych. d. Stoa II S. 355 A. 830 einfach anschliesst, nur die Worte $ 9:
zei ὡς τὸ μὲν φῶς ... καταλαμβάνεσϑαι τοῦ λόγου gehörten dem Posidonius,
nieht anschliessen kann; Gründe hat er jedenfalls nieht angeführt. Zeller
wendet Philos. ἃ. Gr. IIla 8. 578, 4 ein, das Pythagoreische dieser Stelle
gehöre nicht mehr zu dem Timäuskommentar des Posidonius, wie die (ya
gleichung mit dem oben schon erwähnten parallelen Bericht adv. arith. ὃ 2 f.
beweise. Dieser Grund ist nicht stichhaltig: Die Vergleiehung beider Stellen
zeigt, dass der Anfang des Berichtes adv. arith. erst dem adv. log. 189 aa:
spricht. Wollten wir also mit Zeller schliessen, das Pythagoreische an ı ge,
Stelle gehöre nicht zum Timäuskommentar des Posidonius, wie ee
gebene Vergleichung beweise, so müssten wir aus gleichem legs er eng 5,
dass die beiden ganzen 88 92—93 nicht zu der folgenden ken ==
Pythagoreischen Lehre gehörten, was an sich natürlich verke ran
wegen der syllogistischen Fügung des ganzen Berichtes unmöglich ΒΥ,
B = ὧν
-- 405 ͵“--
handelt und so viel Stoisches zu treffen ist, unwillkürlich an die
stoische χατάληψις, zumal wir auch in dem Citat aus Posidonius
und am Schlusse des ganzen Berichts ($ 109) dasselbe Wort
wiederfinden!). Dieses Resultat wird durch die andere Stelle
bestätigt. Beim Nachweise der Richtigkeit der zweiten Prämisse
treffen wir die Einteilung des Seienden in körperliche und un-
körperliche Dinge und die der körperlichen wieder in einheitliche,
zusammengefügte und zusammengesetzte. Diese Einteilung ist
stoisch und deckt sich mit derjenigen, welche wir anderwärts
bereits als die des Posidonius kennen gelernt haben?). Am
Schlusse der Abhandlung ($ 107 ff.) lesen wir drittens einen
Bericht über die Erbauung des rhodischen Kolosses, der sonst
sich nirgends findet. Die Rhodier fragten nämlich, so berichtet
er, den Chares, wieviel Material er zur Erbauung des Kolosses
nötig habe. Nach Angabe seiner Forderung hätten sie weiter
gefragt, wieviel er gebrauche, wenn er den Koloss doppelt so
‚hoch mache. Er habe das Doppelte gefordert und erhalten.
Bald jedoch habe er eingesehen, dass er viel zu wenig verlangt
habe, und sich deshalb nach Verbrauch des gegebenen Materials
das Leben genommen. Nach seinem Tode hätten die Künstler
gesehen, dass er nicht das Doppelte, sondern das Achtfache hätte
fordern müssen. Diese Erzählung weist unzweideutig darauf hin,
dass Sextus einem Gewährsmanne folgt, der die rhodischen Ver-
hältnisse genau kannte. Unter den obwaltenden Verhältnissen
kann dies nur Posidonius gewesen sein, dem ein Beispiel aus der
rhodischen Geschichte sehr nahe lag, da er ja auf Rhodos lebte°).
') Der Timaeus Platos galt bekanntlich (vgl. Timon b. Gell. N. A.
III 17,4 ff.) als eine Überarbeitung eines Philolaischen Werkes; Posidonius
hatte also wohl das Recht und die Pflicht hier auf Philolaus zurückzugehen.
5) Vgl. diese Stelle mit Sext. adv. phys. I 78—85; Cie. deor. nat. II 7, 19;
siehe S. 91.
°) Es ist hierbei wesentlich gleichgültig, ob diese Erzählung auf Wahr-
heit beruht, oder eine unwahrscheinliche Anekdote ist, wie Zeller, Philos.
d. Gr. 1 S. 337,1* meint; denn ein derartiger Klatsch konnte doch schwer-
lich anderwärts als in Rhodus entstehen. Auch sind wir nicht in der Lage
zu erkennen, mit welcher Reserve Posidonius dies erzählt hat; und ferner
wissen wir ebenfalls nicht, ob nicht thatsächlich Chares über der Vollendung
des Kolosses gestorben ist, so dass ein anderer Künstler ihn vollenden
musste. In diesem Falle musste der Koloss immer als sein Werk be-
zeichnet werden; feindlicher Klatschsucht aber konnte sein Tod leicht zu
ἢ
-- 49 “--
Es ist also. zumal bei dem inneren Zusammenhange der ganzen
‚Abhandlung unzweifelhaft, dass sie aus dem Timäuskommentar
des Posidonius entlehnt ist.
Die Theorie der Zahlen und ihre Symbolik ist der Mittel-
und Kernpunkt der Pythagoreischen Philosophie. Schon in dem
eben behandelten Abschnitte haben wir dies kennen gelernt und
müssen jetzt hierauf noch genauer eingehen. Wir vergleichen
dazu die folgende Übersicht dieser Theorie bei Varro!), Macro-
bius?), Theon®?) von Smyrna und Philo von Alexandria.
dem obigen Gerüchte Veranlassung geben, ähnlich wie es Phidias selbst
noch während seines Lebens erging. Wenn Simonides (von Magnesia?) in
der Anthol. Graeca S. 75, n. 83 (89) ed. Jacobs und ebenso Constantin. Por-
phyr. de administr. imp. e. 21 Laches statt Chares als den Erbauer des
Kolosses bezeichnen, so ist dies jedenfalls wohl nur schlechte Überlieferung;
vgl. Anthol. Graeca ed. Dübner II S. 542 n. 82.
1) Bei Censorin de die nat. ὁ. 7ff. und bei Gell. N. A. III 10 u. I 20.
Beide Schriftsteller haben verschiedene Zwecke und berichten nur, was sie
diesen zufolge für nötig halten. Sie betonen daher selbst, dass sie ihre
Quelle kürzen; vgl. Censor. a. a. Ὁ. c. 13, 6; 14,9; Gell. III 10, 1 u. 16;
‘auch ist es von selbst klar, dass Gellius sehr kürzt. Zudem benutzt der-
selbe überhaupt nur eine Schrift und zwar eine andere wie Censorin.
2) Zu den beiden Kapiteln Somn. Seip. 15—6 gehören notwendig auch
die beiden ersten des zweiten Buches desselben Kommentars; denn 1. ver-
weist uns Macrob. I 6,43 ausdrücklich auf die genauere Darstellung des
behandelten Gegenstandes im weiteren Verlaufe der Abhandlung, d. h. auf
II e. 1; und 2. finden sich deshalb a. a. Ὁ. auch mehrere fast wörtlich Über-
einstimmungen; vgl. z. B. I 6, 43—44 mit II 1, 15ff.; 15, 7ff. mit II 2, 2#f.;
besonders I 5, 9 mit II 2,7. Ebenso enthält II ὁ. 2 eine Wiederholung und
die notwendige Ergänzung zu der Erörterung, welche sich über die mathe-
matischen Körper und ihr Verhältnis zu denen der Wirklichkeit 1 ὃ finden.
Ihre Zusammengehörigkeit lässt sich nicht bezweifeln.
3) Theon bringt in seiner Theorie der Musik nach der Einleitung zunächst
einen kurzen Bericht aus Thrasyllus (p. 47, 18—49, 5 ed. Hiller) und wendet
sich darauf zu seiner Hauptquelle Adrastus (p. 49,6ff.). Er berichtet aus
ihm zuerst im wesentlichen über dasselbe, was er vorher aus Thrasyllus
gebracht hat, und deutet alsdann (p. 50, 21) die Disposition der nachfolgenden
Abhandlung an. Gemäss derselben spricht er 1. über die Konsonanzen
(p. 50, 22— 72,20), 2. über die harmonischen Verhältnisse der Zahlen (p. 72, 21
bis 119,21). Seine Quelle ist fast durchweg Adrastus, wie er selbst angiebt.
Die zweite Hälfte beginnt er nach Adrastus mit der Angabe der verschiedenen
Bedeutungen von λόγος (p. 73, 19). Im Anschlusse hieran spricht er über
" die Zahlenverhältnisse der Konsonanzen und giebt darauf wiederum nach
Adrastus (p. 76,2) eine Einteilung der Zahlen vom rein arithmetischen Stand-
punkte aus. Diese beherrscht die nachfolgende Auseinandersetzung (p. 10,
8
— 410 —
bis 80,6) und wird durch einige Bemerkungen mit der vorhergehenden Ein-
teilung in Verbindung gesetzt. Diese letzteren führen zu der Lehre von
der Proportion (p. 82,6 bis zum Schlusse), Theon unterbricht diese Ab-
handlung jedoch p. 85,8 durch eine andere, die zunächst bis p. 93,8 reicht.
Obwohl er daselbst (Z. 10ff.) das verlassene Thema wieder aufnehmen will,
thut er es nicht, sondern fügt noch einen Abschnitt hinzu (p. 93,17—106, 11).
Dann setzt er es in der That fort; vgl. p. 84,15: διεαφέρεν δὲ ἀναλογίας μεσότης,
ἐπειδὴ εἰ μέν τὸ ἀναλογία τοῦτο zei μεσύτης, εἰ δέ τι μεσότης, οὐκ εὐθὺς ἀναλογία.
Dies erörtert er bis S. 85,8, wo der Zusatz beginnt. p. 106, 12 fährt er fort:
ἐπανιτέον δὲ ἐπὶ τὸν τῶν ἀναλογιῶν zei μεσοτήτων λόγον χτλ.; vgl. auch die
Ankündigung der Wiederaufnahme des Themas S. 93,11: νυνὲ δ᾽ ἐπανἐλ-
Hauer ἐπὶ τὸν τῶν λοιπῶν ἀναλογιῶν zei μεσοτήτων λόγον, ἐπειδή, ὡς ἔφαμεν,
ἡ ἀναλογία χαὶ μεσότης, οὐ μέντοι ἡ μεσότης καὶ ἀναλογία. Der Abschnitt
p- 80, 8—106, 11 unterbricht also die Disposition des Theon und ist nach
seiner eigenen Angabe eine Einlage. Dieses bestätigt auch der Inhalt; denn
zum weitaus grössten Teile hat er mit dem, was vorher und nachher steht,
nichts zu schaffen; soweit er sich aber mit dem umgebenden Inhalte berührt,
enthält er in der Hauptsache kurz noch einmal den Inhalt der eigentlichen
Vorlage. Diese Übereinstimmung findet im Anfange statt, und diese ist
augenscheinlich der Grund gewesen, der Theon veranlasste, die Einlage gerade
an der angegebenen Stelle einzuschieben. Dies wird sofort klar, wenn wir
den Anfang der Einlage (p. 85, $f.) mit der Fortsetzung der eigentlichen Vor-
lage (p. 106, 14f.) vergleichen. Die Einlage zerfällt nun durch die Bemerkung
Theons (p. 93, 8ff.) in zwei Abschnitte; doch ist diese Teilung nur äusserlich,
denn inhaltlich hängen sie beide aufs engste zusammen, wie auch Theon
selbst ausführt. In dem ersten Abschnitte nämlich wird gezeigt, dass die
Konsonanzen sich alle in der Vierzahl (zere«zrus) vereinigen; in dem zweiten
wird daher ganz natürlich über das Wesen derselben gehandelt (vgl. auch
p- 93, 17). Ausserdem ist die gedachte Bemerkung Theons auch nur dadurch
entstanden, dass er hier seime Einlage insofern kürzt, als er die Geltung der
Konsonanzen in dem Bau der Welt auslässt, um sie in der Darstellung der
Astronomie zu geben (vgl. p. 93, Sff. mit p. 204,23 ff. Dieses fehlt bei Theon).
Die Einlage ist also einheitlich und demnach nur von einem Gewährsmanne
entlehnt. Diesen nennt Theon dreimal: Es ist Thrasyllus. — In der ersten
Hälfte der Darstellung beginnt Theon seine Theorie nach Adrastus (p. 49, 6)
mit der Unterscheidung der Geräusche und Töne, geht dann zu der Lehre
von den Konsonanzen und den Tongeschlechtern über und schliesst un-
mittelbar hieran einen Bericht über die Auffindung der letzteren (p. 56, 9
bis 61,18). Diesen bezeichnet er selbst wieder als eine Einlage in die Dar-
stellung des Adrastus; vgl. p. 61,18ff.: ταυτὶ μὲν περὶ τῆς εὑρέσεως τῶν ovu-
φωνιῶν" ἐπανέλθωμεν δὲ ἐπὶ τὰ ὑπὸ τοῦ Αδράστου παραδεδομένα. Die
Veranlassung zu derselben hat offenbar die Bemerkung des Adrastus (p. 61,20f.)
gegeben: Die Verhältnisse, welche bei den zu der Auffindung der Konso-
nanzen gefertigten Instrumenten angewandt seien, stimmten mit der Wahr-
nehmung und umgekehrt. Die Einlage enthält die Bestimmung dersel-
-- 411] —
Ἧ Varro Macrobius Thrasyllus | Philo
εἴ Somn. Se. (Theon ed. Hiller) | de opifie. mundi),
® 16,5: septenarü | Ρ. 22M. 8 81.
᾿Ὰ ͵ numeri] ut expres- μεταβατέον δὲ χαὶ
-. sius plenitudo no- ᾿ ἐπὶ... ἐβδομάσος εἶ-
scatur, primum | dog τὸ περιεχόμενον
merita partium.. | dv δεχάδι .. διέαι-
investigemus. con- | ρεῖται γὰρ πρῶτον
stat.. vel ex uno μὲν εἰς μονάδα χαὶ
et sex, velex duo-
bus et quinque, |
vel ex tribus et
ade, ἔπειτα εἰς
δυάδα χαὶ πεντάδα,
χαὶ τελευταῖον εἰς
quattuor. | ᾿ grade χαὶ τετράδα.
16,86: omnium | Ρ. 24 $ 34: χα-
eorporum tressunt | λεῖταν δὲ ἡ ἔβδο-
dimensiones, lon-
gitudo latitudo |
profunditas.
termini annume- | p. 97,3: τρίτη τες σίμπαντα. τεχ-
ratoeffectu ultimo | zgazrös .. ἐκ ση- μηριώσαιτο δὲ ἄν
quattuor,punctum | usiov γραμμῆς ἐπι- τις ἐχ τοῦ πᾶν σῶμα
linea superficies et πέδου στερεοῦ. ὀργανιχὸν τρισὶ μὲν
ipsa soliditas. χεχρῆσϑαι διαστά-
item eum quat- | p.97,4fl.: τετάρτη σεσι, μήχει βάϑειχαὶ
tuorsintelementa, δὲ τετραχτύς ἐστι πλάϑει" τέσσαρσι δὲ
μὰς .. καὶ τελέσφο-
a ee
ρος, ἐπειδὴ ταύτῃτε-
λεσφορεῖται τὰ
WPD
Fi
ben. Da nun dieselbe nicht bei Adrastus stand, und Theon seine Hauptquelle
-_ durch Zusätze aus Thrasyllus vervollständigt, so liegt der Schluss auf der
Hand, dass er auch diesen Bericht ihın entlehnt hat. Dies lehrt auch wieder
‚der Inhalt. Ohne dass dazu irgend eine Veranlassung vorläge, werden hier
die Konsonanzen unter der Vierzahl (τετραχτύς) zusammengefasst (p. 58, 13 ff.):
Dies ist das Thema der vorhin behandelten Einlage. Ebenso wie mit dem
nachfolgenden Bruchstücke des Thrasyllus hängt sie auch mit dem ersten
_ zusammen, das Theon an den Anfang gestellt hat, sie setzt sie nämlich ein-
fach fort: Der erste Abschnitt aus Thrasyllus führt die Abhandlung bis zur
Aufzählung der Konsonanzen und der diesbezüglichen Stellung des Viertel-
tons (δίεσις) zum Ganzton. Ebenso weit reicht auch die erste Abhandlung
aus Adrastus; vgl. p. 48,20 Ε΄. mit p. 55, 88. Die Einlage (p. 56, 9 ff.) über
die Auffindung der Konsonanzen knüpft also gerade an den Abschnitt des
Adrastus an, den sie auch selbst in der Darstellung bei Thrasyllus fortsetzte,
gerade wie dies bei der vorigen Einlage der Fall ist (vgl. p. 85, 8 ff. mit
Ῥ. 106, 13 ff.). Mit diesem Ergebnisse stimmt der ganze Charakter der aus-
geschiedenen Stellen unter sich sowohl, als auch im Vergleiche mit der Dar-
stellung, die aus Adrastus genommen ist.
ἡ Philo hat die diesbezügliche Darstellung: 1. in de opif. m. p. 21 M.
8 30R.#. und 2. kürzer in leg. alleg. I p. 4 Μ. 8 2R.ff. Auch an der
"ersten Stelle will er nicht ausführlich sein vgl. ds. p. 21 M. $ 30. R.
Varro
— 149 =
Macrobius
terra aqua aer ig-
nis, tribus sine du-
bio interstitiis se-
parantur . . ex
quattuor igitur
elementis et tribus
eorum interstitiis
absolutionem cor-
porum constare
manifestum est.
($ 24) quaternari-
us (numerus) duas
medietates .. nac-
tus est. quas ab
hoc numero deus..
mutuatus insolu-
bili inter se vin-
ceulo elementa de-
vinzit, sieut in Ti-
maeo Platonis ad-
sertum est... (8 92)
nam quantum in-
terest interaquam
causa densitatis et
ponderis et aerem,
tandundem inter
aerem et ignem ..
est, et . . inter
aquam et ter-
ram.
1 6, 41: quater-
narium ... Pytha-
gorei, quem re
τραχτύν vocant,
adeo quasi ad per-
fectionem animae
pertinentem inter
arcana numeran-
tur, ut ex eo et
iuris jurandi reli-
gionem sibi fece-
rint:
οὐ μὰ τὸν ἁμετέρᾳ
ψυχᾷ παραδόντα
τετραχτύν ...
(Theon)
τῶν ἁπλῶν σωμά-
πυρὸς ἀέρος
[ - -
ὕδατος γῆς, ἀναλο-
γέαν ἔχουσα τὴν κα-
των,
τὰ τοὺς ἀριϑμούς.
τοιαύτη γὰρ ἢ
φύσις τῶν στοιχεί-
ων χατὰ λεπτομέ-
ρειαν χαὶ παχυμέ-
ρειαν, ὥστε τοῦτον
ἔχειν τὸν λόγον πῦρ
πρὸς ἀέρα, ὃν ἕν
πρὸς β΄, πρὸς δὲ
ὕδωρ, ὃν ἕν πρὸς
γ᾽ .. ὃ δὲ ἐκ τῶν
τετραχτύων τού-
των συστὰς κόσ-
wos ἔσταν ἡρμοσ-
μένος κατὰ γεωμε-
τρίαν χαὶ ἁρμονίαν
χαὶ ἀριϑμόν χτλ.
p- 94: ἡ τετραχτὺς]
οὐ Διὰ τοῦτο δὲ
μόνον πῶσι τοῖς Πυ-
ϑαγοριχοῖς προτετί-
unteı, ἀλλ᾽ ἐπεὶ καὶ
δοκεῖ τὴν τῶν ὅλων
φύσιν συνέχειν" διὸ
χαὶ ὅρχος ἣν αὐτοῖς"
οὐ μὰ τὸν ἁμετέρᾳ
ψυχᾷ παραδόντα
τετραχτύν,
παγὰν ἀενάου φύ-
σεως ῥίζωματ᾽ ἔ-
χουσαν.
Philo
πέρασι, σημείῳ χαὶ
| γραμμὴ καί ἐπι-
φανείᾳ χαὶ στερεῷ,
| di’ ὧν ovvıederrwv
ἀποτελεῖταν £Pdo-
uds xt).
Gell. 1.30: linea
est, inquit (se. Var-
ro) longitudo . .
sine latitudine et
altitudine. Euclei-
des... γραμμή, in-
quit, μῆκος ἄπλα-
Be...
planum (ἐπίπεδον)
est, quod in duas
partis . . lineas
habet, qua latum
᾿ς estet qua longum.
solidum (στερεόν)
_ est, quando non
longitudines pla-
_ nas numeri linea-
rum effieiunt, sed
etiam extollunt al-
titudines, quae
χύβους .. quales
sunt tesserae, qui-
bus in alveo lu-
ditur.
in numeris etiam
similiter χύβος di-
eitur, cum omne
latus eiusdem nu-
meri aequaliter in
sesesolvitur, sieuti
fit, cum ter terna
ducuntur atque
ipse numerus ter-
plicatur.
der Fläche.
Macrobius
413
(Theon)
II 2,4. (vel.I5,
ὃ ff.): dieunt pune-
lum corpus
individuum, in quo
neque longitudo
neque latitudo.
hoe .. effieit Z-
neam longum
est sine lato sine
alto.
hane lineam si
geminaveris.. COT-
pusefficies, quod..
aestimatur longo
latoque . . sıwer-
fieies') (ἐπίπεδον). |
IT. -1I2,9:
fit tribus dimen-
sionibus impletis |
, eorpus
solidum,
quod στερεόν γο-
cant, qualis 'est
tessera, quae#ußog
vocatur.
I, 24,8, es ΔΗ
geometrieis ratio-
nibus adplicatur
natura numero- |
rum.
monas punctum
putatur..origo nu-
merorum. primus
ergo numerus in
duobus est, qui
similis lineae ..
hie numerus duo
esse
p. 94,15ff.: ἡ μον-
ἃς. ἀρ χὴ πάντων,
ἀρτίων καὶ περιτ-
τῶν διὸ δύο
λαμβάνονται αἵ χα-
πολλαπλασιασ-
.
τα
| μὸν τετραχτύες, ἀρ-
Philo
p. 23 $ 32: ση-
μεῖον μέν ἐστι χα-
τὰ μονάϑα,
γραμμὴ δὲ χατὰ
δυάδα,
ἐπίπεδον δὲ χα-
τὰ τριάδα τέτα-
χται..
τὰ δὲτέσσαρα στ ε-
ρεοῦ χατὰ τὴν τοῦ
ἑνὸς πρόσϑεσιν, βά-
ϑους ἐπιπέδῳ προσ-
\ τεϑέντος"
ἐξ οὗ δῆλόν ἐστιν,
ὅτι ἡ τῆς ἑβδομάδος
γεωμετρίας
στερεω μετρίας
ἀρχὴ καὶ συνελόντι
οὐσία
χαὶ
φράσαι ἀσωμάτων
ὁμοῦ χαὶ σωμάτων...
p. 22 8 30. ἀεὶ γὰρ
ὁ ἀπὸ μονάδος συν-
τιϑέμενος ἐν διπλα-
σίοις ἢ τριπλασίοις
ἢ συνόλως ἀναλο-
γοῦσιν ἕβδομος d-
gr uös χύβος TE χαὶ
τετράγωνός ἐστιν,
ἀμφότερα
περιέχων,
ἀσωμάτου
τὰ εἴδη
τῆς TE
χαὶ σω-
1) Macrob. gebraucht sowohl superfieies als planities zur Bezeichnung
Varro
‚ mMonas
— 44 —
Maerobius
geminatus de se
effieit quattuor ad
similitudinem ma-
thematici corporis
(sc. superficiei).
quaternarius ge-
minatus octo effi-
eit, qui numerus
solidum corpus
imitatur .. et hoc
est, quod apud
geometras dieitur
bis bina bis cor-
pus .. quia tam
paris quam im-
paris numeri mo-
nas origo est, ter-
narius numerus
prima linea esse
eredatur. hie tri-
plicatus novena-
rium numerum fa-
eit, qui et ipse..
longum latumque
eorpus effieit . .
item novenarius
triplicatus tertiam
dimensionem prae-
stat. etitaa parte
imparis numeri in
viginti septem,
quaesuntterterna
ter solidum corpus
effieitur, sieut in
numero pari bis
bina bis .. ergo
ad efficiendum ..
solidum corpus
necessaria
est et sex alii nu-
meri, id est terni
a pari et impari..
Timaeusigitur Pla-
tonıs in fabriecanda
mundi anıma ..
(Theon)
Tie χαὶ περιττή, ἡ
μὲν ἀρτία ἐν λόγῳ
διπλασίῳ, πρῶτος
γὰρ τῶν ἀρτίων ὃ
β΄... ἡ δὲ περιττὴ..
ὃ γ᾽" «τρίτος δὲ ἐν
μὲν τοῖς ἀρτίοις 6
δ΄, ἐν δὲ τοῖς περιτ-
τοῖς ὃ 8' - τέταρτος
ἐν μὲν τοῖς ἀρτίοις
η΄, ἐν δὲ τοῖς περιτ-
τοῖς χζ'..
ϑύναταν δὲ ἣ μὲν
μονὰς τὸν τῆς ἀρχῆς
χαὶ σημείου χαὶ στι-
γμῆς λόγον"
οἱ δὲ δεύτεροιπλευ-
ρὰν δύνανται ὅ τε
ς ‚
β' καὶ ὃ γ΄.
οἱ δὲ τρίτον ὅρον
ὃ δ΄ καὶ ὃ ϑ' δύναν-
ταν ἐπίπεδον... ἰσά-
χις ἴσον ὄντες"
οἱ δὲ τέταρτοι ὅρον
ὅ τὲ η΄ χαὶ ὃ χζ' δύ-
vavraı ἰσάχις ἴσοι
ἰσάκις (ὄντες) κύβον.
... ὥστε ἐχ τούτων
τῶν ἀριϑμῶν.. ἀπὸ
σημείου καὶ στιγμῆς
εἰς στερεὸν ἡ αὔξησις
γίνεταν" μετὰ γὰρ
σημεῖον .. πλευρά,
μετὰ πλευρὰν ἐπέπε-
dov, μετὰ ἐπίπεδον
στερεόν... ἐν οἷς
ἀρυϑμοῖς zei
τὴν ψυχὴν συνί-
στησιν ὃ Πλάτων
ἐν τῷ Τιμαίῳ.
Philo
uatızas οὐσίας" τῆς
μὲν ἀσωμάτου κατὰ
τὴν ἐπίπεδον, ἣν
ἀποτελοῦσιν τετρά-
γωνοι, τῆς δὲ σωμα-
τικῆς χατὰ τὴν ἕτέ-
ραν, ἣν ἀποτελοῦσι
κύβοι.
Varro
Censor. e. 10, 6;
8f. (vergl. Gell.
XVOI 14): sym-
phoniae simplices
_ ac primae sunt
tres.. Pythagoras
deprehendit tunc
duas chordas con-
‚einere ..
διὰ τεσσάρων, cum
earum pondera
| inter se collata
_ habent rationem,
_ quam III ad IV,
quem phthongon
ον ἐπίτριτον vocant.
τς symphoniam
die πέντε... in-
_ venit, ubi ponde-
_ rum diserimen in
_ sesquialtera por-
_tione, quam II fa-
eiunt adIII..quod
ἡμιόλιον appellant.
cum .. altera
duplo maiore pon-
dere quam altera
urch.
®) Vgl.
Macrobius
ait!) illam per hos
numeros Juisse con-
texztam etsq.?).
($ 18): ex his nu-
meris fuerat com- |
ponenda (sc.anima
mundana), quisoli
eontinent iugabi-
lem ecompetentiam
etsqg. (= I 6, 43;
Π| 119):
II 1, 13: Pytha- |
goras.. deprehen-
dit numeros, ex
quibus soni sibi
eonsoni nasceren-
tur .
est epitritus, cum |
deduobus numeris
maior habet totum
minorem et in-
super eius tertiam
partem, ut sunt
IV ad IlI.. deque
eo nascitur sym-
phonia διὰ reooc- |
ρων.
hemioliusest, cum |
de duobus numeris |
maiorhabettotum
minorem et in-
super eius medie-
tatem, ut sunt III |
ex hoe |
30. ἪΠ᾿ . -
numero .. naseitur
διὰ πέντε.
duplarisnumerus
est,eumde duobus
numeris minor bis
415
(Theon)
p. 95, 1418: ἐν
τούτοις τοῖς ἀριεϑ-
μοῖς (οἷν τελειότεροι
τῶν συμφωνιῶν εὑ-
᾿ρέσχονται λόγοι.
p- 56, 9ff.:
δὲ
᾿ φϑόγγους ἐν λόγοις
τοὺς
συμφωνοῦντας
τοῖς πρὸς ἀλλήλους...
| ἀνευρηχέναν doxei
| Πυϑαγύρας..
τοὺς μὲν διὰ τεσ-
σάρων ἐν ἐπιτρίτῳ")
τοὺς δὲ διὰ πέντε
8 ,
ἐν ἡμιολίῳ.
τοὺς δὲ διὰ πασῶν
ἐν διπλασίω"
τοὺς μὲν διὰ na- |
Philo
ΟΡ 8 97
p- 26 $ 37:
δὲ
μόνον, ἀλλὰ zai..
ἐστι
οὐ τελέσηορος
ς ’
ÜPUOVIKWTAETN..TIN-
τοῦ χαλλίστου
Yn
διαγράμματος, ὃ
2.
πάσας .. τὰς douo-
νίας ... περιέχει"
ὁ μὲν ὀχτὼ πρὸς
ἕξ ἐν ἐπιτρίτῳ λόγῳ,
χαϑ ἣν ἡ διὰ τετ-
᾿τάρων ἁρμονία ἐσ-
τίν"
ὁ δὲ ἐννέα πρὸς
Ἐξ ἐν ἡμιολίῳ, καϑ'
: ς
ἡ διὰ πέντε"
ὁ δέ δώϑεχα πρὸς
ἘΞ ἐν διπλασίονι,
χαϑ' ἣν ἡ διὰ πασῶν
Ε΄ ἢ) Die nachfolgende Erklärung Platos (8 16—17) entspricht der Dar-
stellung des Thrasyllus ebenso, ja fast noch mehr.
2) Vgl. ebendas. $ 18ff. und I 6, 43ff. Macrob.
führt dies mehrmals
p. 48, S5ff., wo dasselbe in weiter Ausführung gegeben wird
nd zwar direkt nach Thrasyllus.
Varro
tenderetur et esset
διπλάσιος λόγος διὰ
πασῶν sonabant.
(tribussympho-
niis simplieibus
ac primis) con-
stant reliquae').
(symphonia διὰ
πασῶν) est vel
sex tonorum, ut
Aristoxenus musi-
eique adseverant,
vel quinque
duorum hemito-
niorum, ut Pytha-
goras geometrae-
que, qui demon-
strant III hemi-
tonia tonum com-
plere non posse.
quare etiam huius
modi intervallum
abusive hemito-
nium, proprie ..
διάλειμμα appel-
lat.
') Censorin hat diese aus
braucht.
et |
Maecrobius
in maiore nume-
ratur ut sunt IV
adelleewexshoer:
nascitur sympho-
nia .. die πασῶν.
eum
de duobus numeris
minor ter in ma-
iore numeratur ..
ex hoc numero
symphonia .. dı«
πασῶν χαὶ διὰ πέντε.
triplaris . .
quadruplus est,
cum de duobus
numeris minor
quater in maiore
numeratur..qui..
facit symphoniam
.. dis διὰ πασῶν.
epogdous .. nu-
merussonum parit,
quem τόνον musici
vocaveruntsonum
εν tono minorem
semitionium voci-
tare voluerunt ..
quem tam parvo
distare a tono de-
prehensum est,
quantum hi duo
numeri inter se
distant, id est
CCXLIN et CCLVI.
hoe semitonium
Pythagoriei... die-
συν nominaverunt
..; Plato λεῖμμα.
416
(Theon)
σῶν χαὶ διὰ τεσσώ-
ρων ἐν λόγῳ τῶν 7
πρὸς γ΄, ὃς ἐστι...
διπλάσιος zei dio-
ἑπίτριτος.
τοὺς δὲ διὰ πασῶν
χαὶ διὰ πέντε ἐν
λόγῳ τριπλασίῳ.
τοὺς δὲ dis διὰ
πασῶν ἐν τετραπλα-
σίῳ.
[2
τῶν ἄλλων ἡρμοοσ-
μένων τοὺς μὲν τὸν
τόνον περιέχοντας
ἐν ἐπογδόῳ λόγῳ,
τοὺς δὲ τὸ νῦν λεγό-
μενον
τότε δὲ
ἡμιτόνιον,
dissıv —
idem λεῖμμα p. 86,
15 ff. — ἐν ἀριῦ-
μοῦ λόγῳ πρὸς
ἀριϑμὸν τῷ τῶν
σνξ πρὸς ouy'.
Philo
(vgl. p. 22 9 31
Schl.)
p- 22 891: αὐτίχα
συνέστηχε τὰ ἑπτὰ
ἐξ ἑνὸς Zei δυοῖν
χαὶ τεττάρων ἐχόν-
των» d'vö λόγους ὧρ-
μονιχωτάτους... τὸν
δὲ τετραπλάσιον τήν
dis διὰ πασῶν (sc.
συμφωνίαν) ἀποτε-
λοῦσα χτλ.
gelassen, weil er sie nachher nicht mehr ge-
— 47 —
Varro Maerobius (Theon) Philo
c. 11,4: nec im- | 1 6, 12: senarius Ρ. 102,4: ὁ de <| leg. alleg. I p. Ἡ
merito senarlus | (numerus) ... pri- τέλειος, ἐπειδὴ τοῖς ὃ 2: vonrior, ὅτι...
fundamentum gig- | mum .. solus ex ἑαυτοῦ μέρεσίν ἐστιν τέλειον δὲ dosd or
nendi est: nam | omnibus numeris, ἴσος... (101,6 δ) ἡ
eum telion Graeei | qui intra decem |
τς, quod eius par- | sunt, de suis par- | vddos χαὶ δυάδος ἑαυτοῦ μέρεσιν
tes tres, sexta et | tibus constat. ha- « ποιεῖ χατὰ σύν-
tertia et dimidia, | bet enim medie- ϑεσιν.
id est unus et duo | tatem et tertiam |
et tres, eundem | partem et sextam
ipsum perfieiunt. | partem et est me-
dietas tria, tertia |
pars duo, sexta |
pars unum, quae
omnia simul sex
faciunt.
ec. 11,2 ff.: Py-| humano partui | . . γάμον αὐτὸν
thagoras .. duos frequentiorem
esse partus . . | usum novem men-
dixit, alterum mi- | sium .. natura |
norem .. septem- | constituit, sed |
mestrem..alterum | ratio sub adseiti
maiorem decem- | numeri _senario |
mestrem..quorum | multiplicatione
prior .. senario .. | procedens etiam
eontinetur nu- | septem menses
mero ... hi!) quat- | compulit usurpari.
_ tuor numeri VI | coeunt enim nu- |
_ VOIIXXI con- | meri, mas ille me-
" iuneti faciunt dies | moraturetfemina, |
hi
N
τὸν ἔξ" ἐπειδὴ πρῶ
| δὲ τριὰς ἐκ τῆς μο- τὸς ἴσος ἐστὶ τοῖς
, ἣμ
ice χαὶ τρίτῳ χαὶ
ἑχτῷ. (vgl. mund,
|op. Ρ. ὃ 8 5).
ἐχάλουν. |
AXXV. .. hoc... | octo seilicet et
_ alterum mätu- | viginti septem '!)
ἢ rescendi funda- | pariunt exsequin-
_ mentum .. sexies | que et tringinta:
_ duetum, cum ad | haeec sexies multi-
᾿ς diem ducentesi- | plieata ereant de- |
mum deeimum | cem et ducentos,
pervenit,maturum | qui numerus die-
procreatur. rum mensem sep-
EEE
s
= timum celaudit. |
a 1) Eine unbedeutende Verschiedenheit zwischen Censorin und Macrobius
$ 3 ‚se Zahlen vom arithmeti-
DE ist hier dadurch entstanden, dass Macrobius diese Zahlen vom
schen, Censorin vom musikalischen Standpunkte aus betr: achtet. Beide ei
Erınkte schliessen sich nicht aus, sondern ergänzen sich, wie Macrobius
an verschiedenen Stellen zeigt.
Schmekel, mittlere Stoa.
τῷ
«ἴ
Varro
Maerobius
habet (senarius
'n.) et alia suae
| venerationis
in-
dieia.
I 6, 11: septenario
(numero) adeo
opinio virginitatis
inolevit, ut Pallas
quoque vocitetur,
nam virgo ceredi-
tur, qui nullum ex
se parit numerum
duplicatus .. intra
denarium ... Pallas
ideo, quia exsolius
monadis fetu et
multiplieatione
| processit, sieut Mi-
| bitam
nerya sola ex uno
parente nata per-
hibetur.
16,45 ff.: hie nu-
merus ἑπτάς nunc
vocatur antiquato
usu primae litte-
rae, apud veteres
enim σεπτάς vocita-
batur,quodGraeco
nomine testabatur
venerationem de-
numero.
nam.. hoc numero
anima mundana
generata est, si-
cut Timaeus Pla-
tonis edoeuit
quia mundanae
animae origo sep-
tem finibus con-
tinetur.
418
(Theon)
vgl. p. 102, 6 ff.
p. 103, 1ff.: ἡ ἐβ-
δομὰς.. μόνος τῶν
> x - ’
ἐντὸς τῆς δεκάδος
» - a
οὔτε γεννᾷ ἕτερον
οὔτε γεννᾶταν ὑφ᾽
ς [4 x
ἑτέρου: διὸ
᾿ϑηνῷ ὑπὸ τῶν Πυ-
x
za
ϑαγοριχῶν ἐχαλεῖτο,
οὔτε μητρός τινος
μήτηρ.
οὔτε γὰρ γίνεται ἐκ
= a
ουὐσὰ OUTE
συνδυασμοῦ οὔτε
συνδυάζεταί τινι.
p. 103, 16 ff.: ἐπό-
μένος «δὲ τῇ φύσεν
za ὃ Πλάτων ἐξἕ
ἑπτὰ ἀριϑμῶν συν-
ioryo τὴν ψυχὴν ἐν
τῷ Τιμαίῳ.
Philo
m. opif. p. 23,
$ 33: ἐχείνων (se.
ἀριϑμῶν) γὰρ οἵ
μὲν γεννῶσιν οὐ
γεννώμενον, οἱ δὲ
γεννῶνταν μὲν, οὐ
γεννῶσι de, οἱ δὲ
ἀμφότερα .. μόνος
δὲ... ὃ ἑπτὰ οὔτε
γεννᾶν πέφυχεν οὔ-
TE γεννᾶσϑαι. di ἣν
αἰτίαν οἱ μὲν ἄλλον
φιλόσοφοι τὸν ἀριϑ-
μὸν τοῦτον ἐξομοι-
οὖσιτῇ ἃ μήτορυ Νίχῃ
χαὶ Παρϑένῳ, ἣν
ἐχ τῆς τοῦ “ιὸς χε-
φαλῆς ἀναφανῆναν
λόγος ἔχει, oi δὲ Πυ-
ϑαγόρειον τῷ ἣγε-
μόνν συμπάντων 1).
p. 80 8 42: διό
μον δοχοῦσιν οἱ τὰ
ὀνόματα τοῖς γράμ-
μασιν ἐξ ἀρχῆς ἐπι-
φημίσαντες ἅτε σο-
φοὶ κχαλέσαν τὸν
ἀριϑμὸν ἑπτὰ ἀπὸ
Tod... σεβασμοῦ.
') Philo scheidet hier die Pythagoreer und die anderen Philosophen;
in der Parallelstelle leg. allegor. I p.46 M.$5.R. findet sich diese Scheidung
nicht, vielmehr wird daselbst die Ansicht, die hier den „anderen Philo-
sophen“ zugesprochen wird, den Pythagoreern beigelegt.
Varro
Censor. ce. 13, 1
bes. 5 ff. = Gell.
III 10, 2: septem
stellae inter cae-
lum et terram
vagae. eireulos
quoque ait (se.
Varro) in caelo..
septem esse.
Gell. III 10, 6:
praeterea seribit
lunae eurrieulum
confiei integris
quater septenis
diebus.
Gell. II 10, 4:
neque ipse zodia-
eus septenario nu-
mero caret: nam
in septimo signo
fit solstitium a
bruma, in septimo
bruma a solsti-
titio, in septimo
aequinoctium ab
aequinoctio.
Macrobius
septem
vagantium sphae-
rarum ordinem illi
stelliferaesubieeit
artifex...
lunamque... nu-
merus septenarius
movet .. octo et
viginti diebus to-
tius zodiaci am-
bitum eonfieit ...
(8 55) qui in qua-
terseptenos aequa
sorte digeritur ..
(8 54) primis
septem dıyo-
ouos vocatur,
secundis..plena ..
tertiis dıyorouos
rursus .. quartis
ultima luminis sui
diminutione te-
nuatur.
8 57: sol .. ipse
septimo signo vi-
ces suas variat.
nam ἃ solstitio
hiemali ad aesti-
vum .. septimo
pervenit signo et
tropico verno us-
que ad auctum-
nale septimi
signi peragratione
perdueitur.
8. 58 ff.: tres quo-
que conversiones
lucis aetheriae per
hune numerum
eonstant ... anni..
mensis .. diei ..
419
quoque |
(Theon)
p. 104, 13: =.
πλῆϑος τῶν πλανω-
μένων ἑπτά.
Ρ. 103, 19: μὴν δὲ
χαϑ' EBdouddas τέσ-
σαρας συμπληροῦ-
ται, τὴ μὲν πρώτῃ
ἑβδομάδι
μου τῆς σελήνης ὄρ-
ωὠμένης, τὴ δὲ δευ-
τέρς. πλησισελήνου,
διχοτό-
τῇ δὲ τρίτῃ diyoro-
μου, πάλιν δὲ τῇ
τετάρτῃ σύνοσον ποι-
ουμένης πρὸς ἥλιον
χαὶ ἀρχὴν ἑτέρου
μηνός.
p. 104, 12 ff.: ἀπὸ
τροπῶν δὲ ἐπὶ τρο-
πὰς μῆνες ἑπτὰ.
χαὶ ἀπὸ ἰσημερίας
ἐπὶ ἰσημερίαν μῆνες
ἑπτά.
P- 103, 18: ἡμέρα
Philo
p. 27, $ 38:
γε μὴν πλάνητες ἣ
οἵ
| Te ἀντίρροπος στρα-
τιὰ τῆς τῶν ἀπλα-
νῶν ἱπτὰ διαχο-
σμοῦνται τάξεσιν.
Ρ. 24, 8 34: ἐπι-
δείχνυται ἑβδομὰς
.. σελήνης .. περι-
όδοις.. αὔξεται...
ἀπὸ τῆς πρώτης μη-
νοειδοῦς ἐπιλάμ-
ws ἄχρι διχοτό-
μου ἡμέραις inte,
εἶϑ᾽ ἑτέραις τοσαύ-
ταις πλησμραὴς yi-
μνέται... ἀπὸ μὲν τῆς
πλησιψαοῦς ἐπὶ τὴν
διχότομον ἑπτὰ πέ-
λιν ἡ μέραις, εἶτ' ἀπὸ
ταύτης ἐπὶ τὴν μη-
νοειδὴ ταῖς ἴσαις.
Ρ. 28, $ 39: ὁ..
ἥλιος διττὰς χαϑ'
ἕχαστον ἐνιαυτὸν
ἀποτελῶν ἰσημερίας,
ἔαρι χαὶ μετοπώρῳ,
εὐ ἐναργεστάτην nap-
ἐχέται πίστιν τοῦ
περὶ τὴν ἑβδόμην
ϑεοπρεποῦς" dxa-
τέρα γὰρ τῶν ἰσημε-
ριῶν ἑβδόμῳ γίνε-
ται μηνί.
p. 27, 8 88: oi..
πλάνητες h Te orou-
ie τῆς τῶν ἀπλα-
ἑπτὰ διαχο-
τάξεσιν
νῶν...
σμοῦνται
. καὶ νὺξ. ἀρτίου | πλείστην ἐπιδειχνύ-
217"
Varro
Gell> III 210,2:
Ine- septenarius] nu-
» 41
merus . . septen-
triones maiores
minoresque in
item
quas
Graeei
caelo faecit
vergilias,
πλειάδας
vocant?).
Censor. ὁ. 11, 6:
alter autem. 1116
partus, qui maior
est, maiori numero
continetur .. sep-
tenario .. quo tota
vita humana fini-
[ὐῦ θα. ὁ
Maecrobius
| est vero unaquae-
que conversio qua-
dripartita — hu-
mida, calida, sicca,
frigida — et ita
constat septena-
rius numerus.
8 61: oceanus
quoque in incere-
mento suo hunc
numerum tenet?).
$ 62: hie nume-
rus, qui hominem
concipi formari
edi vivere ali ac
peromnesaetatum
gradus tradi se-
nectae atque om- |
nino constare fa- |
eh.
uterum nulla vi
seminis occupa-
tum hoc dierum
numero natura
420
(Theon)
χαὶ περιττοῦ φύσιν
ἔχουσι 1).
| p. 104,19: οἵ ze
εὔριπον τὸ πλεῖστον
ἑπτάχις τῆς ἡμέρας
μεταβάλλουσιν 9)
p. 104,1: αἵ re
αὐξήσεις χαϑ᾽ EBdo-
μάδα.
Philo
YA
usvoı συμπάϑειαν
πρὸς ἀέρα καὶ γῆν.
τὸν μὲν γὰρ εἰς τὰς
ἐτησίους χαλουμένας
ὥρας τρέπουσι...
πάλιν TE ποταμοὺς
πλημμυροῦσν
usıovor...
zei
χαὶ πελαγῶν ἐργά-
N 2
τροπὰς ἐξ
ἀναχωρούντων ἢ
ζθῶς
μένων... Ἄρχτος τὲ
x 2 ς Ν >
μὴν... ἐξ ἑπτὰ ἀσ-
τέρων συνέστηχεν..
ζονταν
παλιρροίας
χαὶ ὃ τῶν πλεία-
δὼ ν χορὸς ἀστέρων
ἑβδομάδι συμπε-
πλήρωται, ὧν αἱἷ
ἐπιτολαὶ χαὶ αἵ ἀπο-
χρύννεις
ἀγαϑῶν αἴτιαι πᾶσι
μεγάλων
γίνονται 5).
Ῥ. 29, 8 41: πάλιν
τε αὖ γυναιξὶν ἡ
χαταφορὰ τῶν χατα-
unviov εἰς ἐπτὰ τὰς
') Der Zusammenhang dieser Stelle mit dem Preise der Siebenzahl tritt.
hier nicht klar zu Tage, doch wird sie direkt dazu verwandt; also liegt
die Unklarheit offenbar an der Kürze des Berichtes.
?) Die verschiedenen Schriftsteller berichten hier offenbar verschieden
genau über dieselben Gegenstände.
ze
Varro
Gell. III 10.7 ff.:
. . septima autem
fere hebdomade..
homo in utero ab-
solvitur (vgl. Cen-
ΠΟΤ 1 t.; 11,
DR. T. 2 10}.
ΝΠ. GelüT'1o, 8:
} 2
ἢ antemensem septi-
Ἢ mumnegquemasne-
Ἢ quefeminasalubri-
ter... nasci potest
et.. qui iustissime
inuterosunt..qua-
dragesima denique
hebdomade ..nas-
euntur.—Oens.7,2:
ferme omnes .. 0C-
tavo mense nasci
negaverunt.
Censor. ὁ. 7, 2:
post septimum
mensem dentes
nobis innascuntur
(= Gell.IIL10, 12).
Macrobius
eonstituit mfnse
redeunte purgari.
Saba Ser mer
septenos dies con-
cepti corporis fa-
bricam dispensant |
. . quinta (sc. heb-
domade) .. inter-
dum fingi in ipsa
substantia humo-
ris humanam figu-
ram ..ideo autem |
. . interdum’, quia
constat, quotiens
quinta hebdomade
fingitur designatio
ista membrorum,
menseseptimo ma- |
turaripartum;cum
autemnono mense
absolutio
est, si quidem
femina fabricatur,
sexta hebdomade
membra iam di-
vidi; si masculus,
septima.
$ 14 θ΄: humano
partui frequentio-
rem usum novem
mensium .. COn-
stituit, sed.. etiam
septem menses
compulit usurpari
etsq.
8.69: postseptem
menses dentes in-
futura |
N μενα
eipiunt mandibu- |
lis emergere.
(Theon)
104, 1ff.: zo
p-
γοῦν βρέφος dozei |
τελειοῦσϑιαι ἐν ἑπτὰ
ἑβδομάσιν... ἔνιοι
δέ φασι τὰ ἄρρενα
ἐν πέντε ἑβϑομάσι
τελειοῦσϑαι.
p. 104,4: γόνιμα
δὲ γίνεσϑαι ἐν ἑπτὰ
uni.
p. 104, 5: γενό-
δὲ ἐν ἑπτὰ
μησὶν odovropveir'
I
Ι
Philo
πλείστας ἡ μέρας χο-
ρηγεῖται.
zard yü-
oroös βρέφη μησὶν
χαὶ τὰ
ἑπτὰ ζωογονεῖσϑαι
πέχψυχεν,
γίνεται γὰρ τὰ ἐπ-
Tdunva γόνεμα, τῶν
ὡς
ζωογονεῖ-
ὀχτωμηνεαίων
ἐπίπαν
N ΐ 17 ΄
σϑαι μὴ δυναμένων.
Varro
Censor. ce. 14, 1:
proxime videntur
adeessisse natu-
ram, qui hebdo-
madibushumanam
vitam emensi sunt
. ut et in elegia
Solonis cognoscere
datur.. ait enim
in prima heb-
4.» c7,domade dentes
cadere
" j 3 z,/yYhomini
(= Gell.III 10,12).
in secunda pu-
_ beinapparere (vgl.
Ὁ τ ΠΝ):
in tertia barbam
nasci.
in quarta vires?)..
in deeima homi-
nem morti fieri
maturum.
c. 14, 9: praete-
rea multa sunt de
Macrobius
8 70: post annos
septem dentes, qui
primi emerserant
aliis .. cedunt.
$ 71: post annos
εν bis septem ipsa
aetatis necessitate
pubeseit.
8 72: post ter
septenos annos
genas flore vestit
iuventa idemque
annus finem in
longum erescendi
faeit.
quarta annorum
hebdomas impleta
in latum quoque
crescere ultra iam
prohibet ...
8 76: cum vero
dexas ἑπτάσιε jun-
gitur .. hoc vitae
humanae perfec-
tum spatium ter-
minatur.
8 77: idem nu-
merus totius cor-
422
(Theon)
p. 104, 6fl.: &-
βάλλειν Te τοὺς
ὀδόντας ἐν ἑπτὰ
ἔτεσι.
σπέρμα δὲ καὶ ἥβη
r ς
ἐν δευτέρᾳ ἐβδο-
r
uddı.
γένεια dE ὡς ἐπί-
παν ἐν τρίτῃ (sc. ἐβ-
δομάσι) καὶ τὴν εἰς
μῆχος αὔξην ἀπο-
λαμβάνει,
τὴν δὲ εἰς πλάτος
ἐν τετάρτῃ £Bdo-
uddı.
Philo
Ρ. 25, $ 35: παρι-
στῶσι τὴν.. δύναμιν
ἑβδομάδος καὶ αἵ
ἐχ βρέφους ἄχρι
γήρως ἀνϑρώπων
ἡλικίαν μετρούμε-
ναι ταύτῃ... τὰς ἡλι-
χίας ταύτας ἀνέ-
γραψε καὶ Σόλων
. . ἐλεγεῖα ποιήσας
τάδε")
χατὰ .. τὴν πρώ-
την ἑπταξετίαν ἔχ-
φυσις ὀδόντων ἐστί.
χατὰ δὲ τὴν δευ-
τέραν χαιρὸς τοῦ
σδύνασϑαν προίς
σϑαν σπέρμα Yovı-
μον.
τρίτῃ dE γενείων
αὔξησις.
χαὶ τετάρτῃ πρὸς
ἰσχὺν ἐπίδοσις...
χατὰ... τὴν δεχά-
την τοῦ βίου τὸ εὑ-
χταῖον τέλος.
Ρ. 28, 8 40: διωμοί-
ως..-τοῦ σώματος...
') Die Elegie selbst lassen wir hier der Kürze wegen aus.
2) Censorin und Philo referieren hier beide im engsten Anschluss an
die vorhin genannte Elegie Solons; doch giebt ersterer ausdrücklich an,
dass das Material der Quelle umfassender war.
ἡ
{
j
Varro
his hebdomadibus,
quae mediei ac
philosopbi libris
mandaverunt.
Gell. III 10, 13:
Venas vel potius
arterias medicos
musiecos (d.h. Hero-
phiüus vgl. Cens.
6. 12, 4) numero
moveri septenario
τς τὴν διὰ τεσσάρων
συμφωνίαν }).
Gell. III 10, 14:
diserimina .. in
morbis . fieri
putat in diebus,
qui eonfieiuntur
ex numero septe-
nario, eosque dies
οοὐχρισίμους᾽ videri
primam hebdoma-
dem et secundam
et tertiam (vgl.
Cens.c.11,6; 14,9).
1) Hier berichtet 1
nur einen Teil der Vorlage, die sich, wie wir oben sehen,
berufen hatte.
Maecrobius
poris membra dis-
ponit:
septem sunt
nigra membra:
lingua eor pulmo
iecur lien, renes
ano,
$79: septem quo-
que sunt gradus
mensionem altitudi-
nis ab imo insuper-
fiiem complent,
medulla os nervus
vena arteria caro
eutis.
$ 80: septem sunt
corporis partes,
caput pectus ma-
nus pedesque et
pudendum.
$ 81: septem fo-
ramina sensuum,
oris oculorum na-
rium et aurium
bina.
$ 81: hie nume-
rus aegris quoque
corporibus peri-
eulum sanitatem-
que denuntiat.
|
|
|
πνεύμων
(Theon)
p. 104, 15:
σπλά yyva
za
ἑπτί,
γλῶσσα χαρϑία
Ὕ
ἧπαρ
Philo
τί τε ἐντὸς χαὶ ἰχτος
μέρη... ἑπτά.
τὰ. σπλάγχνα,
στόμαχος χαρδία
πνεύμων σπλὴν
ἧπαρ νεφροὶ δύο,
σπλὴν vegooi do. |
p- 104, 16: Ἣρό-
ıpıklos δὲ τὸ τῶν
in corpore, qui di- |
ἀνϑρώπων ἔντερον
πηχῶν εἶναί φησι.
Σ᾽ Ἄς ͵
χή, ὅ ἐστι τέσσαρες
ἑβδομάδες.
x
za
p. 104, 14:
᾿ a ER
πόροι τῆς χεφαλῆς |
€ ᾿
ἑπτά.
p. 104,9 8: ei τε
χρίσεις τῶν νό σων
ἐφ᾽ ἡμέρας ἑπτά, καὶ
ἡ βαρυτέρα χατὰ
πώντας τοὺς περιο-
διχοὺς πυρετοὺς εἰς
τὴν ἑβδόμην ἐπ-
αντῷ.
τὰ... ἐν φανερῷ
ταῦτ᾽ ἐστί, χεφαλὴ
στέρνα γαστήρ dır-
ταὶ χεῖρες, διτταὶ
βάσεις.
p. 39, $ 41: αἱ
| βαρεῖαι νόσοι σωμά-
των, χαὶ μάλιστα
ὅταν ix d υσχρασίας
τῶν ἐν ἡμῖν δυνά-
μέων πυρετοὶ συνε-
χεῖς ἐπισχήψωσιν,
ἑβδόμῃ μάλιστά πως
| ἡ μέρᾳ διαχρίνονται,
eder der verschiedenen Schriftsteller wieder offenbar
auf Herophilus
Vergleichen wir die vorstehenden Berichte und namentlich die
ersten drei mit einander, so lässt sich der Schluss unmöglich ab-
weisen, dass sie auf dieselbe Urquelle zurückgehen: Sie bieten
nieht nur denselben Inhalt in derselben Weise, sondern sie be-
rufen sich auch zu verschiedenen Malen in gleicher Weise auf
die gleichen Gewährsmänner. Da nun Varro der älteste der
obigen Schriftsteller ist, so muss die gemeinsame Quelle älter als
Varro sein. Über die Natur derselben giebt uns zunächst Macro-
bius Aufklärung. Es kann nicht einen Augenblick zweifelhaft
sein, dass seine ganze Darstellung auf einen Kommentar zu Platos
Timäus zurückgeht: Nicht um Ciceros »Traum des Seipio«,
sondern um den Timäus Platos dreht sich die Erklärung, und zwar
enthalten die oben näher bestimmten, in sich zusammenhängenden
Kapitel in der Hauptsache die Erklärung des Wesens und der
Natur der Weltseele'), wie sie Plato in der genannten Schrift dar-
stellt. Macrobius rechtfertigt dies Verhalten einfach mit dem
Grunde, das Verständnis des Platonischen Timäus schliesse das
Ciceros ein (1 2,1). Auf dieselbe Natur der letzten Quelle weist
aber auch der so kurze Bericht des Thrasyllus bei Theon; denn
dreimal führt er in demselben Zusammenhange wie Macrobius
die Schöpfung der Weltseele im Timäus an. Die gemeinsame
(Juelle behandelte also unleugbar den Timäus Platos. Wir haben
nun vorhin gesehen, dass es damals eine doppelte Richtung i in
der Auffassung der Pythagoreischen Philosophie gab, eine Plato-
nisch-peripatetische und eine Platonisch-stoische. Als Quelle für
die letztere haben wir daselbst den Kommentar des Posidonius
zu Platos Timäus erkannt. Posidonius bezeichnete in diesem den
Hervorgang der Zahlen und Elemente aus der Monas oder der
Gottheit in echt stoischer Weise als Fluss, wie der stets gleiche
Gebrauch des Verbums ῥεῖν beweist. Dieselbe Bezeichnung des
Hervorganges der Zahlen aus der Monas finden wir nun auch in
dem angegebenen Abschnitte des Macrobius, und zwar in un-
mittelbarem Anschluss an Platos Timäus I 6, 45: (septenario)
numero anima mundana generata est sicut Timaeus Platonis edo-
cuit. monade enim in vertice locata terni numeri ab eadem ex
utraque parte fluxerunt, ab hac pares, ab illa impares etsq.
Da wir gesehen haben, dass die Quelle älter als Varro ist, ergiebt
1 ὅ, 1; 6, 2 Β΄. 238. 29 Β΄. 458. ΠῚ 2, 1; 1A.
Β
ie
sich der Schluss ganz von selbst, dass sie der Timäuskommentar
des Posidonius war. Was wir nun hier erschliessen, wird uns
auch direkt überliefert: In einer der vorhin aus Thrasyllus bezw.
Theon angeführten Stellen lesen wir p. 103, 16 ff: ἑπόμενος δὲ
τῇ φύσει καὶ 6 Πλάτων ἐξ ἑπτὰ ἀριϑμῶν συνίστησι τὴν ψυχὴν
ἐν τῷ Τιμαίῳ ἡμέρα μὲν γὰρ καὶ νύξ, ὥς φησι Ποσειδώνιος.
ἀρτίου καὶ περιττοῦ φύσιν ἔχουσι κτλ. Der Schluss ist also gewiss,
den wir soeben gezogen haben, dass der Timäuskommentar des
Posidonius die letzte Quelle der obigen Darstellung ist.
Dieser Schluss wird nun noch durch weitere Thatsachen be-
stätigt und ergänzt. Zunächst findet sich der oben vorgeführte
Bericht über die Elemente der Musik, Arithmetik und Geometrie
ganz ebenso wie hier auch in dem Bruchstücke, das Sextus aus
diesem Kommentar erhalten hat!). Ungleich wichtiger aber ist
die Auffassung der Platonischen Weltseele im Timäus, die uns
in den obigen Berichten entgegentritt. Diese ist in Kürze folgende:
Alle wirklichen Körper haben eine dreifache Ausdehnung, Länge,
Breite und Tiefe; eine vierte Dimension giebt es nicht. Die
Mathematiker aber konstruieren sich andere sogenannte mathe-
matische Körper, die als solche nur dem Denken wahrnehmbar sind.
Dieses sind der Punkt, die Linie, die Fläche und der Kubus.
Sie entsprechen den Zahlen und entstehen wie diese aus der
Eins in doppelter Abfolge: Die Eins ist der Punkt, die Zwei und
1 die Drei die Linie, die Vier und die Neun die
2—|—3 Fläche, die Acht und die Siebenundzwanzig der
4——9 Kubus. Wie nun die Zwei und die Drei die Prin-
2 cipien des Geraden und Ungeraden sind, sind auch
die Weiterentwickelungen derselben gerade und ungerade, so dass
die Weltseele in ihrer Ganzheit diese beiden Prineipien in sich
vereinigt. Diese beiden Principien sind aber zugleich die des
Männlichen und des Weiblichen; sie vereinigt also zugleich mit
jenen auch diese in sich. Diese ihre Natur bedingt es, dass sie
von der Eins zu der Entstehung der materiellen Körper in der
Acht und Siebenundzwanzig fortschreitet. Die angegebenen Fort-
schreitungen der Zahlen entsprechen nun den harmonischen In-
tervallen, und diese sichern ihre innere Unauflösbarkeit. Als solche
ist sie die Idee des Weltganzen oder die Idee schlechthin °).
1) Vgl. des Verfassers Diss. p. 71 sqq.
2) Als solche wird sie in diesem Kapitel nicht direkt bezeichnet, doch
-- 420 --
Wenden wir uns jetzt zu der Auffassung dieser Frage, die Posi-
donius in seinem Kommentar zu Platos Timäus niedergelegt hatte!
Dieselbe findet sich in möglichster Kürze bei Plutarch: Das
Mathematische steht zwischen dem rein Gedachten und dem
Wahrnehmbaren oder Teilbaren. Der Natur desselben entspricht
die der Seele; denn von jenem hat sie das Ewige, von diesem
das Veränderliche (παϑητικόν). Das letztere ist die Substanz der
körperlichen Grenzen. Diese beiden Bestandteile sind nach den
Zahlen gefügt, welche die harmonischen Verhältnisse in sich
schliessen. Indem nun Posidonius daselbst die Seele mit der
Idee identifiziert, definiert er sie als die gemäss dem die Har-
monie umschliessenden Zahlenverhältnisse zusammengesetzte Idee
des Ausgedehnten!). Vergleichen wir diese Entwickelung mit
der obigen, so liegt ihre Übereinstimmung klar zu Tage; nur in
gehört hierher sicher eine andere Stelle desselben Kommentars, nämlich
I 14, 19#. Hier giebt Maerobius eine Übersicht über die verschiedenen
Definitionen der Seele. Er nennt dabei die Philosophen in folgender
Reihenfolge: Plato, Xenocrates, Aristoteles, Pythagoras et Philolaus, Posi-
donius, Asclepiades, Hippocrates, Heraclides Pontieus, Heraelitus, Zenon,
Democritus, Critolaus, Hipparchus, Anaximenes, Empedoeles et Critias,
Parmenides, Xenophanes, Boethus, Epieurus. Zunächst scheint in dieser
Übersicht keine Ordnung enthalten zu sein; sehen wir jedoch genauer zu,
so bleibt sie uns nicht verborgen: Zuerst werden diejenigen genannt,
welche die Seele für immateriell, dann die, welche sie für stofflich halten,
und zwar zuerst diejenigen, welche sie aus einem, dann die, welche sie
aus zwei, zuletzt Epieur, der sie aus drei Stoffen bestehen lässt. Zu der
ersten Klasse wird Posidonius gerechnet; dass dies jedoch nicht richtig
ist, geht aus der früheren Darstellung seiner Lehre hervor. Folglich muss
die Erklärung der Seele, welche wir hier von ihm hören, nieht direkt
seine eigene Auffassung gewesen sein. In welchem Zusammenhange sie
gestanden hat, können wir unschwer erschliessen. Die Lehre des Aristo-
teles und Plato wurde vielfach identifiziert. Dasselbe geschieht auch
hier; denn Macrobius schreibt ihnen beiden die Immaterialität zu. Mit
grösserem Rechte gilt das Gleiche von den Definitionen des Xenocrates
und Plato. Ferner wird hier offenbar die Definition des Pythagoras und
Philolaus gleichgesetzt (Vgl. nachher Empedocles et Critias). Unmittelbar
nach der Platonisch-Pythagoreischen Lehre wird nun die des Posidonius
genannt: demnach muss sie auch mit jener, d. h. mit der Erklärung jener
in Verbindung gestanden, also sich auf die Platonisch-Pythagoreische Auf-
fassung bezogen haben. Hier nennt nun Posidonius die Seele direkt Idee.
Vgl. mit dieser Stelle auch folg. S. Anm. 4.
') De procreat. an. in Tim. e. 22 p. 1023 B.: ἀπεφήνατο τὴν ψυχὴν ἰδέαν
εἶναι τοῦ πάντη διαστατοῦ χατὰ ἀριϑμὸν συνεστῶσαν ἁρμονίαν περιέχοντα.
-- 27 —
der Ausführlichkeit unterscheiden sie sich: Zunächst haben wir
bei beiden die sonderbare Gleichstellung der Seele mit der Idee,
Ferner setzt sie Posidonius bei Plutarch dem Mathematischen
gleich; dasselbe lernen wir bei Macrobius. Dort heisst es, sie sei
gemischt aus dem Gedachten und der Substanz der Grenzen der
Körper (τῶν περάτων οὐσία περὶ τὰ σώματα). Was die letztere
bedeutet, ist an sich wenig klar; bei Macrobius erfahren wir es
genau: Es sind die mathematischen Körper, Punkte, Linien,
Flächen und Kubus. Denn dass unter dem letzteren bei Macro-
bius nicht ein tastbarer Körper verstanden werden soll, ergiebt
sich aus dem, was wir vorher berichtet haben, schon von selbst,
‚ wird aber auch noch ausdrücklich betont!). In dieser Angabe
zeigt sich zugleich, dass die Seele als solche nicht direkt körperlich
ist, dass sie aber dem Körperlichen sehr nahe steht?). Dasselbe
sagt Plutarch von der Auffassung des Posidonius”). Beide Stellen
stimmen also in allen wesentlichen Punkten überein; wir haben
demnach in der That bei Macrobius die Lehre des Posidonius
vor uns. Noch eine dritte Stelle haben wir hier zu berück-
sichtigen. Am Beginne desselben Kapitels, dessen weitgehende
Übereinstimmung mit Thrasyllus, Varro und Philo wir vorhin
dargelegt haben, stellt Macrobius die Auffassung der Seele als
einer sich selbst bewegenden Zahl als Konsequenz der Theorie
des Platonischen Timäus hin‘). Die zu Grunde liegenden Stellen
Platos waren aber der Gegenstand vielfacher Erörterungen. Aus
Plutarch ersehen wir nämlich, dass Plato ein Widerspruch in
seinen Äusserungen über die Seele vorgehalten wurde, insofern
er im Timäus die Weltseele als geworden, im Phädrus dagegen
die menschliche Seele als ungeworden bezeichnet hatte. Diesen
Widerspruch liess nun Posidonius nicht gelten, denn er erklärte
im Gegensatze zu der Auffassung der Gegner, dass die gedachte
') Vgl. II 2, 4ff. 2, 14. >
5) Vgl. die vorige Anm. (bes. II 2,14) und dazu unten Anm. 4 u. 5.425
Anm. 2. Be,
3) a. a. O.: οἱ περὶ Ποσειϑώνιον)] οὐ... μαχρὰν τῆς ὕλης ἀπέστησαν.
41, 6, 4£.: hoc quoque notandum est, quod superius adserentes μετ
Imunem numerorum omnium dignitatem antiquiores 608 superficie ” Be
_ eius omnibusque corporibus ostendimus, procedens autem tractatus ae
numeros et ante animam mundi fuisse, quibus illam contextam augustimithR
Timaei ratio naturae ipsius conseia testis expressit. hine est, quod pronun
᾿ tiare non dubitavere sapientes animam esse numerum δέ moventem.
ΕΣ
--Ῥ, 42 —
Stelle im Phädrus sich auf die Weltseele beziehe. Folglich muss
er die Eigenbewegung, die im Phädrus gelehrt wird, mit
der Theorie des Timäus verbunden und in Einklang gesetzt
haben'). Diese Verbindung, die Posidonius auch für seine eigene
Theorie verwertet hat (vgl. S. 239 ff.), finden wir nun an der
vorhin angeführten Stelle des Macrobius: Also enthält dieselbe
in der That eine neue Bestätigung der vorhergehenden Erörterung.
Kehren wir jetzt noch einmal zu der oben behandelten
Stelle des Sextus zurück: οὗ... Πυϑαγορικοὶ τὸν λόγον μέν φασιν
[χριτήριον εἶναι]... τὸν... ἀπὸ τῶν μαϑημάτων περιγενό-
μενον .. ϑεωρητιχόν TE ὄντα τῆς τῶν ὅλων φύσεως, ἔχειν τινὰ
συγγένειαν πρὸς ταύτην .. ἣν δὲ ἀρχὴ τῆς τῶν ὅλων ὑποστάσεως
ἀριϑμός. διὸ χαὶ ὃ κριτὴς τῶν πάντων λόγος οὐκ ἀμέτοχος
ὧν τῆς τούτου δυνάμεως καλοῖτο ἂν ἀρυιϑμός, so braucht
ihre Übereinstimmung nicht mehr besonders hervorgehoben zu
werden; denn jetzt erst erhalten wir ein klares Verständnis
derselben, sowohl warum nicht ὃ λόγος schlechthin, sondern ὃ Ao-
γος ὃ ano τῶν nadgudıwv περιγενόμενος gesagt wird, als auch
inwiefern dieser eine Verwandtschaft zu der Natur des Alls und
der Zahl hat.
Überblicken wir nunmehr die bisherige Erörterung über den
Timäuskommentar des Posidonius, so erkennen wir klar und
scharf seinen Inhalt sowohl wie seinen ganzen Charakter: Posi-
donius war einerseits, wie wir früher gesehen haben, der Meinung,
Plato habe die Lehre des Pythagoras angenommen und die Be-
gründung derselben, um die sich jener nicht bekümmert hätte,
hinzugefügt, und andererseits behauptete er auch die wesentliche
Übereinstimmung der stoischen und Platonischen Philosophie.
Hier haben wir nun den klarsten Beweis, wie er seine Ansicht
durchzuführen wusste: Die Pythagoreische Philosophie, die er hier
entwickelt, ist eine Erklärung der mehr oder weniger Pythago-
reischen Lehren Platos und der älteren Pythagoreer?) in stoischem
Sinne. Nun verstehen wir auch den Monismus dieser Richtung:
Das Grundprineip ist die Monas; aus ihr geht die Einheit und
/weiheit, das Ungerade und Gerade, Geist (νοητόν) und Materie
') Hermias zu Platos Phaedrus p. 114 ed. Ast. Diese Nachricht ist
also offenbar dem Kommentar zum Timäus, nicht einem solchen zum Phae-
drus Platos entnommen; vgl. 5. 14, Anm. 4.
°) Namentlich des Philolaus und Empedocles, vgl. S. 406.
'
(ὕλη) hervor, ebenso wie die Stoiker und insbesondere Posidonius
das Urpneuma sich teils erhalten, teils in Materie verwandeln lassen,
Sextus nennt dort, wo er die beiden Pythagoreischen Rich-
tungen unterscheidet, keine Vertreter derselben; wir können
daher nur aus der Lehre der Berichte selbst die Richtung der
Verfasser erschliessen. Wir bleiben zunächst bei der stoischen.
Ein Vertreter derselben, bei dem dies am offenkundigsten ist, ist
der Verfasser der Quelle, der Alexander Polyhistor gefolgt sein
will): Der Ursprung von Allem ist die Monas; aus ihr geht die
"unbestimmte Zweiheit hervor, welche den Stoff abgiebt für die
"Monas, welche die wirkende Kraft ist. Aus der Einheit und der
Zweiheit entstehen die Zahlen, aus diesen die Punkte, Linien,
“Flächen und Körper. Die verschiedenen Grundformen der Körper
"bilden die Elemente. Diese gehen vollständig in einander über
und haben die Eigenschaften, welche die Stoiker ihnen im Gegen-
satze zu Aristoteles beilegten. Die Welt ist ein lebendes Wesen
und hat die Gestalt einer Kugel. Alles, was in ihr geschieht,
geschieht nach dem Verhängnisse, dessen Gesetzmässigkeit in dem
Wirken der &ottheit, welche mit dem wirkenden Prineip identisch
ist, begründet liegt. Das Element der Gottheit ist die Wärme.
Ein Ableger derselben ist die menschliche Seele, die darum auch
mit der Gottheit verwandt und unsterblich ist. Sie besteht aus
feurigem und kaltem Äther, ἃ. h. aus Wärme und Luft?) Sie
entwickelt sich aus der Wärme, welche mit dem Samen verbunden
ist. Diese Entwickelung ist durch die harmonischen Zahlen be-
dingt. Sie hat ihren Sitz vom Herzen bis zum Gehirn und nährt
sich vom Blute. Ihre Kräfte sind Luftströmungen, die Sinne Aus-
flüsse aus dem Gehirn. Sie hat drei Bestandteile, den Verstand
(νοῦς), den Mut (ϑυμός) und die Vernunft (φρένες). Die ersten
beiden Teile hat der Mensch mit den Tieren ge meinsam, die
_ Vernunft dagegen besitzt er allein. Diese ist unsterblich, während
jene vergehen. Die Seelen der Guten kehren zur Gottheit zurück,
die der Schlechten werden von den Erinnyen geplagt. Die
"ersteren halten sich im Luftraum auf und werden als Dämonen
und Heroen verehrt. Von ihnen kommt auch die Weissagung.
_ Die Tugend ist Harmonie. Über die Einschränkung des Fleisch-
— 4129 —
ἢ Diog. VII 24 ff.
2) So sagt auch Zeller richtig Philos. ἃ. Gr. ΠΡ p. 89, denn der Luft
wird ja die Kälte zugeschrieben.
-- 490 —
genusses finden sich einzelne Vorschriften, doch wird die gänz-
liche Enthaltung desselben nicht verlangt. Ebenso folgen noch
einige Vorschriften. über mysteriöse Gebräuche. Der stoische
Charakter dieser Darstellung tritt so klar zu Tage, dass wir von
einer näheren Begründung desselben absehen können. Derselben
Richtung gehört auch die Quelle an, welcher Justin und Clemens
von Alexandrien folgen, da sie die Immanenz der Gottheit aus-
drücklich verteidigt!). Ebenso stehen die Darstellungen der
Pythagoreischen Philosophie bei Thrasyllus und Eudorus von
Alexandrien unter ihrem Einflusse. Für Thrasyllus haben wir
dies schon vorher zur Genüge erwiesen; für Eudorus aber geht
dies daraus hervor, dass er das Eine (ἕν) die ἀρχὴ ἁπάντων nennt
und aus ihm in stoischer Weise die Zweiheit der Elemente, die
Einheit und Zweiheit, das Männliche und Weibliche, herleitet?).
Ferner steht unter dem Einflusse dieser Auffassung der Plato-
nisch-Pythagoreischen Philosophie auch der Verfasser der Quelle
des Diogenes Laertius, denn in seiner Übersicht über die Plato-
nische Philosophie treffen wir dieselbe Definition der Seele wie-
der wie in dem Timäuskommentar des Posidonius?). Ungleich
wichtiger aber ist der Einfluss, den diese Auffassung auf Philo
von Alexandrien gehabt hat. Auf diesen müssen wir hier kurz
eingehen. Plato sind die Ideen, wie bekannt, hypostasierte
Begriffe. Er nimmt daher auch so viele Ideen an, wie sich
Begriffe bilden lassen, ohne freilich das gegenseitige Verhältnis
derselben näher zu bestimmen. Nur soviel ersehen wir aus
seinen Angaben, dass er die Idee des Guten über die des Seins
stellt und mit der Gottheit identifiziert. Obwohl nun die Ideen
an und für sich im Transcendenten existieren, sind sie doch
auch wiederum in gewisser Weise in den Dingen gegenwärtig, da
alles nur durch die Teilnahme an ihnen zu dem wird, was es
ist. Nun setzte Posidonius, wie wir vorhin gezeigt haben, die
Idee als solche der Weltseele gleich; folglich muss er die Einzel-
ideen den beseelenden Kräften der Einzelobjekte, den Aoyoı
!) Justin., eohort. 19; Clemens cohort. 47 C.
2) Simplie. in phys. Arist. p. 39r 28ff. p. 181.10ff.D. Auch Arius Di-
dymus’ Abriss der Pythagoreischen Philosophie (Euseb. pr. ev. XV 15 ff.)
gehört wohl hierher; vgl. Stob. ecl. II p. 49, Sff. W.
») Diog. III 67: ὡρίζετο δὲ αὐτὴν (se. τὴν ψυχὴν) ἰδέαν τοῦ πάντη dıs-
στῶτος πνεύματος vgl. S. 426 Anm. 1. .
Ι
— 3 —
σπερματικοί, gleichgesetzt haben. Andererseits trug er auch kein
Bedenken in der Erklärung der Pythagoreischen Lehre (s. S. 405)
"den λόγος mit der Zahl zu identifizieren: Folglich hat er offen-
"bar die wirkenden Kräfte der stoischen Philosophie für gleich-
bedeutend mit den Ideen und den Pythagoreischen Zahlen erklärt.
Die Immanenz der Ideen, die bei Plato gegen ihre Transcendenz
fast ganz zurücktritt, aber schon von Aristoteles!) nachdrücklich
verteidigt wird, ist demnach hier durchgedrungen. Zugleich ist
damit auch das Verhältnis der Ideen zu der Gottheit bestimmt:
Wie sich die Zahlen zu der Einheit und die einzelnen Seelen zu
der Weltseele verhalten, so verhalten sich auch die einzelnen
"Ideen zu der Idee als solcher; sie sind nur Teile derselben und
auf gewisse Weise in ihr enthalten. Wenden wir uns jetzt zu
Philo, so erkennen wir sofort, dass dies die Lehre ist, welche er
herangezogen hat, um die Einwirkung des von ihm im Anschluss
an das alte Testament schlechthin transcendent gefassten Gottes
auf die Welt zu erklären: Als Gott die Welt schuf, so beginnt
er seine Erklärung der Schöpfungsgeschichte, erkannte er, dass
jedes Werk nur gut wird, wenn es ein gutes Vorbild hat. Deshalb
erschuf er zunächst die Welt der Ideen. Dieselbe besteht jedoch
nicht für sich gesondert, sondern deckt sich mit dem Geiste
(λόγος) Gottes. Dieser ist daher die Idee der Ideen oder die
_ Idee, welche alle anderen Ideen umfasst; die (Quelle, aus der sie
- hervorströmen; sie sind somit die Gedanken Gottes. Gleichzeitig
"sind sie auch die wirkenden Kräfte, welche die ungeordneten
᾿ Stoffe durchdringen, nach den wundervollen Zahlenverhältnissen
alles ordnen und gestalten und ihm das eigentümliche Wesen
verleihen. Der λόγος Gottes ist daher auch gewissermalsen die
Weltseele. Denn er zieht die Welt an wie ein Gewand. Der
"Ideen giebt es nun natürlich unendlich viele. Sie stehen nicht
- bloss neben, sondern auch über und unter einander; namentlich
steht der menschliche Geist mit dem Geiste Gottes in engster
Verwandtschaft. Diese Verbindung der stoisch-Platonisch-Pythago-
reischen Lehre bei Philo ist also die Lehre, welche Posidonius im
®
ἢ Metaph. 19, 990a, 34ff.; XIV 1, 1076a, 8. bes. c. 10, 1086 b, 2fl.: τὰ
μὲν οὖν ἐν τοῖς αἰσϑητοῖς χαϑ᾿ ἕκαστα δεῖν ἐνόμιζον καὶ μένειν Dein ERROR,
τὸ δὲ χαϑόλου παρὰ ταῦτα ἐναί τε καὶ ἕτερόν τι εἶναι. τοῦτο Bin ἐχίνησε ἐν
᾿Σωχράτης διὰ τοὺς ὁρισμούς, οὐ μὴν ἐχώρισέ γε τῶν χκαϑ' ἕκαστον" καὶ ΤΟΥΤῸ
ὀρϑῶς ἐνόμισεν οὐ χωρίσας “τλ.; vgl. Eth. Nie. I 4, 1096a, 11ff.
Ι
|
Timäuskommentar niedergelegt hatte!). Und dass in Wahrheit
nicht Philo ihr Schöpfer ist, beweist die Thatsache, dass wir die-
selbe auch bei Seneca finden?).
Wir kommen jetzt zur zweiten ΩΣ Ihre Auffassung
vertreten hauptsächlich die Schriften, welche unter dem Namen
des Timäus, Ocellus, Archytas, Brontinus, Ps. Philolaus und vieler
anderer gehen?®). Sie halten das Prineip der Transcendenz
durchweg aufrecht, indem sie die Gottheit oder die Monas mög-
lichst weit über die Eins und alles Seiende hinausrücken und
etwas Besseres als die Vernunft nennen*). Diese gilt nur als die
Vermittlerin, welche die beiden Principien, die Formen oder Ideen
und den Stoff, zusammenführen. Ebenso wie sie hierin dem
Platonisch-Aristotelischen Standpunkte huldigen, schliessen sie
sich auch in der weiteren Ausführung der Lehre an die Auffassung
dieser Philosophen an: Ps. Timaeus’ Schrift über die Weltseele
ist ein nur wenig modificierter Auszug aus dem Timäus Platos,
wie die oberflächlichste Vergleichung zeigt. Wenn nun Plato im
Timäus die Welt in einem bestimmten Zeitpunkte entstehen lässt,
so spricht auch Ps. Timäus davon, deutet aber gleichzeitig an,
dass er die zeitliche Entstehung der Welt nur ideell aufgefasst
wissen will. Er glaubt also in Wahrheit an ihre Ewigkeit?).
!) Für diese Entwiekelung der Lehre Philos ist fast nur de opif. mundi
benutzt worden und zwar mit Absicht; denn nach den Ausführungen S. 411 ff.
ist es unleugbar, dass Philo für dieses Werk Posidonius herangezogen hat.
Die dort angeführten Berichte für eine einfache Einlage zu halten verbietet
uns von anderen Gründen abgesehen schon der Anfang der Schrift p.4M.
8 ὃ R. Also auch wenn wir die Übereinstimmung der Lehre nicht so genau
nachweisen könnten, würden wir schliessen müssen, dass Philo in ihr von
Posidonius beeinflusst worden ist.
?) Ep. 65, τ: his |se. causis] quintam Plato adieit exemplar, quam ipse
ideay vocat: hoc est enim, ad quod respiciens artifex id, quod destinabat,
effeeit ... haee exemplaria rerum omnium deus intra se habet numerosque
universorum, quae agenda sunt, et modos mente complexus est.
ὅ Nach Sext. adv. phys. II 281: τινὲς δὲ ἀπὸ ἑνὸς σημείου τὸ σῶμά φασι
συνίστασϑαι, müssen wir schliessen, dass diese Sekte zahlreicher vertreten
war als die andere.
ἢ Für Archytas und Brontinus bezeugt dies Syrian. in met. schol.
p: 925b, 23 ff. 5. Zeller a. a. O. I. 334, 1": τὴν ἑνναίαν αἰτίαν .. ᾿ἀρχύτας μὲν
αἰτίαν πρὸ αἰτίας εἶναί φησι χτλ.: vgl. ferner Archyt. b. Stob. ecl. I 278. W.;
Ps. Timaeus p. 96; Ocellus e. 2, 1ff.; Ps. Philolaus περὶ ψυχῆς Ὁ. Stob.
δ. Ἂς 0. p. 172.
5) ec.2 p. 94 B.: πρὶν ὧν ὠρανὸν γενέσϑαι, λόγῳ ἤστην ἰδέα τὲ καὶ ὕλα καὶ
,
-- 133 --
Noch klarer tritt dies in der Schrift des Ocellus hervor. Sie be-
ginnt gleich damit die Ewigkeit der Welt zu beweisen und zwar
mit Gründen, die der peripatetischen Schule entlehnt sind!), Im
Anschlusse hieran verteidigt sie auch die Ewigkeit des Menschen-
geschlechts und die Verwerfung der persönlichen Unslerblichkeit.
_ Ebenso ist die weitere Abhandlung über die Elemente wesentlich
peripatetisch?). Nur in der Ethik folgt sie einer strengeren Auf-
fassung, wie sie die Stoa lehrte. Auch bei Ps. Archytas und
anderen zeigt sich die gleiche Stellung zur Platonisch-Aristote-
lischen Lehre und derselbe Gegensatz zur stoisierenden Richtung.
Auch er hält ebenso wie die Vorhergenannten die Welt und
damit das Menschengeschlecht für ewig’). Ferner lehrt er im
Anschluss an Plato und Aristoteles die Immaterialität der Seele®).
Ebenso folgt er Plato, wenn er die Seele als das sich selbst
Bewegende definiert, und Aristoteles, wenn er den Terminus
πρῶτον xıvovv gebraucht, um anzudeuten, dass das sich selbst
Bewegende auch die Ursache aller Bewegung 5615). Auch in der
Theorie der Erkenntnis tritt sein Anschluss an Plato ebenso klar
hervor. Er unterscheidet vier Arten derselben: vorc, διάνοια oder
ἐπιστήμη, δόξα und αἴσϑησις). Wie diese sich zu einander ver-
halten, lehrt Ps. Timäus; denn auch dieser hat dieselbe Einteilung:
Es giebt zwei Principien, die Gottheit oder das Übersinnliche und
die Notwendigkeit. Aus beiden entstehen die drei Arten des
Seienden, die Ideen, die Materie und die sichtbaren Dinge. Diesen
drei Arten entsprechen ‘auch drei Arten der Erkenntnis: Das
Übersinnliche ist das Gebiet der Wissenschaft (Ezueimun) und
wird nur durch den νοῦς erfasst. Auf den Stoff richtet sich der
λογισμὸς νόϑος, auf die sichtbaren Dinge die δόξα und aloymaıs').
᾿ ὃ ϑεὸς δαμιουργὸς τῶ βελτίονος. Hierauf hat auch Zeller a. ἃ. O. IIIb. S. 132, 1
mit Recht hingewiesen. Es ist wohl nicht unwahrscheinlich, dass die von
Timon und anderen überlieferte Nachricht (s. 5. 408. Anm. 1) die Abfassung
dieser Schrift mit veranlasst hat.
!) Den Einfluss der jüngeren Peripatetiker verrät er schon in der Leug-
nung der Unsterblichkeit; vgl. Critolaus b. Ps. Philo de incorr, m. ὦ, 13.
2) Vgl. Zeller a. a. O. IIIb 8. 135; ebenso auch Ps. Timaeus p. 100 D.
3) Censor. die nat. c. 4, 3. DIR 20
2) Claudian. Mamert. de statu an. II 7 verglichen mit Diog. VIII 30.
2 5) Vgl. Zeller a. a. Ὁ. 1 5. 414, 9".
6) Stob. ecl. I 282 f. 315 ff. W. φ-
6 Ἢ p. 94B.; vgl. zu dieser Dreiteilung auch die des Archytas bei Stob.
Schmekel, mittlere Stoa. 28
Sa te De:
Dieselbe Erkenntnistheorie treffen wir auch bei Brontinus und
anderen!). Ähnlich ist ferner auch die Kategorienlehre, welche
wir bei Sextus in der Lehre der dualistischen Sekte finden, der-
jenigen, welche Archytas μα 5). Auch in der Ethik verteidigt
Archytas und mit ihm Hippodamus den Platonisch-Aristotelischen
Standpunkt gegen den stoischen: Er verwirft die Apathie und
rechtfertigt die Metriopathie mit dem Hinweise darauf, dass der
Mensch auch ein sinnliches Wesen sei. Ferner giebt er zwar zu, dass
der Thor immer unglücklich sei, leugnet aber, dass der Weise
glücklich sein werde, wenn nicht die äusseren Glücksgüter vor-
handen seien. Ebenso schliesst er sich in der Einteilung der
Tugend in theoretische und praktische und in der Behauptung,
dass die richtige Behandlung der Affekte der Gegenstand der
letzteren sei, an Aristoteles an?).
Auch in der Lehre von der Seelenwanderung gab es zwei.
Richtungen: Die eine lehrte, dass die Seele nach Ablauf des
grossen Weltjahres aus ihren himmlischen Aufenthaltsorten wieder
in den menschlichen Körper zurückkehre; die andere, dass, weil
alles in ewigem Wechsel kreise, auch die Seelen in ewigem
Übergange aus menschlichen Körpern in Tierleiber und umge-
kehrt begriffen seien. Jene nahm also ein Jenseits mit Glück-
seligkeit und naturgemäss auch mit irgend welcher Strafe an;
diese leugnete dagegen Himmel und Hölle und setzte an deren
Stelle den ewigen Kreislauf, doch auch nicht ohne damit Belohnung
und Strafe zu verbinden. Denn die Seelen der Guten sollten bei
diesem Wechsel nur in gute, sanfte und beliebte Tiere zu gehen
das Recht haben, die der Schlechten dagegen gezwungen sein in
die ihren Lastern entsprechenden Tiere zu wandern‘). Die erste
Richtung schloss sich näher an Plato, die zweite näher an Em-
pedocles an. Zu der ersten Anschauung bekennt sich die stoische,
wie klar aus dem Berichte zu ersehen ist, dem Alexander Poly-
histor folgt; die andere dagegen hat ihre Anhänger an Verlretern
der Platonisch-peripatetischen Sekte gefunden°).
ἃ. ἃ. 0. Ρ. 288. Archytas ist nur genauer wie Ps. Timaeus. Hierauf hat
Zeller a. a. O: IIIb S. 128 nicht geachtet.
1) Vgl. Zeller a. a. Ὁ. IIIb S. 128.
2) Vgl. Zeller a. a. O. IIIb S. 130, 1.
5) Die Nachweise siehe bei Zeller a. a. O. IIIb S. 146.
3) Vgl. des Verfassers Diss. p. 64 sq. Varr. Ant. rer. div. I frg. 88 ff., 88,
5) Sie liegt uns zunächst bei Varro, aus dem sie Ovid entlehnt, und bei
— 3 -ο--
Die Nachricht des Sextus, dass es zwei Richtungen der Neu-
pythagoreer gab, wird also durch die Thatsache vollauf bestätigt,
Sotion, dem Lehrer Senecas, in aller -Klarheit vor. Der Übergang der
Elemente in einander ist nun an sich zwar kein Kriterium für die
Entscheidung, da derselbe von beiden Richtungen zelehrt wird: insofern
hier aber alles Geborenwerden und Sterben und überhaupt alles Entstehen
und Vergehen schlechthin als Durchgangsprocess zu dem entgegengesstzten
Sein aufgefasst wird, wird hier die Ewigkeit der Welt und des Menschen-
geschlechts und auch ein seinem Wesen nach stets gleicher Zustand beider
anerkannt. (Ovid. met. XV 254 ff.; 262 ff.; vgl. diss. p. 7 ff. Seneea ep. 108,
19 ff.), wie denn auch in Wirklichkeit die Welt hier ewig genannt wird
(Ovid. a. a. Ὁ. v. 239). Diese Auffassung ist peripatetisch, weist uns daher
deutlich auf die Platonisch-peripatetische Richtung der Neupythagoreer hin.
Bestätigt wird dies dadurch, dass auch Ps. Timaeus diese Seelenwanderung
vertritt: Im Gegensatze zu den sterblichen und kurzlebigen Wesen, so führt
er p. 99 D ff. aus, nimmt der Mensch in der Vernunft Teil an der göttlichen
Natur. Wir werden daher nieht annehmen dürfen, dass nach ihm dioser
Teil sterblich ist. Nun geht er am Schlusse seiner Schrift eigens zu diesem
Gegenstand über, erklärt die Philosophie für den besten Beweggrund zur
Tugend, gestattet aber denjenigen, welcher derselben nicht fähig ist, dureh
Androhen zeitlicher und ewiger Strafen im Jenseits, wie sie Homer er-
diehtet habe, zum rechten Handeln zu bestimmen. Diese Vorstellungen von
Strafen im Hades nennt er hier geradezu Lügen. Darauf aber behandelt
er allen Ernstes die Seelenwanderung und die Strafen, welche den Seelen
der Schlechten bevorstehen: Sie müssen in solche Wesen übergehen, welch»
ihren Lastern entsprechen: die der Feigen in Frauenkörper, die der Mörder
in wilde Tiere, die der Wollüstigen in Schweine und Ziegenböcke u. 8, w.
Diese Anschauung deckt sich genau mit der vorhin erwähnten Lehre der
Seelenwanderung. Ihre Übereinstimmung ist noch gewichtiger, wenn wir be-
- denken, dass Ovid, ebenso wie Ps. Timaeus, die Unterwelt mit ihren Schrecken
- als eine nichtssagende Fabel der Dichter zurückweist, bevor er die wahre
| Lehre der Seelenwanderung enthüllt. Mit Recht dürfen wir somit schliessen,
dass diese Fassung der Seelenwanderung von Vertretern der Platonisch-
- peripatetischen Richtung erneuert worden ist. Auch ist es ja auf diesem
ΐ Standpunkte nur möglich, von einer solchen Seelenwanderung zu sprechen,
wenn überhaupt dieselbe aufrecht erhalten werden soll. — Andere Vertreter
dieser Richtung, wie Ocellus, verwerfen die Unsterblichkeit schlechthin.
|
obige
Ein Widerspruch liegt also bei Ps. Timaeus nicht vor, wie Zeller a. a. 0),
IIIb 5. 138, 2 anzunehmen scheint. Denn die Leugnung der Unterwelt
und der Strafen in derselben schliesst diese Seelenwanderungslehre nicht
aus; nur aber jene Anschauung wird von Ps. Timaeus als Lügengewebe
bezeichnet. — Von wem und wann mit dieser Lehre auch das Verbot der
Fleischnahrung aufgenommen worden ist, ist nicht bekannt, Wir treffen
65 bei Sext. Clodius, dem Lehrer des Triumvirn M. Antonius ( vel. Bernays,
_ Theophr. über die Frömmigkeit S. 10ff.), und gleichzeitig bei Varro (bezw.
Ovid) und Dee. Laberius, etwas später bei Sotion; vgl. Varr. Ant. rer. div. I
rg. 40 (5. S. 129); Seneca ep. 108, 20 ff. 98%
— 4586 —
und ebenso bestätigt diese, dass jene sich so unterschieden, wie
Sextus sie charakterisiert ἢ).
Wenden wir uns jetzt zur Entstehungszeit dieser beiden
Richtungen. Alexander Polyhistor wirkte etwa um 80—40 vor
Christus; somit müssen die Pythagoreischen Schriften, aus denen
er seinen Bericht entnahm, spätestens in der ersten Hälfte des
ersten vorchristlichen Jahrhunderts verfasst sein. Um die Mitte
desselben Jahrhunderts sind aber auch die Hauptwerke der an-
deren Richtung entstanden?). Demnach müssen beide Richtungen
ziemlich gleichzeitig aufgetreten sein. Da nun beide Richtungen
fast durchweg entgegengesetzte Standpunkte vertreten und
doch beide die Lehre des Pythagoras geben wollen, so ist es
canz selbstverständlich, dass dieses nicht ohne gegenseitige
Polemik abgegangen sein wird. Dies finden wir auch in der
Überlieferung bestätigt. Archytas polemisiert ausdrücklich gegen
die Apathie für die Metriopathie, und Ocellus ebenso offen für
die Ewigkeit der Welt gegen die Annahme ihrer Zeitlichkeit?).
Andererseits tritt auch in dem Bruchstücke, das Clemens und
Justin über das Wesen der Gottheit erhalten haben, bei der Ver-
teidigung der Immanenz die Polemik gegen die transcendente Auf-
fassung offen zu Tage*). Überblicken wir nun noch einmal hier
die Lehre beider Richtungen, so sehen wir, dass beide haupt-
sächlich an Plato anknüpfen, die eine ihn aber stoisch, die andere
peripatetisch auffasst, und dass sie demgemäss auch die weiteren
Lehren, die sie noch etwa herübernehmen, interpretieren. Beide
Richtungen des Neupythagoreismus gehen also auf stoische und
akademisch-peripatetische Philosophen zurück. Wir haben nun
gesehen, dass und wie Posidonius im Zusammenhange seiner
Philosophie dazu kam, die Philosophie des Pythagoras bezw. der
Pythagoreer in seinem Timäuskommentar darzustellen, und dass
die meisten Vertreter der stoisierenden Richtung thatsächlich unter
dem Einflusse derselben stehen. Nehmen wir hinzu, dass seine
Darstellung jedenfalls die älteste der diesbezüglichen Schriften ist,
') Dass innerhalb derselben Meinungsverschiedenheiten möglich waren,
ist selbstverständlich und auch im Vorhergehenden durch Beispiele belegt
worden, nur waren diese nicht radikaler Natur.
°) Zeller a. a. O. IIIb S: 92 u. GE.
SL Vol SIASLL UN ὍΘΙ ΟΕ.
*») Vgl. S.430 Anm. 1 u. Zeller a. a. O. IIIb S. 117, 5.
so müssen wir schliessen, dass die stoische Richtung des Neu-
pythagoreismus hauptsächlich durch Posidonius und speeiell durch
seinen Timäuskommentar zu neuem Leben erweckt worden ist!).
Nun war aber Posidonius nicht der einzige, wie wir gesehen
haben, welcher lehrte, dass alle Philosoplien in den wesentlichsten
Punkten übereinstinimten, sondern ebenso lehrte auch Antiochus,
Der Unterschied in ihrer Auffassung war nur der, dass die Stoiker
behaupteten, Plato stimme mit ihnen überein; Antiochus da-
gegen, Zeno sei von Plato ohne Grund abgefallen und habe nur
die Worte verändert, Jene legten also das Hauptgewicht offen-
bar auf ihre eigene Lehre, Antiochus . dagegen auf die Platos.
In dieser Auffassung ist es auch begründet, dass Antiochus nie-
mals zur Stoa übertrat, sondern bei der Akademie blieb. Ebenso
hängt damit auch sein von der Stoa abweichender Standpunkt in
der Ethik zusammen, in der er gegen die stoische Lehre von der
Apathie die Metriopathie vertrat und lehrte, dass die Tugend ar
sich zwar ein glückliches, aber nicht das glücklichste Leben er-
wirke. In diesem Punkte spitzte sich die Verschiedenheit beider
Auffassungen zu, und es fehlte nicht an eingehender Polemik des
Antiochus gegen die Stoiker und umgekehrt?). Da wir nun ge-
sehen haben, dass beide Richtungen des Neupythagoreismus bezw.
beide Auffassungsweisen der Pythagoreischen Philosophie ziemlich
gleichzeitig entstanden sind, und dass die eine derselben von
Posidonius ausgegangen ist, so werden wir schliessen müssen, dass
die Auffassung der anderen Richtung, die im allgemeinen dem
Standpunkte des Antiochus entspricht, wie die erstere dem des
Posidonius, von Männern vertreten worden ist, die in ihrer Denk-
weise von Antiochus?) beeinflusst waren. Ferner dürfen wir aus
der Gleichzeitigkeit ihrer Entstehung in Verbindung mit ihrer
gegenseitigen Polemik auch darauf schliessen, dass die zweite
"Richtung gewissermalsen eine Reaktion gegen die erste war. In
diesem Zusammenhange wird es auch klar, warum die Vertreter
u 2;
1) Vgl. hierzu noch die folgende Ausführung. |
2) Cie. acad. post. I 2, 7; Seneca ep. 87, 28 ff. (vgl. ep. 92, 14 ff.) be-
handelt lebhaft die Kontroverse zwischen den Stoikern und Antiochus.
3) Vielleicht auch teilweise von Panätius; denn dessen Denkweise ent-
spricht ausserordentlich die Lehre des Oecellus. Wie jener verwirft ren
die Vergänglichkeit der Welt und die Unsterblichkeit der Seele unter der
gleichzeitigen Aufrechterhaltung der stoischen Ethik.
- 488 --
dieser Richtung trotz ihres Gegensatzes zur Stoa sich ihres Ein-
flusses nicht ganz erwehrten!).
Was die bisherige Entwickelung gezeigt hat, wird auch durch
die Überlieferung bestätigt: Laktanz berichtet ausdrücklich?), dass
die Stoiker und Pythagoreer deswegen die Präexistenz der Seele
angenommen hätten, weil sie den Satz nicht hätten widerlegen
können: alles, was geboren werde, müsse auch sterben. Dasselbe
erfahren wir von Plutarch; zugleich können wir aus diesem den
weiteren Zusammenhang der Entwickelung erkennen: Das Problem
der Ewigkeit der Seele hängt mit dem der Ewigkeit der Welt
innerlich zusammen. Der Streit richtete sich daher gegen beide
zugleich, und zwar wurde gegen die widersprechenden Angaben
Platos über die Ewigkeit der Seele einerseits und gegen die
Ewigkeit der Welt trotz ihrer zeitlichen Entstehung andererseits
der oben erwähnte Satz aufgestellt®). Es ist augenscheinlich,
dass beide Berichterstatter dasselbe aussagen. Nun stellte Car-
neades jenes Gesetz gegen Plato und die Stoiker auf: Also müssen
die gedachten Stoiker und Pythagoreer unter dem Einflusse des
Carneades die Präexistenz der Seele und die mit ihr zusammen-
hängenden Lehren angenommen haben. Da ferner Panätius im
Anschluss an Carneades ihre Prä- und Postexistenz verwarf,
Posidonius dagegen dieselbe anerkannte, so folgt, dass er dies nur
auf Grund der Einwände des Carneades gethan hat. Dieser knüpfte
nun die obige Polemik vorwiegend an Platos Naturphilosophie im
Timäus Δ); Posidonius dagegen verteidigte dieselbe in seinem
Kommentar zu dieser Schrift Platos und gab zu diesem Zwecke
seine stoisierende Entwickelung der Platonisch-Pythagoreischen
Lehre. Diese hat die Auffassung der Platonisch-Pythagoreischen
Philosophie der Folgezeit in weitestem Mafse beeinflusst und den
Timäus Platos zum Mittelpunkte der metaphysischen Spekulation
gemacht’): Nicht also die gelehrten Studien in Alexandria
') Obwohl wir hier principiell die späteren Pythagoreer und Platoniker
nicht berücksichtigen können, sei doch darauf hingewiesen, dass auch bei
diesen, wie z. B. bei Nieomachus und Numenius, Posidonius’ Auffassungsweise
«er Pythagoreischen Philosophie noch gewirkt hat.
2) Instit. div. III 18.
®) De procreat. an. in Timaeo ο. 4, 1013 Ef. e. 8, 1015 Ef.
*) Vgl. die vor. Anm. und S$. 311.
°) Auch Ciceros Bearbeitung des Platonischen Timäus findet hier ihre
δι ν.
— 489 —
haben den Mystieismus hervorgerufen '), sondern der Kampf des
Sceptieismus mit dem Dogmatismus.
[5}
Kap. 3.
Die römische Aufklärung.
Als die Römer nach dem zweiten punischen Kriege Veran-
lassung fanden und nahmen, mit den Reichen des Ostens, Mace-
donien, Griechenland, Syrien und Ägypten in feindliche Berührung
zu treten, und die fortWährenden Fehden der griechischen Staaten
untereinander und mit den anderen Mächten ihnen immer neue
Gelegenheit zum Eingreifen und zu Triumphen boten, trat eine
weit innigere Berührung zwischen dem Römertum und der über
den ganzen Orient verbreiteten hellenischen Civilisation ein, als
dies bisher der Fall gewesen war. Mit dem steigenden Einflusse
nun, den sie im Osten gewannen, wurde der Verkehr von dort
nach der Hauptstadt und umgekehrt immer lebhafter, und dieser
begann eine internationale Bildung und Anschauung zu entwickeln,
die mit der Mischung uud Assimilierung der Nationalitäten im
römischen Reiche Hand in Hand ging und der sich mehr und
mehr vollziehenden Weltherrschaft Roms vollständig entsprach,
Diese neue Richtung drohte die altrömische Denk- und An-
schauungsweise völlig zu vernichten; und namentlich waren es die
philosophischen Lehren, welche der römischen Religion und
Moral entgegentraten. Ungern wurde daher das Aufkommen der-
selben von den Nationalgesinnten gesehen, und zu verschiedenen
Malen suchten diese den schädlichen Einfluss durch Ausweisung
richtige Beziehung; sie bestätigt das grosse Interesse, das damals an dieser
Schrift genommen wurde. ᾿
") Wie Zeller unter allgemeiner Zustimmung meint. Wenn er uns dar-
auf hinweist, dass die meisten der bekannten Neupythagoreer in Alexandria
gelebt hätten, so verliert dies Argument zunächst sein Gewicht dadurch,
dass diese alle jünger als Posidonius sind; ferner haben wir auch gezeigt,
dass fast alle, die er nennt, unter dem Einflusse des Posidonius stehen.
Auch die jüdisch-alexandrinische Philosophie gehört hierher, wie oben ge-
zeigt ist. Dass sie später auch den griechischen Philosophen Interemse er-
weckte, ist durchaus natürlich, nachdem wir gesehen haben, dass Philo
Moses zum grossen Philosophen gemacht hatte.
-- 40 ---
der Philosophen aus Rom zu bannen. Aber die Zeit war mäch-
tiger als sie; es währte nicht lange, so wurde die Philosophie
nicht nur geduldet, sondern eifrig gepflegt. Dieser Durchbruch
einer neuen Zeit, die wie jede neue Zeit ihre Vorläufer hatte,
erfolgte in und durch den Kreis der Männer, die sich um den
jüngeren Seipio scharten. Es waren die Edelsten des Volkes, die
gleich weit entfernt waren von dem Treiben des lungernden
Pöbels und des immer mehr in schamlosen Egoismus versinken-
den Adels. Zu diesen Männern nun gehörten Ὁ. Fabius Maximus,
der Bruder Scipios, und sein Schwager Q. Aelius Tubero, ferner
sein Jugendfreund C. Laelius, Junius Brutus, L. Furius Philus,
Sp. Mummius, der Bruder des Zerstörers von Korinth, und der
Oheim des berühmten Pompeius Magnus, Sext. Pompeius,
Μ᾽. Manilius und P. Rupilius; ferner der Dichter (ἃ. Lucilius, die
beiden Schwiegersöhne des Laelius, C. Fannius und Q. Mucius
Scaevola, der jüngere (). Aelius Tubero, P. Rutilius, A. Verginius
und andere. Hierzu kommen, wie wir bereits früher gesehen
haben, Polybius und Panätius!. Bereits von ihrem Vater
Ämilius Paulus wurden Seipio und sein Bruder in die echte
griechische Litteratur eingeführt. Es ist daher wohl kein
Zufall, dass Scipio als Verehrer des Sokratikers Xenophon gerade
mit Panätius Freundschaft schloss, der wie kein anderer Philo-
soph seiner Zeit zu den Sokratikern zurückkehrte. Durch Pa-
nätius nun wurde die stoische Philosophie, natürlich in der Gestalt,
die er ihr gegeben hatte, in diese Gesellschaft eingeführt und
damit der römischen Aufklärung die Bahn gebrochen. Es liegt
in der Natur der Sache, dass er bei diesem Unterrichte alle die
Fragen hintansetzte, die mehr den Philosophen von Fach inter-
essierten, und nur gab, was den Römern stets und zumal noch
in dieser Zeit hauptsächlich am Herzen lag, nämlich eine prak-
tische Philosophie 5).
Die wesentlichsten Fragen nun, die der Römer von der
Philosophie beantwortet sehen wollte, betrafen die Physik oder,
besser gesagt, die Religion und die Ethik. Die römische Religion
war von Hause aus eine Religion der Begriffe. Jeder Vorgang
') Die genannten Männer begegnen uns fast alle in dem Gespräche
Ciceros de rep.; vgl. S. 67 und ferner Cie. Lael. e. 27, 101. Andere
werden wir noch später treffen.
2) Cie. de’rep. 1 10, 15;.19:219.
— 41 —
7 im äusseren Geschehen der Natur sowohl wie im Gebiete der
menschlichen Thätigkeit, ja jeder einzelne Akt desselben wurde
- als Gott angesehen. Es galten daher sowohl die höchsten Be-
griffe als auch die ihnen oft bis in die letzten Stufen unter-
— geordneten Teilbegriffe als Gott und Götter!). Die schwache
Phantasie der Römer hatte diese gar nicht oder nur in sehr ge-
- ringem Grade mit einer persönlichen Existenz umkleidet, und
darum war der Widerspruch, einen Begriff zugleich mit seinen
Unterabteilungen als verschiedene Götter zu denken, verborgen
geblieben. Bei dieser Anschauungsweise konnte es nicht aus-
bleiben, dass jede Berührung mit der griechischen Kunst und
Poesie, die die einzelnen Göttergestalten in voller Anschaulichkeit
darstellten, die Römer und zumal die denkenden in ihrer religiösen
Empfindung irre machen und ihrem Denken eine andere Richtung
als bisher geben musste. Aber die griechische Religion war als
solche längst verschwunden und an ihre Stelle die Philosophie
getreten, die im Epikureismus jene entweder ganz oder doch
wenigstens fast ganz beseitigte, oder in der Stoa sie wieder auf
die Natur und ihre Kräfte zurückführte. Dadurch war diese der
römischen Auffassung, die eben nie über diesen Standpunkt weit
hinaus gegangen war, sehr nahe gekommen, und jetzt trat sie ihr
in Panätius gegenüber.
Das andere Gebiet, das den Römern hauptsächlich am Herzen
lag, war die Ethik. Als die höchste und unbedingte Autorität im
praktischen Leben galt dem echten alten Römer das Staatswohl.
Dieses bestimmie das öffentliche wie das Privatleben, ja
selbst die Religion stand mit ihm in naher Verbindung: Ihm
hatte sich jeder unweigerlich unterzuordnen. Es ist nicht zu ver-
kennen, dass diese Centralisation Grosses geleistet hat; aber wenn
auch der Egoismus, welcher in dieser unbedingten und undiskutier-
baren Autorität des Staatswohles lag, nicht notwendig die
Grenzen einer gesunden Moral zu überschreiten brauchte, so lag
doch die Gefahr dazu ausserordentlich nahe, und sie wurde nicht
vermieden, sobald im Kampfe mit dem Gegner das Staatswohl es
zu fordern schien, und je weniger die Republik in die Lage kam
ı) Die Beweise hierfür liefern die Fragmente aus Varros Antiquitates
1. erhalten haben; vgl. ihre
rer. div. XIV—XV, die Augustin, Tertullian u. a. en haben
Zusammenstellung bei Merkel zu Ovids Fast. praef. p. ( LXXXV ga.
Aa
von den Gegnern dafür Rechenschaft fürchten zu müssen. Dieser
oft empörenden Selbstsucht huldigte die aristokratische Oligarchie
immer mehr und bei ihrem steigenden Reichtume zugleich einem
alles verschlingenden Luxus. Je widerlicher dieses Treiben war,
und je heftiger zugleich auch von anderer Seite gegen alle bis-
herige Auffassung angekämpft wurde!), um so mehr musste na-
mentlich bei den edel Gesinnten das Bedürfnis nach einer all-
gemein gültigen ethischen Norm hervortreten. Auch diese bot
die Stoa des Panätius und zwar in einer Form, welche der alt-
römischen Sittenstrenge vollständig ebenbürtig war und zugleich
der römischen Weltherrschaft entsprach. Der Übergang zu dieser
neuen Auffassung war daher im Scipionenkreise natürlich. Dieser
Übergang wird uns fast von allen berichtet, und seine Folgen
zeigen sich teils in dem Verhalten dieser Männer überhaupt, teils
lassen sie sich auch in der Litteratur nicht verkennen.
Was nun zunächst Seipio anlangt, so ist sein Verhältnis zur
Philosophie schon zu wiederholten Malen berührt worden. Selbst
im Kriege mochte er sie nicht ganz entbehren; wenn er aber als
siegreicher Feldherr aus demselben heimkehrte, begab er sich
gern wieder in ihre strenge Zucht, um die ‚Geringfügigkeit der
menschlichen Thaten und die Unbeständigkeit des Glücks zu er-
kennen, gleichwie man ein Ross, pflegte er zu sagen, welches in
zahlreichen Schlachten zu wild geworden sei, dem Bändiger über-
gebe, um es wieder gefügig zu machen. Ebenso sind auch seine
Erörterungen über den Idealstaat und das Verhältnis des römi-
schen Staates zu demselben (s. S. 378) ein Beweis für das Leben
der Philosophie in diesem Kreise. Dieses Verhalten ist um so
charakteristischer, als die Römer selbst noch in späterer Zeit die
Beschäftigung mit der Philosophie nur dem Knabenalter für an-
gemessen hielten. Mit dieser Gesinnung steht in engster Beziehung
die Einfachheit des Lebens und die Hochherzigkeit, die er in
seinem Handeln an den Tag legte: Er war aller Verschwendung
und allem Luxus abhold, ein Gegner der kostbaren Bauten, ent-
hielt sich aller Spekulationen und zeigte sich überhaupt als ein
Muster der Enthaltsamkeit. Andererseits handelte er mit einer
Uneigennützigkeit, die das gerade Gegenteil zu dem unlauteren
') Hierüber wird nachher gehandelt werden.
\
-- 443 —
Treiben seiner Zeitgenossen war!). Ebenso verschmähte er auch
die damals üblichen Redekünste, wenn er öffentlich sprach ®):
Ererbter Sinn erfüllte die Pflichten, welche die Philosophie lehrte.
Die Richtung Scipios teilte auch Laelius, wie wir oben bereits
gesehen haben. Er hatte in jüngeren Jahren den Stoiker Diogenes
gehört, als dieser in der Philosophengesandtschaft im Jahre 155
nach Rom gekommen war. In der Folgezeit schloss er sich an
Panätius an und galt als vollkommener Stoiker?) Im übrigen
besitzen wir nur noch eine Nachricht über seine Anschauung,
- die wir später zu erwähnen Gelegenheit haben werden. Dem-
ger
ä
ἢ
᾿
selben Standpunkte huldigten auch die übrigen Männer, die wir
genannt haben. Q. Mucius Scaevola (Augur), P. Rutilius und
Aelius Tubero stachen mit ihrer einfachen Lebensweise so sehr
von- der ihrer Zeitgenossen ab, dass sie die allgemeine Aufmerk-
samkeit auf sich zogen. Besonders wird bei den beiden letzten
die Treue gerühmt, mit der sie den Stoieismus, zu dem sie sich
bekannten, auch zu verwirklichen strebten; bei Tubero ging sie
so weit, dass er seiner Zeit fast als Sonderling erschien).
Panätius sowie Posidonius und Hecaton widmeten ihm Schriften).
Den klarsten Einblick in die Anschauung dieses Kreises ge-
währen uns jedoch trotz ihrer grossen Lückenhattigkeit die Frag-
mente des Lueilius. Der Dichter kennt die verschiedenen Philo-
sophenschulen der damaligen Zeit. Er erwähnt die ungewöhnlich
scharfe Dialektik des Carneades, und Clitomachus nahm Veran-
lassung ihm ein Werk zu widmen; doch tritt keine Spur in den
Besten seiner Gedichte hervor, die darauf hinwiese, dass er sich
irgend wie näher an diese Schule angeschlossen hätte. Zuwider
war ihm Epikurs Philosophie; er liess daher die Gelegenheit nicht
vorübergehen sie zurückzuweisen und ihren übel berüchtigten Ver-
treter Albucius zu verspotten®). Auch die Auswüchse der Stoa
1) Cie, de off. I 26, 90; II 22, 76; Polyb. XXXI ce. I1 ἢ. Plutarch.
apophth. Seip. min. 13; 14.
2) Cie. de orat. I 60, 255 (vgl. de ofl. Ι 37, 132 u. S. 41 ἢ).
3) Lueilius IV 2 ed. Müller Cie. Brut. ο. 58, 213; de off. II 11, 40; III 4, 16;
de fin. II 8, 24 u. ö.; vgl. de rep. ΠῚ 21, 32 ft.
Ὁ Cie. de orat. 1 11, 45; Brut. ὁ. 90, 113 £. 31, 117; Pompon. dig. I 2,
2, 40; Gell. N. A. I 22, 7. Athen. VI 274.
5) Cie. de fin. IV 9, 23; de off. III 15, 63.
6) XXVII 7; 1. ine. IX (5)a.
-- 44 --
scheint er befehdet zu haben!); seine eigene Überzeugung aber
zeigt ihn als den Schüler des Panätius, wie es ja auch in diesem
Kreise nicht anders zu erwarten ist. Er kennt zunächst die
Principien und die vier Elemente der Stoa; ungleich wichtiger
jedoch ist seine Ansicht über die Götter und die Götterverehrung.
Er ereifert sich über diejenigen, welche sich vor den »Hexen-
schrecknissen«, die Numa eingeführt habe, fürchteten und aus
ihnen Vorbedeutungen entnähmer: Wie unmündige Kinder hielten
sie alle Fabeln für wahr und meinten, den Bildsäulen wohne ein
Herz inne, während doch daran nichts Wahres, sondern alles
eitle Dichtung 5613. Dies deckt sich vollkommen mit der An-
schauung des Panätius. Ebenso stimmt er mit ihm auch in der
Anthropologie und Ethik überein. Der Mensch besteht nach ihm
aus Leib und Seele, und zum Beweise hierfür beruft er sich .auf
die Übereinstimmung aller Philosophen®). Zwischen jenen
beiden Bestandteilen findet ein innerer Zusammenhang statt;
wer am Geiste krankt, lässt dies am Körper erkennen und der
kranke Körper wieder behindert den Geist*). Dieser ist in jedem
Menschen in doppelter Gestalt vorhanden’). Er ist frei in seinem
Thun; denn wenn alles nach dem Zufall und dem Verhängnisse
ginge, gäbe es keine Ehre und kein Gutes®). Hiermit kommen
wir zu seiner Ethik, aus der uns ein grösseres Fragment über
die Tugend erhalten ist’). In den ersten drei Versen desselben
') 1. ine. CI (23); dagegen verehrt er die Sokratiker XXVII 35 (10) u. ö.
vgl. ib. XXXIX (12) e.
2, XXVII frg. 1, XV fig. 2.
2) XRVI το 21’vel. S. 379 £.
*) Diesen Gegenstand finden wir besonders bei Posidonius eingehend
behandelt, vgl. S. 262.
5) XXVI Irg. 22, 23; XVI fre. 9.
6) XIHO fig. 2; vgl. auch XXX 7.
‘) 1. ine. 1 (1) ἃ: Virtus, Albine, est pretium persolvere verum
Queis in versamur, queis vivimu’ rebu’ potesse,
Virtus est homini seire id, quod quaeque habeat res;
Virtus seire homini reetum, utile, quid sit honestum,
Quae bona, quae mala item, quid inutile, turpe inhonestum;
Virtus quaerendae rei finem seire modumque,
Virtus divitiis pretium persolvere posse;
Virtus id dare, quod re ipsa debetur honori,
Hostem esse atque inimieum hominum morumque malorum,
Contra defensorem hominum morumque bonorum,
Hos magni facere, his bene velle, his vivere amicum;
-- 44 -.-
finden wir zunächst den ersten Hauptteil der stoischen Tuzend-
‚lehre angedeutet, die Lehre vom Werte der Dinge (περὶ τῆς πρώ-
τῆς αξίας ἢ). Die beiden folgenden Verse erinnern so sehr an die
Disposition des Panätius in seinem Werke über die Pflichten,
dass wir nicht nötig haben, dies näher zu beweisen. Im An-
schlusse hieran handeln die folgenden Verse offenbar über das
Nützliche, den Wert des Reichtums, der Ehre, der Freundschaft
und überhaupt der Tugend. Auch bei Panätius haben wir die
- gleiche Abfolge. Zum Schlusse bespricht der Dichter die Stufen-
folge der Verhältnisse für den Kollisionsfall der Pflichten. Zu-
höchst stellt er das Interesse des Vaterlandes, dann das der
Eltern und zuletzt das eigene. Schon diese Vergleichung über-
haupt weist auf Panätius hin, bei dem wir Derartiges durchweg
finden; aber auch die Anordnung selbst stimmt mit der Lehre
desselben?2). Der Anschluss des Lueilius an Panätius ist also
offenbar. Derselbe war aber bald der ausgesprochene Liebling
des Volkes3); mit der Popularität seiner Gedichte mussten dem-
nach auch die neuen Ideen namentlich in Bezug auf die Religion
ebenso schnell populär werden: Er ward so im vollsten Sinne ein
Dichter der Aufklärung. Selbstverständlich ist es nun, dass, was
er hier aussprach, auch die Überzeugung der anderen Genossen
des Scipionenkreises war. Nicht mit Unrecht mochten daher die
Gegner dem Scipio dieses Umsichgreifen der neuen Ideen und die
Vernichtung der väterlichen Religion zur Last legen, und daher
Laelius sich veranlasst fühlen, die Religion der Vorfahren öffen!-
lich zu preisen. Denn wenn wir die vorhin erwähnten Verse des
Lucilius, in denen er die religiösen Institutionen des Numa an-
greift, mit den beiden Fragmenten vergleichen, die uns aus der
Rede des Laelius über die Verehrung der Götter erhalten sind‘),
Commoda praeterea patriae sibi prima putare,
Deinde parentum, tertia iam postremaque nostra.
ἢ Diog. VII 84. Dass wir diesen Teil hier wirklich vor uns haben,
zeigt sich klar, wenn wir Seneca ep. 89, 14 vergleichen: prima (sc. moralis
_ philosophiae pars) . . inspectio suum cuique distribuens . .
quid enim. est tam necessarium quaın pretia rebus imponere.
diesen Teil in der Überarbeitung der Pflichtenlehre des Panätius mit Ab-
"sicht ausgelassen; vgl. S. 27. ,
Bee. de of. ΠΊΙῚ, 58; vgl. 5. 88. 1
ν 3) Er rühmt sich, dass seine Gedichte allein unter
lesen würden XXX 4 (29) ἡ.
᾿ς ἢ Cie. deor. nat. III 17, 43 u. rep. VI 2,
maxime utilis.
Cicero hat
allen vom Volke ge-
τς
9 Bait.: Lucilius XV frg. :
-- 440 --
so kann es schwerlich zweifelhaft sein, dass Laelius jene Rede
gehalten und niedergeschrieben hat, um den gedachten Vorwürfen
entgegenzutreten. Selbstverständlich ist es jedoch, dass er seine
eigene Meinung darum nicht veränderte. Er kann daher jene
xede nur in dem Sinne gehalten haben, dass er für das Volk eine
andere Religion für notwendig hielt, wie für die Gebildeten.
Dass diese Meinung in dem Freundeskreise thatsächlich vor-
handen war, oder infolge der Umstände sich bildete, beweist vor
allem die Theologie des berühmten Juristen Ὁ. Mucius Scaevola
pont. max., der schon bei seinem Oheim und auch wohl bei
seinem Vater (s. 5. 457 [) reiche Gelegenheit fand, die Lehre des
Panätius kennen zu lernen. Unumwunden lehrt dieser im An-
schluss an Panätius, es gebe eine dreifache Theologie, eine
Theologie der Dichter, der Staatsmänner und der Philosophen.
Die letztere sei zwar allein wahr, aber sie tauge für das Volk
nicht, weil sie vieles enthalte, was dem Volke zu wissen nicht
fromme. Einen weiteren Vertreter dieser Anschauung haben wir an
dem didaktischen Dichter Valerius Soranus. Er huldigt demselben
freien Standpunkt und bekennt sich ebenso für den stoischen
Pantheismus?). Dass er nun dem Scipionenkreise angehörte oder
ihm jedenfalls sehr nahe stand, beweist die Widmung eines seiner
Werke an Seipio?). Indem also Panätius in diesen Kreis die
religiöse Aufklärung hineintrug oder, soweit eine solche daselbst
schon vorhanden war, schürte, ist er der wesentlichste Begründer
der römischen Aufklärung geworden).
Innerhalb derselben begann nun eine zweite Periode, sobald
neben der Lehre des Panätius die seiner Schüler und des durch
ihn wesentlich beeinflussten Antiochus ihren Einfluss geltend
machte. Durch diese kamen dieselben Strömungen in sie
') Das letztere s. bei Augustin de eiv. D. VII 9, das erstere beweist
die Thatsache, dass er sich nicht scheute den geheimen Namen der Stadt
Rom oder ihrer Schutzgottheit zu veröffentlichen. Die Nachricht, dass
er dafür bald durch einen schmählichen Tod gebüsst habe, zeigt jedenfalls
die offene Reaktion der Gegner und zugleich, dass auch er nicht ohne
Einfluss auf die Anschauung des Volkes geblieben war; vgl. Plin, N. H.
III 5, 9; Plutarch quaest. Rom. 58 s. 61.
?) Varro ling. lat. VII 31.
5) Indirekt wurde dadurch auch das Auftreten der Epikureischen Phi-
losophie ermöglicht.
'
;
ἢ
-- MI --
hinein, welche wir vorher in der Philosophie kennen gelernt
haben: Es gab eine strengere und eine mildere Auffassung des
Stoieismus, die sich leicht mit Lehren anderer Systeme und na-
mentlich mit dem Mystieismus der Pythagoreischen Philosophie
paarten. Die hauptsächlichsten Vertreter dieser verschiedenen
Richtungen sind für uns Cicero, Varro und Nigidius Figulus,
Die Beredsamkeit und Politik waren für Cicero das höchste
Ziel seines Strebens. Die Philosophie diente ihm deshalb in der
Jugend hauptsächlich nur als Mittel seine Beredsamkeit zu fördern,
und im Alter dazu, die Zeit auszufüllen, welche ihm die unfrei-
willige Mufse in der Politik gab. Zugleich war es sein Wunsch,
auch in der Pilosophie sich neben die grossen Meister der
Griechen stellen zu können. Aber ihm fehlte das Wichtigste, was
von einem Philosophen verlangt wird, klares und selbständiges
Denken. Er ist durchweg von seinen Quellen abhängig, und nur
aus der Wahl derselben dürfen wir sein Urteil und seine Über-
zeugung entnehmen. Aber gerade diese Auswahl ist der deut-
lichste Beweis eines unphilosophischen Eklektieismus. In der Er-
kenntnistheorie und den Problemen der Physik huldigt er haupt-
sächlich dem Probabilitätssystem der Akademie; daneben aber
bearbeitet er Quellen, die auf das direkte Gegenteil gebaut
sind. Als Akademiker glaubt er sich zu diesem Schwanken be-
rechtigt, ohne den Widerspruch zu empfinden, in den er dadurch
gerät. Auch in der Ethik zeigt er ein gleiches Verhalten: In dem
einen Werke lehnt er sich an Antiochus an und kämpft gegen
die Stoa, anderwärts wieder stellt er sich auf den stoischen
Standpunkt. Streifen wir die Widersprüche dieses Beiwerkes ab,
in die ihn hauptsächlich sein Streben als Philosoph zu glänzen
getrieben hat, so bleibt eine Lehre übrig, die Ciceros Ansicht in
Wirklichkeit wiedergiebt: Die römische Religion ist an sich ver-
kehrt und unrichtig, aber notwendig für das ungebildete Volk;
die wahre Religion dagegen giebt nur die Philosophie. Denn
dass es Götter oder, besser gesagt, eine Gottheit giebt, die waltend
im Weltall regiere, gilt ihm als eine Thatsache, an der zu zweifeln
frevelhaft sei. Dementsprechend ist auch seine Überzeugung in
der Ethik durchweg ein gemilderter Stoieismus. Dies ist der
Standpunkt des aufgeklärten Römers seiner Zeit. Für die Aufgaben
der Philosophie als solcher hatte er im allgemeinen wenig Ver-
ständnis. Wir erkennen dies einmal daran, dass er ohne wesent-
-- 448 —
liche Vertiefung in den Stoff in einem kurzen Zeitraum eine
philosophische Litteratur herstellen zu können vermeinte und
herstellte, und zum anderen auch darin, dass er die Meinungs-
verschiedenheit der Philosophen nicht für das hielt, was sie in
Wirklichkeit war, sondern für ein nutzloses Gezänk, das aus der
Welt zu schaffen nicht mehr wie recht sei!). Es ist daher eine
liebenswürdige Offenheit, die uns für viele seiner anmafsenden
Bemerkungen in seinen Schriften entschädigt, wenn er selbst zu-
gesteht, dass ihm nur die Worte, nicht aber der Inhalt seiner
Schriften gehören: Er war in Wirklichkeit kein Philosoph, und
ihn als solchen zu fassen führt zu einem falschen und ungerechten
Urteil über ihn; er war ein Aufklärungsschriftsteller mit allen
Schwächen und Halbheiten, die derartigen Popularphilosophen
anzuhaften pflegen. Ihrem Charakter nach steht seine Anschauung
mehr auf Seiten der freisinnigen Richtung des Panätius als der
mystisch angehauchten des Posidonius, wenngleich er auch zu
dieser in den Zeiten der Trauer einen Ansatz machte.
Einen ähnlichen, aber umgekehrten Standpunkt vertritt Varro,
der grösste Gelehrte, den Rom hervorgebracht hat. Vielseitig
und umfassend wie kein zweiter hat er fast die ganze folgende
Zeit mit seinem Wissen gespeist. Zu diesem Wissen gehörte
natürlich auch die Philosophie, und diese Stellung zu ihr charak-
terisiert ganz von selbst seinen Standpunkt in ihr. Auch er ist
kein Philosoph, sondern nur ein philosophierender Gelehrter, wie
er selbst eingesteht und seine Schriften beweisen?). Natürlich
schliesst dies nicht aus, dass er ebenso wie Cicero sich eine
Überzeugung zum Ersatze für den geschwundenen Glauben an die
alte Religion gebildet hatte. Am klarsten und eingehendsten hat
er diese in den Antiquitates rerum divinarum entwickelt und
begründet: Es giebt eine dreifache Religion, eine solche der
Diehter, der Staatsmänner und der Philosophen. Die Religion
der Dichter beruht auf einfacher Erfindung und enthält vieles,
was der Götter im höchsten Grade unwürdig ist. Sie ist daher
') de leg. I 20, 53.
?) Cie. acad. post. I 2, 4 ff. sent. Varr. p. 266, 23 Riese; vgl. S. 117ff.
Es sei hier auch an die fast möchte man sagen aller Philosophie Hohn
sprechende Berechnung der möglichen Standpunkte in der Ethik erinnert,
die er in dem ‘liber de philosophia’ auf 288 bestimmte, um den Carneades
und Antiochus zu verbessern (Augustin de οἷν. D. XIX 1).
:
᾿
-- 49 -“--
gänzlich zu verwerfen' oder höchstens auf dem Theater zu dulden.
Die Religion der Staatsmänner ist ein politisches Instituts sie
verhält sich zum Staate wie das Gemälde zum Maler oder das
Haus zum Baumeister. Die Religion der Philosophen dagegen ist
allein wahr, doch enthält sie vieles, dessen Kunde dem ungebil-
deten Volke schädlich ist. Wenn es also darauf ankäme, ‘die
Staatsreligion neu: zu schaffen, würde es gewiss besser sein, sie
der philosophischen Religion anzupassen; und namentlich die
Götterbilder: und den verkehrten Opferdienst abzuschaflen; bei
den: bestehenden Verhältnissen aber könne es mır darauf an-
kommen, sie im Interesse des Volkes möglichst mit der philo-
sophischen in- Einklang zu bringen). ‚Die Philosophie nun,
welche die wahre Religion giebt, ist der stoische Platonismaus,
-wie er ihn bei Posidonius und. namentlich in-dessen Kommentar
zu Platos Timäus fand [vgl. S. 409,12)... Sein Verhältnis zur rö-
mischen Religion ist also: dasselbe wie das Ciceros und aller auf-
‚geklärten Römer jener Zeitz aber in dem Ersatze, den er dafür
giebt, erscheint im Grunde genommen das Gegenteil von dem,
was wir bei Cicero finden..! Bei Cicero wird das Dasein der
Götter und auch im allgemeinen ihre Weltregierung anerkannt,
auch die Unsterblichkeit der Seele in den Tusculanen nach der-
selben Quelle wie bei, Varro gegeben; aber Cicero legt auf diese
‚Darstellung alsbald die frostige Hand des Skeptikers und zerstört
wieder, was er vorher vorgetragen hatte. Im Gegensatze hierzu
treffen wir bei Varro einen ausgesprochenen Hang zur Pythago-
reischen Mystik.‘ Dies zeigt sich zur vollen Genüge schon in der
"Ausführung des ersten Buches der Antiquitates rerum divinarum;
es zeigt sich ferner in der eingehenden Berücksichtigung derselben
in zahlreichen Büchern, es zeigt sich drittens und ganz klar auch
in seinem Wunsche auf Pythagoreische Weise bestattet zu werden’).
-Die Pythagoreische Zahlenmystik und -Symbolik, die er ebenfalls
‘ausführlich wiedergegeben hat, ist auch der Grund für seine sonst
unbegreifliche Art seine Werke zu disponieren und zu schema-
1) Dies that er für die Hauptgottheiten im XV. Buche der Ant. rer.
div,, aber auch sonst; vgl. z. B. in de cultu deorum,, Augustin. de civ.
Ὁ. VO 35. sr
3) Vgl. auch Ant. rer. div. I fre. 284, u. 5. 145.
‚®) Plin. N. H. XXXV .160.
“ Sehmekel, mittlere Stoa. 29
-- 400 “--
tisieren!). In der Ethik dagegen vertrat er den gemilderten
Stoicismus des Antiochus?).
Rückhaltlos bekannte sich zum Pythagoreismus der dritte a
vorhin genannten Männer, der zweitgrösste Gelehrte Roms, Ni-
gidius Figulus. Genaueres jedoch wissen wir von seiner Lehre
nicht; nur soviel steht fest, dass er die Tieropfer, also auch wohl
alles, was damit zusammenhängt, nicht vollständig verworfen hat,
da uns die Bruchstücke seines Werkes über die Divination aus
den Eingeweiden das Gegenteil beweisen®). Einen Anhänger
fand er an Vatinius und selbständigere Fortsetzer wohl an dem
älteren Sextius und seiner Schule‘®).
Ebenso wichtig, ja fast noch wichtiger ist der Einfluss dieser
Philosophie auf die zeitgenössische Dichtung gewesen. Als
Augustus nach der Schlacht bei Actium auf den Trümmern der
Republik die Monarchie errichtete, ging sein Streben darauf
hinaus, die hervorragenden Schriftsteller für sich zu gewinnen,
um durch sie den neuen Stand der Dinge gepriesen zu sehen
und so den Glanz der alten Zeit durch den grösseren der Gegen-
wart zu verdunkeln. Vergil. willfahrte diesem Wunsche bereit-
willigst und dichtete zur Durchführung desselben seine Aeneis:
Nicht blinder Zufall und Willkür bestimmen den Wechsel der
Zeiten, sondern das stete Walten der Vorsehung lenkt den Welt-
lauf und führt in ewigen Kreisen das Ende des einen wieder zu
seinem Anfange zurück. Ein solcher Kreis ist mit dem Anbruche
1) Dies ersehen wir zunächst aus dem Anfange der erhaltenen Bücher
de ling. lat.; denn hier entwickelt er die Disposition im engsten Anschluss
an die Pythagoreische Lehre. Für die Imaginum libri erkennen wir das
Gleiche aus Gell. N. A. III 10, 1 u. 17. Dasselbe gilt jedenfalls auch für
die Antiquitates rer. hum. div. Den Schematismus selbst siehe bei Teuffel-
Schwabe, Röm. Litt.-Gesch. Kap. 166, 4a δ Am wunderbarsten waltet er
in den Imagines: 1 - 2-7 Bücher enthalten 2-7 + (2- 7)7?= 100 Biographien.
Den vollkommenen Männern gebührt natürlich auch die vollkommene Zahl,
die 7. — Ueber die Richtung seines Pythagoreismus s. die Fragmente der
Antig. rer. div. I (S. 117 ff.) und die Sammlung der Bruchstücke der Pytha-
goreischen Lehre am Schlusse der Dissertation des Verfassers S. 76 ff., wo
leider de ling. lat. VII 17 aus Versehen übergangen ist.
5 Vgl. Zeller Philos. d. Gr. IIIa 8. 672.
°) Cie. Tim. 1; Gell. N. A. XVI 6, 12 ff.; Ciceros Angabe ist jedoch
insofern ungenau, als er die untergeschobenen Schriften der Neupythagoreer
offenbar für echt und alt hält.
*) Vgl. Zeller a.a.O.IIIb S.95. Seneca deiraIl[36,1ff. ep: 64, 2f.; 108, 17.
-- 406) —
der Regierung des Augustus vollendet. Nach langer Not und
Schlechtigkeit kehrt daher das Glück des goldenen Zeitalters
‚wieder. Die Enthüllungen über dieses Walten der Vorsehung,
das uns an verschiedenen Stellen des Gedichtes angedeutet, aus-
führlich aber in der berühmten Unterweltscene des "sechsten
Buches geschildert wird, beruhen ganz auf der Verschmelzung
stoischer und Platonischer Lehren, wie sie von Posidonius na-
mentlich in seiner Erklärung Platonischer Schriften vorgenommen
war und der stoischen Richtung des Neupythagoreismus ent-
sprachen !). — Die gleiche Absicht wie Vergil sucht auch Ovid in den
Metamorphosen durchzuführen. Auch er beginnt daher sein Werk
mit der Erschaffung der Welt und dem goldenen Zeitalter, um am
Schlusse zu diesem zurückzukehren und den Glanz Roms und
der Augusteischen Zeit als prädestiniert darzuthun®). Die Ent-
1) Natürlich kommt hierbei nicht in Betracht die geringe Änderung
über den Aufenthaltsort der Seelen nach dem Tode, welche die poetische
Fiktion der Unterwelt, die der Dichter aus Homer herübernahm, notwendig
machte. Denn dass diese Abweichung in Wahrheit nur durch die Nach-
ahmung Homers bedingt ist, beweist unwiderleglich die Thatsache, dass
Vergil Georg. IV 219 ff., wo er wesentlich denselben Zweck wie in der
Aeneis verfolgt, aber jene Rücksicht zu nehmen nicht gezwungen ist, auch
die wahre Gestalt dieser Lehre bietet; vgl. des Verfassers Diss. p. 60 Ann.
Zu bedenken ist hierbei, dass Vergil auf Geheiss des Augustus die zweite
Hälfte dieses Buches noch einmal umarbeitete, als er schon mitten in der
Ausarbeitung der Aeneis stand. Dass zu Hirzels Vermutung, Vergil habe
das Vorbild der Unterweltscene in Zenos Politeia gefunden, kein Grund
vorliegt, hat der Verfasser in seiner Diss. p. 59 Anm. 38 gezeigt. Wenn er
jedoch daselbst im Anschluss an die Zeugnisse alter Grammatiker die Lehre
Vergils direkt auf Plato zurückgeführt hat, so bedarf dies einer Korrektur:
Der stoische Charakter ist diesen Versen klar aufgedrückt, und Hirzel hat
insofern Recht, dass er darauf hingewiesen hat. Denn die stoische Lehre
von der Allbeseeltheit der Welt tritt deutlich in ihnen hervor; ebenso
weisen uns die Worte: totamque infusa per artus mens agitat molem, auf
die stoische Lehre vom Makrokosmus, und in gleicher Weise führt uns auch
die Lehre von den vier Leidenschaften: hine metuunt eupiuntque dolent
gaudentque, in erster Linie zur Stoa. Da nun diese ganz aus dem Einflusse
des Körpers hergeleitet werden (vgl. hine metuunt etsq.), 850 sehen wir soft rt,
dass wir die jüngste Phase des Stoieismus vor uns haben. Die Ungenauig-
keit des Laktanz besteht also darin, dass er diese stoische Lehre einfach
mit zenonisch, ἃ. h. stoisch bezeichnet. ’
2) Ovid ist also von Vergil nicht nur in Einzelheiten, sondern Y der
ganzen Konzeption seiner Metamorphosen beeinflusst. Übrigens suc v0 ΟΣ
dureh dieses Werk wohl wieder gut zu machen, was er durch die Amores
bei Augustus verdorben hatte. 905
ee
wickelung dieses Waltens der Vorsehung legt er daselbst direkt
Pythagoras in den Mund, und was er hierdurch andeutet, stimmt
mit der Thatsache überein: sie ist neupythagoreische Philosophie).
Während nun aber Vergil den Anchises nur einfach die Rück-
kehr des goldnen Zeitalters verkünden lässt, erhalten wir bei
Ovid eine ausführliche Schilderung desselben. Diese giebt nicht
die gewöhnliche Auffassung der Dichter wieder, sondern eine
philosophische und geht, wie wir bereits früher gesehen haben,
durch Vermittelung Varros auf Posidonius’ Auffassung der Urzeit
und ihre Entwickelungsgeschichte zurück’).
Es ist bekannt, dass Taacitus in seiner Germania zwar keines-
wegs ein. Idyll oder einen blossen Sittenspiegel geschaffen, doch
aber oft in unverhohlener Weise die einfachen und unverdorbenen
Zustände und Sitten der Germanen gegenüber der Sittenverderbnis
und dem hochgespannten Luxus der Römer in ein ideales Licht
gesetzt hat?). Die Züge nun, welche diesem Zwecke dienen, sind
wesentlich dieselben mit denen Seneca im 90. Briefe in ganz
gleicher Absicht das Leben der Naturmenschen preist. Mit der
rhetorischen Fülle, die ihm eigen ist, rühmt er ihre Bedürfnis-
1) Vgl. ausser allem, was bis jetzt dagewesen ist, auch des Verfassers
Diss. S. 43 ff. Ovid folgt besonders in seiner gänzlichen Verwerfung der
Fleischnahrung und deren Begründung durch die Seelenwanderung nicht
der stoischen Richtung, offenbar weil sein Vorbild Vergil diese, die auch
an sich besser passte, schon verwertet hatte; Diss. p. 65 sq.; 74 sq.
2) Verg. Aen. VI 791 ff. Ovid. Met. XV 96—142; vgl. dazu S. 288 Anm. 4.
Ovid hat Beides, die speziell Pythagoreische Lehre (a. a. Ὁ. vv. 75—95,
153—258) wie auch die Darstellung des goldenen Zeitalters (ausser a. a. O.
auch Fast. I 335 ff., IV 395 ff.) bei Varro gefunden. Dadurch nun, dass er
Beides mit einander verquickte, obwohl es nicht organisch zusammenhing,
entstanden in der Darstellung der Metamorphosen die Widersprüche, die
Diss. p. 3 544. nachgewiesen sind. Übrigens verwickelt sich Ovid durch die
Einflechtung dieser Lehre daselbst noch in einen Widerspruch mit dem
Anfange des Gedichtes. Hier nämlich schildert er die Schöpfung der Welt
aus dem Chaos und die gewöhnliche, poetische Auffassung des goldenen
Zeitalters, die die Menschen von den frei wachsenden Früchten sich nähren
lässt; am Schlusse dagegen feiert er die Ewigkeit der Welt und ein goldenes
Zeitalter, in welchem die. Menschen Ackerbau treiben (vgl. v. 112f. und
dazu Diss. p. 21sq.). Den zweiten Widerspruch hat er jedoch ziemlich zu
verwischen gewusst.
3) Vgl. A. Riese, Eos II S. 195 f. Teuffel-Schwabe, Röm. Litt. -Gesch.
336, 9. Dass er keine Dichtung schreibt, geht schon daraus hervor, dass
er auch die Fehler der Germanen nennt.
-- 3 “--
losigkeit, ihre Unschuld und Sittenreinheit: Mit den einfachsten
Nahrungsmitteln befriedigen sie die natürlichen Bedürfnisse,
Grotten und Höhlen sind ihre Wohnungen und die Felle der
wilden Tiere ihre Kleidung. Eigentum kennen sie nicht, denn
jeder benutzt ungehindert die Früchte des Feldes. Die Tüchtig-
sten unter ihnen sind ihre Führer und Berater: kurz, das Glück
wohnt unter ihnen, weil sie trotz aller Dürftigkeit den Geiz nicht
kennen und darum auch schlecht zu sein nicht verstehen. — Mit
derselben Absicht und denselben Zügen, nur mit weniger Schwär-
merei ‚betrachtet auch Horaz den Naturzustand der Völker dort,
wo er offenbar auch im Sinne des Augustus Abkehr von dem
- raffinierten Luxus und Umkehr zu der Väter Sitten predigt).
Horaz erinnert hier an die Scythen und Gothen, Seneca an die
- Seythen und die Bewohner der Syrten, und Taeitus stellt die
- Sitten und das Leben der Germanen dar. Woher stammt
bei ihnen diese Auffassung des Naturzustandes der Menschen?
- Wie Seneca ausdrücklich angiebt?), ist sie von Posidonius’ Auf-
fassung des Urzustandes der Menschen als des goldenen Zeitalters
- bedingt. Und dass thatsächlich selbst noch Taeitus, sei es direkt
oder indirekt, unter diesem Einflusse des Posidonius steht, be-
weist der Umstand, dass er noch an einer anderen Stelle in ganz
gleicher Weise wie Posidonius bei Seneca den Urzustand der Men-
schen und ihre Entwickelung angiebt°). Gewiss ist dieser Geist der
Zeit, der auch bei vielen anderen damaligen Schriftstellern und
ἡ Od. III 24, v. 9—24; vgl. ebds. ο. 1-6 und auch ep. 2, 1 ff. Cha-
rakteristische Züge dieser Auffassung sind die Frömmigkeit, die die Menschen
ohne Gesetz das Rechte thun lehrt, die Pflege des Ackerbaus, die Herr-
schaft tugendhafter Fürsten und Führer und die Unbekanntschaft mit dem
Geize. Mit dem Auftreten des letzteren tritt erst die Schlechtigkeit ein, deren
Ende der Krieg ist. Züge dieser Auffassung finden sich auch bei Vergil
in der Aeneis, aber zerstreut, z. B. VII 202 #. VIII 537 f.; vgl. dazu auch
S. 287 #. und des Verfassers Diss. S. 40.
2) Dass dieser hierbei seine Quelle zum Teil missverstanden hat, ist
ΩΣ 279 Anm. 2 schon bemerkt worden. — Sollte diese Auffassung nicht
auch in Posidonius’ Beschreibung der Sitten der Germanen Ausdruck
haben? a =
een Tacit. ann. ΠῚ 26 mit Seneca ep. 90, 4 ff. bes. ὃ 6. ne es
_ einstimmung hat bereits H. E. Graf, Aur. aet. symbola S. 43 f. ( an
Stud. VIII) hervorgehoben. Auch macht er daselbst auf die Ahnlich er
- dieser Stelle mit dem Anfange Justins I 1 bzw. des Trogus Pompeius auf-
merksam.
BR,
Dichtern seinen Ausdruck findet, nicht allein von der Philosophie
des Posidonius geschaffen worden; aber ebenso gewiss ist es
auch, dass dieselbe und durch sie der grössere Geist Platos und
der der hellenischen Dichtung!) keinen geringen Anteil dazu bei-
getragen haben.
Der zweite Teil, der das Interesse der Römer an der Philo-
Rechtslehre deckte, so musste ihre Rechtsauffassung ebenso wie
die Religion in die innigste Berührung mit jener treten°). Der
1) Selbstverständlich hat er Arat benutzt und auch Hesiod, vgl. z. B.
5. 988 Anm. 1 mit Eoy. #. Hu. v. 119; auch Dieaearchs Bios “Ἑλλαδος (vgl. den
Anfang von Porphyr. r. ἀποχ. ἐμψ. IV 2 mit Sext. adv. phys. I 28 = Cie.
Tusc. I 12, 26) und Theophrasts Schrift über die Frömmigkeit (vgl. des
Verfassers Diss. S. 24 f., 33 ff.) wird er herangezogen haben. — Seneca ep. 90
ist wohl sicher aus den 4. προτρεπτιχοί des Posidonius geschöpft. Posidonius
hatte nun schon sonst grosse Neigung zu schwungvoller Darstellung (vgl.
S: 13 Anm. 2); wie viel mehr musste dieser Gegenstand ihn dazu ver-
anlassen! Auch bezeugt Seneca ep. 90, 20 hiermit übereinstimmend direkt
die Schönheit der Rede in dieser Schrift. Diese sowie ihr Inhalt haben
sie jedenfalls sehr populär gemacht.
5 Die Frage nach dem Einflusse der stoischen Philosophie auf das
römische Recht ist seit langen Zeiten und in verschiedenem Sinne be-
handelt worden. Eine zusammenfassende und im allgemeinen durchaus
abweisende Antwort hat Ratjen (Sells Jahrb. für histor. u. dogm. Behand-
lung des röm. Rechts III S. 66 ff.; daselbst ist auch die reiche, ältere Litteratur
verzeichnet) in seiner Abhandlung gegeben: „Hat die stoische Philosophie
bedeutenden Einfluss auf die in Justinians Pandekten excerpierten juristi-
schen Schriften gehabt?“ Fasst man das Thema wie Ratjen, so ist aller-
dings zu sagen, dass dieser Einfluss nur sehr gering gewesen ist; aber die
Frage ist auch schief gestellt. Die Juristen, deren Werke in den Pan-
dekten excerpiert sind, lebten zum allergrössten Teil in einer Zeit, die seit
Jahrhunderten von den verschiedenen philosophischen Anschauungen und
zumeist von der stoischen getränkt war. Die Denk- und Empfindungs-
weise der Juristen ist in dieser Beziehung von ihr durchaus beeinflusst
gewesen; immerhin kann man dies aber nicht als einen besonderen Einfluss
der Philosophie bezeichnen. Im übrigen verhalten sich die späteren Juristen
fast ganz ablehnend gegen die Philosophie oder vielmehr gegen die Philo-
sophen ihrer Zeit, wie ihre Polemik beweist (vgl. z. B. Ulpian Dig. 1 1, 1).
Die Zeit aber, in der die Philosophie bestimmend auf die Jurisprudenz
gewirkt hat, war damals auch längst vorüber; es war die Zeit, in der die
griechische Kultur überhaupt die römische umgestaltete. Ungleich richtiger
hat Moritz Voigt, dem sich Hildenbrand, Rechts- und Staatsphilosophie I
S. 523 ff. im allgemeinen anschliesst, in seinem ‘Jus Naturale I’ Leipzig 1856
᾿
του
— 45 —
erste Zusammenstoss derselben erfolgte nun, als die Athener zur
Verteidigung ihres ungerechten Verfahrens gegen Oropus den
Diogenes, Critolaus und Carneades nach Rom entsandten. War
der Eindruck, den diese drei Männer daselbst hervorriefen, über-
haupt gross, so war doch der des Carneades bei weitem der ge-
waltigste. Nachdem er an dem einen Tage das Lob der Gereehtig-
tigkeit gepriesen hatte, entwickelte er an dem darauf folzenden
seine Theorie des Eigennutzes (vgl. S. 366 f.) mit so glühender
Beredtsamkeit, dass er die höchste Bewunderung hervorrief,
Rundweg leugnete er hier die Berechtigung einer natürlichen
Gerechtigkeit und verteidigte als allein vernünftig das Recht des
Vorteils. Diese Ansicht wusste er schon sonst mit der schlag-
fertigsten Dialektik zu erweisen, aber noch viel mehr musste er
seine Zuhörer dadurch ergreifen, dass er ihnen vorhielt, auch die
Römer hätten von jeher nach diesem Prineip verfahren und sich
so zu Herren der Welt gemacht. Wollten sie also nicht den
Vorteil, sondern die Gerechtigkeit zum Massstabe des Handelns
machen, so müssten sie alle Eroberungen preisgeben und zu den
Strohhütten des Romulus zurückkehren'). Diese Theorie und
ihre Beweisführung erschütterten die Grundvesten der bisherigen
römischen Rechtsauffassung; und dass die Römer dies fühlten,
zeigt deutlich die Forderung des alten Cato, möglichst schnell den
Mann aus Rom zu entfernen, der Recht zu Unrecht und Unrecht
zu Recht zu machen verstehe?). Aber eine Polizeiverfügung war
kein Gegengewicht für diese Theorie und der ins Bewusstsein
gerufene Gedanke wurde nicht mit der Ausweisung seines Ur-
hebers wieder in das Dunkel zurückgescheucht, aus dem er her-
vorgerufen war; zumal die römische Jugend in Athen selbst das
hören konnte, was zu hören in Rom ihr verboten wurde. Nur
der Gedanke konnte den Gedanken bewältigen, und dieses Gegen-
gewicht bot die Stoa des Panätius. Den schneidenden Wider-
spruch, welchen Carneades zwischen dem Naturrecht und dem
Rechte der Wirklichkeit hervorgehoben hatte, schlug dieser durch
den Nachweis zurück, dass das Naturrecht die Grundlage des Givil-
diese Frage behandelt; doch geht er einerseits viel zu weit und anderer-
seits hat er den wahren Ausgangspunkt nicht erkannt: Er legt auf Civero
ein viel zu grosses Gewicht. Hiermit hängt es zusammen, dass er viele der
obigen Fragen nicht behandelt oder nur berührt hat.
1) Cie. de rep. III 6, 9; 12, 20f.; vgl. acad. pr. II 18, 60.
2) Plutarch. Cato 22f.; Paus. VII 11, 2; Cie. ad Att. XII 23, 8,
-- 400 --Ο-
rechtes sei und daher stets und überall dieses bestimme und be-
stimmen müsse, widrigenfalls es überhaupt kein Recht gebe).
Da nun diese Theorie aufs innigste mit der stoischen Ethik zu-
sammenhängt, und wir bei Lucilius die Ethik des. Panätius als
malsgebend gefunden haben, so müssen wir schliessen, dass
in dem Kreise des Seipio, wie ganz natürlich, auch die Rechts-
philosophie des Panätius bekannt. und anerkannt war. Diese
leistete aber, was zu leisten war: In zeitgemässer Gestalt erwies
sie die Richtigkeit der strengen römischen Rechtsauffassung
durch ihre Zurückführung auf das Naturrecht. Hier also ist
diese Idee in das römische Rechtsbewusstsein eingetreten. Eine
doppelte Auffassung derselben aber tritt uns bei den Juristen
der Folgezeit entgegen; während nämlich Ulpian das Naturrecht
vom Völkerrechte scheidet und das erstere auf alle Wesen, auch
auf die Tiere bezogen wissen will, identificieren Gaius, Paulus
und Florentinus?) dasselbe mit dem letzteren. Diese Auffassung
treffen wir auch schon bei Cicero und zwar in offenkundigem ,
Anschluss an die griechische Theorie®): Also ist diese die Quelle
für jene Lehre gewesen ἢ.
Dieses führt uns auf den weiteren Einfluss, den die Stoa auf
das römische Recht gehabt hat. Eine der klarsten Wirkungen
derselben ist zunächst das Zurücktreten des Sakralrechts. Ehe-
dem durchdrang dieses das ganze öffentliche Leben und bestimmte
ebenso vielfach auch den Privatverkehr. Es lag nun in der
Natur der Sache, dass, als die Philosophie die Aufklärung brachte,
') Vgl. S. 22 f. 44 f. 369 u. T. I Kap. 2. — Civilreeht ist nicht in dem
heutigen, sondern in dem römischen Sinne verstanden. Als solches steht
es hier im Gegensatze zu dem Sakralrecht und umfasst sowohl das Staats-
wie das Privatrecht.
2)/ Digest. EA 1501,85, 19; 12815
>) Wenn in den philosophischen Abhandlungen Cie. de leg. I und de
rep. III das ius naturale als die Quelle des ius eivile und als das Recht
der menschlichen Gesellschaft (societas humana) erwiesen wird, so liegt
darin die Identifizierung des Völkerrechtes mit dem Naturreehte, wenn
auch nicht direkt ausgesprochen, so doch gewiss klar angedeutet. Mit
Unrecht also verwirft Hildenbrand a. a. Ὁ. S. 573ff. die ihm unbequeme
Nachricht bei Cie. de off. III 5, 23, welche diese Identifizierung ausspricht,
als Interpolation; vgl. gegen Hildenbrand auch Cie. a. a. O. III 17, 69,
*) Ulpians Auffassung des Naturrechts ist nicht stoisch, vielmehr klingt
sie an die Platonisch-Pythagoreische Anschauung an.
4
sie ebenso die Vernachlässigung des Sakralrechtes nach sich
ziehen musste, wie sie die Religion, auf die es sich stützte, zu
Fall brachte. Ebenso wie diese wurde es daher auch bald
hauptsächlich nur Gegenstand gelehrter Forschung; bezeugt doch
Cicero, dass es zu seiner Zeit niemand mehr studiere!). Das
Sakralrecht berührte sich nun, abgesehen von den direkt gottes-
dienstlichen Vorschriften, namentlich im Pontifikalrechte vielfach
mit dem Civilrecht, weil es z. B. auch das Erbschaftsrecht zum
Teil umfasste. Diese unbestimmte Stellung des Pontifikalrechtes,
die schon an sich demselben nicht günstig war, musste noch
mehr. unhaltbar werden, sobald das Sakralrecht überhaupt in
seinem Fundamente erschüttert wurde. Denn es war natürlich
und notwendig, dass mit dem Falle desselben’ das Civilrecht ganz
und gar in den Vordergrund trat. Dies führte auch dazu, dass
die beiden berühmten Juristen, der pont. max. P. Mucius Scae-
vola und sein grösserer Sohn, der pont. max. Q. Mucius Scae-
vola, lehrten, niemand könne ein guter Pontifex sein, olıne das
Civilrecht genau zu kennen. Hiermit war die gänzliche Abhän-
gigkeit des Pontifikalrechtes vom Civilrechte klar ausgesprochen und
der Umschwung im Verhältnisse des Civilrechtes und des Pontifikal-
bezw. Sakralrechtes zu Gunsten des ersteren vollzogen. Mit vollem
Becht macht daher Cicero den genannten beiden Juristen den
Vorwurf, sie höben durch die Verquiekung des Civil- und Pon-
tifikalrechtes das letztere in Wirklichkeit auf*). Das Zurücktreten
des Sakralrechtes und das Hervortreten des Civilrechtes verhalten
sich also wie Grund und Folge. Neben P. Mucius Scaevola
werden nun noch M.’ Manilius und M. Brutus als die Begründer
des Civilrechtes bezeichnet®). Alle drei Männer waren Zeitgenossen
und standen daher selbstverständlich alle drei wesentlich unter
dem Einflusse desselben Zeitgeistes. Von Manilius wissen wir
_ überdies, dass er zum Kreise des jüngeren Scipio gehörte*); auch
_ von Scaevola ist es höchst wahrscheinlich, dass er ihm wenigstens
_ sehr nahe stand und jedenfalls in seine Gesinnung und Auf-
— 57 —
ἡ De orat. III 33, 136: pontificium (se. ius), quod est coniunetum, nemo
. diseit.
3) Cie. de leg. II 19, 47 ff. und besonders c. 21, 52, wo Cicero den
Schluss aus seiner Erörterung zieht.
3) Pompon. dig. I 2, 2, 99. 2 :
#) Vgl. L. Bröcker in Pauly's Real-Ene. IV 5. 1481 f. No. 4.
-- 48 ---
fassungsweise eingeweiht war. Denn einmal war ja sein Bruder,
der Augur Q. Scaevola, mit Panätius aufs engste befreundet und
zum anderen nahm er die gleiche wohlwollende Stellung zu dem
Reformwerke des Tib. Gracchus ein wie Scipio und sein Kreis ἢ).
Auch ist es durchaus wahrscheinlich, dass sein Sohn die
aufgeklärte Anschauung (s. S. 446) ebenso in der Hauptsache
vom Vater überkommen hat wie die Jurisprudenz. Was wir also
an sich als natürlich und notwendig erkannten, wird so auch
durch die Überlieferung bestätigt, dass das Hervortreten des
Civilrechtes die Folge des Zurücktretens des Sakralrechtes war,
und dass dieser Vorgang dem Eintritte der Aufklärung und dem
Zurückweichen der alten Religion völlig entsprach.
Den inhaltlich hiermit gegebenen weiteren Schritt auf dem
angefangenen Wege machte der Sohn des eben genannten
P. Scaevola, der pont. max. Q. Mucius Scaevola, durch seine
systematische Bearbeitung des gesamten Civilrechtes. Ausser dem,
was wir bis jetzt über seine Stellung zur Philosophie gehört
haben, beweist der griechische Titel seiner Schrift eg ὅρων
den Einfluss derselben auf seine juristische Schriftstellerei hand-
sreiflich. Wir haben somit vollkommen Recht zu dem Schlusse,
dass er den Anstoss zu seiner systematischen Bearbeitung
der Rechtswissenschaft, durch die er über alle seine Vorgänger hin-
ausragte, durch die Stoa erhalten hat?). Doch war der Einfluss.
derselben in dieser Beziehung wesentlich nur methodologisch;
den Inhalt lieferte ihm das bis dahin gültige römische Recht.
Nach philosophischen Gesichtspunkten war dieses jedenfalls nicht
geordnet, wie die Bruchstücke erweisen?) und Cicero auch aus-
drücklich überliefert.
Wir kommen damit zu dem nächsten bedeutenden Bearbeiter
des Givilrechtes, Servius Sulpicius Rufus. Nach den vielseitigsten
Studien wandte er sich ausschliesslich der Jurisprudenz zu und
bearbeitete dieselbe in zahlreichen Schriften‘). Bei ihm nun
!) Vgl. Mommsen, Röm. Gesch. II 5. 93; 978.
5) Dieser Einfluss wird allgemein anerkannt, vgl. Mommsen a. a. Ὁ.
S. 460; Teuffel-Schwabe, Röm. Litt.-Gesch. Kap. 48.
®) Vgl. Rudorff, Röm. Rechtsgeschichte I S. 161. Übrigens schliesst
dies nicht im entferntesten die Annahme aus, dass er, ähnlich wie es in
den Digesten und bei Caius der Fall ist, sein Werk mit einigen philo-
sophischen Bemerkungen einleitete.
3 Nach Pompon. Dig. I 2, 2, 43 in 180 Büchern.
Ϊ
;
r
ἱ
-- 40 —
traten die Systematik und die philosophische Begründung des
Rechtes in so hohem Grade hervor, dass Cicero!) allen Juristen
- der Gegenwart und Vergangenheit, auch Scaevola mit einge-
schlossen, im Vergleich mit ihm nur praktische, auf der Empirie
- beruhende Kenntnis des Rechts zuspricht. Denn gerade darin,
dass er die Rechtskenntnis aller übrigen nur empirisch nennt,
liegt unmittelbar eingeschlossen, dass sie bei Servius philosophisch
- begründet erschien. Der tiefgehende Einfluss der stoischen
Logik aber auf seine systematische Behandlung wird von Cicero
ausdrücklich hervorgehoben. Ein Umschwung in dem Lebens-
plane dieses Mannes trat nun während seines Aufenthaltes in
_ Rhodus ein. Denn während er bis dahin die rednerische Lauf-
bahn einzuschlagen sich hatte angelegen sein lassen und offenbar
deswegen zur weiteren Ausbildung nach Rhodus gegangen war,
widmete er sich seit seiner Rückkehr von dort ausschliesslich
der Jurisprudenz. Neben der Rednerschule des Molon stand
- aber daselbst die Schule des Posidonius in so hoher Blüte, dass
die berühmtesten Männer ihn aufsuchten. Wir werden also
schliessen müssen, dass die Philosophie des Posidonius den be-
stimmenden Einfluss auf ihn geübt hat°).
Neben Servius Sulpicius unternahm es auch Cicero in
mehreren Werken das gesamte Recht systematisch zu bearbeiten
und im engsten Anschluss an Panätius das Naturrecht als die
- Quelle alles positiven Rechtes darzuthun®). Cicero, zumeist aber
- Scaevola und Servius Sulpieius‘) haben nun auf die weitere
ΐ Entwickelung des römischen Rechtes einen tiefen und langan-
* dauernden Einfluss gehabt: Mit Recht also ist der Einfluss der
᾿ stoischen Philosophie auf die Entwickelung der römischen Rechts-
| wissenschaft kein geringer gewesen.
: Betrifft der bisher dargelegte Einfluss der Philosophie haupt-
!) Brut. ce. 41, 151. ar |
2) Vgl. Cie. a. a. Ὁ. Dass zu dieser Schwenkung auch die Erkenntnis
beigetragen haben mag, er könne mit Cicero doch nicht um den Vorrang
in der Beredtsamkeit wetteifern, ist sehr wohl möglich.
8) Vgl. T. I Kap. 2 und Gell. N. Α.1 22. 1, ) |
Ὁ Für Scaevola und Sulpieius ist es überflüssig, dies γροτάϊς κ᾿
zuweisen; vgl. Teuffel-Schwabe, Röm. Litt.-Gesch. Kap. ἰδὲ. zu.
wirkte mehr allgemein durch seineWerke; dass diese aber auch die Juristen
beeinflusst haben, beweisen die Citate in den Digesten.
nach-
-- 400 --
sächlich das Recht als Wissenschaft, so können wir denselben
auch in Bezug auf den Inhalt erkennen, wenn gleich die äusserst
trümmerhafte Überlieferung der Werke der alten Juristen jedes
genauere Eindringen fast unmöglich macht. Eine besondere
Handhabe für die Behandlung des Rechtes lernen wir zunächst
in dem seit dieser Zeit sehr beliebten Etymologisieren kennen.
Zwar war dieses meist äusserlich und nebensächlich; doch konnten
Fälle eintreten, in denen dasselbe auch für den Inhalt von Be-
deutung wurde, wie wir dies an einem noch direkt wahrnehmen).
Ungleich wichtiger aber ist eine weitere Neuerung. Die tiefere
Rechtsauffassung, welche die innerlich wirkenden Gründe anstelle
der äusseren Kennzeichen in Betracht zieht, fehlte in.dem Zwölf-
tafelgesetz noch ganz: Unter dem Einflusse der Philosophie, die
diese Unterscheidung längst gelehrt hatte, trat sie in dieser
Epoche ins Leben:). Übrigens war die Entwickelung des römi-
schen Rechts wesentlich an die Interpretation. der bestehenden
Gesetze geknüpft; die allgemeine ethische Anschauung musste
daher bei dieser Interpretation naturgemäss mitwirken. Auf diese
Weise hat die stoische Philosophie wohl sicher auch zu den
Gesetzen gegen den Luxus, de dolo malo u. a. beigetragen, zu-
mal die Urheber derselben zumeist sich zur Stoa bekannten oder
wenigstens mit ihr sympathisierten.
Unwillkürlich hat uns die vorhergehende Darstellung bereits
zu den exakten Wissenschaften hinübergeleitet und dabei die ge-
staltende und vertiefende Kraft der Philosophie kennen gelehrt.
Bei dem inneren Zusammenhange, welcher zwischen ihnen ob-
waltet, ist es notwendig, dass wir ebenso wie bei der Juris-
prudenz auch bei den anderen Gebieten der Wissenschaft den
Einfluss der Stoa wahrnehmen und kurz darstellen.
Wir wenden uns zunächst zur Philologie. Grammatische
') Uber den Begriff von penus herrschte unter den älteren Juristen eine
Meinungsverschiedenheit; er wurde weiter und enger gefasst. Diese Frage
entschied nun der pont. max. Q. Mucius Scaevola auf Grund der Eiymo-
logie dieses Wortes; vgl. Aelius Cato b. Gell. N. A. IV 1, 20 mit Scaevola
ebdas. $ 17. Das Etymologisieren war also nicht eine einfache Spielerei.
5) Sie liegt klar vor bei dem pont. max. ὦ. Mucius Scaevola; vgl.
Varro, de ling. lat. VI 4, 30 = Macrob. sat. I 16, 10. Aus Varro dürfen
wir schliessen, dass er sie zuerst eingeführt hat; denn sonst würde er nicht
bloss gezweifelt haben. Vgl. hierzu auch Mommsen, Röm. Gesch. II 5. 45%.
-- #1 —
- Bestrebungen waren in Rom zuerst durch Crates von Mallos an-
geregt worden, aber zu einer methodischen Behandlung derselben
war es nicht gekommen. Der erste Römer, der sie berründete,
und ihr für alle Zeiten die Bahn wies, war L, Aelius Stilo').
Er bekannte sich offen zur Stoa und stand mit Lucilius in freund-
_ schaftlichem Verkehr: Also kann die Stoa, zu der er sich 'be-
kannte, nur die des Panätius gewesen sein?). Dass nun dieser
nur als Philosoph auf ihn gewirkt haben sollte, ist schon des-
wegen geradezu unglaublich, weil Panätius selber ein ausgezeich-
neter Philologe war. Auch hingen ja die grammatischen Studien
ebenso mit der stoischen Logik zusammen, wie die Fragen,
welche wir vorher behandelt haben, mit der stoischen Ethik.
Sein Anschluss an diese Philosophie zeigt sich nun zunächst in
seiner Sprachwissenschaft, aus der uns über zwei Gebiete Nach-
richten vorliegen. Die eine.derselben führt uns auf die Grenze
der Logik und Grammatik, die anderen beziehen sich. auf seine
Ansicht vom Ursprunge der Sprache. Zuerst nämlich erfahren _
wir, dass er ein Werk über das Verhältnis. der verschiedenen
Arten des Urteils zu den verschiedenen Arten des Satzbaues
geschrieben hat. Dasselbe enthielt mehr Logik als Grammatik
und scheint für Unterrichtszwecke nicht bestimmt gewesen zu
sein3). - Die anderen Nachrichten betreffen die Etymologie.
‚Gegenüber anderen Bestrebungen dieser Art war er Purist und
- leitete alle Wörter aus dem Lateinischen her‘). Das zweite
‚Gebiet der Philologie umfasste die Altertumsforschung, und hier
ist er besonders von grossem Einflusse gewesen. Nach Art der
‚griechischen Vorgänger wandte er sich den ältesten lateinischen
‚Sprachdenkmälern zu, um diese durch grammatische Erklärungen
-dem Verständnisse zu erschliessen. Ebenso übertrug er die Text-
kritik auf die lateinischen Dichter und namentlich auf Plautus°).
Andererseits unternahm er die Erforschung der Lebensweise der
‘alten Römer und überhaupt der Vergangenheit. Dass er hier
i gleichfalls unter dem Einflusse der Griechen stand, beweist schon
Ἢ Vgl. Teuffel-Schwabe, Röm. Litt.-Gesch. Kap. 148, ἊΣ
3 3) Cie. Brut. ο. 56, 206; Cornif. ad Heren. IV, 12, 18; vgl. auch Zeller,
Philos. 4. Gr. IIIa S. 569, 1°.
3) Gell, N. A. I 18,.2,
#) Vgl. hierzu Cie. de off. R31,1k
5) Vgl. Teuffel-Schwabe a. a. 0.
der Titel, mit welchem Cicero diese Arbeiten bezeichnet: de in-
ventis!). Wie weit er sich jedoch im einzelnen an Panätius
angelehnt hat, muss selbstverständlich unbestimmt bleiben.
Wir kommen ferner zur Geschichtschreibung der Römer.
Auch auf diese hat, wie längst bekannt, die stoische Philosophie
einen bedeutenden Einfluss in sprachlicher wie sachlicher Hin-
sicht gehabt: Das Zurücktreten der trockenen Annalistik und die
gleichzeitige Ausbildung des historischen Stils als der Darstellung
zeitlich naher oder selbsterlebter Ereignisse ist wesentlich durch
ihren Einfluss gefördert worden?). Bezieht sich dies haupt-
sächlich auf Panätius und den mit ihm in dieser Beziehung eng
zusammengehörenden Polybius, so ist auch der Einfluss des
grossen Geschichtswerkes des Posidonius nicht zu übersehen.
Denn ebenso wie das Werk des Polybius ist auch dieses
für alle späteren Geschichtschreiber eine viel benutzte Quelle
gewesen®). Die fatalistische Färbung in der Auffassung der
Geschichte übertrug sich dadurch fast unwillkürlich auf die rö-
mischen Historiker.
Für die reine und angewandte Mathematik sowie für die
Naturwissenschaften, zu denen wir uns schliesslich noch wenden,
hatten die Römer überhaupt kein wahres und grosses Verständnis,
und was sie von ihnen gebrauchten und gaben, nahmen sie von
den Griechen. Der erste Römer nun, der sich etwas eingehender
mit der Geometrie befasste, war Sextus Pompeius, ein Freund
des Panätius und Mitglied des Scipionischen; Kreises®). Eine wie
bedeutende Fundgrube aber die diesbezüglichen Werke des Po-
sidonius für alle Späteren gewesen sind, ist bekannt und auch
schon früher angedeutet worden). Wir können das Einzelne
hier um so mehr übergehen, als wir noch einmal in Kürze zu der
Astronomie des Posidonius und ihrer allgemeinen Bedeutung zu-
rückkehren müssen.
Ebenso frühzeitig wie die Philosophie entwickelte sich bei
!) Brut. ce. 56, 205; vgl. dazu S. 237 £.
32) Vgl. die Nachrichten über die Werke des C. Fannius, Coelius Anti-
pater, Rutilius Rufus und Sempronius Asellio b. Teuffel-Schwabe a. a. O.
Kap. 37 u. 137, 4 ff.; 142.
°) Vgl. Susemihl, Gr.-Alex. Litt.-Gesch. II S. 142.
τ Οἷς, Brut. οἱ 47, Ὁ: (6. ΟἿ ΠΟ. 99:
°) Vgl. die Anmerkungen auf S. 16 £.
-- 45 --
ἄρῃ Griechen das Interesse für die Astronomie. Wenn nun auch
die ältesten Erklärungen des Weltgebäudes noch sehr naiv waren,
so finden wir doch schon bei Pythagoras den ersten Schimmer
der Wahrheit. Bald trat ihre Erkenntnis in der Schule desselben
klarer hervor: Hicetas und Ecphantus lehrten bereits die Achsen-
- drehung der Erde und erklärten dadurch die scheinbare Bewegung
der Gestirne um dieselbe). Ihnen schloss sich hierin Heraclides
Ponticus an, der die Theorie zugleich weiter führte?). Aber erst
Aristarch von Samos stellte, sicher im Anschluss an diese Vor-
gänger, das heliocentrische System als Hypothese auf und erklärte
auf Grund desselben auch die Entstehung der Finsternisse®). Was
“ nun dieser begonnen hatte, führte Seleucus fort, indem er diese
Hypothese als die allein richtige Weltanschauung eingehend ver-
teidigte*). Welche Gründe sie hierzu bewogen haben, wissen
wir mit Bestimmtheit nicht; doch waren es ausser anderen gewiss
die Entstehung der Finsternisse und die rückläufige Bewegung
der äusseren Planeten. Um diese vom geocentrischen Stand-
punkte aus zu erklären, ersann Apollonius von Perge die Theorie
der Epieyklen°).
Gegen die in der Schule der alten Pythagoreer herrschenden
Anschauungen über das Weltall, die Erde Gegenerde und ihre Be-
wegung um das Centralfeuer, stellte Plato im Timäus (p. 38) ein
neues System auf. Um die Erde als den ruhenden Mittelpunkt
bewegen sich nach ihm zunächst der Mond, dann die Sonne und
darauf als äussere Planeten Venus, Merkur, Mars, Jupiter und
Saturn. Dieses System fand zugleich mit seiner Philosophie die
weiteste Verbreitung. Auf die Anschauung des Aristoteles hat
es gewirkt und noch mehr auf Eudoxus®), dessen Lehrbuch als-
dann Arat poetisch gestaltete. Bald darauf treffen wir es bei
1) Cie. acad. pr. 131, 132; Aet. plac. phil. III 13 (Diels, dox. p. 379, 10 2).
2) Vgl. die vor. Anm. u. ferner Geminus bezw. Posidon. b. Simplie. in
phys. Aristot. p. 65 v. 3f., 395, 21ff. ed. Diels.
3) Plutarch. quaest. Plat. VIII; Act. plac. phil. II 24 (Diels dox. gr.
p- 355, 1#.). |
Ὁ Vgl. Plutarch. a. a. Ὁ. Stob. eel. I p. 253, 16 ff. W. Aet. plac. phil.
II 17 (Diels a. a. O. 383, 26 8...
5) Ptolem. Alm. XII 1, p. 312f. ed. Halma.
RT
6) Vgl. Ideler, Abhdlg. der Berl. Akad. phil.-hist. Kl. 1830 >. (= 81
-- 404 --
Eratosthenes!) und Chrysipp?). Bei dem Verhältnisse zwischen
Arat und Zeno und überhaupt zwischen den Stoikern, Plato und
Aristoteles dürfen wir ferner schliessen, dass auch Zeno dasselbe
vertreten und demnach Gleanthes ebenfalls im Interesse desselben
die Anklage gegen Aristarch erhoben hat.?) Ebenso wird zu seiner
Verteidigung Apollonius die Epieyklentheorie erdacht haben.
Einen neuen Sturm gegen diese Theorie unternahm Selecus
durch seine Verteidigung der Lehre Aristarchs; und. wie sehr er
dieselbe erschüttert hat, dürfen wir wohl daraus entnehmen, dass
Hipparch, sein jüngerer Zeitgenosse, eine Entscheidung nach der
einen oder anderen Seite hin ablehnte und nur die Möglichkeit
der älteren Anschauung aufrecht erhielt. Das Letztere erzählt
Ptolemaeus, um gleich darauf ‘zu berichten, dass er als der
erste nach Hipparch‘*), dem eben diese Aufgabe noch:zu ‚schwierig
gewesen sei, ein rationelles Weltsystem aufstelle. Er nimmt: nun
nicht die Ansicht Platos wieder auf, sondern eine Modifikation
derselben.’) Diese besteht darin, dass er Venus und Mercur zu
den inneren Planeten rechnet und somit; die Sonne in die Mitte
der letzteren stellt. Dieses System ist jedoch nicht erst von ihm
aufgestellt worden, sondern wir finden 65: in ‚derselben Gestalt
bereits bei Panätius und mit einer nichtssagenden Abweichung
bei Posidonius.*) Von Macrobius erfahren wir dazu, dass es an
der Anschauung des Archimedes und .der Chaldäer seine Stütze
finde.’) Sehen wir hier von den letzteren ab,. so’ dürfte dem-
nach Archimedes zu dieser Modifikation Anlass gegeben haben.
Ἢ
') Für Eratosthenes vgl. Chaleidius in Tim: Plat. e. 73 p. 140 f. ed.
Wrobel. = Theon p. 142H. Da sich diese Stelle an’ den Timäus Platos
anschliesst, stammt sie höchst wahrscheinlich aus dem Πλατωνιχός des
Eratosthenes, der wie Hiller (Philologus XXX S. 68 ff.) gezeigt hat, ein
Kommentar zu der Schöpfung der Weltseele in Platos Timaeus war.
7 Arius Didym. ed. Diels dox. gr. p. 466, 10 ff.
3). Vgl. Zeller, Phil. ἃ. Gr. III a. S. 316°.
*) Alm. IX. c.1.p. 114 ff.
°) Das heliocentrische erwähnt er gar nicht.
°) Vgl.S.230 u. 5: 282 ff. und dazu 8.465 Anm. 2 Schl. Die Abweichung
bezieht sich auf die Abfolge der Venus und des Merkur, in der stets
Schwanken herrschte.
‘) Somn. Se. I 19, 2. Auch Ptolemaeus Almag. IX 1 p. 114f. ed. H. sagt,
seine Ansicht sei älter als die andere (die Platonische); er dürfte demnach
unter den älteren Vertretern derselben ebenfalls jene Chaldäer verstehen.
νον TE LEGEN UNO BELLE ΟΝ ΨΕΨΥΡ
— 65 =
Mag nun auch Panätius sich für dasselbe ausgesprochen haben,
so ist doch sein Einfluss auf diesem Gebiete jedenfalls nur unter-
geordnet gewesen. Ungleich wichtiger dagegen war hier die
Entscheidung des Posidonius, da er gemäss der Ausdehnung
seiner astronomisch- mathematischen Studien einen unvergleich-
lich grösseren Eiufluss geübt hat. Zugleich nahm derselbe den
Kampf gegen die Vertreter des heliocentrischen Systems, den
Hipparch abgewiesen hatte, voll und ganz auf. Gegen dasselbe
sprach ihm vor allem die metaphysische bezw. physikalische
Grundanschauung, die er aus der Stoa mitbrachte. Anderer-
seits aber stand er auch unter dem Einflusse des Aristarch und
Seleucus; er gab daher vom Standpunkte der Astronomie, die
ihm als solche nur die Erscheinungen zu erklären hatte, zwar
die Möglichkeit des heliocentrischen Systems zu, leugnete dieselbe
aber auf Grund seiner Naturphilosophie. Da er die Gründe der
Gegner nun nicht schlechtweg verwerfen konnte, so musste
er sie bei der Feststellung des Systems auf andere Weise erklären,
Er that dies durch die Annahme des obigen Systems, bei dem
er, wie wir früher gesehen haben, die massgebenden Theorien
seiner Vorgänger benutzte. Mit der ausserordentlichen Be-
nutzung seiner Werke fand nun diese Theorie ebenso weite Ver-
breitung. Wir finden sie daher durchweg bei denjenigen Schrift-
stellern, welche, sei es direkt oder indirekt, auf ihn zurück-
gehen, nämlich bei Cleomedes, Geminus, Theon, Cicero, Plinius,
Maerobius und Chalcidius. Von Macrobius erfahren wir überdies,
dass sie fast von allen angenommen war!). Hierin liegt es
offenbar auch begründet, dass Seleucus frühzeitig vergessen worden
ist und sich nur bei solchen Schriftstellern erwähnt findet, die auf
Posidonius zurückgehen?). Nicht Ptolemaeus also, sondern schon
Posidonius, und wohl er hauptsächlich, hat im Anschluss an seine
grossen Vorgänger das heliocentrische System zurückgedräng!
und dasjenige vertreten und verteidigt, welches bis Kopernikus
herrschen .sollte?).
9 Für Cleomedes, Geminus u. Cicero vgl. die S. 283 A. 2 angeführten
Stellen; für Cieero ferner noch de rep. VI 17; Plin. nat. hist. 11 8, 32;
Macrob. a. a. 0.119, 1ff. Theon p. 186 ff. H. Chaleid. c. 70 ie u
| 2) Nämlich bei Strabo, Aetius und Plutarch, vgl. Susemihl, Gr.-Alex.
Litt.-Gesch. I S. 763f. 2.
3) Zur Vereinigung der Platonischen und der jün
vertretenen Ansicht ist das sog. ägyptische System aufgestellt worden.
Schmekel, mittlere Stoa. ὧν
geren, durch Posidonius
Dieses
Schluss.
Fast gleichzeitig entstanden an den beiden entgegengesetzten
Enden der griechischen Welt die entgegengesetzten Systeme des
Heraklit und der Eleaten. Lehrte jener, es gebe kein Sein, nur
ein Werden, so behaupteten diese, es gebe kein Werden, nur ein
Sein. Aus der Verbindung dieser beiden Prineipien gingen einer-
seits die verschiedenen Systeme der folgenden Naturphilosophen
hervor und andererseits die Skepsis der Sophistik, die bei den
hervorragenden Vertretern derselben mehr die Kosmologie. betraf,
bei den untergeordneten aber bald sich vorwiegend auf. die Ethik
erstreckte und auf die völlige Vernichtung der Moral hinarbeitete.
Diesem Umsturze stellte sich Sokrates entgegen, und in der Tiefe
seines Geistes reifte gegen das Schwankende der oberflächlichen
Reflexion seiner Vorgänger und namentlich seiner Gegner die Idee
des Wissens als der einzig wahren und unerschütterlichen Grund-
veste ‚aller Erkenntniss. Zeigte nun die Sophistik bei der Über-
tragung der kosmologischen Principien auf das ethische Gebiet,
dass es nichts Allgemeingültiges gebe, so wies er die Begriffe als
das ewig Bleibende in der Flucht der Erscheinungen nach und
lehrte zugleich in der Induktion und Definition die Mittel zu diesem
lässt Venus und Merkur zunächst um die Sonne und zugleich mit dieser
um die Erde kreisen und giebt daher den beiden Ansichten Recht; denn
auf ihrer Bahn um die Sonne erscheinen Venus und Merkur bald über
bald unter derselben; vgl. Macrob. Somn. Se. 1 19, 5ff.; Vitruv. IX 4; Mart.
Cap. VIII 879ff. Denn dass dieses System nicht alt ist, beweist schon die Ver-
gleichung von Macrob.a.a.0©.$ 10 mit S. 283 Ζ. 28 v. o. ff. Ideler irrt also,
wenn er a.a. OÖ. dieses System auf Grund der Angabe des Maerebius für ein
altägyptisches hält und deshalb die Alternative stellt, Plato habe es ent-
weder missverstanden, oder ein anderes von denen, die damals in Ägypten
herrschten, angenommen. — Irrtümlich ist S.283 das System des Posidonius
mit diesem sog. ägyptischen identifiziert worden; denn der daselbst in der
Anm. 2 gezogene Schluss ist nicht notwendig, so nahe er auch liegt, und
entspricht nicht der Thatsache. Die Lehre des Posidonius ist dort dem-
entsprechend zu modifizieren.
}
— 40 —
Seienden zu gelangen. Grundsätzlich beschränkte er sich ‘hier-
bei auf die Ethik als das allein mögliche und nötige Gebiet und
lehrte demgemäss die. absolute Abhängigkeit des Willens von dem
Denken und die Untrennbarkeit der theoretischen Einsicht und
der praktischen Tüchtigkeit!),, Wie er nun die flache Reflexion
der Sophisten über Vorstellen und Meinen zu der Idee des Wissens
vertiefte, ebenso vertiefte er auch die mechanische Theorie seiner
ar “ = F ‘
Vorgänger zu der teleologischen, indem er die Thätigkeit des
Anaxagoreischen .Nus auf das gesamte Walten der Welt aus-
dehnte. . Der Umstand.aber, dass er von der Ethik aus zu dieser
Theorie kam, begründete die Einseitigkeit seiner Betrachtung,
die nur den durch seine Vernunft der Gottheit . verwandten
Menschen als das Ziel hinstellte und auf ihn allein jenes Walten
bezog?). 2
Diese. Idee des Wissens in Beziehung auf die Erklärung der
Welt und auf die Ethik. ist das Fundament aller und besonders
der idealistischen Systeme nach Sokrates;. denn an und für sich
ist sie. der Kernpunkt der Logik, und in dem Dienste für die
Ethik bezw. die Welterklärung kennzeichnet sie sich als das
Organon der Physik und Ethik. Weil nun Sokrates kein System,
sondern nur die Fundamente zu einem solchen gegeben halte,
konnten auf diesen Fundamenten nach Individualität und Um-
" ständen. verschiedene Systeme errichtet werden. Dies thaten
seine Nachfolger und zwar dadurch, dass sie auf die kosmologi-
schen Systeme der Vorsokratiker zurückgingen, diese durch die
philosophischen Lehren des Sokrates vertieften und selbständig
fortführten. Über das Verhältnis der Platonischen Philosophie
zu.Heraklit und Sokrates hat, wie bekannt, Aristoteles in muster-
gültiger Weise berichtet?); es ist daher überflüssig hier darauf
genauer einzugehen. Ebenso ist es bekannt, dass Aristoteles, so
ausserordentlich auch seine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten
sind, in seinen Grundlehren von Plato abhängt, und dass er auch
die weitgehendsten Studien seinen Vorgängern gewidmet hat‘).
i ἢ Aristot. Met. I 6, 981}, 1 δ᾿; XIII 4, 1078b, 17 #.; 9, 1036 b, 2#.;
Eth. Nie. VI 13, 1144 b, 18 ff.; vgl. III11, 1116 b,2£. Xenoph. mem. ΠῚ 9, 4 Β΄.
2) Xenoph. Mem. 14; IV 3. Wie Induktion und Definition verhalten
sich Mechanik und Teleologie.
3) Metaph. I 6, 987a, 920 Fl. -
s) Vgl. Zeller, Philos. ἃ. Gr. ΠῚ ἃ 5. 2f.
so*
-- 4065 ---
Nur bei dem dritten Hauptsysteme, dem eynisch-stoischen, müssen
wir hier etwas länger verweilen.
Mit Absicht wollte Antisthenes keine eigene Lehre aufstellen,
sondern nur die seines Meisters, an dem er mit der grössten Ver-
ehrung hing, aufrecht erhalten. Hierzu stimmt seine Lehre im
allgemeinen durchaus, wenngleich sich nicht verkennen lässt, dass
er sie seiner Individualität entsprechend verstanden und ausge-
bildet hat. Mit Sokrates teilt er zunächst den allgemeinen Grund-
satz der Einheit von Tugend und Wissen und die ausschliessliche
Richtung auf die Ethik. Die erkenntnistheorethisch-logischen
Erörterungen und die Lehre von der Gottheit, die allein aus der
Physik für ihn Interesse hat, stehen ihm daher nur im Dienste
der Tugendlehre. Ebenso stimmt er mit ihm in den einzelnen
Lehren fast durchweg überein, nur finden wir diese bei ihm in
verschärfter Gestalt wieder: Der Begriff bezeichnet das Wesen
der Dinge; diese sind entweder einfach oder zusammengesetzt.
Von den ersteren giebt es keine Definition, weil diese in dem
Worte bereits enthalten ist; von den letzteren dagegen ist eine
Definition möglich und nötig. Diese zerlegt das Zusammen-
gesetzte in seine Bestandteile und giebt dadurch die richtige Ein-
sicht aufGrund der begrifflichen Erklärung. Dieselbe umfasst natür-
lich auch das richtige Verständnis des Einfachen, weil das Ver-.
ständnis des Zusammengesetzten ja nur durch die Zurückführung
auf das Einfache erreicht wird. Als Inhalt des Wissens ergibt
sich daher das richtige Verständnis der Worte. Diese haben
stets eine spezifische Bedeutung (οἰκεῖος λόγος), so dass in Wahrheit
niemals von Widerspruch und Selbsttäuschung die Rede sein
kann 1). Diese Theorie ist in allem Wesentlichen die des Sokrates;
denn einmal richtet sie sich augenscheinlich gegen die verblüffenden
Spielereien der Sophisten, die immer nur Täuschung und Wider-
spruch aufzudecken bemüht waren?); und andererseits geht
”
1 Diog. VI 2; 9; 11; Xenoph. mem. III 11, 17. Aristot. metaph. VII3,
1043b, 23 ff.; IV 29, 1024 Ὁ, 32ff. Arrian. Epikt. diss. I 17; Diog. VI3.
59 Man vergleiche nur z. B. die Spiegelfechtereien eines Euthydemus,
Dionosydorus, Polus u. a. bei Plato. Aristoteles nennt diese Theorie des
Antisthenes wohl thöricht, aber nicht sophistisch; und in Wahrheit ist
auch kaum etwas Wesentliches in ihr enthalten, was sophistisch wäre,
ausser demjenigen. worin sich auch Sokrates mit den Sophisten berührt.
Es wäre auch unerklärlich, dass Antisthenes, der seinen Meister so sehr
u RE
— 469 —
auch Sokrates in seinen logischen Distinctionen, wie bekannt, zu-
meist von der Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks aus. Selbst
in Aristoteles’ und Platos Erkenntnistheorie finden wir infolge
der gleichen Vermittelung denselben Einfluss der herrschenden
Begriffe‘). Ebenso wie bei Sokrates dient nun auch bei Antisthe-
nes dieses Wissen der Ethik: Die Tugend ist das höchste Gut,
denn in ihr allein besteht die Glückseligkeit; als Wissen aber
ist sie lehrbar. Sie entspricht der Natur des Menschen, wäh-
rend die Schlechtigkeit ihr als solcher fremd ist. Alles, was
weder gut noch schlecht ist, ist gleichgültig (ἀδιάφορον). Der
Tugendhafte ist weise, und weil allein Tugend und Weisheit ihn
dazu machen, giebt es keine Schranken zwischen Hellenen und
Barbaren, Freien und Sklaven, sondern nur zwischen Weisen
und Thoren. Hiermit erweitert sich der Staat zum Weltstaat.
Natürlich ist das Leben in demselben frei von den konventionellen
Sitten und Anschauungen; es richtet sich vielmehr lediglich nach
den Gesetzen der Tugend und den Forderungen der Vernunft,
Diese bestimmt auch die Gottesverehrung, wie sie auch in der
Physik allein die richtige Gotteserkenntnis giebt. Verkelirt ist
danach die Vielheit der Götter der Volksreligion; denn in Wahr-
heit existiert nur ein Gott, der keinem Bilde gleicht und allein
durch die Tugend verehrt wird?). Auch diese Lehre ist ebenso
wie die Erkenntnistheorie in den wesentlichen Stücken die Lehre
des Sokrates, aber in einer Fortbildung, die der Erkenntnistheorie
vollkommen parallel ist. Sie steht daher auch wieder in
demselben Verhältnisse zu der Ethik Platos, wie seine Er-
kenntnistheorie zu der gleichen Lehre desselben Philosophen.
Denn was zunächst die Stellung der Ethik zur Logik und Physik
betrifft, so bedarf es nach den oben gegebenen Nachweisen über
die Auffassung des Sokrates keiner weiteren Erörterung, um die
verehrte, sich hier an die Lehre seiner Gegner sollte angeschlossen haben,
zumal er mit Sokrates an der Einheit von Tugend und Wissen festhielt
(Diog. VII 105). Den Anklang an die Sophistik, den Zeller, Philos. d. Gr.
IIa S. 292 ., und Überweg-Heinze, Grundr. 1 S. 123 hier finden, über-
treibt fast ins Mafslose Stein, Psych. ἃ. Stoa II S. 62 fl.
1) Vgl. Zeller a. a. O. 1Π ἃ 5. 3.
2) Diog. VI 11; 12; 104; 105; Philod. π. εὐσεβ. ed. Bücheler in Jalhns
Jahrb. 1865 S. 529; Cie. deor. nat. I 13, 32; Clem. Alex. strom. hacz
0. S. 122.
vgl. Zeller a. a. O. 118 S. 292 u. Üeberweg-Heinze a. a.
Ξε δῦ -Ξ
Übereinstimmung .zu erkennen. Ebenso ist es klar, dass die
einzelnen Lehren des Antisthenes sich mit denen des Sokrates
decken, oder soweit sie über sie hinausgehen, in der Konsequenz
derselben liegen. Dies gilt namentlich von dem Kosmopolitismus
und der Religion. Wohl rüttelte Sokrates nicht direkt an der
griechischen Götterwelt und -Verehrung, aber unstreitig liegen in
seiner Ansicht über die Gottheit und die Götter die Keime der
Verwerfung derselben. Wenn er andererseits alle Tugend und
Tüchtigkeit allein aus dem Wissen herleitete und deshalb auch
die Wahl der Beamten durch das Loos, wie sie in Athen geschah,
verwarf, und als berechtigt zur Herrschaft: allen den Wissenden
anerkannte, da dieser allein die Menschen zur Glückseligkeit führen
und damit die Aufgabe des Herrschers verwirklichen könnte!),
so ist diese Anschauung ebenso der Grundgedanke des Kosmo-
politismus des Antisthenes wie der Staatstheorie Platos. Denn
daraus, dass er die Tugend und Schlechtigkeit allein von dem
Wissen abhängig erklärte, folgte unmittelbar, dass sie nicht mehr
das Vorrecht einzelner Klassen sein konnte. Diese Konsequenz
liegt auch klar in der Theorie Platos vor, wenn er lehrt, dass
alle Kinder als Kinder des Staates angesehen, aber jedesmal die
begabteren von den unbegabteren ausgeschieden werden und nur
die begabtesten schliesslich zum vollen Wissen gelangen sollten ?).
Ist nun aber das Wissen nicht mehr an den Stand und die Geburt
geknüpft, so ist es nur ein kleiner Schritt oder vielmehr eigentlich
kein Schritt, das Gleiche auch von der Nationalität gelten zu lassen.
Selbst Plato und Aristoteles können, trotzdem sie sonst diesen
Schritt nicht thun wollen, sich dieser Konsequenz nicht gänzlich
entziehen; denn in der Lehre von der Freundschaft kommt sie
bei Aristoteles?) unverhofft zum Vorschein, und ebenso klar, ja
noch klarer lässt Plato den Sokrates an seinem Sterbetage den
Unterschied zwischen den Hellenen und Barbaren aufheben ?).
Mag also auch Sokrates den Kosmopolitismus nicht direkt ver-
τ Xenoph.' mem. I 2, 9; III 2; 9, 10. u. ©.
2) Rep. V und VII e. 15f.
3) Eth. Nie. VIII 13, 1161 b, 5 ΠΣ
*) Phaed. p. 78 A: πόϑεν οὖν, ἔφη, ὦ Σώχρατες, τῶν τοιούτων ἀγαϑὸν
ἐπῳδὸν ληψόμεθα, ἐπειδὴ σύ, ἔφη, ἡμᾶς ἀπολείπεις; Πολλὴ μὲν ἡ “Ἑλλάς, ἔφη,
ὦ Κέβης, ἐν ἢ ἔνεισί ποὺ ἀγαϑοὶ ἄνϑρες, πολλὰ δὲ καὶ τὰ τῶν βαρβάρων
γένη, obs πάντας χρὴ διερευνὥσϑαιν ζητοῦντας τοιοῦτον ἐπωδόν κτλ.
Er ut
— 41 =
kündigt und empfohlen haben, da er gemäss seiner ganzen Riehtung
nicht revolutionär auftrat, so war doch die Idee desselben die
unmittelbare Konsequenz seiner Lehre: Nicht also Alexander,
sondern Sokrates ist durch seine Theorie des Wissens der Vater
des kosmopolitischen Gedankens geworden.
Wenden wir uns jetzt zur stoischen Philosophie, so ist das
Verhältnis, welches zwischen ihr und der eynischen obwaltet,
ohne weiteres klar: Zeno hat sich Antisthenes fast in allen Punkten
angeschlossen. Cynisch ist zunächst seine nominalistisch-empi-
ristische Erkenntnistheorie; ferner seine Gleichsetzung der Turend
und des Wissens und der daraus folgenden Einteilung derselben,
seine Unterscheidung der Güter, der Übel und der Adiaphora und die
Selbstgenügsamkeit der Tugend und des Weisen'). Wie Antisthenes
hält auch er die Natur des Menschen als solche für gut und
darum die Tugend für das Naturgemässe (οἰκεῖον), die Schlechtig-
keit für das Gegenteil. Ebenso entlehnt er ihm den Kosmo-
politismus, wie auch direkt bezeugt wird*), ferner die Religions-
philosophie und zugleich mit ihr die allegorische Deutung der
Mythen, durch die Antisthenes die Volksreligion mit der wissen-
schaftlichen vereinigte. Er sowohl wie seine Nachfolger haben
daher auch anerkannt, dass der kürzeste Weg zur Weisheit die
cynische Lebensweise sei, und dass der Weise diese führen werde).
Insofern nun die stoische Schule sich zur Lehre des Antisthenes
bekennt, steht sie natürlich in demselben Verhältnisse zu Sokrates
und Plato wie Antisthenes.. Nun begnügte sich aber Zeno nicht
mit der Lehre des Antisthenes, sondern ging über sie hinaus,
indem er in anologer Weise wie Plato die Lehre Heraklits mit
der eynischen verband, und, was damit notwendig gegeben war,
ein ausgeführtes System entwickelte. Ganz von selbst war hierbei
die Berücksichtigung der Anforderungen des Lebens nahe gelegt.
Das Verhältnis Zenos zu den Cynikern ist daher wesentlich
dasselbe wie das Platos zu den einseitigen Sokratikern und sein
ΑΝ
1) Vgl. auch Zeller, Phil. d. Gr. ΠῚ ἃ >. 351.
2) Diog. VII4. Zenos Politeia wurde nun von Chrysipp in allen ihren
Lehren voll und ganz vertreten; Diog. VII 131: Mit Unrecht sucht daher
Zeller a. a. O. ΠΙᾺ 8. 353 einen Unterschied zwischen der Staatslehre der
Stoiker und der der Cyniker zu machen.
8) Diog. VII 121; Stob. 66]. IL 114, 24£. W.
-- 42 --
Verhältnis zu Sokrates demgemäss analog dem Platos und
Aristoteles’. Trotz aller Verschiedenheit der durch die verschiedenen
Entwickelungsmomente bedingten Systeme finden daher die wesent-
lichsten Übereinstimmungen zwischen ihnen statt, die ihren Grund
eben in der gemeinsamen Quelle, der Lehre des Sokrates, haben.
Dies zeigt sich zunächst in der Auffassung der verschiedenen
Teile der Philosophie: Die Erkenntnistheorie und Logik halten
die Stoiker ebenso wie Plato und Aristoteles für die Grundlage
und das Mittel aller Philosophie, ja gegen den letzteren behaupten
sie, dass sie wegen dieser Stellung nicht bloss ein Mittel, sondern
auch ein Teil derselben sei!); die beiden übrigen Teile dagegen,
die Physik und Ethik, stellen sie nicht in das Verhältnis von
Mittel und Zweck, sondern von Grund und Folge. Die Physik
bildet die Quelle aller Erkenntnis und wegen ihres höheren
Gegenstandes steht sie höher als die Ethik; in der Befolgung der
Gesetze, die sich aus ihr ergeben, besteht die Tugend. Beide
Disciplinen sind daher in Wahrheit unzertrennlich, und deshalb
ist es auch verkehrt und unmöglich, die Physik ohne die Ethik
und die Ethik ohne die Physik zu pflegen?). Diese innere gegen-
seitige Bedingtheit zeigt sich auch durchweg in der Ausführung
ihres Systems: Dem Makrokosmus entspricht voll und ganz der
\) Diog. VII 42; 46f. Vgl. Zeller a. a. Ὁ. IIb S. 182, Anm. 5. Die
hohe Bedeutung der Logik bei den Stoikern thut auch die ausführliche
Behandlung, welche sie ihr zu Teil werden liessen, dar.
5) Diese Auffassung beweisen zunächst die Vergleiche, durch welche
die Stoiker das Verhältnis der drei Teile ausdrücken; Diog. VII 39; Sext.
adv. log. 1 17 u. a. Wenn Zeller dazu a. a. O. III S. 62, A. 1 bemerkt:
„Die Philosophie wird einem Obstgarten verglichen, in welchem die Logik
der Umzäunung, die Physik den Bäumen, die Ethik den Früchten ent-
sprechen soll, so dass also diese der Schluss und Zweck des Ganzen ist,*
so ist er zu dieser Deutung nur auf Grund seiner allgemeinen Auffassung
der stoischen Philosophie gekommen, thatsächlich aber steht sie in dem
angeführten Vergleiche nicht; denn Baum und Frucht verhalten sich hier
offenbar nicht wie Mittel und Zweck, sondern wie Grund und Folge. Dies
beweist auch die direkte Angabe des Chrysipp bei Plutarch stoie. rep. e. 9,
der gemäss die Physik der Grund und die Quelle der Ethik ist. Diese
Auffassung ist allgemein stoisch. Auf diese Weise lösen sich ohne weiteres
alle Schwierigkeiten, welche Zeller a. a. Ὁ. 5. 61 findet: Die Logik fassen
alle Stoiker als erste Stufe, sie steht insofern gesondert; die beiden anderen
Teile dagegen erscheinen stets in demselben Verhältnisse, sei es dass dieses
aufsteigend oder absteigend angegeben wird.
Mikrokosmus; die Gesetze jenes walten daher auch in diesem,
Letzterer steht also ebenso unter wie neben ihm; er ist deshalb
zugleich frei und abhängig und daher das naturgemässe Leben seine
Tugend. Hieraus ergiebt sich der prineipielle Idealismus und
Optimismus Zenos und seiner Nachfolger, der vollständig dem
vernunftgemässen Walten der Weltvernunft entspricht (s. S. 3571,
364), und seinen letzten Grund in Sokrates’ Lehre von der
Herrschaft der Vernunft im All wie im Menschen hat. Ebenso
ist diese auch der letzte Grund für ihre Annahme der unbedingten
_ Abhängigkeit des Willens von der Einsicht (5. 5. 3271f.), ihre Lehre
von der Stellung des Weisen zu den Mitmenschen und der der einzel-
nen zum Staate bezw. dem Weltstaate: Die Physik ist also ebenso
wichtig und nötig wie die Ethik. Mit dieser Auffassung tritt
Zeno neben Aristoteles und besonders Plato; denn auch in der
Ideenlehre Platos findet ebenso die ethische wie die metaphysische
Seite der Idee des Wissens Berücksichtigung, ja in der Hinaus-
schiebung der Idee des Guten über die Idee des Seins und ihrer
Identifizierung mit der Gottheit zeigt sich in gewisser Weise noch
_ augenscheinlich die höhere Stellung des ethischen Prineips und
damit die Einwirkung des Sokrates. Sie unterscheiden sich also
nicht so sehr in der prineipiellen Auffassung der Philosophie wie
in der Lösung ihrer Probleme. Aber auch hier verdient die Sloa
wohl einen Platz neben Plato und Aristoteles: Grossarlig ist der
kühne Aufbau der Ideenwelt Platos, ebenso gross das System des
Aristoteles; aber nicht weniger, oder jedenfalls nicht viel weniger
gross ist auch das in sich durch und durch konsequente, monisti-
sche System der Stoa sowohl hinsichtlich seines Einflusses auf
die Folgezeit wie seiner Grundidee. Alle drei Systeme sind nur
verschiedene Arten der organischen Verschmelzung der eleatischen
und Heraclitischen Kosmologie auf dem Boden der Sokratischen
Begriffsphilosophie. Sie sind daher auch durchweg rationalistisch
und geben den durch Anaxagoras und mehr noch durch Sokrates
entwickelten Dualismus bei Plato in der Form der Transcendenz,
bei den Stoikern in der der Immanenz, während Aristoteles beiden
| gerecht zu werden sich bemüht).
) Von der obigen Auffassung der stoischen Philosophie weicht die
Zellers nieht unwesentlich ab. Er ist der Ansicht, dieselbe
lich aus dem praktischen Bedürfnisse heraus entstanden, und sucht dem-
nach dieses überall als mafsgebend nachzuweisen. Offenbar deswegen
sei hauptsäch-
ἜΝ ΤΣ
Wir wenden uns von hier aus kurz zu Epikur und seine!
Lehre. Auch diese ist in ähnlicher Weise wie die Stoa aus der
Verbindung eines vorsokratischen Systems mit der durch Aristipp
vermittelten Lehre des Sokrates entstanden. Aus dieser gemein-.
samen Quelle stammen wesentlich die Übereinstimmungen, welche
sich zwischen der Epikureischen und stoischen Lehre finden: Die
ῃ,
scheidet er auch, soweit es nur angeht, die Stoa von der eynischen Schule,
aber zum Teil mit Unrecht (vgl. S. 471 Anm. 3). Andererseits findet er in
dem Einflusse Alexanders auf die Gestaltung der griechischen Verhältnisse
den zureichenden Grund für diesen Charakter derselben, sowie überhaupt
für ihre Entstehung. Wenn er nun in Bezug auf den allgemeinen Charak-
ter der stoischen Philosophie in ihrem Verhältnisse za Alexander schreibt:
a. ©. S. 362: „In seiner praktischen Auffassung der Philosophie, in sei-
nem Sensualismus und Materialismus, in der idealistischen Selbstgenügsam-
keit, welche den Weisen über alle Schwächen und Bedürfnisse der mensch-
lichen Natur hinaushebt, in dem Kosmopolitismus, der das politische Inter-
esse zurückdrängt, und, in so manchen anderen Zügen drückt auch er (der
Stoieismus) den Charakter einer Zeit aus, in welcher der Sinn für die rein
wissenschaftliche Forschung und die Freudigkeit des praktischen Schaffens
gebrochen war u. s. w.*, so ist zunächst unersichtlich, warum der Sensua-
lismus und Materialismus ein Beweis dafür sein sollen, dass der Sinn für
die rein wissenschaftliche Forschung gebrochen war, zumal der stoische
Sensualismus und Materialismus keineswegs reiner Sensualismus und Mate-
rialismus waren. Ungleich radikaler ist der Materialismus und Sensualismus
Demokrits, und doch dürften wir nicht den Schluss daraus ziehen, den
Zeller für die Stoa zieht. Ebenso liegt es nahe, an die neueste Natur-
forschung zu erinnern, der doch gewiss nicht der Sinn für rein wissen-
schaftliche Forschung abgesprochen werden kann. Zweitens scheitert die
obige Ansicht Zellers auch an den Thatsachen der Geschichte: Die Blüte
der exakten Wissenschaften bei den Griechen fällt gerade in die Zeit nach
Alexander, und hier zeugen namentlich die ausserordentlichen Fortschritte
in der reinen Mathematik und in der Astronomie für das Gegentheil von
dem, was Zeller sagt. Diese Blüte und Ausbreitung der Wissenschaften ist
eine ganz natürliche Folge des philosophischen Lebens, ähnlich wie in der
Neuzeit; die Idee des Wissens hat an ihr mindestens den Anteil, den
der Einfluss Alexanders gehabt hat, wie wir an Aristoteles erkennen. Diese
Idee des Wissens ist auch, wie wir oben gezeigt haben, die Quelle für
den Kosmopolitismus, der in der Politik vollkommen der Internationalität
der Wissenschaften entspricht. Das Verhältnis der Stoa ist in dieser Be-
ziehung nicht wesentlich anders als das Platos und Aristoteles. Denn
auch dieser zieht sich aus der unmittelbar praktischen Thätigkeit auf die
wissenschaftliche zurück; das Verhältnis Platos zur Athenischen Demokratie
aber ist gewiss nicht verschieden von dem der Stoiker zu der Auffassung
ihrer Zeit. Denn lesen wir die Schilderung der Pöbelherrschaft bei
= 95 ὦ
Idee des Wissens als der Kardinaltugend und die Selbatgewinsheit
des Weisen, die in jener eine nicht unwesentliche Quelle hat;
ferner die Stellung, welche die Epikureer zu dem Staatsleben der
Wirklichkeit einnehmen, und die Betonung der Ethik im Gegen-
satze zu der Physik, in der sie trotz mancher Übereinstimmung
ganz bedeutend gegen die Stoa abfallen. Der Unterschied dagegen
in der näheren Ausführung dieser Lehre ist durch die Auffassung
des Aristipp und seiner Nachfolger bedingt. Das andere System,
welches auf Epikur den nachhaltigsten Einfluss gehabt hat, ist die
Plato und dazu die Abhandlung über die Philosophen als die wahren
'Staatslenker, und vergleichen wir damit die beztigliche Lehre der Aton, κὸ
kann uns die Parallele nicht entgehen: Die Philosophen Platos sind die
stoischen Weisen und beider Urbild ist der idealisierts Sokraten, Die
"Stoiker sowohl wie Plato ziehen sich von der Wirklichkeit zuriick und
- schwärmen in dem Idealstaate ihrer Phantasie. Dieser Zusammenhang zeigt
"sich noch von einer anderen Seite. Der Philosoph Platos erstreht die mög
liehste Vereinigung mit der Gottheit; diesen Ziel erreicht er aber wegen
der Transcendenz der Ideen erst im Jenseits. Dasselbe Ziel hat anch der
stoische Weise; da es für ihn jedoch keine Transeendenz giebt, κὸ πᾶς
er es in diesem Leben erlangen. Dies ist auch der Fall: Der ntoinche Wein
steht dem Zeus in nichts nach. Mit Recht also unterscheiden sieh die
Stoiker von Plato nicht so in der prineipiellen Auffamung der Philosophin
wie in der Lösung der Probleme. Ebenso kann ich Zeller» Meinung nicht
beitreten, die Physik sei bei aller Wichtigkeit für die Stoiker in letzter
Beziehung doch nur Hülfswissenschaft der Ethik, insofern er damit einen
prineipiellen Unterschied zwischen der Stoa einerseits und Plato und Ark
stoteles andererseits statuiert. Die Stellung der Phynik zur Ethik int im
der Stoa prineipiell keine andere, sondern nur bestimmter aungenprochen,
wozu die fortschreitende Systematisierung und besondern die Abntammung
von der eynischen Schule ganz von selbst führten. Schwerlich würde auch
Zeno die Physik aufgenommen haben, wenn er nur die Ethik mit ihr hatte
stützen wollen. Denn diese hatten schon Sokraten und Antinthenen ohne
spezielle Physik begründet. Erst recht vermag ich nun hieramn nieht mit
Zeller S. 353f. zu schliessen, dass trotzdem da» wimsennchaftliche Interome«
bei Sokrates stärker als bei Zeno gewesen sei. Daza #timmt auch die
Fhatsache, dass die Physik der alten Stoa keineuwegn »o unbedeutend ge
wesen ist. Haben nun ihre physikalisch - metaphyrischen Lehren unbe
schadet ihrer mehr als zerstückelten Überlieferung ein »o eigenes, dureh
und durch konsequentes Gepräge, »o werden wir, zamal bei ihrem aumer-
- erdentlichen Einfinsse auf die Folgezeit, ihren Wert im Verhältnisse zu
der entsprechenden Lehre Platon und Aristotelen’ nicht unterschätzen
dürfen. Genauer hierauf einzugehen int hier leider unmöglich; vg). auch
357 Anm. 1 und 95, 362 Anm. 2,
Lehre Demokrits. Dieser machte, umgekehrt wie Anaxagoras und
Sokrates, durch seine mechanische Naturerklärung alle Theologie
und Teleologie überflüssig; beim Atheismus aber waren auch die
Kyrenaiker schon angelangt, wie sie andererseits die ethischen
Lehren Aristipps nicht unwesentlich geändert und der Auffassung,
die Epikur vertrat, angenähert hatten!). Der kyrenäisch - demo-
kritische Einfluss bedingt nun ebenso den hochgespannten Gegen-
satz zwischen der Philosophie Epikurs einerseits und der der
Stoiker und "überhaupt der idealistischen Philosophen anderer-
seits wie die von Sokrates her wirkenden Ideen sie mit ihnen
wieder in Verbindung bringt.
Die Skepsis der Sophisten war durch die Gedankentiefe des
Sokrates und den blendenden Glanz namentlich des Platonischen
Idealismus zurückgedrängt und fast ganz verdunkelt worden.
Natürlich war es daher, dass, sobald dieser Glanz infolge der
Kritik etwas zu verblassen anfing, auch jene Theorie wieder
sichtbarer hervortrat. Dies geschah durch Pyrrhon von Elis.
Die einzelnen Lehren seiner Vorgänger vereinigte er zu einem
konsequenten Systeme; zu seinen Vorgängern aber gehörte ausser
Protagoras namentlich der Demokriteer Metrodorus, dessen Lehre
ihm durch Anaxarchus vermittelt wurde°). In diesem Einflusse
Demokrits auf die Skepsis liegt zum Teil die innere Verwandt-
schaft zwischen ihr und der Epikureischen Lehre (s. 5. 168ff.) im
Gegensatze zu den vorbehandelten Schulen begründet. Die
Stellung aber, die beide zu ihrer gemeinsamen Quelle einnehmen,
bedingt ihren Unterschied: Epikur hält an der Idee des Sokrates
von der Gewissheit der Erkenntnis fest; Pyrrhon dagegen
verwirft sie als Sophisterei. Das richtige Verhalten im Leben
besteht ihm in der Befolgung der durch die Phänomene bewirkten
subjectiven Meinungen und Urteile?). Diese Skepsis fand in der
Folge eine verschiedene Entwickelung, in ihrem Wesen aber ward
sie nicht verändert. Denn auch Carneades, in dem sie ihren
Höhepunkt erreichte, bestritt einerseits jede Erkenntnis der Dinge
1 Nähere Nachweise hierfür zu liefern ist überflüssig.
2) Vgl. Zeller a. a. Ὁ. IIIa S. 479 Anm. 2; Natorp, Forschungen Kap. 1,
3, 4 u. S. 286 Β΄: zuweit geht in der Schätzung des Demokritischen Ein-
flusses Hirzel, Unters. III: Urspr. ἃ. Pyrrh. Skepsis.
®) Zeller a. a. Ὁ. IIla S. 484 ff.
an sich, wie wir gesehen haben, und entwickelte andererseits in
Bezug auf das Verhalten zu den Phänomenen seine Theorie der
Erfahrung.
In der Entwickelung der nachsokratischen Philosophen lassen
sich also zwei Hauptrichtungen unterscheiden: die idealistisch-
rationalistischen Systeme Platos, Aristoteles und der Stoa und
die vorwiegend realistisch-empiristischen des Epikur und der
Skepsis. Lange Zeit gehen beide neben einander her sich gegen-
seitig befehdend und beeinflussend, doch ohne sich zu durch-
‘dringen. Erst der ebenso einschneidenden und scharfsinnigen
wie allseitigen Kritik des Carneades gelingt es, den Dogmatismus
aller Schulen und besonders den bedeutendsten der Stoa zu
zersetzen und dadurch die Philosophie in eine neue Balın zu
lenken. Denn während bis jetzt die verschiedensten Systeme
‘nach und neben einander hergegangen waren, beginnt unter dem
Einflusse seiner Kritik die rationelle Verschmelzung derselben. Diese
nimmt zugleich mit der Überwindung des Skeptieismus die be-
rechtigten Momente desselben in sich auf und wird eben dadurch
-der Ausgangspunkt einer neuen Epoche. Überblicken wir nämlich
dieEntwickelungder Philosophie überhaupt und die der griechischen
insbesondere, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass ihre
Probleme wesentlich dieselben zu allen Zeiten sind. Auch von der
Stellung, welche die einzelnen Forscher zu ihr einnehmen, gilt ganz
dasselbe. Denn alle Philosophie, als solche aus der Skepsis
geboren, ist in irgend einer Art die Überwindung der Skepsis und
daher stets und überall von dem subjectiven Bedürfnisse geschaffen.
Beide Merkmale sind daher nicht geeignet die Entwickelungsphasen
derselben zu charakterisieren. Erst recht sind äussere Anhalts-
punkte dazu nicht zu verwenden: vielmehr müssen solche in dem
Wesen der Philosophie selbst ihren Grund haben. Diese ist nun
die Erkenntnis der Prineipien des Seienden in seiner Totalität:
Also können naturgemäss nur die Arten der Erkenntnis ihre
Epochen bedingen und bestimmen. Dies ist auch thatsächlich
der Fall: Die Forschungen der vorsokratischen Philosophen
_ entbehrten, so geistreich sie sonst auch vielfach sein mochten,
durchweg der Erkenntnistheorie; ihren innerlich notwendigen Ab-
schluss erreichten sie daher in der Skepsis. Die Überwindung
derselben vollzog Sokrates durch die Idee des Wissens und ward
dadurch der Begründer der zweiten Epoche: Die Erkenntnistheorie
re
durcehdringt jelzt alle Gebiete der Philosophie. Zwei Richtungen
jedoch gehen in dieser Beziehung neben einander her; ‚während
nämlich die dogmatischen Systeme darin übereinkommen, dass
die Urgründe des Seins mit Gewissheit erkennbar sind, bestreiten
die Skeptiker diese Erkennbarkeit schlechthin. Bei der Kreuzung
beider Richtungen hören nun beide als solche auf, und’ neben die
auf die Empirie gegründete Erkenntnistheorie, welche .von der
Skepsis als unzulänglich erwiesen ist, tritt‘ die Erkenntnis aus
der Offenbarung, sei es des Geistes an: sich oder durch Ver-
mittelung höherer Wesen. Diese Neugestaltung hängt mit der
Verschmelzung der dogmatischen Systeme innerlich zusammen
und erreicht in dem Neuplatonismus ihren Höhepunkt: ‚Auf
Meinen und Glauben folgen Wissen und Zweifeln, die sich in dem
Offenbarungsglauben versöhnen, Wandlungen, deren natürlicher
Verlauf offen am Tage liegt!). Schweifen wir nun von hier
aus zu der Entwickelung der neuen Philosophie, so finden wir
in derselben 'einen ganz -analogen Fortschritt. In‘ verjüngter
Gestalt führt die Idee des Wissens den Descartes zum Bruche mit
dem Skeptieismus und zur Aufstellung seines eigenen idealistisch-
rationalistischen Systems, das in Spinoza und Leibniz-Wolff gleich-
gesinnte, wenn auch verschiedene Fortsetzer findet. Neben diesen
her geht in Locke und Hume die empiristisch-skeptische Richtung.
Aus dem Kampfe beider entsteht bei Kant die kritische Philo-
sophie. Carneades und die mittlere Stoa stehen also in einem
ähnlichen Brennpunkte der Gedankenentwicklung wie Kant, und
1) Diese verschiedenen Arten der Erkenntnis bringen es auch mit sich,
dass die Philosophie in der ersten Epoche wesentlich als Kosmologie, in
der zweiten als Anthropologie, in der dritten als Theosophie erscheint.
Ebenso ist es klar, dass und wie sieh diese Epochen mit denen der grie-
chischen Geschichte berühren. — Die zweite Epoche zerfällt in zwei Ab-
schnitte: Der erste umfasst Plato und Aristoteles, die einseitigen Sokratiker
und Pyrrho; der zweite die älteren Stoiker, Epikureer und die mittlere Aka-
demie. Die Lehre des Sokrates tritt hier in den erweiterten Systemen der ein-
seitigen Sokratiker in den Vordergrund; die Stoa übernimmt gewissermafsen
auch das Erbe Platos, während die Akademie selbst zum Skeptizismus über-
geht und zwar äusserlich ebenfalls im Anschluss an Sokrates. Diese Wen-
dung ist teils durch die Kritik, teils durch die von Alexander herbeigeführte
Umwälzung bedingt. Die dritte Epoche gliedert sich ganz von selbst in die
Zeit des ausgebildeten Neuplatonismus und in die Vorbereitungszeit des-
selben. Vgl. auch UÜberweg-Heinze, Grundr. I 5. 33 8 9 u. 5. 246.
τς 79,2:
ΟΜ ΘΠΠ wir ihre Lösung der entgegengesetzten Anschauung nicht
in der Vereinzelung, sondern als Ganzes betrachten und mit der
Kants vergleichen, kann uns die Verwandtschaft nicht entgehen;
„aber gerade der Umstand, dass Kant die Vermittelung der gegen-
überstehenden Systeme allein unternahm, ist nicht der letzte
Grund für die grosse Verschiedenheit und Geschlossenheit seiner
Lösung gegen die seiner Vorgänger.
οὲ 3 εἴ, - -
-----οῷ.-----
Namenverzeichnis.')
Academie 102. 305. 341. 392. 383. 389.
sg f. 478.1.
Adrastus 409,3.
Aelius Cato 460,1.
L. Aelius Stilo 461f.
Q. Aelius Tubero (d. ältere) 67f. 7Lf.
153.443 (derältere u. der jüngere)440.
Aenesidemus 387,1. 399.
Aeschines (Sokratiker) 235.
Albucius 443.
Alexander v. Aphrodisias 319,1.
Alexander d. Gr.
478,1.
Alexander Polyhistor 429f. 434. 436.
Alexinus 102.
Ambrosius 29, 2,
Anaxagoras 230,3. 380. 467. 473. 476.
Anaxarchus 476.
Antiochus v. Ascalon 61,4.
Antipater v
383. 392. 398f.
Antipater v. Tyrus 45. 225,5.
Antisthenes 235. 278,3. 296, 1. 468 ff.
Apollodorus (Grammatiker) 7,6.
Apollodorus Cepotyrannus 339. 346.
Apollonius v. Perge 463 f.
Aratus v. Soli 454,1. 463 f.
Arcesilaus 60. 114. 121f. 153,2. 341f.
388. 391.
Archedemus 335,1. 352. 355.
Archelaus (Physiker) 236.
') Als Sachregister vergl.
Schwierigkeit, in welchem Zussppmenhange die a ork
318. Ay aa!
180, 3.
200, 1. 352. 385 ff. 437. 446. 448,2.
Marsus. 3.,2..16,3. 62.
201,1. 335. 352. 355 f. 365. 368. 371.
Archimedes 464f.
Archytas 114. 121. 432ff. 436.
Aristarchus v. Alexandria 207f.
Aristarchus v. Samos 230, 4. 463.
Aristides 231.
Aristippus 235. 475 f.
Ariston 371,1.
Aristoteles 14,2; (5). 70,1. 89, 1. 935.
95. 114. 121. 140. 143. 187,2. 188, 2.
201,1. 210,2. 228,3. 259,2. 265,1.
312,3. 317. 336.
341. 345,2. 350,1. 371 ff. 5880 Ε΄. 389.
269,2. 304. 311.
396 f. 400. 403ff. A31ff. 467 ff.
Aristoxenus 134. 231f.
Arius Didymus 14,5. 430.
Arnobius 109ff. 125,1.
Ärzte, emp. 347. 350,1.
350, 1.
Asclepiodotus 12. 14,5.
Atheisten 98ff.
Athenodorus 12,5.
Atomisten 140f.
Augustinus 104 ff. 120,1. 160 ff.
Augustus 451.
Aurelius Cotta 19.
M. Aurelius 401.
log. 349, 1.
Boethus 63. 188,
355.
Bromius 337.
Brontinus 432. 431.
2. 808. 320. 325,1.
Callipho 326. 364. 371.
das Inhaltsverzeichnis; dasselbe lehrt ohne
men.
u eh 7323, 0.
ap oh
481 --
Carneades 3. 38. 58. 611. 87. 114. | Diodorus Cronus 178 ἢ, 189, 918
121. 168. 172. 8058. 8188. 324, | Diodorus v. Alexandria 12.
999. 841. 356. 364ff. 379. 384. | Diogenes v. Babylon 2f. 16,3, δ
5860. 400. 488. 448. 448, 2.455.477. | 698. 87. 241,3. 320,3. 385,1, 368,
Censorinus 409 ff.
Chaleidius 465.
Chares 408.
Charmadas 234, 4.
Charondas 288.
364. 381. 383. 464.
187,2. 116. 132f. 138,1.
457. 459. 465.
381. 464.
(Clemens Alexandrinus) 116.
Cleomedes 16,5. 188,2. 282,4:
465.
980 Ε΄. 443.
Sex. Clodius 434,5.
Commenta Lucani Bern. 104ff.
Crantor 150ff. 218,1. 380.
Crates v. Mallos 3. 207. 461.
Cratippus 323, 3.
Critias 317.
Cyniker 219,4. 403.1. 408 ff.
Cyrenaiker 476.
Dardanus 2. 16. 391,5.
Demetrius Lacon 16. 337. 340.
_ Democritus 114. I21E:
350,1. 380. 476.
Demosthenes 206. 232#.
Descartes 478.
377. 380. 454,1.
Diodorus (Historiker) 14, 8.
Schmekel, mittlere Stoa.
Chrysippus 61,3. 88 ἢ. 93#f. 114. 121.
148. 165ff. 262,2. 270, 5; 6. 278,1; 3.
294,9. 296,1. 305. 310,2. 318f.
321,1. 324ff. 341f. 361,1. 568, 4.
Cicero 2,3. 6,3. 8,4. 9. 12. 13,1; 8.
14,2. 188. 418. 568. 648. 818.
146, 2.
149. 155ff. 234f. 243,4. 250 ff. 315.
317,2. 320,5. 395,1. 438,5. 441.
Cleanthes 88f. 92ff. 146. 296,1. 316,1.
430. 436.
8. 314, 1.
Clitomachus 10. 172. 341f. 352. 383.
Critolaus 3. 153,3. 307 ff. 433, 1. 459.
Demetrius v. Phaleron 231f. 235.380.
134. 230, 3.
Dieaearchus 43,2. 64. 134. 156. 146,4.
371. 443. 455.
Diogenes Laertius 430,
Diogenes v. Sinope 278,3. 2%, 1.
Dionysius v. Halicarnass 234
| Dionysius v. Cyrene 16f. 205#. 387.
339. 355.
Dionysius 122.
Dörfel 230, ὃ.
Ecphantus 463.
Eleaten 466.
Empedocles 128. 145. 406f. 434
Ennius 129.
Epieureer 10. 87,3. 1011. 120.
146,4. 167 ff. 306. 313,1.
349,1. 355. 446, ὃ.
Epieurus 16,5. 87. 98. 114 f. 1188
136.
891.
121. 193. 134. 146,4. 1δ8, 8. 166,
168 ff. 326. 337. 339. 341. 382. 425, 2,
441. 414 ff.
Epictetus 401#.
Eratosthenes 11,4. 464. 465.
Euclides ἃ. Mathematiker 413.
Euclides v. Megara 256.
| Eudorus v. Alexandria 430.
Eudoxus v. Knidos 469.
Euripides 150.
Q. Fabius Maximus 440.
Favorinus 158 fi.
C. Fannius 40.
Florentinus 456.
L. Furius Philus 5öf. 611. 440.
Gaius 456.
Galenus 13,13. 154,2. 200,4. 259,2.
325,2. 326, 2.
Galilaei 250, 9,
Gellius 409 ff.
Geminus 14,5. 465. 475.
Glaueias 350, 1.
Hecaton l14ff. 62. 370,6.
371. 373,1. 379. 443.
Heraclides Pontieus 380, 463.
31
300 ff. 365,
Heraclides v. Tarent 350, 1.
Heraclitus v. Ephesus 114. 118. 121.
241,3. 466. 467. 472.
Heraclitus v. Tyrus 388.
Herophilus 423.
Hesiodus 96. 454,1.
Hicetas 463.
Hieronymus 231.
Hipparchus v. Nieaea 409 ἢ.
Hippodamus 434.
Historiker (röm.) 462.
Homerus 95. 207. 287.
Horatius 453.
Hume 478.
Jason 12.
M. Junius Brutus 440 (?). 457.
Juristen (röm.) 454 ff.
(Justinus Martyr). 430. 486.
Justinus (Historiker) 453, 3.
Kant 478 £.
Kolumbus 280.
Kopernikus 465.
Dee. Laberius 129. 434,5.
Lactantius 58.
C. Laelius Sapiens 5öft. 67f. 440.
443. 445.
Leibniz 478.
Leonides v. Rhodus 12,5.
M. Lieinus Crassus 2f.
Locke 478.
C. Lucilius 3. 7. 892, 2. 440. 443 ff. 455.
461.
Lucilius Balbus 13.
Lueretius 100.
Lyeurgus 288.
Macrobius 409 ff. 425, 2. 465.
M’. Manilius 440. 457.
Martianus Capella 465,2.
Metrocles 296, 1.
Metrodorus 114. 121. 476.
Milichius 230, 3.
Mnesarchus 2. 16. 296f. 312. 391.
Moses 431. 439,1.
P. Mucius Scaevola p. m. 457.
482
wo
Q. Mucius Scaevola p. m. 2,3. 117 ff.
446. 457 ff.
Q.Mucius Scaevola augur. 440.443. 458.
Sp. Mummius 440.
Musonius 401. 403.
Myrto 231.
‚Nemesius 154, 2. 200, 4.
“Newton 230, 3. 282,3.
Nicagoras 2f.
Nicomachus 438,1.
Nigidius Figulus 447. 450.
Numenius 498,1.
Ocellus 432f. 434,5. 436.
Ovidius 238,4. 434,5. 451.
Panaetiasten 7.
Panaetius 1ff. 9. 14. 16, 15 1148
121. 134. 136. 143. 153. 176f. 185#
272, 4. 290. 291,1. 308. 317. 320f.
924. 326. 336f. 340. 352. 355£. 359,3.
365f. 368ff. 8191. 334. 8916 400.
403,1. 437, 3. 438. 4404. 455 ff. 464 f.
Paulus (Jurist) 456.
Peripatetiker 65. 571. 391.
Phaedon v. Elis 235.
Phanias 12.
Pherecydes 133.
Philo v. Alexandria 409ff. 480.
Philo v. Larissa 61,4. 138. 143,2.
985.
Philodemus 10, 5. 298,1. 300, 1. 337f,
346. 349,2. 860,1. 354.
Philolaus 406ff. 432.
Plato 8..61,4. 65.767. Wanda
110ff. 118. 191. 1932 12h, 158
136. 146,3. 158, 2.200, 4 207
207. 2328. 250,3. 1265, 272bar
269,2. 291,1. 511. 28 37a
994. 336. 350, 1. 356. 5116. 8808.
388. 391. 396f. 400. 405. 430 ff.
449. 454. 464f. 461 Ε΄.
Platoniker 119f. 478.
C. Plinius (d. ältere) 14,8. 465.
| Plutarchus 150ff. 181ff. 231f. 236.
288,4. 362,2. 363,4.
Polemon der Perieget 3.
wor H f2 77
S Y fr‘
.
+
— 48 —
Polybius 4ff. 64ff. 71. 73f. 289f. |
430. 462.
Pompeius Magnus 13. 234.
Sex. Pompeius 216,4. 440. 462,
Pompeius Trogus 453, 3.
M.PoreiusCato81. 84. 85.2. 142,3 455.
Posidonius 3,10. 4,3. 8,4. 9 Β΄. 28f.
62. SE. 144ff. 123. 140. 1498
146,4. 154, 163. 165. 166ff. 187,2.
188,2. 2584. 312ff. 321. 323. 326.
334ff. 355. 8605. 368ff. 980 Ε΄. 384.
τ 392,2. 397,2. 398. 400#. 317. 406 ff.
436 ff. 443. 448 f. 452f. 459. 462. 464 f.
Protagoras 476.
Cl. Ptolemaeus 285,5. 463 ff.
Pyrrhon 383. 476. 478, 1.
Pythagoras 105. 110. 114. 118#f. 127 ff.
134. 140. 143. 382. 403. 428. 436.
452. 463.
Pythagoreer 288,4. 405ff. 428. 436.
428. 447. 449. 452. 463.
Römer 378. 439 #.
P. Rupilius 440.
P. Rutiliüs Rufus 13.1. 46. 440. 443.
Scipio Aemilianus minor 2. 4ff. δῦ Ε΄.
67H. 578. 440. 442f. 445.
Seleucus (Astronom) 463 ff.
Seneca 14,5. 15,6. 140. 250. 401 ἢ,
432. 452.
Serapion 350,1.
Servius Honoratus 106ff. 313, 4.
Serv. Sulpieius Rufus 13,1. 458 f.
Sextius 450.
Sextus Empirieus 858, 144. 155ff.
315. 321,1. 349. 352. 408.
Simonides (v. Magnesia?) 408, 3.
Simplieius 14,5.
Soerates 61,4. 67. 93. 142,3. 152 ἢ.
291, 235f. 278,3. 388. 466 ff. |
Solon 288. 422.
Sophisten 466.
Sotion v. Alexandria 434, 5.
Spinoza 478,
Stoiker 58, 96. 102. 104. 114. 119.
136. 140#. 167. 304. 8309f. 319,
327. 339. 841, 349,1. SSH, 850 ᾽.
s6If. 374. 377,4. 378. 385, 868 δ΄
401ff. 438. 440F. ATI, u. 6,
Tacitus 452f.
Tertullianus 109. 118. 120,1. 261.2
Thales 114. 121.
Theodorus (Atheist) 148.
Theon v. Smyrna 409 ff. 465.
Theophrastus 69. 70, 1. 304. 380,454, 1.
Thrasyllus 409.
| Timaeus der Lokrer 432f. 434,5.
| Timon v. Phlius 383. 432, 5.
| Tycho de Brahe 250, 3.
| Ulpianus 454, 2. 456.
| Valerius Soranus 446.
| Varro 104. 1168. 11T. 1368. 1448,
250f. 288,4. 324,1. 402,4. 4098.
434,5. 447. 448.
Vatinius 450.
Velleius 19.
Vergilius 104f. 105. 129. 146,3. 451.
A. Verginius 440.
Vitruvius 14,8. 465, 2.
Wolff 478.
Xenoerates 122. 312,3. 317. 380. 425,2.
Xenophanes 317. 383, 425,2.
Xenophon $2f. 235. 440.
Zaleucus 288.
Zeno v. Citium 61,3. 87. 98, 9. 102.
114. 121ff. 200. 201,1. 269,2. 296,1.
315.2. 323,3. 324.1. 326. 890, E
335. 341 f. 358, 3. 359,3. 362,2. 30.
982. 437. 464. 471 ἢ,
Zeno v. Sidon 14. 16.5. 298,1. 307.
308,3. 311. 313, 1 3378. ϑ46 1, 49.
| Zoilus 232, 2.
——
Druck von G. Bernstein in Berlin.
5.14 Α. 8 Ζ. ὃ ν. u. und 5. 282 Α. 1 lies: Simplieius in Arist. phys. p. 64 v. -.
N
. 941 2:
Berichtigungen.
35ff. p. 291, 22ff. ed. Diels.
ergänze das Citat: Cie. de div. 11 49, 91.
v. u. lies: Aristoxenus statt Aristoxenes.
2.16 v.u.lies: A.5 statt A.2.
ff. vgl. hierzu S. 465 A.2.
Ζ. 8 v.u.lies: Simplie. in Arist. phys. p. 64 v. 5öft. p. 292, 16 ff.
ed. Diels.
.18 ff. v. u. Strabo XIV 658 nennt den Demetrius einen Schüler des
Protarchus v. Bargylion, worauf mich Susemihl gütigst aufmerksam
macht; doch schliesst dies eine Anlehnung des Demetrius an
Apollodorus nicht aus, vgl. Susemihl, Gr.-Alex. Litt.-Gesch. II S.260f.;
Zeller, Philos. d. Gr. IIa S. 571 A.5 und Natorp, Forschungen
S. 268.
14 v. o. wird Zenos Schrift IT σημείων irrtümlich als eine logische ἢ
gefasst, sie gehörte vielmehr zu den physikalischen (Diog. VII 4),
woran mich ebenfalls Susemihl erinnert. Die „Zeichen“ werden
hier also wohl als Zeichen des Zukünftigen anzusehen sein, wie
bereits Zeller, Phil. ἃ. Gr. IHHIa 5. 31 A.4° sagt. Von hier aus hat
sich jedoch wahrscheinlich die logische Lehre von den Zeichen
entwickelt; vgl. auch die übrigen S.341 A. 1 aus Diog. und Augustin
angeführten Stellen. Sachlich dürfte sich daher an der daselbst
als wahrscheinlich bezeichneten Vermutung nichts ändern.
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BINDING SECT. MAY 29 1981
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Die Philosophie der
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